Helmut Gadner Gerhard Gaedicke Charlotte Niemeyer Jörg Ritter (Hrsg.) Pädiatrische Hämatologie und Onkologie
Helmut Gadner Gerhard Gaedicke Charlotte Niemeyer Jörg Ritter (Hrsg.)
Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mit 392 Abbildungen, davon 192 in Farbe, und 281 Tabellen
123
Professor Dr. Helmut Gadner
Professor Dr. Charlotte Niemeyer
St. Anna Kinderspital Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV: Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Professor Dr. Gerhard Gaedicke
Professor Dr. Jörg Ritter
Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Knochenmarktransplantation Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33, 48129 Münster
ISBN 10 3-540-03702-0 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN 13 978-3-540-03702-6 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Sylvia Kröning/Gisela Zech-Willenbacher Lektorat: Ursula Illig, Stockdorf SPIN 10818049 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126SM – 5 4 3 2 1 0
V
Geleitwort »Pädiatrische Hämatologie und Onkologie«, das umfassendste deutschsprachige Werk zu Blut- und Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, erscheint an einem wichtigen Wendepunkt der immer noch jungen Geschichte der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie. Noch sind es nicht einmal drei Jahrzehnte, seit Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, die malignen Systemerkrankungen ebenso wie die soliden Tumoren, heilbar geworden sind. »State of the Art« im Jahre 2005 ist, dass drei von vier an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen gesund werden. Dies ist die Pionierleistung der Gründergeneration pädiatrischer Hämatologen und Onkologen, in Deutschland Namen wie Bernhard Kornhuber, Günther Landbeck, Hansjörg Riehm und Günther Schellong, die erkannt haben, dass der Seltenheit der Erkrankung nur durch Zusammenarbeit zu begegnen ist. Nach Gründung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Leukämie-Forschung und -Behandlung im Kindesalter (DAL) im Jahre 1965 und der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie im Jahre 1973 wurden beide 1991 als Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) zusammengeschlossen. 1977 folgte die Gründung eines Kindertumorregisters an der Universität Kiel mit dem Ziel der Verbesserung der histopathologischen Klassifikation der Kinderkrebserkrankungen. 1980 wurde das epidemiologische bevölkerungsbezogene deutsche Kinderkrebsregister an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz gegründet, heute mit über 33.000 erfassten Erkrankungen das größte Register dieser Art weltweit. Dank einer hervorragenden Kultur von Therapiestudien werden heute über 90% aller Kinder und Jugendlichen mit malignen Systemerkrankungen und soliden Tumoren nach einheitlichen Standards behandelt. Als deren Ergebnis hat sich die Prognose der Betroffenen kontinuierlich verbessert. Nun hat die molekulare Medizin eine neue Ära der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie eingeleitet. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und den beeindruckenden Fortschritten der Molekulargenetik werden die hämatologischen und onkologischen Erkrankungen auch im Kindes- und Jugendalter besser diagnostizierbar und klassifizierbar. Damit verbunden ist die Erwartung eines besseren Verständnisses der zellbiologischen Zusammenhänge und darauf aufbauend einer gezielteren Therapie oder gar Prävention. »Pädiatrische Hämatologie und Onkologie« ist eine umfassende Beschreibung der hämatologischen und onkologischen Erkrankungen und ihrer Behandlung im Kindes- und Jugendalter, von den molekularen Grundlagen zu multimodalen Therapiekonzepten unter Einschluss aller mitbeteiligten Disziplinen. Diese reichen von den diagnostischen Fächern wie Radiologie, Nuklearmedizin und Pathologie bis hin zu den therapeutischen Disziplinen wie der Chirurgie und Strahlentherapie. Von der Grundlagenversorgung wird ein Bogen geschlagen bis zur psychosozialen Versorgung und der Lebensqualität, von akuten Problemen bis hin zu Spätfolgen der Therapie. Den Herausgebern ist es gelungen, eine große Zahl von exzellenten Autorinnen und Autoren für dieses Werk zu gewinnen. »Pädiatrische Hämatologie und Onkologie« hat damit gute Voraussetzungen, zu dem deutschsprachigen Standardwerk zu werden. Nun bleibt es zu wünschen, dass wichtige neue Erkenntnisse und Entwicklungen zu weiteren Verbesserungen der Behandlungsmöglichkeiten zum Wohle der Betroffenen führen und so kurzfristig neue Auflagen erfordern, um mit der Fortentwicklung von Wissen und Erkenntnissen Schritt zu halten. Sommer 2005 Heribert Jürgens
VII
Vorwort Die pädiatrische Hämatologie und Onkologie ist heute mit Recht ein eigenständiges Teilgebiet der Kinder- und Jugendmedizin, wobei insbesondere die Hämatologie als Querschnittsfach der Pädiatrie gelten muss. Die Besonderheiten hämatologischer und onkologischer Krankheitsbilder sind in den verschiedenen Altersstufen sehr vielfältig, so dass eine enge Verzahnung mit anderen Teilgebieten der Pädiatrie im Interesse der jungen Patienten ist. Auch für unsere Nachbardisziplin, die Kinderchirurgie, stellt die pädiatrische Onkologie einen besonderen Schwerpunkt dar; ähnliches gilt für die Strahlentherapie. Die Ausbildung in der Pädiatrie beinhaltet eine profunde Kenntnis der Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Krankheitsbilder. Das vorliegende Fachbuch ist jedoch primär nicht für die studentische Ausbildung gedacht. Es sollte vielmehr als eine umfassende und standardisierte Wissensvermittlung für die Aus- und Weiterbildung dienen und als Ergänzung für die Vorgaben der Studienprotokolle ein nützliches Instrument für den Praxisalltag eines pädiatrischen Hämato-Onkologen darstellen. Das Fachgebiet der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie ist in einigen englischsprachigen Werken umfassend dargestellt. Ein ausführliches deutschsprachiges Fachbuch, das beide Gebiete umfasst, fehlt – das vorliegende Werk soll diese Lücke schließen. Die Herausgeber konnten namhafte Autoren des deutschen Sprachraums aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gewinnen und somit einen hohen wissenschaftlichen Standard gewährleisten. Hier deckte sich das Interesse des Verlages, eine Serie von deutschsprachigen Fachbüchern herauszugeben, mit den Zielen der Herausgeber. Leider ist es den Herausgebern im ersten Anlauf nicht gelungen, die historische Entwicklung der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie im deutschen Sprachraum gebührend zu würdigen. Obwohl Bücher im Allgemeinen nicht so rasch veralten, wie ihnen nachgesagt wird, werden wir bemüht sein, der rasanten Entwicklung unseres Fachgebietes durch aktuelle Neuauflagen Rechnung zu tragen. Die pädiatrische Hämatologie und Onkologie ist Ganzheitsmedizin im besten Sinne. Die Chronizität des Krankheitsverlaufes, aber auch der Aspekt der Lebensbedrohlichkeit, erfordern von Anfang an eine Mitbetreuung der Familie des Patienten. Psychosoziale Begleitprogramme geraten in Zeiten des knappen Geldes jedoch leicht in Gefahr. So genannte alternative Methoden können allenfalls als Ergänzung der Therapie eingesetzt werden. Gerade im Zeitalter der unbegrenzten Kommunikation gibt es hier Fehlentwicklungen, die deutlich angesprochen werden müssen. Die pädiatrische Hämatologie und Onkologie konnte in den zurückliegenden 30 Jahren bedeutende Erfolge erringen. Die meisten Krebserkrankungen des Kindesalters sind mit Zytostatika, Operation und ggf. Strahlentherapie prinzipiell überwindbar geworden. Die Herausforderungen der Zukunft werden es sein, einerseits alle Kinder mit Krebserkrankungen zu heilen, andererseits die etablierte Therapie weniger nebenwirkungsreich zu gestalten, ohne einen Verlust von bereits erzielten Heilungsraten zu riskieren. Die Entwicklung so genannter »small molecules«, die in intrazelluläre Signalwege spezifisch eingreifen, neue Zytostatika, verschiedene immuntherapeutische Ansätze, Verfahren der Antiangiogenese, Ausweitung des Einsatzes hämatopoetischer Stammzellen und zellulärer Therapien – alle diese Strategien bieten innovative Möglichkeiten für zukünftige Therapiemodalitäten. Wir danken an dieser Stelle allen Autoren für ihren Einsatz und ihre Mitwirkung. Besonders erwähnen möchten wir zwei verstorbene Mitarbeiter. Prof. Dr. Joachim Kühl, Würzburg, hatte das Kapitel der ZNS-Tumoren bereits konzipiert und mehrere Co-Autoren für dieses umfangreiche Gebiet gewonnen. Dankenswerterweise stellte sich Prof. Dr. Rudolf Korinthenberg, Freiburg, zur Verfügung, das Kapitel im Sinne von J. Kühl zu vollenden. Prof. Dr. Anton H. Sutor, Freiburg, hat mit dem ihm eigenen Engagement an dem Kapitel »Thrombozytosen und Thrombozythämien« zusammen mit Prof. Dame, Berlin, gearbeitet. Prof. Sutor verstarb kurz nach Vollendung des Kapitels an seiner schweren Krankheit.
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Vorwort
Besonderer Dank gebührt unseren Sekretärinnen, Frau Elisabeth Elsholz, Wien, Frau Carola Kruse, Berlin, Frau Beate Batz, Freiburg, und Frau Ellen Koch, Münster, für ihre unverzichtbare Hilfe. Frau Renate Scheddin, Frau Sylvia Kröning und Frau Gisela Zech-Willenbacher vom Springer-Verlag sei für die vertrauensvolle und angenehme Zusammenarbeit gedankt. Das überaus sachkundige Lektorat von Frau Ursula Illig hat die Fertigstellung des Buches erleichtert. Jetzt muss der Text sich bewähren. Sommer 2005 Helmut Gadner, Wien Gerhard Gaedicke, Berlin Charlotte Niemeyer, Freiburg Jörg Ritter, Münster
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Inhaltsverzeichnis 21 Hämophagozytische Lymphohistiozytosen . . . . . . 231 G. Janka-Schaub, M. Schneider
Sektion I: Pädiatrische Hämatologie
Lymphozyten
40
22 Morphologie und Funktion des spezifischen Immunsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Holter, N. Neu 23 Die Milz und ihre Erkrankungen . . . . . . . . G. Gaedicke, W. Barthlen 24 Angeborene Immundefekte . . . . . . . . . . C. Klein 25 Erworbene Immundefekte . . . . . . . . . . . I. Grosch-Wörner, V. Wahn
66
Hämatologie im Neugeborenenalter
Grundlagen 1 Physiologie der Hämatopoese . . . . . . . . . . . . . . K.-W. Sykora, K. Welte 2 Morphologische hämatologische Diagnostik . . . . . C. Niemeyer, C. Ortmann, I. Baumann
5 16
Knochenmark 3 Aplastische Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Niemeyer, I. Baumann, M. Führer 4 Hämatopoetische Stammzelltransplantation . . . . . W. Ebell
Anämien und Hämoglobinopathien 5 Klassifikation der Anämien . . . . . . . . . . . . . . G. Gaedicke 6 Hypoplastische Anämien . . . . . . . . . . . . . . . C. Niemeyer, J. Meerpohl 7 Physiologie und Pathophysiologie des Eisenstoffwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Nielsen, G. Gaedicke 8 Megaloblastäre und kongenitale dyserythropoetische Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Niemeyer, J. Rössler 9 Angeborene Erythrozytenmembrandefekte . . . S. Eber 10 Angeborene Erythrozytenenzymdefekte . . . . . A. Pekrun, D. Reinhardt, O. Witt 11 Autoimmunhämolytische Anämien . . . . . . . . A. Salama, G. Gaedicke 12 Erworbene angiopathische und mechanische hämolytische Anämien . . . . . . . . . . . . . . . . M. Brandis, U. Kontny 13 Hämoglobinvarianten und seltene Hämoglobinkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.E. Kulozik 14 Thalassämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.E. Kulozik 15 Sichelzellkrankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Dickerhoff, A.E. Kulozik 16 Anämien chronischer Erkrankungen . . . . . . . . M.U. Muckenthaler, A.E. Kulozik
. .
86
. .
92
26 Anämien des Früh- und Neugeborenen . R.F. Maier 27 Morbus haemolyticus neonatorum . . . . C.P. Speer 28 Thrombozytopenien des Neugeborenen C. Dame 29 Hämostase beim Neugeborenen . . . . . W. Muntean, B. Roschitz
. . . . . 237 . . . . . 246 . . . . . 253 . . . . . 268
. . . . . . . 278 . . . . . . . 285 . . . . . . . 290 . . . . . . . 303
. . 101
Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen . . 111 . . 123 . . 139
30 Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 D. Reinhardt, J. Ritter 31 Stoffwechselerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 319 T. Marquardt, E. Harms, J. Ritter
. . 147
. . 155
Sektion II: Pädiatrische Hämostaseologie
. . 161
Thrombozyten . . 169 . . 179 . . 186
Granulozyten/Monozyten/Makrophagen 17 Granulozytopenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zeidler, K. Welte 18 Granulozytenfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . R. Seger 19 Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen J. Roth, J. Ritter 20 Histiozytosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Gadner, N. Grois
192
32 Physiologie des Thrombozyten . . . . . . . . . F. Bergmann 33 Thrombozytenfunktionsstörungen . . . . . . . F. Bergmann 34 Kongenitale Thrombozytopenien . . . . . . . . C. Zeidler, K. Welte 35 Idiopathische thrombozytopenische Purpura P. Imbach, T. Kühne, G. Gaedicke 36 Thrombozytosen und Thrombozythämien . . A.H. Sutor †, C. Dame
. . . . 333 . . . . 340 . . . . 352 . . . . 357 . . . . 368
203
Koagulopathien 214 221
37 Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse . . . . . . . . . . . . . . . . 373 R. Schneppenheim, B. Zieger
X
Inhaltsverzeichnis
38 Hämophilie A und B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 W. Muntean, M. Köstenberger 39 Von-Willebrand-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 R. Schneppenheim 40 Angeborene und erworbene Thrombophilien . . . . 402 R. Schneppenheim, K. Helmke, F. Bergmann
Sektion IV: Spezielle pädiatrische Onkologie Leukämien und Lymphome
Sektion III: Allgemeine pädiatrische Onkologie Grundlagen 41 Epidemiologie, Ätiologie, Prävention . . P. Kaatsch, C. Spix, J. Schüz 42 Genetik und genetische Prädisposition O.A. Haas 43 Zellbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . K.-M. Debatin, S. Fulda 44 Tumorimmunologie . . . . . . . . . . . . H.N. Lode
. . . . . . . . 421 . . . . . . . . 436 . . . . . . . . 454 . . . . . . . . 471
Diagnostik 45 Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Selle 46 Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Schmidt, I. Leuschner, C. Poremba 47 Minimale Resterkrankung . . . . . . . . . . . T. Lion, M. Dworzak 48 Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . B. Stöver 49 Funktionelle Genomik und Proteomik . . . S. Burdach, M.S. Staege
57 Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Reinhardt, J. Ritter 58 Akute lymphoblastische Leukämien . . . . . . . . . M. Schrappe, J. Harbott, H. Riehm 59 Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie A. von Stackelberg, G. Henze 60 Akute myeloische Leukämien . . . . . . . . . . . . . U. Creutzig, D. Reinhardt 61 Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonozytäre Leukämie . . . . . . . . . . . . . . C. Niemeyer, C. Kratz 62 Chronische myeloproliferative Erkrankungen . . . M. Suttorp 63 Non-Hodgkin-Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . A. Reiter, G. Mann, R. Parwaresch 64 Morbus Hodgkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Dörffel, G. Schellong 65 Erworbene lymphoproliferative Syndrome . . . . . W. Holter, A. Heitger
. 647 . 656 . 680 . 690
. 715 . 724 . 732 . 752 . 770
. . . . . . 485
Solide Tumoren . . . . . . 495 . . . . . . 521 . . . . . . 531 . . . . . . 553
Therapie 50 Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L. Kager, C. Langebrake, U. Kastner 51 Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Pötter, K. Dieckmann 52 Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . H. Mau 53 Hyperthermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Wessalowski, U. Göbel 54 Differenzierungs- und antiangiogene Therapie L. Schweigerer 55 Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Burdach 56 Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . U. Creutzig, M. Zimmermann
. . . 560 . . . 578 . . . 595 . . . 604 . . . 613 . . . 620
. . . 634
66 ZNS-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Kühl †, R. Korinthenberg 67 Retinoblastome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Wieland, W. Havers 68 Neuroblastome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Ladenstein, F. Berthold, I. Ambros, P. Ambros 69 Nierentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. Graf, C. Rübe, M. Gessler 70 Weichteilsarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . J. Treuner, I. Brecht 71 Osteosarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zoubek, R. Windhager, S. Bielack 72 Ewing-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Jürgens, M. Paulussen, A. Zoubek 73 Lebertumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. von Schweinitz 74 Keimzelltumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Calaminus, D.T. Schneider, P. Schmidt, R. Wessalowski 75 Endokrine Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P. Bucsky, M. Brauckhoff, C. Reiners 76 Seltene Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . R. Mertens, L. Lassay
777 823 829 847 865 882 894 911 922
939 950
XI Inhaltsverzeichnis
Sektion V: Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie 77 Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Urban, J. Ritter 78 Intensivtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Borkhardt 79 Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.H. Groll, A. Simon, T. Lehrnbecher 80 Blutungen und Thromboembolien . . . . . . V. Witt 81 Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . T. Lehrnbecher 82 Transfusionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . W. Ebell, A. Salama 83 Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Buderus, M.J. Lentze 84 Behandlung von Übelkeit und Erbrechen . . L. Kager, C. Langebrake 85 Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Zernikow 86 Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen . . . . . . . . . . . . . H. Labouvie, G. Bode 87 Komplementäre und alternative Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . B. Krammer, A. Längler
Sektion VI: Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
. . . . 1032
88 Spätfolgen der Erkrankung und Therapie T. Langer, H.-G. Dörr, J.-D. Beck 89 Zweitneoplasien . . . . . . . . . . . . . . . . C. Niemeyer, R. Ammann 90 Palliative Betreuung und Behandlung . . R. Topf, E. Bergsträßer 91 Ethische und juristische Aspekte . . . . . . D. Niethammer 92 Nachsorge und Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten . . . . . . . . E. Frey 93 Rehabilitation und Lebensqualität . . . . . R. Dopfer, R. Felder-Puig
. . . . 1043
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141
. . . . 1053
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177
. . . . 1059
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1205
. . . . 963 . . . . 972 . . . . 978 . . . . 1010
. . . . 1021
. . . . 1070
. . . . 1077
. . . . . . 1085 . . . . . . 1094 . . . . . . 1112 . . . . . . 1123
. . . . . . 1127 . . . . . . 1132
XIII
Autorenverzeichnis Ammann, Roland, Dr.
Bielack, Stefan, Priv.-Doz. Dr.
Burdach, Stefan, Prof. Dr.
Inselspital – Universitätsspital Bern Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde 3010 Bern, Schweiz
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Kinderklinik und Poliklinik der TU München Kinderklinik Schwabing Kölner Platz 1, 80804 München
Ambros, Inge, Dr. Forschungsinstitut für krebskranke Kinder St. Anna Kinderspital Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Bode, Gerlind, Dr. Deutsche Kinderkrebsstiftung Joachimstr. 20, 53113 Bonn
Calaminus, Gabriele, Dr. Universitätsklinikum Düsseldorf Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Immunologie Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
Creutzig, Ursula, Prof. Dr. Ambros, Peter, Univ.-Doz. Dr.
Borkhardt, Arndt, Prof. Dr.
Forschungsinstitut für krebskranke Kinder St. Anna Kinderspital Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Kinderklinik und Poliklinik Abt. Hämatologie und Onkologie Lindwurmstr. 4, 80337 München
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48219 Münster
Barthlen, Winfried, Priv.-Doz. Dr.
Brandis, Mathias, Prof. Dr.
Dame, Christof, Prof. Dr.
Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik und Poliklinik für Kinderchirurgie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik I: Allgemeine Pädiatrie und Poliklinik Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinder- und Jugendmedizin Klinik für Neonatologie Augustenburgerplatz 1 13353 Berlin
Brauckhoff, Michael, Dr.
Debatin, Klaus-M., Prof. Dr.
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Klinik für Allgemein-, Visceralund Gefäßchirurgie Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle
Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin Kinderonkologisches Zentrum Prittwitzstr. 43, 89070 Ulm
Baumann, Irith, Priv.-Doz. Dr. Universität Erlangen Pathologisch-Anatomisches Institut Krankenhausstr. 8–10, 91054 Erlangen
Beck, Jörn-D., Prof. Dr. Universitäts-Kinderklinik Immunologie/Onkologie Loschgestr. 15, 91054 Erlangen
Bergmann, Frauke, Dr. Labor Wagner, Stippe & Partner Georgstr. 50, 30159 Hannover
Dickerhoff, Roswita, Dr. Brecht, Ines, Dr. Olgahospital Kinderklinik Pädiatrie 5 Bismarckstr. 8, 70176 Stuttgart
Bucsky, Peter, Prof. Dr. Bergsträßer, Eva, Dr. Universitäts-Kinderspital Hämatologie/Onkologie Steinwiesstr. 75, 8032 Zürich, Schweiz
Medizinische Universität zu Lübeck Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck
Buderus, Stephan, Priv.-Doz. Dr. Berthold, Frank, Prof. Dr. Universitätsklinikum Köln Zentrum für Kinderonkologie und -hämatologie Joseph-Stelzmann-Str. 9, 50934 Köln
Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Bonn Abteilung für Allgemeine Pädiatrie und Poliklinik Adenauerallee 119, 53113 Bonn
Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin Allgemeine Kinder- und Jugendheilkunde Hämatologie und Onkologie Arnold-Hansen-Str. 29 53757 Sankt Augustin
Dieckmann, Karin, Prof. Dr. Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie und -biologie Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich
Dopfer, Roland, Dr. Nachsorgeklinik Tannheim GmbH Gemeindewaldstr. 75 78052 VS-Tannheim
XIV
Autorenverzeichnis
Dörffel, Wolfgang, Dr.
Fulda, Simone, Priv.-Doz. Dr.
Grosch-Wörner, Ilse, Prof. Dr.
HELIOS-Klinikum Berlin Klinikum Buch II. Klinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Wiltbergstr. 50, 13122 Berlin
Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin Kinderonkologisches Zentrum Prittwitzstr. 43, 89070 Ulm
Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Knochenmarktransplantation Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
Gadner, Helmut, Prof. Dr. Dörr, Helmuth-G., Prof. Dr. Universitätsklinikum Erlangen Kinder- und Jugendklinik Loschgestr. 15, 91054 Erlangen
St. Anna Kinderspital Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Dworzak, Michael, Univ.Doz. Dr. St. Anna Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologie Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Gaedicke, Gerhard, Prof. Dr. Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Knochenmarktransplantation Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Ebell, Wolfram, Dr. Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Knochenmarktransplantation Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Kinderklinik und Poliklinik der TU München Kinderklinik Schwabing Kölner Platz 1, 80804 München
Felder-Puig, Rosemarie, Mag. St. Anna Kinderspital Psychosoziales Team Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Universität Würzburg Theodor-Boveri-Institut für Biowissenschaften Am Hubland, 97074 Würzburg
Klinikum Augsburg Klinik für Kinder und Jugendliche Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg
Göbel, Ulrich, Prof. Dr. Universitätsklinikum Düsseldorf Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Immunologie Moorenstr. 5, 40001 Düsseldorf
Graf, Norbert, Prof. Dr.
St. Anna Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologie Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Universitätsklinikum des Saarlandes Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin Abt. für Pädiatrische Hämatologie/ Onkologie 66421 Homburg
Frühwald, Michael C., Priv.-Doz. Dr.
Grois, Nicole, Dr.
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Forschungsinstitut für krebskranke Kinder St. Anna Kinderspital Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Frey, Eva, Dr.
Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Kinderklinik und Poliklinik Lindwurmstr. 4, 80337 München
Harbott, Jochen, Prof. Dr. Justus-Liebig-Universität Gießen Zentrum für Kinderheilkunde Abt. Hämatologie und Onkologie Feulgenstr. 12, 35385 Gießen
Harms, Erik, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Allgemeine Pädiatrie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Havers, Werner, Prof. Dr. Universitäts-Kinderklinik Essen Abt. für Pädiatrische Hämatologie, Endokrinologie und Onkologie Hufelandstr. 55, 45122 Essen
Heitger, Andreas, Univ.-Doz. Dr. St. Anna-Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologie Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Helmke, Knut, Prof. Dr. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Klinik für Diagnostische und Interventionelle Radiologie Abteilung Kinderradiologie Martinistr. 52, 20246 Hamburg
Henze, Günter, Prof. Dr. Groll, Andreas H., Priv.-Doz. Dr.
Führer, Monika, Dr.
St. Anna Kinderspital Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Gessler, Manfred, Prof. Dr.
Gnekow, Astrid, Dr. Eber, Stefan, Prof. Dr.
Haas, Oskar A., Prof. Dr.
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Pädiatrie m. S. Hämatologie/ Onkologie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
XV Autorenverzeichnis
Holter, Wolfgang, Prof. Dr.
Korinthenberg, Rudolf, Prof. Dr.
Labouvie, Hildegard, Dipl.-Psych.
Universitätsklinikum Erlangen Kinder- und Jugendklinik Abt. Zelltherapie Loschgestr. 25, 91054 Erlangen
Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik II: Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen Mathildenstr. 1 79106 Freiburg
Universitätsklinikum Bonn Zentrum für Kinderheilkunde Abteilung für Hämatologie/Onkologie Adenauerallee 119 53113 Bonn
Imbach, Paul, Prof. Dr. Universitäts-Kinderspital bei der Basel UKBB Römergasse 8, 4005 Basel, Schweiz
Janka-Schaub, Gritta, Prof. Dr. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatol./Onkologie Martinistr. 54, 20246 Hamburg
Jürgens, Heribert, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Kaatsch, Peter, Dr. Deutsches Kinderkrebsregister Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik Johannes-Gutenberg-Universität Obere Zahlbacher Str. 69, 55131 Mainz
Kager, Leo, Dr. St. Anna Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologe Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Kastner, Ulrike, Univ.-Doz. Dr. St. Anna Kinderspital Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Klein, C., Prof. Dr. Dr. Medizinische Hochschule Hannover Zentrum für Kinderheilkunde und Humangenetik Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
Kontny, Udo, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Kortmann, Rolf-Dieter, Prof. Dr. Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie Universitätsklinikum Leipzig Stephanstr. 9a 04103 Leipzig
Ladenstein, Ruth, Univ.-Doz. Dr. St. Anna Kinderspital Abteilung Hämatologie/Onkologie Forschungsinstitut für krebskranke Kinder Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Langebrake, Claudia, Dr. Köstenberger, Martin, Dr. Ludwig Boltzmann Institut für pädiatrische Hämostaseologie Univ. Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Graz Abt. Allgemeine Pädiatrie Auenbruggerplatz 30 8036 Graz, Österreich
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Langer, Thorsten, Priv.-Doz. Dr.
St. Anna Kinderspital Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Universitätsklinikum Erlangen Kinder- und Jugendklinik Abt. Onkologie und Hämatologie Loschgestr. 15 91054 Erlangen
Kratz, Christian, Priv.-Doz. Dr.
Längler, Alfred, Dr.
Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV: Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke Pädiatrie Gerhard-Kienle-Weg 4 58315 Herdecke
Krammer, Barbara, Dr.
Kühl, Joachim, Prof. Dr. † Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Josef-Schneider-Str. 2 97080 Würzburg
Lassay, Lisa, Dr. Universitätsklinikum Aachen Kinderklinik Pauwelstr. 30, 52074 Aachen
Lehrnbecher, Thomas, Prof. Dr.
Universitäts-Kinderspital bei der Basel UKBB Abt. Pädiatrische Onkologie/ Hämatologie Römergasse 8, 4005 Basel
Universitätsklinikum Frankfurt a.M. Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Kinderheilkunde III Pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Hämostaseologie Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt
Kulozik, Andreas E., Prof. Dr. Dr.
Lentze, Michael J., Prof. Dr.
Universitätsklinikum Heidelberg Kinderheilkunde III Abteilung für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Immunologie Im Neuenheimer Feld 150 69120 Heidelberg
Universitätsklinikum Bonn Zentrum für Kinderheilkunde Abteilung für allgemeine Pädiatrie und Poliklinik Adenauerallee 119, 53113 Bonn
Kühne, Thomas, PD. Dr.
XVI
Autorenverzeichnis
Leuschner, Ivo, Priv.-Doz. Dr.
Muckenthaler, Martina U., Prof. Dr.
Paulussen, Michael, Priv.-Doz. Dr.
Universitätsklinikum Kiel Institut für Allgemeine Pathologie Michaelisstr. 11, 24105 Kiel
Universitätsklinikum Heidelberg Kinderheilkunde III: Abteilung für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Immunologie Im Neuenheimer Feld 153 69120 Heidelberg
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Lion, Thomas, Prof. Dr. Dr. Forschungsinstitut für krebskranke Kinder St. Anna Kinderspital Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Lode, Holger N., Priv.-Doz. Dr. Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Knochenmarktransplantation Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
Muntean, Wolfgang, Prof. Dr. Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Klinische Abteilung für Allgemeine Pädiatrie, Auenbruggerplatz 30 8036 Graz, Österreich
Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Anichstr. 35 6020 Innsbruck, Österreich
Nielsen, Peter, Priv.-Doz. Dr. Dr.
Universitätsklinikum Marburg Klinik für Neonatologie und Neuropädiatrie Deutschhausstr. 12, 35037 Marburg
Universitätsklinikum HamburgEppendorf Institut für Biochemie und Molekularbiologie II Eisenstoffwechsel Haus N-41 Martinistr. 52, 20246 Hamburg
St. Anna Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologie Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Marquardt, Thorsten, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Allgemeine Pädiatrie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Mau, Harald, Prof. Dr. Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Meerpohl, Jörg, Dr. Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV: Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Mertens, Rolf, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Aachen Kinderklinik Hämatologie/Onkologie Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen
Klinikum Bremen Professor-Hess-Kinderklinik Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin St.-Jürgen-Str. 1, 28205 Bremen
Neu, Nikolaus, Prof. Dr.
Maier, Rolf F., Prof. Dr.
Mann, Georg, Dr.
Pekrun, Arnulf, Prof. Dr.
Niemeyer, Charlotte, Prof. Dr. Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV: Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Niethammer, Dietrich, Prof. Dr. Universitätsklinikum Tübingen Universitätsklinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Hoppe-Seyler-Str. 1, 72076 Tübingen
Pietsch, Torsten, Prof. Dr. Universität Bonn Institut für Neuropathologie Sigmund-Freud-Str. 25 53105 Bonn
Poremba, Christopher, Prof. Dr. Universitätsklinikum Düsseldorf Institut für Pathologie Moorenstr. 5, 40425 Düsseldorf
Pötter, Richard, Prof. Dr. Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie und -biologie Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich
Reiners, Christoph, Prof. Dr. Universitätsklinikum Würzburg Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin Josef-Schneider-Str. 2 97080 Würzburg
Reinhardt, Dirk, Priv.-Doz. Dr. Ortmann, Christina, Dr. Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV: Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Reiter, Alfred, Prof. Dr. Parwaresch, Reza, Prof. Dr. Dr. h.c. Universitätsklinikum SchleswigHolstein Institut für Hämatopathologie Niemanssweg 11, 24105 Kiel
Universitätsklinikum Gießen Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Feulgenstr. 12, 35385 Gießen
XVII Autorenverzeichnis
Riehm, Hansjörg, Prof. Dr. Dr. h.c.
Schmidt, Dietmar, Prof. Dr.
Seger, Reinhard, Prof. Dr.
Medizinische Hochschule Hannover Zentrum Kinderheilkunde IV Abt. Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
Institut für Pathologie Allgemeine Histologie und Zytologie A2, 2, 68159 Mannheim
Kinderspital Zürich Universitäts-Kinderklinik Steinwiesstr. 75 8032 Zürich, Schweiz
Ritter, Jörg, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Roschitz, Birgit, Dr. Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Auenbruggerplatz 30 8036 Graz, Österreich
Rössler, Jochen, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik IV: Pädiatrische Hämatologie/ Onkologie Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Roth, Johannes, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Münster Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Allgemeine Pädiatrie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Rübe, Christian, Prof. Dr. Universitätsklinikum des Saarlandes Klinik für Strahlentherapie 66421 Homburg
Rutkowski, Stefan, Dr. Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Pädiatrische Neuroonkologie Josef-Schneider-Str. 2, 97080 Würzburg
Schmidt, Piroschka, Dr. Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Kinderklinik und Poliklinik Lindwurmstr. 4, 80337 München
Schneider, Marion, Prof. Dr. Universitätsklinikum Ulm Klinik für Anästhesiologie Sektion Experimentelle Anästhesiologie Steinhövelstr. 9, 89075 Ulm
Schneider, Dominik T., Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Düsseldorf Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Immunologie Moorenstr. 5 40225 Düsseldorf
Schneppenheim, Reinhard, Prof. Dr. Universitätsklinikum HamburgEppendorf Klinik und Poliklinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Martinistr. 52 20246 Hamburg
Schrappe, Martin, Prof. Dr. Universitätsklinikum SchleswigHolstein Klinik für Allgemeine Pädiatrie Schwanenweg 20, 24105 Kiel
Schüz, Joachim, Priv.-Doz. Dr. Deutsches Kinderkrebsregister Institut für Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik Johannes-Gutenberg-Universität Obere Zahlbacher Str. 69 55131 Mainz
Schweigerer, Lothar, Prof. Dr. Salama, Abdulgabar, Prof. Dr. Charité Campus Virchow-Klinikum Institut für Transfusionsmedizin Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Universitätsklinikum Göttingen Pädiatrie I mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen
Schellong, Günther, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Schweinitz, Dietrich von, Prof. Dr. Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München Kinderchirurgische Klinik Lindwurmstr. 2a 80337 München
Selle, Barbara, Dr. Kinderklinik St. Anna-Stift Abt. Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Immunologie Karolina-Burger-Str. 51 67065 Ludwigshafen
Simon, Arne, Dr. Universitätsklinikum Bonn Zentrum für Kinderheilkunde Abt. f. Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Adenauerallee 119, 53113 Bonn
Slavc, Irene, Prof. Dr. Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich
Sörensen, Nils, Prof. Dr. Universitätsklinikum Würzburg Neurochirurgische Klinik und Poliklinik Abt. f. Pädiatrische Neurochirurgie Josef-Schneider-Str. 11 97080 Würzburg
Speer, Christian P., Prof. Dr. Universitätsklinikum Würzburg Kinderklinik und Poliklinik Josef-Schneider-Str. 2 97080 Würzburg
Spix, Claudia, Dr. Deutsches Kinderkrebsregister Institut für Medizinische Biometrie Epidemiologie und Informatik Johannes-Gutenberg-Universität Obere Zahlbacher Str. 69 55131 Mainz
Stackelberg, Arend von, Dr. Charité Campus Virchow-Klinikum Otto-Heubner-Centrum für Kinderund Jugendmedizin Klinik für Pädiatrie m. S. Hämatologie/ Onkologie Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
XVIII
Autorenverzeichnis
Staege, Martin S., Dr.
Wahn, Volker, Prof. Dr.
Zernikow, Boris, Priv.-Doz. Dr.
Zentrum für Kinderheilkunde Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Hämatologie/Onkologie Ernst-Grube-Str. 40, 06097 Halle
Klinikum Uckermark Klinik für Kinder und Jugendliche 16924 Schwedt
Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Albert-Schweitzer-Str. 33 48129 Münster
Stöver, Brigitte, Prof. Dr. Charité Campus Virchow-Klinkum Kliniken und Institute für Strahlenheilkunde und Radiologie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
Sutor, Anton H., Prof. Dr. † Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik I: Allgemeine Pädiatrie und Poliklinik Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
Suttorp, Meinolf, Prof. Dr. Universitätsklinikum Dresden Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Fetscherstr. 74, 01307 Dresden
Sykora, Karl-Walter, Priv.-Doz. Dr. Medizinsche Hochschule Hannover Zentrum für Kinderheilkunde, Humangenetik und Dermatologie Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
Warmuth-Metz, Monika, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Würzburg Abt. für Neuroradiologie Josef-Schneider-Str. 11, 97080 Würzburg
Zieger, Barbara, Priv.-Doz. Dr. Welte, Karl, Prof. Dr. Medizinische Hochschule Hannover Zentrum für Kinderheilkunde, Humangenetik und Dermatologie Abt. f. Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
Zimmermann, Martin, Dr. Wessalowski, Rüdiger, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Düsseldorf Klinik für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Immunologie Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
Wieland, Regina, Dr. Universitäts-Kinderklinik Essen Zentrum für Kinderheilkunde Abt. für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Endokrinologie Hufelandstr. 55, 45122 Essen
Windhager, Reinhard, Prof. Dr. Orthopädische Universitätsklinik Auenbruggerplatz 15 8036 Graz, Österreich
Topf, Reinhard, Dr. St. Anna Kinderspital Psychosoziales Team Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Witt, Olaf, Priv.-Doz. Dr. Universitätsklinikum Göttingen Abt. Pädiatrie I m. S. Hämatologie und Onkologie Robert-Koch-Str. 40, 37075 Göttingen
Treuner, Jörn, Prof. Dr. Olgahospital – Pädiatrisches Zentrum Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Pädiatrie 5: Onkologie, Hämatologie und Immunologie Bismarckstr. 8, 70176 Stuttgart
Witt, Volker, Dr.
Urban, Christian, Prof. Dr.
Wolff, Johannes E.A., Priv.-Doz. Dr.
Universitätsklinik für Kinderund Jugendheilkunde Graz Klinische Abt. f. Hämatologie/ Onkologie Auenbruggerplatz 30 8036 Graz, Österreich
Klinik St. Hedwig Pädiatrisch Onkologie Steinmetzstr. 1–3, 93049 Regensburg
van Velthoven-Wurster, Vera, Prof. Dr. Universitätsklinikum Freiburg Neurochirurgische Klinik Pädiatrische Neurochirurgie Breisacherstr. 64, 79106 Freiburg
Universitätsklinikum Freiburg Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin Klinik I: Allgemeine Pädiatrie und Poliklinik Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg
St. Anna Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologie Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
Zeidler, Cornelia, Dr. Medizinische Hochschule Hannover Zentrum für Kinderheilkunde, Humangenetik und Dermatologie Abt. f. Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
Medizinische Hochschule Hannover Kinderklinik Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover
Zoubek, Andreas, Univ.-Doz. Dr. St. Anna Kinderspital Abt. Hämatologie/Onkologie Kinderspitalgasse 6 1090 Wien, Österreich
XIX
Abkürzungsverzeichnis AA AAV ACC ACD ACINE ACP ACTH ADA ADCC
ADEPT ADR AF AFH AFP AIDS AIF AIHA AIN AITP ALCL ALG ALI ALL ALP AMG AML ANC APA APC APC APC APCR APS aPTT APUD ARDS aRMS AS AST ASZT AT AT AT/RT ATG ATLD ATLS ATM ATRA AUC
aplastische Anämie Adeno-assoziiertes Virus adrenokortikales Karzinom »anemia of chronic disease« antizipatorische Chemotherapie-induzierte Nausea und Emesis »acid phosphatase«; saure Phosphatase adrenokortikotropes Hormon Adenosindeaminase »antibody-dependent cell-mediated cytotoxicity«, antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität »antibody-dependent enzyme prodrug therapy« Adriamycin aggressive Fibromatose angiomatöses fibröses Hystiozytom alpha-Fetoprotein »acquired immune deficiency syndrome« »apoptosis inducing factor« autoimmunhämolytische Anämie Autoimmunneutropenie Autoimmunthrombozytopenie großzellig-anaplastisches Lymphom Antilymphozytenglobulin »acute lung injury« akute lymphoblastische Leukämie alkalische Leukozytenphosphatase Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (kurz: Arzneimittelgesetz) akute myeloische Leukämie »absolute neutrophil count«, absolute Neutrophilenzahl Antiphospholipidantikörper »antigen presenting cell«, Antigenpräsentierende Zelle aktiviertes Protein C adenomatöse Polyposis coli APC-Resistenz Antiphospholipidsyndrom aktivierte partielle Thromboplastinzeit »amine precursor uptake and decarboxylation« »acute respiratory distress syndrome« alveoläres Rhabdomyosarkom Angiosarkom Askin-Tumor autologe Stammzelltransplantation Antithrombin (ehemals AT III) Ataxia teleangiectatica atypischer teratoider/rhabdoider Tumor Antithymozytenglobulin »ataxia teleangiectasia like disorder« akutes Tumorlysesyndrom »ataxia telangiectasia mutated« All-trans-Retinolsäure »area under the curve«
AVN AWTS
avaskuläre Knochennekrose alveoläres Weichteilsarkom
BAL BCG BDNF BER bFGF BFU BFU-E bHLH BIA BLS BMI BMP BMT
Bronchiallavage Bacille-Calmette-Guérin »brain derived neurotrophic factor« »base excision repair« »basic fibroblast growth factor« »burst forming unit« »burst forming unit erythroid« basisches Helix-Loop-Helix-Protein bioelektrische Impedanzbestimmung Bare-Lymphocyte-Syndrom »body mass index« »bone morphogenetic protein« »bone marrow transplantation«, Knochenmarktransplantation Blutsenkungsgeschwindigkeit Bernard-Soulier-Syndrom Bruton’s Tyrosinkinase Busulfan Beckwith-Wiedemann-Syndrom
BSG BSS BTK BU BWS CAD CAFC CAM CAMT CBF CBL CBT
CCI CCR
CCS CCT CDA CDC CDC CDDP CDK CDR CE CEA CEL CF cFS CFU CFU-E CFU-F
»caspase activated DNase« »cobblestone area forming cell« »complementary and alternative medicine«, komplementäre und alternative Medizin kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie »core binding factor« Cobalamin »cord blood transplantation«, Nabelschnurbluttransplantation (Plazentarestbluttransplantation) »corrected counted increment« »continuous complete remission«, kontinuierliche komplette Remission, anhaltende Vollremission Klarzellsarkom kraniale Computertomographie »congenital dyserythropoietic anemia«, kongenitale dyserythropoetische Anämie chronisch-disseminierte Candida-Infektion »complement-dependent cytotoxicity« Cisplatin zyklinabhängige Kinase »complementarity determining region« Carboxylesterase karzinoembryonales Antigen chronische Eosinophilen-Leukämie zystische Fibrose kongenitales Fibrosarkom »colony forming unit«, kolonieformende Einheit »colony forming unit erythroid« »fibroblast colony forming unit«, Fibroblastenkolonie-bildende Einheit
XX
Abkürzungsverzeichnis
CFU-GM CFU-Meg CGD CGH CHL CHS CID CINE cis-RA CLL CML CMML CMPE CMT CMV COX CPAP CPL cPNET CR CRC CRF CRP CRT CSA CSF-1 CTA CTL CTRUS CTV CVAD CVID CYC DBA DC DDAVP DDS DEB DEXA DFO DFS DHF DHFR DHPLC DI DIC DISC DLI
kolonieformende Einheit für Granulozyten und Makrophagen »megakaryocyte colony forming unit« »chronic granulomatous disease«, chronische septische Granulomatose »comparative genomic hybridization«, komparative genomische Hybridisierung klassisches Hodgkin-Lymphom Chediak-Higashi-Syndrom kombinierter Immundefekt Chemotherapie-induzierte Nausea und Emesis 13-cis-Retinolsäure chronische lymphatische Leukämie chronische myeloische Leukämie chronische myelomonozytäre Leukämie chronische myeloproliferative Erkrankungen »combined modality therapy« Zytomegalievirus Cyclooxygenase »continous positive airway pressur« »compartment für peptide loading« zerebraler primitiver neuroektodermaler Tumor »complete remission«, komplette Remission, Vollremission kolorektales Karzinom »case record form« C-reaktives Protein »cranial irradiation«, Schädelbestrahlung Ciclosporin A »colony stimulating factor 1«, Koloniestimulierender Faktor 1 CT-Angiographie »cytotoxic T-lymphocytes«, zytotoxische T-Lymphozyten amegakaryozytäre Thrombozytopenie mit radioulnarer Synostose »clinical target volume«; klinisches Zielvolumen »central venous access device« common variable immunodeficiency Cyclophosphamid Diamond-Blackfan-Anämie dendritische Zelle 1-Deamino-8-Arginin-Vasopressin Denys-Drash-Syndrom Diepoxybutan »dual energy X-ray absorptiometry« Deferoxamin »disease-free survival« Dihydrofolat Dihydrofolatreduktase »denaturing high pressure liquid chromatography« Dauerinfusion »disseminated intravasal coagulation«, disseminierte intravasale Gerinnung »death-inducing signaling complex« Donorlymphozyteninfusion
DM DMSO DNES DNR DOX DPD DPG DRT dRVVT DTC DVH
»double minutes« Dimethylsulfoxid diffuses neuroendokrines System Daunorubicin Doxorubicin Dihydropyrimidin-Dehydrogenase Diphosphoglycerat desmoplastischer, klein- und rundzelliger Tumor »Russel-viper venom«-Zeit differenziertes thyreoidales Karzinom, differenziertes Schilddrüsenkarzinom Dosis-Volumen-Histogramm
EA EBNA EBV ECMO ECS ECT ED EDC EES EF-RT EFS EGF
»early antigen« »Epstein-Barr nuclear antigen« Epstein-Barr-Virus extrakorporale Membranoxygenierung extraskelettales Chondrosarkom »ecarin clotting time« Einzeldosis »electronic data capture« extraossäres Ewing-Sarkom »Extended-field«-Radiotherapie »event-free survival«, ereignisfreies Überleben »epidermal growth factor«, epidermaler Wachstumsfaktor EGFR »epidermal growth factor receptor«, epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor EHEC enterohämorragische Escherichia coli EK Erythrozytenkonzentrat EM Elektronenmikroskopie EMA epitheliales Membranantigen EPO Erythropoetin ER endoplasmatisches Retikulum eRMS embryonales Rhabdomyosarkom ES epitheloides Sarkom ES Ewing-Sarkom ET essenzielle Thrombozythämie, essenzielle Thrombozytose ETO/VP16 Etoposid EWS Ewing-Sarkom FACS FAP FDG FEL FFP FFTF FGF FHL FISH FLC fMLP FMTC FNH FNHTR
Fluoreszenz-aktivierte Zellsortierung familiäre adenomatöse Polyposis Fluorodesoxyglukose familiäre erythrophagozytische Lymphohistiozytose »fresh frozen plasma« »freedom from treatment failure« »fibroblast growth factor«, FibroblastenWachstumsfaktor familiäre hämophagozytäre Lymphohistiozytose Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung fibrolamelläres Leberkarzinom Formyl-Methionylleucylphenylalanin familiäres medulläres Schilddrüsenkarzinom fetale noduläre Hyperplasie der Leber febrile nicht-hämolytische Transfusionsreaktion
XXI Abkürzungsverzeichnis
FPD FS FSH fTBI FTI 5-FU FUO
»familial platelet disorder« Fibrosarkom Follikel stimulierendes Hormon fraktionierte Ganzkörperbestrahlung Farnesyltransferase-Inhibitoren 5-Fluorouracil Fieber unbekannter Ursache
GALV GBM GC G-CSF
Gibbon-Ape-Leukemia-Virus Glioblastoma multiforme Glukokortikoide »granulocyte colony stimulating factor«, Granulozytenkolonie-stimulierender Faktor »Guanine-nukleotide-exchange«-Faktor »glial fibrillary acid protein«; saures Gliafaserprotein gefrorenes Frischplasma Glutamat-Formiminotransferase Granulozyten-Immunfluoreszenztest Granulozytenkonzentrat Globoidzellleukodystrophie »granulocyte-monocyte colony stimulating factor«; Granulozyten-Makrophagenkoloniestimulierender Faktor Glykoprotein Glukose-6-Phosphatdehydrogenase Glykosylphosphatidylinositol Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie »glucocorticoid response elements« Gradientenechosequenz »guanidinosuccinic acid« »glycogen storage disease« Gluthation-S-Transferase »gross tumour volume« »graft versus host disease«, Spender-gegenEmpfänger-Erkrankung »graft versus leukemia«, Spender-gegenLeukämie-Reaktion Gray
GEF GFAP GFP GFT GIFT GK GLD GM-CSF
GP G6PD GPI GPOH GRE GRE GSA GSD GST GTV GVHD GVL Gy
HIAA HIF HIT HIV HK HLA HLH HMW HNPCC
HP HP HPA HPF HPFH HPP HPS HPV HR HRS-Zellen HS HSC HSCT HSP HSR HST HSV HTLV HTR HUS HVA HVOD HWZ HX HZV IAHS
Hb HB HbF HBV 4-HC HCC HCG HCV HD HD HD-CT HDR HE HE HEMPAS hENT1 HES HHV
Hämoglobin Hepatoblastom fetales Hämoglobin Hepatitis-B-Virus 4-Hydroxycyclophosphamid hepatozelluläres Karzinom humanes Choriongonadotropin Hepatitis-C-Virus »Hodgkin disease«, Morbus Hodgkin Hochdosis Hochdosischemotherapie »high dose rate« Hämangioendotheliom hereditäre Elliptozytose »hereditay erythroblastic multinuclearity with a positive acid serum test« »human equilibriative nucleosid-transportfacilitating protein 1« Hypereosinophilen-Syndrom humanes Herpesvirus
ICH ICP ICVIP IDR IF IFO IF-RT IGF IHP IL IM IM IMFT
IMRT
Hydroxyindolessigsäure Hypoxie-induzierbarer Faktors Heparin-induzierte Thrombozytopenie humanes Immundefizienz-Virus Hämatokrit humanes Leukozytenantigen hämophagozytische Lymphohistiozytose »high molecular weight« »hereditary non polyposis colorectal cancer«, hereditäres nicht-polypöses Kolonkarzinom Hämangioperizytom hereditäre Poikilozytose »human platelet antigen« »high power field« fetale Hämoglobinsynthese hereditäre Pyropoikilozytose Hermansky-Pudlak-Syndrom humanes Papillomavirus Hochrisiko Hodgkin- und Reed-Sternberg-Zellen hereditäre Sphärozytose »hematopoietic stem cell«, hämatopoetische Stammzelle »hematopoietic stem cell transplantation«, hämatopoetische Stammzelltransplantation Hitzeschockprotein »homogeneous staining regions« hereditäre Stomatozytose Herpes-Simplex-Virus humanes T-Zell-Leukämie-Virus hämolytische Transfusionsreaktion hämolytisch-urämisches Syndrom Homovanillinsäure »hepatic veno-occlusive-disease«, hepatische venookklusive Erkrankung Halbwertszeit hereditäre Xerozytose Herzzeitvolumen infektassoziiertes hämophagozytisches Syndrom »intracranial hemorrhage«, intrakranielle Hämorrhagie »intracranial pressure«, intrakranieller Druck »implanted central venous infusion port« Idarubicin »intrinsic factor«, Intrinsic-Faktor Ifosamid »Involved-field«-Radiotherapie »insulin like growth factor« isolierte hypertherme Extremitätenperfusion Interleukin idiopathische Myelofibrose infektiöse Mononukleose inflammatorischer myofibroblastischer Tumor; inflammatorisches myofibroblastisches Sarkom intensitätsmodulierte Radiotherapie
XXII
Abkürzungsverzeichnis
INR IORT IRDS
IVIG
International Normalized Ratio intraoperative Radiotherapie »infant respiratory distress syndrome«, Atemnotsyndrom des Früh- und Neugeborenen »iron responsive element« »iron regulatory protein« intensive sequenzielle Chemotherapie immunsuppressive Therapie Immuntoleranzinduktion idiopathische thrombozytopenische Purpura, Immunthrombozytopenie »intraventricular hemorrhage«, intraventrikuläre Blutung intravenöses Immunglobulin
JHF JMML JNA JPA JXG
juvenile hyaline Fibromatose juvenile myelomonozytäre Leukämie juveniles Nasopharynxangiofibrom juveniles pilozytisches Astrozytom juveniles Xanthogranulom
KG KIR KM KMT KOF
Körpergewicht »killing inhibitory receptor« Kontrastmittel Knochenmarktransplantation Körperoberfläche
LACI LAD LBL LCH LCR LDH LDR LFS LFU LGG LH LIF LMS LOH LOI LPHD LPS LPS LPS LRCHD
»lipoprotein-associated coagulation inhibitor« Leukozytenadhäsionsdefekt lymphoblastisches Lymphom Langerhans-Zell-Histiozytose Lokuskontrollregion Laktatdehydrogenase »low dose rate« Li-Fraumeni-Syndrom »lost to follow-up« »low grade glioma«; niedrig-malignes Gliom luteinisierendes Hormon »leukemia inhibitory factor« Leiomyosarkom »loss of heterozygosity« »loss of imprinting« lymphozytenprädominanter Morbus Hodgkin Lipopolysaccharid Liposarkom lymphoproliferatives Syndrom lymphozytenreiches klassisches HodgkinLymphom Längensollgewicht »longterm culture initiating cell«, Langzeitkultur-initiierende Zelle »long terminal repeat«
IRE IRP ISC IST ITI ITP IVH
MALT MAPK MAS MBP MCH MCHC
M-CSF
MCV
LSG LT-CIC LTR MAD MAIGA
MAIPA
arterieller Mitteldruck »monoclonal antibody immobilization of granulocyte antigens assay«, monoklonale antikörperspezifische Immobilisation von Granulozytenantigen »monoclonal antibody-specific immobilization of platelet antigens«; monoklonale antikörperspezifische Immobilisation von Plättchenantigen
MDF MDP MDR MDR MDS MEN MESNA MFD MFH MGT MHC MHN MIBG MKI MLC MLD MLL MLV MM MMC MMF MMP MMRD 6-MP MPNST MPNT MPS MPS MPV MR MRD MRD MRP MRS MRT MRT MSD MTC
»mucosa associated lymphatic tissue«; Mukosa-assoziiertes lymphatisches Gewebe »mitogen acitvated protein kinase«, Mitogenaktivierte Proteinkinase Makrophagenaktivierungssyndrom »major basic protein« »mean corpuscular hemoglobin«; mittleres korpuskuläres Hämoglobin »mean corpuscular hemoglobin concentration«, mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration »monozyte colony stimulating factor«, Monozytenkolonie-stimulierender Faktor »mean corpuscular volume«; mittleres korpuskuläres Volumen, mittleres Erythrozytenvolumen »macrophage deactivating factor« Methylendiphospat »medium dose rate« »multi-drug resistance« myelodysplastisches Syndrom multiple endokrine Neoplasie Natrium-2-mercaptoethansulfonsäure »matched family donor« malignes fibröses Histiozytom Megatherapie »major histocompatibility complex«, Major-Histokompatibilitäts-Komplex Morbus haemolyticus neonatorum Metajodbenzylguanidin Mitose-Karyorrhexis-Index »mixed lymphocyte culture«, gemischte Lymphozytenkultur metachromatische Leukodystrophie »mixed-lineage leukemia« Moloney-Leukemia-Virus malignes Mesenchymom Mitomycin C Mycophenolatmofetil Matrix-Metalloprotease »mismatched related donor« 6-Mercaptopurin maligner peripherer Nervenscheidentumor maligner peripherer neuroektodermaler Tumor Mukopolysaccharidose myeloproliferatives Syndrom »mean platelet volume«, mittleres Plättchenvolumen mittleres Risiko »matched related donor« »minimal residual disease«, minimale Resterkrankung »Multi-resistant«-Protein Magnetresonanzspektroskopie Magnetresonanztomographie maligner rhabdoider Tumor (Rhabdoidtumor) »matched sibling donor« medulläres thyreoidales Karzinom, medulläres Schilddrüsenkarzinom
XXIII Abkürzungsverzeichnis
MTD MTHFR MTX MUD MV
maximal tolerable Dosis Methylen-Tetrahydrofolat-Reduktase Methotrexat »matched unrelated donor« Masernvirus
NAT NBS NE NEC NER NF NFP NFS NGF NHL NIV NKZ NLPHD
NTCP
Nukleinsäure-Amplifikationstechnik Nijmegen-Breakage-Syndrom Nausea/Erbrechen nekrotisierende Enterokolitis »nucleotid excision repair« Neurofibromatose Neurofilamentprotein Neurofibrosarkom »nerve growth factor« Non-Hodgkin-Lymphom nichtinvasive Beatmung natürliche Killerzellen noduläres lymphozytenprädominantes Hodgkin-Lymphom Non-Nukleosid-Inhibitor der reversen Transkriptase »not otherwise specified«, nicht klassifizierbar Nasopharynxkarzinom Nukleosid-Inhibitor der reversen Transkriptase noduläre Sklerose nichtsteroidale Antirheumatika neuronenspezifische Enolase »non-synonymous single nucleotid polymorphism« »normal tissue complication probability«
OPSI ORF OS OS OT
»overwhelming postsplenectomy infection« »open reading frames« Osteosarkom »overall survival« Organtransplantation
PAF PAI PAIgG PAMP PAS-Reaktion PB PBSC
Plättchen-aktivierender Faktor Plasminogenaktivator-Inhibitor Plättchen-assoziiertes Immunglobulin G »pathogen-associated molecular pattern« »Periodic-acid-Schiff«-Reaktion peripheres Blut »peripheral blood stem cells«, periphere Blutstammzellen »peripheral blood stem cell transplantation«, periphere Blutstammzelltransplantation Paracetamol »polymerase chain reaction«, PolymeraseKettenreaktion Pharmakodynamik »progressive disease« »platelet-derived growth factor« »pulsed dose rate« parenterale Ernährung »positive endexspiratoric pressure«, positiver endexspiratorischer Druck
NNRTI NOS NPC NRTI NS NSAR NSE nsSNP
PEG PEL PEM PET PFCP
PFS PI PI PID PSIFT PK PLAP PML PNET PNH PNP pPNET PR pRB PRR PSAPOH PSD PT(Z) PTC PTV PV RA RAEB RAEB-T RAR
PBSCT
PCM PCR PD PD PDGF PDR PE PEEP
RARS RAT RB RC RDE RDW RES RET Rh rhG-CSF rhGM-CSF RHS RHT RIPA RIT RMA RME
perkutane endoskopische Gastrostomie primäres Ergusslymphom polymorphes epitheliales Mucin Positronenemissionstomographie »primary familiar congenital polycythemia«, primäre familiäre und angeborene Polyzythämie progressionsfreies Überleben Phosphatidylinositol Protease-Inhibitor Präimplantationsdiagnostik »platelet suspension immunofluorescence test« Pharmakokinetik plazentäre alkalische Phosphatase Promyelozytenleukämie primitiver neuroektodermer Tumor paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie Purinnukleosidphosphorylase peripherer primitiver neuroektodermer Tumor »partial remission«, Teilremission, partielles Ansprechen Retinoblastomprotein »pattern recognition receptor« Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie primärer Sekretionsdefekt Prothrombinzeit papilläres thryreoidales Karzinom, papilläres Schilddrüsenkarzinom »planning target volume«, Planungszielvolumen Polycythaemia vera refraktäre Anämie refraktäre Anämie mit Blastenexzess refraktäre Anämie mit Blastenexzess in Transformation »retinoic acid receptor«, Retinolsäurerezeptor refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten Retina-Anlage-Tumor Retinoblastom refraktäre Zytopenie »remote data entry« »red cell distribution width«; Verteilungsbreite des Erythrozytenvolumens retikuloendotheliales System »rearranged during transfection« Rhesus rekombinanter humaner Granulozytenkolonie-stimulierender Faktor rekombinanter humaner GranulozytenMakrophagenkolonie-stimulierender Faktor retikulohistiozytäres System regionale Tiefenhyperthermie Ristocetin-induzierte Plättchenagglutination Radiojodtherapie alveoläres Rhabdomyosarkom embryonales Rhabdomyosarkom
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
RMS RSV RT-PCR
Rhabdomyosarkom »respiratory syncytial virus« Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion
SAA
»severe aplastic anemia«, schwere aplastische Anämie »serial analysis of gene expression« Stress-aktivierte Proteinkinase Shwachman-Bodian-Diamond-Gen »stem cell factor«, Stammzellfaktor »severe combined immunodeficiency«, schwerer kombinierter Immundefekt schwere chronische (kongenitale) Neutropenie Standardabweichung Shwachman-Diamond-Syndrom Spinechosequenz Standardfehler sinusoidalen Endothelzellen »small for gestation age« Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie Signalintensität Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion Société Internationale d’Oncologie Pédiatrique »small interfering RNA« »standardized incidence ratio« »systemic inflammatory response syndrome« systemischer Lupus erythrematodes sekundäre maligne Neoplasie »single nucleotid polymorphism« Superoxiddismutase »storage pool disease« Single-Photon-Emissions-Computertomographie Schweizerisch Pädiatrischen Onkologie Gruppe »superconducting quantum interference device« Standardrisiko »somatostatin receptor imaging« Skelettszintigraphie sequenzspezifisches Oligonukleotid sequenzspezifischer Primer Serumtransferrinrezeptor Wachstumshormon subtotale nodale Bestrahlung supratentorieller primitiver neuroektodermer Tumor Shigatoxin Synovial-Sarkom Stammzelltransplantation
SAGE SAPK SBDS SCF SCID SCN SD SDS SE SE SEC SGA SHML SI SIADH SIOP siRNA SIR SIRS SLE SMN SNP SOD SPD SPECT SPOG SQUID SR SRI SSC SSOP SSP sTfR STH STNI stPNET STX SyS SZT TAA TAI TAM TAM t-AML
tumorassoziiertes Antigen »thoraco-abdominal irradiation«, thorakoabdominelle Bestrahlung transiente abnormale Myelopoese tumorassoziierter Makrophage therapieinduzierte akute myeloische Leukämie
TAR
TZ
»Thrombocytopenia-absent-radius«-Syndrom, Thrombozytopenie mit Radiusaplasie »total body irradiation«, Ganzkörperbestrahlung Transcobalamin »tumour control probability« Thrombozytopenie Paris-Trousseau »T-cell receptor«, T-Zellrezeptor T-zellreiches B-Zell-Lymphom »tunneled central venous access devices« therapeutisches Drug monitoring thromboembolisches Ereignis »transient erythrocytopenia of childhood«, transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters »thermal enhancement ratio« »tissue factor« Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens (kurz: Transfusionsgesetz) »tissue factor pathway inhibitor« Transferrinrezeptor Thyreoglobulin »transforming growth factor« Thioguanin-Nukleotid Trans-Golgi-Network Tetrahydrofolsäure thermale Isoeffektivdosis »tissue inhibitor of metalloprotease« transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt Thrombozytenkonzentrat totale Lymphknotenbestrahlung »transient myeloproliferative disorder«, transitorisches myeloproliferatives Syndrom Tumor-Noduli-Metastasen Trimethoprim-Sulfamethoxazol »total nucleated cell« Tumornekrosefaktor totale nodale Bestrahlung Therapieoptimierungsstudie »tissue plasminogen activator«, Gewebsplasminogenaktivator totalparenterale Ernährung Thiopurin-Methyltransferase Thrombopoetin »TNF-related apoptosis inducing ligand« Transfusions-assoziierte akute Lungeninsuffizienz »thiamin-responsive megaloblastic anemia«, thiaminabhängige megaloblastäre Anämie Thymidylatsynthetase tuberöse Sklerose Thyreoidea-stimulierendes Hormon Thiotepa thrombotisch-thrombozytopenische Purpura Thrombinzeit
UD UDS UKS
»unrelated donor«, Fremdspender undifferenziertes Sarkom unklassifiziertes Sarkom
TBI TC TCP TCPT TCR TCRBCL TCVAD TDM TE TEC
TER TF TFG TFPI TFR TG TGF TGN TGN THF TID TIMP TIPS TK TLI TMD TNM TMP/SMX TNC TNF TNI TOS tPA TPE TPMT TPO TRAIL TRALI TRMA TS TS TSH TT TTP
XXV Abkürzungsverzeichnis
uPA UPD US
Urokinase-Plasminogenaktivator uniparentale Disomie Ultraschall
VBL VCA VCA VCFS VCR VDS VEGF
Vinblastin »vascular cell adhesion« »virus capsid antigen« velokardiofaziales Syndrom Vincristin Vindesin »vascular endothelial growth factor«, vasoendothelialer Wachstumsfaktor Von-Hippel-Lindau-Syndrom vasointestinales Peptid Vanillinmandelsäure »vitronectin receptor« »veno-occlusive disease«, venookklusive Erkrankung, venöse Verschlusskrankheit Etoposid vaskuläres Sarkom »very severe aplastic anemia«, sehr schwere aplastische Anämie Von-Willebrand-Faktor Varizella-Zoster-Virus
VHL VIP VMA VNR VOD VP16 VS VSAA vWF VZV WAS WASP WBC WBH WJS WS WT XLA
Wiskott-Aldrich-Syndrom Wiskott-Aldrich-Syndrom-Protein »white blood count« »whole body hyperthermia«, Ganzkörperhyperthermie Von-Willebrand-Jürgens-Syndrom Weichteilsarkom Wilms-Tumor
XO
»X-linked agammaglobulinemia«, X-chromosomale Agammaglobulinämie »X-linked lymphoproliferation«, X-chromosomale Lymphoproliferation »X-linked thrombocytopenia«, X-chromosomale Thrombozytopenie Xanthinoxidase
ZVK
zentralvenöser Verweilkatheter
XLP XLT
I
Pädiatrische Hämatologie Grundlagen 1
Physiologie der Hämatopoese
–5
K.-W. Sykora, K. Welte
2
Morphologische hämatologische Diagnostik – 16 C. Niemeyer, C. Ortmann, I. Baumann
Knochenmark 3
Aplastische Anämien – 40 C. Niemeyer, I. Baumann, M. Führer
4
Hämatopoetische Stammzelltransplantation – 66 W. Ebell
Anämien und Hämoglobinopathien 5
Klassifikation der Anämien – 86 G. Gaedicke
6
Hypoplastische Anämien – 92 C. Niemeyer, J. Meerpohl
7
Physiologie und Pathophysiologie des Eisenstoffwechsels – 101 P. Nielsen, G. Gaedicke
8
Megaloblastäre und kongenitale dyserythropoetische Anämien – 111 C. Niemeyer, J. Rössler
9
Angeborene Erythrozytenmembrandefekte
– 123
S. Eber
10
Angeborene Erythrozytenenzymdefekte
– 139
A. Pekrun, D. Reinhardt, O. Witt
11
Autoimmunhämolytische Anämien – 147 A. Salama, G. Gaedicke
12
Erworbene angiopathische und mechanische hämolytische Anämien – 155 M. Brandis, U. Kontny
13
Hämoglobinvarianten und seltene Hämoglobinkrankheiten – 161 A.E. Kulozik
14
Thalassämien
– 169
A.E. Kulozik
15
Sichelzellkrankheit
– 179
R. Dickerhoff, A.E. Kulozik
16
Anämien chronischer Erkrankungen – 186 M.U. Muckenthaler, A.E. Kulozik
Granulozyten/Monozyten/Makrophagen 17
Granulozytopenien
– 192
C. Zeidler, K. Welte
18
Granulozytenfunktionsstörungen
– 203
R. Seger
19
Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen – 214 J. Roth, J. Ritter
20
Histiozytosen
– 221
H. Gadner, N. Grois
21
Hämophagozytische Lymphohistiozytosen – 231 G. Janka-Schaub, M. Schneider
Lymphozyten 22
Morphologie und Funktion des spezifischen Immunsystems – 237 W. Holter, N. Neu
23
Die Milz und ihre Erkrankungen – 246 G. Gaedicke, W. Barthlen
24
Angeborene Immundefekte
– 253
C. Klein
25
Erworbene Immundefekte
– 268
I. Grosch-Wörner, V. Wahn
Hämatologie im Neugeborenenalter 26
Anämien des Früh- und Neugeborenen – 278 R.F. Maier
27
Morbus haemolyticus neonatorum – 285 C.P. Speer
28
Thrombozytopenien des Neugeborenen – 290 C. Dame
29
Hämostase beim Neugeborenen – 303 W. Muntean, B. Roschitz
I Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen 30
Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks – 309 D. Reinhardt, J. Ritter
31
Stoffwechselerkrankungen T. Marquardt, E. Harms, J. Ritter
– 319
5
Physiologie der Hämatopoese K.-W. Sykora, K. Welte
1.1 1.2 1.3
Anatomie des Knochenmarks – 5 Hämatopoetische Stammzellen – 6 Regulation der Hämatopoese durch mesenchymale Zellen (»microenvironment«) – 7 Stochastisches und induktives Modell der Hämatopoese – 8 Entwicklung der hämatopoetischen Zellreihen – 8
1.4 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4
Die reiferen Zellen der Hämatopoese: Progenitorzellen, Vorläuferzellen, reife Zellen – 9 Erythropoese – 10 Granulopoese und Monopoese – 10 Thrombopoese – 11
1.6
Regulation der Hämatopoese durch intra- und extrazelluläre Signalmoleküle – 11
1.6.1 1.6.2
Früh wirksame Zytokine: SCF und Flt3-Ligand – 12 Spät wirksame Zytokine: G-CSF, GM-CSF, TPO, EPO – 12
1.7
Transkriptionsfaktoren in der Hämatopoese – 13 Literatur – 14
Dass »Blut Leben ist«, wurde bereits in der Antike erkannt. Menschen, die viel Blut verloren hatten sah man sterben. Polibus (500 v. Chr.), einem Schwiegersohn von Hippokrates, wird die Beobachtung zugeschrieben, dass sich Blut in 2 Bestandteile trennte, wenn man es abnahm und in einem hohen Gefäß stehen ließ. Er schloss daraus, dass es die Blutgefäße sein mussten, die die Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle enthielten. Blut war der Sitz der Lebenskraft und der Seele, körperliche und geistige Schwäche waren auf einen Mangel dieser Flüssigkeit zurückzuführen. Blut aus den Wunden von gefallenen Gladiatoren wurde getrunken in der Hoffnung, dass seine Kraft damit übertragen würde. Alle Krankheiten und Beschwerden waren auf eine Dysbalance dieser Säfte zurückzuführen. Gesundheit musste durch Zufuhr oder Entfernung dieser Säfte wiederhergestellt werden. Deshalb waren Blutentnahmen − und später auch Bluttransfusionen − von der Zeit der Ägypter bis in das 19. Jahrhundert eine beliebte Maßnahme zur Behandlung der verschiedensten Beschwerden. Erst die Entdeckung des Blutkreislaufes 1616 durch den englischen Arzt William Harvey, und der kapillären Zirkulation im Omentum durch Malpighi eröffnete den Weg zum Verständnis des Blutes als flüssiges Organ und zur Transfusion im heutigen Sinne. Die Entdeckung der AB0-Blutgruppen durch Landsteiner im Jahr 1901 machte Bluttransfusion zu einem Standardverfahren. In der Mitte des 17. Jahrhunderts entdeckte Swammerdam im Mikroskop rote Körperchen im Blut; doch erst im 19. Jahr-
▼
hundert wurden die weiteren Blutzellen erforscht. Die Entstehung der Erythrozyten aus Leukozyten, Thrombozyten, der Nebenniere oder der fetalen Leber wurde zeitweise vermutet. 1886 zeigte Neumann, dass Erythrozyten aus Vorläufern im Knochenmark entstehen. Erst hiermit begann das moderne Verständnis der Hämatopoese.
1.1
Anatomie des Knochenmarks
Anatomisch gesehen besteht das normale Knochenmark aus einem weit verzweigten Netz von Blutgefäßen. Dieses Netz wird auf der arteriellen Seite von der Zentralarterie und den Ernährungsarterien der entsprechenden Knochen gespeist. Die aus diesen Arterien hervorgehenden Kapillaren befinden sich in der Kortikalis des Knochens und bilden von dort aus Anastomosen mit den venösen Sinus im Knochenmark und den extensiven Sinusoiden, in denen die Blutbildung stattfindet. Auf der venösen Seite erfolgt der Abfluss über den Zentralsinus des Knochens und weitere venöse Abflüsse. Das Besondere an der Durchblutung des Knochenmarks ist also, dass die arterielle Versorgung immer zunächst über die kortikalen Kapillaren funktioniert. Die Marksinusoide sind spezialisierte Gefäßstrukturen, die auf der dem Blutfluss zugewandten Seite mit Endothelzellen ausgekleidet sind. Auf der anderen, der Adventitiaseite der Sinusoide, finden sich fibroblastoide Zellen, die so genannten Knochenmarksstromazellen. Diese haben eine wichtige Funktion in der Adhäsion und der Versorgung mit Wachstumsfaktoren der dort angesiedelten hämatopoetischen Zellen. Die Auswanderung dieser Zellen in die Blutbahn wird durch Lücken zwischen den Endothelzellen ermöglicht. Eine spezielle Situation liegt bei den reifen Megakaryozyten vor; diese sind in spezifischer Weise direkt an den Sinusoiden lokalisiert. Sie durchwandern nicht das Endothel, sondern stülpen Zytoplasmafortsätze in den Sinusraum, die abgeschnürt werden und als Thrombozyten in die Zirkulation abgegeben werden. Die fibroblastoiden Stromazellen ermöglichen sowohl die Adhäsion der hämatopoetischen Zellen durch Integrine an das Fibronektin des Stromas oder an das Adhäsionsmolekül VCAM-1. Zusätzlich produzieren Stromazellen membrangebundene und sezernierte Zytokine, die für Wachstum und Überleben von Stamm- und Progenitorzellen notwendig sind. Auch kann die extrazelluläre Matrix als Bindungs- und Speicherort für hämatopoetische Zytokine dienen. Ein Beispiel ist der Stammzellfaktor, das Zytokin SCF, das in membrangebundener und sezernierter Form von Stromazellen produziert wird und an den Rezeptor c-kit auf Progenitorzellen bindet, sowie das Chemokin SDF-1 (Länger u. Kreipe 2003; Sieff et al. 1998).
1
1
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
Das Knochenmark bei Kindern. Während der Neonatalperiode und im Säuglings- und Kleinkindesalter wird der gesamte Knochenmarksraum einschließlich der langen Röhrenknochen zur Blutbildung benötigt. Mit steigendem Alter nimmt der Zellproduktionsbedarf im Vergleich zur Körpergröße ab, so dass im Erwachsenenalter ein Großteil des Knochenmarks, insbesondere in den langen Röhrenknochen, durch Fett ersetzt wird und die Hämatopoese hauptsächlich im Axialskelett stattfindet (Sieff et al. 1998). ! Bei Erkrankungen mit ineffektiver Erythropoese, z. B. bei Thalassämien und bei Erkrankungen wie den myelodysplastischen Syndromen, kann die Hämatopoese auch im Erwachsenenalter wieder an Stellen stattfinden, an denen während der Embryogenese und im frühen Kindesalter Blut gebildet wurde. Dazu gehören insbesondere Leber, Milz, Lymphknoten, das thorakale Paravertebralgewebe und andere Organe (»extramedulläre Hämatopoese«).
1.2
a
DS Leber
AGM b
60
Hämatopoetische Stammzellen
Alle Zellen der Hämatopoese entstehen durch einen fortlaufenden Prozess der Differenzierung und Proliferation aus mehr oder weniger differenzierten Progenitorzellen, die wiederum aus hämatopoetischen Stammzellen (HSC) entstehen. Im Rahmen der Embryogenese findet die erste Welle der Hämatopoese im extraembryonalen Dottersack statt und führt zur Produktion von primitiven nukleären erythrozytären Zellen. Die embryonale Hämatopoese, die in der Maus zwischen Tag 7 und 11 stattfindet, ist transient, außerordentlich aktiv und wahrscheinlich notwendig, um den wachsenden Embryo maximal mit Sauerstoff zu versorgen. Während die embryonale Hämatopoese noch aktiv ist, aber nachzulassen beginnt, entwickelt sich eine zweite, davon unabhängige Form der Hämatopoese, die so genannte definitive Hämatopoese. Diese findet im Embryo selbst statt. Definition Die definitive Hämatopoese unterhält die Produktion aller Stammzelllinien für den Fetus und den Erwachsenen (⊡ Abb. 1.1).
Mit Beginn der definitiven Hämatopoese können echte HSC nachgewiesen werden (Dzierzak 1999; Orkin 1996). Diese sind durch ihre Eigenschaften der Selbsterneuerung, sowie ihre Fähigkeit zur hämatopoetischen Differenzierung definiert. Sie können als Einzelklone isoliert und auf einen Empfänger transplantiert werden. Im Mesoderm des Embryos entwickelt sich im anterolateralen Bereich eine Region mit dem Namen Para-Aorta-Splanchnopleura, die später zur Entwicklung von Aorta, Gonaden und Mesonephros beiträgt (AGM-Region). Bereits 1916 wurden an der ventralen Wand der dorsalen Aorta Zellansammlungen beobachtet, von denen man heute glaubt, dass es sich um entstehende hämatopoetische Stammzellen handelt. Diese Einschätzung gründet sich auf ihre Morphologie, aber auch auf die Expression von CD34 und CD45 sowie die Expression der hämatopoetischen Transkriptionsfaktoren RUNX-1, c-MYB, PU.1, SCL und LMO-2 ( Abschn. 1.7). Transkriptionsfaktoren sind intrazelluläre
HSC
6
Leber
10 AGM 1
DS E11
E12
E13
⊡ Abb. 1.1a, b. a Lokalisation der einzelnen Phasen der embryonalen Hämatopoese in der Maus. Die AGM-Region (Aorta-Gonaden-Mesonephros), die Leber und der Dottersack haben hämatopoetische Aktivität. b Zeitlicher Ablauf der hämatopoetischen Aktivität von Embryonaltag 11 bis 13. Die Hämatopoese beginnt in der AGM-Region, dann im Dottersack (DS) und danach in der Leber, gemessen als quantitative Zahl von repopulierenden Zellen (nach Dzierzak 1999)
Proteine, die die Transkription von Genen regulieren (Übersicht: Müller 1999 u. Tora 2004). Innerhalb der AGM-Region entwickeln sich die Zellen zu frühen Stammzellen, die sich jedoch noch nicht in Erythrozyten differenzieren können und auch noch keine anderen Blutzellmarker exprimieren, wie etwa den Transkriptionsfaktor GATA-1. Es wird vermutet, dass diese Zellen aus der AGM-Region in die Zirkulation eintreten und die fetale Leber, das Knochenmark und andere Organe besiedeln. Ob zuvor die AGM-Region von Zellen aus dem Dottersack besiedelt wurde, ist bisher noch nicht geklärt (Dzierzak 1999; Orkin 2000; Orkin u. Zon 2002). Heterogenität und Plastizität von hämatopoetischen Stammzellen. HSC können durch einen relativ einfachen Immun-
phänotyp charakterisiert werden, etwa CD34+ oder CD133+. Dennoch ist es klar, dass die so charakterisierten und isolierbaren Zellpopulationen heterogen sind und dass aus diesen Zellpopulationen nicht nur hämatopoetisches Gewebe, sondern auch andere Gewebe entstehen können. In bemerkenswerten Experimenten wurden in den letzten Jahren Stamm-
7 1 · Physiologie der Hämatopoese
zellpopulationen aus einem Gewebe (etwa Blut, Muskel oder Gehirn) von einem Tier isoliert und auf ein anderes transplantiert. Im Empfängertier wurde dann die Rekonstitution eines anderen Gewebes beobachtet (Goodell 2003; Horwitz 2003; Joshi u. Enver 2002; Orkin u. Zon 2002; Tisdale u. Dunbar 2002). Bei diesen Experimenten wurden die Spenderzellen genetisch markiert, etwa mit einem Y-Chromosom oder mit unterschiedlichen Reportergenen. Meistens wurden diese Experimente mit nicht oder minimal aufgereinigten Spenderzellpopulationen durchgeführt, was die Interpretation erschwert. Als Beispiel verwendete eine Gruppe hochaufgereinigte HSC und zeigte eine hepatische Rekonstitution der Tyrosinasedefizienz in transplantierten Mäusen. Hepatozyten stammen vom Endoderm ab, und es erschien, als ob vom Mesoderm abstammende HSC sich in vivo in das Endodermderivat »Leberzelle« umwandelten. Dieser Vorgang der Umwandlung von Mesoderm in Endoderm ist eigentlich nur aus der Gastrulation in der frühen Embryonalphase bekannt. Bei allen Experimenten dieser Art erfolgte die Konditionierung des Empfängers entweder durch Bestrahlung, Chloroformbehandlung der Leber oder Verletzung des Muskels. Möglicherweise konnte der regenerative Stress, den die Konditionierung des Empfängers darstellt, eine solche Umwandlung ermöglichen. ! Die nach Konditionierung vom zerstörten Gewebe
ausgehenden »Regenerationssignale« sind möglicherweise erforderlich für eine Umprogrammierung von hämatopoetischen Stammzellen.
Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt die Plastizität der Differenzierungslinien innerhalb des hämatopoetischen Systems. Plastizität von HSC, die sich auf nicht-hämatopoetische Zelllinien erstreckt, wurde erst vor kurzem nachgewiesen. Die Plastizität von adulten HSC wurde durch Experimente nahegelegt, bei denen angereicherte Knochenmarkspopulationen in einem Myokardinfarktmodell lokal injiziert wurden, um die Myokardfunktion zu verbessern. In diesem Modell wurden vom Spender stammende myokardiale und Gefäßzellen nach lokaler Injektion in das Infarktgebiet nachgewiesen. Dieser Ansatz wird bereits in klinischen Studien erforscht. Auch wurde postuliert, dass bestimmte Zellen aus dem Muskel in der Lage sind, ein hämatopoetisches System nach Transplantation zu rekonstituieren. Diese Beobachtung könnte interpretiert werden als die Fähigkeit von Muskelstammzellen, sich in hämatopoetische Stammzellen umzuwandeln. Allerdings wäre es auch möglich, dass HSC sich in einem ruhenden Zustand in diesen Organen aufhalten, nur um nach Transplantation im konditionierten Tier reaktiviert zu werden. Die Wanderung von HSC durch die Zirkulation könnte viele Organe zu HSC-Reservoiren machen. Auch könnte der Oberflächenphänotyp der residenten HSC durch lokale Faktoren verändert werden, was ihre immunologische Detektion erschweren würde. Es ist anzunehmen, dass sowohl Plastizität von Stamm- und Progenitorzellen als auch eine Heterogenität für die beobachteten Ergebnisse verantwortlich sind (Orkin u. Zon 2002).
1.3
Regulation der Hämatopoese durch mesenchymale Zellen (»microenvironment«)
Die hämatopoetischen Zellen werden auf der Seite des Endothels der Marksinus von Stromazellen umgeben. Durch Adhäsion bilden die hämatopoetischen Progenitorzellen mit den Stromazellen eine feste funktionelle und strukturelle Einheit im Knochenmark. Hier können lokal wirksame sezernierte und zellgebundene Zytokine auf die Hämatopoese einwirken. Aus Experimenten mit aus dem Knochenmark gewonnenen fibroblastischen Zellen und Zelllinien wurde klar, dass den Stromazellen zwar eine adhäsive fibroblastische Morphologie gemeinsam ist, dass sie aber in ihrer Funktion außerordentlich heterogen sind. Stromazelllinien aus Dottersack, AGM-Region, Knochenmark und fetaler Leber zeigen sehr unterschiedliche Eigenschaften. Die fibroblastische Zelllinie AFT024, die das Wachstum von HSC unterstützt, wurde z. B. verwendet, um das Gen für einen Präadipozytenfaktor-1 zu isolieren, der die HSC-Produktion in Kultur unterstützt. Auch die aus dem Erwachsenenknochenmark isolierten Stromazellen sind offenbar sehr heterogen. Es ist möglich, dass eine Fibroblastenkolonie-bildende Einheit (CFU-F), also eine fibroblastenähnliche Zelle, sich in unterschiedliche Stromakomponenten entwickeln kann, die alle unterschiedliche Rollen in vivo haben. Hier besteht möglicherweise eine Analogie zu den unterschiedlichen Linien der hämatopoetischen Stamm- und Progenitorzellen. Mesenchymale Stammzellen könnten die Vorläufer dieser Stromapopulationen sein. Die hämatopoetische Stammzellzahl und Differenzierung beim Erwachsenen ist wahrscheinlich unter der Kontrolle von lokalen Faktoren, z. B. Morphogenen, die auch die frühe Embryogenese regulieren. »Bone morphogenetic protein 4« (BMP-4) unterhält HSC in Kultur, wobei Hedgehog-Signalmoleküle HSC in ihrer Zahl vermehren und ihre Differenzierung durch Modulation des BMP-Signalweges beeinflussen. NOTCH und Wnt-Signalwege sind hier ebenfalls involviert. Stromafaktoren wie etwa c-Kit und Flt-Liganden, die an entsprechende Tyrosinkinase-Rezeptoren binden, wirken hauptsächlich auf der Progenitorebene. Andere lösliche und zellgebundene Faktoren des Markorgans (»microenvironment«) können ebenfalls Produktion, Erhaltung und Differenzierung von HSC beeinflussen. Dieses schließt die Signale zur Selbstreplikation oder Differenzierung der Stamm- und Progenitorzellen ein (Orkin u. Zon 2002). ! Hämatopoese und endotheliale Vorläufer sind im Bezug auf ihre Entwicklung nahe verwandt.
Beide exprimieren gemeinsame Marker, wie CD34, FLK-1, SCL, LMO-2 und GATA-2. Es gibt einige Hinweise auf das Bestehen eines so genannten Hämangioblasten, also eines Vorläufers von sowohl hämatopoetischen als auch endothelialen Zellen. Insgesamt deuten im Augenblick jedoch die meisten Hinweise darauf, dass im Embryo spezialisierte Endothelzellen vorhanden sind, aus denen hämatopoetische Zellen entstehen können (hämogenes Endothel). Dieses befindet sich in der Nähe der dorsalen Aorta und an anderen Stellen, wie in den Nabel- und Dottersackarterien, die Quellen von HSC sind. An diesen Stellen werden auch hämato-
1
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I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
poetisch aussehende Haufen von Zellen innerhalb der Gefäße beobachtet (Orkin u. Zon 2002).
! Sehr wahrscheinlich spielt in der Hämatopoese sowohl das genetische Programm einer spontanen stochastischen Differenzierung als auch die Beeinflussung der Wahrscheinlichkeiten der Differenzierung durch adhärente Stromazellen und lösliche Zytokine eine Rolle (Sieff et al. 1998).
! Das Knochenmarks-»Microenvironment« ist auch die Stelle, zu der HSC wandern (»homing«).
Ob das »homing« ein aktiver oder passiver Prozess ist, ist nicht klar; auf jeden Fall wird das »homing« zum größten Teil durch Interaktion von Integrinen mit der extrazellulären Matrix und durch Chemotaxis über Chemokine reguliert (Orkin u. Zon 2002; Sieff et al. 1998). 1.4
Stochastisches und induktives Modell der Hämatopoese
Das stochastische Modell der Hämatopoese postuliert, dass Selbsterneuerung und Differenzierung zufallsmäßig in einer stochastischen Weise je nach bestimmten Wahrscheinlichkeiten auftreten. Die Hypothese beruht auf der Beobachtung, dass es sowohl Phasen der Ruhe (»quiescence«) als auch Selbsterneuerung und asymmetrischen Teilung gibt. Auch in semisoliden Zellkulturen kann eine einzige Stammzelle in reife Zellen ausdifferenzieren, ohne dass Stromzellen als so genannter »feeder layer« vorhanden sind. Lediglich hämatopoetische Wachstumsfaktoren sind – wie in jeder semisoliden Kultur – erforderlich. Im stochastischen Modell müssen entweder die Wahrscheinlichkeiten der Differenzierung oder das Ausmaß der Proliferation einer differenzierten Zellreihe änderbar sein. Ansonsten könnte die Hämatopoese sich nicht an Änderungen des Bedarfs wie etwa Blutungen oder Infektionen anpassen. Im Gegensatz hierzu postuliert das Induktionsmodell, dass das »microenvironment« die Wahrscheinlichkeiten beeinflusst, mit welcher einzelne adhärente Stammzellen und Progenitoren einen der möglichen Differenzierungswege einschlagen. Die genaue Natur dieser Einflüsse ist nicht bekannt, aber Beobachtungen in Kultursystemen unterstützen die Hypothese. Hämatopoetische Stammzellen und hämatopoetische Zellinseln sind auf Stromazellen adhärent wachsend zu finden. Auch die Tatsache, dass Stromazellen essenziell für das Stammzellüberleben sind unterstützt die Hypothese.
1.5
Entwicklung der hämatopoetischen Zellreihen
Man unterscheidet pluripotente Stammzellen (»stem cells«), Progenitorzellen (»progenitors«), Vorläuferzellen (»precursor cells«) und reife Zellen (»mature cells«). Stammzellen und Progenitoren sind im Mikroskop keiner Zellreihe zuzuordnen und gehören zu den morphologisch unreifen Zellen des Knochenmarks (⊡ Tabelle 1.1). Sie werden funktionell dadurch definiert, welche Zellen in Kultursystemen aus ihnen entstehen und werden deshalb »koloniebildende Einheiten« (»colony forming units«, CFU) oder wegen der spezifischen Morphologie bestimmter erythropoetischer Kolonien auch »burst forming units« (BFU) genannt (⊡ Abb. 1.2). Vorläuferzellen sind im Mikroskop bereits als zu einer Zellreihe zugehörig zu erkennen, wie etwa die Myeloblasten oder die Proerythroblasten. Die Stammzellen des Knochenmarks haben die Fähigkeit zur Selbsterneuerung und differenzieren sich von Zeit zu Zeit in Zellen mit lymphatischer oder myeloischer Entwicklungsrichtung (»commitment«). Die determinierten Vorläuferzellen einer einzelnen Zellreihe entstehen durch Differenzierung von bipotenten und multipotenten Progenitoren, die wiederum aus einer winzigen Population von totipotenten Stammzellen entsteht. Die frühen Vorläufer stehen unter dem regulatorischen Einfluss von frühwirksamen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (⊡ Abb. 1.2). Dazu gehören SCF, Flt3-Ligand, IL-3, IL-12, IL-1 und GM-SCF (Länger u. Kreipe 2003; Sieff et al. 1998).
⊡ Tabelle 1.1. Nachweisbarkeit hämatopoetischer Differenzierungsstufen
Nachweisbar
Erythropoese
Myelopoese
Megakaryopoese
Stammzellen (»stem cells«)
In Flüssigkulturen
LT-CIC, HPP-CFC, Blast-CFC
Progenitorzellen (»progenitors«)
In semisoliden Kulturen
CFU-GEMM BFU-E
CFU-GEMM CFU-GM CFU-G
CFU-GEMM
Vorläuferzellen (»precursor cells«)
Im Mikroskop
Normoblasten
Promyelozyten, Metamyelozyten, Stabkernige
Promegakaryozyt
Reife Zellen (»mature cells«)
Im Mikroskop
Erythrozyten
Segmentkernige
Megakaryozyt
LT-CIC »longterm culture initiating cell«; HPP-CFC »high proliferative potential colony forming cell«; Blast-CFC »blast colony forming cell«; CFU-G »colony forming unit« für Granulozyten; CFU-GEMM »colony forming unit« für Granulozyten, Erythrozyten, Monozyten, Megakaryozyten; CFU-GM »colony forming unit« für Granulozyten und Monozyten; BFU-E »burst-forming-unit« für Erythrozyten ( Abb. 1.3).
9 1 · Physiologie der Hämatopoese
⊡ Abb. 1.2. Die Zytokine und Transkriptionsfaktoren der Hämatopoese. Zelltypen und Zytokine sind in Normalschrift und Transkriptionsfaktoren kursiv und unterstrichen dargestellt
1.5.1
Die reiferen Zellen der Hämatopoese: Progenitorzellen, Vorläuferzellen, reife Zellen
Zur Charakterisierung des Wachstums- und Differenzierungspotenzials von Stammzellen und Progenitoren wurde eine Vielzahl von In-vitro-Kulturtechniken entwickelt. Diese Techniken können einige Eigenschaften der untersuchten Zellpopulationen über ihre Wachstums- und Differenzierungseigenschaften abbilden, aber oft ohne eine Auskunft über das Verhalten der entsprechenden Progenitorzellen in vivo geben zu können. Dieses bleibt Transplantationsexperimenten vorbehalten, die allerdings nur im Mausmodell möglich sind (⊡ Abb. 1.3). Man unterscheidet im Prinzip 2 Arten von Kulturen: Kulturen in flüssigem Medium. Hier ist eine an der Petri-
schale adhärente Schicht von fibroblastoiden Stromazellen vorhanden, auf der die Stamm- und Progenitorzellen wachsen (Kulturen vom Dextertyp). Sie werden für Langzeitkulturen und die Charakterisierung von Stammzellen und frühen Progenitoren verwendet, die sich dann durch charakteristische Morphologie und Wachstumskinetik ausweisen. Hilfreich ist diese Technik für die Charakterisierung der Zytokine und
Zell-Zell-Interaktionen, die zur Steuerung der Hämatopoese notwendig sind. In solchen Kulturen charakterisierte Zellen werden beschrieben u. A. als »Langzeitkultur-initiierende Zelle (»longterm culture initiating cell«, LT-CIC)« und »Pflastersteinareal-bildende Zelle« (»cobblestone area forming cells«, CAFC; Tabelle 1.1). Kulturen in semisolidem Medium. Diese Kulturen sind für
kurzzeitigeres Wachstum gedacht und werden z. B. aus niedrigkonzentriertem Agar oder Methylzellulose hergestellt. Hier gibt es keine Stromazellschicht, an der die hämatopoetischen Zellen adhärieren können, die Progenitoren und die aus ihnen entstehenden Zellkolonien werden durch das Medium zusammengehalten. Semisolide Kulturen werden für Kolonie-Assays zur Analyse des Progenitorkompartments verwendet. Hier werden Kolonien ausgezählt, die sich aus Vorläufern und reifen Zellen der unterschiedlichen Reihen zusammensetzen. Wenn eine Kolonie etwa aus Granulozyten und Makrophagen besteht, wird der dieser Kolonie zugrunde liegende Progenitor »CFU-GM« genannt. In beiden Kultursystemen ist die Zugabe von Zytokinen für Überleben und Differenzierung der hämatopoetischen Zellen notwendig ( Tabelle 1.1, Abb. 1.2 und 1.3).
1
10
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
I
⊡ Abb. 1.3. Nachweissysteme von Stamm- und Progenitorzellen. LT-CIC »longterm culture initiating cell«; HPP-CFC »high proliferative potential colony forming cell«; CAFC »cobblestone area forming cells«. Dies sind in unterschiedlichen Varianten von Dextertyp-Langzeitkulturen definierte Zellen, die in Transplantationsexperimenten eine langzeitrekonstituierende Population enthalten. Sie sind das In-vitroÄquivalent von Stammzellen oder sehr frühen Progenitoren. CFUGEMM »colony forming unit« für Granulozyten, Erythrozyten, Mono-
1.5.2
Erythropoese
Die Vorläufer der roten Zellreihe machen etwa ein Drittel der Population des Knochenmarks aus. Die frühesten erythroblastisch determinierte Progenitoren sind die so genannten BFU-E (»burst forming unit erythroid«). Ihren Namen erhielten sie, da sie nach Determinierung in semisolider Kultur offenbar noch mobil sind und zur Ausbildung von nicht nur einer einzigen, sondern zu mehreren nahe bei einander gelegenen normoblastären Zellkolonien führen. Der weiter differenzierte Progenitor, von dem jede einzelne dieser Kolonien abstammt, wird dann CFU-E (»colony forming unit erythroid«) genannt. Die ersten morphologisch erkennbaren Vorläufer sind die Proerythroblasten. Diese teilen und entwickeln sich über mehrere Stufen, in denen Kerne kondensieren, letztendlich ausgestoßen werden und Hämoglobin angesammelt wird. Jeder Proerythroblast kann durchschnittlich 8 Retikulozyten bilden, wobei die Transitzeit vom Proerythroblasten zum Retikulozyten etwa 5 Tage beträgt. Die proliferierenden Zellen erwerben die Fähigkeit der Synthese von Hämoglobin. Nach Kernextrusion entstehen im Blut zirkulierende Erythrozyten, deren Lebensdauer dann ca. 120 Tage beträgt. Nach dieser Zeit werden die durch Membranveränderungen gealterten Zellen hauptsächlich in der Milz, aber auch in Leber und Lymphknoten durch Phagozytose abgebaut (Sieff et. al. 1998). 1.5.3
Granulopoese und Monopoese
Granulozyten. Die myeloische Entwicklung startet mit einer Progenitorzelle, die in semisoliden Kulturen als CFU-GEMM nachgewiesen wird, da sie Kolonien aus Granulozyten, Ery-
zyten, Megakaryozyten; CFU-GM »colony forming unit« für Granulozyten und Monozyten; BFU-E »burst forming unit« für Erythrozyten. Dies sind die in semisoliden Kulturen definierten Progenitorzellen. Transplantationsexperimente in der Maus (unten) führen bei Regeneration zu hämatopoetischen Kolonien in der Milz, die CFU-S (»colony forming factor spleen«) genannt werden. Milzkolonien vom Tag 8 (CFU-S8) stammen von reiferen, weiter differenzierten Zellen als Kolonien vom Tag 12 (CFU-S12)
throzyten, Monozyten und Megakaryozyten erzeugt. Dieses ist eine Progenitorzelle, die nur noch myeloische und keine lymphatischen Nachkommen mehr hat. Diese myeloische Progenitorzelle teilt sich weiter, und ein Teil ihrer Population differenziert in die weiteren Zellreihen der myeloischen Reihe, also Granulozyten, Eosinophile, die erythrozytären Zellen, Basophilen und die Megakaryozyten. Hierbei entsteht auch ein weiterer Progenitor, der für ein Zellschicksal von Granulozyten und Makrophagen determiniert ist. Durch semisolide In-vitro-Kolonie-Assays wurde festgestellt, dass diese Zellen Kolonien von mehreren tausend Granulozyten oder Makrophagen produzieren können. Sie bekam deshalb den Namen CFU-GM (»colony forming unit« für Granulozyten und Makrophagen). Aus diesen Progenitoren, die etwa 0,1–0,2% der kernhaltigen Zellen der Hämatopoese ausmachen, leiten sich die weiter differenzierten Progenitoren CFU-G und CFU-M ab, die jeweils für die granulozytäre und monozytäre Linie determiniert sind (Länger u. Kreipe 2003; Sieff et al. 1998). Eosinophile Granulozyten leiten sich nicht direkt von CFU-GM ab, sondern von den CFU-GEMM und CFU-Eo. Reife Differenzierungsstufen werden nach einer Generationszeit von 48–80 h in das Blut ausgeschleust und migrieren mit einer Halbwertzeit von weiteren 6–12 h unter chemotaktischer Führung in die Gewebe. Eosinophile Vorstufen können erst ab dem Myelozytenstadium von den neutrophilen unterschieden werden, und die reifen Segmentformen weisen im Gegensatz zu den Neutrophilen einen nur zweifach gelappten (pelgerförmigen) Zellkern auf. Die eosinophilen sekundären Granula enthalten die Enzyme Peroxidase und β-Glukoronidase, saure Phosphatase, Arylsulfatase und andere hydrolytische Enzyme sowie kationische Polypeptide. Insbesondere das »major basic protein« (MBP) hat nach De-
11 1 · Physiologie der Hämatopoese
granulation der eosinophilen Granulozyten und Mastzellen direkte zytotoxische Aktivität. Für die Funktion der Eosinophilen wesentlich sind die Oberflächenrezeptoren für Komplement und das Fc-Fragment von Antikörpern der IgE- und IgG-Klasse. Die neutrophilen Granulozyten stellen die schnell mobilisierbare erste Barriere der unspezifischen Immunabwehr da. Nur ein relativ kleiner Prozentsatz der Gesamtgranulozyten befindet sich im peripheren Blut. Ein Teil dieser Granulozyten zirkuliert (zirkulierender Granulozytenpool), ein anderer bewegt sich mit langsamer Flussgeschwindigkeit z. T. adhärierend, z. T. rollend in der Nähe des Gefäßendothels (Marginalpool). Entzündungsmediatoren bewirken von hier aus den Eintritt der Granulozyten ins Gewebe. Die große Überzahl aller Granulozyten befindet sich jedoch im Knochenmark und stellt eine – bei Infektionen und Stress benötigte – schnell mobilisierbare Reserve dar. Im Knochenmark stellt das mitotische Kompartment der Granulopoese – bestehend aus Myeloblasten, Promyelozyten und Myelozyten etwa 1/4 der Zellmasse oder 2,6 × 109 Zellen/ kg KG dar. Hierbei macht das Reifungs- und Speicherkompartment 3/4 der myeloischen Zellmasse – bestehend aus Metamyelozyten, Stab- und Segmentförmigen – aus. Die Transitzeit im Speicherkompartment des Knochenmarks beträgt bis zu 14 Tagen, wobei die Halbwertszeit der Granulozyten im peripheren Blut nur 61/2 h beträgt (Länger u. Kreipe 2003). Pro Minute werden etwa 1 Mio. Granulozyten/kg KG produziert, das entspricht beim Erwachsenen etwa 4 g Granulozyten pro Stunde. Monozyten. Die Monozyten stammen von den pluripotenten CFU-GM des Knochenmarks ab. Aus ihnen entwickeln sich Gewebsmakrophagen und Osteoklasten. Im Knochenmark ist die erste identifizierbare Zelle der Monoblast, der sich morphologisch von einem Myeloblasten schwer unterscheiden lässt. Der Promonozyt ist die folgende Differenzierungsstufe; er weist einen eingekerbten Kern, feines Chromatin und einen einzelnen Nukleolus auf. Zytochemisch ist er durch die nichtspezifische Esterase und durch das CD14-Antigen gekennzeichnet.
! Im peripheren Blut ist der Monozyt die größte Zelle; nach einer Transitzeit von 1–3 Tagen wandert er in Gewebe ein und bildet dort eine sessile, mit bis zu Jahren sehr langlebige Population von lokalen antigenpräsentierenden und phagozytierenden Zellen (Länger u. Kreipe 2003).
1.5.4
Thrombopoese
Die Thrombozytensynthese beginnt mit der Differenzierung von megakaryozytären Vorläufern (CFU-Meg) aus multipotenten hämatopoetischen Stammzellen. Die erste morphologisch sichtbare Zelle ist der Megakaryoblast, der – wie auch die sich aus ihm entwickelnden Megakaryozyten – perisinusoidal lokalisiert ist. Durch Abschnürung von Zytoplasmaausläufern der reifen Megakaryozyten durch das Endothel der Sinusoide entstehen die Thrombozyten. Durch Endomitose (DNA-Replikation ohne Zellteilung) werden zunächst die 2- bis 4-kernigen Promegakaryozyten gebildet, die dann zu den 16–32-kernigen großen, durch Kernlappung charakte-
risierten basophilen Megakaryozyten ausreifen. Sie machen insgesamt nur 1% der Zellmasse des Knochenmarks aus. Diese Reifungssequenz dauert etwa 5 Tage (Sieff et al. 1998). 1.6
Regulation der Hämatopoese durch intra- und extrazelluläre Signalmoleküle
Die zellulären Blutbestandteile müssen vom Knochenmark fortlaufend in einer Weise produziert werden, die dem jeweiligen Bedarf des Körpers gerecht wird. Zunächst wird die Synthese der verschiedenen Zellreihen so angepasst, dass die Zahl der im peripheren Blut gemessenen Partikel in einem physiologischen Bereich bleibt. Zusätzlich muss die Produktion an externe Gegebenheiten, wie Infektionen, Blutverlust und Stress, angepasst werden. Es gibt sowohl extrazelluläre als auch intrazelluläre Signalmechanismen, die diese Homeostase aufrechterhalten. Zu den extrazellulären Signalmolekülen gehören die Zytokine und hämatopoetischen Wachstumsfaktoren. Zu den intrazellulären die Signaltransduktionsmoleküle und die nukleären Transkriptionsfaktoren. Das externe Milieu der hämatopoetischen Zellen wird durch ihr »microenvironment« und Stroma gebildet. Dieses »environment« besteht aus sinusoidalen Endothelzellen, die den Ein- und Ausstrom von Blutzellen steuern und Zytokine produzieren, aus Retikulumzellen, mesenchymalen Stromazellen sowie mesenchymalen Stammzellen, die zu Osteoblasten, Chondrozyten, Adipozyten und Myoblasten ausdifferenzieren können, sowie aus Fibroblasten, Adipozyten und Endothelien. Zwischen den Endothelien, mesenchymalen Stromazellen und hämatopoetischen Zellen besteht eine wechselseitige Interaktion, vermittelt durch Zytokine, Adhäsionsmoleküle und interzelluläre Substanzen (Länger u. Kreipe 2003). Die Zytokine werden nach Moore (2001) in folgenden Gruppen zusammengefasst: ▬ Interleukine, ▬ Interferone, ▬ Immunglobulinsuperfamilie, ▬ TNF-Familie und ▬ Chemokine. Der Name Interleukin wurde geprägt, da man zunächst annahm, dass diese Faktoren von Leukozyten zur Regulation der Myelo- und Hämatopoese gebildet wurden. Es stellte sich dann heraus, dass Zytokine auch multiple Wirkungen in nicht-hämatopoetischen Zellen hatten und dass auch nichthämatopoetische Zellen diese Zytokine produzierten. ! Von den 26 heutzutage bekannten Interleukinen haben die meisten auch eine Wirkung auf verschiedene hämatopoetische Progenitorzellen.
Hierbei kann grob nach Faktoren unterschieden werden, die auf frühe Progenitorzellen und Stammzellen wirken (»frühe« hämatopoetische Wachstumsfaktoren) und solche, die auf spätere Progenitoren und reife Zellen wirken (»späte« hämatopoetische Wachstumsfaktoren; ⊡ Tabelle 1.2).
1
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Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 1.2. Wichtige hämatopoetische Zytokine
Faktor
Produktion
Wirkung auf Progenitoren
Wirkung auf reife Zellen
Chromosomale Lokalisation
SCF
Stroma, Gefäßendothel
Synergistisch IL-3, -6, -11, TPO, GM-CSF, EPO
Mastzellen
11q22–24
Flt3-Ligand
Milz, Lunge
Synergistisch IL-3, -11, TPO, GM-CSF, SCF
–
19q13.3
G-CSF
T-Zellen, Makrophagen, Endothel
CFU-G
Granulozyten
17q11.2–21
GM-CSF
T-Zellen, Endothel Fibroblasten, Makrophagen
Alle CFC
Granulozyten, Monozyten, Eosinophile
5q23–31
EPO
Niere
BFU-E, CFU-E
Erythroblasten
TPO
Leber, Niere, Endothel
CFU-Meg
Megakaryozyten, Thrombozyten
1.6.1
Früh wirksame Zytokine: SCF und Flt3-Ligand
Sowohl Stammzellfaktor (»stem cell factor«, SCF), der auch kit-Ligand oder Steel-Faktor genannt wird, als auch der Flt-Ligand sind Rezeptor-Tyrosinkinase-Liganden, die auf die frühe hämatopoetische Stammzellpopulation wirken. Mäuse, die einen Defekt in entweder SCF (Steel-Mäuse) oder in dem Rezeptor von SCF (c-kit; W-Mäuse) besitzen, haben schwere Störungen der Hämatopoese. Hierzu gehören makrozytäre Anämien, Mastzelldefizienz und Defizienzen im Stammzellkompartment. SCF ist ebenfalls wichtig für das Wachstum und die Entwicklung von Melanozyten, was sich bei Steel- und W-Mäusen in einer aufgehellten Fellfarbe manifestiert. Beim Menschen gibt es Spontanmutationen im c-kit-Gen, die einen ähnlichen Phänotyp in der Melanozytenentwicklung mit depigmentierten Hautarealen zeigen (Piebald-Mutation). Diese Patienten haben jedoch keine hämatopoetischen Probleme. Möglicherweise wäre eine schwerwiegende Mutation an diesem Lokus letal gewesen. In hämatopoetischen Zellkulturen ist der alleinige Effekt von SCF minimal. Der Faktor wirkt jedoch synergistisch zur Verstärkung der meisten anderen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren und ist besonders aktiv in Kombination mit IL-1, IL-3 und IL-11. SCF verstärkt die Expansion von undifferenzierten Zellen, die in Sekundärkulturen Kolonien mehrerer Linien bilden. Unter den richtigen Kulturbedingungen können aus diesen Zellen auch B- und T-Lymphozyten entstehen, so dass davon ausgegangen werden muss, dass der gemeinsame Progenitor von myeloischen und lymphatischen Zellen auf SCF anspricht. In Kombination mit IL-2 und IL-7 zeigt SCF auch Wirkungen auf T-Zellen, prä-B-Zellen und NK-Zellen (Lotem u. Sachs 2002; Prosper u. Verfaillie 2001). Die Flt3-Rezeptor-Tyrosinkinase wurde initial beschrieben als ein Rezeptor, dessen Expression weitgehend auf humane Stammzellen beschränkt ist. Im Knochenmark ist er fast nur auf CD34+-Zellen exprimiert. Wie SCF ist Flt3 alleine wenig wirksam, sondern entfaltet seine Aktivität in Kombination mit IL-3, GM-CSF, Erythropoietin und SCF und erhöht sowohl Anzahl als auch Größe von hämatopoetischen Kolonien. Wie SCF kann auch Flt3-Ligand in Kombination mit GM-CSF die Entwicklung von dendritischen Zellen aus
CD34+-Zellen unterstützen. Im Gegensatz zu SCF unterstützt Flt3 nicht das Wachstum von Mastzellen. Trotz der Überlappung der Aktivitäten haben Flt3-negative Mäuse bis auf einen Defekt in der B-Lymphopoese eine normale Blutbildung (Gilliland u. Griffin 2002). Sowohl SCF als auch Flt-Ligand existieren in löslicher und membrangebundener Form, wobei membrangebundenes SCF auf Knochenmarksstromazellen exprimiert wird. Zelllinien, die nur membrangebundenes SCF produzieren, können die Hämatopoese viel wirksamer unterstützen, als solche, die auch die lösliche Form von SCF produzieren. Somit scheint die Adhärenz von hämatopoetischen Stammzellen über SCF und c-kit wichtig für die Hämatopoese zu sein. 1.6.2
Spät wirksame Zytokine: G-CSF, GM-CSF, EPO, TPO
Unter der Vielzahl der Zytokine mit kostimulierender Wirkung auf hämatopoetische Progenitorzellen sollen einige der am besten charakterisierten hervorgehoben werden ( Abb. 1.2): G-CSF. G-CSF (»granulocyte colony-stimulating factor«) för-
dert besonders die Differenzierung und Aktivierung der neutrophilen Granulopoese. Zusammen mit den genannten Zytokinen, insbesondere auch SCF wird auch die Proliferation von pluripotenten Stammzellen gesteigert. Nach Gabe von G-CSF steigt die Neutrophilenzahl bei verkürzter Reifungszeit im Knochenmark. G-CSF wird hauptsächlich zu Mobilisierung von peripheren Stammzellen für die Transplantation sowie zur Verkürzung der Granulozytopenie nach Chemotherapie eingesetzt. GM-CSF. GM-CSF (»granulocyte/monocyte colony-stimulat-
ing factor«) wird nach inflammatorischer Stimulation von Lymphozyten, Makrophagen, Fibroblasten und Endothelien produziert. Der GM-CSF-Rezeptor wird von den Progenitoren der Granulopoese exprimiert. GM-CSF hemmt die Apoptose reifer Granulozyten und verlängert dadurch ihre Überlebenszeit. Die Phagozytose wird gesteigert, Migration und Adhäsion werden jedoch eingeschränkt. In der klinischen Anwen-
13 1 · Physiologie der Hämatopoese
dung wird GM-CSF zum Wachstum von dendritischen Zellen und zur Behandlung des Transplantatversagens nach Stammzelltransplantation verwendet.
Umgekehrt konnte die hämatopoetische Relevanz dieser Gene durch Deletion in Knock-out-Mäusen gezeigt werden (Orkin 1995; Shivdasani u. Orkin 1996).
Erythropoetin (EPO). EPO wird von den interstitiellen Zellen der Niere auf hypoxämischen Reiz freigesetzt. Der EPO-Rezeptor befindet sich auf den erythropoetischen Progenitoren und wird auf den reiferen erythropoetischen Zellen nicht mehr exprimiert. Synergistisch mit SCF, IL-3 und GM-CSF fördert EPO die Erythropoese. Mutationen im EPO-Rezeptor können zu einer kongenitalen Erythrozytose führen. Klinische Anwendung findet die Substitution mit EPO insbesondere bei der Anämie der Niereninsuffizienz.
TAL-1. Der Transkriptionsfaktor TAL-1 (SCL) ist ein »Basic
Thrombopoetin (TPO). TPO ist dem EPO strukturverwandt und wird in vielen Organen (einschließlich Leber, Niere, Muskel und Knochenmark) produziert. Der Rezeptor MPL wird von Progenitorzellen, Megakaryozyten und Thrombozyten exprimiert. Der TPO-Spiegel wird über die gesamte Thrombozytenmasse reguliert und nicht über die Konzentration der Thrombozyten im peripheren Blut. TPO ist auch auf der Ebene der frühen Progenitor- und Stammzellen wirksam, wo es eine erhöhte Proliferation der thrombopoetischen Progenitoren bewirkt.
Rhombotin-2. Ein anderer Transkriptionsfaktor, der von akuten T-lymphoblastischen Leukämien bekannt ist, ist Rhombotin-2 (RBTN-2/LMO-2). Knock-out-Mäuse für dieses Gen haben denselben Phänotyp wie die TAL-1-negativen Mäuse (Sieff et al. 1998).
! Neben der Stimulation der Thrombopoese ist TPO für die langfristige Erhaltung der hämatopoetischen Stammzellen wichtig.
Dieses wird durch die kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie (CAMT) illustriert, die durch eine inaktivierende Mutation des TPO-Rezeptors (MPL) verursacht wird (Ballmaier et al. 2001; Strauss et al. 1996). Bei der CAMT können keine Megakaryozyten und Thrombozyten gebildet werden. Zusätzlich zur Thrombozytopenie entwickeln die Patienten eine zunehmende Knochenmarksinsuffizienz aller 3 Zellreihen. In der Klinik wurde TPO in Phase-III-Studien zur Verkürzung der Thrombozytopenie nach Chemotherapie eingesetzt, hat sich aber in dieser Anwendung nicht durchsetzen können. 1.7
Transkriptionsfaktoren in der Hämatopoese
Wie eine undifferenzierte hämatopoetische Stammzelle dazu angeregt wird, sich entweder selbst zu erneuern oder zu einer determinierten Stammzelle zu werden, die in eine der hämatopoetischen Linien ausdifferenziert, ist noch nicht gut verstanden. In der letzten Zeit wurden allerdings Transkriptionsfaktoren bekannt, die in diesem Prozess eine Rolle spielen müssen. ! Die meisten der für die Hämatopoese relevanten Faktoren und ihre Gene wurden im Rahmen der Erforschung von lymphoblastischen und myeloischen Leukämien entdeckt. Sie traten dabei als Genprodukte einer leukämietypischen Translokation auf (Orkin et al. 1999).
Die pathogenen Translokationen führten zu Änderungen des Proliferations- und Differenzierungsverhaltens der hämatopoetischen Zellen und damit zum leukämischen Phänotyp.
helix loop helix«(BHLH)-Transkriptionsfaktor, der in B-phänotypischen und T-Zell-Leukämien überexprimiert sein kann. Er wird normalerweise in hämatopoetischen Progenitorzellen und reifen Zellen der roten Reihe, Mastzellen, Megakaryozyten und Endothelzellen exprimiert. Deletion von TAL-1 in Knock-out-Mäusen führt durch eine fehlende Blutbildung und Abwesenheit von myeloischen Zellen zum Absterben der Feten bereits »in utero«.
GATA-2. Der Transkriptionsfaktor GATA-2 wird in Progenitorzellen hoch exprimiert. Die rekombinante Überexpression des Faktors in Progenitorzellen der Erythropoese führt zu vermehrter Proliferation und verminderter Differenzierung. Knock-out-Mäuse, die eine Deletion von GATA-2 tragen, haben bereits eine defekte primitive Hämatopoese im Dottersack, was zum Absterben der Embryonen am Tag 10 oder 11 p.c. führt.
! TAL-1, RBTN-2 und GATA-2 sind für die Anlage der Hämatopoese oder für die sehr frühe Hämatopoese essenziell. Deletion anderer Transkriptionsfaktoren wie MYB und RB sowie schwere Formen der W- und Steel-Mutationen führen zum Absterben der Embryonen zu einem späteren Zeitpunkt bzw. der Feten in der fetalen Leberphase der Blutbildung. AML-1. Das AML-1-Gen (RUNX-1) ist mit CBF-β (»core bind-
ing factor-β«) als Translokationspartner in 30% der AML im Kindesalter rearrangiert (Clark et al. 2003). Deletion des AML-1-Gens in Mäusen führt zu fetalem Tod zwischen Tag 12 und 13, da die definitive Hämatopoese nicht angelegt wird. AML-1 ist die α-Untereinheit des heterodimeren Transkriptionsfaktors CBF. Dieser Transkriptionsfaktor bindet an Erkennungssequenzen im Genpromotor von IL-3, GM-CSF und M-CSF-Rezeptor. Vererbte heterozygote somatische Mutationen im AML-1-Gen führen zu einer charakteristischen familiären Thrombozytenfunktionsstörung mit Prädisposition zu AML (FPD/AML) (Michaud et al. 2002; Walker et al. 2002). C/EBPα und PU.1. Die Transkriptionsfaktoren C/EBPα und PU.1 spielen eine wichtige Rolle in der Differenzierung der Granulopoese. Mäuse mit einer Deletion des C/EBPα-Gens zeigen eine Blockierung der frühen Granulozytendifferenzierung, wobei in Leber und Blut nur myeloische Blasten zu sehen sind. Die Monopoese ist nicht betroffen. C/EBPα reguliert die Expression einiger wichtiger Gene in der Granulozytendifferenzierung, darunter das des G-CSF-Rezeptors und einiger Granulaproteine, wie auch der Myeloperoxidase. Überexpression von C/EBPα in bipotenten Zelllinien induziert die granulozytäre und hemmt die monozytäre Ausreifung.
1
14
I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
⊡ Abb. 1.4. Mechanismus der Differenzierung der Hämatopoese. In diesem Modell (Zhang et al. 2002) führt die stochastische und/oder stromainduzierte Aktivierung von entweder PU.1 oder GATA-1 zur Hochregulierung des Rezeptors (Rez) von entweder GM-CSF oder EPO sowie zur Hochregulierung des jeweiligen Transkriptionsfaktors selbst. Nach Ligandenbindung führt dies zur Stabilisierung der Differenzierungsentscheidung in die myeloische oder erythroide Richtung. In vergleichbarer Weise wird durch C/EBPα und PU.1 sowie die Rezeptoren für G-CSF- und M-CSF die Differenzierungsentscheidung in die granulozytäre oder monozytäre Richtung gelenkt
PU.1 wird hauptsächlich in Monozyten-Makrophagen, B-Lymphozyten, erythroiden Zellen und Granulozyten exprimiert. PU.1-Knock-out-Mäuse sterben in utero; sie entwickeln keine Monozyten, Granulozyten, T- oder B-Lymphozyten. Zu den Zielgenen von PU.1 gehören die Rezeptorgene von M-CSF, GM-CSF und G-CSF (Zhang et al. 1997, 2002). Zhang et al. (1997) postulierten deshalb folgendes Modell für die Differenzierungsentscheidungen in der Hämatopoese (⊡ Abb. 1.4): In den CD34+-Stammzellen werden Transkriptionsfaktoren und spezifische Zytokinrezeptoren niedriggradig exprimiert. Durch im Detail noch unbekannte Einflüsse von Zytokinen oder Stromazellen oder durch stochastische Zufallsereignisse werden bestimmte Transkriptionsfaktoren, z. B. entweder GATA-1 oder PU.1 hochreguliert. Hochregulierung führt autoregulatorisch zur weiteren Erhöhung des jeweiligen Faktors (Chen et al. 1995) und zur Suppression des Faktors für die andere Differenzierungsrichtung. Gleichzeitig werden die Zytokinrezeptoren für die jeweilige Differenzierungsrichtung hochreguliert. Wenn also PU.1 steigt, wird GATA-1 herunterreguliert (Zhang et al. 1999). Damit wird die Differenzierungsrichtung Granulopoese eingeschlagen und die Richtung Erythropoese unterdrückt. Durch die Hochregulierung der granulozytären Zytokinrezeptoren (Smith et al. 1996) und deren Aktivierung wird die Proliferation und Differenzierung in die granulozytäre Richtung festlegt ( Abb. 1.2 und 1.3). In ähnlicher Weise könnte die Differenzierungsentscheidung der CFU-GM in die monozytäre oder granulozytäre Richtung fallen: C/EBPα reguliert den G-CSF-Rezeptor hoch und treibt die Differenzierung in Richtung Granulopoese, während PU.1 das gleiche für den M-CSF-Rezeptor tut und die Differenzierung in Richtung Monopoese treibt (Reddy et al. 2002).
Die komplexen Vorgänge bei der Differenzierung der Hämatopoese illustrieren deutlich, dass es hier auf mehreren Ebenen ein Risiko zu pathogenen Veränderungen gibt. Sowohl Insuffizienzsyndrome als auch proliferative
▼
Erkrankungen wie Leukämien können durch angeborene oder erworbene genetische Störungen der hämatopoetischen Zytokine, ihrer Rezeptoren oder Transkriptionsfaktoren entstehen. Die Möglichkeit, durch genaue Kenntnis der pathogenen genetischen Veränderungen gezielte Therapien zu entwickeln, wurde vor kurzem durch die Entwicklung von STI-571 für die Hemmung der BCR-ABL-Tyrosinkinase bei der Therapie der CML belegt (Druker 2002). Auch die Entwicklung von neuen Stammzelltherapien – nicht nur für hämatopoetische Erkrankungen – scheint im Lichte der neuen Ergebnisse über die Plastizität von adulten Stammzellen Erfolg zu versprechen.
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15 1 · Physiologie der Hämatopoese
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I
Morphologische hämatologische Diagnostik C. Niemeyer, C. Ortmann, I. Baumann
2.1 2.2
Einleitung – 16 Das Blutbild – 16
2.2.1 2.2.2 2.2.3
Blutentnahme – 16 Manuelle Zellzählung – 17 Hämoglobin, Hämatokrit und Erythrozytenindizes – 17 Automatisierte Zellzählung und -differenzierung – 19 »Red cell distribution width« und mittleres Plättchenvolumen – 20 Anfertigung von Blutausstrichen – 20 Färbung und Aufbewahrung von Blutund Knochenmarkausstrichen – 20 Mikroskopische Betrachtung eines Blutausstrichs – 22 Morphologische Veränderungen von Erythrozyten – 22 Retikulozyten – 23 Hämoglobin-F-Zellen im Kleihauer-Betke-Test – 23 Morphologische Veränderungen in Leukozyten – 24
2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9 2.2.10 2.2.11 2.2.12
2.3
Das Knochenmark
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7 2.3.8 2.3.9 2.3.10 2.3.11 2.3.12 2.3.13 2.3.14 2.3.15 2.3.16
Indikationen zur Knochenmarkuntersuchung – 25 Kontraindikationen und Komplikationen – 26 Wahl der Punktionsstelle – 27 Reihenfolge von Aspiration und Biopsie – 28 Vorbereitung einer Knochenmarkpunktion – 28 Analgosedierung und Narkose – 28 Durchführung von Aspiration und Biopsie – 28 Punctio sicca – 29 Aufarbeitung eines Knochenmarkaspirats – 29 Knochenmarkausstrich in der Übersicht – 31 Abschätzung des Zellgehaltes – 32 Zellzählung und -differenzierung – 32 Eisen und zytochemische Färbungen – 32 Zytomorphologie und Dysplasie – 32 Aufarbeitung einer Knochenmarkbiopsie – 34 Beurteilung einer Knochenmarkbiopsie – 34
2.4
Liquordiagnostik in der Hämatologie – 37
2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5
Gewinnung von Liquor – 37 Makroskopische Beurteilung – 37 Chemische Liquoruntersuchungen – 37 Direktpräparat – 37 Zytozentrifugation – 38
Literatur
– 25
– 39
Das Mikroskop war das wichtigste Instrument des Hämatologen bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts. In den 60er-Jahren wurden Methoden der Zytogenetik und der Zellkultivierung eingeführt, das Philadelphia-Chromosom beschrieben und die CML als Stammzellerkrankung erkannt. ▼
Die beiden folgenden Jahrzehnte waren neuen molekulargenetischen Methoden, den Blots und der PCR, gewidmet. Heute reden wir von Oligos und Chips, am Himmel ziehen Proteomics und Degradomics auf. Ist das Mikroskop ein Ladenhüter? Wer würde heute jungen Mitarbeitern empfehlen, sich schwerpunktmäßig mit der Morphologie von Blutund Knochenmarkzellen zu beschäftigen? Und doch ist die Morphologie das Herzstück der klinischen Hämatologie geblieben. Heute wie vor 50 Jahren will sie erarbeitet und ein Stück erobert werden.
2.1
Einleitung
Wie in anderen Fachdisziplinen, wird auch in der Hämatologie nach ausführlicher Anamnese und sorgfältig erhobenem Untersuchungsbefund eine Verdachtsdiagnose gestellt, die durch eine nachfolgende Labordiagnostik bestätigt oder widerlegt werden kann. Die Bestimmung des Blutbilds und die Beurteilung von Knochenmarkaspiratausstrich und Knochenmarkbiopsie sind dabei die wichtigsten spezifisch hämatologischen Methoden. Im deutschsprachigen Raum beinhaltet die Ausbildung von klinisch tätigen Hämatologen immer auch die Vermittlung von speziellen Kenntnissen in der Beurteilung von Blut- und Knochenmarkaspiratausstrichen. Die Beurteilung der Knochenmarkbiopsien ist dabei in der Regel den Pathologen vorbehalten. In diesem Kapitel sollen die wesentlichen hämatologischen Techniken zur morphologischen Diagnostik an Blut, Knochenmark und Liquor zusammengefasst werden. 2.2
Das Blutbild
Das »Blutbild« umfasst die Bestimmung von Hämoglobin, Hämatokrit, Zählung von Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten, Differenzierung der kernhaltigen Zellen im gefärbten Blutausstrich oder deren durchflusszytometrische Messung und die Retikulozytenzählung. Als »kleines Blutbild« wird in der Regel die ausschließliche Bestimmung des Hämoglobingehalts und der Leukozyten- und Thrombozytenzahl bezeichnet. ! Das korrekt hergestellte und richtig beurteilte Blutbild ist die wichtigste Untersuchungsmethode des Hämatologen!
2.2.1
Blutentnahme
Als Untersuchungsmaterial für ein Blutbild wird meist Venen- oder Kapillarblut verwendet. Kapillarblut wird in der
17 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
Regel aus der Fingerbeere entnommen. Starkes Quetschen der Fingerbeere führt dabei zum Austritt von Gewebsflüssigkeit und somit zur Verdünnung der Blutprobe. Langes Stauen vor Entnahme einer venösen Blutprobe kann hingegen die Zellzahl erhöhen. Bei regelhafter Abnahmetechnik sind die Ergebnisse einer venösen und kapillären Blutentnahme vergleichbar. Die kapilläre Blutentnahme wird oft bei schlechten Venenverhältnissen eingesetzt, aber auch wenn ein abgestöpselter zentralvenöser Katheter für eine einzelne Blutbildkontrolle nicht befahren werden soll. Dabei ist allerdings besonders bei granulozytopenischen Patienten das trotz Hautdesinfektion bestehende Infektionsrisiko der kapillären Abnahmetechnik zu beachten. Zur Gerinnungshemmung der entnommenen Blutprobe dient in der Regel das calciumbindende Kaliumsalz der Ethylendiamintetraessigsäure (EDTA), die als Trockensubstanz dem Blutentnahmeröhrchen beigefügt ist oder die Entnahmekapillaren beschichtet. Das kapillär entnommene Probenvolumen muss vor der automatisierten Messung meist manuell verdünnt werden. Wesentlicher als ein möglicher Unterschied des Messergebnisses zwischen kapillärer oder venöser Blutabnahme sind Unterschiede in der Versorgung der gewonnenen Blutprobe. Sowohl die Automatenmessung wie auch die Herstellung des Blutausstrichs sollten rasch nach Blutabnahme erfolgen, da sonst die Identifikation kernhaltiger Zellen erschwert und die Erythrozytenmorphologie verändert ist. Vor der Messung ist das Blut im Blutröhrchen gut zu durchmischen.
dem Fall zu vermeiden. Die Zellzahlzählung in einem Quadranten erfolgt mäanderförmig mit 100-facher Vergrößerung, d. h. dem 10er-Objektiv bei 10-facher Vergrößerung des Okulars. Um eine größere Tiefenschärfe zu erreichen, wird der Kondensor gesenkt oder die Kondensorblende teilweise verschlossen. Bei der Leukozytenzählung in der Zählkammer werden alle kernhaltigen Zellen, d. h. auch granulozytäre und erythrozytäre Vorläuferzellen mit bestimmt. Die Erythrozyten werden zuvor z. B. mit 3%-iger Essigsäure lysiert. Durch Zusatz einer Farbstofflösung (z. B. Türksche Lösung = Essigsäure mit Gentianaviolett) kann eine bessere Kontrastierung der Zellen in der Kammer erzielt werden. Zur Vorbereitung der Probe werden heute meist Präzisionspipetten und Plastikröhrchen, selten noch spezielle Mischpipetten verwand. Zur manuellen Bestimmung von Eosinophilen kann die FuchsRosenthal-Kammer, die eine größere Tiefe als die NeubauerKammer besitzt, eingesetzt werden. Bei der Kammerzählung der Thrombozyten werden aggregationsverhindernde Hämolyselösungen benutzt. Nach Füllung der Neubauer-Kammer müssen die Thrombozyten vor Zählung 10–20 min sedimentieren, damit sie in gleicher Ebene auf dem Grund der Zählkammer liegen. Ein Phasenkontrastmikroskop erleichtert die Abgrenzung der Thrombozyten von anderen Partikeln. Die manuelle Zählung der Erythrozyten spielt in der Praxis keine wesentliche Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil sie für die Errechnung der Erythroytenindizes zu ungenau ist. 2.2.3
2.2.2
Manuelle Zellzählung
Die technisch einfachste Ausstattung zur Bestimmung des Blutbilds besteht aus einer Hämatokritzentrifuge, einem Photometer für die Bestimmung der Hämoglobinkonzentration, Zählkammern, Präzisionspipetten und Reagenzröhrchen für die Leukozyten- und Thrombozytenzählung, Färbeküvetten oder einer Färbebank und einem binokularem Mikroskop mit Kondensor. Die Zellzählung erfolgt in der Regel in einer Zählkammer. Die wesentlichen Voraussetzungen für eine exakte und reproduzierbare manuelle Bestimmung der Zellzahl sind eine genau abgemessene Probe und eine exakte Verdünnung. Die häufigste Fehlerquelle liegt in der Zählung einer zu kleinen Zellzahl mit anschließender Hochrechnung auf das Messergebnis der Probe. Unter der Bezeichnung Neubauer-Kammer werden mehrere mit unterschiedlichen Grenzlinien versehene Modelle verstanden (⊡ Abb. 2.1). Kammer und Deckglas sind Präzisionsinstrumente und müssen als solche behandelt werden. Die gleichmäßig flachen Deckgläser der Zählkammer dürfen keinesfalls durch andere, gewöhnliche Deckgläser ersetzt werden. Kammer und Deckglas sind vor der Messung von Fett, Eiweiß und Staub zu säubern. Die Deckgläser dürfen nur an den Rändern angefasst und müssen so auf die Kammer gedrückt werden, dass Newton-Ringe an den Kontaktstellen entstehen. Die Füllung der Kammer geschieht mittels einer Präzisionspipette, die seitlich an das Deckglas angesetzt wird und die Probe gleichmäßig in die Kammer fließen lässt. In dem Moment, in dem mit dem Auge erkennbar ist, dass die gesamte Zählkammer mit Flüssigkeit gefüllt ist, ist der Füllvorgang zu beenden. Ein Überlaufen der Kammer ist in je-
Hämoglobin, Hämatokrit und Erythrozytenindizes
Die Bestimmung der Konzentration des Hämoglobins erfolgt aus Vollblut nach Lyse der Erythrozyten durch Detergenzien. Durch eine Cyanidlösung werden Hämoglobin, Methämoglobin und Carboxyhämoglobin in Cyanomethämoglobin überführt, dessen Konzentration photometrisch gegen eine Standardlösung bestimmt wird. Konventionell wird die Hämoglobinkonzentration in g/dl oder g/l angegeben. Die Angabe in S-Einheiten in mmol/l hat sich international bisher nicht durchsetzen können, ist aber in den östlichen Bundesländern in Deutschland oft gebräuchlich (mmol/l × 1,611 = g/dl). Veränderungen der Hämoglobinkonzentration gehen mit denen des Hämatokrits weitgehend parallel. Der Hämatokrit gibt das prozentuelle Volumen der gepackten Erythrozyten am Gesamtblutvolumen an. In der Praxis kann der Hämatokrit einfach durch Zentrifugation einer mit Vollblut gefüllten heparinisierten Kapillare bestimmt werden. Die Länge der roten Erythrozytensäule wird am Übergang zur schmalen Schicht der Leukozyten und Thrombozyten (»buffy coat«) abgelesen und als prozentualer Anteil der Gesamtlänge der Blutsäule (Erythrozyten, »buffy coat«, Plasma) angegeben. Aus den Messungen für Erythrozytenzahl, Hämoglobinkonzentration und Hämatokrit beschrieb Wintrobe 1932 die 3 Erythrozytenindizes (⊡ Tabelle 2.1): ▬ mittleres korpuskuläres Volumen (MCV), ▬ mittleres korpuskuläres Hämoglobin (MCH) und ▬ mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration (MCHC). Unter diesen errechneten Parametern ist das MCV für die Differenzialdiagnose der Anämien in mikro-, normo- und
2
18
I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
⊡ Abb. 2.1A, B. Zählkammer nach Neubauer. A Aufsicht und Seitenansicht der Kammer mit Deckglas, B Detailansicht der Kammer. Die fett gezeichneten Linien entsprechen drei eng nebeneinander liegenden Linien. Dabei werden die außerhalb der mittleren der 3 Linien liegenden Zellen nicht mehr für den entsprechenden Quadranten gezählt
A
B
⊡ Tabelle 2.1. Erythrozytenindizes
Index
Einheit
Definition
MCH
pg
Hämoglobinkonzentration (g/dl) × 10/Erythrozytenzahl (106/µl)
MCHC
g/dl
Hämoglobinkonzentration (g/dl) × 100/Hämatokrit (%)
MCV
fl
Hämatokrit (%) × 10/Erythrozytenzahl (106/µl)
MCH mittleres korpuskuläres Hämoglobin, MCHC mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration, MCV mittleres korpuskuläres Volumen.
19 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
⊡ Abb. 2.2. Altersabhängigkeit der Hämoglobinkonzentration und des mittleren Volumens der Erythrozyten (MCV). Angegeben sind Mittelwerte nach Keleman et al. (1979)
makrozytäre Formen besonders hilfreich. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Wert eine gemittelte Messgröße ist und die Beurteilung der Erythrozytenmorphologie im Blutausstrich nicht ersetzt. Wie auch die Hämoglobinkonzentration ist das MCV eine stark altersabhängige Messgröße (⊡ Abb. 2.2, ⊡ Tabelle 2.2 und Tabellen im Anhang). Das MCH, früher auch als Hb bezeichnet, spiegelt in der Regel das MCV wider, während das MCHC in engen Grenzen schwankt und bei Anwesenheit vieler Sphärozyten erniedrigt ist. 2.2.4
messen. Erste Versuche die Thrombozytenzahl in plättchenreichem Plasma oder nach Lyse zu bestimmen waren frustrierend, erst Verbesserungen der Impedanzmethode in den 70er-Jahren führten zu reproduzierbaren automatisierten Plättchenmessungen. Tipp für die Praxis Bei Aggregatbildung durch EDTA kann die Automatenzählung der Thrombozyten bei manchen Individuen fälschlicherweise zu niedrig ausfallen (»Pseudothrombozytopenie«). Hier hilft die optische Schätzung der Plättchenzahl auf dem Blutausstrich (Direktpräparat) bzw. die Zugabe anderer Antikoagulanzien (Zitrat, Heparin) zur Blutprobe.
Automatisierte Zellzählung und -differenzierung
1956 patentieren Walter und Joseph Coulter ein erstes Analysegerät von Blutkörperchen, das nach dem Impedanzprinzip arbeitet. In einem elektrischen Feld zwischen 2 Elektroden einer Messkapillare kommt es beim Durchtritt von Zellen zu einer Widerstandserhöhung. Während die Zahl der Pulse der Widerstandsänderung die Zellzahl anzeigt, verhält sich die Amplitude des Pulses proportional zum Zellvolumen. In den ersten semi-automatisierten Geräten erfolgte die Bestimmung der Leukozytenzahl ähnlich wie in der Kammer nach manueller oder separater Lyse der Erythrozyten. In den 1960er Jahre wurden dann die ersten Mehrkanalgeräte hergestellt, bei denen die Proben automatisch aliquotiert wurden, so dass die Impedanz der Erythrozyten und Leukozyten in getrennten Kanälen gemessen wurde. Die Geräte konnten jetzt auch die Hämoglobinkonzentration spektrophotometrisch nach der Cyanomethämoglobinmethode
In den 170er-Jahren wurden auch optische Methoden für die Zellzählung entwickelt. Eine Zelle wird von einem fokussierten (Laser-)Lichtstrahl getroffen, die durch die Zelloberfläche verursachte Lichtstreuung wird durch mehrere in unterschiedlichen Winkeln angebrachte Photoelektroden erfasst. Neben der Zellzahl und -größe kann auch die -granularität bestimmt werden. Die Mehrzahl der zurzeit auf dem Markt befindlichen Analysegeräte benutzen sowohl optische Methoden wie auch Impedanzmessungen. Ein Hersteller setzt auch eine immunologische Bestimmung der Thrombozyten mittels eines fluoreszenzmarkierten Antikörpers gegen CD61 ein. Seit den 90er-Jahren ist die automatische Zählung der Retikulozyten meist mit Hilfe fluoreszierender RNA-bindender Farbstoffe möglich. Bei allen Analysegeräten werden Hä-
⊡ Tabelle 2.2. Altersabhängige Normwerte der Erythropoese
Alter
Hb (g/dl)
MCV (fl)
Mittelwert
-2 SD
Mittelwert
-2 SD
Neugeborene
18,5
14,5
108
88
3–6 Monate
11,5
9,5
91
74
0,5–2 Jahre
12,0
10,5
78
70
2–6 Jahre
12,5
11,5
81
75
6–12 Jahre
13,5
11,5
86
77
Erwachsene Frauen
14,0
12,0
90
80
Erwachsene Männer
15,5
13,5
90
80
2
20
I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
matokrit, MCH und MCHC aus den gemessenen erythrozytären Parametern Erythrozytenzahl, Hämoglobin und MCV errechnet. Seit den 80er-Jahren gibt es Automaten, die nach Zellgröße eine Differenzierung der Leukozyten in 3 Gruppen vornehmen können: ▬ Lymphozyten/Basophile (35–90 fl), ▬ Monozyten/einige Eosinophile/einige stabkernige Neutrophile (90–160 fl), ▬ segment- und stabkernige Neutrophile und Eosinophile (>160 fl). Mit weiterer Technologie (z. T. inkl. Peroxidase-Färbung) können die meisten Automaten heute mindestens eine Differenzierung in 5 Untergruppen (Neutrophile, Eosinophile, Basophile, Lymphozyten und Monozyten) vornehmen. Da die derzeit zur Verfügung stehenden Automaten unreife granulozytäre Formen oder pathologische Zellen zwar in der Regel identifizieren, aber nicht klassifizieren können, muss im Bereich der pädiatrischen Hämatologie und Neonatologie oft ein gefärbter Blutausstrich mikroskopisch beurteilt werden. Es ist aber davon auszugehen, dass die nächste Generation der Automaten auch Blasten, myeloische Vorstufen und reaktive Lymphozyten differenzieren kann.
weniger Stunden großen Veränderungen unterliegen kann und dass die Kalibrierung des MPV zwischen den verschiedenen Gerätetypen und Herstellern nicht standardisiert ist. 2.2.6
Anfertigung von Blutausstrichen
Die mikroskopische Betrachtung von Blut- oder Knochenmarkaspiratausstrichen ist das wichtigste diagnostische Hilfsmittel des Hämatologen. Bei der Ausstrichtechnik wird ein Tropfen Blut oder Knochenmark so auf einen Objektträger getropft, dass er sich in der Mittellinie ca. 1 cm von einem Ende des Objektträgers befindet. Ein zweiter Objektträger (oder ein Deckglas) wird in einem Winkel von ca. 45° auf den Tropfen aufgesetzt, so dass sich Blut/Knochenmark an der Kontaktstelle beider Objektträger ausbreiten kann. Der Objektträger wird dann mit etwas Schwung gleichmäßig in Richtung des freien Endes des darunter liegenden Objektträgers bewegt und der Tropfen so unter andauerndem Kontakt zwischen beiden Objektträgern 3–4 cm lang ausgestrichen (⊡ Abb. 2.3). Am Ende des Ausstrichs, in der sog. Fahne, sind die Zellen einzeln gut beurteilbar (⊡ Abb. 2.4) Ungeübte tragen oft zuviel Material auf, so dass die Fahne »zu dick« für die Zellbeurteilung wird (⊡ Abb. 2.5). Tipp für die Praxis
2.2.5
»Red cell distribution width« und mittleres Plättchenvolumen
Die Analysegeräte haben heute eine ausreichende Präzision, um eine Größenverteilungskurve der Erythrozyten als Maß der Anisozytose zu erstellen. Mit dieser im Normalfall symmetrischen Glockenkurve (Gauß-Verteilung) kann sowohl das MCV der Erythrozyten wie auch die Verteilungsbreite (»red cell distribution width«, RDW) des Erythrozytenvolumens bestimmt und graphisch dargestellt werden. Eine linke »Schulter« der Verteilungskurve oder das Nicht-Erreichen der Grundlinie auf der linken Seite zeigt das Vorhandensein sehr kleiner Erythrozyten (z. B. Mikrosphärozyten oder Schistozyten) oder die Gegenwart von ungewöhnlich großen Thrombozyten an. Eine rechte »Schulter« findet sich bei Makrozyten oder Retikulozytose. Im Gegensatz zum Eisenmangel mit erhöhtem RDW zeigt die heterozygote β-Thalassämie meist ein normales RDW. Die Definition, d. h. die Berechnung des RDW ist bei den unterschiedlichen Herstellern der Analysegeräte geringgradig unterschiedlich. Ähnlich wie das MCV kann auch das mittlere Plättchenvolumen (MPV) bestimmt werden. Unter normalen Bedingungen liegt eine inverse Korrelation zwischen Thrombozytenzahl und -größe vor, da die Thrombozytenmasse, d. h. das Produkt zwischen Thrombozytenzahl und -größe (»Thrombozytokrit«), in engen Grenzen reguliert wird. Eine verringerte Plättchenzahl hat eine Stimulation der Megakaryozyten mit Abschnürung großer Thrombozyten zur Folge. Allerdings findet man bei Milzsequestrationen mit konsekutiv gesteigerter Thrombozytenproduktion ein niedriges MPV, da die Milz vornehmlich große Thrombozyten sequestriert. Das MPV kann insbesondere für die Differenzialdiagnose angeborener Thrombozytopenien hilfreich sein ( Kap. 28). Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass das MPV in EDTA-antikoagulierten Proben mit der Lagerung innerhalb
Bei polyzythämischen Patienten kann langsameres Ausstreichen mit stumpferem Winkel eine bessere Zellverteilung in der Fahne herbeiführen. Im Gegenzug kann der Ausstrich bei anämischen Patienten »zu dünn« werden; hier hilft ein schnelleres Ausstreichen mit spitzerem Winkel.
Für die hämatologische Diagnostik der Malaria werden neben den üblichen Ausstrichen einige Präparate aus »dicken Tropfen« hergestellt. Hierzu werden ein oder zwei Tropfen Blut oder Knochenmark in die Mitte eines Objektträgers getropft und mindestens 4 h, optimalerweise 1 Tag luftgetrocknet. Bei der anschließenden Färbung ohne Fixation (z. B. mit einer verdünnten Giemsa-Lösung) werden die Erythrozyten hämolysiert und anwesende Parasiten gefärbt. 2.2.7
Färbung und Aufbewahrung von Blutund Knochenmarkausstrichen
Frisch hergestellte Ausstrichpräparate werden zunächst luftgetrocknet. Sie müssen anschließend in Methanol fixiert werden. Letzteres geschieht entweder durch eine Einwirkung über 10–20 min von absolutem Methanol (und anschließende Färbung) oder durch Methanolzusatz in den kommerziell erhältlichen Färbelösungen. Da Methanoldämpfe toxisch sind, sollte die Fixierung bzw. die Färbung mit methanolhaltigen Färbelösungen unter einem Abzug geschehen. Verdünnung der Methanollösung mit wenigen Prozent Wasser, z. B. durch hohe Luftfeuchtigkeit oder Fixierung/Färbung ungenügend luftgetrockneter Präparate, ergibt charakteristische Artefakte mit hellen stark lichtbrechenden Kreisen. Die heute üblichen Färbungen gehen auf die im späten 19. Jahrhundert von dem russischen Protozoologen Roma-
21 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
A
C
B
⊡ Abb. 2.3A–C. Herstellung eines Blut- oder Knochenmarkaspiratausstrichs. Schematisch dargestellt ist das Auftropfen von Blut aus einer Kapillare auf den Objektträger (A), das Aufsetzen eines zweiten Objektträgers mit Verteilung des Bluts entlang der Kontaktstelle (B) und die Ausstreichbewegung mit zurückbleibenden Ausstrich und Fahne (C)
⊡ Abb. 2.4. Verschiedene Zonen eines Ausstrichpräparats
⊡ Abb. 2.5. Qualität von Blutausstrichen: A korrekt ausgestrichen; B zu dick und zu lang; C zu kurz; D verwackelt; E abgehackt
nowsky entwickelte Mischung von Methylenblau und Eosin zurück (Wittekind 1979). Giemsa modifizierte die Färbung in dem er Methylenazur, welches sich spontan in leicht alkalischer Methlylenblaulösung bildet, mit Eosin kombinierte. Bei der May-Grünwald-Färbung wird eosinsaures Methylenblau in Methylalkohol gelöst, während die Pappenheim-Färbung eine kombinierte May-Grünwald-Giemsa-Färbung ist, die in
Großbrittanien auch unter dem Namen »MGG«-Färbung bekannt ist. In dem in Nordamerika meist verwendeten »Wright‘s stain« wird eine erhitzte Form von Methylenblau mit Eosin verwendet. Bei all diesen verwendeten Mischungen sind die Farben in der Regel nicht rein, und auch zwischen den verschiedenen Chargen der einzelnen Farblösungen kann es deutliche Unterschiede geben. Da die wesentliche Komponente all dieser auf der Romanowsky-Färbung beruhenden Färbevarianten basische, d. h. kationische Farbstoffe wie Azurblau oder Methylenblau sind, werden Nukleinsäuren blau-violett oder blau angefärbt. Traditionsgemäß bezeichnet man Granula, die sich blau anfärben als basophil, während durch Eosin rot angefärbte Granula als eosinophil bezeichnet werden. Wesentlich für die Farbgebung ist der pH der Färbelösung. Bei zu niedrigem pH färben sich die basophilen Komponenten nicht gut an, die Leukozyten bleiben blass, die eosinophilen Granula imponieren hingegen stark rot. Demgegenüber findet sich bei zu alkalischem pH eine exzessive Aufnahme blauer Farbstoffe, die Granulozyten erscheinen toxisch granuliert, eosinophile Granula blau, und die Differenzierung in polychromatische und orthochromatische Normoblasten ist erschwert. Zur Aufbewahrung sollten die Ausstrichpräparate gegen Staub, Fett und Zerkratzen gedeckelt werden. Dabei wird ein Tropfen einer xylenhaltige Lösung auf den Objektträger getropft, ein ausreichend breites und langes Deckplättchen darauf gelegt, so dass sich die visköse Xylenlösung zwischen beiden Glasplättchen bis an deren Ränder ausbreiten kann. Da die Dämpfe der xylenhaltigen Lösungsmittel toxisch sind, sollte das Deckeln und die anschließend ausreichend lange Lufttrocknung unter einem Abzug geschehen. Eine gut sichtbare Beschriftung mit Namen und Datum am Rand des Objektträgers hilft der raschen Wiederfindung der abgelegten Präparate.
2
22
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
I
⊡ Abb. 2.6. Blutausstrich eines Gesunden (Mikroskopie)
2.2.8
Mikroskopische Betrachtung eines Blutausstrichs
In der schrittweisen Beurteilung eines Blutausstrichs wird zunächst makroskopisch die Länge der Fahne und Anfärbung des Ausstrichpräparats beurteilt. Mit dem 10er-Objektiv (100-fache Vergrößerung bei 10er-Okular) kann die Zahl und Differenzierung der Leukozyten abgeschätzt und die Erythrozytenmorphologie beurteilt werden; auch Thrombozyten können identifiziert werden. Es schult das Auge, sich möglichst lange und sorgfältig einen Überblick über das Präparat in dieser Vergrößerung zu erarbeiten. Die anschließende Betrachtung der Zellen mit einem 40er- oder 60er-Objektiv (meist mit Öl) erlaubt die endgültige Beurteilung der Zellformen und ihre Differenzierung (⊡ Abb. 2.6). Eine Mikroskopie mit dem 100er-Objektiv ist nur bei speziellen Fragestellungen (z. B. Einschlusskörperchen) sinnvoll. 2.2.9
Morphologische Veränderungen von Erythrozyten
Die morphologische Beurteilung der Erythrozyten im Blutausstrich beinhaltet die Beurteilung ihrer Größe, Form und ⊡ Abb. 2.7. Formveränderungen von Erythrozyten
Farbe sowie die Anwesenheit von Einschlusskörperchen. Liegt eine Makro- oder Mikrozytose vor, sind die Erythrozyten oft auch ungleich groß (Anisozytose). Sie zeigen in der Regel ein gewisses Maß an Formveränderungen (Poikilozytose), so sind Makrozyten oft oval (Makroovalozyten). Mehr als die Größe imponiert dem Auge jedoch die Anfärbbarkeit der Erythrozyten (Chromie). Beim Eisenmangel mit deutlich erniedrigtem MCV zeigen sich viele Zellen mit verstärkter zentraler Aufhellung (Hypochromie). Hypochrome Erythrozyten mit Schießscheibenzellen (»Targetzellen«) sind das morphologische Charakteristikum von Thalassämiesyndromen (⊡ Abb. 2.7), während halbmondförmige Sichelzellen eine homozygote Sichelzellanämie nahe legen. Auch die hereditäre Sphärozytose und Elliptozytose gehen mit der jeweils namengebenden Formveränderung der Erythrozyten einher. Pathognomonisch sind die Mikrosphärozyten. Mechanische Schädigungen der Erythrozytenmembran an Gefäßwänden (z. B. beim hämolytisch-urämischen Syndrom) führen zu Keratozyten oder eierschalenähnlichen Schistozyten, auch Fragmentozyten genannt. Echinozyten mit regelmäßig angeordneten Projektionen der Membran finden sich häufig bei Urämie, während die unregelmäßig angeordneten Ausstülpungen der Akanthozyten bei Lebererkrankungen beobachtet werden. Allerdings entstehen Akanthozyten und Echinozyten häufig auch als Artefakte z. B. beim Ausstreichen alter EDTA-Blutproben. Eine Adhäsion der Erythrozyten untereinander in Form eines sog. GeldrollenPhänomens (Rouleaux-Phänomens) kann bei autoimmunhämolytischen Anämien z. B. bei Mykoplasmen-Pneumonie oder EBV-Infektion beobachtet werden. ! Tränenformen sind das »Hab‘-Acht«-Zeichen des Hämatologen.
Tränenformen weisen meist auf eine intrinsische Knochenmarkstörung hin und finden sich besonders häufig bei myelofibrotischen Markveränderungen und extramedullärer Hämatopoese. Hierbei werden oft auch kernhaltige rote Vorstufen in das periphere Blut ausgeschwemmt. Normoblasten können bei normaler Markstruktur nur in kleinen Mengen in die Marksinus und damit in das periphere Blut gelangen. Sie werden üblicherweise sofort vom retikuloendothelialen System der Milz aus der Zirkulation entfernt.
23 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
⊡ Tabelle 2.3. Einschlusskörperchen in Erythrozyten
Name
Art des Materials
Färbung
Beschreibung
Vorkommen
Howell-JollyKörperchen
Chromatinreste
Romanowski
Eine einzelne runde, tiefviolette Struktur am Zytoplasmarand, <1 µl
Bei (funktioneller) Asplenie, werden üblicherweise in der Milz entfernt
Basophile Tüpfelung
Ribosomale Präzipitate (RNA)
Romanowski
Kleine, blaue Granula in unterschiedlicher Größe zerstreut im Zytoplasma
Thalassämien, Blei- und andere Schwermetallvergiftung, Alkoholismus
Cabot-Ringe
Nicht eindeutig zugeordnet, nicht Chromatinreste
Romanowski
Runde oder als 8 übereinander geschlungene Ringe, meist gleichzeitig basophile Tüpfelung
Überstürzte Blutbildung, z. B. bei schwerer hämolytischer Anämie
Retikulum
Endoplasmatisches Retikulum
Methylenblau, Brilliantkresylblau (supravital)
Netz dunkelblauer klumpigfädiger Filamente (Substantia reticulo-granulo-filamentosa)
Retikulozyten
Heinz-Innenkörperchen
Aggregate von oxidiertem und dadurch denaturiertem Hämoglobin
Brilliantkresylblau (supravital)
Dunkle globuläre Aggregate
Glukose-6-PhospatdehyrogenaseMangel, Thalassämien, nach oxidativem Stress, instabiles Hämoglobin
PappenheimKörperchen
Eisengranula
Romanowski (in der Eisenfärbung: Siderosomen in Siderozyten)
Größere Granula in hypochromen Erythrozyten mit basophiler Tüpfelung
Sideroblastäre Anämien (Eisengranula in Erythrozyt → Siderozyt, in Normoblast → Sideroblast)
Zu den Einschlusskörperchen der Erythrozyten gehören auch die Howell-Jolly-Körperchen, die nach Splenektomie regelmäßig beobachtet werden können, sowie die basophile Tüpfelung, die bei einer ganzen Reihe von erythropoetischen Störungen beobachtet werden kann (⊡ Tabelle 2.3). 2.2.10 Retikulozyten Eine Retikulozytose macht sich in den üblichen RomanowskiFärbungen durch eine bläuliche Zytoplasmafarbe (Polychromasie) der noch großen jungen Erythrozyten bemerkbar. In der Retikulozytenfärbung wird das die Polychromasie verursachende endoplasmatische Retikulum in einer Supravitalfärbung mit Methylenblau oder Brilliantkresylblau dargestellt (⊡ Abb. 2.8). Nach ca. 40 h hat der Retikulozyt sich seines
⊡ Abb. 2.8. Retikulozytenfärbung mit Brilliantkresylblau
endoplasmatischen Retikulums entledigt und verliert als reiferer Erythrozyt seine Polychromasie. Die Retikulozytenzahl wird traditionell auf die Zahl der Erythrozyten bezogen und mit ‰ oder % angegeben. Die absolute Retikulozytenzahl ist jedoch für die Produktionsleistung des Knochenmarks aussagekräftiger; sie wird wie folgt errechnet: Retikulozyten/µl = (Erythrozyten/µl × Retikulozyten in ‰):1000. 2.2.11 Hämoglobin-F-Zellen
im Kleihauer-Betke-Test Fetales Hämoglobin (HbF) weist in vitro im Vergleich zu Hämoglobin A2 eine höhere Stabilität gegenüber sauren oder alkalischen Lösungen auf. Bei dem 1957 von Kleihauer und Betke (Kleihauer et al. 1957) entwickelten Nachweis von fetalen Erythrozyten (>90% HbF) wird ein fixierter Blutausstrich für einige Sekunden mit einer sauren Pufferlösung überschichtet, gewaschen und mit einer Romanowski-Lösung gegengefärbt. Während Hämoglobin A2-haltige Erythrozyten nur schattenhaft erkennbar sind, färben sich die HbF-Zellen rot an (⊡ Abb. 2.9). Mit dem Test können kindliche Erythrozyten in der mütterlichen Zirkulation wie auch autologe Zellen mit hohem HbF bei hereditärer Persistenz von HbF (HPFH), δγ-Thalassämien und anderen dyserythropoetischen Erkrankungen nachgewiesen werden. Da der Kleihauer-Betke-Test schwer standardisierbar ist, werden zum Nachweis fetaler bzw. Rh-D+-Zellen im mütterlichen Blut heute auch durchflusszytometrische Methoden eingesetzt.
2
24
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
I
⊡ Abb. 2.9. Nachweis von fetalem Hämoglobin F in der KleihauerBetke-Färbung
2.2.12 Morphologische Veränderungen
in Leukozyten Die Verteilung von Leukozyten im Blutausstrich ist nicht homogen, größere Zellen (Monozyten, Granulozyten) und kaputte Zellformen (Gumprecht-Kernschatten, »smear cells«) finden sich vermehrt am Rand und am Ausstrichende. Eine Linksverschiebung der Neutrophilen mit Vermehrung von stabkernigen neutrophilen Granulozyten und Anwesenheit von Metamyelozyten oder noch unreiferen Formen findet sich bei Infektionen, diabetischer Ketoazidose oder leukämoiden Reaktionen anderer Ursache. Bei megaloblastären Anämien kann es auch zu einer Rechtsverschiebung mit hypersegmentierten (>5 Segmente) Formen kommen. Bei Gesunden liegt die mittlere Segmentzahl neutro-
philer Granulozyten bei 3, mehr als 5 Segmente werden selten beobachtet. Bei Personen mit der Pelger-Huët-Anomalie (⊡ Tabelle 2.4) werden selten mehr als 2 Segmente beobachtet, homozygote Genträger zeigen oft runde Kerne. Kleine Kernprojektionen sind bei Neutrophilen im Allgemeinen unspezifisch. Eine größere Zahl von Kernprojektionen findet sich bei einigen Neoplasien, Trisomie 13–15 und kann hereditär auftreten. Solche Kernprojektionen müssen von Barr-Körperchen (»drumsticks«) unterschieden werden. Die 1,5 µm im Durchmesser betragenden Barr-Körperchen entsprechen dem inaktivierten kondensierten X-Chromosom der Frau, das an der Innenseite der Kernmembran lokalisiert ist. Bei gesunden Frauen finden sich Barr-Körperchen bei 2–10% der reifen Neutrophilen, bei Männern bei weniger als 1%. Erkrankungen, die zu einer Hypersegmentierung führen oder multiple X-Chromosomen aufweisen, zeigen auch eine erhöhte Zahl von Barr-Körperchen. Eine vermehrte spezifische Granulierung (»toxische Granula«) von neutrophilen Granulozyten kann bei Infektionen, Inflammationen und in der Schwangerschaft beobachtet werden. Häufig finden sich dabei auch Döhle-Körperchen (⊡ Tabelle 2.4). Letztere Veränderungen lassen sich morphologisch häufig nicht von der May-Hegglin-Anomalie (⊡ Tabelle 2.4) abgrenzen. Die Granula bei der ChédiakHigashi oder Alder-Reilly-Anomalie sind hingegen so einprägsam (⊡ Tabelle 2.4), dass nach mikroskopischer Betrachtung des Blutausstrichs die Verdachtsdiagnose leicht zu stellen ist. Kleine Vakuolen finden sich nicht selten im Zytoplasma von normalen Lymphozyten. Mehrere oder besonders große Vakuolen in Lymphozyten können ein Hinweis auf das Vorliegen einer Speicherkrankheit sein ( Kap. 31). In Monozyten und Granulozyten wird eine Vakuolisierung von Kern und Zytoplasma häufig im Rahmen von bakteriellen Infektionen, besonders bei Neonaten, beobachtet, sie tritt aber auch bei
⊡ Tabelle 2.4. Morphologische Veränderungen in reifen Leukozyten
Auffälligkeit
Art des Materials
Beschreibung
Betroffene Zellen
Vorkommen
Alder-ReillyAnomalie
Partiell abgebaute Mukopolysaccharide in Lysosomen
Sehr viele, sehr dunkle azurophile Granula
Granulozyten, Monozyten, Lymphozyten
Mukopolysaccharidosen, insbesondere Typ 1 (Pfaundler-Hurler)
ChédiakHigashiAnomalie
Lysosomen
Multiple, große, stark azurophile Granula, die fusionierten Primärgranula entsprechen
Granulozyten, Monozyten, Lymphozyten
Chédiak-Higashi-Syndrom: autosomal-rezessive Erkrankung mit Albinismus und vermehrten bakteriellen Infektionen ( Kap. 24)
DöhleKörperchen
Endoplasmatisches Retikulum, Glykogen
Himmelblaue Einschlusskörperchen, einzeln oder mehrere, rundlich oder fadenförmig, meist am Zytoplasmarand
Neutrophile
Infektion, Inflammation, Verbrennung, Schwangerschaft, myeloproliferative Erkrankungen
May-HegglinAnomalie
Schweren Ketten des nicht-muskulären Myosin IIA
Ähnlich wie Döhle-Körperchen, oft aber größer, nicht nur am Zytoplasmarand
Granulozyten, Monozyten
MYH9-abhängige Erkrankungen (May-Hegglin-Anomalie, Fechtner-Syndrom, Sebastian-Syndrom ( Kap. 17)
Pelger-HuëtAnomalie
Nukleus
Neutrophile mit nicht-segmentiertem, brillen-, glocken- oder stabförmigen, gelegentlich auch runden Kern, grobe Chromatinstruktur
Segmentkernige Granulozyten, Eosinophile, Basophile
Autosomal-dominant, kein Krankheitswert; erworbene Formen bei Infektionen, MDS etc. werden auch als »Pseudo-Pelger-Anomalie« bezeichnet ( s. Kap. 62, Abb. 62.1)
25 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
vielen anderen kritisch kranken Patienten auf. Eine ausgeprägte Vakuolisierung kann allerdings auch das Zeichen der Zelldegradation sein und ist immer dann zu finden, wenn ein Blutausstrich besonders bei hoher Umgebungstemperatur verzögert aus einer EDTA-Probe angefertigt wurde. 2.3
Das Knochenmark
2.3.1
Indikationen zur Knochenmarkuntersuchung
Die Untersuchung des Knochenmarks ist indiziert, wenn Klinik und Differenzialblutbild für die sichere Diagnosestellung nicht ausreichend sind (⊡ Tabelle 2.5). Für viele Erkrankungen, v. a. die Leukämien, ist die Untersuchung des Knochenmarks essenziell für die Diagnosestellung. Bei Tumoren und Lymphomen dient sie im Rahmen des Staging der Ausbreitungsdiagnostik. Auch bei der Diagnose von Speicherkrankheiten, wie der Amyloidose oder dem Morbus Gaucher, sowie der Untersuchung des Eisenmetabolismus kommt die Untersuchung des Knochenmarks zum Einsatz. In immunphänotypischen, zytogenetischen und molekularbiologischen Analysen wird nicht nur peripheres Blut, sondern auch Knochenmark eingesetzt. Die Gewinnung von Knochenmark ermöglicht daneben den Zugang zu sich teilenden Zellen, die in der zytogenetischen Diagnostik eingesetzt werden können.
Mögliche Untersuchungen an einem Knochenmarkaspirat Morphologie Zytochemische Untersuchungen (Nachweis von Enzymen, Eisen) Immunzytochemie Immunfluoreszenz und Durchflusszytometrie Zytogenetische Untersuchungen Molekulargenetische Untersuchungen Mikrobiologische Kulturen (Mykobakterien, Leishmanien, Histoplasmen etc.) Nachweis von Erregern mittels PCR (Parvovirus B19) Deoxyuridin-Suppressionstest zur Untersuchung des Vitamin B12 und Folsäurestoffwechsels Generierung von Progenitorkulturen Elektronenmikroskopische Untersuchungen
Die Mikroskopie eines Knochenmarkausstrichs gibt wichtige Informationen über den Zellgehalt des Marks sowie die Zusammensetzung und Ausreifung hämatopoetischer Zellen. Die Betrachtung der Zusammensetzung und Ausreifung der einzelnen hämatopoetischen Linien ermöglicht zudem eine Art Lokalisationsdiagnostik hämatologischer Veränderungen. Das heißt, sie kann Aufschluss geben, an welcher Stelle innerhalb der Differenzierung eine pathologische Blutbildveränderung entstanden ist, oder ob die Ursache der Störung
⊡ Tabelle 2.5. Indikationen für eine Knochenmarkaspiration
Indikation
Bemerkung
Anämie
Wenn durch Klinik, Differenzialblutbild und Erythrozytenindizes die Anämie nicht hinreichend eingeordnet werden kann.
Leukozytopenie
()
Bei Kindern sind transiente isolierte Neutropenien häufig Folge viraler Infektionen; hier kann ein abwartendes Verhalten erwogen werden.
Thrombozytopenie
()
Bei Kindern kann bei Verdacht auf Autoimmunthrombozytopenie zunächst ein abwartendes Verhalten oder ein probatorischer Behandlungsversuch mit Immunglobulinen gerechtfertigt sein.
Leukozytose
()
Bei bekannter Ätiologie oder bei Vorliegen reaktiver Veränderungen im peripheren Blut, die auf eine Infektion hinweisen.
Panzytopenie
()
Wenn eine Myelosuppression durch iatrogene Maßnahmen erklärt werden kann.
Vorhandensein von Blasten im peripheren Blutbild
Ausschluss Leukämie
Splenomegalie, Lymphknotenvergrößerungen, lymphozytäre Organinfiltrationen
()
Wenn die lokale Diagnostik eine Diagnose erlaubt.
Staging von hämatologischen und soliden Neoplasien
Punktion in verschiedenen Lokalisationen bei Morbus Hodgkin, Non-Hodgkin-Lymphomen, Neuroblastom, Ewing-Sarkom etc.
Fieber unklarer Genese
Verdacht auf anders nicht nachweisbare Infektion mit Mykobakterien, Pilzen, Parasiten
Verdacht auf Speicherkrankheiten
Zum Beispiel Morbus Gaucher, Morbus Niemann-Pick
Monitoring von Patienten mit verschiedenen hämatologischen und lymphoretikulären Erkrankungen
Zum Beispiel Morbus Kostmann, zum Ausschluss einer malignen Transformation etc.
Evaluation von Patienten, die einen von der Arbeitsdiagnose abweichenden Verlauf aufweisen
Zum Beispiel Persistenz einer Anämie nach therapeutischer Intervention
Punktion erforderlich; () Punktion nicht obligat.
2
26
I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 2.6. Indikationen für eine Knochenmarkbiopsie
Indikation
Bemerkung
Punctio sicca
Erforderlich, wenn eine falsche Punktionstechnik ausgeschlossen werden kann
Panzytopenie und alle hypoplastischen Knochenmarkveränderungen
Die Bestimmung der Zellularität des Knochenmarks ist nur anhand der Biopsie sicher möglich.
Staging von hämatologischen und vielen soliden Neoplasien
Punktion in verschiedenen Lokalisationen bei Morbus Hodgkin, Non-Hodgkin-Lymphomen, Neuroblastom, Ewing-Sarkom etc.
Unklare Störungen des Knochenstoffwechsels
Unklare Hyperkalzämie, unklare Erhöhung der alkalischen Phosphatase, unklare Knochenveränderung in der Bildgebung, Morbus Paget
Verdacht auf myeloproliferatives Syndrom (chronische myeloische Leukämie, Polyzythaemia vera, essenzielle Thrombozythämie, Osteomyelosklerose)
Die Stromakomponente dieser Erkrankungen kann nur in der Biopsie nachgewiesen werden.
gar nicht im Knochenmark, sondern in der Peripherie zu suchen ist. Damit kann die Knochenmarkuntersuchung wertvolle Informationen für die Abklärung quantitativer und qualitativer Veränderungen einer oder aller Zellreihen liefern. Die Knochenmarkbiopsie ist v. a. bei Erkrankungen mit fokalem Knochenmarkbefall und Umbauprozessen des umgebenden Stromas und Knochens indiziert (⊡ Tabelle 2.6). Tumorzellen, die bei Aspiration u. U. nicht detektiert werden, können in der Biopsie durch systematische Aufarbeitung der Stanze mit größerer Sicherheit aufgefunden werden. In der Biopsie können im Gegensatz zur Aspiration Aussagen zur Architektur eines Tumors oder eines Lymphoms getroffen werden. Die Knochenmarkbiopsie ist daher Bestandteil des Staging zahlreicher pädiatrischer Neoplasien, wie dem Neuroblastom, Ewing Sarkom oder Rhabdomyosarkom. Bei hämatologischen Krankheitsbildern ist eine Knochenmarkbiopsie immer dann indiziert, wenn die Zellularität beurteilt werden muss (alle hypoplastischen Knochenmarkerkrankungen), wenn Knochenmarkaspiration und Differenzialblutbild diskrepante Befunde ergeben oder wenn durch eine Aspiration nicht ausreichend Material gewonnen werden kann (Punctio sicca). Bei myeloproliferativen Erkrankungen gestattet nur die Entnahme der Stanze die Beurteilung der fibrotischen Komponente. Hinsichtlich der Beurteilung zellulärer Details und dysplastischer Veränderungen hämatopoetischer Zellen bleibt jedoch ein Knochenmarkaspiratausstrich der Biopsie überlegen. 2.3.2
Kontraindikationen und Komplikationen
Kontraindikationen. Schwere Gerinnungsstörungen, wie sie
bei Hämophilie oder disseminierter intravasaler Gerinnung (DIC) auftreten, stellen ohne therapeutische Korrektur der Gerinnung eine relative Kontraindikation zur Knochenmarkpunktion dar. Bei Patienten die mit Antikoagulanzien behandelt werden, sollten Thromboplastinzeit (Quick, INR) bzw. partielle Thromboplastinzeit (PTT) im therapeutischen Fenster der Cumarin- bzw. Heparintherapie liegen. Eine Thrombozytopenie hingegen steht der Punktion nicht entgegen; bei schwerer Thrombozytopenie kann jedoch eine Plättchensubstitution vor der Punktion erwogen werden.
Die Punktion im Bereich infizierter Haut oder im Bereich einer Osteomyelitis sollte vermieden werden. Die einzige absolute Kontraindikation einer Knochenmarkpunktion ist die falsche oder fehlende Indikation. Komplikationen. Nach einer Knochenmarkpunktion, insbesondere im Beckenkammbereich, sind Komplikationen selten (<0,1–0,5%) und in der Regel milde. Am häufigsten kommt es zu verstärkter Nachblutung, dabei können selten auch retroperitoneale Blutungen auftreten. Eine britische Untersuchung zählte bei 54.890 Knochenmarkbiopsien 26 Fälle mit Komplikationen (Bain 2003). Davon stellten 14 Fälle verstärkte Blutungen dar, die in 6 Fällen einer Transfusion bedurften und bei einem Patienten zu dem einzigen beobachteten Todesfall führten. Die wichtigsten Risikofaktoren für Nachblutungen stellten dabei myeloproliferative Erkrankung,Aspirin, Cumarine,Adipositas und disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) dar. Bei Knochenmarkpunktionen können selten Infektionen entstehen, die jedoch meist geringfügig sind und nur topischer Behandlung bedürfen. Wenn es zum Abbrechen der Punktionsnadel kommen sollte, muss diese von einem hinzugezogenen Chirurgen entfernt werden. Eine Tumorzellaussaat entlang des Stichkanals bei Patienten mit Lymphom, kleinzelligem Bronchialkarzinom oder multiplem Myelom wurde in wenigen Einzelfallberichten publiziert.Als sehr seltene Komplikationen können Osteomyelitiden sowie transiente Neuropathien im Rahmen eines glutealen Kompartmentsyndroms auftreten. Die Indikation zur Sternalpunktion ist, insbesondere bei Kindern und Patienten mit verminderter Knochendichte oder multiplem Myelom, nur in Ausnahmefällen gegeben ( unten). Zwar kommt es bei der Sternalpunktion auch nur selten, aber dann potenziell zu fatalen Komplikationen: Die versehentliche Penetration des im Erwachsenenalter ca. 1 cm dicken Sternums kann zu gefährlichen kardiovaskulären Komplikationen, wie Perikardtamponade, Pneumothorax, Blutungen etc., führen. Vor Beginn jedes Eingriffes sollte sichergestellt werden, dass der Patient keine bekannten Allergien gegen Latex (Handschuhe) und insbesondere Lokalanästhetika besitzt. Auch ohne entsprechende Vorgeschichte können allergische, aber auch kardiovaskuläre und neurologische Nebenwirkun-
27 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
⊡ Abb. 2.10. Mögliche Lokalisationen für Knochenmarkpunktionen am Modell: A hinterer Beckenkamm (Spina ilica posterior superior);
B vorderer Beckenkamm (Spina iliaca anterior superior); C Sternum im 2. bis 3. Interkostalraum; D Tibia beim Neugeborenen
gen von Lokalanästhetika auftreten, so dass eine entsprechende Notfallausrüstung bereit liegen muss. Wie bei jedem Eingriff, der in Sedierung oder Narkose durchgeführt wird, muss über das Risiko dieser Maßnahme aufgeklärt werden. Das größte Risiko der Knochenmarkpunktion liegt in der sie begleitenden Sedierung oder Narkose.
gen werden. Unter physiologischen Umständen sind Zellularität und Verteilung der hämatologischen Zelllinien an unterschiedlichen Lokalisationen vergleichbar. Auch hämatologische Neoplasien, insbesondere Leukämien, verteilen sich meist gleichmäßig auf das gesamte Knochenmark und sind daher über eine einzige Punktion mit hoher Zuverlässigkeit zu erfassen. Bei Lymphomen und anderen fokalen Knochenmarkerkrankungen, wie Verdacht auf Metastasen oder granulomatöse Entzündung, erhöht jedoch die bilaterale Punktion die Sensitivität der Untersuchung. Einige Studienprotokolle beinhalten zudem die bilaterale oder sogar multiple Biopsie. Die Sensitivität der unilateralen Biopsie lag in einer frühen Studie bei 22% für NHL, 43% für Morbus Hodgkin und 36% bei anderen Neoplasien (Brunning et al. 1975). Mehrere Studien haben gezeigt, dass insbesondere beim NHL aber auch anderen Neoplasien die bilaterale Punktion die Anzahl positiver Biopsien um 10–30% erhöht. Auch die Länge der gewonnenen Stanze korreliert positiv mit der Sensitivität der Untersuchung und sollte beispielsweise bei Erwachsenen mit Verdacht auf fokalen Befall des Knochenmarks mindestens 20 mm betragen (Natkunam et al. 2004). Bevorzugte Lokalisation (⊡ Abb. 2.10) für die Knochenmarkpunktion bei Kindern und Erwachsenen ist die Spina iliaca posterior superior. Bei extremer Adipositas, lokaler Läsion oder Vorbestrahlung im Punktionsbereich sowie bei
2.3.3
Wahl der Punktionsstelle
Während beim Neugeborenen alle Knochen mit hämatopoetischem Gewebe gefüllt sind, wird dieses mit zunehmendem Alter durch Fettgewebe ersetzt. In der Adoleszenz findet sich blutbildendes Knochenmark normalerweise nur noch in den Knochen des Axialskeletts, wie Sternum, Rippen, Wirbelkörper, Klavikel, Skapula, Schädel, Becken und proximale Enden der langen Röhrenknochen (Foucar 2001). Mit Hilfe einer Szintigraphie mit radioaktivem, Transferrin-gekoppeltem Eisen kann man zeigen, dass sich der größte Anteil des aktiven Knochenmarks (Nachweis der Erythropoese) auf Wirbelsäule und Becken projiziert. Obwohl mit der Entnahme von Knochenmark nur ein kleiner Teil eines Organs von immerhin etwa Lebergröße erfasst wird, kann das Untersuchungsergebnis bei den meisten Patienten auf das gesamte hämatopoetische System übertra-
2
28
I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
Lagerungsproblemen (beispielsweise im Rahmen einer Operation) kommen andere Zugangswege in Frage. Insbesondere die Spina iliaca anterior superior bzw. der vordere Beckenkamm sollten hier zur Punktion gewählt werden. Bei Patienten unter 3–6 Monaten (maximal bis 18 Monate) entnimmt man Knochenmark bevorzugt aus der proximalen Tibia, die in diesem Lebensalter einen relativ großen Markraum aufweist und gut zugänglich ist (Knowles et al. 1980; Hyun et al. 1988). Bei Patienten, denen für eine autologe Knochenmarktransplantation eigenes Knochenmark aus den vorderen und hinteren Beckenkämmen entnommen wurde, kann das Sternum für sich anschließende Kontrollpunktionen gewählt werden. Im Rahmen einer Sternalpunktion ist die Entnahme einer Stanze aufgrund der geringen Dicke nicht möglich. In speziellen Fällen kann es sich anbieten, Knochenmark aus Rippen, Trochanter major des Femur oder Wirbelkörperfortsätzen zu entnehmen. Eine CT-gesteuerte oder offene Biopsie wird bei lokalisierten pathologischen Prozessen durchgeführt. 2.3.4
Reihenfolge von Aspiration und Biopsie
Über die Reihenfolge von Knochenmarkaspiration und Biopsie gibt es unterschiedliche Ansichten. Führt man zuerst die Aspiration und dann die Biopsie durch, kann es durch Einblutung zu einer Abnahme der Zellularität der Stanze kommen. Solche Artefakte lassen sich durch die primäre Biopsie vermeiden, dabei ist jedoch die Gefahr einer vorzeitigen Koagulation des Knochenmarks erhöht. Da die meisten Patienten die Biopsie als unangenehmer empfinden, empfiehlt es sich bei nicht sedierten Patienten, mit der Aspiration zu beginnen. Wichtiger als die Reihenfolge sind die Verwendung von 2 unterschiedlichen Nadeln für Aspiration und Biopsie und die Punktion des Knochens im Abstand von 1–2 cm über den gleichen Hautzugang. 2.3.5
Vorbereitung einer Knochenmarkpunktion
Die Punktion erfolgt in steriler Technik mit sterilen Handschuhen und lokaler Desinfektion sowie fakultativ mit Mundschutz und lokaler Abdeckung mittels Lochtuch. Neben dem punktierenden Arzt sind eine Pflegekraft und eine medizinisch-technische Assistentin an der Durchführung des Eingriffs beteiligt. Letztere sind für die Lagerung und Fixierung des Kindes und die Versorgung des gewonnenen Knochenmarks zuständig sind. Wird der Eingriff in tiefer Sedierung oder Narkose durchgeführt, ist die Anwesenheit eines zweiten Arztes zur Überwachung des Kindes notwendig. Von verschiedenen Herstellern werden unterschiedliche Punktionsnadeln angeboten, die teilweise sowohl für Aspiration als auch für die Biopsie eingesetzt werden können. Um Sterilität und Schärfe zu garantieren, werden in der Regel keine wieder verwendbaren Nadeln benutzt. Wichtig ist, bei Sternalpunktionen eine Nadel mit Abstandshalter zu verwenden, der die versehentlich zu tiefe Punktion verhindert. Für die Aspiration werden meist 10–20 ml-Spritzen verwendet. Die Spritze, die für die morphologische Diagnostik vorgesehen ist, ist in der Regel nicht mit einem Antikoagulans versehen. Um eine sehr schnelle Gerinnung zu verhindern,
kann die Spritze auch mit 0,5 ml EDTA oder Citrat benetzt werden. Das Aspirat wird nach Gewinnung sofort durch eine anwesende Hilfsperson ausgestrichen. Dabei wird das Vorhandensein von Markbröckeln noch vor Ort sichergestellt und eine hohe Qualität der gewonnen Präparate gewährleistet. 2.3.6
Analgosedierung und Narkose
Bei Kindern werden Knochenmarkpunktionen heute in der Regel in Analogosedierung durchgeführt. Diese Maßnahme ermöglicht für Arzt und Patient entspannte Untersuchungsbedingungen und erhöht damit gleichzeitig die Qualität des Präparates. Bewährt haben sich beispielsweise der Einsatz von Lorazepam oder Midazolam in Kombination mit Pethidin. Die durch die Benzodiazepine hervorgerufene antegrade Amnesie ist insbesondere bei Kindern erwünscht, die im Rahmen ihrer Erkrankung regelmäßig punktiert werden müssen. In besonderen Fällen, wie bei der Entnahme multipler Biopsien oder bei unzureichender Sedierung, sollte der Eingriff in Kurznarkose durchgeführt werden. Während der Punktion und bis zum vollständigen Abklingen der Sedierung werden die Patienten durch geschultes Personal überwacht. 2.3.7
Durchführung von Aspiration und Biopsie
Zunächst wird die lokale Anästhesie (⊡ Abb. 2.11) durchgeführt. Nach Palpation der gesuchten Knochenstruktur und lokaler Desinfektion wird diese Stelle schrittweise von der Haut bis zum Periost mit einem Lokalanästhetikum betäubt. Das Periost wird in einem Areal von ca. 1–2 cm Durchmesser infiltriert. Vor der Einführung der Punktionskanüle sollte einige Minuten gewartet werden, damit die Lokalanästhesie zur Wirkung kommen kann. Über den gleichen Hauteinstich und Unterhautkanal, aber auf dem Knochen um mindestens 1 cm versetzt, werden nun die Stanze und die Aspiration mit 2 unterschiedlichen Nadeln gewonnen. Der hintere Beckenkamm (Spina iliaca posterior superior) ist die am häufigsten verwendete Punktionsstelle. Die Punktion kann in Bauchlage des Patienten, je nach Bedarf mit unter das Becken geschobener Unterlage, oder in Seitenlage mit angezogenen Beinen (Embryostellung) erfolgen. Bei Kindern ist die Bauchlage besser kontrollierbar, bei adipösen Erwachsenen kommt es in Seitenlage häufig zu einer besseren Exposition der Spina. Die Haut wird möglichst rechtwinklig durchstochen, manche Hämatologen bevorzugen eine kleine Hautinzision vor der Hautpunktion. Nach Aufsetzen auf den Knochen wird die Nadel unter leicht drehenden Bewegungen vorgeschoben. Der zweite und dritte Finger der punktierenden Hand können zur besseren Führung und Kontrolle auf die Haut des Patienten aufgesetzt werden. Zur Gewinnung einer Knochenmarkbiopsie wird die Nadel mit Mandrin soweit in den Knochen gebohrt, bis sie dort fest verankert ist. Der Mandrin wird nun entfernt und die Nadel wird, je nach Alter und erwarteter Knochendicke des Kindes, 1–2 cm weiter eingeführt. Dann wird durch Drehbewegungen und Abwinkeln der Nadel der Knochenzylinder im Knochen abgebrochen. Die Nadel wird vor dem Heraus-
29 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
ziehen noch ein kleines Stückchen weiter vorgebohrt, um zu verhindern, dass die Biopsie im Knochen verbleibt. Nach Herausziehen der Nadel wird durch Einführen des Obturators die Stanze aus der Hohlnadel geschoben. Die Biopsie wird, wenn kein Abroll- oder- Abklatschpräparat angefertigt werden muss, sofort in Fixierlösung gegeben. Die Länge der gewonnen Biopsie korreliert positiv mit der Sensitivität der Untersuchung und die Stanze sollte daher mindestens 1,5 cm, besser 2 cm lang sein. Bei Kindern können diese Längen manchmal nicht erreicht werden. Die Länge des Zylinders kann während der Punktion durch Wiedereinführen des Obturators, dessen oben überstehender Teil anzeigt, wie weit die Hohlnadel bereits im Knochen steckt, kontrolliert werden. Zur Gewinnung der Knochenmarkaspiration wird die Nadel bis in den Markraum eingeführt. Der Widerstand gibt nach, sobald Periost und Kortikalis durchbrochen sind und die Nadel den Markraum erreicht. Nach Entfernen des Mandrins wird auf die Punktionsnadel eine Spritze aufgesetzt und etwas (<0,5 ml) Knochenmark aspiriert (⊡ Abb. 2.11). Vor Aspiration sollte der Patient darauf hingewiesen werden, dass das Ansaugen kurzzeitig ein schmerzhaftes Ziehen verursacht. Das Ansaugen von größeren Mengen Knochenmark hat häufig eine starke Verdünnung mit Markblut zur Folge und sollte bei Präparaten für die morphologische Diagnostik unterbleiben. Wenn zusätzliches Material für Spezialuntersuchungen benötigt wird, sollten zuerst ca. 0,25 ml für die Ausstriche aspiriert werden, um dann in separaten folgenden Spritzen das übrige Knochenmark zu gewinnen. Der Mandrin wird vor dem Entfernen der Nadel wieder eingeführt und die Punktionsstelle mit einem Druckverband versorgt. Insbesondere Patienten mit erhöhter Blutungsneigung können nach der Punktion für 10–15 min auf einem Sandsack, der die Punktionsstelle komprimiert, gelagert werden. Die Punktionsstelle im Bereich des vorderen Beckenkamms liegt ca. 1–3 cm posterior der Spina iliaca anterior superior und etwas unterhalb der palpierten Crista iliaca. Der Patient liegt auf dem Rücken. Das weitere Vorgehen entspricht dem bei Punktion des hinteren Beckenkammes. Im Regelfall ist eine Punktion des hinteren Beckenkamms der des vorderen Beckenkamms vorzuziehen, da aus dem hinteren Beckenkamm oft ein volleres und – besonders bei schwierigen Punktionen – repräsentativeres Mark entnommen werden kann. Das Sternum wird auf Höhe des 2. bis 3. Interkostalraums punktiert. Nur das Manubrium und der obere Teil des Corpus sollten anpunktiert werden. Wie oben erwähnt, wird bei Punktion des Sternums in jeden Fall eine Nadel mit Abstandhalter eingesetzt. Dieser wird so adjustiert, dass die Nadel noch ca. 5 mm in den Knochen eindringen kann, wenn das Periost erreicht ist. Der Patient liegt auf dem Rücken. Der weitere Ablauf unterscheidet sich nicht von der Knochenmarkaspiration am Beckenkamm. Zur Tibiapunktion werden Unterschenkel und Fuß des Säuglings mit der nicht punktierenden Hand fixiert. Zur Punktion wird die nicht von Muskulatur bedeckte mediale Tibiafläche im proximalen Drittel, etwas unterhalb der Tuberositas tibiae, gewählt. Die Punktionsrichtung ist posterolateral. Das Nachgeben des Widerstands, das bei älteren Patienten am Beckenkamm häufig gespürt wird, fehlt bei Säuglingen in dieser Lokalisation.
Die Durchführung von Knochenmarkaspiraten bei Säuglingen erfordert technische Erfahrung, um repräsentative und nicht mit peripherem Blut verdünnte Präparate zu erhalten. Biopsien sind in dieser Altersgruppe aufgrund der geringen Knochendicke und der Dicke der zur Verfügung stehenden üblichen Biopsienadeln schwer möglich. Christensen et al. haben eine Methode entwickelt, mit der auch bei Früh- und Neugeborenen eine Biopsie bzw. genauer ein Knochenmarkgerinnsel entnommen werden kann (Sola et al. 1999). Die Autoren verwenden bei kleinen Frühgeborenen eine 19 Gauge-Hohlnadel. Diese wird in die Tibia eingebohrt, der Trokar entfernt und die Hohlnadel 2–3 mm vorgeschoben. Mit einer 2 ml-Spritze wird Sog ausgeübt, bis etwas Knochenmark sichtbar wird. Nach Herausziehen der Nadel mit aufgesetzter Spritze kann die Probe ganz in die Spritze gesaugt werden. Diese winzige Biopsie wird fixiert und aufgearbeitet wie eine normale Biopsie; eine Dekalzifizierung ist jedoch nicht notwendig (Sola et al. 1999). 2.3.8
Punctio sicca
Wenn bei einer Knochenmarkpunktion kein Material oder nur Blut ohne Knochenmarkzellen aspiriert werden kann, spricht man von einer Punctio sicca (»dry tap«). Wenn sichergestellt ist, dass sich die Spitze der Nadel im Markraum befindet, können diesem Phänomen verschiedene pathologischen Knochenmarkveränderungen zugrunde liegen: ▬ Die Zellularität des Knochenmarks kann stark reduziert sein (z. B. aplastische Anämie), ▬ die Zellularität kann pathologisch erhöht sein (z. B. Leukämie) oder ▬ ein fibrotischer Prozess (z. B. myeloproliferative Erkrankungen) können die Aspiration von Zellen erschweren. Auch eine Infiltration durch einen metastasierten Tumor oder ein granulomatöser Prozess können einer Punctio sicca zugrunde liegen.
Können weder eine Aspiration noch eine Biopsie gewonnen werden, kann versucht werden, die benutzte Nadel auf einem Objektträger abzustreifen, um doch noch etwas Material auswerten zu können. Dies führt in einem Großteil der Fälle doch noch zu einem auswertbaren Präparat.
2.3.9
Aufarbeitung eines Knochenmarkaspirats
Ähnlich wie Blutausstriche werden alle Ausstriche vor der Färbung gut getrocknet ( Abschn. 2.2.6). Die Fixierung in Methanol geschieht vor der Färbung oder ist Teil des Färbeprozesses. Anschließend werden die Präparate mit einer dünnen Glasplatte »gedeckelt« und mit Patientendaten, Datum und Art der Färbung beschriftet werden. In der Regel werden Ausstrichpräparate hergestellt ( Abschn. 2.2.6). Die zum Ausstreichen verwendete Glasplatte sollte schmaler als der Objektträger sein, damit die Ränder des Ausstriches beurteilt werden können. In der sog.
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Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
I
⊡ Abb. 2.11. Technik der Knochenmarkpunktion am hinteren Beckenkamm. A Nach lokaler Desinfektion Infiltration von Haut, Subkutis und Periost mit einem Lokalanästhetikum; B kreisförmige Desinfektion der Knochenmarkpunktionsstelle; C Palpation der Spina iliaca posterior superior, Stich durch die Haut und Einbohren der Nadel in den Mark-
raum; D Aufsetzen einer Spritze; E Aspiration von Knochenmark in verschiedenen Fraktionen (erste, sehr kleine Portion für Morphologie, anschließende größere Portionen für weitere Diagnostik); F Versorgung mit einem Verband
31 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
⊡ Abb. 2.12. Ausstrich- und Quetschpräparat von Knochenmarkaspirat: A Ausstrichpräparat; B Quetschpräparat; durchgezogene Pfeile: Markbröckel; unterbrochener Pfeil: Artefakt durch Partikel in der Färbemaschine
Material in der Spritze koagulieren zu lassen. Bei langsamer Koagulation kann tropfenweise Thrombin dazu gegeben werden, um die Gerinnung zu beschleunigen. Der entstandene Thrombus wird dann fixiert, histologisch aufgearbeitet und geschnitten. Da die kleinen Markbröckel im koagulierten Blut eingebettet sind, kann die Interpretation dieser Schnitte schwierig sein. Dieses Problem wird umgangen, wenn das Knochenmark zunächst antikoaguliert und dann in speziellen Filtertaschen die Markbröckel vom restlichen Blut getrennt werden. Die Partikel werden fixiert, eingebettet, geschnitten und gefärbt. Die Analyse dieser Partikel kommt v. a. in der Diagnostik fokaler Knochenmarkerkrankungen, wie Granulome, Lymphome oder Metastasen, zur Anwendung (Cetto et al. 1983). Das übrige Knochenmarkblut kann bei speziellen Fragestellungen durch Zentrifugation in vier Schichten, Erythrozyten, Fett und perivaskuläre Zellen, Plasma und myeloid-erythroide Zellen (»buffy coat«), aufgetrennt werden. So lassen sich beispielsweise Mykobakterien besonders gut aus dem so gewonnenen »buffy coat« nachweisen (Sen et al. 1996). Ein Tupf- oder Abrollpräparat einer Knochenmarkbiopsie ist hilfreich, wenn das Aspirat keine verwertbaren Knochenmarkbröckel enthält (Punctio sicca). Der Knochenzylinder wird auf einen Glasträger gelegt und mit einer zweiten Glasplatte unter leichtem Druck hin und her gerollt. Mit dieser Technik können 1–2 Präparate angefertigt werden. 2.3.10 Knochenmarkausstrich in der Übersicht
Fahne, dem ausgefranst erscheinenden Ende des Ausstriches, sollten bereits makroskopisch möglichst viele Markbröckel erkennbar sein (⊡ Abb. 2.12). Wenn das Knochenmark sehr verdünnt erscheint, kann ein großer Tropfen auf den Träger aufgebracht werden und etwas Flüssigkeit abpipettiert werden: Das zurückbleibende, zellreichere Knochenmark kann dann normal ausgestrichen werden. In Quetschpräparaten (⊡ Abb. 2.12) findet man hämatopoetische Zellen oft in konzentrierterer Form. Die Markbröckel werden aufgebrochen und die darin enthaltenen Zellen werden der morphologischen Beurteilung besser zugänglich. Ein Tropfen Markbröckel enthaltendes Knochenmark wird an einer Seite des Objektträgers aufgebracht. Eine zweite Glasplatte wird parallel zum Objektträger auf den Tropfen gepresst und unter Druck über die ganze Länge des Objektträgers gezogen. In der sog. »Coverslip«-Technik werden 1–2 ml aspiriertes Knochenmark in eine Petrischale oder ein Uhrglasschälchen gegeben. Die Schale wird leicht schräg gehalten, damit das Blut abfließt und die Markbröckel sichtbar werden. Ein oder zwei Markbröckel werden mit einer Pipette entnommen und auf ein 22×22 mm Deckglas gebracht. Ein zweites Deckglas wird auf das erste diagonal aufgepresst und die beiden Platten werden leicht gegeneinander verschoben und getrennt. Nach Trennen der Platten erhält man 2 Präparate, die aufgrund des anderen Formats manuell gefärbt werden. Insbesondere bei systemischer Mastozytose und multiplem Myelom kann diese Methode hilfreich sein, da die Zellen oft erst beim Aufbrechen der Markbröckel zum Vorschein kommen (Hodges et al. 1996). Die einfachste Variante, kleine Knochenmarkgerinnsel, sog. »clot sections« herzustellen, besteht darin, aspiriertes
Die Beurteilung eines Knochenmarkausstrichs ist stets nur im Kontext einer sorgfältig erhobenen Anamnese und in Kenntnis anderer Untersuchungsbefunde möglich. Die Bewertung einer Knochenmarkuntersuchung erfolgt stets in Kenntnis des Differenzialblutbilds: Nur die Betrachtung des gesamten Pools der Blutzellen, von der Stammzelle bis zur peripheren Zelle, ermöglicht die sichere Erkennung und Lokalisation einer hämatologischen Erkrankung. Bei wiederholten Punktionen sollten die vorangehenden Präparate zum direkten Vergleich vorliegen, um beispielsweise Therapieansprechen oder Progression der Erkrankung bewerten zu können. ! Die Beurteilung eines Blutausstriches geht der Evaluation des Knochenmarks voraus.
Der erste Schritt der Beurteilung von Knochenmark besteht in der großflächigen Durchsicht des Präparats in geringer Vergrößerung (Okular 10-fach, Objektiv 10-fach). Es werden verschiedene Areale mehrerer Präparate betrachtet. Dabei werden folgende Fragen beantwortet: Konnten Knochenmarkbröckel, sog. »Mikrobiopsien«, aspiriert werden? Nur diese erlauben mit einiger Sicherheit die Beurteilung des Zellgehaltes des Knochenmarks. Finden sich Megakaryozyten in adäquater Dichte im Knochenmark? In der kleinsten Vergrößerung sind normalerweise etwa 2–4 Megakaryozyten pro Blickfeld sichtbar. Die Zahl der Megakaryozyten unterliegt einer großen physiologischen Schwankungsbreite und hängt auch wesentlich von der Menge und damit Verdünnung des aspirierten Knochenmarks ab. Fallen große abnorme Zellen (Speicherzellen, SternbergReed-Zellen etc.) oder Tumorzellkonglomerate auf? Gibt es
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Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
Ansammlungen von großen, schaumigen Makrophagen, die andere Zellen phagozytieren (Hämophagozytose)? Ist das Zellbild sehr monoton mit Überwiegen nur eines Zelltyps oder besteht das normale bunte Bild? Wie ist das Verhältnis von Myelopoese zu Erythropoese (M:E-Ratio)? Es kann mit dieser geringen Vergrößerung grob abgeschätzt werden. Normalerweise kommen auf eine rote Vorstufe 2–4 weiße Vorstufen, d. h. die M:E-Ratio beträgt 2:1 bis 4:1.
mengefasst werden. So werden etwa die Zellen der Erythropoese häufig nur in ihrer Gesamtheit erfasst. Bei anderen Erkrankungen, wie beispielsweise der schweren kongenitalen Neutropenie oder der Diamond-Blackfan-Anämie führt jedoch gerade die genaue Differenzierung der hämatopoetischen Linien zur Diagnose. Aus dem Bericht der Differenzierung sollte hervorgehen, ob sich fokale Ansammlungen von Zellen, wie erythropoetische Nester oder Tumorzellaggregate im Ausstrich befinden oder ob die Differenzierung eine gleichmäßige Verteilung widerspiegelt.
2.3.11 Abschätzung des Zellgehaltes 2.3.13 Eisen und zytochemische Färbungen Die Abschätzung des Zellgehalts eines Knochenmarkaspirats kann nur bei Vorhandensein von Markbröckeln zuverlässig erfolgen. Diese Bewertung ist von der Erfahrung des Untersuchers abhängig und sollte immer im Hinblick auf das Alter des Patienten erfolgen (⊡ Tabelle 2.7). Der Zellgehalt des Knochenmarks ist bei Säuglingen physiologischerweise viel höher als bei Schulkindern. Später sinkt der Zellgehalt pro Dekade um ca. 10% mit einer hohen Schwankungsbreite ab. Eine sichere Bestimmung des Anteils an Knochenmarkzellen kann mit Hilfe der Biopsie erhoben werden; das Verhältnis von hämatopoetischen Zellen zu Stroma kann hier in Prozent ausgedrückt werden. Im Deutschen wird die unterschiedliche Wertigkeit von Aspirat und Biopsie bei der Bestimmung des Anteils hämatopoetischer Zellen auch sprachlich hervorgehoben: Man spricht von der »Zellularität« der Biopsie und vom »Zellgehalt« des Aspirats. 2.3.12 Zellzählung und -differenzierung Die Klassifikation der Zellen in hämatopoetische Linien und Reifungsstufen erfolgt in einer höheren Vergrößerung (Okular 10-fach und Objektiv 40- bis 60-fach; ⊡ Abb. 2.13). Während der Zellzählung sollten verschiedene repräsentative Stellen des Präparates zur Zählung herangezogen werden, um Fehler durch fokale Ansammlung von Zellen zu vermeiden. Dabei eignen sich v. a. die Areale direkt hinter den Markbröckeln, die am wenigsten durch peripheres Blut verdünnt sind. Um verwertbare Ergebnisse zu erzielen, werden mindestens 200, bei hämatopoetischen Neoplasien 400 Zellen mäanderförmig, vergleichbar der Zählung in peripherem Blut, ausgezählt. Wie detailliert die Zählung erfolgt, hängt von der speziellen Fragestellung der Untersuchung ab. Im Fall einer akuten Leukämie mit Überwiegen der Blasten im Knochenmark ist es sicherlich nicht notwendig, jede Reifungsstufe differenziert zu erfassen; einige Zellen können in Gruppen zusam-
Eisen. Der Nachweis von Eisen in den Makrophagen des Knochenmarks spielt eine wichtige Rolle in der Anämiediagnostik. Bei entzündlichen Erkrankungen, ineffektiver Erythropoese oder wiederholten Transfusionen kann eine erhöhte Eisenspeicherung erkannt werden. Der Eisengehalt im Knochenmark korreliert dabei grob mit dem Serumeisenspiegel. Wenn auch quantitative Aussagen durch die Eisenfärbung des Knochenmarks nicht getroffen werden könne, so weist doch ein Fehlen von anfärbbaren Eisengranula in Makrophagen der Markbröckel auf einen Eisenmangel hin. Zytochemische Untersuchungen. Im Rahmen der Klassifikation von Leukämien werden zytochemische Untersuchungen (⊡ Tabelle 2.8) durchgeführt und bei der FAB- sowie WHO-Klassifikation berücksichtigt ( Kap. 58). Insbesondere bei der Differenzierung von ALL und AML, sowie der Bestimmung der Subklassen einer AML können sie hilfreich sein. Zytochemische Färbungen haben durch die Verfügbarkeit der Immunphänotypisierung mittels Durchflusszytometrie an Bedeutung verloren; dennoch sind sie durch ihre schnelle Verfügbarkeit sehr hilfreich.
2.3.14 Zytomorphologie und Dysplasie Die Beurteilung der Morphologie von Zellen des Knochenmarks beinhaltet auch den genauen Blick auf die physiologische oder pathologische Zusammensetzung der Einzelzelle. Dabei werden zunächst die einzelnen Bestandteile einer Zelle anhand ihrer Form, Struktur und Färbung beurteilt. Im nächsten Schritt müssen diese Bestandteile zueinander in Beziehung gesetzt werden. So stehen beispielsweise die Größe von Kern und Zytoplasma eines Zelltyps in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Zudem zeigen die verschiedenen Elemente einer gesunden Zelle eine typische zeitliche Abfolge und synchrone Reifung. Weist das Chromatin beispiels-
⊡ Tabelle 2.7. Altersabhängiger Zellgehalt des Knochenmarks (Foucar 2001)
Alter
Zellularität (%)
Granulozyten (%)
Erythropoese (%)
Lymphozyten (%)
Neugeborenes
80–100
50
40
10
1–3 Monate
80–100
50–60
5–10
30–50
Kind
60–80
50–60
20
20–30
Erwachsener
40–70
50–70
20–25
10–15
33 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
⊡ Abb. 2.13. Morphologie hämatopoetischer Zellen
weise eine andere Reifungsstufe auf als das Zytoplasma der Zelle, spricht man von einer asynchronen Relation der entsprechenden Merkmale. Eine Granulierung, die in einem bestimmten Ausreifungsstadium physiologisch ist, kann zu einem anderen Zeitpunkt abnormal sein. Bei der Einordnung so beschriebener Dysplasien muss beachtet werden, dass diese auch beim Gesunden vorkommen können (Bain 1996): Fast jede zweite Kontrollperson hat etwa einzelne Megakaryo-
zyten, die einen nicht lobulierten Kern aufweisen, und auch in der Erythropoese können vereinzelt Dysplasien, wie Doppelkerne oder Zytoplasmabrücken, gefunden werden. Neben der Quantität beobachteter dysplastischer Veränderungen, besitzen Dysplasien unterschiedliche diagnostische Wertigkeiten: So kommen Mikromegakaryozyten oder Kernbrücken von Erythroblasten nicht beim Gesunden vor und weisen auf ein myelodysplastisches Syndrom hin.
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I
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
⊡ Abb. 2.13 (Fortsetzung)
2.3.15 Aufarbeitung einer Knochenmarkbiopsie Die Knochenmarkstanze wird sofort nach Entnahme zur Fixierung in 4- bis 5%-iges, gepuffertes (pH 7,4) Formalin gegeben. In dieser Lösung verbleibt die Biopsie für mindestens 24 h. Anschließend entkalkt das fixierte Präparat mindestens 48 h in 20%-iger Ethylendiamintetraessigsäure, um danach in einer aufsteigenden Alkoholreihe (70%, 80%, 96% bis zu 100% Alkohol) entwässert zu werden. Vor dem Einbetten in Paraplast (Paraffin) kann die Biopsie zum Erleichtern des späteren Schneidens in Tetrachlorethylen inkubiert werden. Von dem Paraplastblöckchen werden nun ca. 3–4 µm dicke Schnitte angefertigt, die in einem Wasserbad auf Objektträger aufgezogen werden. Vor Färbung müssen die Schnitte entparaffiniert werden. Wichtige histologische Färbungen sind die Giemsa-Färbung, Hematoxilin-Eosin-
Färbung, Berliner-Blau-Färbung zum Nachweis von Ferritinspeichereisen sowie die Versilberung nach Gomori, die eine möglicherweise bestehende Faservermehrung im Knochenmark anzeigt. 2.3.16 Beurteilung einer Knochenmarkbiopsie Die Knochenmarksstanze sollte mindestens 10 mm lang sein, um einen ausreichend repräsentativen Ausschnitt der Knochenmarkräume zu gewährleisten. Zunächst wird anhand der Struktur der Knochenbälkchen (Spongiosa) beurteilt, ob eine Osteopenie, Osteosklerose oder ein verstärkter Knochenumbau vorliegen. Anhand des Verhältnisses von Fettmark zu hämatopoetischem Knochenmark wird dann bestimmt, ob der hämatopoetische Zellgehalt altersentsprechend normal,
35 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
⊡ Abb. 2.13 (Fortsetzung)
vermindert (hypoplastisch) oder vermehrt (hyperplastisch) ist ( Tabelle 2.7). Die lokale Verteilung von Fett- und Knochenmark kann bei einigen hämatopoetischen Systemerkrankungen gestört sein, die Hämatopoese ist dann bei vorherrschender Adipozytose fleckförmig verteilt. Die Beurteilung des Fasergehalts ist ein wichtiger Bestandteil der histologischen Diagnostik; eine Faservermehrung kann bei einigen hämatologischen Systemerkrankungen diagnoseweisend sein. Ebenso sind Nachweis, Verteilung und Art des Speichereisens nicht nur für die Beurteilung eines Eisenmangels wichtig, sondern können auch wichtige Hinweise im Rahmen der Diagnostik anderer
hämatologischer Krankheitsbilder wie z. B. hämolytischer Anämien, Tumor- und Infektanämien, PNH oder CML geben. In der eigentlichen histologischen Beurteilung werden Granulopoese, Erythropoese und Megakaryopoese bezüglich ihrer Zellularität und ihrer Ausreifung kommentiert. Dysplastische Reifungsstörungen lassen sich in der Biopsie nur in der Megakaryopoese sicher beurteilen, bei starker Ausprägung auch in der Erythropoese. Im Nachweis einer Knochenmarkinfiltration durch Blasten oder durch knochenmarkfremde Zellen ist die Biopsie dem Aspirat in der Regel überlegen. Immunhistochemische Analysen erlauben die
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Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 2.8. Wichtige zytochemische Untersuchungen von Blut und Knochenmark
Prinzip
Zelltypen
Morphologie
Interpretation
Myeloperoxidase (POX)
Granulozyten ab der Reifungsstufe der Promyelozyten enthalten oxidierende Enzyme, die H2O2 spalten und Reagenzien, wie o-Tolidin oder 4-Chlor-1Naphthol unter Bildung eines Farbstoffes spalten
Positiv: • Promyelozyten, Myelozyten, reife Neutrophile, Monozyten (+/-) • AML, AMMol (+/-) Negativ: • Lymphozyten, Erythroblasten, Megakaryozyten, Monozyten (+/-) • ALL, EL, AMegL
Gelbgrüne bis gelbbraune Granula (o-Tolidin)
Bei akuten Leukämien ist eine positive Reaktion ein Hinweis auf myeloischen Ursprung. Eine Myeloblastenleukämie kann jedoch aufgrund einer negativen Färbung nicht ausgeschlossen werden.
PAS-Reaktion (»periodic acid schiff reaction«)
Durch die Perjodsäure-SchiffReaktion wird Glykogen in Zellen nachgewiesen. Sie ist damit nicht spezifisch für einen Zelltyp, sondern eher für die Stoffwechselsituation der Zelle.
Je nach Zelltyp diffuse (Monozyten, Promyeloztyen), grobkörnige (Lymphoblasten) oder feingranuläre (Lymphozyten) rote Anfärbung. Granulozyten sind stark positiv, Erythroblasten negativ.
Rote, granuläre oder diffuse Anfärbung
Eine grobgranuläre oder schollige Anfärbung ist typisch für die ALL. Die AML ist PAS-negativ oder zeigt eine schwache, diffuse Anfärbung.
Nicht-spezifische Esterase (NSE)
Die in der Zelle enthaltenen Esterasen und Lipasen hydrolysieren Substrate wie α-Naphthylacetat. Das Reaktionsprodukt α-Naphthol bildet dann mit einem Diazoniumsalz einen Farbstoff.
Positiv: • Monozyten, Megakaryozyten, Promyelozyten • AMMol, EL, AMegL Negativ: • Myeloblasten (+/-), Lymphozyten (+/-), Neutrophile (+/-), Erythroblasten (+/-) • AML, ALL (+/-)
Rotbraune, homogene oder körnige Anfärbung
Lymphoblasten zeigen meist eine fehlende, Myeloblasten und Promyelozyten eine geringe und Monozyten eine sehr starke Esteraseaktivität, so dass sich diese Färbung zur Differenzierung akuter Leukämien anbietet. Die AML-Typen M4 und M5 zeigen eine sehr starke Reaktion.
Saure Phosphatase (»acid phosphatase«, AcP)
Bei saurem pH-Wert werden durch saure Phosphatasen Organophosphate hydrolisiert. Bei Hydrolyse von α-Naphthylphosphat entsteht zusammen mit einem Diazoniumsalz einen Farbstoff. Saure Phosphatasen kommen v. a. aber nicht-exklusiv in Lysosomen vor.
Positiv: • Monozyten, Promyelozyten, Megakaryozyten, Neutrophile, Lymphozyten (+/-), Myeloblasten (+/-) • AMMol, ALL, EL, AMegL, AML Negativ: • Erythroblasten (+/-)
Rote, granuläre oder diffuse Anfärbung
Die T-ALL kann eine typische punktförmig granuläre Färbung aufweisen. Bei der Identifizierung spezieller Leukämieformen, wie der Prolymphozytenleukämie oder der Haarzellleukämie, kann diese Färbung hilfreich sein: Die Aktivität der sauren Phosphatase ist bei diesen Erkrankungen nicht durch Tartrat hemmbar. Bei Speicherkrankheiten (Morbus Niemann-Pick, Glykogenose Pompe) findet sich eine deutliche Reaktion in Makrophagen.
Alkalische Leukozytenphosphatase (ALP)
Die alkalische Phosphatase hydrolysiert bei alkalischem pH das Substrat α-Naphthylphosphat. Zusammen mit dem Diazomiumsalz Variaminblau B entsteht ein Azofarbstoff. Die Aktivität dieses Enzyms charakterisiert verschiedene Funktionszustände neutrophiler Granulozyten.
Positiv: • Neutrophile (Metamyelozyt, Stabkerniger, Segmentkerniger) Negativ: • Myeloblast, Promyelozyten, Monozyten, Lymphozyten, Erythroblasten Erhöhte ALP-Werte: • Chronisch myeloproliferative Erkrankungen (außer CML) • Gravidität, entzündliche Krankheitsprozesse, Kortikosteroidtherapie Erniedrigte ALP-Werte: • CML • PNH, Hypophosphatasie
Braun bis braunschwarze, diffuse oder granuläre Anfärbung
Bei der halbquantitativen Auswertung wird aus der Anzahl und Anfärbungsstärke positiver Zellen ein Index ermittelt. Die semiquantitative Bestimmung der ALP ist insbesondere bei der Abgrenzung der CML gegenüber den anderen myeloproliferativen Erkrankungen hilfreich; oft ist sie schon vor der klinischen Manifestation erniedrigt.
ALL akute lymphatische Leukämie, AML akute myeloische Leukämie, AMMoL akute myelo-monozytäre Leukämie, EL Erythroleukämie, AMegL akute megakaryoblastische Leukämie, CML chronisch myeloische Leukämie, PNH paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie.
37 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
Liniendifferenzierung von Zellen, die in konventionellen Färbungen nicht sicher eingeordnet werden können. ! Allgemein gilt, dass in der Beurteilung von Knochenmarkbiopsien in erster Linie das histologisches Verteilungsmuster (Pattern) des blutbildenden Marks und seine Abweichungen zur Diagnose führen. Zelluläre Details werden erst in zweiter Linie berücksichtigt.
2.4
Liquordiagnostik in der Hämatologie
Die morphologische Begutachtung von Liquor ist ein wichtiger Teil der hämatologisch-onkologischen Diagnostik. Durch sie kann der Befall des zentralen Nervensystems im Rahmen von Leukämien und anderen neoplastischen Erkrankungen erkannt werden. 2.4.1
Gewinnung von Liquor
Die Entnahme von Liquor cerebrospinalis erfolgt in der Regel im Rahmen einer Lumbalpunktion zwischen dem 3. und 4. oder 4. und 5. Lendenwirbel. In der Onkologie wird häufig auch Liquor aus punktierbaren, subkutanen Reservoiren gewonnen, die eine Verbindung zum meist cerebralen Liquorraum aufweisen. Liquor für die hämatologisch-onkologische Diagnostik wird in 3 Portionen gewonnen, die der direkten Mikroskopie, der Zytozentrifugation und der klinisch chemischen Analyse (Bestimmung von Glukose und Eiweiß) zugeführt werden. Um wenig punktionsbedingte Beimengung von Erythrozyten zu haben, wird in der Regel die letzte Portion für die Mikroskopie eingesetzt. 2.4.2
Makroskopische Beurteilung
Der entnommene Liquor wird zunächst makroskopisch beurteilt: Er ist normalerweise wasserhell und durchsichtig. Eine Rotfärbung kann bei Hirnblutungen, Meningitiden oder Tumoren, viel häufiger aber durch Gefäßverletzung während der Punktion verursacht sein. In diesem Fall unterscheiden sich die fraktioniert gewonnenen Liquorproben häufig in der Intensität der Rotfärbung. Ab ca. 1000 Zellen/µl erscheint der Liquor rosa. Eine Gelbfärbung des Liquors wird als Xanthochromie bezeichnet und findet sich bei länger zurückliegenden Blutungen durch Abbau von Hämoglobin zu Bilirubin. Auch bei chronisch entzündlichen Prozessen, im Sperrliquor und bei sehr schwerem Ikterus kann eine Xanthochromie auftreten. Wenn Liquor länger steht, können auch in normalem Liquor feine weiße Flöckchen ausfallen. Bei bakterieller Meningitis entstehen gröbere Fibringerinnsel. Leukozyten, Bakterien und Eiweiße können die Durchsichtigkeit des Liquors herabsetzen. Diese Trübungen können so ausgeprägt sein, dass der Liquor purulent erscheint, d. h. das Aussehen von Eiter erhält. Spinngewebsgerinnsel, die sich als feines, trichterförmiges Netz nach ca. 24 h erschütterungsfreien Stehens bilden, deuten auf einen erhöhten Fibringehalt des Liquors hin. Dies findet sich besonders häufig bei einer tuberkulösen Meningitis.
2.4.3
Chemische Liquoruntersuchungen
Chemische Analysen des Liquors spielen in der hämatologisch-onkologischen Diagnostik eine untergeordnete Rolle. In der Regel werden im Rahmen des Staging, der Verlaufskontrolle oder bei therapeutischen Lumbalpunktionen Glukose- und Eiweißgehalt des Liquors mitbestimmt. Die Glukose im Liquor sollte immer in Relation zum Glukosegehalt im Blut bewertet werden (Referenzbereich: >50–60% der Blutglukose). Bei der bakteriellen und tuberkulösen Meningitis, aber eben auch bei einem neoplastischem Befall des Meningealraums, kommt es zu einem starken Abfall der Liquorglukose (Liquorglukose <50% Blutglukose). Ein erhöhtes Gesamteiweiß im Liquor (Referenzbereich: 200 bis 500 mg/l) findet sich bei Blutung in die Liquorräume, artifizieller Blutbeimengung, entzündlichen Prozessen von Nervensystem oder Meningen sowie Störungen der Blut/Liquor-Schranke. Bei Blockade des Liquorflusses ist das Eiweiß im sog. Stopp- oder Sperrliquor ebenfalls erhöht; dies sollte insbesondere bei der Applikation von Chemotherapeutika in den Liquorraum beachtet werden. Ein erhöhtes Gesamtprotein dient immer als Orientierungspunkt und muss weiter differenziert werden. 2.4.4
Direktpräparat
Direkt nach Entnahme des Liquors, in jedem Fall innerhalb von 60 min, wird der Liquor unter dem Mikroskop betrachtet. Bei längerem Stehen des Liquors können Fibringerinnsel entstehen und die Zellzahl nimmt durch Autolyse ab; betroffen sind zunächst die Granulozyten später auch die Lymphozyten. Im frischen Liquor kann das Vorhandensein von Erythrozyten, kernhaltigen Zellen und, bei massivem Befall, teilweise von Bakterien erkannt werden. Die Betrachtung des Liquors und die Zellzählung erfolgen in einer Zählkammer. Für die Liquordiagnostik ist dabei die Fuchs-RosenthalKammer (⊡ Abb. 2.14) weit verbreitet. In ihrer Bauart ähnelt sie Kammern zur Blutzellzählung, wie der Neubauer-Kammer ( Abb. 2.1). Die Fuchs-Rosenthal-Kammer besitzt jedoch 4×4 Großquadrate, hat einen größeren Flächeninhalt (16 mm2), eine größere Kammertiefe (0,2 mm) und damit ein größeres Volumen (3,2 µl) als die üblichen Kammern. Vor Befüllung der Kammer sollte der Liquor durch leichtes Schütteln gut durchmischt werden, damit sedimentierte Zellen gleichmäßig verteilt werden. Liquor kann nativ oder verdünnt mit konzentrierter Essigsäure (mindestens 96%) eingesetzt werden. Durch die Essigsäure (Liquor:Essigsäure = 10:1) werden Erythrozyten lysiert und Leukozyten fixiert. Wenn 5 Großquadrate ausgezählt werden, entspricht die ermittelte Zahl der Zellzahl pro µl. Früher wurde die Zellzahl in n/3 angegeben. Dabei handelt es sich nicht um Drittelzellen, sondern n steht für die Zahl der Zellen in 3 µl bzw. dem Gesamtvolumen der Fuchs-Rosenthal-Kammer (12/3 Zellen = 4 Zellen/µl). Im ungefärbten Liquor ist eine genaue Differenzierung von Zellen nicht möglich, es kann in der Regel nur zwischen Erythrozyten und kernhaltigen Zellen unterschieden werden. Normalerweise befinden sich bis zu 3–4 kernhaltige Zellen/µl im Liquor; bei Neugeborenen können in Abhängigkeit vom Geburtsmodus bis zu 30 Zellen/µl gefunden werden.
2
38
Pädiatrische Hämatologie: Grundlagen
I
⊡ Abb. 2.14. Detailansicht der Zählkammer nach Fuchs-Rosenthal. Die fett gezeichneten Linien entsprechen 3 eng nebeneinander liegenden
Linien. Dabei werden die außerhalb der mittleren der 3 Linien liegenden Zellen nicht mehr für den entsprechenden Quadranten gezählt
Bei Kindern mit bekannter Leukämie oder einer anderen hämatologischen Neoplasie gelten bereits 5 Zellen/µl als Indikator für einen Befall des Zentralnervensystems.
zellen Erfahrung und den direkten Vergleich mit Blut- und Knochenmarkausstrichen erfordert. In der Onkologie ist insbesondere die Identifikation von im Nativpräparat aufgefallenen kernhaltigen Zellen als neoplastische Zellen wichtig. Die Zellen des Liquors setzten sich normalerweise v. a. aus Lymphozyten (60–90%), Monozyten (10–50%) und bis zu 5% Granulozyten zusammen. Im Frühstadium der viralen Meningitis und bei bakterieller Entzündung finden sich vermehrt neutrophile Granulozyten im Liquor, sonst zeigt sich regelhaft eine Pleozytose mit Monozyten und Lymphozyten. Im Liquor kann man daneben auf epithelartige Ependymsowie Plexuszellen stoßen.
Tipp für die Praxis Bei blutiger Punktion kann die Leukozytenzahl mit Hilfe der Erythrozytenzahl näherungsweise korrigiert werden: Je 1000 Erythrozyten/µl Reduktion der Leukozyten um 1/µl.
2.4.5
Zytozentrifugation
Die Zelldifferenzierung erfolgt nach einem Anreicherungsverfahren der Liquorzellen, wie der Zytozentrifugation, und Färbung des Liquors nach üblichen panoptischen Färbemethoden (z. B. nach Pappenheim). Bei der Zytozentrifugation werden die Zellen des Liquors auf einen Objektträger aufzentrifugiert. Um eine optimale Zelldichte zu erzielen, richtet sich die Menge des eingesetzten Liquors nach der vorhandenen Zellzahl. Bei eitrigem Liquor ist auch das Ausstreichen des Liquorsediments, das sich nach längerem Stehen absetzt, nach Zusatz von einem Tropfen Normalserum möglich. Nach Lufttrocknung können so angefertigte Präparate angefärbt und wie Blut- oder Knochenmarkausstrich beurteilt werden. Die Qualität der Liquorpräparate ist diesen jedoch häufig unterlegen, so dass die Bewertung der Liquor-
Eine solide Kenntnis der Morphologie von Blut- und Knochenmarkzellen ist auch heute noch eine wesentliche Voraussetzung, um im klinischen Alltag rasche differenzialdiagnostische Entscheidungen treffen zu können. Der Unterricht am Mikroskop ist wichtiger Bestandteil der Ausbildung pädiatrischer Hämato-Onkologen. Ein kontinuierliches Eigenstudium wird die notwendige Sicherheit in der Beurteilung von Blut- und Knochenmarkausstrichen geben können.
39 2 · Morphologische hämatologische Diagnostik
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I
Aplastische Anämien C. Niemeyer, I. Baumann, M. Führer
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Definition und Klassifikation – 40 Symptome bei Erstvorstellung – 41 Hämatologische Diagnostik – 41 Differenzialdiagnose – 42 Fanconi-Anämie – 42
3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4
Klinisches Erscheinungsbild – 42 Hämatopoetischer Defekt – 43 Zellulärer Phänotyp – 43 Komplementationsgruppen und Fanconi-Anämie-Gene – 44 Fanconi-Anämie-Signaltransduktionsweg – 45 Molekulare Diagnostik – 46 Prädisposition für myeloische Neoplasien – 46 Prädisposition für solide Tumoren – 46 Hämatopoetische Stammzelltransplantation – 47 Androgene – 48 Zytokine und supportive Therapie – 49 Somatische Mosaike und Gentherapie – 49 Pränatale Diagnostik – 50 Prognose und Patientenbetreuung – 50
3.5.5 3.5.6 3.5.7 3.5.8 3.5.9 3.5.10 3.5.11 3.5.12 3.5.13 3.5.14
3.6
Dyskeratosis congenita – 50
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5
Klinisches Erscheinungsbild – 50 Hämatopoese und Neoplasien – 51 Chromosomale Instabilität – 51 Molekulargenetik – 51 Therapie und Prognose – 52
3.7 3.8
Andere angeborene aplastische Anämien – 52 Erworbene aplastische Anämie – 53
3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.8.4 3.8.5 3.8.6 3.8.7
Definition – 53 Epidemiologie – 53 Pathogenese – 53 Klinisches Erscheinungsbild – 54 Diagnostik – 54 Supportive Therapie – 55 Behandlung mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren – 55 Immunsuppressive Therapie – 56 Allogene Stammzelltransplantation – 58 Experimentelle Therapie – 59 Prognose – 59
3.8.8 3.8.9 3.8.10 3.8.11
3.9
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie – 59 Literatur – 60
»Drei Brüder erkrankten im 5.–7. Lebensjahr zur Zeit der ersten Streckung, im Anschluß an fieberhafte interkurrente Erkrankungen, an hämorrhagischer Diathese, gefolgt von einer progredient verlaufenden Anämie, der sie alle in einem Fall ohne, in zwei Fällen nach einmaliger Remission, erlagen. Die Knaben waren in der körperlichen Entwicklung 1–2 Jahre
zurück. … Die Intelligenz war gut, trotz Microcephalie. Bedeckte Körperhaut, besonders an den Genitalien, intensiv braun pigmentiert. Hautblutungen. Milz, Leber und Lymphdrüsen nicht vergrößert. Hoden hypoplastisch. …Lange vor Ausbruch der Anämie waren der Färbeindex erhöht und das Volumen der roten Blutkörperchen auf mehr als das 11/2-fache vermehrt. Färbung gut. Starke Anisozytose. Poikilozytose, geringe Polychromasie, besonders der Makrozytose. …Das Knochenmark der langen und kurzen Knochen bestand überwiegend aus Fettmark, in das kleine Blutbildungsherde eingestreut waren. … Im folgenden sei ein neuer Fall dieser Anämie beschrieben, der aber durch das Fehlen des familiären Auftretens und durch das nicht ausgesprochen perniciosaartige Blutbild von den von Fanconi beschriebenen Fällen abweicht. Das klinische Bild war so typisch, dass die Krankenschwestern die Diagnose prima vista stellten…. Trotz Arseninjektionen, Leberdiät und Fleischsaftkost treten immer neue Blutungen auf in die Haut, in das Zahnfleisch, Nasenblutungen. Das Hb. sinkt dauernd. Am 27.XII. und 29.XII. mehrmaliges Bluterbrechen. Blutung an der Wange. Stuhl schwarz…29.XII. 13 Uhr 30 Minuten tritt der Tod ein. Die Zugehörigkeit des Falles zu der konstitutionellen (familiären) Anämie mit perniciosaartigem Blutbild, trotzdem der Bruder von W.H. gesund ist, wird bestätigt durch den Sektionsbefund.« Aus: Dr. E. Uehllinger, Prosektor am Pathologischen Institut Zürich: Kasuistische Mitteilung, Konstitutionelle infantile (perniziosaartige) Anämie, Klinische Wochenzeitschrift, 8. Jahrgang, Nr 32, S. 1501–1503, 6 August 1929
3.1
Definition und Klassifikation
Die aplastische Anämie ist durch eine fehlende oder deutlich verringerte Produktion von Vorläuferzellen im Knochenmark und eine hieraus resultierende Panzytopenie im Blut gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Zytopenien einzelner Zellreihen sind bei der aplastischen Anämie immer alle 3 Zellreihen, d. h. Erythro-, Myelo- und Thrombopoese, betroffen. Die Ursachen der aplastischen Anämie können angeboren oder erworben sein. Der Begriff angeboren ist dabei im Sinne von genetisch (»genetic«) oder vererbt (»hereditary«) zu verstehen. Viele Patienten mit angeborenen Formen der aplastischen Anämie zeigen bei Geburt ein normales Blutbild, erleiden aber im späteren Leben ein zunehmendes Knochenmarkversagen. Einige Patienten weisen auch andere Fehlbildungen auf, weshalb in der älteren angelsächsischen Literatur zunächst der Begriff »constitutional anemia« gebräuchlich war. Es mag spekuliert werden, dass auch den erworbenen Formen eine genetische Prädisposition zugrunde liegt; dennoch ist die oben dargestellte Zuordnung in ange-
41 3 · Aplastische Anämien
borene oder erworbene Formen entscheidend für Therapie und Prognose. Angeborene Erkrankungen mit Knochenmarkversagen: Zytopenien einer Zellreihe Diamond-Blackfan-Anämie Schwere kongenitale Neutropenie Thrombozytopenie mit fehlendem Radius Panzytopenien Fanconi-Anämie Dyskeratosis congenita Shwachman-Diamond-Syndrom Amegakaryozytäre Thrombozytopenie Knochenmarkversagen mit radioulnarer Synostose Retikuläre Dysgenesie Primär nicht-hämatologische Erkrankungen Seckel-Syndrom Dubowitz-Syndrom Pearson-Syndrom
Ursachen einer erworbenen aplastischen Anämie: Virusinfektionen − Epstein-Barr-Virus − Hepatitis (non-A, non-B, non-C, non-E, non-G) − HIV Immunologische Erkrankungen (Hypogammaglobulinämie) Thymom Schwangerschaft Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie Myelodysplastisches Syndrom Medikamente/Chemikalien (Chemotherapie, Benzen, Antiphlogistika, Antiepileptika, Chloramphenicol) Strahlentherapie (Ganzkörper oder Becken + Achsenskelett) Idiopathisch
Betrachtet man alle aplastischen Anämien im Kindes- und Jugendalter, so sind ca. 1/3 der Erkrankungen angeborene Formen, von denen wiederum 2/3 Fanconi-Anämien darstellen (Alter et al. 1978). Bei den angeborenen Störungen ist davon auszugehen, dass die angeborene Genmutation für das Knochenmarkversagen ursächlich ist, auch wenn die molekularen Mechanismen bisher unbekannt sind. Unter den erworbenen Formen der aplastischen Anämie ist die erworbene idiopathische aplastische Anämie mit 70–80% aller Fälle die weitaus häufigste Erkrankung (Mary et al. 1990). Hier sind wie bei der Hepatitis-assoziierten aplastischen Anämie immunologische Prozesse ätiologisch ausschlaggebend. Beide Formen werden auch als erworbene aplastische Anämie (»acquired aplastic anemia«) im engeren Sinne bezeichnet. 3.2
andere Zeichen der Infektion auf. Kinder mit angeborenen Formen von Knochenmarkversagen können sich in der Regel sehr gut an eine über Monate oder Jahre zunehmende Anämie adaptieren. Die ambulante Vorstellung mit Hämoglobinwerten unter 4 mg/dl ist keine Seltenheit. Cave Eine zu großzügige Erythrozytensubstitution bei Patienten mit langbestehender schwerer Anämie kann eine Herzinsuffizienz oder zerebrale Thrombosen und Embolien (Kopfschmerzen!) auslösen. Daher sollte die Hämoglobinkonzentration zunächst auf 6–9 mg/dl und nicht in den Normbereich angehoben werden.
Bei angeborenen aplastischen Anämien stellen Thrombozytenwerte unter 20.000/µl in der Abwesenheit von wesentlichen Blutungszeichen auch nicht unbedingt eine sofortige Transfusionsindikation dar. Im Gegensatz zu den angeborenen Formen kann bei der erworbenen idiopathischen aplastischen Anämie in der Regel ein sehr rascher Abfall der Blutwerte beobachtet werden. Neben Blutungen steht hier die schwere Neutropenie mit sehr hoher Infektionsgefahr im Vordergrund. 3.3
Hämatologische Diagnostik
Das Knochenmark bei aplastischer Anämie ist hypozellulär, die leeren Markräume werden durch Fett ausgefüllt (⊡ Abb. 3.1). Es finden sich wenige hämatopoetische Vorstufen und eine relative Vermehrung von Lymphozyten, Mastzellen und Retikulumzellen. ! Da die Zellularität im Knochenmark nur in der Knochenmarkbiopsie sicher beurteilt werden kann, ist die Biopsie neben dem Aspirat in der Diagnostik der aplastischen Anämie unverzichtbar.
Patienten mit angeborenen aplastischen Anämien zeigen in der Regel eine Stresserythropoese, d. h. Erythrozyten mit einigen fetalen Eigenschaften ( Kap. 6). Das mittlere korpuskuläre Volumen (MCV) ist erhöht, die Erythrozyten imponieren im Blutausstrich als große ovale Makrozyten. Ebenso
Symptome bei Erstvorstellung
Patienten mit aplastischer Anämie fallen durch Blässe, Leistungsknick, Haut- und Schleimhautblutungen, Fieber oder
⊡ Abb. 3.1. Histologie des Knochenmarks bei aplastischer Anämie mit weitgehendem Ersatz blutbildenden Gewebes durch Fettmark und einzelnen residuellen Hämatopoese-Inseln
3
42
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
ist der Anteil an Hämoglobin F (HbF) in der Regel deutlich erhöht, die HbF-Produktion ist nicht klonal, sondern zeigt eine heterogene Verteilung in Erythrozyten. Statt des I-Antigen wird das fetale Äquivalent, das i-Antigen, auf der Erythrozytenoberfläche exprimiert. Schon in der präanämischen Phase, in der die Blutwerte noch normal sind, findet sich ein für das Alter deutlich erhöhtes MCV (meist >100 fl). Blut- und Knochenmarkzellen der Patienten mit angeborenen aplastischen Anämien zeigen neben der Makrozytose oft auch dezente dysplastische Stigmata, so dass angeborene aplastische Anämien morphologisch nicht sicher vom hypoplastischen myelodysplastischen Syndrom (MDS) ohne Blastenvermehrung (hypoplastische refraktäre Zytopenie) abzugrenzen sind ( Kap. 66). Nach ferrokinetischen Studien kann neben dem Knochenmarkversagen auch eine gewisse Komponente einer ineffektiven Erythropoese zur Anämie beitragen. Die erworbene aplastische Anämie weist bei Diagnosestellung meist ein normales MCV, keine wesentliche Erhöhung des HbF und keine Dysplasiezeichen auf. Später, in der Erholungsphase nach immunsuppressiver Therapie setzt eine Stresserythropoese mit erhöhtem MCV und HbF ein. Die hämatopoetischen Zellen zeigen dann auch dezente dysplastische Veränderungen. Nach Normalisierung des sonstigen Blutbilds kann eine Makrozytose der Erythrozyten z. T. noch über Jahre beobachtet werden.
Differenzialdiagnose
3.4
Von den aplastischen Anämien abzugrenzen sind andere Erkrankungen, die mit Panzytopenien oder Zytopenien einzelner Zellreihen einhergehen. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen der erworbenen Formen sind die idiopatische thrombozytopenische Purpura (ITP), die akuten Leukämien (ALL, AML) und das MDS. Die häufigste Fehldiagnose ITP kann in der Regel durch die Mitbeteiligung der andern beiden Zellreihen und durch die Bestimmung der Retikulozytenzahl (bei der aplastischen Anämie <20.000/µl) ausgeschlossen werden. In der Abwesenheit von schweren Infektionen zeigen Patienten mit aplastischer Anämie keine Hepatosplenomegalie, Lymphknotenvergrößerungen oder Knochenschmerzen. Der körperliche Untersuchungsbefund ist mit Ausnahme von Blässe, Blutungszeichen und ggf. bekannten Fehlbildungen regelrecht.
Myelofibrose Speicherkrankheiten (Morbus Gaucher, Morbus Niemann-Pick) Vitamin-B12- und Folsäuremangel Hypersplenismus Sarkoidose Systemischer Lupus erythematodes Infektionen
Fanconi-Anämie
3.5
Die Fanconi-Anämie (FA) ist eine genetisch und phänotypisch heterogene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die durch angeborene Fehlbildungen, zunehmendes Knochenmarkversagen und eine Prädisposition für Neoplasien gekennzeichnet ist. Zellen von FA-Patienten zeigen eine erhöhte Chromosomeninstabilität und eine Hypersensititvität für DNA-interkalierende Substanzen (»crosslinker«). Gegenwärtig sind 8 FA-Gene kloniert, die den einzelnen Komplementationsgruppen (Subtypen) zugeordnet werden können (Stand Januar 2004). Die Fanconi-Anämie wurde 1927 erstmals von Guido Fanconi bei 3 am Kinderspital in Zürich betreuten Geschwistern mit Fehlbildungen und aplastischer Anämie beschrieben (Fanconi 1927). Die Erkrankung, die in allen ethnischen Gruppen zu beobachtet ist, hat weltweit eine Prävalenz von 1–5 pro Million. Die Häufigkeit heterozygoter Genträger in Europa und den USA beträgt 1:300 Personen (Alter 2003a). 3.5.1
Klinisches Erscheinungsbild
Die FA zeigt eine große klinische Variabilität innerhalb eines FA-Subtyps und einer betroffenen Familie. Die häufigste Auffälligkeit sind Pigmentveränderungen der Haut, in der Regel Hyperpigmentierungen, aber auch Hypopigmentierungen und Vitiligo (⊡ Tabelle 3.1). Viele Patienten sind kleinwüchsig
⊡ Tabelle 3.1. Fehlbildungen bei Fanconi-Anämie (modifiziert nach Alter 2003a)
Region der Fehlbildung
Patienten (%)
Differenzialdiagnose der Panzytopenie: Hypozelluläres Knochenmark Angeborene aplastische Anämien Erworbene idiopathische aplastische Anämie Hypoplastische myelodysplastische Syndrome Infektionen mit Hämophagozytose (Viren und andere Erreger) Zelluläres Knochenmark Myelodysplastisches Syndrom Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie Infiltration durch eine akute Leukämie Infiltration durch Tumorzellen (z. B. Neuroblastom) Osteopetrose
▼
Hautpigmentierung (z. B. Café au lait)
55
Kleinwuchs
51
Obere Extremität
43
Genitale, männlich/weiblich
32/3
Kopf (ohne Augen)
26
Augen
23
Nieren
21
Geburtsgewicht <2500 g
11
Mentale Retardierung
11
Ohren, Gehör
9
Untere Extremität
8
Herz, Kreislauf
6
Gastrointestinaltrakt
5
43 3 · Aplastische Anämien
Müttern im Alter von 20–30 Jahren geboren, Schwangerschaften ab dem 30. Lebensjahr sind bei FA selten. Die Menopause kann schon vor dem 40. Lebensjahr beginnen. Männer mit FA haben im Allgemeinen eine Azoospermie. 3.5.2
⊡ Abb. 3.2. Patient mit Fanconi-Anämie (mit freundlicher Genehmigung des Patienten und W. Ebell, Berlin)
(<3er-Perzentile). Zu den klassischen Stigmata bei FA gehören Fehlbildungen der oberen Extremität. Bei Patienten mit fehlenden oder hypoplastischen Radii sind im Gegensatz zur Thrombozytopenie mit fehlendem Radius (TAR) auch die Daumen fehlgebildet. Die Mikrozephalie kann mit breiter Nasenwurzel, Epicanthus und Mikrognathie zu einem charakteristischen Gesichtszug beitragen (⊡ Abb. 3.2). Strukturelle Nierenveränderungen sind ebenfalls häufig. Auch unter Patienten mit VATER- (oder VACTERL-) Syndrom (»vertebral, anorectal, cardiac, renal, radial and limb abnormalities«) finden sich Kinder mit FA. In der Abwesenheit von Fehlbildungen wird die FA wahrscheinlich unterdiagnostiziert. Der Prozentsatz der Betroffenen ohne klinische Auffälligkeiten wird nach Daten des International Fanconi Anemia Registry (IFAR) mit bis zu 40% angegeben (Giampietro et al. 1993). Endokrinologische Störungen werden bei 80% der FAPatienten beobachtet (Wajnrajch et al. 2001). Nahezu 40% haben eine primäre Hypothyreose. Eine herabgesetzte Glukosetoleranz, ein Diabetes mellitus oder ein Hyperinsulinismus sind häufig. Im Vordergrund steht der Kleinwuchs, der nicht allein auf einen hypothalamischen Wachstumshormonmangel, eine Hypothyreose oder andere endokrine Störungen zurückzuführen ist. Eine Behandlung mit Wachstumshormon führt in der Regel zur Zunahme der Wachstumsgeschwindigkeit. Auch wenn es keine Hinweise gibt, dass Wachstumshormon eine Rolle in der Leukämogenese bei FA spielt, müssen Nutzen und mögliche Risiken einer solchen Behandlung abgewogen werden. Frauen mit FA haben eine kurze reproduktive Phase und sind im Vergleich zu gesunden Frauen weniger fruchtbar. Die Menarche ist oft erst im späten Teenageralter, die Menses im Allgemeinen unregelmäßig. Die meisten Kinder werden von
Hämatopoetischer Defekt
Seit Geburt oder der frühen Kindheit ist meist eine Makrozytose der Erythrozyten mit einem für das Alter zu hohem MCV nachweisbar. Das Knochenmarkversagen bei FA-Patienten beginnt in der Regel mit einer Thrombozytopenie und Anämie, eine Granulozytopenie schließen sich an. Die schwere Aplasie entwickelt sich über Monate oder Jahre. Interkurrente Infektionen oder myelotoxische Medikamente können den Prozess beschleunigen. IFAR-Daten zeigen, dass über 80% der FA-Patienten im Alter von 10 Jahren eine Zytopenie (Thrombozyten <100.000/µl, Hb <10 g/dl, absolute Neutrophilenzahl <1000/µl) in 2–3 Zellreihen aufweisen, im Alter von 40 Jahren sind es 90% (Kutler et al. 2003a). Nach Ergebnissen aus In-vitro-Kultursystemen mit vermindertem Ansprechen aller Progenitoren auf die unterschiedlichen Zytokine ist anzunehmen, dass die multipotente Stammzelle von der Erkrankung betroffen ist. »Anti-sense«Oligonukleotide gegen das FANCC-Gen konnten in vitro die Hämatopoese gesunder Zellen inhibieren (Segal et al. 1994). Alle menschlichen FA-Gene haben murine Homologe. Die Phänotypen der entsprechenden »Knock-out«-Mäuse sind gleich, sie zeigen weder eine Panzytopenie noch eine erhöhte Inzidenz myeloischer Neoplasien. Die murinen hämatopoetischen Progenitorzellen weisen neben der erhöhten Chromosomenbrüchigkeit eine Hypersensitivität für Zytokine, insbesondere γ-Interferon auf (Whitney et al. 1996). Die Hypersensitivität für γ-Interferon wird über eine fas-induzierte Apoptose vermittelt (Rathbun et al. 2000). Sie könnte ein wesentlicher Mechanismus des progressiven Knochenmarkversagens von FA-Patienten sein. 3.5.3
Zellulärer Phänotyp
Erhöhte Chromosomenbrüchigkeit. Lymphozyten aus peripherem Blut oder Fibroblasten von FA-Patienten zeigen in Kultur eine erhöhte spontane Chromosomenbrüchigkeit. Durch Zugabe der interkalierenden (DNA-quervernetzenden) Substanzen Diepoxybutan (DEB) oder Mitomycin C (MMC) zur Zellkultur kann die Brüchigkeitsrate in Metaphasepräparaten weiter erhöht werden (⊡ Abb. 3.3). Zu diagnostischen Zwecken hat das IFAR die FA als Erkrankung definiert, bei der mit Phythämagglutinin kultivierte Lymphozyten nach Exposition mit DEB eine mittlere Chromosomenbrüchigkeit von 8,96 (Schwankungsbreite 1,3–23,9) Chromosomenbrüche/Zelle aufweisen (normal 0,06, Schwankungsbreite 0–0,36) (Auerbach et al. 1989). Um somatische Mosaike ( Abschn. 3.5.12) zu erkennen, ist die Angabe des Prozentanteils der Zellen mit Aberrationen wesentlich. FAZellen sind auch hypersensitiv gegenüber ionisierender Bestrahlung und alkylierenden Substanzen (Cyclophosphamid, Cisplatin etc.).
3
44
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
DNA-Vernetzung, sondern O2-Radikale toxisch sind. FAProteine interagieren mit verschiedenen Redoxsystemen wie mit der NADPH-Zytochrom-p450-Reduktase oder GSTP1 (Kruyt et al. 1998; Cumming et al. 2001).
I
Verstärkte Apoptose und Telomerverkürzung. Eine Reihe von Studien zeigten eine abnorme Regulation von Apoptose bei FA (Rosselli 1998). Die Bewertung dieser Beobachtungen ist im Kontext der DNA-Reparaturdefekte nicht eindeutig. Eine Verkürzung der Telomere hämatopoetischer Zellen wurde bei FA-Patienten wie auch bei Patienten mit anderen aplastischen Anämien beschrieben. Eine hohe individuelle jährliche Verkürzungsrate der Telomerlänge peripherer Blutzellen geht mit einem hohen Risiko für Knochenmarkversagen und myeloischer Neoplasie einher (Li et al. 2003).
⊡ Abb. 3.3. Chromosomenbrüche in Metaphasen aus einer Lymphozytenkultur eines Patienten mit Fanconi-Anämie. Die Lymphozyten wurden mit Phytohämagglutinin stimuliert, bevor Diepoxybutan als DNA vernetzende Substanz hinzugegeben wurde (mit freundlicher Genehmigung von D. Schindler, Würzburg)
Prolongierte späte S- und G2/M Phase. FA-Zellen zeigen im
Zellzyklus eine prolongierte späte S-Phase und einen verzögerten Übergang von der G2-Phase in die M-Phase (Akkari et al. 2001). Eine Exposition mit interkalierenden Substanzen verstärkt die Zellzyklusverzögerung, die vermutlich mit der verminderten DNA-Reparatureigenschaft der FA-Zelle erklärt werden kann ( Abschn. 3.5.6). Die Beobachtung erklärt auch, warum FA-Patienten im Vergleich zu gesunden Probanden einen höheren Anteil von Zellen mit doppeltem DNAGehalt haben (Kubbies et al. 1985). Da der zelluläre DNA-Gehalt durchflusszytometrisch einfach zu messen ist, wird diese Eigenschaft von FA-Zellen auch für diagnostische Zwecke genutzt. Erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Sauerstoff. FA-Zellen
zeigen eine erhöhte Chromosomenbruchrate in Kultur mit hohen O2-Konzentrationen. Eine niedrige O2-Spannung oder die Zugabe von Antioxidanzien verbessert das Wachstum und verringert die Zahl der Chromosomenbrüche (Joenje et al. 1981). Die Kultur von MMC stimulierten FAZellen in 5% O2 geht im Gegensatz zur Kultur in 20% O2 mit einer normalen Chromosomenbrüchigkeit einher (Clarke et al. 1997). Diese Beobachtungen implizieren, dass nicht die
3.5.4
Komplementationsgruppen und Fanconi-Anämie-Gene
Im Gegensatz zu FA Zellen, weisen Hybridzellen aus FA und gesunden Zellen keine erhöhte Chromosomenbrüchigkeit mehr auf. Eine solche Komplementierung kann auch bei FA Zellen hybridisiert mit Zellen von FA-Patienten anderer Familien beobachtet werden (Zakrzewski et al 1980). Solche Komplementationsanalysen führten zur Identifizierung von 8 FA-Komplementationsgruppen: FA-A, B, C, D1, D2, E, F und G (⊡ Tabelle 3.2; Joenje et al. 1997, 2000; Timmers et al. 2001). Die meisten Patienten gehören zu den Komplementationsgruppen FA-A (65–70%), FA-C (10– 15%) und FA-G (~10%) (D‘Andrea u. Grompe 2003; Bagby 2003). Innerhalb der 8 Komplementationsgruppen konnten 7 FA-Gene identifiziert werden: FANCA, FANCC, FANCD2, FANCE, FANCF, FANCG und das »Breast-cancer-susceptability«-Gen BRCA2, das der Komplementationsgruppe FA-D1 zuzuordnen ist (Strathdee et al 1992; Lo Ten Foe et al. 1996; The Fanconi Anaemia/Breast Cancer Consortium 1996; De Winter et al. 1998, 2000a und 2000b; Timmers et al. 2001; Howlett et al. 2002). Patienten mit FA-D1 haben biallelische Mutationen in BRCA2. Kürzlich wurden ein neues FA-Gen, FANCL, und 2 weitere Komplemtationsgruppen (FA-I und FA-J) beschrieben (Meetei et al. 2003; Levitus et al. 2004). Die Beziehungen des FA-Genotyps zum klinischen Phänotyp sind auf den ersten Blick nicht sehr stark ausgeprägt,
⊡ Tabelle 3.2. Komplementationsgruppen A–G (modifiziert nach Bagby 2003)
Subtyp
Patienten (%)
A
70
B
1
C
10
Chromosom
Exone
Protein 163 kD
16q24.3
43
?
?
9q22.3
14
63 kD
1
13q12–13
27
380 kD
D2
1
3p25.3
44
155, 162 kD
E
5
6p21–22
10
60 kD
F
2
11p15
1
42 kD
G
10
9p13
13
D1/BRCA2
?
68 kD (XRCC9)
45 3 · Aplastische Anämien
Die Mutationen in den FA-Genen, die im Genom weit zerstreut liegen, führen zu einem ähnlichen klinischen Phänotyp, so dass ein gemeinsamer Signaltransduktionsweg angenommen werden konnte. Eine Reihe von Arbeiten haben gezeigt, dass 5 der 8 bekannten Fanconi-Proteine, FANCA, FANCC, FANCE, FANCF und FANCG, aneinander binden und einen Multi-Subunit-Proteinkomplex bilden, der in den Zellkern transloziert wird (⊡ Abb. 3.4; Medhurst et al. 2001). Verlust eines der Proteine führt zur Instabilität dieses FAKomplexes (Garcia-Higuera et al. 2000). Das FANCD2-Protein agiert »downstream« des FA-Komplexes. FANCD2 wird aktiviert, indem an Lysin in Position 561 das 76 Aminosäuren große Peptid Ubiquitin gehängt wird. Dieser Monoubiquitylierung von FANCD2 kommt eine zentrale Bedeutung zu. Sie ist abhängig von der Assoziation des
FA-Komplexes mit dem FA-Protein FANCL, das Ubiquitinligase-Aktivität besitzt (Meetei et al. 2003). Das ubiquitinylierte FANCD2 wird in DNA-Reparaturfoci rekrutiert, die BRCA1, und den BRCA2/FANCD1-Komplex mit angelagerten DNAReparaturproteinen wie RAD51 enthalten (Garcia-Higuera et al. 2001; Taniguchi et al. 2002a). Die FANCD2-Monoubiquitylierung und nachfolgende Rekrutierung in DNA-Reparaturfoci wird durch DNA-Schädigung (ionisierende Bestrahlung, interkalierende Substanzen) oder die normale S-Phase des Zellzyklus induziert. Die Akkumulation des Komplexes BRCA1FANCD2–BRCA1– Rad51 ist Voraussetzung für die Reparatur von DNA-Schäden durch interkalierende Substanzen, die im Arrest der S-Phase vermutlich durch homologe Rekombination erfolgt (Akkari et al. 2000). Die genauen molekularen Mechanismen sind noch weitestgehend unbekannt. Neben der Sensitivität gegenüber interkalierenden Substanzen zeigen FA-Zellen auch ähnlich wie Zellen bei Ataxia telangiectasia (AT) eine Hypersensitivität gegenüber ionisierender Bestrahlung. Die bei AT betroffene Kinase ATM phosphoryliert neben anderen Proteinen auch BRCA1 und FANCD2. Nicht phosphorylierte FANCD2-Mutanten können den strahleninduzierten S-Phase-Checkpunkt nicht aktivieren (Taniguchi et al. 2002b). Das FANCD2-Protein kann also 2 verschiedene posttranslationale Modifikationen mit unterschiedlichen Konsequenzen durchmachen: die ATM-abhängige Phosphorylierung (Reparatur von DNADoppelstrangbrüchen nach ionisierender Strahlung) und die vom FA-Komplex abhängige Monoubiquitylierung (Reparatur von Quervernetzungen innerhalb des DNA-Doppelstrangs).
⊡ Abb. 3.4. Fanconi-Anämie-Signaltransduktionskaskade: Der Fanconi-Anämie-Komplex bestehend aus FANCA, FANCG, FANCC, FANCF und FANCE assoziiert mit der Ubiquitinligase FANCL und monoubi-
quiliert FANCD, das in DNA-Reparaturfoci mit BRCA1 und dem BRCA2/ FANCD1-Komplex mit seinen angelagerten DNA-Reparaturproteinen wie RAD51 transloziert wird
da innerhalb einer Komplementationsgruppe alle phänotypischen Ausprägungsgrade vorhanden sind. Patienten der Komplementationsgruppe G und Patienten mit so genannten FANCA-Nullmutationen zeigen frühzeitig Zytopenien und eine hohe Inzidenz myeloischer Neoplasien (Faivre et al. 2000). Ebenso sind FANCC-Patienten mit Mutationen im Intron 4 oder Exon 14 hämatologischerseits schwerer betroffen und haben ein kürzeres Überleben als solche mit Mutationen in Exon 1 (Kutler et al. 2003a). Kinder mit BRCA2/ FANCD1-Mutationen haben ein hohes Risiko, früh an Hirntumoren, Nephroblastomen und Leukämien zu erkranken ( Abschn. 3.5.8). 3.5.5
Fanconi-Anämie-Signaltransduktionsweg
3
46
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
Das Nijmegen-Breakage-Syndrom (NBS) ist ein weiteres, seltenes autosomal-rezessiv vererbtes Chromosomenbrüchigkeitssyndrom ( Kap. 24). Zellen von NBS-Patienten zeigen ebenfalls DEB- oder MMC-induzierte Chromosomenbrüchigkeit, wenn auch in geringerem Ausmaß als bei FA. Das betroffene Protein, Nibrin, wird ebenfalls durch ATM phosphoryliert und bildet mit MRE11und Rad50 einen so genannten MRE11-Komplex, der wiederum einen S-PhaseCheckpunkt darstellt und zusammen mit FANCD2 im DNAReparaturfocus lokalisiert ist (Nakanishi et al. 2002). Neben ihrer Rolle in den verschiedenen DNA-Reparaturkomplexen haben die einzelnen FA-Proteine auch andere wichtige Funktionen, die ebenfalls durch biallelische Mutationen gestört sein können (Pang et al. 2001). So interagiert FANCC mit dem Transkriptionsfaktor STAT1, der in der Signaltransduktion vieler Zytokine eine Rolle spielt (Pang et al. 2000). FANCC bindet auch an das Hitzeschockprotein hsp70, das die Aktivität der proapoptotischen Proteinkinase PKR moduliert (Pang et al. 2002). Eine Interaktion der FA-Proteine mit Redoxsystemen wurde im Abschn. 3.5.3 dargestellt. Die FA-Proteine scheinen somit wichtige Funktionen in Signaltransduktionswegen, die Apoptose und Zellüberleben regulieren, einzunehmen (Bagby 2003; Tischkowitz u. Hodgson 2003). 3.5.6
Molekulare Diagnostik
Der Westernblot mit einem Antikörper spezifisch für die ubiquitinierte Form von FANCD2 ist eine einfache ScreeningMethode, Defekte in allen FANC-Genen mit Ausnahme von BRCA2 zu erkennen (Shimamura et al. 2002). In nachfolgenden Komplementationsanalysen werden Lymphozyten, EBVtransformierte B-Zellen oder Fibroblasten der Patienten mit Retroviren kultiviert, die die bekannten normalen FANCGene in die Zelle einschleusen (Pulsipher et al. 1998; Hanenberg et al. 2002). Die Identifizierung der spezifischen Mutation ist auch nach Festlegung der Komplementationsgruppe meist sehr arbeitsaufwändig. Wenn einzelne Mutationen in bestimmten ethnischen Gruppen gehäuft auftreten, wie z. B. bei deutschen Patienten eine Founder-Mutation im FANCGGen (Demuth et al. 2000), können auch andere ScreeningMethoden wie der Einsatz von DHPLC (»denaturing high pressure liquid chromatography«) sinnvoll sein (Auerbach et al. 2003). ! Die Kenntnis des FA-Subtyps und der spezifischen Mutation erlauben die Identifizierung von homound heterozygoten Genträgern innerhalb einer Familie. Sie erleichtert evidenzbasierte klinische Entscheidungen für den betroffenen FA-Patienten und eine fokussierte genetische Beratung.
3.5.7
Prädisposition für myeloische Neoplasien
Neben der hohen Inzidenz für Fehlbildungen und einem früh einsetzendem Knochenmarkversagen haben Patienten mit FA eine deutlich erhöhtes Risiko myeloische Neoplasien und solide Tumoren zu entwickeln (Rosenberg et al. 2003). Bei 25% der FA-Patienten mit Neoplasien führt die Diagnose des Malignoms erst zur Diagnose FA (Alter 2003b). Die kumu-
lative Inzidenz für myeloische Neoplasien (MDS, AML) im Alter von 40 Jahren liegt für FA-Patienten bei 33% (Kutler et al. 2003a). Ohne Blastenvermehrung ist die Diagnose MDS schwierig, da dysplastische Veränderungen bei FA wie bei anderen angeborenen Störungen mit Knochenmarkversagen häufig sind. Der Nachweis einer Blastenvermehrung oder einer deutlichen Zunahme der Knochenmarkzellularität bei Fortbestehen der Panzytopenie ist morphologisch hingegen eindeutig. Trotz dieser diagnostischen Einschränkungen lässt sich zeigen, dass der myeloischen Leukämie in der Regel ein MDS vorausgeht (Butturini et al. 1994). Pathophysiologischerseits ist es verständlich, dass die eingeschränkte Fähigkeit der FA-Zelle DNA-Doppelstränge zu prozessieren, vermehrt zu unbalancierten Deletionen, Insertionen und Translokationen führt. Nicht immer ist die Beziehung der oft fluktuierenden zytogenetischen Klone zur Progression in eine myeloische Neoplasie eindeutig. Die am häufigsten auftretenden Aberrationen sind Trisomien von Chromosom 1 und Monosomien von Chromosom 7 (Maarek et al. 1996; Alter et al. 2000). Die Berliner Arbeitsgruppe von Tönnies und Neitzel zeigte kürzlich eine hohe Inzidenz von klonalen Aberrationen mit Zugewinn von Material an Chromosom 3q26q29 (Tönnies et al. 2003). Einige der Patienten entwickelten sekundär eine Monosomie 7. Die 3q-Aberrationen implizierten eine 90%-Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten 30 Monate ein MDS/AML zu erleiden. In der Entwicklung von MDS/AML bei FA kann neben der Genominstabilität die Hypersensitivität der Zellen gegenüber inhibierenden Zytokinen wie α-Interferon und Tumornekrosefaktor-α von wesentlicher Bedeutung sein (Lensch et al. 1999). Der negative selektive Druck, den diese Zytokine ausüben, ist für das Herauswachsen resistenter Klone entscheidend. Ein nachfolgender Verlust von Tumorsuppressorgenen (z. B. durch »loss of heterozygosity«) gibt diesen Zellen weitere Proliferationsvorteile. MDS/AML bei FA können in vieler Hinsicht als Modell für die Entstehung sekundärer myeloischer Neoplasien bei Nicht-FA-Patienten verstanden werden. 3.5.8
Prädisposition für solide Tumoren
Die kumulative Inzidenz, an einer nicht-hämatologischen Neoplasie zu erkranken, liegt für FA-Patienten mit 40 Jahren bei 28% und damit in der gleichen Größenordnung wie für MDS/AML (Kutler et al. 2003a). Die häufigsten Tumoren sind Plattenepithelkarzinome des Kopf-Hals-Bereichs, der Anogenitalregion und der Haut. Überlebende einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation (SZT) können assoziiert mit thorakoabdomineller Bestrahlung oder »graft versus host disease« (GVHD) ein besonders hohes Risiko für maligne Tumoren haben (Socié et al. 1998; Guardiola et al. 2004). Das Risiko für Patienten mit FA an Kopf-/Halstumoren zu erkranken ist 500- bis 700-fach erhöht. Im Gegensatz zum Auftreten dieser Plattenepithelkarzinome in der Allgemeinbevölkerung sind bei FA Frauen doppelt so häufig wie Männer betroffen. Die Tumoren, die zu 65% in der Mundhöhle auftreten, sind aggressiv mit früher lymphatischer Metastasierung und lokaler Weichteilinfiltration. Das 2-Jahres-Überleben liegt unter 50%, die Mehrheit der Patienten entwickelt
47 3 · Aplastische Anämien
⊡ Tabelle 3.3. Allgemeine Empfehlungen zur Diagnostik bei FA-Patienten (modifiziert nach Fanconi Anemia Standards for Clinical Care 2003)
Art der Untersuchung
Voraussetzung
Intervall
Hämatologie
Normales Blutbild oder geringgradige Panzytopenie, kein zytogenetischer Klon
Alle 3–4 Monate
Mittelgradige bis schwere Panzytopenie, zytogenetischer Klon
alle 1–2 Monate
Endokrinologie
Leber
Kopf-/ Halstumoren Gynäkologie
Blutbild, Retikulozyten
Knochenmark (Morphologie, Zytogenetik)
Stabiles Blutbild, kein zytogenetischer Klon
Jährlich
Fragliche Progression, zytogenetischer Klon
Alle 3–6 Monate
Wachstumsgeschwindigkeit
alle Patienten
alle 6 Monate
Knochenalter
Alle Patienten
Jährlich
Androgentherapie
Alle 6–12 Monate
T4, TSH, TBG
Alle Patienten
Alle 6–12 Monate
Oraler Glukosetoleranztest, Insulin
Alle Patienten
Alle 1–2 Jahre
GOT, GPT
Alle Patienten
Jährlich
Androgentherapie
Alle 3–6 Monate
Sonographie Leber
Androgentherapie
Alle 6–12 Monate
Inspektion von Mundhöhle, NasenRachen-Raum (endoskopisch)
Alle Patienten ab 12 Jahren
Alle 6 Monate
Untersuchung, PAP-Abstrich
Alle ab 16 Jahren
Jährlich
Mammogramm
Alle ab 30 Jahren
1- bis-2-jährlich
weitere Primärtumoren (Kutler et al. 2000a). Zur Früherkennung der Läsionen werden ab dem 12. Lebensjahr halbjährliche Inspektionen der Mundhöhle und endoskopische Untersuchungen des Nasen-Rachen-Raums empfohlen (⊡ Tabelle 3.3; Owen et al. 2003). Therapie der Wahl ist die weite chirurgische Exzision des Tumors, Strahlen- und Chemotherapie gehen mit einer hohen Morbitität und Mortalität einher. Präventiv werden eine strikte Abstinenz von Tabakund Alkoholkonsum (auch Passivrauchen) sowie eine gute orale Hygiene (ohne alkoholische Spüllösungen) angestrebt. Ähnlich wie im Kopf-Hals-Bereich sind Karzinome im Anogenitaltrakt bei Frauen mit FA häufig (Alter 2003b). Das Risiko, an einem Zervix- bzw. einem Vulvakarzinom zu erkranken, ist 200- bzw. 4000-fach erhöht, das mittlere Erkrankungsalter liegt bei nur 25 bzw. 27 Jahren (Rosenberg et al. 2003). Jährliche Vorsorgeuntersuchungen werden ab der Menarche empfohlen (⊡ Tabelle 3.3). Ob Frauen mit FA ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs haben, ist zur Zeit nicht bekannt. Die Mehrzahl der Patientinnen mit Karzinomen im Anogenitalbereich hatte vorausgegangene Condylomata (Kutler et al. 2003a). Auch konnte DNA des humanen Papillomavirus (HPV) in über 80% der Biopsien von Plattenepithelkarzinomen primär aus der Kopf-Hals-Region nachgewiesen werden (Kontrollen 36%; Kutler et al. 2003b). FA-Patienten scheinen ein erhöhtes Risiko für eine HPV-induzierte Karzinogenese haben; die HPV-Infektion könnte in diesem Zusammenhang als »2. Hit« verstanden werden. Möglicherweise eröffnen Impfstrategien gegen HPV (Koutsky et al. 2002) neue Wege der Tumorprävention. Lebertumoren finden sich nahezu ausschließlich bei Patienten mit Androgentherapie. Es sind in der Regel nicht-invasive benigne Leberadenome, die – besonders bei gleichzei-
tig bestehender Thrombozytopenie – zu lebensbedrohlichen Blutungen führen können, sich aber nach Absetzen der Androgenbehandlung in der Regel wieder zurückbilden (Touraine et al. 1993). Hepatozelluäre Karzinome unter Androgentherapie sind selten, eine Erhöhung des α-Fetoproteins kann fehlen (Soe et al. 1992). Bei Kindern mit FA sind Hirntumoren, insbesondere Medulloblastome, und Nephroblastome beschrieben. Beide Tumoren, wie auch das sehr frühe Auftreten von myeloischen Neoplasien und T-ALL, sind mit biallelischen BRCA2/ FANCD1-Mutationen assoziiert (Offit et al. 2003; Hirsch et al. 2004; Wagner et al. 2004). Interessanterweise ging den Neoplasien nicht immer eine Panzytopenie voraus. 3.5.9
Hämatopoetische Stammzelltransplantation
Die SZT ist bisher die einzige kurative Therapie für Patienten mit FA. Sie stellt aus vielen Gründen eine besondere Herausforderung dar. Die Konditionierung muss der erhöhten Zytotoxizität von Alkyanzien und Bestrahlung Rechnung tragen. Eine GVHD sollte wegen des hohen Risikos sekundärer Karzinome vermieden werden (Deeg et al. 1996). Gleichzeitig haben FA-Patienten eine vergleichsweise hohe Wahrscheinlichkeit eine akute oder chronische GVHD zu entwickeln (Guardiola et al. 2004). Ursächlich können der Defekt im DNA-Reparaturmechanismus und das bei zellulärem Stress rasche Einsetzen von Apoptose sein. Die SZT bei FA wird in einem frühen Stadium des Knochenmarkversagens angestrebt. Bei fortgeschrittenem MDS oder AML können Konditionierungsregime mit reduzierter Intensität zwar einen ausreichenden »Graft-versus-leukemia« (GVL)-Effekt erzielen, durch das gleichzeitige Auftreten
3
48
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
von schwerer GVHD gehen diese Transplantationen jedoch mit einer hohen Mortalität einher (Guardiola et al. 2003). Geschwisterspender Nachdem die SZT der FA-Patienten vom genotypisch HLAidentischem Geschwisterspender (»matched family donor«, MFD) mit der Standardkonditionierung für die erworbene aplastische Anämie mit einer hohen Mortalität einhergegangen war, gelang der Arbeitsgruppe von Gluckman in Paris in den frühen 80er-Jahren der Durchbruch mit der Einführung einer thorakoabdominalen Bestrahlung (500 cGy) und niedrigdosiertem Cyclophosphamid (Cy; 20 mg/kg; Gluckman et al. 1983; Socié et al. 1998). Die Langzeitergebnisse der so behandelten Patienten zeigen, dass FA-Patienten im Vergleich zu Patienten mit erworbener aplastischer Anämie ein deutlich höheres GVHD-Risiko haben, und dass die GVHD ein Risikofaktor für das spätere Auftreten von Karzinomen im Kopf-Hals-Bereich ist (Guardiola et al. 2004). Die kumulative Inzidenz dieser Tumoren lag 15 Jahre nach SZT bei 53%. Um das Tumorrisiko zu verringern, wird heute bei der Geschwistertransplantation weitgehend auf eine thorakoabdominale Bestrahlung verzichtet. Alternative Transplantationsstrategien haben hochdosiertes (Flowers et al. 1996) oder niedrigdosiertes Cy (Dokal u. Roberts 1996; Medeiros et al. 2000) allein eingesetzt. Viele Zentren prüfen z. Zt. Konditionierungsstrategien mit Cy und Fludarabin, einer immunsuppressiven und gering zytotoxischen Substanz (Kapelushnik et al. 1997; De Medeiros et al. 2001). Die GVHD Prophylaxe wird mit Cyclosporin allein oder in Kombination mit Antithymozytenglobulin (ATG) oder T-Zelldepletion durchgeführt. Auf Methotrexat wird wegen der Nebenwirkungen Mukositis und Lebertoxizität verzichtet, als Stammzellquelle wird meist Knochenmark eingesetzt. ! Bei einer Wahrscheinlichkeit des 2-Jahres-Überlebens von 66–80% (Gluckman et al. 1995; Dufour et al. 2001a) kann die SZT vom Geschwisterspender frühzeitig bei beginnendem Knochenmarkversagen (Hb <8 g/dl, Thrombozyten<50.000/µl oder Granulozyten <1000/µl) empfohlen werden. Auf eine Androgenbehandlung vor SZT sollte wegen der Lebertoxizität verzichtet werden. Beim Geschwisterspender ist eine FA mittels DEB-Testung oder molekularer Analyse sicher auszuschließen.
Fremdspender Die Ergebnisse der SZT vom Fremdspender (»unrelated donor«, UD) waren in der Vergangenheit wenig zufriedenstellend (Davies et al. 1996; Zwaan et al. 1998; MacMillan et al. 2000). In einer Analyse der European Group for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) lag die Wahrscheinlichkeit des Überlebens 3 Jahre nach SZT bei 33% (Guardiola et al. 2000). Eine T-Zelldepletion verringerte zwar das Risiko für GVHD, verbesserte bei erhöhter Abstoßungsrate aber nicht das Überleben. Patienten mit 3 Fehlbildungen hatten ein deutlich schlechteres Überleben; Alter über 10 Jahre bei SZT und eine vorausgegangene Androgentherapie waren weitere Risikofaktoren. Da in den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Transplantationsserien nur bei wenigen Patienten die Komplementationsgruppe oder der Genotyp bekannt sind, kann die Frage nach einer Assoziation zwischen Genotyp,
Phänotyp und Transplantationsergebnis nicht beantwortet werden. Neuere Ansätze zur Fremdspendertransplantation nutzen Fludarabin, niedrigdosiertes Cy und T-Zelldepletion (De la Fuente et al. 2003; Boyer et al. 2003). Ob hiermit ein sicheres Engraftment bei geringer GVHD-Rate erzielt werden kann, oder ob der zusätzliche Einsatz von Strahlentherapie oder niedrigdosiertem Busulfan zu besseren Langzeitergebnissen führt, bleibt abzuwarten. Abhängig von der Stammzellquelle (Knochenmark, periphere Blutstammzellen oder Nabelschnurblut), Ausmaß des HLA-Mismatch zwischen Spender und Empfänger, Stadium der Erkrankung (Panzytopenie oder MDS oder AML), Alter des Patienten und spezifischen Organschäden sind Konditionierung und GVHD-Prophylaxe individuell anzupassen. Nachdem die erste SZT mit Stammzellen aus Nabelschnurblut 1988 von der Arbeitsgruppe von Gluckman bei einem Kind mit FA durchgeführt wurde (Gluckman et al. 1989), ist diese Art der SZT besonders beim Fehlen eines HLA-identischen UD eine Therapieoption. Im Vergleich zur SZT vom MFD wird die Transplantation vom UD wegen des erhöhten Risikos meist in einer späteren Krankheitsphase durchgeführt. Der bestmögliche Zeitpunkt einer Fremdspendertransplantation und insbesondere der Einfluss einer vorausgegangenen Androgentherapie werden zurzeit intensiv diskutiert, ohne dass bisher eindeutige Antworten gegeben werden können. Alle FA-Patienten sind bald nach Diagnosestellung einem Transplantationszentrum vorzustellen, damit frühzeitig nach Beratung durch das Transplantationsteam eine Fremdspendersuche eingeleitet werden kann. Spätere Entscheidungen zur SZT sollten vom Patienten, seinen Eltern und dem Behandlungsteam gemeinsam getragen werden. Von einigen Zentren wird die Entnahme von autologen hämatopoetischen Stammzellen für Patienten ohne MFD empfohlen. Bei der geringen Knochenmarkzellularität sind oft nur wenige Stammzellen zu ernten. Ob die Reinfusion dieser Zellen bei Transplantationsversagen nach UD-SZT sinnvoll ist, oder ob die Stammzellen für eine spätere Gentherapie oder in der Behandlung anderer Organschäden eingesetzt werden können, ist zur Zeit offen. 3.5.10 Androgene Androgene wurden erstmals in den 50er-Jahren von Shahidi und Diamond eingesetzt (Shahidi u. Diamond 1961). Bei unbekanntem Wirkmechanismus verbessern sie die Panzytopenie bei 50–70% der Patienten. Ihre Hauptwirkung betrifft die Erythropoese; Retikulozytenzahl und Hb steigen innerhalb der ersten 2–3 Monate der Behandlung an. In der Folge können die Thrombozyten- und gelegentlich auch Leukozytenzahlen ansteigen. Erst nach 6-monatiger Behandlung sollte ein mögliches Nicht-Ansprechen konstatiert werden. Langfristig werden alle Patienten refraktär für die Androgenwirkung. Eine Androgentherapie kann die Progression in eine myeloische Neoplasie nicht verhindern. Ihre Bedeutung als möglicher Risikofaktor für eine spätere Transplantation ist offen ( Abschn. 3.5.9). Unter den Nebenwirkungen der Androgene ist die Maskulinisierung für Mädchen und Frauen besonders trauma-
49 3 · Aplastische Anämien
tisch. Von einer begleitenden Steroidtherapie zur Verzögerung der Wachstumsakzeleration wird abgeraten. Leberwerte sollten regelmäßig kontrolliert werden ( Tabelle 3.3), beim Anstieg der Transaminasen auf das 3- bis 5-fache der Norm wird eine Dosisreduktion der Androgene bis zur Verbesserung der Werte empfohlen. Eine Peliosis hepatis (zystische Dilatation der Sinusoide) ist oft asymptomatisch. Sie kann wie Leberadenome ( Abschn. 3.5.8) zu jedem Zeitpunkt unter Therapie entstehen; beide Veränderungen bilden sich nach Absetzen der Androgene meist zurück (Soe et al. 1992). Nebenwirkung einer Androgentherapie: Maskulinisierung (tiefere Stimme, Akne, Verlust von Kopfhaar/Glatze, zunehmende Körperbehaarung, Vergrößerung der äußeren Genitalien) Hyperaktivität, Stimmungsschwankungen Zunahme von Appetit und Gewicht, Wasserretention Wachstumsschub, vorzeitiger Verschluss der Epiphysen Zunehmende Muskelmasse Cholestase und Erhöhung der Leberwerte Leberadenome Peliosis hepatis Bluthochdruck
Bei Fehlen eines Geschwisterspenders ist eine Androgentherapie in der Regel nach Abfall des Hb <8 g/dl und/oder der Thrombozytenzahl <30.000/µl indiziert. Das Standardpräparat ist Oxymetholon, das in Deutschland über eine internationale Apotheke erhältlich ist. Die initiale Dosis beträgt 2 (–5) mg/kg/Tag, bei 50 mg Tabletten erfolgt eine Rundung auf halbe Tabletten. Nach Stabilisierung der Blutwerte oder Anstieg des Hb sollte durch Dosisreduktionen alle 2–3 Monate die niedrigste wirksame Dosis ermittelt werden. 3.5.11 Zytokine und supportive Therapie G-CSF (Rackoff et al. 1996) und GM-CSF (Guinan et al. 1994) können die Neutrophilenzahlen bei FA-Patienten verbessern. Ihr Einsatz kann bei schwerer Neutropenie (<500/µl) oder lebensbedrohlichen Infektionen erwogen werden. Wenige Patienten zeigten auch einen Anstieg von Hb oder Thrombozytenzahlen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Zytokintherapie und Entstehung einer myeloischen Neoplasie ist nicht nachweisbar. Der Einsatz von Erythropoetin ist nur bei Niereninsuffizienz sinnvoll. In der Vergangenheit wurden anämische FA-Patienten nur bei deutlicher Symptomatik (Abgeschlagenheit, Tachykardie, Tachydyspnoe) mit Erythrozyten transfundiert. Um einen normalen Tagesablauf mit altersentsprechenden Aktivitäten zu ermöglichen, transfundieren heute viele Hämatologen bei minimalen Hb-Werten von 7–8 g/dl. Überlegungen zur Eisenüberladung und subkutanen Desferrioxamintherapie orientieren sich an denen bei Thalassämiepatienten ( Kap. 14). Bei schwerer Thrombozytopenie können intravenöse Desferrioxamingaben notwendig sein. Der Einsatz von oralen Chelatoren ist bei FA bisher nicht etabliert.
Die Substitution von Thrombozyten ist bei ausgeprägten Hämatomen, Nasenbluten, anderen schweren Blutungen oder vor invasiven Eingriffen notwendig. Niedrige Thrombozytenzahlen ohne ausgeprägte Blutungszeichen stellen in der Regel keine Indikation zur Transfusion dar. Tranexamsäure (10–15 mg/kg alle 6–8 h) kann bei Mukosablutungen hilfreich sein. Alle Medikamente, die die Plättchenfunktion verringern können (z. B. nichtsteroidale Antiphlogistika wie Ibuprofen) sind kontraindiziert. 3.5.12 Somatische Mosaike und Gentherapie Ca. 10–25% der FA-Patienten haben nicht-leukämische Blutzellen, die keine induzierbare Chromosomenbrüchigkeit mehr aufweisen (so genannte DEB- oder MMC-Resistenz). Voraussetzung für ein solches somatisches Mosaik ist eine spontane Reversion in einem Allel des defekten Gens. Die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen sind unterschiedlich und beinhalten u. a. mitotische Rekombinationen (beide Mutationen jetzt auf einem Allel, ein normales Allel), kompensatorische Verschiebungen im Leseraster und Rückmutationen (Gross et al. 2002). Lymphohämatopoetische Stammzellen, bei denen eine solche molekulare Selbstkorrektur erfolgt ist, können einen Proliferationsvorteil gegenüber erkrankten FA-Zellen haben. Tatsächlich kann die normale Zellpopulation innerhalb eines Mosaiks im Laufe der Zeit zunehmen (Waisfisz et al. 1999) und dies mit einem wenig ausgeprägten Phänotyp einhergehen. In diesen Fällen kann die FA-Diagnostik an Blutzellen auch zu falsch-negativen Ergebnissen führen und die Untersuchung von Fibroblasten notwendig machen. Interessanterweise entwickeln viele Patienten mit Mosaik aber trotz der »natürlichen« Gentherapie ein progredientes Knochenmarkversagen (Auerbach et al. 1989). Diese Beobachtung könnte Folge einer inkompletten Komplementierung durch die Reversion sein, bei der die Chromosomenbrüchigkeit, nicht aber die Hypersensitivität gegenüber Zytokinen korrigiert wird (Bagby 2003). Die spontane Reversion einer Stammzelle schließt auch die Entwicklung einer klonalen zytogenetischen Aberration in einer anderen nicht-korrigierten Stammzelle nicht aus (Gregory et al. 2001). Besondere Probleme ergeben sich für FA-Patienten mit Mosaiken bei SZT. Die niedrigdosierte Konditionierung kann für die korrigierte Zellpopulation nicht ausreichend immunsuppressiv sein, so dass es zur Abstoßung des Transplantats kommt (MacMillan et al. 2000). Die Fragen nach der Langlebigkeit des Klons mit genetischer Reversion und der Möglichkeit der Leukämogenese in nicht-korrigierten Zellpopulationen sind auch für die Einschätzung des Erfolgs einer somatischen Gentherapie relevant. Eine Einschätzung der möglichen Bedeutung der somatischen Gentherapie als Therapieoption für FA kann zurzeit nicht abgegeben werden. Bisherige klinische Studien bei FANCC und FANCA mit retroviralen Vektoren waren eher enttäuschend (Liu et al. 1999; Walsh et al. 2001). Der Einsatz von lentiviralen Vektoren mag erfolgversprechender sein (Galimi et al. 2002).
3
50
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
Dyskeratosis congenita
3.5.13 Pränatale Diagnostik
3.6
Die pränatale Diagnose einer FA kann durch Bestimmung der Chromosomenbrüchigkeit an Chorionzotten in der 9. bis 12. oder Amnionzellen in der 16. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden (Auerbach et al 1985). Ist die spezifische Mutation der Familie bekannt, wird die direkte DNA Analyse möglich. Die Anwendung der Präimplantationsdiagnostik (PID) ist umstritten. Die PID nach In-vitro-Fertilisation wurde ursprünglich entwickelt, um Embryonen, die von einer bekannten monogenen Erbkrankeit betroffen sind, vor Beginn der Schwangerschaft zu diagnostizieren und den betroffenen Familien eine Alternative zur pränatalen Diagnostik mit Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen. PID bei FA wird aber nicht nur dazu benutzt, eine FA auszuschließen, sondern auch, um für einen bestimmten HLA-Typ zu selektionieren. Die HLA-identischen Stammzellen aus Nabelschnurblut des durch PID ausgewählten gesunden Kindes ermöglichen die SZT des erkrankten Geschwister (Grewal et al. 2004). Die PID ist in den USA derzeit gesetzlich nicht reguliert, in den meisten europäischen Ländern ist ihr Einsatz zur positiven Selektion bestimmter Merkmale nicht erlaubt.
Die Dyskeratosis congenita, zuerst 1906 beschrieben von Zinsser (Zinsser-Engman-Cole-Syndrom), ist eine angeborene Multisystemerkrankung, bei der das ektodermale und hämatopoetische System besonders betroffen sind. Abnorme Hautpigmentierung, Nageldystrophie, Leukoplakie der Schleimhäute und progredientes Knochenmarkversagen stehen im Vordergrund. Neben der Panzytopenie können Neoplasien und eine schwere Lungenerkrankung zum Tode führen. Die Erkrankung wird X-chromosomal, autosomalrezessiv oder dominant vererbt.
I
3.5.14 Prognose und Patientenbetreuung Die mediane Überlebenszeit für Patienten mit FA ist 24 Jahre (Kutler et al. 2003a). Etwa ein Drittel der Patienten wird älter als 30 Jahre. Eine frühe Diagnosestellung ist wünschenswert, da sie das adäquate Management der hämatologischen Probleme, die elektive Korrektur der angeborenen Fehlbildungen vor Einsetzen der Thrombozytopenie, die genetische Beratung der Familie und die Identifizierung ebenfalls betroffener Geschwister ermöglicht. Auch die Fragen zur SZT sollten frühzeitig besprochen werden, damit eine Spendersuche vor dem Auftreten schwerwiegender hämatologischer Komplikationen eingeleitet werden kann. Besonders wichtig ist die individuelle psychosoziale Unterstützung der Familie. ! Schon bei Verdacht auf FA sollten Patient und Familie an ein spezialisiertes pädiatrisch-hämatologisches Zentrum überwiesen werden. Auch wenn Leitlinien für viele Bereiche des klinischen Managements von FA-Patienten erstellt wurden, ist die Behandlung eines Patienten immer individuell und bedarf einer ausreichenden Erfahrung eines multidisziplinären Behandlungsteams.
Die Behandlung und Begleitung eines Patienten mit FA ist komplex und bedarf vieler Spezialisten ( Tabelle 3.3), die gut koordiniert und aufeinander abgestimmt eine bestmögliche und individuelle Versorgung gewährleisten müssen. Der Austausch mit anderen Betroffenen innerhalb der sehr aktiven FA-Selbsthilfegruppen ist für viele Familien eine wichtige Quelle der Information und Unterstützung (Deutschland: www.fanconi.de, USA: www.fanconi.org). Der Herausforderung, die die Krankheit FA heute stellt, wird nur eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Spezialisten, Kinderärzten, Patienten, Familien, Selbsthilfegruppen und Forschern gerecht.
3.6.1
Klinisches Erscheinungsbild
Nach unauffälliger früher Kindheit, treten Haut- und Nagelveränderungen in der Regel erstmals im Alter von 5–10 Jahren auf (Dokal 2000). Die retikuläre Hyperpigmentierung betrifft zunächst meist das Gesicht, den Hals, die Arme und den Thorax, kann aber im Verlauf zunehmend den ganzen Körper bedecken und teleangiektatische sowie erythematöse Komponenten aufweisen. Nagelveränderungen, die mit longitudinalen Rillen beginnen (⊡ Abb. 3.5), können bis zum Verlust des Organs fortschreiten. Leukoplakien finden sich in der oralen Mukosa und besondere auf der Zunge, aber auch auf den Konjunktiven und in der anogenitalen Schleimhaut. Tränenträufeln (Epiphora) durch Verlegung des Ductus nasolacrimalis wird bei ca. einem Drittel der Patienten beobachtet. Konjunktivitis, Blepharitis, Strabismus, Katarakt und Optikusatrophie sind andere okuläre Manifestationen. Auch eine Hyperhidrose der Hände und Füße, spärlicher Haarwuchs/Haarverlust, Karies/Zahnverlust, gastrointestinale (Ösophagusstrikturen) und urogenitale (Hypognonadismus, Retentio testes) Auffälligkeiten, Skelettveränderungen (Osteoporose, aseptische Nekrose), Minderwuchs und Entwicklungsverzögerung werden beobachtet. Eine lebensbedrohliche Lungenerkrankung mit Ventilations- und Diffusionsstörung steht bei ca. 20% der Patienten im Vordergrund. Histologisch liegt ihr eine pulmonale Fibrose und Gefäßveränderungen zugrunde, pathogenetisch könnte eine erhöhte Plasmakonzentration des Von-Willebrand-Faktors von Bedeutung sein (Dokal 2000).
⊡ Abb. 3.5. Dystrophe Nagelveränderungen bei Dyskeratosis congenita (mit freundlicher Genehmigung des Patienten und E. Bergsträßer, Zürich)
51 3 · Aplastische Anämien
Das Hoyerall-Hreidarsson-Syndrom (Hoyerall et al. 1970; Hreidarsson et al. 1988) charakterisiert durch eine intrauterine Wachstumsverzögerung, Mikrozephalie, zerebelläre Hypoplasie, mentale Retardierung, zunehmende Immundefizienz und aplastische Anämie ist eine ausgeprägte Variante der X-chromosomal vererbten Dyskeratosis congenita mit Mutationen im DKC1-Gen ( unten; Knight et al. 1999). Bei den autosomal vererbten Formen der Dyskeratosis congenita scheint die dominante Form schwerer zu verlaufen als die rezessiv vererbte Erkrankung. 3.6.2
Hämatopoese und Neoplasien
Nahezu alle Patienten erleiden ein progredientes Knochenmarkversagen, in 80–90% der Fälle bis zum Alter von 30 Jahren (Median 8 Jahre; Dokal et al. 2000). Eine Thrombozytopenie und makrozytäre Anämie sind die ersten Anzeichen der Panzytopenie, die sich selten auch einmal vor den mukokutanen Veränderungen entwickeln kann. Einige Patienten zeigen auch eine zunehmende zelluläre und humorale Immundefizienz. Die Zahl der hämatopoetischen Progenitoren ist deutlich vermindert und nimmt im Laufe der Zeit weiter ab (Dokal 2000). Auch wenn einzelne Patienten mit MDS und Blastenvermehrung beschrieben sind, ist das Risiko an einer myeloischen Neoplasie zu erkranken bei Dyskeratosis congenita wesentlich geringer als bei der Fanconi-Anämie. Plattenepithel- und Adenokarzinome des Oropharynx und Gastrointestinaltrakts werden ab der dritten Dekade gehäuft beobachtet. 3.6.3
Chromosomale Instabilität
Neuere Untersuchungen zeigen, dass Patienten mit Dyskeratosis congenita keine erhöhte Chromosomenbrüchigkeit nach Exposition mit interkalierenden Substanzen, Alkylanzien oder Bestrahlung aufweisen (Coulthard et al. 1998). Fibroblasten und Metaphasen peripherer Blutzellen zeigen allerdings spontan di- und trizentrische Chromosomen sowie Translokationen (Dokal et al. 1992). Im Gegensatz zur Fanconi-Anämie mit Chromosomenbrüchen finden sich bei der Dyskeratosis congenita chromosomale Rearrangements als Zeichen chromosomaler Instabilität. 3.6.4
Molekulargenetik
Nach Kopplungsanalysen in einer großen Familie mit ausschließlich männlichen Patienten konnte das Gen der Xchromosomal vererbten Form der Dyskeratosis congenita auf Xq28 am unteren Ende des X-Chromosoms lokalisiert (Connor et al. 1986) und später als DKC1-Gen identifiziert werden (Heiss et al. 1998). Das DKC1-Genprodukt, Dyskerin, ist ein hoch konserviertes nukleoläres Protein, das mit einer kleinen Gruppe nukleolärer RNA-Moleküle (so genannter H/AC-snoRNA) assoziiert. Zusammen mit 3 anderen Proteinen (NOP1, NHP2 und GAR1) bilden Dyskerin und die snoRNA einen Komplex (snoRNP), der für die posttranskriptionelle Modifikation von ribosomaler RNA von Uridin zu
⊡ Abb. 3.6. Mögliches Modell der Assoziation zwischen der RNAKomponente der Telomerase (TERC), der reversen Transkriptase (hTERT), Dyskeratin und den Riboproteinen GAR1, NHP2 und NOP10
⊡ Abb. 3.6. Mögliches Modell der Assoziation zwischen der RNAKomponente der Telomerase (hTERC), der reversen Transkriptase (hTERT), Dyskeratin und den Riboproteinen GAR1, NHP2 und NOP10
Pseudouridin verantwortlich ist. Dyskerin ist dabei die aktive Pseudouridinsynthase. Dyskerin, NOP1, NHP2 und GAR1 assoziieren auch mit der RNA-Komponente der Telomerase (hTERC; ⊡ Abb. 3.6; Mitchell et al. 1999). Nachdem erkannt wurde, das das hTERC-Gen bei der autosomal-dominanten Form der Dyskeratosis congenita mutiert ist (Vulliamy et al. 2001), war anzunehmen, dass der Pathologie der Dyskeratosis congenita eine abnorme Aktivität der Telomerase zugrunde liegt (Bessler et al. 2004). Der Telomerasekomplex ist für die Synthese der repetitiven Sequenzen der Chromosomenenden verantwortlich. Er besteht aus der reversen Transkriptase hTERT, die die assoziierte RNA-Komponente TERC als komplementären Nukleotidsäurestrang benutzt, um bei der Replikation verlorene Nukleotide wieder hinzuzufügen (⊡ Abb. 3.6). Dyskerin scheint für die Stabilität von TERC wesentlich; Patienten mit Dyskeratosis congenita zeigen eine verringerte TERC-Expression. Während murine Nullvarianten von Dkc1 letal sind (He et al. 2002), ist eine Variante mit verringerter Dkc1-Expression dem menschlichen Phänotyp ähnlich (Ruggero et al. 2003). Weibliche und männliche Mäuse zeigen eine moderate Anämie und eine ausgeprägte Prädisposition für Tumoren. Verkürzte Telomere finden sich in diesen hypomorphen Dkc1m-Mäusen erst ab der 4. Generation (Labormäuse haben sehr lange Telomere), was die Bedeutung der dysregulierten ribosomalen Funktion für den Phänotyp der Dyskeratosis congenita unterstreicht. Patienten mit Dyskeratosis congenita haben verkürzte Telomere (Mitchell et al. 1999). Ähnliche Veränderungen werden auch bei Patienten mit erworbener aplastischer Anämie beobachtet, ohne dass hier eine Beziehung zwischen der Telomerlänge und der Schwere der Panzytopenie besteht (Brummendorf et al. 2001). Heterozygote TERC-Mutationen wurden allerdings in größeren Kohorten von Patienten mit erworbener aplastischer Anämie, MDS oder paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie (PNH) selten gefunden (Yamaguchi et al 2003). Die Entdeckung der Mutationen in DKC1
3
52
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
⊡ Tabelle 3.4. Untergruppen der Dyskeratosis congenita (modifiziert nach Dokal 2003)
Untergruppe
Zahl der Patienten (%)
Chromosomale Lokalisation
RNA/ProteinProdukt
Zahl der Mutationen >25
X-chromosomal
40–50
Xq28
Dyskerin
Autosomal-dominant
>10
3q21–3q28
TERC
<10
Autosomal-rezessiv
40–50
?
?
?
und TERC in Familien mit Dyskeratosis congenita erlaubt eine eindeutige molekulare und pränatale Diagnostik für ca. die Hälfte der Patienten (⊡ Tabelle 3.4). 3.6.5
Therapie und Prognose
Das Management der Panzytopenie bei Dyskeratosis congenita ist ähnlich wie das bei Fanconi-Anämie. Oxymetholon kann bei ca. 50% der Patienten eine Verbesserung der Blutwerte erzielen. Ein vorübergehendes Ansprechen wurde auch auf die Wachstumsfaktoren GM-CSF, G-CSF und Erythropoetin beobachtet (Russo et al. 1990; Alter et al. 1997). Die Ergebnisse der SZT mit Geschwisterspendern sind bisher deutlich schlechter als bei der Fanconi-Anämie (Ghavamzadeh et al. 1999). Sie sind durch eine hohe Rate pulmonaler und später vaskulärer Komplikationen geprägt. Der Verzicht auf Busulfan, eine Fludarabin-basierte Konditionierung und der Einsatz der SZT bei Patienten ohne vorbestehende Lungenkomplikationen könnte zu einem verbesserten Überleben führen (Cossu et al. 2002). Die meisten Patienten mit Dyskeratosis congenita sterben vor dem 30. Lebensjahr. Todesursachen sind Knochenmarkversagen/Immundefizienz (≈60–70%), pulmonale Komplikationen (≈10–15%) und Neoplasien (≈5–10%; Dokal 2000). Das 1995 am Hammersmith-Hospital in London etablierte Register für Patienten mit Dyskeratosis congenita (Knight et al. 1998) wird die Erforschung dieser seltenen Erkrankung erleichtern und langfristig zur Verbesserung der bisher ungünstigen Prognose beitragen.
3.7
Andere angeborene aplastische Anämien
Bei einigen Formen der angeborenen aplastischen Anäminen, wie der amegakaryozytären Thrombozytopenie ( Kap. 34) oder dem Shwachman-Diamond-Syndrom ( Kap. 17.7) stehen zunächst Zytopenien einer Zellreihe im Vordergrund bevor sich später eine Panzytopenie entwickelt. Da bei einer Reihe angeborener Störungen mit Knochenmarkversagen skelettale Auffälligkeiten besonders von Radius, Ulna und der Hände zu beobachten sind (⊡ Tabelle 3.5), müssen die betroffenen Gene sowohl in der Hämatopoese wie auch Skelettentwicklung eine wichtige Rolle spielen. Eines dieser Gene ist HOXA11; Patienten mit HOXA11-Mutationen haben beidseits eine radioulnare Synostose und fallen in der Neonatalperiode durch eine Thrombozytopenie auf (Thompson et al. 2000, 2001). Letztere kann sich in der Folge normalisieren, bevor sich langfristig eine Knochenmarkaplasie einstellt. Radioulnare Synostosen mit spätem Knochenmarkversagen im Erwachsenenalter wurden ebenfalls beschrieben (Dokal et al. 1989). Eine Abgrenzung zu anderen Syndromen wird erst durch die Kenntnis der molekularen Defekte möglich sein; differenzialdiagnostisch zu erwähnen sind das WT-Syndrom (genannt nach Familien W und T, autosomal-dominant, radiale/ulnare Hypoplasie, Leukämien; Gonzalez et al. 1977) und das IVIC-Syndrom (autosomaldominant, radiale Hypoplasie, Hörverlust, Ophthalmoplegie; Arias et al. 1980). Neben Panzytopenien mit Skelettveränderungen sind auch eine Reihe von angeborenen aplastischen Anämien mit zerebralen Fehlbildungen beschrieben. Beim SeckelSyndrom (autosomal-rezessiv, Zwergwuchs, Vogelgesicht,
⊡ Tabelle 3.5. Angeborene aplastische Anämien mit skelettalen Auffälligkeiten von Armen und Händen (modifiziert nach Slayton und Schibler 2000)
Erkrankung
% mit Anomalien von Arm/Hand
Alter bei Diagnose (Median)
Prädisposition für myeloische Neoplasie
Fanconi-Anämie
50
8,0 Jahre
+
Diamond-Blackfan-Anämie
10
0,5 Jahre
+
Thrombozytopenie mit fehlendem Radius
100
16 Tage
–
Knochenmarkversagen mit radioulnarer Synostose
100
Neugeboren oder erwachsen
–
WT-Syndrome
100
1 Jahr bis erwachsen
+
IVIC-Syndrome
100
Erwachsen
–
53 3 · Aplastische Anämien
schwere mentale Retardierung) scheint – ähnlich wie bei der Fanconi-Anämie und der Dyskeratosis congenita – eine Chromosomeninstabilität Urschache der sich entwickelnden aplastischen Anämie sein (Bobabilla-Morales et al. 2003). Auch das Dubowitz-Syndrom (Wachstumsretardierung, typische Facies, Kryptorchismus; Berthold et al. 1987) sind ebenso wie bei Patienten mit Down-Syndrom (Pavithran u. Raji 2003) aplastische Anämien beschrieben. Kinder mit Pearson-Syndrom (Pearson et al. 1979) präsentieren sich im 1. Lebensjahr mit Anämie oder Durchfall (Munnich et al. 1996). Ursache der Multisystemerkrankung sind unterschiedlich langstreckige Deletionen mitochondrialer DNA mit nachfolgender gestörter oxidativer Phosphorylierung ( Kap. 31; Rötig et al. 1991, 1995). Die makrozytäre Anämie mit Retikulozytopenie ist in der Regel transfusionsbedürftig und von einer mehr oder weniger ausgeprägten Neutropenie und Thrombozytopenie begleitet. Das HbF ist oft erhöht. Im normo- oder hypozelluären Knochenmark zeigen sich eine charakteristische Vakuolisierung ( Kap. 31) und Ringsideroblasten. Es ist nicht klar, warum sich die Panzytopenie – oft eingeleitet durch eine plötzlich auftretende Retikulozytose – im frühen Kindesalter verbessert und meist normalisiert.
Erworbene aplastische Anämie
3.8
Die erworbene aplastische Anämie ist eine seltene, schwere Erkrankung des blutbildenden Systems. Ursache der peripheren Panzytopenie ist eine durch T-Lymphozyten vermittelte Immunattacke auf Stamm- und frühe Progenitorzellen. Die Folge ist das Versiegen der Produktion von Erythrozyten, Thrombozyten und Leukozyten im Knochenmark. Das klinische Bild ist durch eine aregeneratorischer Anämie, Blutungsneigung, schwere bakterielle Infektionen und systemische Pilzinfektionen geprägt. Die allogene Stammzelltransplantation und die immunsuppressive Therapie stehen als therapeutische Optionen zur Verfügung. 3.8.1
Definition
Die erworbene aplastische Anämie (AA) ist definiert als erworbene Aplasie des Knochenmarks mit Reduktion der Zellularität auf unter 30% der Altersnorm und konsekutiver Zytopenie im peripheren Blut. Ursächlich für die Bildungsstörung ist der Untergang hämatopoetischen Gewebes durch eine gesteigerte Apoptose. Für die Therapie entscheidend sind die Schweregrade der AA (Camitta et al. 1982). Definition Für die Diagnose »schwere aplastische Anämie (SAA)« müssen 2 der 3 Kriterien – Anämie mit Retikulozytopenie <20.000/µl, Thrombozytopenie <20.000/µl und Granulozytopenie <500/µl – erfüllt sein. Von einer sehr schweren AA (»very severe aplastic anemia«, VSAA) spricht man bei einer Granulozytenzahl von unter 200/µl.
3.8.2
Epidemiologie
Die Inzidenz der AA beträgt 0,2/100.000 Kinder unter 15 Jahren, dies entspricht 20–25 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland, wo seit 1994 Kinder mit AA zentral über das Kinderkrebsregister in Mainz erfasst werden. Der Altersmedian liegt bei 9 Jahren, Knaben und Mädchen sind etwa gleich häufig betroffen. Im Gegensatz zu den Erwachsenen überwiegen bei Kindern die Fälle mit schwerer und sehr schwerer AA. Im ersten Lebensjahr auftretende Fälle von Knochenmarkversagen haben ihre Ursache zumeist in kongenitalen Störungen der Hämatopoese, wie zum Beispiel einer amegakaryozytären Thrombozytopenie. Anders als beim MDS nimmt die Häufigkeit der AA mit zunehmendem Lebensalter nicht zu. 3.8.3
Pathogenese
Verschiedenste Ursachen, wie Medikamente (z. B. Chloramphenicol, Penicillamin), Chemikalien (z. B. Benzol), ionisierende Strahlen, hormonelle Faktoren (Schwangerschaft) und Infektionen v. a. mit Viren können für das Auftreten einer AA verantwortlich sein ( Abschn. 3.1). Bei über 90% der Erkrankten kann allerdings kein Auslöser gefunden werden, es liegt eine idiopatische AA vor. Bei etwa 5% der Patienten steht das Auftreten der AA in zeitlichem Zusammenhang mit einer Hepatitis, die manchmal bis zum akuten Leberversagen führt. In der Regel kann für die Hepatitis kein Erreger nachgewiesen werden; es wird für Leber- und Knochenmarkversagen ein gemeinsamer autoimmunologischer Prozess angenommen (Itterbeek et al. 2002). Für ein Knochenmarksversagen können grundsätzlich 2 Mechanismen verantwortlich sein (Appelbaum et al. 1987): ▬ Das Stroma kann in seiner Funktion, die optimalen Bedingungen (Wachstumsfaktoren, Adhäsionsmoleküle etc.) für Homing, Proliferation und Differenzierung von Blutstammzellen bereitzustellen, versagen (Azuma et al. 1998). ▬ Der Stammzellpool selbst kann durch Verlust (toxisch, immunologisch bedingt) von Stammzellen oder durch Verringerung ihrer proliferativen Kapazität geschädigt sein. In Crossover-Experimenten konnte gezeigt werden, dass das Stroma von AA-Patienten in der Lage ist, Blutstammzellen von gesunden Spendern ausreichend zu unterstützen, ein Befund, der durch den erfolgreichen Einsatz der SZT bei AA bestätigt wird. Das Stroma von AA-Patienten produziert normale Mengen an Wachstumsfaktoren wie SCF (WodnarFilipowicz et al. 1993), die Konzentrationen anderer Faktoren wie Erythropoetin, Thrombopoetin und G-CSF bzw. GM-CSF sind im Serum kompensatorisch erhöht. CD34+ hämatopoetische Progenitorzellen von AA-Patienten zeigen dagegen auch auf Stroma gesunder Spender kein ausreichendes Wachstum. Der Anteil an Zellen, aus denen in der Langzeitkultur eine Kolonie entstehen kann (LTC-IC), ist meist noch Jahre nach erfolgreicher immunsuppressiver Therapie (IST) und Normalisierung der Blutbildparameter erheblich reduziert (Podesta et al. 1998).
3
54
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
Die Reduktion des Pools an Stammzellen, die für eine Repopulierung des Knochenmarks sorgen, spiegelt sich auch in Klonalitätsanalysen nach erfolgreicher IST wider. So finden sich bei Frauen nach erfolgreicher IST oligoklonale oder sogar monoklonale X-Inaktivierungsmuster in der Hämatopoese. Die deutlich verkürzten Telomere bei AA-Patienten nach IST werden ebenfalls als Indiz für die gesteigerte Replikation weniger Stammzellen angesehen (Ball et al. 1998). Dieser erhöhte replikative Stress führt offenbar zu einer vorzeitigen Alterung der verbliebenen Stammzellen und wird für das erhöhte Risiko von chromosomalen Aberrationen und einer Progression in eine myeloische Neoplasie (MDS, AML) verantwortlich gemacht. Erste klinische Hinweise auf die wichtige Rolle des Immunsystems in der Pathogenese der AA ergaben sich aus der Beobachtung, dass es bei AA nach Konditionierung mit hochdosiertem Cyclophosphamid oder Antilymphozytenglobulin auch ohne Transplantation allogener Stammzellen zu einer Erholung der autologen Hämatopoese kommen kann (Jeannet et al. 1976; Speck et al. 1977). Diese zufällige Beobachtung führte zur systematischen Etablierung der IST als Alternative zur SZT (Camitta et al. 1983; Champlin 1983). Ergebnisse von In-vitro-Untersuchungen, die eine Hemmung des Progenitorwachstums durch autologe T-Zellen zeigen, unterstützen die Hypothese einer immunvermittelten Erkrankung. Unbekannt ist bisher jedoch die Zielstruktur der Immunattacke. Viren wie auch Chemikalien lösen möglicherweise die Expression zellulärer Neoantigene aus. Auch bestimmte chromosomale Aberrationen scheinen zur Expression aberranter Proteine zu führen, die ebenfalls als Zielstruktur für eine Immunreaktion dienen können (Nissen u. Schubert 2002; Young u. Maciewski 1997). So konnte auch bei Patienten mit MDS, insbesondere mit Trisomie 8, in vitro eine Suppression des Koloniewachstums durch autologe T-Zellen nachgewiesen werden (Sloand et al. 2002a). Diese Daten korrelieren mit den Ergebnissen klinischer Studien, die zeigen, dass Patienten mit MDS, insbesondere mit refraktärer Zytopenie und hypoplastischem Knochenmark, auf IST mit einer Besserung ihrer Panzytopenie ansprechen (Molldrem et al. 2002). Aktivierte T-Lymphozyten, die das Knochenmark von SAA-Patienten infiltrieren, produzieren γ-Interferon und Tumornekrosefaktor α, 2 Zytokine, die hemmend auf die Hämatopoese wirken (Dufour et al. 2001b). Beide Zytokine sind in der Lage, die Expression des »Todesrezeptors« Fas auf den normalerweise Fas-negativen CD 34+ Stamm- und frühen Progenitorzellen zu induzieren (Maciejewski et al. 1995). Über die Auslösung der Apoptosekaskade kommt es zu einer Depletion dieser Zellpopulation. Der Nachweis von intrazellulärem γ-Interferon in T-Lymphozyten von AA-Patienten korreliert positiv mit dem Ansprechen auf IST (Sloand et al. 2002b). Ähnlich wie bei anderen Autoimmunerkrankungen ist bei AA eine genetische Prädisposition anzunehmen, da sich die Erkrankung bei vergleichbarer Exposition nur bei einer sehr kleinen Gruppe von Patienten manifestiert. Das Merkmal HLA-DR2, ein Klasse-II-Antigen der humanen Leukozyten-Antigene, ist in der Gruppe der AA-Patienten überrepräsentiert (Maciejewski et al 2002b). Zudem konnte für japanische Patienten eine Korrelation zwischen dem HLAKlasse-II-Merkmal DRB1*1501 und dem Ansprechen auf eine
Behandlung mit Ciclosporin A gezeigt werden (Nakao et al. 1994). Diskutiert werden aber auch andere mögliche prädisponierende Faktoren wie Störungen der Zytokinproduktion (Demeter et al. 2002) bzw. der jeweiligen Signalkaskaden, Veränderungen im Bereich des Apoptoseprogramms, oder auch Defizite im Bereich detoxifizierender Enzyme. Von besonderer Bedeutung ist die Beobachtung, dass es bei 10–20% der mit IST behandelten Patienten im Verlauf mehrerer Jahre zu einer Progression in eine klonale hämatologische Erkrankung kommt (Ohara et al. 1997). Es werden in erster Linie MDS, PNH und selten myeloische Leukämien beobachtet. Die Frage nach der Bedeutung des Immunsystems für die Entwicklung maligner Erkrankungen ist dabei von grundsätzlichem Interesse, ebenso wie die besondere Vulnerabilität eines Wechselgewebes, das aufgrund einer vorangegangenen oder anhaltenden Schädigung seine Funktion nur auf Kosten einer enorm gesteigerten Replikation innerhalb eines dezimierten Stammzellpools aufrechterhalten kann. 3.8.4
Klinisches Erscheinungsbild
Führendes Symptom ist bei der Mehrzahl der Patienten eine ausgeprägte Blutungsneigung, die sich meist an Haut und Schleimhäuten in Form von Petechien, Hämatomen und Suggilationen äussert. Schwer stillbares Nasen- oder Zahnfleischbluten tritt häufig auf, dagegen sind innere Blutungen oder intrakranielle Hämorrhagien zu Beginn der Erkrankung die Ausnahme. Tipp für die Praxis Einblutungen in große Gelenke sind typisch für plasmatische Gerinnungsstörungen und werden bei AA nicht beobachtet.
Da sich das Vollbild der ausgeprägten Granulozytopenie bei den meisten Patienten erst im weiteren Verlauf entwickelt, liegen selten bereits bei der ersten Vorstellung schwerwiegende bakterielle oder mykotische Infektionen vor. Symptome wie Fieber, Schmerzen oder Dyspnoe müssen umgehend abgeklärt (bakteriologische Kulturen, Bildgebung) werden. Wegen der Koinzidenz mit einer z. T. fulminant verlaufenden Hepatitis bei etwa 5% der Kinder mit AA sollten bei ungeklärter schwerer Hepatitis für mindestens ein Jahr nach Diagnose regelmäßige Blutbildkontrollen durchgeführt werden. Dies gilt auch für Patienten, die wegen Leberversagen bei Hepatitis eine Lebertransplantation erhalten haben. 3.8.5
Diagnostik
Der Hb-Wert kann bei Erstvorstellung aufgrund der langen Halbwertszeit der Erythrozyten noch im unteren Normbereich liegen. Im Gegensatz zu Panzytopenien bei kongenitalen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen, ist das MCV meist normal und nicht erhöht. Die Lymphozyten sind morphologisch unauffällig, ihr Anteil an den Gesamtleukozyten ist stark vermehrt bei meist normaler Absolutzahl. Die Granulozyten sind dagegen absolut und relativ deutlich ver-
55 3 · Aplastische Anämien
mindert, Stabkernige fehlen meist auch bei bakteriellen Infektionen. Die Knochenmarkzytologie ermöglicht in der Regel die Abgrenzung zur akuten Leukämie. Die Morphologie hämatopoetischer Zellen bei AA ist in der Regel unauffällig. Mikromegakaryozyten gelten als beweisend für das Vorliegen eines MDS. Die Zellularität des Knochenmarks kann nur in der Histologie sicher beurteilt werden. Bei AA findet sich das typische Bild einer Aplasie mit Ersatz durch Fettgewebe und einzelnen Inseln residueller Hämatopoese ( Abb. 3.1). Inseln mit gesteigerter, dysplastischer Blutbildung sind hinweisend auf ein hypoplastisches MDS und können nur histologisch diagnostiziert werden. ! Die Diagnose erworbene aplastische Anämie kann nicht allein anhand eines Präparats einer Knochenmarkaspiration gestellt werden. Die Knochenmarkbiopsie ist unverzichtbar. Sie ist mit der Zytologie zweimal im Abstand von 14 Tagen durchzuführen. Da die Abgrenzung von anderen hypoplastischen Knochenmarkerkrankungen des Kindesalters schwierig sein kann, sollten beide Biopsien der Referenzbeurteilung zugeführt werden.
Die zytogenetische Untersuchung des Knochenmarkbluts ist in den letzten Jahren zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Routinediagnostik geworden. Die klassische Methode der Bandenfärbung an Metaphasen-Chromosomen nach vorangegangener Kurzzeitkultur und Synchronisation mit Colchicin ist allerdings auf proliferierende Zellen angewiesen. Da das Knochenmark von AA-Patienten in der Regel extrem hypozellulär ist und die wenigen Zellen schlecht proliferieren, wird zunehmend die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) an Interphasekernen eingesetzt, um eine Monosomie 7 oder Trisomie 8 auszuschließen. Die Bedeutung kleiner (<30%), oftmals im Verlauf in ihrem prozentualen Anteil an der Gesamthämatopoese schwankender Klone für die Prognose der Erkrankung und das Risiko einer Progression in eine maligne myeloische Erkrankung ist unklar (Appelbaum et al. 1987; Maciejewski et al. 2002a; Mikhailova et al. 1996). Die Abgrenzung zur PNH ist im Abschn. 3.9 beschrieben. 3.8.6
Supportive Therapie
Die supportive Therapie ist für das Überleben der Patienten mit AA von besonderer Bedeutung. Aufgrund der meist schweren Thrombozytopenie stellen Blutungen lebensbedrohliche Komplikationen dar. Die Substitution von Thrombozytenkonzentraten sollte bei erhöhter Blutungsneigung (Epistaxis, Hämatome, Petechien) und/oder Thrombozyten <10.000–20.000/µl erfolgen. Die Indikation zur Substitution von Erythrozyten richtet sich nach klinischen Erfordernissen. Herzgesunde Kinder ohne akute Infektion tolerieren auch niedrige Hb-Werte von 7–8 g/dl gut, akute Infektionen mit Fieber können den Substitutionsbedarf deutlich erhöhen. Es werden ausschließlich leukozytendepletierte bestrahlte Blutprodukte transfundiert ( Kap. 84). Auf Blutprodukte von Familienmitgliedern sollte wegen einer möglichen Sensibilisierung mit erhöhtem Abstoßungsrisiko bei SZT verzichtet werden. Die Substitution von Granulozyten ist Situa-
tionen mit schweren therapieresistenten Infektionen (z. B. bei Aspergillose) vorbehalten. Die Überlebenszeit und Leistungsfähigkeit von Spendergranulozyten konnte durch die Mobilisierung der Granulozyten mit G-CSF beim Spender gesteigert werden. Ein wichtiges Ziel bei der Betreuung von AA-Patienten ist es, ein hohes Hygienebewusstsein zu schaffen. Dem Verzicht auf möglicherweise bakteriell oder mykotisch kontaminierte Speisen und der Einschränkung der Zahl der Kontaktpersonen kommt eine wichtige Rolle zu. Eine antibiotische Prophylaxe ist nicht hilfreich, da es zur Selektion resistenter Bakterien und zur Begünstigung von Pilzinfektionen kommt. Tritt allerdings Fieber (>38,5°C) bei einem neutropenischen Patienten auf, so muss nach Gewinnung entsprechenden Kulturmaterials (Blut, Urin, Stuhl, Abstriche, Sputum etc.) umgehend eine breite, intravenöse antibiotische Therapie und bei Verdacht auf Pilzinfektion auch eine antimykotische Therapie eingeleitet werden. Die Versorgung von Haut- und Schleimhautläsionen bei AA-Patienten bedarf erhöhter Sorgfalt. 3.8.7
Behandlung mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren
Nachdem ihre gentechnische Herstellung möglich war, wurden die verschieden hämatologischen Wachstumsfaktoren (G-CSF, GM-CSF, SCF, Erythropoetin, IL-3) in klinischen Studien zur Behandlung der AA eingesetzt. Abgesehen von anekdotischen Berichten über ein Ansprechen aller drei Zellreihen auf eine Kombinationstherapie mit G-CSF und Erythropoetin oder G-CSF und SCF, konnte kein anhaltender kurativer Effekt auf die gestörte Hämatopoese belegt werden. Eine größere prospektive Studie mit SCF und G-CSF musste wegen erheblicher Nebenwirkungen eingestellt werden (Kurzrock et al 1997). Für G-CSF konnte allerdings gezeigt werden, dass es zum Anstieg der Granulozyten führt (Kojima et al. 1991). In Kombination mit IST kann G-CSF zur Verringerung der Zahl infektionsbedingter Todesfälle beitragen, indem es die Latenz bis zum Granulozytenanstieg verkürzt (Gluckman et al. 2002). Die Zeit bis zum Ansprechen auf G-CSF ist interindividuell sehr unterschiedlich, etwa die Hälfte der Patienten zeigt unter G-CSF 5 µg/kg nach 4 Wochen einen Granulozytenanstieg, einzelne Patienten benötigen aber deutlich länger (bis 3 Monate) und höhere Dosen (10 mg/kg). Der zeitlich befristete Einsatz von G-CSF als supportive Maßnahme im Rahmen der IST kann folglich zur Verkürzung der sehr langen Agranulozytosephasen bei Patienten mit SAA und VSAA indiziert sein. Ob G-CSF in höheren Dosen oder über längere Zeit das Risiko für eine Progression in eine maligne myeloische Erkrankung erhöht, wird kontrovers diskutiert (Kojima et al. 2002). Gegenwärtig wird in einer randomisierten Studie der European Society for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) der Effekt von G-CSF auf das krankheitsfreie Überleben und die Wahrscheinlichkeit einer Progression in eine myeloische Neoplasie untersucht.
3
56
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
3.8.8
Immunsuppressive Therapie
I Die wichtigste Säule der IST ist die Behandlung mit Antilymphozytenglobulin (ALG) bzw. Antithymozytenglobulin (ATG; im Folgenden synonym gebraucht) (Young u. Barrettt 1995). ALG/ATG wird durch Immunisation von Kaninchen oder Pferden mit humanen Lymphozyten, Thymusextrakt bzw. lymphozytären Zelllinien (Jurkat) gewonnen und setzt sich aus polyklonalem, gegen verschiedenste Antigene gerichtetem IgG zusammen. Entsprechend komplex sind die Wirkungen dieses biologischen Präparats, die sich nicht auf die Immunsuppression durch Depletion von T-Lymphozyten beschränken. So konnte für ATG auch eine indirekte, zytokinvermittelte Stimulation der Hämatopoese nachgewiesen werden. Versuche, ALG durch hämatopoetische Wachstumsfaktoren, Immunsuppressiva oder monoklonale Antikörper z. B. gegen die α-Untereinheit des IL-2-Rezeptors zu ersetzen, führten bisher stets zu schlechteren klinischen Ergebnissen. Eine randomisierte Studie, die bei Patienten mit nicht schwerer AA eine Behandlung mit Ciclosporin (CSA) allein mit
der Kombination von CSA mit ATG verglich, zeigte ein signifikant besseres Ergebnis für Patienten, die die Kombination mit ATG erhalten hatten (Marsh et al. 1999). ATG muss daher als unverzichtbar in der Therapie der AA angesehen werden. In Europa wird in der Primärtherapie der AA am häufigsten Lymphoglobulin (Pferd) als Infusion über 1–12 h in einer Dosis von 0,75 ml/kg für 4–8 Tage verabreicht. Eindeutige Belege für die Überlegenheit des ALG/ATG einer bestimmten Spezies gibt es allerdings nicht. Mit anaphylaktischen Reaktionen muss insbesondere am ersten Behandlungstag gerechnet werden. Bei Patienten mit erhöhter allergischer Reaktionsbereitschaft oder entsprechenden Symptomen nach Kontakt mit Pferde- oder Kaninchenserum in der Anamnese ist besondere Vorsicht geboten. Eine Prämedikation mit H1/ H2-Blockern und Prednisolon (1–2 mg/kg) ist dringend zu empfehlen. Regelmäßig treten einige Stunden nach Infusionsbeginn Fieber, Schüttelfrost, Hautreaktionen und unterschiedlich ausgeprägte Schmerzzustände auf. Diese Symptome nehmen an Schwere im weiteren Verlauf der Therapie meist ab und sind gut mit Gaben von Paracetamol und Pred-
⊡ Tabelle 3.6. Definitionen des Ansprechens bei erworbener aplastischer Anämie Komplettes Ansprechen
Hämoglobin >12 g/dl + Thrombozyten >100.000/µl + Neutrophile Granulozyten >1.500/µl
Partielles Ansprechen
Keine Transfusionen + Thrombozyten >30.000/µl + Neutrophile Granulozyten >500/µl über Ausgangswert
Kein Ansprechen
Oben genannte Kriterien nicht erfüllt
⊡ Abb. 3.7. Kinetik des Ansprechens (partiell und komplett) auf die immunsuppressive Therapie für 147 in der Therapieoptimierungsstudie SAA 94 behandelte Kinder und Jugendliche mit erworbener aplastischer Anämie
⊡ Abb. 3.8. Bestes Ansprechen auf die immunsuppressive Therapie (IST) für 134 Kinder und Jugendliche mit schwerer aplastischer Anämie (SAA) und sehr schwerer aplastischer Anämie (VSAA), die nach der Therapieoptimierungsstudie SAA 94 behandelt wurden. Klonal Progression zu klonaler Erkrankung; NR Nichtansprechen;
PR partielles Ansprechen; CR komplettes Ansprechen. Patienten mit VSAA (<200 Granulozyten/µl) sprechen zu etwa 80% auf die IST an, 2 Drittel dieser Patienten erreichen normale Blutbildparameter; Patienten mit SAA (>200 Granulozyten/µl) sprechen zu etwa 70% an, nur 40% erreichen eine CR
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⊡ Abb. 3.9. Wahrscheinlichkeit des Überlebens nach immunsuppressiver Therapie (IST) für Patienten mit schwerer aplastischer Anämie (SAA) und sehr schwerer aplastischer Anämie (VSAA). Daten der Therapieoptimierungsstudie SAA 94. Patienten mit VSAA haben ein signifikant besseres Überleben nach IST als Patienten mit SAA (mittlere Beobachtungszeit 4 Jahre)
nisolon zu beherrschen. Prednisolon wird auch zur Behandlung der bei etwa 10% der Patienten auftretenden Serumkrankheit eingesetzt. Im Vergleich zu einer Monotherapie mit ALG zeigt eine kombinierte IST mit ALG und CSA ein signifikant häufigeres und früheres Ansprechen bei Patienten mit SAA (Frickhofen et al. 1991). In der ersten kooperativen Therapieoptimierungsstudie für Kinder mit AA in Deutschland, Österreich und der Schweiz (SAA 94) wurde die Kombination von ALG über 8 Tage, CSA für mindestens 6 Monate und G-CSF bei schwerer Granulozytopenie (SAA und VSAA) ähnlich erfolgreich eingesetzt (Führer et al. 1994). Insgesamt sprachen 80% ⊡ Abb. 3.10. Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs nach immunsuppressiver Therapie für erworbene aplastische Anämie. Die Wahrscheinlichkeit, ein Rezidiv zu erleiden, liegt bei einer mittleren Beobachtungszeit von 4 Jahren bei 31% (Daten der Therapieoptimierungsstudie SAA 94)
⊡ Abb. 3.11. Wahrscheinlichkeit für Patienten der Therapieoptimierungsstudie SAA 94, eine Progression in ein klonale Erkrankung zu erleiden. Bei 148 Patienten der Therapieoptimierungsstudie SAA 94 wurde 4-mal eine akute myeloische Leukämie und 8-mal ein MDS/persistierender aberranter Klon (Monosomie 7: n=6; Trisomie 8: n=2) diagnostiziert
der Kinder nach 3–8 Monaten auf diese Therapie partiell oder komplett an (⊡ Abb. 3.7, Tabelle 3.6). Bei einem Drittel bis der Hälfte der Patienten normalisierten sich die Blutbildwerte in der Folge (⊡ Abb. 3.8). Insbesondere die frühere Hochrisikogruppe mit VSAA, die in einer retrospektiven Analyse der EBMT-Daten von 1990 mit ATG +/– Androgenen nur eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 37% erreichte (Locasciulli et al. 1990), zeigt auf die kombinierte IST mit G-CSF ein besonders gutes Ansprechen und eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 90% (⊡ Abb. 3.9). Ähnlich gute Ergebnisse erreichte auch eine große japanische Studie mit einem vergleichbaren Therapiekonzept, allerdings unter zusätzlicher Behandlung mit Androgenen (Kojima et al. 2000). Da Androgene mit erheblichen Nebenwirkungen einhergehen und die Behandlungsergebnisse nicht wesentlich verbessern, sollte in der Primärtherapie der AA bei Kindern auf ihren Einsatz verzichtet werden. Das hohe Rezidivrisiko von etwa 30% schmälert allerdings den initialen sehr guten Therapieerfolg (⊡ Abb. 3.10; Frickhofen et al. 2003; Führer et al. 1998). Rezidive treten bevorzugt während oder kurz nach der Beendigung der CSA Therapie oder im Rahmen von viralen Infektionen auf. Etwa die Hälfte der Patienten mit Rezidiv spricht auf eine Monotherapie mit CSA an. Zeigt sich nach 3–4 Monaten kein erneutes Ansprechen, ist eine zweite Behandlung mit ATG/ALG indiziert (Schrezenmeier et al. 1993). Eine zweite ATG/ALG Behandlung kommt auch bei primärem Nicht-Ansprechen auf die erste Behandlung in Frage, für Erwachsene wird ein Erfolg in 30–60% der Fälle beschrieben (DiBona et al. 1999). Entscheidend für das Überleben der AA-Patienten ist jedoch die grundsätzliche Ansprechbarkeit durch die IST (Rosenfeld et al. 2003). Die zunehmend besseren Ergebnisse bei Kindern
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Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
mit AA nach unverwandter SZT lassen letztere bei primärem Nichtansprechen als wichtige alternative Therapieoption erscheinen. Die Wahrscheinlichkeit einer Progression in eine myeloische Neoplasie liegt in der SAA-94-Studie bei 16% (⊡ Abb. 3.11; Führer et al. 1998). Die Progression trat dabei unabhängig vom Ansprechen auf die IST auf. Bei der Hälfte der Patienten mit Progression lag eine Monosomie 7 vor. Die Patienten zeigen ein Mosaik aus normalen und chromosomal aberranten Zellen, wobei der Anteil aberranter Zellen sehr schwanken kann (Piaggio et al. 1999). Die Wahrscheinlichkeit des Übergangs in eine klonale Erkrankung liegt in einigen anderen Studien noch deutlich höher (Ohara et al. 1997, 2002; Tichelli et al. 1988), ein Phänomen, das möglicherweise die schwierige Abgrenzung gegenüber einem primären, hypoplastischen MDS widerspiegelt. 3.8.9
⊡ Abb. 3.12. Überlebenswahrscheinlichkeit nach immunsuppressiver Therapie (IST) oder Knochenmarktransplantation (KMT) innerhalb der Therapieoptimierungsstudie SAA 94. Es besteht kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Überlebenswahrscheinlichkeit zwischen IST und KMT; das späte Ereignis in der IST-Gruppe ist ein Todesfall nach KMT vom unverwandten Spender bei Nichtansprechen auf die IST
Allogene Stammzelltransplantation
! Der Ersatz der dezimierten Blutstammzellen durch Spendergewebe bietet sich als einzige sicher kurative Therapie an (Bacigalupo et al 2000).
Erste Versuche wurden mit eineiigen Zwillingen in den 60erund 70er-Jahren mit alleiniger Knochenmarkinfusion ohne konditionierende oder immunsuppressive Behandlung unternommen. Der Erfolg bei etwa 50% der Patienten bestätigte, dass das Knochenmarkstroma in der Lage ist, die Spenderzellen adäquat zu stimulieren. Die meisten Zwillinge, die das Spendermark abgestoßen hatten, zeigten nach immunablativer Konditionierung ein Engraftment. Dies belegt die pathophysiologische Bedeutung des Immunsystems in der Entstehung der AA. Nach einem eineiigen Zwilling gilt ein HLA-identisches Geschwister als idealer Spender. Die Konditionierung ist unter den speziellen Bedingungen der AA in erster Linie immunablativ, nicht myeloablativ (Chan et al. 2001). Bestrahlungsbasierte Konditionierungsregime erlauben zwar ein sicheres Engraftment, wurden jedoch wegen der höheren transplantationsassoziierten Morbidität und Mortalität und den schwerwiegenden Spätfolgen auf Wachstum, Entwicklung und Fertilität sowie der Häufigkeit von Sekundärmalignomen verlassen (Deeg et al. 1996; Socie et al. 1993). Mit sehr gutem Erfolg wird hochdosiertes Cyclophosphamid (4×50 mg/kg), zum Teil in Kombination mit ATG/ALG eingesetzt (Azuma et al. 1998; Storb et al. 1994). Eine Überlegenheit der kombinierten Konditionierung mit ATG konnte bisher nicht belegt werden. In vielen Zentren wird ATG wegen des höheren Abstoßungsrisikos eingesetzt, wenn der Patient vor Transplantation eine kritische Zahl von Transfusionen (>10 Spender) überschritten hat. Dieses Kriterium hält möglicherweise unter den veränderten Transfusionsbedingungen – ausschließliche Verwendung von leukofiltrierten und bestrahlten Blutprodukten – und der daraus resultierenden Reduktion der Sensibilisierung, einer Überprüfung nicht mehr Stand. Als Transplantat wird in erster Linie Knochenmark eingesetzt. Eine retrospektive Studie der EBMT soll klären, ob nach Transplantation mit peripheren Blutstammzellen (PBSZT) und damit einer etwa 10-fach höheren Menge an
T-Zellen, die Rate an GVHD, insbesondere chronischer GVHD, höher ist. Da AA-Patienten anders als Patienten mit malignen Erkrankungen nicht von GVH/GVL profitieren, sollte vor einem breiten Einsatz von PBSZT das Ergebnis dieser Studie abgewartet werden. Die Überlebenswahrscheinlichkeit für Kinder mit AA, die frühzeitig nach Erstdiagnose vom HLA-identischen Geschwister eine Knochenmarktransplantation (KMT) erhalten, liegt bei etwa 85% (⊡ Abb. 3.12). Das Risiko für eine höhergradige akute GVHD hat sich durch den Einsatz von CSA in Kombination mit einem kurzen Zyklus Methotrexat (Tag 1, 3 und 6) deutlich verringert (10 – 20%) (Locatelli et al. 2000). Der Versuch, die Rate an GVHD durch T-Zelldepletion zu senken, führte zu einer erheblichen Zunahme des Abstoßungsrisikos und damit zu einem schlechteren Überleben. Die chronische GVHD ist im Kindesalter nach KMT vom identischen Geschwister und bestrahlungsfreier Konditionierung selten (<10%) und meist nicht ausgeprägt. Die Abstoßung des Spendermarks ist noch immer das Hauptrisiko der KMT bei AA (bis 15%; Champlin et al. 1989; Passweg et al. 1997). Das bei AA im Rahmen der Grundkrankheit hoch aktive Immunsystem hat ein deutlich höheres Abstoßungsrisiko als bei akuten Leukämien zur Folge. Als protektiv hat sich in einigen Studien die Transplantation hoher Stammzelldosen (>4×106 CD34+ Zellen/kg KG) erwiesen. Die Abstoßungswahrscheinlichkeit kann auch durch den Einsatz bestrahlungsbasierter Konditionierungsschemata reduziert werden, allerdings auf Kosten einer höheren Rate von transplantationsassoziierten Komplikationen und Langzeitfolgen (Deeg et al. 1996; Socie et al. 1993). Eine besondere Gefährdung stellt das fehlende Engraftment bzw. die frühe Abstoßung innerhalb der ersten 30–60 Tage dar. In der sehr verlängerten Aplasiephase sind die Patienten durch schwere bakterielle und systemische Pilzinfektionen vital bedroht. Späte Abstoßungen verlaufen meist weniger foudroyant, es geht ihnen häufig eine längere Phase eines gemischten Chimärismus voraus (Casado et al. 1996; Huss et al. 1996). In großen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass bei AA nach nicht myeloablativer Konditionierung bei bis zu 50% der Patienten ein gemischter Chimärismus vorliegt. Sequenzielle, quantitative Messungen des Empfängeranteils können für eine spätere Abstoßung prädiktiv sein
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(Hoelle et al. 2003). Ob und welche Maßnahmen geeignet sein könnten, eine drohende Abstoßung zu vermeiden, ist unklar. Der Versuch einer Retransplantation nach intensivierter Konditionierung – z. B. unter Einbeziehung einer totalen Lymphknotenbestrahlung – ist, je nach Abstand zur Ersttransplantation, bei bis zu 50% der Patienten erfolgreich (McCann et al. 1994; Storb et al. 1987). Nach späten Abstoßungen kommt es häufig zu einer Erholung der autologen Hämatopoese, deren Stabilisierung durch immunsuppressive Therapie (CSA) unterstützt werden kann. Die langfristige Lebensqualität von Patienten, die als Kinder oder Heranwachsende wegen einer AA eine KMT vom HLA-identischen Geschwister erhielten, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Gleichaltriger (Eapen et al. 2000). Im Vergleich zur Transplantation vom HLA-identischen Geschwisterspender geht die Fremdspendertransplantation mit einer höheren Rate von Abstoßungen und GVHD einher (Bacigalupo et al. 2000; Camitta et al. 1989). Die Überlebenswahrscheinlichkeit für Patienten <20 Jahre liegt nach Daten des International Bone Marrow Transplant Register (IBMTR) von 1991–1999 bei 44%. Eine Verbesserung der Ergebnisse könnte durch die HLA-Typisierung auf DNA-Ebene erreicht werden. Die Modalitäten der Konditionierung und möglicher Manipulationen des Transplantates sind derzeit Gegenstand verschiedener Studien (Deeg et al. 2001; Kojima et al. 2001; Vassiliou et al. 2001; Schwinger et al. 2000). Der Transplantation vom Fremdspender sollte aber in jedem Fall mindestens eine erfolglose IST vorausgegangen sein. 3.8.10 Experimentelle Therapie
Zukunft wird es wichtig sein, Prognosefaktoren für die Wahrscheinlichkeit und Geschwindigkeit des Ansprechen auf IST zu beschreiben (Sloand et al. 2002b). Für die kleine Gruppe der Nonresponder auf IST könnte eine frühzeitige, optimierte KMT vom Fremdspender zur Verbesserung des Überlebens beitragen. Für Kinder mit HLA-identischen Geschwisterspender und vorausgesagtem schnellen Ansprechens auf IST könnte unter Umständen auch eine primär immunsuppressive Behandlung als Therapieoption in Frage kommen. 3.9
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
Die PNH ist eine erworbene klonale Störung der Hämatopoese, der somatische Mutationen im X-chromosomalem PIG-A-Gen (Phosphatidylinositol-Glycan Komplentationsklasse A) zugrunde liegen (Rosse 1997). Das PIGA-Gen kodiert für ein Protein, das für die Glycosylphosphatidylinositol (GPI)-Verankerung sehr unterschiedlicher Proteine mit der Zelloberfläche wesentlich ist (⊡ Abb. 3.13; Kap. 24). Die betroffenen Zellen produzieren keine oder geringe Mengen des GPI-Ankers, der von den verschiedenen Proteinen kompetitiv genutzt wird (Johnson u. Hillmen 2002). Zu den betroffenen GPI-verankerten Proteinen gehören Enzyme (z. B. alkalische Leukozytenphosphatase), Adhäsionsmoleküle (z. B. LFA-3), Proteine des Komplementsystems (z. B. CD59), Rezeptoren (z. B. FcγRIII/CD16), Blutgruppenantigene und andere (z. B. CAMPATH-1/CD52). Die Symptome der klassischen PNH – intravasale Hämolyse mit intermittierender Hämoglobinurie und lebensbedrohliche venöse Thrombo-
Cyclophosphamid hat sich in der Therapie verschiedenster Autoimmunerkrankungen bewährt. In einer kleinen Serie retrospektiv analysierter AA-Patienten zeigte sich auf die Behandlung mit hochdosiertem Cyclophosphamid ein ähnlich gutes Ansprechen wie auf die kombinierte Behandlung mit ATG und CSA, gleichzeitig war die Rate an Rückfällen und klonalen Erkrankungen verringert (Brodsky et al 1996). Eine prospektive randomisierte Studie musste allerdings wegen der großen Zahl akuter, insbesondere infektiologischer Komplikationen im Cyclophosphamid-Arm abgebrochen werden. Die abschließende Analyse der mit Cyclophosphamid behandelten Kohorte ergab eine im Vergleich zu ATG und CSA ähnlich hohe Progressionsrate für klonale Erkrankungen (Tisdale et al. 2000). Neuere Immunsuppressiva (z. B. Mycophenolat-Mofetil) und monoklonale Antikörper (z. B. AntiIL-2-Rezeptor-AK) werden derzeit in klinischen Studien geprüft. 3.8.11 Prognose Die Prognose eines an AA erkrankten Kindes hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Das Langzeitüberleben liegt heute nach beiden Therapieoptionen – KMT und IST – bei über 80% (Bacigalupo et al. 2000; Kojima et al. 2000). Besonders große Fortschritte konnten mit der kombinierten IST bei Kindern mit SAA erzielt werden; diese frühere Hochrisikogruppe erreicht mit CSA, ATG und G-CSF heute eine Überlebenswahrscheinlichkeit von über 90%. In
⊡ Abb. 3.13. Stark vereinfachtes Schema der Struktur der Glycosylphosphatidylinositol (GPI)-Verankerung von Proteinen in der Zellmembran. Der C-Terminus des verankerten Proteins bindet an Ethanolamin des GPI-Ankers. Der GPI-Anker besteht aus Ethanolamin, das mit einem Glykan bestehend aus 3 Mannosemolekülen und einem N-Acetylglucosamin (GlcNAc) verbunden ist. Der Komplex ist mit Phosphatidylinositol (PI) verbunden, das mit Fettsäuren in der Zellmembran verankert ist. Bei der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH) kommt die Verknüpfung des PI zum GlcNAc nicht zustande, da somatische Mutationen im PIG-A-Gen (Phosphatidylinositol-Komplementationsgruppe A) die Produktion des notwendigen Enzymkomplexes verhindern
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Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
sen – sind wahrscheinlich Folge einer verringerten Expression von CD59 (»membrane inhibitor of reactive lysis«, »protectin«) mit den Folgen einer erhöhten Sensitivität der Erythrozyten für eine komplementabhängige Lyse und einer Thrombozytenaktivierung. Die Konsequenzen der verringerten Expression anderer Oberflächenmoleküle sind unbekannt; die Redundanz biologischer Systeme mag dafür verantwortlich sein, dass nur geringe oder keine spezifischen Auffälligkeiten bekannt sind. In der Diagnostik der PNH sind der Säureserum- und Zuckerwassertest zum Nachweis einer komplementabhängigen Lyse der Erythrozyten durch die Durchflusszytometrie weitgehend abgelöst worden (Hall u. Rosse, 1996). Durchflusszytometrisch lassen sich in allen 3 Zellreihen Populationen mit unterschiedlich reduzierter Expression der GPIverankerten Proteine nachweisen. Interessanterweise haben viele Patienten mehrere PNH-Klone mit unterschiedlichen PIG-A-Mutationen (Nishimura et al. 1997; Johnson u. Hillmen 2002). Mit der hohen Sensitivität der Durchflusszytometrie konnte gezeigt werden, dass – je nach Grenzwerten und Studienkollektiv – 20–50% der AA-Patienten und 15–20% der MDS-Patienten mit refraktärer Anämie bei Diagnose einen oder mehrere PNH-Klone aufweisen (Schrezenmeier et al. 2000; Maciejewski et al. 2001; Wang et al. 2002). In einigen Studien ist die Anwesenheit eines PNH-Klons prädiktiv für ein gutes Ansprechen auf IST (Wang et al. 2002), letzteres lässt jedoch keine Aussage zu, ob der PNH Klon über die Monate und Jahre stabil bleibt, verschwindet oder expandiert. Bei der Mehrzahl der Patienten ist die Klongröße trotz Ansprechen auf IST und möglicherweise Rezidiv konstant. Diese Beobachtung weist auf die Bedeutung der PNH im Rahmen der Entstehung von AA/MDS hin und spricht gegen einen Überlebensvorteil der PNH-Zellen unter IST (so genannte »Immune-escape«-Theorie; Maciejewski et al. 2001). Interessanterweise konnten GPI-Defizienz und PIG-A-Mutationen auch in wenigen Granulozyten Gesunder nachgewiesen werden (Araten et al 1999). PIG-A-Mutationen allein scheinen keine PNH auszulösen. Welche Rolle einem hypozellulärem Knochenmark zukommt, muss offen bleiben. Neben dem AA/PNH- und MDS/PNH-Komplex stellt die klassische hämolytische PNH (Hillmen et al. 1995) ein Ende des Spektrums der möglichen PNH Manifestationen dar.
Den einzelnen Formen von erworbenen und angeborenen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen liegen unterschiedliche molekulare Mechanismen zugrunde. Dementsprechend sind auch die therapeutischen Prinzipien sehr verschieden. Besonders bei den angeborenen Formen ist in den kommenden Jahren eine deutliche Verbesserung unseres Verständnisses der Pathophysiologie der einzelnen Erkrankungen zu erwarten. Es wird eine Herausforderung für den pädiatrischen Hämatologen sein, sein diesbezügliches Wissen auf dem aktuellen Stand zu halten und sich so fortzubilden, dass die neuen Erkenntnisse zeitnah in die Diagnostik und Therapie der ihm anvertrauten Patienten mit diesen seltenen Erkrankungen eingehen können.
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65 3 · Aplastische Anämien
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3
I
Hämatopoetische Stammzelltransplantation W. Ebell
4.1
Terminologie und Grundlagen – 66
4.1
Terminologie und Grundlagen
4.1.1 4.1.2
Terminologie – 66 Grundlagen – 66
4.1.1
Terminologie
4.2
Immungenetik
4.2.1 4.2.2
Histokompatibilitätskomplex – 67 HLA-Typisierung – 68
– 67
4.3
Spenderauswahl
4.3.1 4.3.2 4.3.3
Kernfamiliensuche – 69 Erweiterte Familiensuche – 69 Unverwandte Spendersuche – 69
4.4
Transplantatgewinnung – 69
4.4.1 4.4.2 4.4.3
Knochenmark – 70 Periphere Blutstammzellen – 70 Nabelschnurblut-Stammzellen – 71
Der klassische Terminus der Knochenmarktransplantation ist zugunsten des Überbegriffs hämatopoetische Stammzelltransplantation (»hematopoietic stem cell transplantation«, HSCT; Synonym: »hematopoietic cell transplantation«, HCT) verlassen worden, nachdem das Knochenmark nicht mehr die alleinige Quelle der Stammzellgewinnung darstellt. So lassen sich heute nach der Art der Zellgewinnung Knochenmarktransplantationen (KMT; »bone marrow transplantation«, BMT) von peripheren Blutstammzelltransplantationen (»peripheral blood stem cell transplantation«, PBSCT) und Nabelschnurbluttransplantationen (»cord blood transplantation«, CBT; Synonym: Plazentarestbluttransplantation) unterscheiden ( Abschn. 4.4.3).
– 69
4.5
Transplantatmodifikation
4.5.1 4.5.2
Zellseparation – 71 Kryokonservierung – 72
– 71
4.6
Konditionierung
4.6.1 4.6.2
Radiokonditionierung – 72 Chemokonditionierung – 73
4.7 4.8 4.9
Lymphohämatopoetische Rekonstitution – 74 Allgemeine supportive Maßnahmen – 74 Transplantationskomplikationen und spezielle Maßnahmen – 75
4.9.1 4.9.2 4.9.3 4.9.4
Abstoßung – 75 Graft-versus-host-Reaktion – 75 Infektionskomplikationen – 76 Organtoxizität und Spätschäden – 77
4.10
Transplantationsindikationen und -ergebnisse – 78
4.10.1
Leukämien, myelodysplastische Syndrome und maligne Lymphome – 78 Solide Tumoren – 79 Aplastische Anämien – 79 Konstitutionelle Aplasiesyndrome – 79 Zytopenien, Zytopathien und Immundefekte Metabolische Erkrankungen – 80
4.10.2 4.10.3 4.10.4 4.10.5 4.10.6
Literatur
– 72 Definition
– 79
– 81
In diesem Kapitel sollen die Prinzipien der hämatopoetischen Stammzelltransplantation als lebenserhaltende Maßnahme für zahlreiche hämatologische und onkologische Erkrankungen dargestellt werden. In den krankheitsspezifischen Kapiteln wird dann für die jeweiligen Erkrankungen eine kritische Bewertung der Transplantation im Kontext alternativer Therapieoptionen bzw. des Gesamtbehandlungskonzepts vorgenommen.
Hinsichtlich des Spenders muss zunächst grundsätzlich zwischen der autologen Transplantation, also der Nutzung eigener, meist kryokonservierter Zellen und der allogenen Transplantation, der Gabe von Zellen einer fremden Person, unterschieden werden. Eine seltenere Variante ist die syngene Transplantation, also die Zellübertragung von einem eineiigen Zwilling.
Bei den allogenen Transplantationen kann es sich um einen HLA-genotypisch oder phänotypisch identischen Familienspender (»matched family donor, MFD; Synonym: »matched related donor«, MRD), oder eingeschränkter einen HLA-genotypisch oder phänotypisch identischen Geschwisterspender (»matched sibling donor«, MSD), einen HLA-differenten Familienspender (»mismatched related donor«, MMRD), oder schließlich einen HLA-phänotypisch möglichst angepassten unverwandten Spender (Fremdspender; besser: unverwandter Voluntärspender; »matched unrelated donor«, MUD) handeln ( Abschn. 4.2). Weitere Unterscheidungsmerkmale der Transplantate betreffen Methoden der Aufarbeitung (Stammzellanreicherung, T-Zelldepletion, Kryokonservierung etc.). 4.1.2
Grundlagen
Das Prinzip der allogenen Transplantation ist der Ersatz eines defekten oder maligne transformierten lymphohämatopoetischen Systems durch ein gesundes Spendersystem. Dieses setzt eine myeloablative und immunsuppressive Vorbehandlung (Konditionierung) zur Beseitigung des defekten Systems und Vermeidung einer Abstoßung sowie einen
67 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
kompatiblen und gesunden Spender voraus. Bei erfolgreicher Transplantation werden dann in der Regel alle Zellen des Empfängers mit hämatopoetischem Ursprung den Phänotyp des Spenders tragen. Das betrifft auch die Organmakrophagen, was die Möglichkeit eröffnet, funktionstüchtige Zellen in Organe mit metabolischen Störungen einzuschleusen. Bei der Transplantation von Patienten mit Leukämien bietet das neue Immunsystem des Spenders zudem einen antileukämischen Effekt, der Spender-gegen-Leukämie-Reaktion (»graft versus leukemia reaction«, GVL-Reaktion) genannt wird. ! Die allogene Transplantation hat ein breites Indikationsspektrum bei kongenitalen oder erworbenen, malignen oder nicht-malignen Störungen der Blutbildung, des Immunsystems und des Stoffwechsels.
Demgegenüber stellt die autologe Transplantation eine Therapiemaßnahme dar, die bei einer intensivierten Radio-/ Chemotherapie (Hochdosistherapie) in der Onkologie eine zügige hämatologische Rekonstitution durch Rückgabe eigener Stammzellen erlaubt. Sie setzt voraus, dass zuvor möglichst tumorfreie und funktionstüchtige Stammzellen gewonnen und kryokonserviert werden können. Ihr fehlt der oben genannte antileukämische bzw. antitumoröse, immunologische Effekt des allogenen Transplantats und spielt somit in der Pädiatrie eher eine untergeordnete Rolle. Ändern mag sich dies, wenn gentherapeutisch modifizierte autologe Zellen in der Zukunft erfolgreich bei monogenetischen Erkrankungen einsetzbar sein sollten ( Kap. 55). Die Transplantation blutbildender Stammzellen basiert grundsätzlich auf experimentell hämatologischen bzw. tierexperimentellen Untersuchungen, die 25–50 Jahre zurückliegen (Thomas 1999). Die Idee der allogenen Transplantation geht dabei auf tierexperimentelle Beobachtungen zurück, die zeigen konnten, dass letal bestrahlte Mäuse nach Infusion von Knochenmarkszellen eines fremden Mausstamms überleben können (Lorenz et al. 1951), eine spenderspezifische Immuntoleranz entwickeln und somit Hauttransplantate dieser Spendermaus akzeptieren (Main u. Prehn 1955). Insbesondere in Hundemodellen wurde das Prinzip der autologen Transplantation (Reinfusion kryokonservierter Zellen) evaluiert (Mannik et al. 1960). Die intravenöse Zellapplikation wurde als Zugang der Wahl beschrieben (Thomas et al. 1957). Für die Abstoßung von allogenen Transplantaten (Synonym: Empfänger-gegen-Spender-Reaktion; »host versus graft reaction«, HVG-Reaktion) und umgekehrt die Spendergegen-Empfänger-Reaktion (»graft versus host reaction«, GVH-Reaktion) wurden genetisch fixierte Histokompatibilitätsfaktoren verantwortlich gemacht (Storb et al. 1971). Es verwundert daher nicht, dass der klinische Erfolg der allogenen Transplantation beim Menschen parallel zur Entdeckung des Major-Histokompatibilitätskomplexes (»major histocompatibiliy complex«, MHC-System) bzw. des humanen Leukozytenantigensystems (»human leukocyte antigen system«, HLA-System; Abschn. 4.2.2) einhergeht. Zur Typisierung standen zunächst serologische Methoden und für den HLA-Klasse-II-Komplex die gemischte Lymphyzytenkultur (»mixed-lymphocyte culture«, MLC) zur Verfügung (van Rood u. van Leeuwen 1963). Nach ersten frustranen allogenen bzw. syngenen Transplantationsversuchen (Thomas et al. 1957; Mathe et al. 1959) fanden mit Hilfe der mittlerweile mögli-
chen immungenetischen Spenderauswahl in schneller Folge erfolgreiche Knochenmarktransplantationen bei Kindern mit schwerem kombinierten Immundefekt (»severe combined immunodeficiency«, SCID; Gatti et al. 1968) und WiskottAldrich-Syndrom (WAS; Bach et al. 1968) statt. In den gleichen Zeitraum fallen die ersten erfolgreichen Transplantationen bei Leukämien (Thomas et al. 1971), weltweit gefolgt von einer dramatischen Expansion dieses Therapieverfahrens in den nächsten 30 Jahren, bei gleichzeitiger Zunahme des Indikations- und Altersspektrums sowie der potenziellen Spender durch Nutzung HLA-differenter Familienspender (Reisner et al. 1983) und – mehr noch – HLAkompatibler, unverwandter Spender. Diese werden durch weltweit vernetzte Fremdspenderbanken (Hansen et al. 1980) vermittelt, mit inzwischen mehr als 8 Millionen Freiwilligenspendern (Bone Marrow Donors Worldwide, BMDW, Leiden; Annual Report 2002). Weltweit werden gegenwärtig mehr als 45.000 Transplantationen pro Jahr bei Kindern und Erwachsenen durchgeführt, davon ca. 15.000 allogene und 30.000 autologe Transplantationen. In Deutschland sind es jährlich ca. 3.500 Patienten, die ein hämatopoetisches Stammzelltransplantat erhalten, darunter etwa 400 Kinder (Gratwohl et al. 2003). 4.2
Immungenetik
4.2.1
Histokompatibilitätskomplex
Die Immuntoleranzentwicklung im Rahmen der allogenen Transplantation ist wesentlich von humanen Histokompatibilitätsantigenen innerhalb oder außerhalb des Major-Histokompatibilitätskomplexes (MHC/HLA-System, Übersicht bei Mickelson u. Petersdorf 1998) bestimmt. HLA-Merkmale finden sich auf der Oberfläche fast aller Körperzellen. Sie werden von fremden T-Lymphozyten erkannt. Die individuellen Gene, die für die HLA-Merkmale zuständig sind, werden als »Allele« bezeichnet. Die MHC-Gene liegen auf dem kurzen Arm von Chromosom 6, und zwar als Paar, von dem die eine Hälfte (Haplotyp) vom Vater, die zweite von der Mutter stammt. Auf jedem Haplotyp befinden sich wenigstens 6 verschiedene HLAMerkmalsgruppen, die für die Transplantation bedeutsam sind. Die Merkmale HLA-A, -B und -C werden als Klasse I zusammengefasst, die Merkmale HLA-DR, -DQ und -DP als Klasse II (⊡ Abb. 4.1). Die Klasse-I-Determinanten bestehen an der Zelloberfläche aus einer schweren, polymorphen α-Polypeptidkette, die von den HLA-A-, -B- und -C-Genen auf Chromosom 6 kodiert werden, und einer zweiten, nicht-polymorphen, auf Chromosom 15 lokalisierten, leichten Kette, dem so genannten β-2-Mikroglobulin. Die Klasse-II-Determinanten bestehen aus 2 Polypeptidketten, die jeweils von den HLA-DR-, -DQ- und -DP-α- bzw. -β-Genen auf Chromosom 6 kodiert werden. Die schweren, nicht-polymorphen DR-α-Ketten bzw. die schweren, polymorphen DQ- und DP-α-Ketten sind an leichte, polymorphe DR-, DQ- bzw. DP-β-Ketten gebunden. Die DR-Merkmale entstehen so aus einer Kombination des Genpaars DRA/ DRB1. Gelegentlich kommen die Merkmale DR52 durch die Gen-Kombination DRA/DRB3, DR53 durch die Gen-Kombi-
4
68
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
I
⊡ Abb. 4.1. HLA-System
nation DRA/DRB4, sowie DR51 durch die Genkombination DRA/DRB5 hinzu. Die DQ- und DP-Merkmale entstehen aus einer Kombination der Genpaare DQA1/DQB1 sowie DPA1/ DPB1. Die HLA-Merkmale (Antigene) und ihre zugehörigen Gene (Allele) werden nach einer festen Übereinkunft benannt. Die serologisch typisierten Antigene an der Zelloberfläche erhalten eine zweistellige Zahl (z. B. A02, DR04, DR11 etc.). Die Gentypisierung der HLA-Allele resultiert hingegen in einer 4- oder mehrstelligen Zahl. Zusätzlich weist ein Sternchen darauf hin, dass eine Gen (DNA)-Typisierung durchgeführt wurde (z. B. A*0201, A*0202, DRB1*0401 etc.). Eine solche DNA-Typisierung kann niedrig-auflösend sein (z. B. A*02XX, DRB1*04XX etc.) und entspricht hinsichtlich der Qualität in etwa der serologischen Typisierung, oder sie kann idealerweise hoch-auflösend sein (z. B. A*0201, A*0202 etc). Die große Zahl der HLA-Allele und die noch größere Kombinationsmöglichkeit der Allele bei der Zusammensetzung individueller HLA-Haplotypen führt theoretisch zu einer HLA-A-, -B-, -C-, -DR-, -DQ- und -DP-Genotyp-Vielfalt, die die Zahl der Erdbevölkerung übersteigt. Andererseits sind einige HLA-Merkmale frequenter als andere, und bestimmte Haplotypen setzen sich überzufällig häufig aus den gleichen Merkmalen zusammen, was man als »linkage disequilibrium« bezeichnet. So besteht für den Haplotyp HLAA01, B08, DR03 eine rechnerische Häufigkeit von 0,02%. Die tatsächlich beobachtete Frequenz liegt jedoch bei 6,1%. Zwischen den Genorten der HLA-Klasse-I- und -KlasseII-Antigene befinden sich auf dem Chromosom 6 die Genorte für Proteine des Komplementsystems, Strukturgene der 21-Hydroxylase und des Tumornekrosefaktors, die als KlasseIII-Antigene zusammengefasst werden. Zudem sind neben den »klassischen« HLA-Klasse-I-Loci A, B und C weitere beschrieben worden (HLA-E, -F, -G u. a.) mit limitiertem Polymorphismus oder Pseudogen-Charakter. Aktuelle Listen der HLA-Alloantigene und -Allele lassen sich im Internet z. B. unter dem Stichwort »WHO nomenclature committee report for factors of the HLA system« (Schreuder et al. 2001) oder in den Berichten der HLA Informatics Group des Anthony Nolan
Research Institutes in London unter (www.anthonynolan. org.uk) finden. Im Juli 2003 war dort die folgende Anzahl von Allelen beschrieben. ▬ Klasse I: HLA-A: 282, HLA-B: 540, HLA-C: 136, HLA-E: 6, HLA-F: 2, HLA-G: 15, ▬ Klasse II: HLA-DRA: 3, HLA-DRB1: 342, HLA-DRB2–9: 76, HLA-DQA1: 24, HLA-DQB1: 55, HLA-DPA1: 20, HLADPB1: 106, HLA-DMA: 4, HLA-DMB: 6, HLA-DOA: 8, HLA-DOB: 8. 4.2.2
HLA-Typisierung
Die konventionelle serologische HLA-Testung (Mikrolymphozytotoxizitätstest) war der Standard über mehr als 30 Jahre. Sie ist prinzipiell niedrig-auflösend und kann Hauptantigene, z. B. B40, als auch Untergruppen (so genannte »splits«) – z. B. B40(60) versus B40(61) – unterscheiden. Die serologische Typisierung dient heute in der Regel allenfalls noch der Erstauswahl eines Spenders, v. a. innerhalb der Familie. Um alle HLA-Allele möglichst exakt feststellen zu können, ist eine Gentypisierung nötig, die bei der HLA-Klasse II inzwischen auch alle funktionellen Tests wie die MLC ersetzt hat. Die Gentypisierung deckt entweder direkt die individuelle HLA-Sequenz der Nukleinsäuren auf und wird dann als »DNA-Sequenzierung« bezeichnet, oder sie bedient sich indirekter Methoden mittels SSP (»sequence-specific primer«) oder SSOP (»sequence-specific oligonucleotide probe«), die auf dem Einsatz spezifischer DNA-Primer bzw. -Sonden beruhen. Hinzu kommt die Polymerase-Kettenreaktion (PCR), die zuvor das zu untersuchende DNA-Segment vervielfältigt (amplifiziert). Die Qualität der indirekten Methoden mittels SSP bzw. SSOP entspricht einer niedrig-, mittelgradig- oder hoch-auflösenden Typisierung, je nach Zahl der eingesetzten »Primer« bzw. Sonden. Die Sequenzierung ist demgegenüber die präziseste hochauflösende Technik, aber auch die teuerste und aufwendigste Methode, und somit schwerlich in großem Stil durchführbar. Nicht für jedes molekulargenetisch definierte Allel ist bisher ein serologisches Äquivalent bekannt.
69 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
4.3
Spenderauswahl
Immungenetische Spenderauswahlverfahren, Kompatibilitätskriterien und Transplantationsverfahren sind im ständigen Fluss und bedürfen hinsichtlich der Empfehlungen einer regelmäßigen Überarbeitung. So geben u. a die Deutsche Gesellschaft für Immungenetik in Zusammenarbeit mit der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Knochenmark- und Blutstammzelltransplantation (Ottinger at al. 2001) oder das National Marrow Donor Program in den USA (Hurley et al. 2003) solche Konsensuspapiere heraus, auf die sich auch die hier gemachten Empfehlungen gründen. 4.3.1
Kernfamiliensuche
! Der ideale Spender für eine allogene, hämatopoetische Stammzelltransplantation ist weiterhin ein HLA-genotypisch identisches Geschwisterkind.
Die Chancen auf einen solchen Spender liegen bei 20–30%. Bei genetischen Erkrankungen ist darauf zu achten, dass das potenzielle Spenderkind nicht ebenfalls betroffen ist. Bei Einleitung der Spendersuche sollten Patient, alle Geschwister und die Eltern typisiert werden, um mittels Segregationsanalyse der mütterlichen und väterlichen Haplotypen die Patiententypisierung abzusichern. Dabei ist die Typisierung der HLA-A-, -B-, -DRB1- und -DQB1-Merkmale obligat. Sie kann niedrig-auflösend sein und im Rahmen der Erstsuche serologisch, besser aber gleich molekulargenetisch erfolgen. Vor Transplantation sollte in jedem Fall eine Bestätigungstypisierung des Spender/Empfängerpaares mittels DNATestung vorgenommen werden. 4.3.2
Erweiterte Familiensuche
Gibt es kein HLA-genotypisch identisches Geschwisterkind, macht aus heutiger Sicht eine extensive, in der Regel zeit- und kostenaufwendige Suche nach einem phänotypisch komplett- oder partiell kompatiblen Familienspender nur in Ausnahmen Sinn, z. B. bei konsanguinen Familien oder Fehlen eines gut passenden unverwandten Spenders. Die Aussichten für eine erfolgreiche erweiterte Familiensuche liegen unter 10% (Ottinger et al. 1994). Bei allen HLA-nicht-identischen Spender/Empfänger-Kombinationen ist eine hoch-auflösende, molekulargenetische Testung der HLA-Klasse-I- und -IIMerkmale notwendig. Akzeptabel für ein unmodifiziertes Transplantat gilt ein Spender mit maximal einer Differenz an den Genorten HLAA, -B, -C, -DRB1 oder -DQB1. Inzwischen ziehen die meisten Transplantationszentren einen gut passenden, unverwandten Spender einem partiell identischen Familienspender vor (Ottinger et al. 2003) oder erwägen bei Fehlen eines solchen gleich eine HLA-haploidentische Transplantation z. B von Eltern auf Kind. Diese ist in den letzten Jahren durch Optimierung der T-Zell-Depletionsverfahren und Erhöhung der Stammzelldosis mittels Mobilisierung peripherer Blutstammzellen über die schweren Immundefekte hinaus (Reisner et al. 1983; Friedrich et al. 1985) auch für andere In-
dikationen erfolgreicher geworden (Aversa et al. 1998; Handgretinger et al. 2001). 4.3.3
Unverwandte Spendersuche
Die Suche nach einem kompatiblen, unverwandten Spender gilt heute für die meisten Indikationen als Option der zweiten Wahl (nach Geschwisterspendern). Hierfür ist eine mittlere Such- und Bereitstellungszeit von wenigstens 6–12 Wochen einzukalkulieren. Die Suchen laufen über nationale Spenderzentralen (in Deutschland das Zentrale Knochenmarkspenderregister, ZKRD, Ulm; in Österreich das österreichische Knochenmark- und Stammzellregister, Wien) und binden alle gegenwärtig mehr als 50 internationalen Spenderregister in 36 Ländern sowie etwa 30 Nabelschnurblut-Stammzellbanken ein. Somit verfügt man derzeit über mehr als 8 Millionen Voluntärspender, die wenigstens für die HLA-Merkmale A und B, in 60% auch für DR typisiert sind. Die Chancen auf einen akzeptablen Spender liegen je nach gewünschtem Grad der HLA-Übereinstimmung bei 50–80%, bei einigen ethnischen Minoritäten aber deutlich darunter. Vor Initiierung einer unverwandten Spendersuche ist ein Votum des Transplantationszentrums einzuholen und eine molekulargenetische HLA-Zweittypisierung in einem speziell zertifizierten, immungenetischen Labor mittels einer hoch-auflösenden, molekulargenetischen Testung der HLAMerkmale A, B, C, DRB1, DRB3, DRB4, DRB5, DQB1, möglichst auch DPB1, durchzuführen. Angestrebt wird die Identität der Merkmale A, B, C, DRB1 und DQB1 in GVH- und HVG-Richtung. Eine singuläre Differenz dieser Merkmale (möglichst mit ausgeprägter Sequenzhomologie) gilt als akzeptabel. Die Akzeptanz einer solchen oder gar ausgeprägteren Differenz hängt von zahlreichen weiteren Faktoren ab, z. B. Grundkrankheit, Dringlichkeit, Alter, Komorbidität, Virusrisikokonstellation und Transplantatmodifikation. Inwieweit hochaufgelöste Alleldifferenzen der HLA-Merkmale A und B oder grundsätzliche Differenzen der HLA-Genorte für C, DRB3, DRB4, DRB5, DQA1, DPA1 und DPB1 für die Transplantation relevant sind, bleibt kontrovers und Gegenstand großer Multizentren- oder Registerstudien (Petersdorf et al. 1998; Sasazuki et al. 1998; Prasad et al. 1999; Petersdorf u. Gooley et al. 2001; Petersdorf u. Hansen et al. 2001; Morishima et al. 2002; Wade et al. 2003). ! Die Suche nach einem unverwandten Voluntärspenders ist erst dann erfolgreich abgeschlossen, wenn eine Retypisierung die HLA-Kompatibilität bestätigt, der Spender erneut und definitiv zugesagt und eine aktuelle internistische Untersuchung keine Kontraindikation ergeben hat, somit eine Spenderfreigabe erfolgt ist. Alle persönlichen Spenderdaten sind anonymisiert und unterliegen der Schweigepflicht. Direkte Kontakte zwischen Spender und Empfänger sind bei gegenseitigem Wunsch erst nach einer definierten Zeit möglich.
4.4
Transplantatgewinnung
Die in Tabelle 4.1 aufgeführten Spender- und Empfängervoruntersuchungen sollten vor Transplantation des Patienten
4
70
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
⊡ Tabelle 4.1. Spender- und Empfänger Voruntersuchungen vor allogener Transplantation
Spender
Empfänger
Sorgfältige Anamnese (Lebensweise, Infektionen, Transfusionen, Medikamente, Narkosezwischenfälle, Schwangerschaften, schwere akute oder chronische bzw. kongenitale Erkrankungen, Impfstatus etc.)
Sorgfältige Anamnese (krankheitsadaptiert)
Klinische Untersuchung
Klinische Untersuchung
Komplettes Blutbild
Komplettes Blutbild
Gerinnungsstatus
Gerinnungsstatus
Klinische Chemie
Klinische Chemie
Immunglobuline
Immunglobuline Endokrinologie (Hypophyse, Schilddrüse, Nebenniere, Gonaden)
Virusserologie und Direktnachweise (Hepatitisviren, HIV, HTLV, Herpesvirus-Gruppe, Adenoviren, Respirationsviren etc.)
Virusserologie und Direktnachweise (Hepatitisviren, HIV, HTLV, Herpesvirus-Gruppe, Adenoviren, Respirationsviren etc.)
Toxoplasmoseserologie
Toxoplasmoseserologie Impftiter Oberflächen- und Katheterkulturen (Bakterien und Pilze)
DNA-Fingerprinting (Chimärismus-Marker)
DNA-Fingerprinting (Chimärismus-Marker)
Blutgruppe, mit Untergruppen
Blutgruppe, mit Untergruppen
HLA-Retypisierung
HLA-Retypisierung Thrombo- und erythrozytäre Antikörper
EKG, Herz-Echo
EKG, Herz-Echo
Thoraxröntgen
Thoraxröntgen Evtl. Schädel- und Thorax-CT, Röntgen von Handwurzel und NNH Bauchsonographie Zahnstatus
Ggf. Schwangerschaftstest
vorliegen, einige Patientendaten zur optimalen Spenderwahl und Abschätzung der Transplantationsrisiken schon vor Einleitung der Spendersuche (Gewicht, HLA-Typisierung, Blutgruppe, Serostatus kritischer Viren wie CMV, EBV u. a.) 4.4.1
Knochenmark
! Die Knochenmarkentnahme ist das klassische Verfahren der Stammzellgewinnung. Sie erfolgt im Rahmen eines 1- bis 2-tägigen, stationären Aufenthalts in Vollnarkose durch multiple Aspirationen im Beckenkammbereich.
Hinsichtlich der Entnahmemenge werden (2)–4–6×108 kernhaltige Zellen (»total nucleated cells«, TNC)/kg KG des Empfängers bei allogenen Spenden, bzw. 1–2×108 kernhaltige Zellen bei autologen Entnahmen angestrebt. Dabei enthält 1 ml Knochenmark eines gesunden Spenders – je nach Alter – 15–30×106 TNC. Bei autologen Entnahmen nach Chemotherapie liegt die TNC-Zahl/ml deutlich niedriger. Die mittels Fluoreszenz-aktivierter Zellsortierung (FACS) bestimmte CD34+-Zellpopulation (0,5–5,0% der Knochenmarkzellen) als Surrogat-Marker für frühe Progenitorzellen ( Kap. 1) spielt bei der Mengenbemessung des benötigten Knochenmarks nicht die gleiche Rolle wie bei den anderen Stammzellquellen. Dennoch ist eine solche Bestimmung zur Qualitäts-
Ggf. Schwangerschaftstest
kontrolle und zum Vergleich mit den anderen Zellarten als gut standardisierter Test hilfreich. Der Blutverlust eines gesunden, allogenen Spenders bei der Knochenmarkentnahme sollte durch eine zuvor gewonnene Eigenblutkonserve ausgeglichen werden. Das entnommene Mark wird mit einer Konservierungs-/Antikoagulationslösung (z. B. ACDA oder CPDA) im Verhältnis 1:10 und/ oder Heparin (ca. 10 E/ml Knochenmark) versetzt, von Knochenmarkbröckeln mittels Filtrierung gereinigt und bei allogenen Transplantaten in der Regel am Tag der Entnahme über einen zentralen Zugang intravenös transfundiert, bei autologen Transplantaten zunächst kryokonserviert ( unten). Für den Knochenmarkspender ist die Maßnahme mit leichten und etwa 14-tägigen Befindlichkeitsstörungen (Müdigkeit, Schmerzen an der Punktionsstelle) verbunden, während bedrohliche Komplikationen mit einer Frequenz von 0,1–0,3% und singuläre Todesfälle (Risiko 1:15–20.000) angegeben werden (Bortin u. Buckner 1983; Sanders et al. 1987; Stroncek et al. 1997). 4.4.2
Periphere Blutstammzellen
Unter normalen physiologischen Bedingungen liegt die Frequenz von hämatopoetischen CD34+-Progenitoren im peripheren Blut von gesunden Spendern bei 0,06% der kernhaltigen Zellen. Zu einer kurzfristigen Ausschwemmung dieser
71 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
Zellen und einem signifikanten Anstieg kommt es in der Erholungsphase nach myelosuppressiver Chemotherapie, nach Gabe von Zytokinen (z. B. rekombinantem, humanen »granulozyte colony stimulating factor«, rhG-CSF, bzw. »granulocyte/monocyte colony stimulating factor«, rhGM-CSF) oder nach Kombination von beidem (Gianni et al. 1989). Nach tierexperimenteller Pionierarbeit (Körbling et al. 1979) fand diese Art der Stammzellgewinnung einen zunehmenden Eingang zunächst in die autologe (Haas et al. 1990; Schmitz et al. 1996), dann auch in die allogene Transplantation beim Menschen (Bensinger et al. 1995; Anderlini et al. 1999). Zur autologen Mobilisierung von Stammzellen bei Tumorpatienten bietet die Kombination von diversen Zytostatika (z. B. Cyclophosphamid 1–3 g/m2 i.v.) und einer konsekutiven Zytokingabe (z. B. rhG-CSF, 3–10 µg/kg, 8–12 Tage s.c., Beginn 1–5 Tage nach Zytostase) eine höhere Stammzellausbeute als nach alleiniger Zytostatika- oder Zytokinmobilisierung. Bei der allogenen Spende erfolgt naturgemäß eine ausschließliche Zytokingabe (vorzugsweise rhG-CSF, 10–16 µg/kg in 1–2 Dosen s.c., 4–6 Tage). Anschließend erfolgen 1–2 (evtl. mehr) Leukapheresen, bei denen je 9–15 l Vollblut (2- bis 3-faches Blutvolumen) prozessiert werden (Malachowski et al. 1992). Bei dieser Stammzellquelle orientiert sich die zu entnehmende Zellmenge an der CD34+-Fraktion, und 1–2×106 CD34+-Zellen/kg werden bei der autologen bzw. 4–6×106 CD34+-Zellen/kg KG des Empfängers bei der allogenen Spende angestrebt. Periphere Blutstammzellen (PBSC) unterscheiden sich qualitativ von Knochenmarkzellen durch einen höheren Anteil an so genannten determinierten Stammzellen (»committed progenitors«), die zu einer schnelleren hämatopoetischen Regeneration führen (Bensinger et al. 2001). Durch multiple Apheresen lässt sich im Gegensatz zur Knochenmarkentnahme zudem eine Stammzellquantität (>10×106 CD34+-Zellen/kg) gewinnen, die essenziell für T-Zell-depletierte, HLA-haploidentische Transplantationen ist (Aversa et al. 1998; Handgretinger et al. 2001). Solche peripheren Stammzelltransplantate enthalten andererseits unmanipuliert eine etwa 10-fach höhere T-Zellzahl. Vergleichende Studien zeigen, dass dies zwar nicht mit einer erhöhten akuten GVHD, jedoch mit einem höheren chronischen GVHD-Risiko einhergehen kann (Ringdén et al. 1999; Champlin et al. 2000; Anderson et al. 2003). So wird krankheitsspezifisch noch nachzuweisen sein, welche Stammzellquelle aus der Patientensicht tatsächlich die ideale ist. Für den Spender hat das Verfahren zweifellos den Vorteil der fehlenden Narkosebedürftigkeit und Hospitalisierung. Andererseits führt die Applikation des notwendigen Zytokins zu einem deutlichen und häufig von Knochenschmerzen begleiteten Leukozytenanstieg (70.000–80.000/µl). Zudem sind 2 ausreichend große venöse Zugänge erforderlich, was zusammengenommen ebenfalls bei der Mehrzahl der Spender zu gewissen Kreislaufbelastungen sowie leichteren bis mittelschweren Allgemeinsymptomen führt (Todesrisiko ca. 1:20.000; Stroncek et al. 1996; Majolino et al. 1997). Klonale Erkrankungen oder Leukämien sind nach rhG-CSF-Mobilisierung von gesunden Spendern bisher nicht bekannt geworden. Periphere Stammzellapheresen stellen auch bei pädiatrischen Tumorpatienten, zumal mit liegendem zentralvenösen
Verweilkatheter, die Methode der Wahl zur Gewinnung autologer Zellen dar. Der Vorteil des peripheren Zugangs beim gesunden Kind, das allogene Stammzellen für ein Geschwister spendet, ist allerdings nicht so überzeugend wie bei einem erwachsenen Spender. 4.4.3
Nabelschnurblut-Stammzellen
1989 wurden erstmals Stammzellen aus Nabelschnurblut als potenzielles allogenes Transplantat beschrieben (Broxmeyer et al. 1989) und zunächst bei Fanconi-Anämie-Patienten im Rahmen von Geschwistertransplantationen erprobt (Gluckman et al. 1989). In der Folge wurde auch hier ein Netzwerk von Nabelschnurblut-Stammzellbanken für unverwandte Transplantationen aufgebaut (z. B. EUROCORD in Europa). Nabelschnurblut-Stammzellen unterscheiden sich nicht prinzipiell, sondern graduell von Knochenmark- oder peripheren Blutstammzellen. Sie enthalten naivere T-Zellen, was bei unverwandten Transplantaten zu weniger GVH-Reaktionen, andererseits zu einem erhöhten Infektionsrisiko sowie einer verzögerten lymphatischen und hämatopoetischen Rekonstitution führt. Auch wenn größere HLA-Disparitäten akzeptabel erscheinen, korrelieren die Transplantationergebnisse bei dieser Stammzellquelle mit dem Grad der Histokompatibiltät. Aus der kindlichen Plazenta können unmittelbar nach der Abnabelung ca. 40–250 ml Restblut gewonnen werden, mit 2–50×108 TNC; 0,2–50×105 CFU-GM und 0,5–8×106 CD34+-Zellen. Diese Zellmengen sind für die Transplantation von Säuglingen und Kleinkindern ausreichend, für Jugendliche und Erwachsene aber problematisch niedrig. Die Zellzahlen sollten möglichst über 2–3×107 TNC bzw. 1,5×105 CD34+-Zellen/kg KG des Empfängers liegen. Bei niedrigeren Zahlen ist das Abstoßungsrisiko hoch (Kurtzberg et al. 1996; Rubinstein et al. 1998; Gluckman 2001; Rocha et al. 2001; Wagner u. Barker et al. 2002). 4.5
Transplantatmodifikation
4.5.1
Zellseparation
Bei allogenen Transplantationen erfordern Blutgruppendifferenzen von Spender und Empfänger im AB0-System zur Vermeidung einer Hämolyse eine Plasmadepletion durch Zentrifugation (bei Minor-Differenz) bzw. eine Erythrozytendepletion durch Dextransedimentation (bei MajorDifferenz). Aufwendiger sind T-Zelldepletionen eines Transplantats als probate Methode der GVHD-Vermeidung. Sie umfassen physikalische Trennmethoden sowie auf Antikörpern basierende Methoden der Elimination (Übersicht bei Kernan 1998). Sie führen entweder zu einer Abreicherung der T-Zellen (oder auch B-Zellen und anderer reifer Blutzellen), oder umgekehrt zu einer positiven Anreicherung der Stammzell- bzw. Progenitorfraktion (z. B. der CD34+-Zellen). Entsprechend richten sich die eingesetzten Antikörper entweder gegen Epitope der zu entfernenden T-Zellen (CD2, CD3 u. a.) oder der anzureichernden Progenitoren (CD34-Molekül).
4
72
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
Am meisten durchgesetzt hat sich ein immunmagnetisches Verfahren, bei dem Antikörper an magnetische Mikropartikel, so genannte »beads«, gekoppelt werden. Diese binden sich an die Zielzellen und können anschließend mit einem Magneten aus der Zellsuspension entfernt werden (Hildebrandt et al. 2000). Bei Vorliegen einer Differenz von 2 oder mehr HLAAntigenen ist eine In-vitro-T-Zellelimination auf eine Restgröße von <0,5–1×105/kg KG des Empfängers obligat (Reduktion von 3–4 log10-Stufen). Bei geringerer HLA-Differenz werden Notwendigkeit und Grad der T-Zelldepletion kontrovers diskutiert, da die gewünschte GVHD-Vermeidung durch eine verlängerte Immunrekonstitution, eine größere Infektionsgefährdung und ein erhöhtes Abstoßungs- und Rezidivrisiko erkauft wird (Handgretinger et al. 2001; Wagner u. Thompson et al. 2002). Eine weitere Zellseparation betrifft die Tumorzellentfernung (»tumor cell purging«) bei autologen Transplantaten. Hier können die oben genannten Separationstechniken zur Anwendung kommen, etwa die T- und B-Zell-Precursor-Entfernung mit immunmagnetischen Methoden bei lymphoblastischen Leukämien und Lymphomen, sowie die positive Anreicherung von CD34+-Zellen bei praktisch allen Tumoren, die diesen myeloischen Marker nicht tragen. Je nach Antikörperwahl und Zahl der Separationsschritte können auf diese Weise Depletionen von 2–5 log10-Stufen erreicht werden (Kemshead et al. 1987). Bei einigen Tumoren, z. B. der AML, werden auch zytostatische In-vitro-Inkubationen vorgenommen, etwa mit Cyclophosphamidderivaten wie 4Hydroxycyclophosphamid (4-HC; Rizzieri et al. 2003). Die klinische Notwendigkeit eines solchen Tumor-Purgings wird bei den meisten Tumoren kontrovers diskutiert, auch wenn mit Markierungsstudien nachgewiesen werden konnte, dass Tumorzellkontaminationen in Transplantaten prinzipiell zu Rezidiven beitragen können (Rill et al. 1994). 4.5.2
Kryokonservierung
! Die Domäne der Kryokonservierung stellen autologe oder ungerichtete allogene Transplantate (z. B. Nabelschnurblut-Stammzellen) dar, die vorbereitend eingefroren werden.
Einfriertechnik und Lagerung wurden über die letzten Jahrzehnte weitgehend standardisiert und sollen v. a. Zellschäden durch Eiskristallbildung oder Dehydrierung verhindern. Die wichtigsten Schritte sind dabei die Entfernung von reifen Blutzellen durch Herstellung von »buffy coats« (Endkonzentration ca. 0,5–8,0×108 Zellen/ml) oder Stammzellkonzentraten (Endkonzentration ca. 0,05–2,0×108 Zellen/ml), die Verwendung eines Kryprotektors (Dimethylsulfoxid, DMSO, z. B.10 Vol%), die Zugabe von autologem Plasma- bzw. Plasmaproteinkonzentraten, die kontrollierte initiale Einfrierrate (ca. 1–3°C/min), sowie die Lagerung bei unter –130°C z. B. in flüssigem Stickstoff und zwar aus Virus-Sicherheitsgründen in der Gasphase. Experimentelle und klinische Daten belegen, dass kryokonservierte Zellen über 10 Jahre funktionstüchtig bleiben (Aird et al. 1992). Kryokonservierte Zellen sollten in einem zertifizierten Wärmegerät bei +37°C zügig aufgetaut und im Bolus über
⊡ Tabelle 4.2. Klassische, myeloablative Konditionierungsschemata
Radiochemische Konditionierungen
Chemokonditionierungen
fTBI – CYC fTBI – ETO
BU – CYC (120/200) BU – ETO
fTBI – ETO – CYC
BU – ETO – CYC
fTBI – TT – ETO fTBI – sonstige +/− ATG
BU – ETO – TT BU – CYC – Melph BU – sonstige +/− ATG
fTBI fraktionierte Ganzkörperbestrahlung; CYC Cyclophosphamid; ETO Etoposid/VP16; TT Thiotepa; BU Busulfan; Melph Melphalan; ATG Antithymozytenglobulin.
einen zentralen, venösen Zugang appliziert werden. Ein vorheriger Waschvorgang ist nicht nötig, kann aber durchgeführt werden, um DMSO-Konzentration und Kälte des Materials sowie die damit verbundenen Nebenwirkungen, wie anaphylaktische Reaktionen, Hämolyse, Bronchospasmus, abdominelle Krämpfe, Übelkeit, Kopfschmerzen, Hypotension und Bradykardie zu reduzieren (Okamoto et al. 1993). 4.6
Konditionierung
Unter Konditionierung versteht man die Vorbehandlung vor Transplantation. Sie dient bei allogenen Transplantationen der Myeloablation und der damit verbundenen Öffnung der »Nischen«, in denen sich die neuen, transplantierten Stammzellen ansiedeln sollen. Darüber hinaus stellt sie eine intensive Immunsuppression zur Verhinderung einer Abstoßung und bei allen Tumorkrankheiten einen maximalen zytostatischen Effekt bereit, der auf die Hämatotoxizität keine Rücksicht nehmen muss. Bei der autologen Transplantation ist der immunsuppressive Aspekt irrelevant und Myeloablation und Antitumoreffekt stehen im Vordergrund. Eine solche Megadosistherapie macht aber nur bei Tumoren Sinn, für die eine DosisWirkungs-Beziehung gegeben ist. Grundsätzlich können 2 Gruppen von Konditionierungen unterschieden werden, eine radiochemische Konditionierung und eine ausschließliche Chemokonditionierung (⊡ Tabelle 4.2). 4.6.1
Radiokonditionierung
Die Ganzkörperbestrahlung (»total body irradiation«, TBI) ist der am besten erprobte Bestandteil einer radiochemischen Konditionierung. Eine solche Bestrahlung wurde zunächst einzeitig mit einer Dosis bis zu 1000 cGy durchgeführt. Sie ist myeloablativ, immunsuppressiv und antileukämisch wirksam. Eine autologe hämatopoetische Regeneration ist nicht zu erwarten, so dass die Übertragung funktionstüchtiger, blutbildender Stammzellen zwingend ist. Zur Reduzierung kritischer Toxizitäten, v. a. der Lunge, bei gleichzeitig erhöhter antileukämischer Wirksamkeit wurden diverse technische Applikationsvarianten entwickelt, die von Zentrum zu Zen-
73 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
trum variieren. Dennoch können einige Regeln zusammengefasst werden (Down et al. 1991; Shank et al. 1993; Ekstrand et al. 1997): ▬ Einzeitige Bestrahlungen wurden weitgehend durch fraktionierte Varianten mit bis zu 12 Fraktionen und einer kumulativen Dosis bis zu 1500 cGy abgelöst. Eine weit verbreitete Form besteht aus 6 Fraktionen über 3 Tage, mit einer kumulativen Dosis von 1200 cGy. ▬ Zur Reduktion der Lungentoxizität kann die Organdosis durch individuell angepasste Bleiblöcke (»lung shielding«) auf ca. 800–1000 cGy reduziert werden. Die mitausgeblendeten Brustwandanteile werden dann mittels schneller Elektronen aufgesättigt. ▬ Als Strahlenquellen sind Linearbeschleuniger (Photonen mit einer Energie >10 MV) und 60Co-Gammastrahlen (Energie 1,25 MV) gebräuchlich. Bei einzeitiger Hochdosisbestrahlung ist eine niedrige Dosisrate (<5 cGy/min) erforderlich. Das Risiko höherer Dosisraten bezüglich der Lungentoxizität hängt von der Fraktionierung und Gesamtdosis ab. ▬ Eine Homogenisierung der Strahlendosis für variable Körperdurchmesser (z. B. den besonders kritischen Halsbereich) kann durch Verwendung von Teil- oder Ganzkörper-Kompensatoren und bei hochenergetischer Strahlung für die Haut durch Verwendung eines Aufstreumaterials (»beam spoiler«) erreicht werden. ▬ Eine exakte Positionierung des Patienten, mit einer möglichst anterior-posterioren/posterior-anterioren Gegenfeldbestrahlung ist anzustreben, wobei der Raum so groß sein sollte (Distanz Strahlenquelle–Haut >4 m), dass der Patient komplett in den Strahlenkegel passt, oder eine Translationsliege erlaubt, den Patienten unter der Strahlenquelle durchzufahren. ▬ Eine adäquate Dosimetrie ist zur Kontrolle der eingestrahlten Dosis unverzichtbar. Abhängig von der extramedullären Manifestation einer Leukämie wird in der Regel eine Boost-Bestrahlung von Testes und/ oder Schädel im Rahmen der Ganzkörperbestrahlung bis zu einer kumulativen Lokaldosis von 2400 cGy vorgenommen. Eine zweite Strahlenvariante ist die Lymphknotenbestrahlung (oberes Mantelfeld und umgekehrtes Y, unter Einschluss der Milz; »total lymphoid irradiation«, TLI; Shank et al. 1988), oder durch Einschluss des gesamten Abdomens als thorako-abdominelle Bestrahlung (»thoraco-abdominal irradiation«, TAI; Vitale et al. 1991). Sie dient z. B. bei der aplastischen Anämie zur Immunsuppression, oder der Lymphombehandlung und wird fraktioniert oder einzeitig mit 500–800 cGy durchgeführt. Nebenwirkungen. Die Strahlentherapie geht mit signifikan-
ten Nebenwirkungen und Risiken einher. Frühreaktionen sind neben der gewünschten Myeloablation Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Hautirritationen, Parotitis, Mukositis, Xerostomie und Alopezie. Spätrisiken betreffen die Lunge (interstitielle Pneumonitis), Leber, Nieren, Augen (Katarakte), Zähne, das Zentralnervensystem und die Funktion von Schilddrüse, Hypophyse (Wachstumshormonmangel) und Gonaden (hypergonadotroper Hypogonadismus, Amenorrhö und Sterilität bzw. Infertilität) (Sanders 1990; Sanders et al. 1996; Socié et al. 2003).
Hinzu kommt das Risiko einer Sekundärtumorentwicklung, insbesondere Oropharynxkarzinome, Hirntumoren, Schilddrüsenkarzinome, Knochen-, Weichteil-, Haut- und Lebertumoren. Die kumulative Prävalenz liegt bei 0,7% nach 5 Jahren, 2,2% nach 10 Jahren, 5,0% nach 15 Jahren und 8,1% nach 20 Jahren. Sie ist bei unter 10-Jährigen deutlich höher als bei älteren Kindern und Erwachsenen (Nygaard et al. 1991; Curtis et al. 1997; Adès et al. 2002). Zu allen diesen Früh- und Spätschäden tragen multifaktorielle Noxen (Zytostatika, GVHD, Infektionen u. a.) bei. 4.6.2
Chemokonditionierung
Die Chemotherapie wird entweder mit der oben beschriebenen Bestrahlung kombiniert oder als alleinige Chemokonditionierung durchgeführt. Die wichtigsten Zytostatika gehören zu den Alkylanzien (z. B. Cyclophosphamid, Thiotepa, Melphalan), Podophyllinderivaten (Etoposid/VP16) oder Antimetaboliten (z. B. Fludarabin). Sie tragen zur gewünschten Myeloablation und Immunsuppression bei (Bensinger u. Buckner 1998). Ihre besondere Bedeutung liegt jedoch in ihrem tumorspezifischen Effekt, so dass diese in den speziellen Tumorkapiteln näher erläutert werden. Auch hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen wird auf das Kap. 50 verwiesen, da sich Hochdosisgaben diesbezüglich nicht prinzipiell, sondern allenfalls graduell von Standarddosen unterscheiden, z. B. das Risiko der hämorrhagischen Zystitis nach hochdosierter Cyclophosphamidgabe, das eine besonders sorgfältige forcierte Diurese (spezifisches Uringewicht <1010) und die Gabe eines Uroprotektors (MESNA, 120% der Cyclophosphamid-Tagesdosis) erforderlich macht. Soll die Bestrahlungskomponente durch eine ausschließliche Chemotherapie ersetzt werden, dient überwiegend das zu den bifunktionalen Alkylanzien gehörende Busulfan als hochaktives Myeloablativum. Zahlreiche Studien haben in den letzten Jahren Busulfan-basierende Chemokonditionierungen mit radiochemischen Konditionierungen verglichen (Devergie et al. 1995; Ringden et al. 1996). Die wichtigsten Erkenntnisse zum Busulfan lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (Grochow et al. 1990; Grochow 2002; Kashyap et al. 2002; Slattery 2003): ▬ Die Standarddosis ist 4 mg/kg/Tag p.o, üblicherweise in 4 Einzeldosen alle 6 h, an 4 aufeinander folgenden Tagen (kumulative Dosis 16 mg/kg). Säuglinge und Kleinkinder benötigen eine höhere Dosis (z. B. kumulativ 20 mg/kg bei Kindern unter 2 Jahren). ▬ Problematisch ist die klassische orale Gabe durch die unsichere Bioverfügbarkeit. Plasmaspiegel-adaptierte Gaben haben sich jedoch nicht generell durchgesetzt. Erste Erfahrungen mit einer intravenösen Applikationsform (4×0,8 mg/kg/Tag für 4 Tage, als zweistündige Infusion) legen in einigen Studien pharmakokinetische und toxikologische Vorteile nahe. Insgesamt wird aber, gerade bei Kindern, ein eindeutiger klinischer Vorteil noch kontrovers diskutiert. ▬ Verbunden mit der pharmakokinetischen Variabilität liegen die potenziellen Nebenwirkungen überwiegend in der Leberschädigung, der Lungenfibrose, der Neurotoxizität (cave: Krampfanfälle während der Gaben) und der
4
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Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
Gonadenschädigung, so dass bei Toxizitätsvergleichen zwischen Busulfan-basierenden und radiochemischen Konditionierungen Verschiebungen in den Einzelrisiken, aber für zahlreiche Erkrankungen (z. B. CML) keine generellen Vorteile zu verzeichnen sind. ▬ Bei Kindern bieten die Chemokonditionierungen jedoch Vorteile hinsichtlich Grad der Gonadentoxizität/Sterilität, Kataraktbildung, Wachstum und Entwicklung, sowie Sekundärtumoren. Somit ist diese Art der Transplantationsvorbereitung die bevorzugte Variante bei Säuglingen und Kleinkindern, bei kongenitalen nicht-malignen Erkrankungen sowie bei bereits kritisch vorbestrahlten Kindern und Jugendlichen. ▬ Hinsichtlich des antileukämischen Effekts gibt es deutliche Unterschiede. So profitieren Kinder mit einer akuten lymphoblastischen Leukämie von der Ganzkörperbestrahlung (Dopfer et al. 1991), während die myeloischen Erkrankungen (AML, MDS, CML) eher die Domäne einer Busulfan-basierenden Chemokonditionierung sind. Intensitätsreduzierte Konditionierungen (Minikonditionierung) werden im Kap. 4.10, zusätzliche T-Zell-Antikörpergaben (Antithymozytenglobulin, ATG; Antilymphozytenglobulin, ALG; Anti-CD52-Antikörper, Campath-1H etc.) im Kap. 4.9 unter dem Stichwort »GVHD-Prophylaxe« besprochen.
plantation beginnt (Ottinger et al. 1996; Klein et al. 2001). Sie produziert zunächst ein naives Immunsystem, das einer neuen, etwa einjährigen Prägung bedarf, sowie den Neuaufbau eines Impfschutzes 6–12 Monate nach Transplantation. Das Rekonstitutionsmuster der Lymphohämatopoese post transplantationem kann durch zahlreiche Komplikationen und therapeutische Interventionen gestört werden (z. B. Viren und Virustatika, GVHD und GVHD-Therapie, Cotrim-Prophylaxe u. a.). Nach allogener Transplantation dienen ChimärismusMarker zur Dokumentation des »engraftments« (Bader et al. 2000; Antin et al. 2001). Ein kompletter Chimärismus stellt dabei eine wichtige Information bezüglich Stabilität des Transplantats und Eliminierung der Grundkrankheit (z. B. Leukämieremission, ausreichende Stoffwechselfunktion) dar. Die Methoden zum Spendernachweis umfassen Blutgruppen- und HLA-Untersuchungen (bei Spender/EmpfängerDifferenzen), In-situ-Hybridisierungen mit geschlechtsspezifischen Sonden (bei Geschlechtsdifferenzen), oder heutzutage das »fingerprinting«, d. h. die PCR-Amplifikation zum Nachweis repetitiver DNA-Sequenzen, so genannte »tandem repeats« (VNTR- oder STR-Analyse) mit hoher Wahrscheinlichkeit informativer, genetischer Marker und einer Sensitivität von 10-3–10-5 (Hancock et al. 2003). 4.8
4.7
Allgemeine supportive Maßnahmen
Lymphohämatopoetische Rekonstitution
! In Abhängigkeit von Stammzellquelle, Stammzellzahl und Modifikation des Transplantats benötigt die hämatopoetische Rekonstitution nach autologen und allogenen Transplantationen 2–4 Wochen für Granulopoese und Erythropoese.
Letztere ist bei AB0-Major-Differenz zwischen Spender und Empfänger häufig verzögert. Die Thrombopoese braucht in der Regel bis zur Normalisierung deutlich länger, gelegentlich einige Monate. Zytokine haben einen begrenzten Nutzen für die Beschleunigung des Zellanstiegs. Dies trifft wenigstens für das rhG-CSF zu, das – wenn schon nicht prophylaktisch – so doch bei septischen Komplikationen interventionell zu einem beschleunigten Granulozytenanstieg führt (Welte et al. 1996). Mit einer rhG-CSF-Gabe wird üblicherweise erst nach ausreichendem »Homing« der Stammzellen am Tag +5 nach Transplantation mit einer Dosis von 3–5 µg/kg/Tag i.v. oder s.c. begonnen. Erythropoetin hat keinen signifikanten Transfusions-sparenden Effekt, kann aber bei verzögerten erythropoetischen Rekonstitutionen bei AB0-Differenzen oder chronischer Niereninsuffizienz in Einzelfällen hilfreich sein (Link et al. 1990). Die immunologische Erholung erfolgt nach autologen Transplantaten innerhalb von ca. 3 Monaten und umfasst auch die spezifische Immunität bzw. das immunologische Gedächtnis. Nach allogenen Transplantaten erfolgt zunächst ein passiver Transfer spezifischer Immunität (fehlt bei TZelldepletion), während die aktive T-Zellrekonstitution 3 Monate, die B-Zellrekonstitution ca. 6 Monate nach Trans-
Die wichtigsten Maßnahmen zur Vermeidung von Komplikationen: Räume mit Hochleistungsfiltern und Überdruck (LAF-Räume) Umkehrisolierung (Mundschutz- und Kittelpflege, Händedesinfektion) Begrenzte, infektfreie Besucher Wasserfilter Steriler Umgang mit zentralen Zugängen Mundhygiene Darmdekontamination Keimarme orale Ernährung Parenterale Ernährung Suffiziente Schmerztherapie Hochdosierte Gabe von intravenösen 7-S-Immunglobulinen Pneumocystis-Prophylaxe mittels Cotrimoxazol Virusprophylaxe mittels Acyclovir
Diesen supportiven Maßnahmen zur Reduktion des Transplantationsrisikos liegt ein weitgehender internationaler Konsensus zugrunde, wiewohl im Detail eine große, zentrumsspezifische Heterogenität gegeben ist (Peters et al. 1996). Supportive Maßnahmen sind ein kostenträchtiger Teil der Transplantation und werden aus diesem Grund oder wegen einer widersprüchlichen Datenlage häufig hinterfragt, so z. B. die Gabe von Immunglobulinen zur Verhütung von Viruskomplikationen und GVHD (Sokos et al. 2002). Die hier aufgeführten Prophylaxen gehen nahtlos in so genannte präemptive Maßnahmen über, die das Vollbild einer Kom-
75 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
4
plikation durch therapeutische Intervention bei ersten Hinweisen etwa von Virus- oder Pilzinfektionen verhindern sollen. 4.9
Transplantationskomplikationen und spezielle Maßnahmen
4.9.1
Abstoßung
Eine fehlende, permantente, hämatopoetische Rekonstitution kann Ausdruck einer schlechten Markfunktion (»poor marrow function«) oder – bei allogenen Transplantaten – einer klassischen, T-Zell-vermittelten Abstoßung sein. Die Entstehung einer Immuntoleranz durch zentrale (thymusabhängige) oder periphere Mechanismen in Form einer klonalen Deletion, T-Zellanergie oder Suppression ist von zahlreichen Mechanismen abhängig, wie Art und Intensität der konditionierenden Vorbehandlung, Grundkrankheit (Abstoßung bei aplastischen Anämien häufiger als bei Leukämien), residuale T- und NK-Funktion des Empfängers, HLA-Disparität zwischen Patient und Spender, sowie Stammzellquelle, -zahl und -modifikation (Abstoßungsrisiko erhöht bei Nabelschnurblut- oder T-Zell-depletierten, haploidentischen Transplantaten; Sykes u. Strober 1998). 4.9.2
a
Graft-versus-host-Reaktion
! Eine der kritischsten Komplikationen der allogenen Stammzelltransplantation stellt die Spender-gegenEmpfänger Reaktion (»graft versus host reaction/ disease«, GVHR/GVHD) dar. Unterschieden wird die akute (<100 Tage) von der chronischen Form (>100 Tage nach Transplantation).
Die chronische GVHD kann aus einer akuten Form hervorgehen oder als De-novo-GVHD erstmals mehr als 100 Tage nach Transplantation auftreten (Atkinson 1990; Deeg u. Henslee-Downee 1990; Vossen et al. 2002). Die Graduierung des jeweiligen Schweregrades ergibt sich aus ⊡ Tabelle 4.3 (⊡ Abb. 4.2). Bei nicht-malignen Erkrankungen sollte eine akute und chronische GVHD möglichst komplett vermieden werden, während bei malignen Erkrankungen eine leichte GVHD durchaus einen positiven Effekt im Sinne einer Spender-gegen-Tumor-Reaktion aufweist (Slavin et al. 1990). Eine akute GVHD >Grad II oder eine signifikante chronische GVHD bergen jedoch das Risiko lebensbedrohlicher Komplikationen. Zielorgane der akuten GVHD sind v. a. Haut- und Schleimhäute, Leber und Darm, begünstigt durch die konditionierenden Maßnahmen, die durch Gewebetoxizität in unterschiedlicher Intensität T-Zell-aktivierende, inflammatorische Zytokine (Zytokinsturm) freisetzen. Ein vergleichbarer Mechanismus ist für bakterielle oder virale Trigger gegeben, so dass Infektionsprävention und Dekontamination wichtige GVHD-Prophylaxemaßnahmen darstellen. Die Prävalenz der akuten GVHD ist alters- und transplantatabhängig und liegt bei Kindern in der Größenordnung von 20–40%. Immunreaktion, Inflammation und Ge-
b ⊡ Abb. 4.2a u. b. Akute (a) und chronische (b) Graft-versus-HostReaktion
webeschaden unterliegen individuellen, genetischen Prädispositionen, etwa Polymorphismen von Zytokingenen (z. B. des IL-10-Promoters), die auf diese Weise das GVHD-Risiko beeinflussen (Lin et al. 2003). Die klassischen Prophylaxemaßnahmen bestehen aus Methotrexat (10–15 mg/m2 an den Tagen +1, +3, +6, +11, und evtl. wöchentlich weiter), Ciclosporin A (1–5 mg/kg/Tag i.v. oder p.o., spiegelgesteuert), Kortikosteroiden oder Kombinationen aus diesen Medikamenten für etwa 3 Monate. Weitere Immunsuppressiva, wie FK506 (Tacrolimus) oder Mycophenolatmofetil (MMF, Cellcept), sind weniger erprobt. Bei Patienten mit besonderem GVHD-Risiko (unverwandte oder HLA-differente Transplantate) führt entweder eine Exvivo-T-Zelldepletion oder eine In-vivo-Antikörpertherapie vor und/oder nach Transplantation zur Reduktion des GVHD-Risikos. Für letzteres stehen polyklonale Tierseren gegen menschliche T-Zellen, so genannte Antithymozytenoder Antilymphozytenglobuline zur Verfügung, die sich hinsichtlich Tierspezies, Herstellungsweise und Dosierung unterscheiden können (Bacigalupo et al. 2002).
76
I
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
⊡ Tabelle 4.3a–c. Graduierung der akuten und chronischen Graft-versus-Host-Krankheit (GVHD) nach dem Seattle-Schema a) Grad der akuten Organ-GVHD
Organ
Grad 1
Grad 2
Grad 3
Grad 4
Haut (Exanthem % KOF)
0–25
25–50
>50
Blasen
Darm (Diarrhö ml/Tag)
>500
>1000
>1500
Ileus
Leber (Bilirubin mg/dl)
2–3
3–6
6–15
>15
b) Daraus resultierender Gesamtgrad der akuten GVHD
Gesamtgrad
Haut (Grad)
Darm (Grad)
Leber (Grad)
0
0
0
0
I
1–2
0
0
II
1–3
1
1
III
2–3
2–3
2–3
IV
2–4
2–4
2–4
c) Chronische GVHD Subklinische chronische GVHD
Positive Histologie ohne klinische Zeichen
Limitierte chronische GVHD
Lokalisierter Hautbefall und/oder Leberdysfunktion (GVHD-bedingt)
Extensive chronische GVHD
Generalisierter Hautbefall oder lokalisierter Hautbefall oder Leberdysfunktion (GVHD-bedingt) und zusätzlich: Leberhistologie mit dem Bild einer chronisch aggressiven Hepatitis, Brückennekrosen oder Zirrhose, oder Augenbeteiligung (Schirmer-Test < 5 mm), oder Beteiligung der Speicheldrüsen oder Mundschleimhaut (bioptisch geprüft), oder Beteiligung anderer Organe, wie Lungen und Nieren
Alternativen sind monoklonale, humanisierte Antikörper gegen T-Zellen (z. B. OKT3, Anti-IL-2-Rezeptor-Antikörper), gegen ein breiteres Leukozytenspektrum (Anti-CD52-Antikörper/Campath-1H) oder – weniger überzeugend – gegen inflammatorische Zytokine (Anti-IL-1- oder Anti-TNF-Antikörper). Zur Therapie werden zunächst Kortikosteroide in einer Dosierung von 2 mg/kg/Tag (ggf. kurzfristig höher) eingesetzt. Bei Nichtansprechen können die besagten Antikörper oder weitere Maßnahmen, wie ultraviolette Bestrahlung plus/minus Psoralen (PUVA; Furlong et al. 2002), eine Besserung erzielen. Sie erhöhen gleichzeitig aber auch signifikant das Infektionsrisiko und damit die Therapieletalität. Zu einer schwereren, chronischen GVHD kommt es bei ca. 10–15% aller Patienten im Kindesalter. Sie unterscheidet sich pathophysiologisch von der akuten Form, indem sie eine Autoimmunkomponente hat und sich somit manifestieren kann in Form eines Lichen planus, einer Poikilodermie, einer Leukodermie, eines Pemphigoids oder Lupus-ähnlichen Bildes, einer Polymyositis oder Sklerodermie mit Arthropathie und Gelenkkontrakturen. Permanente Alopezien, Nägelverluste, Konjunktivitis sicca, biliäre Zirrhosen, obstruktive Lungenerkrankungen, Dysphagien und neuromuskuläre Manifestationen kommen vor. Therapeutisch kommen ebenfalls Kortikosteroide als Dauer- oder Pulstherapie, Azathioprin, die bei der akuten GVHD schon aufgeführten Immunsuppressiva, bis hin zu Cyclophosphamid u. a. zur Anwendung. Nicht alle schweren Formen der chronischen GVHD sind behandelbar (Arora et al. 2003).
4.9.3
Infektionskomplikationen
Bakterielle Infektionen. Bakterielle Septikämien sind abhängig von Ausmaß und Dauer der Neutropenie, dem Zusammenbruch der Schleimhautbarrieren von Oropharynx und Gastrointestinaltrakt sowie vom Ausmaß des Antikörpermangelsyndroms (Hughes et al. 1997). Somit sind die ersten 2–4 Wochen nach Transplantation besonders kritisch, und alle Fieberphasen sind primär als potenzielle Sepsis zu betrachten. Die antibiotische Behandlung hat entsprechend schnell zu beginnen, muss das gesamte Spektrum der Gram-negativen und mit zunehmender Bedeutung die Gram-positiven Keime (cave: zentralvenöser Katheter, Infektion durch Staphylococcus epidermidis) erfassen und sollte bakterizide Antibiotika in ausreichend hoher, intravenöser Applikation beinhalten. Die Behandlung ist häufig bei fehlendem Keimnachweis empirisch und umfasst in der Regel eine eskalierende Kombination aus Cephalosporinen der 4. Generation, alternativ Acylaminopenicillinen, Carbapenemen oder Gyrasehemmern und einem Glykopeptidantibiotikum. Bei bedrohlicher Sepsis in der Neutropeniephase sind Granulozytengaben bzw. Zytokine zu bedenken. Prophylaxemaßnahmen bestehen aus einer Umkehrisolierung, einer keimreduzierter Kost, Wasserfiltern, einem sterilen Umgang mit invasiven Zugängen, Mundspülungen und einer Darmdekontamination mit Beginn der Konditionierung ( Kap. 79).
77 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
Pilzinfektionen. Mit ähnlichen Risikofaktoren behaftet wie Bakterien, aber deutlich gefährlicher sind invasive Mykosen. Besonders problematisch sind aerogen erworbene Aspergillosen, während Hefepilze der Candida-Spezies häufig die Schleimhäute besiedeln, ohne invasiv zu sein (Kern et al. 2000; Ascioglu et al. 2002). Der Risikozeitraum kann durch eine chronische GVHD oder verzögerte immunologische Rekonstitution erheblich prolongiert sein. Pilze sind trotz Kulturverfahren, PCR- und Antigentests sowie bildgebender Untersuchungen, wie CT-Untersuchungen, schwer zu diagnostizieren, so dass bei Fieber unklarer Genese nach Transplantation eine antimykotische Therapie fester Bestandteil eines empirischen oder präemptiven Eskalationsregimes sein muss. Standardtherapie ist nach wie vor die Gabe von Amphotericin B, wobei die liposomale Form (1–3 mg/kg/Tag i.v.) hinsichtlich des Effekts dem konventionellen Amphotericin vergleichbar ist, jedoch deutlich weniger Nebenwirkungen – v. a. Nephrotoxizitäten – aufweist. Alternativ werden Azole (Itraconazol oder Voriconazol) sowie das zu der neuen Antimykotikaklasse der Glukansynthase-Inhibitoren gehörende Caspofungin eingesetzt. Können Schimmelpilze oder resistente Hefepilze ausgeschlossen werden, bleibt das Fluconazol oral oder intravenös ein Mittel der Wahl, das häufig auch schon prophylaktisch verwendet wird. Für invasive Mykosen in der Granulozytopeniephase gilt noch mehr als für Bakterien, dass Zytokine und Granulozytentransfusionen ein wichtige Hilfe sind und dass die Therapie ausreichend lang erfolgen muss (ca. 6 Wochen, je nach Immunitätslage länger). Die Vermeidung aerogener Pilzinfektionen, wie Aspergillosen, ist ein typisches Beispiel für den sinnvollen Einsatz von Transplantationszimmern bzw. -kabinen mit Hochleistungsluftfiltern. Ansonsten gelten ähnliche Prophylaxemaßnahmen wie bei Bakterien. Virusinfektionen. Besonders problematisch sind Neuinfek-
tionen oder endogene Reaktivierungen durch Herpesviren (Herpes-Simplex-Virus, HSV; Varizella-Zoster-Virus, VZV; Zytomegalievirus, CMV; Ebstein-Barr-Virus, EBV; humanes Herpesvirus Typ 6, HHV-6). Bis auf VZV erfolgen Neuinfektionen überwiegend durch Blutprodukte, respektive durch das Transplantat. Letalität und Morbidität hängen von der Grundkrankheit, der Art des Transplantats (höheres Risiko bei T-Zell-depletierten Transplantaten oder Nabelschnurblut-Stammzellen), dem Grad der akuten GVHD, der Intensität der nötigen GVHD-Therapie, dem Alter des Patienten und der Virusanamnese von Patient und Spender (problematisch z. B. CMV-positive Spender für CMV-negative Empfänger oder umgekehrt; Matthes et al. 1998). Kritisch sind darüber hinaus die Adenoviren und saisonal Respirationsviren, wie das Respiratory-Syncytial-Virus (RSV). Nur etwa 25% aller Kinder zeigen nach Transplantation keinerlei Reaktivierungen dieser kritischen Viren. Bei dem Rest sind ein Virus oder multiple Virusträgerschaften nachweisbar. Viren können in sehr kurzer Zeit zur tödlichen Pneumonitis und zum Multiorganversagen führen, nicht nur durch den unmittelbaren zytopathischen Effekt, sondern auch durch Induktion eines inflammatorischen Prozesses und einer generellen T-Zellaktivierung bzw. GVHD. Da solche Komplikationen im Spätstadium kaum noch behandelbar sind, gehören heute ein regelmäßiges – wenn möglich – quan-
titatives Screening mittels Virusdirektnachweisen (»shellvial«-Kultur, Antigentests, PCR) und präemptive Behandlungsstrategien zur notwendigen Routine (Couch et al. 1997; Einsele et al. 2001; Holler et al. 2002; Chakrabarti et al. 2002). Prophylaktisch ist die Gabe von Acyclovir Standard. Sie führt zu einer dramatischen Reduktion der früher häufigen HSV- und VZV-Komplikationen. Für die restlichen Viren stehen zahlreiche, wirksame Virustatika zur Verfügung, wie Ganciclovir, Ribavirin, Foscarnet und Cidofovir (Reusser et al. 2002; Ljungman et al. 2003). Ihnen allen gemeinsam ist eine z. T. signifikante Toxizität. Auch können sie nicht alle Komplikationen verhindern. Somit besteht großer Bedarf für zusätzliche Maßnahmen, etwa in Form eines adoptiven T-Zelltransfers. Immunglobulingaben spielen nicht die Rolle, die man ihnen früher zugedacht hatte. Zu einer deutlichen Reduktion des Übertragungsrisikos von Viren ist es durch die Einführung von Leukozytenfiltern bei Blutprodukten gekommen. Sonstige Infektionen. Über die bereits benannten Erreger hinaus bedürfen opportunistische Keime, wie Pneumocystis carinii, Toxoplasma, Legionella u. a. der besonderen Aufmerksamkeit. Aber auch durch Transfusion übertragbare Krankheitserreger sollten bei dem immer größer werden, internationalen Netzwerk von Spenderbanken bedacht werden (klassische Hepatitisviren, Syphilis, HIV-1/2, HTLV-I/II, Parvoviren, enterohämorrhagische Viren, West-Nile-Virus, Borrelien, Plasmodien und viele mehr), auch wenn das Übertragungsrisiko gering ist. Kontakte zu Lebendvakzinen sind unmittelbar nach Transplantation zu vermeiden.
4.9.4
Organtoxizität und Spätschäden
Frühkomplikationen, wie Pneumonitis, Venenverschlusskrankheit der Leber (»veno-occlusive disease«, VOD), nephro-, neuro- oder kardiotoxische Reaktionen haben häufig eine komplexe Pathogenese, bei der Medikamentennebenwirkungen und Immunreaktionen sowie vaskuläre, infektiöse und inflammatorische Prozesse involviert sind. Die wichtigsten Frühtoxizitäten, aber auch Langzeitkomplikationen sind bereits im Abschn. 4.6 beschrieben. Sie sind abhängig von Alter, Art der Grundkrankheit, Transplantation und Konditionierung, und tragen nennenswert zur Therapieletalität bei, die von <5% bei autologen Transplantationen, 10–15% bei allogenen Geschwister-Transplantationen, bis zu 50% bei HLA-haploidentischen Transplantationen bzw. Hochrisikobzw. Endstadiumpatienten schwankt. Auch bei Tumor- und Leukämiepatienten ist sie durch kumulative Effekte der Vorbehandlung deutlich höher als bei nicht-malignen bzw. kongenitalen Erkrankungen. Am Ende steht in der Regel das Lungen- oder Multiorganversagen (Strasser u. McDonald 1998; Paul et al. 2000; Socié et al. 2003). Dieses hohe Letalitätsrisiko verpflichtet zu einer stringenten Indikationsstellung und begrenzt das Verfahren auf unmittelbar lebensbedrohliche Krankheiten ohne alternative, risikoärmere Behandlungsmöglichkeiten.
4
78
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
4.10
I
Transplantationsindikationen und -ergebnisse
Wie erwähnt, ist es den einzelnen Krankheitskapiteln vorbehalten, Stellenwert und Verfahren der Transplantation für die jeweiligen Krankheiten darzustellen. Hier sollen prinzipielle Aspekte der wichtigsten Krankheitsgruppen betrachtet werden. 4.10.1 Leukämien, myelodysplastische Syndrome
und maligne Lymphome
rett et al. 1994; Borgmann et al. 1995; Borgmann et al. 1997; Feig et al. 1997; Boulad et al, 1999; Harrison et al. 2000; Al Kasim et al. 2002; Bader et al. 2002; Bunin et al. 2002; Borgmann et al. 2003). Der Patient mit rezidivierter ALL profitiert deutlich von der Ganzkörperbestrahlung, so dass eine Radiochemotherapie die Konditionierung der Wahl – mit Ausnahme der ersten beiden Lebensjahre – darstellt. Der Chemotherapieanteil variiert weltweit, wobei zahlreiche Studien dem Etoposid (VP16) eine wichtige Rolle im Rahmen der Konditionierung einer ALL zuschreiben (Dopfer et al. 1991).
Akute lymphoblastische Leukämie (ALL)
Akute myeloische Leukämie (AML)
! Die ALL im Kindesalter ist zunächst die Domäne der Chemotherapie, mit der mehr als 80% der Patienten geheilt werden können. Die Transplantation beschränkt sich auf Hochrisikopatienten und bedarf im Vorlauf einer chemotherapeutischen Remissionsinduktion der Leukämie. Sie stellt also eine Therapieintensivierung dar.
! Die AML im Kindesalter ist nicht nur seltener als die ALL, sondern auch hinsichtlich der Transplantationsindikation umstrittener.
Die Definition der Hochrisikokriterien ähnelt sich weltweit, muss im Einzelfall aber protokollspezifische Risikostratifizierungen berücksichtigen. Im Rahmen der Ersterkrankung qualifizieren ca. 6–10% der Patienten für eine Transplantation. Die zugrunde liegenden Risikokriterien sind spezifische Chromosomenaberrationen, wie die Translokationen t(4;11) und t(9;22), spezifische Immunphänotypen (T-Zell-Leukämien), eine hohe Tumorlast, und – ganz wesentlich – das initiale Therapieansprechen bzw. der Zeitpunkt bis zum Erreichen der 1. Remission. Ziel ist es, für solche Patienten das Kurativniveau von 30–40% mit alleiniger Chemotherapie auf wenigstens 60– 70% mit Transplantation anzuheben. Dieses ist mit HLAidentischen Geschwisterspendern, zunehmend auch mit gut passenden unverwandten Spendern gewährleistet, während sich Transplantationen von HLA-differenten Familienspendern oder autologe Transplantationen der Chemotherapie gegenüber nicht eindeutig als überlegen erwiesen haben. Sie sollten somit auf ausgewählte Patienten im Rahmen von Therapiestudien beschränkt werden (Weisdorf et al. 1997; Lausen et al. 1998; Schrappe et al. 2000; Uderzo et al. 2001). Anders stellt sich die Situation bei einer rezidivierten ALL dar. Hier sind die meisten Kinder und Jugendlichen Kandidaten für eine allogene Transplantation. Autologe Transplantationen sind in der Regel den allogenen Varianten wegen des fehlenden Graft-versus-Leukämie-Effekts unterlegen. Nur ein kleinerer Teil der Patienten bietet mit einer ausschließlichen Chemotherapie nochmals eine gute Heilungschance. Dies sind Patienten mit extramedullären Rezidiven oder sehr späten Rückfällen, die nicht oder allenfalls mit risikoarmen Spendern transplantiert werden sollten. Die Heilungschancen mittels Transplantation liegen zwischen 30–70% und hängen von Art und Zeitpunkt des Rezidivs, dem Leukämiephänotyp, der Spenderwahl, der residualen Leukämielast unmittelbar vor Transplantation und zahlreichen anderen Faktoren ab. Die kurativen Chancen sollten für die jeweilige Risikogruppe wenigstens 20–30% höher liegen als mit alleiniger Chemotherapie, um die unzweifelhaft größeren Risiken und Nebenwirkungen der Transplantation zu rechtfertigen (Bar-
Die zahlreichen Chemotherapiestudien bei Kindern zeigen, dass die Heilungschancen der AML nicht das gleiche Kurativniveau wie bei der ALL erreichen. Sie erlauben aber ebenfalls eine Risikostratifizierung. Etwa 2/3 der Kinder fallen damit unter eine Hochrisikogruppe, deren Heilungschancen mit Chemotherapie bei ca. 30–45% liegen. Dies sind Kinder, die keine günstigen Prognosefaktoren wie die zytogenetischen Befunde t(15;17), inv(16), oder t(8;21) aufweisen. Trotz mehr als 25-jähriger Erfahrung wird die Frage kontrovers diskutiert, ob die Transplantation eindeutig bessere Chancen bietet und welcher Transplantationsart hier der Vorzug zu geben ist. Dabei spielt bei der AML, historisch gesehen, auch die autologe Stammzelltransplantation mit und ohne Tumor-Purging ( Abschn. 4.5.1) eine größere Rolle als bei der ALL. Andererseits sprechen die Erfahrungen der adoptiven T-Zelltherapie für einen besseren Graft-versusLeukämie-Effekt bei der AML als bei der ALL. Einstweilen wird die Transplantation bei einer definierten Hochrisikogruppe von AML-Erstremissionspatienten in gut kontrollierten Studien weiter zu prüfen sein. Bei rezidivierten Patienten ist die Transplantation dann wieder die Therapie der Wahl, wobei auch hier die Entscheidung zwischen einer risikoreicheren, allogenen (z. B. haploidentischen HSCT) und einer autologen Transplantation optional bleibt (Creutzig et al. 2001; Woods et al. 2001). Myelodysplastisches Syndrom (MDS) ! Bei dieser Gruppe von präleukämischen Erkrankungen ( Kap. 61) handelt es sich um Störungen pluripotenter Stammzellen. Daher ist die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation, zumal im Kindesalter, die Therapie der Wahl.
Kritisch ist die Abgrenzung des hypoplastischen MDS (RA) von der aplastischen Anämie einerseits und der fortgeschrittenen MDS-Formen (RAEB-t) von der AML anderseits. Kontrovers wird die Wahl der Konditionierung (radiochemische versus chemotherapeutische Konditionierung) und die Notwendigkeit einer Induktionschemotherapie bei progredienten MDS-Formen vor Transplantation diskutiert. Die Transplantationsergebnisse liegen zwischen 40–70% und hängen ab vom MDS-Subtyp, zytogenetischen Aberrationen, Art der Konditionierung bzw. Wahl und Modifikation des Transplantats (Locatelli et al. 1997; Kardos et al. 2003).
79 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
Chronische myeloische Leukämie (CML) ! Auch hier liegt eine Erkrankung der pluripotenten Stammzellen vor. Im Kindesalter ist die CML selten und dann immer eine Indikation zur allogenen hämatopoetischen Stammzelltransplantation ( Kap. 61).
Hinweise für langfristige zytogenetische Remissionen mit alternativen Therapien (Hydroxyurea, Interferon α, ABL-Tyrosinkinase-Inhibitor/Imatinib, Glivec) gibt es bei Kindern nicht. Eine Transplantation ist in der ersten chronischen Phase anzustreben, da die Heilungschancen nach Akzeleration oder Blastenschub deutlich sinken. Mit gut passenden verwandten oder unverwandten Spendern liegen sie bei ca. 60% (Goldman u. Melo 2003; Millot et al. 2003). Adoptive T-Zellgaben ergeben eine guten antileukämischen Effekt im Falle eines Rezidivs post transplantationem (Kolb et al. 2003). Autologe Transplantationen und Transplantationen mit reduzierter Konditionierung (so genannte Minitransplantationen) sind experimentell. Maligne Lymphome Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) und Morbus Hodgkin (HD) haben im Kindesalter eine exzellente Heilungschance mit konventioneller (Radio-)Chemotherapie ( Kap. 50 u. 51). Nur eine Minorität qualifiziert bei schlechtem Ansprechen oder Rezidiv für eine Transplantation, dann eher für eine autologe als für eine allogene Form. Anders sieht es beim NHL vom T-Zelltyp aus, das weitgehend der Therapiestrategie einer T-ALL folgt (Reiter et al. 1999; Schellong et al. 1999). 4.10.2 Solide Tumoren Nur für wenige solide Tumoren in fortgeschrittenem Stadium (Stadium IV) oder nach Rezidiv gibt es im Kindesalter Hinweise, dass Therapieintensivierungen in Form einer autologen HSCT mehr bewirken als konventionelle Radio-Chemotherapien. Am ehesten profitieren Hochrisikopatienten mit Ewing-Tumoren und Neuroblastomen, und sei es auch nur durch Verlängerung der Remissionsphasen ( Kap. 68 und 72). Die HSCT ist dann meistens nur ein Element innerhalb einer multimodalen Therapiestrategie. Bei weiteren Tumoren (z. B. Weichteilsarkomen, Hirntumoren, Nephroblastom oder Retinoblastom) sind autologe Transplantationen weniger wirksam, experimentell bzw. frustran (Klingebiel et al. 1998; Koscielniak et al. 1999). Gut belegte Indikationen für allogene Transplantationen gibt es bisher bei keinem soliden Tumor. 4.10.3 Aplastische Anämien ! Die schwere aplastische Anämie (SAA) gehört historisch zu den klassischen Indikationen der allogenen hämatopoetischen Stammzelltransplantation bei Kindern wie Erwachsenen ( Kap. 3).
Da die Knochenmarkfunktion weitgehend erloschen ist, benötigen die Patienten lediglich eine intensive Immunsup-
pression im Rahmen der Konditionierung und keine Myeloablation mehr. Zu diesem Zweck hat sich eine Kombination von Cyclophosphamid und ATG durchgesetzt, wie wohl auch andere Kombinationen inklusive einer Lymphknotenbestrahlung (TLI) gebräuchlich sind. Allogene Transplantationen von HLA-kompatiblen Geschwisterkindern erreichen hiermit eine Kurativrate von ca. 80%. Deutlich schlechter sind Ergebnisse mit HLA-differenten Familien- und unverwandten Spendern, so dass die Therapie der zweiten Wahl eine Immunsuppression unter Verwendung von Ciclosporin A, ATG und rhG-CSF darstellt. Letztere ergibt eine vergleichbare Überlebensrate wie die Transplantation von einem Geschwister, führt aber häufig nur zu einer partiellen Verbesserung der Knochenmarkfunktion und trägt das Risiko einer später sich entwickelnden, klonalen Erkrankung (Führer et al. 1998; Bacigalupo et al. 2000). 4.10.4 Konstitutionelle Aplasiesyndrome Eine besondere Entität stellen die konstitutionellen Aplasiesyndrome dar, insbesondere die Fanconi-Anämie. Letztere zeichnet sich durch eine krankheitsspezifische Sensitivität gegenüber alkylierenden Substanzen (z. B. Cyclophosphamid) und einer Bestrahlung aus. Erst deutliche Dosisreduktionen haben vor etwa 20 Jahren Geschwister-Transplantationen möglich gemacht und inzwischen eine hämatologische Remission in über 80% der Fälle ermöglicht. Transplantationen von alternativen Spendern blieben bis vor kurzem problematisch. Weitere Modifikationen (z. B. die Anwendung von Fludarabin-basierenden Konditionierungen) lassen Fortschritte mit unverwandten Spendern erkennen (Gluckman et al. 1995; McMillan et al. 2000). Neue zytogenetische Prognosekriterien erlauben eine gesichertere Indikationsstellung zur Transplantation (Toennies et al. 2003). Es bleibt das hohe Risiko spät auftretender Karzinome als Ausdruck der generellen Krebsanfälligkeit. 4.10.5 Zytopenien, Zytopathien und Immundefekte
Hämatologische und immunologische Erkrankungen mit potenzieller Transplantationsindikation:
▼
Diamond-Blackfan-Anämie (DBA) Kongenitale dyserythropoetische Anämien (CDA) Amegakaryozytäre Thrombozytopenie Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom (TAR) β-Thalassämie Sichelzellanämie Maligne Osteopetrose Schwere kongenitale Neutropenie/Morbus Kostmann Septische Granulomatose (CGD) Aktin-Dysfunktion Leukozytenadhäsionsdefekt (LAD) Familiäre hämophagozytäre Lymphohistiozytose (FHL)
4
80
Pädiatrische Hämatologie: Knochenmark
4.10.6 Metabolische Erkrankungen
I
Chediak-Higashi-Syndrom Schwere kombinierte Immundefekte (SCID) Adenosin-Desaminase-Mangel (ADA-Defekt) Purin-Nukleosid-Phosphorylase-Mangel (PNP-Defekt) Bare-Lymphocyte-Syndrom (BLS) Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS) Immundefekte mit dysproportioniertem Minderwuchs X-chromosomales Hyper-IgM-Syndrom
Die in der Übersicht aufgeführten kongenitalen, lebensbedrohlichen Erkrankungen können prinzipiell durch eine allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation geheilt werden können. Für jede dieser Erkrankungen ergeben sich Besonderheiten hinsichtlich des Zeitpunkts der Transplantation und der Abwägung alternativer therapeutischer Optionen. Details ergeben sich aus den krankheitsspezifischen Kapiteln. Allen Erkrankungen gemeinsam ist, dass sie eher eine Chemokonditionierung aus Busulfan, Cyclophosphamid mit/oder ohne T-Zellantikörper (ATG) erhalten und dass die Transplantationsergebnisse mit Geschwisterspendern und kompatiblen unverwandten Spendern inzwischen auf einem Niveau von über 70–80% nahe beieinander liegen (Link et al. 1997; Gaziev u. Lucarelli 2003). Eine Besonderheit stellen die Immundefekte mit fehlender T-Zellfunktion aus dem Formenkreis der schweren kombinierten Immundefekte (SCID) dar, die aufgrund ihrer fehlenden Abstoßungsfähigkeit in der Mehrzahl keinerlei Konditionierung bedürfen, bei denen die alleinige Stammzellinfusion also zur Etablierung eines funktionstüchtigen Immunsystems führt. Aus dem gleichen Grund gehörte diese Krankheitsgruppe zu den ersten Indikationen, bei denen auch T-Zell-depletierte, haploidentische Stammzelltransplantate erfolgreich verliefen (Good u. Verjee 2001; Antoine et al. 2003). Dennoch legen die Langzeitergebnisse aus heutiger Sicht nahe, dass zur Etablierung eines voll funktionsfähigen T- und B-Zellsystems ein möglichst HLA-kompatibler Spender anzustreben ist und einige Subtypen der SCID-Gruppe einer Konditionierung bedürfen (Enzymdefekte, Omenn-Syndrom, SCID mit spontanem maternofetalen T-Zell-Engraftment oder hoher Aktivität der natürlichen Killerzellen, haploidentische Transplantate bei B-SCID). Schließlich hängen die Erfolgsaussichten der Transplantation bei allen kongenitalen Erkrankungen von Risikofaktoren ab, wie kritischen Infektionen bei Immundefekten oder Eisenüberladungen bei Hämoglobinopathien. Und bereits eingetretene Schäden, wie etwa Hirnnervenläsionen bei der Osteopetrose, lassen sich nicht rückgängig machen. Die Entscheidung zur Transplantation ist also in der Regel so früh wie möglich zu stellen.
Stoffwechselerkrankungen mit potenzieller Transplantationsindikation: X-chromosomale zerebrale Adrenoleukodystrophie (COCALD) Aspartylglukosaminurie Morbus Gaucher I/III Globoidzellleukodystrophie (GLD, Morbus Krabbe) Metachromatische Leukodystrophie (MLD) Morbus Niemann-Pick Typ B Wolman-Krankheit Mukopolysaccharidose I (MPS I, Morbus Hurler) Mukopolysaccharidose VI (MPS VI, Morbus Maroteaux-Lamy) Mukopolysaccharidose VII (MPS VII, Morbus Sly) Neuronale Zeroidlipofuszinose Fukosidose Mannosidose Lesch-Nyhan-Syndrom Morbus Farber
Allogene hämatopoetische Stammzelltransplantationen sind bei definierten, letalen Stoffwechselstörungen bzw. Speicherkrankheiten, wie sie in der Übersicht aufgeführt sind, in der Lage, den Krankheitsprozess aufzuhalten. Sie bewirken keine Geweberegeneration bei bereits eingetretener, schwerwiegender Organschädigung (Zelluntergang). Parenchymatöse Organe sprechen am besten auf den präventiven Effekt einer Transplantation an, das Zentralnervensystem nur bei ausgewählten Störungen, das Skelettsystem am schlechtesten. Der Einbau der Spenderzellen (z. B. der Mikroglia-Zellen bei der Adrenoleukodystrophie) benötigt ca. 1 Jahr. ! Somit ist die Transplantation bei Kindern mit eindeutiger Indikation so früh wie möglich, vor Eintritt schwerwiegender, klinischer Manifestationen durchzuführen.
Die Überlebenschancen liegen heute auch bei diesen Erkrankungen mit Geschwister- und unverwandten Spendern bei über 80%. Die Lebensqualität hängt – wie erwähnt – sehr wesentlich von der Krankheitsdynamik und den bereits vorliegenden, irreversiblen Organschäden ab (Krivit et al. 1995; Shapiro et al. 2000; Baumann et al. 2003).
Die Zelltherapie der Zukunft birgt große Potenziale. So zeichnen sich neue Transplantationsindikationen ab, wie die große Gruppe der schweren Autoimmunerkrankungen (Burt et al. 2002). In der Intensität reduzierte Konditionierungsprotokolle (so genannte Minitransplantationen) werden die Transplantation risikoärmer für ältere oder morbidere Patienten und möglicherweise auch für ausgewählte pädiatrische Indikationen machen (Slavin et al. 1998). Spenderlymphozytengaben (adoptive Therapien, DLI) werden bei gleichzeitig optimierter GVHD-Verhütung
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eine verbesserte Rezidiv- und Infektionsprophylaxe erlauben (Baron u. Beguin 2002; Peggs et al. 2003). Genetisch korrigierte, autologe, hämatopoetische Stammzellen werden trotz der derzeitigen Probleme (Leukämie-Induktion durch retrovirale Vektoren beim x-linked SCID) eine alternative therapeutische Chance bei diversen monogenetischen Erkrankungen eröffnen (Williams u. Baum 2003). Und schließlich wird zu prüfen sein, wie viel Plastizität adulte, hämatopoetische Stammzellen tatsächlich aufweisen, um eine Regeneration diverser Gewebe (ZNS, Skelett, Muskel, Leber, Herz etc.) zu ermöglichen (Martin-Rendon u. Watt 2003).
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85 4 · Hämatopoetische Stammzelltransplantation
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4
I
Klassifikation der Anämien G. Gaedicke
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10
Einleitung – 86 Pathophysiologie der Anämie – 86 Ursachen einer Anämie – 87 Symptome der Anämie – 88 Diagnostik der Anämie – 88 Differenzialdiagnostische Überlegungen bei Anämie – 89 Mikrozytäre Anämie – 89 Makrozytäre Anämie – 89 Normozytäre Anämie – 90 Anämie bei Blutverlust – 91 Literatur – 91
»Wann wirst Du wieder transfundiert?« fragte die Rechenlehrerin den Viertklässler. »Am Montag« war die Antwort des Kindes. »Gut, dann schreiben wir die Klassenarbeit nächste Woche Mittwoch« erklärte die Lehrerin der am Ende der Stunde schon lärmenden Kinderschar. Auch wenn sich Kinder mit chronischer Anämie erstaunlich gut an niedrige Hämoglobinwerte adaptieren, so ist die anämiebedingte Einschränkung ihrer (schulischen) Leistungsfähigkeit doch nicht zu unterschätzen.
5.1
Einleitung
Eine Anämie ist eine Erniedrigung der Hämoglobinkonzentration oder der Erythrozytenzahl unter den physiologischen Normalwert. Der Grenzbereich zwischen normal und ernied-
rigt wird dabei im Allgemeinen bei –2 Standarddeviationen (SD) vom Mittelwert der Normalpopulation festgelegt. Da die Hämoglobinkonzentration während des Wachstums eines gesunden Kindes von der Fetalzeit bis zum Erwachsenenalter starken Veränderungen unterliegt, ist eine Kenntnis der altersentsprechenden Normwerte ( Tabellen 1, 10−13 im Anhang, stark vereinfacht: ⊡ Tabelle 5.1). Voraussetzung für die Beurteilung einer Blutarmut. In diesem Kapitel sollen die Prinzipien der rationalen Diagnostik einer Anämie beschrieben werden. 5.2
Pathophysiologie der Anämie
Bei jeder Anämie ist die Sauerstofftransportkapazität des Blutes funktionell erniedrigt. Da der Körper eine Reihe von unterschiedlichen gegenregulierenden Mechanismen besitzt, kann eine moderate Verringerung der Sauerstoffträger meist gut kompensiert werden. Die Kompensationsmechanismen betreffen zunächst das Herzkreislaufsystem. Ein plötzlicher Blutverlust wird durch Beschleunigung der Atmung und Erhöhung des Herzzeitvolumens vorübergehend kompensiert. Treten Schocksymptome auf, führt die Azidose zu einer vermehrten O2-Ausschöpfung des Blutes (Bohr-Effekt). Bei langsamer Anämisierung setzen beim Kind die herz-/kreislaufbedingten Symptome der Anämie erst relativ spät ein. Auf zellulärer Ebene kommt es in Erythrozyten zur gesteigerten Synthese von organischen Phosphatverbindungen, insbesondere von 2,3-Diphosphoglycerat (DPG). Die Erhöhung der 2,3-DPG Konzentration erleichtert die Sauerstoffabgabe in das Gewebe (⊡ Abb. 5.1). Die Anämie selbst kann jedoch nur durch eine verstärkte Neuproduktion von Erythrozyten korrigiert werden. So ist die Produktion von Erythropoetin in der Niere Hypoxie-abhängig (⊡ Abb. 5.2).
⊡ Tabelle 5.1. Mittelwert und untere Normgrenzen (–2SD) der Hämoglobinkonzentration und des mittleren korpuskulären Volumens (MCV) in den verschiedenen Alterstufen
Alter
Hb (g/100 ml)
MCV (fl)
Mittelwert
–2SD
Mittelwert
–2SD
Neugeborene (reif )
18,5
14,5
108
88
3–6 Monate
11,5
9,5
91
74
0,5–2 Jahre
12,0
10,5
78
70
2–6 Jahre
12,5
11,5
81
75 77
6–12 Jahre
13,5
11,5
86
Erwachsene Frauen
14,0
12,0
90
80
Erwachsene Männer
15,5
13,5
90
80
87 5 · Klassifikation der Anämien
ist die Gliederung z. T. arbiträr. Auch andere Anämieformen, wie z. B. die Anämie chronischer Erkrankungen entstehen multifaktoriell. Proliferations-/Differenzierungsstörung erythropoetischer Progenitoren
⊡ Abb. 5.1. O2-Dissoziationskurve des Hämoglobins
5.3
Ursachen einer Anämie
Einer Anämie kann ursächlich eine verminderte Bildung oder ein vermehrter Untergang/Verlust von Erythrozyten bzw. Hämoglobin zugrunde liegen. Die Übersicht stellt einen Versuch dar, die wesentlichen Ursachen einer erworbenen oder angeborenen Anämie entsprechend einer Proliferations- oder Differenzierungsstörung auf Ebene der erythropoetischen Progenitoren oder morphologisch differenzierbaren Vorstufen darzustellen. Da Erkrankungen, die eine ineffektive Erythropoese bedingen, oft auch eine verkürzte Lebenszeit von zirkulierenden Erythrozyten verursachen, ⊡ Abb. 5.2. EPO-Regelkreis (aus MüllerEckhardt 2003)
Erworbener Erythropoetinmangel Niereninsuffizienz Anämie bei chronischer Erkrankung Hypothyreoidismus, Hypopituitarismus Antikörper gegen Erythropoetin oder seinen Rezeptor Primäre Bildungsstörung der Erythropoese (»pure red cell aplasia«) Blackfan-Diamond-Anämie (angeboren) Transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters (erworben) Aplastische Krise bei hämolytischer Anämie (Parvovirus B19) Andere, immunologisch bedingte »pure red cell aplasia« Bildungsstörung aller drei Zellreihen Angeborene Erkrankungen mit kongenitalem Knochenmarkversagen: Fanconi-Anämie, Dyskeratosis congenita etc. Erworbene aplastische Anämie Erworbene hypoplastische refraktäre Zytopenie
Proliferations- und/oder Differenzierungsstörung erythropoetischer Vorstufen (»precursor«) Angeborene Störungen der Hämproduktion Thalassämie Sideroblastische Anämie
▼
5
88
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
Erworbene Störungen der Hämproduktion Eisenmangel Bleivergiftung Angeborene Störungen der Kernreifung Defekte im Vitamin-B12-Stoffwechsel Defekte im Folsäurestoffwechsel Orotazidurie Thiaminsensitive megaloblastäre Anämien Erworbene Störungen der Kernreifung Nutritiver Vitamin-B12-Mangel Folsäuremangel bei erhöhtem Verbrauch (↑Erythropoese) Angeborene ineffektive Erythropoese anderer Genese Dyserythropoetische Anämien Erworbene ineffektive Erythropoese anderer Genese Myelodysplastisches Syndrom Hämophagozytose Angeborene Markverdrängung Faservermehrung: Osteopetrose Erworbene Markverdrängung Faservermehrung: Myelofibrose Durch hämatopoetische Zellen: Leukämien Durch Tumorzellen: z. B. Neuroblastom
Der Ausprägungsgrad der Anämie bedingten Symptome wird zum einen vom Schweregrad der Anämie, zum anderen von der Geschwindigkeit des Abfalls der Hämoglobinkonzentration, d. h. vom Einsetzen der oben beschriebenen Kompensationsmöglichkeiten des Körpers, bestimmt. So kann sich ein Kind mit autoimmunhämolytischer Anämie bei raschem Abfall der Hämoglobinkonzentration mit den Zeichen der Herzinsuffizienz (Galopp-Rhythmus, Hepatosplenomegalie) präsentieren, während ein Kind mit transitorischer Erythroblastopenie des Kindesalters bei derselben Hämoglobinkonzentration klinisch kaum beeinträchtigt ist. Bei langsamer Anämisierung steht bei Kindern mit Hämoglobinwerten von 7–8 g/dl ein erhöhtes Herzschlagvolumen bei körperlicher Belastung im Vordergrund, während niedrigere Hämoglobinwerte mit einer Erhöhung der Herzfrequenz auch in Ruhe einhergehen. Hämoglobinwerte unter 5 g/dl sind auch bei einem in Ruhe gut adaptieren Kind nicht ungefährlich, da es bei plötzlich auftretenden Kreislaufbelastungen, z. B. bei hochfieberhaften Infektionen, rasch zur Dekompensation mit Herzversagen kommen kann. ! Je rascher die Geschwindigkeit des Abfall der Hämoglobinkonzentration, desto symptomatischer und gefährdeter ist der Patient.
Verkürzte Überlebenszeit von Erythrozyten
5.5
Erythrozytenverlust und Verteilungsstörung
Wie der Differenzialdiagnose aller anderen Erkrankungen, geht auch der laborchemischen Diagnostik einer Anämie die Erhebung der Anamnese und des körperlichen Untersuchungsbefunds voraus. Dabei ist nicht nur auf Zeichen der Blutarmut zu achten, sondern insbesondere eine Systemerkrankung zu erkennen. Mit der sich anschließenden Bestimmung der maschinellen Blutbildparameter ist die mikroskopische Beurteilung und Differenzierung des peripheren Blutausstrichs obligat. Die Mikroskopie des Blutausstrichs ist essenziell, da Auffälligkeiten der Erythrozytenmorphologie wie Kugelzellen, Fragmentozyten etc. pathognomonisch für einzelne Krankheitsbilder sein können.
5.4
Diagnostik der Anämie
Angeboren Membrandefekte Enzymdefekte Sichelzellanämie Thalassämie Syndrome Erworben Autoimmunhämolytische Anämie Mikroangiopathische Formen der Anämie (HUS, TTP) Membranschäden durch thermische, toxische Noxen Oxidative Hämogobinschädigung
Angeborene große Gefäßmalformationen Akuter Blutverlust Blutverdünnung (iatrogen durch intravenöse Zufuhr) Verteilungsstörung (Poolen bzw. Sequestration in Organen)
Symptome der Anämie
Alle Patienten mit manifester Anämie zeigen ein blasses Hautkolorit. Bei sehr ausgeprägter Anämie kann die Hautfarbe aschfahl sein, so dass sie gelegentlich in der Abwesenheit eines Sklerenikterus irrtümlicherweise als ikterisch beschrieben wird. Weitere Zeichen der Anämie sind rasche Ermüdbarkeit und Konzentrationsschwäche. Häufiger wird über Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen berichtet, Kleinkinder werden quengelig. Parästhesien und Ohnmachtsanfälle sind im Kindesalter hingegen selten. Bei der körperlichen Untersuchung fällt neben der Blässe ein systolisches Strömungsgeräusch (sog. Anämiegeräusch) über den Ausflussbahnen und der Herzbasis auf.
Rationelle Anämiediagnostik Anamnese Untersuchungsbefund Blutbild mit Retikulozytenzahl, Beachtung aller Indexwerte Mikroskopie des Blutausstriches
! Die Mikroskopie des Blutausstrichs geht allen differenzialdiagnostischen Überlegungen und damit der Veranlassung gezielter Laboruntersuchungen zur Ursache einer Anämie voraus.
Die Retikulozytenzahl kann maschinell oder mikroskopisch bestimmt werden. Eine Retikulozytose mit indirekter Hyperbilirubinämie, Erhöhung der Laktatdehydrogenase und Erniedrigung des Haptoglobins sprechen für eine Hämolyse, die mit einem Sklereniktus einhergehen kann. Die Haptoglobinkonzentrationen zeigen in ersten Lebensmonaten eine
89 5 · Klassifikation der Anämien
breite Normalverteilung, so dass in diesem Lebensalter eine niedrige Haptoglobinkonzentration nicht unbedingt als Hinweis auf eine hämolytische Anämie zu werten ist. Bei autoimmunhämolytischen Anämien außerhalb der Neugeborenenperiode setzt ein positiver indirekter Coombs-Test einen positiven direkten Coombs Test voraus, da im indirekten Coombs-Test die Menge an freien, nicht an Erythrozyten gebundenen Antikörpern nachgewiesen wird. Eine Hämoglobinurie liegt vor, wenn bei positivem Hämoglobin Nachweis im Teststreifen mikroskopisch keine Erythrozyten im Urin nachweisbar sind. Die Differenzialdiagnose der Hämoglobinurie ist kurz und beinhaltet den Glucose-6-Phosphatdehydrogenasemangel, schwere Autoimmunhämolysen, Malaria, die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie und die Transfusion einer inkompatiblen Bluttransfusion. Über die spezielle hämatologische Diagnostik wie die Durchführung einer osmotischen Resistenz bei Sphärozytose oder die Bestimmung der Erythrozytenenzyme wird in Kap. 9 bzw. 10 berichtet. Es soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass bei Säuglingen mit unklarer hämolytischer Anämie vor einer ersten Transfusion ggf. EDTABlut für die Enzymbestimmung asserviert werden muss, da diese Diagnostik bei Fortbestehen der Transfusionsabhängigkeit nicht mehr nachzuholen ist. Ähnliches gilt für die Hämoglobinelektrophorese bei Verdacht auf Thalassämie oder die Bestimmung von Hämoglobin F und der Adenosindeaminase (ADA) bei Patienten mit Verdacht auf DiamondBlackfan-Anämie. Auch diese Untersuchungen sollten aus Blut, das vor der ersten Transfusion abgenommen wurde, bestimmt werden. Eine Knochenmarkuntersuchung ist bei der Diagnostik vieler Anämieformen nicht weiterführend. Sie kann jedoch bei isolierter Anämie mit Retikulozytopenie (Bildungsstörung) indiziert sein und ist bei Panzytopenie oft zwingend erforderlich. 5.6
Differenzialdiagnostische Überlegungen bei Anämie
Neben der Beurteilung der Hämoglobinkonzentration kommt der Bestimmung der maschinell bestimmten Erythrozytenindizes ( Kap. 2.2.3) eine besondere Bedeutung zu. Das mittlere korpuskuläre Volumen (MCV) ermöglicht die Einteilung in mikro-, normo- und makrozytäre Anämien, während das mittlere korpuskuläre Hämoglobin (MCH) Aussagen über hypo-, normo- oder hyperchrome Formen zulässt. Für differenzialdiagnostische Überlegungen hat sich eine Einteilung nach MCV durchgesetzt, auch wenn die Chromie der Erythrozyten im Blutausstrich optisch besser als die Zellgröße erfassbar ist. Nach dem MCV wird die prozentuale bzw. absolute Zahl der Retikulozyten als Maß der Neubildung beurteilt. Sie ermöglicht eine Einteilung in hyperregeneratorische, hyporegeneratorische oder aregeneratorische Anämieformen. In einem dritten Schritt werden dann die Parameter der weißen Reihe und der Blutplättchen bewertet, um ggf. differenzialdiagnostische Überlegungen zu den Formen der Panzytopenien zu veranlassen.
Mikrozytäre Anämien
5.7
Differenzialdiagnose der mikrozytären Anämie
Eisenmangel Thalassämie-Syndrome Bleivergiftung Anämie chronischer Erkrankungen Kongenitale sideroblastäre Anämie
Einer Mikrozytose liegt in der Regel ein Substratmangel für die Hämkomponente oder die Globinketten des Hämoglobins zugrunde. Daher ist nicht nur das MCV erniedrigt, die Erythrozyten sind auch hyopchrom, das MCH ist erniedrigt. Die weitaus häufigste Ursache einer mikrozytären Anämie ist der nutritive Eisenmangel. Angeborene Störungen des Eiseneinbaus, sog. sideroblastische Anämien, gehen mit der Ablagerung von Eisen (Siderosomen) in den sich nicht oder nur ungenügend hämogloinisierenden Erythroblasten einher. Auch bei manchen Formen der chronischen Anämie findet sich eine (erworbene) Eiseneinbaustörung. Im Kindesalter sieht man diese mikrozytäre Form der chronischen Anämie besonders bei rheumatischen Erkrankungen. Blei inhibiert eine Reihe von Enzymen der Hämsynthese, die Mitochondrien zeigen trotz einer normalen zellulären Eisenkonzentration einen ausgeprägten Eisenmangel. Die basophile Tüpfelung (Fragmente von Ribosomen und Mitochondrien) ist bei Bleivergiftung besonders stark ausgeprägt. Die nach einem Eisenmangel zweit häufigste Ursache einer mikrozytären Anämie sind die Thalassämien mit Störungen der Formation der Globinketten. Im klinischen Alltag ist die Differenzierung eines Eisenmangels von einem Heterozygotenstatus einer β-Thalassämie besonders relevant. Im Blutausstrich zeigt die heterozygote β-Thalassämie meist mehr Schießscheibenzellen (»target cells«). Auch ist die Erythrozytenzahl bei einer heterozygoten β-Thalassämie im Vergleich zum Eisenmangel höher. Der Menzer-Index ist bestimmt als das Verhältnis MCV zu Erythrozytenzahl; eine Zahl <13 spricht eher für eine Thalassämie, ein Index >13 für einen Eisenmangel oder andere Hämoglobinopahtien. Die »red cell distribution width« (RDW) ist ein Maß für die Anisozytose und ist bei Eisenmangel besonders stark erhöht und schon vor der Erniedrigung des MCV auffällig. 5.8
Makrozytäre Anämien
Die 3 wesentlichen Ursachen einer Makrozytose sind eine Retikulozytose, eine sog. »Stresserythropoese« und der Vitamin B12- oder Folsäuremangel bzw. diesbezügliche Stoffwechseldefekte (⊡ Tabelle 5.2). Da Erythrozyten im Laufe ihres Lebens Membran verlieren, d. h. Retikulozyten größer sind als ältere rote Blutkörperchen, steigt das MCV bei einem hohen prozentualen Anteil von Retikulozyten und jungen Erythrozyten. Da das Knochenmark bei angeborenen Bildungsstörungen, brüsker Regeneration (z. B. nach Blutung) oder Erholung nach einer Schädigung (z. B. Chemotherapie, transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters) auf
5
90
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
⊡ Tabelle 5.2. Die 3 wesentlichen Ursachen einer makrozytären Anämie
Ursache
Beispiel
Retikulozytose
Hämolytische Anämie mit hoher Retikulozytenzahl
Stresserythropoese ▬ Angeborene Erkrankungen mit Knochenmarkversagen ▬ Erholungsphase des Knochenmarks nach Insult ▬ Hämatopoetische Neoplasie
Diamond-Blackfan-Anämie, Fanconi-Anämie, Dyskeratosis congenita Nach Chemotherapie, nach transitorischer Erythroblastopenie Myelodysplastisches Syndrom
Vitamin-B12- oder Folsäuremangel
Nutritiver Mangel oder Stoffwechseldefekt, Lebererkrankung
ein fetales erythropoetisches Bildungsmuster zurückgreift ( Kap. 6), geht die sog. Stresserythropoese vorübergehend mit größeren Zellen, einer höheren Konzentration von Hämoglobin F und einem fetalem Erythrozytenenzymmuster einher. Ein nutritiver Vitamin-B12- oder Folsäuremangel bzw. die entsprechenden Stoffwechseldefekte können neben der makrozytären Anämie auch eine Hypersegmentierung der Granulozyten aufweisen. Im Knochenmark zeigt sich eine megaloblastäre Kernreifung der Erythroblasten. Während sich der Begriff Makrozytose allein auf ein zuviel an Zytoplasma bezieht, beinhaltet der Begriff Megaloblastose eine Störung der Kernreifung mit morphologisch aufgetriebenen und aufgelockerten apoptotischen Kernen. Megaloblastäre Veränderungen findet man beim Vitamin-B12- oder Folsäuremangel, Stoffwechseldefekten und gelegentlich beim myelodysplastischem Syndrom, nicht aber bei angeborenen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen. 5.9
einhergehen. Eine Panzytopenie im peripheren Blut kann auch beim sog. Hypersplenismus bei sehr großer Milz z. B. nach Pfortaderthrombose vorliegen sowie bei allen Formen der erworbenen Knochenmarkaplasie und Infiltration durch knochenmarkfremde oder maligne hämatopoetische Zellen. Einer normozytären Anämie mit Retikulozytose liegt meist eine Hämolyse zugrunde. Hier ist die mikroskopische Beurteilung des Blutausstrichs ganz wesentlich, um morphologische Veränderungen wie Sphärozyten, Elliptozyten, Sichelzellen, mikroangiopathische Formen und andere zu erkennen. Sphärozyten finden sich nicht nur bei der hereditären Sphärozytose, sondern auch bei autoimmunhämolytischen Anämien oder beim Morbus Wilson. Anämien bei Enzymdefekten oder instabilen Hämoglobinen gehen nicht mit charakteristischen Formveränderungen einher, hier kann die Diagnose ausschließlich durch weitere Spezialuntersuchungen gestellt werden.
Normozytäre Anämien
Die Differenzialdiagnose der normozytären Anämie wird durch die Berücksichtigung der Retikulozytenzahl als weiterer diskriminierender Parameter wesentlich erleichtert (⊡ Tabelle 5.3). Bei isolierter Anämie mit Retikulozytopenie, d. h. bei Normwerten für die weiße Zellreihe und die Blutplättchen, liegt im Kleinkindesalter häufig eine transitorische Erythroblastopenie vor. In diesen Fällen fehlen die Retikulozyten im Blutbild bei Diagnose meist vollständig. Differenzialdiagnostisch kommen eine Anämie der chronischen Erkrankung (nur selten mikrozytär, s. oben), interkurrente Infektionen und eine Niereninsuffizienz in Frage. Die beiden letzteren können auch mit Leuko- oder Thrombozytopenie
Differenzialdiagnose der normozytären Anämie mit Retikulozytose Morphologische Veränderungen Sphärozytose Elliptozytose, Ovalozytose etc. Sichelzellanämie Erythrozytenfragmentierung: hämolytischurämisches Syndrom, disseminierte intravaskuläre Gerinnung, Lupus erythematodes Keine morphologischen Veränderungen Enzymdefekt Instabile Hämoglobine
⊡ Tabelle 5.3. Differenzialdiagnose der normozytären Anämie mit Retikulozytopenie
Leukozyten und Thrombozytenzahl
Ursache
Normal
Erworbene Erythroblastopenie (»pure red cell aplasia«)
Normal oder erniedrigt
▬ Niereninsuffizienz ▬ Infektion ▬ Hypersplenismus
Erniedrigt
▬ Produktionsstörung, z. B. erworbene aplastische Anämie ▬ Infiltration, z. B. Leukämie, Tumor, Fibrose ▬ Verbrauch, z. B. Hämophagozytose
91 5 · Klassifikation der Anämien
5.10
Anämie bei Blutverlust
Die möglichen Anämieformen nach Blutverlust veranschaulichen die Bedeutung eines grundlegenden Verständnisses der Regulation der Erythropoese für die Anämiediagnostik. Wenige Stunden nach einem stärkeren Blutverlust kommt es zur normozytären normochromen Anämie mit Retikulozytopenie. Nach 4–7 Tagen kann man einen kräftigen Anstieg der Retikulozytenzahlen beobachten, Retikulozytose und Stresserythropoese führen zur Makrozytose und damit zur Diagnose einer makrozytären Anämie. Falls bei andauerndem Blutverlust nicht genug Eisen für die Neubildung der Erythrozyten zur Verfügung steht, wird sich in der Folge eine mikrozytäre, hypochrome Eisenmangelanämie einstellen.
Eine rationale Anämiediagnostik wird mit wenigen diagnostischen Schritten kostensparend zur richtigen Diagnose führen. Nach Anamnese und körperlicher Untersuchung können die Beurteilung des maschinellen Blutbilds und die nachfolgende Mikroskopie des Blutausstrichs jede Anämie soweit klassifizieren, dass nur gezielte Untersuchungen zum Beweis der Verdachtsdiagnose notwendig werden.
Literatur Kleihauer E (1978) Hämatologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Koletzko B(2003) Kinderheilkunde und Jugendmedizin, 12. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Lilleyman J, Hann I, Blanchette V (1999) Pediatric hematology. Churchill Livingstone, New York Müller-Eckhardt C, Kiefel V (2004) Transfusionsmedizin, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Wickramasinghe SN, McCullough J (2003) Blood and bone marrow pathology. Churchill Livingstone, New York
5
I
Hypoplastische Anämien C. Niemeyer, J. Meerpohl
6.1 6.2
Definition und Einteilung – 92 Kongenitale hypoplastische Anämie (Diamond-Blackfan-Anämie) – 93
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.2.6 6.2.7
Diagnosekriterien und Inzidenz – 93 Vererbung – 93 Klinische Präsentation – 93 Hämatologische Befunde – 94 Pathophysiologie – 95 Therapie – 95 Prognose – 96
6.3
Transitorische Erythroblastopenie des Kindes – 96
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4
Klinische Präsentation – 97 Hämatologische Befunde – 97 Ätiologie – 97 Therapie und Prognose – 97
6.4
Parvovirus-B19-induzierte akute und chronische hypoplastische Anämien – 97
6.4.1
Aplastische Krise bei hämolytischen Anämien – 98 Chronische Infektion mit HPV B19 – 98 Hydrops fetalis durch Infektion mit HPV B19 – 98
6.4.2 6.4.3
Literatur
– 99
Aplastische Anämie (chronische Erythroblastophtise) und Cortison Von C. Gasser »Echte aplastische Anämie im engeren Sinne oder chronische Erythroblastophthise ist ein sehr seltenes Ereignis (Fälle von Heilmeyer, Moeschlin und Rohr, Begemann), bei dem es im Knochenmark zu einem vollständigen Schwund der Erythroblasten über Monate und Jahre kommt, und zwar ohne wesentliche Beeinträchtigung der Leuko- und Thrombopoese. In der pädiatrischen Literatur wird unter »aplastischer Anämie« meist eine kongenital auftretende, hypoplastische Anämie mit wohl starker Verminderung, aber nicht vollständigem Ausfall der Erythroblasten im Knochenmark und der Retikulozyten im Blut verstanden. Diese Erkrankungsform bezeichnet Glanzmann wohl mit Recht als »essentielle Erythroblastopenie mit Anämie vom Typus Josephs-Diamond-Blackfan«. Sie stellt das Gegenstück der von uns beobachteten akuten Form der Erkrankung (»akute Erythroblastopenie«) dar. … In dieser Veröffentlichung aus dem Jahr 1951 (Schweizerische Medizinische Wochenzeitschrift 50:1241–1242) beschreibt Gasser erstmalig das Ansprechen eines Kindes mit Diamond-Blackfan-Anämie auf Kortison. Der Begriff
▼
aplastische Anämie ist heute den Panzytopenien vorbehalten, die Diamond-Blackfan-Anämie wie auch »ihr Gegenstück«, die akute transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters, werden hingegen als hypoplastische Anämien eingeordnet.
6.1
Definition und Einteilung
Hypoplastische Anämien bilden eine heterogene Gruppe von angeborenen und erworbenen Blutbildungsstörungen der roten Reihe. Sie sind durch eine Anämie mit Retikulozytopenie und ein Fehlen der erythrozytären Vorläuferzellen in einem ansonsten normalen Knochenmark charakterisiert. Im Gegensatz zu den aplastischen Anämien ist die Ausreifung der Leukozyten und Thrombozyten in der Regel nicht gestört, ihre Zahl im peripheren Blut ist normal. Der hier benutzte Begriff der hypoplastischen Anämie entspricht dem angelsächsischen Ausdruck »pure red cell aplasia«. Zu den hypoplastischen Anämien (»pure red cell aplasia«) zählt die Diamond-Blackfan-Anämie (DBA) als einzige angeborene Störung. Die sehr viel häufigeren erworbenen Formen sind meist Folge einer Infektion mit humanem Parvovirus (HPV) B19 oder einer immunologischen Suppression der Erythropoese (s. unten; Übersicht bei Fisch et al. 2000). Auf die in der Regel Antikörper-vermittelte »pure red cell aplasia« des Erwachsenen soll hier nicht eingegangen werden, ebenso wenig auf zelluläre Inhibitionen (Handgretinger et al. 1999), die AB0-Inkompatibilität nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation (SZT; Gmür et al. 1990), Antikörper gegen Erythropoetin (Eckardt et al. 2003), »pure
Erworbene hypoplastische Anämien: Parvovirus-B19-Infektion Aplastische Krise bei Patienten mit hämolytischer Anämie Chronische Anämie bei immunsupprimierten Patienten Immunologische Suppression der Erythropoese (Antikörper) Antikörper gegen erythropoetische Progenitoren Transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters »Pure red cell aplasia« bei Erwachsenen AB0-Inkompatibilität nach Stammzelltransplantation Antikörper gegen Erythropoetin Zelluläre Mechanismen αβ- oder γδ-T-Zellen NK- oder T-Zellen Schwangerschaft Medikamente und Toxine
93 6 · Hypoplastische Anämien
red cell aplasia« in der Schwangerschaft (Miyoshi et al. 1978) oder die meist reversible Schädigung durch Medikamente und Toxine. Allen hypoplastischen Anämien gemeinsam ist, dass aufgrund der erythropoetischen Bildungsstörung Eisen im Knochenmark nicht in Erythroblasten eingebaut werden kann. Auch unabhängig von einer möglicherweise transfusionsbedingten Hämosiderose sind Eisenkonzentration und Transferrinsättigung im Serum erhöht. Ebenso finden sich erhöhte Erythropoetinspiegel im Plasma und Urin. Hämolysezeichen bestehen nicht, die Konzentration von Bilirubin im Serum ist normal. Im Unterschied zu Erythrozyten des Kindes oder Erwachsenen zeigen fetale Erythrozyten ein größeres Volumen (MCV 140 fl in der 20. Schwangerschaftswoche) und eine andere Kettenzusammensetzung von Hämoglobin; im letzten Trimenon wird vornehmlich Hämoglobin F (HbF) gebildet. Auch das Enzymmuster und die Zelloberflächenstrukturen sind verschieden. So wird das i-Antigen auf fetalen Erythrozyten postnatal durch das i-Antigen ersetzt. Unter bestimmten Situationen von »Stress« greift die postnatale Erythropoese auf ein fetales Muster zurück und produziert Erythrozyten mit ähnlichen Charakteristika (hohes MCV, HbF, i-Antigen etc.). Eine solche so genannte Stress-Erythropoese (»stress erythropoiesis«) findet man bei angeborenen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen (z. B. DBA, FanconiAnämie), aber auch bei erworbenen Störungen, bei denen es nach Aplasie zu einer raschen erythropoetischen Regeneration kommt. Hierzu gehört auch die Erholungsphase nach transitorischer Erythroblastopenie des Kindesalters (TEC) oder nach HPV-B19-induzierter aplastischer Krise. Die Kenntnis dieser pathophysiologischen Abläufe ist für differenzialdiagnostische Überlegungen wesentlich. Im Folgenden sollen die häufigsten hypoplastischen Anämien im Kindesalter, die DBA, die TEC und die HPV-B19-ausgelösten Anämien im Detail besprochen werden. 6.2
Kongenitale hypoplastische Anämie (Diamond-Blackfan-Anämie)
1936 wurden von Josephs erstmals 2 Kinder mit erythrozytärer Aplasie beschrieben (Josephs 1936). 2 Jahre später berichteten Diamond und Blackfan auf dem Treffen der American Pediatric Society über 4 weitere Patienten (Diamond u. Blackfan 1938). In der Folge wurde die Erkrankung in der Literatur mit einer Vielzahl von Synonymen bedacht wie »congenital hypoplastic anemia«, »chronic congenital aregenerative anemia«, »erythrogenesis imperfecta, oder »chronic idiopathic erythroblastopenia with aplastic anemia (type Josephs-Diamond-Blackfan)«. Heute wird weltweit die Bezeichnung Diamond-Blackfan-Anämie favorisiert. 6.2.1
Diagnosekriterien und Inzidenz
In einem internationalen Konsens wurden zur Abgrenzung gegenüber anderen Anämieformen 5 Diagnosekriterien formuliert.
Diagnosekriterien der Diamond-Blackfan Anämie: Normochrome, meist makrozytäre, selten auch normozytäre Anämie in der frühen Kindheit Retikulozytopenie Normozelluläres Knochenmark mit selektivem Fehlen von Vorstufen der roten Zellreihe Normale Leukozytenzahlen Normale bis leicht erhöhte Thrombozytenzahlen
Die DBA ist eine seltene, angeborene hypoplastische Anämie. Die Inzidenz in den Ländern mit DBA-Registern (Deutschland, Frankreich, England, Nordamerika) wird mit 1–7 pro 1 Million Lebendgeburten angegeben (Willig et al. 1999b; Vlachos et al. 2001a). Die Verteilung von Jungen und Mädchen ist mit 1,1:1 nahezu gleich. Die meisten der bisher veröffentlichten DBA-Patienten sind Kaukasier, aber auch unter Asiaten, Schwarzen und anderen Ethnien sind Patienten mit DBA beschrieben. 6.2.2
Vererbung
Die Mehrzahl der DBA-Erkrankungen werden als sporadische Fälle, ca. 10–20% als familiäre Erkrankungen eingeordnet (Willig et al. 1999b; Vlachos et al. 2001a). Die familiären Fälle folgen einem dominanten Erbgang, auch die rezessiven Formen könnten in einigen veröffentlichten Fällen als dominante Vererbung mit variabler Expression interpretiert werden. Eine definitive Klärung des Vererbungsmodus steht zum jetzigen Zeitpunkt noch aus, insbesondere, da bei einigen als sporadisch eingeordneten Fällen auch nicht-anämische Familienmitglieder eine erhöhte Konzentration der Adenosindeaminase (ADA) in Erythrozyten und Mutationen in RPS 19 (s. unten) aufweisen. ! Bei familiären Formen der DBA werden die Krankheitsverläufe in den Nachfolgegenerationen schwerer (»anticipation«).
6.2.3
Klinische Präsentation
Das mediane Alter bei Diagnosestellung liegt bei 3 Monaten (Willig et al. 1999b). Mehr als 10% der Kinder fallen schon bei Geburt auf, und über nahezu 95% der Patienten werden innerhalb der ersten 24 Lebensmonate diagnostiziert (Willig et al. 1999b). Im Vordergrund stehen bei Diagnose die Symptome der Anämie wie Blässe, Müdigkeit und Lustlosigkeit sowie Tachykardie bis hin zum Herzversagen. Fehlbildungen finden sich bei etwa 25–40% der DBAPatienten (⊡ Tabelle 6.1; Willig et al. 1999b). Ein Großteil dieser Auffälligkeiten betrifft den Kopf und/oder die obere Extremität. Ein typisches DBA-Gesicht mit Stupsnase, Hypertelorismus, kräftiger Oberlippe und einem intelligenten Gesichtsausdruck wurde von Cathie (1950) beschrieben (⊡ Abb. 6.1). Daneben können weitere faziale und kraniale Anomalitäten wie Mikrognathie, Mikro- oder Makrozephalie, Makroglossie, große Fontanelle und andere dysmorphe Veränderungen bestehen. Bei etwa 8% der Patienten finden sich Auffälligkeiten der oberen Extremität, insbesondere tripha-
6
94
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
6.2.4
Hämatologische Befunde
I
⊡ Abb. 6.1. Patient mit Diamond-Blackfan-Anämie und typischem »Cathie«-Gesicht
⊡ Tabelle 6.1. Fehlbildungen bei 229 Patienten mit Diamond-Blackfan-Anämie (Willig et al. 1999b)
Region der Fehlbildung
Patienten
Kopf*
21%
Augen
12%
Hals
4%
Daumen
9%
Nieren
7%
Herz
7%
Knochen
9%
Andere mindestens 1 Fehlbildung
Per definitionem sind DBA-Patienten anämisch, die Konzentration des Hämoglobins (Hb) bei Diagnosestellung liegt im Median bei 6,7 g/dl (Budde 2001). Die Leukozytenzahl ist normal, die Thrombozytenzahl bei Diagnose oft erhöht (Buchanan et al. 1981). Die Mikroskopie des Blutausstrichs zeigt eine Makro-, Aniso- und Poikilozytose der Erythrozyten und gelegentlich Tränenformen (⊡ Abb. 6.2). In der Brilliantcresylblau-Färbung sind nur wenige oder keine Retikulozyten erkennbar. Im Knochenmark reifen die myeloischen Vorläuferzellen, Megakaryozyten und Lymphozyten regelrecht aus, während die Erythropoese meist nahezu vollständig fehlt, gelegentlich durch wenige Proerythroblasten vertreten ist. Die Zellularität im Knochenmark ist normal oder durch das Fehlen der Erythropoese leicht vermindert. Interessanterweise kann der erste, bei Diagnose gewonnene Knochenmarkaspiratausstrich eines jungen Säuglings mit DBA noch eine zahlenmäßig nahezu normale und vollständig ausreifende Erythropoese zeigen, während die Folgeuntersuchungen das oben beschriebene typische Bild der erythropoetischen Aplasie ergeben. Diese Beobachtung erinnert daran, dass es unklar ist, warum sich die Störung der erythropoetischen Ausreifung bei DBA erst um den Zeitpunkt der Geburt oder postnatal auswirkt. In der Literatur sind sehr wenige Patienten mit erkennbarem Ausreifungsstopp der roten Vorstufen oder vermehrter Anzahl unreifer Vorstufen beschrieben, deren Einordnung offen bleiben muss. Auch wenn sich die DBA als eine Störung der Erythropoese präsentiert, so zeigen doch einige Patienten im Verlauf eine abnehmende Zellularität im Knochenmark mit zunehmender Thrombozytopenie. Zudem haben viele Patienten leicht erniedrigte oder im unteren Normbereich liegende Leukozytenwerte. Diese Beobachtungen weisen darauf hin, dass es sich bei der DBA um eine angeborene Störung mit Knochenmarkversagen handelt, bei der primär, aber nicht ausschließlich die rote Zellreihe betroffen ist. Die Erythrozyten von DBA-Patienten zeigen biochemische Eigenschaften von fetalen Erythrozyten, wie z. B. ein
7% 40%
* Ohne Augenfehlbildungen.
langeale Daumen (auch Aase-Syndrom genannt; Aase u. Smith 1969) sowie andere Fehlbildungen des radialen Strahls (Alter 1978). Vereinzelt sind auch nephrologische und kardiale Fehlbildungen bei DBA-Patienten beschrieben worden (⊡ Tabelle 6.1). Kleinwuchs bereits bei Geburt fällt bei ca. 10% der DBA-Patienten auf. Der ausgeprägte Kleinwuchs stellt für die betroffenen Kinder mit DBA einen enormen Leidensdruck dar. Durch regelmäßige Transfusionen und/oder Steroidtherapie erhöht sich der Anteil der kleinwüchsigen DBA-Patienten im Erwachsenenalter auf ca. 50% (Willig et al. 1999b). Ungefähr 3% der DBA Patienten sind mental retardiert.
⊡ Abb. 6.2. Blutausstrich eines Patienten mit Diamond-Blackfan-Anämie. Es zeigt sich eine Aniso- und Poikilozytose mit großen, z. T. ovalen hyperchromen Erythrozyten. Gelegentlich finden sich auch Tränenformen
95 6 · Hypoplastische Anämien
erhöhtes HbF und eine anhaltende auch postnatale Expression des i-Membranantigens. Bei einem Großteil der DBAPatienten findet sich in Erythrozyten eine Erhöhung der ADA, eines für den Purinabbau wichtigen Enzyms (Glader et al. 1983). Eine Erhöhung der ADA ist allerdings nicht pathognomonisch für DBA, sie findet sich auch bei einigen Patienten mit Leukämien oder myelodysplastischen Syndromen. 6.2.5
Pathophysiologie
Es ist heute allgemeiner Konsens, dass der DBA ein Defekt einer erythropoetischen Progenitorzelle zugrunde liegt. Die ausgeprägte klinische Variabilität in Hinblick auf Beginn, Ausprägungsgrad der Symptome sowie physische und genetische Auffälligkeiten machen unterschiedliche pathogenetische Mechanismen wahrscheinlich. Ausreifung der Erythropoese in vitro. Knochenmarkkultu-
ren von DBA-Patienten zeigen in der Regel eine Verminderung oder ein Fehlen der erythropoetischen Progenitoren CFU-E und BFU-E. Eine verbesserte Proliferation der Progenitoren kann durch hohe Konzentrationen von Erythropoetin (Nathan et al. 1978), GM-CSF und IL-3 (Tsai et al. 1989) oder SCF (McGuckin et al. 1995) erreicht werden. Leider korrelieren die Ergebnisse der In-vitro-Kulturen nicht mit klinischen Parametern wie Therapieansprechen oder Verlauf. Auch bleibt der Wirkmechanismus der Steroide unklar. Die exakte Charakterisierung des Ausreifungsdefektes der Erythropoese bleibt abzuwarten. DBA-Kandidatengene. Den ersten Hinweis auf eine mögliche
Genlokalisation gaben 1 Patient mit einer reziproken X;19Translokation (Gustavsson et al. 1997) sowie 3 Patienten mit einem Mikrodeletionssyndrom im Bereich 19q13.2 (Gustavsson et al. 1998). Die Klonierung des Bruchpunkts und Kopplungsanalysen in Familien mit mehr als einem Betroffenen führten zur Identifizierung eines Kandidatengens, eines Gens, das für das ribosomale Protein S19 (RPS19) kodiert (Draptchinskaia et al. 1999). Mittlerweile sind bei ca. 25% der DBA-Patienten vielfältige heterozygote Mutationen (Nonsense-, Frameshift-, Splice-site- oder Missense-Mutationen) ⊡ Abb. 6.3. Ansprechen auf den ersten Steroidversuch mit Prednison von 219 französischen, deutschen und belgischen Kindern (nach Willig et al. 1999b). Die in dunkelgrau dargestellten Patientengruppen sind transfusionsbedürftig. Tx Transfusion
im RPS19-Gen beschrieben (Willig et al. 1999; Proust et al. 2003). Es wird spekuliert, dass eine dominante Mutation in einem RPS19-Allel über eine Verminderung des ribosomalen Proteins zu einer reduzierten Proteinsynthese in spezifischen Zielzellen führt (Haploinsuffizienz). Der genaue pathophysiologische Mechanismus ist jedoch noch nicht aufgeklärt. ! RPS19-Mutationen und eine erhöhte ADA in Erythrozyten können gelegentlich auch bei gesunden Familienmitgliedern ohne Anämie nachgewiesen werden (»silent carrier«). Die Mutationsanalyse für RSP 19 eignet sich daher zur Zeit nicht zur Pränataldiagnose der DBA.
Ein zweites DBA-Gen wird auf Chromosom 8p23.2-p22 vermutet. Gazda et al. fanden Veränderungen in diesem Lokus in etwa 40% ihres Patientenkollektivs (Gazda et al. 2001). Die betroffene Region auf 8p scheint nicht für ein ribosomales Protein zu kodieren, so dass ein weiterer pathogenetischer Mechanismus involviert zu sein scheint. Neben diesen beiden Genloci wird noch mindestens ein weiteres DBA-Gen postuliert. 6.2.6
Therapie
Wesentliche Therapieformen der DBA sind Kortikosteroide, Bluttransfusionen und die allogene SZT. Spontanremissionen sind immer wieder beschrieben worden. Da einheitliche Kriterien zur Diagnose der DBA in der Vergangenheit fehlten, muss ihre Häufigkeit (<5%) offen bleiben. Transfusionen Transfusionen mit leukozytendepletierten, bestrahlten Erythrozytenkonzentraten stellen die Therapie der Wahl im ersten Lebensjahr dar. Auf einen Therapieversuch mit Steroiden sollte in diesem Alter wegen des negativen Effektes auf das Körperwachstum verzichtet werden. Üblicherweise wird alle 3–6 Wochen eine Transfusion benötigt, um den Hb-Wert über 8–9 g/dl zu halten. Etwa 30–40% der DBA-Patienten, die initial oder im Verlauf kein Ansprechen auf Steroide zeigen, benötigen auch langfristig ein festes Transfusionsprogramm (⊡ Abb. 6.3). Als Komplikation der Transfusionsbehandlung
6
96
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
steht die Hämosiderose mit Notwendigkeit einer Chelattherapie ( Kap. 14) im Vordergrund. Die zur Zeit zur Verfügung stehenden oralen Chelatoren sollten wegen der möglichen Nebenwirkung einer Neutropenie bei DBA-Patienten nicht oder nur im Rahmen von Studien eingesetzt werden. Eine Splenektomie wird nur bei Hypersplenismus empfohlen. Kortikosteroide Seit Gasser (1951) das Ansprechen der Erythropoese auf Kortikosteroide erstmalig beschrieb, stellen Steroide für DBA-Patienten eine wichtige Therapieoption dar. Prednison/ Prednisolon sind heute die Präparate der Wahl (Sjolin u. Wranne 1970). Als Anfangsdosierung haben sich 2 mg/kg/Tag Prednison in 2–3 Einzelgaben bewährt. Ein Anstieg der Retikulozyten wird üblicherweise innerhalb von 1–2 Wochen, ein Anstieg des Hb-Wertes allerdings oft erst nach mehreren Wochen beobachtet. Sobald der Hämoglobinwert ansteigt, kann eine langsame Reduktion der täglichen Steroiddosis erfolgen. Eine Hb-Konzentration von 8–9 g/dl kann unter Steroidtherapie als ausreichend angesehen werden. Bei Nichtansprechen auf Prednison 2 mg/kg/Tag haben einige Autoren höhere Dosierungen oder andere Präparate (Dexamethason) empfohlen (Bernini et al. 1995). Wegen der dabei beobachteten deutlichen Zunahme der Nebenwirkungen, insbesondere Infektionen, bei gleichzeitig nur anekdotischem Ansprechen wird heute hiervon meist abgeraten. Bei Nichtansprechen auf einen ersten Steroidversuch und Wiederaufnahme eines Transfusionsprogramms kann jedoch nach 6–12 Monaten ein zweiter Steroidversuch in ähnlicher Art und Weise empfehlenswert sein. Mittelfristig sollte die Steroiddosis auf eine morgendliche Prednisongabe von weniger als 0,5 mg/kg KG reduziert werden. Einige Autoren haben Patienten auch erfolgreich mit Steroidgaben nur an jedem zweiten Tag behandelt; aufgrund eigener Erfahrungen empfehlen wir allerdings die tägliche Steroidgabe. Langfristig benötigen manche Patienten nur noch sehr geringe Prednisondosen von z. B. 1 mg/Tag (⊡ Abb. 6.3). Wegen der negativen Effekte auf das Körperwachstum der ohnehin meist kleinwüchsigen Patienten wird ein Steroidversuch erst im zweiten Lebensjahr empfohlen. Es kann auch sinnvoll sein, eine Steroidtherapie während der Pubertät durch ein Transfusionsprogramm zu ersetzen, um einen optimalen Wachstumsschub zu gewährleisten. Hämatopoetische Stammzelltransplantation Die SZT stellt die einzige kurative Therapieform für DBA dar (Zintl et al. 1991). Sie wird heute transfusionsbedürftigen Patienten mit Geschwisterspender angeboten. Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens nach SZT vom HLA-kompatiblen Geschwisterspender liegt bei ca. 80% (Vlachos et al. 2001b), von 19 so transplantierten Patienten in Deutschland leben 18 geheilt bei einer mittleren Beobachtungszeit von 5,7 Jahren (Therapieoptimierungsstudie DBA 2000, unveröffentlichte Daten). Steht bei Transfusionsbedürftigkeit des Patienten ein Geschwisterspender zur Verfügung, ist eine SZT im Alter ab 2 Jahren, am besten vor Beginn einer notwendig werdenden Chelattherapie, zu erwägen. Die internationalen Daten zur Fremdspendertransplantation bei DBA sind bisher nicht zufriedenstellend (Vlachos et al. 2001b), so dass die Indikation hierfür eng zu stellen ist.
Andere Therapieversuche Vereinzelt wurde in der älteren Literatur ein Ansprechen auf Androgene beschrieben. Therapieversuche mit Cyclophosphamid, Anti-Lymphozytenglobulin, Ciclosporin und Immunglobulin zeigten ebenfalls keine vielversprechenden Ergebnisse. Auch Therapieversuche mit hochdosiertem Erythropoetin (Niemeyer et al. 1991) oder auch IL-3 (Ball et al. 1995) konnten die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen. Von Therapiestudien mit dem in vitro sehr potenten Zytokin SCF wurde aufgrund der hohen In-vivo-Toxizität Abstand genommen. Kürzlich wurde von Abkovitz et al. über den positiven Effekt von Metoclopramid bei DBA-Patienten berichtet (Abkowitz et al. 2002); die Bedeutung von Metoclopramid in der DBA-Therapie ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar. 6.2.7
Prognose
Da prospektive Langzeitstudien fehlen, bleibt die Lebenserwartung für DBA Patienten unbekannt. Es ist anzunehmen, dass die mittlere Überlebenszeit für transfusionsabhängige Patienten hämosiderosebedingt kürzer ist als für Patienten mit gutem Steroidansprechen oder Spontanremissionen. Ähnlich wie Patienten mit anderen Formen von Knochenmarkversagen haben Patienten mit DBA ein erhöhtes Risiko, eine hämatopoetische Neoplasie zu entwickeln. In einer von Janov publizierten Arbeit wird das relative Risiko für die Entwicklung einer AML/MDS mit 200 und das kumulative prädiktive Risiko im Alter zwischen 30 und 40 Jahren mit 23% angegeben (Janov et al. 1996). Auch das Risiko für solide Tumoren scheint erhöht zu sein. Lipton berichtete kürzlich über die auffällige Häufung von Osteosarkomen bei DBA-Patienten (Lipton et al. 2001). Eine genaue Einschätzung des Malignomrisikos ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Bei schwangeren DBA-Patientinnen wird häufig eine Verschlechterung der Anämie beobachtet. Es empfiehlt sich, auf eine Steroidtherapie zu verzichten, und statt dessen den Hb-Wert durch Transfusionen über 8 g/dl zu halten, um einer intrauterinen Wachstumsverzögerung vorzubeugen. Wenig ist über die sozioökonomischen Lebensumstände und die psychische Befindlichkeit von DBA-Patienten im Erwachsenenalter bekannt. Langzeitstudien auch in Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen (www.diamond-blackfan. de) können hier wichtige Einblicke gewähren. 6.3
Transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters
Die transitorische Erythroblastopenie des Kindesalters (»transient erythrocytopenia of childhood«, TEC), auch als Erythroblastophthise bezeichnet, ist eine erworbene, selbstlimitierende hypoplastische Anämie eines zuvor hämatologisch gesunden Kleinkindes (Glader 1987). Die Erkrankung wurde erstmals von Gasser (1949) beschrieben.
97 6 · Hypoplastische Anämien
6.3.1
Klinische Präsentation
Die Kinder präsentieren sich mit Blässe im medianen Alter von 23 Monaten (⊡ Tabelle 6.2), auch Säuglinge jünger als 6 Monate sind beschrieben (Miller et al. 1994). Da die HbKonzentration über Wochen langsam abgefallen ist, sind die Kinder meist gut an ihre Anämie adaptiert. Die publizierten Inzidenzen von bis zu 5 pro 1.000.000 Kinder (Kynaston et al. 1993; Skeppner et al. 1993) unterschätzen die Häufigkeit der Erkrankung vermutlich, da weniger ausgeprägte Anämien übersehen werden können. Auch präsentieren sich 25% der Betroffenen schon in der Erholungsphase mit Retikulozytose (Cherrick et al. 1994). Bei wenigen TEC-Patienten wurden auch vorübergehende neurologische Symptome wie Krampfanfälle oder Hemiparesen beschrieben (Chan et al. 1998; Michelson u. Marshall 1987). Diese nur wenige Stunden oder Tage anhaltenden Symptome sind möglicherweise ähnlich wie die gelegentlich begleitende Neutro- und Thrombozytopenie auf einen gemeinsamen Pathomechanismus zurückzuführen. 6.3.2
Hämatologische Befunde
Die TEC ist durch das Verschwinden von Erythroblasten im Knochenmark mit nachfolgender Retikulozytopenie und normozytärer, normochromer Anämie charakterisiert. Die Leukozyten- und Thrombozytenzahlen sind in der Regel normal, Granulozytopenien <1000/µl sind aber bei bis zu 28% der Patienten beschrieben worden (Cherrick et al. 1994). Selten findet sich auch eine Thrombozytopenie (Hanada et al. 1989). Zeigt der Knochenmarkbefund eine große Zahl unreifer Erythroblasten, so handelt es sich in der Regel nicht um
einen zugrunde liegenden Ausreifungsstopp, sondern um eine oft rasche Erholung der roten Zellreihe. Die Myelopoese ist auch bei Neutropenie im peripheren Blut unauffällig. Die retrospektive Abgrenzung der TEC von der DBA ist in der Regel einfach (⊡ Tabelle 6.2). 6.3.3
Bei einigen Patienten mit TEC findet sich ein vorausgegangener Virusinfekt in der Anamnese, eine direkte virale Ätiologie wird zurzeit aber nicht postuliert. Vielmehr darf spekuliert werden, dass es sich – in Analogie zur Autoimmunthrombozytopenie ( Kap. 35) und -neutropenie ( Kap. 34) – um einen postviralen Prozess handelt, bei dem humorale Inhibitoren gegen erythrozytäre Vorläufer gebildet werden. Erst durch die Bildung von antiidiotypischen Antikörpern kommt es zur Erholung der Erythropoese. Diese Hypothese wird von In-vitro-Untersuchungen gestützt, bei denen in vielen Fällen Seruminhibitoren (Koenig et al. 1979; Dessypris et al. 1982) und gelegentlich auch zelluläre Inhibitoren (Freedman et al. 1983a) nachgewiesen werden konnten. Über ein zeitgleiches Auftreten von TEC bei Geschwistern wurde mehrfach berichtet (Labotka et al. 1981; Skeppner u. Wranne 1993). Im Gegensatz zur aplastischen Krise bei hämolytischer Anämie spielt HPV B19 in der Pathogenese der TEC keine Rolle (Cherrick et al. 1994). Nur sehr vereinzelt wurden als TEC eingeordnete Erkrankungen nach vorausgegangener HPV-B19-Infektion beschrieben (Hanada et al. 1989, Wodzinski u. Lilleyman 1989). Sie zeigten mit Neutropenie, Thrombozytopenie und reduzierter Zellularität im Knochenmark einen besonderen klinischen Verlauf. 6.3.4
⊡ Tabelle 6.2. Vergleich diagnostischer Kriterien bei DiamondBlackfan Anämie (DBA) und transitorischer Erythroblastopenie (TEC)
Kriterium
DBA
TEC
Geschlechtsverteilung
1,1
1,3
Median (Monat)
3
23
>1. Lebensjahr
≈10%
≈81%
Alter bei Diagnose
Ätiologie
Kongenital
Erworben
Vorerkrankung
–
Viraler Infekt
Fehlbildungen
≈30%
–
ADA
Erhöht
Normal
Erhöhtes MCV Bei Diagnose
80%
5%
Bei Genesung
100%
90%
In Remission
100%
Normal
Ätiologie
Therapie und Prognose
Die TEC ist eine selbst-limitierende Erkrankung, d. h. alle Patienten erholen sich spontan innerhalb von 1–2 Monaten. Selten ist über eine längere Zeitspanne bis zur Erholung des Knochenmarks oder über eine rekurrierende Form der TEC berichtet worden (Freedman 1983b). Es empfiehlt sich eine abwartend-beobachtende Haltung bei der Therapie der TEC. Transfusionen werden im Allgemeinen nur empfohlen, wenn tatsächlich eine Einschränkung der Herz-Kreislauf-Situation vorliegt. Allerdings ist zu bedenken, dass bei Hb-Konzentrationen von 5 g/dl und weiterhin fehlender Retikulozytose in den Folgetagen ein oft rascher Hb-Abfall zu beobachten ist, so dass hier auch bei noch gut adaptiertem Kind eine Indikation zur Knochenmarkpunktion (Beurteilung, ob Erholungsphase bereits eingesetzt hat) und/oder Transfusion bestehen kann. Eine Therapie mit Prednison oder Immunsuppressiva ist nicht indiziert. 6.4
Parvovirus-B19-induzierte akute und chronische hypoplastische Anämien
Erhöhtes HbF Bei Diagnose
100%
20%
Bei Genesung
100%
100%
In Remission
85%
Normal
Das HPV B19 ist ein Einzelstrang-DNA-Virus, dass über Tröpfcheninfektion, sehr selten auch über Blutprodukte, von Mensch zu Mensch übertragen wird. Über das BlutgruppenP-Antigen (Globosid) infiziert es die erythropoetische Proge-
6
98
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Aplastische Krisen dauern üblicherweise 10–14 Tage und können zu einem Hb-Abfall auf etwa die Hälfte des Ausgangswertes führen, bevor es zur Erholung des Knochenmarks kommt. Kinder mit aplastischer Krise sind infektiös und sollten nicht von schwangerem Pflegepersonal versorgt werden. Da HPV B19 eine lebenslange Immunität hinterlässt und – im Gegensatz zur Vielzahl viraler Auslöser von hämolytischen Krisen – alleinige Ursache für eine aplastischen Krise ist, macht jedes Kind nur einmal eine aplastische Krise durch.
I
6.4.2
⊡ Abb. 6.4. Riesenproerythroblast nach Infektion mit Parvovirus B19. Der große Zellkern zeigt ein aufgelockertes Chromatin mit mehreren sehr prominenten Nukleolen
nitorzelle, in der es repliziert und einen Zellzyklusarrest in der G2-Phase sowie eine vermehrte Apoptose induziert (Brown 2000). Die meisten Infektionen mit HPV B19 verlaufen inapparent, die klinische Manifestation mit Hauterythem im Kindesalter wird als Ringelröteln bezeichnet. Als Zeichen des zytopathischen Effekts können im Knochenmark direkt nach HPV-B19-Infektion kleine, regressiv veränderte Erythroblasten beobachtet werden. Ihre Zellkerne enthalten Einschlusskörperchen, die von einem dichten Chromatinring umgeben sind und das immunreaktive B19Antigen enthalten. Mit Einsetzen der humoralen Immunantwort erscheinen wenige Tage später die für die HPV-B19Infektion pathognomonischen Riesenproerythroblasten mit großen vesikulären Kernen, aufgelockertem Chromatin, prominenten Nukleolen und einem sehr basophilen Zytoplasma (⊡ Abb. 6.4). Die Riesenproerythroblastasten enthalten keine Viruspartikel mehr, sie werden im Rahmen der raschen Regeneration nach wenigen Tagen durch Normoblasten ersetzt. Beim Gesunden führt die HPV-B19-Infektion für 5– 10 Tage zu einer erythropoetischen Aplasie. Bei einer durchschnittlichen Erythrozytenüberlebenszeit von 120 Tagen kann kein signifikanter Hb-Abfall, aber eine Retikulozytose beobachtet werden. Eine Neutro- und Thrombozytopenie kann begleitend bestehen; ihre Pathogenese ist unklar. 6.4.1
Aplastische Krise bei hämolytischen Anämien
Patienten mit angeborenen oder erworbenen hämolytischen Anämien und einer deutlich verkürzten Überlebenszeit der Erythrozyten können durch die HPV-B19-induzierte erythropoetische Aplasie einen raschen Hämoglobinabfall erleiden. Sie präsentieren sich akut mit deutlicher Anämie, Retikulozytopenie und ohne Zeichen der Hämolyse ( Kap. 9). Bei Panzytopenie werden einige Patienten auch zum Ausschluss einer akuten Leukämie vorgestellt. ! Eine aplastische Krise kann das erste klinische Zeichen einer moderaten, gut kompensierten chronischen Hämolyse sein.
Chronische Infektion mit HPV B19
Beim Fehlen einer adäquaten humoralen Immunantwort kann eine HPV-B19-Infektion chronisch verlaufen und eine prolongierte erythropoetische Aplasie bedingen (Frickhofen et al. 1994). Dies kann bei angeborenen Immundefekten (Gahr et al. 1991), HIV, akuter lymphatischer Leukämie (meist in Dauertherapie) (Kurtzman et al. 1988), nach SZT oder Organtransplantation, Therapie mit Anti-CD20-Antikörpern und anderen erworbenen Immundefekten beobachtet werden. Für die HPV-B19-Infektion beweisend ist der Nachweis von Virusgenom im Knochenmark. Die intravenöse Gabe von Immunglobulinen verringert die Viruslast, so dass die erythropoetische Aktivität wieder hergestellt wird (Kurtzman et al. 1989). Gelegentlich sind wiederholte Immunglobulingaben notwendig. 6.4.3
Hydrops fetalis durch Infektion mit HPV B19
In der Regel verläuft eine mütterliche Infektion mit HPV B19 in der Schwangerschaft asymptomatisch, ca. 6,5% der betroffenen Frauen erleiden einen Abort oder eine Totgeburt (Levy et al. 1997). Selten kommt es beim Feten zum nichtimmunologischen Hydrops fetalis. Da im Gegensatz zur immunologisch ausgelösten Erkrankung ein HPV-B19-bedingter Hydrops schon bei nur geringgradig erniedrigten Hb-Konzentrationen beobachten werden kann, wird eine Beteiligung anderer Organsysteme wie die des Myokards postuliert (Porter et al. 1988). Intrauterine Bluttransfusionen können indiziert sein, daneben werden auch spontane Besserungen beobachtet (Morey et al. 1991). Postnatal persistierendes HPV B19 kann eine chronische Anämie auslösen und mit einer Hypogammaglobulinämie einhergehen (Belloy et al. 1990; Brown et al. 1994). Bei persistierenden hypoplastischen Anämien muss immer eine HPV-B19-Infektion ausgeschlossen werden.
Anamnese, Blutbild und Knochenmarkbefund erlauben in der Regel die differenzialdiagnostisch korrekte Einordnung einer hypoplastischen Anämie im Kindesalter. Es ist zu erwarten, dass neue Kenntnisse der molekularen und pathophysiologischen Mechanismen, die die verschiedenen erythropoetischen Ausreifungsstörungen bei DBA und TEC verursachen, unser Verständnis dieser hypoplastischen Anämien in den kommenden Jahren grundlegend verändern werden.
99 6 · Hypoplastische Anämien
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6
100
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
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101
Physiologie und Pathophysiologie des Eisenstoffwechsels P. Nielsen, G. Gaedicke
7.1 7.2
Biologie und Molekularbiologie – 101 Eisenhomöostase – 102
7.2.1 7.2.2
Ernährung und Eisenversorgung – 102 Eisenbedarf und Eisenstatus bei Kindern
7.3
Eisenmangel
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Epidemiologie und Ätiologie Klinik – 105 Diagnostik – 105 Therapie – 106
7.4
Eisenüberladung
7.4.1
Primäre Eisenüberladung und hereditäre Hämochromatose – 106 Sekundäre Eisenüberladung – 107
7.4.2
Literatur
– 103
– 103 – 104
– 106
– 109
Der Mutter eines 13-jähriges Mädchen fällt zunehmend die ständige Müdigkeit und Unkonzentriertheit bei der Tochter auf; auch die Schulleistungen sind in der letzten Zeit schlechter geworden. Eine aktuelle Untersuchung zeigt ein leicht untergewichtiges Mädchen mit blasser Gesichtsfarbe und Mundwinkelrhagaden sowie folgende Blutwerte: Hb 9,8 g/dl, MCV 68 fl, MCH 23 pg, Serumferritin 5 µg/l, BSG 2/6. Die Patientin ist begeisterte Reiterin und ernährt sich ausschließlich vegetarisch. Die Menstruation hat vor 14 Monaten begonnen. Diagnose: manifeste Eisenmangelanämie bei erhöhtem Eisenbedarf im starken Körperwachstum und einer inadäquaten Ernährung. Therapie: orale Eisentherapie mit 50 mg Eisen(II)-Sulfat/Tag über 3–4 Monate, anschließend Kontrollen und Ernährungsumstellung oder ggf. weitere Therapie. In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass ein schwerer Eisenmangel, insbesondere im wachsenden Organismus, nicht nur zu der bekannten Eisenmangelanämie, sondern auch zur Beeinträchtigung von bestimmten Stoffwechselfunktionen führen kann. So kann ein Eisendefizit offenbar die Gehirnentwicklung verzögern. Die Bedeutung des Eisenmangels, aber auch der Eisenüberladung im Kindesund Jugendlichenalter wird heute manchmal noch verkannt und in vielen Fällen relativ spät diagnostiziert.
7.1
Biologie und Molekularbiologie
Mit Ausnahme von einigen Mikroorganismen ist Eisen ein essenzielles Spurenelement für jede Lebensform. Eisen ist das mengenmäßig häufigste Spurenelement beim Menschen. In wässrigen Systemen sind die Fe2+- und Fe3+-Komplexe sehr leicht zu Elektronentransfer- oder Säure-Base-Reaktionen
fähig, was ihre überaus große Bedeutung in biologischen Systemen erklärt. Eisenabhängige Enzyme (Oxidoreduktasen, Monooxygenasen, Dioxygenasen, 2Fe-2S, 4Fe-4S-Enzyme) sind an allen wichtigen Stoffwechselzyklen beteiligt. So finden sich in der inneren Membran von Mitochondrien Zytochrome, die wesentliche Funktionen der oxidativen Phosphorylierung einnehmen. Zu den eisenhaltigen Oxidoreduktasen gehört auch die Ribonukleotidreduktase, das Schlüsselenzym der DNA-Synthese. Der menschliche Körper eines Erwachsenen enthält Eisen (50 mg/kg beim Mann, 38 mg/kg bei der Frau) hauptsächlich in Form von Hämoglobin (60–75%) und einer Reihe Häm- oder Nicht-Hämeisen-Enzymen (2%) bzw. als Depoteisen gespeichert in Ferritin und Hämosiderin (10–25%; Bothwell et. al. 1979; Brock et al. 1994). Die molekularen Mechanismen der Eisenaufnahme sind in den letzten Jahren weitgehend aufgeklärt worden (Literatur bei Andrews 2002). Obwohl kleine Eisenmengen auch im Magen, Ileum und Kolon absorbiert werden, ist der Hauptabsorptionsort für alle Eisenformen das Duodenum und das obere Jejunum. Bei starkem Eisenmangel können auch tiefere Darmabschnitte zusätzlich substanzielle Eisenmengen absorbieren. Hämeisen wird über spezifische mukosale Bürstensaumrezeptoren gebunden und aufgenommen. Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt in der Hämeisenabsorption ist der Abbau von Häm durch eine Hämoxygenase in der Mukosazelle (⊡ Abb. 7.1). Für Laktoferrin, ein Transferrin-ähnliches Molekül mit hoher Konzentration in der humanen Milch, gibt es einen spezifischen Rezeptor im Enterozyten. Im Darmtrakt kann dreiwertiges Eisen durch eine Ferrireduktase (Dcytb) in der Bürstensaummembran zu löslichem Ferro-Eisen reduziert und anschließend über den divalenten Metallionentransporter (DMT1) in den Enterozyten aufgenommen werden. Dieses Protein bewirkt einen Protonen-vermittelten Kationentransport in der Ratte für zweiwertige Kationen wie Fe2+, Zn2+, Mn2+, Co2+. Beim Menschen scheint DMT1 überwiegend für den Transport von Eisen(II) zuständig zu sein. Nach der aktuellen Vorstellung wird ein Eisenmangel im Gewebe von einem »storage-iron regulator« detektiert. Dabei spielt offenbar das kürzlich entdeckte Hepcidin die Schlüsselrolle (Nicolas et al. 2001). Dieses Peptid aus 25 Aminosäuren wird von der Leber nur dann synthetisiert und an die Blutbahn abgegeben, wenn ausreichend Lebereisen zur Verfügung steht. Die Regulation der Eisenabsorption erfolgt in Enterozyten der Darmkrypten, die ausschließlich von der basolateralen Seite mit Eisen versorgt werden und die sich innerhalb von einigen Tagen zu absorbierenden Zottenenterozyten entwickeln. Im Eisenmangel und bei Hämochromatose wird in den Kryptenzellen die DMT1-Aktivität über einen posttranslationalen Mechanismus gesteigert. Dies geschieht über die Bindung eines iron-responsive-proteins
7
102
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
⊡ Abb. 7.1. Modell der intestinalen Eisenabsorption von Eisen in absorbierenden Zottenenterozyten. Häm-, Nicht-Häm- und Laktoferrineisen werden über getrennte Rezeptoren aufgenommen. Im Enterozyten wird Eisen in Form von Ferritin gespeichert oder über IREC1/ Ferroportin aus dem Enterozyten ins Plasma heraustransportiert, dort durch Hephaestin oxidiert und an Apotransferrin im Blut gebunden.
Das HFE-Protein reguliert offenbar den IREC1-Transport. Die Regulation der Eisenabsorption im Eisenmangel erfolgt offenbar im Wesentlichen über DMT1 in Kryptenenterozyten, je nachdem ob diese Vorläuferzellen mit wenig oder viel Eisen von der Basolateralseite, in Abhängigkeit vom Eisenstatus des Organismus, versorgt wurden (nach Townsend u. Drakesmith 2002)
(IRP) an ein hairpin-IRE in der 3′-nicht-translatierten Region der mRNA von DMT1. Erhielt der Enterozyt in seiner Vorgeschichte ausreichend Eisen, wird die DMT1-Aktivität herunterreguliert.
dem neutralen pH-Wert des Darmtraktes extrem schwer löslich ist. Zusätzlich muss dreiwertiges Eisen erst zu zweiwertigem Eisen reduziert werden, denn nur in dieser Form wird es in die Darmzelle aufgenommen ( Abb. 7.1). Pflanzliches Eisen ist deshalb generell schlecht bioverfügbar und relativ große Mengen sind notwendig, will man den täglichen Bedarf allein aus dieser Nahrungsform aufnehmen (Hallberg 2001). Gleichzeitig vorhandenes Vitamin C in der Nahrung kann die Bioverfügbarkeit von pflanzlichem Eisen verbessern, weil es Eisen(III) reduziert und als Eisen(II) aus den Hydratkomplexen herausgelöst. Eisen in Fleisch und Fisch liegt vorwiegend gebunden in den Proteinen Myo- und Hämoglobin vor. Ein spezifischer Rezeptor für »Hämeisen« in der Bürstensaummembran der Darmzelle sorgt dafür, dass »Fleischeisen« relativ gut resorbiert wird. Eisen in Muttermilch ist an das Protein Laktoferrin gebunden und wird ebenfalls effektiv über einen eigenen Rezeptor aufgenommen. Die Bioverfügbarkeit von Kuhmilcheisen ist dagegen eher gering. Die in allen Nahrungsmitteltabellen als sehr eisenreich eingestufte Leber (Rind, Schwein) weist im Vergleich zu »Hämeisen« jedoch nur eine vergleichsweise geringe Bioverfügbarkeit auf, weil es überwiegend dreiwertiges Ferritineisen beinhaltet, das im Darmmilieu zum großen Teil als unlösliches Eisenhydroxid ausfällt.
7.2
Eisenhomöostase
Bei ausgeglichener Eisenbilanz deckt die Nahrungseisenabsorption genau den Eisenbedarf des Körpers. Dieser Zustand beinhaltet eine gewisse Speicherung von Reserveeisen in Form von Ferritin in Leber, Knochenmark und Muskulatur. Beim erwachsenen Mann sind dies ca. 800 mg, bei Frauen und Kindern deutlich weniger (⊡ Abb. 7.2). Im Eisenmangel entleeren sich diese Depots als erstes (prälatenter Eisenmangel). Bei fortschreitender negativer Eisenbilanz ist auch der Transporteisenpool betroffen (latenter Eisenmangel), zuletzt sinkt der Hämoglobingehalt der Erythrozyten ab (manifester Eisenmangel). Als Kompensationsversuch wird im Eisenmangel die Eisenabsorption auf das 3–4fache des normalen (von 1 mg/Tag auf 3–4 mg/Tag) gesteigert. Bei Eisenüberladung wird dem Organismus mehr Eisen zugeführt als gebraucht wird. Da es für Eisen keinen aktiven Ausscheidungsmechanismus gibt, muss überschüssiges Eisen abgelagert werden. Dies geschieht vor allem durch Ablagerung von Ferritin und dessen Abbauprodukt Hämosiderin. 7.2.1
Ernährung und Eisenversorgung
Eisen ist in allen Nahrungsmittel enthalten, wenn auch in unterschiedlicher Form und in unterschiedlicher Menge. Eisen in pflanzlicher Nahrung liegt in Form von polymeren Eisen(III)-Hydroxid-Kohlenhydratkomplexen vor. Um aufgenommen werden zu können, muss es in freier, ionischer Form im Darmsaft vorliegen und eine gewisse Zeit löslich bleiben. Dies ist aber unter den gegebenen chemischen Bedingungen im Darm schwierig, weil dreiwertiges Eisen bei
Hemmstoffe der Eisenabsorption. Hemmstoffe, die in vielen pflanzlichen Nahrungsmittel vorhanden sind, wie z. B. pflanzliche Polyphenole in Tee (Tannine) oder Hülsenfrüchten; Phytate in Getreiden, Nüssen, Hülsenfrüchten; pflanzliche »Nicht-Stärke-Polysaccharide« in Getreiden, sowie Kalzium und Phosphat z. B. in Coca-Cola und Limonaden haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Eisenbioverfügbarkeit (Hallberg 2001). Eine Tasse schwarzer Tee zu einer Mahlzeit kann den größten Teil des pflanzlichen Eisens binden. »Hämeisen« wird durch diese Hemmstoffe nicht erreicht, weil das Hämsystem das Eisen vor Komplexierung schützt.
103 7 · Physiologie und Pathophysiologie des Eisenstoffwechsels
⊡ Abb. 7.2. Eisenbilanz bei normalen Eisenreserven, Eisenmangel und Eisenüberladung (Zahlenangaben für ein 35 kg schweren Jungen)
7.2.2
Eisenbedarf und Eisenstatus bei Kindern
In den ersten 4–6 Monaten nach der Geburt ist der Bedarf von Eisen aus der Nahrung vernachlässigbar gering. Dies erklärt sich aus der physiologischen Polyglobulie des Neugeborenen. Die rasche Reduktion der Erythropoese in Verbindung mit starkem Körperwachstum führt zur Trimenonreduktion und zur anschließenden hypochromen Phase im 1. Lebensjahr. Beides sind physiologische Phänomene. Bis zum Alter von 2 Jahren erfolgt dann ein erster Wachstumsschub, der einen hohen Eisenbedarf von bis zu 100 µg/kg/Tag darstellt (⊡ Abb. 7.3). Danach sinkt der Eisenbedarf wieder ab, um im Pubertätswachstumsschub erneut stark anzusteigen. Bei Mädchen setzt das Wachstum früher ein, einen zusätzlichen Bedarf an Eisen verursacht die Menstruation. ⊡ Abb. 7.3. Eisenbedarf und Nahrungseisenmenge bei Kindern und Jugendlichen (nach Bothwell et al. 1979)
Er liegt für 14-jährige Mädchen deshalb ca. 30% höher als für erwachsene Frauen. Jungen bilden ein höheres Blutvolumen als Mädchen aus, auch die Muskelmasse ist wesentlich größer. Die häufig benutze Relation – 1 µg/l Serumferritin = 8 mg Speichereisen – gibt eine ungefähre Abschätzung über das Speichereisen bei Kindern an. 7.3
Eisenmangel
Bereits eine geringe Störung des Gleichgewichtes zwischen Eisenaufnahme und -verlust kann zur Entwicklung eines Eisenmangels führen ( Abb. 7.2). Eine Eisenmangelanämie entwickelt sich dabei stufenweise von der Erschöpfung der physiologischen Eisenspeicher über die Beeinträchtigung des Transporteisen, bis hin zur Störung der Erythropoese. Als
7
104
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
⊡ Tabelle 7.1. Risikogruppen und Ursachen von Eisenmangel im Kindesalter
Risikogruppe
Ursache
Ernährungsbedingter Eisenmangel Säuglinge
Inadäquate Ernährung, Wachstum
Vorschulkinder
Inadäquate Ernährung, Wachstum
Männliche Jugendliche
Inadäquate Ernährung, Wachstum
Weibliche Jugendliche
Inadäquate Ernährung, Wachstum, Menstruation
Eisenmangel als klinisches Symptom (Beispiele) Chronischen Infekte, Entzündungen
Hemmung der intestinalen Eisenaufnahme
Meckel-Divertikel
Gastrointestinale Blutverluste
Hakenwurm-Befall
Gastrointestinale Blutverluste
Zöliakie
Verlust der Zottenstruktur mit Abnahme der intestinalen Eisenaufnahme, Blutverluste
Castlemann-Syndrom
Hemmung der intestinalen Eisenaufnahme durch Zytokine (z. B. IL-6)
Ursache für den Eisenmangel kommt entweder eine zu geringe Nahrungseisenabsorption (inadäquate Ernährung, Eisenmalabsorption) oder ein erhöhter Eisenbedarf (physiologisch im Wachstum, pathologisch bei Blutverlusten) in Betracht (⊡ Tabelle 7.1).
Ernährungsbedingter Eisenmangel. Ein generelles Problem
In der dritten Welt geht man nach WHO-Berechnungen von einer Häufigkeit von ca. 30% der Gesamtbevölkerung aus. Am meisten betroffen sind Kleinkinder, Schulkinder und Frauen im reproduktiven Alter, von denen in Entwicklungsländern in Südostasien und Afrika 50% eine Anämie aufweisen. Wenngleich in wirtschaftlich entwickelten Ländern die Häufigkeit der Eisenmangelanämie wesentlich niedriger liegt, so ist sie trotzdem die häufigste ernährungsbedingte Krankheit. Anhand der im National Health and Nutrition Examination Survey III (NHANESIII) erhobenen Daten ergibt sich bei Kindern im Alter von 6–16 Jahren eine Rate von 3% mit Anzeichen von Eisenmangel mit und ohne Anämie. Am häufigsten war dieser Eisenmangel in der Gruppe der weiblichen Teenager (8,7%; Halterman et al. 2001). Bei Kleinkindern sind die Zahlen mit 9% ähnlich hoch (Looker et al. 1997). Im Kindes- und Jugendlichenalter ist die Ursache ganz überwiegend in der inadäquaten Eisenzufuhr über die Nahrung zu sehen ( Tabelle 7.1). Seltener, meist verbunden mit einer ausgeprägten Anämie, sind Resorptionsstörungen, die angeboren oder erworben sein können, wie z. B. die Zöliakie. Auch gastrointestinale Blutverluste müssen in Betracht gezogen werden, wie z. B. ein Meckel-Divertikel.
ist der sehr große Eisenbedarf während der Wachstumsphasen. Im Säuglingsalter kann die notwendige Eisenmasse (250 mg/Jahr) durch die Muttermilch allein (57 mg Fe/Jahr) nicht annähernd bereitgestellt werden. In der Studie an Säuglingen, die ausschließlich Muttermilch erhielten, waren im Alter von 9 Monaten 28% anämisch gegenüber 7% einer Gruppe, die ab dem 6 Monaten zusätzlich mit einer Eisenund Vitamin-C-reichen Diät zugefüttert wurden (Calvo et al. 1992). Eine Untersuchung der Ernährungszusammensetzung bei Vorschulkindern zeigte einen Zusammenhang zwischen milchbasierter Ernährung und Eisenmangel auf (»Milkaholics«). Kinder mit einer Diät aus Fleisch, Fisch, Früchten und Gemüse hatten signifikant höhere Ferritinwerte als Kindern mit einer Ernährung aus Milch- und Milchprodukten (Cowin et al. 2001). Eine typische westliche Ernährung enthält etwa 6 mg Eisen pro 1000 kcal, fast unabhängig von der Zusammensetzung der Nahrung. Das genügt bei normaler Ernährung außerhalb von Risikogruppen, reicht im Wachstum bzw. mit Beginn der Regelblutung bei Mädchen oft nicht mehr aus. Daher sollten sich Kinder und Jugendliche nicht ohne Grund kalorienreduziert, streng vegetarisch oder mit sonstigen einseitigen Diäten ernähren, was aber in der Praxis heute leider eher die Regel als die Ausnahme ist. Die verschärfte Ernährungssituation in der Dritten Welt hat teilweise dazu geführt, Eisen zu Grundnahrungsmitteln zuzusetzen. In den Ländern, wo dies erfolgreich durchgeführt wird, werden weniger Eisenmangelzustände beobachtet (Hallberg 2002). Diese künstliche Eisenanreicherung mit verschiedenen Eisen-II-, Eisen-III-Salzen, elementarem Eisenpulver oder Hämoglobineisen ist aber auch nicht unumstritten. Die hohe Prävalenz der hereditären Hämochromatose in USA, Australien und Europa stellt ein starkes Argument dagegen dar. In einigen Ländern (auch Deutschland) wird deshalb eine Fortifikation von Nahrungsmitteln mit Eisen kritisch gesehen.
! Bei jedem diagnostizierten Eisenmangel, insbesondere bei Patienten mit Anämie, muss deshalb gründlich nach der Ursache des Symptoms »Eisenmangel« gesucht werden.
Klinisches Symptom »Eisenmangel«. Ein akuter oder chronischer Blutverlust führt nach kurzer Zeit zu einer Eisenmangelanämie. Weltweit gesehen ist der Befall mit Hakenwürmern (Necator americanus, Ancylostoma duodenale) eine
7.3.1
Epidemiologie und Ätiologie
! Die Eisenmangelanämie gilt als die weltweit häufigste Mangelerkrankung überhaupt. Eisenmangel ist allerdings keine Diagnose, sondern lediglich ein Symptom!
105 7 · Physiologie und Pathophysiologie des Eisenstoffwechsels
ganz häufige Ursache für gastrointestinale Blutverluste, es sind ca. 1 Milliarde Menschen betroffen. In Deutschland sind solche Infektionen Raritäten. Häufiger bei Kindern und Jugendlichen sind andere gastrointestinale Blutungen in oberen (Gastritis, Ösophagitis, Ösophagusvarizen, Ulzera) oder unteren Darmabschnitten (Polypen, Meckel-Divertikel, Analfissuren; Rayhorn et al. 2001). Bei Kindern mit chronischen Infekten, Entzündungen oder bestimmten Tumoren kann die intestinale Eisenabsorption transient oder auch andauernd gehemmt sein, sodass trotz ausreichendem Nahrungseisenangebot zu wenig Eisen absorbiert wird. Durch welche »Mediatoren« dabei die Eisenabsorption gehemmt wird, ist bisher nicht genau bekannt. Ein Spezialfall ist auch die Zöliakie, bei der aufgrund der Zottenatrophie zu wenig Eisen absorbiert wird. Eine Eisenmangelanämie kann bei dieser Krankheit ein sehr frühes Zeichen sein. Zusätzlich kommt es bei Zöliakie häufiger zu gastrointestinalen Blutverlusten. Nach Umstellung auf eine glutenfreie Diät normalisiert sich die Eisenabsorption innerhalb weniger Wochen.
Eisen und Gehirnentwicklung. Am Tiermodell konnte ein-
deutig gezeigt werden, dass Eisen für die normale Myelinbildung im wachsenden Gehirn notwendig ist. Auch der neuronale Stoffwechsel ist bei Eisenmangel deutlich vermindert, z. B. durch eine Abnahme der Zytochrom-C-Oxidase-Aktivität in bestimmten Hirnarealen. Studien an kindlichen Patienten sind weniger eindeutig (Übersicht bei GranthamMcGregor et al. 2001). Einige Korrelationsstudien zeigen eine Assoziation zwischen Eisenmangelanämie und schlechter Entwicklung von kognitiven und psychomotorischen Fähigkeiten. So wurden in einer aktuellen amerikanischen Studie 5396 Schulkinder im Alter von 6–16 Jahren 4 standardisierten Tests unterzogen, die die Fähigkeiten der Kinder in Mathematik, Lesen, verbalem Ausdruck aufzeigen. Kinder mit normalem Eisenstatus schnitten in allen Tests besser ab als Kinder mit Eisenmangel. Am schlechtesten schnitten Kinder ab, die schon eine Eisenmangelanämie entwickelt hatten (Halterman et al. 2001). Eisen und Immunfunktion. Experimentelle und einige klini-
7.3.2
Klinik
Das klinische Bild von Eisenmangel bei Kindern unterscheidet sich von dem bei Erwachsenen zum einen dadurch, dass durch den besonders hohen Eisenbedarf es schneller zu den makroskopischen erkennbaren Spätschäden eines schweren Eisenmangels kommt, z. B. zu einer Zungenatrophie und Mundwinkelrhagaden (⊡ Abb. 7.4). Zum anderen sind bei Heranwachsenden auch die nicht-anämischen Effekte häufiger klinisch auffällig als bei Erwachsenen ( Tabelle 7.2). Sie klagen über Appetitlosigkeit, Abneigung gegen feste Nahrung, schlechtes Gedeihen, Müdigkeit, Lern- und Konzentrationsschwäche. Ein Verdacht auf Eisenmangel besteht z. B. wenn ein Kind lustlos ist, ein auffallendes Verhalten an den Tag legt oder sich schlecht konzentrieren kann, sich nicht seinem Alter entsprechend verhält, oft krank ist. Ferner sind brüchige Haare oder rissige Fingernägel, Veränderungen an Zunge, Lippe und Mundschleimhaut typisch. Die ausgeprägte Dysphagie (Plummer-Vinson-Syndrom) ist eher selten. Die genannten uncharakteristischen Symptome treten bei einem Hb unter 7 g% auf; Ruhedyspnoe und Herzversagen sind bei einem Hb-Werten unter 3 g% zu beobachten.
⊡ Abb. 7.4. Mundwinkelrhagade bei Eisenmangelanämie
sche Daten legen nahe, dass ein schwerer Eisenmangel ein erhöhtes Risiko für bakterielle Infektionen darstellt. Eisen ist sowohl notwendig für die Zellteilung und Zelldifferenzierung, als auch für die Aktivität von Peroxid- und NO-generierenden Enzymen. Außerdem ist Eisen auch an der Regulation der Zytokinproduktion beteiligt (Beard 2001). Auf der anderen Seite ist Eisen auch ein essenzielles Spurenelement für Bakterien, und es bestehen große Ähnlichkeiten in den Metalltransportern zwischen Pathogen und Wirtsorganismus. Ein Eisenmangel könnte deshalb auch vor Infektionen schützen und die Eisensupplementierung könnte zu einem höheren Infektionsrisiko führen. Bisher ist unklar, ob sich bereits ein leichter (prälatenter/latenter) Eisenmangel bei Kindern und Jugendlichen klinisch wirksam auf die Immunfunktion auswirkt. 7.3.3
Diagnostik
Zur Diagnostik von Eisenmangel bei Kindern stehen verschiedene Blutparameter zur Verfügung (⊡ Tabelle 7.2). Besonders wertvoll ist das Serumferritin, das semiquantitativ mit den vorliegenden Eisenspeichern korreliert. Bei Kindern zeigen Werte <10 µg/l vollkommen erschöpfte Eisenspeicher an. Das Serumferritin ersetzt für die Diagnostik des Eisenmangels die früher häufig durchgeführte invasive Knochenmarkspunktion. Das in der Praxis häufig bestimmte Serumeisen zeigt eine hohe Tag-zu-Tag-Variation und hat auch einen zirkadianen Rhythmus. Außerdem ist das Serumeisen bei Infekten falsch erniedrigt, so dass die Aussagekraft dieses Parameters für den Bereich Eisenmangel insgesamt sehr beschränkt ist. Ein wertvoller Parameter in der Differenzialdiagnostik von Eisenmangel z. B. bei gleichzeitig bestehenden Infekten oder Entzündungen ist der lösliche Transferrinrezeptor. Dieser ist bei Eisenmangel deutlich erhöht und wird nicht durch bestehende Infektionen, Leberparenchymschäden oder maligne Erkrankungen (z. B. Neuroblastom) verfälscht, wie das beim Serumferritin der Fall sein kann (falsch erhöhte Werte).
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
⊡ Tabelle 7.2. Diagnostische Parameter bei Eisenmangel
Speichereisenmangel (prälatenter Eisenmangel)
Latenter Eisenmangel
Eisenmangelanämie (manifester Eisenmangel)
Hb normal (>12 g/dl)
Hb, Hk, RDW und Erythrozytenzahl normal
Hb, MCV, MCH, Hk erniedrigt, Erythrozytenzahl und RDW erhöht
Serumeisen und Transferrinsättigung normal
Serumeisen und Transferrinsättigung erniedrigt
Serumeisen und Transferrinsättigung erniedrigt, löslicher Transferrinrezeptor erhöht
Serumferritin erniedrigt (<30 µg/l)
Serumferritin erniedrigt (<30 µg/l)
Serumferritin erniedrigt (<10 µg/l)
Intestinale Eisenabsorption erhöht
Intestinale Eisenabsorption erhöht
Intestinale Eisenabsorption erhöht
Als Spezialuntersuchung steht in ausgewählten Fällen im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ein Ganzkörperradioaktivitätsdetektor zur Verfügung, mit dem auch bei Kindern mit entsprechender Indikation die intestinale Eisenabsorption unter Verwendung von 59Fe direkt gemessen werden kann (Heinrich 1983). Dies kann nützlich sein, um eine unklare Eisenmalabsorption nachzuweisen, oder um gastrointestinale Blutverluste in unklaren Fällen sehr empfindlich zu quantifizieren. 7.3.4
Therapie
Die Beseitigung des Eisenmangels im Schulkind- und Teenageralter ist in den meisten Fällen durch Fehlernährung bedingt. Wenn durch eine ausgewogene Ernährung ein Eisenmangel nicht vermieden werden kann, sollte eine geeignete Diagnostik die Ursache klären. Erst dann wäre ggf. eine Eisensubstitution in Erwägung zu ziehen. Dafür stehen geeignete orale Eisenpräparate zur Verfügung (Tagesdosis 30– 100 mg). Es sollten nur Präparate verwendet werden, die ihre Wirksamkeit in Studien nachgewiesen haben. Manche in Deutschland erhältliche Präparate, insbesondere Eisen(III)Präparate, sind schlecht wirksam. Bei größeren Kindern kann man auf Präparate für Erwachsene zurückgreifen, die Wirkstoffmengen à 30–50 mg enthalten. Jugendliche können auch Einzeldosen à 100 mg Eisen einnehmen. Die Behandlung einer Eisenmangelanämie kann mehrere Monate erfordern. Tipp für die Praxis Nach dem Beseitigung der Anämie (möglicher Hb-Anstieg: ca. 1 g/dl/Woche) sollten noch 2–3 Monate zur Bildung von Eisenreserven (Normalisierung des Serumferritins) weiterbehandelt werden. Praktisch wichtig ist die Nüchterneinnahme, weil viele Nahrungsbestandteile die Eisenabsorption empfindlich hemmen (Hallberg 2001).
Eine parenterale Eisentherapie ist bei Kindern nur in Einzelfällen mit Eisenmangelanämie gerechtfertigt, bei denen eine orale Eisentherapie nachgewiesenermaßen nicht zum Ziel führt. Bei Kleinkindern ist eine Prävention durch Ernährungsberatung in der Praxis oft nicht erfolgreich. Obwohl die Muttermilch eine sehr hohe Eisenbioverfügbarkeit hat, kommt es sowohl bei gestillten als auch bei nicht gestillten Kindern relativ häufig zu einem Eisenmangel. Die Zufütterung mit eisenreichen Nahrungsmitteln ab dem 4–6 Monaten
ist zu empfehlen. Für diese Anwendungsgruppen fehlt eigentlich heute noch eine allgemein empfehlenswerte Verfahrensanweisung. Ein optimales Eisenpräparat für Kleinkinder gibt es bisher eigentlich nicht, Eisentropfen haben generell das Problem einer Schwarzfärbung der Zähne. Therapiestudien in dieser Richtung wären notwendig. 7.4
Eisenüberladung
Die Eisenüberladung ist wie der Eisenmangel eine häufige Störung der ausgewogenen Eisenbilanz. Da es keinen Ausscheidungsmechanismus für überschüssiges Eisen gibt, muss eine signifikante Erhöhung der intestinalen Eisenabsorption oder eine wiederholte parenterale Eisengabe mittel- und langfristig zu einer Erhöhung des Gesamtkörpereisen führen. Bei der primären Hämochromatose ist die Eisenüberladung das Ergebnis einer genetisch bedingten, inadäquaten Hochregulation der intestinalen Eisenabsorption aus einer normalen Diät. 7.4.1
Primäre Eisenüberladung und hereditäre Hämochromatose
! Die hereditäre Hämochromatose (Synonyme: idiopathische, primäre Hämochromatose, erbliche Eisenspeicherkrankheit) ist eine der häufigsten genetisch bedingten Krankheiten der kaukasischen Bevölkerung, z. B. in Nordeuropa, Amerika und Australien. Jeder 200. bis 400. deutsche Bundesbürger ist genetisch betroffen.
Die Genhäufigkeit legt nahe, dass die heterozygote Form möglicherweise einen Selektionsvorteil in der Evolution geboten hat. Es wird spekuliert, eine leicht positive Eisenbilanz könnte bei Heterozygoten während ausgedehnter Hungerphasen geholfen haben, einen drohenden Eisenmangel auszugleichen. Ursache ist eine Fehlregulation der intestinalen Eisenabsorption, so dass trotz gefüllter Eisenspeicher erhöhte Mengen Eisen (beim Erwachsenen 3–5 mg statt der normalen 1–2 mg/Tag) aus der Nahrung aufgenommen werden. Der Gendefekt in der in Nordeuropa häufigsten Form liegt auf dem kurzen Arm des Chromosom 6 (Literatur bei Camaschella et al. 2002). Ca. 95% aller Patienten in Deutschland sind homozygot für die C282Y-Mutation im so genannten HFE-Gen (Nielsen et al. 1998). Inzwischen sind weitere Formen (Defekt im Gen für den Transferrinrezeptor 2, Defekt
107 7 · Physiologie und Pathophysiologie des Eisenstoffwechsels
im Ferroportingen) gefunden worden, wobei der Ferroportindefekt autosomal-dominant vererbt wird. Die so genannte juvenile Hämochromatose ist die klinisch schwerste Form der erblichen Eisenspeicherkrankheit. Kennzeichnend ist der frühzeitige Beginn der klinischen Symptome schon im Jugendlichenalter, die größere Häufigkeit von kardialen Problemen und Hypogonadismus sowie der allgemein schwere Verlaufes. Todesfälle durch Herzversagen sind häufig. Möglicherweise gibt es hierfür 2 verschiedene Gene, die beide etwas mit Hepcidin zu tun haben könnten (Roetto et al 2003). Die neonatale Hämochromatose ist eine seltene, fast immer tödlich verlaufende Krankheit des Neugeborenen, die sich durch eine intrauterine Eisenbeladung parenchymaler Organe, besonders der Leber, auszeichnet. Ursache kann nicht in einer hochregulierten intestinalen Eisenabsorption bestehen, vielmehr scheint der Abbau der physiologischen Eisenüberladung der Leber kurz nach der Geburt gestört. Die meist vorhandene Leberzirrhose führt kurz nach der Geburt zum Tode. Es besteht keine Assoziation zum HLA-System und zum HFE-Gen, der betroffene Stoffwechseldefekt ist noch unbekannt. In einzelnen Fällen führte eine Lebertransplantation und/oder frühzeitige Therapie mit dem Eisenchelator Desferoxamin zu einer Lebensverlängerung. Klinische Bedeutung im Kindesalter. Das Ausmaß der Eisen-
akkumulation und damit die Häufigkeit und Schwere von klinischen Symptomen ist bei Patienten mit erblicher Eisenspeicherkrankheit sehr variabel. Die Penetranz scheint bei Hämochromatose eher niedrig zu sein, nur in ca. 1% von neu identifizierten Homozygoten werden Hämochromatose-typische klinische Symptome gefunden (Beutler et al. 2001). Bei Kindern und Jugendlichen begrenzt das junge Lebensalter und damit die noch kurze Wirkdauer der hochregulierten Eisenabsorption das Ausmaß der möglichen Eisenüberladung. ⊡ Abb. 7.5 zeigt die Lebereisenkonzentration bei 150 Patienten mit homozygoter (C282Y-positiv) Hämochromatose zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. Danach liegen bereits im Kindesalter leicht erhöhte Lebereisenwerte (>0,4 mg/g) vor, die aber durch den Verbrauch von Eisen in der Hauptwachstumphase evtl. wieder abfallen. Abgesehen von der juvenilen Hämochromatose ( oben), liegen im Kindes- und Jugendlichenalter noch keine Hämochromatose-typischen klinische Symptomatik vor. Der Verdacht auf eine Hämo-
chromatose wird daher meist aufgrund erhöhter Laborwerte (Serumeisen, Transferrineisensättigung, Serumferritin) oder durch die positive Familienanamnese deutlich (z. B. Eltern betroffen). Wegen der hohen Genfrequenz kommt es in Familien mit einem homozygoten Elternteil häufiger vor, dass 3 von 4 HFE-Genen der Elterngeneration entsprechend mutiert sind, weil der Ehepartner zufällig auch Genträger ist. In diesen Fällen ergibt sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% eine »pseudoautosomal-dominante« Vererbung der Eisenspeicherkrankheit. Deshalb sollte die molekulare Diagnostik auch bei der nachfolgenden Generation durchgeführt werden. Auch wenn betroffene Eltern dies häufig wünschen, muss dies nicht notwendigerweise bereits im Kindesalter erfolgen, weil auch bei positivem Ergebnis meist doch keine unmittelbaren therapeutischen Schritte notwendig sind. Therapie. In der Regel ist bei homozygoter hereditärer Hämo-
chromatose im Kindesalter vor dem 18. Lebensjahr keine Therapie erforderlich. In den starken Wachstumsphasen ist ein gute Eisenversorgung sogar eher positiv zu bewerten. Ab dem Erwachsenenalter wird eine vorsorgliche Erhaltungstherapie mit 4 Aderlässen/Jahr empfohlen, am besten in Form von regulären Blutspenden. ! Ziel der prophylaktischen Erhaltungstherapie sollte auf Dauer sein, das Serumferritin <30 µg/l zu halten.
Nur dann ist gewährleistet, dass das Serumeisen im Normalbereich liegt und dass kein hochreaktives nicht-transferringebundenem Eisen im Plasma vorhanden ist. Bei frühzeitigem Beginn einer Eisenentzugstherapie kann davon ausgegangen werden, dass es zu keiner eiseninduzierten Folgeerkrankung kommt, die mit der Hämochromatose üblicherweise verbunden werden. Die Lebenserwartung, Lebensführung und Lebensqualität ist dann bei solchen Patienten nicht beeinträchtigt (Niederau et al. 1994). 7.4.2
Sekundäre Eisenüberladung
Unter dem Begriff sekundäre Eisenüberladung werden eine Reihe von Krankheitsbildern mit Eisenüberladung zusammengefasst. Solche »iron-loading anaemias« sind charakterisiert durch eine hyperplastische ineffektive Erythropoese. »Iron-loading anaemias«:
⊡ Abb. 7.5. Lebereisenkonzentration bei 150 Patienten mit homozygoter hereditärer Hämochromatose vor Therapiebeginn
Thalassaemia major Thalassämie-ähnliche Syndrome Hb Lepore HbE Hb Knossos Instabile Hämoglobine Thalassaemia intermedia β-Thalassämie mit hoher Restaktivität β-Thalassämie mit HbH-Krankheit Kongenitale dyserythropoetische Anämie Sideroblastische Anämie Hereditäre Sphärozytose Pyruvatkinasemangel
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Es zeigt sich diagnostisch eine Anämie bei gleichzeitig hohem Serumeisen, hoher Transferrinsättigung und erhöhten Ferritinwerten als Ausdruck einer sich einstellenden progredienten Eisenüberladung mit Hämosiderineisenablagerung in Parenchym- und Nichtparenchymzellen. Die überschüssige Eisenspeicherung kann allein bedingt sein durch eine hochregulierte Nahrungseisenabsorption, z. B. in Patienten mit Thalassaemia major vor Beginn einer Transfusionstherapie oder bei thalassämischen Hämoglobinopathien. Darunter versteht man Hb-Lepore-Varianten, die HbE und Hb Knossos bilden. Schließlich gibt es extrem instabile Hämogobinopathien, die zu schweren hypochromen und hämolytischen Anämien führen. In vielen Fällen ist die Anämie so stark, dass schnell eine Transfusionspflichtigkeit entsteht. Bei chronischer Transfusionstherapie (ab ca. 20 Transfusionen) ergibt sich dann zusätzlich eine Eisenüberladung durch das zugeführte Hämoglobineisen (Transfusionssiderose). In der dritten Welt ist eine teure Transfusionstherapie aus wirtschaftlichen Gründen nur für eine sehr kleine Zahl von privilegierten Patienten z. B. mit Thalassaemia major möglich. Die unbehandelten Patienten versterben im Kindesalter. Therapie. Bei »iron-loading anaemias« wird durch die Transfusionen versucht, eine Hämoglobinkonzentration von 10– 12 g/dl einzustellen. Dadurch wird die ineffektive Erythropoese gehemmt und die intestinale Eisenabsorption damit reduziert. Die Transfusionstherapie führt z. B. bei der Thalassämie zu einer deutlichen Erhöhung der Überlebenszeit und zu einer Verbesserung der Lebensqualität. In den polytransfundierten Patienten entsteht allerdings durch den Abbau des zugeführten Fremdhämoglobins eine ständig zunehmende Eisenüberladung, die ihrerseits unbehandelt wieder die Lebenserwartung auf das frühe Erwachsenenalter begrenzt. Durch die Einführung einer effektiven Eisenentzugstherapie durch Eisenchelatoren kann die Lebenserwartung weiter deutlich erhöht werden. Die ältesten, optimal behandelte Patienten mit Thalassaemia major sind heute ca. 50 Jahre alt (Gabutti u. Piga 1995).
Thalassämie und Sichelzellanämie Hämoglobinopathien wie die α- oder β-Thalassämie und die Sichelzellanämie gehören weltweit zu den häufigsten Einzelgenkrankheiten. Diagnostik und Verlaufskontrolle. Grundlage für eine optimal angepasste Eisenentzugstherapie sind geeignete diagnostische Parameter, die das Ausmaß der individuell vorliegenden Eisenüberladung und den Verlauf unter Therapie hinreichend genau beschreiben. Das Serumeisen und die Transferrineisensättigung sind empfindliche Parameter, die schnell eine überschüssige Eisenspeicherung anzeigen. Diese Werte sind bei Patienten mit sekundären Siderosen meist ständig erhöht und lassen keine Aussage über den Grad der Eisenüberladung zu. Für das Monitoring von Transfusionssiderosen wurde bisher hauptsächlich die Serumferritinkonzentration herangezogen. Die Bestimmung der Eisenkonzentration in regelmäßigen Leberbiopsien wird dagegen nur selten durchgeführt, da sie für Patienten im Kindesalter besonders belastend ist und stets ein Komplikationsrisiko birgt. Auch wenn in vielen Stu-
⊡ Abb. 7.6. Lebereisenkonzentration und Serumferritin bei β-Thalassaemia major (n=525, Kreuze), β-Thalassaemia intermedia (n=13, Punkte) und hereditärer Hämochromatose (n=142, Quadrate)
dien signifikante Korrelationen des Serumferritins mit der Lebereisenkonzentration (LIC) beobachtet worden sind, lässt dies keinen Rückschluss auf die quantitative Aussagekraft des Ferritins im Einzelfall zu (⊡ Abb. 7.6). Für eine typische Ferritinkonzentration von 3000 µg/l wurden bei Patienten mit β-Thalassaemia major 95%-Vorhersagebereiche der Lebereisenkonzentration von 8000 bzw. 4000 µg/g Leber gefunden (Nielsen et al. 2002). Hinsichtlich der Eisenüberladung ist das Serumferritin deshalb nur ein grobes Maß für das individuell vorhandene überschüssige, potenziell toxische Speichereisen. Die nicht-invasive Bestimmung des Lebereisens mittels SQUID-Biosuszeptometrie ist dagegen sehr genau und repräsentativ. Die Untersuchung ist für den Patienten völlig risikolos und deshalb beliebig oft wiederholbar. Therapie und Therapiebeginn. Bei Patienten mit β-Thalas-
saemia major sollte die Eisenentzugstherapie bereits in früher Kindheit beginnen, um von vornherein eine schwere Eisenüberladung zu verhindern. Das Risiko einer Überdosierung des Chelatbildners ist allerdings bei Säuglingen und kleinen Kindern höher, und es drohen bei zu frühzeitigem Beginn z. B. Wachstumsbeeinträchtigungen (Piga et al. 1988) oder Hörschäden (Olivieri et al. 1992). Üblicherweise beginnt man mit der Therapie im Alter zwischen 2 und 3 Jahren, nachdem bereits 10–20 Transfusionen verabfolgt wurden und das Serumferritin Werte von >1000 µg/l erreicht hat. In Patienten mit dem klinischen Verlauf einer Thalassaemia intermedia ist der Grad der Eisenüberladung sehr variabel. Ähnlich wie bei der Hämochromatose liegt hier anfangs eine betont parenchymatöse Eisenspeicherung vor, die vom Serumferritinwert oft unterbewertet wird. Die Messung der Lebereisenkonzentration ist bei solchen Patienten besonders wertvoll. Oft werden bei den meist unbehandelten Patienten sehr hohe Werte gemessen (Fiorelli et al. 1990). Bei der Sichelzellanämie ist die Diagnose einer Eisenüberladung anhand des schwankenden Serienferritinwertes oft schwer zu beurteilen, insbesondere, wenn zuvor eine hämolytische Krise oder andere krisenhafte Komplikation eingetreten ist (Brownell et al. 1986). Eine Eisenchelatortherapie ist wegen eines erhöhten Thrombose- und Infektionsrisikos schwieriger durchzuführen (Porter 2001). Für andere transfusionsbedingte Eisenüberladungen, z. B. bei Fanconi- oder Diamond-Blackfan-Anämie gelten ähnliche
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diagnostische und therapeutische Notwendigkeiten wie bei der β-Thalassämie. Die Therapie mit Eisenchelatoren ist im Kap. 14 und 15 beschrieben. Sideroblastische Anämien
zen, eine Eisenüberladung kann im Einzelfall zu einer schweren klinischen Symptomatik führen. In beiden Fällen ist die biologische Dosis-Wirkungs-Beziehung zur Zeit noch unklar; es liegen teilweise widersprüchliche klinische Befunde vor. Eine frühzeitige Diagnose ist wichtig, um die im Einzelfall drohenden Spätschäden sicher zu verhindern.
Definition Die sideroblastische Anämie (SA) mit hypochromen und mikrozytären Erythrozyten ist eine heterogene Krankheitsgruppe mit gestörtem mitochondrialen Eisenstoffwechsel.
Alle genetisch bedingten oder erworbenen Veränderungen betreffen die Hämsynthese in Mitochondrien von Erythroblasten. Die dabei entstehende mitochondriale Eisenüber ladung zeigt sich im Knochenmarkausstrich als ringförmig um den Zellkern angeordnete Eisengranula (Ringsideroblasten). Die im Kindesalter vorherrschende X-chromosomale SA liegt in 2 Formen vor, die durch das Auftreten einer Ataxie unterschieden werden können: ▬ Mutationen auf Chromosom Xp11.21 im ALAS2-Gen beeinträchtigen die Aktivität der δ-AminiolävulinsäureSynthetase, dem Schlüsselenzym der Hämsynthese. Pyridoxalphosphat ist ein Kofaktor dieses Enzyms, manche Patienten sprechen gut auf pharmazeutische Dosen von Pyridoxin an. ▬ Ein Defekt im ABC-7-Gen führt zu einer SA mit Ataxie. Das ABC-7 Gen wird in Zusammenhang mit der Synthese von Fe-S-Cluster gebracht, z. B. für die Akonitase im Citratzyklus. Ein noch unbekannte Verbindung muss zur Friedreich-Ataxie bestehen, die ebenfalls zu einer mitochondrialen Eisenspeicherung führt. Bei der sideroblastischen Anämie ist eine systemische Eisenüberladung eine häufige Begleiterscheinung, bedingt durch die Hyperplasie einer ineffektiven Erythropoese mit gesteigerter Nahrungseisenaufnahme. Eine Genträgerschaft für die Hämochromatose muss nicht vorhanden sein, wie früher behauptet wurde. Allerdings kann eine zusätzlich bestehende Mutation im HFE-Gen (C282Y, H63D) die Eisenüberladung offenbar verstärken. Eine Eisenentzugstherapie in Form von vorsichtigen Aderlässen scheint wirksam zu sein. Offenbar werden dadurch die mitochondrialen Eisenspeicher abgebaut; auch die Anämie und die Wirksamkeit einer Medikation mit Pyridoxin können sich verbessern.
Durch die molekularbiologischen Erkenntnisse in den letzten Jahren hat sich das Wissen um den Eisenstoffwechsel wesentlich erweitert und dadurch konnte die Ursache von einigen Krankheiten, z. B. Formen der sideroblastischen Anämie und der hereditären Hämochromatose, aufgeklärt werden. Sowohl der Eisenmangel als auch die Eisenüberladung sind häufige Krankheiten, mit der ein Kinderarzt konfrontiert wird. Ein Eisenmangel scheint Auswirkungen auf die mentale Entwicklung auch beim Menschen zu besit-
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
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111
Megaloblastäre und kongenitale dyserythropoetische Anämien C. Niemeyer, J. Rössler
8.1
Megaloblastäre Anämien
8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6
Definition und Ursachen – 111 Symptome – 112 Hämatologische Veränderungen – 112 Vitamin B12 (Cobalamin) – 112 Folsäure – 117 Andere Ursachen megaloblastärer Anämien
8.2
Kongenitale dyserythropoetische Anämien – 118
8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7
Definition – 118 Klinische und hämatologische Befunde – 118 Kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ I – 119 Kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ II – 119 Kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ III – 120 Varianten – 120 Therapie – 120
Literatur
– 111
malonsäure zeigt. In der wenig später doch gewonnen Blutprobe ist der Serum-Vitamin-B12-Spiegel deutlich erniedrigt. Im Blutbild finden sich Hämoglobin 5,7 g/dl, MCV 127 fl, Retikulozyten 50 Promille, Thrombozyten 100.000/µl und Leukozyten 3800/µl. Die erweiterte Anamnese erbringt, dass sich die Mutter als Veganerin seit mehreren Jahren und auch während der Schwangerschaft und Stillperiode ohne tierisches Eiweiß ernährt. Bei normalen Blutbildwerten hat sie eine deutlich erniedrigte Vitamin-B12 Serumkonzentration.
– 118
– 120
Ein 6 Monate alter blasser Säugling wird im sozialpädiatrischen Zentrum wegen Entwicklungsrückschritten vorgestellt. Bei der U4 war ein altersgerechter Entwicklungsstatus dokumentiert worden. Jetzt hat das Kind beim Traktionsversuch keine Kopfkontrolle mehr, freies Sitzen hat es verlernt. Es fällt ferner auf, dass das voll gestillte Kind in den letzten 3 Wochen kein Gewicht zugenommen hat. Da die Mutter eine Blutentnahme zunächst ablehnt, wird unter der Verdachtsdiagnose Vitamin-B12-Mangel Spontanurin untersucht, der eine erhöhte Ausscheidung von Methyl-
8.1
Megaloblastäre Anämien
8.1.1
Definition und Ursachen
Megaloblastäre Anämien sind makrozytäre Anämien, die durch eine megaloblastäre Ausreifungsstörung insbesondere der Erythropoese charakterisiert sind. Sie können von einer Leuko- und Thrombozytopenie begleitet sein. Die häufigsten Ursachen sind ein Vitamin-B12- oder Foläuremangel, andere Ursachen sind selten (⊡ Tabelle 8.1). Vitamin-B12-Mangelzustände sind in der Regel durch eine verringerte Zufuhr oder eine Resorptionsstörung bedingt, während bei Folsäuremangelzuständen ein erhöhter Verbrauch bei gesteigerter Zellproliferation die wesentliche Rolle spielt. ! Die häufigste Ursache der megaloblastären Anämie im Kindesalter ist der nutritive Vitamin-B12-Mangel.
⊡ Tabelle 8.1. Ursachen von megaloblastärer Anämie
Vitamin-B12-Mangel
Folsäure-Mangel
Andere Ursachen
Inadäquate Ernährung Veganer Mütterliche Mangelzustände bei Feten oder gestillten Säuglingen
Inadäquate Ernährung Diät Mütterliche Mangelzustände bei Feten oder gestillten Säuglingen
Orotazidurie Thiaminmangel Lesh-Nyhan-Syndrom
Mangelhafte Absorption »Intrinsic-factor«-Mangel Cubilin-Defekt Darmerkrankungen
Mangelhafte Absorption Hereditär Darmerkrankungen
Transportdefekte Transcobalamin-II-Defekt
Erhöhter Bedarf Alkoholismus Schwangerschaft
Defekt im Stoffwechsel Angeborene Defekte (cblC-, cblD-, cblE-, cblF-, cblG-Erkrankung) NO-Intoxikation
Medikamente Antifolate, Sulfone
8
112
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
8.1.2
Symptome
I Patienten mit megaloblastärer Anämie zeigen Symptome der Anämie, gelegentlich auch der Thrombozytopenie. Die der megaloblastären Anämie zugrunde liegende Störung der DNS-Synthese macht sich auch in anderen rasch proliferierenden Geweben wie dem Gastrointestinaltrakt bemerkbar. Gastrointestinale Beschwerden mit Übelkeit, Erbrechen, Inappetenz, Gewichtsverlust und Bauchschmerzen können im Vordergrund stehen. Die neurologischen Störungen sind Folge einer Degeneration der Hinterstränge und später Pyramidenbahnen im Rückenmark (funikuläre Myelose, »subacute combined degeneration of the spinal cord«). Sie zeigen sich in Form von peripheren Neuropathien mit Sensibilitätsstörungen v. a. der unteren Extremität und Ataxie. Demenz und Depression treten hinzu. Bei Säuglingen tritt meist ein psychomotorischer Entwicklungsstill- und -rückstand auf, der den hämatologischen Veränderungen vorausgehen kann (Kühne et al. 1991; Graham et al. 1992). 8.1.3
a
Hämatologische Veränderungen
Das megaloblastäre Knochenmark ist hyperzelluär mit gesteigerter Proliferation aller drei Zellreihen. Hyperplasie und megaloblastäre Ausreifungsstörungen finden sich besonders in der Erythropoese. Die erythropoetischen Vorstufen sind größer als normal und zeigen im Kern ein aufgelockertes offenes Chromatin (⊡ Abb. 8.1a). Der Kern erscheint weniger reif als das umgebende Zytoplasma. Diese sogenannten Megaloblasten gehen während der Ausreifung vermehrt in Apoptose, so dass ihre unreifen Formen überwiegen. In Folge dieser ineffektiven Erythropoese (intramedullären Hämolyse) sind die Serumkonzentrationen für LDH, Bilirubin, Eisen und die Transferrinsättigung erhöht. Auch myeloische Vorläuferzellen sind vergrößert, Riesenformen von Stabkernigen oder Metamyelozyten fallen ins Auge. Segmentkernige Neutrophile können hypersegmentiert (≥6 Segmente) sein. Eine Hypersegmentierung der Kerne fällt auch bei Megakaryozyten auf. Im Blutbild findet sich bei erniedrigtem, gelegentlich auch noch normalem Hämogobingehalt immer ein für das Alter deutlich erhöhtes MCV der Erythrozyten. Der Blutausstrich zeigt eine Aniso- und Poikilozytose mit großen hyperchromen ovalen Erythrozyten (⊡ Abb. 8.1b). Diese Makrozyten sind fragil, so dass vermehrt Fragmentozyten beobachtet werden. Auch Erythrozyten mit Jolly-Körperchen oder basophiler Tüpfelung können auftreten. Die Retikulozytenzahl ist normal oder geringgradig erhöht, für das Ausmaß der Anämie allerdings inadäquat niedrig. Kernhaltige rote Vorstufen werden besonders im Säuglingsalter ins Blut ausgeschwemmt. Das Auftreten hypersegmentierter neutrophiler Granulozyten (>1% aller segmentkernigen Granulozyten) ist ein frühes Zeichen einer megaloblastären Reifestörung, während Leuko- und Thrombozytopenie beim Fortschreiten der Erkankung hinzukommen. Die hämatologischen Veränderungen lassen keinen Rückschluss auf die Ursache der megaloblastären Anämie zu. Ist die Diagnose eines nutritiven Vitamin-B12-Mangels durch Anamnese und klinisch-chemische Untersuchungen gesichert, kann bei kompatiblem Blutbild auf eine Knochenmarkpunktion verzichtet werden.
b ⊡ Abb. 8.1a, b. Vitamin-B12-Mangel. a Knochenmarkausstrich: Abgebildet sind je ein megaloblastärer Proerythroblast (1), basophiler Erythroblast (2) und orthochromatischer Erythroblast (3) sowie ein Riesenstabkerniger (4) und eine Mitose (5). b Peripherer Blutausstrich: Die Erythrozytenmorphologie zeigt eine deutliche Aniso- und Poikilozytose mit ovalen Makrozyten (1), Fragemtozyten (2), Tränenformen (3) und basophiler Tüpfelung (4). Ferner ein hypersegmentierter Granulozyt (5)
8.1.4
Vitamin B12 (Cobalamin)
Ursachen eines Vitamin-B12-Mangels kann eine ungenügende Zufuhr, eine unzureichende Resorption, eine Transportstörung oder ein Defekt im Vitamin-B12-Stoffwechsels sein ( Tabelle 8.1). Biochemie Moleküle der Vitamin-B12-Gruppe sind Cobalamine (Cbl), die aus einem Corrin-Ring und einem zentralen Cobaltatom bestehen. Das Cobaltatom ist mit einer variablen Molekülgruppe verbunden (⊡ Abb. 8.2). Die Begriffe Vitamin B12 und Cobalamin werden hier austauschbar gebraucht. Als Koenzym ist Cbl im Wesentlichen für 2 Reaktionen notwendig. Als Methyl-Cbl steht es der zytosolischen Methioninsynthase zum Methylgruppentransfer auf Homocystein zur Verfügung (⊡ Abb. 8.3). Diese Reaktion dient weniger der Synthese der (essenziellen) Aminosäure Methionin in der Leber, sondern vielmehr der Einschleusung von Einkohlenstoffeinheiten (C1-Bruchstücken) über Tetrahydrofolsäure
113 8 · Megaloblastäre und kongenitale dyserythropoetische Anämien
⊡ Abb. 8.2. Struktur von Cobalamin (nach Forth et al. 2001): Cobalamin ist ein Corrin-Derivat. Im Gegensatz zum Porphyrinringsystem sind beim Corrin-Ringsystem die 4 Pyrrolringe teilweise hydriert und nur durch 3 Methingruppen verbunden. Das zentrale Cobaltatom (Co3+) hat 4 feste Bindungen zum Corrin-Ring, eine zum Nukleosid 5,6-Dimethyl-Benziminazole-Ribose-3-Phosphat sowie eine zu einer variablen Gruppe (R): R=CN Cyanocobalamin (Form, in der Cobalamin zur Diagnostik mit Co57 markiert wird) R=OH Hydroxycobalamin (stabilste Form, wird in Therapie verwandt) R=H2O Aquocobalamin (Speicherform in der Leber)
(THF) in den Stoffwechsel (⊡ Abb. 8.3). Bei Ausfall der Koenzymfunktion von Methyl-Cbl kommt es zum Anstieg von Homocystein in Plasma und Urin. Als Adenosyl-Cbl ist Vitamin-B12-Koenzym der mitochondrialen MethylmalonylCoA-Mutase ( Abb. 8.4) im Fettsäureabbau. Eine verringerte Enzymaktivität führt zu erhöhten Konzentrationen von Methylmalonsäure in Plasma und Urin mit der Folge von Azidose, Hyperglyzinämie und Hemmung anderer Stoffwechselprozesse.
R=CH3
Methylcobalamin (Koenzym der Methioninsynthase)
5-Desoxyadenosylcobalamin (Koenzym der MethylmalonylCoA-Mutase) Hydroxy-, Cyano- und andere Vitamin-B12-Formen werden in tierischen Geweben in die beiden Koenzymformen umgewandelt.
Physiologie Cbl wird von Bakterien und Algen synthetisiert. Pflanzen benötigen kein Cbl, sie synthetisieren oder speichern es auch nicht. Die Aufnahme von Cbl erfolgt daher ausschließlich über tierische Produkte. Bei ausgewogener Kost nimmt der Erwachsene täglich 10–30 µg Cbl zu sich. Davon werden maximal 5 µg resorbiert. Der durchschnittliche Tagesbedarf eines Erwachsenen liegt bei 2,4 µg (⊡ Tabelle 8.2; The National Academy of Science 1999). Vom Gesamtbestand des Cbl (2– 5 mg beim Erwachsenen) kann ca. ein Drittel in der Leber gespeichert werden.
8
114
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
⊡ Abb. 8.3. De-novo-Synthese von Methylgruppen aus Einkohlenstoffeinheiten (nach Buddecke 1974). THF Tetrahydrofolsäure, Cbl Cobalamin
⊡ Tabelle 8.2. Empfohlener Bedarf an Vitamin B12 und Folsäure (The National Academy of Science 1999)
Alter
Vitamin B12 (µg/Tag)
Folsäure (µg/Tag)
0–6 Monate (6 kg) 7–12 Monate (9 kg) 1–3 Jahre (13 kg) 4–8 Jahre (22 kg) 9–13 Jahre 14–18 Jahre Erwachsene
0,4 0,5 0,7 1,0 1,5 2,0 2,4
65 80 150 200 300 400 400 (Schwangerschaft 600)
Cbl ist in der Nahrung an Protein gebunden und wird nach der Aufnahme im sauren Milieu des Magens freigesetzt. In Körperflüssigkeiten, so auch im Magen, wird Cbl an Haptocorrine gebunden. Haptocorrine (R-Binder, Cobalophilin, Transcobalamin I) sind eine Familie von Proteinen mit ähnlicher Struktur und unterschiedlicher Glykosylierung, die eine hohe Bindungsaffinität für Cbl und Nicht-Cbl-Corrine haben (Hansen 1990). Proteasen des Pankreas spalten Cbl von Haptocorrin. Die weitere gastrointestinale Aufnahme ist vom Vorhandensein des Glykoproteins »intrinsic factor« (IF) abhängig, der von Parietalzellen des Magens gebildet wird. Cbl bildet mit IF einen Komplex, der über einen Rezeptor namens Cubilin (Kozyraki et al. 1998) im Ileum aufgenommen wird. Die Resorption von Cbl über den IF-Mechanismus ist durch die Zahl der Cubilin-Rezeptoren auf 2–3 µg Cbl (beim Erwachsenen) limitiert. Eine kleine Menge (<1%) einer hohen Cbl-Dosis kann durch passive Absorption der Schleimhäute aufgenommen werden. Im Inneren der Mukosazelle wird Cbl von IF abgehängt und an Transcobalamin (TC) II, ein β-Globulin, gebunden. Der Komplex Cbl-TC II verlässt die Zelle durch einen exozytischen Vorgang zur Blutseite hin. Im Blut sind 80% des Cbl an Haptocorrin (TC I) gebunden. Haptocorrin wird u. a. von
myeloischen Zellen produziert. Bei gesteigerter Granulopoese wie bei myeloproliferativen Erkrankungen kommt es zu vermehrten Freisetzung von Haptocorrin ins Plasma. In diesen Fällen steigt der Cbl-Spiegel im Serum deutlich an. Nur das an TC II gebundene Cbl (20%) kann über einen entsprechenden Rezeptor mittels Endozytose in die Zelle aufgenommen werden ( Abb. 8.4). Die Cbl Serumkonzentrationen beim Erwachsenen liegen zwischen 120–180 pmol/l (170– 250 pg/ml). An Haptocorrin gebundenes Cbl wird nur von Hepatozyten aus dem Plasma entfernt. Es wird in die Galle sezerniert und nach Bindung an IF rückresorbiert. Die Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs von täglich ca. 3 µg Cbl trägt bei Resorptionsstörungen zur Cbl-Depletion bei. Die Halbwertszeit von Cbl im Plasma beträgt 5 Tage, im Speicherorgan Leber mehr als ein Jahr. Nutritiver Vitamin-B12-Mangel Ein nutritiver Cbl-Mangel kann durch eine langfristige Diät ohne Fleisch, Fisch, Eier, Milch oder Käse (Veganer) entstehen. Neugeborenen von Müttern mit Vitamin-B12-Mangel haben eine verringerte plazentare Zufuhr, so dass es intrauterin nur zu einer unzureichenden Füllung der Vitamin-B12Speicher in der Leber kommt (Rosenblatt u. Whitehead 1999). Durch die Fähigkeit der Plazenta Vitamin B12 anzureichern, haben Neugeborene einen höheren Serumspiegel als ihre Mütter. Das Stillen mit der an Cbl verarmten Muttermilch (normal ca. 4 µg Cbl/100 ml) verschärft jedoch die Mangelsituation des Säuglings (Specker et al. 1990; Trugo u. Sardinha 1994; Allen 2002), die Vitamin-B12-Serumkonzentration sinkt in den ersten Lebensmonaten ab. Auch Säuglinge von Müttern mit gelegentlich unerkannter perniziöser Anämie können einen nutritiven Vitamin-B12-Mangel entwickeln. Da die Anti-IF-Antikörper plazentar übertragen werden, kann es bei diesen Kindern, besonders wenn die Antikörpertiter der Mutter hoch sind, zur Resorptionsstörung von Cbl kommen. Symptome des Cbl-Mangels zeigen sich meist ab dem 4.–7. Lebensmonat. Im Vordergrund stehen neurologische Veränderungen mit Entwicklungsstillstand oder Verlust von motorischen Fähigkeiten, Apathie, Irritabilität und Muskel-
115 8 · Megaloblastäre und kongenitale dyserythropoetische Anämien
hypotonie (Higginbottom et al. 1978; Grattan-Smith et al. 1997). Gedeihstörung, verlangsamtes Längen- und Kopfwachstum kommen hinzu, hämatologische Auffälligkeiten werden meist erst später beobachtet. Während sich das Blutbild unter Cbl-Substitution rasch normalisiert, kann die neurologische Schädigung irreversibel sein (Graham et al. 1992). Bei strikter veganischer Diät können auch ältere Kinder einen Cbl-Mangel mit megaloblastärer Anämie erwerben. Vitamin-B12-Resorptions- und Transportstörungen Die perniziöse Anämie ist Folge einer Autoimmungastritis, meist im Rahmen einer Polyendokrinopathie. Sie ist die häufigste Ursache des Vitamin-B12-Mangels im Erwachsenenalter. Ca. 20% der Angehörigen von betroffenen Patienten leiden selbst an einer perniziösen Anämie (Toh et al. 1997), die Erkrankung ist jedoch im Jugendalter selten (McIntre et al. 1965). Gastrointestinale Beschwerden oder Vitamin-B12induzierte neurologische Ausfälle müssen nicht parallel zu den hämatologischen Veränderungen verlaufen. Eine angeborene Cbl-Resorptionsstörung als Folge eines fehlenden oder biologisch inaktiven IF ist bei wenigen Kindern beschrieben (Yang et al. 1985; Remacha et al. 1992). Durch Zugabe von normalem IF aus Magensaft kann die CblAufnahme normalisiert werden. In Abwesenheit von größeren Deletionen werden Punktmutationen im menschlichen Gen für IF auf Chromosom 11 angenommen. Eine Vitamin-B12-Resorptionsstörung findet sich nach Resektion von Magen oder terminalem Ileum. Sie kann auch Teil eines Malabsorptionssyndroms sein, das in der Regel durch Symptome wie Enteritis oder Dystrophie auffällt. Ein defekter Transport von Vitamin B12 in Enterozyten liegt der autosomal-rezessiv vererbten megaloblastären Anämie I zugrunde. Sie wurde 1960 zeitgleich in Norwegen (Imerslund 1960) und Finnland (Gräsbeck et al. 1960) beschrieben (Imerslund-Gräsbeck-Syndrom). Die seltene Erkrankung mit ca. 200 publizierten Fällen ist weltweit verbreitet, zeigt aber die höchste Prävalenz im mittleren Osten und Skandinavien. Neben der Anämie, Gedeihstörung, gastrointestinalen und neurologischen Störungen zeigen einige Patienten auch eine Proteinurie. Mutationen im Cubilin-Gen sind ursächlich für die Erkrankung bei allen betroffenen finnischen Patienten (Aminoff et al. 1999). Die norwegischen Patienten weisen hingegen Mutationen im Gen eines anderen transmembranen Proteins, dem AMN-Gen (humanes Äquivalent zum murinen »amnionless«-Gen) auf (Tanner et al. 2003). Die genetischen Ursachen bei anderen Betroffenen sind bisher nicht bekannt. Die Proteinurie erklärt sich durch die Expression von Cubilin (und der anderen betroffenen Protein) im Nierentubulus. Sie wird im Gegensatz zu den hämatologischen Veränderungen durch eine parenterale Vitamin-B12-Substitution nicht korrigiert. Interessanter- und bisher ungeklärter Weise sind in Finnland und Norwegen in den letzten 30 Jahren fast keine neuen Erkrankungsfälle hinzugekommen. ! Im Gegensatz zum nutritiven Vitamin-B12-Mangel fallen Kleinkinder mit defektem Transport durch Enterozyten oft erst nach dem ersten Lebensjahr auf, da ihre Vitamin-B12-Speicher intrauterin ausreichend gefüllt wurden.
Der angeborene Mangel von Vitamin B12 bindenden Proteinen wie dem Haptocorrin oder dem Transcobalamin II ist selten (Carmel 1988; Kaikov et al. 1991). Kinder mit TC-IIMangel fallen in den ersten Lebensmonaten auf. Da Cbl im Serum in erster Linie an Haptocorrin (TC I) gebunden ist, zeigen sie eine normale Vitamin-B12-Serumkonzentration. Vitamin-B12-Stoffwechselstörungen Der intrazelluläre Metabolismus von Cbl ist in ⊡ Abb. 8.4 dargestellt. Der Komplex Cbl–TCII wird über einen spezifischen Rezeptor in die Zelle und in ein Lysosom aufgenommen. Hier wird er proteolytisch verdaut und über die Lysosomenmembran in das Zytosol transportiert. Das freie Cbl wird von Cbl3+ zu Cbl2+ und Cbl1+ reduziert und in dieser Form zu Methyl-Cbl methyliert oder Adenosyl-Cbl adenosyliert. Die reduktive Methylierung von Cbl erfolgt am Enzym Methioninsynthase und wird durch die Methioninsynthasereduktase katalysiert. Die Synthese von Adenosyl-Cbl ist weniger gut untersucht. Nach Reduktion im Zytoplasma wird Cbl in das Mitochondrium transportiert, in dem die nächste Reduktion und das Anhängen einer Adenosylgruppe erfolgt. Abhängig von der Art der Störung zeigen betroffene Patienten eine Homozystinurie oder Methylmalonazidurie oder beides (Quereshi et al. 1994; Savage et al. 1994). Zur Beschreibung der verschiedenen Erkrankungen konnten 8 Komplementationsgruppen (cblA bis cblH) definiert werden, deren Defekte sich in kultivierten Fibroblasten nach Kernfusion partiell korrigieren lassen (⊡ Abb. 8.4; Rosenblatt u. Fenton 2001). Bei der Komplementationsgruppe cblF scheint eine Blockierung der Ausschleusung von Cbl aus dem Lysosom vorzuliegen. cblC und cblD sind zytosolische Reduktasedefekte. Diese 3 Komplementationsgruppen führen durch Mangelzustände von Adenosyl- und Methly-Cbl zur Methylmalonazidurie und Homozystinurie mit Hypomethioninämie. Ein alleiniger Methyl-Cbl-Mangel mit Homozystinurie, Hypomethioninämie und ohne Methymalonazidurie findet sich bei Aktivitätsverlust der Methioninsynthase (cblG) oder des vorgeschalteten Schritts der Methioninsynthasereduktase (cblE). Ein Verlust der Aktivität der Adenosyl-Cbl abhängigen Methylmalonyl-CoA-Mutase kann im Gegensatz zum Adenosyl-Cbl-Mangel (cblA, cblB, cblH) nicht durch hohe VitaminB12-Dosen korrigiert werden. Drei der betroffenen Gene konnten kloniert werden: MTRR kodiert für die Methioninsynthasereduktase (cblE; Leclerc et al. 1999), MTR für die Methioninsynthase (cblG; Chen et al. 1997) und MMAA für die mitochondriale Cobalamin2+-Reduktase (Dobson et al. 2002). Störungen im intrazellulären Vitamin-B12-Stoffwechsel führen zu schweren autosomal rezessiv vererbten Krankheiten mit normaler Vitamin-B12-Serumkonzentration. Kinder mit Methylcobalaminmangel (cblE und cblG) präsentieren sich meist in den ersten beiden Lebensjahren mit megaloblastärer Anämie und verschiedensten neurologischen Auffälligkeiten. Alle anderen Patienten (cblF, C, D, A, H, B) fallen in der Regel im ersten Lebensjahr durch Apathie, Gedeihstörung, Erbrechen und Tachydyspnoe auf. Diese Erkrankungen sind durch eine schwere Azidose und Akkumulation von Methylmalonsäure in Blut, Urin und Liquor charakterisiert.
8
116
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
⊡ Abb. 8.4. Intrazellulärer Stoffwechsel von Vitamin B12 (nach Rosenblatt u. Fenton 2001). Die einzelnen enzymatischen Schritte sind anhand der Komplementationsgruppen beschrieben. Die den Komplementationsgruppen entsprechenden Gene und ihre voraussichtliche Funktionen sind: cblA (MMAA) mitochondriale Cobalamin2+Reduktase; cblB Cobalamin1+-Adenosyltransferase; cblC/cblD ver-
mutlich Cobalamin3+-Reduktase; cblE (MTRR) Methioninsynthasereduktase; cblF lysosomale Cobalamin Ausschleusung; cblG (MTR) Methioninsynthase; cblH vermutlich Komponente des Cobalamintransports oder der mitochondrialen Cobalamin2+-Reduktase (Dobson et al. 2002)
Diagnostik des Vitamin-B12-Mangels Anamnese und Blutbildveränderungen können auf einen Vitamin-B12-Mangel hinweisend sein. Wie oben dargestellt ist die Bestimmung der Vitamin-B12-Metabolite von großer differenzialdiagnostischer Wertigkeit (Schneede et al. 1994). Für einen nutritiven Mangel oder eine Resorptionsstörung beweisend ist eine verminderte Vitamin-B12-Serumkonzentration.
suchung eine Woche später mit gleichzeitiger oraler Applikation von IF kann der IF-Mangel von anderen Formen der Resorptionsstörungen unterschieden werden. Die Strahlenexposition beim Schilling-Test ist mit 0,2 mSv sehr niedrig (1/20 der Dosis der 99mTechnetium-Skelettszintigraphie).
! Durch Verlust der Koenzymfunktion kommt es beim nutritiven Vitamin-B12-Mangel immer zum Anstieg von Homocystein und Methylmalonsäure im Plasma und im Urin.
Intestinale Resorptionsstörungen können mit dem SchillingTest nachgewiesen und eingeordnet werden. Wenn beim Gesunden eine kleine Menge 57Cbl oral verabreicht wird, bindet sie im Magen an IF des Magensafts und wird im terminalen Ileum resorbiert. Von dort wandert sie an TC II gebunden in die Gewebe, ohne dass wesentliche Teile im Urin ausgeschieden werden. Wenn 2 h nach oraler Applikation des 57Cbl eine große Menge (1 mg) nicht radioaktiv markiertes Cbl parenteral injiziert wird (Ausschwemmdosis), erscheinen 10–30% des zuvor resorbierten 57Cbl im Urin. Beim Vorliegen einer Vitamin-B12-Resorptionsstörung finden sich weniger als 2% des 57Cbl im Urin wieder. Durch die Wiederholung der Unter-
Therapie von Vitamin-B12-Mangelzuständen Bei schwerer Anämie kann die Stabilisierung des Patienten mit Sauerstoffgabe, Diuretika und Transfusion einer geringen Menge eines Erythrozytenkonzentrats notwendig sein. Kann ein Folsäuremangel nicht sicher ausgeschlossen werden, muss vor Transfusion eine EDTA-Blutprobe zur Bestimmung der Folsäurekonzentration in Erythrozyten asserviert werden. Cave Bei schwer anämischen Patienten, die über Monate an niedrige Hämoglobinwerte adaptiert sind, kann eine zu rasche und zu großzügige Transfusion mit Erythrozytenkonzentraten zum Herzversagen und zu Hirninfarkten (Thrombosen, Embolien) führen.
Der nutritive Vitamin-B12-Mangel wird durch parenterale Vitamin-B12-Gaben über 5 Wochen ausgeglichen (Whitehead
117 8 · Megaloblastäre und kongenitale dyserythropoetische Anämien
et al. 2003). Da initial hohe Vitamin-B12-Dosen von einer schweren Hypokaliämie gefolgt sein können, wird für die ersten beiden Tage im Kindesalter eine Dosis von 0,2 µg/kg (Erwachsene 10 µg) empfohlen. Es schließt sich für eine Woche eine tägliche Gabe (Erwachsener 1000 µg/Tag, Kind 20 µg/kg/Tag) an, gefolgt von einmal wöchentlichen Dosen für weitere 4 Wochen (Erwachsener 100 µg/Woche, Kind 20 µg/kg/Woche; Kinderdosen abgeleitet von Erwachsenendosis; Whitehead et al. 2003). Anschließend kann eine orale Substitution durchgeführt werden, wenn die Zufuhr über die Nahrung nicht ausreichend ist. Parenteral (i.v., s.c. oder i.m.) wird Hydroxycobalamin verabreicht, da es die günstigsten pharmokologischen Eigenschaften besitzt (im Handel oft als »Depot« gekennzeichnet); für die orale Form steht Cyanocobalamin zur Verfügung. Auch beim Fehlen eines Folsäuremangels sollte bei der zu erwartenden massiven erythropoetischen Regeneration Folsäure 1 mg p.o. verabreicht werden. Langfristig entscheidend ist die Umstellung der Ernährung. Patienten mit IF-Mangel oder perniziöser Anämie bedürfen monatlicher parenteraler Vitamin-B12-Gaben (100 µg), Patienten mit enteraler Transportstörung oder intrazellulären Stoffwechseldefekten hoher Dosen (1000 µg) ein oder mehrfach wöchentlich. Beim Imerslund-Gräsbeck Syndrom wurde auch über erfolgreiche orale Therapie berichtet (Altay et al. 1997). Der Therapieeffekt kann über die Serumspiegel von Methylmalonsäure und Homocystein gesteuert werden. 8.1.5
Folsäure
Biochemie Die Bezeichnungen Folsäure und Folat werden synonym für alle Verbindungen benutzt, die als chemische Bestandteile einen Pteridinring, eine Para-Aminobenzoesäure und ein oder mehrere Glutaminsäurereste enthalten (⊡ Abb. 8.5). In der Natur sind Folsäure und ihre Derivate v. a. als Formen mit mehr als einem L-Glutamat (Folsäurepolyglutamate) vorhanden. Die biologisch aktive Form ist 5-Methyl-5,6,7,8,Tetrahydrofolat (THF). Physiologie Folsäure wird im proximalen Dünndarm als Monoglutamat resorbiert und in der Mukosazelle zu THF reduziert; als 5-Methyl-THF zirkuliert es im Blut. Für den Transport durch Zellmembranen existieren kleine Mengen von Transportproteinen mit niedrig-affiner oder hoch-affiner Bindungskapazität. Der Vorrat an Folsäure im menschlichen Körper
⊡ Abb. 8.5. Chemische Struktur von Folsäure
beträgt maximal 12–15 mg; diese Menge deckt den Bedarf für 3–4 Monate. Folsäure unterliegt dem enterohepatischen Kreislauf. THF nimmt im Stoffwechsel der Einkohlenstoffeinheiten eine zentrale Position ein ( Abb. 8.3). Die Teilnahme von THF-abhängigen Enzymen an der Synthese von Purinkörpern und Thymin erklärt seine fundamentale Rolle für das Wachstum und die Teilung von Zellen. Eine direkte Verbindung zum Vitamin-B12-Stoffwechsel besteht bei der Übertragung einer Methylgruppe von 5-Methyl-THF auf Histidin mit Hilfe der Cbl-abhängigen Methioninsynthase ( Abb. 8.3 und 8.4). Folsäuremangel führt daher auch zur erhöhten Konzentration von Homocystein in Urin und Plasma, letztere soll für eine frühzeitige Entwicklung von arteriosklerotischen Gefäßveränderungen verantwortlich sein. Die häufigsten angeborenen Störungen im Folsäurestoffwechsel sind Mangelzustände der Methylen-THF-Reduktase (MTHFR) und der Glutamat-Formiminotransferase (GFT). Beide führen zu neurologischen Auffälligkeiten (Fowler 1999), aber nicht zur megaloblastären Anämie. Der MTHFRMangel bedingt auch eine Thrombophilie ( Kap. 40). Da beim Folsäure- oder angeborenen GFT-Mangel im Histidinabbau die Reaktion Formiminoglatuaminsäure (FIGLU) → Glutaminsäure gestört ist, kommt es bei Folsäuremangelzuständen zur Ausscheidung von FIGLU im Urin. Folsäuremangel im ersten Drittel der Schwangerschaft wird auch für Neuralrohrdefekte verantwortlich gemacht. Folsäure-Antimetabolite sind Folsäureanaloga, die den Folsäuremetabolismus blockieren und über die Störung der DNA-Synthese zum Zelltod führen. Hierzu gehören z. B. Methotrexat und Trimethoprim, die die Dihydrofolat(DHF)Reduktase hemmen und so die Bildung des aktiven THF aus DHF verhindern. 5-Formyl-THF (Folinsäure) hebt die Methotrexatwirkung auf ( Kap. 50). Ursachen des Folsäuremangels Bei durchschnittlicher Ernährung werden täglich 150– 200 µg Folsäure aufgenommen. Der tägliche Bedarf liegt aber vermutlich höher, da ein unbekannter Anteil der durch die Darmbakterien gebildeten Folsäure hinzukommt ( Tabelle 8.2). Für Schwangere wird ein Bedarf von 600 µg/Tag angenommen (The National Academy of Science 1999). Folsäuremangel aufgrund inadäquater Zufuhr ist in Wohlstandsgebieten selten, häufig jedoch bei Kindern, Schwangeren und alten Menschen aus Armutsregionen. Erkrankungen mit einem erhöhten Bedarf wie hämolytische Anämien (z. B. Sichelzellanämie) oder Infektionen (Malaria, Hepatitis) erhöhen das Risiko einen Folsäuremangel zu erlei-
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
den. Hitze zerstört Folsäure, so dass zu langes Kochen und mangelnde Aufnahme von Rohkost zu Folsäuremangel führen können. Ziegenmilch enthält nur einen Folsäureanteil von 6 µg/l; primär mit Ziegenmilch gefütterte Säuglinge können daher einen signifikanten Folsäuremangel erleiden. In der westlichen Welt ist die Zöliakie die häufigste Ursache des Folsäuremangels, der auch bei nahezu allen anderen Malabsorptionserkrankungen und parasitärer Darmbesiedelung auftreten kann. Die Resorption von Folsäure kann bei gleichzeitiger Einnahme bestimmter Medikament gestört sein, z. B. bei der Einnahme von Antikonvulsiva. Da der Fetus auch beim mütterlichen Mangel Folsäure bevorzugt aufnehmen kann, gibt es den klinischen Folsäuremangel beim Neugeborenen nicht. Den erhöhten Bedarf in den Folgemonaten muss die Nahrungszufuhr decken, ohne zusätzliche Vitamingaben erleiden alle Frühgeborene einen Folsäuremangel. Da das anämische Frühgeborene in der Regel transfundiert ist, können Thrombo- und Granulozytopenie die einzigen Hinweise auf das Vorliegen einer megaloblastären Anämie sein. Diagnostik und Therapie des Folsäuremangels Bei ihrer hohen Mitoserate sind die zellulären Elemente des Bluts von einem Folsäuremangel besonders frühzeitig betroffen. Neben den typischen Symptomen der megaloblastären Anämie und dem erniedrigten Folsäurespiegel im Serum ist auch der Folsäuregehalt im Erythrozyten erniedrigt. Da Folsäure von Erythroblasten im Knochenmark, aber nicht von reifen zirkulierenden Erythrozyten aufgenommen wird, ist die Folsäurekonzentration in Erythrozyten (normal >305 nmol/l entsprechend 140 ng/ml) ein Maß für die Langzeitversorgung mit Folsäure und aussagekräftiger als die Bestimmung der Serumspiegel (The National Academy of Science 1999). Zur Behandlung eines nutritiven Folsäuremangels ist eine orale Gabe von 200–500 µg Folsäure täglich ausreichend. Meist werden 1 oder 5 mg Folsäure verabreicht, da dies der Tablettengröße entspricht. Bei sicherem Ausschluss eines Vitamin-B12-Mangels ist die Gabe großer Folsäuremengen unbedenklich. Wenige Tage nach Substitution tritt eine Retikulozytose ein, 6–8 Wochen später ist die Hämoglobinkonzentration wieder im Normbereich (Duran et. 1993). Die Behandlung sollte für ca. 4 Monate fortgesetzt werden. Für Patienten mit schweren hämolytischen Anämien (Sichelzellerkrankung, Thalassaemia major, schwere Autoimmunhämolysen) wird die prophylaktische Gabe von Folsäure empfohlen (1 mg täglich oder 5 mg einmal wöchentlich). Bei leichten Hämolysen ist die Folsäurezufuhr durch eine ausreichende Nahrungsaufnahme adäquat. ! Bei Folsäuremangel muss ein gleichzeitig bestehender Vitamin-B12-Mangel sicher ausgeschlossen werden. Bei Patienten mit schweren Hämolysen und Folsäuresubstitution sollte einmal jährlich auch die Vitamin-B12-Serumkonzentration kontrolliert werden.
8.1.6
Andere Ursachen megaloblastärer Anämien
Megaloblastäre Anämien können auch bei anderen angeborenen Stoffwechselerkrankungen beobachtet werden ( Tabelle 8.1). Die Orotazidurie ist eine autosomal-rezessive Erkrankung mit Entwicklungsverzögerung und megaloblastärer Anämie, die nicht auf Vitamin-B12- oder Folsäure anspricht (Bensen et al. 1991). Der Defekt in der De-novoPyrimidinsynthese kann ohne Eisenmangel mit einer Hypochromie der Erythrozyten einhergehen. Die Orotazidurie kann durch Gaben von Uridin verbessert werden (Fox 1969). Die ebenfalls autosomal-rezessiv vererbte thiaminabhängige megaloblastäre Anämie (»thiamin-responsive megaloblastic anemia«, TRMA) ist durch das frühe Auftreten von megaloblastärer Anämie, Diabetes mellitus und sensorischer Schwerhörigkeit charakterisiert (Rogers et al. 1969). Neben einer moderaten Thrombo- und Granulozytopenie können auch Sideroblasten und myelodysplastische Veränderungen aller 3 Zellreihen bestehen (Bazarbachi et al. 1998). Ursächlich sind Mutationen im Gen SLC19A2, das für einen transmembranen Thiamintransporter kodiert (Diaz et al. 1999). Bei normalen Thiaminserumkonzentrationen sprechen die hämatologischen Veränderungen und der Diabetes mellitus auf hohe Thiamingaben (100 mg Vitamin B1 p.o. täglich) an. Beim Lesch-Nyhan-Syndrom werden vereinzelt megaloblastäre Veränderungen beobachtet (Van der Zee et al. 1969). Auch Medikamente, die die DNS-Synthese hemmen, wie Hydoxyurea, Ara-C oder 5-Fluorouracil können eine megaloblastäre Anämie induzierten. Differenzialdiagnostisch kommen die kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ I oder myelodysplastische Syndrome, die ebenfalls megaloblastäre Veränderungen aufweisen können, in Frage. 8.2
Kongenitale dyserythropoetische Anämien
8.2.1
Definition
Die kongenitalen dyserythropoetischen Anämien (CDA) sind eine heterogene Gruppe von seltenen Anämien, die durch eine ineffektive Erythropoese und sehr charakteristische morphologische Veränderungen der Erythroblasten gekennzeichnet sind. Sie wurden erstmals von Wendt und Heimpel beschrieben (1967) und nach Dysplasiezeichen und Verhalten im Säurelysetest in Typ I–III klassifiziert (Heimpel u. Wendt 1968). Später wurden weitere Fälle beschreiben, die sich nicht einordnen ließen und als CDA-Varianten bezeichnet werden (Heimpel et al. 1999; Wickramasinghe 2000). 8.2.2
Klinische und hämatologische Befunde
Patienten mit CDA fallen durch eine angeborene, moderate bis selten schwere Anämie auf. Einzelfälle mit Hydrops fetalis sind beschrieben (Cantú-Rajnoldi et al. 1997). Oft wird die Diagnose erst im fortgeschrittenen Lebensalter gestellt, auch wenn retrospektiv die Störung der Erythropoese immer vorhanden war (Rössler et al. 2001). Fehlbildungen v. a. des Ske-
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letts (Syndaktylien, Fehlen einzelner Phalangen) können bei CDA Typ I hinzutreten (Wickramasinghe 1998). Bei allen Formen der CDA ist die Erythropoese mit bis zu 80% Erythroblasten im Knochenmark deutlich gesteigert. Die intramedulläre Hämolyse bedingt immer eine indirekte Hyperbilirubinämie; die Patienten können einen Sklerenikterus und häufig Gallensteine aufweisen. Die gesteigerte Erythropoese kann auch zu vermehrter Eisenresorption mit konsekutiver Eisenüberladung und zur Splenomegalie führen. Die Erythropoese ist ineffektiv, d. h. durch die intramedulläre Apoptose roter Vorstufen, ist die relative Retikulozytenzahl im Blut nur mäßig und bezogen auf den Grad der Anämie inadäquat erhöht. Die Diagnose CDA Typ I–III kann für den morphologisch Erfahrenen eine Blickdiagnose sein. Varianten und atypische Formen bedürfen des Ausschlusses von häufigeren Ursachen für megaloblastäre und hämolytische Anämien. 8.2.3
a
Kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ I
Patienten mit CDA Typ I zeigen eine moderate makrozytäre Anämie. Die dyserthropoetischen Veränderungen der Erythroblasten sind auf die reiferen Vorstufen, d. h. die poly- und orthochromatischen Formen beschränkt. Diese zeigen megaloblastoide Kerne bei reiferem Zytoplasma, es finden sich grobe Auflockerungen der Kernstrukturen mit plattigen, knotigen Verdichtungen und verdämmernde kaum noch anfärbbare Kerne (Heimpel et al. 1999). Charakteristisch für die CDA Typ I sind Chromatinbrücken zwischen 2 Erythroblastenkernen (⊡ Abb. 8.6a). In der Elektronenmikroskopie zeigt sich die Struktur des Heterochromatins schwammartig (»swiss-cheese like«). Die Kernporen sind erweitert, so dass Hämoglobin und Zellorganellen in den Zellkern eintreten können. Nach Kartierung des Genorts in konsanguinen Beduinen aus Israel wurde das betroffene Gen CODANIN-1 auf Chromosom 15q15 entdeckt (Dgany et al. 2002). Es kodiert für ein glykosyliertes Protein ohne Transmembrandomäne, welches vermutlich für die Integrität der Zellkernmembran verantwortlich ist. 8.2.4
8
b
Kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ II
Die CDA Typ II ist die häufigste Form der CDA mit über 250 publizierten Fällen. Die Anämie ist normozytär und meist ausgeprägter als bei Typ I, 10–15% der Typ-II-Patienten sind zumindest intermittierend transfusionsbedürftig (Iolascon et al. 2001; Heimpel et al. 2003). In der deutlich gesteigerten Erythropoese sind 10–70% der reiferen Erythroblasten zweiund mehrkernig, sie zeigen auch Kernpyknosen, Kariorrhexis oder andere auffällige Teilungsfiguren (⊡ Abb. 8.6b). In der Elektronenmikroskopie weisen die Erythrozyten eine Doppelmembran auf (Wong et al. 1972), die als Anlagerung von endoplasmatischem Retikulum entsteht (Alloisio et al. 1996). In Abgrenzung zur CDA Typ I und III ist bei CDA Typ II der Säureserumtest positiv. Seren gesunder Personen enthalten einen IgM-Antikörper, der im Komplementoptimum bei
c ⊡ Abb. 8.6a–c. Kongenitale dyserythropoetische Anämien. a Typ I mit Chromatinbrücke; b Typ II mit doppelkernigen Erythroblasten; c Typ III mit mehrkernigen Erythroblasten (Präparat von H. Sandström, Schweden)
pH 6,7 die Lyse von CDA-Typ-II-Erythrozyten bewirkt. Aufgrund dieser Besonderheit wird die CDA Typ II auch als HEMPAS (»hereditay erythroblastic multinuclearity with a positive acid serum test«) bezeichnet (Crookston et al. 1969). Ein weiteres Charakteristikum für die CDA Typ II ist die postnatale Expression des i-Antigens auf der Erythrozytenoberfläche (Erdmann et al. 1970). Erythrozyten von CDA-Typ-II-Patienten zeigen eine verminderte Glykosylierung der Bande 3 (Anionentransporter;
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Anselstetter et al. 1977; Mawby et al. 1983). Die Sichtweise, dass es sich bei der CDA Typ II um einen primären genetischen Defekt der Gykosylierung handelt (Fududa 1990), wurde allerdings aufgegeben, nachdem Familienuntersuchungen keine Kopplung mit den Genen für die α-Mannosidase II und N-Acetyl-Glukosaminyltransferase II ergeben haben (Iolascon et al. 1997). Auch eine Reihe weiterer Kandidatengene konnte ausgeschlossen werden (Lanzara et al. 2003). In einigen italienischen Familien fand sich eine Kopplung mit einem Genort auf Chromosom 20q11.1 (Gasparini et al. 1997). Die molekulare Genese der CDA Typ II bleibt weiterhin offen, eine genetische Heterogenität ist anzunehmen. 8.2.5
Kongenitale dyserythropoetische Anämie Typ III
Die Anämie bei CDA Typ III ist normo- bis makrozytär. Charakteristisch sind im Knochenmarkausstrich sehr große basophile und polychromatische Erythroblasten mit bis zu 12 Zellkernen in reiferen Zellen (⊡ Abb. 8.6c). Diese auch als Gigantoblasten bezeichneten Zellen haben einen DNA-Gehalt von 4–48 c (1c=haploider DNA-Gehalt). Die CDA Typ III ist phänotypisch und genetisch heterogen. In einer nordschwedischen Familie, bei der auch eine erhöhte Prävalenz von monoklonalen Gammopathien und Sehstörungen beschrieben wurde (Sandström et al. 1997; Sandström u. Wahlin 2000), konnten Kopplungsanalysen einen Genort für CDA Typ III auf Chromosom 15q21–25 identifizieren (Lind et al. 1995). 8.2.6
Varianten
Als Varianten der CDA werden Phänotypen beschrieben, die nicht eindeutig den Typen I–III zuzuordnen sind (Boogaerts et al. 1982). Hierunter scheint die als CDA Typ IV beschriebene Variante (Wickramasinghe et al. 1991) am häufigsten zu sein. 8.2.7
Therapie
Bei schwerer Anämie können v. a. in den ersten Lebensjahren Transfusionen notwendig werden. Häufig stabilisiert sich im späteren Lebensalter der Hämoglobinwert über 7–8 g/dl, so dass nur bei interkurrenten Erkrankungen transfundiert werden muss. ! Wegen der erhöhten Eisenresorption sollte der
Eisenstatus auch bei Patienten, die keine Transfusionen erhalten haben, kontrolliert werden. Bei Hämosiderose ist eine Eisenentzugstherapie notwendig.
Die gesteigerte Erythropoese bedingt einen erhöhten Folsäurebedarf; eine Substitution von Folsäure wird empfohlen. Patienten mit CDA Typ II können von einer Splenektomie profitieren (Heimpel et al. 2003), die Indikation hierzu ist individuell zu stellen. Einzelfallberichte zeigen ein Ansprechen der CDA Typ I auf Interferon-α (Parez et al. 2000). Bei schweren Verlaufsformen sind allogene Stammzelltransplantationen erfolgreich durchgeführt worden (Ariffin et al. 1996).
Die zukünftige Entdeckung der Gene, die bei den verschiedenen Formen der kongenitalen dyserythropoetischen Anämien verändert sind, wird eine Neuordnung dieser gegenwärtig primär morphologisch definierten Gruppe von Erkrankungen möglich machen. Ähnlich wie die angeborenen Störungen des Vitamin-B12- und Folsäurestoffwechsels werden sie uns neue Einsichten in die Physiologie der Erythropoese ermöglichen.
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123
Angeborene Erythrozytenmembrandefekte S. Eber
9.1
Struktur und Funktion der Erythrozytenmembran – 123
9.1.1 9.1.2 9.1.3
Membranlipide – 123 Membranproteine – 123 Membranskelett – 124
9.2 9.3 9.4
Pathogenese – 125 Diagnostik – 125 Hereditäre Sphärozytose
9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6
Genetik und molekulare Defekte – 126 Pathogenese – 128 Klinische Symptomatik – 129 Komplikationen – 130 Diagnose – 130 Splenektomie und Cholezystektomie – 131
Als Ursache der aplastischen Krise wurde Parvovirus B19 nachgewiesen. Eine aplastische Krise infolge Parvirus-B19-Infektion ist nicht selten die Erstmanifestation einer hereditären Sphärozytose. Infolge der Unterdrückung der Erythropoese fehlt die bei hämolytischen Krisen typische Verstärkung des Ikterus. Da es bei aplastischen Krisen unbehandelt zu einem lebensbedrohlichen Abfall der Hämoglobinkonzentration kommt, müssen Patienten mit hämolytischer Anämie und ihre Eltern auf die plötzliche Blässe als Warnsymptom einer schweren Krise hingewiesen werden.
– 125
9.1
9.5
Hereditäre Elliptozytose
9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4 9.5.5
Milde hereditäre Elliptozytose – 132 Hereditäre Poikilozytose (Pyropoikilozytose) – 133 Hereditäre sphärozytäre Elliptozytose – 134 Südostasiatische Ovalozytose – 134 Splenektomie bei Elliptozytose – 134
– 132
9.6
Hereditäre Defekte der Kationendurchlässigkeit der Erythrozytenmembran – 134
9.6.1 9.6.2 9.6.3
Hereditäre Stomatozytose – 135 Hereditäre Xerozytose – 136 Behandlung von Stomatozytose und Xerozytose
9.7
Hereditäre Defekte von Membranlipiden – 136 Literatur – 136
– 136
Die Fähigkeit zur elastischen Verformbarkeit und die mechanische Resistenz seiner Membran sind die wesentlichen Voraussetzungen des Erythrozyten, den starken Scherkräften im Blutkreislauf zu widerstehen. Ermöglicht wird dies durch den einzigartigen Aufbau der Membran aus 2 Anteilen, einer äußeren Lipiddoppelschicht (Plasmamembran) und einem inneren, wandständigen Proteinnetzwerk, dem Membranskelett. Alle Proteine sind miteinander vernetzt (⊡ Abb. 9.1). 9.1.1
Der 12-jährige Junge erkrankte plötzlich, 1 Woche nach einer kurzen fieberhaften Episode, mit Blässe, Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit. Während der stationären Beobachtung fiel die Hämoglobinkonzentration auf minimal 6,2 g/dl ab, das MCV war normal. Es bestand eine Retikulozytopenie von 2‰, das Bilirubin war nicht erhöht, der Serumeisenspiegel mit 200 µg/dl deutlich erhöht. Die Mutter erkrankte zeitgleich unter denselben Symptomen; sie wies zusätzlich einen leichten Sklerenikterus und eine mäßiggradige Herzinsuffizienz auf. Die minimale Hämoglobinkonzentration betrug 5,4 g/dl, die Retikulozytenzahl war erniedrigt, das Bilirubin leicht erhöht. Aufgrund der Zeichen der kardialen Dekompensation erfolgte eine sofortige Transfusionsbehandlung der Mutter. Im Blutbild von Mutter und Sohn fanden sich vereinzelt Kugelzellen, die osmotische Fragilität der Erythrozyten war erhöht, so dass bei Mutter und Sohn die Diagnose einer hereditären Sphärozytose (mit bisher mildem Verlauf ) gestellt wurde. Zusammen mit der Retikulozytopenie lag eine aplastische Krise bei hereditärer Sphärozytose vor.
▼
Struktur und Funktion der Erythrozytenmembran
Membranlipide
Die Lipiddoppelschicht besteht vorwiegend aus Phospholipiden, unverestertem Cholesterol und Glykolipiden. Die Phospholipide sind asymmetrisch angeordnet: Cholinphospholipide (Phosphatidylcholin und Sphingomyelin) befinden sich vorwiegend in der äußeren Hälfte der Doppelschicht; die Aminophospholipide (Phosphatidylethanolamin und Phosphatidylserin) sowie die Phosphatidylinositole sind auf die innere Hälfte beschränkt (de Jong et al. 1999; Kuypers 1998). Die Aufrechterhaltung der Lipidasymmetrie ist für das Überleben der Zelle entscheidend. Die Exposition von Phosphatidylserin an der äußeren Erythrozytenoberfläche ist ein starker Induktor der Blutgerinnung. Sie trägt wesentlich zu dem erhöhten Thromboserisiko von Patienten mit Sichelzellerkrankung (Hebbel 2001) oder Pyruvatkinasemangel (Eber et al. 2000) bei. 9.1.2
Membranproteine
Die Erythrozytenmembran enthält 10–15 häufige und zahllose, oft kleinere Proteine (⊡ Abb. 9.1). Diese Proteine fallen in 2 Klassen, nämlich integrale und periphere Proteine. Integrale Proteine sind in die Lipiddoppelschicht eingebettet und
9
124
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
⊡ Abb. 9.1. Schematischer Aufbau der Erythrozytenmembran mit den wesentlichen Proteinen des Membranskelett und der Lipidmembran
tragen an ihrer Oberfläche die kohlenhydrathaltigen Blutgruppenantigene. Sie umfassen den Anionenaustauscher (Bande 3; Blutgruppe Ii) und die Glykoproteine A, B und C. Letztere sind sialinhaltig (Blutgruppenantigene MN und Ss) und machen den Hauptteil der negativen Membranladung des Erythrozyten aus. Die peripheren Proteine Spektrin, Aktin u. a. bilden ein Proteinnetzwerk, das die innere Oberfläche der Erythrozytenmembran auskleidet. (Zur detaillierten Übersicht über den Aufbau des Membranskeletts und seine Störungen bei angeborenen hämolytischen Anämien: Eber u. Lux 2004; Walensky et al. 2003; Yawata 2003) 9.1.3
Membranskelett
Spektrin. Dieses langgestreckte elastische Protein kommt in
genetisch unterschiedlichen Isoformen in Erythrozyten, Nervenzellen, Darm und anderen Geweben vor (Winkelmann u. Forget 1993). Es ist am intrazellulären Transport durch eine Golgi-spezifische Unterform beteiligt (Tse et al. 2001). Allen Unterformen gemeinsam ist die Bildung aus 100 nm langen faltbaren Ketten. Ein Spektrinmolekül (Spektrindimer) wird aus einer α- (280 kD) und einer β-Kette (246 kd) gebildet, die sich in entgegengesetzter Richtung aneinander lagern. Jede Kette besteht aus 16–20 sich wiederholenden Aminosäurengruppierungen (jede ≈106 Aminosäuren lang). Um die langen Fäden des Netzwerkes zu bilden, müssen sich 2 oder mehrere Spektrindimere Kopf an Kopf zu Spektrintetrameren und höheren Oligomeren aneinander lagern (Spektrin-Selbstaneinanderlagerung). Auf Seiten der αSpektrinkette ist dabei das N-terminale, 80.000 D messende Peptid für die Assoziation mit einer β-Kette verantwortlich. Durch die Selbstaneinanderlagerung zweier Dimere entsteht eine zusätzliche Untereinheit aus 106 Aminosäuren, die aus komplementären Teilen einer α- und einer β-Kette gebildet wird ( Abb. 9.1). Spektrintetramere und höhermolekulare Oligomere verhalten sich wie Federn: Sie leisten die Rückstellkraft der Erythrozytenmembran gegenüber Formveränderungen und führen den Erythrozyten nach der patronen-
förmigen, ellipsoiden Ausrichtung im Kreislauf wieder in die diskoidale Ruheform zurück. ! Die Spektrin-Selbstaneinanderlagerung ist für die Integrität der Erythrozyten unerlässlich: Mutationen, die sie behindern, sind für die Mehrzahl der hereditären Elliptozytosen und Poikilozyten verantwortlich. Interaktion der Membranproteine. An ihrem Schwanzende
sind die Spektrintetramere durch kurze Aktinfilamente verknüpft. Im Durchschnitt binden 6 Spektrintetramere an ein Aktinfilament. Dadurch entsteht eine hexagonale Form des Membranskeletts. Die Spektrin-Aktin-Wechselwirkung ist nur schwach, und wird erst durch die Bindung von Protein 4.1 verstärkt. Protein 4.1 bindet an das Schwanzende der β-Spektrinkette, nahe der Aktinbindungsstelle. Die Bindungstellen von Spektrin, Aktin und Protein 4.1 bilden die Knotenpunkte des Membranskelettnetzes. An die Spektrin-Aktin-Protein4.1-Knotenpunkte binden einige weitere Proteine (Bande 4.9, Dematin, Adduzin [Matsuoka et al. 2000], Tropomyosin, Troponin), die die Wechselwirkung der 3 Kernproteine regulieren und den Anforderung an die Membranstabilität anpassen. Über 2 Verankerungsproteine, Ankyrin und Bande 4.1, ist das Membranskelett an die integralen Proteine in der Plasmalipidmembran gebunden. Ankyrin stellt die wichtigste Verbindung dar, da es 2 voneinander unabhängige, hochaffine Bindungsstellen besitzt, eine für das zytoplasmatische Ende der Bande 3 und eine für β-Spektrin (nahe der Selbstassoziationsstelle). Protein 4.2 bindet an Ankyrin und Bande 3 und erhöht die Affinität der Bindung. Protein 4.1 bindet das Membranskelett an Glykophorin C in der Lipidmembran; die Affinität dieser Bindung ist wesentlich schwächer als die von Ankyrin und Bande 3. Die Bedeutung der Verankerung des Membranskeletts über die Bande 3 für die strukturelle Integrität des Erythrozyten wird am besten durch die außergewöhnlich starke Membranfragmentierung und Hämolyse der Erythrozyten von Mäusen verdeutlicht, denen die Bande 3 fehlt (Peters et al. 1996); das Membranskelett ist dabei weitgehend intakt, kann die Lipidmembran jedoch nicht zusammenhalten. Eine
125 9 · Angeborene Erythrozytenmembrandefekte
verstärkte Hämolyse infolge eines Membranverlusts und/ oder einer Membranfragmentierung tritt auch bei verschiedenen anderen Membrandefekten humaner Erythrozyten wie hereditärer Sphärozytose und Elliptozytose auf ( unten). 9.2
Pathogenese
Eine verminderte Konzentration von Membranproteinen oder ihre funktionelle Störung führen zu unterschiedlichen anomalen Erythrozytenmorphologien. Der Grad der Hämolyse reicht von klinisch asymptomatischen Anlageträgern bis zu Patienten mit schwerster Hämolyse und Hydrops fetalis. Die Konzentration der wichtigsten Membranproteine ist wesentlich kritischer als die von zytoplasmatischen Enzymen, so dass schon eine Verminderung der Spektrin- oder Ankyrinkonzentration von mehr als 10% zu leichter und von mehr als 20% zu mittelschwerer chronischer hämolytischer Anämie führt. Funktionelle Störungen z. B. der Spektrin-Selbstassoziation sind im heterozygoten Zustand meist asymptomatisch und führen nur bei homozygoten oder »compound« heterozygoten Patienten zu einer Hämolyse unterschiedlichen Schweregrads. ! Generell verursachen Defekte, die zu einer Störung der vertikalen Aufhängung des Membranskeletts an die Lipidschicht führen, eine hereditäre Sphärozytose; solche die zu einer gestörten horizontalen Vernetzung des Membranskeletts führen, eine Elliptozytose ( Abb. 9.1).
9.3
Diagnostik
Die Beurteilung des Blutausstrichs und die Bestimmung der osmotischen Fragilität der Erythrozyten sind die beiden nützlichsten Tests, um einen angeborenen Membrandefekt festzustellen (Bolton-Maggs 2000). Immunhämolytische Anämien, die ebenfalls mit vermehrten Sphärozyten und erhöhter osmotischer Fragilität einhergehen, müssen durch einen negativen Coombs-Test ausgeschlossen werden. Fast alle Membranstörungen führen zu einer veränderten Erythrozytenform. In vielen Fällen herrschen diagnostisch wegweisende Formanomalien vor: Sphärozyten, Elliptozyten, Fragmentozyten, Poikilozyten, Stomatozyten, Akanthozyten und Targetzellen (⊡ Abb. 9.2). Der osmotische Fragilitätstest misst die Fähigkeit der Erythrozyten, in einer Reihe von Lösungen mit schrittweise verminderten Salzkonzentrationen zu schwellen. Sphärozyten und Stomatozyten haben ein vermindertes Oberflächen-Volumen-Verhältnis und können aus diesem Grund nur vermindert osmotisch schwellen. Sie hämolysieren daher schon bei höheren Salzkonzentrationen. Xerozyten und andere dehydratisierte Zellen sowie Mikrozyten (z. B. Eisenmangel) haben ein erhöhtes Oberflächen-Volumen-Verhältnis und sind daher osmotisch resistenter. Spezielle Untersuchungen der Erythrozytenmembran können in ausgewählten Fällen die Diagnostik sichern oder erlauben eine Vorhersage des zu erwartenden klinischen Schweregrads der Anämie (⊡ Tabelle 9.1). Störungen der Membranverformbarkeit oder ihrer strukturellen Inte-
grität werden am besten mit dem Ektazytometer entdeckt; mit Hilfe der Ablenkung von Laserstrahlen werden die Verformung von Erythrozyten, die Integrität und die Steifheit der Membran unter verschiedenen Scherkraftbelastungen gemessen. Durch die Auftrennung der Erythrozytenmembranproteine auf einer denaturierenden Natriumdodecylsulfat-Polyacrylamid-Gelelektrophorese (SDS-Page) können fehlende oder mutierte Proteine (mit verändertem Molekulargewicht) identifiziert werden. Die elektrophoretische Analyse ist noch aussagekräftiger, wenn die (mutierten oder normalen) Proteine mittels spezifischer Antikörper gefärbt werden (Immuno- oder Westernblotting). SDS-Gele werden auch eingesetzt, um die Menge verschiedener Membranproteine (Spektrin, Ankyrin, Bande 3, Protein 4.1 und 4.2 u. a.) mittels Densitometrie quantitativ zu bestimmen. Durch den internen Bezug auf Bande 3 wird dabei das Ausmaß der Verminderung von anderen Membranproteinen besonders bei der hereditären Sphärozytose unterschätzt, da infolge des Verlusts an Membran auch die Bande 3 um ca. 10% vermindert ist. Für kleinere Proteine und Proteine wie Ankyrin, die sich mit anderen Banden im SDS-Gel überschneiden, sind die Ergebnisse der Densitometrie sehr ungenau. Die Menge an Spektrin oder anderen Membranproteinen wird am besten mittels Immunoadsorbtionstest (ELISA) unter Verwendung spezifischer Antikörper gemessen. Eine gestörte Spektrin-Selbstassoziation ist häufig bei hereditärer Elliptozytose und Poikilozytose. Für die Untersuchung wird Spektrin bei 0–4°C aus der Erythrozytenmembran der Patienten extrahiert. Bei dieser Temperatur ist die Umwandlung von Spektrintetramer in -dimer blockiert, so dass die In-vivo-Konzentration von Dimer und Tetramer nach Auftrennung des Spektrinextrakts auf einer nicht denaturierenden Agarose-Gelelektrophorese bestimmt werden kann. Im Fall einer erhöhten Spektrindimer-Konzentration kann der molekulare Defekt durch die Sequenzierung des DNS-Abschnitts identifiziert werden, der für das N-terminale 80.000 D-Fragment der α-Spektrinkette kodiert (Palek u. Jarolim 1993). Eine einfache Methode zum Nachweis der Instabilität des Membranskeletts ist die mikroskopische Bestimmung der Temperaturstabilität der Erythrozyten bei 49°C, die bei Elliptozytosen infolge einer gestörten Spektrin-Selbstaneinanderlagerung in unterschiedlichem Ausmaß vermindert ist. Bei Verdacht auf eine hämolytische Anämie infolge einer gestörten Kationenpermeabilität der Erythrozyten (hereditäre Stomatozytose und Xerozytose, Abschn. 9.6) sollten die intraerythrozytären K+ und Na+-Konzentrationen am Flammenphotometer gemessen werden; darüber hinaus gehende Untersuchungen der Flussraten von Kationen über die Erythrozytenmembran sind sehr aufwendig und werden daher außer zu wissenschaftlichen Zwecken nicht mehr angeboten. 9.4
Hereditäre Sphärozytose
Die Sphärozytose oder Kugelzellenanämie (Erstbeschreibung: Vanlair u. Masius 1871) ist in Mitteleuropa bei weitem die häufigste Ursache angeborener hämolytischer Anämien
9
126
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
a
b
c
d
e
f ⊡ Abb. 9.2a–f. Abnorme Erythrozytenmorphologie bei hereditären Membrandefekten: a Sphärozytose; b Pilzförmige (»pincered«) Erythrozyten bei Sphärozytose infolge eines Bande-3-Defektes;
c Elliptozytose (stäbchenförmige Elliptozyten); d Südostasiatische Ovalozytose; e Poikilozytose; f Stomatozytose
(Häufigkeit 1:5000; Morton et al. 1962); d. h. in Deutschland, Österreich und Schweiz leben ca. 19.000 Patienten.
gerten Kontakten von den Makrophagen des sinusoidalen Maschenwerkes der Milz gefressen.
! Screening-Untersuchungen von gesunden Blutspendern deuten daraufhin, dass 1% der Bevölkerung klinisch asymptomatische Anlageträger einer rezessiven Sphärozytose sind (Eber et al. 1992; Godal u. Heisto 1981).
Charakteristika dieser Erkrankung sind die erhöhte osmotische Fragilität, vermehrte Kugelzellen (bei Bande-3-Defekten zusätzlich pilzförmige »pincered« Erythrozyten) im Blutausstrich ( Abb. 9.2) und die Milzvergrößerung. Die formveränderten und rigiden Erythrozyten werden selektiv während der Passage in der roten Milzpulpa festgehalten (Emerson et al. 1956; Young et al. 1951) und nach mehrmaligen verlän-
9.4.1
Genetik und molekulare Defekte
Die Erkrankung ist auf verschiedene Defekte in den Genen folgender Erythrozytenmembranproteine zurückzuführen: Am häufigsten sind Defekte im Gen für Ankyrin (ANK1: 40–60%; Eber et al. 1996; Lux et al. 1990; Özcan et al. 2003; Defekte im Gen für Bande 3 (EPB3; Eber et al. 1996; Jarolim et al. 1996) und für β-Spektringen (SPTB-Gen; Hassoun et al. 1995) machen jeweils ca. 20% der Fälle aus. Seltene Ursachen sind Defekte im Gen für Bande 4.2 (ELB42; Yawata 1994) und α-Spektrin (SPTA1; Wichterle et al. 1996). Die Erkrankung
Anomale Form*
Krankheit
Biochemie
Untersuchung
Indikation für Spezialuntersuchung
Kugelzellen
Sphärozytose
Spektrin ↓ Ankyrin ↓ Bande 3 ↓ Bande 4.2 ↓
SDS-Page Spektrin-ELISA
Ausschluss Immunhämolyse Rezessive oder spontane Erkrankung Pränatale Diagnose bei schwerer HS HS + neuromuskuläre Erkrankung
Elliptozyten (Poikilozyten)
Elliptozytose HE mit infantiler Poikilozytose
α-Spektrindefekt (selten β-Spektrin) Spektrintetramer ↓ Bande 4.1 ↓/Bande-4.1-Defekt GpC, GpD ↓ z. T. mit Spektrin-α-Lely
SDS-Page +/– PAS-Färbung etwas höher Natives Agarosegel Tryptischer Verdau von Spektrin
Prognostische Aussage: Zeitlich begrenzte Anämie (infantile Poikiolzytose) oder schwere chronische Anämie (HP) Pränatale Diagnose bei HP
Poikilozyten Fragmentozyten (Elliptozyten)
(Pyro)-Poikilozytose
Spektrintetramer ↓ Spektrindimer ↑ + Spektrin-α-Lely
Natives Agarosegel Tryptischer Verdau von Spektrin SDS-Page α-Spektringenanalyse
Stomatozyten Echinozyten Targetzellen
Stomatozytose Xerozytose
Bande 7b ↓ (nur bei HST) Anomale intraerythrozytäre Na+- ↑, K+-Konzentration ↓
SDS-Page Intraerythrozytäre Na+-, K+-Konzentration
9 · Angeborene Erythrozytenmembrandefekte
⊡ Tabelle 9.1. Spezielle Membranuntersuchungen bei Formanomalien der Erythrozyten
Diagnosestellung: HST oder HX HS oder HST
* vorherrschende Form kursiv. HS hereditäre Sphärozytose; HE hereditäre Elliptozytose; HP (HPP) hereditäre Poikilozytose (Pyropoikilozytose); HST hereditäre Stomatozytose; HX hereditäre Xerozytose; GpC Glykoprotein C; GpD Glykoprotein D; SDS-Page Sodiumdodecylsulfat-Polyacrylamid-Gelektrophorese; ELISA »enzyme-linked immunosorbent assay«; PAS-Färbung Perjodsäure-Schiff-Färbung.
127
9
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
wird in ⅔ der Fälle autosomal-dominant vererbt; in Familien mit sporadisch auftretender Sphärozytose liegt in der Hälfte der Fälle eine Neumutation vor, die vermutlich dominant weitervererbt wird. Nur in ca. 10–15% der Familien liegt ein rezessiver Erbgang vor, der auf Defekte im Gen für α-Spektrin, Ankyrin oder Bande 4.2 zurückzuführen ist (Miraglia del Giudice et al. 2001). Es gibt keinen häufigen molekularen Defekt; in der Mehrzahl der dominanten Sphärozytosen liegen Frameshift oder Nonsense-Mutationen im Gen für Ankyrin, Bande 3 oder β-Spektrin vor. Defekte im Bande-3-Gen führen oft zu einer leichteren Verlaufsform als Ankyrin oder β-Spektrindefekte. Aufgrund der Seltenheit der einzelnen Defekte ist eine molekulargenetische Diagnostik auf den zugrunde liegenden genetischen Defekt nur in wenigen Fällen (z. B. pränatale Diagnostik wegen schwerem familiärem Verlauf; Patienten mit unklarem Erbgang oder mit assoziierten neurologischen Symptomen) gerechtfertigt. 9.4.2
Pathogenese
In den meisten bisher charakterisierten Fällen ist die »vertikale« Aufhängung ( Abb. 9.1) der Proteine des Membranskeletts (Spektrin, Ankyrin, Protein 4.2) an die Bande 3 in der Lipidmembran gestört (Palek und Jarolim 1993). In ⅔ der Fälle sind die Konzentrationen von Spektrin und Ankyrin vermindert (Pekrun et al. 1993; Savvides et al. 1993); die Proteinkonzentrationen betragen meist zwischen 60–80% der Norm. In je 15–20% liegt ein isolierter Bande-3-Mangel (Jarolim et al. 1995) oder ein β-Spektrindefekt (Becker et al. 1993; Hassoun et al. 1997) vor. Selten sind ein rezessiv vererbter schwerer Spektrinmangel aufgrund von Mutationen im α-Spektringen (Agre et al. 1985; Whitfield et al. 1991; Wichterle et al. 1996) oder ein Bande-4.2-Mangel (v. a. bei japanischen Patienten; Yawata et al. 2000). Die verminderte Konzentration der Proteine des Membranskeletts führt zu einer Instabilität der Erythrozyten-
⊡ Abb. 9.4. Pathogenese der hereditären Sphärozytose
⊡ Abb. 9.3. Abschnürung kleinster Membranlipidareale aus der Erythrozytenmembran bei Sphärozytose. Aufnahme mit dem Atomic force microscope (mit freundlicher Genehmigung von Zachee; Zachee et al. 1996)
membran, die für die Pathogenese der Sphärozytose entscheidend ist. Kleinste Areale der Lipidmembran sind nicht von einem Membranskelett ausgekleidet und werden als Mikrovesikel aus der Membran abgeschnürt (⊡ Abb. 9.3). Dieser Vorgang geschieht v. a. bei der Passage durch das saure, energiearme Milieu der Milzpulpa immer wieder und wird als Milzkonditionierung der Kugelzellen bezeichnet. Sobald ein kritischer Membranverlust erreicht ist, verlängert sich die Kontaktzeit mit den Phagozyten die die endothelialen Schlitze der Milzsinus umgeben, so dass die Zellen einem zusätzlichen oxidativen Stress ausgesetzt sind und in der Milz vorzeitig hämolysieren (⊡ Abb. 9.4). Die Splenektomie führt bei Patienten mit Spektrin- und Ankyrinmangel zu einer verbesserten Verformbarkeit der Erythrozyten; bei einer Verminderung oder Bande 3 wird die Verformbarkeit durch die Splenektomie nicht verbessert. Die unterschiedliche Konditionierung in der Milz spricht dafür, dass Bande-3-Mangel-Erythrozyten zusätzliche Mechanismen für den vorzeitigen Abbau in der Milz aufweisen (v. a. vermehrte Bindung von natürlich vorkommenden Auto-
129 9 · Angeborene Erythrozytenmembrandefekte
antikörpern mit niedriger Affinität für Bande 3; Reliene et al. 2002). 9.4.3
throzyten. Mit Ausnahme der schweren Anämie bei aplastischer Krise benötigen sie keine Erythrozytentransfusion. Mittelschwere Sphärozytose. Die Mehrzahl der Patienten
Klinische Symptomatik
Die Kennzeichen sind Anämie, Ikterus und Milzvergrößerung (⊡ Tabelle 9.2). Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Konzentration an Hämoglobin und Bilirubin sowie der Retikulozytenzahl erlaubt eine Einteilung in eine leichte, mittelschwere und schwere Form (⊡ Tabelle 9.3; Eber et al. 1990). Die semiquantitative Auswertung der osmotischen Resistenzprüfung im frischen und inkubierten Blut sowie die Bestimmung der Spektrinkonzentration mittels spezifischem ELISA kann zu dieser Einteilung beitragen. Leichte Sphärozytose. Patienten mit leichter Sphärozytose (⅓ der Fälle) haben eine leichte, nahezu vollständig kompensierte hämolytische Anämie mit milder Retikulozytose sowie in der Regel eine normale Spektrinkonzentration der Ery-
erkrankt an der mittelschweren Form. Die Hämoglobinkonzentration ist auf unter 100 g/l erniedrigt; die Bilirubinkonzentration und die Retikulozytenzahl sind deutlich erhöht. Die Spektrinkonzentration ist meist auf unter 80% der Norm vermindert. Transfusionen können im Rahmen hämolytischer Krisen erforderlich werden. Bei einigen Patienten mit mittelschwerer Form setzt die Erythropoese nach Geburt erst mit Verzögerung ein, so dass im ersten Lebensjahr eine ausgeprägte Anämie mit relativ niedriger Retikulozytenzahl vorliegt. Nach dem 1. Lebensjahr erreichen diese Patienten eine mittelschwere chronische Anämie mit einer Hb-Konzentration von 70–100 g/l und einer Retikulozytose von über 10%. Im Durchschnitt haben Patienten mit einer dominanten Sphärozytose einen leichteren Verlauf als die mit der rezessiven Form; es gibt aber eine erhebliche Überlappung der Schweregrade.
⊡ Tabelle 9.2. Kennzeichen der hereditären Sphärozytose
Symptomatik
Laborparameter
Anämie
Retikulozytose
Splenomegalie
Kugelzellen
Intermittierender Ikterus: bei Hämolyse bei Gallengangverschluss
MCHC erhöht Osmotische Fragilität erhöht (besonders im inkubierten Blut) Coombs-Test negativ
Aplastische Krisen
Verminderte Konzentration von Spektrin, Ankyrin oder Protein 3
Vererbung: dominant 75% nicht-dominant 25% Heilung nach Splenektomie
⊡ Tabelle 9.3. Klinische Schweregrade der hereditären Sphärozytose und Indikation zur Splenektomie (nach Eber et al. 1990)
Leichte HS
Mittelschwere HS
Schwere HSa
Hämoglobin (g/dl)
11–15
8–11
<6
Retikulozyten (%)
3–8
≥8
≥10c
Bilirubin (mg/dl)
1–2
≥2
≥3c
Spektringehalt (% des Normalwerts)
80–100
50–80
20–80b
Normal oder gering erhöht Deutlich erhöht
Deutlich erhöht Deutlich erhöht
Deutlich erhöht Deutlich erhöht
Sphärozyten u. a. im Blutausstrich
Oft nur vereinzelt
Deutlich vermehrt
Sphärozyten und Poikilozyten
Indikation zur Splenektomie
In der Regel im Kindes- und Jugendalter nicht erforderlich
Bei mehreren transfusionsbedürftigen hämolytischen Krisen oder ausgeprägter Leistungsminderung
Alle Patienten, nicht vor dem 6. Jahr
Osmotische Fragilität Frisches Blut Inkubiertes Blut
a
Patienten benötigen regelmäßige Transfusionen; b Bedingt durch unterschiedliche primäre Defekte ist der Spektringehalt der Erythrozyten sehr unterschiedlich; c Werte vor Beginn der regelmäßigen Transfusionen.
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Schwere Sphärozytose. Selten sind Patienten mit der schwe-
ren Form (ca. 3% der Fälle). Sie benötigen regelmäßig Transfusionen um eine Hämoglobinkonzentration von >60 g/l zu halten. Die Vererbung ist fast immer rezessiv; beide Eltern haben Zeichen einer leicht gesteigerten Hämolyse oder erhöhte osmotische Fragilität im inkubierten Blut. Tipp für die Praxis Die Rate an schwerer Hyperbilirubinämie ist bei allen Neugeborenen mit Sphärozytose höher als bei gesunden. Ein neonataler Blutaustausch kann meist – aber nicht immer – durch einen frühzeitigen Beginn der Phototherapie vermieden werden.
State deutlich höhere Bilirubinkonzentrationen (>3–5 mg/dl) auf als Patienten, die »nur« eine gesteigerte Hämolyse aufweisen. Nach dem 30. Lebensjahr verläuft der Anstieg in der Frequenz von Gallensteinen parallel zur Häufigkeit von Gallensteinen in der »Normalbevölkerung«; dies deutet darauf hin, dass sich Gallensteine bei Patienten mit Sphärozytose bevorzugt in der 2. bis 3. Lebensdekade bilden. Die AbdomenUltraschalluntersuchung ist die verlässlichste Methode, um Patienten mit Sphärozytose und Gallensteinen zu identifizieren und sollte ab dem 5. Lebensjahr in jährlichen Abständen erfolgen. Andere Komplikationen. Gelegentlich entwickeln erwachsene
9.4.4
Komplikationen
Krisen, Indikation zur Transfusion. Die meisten Patienten mit
mittelschwerer Sphärozytose erleiden eine oder mehrere hämolytische Krisen, oft im Rahmen von viralen Infekten. Zunehmender Ikterus und Anämie sind typisch. Ursache ist vermutlich die im Rahmen der Infektion größer gewordene Milz und eine Aktivierung des retikuloendothelialen Systems in Milz und Leber. Transfusionen können gelegentlich erforderlich werden. Schwere, transfusionsbedürftige aplastische Krisen treten mit wenigen Ausnahmen nur einmal im Leben auf. Ursache ist eine Parvovirus-B19-Infektion, die eine lebenslange Immunität hinterlässt. Das für Parvovirus typische Wangen- und Rumpfexanthem fehlt bei Patienten mit hämolytischer Anämie. Eine Transfusion kann bei hämolytischen Krisen vermieden werden, wenn die Hämoglobinkonzentration nicht unter 50–70 g/l abfällt. Hingegen sollten Kinder mit der selteneren aplastischen Krise transfundiert werden, da wegen des raschen und ausgeprägteren Hämoglobinabfalls (oft unter 40–50 g/l) Symptome kardiovaskulärer Insuffizienz (Tachykardie, Schwindel u. a.) auftreten können. Die Herzinsuffizienz kann bei aplastischen Krisen und schwerer Anämie zum Tod führen. In manchen Fällen kann der schwere Verlauf der aplastischen Krise durch die frühzeitige Gabe von Immunglobulinpräparaten (die alle Anti-Parvovirus-Antikörper enthalten) günstig beeinflusst werden. Tipp für die Praxis Patienten mit regelmäßigem Transfusionsbedarf sollten ab einer Hämoglobinkonzentration von 60–70 g/l auf einen Wert von 90–100 g/l transfundiert werden.
Gallensteine. Aufgrund des erhöhten Bilirubinanfalls ent-
wickeln Kinder und Erwachsene mit Sphärozytose vor Splenektomie häufig Gallensteine. Kinder mit Sphärozytose haben im Alter von <10 Jahren in 5% Gallensteine. Die Prävalenz von Gallensteinen steigt auf 40–50% in der 2. bis 5. Lebensdekade und auf 55–75% in höherem Alter an. Patienten, die neben der Sphärozytose auch einen hepatischen Glukuronyltransferase-Mangel (Morbus Gilbert-Meulengracht) vererbt haben, bekommen früher und häufiger Gallensteine als Patienten mit normaler Bilirubin-Clearance (Miraglia del Giudice et al. 1999). Diese Patienten weisen auch im Steady
Patienten mit Sphärozytose Gicht, schmerzlose Unterschenkelgeschwüre oder eine chronische erythematöse Dermatitis der Beine. Seltene, schwere Komplikationen sind extramedulläre Tumoren. Sie sind meist im Thorax paraspinal lokalisiert und treten v. a. bei Erwachsenen mit leichter Sphärozytose auf, die über Jahrzehnte eine erhöhte Blutbildung hatten. All diese Komplikationen bilden sich nach Splenektomie zurück. In seltenen Fällen wurde ein gleichzeitiges Auftreten von Sphärozytose mit spinozerebellärer Degeneration oder familiärer Kardiomyopathie beobachtet. Bisher ist unklar, ob eine gemeinsame Pathogenese zugrunde liegt oder ob es sich um eine zufällige Assoziation verschiedener Krankheiten handelt. 9.4.5
Diagnose
Bei typischer klinischer Symptomatik kann die Diagnose der Sphärozytose gestellt werden, wenn die osmotische Fragilität der Erythrozyten erhöht ist und im Blutausstrich Sphärozyten vermehrt sind. Die mittlere zelluläre Hämoglobinkonzentration (MCHC) ist in der Hälfte der Fälle auf >36% erhöht (MacKinney et al. 1962). Der Nachweis einer Rechtsverschiebung im MCHC Histogramm (messbar mit verschiedenen neueren Blutzählgeraten) ist ein eindeutiger Hinweis auf die Diagnose (Mohandas et al. 1986) und eignet sich z. B. für ein Screening von Familienangehörigen eines Patienten mit Sphärozytose. Die Bestimmung der Spektrinkonzentration (und/oder die von Ankyrin oder Bande 3) in der Erythrozytenmembran kann bei ungewöhnlichen Fällen (z. B. bei gleichzeitigem Nachweis von Anti-Erythrozytenantikörpern ( unten) erforderlich sein. Die Analyse der Erythrozytenmembran ist jedoch sehr aufwendig und bisher nur an wenigen Zentren möglich. Es gibt nur wenige Krankheiten, die mit einer Sphärozytose verwechselt werden können. Beim Neugeborenen kann die Diagnose schwierig sein: Nur 35% der betroffenen Neonaten haben eine Retikulozytose >10% (beachte die erhöhten Normalwerte im Neugeborenenalter bis 8%), und 33% weisen keine wesentlich erhöhte Zahl von Sphärozyten im Ausstrich auf (Schröter u. Kahsnitz 1983). Zudem ist die osmotische Fragilität fetaler/neonataler Erythrozyten im frischen Blut vermindert und erst nach 24-stündiger Inkubation erhöht (Erlandson u. Hilgartner 1959; Schroter u. Kahsnitz 1983), so dass die Verwendung von Normalwerten Erwachsener für die osmotische Fragilitätsprüfung zu
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falsch-negativen oder falsch-positiven Ergebnisse führen kann. Es müssen daher die für Neugeborene veröffentlichten Normalwerte angewandt werden (Schröter u. Kahsnitz 1983). Tipp für die Praxis Die Diagnose der Sphärozytose beim Neugeborenen durch den Nachweis einer verminderten osmotischen Fragilität ist einfacher mittels des »Acidified-glycerol-lysis«Tests (Eber et al. 1992) zu stellen. Von Vorteil ist die geringe Blutmenge (20 µl EDTA Blut), die dabei benötigt wird.
Die AB0-Inkompatibilität ist im Neugeborenenalter 4–5-mal häufiger die Ursache einer Hyperbilirubinämie als die Sphärozytose (Saada et al. 2000): Die Abgrenzung kann in den seltenen Fällen einer Coombs-negativen AB0-Inkompatibilität schwierig sein. Bei älteren Kindern müssen autoimmunhämolytische Anämien (v. a. solche durch Wärmeantikörper oder biphasische Antikörper vom Donath-Landsteiner-Typ) durch einen negativen Coombs-Test ausgeschlossen werden. Der Nachweis einer verminderten Spektrinkonzentration sichert in diesen Fällen die Diagnose: Bei immunhämolytischen Anämien ist – im Gegensatz zur Sphärozytose – die Konzentration von Spektrin normal. Sphärozyten finden sich als sekundäres Phänomen bei einigen anderen Erkrankungen; in diesen Fällen ist die Diagnose aber entweder leicht zu stellen (z. B. Verbrennungen, Schlangenbisse oder Clostridiumsepsis) oder die Sphärozyten sind nicht die vorwiegende morphologische Veränderung (z. B. bei mikroangiopathischen hämolytischen Anämien, oxidativen Hämolysen, instabilen Hämoglobinopathien oder Hämoglobin-SC-Krankheit). Die Diagnose einer Sphärozytose kann bei gleichzeitigem Eisenmangel oder cholestatischem Ikterus maskiert werden, da in diesen Fällen die osmotische Fragilität der Erythrozyten scheinbar normal ist. 9.4.6
Splenektomie und Cholezystektomie
Die Splenektomie heilt alle Patienten mit Sphärozytose. Die Hämoglobinkonzentration normalisiert sich in allen Fällen, die Retikulozytenzahl fällt – mit Ausnahme der sehr schweren Verläufe – auf unter 2% ab. Die Indikation wird jedoch zunehmend zurückhaltender gestellt, da 1–2 % der Patienten an einer fulminanten Postsplenektomie-Sepsis (Schwartz et al. 1982) oder an mesenterialen/portalen Gefäßverschlüssen versterben. Kinder, die im Alter von <5 Jahren splenektomiert werden, haben ein erhöhtes Risiko für eine Postsplenektomie-Sepsis. Sie sollten auf keinen Fall unter 2 Jahren und möglichst nicht vor dem 5. Lebensjahr splenektomiert werden – sogar wenn dafür regelmäßige Transfusionen in Kauf genommen werden müssen. Das Risiko für eine späte Sepsis nach Splenektomie ist lebenslang erhöht (Eber et al. 1999; Green et al. 1986). Patienten mit der mittelschweren Form sollten splenektomiert werden, wenn wiederholte Transfusionen im Rahmen von hämolytischen Krisen erforderlich waren (die Transfusion bei aplastischer Krise oder eine Austauschtransfusion bei Geburt zählen nicht mit). Patienten mit der schwe-
ren Form, die regelmäßig transfundiert werden, müssen in jedem Fall splenektomiert werden. ! Eine Splenektomie ist bei Kindern und Jugendlichen mit der leichten Form in der Regel nicht erforderlich. Subtotale Splenektomie. Bei der subtotalen Splenektomie wird ein Milzrest von 10 ml (Eber et al. 2001b) bis 30 ml (Bader-Meunier et al. 2001) belassen. Dies führt zu einer jahrelangen Normalisierung der Hämoglobinkonzentration (⊡ Abb. 9.5). Die Retikulozytenzahl und Bilirubinkonzentration sind in den ersten Jahren nach subtotaler Splenektomie normal und steigen dann langsam wieder an, ohne die hohen Ausgangswerte vor Splenektomie zu erreichen. Transfusionsbedürftige hämolytische oder aplastische Krisen oder andere Komplikationen treten nach subtotaler Splenektomie nicht auf. Die Restmilz wächst in den ersten Jahren auf die Größe einer normalen Milz; anschließend ist das Wachstum weitgehend parallel zu dem einer altersentsprechend normalen Milz (⊡ Abb. 9.5). Der Nachbeobachtungszeitraum von 7 Jahren ist allerdings noch zu kurz, um dieses Verfahren allen Patienten empfehlen zu können. Cholezystektomie. Patienten mit symptomatischen Gallensteinen sollten cholezystektomiert werden. Eine bloße Steinentfernung durch Cholezystotomie ist nicht zu empfehlen, da sich aufgrund der fortbestehenden Hämolyse die Gallensteine nachbilden. Bei Patienten mit mittelschwerer Form wird eine gleichzeitige, offene (subtotale) Splenektomie empfohlen. Patienten mit der leichten Form sollten laparaskopisch cholezystekomiert werden; mit einer Steinbildung in den ableitenden Gallenwegen ist nach Cholezystektomie nicht zu rechnen. Vor dem Eingriff muss eine steinbedingte Abflussbehinderung in den Gallenwegen durch eine Ultraschalluntersuchung sorgfältig ausgeschlossen werden. Antibiose. Nach Splenektomie ist das Risiko für schwere Infektionen durch Pneumokokken (Sepsis, Meningitis, Pneumonie) und andere kapseltragende Bakterien (Hämophilus, Meningokokken u. a.) sowie durch einige andere Parasiten (z. B. Malaria) mehrere 100-mal erhöht (Eber et al. 1999). Nach Splenektomie ist daher eine mindestens 3-jährige Dauerprophylaxe mit oralem Penicillin (erforderlich bei Splenektomie <10 Lebensjahr auf jeden Fall bis zum Alter von 10 Jahren). Die Dosierung beträgt 2×200.000 E/Tag bis zum 5. Lebensjahr; 2×400.000 E/Tag ab dem 5. Lebensjahr. Bei größeren Patienten empfiehlt sich die Dosierung nach Körpergewicht (50.000 E/kg KG; maximal 2×1,5 Mio. E). Bei Unverträglichkeit des oralen Präparats kann alternativ ein Depotpräparat i.m. (1,2 Mega) 1- bis 2-mal pro Monat injiziert werden. Anschließend muss lebenslang eine sofortige Gabe eines Breitbandantibiotikums (derzeit am besten Amipen mit β-Lactamhemmer) bei allen hochfieberhaften Infektionen zwingend erfolgen (Eber et al. 2001a). Impfung. Alle Patienten müssen vor der Splenektomie mit dem 23-valenten Pneumokokkenimpfstoff geimpft werden. Nicht-geimpfte, splenektomierte Patienten sollten mit dem neuen konjugierten Pneumokokkenimpfstoff vakziniert werden. Die Impfung bietet einen weitgehenden, aber nicht vollständigen Schutz vor invasiver Pneumokokkenerkrankung (Pedersen et al. 1982). Patienten ohne eine Hämophilus-
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
⊡ Abb. 9.5a, b. Ergebnisse der subtotalen Splenektomie bei hereditärer Sphärozytose. a Anstieg der Hämoglobinkonzentration nach Splenektomie bei 29 Patienten (Stöhr et al., persönliche Mitteilung); b Wachstum des Milzrestes nach Splenektomie (Eber et al. 2001b)
a
b
impfung oder Patienten mit ungenügendem Antikörpertiter sollten geimpft werden. Aufgrund des veränderten Erregerspektrums wird neuerdings auch die Meningokokkenimpfung (mit dem konjugierten Impfstoff) für alle splenektomierte Patienten empfohlen. Langzeitnebenwirkungen. Untersuchungen an langzeitüberlebenden Sphärozytosepatienten zeigen ein 6fach erhöhtes Risiko für Myokardinfarkt/zerebralen Schlaganfall nach dem 40. Lebensjahr (Schilling 1997): Mögliche Ursache ist die nach Splenektomie beschleunigte Arteriosklerose (Robinette u. Fraumeni 1977).
9.5
Hereditäre Elliptozytose
Obwohl die hereditäre Elliptozytose fast ebenso häufig wie die Sphärozytose ist (ungefähr 1: 2500 in der weißen nordeuropäischen Bevölkerung), ist ihre klinische Bedeutung wesentlich geringer. Typisch sind die stäbchenförmigen Elliptozyten in mehr als 20% der Erythrozyten im Blutausstrich (Kleihauer 1978). Nur ca. 10% der Patienten erkranken an einer signifikanten Hämolyse. In einigen Fällen kann die Hämolyse lebensbedrohlich sein. Wir unterscheiden 4 Untergruppen: die milde Elliptozytose (mit vorübergehender schwerer infantiler Poikilozytose), die hereditäre Poikilozytose, die sphärozytäre hereditäre Elliptozytose und die südostasiatische Ovalozytose (⊡ Tabelle 9.4).
9.5.1
Milde hereditäre Elliptozytose
Heterozygote Anlageträger dieser häufigsten, milden Form der Elliptozytose haben meist keine Anämie und eine nur leichte Retikulozytose (Retikulozytenzahl <4%). Die osmotische Fragilität der Erythrozyten kann normal bis leicht erhöht sein. Dagegen erkranken homozygote oder compound heterozygote Nachkommen an einer mittelschweren bis schweren hämolytischen Anämie. Pathogenese. Die milde hereditäre Elliptozytose und die
seltenen hereditären Poikilozytosen (s. unten) werden in der Mehrzahl durch verschiedene Störungen der »horizontalen« Vernetzung der Membranskelettproteine verursacht ( Abb. 9.1; Palek u. Jarolim 1993). Diese Verbindungen halten das den Erythrozyten stabilisierende Proteinnetzwerk zusammen. Die meisten Defekte vermindern die Aneinanderlagerung von Spektrindimeren und führen zu einem erhöhten Anteil von dimerem Spektrin nach Extraktion der Erythrozytenmembran bei niedriger Ionenstärke und Temperatur (Liu et al. 1982). Diese Mutationen liegen in den Spektrinketten nahe der Spektrin-Selbstaneinanderlagerungsstelle. Die meisten Defekte betreffen das N-terminale Ende der α-Spektrinkette; einige Defekte wurden auch im C-Terminus der β-Kette gefunden. Bei den Mutationen der α-Kette handelt es sich meist um Punktmutationen (Austausch einer Aminosäure), die die Struktur einer der 106 Aminosäure langen wiederholten Sequenzen zerstören. β-Spektrinmutationen führen zu einem verkürzten C-Terminus, der keine Verbindung zur α-Kette findet. Defekte der α-Spektrinkette verlaufen umso schwerer, je näher die Mutation an der Spektrin-
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⊡ Tabelle 9.4. Klinische Subtypen der hereditären Elliptozytose
Klinische Manifestation Milde HE Asymptomatisch Dominante Vererbung: ein Elternteil mit HE Varianten: Neugeborene mit mäßig-schwerer hämolytischer Anämie und HPP-ähnlichem Ausstrich; wandelt sich zu einer typischen milden HE innerhalb eines Jahres Patienten mit milder bis mäßiger chronischer Hämolyse, entweder wegen zusätzlicher Vererbung der α-Spektrinvariante (αLELY ) oder wegen Koexistenz einer chronischen Krankheit mit Splenomegalie Hereditäre Poikilozytose (Pyrokilozytose) Mäßig bis schwere hämolytische Anämie Splenomegalie Zeitweilige Gelbsucht Aplastische/hämolytische Krisen Rezessive Vererbung: Ein Elternteil mit HE und einer mit α-Spektrin-»Low-low-expression«-Variante; oder beide Eltern mit HE Besserung nach Splenektomie Sphärozytäre HE Anämie Splenomegalie Zeitweilige Gelbsucht Aplastische Krisen Dominantes Vererbungsmuster Gute Reaktion auf Splenektomie Südostasiatische Ovalozytose Asymptomatisch Dominante Vererbung Eingeborene der Lowlands von Melanesien oder Malaysia Keine Anämie oder Hämolyse; Malariaresistenz
Blutausstrich; biochemische Defekte
Elliptozyten, wenig bis keine Poikilozyten Geringe oder keine Hämolyse (Retikulozyten: 1–3%) Normale osmotische Fragilität Üblicherweise Defekt in Spektrin-Selbstassoziation. Seltener partieller Defekt oder Fehlfunktion von Protein 4.1 oder von Glykophorin C
Bizarre Poikilozyten Fragmentozyten, Sphärozyten, Elliptozyten Tiefes MCV Retikulozytose Erhöhte osmotische Fragilität Erniedrigte Hitzestabilität der Erythrozyten Defekt in Spektrin-Selbstassozation ↓ Spektrinkonzentration Runde Elliptozyten, ± Sphärozyten Retikulozyten Erhöhte Osmotische Fragilität Primärdefekt unbekannt
Runde Elliptozyten, manche mit Querstrich in der Mitte Anomale, oligomere Bande 3, der die Anionen-Austauschfunktion fehlt
HE hereditäre Elliptozytose; HPP hereditäre Pyropoikilozytose.
Selbstaneinanderlagerungsstelle liegt und je höher die Konzentration an Spektrindimer im Extrakt ist. Diese Regel wird allerdings durch die Auswirkungen einer gleichzeitigen Spektrin-α-Lely Mutation kompliziert ( unten). Nicht so selten liegen auch Defekte im Protein 4.1 vor (Conboy et al. 1993). Das Protein fehlt entweder oder kann seine wesentliche Aufgabe, die Spektrin-Aktin-Verbindung in den Knotenpunkten des Membranskeletts zu stärken, nicht erfüllen. Nur homozygote Patienten erkranken an einer schweren poikilozytären Anämie; heterozygote Anlageträger haben eine milde Elliptozytose. Spektrin-α-Lely. Dieser häufige wesentliche Polymorphismus
verändert das Spleißen der α-Spektrin-mRNA, so dass die Hälfte der α-Spektrinmoleküle funktionslos sind (Sp-α-Lely) und keine Bindung mit einer β-Kette eingehen (Wilmotte et al. 1993). Die Bildung einer normalen α-Spektrinkette ist vermindert. Die Mutation allein verursacht auch bei homozygoten Trägern keine klinische Symptomatik, da die α-Spektrinkette im Überschuss gebildet wird. Wird jedoch die Spektrin-α-Lely-Mutation in trans (auf dem anderen Allel) zu einer weiteren α-Spektrinmutation vererbt, die eine
hereditäre Elliptozytose (»Elliptozytosemutation«) verursacht, so führt dies zum Verlust der normalen α-Kette und zu einer relativ erhöhten Konzentration an dimerem Spektrin, das die mutierte α-Kette mit dem »Elliptozytosedefekt« enthält. Die relativ erhöhte Konzentration an defektem Dimer verstärkt wesentlich die Auswirkung der Elliptozytosemutation. »Compound« heterozygote Patienten mit einer α-Spektrin-Elliptozytosemutation und Spektrin-α-Lely erkranken daher entweder an einer hereditären Elliptozytose mit infantiler Poikilozytose ( unten) oder an einer mittelschweren, chronischen hämolytischen Anämie. Die Kombination ist häufig, da bis zu 30% der Bevölkerung den an sich harmlosen Spektrin-α-Lely-Polymorphismus aufweisen. 9.5.2
Hereditäre Poikilozytose (Pyropoikilozytose)
Patienten mit dieser seltenen Erkrankung haben eine mittelschwere bis schwere hämolytische Anämie und benötigen zum Teil regelmäßige Transfusionen. Die Anämie ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Fragmentierung und Mikrozytose, bizarre Poikilozyten und hitzeempfindliche, osmo-
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
tisch labile Erythrozyten, die bei 45–46°C fragmentieren anstelle bei normalen 49°C. Aufgrund der Temperaturinstabilität wird die Erkrankung bisher als hereditäre Pyropoikilozytose (HPP) bezeichnet. Da die Temperaturstabilität oft nicht untersucht wird und der Begriff schwer verständlich ist, bevorzuge ich den Begriff »hereditäre Poikilozytose«. Die schwersten Verlaufsformen haben auch einen Spektrinmangel (um 20–40%), so dass sie Kennzeichen der Elliptozytose und der Sphärozytose aufweisen. Die Patienten sind auch nach Splenektomie nicht vollständig von der Hämolyse geheilt. Bei hereditärer Poikilozytose liegt typischerweise eine Homozygotie oder Compound Heterozygotie für 2 α-Spektrindefekte vor, die beide für sich eine milde Elliptozytose verursachen. Einige Patienten mit Poikilozytose sind auch compound heterozygot für die Kombination einer Spektrinα-Lely-Mutation mit einem der schwereren α-Spektrindefekte, der die Tetramerisierung verhindert. Transiente infantile Poikilozytose. Bei ungefähr 10% der Kin-
der mit milder Elliptozytose infolge einer gestörten Spektrin Selbstassoziation manifestiert sich die Erkrankung im Neugeborenenalter unter dem Bild einer schweren poikilozytären mikrozytären hämolytischen Anämie. Die Symptomatik ähnelt der hereditären Poikilozytose und Transfusionen können in den ersten Lebenstagen erforderlich sein. Im Gegensatz zur Poikilozytose geht der Schweregrad bei den Patienten mit der transienten Form während des ersten Lebensjahres in eine milde Elliptozytose über. Dieser Übergang geht parallel zum Abfall des fetalen Hämoglobins. Es wird angenommen, dass die hohe Konzentration an freiem 2,3-Diphosphoglycerat in Erythrozyten mit fetalem Hämoglobin die Interaktion von Spektrin, Aktin und Bande 4.1 in den Knotenpunkten des Membranskelett-Netzwerkes schwächt und so den vererbten Defekt der Spektrin Selbstassoziation bei den Neonaten verstärkt (Mentzer et al. 1987).
kommt sie kaum vor. Sie ist charakterisiert durch dickere Ovalozyten, von denen einige einen zentralen queren Balken aufweisen. Diese Erythrozyten sind außerordentlich steif. Heterozygote Anlageträger haben einen Überlebensvorteil bei Infektionen durch Malaria, was die hohe Prävalenz in Gebieten Südostasiens mit einer hohen Malariadurchseuchung erklärt. Aufgrund eines noch nicht genau identifizierten Mechanismus sind durch Malaria infizierte Patienten (mit der SAO-Mutation) vor einer zerebralen Malaria geschützt (Allen et al. 1999). Der primäre Defekt ist eine Deletion von 9 Aminosäuren in der Bande 3, die an der Verbindungsstelle zwischen dem zytoplasmatischen und Membrananteil liegt (Jarolim et al. 1991; Liu et al. 1990). Dieser Defekt verstärkt die Bindung von Bande 3 an Ankyrin, so dass die Bande 3 in den durch die Spektrinfäden vorgegebenen »Koppeln« gefangen ist; oder sie begünstigt eine Aggregation der Bande 3, die zu der Steifheit der Erythrozyten führt. Trotz ihrer verminderten Verformbarkeit können die Ovalozyten die engen Adventitiaschlitze der Milzsinus frei passieren und die Hämolyse ist bei Heterozygoten– wenn überhaupt – nur gering verstärkt. Vermutlich ist die Homozygotie ein Letalfaktor in der Fetalperiode, da homozygote Patienten nicht bekannt sind. 9.5.5
Die Entfernung der Milz ist nur bei compound heterozygoten oder homozygoten Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Form der Elliptozytose oder Poikilozytose indiziert. Da der Grad der Hämolyse während der Säuglings- und frühen Kleinkindzeit abnimmt, sollte die Milzentfernung in keinem Fall vor dem dritten Lebensjahr und nach Möglichkeit erst nach dem fünften Jahr oder später erfolgen. In einigen Fällen wurde eine teilweise Milzentfernung mit Erfolg durchgeführt. 9.6
9.5.3
Hereditäre sphärozytäre Elliptozytose
Es handelt sich um eine seltene, autosomal dominant vererbte Form der Elliptozytose, die Kennzeichen von beiden, der Sphärozytose und der Elliptozytose trägt. Die Patienten haben eine milde bis mittelschwere hämolytische Anämie, die durch dickere Ovalozyten (als die bei Elliptozytose typischen stäbchenförmigen Elliptozyten) und gelegentlich Sphärozyten gekennzeichnet ist. Die osmotische Fragilität ist erhöht. Die Indikation zur Splenektomie entspricht der bei hereditärer Sphärozytose. In einigen Fällen liegt ein Defekt der β-Spektrinkette zugrunde, der sowohl zu einer gestörten Spektrin Selbstassoziation als auch – infolge einer verminderten β-Spektrin-Ankyrin-Interaktion – zu einer geschwächten vertikalen Verankerung des Membranskeletts an die Lipidmembran führt. 9.5.4
Südostasiatische Ovalozytose
Diese auffällige, dominant vererbte Erythrozytenmorphologie ist sehr häufig (bis zu 30%) bei Ureinwohnern Melanesiens, Indonesiens und Malaysias; außerhalb dieser Regionen
Splenektomie bei Elliptozytose
Hereditäre Defekte der Kationendurchlässigkeit der Erythrozytenmembran
Der Wassergehalt von Erythrozyten wird wesentlich von ihrem Gehalt an monovalenten Kationen (Na+ und K+) bestimmt. Ein Natriumeinstrom ist begleitet von einem vermehrten Wassereinstrom und führt infolge der Zellschwellung zu vermehrten Stomatozyten (Erythrozyten mit verringertem Oberflächenüberschuss); ein Kaliumausstrom geht mit einer zellulären Dehydratation einher; infolge eines Oberflächenüberschusses bilden sich Membranausstülpungen, die zur Bildung von Xerozyten und Echinozyten führen. Je nach den indirekten Zeichen des zellulären Wassergehalt ( unten) und der charakteristischem Zellform unterscheiden wir die hereditäre Stomatozytose von der Xerozytose (⊡ Tabelle 9.5). Der Schweregrad der Erkrankung, die Veränderung der intrazellulären Kationenkonzentration und die Morphologie sind sehr unterschiedlich. Neben den beiden Extremen (schwere hereditäre Stomatozytose und mittelschwere hereditäre Xerozytose) wurden mehrere seltene intermediäre Formen (Milde Stomatozytose; Kryohydrozytose; Pseudohyperkaliämie) beschrieben (Coles u. Stewart 1999; Walensky et al. 2003). Alle Krankheiten werden autosomal
135 9 · Angeborene Erythrozytenmembrandefekte
Tabelle 9.5. Merkmale von hereditärer Stomatozytose, Xerozytose und verwandter Erkrankungen (nach Walensky et al. 2003)
Stomatozytose1 mit zellulärer Überwässerung
Kryohydrozytose
Familiäre Pseudohyperkaliämie
Xerozytose
Hämolyse
Mittel bis schwer
Mild bis mittel
Mild bis normal
Mild bis mittel
Erythrozytenmorphologie
Stomatozyten ↑–↑↑↑
Stomatozyten (↑), tassenförmig; zentraler Balken
Targetzellen, Stomatozyten (↑)
Targetzellen ↑ Echinozyten ↑ Stomatozyten (↑)
MCV (80–100 fl)2
110–150
90–105
82–104
84–122
MCHC (32–36 g/dl)
24–30 ↑↑↑
34–38
33–39
Normal bis (↑)
(↓)
34–38 ↓
Erythrozytäres Na+ (5–12 mmol/l)
60–100
15–50
10–25
10–30
Erythrozytäres K+ (90–103 mmol/l)
20–55
55–65
75–100
60–90
Erythrozytäres K+ und Na+ (95–110 mmol/l)
110–140
75–105
87–109
75–99
Osmotische Fragilität
Passives Membranleak3
20–40
1–6
1–2
2–4
Stomatinverlust
Ja
Nein?4
Nein
Nein
Kälteautohämolyse
Nein K+ (↑) nach Lagerung
Ja
Nein
Nein
Ja
Ja, ↑↑↑
Teilweise
Pseudohyperkaliämie Intrauterin Aszites
Nein
Nein
Nein
Gering bis stark
Rückgang der Hämolyse nach Splenektomie
Gut
Gering bis gar nicht
Nicht erforderlich
Schlecht
PostsplenektomieThromboserisiko
↑↑↑
Normal?
Nicht bekannt
↑↑↑
1
Neben der schweren Form gibt es leichtere Verlaufsformen der hereditären Stomatozytose, bei denen Stomatozyten vermehrt sind, die zelluläre Überwässerung (MCV 95–130; Na+ 30–60) jedoch nur leicht ausgeprägt ist (Jarvis et al. 2001; Oski et al. 1969) 2 Die Normalbereiche sind in Klammern angeben 3 Definiert als der Ouabain- und Bumetanid-resistente 86Rubidiumeinstrom bei 37°C; es wird der Quotient des Patientenwerts zum normalen Einstrom angegeben (Norm: 0,06–0,1 mmol/l Erythrozyten/h; Coles et al. 1999) 4 Bei einem Patient mit angeblicher Kryohydrozytose wurde ein Fehlen des Stomatins beschrieben (Lande et al. 1982); dieser Patient hat aber eher Zeichen der Stomatozytose mit zellulärer Überwässerung. ↑ vermehrt; (↓) vermindert; ↑↑↑ deutlich vermehrt oder erhöht; (↑) leicht vermehrt oder erhöht; (↓) leicht erniedrigt.
dominant vererbt. Viel häufiger als die angeborenen Formen beobachtet man eine erworbene Vermehrung von Stomatozyten oder Xerozyten und Echinozyten nach Einnahme von Medikamenten oder bei Infektionen; diese Formveränderungen gehen meist nicht mit einer klinisch bedeutsamen Hämolyse einher. Die wesentlichen Charakteristika der kongenitalen Stomatozytose und Xerozytose und ihrer Zwischenformen sind in ⊡ Tabelle 9.5 gegenübergestellt. 9.6.1
Hereditäre Stomatozytose
Bei der seltenen schweren hereditären Stomatozytose mit zellulärer Überwässerung (Eber et al. 1989; Lande et al. 1982; Lock et al. 1961; Zarkowsky et al. 1968) führt ein dominant vererbter Defekt der Kationendurchlässigkeit zu einem ausgeprägten Natriumeinstrom in die Erythrozyten, der die Kapazität der auswärtstransportierenden Na-/K-Pumpe übersteigt und zu einem massiven Anstieg der intraerythrozytären Kationenkonzentration (Na+- und K+-Gesamtkonzentration) und zellulärem Wassergehalt (erhöhtes MCV und erniedrigte MCHC) führt. Bei einigen Familien kommt es
zu einer schweren Hämolyse. Die charakteristische Formveränderung besteht in einer queren zentralen Aufhellung der Erythrozyten, die wie ein Mund (griechisch Stoma) aussieht. Obwohl der primäre Defekt nicht bekannt ist, kann die vererbte Form der Stomatozytose durch den Nachweis einer fehlenden oder verminderten Konzentration der Bande 7.2 (Stomatin, ein integrales Membranprotein im Bande-7Komplex in der SDS-Polyacrylamid-Gelelektrophorese der Membranproteine) von einer häufigen erworbenen Vermehrung von Stomatozyten im Blutausstrich abgegrenzt werden. Eine Sonderform der Stomatozytose ist die hereditäre Kryohydrozytose (eine milde bis mittelschwere hämolytische Anämie mit einer starken Autohämolyse bei 4°C). Bei der erworbenen Stomatozytenvermehrung lagern sich Medikamente (Chlorpromazin, Ifosphamid, Cyclophosphamid u. a.) in die innere Lipidschicht der Doppellipidmembran ein und dehnen diese gegenüber der äußeren Lipidschicht aus (Reinhart et al. 1999).
9
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
9.6.2
Hereditäre Xerozytose
I Aufgrund eines bisher unbekannten Membrandefekts ist bei der seltenen, dominant vererbten Xerozytose (Synonyme: hämolytische Anämie mit hohem Phosphatidylcholingehalt; dehydratisierte Stomatozytose) die Kalium- und Natriumpermeabilität der Membran verändert, so dass das Verhältnis des Kaliumverlusts zum Natriumeinstrom den normalen Quotienten von 2:3 übersteigt. In der Folge fällt die Gesamtkonzentration monovalenter Kationen der Erythrozyten (Na+ und K+) ab und die Zellen verlieren Wasser. Typisch ist die erhöhte intraerythrozytäre Hämoglobinkonzentration (↑MCHC). Diese »ausgetrockneten« zähen Erythrozyten werden durch das retikuloendotheliale System der Milz aus dem Kreislauf entfernt (⊡ Tabelle 9.5). Einige der Kinder haben intrauterin einen schweren Hydrops mit ausgeprägtem Aszites bei mittelschwerer Anämie (Entezami et al. 1996). Bei Geburt sind die Neonaten schwer krank und bedürfen Intensivtherapie zur Ausschwemmung. Der Hämoglobingehalt ist auf 80 g/l erniedrigt (eigene unveröffentlichte Beobachtung). Nach der intensiven Neonatalperiode weisen die Patienten eine milde bis mittelschwere Hämolyse auf. Das Blutbild ist weitgehend unauffällig und zeigt neben gelegentlichen Targetzellen und einigen Stomatozyten bei genauer Durchsicht irregulär geformte Xerozyten (Stechäpfelerythrozyten mit runden Ausbuchtungen, so genanntes »budding«, besonders im Phasenkontrast gut sichtbar). Die osmotische Fragilität ist vermindert. Der Phosphatidylcholin Gehalt der Membran ist erhöht (12–20 fmol/Zelle; normal: 10–12; Clark et al. 1993). Die familiäre Pseudohyperkaliämie ist eine Sonderform der Xerozytose (Delaunay et al. 1999), die mit milder, kompensierter hämolytischer Anämie und mit einem Anstieg des Serumkalium bis zu 8 mmol/l nach Lagerung der Blutprobe ≥6 h einhergeht. Kopplungsanalysen zeigten, dass bei beiden Formen der Xerozytose der bisher unbekannte genetische Defekt auf Chromosom 16 lokalisiert ist (Carella et al. 1998). 9.6.3
Behandlung von Stomatozytose und Xerozytose
Patienten mit der mittelschweren bis schweren Form der Stomatozytose müssen bei niedrigen Hämoglobinwerten transfundiert werden. Die Hämolyse ist bei den Patienten mit der Xerozytose nach der Neugeborenenzeit selten so ausgeprägt, dass Transfusionen erforderlich sind. Obwohl die vollständige Splenektomie bei Stomatozytose zu einer deutlichen Besserung der Hämolyse führt, ist der Eingriff kontraindiziert. Fast alle Patienten mit Stomatozytose oder Xerozytose, die im Kindesalter splenektomiert wurden, erleiden im Erwachsenenalter (oftmals während Schwangerschaften) rezidivierende Thromboembolien und können infolge pulmonaler Hypertonie versterben (Stewart et al. 1996). Vermutlich zirkulieren thrombogene Erythrozytenfragmente nach Splenektomie im Kreislauf, die ähnlich der Sichelzellerkrankung zu der gehäuften Thromboserate führen (Eber et al. 2000). Bisher ist unklar, ob eine subtotale Splenektomie bei diesen Patienten zu einer ausreichenden Verminderung der gesteigerten Hämolyse führt und die Thrombosen nach Splenektomie verhindert. Patienten mit der hereditären Xerozytose
profitieren nicht von der Splenektomie, was darauf hindeutet, dass die Xerozyten vorwiegend in der Leber zerstört werden. 9.7
Hereditäre Defekte von Membranlipiden
Trotz ihrer Abundanz sind Störungen von Membranlipiden nur in seltenen Fällen Ursache einer hämolytischen Anämie. Die kongenitale Aβ-Lipoproteinämie (Bassen Kornzweig) führt zu einer progredienten Ataxie und zöliakieähnlichen Fettmangelabsorption. Eine klinisch signikante Anämie tritt nur auf, wenn es zu einem sekundären Eisen- oder Folatmangel kommt (Kane u. Havel 2001). Die seltene Tangier-Erkrankung (α-Lipoproteinmangel) ist durch stomatozytäre hämolytische Anämie, Hepatosplenomegalie, orangefarbene, cholesterinbeladene Tonsillen, leichte Hornhauttrübung, periphere Neuropathie und frühzeitige koronare Herzerkrankung charakterisiert. Sie ist auf einen genetisch bedingten Defekt des ABC-Transportproteins (Bodzioch et al. 1999; Brooks-Wilson et al. 1999; Rust et al. 1999) zurückzuführen, der zu einem Fehlen von Apolipoprotein A-I und »high density lipoprotein« sowie zu niedrigem Plasmacholesterol- und hohem Triglyzeridspiegel führt. Im Knochenmark finden sich typische Schaumzellen. Der familiäre Lecithin-Cholesterol-Acyltransferasemangel (Defekt im gleichnamigen Gen) ist eine seltene autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die durch eine mittelschwere normochrome Anämie, Hornhauttrübung, Hyperlipidämie, Proteinurie, chronische Nephritis, und vorzeitige Arteriosklerose charakterisiert ist (Santamarina-Fojo et al. 2001). Sie tritt meist erst im Erwachsenenalter auf. Targetzellen und niedriger Gehalt an unverestertem Cholesterin und Phosphatidylcholin kennzeichnen die Störung der Erythrozytenmembran (Gjone et al. 1978).
Genetisch bedingte Membrandefekte sind in Mitteleuropa bei weitem die häufigste Ursache angeborener hämolytischer Anämien. Im letzten Jahrzehnt konnten die genetischen Defekte und die Pathogenese weitgehend geklärt werden. Durch einfache hämatologische Untersuchungen ist eine Unterteilung in verschiedene Schweregrade der Erkrankung möglich. Dies erlaubt eine prognostische Aussage über den zu erwartenden klinischen Verlauf und eine risikoadaptierte Indikation zur Splenektomie.
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139
Angeborene Erythrozytenenzymdefekte A. Pekrun, D. Reinhardt, O. Witt
10.1 10.2
Einleitung – 139 Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel (Favismus) – 140
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5
Genetik – 140 Pathophysiologie – 140 Klinik – 140 Diagnose – 140 Therapie und Prophylaxe – 140
10.3
Pyruvatkinasemangel
10.3.1 10.3.2 10.3.3
Klinik – 144 Diagnose – 144 Therapie – 144
10.4 10.5 10.6 10.7
Triosephosphatisomerasemangel – 144 Andere Enzymdefekte der Glykolyse – 144 Defekte des Adeninnukleotidstoffwechsels – 144 Methämoglobindiaphorasemangel – 145 Literatur – 145
10.1
Einleitung
– 140
Ein 3-jähriger Junge italienischer Abstammung wird wegen zunehmender körperlicher Mattigkeit, Fieber und gelber Verfärbung der Augen vorgestellt. Der Urin sei dunkel verfärbt. Auf Nachfragen wird der Genuss von »dicken Bohnen« 2 Tage zuvor angegeben. Der Junge ist altersentsprechend entwickelt, fällt aber durch ein blass-ikterisches Hautkolorit auf. Bei der klinischen Untersuchung lässt sich eine grenzwertig vergrößerte Milz am Rippenbogen palpieren. Die Herzfrequenz beträgt 160/min, der Blutdruck wird mit 90/60 mmHg gemessen. Die Laboruntersuchungen ergeben eine Hämoglobinkonzentration von 5,3 g/dl, ein mittleres korpuskuläres Volumen (MCV) von 75 fl, einen mittleren korpuskulären Hämoglobingehalt (MCHC) von 27 pg und einen Retikulozytenanteil von 2,5 %. Das Bilirubin ist auf 3,5 mg/dl mit überwiegend unkonjugiertem Anteil erhöht, ebenso die Laktatdehydrogenase mit 550 U/l. Außerdem ist das Haptoglobin unterhalb der Nachweisgrenze und freies Hämoglobin im Serum nachweisbar. Der Coombs-Test ist negativ. Der Blutausstrich zeigt eine unauffällige Erythrozytenmorphologie, im Kresylblau-gefärbten Ausstrich werden etliche »Innenkörper« gesehen. Zusätzlich werden im Urin Bilirubin, Urobilinogen und freies Hämoglobin nachgewiesen. Die spezielle Untersuchung der Erythrozytenenzymaktivität en ergibt eine deutliche Aktivitätsminderung der Glukose-6Phosphatdehydrogenase in den Erythrozyten (vermindert auf weniger als 2 % der Norm). Aufgrund der Anamnese und der Laborergebnisse kann die Diagnose einer hämolytischen Krise bei Glukose-6-Phosp hatdehydrogenasemangel, ausgelöst durch Nahrungsmittel
▼
(»dicke Bohnen«), gestellt werden. Therapeutisch war die Transfusion eines Erythrozytenkonzentrats aufgrund des weiteren Abfalls der Hämoglobinkonzentration auf 4,6 g/dl erforderlich.
Zahlreiche hereditäre Enzymdefekte der Erythrozyten sind Ursache kongenitaler nicht-sphärozytärer hämolytischer Anämien. In der Regel werden dabei anomale Enzyme gebildet, deren Aktivität, Kinetik, Substrataffinität oder Stabilität verändert sind. Nur in Einzelfällen konnte bisher eine quantitativ verminderte Synthese eines normalen Enzymproteins gezeigt werden. Erythrozyten weisen im Vergleich zu anderen Zellen einen rudimentären Stoffwechsel auf. So ist die Energiegewinnung im Kohlenhydratstoffwechsel auf die anaerobe Glykolyse und den Pentosephosphatweg beschränkt. Aufgrund hereditärer Enzymdefekte kann der Stoffwechsel der Erythrozyten empfindlich gestört werden. Bei Störungen des Pentosephosphatzyklus (Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel, Glutathionreduktasemangel) kommt es, besonders bei Einwirkung oxidativer Noxen, zu Veränderungen verschiedener erythrozytärer Proteine. Vermutlich führen schließlich sekundäre Schädigungen der Erythrozytenmembran zur vorzeitigen Zerstörung der Zelle. Hervorzuheben ist, dass einige Enzymdefekte (Triosephosphatisomerase – Schneider 2000 –, Phosphofruktokinase, Glukosephosphatisomerase – Kugler u. Lakomek 2000, Phosphoglyceratkinase) sich neben der Störung der Erythrozyten auch an anderen Organsystemen manifestieren. Dabei kommt es v. a. zu neuromuskulären Erkrankungen (Huck et al. 2004; Yao et al. 2004). Da die hämatologischen Störungen bei den betroffenen Patienten oft als erstes Symptom auftreten, ist bei jeder Funktionsstörung der Erythrozyten zur Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs eine adäquate Diagnostik unter Einschluss der Enzymbestimmungen anzustreben. Erbgang. Die Mehrzahl der Enzymdefekte wird autosomal-
rezessiv vererbt. Nur der Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel und der Phosphoglyceratkinasemmangel zeigen eine geschlechtsgebundene (X-chromosomale) Vererbung (Beutler 1990). Heterozygote Genträger sind im Allgemeinen gesund. Ein echt homozygoter Status für einen Enzymdefekt ist nur bei blutsverwandten Eltern, die jeweils den gleichen Defekt vererben, zu erwarten. Die Mehrzahl der Patienten ist dagegen »compound«-heterozygot. Diagnostik. Die Diagnose eines Erythrozytenenzymdefekts
wird durch Messung der entsprechenden Enzymaktivität im
10
140
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Hämolysat gestellt. Zu beachten ist, dass die Aktivität der meisten Enzyme in Retikulozyten bis zu 20fach höher als in reifen Erythrozyten ist. Die gemessene Enzymaktivität muss daher unter Bezug auf die Retikulozytenzahl und/oder die Aktivität der übrigen Erythrozytenenzyme bewertet werden. Zusätzlich ist die Bestimmung der Enzymsubstrate und der Reaktionsprodukte oft diagnostisch hilfreich. Molekulargenetische Methoden kommen wegen der großen Vielfalt der für jeden einzelnen Enzymdefekt bekannten Mutationen nur selten zum Einsatz. Wichtig werden sie lediglich bei der pränatalen Diagnostik entsprechend schwerer Krankheitsbilder, wie z. B. dem Triosephosphatisomerasemangel mit schwerwiegenden neurologischen Komplikationen (Schneider 2000). 10.2
Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel (Favismus)
Der X-chromosomal-rezessiv vererbte Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel ist mit weltweit über 400 Millionen betroffenen Menschen eine der häufigsten genetisch bedingten Krankheiten. Die Genträger leben überwiegend in Gegenden, in denen Malaria vorkommt oder früher endemisch war. Vermutlich schützt der Defekt vor der Malaria-Erkrankung, so dass es zu einer positiven Selektion der Genträger kommt bzw. kam (Luzzatto 1979; Ruwende et al. 1995). In den Mittelmeerländern und in Afrika beträgt die Genfrequenz in der männlichen Bevölkerung 10–20%, die Erkrankung wird jedoch auch in der mittel- und nordeuropäischen Bevölkerung gelegentlich diagnostiziert.
10.2.3 Klinik Es gibt 2 unterschiedliche Verlaufsformen des Glukose-6Phosphatdehydrogenasemangels (Clarke et al. 2003). Am häufigsten ist der akut-intermittierende Verlauf. Viele der betroffenen Individuen sind über viele Jahre oder Jahrzehnte asymptomatisch. Die gesteigerte Hämolyse wird nur durch »oxidativen Stress« akut ausgelöst, während die hämatologischen Parameter im Intervall unauffällig sind. Die wichtigsten Hämolyse-induzierenden Ursachen sind Favabohnen, verschiedene Medikamente und chemische Substanzen (⊡ Tabelle 10.1), Azidose und gelegentlich Infektionen. Auch während der Neonatalperiode kann, oft sogar ohne erkennbare exogene Noxe, akut gesteigerte Hämolyse mit Icterus gravis einsetzen; die Ursache für diese besondere Gefährdung des Neugeborenen ist nicht eindeutig geklärt. Wesentlich seltener kommt es, bei bestimmten Varianten der Glukose-6-Phosphatdehydrogenase, zu einer chronischen hämolytischen Anämie. Auch dabei wird die Hämolyse durch oxidative Noxen verstärkt. Die Milz ist beim Glukose6-Phosphatdehydrogenasemangel in der Regel nicht vergrößert, eine Milzvergrößerung wird gelegentlich bei Patienten mit chronisch gesteigerter Hämolyse beobachtet. 10.2.4 Diagnose Die Diagnose wird durch Bestimmung der Enzymaktivität im Hämolysat gestellt. Zu beachten ist, dass kurz nach einer hämolytischen Krise bei dann stark gesteigerter Retikulozytenzahl die Enzymaktivität im Hämolysat gelegentlich fälschlich als normal bestimmt werden kann.
10.2.1 Genetik 10.2.5 Therapie und Prophylaxe Die X-chromosomale Vererbung ermöglicht verschiedene Genotypen. Männer können nur hemizygot sein, Frauen sind heterozygot oder homozygot. Bei hemizygoten Männern und homozygoten Frauen ist der Defekt gleich stark ausgeprägt. Bei heterozygoten Frauen wird das klinische Bild wesentlich von der zufälligen X-Chromosominaktivierung (Lyon-Hypothese) bestimmt. Diese Patientinnen zeigen 2 Populationen von Erythrozyten mit normaler oder aber mit stark verminderter Enzymaktivität. In der Regel sind heterozygote Frauen asymptomatisch. Sofern bei ihnen allerdings die Mehrzahl der Erythrozyten den Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel zeigt, kommt es auch bei ihnen zur gesteigerten Hämolyse.
Die wichtigste Maßnahme ist die Vermeidung der Hämolyse auslösenden Noxen. In vielen Ländern wird deshalb, z. B. im Rahmen des Screenings nach Stoffwechseldefekten im Neugeborenenalter, systematisch nach Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel gesucht. Die Splenektomie führt bei diesem Enzymdefekt meist nicht zu einer Verbesserung der Anämie. Zudem muss als Folge der Splenektomie das gesteigerte Risiko schwerwiegender, häufig tödlicher, bakterieller Infektionen bedacht werden (»overwhelming postsplenectomy infection«, OPSI; Kap. 23). 10.3
10.2.2 Pathophysiologie Glukose-6-Phosphatdehydrogenase katalysiert den ersten Schritt des Pentosephosphatwegs zur Bildung reduzierender Äquivalente, insbesondere NADPH und im weiteren reduziertes Glutathion (⊡ Abb. 10.1). Beim Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel ist der Erythrozyt in Gegenwart oxidativer Noxen nicht zur dann notwendigen gesteigerten Synthese von NADPH in der Lage. Es kommt zur Oxidation etlicher erythrozytärer Proteine, zu Veränderungen der Zellmembran und im Gefolge zu vorzeitigem Zelluntergang.
Pyruvatkinasemangel
Der Pyruvatkinasemangel ist der häufigste Defekt eines Glykolyseenzyms als Ursache einer hämolytischen Anämie (Bianchi u. Zanella 2000). Es kommt zu einer verminderten Bildung von ATP, Pyruvat und NAD+. Aufgrund des Substratstaus vor dem defekten Enzym entsteht vermehrt 2,3Diphosphoglycerat, das zu einer Abnahme der Sauerstoffaffinität des Hämoglobins führt (⊡ Abb. 10.2). Aus diesem Grund können Patienten mit Pyruvatkinasemangel niedrige Hämoglobinkonzentrationen wesentlich besser ohne Funktionseinbuße tolerieren, als Patienten mit ebenso schwerer Anämie anderer Ursache.
141 10 · Angeborene Erythrozytenenzymdefekte
⊡ Abb. 10.1. Pentosephosphatzyklus. auto-dom autosomal-dominant, auto-rez autosomal-rezessiv, hA hämolytische Anämie
10
142
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
⊡ Tabelle 10.1. Medikamente, Chemikalien und Nahrungsmittel, die bei Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel eine Hämolyse erzeugen können. Zusätzlich kann nach Einnahme von frischen Bohnen (Fava-Bohnen = Saubohnen) eine Hämolyse in Form von Favismus bei einem Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel ausgelöst werden. Bei Fieber/Schmerzen gilt Acetaminophen/Paracetamol als Mittel der Wahl bei einem Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel Medikament
Handelsnamen
Medikamente, die schwere hämolytische Krisen auslösen können und vermieden werden sollten Acetazolamid (Sulfonamid)
Diamox/Diuramid/Glaupax
Co-trimoxazol (Antibiotikum)
Bactoreduct/Berlocid/Cotrim-BASF/Cotrim-Diolan/Votrim EU Rho/Cotrim forte Heumann/ Cotrim forte-ratiopharm/cotrim forte von ct/Cotrim Hefa/Cotrimhexal/Cotrim Holsten/ Cotrim-K-ratiopharm/Cotrim-ratiopharm/Co-trimoxazol/Cotrimoxazol AL/CotrimoxWolff/Cotrimstada/Co-trim-Tablinen Drylin/Eusaprim/Eusaprim E/Eusaprim K/Kepinol/ Kepinol forte/Microtrim/Sigaprim/Sigaprim für Kinder/Sigaprim forte/Supracombin/ Sigaprim forte/Supracombin/TMS/TMS forte
Dapson
Dapson-Fatol
Metamizol (Analgetikum)
Analgin/Baralgin/Berlosin/Novalgin/Novaminsulfon
Naphthalin (Benzolderivat, Mottenmittel) Nitrofurantoin (Chemotherapeutikum bei Harnwegsinfekten)
Cystit/Furadantin retard/Furadantin RP/Nifurantin/Nifuretten/Nitrofurantoin retardratiopharm/Uro-Tablinen
Sulfacetamid (Sulfonamid)
Albucid
Sulfamerazin (Sulfonamid) Medikamente, die möglicherweise hämolytische Krisen auslösen Chloramphenicol (Antibiotikum)
Aquamycetin/Chloramphenicol/ChloramsaarN/Oleomycetin/Paraxin/Posifinicol/ Thilocanfol
Chloroquin (Antimalariamittel, Antirheumatikum)
Chlorochin/Resochin/Weimerquin
Ciprofloxacin (Antibiotikum, Chemotherapeutikum)
Ciloxan/Ciprobay
Doxorubicin (Zytostatikum)
Adriablastin/Adrimedac/Cealyx/DOXO-cell/Doxorubicin/Ribodoxo-L
Hydroxychloroquin (Rheumatikum, Antimalariamittel)
Quensyl
Levodopa (Parkinsonmittel)
Dopaflex
Mefloquin (Antimalariamittel, Antirheumatikum)
Lariam
Paraaminosalicylsäure (PAS) (Vitamin-K-Antagonist) Phenazon (Analgetikum, Antipyretikum)
Aequiton-P/Migräne-Kranit/Otalgan
Propyphenazon (Antipyretikum, Antiphlogistikum, Analgentikum)
Demex/Eufibron/Isoprochin P
Sulfadiazin(Sulfonamid)
Brandiazin/Flammazine/Sterinor/Sulfadiazin-Heyl/Triglobe
Sulfalen (Sulfonamid)
Longum
Sulfasalazin (Sulfonamid)
Azulfidine/Colo-Pleon/Pleon RA/Sulfasalazin-Heyl
Sultiam (Antiepileptikum)
Ospolot
Toloniumchlorid (Hämostatikum)
Toluidinblau Inj.
Medikamente, bei denen bei normaler Dosierung keine Hämolyse zu erwarten ist, deren Überdosierung aber vermieden werden sollte Acetylsalicylsäure (Analgetikum, Antipyretikum)
ASS Acesal/Acetylsalicylsäure/Alacetan/Alka-Seltzer/Apernyl/Aspirin/Aspro/ASS/ASSabz/ASS AL/ASS ct/ASS-Dura/ASS Heumann/ASS Hexal/ASS-Kreuz/ASS-ratiopharm/ASS Stada/Boxazin/Chephapyrin-N/Coffepyrin/Doppel-Spalt/Fibrex/Glutisal/HA-Tabletten N/ Herz-ASS/Micristin/Miniasal/Neuralgin/Neuramidal/Quadronal/ratioGrippal + C/Ring N/ Rio-Josipyrin/Romigal/Santasal N/Spalt/Thomapyrin/Togal ASS
Chinin (Antipyretikum, Amarum, Antimalariamittel)
Chininum/Limptar N/Sagittaproct CH
Lysinacetylsalicylat (Analgetikum, Antirheumatikum, Thrombozytenaggregationshemmer)
Aspisol
Mesalazin (Antiphlogistikum, Darmmittel)
Asacolitin/Claversal/Pentasa/Salofalk
Norfloxasin (Antibiotikum)
Bactracid/Barazan/Chibroxin/Firin/Norflosal/Norflox/Norfloxacin
Phenazopyridin (Harnantiseptikum)
Urospasmon
Phytomenadion (Antihämorrhagikum)
Vitamin K1+ Kanavit/Konakion MM/Konakion für Neugeborene/Phytomenadion- Rotexmedica
Probenecid (Urikosurikum)
Probenecid Weimer
Vitamin C (Eine normale Dosierung, z. B. Früchte, ist unbedenklich.)
Ascorell/Ascorvit/Cebion/Cetebe/Hermes Cevitt/Vitamin C (Ascorbinsäure)
Vitamin K
143 10 · Angeborene Erythrozytenenzymdefekte
⊡ Abb. 10.2. Glykolyse. auto-dom autosomal-dominant, auto-rez autosomal-rezessiv, Fam. Familie, Pat Patient, hA hämolytische Anämie
10
144
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Triosephosphatisomerasemangel
10.3.1 Klinik
10.4
Bei der Mehrzahl der Patienten besteht eine mäßig ausgeprägte hämolytische Anämie mit Hämoglobinkonzentrationen zwischen 8 und 12 g/dl; klinisch fallen Blässe, Ikterus und Splenomegalie auf. Das klinische Bild kann variieren und reicht von der schweren hämolytischen Anämie mit der Notwendigkeit von Austauschtransfusionen im Neugeborenenalter bis zur milden, weitgehend kompensierten Hämolyse, die gelegentlich erst im Erwachsenenalter als Zufallsbefund erkannt wird.
Triosephosphatisomerase katalysiert innerhalb der Glykolyse die Umwandlung zwischen den C3-Zuckern Glyzerinaldehydphosphat und Dihydroxyazetonphosphat ( Abb. 10.2). Beim Triosephosphatisomerasemangel kommt es im gesamten Körper, nicht nur in den Erythrozyten, zum Anstau des Substrats Dihydroxyazetonphosphat. Dieses Intermediärprodukt ist vermutlich direkt oder über weitere Abbauprodukte das toxische Agens der Erkrankung. Das autosomalrezessiv vererbte Krankheitsbild ist neben der gesteigerten Hämolyse v. a. durch die, sich nach 1–2 Jahren manifestierenden, schweren neuromuskulären Störungen gekennzeichnet. Viele Patienten versterben innerhalb weniger Jahre nach der Geburt. Eine etablierte Therapie gibt es nicht; eventuell ergibt sich ein neuer Therapieansatz durch die allogene Stammzelltransplantation (Pekrun et al. 1995).
I
10.3.2 Diagnose Die Aktivität der Pyruvatkinase und die Konzentrationen der veränderten Substrate und Metabolite werden im Hämolysat gemessen. Die morphologische Untersuchung der Erythrozyten ist unauffällig, gelegentlich finden sich Polychromasie und eine geringe Poikilozytose. Die osmotische Resistenz liegt im Normbereich, sie kann aber auch gesteigert oder vermindert sein. 10.3.3 Therapie Abhängig vom Ausmaß der Anämie und der klinischen Symptome sind Transfusionen notwendig. Mit der Splenektomie ist in der Mehrzahl der Fälle eine Heilung oder zumindest Besserung der Anämie zu erreichen. Nach der Splenektomie steigt die Retikulozytenzahl auf hohe Werte von 500–1000‰ an; diese Beobachtung bestätigt im Nachhinein die Diagnose, da sie ähnlich nur bei dem sehr seltenen Glukosephosphatisomerasemangel beobachtet wird (Kugler u. Lakomek 2000).
10.5
Andere Enzymdefekte der Glykolyse
Weitere gut untersuchte Glykolysedefekte sind der Mangel an Glukosephosphatisomerase, Hexokinase (Murakami et al. 2002), Phosphofruktokinase, Phosphoglyceratkinase (Morimoto et al. 2003) und 2,3-Diphosphoglyceratmutase. Die Abgrenzung gegenüber anderen hämolytischen Anämien ist, wie beim Pyruvatkinasemangel, durch die Bestimmung der entsprechenden Enzymaktivität im Hämolysat möglich. 10.6
Defekte des Adeninnukleotidstoffwechsels
Wichtigster Defekt des Adeninnukleotidstoffwechsels (⊡ Abb. 10.3) ist der Mangel an Pyrimidin-5-Nukleotidase
⊡ Abb. 10.3. Pyrimidinstoffwechsel
145 10 · Angeborene Erythrozytenenzymdefekte
den Lipidstoffwechsel betrifft, sterben die Patienten meist früh. Der Typ IV ist eine Rarität, die auf die Erythrozyten beschränkt ist. Mit Ausnahme der Therapie beim Neugeborenen sind bei der hereditären Methämoglonämie meist keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Bei Therapiebedarf kann die Behandlung mit Vitamin C 0,5–1 g/Tag erfolgen, in akuten Fällen auch die Gabe von Methylenblau (1%ige Lösung, 1–2 ml/kg KG). Aufgrund der gesteigerten Empfindlichkeit gegen reduzierende Substanzen sollten diese gemieden werden.
⊡ Abb. 10.4. Basophile Tüpfelung der Erythrozyten beim Pyrimidin-5‘Nukleotidasemangel
(Rees et al. 2003), der entweder genetisch bedingt oder erworben infolge einer Bleiintoxikation auftreten kann. Die intrazelluläre Anhäufung von Abbauprodukten der Desoxyribonukleinsäure führt, vermutlich über eine sekundäre Membranschädigung, zur gesteigerten Hämolyse (Corrons 2000). Die Erythrozyten zeichnen sich durch eine ausgeprägte basophile Tüpfelung aus (⊡ Abb. 10.4). Als sehr seltene Erkrankung tritt bei der autosomaldominant vererbten gesteigerten Aktivität der Adenosindesaminase eine hämolytische Anämie auf (Chottiner et al. 1989). Im Gegensatz dazu führt die Aktivitätsminderung, autosomal-rezessiv vererbt zur Immundefizienz (Markert et al. 1987). Als weitere Enzyme sind in den Adeninstoffwechsel die Adenylatzyklase, die Adeninphosphoribosyltransferase, die AMP-Desaminase und die Katalase involviert. Bei Mangel dieser Enzyme sind allerdings keine klinisch symptomatischen Erkrankungen bekannt. 10.7
Methämoglobindiaphorasemangel
Der autosomal-rezessiv vererbte Methämoglobindiaphorasemangel (Tomatsu et al. 1989) (auch Zytochrom-B-Reduktasemangel) ist sehr selten und wurde in 4 Untertypen (I–IV) unterteilt. Allerdings wurde der Typ III mittlerweile als dem Typ I identisch identifiziert. Der Typ I und II resultiert aus dem Mangel an Zytochrom-B-Reduktase, lokalisiert auf Chromosom 22q13.31 (Percy et al. 2002), während der Typ IV auf dem Mangel an Zytochrom B beruht, kodiert auf Chromosom 18q23. Neugeborene mit einer Methämoglobinämie weisen bei Geburt eine deutliche Zyanose auf, der Allgemeinzustand ist jedoch nur mäßig beeinträchtigt. Es lässt sich ein deutlich erhöhter Methämoglobinwert (bis 40%) nachweisen, so dass aufgrund der verminderten Sauerstoffverfügbarkeit bei Neugeborenen eine Therapie mit Vitamin C oder Methylenblau erforderlich sein kann. Der Typ I der Methämoglobinämie ist auf die Erythrozyten beschränkt und verläuft häufig unkompliziert. Demgegenüber führt die generalisierte Methämoglobinämie Typ II bei den meisten betroffenen Kindern bereits früh zu schweren neurologischen Störungen wie mentaler Retardierung, Mikrozephalie, Krampfanfällen und Opisthotonus. Da der Enzymmangel auch Leber, ZNS, Muskulatur sowie
Angeborene Enzymdefekte als Ursache von hämolytischen Anämien betreffen alle Reaktionskaskaden der Erythrozyten. Obwohl die meisten Erkrankungen sehr selten sind, kommt der umfassenden Diagnostik ein hoher Stellenwert zu, da auch andere Organsysteme, insbesondere das zentrale Nervensystem, betroffen sein können. Eine kausale Therapie ist bislang nicht möglich. Die Erkrankungen sind in der Regel durch eine symptomatische Therapie oder Vermeidung von Hämolyse-auslösenden Substanzen beherrschbar sind.
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10
146
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
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147
Autoimmunhämolytische Anämien A. Salama, G. Gaedicke
11.1
11.1
Einleitung
11.1.1 11.1.2 11.1.3
Historischer Hintergrund – 147 Erythrozytäre Autoantikörper – 147 Klassifikation – 148
– 147
11.2
Autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp – 148
11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 11.2.6 11.2.7 11.2.8
Epidemiologie – 148 Ätiologie – 148 Pathogenese – 148 Klinisches Bild – 149 Diagnostik – 149 Differenzialdiagnose – 149 Therapie – 150 Prognose – 150
11.3
Autoimmunhämolytische Anämie vom Kältetyp – 150
11.3.1 11.3.2
Akut-reversible AIHA vom Kältetyp – 150 Chronische AIHA vom Kältetyp – 151
11.4
Paroxysmale Kältehämoglobinurie
11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5 11.4.6
Epidemiologie – 151 Ätiologie und Pathogenese – 151 Klinisches Bild – 151 Diagnostik – 151 Differenzialdiagnose – 152 Therapie und Prognose – 152
11.1.1 Historischer Hintergrund
– 151
11.5
Medikamentös induzierte Immunhämolyse – 152
11.5.1 11.5.2 11.5.3 11.5.4 11.5.5
Ätiologie – 152 Pathogenese – 152 Klinisches Bild – 152 Diagnostik und Differenzialdiagnose Therapie und Prognose – 153
Literatur
Einleitung
Die erste Beschreibung einer autoimmunhämolytischen Anämie (AIHA) geht vermutlich auf das klinische Bild der paroxysmalen Kältehämoglobinurie zurück. Bereits im Jahr 1529 beschrieb der Arzt Johannes Actuarius in Konstantinopel die azur-livide und dunkle Verfärbung des Urins geschwächter Patienten nach Kälteexposition. Die Erkrankung wurde erneut im Jahr 1854 bei einem 10-jährigen Jungen und später bei weiteren Kindern beschrieben. Der Nachweis von Autoantikörpern als Ursache für die AIHA gelang ebenfalls zuerst bei der paroxysmalen Kältehämoglobinurie durch Donath und Landsteiner im Jahr 1904 (Mack u. Freedman 2000). Die von früher bekannte Lues-assoziierte Form kommt praktisch nicht mehr vor. Die häufigere Form ist akut-reversibel, wird häufig verkannt und man sieht sie fast ausschließlich bei Kindern unter 10 Jahren nach viralen Infektionen. Die bekannteste Form ist die AIHA vom Wärmetyp. Die AIHA vom Kältetyp und die medikamentös induzierte Form sind im Kindesalter sehr selten. Im Vergleich zu anderen Autoimmunerkrankungen sind alle AIHA bisher am besten geklärt und verstanden worden. Allerdings bleiben die Fragen nach der Ursache des Toleranzbruchs und der Bildung der autoreaktiven Antikörper nach der gestörten Regulation bei Autoimmunkrankheiten bislang ungelöst.
– 152
11.1.2 Erythrozytäre Autoantikörper
– 153
Die autoimmunhämolytischen Anämien sind bei Kindern selten. Wenn sie auftreten, sind sie meistens durch eine akute und schwere Hämolyse gekennzeichnet. Wichtigster diagnostischer Test ist neben dem Blutbild der positive direkte Coombs-Test. Nach dem Reaktionsoptimum der Autoantikörper unterscheidet man Wärmeautoantikörper und Kälteautoantikörper. In der Regel sind die autoimmunhämolytischen Anämien sekundäre Erkrankungen, so dass nach primären Grunderkrankungen, besonders solchen aus dem Formenkreis der Autoimmunerkrankungen und nach Immundefekten, gesucht werden muß. Auch im Rahmen von Infektionen können sie auftreten. Medikamentös induzierte Formen sind bei Kindern selten. Für eine adäquate Behandlung ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Klinik und Transfusionsmedizin erforderlich, zumal sich die Transfusionstherapie, vor allem im Initialstadium, schwierig gestalten kann.
Erythrozytäre Autoantikörper gehören meistens zu IgG-, seltener zu IgM- und nur ausnahmsweise zur IgA-Klasse. Die Autoantikörper sind gegen die eigenen Erythrozytenmerkmale (Antigene) gerichtet, die in der Regel bei fast allen Menschen vorkommen und deshalb mit den allermeisten und häufig sogar mit allen routinemäßig verfügbaren Erythrozyten reagieren. Serologisch werden Erythrozytenantikörper in komplette und inkomplette Antikörper unterteilt: ▬ Komplette Antikörper gehören meistens zur IgM-Klasse und führen zu sichtbarer Agglutination der Erythrozyten ohne Hilfsmittel. ▬ Inkomplette Antikörper bewirken dagegen ohne Hilfsmittel keine sichtbare Agglutination der Erythrozyten. Hierzu sind zusätzliche Reaktionsbedingungen, z. B. die Zugabe eines spezifischen Antihumanglobulinserums (Coombs-Serum), notwendig (Issitt u. Anstee 1998; Mollison et al 1997; Salama u. Heymann 2003). Je nach ihrer optimalen Reaktionstemperatur bei 37°C oder in der Kälte (0–4°C) werden erythrozytäre Antikörper als
11
148
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Wärme- oder Kälteantikörper bezeichnet. Fast alle erythrozytären Antikörper lassen sich in Standardtestmethoden nachweisen (Issitt u. Anstee 1998; Mollison et al. 1997). Es muss jedoch betont werden, dass der Nachweis von Autoantikörpern nicht immer mit klinischer Relevanz verbunden ist und ein negatives Testergebnis das Vorliegen einer AIHA nicht immer ausschließen kann (Salama u. Heymann 2003). Daher bleiben die klinischen Daten der einzelnen Patienten immer notwendig für eine richtige Interpretation serologischer Befunde, bzw. für die Feststellung einer korrekten Diagnose.
11.2.1 Epidemiologie Die Inzidenz der Erkrankung wird auf 1:30.000 bis 1:70.000 Einwohner geschätzt. Die Erkrankung kommt in allen Alterstufen einschließlich des Säuglingsalters vor. Allerdings erkranken Erwachsene und ältere Menschen viel häufiger als Kinder; Frauen sind häufiger als Männer betroffen (Dacie 1975; Engelfriet et al. 1992; Pirofsky 1976; Worlledge u. Blajchman 1972). 11.2.2 Ätiologie
Wirkungsmechanismus. Erythrozytäre Autoantikörper kön-
nen sowohl extravasale als auch intravasale Immunhämolysen verursachen. Im ersten Fall werden die sensibilisierten Erythrozyten über die Fc-Rezeptoren für IgG Moleküle (IgG3, IgG1, selten IgG2) und/oder über den C3b-Komplementrezeptor (CR1/CD35) von Makrophagen, v. a. in der Milz und bei einer starken Beladung mit Antikörpern und/oder C3b-Fixation eher in der Leber abgebaut. IgA-Autoantikörper kommen selten allein vor und können sowohl eine intravasale als auch eine extravasale Immunhämolyse oder beides zusammen verursachen. Autoantikörper der IgG-Subklasse 4 aktivieren kein Komplement und verursachen keine Hämolyse (Abramson et al. 1970; Atkinson u. Frank 1974; Frank et al. 1977; Jandl u. Kaplan 1960; Jandl et al. 1957; Rosse et al. 1978). Die intravasale Immunhämolyse resultiert aus der Einwirkung der aktivierten terminalen Komplementkomponenten (C5b-9- bzw. membranattackierender Komplementkomplex) auf die Zellmembran (Lachmann 1991; Liszewski et al 1996). Während die extravasale Immunhämolyse von zahlreichen Faktoren abhängig ist (Makrophagenkapazität, Antikörperklasse und Subklasse, Antikörperkonzentration und Komplementaktivierung), wird die intravasale Immunhämolyse weitgehend von der Komplementaktivierung allein bestimmt. 11.1.3 Klassifikation Klinisch und serologisch werden die AIHA in 4 Klassen unterteilt: ▬ AIHA vom Wärmetyp, ▬ AIHA vom Kältetyp, ▬ AIHA vom Donath-Landsteiner-Typ (paroxysmale Kältehämoglobinurie) sowie ▬ AIHA vom medikamentös induzierten Typ. 11.2
Autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp
Definition Unter einer Autoimmunhämolyse vom Wärmetyp wird eine verkürzte Lebensdauer der Erythrozyten in der Zirkulation verstanden, die durch die Wirkung spezifischer Wärmeautoantikörper verursacht wird. Der Begriff Wärme bezieht sich auf die Körpertemperatur (37°C), bei der die Autoantikörper mit den Erythrozyten am stärksten reagieren (Issitt u. Anstee 1998; Mollison et al. 1997).
Die Erkrankung tritt isoliert und ohne erkennbare Ursachen bei etwa der Hälfte der betroffenen Patienten auf (idiopathische bzw. primäre Form). Bei dem Rest der Patienten kommt die AIHA als Begleiterkrankung vor (symptomatische bzw. sekundäre Form). Zu den ursächlichen Grunderkrankungen zählen im Kindesalter v. a. Infektionen, systemische Autoimmunerkrankungen und sehr selten lymphoproliferative Erkrankungen (Buchanan et al. 1976; Carapella de Luca et al. 1979; Gehrs u. Friedberg 2002; Habibi et al. 1974; Salama et al. 2002; Zuelzer et al. 1970; Zupanska et al. 1976). Grunderkrankungen und assoziierte AIHA vom Wärmetyp im Kindesalter:
Infektionen, meistens akut und reversibel Lebendimpfungen (sehr selten) Immundefekte Lymphoproliferative Erkrankungen (sehr selten) Kollagenosen: systemischer Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis, Colitis ulcerosa Thymome (sehr selten) Leukämien (können bei Erwachsenen ursächlich beteiligt sein, bei den Tumoren im Kindesalter kommt eine begleitende AIHA praktisch nicht vor) Solide Tumoren (können bei Erwachsenen ursächlich beteiligt sein, bei den Tumoren im Kindesalter kommt eine begleitende AIHA praktisch nicht vor) Benigne Tumoren (können bei Erwachsenen ursächlich beteiligt sein, bei den Tumoren im Kindesalter kommt eine begleitende AIHA praktisch nicht vor)
Der genaue Mechanismus für die Entstehung der Autoantikörper ist bisher nicht geklärt. Eine genetische Disposition ist nicht bekannt. Es werden u. a. eine strukturelle Alteration der Erythrozytenmembran durch exogene Faktoren, einschließlich Haptene (Medikamente), Viren, mikrobielle Strukturen sowie somatische Mutationen vermutet (Dacie 1975; Engelfriet et al. 1992; Gehrs u. Friedberg 2002; Pirofsky 1976; Salama et al. 2002). 11.2.3 Pathogenese Wärmeautoantikörper sind meistens inkomplette IgG-Antikörper, die in vivo Komplement nicht oder nur teilweise aktivieren. Die sensibilisierten Zellen werden über die Fc-
149 11 · Autoimmunhämolytische Anämien
Rezeptoren für IgG Moleküle (IgG3, IgG1, und nur selten IgG2) und/oder C3b-Komplementrezeptoren (CR1) phagozytiert, v. a. in der Milz und bei einer starken Beladung mit Antikörpern und/oder C3b-Fixation eher in der Leber (Engelfriet et al. 1992; Gehrs u. Friedberg 2002; Jandl u. Kaplan 1960; Jandl et al. 1957; Salama et al. 2002). Stark Komplement-aktivierende Wärmeautoantikörper (Wärmehämolysine) sind sehr selten und gehören meistens zur IgM-Klasse (Freedman et al. 1987; Friedmann et al. 1998; Garratty et al. 1997; Shirey et al. 1987). IgA-Wärmeautoantikörper allein kommen als Ursache einer AIHA auch sehr selten vor (Clark et al. 1984; Gottsche et al. 1990a; Reusser et al. 1987; Sturgeon et al. 1979). Bei etwa 20% der Patienten werden mehr als eine Antikörperklasse gefunden (Lalezari 1976; Salama et al. 2002; Sokol et al. 1990). 11.2.4 Klinisches Bild Das klinische Bild ist extrem variabel. Die betroffenen Kinder können allmählich oder akut eine milde, mäßige bzw. starke Anämie entwickeln. Dabei ist die Symptomatik von der Akuität der Hämolyse und Anämie abhängig. Patienten mit milder Hämolyse fühlen sich in der Regel relativ wohl; Patienten mit massiver Hämolyse sind schwer krank. Bei der akuten Form klagen die Kinder gelegentlich über Fieber und Bauchschmerzen. Bei der chronischen Form können verschiedene Anämie- und Hämolysezeichen das klinische Bild prägen (⊡ Tabelle 11.1). Gelegentlich ist die Hämolyse kompensiert und lässt sich nur durch die auffälligen Hämolyseparameter erkennen. Bei der sekundären Form können die Symptome der Grunderkrankung auch in Erscheinung treten (Buchanan et al. 1976; Carapella de Luca 1979; Engelfriet 1992; Habibi et al. 1974; Pirofsky 1976; Zuelzer et al. 1970; Zupanska et al. 1976).
Grundkrankheit spezifische Befunde erhoben werden. Das Blutbild ist durch verminderte Erythrozytenzahlen, niedrige Hämoglobinkonzentration und Hämokrit gekennzeichnet. Im peripheren Blutausstrich lassen sich mit unterschiedlicher Ausprägung Anisozytose, Mikrozytose, Sphärozytose, Polychromasie und Retikulozytose nachweisen. Das Knochenmark zeigt eine erheblich verstärkte Erythrozytose (Dacie 1975; Engelfriet 1992; Pirofsky 1976; Worlledge u. Baljchman 1972). Der direkte Antiglobulintest (Coombs-Test) ist im klassischen Fall stark positiv. Bei ca. 80–90% der Fälle lassen sich zellgebundene IgG-Autoantikörper nachweisen (⊡ Tabelle 11.1), bei etwa der Hälfte der Patienten auch zellgebundene C3d-Fragmente. IgA- und IgM-Autoantikörper sind selten allein als Ursache einer AIHA vom Wärmetyp zu finden. In Einzelfällen lassen sich die ursächlichen Autoantikörper nur im Eluat nachweisen. Freie Autoantikörper finden sich bei etwa 40–60% der Fälle (Gehrs u. Friedberg 2002; Salama et al. 2002). 11.2.6 Differenzialdiagnose Die AIHA vom Wärmetyp lässt sich von anderen differenzialdiagnostisch relevanten Erkrankungen durch das charakteristische serologische Bild und dem Nachweis von Wärmeautoantikörpern abgrenzen (Gehrs u. Friedberg 2002; Salama et al. 2002):
11.2.5 Diagnostik Klinisch sind die Patienten häufig blass, ikterisch, tachykard und dyspnoisch. Die Milz und Leber sind selten tastbar vergrößert. Bei der sekundären Form können auch für die
Differenzialdiagnosen zur AIHA: Medikamentös induzierte Hämolyse Chimärismus-induzierte Immunhämolyse (nach Knochenmark- oder Organtransplantation) Kugelzellanämie (hämolytisch oder aplastische Krise) Perniziöse Anämie Aplastische Anämie Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) Toxische Hämolyse Mechanische Hämolyse Hämolytisch-urämisches Syndrom bei Kindern
⊡ Tabelle 11.1. Charakteristische Befunde bei der autoimmunhämolytischen Anämie vom Wärmetyp (keines der Symptome oder der Befunde kommt immer vor)
Klinische Befunde
Abnormale Laborwerte
Serologische Befunde
Anämiezeichen Blässe Müdigkeit Tachykardie Ohrensausen Belastungsdyspnoe Palpitationen
Retikulozyten in der Regel erhöht Sphärozytose + Poikilozytose + Anisozytose +
Positiver direkter Coombs-Test IgG (30%) IgG + C3d (40–50%) IgG + C3d ±; IgA ±; IgM (20%)
Hämolysezeichen Ikterus dunkler Urin Splenomegalie Hepatomegalie (selten)
Haptoglobin vermindert Indirektes Bilirubin leicht bis mäßig erhöht, selten >5 mg/dl
Positiver indirekter Coombs-Test (40–60%)
LDH leicht bis mäßig erhöht (selten >800 U/l)
Negativer direkter Coombs-Test (<3%)
BSG beschleunigt
Autoantikörper nur im Eluat nachweisbar (sehr selten)
Freies Hämoglobin normal oder leicht erhöht
11
150
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
11.2.7 Therapie
I Bluttransfusionen sind bei lebensbedrohlicher Anämie nach Einleitung der spezifischen Therapie (Prednisolon oder Dexamethason) in der Regel nicht nur gut verträglich, sondern am schnellsten wirksam (Salama et al. 1992). Die Transfusion wird mit relativ frischen (nicht gewaschenen) Erythrozyenkonzentraten vorgenommen. Eine positive serologische Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) durch freie Autoantikörper darf auf keinen Fall zu einer Verzögerung einer vital indizierten Transfusion führen. Die spezifische Therapie besteht primär aus Prednisolon (initial 2 mg/kg KG und Tag) oder wenn möglich einer Dexamethason-Stoßtherapie (0,5 mg/kg KG an 4 aufeinander folgenden Tagen und Wiederholung je nach Verlauf alle 4 Wochen, insgesamt bis zu 6 Zyklen bei Respondern). Falls keine Stabilisierung unter Beibehaltung einer niedrigen Prednisolondosis erfolgt, ist eine zusätzliche Gabe von Azathioprin (1–2 mg/kg KG und Tag) erforderlich (Thiopurinmethyltransferase-Defizienz ausschließen!), v. a. bevor eine klinisch signifikante Nebenwirkung durch Kortikosteroide manifest wird (Salama et al. 2002). Nur wenn diese Therapiekombinationen unwirksam bleiben sollte oder gar nicht möglich ist, ist die Behandlung mit Anti-CD 20 (Rituximab) zu versuchen (375 mg/m2 über 5 h pro einer Woche bis zu 4 Wochen; Ahrens et al. 2002; Zecca et al. 2003). Als Alternative für (Rituximab) kommt eine Behandlung mit Cyclophosphamid (1–2 mg/ kg KG) unter Beibehaltung einer niedrigen Kortikosteroiddosis in Frage (Murphy u. LoBuglio 1976; Salama et al. 2002). Beim unkomplizierten Verlauf sollte die Behandlung unter kompletter Remission der Erkrankung nicht vor 6 Monaten beendet werden, um ein schnelles Rezidiv zu vermeiden. Die hochdosierte intravenöse IgG-Therapie (2–5 g/kg KG auf 2 bzw. 5 Tage verteilt) ist eine Alternativtherapie bei Kleinkindern mit Verdacht auf infektassoziierte AIHA vom Wärmetyp (Bussel et al. 1986; Salama et al. 1983b). Weitere therapeutische Maßnahmen wie Plasmaaustausch, Immunadsorption, Ciclosporin und Danazol führen nur in Einzelfällen zum Erfolg. Die Splenektomie führt bei der chronischen Verlaufsform selten zur Remission und wird gerade im Kindesalter nur noch als Ultima-ratio-Maßnahme angesehen (Gehrs u. Friedberg 2002; Salama 2002). 11.2.8 Prognose Der Verlauf ist bei der idiopathischen Form in der Regel chronisch und hängt bei der symptomatischen Form von der Grunderkrankung ab. Die infektassoziierte Form ist meistens unkompliziert und akut-reversibel. Bei allen anderen symptomatischen Formen ist die Prognose primär von der Grunderkrankung abhängig. Bei der chronischen Form ist der Verlauf variabel, bei adäquater und konsequenter Therapie ist die Prognose meistens günstig. Insgesamt sind Todesfälle bei der AIHA vom Wärmetyp sehr selten geworden (Dacie 1975; Gehrs u. Friedberg 2002; Pirofsky 1976; Salama et al. 2002).
11.3
Autoimmunhämolytische Anämie vom Kältetyp
Nach dem klinischen Bild und Verlauf lassen sich akut-reversible und chronische Krankheitsbilder unterscheiden. 11.3.1 Akut-reversible AIHA vom Kältetyp
Definition Bei der akut-reversiblen AIHA vom Kältetyp handelt sich um eine akute und stets reversible Hämolyse, die im Anschluss an eine Infektion auftritt. Sie wird durch die Bildung polyklonaler, kältewirksamer und komplementaktivierender Autoantikörper gegen Erythrozyten verursacht.
Die Krankheit ist selten und tritt vorwiegend ab 14 Jahren auf (Nydegger 1991; Roelcke 1989), meistens im Anschluss an eine atypische Pneumonie oder Mononukleose und seltener nach anderen Infektionen. Der Mechanismus für die Kälteautoantikörperbildung ist nicht bekannt (Nydegger 1991; Roelcke 1989). Die Hämolyse wird meist durch IgM-Autoantikörper verursacht, die meistens gegen den Erythrozyten-AntigenKomplex I/i gerichtet sind und in der Kälte zu Erythrozytenagglutination sowie bei Temperaturen über 10°C zur Komplementaktivierung und intravasaler Hämolyse führen (Salama et al. 1983a). Die Hämolyse ist abhängig von der Temperaturamplitude und Konzentration der Antikörper sowie von der betroffenen Gesamterythrozytenmasse, die bei der Reaktion involviert ist. Klinisch relevante IgG- und IgAKälteautoantikörper kommen extrem selten vor (Roelcke 1989). Klinisches Bild und Diagnostik. Die Symptome und Befunde bei der akuten AIHA vom Kältetyp sind kaum von denen bei der AIHA vom Wärmetyp zu unterscheiden. Die Kinder haben Anämiezeichen, Ikterus, Hämoglobinurie und laborchemisch Hämolysezeichen (Buchanan et al. 1976; Carapella de Luca et al. 1979; Habibi et al. 1974; Zuelzer et al. 1970; Zupansky et al. 1976). Die spontane Agglutinabilität der Erythrozyten und die dunkel-livide Verfärbung des Urins reflektiert in der Regel die ersten Hinweise auf das Vorliegen einer AIHA vom Kältetyp. Das Vorgehen der Untersuchungen ist weitgehend identisch mit den Untersuchungen bei der AIHA vom Wärmetyp. Die Symptome der ursächlichen Infektion klingen meistens vor der Hämolysemanifestation ab. Differenzialdiagnose. Differenzialdiagnostisch kommen
v. a. in Frage die paroxysmale Kältehämoglobinurie, die medikamentös induzierte Immunhämolyse, die autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp und das hämolytischurämische Syndrom. Der Nachweis von hochtitrigen Kälteagglutininen im Serum und C3d-Komponenten an den autologen Erythrozyten (C3d-positiver direkter Antiglobulintest) sind beweisend für das Vorliegen einer autoimmunhämolytischen Anämie vom Kältetyp (Gehrs u. Friedberg 2002; Nydegger 1991; Roelcke 1989; Salama et al. 2002).
151 11 · Autoimmunhämolytische Anämien
Therapie und Prognose. Die am schnellsten wirksame The-
rapie bei der AIHA vom Kältetyp ist der Schutz vor Kälteeinwirkungen. Gegebenfalls sollten Bluttransfusionen über ein für Bluttransfusionen zugelassenes Wärmegerät durchgeführt werden (Bartholomew et al. 1987; Gehrs u. Friedberg 2002; Hamblin 2000; Salama et al. 2002). Es handelt sich um eine akut-reversible Erkrankung, die sich meistens nach wenigen Tagen komplett zurückbildet. 11.3.2 Chronische AIHA vom Kältetyp
11.4
Paroxysmale Kältehämoglobinurie
Definition Die paroxysmale Kältehämoglobinurie (autoimmunhämolytische Anämie vom Donath-Landsteiner-Typ) ist gekennzeichnet durch eine akute intravasale Hämolyse. Sie wird verursacht durch komplementaktivierende und meist niedrigtitrige biphasische Kälteautoantikörper der Klasse IgG und seltener der Klasse IgM (Worlledge u. Rousso 1965).
Definition Die chronische AIHA vom Kältetyp wird durch die Bildung von monoklonalen, kältewirksamen IgM-Autoantikörpern gegen Erythrozyten verursacht.
Die Erkrankung ist im Kindesalter eine Rarität (Buchanan et al. 1976; Hadnagy 1993). Sie tritt als idiopathisch benigne monoklonale IgM-Gammopathie oder symptomatisch im Rahmen einer lymphoproliferativen Erkrankung auf (Gehrs u. Friedberg 2002; Nydegger et al. 1991; Roelcke 1989; Salama et al. 2002). Die klinisch relevanten Antikörper sind meistens gegen den I/i-Antigenkomplex und selten gegen andere Antigene gerichtet (Gottsche et al. 1990b; Roelcke 1989; Salama et al. 1985). Die Hämolyse wird, wie bei der akuten Form, durch Kälteeinwirkung und Komplementaktivierung induziert (Nydegger et al. 1991; Roelcke 1989; Salama et al. 1983a). Klinisches Bild und Diagnostik. Die Symptome ähneln denen der akuten AIHA vom Kältetyp. Die Zeichen der intravasalen Hämolyse sind meistens ausgeprägter als bei der AIHA vom Wärmetyp. Die Untersuchungen sind identisch mit denen bei der akuten AIHA vom Kältetyp. Darüber hinaus ist hier eine Untersuchung auf monoklonale Antikörper (Immunelektrophorese) und deren Ursache angezeigt. Die Abgrenzung gegenüber allen anderen hämolytischen Syndromen erfolgt wie bei der akuten reversiblen Form im wesentlichen serologisch.
11.4.1 Epidemiologie Die paroxysmale Kältehämoglobinurie ist die häufigste autoimmunhämolytische Anämie im Kindesalter und verläuft akut; meist ist sie reversibel. Sie kommt fast ausschließlich bei Kindern unter 10 Jahren vor und tritt nach viralen Infektionen auf, wie Luftwegsinfekten, Masern, Mumps, Windpocken oder Grippe. Die von früher bekannte Form bei tertiärer Lues kommt heute praktisch nicht mehr vor (Gottsche et al. 1990c; Nordhagen et al. 1984). 11.4.2 Ätiologie und Pathogenese Der pathogenetische Zusammenhang zwischen Infektionen und der Bildung von Kälteautoantikörpern vom DonathLandsteiner-Typ ist bisher nicht geklärt (Salama et al. 2002). Die Hämolyse wird verursacht durch IgG-, seltener durch IgM-Autoantikörper, die wie die Kälteagglutinine mit den autologen Erythrozyten in der Kälte reagieren und bei Temperaturen über 10°C zur Komplementaktivierung bzw. intravasalen Hämolyse führen (Salama et al. 1983). Die extravasale Immunhämolyse spielt bei der paroxysmalen nächtlichen Kältehämoglobinurie meist nur eine geringe Rolle (Gottsche et al. 1990c; Heddle1989; Nordhagen et al. 1984; Worllegde u. Rousso 1965). 11.4.3 Klinisches Bild
Therapie und Prognose. Die schnellstwirksame Therapie
besteht, wie bei der AIHA vom Kältetyp, aus Schutz vor Abkühlung und ggf. Bluttransfusionen über entsprechende Wärmegeräte (Bartholomew et al. 1987; Gehrs u. Friedberg 2002; Hamblin 2000; Salama et al. 2002). Die Behandlung mit Rituximab ist nur bei bestimmten Patienten mit schwerer Verlaufsform oder vor Operationen zur Vermeidung der Hämolyse bei Unterkühlung wie bei Herzoperationen indiziert (Bauduer 2001; Lee u. Kueck 1998). Die Krankheit ist bei der idiopathischen Form chronisch und ohne Therapie irreversibel. Die Prognose bei der symptomatischen Form ist von der Grunderkrankung abhängig.
Die betroffenen Kinder entwickeln meistens nach Kälteexposition schlagartig Hämoglobinurie und Blässe. Sie klagen häufig über heftige, krampfartige Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Rückenschmerzen, Schüttelfrost und Fieber (Göttsche et al. 1990c; Heddle 1989; Nordhagen et al. 1984). Phasen der Hämoglobinurie gehen dem Fieber oft voraus. 11.4.4 Diagnostik Das Vorgehen bei den Untersuchungen ist wie bei der akuten autoimmunhämolytischen Anämie vom Kältetyp (Göttsche et al. 1990c). Der Donath-Landsteiner(DL)-Hämolysetest ist in der akuten Phase praktisch immer positiv. Falls erforderlich, kann der direkte DL-Hämolysetest vom behandelnden Arzt ohne Hilfsmittel zu jeder Zeit durchgeführt werden:
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I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Durchführung des direkten Donath-LandsteinerHämolysetest: 1. Blutprobe (1–2 ml Vollblut) warm abnehmen und sofort bei 37°C warm stellen. 2. Blutprobe (1–2 ml Vollblut) abnehmen und bei 0–4°C für 30 min kalt stellen (Eiswasser oder Kühlschrank). Beide Proben bei 37°C nebeneinander stellen und visuell beurteilen. Der DL-Hämolysetest ist positiv, wenn die zweite Probe hämolysiert (roter Überstand). Differenzialdiagnose AIHA vom Kältetyp!
die zur Bildung von Autoantikörpern und/oder medikamentenabhängigen Antikörpern führen. Die minimale Zeit für eine primäre und klinisch relevante Immunantwort beträgt 5–6 Tage (Salama u. Mueller-Eckhardt 1992). Die Immunisierung kann während der Therapie und häufig nach Absetzen des Medikamentes bzw. durch eine Reexposition entstehen. Theoretisch kann jedes Medikament eine Immunhämolyse verursachen. Zur Zeit werden die medikamentös induzierten Immunhämolysen am häufigsten durch nichtsteroidale Antirheumatika, insbesondere Diclofenac, Cephalosporine der dritten Generation und Tuberkulostatika ausgelöst (Salama et al. 2002). 11.5.2 Pathogenese
11.4.5 Differenzialdiagnose Die differenzialdiagnostisch relevantesten Erkrankungen sind die autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp, die autoimmunhämolytische Anämie vom Kältetyp, die medikamentös induzierte Immunhämolyse, das hämolytischurämische Syndrom, die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie und die angeborenen hämolytischen Anämien (Göttsche et al. 1990c; Lindgren et al. 1985; Nordhagen 1991; Ries et al. 1971). 11.4.6 Therapie und Prognose Die schnellstwirksame Therapie ist der Schutz vor Kälteeinwirkung und ggf. Bluttransfusionen über ein Wärmegerät für Bluttransfusionen. Bei Lues-Erkrankungen ist eine hochdosierte Penicillintherapie notwendig (Göttsche et al. 1990c; Heddle 1989). Der klinische Verlauf bei der akuten Form ist trotz des in vielen Fällen schwerwiegenden hämolytischen Syndroms ausgesprochen gutartig. Die Hämolyse bildet sich in der Regel innerhalb weniger Tage spontan und komplett zurück (Göttsche et al. 1990c; Heddle 1989). 11.5
Medikamentös induzierte Immunhämolyse
Definition Als medikamentös induzierte Immunhämolysen werden alle hämolytischen Syndrome bezeichnet, die durch medikamenteninduzierte Antikörper (Autoantikörper und/oder medikamenten- bzw. metabolitenabhängige Antikörper) verursacht werden. Sie ist bei Kindern extrem selten (Salama u. Mueller-Eckhardt 1989, 1992).
Die medikamentös induzierten Autoantikörper sind serologisch und klinisch von den so genannten idiopathischen IgGAutoantikörpern nicht zu unterscheiden. Sie aktivieren kein Komplement, liegen in der Regel in hoher Konzentration vor und verursachen extravasale Immunhämolysen. Die komplementaktivierenden IgG- und/oder IgM-Antikörper reagieren nur in Anwesenheit des ursächlichen Medikamentes bzw. dessen Metaboliten und führen zu Komplementaktivierung und intravasaler Zellzerstörung. Darüber hinaus können Penicillin und bestimmte Cephalosporine zur Bildung von nicht-komplementaktivierenden Antikörpern führen, die nur mit ErythrozytenMedikament-Komplexen reagieren. α-Methyldopa verursacht dosis- und zeitabhängig fast ausschließlich die Bildung von nicht komplementaktivierenden IgG-Autoantikörpern gegen Erythrozyten, die nur bei einem Teil der Patienten Hämolysen verursachen können (Salama u. Mueller-Eckhardt 1992, 1989; Salama et al. 2002). 11.5.3 Klinisches Bild Das klinische Bild der medikamentös induzierten Autoimmunhämolyse ist von dem Bild bei den idiopathischen Formen nicht zu unterscheiden. Die Hämolyse beginnt meistens allmählich und bildet sich langsam, gelegentlich über Wochen und Monate nach Antigenkarenz zurück. Komplementaktivierende Antikörper verursachen eine akute intravasale Immunhämolyse, die häufig innerhalb von wenigen Minuten bis Stunden nach Einnahme des Medikamentes ausgelöst wird. Die Patienten klagen häufig über Fieber, Schüttelfrost, Tachykardie, Luftnot, Bauchbeschwerden, Übelkeit und Erbrechen. Nierenversagen und Schocksymptomatik kommen vor (Salama u. Mueller-Eckhardt 1989). 11.5.4 Diagnostik und Differenzialdiagnose
11.5.1 Ätiologie Die genauen Mechanismen der Immunisierung sind bisher nicht geklärt. Möglicherweise werden durch Medikamente bzw. Metabolite an der Zelloberfläche Neoantigene erzeugt,
Die sorgfältige Anamnese ist absolut notwendig für die Diagnosestellung einer medikamentös induzierten Immunhämolyse. Die serologische Untersuchung gibt genauen Aufschluss über die Art der vorliegenden Antikörper (Salama u. Mueller-Eckhardt 1989). Zum Nachweis metabolitenspezifischer Antikörper werden ggf. Ex-vivo-Antigene des ursäch-
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lichen Medikaments verwendet (Serum und/oder Urin von anderen Personen nach Medikamenteneinnahme). Die differenzialdiagnostisch relevantesten Erkrankungen sind die autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmtyp, der anaphylaktische Schock, das hämolytisch urämische Syndrom, die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie, der septische Schock und selten andere Erkrankungen. Differenzialdiagnose der medikamentös induzierten Immunhämolyse:
Autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp Anaphylaktischer Schock Hämolytisch-urämisches Syndrom Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura Septische Reaktion Toxische Hämolyse Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
11.5.5 Therapie und Prognose Alle verdächtigen Medikamente müssen sofort abgesetzt werden. Bei klinisch relevanter Anämie werden Erythrozytenkonzentrate transfundiert. Komplikationen wie Schocksymptome und Gerinnungsstörungen werden symptomatisch behandelt. Bei Nierenversagen und persistierender Hämolyse durch Medikamentenreste in der Zirkulation ist der Plasmaaustausch bzw. Hämodialyse angezeigt (Salama u. Mueller-Eckhardt 1989). Die Prognose hängt z. T. von dem Zeitpunkt der richtigen Diagnosestellung ab. Wird die Ursache des hämolytischen Syndroms rechtzeitig erkannt, können der Verlauf und die Prognose nach Antigenkarenz trotz des initial dramatischen Krankheitsbildes insgesamt günstig verlaufen. Meist bilden sich die Krankheitssymptome innerhalb von wenigen Tagen bis Wochen zurück. Auch die Niereninsuffizienz ist durch entsprechende Behandlung fast immer vorübergehend und heilt ohne Residuum aus. Dennoch kommt es in der akuten Phase als Folge von begleitenden Komplikationen wie Schock, Verbrauchskoagulopathie und Nierenversagen immer wieder zu Todesfällen (Meyer et al. 1999; Salama u. Mueller-Eckhardt 1989).
Die autoimmunhämolytischen Anämien entstehen durch die Bildung von Autoantikörpern gegen Erythrozytenantigene. Im klassischen Fall lassen sich klinisch relevante Hämolyse und Autoantikörper gegen Erythrozyten nachweisen. Reaktive Autoantikörper bei physiologischer Körpertemperatur werden Wärmeautoantikörper, reaktive Antikörper unter 37°C (Optimun 0–4°C) Kälteautoantikörper genannt. Die meisten Wärmeautoantikörper gehören zur IgG-, selten allein zur IgM- oder IgA-Klasse. Bei der Hälfte der Patienten ist die autoimmunhämolytische Anämie vom Wärmetyp mit einer Grunderkrankung assoziiert, v. a. Infektionen. Die Ursache der Autoimmunisierung bei den übrigen Patienten ist unklar (idiopathische autoimmunhämolytische Anämie).
▼
In den meisten Fällen sind Kortikoide relativ schnell wirksam. Langfristig benötigen jedoch viele Patienten eine Kombinationstherapie, die aus einer niedrigdosierten Prednisolongabe und Azathioprin besteht. Bei therapierefraktären Patienten ist der Einsatz von Rituximab oder Cyclophosphamid gerechtfertigt. Die am schnellsten wirksame Therapie bei lebensbedrohlicher Anämie ist die Bluttransfusion. Kälteagglutinine sind nur in seltenen Fällen die Ursache der Hämolyse. Diese Antikörper sind nur bei Temperaturen unter 37°C wirksam (Optimum 0–4°C). Die Warmhaltung dieser Patienten ist die am schnellsten wirksame Maßnahme zur Vermeidung von Hämolysen. Die paroxysmale Kältehämoglobinurie (Donath-Landsteiner Autoimmunhämolyse) kommt meistens bei Kindern unter 10 Jahren vor und bildet sich innerhalb von wenigen Tagen spontan zurück. Die medikamentös induzierte Immunhämolyse ist bei Kindern extrem selten. Die medikamentös induzierten Autoantikörper gehören zur IgG-Klasse, aktivieren kein Komplement und verursachen extravasale Immunhämolyse. Dagegen gehören die medikamentös abhängigen Antikörper zur IgG- und/oder IgMKlasse und führen in aller Regel zur intravasalen Komplementaktivierung bzw. Immunhämolyse. Viele Patienten bilden jedoch sowohl Autoantikörper als auch medikamentenabhängige Antikörper, und die Erkrankung wird häufig mit der idiopathischen autoimmunhämolytische Anämie verwechselt.
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155
Erworbene angiopathische und mechanische hämolytische Anämien M. Brandis, U. Kontny
12.1 12.2
Einleitung – 155 Hämolytisch-urämische Syndrome
12.2.1 12.2.2 12.2.3 12.2.4 12.2.5 12.2.6 12.2.7
Ätiologie – 155 Epidemiologie – 156 Pathogenese – 156 Klinik des HUS – 157 Diagnostik – 157 Therapie – 157 Prognose – 157
12.3
Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura – 158
12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5
Ätiologie und Epidemiologie – 158 Pathogenese – 158 Klinik – 158 Diagnostik – 158 Therapie und Prognose – 158
12.4
Thrombotische Mikroangiopathien bei Stammzelltransplantationen – 158 Maligne Hypertension – 158 Kasabach-Merritt-Syndrom – 158 Mechanische und thermische Schädigungen der Erythrozyten – 159
12.5 12.6 12.7 12.7.1 12.7.2 12.7.3 12.7.4
– 155
Kardiovaskuläre Ursachen – 159 Marschhämoglobinurie – 159 Verbrennungen – 159 Verbrauchskoagulopathie – 159
Literatur
Ergebnis der Stuhlkultur, das nach wenigen Tagen eingeht, zeigt einen enterohämorrhagischen Escherichia coli (EHEC) vom Serotyp O26:H11. Der Keim wird auch beim asymptomatischen Bruder und der Mutter isoliert, die somit als Überträger des Keims auf den Patienten in Frage kommen. 11 Tage nach Beginn kann die Peritonealdialyse bei gebesserter Nierenfunktion beendet werden, der Junge wird 18 Tage nach Aufnahme in gutem Allgemeinzustand entlassen.
12.1
Einleitung
Die Gruppe der mechanisch und angiopathisch vermittelten hämolytischen Anämien ist durch eine Fragmentierung von Erythrozyten und dem Vorliegen von Zeichen der intravaskulären Hämolyse gekennzeichnet. Aufgrund der typischen Erythrozytenmorphologie wird sie auch als schistozytische hämolytische Anämie bezeichnet. Unter den Krankheitsbildern dieser Gruppe ist das hämolytisch-urämische Syndrom aufgrund seiner relativen Häufigkeit und Schwere von besonderer Bedeutung. 12.2
Hämolytisch-urämische Syndrome
– 159 Definition
Familie R. verbringt die Sommerferien mit ihren 9 Monate und 4 Jahre alten Söhnen auf dem Bauernhof. Die Eltern und der ältere Sohn trinken Rohmilch. Der jüngere Sohn entwickelt dünne Stühle ohne Fieber, die sich nach 2 Tagen unter Schonkost normalisieren. 2 Wochen später kommt es bei ihm erneut zum Auftreten dünner, nicht-blutiger Stühle, zusammen mit Bauchkrämpfen und Erbrechen. Am Folgetag erleidet der Junge einen generalisierten Krampfanfall und wird stationär aufgenommen. Bei der Untersuchung ist er somnolent, die Körpertemperatur 37,2°C, der Blutdruck mit 132/62 mmHg deutlich erhöht. Im Blutbild fallen ein Hb von 7,2 g/dl und eine Thrombozytenzahl von 52.000/µl auf; das Kreatinin im Serum ist mit 2,09 mg/dl erhöht, ebenso das Kalium mit 7,2 mmol/l und die LDH mit 1014 U/l. Im Blutausstrich imponieren Fragmentozyten. Die Diagnose eines hämolytisch-urämischen Syndroms wird gestellt. Ein Tenckhoff-Katheter wird in Intubationsnarkose gelegt und eine Peritonealdialyse begonnen, zudem erfolgt eine antihypertensive Behandlung mit einem β-Blocker. Das
▼
Eine hämolytische Anämie mit Thrombozytopenie und akutem Nierenversagen wird hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) genannt. Meist sind Kinder in den ersten Lebensjahren betroffen. Eine gastrointestinale Erkrankung mit blutig-schleimigen Durchfällen geht dem akuten Ereignis in den meisten Fällen voraus.
12.2.1 Ätiologie Der Auslöser des klassischen HUS (D+-HUS) ist meist eine enterale Infektion mit Escherichia-coli-Typ O157. Selten sind es andere Erreger, die ebenfalls Shigatoxin 1 und 2 (STX 1 und 2) produzieren. Das D–-HUS (auch atypische Verlaufsform genannt) tritt häufig jenseits des Kleinkindesalters auf und basiert auf einer Reihe von seltenen Ursachen (Coppo et al. 2002; Elliott et al. 2001; Grabowski 2002). Eine Vorerkrankung des Gastrointestinaltraktes wird nicht beobachtet. Familiäre Formen treten in derselben Generation unter Geschwistern oder auch in mehreren Generationen auf, wenn auch extrem selten. Nach hereditären Faktoren muss im Einzelfall gesucht werden (Kaplan u. Leonard 2000). Hereditäre Formen basieren sowohl auf autosomal-rezessivem als auch
12
156
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
dominantem Erbgang. Defekte der Komplementaktivierung mit Fehlen oder strukturellen Defekten der Komplementfaktor-H-Komponente spielen bei hereditären Formen eine besondere Rolle (Landau et al. 2001). Verschiedene Medikamente sind als Auslöser eines HUS bekannt geworden. Hierzu zählen Ciclosporin, Mitomycin u. a. (Medina et al. 2001). In der Folge von Stammzelltransplantationen sind Krankheitsverläufe beschrieben worden, die dem Bild eines HUS sehr ähnlich sind ( unten).
men haben, wiederholt beschrieben worden. Genetische Formen des HUS wie Faktor-H-Defekte sind sehr selten (Landau et al. 2001). 12.2.3 Pathogenese
Es tritt bevorzugt in den Frühjahrs- und Sommermonaten auf. Nicht selten besteht ein Zusammenhang mit dem Verzehr von nicht pasteurisierter Kuhmilch, da der bevorzugte Keim, E. coli O157 bei Rindern endemisch vorhanden ist. Wenn auch die Infektion mit diesem Erreger in ca. 10% zu einer gastrointestinalen Erkrankung führt, ist nur ein Bruchteil von <5% der Erkrankten empfänglich für das Auftreten eines HUS. Genetische Prädispositionen spielen bei der Manifestation des Krankheitsbildes eine dominierende Rolle. Endemisches Auftreten ist in ländlichen Gegenden oder bei Kindergruppen, die nicht durchgebratenes Rindfleisch zu sich genom-
Aus Zellkulturuntersuchungen lässt sich das folgende pathogenetische Modell über den Ablauf der HUS Erkrankung durch enterohämorrhagische E. coli und der Wirkung von STX 1 und 2 herleiten (⊡ Abb. 12.1; Andreoli et al. 2002; Coppo et al. 2002; Grabowski 2002; Moake 2002; Raife u. Montgomery 2001): Nach Freisetzung von STX 1 und 2 werden diese aus dem Darmlumen ins Blut resorbiert. Als frei zirkulierende Proteine sowie gebunden an Thrombozyten und Monozyten gelangen sie in die Niere. Durch Bindung an den Globotriaosylceramid-Rezeptor 3 (Gb3) haben STX 1 und 2 eine besondere Affinität zu renalen Tubuluszellen, glomerulären und arteriolären Endothelien der Niere sowie Granulozyten und Monozyten. Nach Binden der Toxine an Gb3 kommt es in Monozyten und Nierenepithelzellen zur Bildung und Sekretion von Zytokinen wie TNFα, IL-1 und IL-6 sowie im Kolonepithel von IL-8. Dieser Vorgang wird durch die gleichzeitige Bindung von Lipopolysaccharid verstärkt. Die Zytokine bewirken eine Aktivierung von Granulozyten sowie eine verstärkte Expression von Gb3 in den Endothelien der Niere. Es kommt zu einer bevorzugten Komplexbindung von STX 1 an den Gb3-
⊡ Abb. 12.1. Pathogenetische Vorstellung der Endothelläsion beim HUS und TTP. EHEC enterohämorrhagische Escherichia coli, PAF Plätt-
chenaktivierender Faktor, PAI-1 Plasminogenaktivator-Inhibitor Typ 1; VWF Von-Willebrand-Faktor, ROS reacting oxygen system
12.2.2 Epidemiologie ! Das HUS mit gastrointestinalem Vorstadium, das D+-HUS, ist die häufigste Ursache des akuten Nierenversagens im Kindesalter.
157 12 · Erworbene angiopathische und mechanische hämolytische Anämien
Rezeptor. Nach Komplexbildung wird dieser intrazellulär internalisiert. Danach wirkt das mittransportierte STX 2 als Hemmer der Proteinsynthese. In der Folge kommt es zur Apoptose der Endothelzelle und zur Freisetzung von thrombophilen Substanzen wie dem Plättchen-aktivierenden Faktor (PAF), dem Plasminogenaktivator-Inhibitor Typ 1 (PAI-1) und Multimeren des VonWillebrand-Faktors (VWF). Dies führt zur Entstehung von Mikrothromben, die das durch einen lokalen Mangel an Prostazyklinen bereits eingeengte Kapillarlumen verlegen. Sekundär entsteht eine Thrombozytenaggregation mit konsekutiver Thrombozytopenie. Zu einer weiteren Schädigung der Endothelien kommt es über die Bildung von NO infolge der vermehrten mechanischen Belastung der Endothelien durch Thrombosierung der Gefäße. Eine mechanische Zerstörung von Erythrozyten ist die sekundäre Folge einer mechanischen Läsion im Endstromgebiet der renalen Blutgefäße.
10% der Erythrozyten in einem Gesichtsfeld ausmachen können (⊡ Abb. 12.2). Daneben findet man vereinzelt Schießscheibenzellen, Sphärozyten und Tränentropfenzellen. Die hämolytische Anämie ist gekennzeichnet durch eine niedrige Hämoglobin-Konzentration, Retikulozytose sowie eine Erhöhung der Lactatdehydrogenase und des unkonjugierten Bilirubins im Serum. Das Serumkreatinin ist angestiegen auf >2 mg/dl bis 6–7 mg/dl. Anfangs ist die Kalium-Konzentration noch normal, kann aber je länger die Urämie besteht, erhöht sein (Werte bis 6–7 mmol/l). Die Urinanalyse zeigt eine Erythrozyturie und Proteinurie. 12.2.6 Therapie ! Die Therapie muss sofort erfolgen! Bei Oligo- oder Anurie, wenn Zeichen der Überwässerung mit Lungenödem bestehen und/oder der Serumkaliumwert über 6 mmol/l beträgt, ist eine Dialysetherapie sofort notwendig!
12.2.4 Klinik des HUS Bei der häufigsten Form des HUS erkranken die Kinder zunächst an einer meist blutig-schleimigen Diarrhö. Innerhalb von wenigen Tagen versiegt die Diurese, die Kinder fallen durch Blässe und petechiale Blutungen auf. In 25% der Fälle kommt es früh zu zentralnervösen Symptomen mit Krampfanfällen. Bei Erstuntersuchung wird häufig ein Hypertonus beobachtet. Nach Erstversorgung geraten die Patienten häufig in einen Zustand der Überwässerung mit Lungenödem, wenn nicht primär eine an der Diurese orientierte Bilanz eingehalten wird. 12.2.5 Diagnostik Die Diagnostik erstreckt sich auf Blut- und Urinuntersuchungen. Es besteht eine Thrombozytopenie mit Werten bis zu 20000/mm3. Im Blutausstrich lassen sich fragmentierte Erythrozyten (Fragmentozyten) nachweisen, die bis zu 5–
Meist wird heute die Peritonealdialyse der Hämodialyse vorgezogen (Andreoli et al. 2002; Raife u. Montgomery 2001). Nach Beginn der Dialysetherapie kommt es innerhalb von 24 h zur Besserung des Flüssigkeitshaushalts und Senkung der Kaliumkonzentration. Bei Hypertonie erfolgt die antihypertensive Behandlung mit ACE-Hemmern in Kombination mit β-Blockern und Kalziumantagonisten. Das Ziel ist eine Normotonie, da nicht selten ZNS-Symptome, wenn sie schon von Anfang an bestehen, durch eine Hypertonie aggraviert werden. Eine strenge Bilanzierung des Flüssigkeitshaushalts mit Ein- und Ausfuhr erleichtert die Reduktion der Flüssigkeitsüberladung. Die Anämie wird durch Erythrozytentransfusionen korrigiert. Thrombozytentransfusionen können den thrombotischen Prozess theoretisch verschlechtern, so dass sie nur bei lebensbedrohlichen Blutungen indiziert sind. 12.2.7 Prognose Die Prognose des D+-HUS ist für Kleinkinder meist günstig. Innerhalb von wenigen Tagen bis Wochen kommt es zum Wiedereintreten der Diurese und langsamen Erholung der Nierenfunktion. Die Hämolyse bessert sich, die Thrombozytenwerte steigen an. Die Dialysetherapie kann beendet werden. Über einen Zeitraum von Monaten und Jahren behält ein Teil der Kinder Zeichen einer Glomerulopathie mit Mikrohämaturie und Proteinurie. Nach Jahren sind in 20–40% noch Zeichen des Bluthochdrucks und progressiver Nierenerkrankung festzustellen (Andreoli 1998; Moghal et al. 1998; Raife u. Montgomery 2001). Die Überwachung der Patienten muss daher über viele Jahre fortgesetzt werden. Bei persistierender Glomerulopathie ist der Einsatz von ACE-Hemmern indiziert.
⊡ Abb. 12.2. Blutausstrich eines HUS-Patienten mit typischen Fragmentozyten (600fache Vergrößerung)
12
158
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
12.3
I
Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura
Gegensatz zum HUS finden sich supranormale Multimere des VWF.
Definition Eine Mikroangiopathie mit Thrombozytopenie, Fieber, neurologischen Symptomen einschließlich Krampfanfällen und Nierenbeteiligung ist die Grundlage der Diagnose thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP; Morbus Moschkowitz).
12.3.1 Ätiologie und Epidemiologie Ursächlich für die TTP ist das Vorliegen so genannter supranormaler Multimere des VWF in Folge einer verringerten Aktivität der VWF-spezifischen Metalloprotease ADAMTS 13 (Furlan et al. 1998; Kap. 39). Die erworbenen Formen der TTP sind durch Autoantikörper gegen ADAMTS 13, die rezessiv vererbten durch homozygote oder »compound« heterozygote Mutationen in ADAMTS 13 verursacht (Levy et al. 2001; Robson u. Tsai 2002). Im Gegensatz zum HUS ( oben) ist die TTP bei Kindern sehr viel seltener. 12.3.2 Pathogenese Eine mikrovaskuläre Thrombose ist die Primärläsion, gefolgt von Gewebsischämie (Coppo et al. 2002). Diesem Geschehen geht eine Endothelzellschädigung voraus, die durch verschiedene Mechanismen getriggert wird, bei Infektionen, durch Medikamente, bei malignen Erkrankungen unter Chemotherapie und nach Transplantationen. Als Folge der Endothelzellschädigung kommt es ähnlich wie beim HUS zur Freisetzung prothrombotischer Substanzen, u. a. des VWF ( Abb. 12.1). Durch den bestehenden Mangel an VWF-spaltenden Enzymen kommt es zur Persistenz der Multimere mit multiplen thrombotischen Ereignissen. 12.3.3 Klinik Die Krankheit zeichnet sich durch Purpurablutungen und neurologische Symptome aus. Die Blutungsneigung zeigt sich durch Epistaxis, Schleimhautblutungen, gastrointestinale Blutungen, Hämoptyse und Retinablutungen. Allgemeine Symptome sind Blässe, Übelkeit, Arthralgien und Ikterus. Die Anämie ist mittelschwer mit Hämoglobinwerten zwischen 7 und 9 g/dl. Die neurologischen Symptome stehen im Vordergrund mit Krampfanfällen, Kopfschmerzen, Lähmungen, Aphasien und Sehstörungen bis zum Koma. Die Nierenbeteiligung ist durch eine Proteinurie und Hämaturie ausgewiesen. Die Nierenfunktion ist in 40–80% eingeschränkt, im Gegensatz zum HUS ist Nierenversagen aber seltener.
12.3.5 Therapie und Prognose Das dramatische Krankheitsbild führt unbehandelt in wenigen Tagen zum Tode. Die Behandlung mit Plasmapherese unter Austausch der VWF-Multimere mit normalem Plasma hat zu einer starken Senkung der Mortalität mit teilweiser Heilung geführt. Dennoch versterben immer noch einzelne Patienten im akuten Stadium. Besonders bei genetisch bedingten Ursachen ist die Prognose nicht immer günstig. 12.4
Thrombotische Mikroangiopathien nach einer Stammzelltransplantation treten bei etwa 5% der Transplantierten auf (Kondo et al. 1998; Ruutu et al. 2002). Bei oft unterschiedlicher, überwiegend klinischer Definition werden sie in den verschiedenen Studien teils als HUS, teils als TTP bezeichnet. Da eine Verminderung der ADAMTS 13 nur in seltenen Fällen zugrunde liegt, handelt es sich hier im eigentlichen Sinne um hämolytisch-urämische Syndrome (Vesely et al 2003). Zu einem HUS kann es sowohl nach allogener und weniger häufig auch nach einer autologen Transplantation kommen (Kondo et al. 1998). Die mediane Zeit zum Auftreten eines HUS nach Transplantation beträgt etwa 1,5 Monate, und kann zwischen 2 Wochen und 1 Jahr schwanken (Ruutu et al. 2002). Als Risikofaktoren gelten Ganzkörperbestrahlung, Transplantation von einem Fremdspender, Ciclosporinprophylaxe, akute GvHD, CMV-Infektion und weibliches Geschlecht (Kondo et al. 1998; Ruutu 2002). Die Therapie ist uneinheitlich und besteht in der Regel im Absetzen von Ciclosporin. In manchen Fällen ist eine Plasmapherese, die Infusion von Plasma, die hochdosierte intravenöse Gabe von Immunglobulinen oder die Gabe von Defibrotide wirksam. Die Mortalität des HUS nach Transplantation liegt bei etwa 30% (Ruutu et al. 2002). 12.5
Wie beim HUS liegt eine mikroangiopathische hämolytische Anämie mit Retikulozytose und Thrombozytopenie vor. Im
Maligne Hypertension
Endothelschädigungen im Rahmen einer malignen Hypertension können zu einer Mikroangiopathie führen. Die dadurch ausgelöste intravaskuläre Hämolyse ist im Allgemeinen von einer leichten Thrombozytopenie begleitet. Durch Senkung des Blutdrucks lässt sich ein Rückgang der Hämolyse verzeichnen. 12.6
12.3.4 Diagnostik
Thrombotische Mikroangiopathien bei Stammzelltransplantationen
Kasabach-Merritt-Syndrom
! Das Kasabach-Meritt-Syndrom, 1940 erstmals beschrieben, ist durch die Trias Gefäßtumor, Thrombozytopenie und Verbrauchskoagulopathie gekennzeichnet.
159 12 · Erworbene angiopathische und mechanische hämolytische Anämien
Als Ursache der Thrombozytopenie wird eine Aktivierung von Thrombozyten durch proliferierende Endothelien in den Blutkapillaren betrachtet. Infolge der Thrombozytenaktivierung kommt es zu einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung. In einigen Fällen tritt beim Kasabach-MerrittSyndrom eine intravaskuläre Hämolyse auf, die als Folge der Mikroangiopathie und Verbrauchskoagulopathie angesehen wird (Hall 2001). 12.7
Mechanische und thermische Schädigungen der Erythrozyten
12.7.1 Kardiovaskuläre Ursachen Pathogenese. Beim Überschreiten bestimmter Flussge-
schwindigkeiten geht die laminare Strömung des Blutes in eine turbulente heterogene Strömung über. Dabei kommt es zum Auftreten von Scherkräften, gegenüber welchen Erythrozyten besonders empfindlich sind. Die Stärke der Scherkräfte (τ) wird durch die Formel τ=µdν/dr beschrieben, wobei µ die Viskosität, ν die Flussgeschwindigkeit und r den Gefäßradius bezeichnet. In-vitro-Untersuchungen haben gezeigt, dass Scherkräfte >300 N/m2 zur Zerstörung von Erythrozyten führen. Solche Scherkräfte werden aufgrund der notwendigen Flussgeschwindigkeiten im Allgemeinen nur bei turbulenten Strömungsverhältnissen im Linksherz erzielt (Wright 2001). Klinik. Mechanisch-bedingte hämolytische Anämien bei angeborenen Herzvitien, infektiösen Endokarditiden und nach Einsetzen nicht-endothelialisierter künstlicher Herzklappen sind in der Regel mild. Durch Verbesserung der Operationstechniken und durch zunehmende Verwendung von endothelialisierten Xenograft-Prothesen ist eine hämolytische Anämie nach Klappenersatz selten geworden. Zu einer schweren akuten hämolytischen Anämie kann es bei Operationen kommen, bei denen ein kardiopulmonaler Bypass erfolgt. Ursächlich hierfür sind insbesondere der negative Pumpensog sowie das Eindringen von Luft aus dem Operations-Saugersystem. Beim Eintreten von Luft treten hohe Scherkräfte auf, da Luft eine deutlich geringere Viskosität als Blut aufweist, und somit deutlich schneller als Erythrozyten fließt (Mulholland et al. 2000) !Das akute Auftreten einer schweren mechanisch-bedingten Hämolyse nach operativer Korrektur eines Herzvitiums kann Ausdruck eines neu aufgetretenen Defekts im Operationsbereich sein !
12.7.2 Marschhämoglobinurie Zu einer Schädigung der Erythrozyten und zur Hämolyse durch äußere mechanische Einwirkungen kann es nach intensivem Laufen auf harten Oberflächen kommen. Diese als Marschhämoglobinurie bezeichnete Erscheinung kann auch bei Kampfsportlern oder Conga-Trommlern beobachtet werden (Schwartz u. Flessa 1973). 12.7.3 Verbrennungen Infolge thermischer Schädigung der Erythrozyten treten im Rahmen ausgedehnter Verbrennungen Zeichen einer akuten Hämolyse auf. Diese kann in schweren Fällen ein akutes Nierenversagen mitbedingen. Therapieversuche mit intravenös appliziertem Haptoglobin die Inzidenz des akuten Nierenversagens zu senken, erwiesen sich als nicht erfolgreich (Gando u. Tedo 1994). 12.7.4 Verbrauchskoagulopathie Im Rahmen einer disseminierten Gerinnungsstörung ( Kap. 40) gebildete Fibrinfäden können die Erythrozyten bei ihrer Passage durch die Mikrozirkulation schädigen und somit zur Hämolyse führen.
Unter den erworbenen angiopathischen und mechanischen hämolytischen Anämien sind das hämolytischurämische Syndrom (HUS), die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) und die kardial bedingten Anämien klinisch am bedeutsamsten. Bei ähnlicher pathophysiologischer Endstrecke und ähnlichem klinischen Erscheinungsbild haben HUS und TTP jedoch unterschiedliche Ursachen. Während beim klassischen HUS die Shigatoxine 1 und 2 auslösend sind, wird die TTP durch eine Verminderung der Aktivität des Enzyms ADAMTS 13 herbeigeführt. Therapeutisch steht beim klassischen HUS eine symptomatische Therapie mit ggf. frühzeitiger Dialyse im Vordergrund, bei der TTP eine Elimination von Antikörpern gegen ADAMTS 13 mittels Plasmapherese bzw. eine Substitution von ADAMTS 13 mittels Plasmagaben, in Zukunft auch mittels rekombinantem ADAMTS 13. In Entwicklung befinden sich Impfstoffe gegen Escherichia coli Typ O157 zur Prävention des klassischen HUS.
Literatur Diagnostik und Therapie. Neben den charakteristischen Zei-
chen einer intravaskulären Hämolyse und dem Nachweis von Fragmentozyten im Blutausstrich lassen sich echokardiographisch bestimmte Flussmuster erkennen, die mit dem Auftreten hoher Scherkräfte einhergehen (Yeo et al. 1998). Die Schwere der Hämolyse korreliert nicht mit dem Ausmaß der hämodynamischen Veränderungen. In seltenen Fällen kann die Hämolyse so ausgeprägt sein, dass die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten erforderlich ist und auch bei ausreichender Hämodynamik eine operative Korrektur vorgenommen werden muss (Gradon et al. 1996).
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I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
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161
Hämoglobinvarianten und seltene Hämoglobinkrankheiten A.E. Kulozik
13.1
Hämoglobinstruktur
13.1.1 13.1.2 13.1.3
Primärstruktur – 161 Sekundärstruktur – 161 Tertiäre und quaternäre Struktur
13.2 13.3
Hämoglobinfunktion – 162 Normale Hämoglobinvarianten
13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4
Adulte Hämoglobine – 163 Fetale Hämoglobine – 163 Embryonale Hämoglobine – 164 Veränderungen im Verlauf der Entwicklung
13.4
Seltene Hämoglobinkrankheiten
13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5
Instabile Varianten – 165 Thalassämische Varianten – 166 Varianten mit erhöhter Sauerstoffaffinität – 167 Varianten mit verminderter Sauerstoffaffinität – 167 HbM-Anomalien – 167
Literatur
– 161
– 162
– 163
– 164
– 165
– 168
Hämoglobin ist ein tetramerer Proteinkomplex, der aus 2 Globinkettenpaaren mit einem Molekulargewicht von 64.400 Da besteht. Der eine Typ dieser Globinketten ist an der Spitze des kurzen Arms von Chromosom 16 im α-Globingenkomplex mit dem embryonalen ζ- und den adulten α1- und α2-Genen kodiert. Der andere Globinkettentyp wird auf dem kurzen Arm des Chromosoms 11 (11p14) durch den β-Globingenkomplex mit dem embryonalen ε-, den fetalen G γ- und Aγ- und den adulten δ- und β-Globingenen kodiert. Jede dieser 4 Untereinheiten ist kovalent an das Ferroprotoporphyrin Häm als Ligand gebunden. Die Struktur und die Funktion des Hämoglobins ermöglichen das hohe Maß an Löslichkeit und Stabilität im Erythrozyten. Außerdem sind die physikochemischen Eigenschaften dieses Moleküls für die Aufnahme, den Transport und die Abgabe großer Mengen von Sauerstoff unter physiologischen Bedingungen entscheidend. Die meisten der inzwischen fast 1000 Hämoglobinvarianten sind funktionell insignifikant, wohingegen einige Varianten Krankheitsbilder mit ganz unterschiedlicher Ausprägung und Schweregrad hervorrufen können.
13.1
und funktioneller Ähnlichkeit dieser Proteine wird durch ihr große Sequenzhomologie reflektiert. Die α- und ζ-Ketten sind an 84 der 141 Aminosäuren identisch (60%). Die Homologie der ε-, γ-, δ- und β-Gene ist mit einer Identität von 94 der 146 Aminosäuren (64%) sogar noch stärker ausgeprägt. Das Häm wird kovalent zwischen dem Eisen und dem Histidin an Position 87 in der α-Kette und an Position 92 in der β-Kette gebunden. Die funktionell wichtigen Aminosäuren wie die an den α-β-Kontaktstellen oder an der Hämbindungsstelle sind besonders stark konserviert. 13.1.2 Sekundärstruktur Die Globinketten sind als Segmente von α-Helices organisiert, die durch nicht-helikale Konfigurationen unterbrochen sind. Die β-Kette besteht aus 8 helikalen Segmenten, die als A-H-Helix bezeichnet werden. Die α-Kette ist ähnlich, wobei die D-Helix jedoch fehlt. Die Aminosäuren können bezüglich der Position in den Helices bezeichnet werden. Das Ausmaß an Homologie zwischen den Globinketten wird bei dieser Orientierung an der sekundären Struktur besonders deutlich. So befinden sich die hämbindenden Histidinreste an Position 87 in der α- und 92 in der β-Kette jeweils an Position 8 in der F-Helix (F8) beider Globinketten. Homologe Positionen in den Globinen können daher besser durch ihre helikale Bezeichnung als durch ihre numerische Bezeichnung in der Primärstruktur dargestellt werden.
Hämoglobinstruktur
13.1.1 Primärstruktur Die Globinketten werden durch die α- und β-Globingenkomplexe (⊡ Abb. 13.1) kodiert und enthalten 141 bzw. 146 Aminosäuren. Das hohe Maß an phylogenetischer Konservierung
⊡ Abb. 13.1. Sekundärstruktur der β-Globinkette
13
162
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
13.1.3 Tertiäre und quaternäre Struktur
I Die dreidimensionale Struktur des Hämoglobins wurde wesentlich durch die Pionierarbeiten der Röntgenkristallographie durch Max Perutz aufgeklärt. Definition Der Begriff Tertiärstruktur bezieht sich auf die räumlichen Verhältnisse der Aminosäuren innerhalb der individuellen Globinketten, wohingegen sich die quaternäre Struktur auf die Interaktionen der Untereinheiten bezieht.
Da beide Begriffe die funktionell wichtige dreidimensionale Struktur des gesamten Protein-Häm-Komplexes beschreiben, werden sie hier gemeinsam abgehandelt. Die Helices der individuellen Globinketten bilden kompakte sphärische Strukturen (⊡ Abb. 13.2). Die nach außen gerichteten Aminosäurereste sind vornehmlich polar, wohin-
a
gegen die nach innen gerichteten Reste vornehmlich hydrophob sind. Diese Verteilung ist zum einen für die hervorragende Löslichkeit des Hämoglobins, zum anderen für das hohe Maß an Stabilität durch die Blockierung des Eindringens von Wasser in die zentralen Abschnitte des Komplexes verantwortlich. In der Nähe der Oberfläche ist das Hämmolekül zwischen den proximalen und den distalen Histidinresten an Position F8 und E7 aufgehängt. Die 6 freien Elektronen des Fe2+-Ions gehen eine chemische Koordination mit den 4 Stickstoffatomen des Pyrrolmoleküls bzw. des Imidazols von His F8 und dem Sauerstoff ein. Zusätzlich wird der Porphyrinring in der Hämtasche durch 60 hydrophobe Bindungen mit einem hohen Maß an Stabilität gehalten. Die funktionelle Bedeutung dieser Kontaktstellen ist durch die starke phylogenetische Konservierung und durch die Auswirkung von Aminosäuresubstitutionen dokumentiert, die zu instabilen Hämoglobinvarianten führen. Die 4 Untereinheiten des Hämoglobins assemblieren sich zu einem Ellipsoid von 64×55×50 Å. Die α- und β-Ketten besitzen 2 Kontaktflächen miteinander, eine mit der α1- (α2-) und β1- (β2-) und die andere zwischen den α1- (α2-) und β2bzw. β1-Ketten. Das Charakteristikum des α1-β2-Kontaktes besteht darin, dass 2 mögliche Konformationen in Abhängigkeit von dem Oxygenierungsgrad des Moleküls eingenommen werden können. Die Deoxyform ist stabiler (tight; T-Form) und wird von 40 van der Waals- und Wasserstoffbrückenbindungen gehalten. Dagegen wird die Oxyform nur von 22 van der Waals- und Wasserstoffbrückenbindungen gehalten und ist daher weniger fest gebunden (relaxed; R-Form). Als Ergebnis dieser physikochemischen Eigenschaften ist das Oxyhämoglobin weniger stabil als das Deoxyhämoglobin. Die allosterische Beweglichkeit an der α1-β2-Kontaktfläche ist außerdem wesentlich für den kooperativen Charakter der Sauerstoffbindung. Mechanistisch gesehen erfordert der Übergang von der T- in die R-Form die Sauerstoffbindung entsprechend der Symmetrieregel, d. h. wann immer die Sauerstoffbindung ein Tetramer mit wenigstens einer geladenen Untereinheit jedes dimären Halbmoleküls (α1β1 oder α2β2) bildet, so kommt es zum Umschalten der Quaternärstruktur. Die T-Form wird weiterhin durch Chloridionen und durch 2,3-Diphosphoglycerat (2,3-DPG) stabilisiert. 2,3-DPG ist ein Polyanion, das mit den positiv geladenen N-terminalen Aminogruppen von Lysin 82 und den Histidinresten an Position 2 und 143 der β-Ketten reagiert. 13.2
b ⊡ Abb. 13.2a, b. Tertiäre und quaternäre Struktur des Hämoglobins. Bei der Deoxyform (a) sind die beiden Hämmoleküle enger aneinandergelagert als bei der Oxyform (b)
Hämoglobinfunktion
Die wichtigste Funktion des Hämoglobin ist es, Sauerstoff in den Lungen aufzunehmen und in die peripheren Gewebe zu transportieren, wo es im Austausch für CO2 entladen wird. Die Mengen des transportierten Sauerstoffs sind enorm. Ein Mol Hämoglobin kann 4 Mole Sauerstoff binden. Da ein Mol eines Gases bei Standardtemperatur und Standarddruck 22,4 l entspricht, kann 1 g Hb 1,39 ml O2 binden. Bei einer Hämoglobinkonzentration von 15 g/dl können 100 ml Blut somit 20 ml Sauerstoff transportieren. Entscheidend für die Funktion von Hb als Sauerstofftransporter ist der kooperative Effekt der Untereinheiten,
163 13 · Hämoglobinvarianten und seltene Hämoglobinkrankheiten
der strukturell auf dem Allosterismus der R- und T-Formen basiert. Dies bedeutet, dass die Sauerstoffbindung allosterische Veränderungen induziert, was die Aufnahme weiterer Sauerstoffmoleküle erleichtert (Homotropismus). Dieser kooperative Effekt wird durch andere Moleküle, 2,3-DPG, H+, Cl– und CO2, moduliert (Heterotropismus). Das physiologische Korrelat dieses kooperativen Effektes ist die sigmoide Bindungskurve, nach der das Hämoglobin bei physiologischen Sauerstoffpartialdrucken rasch mit Hämoglobin bebzw. wieder entladen werden kann. Von besonderer klinischer Bedeutung ist die Interaktion mit 2,3-DPG, da die intrazelluläre Konzentration dieses kleinen Moleküls bei chronischer Hypoxie hochreguliert werden kann. Da 2,3-DPG Deoxy-Hb stabilisiert, wird so die Sauerstoffaffinität vermindert und die Sauerstoffentladung erleichtert. Hierbei handelt es sich um einen der wesentlichen kompensatorischen Mechanismen bei einer chronischen Anämie oder auch bei länger dauernden Aufenthalten in großer Höhe. Die erhöhte O2-Affinität von HbF im Vergleich zum HbA ist durch einen Sequenzunterschied zwischen den γ- und den β-Globinketten verursacht: β143-His korrespondiert zu γ143-Ser, einer neutralen Aminosäure, die kein 2,3-DPG bindet. 13.3
Normale Hämoglobinvarianten
13.3.1 Adulte Hämoglobine HbA. Nach Beendigung des Umschaltens von der fetalen zur adulten Hämoglobinsynthese ist HbA das dominante menschliche Hämoglobin. HbA wird posttranslational am N-terminalen Valin und an internen Lysinresten glykosyliert. Dies ist eine 2-Schritt-Reaktion, bei der die erste die Hb-NH2Gruppen schnell, aber reversibel in ein Aldimin überführt. Die zweite Reaktion erfolgt langsamer, aber irreversibel zu einem Ketoamin. Die posttranslational modifizierten Hämoglobine können in einer Säulenchromotographie als schnell eluierende Fraktionen (HbAIa–c) identifiziert werden. Eine dieser Fraktionen (HbAIc) kann technisch relativ einfach quantifiziert werden und stellt einen nützlichen Marker für die langfristige metabolische Kontrolle von Patienten mit Diabetes mellitus dar.
a
b
⊡ Abb. 13.3a–c. Saure Elution von HbA. HbF wird aus fetalen Erythrozyten nicht eluiert (a), wohingegen HbA aus adulten Zellen herausgelöst wird (b und c). Fetale Erythrozyten können so im mütterlichen
HbA2. Ungefähr 2,5% des adulten Hämoglobins ist HbA2
(β2 δ2 ). Funktionell sind HbA2 und HbA identisch. Allerdings ist HbA2 wegen seiner geringen Expression physiologisch irrelevant und eine fehlende HbA2 -Synthese ohne klinische Auswirkung. Die δ-Globinkette ist der β-Kette hoch homolog und unterscheidet sich nur in 10 Aminosäuren. Sie kann jedoch elektrophoretisch oder chromatographisch leicht vom HbA getrennt werden. Die geringere Expression des δ-Globingens im Vergleich zum β-Globingen wird zum einen durch eine verminderte Effizienz des Promotors, das Fehlen eines transkriptionalen Enhancers und durch eine verminderte Stabilität der δ-Globin-mRNA erklärt. Außerdem weisen δGlobinketten eine geringere Affinität für α-Globinketten auf. Dieses Charakteristikum wird bei der Diagnostik der heterozygoten β-Thalassämie ausgenutzt. Wenn β-Globinketten in einer geringeren Konzentration vorhanden sind, wird es den δ-Globinketten trotz ihrer geringeren Affinität erleichtert, Heterotetramere mit α-Ketten und somit HbA2 zu bilden. 13.3.2 Fetale Hämoglobine Struktur und Funktion. Die γ-Globinketten werden durch zwei direkt nebeneinander liegende weitgehend identische Gene kodiert. Einen Unterschied gibt es jedoch an Position 136, wo das weiter 5′ gelegene Gγ-Gen für ein Glycin und das 3′-gelegene Aγ-Gen für ein Alanin kodiert. Strukturell und funktionell ist das fetale Hämoglobin (HbF; α2γ2) dem HbA sehr ähnlich. Einige der 39 Unterschiede in der Primärstruktur erklären jedoch physiologische Unterschiede wie etwa die erhöhte Stabilität von HbF, die verminderte Interaktion mit 2,3-DPG und auch die diagnostisch bedeutsame verstärkte Resistenz gegenüber Alkali und Säure. Diagnostische und therapeutische Bedeutung von HbF.
Nach dem perinatalen Umschaltprozess von der fetalen zur adulten Hämoglobinsynthese finden sich gegen Ende des ersten Lebensjahres nur noch Spuren von HbF im peripheren Blut. Fetale Erythrozyten können von adulten Zellen durch die leichtere Eluierbarkeit von HbA gegenüber HbF im sauren Milieu unterschieden werden. Dadurch können fetale Erythrozyten in der mütterlichen Zirkulation nachgewiesen und das Ausmaß einer fetomaternalen Bluttransfusion abgeschätzt werden (⊡ Abb. 13.3).
c Blut nachgewiesen werden (mit freundlicher Genehmigung von E. Kleihauer)
13
164
I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Erhöhte HbF-Konzentrationen kommen sowohl bei Hämoglobinkrankheiten als auch bei erworbenen Erkrankungen des hämatopoetischen Systems vor. Bei der Sichelzellerkrankung ist das HbF als Ergebnis eines Selektionsvorteils von F-Zellen erhöht. HbSS-Patienten mit höheren HbF-Konzentrationen zeigen im allgemeinen einen milderen klinischen Phänotyp, was therapeutisch durch die Gabe von Hydroxyharnstoff (HU) genutzt werden kann ( Kap. 15). Bei Patienten mit homozygoter β-Thalassämie ist das erhöhte relative HbF pathognomonisch. Während die HbFSynthese pro Zelle bei den meisten Patienten nicht erhöht ist, wird in dem stark hyperplastischen Knochenmark eine absolut höhere Zahl von F-Zellen gebildet. Diese Zellen überleben selektiv, da die α- zu non-α-Globinketten-Imbalance in F-Zellen weniger stark ausgeprägt ist als in Zellen ohne γ-Globinkettensynthese. Wenn zusätzlich genetische Determinanten vorliegen, die zu einer erhöhten γ-Globingenexpression pro Zelle führen (Mutationen in den γ-Globingenpromotoren, Deletionen des β-Globingenkomplexes) kann es zu einer wesentlichen Abmilderung des klinischen Schweregrades der homozygoten β-Thalassämie kommen. Therapeutische Versuche, die HbF-Synthese pharmakologisch zu reaktivieren, zeigten zunächst vielversprechende Ergebnisse, sind bisher jedoch nur bei ausgesuchten Patienten einsetzbar. Es gibt eine Vielzahl von erworbenen Erkrankungen, die mit einem erhöhten HbF assoziiert sind. Beispiele sind die juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) und die Fanconi-Anämie. Ein erhöhtes HbF kann auch im Verlauf der hämatologischen Erholung nach einer Stammzellen-Transplantation oder einer intensiven Chemotherapie beobachtet werden. 13.3.3 Embryonale Hämoglobine Während der 2. bis zur 14. Woche produziert der Dottersack 3 verschiedene Hämoglobine: ξ2ε2 (Hb Gower I), α2ε2 (Hb Gower II) und ζ2γ2 (Hb Portland). Die ε-Globinketten sind den β- und den γ-Ketten homolog und werden durch ein ein-
⊡ Abb. 13.4. Ontogenese der Hämoglobinsythese
zelnes Gen am 5′-Ende des β-Globingenkomplexes kodiert. Die ζ-Globinkette ist der α-Kette homolog und durch ein einzelnes Gen am 5′ Ende des α-Globingenkomplexes kodiert. Alle 3 embryonalen Hämoglobine zeigen einen Allosterismus und einen kooperativen Effekt bei der Sauerstoffbindung. Normalerweise sind diese Hämoglobine während des fetalen oder postnatalen Lebens nicht nachweisbar. Bei α0-Thalassämieformen können embryonale Hämoglobine jedoch auch in der fetalen oder postnatalen Phase gefunden werden. 13.3.4 Veränderungen im Verlauf der Entwicklung Die unterschiedlichen Globingene werden während verschiedener Phasen der Entwicklung in großen Mengen produziert. Die α- und β-ähnlichen Globingene sind in ihren jeweiligen Genkomplexen auf dem Chromosom 11 und dem Chromosom 16 so arrangiert, dass sie nacheinander exprimiert werden (⊡ Abb. 13.4). Ungefähr 14 Tage post conceptionem werden die 3 embryonalen Hämoglobine und ein wenig später das HbF vom Dottersack synthetisiert. Nach etwa 8 Wochen werden die embryonalen Gene inaktiviert und HbF wird das dominante Hämoglobin, das zunächst in der Leber und in der Milz und dann zunehmend im Knochenmark gebildet wird. HbA wird in dieser Zeit nur in kleinen Mengen synthetisiert. In der Perinatalzeit wird die γ-Globinketten- und die HbF-Synthese durch die β-Globinketten- und HbA-Synthese abgelöst. Postnatal ist das Knochenmark das einzige Organ normaler Erythropoese. Der Schaltvorgang von der embryonalen zur fetalen bzw. von der fetalen zur adulten Hämoglobinsynthese wird durch eine komplexe Interaktion von übergeordneten transkriptionalen Steuerelementen, der so genannten Locuskontrollregion (LCR) und den lokalen Promotoren der Globingene gesteuert. Diese Umschaltvorgänge sind wichtige Paradigmen für Genregulationsvorgänge im Verlauf der Ontogenese und daher von großem Interesse für die Entwicklungsbiologie. Das medizinische Interesse an einem tieferen Verständnis der Hämoglobinschalt vor-
165 13 · Hämoglobinvarianten und seltene Hämoglobinkrankheiten
gänge ist in der Hoffnung begründet, einen effektiven Weg für die Reaktivierung der γ-Globingene und damit eine Behandlung der β-Globinopathien zu finden. 13.4
Seltene Hämoglobinkrankheiten
13.4.1 Instabile Varianten Hämoglobin ist ein hochorganisierter Komplex, dessen Funktion und Stabilität durch das subtile Arrangement verschiedener oben beschriebener struktureller Eigenschaften bedingt ist. Viele Mutationen führen daher zu einer gewissen Instabilität, die durch In-vitro-Tests identifiziert werden können, jedoch keine signifikante klinische Bedeutung haben. Definition Die klinische Definition instabiler Hämoglobinvarianten bezieht sich daher lediglich auf die kongenitale hämolytische Heinz-Körper-Anämie. Die häufigste Variante dieser Art ist das Hb Köln, so dass die instabilen Hämoglobinopathien gelegentlich auch als Hb-Köln-Krankheit subsumiert werden.
Pathogenese Bei der Denaturierung instabiler Hämoglobinvarianten kommt es zur Auflösung der streng organisierten dreidimensionalen Struktur des Moleküls, wobei die R-Konfiguration und daher die oxygenierte Form begünstigt wird. Im Oxyhämoglobin wird das Fe2+ leichter zur Fe3+-Form oxidiert (Hb Fe2+ + O2 → Hb Fe3+ + O2–). Sowohl das O2–-Anion als auch das sich bildende Wasserstoffperoxid können die Bildung von Methämoglobin verursachen. Das Fe3+-Häm hat eine niedrige Affinität zum Globin, was zum Hämverlust und zur schnellen Denaturierung führt. Zusätzlich verursacht die Veränderung der quaternären Konfiguration eine direkte Bindung des E7-Histidins mit dem oxidierten Häm (reversibles Hemichrom). Im weiteren Verlauf beteiligen sich auch andere Aminosäuren an dieser Bindung mit dem oxidierten Häm, was einer irreversiblen Denaturierung des Globins und zur Präzipitation als Heinz-Körper führt. Das als HeinzKörper denaturierte Globin bindet sich an die innere Seite der Zellmembran und die so veränderten Erythrozyten werden von der Milz erkannt und hämolysiert. Viele instabile Varianten können elektrophoretisch oder chromatographisch identifiziert werden. Bei ausgeprägter Instabilität reichen die proteinbasierenden analytischen Techniken jedoch nicht aus, so dass die genaue Diagnose am einfachsten durch eine DNA-Analyse gestellt wird ( Abb. 13.4). Bei manchen solcher Varianten ist die klinische Symptomatik erstaunlich mild. Bei anderen kommt es zu einer ausgeprägten ineffektiven Erythropoese, was auf eine Beeinträchtigung eines frühen Schritts der Komplexformation hindeutet. Grundsätzlich gibt es 5 verschiedene molekulare Mechanismen, die zu einer Destabilisierung der dreidimensionalen Struktur des Komplexes führen können. Am häufigsten wird die Interaktion zwischen dem Globin und dem Häm gestört. Beispielhaft ist hier das Hb Köln (β98 [FG5] Val → Met). Diese Variante und auch einige seltene andere betreffen die
hydrophoben Aminosäuren der CD-, E,- F- und FG-Regionen der so genannten Hämtasche. Die Einführung von hydrophilen Aminosäuren in diese Region stört die Häm-GlobinInteraktion und führt zur Instabilität des Gesamtkomplexes. Andere seltene instabile Hämoglobinvarianten führen zur Störung der α-helikalen Sekundärstruktur, zu hydrophilen Substitutionen im hydrophoben Kernbereich des Komplexes, zu Aminosäuredeletionen oder zur Verlängerung einer der Globinketten. Genetik ! Instabile Hämoglobine werden autosomal-dominant vererbt und zeigen den Phänotyp einer kongenitalen hämolytischen Heinz-Körper-Anämie bereits beim heterozygot Betroffenen.
Da die klinischen Auswirkungen Teil der Definition der instabilen Hämoglobinopathien sind, ergibt es sich, dass die β-Varianten viel häufiger als die α-Varianten sind. Jedes der 2 Allele des β-Globingens steuert 50% der Gesamt-β-Globinsynthese, wohingegen es insgesamt 4 (2 α2 und 2 α1) α-Globingenallele gibt. Die α2-Gene sind in etwa doppelt so hoch exprimiert wie die α1-Gene. Jedes der α2-Allele steuert daher 30–35% und jedes der α1-Allele ungefähr 15–20% der Gesamt-α-Globinsynthese. α1-Varianten verursachen daher nur eine milde Hämolyse, auch wenn sie homozygot vorkommen. Ebenso führen analoge Aminosäuresubstitutionen der α-Globinketten zu einem sehr viel geringer ausgeprägten klinischen Phänotyp als die entsprechenden β-Globinkettenvarianten. γ-Globinkettenvarianten sind selten. Beim Hb Poole (Gγ 130 Trp → Gly) kommt es zu einer fetalen und neonatalen hämolytischen Anämie, die mit dem fetalen zum adulten Hämoglobin Umschalten verschwindet. Es gibt keinen positiven Selektionsdruck für die instabilen Hämoglobine, so dass diese Varianten im Allgemeinen selten und meist nur in einzelnen Familien beschrieben sind. Spontanmutationen kommen häufig vor. Der homozygote Genotyp für instabile Hämoglobinvarianten ist ausgesprochen selten. Bei einem homozygoten Patienten mit Hb Bushwick (β74 Gly → Val) ist eine chronische Anämie mit einer Kombination von Hämolyse und ineffektiver Erythropoese beschrieben. Klinik Das Manifestationsalter der chronischen hämolytischen Heinz-Körper-Anämie hängt vom Ausmaß der Instabilität und davon ab, welche Globinkette betroffen ist. Wie oben beschrieben, sind die β-Kettendefekte schwerwiegender als die α-Kettendefekte. Bei einer schweren Heinz-Körper-Anämie beginnen die Symptome meist im frühen Kindesalter und fallen entweder durch eine chronische Anämie oder durch eine hämolytische Krise, etwa bei fieberhaften Erkrankungen auf. Gelegentlich wird die Diagnose auch im Verlauf einer aplastischen Krise in Folge einer Parvovirusinfektion gestellt. Der Urin ist durch die Ausscheidung von Bilirubindegradationsprodukten dunkel (Mesobilifuszinurie). Auch die sich meist bildenden Gallensteine können zu entsprechenden Symptomen führen. Mildere instabile Varianten bleiben oft asymptomatisch und werden dann als Zufallsbefund diag-
13
166
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
tomatischen Patienten besteht wie auch sonst eine Operationsindikation.
I
Hydroxyharnstoff. Dieses Medikament ist definitiv bei Kindern und Erwachsenen mit einem schweren Verlauf der Sichelzellerkrankung indiziert ( Kap. 15). Es gibt einen Fallbericht von 2 Patienten mit einer schweren Heinz-KörperAnämie, deren Beschwerdebild sich durch eine Hydroxyharnstoff-Therapie besserte.
13.4.2 Thalassämische Varianten
⊡ Abb. 13.5. Brilliantcresylblau-gefärbter Blutausstrich eines Patienten mit Heinz-Körper-Anämie
nostiziert. Der körperliche Untersuchungsbefund hängt vom Schweregrad der Hämolyse ab. Ikterus und Splenomegalie sind häufig. Bei manchen Patienten entwickelt sich ein Hyperspleniesyndrom. Zur Zyanose kann es bei Formen mit einer signifikanten Methämoglobinkonzentration kommen (z. B. Hb Freiburg). Bei einzelnen Patienten wurden auch Ulcera cruris beschrieben. Diagnostik Die Routinehämatologie zeigt Zeichen der hämolytischen Anämie mit Retikulozytose, indirekter Hyperbilirubinämie und vermindertem Haptoglobin. Brilliantcresylblau gefärbte Blutausstriche zeigen die charakteristischen Heinz-Einschlusskörper (⊡ Abb. 13.5). Mittels Hämoglobinanalyse können in vielen Fällen die abnormen Varianten charakterisiert werden. Heute ist es jedoch technisch einfacher und in der diagnostischen Aussagekraft auch eindeutiger, durch eine DNA-Analyse die Mutation zu diagnostizieren. Therapie Die meisten Patienten mit einer Heinz-Körper-Anämie bedürfen keiner spezifischen Behandlung. Bei starker Hämolyse sollten oxidierende Medikamente wie Sulfonamide vermieden werden und der Patient über die Möglichkeit hämolytischer Krisen etwa bei fieberhaften Erkrankungen oder einer aplastischen Krise bei Parvovirusinfektion aufgeklärt werden. Einfache Antipyretika wie Paracetamol und ASS sind im Allgemeinen unproblematisch. Splenektomie. Bei Patienten mit Hyperspleniesyndrom ist
die Splenektomie indiziert. Ansonsten ist der Erfolg dieser operativen Maßnahme sehr variabel und die Indikation sollte daher zurückhaltend gestellt werden. Neben dem natürlich auch bei diesen Patienten bestehenden Problem der Postsplenektomiesepsis gibt es Berichte bei Patienten mit instabilen Hämoglobinopathien, bei denen es nach einer Splenektomie zu einer Polyzythämie und zu einer Lungenembolie kam. Außerdem gibt es Fallberichte von Postsplenektomiepriapismus. Cholezystektomie. Gallensteine sind oft asymptomatisch und erfordern dann natürlich keine Behandlung. Bei symp-
Diese Varianten sind zusätzlich zu ihrem Strukturdefekt durch eine Verminderung der Globinkettensynthese charakterisiert. Dies kann durch eine verminderte transkriptionale Aktivität, eine Verminderung der mRNA-Prozessierungseffizienz, der mRNA-Stabilität oder durch eine erhöhte posttranslationale Degradation verursacht sein. Klinisch sind diese Varianten durch die Zeichen der Thalassämie charakterisiert. Pathogenese und Klinik Das Paradigma dieses Typs von Hämoglobinvariante ist das Hb Lepore, das statt der normalen β-Kette eine δβ-Fusionskette enthält. Diese Kette ist durch ein δβ-Fusionsgen kodiert, das durch eine ungleiche Rekombination zwischen den stark homologen δ- und β-Globinketten zustande kommt. Je nach Fusionspunkt der beiden Gene gibt es unterschiedliche Typen von Hb Lepore, die sich jedoch pathogenetisch und klinisch nicht unterscheiden. Die transkriptionale Aktivität dieser Fusionsgene wird durch den δ-Globingenpromotor reguliert, der durch das Fehlen einer CACCC-Box im Vergleich zum β-Globingenpromotor sehr viel weniger effizient ist. Die Erythrozyten heterozygot Betroffener sind hypochrom. Die Hb Lepore-Variante macht etwa 7–15% des Gesamt-Hb aus und das HbF ist meist leicht erhöht. Gemischt heterozygot Betroffene mit einem β0- oder einem schweren β+-Thalassämieallel auf dem anderen Chromosom sind ebenso wie die seltenen homozygoten Patienten meist transfusionsbedürftig. Die häufigste thalassämische Hämoglobinvariante ist das HbE (β26 Glu → Lys), das ausgesprochen hohe Genfrequenzen in Südostasien und in Südasien erreicht. Sowohl die βEMutation als auch die sehr viel seltenere Hb Knossos-Variante (β27 Ala → Ser) verursachen die Aktivierung einer kryptischen Spleiß-Stelle im Exon 1 des β-Globingens und beeinträchtigen dadurch die mRNA-Prozessierung. Zusätzlich ist HbE leicht instabil. HbE Homozygote zeigen meist eine leichte hämolytische Anämie, wohingegen gemischt Heterozygote mit einer schweren β-Thalassämiemutation auf dem anderen Allel oftmals transfusionsbedürftig sind. Durch einen bislang noch unbekannten Mechanismus können solche Patienten allerdings auch eine milde Thalassaemia intermedia entwickeln. Andere Hämoglobinvarianten können zu einer schweren Thalassämie führen. So inaktiviert Hb Monroe (β30 Arg → Thr) fast vollständig die Spleißeffizienz der β-Globin-prä-mRNA. Die mRNA und Globinkettenstabilität kann durch Mutationen des Terminationskodons beeinträchtigt werden. Beispiele sind hier die α-Globinkettenvarianten Hb Constant
167 13 · Hämoglobinvarianten und seltene Hämoglobinkrankheiten
Spring, Hb Icaria, Hb Koya Dora und Hb Seal Rock. Klinisch handelt es sich hier um typische Thalassämiemutationen und die Varianten selbst sind, wenn überhaupt, nur in Spuren nachweisbar. Letztlich kann sich ein Thalassämiephänotyp bei den so genannten hyperinstabilen Varianten ergeben. Die so betroffenen Globinketten werden bereits abgebaut, bevor sie in das Tetramer inkorporiert werden können. Proteinbasierte analytische Methoden sind in diesen Fällen nicht informativ und die DNA-Analyse muss für die Diagnostik eingesetzt werden. Eine Besonderheit dieser β-Globinkettenvarianten besteht darin, dass die betroffenen Ketten bereits in den erythroiden Vorläuferzellen abgebaut werden. Sekundär müssen dann auch die überflüssigen α-Globinketten abgebaut werden, was die proteolytische Kapazität dieser Zellen überlastet und somit zur ineffektiven Erythropoese führt. Das klinische Kennzeichen dieser Thalassämieformen ist der dominante Vererbungsmodus und das klinisch variable Bild einer Thalassaemia intermedia. Die Behandlung erfolgt entsprechend der häufigen Thalassämieformen ( Kap. 14). 13.4.3 Varianten mit erhöhter Sauerstoffaffinität Definition Bei diesen Varianten ist das Gleichgewicht zwischen der R- und der T-Konformation zugunsten der R-Form gestört. Die sigmoide Sauerstoffbindungskurve ist somit linksverschoben, d. h. die Sauerstoffaufnahme ist erleichtert und die Sauerstoffabgabe in den peripheren Geweben erschwert.
Viele dieser Varianten sind außerdem instabil. Im Gegensatz zur kongenitalen hämolytischen Heinz-Körper-Anämie äußern sich diese Varianten jedoch durch ihre Erythrozytose/ Polyglobulie und nicht durch eine Hämolyse. Pathogenese Je weiter die Sauerstoffbindungskurve nach links verschoben ist, desto schwieriger wird es für den Komplex, seine quaternäre Konformation zu ändern. Der so erschwerte Allosterismus führt zum Verlust des kooperativen Effekts und des Bohr-Effekts. Diese Varianten ähneln funktionell somit anderen Hämoproteinen wie dem Myoglobin. Obwohl keine Hypoxämie vorliegt, ist die Verfügbarkeit von Sauerstoff vermindert. Dies führt zur Erythropoetinproduktion und zur kompensatorischen Erythrozytose. Die meisten Patienten mit diesen Varianten zeigen eine normale Belastungsfähigkeit, obwohl Blutverlust oder ein Aderlass zu einem numerisch normalen Hb aber zu einer klinisch relevanten Hypoxie führen kann. Viele der Varianten mit einer erhöhten Sauerstoffaffinität tragen Substitutionen an der α1β2-Kontaktfläche, wo die meisten allosterischen Veränderungen stattfinden. Außerdem spielen die C-terminalen Enden der Globinketten und die 2,3-DPG-Bindungsstelle eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der T-Konformation, so dass auch hier Varianten mit hoher O2-Affinität vorkommen.
Genetik Die meisten Affinitätsvarianten werden autosomal-dominant vererbt. α-Varianten sind aus den oben beschriebenen Gründen weniger häufig als β-Varianten. Homozygot betroffene Patienten sind nur als Einzelfälle von Varianten mit einer nur mäßiggradig verminderten allosterischen und Bohr-Effekten beschrieben. Klinik Die meisten Patienten sind asymptomatisch, können jedoch eine bläuliche Hautfarbe und eine periphere Zyanose zeigen. Bis auf eine gelegentlich auftretende Splenomegalie ist der körperliche Untersuchungsbefund in der Regel unauffällig. Meist werden die Varianten mit einer hohen O2-Affinität als Zufallsbefund wegen einer Polyglobulie diagnostiziert. Symptome einer erhöhten Viskosität des Blutes treten in der Regel nicht auf, obwohl es Fallberichte von Ausnahmen gibt. Theoretisch könnte man erwarten, dass es bei einer Mutter mit einer Variante mit hoher O2-Affinität oder bei Müttern mit hereditärer Persistenz fetalen Hämoglobins zu einer schlechten Sauerstoffversorgung des Fetus kommen könnte. Praktisch scheint das jedoch keine Rolle zu spielen, und die Kinder entwickeln sich normal. Diagnostik Das Blutbild zeigt eine Polyglobulie mit einem Hb zwischen 17 und 22 g/dl. Da nur etwa 50% aller Varianten mit hoher O2-Affinität elektrophoretisch oder chromatographisch erfasst werden können, muss zur sicheren Diagnostik meist eine DNA-Analyse erfolgen. Die Messung der Sauerstoffdissoziationskurve ist aufwendig und meist nicht erforderlich. Therapie Varianten mit hoher Sauerstoffaffinität verursachen harmlose Veränderungen der hämatologischen Parameter. Polyglobulie ist als Kompensationsmechanismus für die verminderte Verfügbarkeit von Sauerstoff zu sehen. Daher ist eine Aderlasstherapie kontraindiziert. Die wenigen Patienten mit Hyperviskositätssymptomen stellen eine Ausnahme von dieser Regel dar. 13.4.4 Varianten mit verminderter
Sauerstoffaffinität Bei diesen sehr seltenen Varianten ist die T-Konformation stabilisiert, so dass die Sauerstoffaufnahme erschwert und die Abgabe erleichtert ist. Die Rechtsverschiebung der Sauerstoffbindungskurve führt zu einer guten Sauerstoffverfügbarkeit, so dass eine leichte Anämie ein mögliches Charakteristikum ist. Ein Behandlungsbedarf ergibt sich nicht. 13.4.5 HbM-Anomalien Definition Bei den HbM-Anomalien handelt es sich um seltene Varianten, die durch Aminosäuresubstitutionen der Hämbindungsregion charakterisiert sind und zu einer vollständigen Oxidation des Hämeisens zur Fe3+-Form führen.
13
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
HbM-Anomalien sind daher für den Sauerstofftransport ungeeignet. Eine Instabilität ist kein prominentes Charakteristikum dieser Anomalien, was sie von den instabilen Varianten mit einer hohen spontanen Oxidationsrate unterscheidet. Pathogenese Normales Hämoglobin wird langsam zu Methämoglobin oxidiert (ungefähr 3% täglich). Alle bekannten 7 HbM-Anomalien sind His→Tyr-Substitutionen an Position F8 oder E7, d. h. der Hämbindungsstelle. Das Tyrosin geht eine kovalente Bindung mit dem Fe3+-Ion ein, was dadurch stabilisiert wird. Die M-Hämoglobine können nicht wie das normale Hämoglobin durch die NADH-abhängige Zytochrom-b5-Reduktase reduziert werden. Die klinische Toleranz von Methämoglobin hängt ähnlich wie die Toleranz einer Anämie von der Geschwindigkeit der Entstehung ab. In chronischen Fällen wie denen mit HbM oder Zytochrom-b5-Reduktasemangel werden Met-Hb Konzentrationen von bis zu 40% gut toleriert. Im Gegensatz dazu entstehen Symptome der Hypoxie bereits bei Methämoglobinkonzentrationen von etwa 20%, wenn die Methämoglobinämie plötzlich, etwa in Folge einer Vergiftung entsteht. Toxische Met-Hämoglobinämien kommen am häufigsten im Neugeborenenalter vor, wenn die Zytochrom-b5Reduktase nur etwa halb so aktiv ist wie bei älteren Kindern oder bei Erwachsenen. Genetik und Klinik M-Hämoglobine werden autosomal-dominant vererbt, wobei Spontanmutationen häufig sind. Heterozygot Betroffene sind zyanotisch, ohne dass die körperliche Belastungsfähigkeit eingeschränkt ist. Diagnose und Therapie Am wichtigsten ist es, die richtige Diagnose zu stellen und unnötige und gegebenenfalls gefährliche diagnostische Prozeduren etwa zum Ausschluss von Herz- oder Lungenerkrankungen zu vermeiden. Redoxagenzien wie Methylenblau oder Ascorbinsäure sind wirkungslos. Die Diagnose kann in der Hämoglobinelektrophorese oder durch DNA-Analyse eindeutig gestellt werden.
Das Hämoglobin ist ein heterotetrameres Protein, das sich durch eine exzellente Löslichkeit, Stabilität und durch die Fähigkeit auszeichnet, große Mengen an Sauerstoff zu transportieren. Die meisten Hämoglobinvarianten sind funktionell neutral und daher im Sinne eines Polymorphismus zu sehen. Andere Varianten vermindern jedoch die Löslichkeit oder die Stabilität des Proteinkomplexes, was zu charakteristischen Erkrankungen, meist mit dem Bild einer hämolytischen Anämie, oder auch zu systemischen Mikrozirkulationsstörungen führt. Selten kann es auch zu einer veränderten Sauerstoffaffinität mit dem Leitsymptom der Zyanose kommen. Diagnostisch ist heute in vielen Fällen die DNA-Analyse wegen ihrer höheren Spezifität und Sensitivität den auf einer veränderten Proteinstruktur basierenden Techniken vorzuziehen.
Literatur Kulozik AE (1999) Hemoglobin variants and the rarer hemoglobin disorders. In: Lilleyman JS, Hann IM, Blanchette VS (eds) Pediatric hematology, 2nd ed, pp 231–256. Churchill Livingstone, London 1999 Steinberg MH, Forget BG, Higgs DR, Nagel RL (2001) Disorders of hemoglobin. Cambridge University Press, Cambridge
169
Thalassämien A.E. Kulozik
14.1 14.2 14.3
Struktur und Ontogenese der Hämoglobine – 169 Genetische Kontrolle der Globinsynthese – 169 β-Thalassämie – 169
14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.3.5 14.3.6 14.3.7 14.3.8 14.3.9
Pathophysiologie – 169 Klinisches Bild – 170 Therapie – 171 Diagnose und Therapie der Komplikationen – 174 Knochenmarktransplantation – 174 Genetische Beratung – 175 Psychosoziale Unterstützung – 175 Behandlung der Thalassaemia intermedia – 175 Ausblick – 175
14.4
α-Thalassämie
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
Pathophysiologie und Klinik – 176 Molekulare Pathologie – 176 Diagnostik – 177 Behandlung – 177
Literatur
– 176
– 178
Die Thalassämien sind autosomal und bis auf seltene Ausnahmen rezessiv vererbte Erkrankungen, die sich durch eine stark verminderte oder fehlende Synthese einer oder mehrerer Globinketten auszeichnen. Endemisch kommen diese Erkrankungen im Mittelmeerraum, in weiten Teilen Asiens und in Afrika vor. In Deutschland hat der Zuzug von Menschen aus diesen Teilen der Welt dazu geführt, dass die Thalassämien auch hier zu den häufigen Erkrankungen in der pädiatrischen Hämatologie gehören. Insgesamt werden an deutschen Kinderkliniken derzeit etwa 400 Patienten mit einer transfusionsbedürftigen homozygoten β-Thalassämie behandelt. Behandlungsbedürftige α-Thalassämien sind in Deutschland sehr viel seltener. α-Thalassämien spielen jedoch als genetische modifizierende Faktoren der β-Thalassämie oder auch der Sichelzellerkrankung eine klinisch relevante Rolle. Dieses Kapitel wird sich auf eine Beschreibung der α- und der β-Thalassämien beschränken. Die seltenen thalassämischen Hämoglobinvarianten werden in Kap. 13 besprochen.
14.1
Hb Gower I, Gower II und Portland sind Tetramere der α- bzw. der α-ähnlichen ζ-Ketten und der β-ähnlichen ε- und γ-Globinketten. Das fetale Hämoglobin HbF (α2γ2) wird bis zum Geburtstermin gebildet und fällt dann exponentiell und parallel zur Steigerung der adulten (α2β2) Hämoglobinsynthese ab ( Kap. 13, ⊡ Abb. 13.4). Die β-Globinketten werden in physiologisch relevanter Menge also erst postnatal gebildet, was den Zeitraum der klinischen Manifestation der β-Thalassämie meist im 2. Lebenshalbjahr erklärt. Im Gegensatz dazu sind die α-Globinketten bereits Bestandteil des fetalen Hämoglobins, so dass sich die schwere Form der α-Thalassämie pränatal als Hydrops fetalis manifestiert.
Struktur und Ontogenese der Hämoglobine
Hämoglobin ist ein tetramerer Proteinkomplex, der aus 2 Globinkettenpaaren besteht. Jede dieser Ketten trägt ein Hämmolekül mit einem Fe2+-Ion als Ligand. Im Laufe der Entwicklung des menschlichen Organismus werden unterschiedliche Hämoglobine gebildet. Die embryonalen Formen
14.2
Genetische Kontrolle der Globinsynthese
Die genetische Information für die Synthese der Globinketten befindet sich in 2 verschiedenen Regionen des Genoms auf dem kurzen Arm des Chromosoms 11 in der zytogenetisch definierten Bande 11p15 bzw. telomernah auf dem kurzen Arm des Chromosoms 16 (⊡ Abb. 14.1). Die gewebespezifische und ontogenetische Kontrolle der Hämoglobinsynthese erfolgt durch Transkriptionsproteine, die sich an spezifische Sequenzmotive der DNA in den Globingenkomplexen binden. 14.3
β-Thalassämie
14.3.1 Pathophysiologie Bei der β-Thalassämie ist die Synthese der β-Globinketten vermindert oder fehlt ganz. Die Genexpression kann an allen ihren Schritten durch über 100 verschiedene Mutationen gestört sein. Dabei kommt es einerseits zum Substratmangel bei der Hämoglobinsynthese, andererseits aber auch zum pathophysiologisch besonders bedeutsamen Überschuss an α-Globinketten. Diese sind schlecht wasserlöslich, präzipitieren bereits in den erythroiden Vorläufern im Knochenmark und führen bei homozygoten Patienten zur ineffektiven Erythropoese, d. h. zu einer intramedullären Hämolyse und schwersten Anämie (⊡ Abb. 14.2). ! Die Anämie führt zu einer erythroiden Hyperplasie des Knochenmarks, dadurch zu Skelettdeformitäten (Facies thalassaemica) und zum erhöhten Folatund Energiebedarf. Nur bei besonderen genetischen Konstellationen ( unten) kommt es zur funktionell ausreichenden Kompensation der Anämie. In der Regel besteht lebenslanger und regelmäßiger Transfusionsbedarf. Dadurch und durch eine erhöhte intestinale Eisenresorption entsteht eine Siderose, die wiederum zur Kardiomyopathie, zur Leberfibrose und zu multiplen endokrinen Ausfällen führt.
14
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
⊡ Abb. 14.1. Genetische Kontrolle der normalen Hämoglobinsynthese. 2 α- oder 2 α-ähnliche Globinketten, kodiert auf dem kurzen Arm des Chromosoms 16, verbinden sich mit 2 β- oder β-ähnlichen Ketten, die auf dem kurzen Arm des Chromosoms 11 kodiert sind. Hb Gower I und Hb Gower II sowie Hb Portland sind embryonale Hämoglobine. Das HbF findet sich in großen Mengen beim Fetus und jenseits des 6. Lebensmonats nur in Spuren. HbA und HbA2 machen mehr als 97% bzw. ≈2,5% des adulten Hämoglobins aus
⊡ Abb. 14.2. Schematische Darstellung der Pathophysiologie der β-Thalassämie
14.3.2 Klinisches Bild Der Vererbungsmodus ist autosomal-rezessiv; heterozygote Überträger sind klinisch gesund. Das Blutbild zeigt jedoch eine ausgeprägte Mikrozytose und Hypochromie der Erythrozyten ohne oder mit einer nur leichten Anämie. Als einzige mögliche Komplikation kann es bei Schwangeren zu einer behandlungsbedürftigen Anämie kommen. Das hämatologische Korrelat der heterozygoten β-Thalassämie ist somit die Thalassaemia minor, die vom Eisenmangel und anderen Ursachen der Hypochromie durch das erhöhte HbA2 unterschieden werden kann. Aus der Pathophysiologe der β-Thalassämie, d. h. aus der wichtigen Rolle des α-Globinkettenüberschusses, lässt sich jedoch erklären, warum es manchmal auch bei der heterozygoten Form zu einer stärkeren Anämie mit extramedullärer Blutbildung kommen kann ( Übersicht). Bei solchen Patienten findet man oft 5 oder 6
statt der normalen 4 α-Globingene, die einen Überschuss an α-Globinketten produzieren. Pathogenese der Thalassaemia intermedia: Homozygote β-Thalassämie Thalassämiemutationen mit einer hohen Restaktivität des β-Globingens HPFH-Mutationen α-Thalassämiedeletionen Heterozygote β-Thalassämie Triplizierte α-Globingene Autosomal-dominante β-Thalassämie Instabile β-Globinketten α-Thalassämie HbH-Krankheit
171 14 · Thalassämien
Bei der homozygoten β-Thalassämie prägt sich meist das klinische Bild einer Thalassaemia major aus. Dabei handelt es sich um eine lebenslang und regelmäßig transfusionsbedürftige Anämie, die unbehandelt noch im frühen Kindesalter zum Tode führt. Zum milderen Bild der Thalassaemia intermedia, d.h. zu einer nicht regelmäßig oder gar nicht transfusionsbedürftigen Anämie kann es allerdings auch bei der homozygoten Form kommen, wenn der α-Globinkettenüberschuss weniger stark ausgeprägt ist. Dies kann durch eine hohe Restaktivität der β-Globingene, durch eine gleichzeitig vorliegende α-Thalassämie oder durch genetische Veränderungen des β-Globingenkomplexes zustande kommen, die zu einer postnatal persistierenden γ-Globingenexpression und somit zur hereditären Persistenz der fetalen Hämoglobinsynthese (HPFH) führen. Erstmanifestation und Sicherung der Diagnose. Die Diagnose einer Thalassaemia major wird meist im 1. Lebensjahr gestellt. Etwa 20% der Patienten werden allerdings erst im 2. Lebensjahr zum ersten Mal transfundiert. Erste Symptome können eine Gedeihstörung, eine zunehmende Blässe, eine Infektneigung oder eine Auftreibung des Abdomens durch die Splenomegalie sein. Später kann es bei unzureichender Behandlung zur Wachstumsretardierung, zu Skelettanomalien, zur Kachexie und zur massiven Hepatosplenomegalie kommen. Der weitere Verlauf ohne adäquate Behandlung ist durch eine zunehmende Anämie, rezidivierende Infektionen, pathologische Frakturen, eine hämorrhagische Diathese, einen Hypersplenismus, eine Cholelithiasis und durch eine Vielfalt von Verdrängungssymptomen durch die extramedulläre Hämatopoese gekennzeichnet. Das Blutbild zeigt immer eine schwere Anämie mit einer bizarren Anisozytose und Poikilozytose. Targetzellen und Erythroblasten sind regelmäßig zu sehen (⊡ Abb. 14.3). Gesichert wird die Diagnose durch das erhöhte HbF in der Hämoglobinanalyse. Familienuntersuchungen und die Identifikation der Thalassämiemutationen haben eine Bedeutung für die genetische Beratung und die Pränataldiagnostik. In einzelnen Fällen lässt sich auch die individuelle Prognose abschätzen.
14.3.3 Therapie Seit Anfang der 60er-Jahre wird die Thalassaemia major durch Bluttransfusionen behandelt. Die sich dadurch regelmäßig entwickelnde Hämosiderose wird nach ersten Versuchen 1962 heute noch immer als Standardmedikament mit Deferoxamin therapiert. Bei Patienten mit DeferoxaminIntoleranz ist in Deutschland inzwischen das enteral resorbierbare Deferipron zugelassen. Weitere oral applizierbare Eisenchelatbildner befinden sich in der Entwicklung. ! Der Erfolg der konventionellen Therapie ist wesentlich von der Eisenelimination abhängig und hat bei optimaler Durchführung die Aussichten für Patienten mit einer Thalassaemia major soweit gebessert, dass ein Überleben bis weit in das Erwachsenenalter hinein möglich ist.
Die einzige kurative Behandlungsmodalität ist jedoch die Stammzelltransplantation, die als Therapie der Wahl zu sehen ist, sofern ein verwandter, HLA-identischer Spender zur Verfügung steht. Der Einsatz nicht verwandter, HLAidentischer Spender wird heute noch kontrovers beurteilt. Trotz vielfältiger Bemühungen spielen Substanzen zur pharmakologischen Reaktivierung der fetalen Globinsynthese bei der Thalassaemia major heute nur eine untergeordnete Rolle und finden sich lediglich in wenigen experimentellen Protokollen. Ebenso ist heute auch die somatische Gentherapie trotz einiger gerade in letzter Zeit sehr ermutigender Fortschritte im Tiermodell noch keine konkrete Option. Im Folgenden finden sich praktische Hinweise zur Durchführung der Behandlung von Patienten mit einer Thalassaemia major. Bluttransfusion Die Transfusion von Erythrozyten dient primär der Verbesserung der Oxygenierung. Weiterhin ist es ein wesentliches Ziel, die endogene Erythropoese zu supprimieren. Dadurch sollen Skelettveränderungen, die Entwicklung extramedullärer Hämatopoese und eines Hypersplenismus vermieden werden. Andererseits soll das Transfusionsvolumen bzw. die damit einhergehende Eisenzufuhr aber minimal sein. Optimaler Therapiebeginn. Wenn die Hämoglobinkonzentration ohne eine sonst erkennbare Ursache <7–8 g/dl liegt, ist damit zu rechnen, dass sich die Komplikationen der unbehandelten Thalassämie entwickeln ( oben). Diese Situation ist somit eine Indikation zur regelmäßigen Transfusion. Hält sich die Hämoglobinkonzentration >8 g/dl, kann es sich um eine Thalassaemia intermedia handeln, die unter regelmäßigen Kontrollen ein abwartendes Handeln rechtfertigt. Zur Vermeidung von Immunhämolysen bei Patienten mit chronischem Transfusionsbedarf muss darauf geachtet werden, dass auch in den Untergruppen kompatible Konserven verwendet werden. Optimale Hämoglobinkonzentration vor Transfusion (BasisHb). Ein Basis-Hb von >10 g/dl bewirkt eine Suppression der
⊡ Abb. 14.3. Peripheres Blutbild bei homozygoter β-Thalassämie
endogenen Erythropoese, einen guten Allgemeinzustand und eine gute Entwicklung der Patienten. Dies wird allerdings auch mit einem Basis-Hb von 9 g/dl bei einer allerdings um 10–20% reduzierten Eisenbelastung erreicht.
14
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Optimale Transfusionsintervalle. Zur Reduktion des Transfusionsvolumens sollten die Zeitabstände zwischen den Transfusionen so kurz wie möglich gehalten werden, müssen aber auch mit der Lebensführung des Patienten vereinbar sein. Als Kompromiss wird ein dreiwöchiger Abstand empfohlen, der rechnerisch eine 20% geringere Eisenbelastung verursacht als etwa ein Abstand von 5 Wochen. Optimale Transfusionsmenge. Es sollte soviel Erythrozytenkonzentrat gegeben werden, dass ein Basis-Hb von 9–10 g/dl nicht unterschritten wird. Bei einem Transfusionsintervall von 3 Wochen und einer Überlebenszeit der transfundierten Erythrozyten von etwa 100 Tagen bedeutet dies, dass ein Hb von 12–13 g/dl nach der Transfusion erreicht werden sollte. Das dazu benötigte Transfusionsvolumen errechnet sich nach der Formel 1:
Ery-Konzentrat [ml] (Hbsoll – Hbist [g/dl]) · KG [kg] · VkgKG [ml/kg] = 00000005 Hbkons [g/dl] Hbsoll = angestrebtes Hb nach Transfusion Hbist = Hb vor Transfusion HbKons = Hb der Erythrozytenkonserve KG = Körpergewicht Vkg KG = Blutvolumen/kg KG Das Blutvolumen kann im Steady State mit 80 ml/kg KG angenommen werden. Die meisten Konserven werden mit einem Hb von ≈27 g/dl geliefert. Formel 1 kann dann in Formel 2 vereinfacht werden: Ery-Konzentrat [ml] = (Hbsoll – Hbist [g/dl]) · KG [kg] · 3 Zu Beginn der Behandlung und bei stark anämisierten Patienten kann das Blutvolumen allerdings höher liegen, und bei manchen Präparationen liegt die Hb-Konzentration der Konserven deutlich niedriger. In solchen Fällen muss der Faktor entsprechend Formel 1 angeglichen werden. Wichtig ist in jedem Fall, die Transfusionsmenge zu dokumentieren, um den Basisbedarf für den individuellen Patienten ermitteln und einen gestiegenen Bedarf registrieren zu können. Als Differenzialdiagnose kommt dann eine Sequestration in der Milz, eine Immunhämolyse oder eine schlechte Qualität der Konserven in Betracht. Optimale Transfusionsgeschwindigkeit. Bei einem herzge-
sunden Patienten kann die Transfusion mit einer Geschwindigkeit von 5–7 ml/kg KG/h erfolgen. Bei herzinsuffizienten Patienten oder bei sehr niedrigem Ausgangs-Hb muss dies mit 2 oder 1 ml/kg KG/h sehr viel langsamer und ggf. nach Prämedikation von Furosemid geschehen. Bei einer ausgeprägten Herzinsuffizienz müssen die Transfusionsintervalle außerdem verkürzt werden. Eisenelimination Eisen ist ein Spurenelement, das für die normale Erythropoese und als Kofaktor für eine Reihe von Enzymen benötigt wird. Dabei spielt Eisen häufig eine Rolle beim Elektronentransfer. Das hohe Redoxpotenzial zwischen der Fe3+- und der Fe2+-Form und die Neigung, hochreaktive, toxische Radi-
kale entstehen zu lassen, erfordern eine effiziente Kontrolle des Eisenmetabolismus auf zellulärer Ebene und auf der Ebene des Gesamtorganismus ( Kap. 16). Normalerweise liegt der Gesamteisengehalt des Menschen bei etwa 4 g. Die Homöostase wird physiologisch auf der Ebene der intestinalen Resorption reguliert. Bei einem Gesunden werden täglich etwa 1–1,5 mg und in der Mangelsituation bis zu 15 mg Eisen aufgenommen. Über Mechanismen der Eisenelimination verfügt der Mensch nicht. Durch die Transfusionsbehandlung wird der intestinale Resorptionsblock umgangen, und es entsteht eine Eisenüberladung. 1 ml einer durchschnittlichen Erythrozytenkonserve enthält ≈1 mg Eisen. Bei einem durchschnittlichen Transfusionsbedarf von 200 ml Erythrozytenkonzentrat/Jahr und kg KG werden einem 30 kg schweren Patienten somit jedes Jahr 6 g Eisen, d. h. das 1,5fache des normalen Gesamtkörpereisens zugeführt. Zur Vermeidung der durch die Hämosiderose verursachten Organschäden an Herz, Leber und endokrinem Gewebe wird das Eisen medikamentös eliminiert. Das Standardmedikament für diesen Zweck ist der Eisenchelatbildner Deferoxamin (DFO), der als eisenbeladenes Feroxamin im Stuhl und im Urin ausgeschieden wird. Maximal kann 1 g DFO 85 mg Eisen binden. Allerdings hängt die Bindungskapazität vom Grad der Eisenüberladung und dem Vitamin-C-Status ab. Außerdem ist DFO nur bei einer Applikation als Dauerinfusion s.c. oder i.v. wirksam. Bei Patienten mit DFO-Intoleranz ist das intestinal resorbierbare und somit oral applizierbare Deferipron indiziert. Die langfristige Wirksamkeit von Deferipron ist derzeit noch weniger gut belegt als mit DFO. Es gibt jedoch erste Berichte darüber, dass Deferipron insbesondere das kardiale Eisen eliminiert und auch in einer Kombinationsbehandlung mit DFO eingesetzt werden kann. Optimaler Deferoxaminapplikationsmodus. Auch bei einer
massiven Eisenüberladung befindet sich nur ein kleiner Teil des Eisens im so genannten chelierbaren Pool, der sich nur langsam nachfüllt. Außerdem beträgt die Halbwertzeit von DFO nur 75 min. Aus diesen Gründen sind i.m. Bolusapplikationen nur wenig wirksam und einer s.c. oder einer i.v. Dauerinfusion über 12–14 h weit unterlegen. Oral ist DFO unwirksam. Tipp für die Praxis Als praktisches Vorgehen hat sich die tägliche Infusion mit einer tragbaren Pumpe über 10–12 h in der Nacht bewährt. Bei Patienten mit einer Kardiomyopathie kann auch eine über 24 h durchgeführte i.v. Therapie unter Benutzung eines Port-a-cath-Systems erfolgen.
Optimale Deferoxamindosis. Grundsätzlich sind die Neben-
wirkungen von DFO von der verwendeten Dosis und von der Eisenbelastung abhängig. Leider ist die Serumferritinkonzentration insbesondere bei fortgeschrittener Siderose kein zuverlässiger quantitativer Parameter für das Ausmaß der Eisenbeladung. Die empfohlene tägliche Dosis für die Standardbehandlung beträgt 40 mg/kg KG. Dosismodifikationen können in Abhängigkeit von dem tatsächlich nachgewiesenen Ausmaß der Hämosiderose abhängig gemacht werden. Diese Messung kann entweder chemisch im Leberbiopsat
173 14 · Thalassämien
oder nicht-invasiv mit einem SQUID (»superconducting quantum-interference device«) durchgeführt werden. ▬ Die DFO-Therapie sollte bei einer Leber-Eisenkonzentration >3 mg/g Lebertrockengewicht mit einer Dosis von 25 mg/kg KG 5-mal pro Woche begonnen werden. Dies ist nach einem Jahr regelmäßiger Transfusionsbehandlung zu erwarten. ▬ Bei einer Leber-Eisenkonzentration von 7–15 mg/g sollte die Dosis auf 40 mg/kg KG 6–7-mal pro Woche gesteigert werden. Dies ist in der Regel bei Serumferritinkonzentrationen von 1000 µg/l erreicht. ▬ Bei Leber-Eisenkonzentrationen von >15 mg/g wird die Dosis auf 50 mg/kg KG 7-mal/Woche gesteigert werden. Zusätzlich kann die Behandlungsintensität gesteigert werden, indem die Infusionsdauer bei gleicher Dosierung verlängert wird. In der Vergangenheit gelegentlich eingesetzte höhere Dosierungen sind nicht sicher stärker effektiv und mit teils gefährlichen Nebenwirkungen belastet. Die Eisenelimination ist bei Vitamin-C-Mangel weniger effektiv. Bei einer hierzulande üblichen Diät ist ein VitaminC-Mangel jedoch nicht zu erwarten, so dass eine Substitution in der Regel nicht erforderlich ist. In Zweifelsfällen sollte eine tägliche Gabe von 100 mg Ascorbinsäure p.o. erfolgen. Das Problem der mangelnden Therapieadhärenz. Die Eisen-
eliminationstherapie ist aufwendig, unangenehm und erfordert eine hohe Kooperationsbereitschaft der Familie und des Patienten. Bei vielen Patienten misslingt die dazu nötige Motivierung, was mit einer hohen Rate psychosomatischer und psychiatrischer Störungen assoziiert ist. Eine sorgfältige Überprüfung der Therapieadhärenz durch eine sorgfältige Anamnese und Dokumentation der DFO-Rezeptierung sowie eine angemessene psychotherapeutische Intervention kann diese Situation bessern.
einer Osteoporose und anderer Skelettveränderungen beschrieben. Wieweit hier eine kausale Verknüpfung besteht, ist allerdings schwierig zu beurteilen, da auch die Grundkrankheit zur Osteoporose und zum Hypoparathyreoidismus führt. Das Wachstum von Yersinia enterocolitica ist eisenabhängig und kann durch DFO gefördert werden. Infektionen mit diesem Erreger sind bei DFO-behandelten Patienten daher nicht selten. Bei akuten fieberhaften Erkrankungen, v. a. mit Halsschmerzen, Diarrhö, Erbrechen und Bauchschmerzen sollte die DFO-Therapie daher unterbrochen werden. Bei sehr hoch-dosierten Behandlungen (>240 mg/kg KG) sind fatal verlaufende restriktive Ventilationsstörungen der Lunge beschrieben. Eisenelemination mit Deferipron. In Deutschland ist Deferipron zur Eisenelimination bei Patienten zugelassen, bei denen Kontraindikationen bzw. eine Intoleranz gegenüber DFO besteht. Deferipron ist oral resorbierbar, somit oral applizierbar. Deferipron führt zu einer Eisenelimination über den Urin und wird in einer Dosis von 3-mal 25 mg/kg KG eingesetzt. Selbstverständlich ist der orale Applikationsmodus dieses Medikaments jedoch ein sehr vorteilhaftes Charakteristikum, das bei einzelnen Patienten zu einer erheblichen Steigerung der Therapieadhärenz führt. Darüber hinaus ist Deferipron mit DFO kombinierbar (DFO 40–50 mg/kg KG 2-mal wöchentlich plus 3-mal 25 mg/kg KG Deferipron täglich) und führt so zu einer negativen Eisenbilanz. Grundsätzlich muss hier jedoch bedacht werden, dass es für diesen Vorgehen keine langfristigen systematischen Daten bezüglich der Wirksamkeit oder auch des Nebenwirkungsprofils gibt. Häufig kommt es bei mit Deferipron behandelten Patienten zu Übelkeit, Arthralgie und zu einer, wenn auch seltenen, so jedoch grundsätzlich lebensbedrohenden Agranulozytose. Quantifizierung der Hämosiderose. Der empfindlichste Pa-
Deferoxaminnebenwirkungen. Am häufigsten kommt es zu
lokalen, juckenden oder schmerzhaften Hautrötungen und Indurationen an der Infusionsstelle. Eine tief subkutane Platzierung der Nadel ist wichtig, um diese unangenehmen Begleiterscheinungen zu vermeiden. Reicht das nicht aus, sollte der Infusionslösung eine geringe Menge Glukokortikoide zugesetzt werden. Eine erhebliche Morbidität kann durch die ototoxischen Nebenwirkungen des DFO entstehen (Tinnitus, Innenohrschwerhörigkeit zunächst im Hochtonbereich), v. a. wenn hohe Dosierungen bei nur geringer Eisenbelastung gegeben werden. In diesen Fällen sollte die DFO-Therapie für 4 Wochen ausgesetzt und dann mit einer reduzierten Dosis fortgeführt werden. Dennoch sind diese Nebenwirkungen leider oft nicht reversibel. Seltener kann es zu okulotoxischen Nebenwirkungen kommen (Katarakt, Pigmentverschiebungen in der Retina, Einschränkungen des Gesichtsfeldes, des Farben- und Nachtsehens sowie des Visus). Diese Komplikationen sind nach einem Aussetzen der Therapie und einer anschließenden Dosisreduktion aber meist reversibel. Bei zu hohen Dosierungen kann es auch zu Knochenund Gelenkschmerzen und zur Reduktion der Wachstumsgeschwindigkeit kommen. Ebenso werden Assoziationen
rameter für die Diagnose einer Eisenüberladung ist die Transferrinbindungskapazität, die jedoch schon sehr früh ein Plateau erreicht und daher für die Verlaufskontrolle von Patienten mit einer Thalassaemia major nicht geeignet ist. Eine direkte Messung der Eisenbelastung ist durch die Analyse eines Leberbiopsats möglich, wegen der Belastung des Patienten und der Risiken aber nur in besonderen Situationen angemessen. Nicht-invasiv kann die Lebereinsenkonzentration mit einem »superconducting quantum interference device« (SQUID) gemessen werden. Diese Messung korreliert in exzellenter Weise mit der direkt gemessenen Lebereisenkonzentration. Sie erlaubt die nicht-invasive und damit serielle Bestimmung des Lebereisens und ist für die Steuerung der Eiseneliminationstherapie somit ideal geeignet. Der technische Aufwand dieser Messmethode ist jedoch erheblich, so dass das SQUID in Deutschland aktuell nur an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf verfügbar ist. Das Serumferritin ist erheblichen Tagesschwankungen unterlegen und kann nur begrenzt zur Verlaufskontrolle der Eisenbeladung verwendet werden. Statistisch besteht zwar eine recht gute Korrelation der Serumferritinkonzentration mit dem Gesamtkörpereisen bis ≈20 g, die Streuung ist jedoch erheblich. Funktionelle Parameter der Eisenbelastung wie etwa eine sonographisch oder nuklearmedizinisch er-
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
fassbare Kardiomyopathie und endokrine Ausfälle sind sämtlich Spätzeichen einer schweren Hämosiderose. Splenektomie Ohne eine ausreichende Transfusionsbehandlung kommt es regelmäßig und früh zum Hypersplenismus. Aber auch mit Transfusionen auf eine Basis-Hb >10 g/dl entwickeln die meisten Patienten einen Transfusionsbedarf von >200 ml Erythrozyten/kg KG und Jahr, der nach der Splenektomie auf etwa 150–160 ml bzw. um etwa 20% gesenkt werden kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur genauen Dokumentation des Transfusionsbedarfs und ggf. die Indikation zur Splenektomie mit dem Ziel, die zugeführte Eisenmenge zu begrenzen. Andere seltenere Indikationen zur Splenektomie sind ein Hyperspleniesyndrom mit Panzytopenie, Schmerzen oder mechanische Behinderungen. Zur Prophylaxe der Postsplenektomiesepsis ist mindestens 6 Wochen vor der Operation eine Impfung gegen Pneumokokken und Haemophilus influenzae der Gruppe B und danach eine p.o. oder i.m. durchgeführte Penicillinprophylaxe nötig. Bei fieberhaften Erkrankungen muss v. a. bei einer intestinalen Symptomatik auch an eine schwere Yersinia-enterocolitica-Infektion gedacht und bei der Wahl des Antibiotikums berücksichtigt werden. 14.3.4 Diagnose und Therapie der Komplikationen ! Die Mortalität der β-Thalassämie geht in erster Linie auf die Hämosiderose des Herzens zurück. Weitere Todesursachen sind Infektionen und eine chronische Lebererkrankung sowie andere seltene Ereignisse. Zusätzlich entsteht jedoch eine erhebliche Morbidität durch endokrine Ausfälle.
bensjahr. Als Mechanismus kann ein siderosebedingter Wachstumshormonmangel oder eine verminderte hepatische Synthese von Somatomedin sein. Kleinwuchs ist per se keine absolute Indikation für eine Intensivierung der Eiseneliminationstherapie. Allerdings ist diese Komplikation häufig mit anderen Erscheinungen der Hämosiderose assoziiert. Meist ist mit einer präpuberalen Wachstumsverzögerung auch eine Pubertas tarda assoziiert. Als Pathogenese konnte sowohl eine gestörte hypothalamo-hypophysäre Funktion als auch eine Insuffizienz der Zielorgane nachgewiesen werden. Eine verzögerte Pubertätsentwicklung stört die normale gesellschaftliche Integration und kann zu schweren Depressionen führen. Testosteron bzw. Östrogene sollten bei Jungen mit einem Knochenalter von 13 oder bei Mädchen mit 11 Jahren substituiert werden, wenn präpuberale TannerStadien, Hodenvolumina <3 ml bzw. eine Amenorrhö und ein inadäquater Gonadotropinanstieg nach LHRH-Gabe vorliegen. Bei Jungen sollte mit 50 mg Testosteron einmal im Monat i.m. für 3 Monate begonnen werden, um einen pubertären Wachstumsschub auszulösen. Kommt es dann nicht zu einer spontanen Pubertätsentwicklung, so sollte man unter Kontrolle des Skelettalters eine Dauertherapie mit zunächst 50 mg und dann 100 mg Testosteron einleiten. Liegt kein primärer Hypogonadismus vor (HCG-Test), so kann auch eine Pubertätseinleitung mit HCG/FSH erfolgen. Dabei kommt es zur Hodenreifung und zur spontanen Testosteronproduktion. Bei Mädchen kann Ethinylöstradiol in einer Dosis von 2,5 µg/Tag für 3–6 Monate mit einer Steigerung auf 5 und dann 10–20 µg in Kombination mit einem Gestagen gegeben werden, ohne das Längenwachstum zu beeinträchtigen. Hypothyreose. Eine Unterfunktion der Schilddrüse ist bei
Kardiomyopathie. Diese Komplikation manifestiert sich ent-
weder als atriale oder ventrikuläre Arrhythmie, als AV-Block oder als Herzinsuffizienz. Echokardiographische Veränderungen sind zunächst als diastolische Restriktion der linksventrikulären Füllung und dann in der Systole als Verminderung der »shortening fraction« bzw. des Auswurfvolumens zu erkennen. Etwas empfindlicher sind nuklearmedizinische Untersuchungen unter Belastung. Die Therapie erfolgt symptomatisch mit Digitalispräparaten und Antiarrhythmika. Als kausaler Ansatz kann eine kontinuierlich i.v. durchgeführte DFO-Therapie versucht werden, die eine Verminderung der Eisenüberladung und eine Verbesserung der Herzfunktion erbringen kann. Diabetes mellitus. Diese Komplikation tritt v. a. bei Patienten
mit schwerer Hämosiderose, Leberfunktionsstörungen und einer genetischen Belastung auf. Als pathogenetischer Mechanismus wird eine frühe Insulinresistenz und eine zunehmende β-Zellerschöpfung angenommen. Wenn die orale Glukosebelastung eine gestörte Glukosetoleranz zeigt, dauert es meist nur noch wenige Monate bis zur Manifestation eines Diabetes mellitus, der zunächst mit oralen Antidiabetika, sehr bald aber auch mit Insulin behandelt werden muss. Kleinwuchs und Pubertas tarda. Meist manifestiert sich ein Abweichen von der bis dahin verfolgten Perzentile im 12. Le-
älteren eisenüberladenen Patienten häufig und wird mit den üblichen Methoden diagnostiziert. Bei einer subklinischen Hypothyreose kann man versuchen, mit einer Intensivierung der Eiseneliminationsbehandlung eine Besserung der Schilddrüsenfunktion zu erreichen. Sonst ist eine Substitutionstherapie erforderlich. Hypoparathyreodismus. Auch diese Komplikation ist bei äl-
teren Patienten häufig und meist mit Symptomen der Osteoporose wie pathologische Frakturen oder Rückenschmerzen assoziiert. Die Behandlung erfolgt mit Vitamin D. Daten großer und langfristiger Studien zum Einsatz von Bisphosphonaten gibt es nicht. Erste Untersuchungsergebnisse mit wenigen Patienten weisen jedoch darauf hin, dass eine monatliche i.v. Gabe von 30 mg Pamidronsäure zu einer Erhöhung der Knochendichte führt. 14.3.5 Knochenmarktransplantation ! Die allogene Knochenmarktransplantation ist die einzige kurative Behandlung der homozygoten β-Thalassämie. Eindeutig indiziert ist die Transplantation mit einem HLA-identischen verwandten Spender. In diesen Fällen sollte die Transplantation möglichst noch vor dem Schulalter durchgeführt werden, da
175 14 · Thalassämien
die Behandlungsergebnisse bei jungen, noch wenig eisenbeladenen Patienten besser sind als bei älteren Patienten mit einer ausgeprägten Hämosiderose.
Modifizierte Konditionierungsregimes haben jedoch das Risiko auch bei der älteren Patientengruppe deutlich senken können, so dass ein höheres Lebensalter bzw. eine stärker ausgeprägte Hämosiderose per se keine Kontraindikation für die Durchführung der Stammzelltransplantation darstellen. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang auch, dass Transfusionsunabhängigkeit auch mit einem gemischten Chimärismus erreicht werden kann. Kontroverser wird der Einsatz nicht HLA-verwandter Spender bei der Thalassaemia major beurteilt. Das Mortalitätsrisiko und auch die Morbidität einer »graft versus host disease« (GVHD) ist bei diesem Behandlungsmodus sicherlich höher. Allerdings gibt es auch hier ermutigende Serien erfolgreich behandelter Patienten. Bei erfolgreich transplantierten Patienten mit einer erheblichen Hämosiderose ist eine Aderlasstherapie zur Eisenelimination indiziert, die 2 Jahre nach der Transplantation begonnen werden kann.
⊡ Abb. 14.4. Aufweitung der Diploe mit Bürstenschädel bei Thalassaemia intermedia
14.3.6 Genetische Beratung Die β-Thalassämie wird bis auf die seltenen Ausnahmen der dominanten β-Thalassämie autosomal-rezessiv vererbt und trägt somit ein 25%iges Wiederholungsrisiko. Eine Pränataldiagnostik durch eine DNA-Analyse von Chorionzottengewebe oder kultivierten Amniozyten ist möglich. 14.3.7 Psychosoziale Unterstützung Für die gesellschaftliche Integration der Patienten ist eine individuelle Betreuung und schulische/berufliche Beratung der Patienten und des sozialen Umfeldes vonnöten. Dabei muss eine Überprotektion jedoch vermieden werden, um die Entwicklung einer selbstständigen Persönlichkeit zu ermöglichen. Praktisch ist es wichtig, die Patienten regelmäßig und ihren sich altersentsprechend entwickelnden intellektuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen angepasst in die Aufklärungsgespräche einzubeziehen. 14.3.8 Behandlung der Thalassaemia intermedia Die Behandlung von Patienten, die aufgrund einer hohen Restaktivität ihrer β-Globingene, einer HPFH oder einer zusätzlich vererbten α-Thalassämie auch ohne Transfusion auskommen, ist paradoxerweise besonders schwierig. Bei vielen Patienten hält sich die Hb-Konzentration nur durch eine maximale Hyperplasie der medullären und extramedullären Erythropoese in einem Bereich zwischen 6 und 9 g/dl. Dadurch entstehen irreversible Skelettanomalien z.B. eines Bürstenschädels (⊡ Abb. 14.4), evtl. aber auch mit pathologischen Frakturen. Ein besonderes Problem sind auch Kompressionssyndrome des Rückenmarkes. Weiterhin entwickeln diese Kinder besonders häufig eine Cholelithiasis und gelegentlich auch eine Hyperurikämie, Ulcera cruris und rezidivierende Infektionen.
Andererseits entsteht die Hämosiderose mit ihren Komplikationen trotz der erhöhten intestinalen Eisenresorption ohne eine Transfusionsbehandlung natürlich sehr viel später und weniger ausgeprägt als bei regelmäßig transfundierten Patienten. Leider ist es nicht möglich, den zu erwartenden klinischen Verlauf primär abzuschätzen und von vorneherein Therapieempfehlungen zu geben. Im Verlauf ergibt sich die Indikation zur regelmäßigen Transfusionsbehandlung, wenn sich Wachstumsstörungen, schwere Skelettveränderungen, pathologische Frakturen oder Pseudotumoren extramedullärer Hämatopoese entwickeln. Meist korreliert dies mit einem Hb, das dauerhaft unter 7–8 g/dl liegt. Das Transfusionsschema entspricht dann dem der Thalassaemia major. Bei einem Hypersplenismus ergibt sich die Indikation zur Splenektomie. Extramedulläre Pseudotumoren müssen meist bestrahlt oder operiert werden, da sie oft auch unter einer Transfusionstherapie nicht zurückgehen. Wegen der erhöhten intestinalen Eisenresorption sollte eine eisenarme Diät eingehalten werden. Eine Eiseneliminationstherapie sollte bei einem Lebereisengehalt von >5 mg/g Trockengewicht oder einer Serumferritinkonzentration von >1000 µg/l eingeleitet werden. Bei nicht dauerhaft transfundierten Patienten kann die Dosis und die Häufigkeit der DFO-Therapie im Vergleich zur Behandlung der Thalassaemia major jedoch reduziert werden. 14.3.9 Ausblick Die Therapie der β-Thalassämie hat sich in den letzten 40 Jahren nach Einführung der regelmäßigen Transfusionstherapie sehr zum Vorteil der betroffenen Patienten entwickelt. Die wichtigsten Meilensteine waren bisher die Einführung des DFO und der Stammzelltransplantation. Auch die Zulassung des enteral resorbierbaren Deferipron hat die Lebensqualität vieler Patienten erheblich verbessert. Weitere
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Entwicklungen oral applizierbarer Eiseneliminatoren mit größerer Effektivität, einem verbesserten Nebenwirkungsprofil und einer Verringerung der täglich einzunehmenden Substanzmenge sind hier auf dem Wege. Hoffnungen verbinden sich auch mit der pharmakologischen Reaktivierung der fetalen Globingene durch kurzkettige Fettsäuren. Bislang gibt es jedoch noch keine Behandlungsprotokolle, die eine ausreichende Wirksamkeit bei Patienten mit einer Thalassaemia major erkennen lassen. Nachdem im Jahre 1979 das β-Globingen als erstes menschliches Gen mittels rekombinanter DNA-Technologie kloniert werden konnte, wurden früh Hoffnungen auf eine klinische Entwicklung der somatischen Gentherapie der Thalassaemia major geweckt. Das besondere Problem der Thalassämien liegt jedoch in der ausgesprochenen Gewebespezifität der Globingenexpression und darin, dass für eine klinisch relevante Wirkung eine sehr hohe Expression erreicht werden muss. Trotz einer detaillierten Kenntnis der molekularen Anatomie und Physiologie der Globingene ist es bisher jedoch noch nicht gelungen, in klinischen Protokollen eine quantitativ ausreichende und stabile Expression exogener Globine im Knochenmark zu erreichen. Derzeitige Bemühungen richten sich v. a. auf ein Vektor-Design, das eine stabile Integration und eine hochgradige Expression der fremden DNA erlaubt. In der Beratung von Patienten und in der Planung der Therapie darf die Perspektive auf eine somatische Gentherapie gegenwärtig jedoch noch keine Rolle spielen. 14.4
α-Thalassämie
! Die α-Thalassämie ist durch eine reduzierte oder fehlende α-Globinkettensynthese gekennzeichnet. Sie tritt häufig in den tropischen und subtropischen Endemiegebieten der Malaria auf.
14.4.1 Pathophysiologie und Klinik Die fehlende α-Globinkettensynthese führt zum relativen Überschuss von γ- oder β-Ketten, die die Homotetramere Hb Bart’s (γ4) bzw. HbH (β4) bilden. Weder Hb Bart’s noch HbH zeigen einen kooperativen Effekt bei der Sauerstoffbindung und funktionieren daher nicht als Sauerstofftransporter. Darüber hinaus ist die Löslichkeit dieser Homotetramere in den erythroiden Zellen geringer als die des HbA. Die daher ausfallenden Überschusshämoglobine führen zu Schädigungen der Erythrozytenmembran und zur hämolytischen Anämie. Das klinische Bild der α-Thalassämie wird durch die Zahl der noch funktionierenden α-Globingene determiniert. Das Spektrum umfasst den intrauterinen Fruchttod bei einer Inaktivierung aller 4 α-Globingene (Hb-Bart's-Hydrops fetalis), die Thalassaemia intermedia bei der Inaktivierung von 3 Genen (HbH-Krankheit), die Thalassaemia minor bei noch 2 funktionierenden α-Globingenen und eine klinisch und hämatologisch nicht fassbare Form bei erhaltener Funktion von 3 α-Globingenen. Eine weitere klinisch wichtige Eigenheit der α-Thalassämie ist ihr Einfluss auf den Verlauf anderer Hämoglobino-
pathien, wie der β-Thalassämie oder der Sichelzellerkrankung. Die Mitvererbung einer α-Thalassämie führt zu einer besseren Hämoglobinisierung der Erythrozyten bei der heterozygoten β-Thalassämie, zu einem relativ milden klinischen Bild der homozygoten β-Thalassämie und beeinflusst die Ausprägung der homozygoten Sichelzellerkrankung. 14.4.2 Molekulare Pathologie Molekulargenetisch ist auch die α-Thalassämie ausgesprochen heterogen. Am häufigsten ist die Deletion eines der beiden eng aneinander gekoppelten α-Globingene durch ein ungleiches Crossing-over während der Meiose. Die beiden α-Globingene (αα) liegen jeweils innerhalb eines ca. 4 Kb langen DNA-Abschnittes, in der 2 verschiedene, als X- bzw. Z-Box bezeichnete Sequenzelemente phylogenetisch hoch konserviert erhalten geblieben sind. Zwischen diesen homologen Sequenzelementen können während der Meiose Rekombinationsereignisse auftreten. Abhängig von der Lokalisation dieser Rekombinationsereignisse kommt es zu einer Deletion von 3,7 Kb (-α3,7) oder von 4,2 Kb (-α4,2). Beide Läsionen führen zur Deletion nur eines der beiden gekoppelten α-Globingene (α+-Thalassämie). Es ist bemerkenswert, dass die unterschiedlich hohe Expression der beiden α-Globingene im normalen αα-Gen-Arrangement bei den Deletionen fast aufgehoben ist. Phänotypisch unterscheiden sich die -α3,7 und die -α4,2-Deletionen daher kaum. Neben diesen beiden häufigen sind derzeit weitere 3 seltene Deletionen und etwa 50 Punktmutationen bekannt, die zu einer teilweisen Inaktivierung des α-Globingenkomplexes führen (α+-Thalassämie). Andere Deletionen entstehen durch nicht homologe Rekombinationsereignisse und betreffen meist beide α-Globingene und führen somit zur vollständigen Inaktivierung des betroffenen α-Globingenkomplexes (α°-Thalassämie). Interessanterweise ist das Vorkommen der α°-Deletionen geographisch sehr begrenzt. So kommt eine der häufigeren α°Deletionen vornehmlich im Mittelmeerraum (–MED) und eine andere in Südostasien (–SEA) vor. Es gibt Hinweise dafür, dass die α°-Deletionen nur jeweils einmal entstanden sind und sich dann durch den Selektionsdruck der Malaria in definierten Bevölkerungsgruppen verbreiten konnten. Dies kontrastiert mit den durch homologe Rekombination verursachten α+-Deletionen, die weltweit wohl mehrmals unabhängig voneinander entstanden sind. Die α+-Deletionen, v. a. die α3,7-Form, sind daher weltweit fast ubiquitär zu finden, wenn auch sehr viel häufiger in endemischen Gebieten für die Malaria. Punktmutationen der α-Globingene (αT) sind im Vergleich zu den Deletionen selten. Sie betreffen verschiedene Schritte der Genexpression und finden sich vornehmlich im α2-Globingen. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich in der untergeordneten Rolle des α1-Gens, dessen isolierte Inaktivierung phänotypisch kaum auffällt. Interessanterweise kann das α1-Gen bei der Inaktivierung von α2 nicht wie bei den Deletionsformen der α-Thalassämie kompensatorisch aufgewertet werden. Daher wirkt sich eine αT-Thalassämie phänotypisch stärker aus als die -α3,7 und die -α4,2-Deletionen. Vom mutierten Chromosom kommen hier nicht 50%, sondern nur etwa 30% der normalen Expression.
177 14 · Thalassämien
14.4.3 Diagnostik Für die Diagnose bei den schweren Verlaufsformen der α-Thalassämie liefert das charakteristische klinische und hämatologische Bild wichtige Anhaltspunkte. Der Hb-Bart’sHydrops fetalis ist durch eine schwere pränatale Anämie gekennzeichnet (⊡ Abb. 14.5), die ohne eine intrauterin durchgeführte Transfusionsbehandlung zur Totgeburt oder zu einem frühen postnatalen Tod führt. Bei der Obduktion findet sich ein meist generalisierter Hydrops, eine ausgeprägte Hepatomegalie und eine starke Ablagerung von Hämosiderin, die auf eine schwere hämolytische Anämie hinweist. Das Hämoglobin besteht hauptsächlich aus dem γ-Globinkettenhomotetramer Hb Bart’s (γ4) und Spuren des β-Globinkettenhomotetramers HbH (β4). HbA und HbF fehlen. Die HbH-Krankheit ist durch eine hämolytische Anämie unterschiedlicher Ausprägung gekennzeichnet. Das instabile HbH kann in vitro durch Redoxagenzien wie Brilliantcresylblau präzipitiert und in charakteristischer Weise im Blutausstrich sichtbar gemacht werden (⊡ Abb. 14.6). Außerdem kann das sehr instabile HbH in der alkalischen Hämoglobinelektrophorese frisch entnommenen Blutes an seiner schnellen Wanderungsgeschwindigkeit erkannt werden.
Während das Hb-Bart’s-Hydrops-fetalis-Syndrom und die HbH-Krankheit durch relativ einfache klinische und hämatologische Methoden diagnostiziert werden können, sind die Formen der α-Thalassämie mit 2 oder 3 funktionierenden α-Globingenen sehr viel schwieriger zu identifizieren. Obwohl bei statistischer Betrachtung eine gewisse Hypochromie und Mikrozytose vorliegt, überschneiden sich die Verteilungen von MCH und MCV von Personen mit einer α-Thalassämie oder einem normalen α-Globingenotyp soweit, dass eine individuelle Diagnose in der Regel nicht sichergestellt werden kann. Das gleiche gilt für die Untersuchung der Hämoglobinkettensynthese. Bei Neugeborenen kann Hb Bart's als schnell wandernde Bande in der Hämoglobinelektrophorese einen Hinweis auf das Vorliegen einer α-Thalassämie liefern. Werte über 5% im Nabelschnurblut sind mit einer α-Thalassämie assoziiert. Die Quantifizierung von Hb Bart’s erlaubt es jedoch nicht, den α-Globingenotyp zu bestimmen und kann auch nicht für die Diagnose älterer Patienten verwendet werden. Letztlich können bei manchen Personen mit einer milden Form der α-Thalassämie nach einer Brilliantcresylblaufärbung des peripheren Blutausstriches wenige HbH-Körper gefunden werden. Die Sensitivität dieses Tests ist jedoch nicht ausreichend, um eine milde α-Thalassämie mit Sicherheit auszuschließen. ! Die einzige sichere Methode für die Diagnose der milden α-Thalassämien ist die DNA-Analyse, durch die die Struktur der α-Globingene direkt determiniert werden kann. Für die häufigen Deletionsformen der α-Thalassämie können die sehr robuste Southern-Blot-Analyse restriktionsverdauter genomischer DNA oder spezifische PCR-Reaktionen verwendet werden.
Die selteneren Punktmutationen des α2-Globingens können nach einer spezifischen PCR-Amplifikation durch DNASequenzierung erkannt werden. ⊡ Abb. 14.5. Peripherer Blutausstrich bei Hb-Bart‘s-Hydrops fetalis
14.4.4 Therapie
⊡ Abb. 14.6. HbH-Zellen im Brilliantcresylblau gefärbten Blutausstrich
Beim Hb-Bart’s-Hydrops fetalis sind bereits intrauterin Transfusionen erforderlich, die postnatal analog der Behandlung der β-Thalassämie weitergeführt werden müssen. Ebenso wie bei der β-Thalassämie ist bei der konservativen Behandlung eine Begleitmedikation zur Eisenelimination nötig. Die einzig kurative Behandlung ist die Stammzelltransplantation. Die meisten Patienten mit der hämolytischen Anämie einer HbH-Krankheit sind klinisch unbeeinträchtigt und benötigen keine spezifische Behandlung. Auf eine ausgewogene Ernährung mit einer ausreichenden Folsäurezufuhr ist jedoch zu achten. Insbesondere kleinere Kinder können an hämolytischen Epsioden erkranken, die auch transfusionsbedürftig sein können. In diesen Fällen sollte auch an einen komplizierenden Glukose-6-Phosphatdehydrogenase (G6PD)-Mangel gedacht werden. In Patienten mit Hyperspleniesyndrom kann die Hb-Konzentration durch eine Splenektomie erhöht werden. Dies muss jedoch mit den dann entstehenden Thrombose- und PostsplenektomiesepsisRisiko abgewogen werden. Darüber hinaus ist eine an den
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Symptomen (Ulcera cruris, Cholelithiasis) orientierte supportive Therapie nötig. Menschen mit einer α-Thalassaemie minor oder minima benötigen keine Behandlung.
Die Therapie der Thalassämien hat sich in den letzten 40 Jahren nach Einführung der regelmäßigen Transfusionstherapie sehr zum Vorteil der betroffenen Patienten entwickelt. Die wichtigsten Meilensteine waren bisher die Einführung des DFO und der Stammzelltransplantation. Auch die Zulassung des enteral resorbierbaren Deferipron hat die Lebensqualität vieler Patienten erheblich verbessert. Weitere Entwicklungen oral applizierbarer Eiseneliminatoren mit größerer Effektivität, einem verbesserten Nebenwirkungsprofil und einer Verringerung der täglich einzunehmenden Substanzmenge sind hier auf dem Wege. Hoffnungen verbinden sich auch mit der pharmakologischen Reaktivierung der fetalen Globingene durch kurzkettige Fettsäuren. Bislang gibt es jedoch noch keine Behandlungsprotokolle, die eine ausreichende Wirksamkeit bei Patienten mit einer Thalassaemia major erkennen lassen. Nachdem im Jahre 1979 das β-Globingen als erstes menschliches Gen mittels rekombinanter DNA-Technologie kloniert werden konnte, wurden früh Hoffnungen auf eine klinische Entwicklung der somatischen Gentherapie der Thalassaemia major geweckt. Das besondere Problem der Thalassämien liegt jedoch in der ausgesprochenen Gewebespezifität der Globingenexpression und darin, dass für eine klinisch relevante Wirkung eine sehr hohe Expression erreicht werden muss. Trotz einer detaillierten Kenntnis der molekularen Anatomie und Physiologie der Globingene ist es bisher jedoch noch nicht gelungen, in klinischen Protokollen eine quantitativ ausreichende und stabile Expression exogener Globine im Knochenmark zu erreichen. Derzeitige Bemühungen richten sich v. a. auf ein Vektor-Design, das eine stabile Integration und eine hochgradige Expression der fremden DNA erlaubt. In der Beratung von Patienten und in der Planung der Therapie darf die Perspektive auf eine somatische Gentherapie gegenwärtig jedoch noch keine Rolle spielen.
Literatur Anderson LJ, Wonke B, Prescott E et al (2002) Comparison of effects of oral deferiprone and subcutaneous desferrioxamine on myocardial iron concentrations and ventricular function in betathalassaemia. Lancet 360:516–520 Chui DHK, Waye JS (1998) Hydrops fetalis caused by α-thalassemia: an emerging health care problem. Blood 91:2213–2222 Hochedlinger K, Jaenisch R (2003) Nuclear transplantation, embryonic stem cells, and the potential for cell therapy. N Engl J Med 349: 275–286 Mourad FH, Hoffbrand AV, Sheikh-Taha M et al (2003) Comparison between desferrioxamine and combined therapy with desferrioxamine and deferiprone in iron overloaded thalassaemia patients. Br J Haematol 121:187–189 Olivieri NF, Brittenham GM (1997) Iron-chelating therapy and the treatment of thalassemia. Blood 89:739–761
Olivieri NF (1999) The β-thalassemias. N Engl J Med 341:99–109 Reich, S, Bührer C, Vetter B et al (2000) Oral isobutyramide reduces transfusion requirements in some patients with homozygous β-thalassemia. Blood 96:3357–3363 Steinberg MH, Forget BG, Higgs DR, Nagel RL (2001) Disorders of hemoglobin. Genetics, pathophysiology, and clinical management. Cambridge University Press, Cambridge Voskaridou E, Terpos E, Spina G et al (2003) Pamidronate is an effective treatment for osteoporosis in patients with beta-thalassaemia. Br J Haematol 123:730-737
179
Sichelzellkrankheit R. Dickerhoff, A.E. Kulozik
15.1 15.2 15.3 15.4 15.5
Definition – 179 Genetische Grundlagen – 179 Epidemiologie – 179 Pathophysiologie – 180 Klinische Manifestationen – 180
15.5.1 15.5.2 15.5.3 15.5.4
Chronische hämolytische Anämie – 180 Vasookklusion bzw. Sequestration – 180 Erhöhte Infektionsneigung – 181 Wachstum und Schwangerschaft – 181
15.6
Krankheitsverlauf modifizierende Faktoren – 181
15.6.1 15.6.2
Genetische Faktoren – 182 Umweltfaktoren – 182
15.7 15.8
Diagnose – 182 Therapie – 182
15.8.1 15.8.2 15.8.3
Prävention – 182 Symptomatische Therapie – 183 Stammzelltransplantation – 184
15.9 Prognose – 184 15.10 Zukünftige Entwicklung Literatur – 184
– 184
Schmerzmedikament ist auch zu spüren, aber es ist zu wenig. Nur keiner hört auf mich. Ich schreie noch immer. Warum helfen die mir nicht? Warum lassen sie sich nicht von mir helfen? D.C., eine türkische Sichelzellpatientin, beschreibt eine Schmerzkrise.
15.1
Definition
Die Sichelzellkrankheit ist eine erbliche Hämoglobinopathie, der das pathologische Hämoglobin S (HbS) zugrunde liegt – entweder in homozygoter (HbSS) oder in compound heterozygoter Form, d. h. in Kombination mit einer β-Thalassämie – oder einer anderen Mutation im β-Globinlokus (HbC, HbD, Hb Lepore, HbO Arab). Sie ist inzwischen weltweit verbreitet, auch in Nordeuropa. Die heterozygote Trägerschaft hat keinen Krankheitswert. 15.2
Genetische Grundlagen
Es ist ein ganz normaler Tag. Ich habe viel geleistet und gehe ins Bett. Ich ordne meine Gedanken für den nächsten Tag und schlafe ein. Plötzlich der Albtraum, ich spüre Schmerzen, sehr heftige. Gemein, mich im Traum zu erwischen! Es kommt meistens überraschend mit den Schmerzen, beim Einkaufen, im Schlaf, bei einem Discobesuch. Die Schmerzmittel, die ich zu Hause habe, wirken diesmal nicht, also am besten rasch in die Klinik. Das Pochen wird immer schlimmer, das Laufen immer mühseliger, und ich habe fast eine Stunde Fahrt vor mir. Ich rufe in der Klinik an, dass meine Akte rausgesucht wird. Die Fahrt ist qualvoll. Ich bete, dass ich auch diese Krise in den Griff bekomme, dass ich einen Arzt antreffe, den ich vielleicht schon kenne. Endlich in der Klinik angekommen. Ich kann nicht mehr laufen, werde in die Notaufnahme gebracht. Es ist keine Akte da und alle scheinen sehr viel Zeit zu haben. Nur ich nicht! Ich habe schon fast keine Stimme mehr vom Schreien. Ich habe auch schon versucht nicht zu schreien, dann verkrampfe ich mich aber so, dass ich mich übergebe. Schließlich kommt eine Ärztin, die alle Zeit der Welt zu haben scheint. Sie erzählt mir, dass sie sich mit dieser Erkrankung auskennt und weiß, dass ich gegen Malaria immun bin – welch ein Segen. Ich werde nicht gefragt, was mir in Schmerzkrisen am besten hilft, die »Götter in Weiß« wissen schließlich alles. Ich soll ein bisschen tapfer sein und ein bisschen leiser, es sind ja auch noch andere Patienten da. Nach mehreren Versuchen ist ein Zugang gelegt, das
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Durch die Substitution von Adenin durch Thymidin im 6. Kodon des β-Globingens (GAG→GTG) wird an der 6. Stelle der β-Globinkette ein Valin statt der Glutaminsäure eingebaut. Die pathologischen β-S-Ketten bilden mit den normalen α-Ketten das HbS. Die Erkrankung wird autosomalrezessiv vererbt, d. h. heterozygote Überträger sind gesund. Der Überträgerstatus ist jedoch durch eine Hb-Analyse einfach festzustellen. 15.3
Epidemiologie
Die Sichelzellmutation ist, wie durch Untersuchungen der DNA-Strukturen, die den β-Globinlokus umgeben (Haplotyp), herausgefunden wurde, in verschiedenen geographischen Regionen entstanden. Mehr als 90% der afrikanischen HbS-Gene finden sich vergesellschaftet mit den 3 Haplotypen Bantu, Senegal und Benin (Nagel et al. 1985). Der 4. große Haplotyp kommt in Asien, v. a. im Osten Saudi-Arabiens und in Indien vor und ist mit einem milderen Phänotyp der Erkrankung assoziiert (Kulozik et al. 1986; Kar et al. 1986). In Malariaregionen konnte sich die Mutation erhalten, da HbSHeterozygote den selektiven Vorteil eines milderen Verlaufs bei Malaria tropica haben. Das HbS-Gen gelangte von Afrika durch Handelsverbindungen in den Mittelmeerraum und durch den Sklavenhandel nach Amerika. Seit den 60er-Jahren haben Einwanderer aus dem östlichen Mittelmeerraum und aus Zentralafrika die Sichelzellkrankheit nach Deutschland gebracht (Dickerhoff et al. 1998).
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Im Jahre 2002 lebten in Deutschland ca. 400–450 Sichelzellpatienten, eine kleine Zahl im Vergleich mit England und Frankreich. Dort ist die Erkrankung aufgrund der kolonialen Vergangenheit wesentlich häufiger (ca. 8000–9000 Patienten). Die größte Gruppe der Patienten in Deutschland kommt aus dem Mittelmeerraum (Türkei, Italien, Griechenland, Mittlerer Osten, Nordafrika) gefolgt von Zentralafrika (Kongo, Angola, Westafrika) und arabischen Ländern (Libanon, Nordafrika). 15.4
Pathophysiologie
HbS polymerisiert bei Deoxygenierung und bildet 14-strängige Bündel, die Fasern bilden und den Erythrozyten in die lange, spitze Form, die sog. Sichelzelle, zwingen. Die Polymerisierung wird begünstigt durch Dehydrierung des Erythrozyten und erschwert durch eine verringerte intrazelluläre Hb-Konzentration (hoher HbF-Anteil, bessere Hydrierung des Erythrozyten). Dieser Vorgang ist reversibel unter O2-Aufnahme; schließlich aber entsteht die irreversibel gesichelte Zelle, die nach ca. 10–12 Tagen überwiegend extravasal von Makrophagen zerstört wird. Die chronische Hämolyse führt zu einer Retikulozytose. Die Retikulozyten haften, da sie noch über Adhäsionsmoleküle (α4β1 und CD36) verfügen, am Endothel über VCAM-1 (»vascular cell adhesion molecule«-1) und VNR (»vitronectin receptor«; Steinberg u. Rodgers 2001). Sie verengen die Strombahn und führen gleichzeitig zu einer ständigen Endothelschädigung und zu chronischer Inflammation: Zytokine und TNFα sind vermehrt, die NO-Produktion vermindert. Beides bewirkt eine erhöhte Expression von VCAM-1. Gesichelte Zellen bleiben in der von Retikulozyten verengten Strombahn stecken und führen zur Vasookklusion, der Grundlage von Schmerzkrisen und akuten oder chronischen Organschäden ( Abschn. 15.5). Ein weiterer Faktor in der Genese der Vasookklusion ist der Zustand ständiger Hyperkoagulabilität, in der sich Sichelzellpatienten befinden. Die Kenntnis dieses multifaktoriellen Prozesses eröffnet unterschiedliche Therapieansätze (Kaul et al. 2000). 15.5
Klinische Manifestationen
! Die Sichelzellkrankheit ist eine Multiorgankrankheit, die durch eine chronische Hämolyse, Schmerzepisoden, akute sowie chronische Organschäden durch Vasookklusion oder Sequestration und eine erhöhte Infektneigung gekennzeichnet ist. Die Krankheit wird meist ab dem 2. Lebenshalbjahr manifest, wenn die fetale γ-Globinkette nach dem perinatalen Umschalten der Kettensynthese zunehmend durch die adulte β-Globinkette ersetzt wird.
15.5.1 Chronische hämolytische Anämie Die Anämie ist normo- (HbSS, HbSD, HbSO Arab) bzw. mikrozytär (HbSS mit α-Thal, HbSβ Thal, HbSC, HbS Lepore) mit Hb-Werten von 5–9 g/dl und Retikulozyten von 5–30%. Aufgrund der geringen Sauerstoffaffinität des HbS und der
2,3-DPG-vermittelten Kompensationsmechanismen werden auch sehr niedrige Hb-Werte gut vertragen. Die chronische Hämolyse führt zur frühzeitigen Cholelithiasis. Bei Infektion mit Parvovirus B19 kommt es zur temporären Aplasie der Erythropoese und, wie bei allen chronischen hämolytischen Anämien, zur lebensbedrohlichen aplastischen Krise. 15.5.2 Vasookklusion bzw. Sequestration Skelettsystem. Vasookklusionen im aktiven Knochenmark
sind die Ursache von Schmerzkrisen, die bei jungen Kindern in den peripheren Knochen (so genanntes Hand-Fuß-Syndrom), bei älteren Patienten in den rumpfnahen Skelettanteilen (Becken, Thorax, Wirbelsäule, lange Röhrenknochen) lokalisiert sind (Ballas 1998). Schmerzkrisen sind für den Patienten die am stärksten belastenden Manifestationen der Erkrankung und der Grund von 90% der stationären Aufenthalte. Schmerzkrisen können spontan auftreten oder durch Dehydrierung, Infekte, Unterkühlung und Alkohol ausgelöst werden. Meist sind sie begleitet von Ödem der die betroffenen Skelettabschnitte umgebenden Weichteile, mäßigem Fieber und einem CRP-Anstieg, da nekrotisches Gewebe die Ausschüttung von IL-2 stimuliert. Die Schmerzen werden als vernichtend empfunden. Opiate sind oft unumgänglich. In Zweifelsfällen kann die Abgrenzung zur bei Sichelzellpatienten vermehrt auftretenden Osteomyelitis nur durch direkten Erregernachweis vorgenommen werden (Punktion der im Ultraschall nachgewiesenen Schicht subperiostaler Flüssigkeit, die bei Osteomyelitis breiter ist als bei einer Schmerzkrise). Meist betreffen Schmerzkrisen jedoch mehrere Skelettabschnitte mit einer oft symmetrischen Verteilung, was in der Regel eine klinische Abgrenzung zur Osteomyelitis erlaubt. Avaskuläre Nekrosen treten am häufigsten im Femurkopf auf. Deckplatteneinbrüche der Wirbelkörper und Osteopenie durch ausgeweitete Markräume sind Ursachen chronischer Schmerzen ab der 3. Dekade. Kardiopulmonales System. Das akute Thoraxssyndrom
(ATS) ist nach Schmerzkrisen die häufigste Ursache stationärer Aufenthalte und die häufigste letal verlaufende Komplikation jenseits des Säuglings- und Kleinkindesalters. Es ist charakterisiert durch Thoraxschmerzen, Fieber, Husten, Tachypnoe, Hypoxie und das Auftreten neuer röntgenologischer Verschattungen. Unterschiedliche Faktoren wie Fettemboli aus dem Knochenmark, Hypoventilation oder Infektion bewirken eine Gefäßreaktion, die zur Sequestrierung von Blut in den Pulmonalgefäßen führt (Knight et al. 1999, Quinn u. Buchanan 1999). Die Differenzialdiagnose zur Pneumonie ist meist nicht möglich, insbesondere weil das ATS auch durch Pneumonien präzipitiert werden kann. Durch frühzeitige Transfusion bzw. Austauschtransfusion begleitet von einer antibiotischen Therapie kann dieser Prozess rückgängig gemacht werden (Vichinsky et al. 1997). Ab der 3. Dekade kann eine Lungenfibrose entstehen, die zum Cor pulmonale führen kann. Myokardinfarkte sind selten und beruhen nicht auf koronaren Verschlüssen, sondern auf Mikrodurchblutungsstörungen des Myokards.
181 15 · Sichelzellkrankheit
Milz. Im Säuglings- und Kleinkindesalter stellt die Milzsequestrationskrise (MS) neben der Pneumokokkensepsis die häufigste Komplikation mit letalem Ausgang dar. Dabei kann ein großer Teil des Blutvolumens in den erweiterten Milzsinus versacken. Folgen sind rasche Milzvergrößerung, evtl. abdominale Schmerzen, Schock, Hb-Abfall, Retikulozytose (Dickerhoff 2002). Sofortige Transfusion ist lebensrettend bei großen MS (Hb-Abfall >3 g/dl), während sich kleine MS (Hb-Abfall <3 g/dl) spontan zurückbilden können. MS neigen zum Rezidiv mit zunehmendem Schweregrad, so dass eine Splenektomie auch bei jungen Kindern nach einer großen MS oder nach der 2. kleinen MS indiziert ist. Nachdem die Milz bei Homozygoten bis zum 6. Lebensjahr durch Autosplenektomie atrophiert ist, ist für diese Patienten nach dem 6. Lebensjahr das MS-Risiko minimal. Bei »compound« Heterozygoten (HbS-β-Thalassämie, HbSC) oder auch bei Patienten mit hohem HbF oder einer koexistierenden α-Thalassämie kann die Milz bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben und es kann auch noch später zur MS kommen (Kar et al. 1986; Kulozik et al. 1987). Rezidivierende Vasookklusionen der Milzgefäße sind die Ursache der Autosplenektomie. Aber auch bei anatomisch noch erhaltener Milz besteht eine funktionelle Asplenie, die bei HbSS-Patienten meist schon am Ende des 1. Lebensjahres festzustellen ist und zu einer ausgeprägten Infektionsneigung v. a. durch bekapselte Erreger wie Pneumokokken führt. ZNS. Neurologische Komplikationen treten bei 25% aller Sichelzellpatienten auf. ZNS-Infarkte durch Verschluss großer Arterien sind am häufigsten im Kindesalter, während Erwachsene eher ZNS-Blutungen erleiden (Ohene-Frempong et al. 1998). Transitorische Ischämische Attacken, Krampfanfälle, Hörsturz oder Vertigo durch Innenohrschäden sowie Myelitis sind beschrieben. Auch Patienten ohne manifeste ZNS-Infarkte haben häufig kognitive Defekte durch so genannte silente Infarkte (Schatz et al. 2001). Nach einem ZNSInfarkt ist eine Dauertransfusionstherapie mit einem ZielHbS von ca. 30% indiziert. Prädiktiv für einen ZNS-Infarkt kann eine sonographisch fassbare Flussbeschleunigung in den großen intrakraniellen Gefäßen sein. Bei diesen Patienten können ZNS-Infarkte durch ein chronisches Transfusionsprogramm weitgehend verhindert werden (Adams et al. 1999). Gastrointestinaltrakt. Abdominelle Schmerzen bei Sichelzellpatienten haben vielfältige Ursachen. Neben Milzsequestrationen und Infarkten der Wirbelsäule mit Ausstrahlung der Schmerzen ins Abdomen können Gallensteine, das so genannte Girdle-Syndrom, Leberinfarkte- oder Sequestrationen abdominellen Schmerzen zugrunde liegen. Gallensteine als Folge der chronischen Hämolyse können schon im Kindesalter auftreten. Infarkte der Mesenterialgefäße manifestieren sich als Girdle-Syndrom, einem paralytischen Ileus mit diffus schmerzhaftem Abdomen, spärlicher oder fehlender Peristaltik, massiv aufgeweiteten Darmschlingen auf der Abdomenübersicht. Die Therapie ist konservativ (Flüssigkeit, Analgetika, evtl. Austauschtransfusion). Eine Laparotomie ist nicht indiziert. Eine Appendizitis ist bei Sichelzellpatienten seltener als bei Gesunden. Die Leber kann betroffen sein durch Infarkte, Sequestrierung von Blut oder akuter Cholestase.
Urogenitaltrakt. Die Konzentrationsfähigkeit der Niere ist
bei allen Sichelzellpatienten eingeschränkt. Dies verstärkt die Neigung zu Dehydratation mit vasookklusiven Krisen. Durch Papillennekrosen kann es zur schmerzlosen Makrohämaturie kommen. Durch chronische, meist subklinische Vasookklusion der Nieren kommt es im Erwachsenenalter häufig zum chronischen Nierenversagen, dessen Entwicklung durch eine frühzeitig erkannte Mikroproteinurie und dann indizierte Behandlung mit ACE-Hemmern verzögert werden (Ataga u. Orringer 2000). Priapismus, eine spontane, schmerzhafte, oft langanhaltende Erektion durch Sequestrierung von Blut in den Corpora cavernosa kann schon präpubertär auftreten und durch Etilefrin, p.o. oder als intrakavernöse Injektion, behandelt werden (Virag et al. 1996). Andere Organmanifestationen. Die proliferative Retinopathie tritt v. a. bei Jugendlichen und jungen erwachsenen Patienten auf. Ein besonderes Risiko besteht bei Patienten mit einer HbSC-Erkrankung. Photokoagulation der proliferierenden Gefäße ist die Therapie der Wahl. Unterschenkelulzera kommen in gemäßigten Klimazonen selten vor. Es gibt verschiedene Therapieversuche: Ruhigstellung, Transfusionen, Deckung mit Spaltlappen.
15.5.3 Erhöhte Infektionsneigung Die funktionelle Asplenie bedingt eine erhöhte Gefährdung durch Kapselbakterien, v. a. Pneumokokken. Osteomyelitiden kommen gehäuft vor (Salmonellen, Staphylokokken). 15.5.4 Wachstum und Schwangerschaft Wachstum und Pubertät sind bei einigen Patienten verzögert. Die Fertilität bei Frauen ist normal, bei Männern eingeschränkt. Zur Kontrazeption sind alle gängigen Methoden auch für Sichelzellpatientinnen erlaubt, inklusive Pille oder Spirale. Während der Schwangerschaft treten vermehrt Schmerzkrisen und ATS auf. Eine engmaschige Überwachung schwangerer Sichelzellpatientinnen, prompte Behandlung von Harnwegsinfekten und Behandlung interkurrenter Komplikationen hat die früher hohe Rate an Fehl-, Früh- und Totgeburten erheblich senken können. Transfusionen während der Schwangerschaft nützen nur der Mutter, haben aber keinen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes (Koshy et al. 1988). 15.6
Krankheitsverlauf modifizierende Faktoren
Das Spektrum des klinischen Schweregrades der Sichelzellkrankheit reicht von einem bereits im Kleinkindesalter beginnenden komplikationsreichen Verlauf bis zum weitgehend asymptomatischen Bild bis ins hohe Erwachsenenalter. Einige der modifizierenden Faktoren sind genetisch, andere exogen bedingt.
15
182
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
15.6.1 Genetische Faktoren
I Patienten mit HbSS, HbSβ°Thal, HbSD haben meist einen schwereren Verlauf als HbSC-, HbSβ+Thal-, HbS-Lepore- und HbSO-Arab-Patienten. Patienten mit einer erheblich gesteigerten γ-Globinkettensynthese und einem HbF von 15–20% zeigen meist einen erheblich milderen Krankheitsverlauf als Patienten mit niedrigerem HbF. Regelhaft ist diese Konstellation in Ost-Saudi-Arabien und Indien und dort mit Veränderungen einer der γ-Globingenpromotoren assoziiert (Kar et al. 1986; Kulozik et al. 1987; Padmos et al. 1988). Therapeutisch wird der positive Einfluss des HbF durch Medikamente wie Hydroxyharnstoff oder, in ersten Behandlungsversuchen, durch kurzkettige Fettsäuren genutzt (Charache et al. 1995; Atweh et al. 1999). Diese Substanzen führen zu einer Eröffnung der nukleosomalen Struktur um die γ-Globingene, die somit transkriptional aktiviert werden. Eine koexistierende α-Thalassämie (häufig bei Patienten aus Zentralafrika und Asien, seltener aus dem Mittelmeerraum) führt zur Abmilderung einiger der Komplikationen der Sichelzellkrankheit (ATS, Hämolyse, Retinopathie, Ulcera cruris), während andere (Schmerzkrisen, avaskuläre Nekrosen) im Wesentlichen unbeeinflusst bleiben (Higgs et al. 1983; Kulozik et al. 1988). 15.6.2 Umweltfaktoren Die geographische Lage (Malariaregion?) bzw. die sozioökonomische Situation der Familie (Hygiene? Medizinische Betreuung?) haben eine erhebliche Bedeutung für Krankheitsverlauf und Prognose. In den meisten afrikanischen Ländern erreichen wenige Patienten das Erwachsenenalter, während dies in Europa und den USA inzwischen die Regel ist. 15.7
Diagnose
Neugeborenen-Screening für die Sichelzellkrankheit (USA, England, Frankreich) ermöglicht den rechtzeitigen Beginn der Penicillinprophylaxe und die Anleitung der Eltern zur Milzpalpation (Powars 1989). In Ländern, in denen es dieses Screening nicht gibt (deutschsprachige Länder, Holland, Belgien, Skandinavien), muss eine Sichelzellerkrankung bei Kindern aus einem Risikoland mit einer normo- oder mikrozytären hämolytischen Anämie, mit rezidivierenden Schmerzepisoden oder einer der anderen klassischen Manifestationen der Erkrankung vermutet werden. Die Diagnose wird gestellt durch die Hämoglobinanalyse (Hb-Elektrophorese, HPLC), in einem dafür qualifizierten Labor. Molekulargenetische Untersuchungen können für die Identifikation modifizierender genetischer Faktoren (α-Thalassämie, Mutationen der γ-Globingene) eingesetzt werden, sind aber nicht indiziert zur Bestätigung der HbAnalyse, da es nur eine einzige Mutation gibt, die zum HbS führt. Außerdem werden molekulargentische Untersuchungsmethoden für die pränatale Diagnostik aus fetalen Zellen (Chorionzottenbiopsie 10–12.,Amniozentese 12. bis 16. Schwangerschaftswoche) eingesetzt. Die pränatale Diagnostik sollte auch Paaren angeboten werden, die bislang noch kein betrof-
fenes Kind haben, beide Partner jedoch heterozygote Träger der Sichelzellmutation sind. 15.8
Therapie
! Die Therapie von Sichelzellpatienten ist einem stetigen Wandel unterworfen. Es ist deshalb unerlässlich, sich durch aktuelle Therapiehinweise auf dem laufenden zu halten (NIH Publication 2002; Leitfaden 2002).
15.8.1 Prävention Als primäre Prävention kann die pränatale Diagnostik eingesetzt werden. Die anderen präventiven Maßnahmen sind sekundärer Natur und richten sich gegen die Komplikationen der Sichelzellkrankheit. Eine besondere Bedeutung kommt der Infektionsprophylaxe durch Penicillin und Impfung zu. Die Penicillinprophylaxe vom 3. bis zum 5. Lebensjahr, kombiniert mit dem konjugierten (ab 2. Lebensmonat) bzw. dem 23-valenten Polysaccharid-Pneumokokkenimpfstoff (ab 2. Geburtstag) kann die Mortalität durch Pneumokokkensepsis im Kindesalter erheblich senken (Gaston et al. 1986). Die Vollständigkeit der übrigen Impfungen ist selbstverständlich. Zur Senkung der Mortalität durch zu spät erkannte Milzsequestration hat es sich bewährt, Eltern betroffener Kleinkinder die Milzpalpation bei jedem Wickeln beizubringen, um bei einer Vergrößerung sofort den Arzt aufzusuchen zu können. Die routinemäßige Folsäuregabe (0,5–1 mg/Tag) ist bei ausgewogener Kost nicht notwendig. Ob Folsäure in höherer Dosis über eine Senkung des bei Sichelzellpatienten erhöhten Homozysteinspiegels Gefäßschädigungen verhindern kann, ist noch unklar (Lowenthal et al. 2000). Die Häufigkeit von Schmerzkrisen kann durch hohe Flüssigkeitszufuhr bei hohen Umgebungstemperaturen oder bei Durchfallerkrankungen (wegen eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit der Niere) und durch Vermeiden von Unterkühlung vermindert werden. Bei Patienten, die dennoch an häufigen, schweren Schmerzkrisen leiden, ist eine Behandlung mit Hydroxyharnstoff (HU) indiziert. HU wird unter Kontrolle des Blutbildes und der Leberfunktion je nach klinischem Erfolg bis zu einer Höchstdosis von 35 mg/kg KG gegeben und führt bei ca. 75% der Patienten zur Reduktion der Frequenz schwerer Schmerzkrisen bzw. von Episoden des ATS (Charache et al. 1995; Ferster et al. 2001). Der genaue Wirkungsmechanismus ist noch unklar. Diskutiert werden die vermehrte HbF-Produktion, die Verminderung von Adhäsionsmolekülen auf den Retikulozyten (Styles et al. 1997), die verbesserte Hydrierung der Erythrozyten und eine erhöhte NO-Produktion durch das Endothel. Teratogenität für den Menschen ist nicht bewiesen, dennoch wird eine konsequente Kontrazeption empfohlen. Bisher wurde auch nach langfristigem Follow-up keine Häufung maligner Erkrankungen bei mit HU behandelten Patienten beobachtet. Ein prophylaktisches Dauertransfusionsprogramm wird nach einem ZNS-Infarkt zur Prävention eines Reinfarktes und zur primären ZNS-Infarktprophylaxe bei Kindern emp-
183 15 · Sichelzellkrankheit
fohlen, die in der transkraniellen Doppler-Sonographie der A. carotis interna bzw. der A. carotis cerebri media auch bei Kontrolle eine Flussgeschwindigkeit von mehr als 200 cm/sec haben (Adams et al. 1998). 15.8.2 Symptomatische Therapie ! Sichelzellpatienten müssen wie andere chronisch kranke Patienten in regelmäßigen Abständen im symptomfreien Intervall untersucht und beraten werden. Kontinuität ist eine Grundvoraussetzung einer optimalen Betreuung.
Die notwendige Therapieadhärenz kann nur erwartet werden, wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt entsteht. Patienten bzw. Eltern müssen umfassend über alle Aspekte der Erkrankung informiert werden (evtl. mit Dolmetscher). Eine psychologische Betreuung kann bei einigen Patienten notwendig sein.
Analgetika. Zur Therapie gehören neben einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr (1,5-mal Erhaltungsbedarf) Analgetika, die der Schmerzintensität entsprechen (Grundy et al. 1993). Der 3-Stufen-Plan der WHO (WHO 1990) ist Richtschnur bei der Wahl der Analgetika (⊡ Tabelle 15.1). Patienten mit schwersten Schmerzen brauchen Opiate, die mit peripher wirkenden Analgetika kombiniert werden. Die Angst vor Abhängigkeit bei Patienten und Ärzten ist unbegründet, da zur Schmerzbekämpfung eingesetzte Opiate keine Sucht verursachen. Bei Dauerinfusion von Opiaten muss der Patient zur Erkennung der einschlägigen Nebenwirkungen wie Hypoventilation, Obstipation und Juckreiz engmaschig überwacht werden. !Die wichtigste Grundregel bei der Behandlung der Schmerzkrisen ist: Dem Patienten müssen die Schmerzen geglaubt werden. Transfusionen. Bei den in ⊡ Tabelle 15.2 genannten, oft le-
bensbedrohlichen Komplikationen müssen Erythrozytentransfusionen mit untergruppengleichen Konserven eingesetzt werden (Telen 2001). Schmerzkrisen oder die chronische Anämie erfordern keine Transfusionen.
⊡ Tabelle 15.1. Empfohlene Analgetika bei Schmerzkrisen
Substanz
Dosis (mg/kg/Dosis)
Applikation
Intervall
A. Leichte Schmerzen Paracetamol
15
oral
alle 4 h
Metamizol
15
oral
alle 4 h
Ibuprofen
10
oral
alle 8 h
B. Stärkere Schmerzen: eines der unter A aufgeführten Analgetika plus: Codein bzw.
1
oral
alle 4 h
Tramadol
1–2
oral
alle 4–6 h
Intravenös
Bolusinjektion alle 1–2 h Dauerinfusion oder PCA
C. Starke Schmerzen: eines der unter A aufgeführten Analgetika plus: Morphin
0,1–0,15 dann 0,1–0,15 oder 0,4–0,6 mg/kg/8 h
⊡ Tabelle 15.2. Hauptindikationen für Transfusionen bzw. partielle Austauschtransfusionen
Art der Transfusion
Transfusion meistens notwendig
Transfusion manchmal notwendig
Einmalige Transfusion
Aplastische Krise Milzsequestration Akutes Thoraxsyndrom
Lebersequestration Akute Blutung Gesteigerte Hämolyse
Austauschtransfusion
ZNS-Infarkt/Blutung Schwere Infektion Multiorganversagen Akute Probleme in der Schwangerschaft Vor größeren chirurgischen Eingriffen Vor Angiographie
Akutes Thoraxsyndrom Girdle-Syndrom
Chronische Transfusion
Nach ZNS-Ereignis Chronische renale, pulmonale, kardiale Probleme
Schwerste, durch starke Analgetika nicht zu beeinflussende Schmerzen
15
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I
Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
Operative Verfahren. Die Splenektomie ist indiziert nach einer großen oder mehr als 2 kleinen Milzsequestrationen, die Cholezystektomie bei symptomatischer Cholelithiasis. Durch die Schenkelhalsbohrung (»core decompression«) kann bei Patienten (>10 Jahre alt) mit einem frühen Stadium der Hüftkopfnekrose Schmerzfreiheit erzielt werden. In späteren Stadien kann durch eine Umstellungsosteotomie das Fortschreiten der Nekrose aufgehalten werden. In manchen Fällen ist eine Endoprothese notwendig.
15.8.3 Stammzelltransplantation Die Stammzelltransplantation (SZT) ist die einzige kurative Behandlungsmöglichkeit, die allerdings erhebliche Risiken einer behandlungsbedingten Mortalität und Morbidität mit sich bringt. Aus diesem Grund ist die SZT bei den heute guten Ergebnissen einer konservativen Therapie nur bei Patienten mit einem komplizierten Verlauf (z. B. nach ZNS-Infarkt), die ein HLA-identisches Geschwister haben, indiziert (Walters et al. 1996; Vichinsky 2002). 15.9
Prognose
In Europa und in USA erreichen bei optimaler Betreuung 80–90% aller Sichelzellpatienten das Erwachsenenalter. Die durchschnittliche Lebenserwartung für homozygote Patienten liegt zwischen 40–50 Jahren, für Patienten mit HbSβ+Thal bzw. HbSC-Erkrankung zwischen 50–60 Jahren. Eine frühzeitige Diagnose durch Neugeborenen-Screening und ein hoher HbF-Spiegel, verlängert die Lebenserwartung (Powars 1989; Platt et al. 1994; Steinberg et al. 2000). Die Lebensqualität ist ausgesprochen variabel und hängt wesentlich von der Häufigkeit und Schwere der Komplikationen sowie von der sozialen Integration ab. Insgesamt kann die Prognose in einem Land mit hohem sozio-ökonomischem Standard und bei optimaler medizinischer Betreuung jedoch recht optimistisch eingeschätzt werden. 15.10
Zukünftige Entwicklung
Aktuell befinden sich verschiedene neue Therapiestrategien in der Entwicklung. Dabei handelt es sich zum einen um Medikamente, die durch eine verbesserte Hydrierung des Erythrozyten bzw. eine gesteigerte HbF-Synthese die Polymerisationsneigung des HbS reduzieren oder durch eine Modulation der Interaktion der Erythrozyten mit dem Endothel die Rheologie verbessern (Brugnara et al. 2001; de Simone et al. 2002; Kaul et al. 2000; Knight 1999). Zum anderen könnte die Weiterentwicklung nicht-myeloablativer Konditionierungsverfahren die Risiken der SZT verringern und evtl. die SZT einer größeren Zahl schwer betroffener Patienten ermöglichen mit dem Einsatz nicht-verwandter Spender. Es ist auch denkbar, dass selektives Neugeborenen-Screening in Ländern mit niedriger Inzidenz der Sichelzellkrankheit die Komplikationen in den ersten Lebensjahren vermindern. Die genetische Therapie ist noch im Stadium der Versuche mit transgenen Mäusen. Ein klinischer Einsatz ist für die nächsten Jahre nicht zu erwarten.
Bei der Sichelzellkrankheit handelt es sich um eine der weltweit häufigsten hereditären Erkrankungen überhaupt, die in der Folge der Deportationen während der Kolonialzeit und durch postkoloniale Völkerwanderungen heute auch in nichtendemischen Gebieten vorkommt. Klinisch manifestiert sich die Sichelzellkrankheit als chronische Multiorgankrankheit mit variabler Ausprägung. Durch Neugeborenen-Screening, Penicillinprophylaxe und Aufklärung der Eltern kann die Frühmortalität erheblich gesenkt werden. Durch ein aufeinander abgestimmtes interdisziplinäres Betreuungskonzept kann die Lebenserwartung, aber auch die Lebensqualität der Patienten deutlich verbessert werden.
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185 15 · Sichelzellkrankheit
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15
I
Anämien chronischer Erkrankungen M.U. Muckenthaler, A.E. Kulozik
16.1
Klinisches Erscheinungsbild – 186
16.1.1
16.1.4
Auswirkungen der Eisenumverteilung auf Patienten mit einer ACD – 186 Zytokin-induzierte Anreicherung von Eisen in Monozyten – 187 Zytokin-vermittelte Hemmung der Proliferation und Differenzierung erythroider Vorläuferzellen – 188 Verringerte Erythropoetinantwort – 189
16.2 16.3
Hepcidin – 189 Therapie – 189
16.3.1 16.3.2 16.3.3
Eisengabe – 189 Transfusionstherapie – 189 Rekombinantes Erythropoetin – 189
16.1.2 16.1.3
Literatur
– 190
Die Anämie chronischer Erkrankungen (»anemia of chronic disease«, ACD) gehört zu den am häufigsten auftretenden Formen der Anämie. Sie ist eine Begleiterscheinung von chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn oder rheumatoider Arthritis, Autoimmunerkrankungen wie systemischer Lupus erythematodes, chronisch-infektiösen Erkrankungen wie Tuberkulose oder systemische Pilzinfektionen sowie von Krebs. Obwohl die Auswirkung der Anämie auf das Wohlbefinden der Patienten sehr unterschiedlich sein kann, konnten Studien eine direkte Korrelation zwischen der Hb-Konzentration und dem körperlichen und geistigen Wohlbefinden feststellen. Dieser Beitrag befasst sich mit der Pathophysiologie der ACD sowie möglichen Behandlungsstrategien.
⊡ Abb. 16.1. Pathophysiologische Faktoren, die zur Entstehung einer ACD beitragen
16.1
Klinisches Erscheinungsbild
Das klinische Erscheinungsbild der ACD ist geprägt durch Störungen im Eisenstoffwechsel. Dabei kommt es zu einer Umverteilung des Eisens des Blutkreislaufs und des Knochenmarks in die Speichergewebe des retikuloendothelialen Systems (RES; ⊡ Abb. 16.1). Die ACD ist eine hypoproliferative normo- oder mikrozytäre Anämie, die mit einer Hypoferrämie, normalen oder meist erhöhten Ferritinkonzentrationen im Serum (Hyperferritinämie) sowie verringerter Transferrinsättigung einhergeht (Cash u. Sears 1989; Means u. Krantz 1992; Weiss 2002). Da eisenbeladenenes Transferrin die wichtigste Eisenquelle der Erythrozyten darstellt (Levy et al. 1999; Trenor et al. 2000), ist das Knochenmark eisendefizient, obwohl die Eisenspeicher des Körpers gefüllt sind. 16.1.1 Auswirkungen der Eisenumverteilung
auf Patienten mit ACD Trotz der negativen Auswirkungen auf die Erythropoese kann die Eisenumverteilung in das RES auch zur Kontrolle der zugrunde liegenden Erkrankung beitragen. Eisen stellt einen essenziellen Bestandteil aller lebenden Organismen dar, weil es ein wichtiger Kofaktor von Enzymen des Zitratzyklus, der mitochondrialen Atmungskette, der DNA-Synthese sowie von Hämoglobin und Myoglobin ist. Schnell wachsende und sich teilende Zellen haben daher einen erhöhten Bedarf an Eisen. Der Entzug von Eisen führt dazu, dass es für das Wachstum von pathogenen Mikroorganismen oder sich schnell teilenden (malignen) Geweben vermindert zur Verfügung
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steht. So konnte gezeigt werden, dass eine erhöhte Eisenbeladung von Labormäusen zur verstärkten Proliferation von Mycobacterium avium oder Vibrio vulnificus führt (Hor et al. 2000; Gomes et al. 2001). In einer Studie mit 14.000 Erwachsenen wurde ein erhöhtes Krebsrisiko bei Männern mit erhöhter Transferrinsättigung korreliert (Stevens et al. 1988). Weiterhin stellen erhöhte Eisenwerte der Leber und der Milz Risikofaktoren für hepatozelluläre Karzinome und Tuberkulose dar (Gordeuk et al. 1996). Bei Kindern zeigt sich die Bedeutung der Eisenüberladung sehr eindrücklich am Risiko, an schweren Yersinia-entercolitica-Infektionen zu erkranken. Bei 70% der Kinder mit einer Yersinia-Sepsis finden sich Zeichen einer Eisenüberladung (Francois et al. 1987). Außerdem zeigte eine Studie eine Korrelation erhöhter Transferrinsättigung mit Therapieresistenz bei Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie (Potaznik et al. 1987), obwohl die Eisenüberladung hier sicher keinen dominanten Risikofaktor darstellt. Die Behandlung der Anämie bei Autoimmunerkrankungen und chronisch entzündlichen Erkrankungen führt zur signifikanten Verbesserung der Lebensqualität (Brock 1994; Weiss 2002). Außerdem wirkt sich der zelluläre Eisengehalt auf die Funktionsfähigkeit von Monozyten und Makrophagen und damit auf die Immunantwort aus, die gegen Pathogene und Tumorzellen gerichtet ist. So hemmt Eisen beispielsweise die Aktivität von Interferon γ, einem Zytokin, das in der Immunabwehr von Pathogenen eine maßgebliche Rolle spielt (Weiss 2002; Recalcati et al. 1998). Deshalb können eisenbeladenene Makrophagen intrazelluläre Pathogene, wie Legionella, Listeria, Ehrlichia, Candida und Viren, nicht mehr effizient abwehren (Brock 1994). So ist es nicht überraschend, dass das Immunsystem und die Eisenhomöostase regulatorisch eng miteinander verknüpft sind. 16.1.2 Zytokin-induzierte Anreicherung
von Eisen in Monozyten Zytokine, wie TNF-α, IL-1 und IFN-γ, sind bei Erkrankungen erhöht, die einer ACD zugrunde liegen (Weiß 2002). Dieselben Zytokine regulieren die Expression wichtiger Komponenten des Eisenregulationsnetzwerkes (⊡ Tabelle 16.1). So führt die Behandlung von Mäusen mit TNF-α und IL-1,
ähnlich wie bei der ACD beobachtet, zur Hypoferrämie, zur erhöhten Ferritinsynthese sowie zur erhöhten Eisenaufnahme und Eisenspeicherung in den Zellen des RES (Alvarez-Hernandez et al. 1989). TNF-α, Il-1 und IFN-γ stimulieren die Ferritinsynthese primär durch die transkriptionelle Aktivierung des Ferritin-H-Kettengens in Makrophagen. Es wird angenommen, dass die erhöhte Menge an Eisenspeicherprotein verstärkt das Eisen bindet, das ansonsten für die Erythropoese zur Verfügung stehen würde. Zusätzlich kann aber auch die Ferritintranslation durch die Zytokine IL-1 und IL-6 verändert werden. Dafür notwendig ist eine RNA-Sequenz in der 5´-nicht-translatierten Region der Ferritin-mRNA – die so genannte Akutphasenbox (Rogers J.T. 1996). IL-1, IL-6 und IFN-γ erniedrigen aber gleichzeitig die Expression der Transferrinrezeptor(TfR-1)mRNA. Es bleibt daher offen, auf welchem Transportweg das Eisen verstärkt in die Makrophagen aufgenommen wird (⊡ Tabelle 16.1). IFN-γ reduziert die Expression der TfR-1-mRNA, indem es die Bindung der »iron regulatory proteins« (IRP) an die »iron responsive elements« (IRE) hemmt, die in der 3´-nichttranslatierten Region des TfR-1 lokalisiert sind. Ebenso hemmt die IRP-Bindung an ein einzelnes IRE in der 5´-nichttranslatierten Region der Ferritin-H-Ketten- und FerritinL-Ketten-mRNA deren Translation (⊡ Abb. 16.2) Das IRE/ IRP-System ist das zentrale zelluläre Eisenregulationssystem, das sowohl durch Eisen, aber auch Stickoxid und H2O2 beeinflusst wird (⊡ Abb. 16.2). Im Falle von IFN-γ konnte gezeigt werden, dass der Einfluss auf das IRE/IRP Regulationssystem über die Induktion von Stickoxid erfolgt (Weiss 2002). Interessanterweise stimuliert IFN-γ auch die Expression des vormals im Duodenum identifizierten Eisentransporters DMT-1 (»divalent metal transporter«), was zu einem erhöhten Eiseninflux in menschliche Monozyten führt (Wardrop u. Richardson 2000; Ludwiczek et al. 2003). Gleichzeitig reduziert es den Eisenexport, indem es die Expression des Eisenexporters Ferroportin (Ludwiczek et al. 2003) hemmt ( Tabelle 16.1). Auch die antiinflammatorischen Zytokine IL-4, IL-10 und IL-13 rufen Veränderungen in der Eisenhomöostase ähnlich einer ACD hervor ( Tabelle 1) (Weiss 2002). In Übereinstimmung mit diesen In-vitro-Daten führt eine Behandlung von Patienten mit Morbus Crohn mit IL-10 zur Ausbildung einer ACD (Tilg et al. 2002).
⊡ Tabelle 16.1. Molekulare Auswirkungen von Zytokinen auf die zelluläre Eisenhomöostase
Effekte auf die Eisenhomöostase
Zytokine
Stimulation der Ferritinsynthese
TNF-α, IL-1, IFN-γ, IL-4, IL-13
Stimulation der TfR-vermittelten Eisenaufnahme
IL-13
Stimulation der DMT-1-Expression und Eisenaufnahme
IFN-γ
Hemmung der Ferritintranslation
IFN-γ
Hemmung der TfR-1-Expression
IL-1, IL-6, IFN-γ
Hemmung der Ferroportinexpression
IFN-γ
Regulation des IRE/IRP-Systems
IL-4, IL-10, IFN-γ
Hypoferrämie
TNF-α, IL-1, IL-6
Stimulation der Eisenabsorption in Makrophagen und Enterozyten
Hepcidin
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
I
⊡ Abb. 16.2. Das IRE/IRP-Regulationssystem reguliert die zelluläre Eisenhomöostase. »Iron responsive elements« (IRE) sind RNA-Elemente, die sich in der 3‘-nicht-translatierten Region der Transferrinrezeptor1-mRNA befinden. Binden daran regulatorische Proteine, die »iron regulatory proteins« (IRP), dann verhindern diese den Abbau der TfR1mRNA durch Nukleasen. Die Stabilisierung der TfR1-mRNA führt zur
erhöhten Eisenaufnahme. Die Bindung von IRP and ein einzelnes IRE in der 5‘-nicht-translatierten Region der Ferritin-H-Ketten oder L-Ketten-mRNA hemmen dagegen deren Translation und vermindern die Synthese des Eisenspeicherproteins. Die Bindung von IRP-1 an IRE kann sowohl durch Eisen, oxidativen Stress, Stickoxid sowie durch Zytokine moduliert werden
! Die Summe der durch Zytokine hervorgerufenen Veränderungen in der zellulären Eisenhomöostase der Monozyten führen dazu, dass sich Eisen in den Monozyten anreichert. Von Th-1 und Th-2 ausgeschüttete Zytokine führen zur Induktion von Hypoferrämie und Hyperferritinämie bei chronisch entzündlichen Prozessen.
16.1.3 Zytokin-vermittelte Hemmung
Zusätzlich gibt es Hinweise, dass Akutphasenproteine wie α1-Antitrypsin und α2-Makroglobulin zur Veränderung des Eisenmetabolismus beitragen, indem sie die TfR-1-vemittelte Eisenaufnahme in erythroiden Vorläuferzellen hemmen (Graziadei et al. 1994). Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass der Serumtransferrinrezeptor (sTfR), ein verkürzter Teil des membranständigen TfR-1, nicht als Marker zur Diagnose einer Anämie bei chronischen Erkrankungen eingesetzt werden kann (Kuiper-Kramer et al. 1996). Während bei Patienten ohne zugrunde liegenden Entzündungserkrankungen die Expression des sTfR direkt mit dem Bedarf an Eisen für die Erythropoese korreliert, ist die Expression dieses diagnostischen Markers durch den Einfluss von Entzündungen verändert (Kuiper-Kramer et al. 1996; Punnonen et al. 1997). Dies liegt wahrscheinlich daran, dass die TfR-1-Expression durch proinflammatorische Zytokine und durch die erythroide Eisendefizienz in gegensätzlichen Richtungen reguliert wird.
der Proliferation und Differenzierung erythroider Vorläuferzellen Zytokine wirken sich aber auch direkt auf die Erythropoese aus, indem sie das Wachstum erythroider Vorläuferzellen hemmen (Means u. Krantz 1992; Abb. 16.1). Proinflammatorische Zytokine, wie TNF-α, IFN-γ und Typ-1-Interferone, inhibieren die BFU-E- und die CFU-E-Kolonieformation (Wang et al. 1995). Diese Befunde spiegeln sich in der inversen Korrelation von gemessener IFN-γ-Menge mit Hb-Konzentrationen und der Anzahl an Retikulozyten wider (Fuchs et al. 1991). Zusätzlich führt die Umverteilung des Eisens in das RES zur verringerten Verfügbarkeit von Eisen für die Hämbiosynthese und damit für die Proliferation erythroider Zellen. Damit übereinstimmend sind Befunde, dass sich im Serum von Patienten mit einer ACD erhöhte Zn-Protoporphyrin-IX-Werte nachweisen lassen (Hastka et al. 1993). Wenig untersucht ist bisher, ob Zytokine wie TNF-α die Halbwertszeit von Erythrozyten verringern können. Dies könnte dazu führen, dass es zur erhöhten Erythrophagozytose kommt, ein physiologischer Vorgang, der darauf angelegt ist, alternde oder defekte Erythrozyten zu entfernen. Erythrozyten werden dabei von Monozyten/Makrophagen durch Endozytose aufgenommen; das Eisen wird aus dem Hämoglobin freigesetzt, um erneut für die Hämoglobinsynthese zur Verfügung gestellt zu werden. Inwieweit Zytokine in diesen Prozess eingreifen ist noch nicht geklärt. Aber da es bei der ACD häufig zur Vergrößerung der Milz kommt, ist ein Einfluss auf die Halbwertszeit der Erythrozyten und/oder die Erythrophagozytose denkbar. Diese Beobachtung stimmt
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auch mit der Beobachtung vermehrter Eisenspeicherung in den Kupffer-Zellen der Leber und in den Makrophagen der Milz bei entzündlichen Erkrankungen überein. Die Proliferation erythroider Vorläuferzellen kann aber auch direkt, durch die Invasion von Tumorzellen, Mikroorganismen oder deren toxischen Produkten, behindert werden, wie es am Beispiel einer HIV- oder Plasmodium-Infektion gezeigt werden konnte. 16.1.4 Verringerte Erythropoetinantwort Typischerweise zeigt sich eine inverse Korrelation zwischen dem Serum- oder Plasmaerythropoetinspiegel und der HbKonzentration: Ist der Hb erniedrigt, erhöht sich der EPOSpiegel (Erslev et al. 1980). Auch Patienten mit einer ACD zeigen einen erhöhten EPO-Spiegel im Vergleich mit Gesunden. Es wird aber angenommen, dass der EPO-Spiegel zu gering ist für das Ausmaß der Anämie. Diese Annahme ergibt sich dadurch, dass der EPO-Spiegel bei Patienten mit einer Eisenmangelanämie wesentlich stärker erhöht ist als bei Patienten mit juveniler chronischer Arthritis und Kindern mit Krebserkrankungen (Cazzola et al. 1996; Corazza et al. 1998). Es könnte daher sein, dass der EPO-Spiegel davon abhängig ist, welche Erkrankung der Anämie zugrunde liegt. Die Wirksamkeit des EPO wird aber auch durch das Ausmaß der Erkrankung und die Menge an zirkulierenden Zytokinen beeinflusst. In-vitro-Daten konnten zeigen, dass hohe Zytokinkonzentrationen (IFN-γ und TNF-α) dazu führen, dass größere Erythropoetinmengen benötigt werden, um die CFUKolonieformation wiederherzustellen (Means u. Krantz 1991). 16.2
Hepcidin
! Eine Schlüsselrolle in der Pathophysiologie der ACD spielt das erst vor kurzem entdeckte Hepcidin (Ganz 2003). Dabei handelt es sich um ein leberspezifisches, antimikrobielles Peptid, das sowohl im Blut als auch im Urin gemessen werden kann.
Der Einfluss des Hepcidins auf den Eisenstoffwechsel konnte zuerst im Mausmodell gezeigt werden: Mäuse ohne Hepcidin entwickeln eine Eisenüberladung der Hepatozyten und des Pankreas, während die Makrophagen der Milz und die Kupffer-Zellen der Leber eisendefizient erscheinen. Ähnliche Symptome beobachtet man bei Hämochromatosepatienten mit defektem HFE-Gen. Interessanterweise kann bei diesen Patienten sowie bei entsprechenden Tiermodellen der Maus der Hepcidinspiegel nicht an die erhöhten Lebereisenwerte angepasst werden. Dies führt möglicherweise zu der erhöhten duodenalen Eisenaufnahme, die bei der Hämochromatose beobachtet wird (Bridle et al. 2003; Muckenthaler et al. 2003; Nicolas et al. 2003). Auch stellen Mutationen im menschlichen Hepcidin die Ursache für eine neu identifizierte Form der juvenilen Hämochromatose dar. Transgene Mäuse, die Hepcidin überexprimieren, sterben bereits bei Geburt an einer starken Eisenmangelanämie. Diese Studien zeigen, dass Hepcidin die Eisenabsorption im Duodenum, den Export des Eisens aus den Makrophagen und den Transport des Eisens über die Plazenta hemmt. Darüber hinaus überexprimieren
Patienten mit großen Leberadenomen und sonst ungeklärter Anämie Hepcidin in den Tumoren (Weinstein et al. 2002). Experimente im Tiermodell zeigen, dass die Expression des Hepcidins sowohl durch den Lebereisengehalt als auch durch Lipopolysaccharide (LPS) und Turpentine reguliert wird. Damit übereinstimmend findet man eine stark erhöhte Hepcidinkonzentration im Urin von Patienten mit Infektionen, Entzündungen und Eisenüberladung. Die Hepcidinkonzentration verhält sich dabei proportional zur Ferritinkonzentration (Nemeth et al. 2002). In Zellkultur wird Hepcidin dramatisch durch IL-6, aber nicht durch IL-1 und TNF-α induziert, was darauf hindeutet, dass Hepcidin ein Typ-IIAkutphasenprotein ist (Nemeth et al. 2002). Zusammengenommen weisen diese Daten stark darauf hin, dass Hepcidin ein lösliches Signalmolekül ist, das in der Umverteilung des Eisens bei der ACD eine Rolle spielt. 16.3
Therapie
Die beste Behandlung einer ACD ist zweifellos die Heilung der zugrunde liegenden Krankheit, was jedoch häufig nicht möglich ist. 16.3.1 Eisengabe Die alleinige Gabe von Eisen bei einer ACD ist nicht indiziert. Zum einen wird oral appliziertes Eisen nur schwer resorbiert, da durch Mechanismen, die zur Umverteilung des Eisens in das RES führen, auch die Eisenaufnahme im Dünndarm erniedrigt wird. Intravenös verabreichtes Eisen wird zwar effizient dem Organismus zur Verfügung gestellt, birgt aber mehrere Nachteile. Wie bereits beschrieben, ist Eisen essenziell für das Zellwachstum und die verstärkte Proliferation von Mikroorganismen und Tumorzellen – und wirkt damit der Eisenumverteilungsstrategie des Körpers entgegen. Weiterhin behindert die Eisenbeladung von Makrophagen und Monozyten die TH1-vermittelte Immunantwort, die eine zentrale Rolle im Kampf gegen pathogene Mikroorganismen und auch gegen maligne Zellen spielt (Brock 1994). Darüber hinaus wird appliziertes Eisen, bedingt durch die Eisenumverteilungsstrategien des Körpers und die Verminderung der Erythropoese den erythroiden Vorläuferzellen nicht effizient zur Verfügung gestellt (Kuiper-Kramer et al. 1996). 16.3.2 Transfusionstherapie Bei einer schweren ACD können Bluttransfusionen erforderlich sein, die neben den grundsätzlichen infektiologischen Bedenken bei wiederholter Anwendung natürlich auch die Gefahr einer Hämosiderose mit sich bringen ( Kap. 14). 16.3.3 Rekombinantes Erythropoetin Bei der ACD kommt es bedingt durch die erniedrigte HbKonzentration zwar zur Erhöhung des EPO-Spiegels. Allerdings muss man davon ausgehen, dass diese Reaktion für das Ausmaß der Anämie quantitativ nicht ausreicht ( oben).
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Pädiatrische Hämatologie: Anämien und Hämoglobinopathien
! Humanes rekombinantes Erythropoetin ist eine therapeutische Möglichkeit. Die Wirksamkeit ist erwiesen, wenn die Anämie durch eine Krebserkrankung, chronische Infektionen oder Autoimmunerkrankungen verursacht wird (Rizzo et al. 2001).
So erniedrigte die Einführung von rekombinantem EPO bei diesen Erkrankungen die Anzahl benötigter Bluttransfusionen und erhöhte die Lebensqualität in einigen Patientengruppen. Die benötigte, und von der American Society of Hematology empfohlene Dosis bewegt sich zwischen 150 U/ kg dreimal wöchentlich bzw. 40.000 U einmal pro Woche (Rizzo et al. 2001). Die Behandlung mit EPO ist jedoch teuer und die Wirksamkeit der Behandlung nicht immer gewährleistet. Die Bestimmung sowohl des endogenen EPO-Spiegels als auch der Serumferritinkonzentration kann über die Wirksamkeit von rekombinanten EPO Aufschluss geben. Eine EPO-Therapie war meist dann unwirksam, wenn endogene EPO-Werte von 100 mU/ml überschritten und/oder Serumferritinkonzentrationen über einem Wert von 400 ng/ml lagen (Ludwig et al. 1994). Während der endogene EPO-Gehalt ein Indikator für das Ausmaß der Anämie ist und damit für den Mangel an Eisen für die Erythropoese, stellt der Ferritinwert sowohl ein Maß für den Eisengehalt der Leber als auch für das Ausmaß der Aktivierung des Immunsystems oder das Ausmaß der Entzündung dar. Das heißt, sowohl die Menge an verfügbaren Eisen als auch der Grad der Entzündung ist wichtig für die Wirksamkeit einer EPO-Therapie (Greendyke et al. 1994; Nordstrom et al. 1997). Die Wirksamkeit des EPO bei der ACD kann durch eine Begleitherapie mit Eisen weiter verbessert werden, da die Verfügbarkeit des Eisens durch die Eisenumverteilung in das RES bei der ACD stark vermindert ist (Macdougall 1999). Bei erwachsenen Patienten mit rheumatoider Arthritis zeigt die Kombinationstherapie Erfolg (Nordstrom et al. 1997). Aber auch hier gelten die beschriebenen nachteiligen Effekte einer Behandlung mit Eisen. Ob die Vorteile dieser Behandlungsstrategie (Stimulation der Hämbiosynthese/Erythropoese) die Nachteile einer Eisenbehandlung überwiegen, muss durch prospektive Studien erst noch geklärt werden (Weiss 2002).
Die Anämie chronischer Erkrankungen ist eine häufige Begleiterscheinung von chronisch-entzündlichen Erkrankungen. Sowohl im Laufe der Akutphasenantwort freigesetzte Zytokine als auch das den β-Defensinen ähnliche antimikrobielle Peptid Hepcidin sind Teil der Mechanismen, die zur Eisenretention im RES führen und zur Verteidigung des Wirtes gegen invasive Mikroorganismen beitragen.
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191 16 · Anämien chronischer Erkrankungen
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Granulozytopenien C. Zeidler, K. Welte
17.1 17.2 17.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5 17.4.6 17.4.7 17.4.8 17.4.9
Einleitung – 192 Schweregrade der Neutropenie – 193 Differenzialdiagnose der schweren chronischen Neutropenie – 193 Schwere kongenitale Neutropenie – 194 Definition – 194 Vererbung – 194 Pathophysiologie – 194 Diagnosestellung – 194 Klinik – 195 Therapie mit G-CSF – 195 Entwicklung von sekundären myelodysplastischen Syndromen und Leukämien – 196 Hämatopoetische Stammzelltransplantation – 197 Allgemeines Management von Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie – 197
17.5
Zyklische Neutropenie
17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4 17.5.5
Definition – 197 Ätiologie – 197 Diagnosestellung – 198 Klinik – 198 Therapie und Prognose – 198
– 197
17.6 17.7 17.8
Myelokathexis – 198 Retikuläre Dysgenesie – 198 Shwachman-Diamond-Syndrom
17.8.1 17.8.2 17.8.3
Diagnosestellung – 198 Klinik – 199 Therapie und Prognose – 199
17.1
Definition – 200 Ätiologie – 200 Diagnosestellung – 200 Therapie und Prognose – 200
17.11 Neutropenie bei primären Immundefektsyndromen – 200 17.12 Infektionsbedingte Neutropenie – 201 17.13 Medikamentös induzierte Neutropenie – 201 17.14 Neutropenie bei Malnutrition – 201 17.15 Idiopathische Neutropenie – 201 Literatur – 201
Im Alter von 3 Jahren wurde bei dem Mädchen eine Granulozytopenie festgestellt, dieselbe Krankheit, an der auch ihr älterer Bruder litt. In den ersten Lebensjahren machte sich die Erkrankung durch häufige Entzündungen in der Mundhöhle bemerkbar. Später kamen wiederholte Lungen-
▼
Einleitung
– 198
17.9 Neutropenie bei Stoffwechselstörungen – 199 17.10 Autoimmunneutropenie des Kleinkindesalters – 200 17.10.1 17.10.2 17.10.3 17.10.4
entzündungen hinzu, die mehrwöchige Krankenhausaufenthalte notwendig machten. Als wegen einer sehr schweren Darminfektion eine Darmoperation durchgeführt wurde, platzte die Wunde immer wieder auf, so dass das Kind in weniger als 3 Wochen dreimal operiert wurde. Es erholte sich nur langsam, der Krankenhausaufenthalt dehnte sich auf fast ein Jahr aus. 11 Jahre später schlugen die Ärzte eine komplette Zahnsanierung vor, um so möglicherweise den schlechten Allgemeinzustand zu verbessern. Trotz der Zahnbehandlung trat keine Besserung ein, die Patientin wurde schließlich in eine Spezialklinik für Knochenmarktransplantation überwiesen. Obwohl zum Glück mehrere Geschwister als mögliche Spender in Frage kamen, wurden die Heilungschancen durch eine Transplantation als gering angesehen. Daher wurde eine Behandlung mit dem damals neuen Medikament G-SCF durchgeführt. Seit 1989 erhält die Patientin G-CSF mit gutem Erfolg; sie kann ein relativ normales Leben führen. Heute erinnern nur noch die zahlreichen Narben an die Kindheit.
Granulozytopenien sind Erkrankungen, bei denen die Zahl der neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut vermindert ist. Sie werden daher auch kurz Neutropenien genannt. Die Hauptaufgabe der neutrophilen Granulozyten, oder kurz Neutrophilen, besteht in der Abwehr bakterieller Infektionen. Angelockt durch die bei Entzündungen freigesetzten Chemokine wandern die Neutrophilen aus der Blutbahn in das entzündete Gewebe. Mittels in Vesikeln gespeicherter Noxen werden die Bakterien von den neutrophilen Granulozyten phagozytiert und abgetötet. Für die Langzeitprognose ist die Unterscheidung zwischen transienten und chronischen Neutropenien von besonderer Bedeutung. Medikamentös induzierte Neutropenien sowie Neutropenien nach Virusinfektionen oder radioaktiver Bestrahlung sind meist transient. Die Hämatopoese erholt sich nach einiger Zeit, die Granulozytenwerte normalisieren sich. Nur in Einzelfällen kommt es hier zu chronischen Verläufen. Bei einer über mehr als 3 Monate persistierenden Neutropenie spricht man von einer chronischen Neutropenie. Es gibt verschiedene Möglichkeiten die chronischen Neutropenien einzuteilen: ▬ Nach der Entstehung: in primäre Erkrankungen der Myelopoese und sekundäre Neutropenien bei komplexen Krankheitsbildern oder Syndromen. ▬ Nach dem Zeitpunkt der Entstehung in angeborene oder erworbene Neutropenien.
193 17 · Granulozytopenien
! Der Begriff »schwere chronische Neutropenie (SCN)« beschreibt unterschiedliche Erkrankungen, deren gemeinsames Merkmal eine anhaltende Verminderung der Neutrophilenwerte auf weniger als 500/µl verbunden mit einer erhöhten Infektanfälligkeit ist.
Die meisten schweren chronischen Neutropenien sind vererbt oder ursächlich durch einen genetischen Defekt bedingt, können aber auch erworben werden. Die verschiedenen Erkrankungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Schwere und Begleitsymptome. Bei einer Verminderung der absoluten neutrophilen Granulozyten unter 500/µl oder gar dem vollständigen Fehlen der reifen neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut kann es aufgrund der fehlenden Abwehr zu letalen Verläufen von bakteriellen oder Pilzinfektionen kommen. Die Infektanfälligkeit ist jedoch nicht allein von der Neutrophilenzahl und Dauer der Neutropenie abhängig, sondern auch von der Art der zugrunde liegenden Erkrankung. Bei einer schweren angeborenen Neutropenie, wie dem Kostmann-Syndrom, können aufgrund eines Ausreifungsstops der Granulopoese im Knochenmark keine reifen Granulozyten gebildet werden. Schwere Infektionen, häufig bereits während der ersten Lebensmonate, sind die Folge. Bei der erworbenen infantilen Autoimmunneutropenie können die Granulozyten im peripheren Blut genauso stark vermindert sein, hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Bildungsstörung. Diese Kinder weisen im Gegensatz zur kongenitalen Neutropenie nur sehr selten ein erhöhtes Infektionsrisiko auf. Die Entdeckung hämatopoetischer Wachstumsfaktoren in den 80er-Jahren und ihre pharmakologische Verfügbarkeit, insbesondere des G-CSF (»granulocyte colony-stimulating factor«), veränderten die Prognose für Patienten mit Neutropenien maßgeblich. Während für die angeborenen Neutropenien vor der Zytokin-Ära die einzige Therapieoption in einer Knochenmarktransplantation bestand, können diese Patienten heute mit einer G-CSF-Dauertherapie erfolgreich behandelt werden. Bei der geringen Inzidenz der einzelnen Erkrankungen sind die heutigen Erkenntnisse zu Pathophysiologie und klinischem Verlauf v. a. dem Aufbau eines internationalen Erkrankungsregisters für Neutropenie zu verdanken. Seit 1994 sammelt das »Severe Chronic Neutropenia International Registry (SCNIR)« mit Sitz in Seattle (University of Washington), USA und Hannover (Medizinische Hochschule Hannover), Deutschland, weltweit Longitudinaldaten von mehr als 1000 Patienten mit angeborenen und erworbenen schweren chronischen Neutropenien zu Erkrankungsverlauf, sekundären Erkrankungen, Therapieansprechen und Nebenwirkungen der Therapie. Gleichzeitig haben neue molekularbiologische Techniken und die Grundlagenforschung in den letzten Jahren auch bei diesen Erkrankungen neue Einblicke in die Mechanismen der Erkrankungsentstehung und malignen Transformation eröffnet. Die exakte Diagnosestellung und Kenntnis der Prognose ist für die adäquate Therapie und Aufklärung des Patienten von größter Bedeutung. 17.2
Schweregrade der Neutropenie
Die Verminderung der absoluten Neutrophilenzahl im Blutbild und damit der Schweregrad der Neutropenie kann er-
Tabelle 17.1. Schweregrade der Neutropenie
Art der Neutropenie
Absolute Neutrophilenzahl
Milde Neutropenie
1×109/l−1,5×109/l
Mittelgradige Neutropenie
0,5×109/l−1,0×109/l
Schwere Neutropenie
<0,5×109/l
heblich variieren. Die normale Zahl der peripheren neutrophilen Granulozyten unterliegt im Kindesalter erheblichen Schwankungen. Es ist daher für die Diagnosestellung einer Neutropenie von größter Wichtigkeit, die Absolutwerte zu errechnen und mit den altersentsprechenden Normwerten zu vergleichen. Die absolute Neutrophilenzahl (ANZ) errechnet sich aus % (stabkernige + segmentkernige Granulozyten) × Leukozytenzahl: 100. ⊡ Tabelle 17.1 gibt eine Einteilung der Schweregrade der Neutropenie als altersunabhängige Richtlinie. Die Krankheitssymptome eines Patienten hängen vom Schweregrad und der Dauer der Neutropenie ab. Je niedriger die Neutrophilenzahl, desto höher ist das Risiko für eine Infektion. Zu den Infektionen, die häufig bei einer Neutropenie auftreten, gehören Gingivitiden und Ulzerationen der Mundschleimhaut, Mittelohrentzündungen, Tonsillitiden und Hautabszesse. Seltener treten Pneumonien und Abszesse der inneren Organe, wie Leberabszesse auf. Zu systemischen Pilzinfektionen, die rasch progredient verlaufen können, kommt es vermehrt nach prolongierter antibiotischer Therapie ohne gleichzeitige medikamentöse Pilztherapie. ! Jedes Fieber (Körpertemperatur >38,5°C) muss bei Patienten mit schwerer Neutropenie sehr ernst genommen werden und den behandelnden Arzt zu entsprechender Diagnostik veranlassen.
17.3
Differenzialdiagnose der schweren chronischen Neutropenie
Eine Vielzahl unterschiedlicher Erkrankungen kann mit einer schweren chronischen Neutropenie einhergehen. Angeborene Neutropenien: Primäre Erkrankungen der Myelopoese − Schwere kongenitale Neutropenie − Zyklische Neutropenie − Myelokathexis − Retikuläre Dysgenesie Neutropenie bei Stoffwechselerkrankungen − Glykogenose Typ 1b Neutropenie bei Immundefekterkrankungen − Hyper-IgM-Syndrom − Griscelli-Syndrom Syndrome assoziiert mit Neutropenie − Shwachman-Diamond-Syndrom − Chediak-Higashi-Syndrom − Barth-Syndrom
▼
17
194
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
17.4.3
I
Pathophysiologie
Erworbene Störungen der Granulopoese:
Alloimmun-, Autoimmunneutropenie Infektionsbedingte Neutropenie Medikamentös induzierte Neutropenie Neutropenie bei Malnutrition Idiopathische Neutropenie
Neutropenien im Rahmen von anderen hämatologischen Erkrankungen: Erworbene oder angeborene Störungen mit Knochenmarkversagen Leukämien
17.4
Schwere kongenitale Neutropenie
17.4.1
Definition
Der Begriff »schwere kongenitale Neutropenie« wurde in der Vergangenheit mehr und mehr für eine Gruppe hämatologischer Erkrankungen mit gemeinsamen klinischen Manifestationen benutzt. Sie sind durch einen Ausreifungsstopp der Myelopoese auf der Stufe der Promyelozyten oder Myelozyten bei normaler Zellularität des übrigen Knochenmarks und daraus resultierender schwerer Neutropenie mit absoluten Neutrophilenzahlen <200/µl charakterisiert. Schwere, zum Teil lebensbedrohliche bakterielle Infektionen treten meist bereits im frühen Kindesalter auf. Die wichtigste Erkrankung aus dieser Gruppe ist das Kostmann-Syndrom. 17.4.2
Vererbung
Rolf Kostmann beschrieb erstmals Patienten mit einer autosomal-rezessiven schweren Neutropenie ohne zusätzliche hämatologische Veränderungen oder weitere angeborene Fehlbildungen (Kostmann 1956). Der genetische Defekt des rezessiv vererbten Kostmann-Syndroms ist noch nicht identifiziert. Eine schwere angeborene Neutropenie ist auch gehäuft bei Kindern konsanguiner Eltern zu beobachten. Die Diagnose »Kostmann-Syndrom« wird heute häufig auch für Patienten mit ähnlichen Blutbildveränderungen, jedoch ohne einen eindeutigen Erbgang, gebraucht. Es wurden in den letzten Jahren zahlreiche Patienten identifiziert, bei denen ein sporadisches Auftreten des bislang unbekannten Gendefektes oder eine Neumutation vermutet wird. Zusätzlich gibt es Einzelfälle mit eindeutig autosomal-dominantem Erbgang. Es bleibt unklar, ob den Erkrankungen ein gemeinsamer Gendefekt zugrunde liegt oder verschiedene Veränderungen in einer Gruppe von Genen, die in einem umschriebenen Bereich lokalisiert sind (beispielsweise auf dem gleichen Chromosomenabschnitt). Daher ist der Begriff »kongenitale Neutropenie« zur Beschreibung dieser heterogenen Patientengruppe zu bevorzugen. Die geschätzte Häufigkeit dieser Erkrankungen liegt bei 1–2 Erkrankungen pro Million Einwohner bei gleicher Geschlechtsverteilung.
Der Gendefekt, der dem Kostmann-Syndrom zugrunde liegt, konnte bislang nicht identifiziert werden. Interessanterweise wurden jedoch Ende der 90er-Jahre Mutationen im Gen für die Neutrophilen-Elastase identifiziert (Horwitz et al. 1999), die ursächlich für die zyklische Neutropenie zu sein scheinen und auch bei einem Teil der Patienten mit kongenitaler Neutropenie nachweisbar sind (Germeshausen et al. 2001; Dale et al. 2000). Inwieweit Mutationen im Elastasegen auch bei der Entstehung des Kostmann-Syndroms involviert sind, wird derzeit noch diskutiert und überprüft (Germeshausen et al. 2001). Der Ausreifungsarrest der granulozytären Reihe ist auch in vitro nur schwer zu überwinden. Normale Stimulatoren der Myelopoese wie G-CSF oder GM-CSF führen in vitro nur in sehr hohen Konzentrationen zum Auswachsen von einzelnen neutrophilen Granulozytenkolonien, während das Wachstum anderer Kolonien, z. B. Monozytenkolonien oder Kolonien eosinophiler Granulozyten, normal ist. Antikörper gegen myeloische Zellen oder Seruminhibitoren konnten nicht nachgewiesen werden. Ursprünglich wurde angenommen, dass die kongenitale Neutropenie durch eine genetisch fixierte Verminderung der endogenen G-CSF-Produktion oder ein vermindertes Ansprechen der neutrophilen Vorläuferzellen auf G-CSF und/oder andere hämatopoetische Wachstumsfaktoren hervorgerufen wird. Bereits Anfang der 90er-Jahre konnte jedoch gezeigt werden, dass ▬ die G-CSF-Serumspiegel von Patienten mit KostmannSyndrom normal bis erhöht sind (Mempel et al. 1991), ▬ endogenes G-CSF eine normale biologische Aktivität zeigt, ▬ G-CSF-Rezeptoren auf myeloischen Zellen in normaler bis leicht erhöhter Zahl exprimiert werden (Kyas et al. 1992) und ▬ die Bindungskonstante für G-CSF an seinen Rezeptor normal ist (Kyas et al. 1992). Dennoch kann bei Patienten mit kongenitaler Neutropenie durch die Gabe von rekombinant hergestelltem G-CSF in pharmakologischen Dosen ein Anstieg der Neutrophilenzahl erzielt werden. Der Signalübertragungsweg für diesen Effekt ist noch weitgehend unbekannt. Untersuchungen zur Signalübertragung ergaben keinen Hinweis auf eine Beteiligung der intrazellulären Signalproteine, wie JAK2 (Rauprich et al. 1995), Lyn und Syk (Kasper et al. 1999), wohingegen eine Überexpression der SHP-1 und SHP-2 Proteine (Tidow et al. 1999) oder eine verminderte Expression der kleinen G-Proteine (rac 2; Kasper et al. 2000) in Neutrophilen von Patienten mit kongenitaler Neutropenie nachweisbar waren. Es bleibt jedoch offen, ob diese Veränderungen Folge oder Ursache des zugrunde liegenden Defektes sind. 17.4.4
Diagnosestellung
Die chronische Verminderung der absoluten Neutrophilenzahl auf Werte zwischen 0 und 200/µl muss durch wiederholte Differenzialblutbilder bestätigt werden. Im Blutbild findet sich häufig zusätzlich eine milde Anämie (Hämoglobinwert
195 17 · Granulozytopenien
ersten Lebensjahren ihren Infektionen. 42% der früher publizierten Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie verstarben bereits in den ersten 2 Lebensjahren infolge von Sepsis oder Pneumonie. Unter Antibiotikaprophylaxe (z. B. mit Trimethoprim/Sulfamethoxazol) erreichen einzelne Patienten das Erwachsenenalter, jedoch meist nicht ohne rezidivierende schwere bakterielle Infektionen. 17.4.6
⊡ Abb. 17.1. Typischer Knochenmarkausstrich eines Patienten mit kongenitaler Neutropenie
10–12 g/dl) und Thrombozytose (bis ca. 800.000/µl). Weiterhin können Monozyten und Eosinophile vermehrt sein. Eine Erhöhung der Immunglobulinspiegel für IgG findet sich bei der Mehrzahl der Patienten unabhängig von ihrem Infektionsstatus. Die spezifische Immunkompetenz nach Impfung ist normal. Das Knochenmark zeigt eine regelrechte oder leicht verminderte Zellularität. Es findet sich in der Regel ein Ausreifungsstop der neutrophilen Vorläuferzellen auf einer frühen Stufe (Stadium der Promyelozyten/Myelozyten). Im Knochenmarkausstrich lassen sich keine oder nur wenige reifere Zellen der neutrophilen Zellreihe nachweisen. Die Anzahl der Promyelozyten ist leicht erhöht (Welte u. Boxer 1997; Zeidler u. Welte 2002). Die Morphologie der Promyelozyten zeigt Veränderungen wie Vakuolisierung oder Kernatypien. Eine Knochenmarkeosinophilie findet sich häufig. Die Anzahl und Morphologie der Megakaryozyten ist normal. Eine typische Knochenmarkmorphologie zeigt ⊡ Abb. 17.1. Differenzialdiagnostisch ist die schwere kongenitale Neutropenie von der Immunneutropenie dadurch abzugrenzen, dass bei kongenitaler Neutropenie die Reifungsstufen nach den Myelozyten fast völlig fehlen, während bei der Immunneutropenie alle Vorstufen der neutrophilen Granulopoese bis zu den stabkernigen Granulozyten vorhanden sind. 17.4.5
Klinik
Bei Patienten mit kongenitaler Neutropenie treten schwere bakterielle Infektionen bereits während des ersten Lebensjahres auf. Eine Omphalitis direkt nach der Geburt kann ein erstes Symptom der Erkrankung sein. In den ersten Lebensjahren stehen Pneumonien, Otitiden und Stomatitiden im Vordergrund, während ältere Kinder und Erwachsene zunehmend an Abszessen der Haut, Lunge und Leber, sowie Gingivitiden mit Zahnverlust, leiden. In Blutkulturen von Patienten mit bakteriellen Infektionen werden meist Staphylokokken oder Streptokokken nachgewiesen, aber auch andere Keime, wie Pseudomonaden, Peptostreptokokken und Pilze können gefunden werden. Schwere Infekte, v. a. mit anaeroben Keimen (z. B. Clostridien) können trotz antibiotischer Kombinationstherapie rasch tödlich verlaufen. In der Ära vor einer Behandlungsmöglichkeit mit G-CSF erlagen Patienten ohne Antibiotikaprophylaxe meist in den
Therapie mit G-CSF
Bis in die 80er-Jahre war die einzige Therapieoption eine Knochenmarktransplantation (Rappeport et al. 1980). Seit Ende 1987 kann G-CSF gentechnisch hergestellt werden und ist seither für den klinischen Einsatz bei kongenitaler Neutropenie verfügbar (Souza et al. 1986; Nagata et al. 1986). Durch die G-CSF-Therapie haben die meisten Patienten eine Lebenserwartung weit über das zweite Lebensjahrzehnt hinaus und eine entscheidend verbesserte Lebensqualität. Patienten, die auf G-CSF ansprechen, erleiden signifikant weniger schwere bakterielle Infektionen; dementsprechend sind nahezu keine Krankenhausaufenthalte mehr erforderlich. Patienten können am alltäglichen Leben nahezu ohne Einschränkungen teilnehmen. Dies schließt im Kindesalter den Besuch von Kindergarten und Schule und später eine freie Berufswahl ein (Dale et al. 1993; Zeidler et al. 1993; Bonilla et al. 1994; Welte u. Dale, 1996; Welte u. Boxer, 1997). Eine Isolation zum Schutz vor bakteriellen Infektionen ist nicht mehr notwendig. Die neutrophilen Granulozyten sind in der Lage, Bakterien normal zu phagozytieren und intrazellulär abzutöten (eigene Ergebnisse). G-CSF wirkt überwiegend stimulierend auf die Proliferation und Differenzierung der Myelopoese. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass individuell unterschiedliche pharmakologische Dosen von G-CSF (1–80 µg/kg/Tag) bei mehr als 90% der Patienten einen signifikanten Anstieg der absoluten Neutrophilenzahl auf Werte über 1000/µl induzieren, wodurch sich auch die Zahl schwerer bakterieller Infektionen signifikant reduziert (Bonilla et al. 1989; Welte et al. 1990). Das Ansprechen auf G-CSF, gemessen an der Zahl der neutrophilen Granulozyten im Blut, ist sehr heterogen. Etwa zwei Drittel der Patienten benötigen Dosen zwischen 3 und 10 µg/kg/Tag, während ein Drittel zwischen 20 und 60 µg/kg/ Tag benötigt, um mehr als 1000 neutrophile Granulozyten/µl im Blut aufzuweisen. Die mediane Dosis liegt bei 12,5 µg/kg/ Tag. Die Therapie mit G-CSF wird von der Mehrzahl der Patienten gut vertragen, lokale Reaktionen an der Einstichstelle sind selten (Zeidler u. Welte 2002). Eine Behandlung mit rekombinantem humanem G-CSF sollte mit 5µg/kg/Tag subkutan begonnen werden. Falls die absolute Neutrophilenzahl <1×109/l bleibt, kann die Dosis auf 10µg/kg/Tag s.c. und nachfolgend jeweils um 10µg/kg/Tag s.c. in 14-tägigen Intervallen erhöht werden. Sobald die absolute Neutrophilenzahl um 1×109/l gehalten werden kann, ist eine weitere Dosiserhöhung nicht erforderlich, da bei diesen Neutrophilenzahlen die Infektionshäufigkeit drastisch abnimmt. Die G-CSF-Dosis kann reduziert werden, falls die absoluten Neutrophilenzahlen auf 5×109/l oder mehr ansteigen. Es ist mit diesen Richtlinien möglich, eine für den Patienten niedrigste G-CSF-Dosis festzulegen, die eine ausreichende Neutrophilenzahl garantiert.
17
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I
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
⊡ Abb. 17.2. Verlauf der medianen Granulozytenzahlen von 305 Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie
Im Internationalen Register für schwere chronische Neutropenien (SCNIR) sind mittlerweile weltweit Daten von mehr als 400 Patienten mit kongenitaler Neutropenie gespeichert. Registerdaten zeigen, dass es im Verlauf nicht zur Erschöpfung der Myelopoese und Reduktion der Neutrophilenzahlen kommt (⊡ Abb. 17.2). Ca. 5–10% der Kinder sprechen selbst auf G-CSF-Dosen von bis zu 120 µg/kg/Tag, kontinuierlich in Infusion gegeben, nicht an. Eine Behandlung mit GM-CSF (»granulocyte/ monocyte stimulating factor«) führt bei Patienten mit kongenitaler Neutropenie nicht zu einem Anstieg der Neutrophilen, sondern lediglich der Eosinophilen (Welte et al. 1990). 17.4.7
Entwicklung von sekundären myelodysplastischen Syndromen und Leukämien
Bereits in der Zeit vor einer G-CSF-Therapie gab es einzelne Berichte über Leukämien bei Patienten mit chronischer Neutropenie, die ihre Infektionen überlebten (Gilman et al. 1970; Rosen et al. 1979). Wegen der kurzen Lebensdauer der meisten Patienten konnte das tatsächliche Leukämierisiko jedoch nicht bestimmt werden. Es bleibt daher unklar, ob die heute
verlängerte Lebenserwartung das erhöhte Leukämierisiko nur offen legt und somit den natürlichen Verlauf der Grunderkrankung darstellt, oder ob G-CSF einen zusätzlichen Einfluss auf die maligne Transformation ausübt, beispielsweise durch Wachstumsvorteil eines malignen Klons unter G-CSF. Seit dem Beginn klinischer Studien mit G-CSF im Jahr 1987 wurden insgesamt 51 Patienten an das SCNIR gemeldet, die ein sekundäres myelodysplastisches Syndrom (MDS) oder eine sekundäre Leukämie entwickelt haben. Bei allen Patienten war initial eine schwere kongenitale Neutropenie diagnostiziert worden. Bei einem durchschnittlichen Followup von 5–6 Jahren liegt die Inzidenz von MDS/Leukämie bei kongenitaler Neutropenie derzeit bei 11%. Patienten mit Konversion in MDS/Leukämie zeigen häufig bestimmte genetische Veränderungen in ihren hämatopoetischen Zellen wie Monosomie 7 oder Mutation im RASGen oder im Gen für den G-CSF-Rezeptor (Dong et al. 1995; Tidow et al. 1997). Eine Mutation in der kritischen Region des G-CSF-Rezeptors resultiert in einer trunkierten C-terminalen zytoplasmatischen Region des Proteins, einem Bereich, der eine entscheidende Rolle in der Übertragung von Ausreifungssignalen spielt (⊡ Abb. 17.3; Dong et al. 1995; Tidow et al. 1997; Germeshausen et al. 1999).
⊡ Abb. 17.3. Nonsense-Mutationen in der kritischen Region des G-CSF-Rezeptorgens bei Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie
197 17 · Granulozytopenien
Diese genetischen Veränderungen sind jeweils erworben und treten meist zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Verlauf der Erkrankung auf (Tschan et al. 2001; Zeidler et al. 2002). Dies weist darauf hin, dass es sich bei der Entwicklung eines MDS/Leukämie um eine schrittweise Entwicklung mit einer Serie zellulärer genetischer Veränderungen handelt, die auf eine genetische Prädisposition für eine maligne Transformation hinweisen. Die Leukämogenese folgt demnach einem Multistep-Prozess bei genetischer Instabilität. Die G-CSF-Rezeptoranalyse kann aus den genannten Gründen zwar nicht zur Diagnosestellung von chronischer Neutropenie herangezogen werden, sie kann jedoch helfen, das individuelle Leukämierisiko eines Patienten abzuschätzen. Das SCNIR Advisory Board empfiehlt daher die jährliche Kontrolle der Knochenmarkzytogenetik, um eine Monosomie 7 oder andere Veränderungen, die auf eine Transformation hinweisen, zu identifizieren. Dies könnte eine frühzeitige therapeutische Intervention, wie beispielsweise eine Knochenmarktransplantation, erlauben, bevor sich die Prognose nach Ausbruch einer Leukämie verschlechtert. Chemotherapie allein führte bislang bei keinem der dokumentierten Leukämiepatienten zur Heilung. Heilungschancen bestanden lediglich nach Durchführung einer Knochenmarktransplantation und liegen bei derzeit ca. 31% (11 Überlebende bei 35 Patienten). Zu den Sekundär- oder Begleiterkrankungen bei mit GCSF behandelten Patienten mit schwerer chronischer Neutropenie gehören auch eine Osteopenie bei nahezu 50%, eine Vaskulitis bei 3% und eine milde Splenomegalie bei 40% aller Patienten. Die molekularen Ursachen dieser Begleiterkrankungen sind noch nicht bekannt. 17.4.8
Hämatopoetische Stammzelltransplantation
Für Patienten, die nicht auf G-CSF ansprechen, und Patienten, die im Verlauf der Erkrankung eine sekundäre Leukämie entwickeln, bleibt die hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT) zur Zeit die einzige Behandlungsmöglichkeit (Zeidler et al. 2000). Bei erfolgreichem Verlauf normalisiert sich die Hämatopoese der Patienten nach der Transplantation, so dass keine weitere Zytokintherapie benötigt wird. Die Option einer Stammzelltransplantation für Patienten, die gut auf die G-CSF-Therapie ansprechen und keinen Hinweis auf eine bevorstehende maligne Transformation aufweisen, muss trotz der kurativen Chancen der Stammzelltransplantation sorgfältig abgewogen werden. Auch bei einer Transplantation von einem HLA-identischen Geschwister besteht ein Risiko für einen therapiebedingten Tod oder eine chronische Folgeerkrankung nach Transplantation, das gegen das Risiko einer Leukämieentwicklung abzuwägen ist. Patienten, bei denen eine Monosomie 7, eine andere wesentliche Chromosomenveränderung oder eine Myelodysplasie/AML auftritt, sollten schnellstmöglich transplantiert werden. Die Daten über alternative Stammzellspender, wie z. B. haploidente Spender, sind noch unzureichend, um eine Bewertung für Patienten mit kongenitaler Neutropenie abzugeben.
17.4.9
Allgemeines Management von Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie
! Alle Patienten mit chronischer Neutropenie sollten mindestens zweimal im Jahr von einem Arzt gesehen werden. Unter G-CSF-Therapie sollten mindestens alle 3 Monate eine Kontrolle der Blutwerte (Leukozyten, Hämoglobin, Thrombozyten und Differenzialblutbild) und eine körperliche Untersuchung, einschließlich Gewichts- und Längenmessung, sowie einer Dokumentation der zwischenzeitlich durchgemachten Infektionen erfolgen.
Eine Registrierung der Patienten im Internationalen Register für schwere chronische Neutropenien ist sehr wünschenswert, da nur durch ausreichende Patientenzahlen Aussagen über die Langzeitprognose und sekundäre Erkrankungen möglich sind. Die Untersuchung des Knochenmarks (Morphologie und Zytogenetik) ist einmal im Jahr erforderlich, um nach zytogenetischen Veränderungen zu suchen. Die Analyse des G-CSF-Rezeptors aus heparinisiertem Blut oder Knochenmark in Labors, die mit dem SCNIR verbunden sind, sollte bei Patienten mit kongenitaler Neutropenie ebenfalls regelmäßig durchgeführt werden. 17.5
Zyklische Neutropenie
17.5.1
Definition
Die zyklische Neutropenie ist durch periodische Oszillationen von neutrophilen Granulozyten im Blut definiert. Alle 18–22 Tagen kommt es zu einer Neutropeniephase, die 4–8 Tage andauert. Dabei werden neutrophile Granulozytenzahlen unter 500/µl gemessen. Während der restlichen Zeit steigen die Neutrophilen meist auf niedrig-normale bis normale Werte an. Nicht nur die neutrophilen Granulozyten, sondern auch andere Blutzellen (Retikulozyten, Thrombozyten etc.) können in ihrer Zahl oszillieren (Dale et al. 2002). 17.5.2
Ätiologie
Die zyklische Neutropenie wird autosomal-dominant vererbt (Morley 1967) oder tritt sporadisch auf. Anhand von Kopplungsanalysen bei Familien mit zyklischer Neutropenie konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche Mutationen im Gen für Neutrophilen-Elastase (ELA2-Gen) für den Phänotyp der zyklischen Neutropenie verantwortlich zu sein scheinen (Horwitz 1999; Dale 1999). Der exakte regulatorische Defekt, der für das Oszillieren verantwortlich ist, ist nicht bekannt. Es wurden mathematische Modelle zur Erklärung der periodischen Oszillationen beschrieben (Haurie et al. 1998).
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Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
17.5.3
Diagnosestellung
I Sobald Infektionen (meist aphthöse Stomatitis) in einem regelmäßigen Abstand von etwa 3 Wochen auftreten, sollte an eine zyklische Neutropenie gedacht werden. Der typische zyklische Verlauf der neutrophilen Granulozyten kann häufig nur durch wiederholte Blutbildkontrollen (mindestens 3 Differenzialblutbilder pro Woche über 6 Wochen) gefunden werden. ! Die Diagnose ist durch Dokumentation des zyklischen Verhaltens der neutrophilen Granulozytenzahlen zu stellen.
Das Knochenmark zeigt eine je nach Entnahmezeitpunkt während des Zyklus unterschiedliche Zellularität. Kurze Zeit vor und während der Neutropenie ist eine starke Verminderung der neutrophilen Granulozytenvorstufen zu finden. Dazwischen normalisiert sich die Granulopoese; entsprechend sind alle Vorstufen der neutrophilen Granulozyten in normaler Verteilung zu sehen. 17.5.4
Klinik
Patienten mit zyklischer Neutropenie zeigen je nach individueller Dauer der Neutropenie unterschiedlich schwere Krankheitsbilder. Patienten mit einer Neutropeniedauer pro Zyklus von einer Woche oder länger, zeigen schon in den ersten Lebensmonaten schwere bakterielle Infekte, während Patienten mit einer kürzeren Neutropeniedauer von nur einem oder wenigen Tagen kaum schwere Infekte erleiden. Nahezu alle Patienten mit klinisch symptomatischer zyklischer Neutropenie haben alle 3 Wochen Phasen von schwerer Neutropenie und Infektionen in fast jedem Zyklus. Schwere Infektionen, wie z. B. Pneumonien und Sepsis sind jedoch selten. In der neutropenischen Zyklusphase treten v. a. Stomatitiden, Lymphadenopathien oder Hautabszesse auf (Dale et al. 1993, 2002). 17.5.5
Therapie und Prognose
Wie bei der schweren kongenitalen Neutropenie wird G-CSF auch bei der zyklischen Neutropenie seit dem Ende der 80erJahre erfolgreich eingesetzt (Hammond 1989). Patienten mit zyklischer Neutropenie sprechen schon auf G-CSF-Dosen von 1–5 µg/kg/Tag, subkutan appliziert, mit einem signifikanten Anstieg der neutrophilen Granulozyten an. Allerdings wird der zyklische Verlauf der Neutrophilenzahlen durch die Gabe von G-CSF nicht aufgehoben, sondern nur auf ein höheres Niveau mit einer kürzeren Neutropeniephase angehoben (Hammond 1989). Die Zyklen sind auch nach einem Beobachtungszeitraum von 5 Jahren unter G-CSF-Therapie ähnlich wie zu Beginn der Behandlung (Bonilla et al. 1994). Klinisch kommt es durch die G-CSF-Therapie zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität. Die Zahl und Schwere der bakteriellen Infekte nimmt signifikant ab. Nach einem Beobachtungszeitraum von mehr als zehn Jahren gibt es bislang keine Hinweise, dass die chronische Verabreichung von G-CSF zu unerwünschten Langzeitnebenwirkungen führt. Insbesondere gibt es unter Langzeitbehandlung mit
G-CSF bislang keine Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für eine leukämische Transformation. ! Zur Zeit ist G-CSF die Therapie der Wahl für Patienten mit zyklischer Neutropenie.
17.6
Myelokathexis
Myelokathexis ist eine seltene Form einer angeborenen schweren chronischen Neutropenie (Zuelzer 1964). Sie ist durch eine Hyperplasie der myeloischen Zellreihe im Knochenmark und degenerative Veränderungen der reifen neutrophilien Granulozyten wie Vakuolisierung des Zytoplasmas, Hypersegmentierung und Kernpyknosen gekennzeichnet. Pathogenetisch wird eine Imbalance von pro- und antiapoptotischen Faktoren postuliert (Aprikyan et al. 2000). Einige Patienten zeigen auch Warzen (extensive Papillomavirusinfektionen), Hypoglammagloblinämie, rekurrente bakterielle sinopulmonale Infektionen neben einer Myelokathexis (WHIM-Syndrom). Der Phänotyp des WHIM-Syndroms wird durch Mutationen im Chemokinrezeptor CXCR4 hervorgerufen (Hernandez et al. 2003). 17.7
Retikuläre Dysgenesie
Der angeborenen retikulären Dysgenesie liegt ein Defekt der myeloischen und lymphatischen Stammzellen zugrunde (Emile et al. 2000). Betroffene Säuglinge zeigen eine schwere Neutropenie, eine moderate bis schwere Lymphopenie und fehlendes lymphatischen Gewebe. Erythro- und Megakaryopoese sind normal. Die Indikation zur frühzeitigen hämatopoetischen Stammzelltransplantation ist gegeben. 17.8
Shwachman-Diamond-Syndrom
Shwachman (Shwachman et al. 1964) beschrieb 1964 erstmals ein Syndrom mit sehr unterschiedlichen Manifestationen, bei dem hauptsächlich Pankreas, Hämatopoese und Skelettsystem Veränderungen aufwiesen. Erst kürzlich konnte gezeigt werden, dass Mutationen in einem bislang nicht charakterisierten Gen, genannt SBDS (Shwachman-Bodian-DiamondSyndrom), für diese rezessiv vererbbare Erkrankung verantwortlich sind (Boocock et al. 2003). Jungen sind etwas häufiger betroffen als Mädchen. 17.8.1
Diagnosestellung
Es gibt keinen spezifischen biochemischen Test, der die Diagnose des Shwachman-Diamond-Syndroms (SDS) bestätigt oder ausschließt. Der Nachweis der genetischen Veränderungen des SBDS-Gens ist ebenfalls kein Routineverfahren und wird nur in einzelnen Forschungslabors im Rahmen von Studien durchgeführt. Die Diagnose SDS wird anhand klinischer und laborchemischer Parameter gestellt (Dror u. Freedman 2002).
199 17 · Granulozytopenien
Diagnosekriterien für das Shwachman-DiamondSyndrom: Exokrine Pankreasdysfunktion (mindestens eins der beiden Kriterien): − Verminderte Elastase im Stuhl − Pathologische 72 h-Stuhlfettanalyse plus Nachweis einer Pankreaslipomatose mittels Sonographie oder Computertomographie Plus hämatologische Veränderungen: − Chronische Zytopenie einer oder mehrerer Zellreihen (zweimalig im Abstand von mindestens 6 Wochen) mit Produktionsdefekt im Knochenmark (Neutrophilenzahl <1,5×109/l und/oder Hämoglobinkonzentration <2 Standardabweichungen unter dem Altersmittelwert und/oder Thrombozytopenie <150×109/l − Myelodysplastisches Syndrom Zusätzliche Auffälligkeiten (nicht obligat): Minderwuchs, Skelettanomalien, Leberfunktionsstörung Folgende Erkrankungen müssen ausgeschlossen werden: zystische Fibrose (Mukoviszidose), PearsonSyndrom.
17.8.2
Klinik
SDS-Patienten leiden vermehrt unter rezidivierenden viralen, bakteriellen und Pilzinfektionen. Dazu gehören Otitiden, Sinusitiden, Mundulzerationen, Bronchopneumonien, Hautabszesse und Sepsis. Septische Verläufe führen in den ersten Lebensjahren nicht selten zum Tod. Neben dem quantitativen und qualitativen Defekt der Neutrophilen wurden auch unterschiedliche T- und B-Zelldefekte bei SDS beschrieben, die die Infektanfälligkeit noch verstärken. Bei mehr als 85% der Patienten mit Shwachman-Diamond-Syndrom steht während der ersten Lebensjahre eine Gedeihstörung im Vordergrund, die durch Maldigestion aufgrund exokriner Pankreasinsuffizienz hervorgerufen wird. Mit zunehmendem Alter kommt es bei nahezu 50% der Patienten zu einer deutlichen Verbesserung der Pankreasfunktion und bei einigen Patienten sogar zu völliger Normalisierung der Steatorrhö. Die Schwere der Pankreasinsuffizienz korreliert nicht mit anderen Parametern wie hämatologischen Veränderungen oder Skelettanomalien. Eine Studie mit 116 Familien zeigte, dass bei 98% der Patienten eine Neutropenie persistierend oder intermittierend auftrat (Ginzberg et al. 1999). Zusätzlich können auch noch weitere hämatopoetische Zellreihen vermindert sein (Anämie bei 42%, Thrombozytopenie bei 34% und Panzytopenie bei 19% der Patienten). Gleichzeitig weisen die Neutrophilen bei allen SDS-Patienten einen Defekt in der Motilität und Chemotaxis auf. Die Knochenmarkzellularität reicht von Hypozellularität bis Hyperzellularität und kann auch normal ausfallen. Morphologisch findet sich ebenfalls ein heterogenes Bild von normal, links verschoben bis hin zu dysplastischen Veränderungen oder Leukämie. In vitro Untersuchungen haben gezeigt, dass bei SDS-Patienten sowohl
die Anzahl der CD34-positiven Zellen als auch ihre Fähigkeit hämatopoetische Kolonien zu bilden, vermindert ist. Gleichzeitig findet sich eine reduzierte Fähigkeit des Knochenmarkstromas, die Hämatopoese normaler CD34-Zellen zu unterstützen, sowie eine akzelerierte Apoptose (Dror u. Freedman 1999, 2001). Zytogenetische Veränderungen können bei etwa der Hälfte der Patienten nachgewiesen werden. Die Wahrscheinlichkeit einer Transformation in eine maligne hämatologische Erkrankung wurde mit unterschiedlicher Häufigkeit angegeben, liegt aber sicherlich bei über 10% (Smith 2002). 17.8.3
Therapie und Prognose
! Die Therapie von SDS Patienten sollte interdisziplinär unter Mitwirkung von Hämatologen und Gastroenterologen sowie, je nach Bedarf, anderer Spezialisten erfolgen.
In der Regel muss eine Substitution von Pankreasenzymen erfolgen. Je nach Schwere der Blutbildveränderungen und Infektstatus kann eine Therapie mit hämatologischen Wachstumsfaktoren (z. B. G-CSF) hilfreich sein. Das Auftreten von MDS und Leukämien bei SDS-Patienten unter G-CSF-Therapie hat zu Verunsicherungen über die Rolle des Wachstumsfaktors geführt. Ein Zusammenhang zwischen einer G-CSFTherapie und dem Übergang in eine Leukämie konnte bislang jedoch nicht nachgewiesen werden. Die hämatopoetische Stammzelltransplantation bei SDS wird durch den Stromadefekt kompliziert und sollte wenigen Zentren vorbehalten bleiben. 17.9
Neutropenie bei Stoffwechselstörungen
Kinder mit Störungen des Stoffwechsels von Aminosäuren und organischen Säuren wie Hyperglyzinämie, Isovalerianazidämie, Propionazidämie, Methymalonazidämie und Tyrosinämie zeigen oft eine Neutropenie. Beim X-chromosomal vererbten Barth-Syndrom liegt eine dilatative Kardiomyopathie, Wachstumsstörung und eine 3-Methylglutarazidurie vor. Die Glykogenose Typ 1b ist eine seltene erbliche Stoffwechselerkrankung, die das Transportsystem des Glukose-6Phosphatase-Stoffwechsels betrifft (Annabi et al. 1998). Patienten fallen durch Hepatomegalie, Gedeihstörung, Nierenfunktionsstörung und rezidivierende bakterielle Infektionen auf. Neben der chronischen Neutropenie sind die phagozytischen Zellen dieser Patienten durch eine verminderte Superoxidanionen-Produktion, Kalziummobilisation und Chemotaxis charakterisiert. Bei Patienten mit Glykogenose Typ 1b führt die Therapie mit G-CSF nicht nur zum Anstieg der Neutrophilenzahlen, sondern auch zu einer Verbesserung der phagozytischen Aktivität der Neutrophilen (Schroten et al. 1991; McCawley et al. 1994; Kannourakis 2002).
17
200
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
17.10
I 17.10.1
Autoimmunneutropenie des Kleinkindesalters Definition
! Die Autoimmunneutropenie (AIN) im Kindesalter wird in die primäre und sekundäre Autoimmunneutropenie unterteilt. Die primäre AIN ist die häufigste Ursache für eine schwere chronische Neutropenie im Kindesalter. Sie wird meist zwischen dem 5. und 15. Lebensmonat diagnostiziert und ist im Vergleich zur Schwere der Neutropenie durch eine milde Infektionsneigung gekennzeichnet.
Die Mehrzahl der früher als »chronisch benigne Neutropenie« eingeordneten Erkrankungen repräsentieren vermutlich Formen der primären AIN, die ähnlich wie die Autoimmunthrombozytopenie (idiopathische thrombozytopenische Purpura, ITP) oder autoimmunhämolytische Anämien im Kindesalter zu verstehen sind. Bei Auftreten einer AIN in Assoziation mit Autoimmunerkrankungen (systemischem Lupus erythematosus, rheumatoider Arthritis), Infektionen (EBV, HIV) oder Malignomen (Lymphome), spricht man von einer sekundären AIN. Die sekundäre AIN ist im Kindesalter sehr viel seltener als die primäre AIN; sie kann auch im Erwachsenenalter erstmalig auftreten. Die Prognose der sekundären AIN wird im Wesentlichen durch das Auftreten weiterer Immunphänomene bzw. die Grunderkrankung beeinflusst. Im Gegensatz zur primären AIN sind bei der sekundären AIN Infektionskomplikationen häufig zu beobachten, und der Verlauf ist nicht selbstlimitierend. Bei der seltenen Alloimmunneutropenie des Neugeborenen kommt es in Analogie zur Alloimmunthrombozytopenie ( Kap. 36) und zum Morbus haemolyticus neonatorum ( Kap. 27) zur Sensibilisierung der Mutter gegen Oberflächenantigene kindlicher Granulozyten. Der transplazentare Übertritt der antineutrophilen IgG-Antikörper in den kindlichen Kreislauf führt hier zum peripheren Verbrauch der Granulozyten. Dies kann vorübergehend eine schwere Neutropenie verursachen.
17.10.3
Die Diagnose der primären AIN ergibt sich meist aus der Präsentation mit jungem Alter des Kindes, Fehlen von schwerwiegenden Infektionen und einem – abgesehen von der Neutropenie – unauffälligem Blutbild. Der Nachweis eines früheren normalen Blutbilds, z.B. zum Zeitpunkt der Geburt, kann hilfreich sein. Im Regelfall ist die Durchführung von Antikörperbestimmung und Knochenmarkpunktion nicht dringlich. Bei Vorliegen einer ernstzunehmenden Symptomatik sollte jedoch die Diagnostik mit diesen Untersuchungen erweitert werden. Die Bestimmung der Antikörper kann anhand verschiedener immunologischer Testmethoden (z. B. indirekter Granulozyten-Immunfluorezenztest, GIFT; »monoclonal antibody immobilization of granulocyte antigens assay«, MAIGA) aus dem Serum der Patienten erfolgen (Bux et al. 1998). Da es sich um den Nachweis freier Antikörper im Serum handelt, können nur bei etwa 74% der Patienten die Antikörper bereits bei der ersten Untersuchung nachgewiesen werden. In Einzelfällen können die Antikörper auch nach wiederholter Untersuchung im Serum nicht nachgewiesen werden. 17.10.4
Therapie und Prognose
! Die Erkrankung ist selbstlimitierend. Die mediane Neutropeniedauer bei primärer Autoimmunneutropenie beträgt 20 Monate. In über 95% der Fälle hat sich das Blutbild zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr normalisiert.
Bei erhöhter Infektanfälligkeit profitieren die meisten Patienten von einer antibiotischen Prophylaxe, z.B. mit Cotrimoxazol. Nur in Einzelfällen, z. B. bei schweren Infektionskomplikationen, ist eine Therapie mit G-CSF erforderlich. Während G-CSF regelmäßig zu einem Anstieg der neutrophilen Granulozyten führt, ist dies unter Kortikosteroiden oder Immunglobulinen nur bei 75% bzw. 50% der Kinder mit AIN zu beobachten. 17.11
17.10.2
Diagnosestellung
Neutropenie bei primären Immundefektsyndromen
Ätiologie
Aus bislang ungeklärter Ursache werden granulozytenspezifische Antikörper gebildet. In mehr als 95% der Fälle handelt es sich um IgG-Antikörper, die bei 35% der Patienten gegen die neutrophilen Antigene NA1 oder NA2 gerichtet sind. Ein Zusammenhang mit vorausgegangenen Virusinfekten, insbesondere einer Infektion mit Parvovirus B19, wurde vermutet, konnte jedoch nicht nachgewiesen werden (Bux et al. 1998). Diese Autoantikörper führen zu einem vermehrten Abbau der Neutrophilen in der Peripherie. Im Gegensatz zu Patienten mit kongenitaler Neutropenie ist bei AIN die Produktion neutrophiler Granulozyten im Knochenmark regelrecht. Entsprechend findet sich ein normo- bis hyperzelluläres Mark mit linksverschobener Granulopoese. Die Zahl der reifen Granulozyten ist auch im Knochenmark schon oft vermindert.
Primäre Immundefekte sind eine heterogene Gruppe von mehr als 75 Erkrankungen, die durch unterschiedliche Funktionsstörungen des Immunsystems charakterisiert sind.Viele dieser Erkrankungen sind mit Störungen der Hämatopoese assoziiert. Zu den Immundefektsyndromen, bei denen häufig eine Neutropenie zu finden ist, gehören das Hyper-IgMSyndrom, »common variable immunodeficiencies« (CVID), »X-linked agammaglobulinemia« (XLA), das Griscelli-Syndrom und andere. Das Hyper-IgM-Syndrom kann durch mindestens 3 Gendefekte verursacht werden. Am häufigsten finden sich X-chromosomal rezessiv vererbte Mutationen im Gen des CD40Liganden. Der CD40-Ligand wird auf der Oberfläche von T-Lymphozyten exprimiert und induziert durch die Bindung mit CD40 auf B-Lymphozyten den Immunglobulinklassenwechsel von der IgM-Produktion zu IgG oder IgA. Beim
201 17 · Granulozytopenien
Hyper-IgM-Syndrom fehlt diese Interaktion. Es resultiert eine Verminderung von IgG und IgA, sowie eine Vermehrung von IgM. Klinisch manifestiert sich die Erkrankung meist während der ersten beiden Lebensjahre mit rezidivierenden bakteriellen Infektionen, häufig auch mit opportunistischen Keimen. Eine Neutropenie wird bei 68% der Patienten beschrieben, wobei 45% eine chronische Neutropenie entwickeln. 17.12
Infektionsbedingte Neutropenie
! Zahlreiche Infektionen können eine isolierte Neutropenie oder Aplasie des Knochenmarks mit unterschiedlicher Beteiligung aller Zellreihen auslösen. Häufig ist die Neutropenie nur transient.
Neben akuten Virusinfektionen, wie Influenza A und B, Masern, Röteln, Varizellen, EBV und Hepatitis, können auch chronische Virusinfektionen, wie HIV mit einer Neutropenie assoziiert sein. Parvovirus B19 wurde in zahlreichen Veröffentlichungen als Ursache für eine vorübergehende oder chronische Neutropenie beschrieben. Der Zusammenhang zwischen einer Parvovirus-B19-Infektion und einer chronischen Neutropenie kann aber ebenfalls nur selten bewiesen werden. Auch bei einigen bakteriellen Infektionen kann eine Neutropenie auftreten. Bei schweren septischen Verläufen kann sie Hinweis auf eine ungünstige Prognose sein. 17.13
Medikamentös induzierte Neutropenie
Neben Zytostatika können eine Vielzahl von Medikamenten zur Neutropenie führen. Hierzu gehören Antibiotika (Penicilline, Sulfonamide, Chloramphenicol), Anti-inflammatorische Substanzen (Ibuprofen, Indomethacin, Phenylbutazon), Antikonvulsiva (Phenytoin, Carbamazepin), Sedativa (Chlorpromazin, Phenothiazin), Thyreostatika (Propylthiouracil), Protonenpumpenhemmer (Cimetidin, Ranitidin) und viele andere. Die Pathogenese ist im Einzelfall oft unklar. Neben einer erhöhten Sensibilität myeloischer Progenitoren können toxische Metabolite oder eine immunologische Zerstörung myeloischer Zellen ursächlich sein. 17.14
Neutropenie bei Malnutrition
Unterernährung wie bei Anorexia nervosa, Marasmus oder gelegentlich parenteraler Ernährung führt zur Leukopenie und Neutropenie (Devuyst et al. 1993). Folge der ineffektive Hämatopoese bei Vitamin B12 und Folsäuremangel kann auch eine Neutropenie sein. Auch Kupfermangel kann zu einer Neutropenie führen. 17.15
Idiopathische Neutropenie
Die chronische idiopathische Neutropenie ist eine erworbene Erkrankung mit isolierter Neutropenie unklarer Genese und unterschiedlichem Schweregrad. Häufig finden sich Granu-
lozytenwerte im Bereich der milden bis mittelgradigen Neutropenie ohne eine vermehrte Infektanfälligkeit der Patienten. Da die Diagnose durch den Ausschluss anderer Erkrankungen gestellt wird, ist sie erheblich von der Quantität und Qualität diagnostischer Verfahren abhängig. Der Nachweis eines kausalen Zusammenhanges der chronischen Neutropenie mit einer vorausgegangenen Infektion oder einem Medikament ist häufig genauso schwierig, wie der Nachweis antigranulozytärer Antikörper im Serum der Patienten. Daher bleibt die Diagnose idiopathische Neutropenie ein Sammeltopf unterschiedlicher Erkrankungen. Idiopathische Neutropenien finden sich im Erwachsenenalter weit häufiger als bei Kindern. Hier muss die Diagnose vor allem gegen Autoimmunerkrankungen, wie den systemischen Lupus erythematosus (SLE) oder das Sjögren-Syndrom abgegrenzt werden. Patienten mit schwerer chronischer idiopathischer Neutropenie und erhöhter Infektanfälligkeit profitieren von einer Therapie mit dem hämatopoetischen Wachstumsfaktor G-CSF. Sie benötigen in der Regel eine weitaus geringere Dosis als Patienten mit kongenitaler Neutropenie.
Supportive Therapiemaßnahmen wie der klinische Einsatz des hämatopoetischen Wachstumsfaktors G-CSF haben die Prognose von Patienten mit schweren chronischen Neutropenien deutlich verbessert. Durch die Entdeckung der zugrunde liegenden genetischen Defekte einiger angeborener Formen der Neutropenien, wie der zyklischen Neutropenie und der Myelokathexis, wurden neue Einblicke in die Pathophysiologie dieser Erkrankungen möglich. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren auch die zellulären und molekularen Mechanismen von erworbenen Neutropenien, wie der idiopathischen Neutropenie, besser verstanden werden können, so dass sich neuartige Behandlungsmöglichkeiten eröffnen.
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202
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203
Granulozytenfunktionsstörungen R. Seger
18.1
18.1
Biologie und Funktion neutrophiler Granulozyten – 203
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5
Allgemeines – 203 Rollen, Adhäsion und Diapedese – 203 Chemotaxis – 204 Opsonisation und Phagozytose – 204 Abtötung und Verdauung – 204
18.2
Krankheitsbilder bei Störungen der Motilität (Chemotaxis und Ingestion) – 205
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5 18.2.6 18.2.7 18.2.8
Leukozytenadhäsionsdefekt Typ I – 205 Leukozytenadhäsionsdefekt Typ II – 207 Leukozytenadhäsionsdefekt Typ III – 207 Formylpeptidrezeptordefekt – 207 Rac2-GTPase-Defekt – 207 β-Aktindefekt – 208 Mangel spezifischer Granula – 208 Chediak-Higashi-Syndrom – 208
18.3
Krankheitsbilder bei Störungen der Mikrobenabtötung – 209
18.3.1 18.3.2
Septische Granulomatosen – 209 Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel
Literatur
18.1.1 Allgemeines
– 212
– 212
Elias Metschnikow war Biologe im Dienst des Institut Pasteur in Paris und erkannte als Erster die grundlegende Bedeutung phagozytierender Zellen für die Infektabwehr. Als Modell untersuchte er unter dem Mikroskop die gegenseitigen Reaktionen zwischen dem durchsichtigen Wasserfloh Daphnia und den länglichen zugespitzten Sporen der primitiven Pilzart Monospora bicuspidata. Zwischen Resistenz und erfolgreicher Phagozytose bestand ein enger Zusammenhang. »Als Metschnikow lange genug den Wasserflöhen zugesehen hatte, wie sie hopsend ihr zweckloses Dasein vollbringen, sah er plötzlich durch seine Linse, wie ein Floh die scharfen, nadelgleichen Sporen der gefährlichen Mikrobe schluckte. Er konnte beobachten, wie sie durch den winzigen Schlund in den Magen kamen und diesem ihre scharfen Spitzen in die Wände bohrten. In diesem Augenblick sah Metschnikow die wandernden Zellen dieses Wasserflohs, wie sie zu den gefährlichen Nadeln hinflossen, sie umringten, verzehrten, auflösten, verdauten. Bald erlebte er noch Entscheidenderes: Wenn ein Wasserfloh solche Nadeln schluckte und seine Phagozyten sich nicht in den Kampf stürzten, so trieben die Eindringlinge bald Knospen und wuchsen zu schwärmenden Keimen, die ihrerseits an dem Wasserfloh zehrten und seinen Körper vergifteten, was für ihn soviel bedeutete als: Adieu, du schöne Welt!« Paul de Kruif, Mikrobenjäger, 1927
Biologie und Funktion neutrophiler Granulozyten
Neutrophile Granulozyten gehören zu den wichtigsten phagozytierenden Zellen (den Phagozyten). Sie stellen eine erste Abwehrlinie gegen die Invasion von Bakterien und Pilzen dar. Ihr Lebenszyklus ist kurz, aber komplex und umfasst 3 wichtige Funktionsschritte: ▬ Um einen Infektfokus zu erreichen, müssen die Granulozyten die Gefäße verlassen und ins Gewebe auswandern. Die randständigen Granulozyten rollen über das Endothel der postkapillären Venolen, werden dabei aktiviert und adhärieren an der Gefäßwand. Sie passieren zwischen den Endothelzellen (Diapedese) und bewegen sich entlang einem Chemotaxingradienten auf den Infektfokus zu (Chemotaxis). ▬ Am Ort der Infektion müssen Granulozyten die Erreger erkennen und aufnehmen. Fc-gamma-Rezeptoren in der Granulozytenmembran interagieren mit den Fc-Teilen »opsonisierender« IgG-Antikörper, die die Mikroben bedecken. Dieser Erkennungsvorgang aktiviert den Prozess der Phagozytose. ▬ Bei der Erregerabtötung und -verdauung werden mikrobizide Sauerstoffradikale generiert und azurophile Granula degranuliert, die zytotoxische Proteasen sowie Hydrolasen in die phagozytische Vakuole freisetzen. 18.1.2 Rollen, Adhäsion und Diapedese Dem ersten Schritt, der Emigration aus postkapillären Venolen (⊡ Abb. 18.1), geht eine niedrig-affine Interaktion zwischen neutrophilen Granulozyten und Endothelzellen voraus, die als Rollen bezeichnet wird. Rollen beruht auf der Interaktion der Granulozyten mit Selektinen, die wie das P-Selektin aus Granula der Zytokin-aktivierten Endothelzellen sofort freigesetzt oder wie das E-Selektin nach 4- bis 6-stündiger Neusynthese an der Oberfläche der Gefäßwand exprimiert werden. P- und E-Selektin interagieren ihrerseits mit einem Glykoprotein auf der Granulozytenoberfläche, das fukosylierte Strukturen wie Sialyl-Lewis X enthält (CD15 s). Daraus resultiert eine verlangsamte Gewebepassage, die eine intensive Exposition der Granulozyten gegenüber Chemokinen der Endothelzelle, z. B. Interleukin 8, ermöglicht. Interleukin 8 aktiviert eine zweite Familie von Adhäsionsmolekülen, die so genannten Leukozyten-β2-Integrine auf den Granulozyten. Es gibt 4 verschiedene Leukozyten-Integrine, mit gemeinsamer β-Untereinheit (CD18), jedoch 4 verschiedenen α-Untereinheiten. Die beiden wichtigsten Integrine sind CD11a/CD18 (LFA1), das von allen
18
204
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
filamente, die als monomere G-Aktinbausteine neu zur Verfügung stehen.
I
18.1.4 Opsonisation und Phagozytose Die Phagozytose setzt die feste Bindung opsonisierter Pathogene an die Phagozytenmembran voraus. Die Opsonisation wird durch IgG-Antikörper wie IgG1 und IgG3, die an die Fc-gamma-Rezeptoren der Typen I, II und III binden, sowie durch Komplementfragmente wie C3b und C3bi, die an die Komplementrezeptoren CR1 und CR3 binden, ermöglicht. Das Lamellipodium umfließt den so fixierten Erreger »reißverschlussartig« und nimmt ihn in eine phagozytische Vakuole auf. ! Molekularbiologisch gesehen ist die Phagozytose ein Sonderfall der Chemotaxis ( oben), mit zusätzlicher Fusion der Zellmembran.
⊡ Abb. 18.1. Übersicht über die Funktion neutrophiler Granulozyten von der Adhäsion bis zur Verdauung von Pathogenen
Leukozyten und CD11b/CD18 (CR3), das vorwiegend von phagozytierenden Zellen exprimiert wird. Die Zunahme der Affinität von LFA1 und CR3 führt zur hochaffinen Bindung an ihre endothelialen Liganden ICAM1 und ICAM2. Die hieraus resultierende starke Adhäsion fixiert den Phagozyten am Endothel. Jetzt kann die eigentliche Diapedese erfolgen. 18.1.3 Chemotaxis Die Emigration ins Gewebe findet entlang einem Gradienten von Chemotaxinen statt. Chemotaxine sind funktionell redundant und umfassen Substanzen wie Formylpeptide aus dem Bakterienmetabolismus, das Komplementfragment C5a und Leukotrien B4 aus dem Arachidonsäuremetabolismus. Ein wandernder Neutrophiler hat ein polarisiertes Aussehen mit einem führenden Lamellipodium oder Pseudopodium, das reich an Aktinfilamenten und frei von Organellen ist. Die Lamellipodien gleiten nach vorne und ziehen den Zellkörper samt Zellkern hinter sich her. Die Neutrophilenfortbewegung hängt vom Auf- und Abbau von Aktinfilamenten ab, der durch diverse Aktin-bindende Proteine vermittelt und durch intrazelluläre Signalmoleküle gesteuert wird. Aktin liegt entweder als lösliches Monomer (globuläres G-Aktin) oder in helikalen Filamenten (filamentöses F-Aktin) vor. Aktinfilamente sind dank Crosslinkern als verzweigtes Netzwerk organisiert. Andere Aktinbindende Proteine, z. B. Cofilin, zerschneiden das filamentöse Aktin wieder in kleinere Stücke. Bei Aktivierung der Granulozyten wird Phosphatidylinositol-Biphosphat (PIP2) durch Phospholipase C hydrolysiert, was den Aktinaufbau (über membrangebundenes Profilin) fördert. Daneben sind GTP-bindende Proteine, wie Rac2 und Rho, in der Signaltransduktion und Lamellipodienbildung involviert. Im mittleren und rückwärtigen Teil der Zelle steigt die lokale Kalziumkonzentration an und bewirkt den Abbau der Aktin-
18.1.5 Abtötung und Verdauung Sauerstoffunabhängige Zytotoxizität. Zahlreiche kationische antimikrobielle Proteine sind in den azurophilen Granula, den Lysosomen der Neutrophilen enthalten. Die wichtigsten sind die Serinproteasen mit den Vertretern Cathepsin G sowie Elastase. Beide Proteasen werden als neutral bezeichnet, da ihre pH-Optima um pH 7 liegen. Sie sind in Kombination gegen Gram-positive und -negative Bakterien sowie Pilze wie Candida albicans und Aspergillen gerichtet. Daneben enthalten die azurophilen Granula noch eine Reihe saurer Hydrolasen, die ein niedriges pH-Optimum (<6) aufweisen und in erster Linie Verdauungszwecken dienen. Genaue Messungen haben gezeigt, dass der pH in der phagozytischen Vakuole zunächst in den alkalischen Bereich ansteigt (Optimum der Proteasen) und dann allmählich sauer wird (Optimum der Hydrolasen). Sauerstoffabhängige Zytotoxizität. Innerhalb von Sekunden
nach Kontakt mit opsonisierten Mikroben steigt der Sauerstoffverbrauch dramatisch um mehr als das 100-fache. Eine Elektronentransportkette (das NADPH-Oxidasesystem) transferiert Elektronen von NADPH auf der zytoplasmatischen Seite der Zellmembran auf molekularen Sauerstoff auf der extrazellulären Seite und bildet Superoxidanion, O–2 , das in H2O2 umgewandelt wird. Um in der phagozytischen Vakuole die entstandene negative Ladung zu kompensieren, strömen außer Protonen eine große Menge von Kaliumionen in die phagozytische Vakuole (bis zu einer Konzentration von 200–300 mM). Die kationischen Proteasen Cathepsin G und Elastase, die in den Granula an eine stark anionische Proteoglykan-Matrix gebunden sind, werden dadurch solubilisiert. Jetzt können sie die phagozytierten Mikroorganismen angreifen. Entsprechend diesem Modell der Mikrobenabtötung wird die NADPH-Oxidase primär zur Aktivierung der Proteasen benötigt. Myeloperoxidase schützt die Proteasen vor oxidativer Inaktivierung, indem es das entstandene H2O2 rasch abbaut. Die NADPH-Oxidase ist ein Multienzymkomplex (⊡ Abb. 18.2), der bei Granulozytenaktivierung aus membrangebundenen und löslichen Proteinen zusammengesetzt
205 18 · Granulozytenfunktionsstörungen
18.2
Krankheitsbilder bei Störungen der Motilität (Chemotaxis und Ingestion)
18.2.1 Leukozytenadhäsionsdefekt Typ I Definition Beim Leukozytenadhäsionsdefekt Typ I ((LAD I) handelt es sich um eine autosomal-rezessiv vererbte Krankheit mit verzögertem Nabelschnurabfall sowie nekrotisierenden Bakterien- und Pilzinfektionen bei massiver Leukozytose. Die Infektanfälligkeit beruht auf einer defekten Adhäsionsfähigkeit aller Leukozyten, speziell der Phagozyten (Bunting et al 2002).
Ätiologie und Pathogenese. Die molekulare Basis der Er-
⊡ Abb. 18.2. Übersicht über das NADPH-Oxidasesystem. Fe Hämgruppe, gp Glykoprotein, p Protein, -p Phosphatgruppe, phox Phagozytenoxidase
wird (⊡ Abb. 18.2; Segal et al 2000). Die Oxidase-Untereinheiten werden auch mit phox bezeichnet, für Phagozytenoxidase. Ein ungewöhnliches Flavozytochrom b558, das in der Zellmembran und in den spezifischen Granula Neutrophiler lokalisiert ist, vermittelt den Elektronentransport. Dieses B-Typ-Zytochrom ist ein Heterodimer eines glykosylierten 91-KD-Proteins (gp91phox) und einer nicht glykosylierten Untereinheit (p22phox). Gp91phox enthält eine NADPH-Bindungsstelle, eine Flavingruppe und 2 Hämgruppen. Die Aktivierung des Elektronentransfers benötigt die Teilnahme von mindestens 3 weiteren Komponenten: zweier Zytosol-ständiger Oxidase-Untereinheiten (p47phox und p67phox) sowie einer kleinen Rac2-GTPase. Bei Zellaktivierung kommt es zur Phosphorylierung von p47phox mit Konformationsänderung, wonach der p47phox/p67phox-Komplex an die Zellmembran transloziert. Während p47phox lediglich eine Adapterfunktion zu erfüllen hat, ist p67phox für den Elektronentransport absolut erforderlich. Außerdem dissoziert bei Zellaktivierung das zytosolständige Rac2 vom GDP-Dissoziationsinhibitor (GDI). GDP wird gegen GTP ausgetauscht, und Rac2 assoziiert neu an den membranständigen NADPH-Oxidase-Komplex, der jetzt mit dem Elektronentransport beginnt. Die Sauerstoffradikale werden auf der extrazellulären Seite der Zellmembran gebildet und direkt an der Mikrobenkontaktstelle innerhalb der phagozytischen Vakuole freigesetzt.
krankung liegt im Synthesedefekt von CD18, einer β-Kette mit Molekulargewicht 95 kD, mit deren Hilfe die α-Ketten von 4 Adhäsionsproteinen in der Leukozytenmembran verankert sind (CD11a–d). Die meisten Mutationen liegen in den Exonen 5–8 des CD18-Gens, die für die Ligandenbindungsdomäne kodieren. Mutationen der α-Ketten sind bisher nicht bekannt (Roos u. Law 2001). Der funktionelle Defekt betrifft sowohl die Phagozyten als auch die zytotoxischen T-Lymphozyten und NK-Zellen. Die Phagozyten können nicht an Endothelzellen adhärieren und deshalb nicht die Gefäße verlassen. Außerdem phagozytieren sie wegen des CD11b/ CD18(=CR3)-Mangels schlecht und bilden während der Ingestion von Bakterien und Pilzen weniger Sauerstoffradikale. Die zytotoxischen T-Lymphozyten und NK-Zellen haften nur ungenügend an fremden Zielzellen und können diese daher nicht abtöten oder »abstoßen«. Klinik. Die Patienten fallen zunächst durch Omphalitis und
verzögerten Nabelschnurabfall (nach mehr als 3 Wochen) auf. Sie erkranken bald darauf an Infektionen mit bakteriellen Erregern bzw. Pilzen. Trotz Hyperleukozytose (bis 100.000 Neutrophile pro µl) verlaufen die Entzündungen ulzerierend bzw. nekrotisierend. Kutanherde heilen häufig mit dystrophen Narben ab. Viele Kinder entwickeln eine Hepatosplenomegalie und Gedeihstörung. Bei älteren Kindern und Erwachsenen sind partielle Defekte bekannt, bei denen rezidivierende Haut- und Schleimhautulzera im Vordergrund stehen sowie chronische Gingivitis und Periodontitis bis zum Ausfall der Zähne; aber auch diese Patienten sind nicht vor Pneumonien und lebensbedrohlichen Infektionen gefeit. Diagnostik. Die Diagnose ist aus der direkten Untersuchung der Adhäsionsproteine mittels monoklonaler Antikörper in der Durchflusszytometrie eindeutig zu stellen (Fehlen oder Minderexpression von CD18). Therapie. Die einzig erfolgreiche Therapie besteht in einer Stammzelltransplantation (Thomas et al. 1995). Sie sollte bei kompletten, aber auch bei inkompletten Defekten mit schwerer Infektanfälligkeit baldmöglichst durchgeführt werden. Sie kann mit HLA-identischen und semiidentischen Stammzellen erfolgreich realisiert werden, da die Abstoßung meist deutlich vermindert ist.
18
I 206
Gen
Chromosomale Lokalisation
Proteinfunktion
Zellulärer Phänotyp
Weitere Kennzeichen
Leukozytenadhäsionsdefekt 1 (LAD I; 11 69 20)
INTG2
21q22.3
Adhäsionsprotein (CD18)
Adhäsion ↓ Chemotaxis ↓ Phagozytose ↓
Leukozytose Nabelschnurabfall ↓ Wundheilung ↓
Leukozytenadhäsionsdefekt 2 (LAD II,26 62 65)
FUCT1
11p11.12
GDP-Fukose-Transporter
Rollen ↓ Chemotaxis ↓
Leukozytose hh-Blutgruppe Geistige Behinderung Kleinwuchs
Formylpeptidrezeptordefekt (13 65 37)
FPR1
19q13.4
Chemokinrezeptor
Chemotaxis ↓ (nur fMLP-induzierte)
Juvenile Periodontitis (lokalisierte)
RAC2-Defekt (RAC2;60 20 49)
RAC2 (a/d)
22q13.1
GTP-bindendes Protein
Aktinpolymerisation ↓ Degranulation ↓ O2–-Produktion ↓
Leukozytose
β-Aktindysfunktion (10 26 30)
ACTB (a/d)
7p15–12
Zytoplasmatisches Aktin
Motilität ↓
Geistige Behinderung Kleinwuchs
Mangel an spezifischen Granula (SGD;24 54 80)
CEBPE
3q21–23
Myeloid-spezifischer Transkriptionsfaktor
Chemotaxis ↓
Kernsegmentierung ↓
Chediak-Higashi-Syndrom (CHS;21 45 00)
LYST
1q42.1–2
Regulator der Granulafusion
Chemotaxis ↓
Riesengranula
Septische Granulomatose (CGD, gp91phox-Mangel; 30 64 00
CYBB
Xp21.1
Elektronentransportprotein (Zytochrom B, schwere Kette)
O2–-Produktion ↓
McLeod-Phänotyp (evtl.)
Septische Granulomatose (CGD, p22phox-Mangel; 23 36 90)
CYBA
16q24
Elektronentransportprotein (Zytochrom B, leichte Kette)
O2–-Produktion ↓
Septische Granulomatose (CGD, p47phox-Mangel; 23 37 00)
NCF1
7q11.23
Zytoplasmatisches Adapterprotein
O2–-Produktion ↓
Septische Granulomatose (CGD, p67phox-Mangel; 23 37 10)
NCF2
1q25
Zytoplasmatisches Aktivierungsprotein
O2–-Produktion ↓
Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel (schwere Form) (G6PD; 30 59 00)
G6PD
Xq28
NADP-reduzierendes Enzym
O2–-Produktion ↓
Krankheit (OMIM)
Störungen der Motilität
St örungen der Abtötung
OMIM Online Mendelian Inheritance in Man (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim).
Hämolytische Anämie (chronisch)
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
⊡ Tabelle 18.1. Angeborene Neutrophilenfunktionsdefekte
207 18 · Granulozytenfunktionsstörungen
18.2.2 Leukozytenadhäsionsdefekt Typ II Definition Beim Leukozytenadhäsionsdefekt Typ II (LAD II; »congenital disorder of glycosylation IIc«) handelt es sich um eine autosomal-rezessiv vererbte Krankheit mit bakteriellen Infektionen bei Hyperleukozytose, mentaler Retardierung, Kleinwuchs und fehlender AB0-Blutgruppe. Die Infektanfälligkeit beruht auf einem defekten Rollen der Phagozyten (Etzioni et al 1992).
Ätiologie und Pathogenese. Die molekulare Basis der Erkrankung liegt im Synthesedefekt eines GDP-Fukosetransporters in der Golgi-Membran (Lühn et al. 2001). Infolge des gestörten Transportes von GDP-Fukose vom Zytoplasma in das Golgi-Lumen enthalten Glykoproteine wie der Ligand für P-Selektin auf der Granulozytenoberfläche kein Fukosyliertes Sialyl-Lewis X. Der Fukosylierungsdefekt ist generalisiert. Betroffen sind ebenfalls die Erythrozyten (keine AB0-Blutgruppensynthese) sowie das zentrale Nervensystem. Im Gegensatz zum LAD I sind die zytotoxischen T-Lymphozyten und NK-Zellen nicht funktionsgestört.
die Leukozyten-β2-Integrine und den β3-Integrin-Kollagenrezeptor auf Thrombozyten aktiviert. Dieses Krankheitsbild kann durch Stammzelltransplantation erfolgreich behandelt werden. 18.2.4 Formylpeptidrezeptordefekt Definition Der Formylpeptidrezeptordefekt ist eine autosomalrezessiv vererbte Krankheit mit lokalisierter juveniler Periodontitis. Die Infektanfälligkeit beruht auf einer selektiv gestörten Chemotaxis.
Ätiologie und Pathogenese. Die Ligandenbindungsstelle des
Formylpeptidrezeptors ist bei den bisher untersuchten Patienten mutiert (Seifert u. Wenzel-Seifert 2001). Dies führt zu einer stark reduzierten Bindung des bakteriellen Chemotaxins Formyl-Methionylleucylphenylalanin (fMLP) und entsprechend reduzierter Chemotaxis. Die Wanderungsfähigkeit gegenüber anderen Chemotaxinen wie C5α ist normal. Klinik. Die Patienten fallen im Alter von 11–15 Jahren durch
Klinik. Die Infektanfälligkeit ist milder als beim LAD I. Der
verzögerte Nabelschnurabfall infolge Omphalitis fehlt, hingegen ist die Leukozytose auch im infektfreien Intervall ausgeprägt. Eine AB0-Blutgruppe kann nicht bestimmt werden (Bombay-Blutgruppe hh).
eine zunehmende Periodontitis der permanenten Schneidezähne und/oder ersten Molaren auf. In den Gingivataschen findet man bevorzugt Actinobazillus actinomycetemcomitans. Die juvenile Periodontitis kann zum Verlust der betroffenen Zähne führen, bleibt aber in jedem Fall lokalisiert. Es besteht keine generalisierte Infektanfälligkeit.
Diagnostik. Die Diagnose ist aus der direkten Untersuchung
von Sialyl-Lewis X mittels monoklonalem Antikörper in der Durchflusszytometrie eindeutig zu stellen (Fehlen von CD15 s). Als Screening-Test ist auch die Untersuchung der Glykosylierung von Serumtransferrin in der isoelektrischen Fokussierung geeignet.
Diagnostik. Bei entsprechend positiver Familienanamnese
ist die Chemotaxis mit fMLP gestört, hingegen mit C5α normal. Therapie. Die Behandlung umfasst systemische Antibiotika-
therapie, lokales Debridement und Mundhygiene. Therapie. Eine Stammzelltransplantation kann den genera-
lisierten Fukosylierungsdefekt, der insbesondere auch das ZNS betrifft, nicht heilen. Die Gabe von oraler Fukose kann den Fukosetransportdefekt überspielen (Marquardt et al. 1999). 18.2.3 Leukozytenadhäsionsdefekt Typ III Definition Bei dem noch nicht endgültig molekular charakterisierten Leukozytenadhäsionsdefekt Typ III (LAD III) liegt klinisch eine Kombination von LAD I mit einer hämorrhagischen Diathese infolge gestörter Thrombozytenfunktion vor (Kujpers et al. 1997).
Die Leukozytenintegrine (CD11a–d/CD18) sind zwar normal auf der Granulozytenoberfläche exprimiert, können jedoch durch Chemokine nicht zu hochaffiner Ligandenbindung aktiviert werden. Dementsprechend findet man eine gestörte Adhäsion und Chemotaxis. Es wird die defekte Aktivierung eines intrazellulären Signalmoleküls (der Rap-1-GTPase; Etzioni, persönliche Mitteilung) vermutet, das gleichzeitig
18.2.5 Rac2-GTPase-Defekt Definition Beim Rac2-GTPase-Defekt handelt es sich um eine Störung Aktin-abhängiger Neutrophilenfunktionen, die zu einem LAD-I-ähnlichen klinischen Bild mit verspätetem Nabelschnurabfall infolge Omphalitis, Hyperleukozytose und Gewebsneutropenie führt.
Ätiologie und Pathogenese. Die hämatopoesespezifische GTPase Rac2 reguliert die Aktinpolymerisation. Die heterozygoten Mutationen mit defekter GTP-Bindung sind dominant-negativ und beeinträchtigen die Lamellipodienbildung, die Chemotaxis, die Phagozytose, die Sekretion azurophiler Granula und die Produktion von Sauerstoffradikalen (Williams et al. 2000). Klinik. Der Rac2-GTPase-Defekt stellt eine Phänokopie des klinischen Bildes des LAD I dar.
18
208
I
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
Diagnostik. Die Verdachtsdiagnose kann aufgrund des klinischen Bildes, der normalen Expression von CD18 sowie einer gestörten Chemotaxis und Sauerstoffradikalproduktion mit opsonisiertem Zymosan (nicht jedoch mit PMA) vermutet werden. Die definitive Diagnosestellung und die Abgrenzung vom LAD Typ III ist Speziallaboratorien vorbehalten (Untersuchung der Aktinpolymerisation, Rac2-Gen-Mutationsanalyse). Therapie. Eine Dauerheilung ist einzig durch Stammzell-
transplantation möglich. 18.2.6 β-Aktindefekt Definition Der β-Aktindefekt ist durch Infektanfälligkeit, mentale Retardierung und Photosensibilität charakterisiert. Die schweren bakteriellen Infektionen sind auf eine gestörte Chemotaxis, Phagozytose und Sauerstoffradikal-Produktion zurückzuführen.
Ätiologie und Pathogenese. Ursächlich liegt eine heterozygote Mutation des nicht-muskulären β-Aktins vor, die die Bindungsstelle von Profilin beeinträchtigt (Nunoi et al. 1999). Die Mutation wirkt sich dominant-negativ aus. Therapie. Eine Stammzelltransplantation kann lediglich die
hämatologischen Manifestationen des Gendefektes korrigieren. 18.2.7 Mangel spezifischer Granula Definition Es handelt sich um einen Mangel an spezifischen neutrophilen Granula, der v. a. infolge gestörter Chemotaxis zu erhöhter Infektanfälligkeit führt (Gombart u. Koeffler 2002).
Ätiologie und Pathogenese. Zugrunde liegt ein Defekt eines Myelopoese-spezifischen Transkriptionsfaktors (C-EBP-ε), der die Synthese von Proteinen, v. a. der spezifischen Granula, reguliert (Lekstrom-Himes 2001). Spezifische (sekundäre) Granula stellen ein intrazelluläres Reservoir von Rezeptoren für chemotaktische Faktoren (z. B. fMLP) und von Adhäsionproteinen (z. B. β2-Integrinen) dar, die nach Aktivierung der Zelle auf die Zelloberfläche gelangen. Mangel an spezifischen Granula bedingt deshalb eine Chemotaxisstörung und folglich Gewebsneutropenie. Klinik. Nekrotische, ulzerierende Läsionen der Haut und Schleimhäute, sowie rezidivierende Pneumonien stehen im Vordergrund. Auffällig ist die fehlende Eiterbildung, ohne dass eine Blutneutropenie vorliegt. Diagnostik. Abnorme Kernsegmentierung (doppelt gelappter Zellkern) ist verdächtig. Eine gestörte Chemotaxis sowie eine stark reduzierte Anzahl spezifischer Granula in elektro-
nenmikroskopischen Studien sind diagnostisch. Beobachtet werden kleine Vesikel, die vermutlich leere spezifische Granula darstellen. Therapie. Mit einer Antibiotikadauerprophylaxe erreichen
die meisten Kinder das Erwachsenenalter. 18.2.8 Chediak-Higashi-Syndrom Definition Das Chediak-Higashi-Syndrom (CHS) ist ein autosomalrezessiv vererbtes Syndrom mit okulokutanem Albinismus, rezidivierenden bakteriellen Infekten, langsam zunehmender Neurodegeneration, Riesengranula in allen granulahaltigen Zellen sowie einer Panzytopenie mit Hämophagozytose durch Makrophagenaktivierung im Terminalstadium (Ward et al. 2002).
Ätiologie und Pathogenese. Das CHS-Gen kodiert für ein
zytoplasmatisches Protein, das normalerweise die Fusion von Lysosomen verhindert. Ist das Gen mutiert, verschmelzen die azurophilen Granula der Neutrophilen zu Riesengranula. Diese führen zu starrer Zellstruktur, beeinträchtigen die Migrationsfähigkeit und können nicht in die phagozytischen Vakuolen sezerniert werden. Es resultieren Neutropenie sowie Chemotaxis- und Mikrobenabtötungsstörungen mit Neigung zu bakteriellen und mykotischen Infekten. Die granulahaltigen NK- und T-Zellen zeigen defekte zytotoxische Aktivität. Dies erklärt die meist EBV-induzierte Terminalphase (De Saint Basile u. Fischer 2001). Klinik. Der okulokutane Albinismus fällt durch helle Haut, silbrigen Haarglanz, helle Iris und Photophobie auf. Die rezidivierenden Bakterieninfektionen betreffen v. a. Haut- und Luftwege. Im Terminalstadium kommt es zu diffuser histiozytärer Proliferation und Makrophagenaktivierung, insbesondere Lymphadenopathie, Hepatosplenomegalie, Panzytopenie infolge Hämophagozytose sowie meningealer Infiltration. Unbehandelt tritt der Tod nach wenigen Wochen infolge Blutung oder Infekt ein. Diagnostik. Riesengranula in allen granulahaltigen Zellen,
insbesondere in den Phagozyten und Melanozyten (Blutund Haarmikroskopie!), gestörte Chemotaxis sowie defekte T-/NK-Zellzytotoxizität sind diagnostisch. Therapie. Die Terminalphase kann durch Antilymphozyten-
globulin (ALG), Steroide und Ciclosporin A vorübergehend beherrscht werden. Einzig erfolgreiche Kausaltherapie ist die Stammzelltransplantation (Haddad et al. 1995). Der okulokutane Albinismus und die mit zunehmendem Alter ins Gewicht fallende periphere und zentrale Neurodegeneration werden dadurch leider nicht korrigiert.
209 18 · Granulozytenfunktionsstörungen
18.3
Krankheitsbilder bei Störungen der Mikrobenabtötung
18.3.1 Septische Granulomatosen Definition Bei den septischen Granulomatosen (»chronic granulomatous diseases«; CGD) handelt es sich um eine Gruppe von 4 Erkrankungen, die durch rezidivierende, abszedierend/granulomatöse Bakterien- und Pilzinfektionen charakterisiert ist. Die Infektanfälligkeit beruht auf einer defekten oxidativen Mikrobizidie aller Phagozyten bei intakter Phagozytose (Segal et al. 2000).
Ätiologie 4 molekulare Defekte sind bekannt, davon betreffen 2 das membrangebundene Flavozytochrom b558 (der X-chromosomal vererbte Mangel an gp91-Phagozytenoxidase (phox) und der autosomal rezessiv vererbte Mangel an p22phox). Die anderen beiden Defekte betreffen Zytosolaktivierungsfaktoren (der autosomal-rezessiv vererbte Mangel an p47phox und derjenige an p67phox). Die Defekte im gp91phox-Gen machen ungefähr 2/3 der CGD-Fälle aus, Mutationen im p47phox-Gen die meisten anderen. Die Mutationen können zu einem totalen Fehlen des Proteins führen, zu einer reduzierten Menge des Proteins oder zu einem defekten Proteinprodukt, das in normaler Konzentration vorliegt. Bei X-CGD sind die Mutationen über das gesamte gp91phox-Gen verteilt (Heyworth et al. 2001). Neumutationen treten in ca. 10% der Fälle auf. Meist fehlt gp91phox komplett (X910). Große Deletionen, Nonsense-Mutationen und die meisten Mutationen an Spleißstellen führen zu X910CGD. In weniger als 10% der Fälle beträgt der Flavozytochrom-b-Spiegel 1–25% der Norm (X91–). X91–-Fälle entstehen durch Missense-Mutationen oder kleine Deletionen ohne Leserasterverschiebung. Die meisten Patienten mit X91– werden später diagnostiziert als X910-Patienten und haben einen milderen klinischen Verlauf. Nur wenige Patienten sind bekannt, bei denen Zytochrom b in normaler Menge in der Zellmembran exprimiert wird, dieses jedoch nicht funktionell ist (X91+). Hierbei können insbesondere die NADPHbzw. FAD-Bindungsstellen gestört sein, ein Defekt in den Hämzentren vorliegen oder die Andockstellen von p47phox und p67phox beeinträchtigt sein. Weiterhin wurden mehrere X-CGD-Patienten mit Mutationen im gp91phox-Promotor gefunden. Bei diesen ist die Bindungsstelle für einen kritischen Transkriptionsfaktor der terminalen Neutrophilenausreifung, PU.1, defekt (Voo u. Skalnik 1999). Obwohl eine X910-Mutation vorliegt, ist der klinische Verlauf milder als sonst, da die gp91phox-Expression in Eosinophilen nicht PU.1 abhängig ist.Bei ca. 5% der X-CGD-Patienten schließlich liegen relativ große Deletionen (über 30 kb) am Genlokus in Xp21.1 vor, bei der benachbarte Gene miteinbezogen sind. Diese sind vom Zentromer her nach p-terminal: die Gene für den Ornithin-Transcarbamoylase-Mangel, die X-gekoppelte Retinitis pigmentosa, gp91phox, das Erythrozytenantigen Kx und das Gen für die Duchenne-Muskeldystrophie. Die Gene für gp91phox und Kx sind relativ nahe beieinander (annähernd 500 kb), so dass bei großen interstitiellen Deletionen häufig beide Genloci
betroffen sind. Aufgrund des Fehlens von Kx können keine Kell-Antigene synthetisiert werden, was in einer hämolytischen Anämie mit Akanthozytose resultiert (so genanntes McLeod-Syndrom). Im Gegensatz zu den übrigen CGD-Formen ist die Mehrzahl der p47phox-CGD-Fälle auf ein und die gleiche Mutation zurückzuführen: eine Deletion von GT am Beginn des Exon2, die zu einer Verschiebung des Leserasters und zu einem vorzeitigen Stopp bei Aminosäure 51 führt (Cross et al. 2000). Die Erklärung liegt in 2 flankierenden p47phoxPseudogenen. Aberrante Rekombinationen zwischen dem p47phox-Gen und einem der beiden Pseudogene sind für die hohe Prävalenz von GT-Deletionen bei der p47phox-CGD verantwortlich (Roesler et al. 2000). Pathogenese Neutrophile, Monozyten/Makrophagen und Eosinophile von CGD-Patienten können Bakterien und Pilze zwar normal phagozytieren, jedoch Katalase-positive Mikroorganismen nicht intrazellulär abtöten. Infolge der fehlenden NADPHOxidasefunktion wird kein Superoxidanion und kein Wasserstoffperoxid gebildet. Dadurch bleibt der Kaliumeinstrom in die phagozytische Vakuole aus, so dass die positiv geladenen Serinproteasen, Kathepsin G und Elastase, nicht aus der negativ geladenen Matrix der azurophilen Granula freigesetzt werden können. Die fehlende H2O2-Bildung und die fehlende Aktivität der Serinproteasen resultiert in einer Abtötungsstörung (Reeves et al. 2002). Das Krankheitsbild der CGD ist ferner durch überschießende Entzündung charakterisiert, die zur Granulombildung führt, z. B. in Form von granulomatöser Enteritis, Harnwegsund Blasen-Granulomen sowie schlechter Wundheilung und Dehiszenz. Sogar abgetötete Erreger können bei CGD eine exzessive Entzündungsantwort auslösen. Eine der Ursachen dürfte die fehlende oxidative Inaktivierung von freigesetzten Chemotaxinen sein. Außerdem scheinen häufige, ungünstige Polymorphismen der Gene proinflammatorischer Entzündungsmediatoren und Zytokine zu den entzündlichen Komplikationen beizutragen. Klinik Die Patienten fallen bereits in den ersten Lebensmonaten durch Pyodermie, Lymphadenitis und Hepatosplenomegalie auf. In der Folgezeit manifestieren sich rezidivierende Bakterien- und Pilzinfektionen an den Eintrittspforten (Haut, Schleimhäute, Lungen) und im mononukleären Phagozytensystem (Lymphknoten, Leber, Milz). Abszesse perforieren spontan nach außen, wobei die Wundheilung durch Fistelbildung kompliziert wird. Viele Kinder sind untergewichtig und kleinwüchsig. Nachdem eine intensive Antibiotikaprophylaxe die Häufigkeit von Bakterieninfektionen reduziert hat, stehen heute Pilzinfektionen im Vordergrund. Aspergillen können von der Lunge ausgehend ins Perikard, Zwerchfell, den knöchernen Thorax und die Wirbelkörper einwachsen, in den Rückenmarkkanal einbrechen und eine Querschnittslähmung verursachen. Bei ungenügender Elimination und Persistenz mikrobieller Antigene kommt es zu Granulombildung und Fibrose, was schließlich zu sekundären Organdysfunktionen führt. Granulomatöse Entzündungen in Hohlorganen können eine Stenosesymptomatik bedingen, z. B. eine Antrumstenose
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Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
mit rezidivierendem Erbrechen oder eine Ureterstenose mit Hydronephrose. Die häufigsten inflammatorischen Manifestationen sind jedoch Crohn-ähnliche Erkrankungen des Darmes und restriktive Lungenerkrankungen. Bei den aus Infektherden isolierten Erregern handelt es sich in erster Linie um Staphylokokken, Enterobakterien und Aspergillen. Gelegentlich werden Nokardien, Actinomyces, Burkholderia cepacia und atypische Mykobakterien kultiviert. Zu einer generalisierten Infektion nach BCG-Impfung kommt es in aller Regel jedoch nicht. CGD-Patienten sind auch nicht gegenüber Katalase-negativen Bakterien wie Streptokokken und Pneumokokken anfällig. Überträgerinnen der X-CGD sind bei ungünstiger Inaktivierung des gesunden X-Chromosoms (Lyonisierung) klinisch ebenfalls auffällig mit rezidivierender Stomatitis, diskoidem Lupus erythematodes und Infektanfälligkeit. Im Allgemeinen reichen jedoch 5–10% normaler Phagozyten zur Infektabwehr. Dabei ist zu bedenken, dass dies nicht für größere infektiöse Inokula gilt und dass sich das Ausmaß der Lyonisierung bei Überträgerinnen von X-CGD mit zunehmendem Alter verschlechtern kann (Lun et al. 2002). Diagnostik Jedes Kind mit rezidivierender Abszessbildung, AspergillusPneumonie oder unklarer granulomatöser Entzündung insbesondere der Lunge und des Darmes, ist verdächtig auf das Vorliegen einer septischen Granulomatose und sollte durch Messung der Sauerstoffradikalbildung abgeklärt werden. Der zytochemische Nitroblautetrazolium-Test (NBT-Test) ist als Screening-Test nur begrenzt geeignet, da partielle Krankheitsformen verpasst werden können. Bei klinischem Verdacht sollte immer eine quantitative Bestimmung der Superoxidanion- oder Wasserstoffperoxidproduktion durchgeführt werden. Besonders geeignet ist ein Fluoreszenz-Assay der die Umwandlung von Dihydroxyrhodamin 123 (DHR) in Rhodamin 123 durch H2O2 misst. Mit diesem DHR-Test können in der Durchflusszytometrie auch Überträgerinnen von X-CGD (durch Nachweis von 2 Zellpopulationen) identifiziert und ein p47phox-Mangel (durch Nachweis einer Rest-H2O2-Produktion) von den anderen 3 Formen der CGD (ohne H2O2-Produktion) abgegrenzt werden (Vowells et al. 1996). Bei nachgewiesenem Defekt der Sauerstoffradikalbildung erfolgt die Differenzierung in einen der 4 molekularen Defekte. Ein Mosaik Oxidase-positiver und -negativer Neutrophiler in der mütterlichen Familie spricht für das Vorliegen einer X-gekoppelten CGD. Das Fehlen eines Mosaiks bei der Patientenmutter schließt jedoch eine X-CGD nicht aus, da Neumutationen möglich sind. Das Fehlen des Flavozytochrom b558 in der Spektroskopie (Hämspektrum), in der Durchflusszytometrie mit dem Antikörper 7D5 (Yamauchi et al. 2001) oder im Immunoblot weist auf einen Defekt von gp91phox oder p22phox hin, da diese nur zusammen, als Heterodimere, in der Zellmembran exprimiert werden. Zwischen beiden Defekten kann nur durch direkte Sequenzierung der Gene unterschieden werden. Beim p47phox und p67phox-Mangel hingegen reicht der Immunoblot zur definitiven Diagnose. Eine pränatale Diagnose ist bei allen betroffenen Familien mittels pränataler Nabelschnur-Blutentnahme in der 20. Schwangerschaftswoche durchführbar (so spät wegen der
physiologischen Neutropenie). Bei informativen Familien ist eine pränatale Diagnose mittels Chorionzottenbiopsie und Analyse gekoppelter polymorpher Genmarker oder direkt durch Mutationsanalyse ab der 9. Schwangerschaftswoche vorzuziehen. Therapie Infektprophylaxe. Die primäre Infektprophylaxe mit einem zellgängigen Antibiotikum (Sulfamethoxazol + Trimethoprim, 30 + 6 mg/kg KG/Tag) und einem Antimykotikum (Itraconazol, 10 mg/kg KG/Tag) kann die Zahl der Infekte deutlich reduzieren. Cotrimoxazol hat eine breite Aktivität gegen die wichtigsten bakteriellen Pathogene (Staphylokokken, Enterobakterien, z. B. Burkholderia cepacia und Serracia marcescens, sowie Nocardien). Es ist lipophil, wird in den Phagozyten konzentriert und gut toleriert, da es die anaerobe Darmflora nicht beeinträchtigt. Retrospektive Analysen haben die Wirksamkeit der Infektprophylaxe mit Cotrimoxazol belegt: die Rate der Infektionen bei autosomal rezessiven CGD-Patienten (meist p47phox-Patienten), sank von 7,1 auf 2,4 pro 100 Patienten-Monate, diejenige bei X-CGD von 15,8 auf 6,9 Infektionen pro 100 Patienten-Monate (Margolis et al. 1990). Bei Sulfamethoxazol-Allergie kann Ciprofloxacin als Alternative eingesetzt werden. Itraconazol ist hochlipophil, wird durch Phagozyten aufgenommen und ist intrazellulär gegen phagozytierte Aspergillus-Sporen wirksam. Eine retrospektive Analyse hat die Prävention von Aspergillus-Infektionen belegt durch Senkung der Infektrate von 11,5 auf 3,4 pro 100 Patienten-Jahre (Mouy et al. 1994) und wurde kürzlich durch eine prospektive, placebo-kontrollierte Studie bestätigt (Gallin et al. 2003). Itraconazol sollte mit 10 mg/kg/Tag hochdosiert werden, da bei niedrigeren Dosen eine Resistenzentwicklung beobachtet wurde. Interferon-γ ist ein Makrophagen-aktivierendes Zytokin, das die H2O2-Bildung zirkulierender Phagozyten verstärkt. Eine seltene Untergruppe von CGD-Patienten mit Mutationen von Spleißstellen, spricht auf die Interferon-γ-Behandlung mit verstärkter Bildung korrekt gespleißter gp91phoxTranskripte an. Die Superoxidanionproduktion von Neutrophilen steigt 11 Tage nach einmaliger Interferongabe deutlich an und fällt erst nach 2–4 Wochen wieder ab (u. a. Tshibashi et al. 2001). Diese Beobachtung veranlasste die Durchführung einer großen, randomisierten Multicenter-Studie, um die Effizienz von Interferon-gamma bei verschiedenen CGDFormen zu testen (International CGD Study Group 1991). Während sich bei den amerikanischen Patienten eine Senkung der Infektrate verglichen mit alleiniger Antibiotikaprophylaxe zeigte, war jedoch die Infektprävention bei den europäischen Patienten im Antibiotika-Arm bereits ähnlich gut wie im Interferon-γ-Arm. Da der Wirkungsmechanismus von Interferon-γ bei der Mehrzahl der CDG-Patienten bis heute nicht bekannt und die prophylaktische Wirkung gegenüber Aspergillus-Infektionen nicht belegt ist, wird Interferon-γ in Europa zurückhaltend angewandt: Rekombinantes humanes Interferon-γ, 50 µg/m2 subkutan 3-mal pro Woche, wird nur bei Versagen der oralen Antibiotikatherapie als Infektprophylaxe eingesetzt. Therapie akuter Infektionen. Antibiotika: Infektionen bei CGD müssen prompt und aggressiv behandelt werden. Da
211 18 · Granulozytenfunktionsstörungen
selten ein Erreger isoliert wird, muss die initiale Therapie empirisch sein. Ciprofloxacin ist lipophil und erreicht hohe intrazelluläre Konzentrationen, so dass es zusammen mit Teicoplanin für die Startbehandlung Gram-positiver und -negativer Infektionen gut geeignet ist (Goldblatt 2002). Ungewöhnliche Organismen hingegen bedürfen einer spezifischen Behandlung z. B. hochdosiertes Cotrimoxazol bei Burkholderia-cepacia-Pneumonie oder Nokardiose. Andere geeignete lipophile Antibiotika sind Rifampizin gegen Grampositive Organismen und Phosphomycin gegen Gram-negative Erreger. Rifampizin ist lipophil und diffundiert durch die Phagozytenmembran, Phosphomycin wird aktiv in die Phagozyten hineintransportiert. Antimykotika: Hochdosiertes Amphothericin B (1,5 mg/ kg/Tag) ist zur Therapie von Aspergillus-Infektionen geeignet. Da die Behandlung 1–2 Monate lang täglich erfolgt, müssen die renalen Nebenwirkungen von Amphothericin B genau beachtet werden. Es ist deshalb vorteilhaft, von Anfang an das weniger nephrotoxische, liposomale Amphothericin B einzusetzen (3–5 mg/kg/Tag) oder alternativ Voriconazol in der Dosierung von 8 mg/kg/Tag. Beide Antimykotika können mit Caspofungin in der Dosis von 1 mg/kg/Tag kombiniert werden. An die intravenöse antimykotische Therapie schließt sich eine lebenslängliche Sekundärprophylaxe mit oralem Voriconazol an. Immunmodulation: Die Gabe von Interferon-γ als Adjuvans bei der Behandlung refraktärer schwerer Infektionen ist nur durch anekdotische Fallberichte belegt. Kürzlich wurde über die In-vitro-Rekonstitution der Mikrobizidie durch Glukoseoxidase enthaltende Liposomen berichtet. Sollte sich diese neue Therapie im Tierversuch als wirksam und untoxisch erweisen, könnte sie einmal in die Behandlung refraktärer Infektionen Eingang finden (Gerber et al. 2001). Granulozytentransfusionen: Diese Therapieform erlebt derzeit durch Anwendung von G-CSF zur Neutrophilenmobilisation bei gesunden Blutspendern eine Renaissance. Verglichen mit Dexamethason erhöht G-CSF die Ausbeute bei der Leukapharese und schiebt die Apoptose transfundierter Granulozyten um 1–2 Tage hinaus. In vitro konnte eine Kreuzkorrektur der defekten Aspergillen-Abtötung bei CGDNeutrophilen gezeigt werden, die mit einem kleinen Prozentsatz normaler Neutrophiler gemischt waren. Wahrscheinlich kann das H2O2 der normalen Neutrophilen in die CGD-Neutrophilen diffundieren und deren Mikrobizidiedefekt intrazellulär korrigieren. Granulozytentransfusionen werden meist gut vertragen, sollten aber nicht gleichzeitig mit Amphothericin B-Infusionen gegeben werden, da sich Granulozytenaggregate bilden können. Weiterhin besteht das Risiko der Allo-Immunisation durch Antikörper gegen HLA-Klasse 1- oder granulozytenspezifische Antigene nach 1–2 Wochen Therapiedauer. Leukoagglutinine machen sich durch febrile Transfusionsreaktionen und fehlenden Anstieg NBT-positiver Granulozyten nach Transfusion bemerkbar. Deshalb sollten Granulozytentransfusionen für die Behandlung refraktärer, schwerer Infektionen wie multiple Leberabszesse oder invasive Aspergillosen vorbehalten bleiben. Bei multiplen Leberabszessen können Granulozytentransfusionen im Anschluss an die chirurgische Ausräumung und Einlagerung von Omentummaius-Straßen in die Abszesshöhlen erfolgreich sein (von Planta et al. 1997).
Behandlung inflammatorischer Komplikationen. Die Behandlung inflammatorischer Komplikationen wie Kolitis und Stenosen von Hohlorganen erfolgt immunmodulatorisch. Die initiale Therapie der Kolitis beinhaltet die Gabe von Sulfasalazin und Steroiden (2 mg/kg/Tag PrednisolonÄquivalent). Nach Induktion einer Remission kann Sulfasalazin langfristig verabreicht werden. Bei Steroidabhängigkeit können TNFα-Antagonisten evaluiert werden (anekdotische Fallberichte). Bei fortbestehender Steroidabhängigkeit wird Azathioprin eingesetzt (Schappi et al. 2001) bzw. ist eine HLA-genoidentische Knochenmarktransplantation zu diskutieren. Bei obstruktiven Komplikationen z. B. Antrumstenosen oder Blasengranulomen, sind Steroide rasch wirksam, wobei es allerdings beim Ausschleichen zu Rezidiven kommen kann (Walther et al. 1992) Wenn eine obstruktionsbedingte Hydronephrose unter Steroidtherapie nicht reversibel ist, kann zystoskopisch vorübergehend ein Pigtail-Katheter eingelegt werden, um den Ureter durch interne Schienung offen zu halten. Kurative Therapien. Stammzelltransplantation: Da CGD ein
Defekt der hämatopoetischen Stammzelle darstellt, bietet sich die hämatopoetische Stammzelltransplantation an, um eine Population normaler myeloider Progenitoren zu etablieren. Die meisten geheilten Patienten haben 100% zirkulierende Spenderzellen. Bei einem Patienten reichte ein Chimärismus von nur 10% normaler Zellen zur dauerhaften Protektion gegen Infekte aus. Patienten mit aktiver Infektion (z. B. Aspergillose) oder aktiver Entzündung (z. B. Kolitis) zum Zeitpunkt der Transplantation zeigen eine hohe Rate an Komplikationen, einerseits durch Streuung der Infektionen, andererseits durch inflammatorische Komplikationen und Auslösung von Graft-versus-HostReaktionen. Im Tierversuch konnte bei CGD-k/o-Mäusen gezeigt werden, dass hohe Chemokinspiegel mit konsekutiver Invasion von Spender-T-Lymphozyten und -Monozyten ursächlich an diesen Komplikationen beteiligt sind. Aus diesem Grunde werden bisher nur Transplantationen mit HLA-genoidentischen Geschwisterspendern empfohlen. In Europa wird eine myeloablative Konditionierung mit Busulfan und Cyclophosphamid durchgeführt (Seger et al. 2002), sowie bei Vorliegen akuter Infektionen oder Entzündungen eine zusätzliche GvH-Prophylaxe mit einer kleinen Dosis des monoklonalen Campath-1H (anti-CD52)-Antikörpers. Eine Graft-versus-Host-Prophylaxe durch extensive Invitro-T-Zelldepletion hingegen führte zu einer erhöhten Rate an Non-Engraftment (Horwitz et al. 2001). Die Transplantation mit molekular gematchten Fremdspendern kann erst empfohlen werden, wenn eine zuverlässige Prophylaxe der inflammatorischen Komplikationen erarbeitet worden ist. Dennoch darf festgehalten werden, dass inzwischen sogar Hochrisikopatienten mit refraktärer Aspergillose, mit steroidabhängiger aktiver Kolitis oder mit schwerer pulmonaler Restriktion als Folge abgelaufener Pneumonien durch HLAgenoidentische Transplantationen geheilt werden konnten. Bemerkenswert ist auch die allmähliche Erholung der Lungenfunktion über Monate bis Jahre bei schwer eingeschränkten, Sauerstoff-abhängigen Patienten mit chronischer Lungengranulomatose.
18
212
I
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
Da Patienten mit septischer Granulomatose infektfreie Intervalle über Monate bis Jahre aufweisen, muss der Zeitpunkt der Transplantation mit Bedacht gewählt werden. Die Europäische Arbeitsgruppe für Knochenmarktransplantationen bei Inborn Errors empfiehlt die Transplantation erst bei Auftreten manifester Komplikationen: z. B. bei nicht gesicherter Antibiotikaprophylaxe oder fehlender medizinischer Langzeitbetreuung, mehr als einer schweren Bakterien- oder Pilzinfektion, zunehmender Lungenrestriktion nach restriktiver Pneumopathie und steroidabhängiger Kolitis. Gentherapie: Für CGD-Patienten ohne HLA-genoidentischen Spender bleibt die Gentherapie eine potenzielle Behandlungsmöglichkeit (Grez et al. 2000). Ihr Potenzial ist durch eine Anzahl präklinischer Studien belegt, z. B. die genetische Korrektur von k/o-Mäusen mit gp91phox- bzw. p47phox-Defizienz. Der Erfolg der Gentherapie bei CGD ist durch den fehlenden Wachstumsvorteil gentransduzierter gegenüber unkorrigierten Zellen limitiert. Bei einem klinischen Versuch an 5 Patienten mit p47phox-Mangel waren 3– 6 Wochen nach Transfusion autologer, gentransduzierter CD34-positiver peripherer Blutstammzellen nur maximal 0,05% der zirkulierenden Granulozyten korrigiert (Malech et al. 1997). Gegenwärtig sind klinische Protokolle mit myelosuppressiver Kondionierung bei gp91phox-Defizienz geplant. Prognose. Das Überleben von CGD-Patienten hat sich in den
letzten 4 Dekaden schrittweise verbessert. Von entscheidender Bedeutung war die Einführung einer konsequenten antimykotischen Prophylaxe (mit Itraconazol), sowie der Einsatz geeigneter neuerer Antibiotika/Antimykotika und G-CSF-induzierter Granulozytentransfusionen im Infektfall. Dennoch darf die heutige Letalität nicht unterschätzt werden. Daten des amerikanischen CGD-Registers zeigen eine 5-JahresSterberate von 2% pro Jahr bei der autosomal rezessiven CGD (in erster Linie p47phox-Defekte) sowie 5% pro Jahr bei der X-gekoppelten CGD (Winkelstein et al. 2000). Weitere Verbesserungen sind nur durch neue antimykotische Therapien (ein Drittel der Todesfälle sind auf invasive Aspergillose zurückzuführen!) bzw. neue immunmodulatorische Agenzien (mit zunehmendem Überleben treten granulomatöse Komplikationen in den Vordergrund!) zu erwarten. Große Hoffnung wird in die Weiterentwicklung der hämatopoetischen Stammzelltransplantation und in die somatische Gentherapie gesetzt, den derzeit einzigen kurativen Therapiemöglichkeiten. 18.3.2 Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel
( Kapitel 10.4) Definition Der Glukose-6-Phosphatdehydrogenase (G6PD)-Mangel ist ein X-chromosomal vererbtes Krankheitsbild mit chronisch-hämolytischer Anämie und mäßiger Infektanfälligkeit.
Ätiologie und Pathogenese. Glukose-6-Phosphatdehydroge-
nase ist das erste Enzym im Hexosemonophosphat-Shunt, das NADPH für die NADPH-Oxidase und damit für die Super-
oxidanionproduktion zur Verfügung stellt. Leukozyten- und Erythrozyten-G6PD werden durch das gleiche Gen kodiert. Erst ein sehr schwerer G6PD-Mangel (unter 5% der Norm) beeinträchtigt die NADPH-Synthese (Cooper et al. 1972). Da die meisten G6PD-Mutationen nur zu einem instabilen Enzym führen, wirken sich diese kaum auf die kurzlebigen Neutrophilen aus. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass bisher weniger als 10 Fälle in der Literatur beschrieben wurden. Klinik. Das Krankheitsbild sollte bei der Kombination von
chronischer, nicht-sphärozytärer hämolytischer Anämie ab Geburt und Infektanfälligkeit vermutet werden. Diagnostik. Eine Messung des erythrozytären G6PD-Spiegels
und der leukozytären NADPH-Oxidase-Aktivität sind diagnostisch. Therapie. Die Behandlung erfolgt gemäß den Grundsätzen der septischen Granulomatosen. Hinzu kommen Bluttransfusionen bei schwerer Anämie.
Angeborene Granulozytenfunktionsstörungen sind zwar insgesamt selten, jedoch von hoher praktischer Bedeutung für die Betroffenen. Sie gehören in jede Differenzialdiagnose chronisch-rezidivierender bakterieller und mykotischer Infektionen. Nur die präzise und frühzeitige Diagnostik im Speziallabor ermöglicht eine optimale, maßgeschneiderte Therapie (bis hin zur Knochenmarktransplantation) sowie die Entdeckung weiterer Überträger in der Familie und deren genetische Beratung.
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213 18 · Granulozytenfunktionsstörungen
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18
I
Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen J. Roth, J. Ritter
19.1 19.2
Einleitung – 214 Heterogenität von Makrophagen und dendritischen Zellen – 214
19.2.1 19.2.2 19.2.3
Differenzierungswege – 214 Aktivierungsmechanismen – 215 Dendritische Zellen – 215
19.3
u Fnktionen von Monozyten, Makrophagen und dendritischen Zellen – 216
19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5
Adhärenz und Diapedese – 216 Pathogenerkennung und Chemotaxis – 216 Phagozytose – 217 Antigenpräsentation – 218 Regulatorische Funktionen von Makrophagen und dendritischen Zellen – 218
19.4
Die Rolle von Makrophagen und dendritischen Zellen bei neoplastischen Erkrankungen – 219 Literatur – 219
Der Prozess der Phagozytose ist als ein wichtiger Mechanismus des angeborenen Immunsystems seit der Erstbeschreibung mobiler Phagozyten durch Metchnikov Ende des 19. Jahrhunderts allgemein anerkannt. Später hat van Furth das mononukleare phagozytische System als eigenständigen Bestandteil des Immunsystems definiert. Bereits Virchow hat 1863 erkannt, dass verschiedenste Tumoren eine große Anzahl Makrophagen enthalten. In jüngster Zeit ist dieser Zelltyp wieder in das Zentrum des Interesses der onkologischen Forschung gerückt, seit man die Bedeutung von Makrophagen für die Angiogenese im Rahmen der Tumorentstehung erkannt hat.
19.1
Einleitung
Makrophagen werden in nahezu jedem Gewebe gefunden. Sie partizipieren an so unterschiedlichen biologischen Prozessen wie Entzündung, Entwicklung, Knochenmetabolismus, Angiogenese oder Wundheilung. Über spezifische Rezeptoren identifizieren sie pathogene Erreger, die sie nach Phagozytose durch antimikrobielle Mechanismen unschädlich machen. Makrophagen initiieren spezifische Immunreaktionen und stellen wichtige Effektorzellen in verschiedenen Entzündungsreaktionen dar. Makrophagen bilden keine einheitliche Population, sondern üben in Abhängigkeit von ihrem Differenzierungs- und Aktivierungszustand sowohl pro- wie auch antientzündliche Funktionen aus. Die Aktivierung dieser Zellen unterliegt einer strengen Kontrolle, da überschießende Reaktionen von Makrophagen bei verschiedenen
Erkrankungen eine wesentliche Bedeutung zukommt (Johnston 1988; Underhill u. Ozinsky 2002). In diesem Kapitel sollen die verschiedenen Funktionen von Makrophagen und die Rolle dieser Zellen im Rahmen von neoplastischen Erkrankungen erörtert werden. Phagozytendefekte werden in Kap. 18 behandelt. 19.2
Heterogenität von Makrophagen und dendritischen Zellen
19.2.1 Differenzierungswege Makrophagen und ihre Vorläufer werden aufgrund ihrer gemeinsamen Abstammung, morphologischer Kriterien und gemeinsamer funktioneller Eigenschaften unter dem Begriff mononukleäre Phagozyten zu einem funktionellen System zusammengefasst. Dabei umfasst diese Gruppe neben den typischen Gewebemakrophagen so unterschiedliche Zelltypen wie Kupffer-Zellen, Osteoklasten, Mikroglia, dendritische Zellen sowie Peritoneal- und Alveolarmakrophagen (⊡ Tabelle 19.1). Die molekularen Mechanismen, die zu dieser Diversität führen, sind weitgehend unbekannt. Makrophagen entwickeln sich aus Vorläuferzellen des Knochenmarks. Die Transitzeit von der ersten monozytären Vorläuferzelle bis zum ausgereiften Blutmonozyten beträgt ungefähr 6–7 Tage. Im Gegensatz zu Granulozyten gibt es für Monozyten keine vergleichbare Knochenmarkreserve. Für die Entwicklung der ersten Granulozyten-Monozyten-Vorläufer aus pluripotenten Stammzellen des Knochenmarks ist die Expression der Transkriptionsfaktoren PU-1 und c-Myb erforderlich. Im weiteren Verlauf sind neben PU-1 auch Mitglieder der MAF-, C/EBP- oder Jun-Familie in die Entwicklung von Monozyten involviert (Friedman 2002; Valledor et al. 1998). Auf Seiten der Zytokine sind zunächst IL-1 und IL-3, im weiteren Verlauf IL-3, M-CSF (»monozyte colony stimulating factor«) und GM-CSF (»granulocyte/monocyte colony stimulating factor«) für die Entwicklung von Granulozyten-MonozytenVorläufern erforderlich. Die letzten 3 Zytokine induzieren auch die weitere Ausdifferenzierung über Monoblasten und Promonozyten zum reifen Monozyten (Valledor et al. 1998). Für die weitere Differenzierung zu Makrophagen stellt M-CSF den wohl potentesten Stimulus dar. Die Halbwertszeit für Monozyten im peripheren Blut beträgt ungefähr 3 Tage (Johnston 1988). Schon hier lassen sich verschiedene Subpopulationen anhand von Oberflächenmolekülen und funktionellen Eigenschaften identifizieren (Grage-Griebenow et al. 2001; Johnston 1988; Rutherford et al. 1993). Nach der Emigration aus der Zirkulation gibt es wahrscheinlich keine Rezirkulation von Monozyten aus dem Gewebe ins Blut, sondern nach der Transmigration differenzieren die Zellen in
215 19 · Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen
⊡ Tabelle 19.1. Phänotypische Diversität von mononukleären Phagozyten Zelltyp
Gewebe
Spezifische Relevanz
Monozyten
Knochenmark und Blut
Scavenger-Funktionen, Phagozytose
Gewebemakrophagen
Ubiquitär
Phagozytose, Entzündung
Alveolarmakrophagen
Lunge
Phagozytose, Entzündung
Kupffer-Zellen
Leber
Phagozytose, Entzündung
Pleuramakrophagen
Pleura
Phagozytose, Entzündung
Peritonalmakrophagen
Peritoneum
Phagozytose, Entzündung
Synoviazellen (Typ A)
Synovia
Synovialitis
Zentralnervensystem
Mikroglia
Phagozytose, Entzündung
Plazentamakrophagen
Plazenta
Lokale Immunsuppression?
Osteoklasten
Knochen
Knochenabbau
Epitheloidzellen
Granulome
Chronische Entzündung
Dendritische Zellen
Ubiquitär
Antigenpräsentation
Langerhans-Zellen
Haut
Antigenpräsentation
Abhängigkeit von gewebespezifischen Stimuli zu reifen Makrophagen aus (Johnston 1988; Rutherford et al. 1993). Nach Stammzelltransplantation haben Alveolarmakrophagen und Kupffer-Zellen innerhalb von ungefähr 3 Monaten den Genotyp des Spenders (Johnston 1988). Bei der Erneuerung von Gewebemakrophagen wird neben dem Influx von Blutzellen auch einer begrenzten lokalen Proliferation eine Bedeutung zugeschrieben (Rutherford et al. 1993). ! Die Bedeutung der Makrophagenheterogenität liegt in den vielfältigen Aufgaben dieser Zellen und in unterschiedlichen Funktionen in verschiedenen Phasen von Entzündungsreaktionen (Rutherford et al. 1993).
19.2.2 Aktivierungsmechanismen Residente Gewebemakrophagen sind immunologisch relativ inert (Rutherford et al. 1993). Schon früh fielen morphologische Veränderungen von Makrophagen nach Kontakt mit entzündlichen Stimuli auf, wie z. B. Veränderungen der Membranoberfläche oder eine verstärkte Adhärenz. Gleichzeitig vervielfacht sich der Energiebedarf dieser Zellen. Bei der Aktivierung von Makrophagen werden generell 2 Stufen unterschieden. Das erste Stadium ist das so genannte »priming«, das z. B., induziert durch IFN-γ, zu einer erhöhten HLA-DRExpression und Antigenpräsentation führt. Zur vollständigen Aktivierung bedarf es eines zweiten Signals durch Infektion oder Gewebeschädigung, Immunkomplexe, Komplementfaktoren sowie verschiedene Zytokine (Johnston 1988). Verschiedene intrazelluläre Signalwege werden im Rahmen der Stimulation von Makrophagen aktiviert. Eine wichtige Signalkaskade stellen die so genannten MAP-Kinasen (»mitogen acitvated protein kinases«) dar (Dong et al. 2002). Diese werden u. a. durch Tollrezeptoren oder den TNF-Rezeptor aktiviert (Dong et al. 2002; Herlaar u. Brown 1999; Rao 2001). MAP-Kinasen kontrollieren die Expression von TNF, IL-1, IL-6 oder IL-12. Tollrezeptoren aktivieren den Transkriptionsfaktor NFκB, der für die Induktion zahlreicher proinflammatorischer Gene verantwortlich ist (Janeway u. Medzhitov 2002; Medzhitov u. Janeway 2000). Des Weiteren
kommt der Erhöhung des intrazellulären Kalziums mit Aktivierung der Proteinkinase C eine entscheidende Funktion im Rahmen der Aktivierung von Makrophagen zu (Pettit u. Fay 1998; Underhill u. Ozinsky 2002). ! In Abhängigkeit von ihrem Aktivierungsgrad können Makrophagen ganz unterschiedliche Eigenschaften aufweisen und können somit zu einer Chronifizierung oder auch Herunterregulation einer Entzündungsreaktion beitragen.
19.2.3 Dendritische Zellen Der Begriff »dendritische Zelle« umfasst zunächst eine morphologisch definierte, heterogene Zellgruppe. Dendritische Zellen weisen das höchste Potenzial zur Antigenpräsentation auf. Auch wenn die Abstammung der verschiedenen dendritischen Zellen letztendlich nicht aufgeklärt ist, so fungieren monozytäre Zellen des peripheren Blutes unbestritten als wichtige Vorläuferquelle (⊡ Abb. 19.1). Bezüglich der phänotypischen Divergenz mononukleärer Phagozyten stellen dendritische Zellen in Abhängigkeit von verschiedenen entzündlichen Stimuli einen sehr interessanten Sonderfall dar. Unreife, dendritische Zellen haben eine hohe Phagozytosekapazität, sind aber kaum im Stande, eine spezifische Immunantwort zu induzieren. Dieser Zellgruppe scheint eher eine antientzündliche Funktion zuzukommen. Erst die Aktivierung der unreifen Zellen, z. B. durch TNF, induziert einen Phänotyp, dessen phagozytische Eigenschaften deutlich reduziert sind, der jedoch starke antigenpräsentierende Eigenschaften aufweist und somit prädestiniert ist, spezifische Immunreaktionen zu induzieren (⊡ Tabelle 19.2; Lutz u. Schuler 2002; Shortman u. Liu 2002). In ersten experimentellen Ansätzen wird zurzeit versucht, dendritische Zellen in vitro gegen Tumorantigene zu sensibilisieren, um auf diese Weise nach Retransfusion dieser Zellen eine spezifische Immunantwort gegen Tumoren zu erzeugen (Nestle et al. 1998).
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Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
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⊡ Abb. 19.1. Die Abbildung zeigt die Hauptdifferenzierungswege von dendritischen Zellen und die verantwortlichen Stimuli für die verschiedenen Differenzierungsschritte. B B-Lymphozyt, DC dendritische
⊡ Tabelle 19.2. Funktionelle Eigenschaften unreifer und reifer dendritischer Zellen (DC)
Unreife DC
Reife DC
Phagozytose
+++
+
Makropinozytose
+++
+
Antigenpräsentation
+
+++
Interleukin-12-Produktion
–
++
TumornekrosefaktorProduktion
–
+
CC-Chemokinrezeptor7-Expression
–
+
CD40-Expression
–
+
schaffen, an den sich die transendotheliale Diapedese anschließt. Die transendotheliale Migration von Leukozyten erfordert ein exaktes Wechselspiel der Leukozyten mit dem Endothel, wobei der Auflösung endothelialer Zell-Zell-Kontakte eine zentrale Rolle zukommt (Alexander 2000; Bazzoni et al. 1999; Johnson-Leger et al. 2000; Springer 1994). Zu den Mechanismen, über die inflammatorische Stimuli und Monozyten Endothelzellkontakte modulieren, liegen nur sehr begrenzte Daten vor (Allport et al. 2000; Bannerman et al. 1998; Tinsley et al. 1999). 19.3.2 Pathogenerkennung und Chemotaxis
CD86-Expression
–
+
HLA-DR-Expression
+
+++
19.3
Zelle, GM-CSF »granulocyte-monocyte colony stimulating factor«, Gr Granulozyt, LC Langerhans-Zelle, IL Interleukin, M-CSF MonozytenCSF, Mo Monozyt, TGFβ »transforming growth factor β«, T T-Lymphozyt
Funktionen von Monozyten, Makrophagen und dendritischen Zellen
19.3.1 Adhärenz und Diapedese Bei der Adhärenz von Blutmonozyten an das vaskuläre Endothel kommt es im ersten Schritt zu einem Rollen der Zellen auf der Endothelzelloberfläche, das durch die Interaktion von Selektinen mit spezifischen Kohlenhydratstrukturen auf Ligandenproteinen bedingt ist. Diese reversible Adhäsion erlaubt den Kontakt von Blutmonozyten mit chemotaktischen Signalen. Hierdurch wird die Bindung von Integrinrezeptoren auf Monozyten an ihre spezifischen Liganden der Immunglobulinfamilie auf Endothelzellen induziert und ein fester Kontakt zwischen Monozyten und Endothelzellen ge-
Während das adaptive Immunsystem in der Lage ist, gegen eine Vielzahl von Strukturen spezifische Reaktionen zu entwickeln, obliegt die Entscheidung, ob auf einen bestimmten Stimulus überhaupt eine Entzündungsreaktion ausgelöst wird, dem angeborenen Abwehrsystem, speziell den mononukleären Phagozyten. Im Laufe der Evolution entwickelten sich Multiligandrezeptoren (»pattern recognition receptors«, PRR), die konservierte Motive z. B. auf mikrobiellen Erregern (»pathogen-associated molecular patterns«, PAMP), aber auch auf geschädigten Körperzellen erkennen. Es gibt lösliche PRR, z. B. Komplementfaktoren oder das Mannan-bindende Protein, die über die Opsonierung von Partikeln Phagozytose vermitteln (s. unten). Unter den membranständigen Rezeptoren befinden sich u. a. Tollrezeptoren, Makrophagen-Mannose-Rezeptor, der Makrophagen-ScavengerRezeptor und CD14 (Janeway u. Medzhitov 2002). Das zurzeit am besten charakterisierte Beispiel für einen PRR ist die Erkennung des Bakterienwandproduktes Lipopolysaccharid (LPS), das im Komplex mit dem LPS-bindenden Serumprotein mit dem Oberflächenrezeptor CD14 auf Makrophagen
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interagiert. CD14 bedarf zur Induktion eines intrazellulären Signals der Interaktion mit dem Tollrezeptor 4 (Medzhitov u. Janeway 2000). Weitere Tollrezeptoren erkennen so unterschiedliche Liganden wie Peptidoglykane, bakterielle Lipoproteine, LPS, Zymosan, Flaggelin oder unmethylierte CpGDNA, wie sie in Bakterien vorkommt (Janeway u. Medzhitov 2002). Neben der Stimulation durch mikrobielle Produkte reagieren Makrophagen auch auf eine große Anzahl chemotaktischer Moleküle, die z. B. von Endothelzellen sezerniert werden. Innerhalb von Sekunden induziert ein chemotaktischer Stimulus deutliche morphologische Veränderungen und eine Polarisation der Makrophagen (Pettit u. Fay 1998). ! Während des Prozesses der Migration sind Makrophagen in der Lage, Konzentrationsunterschiede eines Chemokins von 2% über die Zelllänge zu unterscheiden und zielgerichtet auf einen chemotaktischen Auslöser zu zu wandern.
Eine Tabelle der derzeit bekannten Chemokine und ihrer Rezeptoren findet sich im Anhang. Eine zentrale Bedeutung für Migrationsprozesse kommt der Polarisation des Aktinzytoskeletts zu. Ein Komplex aus 7 Proteinen, Arp 2/3, und das so genannte Wiskott-AldrichSyndrom-Protein regulieren diese Polarisation des Aktinsystems. Aktiviert wird dieser Mechanismus über verschiedene Chemokinrezeptoren, Phospholipase C, Phosphoinositid-3Kinase und so genannte kleine GTPasen, Rho, Rac und cdc42 (Jones 2000). Ein weiterer wichtiger intrazellulärer Signalweg wird über die Konzentration des freien, intrazellulären Kalziums vermittelt. Dabei ist unklar, wie es im Rahmen der gerichteten Zellbewegung zu einem intrazellulären Kalziumgradienten kommt. Es ist jedoch auffallend, dass Phagozyten über eine sehr große Kalziumbindungskapazität verfügen. Ein solcher Kalziumpuffer könnte die Entstehung eines Gradienten begünstigen (Pettit u. Fay 1998). Mehr als 50% der Kalziumbindungskapazität in Monozyten stellen 2 Proteine aus der S100-Familie, MRP8 und MRP14, dar (Roth et al. 1993; van den Bos et al. 1996). Kalzium beeinflusst die Organisation des Mikrotubulisystems, das für die gerichtete Migration erforderlich ist (Pettit u. Fay 1998). Die Migration definierter Makrophagensubtypen in verschiedene Zielorgane unter Ruhebedingungen und nach entzündlicher Stimulation ist zurzeit nur unzureichend verstanden, erfolgt jedoch offensichtlich über die Expression lokaler Chemokine (Muller u. Randolph 1999). 19.3.3 Phagozytose Die Phagozytose von Partikeln erfordert den Umbau des Zytoskeletts, Änderungen des Membranumsatzes, die Aktivierung antimikrobieller Prozesse, die Produktion und Freisetzung pro- und antiinflammatorischer Chemokine und Zytokine. ! Makrophagen exprimieren ein weites Spektrum an Rezeptoren, die bei der Erkennung und Internalisierung von Fremdpartikeln involviert sind (Underhill u. Ozinsky 2002).
Immunglobulin-G-Rezeptoren (Fcγ-Rezeptoren). Makro-
phagen verfügen über verschiedene, spezifische Rezeptoren für die konservierte Fc-Region des IgG (Fcγ-Rezeptoren, Fcγ-R). Der hochaffine Fcγ-RI und der niedrigaffine Fcγ-RIIA und Fcγ-RIIIA führen zur Aktivierung von Phagozyten. Fcγ-RIIB hingegen übt inhibitorische Effekte aus. Das Verhältnis von pro- und antientzündlichen Fcγ-R entscheidet letztendlich über den Grad der Aktivierung von Makrophagen durch IgG-opsonierte Partikel und Immunkomplexe (Underhill u. Ozinsky 2002). Komplementrezeptoren. Verschiedene Komplementfaktoren können Bakterien über IgG-abhängige und -unabhängige Mechanismen opsonieren. Makrophagen exprimieren die Komplementrezeptoren CR1, CR3 (CD11b/CD18, Mac 1) und CR4 (CD11c/CD18). CR1 bindet die Komplementfaktoren C1q, C4b und C3b sowie das Mannan-bindende Lektin (MBL). CR1 bedarf eines kostimulatorischen Signals, z. B. durch Fcγ-R, zur Induktion von Phagozytose. CR3 und CR4 binden vornehmlich C3b. Für CR3 ist bekannt, dass verschiedene entzündliche Stimuli, wie z. B. TNF oder LPS, die Affinität des Rezeptors auf der Oberfläche von Phagozyten erhöhen. Für eine effektive Phagozytose durch Makrophagen in vivo ist eine koordinierte Funktion von Fcγ-R und Komplementrezeptoren offensichtlich von besonderer Bedeutung (Underhill u. Ozinsky 2002). Andere Rezeptoren. Neben Fcγ-R und CR kommen auch Mitgliedern der Scavenger-Rezeptorenfamilie Funktionen im Rahmen der Phagozytose zu, die u. a. bakterielle Zellwandbestandteile erkennen. Für den Prozess der Phagozytose bedürfen Scavenger-Rezeptoren der Kooperation mit Fcγ-R oder CR. Über Lektine werden Bindungen an mikrobielle Kohlenhydratstrukturen vermittelt und Phagozytose induziert. Darüber hinaus sind auch weitere Mitglieder der Integrinfamilie in phagozytotische Prozesse involviert (Underhill u. Ozinsky 2002). Phagozytose apoptotischer Zellen. Eine weitere Funktion
von Makrophagen ist die Phagozytose von geschädigten Zellen (Johnston 1988; Morrissette et al. 1999). Ein Hauptmerkmal apoptotischer Zellen ist die Oberflächenexpression von Phosphatylserin, das durch einen kürzlich auf Makrophagen identifizierten Rezeptor erkannt wird (Messmer u. Pfeilschifter 2000). Die Phagozytose apoptotischer Zellen erfolgt daneben über den Integrinrezeptor αvβ3, der in Assoziation mit CD36 Thrombospondin bindet, das sich auf apoptotischen Zellen anlagert. Darüber hinaus wird eine Beteiligung von CD14, Lektinen und Scavenger-Rezeptoren diskutiert (Aderem 2002; Messmer u. Pfeilschifter 2000). Die Phagozytose von apoptotischen Zellen führt über auto- und parakrine Mechanismen zu einer Deaktivierung von Makrophagen, wodurch eine Gewebeprotektion z. B. im Rahmen der Wundheilung bewirkt wird (Messmer u. Pfeilschifter 2000; Underhill u. Ozinsky 2002). Molekulare Mechanismen der Phagozytose. In der initialen Phase der Phagozytose kommt es zu einer lokalen Polymerisierung des submembranösen Aktinzytoskeletts am Ort der Phagozytose. Die Polymerisation des Aktins wird durch kleine GTPasen aus der Rho-Familie reguliert. Die Phosphoi-
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nositid-3-Kinase (PI3-Kinase), die Phospholipase C, Mitglieder der Rho-GTPase-Familie und die Proteinkinase C sind die wohl wichtigsten Regulatoren der Phagozytose. Die Aktivierung von PI3-Kinase und Phospholipase C (PLC) induziert letztendlich eine Freisetzung intrazellulärer Kalziumspeicher. Kalzium wiederum aktiviert die kalziumabhängigen Isoformen der Proteinkinase C (Aderem 2002). Die verantwortlichen intrazellulären Signalwege unterscheiden sich zum Teil in den unterschiedlichen Phagozytosewegen. Die Fcγ-R-abhängige Phagozytose scheint durch kalziumunabhängige Isoformen der Proteinkinase C vermittelt zu werden. Die Tatsache, dass die hier beschriebenen Signalwege auch bei anderen zellulären Prozessen, wie Adhäsion, Chemotaxis oder Apoptose eine Rolle spielen, weist darauf hin, dass diese verschiedenen, biologischen Funktionen eng verknüpft sind (Underhill u. Ozinsky 2002). Phagozytose und Aktivierung von Makrophagen. Die Phagozytose von mikrobiellen Erregern über Fcγ-R führt in der Regel zur Aktivierung von Makrophagen, während die isolierte Stimulierung von Komplementrezeptoren keine Effekte auslöst (Morrissette et al. 1999). Durch die Interaktion von weiteren Oberflächenrezeptoren, z. B. Toll-Rezeptoren, können intrazelluläre Signalmechanismen weiter moduliert werden (s. unten). Ein wichtiger Schritt ist die Aktivierung der NADPH-Oxidase, die durch die Produktion von Superoxidanionen und Hydrogenperoxid einen wesentlichen antimikrobiellen Mechanismus darstellt. Weiterhin kommen verschiedenen kationischen Peptiden wie z. B. den Defensinen sowie einer Reihe lysosomaler Enzyme antimikrobielle Funktionen zu (Gudmundsson u. Agerberth 1999; Underhill u. Ozinsky 2002). Daneben ist die Induktion verschiedener proinflammatorische Genprodukte, wie z. B. von verschiedenen Chemokinen und Zytokinen, für die effektive Induktion einer Immunantwort unabdingbar. Verschiedene Mikroorganismen haben subtile Strategien entwickelt, die Effektormechanismen von Makrophagen zu unterlaufen, indem sie die Phagozytose durch Hemmung des PI-3-Signals bzw. der Aktinpolymerisation blockieren (E. coli, Yersinien) oder mit der Ausreifung des Phagosoms interferieren (Salmonellen, Legionellen, Mykobakterien, Chlamydien, Leishmanien; Underhill u. Ozinsky 2002). So inhibieren E. coli und Yersinien die Phagozytose durch Hemmung des PI-3-Signals bzw. der Aktinpolymerisation. Salmonellen, Mykobakterien, Legionellen, Chlamydien und Leishmanien interferieren mit der Ausreifung des Phagosoms auf verschiedenen Ebenen.
19.3.4 Antigenpräsentation Im Anschluss an den Prozess der Phagozytose und der Abtötung von pathogenen Erregern kommt es zur Proteinprozessierung und zur Präsentation von Peptiden an Zellen des spezifischen Immunsystems (Medzhitov u. Janeway 2000). Zum einen wird diese Funktion von Gewebemakrophagen, zum anderen aber auch von spezialisierten, antigenpräsentierenden Zellen (dendritischen Zellen) ausgeübt. Bei der Antigenpräsentation lassen sich prinzipiell 2 Wege unterscheiden (Klein u. Sato 2000). Defekte, verbrauchte oder
fremde, intrazelluläre Proteine (z. B. Viren) werden im Zytosol durch das Proteasom zu Peptiden abgebaut. Ein Teil dieser Peptide wird dann in das endoplasmatische Retikulum transportiert und auf neusynthetisierte HLA-Klasse-I-Moleküle geladen, die über den Golgi-Apparat auf die Zelloberfläche gelangen. Extrazelluläre Proteine kommen über den Prozess der Phagozytose im Lysosom nach enzymatischer Degradation in Kontakt mit HLA-Klasse-II-Molekülen und werden anschließend zur Zelloberfläche transportiert (Klein u. Sato 2000). Konservierte Strukturen erlauben einen engen Kontakt des HLA-gebundenen Peptides mit der Peptiderkennungsregion des T-Zellrezeptors. Korezeptoren entscheiden, ob ein bestimmter T-Zellklon mit HLA-I- (über CD8) oder HLA-II-Molekülen (CD4) interagiert. Nur wenn die variable Region des T-Zellrezeptors eine enge Wechselwirkung mit dem gebundenen Peptid aufweist, kommt es zu einer intrazellulären Signaltransduktion in den Lymphozyten (Signal 1). Dieses erste Signal allein ist jedoch nicht in der Lage T-Zellen zu aktivieren (Klein u. Sato 2000). ! Das spezifische Immunsystem erkennt zwar über T-Zellrezeptoren und Antikörper eine fast unbegrenzte Zahl an verschiedenen Antigenstrukturen (Signal 1). Letztendlich entscheidet aber die antigenpräsentierende Zelle über die Expression kostimulatorischer Moleküle (Signal 2), ob es zu einer spezifischen Immunantwort kommt, oder Toleranz bzw. Anergie gegen ein spezifisches Antigen erzeugt werden (isoliertes Signal).
Zu diesen kostimulatorischen Molekülen gehören membranständige Rezeptoren auf der Oberflächen von Makrophagen mit korrespondierenden Liganden auf Lymphozyten wie CD80 und CD86 oder CD28 und B7, aber auch lösliche Moleküle wie IL-1, IL-6, IL-10 oder IL-12 (Medzhitov u. Janeway 2000; Lutz u. Schuler 2002). Die Expression dieser Moleküle auf Makrophagen und dendritischen Zellen hängt wiederum vom Aktivierungsgrad dieser Zellen ab ( Tabelle 19.2). 19.3.5 Regulatorische Funktionen von
Makrophagen und dendritischen Zellen Makrophagen haben wichtige Aufgaben für die Gewebehomöostase wie auch für die Reaktion auf unterschiedliche gewebeschädigende Reize, die sich sowohl in der Zahl sezernierter Moleküle wie auch in den vielfältigen Rezeptoren dieser Zellen widerspiegeln (⊡ Tabelle 19.3). Zu den von Makrophagen freigesetzten Substanzen gehören Zytokine, verschiedene Chemokine, NO und eine Vielzahl an Prostaglandinen. Daneben werden Gerinnungs- und Komplementfaktoren sowie verschiedene Enzyme wie Lysozym oder Kollagenasen synthetisiert. Im Gegenzug können Makrophagen über die Expression diverser Rezeptoren für Zytokine, Wachstumsfaktoren, Gerinnungs- und Komplementfaktoren, Hormone oder Immunglobuline auf eine Vielzahl von extrazellulären Stimuli reagieren (Johnston 1988). Über die Produktion von Molekülen der extrazellulären Matrix und Metalloproteinasen nehmen sie aktiv am Metabolismus des Bindegewebes teil.
219 19 · Monozyten, Makrophagen und dendritische Zellen
⊡ Tabelle 19.3. Entzündungsrelevante Genprodukte von Monozyten und Makrophagen (Auswahl) Zytokine
IL-1, IL-6, IL-8, TNF, IFN-γ, MIP-1, MIP-2, MIP-3, M-CSF, GM-CSF, G-CSF, PDGF, FGF, TGF-β
Antimikrobielle Substanzen
Sauerstoffradikale, NO, Proteasen, Lysozym, Defensine
Zytotoxische Substanzen
H2O2, NO, TNF, Proteasen
Pyrogene Substanzen
IL-1, TNF, IL-6
Bioaktive Lipide
Prostaglandine, Prostazyklin, Thromboxan, Leukotriene
Komplementfaktoren
Klassischer (C1–5) und alternativer Aktivierungsweg (Faktoren B, D, P, I, H)
Gerinnungsfaktoren
Faktor V, VII, IX, X, Prothrombin, Plasminogenaktivator und -inhibitor
Proteinasen und Inhibitoren
Elastase, Kollagenase, Cathepsin D und L, Lysozyme, Angiotensinkonvertase, α2-Makroglobulin, α1-Proteinaseinhibitor, Plasmin- und Kollagenaseinhibitor
! Mit ihrem breiten Repertoire an Effektormechanismen sind Makrophagen an der Infektabwehr, der Kontrolle des spezifischen Immunsystems, des Abbaus von geschädigtem Gewebe, der Wundheilung und der Angiogenese beteiligt.
19.4
Die Rolle von Makrophagen und dendritischen Zellen bei neoplastischen Erkrankungen
Nach der Erstbeschreibung durch Virchow 1863 ist heute allgemein akzeptiert, dass die meisten Tumoren eine große Anzahl an Makrophagen enthalten, die bis zur Hälfte der Tumormasse ausmachen können. ! Unstimulierte Makrophagen besitzen generell keine zytotoxischen Eigenschaften gegenüber Tumorzellen.
Nach Stimulation mit IFN-γ oder LPS lassen sich jedoch zytotoxische Mechanismen gegenüber Tumorzellen in vitro nachweisen. Dabei lassen sich direkte Effekte über die Freisetzung von zytotoxischen Zytokinen, Serinproteasen und NO-Metaboliten, von Antikörper-vermittelten Reaktionen unterscheiden (Bingle et al. 2002). Die Relevanz dieser antitumorösen Befunde in vivo ist jedoch umstritten. Viele Tumoren können z. B. durch verschiedene Zytokine wie TGF-β, M-CSF, IL-4, IL-10, MDF (»macrophage deactivating factor«) und PGE2 die zytotoxischen Eigenschaften von aktivierten Makrophagen inhibieren (Elgert et al. 1998). Ein maligner Tumor kann eine Größe von maximal 2– 3 mm3 nicht überschreiten, ohne eine Gefäßversorgung, d. h. eine Angiogenese zu induzieren. Angiogenese ist ein komplexer Vorgang, der verschiedene Prozesse wie den Abbau von Bindegewebe, die Proliferation und Migration von Endothelzellen erfordert. Über die Expression verschiedener Zytokine und Matrix-abbauender Enzyme können Makrophagen diesen Prozess induzieren und Tumorwachstum fördern (Bingle et al. 2002; Elgert et al. 1998). Verschiedene Tumoren exprimieren Makrophagen-spezifische Chemokine und verschaffen sich auf diese Weise ihr Makrophageninfiltrat. Die relevantesten Faktoren sind offensichtlich MCP-1 (Monozyten-chemoattraktives Protein 1), M-CSF (»monocyte colony stimulating factor«) und VEGF (»vascular endothelial growth factor«; Bingle et al. 2002; Elgert et al. 1998).
Makrophagen akkumulieren in hypoxischen Arealen, in die sie durch untergehende Zellen und Zytokine angelockt werden. Unter hypoxischen Bedingungen wird die Expression einer Anzahl von angiogenen Genen, z. B. für VEGF und Angiogenin, induziert. Makrophagen synthetisieren MatrixMetalloproteinasen, denen bei Umbauvorgängen im Rahmen der Angiogenese ebenfalls wichtige Funktionen zukommen (Bingle et al. 2002). Darüber hinaus zeigen Makrophagen in Tumoren einen Phänotyp, der auf T-Lymphozyten supprimierende Effekte ausübt und so eine Immunantwort gegen den Tumor unterdrücken kann (Elgert et al. 1998). Tumoren scheinen besonders die Expression von IFN-γ und IL-12 in Makrophagen zu unterdrücken, wodurch v. a. eine effektive TH1-Antwort verhindert wird (Elgert et al. 1998). Empirische Studien konnten für verschiedene Tumoren eine direkte Beziehung zwischen der Anzahl der infiltrierenden Makrophagen und einer schlechten Prognose belegen (Bingle et al. 2002). Darüber hinaus spielen Makrophagen auch bei der Beseitigung apoptotischer und nekrotischer Zellen im Rahmen der Chemotherapie eine Rolle. Weiterhin stellen residente Gewebemakrophagen nach Hochdosistherapie in Aplasie einen wesentlichen Anteil der verbliebenen Abwehr gegen infektiöse Erreger dar.
In den letzten Jahren sind Komponenten des angeborenen Immunsystems, insbesondere Makrophagen und dendritische Zellen, immer mehr in den Blickpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt, da offensichtlich geworden ist, dass dieser Zellgruppe eine zentrale Rolle in der Regulation von Entzündungsreaktionen und Tumorwachstum zukommt. Ob die gezielte Modulation von Makrophagen und dendritischen Zellen es in Zukunft erlauben wird, das Wachstum neoplastischer Erkrankungen gezielt zu inhibieren, bleibt allerdings noch abzuwarten.
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221
Histiozytosen H. Gadner, N. Grois
20.1 20.2 20.3 20.4
Klassifikation – 221 Juveniles Xanthogranulom – 222 Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie – 222 Langerhans-Zell-Histiozytose – 223
20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4 20.4.5 20.4.6 20.4.7 20.4.8
Epidemiologie – 223 Ätiologie und Pathogenese – 223 Histopathologie – 223 Klinik und Differenzialdiagnostik – 223 Diagnostik – 225 Einteilung und Klassifikation – 227 Therapie – 227 Spätfolgen – 229
Literatur
– 229
Ein 2 Jahre altes Mädchen kommt wegen einer seit über 12 Monaten bestehenden ulzerierenden Windeldermatitis und rezidivierenden Mittelohrentzündungen mit Otorrhö zur Aufnahme. Die Untersuchung ergibt normale Laborwerte bis auf eine erhöhte BSG (48/83 mm/h) und eine geringe Hepatomegalie. Ein Schädelcomputertomogramm zeigt osteolytische Veränderungen im Os temporale, die Hautbiopsie bestätigt eine Langerhans-Zell-Histiozytose. Nach 6-monatiger Chemotherapie (Prednisolon und Vinblastin) bilden sich alle Symptome bis auf eine geringe persistierende Verschattung im Mastoid rasch zurück. 9 Monate nach Therapieende entwickelt das Kind einen Diabetes insipidus, nach 6 Monaten kommt es zu einer Gingivaschwellung und Lockerung von Zähnen sowie zur Rötung und Schuppung der Kopfhaut. Das Computertomogramm zeigt multiple Kieferosteolysen und bestätigt die Reaktivierung. Eine erneute Chemotherapie führt zu einem neuerlichen Response, die Zähne bleiben alle erhalten. Ein Kontroll-MRT nach 1 Jahr zeigt einen normalen Hypophysenstiel einen fehlenden »bright spot«, eine kleine Hypophyse und pathologische Signale im Zerebellum und den Basalganglien. Das mittlerweile 6 Jahre alte Mädchen besucht die Schule und ist neurologisch unauffällig. Es hat jedoch einen Wachstums- und Schilddrüsenhormonmangel entwickelt und zeigt Konzentrations- und Merkstörungen.
20.1
Klassifikation
Die Histiozytosen umfassen eine Gruppe heterogener Krankheitsbilder ungeklärter Ätiologie mit unterschiedlichen klinischen Phänotypen und biologischem Verhalten. Den Krankheiten gemeinsam ist die Infiltration und Akkumula-
tion dendritischer Zellen oder Zellen des Monozyten/Makrophagensystem, die sich von hämatopoetischen Vorläuferzellen des Knochenmarks ableiten. Ihre Zirkulation im peripheren Blut nach Maturation und ihre Absiedelung in unterschiedlichen Organen und Organsystemen (z. B. Kupffer-Zellen der Leber, Langerhans-Zellen der Haut) erklärt die Vielfalt der klinischen Präsentation. Dendritische Zellen sind antigenpräsentierende Zellen, während Makrophagen an der Phagozytose und Antigenverarbeitung beteiligt sind ( Kap. 19). Mit dem Ziel, exakte Kriterien für die definitive Diagnose der Histiozytosen zu erarbeiten, wurde von der internationalen Histiozytose Gesellschaft 1987 eine neue Klassifikation vorgeschlagen (Writing Group Histiocyte Society 1987; Gadner u. Grois 1998). Danach werden die Krankheitsbilder nach dem klinischen Verlauf in benigne, variable und maligne Entitäten getrennt und in 3 Klassen unterteilt (Favara et al. 1997). Klassifikation der Histiozytosesyndrome: Benigner oder variabler Verlauf Klasse I: Erkrankungen der dendritischen Zelle Langerhans-Zell-Histiozytose Juveniles Xanthogranulom Solitäres Histiozytom Sekundäre dendritische Zellproliferationen Klasse II: Erkrankungen der ordinären Histiozyten/ Makrophagen Hämophagozytische Lymphohistiozytose − Primär: familiär, sporadisch − Sekundär: infektassoziiert, tumorassoziiert, andere Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie (Rosai-Dorfman) Multizentrische Retikulohistiozytose
Maligne Erkrankungen Klasse III: Monozytenreihe Leukämien − Akute monozytäre Leukämie (FAB M5A und B) − Akute myelomonozytäre Leukämie (FAB M4) − Chronische myelomonozytäre Leukämie (CMML) − Juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) Monozytisches Sarkom Klasse III: Histiozytäre Zelllinie Histiozytisches Sarkom (ordinärer Histiozyten/ Makrophagentyp, dendritischer Zelltyp) Maligne Histiozytose (ordinärer Histiozyten/ Makrophagentyp, dendritischer Zelltyp)
20
222
I
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
Die in Klasse I zusammengefassten Krankheiten gehen von dendritischen Zellen aus und inkludieren als häufigste Form die Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH) sowie das juvenile Xanthogranulom. Die Klasse II beschreibt Syndrome der so genannten »ordinären« Histiozyten/Makrophagen, wie die hämophagozytische Lymphohistiozytose und die Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie (Rosai-Dorfman-Krankheit). Der Nachweis von mononukleären Zellen dendritischen oder histiozytären Ursprungs mit eindeutigen malignen Eigenschaften charakterisiert die Klasse III, die die monozytären Leukämien und die maligne Histiozytose umfasst. Letztere ist, seitdem die Abgrenzung der großzelligen anaplastischen Lymphome als eigene Subgruppe der NonHodgkin-Lymphome allgemein akzeptiert ist (⊡ Kap. 63), eine selten vorkommende Rarität mit gewöhnlich infauster Prognose. Sie präsentiert sich meistens als generalisierte, selten als lokalisierte Proliferation von großen, oft vakuolisierten histiozytären Zellelementen mit eindeutig malignem Charakter. Als mögliche Option ist eine von der AML abgeleitete Therapie mit allogener Stammzelltransplantation zu empfehlen (Bucsky u. Egeler 1998). 20.2
Juveniles Xanthogranulom
Das juvenile Xanthogranulom (JXG) ist eine der häufigsten Nicht-Langerhans-Zell-Histiozytosen. Vorwiegend werden Säuglinge und Kleinkinder betroffen (medianes Alter 2 Jahre); es besteht eine deutliche Bevorzugung des männlichen Geschlechts (Ratio 1,5:1). Die Bezeichnung juvenil ist umstritten, weil das Krankheitsbild auch bei Erwachsenen vorkommt. Das JXG ist häufig mit einer Neurofibromatose Typ 1 (Morbus Recklinghausen) assoziiert. In diesen Fällen besteht ein 20- bis 30-faches Risiko für die Entwicklung einer juvenilen myelomonozytären Leukämie (Rotte et al. 1994).
⊡ Abb. 20.1. Säugling mit generalisiertem grobknotigen Xanthogranulom der Kopfhaut. Die tumorösen Läsionen hatten sich nach 6-monatiger Beobachtung am Kopf und Stamm sowie an den betroffenen Extremitäten spontan zurückgebildet
zur Phagozytose noch in stärkerem Maße vorhanden. Allerdings finden sich im nodulären Infiltrat auch reguläre Makrophagen, die morphologisch kaum abzugrenzen sind (Schmitz u. Favara 1998). Therapie und Prognose. Das JXG der Haut zeigt eine starke
Klinik. Die Krankheit präsentiert sich häufig schon bei der
Geburt, wobei die Haut das bevorzugte Organ ist. Es finden sich einzelne bis multiple klein- bis großknotige Tumoren von rötlich-brauner, z. T. gelblicher oder livider Farbe mit bevorzugter Lokalisation am Kopf, Hals, oberen Stamm und distalen oberen Extremitäten. Es gibt aber auch extrakutane Manifestationen, besonders am Auge (Irisbefall!) sowie in Organen wie ZNS, Leber, Milz, Nieren und Lunge. Im Gegensatz zur LCH ist das Skelettsystem kaum beteiligt. In ca. 4–10% der Fälle liegt ein systemischer Befall mit multipler Organbeteiligung vor, man spricht dann auch von einer Xanthogranulomatose oder einem Xanthoma disseminatum (⊡ Abb. 20.1; Giller et al. 1988). Histopathologie. Ähnlich wie bei der LCH ist eine Akkumulation von histiozytären Zellen mit eingestreuten Riesenzellen (so genannte Touton-Zellen) in den betroffenen Geweben typisch. Die läsionalen Zellen entstammen den dendritischen Zellen, haben jedoch im Gegensatz zur Langerhans-Zell-Histiozytose nicht deren endgültige Reifungsstufe erreicht. Typischerweise fehlen daher die BirbeckGranula im Elektronenmikroskop und, abgesehen von einigen Ausnahmen, sind die Zellen CD1a negativ. Neben der Antigenpräsentation ist bei diesen Zellen auch die Fähigkeit
Tendenz zu einer spontanen Regression, die innerhalb von Monaten bis 1–2 Jahren eintritt. Hautmanifestation bedürfen daher in der Regel keiner Therapie. Problematischer ist die Situation bei den extrakutanen bzw. systemischen Manifestationen, weil sie of erhebliche Komplikationen mit sich bringen. Hier werden Medikamente wie bei der LCH eingesetzt, insbesondere das Prednison, evtl. ergänzt durch Vinblastin, Etoposid, Methotrexat oder 6-Mercaptopurin. Die Prognose dieser Krankheitsformen ist aufgrund des Fehlens prospektiver Behandlungsstudien schwer einzuschätzen, neben spontanen Regressionen sind auch Verläufe mit letalem Ausgang trotz aggressiver Therapie beschrieben (Freyer et al. 1996). 20.3
Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie
Die Sinushistiozytose mit massiver Lymphadenopathie (SHML) wurde erstmals 1969 von Rosai-Dorfman als eigene klinisch pathologische Entität beschrieben (Foucar et al. 1992). Obwohl die Ätiologie der Erkrankung unbekannt ist, wird ursächlich ein Zusammenhang mit einer gestörten Immunreaktion auf einen Virusinfekt (insbesondere EBV, HHV6) nicht ausgeschlossen. Betroffen sind gewöhnlich
223 20 · Histiozytosen
Kinder und Jugendliche in den ersten 2 Lebensdekaden (meistens vor dem 10. Lebensjahr). Mädchen sind mit einer Ratio 1,4:1 bevorzugt. Klinik. Die Patienten präsentieren sich gewöhnlich mit einer
länger bestehenden, schmerzlosen, bilateralen zervikalen Lymphadenopathie (»Cäsarenhals«). Auch andere, insbesondere mediastinale, retroperitoneale und inguinale Lymphknotenstationen können betroffen sein. In 30–40% der Fälle kommt auch ein extranodaler oder Multisystembefall vor. Die Krankheit kann mit Fieber, Leukozytose, Anämie, gesteigerter BSG und polyklonaler Hypergammaglobulinämie assoziiert sein (McAlister et al. 1990). Histopathologie. Die betroffenen Lymphknoten sind durch eine starke fibröse Verdickung der Kapsel und die residuellen Lympfollikel durch eine ausgeprägte follikuläre Hyperplasie charakterisiert. Die Lymphknotensinus präsentieren sich angeschoppt mit proliferierenden Histiozyten, die eine ausgeprägte Phagozytose von Lymphozyten und Plasmazellen (Emperipolesis) zeigen. Phänotypisch sind die Histiozyten der SHML phagozytierende Makrophagen, die dieselben immunologischen Charakteristika tragen wie die normalen Histiozyten und Makrophagen, sie sind daher CD1a- und Birbeck-Granula-negativ. Therapie und Prognose. Die Mehrzahl der SHML-Patienten zeigt einen benignen Krankheitsverlauf mit häufigen spontanen Remissionen. Eine schlechte Prognose mit einer signifikanten Todesrate von 7% ist bei disseminierten, mit immunologischen Auffälligkeiten assoziierten Erkrankungen beschrieben (Stones u. Havenga 1992). Eine spezifische Behandlung für die vergrößerten Lymphknoten ist nicht bekannt, die Krankheit spricht aber im Regelfall auf Kortikosteroide bzw. Vinkaalkaloide und Metaboliten (6-Mercaptopurin, Methotrexat) sowie Etoposid an (McAlister et al. 1990). Die Erfassung dieser Patienten in einem internationalen Register und die Entwicklung prospektiver Behandlungsprotokolle wurde kürzlich von der Histiozytose-Gesellschaft beschlossen (www.histio.org/society).
Ornvold 1993). Die jährliche Inzidenz von Kindern <15 Jahre beträgt 0,2–1,0/100.000, die Inzidenz bei Erwachsenen ist nicht bekannt. Obwohl gelegentlich ein familiäres Vorkommen beobachtet wurde, ist eine genetische Prädisposition nicht gesichert. Ein Zusammenhang mit Umwelteinflüssen konnte nur hinsichtlich Nikotinabusus bei isolierter Lungenmanifestation bestätigt werden (Favara et al. 1997; Broadbent et al. 1994; Arceci 1999). 20.4.2 Ätiologie und Pathogenese Pathophysiologisch wird eine gestörte interzelluläre Kommunikation zwischen Effektorzellen (v. a. T-Zellen) und den Antigen-präsentierenden Langerhans-Zellen (LC) angenommen. Dabei kommt es zu einer atypischen Immunreaktion mit Freisetzung proinflammatorischer Mediatoren und einer Zytokinimbalance, und dadurch zu einer Proliferation und Akkumulation dendritischer Histiozyten und zu schweren Gewebsschäden mit anschließender Fibrose (Gliose im ZNS) (Kannourakis u. Abbas 1994; Schmitz u. Favara 1998; Arceci 1999). Neuerdings wird die Akkumulation von LangerhansZellen im Gewebe auf eine aberrante Expression von Chemokinrezeptoren oder eine Dysregulation der Chemokingesteuerten Migration der LC zurückgeführt (Annels et al. 2003). Obwohl ein klonaler Ursprung der läsionalen dendritischen Zellen nachgewiesen werden konnte, fehlen sichere Hinweise für Malignität (Willman et al. 1994). 20.4.3 Histopathologie
Die Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH) geht mit einer granulomatösen Infiltration histiozytärer Zellen vom Langerhans-Zell-Phänotyp in verschiedenen Organen und Geweben einher. Sie präsentiert sich mit einem vielfältigen klinischen Erscheinungsbild und variablem Verlauf. Ihre Ursache und Pathogenese sind unklar, weswegen die Erkrankung mit verschiedensten Synonyma bezeichnet wurde, wie Histiozytose X, eosinophiles Granulom, Hand-Schüller-Christian Krankheit, Abt-Letterer-Siwe Krankheit. Seit 1985 hat sich der Begriff LCH durchgesetzt (Writing Group Histiocyte Society 1987; Favara et al. 1997).
Die dendritischen Zellen sind durch ihre Größe, ein zart eosinophiles Zytoplasma und einen oft kaffeebohnenartig gelappten Kern gekennzeichnet. Sie bilden – zusammen mit variablen Anteilen an Lymphozyten, Plasmazellen, neutrophilen und eosinophilen Granulozyten, Fibroblasten und gelegentlich mehrkernigen Riesenzellen – typische Infiltrate in verschiedenen Geweben und Organen. Initial sind die Granulome sehr zellreich, nehmen aber mit der Zeit ein vermehrt xanthomatöses und fibrotisches Muster an (Schmitz u. Favara 1998). Für die Identifizierung der Langerhans-Zellen sind histochemische, immunologische und ultrastrukturelle Marker ausschlaggebend. Histochemisch am wichtigsten sind der Nachweis von S-100 Protein, Erdnuss-Agglutinin und a-DMannosidase. Immunzytochemisch zeigen läsionale Langerhans-Zellen eine ähnliche Markerexpression wie normale Langerhans-Zellen, wobei neben den Klasse-II-MHC-Molekülen, dem CD68-Aktivierungsmarker, dem MIB-1-Antigen und dem Nachweis des CD1a-Antigenkomplexes die größte Bedeutung zukommt. Elektronenoptisch sind in den Langerhans-Zellen einzigartige zytoplasmatische Organellen (Birbeck-Granula) nachzuweisen, deren Bedeutung bislang unbekannt ist (Writing Group Histiocyte Society 1987).
20.4.1 Epidemiologie
20.4.4 Klinik und Differenzialdiagnostik
Die LCH kommt in jedem Lebensalter vor und zeigt eine Bevorzugung des männlichen Geschlechts (2:1; Carstensen u.
Es wird zwischen lokalisiertem Befall von nur einem Organ oder Organsystem und disseminierter Beteiligung von meh-
20.4
Langerhans-Zell-Histiozytose
20
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Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
Windelbereich, inguinal, perianal, in den Achseln, am Nacken oder retroaurikulär. Nach Abheilung bleiben meist depigmentierte Areale oder Narben zurück (Munn u. Chu 1998; Egeler u. D‘Angio 1995). Kongenitale noduläre Hautläsionen mit spontaner Rückbildungstendenz werden auch als Hashimoto-Pritzker-Erkrankung bezeichnet (Gadner u. Grois 1993). Eine Abgrenzung gegenüber Mykosen, seborrhoischer, atopischer oder infektiöser Dermatitis und juvenilem Xanthogranulom ist oft erst durch den Verlauf möglich. Mundschleimhautbefall (Wange, Zahnfleisch, Gaumen) präsentiert sich in über 20% der LCH-Fälle in Form von weißlich-granulomatösen Plaques mit Neigung zu Ulzerationen und Blutung (Filocoma et al. 1993). Ähnliche Läsionen findet man auch im Gastrointestinaltrakt, u. U. mit Zeichen der Malabsorption oder chronischer Enteropathie (Choi et al. 2003). Ein Befall des Uro- und/oder Anogenitalbereichs mit Geschwürbildung und Obstruktionen ist selten und wird vorwiegend bei erwachsenen Frauen beschrieben (Axiotis et al. 1991).
I
Lymphohämatopoetisches System. Der Befall einzelner oder ⊡ Abb. 20.2. Röntgenbild des Schädels mit typischer knöcherner Läsion bei Langerhans-Zell-Histiozytose
reren Organen unterschieden. Die Krankheit kann mit ausgeprägten Allgemeinsymptomen und Funktionsstörungen der betroffenen Organe einhergehen (Egeler u. D’Angio 1995; Broadbent et al. 1994). Knochen- und Weichteilbefall. Die häufigste Krankheitsloka-
lisation ist das Skelett (80%), v. a. Schädelknochen (ca. 40%), Wirbelsäule (ca. 20%), Rippen, lange Röhrenknochen und Becken. Die Läsionen können zu schmerzhaften Weichteilschwellungen, funktioneller Beeinträchtigung und pathologischer Fraktur führen (Titgemeyer et al. 2001; Kilkpatrick et al. 1995). Radiologisch sieht man meist scharf demarkierte osteolytische Areale mit Sklerosezone oder periostaler Reaktion (⊡ Abb. 20.2). Herde in den Kieferknochen können sich durch Lockerung von Zähnen, Zahnverlust oder vorzeitiges Durchbrechen der bleibenden Zähne äußern, ein periorbitaler Befall mit Exophthalmus, ein Befall des Os temporale mit dem Bild einer chronischen purulenten Otitis, eventuell mit Hörverlust und Schwindel (Grois et al. 2000). ! Kraniofaziale Läsionen (so genannte »spezielle Lokalisationen«) im Bereich der Mastoide, Felsenbeine, Orbitae und Nasennebenhöhlen, mit oder ohne intrakranieller Ausbreitung, gehen mit erhöhtem Risiko für eine ZNS-Beteiligung, insbesondere mit Diabetes insipidus einher. Haut- und Schleimhautmanifestationen. Ein Hautbefall im Rahmen einer LCH wird bei über 30% der Patienten beobachtet. Er tritt gewöhnlich bei einer Multisystemerkrankung, aber auch isoliert bei ca. 10% der Säuglinge auf. Man sieht umschriebene noduläre Läsionen oder diffus auftretende polymorphe, makulopapulöse Exantheme, eventuell mit Hämorrhagien, Ulzerationen und Krustenbildung. Diese Läsionen finden sich v. a. an der Kopfhaut, am Stamm, im
multipler Lymphknoten, isoliert oder regionär bei Knochenoder Hautmanifestationen, ist mit <10% selten. Infektiöse oder maligne Lymphadenopathien müssen ausgeschlossen werden (Broadbent et al. 1994). Die Häufigkeit des Knochenmarkbefalls durch LCH ist nicht systematisch untersucht. Im Gegensatz zu leukämischen Infiltraten sieht man nur vereinzelt CD1a-positive Zellen in einem eventuell zellverminderten Mark mit Nestern von histiozytären Zellen und Zeichen der Hämophagozytose und/oder Myelodysplasie. In fortgeschrittenen Fällen ist eine Milzvergrößerung typisch und kann für die Entwicklung einer Panzytopenie verantwortlich sein. Eine Thymusvergrößerung findet sich in Ausnahmeällen als Zufallsbefund, aber auch bei normaler Größe wurden bioptisch gelegentlich morphologische Auffälligkeiten beschrieben (Broadbent et al. 1994). Leberbeteiligung. Eine Hepatomegalie aufgrund einer Infiltration mit CD1a-positiven LCH-Zellen (meist ohne BirbeckGranula) tritt bei einer Multisystemerkrankung häufig auf und führt oft zu einer funktionellen Störung mit Hypoalbuminämie, Ödem- und Aszitesbildung, Koagulopathie, Cholestase und Hyperbilirubinämie (Lahey 1975). ! Der Befall kann zu Leberversagen mit Fibrose oder biliärer Zirrhose führen und histologisch dem Bild einer sklerosierenden Cholangitis ähneln (Braier et al. 1999; Schmitz u. Favara 1998). Lungenbefall. Ein isolierter Lungenbefall ist bei Kindern
extrem selten und tritt bei Erwachsenen meist in Verbindung mit Nikotinabusus auf (McClain et al. 2002). Das klinische Bild wechselt von spontaner Rückbildung bis zu rascher Progression mit schwersten Krankheitssymptomen wie Husten, Tachypnoe, Dyspnoe und Pneumothorax (⊡ Abb. 20.3; Lahey 1975). Röntgenologisch findet sich eine bilaterale interstitielle Verschattung, die im Computertomogramm (CT) retikulonoduläre Infiltrate erkennen lässt, und bei Progression zur Entwicklung von Zysten und Bullae sowie Fibrose (»Honigwabenlunge«) führt. Zur Bestätigung der Diagnose ist eine
225 20 · Histiozytosen
20
⊡ Abb. 20.3. Typische Lungenveränderungen im Röntgenbild und CT bei LCH
a
b ⊡ Abb. 20.4a, b. ZNS-Befall bei Langerhans-Zell-Histiozytose. a Verdickter Hypophysenstiel im sagittalen MRT (T1-gewichtet mit
Kontrastmittel); b bilaterale Hyperintensitäten im Zerebellum (axiale FLAIR-gewichtete MR-Aufnahme)
Lungenbiopsie oder eine bronchoalveoläre Lavage unerlässlich. Über 5% CD1a-positiver Zellen in der Lavageflüssigkeit gelten als diagnostisch (Vassalo et al. 2000; Egeler u. D’Angio 1995).
neurologischen Ausfällen führen (Barthez et al. 2000; Grois et al. 1998).
Zentrales Nervensystem. Ein ZNS-Befall kommt isoliert oder
im Rahmen einer Multisystemerkrankung vor. Die Hypophysen-Hypothalamusregion mit dem Leitsymptom Diabetes insipidus ist am häufigsten betroffen. In der Magnetresonanztomographie (⊡ Abb. 20.4) sieht man typischerweise eine Verdickung des Infundibulums und ein Fehlen des normalen hyperintensen Signals des Hypophysenhinterlappens (»bright spot«; Grois et al. 1998). Bis zu 50% der Diabetesinsipidus-Patienten entwickeln auch einen Ausfall von Hormonen des Hypophysenvorderlappens (Nanduri et al. 2000). LCH-Infiltrate können auch in den Meningen, dem Plexus choroideus, der Glandula pinealis und im Hirnparenchym auftreten. Neurodegenerative ZNS-Veränderungen ohne Nachweis von LCH-Zellen mit typischen MR-Läsionen, v. a. symmetrisch im Kleinhirn und in den Basalganglien, können klinisch über Jahre inapparent bleiben oder zu schweren
! Eine Verdickung des Infundibulums bzw. der Hypophyse mit Diabetes insipidus ist typisch für einen Befall einer LCH, kann jedoch auch auf einen Keimzelltumor ( Kap. 74) oder niedriggradiges Gliom ( Kap. 66) hinweisen.
20.4.5 Diagnostik Initialdiagnostik. Zur Diagnosesicherung ist die Biopsie und
histopathologische Untersuchung, unter Umständen auch aus mehreren Organen, unerlässlich. ! Nach der Empfehlung der Histiozytose-Gesellschaft beruht die definitive Diagnose einer LCH auf dem immunhistochemischen Nachweis von CD1a-Antigen auf der Zelloberfläche bzw. dem elektronenoptischem Nachweis von Birbeck-Granula im Zytoplasma zusätzlich zu charakteristischen Veränderun-
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I
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
gen in der Lichtmikroskopie. Nur unter Einbeziehung eines Referenzpathologen sollte man sich mit einer rein lichtmikroskopischen oder zytochemischen Diagnose zufrieden geben (Writing Group Histiocyte Society 1987).
Für die Diagnosestellung und Verlaufsuntersuchungen liegen einheitliche Richtlinien der Histiozytose-Gesellschaft vor. Die Basisuntersuchungen inkludieren eine genaue Anamnese und eine gründliche körperliche Untersuchung. Bei bestimmten Indikationen sind zusätzliche spezielle Untersuchungen notwendig (Writing Group Histiocyte Society 1989; ⊡ Tabelle 20.1).
Obligate Vorgaben bei Diagnose: Anamnese: Fieber, Schmerzen, Gereiztheit, Gedeihstörung, Ernährungszustand, Appetitverlust, Durchfälle, Polydipsie, Polyurie, Aktivitätslevel, Verhaltensstörungen, neurologische Auffälligkeiten Klinik: Messung von Körpertemperatur, Größe, Gewicht, Kopfumfang, Pupertätsstatus, Hautausschläge, Purpura, Blutungsneigung, rinnendes Ohr, Orbita-Auffälligkeiten, Lymphadenopathie, Mundschleimhautläsionen, Zahnungsprobleme, Weichteilschwellung, Dyspnoe, Tachypnoe, intercostale Einziehungen, Leber- und Milzgröße, Aszites, Ödem, Ikterus, neurologische Untersuchung, Papillenödem, Hirnnervenausfälle, zerebelläre Dysfunktion Laborbefunde: komplettes Blutbild, Leberfunktionsproben (SGOT, SGPT, γ-GT, alkalische Phosphatase, Bilirubin, Gesamteiweiß und Albumin),
Gerinnung (PTT, TPZ, Fibrinogen), Harnosmolalität, Vasopressinbestimmung in Serum und Harn (nach Durstversuch) Röntgenologische Untersuchung: Thoraxröntgen (a.p. und seitlich), Ganzkörperskelettstatus
Nachsorgediagnostik. Die Nachsorge über viele Jahre ist bei allen Patienten mit LCH wichtig. Röntgenkontrollen von bekannten Knochenherden sollten bis zur Feststellung einer beginnenden Knochenrekonstruktion (Größenabnahme, Sklerosierung) etwa in 3- bis 6-monatigen Intervallen durchgeführt werden. Nur bei klinischem Verdacht auf neuen Befall sind Kontrollen auch später notwendig. Bei Multisystemerkrankungen mit Risikoorganbeteiligung sind Blutbildkontrollen, Leberfunktionsproben sowie bildgebende Darstellung und Funktionsuntersuchungen der Lunge in Abhängigkeit vom klinischen Schweregrad der Erkrankung und vom Verlauf notwendig. Besonders zu achten ist auch auf Zeichen einer ZNS-Beteiligung, wie Diabetes insipidus (Polyurie, Polydipsie), andere Hormonstörungen sowie neuropsychologische Auffälligkeiten (Wachstums- und Gewichtskontrollen, Sexualentwicklung, Schädel-MRT, endokrinologische, neurologische und neuropsychologische Untersuchungen; Grois et al. 2000). Bei Reaktivierungen sollte nochmals das gesamte diagnostische Programm wie bei der Erstdiagnose durchgeführt werden.
▼
Cave Aus Gründen der Strahlenbelastung sollten bei chronischrekurrierenden Knochenläsionen Röntgenkontrollen nur an Stellen mit klinischen Herdsymptomen durchgeführt werden.
⊡ Tabelle 20.1. Untersuchungen bei speziellen Indikationen
Untersuchung
Indikation
Knochenmarkaspiration und -biopsie
Anämie, Leukozytopenie, Thrombozytopenie
Lungenfunktionstestung
Pathologisches Thorax-Röntgenbild, Tachypnoe, interkostale Einziehungen
Lungenbiopsie (nach vorangegangener negativer bronchoalveolärer Lavage)
Bei pathologischem Thorax-Röntgenbefund zum Ausschluss einer opportunistischen Infektion, wenn Chemotherapie geplant ist
Dünndarmpassage und Biopsie
Unklare chronische Diarrhö oder Gedeihstörung, Malabsorption
Leberbiopsie
Leberfunktionsstörung, einschließlich Hypoproteinämie nicht infolge von Proteinverlust bei Enteropathie, zur Abgrenzung einer LCH der Leber von einer Zirrhose
Zahnröntgen (Panorama)
Befall von Gingiva, Mundschleimhaut oder Kiefer
Schädel-CT
Orbita, Temporalknochen oder Schädelbasisbefall; hormonelle, visuelle oder neurologische Auffälligkeiten
MRT des Gehirns (Einbeziehung der HypothalamusHypophysenachse und i.v. Kontrastmittelgabe)
Wachstumsstörungen, Diabetes insipidus, und andere hormonelle Störungen
Endokrinologische Untersuchungen
Diabetes insipidus, neurologische Auffälligkeiten
Neurologisch/psychologische Untersuchungen
Veränderungen in der MRT des Gehirns
HNO-Konsilium, Audiogramm
Eitrige Sekretion aus dem Ohr, Taubheit
HLA-Typisierung
Nur für Multisystempatienten mit Befall von Leber, Milz, Hämatopoese oder Lunge
227 20 · Histiozytosen
20.4.6 Einteilung und Klassifikation Bei der Beurteilung des Krankheitsstadiums unterscheidet man nach den Kriterien der Histiozytose-Gesellschaft zwischen lokalisierter Krankheitsmanifestation (»single system disease«) und disseminiertem Befall (»multi system disease«). Für die Therapiestratifizierung werden Patienten mit Multisystemerkrankung in Abhängigkeit von der Beteiligung von Risikoorganen wie Leber, Lunge, Milz und hämatopoetisches System in die Kategorien »Niedrigrisiko« und »Risiko« eingeteilt. Einteilung der Langerhans-Zell-Histiozytose: »Single system disease« Knochenbefall – monoostotisch/polyostotisch Hautbefall Lunge Lymphknoten – solitär/multipel ZNS »Multi system disease« ≥2 Organe/Organsysteme mit oder ohne Organfunktionsstörung »Risikopatienten« mit »Risikoorganbeteiligung« »Niedrigrisiko« ohne »Risikoorganbeteiligung«
Dem Wesen der LCH-Erkrankung entsprechend sollte man auch von unterschiedlichen Stadien der Krankheitsaktivität und -inaktivität sprechen und nicht von Remission oder Rezidiv (Gadner et al. 2001). Diese Definitionen sind besonders im Zusammenhang mit der Beurteilung des Therapieansprechens wichtig.
! Bei extrem großen Defekten oder auch bei isolierten Herden mit spezieller Lokalisation, wie z. B. im Wirbelkörper, in der Orbita und Os temporale, ist eine systemische Chemotherapie, z. B. eine Kombinationsbehandlung mit Prednison (40 mg/m2/Tag) und Vinblastin (6 mg/m2/Woche) über einen Zeitraum von mindestens 6 Wochen indiziert.
Bei multifokalem Knochenbefall ist eine Chemotherapie gegenüber reinen Lokalmaßnahmen zwecks Vermeidung von Reaktivierungen und damit verbundenen Spätfolgen vorteilhaft (LCH-III-Studie 2001; Titgemeyer et al. 2001). Des Weiteren gibt es Berichte über gutes Ansprechen auf eine Kortikoidmonotherapie, Prostaglandinhemmer (z. B. Indomethazin 2 mg/m2/Tag), Biphosphonate (Egeler 2001) oder Kombinationen von 6-Mercaptopurin und oralem Methotrexat (Womer et al. 1995; Munn et al. 1999). Hautbefall. Bei diffusem, exanthematösem Hautbefall kommt es bei Säuglingen oft zu einer spontanen Regression, selten auch zu einer chronisch rezidivierenden Verlaufsform mit Übergang in eine Multisystemerkrankung. Lokalmaßnahmen umfassen topische Kortikosteroide, 20%ige Nitrogen-Mustargenlösung oder PUVA-Photochemotherapie (Sheehan et al. 1991). Bei Progression ist eine systemische Steroidtherapie mit oder ohne Vinblastin angezeigt (Titgemeyer et al. 2001). Isolierte Hautknoten oder solitärer Lymphknotenbefall werden vorzugsweise operativ entfernt. Lymphknoten, die einer risikoarmen operativen Entfernung nicht zugänglich sind, sollten einer systemischen Kortikoidtherapie mit oder ohne Vinblastin zugeführt werden (Broadbent und Gadner 1998; Titgemeyer et al. 2001).
Cave Die Persistenz von fibrotischen Gewebsformationen (z. B. Exophthalmus, intraspinale Verdickungen, Pneumatozelenbildung, Gallengangsobstruktion), aber auch von Osteolysen, darf nicht mit Nicht-Ansprechen auf die Therapie verwechselt werden. Diese Veränderungen sind Folgezustand der Krankheit und durch Therapieumstellung nicht zu beeinflussen.
20.4.7 Therapie Lokalisierte Manifestation Knochenbefall. Isolierte Knochenherde werden im Rahmen der diagnostischen Biopsie ausgeräumt, eventuell chirurgisch oder orthopädisch versorgt und bedürfen im Regelfall keiner weiteren Therapie. Auch die intraläsionale Instillation von Steroiden (75–150 mg kristallines Methylprednisolon) hat sich als effektive Behandlungsmaßnahme erwiesen (Egeler et al. 1992; Titgemeyer et al. 2001; Broadbent u. Gadner 1998). Der Einsatz der Strahlentherapie mit 6–10 Gy (150– 200 cGy/Tag) ist nur in Einzelfällen gerechtfertigt, z. B. bei isolierten Läsionen, die einem operativen Zugriff nicht zugänglich sind, und/oder bei Gefahr bedrohlicher Konsequenzen wie Umscheidung des Nervus opticus oder Rückenmarkkompression (Selch u. Parker 1990).
Lungenbefall. Der isolierte Lungenbefall bei Jugendlichen
und Erwachsenen kann allein durch absolute Nikotinkarenz zu einer Rückbildung gebracht werden. Bei Progredienz können Kortikosteroide und Chemotherapie mit Vinblastin eingesetzt werden. Es gibt auch Berichte über ein gutes Ansprechen auf 2-Chlorodeoxyadenosin (2-CdA) und Ciclosporin A (Weitzmann et al. 1999; McClain et al. 2002). Der extrem seltene, isolierte Lungenbefall im Kindesalter sollte auf jeden Fall wie eine Multisystemerkrankung behandelt werden. ZNS-Befall. Die Behandlung der ZNS-Veränderungen bei LCH hängt weitgehend von der Lokalisation, der Art der Läsion und der Vorbehandlung der Patienten ab. Tumoröse LCH-Läsionen sprechen üblicherweise auf konventionelle Chemotherapie, 2-CdA oder Radiotherapie gut an (Grois et al. 1998; Watts et al. 2001; Broadbent u. Pritchard 1997; Barthez et al. 2000). Eine spezielle Therapie für neurodegenerative Formen der LCH kann zur Zeit noch nicht empfohlen werden.
Multisystemerkrankung Ergebnisse der Therapie-Optimierungsstudien. Durch multi-
zentrische Therapiestudien konnte gezeigt werden, dass ein frühzeitiger Einsatz einer Kombinationschemotherapie (DAL-HX-, LCH-II-Studie) gegenüber einer Monotherapie (LCH-I-Studie) Reaktivierungen und Spätfolgen wirksamer verhindern konnte (Gadner et al. 1994); Vinblastin- und Eto-
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228
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
I
⊡ Abb. 20.5. Protokoll der Initialbehandlung bei Risikopatienten und Dauerbehandlung (LCH-III-Studie)
posid-Monotherapie erwiesen sich als gleichwertig (Gadner et al. 2001). Bei Patienten mit Risikoorganbefall und Alter <2 Jahren wurde sowohl mit einer 2-Mitteltherapie (Prednison und Vinblastin) als auch einer 3-Mitteltherapie (Prednison, Vinblastin und Etoposid) mit anschließender 6-monatiger Erhaltungstherapie ein vergleichbares Ergebnis bezüglich Ansprechen, Überleben, Reaktivierungsrate, Toxizität erzielt. Der retrospektive Vergleich der LCH-I- und LCH-IIStudienergebnisse mit denjenigen der DAL-HX-83/90-Studie zeigte außerdem, dass die Reaktivierungsfrequenz mit über 50% nach 6-monatiger Therapiedauer in den LCH-I- und -IIStudien deutlich höher lag als nach 12-monatiger Therapiedauer in der DAL-HX-Studie mit 27% (Gadner et al. 2001; Minkov et al. 2002). Eine Senkung der Gesamtmortalität unter 20% konnte allerdings in keiner Studie erreicht werden (Minkov et al. 2002). Das Risiko, an einer Krankheitsprogression zu versterben, betraf ausschließlich Patienten mit Befall von so genannten Risikoorganen (d. h. »Risikopatienten«) und schlechtem Ansprechen auf die Initialbehandlung. ! Die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Verlaufes bei Patienten, die nach 12-wöchiger Behandlung noch immer eine intermediär oder progressiv aktive Erkrankung aufweisen, liegt statistisch bei 75% (LCH-III-Studienprotokoll 2001). Aktuelle Initialbehandlung. Der Befall von Risikoorganen
und das Therapieansprechen sind unabhängige prognos-
tische Faktoren hinsichtlich des Überlebens (Gadner et al. 2001; Minkov et al. 2002). Das Konzept des Behandlungsplans der aktuellen LCH-III-Studie der Histiozytose-Gesellschaft (⊡ Abb. 20.5; LCH-III-Studie, Start April 2001) besteht aus einer 6-wöchigen Initialbehandlung mit einem 2. Behandlungskurs bei unbefriedigendem Ansprechen und anschließender 46-monatigen Dauertherapie. Risikopatienten werden nach Randomisierung einem Behandlungsarm mit Vinblastin und Prednison mit oder ohne Methotrexat zu geführt, gefolgt von einer Dauertherapie inklusive 6-Mercaptopurin. Bei Niedrigrisikopatienten wird randomisiert getestet, ob eine Dauertherapie von 6 oder 12 Monaten ausreicht, um die Reaktivierungsfrequenz und Inzidenz von Spätfolgen zu verringern. Salvage- und experimentelle Therapie. Risikopatienten, die auf die Initialtherapie nicht ansprechen, sollten möglichst schnell (nach 6 oder 12 Wochen) einer Alternativtherapie oder Salvage-Therapie zugeführt werden.
Cave Sehr intensive Chemotherapien sollten bei therapieresistenten Patienten wegen der zu erwarteten Verschlechterung der Lebensqualität und Lebensbedrohung durch Toxizität und bleibende Spätfolgen nicht angewandt werden.
229 20 · Histiozytosen
Über den Einsatz von allogener Stammzelltransplantation oderImmunsuppression(CiclosoporinAund/oderAntithymozytenglobulin und/oder hochdosiertes Methylprednisolon) sowie von monoklonalen Antikörper (Anti-CD1a, AntiTNFα) als Salvage-Therapie liegen ungenügende Erfahrungen vor (Minkov et al. 1999; Minkov et al. 2003; Kelly u. Pritchard 1994; Henter et al. 2001; Greinix et al. 1992). Die von der Histiozytose-Gesellschaft für Risikopatienten, die auf die konventionelle Protokolltherapie nicht angesprochen haben, vorgeschlagene Monotherapie mit 2-Chlorodeoxyadenosin hatte sich für diese Patientengruppe als nicht wirksam erwiesen (Weitzman et al. 1999; Choi et al.2003). Weitere Studien müssen klären, ob ein früher Wechsel zu anderen Therapieansätzen (Stammzelltransplantation mit weniger intensiver Konditionierung, Immuntherapie), die Überlebenschancen verbessern kann.
Die LCH ist eine seltene Krankheit dendritischer Zellen vom Langerhans-Phänotyp und stellt einen reaktiven Prozess mit Zytokinimbalance dar. Die Manifestation ist unterschiedlich, mit Befall einzelner oder multipler Organe, und resultiert in verschiedenen Spätfolgen. Lokalisierte Erkrankungen haben eine exzellente Prognose unabhängig von der Art der Therapie. Die Prednison/Vinblastin-Kombination ist die Standardtherapie der Multisystemerkrankung, die meist auch bei wiederholten Krankheitsreaktivierungen wirksam ist. Experimentelle Behandlungsansätze wie z. B. Stammzelltransplantation und Immuntherapie sind in Erprobung. Der Befall von so genannten Risikoorganen (Leber, Milz, hämatopoetisches System und Lunge) mit schlechtem Therapieansprechen in den ersten 6–12 Behandlungswochen sind unabhängige Prognosekriterien mit ca. 75% Wahrscheinlichkeit eines fatalen Verlaufs.
20.4.8 Spätfolgen Folgezustände der LCH sind nahezu ausschließlich mit ursprünglichen Krankheitsherden assoziiert. Sie sind oft schon bei Diagnose vorhanden und korrelieren mit der Dauer und Häufigkeit aktiver Krankheitsphasen (bei Patienten mit Multisystemerkrankung 30–50%; Gadner et al. 1994; Braier et al. 1999). Knochenherde können zu Keilwirbelbildung, Beinlängendifferenz, Zahnausfall oder Schwerhörigkeit führen. Fibrotische Veränderungen mit Beeinträchtigung der Leberund Lungenfunktion sind möglich. Hormonausfälle mit Diabetes insipidus, Wachstumshormonmangel, sekundäre Hypothyreose und Hypogonadismus sind bei Befall der Hypophysen-Hypothalamus-Region typisch (McClain et al. 2002; Willis et al. 1996; Broadbent u. Pritchard 1997). Die neurodegenerativen ZNS-Veränderungen können mit Gangstörungen bis zu massiver Ataxie, Reflexanomalien und Tremor sowie mit intellektuellen Behinderungen und psychischen Auffälligkeiten assoziiert sein (Grois et al. 1998; Whitsett et al. 1999). Cave Ein bislang ungeklärter Zusammenhang zwischen der LCH und Malignomen (5% der LCH Patienten) wird angenommen (Egeler et al. 1998). Nur selten (Inzidenz 1%) wurde die Entwicklung eines sekundären Malignoms (z. B. einer sekundären akuten myeloischen Leukämie) als Spätfolge einer vorausgegangenen Etoposidbehandlung mit hohen kumulativen Dosen beschrieben (Ladisch u. Gadner 1994; Haupt et al. 1997).
Die Histiozytosen resultieren aus einer Akkumulation von spezifischen Histiozyten, die dendritischen oder monozytär/phagozytären Ursprungs sind und durch histopathologische und immunologische Kriterien definiert werden können. Meistens handelt es sich um benigne proliferative Erkrankungen, die möglicherweise klinische Varianten eines zugrunde liegenden atypischen Immunprozesses darstellen.
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Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
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231
Hämophagozytische Lymphohistiozytosen G. Janka-Schaub, M. Schneider
21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6 21.7 21.8
Allgemeine Einleitung – 231 Einteilung – 231 Genetik, Ätiologie, Pathogenese – 232 Epidemiologie – 232 Pathohistologie – 232 Klinik – 232 Diagnose – 233 Therapie und Prognose – 235 Literatur – 235
HLH wurde erstmals als autosomal-rezessive vererbte Krankheit bei 2 Geschwistern beschrieben (Farquhar u. Claireaux 1952). Das Krankheitsbild der HLH tritt jedoch nicht nur bei angeborenen genetischen Defekten auf, sondern betrifft auch Patienten mit iatrogener Immundefizienz, Malignomen, rheumatischen Erkrankungen, Stoffwechseldefekten sowie Kinder und Erwachsene ohne bekannte zugrundeliegende Störung der Immunfunktion. Die Krankheit wird häufig nicht rechtzeitig erkannt und hat unbehandelt eine hohe Letalität.
21.2 Es war eine ganz normale Schwangerschaft und Geburt; die Freude über das zweite gesunde Kind war groß. Im Alter von 6 Wochen bekam der Kleine Fieber, Schnupfen und Husten, ohne dabei sehr krank zu sein. Das hohe Fieber hielt über eine Woche an, und das Kind wurde antibiotisch behandelt, ohne dass das Fieber dadurch beeinflusst wurde. Im Krankenhaus ergaben die Untersuchungen eine Hepatosplenomegalie, eine leichte Anämie und Thrombozytopenie sowie normale Leukozyten mit Lymphozytose. Transaminasen und direktes Bilirubin waren erhöht. Durch eine Knochenmarkpunktion konnte eine Leukämie ausgeschlossen werden. Die Erregersuche ergab einen positiven Nachweis für Zytomegalie, eine entsprechende Behandlung wurde eingeleitet. Bei weiter fallendem Hb und Thrombozyten wurden Transfusionen nötig. Das Kind entfieberte kurzfristig, die Thrombozyten stiegen auf fast normale Werte an. Mit erneut hohem Fieber fielen auch Hb und Thrombozyten wieder ab, und es entwickelte sich eine schwere Neutropenie. Die Leber und Milz wurden immer größer und alle Blutprodukte schienen darin verschluckt zu werden. Schließlich kam es zu einer schweren Gerinnungsstörung mit nicht mehr messbaren Fibrinogenwerten. Blutkulturen zeigten jetzt Wachstum von E. coli. Trotz Umstellung der antibiotischen Therapie und allen intensivmedizinischen Bemühungen kam es zum Tod des kleinen Patienten. Die abschließende klinische Diagnose war Sepsis mit Multiorganversagen. Die Autopsie zeigte ein lymphohistiozytäre Infiltration aller Organe mit Hämophagozytose durch morphologisch benigne Makrophagen.
21.1
Allgemeine Einleitung
Die hämophagozytischen Lymphohistiozytosen (HLH) sind gekennzeichnet durch eine überschießende, ineffektive Immunantwort mit Aktivierung von Lymphozyten und Histiozyten mit Hyperzytokinämie und Hämophagozytose. Die
Einteilung
Einteilung der hämophagozytischen Lymphohistiozytosen: Angeborene (primäre, familiäre) Formen Bekannte Gendefekte (z. B. Perforinmutationen) Unbekannte Gendefekte Erworbene (sekundäre) Formen Exogene Noxen (pathogene Keime, Toxine): infektionsassoziierte HLH Endogene Noxen (Gewebeschäden, Radikalstress, Stoffwechselprodukte) Rheumatische und Autoimmunerkrankungen: Makrophagenaktivierungssyndrom Maligne Erkrankungen
Man unterscheidet angeborene (primäre, familiäre) Formen mit in der Segregation nachgewiesenen genetischen Defekten von erworbenen (sekundären) Formen. Ist die Familienanamnese positiv, spricht man von einer familiären HLH (FHLH). Auch bei progressiven oder rezidivierenden Verläufen muss von einem familiären genetischen Defekt ausgegangen werden. Für die erworbene, durch Infektionen ausgelöste HLH, bei der vorwiegend Viren, aber auch alle anderen infektiösen Erreger in Frage kommen, ist heute der Begriff infektassoziiertes hämophagozytisches Syndrom (IAHS) üblich. Das Bild einer HLH bei Patienten mit rheumatischen oder Autoimmunerkrankungen wird auch als Makrophagenaktivierungssyndrom (MAS) bezeichnet. ! FHLH und IAHS lassen sich durch klinische Symptome nicht unterscheiden. Eine eindeutige Labordiagnostik der familiären HLH beschränkt sich auf Patienten mit bekannten Gendefekten. Weitere Laborbefunde sind für eine Unterscheidung FHLH und IAHS nicht informativ. Auch bei familiären Fällen wird die Krankheit häufig durch Infektionen ausgelöst.
21
232
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
21.3
Genetik, Ätiologie, Pathogenese
21.5
Pathohistologie
I Die klinischen Symptome der HLH entstehen auf dem Boden verschiedener angeborener oder erworbener Immundefekte. Für die angeborene primäre Form der HLH müssen mehrere genetische Defekte verantwortlich sein (Arico et al. 2001). (Null-)Mutationen des Perforingens auf Chromosom 10 wurden nur bei 20–30% der Fälle beschrieben. Die Häufigkeit der kürzlich beschriebenen Mutationen im hMunc13-4-Gen ist noch unklar. Eine HLH kann auch als Komplikation oder Erstmanifestation von bekannten genetischen Defekten auftreten wie das Chediak-Higashi-Syndrom, das lymphoproliferative Syndrom (Purtilo-Syndrom), das Griscelli-Syndrom oder schwere kombinierte Immundefekte. Patienten mit sekundären Formen haben nur in der Minderzahl eine bekannte erworbene Immundefizienz wie nach Transplantationen oder unter zytostatischer Therapie (Janka et al. 1998). Eine erworbene Immundefizienz kann auch durch die Infektion von immunologischen Effektorzellen direkt entstehen bzw. indirekt durch die immunsuppressive Wirkung inflammatorischer Mediatoren auf diese Zellen. Endogene Faktoren wie Radikalstress, Gewebeschäden und Stoffwechselprodukte können ebenfalls zu einer Aktivierung von immunologischen Effektorzellen führen. Bei Patienten mit rheumatischen Erkrankungen werden Infektionen durch die Immunsuppression, eine Immundysregulation, aber auch Medikamente diskutiert (Morhart u. Truckenbrodt 1997). Bei der HLH im Zusammenhang mit Malignomen spricht der hohe Anteil von lymphoproliferativen Erkrankungen der T- und NK-Zellen für die Wechselwirkung der malignen Zellen mit dem Immunsystem (Janka et al.1998). Im Vordergrund der Erkrankung steht ein hyperinflammatorisches Syndrom unter dem zentralen Einfluss verschiedener proinflammatorischer Mediatoren (bevorzugt Zytokine; Henter et al. 1991), freigesetzt aus aktivierten Lymphozyten, Monozyten und Histiozyten. Ein charakteristischer Befund bei der familiären HLH ist der persistierende funktionelle Defekt der natürlichen Killerzellen (NK-Zellen; Perez et al. 1984; Eife et al. 1989; Schneider et al. 2002). NKZellen kontrollieren in der »first-line of defense« Virus-infizierte Zellen. Weiterhin kontrollieren NK-Zellen dendritische Zellen, die durch Fremd- oder Autoantigene aktiviert wurden (Wilson et al. 1999). Für einen Einfluss funktionierender NK-Zellen auf den Differenzierungsstatus der dendritischen Zellen sprechen pathohistologische Befunde der Infiltratzellen mit einem hybriden Phänotyp zwischen Makrophagen und dendritischen Zellen (Hansmann et al. 1989). 21.4
Charakteristisch ist eine diffuse Infiltration aller Organe durch Lymphozyten und Histiozyten (⊡ Abb. 21.1). Die morphologisch benignen Histiozyten zeigen eine mehr oder weniger ausgeprägte Hämophagozytose, die jedoch bei Beginn der Erkrankung fehlen oder spärlich sein kann. Der zweite charakteristische Befund ist die Atrophie des lymphatischen Gewebes, auch in Fällen ohne vorhergehende Therapie. 21.6
Klinik
Der Krankheitsbeginn ist liegt den angeborenen genetischen Formen in 70% im Säuglingsalter, ein freies Intervall nach Geburt ist typisch (Janka 1983). In seltenen Fällen sind Neugeborene oder Patienten jenseits des 10. Lebensjahres betroffen (Janka 1983; Arico et al. 2001). Geschwisterkinder erkranken meist im gleichen Lebensalter. Die initialen Symptome lassen zuerst eine normale Infektion vermuten. Hohes Fieber ist das erste Zeichen, häufig assoziiert mit einem respiratorischen oder gastrointestinalen Infekt. Fast alle Patienten haben bereits initial eine vergrößerte Leber und Milz. Vergrößerte Lymphknoten, Ikterus und flüchtige Hautausschläge sind seltener. Nur ca. 10% Patienten haben initial neurologische Symptome wie eine opisthotone Haltung, Krampfanfälle oder Hirnnervenlähmungen (Janka 1983); eine Pleozytose oder Eiweißerhöhung wird bei der ersten Lumbalpunktion bei einem Drittel der Patienten gefunden (⊡ Abb. 21.2). Eine Manifestation der Erkrankung im ZNS entwickelt sich jedoch bei vielen Kindern im Verlauf der Erkrankung. An Laborwerten sind typisch eine progrediente Thrombozytopenie und Anämie, weniger häufig ist eine Granulozytopenie. Charakteristisch sind erhöhte Triglyzeride und ein erniedrigtes Fibrinogen. Weitere mögliche Laborveränderungen sind Erhöhung von Transaminasen, Bilirubin, Ferritin (⊡ Abb. 21.2) sowie eine Hyponatriämie und Hypoproteinämie Die Hämophagozytose im Knochenmark fehlt anfangs in über der Hälfte der Fälle (Janka 1983). Bei ZNSBefall sind Demyelinisierungsherde in der Kernspintomografie typisch. Diagnostische Schwierigkeiten können dadurch entstehen, dass bei vielen Patienten initial eine vorübergehende Besserung mit unspezifischen Maßnahmen wie
Epidemiologie
Die Inzidenz der familären HLH wurde auf 1 unter 50.000 Geburten im mitteleuropäischen Raum geschätzt. Dies sind minimale Zahlen, da noch immer eine Dunkelziffer angenommen werden muss. Knaben und Mädchen sind gleichermaßen betroffen. Für die Häufigkeit nicht-genetischer Formen gibt es keine zuverlässigen Angaben; sie dürfte jedoch weit höher liegen als die der angeborenen Formen.
⊡ Abb. 21.1. Histiozyt im Knochenmark mit phagozytierten Blutzellen
233 21 · Hämophagozytische Lymphohistiozytosen
⊡ Abb. 21.2. Klinische und Laborparameter bei 65 Patienten mit HLH bei initialer Vorstellung und bei Diagnosestellung. Bizytopenie: Verminderung von 2/3 Zellreihen (Hb <9 g/dl, Thrombozyten
<100 000/µl, Granulozyten <1000/µl); Hämophagozytose: Knochenmark oder Liquorzellen oder Lymphknoten
Transfusionen, Immunglobulinen oder Antibiotika auftritt oder dass schwere neurologische Störungen, eine massive Hepatosplenomegalie oder Leberfunktionsstörungen bis hin zur Verbrauchskoagulopathie im Vordergrund stehen. Während das Vollbild der Erkrankung mit der progredienten Hepatosplenomegalie und Panzytopenie sowie den biochemischen Veränderungen die Diagnose einer ungewöhnlich schwer verlaufenden Infektion und damit einer HLH nahe legt, sind anfänglich häufig nur ein Teil der geforderten diagnostischen Kriterien erfüllt (⊡ Abb. 21.2).
21.7
! Keinesfalls sollte das Fehlen einer Hämophagozytose dazu verleiten, weiter abzuwarten, wenn die anderen klinischen Kriterien für eine HLH sprechen. Zur Sicherung der Diagnose sind die immunologischen Untersuchungen eine wertvolle Hilfe.
Unbehandelt verläuft die angeborene HLH tödlich; die Patienten versterben an bakteriellen oder Pilzinfektionen durch die zunehmende Granulozytopenie oder an einer zentralen Dysregulation durch ZNS-Befall (Janka 1983). Die sekundäre HLH kann einen selbstlimitierenden bis hin zu einem foudroyant tödlichen Verlauf aufweisen (Janka et al. 1998).
Diagnose
Diagnostische Kriterien der HLH:
Familiäre Erkrankung/bekannter genetischer Defekt Klinische und Laborkriterien (5/8 Kriterien gefordert) Fieber Splenomegalie Zytopenie ≥2 Zelllinien − Hämoglobin <90 g/l (unter 4 Wochen <100 g/l) − Thrombozyten <100 000/µl − Neutrophile <1000/µl Triglyzeride ≥3 mmol/l oder/und Fibrinogen ≤1,5 g/l Ferritin ≥500 ng/ml sCD25 ≥2400U/ml Verminderte oder fehlende NK-Zellaktivität Hämophagozytose in Knochenmark, Liquor oder Lymphknoten
Die überarbeiteten diagnostischen Richtlinien der Histiocyte Society, revidiert 2003 (Henter et al. 1991; Janka u. Schneider 2004), sind in der Übersicht dargestellt. Zusätzliche Hinweise sind Konsanguinität der Eltern, neurologische Symptome mit Liquorpleozytose und/oder Eiweißerhöhung, erhöhte Transaminasen, Bilirubin sowie LDH >1000 U/l. Die Suche
21
234
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
I
⊡ Abb. 21.3. Plasmakonzentrationen von IL-10, den inflammatorischen Zytokinen IFN-γ, TNF-α, MIP-1α, IL-8 sowie der Liganden sCD25 und sCD178 (sCD95L) bei Patienten mit HLH im aktiven Krankheitsstadium. Die Plasmakonzentrationen von n=65 Patienten sind als Boxplots mit Angaben des Medians (horizontaler Balken im Plot), den
5% und 95% Perzentilen und allen Ausreißern (Punkte) dargestellt. Normwerte im Plasma gesunder Spender waren 0–10 pg/ml für IL-10 (n=92); 0–10 pg/ml für INF-γ (n=60); 0–8,1 pg/ml für TNF-α (n=58); <46 pg/ml für MIP-1α (N=40); 0–22 pg/ml für IL-8 (n=21); 200–1000 U/ml für sCD25 (n=120), <50 pg/ml für sCD95L (n=39)
nach einem infektiösen Agens (Bakterien, Viren, Pilze, Protozoen) gehört ebenfalls zur Diagnostik, da u. U. eine erregerspezifische Therapie bei sekundären Formen für die Behandlung ausreichen kann. Hier ist auch an eine Leishmaniase zu denken, selbst wenn kein Auslandsaufenthalt bestand. Neben den Laborparametern sind folgende immunologische Untersuchungen für die Diagnose einer HLH wichtig: ▬ Bestimmung der Palette pro- und antiinflammatorischer Zytokine, die der löslichen α-Kette des Interleukin-2Rezeptors (sCD25) sowie die des löslichen Liganden für den Apoptoserezeptor CD95 im Plasma (⊡ Abb. 21.3); ▬ durchflusszytometrische Analyse von Lymphozytensubpopulationen, zirkulierenden dendritischen Zellen und Makrophagen; ▬ Bestimmung der Aktivität der natürlichen Killerzellen und der gesamtlytischen Aktivität.
fast allen Patienten im Blut zirkulierende Zellen identifizieren, die APC-Marker und T-Zellantigene exprimieren (Schneider et al. 1999). Am ehesten handelt es sich um Vorläufer der Gewebe-infiltrierenden Histiozyten. Bei der HLH ist die klassische NK-Funktion, die durch die Lyse der Zielzelle K562 im 4-h-Assay gemessen wird, immer negativ. Der Großteil der Patienten hat keine messbare zelluläre zytotoxische Funktion, auch wenn die Testbedingungen durch Zusatz von Mitogen oder Interleukin-2 modifiziert werden bzw. eine längere Inkubationszeit gewählt wird (Typ III). In diese Gruppe gehören alle genetischen Fälle. Bei der zweiten ebenso großen Gruppe ist ausschließlich die schnelle NK-Funktion, nicht aber die gesamtlytische Funktion defekt (Typ I). Hier finden sich die Mehrzahl der Patienten mit erworbener, häufig passagerer HLH. Zwei kleinere Gruppen von Patienten werden als Typ II bzw. Typ IV zusammengefasst, wenn Interleukin-2 zur Restitution der lytischen Funktion führt (Typ II) oder wenn die Zytolyse ausschließlich im verlängerten Testsystem nachweisbar ist (Typ IV; Schneider et al. 2002). Bei den sekundären HLH-Formen ist der NK Zelldefekt meist reversibel. Familienuntersuchungen zeigen, dass auch ein Großteil der gesunden Eltern und Geschwister eine defekte NK-Zellfunktion im klassischen 4-h-Assay hat ( Sullivan et al. 1998). Der Nachweis einer Genmutation ist diagnostisch. Eine Perforinmutation ist in weniger als 30% (bei türkischen Patienten in fast 50%) der Fälle möglich. Sie kann zur pränatalen Diagnostik herangezogen werden (zur Stadt et al. 2002).
Proinflammatorische Zytokine sind in der akuten Krankheitsphase im Plasma stärker erhöht als bei der Sepsis und bei Autoimmunerkrankungen, obwohl das CRP in der Regel unter 100 mg/l beträgt. Die gleichzeitige Erhöhung der gegenregulatorischen Zytokine Interferon γ und IL-10 spricht dafür, dass die Feedback-Regulation von TH1- und TH2-Zellen defekt ist (Schneider et al. 2002). Bemerkenswert ist, dass IL-1β, ein ebenfalls inflammatorisches Zytokin, bei der klassischen HLH nicht erhöht ist, wohl aber beim Makrophagenaktivierungssyndrom (eigene Beobachtungen). Die α-Kette des löslichen Interleukin-2-Rezeptors (sCD25) erreicht bei der HLH Konzentrationen, die sonst nur bei T- und NK-ZellLeukämien gefunden werden. Phänotypisch lassen sich bei
235 21 · Hämophagozytische Lymphohistiozytosen
21.8
Therapie und Prognose
Therapie der HLH: Bekanntes infektiöses Agens: erregerspezifische Therapie. Alleinige antiinfektiöse Therapie nur bei leicht ausgeprägtem Krankheitsbild! Erworbene (sekundäre) Formen ohne bedrohliche Symptome: Kortikoide +/–Immunglobuline; bei Rheuma und HLH: Ciclosporin A +/– Kortikoide Angeborene (primäre, familiäre) Formen und alle erworbenen sekundären Formen mit bedrohlichen Symptomen: − Dexamethason 10 mg/m2/Tag p.o., Reduktion um 50% alle 2 Wochen bis Woche 8 − Etoposide 150 mg/m2 i.v. 2-mal pro Woche für die ersten beiden Wochen, dann wöchentlich Woche 3–8 − Ciclosporin A täglich (spiegeladaptiert, Zielspiegel 200 µg/l) kontinuierlich − Methotrexat i.th. (altersadaptiert) nur bei persistierender ZNS-Symptomatik nach 2 Wochen (klinisch und/oder Liquorbefund) Bei Resolution aller Symptome und negativer Familienanamnese Therapieende nach 8 Wochen Bei familiären Formen oder persistierenden Symptomen ab Woche 8: Etoposid 14-tägig im Wechsel mit Dexamethason über 3 Tage14-tägig bis zur Knochenmarktransplantation Bei fehlendem Ansprechen nach 4 Wochen (persistierende Thrombozytopenie, Fieber): Therapiewechsel
Die Therapie zielt im ersten Schritt auf eine Unterdrückung der Hyperinflammation. Bei familiären Formen und bei allen Patienten mit schwerem Krankheitsbild ist eine Kombination von Steroiden, Etoposid und Ciclosporin die Therapie der Wahl. Bei gutem Ansprechen kommt es innerhalb weniger Wochen zu einer Besserung der Symptome. Ungefähr 20% der Patienten haben trotz Therapie einen progredienten letalen Verlauf (Henter et al. 2002) Eine kurative Therapie für Patienten mit angeborener HLH ist nur durch eine Knochenmarktransplantation von verwandten oder unverwandten Spendern möglich, die Heilungschancen liegen zwischen 50–70%. Patienten mit sekundärer HLH können manchmal allein mit einer immunsuppressiven/immunmodulatorischen Therapie in Form von Kortikosteroiden, Ciclosporin oder Immunglobulinen erfolgreich behandelt werden (Freeman et al. 1993; Tsuda 1997). Klinisch schwer verlaufende Fälle bedürfen einer Therapie mit Etoposide. Die Letalität der EBV-assoziierten HLH, die besonders häufig in Japan auftritt, hat sich dadurch deutlich gebessert (Imashuku et al. 1999). Für Patienten mit rheumatischen Erkrankungen und MAS ist Ciclosporin mit oder ohne Kortikosteroide die Therapie der Wahl (Stephan et al. 2001).
Zur Zeit der ersten Beschreibung der genetischen Form der hämophagozytischen Lymphohistiozytose vor 50 Jahren waren die komplexen Zusammenhänge des Immunsystems noch weitgehend unbekannt. Antigenpräsentierende Zellen und Lymphozyten wurden seitdem als die Schlüsselzellen einer Immunantwort identifiziert. Vererbte Defekte und erworbene Störungen, die eine regelhafte Interaktion dieser Zellen unmöglich machen, führen zu einer ineffektiven Immunantwort mit Hyperzytokinämie und den daraus folgenden klinischen Symptomen der HLH. Während die durch genetische Defekte verursachte HLH durch ein meist junges Alter der Patienten eher erkannt wird, werden die häufigeren erworbenen Formen bei älteren Kindern und Erwachsenen oft zu spät oder gar nicht diagnostiziert. Durch eine rechtzeitige Therapie und die Möglichkeit der Knochenmarktransplantation bei den angeborenen Formen der HLH bestehen heute gute Heilungschancen. Noch ist aber nur bei einem Teil der Patienten der zugrundeliegenden Gendefekt bekannt; die Kenntnisse der pathophysiologischen Zusammenhänge sind mangelhaft. Nur durch eine intensive Zusammenarbeit zwischen Klinikern, Immunologen und Molekularbiologen wird es möglich sein, das Krankheitsbild in Zukunft besser zu verstehen und damit auch erfolgreicher zu behandeln.
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21
236
I
Pädiatrische Hämatologie: Granulozyten/Monozyten/Makrophagen
Janka GE, Schneider EM (2004) Modern management of children with haemophagocytic lymphohistiocytosis. Br J Haematol 124:4–14 Morhart R, Truckenbrodt H (1997) Makrophagenaktivierunssyndrom (MAS). Eine ernste Kompliation bei Kindern mit rheumatischen Erkrankungen. Monatsschr Kinderheilkd 145:918–927 Perez N, Virelizier JL, Arenzana-Seisdedos F et al (1984) Impaired natural killer acitivity in lymphohistiocytosis syndrome. J Pediatr 104:569–573 Schneider EM, Lorenz I, Müller-Rosenberger M et al (2002) Hemophagocytic lymphohistiocytosis (HLH) is associated with deficiencies of cellular cytolysis but normal expression of transcripts relevant to killer cell induced apoptosis. Blood 100:2891–2898 Schneider EM, Lorenz I, Roth D, Janka-Schaub GE (1999) Phagocytic dendritic cells in HLH are of lymphatic origin and express CD25, CD36 and FAS-Ligand. Med Pediatr Oncol 32:236 Sullivan KE, Delaat CA, Douglas SD, Filipovich A (1998) Defective natural killer cell function in patients with hemophagocytic lymphohistiocytosis and in first degree relatives. Pediatr Res 44:465–468 Stephan JL, Kone-Paut I, Galambrun C et al (2001) Reactive haemophagocytic syndrome in children with inflammatory disorders. A retrospecitve study of 24 patients. Rheumatology 40:1285–1292 Tsuda H (1997) The use of cyclosporin-A in the treatment of virusassociated hemophagocytic syndrome in adults. Leuk Lymphoma 28:73–82 Wilson JL, Heffler LC, Charo J et al (1999) Targeting of human denderitic cells by autologous NK cells. J Immunol 163:6365–6370 Zur Stadt U, Pruggmayer M, Jung H et al (2002) Prenatal diagnosis of perforin gene mutations in familial hemophagoctic lymphohistiocytosis (FHLH). Prenat Diagn 22:80–81
237
Morphologie und Funktion des spezifischen Immunsystems W. Holter, N. Neu
22.1 22.2 22.3
Einleitung und Definitionen – 237 Antigenpräsentierende Zellen – 238 T-Zellen – 239
22.3.1 22.3.2
Entwicklung – 239 Antigenerkennung – 240
22.4
B-Zellen
22.4.1 22.4.2
Entwicklung – 241 Antigenerkennung – 242
22.5 22.6
Natürliche Killerzellen – 242 Toleranz und das »Self-nonself«-Paradigma – 243
22.6.1 22.6.2
Thymus-induzierte Toleranz – 243 Periphere Toleranz durch Suppressorzellen bzw. regulatorische T-Zellen – 243 Periphere Toleranz durch Deletion – 243 Periphere Toleranz durch Inhibition – 244
22.6.3 22.6.4
Literatur
– 241
– 244
»Let us try to imagine the extremely dangerous environment in which we live. We are surrounded by a wide array of microorganisms which are universally present in our environment. Our remedy is the immune system which, however, faces a formidable task. Not only are microorganisms numerous and ubiquitous. The immune system must be able to distinguish between friendly microbes and hostile, between foreign material and self structures. And not only that. Certain invaders – for example viruses – utilize host cells for their own replication and hide inside these same cells.« Aus der Rede von Professor Lars Klareskog, Mitglied des Nobel Kommitees, anlässlich der Verleihung des NobelPreises für Physiologie oder Medizin 1996 an Peter C. Doherty und Rolf M. Zinkernagel »for their discoveries concerning the specificity of the cell mediated immune defence«.
22.1
Einleitung und Definitionen
Bestandteile des spezifischen Immunsystems sind zelluläre und humorale Elemente (Lymphozyten, Antikörper, Zytokine u. a.). Die immunologische Antwort ist charakterisiert durch die Elemente Spezifität und Gedächtnis sowie durch die Unterscheidung zwischen Selbst und Fremd. Träger jeder spezifischen Erkennung im Immunsystem sind Glykoproteine, die sich aus primitiven und phylogenetisch sehr alten Molekülen einzelliger Organismen entwickelt haben. Ihre ursprüngliche Funktion war die Unterscheidung zwischen Selbst und Fremd. Ihre Derivate, Mitglieder der so genannten »immunoglobulin superfamily«, begegnen uns heute als Antigenrezeptoren, Antikörpermoleküle, HLA-
Moleküle und viele weitere Proteine, die im Immunsystem die spezifische Erkennung und Zell/Zell Interaktionen regeln. Lymphozyten sind die Träger einer zellulären immunologischen Reaktion, man unterscheidet T- und B-Zellen sowie NK-Zellen, die sich in Herkunft, dem Expressionsprofil ihrer Oberflächenmarker (CD-Antigene; »cluster of differentiation«; für eine Übersicht Tabelle 27 im Anhang) und in ihrer Funktion unterscheiden. Ihre gemeinsame Vorläuferzelle stammt aus dem Knochenmark. T-Zellen reifen im Thymus heran, sie erkennen Antigene nur in Peptidform im Zusammenhang mit eigenen HLA-Molekülen (HLA-Restriktion) und haben verschiedene Effektor- sowie zentrale, das übrige Immunsystem steuernde regulatorische Funktionen. Zytokine und Oberflächenmoleküle der CD4-positiven THelfer- bzw. regulatorische Zellen regeln die Funktion fast aller weiterer Immunzellen. CD8-positive T-Zellen differenzieren zu spezifischen zytotoxischen oder suppressiv wirksamen Effektorzellen. CD19-positive B-Zellen reifen im Knochenmark, sie sind die Träger der humoralen Immunantwort. Nach Differenzierung in CD38-positive Plasmazellen produzieren diese spezifische Antikörper (Immunglobuline). Antikörper sind lösliche, Antigen bindende Glykoproteine. Ihre Funktion ist die Neutralisation von Toxinen und Viren, die Opsonisation, aber auch die direkte Lyse von pathogenen Organismen. Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) sind phylogenetisch alte Abwehrzellen, die u. a. das Fehlen von HLA-Molekülen erkennen und solcherart veränderte Zielzellen ohne weitere Sensibilisierung töten können. Sie spielen eine Rolle in der Antikörper-vermittelten Zytotoxizität (ADCC), der Abwehr von Virusinfektionen und möglicherweise in der Tumorzerstörung. Für den Beginn einer zellulären Immunreaktion sind antigenpräsentierende Zellen von entscheidender Bedeutung. Sie nehmen partikuläres oder lösliches Antigen auf, und präsentieren es in Peptidform mittels ihrer HLA-Moleküle den T-Zellen zur spezifischen Erkennung. Dendritische Zellen und epidermale Langerhans-Zellen fungieren als professionelle antigenpräsentierende Zellen, aber auch Monozyten, B-Zellen und aktiviertes Endothel können Antigen präsentieren, ebenso Kupffer-Sternzellen und Astrozyten. Sowohl T- als auch B-Zellen erkennen ihr Antigen über spezifische Antigenrezeptoren, bei den T-Zellen ist dies der T-Zell-Antigenrezeptor, bei den B-Zellen das membranständige Immunglobulin. Als Klon von Lymphozyten bezeichnet man eine spezifische Zelle mit ihren Tochterzellen, die daher alle den gleichen Antigenrezeptor mit identischer Struktur und Spezifität aufweisen. Zytokine sind niedermolekulare Eiweiße, die als Botenstoffe des Immunsystems hauptsächlich parakrin wirken und über hochaffine Rezeptoren die Eiweiß- und DNA-Syn-
22
238
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
⊡ Tabelle 22.1. Zytokine (weiterführende Literatur bei Fitzgerald et al. 2001)
Zytokin
Produziert von (Auswahl)
Wirkung (Auswahl)
IL-1 IL-2 IL-3 IL-4 IL-5 IL-6 IL-7 IL-8
Makrophagen, Endothel, Keratinozyten Aktivierte T-Ly Aktivierte T-Ly, Mastzellen, Eosinophile Aktivierte T-Ly Aktivierte T-Ly Ly, Mo, Fibroblasten, Endothel, Stroma Stroma, Fibroblasten Fibroblasten, Keratinozyten, Endothel, Synovia, Granulozyten Aktivierte T-Ly Aktivierte T-Ly KM Stroma Mono, Makrophagen, DC Aktivierte T-Ly T-Ly, maligne B-Ly Stroma, Mono Aktivierte T, Eosinophile, Mastzellen Aktivierte T (Memory) Fibroblasten, Keratinozyten, Endothel, Synovia, Makrophagen Mono Mono Aktivierte T Aktivierte T-Ly, Mastzellen Aktivierte DC Makrophagen Th2-Ly, Mastzellen Aktivierte T-Ly, NK-Zellen Aktivierte APC Ly, NK, Makrophagen Ly, Makrophagen Leukozyten Fibroblasten T-Ly
Inflammatorisch, T-Ly stimulierend, Fieber T- und B-Ly-Wachstum Stammzellwachstum T- und B-Ly-Wachstum, Th2-Induktion, IgE-Switch, hemmt Mo Eosinophilen Differenzierung, IgA-Switch, B-Zellwachstum Inflammatorisch, Ig-Produktion, T- und B-Ly-Wachstum Wachstum von T-Ly und B-Vorläuferzellen Chemotaxis für Neutrophile und T-Ly
IL-9 IL-10 IL-11 IL-12 IL-13 IL-14 IL-15 IL-16 IL-17 IL-18 IL-19 IL-20 IL-21 IL-22 IL-23 IL-24 IL-25 IL-26 IL-27 TNF-α TGF-β IFN-α IFN-β IFN-γ
T-Zellen, Lymphopoese, Erythropoese Hemmt APC-Funktion, hemmt Zytokinsynthese, Th2-Induktion Stimuliert frühe Hämatopoese Stimuliert IFN-γ, Th1-Induktion, stimuliert NK-Zellen B Ly Wachstum, Ig Synthese, hemmt Mo B-Ly-Wachstum Wachstum/Entwicklung von NK- und NK-T-Zellen Chemokin für Eosinophile, Mono, DC und T-Ly Angiogenese, induziert Zytokinproduktion, proinflammatorisch T-Ly- und NK-Zellreifung und Funktion Zytokinsynthese Entzündungsmediator T-Ly-Wachstum, B-Ly-Wachstum Entzündungsmediator Memory T-Ly-Wachstum, IFN-γ-Produktion, APC-Aktivierung Zytokinsynthese Th2-Zytokinsynthese ? CD4pos Ly-Wachstum, Th1-Differenzierung Chemotaktisch, inflammatorisch, Ig Synthese, Fieber, zytotoxisch Hemmt Ly-Wachstum und -Funktion, anti-apoptotisch, IgA-Switch Virostatisch, antiproliferativ Virostatisch, antiproliferativ Stimuliert Makrophagen, NK, HLA-Induktion
Ly Lymphozyt.
these der Zielzellen verändern (⊡ Tabelle 22.1). Sie bilden ein pleotropes und zum Teil redundantes Netzwerk. Chemokine sind wie Zytokine niedermolekulare Botenstoffe, die über spezifische Rezeptoren wirken und Chemotaxis, die zielgerichtete Wanderung von Zellen entlang von Konzentrationsgradienten steuern. Immunzellen werden in ihrer Wanderung im Körper sowie in ihrer Interaktion mit Endothel, Gewebszellen, und anderen Immunzellen über Adhäsionsmoleküle beeinflusst, die durch selektive Expression, quantitative Expressionsunterschiede und aktivierungsabhängige Affinitäten die Leukozytenmigration steuern. 22.2
Antigenpräsentierende Zellen
! Die Funktion antigenpräsentierender Zellen (APC) besteht darin, Antigene aus Zellen, Viren, Bakterien etc. durch Phagozytose und Pinozytose aufzunehmen, in Bruchstücke aufzuspalten und in Form von
kurzen Peptiden zusammen mit eigenen HLA-Molekülen an ihrer Oberfläche zu präsentieren.
Der Prototyp der »professionellen«, d. h. hocheffizienten APC ist die dendritische Zelle (DC), die entweder aus CD34-positiven KM-Vorläuferzellen oder aus Blutmonozyten unter dem Einfluss von Zytokinen (GM-CSF, IL-4, TNF-α) entsteht (Banchereau u. Steinman 1998). Diese DC existieren zuerst in einer »unreifen«, wenig stimulierenden Form, in der sie jedoch zu einem maximalen Umsatz an Antigenaufnahme und Antigendegradation fähig sind. In dieser unreifen Form induzieren die DC keine protektive Immunantwort, sondern Toleranz (Dhodapkar et al. 2001). Erst nach einer spezifischen Aktivierung z. B. durch invariante bakterielle, pathogenspezifische Moleküle (z. B. Lipopolysaccharide, Lipoproteine, Lipopeptide, Cytosin-Guanosin-Dinukleotide) über so genannte »TOLL-like receptors« (TLR) oder durch inflammatorische Zytokine (IL-1, IL-6, TNF-α, IFN-γ) und T-Zellsignale (CD154) werden unreife DC in reife DC übergeführt. Wäh-
239 22 · Morphologie und Funktion des spezifischen Immunsystems
rend dieses Reifungsschrittes verlangsamt sich der Prozess der Antigenaufnahme und -prozessierung beträchtlich, und es kommt zu einer Verlängerung der Halbwertszeit der Peptid beladenen HLA-Moleküle an der Zelloberfläche. Reife DC exprimieren nun HLA-Antigene und kostimulierende Liganden in verstärktem Ausmaß, wodurch im Vergleich zu unreifen DC eine bis zu 100-fach effizientere T-Zellstimulation resultiert. Abgesehen von ihren verschiedenen Reifungszuständen gibt es unterschiedliche Subpopulationen von DC, die sich durch ihr Oberflächenmarker und Zytokinprofil sowie in ihren Auswirkungen auf die T-Zellstimulation unterscheiden (Sallusto u. Lanzavecchia 1994; Sallusto et al. 1999; Guermonprez et al. 2002). Basierend auf diesem neuen Verständnis der Physiologie antigenpräsentierender Zellen wird die rationale Entwicklung von Impfstoffen vorangetrieben, die möglicherweise auch in der Tumorimmunologie eine entscheidende Bedeutung erlangen können (Schuler et al. 2003). 22.3
T-Zellen
22.3.1 Entwicklung Ab der 10. Schwangerschaftswoche wandern unreife CD34positive lymphoide Vorläuferzellen vom Knochenmark in den Thymus (⊡ Abb. 22.1) ein, wo sie sich enorm vermehren, zu Thymozyten differenzieren und an der Oberfläche von Thymusepithel und antigenpräsentierenden Zellen mit Komplexen konfrontiert werden, die aus HLA-Molekülen und endogenen Peptiden bestehen.Über mehrere Reifungsstadien, definiert durch die Oberflächenmarker CD7, CD2, CD1a, CD3, CD44, CD117, CD25, CD4 und CD8 sowie durch die Expression des rearrangierten T-Zellrezeptors, entstehen aus Thymozyten reife T-Zellen, die nach einem Prozess der positiven und negativen Selektion zwischen Selbst und Fremd unterscheiden sowie Peptidantigene im Kontext von Selbst erkennen können. Während dieser Reifung entstehen in Abhängigkeit von der HLA-Expression des Thymusepithels die CD4positiven bzw. die CD8-positiven T-Zellsubpopulationen. CD4-positive/CD8-positive Thymozyten werden im Thymuskortex an epithelialen Zellen positiv selektioniert. Während der Positivselektion können nur T-Zellen mit Antigenrezeptoren überleben, die (körpereigene) Peptide im
⊡ Abb. 22.1. Thymusschatten im Röntgenthorax eines frühgeborenen Kindes
Kontext von Selbst-HLA mit relativ niedriger Affinität binden können, alle anderen Zellen gehen unter. Während ihrer Entwicklung wandern die nun positiv selektionierten T-Zellen vom Thymuskortex weiter in Richtung Mark. Auf ihrem Weg passieren sie dendritische Zellen, an denen Zellen mit hoher Affinität zu Autoantigene durch Apoptose depletiert werden. Diese Negativselektion ist die Basis für die zentrale Toleranz des T-Zellsystems und essenziell zur Verhinderung von Autoimmunität. Weniger als 3% der primär gebildeten unreifen Thymozyten bleiben nach Positiv- und Negativselektion übrig. Als Ende der Entwicklung verlassen den Thymus reife, »naive«, CD3-positive/CD4-positive und CD3positive/CD8-positive T-Zellen mit unterschiedlichen klonotypischen T-Zellrezeptoren (⊡ Abb. 22.2; Übersichten bei Anderson et al. 1996; Ellmeier et al. 1999; Werlen et al. 2003). Die klonotypischen T-Zell-Antigenrezeptoren bestimmen die Antigenspezifität und bestehen aus 2 Ketten, meist einer α- und einer β-Kette. Die CD4- und CD8-Moleküle der T-Zelle binden an den invarianten Teil der HLA-Moleküle und dienen als Korezeptor während der Erkennung des HLAAntigen/Peptid-Komplexes auf der Oberfläche der APC durch den T-Zell-Antigenrezeptor (Marrack u. Kappler 1986; Davis u. Bjorkman 1988). Sie bestimmen dadurch die Restriktion der T-Zellen jeweils zu HLA-Klasse-II-Antigene (CD4positive Zellen) bzw. zu HLA-Klasse-I-Antigene (CD8-positive Zellen) auf den antigenpräsentierenden Zellen. Funktionell kennzeichnet CD4 v. a. regulatorisch wirksame T-Helferzellen und CD8 zytotoxisch bzw. suppressiv wirksame T-Zellen. Diese nun reifen Zellen zirkulieren im Körper und passieren dabei die sekundär lymphatischen Organe (Milz, Lymphknoten und das im Verdauungssystem und Bronchialsystem gelegene Mukosa-assoziierte-lymphatische Gewebe). Solange die Zellen noch keinen weiteren Antigenkontakt hatten, exprimieren sie den Marker CD45RA, erst nach Zellaktivierung wird die CD45-Splice-Variante CD45RO exprimiert (Beverley 1991; Mackay 1993). Eine Analyse der Expression von Homing-Rezeptoren wie CCR7 und von Interaktionsstrukturen wie CD27 und CD28 erlaubt inzwischen eine weitere detaillierter Charakterisierung von Effektor- und Memory-T-Zell-Subpopulationen (Sallusto et al. 1999). Da im Laufe einer Antigenantwort jedoch auch terminal differenzierte Effektor-T-Zellen wieder CD45RA exprimieren können, korreliert das Auftreten der CD45RA/ RO-Splice-Varianten nicht immer mit einer Zuordnung der Zellen nach dem Modell »Naiv« versus »Memory« (Seder u. Ahmed 2003). Das Repertoire an unterschiedlichen T-Zell-Antigenrezeptor-Spezifitäten, d. h. an T-Zellklone mit unterschiedlichen Antigenrezeptoren, wird auf etwa 106–107 geschätzt. Dieses Repertoire entsteht durch ein Rearrangement von Keimbahngenen aus unterschiedlichen Genfamilien sowohl für die α- als auch für die β-Kette (»variable, diversity, joining, constant genes«, entsprechend Vα, Jα, Jβ, Vβ, Dβ, Jβ, und Cβ; Wilson et al. 1988; Cabaniols et al. 2001). Dieses Rearrangement steht unter der Kontrolle von RAG 1 und 2 (recombinase activating genes), angeborene Defekte der RAG Proteine führen daher zu schweren kombinierten Immundefekten (Schatz et al. 1989; Schwarz et al. 1996). Die klonspezifische Expression des rearrangierten TZellrezeptors erlaubt in bestimmten klinischen Situationen den Nachweis der Expansion einzelner T-Zellklone. Dies
22
240
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
⊡ Abb. 22.2. Schema der T-Zellreifung im Thymus
kann durch Oberflächenfärbung der Zellen mit Antikörpern gegen Vβ-Familien, durch Färbungen mit spezifisch bindenden HLA-Tetramermolekülen oder durch Sequenzierung des T-Zellrezeptor spezifischen Rearrangements und anschließender PCR-Amplifikation klonspezifischer Sequenzen geschehen. Eine Expansion von spezifischen klonalen Populationen wird nicht nur bei maligner Entartung (ALL, Lymphom) gesehen, wo der klonale Nachweis auch zum Nachweis einer minimalen Resterkrankung eingesetzt wird (van Dongen et al. 1998). Die Analyse klonspezifischer Marker hat auch gezeigt, dass im Verlauf einer Immunantwort auf eine Infektion eine extrem starke Expansion spezifischer Zellen stattfinden kann (Butz u. Bevan 1998; Callan et al. 1998). Während die Mehrzahl der T-Zellen den αβ-T-Zellrezeptor exprimieren, existiert eine kleinere Population von Zellen (5–10% aller zirkulierenden T-Zellen), die durch den γδ-TZellrezeptor charakterisiert ist, ein Rezeptorsystem mit geringerer Diversität als die αβ-T-Zellrezeptoren und einer Prädilektion für bestimmte virale und bakterielle Antigene. Diese Zellen reifen vermutlich extrathymisch und stellen den Hauptanteil der intraepithelialen Lymphozyten im Gastrointestinaltrakt (Rocha et al. 1994; Chien et al. 1996; Saito et al. 1998). 22.3.2 Antigenerkennung ! T-Zellen erkennen ihr spezifisches Peptidantigen nie in löslicher Form, sondern nur präsentiert von zellständigen eigenen HLA-Molekülen (so genannte Selbstrestriktion der Antigenerkennung; Zinkernagel u. Doherty 1974; Babbitt et al. 1985).
Der Mensch verfügt über jeweils 2 Allele verschiedener HLAKlasse-I-Moleküle (HLA-A, HLA-B, HLA-C) und -Klasse-IIMoleküle (HLA-DP, HLA-DQ, HLA-DR) sowie über eine Reihe weiterer HLA-ähnlicher Moleküle, deren Stellenwert für die Antigenpräsentation noch unklar ist (Bjorkman 1997).
Die unterschiedlichen HLA-Moleküle eines Individuums präsentieren jeweils verschiedene Selbstpeptide bzw. im Infektionsfall Peptide, die aus Proteinen von Krankheitserregern stammen. Diese Peptide binden in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Aminosäuresequenz in die Bindungsgruben der HLA-Moleküle mit unterschiedlich starker Affinität. Um für möglichst viele Peptide verschiedener Erreger geeignete antigenpräsentierende Moleküle zu besitzen, ist es für ein Individuum von evolutionsbiologischem Vorteil, auf seinen Körperzellen unterschiedliche HLA-Moleküle zu exprimieren, die sich v. a. in der Aminosäuresequenz der peptidbindenden Region unterscheiden. Der zusätzlich innerhalb der menschlichen Population nachweisbare Polymorphismus der HLA-Antigene hat vermutlich die Funktion, den genetischen Hintergrund des Menschen soweit zu diversifizieren, dass Peptide aus Krankheitserregern in verschiedenen Individuen unterschiedlich gut präsentiert werden. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Erreger so weit adaptieren können, dass sie vom Immunsystem aller Individuen unerkannt bleiben (Apanius et al. 1997). Um eine T-Zellaktivierung zu erreichen, müssen APC neben dem passenden HLA/Peptid-Komplex weitere kostimulierende Signale bereitstellen, v. a. zellständige Liganden der B7-Molekülfamilie (CD80, CD86). Diese antigenspezifische Interaktion zwischen APC und T-Zelle (⊡ Abb. 22.3) konzentriert sich rasch auf supramolekulare AktivierungsCluster von Molekülen in den beteiligten Zellmembranen, in denen sich HLA-Moleküle, T-Zellrezeptor, CD4 bzw. CD8, und die Adhäsionsstrukturen CD11a/CD18 und CD54 strukturiert anordnen (so genannte immunologische Synapse). Die Interaktion zwischen B7-Molekülen und CD28 sowie weiterer Mitglieder der B7-Molekülfamilie und ihrer Liganden unterstützt diese Synapsenbildung direkt oder indirekt durch Verstärkung der T-Zellaktivierung. Ein Teil dieses molekularen »crosstalk« zwischen den beteiligten Zellen resultiert jedoch auch in inhibitorischen Signalen, wodurch sich die Möglichkeit einer feinen Regulation der Zellaktivierung ergibt (Monks et al. 1998; Tseng u. Dustin 2002).
241 22 · Morphologie und Funktion des spezifischen Immunsystems
Unter dem Einfluss der APC und der von ihnen sezernierten Zytokine sowie abhängig vom weiteren Zytokinmilieu, das von anderen Immunzellen (regulatorische T-Zellen, NK-Zellen, Monozyten etc.) stammt, differenzieren T-Helferzellen in Th1-Zellen (charakterisiert durch die Produktion von IFN-γ und IL-2) und in Th2-Zellen (produzieren u. a. IL-4 und IL-5) sowie in regulatorische Treg (IL-10, TGF-β) Zellen (Mosmann u. Sad 1996; Roncarolo u. Levings 2000). ! Th1-Zellen sind für die Abwehr intrazellulärer pathogener Organismen (Viren, bestimmte Bakterien) essenziell, Th2-Zellen begünstigen die Antikörperbildung, die Abwehr extrazellulärer Parasiten und die Entwicklung allergischer Mechanismen.
⊡ Abb. 22.3. Modell einer T-Zell-APC-Interaktion. APC antigenpräsentierende Zelle
Nach spezifischer T-Zellerkennung eines passenden Peptidantigens zusammen mit HLA auf der Oberfläche einer antigenpräsentierenden Zelle kommt es innerhalb von Sekunden zur Aktivierung von Signalübertragungsketten in der Zelle, zu oszillierenden Schwankungen des freien zytoplasmatischen Ca++, zur Aktivierung von Proteinkinase C, von Phosphotyrosinkinasen und Phosphatasen, die rasch zu Veränderungen des Phosphorylierungsmusters an zellulären Proteinen führen und schließlich in der transkriptionellen Aktivierung von multiplen Gensequenzen mündet (»Signal 1«). Für eine erfolgreiche Zellaktivierung, die zur Transkription von Zytokingenen und später zur Zellproliferation führt, sind weitere kostimulierende Signale (»Signal 2«) von der APC notwendig (Bernard et al. 2002). Das wichtigste kostimulierende Signal wird über das Ligand/Rezeptor-Paar CD80 oder CD86 auf der APC-Seite und CD28 auf der T-Zellseite vermittelt. In experimentellen Systemen lassen sich kostimulierende Funktionen für eine Reihe weiterer Rezeptor/ Ligand-Paare zwischen T-Zelle und APC nachweisen. Eine Blockade kostimulierender Signale führt zur Inhibition der T-Zellaktivierung und kann zur Ausbildung einer spezifischen Anergie führen (Schwartz 1990; Woodward et al. 1996; Wekerle et al. 2002). Innerhalb weniger Stunden nach Erhalt von Signal 1 und Signal 2 kommt es zur Aktivierung von c-myc, zur Interleukin-2-Transkription, und schließlich zum Eintritt in den Zellzyklus und zur Zellteilung. Bestimmte Immunsuppressiva wie Ciclosporin A oder Tacrolimus greifen in dieser Signalkaskade ein und hemmen die T-Zellaktivierung in vitro und in vivo, während Antimetaboliten wie Methotrexat und Mercaptopurin direkt die Teilung aktivierter Lymphozyten hemmen. Aktivierte T-Zellen erscheinen im Differenzialblutbild morphologisch als vergrößerte blastäre Zellen (»Reizformen«, »Virozyten«). Sie können immunphänotypisch über den Nachweis von Aktivierungsmarkern, die von ruhenden Zellen nicht oder nur schwächer exprimiert werden, charakterisiert werden. Diese Aktivierungsmarker umfassen unter anderem das CD25-Antigen (α-Kette des hochaffinien Interleukin-2-Rezeptors), das HLA-DR-Molekül, das CD71-Antigen (Transferrinrezeptor), und das CD69-Antigen.
Nach erfolgreicher Kontrolle einer Infektion geht der Großteil eines aktivierten und expandierten Zellklons durch Apoptose zugrunde, z. T. in Antwort auf weitere Aktivierungssignale, z. T. als Folge eines relativen Mangels an Zytokinen, z. T. durch eine spezifische Interaktion von Fas mit seinem Liganden, vielleicht auch primär durch einen Mangel an antigenspezifischer Stimulation am Ende der Immunantwort (Lenardo 1991; Goldrath u. Bevan 1999; Janssen et al. 2003). Ein kleiner Teil der aktivierten Zellen überlebt jedoch als Memory-Zellen. Bei erneutem Antigenkontakt können diese sehr rasch aktiviert und expandiert werden und wiederum in Effektorzellen differenzieren. Sowohl die Zahl der T-Zellen insgesamt wie auch die Zahl der naiven Zellen und der Memory-Zellen wird unabhängig voneinander und auch unabhängig von der Größe der B-Zellpopulation geregelt. Diese Populationen besetzen somit jeweils voneinander unabhängige homöostatische Nischen (Tanchot et al. 1997; Goldrath u. Bevan 1999). Die Regulation der T-Zellzahl insgesamt und der Größe einzelner antigenspezifischen Klone ist für den Erhalt des antigenspezifischen Repertoires wichtig. Das Überleben spezifischer T-Zellen in der Peripherie wird vermutlich auch durch permanente niedrigaffine Stimulation durch Selbstantigene unterstützt (Tanchot et al. 1997; Freitas u. Rocha 1999). Für altersentsprechende Normalwerte von Lymphozytensubpopulationen Tabelle 28 und 29 im Anhang (Comans-Bitter et al. 1997). 22.4
B-Zellen
22.4.1 Entwicklung B-Lymphozyten reifen beim Menschen im Knochenmark aus der lymphatischen Vorläuferzelle in Abhängigkeit von Stromazellen und Zytokinen (IL-4, IL-7 und SCF; Peschel et al. 1989; Rolink u. Melchers 1993; Funk et al. 1994). Ähnlich wie in der Entwicklung der T-Zellen steht im Mittelpunkt der Differenzierung die Entstehung antigenspezifischer Rezeptoren (zellständiger Immunglobuline) aus einem Pool von Genfamilien. Das antigenspezifische Repertoire der B-Zellen umfasst etwa 107–109 verschiedene Immunglobulinspezifitäten (Rolink u. Melchers 1993). Die Diversität der Immunglobuline entsteht durch Gen-Rearrangement wiederum unter dem Einfluss von RAG1 und RAG2 ( oben), deren Fehlen einen schweren Immundefekt verursacht (Schatz et al.
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I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
⊡ Abb. 22.4. Charakterisierung der B-Zelldifferenzierung
1989; Schwarz et al. 1996). Ein charakteristisches Muster von Oberflächenantigenen begleitet die B-Zelldifferenzierung (⊡ Abb. 22.4); mit ihrer Hilfe können B-Zellmalignome bezüglich ihres Reifegrades charakterisiert werden (Matutes et al. 1994; Bene et al. 1995). 22.4.2 Antigenerkennung Reife, antigennaive B-Zellen sind IgD- und IgM-positiv. Erst in diesem Stadium verlassen sie das Knochenmark, um zu zirkulieren und die sekundären lymphatischen Organe (Lymphknoten, Milz, Peyer-Plaques) zu besiedeln. B-Zellen erkennen ihr spezifisches Antigen durch die Bindung an ihr zellständiges Immunglobulin. Die Quervernetzung vieler Immunglobulinmoleküle an der Zelloberfläche durch repetitive Antigenstrukturen (Polysaccharide, DNA) führt direkt zur B-Zellaktivierung, die durch T-Helferzytokine weiter unterstützt und reguliert wird. Unter dem Einfluss von Zytokinen und T-Zell-membranständigen Liganden wie CD154 (CD40-Ligand) kommt es im Verlauf der Antikörperantwort durch somatische Mutationen und Selektion von Zellen mit hochaffinen Rezeptoren zur Affinitätsreifung des B-Zellklons, und schließlich zum Immunglobulin-Klassenswitch, bei dem die Produktion von Antikörpern der Klasse IgM auf IgG, IgA, oder IgE wechselt (Banchereau et al. 1994). Angeborene Defekte im CD40/ CD40-Ligandsystem führen zu einem schweren kombinierten Immundefekt, bei dem v. a. der defekte ImmunglobulinKlassenswitch im Vordergrund steht (DiSanto et al. 1993; Korthauer et al. 1993). B-Zellen differenzieren schließlich teilweise in langlebige Memory-Zellen, teilweise in Plasmazellen, von denen die Masse der Serumantikörper produziert wird. B-Zellantigene sind konformationsabhängige komplexe Moleküle, die häufig repetitive Elementen enthalten. Polysaccharide stellen typische T-Zell-unabhängige B-Zellantigene dar. Antikörper gegen diese Antigene »reifen« im Verlauf nicht, d. h. die humorale Antwort entwickelt im Verlauf
keine zunehmende Affinität. Proteinantigene können BZellen zwar ebenfalls aktivieren, für eine effiziente B-Zellproliferation, Klassenswitch, Affinitätsreifung und Antikörperproduktion ist aber T-Zellhilfe essenziell (T-Zell-abhängige Antigene). Defekte im T-zellulären Immunsystem haben daher immer auch Defekte der Antikörperbildung zur Folge. 22.5
Natürliche Killerzellen
! Natürliche Killerzellen (NK-Zellen) machen etwa 5–15% der peripheren mononukleären Zellen aus. Sie spielen eine Rolle in der frühen zytotoxischen Immunantwort gegen (v. a. mit Viren) infizierte Zellen, möglicherweise auch gegen Tumorzellen.
NK-Zellen können über ihren CD16-Fc-Rezeptor durch Zellen aktiviert werden, die mit IgG-Antikörpern beladen sind (ADCC, »antibody-dependent cell-mediated cytotoxicity«). Als Folge der Aktivierung sezernieren NK-Zellen Zytokine wie IFN-γ oder GM-CSF und lysieren ihre Zielzellen u. a. durch die Freisetzung von Perforin, Granzyme und TNF-α. Phänotypisch sind sie durch die Expression von CD56 und CD16 und dem Fehlen B- und T-Zell-spezifischer Marker charakterisiert. Zusätzlich exprimieren sie eine Reihe v. a. inhibitorisch wirksamer Moleküle, die sich 2 Molekülfamilien, der KIR (»killer inhibitory receptor«) Familie und dem CD94/NKG2A-Heterodimer zuordnen lassen. Während der CD94/NKG2A-Rezeptor invariante Abschnitte von HLA-Molekülen erkennt, binden KIR-Rezeptoren an HLA-Domänen, die allotypischer Variation unterliegen. Daher weisen KIRRezeptoren ebenfalls einen ausgedehnten primär genetischen Polymorphismus auf, zum Teil unterliegt der KIR-Phänotyp zusätzlich einer Selektion durch eigene HLA-Klasse-I-Moleküle (ähnlich wie T-Zellrezeptoren im Thymus auf eigenen HLA-Molekülen positiv selektioniert werden). Exprimieren Körperzellen HLA-Klasse-I-Moleküle in vermindertem Ausmaß, wie es in der Folge mancher Infek-
243 22 · Morphologie und Funktion des spezifischen Immunsystems
tionen, aber auch häufig bei Tumorzellen auftritt (um die HLA-Klasse-I-restringierte T-Zellzytolyse zu verhindern), führt dies ebenfalls zur Aktivierung von NK-Zellen. Kompliziert wird das Verständnis der Funktion von KIR-Rezeptoren jedoch dadurch, dass manche dieser Rezeptoren auch stimulierende Signale an die Zelle übertragen können (Vilches u. Parham 2002). 22.6
Toleranz und das »Self-nonself«Paradigma
Es gibt kaum ein Kapitel der zellulären Immunologie, das seit Jahrzehnten den experimentellen und klinischen Immunologen so sehr beschäftigt wie dieses: Toleranz gegen körpereigene Antigene (Selbst) und ihr Gegenteil, die Autoimmunität. Sowohl Patienten mit Autoimmunerkrankungen als auch organ- oder stammzelltransplantierte Patienten könnten vom Konzept einer antigenspezifischen Immunsuppression enorm profitieren. Die ursprüngliche Entweder-oderDoktrin der klonalen Deletion, wonach alle T-Zellen, die während der Fetalzeit mit Autoantigen in Kontakt kommen, eliminiert werden, wird dank verfeinerter biochemischer und gentechnologischer Methoden heute differenzierter betrachtet (Allen 1994). Inzwischen ist klar, dass immunologische Toleranz durch unterschiedliche Mechanismen erreicht und unterhalten werden kann. 22.6.1 Thymus-induzierte Toleranz Wie bereits skizziert, hängt die Entwicklung der T-Zelle von der Affinität des T-Zellrezeptors zum HLA/Peptid-Komplex ab. T-Zellen mit sehr geringer Rezeptoraffinität können sich während der Reifung im Thymus nicht entwickeln (»death by neglect«). Eine zu hohe T-Zellrezeptoraffinität zu Peptiden aus normalen eigenen Proteinen im Kontext von eigenem HLA führt ebenfalls zur negativen T-Zellselektion durch Apoptose, wogegen eine mittlere T-Zellrezeptoraffinität eine weitere Differenzierung unreifer Thymozyten erlaubt (positive Selektion). Diese Prozesse sind für die Unterscheidung zwischen »selbst« und »nicht-selbst« fundamental, da T-Zellen mit hoher Affinität zu Autoantigenen, also »gefährliche« autoreaktive T-Zellen, während der negativen Selektion eliminiert werden. Aus dem Konzept geht aber auch hervor, dass positiv selektionierte T-Zellen (neben einer möglichen hohen Affinität für »körperfremd«) auch eine gewisse Affinität für Autoantigene haben. Tatsächlich besteht ein beträchtlicher Teil des Repertoires auch aus solchen potenziell autoreaktiven Zellen, wobei die permanente Stimulation durch Selbstantigene sowohl für die Persistenz der Zellen, als auch für immunregulatorische Funktionen wichtig ist (Goldrath u. Bevan 1999; Leng u. Bentwich 2002). Die ektope Expression thymusfremder körpereigener Antigene in Zellen des medullären Thymusepithels scheint für die Toleranzentwicklung gegen diese Antigene von größter Bedeutung zu sein, wie das autosomal-rezessive Krankheitsbild des autoimmunen Polyendokrinopathie-Syndroms zeigt, das durch Mutationen im Transkriptionsfaktor AIRE verursacht wird (Nagamine et al. 1997; Anderson et al. 2002).
Da aber nicht jedes Autoantigen im Thymus exprimiert wird, ist es vorstellbar, dass T-Zellen mit hoher Affinität zu solchen Autoantigenen der negativen Selektion entgehen. Daher sind weitere Schutzmechanismen erforderlich, die unter dem Begriff »periphere T-Zelltoleranz« stehen, und Suppressor- bzw. regulatorische Zellen, antigenspezifische Deletion und Inhibition umfassen. 22.6.2 Periphere Toleranz durch Suppressorzellen
bzw. regulatorische T-Zellen Suppressorzellen wurden schon Ende der 60er-Jahre postuliert, verschwanden aber in den 80er- und frühen 90er-Jahren aufgrund von widersprüchlichen Befunden und fehlenden Direktnachweisen aus dem Lexikon des Immunologen. Im Einklang mit dem heutigen Konzept der Thymus-induzierten Toleranz ( oben) sprechen neuere Daten wiederum für die Existenz solcher immunregulatorischer Zellen, wie sie jetzt genannt werden, mit dem Phänotyp CD4-positiv/CD25positiv. Werden z. B. SCID-Mäuse mit CD4+/CD25+-depletierten Milz- oder Thymuszellsuspensionen rekonstituiert, so entstehen multiple Autoimmunphänomene. Überdies können gereinigte CD4-ositive/CD25-posotove Zellen durch Überstimulation mit IL-2 oder anti-CD28 in hochpathogene autoreaktive Zellpopulationen transformiert werden (Sakaguchi 2000). In einem anderen experimentellen System wurden immunregulatorische T-Zellen (die für Ovalbumin spezifisch waren) bereits kloniert. Sie produzieren das immunsuppressiv wirksame Zytokin IL-10 und blockieren eine experimentell induzierte Kolitis in SCID-Mäusen, aber nur dann, wenn deren Trinkwasser Ovalbumin enthielt (Groux et al. 1997). Im Tierexperiment konnten regulatorische T-Zellen schließlich auch eine GVHD unterdrücken (Cohen et al. 2002). Regulatorische Zellen mit immunsuppressiver Wirkung werden auch im Rahmen von Infektionen stimuliert, vielleicht, um immunpathogene Konsequenzen der Infektion zu verhindern bzw. abzumildern. Es wird spekuliert, dass eine unzureichende mikrobielle Stimulation über diesen Mechanismus möglicherweise mit ein Grund ist für die erhöhte Inzidenz von Autoimmunerkrankungen und Allergien in Ländern mit hohen Hygienestandards (Bach 2002). 22.6.3 Periphere Toleranz durch Deletion Als Beispiel für die Wirkung einer ganzen Familie von Apoptose induzierenden Molekülen steht die Interaktion von Fas (CD95) mit seinem Liganden (FasL, CD178). Aktivierte T-Zellen exprimieren sowohl Fas als auch FasL. Deren Interaktion hilft vermutlich mit, die antigeninduzierte klonale Expansion am Ende einer Immunantwort zu begrenzen. Die Bedeutung dieses Systems ist daran ersichtlich, dass Patienten mit FasMutationen ein lymphoproliferatives Syndrom, assoziiert mit Autoimmunphänomenen entwickeln (Fisher et al. 1995). FasL wird auch in der vorderen Augenkammer exprimiert, was für den Visus fatale entzündliche Infiltrationen verhindert (Griffith et al. 1995).
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Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
22.6.4 Periphere Toleranz durch Inhibition
I Ein Beispiel für die Inhibition einer T-Zellaktivierung durch Membranmoleküle ist CD152 (CTLA-4), das durch seine hohe Affinität zu B7–1 und B7–2 (CD80 und CD86) die kostimulatorische Interaktion CD28/B7 und somit die Immunantwort hemmt. Bei der Beendigung von physiologischen Immunantworten scheint CTLA-4 eine wichtige Rolle zu spielen, aber auch bei der Inhibition von pathogenen Immunreaktionen. Die unkontrollierte T-Zellproliferation bei CTLA-4-Knockout-Mäusen ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür (Waterhouse et al. 1995).
Der enorme Kenntniszuwachs hinsichtlich der Physiologie des Immunsystems während der letzten 20 Jahre hat die reduktionistische Betrachtungsweise »selbst« versus »fremd« und »Helfer« versus »Suppressor« in ein weit komplexeres Bild verwandelt. Ein und derselbe T-Zellklon kann ein ganzes Spektrum an Liganden verschiedener Affinität erkennen. Aber nur hochaffine Peptide führen zu maximaler Proliferation und zur Produktion von IL-2, dem wichtigsten T-Zellwachstumsfaktor. Eine viel größere Anzahl an Peptiden mit niedrigerer Affinität kann antagonistisch wirken, u. a. durch Induktion regulatorischer T-Zellen. Da somit periphere Toleranzmechanismen, wie auch bereits die T-Zellgenerierung im Thymus, von Aktivierungsvorgängen in Lymphozyten abhängen, wird es klar, warum antigenunabhängige Immunsuppressiva, die teils relativ unspezifisch Signaltransduktion, Zytokinsynthese und Zellwachstum hemmen, komplexe Wirkungen in vivo entfalten können (Jenkins et al. 1988; Jones et al. 1989). Vielleicht liegen in der antigenspezifischen Manipulation regulatorischer Zellen neue Therapieansätze für Autoimmunität und Transplantatabstoßung.
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22
I
Die Milz und ihre Erkrankungen G. Gaedicke, W. Barthlen
23.1 23.2
Anatomie und Physiologie – 246 Primäre Erkrankungen der Milz – 246
23.2.1 23.2.2 23.2.3
Ivemark-Syndrom (kongenitale Asplenie) – 246 Polyspleniesyndrom – 247 Fehlbildungen und gutartige Tumoren – 247
23.3
Sekundäre Erkrankungen der Milz – 248
23.3.1
Splenomegalie – 248
23.4
Die Splenektomie und ihre Folgen – 248
23.4.1 23.4.2 23.4.3 23.4.4
Chirurgische Indikationen – 248 Pädiatrische Indikationen – 249 Operative Techniken – 249 Folgen der Splenektomie – 250
Literatur
– 251
Der 8-jährige Junge war mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich die Lenkstange in die linke Flanke gestoßen. Bei der Aufnahme in der Klinik klagt er über Schmerzen unter dem linken Rippenbogen, besonders beim Einatmen. Blutdruck und Puls sind stabil, der Hb beträgt 13,8 g/dl. Eine Hämaturie besteht nicht. In der Sonographie zeigt sich ein großes, subkapsulär gelegenes Hämatom in der Milz ( Abb. 23.2) sowie wenig freie Flüssigkeit im Douglas-Raum. Der Junge wird auf die Kinderintensivstation aufgenommen. Die Vitalparameter werden mit dem Monitor überwacht. Alle 6 h erfolgt eine Ultraschallkontrolle. Es zeigt sich ein konstantes Bild ohne Größenzunahme des Hämatoms. Nach einer Woche stationärem Aufenthalt stellt sich das Milzhämatom regredient dar mit beginnender Organisation, worauf der Junge entlassen wird. Noch vor 3 Jahrzehnten, vor der Ära der weiten Verbreitung des Ultraschalls, wäre dieser Junge unverzüglich laparotomiert und wahrscheinlich splenektomiert worden.
23.1
Anatomie und Physiologie
Der einzigartige Aufbau der Milz (⊡ Abb. 23.1) gewährleistet ihre beiden Hauptfunktionen, die in der Zerstörung und der Beseitigung von gealterten Blutzellen einerseits und der Abwehrfunktion andererseits bestehen. Sie besitzt 10% der Zellen des retikulohistiozytären Systems (RHS) und ist gleichzeitig die größte Ansammlung von lymphatischem Gewebe in einem Organ. Insofern ist nirgendwo sonst im Organismus der Kontakt zwischen gefilterten, phagozytierten und prozessierten und schließlich präsentierten antigenen Material (Veeraswamy 2003) und den lymphatischen Zellen so eng wie hier. 3% des Herzzeitvolumens fließen durch die Milz.
Die Blutsinus der Milz sind ein Reusensystem, durch das die Erythrozyten hindurch müssen. Durch die Hypoxie und die mechanische Belastung werden Stoffwechsel und Membran der Blutzellen gleichermaßen stark beansprucht, so dass gealterte Zellen die Passage nicht überstehen. Sie werden von den Endothelzellen der Sinus phagozytiert. Auf dem Weg durch die Milz werden aus den jungen Erythrozyten HowellJolly-Körperchen, Siderinkorpuskel, Heinz-Innenkörper »herausgemolken«, ohne dass die Zellen dabei zerstört würden. Weil diese Kontrollfunktion nach Splenektomie wegfällt, findet man bei asplenischen Patienten vermehrt morphologisch auffällige und gealterte Erythrozyten im Blutausstrich. In der weißen Pulpa findet der Austausch zwischen Blutund Milzlymphozyten statt. Gerade in der Abwehr bakterieller Infektionen (besonders solcher mit Polysaccharidkapsel) spielt die Milz im Kindesalter eine bedeutende Rolle. Neben den B-Lymphozyten befinden sich etwa 30% der T-Zellen in der Milz, die in einem ständigen Austausch mit den Blutlymphozyten stehen. Auch die topographisch enge Beziehung zwischen den phagozytierenden Zellen und den das Antigen präsentierenden Zellen ist funktionell von ausschlaggebender Bedeutung (Robson 2003). In der roten Milzpulpa werden die Bakterien bevorzugt phagozytiert, in den Keimzentren der weißen Pulpa findet die Antigenpräsentation und die Proliferation der lymphatischen Zellen statt. Die hohe Effizienz liegt in dem intensiven Austausch zwischen RHS, Blut und Blutlymphozyten begründet. In der Milz werden spezifische und unspezifische Opsonine gebildet. Die spezifischen Opsonine sind die Immunglobuline, die von den ortsansässigen B-Zellen bzw. Plasmazellen synthetisiert werden. Die unspezifischen sind Leukokinine und das Tuftsin-Peptid, die die Phagozytose von Bakterien durch Granulozyten stimulieren. Beide Faktoren fehlen nach Splenektomie (Trevisani 2002). Kapselbakterien, wie Pneumokokken, Meningokokken, Haemophilus influenzae, sind durch das Immunsystem besonders schwer zu beseitigen. Sie können nur effektiv entfernt werden, wenn gleichzeitig Antikörper und andere Opsonine vorhanden sind. Asplenische oder splenektomierte Patienten sind besonders durch diese Bakterien gefährdet, weil zum einen die Clearing-Funktion der Milz wegfällt und zum anderen ein wichtiger Syntheseort für spezifische Antikörper und unspezifische Opsonine (Tuftsin-Peptid) fehlt. 23.2
Primäre Erkrankungen der Milz
23.2.1 Ivemark-Syndrom (kongenitale Asplenie) Klinische Befunde. Beim Ivemark-Syndrom handelt sich um
ein seltenes Syndrom, bei dem das angeborene Fehlen der
247 23 · Die Milz und ihre Erkrankungen
⊡ Abb. 23.1. Schema des Aufbaus der Milz mit einem histologischen Schnitt einer menschlichen Milz. Die weiße Pulpa ist gegenüber der roten Pulpa abgrenzbar. 1 Kapsel, 2 Trabekel, 3 Keimzentrum,
4 rote Pulpa HE, 60-fache Vergrößerung (aus Benninghoff u. Drenckhahn 2002)
Milz mit anderen Fehlbildungen auftritt. Meistens sind dies komplexe Herzfehler ohne und mit spiegelbildlicher Dextrokardie und gastrointestinalen Fehlbildungen mit Situs inversus und Duodenalatresie. Die Symptome des zyanotischen Herzfehlers stehen klinisch im Vordergrund. 80% der Fälle betreffen Anomalien des pulmonalvenösen Rückflusses, eine Transposition der großen Arterien, einen Truncus arteriosus communis oder einen singulären Ventrikel (Nanan 2002).
23.2.2 Polyspleniesyndrom
Diagnose. Die Diagnostik bezieht sich auf das Vitium cordis
23.2.3 Fehlbildungen und gutartige Tumoren
und die Lageanomalien bzw. Fehlbildungen der Abdominalorgane. Die Asplenie muss durch Sonographie des Abdomens und durch andere bildgebende Verfahren abgesichert werden. Symptomatisch sind die Blutbildveränderungen mit Howell-Jolly-Körperchen und Siderozyten. Prognose. Die Prognose des Krankheitsbildes ist schlecht. Die meisten Patienten sterben an den nicht operablen Vitien oder im Rahmen einer Sepsis. Genetik. Familiäre Häufungen des Syndroms kommen vor. Ein Defekt im Lateralitäts-bestimmenden Gen (Hedgehock) wird vermutet (Noack 2002).
Dieses Syndrom wird heute im Zusammenhang mit dem Ivemark-Syndrom gesehen, weil ebenfalls kardiale und gastrointestinale Fehlbildungen und ein Situs inversus assoziiert sind. Das Milzgewebe ist meistens symmetrisch in einem linken und rechten Teilorgan angelegt; außerdem finden sich multiple Nebenmilzen.
Primäre Milzerkrankungen können, müssen aber nicht mit einer Vergrößerung des Organs einhergehen. Gutartige Tumoren sind sehr selten. Milzzysten sind manchmal angeboren. Dermoidzysten kommen gleichfalls vor. Sehr selten sind Hämangiome oder Lymphangiome der Milz (Lee 2002). Die Milz kann aufgrund des Fehlens der ligamentären Aufhängung mehr oder weniger frei beweglich sein. Die so genannte Wandermilz (Lien mobilis) kann durch Torsion des Milzhilus zum Milzinfarkt führen. Diese seltene Fehlbildung fällt durch ein akutes Abdomen auf (Melikogly 1995). Viel häufiger ist die Milz als zentrales immunologisches Organ sekundär im Rahmen von Infektionskrankheiten, angeborenen Stoffwechselkrankheiten, hämatologischen und immunologischen Erkrankungen und bei Malignomen sekundär beteiligt.
23
248
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
23.3
I
Sekundäre Erkrankungen der Milz
23.3.1 Splenomegalie Für den Kliniker ist der Begriff Splenomegalie gleichbedeutend mit der tastbar vergrößerten Milz. Da die Größenangaben subjektiv sind, wird man die Ultraschalluntersuchung zu Hilfe nehmen. Definition Von einer Splenomegalie spricht man übereinkunftsgemäß, wenn in der Abdomensonographie der untere Milzpol mehr als die Hälfte der linken Niere überragt. Darüber hinaus gibt es für die sonographischen Abmessungen Normwerte (Soyupak 2002).
Eine tastbar vergrößerte Milz ist ein häufiges Symptom bei unterschiedlichsten Erkrankungen. Die einzelnen Ursachengruppen und die wichtigsten Krankheitsbilder sind in ⊡ Tabelle 23.1 zusammengestellt. Nach den Ursachen kann man Infektionskrankheiten, angeborene Stoffwechselkrankheiten, hämatologische und onkologische sowie Krankheiten aus dem rheumatischen Formenkreis unterscheiden. Auch die Größe der Milz kann hilfreich für die Differenzialdiagnose sein. Leichte Splenomegalien findet man bei infektiöser Mononukleose oder im Beginn von Protozoenerkrankungen. Im Verlauf kann der Milztumor erheblich zunehmen. Extreme Milzvergrößerungen werden bei Speicherkrankheiten beobachtet. 23.4
Die Splenektomie und ihre Folgen
Durch die Beobachtung, dass nach operativer Entfernung der Milz lebensbedrohliche bakterielle Infektionen auftreten können (so genanntes OPSI-Syndrom, »overwhelming post-
splenectomy infection«), ist die Indikation strenger geworden (Bisharat 2001). 23.4.1 Chirurgische Indikationen Milzruptur. Die Behandlung der traumatischen Milzruptur ist heute unbestritten eine Domäne der konservativen Therapie unter Intensivstationsbedingungen. Die Laparotomierate beträgt heute bei Organläsionen der Stadien I–IV unter 2% (Stylianos 2002). Regelmäßige Ultraschallkontrollen gestatten die Beurteilung der Organläsion im Verlauf (⊡ Abb. 23.2). Eine operative Therapie ist heute nur bei vital bedrohlicher Kreislaufinstabilität trotz adäquater Volumentherapie mit einem Transfusionsbedarf von mehr als 40 ml Blut/kg KG indiziert (Stylianos 2002). Es muss unbedingt versucht werden, organerhaltend die Blutung zu stillen. Zum Einsatz kommen Ultraschallmesser, Fibrinklebung und Kollagenvlies. Gleiches gilt für pathologische Milzrupturen, z. B. bei hämatologischer Grunderkrankung. Bei ausgedehnten Milzverletzungen treten in 26–34% der Fälle Absiedelungen von Milzgewebe im Abdomen auf (Livingston 1983). Diese posttraumatische Splenose lässt sich szintigraphisch nachweisen. Das heterotope Milzgewebe übernimmt zwar einen Teil der Milzfunktion, trotzdem besteht immer ein funktioneller Hyposplenismus, dem entsprechend Rechnung getragen werden muss. Portale Hypertonie. Bei einer extrahepatischen portalen
Hypertension bestärkt die durch den Hypersplenismus induzierte Thrombozytopenie noch die Gefahr einer Ösophagusvarizenblutung. Wenn endoskopische Therapieverfahren, wie Varizenunterspritzung oder -banding, ausgereizt sind, kann ein portosystemischer Shunt erwogen werden. Zu unterscheiden sind chirurgisch angelegte splenorenale oder mesenteriko-linksportale Anastomosen von den radiologisch-interventionell hergestellten transjugulären intra-
⊡ Tabelle 23.1. Häufige Ursachen einer Splenomegalie bei Kindern
Pathomechanismus Blutzirkulationsstau
Leberzirrhose oder -fibrose, Portalvenenobstruktion oder -verschluss, Pfortaderkavernom, Rechtsherzinsuffizienz
Hämatologische Erkrankungen
Angeborene/erworbene hämolytische Anämien
Hämolyse
Thalassämie (verschiedene Formen)
Extramedulläre Blutbildung
Osteopetrose
Neoplastische Prozesse
Leukämie, hochmaligne Non-Hodgkin-Lymphome, Morbus Hodgkin
Gutartige Tumoren
Histiozytosis X, hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH), Metastasen, Hämangiome, Hamartome
Stoffwechselkrankheiten Lipidosen
Niemann-Pick-Krankheit, Morbus Gaucher
Mukopolysaccharidosen
Infiltration von Histiozyten
Infektionen Bakteriell
Typhus abdominalis, Endokarditis, Sepsis, Milzabszess
Viral
Epstein-Barr-Infektion (infektiöse Mononukleose), CMV-Infektion
Protozoen
Malaria, Toxoplasmose, Leishmaniasis (Kala Azar)
Autoimmunerkrankungen
Lupus erythematodes, Morbus Still, juvenile rheumatoide Arthritis (JRA)
249 23 · Die Milz und ihre Erkrankungen
globulinen ausgereizt ist, kann von einer Splenektomie bei 70–90% der Kinder zumindest ein kurzfristiger Erfolg erwartet werden (Tarantino 2000). Langzeituntersuchungen (5–16 Jahre nach Splenektomie) zeigen jedoch einen vollständigen Rückgang der Symptomatik in nur 45% (El-Alfy 2003; Kap. 35). Sichelzellanämie. Die Splenektomie kann eine akute
⊡ Abb. 23.2. Ultraschallbild einer Milzruptur: ausgedehnte Parenchymblutung bei noch stehender Milzkapsel
hepatischen portosystemischen Shunts (TIPS) (Heyman 1997). Der gravierende Nachteil aller portosystemischen Shunts ist aber eine reduzierte Perfusion der Leber. Ein aufwendiges Verfahren, das dieses Problem elegant umgeht, ist die TriplexOperation (Tingze 2002): Durch die venöse Devaskularisation der portalen V. azygos wird der Füllungsdruck der Ösophagusvarizen vermindert. Die Ligatur der A. lienalis senkt den Druck in der Pfortader und schließlich wird durch Verlagerung der Milz über eine Zwerchfellinzision in die linke Pleurahöhle ein portopulmonaler Shunt geschaffen: Die Milzkapsel wird inzidiert und auf die aufgeraute Pleura visceralis des linken Lungenunterlappens aufgenäht. Hier entstehen spontane portopulmonale Shunts, die nicht so thromboseanfällig sind wie chirurgische Gefäßanastomosen. Milzzysten. Alkoholinjektionen in angeborene Milzzysten sind wenig erfolgversprechend. Die Therapie von symptomatischen epidermoiden Milzzysten erfolgt heute durch die laparoskopische Dekapsulierung mit Teilentfernung der Zystenwand (Pampaloni 2002). Auch posttraumatische Milzzysten können so behandelt werden. Echinokokkuszysten der Milz erfordern in der Regel die Splenektomie.
Sequestrationskrise verhindern. Eine partielle Milzresektion verringert die Inzidenz unter Erhalt der Immunkompetenz. Kontrollierte klinische Studien, die eine Verbesserung der Überlebensrate oder eine Verringerung der Morbidität durch die Splenektomie beweisen, fehlen jedoch (Owusu-Ofori 2002). Es empfiehlt sich, bei der Operation auch gleich die Cholezystektomie durchzuführen ( Kap. 15). Sphärozytose. Profile der Verformbarkeit von Erythrozyten
zeigen einen positiven Effekt der Splenektomie auf die Überlebenszeit, v. a.von Spektrin-/Ankyrin-defizienten Erythrozyten (Reliene 2002; Kap. 9). β-Thalassämie. Eine Splenektomie reduziert den Transfusions-
bedarf. Eine partielle Milzresektion zeigt nur temporäre Effekte und wird v. a.bei Kindern unter 5 Jahren empfohlen (Al-Salem 2002; Kap. 14). Juvenile myelomonzytäre Leukämie (JMML). Die Wertigkeit
der Splenektomie als zytoreduktive Therapie vor einer allogenen Stammzelltransplantation ist unklar (Niemeyer 2003; Kap. 61). Osteomyelofibrose und Polycythaemia vera. Nur bei symptomatischer Splenomegalie ist hier die Splenektomie indiziert (Mesa 2002; Kap. 62). Morbus Hodgkin. Bei Morbus Hodgkin ist die Staging-Lapa-
rotomie (Rueffer 2003) im Kindesalter nicht mehr, bei Erwachsenen allenfalls in Studien indiziert ( Kap. 64). 23.4.3 Operative Techniken
Milzabszess. Ein Milzabszess kann u. a. als seltene Komplika-
Laparoskopische Splenektomie. Die Entfernung der Milz
tion einer hämatologischen Grunderkrankung entstehen. Erst nach Versagen der antibiotischen Therapie wird man sich zur perkutanen oder chirurgischen Drainage entschließen (Al-Hawsawi 2002).
über einen minimal-invasiven Zugang ist heute der Goldstandard (Rescorla 2002). Diese anspruchvolle Technik erforderte zwar anfänglich deutlich längere Operationszeiten, jedoch überwiegen heute nach Durchschreiten der Lernkurve und Verbesserungen der instrumentellen Ausstattung (Ultraschallmesser, Bergebeutel, Retraktor) die Vorteile: kleinere und kosmetisch günstigere Narben, weniger Analgetika, kürzerer Krankenhausaufenthalt (Reddy 2001).
23.4.2 Pädiatrische Indikationen Speicherkrankheiten. Morbus Gaucher, Morbus Wilson, idiopathische Hämochromatose, Mukopolysaccharidosen führen zur Splenomegalie und bergen bei extremer Größe die Gefahr der Ruptur. Der Hypersplenismus steigert die Blutungsgefährdung und die Gefahr von Infektionen ( Kap. 31). Idiopathische thrombozytopenische Purpura. Wenn die konservative Therapie mit Kortikosteroiden und Immuno-
Partielle Milzresektion. Um das Risiko septischer Komplika-
tionen nach Splenektomie zu umgehen, kann bei Kindern mit Hämoglobinopathien nur eine partielle Milzresektion erfolgen (Idowu 1998). Dabei bleibt die Filterfunktion der Milz und ihre Bedeutung für die Immunantwort erhalten. Auch diese Operation kann laparoskopisch ausgeführt werden. Es wird jedoch über Rezidive des Hypersplenismus
23
250
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
durch Hypertrophie des verbleibenden Milzanteils berichtet (Rice 2003). Embolisation. Eine weitere Therapieoption des nicht zu weit fortgeschrittenen Hypersplenismus ist die operative oder radiologisch-interventionelle Embolisation der Milzarterie. Jedoch ist der Eingriff nicht in allen Fällen erfolgreich und muss ggf. mehrfach wiederholt werden. Auch ist die Zahl der so behandelten Patienten noch zu klein und die Nachbeobachtungszeit zu kurz (Petersons 2002), um das Verfahren abschließend zu beurteilen. Autotransplantation. Über positive Effekte einer Autotrans-
plantation von Milzgewebe nach Splenektomie auf die Immunantwort von Kindern mit β-Thalassämie wird berichtet (Dessouky 2003). Das in das große Netz implantierte Milzgewebe entwickelt die makro- und mikroskopische Architektur der Milz, und im Rattenmodell konnte eine signifikante Antikörperantwort auf eine polyvalente Pneumokokkenvakzine nachgewiesen werden (Leemans 1999). Ob die Autotransplantation aber tatsächlich einen protektiven Effekt gegen septische Komplikationen bei splenektomierten Kindern besitzt, ist nicht bewiesen. Es muss davon ausgegangen werden, dass weiterhin eine eingeschränkte Milzfunktion, also ein Hyposplenismus besteht. Damit sind auch nach Autotransplantation Prophylaxemaßnahmen ( unten) erforderlich. 23.4.4 Folgen der Splenektomie Die operative Entfernung der Milz hat für den kindlichen Organismus kurz- und langfristige Folgen. Die Operationsmortalität muss zur Indikation ins Verhältnis gesetzt werden. Bei selektiver Splenektomie wird sie mit unter 1% (Patel 2003) angegeben. Kurzfristige Folgen Wundheilungsstörungen. Wegen der Infektionsanfälligkeit
ist nach Splenektomie vermehrt mit Wundheilungsstörungen und Wunddehiszenzen zu rechnen. Infektiöse Komplikationen. Subphrenische Abszesse sind nach Splenektomie häufiger als bei allen anderen Abdominaleingriffen. Sie können verantwortlich sein für eine postoperative Sepsis, so dass man bei dieser Komplikation immer einen Abszess ausschließen muss. Auch postoperative Pneumonien sind keine Seltenheit. Weißes Blutbild. Nach einer Splenektomie gibt es eine neu-
trophile Leukozytose, die von einer neutrozytopenischen Phase 2–3 Wochen nach der Operation abgelöst wird. Die Neutrozytopenie verschwindet erst nach Monaten. Umgekehrtes gilt für die Lymphozyten. Nach einer anfänglichen Phase der Lymphozytopenie kommt eine Lymphozytose, die nicht selten dauerhaft bestehen bleibt. Auch eine Vermehrung von Monozyten wird beobachtet. Die Ursache dürfte multifaktoriell sein (Djaldetti 2003). Thrombozyten. Eine Thrombozytose tritt, mit Ausnahme bei der Immunthrombozytopenie, fast immer auf. Eine Regel für
die Dauer und die Höhe der Thrombozytose gibt es nicht. Die Werte steigen häufig auf über 1000×109/l und darüber an. Bei vorangehendem Hypersplenismus ist mit besonders hohen Werten zu rechnen ( Kap. 36). Thromboembolische Komplikationen. Die Portalvenenthrombose ist eine seltene Komplikation der Splenektomie, vor allen Dingen bei hämatologischen Erkrankungen und besonders bei myeloproliferativen Syndromen. Die Portalvenenthrombose nach Splenektomie kann symptomatisch oder asymptomatisch sein und von einer Woche bis nach drei Jahren auftreten. Sie ist allerdings im Kindesalter deutlich seltener als bei Erwachsenen (Fujita et al. 2003). Auch hat man in der pädiatrischen Altersgruppe keine Assoziation herstellen können zwischen dem Auftreten der Portalvenenthrombose und vererbbaren Thrombophilien. Insgesamt scheinen diese für die Pathogenese der Portalvenenthrombose weniger bedeutsam zu sein als für das Auftreten anderer peripherer Thrombosen. Die erwähnte Thrombozytose von 600– 1000×109/l kann mit einer erhöhten Inzidenz von Beinvenenthrombosen in Zusammenhang gebracht werden. Eine weit verbreitete, aber nicht evidenzbasierte Empfehlung besteht darin, die Patienten mit niedrigdosierter Acetylsalicylsäure zur Thrombozytenaggregationshemmung zu behandeln.
Langfristige Folgen Das Vorhandensein von Howell-Jolly-Körperchen ist ein sicherer Hinweis auf die fehlende Milzfunktion bzw. das Milzgewebe. Zum Nachweis der so genannten »pitted erythrocytes« sowie der vakuolisierten Erythrozyten benötigt man ein Interferenzmikroskop. Normalerweise findet man etwa 1% der Erythrozyten mit solchen morphologischen Auffälligkeiten. Nach Splenektomie sind es 20% und mehr. Die Heinz-Innenkörper und Siderinkorpuskel sind ebenfalls typisch für asplenische Patienten. Die Milz »melkt« diese Partikel normalerweise aus den Erythrozyten aus. Das Gleichgewicht zwischen dem zirkulierenden und randständigen Pool der Leukozyten ist nach der Splenektomie langfristig gestört. Splenektomierte Patienten haben einen kleineren Pool randständiger Granulozyten. Trotz einer relativen Lymphozytose, die v. a. die B-Zellen betrifft, ist eine signifikante Erniedrigung von IgM für splenektomierte Patienten charakteristisch, während IgG und IgA erhöht sein können. Das Tuftsin-Peptid und Properdin als Opsonine der unspezifischen Abwehr werden nicht mehr synthetisiert. Nach Splenektomie resultiert also eine deutliche Schwächung der Immunantwort (Miniello 2002). Postsplenektomieinfektionen Gefürchtet sind schwere Allgemeininfektionen, die unter dem Bild einer foudroyant verlaufenden Sepsis mit und ohne Meningitis verlaufen können. Das Krankheitsbild wird im angloamerikanischen Schrifttum als »overwhelming postsplenectomy infection« (OPSI) bezeichnet. Die Morbiditätsrate wird mit 3–5% angegeben. Legt man eine Sterblichkeit von 40–50% zugrunde, so liegt die Mortalitätsrate zwischen 1,5 und 2,5% (Bisharat 2001). Es besteht ferner eine deutliche Altersabhängigkeit. Besonders hoch ist die Rate an OPSI nach Splenektomie im 1. Lebensjahr, deutlich erhöht auch noch, wenn dieser Eingriff zwischen 1 und 6 Jahren durchgeführt wird. Jedoch kann OPSI auch noch in jedem Lebensalter, nach
251 23 · Die Milz und ihre Erkrankungen
Jahren der völligen Besch werdefreiheit, auftreten. Auch spielt die Grundkrankheit eine Rolle, wegen der die Splenektomie durchgeführt wurde. Patienten mit Immundefizienz, z. B. Wiskott-Aldrich-Syndrom, Morbus Hodgkin und chronische myeloischer Leukämie, sind einem viel höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt. Das Gleiche gilt auch für Patienten, die wegen einer Thalassämie, Sichelzellanämie oder einer Stoffwechselkrankheit splenektomiert wurden. Klinik und Diagnose. Die Krankheit beginnt plötzlich mit Allgemeinsymptomen, wie Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, hohem Fieber, Kopfschmerzen und/oder Erbrechen. Innerhalb weniger Stunden entwickelt sich das Vollbild eines septischen Schocks und immer liegt eine disseminierte intravasale Gerinnung vor. Deshalb werden neben der Thrombozytenzahl und dem Fibrinogenspiegel immer die Fibrinogenspaltprodukte mitbestimmt. Blutkulturen und eine Lumbalpunktion sind erforderlich. Im Vordergrund stehen die Schocktherapie und Bekämpfung der disseminierten intravasalen Gerinnung. Aufgrund des nicht bekannten Keims wird man die antibiotische Therapie wie bei Sepsis mit unbekanntem Erreger einleiten und ggf. nach Erhalt eines Keims aus der Blutkultur gezielt behandeln.
Möglichkeiten, Morbidität und Mortalität der Postsplenektomieinfektion zu senken: Sehr strenge Indikationsstellung zur Splenektomie im Kindesalter Wenn möglich, milzerhaltende Operation oder wenigstens Transplantation von autologem Milzgewebe Infektionsprophylaxe mit Antibiotika Schutzimpfungen durch polyvalente Pneumokokkenvakzine, Vakzine gegen Meningokokken A und C und gegen Haemophilus influenzae Typ B
Die Patienten und ihre Angehörigen müssen mündlich und schriftlich darüber informiert werden, dass das Risiko einer OPSI lebenslang besteht. Sie müssen aufgeklärt sein über die Symptomatik dieser schweren Komplikation und darauf hingewiesen werden, bei hochfieberhaften Infekten frühzeitig einen Arzt zu konsultieren. Außerdem erhalten alle Patienten nach Splenektomie einen Notfallausweis. Die Splenektomie im Kindesalter sollte nach Möglichkeit verhindert werden. Indikationen, die sich manchmal bei hämatologischen und Stoffwechselerkrankungen ergeben können, müssen streng gestellt werden. Die traumatischen Milzrupturen sollten heute möglichst konservativ behandelt werden. Bei notwendigen Teilresektionen des Organs muss dem Hyposplenismus durch entsprechende Prophylaxemaßnahmen Rechnung getragen werden. Penizillinprophylaxe. Die Prophylaxe mit oralem Penizillin V sollte bei Kindern über 5 Jahren für mindestens 2 Jahre nach der Splenektomie gegeben werden. Wurde das Kind im Kleinkindesalter (<5 Jahren) splenektomiert, ist Penizillin bis zum vollendeten 6. Lebensjahr zu verabreichen. Für Risikopatienten, d. h. mit vorbestehenden Immundefekten, sollte die Prophylaxe bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt werden
(Davidson 2001). Bei Patienten mit Sichelzellanämie reduziert Penizillin das Risiko, an einer Pneumokokkensepsis zu erkranken. Manche Autoren empfehlen auch ein nach dem Risiko und dem Lebensalter abgestuftes Therapieschema: Bei Splenektomie vor dem 6. Lebensjahr ist eine Dauer von 6 Jahren, zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr eine Dauer von 4 Jahren vorgesehen, danach sind 2 Jahre ausreichend. Das Hauptproblem bei solchen Langzeittherapien liegt in der mangelhaften Compliance (Waghorn 2001). Aktive Schutzimpfungen. Die polyvalente Pneumokokken-
vakzine (Finn 2002) leistet den größten Schutz, wenn sie alle 5 Jahre wiederholt wird. Im Kleinkindesalter ist die Antwort auf Polysaccharidimpfstoffe schlecht; daher wird man in dieser Lebensperiode auf den Konjugatimpfstoff zurückgreifen. Wichtig ist, dass auch gegen andere Kapselbakterien geimpft wird: Dieses gilt besonders für Haemophilus influenzae der Gruppe B und der Meningokokken-Gruppe A und C. Gegen den Typ B ist derzeit kein Impfstoff verfügbar. Die Postsplenektomiesepsis ist sicher die schwerwiegendste Komplikation der Splenektomie. Weil die Erkrankung so gefährlich ist, kommt es darauf an, alle Beteiligten sorgfältig aufzuklären und v. a. bei fieberhaften Erkrankungen diesen Patienten besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Verbesserung der pathophysiologischen und funktionell-anatomischen Zusammenhänge haben die Organfunktion der Milz in einen neuen Zusammenhang gestellt. So erkennt man besser, wann das Organ in seiner Funktion eingeschränkt ist (so genannter Hyposplenismus). Auch wird bei Verletzungen versucht, das Organ möglichst ganz oder teilweise zu erhalten. Auf diese Weise kann der Funktionsverlust meist ausgeglichen werden. Bei Asplenie oder Hyposplenie muss mit einer vermehrten Anfälligkeit gegenüber Infektionen durch kapselbildende Bakterien gerechnet werden. Diese Gefahr besteht lebenslang. Regelmäßige Impfungen mit polyvalenten Pneumokokkenvakzinen, aber auch gegen Haemophilus influenzae B und Meningokokken A und C sind angezeigt. Eine langfristige Penizillinprophylaxe erscheint hinsichtlich der Durchführbarkeit aufgrund der oft mangelnden Compliance hingegen eher fragwürdig. Grundsätzlich muss die Indikation zur Splenektomie sehr streng gestellt werden.
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253
Angeborene Immundefekte C. Klein
24.1 24.2
Einleitung – 253 T-Zelldefekte – 253
24.2.1 24.2.2
Schwere kombinierte Immundefekte Kombinierte Immundefekte – 255
24.1 – 253
24.3
B-Zelldefekte – 256
24.3.1
X-chromosomal vererbte Agammaglobulinämie (Morbus Bruton) – 256 Mutationen/Deletionen der Immunglobulingene – 257 Selektiver IgG-Subklassendefekt – 257 IgA-Defekt – 257 Variables Immundefektsyndrom – 257 Autosomal-rezessives Hyper-IgM-Syndrom – 257 Transiente Hypogammaglobulinämie des Kindesalters – 258
24.3.2 24.3.3 24.3.4 24.3.5 24.3.6 24.3.7
24.4
Defekte zytolytischer Effektorfunktionen und NK-Defekte – 258
24.4.1
X-chromosomal vererbtes lymphoproliferatives Syndrom (Purtilo-Syndrom) – 258 Chédiak-Higashi-Syndrom – 258 Griscelli-Syndrom – 259 Autoimmun-lymphoproliferatives Syndrom – 259
24.4.2 24.4.3 24.4.4
24.5
DNA-Instabilitätssyndrome mit Immundefekt – 259
24.5.1 24.5.2 24.5.3 24.5.4 24.5.5
Ataxia telangiectatica – 259 Nijmegen-Breakage-Syndrom – 260 DNA-Ligasedefekt – 260 Bloom-Syndrom – 260 ICF-Syndrom – 260
24.6
Komplexe Syndrome mit assoziiertem Immundefekt – 260
24.6.1 24.6.2
Wiskott-Aldrich-Syndrom – 260 DiGeorge-Syndrom – 261
24.7 24.8
Diagnostik – 262 Therapie – 263 Literatur – 264
Die klinische Betreuung von Patienten mit Immundefekterkrankungen erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, in der pädiatrische Hämatologen und Onkologen eine zentrale Rolle spielen. Auch wenn vielfach infektiologische Probleme im Vordergrund stehen, ist die hämatologische Perspektive aus verschiedenen Gründen wichtig: Das Spektrum der klinischen Manifestation – von immunvermittelter Zytopenie bis zur “Graft-versus-host”-Erkrankung – berührt die hämatologische Expertise, die Diagnostik ruht auf der zellulären und molekularen Analyse von hämatopoetischen Zellen, und nicht zuletzt sind viele Immundefekterkrankungen nur durch eine hämatopoetische Stammzelltherapie zu heilen.
Einleitung
Seit der ersten Beschreibung der lymphozytären Immundefekte in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts (Bruton 1952; Glanzmann u. Riniker 1950) wurden mehr als 95 kongenitale Erkrankungen des Immunsystems definiert (IUIS 1999). Die molekulare Charakterisierung dieser Erkrankungen ist Ausdruck einer erfolgreichen interdisziplinären Zusammenarbeit von Klinikern, Immunologen und Molekularbiologen (Buckley 2000; Fischer 2001). Die sich aus diesen Kooperationen ergebenden Erkenntnisse haben nicht nur das Wissen um die Funktion des Immunsystems bereichert, sondern auch exakte genetische Diagnoseverfahren ermöglicht und in ersten Ansätzen das Fundament für die Entwicklung spezifischer molekularer Therapien gelegt. Die primären Immundefekte können in T-Zelldefekte, B-Zelldefekte, Defekte der natürlichen Killerzellen (NKZellen), Granulozytendefekte und Defekte des Komplementsystems sowie Immundefekte in Assoziation mit komplexen Krankheitsbildern eingeteilt werden. Diese Klassifizierung findet ihre Entsprechung auch in der klinischen Manifestation: ▬ T-Zelldefekte äußern sich v. a. durch Infektionen mit opportunistischen Erregern, Viren, Pilzen und intrazellulären Bakterien (z. B. Listeria, Salmonella). ▬ Patienten mit B-Zelldefekten neigen zu Infektionen durch kapseltragende Bakterien (Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae, Staphylococcus aureus), aber auch durch Gram-negative Organismen. ▬ Defekte phagozytierender Zellen manifestieren sich durch pyogene Infektionen durch Bakterien und Pilze. ▬ Komplementdefekte, die in diesem Kapitel nicht weiter diskutiert werden, äußern sich durch rezidivierende Infektionen durch Neisserien sowie durch Lupus erythematodes ähnliche Autoimmunphänomene. Diese historisch gewachsene Klassifizierung der Immundefekte erreicht allerdings mit wachsender Kenntnis der funktionellen und molekularen Zusammenhänge ihre Grenzen, da viele Gendefekte multiple Zellreihen betreffen und komplexe Syndrome sich dieser Kategorisierung entziehen. 24.2
T-Zelldefekte
24.2.1 Schwere kombinierte Immundefekte Definition Schwere kombinierte Immundefekte (SCID) resultieren aus einer gestörten T-Zellentwicklung (⊡ Abb. 24.1).
24
254
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
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⊡ Abb. 24.1. Immundefekte resultieren aus einer gestörten Differenzierung von T- und B-Zellen. 1 retikuläre Dysgenesie, 2 SCID (RAGDefizienz), Omenn-Syndrom, CATCH22, 3 SCID (γc-Defekt) und Jak3-
Defizienz, 4 CD3-Defizienz, PNP-Mangel, 5 ZAP70-Defizienz, CD8Defizienz, 6 MHC-Klasse-II-Defizienz, 7 XLA (Bruton), Cµ-Defizienz, λ14.1-Defizienz, 8 Hyper-IgM-Syndrom 1 und 2, 9 IgA-Mangel
Die betroffenen Kinder zeigen in den ersten Lebensmonaten eine chronische Diarrhö, Gedeihstörungen und schwere opportunistische Infektionen (Buckley et al. 1997; Stephan et al. 1993). Persistierende Infektionen durch opportunistische Erreger (Candida spp., Pneumocystis carinii),Viren (Varicella, Adenovirus, RSV, CMV, EBV, VZV) oder Bakterien (inklusive BCG) verlaufen meist letal, sofern keine adäquaten Therapiemaßnahmen eingeleitet werden. Alle Varianten des SCID weisen aufgrund der lymphozytären Differenzierungsstörung eine Lymphopenie auf. Da auch die Alloreaktivität bei Patienten mit SCID eingeschränkt ist, kommt es nicht selten zu einem »Engraftment« mütterlicher T-Zellen. Konsequenz ist eine »Graft-versus-host«-Erkrankung (GVHD) mit Haut-, Leber- und Darmmanifestation (Muller et al. 2001). Die Frage, ob vorhandene Lymphozyten mütterlicher oder kindlicher Provenienz sind, lässt sich durch genetische Chimärismusuntersuchungen klären. Klinisch unterscheiden sich die einzelnen Unterformen der schweren kombinierten Immundefekte (mit Ausnahme des ADA-Defektes) nicht. Sie lassen sich nur mit Hilfe immunologischer Typisierungsverfahren (Durchflusszytometrie) unter Berücksichtigung relevanter Marker der T-Zellen, B-Zellen und NK-Zellen differenzieren.
liert wird ein möglicher Defekt auf dem Niveau der hämatopoetischen Stammzelle. Eine Abgrenzung von den »klassischen Varianten« der kombinierten Immundefekte ist im Einzelfall oft schwierig, da eine Neutropenie auch sekundärer Genese sein kann (z. B. Infektionen, GVHD durch mütterliche Lymphozyten). Patienten mit Adenosindeaminase(ADA)-Mangel weisen zusätzlich zu dem klinischen Bild eines (T-B-NK-)-SCID Skelettanomalien im Sinne einer chondroossären Dysplasie auf, die sich insbesondere am kostochondralen Übergang und in den Wirbelkörpern manifestieren (Yin et al. 2001). Pathophysiologisch kommt der Akkumulation toxischer Metaboliten (Adenosin, 2′-Deoxyadenosin und 2′-O-Methyladenosin) eine wichtige Rolle zu. Nicht alle Patienten mit ADA-Mangel weisen bereits im Säuglingsalter eine schwere Immundefizienz auf. Je nach Mutation im ADA-Gen werden mildere Phänotypen unter Umständen erst im späteren Lebensalter manifest (Ozsahin et al. 1997). Eine Enzymsubstitution durch eine wöchentliche Injektion von pegylierter Adenosindeaminase (PEG-ADA) führt meist zu einer klinischen Besserung und einer partiellen Korrektur der immunologischen Befunde. Eine komplette Korrektur ist allerdings nur durch eine Stammzelltransplantation möglich. Bei der Wahl der Therapie ist zu beachten, dass eine begonnene PEG-ADA-Therapie die Gefahr einer möglichen Graft-Abstoßung erhöht.
T−B−NK−. Alle immunologischen Zellreihen, inklusive mye-
loischer und dendritischer Zellen (Emile et al. 2000), sind bei der seltenen Erkrankung der retikulären Dysgenesie betroffen. Der genetische Defekt ist noch nicht aufgeklärt, postu-
255 24 · Angeborene Immundefekte
T−B+NK−. Die häufigste SCID-Variante (SCID-X1, ca. 50% aller
SCID) ist die X-chromosomal vererbte Defizienz der γc-Kette des Interleukin-2-Rezeptors (Noguchi et al. 1993). Die γcKette ist nicht nur Bestandteil des heterotrimeren IL-2-Rezeptors, sondern findet sich auch als gemeinsamer Bestandteil in den Rezeptoren für fünf weitere Interleukine (IL-4, IL-7, IL-9, IL-15, IL-21). Da die Signaltransduktion über verschiedene Rezeptoren gestört ist, erklärt sich der Defekt in verschiedenen Zellreihen. Die γc-Kette leitet eine Signalkaskade mittels Interaktion mit der JAK-3-Kinase ein. Mutationen in der JAK-3-Kinase führen zu einer autosomal-rezessiv vererbten T–B+NK–SCID-Variante (Macchi et al. 1995; Russell et al. 1995). Bei einem Patienten mit reduzierter Expression der IL-2R/IL-15R-α-Kette wurde ebenfalls die klinische Symptomatik eines SCID assoziiert (Gilmour et al. 2001). T−B+NK+. Mutationen in der α-Kette des IL-7-Rezeptors füh-
ren zu einer gestörten T-Zellentwicklung, beeinträchtigen jedoch nicht die NK- und B-Zelldifferenzierung (Puel et al. 1998). Mutationen in der Tyrosinphosphatase CD45, die in allen hämatopoetischen Zellen exprimiert wird, können zum klinischen Bild eines SCID führen. Die Patienten zeigen eine reduzierte Zahl von T-Zellen, die auch auf mitogene Stimuli nicht proliferieren (Kung et al. 2000; Tchilian et al. 2001). T−B−NK+. Wenn das immunologische Profil bei Patienten mit
SCID-Symptomatik NK-Zellen, jedoch weder T- noch B-Zellen aufweist, sind entweder die rekombinationsaktivierenden Gene RAG1 oder RAG2 oder aber das für die chromosomale Integrität wichtige Gen Artemis betroffen. RAG1 und RAG2 sind für das V(D)J-Rearrangement der T- und B-Zellrezeptoren von Bedeutung, eine Voraussetzung für die normale Reifung von B- und T-Zellen (Schwarz et al. 1996). Die klinische und immunologische Präsentation korreliert mit dem Spektrum der identifizierten Mutationen in den RAG-Genen (Villa et al. 2001). Patienten mit »Missense«Mutationen zeigen klinisch das so genannte »Omenn-Syndrom«, das sich durch eine Erythrodermie, Diarrhö, Hepatosplenomegalie, Eosinophilie und erhöhte IgE-Spiegel auszeichnet. Pathophysiologisch wird dieses klinische Bild durch zirkulierende, oligoklonale T-Zellen hervorgerufen, die aufgrund eines inkompletten V(D)J-Rearrangements ausreifen (Rieux-Laucat et al. 1998; Villa et al. 1998). Artemis, ein vor kurzem identifiziertes Gen der Metalloβ-Lactamasefamilie, ist ebenfalls für eine intakte Rekombination der V(D)J-Gene notwendig. Dieses Gen ist bei einer SCID-Variante mutiert, bei der sich zusätzlich eine erhöhte Strahlensensitivität nachweisen lässt (Moshous et al. 2001). Diese Erkrankung tritt insbesondere bei Indianerstämmen im Südwesten der USA auf (Li et al. 2002). ! Die Diagnose eines schweren kombinierten Immundefektes ist ein »immunologischer Notfall«, die Kinder sollten umgehend in ein Zentrum mit einschlägiger Erfahrung verlegt werden, so dass entsprechende diagnostische und therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden können. Eine Stammzelltransplantation in der Neonatalperiode ist mit einem besseren Langzeitergebnis assoziiert (Myers et al. 2002).
24.2.2 Kombinierte Immundefekte Auch Patienten mit normaler T-Zellzahl im peripheren Blut können funktionelle T-Zelldefekte aufweisen. Klinisch fällt diese heterogene Gruppe der kombinierten Immundefekte (CID) oft erst im Laufe der ersten Lebensjahre auf. Neben den rezidivierenden Infektionen (oft, aber nicht ausschließlich mit opportunistischen Erregern) finden sich bei diesen Patienten nicht selten autoimmunologische Phänomene (autoimmunhämolytische Anämien, Thrombopenien und Granulopenien, Nephritis, Dermatitis etc), die therapeutisch sehr schwer zu beeinflussen sind (Arkwright et al. 2002; Berthet et al. 1994). Diese Dysregulation der Immunität äußert sich darüber hinaus auch in Allergien und einer Neigung zu malignen Erkrankungen (in der Regel Leukämien und Lymphome). Es handelt sich bei diesen Erkrankungen um eine molekulargenetisch sehr heterogene Gruppe. Die Variabilität des klinischen Phänotyps erklärt sich einerseits aus der Tatsache, dass verschiedene Gene mutiert sein können, andererseits aber auch aus der Beobachtung, dass bei identischem Genotyp epigenetische Faktoren den Phänotyp beeinflussen. X-chromosomal vererbtes Hyper-IgM-Syndrom (CD40LDefekt). Patienten mit Mutationen im CD40L-Gen (CD154,
exprimiert auf aktivierten T-Zellen) stellen die größte Gruppe des genetisch heterogenen Hyper-IgM-Syndroms dar, das sich durch rezidivierende Infektionen in Assoziation mit reduzierten Spiegeln von IgG, IgA und IgE bei normalen oder erhöhten IgM-Spiegeln definiert (Allen et al. 1993; DiSanto et al. 1993). Klinisch manifestiert sich die Erkrankung durch Infektionen der oberen und unteren Luftwege (häufig durch Pneumocystis carinii), eine chronische Diarrhö, eine Hepatitis und sklerosierende Cholangitis (assoziiert mit Cryptosporidium-Infektionen), eine chronische Neutropenie und orale sowie anale Ulzerationen (Levy et al. 1997). Die Patienten zeigen weiterhin Autoimmunphänomene (z. B. Arthritis, hämolytische Anämie), im Verlauf neigen sie zu malignen Erkrankungen. Die T-Zellproliferation auf Lektine ist meist normal, auf spezifische Impfantigene jedoch nicht selten reduziert. Die Therapie besteht zunächst in der Gabe von IgG, die sich bei vielen Patienten günstig auf die Häufigkeit der Infektionen sowie die Neutropenie und Ulzera auswirkt. Auch G-CSF ist bei vielen Patienten mit Erfolg eingesetzt worden. Diese supportiven Maßnahmen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Erkrankung Ausdruck eines schweren zellulären Defektes ist, der nicht durch Immunglobulingaben behoben werden kann. Das Spektrum opportunistischer Erreger ist Ausdruck dieses T-Zelldefektes. Einige Patienten konnten durch eine allogene Knochenmarktransplantation geheilt werden, andere erhielten zusätzlich eine Lebertransplantation (bei sekundärer Leberzirrhose). Derzeit wird der Einsatz von rekombinantem CD40L getestet. In der umfassendsten (retrospektiven) Analyse einer Serie von 56 Patienten starben die meisten Patienten im 2. Lebensjahrzehnt (Levy et al. 1997). PNP-Defekt. Neben dem ADA-Defekt stellt der Purinnukleos idphosphorylase(PNP)-Defekt eine weitere Störung des Purinsäurestoffwechsels dar, die mit einer immunologischen
24
256
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
Symptomatik (Lymphopenie, reduzierte T-Zell-Funktion, aber meist normalen oder erhöhten Immunglobulinspiegeln) einhergeht (Markert 1991). Im Gegensatz zur ADADefizienz sind die Harnsäurewerte verringert, da PNP zur Hypoxanthin- und Xanthinsynthese benötigt wird. Die PNPDefizienz ist in 60–70% der Fälle mit einer variablen neurologischen Symptomatik (Spastik, Krampfanfälle, psychomotorische Retardierung) und nicht selten auch mit autoimmunologischen Phänomenen (meist autoimmunhämolytische Anämie) assoziiert. Die PNP-Defizienz führt im Kindesalter zum Tode, sofern nicht eine korrigierende hämatopoetische Stammzelltransplantation durchgeführt wird (Carpenter et al. 1996; Classen et al. 2001), deren Erfolgschancen allerdings geringer als bei anderen kombinierten Immundefekten sind. MHC-Klasse-II-Defekt. Der MHC-Komplex spielt bei der In-
duktion einer spezifischen T-Zellantwort und damit für die adaptive Immunität eine zentrale Rolle: Peptide werden auf den MHC-Molekülen der T-Zellen präsentiert. Fehlen diese wichtigen Moleküle, so ist das Immunsystem empfindlich gestört. Der MHC-Klasse-II-Defekt manifestiert sich klinisch in den ersten Lebensjahren durch rezidivierende pulmonale und gastrointestinale Infektionen mit bakteriellen und viralen Erregern, oftmals sind die opportunistischen Keime Cryptosporidium, Pneumocystis und Candida beteiligt (Klein et al. 1993). Die Beobachtung, dass weder BCG-Infektionen noch eine GVHD nach Transfusion nicht bestrahlter Blutprodukte aufgetreten sind, spricht dafür, dass eine Restimmunität besteht. Dennoch ist die Erkrankung schwerwiegend und verläuft ohne adäquate Therapie in den ersten Lebensjahren letal (Klein et al. 1995). Durch die fehlende bzw. drastisch reduzierte Expression der MHC-Klasse-II-Moleküle kommt es zu einer Störung der Positivselektion der CD4-T-Zellen im Thymus und einer CD4-Lymphopenie. Der MHC-Klasse-II-Defekt kann durch Mutationen in diversen Transkriptionsfaktoren hervorgerufen werden, die die Expression der MHC-Klasse-II-Gene kontrollieren. 3 der 4 bekannten Genen konstituieren Untereinheiten des Multiprotein-Transkriptionsfaktors RFX: RFX5 (Steimle et al. 1995), RFX-assoziiertes Protein (Durand et al. 1997) und RFXANK (Masternak K et al. 1998). Eine vierte Variante betrifft Mutationen im CIITA-Transaktivator, der als Hauptregulationselement die Expression der MHC-Klasse-II-Moleküle koordiniert (Steimle et al. 1993). Klinisch lassen sich diese 4 Untergruppen des MHC-Klasse-II-Defektes allerdings nicht differenzieren. MHC-Klasse-I-Defekt. Bei einigen Patienten mit milderen rezidivierenden Infektionen des Respirationstraktes wurde eine isolierte Defizienz der MHC-Klasse-I-Moleküle festgestellt. Der zugrundeliegende Mechanismus impliziert eine Störung der Peptidbeladung: Mutationen in den Proteinen TAP1 (Furukawa et al. 1999) oder TAP2 (de la Salle et al. 1994) – 2 Peptidtransportmoleküle, die Peptide aus dem Zytoplasma über den Golgi-Apparat transportieren. Die Peptide assoziieren mit der MHC-Klasse-I-α-Kette und der β2-Mikroglobulinkette und können dann an die Zellmembran geschleust werden. »Leere« MHC-Klasse-I-Komplexe sind instabil und werden im Zytoplasma abgebaut. Eine Konsequenz der fehlenden MHC-Klasse-I-Expression ist nicht nur eine
Defizienz der Immunantwort, auch die Reifung von CD8T-Zellen ist aufgrund der fehlenden Positivselektion gestört. Es resultiert eine CD8-T-Zell-Lymphopenie. T-Zell-Aktivierungsdefekte. Diverse Signaltransduktionsmoleküle, die für eine normale T-Zellaktivierung nötig sind, können mutiert sein, so dass ein T-Zelldefekt resultiert. So führen Mutationen in der γ- oder ε-Kette des CD3-Rezeptors zu einer Infektanfälligkeit und Autoimmunität (ArnaizVillena et al. 1992; Soudais et al. 1993). Bei Patienten mit CD8Lymphopenie und rezidivierenden Infektionen wurden Mutationen in der Tyrosinkinase ZAP-70 identifiziert (Arpaia et al. 1994; Elder et al. 1994). Bei diesen Individuen sind die Immunglobulinwerte variabel, die CD4-Zellen sind hyporeaktiv und die NK-Aktivität ist normal. Auch Mutationen im CD8-Gen können zu einer CD8-Lymphopenie mit rezidivierenden Infektionen führen (de la Calle-Martin Oet al. 2001). In Einzelfallberichten von Patienten mit funktionellen TZelldefekten wurden Signaltransduktionsdefekte mit fehlender Freisetzung intrazytoplasmatischen Kalziums (Le Deist et al. 1995) und fehlender Transkription von Zytokingenen (Castigli et al. 1993) assoziiert.
24.3
B-Zelldefekte
24.3.1 X-chromosomal vererbte Agamma-
globulinämie (Morbus Bruton) Definition B-Zelldefekte resultieren aus einer beeinträchtigten B-Zellreifung und/oder B-Zellfunktion. Der Prototyp dieser Gruppe von Erkrankungen ist die X-chromosomal vererbte Agammaglobulinämie (Morbus Bruton, XLA).
Die betroffenen Knaben genießen in den ersten Lebensmonaten noch einen immunologischen Nestschutz durch mütterliche Immunglobuline, entwickeln aber ab dem 6. Lebensmonat rezidivierende pyogene Infektionen, vornehmlich durch kapseltragende Erreger. In der Folge kommt es zu chronischen Sinusitiden, Bronchitiden und Bronchiaktasien. Aus bislang unbekannten Gründen sind die Patienten auch für Enteroviren sehr empfänglich, die Meningitiden und Enzephalitiden hervorrufen können. Die Tonsillen und Lymphknoten erscheinen aufgrund des Fehlens der Keimzentren verkleinert. Im Knochenmark lassen sich prä-B-Zellen nachweisen, doch die Differenzierung in reife B-Zellen ist blockiert. Die Patienten haben Mutationen in der zytoplasmatischen Tyrosinkinase btk (Bruton-Tyrosinkinase; Tsukada et al. 1993; Vetrie et al. 1993). btk wird nicht nur in B-Zellen, sondern auch in myeloiden Zellen exprimiert, was auf eine intrinsische Funktion in Granulozyten hinweisen könnte und eine assoziierte intermittierende Neutropenie erklären könnte. Etwa 10% der Patienten mit Agammaglobulinämie zeigen einen autosomal-rezessiven Erbgang und keine btk-Mutationen. In diesen Fällen wurden Mutationen in der µ-Kette (Yel et al. 1996), in der 5/14-1 »surrogate light chain« (Minegishi et al. 1998), im Igα (CD79a) (Minegishi et al. 1999a) oder im Adaptorprotein BLNK (Minegishi et al. 1999b) identifiziert.
257 24 · Angeborene Immundefekte
Therapie. Therapeutisch wird die XLA durch die Gabe von IgA-armen Immunglobulinpräparaten korrigiert, die alle 3–4 Wochen in Abhängigkeit der IgG-Spiegel indiziert ist. Im Falle von Enterovirusmeningitiden empfiehlt sich die Anlage eines Omaya-Reservoires zur intrathekalen Gabe von Immunglobulinen.
24.3.2 Mutationen/Deletionen
der Immunglobulingene Die Gene der schweren Ketten (konstante Regionen) der Immunglobuline liegen auf Chromosom 14q32. In dieser Region findet man bei ca. 5–10% der kaukasischen Bevölkerung chromosomale Deletionen und Duplikationen. Sofern nur ein Allel betroffen ist, resultiert eine leichte Reduktion der Serumspiegel der betroffenen Immunglobulinisotypen; bei homozygoten Aberrationen fehlen die entsprechenden Isotypen völlig. Diese Varianten gehen allerdings nicht notwendigerweise mit der klinischen Manifestation eines Immundefektes einher. Auch Deletionen und Mutationen der µ-Kette sind beschrieben, deren Auswirkung sich nicht auf ein Fehlen von IgM beschränkt, sondern aufgrund einer gestörten B-Zelldifferenzierung zu einer Agammaglobulinämie führt (Yel et al. 1996). Auch Defekte in den Genen, die für die leichten Ketten kodieren, wurden identifiziert. Patienten mit einem Defekt der κ-Kette exprimieren nur λ-Leichtketten, zeigen ansonsten aber keine Auffälligkeiten (Stavnezer-Nordgren et al. 1985). 24.3.3 Selektiver IgG-Subklassendefekt Ein selektiver IgG-Subklassendefekt liegt vor, wenn bei normalem Gesamt-IgG-Spiegel nur einzelne IgG-Subklassen reduziert sind. Aufgrund der alters- und ethnischen Abhängigkeit der Normwerte ist die Sicherung der Diagnose nicht leicht. Da IgG1 einen Grossteil der IgG-Fraktion ausmacht, geht eine »selektive« Reduktion der IgG1-Spiegel immer auch mit einer Erniedrigung des Gesamt-IgG einher. Bei Kindern ist ein IgG2-Mangel, oft kombiniert mit einem IgG4-Mangel, die häufigste Variante. Die klinische Bedeutung wird allerdings kontrovers beurteilt, da auch bei gesunden Personen erniedrigte IgG-Subklassenspiegel gefunden werden. 24.3.4 IgA-Defekt Mit einer Inzidenz von 1:700 ist der IgA-Defekt der häufigste Immundefekt in der kaukasischen Bevölkerung (Cunningham-Rundles 2001). Interessanterweise ist dieser Defekt in den meisten Fällen nicht mit einer klinischen Symptomatik assoziiert. IgA stellt nach der IgG-Fraktion die quantitativ wichtigste Immunglobulinfraktion dar und scheint insbesondere für die mukosale Immunität von Bedeutung zu sein, da sezernierte IgA-Antikörper Viren und Toxine neutralisieren und Bakterien vom transmukosalen Übertritt abhalten können. Angesichts dieser protektiven Rolle bleibt unklar, warum Menschen mit IgA-Defizienz in der Regel asymptomatisch
bleiben – möglicherweise wird diese Funktion durch IgG und IgM kompensiert. Dennoch wird die IgA-Defizienz mit verschiedenen Krankheiten assoziiert. Die Liste reicht von rezidivierenden Infektionen der Atemwege und gastrointestinalen Störungen (entzündliche Darmerkrankungen, Zöliakie, Malabsorptionssyndrome) über Allergien, Autoimmunphänomene und Neuropathien bis zu gastrointestinalen und lymphozytären Malignomen. In einigen Familien wurde ein autosomal-rezessiver oder dominanter Vererbungsmodus beobachtet. Bei IgA-Mangel treten gehäuft Anti-IgA-Antikörper auf, so dass bei klinisch indizierter Immunglobulinsubstitution IgA-arme Präparate verwendet werden. 24.3.5 Variables Immundefektsyndrom Definition Das variable Immundefektsyndrom (»common variable immunodeficiency«; CVID) ist ein Terminus für diejenigen Patienten mit defizienter Antikörperproduktion, die nicht in eine definierte Kategorie anderer humoraler oder zellulärer Immundefekte fallen.
CVID umfasst somit wahrscheinlich eine heterogene Gruppe von Erkrankungen. Per definitionem haben Patienten mit CVID reduzierte IgG-Werte, oft auch verringerte IgM- und IgA-Werte. 40% der Patienten zeigen definierte T-Zellstörungen, wie z. B. eine verringerte Zahl von CD4+CD45RO+T-Zellen oder eine eingeschränkte T-Zellproliferation auf Mitogene (Cunningham-Rundles u. Bodian 1999). Die Erkrankung kann sich in jedem Lebensalter manifestieren, rezidivierende Infektionen des Respirationstraktes stehen im Vordergrund. Opportunistische Infektionen können als Ausdruck einer T-Zelldefizienz auftreten. Ca. 20% der Patienten entwickeln eine Autoimmunerkrankung (autoimmunhämolytische Anämie, Thrombozytopenie, Vaskulitis, Arthritis), im späteren Verlauf treten gehäuft maligne Erkrankungen auf (v. a. Lymphome und diverse Karzinome). Möglicherweise stehen CVID und IgA-Defekt in einem Zusammenhang, da beide Erkrankungen in denselben Familien auftreten und beide eine Assoziation zu Autoimmunphänomenen sowie ein erhöhtes Risiko von malignen Erkrankungen zeigen. Der Vererbungsmodus des CVID ist nicht einheitlich, einige Familien mit autosomal dominantem Vererbungsmuster wurden beschrieben. In einigen Familien wurden Mutationen im kostimulatorischen Molekül ICOS identifiziert (Grimbacher B., persönliche Mitteilung). Die Genetik und die Pathophysiologie des CVID bleiben in den meisten Fällen jedoch immer noch ungeklärt. Therapie. Therapeutisch werden Immunglobulinsubstitu-
tionen eingesetzt. 24.3.6 Autosomal-rezessives Hyper-IgM-Syndrom Eine kleine Zahl von Patienten mit rezidivierenden Infektionen des Respirationstraktes und erniedrigten IgG-, IgA- und IgE-Spiegeln bei normalen oder erhöhten IgM-Spiegeln zeigen keine Mutationen im CD40L-Gen. Obwohl auch hier
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Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
ein Defekt im Immunglobulinswitch vorliegt, gibt es fundamentale Unterschiede zum X-gebundenen Hyper-IgMSyndrom: Die Erkrankung betrifft Mädchen ebenso wie Jungen und ist daher autosomal-rezessiv vererbt, die Keimzentren in den Lymphknoten sind hyperplastisch und die Patienten zeigen keine Infektionen mit opportunistischen Erregern (Conley et al. 1994). Diese Erkrankung wird durch Mutationen im Gen der «Aktivations-induzierten Deaminase» (AID) hervorgerufen, einem B-Zell-spezifischen Protein, dessen Funktion im «editing» der RNA in den lymphatischen Keimzentren besteht (Revy et al. 2000). Therapie. Therapeutisch werden Immunglobulinsubstitu-
tionen eingesetzt. 24.3.7 Transiente Hypogammaglobulinämie
des Kindesalters In den ersten Lebensmonaten sind Säuglinge durch maternales IgG geschützt. Nach der Geburt werden diese Immunglobuline mit einer Halbwertszeit von 4–5 Wochen abgebaut. Das Einsetzen der kindlichen Immunglobulinsynthese ist Ausdruck eines physiologischen Reifungsprozesses. Insbesondere bei Frühgeborenen, bei denen weniger mütterliches IgG die Plazenta überschritten hat, können Immunglobulinwerte im pathologischen Bereich gemessen werden. Doch auch reifgeborene Kinder können eine verzögerte, nicht therapiebedürftige Immunglobulinsynthese mit einer Hypogammaglobulinämie bis ins 4. Lebensjahr aufweisen. In diesen Fällen sollte die Produktion spezifischer Antikörper zum Ausschluss eines therapiebedürftigen Immundefektes dokumentiert werden. Therapie. Die transiente Hypogammaglobulinämie erfordert keine weitere Therapie.
24.4
Defekte zytolytischer Effektorfunktionen und NK-Defekte
Die klinische Symptomatik und die zugrundeliegenden pathophysiologischen Mechanismen einer Reihe von Funktionsstörungen der Zytolyse sind komplexer Natur. Das Spektrum der klinischen Manifestationen reicht von fulminanten Virusinfektionen über sekundäre Makrophagenaktivierungssyndrome bis zu schweren Autoimmunphänomenen aufgrund unzureichender Eliminierung aktivierter Lymphozyten. 24.4.1 X-chromosomal vererbtes lympho-
proliferatives Syndrom (Purtilo-Syndrom) Diese Erkrankung manifestiert sich in aller Regel erst nach einer EBV-Infektion. Normalerweise werden EBV-infizierte B-Zellen durch zytotoxische T-Zellen (und möglicherweise auch NK-Zellen) eliminiert. Patienten mit Purtilo-Syndrom entwickeln nach einer EBV-Infektion eine unkontrollierte polyklonale CD8-Zellaktivierung und -proliferation, die zu Organschäden (Leberzellnekrose, Vaskulitis, aplastische An-
ämie), einer sekundären Hypogammaglobulinämie und zum Auftreten von Lymphomen führen kann ( Kap. 22). Diese schweren Verlaufsformen einer EBV-Infektion sind mit einer hohen Letalität assoziiert. Der Gendefekt auf Chromosomom Xq25 wurde identifiziert, als Mutationen in dem SH2DA/DHSP/SLAM-assoziierten Adaptorprotein (SAP) gefunden wurden (Coffey et al. 1998; Nichols et al. 1998; Sayos et al. 1998). SAP hemmt die Signaltransduktion via SLAM und kontrolliert somit die Aktivierung und Proliferation zytotoxischer Zellen. Weitere molekulargenetische Untersuchungen haben gezeigt, dass SAP-Mutationen sich auch im klinischen Bild eines Virusassoziierten hämophagozytischen Syndroms oder eines CVID äußern können (Arico et al. 2001; Morra et al. 2001). In seltenen Fällen bricht die Erkrankung auch ohne eine EBVInfektion aus (Sumegi et al. 2000). Therapie. Therapeutisch werden zur Remissionsinduktion
Steroide, VP16 und Methotrexat eingesetzt, kurativ ist nur eine allogene Stammzelltransplantation. 24.4.2 Chédiak-Higashi-Syndrom Definition Das Chédiak-Higashi-Syndrom (CHS) zeichnet sich klinisch durch einen partiellen Albinismus, rezidivierende Infektionen mit Neutropenie und eine Blutungsneigung aus (Introne et al. 1999).
Auch neurologische Symptome im Sinne von peripheren Neuropathien und autonomer Dysfunktion sind beschrieben. Die meisten Patienten entwickeln so genannte »akzelerierte« Phasen, die durch ein Zytokinaktivierungssyndrom mit (Pan-)Zytopenie, Hypertriglyzeridämie, Hypofibrinogenämie und einer nicht-malignen Infiltration und Hämophagozytose in multiplen Organen (inklusive des ZNS) gekennzeichnet sind. Patienten mit CHS zeigen eine defekte NK-Funktion, die wahrscheinlich für die Infektneigung und die akuten Entgleisungen im Sinne der akzelerierten Phasen verantwortlich sind. Die meisten Patienten sterben in der ersten Lebensdekade, allerdings sind auch weniger gravierende klinische Verläufe bekannt (Karim et al. 2002). Pathognomonisch für das CHS sind zytoplasmatische Einschlusskörper, die in Granulozyten als Peroxidase-positive Lysosomen und in Melanozyten als Riesenmelanosomen imponieren. Das CHS wird durch Mutationen in Lyst verursacht. Diese Protein spielt eine Rolle in vesikulären Transportprozessen und der Exozytose zytolytischer Proteine (Barbosa et al. 1996; Nagle et al. 1996). Therapie. Die Therapie der akzelerierten Phasen erfordert eine Immunsuppression mit Steroiden, Etoposid und intrathekaler Gabe von Methotrexat. Remissionen sind meist nur transient, eine kurative Therapie ist nur durch eine allogene Knochenmarktransplantation möglich (Haddad et al. 1995).
259 24 · Angeborene Immundefekte
24.4.3 Griscelli-Syndrom Das Griscelli-Syndrom ist eine dem Chédiak-Higashi-Syndrom verwandte Erkrankung, die sich sowohl in ihrer klinischen Manifestation als auch im Verlauf ähnlich präsentiert. Im Gegensatz zum CHS zeigen die betroffenen Patienten allerdings keine granulozytären Einschlusskörper, und auch das Pigmentverteilungsmuster in Haut und Haaren ist verschieden (Klein et al. 1994). Molekularbiologische Untersuchungen haben 2 Genloci identifiziert, die 2 Patientengruppen mit charakteristischen klinischen Symptomen unterscheiden: ▬ Patienten mit Mutationen in Rab27A zeigen typische akzelerierte Phasen mit Hämophagozytose (Menasche et al. 2000). RAB27A kodiert ein RAB Guanosintriphosphat (GTP) bindendes Protein, das den intrazellulären Proteintransport kontrolliert. Eine Defizienz führt zu einer deutlich reduzierten Zytotoxizität. ▬ Im Gegensatz zu dieser Patientengruppe entwickeln Patienten mit Mutationen im MyosinVa-Gen keine immunologischen Auffälligkeiten, sondern vielmehr neurologische Symptome (Pastural et al. 1997).
lich weitere, bislang nicht identifizierte Faktoren können zum klinischen Bild eines ALPS führen (Wang et al. 1999). Therapie. Therapeutisch werden Kortikosteroide und zytotoxische Medikamente eingesetzt, möglicherweise können auch Pyrimethamine und Sulphadoxine zu einer Besserung führen (van der Werff Ten Bosch et al. 2002). Kurativ wurden erfolgreich allogene Knochenmarktransplantationen durchgeführt (Sleight et al. 1998).
24.5
DNA-Instabilitätssyndrome mit Immundefekt
Ein intaktes Immunsystem beruht auf einer schnellen und akkuraten Differenzierung und Proliferation von Lymphozyten. Defekte in den chromosomalen Reparaturmechanismen führen daher häufig zu kombinierten Immundefekten, die im folgenden besprochen werden. 24.5.1 Ataxia telangiectatica
Therapie. Die Therapie der akzelerierten Phasen entspricht
Definition
dem Vorgehen bei CHS. Kurativ werden Stammzelltransplantationen durchgeführt, die die immunologische Symptomatik kurieren.
Die Ataxia teleangiectatica (AT) stellt ein komplexes Syndrom mit neurologischen, endokrinologischen, hepatischen, kutanen und immunologischen Manifestationen dar. Im Vordergrund stehen die progressive zerebelläre Ataxie, okulokutane Teleangiectasien und die variablen Ausprägungen eines kombinierten Immundefektes.
24.4.4 Autoimmun-lymphoproliferatives Syndrom Ebenso wie eine defekte T-Zelldifferenzierung, -aktivierung und -effektorfunktion funktionell zum Bild eines Immundefektes führen können, ist auch eine gestörte negative Rückkopplungsreaktion der Immunantwort im Sinne einer Persistenz spezifischer T-Zellen mit einer Immundefizienz assoziiert. Definition Das autoimmun-lymphoproliferative Syndrom (ALPS bzw. Canale-Smith-Syndrom) wird durch mutierte Proteine des Apoptose-Signalwegs hervorgerufen, so dass aktivierte Lymphozyten nicht mehr adäquat eliminiert werden und damit die Homöostase der Immunantwort gestört ist (Sneller et al. 1997).
Die betroffenen Patienten entwickeln eine chronische Lymphadenopathie und Splenomegalie sowie diverse Autoimmunphänomene (z. B. autoimmunhämolytische Anämie, Neutropenie, Glomerulonephritis, Guillain-Barré-Syndrom). Sie zeigen eine Lymphozytose und eine relative Vermehrung der CD3+CD4–CD8– (so genannten »doppelt negativen«) T-Zellen. Die defekte Apoptosefunktion lässt sich in vitro nachweisen. Dem Krankheitsbild liegen meist Mutationen im Gen des Apoptoserezeptors Fas zugrunde (Fisher et al. 1995; Rieux-Laucat et al. 1995). Ein einziges mutiertes Allel kann die Erkrankung hervorrufen (autosomal-dominante Vererbung), doch ist die Penetranz sehr variabel (Rieux-Laucat et al. 1999). Nicht alle Patienten mit ALPS weisen Mutationen in Fas auf, auch Mutationen im Gen der Caspase-10 sowie wahrschein-
Rezidivierende Infektionen des Respirationstraktes (meist bakterieller Genese) finden sich bei 80% der Patienten, rezidivierende Aspirationen aufgrund einer oropharyngealen Dysphagie stellen ein zusätzliches Risiko dar (Lefton-Greif et al. 2000). Auch fatal verlaufende Virusinfektionen und transfusionsbedingte GVHD sind beschrieben (Watson et al. 1997). Die Immunglobulinspiegel sind nicht diagnoseweisend, Normbefunde, eine selektive IgA-Defizienz oder eine Panhypogammaglobulinämie sind möglich. Die T-Zell-Proliferationswerte sind meist leicht erniedrigt, insbesondere die naiven CD45RA+-T-Zellen scheinen in ihrer proliferativen Funktion gestört (Schubert et al. 2002). Charakteristisch für die AT sind erhöhte α-Fetoproteinwerte im Serum. Gegenwärtig ungeklärt ist die Frage, ob eine Leberbeteiligung mit erhöhten Transaminasewerten primärer oder sekundärer Natur ist. Die AT prädisponiert zu einem hohen Risiko des Auftretens von Leukämien und Lymphomen (Taylor et al. 1996), aber auch das Risiko des Entstehens solider Tumoren ist signifikant erhöht. Das mutierte Gen (ATM) kodiert eine DNA-abhängige Proteinkinase (Savitsky et al. 1995), die eine Reihe von wichtigen Proteinen mit Kontrollfunktion über Zellzyklus und DNA-Reparatur phosphoryliert. Auch für die AT gilt, dass der klinische Phänotyp durch Mutationen in verschiedenen Genen hervorgerufen werden kann. So wurde kürzlich eine verwandte Erkrankung, ATLD (»ataxia teleangiectasia like disorder«), beschrieben, die durch Mutationen in hMRE11Gen hervorgerufen wird, einem Gen, das in Assoziation mit Rad50/Nbs1 einen DNA-DoppelstrangbruchreparaturKomplex konstituiert (Stewart et al. 1999).
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Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
Therapie. Die therapeutischen Optionen für die Patienten bleiben derzeit beschränkt, die Patienten sterben meist an ihren malignen Erkrankungen und/oder der progressiven neurologischen Symptomatik. Bei AT-Patienten mit einer malignen Erkrankung sollte aufgrund der verringerten Chemo- und Radiotherapietoleranz ein modifiziertes, toxizitätsreduziertes Therapieschema zur Anwendung kommen.
durch Mutationen im BLM-Gen hervorgerufen (Ellis et al. 1995), das für ein Protein der RecQ-DNS-Helikasefamilie kodiert. Folge der Mutation ist eine spontane Chromosomenbrüchigkeit. Die Diagnose wird durch den Nachweis von Mutationen im BLM-Gen gesichert.
24.5.2 Nijmegen-Breakage-Syndrom
Das autosomal-rezessiv vererbte ICF-Syndrom (»immunodeficiency, centromeric instability, facial abnormalities«) umfasst eine Immundefizienz, eine zentromere Instabilität und faziale Anomalien wie Hypertelorismus, niederer Ohransatz, Epikanthusfalten und Makroglossie (Maraschio et al. 1988). Der Immundefekt äußert sich in einer variablen Hypogammaglobulinämie und einer defekten T-Zellfunktion. Das charakteristische Merkmal der Erkrankung ist ein zytogenetischer Befund: das zentromerische Heterochromatin der Chromosomen 1, 9 und 16 erscheint verlängert und neigt zu Brüchen, so dass »multiradiate« Chromosomen gebildet werden. Dies wird in Metaphasenchromosomen von Lymphozyten beobachtet. Während die Satelliten-DNA normalerweise methyliert ist, findet sich in ICF-Patienten fast nur unmethylierte DNA (Jeanpierre et al. 1993). Die Identifizierung von Mutationen in der DNS-Methyltransferase-3B erklärt diesen Befund (Xu et al. 1999).
Das Nijmegen-Breakage-Syndrom (NBS) stellt ein weiteres seltenes Chromosomenbrüchigkeitssyndrom dar (International NBS Study Group 2000; van der Burgt et al. 1996). Die Symptome umfassen kraniofaziale Dysmorphien (Mikrozephalie, fliehende Stirn, prominentes Mittelgesicht), Wachstumsverzögerung, Pigmentstörungen sowie einen komplexen Immundefekt. Die immunologischen Parameter zeigen eine moderate Lymphopenie, eine reduzierte T-Zellproliferation sowie eine variabel ausgeprägte Hypogammaglobulinämie. Die Erkrankung prädisponiert zur Entwicklung von Lymphomen; auch Manifestationen durch eine aplastische Anämie sind beschrieben (Resnick et al. 2002). Der zelluläre Phänotyp (Hypersensitivität gegenüber DNA-Noxen, gestörte Zellzyklusregulation nach Bestrahlung) entspricht demjenigen der Ataxia teleangiectatica. Die chromosomale Brüchigkeit wird oft nur unter Stimulationsbedingungen erkannt. Allerdings zeigen T-Zellen bei extrem niedrigen mitotischen Indizes Bruchpunkte in denjenigen Chromosomenregionen, die die Gene der T-Zellrezeptoren und der Immunglobuline kodieren (7p und 14q). Das mutierte Gen, NBS1, kodiert Nibrin (Varon et al. 1998). Nibrin bildet einen Komplex mit den DNA-Reparaturproteinen Rad50 und Mre11 und wird nach Einwirken von DNA-schädigenden Noxen durch ATM phosphoryliert (Zhao et al. 2000). Diese Beobachtung erklärt den verwandten Phänotyp von AT und NBS. Auch therapeutisch und prognostisch ergeben sich keine Unterschiede zum Krankheitsbild der AT.
24.5.5 ICF-Syndrom
24.6
Komplexe Syndrome mit assoziiertem Immundefekt
24.6.1 Wiskott-Aldrich-Syndrom Definition Das Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS) wurde im Jahre 1936 als klinische Entität mit der Trias Immundefekt, Ekzem und Thrombopenie beschrieben (Wiskott 1936). Die genetische Ursache liegt in Mutationen des X-chromosomal lokalisierten WASP-Gens (Derry et al. 1994).
24.5.3 DNA-Ligasedefekt Mutationen im DNA-Ligase-I-Gen führen zu einem kombinierten Immundefekt mit UV-Sensitivität und Wachstumsverzögerung (Barnes et al. 1992). Bei einigen Patienten mit Immundefekt, Entwicklungsverzögerung und neurologischen Auffälligkeiten, die klinisch sehr dem NBS ähneln, wurden Mutationen im Gen der DNA-Ligase-IV entdeckt (O‘Driscoll et al. 2001). Die DNA-Ligasen sind Teil des enzymatischen Reparaturkomplexes, der bei induzierten und spontanen DNA-Doppelstrangbrüchen die Integrität der chromosomalen DNA sichert. 24.5.4 Bloom-Syndrom Das Bloom-Syndrom ist eine autosomal-rezessive Erkrankung mit bereits intrauterin auftretendem Wachstumsdefekt und einem kombinierten Immundefekt. Die Patienten zeigen eine UV-Hypersensitivität und eine ausgesprochene Prädisposition zu malignen Erkrankungen. Die Erkrankung wird
WASP ist ein zytosolisches Protein, das in allen nukleären Zellen des hämatopoetischen Systems exprimiert wird und eine wichtige Rolle in der Kontrolle des Rearrangements des Zytoskeletts spielt. WASP-defiziente Zellen weisen daher eine beeinträchtigte gerichtete Migration auf. Allerdings ist noch nicht klar, wie sich daraus die Immundysregulation ableitet. Im Vordergrund stehen Infektionen durch ein weites Erregerspektrum mit resultierender Otitis, Bronchopneumonie, Meningitis und Sepsis. Auch Infektionen mit opportunistischen Erregern und Viren treten auf (Sullivan et al. 1994). Die Ekzeme zeigen sich als Windeldermatitis und unter dem Bild einer atopischen Dermatitis mit den typischen Prädilektionsstellen. Nicht selten führen auch Blutungskomplikationen (Hauthämatome, Nasenbluten, blutige Diarrhö) zur Diagnose. Das Volumen der Thrombozyten ist verkleinert. Im weiteren Verlauf kann die Erkrankung durch Autoimmunmanifestationen wie autoimmunhämolytische Anämien und Vaskulitiden kompliziert werden. Patienten mit WAS neigen darüber hinaus auch zu EBV-assoziierten lymphoproliferativen Erkrankungen.
261 24 · Angeborene Immundefekte
Die humorale Immunität gegen Polysaccharidantigene ist beeinträchtigt (reduzierte Isohämagglutinine und polysaccharidspezifische Antikörper); die Produktion proteinspezifischer Antikörper nimmt mit der Zeit graduell ab. Die Patienten zeigen eine variable Hypogammaglobulinämie mit reduziertem IgG und IgM sowie normalen bis erhöhten IgA- und IgE-Werten. Die T-Zellen weisen einen Defekt in der T-Zellrezeptor-vermittelten Signaltransduktion auf. Dieser Defekt ist allerdings nicht komplett und kann durch entsprechende kostimulatorische Signale (wie IL-2 oder CD28) kompensiert werden. Die X-chromosomal vererbte Thrombozytopenie hat sich durch molekularbiologische Untersuchungen als Variante des WAS erwiesen (Villa et al. 1995). Da auch Familien mit autosomal-rezessivem Erbgang beschrieben wurden, spielen möglicherweise auch noch weitere Gene eine Rolle (Kondoh et al. 1995). Therapie. Therapeutisch sind zunächst Präventiv- und Sup-
portivmaßnahmen indiziert, die eine PCP-Prophylaxe, eine adäquaten Hautpflege (Pflegecremes bis zu topischen Steroiden bzw. Ciclosporin) sowie Immunglobubinsubstitutionen umfassen. Kurativ ist derzeit nur eine allogene Stammzelltransplantation. 24.6.2 DiGeorge-Syndrom Definition Das DiGeorge-Syndrom resultiert aus einer embryonalen Entwicklungsstörung der 3. und 4. Schlundtasche. Fast alle Kinder mit DiGeorge-Syndrom zeigen (Mikro-)Deletionen des Chromosoms 22q11ter. Eine Reihe anderer
▼
Syndrome zeigen ebenfalls Deletionen in dieser chromosomalen Lokalisation, so dass das Akronym CATCH22 geprägt wurde (»cardiac abnormalities, abnormal facies, thymic hypoplasia, cleft palate und hypocalcemia«).
Äußerlich fallen ein tiefer Ohransatz, Hypertelorismus, antimongoloide Lidachsen und eine Mikrognathie auf. Im Vordergrund der klinischen Symptomatik stehen kardiale und endokrinologische Probleme. Die kardialen Missbildungen und der Hypoparathyreoidismus mit Hypokalzämie erfordern eine rasche symptomatische Therapie. Radiologisch lässt sich aufgrund der Thymushypoplasie der Röntgenschatten nicht abgrenzen. Nur selten (<20%) ist die Thymushypoplasie allerdings so ausgeprägt, dass die T-Zellreifung ausbleibt (Markert et al. 1998). Diese Patienten zeigen funktionell alle Komplikationen eines schweren kombinierten Immundefektes und sind entsprechend zu behandeln. Der weitaus größte Teil der Patienten zeigt eine normale bzw. nur leicht verringerte Zahl der peripheren T-Zellen. Es besteht ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen, insbesondere Arthritiden und Thrombopenien (Jawad et al. 2001). Eine hemizygote Deletion des entsprechenden murinen Chromosoms ruft einen DiGeorge-Phänotyp in der Maus hervor. Diese und andere Untersuchungen haben das T-box-Gen Tbx1 als Kandidatengen in den Mittelpunkt des Interesses gerückt (Guris et al. 2001; Lindsay et al. 2001; Merscher et al. 2001). Therapie. Therapeutisch werden sowohl allogene Stammzell- als auch Thymuszelltransplantationen eingesetzt (Markert et al. 1999). Weitere Immundefekte, die mit komplexen Syndromen assoziiert sind, werden in ⊡ Tabelle 24.1 aufgeführt.
⊡ Tabelle 24.1. Weitere komplexe Syndrome mit Immundefekt
Erkrankung
Vererbungsmodus
Phänotyp
Genotyp
Referenz
Knorpel-HaarHypoplasie
Autosomalrezessiv
Dysproportionierter Minderwuchs, hypoplastische Haare, Bindegewebsschwäche, hypoplastische Anämie, neuronale intestinale Dysplasie, kombinierter Immundefekt
EndoribonukleaseRnase MRP
(Makitie u. Kaitila 1993; Ridanpaa et al. 2001)
Schimke immunoossäre Dysplasie
Autosomalrezessiv
Spondyloepiphysäre Dysplasie, charakteristische Facies, fokale Glomerulosklerose, T-Zelldefekt, Hypothyreoidismus, zerebrale Ischämien, Knochenmarkversagen
SMARCAL1
(Boerkoel et al. 2002; Spranger et al. 1991)
IPEX
Autosomalrezessiv
Neonataler Diabetes mellitus, Infektionen, Enteropathie, Ekzem, Kachexie, mononukleäre Infiltrationen
Scurfin
(Bennett u. Alphey 2002; Wildin et al. 2001)
EDA-ID
Autosomalrezessiv
Infektionen durch Mykobakterien, kapseltragende Bakterien und CMV, Hyper-IgM
IKBKG, NEMO
(Doffinger et al. 2001; Jain et al. 2001)
Chronischmukokutane Candidiasis
Autosomalrezessiv
Haut- und Schleimhautinfektionen durch Candida albicans und Dermatophyten
AIRE
(Nagamine et al. 1997)
Unbekannt
(Moreno et al. 1990)
Hypoparathyreoidismus, primäre adrenokortikale Insuffizienz
Autoimmunpolyglanduläres Syndrom Typ I, APECED Intestinale Polyatresie
Autosomalrezessiv?
Multiple segmentale Atresie-Areale im Dünn- und Dickdarm, kombinierter Immundefekt
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Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
24.7
Diagnostik
I Die klassische Anamnese eines Patienten mit einem lymphozytären Immundefekt umfasst schwere, rezidivierende Infektionen, die durch opportunistische bzw. ungewöhnliche mikrobielle Erreger hervorgerufen werden, oder die durch die Besonderheit ihrer anatomischen Lokalisation auffallen (z. B. Cholangitis, Enzephalitis). Die Erkenntnis der Variabilität der klinischen Verläufe und der Bedeutung des Einflusses epigenetischer Faktoren lehrt, dass die Manifestation eines primären Immundefektes keineswegs auf das junge Kindesalter beschränkt ist. Vielmehr ist diese Differenzialdiagnose auch bei älteren Kindern und Erwachsenen mit entsprechenden Befunden in Betracht zu ziehen. Bei allen Patienten mit persistierenden bzw. rezidivierenden Infektionen trotz adäquater antibiotischer Behandlung und bei Patienten mit Infektionen durch opportunistische/ungewöhnliche Erreger sollte daher ein primärer (bzw. sekundärer) Immundefekt differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn bereits ein Geschwisterkind mit Immundefekt diagnostiziert wurde oder wenn die Eltern konsanguin sind. Bei Patienten mit komplexen Erkrankungen können unter Umständen Symptome anderer Organsysteme auf eine Aberration des Immunsystems verweisen. Hinweise auf Vorliegen eines primären Immundefektes: Familien mit bekannter oder mutmaßlicher Familienanamnese eines primären Immundefektes Gedeihstörungen und chronisch-persistierende Diarrhö Chronisch-rezidivierende Infektionen der oberen Luftwege Infektionen durch opportunistische Erreger Rezidivierende Hautabszesse, Periodontitis, Wundheilungsstörungen Autoimmunerkrankungen Assoziierte Symptome
Die Labordiagnostik erfolgt nach einem Stufenschema (⊡ Tabelle 24.2). Bereits ein Differenzialblutbild kann wichtige Erkenntnisse liefern. Neugeborene und Kinder im ersten Lebensjahr weisen höhere absolute Lymphozytenzahlen im peripheren Blut als ältere Kinder auf. Bei Nachweis einer absoluten Lymphopenie (<2000/µl) im ersten Lebensjahr und entsprechenden klinischen Befunden muss umgehend eine weitere Diagnostik zum Ausschluss eines schweren kombinierten Immundefektes erfolgen. Allerdings schließt auch eine normale Lymphozytenzahl einen Immundefekt keineswegs aus: Bei Neugeborenen mit SCID kann unter Umständen ein »engraftment« und eine Expansion mütterlicher T-Zellen mit dem klinischen Bild einer »Graft-versus-host«Reaktion vorliegen. Zur Sicherung der Diagnose eines primären lymphozytären Immundefektes ( Kap. 18) ist die Analyse des lymphozytären Kompartiments (Nachweis der Differenzierung durch Analyse der Oberflächenrezeptoren und funktionelle Analysen durch Stimulations-Assays) nötig. Die Lymphozytensubpopulationen (T, B, NK) werden durchflusszytometrisch bestimmt. Aus der Verteilung lassen sich wichtige Hinweise bezüglich quantitativer Aberrationen oder spezifischer Defekte erschließen. Die Untersuchung erlaubt die gleichzeitige Bestimmung von mehreren T-Zellmarkern (CD3, CD4, CD8), Aktivierungsmarkern (CD69, CD71, CD25, HLA-DR), B-Zellmarkern (CD19, CD20, IgM) und NK-Markern (CD16, CD56, CD141). In manchen Fällen (zur Evaluierung der CD40L-Expression) müssen T-Zellen zuvor in vitro aktiviert werden. Eine funktionelle Untersuchung des B-Zellkompartiments ist in einem ersten Schritt durch die quantitative Bestimmung der Immunglobuline (IgG, IgA, IgM) im Blutserum möglich. Eine Differenzierung der Immunglobulin-Subklassen (IgG1–4) zur Diagnostik der primären Immundefekte hat unter Umständen nur eine eingeschränkte Aussagekraft, da einerseits bei Normwerten ein Immundefekt vorliegen kann und andererseits bei Vorliegen eines Subklassendefektes klinisch kein Immundefekt resultieren muss. Die Bestimmung der Isohämagglutinine (anti-A, anti-B) gibt bereits einen ersten Hinweis auf die T-Zell-unabhängige Bildung spezifischer Anti-Polysaccharidantikörper. Darüber hinaus kann die Bildung von spezifischen Polysaccharidantikörpern
⊡ Tabelle 24.2. Stufendiagnostik der lymphozytären Immundefekte
Stufe I
Stufe II
Anamnese Klinische Untersuchung Differenzialbild
Phänotypisierung der Lymphozytensubpopulationen (Durchflusszytometrie) In-vitro-Proliferationsuntersuchungen In-vitro-Differenzierung und -Quantifizierung der Immunglobulinsynthese
Quantitative Bestimmung der Immunglobuline (IgA, G, M) Spezifische Antikörper (Impfantigene) Hauttest auf »Recall-Antigene«
Zytotoxizität Apoptose-Assays ADA, PNP Zytogenetische Untersuchungen (Chromosomenbrüchigkeit, SKY, CGH) α-Fetoprotein
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nach Impfung mit proteinfreiem Pneumokokken- oder Meningokokkenimpfstoff bei Kindern über 2 Jahre getestet werden. T-Zell-abhängige Antikörper gegen Proteine werden nach Immunisierung mit Diphtherie/Tetanus/HiB-Vakzinen bestimmt. Nicht-immunisierte Patienten werden nach den gängigen Richtlinien immunisiert, die Antikörperantwort wird 3 Wochen nach der letzten Impfung bestimmt. Immunisierte Patienten mit grenzwertigen Titern sollten eine Booster-Impfung erhalten, um die Aussagekraft des Assays zu erhöhen. Cave Alle Lebendimpfungen sind bei Patienten mit primären Immundefekten kontraindiziert.
Ein erster Screening-Test zur funktionellen Evaluierung der T-Zellantwort besteht in der Analyse einer Hautreaktion vom verzögerten Typ, z. B. durch Anlegen eines Multitest Mérieux, bei dem die Sensitivität auf »Recall«-Antigene wie Tetanus, Diphtherie und Candida gemessen wird. Eine exaktere Messung ist durch In-vitro-Stimulations-Assays möglich, in denen die Proliferation von Lymphozyten auf Lektine (PHA, ConA), anti-CD3-monoklonale Antikörper oder spezifische Antigene (Diphtherie, Tetanus, PPD, Trichophyton, Mumps) quantifiziert wird. Außerdem stehen heute weitere funktionelle Untersuchungen, wie z. B. die Untersuchung der Expression von spezifischen Zytokinen, die Analyse von Apoptosewegen und zytotoxischer Funktionen zur Verfügung. Bei allen Patienten mit Verdacht auf SCID und T-Zelldysfunktion sollte die Enzymaktivität der Adenosindeaminase (ADA) und der Purinnukleosidphosphorylase (PNP) bestimmt werden. Spezielle zytogenetische Analysen mit Brüchigkeitsanalysen und neuere Verfahren der komparativen genomischen Hybridisierung helfen bei der Diagnostik chromosomaler Instabilitätssyndrome und klonaler Aberrationen. Unter Umständen sind auch weitere diagnostische Maßnahmen indiziert, wie z. B. eine histologisch-pathologische Analyse von Lymphknoten und Knochenmarkpunktaten (zum Ausschluss von malignen Erkrankungen bzw. Beurteilung der B-Zell-Reifung), intestinale Biopsien (Nachweis von Kryptosporidien/Giardia lamblia, GVHD), Hautbiopsien (maternofetale Transfusion, GVHD) oder molekulare Chimärismusuntersuchungen. Angesichts der Vielfalt der phänotypischen Manifestation und der Fülle der mittlerweile identifizierten Gene kommt der molekularen Diagnostik und dem Nachweis spezifischer Mutationen eine wichtige Rolle zur definitiven Bestimmung der Diagnose vieler angeborener Immundefekte zu. Diese Untersuchungen werden in spezialisierten Laboratorien durchgeführt. Internationale Konsortien haben Datenbanken etabliert, mit deren Hilfe Genotyp/PhänotypUntersuchungen möglich werden (Vihinen et al. 2001). Molekularbiologische Untersuchungen der vergangenen Jahre haben interessante Befunde geliefert, die diagnostisch und in therapeutischer Perspektive von Bedeutung sind: T-Zellen von immundefizienten Patienten können spontane Reversionen aufweisen, die den intakten Genotyp rekonstituieren. Dieses Phänomen, dessen genetische Grundlage noch nicht geklärt ist, wurde bei Patienten mit ADA-Defizienz (Ariga et al. 2001a, Hirschhorn et al. 1996), X-chromosomal
vererbtem SCID (Stephan et al. 1996) und Wiskott-AldrichSyndrom (Ariga et al. 2001b, Wada et al. 2001) dokumentiert. 24.8
Therapie
Die Therapie der primären Immundefekte stellt eine multidisziplinäre Herausforderung dar. Zum Zeitpunkt der klinischen Manifestation stehen in der Regel infektiologische Komplikationen im Vordergrund, die je nach Erreger und Lokalisation einer spezifischen antimikrobiellen Behandlung bedürfen. Primär die B-Zellen betreffenden Immundefekte können oft durch eine Substitution der Immunglobuline ausreichend behandelt werden. Die Menge und die Frequenz der Immunglobulingaben richtet sich dabei sowohl nach den IgG-Spiegeln als auch nach klinischen Parametern. Unter Umständen ist auch eine intrathekale Gabe von Immunglobulinen (bei ZNS-Infektionen durch Enteroviren) zu erwägen. Primäre Defekte der T-Zellen können nur durch eine Stammzelltherapie (Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen bzw. autologer, genetisch korrigierter HSC) kurativ behandelt werden. Die umfangreichsten und im Ergebnis besten Erfahrungen sind bei den schweren kombinierten Immundefekten gesammelt worden. Die Transplantation HLA-identischer Stammzellen (aus Knochenmark oder peripherem Blut) von verwandten Spendern ist die bevorzugte Therapie des SCID. Da die Patienten aufgrund des T-Zelldefektes das Transplantat nicht abstoßen, kann die Transplantation ohne Konditionierung durchgeführt werden. Die Erfolgschancen liegen heute bei über 90% (Bertrand et al. 1999; Buckley et al. 1999). Da die meisten Patienten jedoch keinen HLA-identischen Familienspender haben, werden alternative Transplantationsverfahren entwickelt. HLA-haploidentische Stammzelltransplantationen, bei denen die Eltern als Spender dienen, werden vermehrt eingesetzt. Der Erfolg hängt allerdings von diversen Variablen wie der SCID-Variante und dem Vorbestehen von Infektionen ab (Bertrand et al. 1999). Obwohl HLA-haploidentische Transplantationen mit gutem Erfolg auch ohne Konditionierung durchgeführt werden können (Buckley et al. 1999), favorisieren viele Zentren eine myeloablative und immunsuppressive Konditionierung, um so dem Risiko einer Transplantatabstoßung und einem Fortbestehen der B-Zelldefizienz vorzubeugen. Möglicherweise kann durch den Einsatz weniger toxischer Konditionierungsverfahren (nicht-myeloablative Therapie) die mit diesem Vorgehen assoziierte Toxizität weiter reduziert werden (Amrolia et al. 2000). Allogene Stammzelltransplantationen wurden auch erfolgreich zur Therapie anderer kombinierter Immundefekte eingesetzt. So können Patienten mit Wiskott-Aldrich-Syndrom, MHC-Klasse-II-Defekt, Hyper-IgM-Syndrom etc. heute kurativ behandelt werden. Die allogene Stammzelltransplantation bei diesen Patientengruppen gestaltet sich unter Umständen deutlich schwieriger, insbesondere wenn kein HLA-identischer Spender zur Verfügung steht. Mit zunehmender Genauigkeit der HLA-Typisierung durch molekularbiologische Verfahren zeitigen auch Transplantationen mit nicht-verwandten HLA-identischen Spendern bzw. mit
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Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
Nabelschnurblut bessere Ergebnisse. In diesen Fällen ist eine mögliche Therapieverzögerung durch die Dauer der Spendersuche zu berücksichtigen. ! Die Entscheidung zu einer Stammzelltransplantation ist nicht nur abhängig vom psychosozialen Kontext und den Präferenzen der Patienten und ihrer Familien, sondern auch von den individuellen krankheitsspezifischen Risikofaktoren, da die Erfolgsaussichten einer Stammzelltransplantation vom klinischen Zustand der Patienten (vorbestehenden Infektionen) und dem jeweiligen Typ der Immundefizienz abhängig sind.
Die notwendige symptomatische Therapie bei T-Zelldefekten umfasst die Substitution von Immunglobulin sowie eine PCP-Prophylaxe. Auch prophylaktische antibakterielle und antimykotische Maßnahmen werden eingesetzt. Um eine transfusionsassoziierte GVHD zu vermeiden, sollten alle zellulären Blutprodukte bestrahlt werden. Bei einer Reihe von primären Immundefekten liegen interessante präklinische und klinische Daten einer spezifischen Gentherapie vor (chronische Granulomatose, ZAP70Defekt, Wiskott-Aldrich-Syndrom und SCID). Eine Korrektur dieser monogenen Erkrankungen durch die Transplantation genetisch modifizierter autologer hämatopoetischer Stammzellen könnte möglicherweise eine Alternative zur nebenwirkungsreichen allogenen Transplantation darstellen. So hat die erfolgreiche Gentherapie von Patienten mit γc-KettenDefizienz dem Konzept der genetischen Therapie zum Durchbruch verholfen (Cavazzana-Calvo et al. 2000; HaceinBey-Abina et al. 2002). Viele Fragen bleiben allerdings offen – von der Wahl der Vektoren und der Transduktionsprotokolle über den notwendigen Einsatz von Konditionierungsregimen bis zur adäquaten Risikobeurteilung und der ethischen Vertretbarkeit experimenteller Therapien im Kindesalter angesichts der Möglichkeit einer allogenen Stammzelltransplantation. Wie jede neue Therapie bedarf auch die Gentherapie daher einer kritischen Risiko- und Nutzenabwägung und einer disziplinierten (prä-)klinischen Prüfung.
Primäre Immundefekterkrankungen stellen eine komplexe Gruppe von genetischen Störungen dar, die nicht nur auf molekularer Ebene, sondern auch im Hinblick auf ihre klinische Manifestation sehr heterogener Natur sind. Die molekulare Aufklärung erlaubt heute in vielen Fällen eine präzise Diagnostik sowie eine risikoadaptierte spezifische Therapie. Als »Modellerkrankungen« zur Entwicklung zellulärer und genetischer Therapieverfahren werden sie auch in Zukunft eine paradigmatische Rolle spielen.
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267 24 · Angeborene Immundefekte
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24
I
Erworbene Immundefekte I. Grosch-Wörner, V. Wahn
25.1
HIV-Infektion und AIDS – 268
25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.1.6 25.1.7 25.1.8
Epidemiologie – 268 Ätiologie – 268 Infektionswege – 269 Pathogenese – 269 Verlauf der HIV-Infektion ohne Intervention – 269 Klassifikation – 270 Diagnostik der kindlichen HIV-Infektion – 270 Verlaufsüberwachung intrauterin HIV-exponierter Kinder – 270 25.1.9 Moderne antiretrovirale Therapie – 271 25.1.10 Prognose – 273
25.2
Immunsuppression durch andere Viren – 273
25.2.1 25.2.2
Zytomegalievirus – 273 Masernvirus – 274
25.3 25.4 25.5
Malnutrition – 275 Rheumatische Erkrankungen Splenektomie – 275 Literatur – 276
– 275
nehmen die jährlichen Neuinfektionen zu. So wurden z. B. im Jahre 1997 428 Kinder HIV-infiziert, im Jahre 2000 1241 Kinder. Diese Zunahme ist bedingt durch steigende Zahlen an Neuinfektionen in Osteuropa (Ukraine); in Westeuropa nehmen die jährlichen Neuinfektionen tendenziell ab. In Deutschland sind seit 1984 kumulativ etwa 600 an AIDS erkrankte Kinder und Jugendliche im AIDS-Zentrum am Robert-Koch-Institut in Berlin gemeldet worden. Das sind etwa 3% aller gemeldeten AIDS-Erkrankungen in Deutschland. Die im Rahmen von anonymisierten Testungen ermittelte HIV-Seroprävalenz bei Neugeborenen in Deutschland liegt bei durchschnittlich 0,27‰. Ausgehend von 800.000 Geburten jährlich kann angenommen werden, dass pro Jahr etwa 220 HIV-exponierte Kinder geboren werden. Bei einer Transmissionsrate von 15% ohne Intervention wären mit etwa 30 HIV-infizierten Neugeborenen pro Jahr in Deutschland zu rechnen, bei Transmissionsraten von unter 2% bei entsprechender Prophylaxe mit etwa 5 infizierten Neugeborenen pro Jahr.
25.1.2 Ätiologie Im Grundsatz ist zu unterscheiden zwischen Infektanfälligkeit, die durch die Erkrankung selbst entsteht, und Infektanfälligkeit, die durch die Therapie bedingt ist. Da die Auswirkungen der Immunsuppressiva und Zytostatika in anderen Kapitel dargestellt werden, konzentriert sich dieses Kapitel auf die Darstellung entsprechender Grundkrankheiten, bei denen es sich nicht nur um angeborene Störungen der Immunabwehr ( Kap. 24), sondern auch um erworbene Störungen (Übersicht bei Shearer u. Anderson 1989) handeln kann. Im Folgenden soll nur auf bestimmte sekundäre Immundefekte mit Praxisrelevanz exemplarisch eingegangen werden soll.
25.1
HIV-Infektion und AIDS
25.1.1 Epidemiologie Weltweit leben 40 Millionen Menschen mit einer HIV-Infektion bzw. sind AIDS-krank (UNAIDS Dezember 2001); 2,7 Millionen sind Kinder. Die jährliche Rate an Neuinfektionen betrug 2001 insgesamt 5 Millionen, 800.000 dieser Patienten waren Kinder. Dies bedeutet, dass täglich mehr als 2000 Kinder mit HIV infiziert werden. 3 Millionen der Patienten sind verstorben, davon 580.000 Kinder unter 15 Jahren (www.UNAIDS.org). In Europa (EuroHIV 6/2001 www.invs.sante.fr) sind kumulativ 5293 HIV-infizierte Kinder bekannt. Auch hier
Definition AIDS wird durch HIV verursacht. AIDS (»aquired immune deficiency syndrome«) liegt dann vor, wenn bei nachgewiesener HIV-Infektion bestimmte AIDS-definierende Sekundärerkrankungen auftreten (opportunistische Infektionen, maligne Tumoren).
Sowohl für HIV-1 wie HIV-2 sind verschiedene Varianten bekannt. In Mitteleuropa und den USA findet sich fast ausschließlich HIV-1, während in Westafrika in nennenswertem Umfang auch HIV-2 gefunden wird. Es scheint, dass für HIV2 die Inkubationszeit länger und das pathogene Potenzial geringer ist als für HIV-1. Unter den molekularbiologisch definierten HIV-1-Subtypen dominiert in Europa der Typ B, während in anderen Regionen der Welt auch die Subtypen A, C, D, E, F, G, H und 0 gefunden werden. HIV gehört zur Gruppe der Retroviren, verfügt also über eine reverse Transkriptase, mit dessen Hilfe virale RNA zu in das menschliche Genom einbaufähiger DNA umkopiert wird. HIV dürfte hinsichtlich Morphologie, biochemischer Zusammensetzung, genomischer Organisation und Replikationszyklus das wohl am besten untersuchte Virus überhaupt sein. HIV ist ausgesprochen polymorph, bedingt durch die hohe Neigung zu Spontanmutationen im infizierten Organismus. Dabei entstehen oft Virusvarianten, die eine gesteigerte Zytopathogenität, Synzytieninduktion oder Replikationsfähigkeit aufweisen. In Einzelfällen konnte sogar gezeigt wer-
269 25 · Erworbene Immundefekte
den, dass beim selben Patienten gleichzeitig mehrere HIVVarianten vorkommen mit unterschiedlichem zytopathogenem Potenzial und Zelltropismus. Mit Hilfe bestimmter Restriktionsendonukleasen lassen sich molekulargenetisch aggressive von weniger aggressiven Varianten unterscheiden. Es gibt Mutationen, die durch die antiretrovirale Therapie induziert werden. HIV kann unterschiedliche Zellen infizieren, insbesondere T-Zellen und Monozyten, wobei bestimmte Varianten besondere Affinität zu bestimmten Zellen aufweisen. Solche unterschiedliche Varianten haben auch eine unterschiedliche Organotropie: Während Isolate aus dem Blut besser lymphozytäre Zellen infizieren, gelingt dies für Liquorisolate besser an monozytären Zellen. 25.1.3 Infektionswege Fast alle heutigen HIV-Infektionen im Kindesalter werden vertikal, d. h. von Mutter auf Kind während der Schwangerschaft und insbesondere unter der Geburt übertragen (Rouzioux et al. 1995). Es gibt auch Anhaltspunkte für eine frühe diaplazentare Übertragung in den ersten Schwangerschaftsmonaten. Die vertikale Transmissionsrate liegt ohne Intervention in Europa bei ca. 16% (The European Collaborative Study 1994). Da HIV postnatal über Muttermilch übertragen werden kann, ist bei Kenntnis der mütterlichen HIV-Infektion dringend vom Stillen abzuraten. Die horizontalen Infektionswege über Geschlechtsverkehr, Blut- und Blutprodukte, sexueller Missbrauch sowie intravenösen Drogengebrauch haben für die HIV-Infektion bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland eine geringe epidemiologische Bedeutung.
G-Protein-gekoppelten Korezeptors (CCR-5) für die Chemokine RANTES, MIP-α (macrophage inflammatory protein) und MIP-β (⊡ Abb. 25.1). Die Infektion von Mikrogliazellen kann über CCR-3 und CCR-5 vermittelt werden. Bestimmte Polymorphismen des Korezeptors CCR-5, z. B. das ∆32-Allel mit einer Deletion von 32 Basenpaaren scheinen einen relativen Schutz gegenüber der HIV-Infektion zu bieten. Das nach reverser Transkription als DNA vorliegende retrovirale Genom wird mittels des spezifischen Enzyms Integrase in die humane DNA integriert. Damit ist das Stadium einer latenten Infektion erreicht. Die HIV-Replikationsrate ist hoch, mit einer Virionenneubildung im Bereich von 109/d ist zu rechnen (Ho et al. 1995). Umschreibungsfehler innerhalb dieses Vermehrungsprozesses erklären die relativ häufigen Mutationen von HIV. ! Entscheidend in der AIDS-Pathogenese ist der Verlust funktionstüchtiger CD4-Zellen durch eine große Zahl unterschiedlicher, z. T. autoimmunologischer Mechanismen. Die Abnahme dieser CD4-Zellen wiederum ist wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der meisten AIDS-definierenden Erkrankungen ( unten).
Quantitativ zeigen sich dabei erhebliche Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern: Während bei Erwachsenen AIDS-definierende Infektionen kaum bei CD4-Zellzahlen >200/µl zu erwarten sind, kann etwa eine PneumocystisPneumonie bei Säuglingen und Kleinkindern bereits bei CD4-Zellzahlen >1000/µl auftreten. 25.1.5 Verlauf der HIV-Infektion ohne
Intervention 25.1.4 Pathogenese Zielzellen der HIV-Infektion sind in erster Linie Zellen, die das CD4-Molekül auf der Oberfläche tragen (so genannte Helfer-T-Zellen, Monozyten, Makrophagen, Langerhans-Zellen, Glia-Zellen u. a.). HIV benutzt dieses Molekül als Rezeptor. Zum Eindringen in T-Zellen bedarf es zusätzlich eines G-Protein-gekoppelten Korezeptors, der als »Fusin« (CXCR-4) bezeichnet wird, zum Eindringen in Makrophagen eines
⊡ Abb. 25.1. Korezeptoren für HIV
Der natürliche Verlauf der HIV-Infektion im Kindesalter unterscheidet sich in erheblichem Masse von dem des HIV-infizierten Erwachsenen. Nach Ergebnissen von 2 europäischen prospektiven HIV-Perinatalstudien (Blanche et al. 1997; The European Collaborative Study) hatten 20% (16–24%) der infizierten Kinder bereits im 1. Lebensjahr eine AIDS-definierende Symptomatik (Stadium C; Centers for Disease Control 1994) oder waren im Zusammenhang mit der HIV-Infek-
25
270
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
tion verstorben. Die Progression zum Krankheitsstadium C (AIDS) ist mit 4,7% nach dem 1. Lebensjahr relativ konstant und deutlich geringer als im 1. Lebensjahr. Bis zum Ende des 6. Lebensjahres ergibt sich daraus eine kumulative Inzidenzrate von 36% (30–43%) für das Krankheitsstadium C. Nur 3% der vertikal infizierten Kinder waren bis zum Ende des 6. Lebensjahres klinisch und immunologisch asymptomatisch (Stadium N; Centers for Disease Control 1994). Opportunistische Infektionen (z. B. Pneumocystis-cariniiPneumonie, Kryptosporidiose, CMV, Candidiasis) sind mit 67,5% (The European Collaborative Study 1994) die häufigsten AIDS-definierenden Erkrankungen, gefolgt von schwer verlaufenden rezidivierenden bakteriellen Infektionen (17,6%), lymphozytärer interstitieller Pneumonie (8,8%) und der HIV-Enzephalopathie (5,8% als alleinige Manifestation, mit anderen Erkrankungen kombiniert 11,7%). Hinsichtlich immunologischer Parameter ließ sich feststellen, dass mit 6 Jahren fast alle (99%) Kinder einen mittelschweren Immundefekt hatten, und 77% der Kinder sogar einen schweren Immundefekt aufwiesen. Für das Überleben der Kinder galt, dass 26% (20–32%) der Kinder vor dem 6. Lebensjahr aufgrund ihrer HIV-Erkrankung verstarben. Seither sind deutliche Fortschritte in der Therapie gemacht worden, die die Prognose günstiger aussehen lassen. 25.1.6 Klassifikation Zur Stadieneinteilung der kindlichen HIV-Infektion werden (analog zur Klassifikation der Erwachsenen) folgende Kriterien herangezogen (⊡ Tabelle 25.1 und 25.2): ▬ Infektionsstatus (ungesichert, gesichert), ▬ Immunsuppression (keine, mittelschwere, schwer), und ▬ klinische Symptome (keine – N, leichte – A, mittelschwere – B, schwere – C).
Die erhobenen Befunde werden sich ausschließenden Kriterien zugeordnet. Der Falldefinition AIDS von 1987 entspricht »schwere klinische Symptomatik –Kategorie C«. Die Klassifizierung soll eine prognostische Aussage ermöglichen. 25.1.7 Diagnostik der kindlichen HIV-Infektion Serologische Methoden (HIV-Antikörper) sind nur bei Kindern, die älter als 18 Lebensmonate sind, diagnostisch. Es gilt eine Infektion dann als gesichert, wenn in 2 verschiedenen Serumproben HIV-Antikörper nachweisbar sind. In den ersten 18 Lebensmonaten ist die Diagnose einer HIV-Infektion nur durch einen Direktnachweis von Virus (PCR, Virusanzucht) oder Virusbestandteilen (p24-Antigen) in mindestens 2 verschiedenen Serumproben zu stellen. Die gegenwärtig bevorzugte diagnostische Methode ist die HIV-RNA-PCR (Spezifität annähernd 100%), die durch die quantitative HIV-PCR ergänzt werden kann. Da kommerzielle Tests bisher nicht alle Subtypen der HIV-1-Varianten erfassen können, sollte im Zweifelsfall bei der Erstuntersuchung mütterliches Blut mit gleicher Methodik untersucht werden. Die Sensitivität der HIV-RNA-PCR steigt von 38% (in ersten 2 Lebenstagen) über 93% (14 Lebenstage) auf etwa 96% (28 Lebenstage) an. Wahrscheinlich hängt dies mit den unterschiedlichen Infektionszeitpunkten zusammen. Nach derzeit gültigen Kriterien (Centers for Disease Control 1994) gilt eine HIV-Infektion bei einem intrauterin/perinatal HIV-exponierten Kind dann als ausgeschlossen, wenn ▬ keine HIV-IgG-Antikörper (bei Fehlen einer Hypogammaglobulinämie) mehr nachweisbar sind (Seroreverter), ▬ keine klinischen Zeichen einer HIV-Infektion vorhanden sind und ▬ die direkten Nachweisverfahren negativ sind. 25.1.8 Verlaufsüberwachung intrauterin
HIV-exponierter Kinder ⊡ Tabelle 25.1. CDC-Klassifikation der HIV-Infektion bei Kindern <13 Jahre (Centers for Disease Control 1994)
HIV-Klassifikation
Klinik N
A
B
C
Immunsuppression
Keine
Leicht
Mittel
Schwer
1: keine
N1
A1
B1
C1
2: mittelschwer
N2
A2
B2
C2
3: schwer
N3
A3
B3
C3
Neben der virologischen Diagnostik ist ein engmaschiges klinisches und immunologisches Monitoring erforderlich. Immunologische Veränderungen (CD4-Lymphopenie, CD4/ CD8-Inversion, Hyperimmunglobulinämie) können indirekt auf eine HIV-Infektion hinweisen. Diese Parameter sollten daher regelmäßig untersucht werden. Die erste Untersuchung sollte in den ersten Lebenstagen, die zweite mit ca. 4 Wochen, die dritte mit ca. 3 Monaten erfolgen. Altersabhängige Normwerte sind hierbei zu beachten. Die Beobachtungszeit beträgt in der Regel 18–24 Monate. HIV-infizierte Kinder sollten dauerhaft in einer Spezialambulanz betreut werden.
⊡ Tabelle 25.2. Altersabhängige Wertung relativer und absoluter CD4-Zelllkonzentrationen
0–12 Monate
1–5 Jahre
>5 Jahre
Immunologische Kategorie
CD4/µl (CD4 in %)
CD4/µl (CD4 in %)
CD4/µl (CD4 in %)
Kein Immundefekt
>1.500 (>25)
>1.000 (>25)
>500 (>25)
Mäßiger Immundefekt
750–1500 (15–25)
500–1000 (15–25)
200–500 (15–25)
Schwerer Immundefekt
<750 (<15)
<500 (<15)
<200 (<15)
271 25 · Erworbene Immundefekte
25.1.9 Moderne antiretrovirale Therapie Eine dramatische Senkung der Morbidität und Mortalität hat sich durch die seit 1996 zur Verfügung stehenden Interventionsmöglichkeiten erreichen lassen. Die Strategien haben zum Ziel, die HIV-Replikation effektiv zu unterdrücken und die Viruskonzentration im peripheren Blut (so genannter »viral load«) unter die Nachweisgrenze ultrasensitiver Assays (zur Zeit 5 Kopien/ml) zu senken. Eine Viruselimination ist auch bei frühzeitiger antiretroviraler Therapie nach derzeitiger Datenlage nicht möglich. Dieses Therapieziel kann durch die regelmäßige Einnahme einer Kombination aus mindestens 3 antiretroviral wirksamen Substanzen erreicht werden. Empfehlungen hierzu wurden in internationalen (www.hivatis.org) und nationalen Konsensus-Statements publiziert (Niehues et al. 2001). Potenzielle Angriffspunkte und einige Substanzen sind in ⊡ Abb. 25.2 dargestellt. Bei Kindern werden aktuell Substanzen eingesetzt, die die virusspezifische reverse Transkriptase oder Protease, in Zukunft vielleicht auch die Integrase hemmen. Durch Verwendung von so genannten Nukleosidanaloga kommt es bei der reversen Transkription zum fehlerhaften Einbau von Nukleotiden und damit zur Inhibition der reversen Transkription (nukleosidische Hemmer der reversen Transkriptase; NRTI). Die Non-NukleosidInhibitoren (NNRTI) hemmen ebenfalls die reverse Transkription. Die Protease-Inhibitoren (PI) blockieren die für den Aufbau infektiöser Viren verantwortliche viruseigene Protease. Nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren sind z. B. Zidovudin, Didanosin, Zalcitabin, Stavudin und Lamivudin, nicht-nukleosidische Reverse-Transkriptase-Inhibitoren sind z. B. Nevirapin, Delarvidin und Efavirenz. An Protease-Inhibitoren stehen Saquinavir, Ritonavir, Indinavir und Nelfinavir zur Verfügung. Die Medikamente sind bisher nur zum Teil in Deutschland und auch nur teilweise für das Kindesalter zugelassen. Für den Einsatz der Medikamente muss der jeweilige Stand der Zulassung berücksichtigt wer-
⊡ Abb. 25.2. Angriffspunkte antiretroviraler Substanzen
den. Im Einzelfall sind bei multiresistenten Viren aber individuelle Heilversuche verständlich und akzeptabel. Bestimmte Kombinationen antiretroviraler Substanzen sind aufgrund der Potenzierung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu vermeiden: z. B. Zidovudin und Stavudin, Zalcitabin in der Kombination mit Didanosin. Für die Entwicklung innovativer Therapiestrategien sollten möglichst viele Patienten im Rahmen von Studien, wie z. B. in den europaweiten PENTA-Studien (Pediatric European Network on the Treatment of AIDS) behandelt werden (www.ctu.mrc. ac.uk/penta). Therapieindikationen: Alle Kinder der klinischen Kategorien B und C sollten antiretroviral behandelt werden. Die Behandlung von Kindern in Kategorie A ist umstritten. Immunologische Kriterien: Alle Kinder in den immunologischen Kategorien 2 und 3 der CDCKlassifikation (Centers for Disease Control 1994) sollten behandelt werden, auch wenn die Indikation aufgrund der Viruslast allein nicht besteht. Virologische Kriterien (⊡ Tabelle 25.3).
⊡ Tabelle 25.3. Virologische Kriterien für den Beginn einer antiretroviralen Therapie
Alter
Empfehlung
0–3 Monate
Bei gesicherter HIV-Infektion, unabhängig von der Viruslast
4–24 Monate
RT-PCR >150.000 RNA-Kopien/ml oder bDNA >75.000 RNA-Kopien/ml Plasma
>24 Monate
RT-PCR >50.000 RNA-Kopien/ml oder bDNA >25.000 RNA-Kopien/ml Plasma
25
272
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
⊡ Tabelle 25.4. Antiretrovirale Initialtherapie eines HIV-infizierten Kindes
Regime
Beispiele
Alter 0–3 Monate
Entsprechend Protokoll PENTA 7
NRTI-1+NRTI-2+PI Alter >3 Monate bis 18 Jahre NRTI-1+NRTI-2+PI oder NRTI-1+NRTI-2+NNRTI
Primärtherapie sollte im Rahmen des PENTA-Studienprotokolls PENPACT 1 erfolgen (www.ctu.mrc.ac.uk/penta)
NRTI nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Inhibitor; NNRTI nicht-nukleosidischer Reverse-Transkriptase-Inhibitor; PI Protease-Inhibitor.
Die in der Übersicht aufgeführten Kriterien sind nicht unumstritten, sie werden möglicherweise durch verbesserte Datenlage geändert werden müssen. In ⊡ Tabelle 25.4 werden Therapieregime für die Initialtherapie vorgestellt. Zur Behandlung von Säuglingen in den ersten 3 Lebensmonaten liegen nur für die NRTI Zidovudin, Lamivudin und Didanosin Dosisangaben anhand von pharmakokinetischen Untersuchungen vor. Als Dreifachkombination wurde bisher nur Stavudin–Didanosin–Nelfinavir im Rahmen der Penta7-Studie geprüft. Hierbei zeigte sich, dass die NelfinavirDosis auf 150 mg/kg/Tag und mehr erhöht werden muss, um adäquate Wirkspiegel zu erreichen (Compagnucci et al. 2002). Für dieses Lebensalter steht weiter die Kombinationstherapie Zidovudin (360 mg/m2/Tag), Lamivudin (8 mg/kg/Tag), Abacavir (16 mg/kg/Tag) und Nevirapin (120 mg/m2/Tag initial, von Tag 14 an bei guter Verträglichkeit 300 mg/m2/ Tag) zur Disposition (Tudor-Williams et al. 2002). Diese Kombination ist eine interessante Option, die aber noch in einer größeren Studie geprüft werden muss. In Anbetracht der unklaren Datenlage könnte in Erwägung gezogen werden, im Alter bis zu 3 Monaten mit einer Zweifachtherapie (z. B. Zidovudin + Lamivudin) zu behandeln und ab dem 3. Lebensmonat die Therapie umzustellen oder zu ergänzen. ! Die Therapie wird als effektiv angesehen, wenn die Viruskonzentration innerhalb von 6 Monaten um wenigstens 1,5 log-Stufen abgefallen ist (Niehues et al. 2001). Als klinisches Therapieversagen werden die Progression in der CDC-Klassifikation zur nächsten Kategorie, eine Enzephalopathie, Gedeihstörungen oder andere schwere Komplikationen der Grunderkrankung angesehen.
Fällt die absolute CD4-Zellzahl innerhalb von 6 Monaten um mehr als 30% vom Ausgangswert oder sinkt die relative Anzahl in diesem Zeitraum um mehr als 5%, ist ebenso wie bei primären Non-Respondern und beim klinischen Therapieversagen eine Therapieumstellung erforderlich. Prophylaxe der Mutter-Kind-Transmission 1994 wurde in einer Studie die erfolgreiche Reduktion der Transmissionsrate durch die Gabe von Zidovudin während der Schwangerschaft und postpartal nachgewiesen (Connor et al. 1994). Die Transmissionsrate konnte auch durch die elektive Schnittentbindung vor Wehenbeginn signifikant gesenkt werden. Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für die derzeitigen Empfehlungen zur Prophylaxe der vertikalen HIV-Infektion (www.rki.de). Grundvoraussetzung ist die
Kenntnis der HIV-Infektion, so dass die HIV-Testung vor oder zumindest während der Schwangerschaft dringend anzuraten ist. Tipp für die Praxis Einer bisher unbehandelten und aufgrund der bestehenden Richtlinien nicht therapiebedürftigen HIV-infizierten Schwangeren werden die Einnahme von Zidovudin ab der vollendeten 32. Schwangerschaftswoche (32+0 SSW) und eine elektive Sectio caesarea (vor Blasensprung und Einsetzen der Wehen) nach der vollendeten 36. SSW (36+0) empfohlen. Das Neugeborene erhält postnatal Zidovudin in einer Dosierung von 1,5 mg/kg KG intravenös alle 6 h für 10 Tage oder alternativ 2 mg/kg KG per os alle 6 h für 2–6 Wochen.
Diese Vorgehensweise senkt die Transmissionsrate unter 2% (Grosch-Wörner et al. 2000, Newell u. Rogers 2002; The International Perinatal HIV Group 1999). Bei Therapiebedürftigkeit der Mutter ist je nach Schweregrad der HIV-Infektion entsprechend der Richtlinien die Mutter zu behandeln. Hierbei sollten Substanzen verwendet werden, die den Fetus geringstmöglich belasten. Bei komplizierten Schwangerschaften und geburtsmedizinischen Risiken (Zwillinge, Frühgeburten, vorzeitiger Blasensprung, Verletzung des Kindes bei der Kaiserschnittentbindung) oder Nichteinhaltung des obigen Schemas kann die zusätzliche peripartale und postnatale Gabe von Nevirapin und postnatale Gabe von Lamivudin die Transmissionsrate weiter senken (Buchholz et al. 2002). Unerwünschte Wirkungen der antiretroviralen Therapie Seit ca. 2 Jahren hat sich gezeigt, dass bei Einsatz der erfolgreichen Interventionsstrategien mit ihrem deutlichen Benefit für die Prognose, aber auch mit schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen zu rechnen ist. Ausgeprägte Störungen des Lipid- und Glukosestoffwechsels sind zu erwarten (Carr et al. 1998; Thierry et al. 1999), aber auch multiple weitere Nebenwirkungen, die dem Behandler bekannt sein sollten. Die klinischen Bilder dieser metabolischen Störungen bestehen in Fettumverteilungsstörungen mit deutlicher Veränderung des Phänotyps der Patienten. Es kommt zur Fettansammlung im Nacken (»buffalo hump«), zur Fettansammlung im Bereich des Abdomens und zum Verlust der Fettdepots im Gesicht und den Extremitäten, insgesamt bezeichnet als Lipodystrophie. Laborauffälligkeiten umfassen Hyperlipidämie, Hyperinsulinämie, verminderte Glukose-
273 25 · Erworbene Immundefekte
toleranz und Diabetes mellitus. Als risikoreich wird die endotheliale Fetteinlagerung mit den Spätfolgen eines Myokardinfarktes postuliert. Die Ursachen dieser metabolischen Störungen sind nicht klar, von einer multifaktoriellen Genese ist auszugehen. Klar ist aber der Zusammenhang mit der Gabe antiretroviral wirksamer Medikamente. Postuliert wird z. B. eine Störung der Mitochondrienfunktion durch Hemmung der mitochondrialen Polymerase beim Einsatz von Nukleosidanaloga. Mit Laktaterhöhungen bis zur Laktatazidose ist zu rechnen. Die Fett- und Glukosestoffwechselstörungen sind zunächst bei erwachsenen HIV-Patienten beschrieben worden, pädiatrische Daten sind bisher spärlich (Babl et al. 1999). Es dürfte aber damit zu rechnen sein, dass bei ca. 60% der Kinder unerwünschte Wirkungen der antiretroviralen Therapie auftreten. Es gilt, diese früh zu erfassen, um durch z. B. Wechsel der Medikamente irreversible Schäden zu vermeiden. Zu bedenken ist in diesem Kontext, dass bei der HIV-Infektion die Medikation lebenslang erfolgen muss. 25.1.10 Prognose Durch den Einsatz der ART hat sich die Prognose erwachsener HIV-Patienten und auch von Kindern deutlich verbessert. So kann aufgrund der Analyse von ersten prospektiven Daten davon ausgegangen werden, dass die Progression zu AIDS innerhalb von 3 Jahren mit 3,4% anzunehmen ist (Egger et al. 2002). Bei Kindern haben erste Auswertungen der europäischen Multicenter Studie (The European Collaborative Study 2001) ermutigende Ergebnisse erbracht. Die AIDS-Prävalenz im ersten Jahr beträgt ca. 5%. In den ersten 4 Lebensjahren kann davon ausgegangen werden, dass weniger als 25% der infizierten Kinder symptomatisch sein werden.
⊡ Abb. 25.3. Die normale CMV-Abwehr
25.2
Immunsuppression durch andere Viren
Da nicht alle Originalarbeiten zitiert werden können, sei auf eine Übersichtsarbeit verwiesen (Naniche u. Oldstode 2000). 25.2.1 Zytomegalievirus Dass das Zytomegalievirus (CMV) durch Reaktivierung unter Immunsuppression oder in einer Transplantationssituation Probleme bereiten kann, ist jedem Onkologen/ Transplanteur bekannt. Weniger bekannt sind Mechanismen, über die CMV sich der Immunabwehr entzieht und selbst eine Immunsuppression bewirkt. In ⊡ Abb. 25.3 wird versucht, die physiologische Abwehr gegen CMV darzustellen, sofern sie funktioniert. Entscheidend für eine suffiziente Immunabwehr ist die Expression prozessierter CMV-Peptide durch MHC I. Nur so können zytotoxische T-Zellen die infizierten Zellen erkennen und abtöten. Auch NK-Zellen sind an der Abtötung infizierter Zellen beteiligt, werden aber anders reguliert. Folgende Mechanismen der Immunevasion und -suppression sind bekannt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): ▬ Störung der Peptidpräsentation durch MHC I in Monozyten/Makrophagen. CMV bewirkt eine Down-Regulation der klassischen MHC I-Expression durch bestimmte Glykoproteine, damit CTL-Hemmung. Beispielsweise wird TAP durch gpUS6 blockiert. gpUS3 blockiert den Transport des MHC-I/Peptid-Komplexes zum GolgiApparat. gpUS2 und gpUS11 bewirken einen MHC-ISchwerkettenrücktransport ins Zytoplasma und dessen Degradation im Proteasom. ▬ Störung der Funktion dendritischer Zellen. Im Mausmodell konnte gezeigt werden, dass dendritische Zellen
25
274
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
⊡ Abb. 25.4. Dargestellt ist der Lymphozytentransformationstest bei einem Säugling, der wegen kompletter Anergie und disseminierter CMV-Infektion mit Verdacht auf kombinierten Immundefekt in die Klinik eingewiesen wurde. Unter Ganciclovir Normalisierung von Transaminasen und zellulärer Immunität (eigene Beobachtung)
durch CMV infiziert werden können. Diese Infektion verhindert die Erzeugung von Signalen für die T-Zellaktivierung, wobei IL-2 eine Schlüsselrolle zukommt. Analoge Ergebnisse zeigten sich mit humanem CMV: Herunterregulierung von MHC I, CD40 und CD8, fehlende Ausreifung infizierter dendritischer Zellen, starke Beeinträchtigung der Synthese von IL-12 und TNF-α. Der CD95-Ligand wird hochreguliert, wodurch spezifische zytotoxische T-Zellen verstärkt apoptotisch werden können. ▬ Modulation der HLA-Expression zur Blockade der NKFunktion. CMV fördert, im Kontrast zum klassischen MHC I ( oben), die Heraufregulierung der nicht-klassischen HLA-E und -G. Diese hemmen die NK-Lyse nach Interaktion mit CD94/NKG2A-Rezeptoren auf NK-Zellen. Unabhängig von TAP-Mechanismen kann CMV gpUL40 dieses HLA-E heraufregulieren, NK-Lyse hemmen und damit CMV-Persistenz begünstigen. Zudem kodiert CMV für ein MHC-I-Homolog (gpUL18), das die NK-Lyse ebenfalls hemmt. Konsequenzen aus diesen Mechanismen sind zum einen, dass die Immunabwehr gegen CMV-infizierte Zellen unterlaufen wird, zum anderen, dass ein Immundefekt resultiert, der eine relevante Infektanfälligkeit nach sich zieht. Dies wird demonstriert anhand eines Säuglings, der wegen Verdacht auf SCID analysiert wurde, bei dem sich aber als Ursache eine CMV-Infektion nachweisen ließ. Die komplette T-Zellanergie war unter Ganciclovir reversibel (⊡ Abb. 25.4). ! Eine spezifische antivirale Therapie sollte nur dann erwogen werden, wenn entweder ein Immundefekt mit sekundärer CMV-Infektion zugrunde liegt, oder wenn eine chronische CMV-Infektion vorliegt, die einen sekundären Immundefekt induziert.
25.2.2 Masernvirus Die Masern sind keinesfalls eine banale Kinderkrankheit. Jährlich sterben in Entwicklungsländern ca. 1 Mio. Kinder daran. In Deutschland liegen nach Einführung der Meldepflicht dem Robert-Koch-Institut Zahlen vor, die ca. 80.000 Fälle pro Jahr erwarten lassen. Das Masernvirus (MV) induziert einen zellulären Immundefekt, der noch vor Jahrzehnten bei der Behandlung des
nephrotischen Syndroms therapeutisch genutzt wurde. Diese Therapie ist heute sicher obsolet. Der zelluläre Immundefekt behält aber in Anbetracht der epidemiologischen Situation seine Relevanz. Das Masernvirus dringt über spezifische zelluläre Rezeptoren in seine Zielzellen ein. Dabei scheint das virale Hämagglutinin den Zelltropismus für entweder lymphozytäre oder dendritische Zellen zu determinieren. Zelluläre Rezeptoren sind: ▬ »Membrane cofactor protein« (Komplement-Regulatorprotein) = CD46 (für Edmonston-Stamm und Impfstoffe), ▬ »Signalling lymphocyte activation molecule« = SLAM, CDw150 (für alle Masernviren inklusive klinischer Isolate), ▬ FcγRII = CD32 (für virales Nukleokapsidprotein). Die immunsuppressiven Effekte der Virusinfektion sind vielfältig. Im Zentrum steht ohne Frage die T-Zellanergie; aber auch andere Zellen werden infiziert und in ihrer Funktion supprimiert. Eine T-Zelle reagiert normalerweise auf Stimulation mit IL-2 mit Aktivierung von Tyrosinkinasen der src-Familie sowie den Januskinasen JAK1 und JAK3, so dass Bindungsstellen für STAT3 und STAT5 verfügbar werden. Daneben wird in T-Zellen durch IL-2 eine Phosphatidylinositol-3-Kinase aktiviert, die ihrerseits die Proteinkinase B/Akt aktiviert mit nachfolgender Ausbildung antiapoptotischer und proliferativer Signale. Masernvirus wirkt über mehrere Mechanismen immunsuppressiv: ▬ Crosslinkung von CD46 auf Monozyten induziert eine Herunterregulierung von IL-12 (⊡ Abb. 25.5). IL-12 wird normalerweise von Monozyten/Makrophagen synthetisiert und induziert IFN-γ in T- und NK-Zellen, fördert damit TH1-Antworten, ist notwendig für DTH-Antworten und verstärkt die NK-Zytotoxizität. ▬ Die Antigen-spezifische T-Zell-Proliferation wird durch einen löslichen Faktor, die Antigenprozessierung durch Zellmembranen MV-infizierter Zellen gehemmt. ▬ Die Ausreifung von dendritischen Zellen, die über CD40 stimuliert wurden, wird beeinträchtigt. ▬ Verstärkte Apoptose dendritischer Zellen über Fas/FasLInteraktion, nachdem T-Zellaktivierung zunächst eine
275 25 · Erworbene Immundefekte
⊡ Abb. 25.5. Ein Beispiel, wie das Masernvirus einen Immundefekt erzeugt: Nach Bindung an eine zellulären Rezeptor kommt es zu einem Crosslinking, das ein Signal in die Zelle transduziert, über das IL-12 herunterreguliert wird
Steigerung der Virusreplikation in dendritischen Zellen erzeugt hat. ▬ Bindung von MV an FcγRII bewirkt eine Hemmung der Antikörperbildung. ▬ Zerstörung von Akt, wodurch ein wesentlicher T-ZellAktivierungsweg entfällt. In SCID-Mäusen, die mit humanen peripheren Blutzellen engraftet waren, konnte gezeigt werden, dass Zellen von Neugeborenen viel anfälliger für immunsuppressive Effekte sind als adulte Zellen. Auch dieser Befund kann, in die klinische Situation übertragen, zur Erklärung der Sterblichkeit besonders von Säuglingen in Entwicklungsländern herangezogen werden. Die Masern bedürfen ohne Komplikationen nur symptomatischer Therapie. Der Immundefekt ist transient. 25.3
Malnutrition
Fraglos geht schwere Malnutrition mit immunologischer Unterfunktion und erhöhter Infektanfälligkeit einher. Da dieser Zustand in unseren Breiten jedoch epidemiologische keine Bedeutung hat, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. 25.4
Rheumatische Erkrankungen
Bei Erwachsenen mit SLE und rheumatoider Arthritis wird eine um mindesten 50% gesteigertes Infektionsrisiko im Vergleich zur Normalbevölkerung angenommen (Bouza et al. 2001). Die Häufung von Infektionen bei Kindern mit Autoimmunerkrankungen ist in der Literatur immer wieder diskutiert worden. Infektionen repräsentierten vor Jahrzehnten noch eine der Haupttodesursachen. Eine aktuelle Untersuchung von Al-Mayouf et al. (2001) an 70 Kindern mit SLE beschreibt zwar Infektionen bei 41%, konnte aber keine Risikofaktoren identifizieren, weder von Seiten der Grundkrankheit noch von Seiten der Therapie. Kein Kind verstarb an Infektionen, so dass heutige therapeutische Optionen die Epidemiologie wahrscheinlich verändert haben. Andere Autoren finden allerdings eine erhöhte Infektneigung, bedingt durch die z. T. komplexe Immunologie des Lupus und ande-
rer rheumatischer Erkrankungen, aber auch durch die immunsuppressive Therapie inklusive TNF-Blockade. Jeder Fieberschub bedarf somit der Abklärung, ob ein Krankheitsschub oder eine Sekundärinfektion vorliegt. Dazu können neben Blutbild. BSG und CRP auch Parameter wie etwa die CD64-Expression auf Neutrophilen hilfreich sein. Bei Erwachsenen, die mit NSAID behandelt werden, findet sich neben den erwähnten Allgemeininfektionen eine auffällige Häufung von Helicobacter-Infektionen. Für das Kindesalter liegen keine Zahlen vor. 25.5
Splenektomie
Die Milz stellt ein relevantes Organ der Immunabwehr dar; ihr Fehlen hat bedeutsame klinische Auswirkungen. Dieser Zustand kann angeboren (Asplenie, Ivemark-Syndrom) oder erworben sein (Splenektomie, funktionelle Hypo-/Asplenie, Autosplenektomie) sein. Nur auf die letzten Situationen wird soll an dieser Stelle näher eingegangen werden. Der Immundefekt nach Splenektomie ist komplex und molekular nicht präzise definiert (Schulte-Wissermann 1999). Es gibt somit keinen Laborparameter, der das Ausmaß des Defekts quantifizieren kann. Am ehesten weisen HowellJolly-Körperchen im Blut auf eine relevante Unterfunktion der Milz hin. Diese Untersuchung ist also neben der Sonographie unerlässlich. Nicht jede Splenektomie ist klinisch gleich bedeutsam: Das Infektionsrisiko nach Splenektomie wird wesentlich auch von der Grundkrankheit mit bestimmt und ist bei malignen Erkrankungen höher als bei nicht-malignen oder Trauma. Die Risikoverminderung durch partielle Splenektomie oder Autotransplantation von Milzgewebe ist schwer abzuschätzen. Bei funktioneller Hypo-/Asplenie, wie sie bei benignen und malignen hämatologischen Erkrankungen, Zöliakie, chronischen Darmerkrankungen oder rheumatischen Systemerkrankungen beschrieben wurde, lässt sich das Risiko am ehesten am Vorhandensein von Howell-JollyKörperchen ablesen. Im Extremfall kann es bei bestimmten Grundkrankheiten zur Autosplenektomie kommen. Hauptproblem nach Splenektomie ist die Neigung zu foudroyanten Infektionen mit bekapselten Bakterien: >60% sind Pneumokokken, danach folgen Haemophilus influenzae, Meningokokken u. a. Wegen des dramatischen Verlaufs wurde
25
276
I
Pädiatrische Hämatologie: Lymphozyten
der Begriff OPSI (»overwhelming post-splenectomy infection«) geprägt. Kinder unter 5 Jahren haben ein um mehr als 10-fach erhöhtes OPSI-Risiko als Erwachsene. Man muss allerdings einschränkend sagen, dass diese Daten erhoben wurden, als Impfungen gegen Hämophilus und Pneumokokken nicht Bestandteil des Impfplans waren. Bei früher Impfung gegen diese Keime dürfte sich die Epidemiologie verändern, eine erneute Risikoanalyse wird notwendig. Das größte OPSI-Risiko besteht in den ersten 2 Jahren nach dem Eingriff; es sind aber Einzelfälle auch noch 65 Jahre später beschrieben (Waghorn, 2001). Ein erhöhtes Infektionsrisiko muss somit lebenslang angenommen werden. Die Letalität beträgt 50%. Folgende Empfehlungen dürfen nicht unterlassen werden und müssen immer wieder in Erinnerung gerufen werden: ▬ Elektive Splenektomien sollten in den ersten 5 Lebensjahren möglichst vermieden werden. ▬ Falls bei Splenektomie Impfungen noch nicht komplett sind, sollten diese möglichst 2 Wochen vor dem Eingriff bei Hämophilus + Pneumokokken (Konjugatimpfstoffe) nachgeholt werden. Bei gleichzeitiger zytostatischer Therapie ist die Immunantwort nicht ausreichend, um Schutz zu erzeugen. Die Impfungen sollten dann bis nach Beendigung der Immunsuppression hinausgeschoben werden. Sie müssen alle 5–10 Jahre aufgefrischt werden, sinnvollerweise bei niedrigen Antikörpertitern. Ein absoluter Schutz vor OPSI ist durch diese Impfungen nicht möglich. Die Rolle der Meningokokkenimpfung ist derzeit nicht klar abzusehen, zumal der in Deutschland wichtige Serotyp B damit nicht erfasst wird. ▬ Eine lebenslange Penicillinprophylaxe ist insbesondere bei splenektomierten Kindern zu empfehlen. Bei Allergie gegen Penicillin kann auf Erythromycin ausgewichen werden. Eltern müssen aufgeklärt werden, dass damit eine Risikoreduktion möglich ist, aber kein absoluter Schutz vor OPSI gegeben ist. ▬ Jeder fieberhafte Infekt muss Anlass zu einer ärztlichen Untersuchung sein, einen primär »banalen« Infekt gibt es nicht! ▬ Nach Abnahme von Blutkulturen wird bei unzureichender Penicillinprophylaxe mit hochdosiertem Penicillin behandelt. Wurde die Prophylaxe konsequent betrieben, ist mit resistenten Erregern zu rechnen. Hier wird Cefotaxim/Ceftriaxon empfohlen (Guidelines 1996). In einer jüngeren Serie bei Kindern mit Asplenie wurden allerdings 19% Ceftriaxon-resistente Isolate gefunden (Schutze et al. 2002), so dass auch die antibiotische Therapie überdacht werden muss. Evtl. sollte ein primär ein Aminoglykosid eingeschlossen werden (Schulte-Wissermann 1999).
Die Darstellung des heutigen Kenntnisstandes bezüglich der Ätiologie, Pathogenese, Diagnostik, Therapie und vor allem der präventiven Maßnahmen bei HIV-Infektion spiegelt die enormen Wissensfortschritte auf diesem Gebiet wieder. In beeindruckender Kooperation aller Disziplinen konnte nach der Erkennung der spezifischen klinischen Symptomatik zunächst das verursachende Agens 1993
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definiert werden. Im weiteren Verlauf, und insbesondere für die Therapie entscheidend, war die Erkenntnis, dass HIV sich hochreplikativ verhält und eine HIV-Infektion keineswegs, wie zunächst angenommen, als eine »Slow-virus«Infektion anzusehen ist. Daraus resultierten 1996 die Interventionsstrategien einer frühen und kombinierten Behandlung mit antiretroviral wirksamen Substanzen, die eindeutig eine Replikationshemmung von HIV zulassen. Die dadurch mögliche Verhinderung der Mutter-KindTransmission von HIV während der Schwangerschaft in Kombination mit einer Kaiserschnittentbindung am wehenfreien Uterus ist neben der optimierten Behandlung von HIV-infizierten Kindern ein Ergebnis, das nach ersten Berichten über die vertikalen Transmissionsraten zwischen 30–50% nicht erwartet werden konnte. Die Erkennung und Bewältigung der seit 1998 immer deutlich werdenden unerwünschten Wirkungen der AntiHIV-Therapiekonzepte und der Resistenzentwicklungen sind die Herausforderung zukünftiger Grundlagen- und klinischer Forschung. Neben der HIV-Infektion sind diverse klinisch relevante Zustände mit sekundärer Immundefizienz bekannt. Hierzulande muss in erster Linie an Immunsuppression durch andere Viren, rheumatische Erkrankungen und Splenektomie gedacht werden.
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277 25 · Erworbene Immundefekte
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25
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Anämien des Früh- und Neugeborenen R.F. Maier
26.1 26.2 26.3 26.4 26.5
Einleitung – 278 Perinatale Umstellung der Erythropoese – 278 Hämatologische Referenzwerte in der Perinatalperiode – 279 Diagnostik bei neonataler Anämie – 279 Blutungsanämien – 279
26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.5
Einteilung – 279 Fetale Transfusionssyndrome – 280 Perinatale Blutungen – 280 Symptome bei perinataler Blutung – 280 Therapie bei perinataler Blutung – 280
26.6
Hämolytische Anämien
26.6.1 26.6.2 26.6.3
Einteilung – 280 Immunologisch bedingte hämolytische Anämien Nicht immunologisch bedingte hämolytische Anämien – 281
– 280
26.7
Hypoplastische Anämien
26.7.1 26.7.2 26.7.3
Diamond-Blackfan-Anämie – 281 Fanconi-Anämie – 281 Parvovirus-B19-Infektion – 281
26.1
– 281
Frühgeborenenanämie
26.8.1 26.8.2
Pathophysiologie der Frühgeborenenanämie – 281 Prävention und Behandlung der Frühgeborenenanämie – 282 Transfusionsrichtlinien für Frühgeborene – 282
Literatur
In keiner anderen Phase des Lebens verändert sich die Erythropoese so stark und so nachhaltig wie in der Perinatalperiode. Andererseits sind Anämien durch die damit verbundene eingeschränkte Sauerstofftransportkapazität während der Umstellung vom intrauterinen auf das extrauterine Leben besonders bedrohlich.
– 281
– 282
Im Kreißsaal herrscht konzentrierte Betriebsamkeit. In wenigen Minuten sollen Zwillinge mit pränatal diagnostiziertem fetofetalen Transfusionssyndrom durch Kaiserschnitt zur Welt kommen. Geburtshelfer, Neonatologen und Anästhesisten treffen ihre Vorbereitungen. Für die Kinder werden Intubationsbesteck, Nabelkatheterbesteck und eine Blutkonserve der Blutgruppe 0 Rhesus-negativ bereitgelegt. Da wird plötzlich eine andere Schwangere eingeliefert. Sie ist 12 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Sie klagt über akut aufgetretene heftige Unterbauchschmerzen. Eine Hebamme versucht ein Kardiotokogramm abzuleiten, sie kann aber keine fetalen Herztöne erfassen. Dann geht alles sehr schnell: Da das komplette Team für den anderen geplanten Kaiserschnitt vor Ort ist, kann sofort eine Notsectio erfolgen. Intraoperativ zeigt sich eine Uterusruptur mit großflächiger Plazentaablösung. In der Nabelarterie werden ein pH von 6,95 und ein BE von –15,8 mmol/l gemessen. Klinisch bietet das Kind das Bild der weißen Asphyxie: Es ist blass und leblos. Da alles schon für die angekündigten Zwillinge vorbereitet ist, kann schnell reagiert werden: Intubation, Beatmung, Herzdruckmassage,
▼
Einleitung
– 281
26.8
26.8.3
Nabelvenenkatheter. Der zentrale Venendruck ist negativ. Sukzessive werden 40 ml des bereit liegenden Erythrozytenkonzentrates und 20 ml Plasmalösung transfundiert bis der zentrale Venendruck positiv ist. Aus dem Volumenbedarf lässt sich hochrechnen, dass das Kind bei einem Geburtsgewicht von 1430 g etwa die Hälfte seines zirkulierenden Blutvolumens verloren hat. Unter der Transfusion wird die Hautfarbe rosig, Herzaktion und Kreislauf stabilisieren sich, erste spontane Bewegungen sind zu sehen.
26.2
Perinatale Umstellung der Erythropoese
! Fetale Erythrozyten unterscheiden sich hinsichtlich Morphologie, Lebensdauer, Membraneigenschaften, Enzymaktivität und Hämoglobinzusammensetzung fundamental von adulten Erythrozyten.
Während der Fetalzeit und der frühen Säuglingsperiode vollziehen sich erhebliche physiologische Veränderungen in der Erythropoese: ▬ Im letzten Schwangerschaftsdrittel beginnt die Umstellung von fetalem (HbF) auf adultes (HbA) Hämoglobin mit seiner niedrigeren Sauerstoffaffinität. Der HbF-Anteil beträgt bei Geburt etwa 70–80%, im Alter von 6 Monaten etwa 1%. ▬ In der zweiten Hälfte der Schwangerschaft verlagert sich die Blutbildung allmählich von der fetalen Leber zum Knochenmark. Bei Geburt trägt die Leber noch etwa 10% bei. ▬ Etwa zum Zeitpunkt der Geburt wandert der Ort der Erythropoetinproduktion von der Leber zur Niere. ▬ Bei Geburt kommt es mit der Umstellung von der plazentaren zur pulmonalen Oxygenierung zu einem erheblichen Anstieg der Sauerstoffverfügbarkeit. Die ersten drei genannten Umstellungen scheinen gut auf einander abgestimmt zu sein und mehr vom postkonzeptionellen und als vom postnatalen Alter abzuhängen, so dass sie sich durch eine Frühgeburt nicht wesentlich verschieben. Die aus der Umstellung von fetalem auf adultes Hämoglobin
26
279 26 · Anämien des Früh- und Neugeborenen
sowie aus der Umstellung von plazentarer zu pulmonaler Oxygenierung resultierende Verbesserung der Gewebeoxygenierung führt zu einer Anämie, die durch niedrige Erythropoetinkonzentration und niedrige Retikulozytenzahlen gekennzeichnet ist. ! Die in den ersten Lebensmonaten infolge der Umstellung vom fetalen auf das extrauterine Leben auftretende so genannte Trimenonanämie ist ein physiologischer Vorgang und bedarf in der Regel keiner Behandlung.
26.3
! Kapilläre Blutentnahmen eignen sich für die Bestimmung von Hämatokrit und Hämoglobin bei Neugeborenen nicht, da falsch hohe Werte angezeigt werden (Thurlbeck 1987).
26.5
Blutungsanämien
26.5.1 Einteilung Blutungen können vor, während oder nach der Geburt auftreten und können akut oder chronisch verlaufen.
Hämatologische Referenzwerte in der Perinatalperiode
Blutungsanämien in der Perinatalperiode:
Hämatologische Referenzwerte bei Neugeborenen variieren in Abhängigkeit vom Gestationsalter und vom postnatalen Alter (⊡ Tabelle 26.1). 26.4
Diagnostik bei neonataler Anämie
Wie in jedem anderen Lebensabschnitt kann eine Anämie in der Perinatalperiode durch Blutverlust, Hämolyse oder Produktionsstörung verursacht sein. Die Abklärung umfasst neben einer gründlichen körperlichen Untersuchung folgende Diagnostik: ▬ Hämatokrit, Hämoglobinkonzentration (venös oder arteriell), ▬ Retikulozytenzahl, Normoblastenzahl, ▬ Erythrozytenindizes und -morphologie (Blutausstrich), ▬ Leukozytenzahl und -differenzierung, Thrombozytenzahl, ▬ Blutgruppe und Coombs-Test bei Mutter und Kind, ▬ Suche nach fetalen Erythrozyten im mütterlichen Blut (Kleihauer-Test), ▬ Suche nach Hämoglobinopathien (Hb-Elektrophorese), ▬ Suche nach Membrandefekten und Enzymdefekten der Erythrozyten, ▬ Gerinnungsstatus, ▬ serologische Untersuchung auf pränatale Infektionen, ▬ Suche nach inneren Blutungen (Schädel- und Abdomensonographie).
Fetale Transfusionssyndrome Fetomaternal Fetofetal (bei monozygoten Zwillingen) Fetoplazentar (z. B. durch Lagerung des Neugeborenen oberhalb der Mutter vor dem Abnabeln) Fetale Blutungen Nabelgefäßab- oder -einriss (z. B. bei Insertio velamentosa) Plazentablutungen (z. B. bei Placenta praevia, vorzeitiger Plazentalösung) Operative Verletzung (z. B. bei Amniozentese, Chordozentese, Schnittverletzung bei Sectio) Neonatale Blutungen Durch Geburtstrauma − Subperiostal (Kephalhämatom; durch Schädelnähte begrenzt) − Subgaleal (überschreitet Schädelnähte, kann erhebliche Ausmaße annehmen) − Intrakraniell (z. B. subdural, subarachnoidal) − Retroperitoneal (z. B. Nebennierenblutung) Über den Nabel (z. B. bei Nabelkatheter) Durch Gerinnungsstörung (z. B. bei Vitamin-KMangel) − Intrakraniell − Gastrointestinal (Melaena) Diagnostische Blutentnahmen (insbesondere bei kleinen Frühgeborenen relevant)
⊡ Tabelle 26.1. Hämatologische Referenzwerte in Abhängigkeit vom Gestations- und Lebensalter (nach Forestier 1991; Obladen 1999; Walka 1998; Zaizov 1976)
Feten Gestationswoche 22–25
Reife Neugeborene Lebensalter
28–29
34–35
Nabelschnur
1. Tag
2. Tag
28. Tag
Hämoglobin (g/dl)
12,2
12,9
13,6
15,7
19,4
18,7
13,9
Hämatokrit (%)
39
41
45
49
56
53
43
Erythrozyten (1012/l)
3,1
MCV (fl) Retikulozyten (%)
3,5
5,1
125
118
114
15
12
10
Nabelschnurwerte entsprechen dem Median, alle anderen dem Mittelwert.
4,6 106 3,3
5,3
4,8
4,2
110
106
95
7
<1
2
280
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
26.5.2 Fetale Transfusionssyndrome
I Fetomaternale Blutungen mit Übertritt kleiner Mengen fetalen Blutes (<1 ml) in den mütterlichen Kreislauf treten in der Mehrzahl aller Schwangerschaften auf und sind für den Feten hämodynamisch belanglos. Sie können aber bei entsprechender Blutgruppenkonstellation zur Antiköperbildung bei der Mutter führen (Sebring 1990). Fetomaternale Makrotransfusionen (>80 ml) sind selten und ereignen sich meist während der Geburt (de Almeida 1994). Das in die mütterliche Zirkulation übergetretene fetale Blutvolumen kann u. a. mit der Säureelutionstechnik nach Kleihauer bestimmt werden (Bayliss 1991; Kleihauer 1957). Bei 10–15% der monochorialen Zwillingsschwangerschaften tritt ein fetofetales Transfusionssyndrom auf (Wee 2002). Dabei kommt es über plazentare Gefäßverbindungen zur Blutverschiebung von einem (»Spender«) zum anderen Zwilling (»Empfänger«). Die chronische fetofetale Transfusion ist gekennzeichnet durch Anämie, chronische Hypoxie, Wachstumsretardierung und Oligohydramnion beim Spender und Polyzythämie, Herzinsuffizienz und Polyhydramnion beim Empfänger. Vorzeitige Geburt und erhöhte perinatale Morbidität und Mortalität sind die Folgen (Berghella 2001; Cincotta 2000). Die akute fetofetale Transfusion, die meist während der Geburt auftritt, kann beim Spender zu einem Volumenmangelschock, beim Empfänger zur Volumenüberladung mit kardiorespiratorischem Versagen führen. 26.5.3 Perinatale Blutungen Bei vorzeitiger Plazentalösung blutet es meist aus dem mütterlichen Kompartiment, jedoch muss auch mit schweren fetalen Blutverlusten gerechnet werden. Ein Nabelschnurvorfall kann den venösen Rückstrom aus der Plazenta blockieren. Die häufigste geburtstraumatische Blutung ist das subperiostale Kephalhämatom, das immer auf einen Schädelknochen begrenzt ist. Eine subgaleale Blutung dagegen kann sich über die Grenzen der Schädelnähte ausdehnen und erhebliche Ausmaße annehmen. Geburtstraumatisch bedingte subdurale und subarachnoidale Blutungen sowie Nebennierenblutungen können einerseits durch den Blutverlust andererseits durch die lokale Schädigung symptomatisch werden. Gerinnungsstörungen, z. B. bei Vitamin-K-Mangel, können sich in der Neonatalperiode durch erhebliche gastrointestinale (Melaena) oder intrakranielle Blutungen manifestieren.
! Ein normaler Hämatokrit und eine normale Hämoglobinkonzentration bei Geburt schließen einen akuten Blutverlust und eine daraus resultierende Hypovolämie nicht aus.
Im Gegensatz hierzu sind Neugeborene mit chronischer Anämie meistens nicht lebensbedrohlich krank. Die Blässe der Kinder steht in Kontrast zu ihrer erhaltenen Vitalität. Als Zeichen einer gesteigerten extramedullären Blutbildung finden sich gelegentlich eine Hepatomegalie, selten auch intrakutane Blutbildungsherde (»blueberry muffins«). Hämatokrit und Hämoglobin sind erniedrigt, die Erythrozyten sind meist mikrozytär und hypochrom. 26.5.5 Therapie bei perinataler Blutung ! Die weiße Asphyxie ist eine dringliche Indikation für eine sofortige Volumensubstitution meist in Form einer Transfusion. Dafür sollte im Kreißsaal jederzeit eine frische Notfallkonserve der Blutgruppe 0 Rhesus-negativ verfügbar sein.
Ein Nabelvenenkatheter gewährleistet in einer solchen Situation einerseits einen schnellen und einfachen Gefäßzugang (periphervenöse Zugänge sind im Schock oft nicht mehr möglich) und ermöglicht andererseits die Messung des zentralen Venendrucks und damit die Steuerung der Volumensubstitution. Dagegen ist bei einem chronischen Blutverlust von weniger als 10% des Blutvolumens eine Transfusion meist nicht erforderlich. Auch wenn die Indikation zur Transfusion bei Früh- und Neugeborenen regional sehr unterschiedlich gehandhabt wird (Bednarek 1998; Maier 1998; Ringer 1998), setzt sich zunehmend die Einstellung durch, dass mäßig anämische asymptomatische Neugeborene keiner Transfusion bedürfen (Strauss 1995). Allerdings sollte der aus der Blutung resultierende Eisenverlust ersetzt werden. Beim fetofetalen Transfusionssyndrom kommen als intrauterine Behandlungsmöglichkeiten serielle Entlastungspunktionen des Polyhydramnion (Dennis 1997), eine Fensterung des Septums zwischen den beiden Fruchthöhlen (Hubinont 2000; Johnson 2001) sowie die Laserkoagulation der plazentaren Gefäßanastomosen (Hecher 2000; Quintero 2000) in Betracht. 26.6
Hämolytische Anämien
26.6.1 Einteilung 26.5.4 Symptome bei perinataler Blutung Ein akuter Blutverlust von mehr als 20% des zirkulierenden Blutvolumens führt zu einem hypovolämischen Schock und damit zu einem lebensbedrohlichen Zustand. Die typischen Symptome sind blasses Hautkolorit (»weiße Asphyxie«), unregelmäßige und oberflächliche Atmung, beschleunigte (>180/min) oder verlangsamte (<100/min) Herzfrequenz, schwache oder nicht tastbare Pulse, verlängerte Rekapillarisierungszeit. Hämatokrit und Hämoglobin sind oft noch normal, da das Ausmaß der Anämie erst nach Stunden durch Hämodilution evident wird.
Wichtige hämolytische Anämien in der Perinatalperiode: Immunologisch bedingt durch Alloimmunantikörper (z. B. Rhesus-, AB0-Inkompatibilität) oder durch Autoimmunantikörper Enzymdefekte der Erythrozyten (z. B. Glukose-6Phosphatdehydrogenase-Mangel, PyruvatkinaseMangel)
▼
281 26 · Anämien des Früh- und Neugeborenen
Membrandefekte der Erythrozyten (z. B. Sphärozytose) Hämoglobinopathien (z. B. Sichelzellanämie, α-Thalassämie, β-Thalassämie) Infektionen (z. B. bakterielle Sepsis, vertikale Infektionen)
! Häufigstes und auffälligstes Symptom einer Hämolyse beim Neugeborenen ist eine das physiologische Maß übersteigende Hyperbilirubinämie.
26.6.2 Immunologisch bedingte hämolytische
Anämien Immunhämolytische Anämien durch Alloantikörper sind ausführlich in Kap. 27 dargestellt und sollen hier nicht besprochen werden. Eine immunhämolytische Anämie durch passiv übertragene, mütterliche IgG-Autoantikörper ist selten (Lawe 1982; Schanfield 1981). Der meist milde Verlauf beim Kind beruht wahrscheinlich darauf, dass die Autoantikörper von den mütterlichen Erythrozyten gebunden werden und nur in relativ geringem Ausmaß die Plazenta passieren. 26.6.3 Nicht immunologisch bedingte
hämolytische Anämien
Symptomatik von der Zahl der betroffenen Gene ab (Higgs 1989). Ein Defekt in einem α-Kettengen bleibt in der Regel asymptomatisch. Bei 2 defekten Genen findet sich eine leichte, bei 3 defekten Genen eine mäßige mikrozytäre, hypochrome Anämie. Der Ausfall aller 4 α-Kettengene führt zum Hydrops fetalis mit ausgeprägter Anämie, generalisierten Ödemen, Pleura- und Perikardergüssen und Aszites. Über erfolgreiche Therapieversuche mit intrauterinen Transfusionen gibt es nur einzelne Fallberichte (Carr 1995). In der Regel sterben die betroffenen Kinder schon intrauterin oder in der frühen Neonatalperiode. Im Nabelschnurblut finden sich bei der homozygoten Form keine normalen Hämoglobine sondern ausschließlich die abnormen Hämoglobintetramere Hb Bart’s (γ4), Hb H (β4) und Hb Portland (ζ2γ2). Bei der heterozygoten Form lassen sich 5–10% Hb Bart's im Nabelschnurblut nachweisen. ! Hb Bart’s im Nabelschnurblut ist pathognomonisch für eine α-Thalassämie.
26.7
Hypoplastische Anämien
26.7.1 Diamond-Blackfan-Anämie Die Diamond-Blackfan-Anämie ( Kap. 6) eine Proliferationsstörung der roten Vorläuferzellen, zeigt im Blut eine ausgeprägte Retikulozytopenie, im Knochenmark fehlen die roten Vorläuferzellen weitgehend. Wegen der Trimenonanämie mit ebenfalls niedrigen Retikulozytenzahlen wird die Diagnose meist erst nach der Neonatalperiode gestellt (Ball 1996).
Sphärozytose. Das klinische Bild beim Neugeborenen ist
26.7.2 Fanconi-Anämie
variabel und reicht von milden, weitgehend asymptomatischen Formen bis zu schweren Hämolysen. Meist fallen die Neugeborenen durch eine verstärkte Hyperbilirubinämie auf. Diagnostisch wegweisend sind die familiäre Anamnese und der Blutausstrich. In leichteren Fällen kann mit Phototherapie behandelt werden, bei schwerer Anämie ist eine Transfusion erforderlich.
Wenn bei der Fanconi-Anämie ( Kap. 6) begleitende Fehlbildungen nicht vorhanden sind, wird die Krankheit meist erst jenseits der Neugeborenenperiode aufgrund der langsam zunehmenden Panzytopenie diagnostiziert (Giampietro 1997).
Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel. Bei verstärkter Hyperbilirubinämie ist bei männlichen Neugeborenen mit entsprechender ethnischer Herkunft differentialdiagnostisch ein G6PD-Mangel in Betracht zu ziehen. Die Hyperbilirubinämie ist in ihrer Ausprägung sehr variabel und kann mit Phototherapie behandelt werden. Eine schwere Anämie tritt beim Neugeborenen in der Regel nicht auf. Sichelzellanämie. Da bei Geburt das fetale Hämoglobin überwiegt, wird die Sichelzellanämie in der Regel in der Neonatalperiode nicht symptomatisch. Selbst bei Kindern mit homozygoter Sichelzellanämie beträgt der HbS-Anteil bei Geburt nur etwa 20% (Gill 1989). Erst im Alter von 2–3 Monaten, wenn die Hämoglobin-Umstellung weiter fortgeschritten ist, treten erste Symptome auf. Thalassämien. Wegen des physiologisch hohen Anteils an fetalem Hämoglobin wird die β-Thalassämie in der Regel erst nach einigen Monaten mit der zunehmenden Umstellung von γ- auf β-Ketten evident. Bei der α-Thalassämie hängt die
26.7.3 Parvovirus-B19-Infektion Eine Infektion der Schwangeren mit Parvovirus B19 in der ersten Hälfte der Schwangerschaft kann beim Feten zu einer schweren hypoplastischen Anämie mit Hydrops fetalis führen (Miller 1998; Nunoue 2002). Therapeutisch kommen intrauterine Transfusionen in Betracht (Rodis 1998). 26.8
Frühgeborenenanämie
26.8.1 Pathophysiologie der
Frühgeborenenanämie Neben den oben beschriebenen perinatalen Umstellungsvorgängen tragen folgende für Frühgeborene spezifische Faktoren zur Frühgeborenenanämie bei: ▬ Da die Erythrozytenmasse im letzten Trimenon der Schwangerschaft ansteigt, ist sie bei Frühgeborenen niedriger als bei Reifgeborenen.
26
282
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
▬ Bei Frühgeborenen ist die Lebensdauer der Erythrozyten auf etwa 35–50 Tage verkürzt (bei Reifgeborenen etwa 90 Tage, bei Erwachsenen etwa 120 Tage). ▬ Sehr kleine Frühgeborene verdoppeln ihr Geburtsgewicht in 2 Monaten (Reifgeborene in 6 Monaten) und verdreifachen es in 4 Monaten (Reifgeborene in 12 Monaten). Dies führt zu einer erheblichen Hämodilution. ▬ Frühgeborene haben ein erhöhtes Risiko für geburtstraumatische Blutungen in Haut und Weichteile sowie für intra- und periventrikuläre Hirnblutungen. ▬ Die Intensivbehandlung bedingt erhebliche diagnostische Blutverluste, die kumulativ das gesamte zirkulierende Blutvolumen übersteigen können (Obladen 1988). ▬ Die Eisenspeicher sind durch die verkürzte Schwangerschaft nicht gefüllt und werden durch diagnostische Blutverluste weiter entleert. Niedriger Eisengehalt der Muttermilch und Nahrungsunverträglichkeit verstärken den Eisenmangel. ! Die Frühgeborenenanämie ist im Gegensatz zur Trimenonanämie des reifen Neugeborenen nicht physiologisch und bedarf einer entsprechenden Behandlung.
26.8.2 Prävention und Behandlung
der Frühgeborenenanämie Mit folgendem Konzept lässt sich die Frühgeborenenanämie verhindern bzw. behandeln: Plazentare Transfusion. Die Plazenta stellt ein wertvolles Reservoir für eine autologe Transfusion dar. Durch verzögertes Abnabeln um 20–30 Sekunden können die Erythrozytenmasse bei Geburt vergrößert und der Transfusionsbedarf verringert werden (Kinmond 1993; Rabe 2000). Reduzierung von diagnostischen Blutverlusten. Da der
Transfusionsbedarf eng mit dem Ausmaß des diagnostischen Blutverlustes korreliert (Maier 1996; Shannon 1995), müssen Blutentnahmen auf das unbedingt erforderliche Maß reduziert werden. Dazu tragen Mikromethoden im Labor und transkutane Blutgasmessungen bei. Jede Blutentnahme muss streng indiziert sein, so genannte »Routine-Blutentnahmen« sind obsolet. Stimulation der Erythropoese. Wie die renale Anämie ist
auch die Frühgeborenenanämie durch einen Erythropoetinmangel gekennzeichnet. Durch Behandlung mit humanem rekombinantem Erythropoetin (rhEPO) lassen sich bei Frühgeborenen die Erythropoese stimulieren und der Transfusionsbedarf reduzieren (Maier 1994, 2002; Meyer 1994; Shannon 1995). Allerdings ist die effektive Dosis bei Frühgeborenen höher als bei Erwachsenen. Dies resultiert nicht aus einem verminderten Ansprechen der roten Vorläuferzellen von Frühgeborenen auf rhEPO (Rhondeau 1988), sondern aus einem um 2- bis 4-mal größeren Verteilungsvolumen und einer 3- bis 4-fach rascheren Elimination (Widness 1992; Widness 1996). Ohne adäquate Eisensubstitution ist keine suffiziente Erythropoese möglich (Brugnara 1993). Allerdings erschweren der unreife Verdauungstrakt der Frühgeborenen und die hohe Osmolarität der Eisenpräparate
eine enterale Applikation (Franz 2000). Zur parenteralen Eisensubstitution gibt es bei Frühgeborenen bisher nur wenige Daten (Meyer 1996). ! Mit einer Strategie, die die verzögerte Abnabelung, die Reduktion von diagnostischen Blutverlusten und die Stimulation der Erythropoese durch Erythropoetin und Eisen beinhaltet, lässt sich der Transfusionsbedarf bei Frühgeborenen erheblich reduzieren.
Erhielten vor 15 Jahren Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1000 g durchschnittlich 7 Transfusionen und wurden dabei mit 5 Spendern konfrontiert, so bekommen sie heute noch 2 Transfusionen von 1 Spender (Maier 2000; Widness 1996). 26.8.3 Transfusionsrichtlinien für Frühgeborene Zur Reduktion von Transfusionen haben neben den genannten Maßnahmen auch zunehmend striktere Transfusionsrichtlinien beigetragen. Allerdings sind diese Modifikationen nicht Evidenz-basiert, sondern empirisch festgelegt (Hume 1997). Konsens besteht darüber, dass diagnostische Blutverluste nicht mehr regelmäßig ersetzt werden. Über die kritischen Hämatokrit- oder Hämoglobinwerte herrscht aber keine einheitliche Meinung (Bednarek 1998; Ringer 1998). Bei stabilen Frühgeborenen ohne respiratorische Probleme und ohne Anämiesymptome werden mittlerweile Hämatokritwerte bis 20% akzeptiert (Franz 2001; Maier 2002; Shannon 1995). Allerdings gibt der Hämatokrit das Ausmaß der Anämie nur unzureichend wieder, da Blutverluste bei Frühgeborenen zu einer Umverteilung des Blutvolumens mit Minderdurchblutung von Haut und Mesenterialgefäßen führen (Jones 1990). Die Unsicherheit bei den Transfusionskriterien resultiert auch aus dem Umstand, dass Anämiesymptome bei Frühgeborenen wie gehäufte Apnoen und Bradykardien, geblähtes Abdomen und Nahrungsunverträglichkeit sowie mangelnde Gewichtszunahme unspezifisch sind (Keyes 1989; Poets 1997).
Anämien in der Neonatalperiode sind häufig und können schwerwiegende Folgen für die betroffenen Kinder haben. Die ätiologische Vielfalt erfordert eine differenzierte Diagnostik und Therapie. Bislang existieren keine einheitlich akzeptierten Definitionen für kritische und interventionsbedürftige Hämatokrit- und Hämoglobinwerte. Ziel wissenschaftlicher Studien sollte es sein, evidenzbasierte Transfusionsrichtlinien für Früh- und Neugeborene zu etablieren.
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285
Morbus haemolyticus neonatorum C.P. Speer
27.1 27.2 27.3
Einleitung – 285 Allgemeine Ätiopathogenese – 285 Rhesus-Erythroblastose – 286
27.3.1 27.3.2 27.3.3 27.3.4 27.3.5 27.3.6 27.3.7
Epidemiologie – 286 Ätiopathogenese – 286 Klinische Symptome – 286 Diagnose – 286 Therapie – 286 Prävention – 287 Prognose – 287
27.4
Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie
27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4
Ätiologie – 287 Pathogenese – 287 Klinische Symptome – 287 Therapie – 288
27.5
AB0-Erythroblastose
27.5.1 27.5.2 27.5.3
Inzidenz und Pathogenese – 288 Klinische Symptome – 288 Diagnose und Therapie – 288
Literatur
– 287
– 288
– 289
In westlichen Industrienationen wird inzwischen eine zunehmende Anzahl von Kindern beobachtet, die an den Folgen einer Bilirubinenzephalopathie leiden. Diese Kinder waren nicht an einem Morbus haemolyticus neonatorum erkrankt, sondern an anderen Formen der neonatalen Hyperbilirubinämie. Innerhalb der letzten 8 Jahre wurden in den USA allein 90 Kinder mit Kernikterus identifiziert, in Dänemark erkrankten in der Zeit von 1994–1998 6 Neugeborene, nachdem über 2 Dekaden diese schwerwiegende Komplikation bei keinem Kind beobachtet worden war. Es erscheint dringend erforderlich, allen, die mit der Behandlung von Früh- und Neugeborenen betraut sind, die vermeidbaren aber irreversiblen Folgeschäden der neonatalen Hyperbilirubinämie vor Augen zu führen. Dem Wissen um die diagnostischen und therapeutischen Strategien des Morbus haemolyticus neonatorum kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.
27.1
Einleitung
Nachdem Orth im Jahr 1875 bei einem Neugeborenen eine gelbliche Verfärbung bestimmter Hirnregionen, insbesondere der Basalganglien, beschrieben hatte, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Christian Georg Schmorl die Bezeichnung »Kernikterus« geprägt. Kurze Zeit später wurde deutlich, dass es sich bei dem »Kernikterus« nicht allein um ein
Phänomen handelte, das man bei Neugeborenen beobachten konnte, die in Folge einer Blutgruppenunverträglichkeit verstorben waren. Vielmehr ließen sich die Folgen des »Kernikterus« bei überlebenden Kindern in Form gravierender neurologischer Folgeschäden ablesen. Die Kinder zeigten neben Choreoathetose einen Hörverlust und spastische Lähmungen sowie seltener mentale Beeinträchtigungen. Durch die Einführung der Austauschtransfusion durch Wallerstein und Diamond konnten von 1950 an sowohl die akute Enzephalopathie als auch die neurologischen Folgeschäden bei Neugeborenen mit Erythroblastosis fetalis oder Morbus haemolyticus neonatorum weitgehend vermieden werden. Die Entdeckung der Phototherapie im Jahr 1958 war ohne Zweifel ein weiterer therapeutischer Durchbruch in der Behandlung der bedrohlichen Gelbsucht Neugeborener. Die intrauterine Bluttransfusion von Feten mit schwerer hämolytischer Anämie und schließlich die Identifizierung von Rhesus-negativen Schwangeren mit einer konsequenten Applikation von Anti-D-Antikörpern, haben den Schrecken des Morbus haemolyticus neonatorum nahezu vergessen lassen. Neonatologen sind nur noch selten mit der Behandlung des Morbus haemolyticus neonatorum konfrontiert. Eine mögliche Fehleinschätzung der bedrohlichen Risiken und der potenziellen Langzeitfolgen sowie eine zunehmende Liberalisierung der Behandlungsrichtlinien von Früh- und Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie haben zu einer grotesken und unakzeptablen Situation geführt (Hansen 2000). 27.2
Allgemeine Ätiopathogenese
! Die häufigsten Ursachen für einen Morbus haemolyticus neonatorum sind Blutgruppenunverträglichkeiten zwischen Mutter und Fetus, die RhesusInkompatibilität (Rh), die AB0-Erythroblastose und seltene Unverträglichkeiten gegen andere erythrozytäre Antigene (Kell, Duffy, Lutheran u. a.).
Durch Übertritt von fetalen inkompatiblen Erythrozyten während der Schwangerschaft oder vorherige Transfusion mit nicht blutgruppengleichen Erythrozyten reagiert das sensibilisierte mütterliche Immunsystem mit der Bildung spezifischer IgG-Antikörper. Diese Immunglobuline sind plazentagängig und treten von der 17. Gestationswoche an auf den Feten über; sie binden sich an spezifische Antigenstrukturen fetaler Erythrozyten. Die Folge ist ein vorzeitiger vermehrter Abbau der Erythrozyten und die Entwicklung einer fetalen Anämie; der Fetus beantwortet diese In-utero-Hämolyse mit einer Steigerung vorwiegend der extramedullären Blutbildung (Leber, Milz), es gelangen unreife Erythrozyten (Erythroblasten) in die kindliche Blutbahn. Das durch die
27
286
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
gesteigerte Hämolyse anfallende indirekte Bilirubin wird über die Plazenta transportiert und vom hepatischen Enzymsystem der Mutter glukuronidiert und biliär ausgeschieden, selbst bei schwerer fetaler Hämolyse sind die kindlichen Bilirubinkonzentrationen intrauterin kaum erhöht, die Bilirubinkonzentrationen in Nabelschnurblut können >4 mg/dl betragen. Erst unmittelbar nach der Geburt steigen die kindlichen Bilirubinspiegel mit einer nicht vorhersehbaren Dynamik an. 27.3
Rhesus-Erythroblastose
27.3.1 Epidemiologie Ungefähr 15% der europäischen Bevölkerung und ca. 5% der amerikanischen schwarzen Bevölkerung sind Rh-negativ (Chavez et al 1991). Vor Einführung der Anti-D-Prophylaxe betrug die Prävalenz der Rh-Inkompatibilität 45 erkrankte Kinder pro 10.000 Lebendgeborene. Die Erkrankungshäufigkeit konnte um weit mehr als 90% reduziert werden.
infolge einer verminderten Albuminsynthese entwickeln. Veränderungen der Zellpermeabilität und Verminderungen des onkotischen Drucks führen zu generalisierten Ödemen, Höhlenergüssen (Aszites, Pleuraerguss, Perikarderguss), Hypervolämie und Herzinsuffizienz, dem klinischen Bild des Hydrops fetalis. Beim generalisierten Hydrops kann bereits ein intrauteriner Fruchttod oder eine irreparable zerebrale Schädigung auftreten (Matsunaga u. Lubin 1995). Nach der Geburt sind beim Neugeborenen unverzüglich folgende Bestimmungen durchzuführen: Hämoglobinkonzentration, Bilirubinserumspiegel, Blutgruppenbestimmung, Coombs-Test, Retikulozytenzahl, Blutausstrich. Neben den beschriebenen hämatologischen Auffälligkeiten ist immer ein positiver direkter Coombs-Test zu finden (Nachweis von inkompletten, an kindliche Erythrozyten gebundene Antikörper). Unmittelbar nach der Geburt kann die Konzentration des indirekten Bilirubins stark ansteigen; es sind engmaschige Bilirubinbestimmungen erforderlich. Cave Durch präpartale maternale Gabe von Anti-D kann der kindliche direkte Coombs-Test positiv sein.
27.3.2 Ätiopathogenese Das erythrozytäre Rhesus-Antigensystem besteht aus 5 Antigenen: C, D, E, c und e; d hat keine antigenen Eigenschaften. Bei ca. 90% der Rhesusinkompatibilitäten sensibilisiert das D-Antigen des Fetus die Rh(d)-negative Mutter, die in der Folge IgG-Antikörper (Anti-D-Antikörper) bildet. Da in der Frühschwangerschaft nur ausnahmsweise kindliche Erythrozyten in den Kreislauf der Mutter gelangen, bildet die Mutter keine oder nur geringe Mengen an Anti-D-Antikörpern. Das erste Kind bleibt entweder gesund oder entwickelt nur eine hämolytische Anämie und/oder Hyperbilirubinämie, vorausgesetzt, dass eine frühere Sensibilisierung durch Aborte, Tubargravidität, Bluttransfusionen oder Amniozentese ohne Anti-D-Prophylaxe ausgeschlossen ist. Unter der Geburt und bei der Plazentalösung kann eine größere Menge kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Blutbahn übertreten. Die Rh-Erythroblastose bei unterlassener Rh-Prophylaxe manifestiert sich typischerweise während der zweiten und weiteren Schwangerschaft mit zunehmendem Schweregrad der fetalen Erkrankung, die in einen Hydrops fetalis einmünden kann.
27.3.4 Diagnose Im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge wird bei allen Frauen im Verlauf der Schwangerschaft nach irregulären Antikörpern gesucht, um Inkompatibilitäten in Rh-, Duffy-, Kell- oder anderen Blutgruppensystemen zu erkennen. Mit dem indirekten Coombs-Test werden plazentagängige IgGAntikörper nachgewiesen. Bei vorhandenen Antikörpern ist eine engmaschige fetale Ultraschalldiagnostik imperativ. Da keine Korrelation zwischen der Höhe vorhandener Antikörper und dem Schweregrad der möglichen kindlichen Erkrankung besteht, ist bei vorhandenen Antikörpern gegebenenfalls eine sequenzielle Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) zur Bilirubinbestimmung indiziert. Das Ausmaß der Hämolyse lässt sich durch spektrophotometrische Analyse der optischen Dichte (450 nm) des Fruchtwassers ablesen (nach Liley-Diagramm). Durch Zuordnung in 3 Gefahrenzonen kann der kindliche Zustand beurteilt und entsprechende therapeutische Konsequenzen eingeleitet werden. 27.3.5 Therapie
27.3.3 Klinische Symptome Intrauterine Therapie des Feten. Bei ausgeprägter fetaler
In Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung bestehen: eine mehr oder weniger ausgeprägte Anämie, ein Icterus praecox (Gesamtbilirubin >7 mg/dl innerhalb der ersten 24 Lebensstunden), ein Icterus gravis (Gesamtbilirubin >15 mg/ dl bei reifen Neugeborenen) und – als Ausdruck der extramedullären Blutbildung – eine Hepatosplenomegalie. Als Zeichen der gesteigerten Hämatopoese sind Erythroblasten und Retikulozyten im peripheren Blut in großer Zahl nachweisbar. Bei schwerer fetaler Anämie (Hämoglobin <8 g/dl) können sich eine intrauterine Hypoxie und Hypoproteinämie
Anämie ist eine intrauterine Erythrozytentransfusion in die kindliche Bauchhöhle oder durch Chordozentese in die Nabelvene möglich. Die transfundierten Rh-negativen Erythrozyten können die fetale Blutbildung soweit unterdrücken, dass der Coombs-Test nach der Geburt negativ ist. Da die Erythropoese bei Neugeborenen wieder einsetzt, kann die Hämolyse der kindlichen Erythrozyten zu einer später auftretenden schweren Hyperbilirubinämie führen. Bei ersten Zeichen eines Hydrops fetalis ist eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft durch Sectio caesarea notwendig (Johnson et al. 2002).
287 27 · Morbus haemolyticus neonatorum
Phototherapie. Bei leichten Verläufen einer Rh-Inkompatibi-
lität kann eine intensivierte Phototherapie, unter Umständen in zwei Ebenen, zur Behandlung der Hyperbilirubinämie ausreichen. Die Indikation für den Beginn einer Phototherapie hängt vom Gestationsalter, Lebensalter, Höhe der Bilirubinkonzentration, Dynamik des Bilirubinanstieges, von dem Ausmaß der Anämie und anderen Risikofaktoren ab. Nebenwirkungen dieser Therapie sind Diarrhö, vermehrter Flüssigkeitsverlust und Dehydratation. Durch das blaue Licht der Phototherapielampe ist die Hautfarbe des Kindes nicht mehr zu beurteilen; bedrohliche klinische Veränderungen des Kindes werden möglicherweise trotz einer Monitorüberwachung zu spät erkannt. Die zum Schutz von potenziellen Retinaschäden zu applizierenden Schutzbrillen können zur Verlegung der Nasenwege führen.
27.3.7 Prognose Trotz adäquater Initialbehandlung entwickeln die Kinder aufgrund der noch vorhandenen Anti-D-Antikörper häufig eine über mehrere Wochen anhaltende Anämie. Bei erhöhten Retikulozytenzahlen und asymptomatischem Kind ist keine weitere Therapie notwendig. Stellen sich eine persistierende Tachykardie sowie andere Zeichen der chronischen Anämie ein, so ist eine weitere Transfusion indiziert. Selten wird nach Austauschtransfusion die schwerwiegende Komplikation einer Pfortaderthrombose beobachtet. 27.4
Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie
27.4.1 Ätiologie
Austauschtransfusion. Zur Vermeidung der Bilirubinenze-
phalopathie wird nach wie vor eine Austauschtransfusion reifer Neugeborener bei Bilirubinserumkonzentrationen >20 mg/dl empfohlen; bei schweren Grunderkrankungen (Asphyxie, neonatale Sepsis, hämolytische Anämie u. a.) sowie einer Hyperbilirubinämie in den ersten 3 Lebenstagen liegt die Austauschgrenze in dieser Gruppe niedriger. Für Frühgeborene gelten besondere Austauschgrenzen (Frühgeborene mit einem Gewicht von >1500 g: >15 mg/dl, Frühgeborene >1000 g: >10 mg/dl). Der Blutaustausch erfolgt mit kompatiblem Spendervollblut in 5–20 ml Portionen über einen liegenden Nabelvenenkatheter; durch diese Maßnahme wird das 2- bis 3-fache Blutvolumen eines Neugeborenen ausgetauscht, d. h. ca. 90% der kindlichen Erythrozyten werden neben mütterlichen Antikörpern und verfügbarem Bilirubin eliminiert. Als Komplikationen der Blutaustauschtransfusion können Infektionen (u. a. Sepsis), Katheterperforation, Pfortaderthrombose, Hypotension, Azidose, Elektrolytentgleisungen und nekrotisierende Enterokolitis auftreten. Durch eine bei Erythroblastose bestehende Inselzellhyperplasie werden besonders bei Neugeborenen mit schwerer Anämie bereits vor, während und nach einer Austauschtransfusion ausgeprägte Hypoglykämien beobachtet. Ebenso liegt nach einem Blutaustausch häufig eine Anämie und Thrombozytopenie vor. Durch eine zusätzliche kontinuierlich durchgeführte Phototherapie kann die Zahl von mehrfachen Austauschtransfusionen gesenkt werden.
Unkonjugiertes, nicht an Albumin gebundenes Bilirubin kann aufgrund seiner lipophilen Eigenschaften leicht in das zentrale Nervensystem eindringen. Es inhibiert den neuronalen Metabolismus (eine Hemmung der oxidativen Phosphorylierung) und hinterlässt eine irreversible Schädigung im Bereich der Basalganglien, des Globus pallidus, des Nucleus caudatus (Kernikterus), des Hypothalamus, einiger Kerngebiete von Hirnnerven und auch der Großhirnrinde. Bei einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke (schwere Anämie, Hypoxie, Hydrops) kann auch an Albumin gebundenes Bilirubin in das Hirngewebe übertreten.
27.3.6 Prävention
Die Frühsymptome der Bilirubinenzephalopathie sind: Apathie, Hypotonie, Trinkschwäche, Erbrechen, abgeschwächte Neugeborenenreflexe und schrilles Schreien. Danach fallen die Neugeborenen durch eine vorgewölbte Fontanelle, eine opisthotone Körperhaltung, muskuläre Hypertonie und zerebrale Krampfanfälle auf. Bei Frühgeborenen können diese Symptome fehlen; bei sehr kleinen Frühgeborenen können schwere Apnoen die ersten Zeichen einer Bilirubinenzephalopathie sein. Überlebende Kinder weisen häufig eine beidseitige Taubheit, choreoathetoide Bewegungsmuster, sowie seltener eine mentale Retardierung auf.
Durch Gabe eines Anti-D-Immunglobulins innerhalb von 72 h nach der Geburt kann die Sensibilisierung einer Rhnegativen Mutter durch die Rh-positiven fetalen Erythrozyten häufig vermieden werden (Rubaltelli 1998). Die Anti-DProphylaxe muss bei Rh-negativen Frauen auch nach Aborten, Amniozentesen oder unsachgemäßer Transfusion mit Rh-positivem Blut durchgeführt werden (Poland 2002). In der ersten Schwangerschaft kann eine maternale Immunglobulinprophylaxe in der 28. Gestationswoche und unmittelbar postnatal die Sensibilisierung auf weniger als 1% reduzieren. Nach bisherigen Kenntnissen scheint die im letzten Trimenon durchgeführte Anti-D-Prophylaxe beim Neugeborenen keine klinisch signifikante Hämolyse auszulösen.
27.4.2 Pathogenese Die Entstehung einer Bilirubinenzephalopathie wird von folgenden Faktoren beeinflusst: Lebensalter und Reifegrad der Kinder, Überschreiten der Albuminbindungskapazität durch zu hohe Bilirubinspiegel, Verminderung der EiweißBindungskapazität bei Hypalbuminämie, Verdrängung des an Albumin gebundenen Bilirubins durch Gallensäuren, freie Fettsäuren (Hypoglykämie!) oder Medikamente sowie Veränderungen bzw. Schädigung der Blut-Hirn-Schranke nach Asphyxie, Hypoxie, neonataler Sepsis und Meningitis sowie anderen Erkrankungen. 27.4.3 Klinische Symptome
27
288
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
27.4.4 Therapie
27.5.2 Klinische Symptome
Keine therapeutische Maßnahme kann diese zerebrale Schädigung rückgängig machen. In der heutigen Zeit sollte diese vermeidbare Komplikation nicht mehr auftreten.
Die Neugeborenen weisen meistens nur eine geringgradige Anämie auf; es besteht nur selten eine Hepatosplenomegalie; die Kinder entwickeln keinen Hydrops. Im peripheren Blut finden sich neben Retikulozyten und Erythroblasten als Ausdruck der gesteigerten Erythropoese Sphärozyten, die infolge der komplementvermittelten Hämolyse durch Fragmentation entstehen. Erkrankte Neugeborene sind lediglich durch die Hyperbilirubinämie und das damit verbundene Risiko einer Bilirubinenzephalopathie gefährdet.
I
27.5
AB0-Erythroblastose
27.5.1 Inzidenz und Pathogenese ! Mit einer AB0-Unverträglichkeit ist in ca. 1 von 200 Neugeborenen zu rechnen. Im Gegensatz zur Rh-Inkompatibilität tritt die AB0-Erythroblastose häufig in der ersten Schwangerschaft auf.
Mütter mit der Blutgruppe 0 haben natürlich vorkommende Anti-A- und Anti-B-Antikörper (Isoagglutinine), die zur Gruppe der IgM-Antikörper gehören und deshalb nicht die Plazenta passieren. Dennoch bilden einige Schwangere plazentagängige IgG-Antikörper, die gegen die kindliche Blutgruppeneigenschaft A, B oder AB gerichtet sind. Die mütterliche IgG-Antikörperbildung kann vermutlich durch exogene Ursachen, wie z. B. Darmparasiten, stimuliert werden. Als weitere Ursache wird der Übertritt kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Zirkulation vermutet. Da die Antigenität der kindlichen Blutgruppeneigenschaften erst gegen Ende der Schwangerschaft voll ausgebildet ist, erklärt sich der im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität milde Verlauf der hämolytischen Erkrankung beim ersten Neugeborenen sowie die Tatsache, dass Frühgeborene nur extrem selten an einer AB0-Inkompatibilität erkranken. Der Schweregrad der hämolytischen Erkrankung Neugeborener nimmt bei nachfolgenden Schwangerschaften in der Regel nicht zu. Der Grund liegt vermutlich in einer Suppression der IgG-Antikörperbildung durch die natürlich vorkommenden IgMAnti-A- oder Anti-B-Antikörper.
27.5.3 Diagnose und Therapie Die wesentlichen diagnostischen Merkmale der AB0-Inkompatibilität im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität sind in ⊡ Tabelle 27.1 zusammengefasst. Durch eine rechtzeitig begonnene und konsequent durchgeführte Phototherapie können bei den meisten Kindern kritische Bilirubinserumkonzentrationen vermieden werden. Eine Austauschtransfusion ist nur extrem selten durchzuführen. Durch zirkulierende Antikörper kann sich in den ersten Lebenswochen eine in der Regel blande verlaufende Anämie entwickeln.
Neonatologen sind nur noch selten mit der Behandlung eines Morbus haemolyticus neonatorum konfrontiert. Eine mögliche Fehleinschätzung des Krankheitsverlaufs und der schwerwiegenden Folgeschäden sowie eine zunehmende Liberalisierung der Behandlungsrichtlinien von Früh- und Neugeborenen mit Hyperbilirubinämie anderer Ätiologie haben in einigen westlichen Nationen zu einem unakzeptablen Wiederauftreten von Bilirubinenzephalopathien geführt.
⊡ Tabelle 27.1. Unterschiede zwischen der Rh- und AB0-Inkompatibilität
Inkompatibilität Rh
AB0
Erkrankung bei erster Schwangerschaft
selten
häufig
Frühzeitige Anämisierung des Kindes
+
+
Hyperbilirubinämie während der ersten 24 h post partum
++
+
Erythroblasten
+++
+
Sphärozyten
±
++
Retikulozyten
++
+ bis ++
Direkter Coombs-Test (Kind)
+++
– bis ±*
Indirekter Coombs-Test (Mutter)
+++
±
* schwach positiv.
289 27 · Morbus haemolyticus neonatorum
Literatur Chavez GF, Mulinare J, Edmonds LD (1991) Epidemiology of Rh hemolytic disease of the newborn in the United States. JAMA 265: 3270–3274 Hansen TWR (2000) Kernicterus in term and near-term infants – the specter walks again. Acta Paediatr 89:1155–1157 Johnson LH, Bhutani VK, Brown AK (2002) System-based approach to management of neonatal jaundice and prevention of kernicterus. J Pediatr 140:396–403 Matsunaga AT, Lubin BH (1995) Hemolytic anemia in the newborn. Clin Perinat 22:803–828 Poland RL (2002) Preventing kernicterus: Almost there. J Pediatr 140:385–386 Rubaltelli FF (1998) Current drug treatment options in neonatal hyperbilirubinaemia and the prevention of kernicterus. Drugs 56:23–30
27
I
Thrombozytopenien des Neugeborenen C. Dame
28.1 28.2 28.3 28.4 28.4.1
28.4.2
28.4.3
28.4.4
28.5
Definition und Häufigkeit der neonatalen Thrombozytopenien – 291 Pathophysiologie der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien – 291 Diagnostik der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien – 291 Einteilung der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien – 291 Thrombozytopenien durch gesteigerten Thrombozytenverbrauch und mit primär maternaler Ursache – 291 Thrombozytopenien durch gesteigerten Thrombozytenverbrauch und mit primär fetaler/neonataler Ursache – 296 Thrombozytopenien durch verminderte Thrombozytenproduktion und mit primär maternaler Ursache – 298 Thrombozytopenien durch verminderte Thrombozytenproduktion und mit primär fetaler/neonataler Ursache – 299
Behandlung erworbener neonataler Thrombozytopenien – 299 Literatur – 300
Thrombozytopenien sind beim kranken Neugeborenen, insbesondere beim Frühgeborenen, häufig. Das Verständnis der Pathomechanismen und des zu erwartenden Verlaufs der neonatalen Thrombozytopenie ist für die Behandlung der betroffenen Neugeborenen entscheidend. Neben Krankheitsbildern, bei denen die Ursache der Thrombozytopenie gut diagnostizierbar ist, gilt dies insbesondere für Situationen, in denen die Thrombozytopenie multifaktoriell bedingt sein kann. Ein typisches Beispiel ist der folgende Fall: Ein Frühgeborenes, das nach 28 Schwangerschaftswochen bei einer maternalen Infektion nach vorzeitigem Blasensprung und unaufhaltsamer Wehentätigkeit geboren wird, hat ein Atemnotsyndrom entwickelt; es wurde zweimal mit Surfactant behandelt und wird beatmet. Im Alter von 72 h fällt die Thrombozytenzahl auf 75/nl ab. Die entscheidenden Fragen sind nun: Was ist die Ursache der Thrombozytopenie? Welche spezielle Diagnostik ist erforderlich? Muss die Thrombozytopenie behandelt werden? Ziel dieses Kapitels ist es, die Pathomechanismen der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien und die notwendige Diagnostik zu erläutern sowie Indikationen und Konzepte für die Behandlung der erworbenen neonatalen Thrombozytopenie aufzuzeigen.
28.1
Definition und Häufigkeit neonataler Thrombozytopenien
Die Megakaryopoese und Thrombozytenproduktion beginnt in der 5. Woche post conceptionem (pc) (Fukuda 1974). Im Verlauf der Gestation steigt die Thrombozytenzahl linear an. Im Alter von 15 Wochen pc beträgt die Zahl der Thrombozyten durchschnittlich 187/nl, am Geburtstermin durchschnittlich 274/nl (Van den Hof u. Nicolaides 1990). Bei Geburt haben Frühgeborene somit etwas niedrigere Thrombozytenzahlen als reife Neugeborene, wobei der Referenzwert für die Thrombozytenzahl in beiden Gruppen – wie bei älteren Kindern und Erwachsenen – zwischen 150–450/nl liegt. Eine Thrombozytopenie wird sowohl beim Feten als auch beim Frühgeborenen und reifen Neugeborenen durch eine Thrombozytenzahl <150/nl definiert. Die klinische Relevanz einer neonatalen Thrombozytopenie mit Thrombozytenzahlen zwischen 100/nl und 150/nl ist umstritten. Eine schwere Thrombozytopenie liegt bei einer Thrombozytenzahl <50/nl vor. Bei einer Thrombozytenzahl <20/nl steigt das Blutungsrisiko deutlich an (Andrew et al. 1987). Sind neben der Thrombozytopenie die Gerinnungsfaktoren verringert oder die Gefäßpermeabilität gestört, ist auch bei Thrombozytenzahlen >20/nl von einer erhöhten Blutungsneigung auszugehen. Typische klinische Zeichen der neonatalen Thrombozytopenie sind Petechien, insbesondere an Hautarealen, die einem erhöhten mechanischem Druck (Kopf) ausgesetzt waren, konjunktivale Blutungen, Schleimhautblutungen, extra- und intrazerebrale Hämorrhagien sowie gastrointestinale oder urogenitale Blutungen. Die Angaben zur Inzidenz der neonatalen Thrombozytopenie sind sehr unterschiedlich und von der Zusammenstellung der Untersuchungspopulation abhängig. In großen, nicht selektionierten Studienpopulationen findet sich eine Thrombozytopenie (Thrombozyten <150/nl) bei 0,1–2% aller Neugeborenen (Dreyfus et al. 1997; Sainio et al. 2000). Bei Geburt haben 0,12–0,24% aller Neugeborenen eine schwere Thrombozytopenie (<50/nl) (Sainio et al. 2000; de Moerloose et al. 1998). Bei kranken Neugeborenen sind Thrombozytopenien jedoch sehr viel häufiger. In 3 großen Studien fand sich eine Thrombozytopenie bei 18–35% der Neugeborenen, die auf einer neonatologischen Intensivstation aufgenommen wurden (Castle et al. 1986; Mehta et al. 1980; Oren et al. 1994). ! Die normale Thrombozytenzahl beträgt bei Frühgeborenen und reifen Neugeborenen 150–450/nl. Eine Thrombozytopenie findet sich bei 0,1–2,0% aller Neugeborenen. Bei einer Thrombozytenzahl <20/nl steigt das Blutungsrisiko deutlich an. Bis zu ein Drittel der Neugeborenen, die auf einer neonatologischen Intensivstation aufgenommen werden, sind bei Aufnahme oder im Krankheitsverlauf thrombozytopenisch.
291 28 · Thrombozytopenien des Neugeborenen
28.2
Pathophysiologie der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien
Thrombozytopenien können bei Feten und Neugeborenen, wie beim älteren Kind und Erwachsenen, durch folgende grundlegende pathophysiologische Mechanismen bedingt sein: ▬ durch einen gesteigerten Thrombozytenverbrauch, ▬ durch eine verminderte Thrombozytenproduktion, ▬ durch die Kombination dieser beiden Mechanismen oder ▬ durch Thrombozytenverlust bei einer Blutung bzw. durch Verdünnungseffekte (Hämodilution) sowie Fragmentierung der Thrombozyten bei einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO), bei Operationen unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine oder bei einer Austauschtransfusion. Bei schwerkranken Früh- und Neugeborenen bleibt der exakte Mechanismus der Thrombozytopenie oft unklar, da komplexe oder multifaktorielle Abläufe ursächlich sind (Dame 2002). Hinzu kommt, dass eine Untersuchung der Aktivität der Megakaryopoese (Bestimmung der Zahl, Größe und Kerndichte der Megakaryozyten im Knochenmark) und/oder der Kinetik des Thrombozytenverbrauchs (beispielsweise mittels markierter autologer Thrombozyten) in den meisten Fällen nicht vertretbar oder klinisch nicht sinnvoll ist. 28.3
Diagnostik der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien
Die Thrombozytenzahl wird in der Regel durch eine automatisierte Thrombozytenzählung bestimmt. Insbesondere bei einer schweren Thrombozytopenie ist es empfehlenswert, im Ausstrichpräparat eine manuelle Zählung der Thrombozyten durchzuführen, um eine »Pseudothrombozytopenie« bei Thrombozytenagglutinaten bzw. -aggregaten oder eine fehlerhafte Interpretation der Counter-Zählung bei Makrothrombozyten auszuschließen. In der Counter-Zählung wird auch das mittlere Volumen der Thrombozyten (»mean platelet volume«, MPV) angegeben, welches bei einem gesteigerten Thrombozytenverbrauch und in seltenen Fällen auch bei angeborenen Thrombozytopenien mit gestörter Megakaryopoese erhöht ist (>11 fl). Speziellen Fragestellungen sind die Bestimmung der retikulierten Thrombozyten und die Analyse der Megakaryopoese im Knochenmarkausstrich ebenso wie die Durchführung eines Megakaryozyten-Kolonie-bildenden Assays (CFU-Meg), die Bestimmung der Thrombopoetin-(Tpo-) Konzentration (Dame 2001), die Testverfahren zur Demonstration der Inkompatibilität von Thrombozytenantigenen (»platelet suspension immunofluorescence test«, PISFT; »monoclonal antibody-specific immobilization of platelet antigens«, MAIPA), die Glykokalzin-Messung oder molekulargenetische Untersuchungen (Mutationsanalyse des TpoRezeptors c-mpl bei amegakaryozytärer Thrombozytopenie) vorbehalten ( Kap. 34).
28.4
Einteilung der fetalen und neonatalen Thrombozytopenien
In der Literatur sind ganz unterschiedliche Klassifikationen der fetalen und neonatalen Thrombozytopenie beschrieben. Am gängigsten ist derzeit die Klassifizierung, bei der zunächst unterschieden wird, ob die Thrombozytopenie durch einen gesteigerten Thrombozytenverbrauch oder eine verminderte Thrombozytenproduktion bedingt ist (⊡ Tabelle 28.1). Thrombozytopenien, die durch einen gesteigerten Thrombozytenverbrauch bedingt sind, werden ferner danach unterschieden, ob primär eine maternale bzw. plazentare oder eine fetale bzw. neonatale Ursache zugrunde liegt (George u. Bussel 1995). Einige, primär durch einen gesteigerten Thrombozytenverbrauch charakterisierte Thrombozytopenien sind jedoch auch mit einer verminderten oder nicht adäquat gesteigerten Thrombozytenproduktion assoziiert. Bei den postnatal erworbenen Thrombozytopenien wird ferner zwischen frühzeitig (<72 h) oder spät (>72 h) auftretenden Formen unterschieden (⊡ Tabelle 28.2). Für einige angeborene Thrombozytopenien, die primär durch eine verminderte Megakaryopoese bzw. Thrombozytenproduktion bedingt sind, ist mittlerweile der zugrunde liegende molekulargenetische Defekt identifiziert worden ( Kap. 34). 28.4.1 Thrombozytopenien durch gesteigerten
Thrombozytenverbrauch und mit primär maternaler Ursache Immunthrombozytopenien Immunologische Ursachen der Thrombozytopenie finden sich bei 0,3–0,6% aller ansonsten gesunden reifen Neugeborenen (de Moerloose et al. 1998). Innerhalb der Gruppe der thrombozytopenischen Neugeborenen machen sie bis ein Drittel der Thrombozytopenien aus. Die immunologisch bedingten Thrombozytopenien werden je nach zugrunde liegendem Mechanismus in Alloimmunthrombozytopenien und Autoimmunthrombozytopenien unterteilt (⊡ Tabelle 28.1). Alloimmunthrombozytopenie Alloimmunthrombozytopenien entstehen infolge der Bildung maternaler IgG Antikörper gegen paternal vererbte Antigene auf den Thrombozyten des Feten. Die maternalen Alloantikörper gelangen über die Plazenta in den fetalen Kreislauf. Derzeit sind 24 thrombozytenspezifische Alloantigene (»human platelet antigen«, HPA) bekannt, von denen 12 in 6 zweigeteilte Gruppen eingeordnet werden (HPA-1, -2, -3, -4, -5, -15; ⊡ Tabelle 28.3). Bei 22 der 24 serologisch definierten Antigene ist die molekulare Grundlage der Antigenität bekannt. Mit Ausnahme von einem der 22 Antigene liegt ein Polymorphismus einer einzelnen Aminosäure (»single nucleotid polymorphism«, SNP) in einem Gen vor, das ein relevantes Glykoprotein (GP) der Thrombozytenmembran kodiert (Metcalfe et al. 2003) Für die Thrombozytenantigene Vaa (GPIIb/IIIa) und Moua (GP nicht bekannt) ist bislang keine Klassifikation im HPA-System möglich. Eine weiterreichende Zusammenstellung der genetischen Grundlagen mit Informationen zu den Nukleotiden und Substitutionen der Aminosäuren sowie den Referenzen in den genetischen
28
I 292
Häufig
Selten
Sehr selten
Gesteigerter Thrombozytenverbrauch mit primär maternaler Ursache
Immunologische Genese: Fetale/neonatale Alloimmunthrombozytopenie Maternale Autoimmunerkrankung (Immunthrombozytopenie, systemischer Lupus erythematodes) Konnatale Infektionen (TORCH): Toxoplasmose, Röteln, Zytomegalie, Herpes simplex, andere, insbesondere Parvovirus B19, HIV, Coxsackie-, Epstein-Barr- und Echo-Virus
Gestationsthrombozytopenie Morbus haemolyticus bei Blutgruppenunverträglichkeit
Mütterliche Medikamenteneinnahme
Gesteigerter Thrombozytenverbrauch mit primär fetaler/ neonataler Ursache
Infektionen Mekoniumaspiration Nekrotisierende Enterokolitis Asphyxie
Angeborene Herzfehler Nicht-immunologischer Hydrops fetalis Hämangiom (Kasabach-Merritt-Syndrom) Thrombose (insbesondere bei Nabelkathetern, Gerinnungsstörungen, Nierenvenenthrombose) Austauschtransfusion Extrakorporale Membranoxygenierung/ Zirkulation
Heparininduzierte Thrombozytopenie Wiskott-Aldrich Syndrom Makrothrombozytopenien (Bernard-Soulier-Syndrom, May-Hegglin-Anomalie, X-chromosomale Makrothrombozytopenie) Von-Willebrand-Syndrom Typ IIb, verminderte Metalloproteinase ADAMTS13
Verringerte Thrombozytenproduktion mit primär maternaler Ursache
Eklampsie/HELLP-Syndrom Plazentainsuffizienz mit intrauteriner Wachstumsretardierung, maternaler (Gestations-)Diabetes
Verringerte Thrombozytenproduktion mit primär fetaler/ neonataler Ursache
Atemnotsyndrom Asphyxie
Medikamentennebenwirkung (Antikonvulsiva, Chinidin, Diuretika)
Trisomie 13, Trisomie 18 und Trisomie 21 Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom
Amegakaryozytäre Thrombozytopenie Fanconi-Anämie Andere (Dyskeratosis congenita, Neuroblastom, Histiozytosen, Osteopetrosis) Angeborene Stoffwechselstörungen
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
⊡ Tabelle 28.1. Ursachen neonataler Thrombozytopenien, klassifiziert nach primär gesteigertem Thrombozytenverbrauch oder verringerter Thrombozytenproduktion (modifiziert nach George u. Bussel 1995)
293 28 · Thrombozytopenien des Neugeborenen
⊡ Tabelle 28.2. Charakteristika frühzeitig (<72 h) und spät (>72 h postnatal) auftretender neonataler Thrombozytopenien, die nicht mit einem spezifischen genetischen Defekt assoziiert sind
Charakteristika der Thrombozytopenie
Beginn <72 h postnatal
Beginn >72 h postnatal
Ausmaß
Leicht bis mittelgradig (selten <50/nl)
Stark (meist <50/nl)
Kinetik/Verlauf
Langsam, über Tage
Rascher Beginn, starke Progredienz über 24–48 h
Häufige Assoziation
Schwangerschaftskomplikationen (Eklampsie, HELLP-Syndrom, intrauterine Wachstumsverzögerung, maternaler Diabetes)
Sepsis, nekrotisierende Enterokolitis
Pathophysiologie
Gestörte Thrombozytenproduktion
Kombination von Thrombozytenverbrauch und -produktionsstörung
Behandlung
Selten notwendig
Häufig multiple Thrombozytentransfusionen
⊡ Tabelle 28.3. Klassifizierung der humanen Thrombozytenantigene (»human platelet antigens«, HPA), die für die Alloimmunthrombozytopenien des Feten und Neugeborenen relevant sind
System
Antigen
Originalname a
A1
Glykoprotein
CD
HPA-1
HPA-1a HPA-1b
Zw , PI Zwb, PIA2
GPIIIa
CD61
HPA-2
HPA-2a HPA-2b
Kob Koa, Siba
GPIbα
CD42b
HPA-3
HPA-3a HPA-3b
Baka, Leka Bakb
GPIIb
CD41
HPA-4
HPA-4a HPA-4b
Yukb, Pena Yuka, Penb
GPIIIa
CD61
HPA-5
HPA-5a HPA-5b HPA-6bw HPA-7bw HPA-8bw HPA-9bw HPA-10bw HPA-11bw HPA-12bw HPA-13bw HPA-14bw
Brb, Zavb Bra, Zava, Hca Caa, Tua Moa Sra Maxa Laa Groa Iya Sita Oea
GPIIa GPIIIa GPIIIa GPIIIa GPIIb GPIIIa GPIIIa GPIbβ GPIa GPIIIa
CD49b CD61 CD61 CD61 CD41 CD61 CD61 CD42c CD49b CD61
HPA-15
HPA-15a HPA-15b HPA-16bw
Govb Gova Duva
CD109 GPIIIa
CD109 CD61
Das Suffix »w« weist darauf hin, dass der Alloantikörper gegen das Antigen noch nicht identifiziert wurde. An den Originalnamen der Alloantigene (erste zwei oder drei Buchstaben des Nachnamens eines Patienten, bei dem der Alloantikörper erstmals nachgewiesen wurde) zeigen die hoch gestellen Abkürzungen ›a‹ und ›b‹ an, ob ein Alloantigen in immunologischen Untersuchungen an einer Indexpopulation mit einer Häufigkeit von >50% (a) oder <50% (b) vorkommt (Metcalfe et al. 2003)
Datenbanken kann dem Konsensus-Report des Platelet Nomenclature Committee entnommen werden (Metcalfe et al. 2003). Eine Alloimmunthrombozytopenie mit einer Thrombozytenzahl <150/nl tritt etwa bei 1 von 1000 kaukasischen Neugeborenen auf (Williamson et al. 1998). Die mütterlichen Antikörper sind am häufigsten gegen HPA-1a (78%; P1A1 oder Zwa) oder HPA-5b (19%; Bra, Zava oder Hca) gerichtet (Blanchette et al. 2000).
Eine Alloimmunthrombozytopenie manifestiert sich beim Feten zumeist nach der 20. Woche pc, in Einzelfällen auch schon um die 16. Woche pc. Im Gegensatz zur Immunisierung gegen Erythrozytenantigene (Morbus haemolyticus) kann bereits das erste Kind von der Alloimmunthrombozytopenie betroffen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei gegebener Antigenkonstellation eine Alloimmunthrobozytopenie manifestiert, scheint an das Vorliegen bestimmter HLA-Typen gekoppelt zu sein. So findet sich eine HPA-1a-
28
294
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
induzierte Alloimmunthrombozytopenie vermehrt bei Müttern mit dem HLA-DR3-Alloantigen, eine HPA-5b-induzierte Alloimmunthrombozytopenie häufiger bei HLA-DRw6Merkmalsträgerinnen (Mueller-Eckhardt et al. 1989). Eine intraventrikuläre Hämorrhagie (mit oder ohne Parenchymblutung, Infarzierung, Leukomalazie) kann bei schwerer Alloimmunthrombozytopenie pränatal bereits ab der 16. Woche pc auftreten und zu schwersten Schäden im sich entwickelnden Gehirn, in einigen Fällen mit letalem Ausgang, führen (Murphy et al. 1994; Giovangrandi et al. 1990). Bei gegebener Antigenkonstellation ist das Risiko für eine schwere Alloimmunthrombozytopenie (Thrombozyten <20/nl) besonders hoch, wenn bei einem vorherigen Geschwisterkind eine pränatale Hirnblutung oder eine schwere fetale Thrombozytopenie (<20/nl) vorlag (92% bzw. 66% der nachfolgenden Fälle; Birchall et al. 2003). Strategien zur Prävention von pränatalen Blutungen sind nur teilweise in prospektiven, randomisierten (Multicenter-)Studien untersucht, werden sehr kontrovers diskutiert und an führenden Zentren sehr unterschiedlich umgesetzt (Engelfriet et al. 2003). Dies betrifft insbesondere folgende zentrale Aspekte: ▬ Indikation und Zeitpunkt einer fetalen Blutanalyse zur Bestimmung der Thrombozytenzahl, ▬ Empfehlungen zur intrauterinen Thrombozytentransfusion (Indikation, Zeitpunkt, Dosierung, Wiederholung), ▬ intravenöse Immunglobulin-(IVIG-) Behandlung der Mutter, ▬ Behandlung der Mutter mit Kortikosteroiden, ▬ Kombination einer Transfusionsbehandlung mit anderen Strategien, beispielsweise einer IVIG-Behandlung des Feten (Engelfriet et al. 2003). Anhand einiger Aspekte soll gezeigt werden, wie weit man im pränatalmedizinischen Management der Alloimmunthrombozytopenie von einem Standard entfernt ist und auf welche speziellen Risiken oder Interventionsmaßnahmen sich die Neonatologen und Transfusionsmediziner eines Perinatalzentrums einstellen müssen. Eine kürzlich publizierte Befragung ergab grundlegend unterschiedliche Indikationsstellungen für die Durchführung einer fetalen Blutentnahme zur Bestimmung der Thrombozytenzahl. Das Spektrum reicht von einer routinemäßigen Untersuchung bei gegebener elterlicher Antigenkonstellation über eine strengere Indikationsstellung in Abhängigkeit vom Vorliegen einer Alloimmunthrombozytopenie bei einem vorherigen Geschwisterkind und einer Homozygotie des Vaters für das Antigen, eine differenzierte Indikationsstellung und Auswahl des Zeitpunkts der Fetalblutanalyse in Abhängigkeit von der Art des Alloantigens im Glykoproteinkomplex IIb/IIIa oder Ib/IX (z. B. frühe, routinemäßige Bestimmung bei anti-HPA-1a und antiHPA-3a, späte Fetalblutanalyse bei HPA-5a) und gleichzeitig positiver Anamnese bei einem vorherigen Geschwisterkind bis zur Vermeidung von fetalen Blutabnahmen selbst nach einer pränatalen Hirnblutung bei einem vorherigen Geschwisterkind (Engelfriet et al. 2003). Ähnlich unterschiedlich fällt an den befragten Zentren die Entscheidung über eine konservative oder invasive Behandlung der fetalen Alloimmunthrombozytopenie aus: Bei einer konservativen Strategie wird die Schwangere etwa ab der 18.–20. Woche pc mit IVIG (1 g/kg KG/Woche) behandelt,
wobei das Kind zumeist bei einem Gestationsalter von 35 Wochen per sectionem entbunden wird. Der Effekt der alleinigen IVIG-Behandlung ist allerdings nicht ausreichend gesichert (Giers et al. 1996; Kroll et al. 1994; Bussel 2003). An einigen Zentren wird die IVIG-Behandlung deshalb mit einer Kortikosteroidbehandlung (Prednisolon, zumeist 1 mg/kg/Tag; eine Dexamethasonbehandlung ist wegen der Entwicklung eines Oligohydramnions und fetaler Wachstumsretardierung obsolet; Bussel et al. 1988) kombiniert. Dabei ist auf die Nebenwirkungen der langfristigen pränatalen Steroidtherapie hinzuweisen. Der Nachweis des Nutzens einer kombinierten IVIG- und Prednisiolonbehandlung in randomisierten kontrollierten Studien steht noch aus (Kaplan et al. 1998). In einer amerikanischen Multicenter-Studie wird derzeit eine kombinierte Behandlung mit IVIG und niedrig dosierten Steroiden (Prednisolon 0,5 mg/kg/Tag, bei Non-Respondern 1,0 mg/kg/ Tag) evaluiert (Bussel 2003). Eine pränatale Blutung scheint derzeit nur durch intrauterine Thrombozytentransfusionen verhindert werden zu können, die allerdings technisch sehr schwierig und risikoreich (Nachblutungen, fetale Bradykardien) sind, so dass die Durchführung spezialisierten Zentren vorbehalten bleibt. Die Indikation zur intrauterinen Thrombozytentransfusion wird meist in Abhängigkeit von der Thrombozytenzahl (Indikationsstellung je nach Zentrum zwischen <30/nl und <100/nl) gestellt. Bei der Indikationsstellung sollten auch neuere Daten diskutiert werden, die anhand erhöhter TpoKonzentrationen im Nabelschnurblut darauf hinweisen, dass sich die Megakaryopoese bei einzelnen Feten mit schwerer Alloimmunthrombozytopenie erschöpfen kann und damit eine höhere Blutungsneigung assoziiert ist (Cremer et al. 2003). Es scheint deshalb sinnvoll, das Transfusionsregime nach der Schwere der Alloimmunthrombozytopenie auszurichten. So gibt es Strategien, die wöchentliche Thrombozytentransfusionen bei einer Thrombozytenzahl <30/nl in der ersten Fetalblutanalyse (20.–22. Woche pc), bei höheren Thrombozytenzahlen (>30/nl) in 2- bis 4-wöchigen Abständen vorsehen, wobei das Ziel ein Anstieg der Thrombozytenzahl auf 250–300/nl ist. Strategien einer kombinierten Transfusionsbehandlung mit einer IVIG-Behandlung der Mutter oder des Feten sind nicht erfolgreich gewesen (Weiner et al. 1994), werden z. T. aber noch durchgeführt (Engelfriet et al. 2003). In der Neonatalperiode fallen etwa 80% der Neugeborenen mit einer Alloimmunthrombozytopenie primär durch petechiale Hautblutungen auf. Zu diesem Zeitpunkt haben etwa 90% eine Thrombozytenzahl <50/nl. Bei 15% der betroffenen Neugeborenen kommt es zu gastrointestinalen Blutungen, bei etwa 14% zu Hirnblutungen (Blanchette et al. 2000). Bei einer neonatalen Thrombozytenzahl <30/nl wird wegen des erhöhten Blutungsrisikos die Transfusion von gewaschenen mütterlichen Thrombozyten empfohlen (Roberts et al. 2003). Dabei werden die Thrombozyten vom Antikörperbeladenen mütterlichen Plasma getrennt und zusätzlich bestrahlt (30 Gy), um die Proliferation maternaler Lymphozyten zu hemmen und das Risiko einer »graft versus host disease« (GVHD) zu minimieren. Diese Vorbereitung des Thrombozytenkonzentrats dauert wenige Stunden, so dass das Transfusionskonzept auch bei Erstdiagnose der Alloimmunthrombozytopenie realisierbar ist. Bei einer akuten Blutung werden kompatible Spenderthrombozyten transfun-
295 28 · Thrombozytopenien des Neugeborenen
diert (Blanchette et al. 2000). Der Nutzen einer neonatalen IVIG-Behandlung (1 g/kg/Tag an 2 aufeinanderfolgenden Tagen) wird kontrovers diskutiert und ist nicht evidenzbasiert (Blanchette et al. 2000). Bei einer akuten Blutung oder einem sehr hohen Blutungsrisiko muss bedacht werden, dass von der IVIG-Behandlung per se keine kurzfristige Besserung zu erwarten ist. Ein Nutzen einer Kortikosteroidbehandlung des Neugeborenen konnte nicht nachgewiesen werden (Blanchette et al. 2000). In der Regel normalisiert sich die Thrombozytenzahl innerhalb der ersten vier Wochen postnatal, gelegentlich wird eine überschießende Thrombozytenzahl (>450/nl) gemessen. Autoimmunthrombozytopenie Die Autoimmunthrombozytopenie des Feten und Neugeborenen wird durch den diaplazentaren Transfer maternaler Autoantikörper bei Immunthrombozytopenien (ITP) oder bei anderen mütterlichen Autoimmunerkrankungen (beispielsweise dem systemischen Lupus erythematodes) verursacht, wobei sich die Antikörper gegen gleiche Thrombozytenantigene bei Mutter und Kind richten. Die Angaben zur Inzidenz der neonatalen Autoimmunthrombozytopenie bei mütterlicher Autoimmunthrombozytopenie oder -erkrankung variieren erheblich (13–56%), was durch eine unterschiedliche Definition der Thrombozytopenie und durch verschiedene Zeitpunkte der Thrombozytenzählung bedingt zu sein scheint (Sola 2004). Im Gegensatz zur Alloimmunthrombozytopenie ist die neonatale Thrombozytenzahl bei der Autoimmunthrombozytopenie am Tag der Geburt oftmals normal und fällt erst im Verlauf des 2.–5. Tages postnatal auf ein Minimum ab. So findet sich eine schwere Thrombozytopenie (<50/nl) unmittelbar postnatal bei 3,6%, am dritten Tag aber bei 14,3% der Neugeborenen von Müttern mit ITP (Sainio et al. 1998). Bei wiederum 10% der Neugeborenen mit einer Thrombozytenzahl <50/nl (=1% aller Neugeborenen mit maternaler ITP) tritt eine Hirnblutung auf (Bussel 2003). Damit ist das Risiko für eine Hirnblutung bei der Autoimmunthrombozytopenie deutlich niedriger als bei der Alloimmunthrombozytopenie. Das Ausmaß der neonatalen Thrombozytopenie und das Risiko für eine Hirnblutung korrelieren nicht mit der Schwere der mütterlichen ITP. Nur die Diagnose einer Autoimmunthrombozytopenie bei einem vorherigen Geschwisterkind ist ein geeignetes Kriterium für die Vorhersage einer neonatalen Autoimmunthrombozytopenie, die beim nachfolgenden Geschwisterkind in der Regel nicht schwerer verläuft (Bussel 2003). Für die klinische Praxis soll daran erinnert werden, dass bei einer Schwangeren mit ITP, die nach Splenektomie normale Thrombozytenzahlen hat, die Antikörperproduktion persistiert und das Neugeborene thrombozytopenisch sein kann. Die Behandlung der Schwangeren richtet sich nach der Schwere ihrer Thrombozytopenie. Wenn keine Komplikationen aus einer vorherigen oder der aktuellen Schwangerschaft vorliegen, wird von einer pränatalen Diagnostik und Therapie abgesehen. Die neonatalen Thrombozytenzahlen normalisieren sich bis zum Ende der 4. Woche. Bei einer Thrombozytenzahl <30/nl oder bei Blutungen wird die neonatale Autoimmunthrombozytopenie mit Thrombozytentransfusionen behandelt. Der Nutzen einer neonatalen IVIG-Behandlung wird ebenso kontrovers diskutiert wie bei der Alloimmunthrom-
bozytopenie und ist wie eine Kortikosteroidbehandlung nicht evidenzbasiert. Gestationsthrombozytopenie Wenn erstmals während der Schwangerschaft eine Thrombozytopenie mit Merkmalen eines gesteigerten Thrombozytenverbrauchs diagnostiziert wird und keine für die ITP charakteristischen glykoproteinspezifischen Thrombozytenantikörper nachgewiesen werden können, kann entweder eine atypische ITP oder eine Gestationsthrombozytopenie vorliegen. Die Diagnose der Gestationsthrombozytopenie wird deshalb erst durch den Verlauf der Erkrankung bestätigt. Die Gestationsthrombozytopenie tritt selten im Verlauf einer Schwangerschaft auf und führt meist nur zu einer milden mütterlichen Thrombozytopenie (Thrombozyten >50/nl). Mit ihr ist nur selten eine neonatale Thrombozytopenie assoziiert, bei der auch nur in einzelnen Fällen Hirnblutungen beschrieben sind (George u. Bussel 1995). Konnatale Infektionen Konnatale Infektionen, die zu einer Thrombozytopenie führen, werden überwiegend durch virale Erreger (TORCH: Toxoplasmose, Röteln, Zytomegalie, Herpes und andere Viren, beispielsweise Parvovirus B19, HIV, Coxsackie-, Epstein-Barr- und Echo-Virus) verursacht. Die Thrombozytenzahl ist nur selten <20/nl. Mechanismen, die zur Thrombozytopenie führen, sind ▬ ein vermehrter Thrombozytenverbrauch nach einer Thrombozytenaktivierung durch Immunkomplexe und/ oder geschädigtes Gefäßendothel, ▬ eine direkte Schädigung der Megakaryozyten, ▬ eine Akkumulation von Thrombozyten in einer vergrößerten Milz, ▬ eine Hyperaktivität des retikuloendothelialen Systems und ▬ eine verminderte Tpo-Produktion. In der Gruppe der TORCH-Infektionen kommt es insbesondere bei einer konnatalen CMV-Infektion zu Thrombozytopenien. In 2 Studien waren bei Geburt 36% bzw. 77% der CMV-infizierten Neugeborenen thrombozytopenisch, wobei ein Drittel der betroffenen Neugeborenen eine Thrombozytenzahl <50/nl hatte (Hohlfeld et al. 1994; Boppana et al. 1992). Etwa 25% der Neugeborenen mit konnataler ToxoplasmoseInfektion sind thrombozytopenisch; bei einem Fünftel dieser Fälle ist die Thrombozytenzahl <50/nl (Hohlfeld et al. 1994). Konnatale Röteln verursachen bei etwa 20% der betroffenen Neugeborenen eine leichte bis mittelschwere Thrombozytopenie (Hohlfeld et al. 1994). Die Thrombozytenzahl normalisiert sich bei den durch TORCH-Infektion erworbenen Thrombozytopenien (außer HIV) meist innerhalb der ersten 2–4 Wochen postnatal; nur in Einzelfällen persistiert die Thrombozytopenie über wenige Monate. Bei einer perinatalen HIV-Infektion kann die Thrombozytopenie das erste klinische Zeichen der Infektion sein (Sola 2004). Bei älteren Kindern korreliert das Auftreten der Thrombozytopenie mit der Aktivität der HIV-Erkrankung. Erhöhte Tpo-Konzentrationen weisen auf eine ineffektive Megakaryopoese hin, die neben dem erhöhten Thrombozytenverbrauch ein entscheidender Pathomechanismus der Thrombozytopenie ist (Young et al. 1998; Cole et al. 1998).
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Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
Neugeborene, die wegen der HIV-Exposition mit Ziduvudin antiretroviral behandelt werden, entwickeln häufig eine vorübergehende Thrombozytopenie. Nach dem Ende der Behandlung kommt es häufig zu einem Rebound-Phänomen mit einer reaktiven Thrombozytose (Thrombozytenzahl oft >1000/nl; Bruel et al. 2001). Morbus haemolyticus bei Blutgruppeninkompatibilität Thrombozytopenien sind eine häufige Komplikation des schweren Morbus haemolyticus (Saade et al. 1993). Vor der Einführung der intrauterinen Behandlung mit Erythrozytentransfusionen war der immunologische Hydrops fetalis in nahezu allen Fällen mit einer Thrombozytopenie assoziiert (Koenig u. Christensen 1989; Harman et al. 1988). Eigene Daten zeigen, dass trotz intrauteriner Erythrozytentransfusionen etwa 10% der Neugeborenen mit einem Morbus haemolyticus bei Geburt thrombozytopenisch sind; etwa 40% der Neugeborenen mit einem Hydrops haben gleichzeitig eine Thrombozytopenie. Blutungskomplikationen wurden immer wieder als Folge der Thrombozytopenie und der beim Hydrops eingeschränkten Leberfunktion berichtet (Peterec 1995). Beim Morbus haemolyticus sind primäre und sekundäre Pathomechanismen als Ursache der Thrombozytopenie zu unterscheiden: ▬ Da auf den Megakaryozyten und Thrombozyten keine D- oder c-Antigene exprimiert werden, weisen erhöhte Tpo-Konzentrationen bei thrombozytopenischen Feten und Neugeborenen auf eine sekundär supprimierte Megakaryopoese hin, die am ehesten Folge der extremen Stimulation der Erythropoese ist (Dame et al. 2000). ▬ Im Gegensatz dazu wird bei der Kell-Inkompatibilität die Megakaryopoese primär durch die Reaktion der Antikörper mit den megakaryozytären Vorläuferzellen gestört (Wagner et al. 2000). Die Thrombozytenzahl normalisiert sich bei nicht-immunologischer Ursache der Thrombozytopenie unter der intrauterinen Transfusionsbehandlung der Anämie bzw. postnatal rasch. Vor der Erholung aus der Spätanämisierung kommt es häufig zu einer reaktiven Thrombozytose. Mütterliche Medikamenteneinnahme In einzelnen Fällen sind neonatale Thrombozytopenien nach einer antikonvulsiven Behandlung (Valproat, Phenytoin, Carbamazepin) der Schwangeren sowie nach Einnahme von Quinidin, Thiaziden, Hydralazin oder Tolbutamid beschrieben (George u. Bussel 1995). Obwohl die exakte Pathogenese der Thrombozytopenien unbekannt ist, wird die Hypothese einer immunologischen Ursache und somit eines gesteigerten Thrombozytenverbrauchs favorisiert. 28.4.2 Thrombozytopenien durch gesteigerten
Thrombozytenverbrauch und mit primär fetaler/neonataler Ursache Neonatale Infektionen In der Neonatalperiode werden Thrombozytopenien sehr häufig durch Infektionen verursacht. Etwa 55–65% der Neugeborenen mit nachgewiesener bakterieller Sepsis haben
eine Thrombozytenzahl <100/nl (Sola 2004). Bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht <1500 g, die in der Neonatalperiode an einer Pilzsepsis erkrankt sind, findet sich in 75% der Fälle eine Thrombozytopenie (Padovani et al. 1997). Infektionsbedingte Thrombozytopenien treten zwar zu jedem Zeitpunkt der Neonatalperiode auf, sind aber die häufigste Ursache von »Late-onset«-Thrombozytopenien (Beginn nach mehr als 72 h postnatal; Tabelle 28.3). Die Thrombozytopenie entwickelt sich – insbesondere beim unreifen Frühgeborenen – rasch; die Thrombozytenzahl ist häufig <50/nl. Ausmaß und Form der Thrombozytopenie können als frühe klinische Manifestation einer Sepsis für die Behandlung von Frühgeborenen und reifen Neugeborenen richtungsweisend sein. 25% der Neugeborenen mit bakterieller Sepsis sind bereits zum Zeitpunkt der Infektionsdiagnostik thrombozytopenisch; nach 36–48 h hat die Mehrzahl der septischen Neugeborenen eine Thrombozytopenie. Pathophysiologisch liegt der infektionsassoziierten Thrombozytopenie primär ein gesteigerter Thrombozytenverbrauch zugrunde. Bei schweren Verlaufsformen werden aber auch die megakaryozytären Vorläuferzellen durch die Erreger oder Immunkomplexe zerstört. Die daraus resultierenden Störung der Thrombozytenproduktion spiegelt sich in z. T. stark erhöhten Tpo-Konzentrationen wider. Bei nachgewiesener Sepsis mit gleichzeitiger disseminierter intravasaler Gerinnung (»disseminated intravascular coagulation«, DIC) werden extrem erhöhte Tpo-Konzentrationen (bis 2500 pg/ml, Referenzwert <300 pg/ml) gemessen (Dame 2002; Colarizi et al. 1999; Oygur et al. 2001). Bei der DIC, die auch mit anderen neonatalen Krankheitsbildern (beispielsweise einer Asphyxie) assoziiert sein kann und besonders häufig bei unreifen Frühgeborenen auftritt, ist neben der Thrombozytopenie der Verbrauch prokoagulatorischer und natürlicher antikoagulatorischer Proteine gesteigert. Die Thrombinzeit (TZ), die Prothrombinzeit (PT) und die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) sind verlängert, die Konzentration der D-Dimere erhöht und die PlasmaKonzentration von Fibrinogen, Faktor II, V, VII, Protein C und Antithrombin reduziert. Daraus resultiert eine besonders hohe Blutungsneigung. Infektionsbedingte Thrombozytopenien dauern durchschnittlich 6 Tage an (Modanlou u. Oritz 1981). Durch die vermehrte Freisetzung von IL-6 wird die Tpo-Produktion in der Leber stimuliert. Bei älteren Kindern wird am 4. Tag der Infektion die höchste Tpo-Konzentration gemessen, die der reaktiven Thrombozytose einige Tage vorausgeht ( Kap. 36; Ishiguro et al. 2002). Andere neonatale Thrombozytopenien mit primär gesteigertem Thrombozytenverbrauch Thrombozytopenien mit primär gesteigertem Thrombozytenverbrauch treten bei verschiedenen perinatalen Komplikationen (Asphyxie, Mekoniumaspiration), neonatalen Erkrankungen (nekrotisierende Enterokolitis [NEC], Atemnotsyndrom, zyanotischer Herzfehler, nicht-immunologischer Hydrops, Thrombose) oder therapeutischen Maßnahmen (Austauschtransfusion, Hämodialyse, extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) oder Operationen unter Einsatz der Herz-Lungen-Maschine) auf ( Tabelle 28.1). Der gesteigerte Thrombozytenverbrauch ist je nach Art oder Schwere
297 28 · Thrombozytopenien des Neugeborenen
der Erkrankung mit einer verminderten oder ineffektiven Megakaryopoese kombiniert. Die pathophysiologischen Mechanismen sind oft nicht genau bekannt. Folgende Aspekte scheinen besonders relevant: Asphyxie. Nach einer Asphyxie können innerhalb der ersten
72 h postnatal leichte bis mittelschwere Thrombozytopenien auftreten ( Tabelle 28.2). Durch die Hypoxie wird die Expression prokoagulatorischer Gewebefaktoren stimuliert, die Aktivität von Thrombomodulin reduziert und die Produktion des Plasminogenaktivators-1 gesteigert und so die Thrombozytenaggregation induziert. Die Thrombozytenzahl normalisiert sich spontan innerhalb weniger Tage. Nekrotisierende Enterokolitis. Die NEC führt bei 90% der betroffenen Neugeborenen zu einer typischen »Late-onset«Thrombozytopenie ( Tabelle 28.2). Mehr als die Hälfte der betroffenen Früh- und Neugeborenen hat eine Thrombozytenzahl <50/nl und Blutungen (insbesondere im Gastrointestinaltrakt), so dass häufig wiederholte Thrombozytentransfusionen notwendig werden. Angeborene zyanotische Herzfehler. Bei zyanotischen Herzfehlern kann die Thrombozytopenie sowohl durch einen gesteigerten Thrombozytenverbrauch bei Anomalien im Gefäßbett als auch durch eine Verdrängung der Megakaryopoese infolge der extrem stimulierten Erythropoese erklärt werden. Atemnotsyndrom. Thrombozytopenien sind bei Früh- und
Neugeborenen mit einem Atemnotsyndrom häufig mit einer DIC assoziiert. Bei Neonaten, die an den Komplikation eines Atemnotsyndroms verstorben sind, fanden sich häufig mikrovaskuläre Thrombosen in den Lungengefäßen (Segall et al. 1980). Nicht-immunologischer Hydrops fetalis. Thrombozytopenien treten auch bei nicht-immunologischem Hydrops infolge einer schweren intrauterinen Anämie, Herzinsuffizienz, Hypoproteinämie, intrauterinen Infektion oder anderen Erkrankungen (zystisch-adenoide Lungenmalformation, Trisomie, Turner-Syndrom, fetales Neuroblastom, Umbilikaloder Chorionvenenthrombose, [Gestations-]Diabetes) auf. Bei diesen Krankheitsbildern ist primär vom einem gesteigerten Thrombozytenverbrauch auszugehen, der oftmals mit einer gestörten oder inadäquaten Megakaryopoese assoziiert ist. Thrombozytopenien bei Thrombosen. Obwohl bei Neuge-
borenen sekundäre Thrombozytosen häufig auftreten, sind Thrombosen mit nachfolgender Thrombozytopenie sehr selten. Sie treten aber auf, wenn große Gefäße (Vv. renales, Vv. iliacae und V. cava) nach Anlage zentraler Katheter oder bei angeborenen Gerinnungsstörungen, insbesondere bei einen homozygoten oder gemischt heterozygoten Protein-Coder Protein-S-Mangel, thrombosieren (Edstrom u. Christensen 2000). Bei hypotrophen Neugeborenen (Geburtsgewicht <10. Perzentile), die oftmals eine Polyglobulie haben, ist auch ein Antithrombin-III-Mangel ein Risikofaktor für eine Thrombose mit nachfolgender Thrombozytopenie (Peters et al. 1984).
Austauschtransfusion. Thrombozytenpenien treten regelmäßig nach einer Austauschtransfusion auf, die wegen einer schweren Hyperbilirubinämie (z. B. bei Erythroblastose) oder bei anderen (hämatologischen) Erkrankungen durchgeführt wird. Ursache der Thrombozytopenie sind die (Hämo-)Dilution, eine gesteigerte Thrombozytenaktivierung und – je nach Grundkrankheit – Störungen der Megakaryopoese (Jackson 1997). Extrakorporale Membranoxygenierung/Zirkulation. Bei Behandlungsmaßnahmen, die eine extrakorporale Zirkulation (ECMO, Herzoperation) erfordern, ist die Thrombozytopenie durch die Hämodilution und den Thrombozytenverbrauch im Schlauchsystem und Oxygenator verursacht. Oft erschöpft sich im Verlauf der ECMO-Behandlung die um das 3- bis 5fache gesteigerte Megakaryopoese. Eine Multicenter-Analyse zeigt, dass Neugeborene unter ECMO-Behandlung pro Tag durchschnittlich 1,3 Thrombozytentransfusionen benötigen. Die Transfusionshäufigkeit ist bei Erkrankungen, die per se mit einer Thrombozytopenie assoziiert sind (RDS, Mekoniumaspiration, Sepsis/Pneumonie) höher. Ein höherer Transfusionsbedarf findet sich bei venoarterieller ECMOTechnik im Vergleich zur venovenösen Kanülierung (Chevuru et al. 2002). Hämangiome und vaskuläre Malformationen (KasabachMerritt-Syndrom). Bei Hämangiomen und vaskulären Mal-
formationen kann in einzelnen Fällen bereits im Neugeborenenalter neben der mikroangiopathischen hämolytischen Anämie eine Thrombozytopenie auftreten, die Folge einer Thrombozytenaktivierung an den pathologisch veränderten Gefäßen ist. Sekundär kann es auch zum Verbrauch plasmatischer Gerinnungsfaktoren kommen. Oft liegt dem KasabachMerritt-Syndrom histologisch kein »einfaches« Hämangiom zugrunde, sondern ein kaposiformes Hämangioendotheliom (Hall 2001). Heparininduzierte Thrombozytopenie. Eine heparinindu-
zierte Thrombozytopenie (HIT) ist bei Neugeborenen in wenigen Fällen beschrieben (Spadone et al. 1992). Möglicherweise wird sie aber auch nicht diagnostiziert, da während der Heparinbehandlung (beispielsweise bei permanenter arterieller Blutdruckmessung) vielfältige andere Faktoren (beispielsweise eine Sepsis oder ein zentraler Katheter) Ursache der Thrombozytopenie sein können. Es werden 2 Formen der HIT unterschieden: ▬ Typ I: benigne, nicht-immunologische HIT mit milder Thrombozytopenie ohne Blutungsneigung, die innerhalb der ersten 2 Tage nach Heparingabe auftritt. ▬ Typ II: immunologisch bedingte HIT mit schwerer Thrombozytopenie, die nach einer Latenz von 6–14 Tagen auftritt und mit thromboembolischen Komplikationen oder Blutungen assoziiert ist ( Kap. 23). Beim Neugeborenen können offensichtlich beide Formen der HIT auftreten (Spadone et al. 1992). Wiskott-Aldrich-Syndrom. Das Wiskott-Aldrich Syndrom (WAS) ist eine X-chromosomal vererbte Erkrankung, die durch einen kombinierten T- und B-Zelldefekt mit chronischem Ekzem und rezidivierenden opportunistischen Infektionen sowie durch eine Thrombozytopenie mit
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I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
⊡ Tabelle 28.4. Thrombozytenvolumina (»mean platelet volume«, MPV) bei kongenitalen Thrombozytopenien (mod. nach Drachman 2004)
MPV<7fl
MPV 7–11 fl
MPV>11fl
Wiskott-Aldrich-Syndrom
Amegakaryozytäre Thrombozytopenie
X-chromosomale Thrombozytopenie
Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom (TAR)
MYH9-assoziierte Thrombozytopenien: May-Heggin-Anomalie Epstein-Syndrom Fechtner-Syndrom Sebastian-Syndrom
FPDMM (»familial platelet disorder with associated myeloid malignancy«) bei AML1-Mutationen
Bernard-Soulier-Syndrom Mediterrane Makrothrombozytopenie GATA-1-Mutationen DiGeorge-Syndrom Paris-Trousseau-Thrombozytopenie/ Jacobsen-Syndrom »gray platelet syndrome«
Thrombozytenfunktionsstörung charakterisiert ist. Ursache ist die Mutation eines Gens, das das WAS-Protein kodiert ( Kap. 34). Bereits im Neugeborenenalter treten beim WAS Petechien oder Organblutungen auf. Die Zahl der Thrombozyten liegt typischerweise bei 5–100/nl. Im Knochenmark findet sich zwar eine normale Zahl megakaryozytärer Vorläuferzellen, aber auch eine ausgeprägte Thrombozytenphagozytose durch Retikulumzellen. Die Lebensdauer der Thrombozyten ist auf 2–3 Tage verkürzt; ihr Gehalt an Zellorganellen und das MPV (3,5 fl) sind verringert (⊡ Tabelle 28.4). Außerdem ist die Freisetzung von Proteinen aus den α-Granula gestört. Die Thrombozytenfunktionsstörung resultiert aus einer verminderten Expression des Glykoproteins CD43 (Sialophorin) auf der Thrombozytenmembran ( Kap. 34). Makrothrombozytopenien (Giant-Platelet-Syndrome). Zur
Gruppe der angeborener Riesenthrombozytopenien (⊡ Tabelle 28.4) gehören das Bernard-Soulier-Syndrom, Syndrome bzw. Anomalien, die an Mutationen im MYH9-Genlokus assoziiert sind (May-Heggin-Anomalie, Fechtner-, Epsteinund Sebastian-Syndrom), die mediterrane Makrothrombozytopenie, die X-chromosomale Makrothrombozytopenie, das Montreal-Platelet-, das Paris-Trousseau-, das Jacobsenund das Di-George Syndrom sowie das »gray platelet syndrome« (Drachman 2004). Durch strukturelle Veränderungen der Thrombozytenmembran ist der Thrombozytenverbrauch gesteigert. Die Blutungsneigung fällt bei den Makrothrombozytopenien individuell sehr verschieden aus. Neonatale Thrombozytopenien sind bei den nachfolgenden Giant-Platelet-Syndromen beschrieben. Beim autosomal-rezessiv vererbten Bernard-SoulierSyndrom ist die Expression des Rezeptors für den VonWillebrand-Faktor (VWF), einer komplexen Struktur aus den Glykoproteinen GP Ibα, GP Ibβ, GP V und GP IX, gestört (Pinto da Costa et al. 2003). Die May-Heggin-Anomalie ist durch Mutationen im MYH9 Genlokus verursacht, bei denen die Expression der schweren IIA-Kette des nicht-muskulären Myosins gestört ist. Dadurch ist der letzte Schritt der Megakaryopoese, nämlich die Bildung der »proplatelets« (letzte Vorstufe der Thrombozyten), gestört. Die Zahl der Thrombozyten beträgt etwa 40–80/nl, wobei die Zahl der Megakaryo-
zyten im Knochenmark normal oder erhöht ist. Das MPV ist auf 20–30 fl vergrößert (Seri et al. 2000). Die X-chromosomale Makrothrombozytopenie ist durch Mutationen des Transkriptionsfaktors GATA-1 bedingt (Mehaffey et al. 2001; Vyas et al. 1999). Makrothrombozytopenien vom Typ Paris-Trousseau, die durch eine Dysmegakaryopoese charakterisiert sind, finden sich bei Neugeborenen mit Jacobsen-Syndrom, bei dem es infolge von Mutationen im Chromosom 11 (11q23) zu multiplen Missbildungen kommt (Grossfeld et al. 2004). Von-Willebrand-Syndrom Typ II; Verminderung der Metalloproteinase ADAMTS13. Beim Von-Willebrand-Syndrom Typ
IIB, bei dem die Aktivität des VWF gesteigert ist, kommt es in seltenen Fällen bereits beim Neonaten zu einem stark erhöhten Thrombozytenverbrauch mit konsekutiver Thrombozytopenie. Bei einer Verminderung der Metalloproteinase ADAMTS13, die ungefaltete Formen des VWF bindet, ist durch den Wegfall dieses Mechanismus die Thrombozytenaggregation gesteigert (Jubinsky et al. 2003). 28.4.3 Thrombozytopenien durch verminderte
Thrombozytenproduktion und mit primär maternaler Ursache Bei Neugeborenen, insbesondere bei Frühgeborenen, gibt es eine wichtige Gruppe erworbener Thrombozytopenien, die an mütterliche Erkrankung (Diabetes Typ I) oder Komplikationen der Schwangerschaft (Gestationsdiabetes, Plazentainsuffizienz mit fetaler Wachstumsretardierung, Schwangerschafts-induzierte Hypertonie, Eklampsie, HELPP-Syndrom) assoziiert sind. Diese Thrombozytopenien treten typischerweise innerhalb der ersten 72 h postnatal ( Tabelle 28.2). Die Thrombozytenzahl bleibt meist >50/nl und normalisiert sich spontan innerhalb der ersten 7 Tage postnatal. Blutungen treten nur selten auf (George et Bussel 1995; Sola 2004). Folgende klinisch wichtigen Aspekte sollen hervorgehoben werden: Eklampsie/HELLP Syndrom. Etwa ein Drittel der Neugebore-
nen von Müttern mit einer Eklampsie oder einem HELLP-
299 28 · Thrombozytopenien des Neugeborenen
(»hypertension, elevated liver enyzme, low platelets«) Syndrom entwickelt eine »Late-onset«-Thrombozytopenie. Dies entspricht einer Inzidenz von 1:100 Neugeborenen. Die Thrombozytenzahl liegt dabei meist bei 50–150/nl. Während die mütterliche Thrombozytopenie beim HELPP-Syndrom durch eine Mikroangiopathie bedingt ist, ist der exakte Mechanismus der neonatalen Thrombozytopenie bislang nicht bekannt. Die neonatalen Tpo-Konzentrationen sind erhöht oder aber verringert bzw. inadäquat niedrig, was einerseits auf eine Störung der Megakaryopoese und andererseits auf eine multifaktorielle Ursache der Thrombozytopenie hinweist (Paul et al. 2002; Alberts et al. 2000). Ein gesteigerter Thrombozytenverbrauch und ein erhöhtes Blutungsrisiko werden durch die veränderte Expression verschiedener Glykoproteine auf der Thrombozytenmembran erklärt (Kuhne et al. 1996). Plazentainsuffizienz. »Early-onset«-Thrombozytopenien fin-
den sich auch gehäuft bei Neugeborenen mit intrauteriner Wachstumsretardierung infolge einer chronischen Plazentainsuffizienz. Frühgeborene sind deutlich häufiger betroffen als reife Neugeborene. Ursächlich kann einerseits eine Verdrängung der Megakaryopoese durch die hypoxisch stimulierte Erythropoese und andererseits eine verminderte TpoProduktion in der fetalen Leber sein. Untersuchungen der Tpo-Konzentrationen und der Megakaryozytenzahl im Knochenmark zeigen nämlich, dass die zirkulierenden Tpo-Konzentrationen bei einem Teil der Neonaten mit einem Geburtsgewicht unter der 10. Perzentile inadäquat niedrig sind (Sola et al. 1999). 28.4.3 Thrombozytopenien durch verminderte
Thrombozytenproduktion und mit primär fetaler/neonataler Ursache Trisomie 13, Trisomie 18 und Trisomie 21. Bei Trisomie 13, 18
und 21 sind Thrombozytopenien durch eine verminderte Megakaryopoese gekennzeichnet. Die Pathomechanismen sind nur bei der Trisomie 21 bekannt. Hierbei ist die Thrombozytopenie zunächst Zeichen einer transienten myeloproliferativen Störung («transient myeloproliferative disorder»; TMD) der Hämatopoese. Die Thrombozytopenie tritt bei mindestens 10% der Kinder mit Trisomie 21 in der Neugeborenenperiode auf. Sie bildet sich zwar häufig spontan zurück, aber 20–30% der betroffenen Kinder entwickeln innerhalb der nächsten 3 Lebensjahre eine akute myeloische Leukämie, vorwiegend vom FAB-Typ M7. Das TMD wird durch Mutationen im 5′-Bereich (zumeist im Exon 2) des Gens, das den Transkriptionsfaktor GATA-1 kodiert, verursacht. GATA-1 reguliert die Ausreifung erythrozytärer und megakaryozytärer Vorläuferzellen und ist für die normale Hämatopoese essenziell (Cantor et al. 2002). Die GATA-1Mutationen werden überwiegend intrauterin erworben, wobei der Mechanismus dafür unklar ist. Als Folge der Mutationen wird eine verkürzte GATA-1s-Isoform dominant exprimiert. GATA-1s bindet zwar an die DNA und interagiert auch mit Kofaktoren wie FOG-1 («friend of GATA»), hat aber ein reduziertes Transaktivierungspotenzial, so dass es als dominant negatives Protein agieren könnte. Ein potenzielles Targetgen ist der Transkriptionsfaktor GATA-2, der
u. a. die Selbsterneuerung der hämatopoetischen Stammzellen reguliert. Für die Entwicklung der Myeloproliferation scheint die verdrängte oder fehlende Expression des «full-length GATA-1» relevant zu sein. Unklar ist derzeit, warum bei identischer GATA-1-Mutation sich das TMD einerseits spontan zurückbilden und andererseits in die Leukämie wandeln kann. Es wird derzeit vermutet, dass zusätzliche Mutationen (z. B. im p53-Genlokus), eine veränderte Telomeraktivität oder andere Faktoren für die Entwicklung der Leukämie ursächlich sind (Gurbuxani et al. 2004). Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom. Beim Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom (»thrombocytopenia with absent radii«, TAR) ist die Megakaryopoese durch einen Defekt der intrazellulären Signaltransduktion der megakaryozytären Vorläuferzellen gestört (Ballmaier et al. 1997). Trotz intakter Tpo-Produktion und normaler Expression des Tpo-Rezeptors (c-mpl) reifen frühe megakaryozytäre Vorläuferzellen nicht heran ( Kap. 34; Letestu et al. 2000). Amegakaryozytäre Thrombozytopenie. Amegakaryozytäre
Thrombozytopenien sind in der Mehrzahl der bekannten Fälle durch Mutationen im Tpo-Rezeptor (c-mpl) bedingt (Ihara et al. 1999; Ballmaier et al. 2001). Der heutige Kenntnisstand über die Mutationen und die Entwicklung einer Panzytopenie ist im Kap. 34 erläutert. Fanconi-Anämie. Die Fanconi-Anämie ist eine klinisch und genetisch sehr heterogene, autosomal rezessiv vererbte Erkrankung, die durch eine gesteigerte Brüchigkeit der Chromosomen, eine fortschreitende Panzytopenie und die Prädisposition für maligne Erkrankungen charakterisiert ist ( Kap. 3). Die Panzytopenie wird typischerweise im Alter von 5–10 Jahren diagnostiziert. In einigen Fällen manifestiert sich aber schon in der Neugeborenenperiode die Thrombozytopenie (Landmann et al. 2004; Tischkowitz u. Dokal 2004). Sehr seltene Ursachen neonataler Thrombozytopenien mit verminderter Megakaryopoese. In seltenen Fällen ist eine
neonatale Thrombozytopenie bei Osteopetrose, Dyskeratosis congenita, Neuroblastom, Histiozytosen und Stoffwechseldefekten (Methylmalonazidämie, Isovalerianazidämie) beschrieben (Colarizi et al. 1999; Dokal u. Luzzatto 1994; Kao u. Yu 1991; Levendoglu-Tugal et al. 2002; Gilbert-Barness u. Barness 1999). 28.5
Behandlung erworbener neonataler Thrombozytopenien
Allgemein akzeptierte, evidenzbasierte Richtlinien zur Behandlung neonataler Thrombozytopenien sind derzeit nicht verfügbar. Da ein Nutzen prophylaktischer Thrombozytentransfusionen zur Prävention von Blutungen bei thrombozytopenischen Neugeborenen bislang nicht nachgewiesen wurde, wird die Indikation zur Thrombozytentransfusion derzeit strenger gestellt, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war.
28
300
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
⊡ Tabelle 28.5. Empfehlungen für Leitlinien zur Indikationsstellung zu einer Thrombozytentransfusion beim Neugeborenen (ohne Alloimmunthrombozytopenie; modifiziert nach Roberts u. Murray 2003; Calhoun et al. 2000)
Thrombozytenzahl
Keine Blutungszeichen
Blutungszeichen
<30/nl
Nach eindeutiger Diagnostik und Beurteilung der Thrombozytopenie kann bei allen Neugeborenen eine Indikation zur Thrombozytentransfusion gegeben sein.
Thrombozytentransfusion
30–49/nl
Keine generelle Indikation zur Thrombozytentransfusion bei stabilem Kind. Indikation möglicherweise bei: Gewicht <1.000 g und Alter <1 Woche Klinische Instabilität (kardial, pulmonal, neurologisch) Vorherige Blutung (IVH, Lungenblutung) Blutungsneigung, Petechien gleichzeitige Koagulopathie vor oder nach Operation oder Austauschtransfusion
Thrombozytentransfusion
50–99/nl
Keine Thrombozytentransfusion
Thrombozytentransfusion
100–150/nl
Keine Thrombozytentransfusion
Keine Thrombozytentransfusion
! Die Indikation zur Thrombozytentransfusion sollte danach ausgerichtet werden, ob die Art und Schwere der Thrombozytopenie, allein oder in Kombination mit anderen Faktoren, ein erhöhtes Risiko für Blutungen erwarten lassen.
Dieses Risiko ist eng an die Reife und das postnatale Alter sowie die Ursache der Thrombozytopenie und den Allgemeinzustand des Neugeborenen geknüpft. Eine Thrombozytentransfusion muss deshalb unbedingt mit einer adäquaten Behandlung der Erkrankung, die der Thrombozytopenie zugrunde liegt, kombiniert werden. An vielen Zentren wird die Indikation zur Thrombozytentransfusion nach ähnlichen Leitlinien, wie sie in ⊡ Tabelle 28.5 zusammengefasst sind, ausgerichtet.
Thrombozytopenien unterliegen beim Feten und Neugebornen sehr unterschiedlichen pathophysiologischen Ursachen. Für zukünftige Konzepte zum Management der erworbenen neonatalen Thrombozytopenien und zur Prävention von Blutungen ist eine genauere Kenntnis und Diagnostik der multifaktoriellen Mechanismen, die den Thrombozytopenien, Thrombozytenfunktionsstörungen und Gerinnungsstörungen (insbesondere bei Sepsis oder NEC) zugrunde liegen, notwendig. Der Nutzen von Thrombozytentransfusionen und hämostaseologischen Therapien beim Feten und Neugeborenen muss in prospektiven, randomisierten Studien ermittelt werden. Die Möglichkeiten zum Einsatz von rekombinanten megakaryopoetischen Wachstumsfaktoren (Tpo, »Tpo mimetic peptides«, IL-11; Sola et al. 2001; Dame 2002; Roberts u. Murray 2003; Sola 2004) bei Neugeborenen mit verminderter oder nicht adäquat gesteigerter Megakaryopoese sind weiterhin zu evaluieren.
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303
Hämostase beim Neugeborenen W. Muntean, B. Roschitz
29.1
Besonderheiten der Hämostase beim Neugeborenen – 303
29.1.1 29.1.2 29.1.3 29.1.4 29.1.5 29.1.6 29.1.7
Klinik – 303 Primäre Hämostase – 303 Thrombingeneration – 304 Fibrinolyse – 304 Geburtsvorgang und Hämostase – 305 Intraventrikuläre Blutung – 305 Vitamin-K-Mangel des Neugeborenen – 305
29.2
Störungen der Hämostase – 305
29.2.1
Thrombozytopenie und Thrombozytenfunktionsstörung – 305 Plasmatische Gerinnungsstörungen – 306 Thromboembolische Komplikationen – 306
29.2.2 29.2.3
29.3
Therapie
29.3.1 29.3.2
Substitutionstherapie – 306 Antikoagulation und fibrinolytische Therapie
Literatur
Neugeborene haben ebenfalls eine weitgehend gut funktionierende Hämostase. In Abhängigkeit von der Unreife fällt aber bei der Pflege eine vermehrte Hämatom- und Blutungsneigung auf. Diese ist bedingt durch die Zartheit der Haut und insbesondere die vermehrte Fragilität des Kapillarsystems. 29.1.2 Primäre Hämostase
– 306 – 307
– 307
Das Hämostasesystem Neugeborener weist eine Reihe von Besonderheiten im Vergleich zum späteren Leben auf: Gerinnungsfaktoren finden sich deutlich erniedrigt, die Invitro-Thrombozytenfunktion ist auf die meisten gängigen Agonisten ebenfalls vermindert. Trotzdem haben reife Neugeborene eine ausgezeichnete Hämostase, die Blutungszeit ist sogar kürzer als beim Erwachsenen. Bei Frühgeborenen wiederum ist die intraventrikuläre Blutung eine gefürchtete häufige Komplikation. Durch neuere Untersuchungen wird diese scheinbare Diskrepanz zwischen fehlender klinischer Blutungsneigung und im Vergleich zum Erwachsenen »schlechten« In-vitroErgebnissen besser verständlich. Kenntnis der beim Neugeborenen zum Teil anderen Mechanismen der Hämostase ist nicht nur wichtig für die Diagnostik, sondern auch für das richtige Vorgehen bei der Therapie.
29.1
Besonderheiten der Hämostase beim Neugeborenen
29.1.1 Klinik Reife Neugeborene haben eine gut funktionierende Hämostase. Nach Geburt finden sich zwar häufig einzelne Petechien oder Ekchymosen und Hämatome; diese sind aber in der Regel durch Stauung und Trauma unter der Geburt zu erklären. Reife Neugeborene bluten auch bei Operationen nicht vermehrt und haben eine ausgezeichnete Wundheilung. Unreife
Das Kapillarsystem des Neugeborenen, v. a. des unreifen Neugeborenen, ist fragiler als das Erwachsener. Die Thrombo zytenzahl findet sich im Bereich der Erwachsenennorm (Kuhne u. Imbach 1998). Megakaryozyten und Vorläufer zeigen eine morphologische Unreife (Murray u. Roberts 1995). Auch Neugeborenenthrombozyten unterscheiden sich morphologisch von denen Erwachsener: Erwachsenenthrombozyten haben mehr Pseudopodien, größere Glykogenspeicher und mehr sichtbare mikrotubuläre Strukturen sowie deutlich weniger α-Granula (Saving 1994). Thrombozytenaggregation auf die gängigen Agonisten wie Thrombin, ADP, Kollagen oder Epinephrin ist vermindert (Corby u. O'Barr 1981; Pandolfi M et al. 1972; Israels et al. 1990; Rajasekhar et al. 1994; Saleh et al. 1994). Als Ursache für die verminderte Aggregation lässt sich weder eine »storage pool deficiency« noch ein »aspirin like defect« nachweisen: Die Freisetzung von Nukleotiden sowie Serotonin ist normal, ebenso die Produktion von Arachidonsäure, und es finden sich keine Auffälligkeiten in Lipoxygenase-, Zykloxygenase-, Chloroxygenase- und Prostaglandin-Pathway (Whaun 1980; Kosztolanyi et al. 1980; Stuart 1978; Stuart et al. 1985; Ahlsten 1985). Eine verminderte Synthese von Thromboxan wurde beschrieben (Israels et al. 1997). Die Thrombozytenmembran unterscheidet sich in der Zusammensetzung an Phospholipiden nicht wesentlich von der Erwachsener. Die so genannte »Flip-flop«-Reaktion mit Expression negativ geladener Phospholipide an der Oberfläche scheint in derselben Weise wie im späteren Leben zu funktionieren. Nach Ionofor-Stimulation generieren Neugeborenenthrombozyten sogar mehr Mikropartikel und sie unterstützen die Faktor-Xa-Generation in derselben Weise (Petritsch et al. 2001). Die Thrombozytenadhäsivität und Retention sowie die Aggregation auf Ristocetin hin sind normal bis gesteigert (Ts’ao et al. 1976). Die Ursache hierfür scheint nicht im Thrombozyten des Neugeborenen zu liegen, sondern in der erhöhten Konzentration an Von-Willebrand-Faktor sowie seiner hochpolymeren Anteile (Weinstein et al. 1989; Katz et al. 1989). Ursache hierfür ist eine Verminderung der VonWillebrand-Faktor-Protease. Die GPIb-Rezeptorexpression von Neugeborenenthrombozyten ist die gleiche wie bei Erwachsenen (Gruel et al. 1986). Tatsächlich bindet von-Wille-
29
304
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
brand-Faktor aus Neugeborenenplasma auf Ristocetin hin vermehrt an Thrombozyten (Rehak et al. 2002). Die Verschlusszeit mit ADP oder Epinephrin bei der PFA-100Messung ist bei Neugeborenen sogar kürzer als im späteren Lebensalter. Diese Verkürzung ist abhängig vom von-Willebrand-Faktor (Roschitz et al. 2001). Auch die Blutungszeit ist normal bis verkürzt (Andrew 1990). Schlecht untersucht sind rheologische Faktoren. Der hohe Hämatokrit mag zur besseren Adhäsion und kürzeren Blutungszeit beitragen (Sola et al. 2001). Im PFA-100-System lässt sich innerhalb physiologischer Grenzen allerdings kein Effekt des Hämatokrits zeigen. Auch die hohen Leukozytenzahlen Neugeborener beeinflussen die Verschlusszeit nicht (Roschitz et al. 2001). 29.1.3 Thrombingeneration Eine Reihe von Faktoren finden sich beim reifen Neugeborenen im Vergleich zum Erwachsenenalter deutlich vermindert, insbesondere die Faktoren des Prothrombinkomplexes und die Kontaktfaktoren (⊡ Tabelle 29.1; Andrew et al. 1987). In Abhängigkeit vom Gestationsalter ist diese Erniedrigung beim Frühgeborenen deutlicher ausgeprägt (Andrew 1988). Als Ausdruck dieser Faktorenerniedrigung finden sich die Thromboplastinzeit deutlich, die partielle Thromboplastinzeit mäßig und die Thrombinzeit gering verlängert (Andrew 1990). Ein fetales Fibrinogen wurde beschrieben (Witt et al.
⊡ Tabelle 29.1. Referenzwerte für Kinder und Erwachsene (Median und Range)
Neugeborenes
Erwachsener
Prothrombinzeit (s)
13,0 (10,1–15,9)
12,4 (10,8–13,9)
aPTT (s)
42,9 (31,3–54,5)
33,5 (26,6–40,3)
Fibrinogen (g/l)
2,83 (1,67–3,99)
2,78 (1,56–4,00)
Faktor II (U/ml)
0,48 (0,26–0,70)
1,08 (0,70–1,46)
Faktor V (U/ml)
0,72 (0,34–1,08)
1,06 (0,62–1,50)
Faktor VII (U/ml)
0,66 (0,28–1,04)
1,05 (0,67–1,43)
Faktor VIII (U/ml)
1,00 (0,50–1,78)
0,99 (0,50–1,49)
vWF
1,53 (0,50–2,87)
0,92 (0,50–1,58)
Faktor IX (U/ml)
0,53 (0,15–0,91)
1,09 (0,55–1,63)
Faktor X (U/ml)
0,40 (0,12–0,68)
1,06 (0,70–1,52)
Faktor XI (U/ml)
0,38 (0,10–0,66)
0,97 (0,67–1,27)
Faktor XII (U/ml)
0,53 (0,13–0,93)
1,08 (0,52–1,64)
Faktor XIIIa (U/ml)
0,79 (0,27–1,31)
1,05 (0,55–1,55)
Faktor XIIIb (U/ml)
0,76 (0,30–1,22)
0,97 (0,57–1,37)
Protein-CAktivität %
35 (14–55)
88 (62–128)*
Protein-CAntigen %
30 (12–50)
82 (55–120)*
Protein-SAntigen %
38 (15–55)
85 (60–140)*
Antithrombin %
52 (30–85)
98 (84–139)*
* Die Angaben Protein C, Protein S und Antithrombin beziehen sich auf 52 untersuchte Probanden im Alter von 10–18 Jahren. aPTT aktivierte partielle Thromboplastinzeit, vWF Von-Willebrand-Faktor (Andrew et al. 1990; Ehrenforth et al. 1999).
1969), es verhält sich funktionell aber kaum anders als Erwachsenenfibrinogen (Hamulyak et al. 1983; Galanakis u. Mosesson 1976). Die wichtigen Inhibitoren des Gerinnungssystems, Antithrombin, Protein C und Protein S sind ebenfalls deutlich verringert (Andrew 1987). Hingegen finden sich höhere Werte für α2-Makroglobulin als im späteren Lebensalter (Andrew et al. 1992). Untersucht man die Thrombingeneration nach der Methode von Hemker, so findet sich eine verzögerte Thrombingeneration und ein deutlich vermindertes Thrombinpotenzial. Diese Verminderung des Thrombinpotenzials ist v. a. durch die Verminderung von Prothrombin bedingt (Schmidt et al. 1989; Andrew et al. 1994). Die Erniedrigung von Antithrombin und Protein C sowie S erlaubt eine verhältnismäßig bessere Thrombingeneration bei erniedrigten Prothrombinspiegeln als im Erwachsenenalter (Cvirn 1999). Die α2-Makroglobulinerhöhung bewirkt einerseits bei Erniedrigung von Antithrombin eine vermehrte Inhibition von Thrombin, auf der anderen Seite inhibiert α2-Makroglobulin aber auch das Protein-C-Protein-S-System und trägt so zur Thrombingeneration bei (Cvirn 2002). Insgesamt aber ist das Thrombinpotenzial bei Neugeborenen bei konventioneller Aktivierung mit einem Thromboplastin auf etwa 40% der Erwachsenennorm erniedrigt, was im Erwachsenenalter eine deutliche Blutungsneigung bedingen würde. Bei Untersuchungen von Neugeborenenplasma mit »tissue factor« (TF) findet sich ein völlig anderes Verhalten als bei starker Aktivierung mit einem Thromboplastin: Mit TF<10 pmol/ml gerinnt Neugeborenenplasma deutlich schneller als Erwachsenenplasma. Mit geringen Dosen an TF generiert Neugeborenenplasma rascher und in größeren Mengen Thrombin und Faktor Xa als Erwachsenenplasma (Cvirn et al. 2003). Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass bei Aktivierung mit geringen Mengen an TF der Effekt der Inhibitoren besser zu zeigen ist als nach starker Aktivierung: Thrombingeneration im Neugeborenenplasma ist von der Erniedrigung von Antithrombin, Protein C und S sowie v. a. von »tissue factor pathway inhibitor« (TFPI) gemeinsam mit Antithrombin abhängig (van’t Veer u. Mann 1997). ! Geht man davon aus, dass die Aktivierung mit geringen Dosen an TF physiologischer ist als eine solche mit starken Aktivatoren, so wird verständlich, warum Neugeborene trotz niedrigen Prothrombins und anderer Gerinnungsfaktoren klinisch keine Blutungsneigung zeigen.
29.1.4 Fibrinolyse Die Plasmakonzentration von Plasminogen ist in der Neugeborenenperiode ebenfalls auf etwa 50% der Erwachsenennorm erniedrigt. Auch Plasminogen Typ I und II haben eine fetale Form mit einer geringeren katalytischen Effizienz auf Gewebsplasminogenaktivator (tPA; Edelberg et al. 1990). Im Gegensatz hierzu fand sich kein Unterschied zwischen fetalen und adulten Plasminogen bei der Urokinase katalysierten Aktivierung (Ries et al. 2001). In einer neuen Arbeit waren die Unterschiede bei tPA-Aktivierung gering (Zenker u. Ries 2002). Der wichtigste Inhibitor des Plasmins, α2-Antiplasmin, findet sich bei Neugeborenen mit etwa 80% der Erwachsenenwerte (Peters et al. 1985). Plasminogenaktivator-Inhi-
305 29 · Hämostase beim Neugeborenen
bitor I ist bei Neugeborenen hoch (Andrew et al. 1987). Als Ausdruck dieser Veränderungen finden sich zumindest in vitro eine deutlich verminderte Plasmingeneration und eine verzögerte Lyse von Gerinnseln (Ries et al. 1995).
seitens der Mutter, insbesondere von Antibiotika oder Antiepileptika, kann es zur so genannten frühen Form der Vitamin-K-Mangelblutungen des Neugeborenen mit Manifestation schon unter der Geburt mit häufig intrakraniellen Blutungen kommen.
29.1.5 Geburtsvorgang und Hämostase
! Zur Prophylaxe der frühen Form einer Vitamin-KMangelblutung wird Vitamin K an die Mutter vor der Geburt verabreicht. Aufgrund der grenzwertigen Versorgung aller Neugeborenen mit Vitamin K ist für sie eine generelle Vitamin-K-Prophylaxe angezeigt (Sutor et al. 1999; von Kries u. Hanawa 1993).
In den ersten 48 h nach komplikationsloser Schwangerschaft und Geburt finden sich Zeichen der verstärkten Thrombingeneration: Prothrombinfragment I und II, D-Dimer, FaktorVIII-Aktivität sind erhöht, auch das fibrinolytische System befindet sich in aktiviertem Zustand (Muntean 1991). Die Aktivität von Protein S ist hoch, da beim Neugeborenen wenig Protein S an C4b-bindendem Protein gebunden ist (Schwarz et al. 1988). Vermehrte Thrombingeneration unter der Geburt würde auch eine Thrombozytenaktivierung erwarten lassen. Tatsächlich sind nach der Geburt aber aktivierte Thrombozyten nicht nachweisbar. Die bei Neugeborenen festzustellende verminderte Thrombozytenfunktion scheint daher ein entwicklungsphysiologisches Phänomen und nicht durch vorangegangene Thrombozytenaktivierung bedingt zu sein (Rajasekhar et al. 1997; Grosshaupt 1997). 29.1.6 Intraventrikuläre Blutung Bei einem kleinen Teil der Fälle von intraventrikulären Blutungen (IVH) findet sich ein eindeutiges Hämostaseproblem als Ursache wie Thrombozytopenie oder Vitamin-K-Mangel. Ein Großteil der Fälle sind ein spezifisches Problem der Frühgeburtlichkeit, wobei die Pathogenese der IVH komplex ist und der Hämostase hierbei nur eine untergeordnete Rolle zuzukommen scheint. Bei großer IVH kann eine sekundäre Gerinnungsveränderung wie Abfall von Fibrinogen beobachtet werden. Der IVH scheint aber eher eine Aktivierung des Gerinnungssystems vorauszugehen (McDonald et al. 1984a, 1984b). Zum Bild, dass einer IVH Gerinnungsaktivierung und Mikrothrombosierung vorausgehen mag, passen auch die Beobachtungen, dass eine Substitution mit Prothrombinkomplex-Konzentraten zu einer vermehrten Blutungshäufigkeit führt (Waltl et al. 1973). Hingegen wurden bei heparinisierten Patienten weniger häufig IVH beobachtet (Chang et al. 1997). Auf der anderen Seite führte in einer Studie die Gabe von Antithrombinkonzentrat zur Behandlung des IRDS (»infant respiratory distress syndrome) vermehrt zur IVH (Schmidt et al. 1998). 29.1.7 Vitamin-K-Mangel des Neugeborenen Vitamin K geht kaum durch die Plazenta, so dass Neugeborene viel niedrigere Vitamin-K-Plasmaspiegel als ihre Mütter haben. Sie erhalten mit der Muttermilch nur geringe Mengen an Vitamin K. Wenn die Trinkmenge zudem gering ist, kann die so genannte klassische Form der Vitamin-K-Mangelblutung des Neugeborenen mit intestinalen Hämorrhagien, Hämatomneigung, aber nur selten intrakranielle Blutungen, typischerweise am 5. bis 7. Lebenstag, entstehen. Bei Einnahme von Vitamin-K-Metabolismus störenden Medikamenten
Die sicherste und meisterprobte Vitamin-K-Prophylaxe ist die intramuskuläre Gabe unmittelbar nach der Geburt. Sie wurde weitgehend verlassen, da in epidemiologischen Arbeiten ein Zusammenhang zwischen Krebsrisiko und intramuskulärer Prophylaxe hergestellt wurde (Golding et al. 1992). Obwohl sich diese Ergebnisse nicht bestätigen ließen, findet die intramuskuläre Prophylaxe weitgehend keine Akzeptanz mehr. Sie wurde ersetzt durch die orale Gabe von Vitamin K an Neugeborene. Dadurch lässt sich die klassische Form der Vitamin-K-Mangelblutungen des Neugeborenen mit Sicherheit verhindern. Problematisch an der oralen Gabe ist die so genannte späte Form der Vitamin-K-Mangelblutungen jenseits des Neugeborenenalters ( Kap. 40). Unterschiedliche Schemata sind in verschiedenen Ländern in Anwendung, im Wesentlichen wird Vitamin K oral, etwa 2 mg, unmittelbar nach der Geburt, nach einigen Tagen bei Entlassung aus dem Krankenhaus, sowie nach 4–8 Wochen gegeben. In skandinavischen Ländern werden geringere Dosen täglich verabreicht, was verhindert, dass unphysiologisch hohe Plasmaspiegel auftreten. Eine parenterale Prophylaxe ist bei Unmöglichkeit der oralen Vorabfolgung indiziert. Da bei unreifen Neugeborenen eine intramuskuläre oder subkutane Gabe ebenfalls nicht wünschenswert erscheint, muss Vitamin K intravenös gegeben werden. 0,4 mg/kg KG i.v. ergeben ähnliche Plasmaspiegel wie 3 mg Vitamin K p.o. oder 1,5 mg i.m. (Raith et al. 2000). Da die intravenöse Gabe vielleicht zu zwar hohen, aber kürzer anhaltenden Plasmaspiegeln und damit zu einem geringerem Effekt auf die Vitamin-K-Speicher führen mag, sollte vor Entlassung aus der Klinik noch eine orale Gabe prophylaktisch verabreicht werden. 29.2
Störungen der Hämostase
29.2.1 Thrombozytopenie
und Thrombozytenfunktionsstörung Sekundäre Thrombozytopenien in der Neugeborenenperiode sind häufig bei unterschiedlichen Grunderkrankungen wie nach Asphyxie, kongenitalen Infektionen, aber auch als Zeichen bei aktuellen bakteriellen Infektionen zu finden. Sowohl Knochenmarkdepression als auch gesteigerter Umsatz können hierbei zur Verringerung der Thrombozytenzahl beitragen. Thrombozytopenie findet sich auch bei der disseminierten intravasalen Gerinnung. Eine Thrombozytopenie bei einem gesunden Neugeborenen nach komplikationsloser Geburt sollte v. a. an eine Immunthrombozytopenie denken lassen ( Kap. 35). Primäre (kongenitale) Thrombozytopenie
29
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Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
und primäre Thrombozytenfunktionsstörungen sind eine Rarität ( Kap. 33 und 34). 29.2.2 Plasmatische Gerinnungsstörungen Angeborene plasmatische Gerinnungsstörungen. Die meis-
ten angeborenen plasmatischen Defekte manifestieren sich nicht häufig in der Neugeborenenperiode. Das ist insofern erstaunlich, da eine normale Geburt ein ausreichendes Trauma darstellen sollte, um selbst beim Gerinnungsgesunden zu einzelnen Blutungsmanifestationen zu führen. Die Ursache für die seltene Manifestation in der Neugeborenenperiode ist nicht vollständig klar, dürfte aber in den oben beschriebenen Besonderheiten des Gerinnungssystems sowie durch die vermehrte Thrombingeneration unter der Geburt begründet sein. In einer französischen Studie von 39 Hämophiliezentren mit 754 Neugeborenen mit Hämophilie A oder B zeigten nur 8,1% der Kinder klinisch manifeste Blutungen, bei 71,5% erfolgte die Diagnose erst jenseits der ersten 28 Lebenstage (Ljung et al. 2002). Intrakranielle Blutungen bei Neugeborenen mit Hämophilie fanden sich mit nur 3,9% bzw. 3,6% unabhängig von der Art der Entbindung (Ljung et al. 1994; Kulkarni et al. 1999). ! Bei Hämophilie wird bei zu erwartender unkomplizierter Geburt die vaginale Entbindung empfohlen.
Trotzdem sollten ungewöhnliche Blutungsmanifestationen in der Neugeborenenperiode zur Abklärung einer angeborenen Gerinnungsstörung führen. Blutung aus dem Nabelschnurstumpf ist typisch für einen Faktor-XIII-Mangel. Die gerinnungsanalytische Diagnose bei schweren Formen der Hämophilie A und B sowie des von-Willebrand-Syndroms sind in der Neugeborenenperiode ohne Schwierigkeiten möglich. Geringgradige Formen können aufgrund der Erhöhung von Faktor VIII und Von-Willebrand-Faktor unmittelbar nach der Geburt biochemisch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Zur Diagnose der seltenen Störungen wie Faktor II, X oder V Mangel müssen die physiologischen Erniedrigungen berücksichtigt werden ( Tabelle 29.1). Sekundäre plasmatische Störungen. Die erworbenen Störungen der plasmatischen Gerinnung unterscheiden sich im Wesentlichem nicht von denen im späteren Leben. Sepsis mit und ohne disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) ist ein verhältnismäßig häufiges Problem bei schwerkranken Neugeborenen. Die DIC ist insgesamt bei kranken Neugeborenen nicht selten. Wie oben dargestellt, führt der Geburtsvorgang regelmäßig zu einer Aktivierung des Gerinnungssystems. Dies stellt für in der Folge gesunde Neugeborene kein Problem dar; bei deprimierten Neugeborenen oder solchen mit Sepsis kann diese Gerinnungsaktivierung aber in den klinisch relevanten Intermediärmechanismus der DIC übergehen. Eine Beeinträchtigung der Syntheseleistung der Leber findet sich ebenfalls nicht selten bei kranken Neugeborenen. Diese führt typischerweise zu einem über die physiologische Erniedrigung hinausgehenden Abfall der Faktoren des Prothrombinkomplexes sowie bei Neugeborenen im Gegensatz zum späterem Leben auch häufig zum Abfall von Fibrinogen.
29.2.3 Thromboembolische Komplikationen Thromboembolische Komplikationen sind in der Neugeborenenperiode häufiger als im übrigen Kindesalter. Hauptursache hierfür dürfte sein, dass Neugeborene häufiger als ältere Kinder einer Intensivpflege unterzogen werden müssen, da die Hauptursache für thromboembolische Komplikationen im Neugeborenenalter invasive Katheter darstellen (Schmidt u. Andrew 1995). Die nach der Geburt bestehende Übergerinnbarkeit sowie Grunderkrankungen wie Sepsis mögen ebenfalls hierzu beitragen. Es besteht eine große Zahl episodischer Berichte über Thrombosen in der Neugeborenenperiode bei Patienten mit einem genetischen Defekt, der das Entstehen einer Thrombose begünstigen könnte wie Antithrombin-, Protein C-, Protein S-Mangel oder APCResistenz (Manco-Johnsom 1997). In einer Studie über prothrombotische Risikofaktoren beim klinischen Insult des Neugeborenen fand sich eine eindeutig erhöhte »odds ratio« für die Faktor-V-LeidenMutation und erhöhte Lp(a)-Werte (Gunther et al. 2000). Insgesamt dürfte wie im späteren Kindesalter auch im Neugeborenenalter bei Kindern mit thromboembolischen Komplikationen häufiger ein Zusammentreffen mehrerer angeborener oder erworbener Risikofaktoren zu finden sein (Nowak-Göttl 2001). ! Bei einem Neugeborenen mit einer Thrombose sollte nach erworbenen und genetischen Risikofaktoren gesucht werden: Antithrombin, Protein C und Protein S, Faktor-V-Leiden-Mutation, Prothrombin G20210A, MTHFRT677G und Homocysteinspiegel, Lipoprotein (a), Lupus-Inhibitor und Anti-Phospholipid-Antikörper sollten bestimmt werden (MancoJohnson et al. 2002).
Der homozygote Protein-C- oder Protein-S-Mangel führt bereits pränatal und in der Neugeborenenperiode zu schweren thromboembolischen Komplikationen. Typisch ist das Auftreten einer disseminierten intravasalen Gerinnung mit allen klinischen Zeichen der Mikrothrombosierung. 29.3
Therapie
29.3.1 Substitutionstherapie Eine prophylaktische Substitutionstherapie bei Neugeborenen oder auch Frühgeborenen zum Erreichen »besserer« Werte, wie sie etwa im späterem Lebensalter gelten, ist auch vor großen Operationen keinesfalls angezeigt. Wie oben dargestellt haben Neugeborene eine gut funktionierende Hämostase. Prävention in Form von Substitution von Gerinnungsfaktorenkonzentraten oder Inhibitorkonzentraten ergaben desaströse Ergebnisse (Waltl et al. 1973; Schmidt et al. 1998). Bei Substitutionstherapie sind die Besonderheiten der Neugeborenenhämostase zugrunde zu legen. Es ist daher zu bedenken, dass bei niedrigeren gerinnungsfördernden Faktoren niedrigere Inhibitoren für das gute Funktionieren der Hämostase notwendig zu sein scheinen. Für die angeborenen Störungen, insbesondere Hämophilie A und B gelten dieselben Substitutionsrichtlinien wie im späteren Lebensalter. Homozygoter Protein-C- oder -S-Mangel
307 29 · Hämostase beim Neugeborenen
erfordert die sofortige und dauerhafte Substitution mit Protein-C-Konzentrat oder Plasma. Trotz Substitution bleiben die okulären Komplikationen ein Problem (MintzHittner et al. 1999). Erworbene Synthesestörungen können die Substitution von Fibrinogen und Plasma notwendig machen. Bei DIC gilt es den gesteigerten Umsatz zu unterbrechen. Außer der Behandlung der Grundkrankheit gibt es hierfür keine gesicherten Ergebnisse; Antithrombin- und Protein-C-Konzentrat mag in einzelnen Fällen nützlich sein. 29.3.2 Antikoagulation
und fibrinolytische Therapie Auch in der gerinnungshemmenden Therapie im Neugeborenenalter herrscht große Unsicherheit. Es ist gezeigt, dass Neugeborene sowohl für Heparin als auch niedermolekulares Heparin größere Dosen als im späterem Lebensalter benötigen, um die selben Plasmaspiegel zu erreichen (Masicotte et al. 1996). Ob tatsächlich aber die selben Plasmaspiegel notwendig sind, ist nicht gesichert. Es erscheint durchaus denkbar, da Neugeborene weniger Prothrombin haben, auch niedrigere Heparinspiegel anzustreben (Chan et al. 2002). Da Antithrombin bei Neugeborenen erniedrigt ist, ist auf jeden Fall der die Heparinwirkung unterstützende Effekt geringer. Klinische Studien zur Dosisfindung bei Neugeborenen fehlen. Dasselbe gilt für die fibrinolytische Therapie. Da Thrombosen im Neugeborenenalter wie Aorten- oder Femoralisthrombose, beidseitige Nierenvenenthrombose oder CavaThrombose mit Einflussstauung deletäre Folgen haben können, gibt es eine Reihe von Berichten über fibrinolytische Therapie mit ganz unterschiedlichen Dosierungen (0,1– 0,5 mg/kg KG/h r-tPA). Eine erfolgreiche Lyse wurde in etwa der Hälfte der berichteten Fälle erreicht (Hartmannet al. 2001). Eine Metaanalyse zeigt aber, dass in der Neugeborenenperiode Blutungskomplikationen häufiger als im späteren Lebensalter zu erwarten sind (Gupta et al. 2001). Beim derzeitigen Wissensstand ist die Indikation gegenüber dem Risiko im einzelnen Fall abzuwägen.
Die Hämostase beim Neugeboren unterscheidet sich in vielen Aspekten von der Hämostase beim älteren Kind oder beim Erwachsenen: Die In-vitro-Thrombozytenfunktion ist ebenso wie viele Faktoren des plasmatischen Gerinnungssystems vermindert. Trotzdem haben Neugeborene eine funktionierende Hämostase. Die Kenntnis der Unterschiede ist aber wichtig für das diagnostische und therapeutische Vorgehen.
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Pädiatrische Hämatologie: Hämatologie im Neugeborenenalter
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309
Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks D. Reinhardt, J. Ritter
30.1 30.2 30.3
Einleitung – 309 Rotes Blutbild – 309 Granulozyten – 310
30.3.1 30.3.2 30.3.3
Neutrophile Granulozyten – 310 Eosinophile Granulozyten – 312 Basophile Granulozyten – 312
30.4 30.5 30.6 30.7
Monozyten/Makrophagen – 312 Lymphozyten – 313 Thrombozyten – 313 Infiltration des Knochenmarks durch solide Tumoren – 314 Hämophagozytose – 315 Infektionskrankheiten, die mit charakteristischen Veränderungen des Blutbildes einhergehen – 316 Infektiöse Mononukleose – 316 Malaria – 316 Leishmaniose – 317 Ehrlichiose – 317 Bartonellose – 317 Babesiose – 317 Bruzellose – 317 Literatur – 318
30.8 30.9 30.9.1 30.9.2 30.9.3 30.9.4 30.9.5 30.9.6 30.9.7
30.1
Neben den in anderen Kapiteln ausführlich behandelten Erkrankungen des hämatopoetischen Systems, können Infektionen, autoimmunologische Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Vergiftungen, Mangelerscheinungen, nicht hämatologische Neoplasien oder Organdysfunktionen zu spezifischen und unspezifischen Veränderungen des Blutbildes und/oder des Knochenmarks führen. Die früher regelhaften Veränderungen bei natürlichen Verläufen von Infektionskrankheiten, die man in die monozytäre Kampfphase, die neutrophile Überwindungsphase und die eosinophile Heilungsphase nach Schilling einteilte, gehören heute wegen des meist früheren Einsatzes von Antibiotika und der besseren Beherrschung von Komplikationen in dieser Deutlichkeit der Vergangenheit an. Trotzdem sollte man sie kennen und versuchen, aus einer sorgfältigen mikroskopischen Analyse des Blut- oder Knochenmarkausstriches in Verbindung mit anamnestischen Angaben und klinischen Symptomen des Patienten richtungweisende Hinweise zu erhalten. Eine Übersicht über reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks findet sich im Anhang.
30.2 Sabine erkrankte im Alter von 6 Monaten an rezidivierenden Fieberschüben und einer zunehmenden Hepatosplenomegalie und Lymphadenopathie. Im Blutbild fanden sich eine leichte Anämie (Hb 10,5 g/dl) sowie normale Leukozytenund Thrombozytenwerte. Trotz breiter antibakterieller Therapie trat keine Besserung auf, so dass bei anhaltenden Fieberschüben der Verdacht auf eine Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis aufkam. 8 Wochen später hatte die Hepatosplenomegalie noch zugenommen. Im Blutbild fanden sich jetzt eine deutliche Anämie (Hb 7,2 g/dl) sowie eine Leukozytopenie von 1800/µl und eine Thrombozytopenie von 45.000/µl. Die Knochenmarkaspirationspräparat wurden zunächst als dringend verdächtig für das Vorliegen einer myeloischen Neoplasie beurteilt. Im Rahmen der Referenzbeurteilung fanden sich in mehreren Makrophagen des Knochenmarks eindeutige Leishmanien ( Abb. 30.12). Auf gezieltes Nachfragen ergab sich jetzt, dass die Eltern mit ihrer Tochter in deren ersten Lebensmonaten in Südfrankreich am Mittelmeer gewesen waren. Nachdem sich die Diagnose Leishmaniose durch L. donovanii auch serologisch bestätigt hatte, kam es unter einer Therapie mit liposomalem Amphotericin B zu einer sofortigen Entfieberung und einem Rückgang der Hepatosplenomegalie.
Einleitung
Rotes Blutbild
Reaktive Veränderung des roten Blutbildes betreffen die Bildung, die Morphologie und Lebensdauer der Erythrozyten. Eine verminderte Regenerationskapazität der Erythropoese (hypo- oder aregeneratorische Erythropoese) lässt sich durch die Bestimmung der Retikulozyten im Verhältnis zur Anämie abschätzen. Angeborene Erkrankungen mit Knochenmarkversagen (Diamond-Blackfan-Anämie, Fanconi-Anämie u. a.; Kap. 3) oder Störungen der Hämsynthese (sideroblastische Anämie) können ebenso wie infektiös bedingte Hemmungen der Erythropoese (Parvovirus B19, humanes Herpes-simplex-Virus 6 u. a.) oder durch mechanische Verdrängung (Tumorinfiltration des Knochenmarks, Stoffwechselerkrankungen, z. B. Osteopetrosis) zur reduzierten Blutbildung führen. Aus der unzureichenden Bereitstellung erforderlicher Nährstoffe, Spurenelemente oder Vitamine resultiert eine verminderte Erythropoese. Hier ist v. a. die häufigste Anämie bei Kindern, die Eisenmangelanämie ( Kap. 7), zu nennen. Aber auch ein Vitamin-B12-, VitaminB6- oder Folsäuremangel, bedingt durch Fehlernährung (Veganer, Anorexia nervosa) oder Malabsorption, führen zur Anämie, in ausgeprägten Fällen auch zur Panzytopenie (⊡ Abb. 30.1). Die Lebensdauer der Erythrozyten kann durch angeborenen Enzymmangel (Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel, Triosephosphatasemangel u. a.; Kap. 10), Mem-
30
310
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
Crohn), Blutungen in kavernöse Hämangiome (Säuglinge) und nicht selten auch iatrogen durch wiederholte Blutentnahmen (Frühgeborene) verursacht. Reaktive Veränderungen, die nicht mit einer Anämie einhergehen, sondern lediglich die Erythrozytenmorphologie betreffen, sind Jolly-Körperchen nach Splenektomie oder Cabot-Ringe bei überstürzter Blutbildung (⊡ Abb. 30.2; Kap. 2).
I
30.3
⊡ Abb. 30.1. Vitamin B12-Mangel: megaloblastäre Veränderung mit Dysplasiezeichen der Erythropoese. In Abhängigkeit vom Schweregrad und Dauer können auch die Myelo- und Megakaryopoese betroffen sein, so dass eine Abgrenzung zur Leukämie schwierig sein kann
brandefekte (z. B. Sphärozytose, Elliptozytose u. a.; Kap. 9) oder Hämoglobinopathien (Thalassämien; Kap. 14) verkürzt sein. Allerdings kann auch eine infektiös oder durch Stoffwechselerkrankungen bedingte Splenomegalie zu einem gesteigerten Abbau der Erythrozyten führen. Infektionen, Autoimmunerkrankungen oder maligne Tumoren können ebenso wie die Aufnahme chemischer Substanzen (Medikamente, Vergiftungen) mit einer gesteigerten Hämolyse einhergehen. Beispiele für reaktive Veränderung der roten Zellen auf Organdysfunktionen sind die Polyglobulie bei zyanotischen Herzvitien und Lungenerkrankungen (bronchopulmonale Dysplasie), die renal bedingte Anämie bei Erythropoetinmangel oder eine mechanische Hämolyse bei künstlichen Herzklappen. Endokrinologische Erkrankungen wie die Hypo-/Hyperthyreose, Nebennierenrindeninsuffizienz oder eine Hypophyseninsuffizienz können eine Anämie bedingen. Anämien durch akuten oder chronischen Blutverlust sind durch infektiöse oder autoimmunologische Darmerkrankungen (Parasiten, Salmonellen, Shigellen u. a., Morbus
⊡ Abb. 30.2. Zustand nach Splenektomie: Jolly-Körperchen
Granulozyten
Veränderungen der Leukozytenzahlen, der relativen Verteilung der Subtypen oder der Morphologie sind sehr häufig. Dementsprechend vielfältig sind die möglichen Ursachen. Ähnlich wie bei reaktiven Veränderungen der roten Reihe kommt es zu Bildungs- und Reifungsstörungen, einem gesteigerten Abbau oder einer gesteigerten Proliferation. 30.3.1 Neutrophile Granulozyten Eine Granulozytose (Neutrophilie) ist definiert als eine Vermehrung der neutrophilen Granulozyten auf über 7500/µl (jenseits des 2. Lebensmonats). Eine Granulozytose tritt physiologisch z. B. nach körperlicher Arbeit, Stress oder einer normalen Entbindung auf. Ansonsten ist sie eine typische Reaktion auf Infektionen, wobei eine bakterielle Genese meist im Vordergrund steht. Häufig lässt sich eine mäßig ausgeprägte Linksverschiebung beobachten. Zudem kommt es nicht selten auch zu einer toxischen Granulierung. Als weitere Ursachen kommen Stoffwechselerkrankungen, Neoplasien, Blutungen, exogene Toxine/Medikamente oder ausgeprägte Gewebsnekrosen (Traumata, Verbrennungen) in Frage. Ursachen einer Granulozytose:
Akute Infektionskrankheiten Chronisch-entzündliche Erkrankungen Metabolische Störungen/Intoxikationen Endokrine Störungen Akuter Blutverlust, akute Hämolyse Myeloproliferative Erkrankungen Therapie mit: Steroiden, Adrenalin, Lithium; hämatopoetische Wachstumsfaktoren Leukämien mit Ausschwemmung von Blasten ins Blut
Die Granulozytopenie (Neutropenie) ist definiert als eine Verminderung der neutrophilen Granulozyten (ANC, absolute Neutrophilenzahl) auf unter <1500/µl), wobei ANC = WBC × (% segmentkernige + % stabkernige Granulozyten)/100 (WBC: »white blood count«). Eine Granulozytopenie kann durch Bildungsstörungen, Mangelerkrankungen oder einen vermehrten Abbau bzw. Verbrauch der Granulozyten bedingt sein. Beispiele für Bildungs- bzw. Reifungsstörungen sind als angeborene Erkrankungen z. B. die schwere kongenitale Neutropenie, das Shwachman-Diamond Syndrom, die Dyskeratosis congenita,
311 30 · Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks
⊡ Tabelle 30.1. Reaktive (erworbene) morphologische Veränderungen der Granulozyten
Bezeichnung
Beschreibung
Mögliche Ursachen
Linksverschiebung der Granulopoese
Vermehrung von Stabkernigen Granulozyten
Vermehrte Regeneration der Granulozytopoese, z. B. bei bakteriellen Infektionen, nach G-CSF
Pathologische Linksverschiebung
Auftreten von allen myeloischen Vollstufen im Blut
Chronische myeloische Leukämie Regenerierende GP
Rechtsverschiebung
Auftreten von übersegmentierten Granulozyten
Vitamin-B12-Mangel; Folsäuremangel
Toxische Granulation
Abnorme Ausreifung der Primärgranula
Bakterielle Infektion; regenerierende GP; Hypergranulation bei myeloischen Leukämien
Döhle-Körperchen
Ovale graublaue Inklusionen (raues endoplasmatisches Retikulum)
Bakterielle Infektionen Vitamin-B12-Mangel
Riesenstabkernige Granulozyten Erworbene Pelger-Huët-Anomalie (»Pseudo-Pelger«)
Granulozyten mit nur 2 Segmenten bzw. unsegmentiertem Kern
Akute myeloische Leukämie, myelodysplastische Syndrome (in hämatologischer Remission nicht mehr nachweisbar)
Erworbener Myeloperoxidase-Defekt
POX-negative Granulozyten
AML, MDS
Auerstäbchen
Feine POX-positive Stäbchen in myeloischen Blasten
AML, MDS (spezifisch für myeloische Neoplasien)
die zyklische Neutropenie ( Kap. 3) oder das ChediakHigashi-Syndrom ( Kap. 31). Als erworbene Erkrankungen können die aplastische Anämie, das myelodysplastische Syndrom oder Vitamin-B12-, Folsäure-, Kupfer- oder Eisenmangel Ursache einer Granulozytopenie sein. Stoffwechselerkrankungen oder Knochenmarkmetastasen solider Tumoren können zur Verdrängung der Myelopoese führen. Insbesondere bei Neugeborenen und Frühgeborenen kommt es durch Verbrauch der Granulozyten zu Granulozytopenien. Im Rahmen von Autoimmunerkrankungen wie rheumatoider Arthritis (Morbus Still) oder Lupus erythe-
matodes kann es zu einem gesteigerten Abbau von Granulozyten kommen. Darüber hinaus treten Granulozytopenien als Folge viraler Infektionen wie Masern, Röteln, EBV, Influenza, Hepatitis oder HIV auf. Neben den quantitativen Veränderungen treten als Folge und Begleitphänomen von Myelodysplasie oder Leukämien reaktive/erworbene morphologische Veränderungen wie die Pseudo-Pelger-Anomalie (⊡ Abb. 30.3) auf (⊡ Tabelle 30.1). Im Rahmen von Infektion oder zytostatischer Therapie kann auch eine toxische Granulation beobachtet werden (⊡ Abb. 30.4). Demgegenüber ist die vererbte morphologische PelgerHuët-Anomalie eine benigne, nicht die Funktion beeinträchtigende, morphologische Auffälligkeit ( Kap. 2). Ursachen einer Granulozytopenie: Infektionen; besonders Virusinfektionen; bakterielle Sepsis (Granulozytensturz) Malaria, Leishmaniose Zustand nach Chemotherapie oder Radiotherapie Immunneutropenie Hämophagozytische Syndrome Schwere kongenitale Neutropenie Aplastische Anämien Medikamente Leukämien (besonders aleukämische Formen) Myelodysplastische Syndrome
⊡ Abb. 30.3. Pseudo-Pelger bei einem Patienten mit AML FAB M2
30
312
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
I
Ursachen einer Eosinophilie:
⊡ Abb. 30.4. Toxische Granulation bei einem Patienten mit bakterieller Sepsis
30.3.2 Eosinophile Granulozyten Eine Eosinophilie ist definiert als Vermehrung der eosinophilen Granulozyten auf über 350/µl. Sie kann reaktiv bei Parasitosen (Oxyuriasis, Malaria, Toxocariasis canis et cati) und bei allergischen und autoimmunologischen Erkrankungen auftreten. Auch bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) findet sich fast immer eine Eosinophilie. Mit einer Eosinophilie einher gehen ebenso einige primäre und sekundäre Immundefekte, wie das Hyper-IgE- (Hiob)-Syndrom und die kongenitale HIV-Infektion, sowie Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, wie bestimmte Vaskulitiden, Fasziitiden oder das Churg-Strauss-Syndrom. Aus klinischen Gründen erscheint eine Quantifizierung der Eosinophilie sinnvoll: ▬ Eine leichte Eosinophilie (350–1500/µl) ist häufig und in der Regel transient. ▬ Eine mäßige Eosinophilie (1500–5000/µl) kann viele Ursachen haben und bedarf der Abklärung. ▬ Eine ausgeprägte (schwere) Eosinophilie (>5000 µl) findet sich nahezu ausschließlich bei einer ToxokaraInfektion (Larva migrans visceralis) sowie bei einem Hypereosinophilie-Syndrom (HES) bzw. einer chronischen Eosinophilen-Leukämie (CEL). Das Hypereosinophilie-Syndrom ist durch eine ausgeprägte Blut- und Knochenmarkeosinophilie sowie durch Eosinophilen-Infiltrate in verschiedenen inneren Organen (Herz, Lunge, Leber, ZNS) gekennzeichnet. Nach den Kriterien von Chusid et al. (1975) wird das HES als nicht klonale reaktive Eosinophilie mit einer Vermehrung der Eosinophilen im Blut >1,5×109/l mit einer Persistenz von mehr als 6 Monaten sowie Auftreten von Organbeteiligung und Organdysfunktion definiert. Bei einigen Patienten ließ sich eine starke Erhöhung von Zytokinen durch T-Lymphozyten nachweisen. Cools et al. (2003) konnten zeigen, dass einige Patienten mit HES ein Fusions-Gen (FIPIL1/PDGFRα) aufweisen. Diese Patienten sollten als chronische Eosinophilen-Leukämie reklassifiziert werden. Bei einigen dieser Patienten trat eine Besserung nach Behandlung mit Imatinib auf (Cools et al. 2003).
Allergische Erkrankungen, Atopien, z. B. Asthma bronchiale, Heuschnupfen, Urtikaria, Nahrungsmittelallergien Parasitosen, z. B. Befall mit Amöben, Hakenwürmern, Askariden, Filarien, Bandwürmern, Trichinen, Schistosomen und Toxocariasis canis/cati (Larva migrans visceralis) Rekonvaleszenz nach einer akuten infektion (Morgenröte der Genesung) Chronische Hauterkrankungen, z. B. Psoriasis, Pemphigus, Dermatitis herpetiformis Medikamentenallergien Graft-versus-host-Erkrankung Morbus Hodgkin und andere maligne Lymphome Autoimmunerkrankungen (Churg-Strauss-Syndrom, Vaskulitiden, Fasziitiden) Immundefekte (Hyper-IgE-Syndrom, Wiskott-AldrichSyndrom, HIV) Hypereosinophilie-Syndrome Chronische Eosinophilen-Leukämie
Eine Verminderung der eosinophilen Granulozyten im Blut findet sich bei einigen akuten Infektionserkrankungen, bei Stress sowie unter Behandlung mit Steroiden. 30.3.3 Basophilie Granulozyten Eine Basophilie (>100/µl) wird bei allergischen Reaktionen sowie bei chronisch entzündlichen Erkrankungen und bei der Thyreotoxikose beobachtet. Weiterhin findet sich eine Vermehrung von Basophilen im Blut bei verschiedenen myeloproliferativen Syndromen wie bei der adulten Form der chronischen myeloischen Leukämie, der Polycythaemia vera und bei systemischen Mastozytosen ( Kap. 62). 30.4
Monozyten/Makrophagen
Die Blutmonozyten gehören zum Monozyten-MakrophagenSystem und damit dem retikulohistiozytären (retikoendothelialen)-System an. Zellen des Monozyten-MakrophagenSystems spielen eine wichtige Rolle bei der unspezifischen (»innate«; angeborenen) Immunabwehr, aber auch im afferenten Schenkel des spezifischen (»adapted«) Immunsystems. Hier fungieren Zellen des Monozyten-MakrophagenSystems sowohl als Antigen-prozessierende wie auch als Antigen-präsentierende Zellen (APC; Kap. 19). Die Zahl der Monozyten im Blut spiegelt den Funktionszustand der Monozytopoese im Knochenmark wieder. Diese wird von Wachstumsfaktoren der Hämatopoese, insbesondere von GM-CSF und M-CSF reguliert. Das Wiederauftreten von Monozyten im peripheren Blut nach einer intensiven Chemotherapie ist in der Regel das erste Zeichen der Erholung des Knochenmarks. Zellen des Monozyten-Makrophagen-Systems sind in der Lage, eine Vielzahl von Zytokinen (z. B. Interleukin-1, -3, -4, -6; Tumornekrosefaktor) zu produzieren ( Kap. 19).
313 30 · Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks
Eine Monozytose ist definiert als Vermehrung der absoluten Zahl der Monozyten auf über 800/µl. Eine solche Erhöhung der Blutmonozyten findet sich bei bestimmten chronischen bakteriellen, Granulom-bildenden Infektionen wie Tuberkulose, Bruzellose, invasiven Pilzinfektionen sowie bei parasitären Infektionen, wie der Toxoplasmose. Eine charakteristische Erhöhung von morphologisch auffälligen Monozyten über 1000/µl ist darüber hinaus ein wesentliches diagnostisches Merkmal bei der juvenilen myelomonozytären Leukämie (JMML; Kap. 61). Beim Zusammentreffen von Granulozytopenie, Anämie und Thrombozytopenie mit einer Blutmonozytose muss auch an eine akuten Monozyten-Monoblasten-Leukämie (FAB M5a und 5b), der häufigsten Untergruppe der akuten myeloischen Leukämien bei Kindern unter 2 Jahren gedacht werden ( Kap. 60).
Eine Lymphozytopenie ist definiert durch eine Verminderung der Lymphozyten auf unter 1500/µl. Außer als Folge bakterieller Infektionen kann die Lymphozytopenie auch durch einige Zytostika bedingt sein, die besonders die Lymphopoese inhibieren und so zu teilweise lang anhaltenden sekundären Immundefekten führen. Ursachen einer Lymphozytopenie:
30.6
Angeborene und erworbene Immundefektsyndrome Autoimmunerkrankungen (SLE) Morbus Hodgkin Zytostatische/immunsuppressive Steroidtherapie Radiotherapie
Thrombozyten
Ursachen einer Monozytose: Chronische bakterielle Infektionen, z. B. Tuberkulose, Bruzellose, Typhus, bakterielle Endokarditis Protozoeninfektion Regenerierendes Knochenmark Therapie mit Wachstumsfaktoren der Hämatopoese, z. B. M-CSF, GM-CSF Morbus Boeck (Sarkoidose) Myelodysplastische Syndrome (insbesondere juvenile myelomonozytäre Leukämie mit z. T. atypischen Monozyten >1000 µl) Akute Monoblastenleukämie Myeloproliferative Syndrome Morbus Hodgkin
30.5
Lymphozyten
Eine Lymphozytose ist definiert als eine Vermehrung der absoluten Zahl der Lymphozyten auf über 8000/µl. Physiologisch finden sich zwischen dem 4. und 6. Lebenstag und dem 4. und 6. Lebensjahr im Differenzialblutbild mehr Lymphozyten als segmentkernige Granulozyten (physiologische Lymphozytenkreuzungen). Typische Ursache der reaktiven Lymphozytose sind virale Infektionen (Influenza, EBV u. a.). Lymphoproliferative Erkrankungen bei knochenmarktransplantierten Patienten und anderen Patienten mit schwerem erworbenen Immundefekt werden in Kap. 65 behandelt. Bestimmte bakterielle Infektionen wie die Tuberkulose oder die Bruzellose können ebenfalls mit einer Lymphozytose einhergehen.
Thrombozytosen werden ebenfalls häufig durch Infektionen verursacht. Reaktiv kommt es nach Splenektomie zur Thrombozytose, in einigen Fällen kann auch ein paraneoplastisches Syndrom mit einem Anstieg der Thrombozytenzahlen einhergehen. Selten sind essenzielle Thrombozytosen, die in der Regel im Kindesalter keiner Therapie bedürfen ( Kap. 36). Thrombozytopenien werden insbesondere durch virale Infektionen verursacht. Zu beachten ist die Thrombozytopenie bei Sepsis im Neugeborenenalter, die ein erster und wichtiger diagnostischer Hinweis sein kann. Da es in EDTA antikoaguliertem Blut artifiziell zu Pseudothrombozytopenien kommen kann, sollte eine mikroskopische Kontrolle erfolgen und ggf. eine Bestimmung der Thrombozytenzahl aus Citrat- oder Heparinblut erfolgen (⊡ Abb. 30.5). Bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT) handelt es sich um ein durch Heparin hervorgerufenes immunvermitteltes Syndrom, das mit einer Thrombozytopenie und mit thrombotischen Ereignissen einhergeht ( Kap. 80). Eine Heparin-induzierte Thrombozytopenie tritt in bis zu 5% der Fälle bei Patienten auf, die mit unfraktioniertem
Ursachen einer Lymphozytose: Infektionskrankheiten, insbesondere Pertussis, infektiöse Mononukleose, Zytomegalie, infektiöse Lymphozytose, Toxoplasmose, Typhus, Bruzellose Akute lymphoblastische Leukämie mit Ausschwemmung von Lymphoblasten ins Blut
⊡ Abb. 30.5. Pseudothrombozytopenie als Artefakt bei EDTA-antikoaguliertem Blut
30
314
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
Heparin behandelt werden. Bei der Behandlung mit niedermolekularem Heparin sind es weniger als 1%. Bei der HIT Typ II kommt es 5–10 Tage nach Gabe von Heparin zu einem Abfall der Thrombozyten (<50.000/µl), der mit oder ohne eine Thrombose einhergeht. Die Diagnose erfolgt durch den Nachweis von Antikörpern gegen den Komplex aus Heparin und Plättchenfaktor 4. Der sich bildende Antigen-Autoantikörper-Komplex bindet an den IgG-Fc-Rezeptor der Thrombozyten und löst dadurch eine Aktivierung der Thrombozyten aus. Aktivierte Thrombozyten generieren prokoagulatorische Mikropartikel und schütten erneut Thrombozytenproteine (PF4) aus, die wiederum an freies Heparin binden und dessen Wirkung neutralisieren. Zudem bindet PF4 an Heparansulfat. An diesen Komplex lagern Autoantikörper an, aktivieren Endothelzellen und verstärken so die Thrombinbildung. Therapeutisch muss neben dem Absetzen von Heparin die Behandlung auf ein rekombinantes Hirudin-Präparat umgesetzt werden. Dieser Verlauf muss von der nur passageren HIT Typ I abgegrenzt werden, die in den ersten Tagen einer Heparintherapie auftreten kann, in der Regel aber nur einen geringen Abfall der Thrombozyten (selten <100.000/µl) aufweist, keine thombotischen Ereignisse auslöst und keinen Abbruch der Therapie erfordert. Primäre angeborene Bildungsstörungen sind die amegakaryozytäre Thrombozytopenie und das ThrombozytopenieRadiusaplasie-Syndrom (TAR) ( Kap. 34). Wie bei den anderen Zelllinien können Neoplasien und Stoffwechselerkrankungen durch Verdrängung zur Thrombozytopenie führen. Thrombozytopenien, die v. a. durch einen vermehrten Abbau bedingt sind, werden häufig durch immunologische Effekte verursacht. Häufig ist die idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP; Kap. 35). Auch die thrombozytopenische thrombembolische Purpura (TTP) oder das hämoly tisch-urämische Syndrom (HUS) gehen mit einer Thrombozytopenie einher. Dies gilt auch für alle Erkrankungen, ob Infektionen oder Stoffwechseldefekte, die eine Splenomegalie bedingen und so zu einem Hyperspleniesyndrom führen. 30.7
⊡ Abb. 30.6. Tumorinfiltration des Knochenmarks bei Neuroblastom: blaue, ungranulierte Blasten, häufig in Tumorzellnestern »rosettenförmig« angeordnet
⊡ Abb. 30.7. Tumorinfiltratrion bei Ewing-Sarkom: blaue Tumorzellen, schollig aufgelockertes Chromatin mit prominenten Nucleoli und mit basophilem Zytoplasma, Anordnung in Tumorzellnestern
Infiltration des Knochenmarks durch solide Tumoren
Im Kindesalter kann es bei einigen Tumoren zur Infiltration des Knochenmarks mit Verdrängung der Hämatopoese kommen. Relevant sind v. a. Neuroblastome (⊡ Abb. 30.6), EwingTumoren (⊡ Abb. 30.7) und Weichteilsarkome (Rhabdomyosarkom; ⊡ Abb. 30.8). In seltenen Fällen können auch maligne Keimzelltumoren und Medulloblastome bei Kindern eine Knochenmarkinfiltration aufweisen. Daher gehört eine Knochenmarkpunktion und ggf. Knochenstanzung an mindestens 2 Stellen bei diesen Erkrankungen zum prätherapeutischen Staging (Brünning et al. 1975).
Nicht-hämatologische maligne Erkrankungen, die zu einer Infiltration des Knochenmarks führen können: Neuroblastom (Stadium IV S und Stadium IV) Ewing-Tumoren (Stadium IV) Rhabdomyosarkom (insbesondere alveoläres RMS; Stadium IV) Maligne Keimzelltumoren Maligne Hirntumoren (Medulloblastom, Ependymom)
315 30 · Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks
parasitär: Candida, Histoplasmen, Kryptokokken, Leishmanien), ▬ Neoplasien (Leukämien, Lymphome), ▬ Immundefekte (AIDS, Chemotherapie, Splenektomie, X-gekoppelte lymphoproliferative Erkrankung, ChediakHigashi-Syndrom, chronische Granulomatose) und ▬ Autoantigene (juvenile chronische Arthritis (Still), systemischer Lupus erythematodes). Diese Erkrankungen lösen eine immunologische Reaktion des mononukleär-phagozytären Systems aus. Diese überschießende Reaktion führt zur Hämophagozytose und einer ausgeprägten Zytokinfreisetzung (Zytokinsturm).
⊡ Abb. 30.8. Tumorinfiltration bei alveolärem Rhabdomyosarkom: unregelmäßige Tumorzellen mit unregelmäßigem Kern und häufigen Nucleoli, blaues Zytoplasma mit Vakuolen; wechselnde Verteilung in Knochenmark
30.8
Hämophagozytose
Das Hämophagozytose-Syndrom ist durch eine inadäquate Makrophagenaktivierung charakterisiert. Zytologisch sind die phagozytierten Erythrozyten oder Leukozyten in den Makrophagen im Knochenmarkausstrich oder Blutbild nachweisbar (⊡ Abb. 30.9). Makrophagen spielen bei der normalen Immunantwort eine Schlüsselfunktion bei der Antigenpräsentation, Aktivierung der spezifischen Antwort durch die T- und B-Zellen sowie der Phagozytose. Makrophagen werden selbst aktiviert u. a. durch Interferon, GM-CSF (Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Wachstumsfaktor) und TNF (Tumornekrosefaktor). Ätiologie. Als auslösende Ursachen einer Hämophagozytose
kommen in Frage: ▬ Infektionen (viral: EBV, CMV, HSV, VZV, ADV, Rubella, Coxsackie B; bakteriell: Gram-negative Bazillen, Haemophilus, Pneumokokken, Staphylokokken, Bruzellen, Mykoplasmen, Rickettsien, Mykobakterien; fungal und
Erkrankungen, die mit einer Hämophagozytose im Knochenmark einhergehen können: Familiäre erythrophagozytische Lymphohistiozytosen (FEL; Kap. 21) Hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH; Kap. 21) Infektions- (ehemals Virus-) assoziiertes hämophagozytisches Syndrom (I(V)AHS; Kap. 21) Makrophagenaktivierungssyndrom (MAS) bei Patienten mit Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis und unter immunsuppressiver (zytostatischer) Therapie Hämatologische Neoplasien (Leukämien und Lymphomen) unter intensiver zytostatischer Therapie
Symptomatik. Die Symptomatik umfasst bei stark reduzier-
tem Allgemeinzustand Fieber, Lymphadenopathien, Hepatosplenomegalie mit Ikterus, Aszites oder Ödemen, meningoenzephalitische Zeichen, Hautblutungen und Exantheme. In den Laboruntersuchungen fallen Gerinnungsstörungen und eine hyporegenerative Panzytopenie, eine Hypertriglyzeridämie und Hypofibrinogenämie sowie erhöhte Lebertransaminasen auf. Ein wichtiger Hinweis für das Vorliegen eines Infektions-assoziierten hämophagozytischen Syndroms ist ein in der Regel exorbitant erhöhter Ferritinspiegel im Serum mit Werten von >1000 µg/l. Im Liquor kann eine Pleozytose mit erhöhtem Eiweißgehalt vorliegen. Die Hypertriglyzeridämie wird verursacht durch die verminderte Lipoproteinlipaseaktivität infolge der Inhibition durch TNF (Hermann et al. 2002). Therapie. Neben der Behandlung der Grundkrankheit ist
eine frühzeitige symptomatische Behandlung mit Flüssigkeitsrestriktion, Erythro- und Thrombozytensubstitution sowie Fibrinogen- bzw. FFP-Substitution. Eine Immunsuppression mit hochdosierten Steroiden (Methylprednisolon), evtl. Ciclosporin A oder Zytostatika (VP-16) ist indiziert, um die Morbidität und Mortalität bei diesem Syndrom zu senken ( Kap. 21).
⊡ Abb. 30.9. Hämophagozytose: AML in Remission; schwere Sepsis
30
316
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
30.9
I
Infektionskrankheiten, die mit charakteristischen Veränderungen des Blutbildes einhergehen
Infektionen, die im Blut- bzw. Knochenmarkausstrich oder durch die Knochenmarkhistologie diagnostiziert werden können:
Infektiöse Mononucleose Malaria Leishmaniose Bartonellose Babesiose Ehrlichiose
30.9.1 Infektiöse Mononukleose Ätiologie. Die infektiöse Mononukleose (Pfeiffersches Drü-
senfieber; Erreger: Epstein-Barr-Virus) wird durch eine primäre EBV-Infektion verursacht und nur bei einigen infizierten Personen klinisch manifest. Die Erkrankung ist durch eine Lymphozytose gekennzeichnet, die durch klonale Expansion von T-Zellen verursacht ist, die auf mit EBV-infizierten B-Lymphozyten reagieren (Ritter u. Oehme 1976). Diagnostik. Die Diagnose kann im peripheren Blutausstrich (es findet sich eine Vermehrung atypischer Lymphozyten (»Virozyten«; ⊡ Abb. 30.10) sowie durch serologische Untersuchungen auf EBV-Antikörper gestellt werden. Symptomatik. Hämatologische Komplikationen umfassen
eine vorübergehende autoimmun-hämolytische Anämie, meist mit Anti-i-Spezifität, selten eine Thrombozytopenie aufgrund vermehrten Thrombozytenabbaus, sehr selten auch eine Granulozytopenie bzw. aplastische Anämie. Weiterhin kann im Rahmen einer EBV-Infektion ein virusassoziiertes hämophagozytisches Syndrom auftreten ( Kap. 21).
⊡ Abb. 30.10. Epstein-Barr-Virus-Infektion (Pfeiffersches Drüsenfieber): Lymphozytose mit ausgeprägten Reizformen
Patienten mit Immundefekten wie z. B. X-gebundene lymphoproliferative Erkrankungen (Duncan-Syndrom, Synonym: Purtilo-Syndrom) haben einen spezifischen Immundefekt gegenüber EBV, bedingt durch Mutationen des »signaling lymphozyte-activation-molecule« (SLAM). Eine primäre EBV-Infektion kann bei Jungen mit dieser Erkrankung zu lebensbedrohlichen Komplikationen mit fulminanter Hepatitis und hämophagozytischem Syndrom mit einer über 80%-igen Mortalität führen (Purtilo et al. 1975). 30.9.2 Malaria Ätiologie. Die Malaria ist die häufigste Tropenkrankheit. Die
Übertragung der durch Plasmodien verursachten Malaria erfolgt durch die Anophelesmücke. Der Mensch erkrankt durch die Infektion mit Sporozoiten, die im Laufe ihres ungeschlechtlichen Entwicklungszyklus sich in der Leber zu Schizonten und Merozoiten entwickeln, die Leberzelle zerstören und die Erythrozyten befallen. Symptomatik. Das charakteristische Symptom ist periodisch
auftretendes Fieber (⊡ Tabelle 30.2). Durch die Zerstörung von Leberzellen und Erythrozyten kommt es zur Hämolyse, aus der eine Anämie resultieren kann. Unbehandelt kann die Malaria tropica in bis zu 30% der Patienten zum Tode führen, so dass eine Prophylaxe beim Aufenthalt in Endemiegebieten bzw. eine sofortige Therapie bei Erkrankung erforderlich ist. Diagnostik. Die Diagnosestellung erfolgt durch den »Dicken Tropfen« oder im Blutausstrich (⊡ Abb. 30.11).
⊡ Tabelle 30.2. Plasmodium-Species und Intervalle der Fieberschübe
Malaria
Erreger
Fieberschübe
Malaria tropica
P. falciparum
Unregelmäßig
Malaria tertiana
P. vivax
48 Stunden
Malaria quartana
P. malariae
72 Stunden
⊡ Abb. 30.11. Malaria: Nachweis von Trophozyten in den Erythrozyten (»Siegelring«)
317 30 · Reaktive Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks
zelluläre Inklusionen) und den serologischen Antikörpernachweis bzw. PCR gesichert werden. Therapie. Die Behandlung besteht in einer antibakteriellen
Therapie. 30.9.5 Bartonellose Ätiologie. Erreger der Bartonellose ist Bartonella bacilli-
formis. ⊡ Abb. 30.12. Leishmaniose: intrazelluläre Leishmanien in Knochenmarkmakrophagen; zudem einige extrazelluläre Leishmanien
30.9.3 Leishmaniose
Symptomatik. Die Bartonellose tritt mit Fieber, Lymphknotenschwellungen und einer schweren Anämie in Erscheinung. Im weiteren Verlauf treten warzenförmigen Hautveränderungen auf. Die Übertragung erfolgt durch Sandfliegen. Die Inkubationszeit kann mehrere Wochen betragen.
Ätiologie. Eine Leishmaniose ist eine bei Mensch und Tier
vorkommende Infektionserkrankung, die durch Sand- oder Schmetterlingsmücken übertragen wird. Erreger sind die obligat intrazellulären Parasiten der Gattung Leishmania (z. B. L. donovani). Das Verbreitungsgebiet sind die Tropen, besonders das östliche Afrika, aber auch der Mittelmeerraum. Symptomatik. Die Symptomatik kann vielfältig sein und reicht vom lokal begrenzten Ulkus bis zur tödlich endenden Allgemeinerkrankung. Unterschieden werden folgende Formen: ▬ innere Leishmaniose (viszerale Leishmaniose), ▬ Hautleishmaniose (kutane Leishmaniose) und ▬ Schleimhautleishmaniose (mukokutane Leishmaniose).
Diagnostik. Die Diagnose erfolgt durch morphologischen und kulturellen Erregernachweis aus dem Blut. Therapie. Bei der Behandlung kommen Tetracycline, Chlor-
amphenicol oder Erythromycin zur Anwendung. 30.9.6 Babesiose Ätiologie. Babesien sind einzellige Parasiten (Protozoen),
die von Zecken auf den Menschen übertragen werden und die Erythrozyten befallen. Erreger sind Babesia bovis, B. divergens und B. microti.
Diagnostik. Die Diagnose der viszeralen Leishmaniose (KalaAzar) kann durch eine sorgfältige Suche nach Erregern in Monozyten/Makrophagen des Knochenmarkausstrichs und/ oder der Knochenmarkhistologie gestellt werden (⊡ Abb. 30.12). Serologie und PCR bestätigen die Diagnose.
Symptomatik. Die Erkrankung, die zumeist harmlos ver-
Therapie. Die Therapie der Wahl ist die Gabe von liposoma-
Therapie. Bei der Behandlung der Erkrankung sind Clinda-
lem Amphotericin B. Ohne Therapie beträgt die Mortalität >50%.
mycin und Chinin die Mittel der Wahl.
läuft, äußert sich durch grippeartige Symptome wie Fieber, Frösteln, Kopfschmerzen und Gliederschmerzen. Nur bei den Erregern Babesia bovis und divergens verläuft die Erkrankung mitunter tödlich.
30.9.7 Bruzellose 30.9.4 Ehrlichiose Ätiologie. Erreger sind Bruzellen. Die Bruzellose wird von Ätiologie. Erreger der Ehrlichiose, die durch Zecken übertra-
gen wird, sind Rickettsien. Von den bisher bekannten 9 Ehrlichien-Arten sind 2 für den Menschen pathogen. Die Erreger vermehren sich in den Phagosomen der Granulozyten.
Tieren auf den Menschen durch direkten Kontakt (kleine Verletzungen) oder infektiöse, rohe Milch (nichtpasteurisierte Milch) bzw. Milchprodukte übertragen. Symptomatik. Die Symptome umfassen Kopfschmerzen,
Symptomatik. In den meisten Fällen verläuft die Erkrankung
harmlos und bedarf keiner Behandlung, allerdings können bei immungeschwächten Menschen schwerere, grippeähnliche Symptome wie Fieber, Kopfschmerzen, Muskel- und Gelenkbeschwerden, Übelkeit und Erbrechen auftreten. Neben einer Granulozytose können eine Thrombozytopenie und erhöhte Leberenzyme vorliegen.
Gliederschmerzen und Schwächegefühl, intermittierendes, hohes Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall und Gelenkschmerzen auf. Hinzu kommt eine Hepatosplenomegalie und Panzytopenie. Diagnostik. Die Erreger können im Blut, im Knochenmark oder in Gelenkflüssigkeit bestimmt werden. Serologisch lassen sich spezifische Antikörper nachweisen.
Diagnostik. Die Diagnose kann durch sorgfältige Betrach-
tung des Differenzialblutbildes (charakteristische intra-
Therapie. Die Erkrankung wird antibiotisch behandelt.
30
318
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
Die sorgfältige Untersuchung von Blutbild und Blutausstrich sowie ggf. eines Knochenmarkaspiratausstriches sowie die Kenntnis des klinischen Erscheinungsbildes können nicht nur bei primären hämatologischen Erkrankungen, sondern auch bei vielen anderen Krankheiten, wie insbesondere Infektionskrankheiten und nicht-hämatologischen Neoplasien wegweisend für die Diagnosestellung sein. Daher sollte bei jedem unklaren Krankheitsbild bei Kindern und Jugendlichen vor weiterführenden, möglicherweise invasiven Maßnahmen zu Beginn der Diagnostik die genaue Analyse des Blutbildes und – falls indiziert – des Knochenmarks erfolgen.
Literatur Bain BJ (1989) Blood cells – a practical guide. Lippincott, Philadelphia Bain BJ (2003) Bone marrow biopsy morbidity and mortality. Br J Haematol 121:949–951 Bain BJ, Huhn D (1997) Grundkurs hämatologische Morphologie. Blackwell, London Brunning RD, Bloomfield CD, McKenna RW et al. (1975) Bilateral trephine bone marrow biopsies in lymphoma and other neoplastic diseases. Ann Intern Med 82:365–366 Chusid MJ, Dale DC, West BC et al. (1975) The hypereosinophilic syndrome: analysis of fourteen cases with review of the literature. Medicine (Baltimore) 54:1–27 Cools J, DeAngelo DJ, Gotlib J et al. (2003) A tyrosine kinase created by fusion of the PDGFRA and FIP1L1 genes as a therapeutic target of imatinib in idiopathic hypereosinophilic syndrome. N Engl J Med 348:1201–1214 Hermann J, Fuchs D, Sauerbrey A et al. (2002) Hämophagozytische Lymphohistiozytose bei 3 Kindern: Kasuistik und Literaturübersicht. Monatsschr Kinderheilkd 150:748–755 Hoffbrand AV Pettit JE, Moss PAH (2001) Essential haematology. Blackwell, London Kleihauer E (1978) Hämatologie. Springer, Berlin Heidelberg New York Lascari AD (1984) Haematologic manifestations of childhood diseases. Thieme, Stuttgart Löffler H, Rastetter J, Haferlach T (2004) Atlas der klinischen Hämatologie, 6. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Purtilo DT, Cassel CK, Yang JP, Harper R (1975) X-linked recessive progressive combined variable immunodeficiency. Lancet 1:935– 940 Ritter J, Oehme J (1976) Immunologische Zell-Oberflächenmarker bei der infektiösen Mononucleose. Klin Wochenschr 54:647–648
319
Stoffwechselerkrankungen T. Marquardt, E. Harms, J. Ritter
31.1 31.2
Einleitung – 319 Megaloblastäre Anämie
31.2.1 31.2.2 31.2.3 31.2.4
Störungen im Folat- und Cobalaminstoffwechsel Hereditäre Orotazidurie – 321 Pearson-Syndrom – 321 Thiamintransporterdefekt – 322
– 320
31.3
Hämolytische Anämie
31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4
Defekte der Glykolyse, Erythrozytenenzymdefekte – 322 Porphyrien – 322 Morbus Wilson – 324 Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie – 324
31.4 31.5 31.6
Glykogenose Ib – 325 CDG-Syndrom IIc – 325 Thrombozytopenie – 325
31.6.1 31.6.2
Angeborene Glykosylierungsstörungen – 325 Wiskott-Aldrich-Syndrom – 326
– 320
– 322
Leukämie in die hämatologische/onkologische Abteilung einer Universitätskinderklinik verlegt. Bei fehlendem Blastennachweis in der Knochenmarkpunktion wurden aufgrund der Panzytopenie auch Stoffwechseluntersuchungen eingeleitet. Bei der Untersuchung der organischen Säuren im Urin fand sich eine massive Ausscheidung von 3-Hydroxypropionat, Methylmalonsäure und Methylcitrat, so dass die Verdachtsdiagnose einer Organoazidurie mit sekundärer Knochemarkdepression aufgrund der akkumulierenden toxischen Metabolite gestellt wurde. Enzymatische Untersuchungen in Fibroblasten bestätigten das Vorliegen einer Vitamin-B12-sensiblen Form der Methylmalonazidurie. Unter einer wöchentlichen intramuskulären Injektion von 5 mg Hydroxycobalamin und einer diätetischen Eiweißrestriktion normalisierte sich das periphere Blutbild innerhalb weniger Wochen. Das mittlerweile 6 Jahre alte Kind ist beschwerdefrei und entwickelt sich altersgerecht.
31.7
Panzytopenie
31.7.1 31.7.2
Propionazidämie – 326 Methylmalonazidurie – 326
31.8
Lymphozytenvakuolen/Speicherzellen im Knochenmark – 326
31.1
31.8.1 31.8.2 31.8.3 31.8.4 31.8.5
Morbus Gaucher – 326 Morbus Niemann-Pick-Erkrankung Typ A/B – 327 Morbus Niemann-Pick-Erkrankung Typ C – 327 Wolman-Erkrankung – 328 Zeroidlipofuszinose – 328
31.9
Erkrankungen des intrazellulären vesikulären Transports – 328
31.9.1 31.9.2 31.9.3
Chediak-Higashi-Syndrom – 328 Hermansky-Pudlak-Syndrom – 328 Griscelli-Syndrom – 329
Angeborene Stoffwechselerkrankungen sind eine kaum zu überblickende Krankheitsgruppe. Angesichts der Vielzahl der verschiedenen Erkrankungen fällt es schwer, einen gründlichen Überblick über diese Krankheiten zu erwerben. In der Annahme, dass es sich allesamt um äußerst seltene Erkrankungen handelt, wird bei primär hämatologischen Symptomen an das mögliche Vorliegen einer Stoffwechselerkrankung oft nicht gedacht. Bei 30.000 Genen im humanen Genom ist die Vielzahl der möglichen genetisch bedingten Erkrankungen sehr groß. Zur Zeit sind über 500 verschiedene Enzymdefekte bekannt. In der Tat haben viele der einzelnen Erkrankungen eine niedrige Prävalenz, die oft unter 1:105 liegt. Auch wenn die Einzelerkrankungen selten sind, sind angeborene Stoffwechselerkrankungen doch als Gruppe häufig und dürfen in der Differenzialdiagnose hämatologischer Erkrankungen nicht vernachlässigt werden. Die meisten angeborenen Stoffwechselerkrankungen werden autosomal-rezessiv vererbt. Auf den Vererbungsmodus wird bei den einzelnen Erkrankungen nur eingegangen, wenn er hiervon abweicht. Die im Folgenden besprochenen angeborenen Stoffwechselerkrankungen sind nach hämatologischen Leitsymptomen geordnet. Eine Übersicht der hämatologischen Symptome ausgewählter Stoffwechselerkrankungen findet sich in ⊡ Tabelle 31.1.
Literatur
– 326
– 329
Im Alter von 3 Monaten setzte die Symptomatik bei dem bis dahin unauffälligen Mädchen ein. Einmal pro Woche kam es zum Erbrechen, das an Häufigkeit schnell zunahm. Mit 6 Monaten nahm das Kind nicht mehr zu. Eine stationäre Einweisung im Alter von 7 Monaten zur Abklärung der Symptomatik führte zur Entdeckung von niedrigen Leukozytenzahlen (3000/µl) sowie einer Thrombozytopenie (18.000/µl) bei einem Hb-Wert von 10 g/dl. Wegen der niedrigen Zellzahlen wurde das Kind mit der Verdachtsdiagnose einer
▼
Einleitung
31
320
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
⊡ Tabelle 31.1. Hämatologische Symptome angeborener Stoffwechselerkrankungen. Klammern bedeuten fakultative Symptome oder Laborwerte
Erkrankung
Hämatologie
Andere Symptome
Labor
Hereditäre Orotazidurie
Makrozytäre Anämie
(Gedeihstörung) (Psychomotorische Retardierung)
Erhöhte Orotsäureausscheidung im Urin
Pearson-Syndrom
Makrozytäre Anämie (Granulozytopenie)
Exokrine Pankreasinsuffizienz
Laktatazidose
Glykogenose Ib (GSD-Ib)
Granulozytopenie
Hepatomegalie Pausbacken Kleinwuchs Krampfanfälle
Hypoglykämie Laktatazidose Hypertriglyzeridämie Hyperurikämie
Leukozytenadhäsionsdefekt Typ II (LAD II, CDG-IIc)
Leukozytose
Psychomotorische Retardierung Kleinwuchs
Keine AB0-Blutgruppe: Bombay Phänotyp Kein CD15 auf der Oberfläche neutrophiler Granulozyten
Morbus Gaucher
Thrombozytopenie Gaucher-Zellen (Knochenmark)
Splenomegalie (Hepatomegalie)
Morbus Niemann-Pick Typ A/B
Schaumzellen (Knochenmark) (sekundäre Panzytopenie)
Splenomegalie (Hepatomegalie)
Morbus Niemann-Pick Typ C
Schaumzellen (Knochenmark)
Splenomegalie (Hepatomegalie)
Morbus Wolman
Lymphozytenvakuolen Schaumzellen Anämie
Hepatomegalie Diarrhö Gedeihstörung
31.2
Megaloblastäre Anämie
31.2.1 Störungen im Folat-
und Cobalaminstoffwechsel Vitamin B12 (Cobalamin, Cbl) besteht aus einer planaren Ringstruktur mit einem kovalent gebundenen zentralen Kobaltatom. Cobalamin bindet im oberen Darmtrakt an ein im Magen gebildetes Glykoprotein, den Intrinsic-Faktor (IF). Der IF-Cbl-Komplex wird im Ileum an spezielle Rezeptoren gebunden und endozytiert. Nach der Dissoziation des Komplexes wird es in den Blutstrom abgegeben, wo es an Transcobalamin II (TC II) gebunden ist. Der TC-II-Cbl-Komplex wird an Plasmamembranrezeptoren der Zielzellen gebunden, endozytiert und im sauren Milieu von Endo- und Lysosomen dissoziiert. Cobalamin wird aus dem Lysosom heraustransportiert und entweder im Zytosol zu Methylcobalamin umgewandelt oder in Mitochondrien importiert und dort zu Adenosylcobalamin verändert. Cobalamin wird im Körper zu 2 Koenzymen umgewandelt, Adenosylcobalamin und Methylcobalamin. Im gesamten Körper sind nur 2 Enzyme bekannt, die diese Koenzyme benötigen: Methylmalonyl-CoA-Mutase, die Adenosylcobalamin als Kofaktor benötigt, und Methyltetrahydrofolat: Homocystein-Methyltransferase (Methioninsynthase), die Methylcobalamin benötigt. Nichtsdestoweniger gibt es mehr als 10 verschiedene angeborene Defekte, die auf Störungen der Aufnahme, des Transport oder der Koenzymproduktion beruhen. Die Defekte der Aufnahme (Intrinsic-Faktor-Defekt, Intrinsic-Faktor-Rezeptordefekt) oder des Transports (Trans-
⎫ ⎬ ⎭
Chitotriosidase im Plasma erhöht
cobalamin-II-Defekt) manifestieren sich im Säuglings- oder Kleinkindalter mit einer Entwicklungsverzögerung und megaloblastären Anämie (⊡ Abb. 31.1). Eine Reihe von Kindern wurde beschrieben, die zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr auffällig wurden mit einer Entwicklungsverzögerung und makrozytären Anämie, Symptome, die auf einen angeborenen Intrinsic-Faktor-Mangel mit Mutationen im entsprechenden Gen zurückzuführen waren. Im gleichen Alter und mit identischen Symptomen werden Patienten mit einem Imerslund-Gräsbeck-Syndrom auffällig. Bei dieser Erkrankung ist der Intrinsic-Faktor unverändert, es findet sich eine Störung der enteralen Cobalaminresorption aufgrund unterschiedlicher molekularer Ursachen. Bei vielen Patienten findet sich zusätzlich zu den genannten Symptomen eine Proteinurie. Der Transcobala-
⊡ Abb. 31.1. Makrozyten im peripheren Blut
321 31 · Stoffwechselerkrankungen
min-II-Defekt führt schon im 1. oder 2. Lebensmonat zu unspezifischen Symptomen wie Erbrechen, Gedeihstörung und muskulärer Hyptonie bei gleichzeitig vorliegender makrozytärer Anämie. Die Erkrankung lässt sich nur über das fehlende TC II im Plasma nachweisen. Die Vitamin-B12-Spiegel sind normal, da zwar das neu über den Darm aufgenommene Cobalamin an TC II gebunden ist, der größte Teil des im Serum zirkulierenden Cobalamins aber an andere Transportproteine gebunden ist. Später kommen oft Zeichen eines Immundefektes und neurologische Störungen hinzu. Störungen in der Biosynthese des Adenosylcobalamins (cblA-Defekt, cblB-Defekt) führen zu einer verminderten Aktivität der Methylmalonyl-CoA-Mutase mit dem Krankheitsbild einer Vitamin-B12-abhängigen Form der Methylmalonazidurie. Diese speziellen Formen der Erkrankung lassen sich sehr gut mit einer pharmakologischen parenteralen Zufuhr von Hydroxycobalamin behandeln. Störungen in der Biosynthese des Methylcobalamins (cblE-Defekt) führen zu einer verminderten Aktivität der Methyltetrahydrofolat:Homocystein-Methyltransferase (Methioninsynthase) zu einer Form der Homozystinurie mit Hypomethioninämie. Kinder mit diesen Erkrankungen haben neben der megaloblastären Anämie eine Entwicklungsverzögerung und Gedeihstörung und können ebenfalls mit pharmakologischen Dosen von Cobalamin behandelt werden. Die Biosynthese von beiden Kofaktoren, Adenosyl- und Methylcobalamin, ist bei den cblC-, cblD- und cblF-Defekten gestört. Kinder mit Erkrankungen aus diesen Gruppen haben eine Methylmalonazidurie und eine Homozystinurie.
zyten sind immer im Normbereich. Nicht selten besteht eine psychomotrische Retardierung und Gedeihstörung. Therapie. Für die Erkrankung gibt es eine effektive Therapie, die in der Substitution von Uridin (150 mg/kg/Tag in 3–5 ED p.o.) besteht (Becroft u. Phillips 1965). Die Uridinsubstitution führt zu einem umgehenden Retikulozytenanstieg mit Normalisierung der Größe der Erythroblasten im Knochenmark und der peripheren Erythrozyten. Die Anämie verschwindet komplett und die u. U. vorhandene Gedeihstörung bzw. Entwicklungsretardierung bessern sich deutlich. An das Vorliegen einer hereditären Orotazidurie sollte bei »therapieresistenter« makrozytärer Anämie gedacht werden, die mit normalen Folsäure- und Vitamin-B12-Spiegeln einhergeht bzw. auf eine entsprechende Therapie nicht anspricht. Zur Differenzialdiagnose und Abgrenzung von anderen megaloblastären Erkrankungen mit normalen Folsäure- und Vitamin-B12-Spiegeln wie Lesch-Nyhan-Syndrom, Pyridoxinoder thiaminabhängige Anämien oder Folsäure- bzw. Vitamin-B12-Stoffwechselstörungen ist die Bestimmung der Orotsäureausscheidung im Urin (Salerno u. Crifo 2002) essenziell.
31.2.3 Pearson-Syndrom
31.2.2 Heriditäre Orotazidurie
Das Pearson-Syndrom ist eine Erkrankung der mitochondrialen oxidativen Phosphorylierung, die sich primär als Erkrankung des Knochenmarks manifestiert. Die Erkrankung wurde 1979 von Pearson und Mitarbeitern bei 4 Patienten zuerst beschrieben (Pearson et al. 1979), die neben einer schweren Anämie eine variable Granulozyto- und Thrombozytopenie aufwiesen und gleichzeitig Zeichen einer pankreatischen Dysfunktion zeigten. Hauptsymptom der Erkrankung ist eine schwere, transfusionsbedürftige makrozytäre Anämie mit Granulo- und Thrombozytopenie unterschiedlichen Ausmaßes bis hin zur Panzytopenie. Die Anämie beginnt in den ersten Lebenswochen und ist aregenerativ. Das Knochenmark ist normo- bis hyperzellulär und zeigt eine auffällige Vakuolisierung der erythro- und myelozytären Vorläuferzellen (⊡ Abb. 31.2). Die Vakuolen sind in der Elektronenmikroskopie nicht membranös begrenzt. Im Klein-
Bei der hereditären Orotazidurie (UMP-Synthase-Defizienz) handelt es sich um eine Störung der Pyrimidinbiosynthese. Sie beruht auf einem autosomal rezessiven Defekt eines bifunktionalen Proteins, der Uridin-5′-Monophosphat-Synthase (UMP-Synthase), die die letzten beiden Biosyntheseschritte von UMP katalysiert (Suchi et al. 1997; Sumi et al. 1997). Betroffene Patienten haben eine makrozytäre Anämie mit Megaloblasten im Knochenmark und eine Ausscheidung von Orotsäurekristallen, die erst beim Stehenlassen des Urin als weißes Präzipitat ausfallen (Becroft u. Phillips 1965). Letzteres kann insbesondere in Zeiten der Dehydratation zur Harnwegsobstruktion führen. Die Anämie fällt in den ersten Lebensmonaten oder -jahren auf mit Hämoglobinwerten zwischen 5 und 8 g/dl. Retikulozytenzahlen sind niedrig. Die Erythrozyten weisen eine hohen Grad an Anisozytose auf und sind nicht selten hypochrom. Eine konsekutive Splenomegalie ist häufig. Bei einigen Patienten besteht eine Leukozytopenie mit niedrigen Lymphozytenzahlen, die Thrombo-
⊡ Abb. 31.2. Stark vakuolisierte myeloische Vorläuferzelle im Knochenmark eines Patienten mit Pearson-Syndrom
Tipp für die Praxis Die kommerziell am häufigsten erhältliche Cobalaminform, Cyanocobalamin, ist ein Isolierungsartefakt und kommt natürlicherweise im Organismus nicht vor. Therapeutisch sollte bevorzugt das natürlicherweise vorkommende Hydroxycobalamin in parenteraler Form verabreicht werden. Hydroxycobalamin muss in Deutschland über eine Auslandsapotheke bezogen werden (Hepavit, Österreich).
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Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
kindalter besteht eine verminderte Infektionsresistenz, Tod durch E.-coli-Septitiden ist ein besonderes Problem. Wird das Kleinkindalter überlebt, kann sich die Anämie bessern. Eine exokrine Pankreasinsuffizienz mit Steatorrhö ist typisch für die Erkrankung, aber nicht bei allen Patienten vorhanden. Differenzialdiagnostisch ist ein Schwachman-Syndrom zu berücksichtigen, bei dem die Pankreasinsuffizienz mit einer Granulozytopenie vergesellschaftet ist und bei dem die für das Pearson-Syndrom typische Vakuolisierung der Knochenmarkzellen fehlt. Bei einigen Patienten kommt es zum Tod durch Leberversagen. Charakteristisch ist eine Laktatazidose, die oft moderat ist, in Krisen aber auch lebensbedrohlich sein kann. Bei älteren Patienten kommen zu den hämatologischen Symptomen andere Symptome hinzu, insbesondere Wachstumsretardierung, Pankreasdysfunktion, Myopathie und zunehmender neurologischer Abbau (Lacbawan, Tifft et al. 2000). Die Erkrankung beruht auf einer meist sporadisch aufgetretenen Deletion der mitochondrialen DNA, wobei Ausmaß und Lokalisation der Deletion bei den Patienten uneinheitlich sind und die gleiche Deletion in verschiedenen Patienten zu unterschiedlichen mitochondrialen Krankheitsbildern wie z. B. dem Kearns-Sayre-Syndrom führen kann (Knerr et al. 2003). Nur bei einzelnen Patienten ist das Krankheitsbild nicht sporadisch, sondern folgt einer maternalen Vererbung. Viele Patienten haben eine 4,9 Kilobasen große Deletion im mitochondrialen Genom, die parallel zu normaler mitochondrialer DNA vorkommt (Heteroplasmie). Charakteristisch bei allen Deletionen ist das Auftreten von Basen-Repeats an den Grenzen der Deletion. Therapie. Es gibt keine spezifische Therapie.
31.2.4 Thiamintransporterdefekt Die autosomal-rezessiv vererbte thiaminabhängige megaloblastäre Anämie (TRMA; Rogers-Syndrom) zeichnet sich aus durch die makrozytäre Anämie, die schon bei Geburt vorhanden sein kann, sich aber spätestens im Kleinkindalter entwickelt, sowie eine progressive Innenohrschwerhörigkeit und einen Diabetes im Kindesalter, der in der Regel eine Insulingabe erforderlich macht (Porter et al. 1969). TRMA wird ausgelöst durch einen Defekt des SLC19A2-Gens, das für ein Thiamin-Transporter-Protein (THTR-1) kodiert (Labay et al. 1999; Raz et al. 2000). Die THTR-1-KnockoutMaus zeigt bei einer thiaminarmen Diät den gleichen Phänotyp, der bei TRMA-Patienten beobachtet wird (Oishi et al. 2002). Therapie. Sie lässt sich durch pharmakologische Dosen von Thiamin behandeln, wodurch die Anämie verringert wird, der Insulinbedarf sinkt und der Hörverlust aufgehalten wird (Oishi et al. 2002).
31.3
Hämolytische Anämie
31.3.1 Defekte der Glykolyse,
Erythrozytenenzymdefekte Eine Reihe von Erythrozytenenzymdefekten kann zu einer chronischen oder intermittierend auftretenden hämolytischen Anämie führen (Jacobasch 2000). Der Defekt der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase (Favismus), einem Enzym im Pentosephosphat-Zyklus, ist der bei weitem häufigste Erythrozytenenzymdefekt mit ungefähr 400 Millionen Betroffenen weltweit (Fiorelli et al. 2000). Das Enzym ist wichtig, um Glutathion im reduzierten Zustand zu halten und die Erythrozyten vor oxidativem Stress zu schützen. Die Erkrankung wird X-chromosomal vererbt. Eine Einteilung in den Schweregrad wurde von der WHO aufgrund der enzymatischen Restaktivität durchgeführt (Jacobasch 2000). Die meisten Patienten entwickeln eine akute Hämolyse nur bei Genuss von dicken Bohnen, bestimmten Medikamenten oder Infektionen. Dicke Bohnen enthalten Divicin und Isoruamil, die zu einer irrerversiblen Oxidation des Glutathions und Protein-gebundener Sulfhydril-Gruppen führen (Mehta et al. 2000), andere Hülsenfrüchte sind unbedenklich. Ansonsten ist die Mehrzahl Patienten asymptomatisch. Betroffene Patienten sollten informiert sein, welche Medikamente zu meiden sind. Eine entprechene Liste ist von unserer Internetseite abrufbar (http:cdg.uni-muenster.de/Favismus.html). Bei Neugeborenen ist der Enzymdefekt ein Risikofaktor für die Entwicklung eines Ikterus gravis (Kaplan u. Hammerman 2002). Das Vorliegen einer Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Defizienz ist ein gewisser Schutzfaktor gegenüber Malaria-Infektionen (Mehta et al. 2000). Der zweihäufigste Erythrozytenenzymdefekt ist die Pyruvatkinase-Defizienz (Zanella u. Bianchi 2000). Der Schweregrad der normochromen Anämie ist variabel. Auch untransfundierte Patienten neigen zu einer Eisenüberladung, die manchmal eine Chelatbildner-Therapie notwendig macht. Die osmotische Resistenz der Erythrozyten ist bei 60% der Patienten normal, bei dem Rest erniedrigt. Schwer betroffene Patienten sind transfusionspflichtig, ein schwer betroffenes Kind wurde erfolgreich knochenmarktransplantiert (Suvatte et al. 1998). Die Glucose-6-Phosphat-Isomerase-(PhosphoglucoseIsomerase-, PGI-)Defizienz wurde in etwa 50 Patienten beschrieben (Kugler u. Lakomek 2000). Das klinische Bild ist unspezifisch und ähnlich wie bei anderen Erythrozytenenzymdefekten charakterisiert duch normochrome Anämie, normale osmotische Resistenz, Splenomegalie und Gallensteine. Wie bei anderen chronischen hämolytischen Anämien kann es auch ohne Transfusionen zu einer Eisenüberladung des Körpers kommen. Eine begleitende neurologische Symptomatik kommt bei einigen Patienten vor. Die Phosphoglyceratkinase-Defizienz ist oft mit einer Myopathie und/oder einer zentralnervösen Symptomatik kombiniert (Fujii u. Miwa 2000). Es handelt sich um eine X-chromosomal vererbte Erkrankung. Die Anämie bei männlichen Patienten ist oft schwer und erfordert Erythrozytentransfusionen. Bei der Phosphofruktokinase-Defizienz kommt es ebenfalls häufig zu einer Myopathie mit Belas-
323 31 · Stoffwechselerkrankungen
⊡ Abb. 31.3. Stoffwechselschritte der Hämbiosynthese. Die ersten und letzten Schritte finden im Mitochondrium statt (oben), die Zwischenschritte im Zytoplasma (unten). Die Defekte der verschiedenen erythropoetischen Porphyrieformen sind eingezeichnet
Erythropoetische Protoporphyrie
×
Hepatoerythropoetische Porphyrie
×
tungsintoleranz, Muskelkrämpf en und Rhabdomyolyse, da das Enzym auch im Muskel lokalisiert ist (Fujii u. Miwa 2000). Ein Defekt des Schlüsselenzym der Glykolyse, der Hexokinase, wurde bisher bei etwa 20 Patienten beschrieben (Kanno 2000). Die Triosephosphat-Isomerase-Defizienz führt zu einer lebenslangen hämolytischen Anämie mit schwerer progressiver neuromuskulärer Degeneration, die nach dem ersten Lebenshalbjahr beginnt und in der Regel bis zum 5. Lebensjahr zum Tode führt (Schneider 2000). Ein Defekt der Pyrimidin-5´-Nukleotidase betrifft zwar nicht die Glykolyse als zentralen Energiestoffwechsel der Erythrozyten, stellt aber dennoch einen der häufigeren erythrozytären Enzymdefekte dar. Er beeinträchtigt den Abbau von UMP und CMP zu den ensprechenden Pyrimidinen (Vives i Corrons 2000). Es kommt zu einer moderaten, chronischen, normozytären hämolytischen Anämie mit Splenomegalie, Hyperbilirubinämie und Retikulozytose. Charakteristisch ist eine basophile Tüpfelung der Erythrozyten ähnlich wie bei einer schweren Bleivergiftung. Diese basophile Tüpfelung ist in heparinisierten Blutproben stabil, in EDTABlut aber nur bei sofortigem Ausstrich sichtbar. Die osmotische Resistenz ist normal. Wie bei anderen Formen der hämolytischen Anämie kann eine Parvovirus-B19-Infektion zu einer akuten hämolytischen Krise führen. 31.3.2 Porphyrien Die Porphyrien beruhen auf Defekten in der Biosynthese des Häms, die in 8 enzymatisch katalysierten Schritten zytoplasmatisch und mitochondrial abläuft (⊡ Abb. 31.3). Für jedes dieser Enzyme sind Defekte beschrieben. Im Kindesalter
×
Kongenitale erythropoetische Porphyrie
manifestieren sich in der Regel nur 3 der verschiedenen Porphyrieformen. Für den pädiatrischen Hämatologen sind dabei vornehmlich die kongenitale erythropoetische und die hepatoerythropoetische Anämie zu berücksichtigen, die beide mit einen schweren Photosensibilität und hämolytischen Anämie einhergehen und schon im frühen Kindesalter manifest werden. Kongenitale erythropoetische Porphyrie Die Erstbeschreibung der kongenitalen erythropoetischen Porphyrie stammt aus dem Jahr 1874 (Schultz 1874). Die Erkrankung wurde 1911 von Günther als neue Entität erkannt (Günther 1911). Sie beruht auf einem Defekt des 4. Enzyms der Synthesekaskade, der zytoplasmatisch lokalisierten Uroporphyrinogen-III-Synthase (⊡ Abb. 31.3; Romeo u. Levin 1969) und wird im Gegensatz zu den meisten anderen Porphyrieformen autosomal-rezessiv vererbt. Die Erkrankung ist selten, in der medizinischen Literatur sind nur etwa 150 Patienten beschrieben (Desnick u. Astrin 2002). Während die meisten anderen Porphyrien sich erst in der späten Jugend oder im Erwachsenenalter manifestieren, werden von der kongenitalen erythropoetischen Porphyrie betroffene Patienten schon im Säuglingsalter symptomatisch. Ein erster Hinweis ist eine durch die Porphyrinausscheidung zustande kommende violette oder dunkelbraune Verfärbung der Windel. Es besteht wie bei vielen anderen Porphyrien eine Photosensibilität, die sich schon früh manifestiert und nach Sonnenlichtexposition zu subepidermalen bullösen Läsionen führt, die verkrusten und unter Narbenbildung mit Hyperpigmentierung abheilen. Porphyrine absorbieren UV-Licht mit einer Wellenlänge von 400 nm und emittieren auf diese Anregung hin ein rotes Licht. Licht dieser Wellenlänge penetriert Glas gut, so dass Fenster betroffene Patienten nicht vor den phototoxischen Effekten schützen.
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Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
Pathognomonisch für die kongenitale erythropoetische Anämie ist die sog. Erythrodontie, die rote Fluoreszenz der Zähne im UV-Licht. Die Besonderheit der kongenitalen erythropoetischen Porphyrie ist eine hämolytische Anämie, die bei den meisten anderen Porphyrieformen nicht vorkommt. In seltenen Fällen ist die Anämie schon in utero so schwer, dass es zu einem Hydrops fetalis kommen kann (Desnick 2002). Die Erkrankung beruht auf der hauptsächlichen Expression des betroffenen Enzyms im Knochenmark. Splenomegalie und Gallensteine sind nicht selten, es findet sich eine indirekte Hyperbilirubinämie. Normoblasten und Retikulozyten im Knochenmark und peripheren Blut zeigen aufgrund der Porphyrinbeladung eine Autofluoreszenz, die diagnostisch genutzt werden kann. Die osmotische Resistenz der Erythrozyten ist normal. Die Urin- und Stuhlausscheidung von Porphyrinen und die Art der ausgeschiedenen Metabolite ist diagnostisch. Bei schwer betroffenen Patienten wurde eine therapeutische Knochenmarktransplantation durchgeführt (Shaw et al. 2001). Hepatoerythropoetische Porphyrie Die hepatoerythropoetische Anämie zeigt die gleichen Symptome wie die kongenitale erythropetische Anämie und ist von dieser klinisch nicht unterscheidbar (Elder 1997; Sassa 2000). Sie beruht auf einem autosomal rezessiven Defekt der Uroporphyrinogen Decarboxylase ( Abb. 31.3). Die beiden Erkrankungen sind nur durch das unterschiedliche Metabolitmuster in Urin und Stuhl zu unterscheiden. Erythropoetische Protoporphyrie Die erythropoetische Protoporphyrie ist klinisch milder als die bereits beschriebenen Erkrankungen und manifestiert sich später in der Kindheit (Lecha 2003; Murphy 2003). Auch hier besteht eine Photosensibilität, die allerdings nicht so stark ausgeprägt ist und hauptsächlich mit länger anhaltenden Schmerzen und einem Erythem der sonnenexponierten Hautpartien einhergeht. Ein Viertel der Patienten zeigt eine milde hyperchrome, mikrozytäre Anämie. Die Erkrankung ist autosomal-dominant vererbt und beruht auf einem Defekt der Ferrochelatase ( Abb. 31.3).
Vor dem 3. Lebensjahr verläuft die Erkrankung asymptomatisch. Die Patienten fallen im Durchschnitt erstmalig zwischen 10 und 13 Jahren mit einer Lebererkrankung auf. Initial findet sich nur eine Transaminasenerhöhung. Ein Drittel der Patienten zeigt in der Leberbiopsie Zeichen einer chronisch aktiven Hepatitis. Der Rest der Patienten zeigt Zeichen einer Fibrose, im weiteren Verlauf entwickelt sich bei allen Patienten unweigerlich eine Zirrhose mit portaler Hypertension und sekundärer Splenomegalie. Bei einigen Patienten kommt es zu massivem Untergang der Hepatozyten mit akutem Leberversagen. Erst in der zweiten bis dritten Lebensdekade gesellen sich neurologische Symptome dazu, die einer Parkinson-Erkrankung ähneln, manchmal aber auch von psychiatrischen Symptomen überlagert werden. Klinisch symptomatische Wilson-Patienten zeigen häufig eine KayserFleischer Ring durch Kupferablagerung in der DescemetMembran. Durch den Zellschaden aufgrund der Kupferüberladung findet sich beim Morbus Wilson häufig eine Coombsnegative hämolytische Anämie. Diagnostisch hinweisend ist eine erniedrigte Ceruloplasmin-Konzentration im Plasma. Das liegt daran, dass das Apoenzym im TGN nicht korrekt mit Kupfer beladen wird und damit kein Holoenzym entsteht. Das sezernierte Apoceruloplasmin wird schnell degradiert, so dass die Ceruloplamin Plasmakonzentration erniedrigt ist. Da 95% des Serumkupfers an Ceruloplasmin gebunden ist, ist als Folge auch die Kupferkonzentration im Serum erniedrigt. Beweisend für die Erkrankung ist der Nachweis des erhöhten Kupfergehalts in einer Leberbiopsie. Ein Normalbefund in dieser Untersuchung schließt einen Morbus Wilson aus (Gitlin 2003). Therapie. Die Therapie besteht in einer Verminderung der Kupferlast durch oral einnehmbare Chelatbildner wie Penicillamin. Zinkreiche Nahrungsmittel wie Leber, Nüsse, Schokolade und manche Fisch- und Gemüsesorten sollten beschränkt werden. Bei drohendem Leberversagen besteht nur die Möglichkeit der Lebertransplantation. Die Transplantation stellt innerhalb von 6 Monaten eine normale Kupferhomöostase im Körper her.
31.3.4 Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie 31.3.3 Morbus Wilson Die Erkrankung wurde 1912 durch Wilson zuerst beschrieben (Wilson 1912) und beruht auf einem Defekt einer Kupfertransportierenden ATPase, die in der Membran des TransGolgi-Networks (TGN) sitzt und Kupfer in das Organellenlumen pumpt. Vom TGN erfolgt ein vesikulärer Transports überschüssigen Kupfers zu den Gallekanälchen, die für die Exkretion von Kupfer in die Galle verantwortlich sind. Die Prävalenz der Erkrankung liegt bei 1: 30.000. Kupfer wird für eine Reihe von kupferabhängigen Enzymen benötigt, kommt in vielen Nahrungsmitteln in nennenswerter Menge vor und wird im Magen und Duodenum resorbiert. Der einzige physiologischerweise vorkommende Ausscheidungsweg für Kupfer erfolgt über die Exkretion in die Galle (Gitlin 2003). Es gibt für Kupfer keinen enterophepatischen Kreislauf, einmal sezerniert wird es nicht wieder resorbiert, sondern über den Stuhl ausgeschieden. Im Plasma ist 95% des Kupfers an Ceruloplasmin gebunden.
Bei der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH) handelt es sich um eine erworbene klonale Stammzellerkrankung mit intravaskulärer Hämolyse und intermittierender Hämoglobinurie, Thrombosen und Knochenmarkversagen mit Entwicklung einer Panzytopenie (Rosse 1990). Die Erkrankung wurde 1882 erstbeschrieben und beruht auf einer somatischen Mutation im Phosphatidylinositol-GlycanComplementation-Class-A (PIG-A)-Gen (Takeda et al. 1993), die zu einem Wachstumsvorteil und damit zur Expansion des betroffenen Klons führt. Das Gen liegt auf dem X-Chromosom. Betroffene Erythrozyten zeichnen sich dadurch aus, dass eine Reihe von Zelloberflächenproteinen fehlen. Diese Proteine sind über Glykosylphosphatidylinositol (GPI) an Fettsäuren in der Zellmembran verankert. An das Glykosylphosphatidylinositol ist eine Glykanstruktur mit einem N-Acetylglucosamin (GlcNAc) und 3 Mannosen gebunden; an die terminale Mannose ist ein Phosphoethanolamin (PEA) geknüpft, über das das Protein gebunden wird.
325 31 · Stoffwechselerkrankungen
Bei der Erkrankung ist der erste Schritt in der Biosynthese von Glykosylphosphatidylinositol defekt, die Anknüpfung von N-Acetylglucosamin (GlcNAc) und Phosphatidylinositol (PI). Die Reaktion erfolgt im endoplasmatischen Retikulum, als Zuckerdonor wird UDP-GlcNAc verwendet (Meletis u. Terpos 2003). Die meisten der beschriebenen Patienten sind erwachsen (Hillmen et al. 1995), die Erkrankung kommt aber durchaus auch bei Kindern vor, wo sie wahrscheinlich unterdiagnostiziert ist. Der jüngste beschriebene Patient war unter 1 Jahr alt. In seltenen Fällen kann eine isolierte CD59-Defizienz Ursache einer PNH sein (Oho, Kuno et al. 1990; Yamashina, Ueda et al. 1990). Der Nachweis der Erkrankung erfolgt über die Untersuchung der Hämolyse bei saurem pH oder – spezifischer – durch den Nachweis des Fehlens GPI-verankerter Erythrozytenoberflächenproteine (z. B. CD55, CD59) in der FACS-Analyse oder im Western Blot. 31.4
Glykogenose Ib
Glucose-6-Phosphat entsteht im Zytosol als Endprodukt sowohl der Glukoneogenese als auch des Glykogenabbaus. Es muss vom Zytosol in das Lumen des endoplasmatischen Retikulums importiert werden, wird dort durch Glukose-6Phosphatase gespalten, woraufhin Glukose und Phosphat über Transporter wieder aus der Organelle exportiert werden (van Schaftingen u. Gerin 2002). Bei Störungen dieses zentralen Systems zur Aufrechterhaltung der Glukosehomöostase kommt es zum Auftreten von schweren Hypoglykämien. Bei der Glykogenose Ib (»glycogen storage disease Ib«, GSD Ib) ist der Transporter in der Membran des endoplasmatischen Retikulums defekt, der für den Import von Glukose6-Phosphat in die Organelle zuständig ist (Chen et al. 2003). Betroffene Patienten fallen in der Regel in den ersten Lebensmonaten mit einer Hepatomegalie auf und häufig treten nach kurzen Fastenzeiten hypoglykämische Krampfanfälle auf. Laborchemisch findet sich charakteristischerweise eine Erhöhung der Harnsäure und des Laktats sowie eine massive Erhöhung der Triglyzeride, deren Konzentration nicht selten höher als 1000 mg/dl ist. Die gleichen Symptome treten auch bei der Glykogenose Ia auf (Glukose-6-Phosphatase-Defekt). Als obligates zusätzliches Symptom, das sich nur bei der GSD Ib findet, liegt bei dieser eine absolute Granulozytopenie vor mit Neutrophilenzahlen, die in der Regel unter 500/µl liegen. Die vorhandenen Neutrophilen haben eine Funktionsstörung (Visser et al. 2000). Zur Bestätigung der Diagnose war früher die biochemische Untersuchung einer frischen, d. h. ungefrorenen Leberbiopsie erforderlich, ein Verfahren, das heutzutage in der Regel durch eine molekularbiologische Untersuchung von Leukozyten-DNA ersetzt wird. Therapie. Therapeutisch ist eine spezielle Diät erforderlich,
um Hypoglykämien zu vermeiden. Zwar ist der Glukosebedarf nicht erhöht, aufgrund des Ausfalles von Glykogenolyse und Glukoneogenese sollte die Zufuhr aber möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt werden. Tagsüber werden häufige, kohlenhydratreiche Mahlzeiten verabreicht bei gleichzeitiger Reduktion der Galaktose- und Fruktosezufuhr, nachts erfolgt eine kontinuierliche Dauerernährung über eine Nahrungspumpe. Die Granulozytopenie wird mit täglichen Injektion von Granulozyten-stimulierendem Wachs-
tumsfaktor (G-CSF) behandelt. Im Allgemeinen wird eine absolute Neutrophilenzahl von 1000/µl angestrebt. Die Funktionsstörung der Granulozyten wird nicht komplett korrigiert. Die G-CSF Behandlung sollte nur bei klinischer Notwendigkeit erfolgen, da es in der Langzeitbehandlung obligat zur Splenomegalie mit Hypersplenismus kommt (Boneh et al. 2001; Visser et al. 2002a). Entsprechende europäische Konsensuskriterien wurden erarbeitet (Visser et al. 2002b). Neueste Untersuchungen geben einen Hinweis drauf, dass Vitamin E unter Umständen bei dieser Erkrankung therapeutisch nutzbar sein könnte (Leuzzi et al. 2003). 31.5
CDG-Syndrom IIc
Das CDG-Syndrom IIc(»congenital disorder of glycosylation« Typ IIc, CDG-IIc; Leukozytenadhäsionsdefekt Typ II, LAD II) wurde 1992 von Etzioni et al. erstbeschrieben (Etzioni et al. 1992). Die Erkrankung wurde zunächst als Leukozytenadhäsionsdefekt Typ II bezeichnet. Da sie auf einer angeborenen Störung des Biosynthese von fucosylierten Glykokonjugaten beruht und die Symptome weit über den Leukozytenadhäsionsdefekt hinausgehen, wurde sie später als angeborene Glykosylierungsstörung (»congenital disorder of glycosylation IIc«) reklassifiziert (Lübke et al. 2001). CDG-IIc beruht auf einem autosomal-rezessiv vererbten Defekt des GDP-LFucose-Transporters in der Membran des Golgi-Apparates (Lühn et al. 2001; Lübke et al. 2001). Als Folge ist der Import von GDP-L-Fucose in die Organelle deutlich reduziert, wo es von verschiedenen Fucosyltransferasen für die Biosynthese unterschiedlicher Glykokonjugate gebraucht wird. Der Defekt führt zu einer ausgeprägten Reduktion fucosylierter Strukturen in unterschiedlichen Organen. Sialyl Lewis X, ein fucosyliertes Glykan auf der Oberfläche neutrophiler Granulozyten, kann nicht mehr hergestellt werden, was dazu führt, dass die betroffenen Zellen nicht mehr an die Selektin-Liganden der Endothelwand andocken können. Es kommt zu einer ausgeprägten Leukozytose mit peripheren Leukozytenzahlen zwischen 20.000 und 70.000/µl, die bereits in den ersten Lebenstagen beginnt. Therapie. Der Leukozytenadhäsionsdefekt ist durch orale Supplementation von L-Fucose korrigierbar (Marquardt et al. 1999; Lühn et al. 2001; Hidalgo et al. 2003).
31.6
Thrombozytopenie
31.6.1 Angeborene Glykosylierungsstörungen Angeborene Störungen der Biosynthese von Glykokonjugaten werden als CDG-Syndrome (»congenital disorders of glycosylation«) bezeichnet (Marquardt u. Denecke 2003). Neben anderen Symptomen führt bei diesen Erkrankungen eine reduzierte Glykosylierung von thrombozytären Oberflächenproteinen zu einer Thrombozytopenie. Eine kongenitale Form der Thrombozytopenie mit vergrößerten Thrombozyten im peripheren Blut sowie dem Fehlen einer sialylierten Glykanstrukur, des Sialyl Lewis X auf neutrophilen Granulozyten, wurde beschrieben (Willig et al. 2001). Bei der Erkrankung besteht ebenfalls eine Neutropenie, die mole-
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Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
kulare Ursache ist ungeklärt, beruht wahrscheinlich aber auf einer fehlerhaften Sialylierung. Bei der häufigsten Form der angeborenen Glykosylierungsstörungen, dem CDG-Ia, kommt es insbesondere im Rahmen von Infekten häufig zu einer Thrombozytopenie. Die Erkrankung zeigt obligat einen Strabismus internus sowie eine deutliche statomotorische Retardierung mit der Unfähigkeit zu laufen. 31.6.2 Wiskott-Aldrich-Syndrom Das Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS) wurde von Wiskott 1936 erstbeschrieben und 1954 von Aldrich wiederentdeckt. Charakteristische Symptome sind Thrombozytopenie, blutige Durchfälle, ekzematöse Hautveränderungen und häufig Autoimmunphänomene. Die beste klinische Beschreibung findet sich in einer Multicenterstudie mit 154 Patienten (Sullivan et al. 1994). Die Erkrankung beruht auf molekularen Veränderungen im X-chromosomalen WAS-Protein-Gen (Imai et al. 2003). Das WAS-Protein ist in der Regulation der Aktinpolymerisation beteiligt (Imai et al. 2003). Die Erkrankung wird an anderer Stelle in diesem Buch ausführlich beschrieben ( Kap. 24). 31.7
Panzytopenie
Organoazidurien sind eine Gruppe von Erkrankungen, die aufgrund einer Abbaustörung einer oder mehrerer Aminosäuren entstehen. Charakteristikum der Erkrankungen ist eine metabolische Azidose mit sekundärer Tachypnoe. Dieses ist besonders ausgeprägt bei metabolischen Krisen, die durch Infekte getriggert werden können und zum Bewusstseinsverlust bis hin zum Tod führen können. Betroffene Kinder sind in der Regel psychomotorisch retardiert. Die Erkrankungen lassen sich durch eine gaschromatographischmassenspektrometrische Analyse einer Spontanurinprobe diagnostizieren. Die durch den Abbaublock entstehenden organischen Säuren sind chemisch sehr reaktiv und reagieren mit Carnitin zu Acylcarnitinestern, die im Urin ausgeschieden werden. Dadurch kommt es zu einer sekundären Carnitinverarmung mit nachfolgender Transportstörung längerkettiger Fettsäuren in das Mitochondrium. Therapeutisch wird die tägliche Zufuhr der betroffenen Aminosäure(n) begrenzt und L-Carnitin oral dauersubstituiert. 31.7.1 Propionazidämie Die Erkrankung beruht auf einem Defekt der PropionylCoA-Carboxylase. Als Folge kommt es zu einer Abbaustörung der 4 essenziellen Aminosäuren Valin, Isoleucin, Threonin und Methionin sowie von Fettsäuren. Die Erkrankung beginnt häufig in der Neonatalzeit mit Erbrechen, Lethargie, Koma und schließlich Tod. In Blut und Urin findet sich eine massive Ketose. Sowohl infolge der Ketose als auch durch die Anhäufung organsicher Säuren kommt es zu einer ausgeprägten metabolischen Azidose. Eine Hyperammonämie mit Werten bis über 1000 µmol/l ist nicht selten und führt manchmal zur Fehldiagnose eines Harnstoffzyklusdefektes. Sie entsteht durch eine sekundäre Hemmung der Carbamyl-
phosphatsynthase. Granulozytopenie und Thrombozytopenie sind die Regel und entstehen durch die toxische Knochenmarkdepression. Betroffene Patienten weisen eine ausgeprägte muskuläre Hypotonie auf sowie eine psychomotorische Retardierung. Krampfanfälle sind häufig. Die Kernspintomographie des Gehirns zeigt oft eine Signalerhöhung in den Basalganglien. Wie bei anderen Organazidurien ist das Auftreten von Pankreatitiden häufig. Die Diagnose erfolgt über die Untersuchung des Urin auf organische Säuren bzw. über Tandem-Massenspektrometrie einer Blutprobe. Die Therapie besteht in einer diätetischen Beschränkung der Zufuhr der betroffenen essenziellen Aminosäuren sowie in der täglichen Substitution von Carnitin, dessen freier Anteil aufgrund der vermehrten Bildung von Acylcarnitinen ohne Behandlung zunehmend geringer wird. Die hämatologischen Symptome verschwinden unter einer adäquaten Behandlung. 31.7.2 Methylmalonazidurie Die Erkrankung entsteht durch einen Defekt der Methylmalonyl-CoA-Mutase. Das Enzym braucht 5′-Deoxyadenosylcobalamin als Kofaktor. Defekte im eigentlichen Enzym werden als Mut0 (keine Restaktivität) oder Mut– (geringe Restaktivität) bezeichnet. Die Erkrankung wurde 1967 entdeckt (Oberholzer et al. 1967; Stokke et al. 1967). Einige wenige Patienten reagieren auf pharmakologische parenterale Gaben des Kofaktors. Vitamin B12, das wie oben ausgeführt in Form von Hydroxycobalamin verabreicht werden sollte, ist die Therapie der Wahl bei den Vitamin-B12-sensiblen Formen. Die nicht Vitamin-empfindlichen Formen sind therapeutisch ein Problem, trotz diätetischer Maßnahmen und Carnitinsubstitution kommt es zu häufigen Stoffwechselentgleisungen, die Lebenserwartung ist eingeschränkt. 31.8
Lymphozytenvakuolen/Speicherzellen im Knochenmark
Speicherungsphänome in Knochenmarkzellen oder Vakuolisierung peripherer Lymphozyten werden hauptsächlich bei lysosomalen Speichererkrankungen gefunden. 31.8.1 Morbus Gaucher Der Morbus Gaucher ist eine lysosomale Speichererkrankung, die auf eine Defekt der Glukozerebrosidase (saure βGlukosidase) beruht. Dieses Enzym ist verantwortlich für die Degradation von Glykolipiden. Bei einem Defekt des Enzyms kommt es zu einer intrazellulären Akkumulation von Glukosylzeramid. Die Erkrankung wurde im Jahre 1882 von Phillipe Charles Ernest Gaucher im Rahmen seiner Doktorarbeit zuerst beschreiben, es handelt sich in wesentlichen um eine Erkrankung des Monozyten-/Makrophagen-Systems. Die Krankheit hat eine Prävalenz von 1:106. Es werden 3 verschiedene Formen unterschieden. Die häufigste Form, Typ 1, geht ohne neurologische Beteiligung einher. Leitsymptom ist in der Regel eine Splenomegalie, die der ebenfalls auftretenden Hepatomegalie vorausgehen kann. Am Skelettsystem kommt es zu Osteoporose, Osteolysen und ischämi-
327 31 · Stoffwechselerkrankungen
werden. Es kommt zu einem sekundären, erheblichen Anstieg der Chitotriosidase-Aktivität im Plasma, was ebenfalls als diagnostischer Marker dient. Therapie. Typ-1-Gaucher kann mit zweiwöchentlichem intravenösen Enzymersatz behandelt werden. Das Enzym ist so modifiziert, dass es freie Mannosereste aufweist, die an Mannoserezeptoren der Makrophagen binden (Whittington u. Goa 1992; Sato u. Beutler 1993). Aufgrund der Undurchlässigkeit der Bluthirnschranke ist die Enyzmersatztherapie bei Typ 2 unwirksam, bei Typ 3 von unklarer Wirksamkeit.
31.8.2 Niemann-Pick-Erkrankung Typ A/B
a
b ⊡ Abb. 31.4. a Kupffer-Sternzelle bei Morbus Gaucher in der Transmissionselektronenmikroskopie. Rechts oben im Bild findet sich ein Anschnitt des Zellkerns. Die große, längs geschnittene Organelle am unten Bildrand stellt ein aufgeweitetes Lysosom dar, das mit tubulär erscheinendem Speichermaterial gefüllt ist. Die gleiche Organelle ist in der oberen linken Bildhälfte zweimal quer getroffen (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Zimmer, Münster). b Lichtmikroskopisches Bild bei Morbus Gaucher
schen Nekrosen. Letztere gehen mit plötzlichen, tagelangen Knochenschmerzen (»bone crisis«) einher, in der 99mTcSzintigraphie findet sich eine Ischämie im betroffenen Areal. Hämatologisch steht die Thrombozytopenie im Vordergrund, die zunächst durch Hypersplenismus, dann aber auch durch Verdrängung der Hämatopoese im Knochenmark durch mit Glukosylzeramid angefüllte, vakuolisierte Makrophagen (Gaucher-Zellen) zustande kommt (⊡ Abb. 31.4). Eine Panzytopenie kann sich entwickeln. Typ-2-Gaucher ist eine tödlich verlaufende früh-infantile Erkrankung. Strabismus, okulomotorische Apraxie und Hypertonie der Nackenmuskeln mit extremer Retroflexion des Nackens sind typisch. Die Typ-3-Erkrankung stellt eine juvenile neuropathische Verlaufsform dar. Bei allen Formen kommt es durch die Infiltration der Lungen zu einer radiologisch sichtbaren Trübung, die bis hin zum Lungenversagen gehen kann. Insbesondere im Knochenmark aber auch im peripheren Blut finden sich sog. Gaucher-Zellen – vakuolisierte Makrophagen. Die Defizienz des Glukozerebrosidase-Aktvität kann an peripheren Blutleukozyten oder an Fibroblasten bestätigt
Bei der Niemann-Pick-Erkrankung vom Typ A und B (»Niemann-Pick disease«, NPD) handelt es sich um eine lysosomale Speichererkrankung, die auf einem Defekt der sauren Sphingomyelinase beruht. Der erste Patient wurde 1914 durch den deutschen Pädiater Albert Niemann beschrieben (Niemann 1914). Typ A, die infantile Form, ist charakterisiert durch eine Gedeihstörung, Hepatosplenomegalie und rapidem neurodegenerativem Verlauf ab dem 6. Lebensmonat mit Tod im 2. oder 3. Lebensjahr. Die Splenomegalie ist meist schon im ersten Lebensmonat vorhanden. Bei 50% der Patienten findet sich ein kirschroter Makulafleck. Thorax-Röntgenbilder zeigen eine diffuse retikuläre Trübung. Die juvenile Typ B Form zeichnet sich durch eine höhere SphyngomyelinaseRestaktivität aus und fällt durch die Hepatosplenomegalie auf, wobei die Splenomegalie im Vordergrund steht und meist in Kleinkinderalter, manchmal aber auch erst in der Adoleszenz entdeckt wird. Es gibt keine oder nur geringe neuronale Symptome, ein kirschroter Makulafleck ist selten. Progressive pulmonale Infiltrationen können das Krankheitsbild komplizieren. Der sekundäre Hypersplenismus führt zu einer klinisch relevanten Panzytopenie. Im Knochenmark zeigen Zellen der Monozyten/Makrophagen-Reihe aufgrund der lysosomalen Lipidakkumulation das charakteristische Bild von Schaumzellen (⊡ Abb. 31.5). 31.8.3 Niemann-Pick-Erkrankung Typ C Die Erkrankung hat mit Niemann-Pick Typ A/B nichts zu tun und trägt nur aus historischen Gründen den gleichen Namen.
⊡ Abb. 31.5. Schaumzelle im Knochenmark bei Niemann-PickErkrankung
31
328
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
Es handelt sich um eine Störung des intrazellulären Transports von exogen aufgenommenem Cholesterin, das unverestert in Lysosomen akkumuliert. Betroffene Kinder werden erst im Kindergarten- oder Grundschulalter auffällig. Charakteristische Symptome sind (Hepato-)Splenomegalie, vertikale supranukleäre Ophthalmoplegie, progressive Ataxie, Dystonie und Demenz. Im Knochenmark finden sich Schaumzellen und seeblaue Histiozyten. Im Frühstadium der Erkrankung lässt sich die lysosomale Speicherung manchmal aber nur durch elektronenmikroskopische Untersuchung des Knochenmarks nachweisen. 31.8.4 Wolman-Erkrankung Die Erkrankung beruht auf einer Defizienz der lysosomalen sauren Lipase. Die Symptomatik beginnt schon in den ersten Lebenswochen mit Erbrechen, wässrigen Durchfällen oder Steatorrhö, Hepatomegalie und Gedeihstörung. Ein hoch spezifisches Symptom der Erkrankung ist die radiologisch sichtbare bilaterale Verkalkung der immer vergrößerten Nebennieren. Erkrankte Kinder sterben in der Regel schon im Alter von 6 Monaten. Die Erkrankung ist nach Wolman benannt, der 1956 das erste Kind beschrieb und Anfang 60er-Jahre die intrazelluläre Akkumulation von Cholesterinestern und Triglyzeriden entdeckte. Die Schwachform der Erkrankung wird als Cholesterinesterspeichererkrankung bezeichnet. Die Wolman-Erkrankung zeichnet sich hämatologisch durch eine zunehmende Anämie aus, die um die 6. Lebenswoche beginnt. Das Hämoglobin kann bis auf Werte um 6 g/dl fallen. Lymphozytenvakuolen im peripheren Blutausstrich sind häufig zu beobachten. Im Knochenmark finden sich Schaumzellen, d. h. lipidbeladene Histiozyten, die bei einzelnen Patienten schon am 40. Lebenstag beschrieben wurden und mit fortschreitender Erkankung auch im peripheren Blut sichtbar werden. Bei der Wolman-Erkrankung sind die Blutlipidwerte im unteren Normalbereich, während Patienten mit Cholesterinesterspeichererkrankung eine Erhöhung des Gesamtcholesterins (250–400 mg/dl) bei niedrigem HDL und moderater Hypertriglyzeridämie aufweisen. 31.8.5 Zeroidlipofuszinose Die Erkrankungen zeichnen sich durch die Trias Amaurose, Demenz und Epilepsie aus. Lichtmikroskopisch findet man Lymphozytenvakuolen (⊡ Abb. 31.6) nur bei der juvenilen Form. Bei der schweren infantilen Form finden sich Speichervakuolen nur in der Elektronenmikroskopie. Bei Verdacht auch lysosomale Speichererkrankungen empfiehlt sich eine Elektronenmikroskopie peripherer Blutlymphozyten. 31.9
Erkrankungen des intrazellulären vesikulären Transports
Die verschiedenen Erkrankungen des intrazellulären Transports weisen ähnliche klinische Symptome auf. Aufgrund eines gestörten Melanintransports kommt es zu einer Hypopigmentierung von Haut und Haaren sowie der Ausbildung eines okulären Albinismus mit dem Phänomen der Iristran-
⊡ Abb. 31.6. Lymphozytenvakuolen im peripheren Blut bei Sialinsäurespeicherkrankung
sillumination. Aufgrund des reduzierten Irispigments kommt es dabei zu einem Wiederaustritt des durch die Pupille eingefallenen Lichts durch die hypopigmentierte Regenbogenhaut, so dass man eine roten Netzhautreflex ohne Hilfsmittel sieht. Durch die gestörte retinale Pigmentierung kommt es zu einer abgeblassten Netzhaut mit ausgeprägter Reduktion der Sehschärfe, aufgrund einer Störung der »Dense-body«-Bildung in den Thrombozyten zu einer Thrombozytopathie mit verlängerter Blutungszeit. 31.9.1 Chediak-Higashi-Syndrom Das Chediak-Higashi-Syndrom (CHS) ist eine letal verlaufende Erkrankung, die einhergeht mit einem partiellen Albinismus sowie einem schweren Immundefekt mit rezidivierenden bakteriellen Infektionen. Aufgrund einer Verminderung der »delta granules« kommt es zu einer Thrombozytopathie mit verlängerter Blutungszeit. Der Albinismus beruht auf einem gestörten intrazellulären Melanintransport. Die MHC-II-vermittelte Antigenpräsentation ist aufgrund des intrazellulären Transportdefektes gestört. Die Patienten sterben entweder im Rahmen einer bakteriellen Sepsis oder an einer EBV-getriggerten, lymphoproliferativen Erkrankung. Diese Komplikationen können durch eine Knochenmarktransplantation (SCT) vermieden werden. CHS-Patienten entwickeln jedoch auch eine progrediente Neuropathie, die durch die Transplantation nicht verhindert wird. Die Erkrankung beruht auf einer Störung des intrazellulären vesikulären Transports. Grundlage sind Mutationen im CHS-beige/LYST-Gen, das ein außergewöhnlich großes Protein von 3601 Aminosäuren und einem Molekulargewicht von 429 kDa kodiert. Die meisten bisher charakterisierten CHS-Patienten wiesen ein vorzeitiges Stopkodon in der Kodierungssequenz auf. 31.9.2 Hermansky-Pudlak-Syndrom Patienten mit Hermansky-Pudlak-Syndrom (HPS) haben einen ähnlichen Phänotyp wie das CHS. Es werden 4 verschiedene Formen, HPS1 bis HPS4 unterschieden. Es besteht
329 31 · Stoffwechselerkrankungen
ein Tyrosinase-positiver okulokutaner Albinismus und eine erhöhte Blutungsneigung. HPS1 wurde 1959 durch zwei tschechoslowakische Pathologen entdeckt (Hermansky u. Pudlak 1959). Neben den beschriebenen Symptomen kommt es zu einer Zeroidlipofuszinose. Aufgrund der retinalen Pigmentierungsstörung ist die Sehschärfe oft auf unter 0,1 herabgesetzt, so dass viele Patienten als blind zu gelten haben. In der Regel tritt ein kongenitaler, meist horizontaler Nystagmus auf (Film auf http://cdg.uni-muenster.de/Hermansky.html). Vermehrte subkutane Hämatome und häufiges Nasenbluten sind häufig. HPS1 gehört zu den »Storage-pool«-Erkrankungen der Thrombozyten, denen die »dense granules« komplett fehlen. Pulmonal kommt es am Ende des 2. Lebensjahrzehnts zu einer restriktiven Lungenerkrankung, die auf einer Lungenfibrose beruht und manchmal innerhalb weniger Jahre lebensbegrenzend ist. Etwa 15% der Patienten entwickeln eine Crohn-ähnliche granulomatöse Kolitis. HPS2 wurde bisher nur bei 2 Brüdern beschrieben (Shotelersuk et al. 2000). Die Erkrankung beruht auf einem Defekt eines Adaptorproteins im Trans-Golgi-Network (TGN), AP-3βA. Dieses Adaptor-Protein ist notwendig für die Bildung von »coated vesicles«, Clathrin-besetzten Transportvesikeln, die vom TGN aus den vesikulären Transport zu Lysosomen oder zur Zellmembran hin übernehmen. Mittlerweile sind 2 weitere humane Hermansky-PudlakVarianten beschrieben worden (HSP3, HSP4; Anikster et al. 2001; Anderson et al. 2003). Da es mehr als 10 genetisch unterschiedliche Mausmodelle mit einem HPS-Phänotyp gibt, ist anzunehmen, dass beim Menschen in Kürze noch weitere genetische Defekte innerhalb dieser Gruppe gefunden werden (Huizing et al. 2000; Huizing et al. 2001; Huizing et al. 2002; Huizing u. Gahl 2002). 31.9.3 Griscelli-Syndrom Das Griscelli-Syndrom wurde 1978 von Griscelli und Mitarbeiter zum ersten Mal beschrieben (Griscelli u. Prunieras 1978). Bei einem Teil der Patienten beruht die Erkrankung auf Mutationen im Myosin-Va-Gen (MYO5a), einem Myosin, das im intrazellulären Transport eine Rolle spielt. Bei anderen Patienten ist eine kleine GTPase, RAB27, betroffen (Anikster et al. 2001). Beide Gene liegen in derselben Region und ihre Produkte interagieren miteinander. Betroffene Patienten haben eine silbergrauen Haarfarbe und eine Hypopigmentierung der Haut. Die Symptome beginnen mit einem Median von 36 Lebensmonaten. Es kommt zu Fieber, es entwickelt sich eine Hepatosplenomegalie sowie eine Panzytopenie (Kumar et al. 2001). Die Erkrankung verläuft fatal, betroffene Kinder sterben in der Regel mit 5 Jahren an zunehmender ZNS-Beteiligung oder im Rahmen der rekurrierenden Infektionen. Eine Knochenmarktransplantation ist die einzige derzeit bekannte Therapieoption (Arico et al. 2002).
Hämatologische Veränderungen bei angeborenen Stoffwechselerkrankungen stellen häufig einen Leitbefund dar, der nicht selten zur Diagnose der Erkrankung führt. Für
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einige dieser Erkrankungen gibt es eine spezifische Therapie, die auch die hämatologischen Symptome zum Verschwinden bringt. Leider ist die Mehrzahl der angeborenen Stoffwechselerkrankungen zwar diagnostizierbar, aber eine effektive Therapie steht nicht zur Verfügung. Neuere Entwicklungen wie die Enzymersatztherapie bei lysosomalen Speichererkrankungen und die Verbesserungen in der Transplantationsmedizin werden diese Situation in naher Zukunft hoffentlich verbessern.
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330
I
Pädiatrische Hämatologie: Hämatologische Veränderungen bei nicht-hämatologischen Erkrankungen
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II
Pädiatrische Hämostaseologie Thrombozyten 32
Physiologie des Thrombozyten
– 333
F. Bergmann
33
Thrombozytenfunktionsstörungen
– 340
F. Bergmann
34
Kongenitale Thrombozytopenien
– 352
C. Zeidler, K. Welte
35
Idiopathische thrombozytopenische Purpura – 357 P. Imbach, T. Kühne, G. Gaedicke
36
Thrombozytosen und Thrombozythämien – 368 A.H. Sutor †, C. Dame
Koagulopathien 37
Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse – 373 R. Schneppenheim, B. Zieger
38
Hämophilie A und B – 386 W. Muntean, M. Köstenberger
39
Von-Willebrand-Syndrom
– 393
R. Schneppenheim
40
Angeborene und erworbene Thrombophilien – 402 R. Schneppenheim, K. Helmke, F. Bergmann
333
Physiologie des Thrombozyten F. Bergmann
32.1 32.2 32.3 32.4
Einleitung – 333 Regulation der Megakaryopoese – 333 Thromboyztenproduktion – 334 Thrombozytenstruktur – 334
32.4.1 32.4.2 32.4.3 32.4.4
Thrombozytenmembransysteme – 335 Thrombozytenrezeptoren – 335 Thrombozytenzytoskelett – 336 Thrombozytengranula – 337
32.5
Thrombozytenfunktion Literatur – 338
– 337
Die erste Warmbluttransfusion zur Behandlung einer unkontrollierbaren Epistaxis bei einem jungen Mann mit einer Thrombozytopenie von 6/nl verlief erfolgreich, die Zahl der Thrombozyten stieg auf 123 G/l und die Blutung stand. Ein Student protokollierte parallel zur Transfusion die Blutungszeit, eine Methode, die er kurz zuvor entwickelt hatte. Die Verkürzung der Blutungszeit verlief parallel zum Sistieren der Schleimhautblutung. Im Jahre 1910 publizierte der Student namens W.W. Duke seine Beobachtungen in JAMA: »The relation of blood platelets to hemorrhagic disease. Description of a method for determining the bleeding time and the coagulation time and report of three cases of hemorrhagic disease relieved by transfusion.« Er konnte belegen, dass die niedrige Thrombozytenzahl ursächlich war für die Verlängerung der Blutungszeit und die klinischen Blutungszeichen, und dass eine normale Gerinnungszeit nicht gleichzeitig eine normale Blutungszeit bedeutet, wenn eine Thrombozytopenie vorliegt.
32.1
Einleitung
Die Geschichte des Thrombozyten begann im Jahre 1882, als Bizzozero ihn als eigenständigen Bestandteil des Blutes erkannte und sich seine Bedeutung für die Hämostase (Blutstillung und Thrombosierung) zeigte. Seitdem wurden Methoden entwickelt, um zunächst die korrekte Zahl und später auch die Funktion der Thrombozyten zu erfassen. Diese Entwicklung, die bis heute nicht abgeschlossen ist, spielt insbesondere für die Diagnostik erworbener Funktionsstörungen bzw. für die Therapiekontrolle der Thrombozytenfunktionshemmer eine wichtige Rolle. Bizzozero war auch der Erstbeschreiber von Megakaryozyten. Dass es sich beim Megakaryozyten um die Vorläuferzelle der Thrombozyten handelt, erkannte jedoch erst 1906 Wright, der mit Hilfe der nach ihm benannten Färbetechnik die Ähnlichkeit der Granula bemerkte.
32.2
Regulation der Megakaryopoese
Die Proliferation und Differenzierung megakaryopoetischer Vorläuferzellen, welche am Ende der Megakaryopoese in die Thrombozyten zerfallen, wird maßgeblich durch den hämatopoetischen Wachstumsfaktor Thrombopoetin (TPO) gesteuert (Übersicht Kaushansky 1995). Die Wirkung von TPO wird durch die Bindung an den TPO-Rezeptor (TPO-R) vermittelt. Dieser wurde vor dem TPO identifiziert, aber zunächst noch nicht als dessen Rezeptor verstanden, weshalb die ältere Bezeichnung mit dem Akronym c-mpl (»cellular homologue of a retrovirus complex«, »inducing myeloproliferative leukemia«) erhalten geblieben ist. c-mpl wird in hämatopoetischen Stammzellen (CD34+ Zellen), pluripotenten Vorläuferzellen, Megakaryozyten und Thrombozyten sowie in Endothelzellen exprimiert. Neben TPO sind auch andere Faktoren wie der Stammzellfaktor (SCF), die Interleukine IL-3, IL-6, IL-11, der »leukemia inhibitory factor« (LIF) und Erythropoetin an der Megakaryopoese und Plättchenproduktion beteiligt (Debili et al. 1993). Die Wirkung von TPO ist nicht auf die Megakaryopoese beschränkt. Es fördert die Selbsterneuerung hämatopoetischer (CD34+) Stammzellen und die Proliferation früher multipotenter hämatopoetischer Vorläuferzellen und deren Differenzierung in die megakaryozytäre Zellreihe sowie in Synergie mit anderen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren die Proliferation und Differenzierung erythrozytärer und granulozytärer Vorläuferzellen. Darüber hinaus stimuliert TPO die Expression plättchenspezifischer Proteine wie Glykoprotein IIb/IIIa und der Von-Willebrand-RezeptorGlykoproteine Ib/IX/V sowie die Adhäsion früher hämatopoetischer Zellen durch die Aktivierung von Glykoprotein IIb/IIIa und die »very late antigens« (VLA)-4 und VLA-5 (Cui et al. 1997; Zauli et al. 1997). Daneben sind Besonderheiten der molekularen und zellulären Biologie des TPO bekannt, die für die Thrombozytose bei Früh- und Neugeborenen sowie im Kindesalter von Bedeutung sind (Übersicht Dame 2001). TPO wird primär in der Leber und zu einem geringeren Maße in den Nieren und dem Knochenmark produziert (Sungaran et al. 1997; Wolber et al. 1999a). Abgesehen von Erkrankungen, bei denen die Leber in ihrer Funktion eingeschränkt ist (Wolber et al. 1999b), ist die TPO-Produktion konstant – unabhängig vom Vorliegen einer Thrombozytopenie oder einer Thrombozytose. Aus der normalerweise konstitutiven (konstanten) TPO-Produktion folgt, dass den c-mpl exprimierenden Zellen die primäre Rolle bei der Regulation der TPO-Proteinkonzentrationen zukommt, und tierexperimentelle Untersuchungen bestätigen das Konzept einer »Endzell-vermittelten Regulation« der TPO-Konzentrationen (Fielder et al. 1996). Funktionell intakte TPO-R binden zirkulierendes TPO und absorbieren es. So wird über die
32
334
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
II
⊡ Abb. 32.1. Regulation der Megakaryo- und Thrombopoese durch Thrombopoetin (TPO). Basierend auf einer überwiegend konstanten (konstitutiven) TPO-Genexpression in der Leber als primärer Synthesestätte erfolgt die Regulation der zirkulierenden TPO-Proteinkonzentrationen durch Bindung und Absorption an den TPO-Rezeptor c-mpl, der auf megakaryozytären Vorläuferzellen und Thrombozyten exprimiert ist. Darüber wird ein autoregulatorischer Loop initiiert. Die TPO-Konzentrationen sind erhöht, wenn eine Thrombozytopenie durch eine reduzierte Megakaryopoese bei verminderter Produktion (z. B. Chemotherapie oder kongenitaler Defekt) bedingt ist, da wenig Zellen vorhanden sind, die TPO binden. Damit kann freies TPO die
Masse c-mpl expimierender Zellen eine Art autoregulatorischer Loop initiiert (⊡ Abb. 32.1). 32.3
Thrombozytenproduktion
Im Blut zirkulieren Thrombozyten als kernlose, diskoide Partikel (≈3,0×0,5 µm) mit einem Volumen von 7–9 fl. Ihre Lebensdauer beträgt 7–10 Tage, abgebaut werden sie im RES. Thrombozyten entstehenden durch einen komplexen Prozess aus Zytoplasmaabschnürungen ihrer Vorläuferzellen, den Megakaryozyten. Megakaryozyten vergrößern sich durch Endomitose zu Riesenzellen mit einem Durchmesser von 40–50 µm und einer entsprechend großen Zytoplasmamasse. Ist ein bestimmter Reifegrad erreicht, beginnt die Geburt der Thrombozyten. Es werden 2 Produktionsphasen unterschieden: ▬ In der ersten Phase kommt es zur Vergrößerung von Kern und Zytoplasma des Megakaryozyten durch Anreicherung mit den Proteinen des Zytoskeletts, der Granula und ihrer Inhaltsstoffe sowie den Membransystemen. Dieser Prozess dauert mehrere Tage, er wird durch spezifische Wachstumsfaktoren, insbesondere Thrombopoetin, gesteuert. ▬ In der zweiten, nur wenige Stunden dauernden Phase, ändert der Megakaryozyt seine Form, das Zytoplasma beginnt sich auszustülpen. Es entstehen Pseudopodien, die sich mit Mikrotubuli anfüllen und über eine Vielzahl von Abschnürungen verzweigt sich das Geflecht des Megakaryozytenzytoplasmas, es entstehen die Prothrombo-
Megakaryopoese vermehrt stimulieren. Ist die Thrombozytopenie durch einen gesteigerten Thrombozytenverbrauch (z. B. eine Immunthrombozytopenie) bedingt, wurde das TPO zuvor zu einem hohem Anteil an Thrombozyten gebunden, und es finden sich normale oder gering erhöhte TPO-Konzentrationen im Blut. Zusätzlich kann die TPO-Synthese durch andere Mechanismen modifiziert werden. In der Leber stimulieren proentzündliche Faktoren die TPO-Genexpression, was für reaktive Thrombozytosen patho physiologisch bedeutend zu sein scheint. Im Knochenmark kann dagegen bei Thrombozytopenien die TPO-Genexpression durch Proteine, die aus den α-Granula freigesetzt werden, gesteigert werden (nach Dame 2002)
zyten, die über die Mikrotubuli mit ihren Inhaltsstoffen aufgefüllt werden. An der Spitze der Mikrotubuli werden die Prothrombozyten, vermutlich durch Scherkräfte, endgültig abgeschnürt (Hartwig u. Italiano 2003). Der Prozess der Prothrombozytenbildung aus den Megakaryozyten findet nicht allein im Knochenmark statt. Megakaryozyten können das Knochenmark verlassen und sich mit dem Blutstrom im Gefäßbett verteilen. Daher nimmt man heute an, dass die Ausreifung der Thrombozyten auch direkt im Blutstrom (Behnke u. Forer 1998) und insbesondere im Kapillarbett der Lunge stattfindet (Kaufmann et al. 1965). Es wird vermutet, dass pro Stunde 250.000 Megakaryozyten die Lunge erreichen. Die Thrombozytenzahl in den Lungenvenen ist wesentlich höher als in den -arterien. ! Aufgrund der kurzen Halbwertzeit der Thrombozyten fällt eine Schädigung des Knochenmarks zuerst durch die Thrombozytopenie auf. Andererseits ist die Wirkung bestimmter Medikamente auf die Thrombozytenfunktion (z. B. ASS) bereits nach Erneuerung von ca. 50% der Thrombozyten nicht mehr klinisch relevant.
32.4
Thrombozytenstruktur
Mittels der Elektronenmikroskopie konnte bereits früh die Ultrastruktur des Thrombozyten identifiziert werden (Zucker-Franklin 1970). Thrombozyten sind zwar kernlos, sie verfügen aber über eine Reihe von Zellorganellen. Neben den
335 32 · Physiologie des Thrombozyten
⊡ Abb. 32.2. Schematische Darstellung der Thrombozytenstruktur, im aktivierten Zustand Ausbildung von Pseudopodien
Mitochondrien sind hier das elektronendichte, tubuläre System, die α- und δ(dense)-Granula zu nennen. Charakteristisch für humane Thrombozyten ist das offene, kanalikuläre System, über das ein Stoffaustausch zwischen dem Thrombozyteninneren und der Oberfläche stattfindet. Man nimmt an, dass über diesen Weg die Inhaltsstoffe der Speicherorganellen freigesetzt werden bzw. in die α-Granula gelangen (Endozytose). Die Ultrastruktur eines ruhenden Thrombozyten ist in ⊡ Abb. 32.2 dargestellt. Die Aktivierung eines Thrombozyten wird durch diverse Agonisten, hauptsächlich Thrombin, ADP, Kollagen und Von-Willebrand-Faktor, getriggert. 32.4.1 Thrombozytenmembransysteme Die Thrombozytenmembran aus Proteinen und Lipiden gleicht dem Aufbau anderer biologischer Membranen. Durch ein nach außen offenes, kanalikuläres System, das als Einstülpung der Membran angesehen wird, erfolgt eine enorme
⊡ Abb. 32.3. Modell der Thrombozytenmembran mit Rezeptoren und ihren korrespondierenden Liganden
Vergrößerung der Membranoberfläche. Eine weitere Zunahme der Oberfläche entsteht bei der Fusion der α-Granula mit der Thrombozytenmembran zur Sekretion ihrer Inhaltsstoffe. Die unten beschriebenen Glykoproteinrezeptoren sind in die Thrombozytenoberfläche (⊡ Abb. 32.3), die Membran des offenen kanalikulären Systems und in die Membran der α-Granula eingelassen. Die Lokalisation dieser Rezeptoren ist dynamisch, d. h. sie ändert sich infolge von Aktivierung (»Flip-flop«-Mechanismus). Neben diesem offenen, kanalikulären System gibt es ein nach innen abgeschlossenes, elektronendichtes System als wichtigen Speicherort für Kalzium und als Ort der Prostaglandinsynthese. Dieses so genannte »Dense-tubular«-System geht aus dem endoplasmatischen Retikulum der Megakaryozyten hervor ( Abb. 32.2). 32.4.2 Thrombozytenrezeptoren Durch die Identifizierung der Glykoproteinkomplexe der Thrombozytenmembran und ihrer Liganden konnte die
32
336
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
⊡ Tabelle 32.1. Klinisch relevante Glykoproteinkomplexe der Thrombozytenmembran
II
Gp-Komplexe
GpIIb/IIIa
GpIb-IX-V
Struktur
Familie der Integrine, 2 transmembranöse Einheiten
»Leucin-rich repeat superfamily«, 4 transmembranöse Einheiten
Gen
Chromosom 17
Ibα (Chromosom 17) Ibβ (Chromosom 22) IX, V (Chromosom 3)
Lokalisation und Dichte
Oberfläche der Plasmamembran, offenes kanalikuläre System, α-Granula Anstieg von 40.000 auf 80.000/Thrombozyten nach Aktivierung
Oberfläche der Plasmamembran GpIb, IX: 25.000/Thrombozyten GpV: 12.500/Thrombozyten Dichte nimmt nach Aktivierung ab
Liganden
Fibrinogen; Fibrin, VWF, Fibronektin, Vitronektin, Thrombospondin
VWF
Klinisch relevante »Gainof-function«-Mutation
Morbus Glanzmann
Bernhard-Soulier-Syndrom
Klinisch relevante »Lossof-function«-Mutation
Nicht bekannt
Platelet-Typ des Von-Willebrand-Syndroms
Physiologie der Thrombozyten und die Pathophysiologie der heute bekannten Funktionsstörungen weiter aufgeklärt werden (⊡ Tabelle 32.1; Nurden u. Caen 1974; Clementson et al. 1982). Die Glykoproteine (Gp) sind Rezeptoren für physiologische Agonisten (ADP, Thrombin, Thromboxan und andere) der Aktivierung von Thrombozyten. Über die Bindung der Liganden an die Gp wird die Adhäsion der Thrombozyten an das Subendothel und andere Zellen vermittelt. Die Adhäsion wird über die Bindung von Kollagen an GpIa/IIa initiiert. Treten hohe Scherkräfte auf, kommt es zur Bindung des Von-Willebrand-Faktors an den Gp-Ibα/IX/V-Komplex und zur Adhäsion der Thrombozyten an eine Oberfläche. Die zunächst noch reversible Bindung wird nach Aktivierung weiterer Gp, insbesondere GpIIb/IIIa, irreversibel. Die Bindung der Liganden an die Thrombozytenoberfläche löst eine Signaltransduktion aus, infolge derer erhebliche Änderungen wichtigster Strukturen, nämlich der Membran, des Zytoskeletts und der Organellen zu beobachten sind. Infolge eines »Flip-flop«-Mechanismus kommt es zur Externalisierung der inneren Schicht der Phospholipidmembran zusammen mit den fusionierten Teilen der α-Granula. Die Aktivierung bewirkt strukturelle Änderungen des Fibrinogenrezeptors, die eine »Inside-out«-Signaltransduktion bewirken. Die Bedeutung der Fibrinogenbindung für die Thrombusbildung spiegelt sich in der rasanten Zunahme der Dichte des entsprechenden Rezeptors (GpIIb/IIIa) nach der Aktivierung wider; es gelangen zusätzliche Rezeptormoleküle aus dem offenen kanalikulären System an die Oberfläche. Es kommt zu einer Zunahme der Gp-IIb/IIIa-Expression um 30–50% und entsprechender Abnahme der Gp-IbIX-V-Komplexe, die sich von außen nach innen wenden (Shattil at al. 1998). ! Beim »Flip-flop«-Mechanismus kommt es zu einer Wendung der Thrombozytenmembran von innen nach außen und umgekehrt, so dass die Verfügbarkeit von GpIIb/IIIa für die Fibrinogenbindung erheblich gesteigert werden kann.
Durch Signaltransduktion kann die Aktivierung des Gp-IIb/ IIIa-Komplex auch durch andere Agonisten erfolgen (weitere »Inside-out«-Aktivierung). Diese Agonisten sind kleinere Moleküle wie Serotonin, Thromboxan A2 und ADP, die an die so genannten »seven transmembrane receptors« (STR) bzw. G-Protein binden. Hierzu zählen auch die ADP-Rezeptoren P2X1, P2Y1 und P2TAC. Die Signaltransduktion erfolgt bei P2Y1 über Phospholipase C, über P2TAC erfolgt die Hemmung der Adenylatzyklase. Beide Mechanismen sind für die Aggregation der Thrombozyten wichtig. Andere STR-Agonisten sind Hormone, wie Adrenalin, und Vasopressin, oder Thrombin selbst. Dabei kann allein Thrombin direkt, ohne Aktivierung von Rezeptoren, die Sekretion auslösen. Zu den STRs zählen auch die Rezeptoren, über die inhibitorische Agonisten wie Prostazyklin I2 und Prostaglandin D2 die Thrombozytenfunktion modulieren. Die Gp verfügen auch über antigene Eigenschaften, die für die Diagnostik der Allo- und Autoimmunthrombozytopenie von Bedeutung sind ( Kap. 28, 33, 34 und 35). 32.4.3 Thrombozytenzytoskelett Die diskoide Form der Thrombozyten wird durch eine spiralförmige, mikrotubuläre Struktur, die ringförmig angesiedelt ist, aufrechterhalten. Zieht sie sich infolge eines Stimulus zusammen, kommt es zum so genannten »shape-change«, einem ersten Aktivierungsschritt der Thrombozyten, und zur Wanderung der Granula hin zum offenen kanalikulären System. Die Form des ruhen den Thrombozyten wird zusätzlich durch membranassoziiertes Aktin und weitere Proteine stabilisiert. In diesem Membranzytoskelett sind auch die transmembranösen Anteile der Rezeptorproteine verankert, die die Signaltransduktion von innen nach außen gewährleisten (White u. Rao 1998). Die Proteine des Zytoskeletts sind über das gesamte Zytoplasma verteilt, sie regeln den Fluss der Organellen und Signalproteine. Erst mit der Aktivierung erhalten Aktin und Myosin eine Filament-
337 32 · Physiologie des Thrombozyten
⊡ Tabelle 32.2. Inhaltsstoffe der α-Granula
Membran
Matrix
Nur Bestandteil der α-Granula
Nicht im Plasma nachweisbar
P-Selektin GMP33 Osteonektin
β-Thromboglobulin Plättchenfaktor 4 Multimerin Wachstumsfaktoren (»platelet derived« GF, endothelial GF, tranforming GFβ, »vascular endothelial« GF)
α-Granula- und Plasmamembran
Auch im Plasma nachweisbar
GpIIb/IIIa, GpIb-IX, GpIV (CD36) CD9 PECAM1
Fibrinogen VWF Albumin Fibronektin Immunglobuline (G, M,A) Gerinnungsfaktor V Thrombospondin
struktur und ihre Kontraktion ermöglicht den dann rasanten »shape change« und die Ausbildung der Pseudopodien. 32.4.4 Thrombozytengranula Den größten Anteil der sekretorischen Granula, 50–80 je Thrombozyt, stellen die α-Granula dar (Harrison u. Cramer 1993). Die Matrix der α-Granula kann in zwei Regionen aufgeteilt werden. In der einen werden Proteoglykane und die thrombozytenspezifischen Proteine gespeichert, in einer anderen Region mit tubulärer Struktur der Von-WillebrandFaktor. Dazwischen sind Fibrinogen, Albumin und weitere durch Endozytose und Pinozytose eingeschleuste Proteine gespeichert (⊡ Tab. 32.2). Ca. 1/10 der vorhandenen Granula stellen die δ-Granula dar. Sie sind Speicherort kleiner Moleküle (ADP, ATP, Serotonin, Kalzium, Magnesium und Katecholaminen). Neben diesen Granula finden sich Lysosomen und Peroxisomen. Die Bedeutung der thrombozytären Lysosomen ist nicht endgültig geklärt, man vermutet, dass ihre Enzyme Gerinnsel auflösen und auch zur Wundheilung beitragen können. 32.5
Thrombozytenfunktion
Damit ein Thrombozyt seine Funktion in der primären Hämostase erfüllen kann, muss er mit freigelegten Strukturen der verletzten Gefäßwand (Kollagen, Von-WillebrandFaktor) und anderen Thrombozyten interagieren (Ruggeri et al. 1999). Der komplexe Prozess der Thrombusbildung mit dem Ziel der Blutstillung kann unter Umständen auch zum kompletten Verschluss eines atherosklerotisch vorgeschädigten Gefäßes führen. Unter physiologischen Bedingungen zirkulieren Thrombozyten in engem Kontakt mit den Endothelzellen, ohne daran haften zu bleiben. Sie reagieren jedoch blitzschnell auf Änderungen der Hämodynamik und der Endotheloberfläche und adhärieren. Damit die Aktivierung zur weiteren Aggregation der Thrombozyten führt, sind neben den auslösenden
Stimuli (Thrombin, ADP) funktionsfähige Rezeptoren der Thrombozytenoberfläche eine grundlegende Voraussetzung (⊡ Abb. 32.4). An G-Protein gekoppelte Membranrezeptoren sind Bestandteile der Thrombozytenaktivierungen. G-Proteine sind Mediatoren der wichtigsten Signaltransduktionswege des Thrombozyten. Ein früher G-Protein-abhängiger Aktivierungsschritt geht von der Aktivierung der Phospholipase C aus (Jin u. Kunapuli 1998). Dieses Enzym hydrolysiert Phosphoinositol. Die entstehenden Stoffwechselprodukte (Diacylglyzerid, Inositol-1,4,5-Triphosphat – IP3) sind »second messenger«. IP3 begünstigt wiederum die Kalziumfreisetzung, eine elementare Voraussetzung für die weitere Aktivierung der Thrombozyten. Der zweite wichtige Stoffwechselweg ist PhospholipaseA-abhängig. Dieses Enzym setzt Arachidonsäure aus den Membranphospholipiden frei. Sie wird durch Zyklooxygenase in die zyklischen Endoperoxide Prostaglandin G2 und H2 umgewandelt.Durch Aktivierung der Thromboxansynthetase entsteht dann aus PGH2 das proaggregatorische Thromboxan A2. Die meisten Agonisten sind in der Lage, den Arachidonsäurestoffwechsel zu aktivieren und dadurch die maximale Aggregation zu induzieren. Die Thrombozytenaktivierung wird gehemmt, wenn es zu einem Anstieg des zyklischen Adenosinmonophosphat (cAMP) kommt, das über die GProtein-abhängige Adenylatzyklase synthetisiert wird. Insbesondere plättcheninhibierende Moleküle wie die Prostaglandine (PGD2, PGI2 oder PGE1) führen zu einem Anstieg von cAMP. Durch den »Flip-flop«-Mechanismus werden gerinnungsaktive Phospholipide der Thrombozytenmembran nach außen gewendet, die die Matrix für weitere Gerinnungsabläufe darstellen, denn Blutgerinnung findet an Oberflächen statt. Über die Bindung und Stimulation weiterer Thrombozyten kommt es zur Beschleunigung der Thrombinbildung und konsekutiven Fibrinpolymerisation. Die Thrombozytenfunktion kann an verschiedenen Punkten ihres physiologischen Ablaufs gestört sein, die detailliert im Kap. 33 beschrieben werden: Durch die Adhäsion der Thrombozyten am defekten Gefäßendothel kommt es zum »shape change«, der Sekretion von Speichergranula und
32
338
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
II
⊡ Abb. 32.4. Die physiologische Thrombozytenfunktion: Ausbildung eines Thrombozytenaggregates zum Verschluss einer Gefäßläsion. a Nicht-aktivierte Thrombozyten zirkulieren in engem Kontakt mit dem Endothel; NO, Prostaglandin I2 und CD39 (ADPase) verhindern eine latente Aktivierung durch freigesetzte Spuren von ADP. b Subendotheliales Kollagen und die lokale Thrombinbildung initiieren die Thrombusbildung. Es erfolgt die Adhäsion der Thrombozyten an Kollagen und Von-Willebrand-Faktor (Monolayer-Struktur).
c Es kommt zur Aktivierung und Aggregation weiterer Thrombozyten infolge Sekretion sowie Freisetzung von Thromboxan (Tx), ADP und weiterer Agonisten. Diese sind wiederum Liganden für die G-Proteingekoppelten Rezeptoren der Thrombozytenmembran, über die weitere Stoffwechselwege getriggert werden. d Das Thrombozytenaggregat konsolidiert sich weiter durch die Fibrineinlagerung, die Wunde ist verschlossen
weiteren Aktivierung und Expression von Gp-Rezeptoren, insbesondere Gp-IIb/IIIa-Komplex, wodurch es zur Ausbildung größerer Aggregate durch die Interaktion der Thrombozyten auch untereinander kommt. Der GpIIb/IIIa-Komplex hat eine Schlüsselstellung in der Thrombozytenfunktion. Ein Defekt oder Mangel dieses Rezeptor resultiert in der schwersten angeborenen Thrombozytenfunktionsstörung, dem Morbus Glanzmann ( Kap. 33). Sein wichtigster Ligand ist das Fibrinogen, aber auch andere für die Blutgerinnung wichtige Proteine werden gebunden wie Fibrin, VWF, Fibronektin, Vitronektin und Thrombospondin. Diese Proteine wiederum können aber auch an andere Rezeptoren mit unterschiedlicher Affinität binden. Dieses Überkreuzen der Bindung verschiedener Liganden mit verschiedenen Rezeptoren führt zu einem Überschuss an Bindungsmöglichkeiten, wodurch es der Natur gelingt, eine Blutstillung auch im Falle eines isolierten, schweren Rezeptordefektes zu gewährleisten und das Verbluten zu verhindern. Experimentelle Daten weisen daraufhin, dass Thrombozyten weitere Funktionen besitzen. Sie spielen eine Rolle bei der Metastasierung und dem Tumorwachstum (Karpatkin 2002). Thrombozyten besitzen antimikrobielle Eigenschaften, sie können das Immunsystem und Entzündungsreaktionen beeinflussen (Yeaman u. Bayer 2002; Klingler 2002). Die klassischen, hereditären Rezeptormangelzustände sind selten, ebenso wie die Defekte der Thrombozytengranula. Wesentlich häufiger sind die primären Sekretionsdefekte, sie führen jedoch nur zu einer milden Blutungsneigung. Hierunter sind Störungen des Signaltransduktionsweges, der G-Proteine und intrazellulärer Effektoren zusammengefasst.
Von wesentlicher klinischer Relevanz, allerdings nicht unbedingt im Kindesalter, ist die Vielzahl von quantitativen und qualitativen Störungen der Thrombozyten als prädisponierende Faktoren, insbesondere für arterielle Gefäßverschlüsse (Harker 1998). Dies hat zur Entwicklung spezifischer Thrombozytenfunktionshemmer geführt. Diese und die hierdurch induzierten Funktionsstörungen werden in Kap. 33 näher beschrieben.
Ausgehend von den fundamentalen Arbeiten von W.W. Duke Anfang des letzten Jahrhunderts konnte bis heute ein großes Wissen über die Bildung, Morphologie und Funktion der Thrombozyten gewonnen werden. In den kommenden Jahren sind nicht nur neue Erkenntnisse in dem komplexen Zusammenspiel der Regulatoren von Megakaryo- und Thrombopoese zur erwarten. Ein genaueres Verständnis der Thrombozytenaktivierung und -aggregation wird voraussichtlich auch neue Therapieansätze bei Störungen der Hämostase ermöglichen.
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339 32 · Physiologie des Thrombozyten
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32
Thrombozytenfunktionsstörungen II
F. Bergmann
33.1 33.2
Einleitung und Definition – 340 Diagnostik – 340
33.2.1 33.2.2 33.2.3 33.2.4 33.2.5
Mikroskopie des Blutausstrichs – 340 Thrombozytenaggregation nach Born – 341 Blutungszeit – 341 »Platelet function analyzer« – 341 Analyse der Sekretionsfunktion – 342
33.3
Angeborene Thrombozytenfunktionsstörungen – 342
33.3.1
Defekte der Membranrezeptoren für Adhäsionsproteine – 345 Defekte der Membranrezeptoren für lösliche Agonisten – 346 Defekte der Thrombozytengranula – 346 Defekte der Signaltransduktion – 346 Defekte der Membranphospholipide – 346 Sonstige Störungen – 346
33.3.2 33.3.3 33.3.4 33.3.5 33.3.6
33.4
Erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen – 347
33.4.1 33.4.2 33.4.3 33.4.4 33.4.5 33.4.6 33.4.7
Urämie – 347 Myeloische Neoplasien – 348 Akute und chronische Lebererkrankungen Stickoxidbehandlung – 348 Medikamente – 348 Thrombozytenantikörper – 349 Extrakorporale Zirkulation – 349
33.5
Therapie
33.5.1 33.5.2 33.5.3 33.5.4
DDAVP – 349 Transfusion von Thrombozyten – 350 Rekombinanter Faktor VIIa – 350 Andere Therapien – 350
Literatur
33.1
– 348
Einleitung und Definition
Angeborene oder erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen sind seltene Ursachen einer Störung der primären Hämostase. Im Vergleich zu Thrombozytopenien spielen qualitative Veränderungen der Thrombozytenfunktion bei Blutungsneigungen im Kindesalter nur eine untergeordnete Rolle. Eine Thrombopathie entsteht meist infolge des Nichtbindens von Liganden an die Thrombozytenmembranrezeptoren. Ursächlich hierfür kann das Fehlen eines Rezeptors, seine Dysfunktion oder eine Rezeptorblockade durch spezifische Antikörper sein. Aber auch Störungen des Plättchenstoffwechsels können die Ursache einer Blutungsneigung sein.
– 349
– 350
Die Anamnese des Jungen sprach für eine Blutungsneigung, doch es war ein weiter Weg bis zu ihrer Klärung in einem Speziallabor, in dem auch die Untersuchung der Thrombozytenfunktion möglich war. Die Eltern gaben an, dass die Hämatome des Kindes besonders groß seien und nicht allein durch das Toben zu erklären wären. Schon nach der Beschneidung habe der heute 10 Jahre alte Junge stärker nachgeblutet als andere. Besonders auffällig sei eine Blutung nach einer Bissverletzung der Lippe gewesen. Die Adenotomie im Alter von 4 Jahren war ohne Blutungskomplikation verlaufen. An diesem Punkt könnte man über Sinn und Notwendigkeit der präoperativen Gerinnungsdiagnostik vor diesem Eingriff diskutieren.
▼
Wiederholt war der Von-Willebrand-Faktor untersucht worden, und auch die Analyse der VWF-Multimere ergab einen Normalbefund. Seltenere Störungen der plasmatischen Gerinnung war ebenfalls ausgeschlossen worden. Die Analyse der nach Jahren der Diagnostik erstmals durchgeführten Thrombozytenfunktion ergab dann den Befund »δ-storage pool disease« (SPD), einer milden Thrombozytenfunktionsstörung. Sie ist wahrscheinlich wesentlich häufiger als vermutet, da es für ihre Diagnostik der Spezialanalytik bedarf.
33.2
Diagnostik
In der Pädiatrie stellt die Analyse der Thrombozytenfunktion auch heute noch eine Herausforderung dar. Bereits bei der Blutentnahme kann es zur Aktivierung der Thrombozyten kommen, da die Venenverhältnisse der Patienten oft kleine Kanülenlumina, langes Stauen, langsames Abtropfen und ein verzögertes Vermischen mit Citrat bedingen. Bei Neugeborenen gestalten sich die Analysen durch die üblicherweise notwendigen großen Blutvolumina besonders aufwendig. Die wesentlichen Funktionstests sind die Thrombozytenaggregation nach Born, die so genannte Invitro-Blutungszeit und Analysen zur Sekretionsfunktion (Harrison 2000). 33.2.1 Mikroskopie des Blutausstrichs ! Zu jeder differenzialdiagnostischen Abklärung einer Thrombozytopathie oder -penie gehört die Beurteilung des peripheren Blutausstrichs. Man sollte sich nicht auf Volumenverteilungskurven oder Scatter-Diagramme der automatischen Zählgeräte verlassen.
341 33 · Thrombozytenfunktionsstörungen
Neben der orientierenden Bestätigung der zuvor ermittelten Thrombozytenzahl ist die morphologische Beurteilung der Form und Größe von Blutplättchen und Granula notwendig. Junge, etwas größere Thrombozyten zeigen in der Regel ein granulareiches Zytoplasma. Gelegentlich finden sich im Ausstrich aus EDTA-Blut große Thrombozytenaggregate (bevorzugt an den Rändern), die in der automatischen Zählung zu einer Pseudothrombozytopenie führen. Die Wiederholung der Untersuchung aus Citratblut zeigt dann Normwerte. 33.2.2 Thrombozytenaggregation nach Born Die 1962 von Born beschriebene Untersuchung der klassischen Aggregometrie gilt auch heute noch als Goldstandard der Funktionsanalyse, auch wenn sie unter unphysiologischen Bedingungen durchgeführt wird und die 3 Funktionsphasen, die ein Thrombozyt durchläuft (Adhäsion – Aktivierung – Aggregation), nur eingeschränkt widerspiegeln kann. Bei der lichtoptischen Methode wird im Strahlengang eine Zunahme der Lichtdurchlässigkeit registriert (Budde 2002). Zunächst wird plättchenreiches Plasma bei 37°C mittels Magnet in einer Küvette, die zwischen einer Lichtquelle und einer Photozelle steht, gerührt. Verschiedene Aggreganzien (ADP, Kollagen, Adrenalin, Ristocetin, Arachidonsäure) definierter Konzentration werden zugegeben und aktivieren die Thrombozyten über Membranrezeptoren. Dies führt zur Aggregatbildung, die Thrombozyten sinken auf den Boden der Küvette und die Lichtdurchlässigkeit im Strahlengang nimmt zu (⊡ Abb. 33.1). Die Methode liefert insbesondere für die Diagnostik der hereditären Thrombopathien charakteristische Kurvenmuster (⊡ Abb. 33.2) Erworbene Funktionsdefekte wie die Wirkung von Azetylsalizylsäure können ebenfalls erfasst werden (⊡ Abb. 33.3). Um präanalytische Störgrößen zu vermeiden, ist eine Blutentnahme direkt in einem Speziallabor zu empfehlen.
⊡ Abb. 33.1. Thrombozytenaggregation – normaler Kurvenverlauf
33.2.3 Blutungszeit Die 1912 von Duke beschriebene Methode gilt als erste Invivo-Funktionsuntersuchung (Rodgers u. Levin 1990). Bis heute gibt es eine Vielzahl von Weiterentwicklungen. Die Blutungszeit ist von allen Verfahren zur Diagnostik der Blutungsneigung den physiologischen Bedingungen am nächsten, jedoch ist ihre Sensitivität mit nur ca. 50% gering. Hinzu kommt eine schlechte Standardisierbarkeit und die Variabilität in Abhängigkeit vom Untersucher. Cave Eine normale Blutungszeit schließt eine Störung der primären Hämostase nicht aus!
Bei Verdacht auf eine Thrombozytopathie oder -penie sollte die Indikation zur Blutungszeit streng gestellt werden. Es ist anzunehmen, dass eine korrekt durchgeführte Blutungszeit bei diesen Patienten verlängert ist. Es besteht jedoch die Gefahr einer schwierigen Blutstillung und von Wundheilungsstörungen (hässliche Narben). In früheren Zeiten sind Einzelfälle mit katastrophalem Ausgang nach Punktion des Ohrläppchens beschrieben worden. 33.2.4 »Platelet function analyzer« Mit dem »platelet function analyzer« (PFA-100, so genannte In-vitro-Blutungszeit) kann die primäre Hämostase, d. h. die Interaktion zwischen Von-Willebrand-Faktor und Thrombozyten beurteilt werden. In vorgefertigten Kartuschen wird Citratblut mit hoher Flussgeschwindigkeit über eine Kapillare angesogen und durch eine mit Kollagen/ADP oder Adrenalin beschichtete Membran geleitet. Die Thrombozyten werden durch die Aggreganzien aktiviert, die Zeit bis zum Verschluss der Membran, d. h. Stop des Blutflusses, wird gemessen. Auch
33
342
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
II
⊡ Abb. 33.2. Aggregationskurvenverlauf bei Morbus Glanzmann, typische Desaggregation nach Stimulation mit Ristocetin
⊡ Abb. 33.3. Thrombozytenaggregation – pathologischer Kurvenverlauf nach ASS-Einnahme
wenn der methodische Ansatz interessant ist, können milde Formen des Von-Willebrand-Syndroms nicht sicher erfasst werden. Zudem beeinflussen eine Thrombozytopenie, ein hoher Hämatokrit und eine beschleunigte Blutsenkung die Messzeit.
33.3
Angeborene Thrombozytenfunktionstörungen
Die angeborenen Blutungsneigungen werden nach dem Ort der Funktionsstörung klassifiziert (nach Cattaneo 2003):
33.2.5 Analyse der Sekretionsfunktion
Klassifikation hereditärer Thrombozytopathien:
Die Beurteilung der Freisetzungsreaktion der α- und δ-Granula bedarf besonderer Geräte und ist nur wenigen Speziallabors vorbehalten. Zum Einsatz kommen die Lumiaggregometrie im citratantikoaguliertem Blut zur Quantifizierung der ATP-Sekretion nach Stimulation mit Thrombin und Kollagen und die Durchflusszytometrie.
Störung der Membranrezeptoren für Adhäsionsproteine Störung der Membranrezeptoren für lösliche Agonisten Störung der Membranphospholipide Störung der Thrombozytengranula Störung der Signaltransduktion Störung sonstiger Strukturen
Neben einer Thrombozytenfunktionsstörung findet sich oft auch eine Verringerung der Thrombozytenzahl. Die wesentlichen Krankheitsbilder sind in ⊡ Tabelle 33.1 kurz charak-
Name
Blutungsneigung
Funktionsstörung
Struktur-/Gendefekt
Erbgang
Zusätzliche Symptome/ Assoziation
Defekte der Membranrezeptoren für Adhäsionsproteine Bernard-Soulier↓* RiesenSyndrom thrombozyten
Mild bis schwer
Adhäsion ↓ mit Risto fehlende Aggregation, sonst normal
ar
DiGeorge-, velokardiofaziales Syndrom
Morbus Glanzmann
Normal
Ohne Befund
Mild bis schwer
»Platelet-type«-VWS
Normal bis ↓
Ohne Befund
Mild
Komplett fehlende Aggregation, nur mit Risto wellenförmig Retraktion ↓ Aggregation mit Risto ↑ Spontanggregation
GpIb-IX-Komplex GpIbα (Chr 17) GpIbβ (Chr 22) GpIX (Chr 3) GpIIb/IIIa (αIIb/β3) (Chr 17q21–23) GpIbα (Chr 17p13) (»Gain-of-function«Mutation)
ad
P2Y12-Gen
?
TXA2-Rezeptor
ad
THZ-Zahl
(Elektronen)Mikroskopie
Defekte der Membranrezeptoren für lösliche Agonisten ADP-Rezeptor Normal Ohne Befund (P2Y12-Rezeptor) Thromboxan-A2Rezeptor α-adrenergerRezeptor Kollagenrezeptor
Ohne Befund
Normal
Ohne Befund
Mild
Normal
Ohne Befund
Normal bis mild
δ-Granula ↓
Mild
δ-Granula ↓ Riesengranula in verschiedenenZellen (z. B. Neutrophilen) Klein, δ-Granula ↓
Mild
Wiskott-AldrichSyndrom »Gray-Platelet«Syndrom Quebec-Syndrom
Groß, leere α-Granula
Mild bis moderat
α-Granula ↓
Mild bis schwer
Aggregation und Sekretion ↓ GpIb, GpIa ↓ Normal oder Aggregation und Sekretion ↓ Aggregation m Adrenalin ↓↓
Jacobsen-Syndrom oder ParisTrousseau-Syndrom
Große α-Granula
Mild
Sekretion ↓
Normal
Normal bis ↓
Mild bis schwer
Sekretion ↓ Aggregation normal oder mit Adrenalin Aggregation und Sekretion ↓
ad GpIa/IIa, GpVI
?
ar/ad
Verschiedene Proteindefekte
ar
WAS-Protein Chr Xp11.22 ?
Xr
Okulokutaner Albinismus Infektionen (Chédiak-HigashiSyndrom), Lipofuszinose (Hermansky-Pudlak-Syndrom) Immundefekt, Ekzem
ar/ad
Myelofibrose?
Thrombozytärer FV ↓↓, da Multimerin fehlt Chr 11 (del[11]q23.3pter) Chr 22q11
ad ad
343
Normal
Defekte der Thrombozytengranula Normal »Storage pool disease« Hermansky-Pudlakund ChédiakHigashi-Syndrom
Aggregation m ADP ↓↓↓ (verschiedene Mutationen, Deletionen) Kein Response auf TXA2 Aggregation ↓, normal mit Thrombin Aggregation mit Adrenalin ↓ (z. T. nur monophasisch) Aggregation mit Kollagen ↓ Adhäsion ↓
Mild bis schwer mit schwachen Agonisten reversibel Mild
ar
33 · Thrombozytenfunktionsstörungen
⊡ Tabelle 33.1. Angeborene Thrombozytenfunktionsstörungen
Herzfehler, Gesichtsanomalien mentale Retardierung
33
II 344
Name
THZ-Zahl
(Elektronen)Mikroskopie
Blutungsneigung
Funktionsstörung
Struktur-/Gendefekt
Erbgang
Ohne Befund
Mild
Aggregation mit ARA ↓↓↓ Aggregation mit Kollagen und ADP↓
Zyklooxygenase-Enzyme
ar?
ar
Zusätzliche Symptome/ Assoziation
Defekte der Signaltransduktion ZyklooxygenaseDefekt
Normal bis ↓
Defekte der Membranphospholipide Scott-Syndrom
Normal
Ohne Befund
Mild bis schwer
Thrombinbildung ↓
?
StormokenSyndrom
Normal
Ohne Befund
Mild
Aggregation mit Kollagen ↓, aber intakte prokoagulatorische Aktivität
?
Groß
Mild bis schwer
Spontanaggregation Aggregation mit Thrombin ↓
? Verminderte CalpainAktivität
Wundheilungsstörung
Sonstige Störungen Montreal-PlättchenSyndrom MYH9-abhängige Krankheitsbilder
ad
NMMHC-IIA in Leukozyten (Chr 22q12–13
May-HegglinAnomalie
Groß, Einschlusskörper in Neutrophilen (Döhle-Körper)
Keine bis mild
Nicht bekannt
MYH9-Mutation
ad
Epstein-Syndrom
Groß, Döhle-Körper
Mild
Aggregation mit Kollagen ↓ (teilweise)
MYH9-Mutation
ad
Nephritis, Hörverlust, Katarakt
Fechner-Syndrom (Sebastian-Syndrom)
Groß u. Döhle-Körper
Mild
Nicht bekannt
MYH9-Mutation
ad
Fechner Syndrom: familiäre Nephritis, Hörverlust
↓* cave: Riesenthrombozyten werden von Zählautomaten nicht richtig erfasst, daher u. U. falsch-niedriger Wert. ar autosomal-rezessiv, ad autosomal-dominant, Chr Chromosom, Risto Ristocetin, ARA Arachidonsäure, VWS Von-Willebrand-Syndrom.
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
⊡ Tabelle 33.1 (Fortsetzung)
345 33 · Thrombozytenfunktionsstörungen
terisiert. Ähnlich wie bei den erworbenen Formen ist die Blutungsneigung variabel. Typischerweise stehen Schleimhautblutungen, Hämatome und Blutungen im Rahmen von Unfällen oder Operationen im Vordergrund. Cave Die Menarche eines Mädchen mit schwerer Thrombozytenfunktionsstörung kann zu einer lebensbedrohlichen Blutung führen. In der Pubertät muss bei einem akuten Abdomen auch an eine Follikelblutung gedacht werden.
33.3.1 Defekte der Membranrezeptoren
für Adhäsionsproteine Diese Störungen sind durch die Untersuchung der Thrombozytenaggregation zu identifizieren ( Abb. 33.2). Die hereditären homozygoten oder heterozygoten Formen sollten über die Bestimmung der Rezeptorendichte mittels Durchflusszytometrie bestätigt werden. Bernard-Soulier-Syndrom. 1948 beschrieben die beiden französischen Kinderärzte Bernard und Soulier ein 5 Monate altes Kind konsanguiner Eltern mit wiederholten Spontanblutungen. Sie beobachteten eine verlängerte Blutungszeit und beschrieben die charakteristischen Riesenthrombozyten mit fehlender Granularität im Ausstrich. Die Thrombozytenzahl ist normal oder leicht vermindert. Der Durchmesser der Thrombozyten kann bis zu 8 µm betragen kann, so dass sie von automatischen Zählgeräten oft als Erythrozyten eingeordnet werden (⊡ Abb. 33.4). Dies macht die Kammerzählung der Thrombozyten notwendig. Ursache des BernardSoulier-Syndroms ist das Fehlen des GpIb/IX-Komplexes der Thrombozytenmembran (Liganden: VWF, Thrombin). Heterozygote Merkmalsträger des Bernard-Soulier-Syndroms sind im Allgemeinen asymptomatisch. Sie weisen ebenfalls Riesenthrombozyten auf, wobei der prozentuale Anteil der Riesenthrombozyten bei unter 50% liegt, bei homozygoten Merkmalsträgern hingegen bei 70–80% (Nurden u. George 2001).
⊡ Abb. 33.4. Blutausstrich mit normal großem Thrombozyten (1) und Riesenthrombozyten (2) im Vergleich
⊡ Abb. 33.5. Typisches Hämatom bei Morbus Glanzmann
Glanzmann-Naegeli-Syndrom. Beschrieben wurde diese Störung erstmals 1918 als Blutungsneigung vom Thrombozytopenie-Typ mit normaler Thrombozytenzahl von einem Schweizer Kinderarzt. Sie wurde nach ihm benannt und ist auch unter dem Synonym Thrombasthenia Glanzmann bekannt. Die Hämatome der Kinder mit Morbus Glanzmann sind auffallend rot. Betroffene Eltern beschreiben die Hämatome als »wie mit Kirschmarmelade bekleckert« (⊡ Abb. 33.5). Es werden 2 Typen unterschieden: ▬ Typ I mit vollständigem Fehlen des GpIIb/IIIa-Rezeptorkomplexes (Liganden: Fibrinogen, VWF), ▬ Typ II mit deutlicher Reduktion dieser Rezeptoren auf ca. 15% der Norm und milderer Blutungsneigung (Nurden u. George 2001).
Darüber hinaus gibt es qualitative Defekte durch verschiedene Mutationen (nachzusehen unter http//med.mssn.edu/ glanzmanndb), die in der Klinik und Diagnostik ein ähnliches Bild bieten. Pseudo-von-Willebrand-Syndrom. Bei dieser Krankheit (»Platelet-type«-VWS) handelt es sich nicht um einen Defekt des Von-Willebrand-Faktors, sondern um einen Defekt des ihn bindenden Thrombozytenmembranrezeptors GpIbα. Ursächlich ist eine »Gain-of-function«-Mutation von GpIbα, die zu einer stärkeren Bindung der hochmolekularen Multimere des VWF an die Thrombozytenmembran führt (Russell u. Roth 1993). Dies resultiert in einer geringeren Konzentration der besonders gerinnungsaktiven Multimere im Plasma. Das Bild ähnelt dem Typ 2B des VWS, dessen Ursache wiederum ein »Gain-of-function« des VWF selbst ist ( Kap. 39). Für weitere Defekte des GpIa/IIa und GpVI (Kollageninduzierte Aggregation pathologisch) sind nur Einzelfälle in der Literatur beschrieben. Defekte des GpIV (Liganden: Kollagen, Thrombospondin) sind in asiatischen Populationen nicht selten. Ihre klinische Relevanz ist jedoch unklar, da bisher keine Blutungsneigung beobachtet wurde.
33
346
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
33.3.2 Defekte der Membranrezeptoren
für lösliche Agonisten
II
Die Blutungsneigung der wenigen bisher identifizierten Patienten mit diesen Störungen wird als mild beschrieben. Die Thrombozyten der Patienten zeigen ein vermindertes Ansprechen auf die üblichen Agonisten/Aggreganzien. ADP-Rezeptoren. ADP reagiert mit verschiedenen anderen Rezeptoren, den so genannten P2-Rezeptoren (P2Y1, P2Y12, P2X1). Stimulation der P2Y1-Rezeptoren führt zur Aktivierung der Phospholipase C, intrazellulärer Kalziummobilisation und »shape change« der Thrombozyten (erste Stufe der Thrombozytenaktivierung), während aktivierte P2Y12-Rezeptoren für die vollständige ADP-induzierte Aggregation notwendig sind. Für die normale Aggregation werden somit P2Y1- und P2Y12-Rezeptoren benötigt. Der P2X1-Rezeptor hat eine wichtige Funktion bei der Aggregation und Thrombusbildung bei hoher Flussgeschwindigkeit. Klinisch auffällig wurden bisher nur Patienten mit angeborenen Defekten des P2Y12-Rezeptors (Cattaneo et al. 1992). α-adrenergen Rezeptoren. Ob Defekte der α-adrenergen
Rezeptoren tatsächlich Ursache einer Blutungsneigung sind, bleibt offen, da auch bei ca. 10–15% gesunder Probanden mit normaler Blutungszeit eine verminderte, d. h. monophasische Adrenalin-induzierte Aggregation beobachtet wird. Die wenigen beschriebenen Patienten mit einem Defekt der α-adrenergen Rezeptoren zeigen zumeist weitere Auffälligkeiten bei der Aggregation. Differenzialdiagnostisch ist bei einer isolierten Adrenalin-induzierten Aggregation auch an das Quebec-Platelet-Syndrom (Hayward et al. 1997) zu denken. Kollagenrezeptoren. Ein Defekt der Kollagenrezeptoren mit isolierter defekter Kollagen-induzierter Aggregation muss nicht mit einer klinischen Blutungsneigung korrelieren. Die Aggregationsstörung ist je nach Typ des benutzten Kollagens unterschiedlich.
Klinisch geht das δ-SPD mit einer milden oder moderaten Blutungsneigung einher. Das Chediak-Higashi- und das Hermansky-Pudlak-Syndrom sind seltene Erkrankungen, die neben Störungen der Organellen verschiedener Gewebe, auch mit einem δ-SPD assoziiert sind. Bei hereditären Thrombozytopenien wie dem Thrombozytopenie-RadiusaplasieSyndrom und dem Wiskott-Aldrich-Syndrom ist die zusätzliche Thrombozytenfunktionsstörung ebenfalls auf ein δSPD zurückzuführen. Erworbene Formen des δ-SPD sind bei myeloproliferativen Syndromen beschrieben. Defekte der α-Granula. In den α-Granula werden Proteine
gespeichert, die in den Megakaryozyten synthetisiert (VWF, Thrombospondin, PF4, β-Thromboglobulin, Multimerin u. a.) oder aus dem Plasma über Endozytose eingelagert werden (Fibrinogen, Immunglobuline, Albumin). Zur Gruppe der α-Granula-Defekte zählt auch das »Gray-Platelet«-Syndrom, dessen Name aus dem lichtmikroskopischen Aspekt der Thrombozyten resultiert. Die Thrombozyten sehen im Ausstrich grau aus, da ihre Granula leer sind (Jantunen et al. 1994). Patienten mit der Kombination eines α- und δ-SPD zeigen das klinische Bild des δ-SPD. 33.3.4 Defekte der Signaltransduktion Die Signaltransduktionsdefekte werden auch als primäre Sekretionsdefekte (PSD) bezeichnet. Sie haben (noch) keine spezifische Zuordnung zu einem Granuladefekt und stellen eine heterogene Gruppe dar. Neben den Defekten der Zyklooxygenase oder Thromboxan-Synthetase gibt es eine Reihe weiterer sehr seltener Störungen (Rao 2003). 33.3.5 Defekte der Membranphospholipide Hierunter sind die beiden bekannten Störungen der Interaktion zwischen Thrombozyten und prokoagulatorischen Gerinnungsfaktoren zusammengefasst ( Tabelle 33.1).
33.3.3 Defekte der Thrombozytengranula 33.3.6 Sonstige Störungen Es sind Defekte der delta/dense-(δ)- und alpha-(α)-Granula zu unterscheiden. Ihre Dysfunktion führt zu einer gestörten Adhäsions- und Aggregationsfähigkeit der Thrombozyten. Die Elektronenmikroskopie sichert die Diagnose. Defekte der δ-Granula.Die Verminderung der dense-Granula
in Megakaryozyten und Thrombozyten ist als »δ-storage pool disease« (SPD) bekannt und gilt als die häufigste angeborene Ursache einer Thrombozytenfunktionsstörung (10–18% der Patienten). Sie kann isoliert oder in Kombination mit weiteren Störungen der Thrombozytenfunktion auftreten. Diese Störung ist nicht sicher über die Untersuchung der Aggregation zu erfassen, da diese in ca. 25% der Fälle unauffällig ist (Nieuwenhuis et al. 1987). Die geeignete Methode zum Erfassen von Sekretionsdefekten ist die Lumiaggregometrie, d. h. die parallele Analyse der Aggregation und Sekretion der Inhaltsstoffe. Nach entsprechender Stimulation zeigt sich eine verminderte ATP-Freisetzung, weitere Inhaltsstoffe der δ-Granula sind ADP, Serotonin und Kalzium.
Neben dem Montreal-Platelet-Syndrom (Okita et al. 1989) gehören zu dieser Gruppe auch Funktionsstörungen, die bei Kindern mit Ehlers-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom, Hexokinase-, Glykogensynthetase- oder Glukose-6-Phosphatase-Mangel beschrieben wurden. Erst kürzlich wurde erkannt, dass die May-HegglinAnomalie, das Sebastian-Syndrom, das Fechtner-Syndrom und das Epstein-Syndrom keine eigenständigen Krankheitsbilder sind, sondern unterschiedliche Phänotypen von Mutationen im MYH9-Gen darstellen (Seri et al. 2003). Die Erkrankungen werden unter dem Oberbegriff der MYH9-abhängigen Erkrankungen zusammengefasst ( Kap. 34). Unterschiedliche Mutationen im MYH9-Gen resultieren in einer Störung der schweren Kette des »non-muscle myosin« IIA (NMMHC-IIA), die zur Bildung der Döhle-Körperchen in den Neutrophilen führt. Auch wenn Döhle-Körperchen mikroskopisch nicht darstellbar sind, kann mittels Antikörpern gegen die schwere Kette der Nachweis in der Immunfluoreszenz erfolgen.
347 33 · Thrombozytenfunktionsstörungen
Dem Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS) kommt eine Zwitterstellung zu, es wurde bereits in der Gruppe der δ-SPD erwähnt, zusätzlich liegt eine Störung des Zytoskelett vor. Neben den Thrombozyten sind auch T-Lymphozyten betroffen. Erstmals beschrieben wurde dieser genetische Defekt 1937 von Werlhof als »familiärer, angeborener Morbus Werlhof«. Das WAS und weitere X-chromosomale Thrombozytopenien sind auf Mutationen des WAS-Protein-Gens zurückzuführen. Dieses kodiert für ein Protein, das ein Bindeglied zwischen dem Zytoskeleton und der Signaltransduktion darstellt. Aufgrund dieser Schlüsselstellung des WAS-Proteins für die Aktinpolymerisation wird das WAS heute den Erkrankungen des Zytoskelett zugeordnet. WAS-Patienten profitieren von einer Splenektomie, die Thrombozytenzahl und größe steigt. Durch die Knochenmarkstransplantation kann der Immundefekt erfolgreich korrigiert werden (Ochs 1998). ! Patienten mit WAS zeigen neben der Thrombozytopenie auffallend kleine Thrombozyten, entsprechend einem verminderten mittleren Thrombozytenvolumen (MPV) mit Linksverschiebung in der Thrombozytenvolumenverteilungskurve.
33.4
Erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen
Eine systematische Gliederung der Thrombozytenfunktionsstörungen nach spezifischen biochemischen oder pathophysiologischen Ursachen ist nicht möglich, da diese zum Teil noch unbekannt sind. Häufig wird die erworbene Funktionsstörung durch eine Kombination von endogenen und exogenen Effekten induziert. Hinzu kommt, dass der Einfluss der verschiedenen Störfaktoren auf die Thrombozyten variabel und somit die Schwere der Blutungsneigung nicht vorhersehbar ist. Die Beschreibung der erworbenen Thrombozytenfunktionsstörungen erfolgt in verschiedenen Krankheitsbildern. Erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen: Medikamente und andere Substanzen Urämie Leberfunktionsstörungen
▼
Myeloische Neoplasien Extrakorporale Zirkulation Thrombozytenantikörper
33.4.1 Urämie Lebensbedrohliche Blutungskomplikationen werden bei niereninsuffizienten Patienten nur noch selten registriert. Zu dieser Verbesserung hat auch die heute übliche Behandlung der renalen Anämie beigetragen, denn die Interaktion der Blutzellen untereinander und die Viskosität des Blutes sind für die Hämostase relevante Parameter. Vor invasiven Eingriffen, insbesondere bei Nierenpunktionen, stellt sich jedoch weiterhin die Frage nach dem Blutungsrisiko. Der mögliche Pathomechanismus der Thrombozytenfunktionsstörung bei Urämie wird kontrovers diskutiert. Es handelt sich um eine komplexe Störung der Interaktion von Thrombozyten und Gefäßwand, die durch eine verminderte Adhäsion, Aggregation, Sekretion, Signaltransduktion und prokoagulatorische Aktivität der Thrombozyten bedingt ist. Nicht alle Störungen sind bei einem Patienten gleichzeitig nachweisbar. Ein einzelner spezifischer Test ist somit nicht geeignet, das Blutungsrisiko beurteilen zu können. Hier hat sich der Globaltest der Blutungszeit in der Praxis etabliert. Die Untersuchung der Thrombozytenaggregation wird nicht empfohlen, da sie die bei Urämie beschriebenen einzelnen Störungen nicht ausreichend erfasst (⊡ Tabelle 33.2) Der Zusammenhang zwischen zunehmender Niereninsuffizienz und Blutungsneigung ist Ausdruck der Akkumulation von dialysierbaren bzw. nicht dialysierbaren Molekülen. Neuere Forschungsergebnisse weisen auf die mögliche Schlüsselstellung des Moleküls GSA (»guanidinosuccinic acid«) hin, das die Thrombozytenfunktion über unterschiedliche Mechanismen beeinflusst (Noris u. Remuzzi 1999). Neben der Dialyse selbst hat die Behandlung der renalen Anämie mit Erythropoetin zur Verminderung der Blutungsneigung beigetragen. Die Transfusion von Thrombozyten kann nur einen passageren Benefit haben, da diese den durch die Urämie induzierten Defekt ebenfalls erwerben. Die intravenöse Gabe von DDAVP ist für kleinere Eingriffe eine gute Therapieoption, die Verkürzung der Blutungszeit konnte in vielen Studien belegt werden.
⊡ Tabelle 33.2. Komplexe Thrombozytopathie in der Urämie
Art der Störung
Veränderungen an den Thrombozyten
Störung der Adhäsion
↓ Rezeptordichte oder Dysfunktion von GpIb und GpIIb–IIIa ↓ Bindung der Liganden Fibrinogen, VWF Zusätzliche plasmatische Komponente: erworbenes VWS (Fehlen hochmolekularer Multimere)
Störung der Sekretion
↓ Freisetzung der α,δ-Granula (eventuell durch frühzeitige Thrombozytenaktivierung an der Dialysemembran), daher auch erhöhte Konzentration anderer Inhaltsstoffe (PF4, β-Thromboglobulin) im Plasma
Störung der Signaltransduktion
↓ Arachidonsäurestoffwechsels (TXA2) intrazellulär vermindertes cAMP, Adenylatzyklase verminderte Kalziummobilisation
33
348
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
Cave Wichtige Nebenwirkungen von DDAVP sind Wasserretention und Blutdruckanstieg.
II
hautblutungen, sollte an das erworbene Von-WillebrandSyndrom infolge Verlust der hochmolekularen Anteile des VWF gedacht werden. Eine Analyse der VWF-Multimere bringt hier Klarheit.
33.4.2 Myeloische Neoplasien Als Ursache einer Blutungsneigung hat der quantitative Defekt der Thrombozyten, die Thrombozytopenie, bei diesen Krankheitsbildern eine wesentlich größere Bedeutung als Thrombozytopathien, erworbene qualitative Defekte. Die gestörte Thrombozytenfunktion wird auf komplexe Störungen des thrombozytären Stoffwechsels zurückgeführt; die Untersuchung der Aggregation mit den üblichen Agonisten sollte diese Störungen erfassen. Im Ausstrich können sich Riesenthrombozyten zeigen, die auffallend gering granuliert sind (verminderter Gehalt an δ-Granula). Tipp für die Praxis Ergibt sich bei myeloischen Neoplasien aus der Analytik kein Hinweis auf die Ursache einer gestörten primären Hämostase, so sollte an ein erworbenes Von-WillebrandSyndrom gedacht werden (Analyse der VWF-Multimere).
33.4.3 Akute und chronische Lebererkrankungen Einige Gerinnungsfaktoren sind sensitive Parameter zur Beurteilung der Leberfunktion. Die Leber hat eine Schlüsselstellung im Gerinnungssystem, da bis auf den VWF sämtliche Gerinnungsfaktoren (prokoagulatorische und inhibitorische) hier gebildet werden. So ist die Blutungsneigung bei akuten oder chronischen Lebererkrankung zumeist durch eine Kombination von Effekten bedingt. Parallel hierzu findet sich häufig eine milde Thrombozytopenie, die zumeist toxisch oder viral durch eine gestörte Megakaryopoese, eine Splenomegalie oder eine Verminderung des Thrombopoetins bedingt sein kann. Da gewaschene Thrombozyten von Patienten mit Lebererkrankungen auch nach Inkubation mit Normalplasma funktionsgestört sind, scheint eine Störung der Signaltransduktion vorzuliegen. Das Blutungsmuster eines Patienten mit Leberzirrhose entspricht nicht dem klassischen Bild einer Störung der primären Hämostase mit Blutungen an den Schleimhäuten und Petechien. Es überwiegt der Einfluss der gestörten Leberfunktion mit Störungen der sekundären Hämostase. Die bedrohlichen Blutungen entstehen durch gastrointestinale Blutungen aus großen Gefäßen (z. B. Varizenblutung). Die blutstillende Therapie hat daher zum Ziel das plasmatische Gerinnungssystem zu optimieren (Gabe von Vitamin K, Frischplasma, PPSB-Konzentrat, ggf. Antifibrinolytika). Tipp für die Praxis Zeigt sich bei Patienten mit Lebererkrankungen und nur milder Thrombozytopenie eine überproportional lange Blutungszeit oder eine auffallende Neigung zu Schleim-
▼
33.4.4 Stickoxidbehandlung Stickoxid (NO) kommt bei der Beatmung von Kindern mit pulmonaler Hypertension zum Einsatz. Aus In-vitro- und Invivo-Versuchen ist eine Vielzahl von Interaktionen von NO mit dem Thrombozytenstoffwechsel bekannt, die sich in einer verminderten Aggregation widerspiegeln. In klinischen Studien konnte dieser hypothetische, negative Effekt nicht nachgewiesen werden. Auch kam es nicht zu der befürchteten Zunahme von Blutungskomplikation, insbesondere intrazerebraler Blutungen bei Frühgeburten (Höhn et al. 2000). 33.4.5 Medikamente Die medikamentös-induzierte Hemmung der Thrombozytenfunktion stellt die häufigste Ursache einer erworbenen Plättchenfunktionsstörung dar. Die für Pädiater interessanten Medikamente sind in der Übersicht zusammengefasst. Medikamentös induzierte Defekte der Thrombozytenfunktion: Zyklooxygenaseinhibitoren Acetylsalicylsäure Nichtsteroidale Antirheumatika/Antiphlogistika (Indomethazin, Ibuprofen, Naproxen) ADP- bzw. GpIIb/IIIa-Rezeptorantagonisten Clopidogrel, Ticlopedin Abciximab Antibiotika, Antimykotika Penicilline, Cephalosporine Nitrofurantoin Hydroxychloroquin Miconazol Chemotherapeutika Daunorubicin, Mitomycin, BCNU Kardiovaskuläre Medikamente Propranolol ACE-Hemmer Nitroprussid, Nitroglyzerin Furosemid Quinidin Weitere Medikamente und Substanzen NO Dextrane Clofibrate Antihistaminika Nahrungsmittel und -ergänzungsmittel (Vitamin E, Fischöl mit Omega-3-Fettsäuren, Zwiebeln, Knoblauch, Ingwer, Ginko-Extrakt u. a.)
349 33 · Thrombozytenfunktionsstörungen
33.4.7 Extrakorporale Zirkulation
⊡ Abb. 33.6. Abfolge der Thrombozytenaktivierung und ihre pharmakologische Beeinflussung
Bei einer erworbenen Neigung zu Hämatomen oder Schleimhautblutungen im Kindesalter darf auch die Erhebung der Ernähungsanamnese nicht fehlen, denn Brausetabletten, die Vitamin C +ASS 500 mg enthalten, sehen Eltern oft nicht als Medikament an. Auch eine Vielzahl von Kombinationspräparaten gegen Fieber oder Grippesymptomen enthalten ASS, so dass man seine Frage nicht allein auf »Aspirin« beschränken darf. An dieser Stelle sei auch auf die Thrombozytopenie als wichtige Medikamentennebenwirkung hingewiesen. Generell ist die häufigste Ursache einer medikamentös induzierten Thrombozytopenie die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT, Kap. 40). Aktivierte Thrombozyten haben bei arteriellen Gefäßverschlüssen eine Schlüsselstellung. Der Einsatz von Acetylsalicylsäure zur Sekundärprevention nach Herzinfarkt ist heute Standard (Physicians Health Study 1989). Der Einsatz von Stents und die Gefäßchirurgie haben jedoch die Entwicklung von potenteren Thrombozytenaggregationshemmern nötig gemacht. Diese wurde gezielt aufgrund des Wissens um die Bedeutung der Glykoproteinrezeptoren und den Thrombozytenstoffwechsel entwickelt und kommen seit den 90erJahren zum Einsatz (⊡ Abb. 33.6). Ticlopedin und Clopidogrel blockieren selektiv den ADP-Rezeptor, dies führt zur Hemmung der Adenylatzyklase (Hollopater at al. 2001). Für erwachsene Patienten konnte eine Verbesserung der Sekundärprophylaxe nach zerebralem Insult durch den Einsatz dieser Substanzen belegt werden (Sharis PJ et al. 1998). Ein besonderer Meilenstein war die Entwicklung des ersten monoklonalen Antikörper gegen den Fibrinogenrezeptor GpIIb/IIIaKomplex (Abciximab) (Coller 1997). 33.4.6 Thrombozytenantikörper Im Erwachsenenalter sind Fälle mit erworbener Rezeptordysfunktion durch spezifische Thrombozytenantikörper beschrieben worden. Zumeist handelte es sich hierbei um ein sekundäres Phänomen bei Patienten mit Tumoren oder myeloproliferativen Erkrankungen. Die Patienten fallen durch eine schwere klinische Blutungsneigung auf, die Thrombozytenzahl ist in der Regel nur leicht vermin dert oder noch normal, es zeigt sich jedoch im Labor eine massive Störung der Thrombozytenaggregation, z. B. wie bei Patienten mit einem angeborenen Morbus Glanzmann (McMillan et al. 1996). In diesen Fällen sollte die Analyse auf spezifische Antikörper gegen die Thrombozytenmembranglykoproteine veranlasst werden.
Bedingt durch die extrem thrombogenen Oberflächen der Systeme für die extrakorporale Zirkulation (Pumpe mit langen Schlauchsystemen, Oxygenator, Heizspirale) kommt es zu einer massiven Aktivierung der Gerinnungsfaktoren, Thrombozyten und dem Komplementsystem. Um die Thrombinbildung zu minimieren, ist die adäquate Antikoagulation mit Standardheparin eine zwingende Notwendigkeit. Bei ca. 50% dieser so behandelten Patienten entwickeln sich Antikörper gegen Heparin-Plättchenfaktor-4-Komplex, durch die es zur Ausbildung einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie mit konsekutiver Thromboseneigung auch im Kindesalter kommen kann. Die Systeme führen trotz aller Optimierung zur Schädigung der Thrombozyten durch ihre mechanische Zerstörung (Rollen der Pumpsysteme) und insbesondere durch die starken Temperaturschwankungen bzw. die Hypothermie (Michelson et al. 1994). Die multiplen Interaktionen zwischen Thrombozyten und Leukozyten führen zur Freisetzung von Zytokinen, die die Thromboyztenfunktion zusätzlich negativ beeinflussen und insbesondere die Entzündungsreaktion verstärken (Ferroni et al. 1998). Die in der postoperativen Phase häufig zu beobachtende starke Blutungsneigung, ist neben quantitativen und qualitativen Störungen der Thrombozyten auch auf eine verstärkte Hyperfibrinolyse zurückzuführen (Woodman et al. 1990). 33.5
Therapie
Patienten mit angeborenen oder erworbenen Thrombozytenfunktionsstörungen benötigen im alltäglichen Leben keine prophylaktische Behandlung, da die Neigung zu spontanen Blutungen in innere Organe, wie man sie von Patienten mit schweren plasmatischen Gerinnungsstörungen kennt, nicht im Vordergrund steht. 33.5.1 DDAVP Als Therapie der ersten Wahl bei angeborenen oder erworbenen Ursachen einer Thrombozytenfunktionsstörung bzw. Störungen der primären Hämostase hat sich die Infusion von DDAVP (0,3–0,4 µg/kg KG in physiologischer Kochsalzlösung über 30 min i.v., Lagerung im Kühlschrank) zumeist in der Kombination mit einem Antifibrinolytikum (z. B. Tranexamsäure i.v./p.o.) bewährt (Mannucci 1997). DDAVP ist ein synthetisches Produkt und daher virussicher, die Nebenwirkungen sind tolerabel (Flush, Kopfschmerzen, Blutdruckanstieg). Der Gefahr der Wasserretention sollte man sich bewusst sein (Flüssigkeitsrestriktion und Bilanzierung, insbesondere bei Kleinkindern; keine hyponatriämische Lösung). Das Ansprechen auf DDAVP sollte vor einem elektiven operativen Eingriff ausgetestet werden, ggf. über die Dokumentation einer Verkürzung der Blutungszeit. Bei kleineren Operationen oder Blutungen an den Schleimhäuten sollten auch die Möglichkeiten der lokalen Blutstillung mit Fibrinkleber oder blutstillende Gaze berücksichtigt werden.
33
350
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
Cave DDAVP zeigt keinen ausreichenden Effekt bei Patienten mit Morbus Glanzmann, somit ist DDAVP für diese Patienten in der Regel keine Therapieoption.
II 33.5.2 Transfusion von Thrombozyten Sofern es der Schweregrad der Blutung erlaubt, sollte die Gabe von Thrombozyten vermieden werden, um die Ausbildung von Alloantikörpern zu vermeiden. Das Risiko der Alloimmunisierung kann auch durch die Gabe von HLAidentischen Thrombozyten verringert werden, die frühzeitige HLA-Typisierung der Patienten ist empfehlenswert (McFarland 1996). 33.5.3 Rekombinanter Faktor VIIa Über den erfolgreichen Einsatz von rFVIIa bei Patienten mit angeborenen oder erworbenen Thrombozytopathien liegen kasuistische Beschreibungen vor, die in einem International Registry zusammengefasst werden (Poon u. d’Orion 2000). Hier werden unterschiedliche Angaben über die notwendige Dosierung gegeben, Dosisfindungsstudien liegen bisher nicht vor. Im allgemeinen erfolgt eine Bolusgabe von 80–90 µg/kg KG mit Wiederholung alle 2 h, bis die Blutung sistiert; aber auch deutlich höhere Dosierungen >200 µg/kg KG wurden benötigt. Diese Therapieoption sollte trotz der enormen Kosten des Präparates der Gabe von Thrombozytenkonzentraten (Gefahr der Immunisierung) vorgezogen werden. Insbesondere für Patienten mit Morbus Glanzmann ist dies derzeit als Therapie der ersten Wahl anzusehen, zumeist in Kombination mit Tranexamsäure i.v. oder p.o. (Poon et al. 1999). 33.5.4 Andere Therapien In verzweifelten Fällen wäre als Ultima ratio u. U. die Knochenmarktransplantation zu erwägen. Die Zukunft wird zeigen, ob für Monogendefekte die Gentherapie eine bessere Therapieoption sein könnte.
Thrombozytenfunktionsstörungen sind seltene angeborene Ursachen für eine Blutungsneigung. Auch im Kindesalter sind erworbene Störungen infolge Medikamenteneinnahme wesentlich häufiger. Die Untersuchung der Thrombozytenfunktion unterliegt strengen präanalytischen Bedingungen. Die Befundung sollte nur von einem erfahrenen Untersucher und in Kenntnis der klinischen Fragestellung erfolgen.
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351 33 · Thrombozytenfunktionsstörungen
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33
Kongenitale Thrombozytopenien II
C. Zeidler, K. Welte
34.1 34.2 34.3
Einleitung – 352 Schweregrade der Thrombozytopenie – 352 Differenzialdiagnose der kongenitalen Thrombozytopenie – 353 34.4 Allgemeine Diagnostik – 353 34.5 Kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie – 354 34.6 Autosomal-dominante Thrombozytopenie – 354 34.7 Wiskott-Aldrich Syndrom und X-chromosomale Thrombozytopenie – 354 34.8 Bernard-Soulier-Syndrom – 355 34.9 X-chromosomale Makrothrombozytopenie – 355 34.10 MYH9-assoziierte Erkrankungen – 355 34.11 Thrombozytopenie mit Radiusaplasie – 355 Literatur – 356
Asphyxie oder Infektionen auf. Die häufigste Ursache einer isolierten Thrombozytopenie beim Neugeborenen ist eine Unverträglichkeit mütterlicher und kindlicher Thrombozytenantigene mit entsprechender Ausbildung von Antikörpern (Alloimmunthrombozytopenie; Kap. 35). Bei der kongenitalen amegakaryozytäre Thrombozytopenie (CAMT) spielen Mutationen des Rezeptors für Thrombopoetin (TPO) eine entscheidende Rolle. TPO ist ein hämatopoetischer Wachstumsfaktor, der die Megakaryozyten und Thrombozytenbildung steuert, aber auch essenziell für die Ausbildung früher hämatopoetischer Vorläuferzellen ist (Ballmaier et al. 2003; Kap. 32). Eine Mutation des TPO-Rezeptors oder das Fehlen dieses Rezeptors führt zu einer verminderten Produktion von Megakaryozyten und zu einem Verlust an frühen hämatopoetischen Vorläuferzellen.
! Das klinische Bild der kongenitalen Thrombozytopenien ist in den meisten Fällen durch Blutungszeichen während der ersten Stunden postnatal gekennzeichnet. Die Gefahr der Hirnblutung ist bei einer vaginalen Entbindung erhöht.
Das Kind wurde nach völlig unauffälliger Schwangerschaft wegen eines vorzeitigen Blasensprungs in der 35. Schwangerschaftswoche geboren. Sein Gesicht sah gestaut aus mit einem blauen Munddreieck. Es entwickelten sich zunehmend Petechien. Die Thrombozytenzahl war mit 14.000/µl deutlich vermindert. Weitere Untersuchungen zeigten, dass der Säugling nicht nur die kleinen Hautblutungen entwickelte, sondern bereits eine Hirnblutung auf der rechten Seite stattgefunden hatte. Unter dem Verdacht auf eine Alloimmunthrombozytopenie wurden Steroide verabreicht. Ein Anstieg der Thrombozytenzahlen wurde jedoch nicht beobachtet, so dass die Behandlung nach 10 Tagen beendet wurde. 4 Monate später stiegen die Thrombozytenwerte ohne weitere Behandlung auf Werte bis zu 90.000/µl an; das Kind entwickelte sich gut ohne weitere Blutungszeichen. Im Alter von 16 Monaten sanken dann die Werte erneut unter 20.000/µl. Es zeigte sich, dass die Megakaryozyten stark vermindert waren. Es fand sich ein stark erhöhter Spiegel von Thrombopoetin im Serum. Eine Genanalyse ergab eine homozygote Mutation im c-mpl-Gen und bestätigte damit den Verdacht auf eine kongenitalen amegakaryozytären Thrombozytopenie. Die Hoffnungen ruhen jetzt auf einer Knochenmarktransplantation.
34.2
Schweregrade der Thrombozytopenie
Eine Thrombozytopenie führt je nach Schweregrad der Verminderung der Thrombozytenzahl zu einer erhöhten Blutungsneigung. Die normale Zahl der Thrombozyten bleibt während des Lebens stabil bei Werten zwischen 150.000 und 450.000/µl. Die folgende Einteilung der Schweregrade der Thrombozytopenie gibt eine altersunabhängige Richtlinie (⊡ Tabelle 34.1). Die Krankheitssymptome eines Patienten hängen vom Schweregrad und der Dauer der Thrombozytopenie ab. Je niedriger die Thrombozytenzahl, desto höher ist das Risiko für eine Blutung. Bei Thrombozytenzahlen unter 20.000/mm3 kommt es häufig spontan zu den typischen kleinen, punktförmigen Blutungen an Haut und Schleimhäuten (Petechien), es können jedoch auch Epistaxis, kleine Hämatome oder Massenblutungen (z. B. im Gastrointestinaltrakt) auftreten.
⊡ Tabelle 34.1. Schweregrade der Thrombozytopenie
34.1
Einleitung
Kongenitale Thrombozytopenien sind sehr seltene Erkrankungen. Eine Thrombozytopenie beim Neugeborenen tritt meistens im Rahmen von perinatalen Komplikationen wie
Schweregrad
Thrombozytenzahl
Milde Thrombozytopenie
50×109/l–100×109/l
Mittelgradige Thrombozytopenie
20×109/l–50×109/l
Schwere Thrombozytopenie
<20×109/l
353 34 · Kongenitale Thrombozytopenien
Cave Jedes Blutungszeichen bei Patienten mit bekannter kongenitaler Thrombozytopenie muss sehr ernst genommen werden und den behandelnden Arzt zu entsprechender Diagnostik und Therapie, gegebenenfalls in Form von Thrombozytensubstitution, veranlassen.
34.4
Allgemeine Diagnostik
Kongenitale Thrombozytopenien sind selten; aufgrund diagnostischer Schwierigkeiten wird die tatsächliche Häufigkeit jedoch wahrscheinlich unterschätzt. Unterschiedliche Gendefekte wurden beschrieben, aber nicht alle Erkrankungen sind bereits charakterisiert. Die meisten kongenitalen Thrombozytopenien werden durch eine Bildungsstörung der Thrombozyten im Knochenmark infolge einer Verminderung der Megakaryozyten verursacht und können mit weiteren Fehlbildungen, insbesondere des Skelettsystems, assoziiert sein. Auch die Größe der Thrombozyten kann einen Hinweis auf die Grunderkrankung geben. Die Differenzialdiagnose der angeborenen Thrombozytopenie und die damit verbundenen anamnestischen wichtigen Fragen sind in ⊡ Abb. 34.1 dargestellt.
Wegen der unterschiedlichen Prognose der angeborenen Thrombozytopenien und Therapiemodalitäten bedarf es eingehender Diagnostik: Neben der Messung der Thrombozytenzahl sollte auch die -morphologie beurteilt werden (z. B. Riesenthrombozyten bei Bernard-Soulier-Syndrom). Die Knochenmarkhistologie gibt Hinweise auf das Vorliegen einer Reifungsstörung der Thrombopoese sowie die Anzahl und Morphologie von Thrombozytenvorläuferzellen, den Megakaryozyten. Die folgenden Untersuchungen werden nur in Speziallabors durchgeführt: ▬ Im so genannten Megakaryozyten-Kolonie-Assay (CFUMega) werden mononukleäre Zellen aus Knochenmark in einem semisoliden Nährmedium kultiviert, um die Anzahl der Progenitorzellen sowie ihre Ansprechen auf exogen zugesetzte hämatopoetische Wachstumsfaktoren zu beurteilen. ▬ Anhand der Messung der TPO-Konzentration im Plasma kann zwischen Thrombozytopenien, die auf einer ineffektiven Megakaryopoese beruhen und solchen, die durch einen erhöhten Thrombozytenverbrauch entstehen, unterschieden werden. Bei einer ineffektiven Megakaryopoese finden sich hohe TPO-Plasmaspiegel, während bei einem erhöhten Verbrauch von Thrombozyten
⊡ Abb. 34.1. Differenzialdiagnose der angeborenen Thrombozytopenie (modifiziert nach Balduini et al 2003). CAMT kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie, CTRUS amegakaryozytäre Thrombozytopenie mit radioulnarer Synostose, DA+T dyserythropoetische Anämie und Thrombozytopenie, FPD/AML »familial platelet disorder«
mit Prädisposition zu akuter myeloischer Leukämie, JBS JakobsenSyndrom, TAR Thrombozytopenie mit Radiusaplasie, TCPT Thrombozytopenie Paris-Trousseau, VCFS velokardiofaziales Syndrom, WAS Wiskott-Aldrich Syndrom, XLT X-chromosomale Thrombozytopenie
34.3
Differenzialdiagnose der kongenitalen Thrombozytopenie
34
354
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
der TPO-Spiegel in der Regel unauffällig ist (Emmons et al. 1996). ▬ Megakaryozyten und Thrombozyten expremieren an ihrer Oberfläche das Glykoprotein Ib (CD42b). Im Plasma gelöstes Glykoprotein wird als Glykocalicin bezeichnet. Serumspiegel von Glykocalicin sind bei Patienten mit ineffektiver Thrombozytenproduktion vermindert, bei einem gesteigerten Thrombozytenverbrauch jedoch erhöht (Van den Ouderijn et al. 2002). ▬ Bei Verdacht auf eine kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie kann die Expression und Funktionalität des TPO-Rezeptors c-mpl auf Thrombozyten gemessen werden (Ballmaier et al. 2003). Bei Verdacht auf eine angeborene Erkrankung, für die der zugrundeliegende genetische Defekt bereits identifiziert wurde, wie beispielsweise der kongenitalen amegakaryozytären Thrombozytopenie oder dem Wiskott-Aldrich-Syndrom ( Kap. 34.7) kann eine Genanalyse sinnvoll sein. 34.5
Kongenitale amegakaryozytäre Thrombozytopenie
34.6
Autosomal-dominante Thrombozytopenie
Pathogenese. Die autosomal-dominante Thrombozytopenie ist eine vererbte Erkrankung, die 2000 von Drachman beschrieben wurde. Die genaue Pathogenese ist unklar. Die Megakaryozyten im Knochenmark sind klein und unreif. Im Kolonie-Assay zeigt sich eine gesteigerte Anzahl von megakaryozytären Vorläuferzellen. Es findet sich ein leicht erhöhter Spiegel von TPO. Der entsprechende Gendefekt konnte auf Chromosom 10 identifiziert werden. Klinik. Die Patienten zeigen eine milde Thrombozytopenie.
Der Übergang in eine Panzytopenie oder in ein myelodysplastisches Syndrom sowie assoziierte Fehlbildungen sind bisher nicht beschrieben. Die Morphologie der Thrombozyten ist unauffällig. Therapie. Eine symptomatische Therapie wird bei Blutungszeichen durchgeführt.
34.7
Wiskott-Aldrich Syndrom und X-chromosomale Thrombozytopenie
Pathogenese. O’Gorman Hughes beschrieb 1974 eine auto-
somal-rezessive Erkrankung, die als Typ III der konstitutionellen aplastischen Anämie klassifiziert wurde und für die sich später der Begriff der kongenitalen amegakaryozytären Thrombozytopenie (CAMT) etablierte. Ursachen sind in der Mehrzahl der Fälle Mutationen im Gen für den Thrombopoetinrezeptor (c-mpl; Ihara et al. 1999; Ballmaier et al. 2001). Klinik. Bei den meisten Kindern mit CAMT entwickeln sich direkt innerhalb der ersten Stunden nach Geburt Blutungszeichen. Während assoziierte Fehlbildungen in Form von Herzfehlern möglich sind, treten keine Fehlbildungen im Skelettsystem auf. Die Morphologie von Thrombozyten und Erythrozyten im Blutausstrich ist unauffällig. Im Knochenmark zeigt sich initial ein normaler Zellgehalt mit einer stark verminderten Anzahl von Megakaryozyten. Im Verlauf der Erkrankung entwickelt sich ein zunehmend hypozelluläres Knochenmark mit einer relativ gesteigerten Lymphopoese. Bei vollständigem Verlust der Rezeptorfunktion entwickeln die Patienten innerhalb der ersten Lebensjahre einen schnellen Übergang der isolierten Thrombozytopenie in eine Panzytopenie. Bei einer Restaktivität des Rezeptors ist ein abgemilderter Verlauf der Krankheit möglich (Ballmaier et al.2001).Vereinzelt wurde der Übergang in ein myelodysplastisches Syndrom oder eine AML beschrieben.
Pathogenese. Das Wiskott-Aldrich Syndrom (WAS) wird wie die X-chromosomale Thrombozytopenie (»X-linked thrombocytopenia«, XLT) durch Mutationen im Gen des so genannten WAS-Proteins (WASP) auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms vererbt. Mittlerweile wurden mehr als 100 unterschiedliche Mutationen beschrieben, die ein Spektrum von Erkrankungen von XLT bis zum WAS mit kombiniertem Immundefekt hervorrufen können. Die geschätzte Häufigkeit für WAS wird mit 1:250.000 Einwohner in Europa angegeben, XLT ist noch seltener, die genaue Häufigkeit ist jedoch nicht bekannt. Klinik. Beide Erkrankungen sind durch eine Thrombozytopenie mit kleinen Thrombozyten und vermehrter Blutungsneigung charakterisiert. Beim WAS findet sich zusätzlich von Geburt an ein kombinierter Immundefekt (T- und B-Zelldefizienz), der während der Kindheit meist progredient verläuft. Zu den klinischen Manifestationen der Immundysfunktion zählen neben der vermehrten Infektanfälligkeit Ekzeme, Autoimmunphänomene, Vaskulitis, Polyarthritis, entzündliche Darmerkrankung und eine erhöhte Inzidenz lymphoproliferativer Erkrankungen. Patienten mit XLT weisen allenfalls eine leichte Immunschwäche auf ( Kap. 24 und 33). Therapie. Die Thrombozytopenie kann sowohl beim WAS als
Therapie. Eine symptomatische Therapie ist durch Transfu-
sionen mit Thrombozytenkonzentraten möglich. Der einzige kurative Therapieansatz liegt in der Knochenmarktransplantation (KMT), die wegen der Gefahr der Sensibilisierung durch Substitution von Blutbestandteilen frühzeitig empfohlen wird.
auch bei der XLT durch eine Splenektomie partiell korrigiert werden. Die Lebenserwartung der WAS-Patienten richtet sich jedoch im Wesentlichen nach der Schwere des Immundefektes. Für WAS-Patienten mit schwerem kombiniertem Immundefekt stellt daher die Knochenmarktransplantation die Therapie der Wahl dar.
355 34 · Kongenitale Thrombozytopenien
34.8
Bernard-Soulier-Syndrom
Pathogenese. Bernard und Soulier beschrieben dieses Syn-
drom erstmals im Jahre 1948 als Kombination von verlängerter Blutungszeit, Thrombozytopenie und Riesenthrombozyten ( Kap. 33). Meist wird es autosomal-rezessiv vererbt, aber auch eine autosomal-dominante Vererbung wurde in Einzelfällen beschrieben. Durch Mutationen kommt es zu einem quantitativen und/oder qualitativen Defekt im Glykoproteinkomplex GPIb/IX/V auf der Thrombozytenmembran, der zu einer verminderten Thrombozytenbindung an das Gefäßendothel führt. Klinik. Die Thrombozytopenie ist sehr variabel bei homozygoten Merkmalsträgern. Im Blutausstrich finden sich jedoch immer Riesenthrombozyten (Durchmesser >5–10 µm). Die Blutungszeit ist meist stärker verlängert, als die Thrombozytenzahlen erwarten lassen. Typisch ist die fehlende Thrombozytenaggregation bei Zugabe von Ristocetin in vitro, die beim Bernard-Soulier-Syndrom (BSS) im Gegensatz zum Von-Willebrand-Syndrom nicht durch die Zugabe normalen Plasmas oder Von-Willebrand-Faktors korrigiert werden kann. Heterozygote Genträger können ebenfalls milde Symptome ausbilden (Savoia et al. 2001). Therapie. In Einzelfallberichten wurde die Wirksamkeit von
rekombinantem aktivierten Faktor VII (rFVIIa) bei Patienten mit BSS gezeigt. Bei Blutungen sollte daher ein Therapieversuch mit rFVIIa vor Thrombozytentransfusionen stehen. Wiederholte Transfusionen können neben einer Alloimmunisierung auch zu GPIb-Antikörpern führen. Eine antifibrinolytische Therapie sowie die Gabe von 1-Deamino-8-ArgininVasopressin (DDAVP) zeigte bei einzelnen Patienten ebenfalls Wirksamkeit. Bei wiederholten schweren Blutungen kann in Einzelfällen eine Knochenmarktransplantation indiziert sein (Balduini et al. 2002). 34.9
X-chromosomale Makrothrombozytopenie
Pathogenese. Es handelt sich um eine X-chromosomal vererbte Erkrankung mit Mutationen im GATA-1-Gen. Der Transkriptionsfaktor GATA-1 spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Erythrozyten und Megakaryozyten. Die genaue Pathogenese ist unklar. Im Knochenmark ist die Anzahl der Megakaryozyten gesteigert und es findet sich eine milde Dyserythropoese. Die Plasmakonzentration von TPO ist erhöht (Nichols et al. 2000; Mehaffey et al. 2001). Klinik. Die Kinder haben eine schwere Thrombozytopenie und neigen zu häufigen Blutungen. Im Blutausstrich zeigen sich Riesenthrombozyten. Der Übergang in eine Panzytopenie oder in ein myelodysplastisches Syndrom sowie assoziierte Fehlbildungen sind bisher nicht beschrieben. Therapie. Bei Blutungszeichen erfolgt eine symptomatische
Therapie.
34.10
MYH9-assoziierte Erkrankungen
Pathogenese. Den autosomal-dominanten Makrothrombozytenerkrankungen May-Hegglin-Anomalie, SebastianSyndrom, Fechtner-Syndrom und Epstein-Syndrom liegen Mutationen in einer überlappenden Region von 480 kb auf Chromosom 22 (22q12.3–13.2) zugrunde. Diese Region kodiert für die schwere Kette IIA des nicht-muskulären Myosins (»non-muscle myosin heavy chain« IIA, NMMHC-IIA) und wurde als MYH9-Gen beschrieben. Untersuchungen des molekularen Defektes bei Familien mit den oben genannten Erkrankungen zeigten, dass diese Erkrankungen keine Einzelentitäten sind, sondern vielmehr eine gemeinsame Erkrankung mit einem ineinander übergehenden klinischen Spektrum, das von einer milden Thrombozytopenie bis hin zur einer Erkrankung mit Hörverlust, Katarakt und Niereninsuffizienz reicht (Seri et al. 2003). Aggregate von Myosin imponieren im Zytoplasma von Leukozyten als DöhleKörper-ähnliche Einschlüsse (May-Hegglin-Anomalie, Sebastian- und Fechtner-Syndrom), können aber auch nur elektronenmikroskopisch (Epstein-Syndrom) nachweisbar sein. Klinik. Das klinische Bild der Erkrankungen ist der Trias
Riesenthrombozyten, Thrombozytopenie und charakteristischen Leukozyteneinschlüssen gekennzeichnet. Beim Fechtner-Syndrom, einer Variante des Alport-Syndroms, bestimmen neben den oben genannten Symptomen die AlportSyndrom-Charakteristika Nephritis, sensorineurale Taubheit und Katarakt das klinische Bild. Das Epstein-Syndrom unterscheidet sich vom Fechtner-Syndrom durch das Fehlen von Katarakt und lichtmikroskopisch erkennbaren Leukozyteneinschlüssen. Die May-Hegglin-Anomalie und das Sebastian-Syndrom können durch eine Analyse der Ultrastruktur der Leukozyteneinschlusskörper unterschieden werden ( Kap. 33). Therapie. Die Therapie richtet sich im Wesentlichen nach den zusätzlichen Symptomen der einzelnen Erkrankungen. Empfehlungen zur Therapie der Thrombozytopenie finden sich im Abschn. 34.11.
34.11
Thrombozytopenie mit Radiusaplasie
Pathogenese. Die Thrombozytopenie mit Radiusaplasie
(»thrombocytopenia with absent radii, TAR) ist eine autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die 1969 von Judith Hall als Syndrom zusammengefasst und beschrieben wurde. Die genaue Pathogenese der Erkrankung konnte bisher nicht geklärt werden. Das Wachstum myeloischer und erythropoetischer Vorläuferzellen ist im Kolonie-Assay unauffällig. Bei der Entwicklung der Megakaryozyten kommt es in einem frühen Stadium zu einer Ausreifungsstörung (Letestu et al. 2000). Im Serum der Patienten zeigen sich erhöhte Spiegel von TPO. Obwohl die Thrombozyten eine normale Expression des TPO-Rezeptors c-Mpl zeigen, konnte ein Defekt in der intrazellulären Signalübermittlung des TPO-Rezeptors gezeigt werden (Ballmaier et al. 1997).
34
356
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
Klinik. Die pathognomonische Besonderheit des TAR-Syn-
II
droms ist eine bilaterale Aplasie der Radien. Im Gegensatz zur Fanconi-Anämie sind die Daumen immer ausgebildet. Die meisten Patienten zeigen zusätzliche Fehlbildungen im Skelettsystem, die zu 60% die obere Extremität betreffen. Fehlbildungen am Herzen sind möglich. Oft wird eine Unverträglichkeit von Kuhmilch beschrieben. Postnatal entwickeln die meisten Kinder Blutungszeichen. Das Knochenmark ist initial normozellulär mit einer verringerten Anzahl von Megakaryozyten. Die meisten Kinder entwickeln neben der schweren Thrombozytopenie eine Leukozytose im Blutbild. Innerhalb des ersten Lebensjahres kommt es zu einem spontanen Anstieg der Thrombozyten auf Werte über 100.000/µl. Die Entwicklung einer Panzytopenie ist nicht bekannt (Hedberg u. Lipton 1988). Der Übergang in eine Leukämie wurde in einem Fall beschrieben (Camitta et al. 1993). Eine pränatale Diagnose ist durch Nachweis der Skelettanomalien in der Sonographie möglich. Therapie. Die beschriebenen Todesfälle beim TAR-Syndrom resultieren aus Blutungen während des ersten Lebensjahres. Durch die Möglichkeiten der Transfusion von Thrombo zytenkonzentraten konnte dieses Risiko stark herabgesetzt werden. Wird pränatal die Diagnose eines TAR-Syndroms gestellt, sollte zur Vermeidung von Blutungskomplikationen keine vaginale Entbindung stattfinden. Im Vordergrund der Therapie steht eine Korrektur der Fehlbildungen. Operative Korrekturen sollten zur Vermeidung von Blutungskomplikationen erst nach Anstieg der Thrombozytenzahlen erfolgen.
Ein Teil der seltenen kongenitalen Thrombozytopenien ist durch eine erhöhte Blutungsneigung gekennzeichnet. Charakteristisch sind Petechien an Haut und Schleimhaut. Durch die Möglichkeiten der Transfusion von Thrombozytenkonzentraten konnte für Kinder mit schwerer Thrombozytopenie das Risiko, eine ernste Blutungskomplikation zu erleiden, stark reduziert werden. Trotzdem sollte bei Kindern mit kongenitaler Thrombozytopenie zurückhaltend transfundiert werden, um eine Sensibilisierung des Patienten gegen Thrombozytenantigene zu vermeiden. Im Allgemeinen ist eine Transfusion nur bei Blutungszeichnen notwendig, die in der Regel bei weniger als 20.000 Thrombozyten/µl auftreten.
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357
Idiopathische thrombozytopenische Purpura P. Imbach, T. Kühne, G. Gaedicke
35.1 35.2 35.3 34.4
Einleitung – 357 Geschichtlicher Hintergrund – 357 Häufigkeit und Vorkommen – 358 Pathogenese – 358
35.4.1 35.4.2
Gestörte Immunregulation – 358 Antikörpernachweis – 359
35.5 35.6 35.7
Klinisches Erscheinungsbild, Diagnose und Differenzialdiagnose – 360 Verlauf – 361 Therapie – 362
35.7.1 35.7.2 35.7.3 35.7.4
Indikation zur Behandlung – 362 Art der therapeutischen Intervention – 363 Die einzelnen Medikamente – 363 Experimentelle Therapieansätze – 365
Literatur
– 365
35.2
Die Ursache der idiopathischen thrombozytopenischen Purpura (ITP) ist noch weitgehend unbekannt. Die Pathophysiologie ist (auto-)immunologisch. Erkenntnisse der veränderten Kaskade der Immunantwort führten zu modernen biologischen Therapieansätzen. Prospektive kooperative Studien zeigen neue Aspekte der Demographie, des Verlaufs und der Betreuung bzw. Behandlung von Kindern mit ITP auf.
35.1
Von der primären idiopathischen Form muss die sekundäre Form der ITP unterschieden werden. Letztere ist assoziiert mit Infektionen (z. B. HIV, Helicobacter pylori, HCV), mit Kollagenosen und anderen systemischen Autoimmunkrankheiten, z. B. dem Lupus erythematodes. Sie kann auch als Erstmanifestation des myelodysplastischen Syndroms (MDS) oder nach einer hämatopoetischen Stammzelltransplantation beobachtet werden. Ferner ist bei isolierter Thrombozytopenie beim Neugeborenen an die alloimmune Form als neonatale Purpura zu denken. Auch die Posttransfusionspurpura, ein schweres, oft foudroyant verlaufendes Krankheitsbild, ist durch Alloimmunisierung bedingt, allerdings bei Kindern extrem selten. Häufiger als bei Kindern findet man bei Erwachsenen die medikamentös induzierte Form, z. B. die Heparin-induzierte Thrombozytopenie.
Einleitung
Die idiopathische thrombozytopenische Purpura ITP – auch Immun- oder Autoimmunthrombozytopenie (A)ITP genannt – ist die häufigste erworbene hämorrhagische Diathese des Kindesalters. Sie ist charakterisiert durch den vorzeitigen immunologischen Abbau der Thrombozyten. Pathophysiologisch werden die zirkulierenden Thrombozyten durch Antikörper beladen und vorzeitig durch das monozytäre/phagozytäre System aus der Zirkulation entfernt. Die ITP tritt beim Kind meistens als akute, vorübergehende Form während oder nach einer Infektion oder selten auch nach Impfungen auf. Bei einem Anteil von 20–30% dauert die ITP länger als 6 Monate und wird dann definitionsgemäß als chronische ITP bezeichnet, vergleichbar mit der überwiegenden Form der ITP bei Erwachsenen. In 2–4 % ist sie rezidivierend, d. h. zwischen Intervallen von mehr als 3 Monaten mit normalen Thrombozytenzahlen (>150×109/l) treten wieder thrombozytopenische Phasen von unterschiedlicher Dauer auf. Die familiäre Form der ITP ist selten und die Heredität ist unklar – auch bei monozygoten Zwillingen ist sie beschrieben (Karpatkin et al. 1981; Laster et al. 1982).
Geschichtlicher Hintergrund
Die Erstbeschreibung geht zurück auf Paul Gottlieb Werlhof 1735. Bis zum späten 19. Jahrhundert wurden Blutungsneigungen der Haut und Schleimhäute unter dem Begriff Purpura (ohne Fieber) beschrieben – ohne Wissen über die verschiedenen Blutkomponenten. 1873 beschrieb Dohrn eine Mutter und ihr Neugeborenes, die gleichzeitig Purpura-Symptome hatten. Krauss und Denys sprachen von tiefen Blutplättchen während der Zeit von Blutungen, und mit der Einführung der Thrombozytenzählmethode bestätigte Hayem 1895 den Zusammenhang zwischen Blutungszeichen und Thrombozyten. 1916 wurde von Kaznelson in Prag die erste Splenektomie bei chronischer ITP in damaliger Analogie zur hämolytischen Anämie beschrieben – ohne pathophysiologisches Wissen des exzessiven Abbaus der Thrombozyten in der Milz. Der dramatische, mehrheitlich andauernde Thrombozytenanstieg führte zur raschen Verbreitung der Splenektomie als Therapieform der ITP. 1951 zeigte Harrington (Harrington et al. 1951) einen verursachenden Faktor im Blut auf, indem er Freiwilligen mit normaler Thrombozytenzahl Plasma von Patienten mit ITP injizierte, was prompt zur transienten Thrombozytopenie der Probanden führte (⊡ Abb. 35.1a). Der verursachende Faktor erwies sich als Immunglobulin, später als Autoantikörper, der vorwiegend gegen Epitope des ThrombozytenGlykoproteins IIb/IIIa gerichtet ist (Van Leeuwen et al. 1982). Seit 1981 ist bekannt, dass Antikörper nicht nur die ITP pathophysiologisch mitbedingen, sondern dass Antikörperkonzentrat von gesunden Blutspendern therapeutisch eingesetzt werden kann (⊡ Abb. 35.1b; Imbach et al. 1981). Die ITP wurde zum Modell der Pathophysiologie und Behandlung von Autoimmunkrankheiten. Weitere Details und Referenzen zum geschichtlichen Hintergrund Imbach et al. 2002.
35
358
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
II
a ⊡ Abb. 35.1a, b. a Thrombozytenwerte bei gesunden Freiwilligen nach Plasmainfusion von Patienten mit ITP. b Thrombozytenwerte
35.3
Häufigkeit und Vorkommen
! Die ITP ist die häufigste Form der Blutungsneigung beim Kind; ihre Inzidenz wird mit 4–5 auf 100.000 Kinder angegeben. Sie wird häufiger bei Kindern weißer Hautfarbe beobachtet und scheint bezüglich Schweregrad und Dauer auf verschiedenen Erdteilen und bei verschiedenen Kulturen zu variieren.
In einer prospektiven Registerstudie wurden bei Erstdiagnose 55% Knaben gegenüber 45% Mädchen gezählt (Kühne et al. 2001), die vorwiegend die akute Form der ITP aufwiesen, die innerhalb von Wochen und weniger Monaten spontan verschwand. Das Durchschnittsalter bei Diagnose betrug 5,7 Jahre (0,5–15 Jahre), bei einer mittleren Thrombozytenzahl von 15,4 (SD 19,7)×109/l (Kühne et al. 2001). Nach 6–12 Monaten Dauer ist noch ein Anteil von 30% der Kinder thrombozytopenisch, das mittlere Alter ist höher (6,9 Jahre), die Geschlechtsverteilung zwischen Mädchen und Knaben ist ausgeglichen, und rückblickend hatten diese Kinder initial eine höhere mittlere Thrombozytenzahl (18,4; SD 21,4×109/l; Kühne et al. 2001). 34.4
Pathogenese
Der Schweregrad der Blutungen ist abhängig vom Verhältnis der Produktion der Plättchen im Knochenmark, dem Ausmaß des beschleunigten Thrombozytenabbaus, der hauptsächlich in der Milz, der Leber, im Knochenmark und in anderen Organen erfolgt, sowie von der Thrombozytenfunktion. Im weiteren kann eine zusätzliche Störung der plasmatischen Gerinnung die Blutungsneigung verstärken. Thrombozytopenische Blutungen treten in der Regel erst bei Thrombozytenzahlen <10–30×109/l auf. Die akute Form der ITP wird pathophysiologisch als para- oder postinfektiöses, immunologisches Geschehen gedeutet. Sowohl die humorale wie auch die zelluläre Immunantwort erscheint gestört. Zirkulierende Antikörper oder Immunkomplexe adsorbieren an Thromobzyten und/ oder verändern die Thrombozytenmembran, worauf die
b bei 42 Kindern mit ITP während und nach Behandlung mit IVIG (mit freundlicher Genehmigung durch Clin Exp Immunol (1994) 97:25–30)
vorzeitige Opsonophagozytose der an und für sich funktionstüchtigen Thrombozyten erfolgt (⊡ Abb. 35.2). Antikörperüberladene Plättchen werden durch die Fcγ-Rezeptoren, speziell das Fcγ-IIB (Samuelson et al. 2001) der Zellen des monozytären/phagozytären Systems gebunden und phagozytiert. Eine kompensatorische Erhöhung der Thrombozytenproduktion durch die Megakaryozyten ist oft feststellbar. Es werden aber auch Kinder mit ITP beobachtet, deren Megakaryopoese vermindert ist. Der Thrombopoetinspiegel ist bei ITP in der Regel nicht erhöht (Emmons et al. 1996). Bei der chronischen Form der ITP sind Autoantikörper gegen Plättchenbestandteile, vorwiegend gegen Glykoproteine, nachweisbar ( unten) – ähnlich wie bei Erwachsenen mit ITP. Mit Hilfe von 51Cr- oder 111Indiumoxid-markierten homologen Thrombozyteninfusionen kann der erhöhte Plättchenumsatz bzw. das verkürzte Plättchenüberleben dokumentiert werden (Heyns et al. 1982). 35.4.1 Gestörte Immunregulation Die äußerst komplexe Immunantwort wird generell durch Zell-Zell-Interaktion und Zytokine reguliert und mündet in erhöhten Anteilen von zytotoxischen T-Effektorzellen und Produktion und Freisetzung von spezifischen Antikörpern durch B-Lymphozyten. Die Steuerung des Prozesses wird u. a. durch die Interaktion zwischen antigenpräsentierenden Zellen und T-Helferzellen induziert. Dauer und Stärke der Immunantwort werden durch T-Suppressorzellen und antiidiotypische Antikörper bestimmt (⊡ Abb. 35.3). Bei der ITP scheint die Immunantwort durch die andauernde Präsenz von Entzündungspartikeln und/oder (Auto-)Antikörpern durch verminderte Selbsttoleranz gestört zu sein. Defizite bzw. Überreaktionen der humoralen und/oder zellulären Immunantwort werden auf verschiedenen Stufen festgestellt (Semple u. Freedman 1995; Imbach et al. 1997). Erhöhte Werte von Lymphozyten (CD3+CD57+T-Zellen, CD3-CD57+-NK-Zellen, CD19+- oder CD20+CD5+-BLymphozyten) sowie erniedrigte T-Suppressorzellen werden beobachtet. Auf humoraler Seite sind IL-2, IL-10, α-Interferon
359 35 · Idiopathische thrombozytopenische Purpura
⊡ Abb. 35.2. Thrombozytenphagozytose durch Makrophagen
⊡ Abb. 35.3. Modell der Immunpathogenese bei akuter und chronischer ITP; *nur bei chronischer ITP, – – – hypothetischer Feedback-
mechanismus (mit freundlicher Genehmigung durch Curr Opin Pediatr (1997) 9:35–40)
sowie antigenspezifische Autoantikörper erhöht, wobei nur bei der chronischen Form der ITP die Serum-Konzentrationen von IL-2, α-Interferon und/oder IL-10 erhöht sind (Semple et al. 1996). Damit ist eine unterschiedliche Pathophysiologie zwischen der akuten Form der ITP (kreuzreagierende Antikörper gegen ein Infektionsagens) und der chronischen Form (perpetuiert durch konstante deregulierte Immunstimulation) angedeutet.
antikörperspezifische Immobilisation von Plättchenantigen; MAIPA-Test; Kiefel et al. 1987) oder durch den ImmunobeadTest (McMillan et al. 1987). Der autoimmune Charakter wurde 1982 durch die Beobachtung bewiesen, dass sich Thrombozyteneluat (Antikörper) von Patienten mit chronischer ITP an normale Thrombozyten bindet, während Thrombozyten von Patienten mit Glanzmann-Naegeli-Thrombasthenie (Mangel oder Fehlen von Glykoprotein IIb/IIIa) keine vergleichbare Bindung aufwiesen (Van Leeuwen et al. 1982). Die Autoantikörper bei ITP richten sich also vorwiegend gegen die Epitope des Glykoproteins IIb/IIIa, weniger häufig gegen Ib/IX, Ia/IIa, IV und V (Kiefel et al. 1987; McMillan et al. 1987), wobei meist mehrere Antikörper gegen verschiedene Epitope des jeweiligen Glykoproteinkomplexes beim Patienten nachweisbar sind.
35.4.2 Antikörpernachweis Die Bestimmung der Autoantikörper bei chronischer ITP erfolgt vorwiegend durch den Nachweis der direkten Bindung von Autoantikörpern an die Thrombozyten (monoklonale
35
360
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
! Der direkte Autoantikörpernachweis hat eine Sensitivität von 49–66%, eine Spezifität von 78–92% und einen prädiktiven Wert von 80–83% (Brighton et al. 1996; Warner et al. 1999). Ein negativer Test schließt also die Diagnose ITP nicht aus (Kiefel et al. 1987; Raife et al. 1996) und lässt keine Korrelation zum Schweregrad der ITP zu. Der Nachweis von zirkulierenden, nicht gebundenen Antikörpern ist noch deutlich weniger aussagekräftig.
35.5
Klinisches Erscheinungsbild, Diagnose und Differenzialdiagnose
Die Blutungszeichen treten bei der Mehrzahl der Kinder mit ITP plötzlich auf. Anamnestisch wird oft – aber nicht immer – eine bakterielle, virale oder unspezifische Infektion der oberen Luftwege oder des Gastrointestinums innerhalb der letzten 1–3 Wochen angegeben. Die Ausprägung der Blutungszeichen (⊡ Abb. 35.4) variiert von Kind zu Kind und ist abhängig von der Thrombozytenzahl und -funktion. Bei Plättchenwerten unterhalb von 10–30×109/l treten Petechien in der Haut und/oder den Schleimhäuten im Mund- (Gingivablutungen) und Nasen-Rachen-Raum (Nasenbluten) auf. Seltener sind andere Blutungen nach außen oder innen (Hämaturie, Melaena). Es können bei adoleszenten Mädchen verlängerte Menorrhagien beobachtet werden. Schwere (mit Hämoglobin-/Hämatokritabfall) und lebensbedrohliche Blutungen sind sehr selten und treten zum Teil im Zusammenhang mit Trauma, fieberhaften Infektionen (hämorrhagischen Varizellen) oder im Zusammenhang mit anderen Gerinnungsstörungen (angeborene oder erworbene) auf. Intrakranielle Hämorrhagien (ICH) werden in der Literatur in einem Anteil von 0,3–1,0% mit einer Letalität bis zu einem Drittel angegeben. Bezüglich Blutungssymptomen gibt es zur Zeit nur retrospektive Beobachtungen und noch keine evidenzbasierten Angaben. Blutungen treten v. a. im Beginn, aber auch im Verlauf der ITP auf. Eine Stadieneinteilung
⊡ Abb. 35.4. Typische Hautpurpura bei einem Kind mit akuter idiopathischer Thrombozytopenie
(Staging) ist bisher nicht in Gebrauch. Wir empfehlen eine Klassifizierung nach individuellen Blutungszeichen (⊡ Tabelle 35.1). Die Checkliste ( Übersicht) fasst die wichtigen Punkte der Anamnese, Körperuntersuchung und Laboranalysen zusammen. Auf eine Knochenmarkanalyse bei der ITP kann verzichtet werden, wenn keine anderen anamnestischen Angaben, keine zusätzlichen klinischen Befunde und keine weiteren Auffälligkeiten des Differenzialblutbildes vorliegen (Halperin u. Doyle 1988).
⊡ Tabelle 35.1. Stadieneinteilung und Behandlung der ITP (von Imbach 2003)
Stadium
Blutungsneigung
Thrombozytenwert ×109/l
Behandlung
I
Keine
>30–150
Ambulante Beratung und Beobachtung, Kontrolle des Blutbildes
II
Schwach Hautpetechien, gelegentlich Epistaxis
>10–30*
Ambulante Beratung/Beobachtung (Sport, besondere Aktivitäten einschränken, Behandlung bei chirurgischen Eingriffen)
III
Wiederholte Haut- und Schleimhautblutungen (z. B. Epistaxis, Hämaturie, Hypermenorrhagie), ohne Hb-Abfall
>10–30*
Individuelles Vorgehen: Abwarten oder medikamentös behandeln ( Text)
IV
Schwer Manifeste Blutung und Hb-Abfall
<10*
Medikamentös
* Mittelwert von mehreren Thrombozytenzahlbestimmungen; Einzelwerte auch <10×109/l.
361 35 · Idiopathische thrombozytopenische Purpura
Checkliste zu Anamnese, Körperstatus und Blutanalysen bei Verdacht auf ITP: Anamnese zur ITP Blutungen: Art, Schweregrad, Dauer, frühere Episoden Infektionen: innerhalb der letzten 6 Wochen, insbesondere Röteln, Masern, Varizellen, Mumps; infektiöse Mononukleose, HIV, Impfungen; wiederholte Infektionen (Immundefizienz) Symptome von Autoimmunkrankheiten Medikamente: insbesondere Heparin, Sulfonamide, Aspirin/Salicylsäure HIV-Risiko inkl. Kindsmutter Familiäre Belastung mit Thrombozytopenie oder hämatologische Erkrankungen Assoziierte Erkrankungen mit Blutung Lebensstil (Risiko für Blutungstraumen z. B. Pferdereiten) Körperstatus bei ITP Art und Lokalisation der Blutungssymptome: (inkl. Retinablutung) und Schweregrad Leber-, Milz-, Lymphknotengröße (Milzkuppe oft palpabel) Symptome von Infektion Dysmorphiezeichen: Hinweis für konnatale Störung, Skelettanomalien, Hörfunktion u. a. Hinweise auf kongenitale Syndrome: FanconiAnämie, Thrombozytopenie mit Radiusaplasie (TAR-Syndrom), Wiskott-Aldrich-Syndrom u. a. Blutanalysen bei ITP Thrombozyten: mittleres Plättchenvolumen (MPV) bei ITP höher als normal, Riesenthrombozyten (Differenzialdiagnose: Bernard-Soulier-Syndrom) Erythrozyten/Retikulozyten: innerhalb der Norm Leukozyten: morphologisch unauffällig
Falls Auffälligkeiten der Checkliste und eine eventuelle Erniedrigung des Hämogloblins/Hämatokrits nicht mit dem Schweregrad der Blutungen korreliert werden können, oder das Kind innerhalb von 7 Tagen keinen Thrombozytenanstieg zeigt, ist die Knochenmarkanalyse zu erwägen. Differenzialdiagnostisch kann das mittlere Plättchenvolumens (MPV) helfen, das bei normaler oder gestörter Thrombozytenproduktion (ITP, disseminierte intravasale Gerinnung, thrombotisch-thrombozytopenische Purpura, hämolytisch-urämisches Syndrom, Hypersplenismus) erhöht, beim Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS) charakteristisch erniedrigt und bei Knochenmarkshypoproliferation (aplastische Anämie, myelodysplastisches Syndrom, Amegakaryozytose, Thrombozytopenie mit Radiusaplasie, Neoplasie, Leukämie, NHL, Metastasen) variabel/meist aber erniedrigt ist. Die Bestimmung des Plättchen-assoziierten Immunglobulin G ist bei der ITP initial nicht konklusiv und hat im Verlauf der ITP nur eingeschränkte Bedeutung ( oben). Gerinnungsanalysen sind nur bei Verdacht auf begleitende Gerinnungsstörungen auffällig. Screening-Tests der Gerinnung (PT, PTT, Fibrinogen) können hilfreich sein, um begleitende Gerinnungsstörungen (disseminierte intravasale Gerinnung, thrombotisch-thrombozytopenische Purpura, hämolytisch-urämisches Syndrom) auszuschließen. Gewisse
Krankheiten wie z. B. die von-Willebrand-Krankheit werden dadurch jedoch nicht erfasst. Nur bei der akuten ITP und beim Evans-Syndrom (gleichzeitige Coombs-positive hämolytische Anämie) beginnt die Blutungsneigung in der Regel plötzlich, sonst oft schleichend. Die wichtigsten differenzialdiagnostischen Überlegungen sind in der Übersicht zusammengefasst. Differenzialdiagnostik der isolierten Thrombozytopenie: Autoimmunthrombozytopenie: akut postinfektiös oder chronisch Alloimmunthrombozytopenien: Plättchengruppe nunverträglichkeit bei Feten bzw. Neugeborenen, Posttransfusionspurpura Medikamenten-induzierte Thrombozytopenie, z. B. Heparin, Antibiotika Amegakaryozytäre Thrombozytopenie: angeboren, bei aplastischer Anämie, bei Leukämie oder erworben bei Lupus erythematodes, Hepatitis, Medikamente Thrombozytopenie im Rahmen von Syndromen: Thrombozytopenie mit Radiusaplasie (TAR-Syndrom), Fanconi-Anämie, Wiskott-Aldrich-Syndrom Thrombozytopathien mit Thrombozytopenie Thrombozytopenie im Rahmen von Infektionen: AIDS, CMV, EBV etc. Pseudothrombozytopenie: Laborartefakt durch EDTA
35.6
Verlauf
! Nach der Diagnose dauert die ITP wenige Tage (unter Therapie) bis Wochen (ohne Therapie) an und verschwindet spontan bei über 70% der Kinder innerhalb der ersten 6 Monate. Bestehen Thrombozytenwerte unterhalb der Norm von 150×109/l länger als 6 Monate, wird definitionsgemäß von chronischer ITP gesprochen.
Gegenüber der akuten ITP sind Kinder mit chronischer ITP durchschnittlich älter, der Anteil Mädchen ist höher. Anamnestisch wird selten ein postinfektiöses Auftreten beobachtet; die Blutungszeichen treten nicht plötzlich, sondern schleichend auf. Retrospektiv ist die mittlere initiale Thrombozytenzahl bei chronischer ITP höher ( Tabelle 35.2; Robb u. Tiedeman 1990). Blutungszeichen und Thrombozytenwerte <20×109/l haben ca. 60% der Kinder mit chronischer ITP. Kinder mit Thrombozytenwerten zwischen 30 und 150×109/l sind meist ohne Zeichen der Blutungsneigung. Dauert die Thrombozytopenie beim Kind länger als 6 Monate, werden zum Ausschluss einer anderen Form der Thrombozytopenie ( Differenzialdiagnose) die Analyse des Knochenmarks, Suchtests nach spezifischen Antikörpern (z. B. antinukleäre Antikörper), direktem Antiglobulin, Lupus-Antikoagulans, Serumoimmunglobuline inkl. IgG-Subklassen, Plättchenfunktionstests, Koagulationsteste und virale Serologien (HIV, CMV, VZV, Parvovirus B 19 u. a.), Urinanalyse sowie abdomineller Ultraschall empfohlen.
35
362
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
Thrombozytenzahlen, damit der Lebensstill möglichst wenig eingeschränkt ist. Der größte Teil der Patienten wird jedoch nicht »behandelt«, sondern es werden Maßnahmen getroffen (Prävention), um lebensbedrohliche Blutungen zu verhindern, die wiederum sehr selten sind. Klinische und labormäßige Studien mit Einschluss von Fragen zur Lebensqualität und zu den Gesundheitskosten sind notwendig, aber schwierig durchführbar. Grund hier für sind die vorläufig noch sehr heterogenen Patientenauswahlkriterien für bestimmte Studienendpunkte wie auch das zur Zeit fehlende standardisierte Management.
II
! Bei Auftreten von lebensbedrohlichen Blutungen und bei gezielter Prävention von Blutungen, z. B. vor einem chirurgischen Eingriff, ist die medikamentöse Anhebung der Thrombozytenzahl indiziert ( unten). ⊡ Abb. 35.5. Behandlungsverlauf über 18 Monate bei Kindern mit ITP: Prozentsatz von Kindern mit einem Thrombozytenwert <20×109/l 0,25, 2, 6, 12 und 18 Monate nach Diagnosestellung (Schweizer/kanadische retrospektive Studie; n=554; mit freundlicher Genehmigung durch Eur J Pediatr (1995) 154:60–64)
Im weiteren Verlauf verkleinert sich der Anteil von Kindern mit schwerer, chronischer ITP weiter (⊡ Abb. 35.5; Imbach et al. 1995). Lebensbedrohliche Blutungen (z. B. intrakranielle Blutung) werden in der Literatur bei akuter und chronischer ITP selten beschrieben und treten mit oder ohne Behandlung auf (Lilleyman 1994). 35.7
Therapie
Aus der Sicht der Patienten und der Familie. Patienten und Eltern fürchten sich vor Blutungen und achten oft unverhältnismäßig besorgt auf die Zahl der Thrombozyten. Nicht selten geht die Angst vor lebensbedrohlicher Blutung jedoch vom Arzt aus und wird auf die Familie übertragen. Die Ungewissheit hat ihre Ursache häufig in der unsicheren Vorhersagbarkeit des Verlaufs der ITP. Viele Eltern orientieren sich auch im Internet, spüren andere Diagnosen, z. B. die der Leukämie, auf. Die Unsicherheit schränkt die Lebensqualität ein und führt nicht selten auch zur Suche nach alternativen Behandlungen bei Heilpraktikern und Naturheilkundlern. Die ärztliche Empfehlung zur Überwachung der Aktivitäten (Sport, Ferien, Reiten, Skifahren, Skaten) bei Kindern und adoleszenten Patienten kann den Lebensstil stark beeinträchtigen. Ärztliche und pflegerische Gespräche sowie Erfahrungsaustausch zwischen Betroffenen sind ein wichtiger Teil der Betreuung. Aus der Sicht des Arztes. Fundamentale Fragen zu Pathogenese, Verlauf, Schweregrad der Blutungen, Behandlung sowie deren Wirkungsmechanismen sind weitgehend ungelöst. Es gibt hier Meinungen (»opinion-based«; George et al. 1996) und nur erste evidenzbasierte Daten (Kühne et al. 2001; Buchanan et al. 1984; Imbach et al. 1981, 1985; Blanchette et al. 1994). Ein Teil der Ärzte bevorzugt eine Behandlung bis zur Normalisierung der Thrombozyten, andere wollen den Verlauf beobachten und ein weiterer Teil behandelt nur jene Patienten mit Blutungszeichen und/oder mit sehr tiefen
35.7.1 Indikation zur Behandlung Allgemeine Richtlinien. Als generelle Richtlinie des Vorgehens gilt die Zusammenfassung in ⊡ Tabelle 35.1. Patienten mit Blutungszeichen und Thrombozytenwerten >10–30×109/l müssen ausführlich aufgeklärt und beobachtet werden. Sie benötigen eine medikamentöse Behandlung bei besonderen Aktivitäten (Sport, Ferien fern von der gewohnten Umgebung), bei anderen Krankheitsepisoden oder vor einem chirurgischen/zahnärztlichen Eingriff. Acetylsalicylsäure muss vermieden werden. Patienten mit Stadium I und II. Patienten mit Stadium I (keine Blutungsneigung, Thrombozytenwerte >30×109/l) benötigen ambulante Beratung und Beobachtung. Patienten mit Stadium II (schwache Blutungsneigung, mittlere Thrombozytenwerte >10–30×109/l) bedürfen einer individuellen Beurteilung/Beratung und Übereinkunft betreffend medikamentöser Therapie zwischen Arzt und Patient/Eltern mit
⊡ Tabelle 35.2. Charakteristika der akuten versus chronischen ITP beim Kind: prospektive Daten (Kühne et al. 2001)
Akut
Chronisch
Mittlere Alter (Jahr/Monat) Knaben Mädchen
5,71 5,51, 2 5,91, 2
6,9 6,8 7,0
Geschlecht (%) Knaben Mädchen
55 45
49,7 50,3
Mittlere initiale Thrombozytenzahl ×109/l
15,41
18,4
Auftreten der Blutungssymptome
Plötzlich
Schleichend
Anteil akute vs. chronische ITP (%)
69%
31%
Saisonale Häufung
Frühling
Keine
1
inkl. Kinder, die später eine chronische ITP entwickelten (ntotal 2031; Kühne et al. 2001). 2 Geschlechtsverteilung auf allen Kontinenten übereinstimmend.
363 35 · Idiopathische thrombozytopenische Purpura
dem Ziel der möglichst uneingeschränkten Lebensweise des Kindes und mit Ausnahme von belastenden Aktivitäten (Reiten, Skilaufen, kompetitive Sportarten etc.). Patienten mit Stadium III. Patienten mit Stadium III (wieder-
holte Blutungsneigung von Haut und Schleimhäuten, z. B. Nasenbluten, Hämaturie, Hypermenorrhagie ohne blutungsbedingten Hämoglobinabfall u. a.) benötigen Beobachtung oder medikamentöse Intervention zur Thrombozytenerhöhung. Patienten mit Stadium IV. Patienten mit Stadium IV (mit schweren Blutungen/mittlere Thrombozyten <10×109/l) bedürfen der medikamentösen Intervention ( unten). Eine kontinuierliche medikamentöse Intervention (bis zur Normalisierung der Thrombozyten) oder eine länger dauernde immunsuppressive Therapie (mit Kortikosteroiden) ist nur in Ausnahmesituationen gerechtfertigt.
35.7.2 Art der therapeutischen Intervention Neuere Erkenntnisse der Immunpathogenese der ITP haben das interventionelle Vorgehen verändert. Die Induktion einer Immunmodulation der gestörten Immunantwort ( oben) wird gegenüber einer länger dauernden Immunsuppression bevorzugt. Die Immunmodulation geschieht durch IVIG (Imbach et al. 1981; Blanchette et al. 1994), Anti-D(Rhesus)Immunoglobulin (Andrew et al. 1991) oder α-Interferon (Proctor et al. 1989; keine kontrollierte Studie). Blutungsepisoden können kurzfristig auch mit Kortikosteroiden behandelt werden. Die langfristige immunsuppressive Therapie der ITP mit Kortikosteroiden (Buchanan u. Holtkamp 1984; Sartorius 1984; Ozsoylu et al. 1989; Andersen 1994) oder bei chronischer ITP im Kindesalter mit Azathioprin, Danazol oder zytostatischen Medikamenten (Ahn et al. 1974; Weinblatt et al. 1988; Flores et al. 1990; Quiquandon et al. 1990; Facon et al. 1994; Reiner et al. 1995) bzw. mit Splenektomie (Davis et al. 1991) wird nur bei speziellen Indikationen empfohlen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nebenwirkungen überwiegen, ist sehr groß.
von Alter, Aktivitäten, Risiken des Kindes/Adoleszenten; Abschn. 35.7.1). Interventionelle Optionen sind: IVIG 0,4– 0,8 g/kg KG maximal alle 4–8 Wochen. Bei Rhesus-positiver Blutgruppenserologie: Anti-D 0,5 µg/kg KG maximal alle 3– 6 Wochen (beachte Hämoglobinreduktion durch Hämolyse) oder Kortikosteroide (1–4 mg/kg KG während 4 Tagen) maximal alle 2–4 Wochen oder längerfristig unter 0,5 mg/kg KG alle 1–3 Tage. Langzeitnebenwirkungen und spontaner Verlauf müssen kritisch verfolgt werden. Wechsel in Stadium II und I und Heilungen sind bei Kindern auch nach Jahren noch möglich (Tamary et al. 1994; Aronis et al. 1995) und können eventuell durch eine immunmodulatorische Behandlung beeinflusst werden (Imholz et al. 1988; zurzeit noch keine kontrollierte Studie). Hochdosierte zyklische Dexamethason-Verabreichungen, wie sie bei Erwachsenen eingesetzt werden (Andersen 1994), haben sich beim Kind und Adoleszenten nur vereinzelt bewährt und sind mit ernsthaften Nebenwirkungen behaftet (Kühne et al. 1997). Deshalb müssen Blutungsrisiko und therapeutischer Gewinn gegenüber den Nebenwirkungen sorgsam abgewogen werden. Bei wiederholt schweren Blutungsepisoden (III) oder nach der ersten lebensbedrohlichen Blutung (IV) muss die Splenektomie (s. unten) oder der Einsatz eines der unten aufgeführten Medikamente in Betracht gezogen werden (Azathioprin, Ciclosporin A, Rituximab; Imbach 2003). Splenektomie. Im Kindesalter ist die Splenektomie nur bei unkontrollierbaren Blutungen indiziert (Styrt 1990; Davis et al. 1991; Tamary et al. 1994). Bei einem Anteil von 72% (Stadien III und IV) bewirkte die Splenektomie einen länger dauernden Thrombozytenanstieg (Stadium II/I oder Heilung). Vor der Splenektomie sind Impfungen gegen Hämophilus, Pneumokokken und Meningokokken durchzuführen. Trotzdem besteht nach der Splenektomie ein Risiko für foudroyante und fatale bakterielle Infektionen, speziell bei Kindern im Alter unter 5 Jahren. Beim Kind mit Splenektomie wird eine Dauerprophylaxe mit Penicillin oder mit Aminopenicillin in Reserve sowie ein Notfall-Ausweis empfohlen (sofortiger Einsatz bei Temperatur über 38,5°C axillär).
Behandlung der akuten Blutungen (Stadium II und III) und der schweren/lebensbedrohlichen Blutungen (Stadium IV).
35.7.3 Die einzelnen Medikamente
In 2 kooperativen, kontrollierten Multizenterstudien (Blanchette et al. 1993; Blanchette et al. 1994) wurde bestätigt, dass akute Blutungen innerhalb von 72 h bei 97% der Kinder mit intravenösem Immunglobulin (IVIG; 1×0,8 g/kg KG), bei 82% mit Anti-D (2×25 µg/kg KG), bei 79% mit Kortikosteroiden (4 mg/kg KG/Tag) verschwanden. Bei schweren und lebensbedrohlichen Blutungen mit Hämoglobinabfall empfiehlt sich folgende Reihenfolge des Vorgehens: Methylprednisolon (30 mg/kg KG) oder Dexamethason (1–2 mg/kg KG), IVIG (0,8 g/kg KG/Dosis) und anschließend Thrombozytenkonzentrat-Transfusion. Eine Notfallsplenektomie wird heute nicht mehr empfohlen.
Eine Zusammenfassung der Therapie und der eingesetzten Medikamente gibt (⊡ Tabelle 35.3) wieder.
Behandlung der schwachen Blutungsneigung (Stadium II und Langzeitvorgehen. Ziel der Behandlung ist die Verhin-
derung/Prävention von schweren Blutungen (Stadien III und IV). Es empfiehlt sich ein individuelles Vorgehen (abhängig
Immunglobulin. IVIG führt zum raschen Stop der Blutungs-
neigung und zum Thrombozytenanstieg bei über 90% der Kinder (Imbach et al. 1981; Blanchette et al. 1994). Die einmalige Dosis von 0,8 g–1,0 g/kg KG IVIG sollte zu einem mindestens 14 Tagen andauernden Effekt führen. Nebenwirkungen sind grippeähnliche Symptome (kann auch als therapeutischer Effekt der induzierten Antigen-Antikörper-Reaktion angesehen werden; Imbach et al. 1981; Duhem et al. 1994; Centers for Disease Control and Prevention 1994) sowie Kopfschmerzen, Übelkeit, die an eine Meningitis denken lassen (transiente, aseptische Meningitis; Kattamis et al. 1997). Das Risiko der Übertragung von Infektionserregern wie Hepatitis C oder HIV ist bei Verwendung von qualitätskontrollierten, registrierten intakten 7S-IgG-Präparaten von
35
364
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
⊡ Tabelle 35.3. Medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten der ITP
II
Intravenöses Immunglobulin
Initialdosis: 0,8 g/kg KG. Wiederholung falls kontinuierliche Blutungen und/oder <20×109/l Thombozytenwert innerhalb 72 h Bei lebensbedrohlicher Blutung: 1–2×0,8 g/kg KG, eventuell zusammen mit Kortikosteroiden ( Text) mit anschließend eventuell Thrombozytentransfusion
Kortikosteroide
4 mg/kg KG Prednison oder Prednisolon/Tag in 2–3 Dosen per os oder intravenös während 4–7 Tagen, danach kurz ausschleichen Bei lebensbedrohlicher Blutung: s. oben IVIG, eventuell 8–12 mg/kg KG Methylprednison oder 0,5–1,0 mg/kg KG Dexamethason intravenös oder per os
Anti-Rh(D)-Immunoglobulin
25–50 µg/kg KG intravenös (nur bei Rh-positiven Individuen)
Azathioprin
50–300 mg/m2 täglich während mindestens 4 Monaten Kontrolle der Leukozytenwerte (>2000×109/l)
Vincristin
1,5–2,0 mg/m2 (maximale Einzeldosis 2 mg) streng intravenös, 1-mal pro Woche, eventuell wiederholt 1-mal wöchentlich während 4–6 Wochen; eventuell zusammen mit Prednison oder Prednisolon 2 mg/kg KG täglich in 2 Dosen während 2–3 Tagen
IVIG sehr gering (Centers for Disease Control and Prevention 1994; Yu et al. 1995). Wirkungsmechanismus: Während das transfundierte IgG-Konzentrat das humorale Immunsystem des Empfängers substituiert, wird die Immunantwort des zellulären Systems auf verschiedenen Ebenen moduliert (Dietrich et al. 1992; Semple u. Freedman 1995; Abschn. 35.4).
! Infolge der praktisch einfachen Durchführung der intravenösen (intramuskulären) Applikation und der geringeren Kosten gegenüber IVIG hat sich die Anti-D-Behandlung in den USA stark verbreitet. Lebensbedrohliche und fatale Hämolysen nach AntiD-Gabe bei ITP sind vereinzelt beschrieben worden (Gaines 2000).
Kortikosteroide. Eine kurzfristige Behandlung mit 4 mg/
α-Interferon. 25% von Erwachsenen mit ITP zeigten während
kg KG/Tag Prednisolon in 3 aufgeteilten Dosen per os während 4 Tagen bei Stadium II und III ist in der Regel der bisherigen Dosierung (2 mg/kg KG längerfristig) vorzuziehen (geringere Nebenwirkungsrate; Blanchette et al. 1993; Blanchette et al. 1994). Indikation und Dosierung bei Kindern mit chronischer ITP (inkl. Methylprednisolon oder Dexamethason) Abschn. 35.7.2. Der Effekt des Thrombozytenanstiegs erfolgt bei etwa 80% der Behandlungen mit Kortikosteroiden innerhalb weniger Tage, ist aber transient und mit Nebenwirkungen behaftet. Die Nebenwirkungen entsprechen dem Hyperkortisonismus mit Appetitsteigerung, Gewichtszunahme, Hypertonie und psychischen Veränderungen. Selten werden Steroiddiabetes und Pseudotumor cerebri beobachtet. Längerfristige Applikation führt zu Wachstumsverzögerung, Mineralisationsstörungen und Katarakt. Die Wirkungsmechanismen von Kortikosteroiden auf die Thrombozytenüberlebenszeit bleibt unklar. Die Hauptwirkung scheint immunsuppressiv zu sein.
1 Woche bis 7 Monate eine höhere Thrombozytenzahl nach 3×106 IE α-Interferon, subkutan 3-mal wöchentlich während 4 Wochen verabreicht (Proctor et al. 1989; Dubbeld et al. 1994). Nebenwirkungen sind u. a. Fieber, Müdigkeit und Myalgien (Matthey et al. 1990; Hudson et al. 1992).
Anti-Rh(D)-Immunglobulin. Bei Rh-positiven Kindern mit ITP und mit intakter Milz führt 1×50 µg/kg KG Anti-DImmungloblin intravenös bei 80% der Patienten zu einem transienten, 1–5 Wochen, selten länger andauernden Thrombozytenanstieg (Salama et al. 1986; Bussel et al. 1991; Blanchette et al. 1994). Hauptnebenwirkung ist die alloimmune Hämolyse (Andrew et al. 1991; Blanchette et al. 1994). Damit wird auch der Wirkungsmechanismus als kompetitive Hemmung der Thrombozytenphagozytose durch erhöhte Phagozytose der Antikörper-beladenen Erythrozyten in der Milz erklärt wird (Salama et al. 1986).
Plasmapherese und Protein-A-Immunadsorption. Der Plas-
maaustausch zur Reduktion der zirkulierenden Thrombozytenantikörper hat bei 20–30% der Patienten einen transienten Thrombozytenanstieg zur Folge (Marder et al. 1981; Bussel et al. 1988; Balint et al. 1995). Vincaalkaloide. Vinblastin und Vincristin bewirken eine
Reduktion der Lymphozyten (T- und B-Zellen) und supprimieren die Antikörperproduktion. Zwei Drittel der behandelten Patienten zeigen einen Thrombozytenanstieg während 1–3 Wochen (Ahn et al. 1974) nach 1–1,5 mg/m2 (max. 2 mg) Vincristin streng intravenös 1-mal pro Woche. Die Kombination von 1–2 mg Kortikosteroid/kg KG während 2–3 Tagen scheint die Effizienz zu erhöhen. Nebenwirkungen sind Neuropathie, Obstipation und Leukozyto- und Lymphozytopenie. Azathioprin. Mit Azathioprin werden Patienten mit refraktä-
rer ITP auf Steroide und/oder nach Splenektomie behandelt. Nach 2–4 Monaten Einnahme von täglich 50–300 mg/m2/ KOF kommt es bei 50–70% der Patienten zum Thrombozytenanstieg (Quiquandon et al. 1990). Nebenwirkungen sind die Leukozytopenie und das Risiko von Missbildungen des Kindes bei Anwendung während der Schwangerschaft.
365 35 · Idiopathische thrombozytopenische Purpura
Cyclophosphamid. Mit einer Dosis von 3–8 mg/kg KG Cyclophosphamid täglich per os erreichen 70–80% der Patienten einen Thrombozytenanstieg (Reiner et al. 1995). Die Nebenwirkungen sind im Vergleich zu Azathioprin erheblich höher. Danazol. Das androgene Hormon mit geringem virilisierendem Effekt wird bei Erwachsenen mit chronischer ITP mit unterschiedlichem Erfolg (10–80%) eingesetzt (Weinblatt et al. 1988; Flores et al. 1990). Dosierung 100–150 mg/m2 3-mal täglich. Nebenwirkungen: Gewichtszunahme, Kopfschmerzen, Haarausfall, Leberfunktionsstörung, Myalgie, auch Thrombozytopenie; bei Mädchen tiefe Stimme. Vitamin C. In mehreren Berichten wird eine 15% »Behandlungs«-Erfolgsrate ermittelt (Van der Beek-Boter et al. 1992). Die Dosierung beträgt 1–1,5 g/m2 täglich. Gefahr: AscorbatNiederschläge im Nierenparenchym bzw. Bildung von Ascorbat-Steinen.
35.7.4 Experimentelle Ansätze Ciclosporin A. Bei Kindern mit normaler Nierenfunktion und
refraktärer ITP kann Ciclosporin die Thrombozytenzahl dosisabhängig erhöhen. Die Dosis wird dem niedrigsten Serumspiegel von Ciclosporin angepasst, der zu einer genügend höheren Thrombozytenzahl führt (Stadium II; Imbach et al. 1985; Emilia et al. 2002). Rituximab/Mabthera. Der humanisierte Maus-Anti-B-Zellmonoklonale Antikörper bindet an das CD20-Antigen der B-Zellen, worauf letztere lysiert werden. Die Autoimmunantikörperproduktion gegen Thrombozyten wird vermindert. Nach 3–4 Kuren von Mabthera (375 mg/m2/Woche i.v.) zeigen zwei Drittel der behandelten Patienten mit ITP oder mit Evans-Syndrom einen Thrombozytenanstieg und gelegentlich langandauernde Remissionen. Nebenwirkungen während der Kuren sind transient und mild: Fieber, Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen (Stasi et al. 2001; Saleh et al. 2000). Hochdosistherapie mit Cyclophosphamid und autologer Stammzelltransplantation. Von 12 Patienten mit schwerer
ITP zeigten 4 eine komplette Remission und 2 Patienten eine Teilremission (Huhn et al. 1999).
Die ITP bleibt eine Diagnose per exclusionem trotz vieler Hinweise auf ein immunbezogenes Geschehen. Die Heterogenität der Pathophysiologie, der klinischen Manifestation, der Labordiagnostik und des Ansprechens auf therapeutische Maßnahmen erschweren klinische und labormäßige Studien. Die seit 1997 gegründete »Intercontinental Childhood ITP Study Group (ICIS)« hat mit der Registry I über 2000 beteiligte Kinder mit neu entdeckter ITP prospektiv analysiert (Kühne et al. 2001). Dieselbe Gruppe studiert weltweit mit der Splenektomie-Registry und der Registry II prospektive
▼
und evidenzbasierte Daten von Patienten mit ITP. Ein weiteres Register, die PARC-ITP-Studie (»Pediatric and Adult Registry of Chronic«), ist geplant und fokussiert auf die Diagnostik und Therapie der chronischen ITP bei Kindern und Erwachsenen. Die begonnenen und geplanten kooperativen Studien der ICIS sind die Basis, effiziente, aussagekräftige Therapiestudien zur Verbesserung der Betreuung und der Lebensqualität der betroffenen Kinder und ihrer Umgebung zu erreichen.
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II
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
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367 35 · Idiopathische thrombozytopenische Purpura
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35
Thrombozytosen und Thrombozythämien II
A.H. Sutor †, C. Dame
36.1
Einleitung
36.1.1 36.1.2
Definition der Thrombozytose – 368 Einteilung der Thrombozytosen – 368
– 368
36.2
Primäre (essenzielle) Thrombozytose
36.2.1 36.2.2 36.2.3 36.2.4 36.2.5
Pathomechanismus – 368 Häufigkeit – 369 Klinische Symptome und Laborwerte Familiäre Formen – 369 Therapievorschläge – 369
36.3
Sekundäre (reaktive) Thrombozytose
36.3.1 36.3.2 36.3.3 36.3.4
Pathophysiologie – 370 Ätiologie – 370 Komplikationen durch Thrombozytosen – 371 Antithrombotische Prophylaxe – 371
Literatur
– 368
– 369
36.1.1 Definition der Thrombozytose Definition
– 370
– 371
Zwei Monate vor Erstvorstellung in einer hämatologischonkologischen Ambulanz erkrankt ein 14-jähriger Junge kurzzeitig an einer febrilen, wässrigen Enteritis, die zeitgleich im Umfeld auftritt.Vier Wochen später fallen beim fieberfreien Patienten erstmals blutige, schleimige Stühle auf, die mit schweren kolikartigen Bauchschmerzen einhergehen. Durch den Hausarzt erfolgt eine Behandlung mit Steroiden und Mesalazin. Im Blutbild fällt eine Thrombozytenzahl von über 1000/nl auf. Serologisch findet sich kein Hinweis auf eine Infektion durch Campylobacter, Yersinien, Salmonellen oder Shigellen. Nachfolgend wird eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung ausgeschlossen. Bei einer Thrombozytenzahl von 1320/nl und einer Hyperkaliämie (5,5 mval/l) wird der Patient mit Acetylsalicylsäure behandelt. Zum Zeitpunkt der Überweisung ist der Patient subjektiv beschwerdefrei und der klinische Untersuchungsbefund unauffällig. Die Thrombozytenzahl beträgt zu diesem Zeitpunkt 3048/nl. Gleichzeitig besteht eine Leukozytose mit einer Leukozytenzahl von 17,5/nl bei normaler Differenzierung. Da keine Ursache für eine reaktive Thrombozytose gefunden werden kann, wird bei Persistenz der hämatologischen Auffälligkeiten eine Knochenmark-, Hämostase- und Immundiagnostik durchgeführt und schließlich eine essenzielle Thrombozytose mit erworbenem Von-Willebrand Syndrom diagnostiziert.
36.1
assoziiert werden, dass für das Kindesalter nur wenige Berichte über klinische Folgen vorliegen und dass die Erfahrungen bei Erwachsenen nur begrenzt auf pädiatrische Patienten übertragen werden können.
Einleitung
Erhöhte Thrombozytenzahlen bei Kindern gelten als selten und können Arzt und Eltern erheblich verunsichern. Das mag daran liegen, dass Thrombozytosen mit Thrombosen
Thrombozytose bedeutet eine Thrombozytenzahl oberhalb des altersentsprechenden Normalwertes.
Die publizierten Referenzwerte für Thrombozytenzahlen im Kindesalter variieren erheblich. Für die Praxis hat sich eine Einteilung bewährt, nach der eine Thrombozytenzahl von >500/nl (500×109/l) eine Thrombozytose definiert, und weiter eine leichte (500–699/nl), eine mittelschwere (700–899/ nl), oder eine schwere (>900/nl) Thrombozytose unterschieden werden (Übersicht Sutor 1999). Eine Counter-Zählung sollte bei Verdacht auf eine Thrombozytose durch eine Mikroskopzählung bestätigt werden, damit mögliche morphologische Abweichungen, die die Counter-Zählung verfälschen können, bemerkt werden. 36.1.2 Einteilung der Thrombozytosen Thrombozytosen werden nach ihrer Genese in eine primäre (essenzielle) und eine sekundäre (reaktive) Form eingeteilt. Die primäre Thrombozytose ist eine myeloproliferative Erkrankung, deren Ursache mono- oder polyklonale Abnormalitäten der hämatopoetischen Zellen oder Störungen in der Biologie des Thrombopoetins (TPO) sein können. Bei der sekundären Thrombozytose wird die Thrombopoese reaktiv im Rahmen einer Grunderkrankung stimuliert, oder es findet eine Verschiebung gespeicherter Thrombozyten aus der Milz in das periphere Blut statt. 36.2
Primäre (essenzielle) Thrombozytose
36.2.1 Pathomechanismus Die essenzielle Thrombozytose (ET) wurde zunächst als eine myeloproliferative Erkrankung, die in einer klonalen Expansion megakaryozytärer Vorläuferzellen resultiert, verstanden. Zum Formenkreis dieser Erkrankung gehören auch die Polycythaemia vera (PV) und idiopathische myeloide Metaplasien/Myelofibrose (Übersicht Tefferi 2001). Neuere Studien zeigen, dass jedoch zwischen monoklonalen und polyklonalen Formen der ET unterschieden werden muss, was für
369 36 · Thrombozytosen und Thrombozythämien
die Einschätzung des Risikos von Komplikationen der ET von Bedeutung ist (Harrison et al. 1999). Ursächlich für eine ET kann eine spontane, d. h. von Thrombopoetin (TPO) unabhängige Bildung megakaryozytärer Vorläuferzellen (»megakaryocyte colony forming units«, CFU-Meg) sein ( Kap. 32). Eine ET kann aber auch durch Störungen des TPO-Rezeptors c-mpl bedingt sein. Bei ET werden normale oder erhöhte TPO-Konzentrationen gemessen, obwohl nach dem Modell der TPO-Regulation bei einer hohen Anzahl c-mpl exprimierender Thrombozyten das Gegenteil zu erwarten wäre. Im Gegensatz zu familiären Thrombozythämien sind bei der ET strukturelle Defekte der Gene für das TPO oder c-mpl bislang nicht beschrieben. In einigen Fällen ist aber die Expression des c-mpl auf den megakaryozytären Vorläuferzellen und den Thrombozyten verringert. Dadurch kann zirkulierendes TPO trotz prinzipiell intaktem Regulationsmechanismus nicht ausreichend gebunden werden, was zu einer übermäßigen Stimulation der Megakaryopoese führt. Allerdings sind weder »inadäquat normale« oder erhöhte TPO-Konzentrationen noch eine reduzierte c-mpl-Expression spezifisch für die ET und auch bei der PV beschrieben. Die Megakaryopoese wird bei der ET dadurch verstärkt, dass die Sensitivität megakaryozytärer Vorläuferzellen gegenüber TPO erhöht ist (Mi et al. 2001). Während die Applikation von Antikörpern gegen IL-3, IL-6, GM-CSF (»granulocyte/monocyte colony stimulating factor«) oder TPO die Proliferation megakaryozytärer Vorläuferzellen bei der ET nicht inhibieren kann, ist in vitro die Proliferationsrate megakaryozytärer Vorläuferzellen durch c-mpl-Blockierung reduzierbar. Dies kann als eine paradoxe, primär TPO-unabhängige, jedoch c-mpl-abhängige Feinregulation der Proliferation der Megakaryozyten bei der ET verstanden werden (Übersicht Tefferi 2001). Es wird diskutiert, dass auch dem Microenvironment des Knochenmarks, wo die TPO-Genexpression einer speziellen Regulation durch Proteine aus den α-Granula der Thrombozyten unterliegt, eine Rolle in der Pathogenese der ET zukommt (Übersicht Dame 2002). Unklar ist, ob bei der ET die gesteigerte Angiogenese im Knochenmark eine primäre pathophysiologische Rolle spielt oder ein sekundäres Phänomen ist. Neuere Daten zeigen, dass bei der ET primär oder sekundär die Expression hämatopoetisch relevanter Gene, wie die des Polycythaemia-rubra-vera-1 (PRV-1)-Gens oder des Transkriptionsfaktors NF-E2 verändert sein kann (Catani et al. 2002; Teofili et al. 2002). 36.2.2 Häufigkeit Die jährliche Inzidenz der ET bei Kindern wird auf 1 pro 10 Millionen, etwa 60-mal seltener als bei Erwachsenen, geschätzt (Hasle 2000). Basierend auf den Kriterien der Polycythaemia Vera Study Group (Thrombozytenzahl >400×109/l, Anstieg und Clustering reifer Riesenmegakaryozyten mit hyperploiden Zellkernen, keine vorausgehende oder assoziierte Form einer myeloproliferativen Erkrankung oder eines myelodysplastischen Syndroms), wurden etwa 75 Kinder mit ET in der Literatur berichtet. 10% der Patienten starben an Komplikationen, die mit der Grundkrankheit einhergingen. Bei 5% der Kinder mit ET entwickeln sich
andere myeloproliferative Erkrankungen (Dror und Blanchette 1999). 36.2.3 Klinische Symptome und Laborwerte Klinische und Laborbefunde der essenziellen (primären) Thrombozytose sind in ⊡ Tabelle 36.1 im Vergleich zur reaktiven (sekundären) Thrombozytose zusammengefasst. 36.2.4 Familiäre Formen Es gibt nur wenige familiäre, meist autosomal, selten X-chromosomal vererbte Formen der ET. Sie werden in der angloamerikanischen Literatur aufgrund ihrer spezifischen Pathophysiologie als familiäre Thrombozythämien bezeichnet und sollten von der ET klar abgegrenzt werden. In etwa einem Viertel der Fälle liegen Mutationen des TPO-Gens vor. Dabei besteht ein Defekt in der 5′-translatierten Region des TPOGens, der eine Deletion supprimierender »open reading frames« (ORF) bedingt und durch eine gesteigerte Translation des TPO-Gens zu einer erhöhten TPO-Produktion führt (Ghilardi u. Skoda 1999; Kondo et al. 1998, Wiestener et al. 1998). Familiäre Thrombozythämien sollen einen signifikant geringeren Schweregrad der Thrombozytose, weniger häufig eine Hepatosplenomegalie und praktisch keine Blutungen oder Thrombosen aufweisen (Dror und Blanchette 1999). Daraus folgen deutlich konservativere Behandlungsstrategien. 36.2.5 Therapievorschläge Bei erwachsenen Patienten mit ET, bei denen keine Thrombose in der Vorgeschichte bekannt ist und die Thrombozytenzahl weniger als <1500/nl beträgt, wird eine Behandlung zumeist als nicht erforderlich erachtet (Ruggeri et al. 1998). ! Bei asymptomatischen Patienten steht v. a. die Abwägung von Risiken der zytoreduktiven Therapie gegenüber dem möglichen Nutzen einer Prävention thrombotischer und/oder hämorrhagischer Komplikationen im Vordergrund der Entscheidung über eine Behandlung.
Eine Behandlungsindikation ist bei älteren Patienten eher gegeben als bei Kindern oder Jugendlichen. Es wird über gute Erfahrungen mit Anagrelide berichtet. Zur Hemmung der Plättchenfunktion wurde auch Acetylsalicylsäure in niedriger Dosierung eingesetzt. Seltener wurden Medikamente wie Hydroxyurea, Busulphan, Interferon, radioaktives Phosphor sowie Dipyridamol verwendet (Übersicht Sutor 1995). Der Nutzen einer Plasmapherese bei akuten Blutungskomplikationen oder bei thrombotischen Episoden wird kontrovers diskutiert und ist nicht mittels randomisierter, kontrollierter Studien überprüft. Aus den bisherigen Daten lassen sich keine generellen Leitlinien für die Behandlung der ET ableiten.
36
370
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
⊡ Tabelle 36.1. Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Thrombozytose im Kindes- und Jugendalter
II
Kriterium
Primäre Thrombozytose
Sekundäre Thrombozytose
Alter
Meist um 11 Jahre1
Vorwiegend <2 Jahre
Häufigkeit
1 zu 10 Million Kinder pro Jahr
Mehr als 600-mal häufiger als die primäre Thrombozytose
Blutungen, thrombembolische Komplikation
Häufig; Ausnahme familiäre Thrombozythämie
Sehr selten
Andere klinische Symptome
Häufig Splenomegalie (50%), kein Fieber
Selten Splenomegalie, häufig Fieber
Plättchenzahl
Meist >1000/nl, permanent
Meist <800/nl, meist temporär
Plättchenmorphe
Groß und klein, dysmorph2
Groß, normale Morphe
Plättchenfunktion
Meist gestört (hypo- oder hyperreaktiv)
Meist normal
Labor
Normale oder erhöhte Spiegel der leukozytären AP, normale BSG, unauffällige Entzündungsparameter; verlängerte Blutungszeit, PT und PTT in 20% der Fälle; erhöhte Prävalenz von Anti-Phospholipid-Antikörper
Beschleunigte BSG, erhöhte Werte für CRP, proinflammatorische Zytokine, Fibrinogen und Von-Willebrand-Faktor
Knochenmark
Megakaryozytenzahl erhöht, Dysmorphie3
Megakaryozytenzahl erhöht, normale Morphe
Ursache
Stammzelldefekt, verminderte c-mpl-Expression und/oder Hyperreaktivität auf Thrombopoetin Bei familiären Thrombozythämien z. T. Mutation im TPO-Gen
Thrombozytopoese-Reaktion (Entzündung, Immunprozesse, Trauma, Hypoxämie), Splenektomie
1
2
3
Diese Zahl bezieht sich nur auf ET im Kindesalter (Dror u. Blanchette 1999). Das allgemeine Manifestationsalter ist gewöhnlich nach dem 50. Lebensjahr. Riesenformen, Konglomerate, bizarre Formen, Megakaryozytenfragmente, Hypogranularität; ultrastrukturelle Anomalien: verminderte Pseudopodien und α-Granula. Riesenmegakaryozyten mit hyperploiden Zellkernen. In vitro (CFU-Meg-Assay) spontane Bildung erythrozytärer und/oder megakaryozytärer Vorläuferzellen in serum-/TPO-freien Vorläuferzellkolonien.
36.3
Sekundäre (reaktive) Thrombozytose
36.3.1 Pathophysiologie
Bei sekundärer reaktiver Thrombozytose kann die Megakaryo- und Thrombopoese nach peripherem Plättchenverlust bis zu 10fach gesteigert werden; die Stimulation der Megakaryopoese erfolgt durch TPO und andere humorale Faktoren wie proinflammatorische Zytokine (Übersicht Klinger u. Jelkmann 2002). 36.3.2 Ätiologie
Differenzialdiagnostik der reaktiven Thrombozytosen und deren Häufigkeiten im Kindes- und Jugendalter (nach Sutor 1995): Akute Infektionen (30–50%) Gewebsverletzung (Operation, besonders nach Splenektomie, Trauma, Verbrennung; 10–15%) Hypoxämie (Anämie, pulmonale oder kardiale Dysfunktion; 10–15%) Nierenerkrankungen (5–10%) Autoimmunerkrankungen: Kawasaki-Syndrom, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, rheumatoide Erkrankungen (primär chronische Polyarthritis,
▼
Polyarteriitis nodosa, juvenile rheumatoide Arthritis), Schönlein-Henoch-Syndrom (5–10%) Chronische Infektionen: Osteomyelitis, subakute bakterielle Endokarditis, Tuberkulose, Leberzirrhose Malignome: Hepatoblastom, Morbus Hodgkin und andere Lymphome, Histiozytose, Sarkom Medikamente: Adrenalin, Kortikosteroide, Vincaalkaloide, Penicillamin; beim Neugeborenen nach transplazentarer Methadon- oder HydantoinExposition Verschiedene Ursachen: gastroösophagealer Reflux (5%), Caffey’s disease, Blackfan-Diamond-Anämie, Frühgeburt, Stress-Situation
Infektionen sind die häufigste Ursache der reaktiven Thrombozytose. Dabei wird die TPO-Genexpression in der Leber durch proinflammatorische Faktoren stimuliert. Erhöhte TPO-Konzentrationen mit einem Maximalwert am 4. postinfektiösen Tag, gehen der Thrombozytose, die ihren Höhepunkt in der 2. und 3. Krankheitswoche erreicht, voraus (Ishiguro et al. 2002). Typischerweise finden sich erhöhte Werte für Blutsenkung, C-reaktives Protein (CRP), proinflammatorische Zytokine (z. B. IL-6), Fibrinogen und VonWillebrand-Faktor. Reaktive Thrombozytosen nach Gewebeverletzungen (Operation, Trauma, Verbrennung) haben vermutlich einen ähnlichen Pathomechanismus und erreichen ihren Höhepunkt zwischen der 1. und 2. Woche nach der Gewebeverlet-
371 36 · Thrombozytosen und Thrombozythämien
zung. Thrombozytosen können außerdem mit hämatologischen (Eisenmangelanämie, Hämolysen), pulmonalen (Atemnot-Syndrom) oder kardialen Erkrankungen, die mit einer Hypoxämie einhergehen, assoziiert sein. Bei den mit Autoimmunerkrankungen assoziierten Thrombozytosen handelt es sich meist um das Kawasaki-Syndrom oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen, wobei ebenfalls von einer Stimulation der TPO-Produktion durch proinflammatorische Faktoren auszugehen ist. Andere Ursachen für Thrombozytose sind die juvenile rheumatoide Arthritis und die Polyarteriitis nodosa. Kinder mit Purpura Schönlein-Henoch haben meist nur eine geringgradige reaktive Thrombozytose (Übersicht Sutor 1995). Zudem gehen Thrombozytosen mit renalen Erkrankungen (postinfektiös oder assoziiert mit renalen Anämien) einher. Reaktive Thrombozytosen, die bei Diagnose einer malignen Erkrankung vorliegen können, werden primär durch die Tumoren bedingt, wobei insbesondere TPO-produzierende Tumoren wie das Hepatoblastom und das hepatozelluläre Karzinom zu nennen sind (Komura et al. 1998). Selten geht auch eine akute lymphoblastische Leukämie (ALL) mit einer Thrombozytose einher. Bei folgenden Medikamenten wurden Thrombozytosen bei Kindern beschrieben: Adrenalin, Kortikosteroide, Ciclosporin, Vincaalkaloide, Penicillamin, Enoxaparin und Erythropoetin. Unter Therapie mit Glukokortikoiden und/oder Asparaginase traten Thrombozytosen bei Kindern mit ALL auf. Eine transiente Thrombozytose wurde bei Früh- und Neugeborenen beschrieben, deren Mütter während der Schwangerschaft Methadon, Hydantoin oder Psychopharmaka eingenommen hatten (Übersicht Sutor 1999). Thrombozytosen nach körperlicher Anstrengung und Stress-Situationen sind wahrscheinlich mit der Entleerung der Milzspeicher durch α-adrenerge Stimuli und Exsikkose zu erklären. Thrombozytosen wurden auch bei verschiedenen anderen Erkrankungen wie Allergien, Stoffwechselerkrankungen, Myopathien, zerebralen Krampfleiden (ohne Steroidbehandlung), Skelettanomalien, Blackfan-DiamondAnämie und Neurofibromatose beschrieben. Auch bei sonst normalen Neugeborenen, insbesondere bei Frühgeborenen, werden Thrombozytosen beobachtet, die ihren Höhepunkt um den 14. Tag erreichen (Sutor u. Hank 1992). Für normale Frühgeborene werden obere Normalwerte bis zu 675 Thrombozyten/nl angegeben (Lundström 1979). Die Prädisposition für eine reaktive Thrombozytose könnte sich aus den zirkulierenden TPO-Konzentrationen erklären, die physiologischerweise deutlich höher sind als im Kindesund Erwachsenenalter. Als weiterer prädisponierender Faktor für eine Thrombozytose im Früh- und Neugeborenenalter kommt eine höhere Sensitivität der megakaryozytären Vorläuferzellen auf (rekombinantes) TPO hinzu (Übersicht Dame 2002). 36.3.3 Komplikationen durch Thrombozytosen Thrombosen sind die schwerste Komplikationen bei Thrombozytose nach Splenektomie. Bei den seltenen berichteten Thrombosen lagen Grundkrankheiten wie myeloproliferative Syndrome, autoimmunhämolytische Anämie oder portale Hypertension vor (Kutti 1990). Für Thrombosen bei
Thalassämien gibt es außer der Thrombozytose auch andere thrombophile Risikofaktoren, wie eine erhöhte Plättchenfunktion und -aktivierung, erniedrigtes Protein C und Antithrombin, sowie Folgen der Grunderkrankung wie Kardiomyopathie, Diabetes, Hepatopathie, Hypoparathyreoidismus. Ganz selten wurden Thrombosen bei Kindern mit einem ausgeprägten Eisenmangel beschrieben, der kleine und sehr rigide Erythrozyten zur Folge hat. Zur Thromboseprophylaxe steht die Behandlung des Eisenmangels im Vordergrund (Übersicht Sutor 1999). Mit einer reaktiven Thrombozytose assoziierte Thrombosen sind im Früh- und Neugeborenenalter sehr selten, treten aber auf, wenn zentrale Katheter platziert sind oder andere thrombophile Risikofaktoren bestehen; diesbezüglich sind insbesondere mütterlicher Diabetes, neonatale Polyglobulie, mütterliches Antiphospholipid-Syndrom, Sepsis, fetale Wachstumsretardierung, angeborene Herzfehler und angeborene prothrombotische Gerinnungsstörungen zu nennen (Übersicht Edstrom u. Christensen 2000). 36.3.4 Antithrombotische Prophylaxe Eine sekundäre Thrombozytose bei Kindern bedarf in den meisten Fällen keiner medikamentösen Prophylaxe mit Antikoagulanzien oder Plättchenaggregationshemmern; dies gilt auch bei Plättchenzahlen von über 1000/nl (Dickerhoff u. von Rücker 1991). Prophylaktische Maßnahmen sind nur dann zu erwägen, wenn andere Thromboserisikofaktoren vorhanden sind. Bei rezidivierenden Thrombosen wurde die Senkung der Plättchenzahl und/oder die Funktionshemmung der Plättchen vorgeschlagen. Über die Wirksamkeit prophylaktischer Maßnahmen bei asymptomatischen Patienten gibt es jedoch keine gesicherten Erkenntnisse.
Bei Thrombozytosen handelt es sich meist um reaktive (sekundäre) Erhöhungen der Thrombozytenzahl, die insbesondere im frühen Kindesalter infolge einer Entzündung oder Gewebeverletzung auftreten, vorübergehend sind und im allgemeinen keiner Behandlung bedürfen. Die seltene essenzielle (primäre) Thrombozytose kann eine mono- oder polyklonale Ursache haben. Bei einer Thrombozytenzahl >1500/nl ist eine Behandlung zu erwägen.
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36
372
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Thrombozyten
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373
Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse R. Schneppenheim, B. Zieger
37.1
Physiologie der Blutgerinnung – 373
37.1.1 37.1.2
Bildung des Fibringerinnsels – 375 Besonderheiten im Kindesalter – 375
37.2
Hereditäre Störungen der Blutgerinnung – 375
37.2.1 37.2.2 37.2.3 37.2.4 37.2.5 37.2.6 37.2.7 37.2.8 37.2.9 37.2.10
Diagnostik – 375 Faktor-I-Mangel – 376 Faktor-II-Mangel – 377 Faktor-V-Mangel – 377 Kombinierter Faktor-VIII/Faktor-V-Mangel – 377 Faktor-VII-Mangel – 378 Faktor-X-Mangel – 378 Faktor-XI-Mangel – 378 Faktor-XII-Mangel – 378 Faktor-XIII-Mangel – 379
37.3
Erworbene Koagulopathien
37.3.1 37.3.2 37.3.3 37.3.4
Vitamin-K-Mangel-Koagulopathie – 379 Hepatopathische Koagulopathie – 381 Disseminierte intravasale Gerinnung – 381 Immunologisch bedingte Störungen der plasmatischen Hämostase – 383
– 379
37.4
Fibrinolyse
37.4.1 37.4.2
Physiologie der Fibrinolyse – 383 Störungen der Fibrinolyse – 384
Literatur
– 383
– 384
Bereits in der griechischen Antike war das Phänomen der Blutgerinnung bekannt und verschiedene innere und äußere hämorrhagische Diathesen waren detailliert beschrieben worden. Jedoch wurde der Vorgang der Blutgerinnung nicht mit der Hämostase in Verbindung gebracht. Erst seit dem 17. Jahrhundert entwickelten sich die wissenschaftlichen Möglichkeiten zur Erforschung der Blutstillung. Dabei standen sich mehrere Hypothesen gegenüber, die entweder die humoralen oder die korpuskulären Faktoren oder einen physikalischen im Gegensatz zu einem biochemischen Auslöser der Gerinnung betonten. Meilensteine zum Verständnis der Hämostase waren die Postulierung des Blutkreislaufs durch William Harvey (1628), die Entdeckung des Fibringerinnsels durch Marcello Malpighi (1666) sowie die Blutstillungstheorie mit Gerinnselpropf und Gerinnseldeckel von Jean-Louis Petit (1731), der erstmals eine Verbindung zwischen Blutgerinnung und Hämostase herstellte. Alexander Schmidt schließlich postulierte 1876 enzymatische Vorgänge zwischen einer fibrinogenen und einer fibrinoplastischen Substanz als Ursache der Blutgerinnung. Die Reindarstellung von Fibrinogen durch Olof Hammarsten, die Entdeckung des Prothombins durch Cornelius Pekelharing sowie der Bedeutung des Kalziums durch
▼
Maurice Arthus Ende des 19. Jahrhunderts inspirierten Paul Morawitz (1903, 1904) zu seinem klassischen Schema der Blutgerinnung, die zum Grundstein der heutigen plasmatischen Gerinnungstheorie wurde. Er betrachtete das Gerinnungsschema, bestehend aus 4 Faktoren Thromboplastin, Prothrombin, Fibrinogen und Kalzium als extrem kompliziert und nicht als endgültig. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde dieses Schema um die Fibrinolyse, die Aktivatoren und die Inhibitoren der Gerinnung erweitert. Auch heute noch sind wir weit davon entfernt, alle Mitspieler der Hämostase und deren Rolle bei Blutungen und Thrombosen zu kennen.
37.1
Physiologie der Blutgerinnung
Die Blutstillung im Verletzungsfall ist die wichtigste Aufgabe der Hämostase. Die Hämostase ist allerdings auch für die Lösung des physiologischen Problems des Gefäßsystems zuständig, einerseits den Durchtritt von Wasser, Ionen, Sauerstoff, CO2, Nährstoffen, Stoffwechselprodukten, Proteinen und zellulären Komponenten zur Ver- und Entsorgung des vielzelligen Organismus zu ermöglichen, auf der anderen Seite den Austritt von Blut zu verhindern. An der Hämostase sind 3 Systeme beteiligt: ▬ das Gefäßsystem, ausgekleidet mit mehr oder minder durchlässigem Endothel, ▬ die Thrombozyten und ▬ die plasmatische Gerinnung. Die initialen Ereignisse an der Gefäßwand und deren Interaktion mit den Thrombozyten bezeichnet man als primäre Hämostase. Den anschließenden Vorgang der Blutgerinnung bezeichnet man als sekundäre Hämostase, an der neben den eigentlichen Gerinnungsfaktoren, deren Inhibitoren und den Faktoren der Fibrinolyse auch die Thrombozyten einen wesentlichen Anteil haben ( Kap. 32 und 33). Das zentrale Enzym der Hämostase ist Thrombin (Morawitz 1903, 1904), das wie die meisten der enzymatisch aktiven Gerinnungsfaktoren eine Serinprotease ist. Thrombin gilt als der letztlich wirksame Faktor, der aus Fibrinogen proteolytisch Fibrinmonomere als Grundsubstanz für das Fibringerüst erzeugt. Die Generation von Thrombin ist das Produkt der Gerinnungskaskade an der neben anderen aus Zymogenen aktivierten Serinproteasen, wie FXIa, FIXa, FVIIa, FXa, auch Kofaktoren wie FVIIIa und FVa beteiligt sind (⊡ Abb. 37.1). Dabei finden sich die Serinprotease FIXa mit ihrem Kofaktor FVIIIa und Ca++ an einer Oberfläche zum Tenasekomplex zusammen, der FX zu FXa aktiviert. Der Prothrombinasekomplex aus FXa, FVa und Ca++ generiert an einer Oberfläche aus FII (Prothrombin) FIIa (Thrombin).
37
374
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
II
⊡ Abb. 37.1. Klassische Vorstellung von der Gerinnungskaskade mit dem endogenen und dem exogenen Ablauf der Gerinnung. Dargestellt ist, ausgehend von der Aktivierung durch Kontaktfaktoren im endogenen Ablauf oder Gewebsthromboplastin und »tissue factor« (TF) im exogenen Ablauf die Umwandlung der inaktiven Vorstufen (helle Farben) in die aktivierten Gerinnungsfaktoren (dunkle Farben)
mit deren Kofaktoren (gelb) bis hin zum Thrombin (FIIa) dem letztlich wirksamen Enzym für die Fibrinbildung. Die entstandenen FibrinMonomere (FM) polymerisieren zu löslichen Fibrinpolymeren (FPs). Diese werden durch die Transglutaminase FXIIIa zu unlöslichem Fibrin (FPi) quervernetzt. HMW »high molecular weight«
Die herkömmliche Einordnung des endogenen und des exogenen Weges der Blutgerinnung als gleichermaßen bedeutsam musste korrigiert werden. Die Auslösung der Gerinnung über die Kontaktfaktoren scheint eher nur in vitro von Bedeutung zu sein, während physiologischerweise die initiale Aktivierung der Blutgerinnung über den exogenen Weg mit der Aktivierung von FVII im Komplex mit »tissue factor« (TF) zu FVIIa ausgelöst wird. FVIIa aktiviert FIX zu FIXa (Josso u. Prou-Wartelle 1965) und FX zu FXa, wobei letzterer als Bestandteil des Prothrombinasekomplexes Prothrombin in Thrombin umwandelt (⊡ Abb. 37.2). Dieser initiale Weg der Thrombinbildung, die theoretisch ausreichend für den Ablauf der Blutgerinnung wäre, wird allerdings durch den »tissue factor pathway inhibitor« (TFPI) gehemmt. Der Ablauf der Blutgerinnung würde zum Erliegen
kommen, wenn nicht an der Stelle der Endothelverletzung durch die initial geringe Thrombinbildung FXI aktiviert würde, der dann den endogenen Ablauf der Gerinnung in Gang setzt. Dies erklärt auch die klinische Beobachtung, dass selbst ein schwerer Faktor-XII-Mangel nicht mit einer Blutungsneigung einhergehen muss, ein Mangel von FXI und
⊡ Abb. 37.2. Aktuelle Vorstellung des Gerinnungsablaufs mit Beto- nung der Bedeutung der initialen Aktivierung über das exogene System. FXIIa spielt für den Gerinnungsvorgang demnach nur eine unbedeutende Rolle. Die Aktivierung von FXI wird durch Thrombin katalysiert. FXIa und TF/FVIIa aktivieren FIX. Theoretisch könnte auf das endogene System ganz verzichtet werden, jedoch wird nach anfänglicher Generation von FXa die weitere FXa-Bildung durch »tissue factor pathway inhibitor« (TFPI) verhindert. Auch die Aktivierung von FIX durch TF/FVIIa unterliegt dieser Hemmung. Die weitere FXaBildung ist dann nur über die Aktivierung von FIX durch FXIa zu erreichen
375 37 · Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse
der übrigen Faktoren des endogenen Weges jedoch mit einer hämorrhagischen Diathese korreliert. Die heutigen Vorstellungen über den Vorgang der Gerinnung mit vielen Rückkopplungsvorgängen und der Querverbindung zwischen exogenem und endogenem System (Josso u. Prou-Wartelle 1965) stellen den Ablauf in Form einer Kaskade in Frage. Hinzu kommen außerdem vielfältige Möglichkeiten der Regulation durch Inhibitoren. Der klassische Inhibitor für die Serinproteasen, insbesondere für Thrombin aber auch für FXIIa, FXIa, FIXa und FXa des endogenen Systems ist Antithrombin (AT). FVIIa hingegen wird durch AT nur wenig inhibiert. Seine Aktivität in Verbindung mit Tissue-Faktor wird über TFPI reguliert. Hierzu ist ein Komplex von TFPI mit FXa notwendig. Die Kofaktoren der Serinproteasen, FVIIIa und FVa, werden proteolytisch durch das Protein-C-System inaktiviert ( Kap. 40).
Physiologie oder Pathologie Rechnung zu tragen. Diesbezügliche Normwerte müssen daher stets altersbezogen sein. ! Generell lässt sich sagen, dass bei Früh- und Neugeborenen nicht nur die Gerinnungsfaktoren, sondern auch die Inhibitoren der Gerinnung deutlich niedriger liegen als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Ausnahmen sind jedoch z. B. der Faktor VIII und der Von-Willebrand-Faktor (VWF) mit Werten im oberen Erwachsenennormbereich und der Faktor V im unteren Erwachsenennormbereich ( Tabellen im Anhang).
Die allgemein niedrigeren Werte sind für eine gewisse Labilität des hämostatischen Gleichgewichts bei Früh- und Neugeborenen verantwortlich. Blutungen aber v. a. auch Thrombosen treten in dieser Altersstufe häufiger als im späteren Kindesalter auf.
37.1.1 Bildung des Fibringerinnsels 37.2 Das wichtigste Substrat des Thrombins ist das Fibrinogenmolekül. Es gehört zu den Akute-Phase-Proteinen, da sein Spiegel durch TNF-α, IL-1 und IL-6 hochreguliert wird (Huber et al. 1990). Hierauf beruhen die hohen Fibrinogenspiegel im Rahmen von Infektionen und entzündlichen Erkrankungen. Fibrinogen besteht aus 3 verschiedenen Polypeptidketten (Aα, Bβ und γ), jeweils in doppelter Anzahl, von denen je zwei Aα- und zwei γ-Ketten als Dimere vorliegen, während die zwei Bβ-Ketten durch Disulfidbrücken mit der α- und der γ-Kette verbunden sind (McKee et al. 1966). Die 3 Ketten werden von unterschiedlichen Genen in einer gemeinsamen Genregion auf dem langen Arm von Chromosom 4 (4q23–32) kodiert. Thrombin spaltet jeweils am N-terminalen Ende der α- und der β-Kette des Fibrinogens die Fibrinopeptide A und B ab. Durch diese Abspaltung werden neue Bindungsregionen freigelegt, über die eine nicht-kovalente Zusammenlagerung der entstandenen aktivierten Moleküle zu den so genannten Fibrinmonomeren erfolgt. Diese Fibrinmonomere wiederum lagern sich nicht-kovalent zu größeren Komplexen, einem Fibrinfasernetz (lösliches Fibrin) zusammen, das schließlich durch die Transglutaminase FXIII, in der carboxyterminalen Region der γ-Ketten kovalent quervernetzt wird, mit dem Resultat eines stabilen Fibringerinnsels (unlösliches Fibrin). Im Carboxyterminus der γ-Kette befindet sich auch die Bindungsregion für das Oberflächenglykoprotein GpIIb/IIIa der Thrombozyten. Deren Einbindung in das Fibringerinnsel ist die Voraussetzung für die Bildung eines stabilen Plättchenpfropfes am verletzten Endothel.
Hereditäre Störungen der Blutgerinnung
Zu den Koagulopathien gehören quantitative und qualitative Defekte der Faktoren der Gerinnungskaskade ( Abb. 37.1). Die klinischen Konsequenzen sind sehr unterschiedlich je nach betroffenem Faktor. Eine schwere Blutungsneigung wird v. a. bei fehlendem FVIII (Hämophilie A) und FIX (Hämophilie B) beobachtet ( Kap. 38), jedoch auch bei den selteneren Defizienzen von FV, FVII, FX, FXI und FXIII. Hingegen ist das Fehlen von FXII eher mit einer Thromboseneigung korreliert, die im Kindesalter jedoch selten auftritt. Physiologie und Pathophysiologie von FVIII und FIX sind im Kapitel 38 abgehandelt, die der Thrombozyten in Kap. 32 und 33. Dieser Abschnitt beschränkt sich auf die seltenen hereditären und die erworbenen Koagulopathien. Eine Übersicht über die Gerinnungsfaktoren ist in den Tabellen im Anhang zusammengestellt. 37.2.1 Diagnostik Die diagnostisch wegweisenden Partialtests der Gerinnung, Thromboplastinzeit (TPZ) oder Quicktest, aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) und Thrombinzeit (TZ), sind In-vitro-Funktionstests und beruhen auf der Messung der Zeit bis zum Entstehen eines Fibringerinnsels nach Aktivierung durch unterschiedliche Agenzien (⊡ Abb. 37.3; weiterführende Literatur: Barthels u. von Depka 2002). Da die Wirkung des FXIIIa erst nach der Fibringerinnselbildung einsetzt, wird er durch die Partialtests nicht erfasst.
37.1.2 Besonderheiten im Kindesalter
TPZ. Für die Messung der TPZ werden zur Aktivierung Ca++
Deutlich mehr als bei Erwachsenen unterliegt die Hämostase im Kindesalter entwicklungsbedingten Veränderungen. Dabei finden sich die größten Veränderungen während der Fetalzeit, Neugeborenenperiode und bis zum Alter von 6 Monaten. Danach bis etwa zur Pubertät bleiben die Parameter der Gerinnung relativ stabil, um sich mit dem Eintritt in die Pubertät den Erwachsenenwerten anzugleichen (Andrew et al. 1992 ). Dieser Entwicklung ist bei der Beurteilung von
und Gewebsthromboplastin, ein Lipoprotein eingesetzt, womit der extrinsische Weg der Gerinnung aktiviert wird. Die Messung erfasst daher die Faktoren FVII, FX und FII und, allerdings weniger empfindlich, die Faktoren V und Fibrinogen. Die TPZ wird umgerechnet in den Quickwert bzw., zur besseren Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Teste, in die International Normalized Ratio (INR). Eine verlängerte TPZ kann durch einen Mangel der oben genannten Einzelfaktoren, durch Lebersynthesestörungen, eine Verbrauchs-
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Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
TZ. Die TZ misst das Auftreten des Fibringerinnsels nach Zu-
gabe von Thrombin zum Testansatz. Sie ist abhängig von der Menge und der Funktion des Fibrinogens. Somit eignet sie sich zur Diagnose des quantitativen und/oder qualitativen Fibrinogenmangels. Sie reagiert sehr sensibel auf Heparin, das die Wirkung des Antithrombins verstärkt und auf weitere Inhibitoren der Fibrinbildung wie z. B. Fibrinspaltprodukte. Die TZ eignet sich zur Überwachung der Antikoagulation mit Standardheparin.
II
Tipp für die Praxis aPTT und TZ eignen sich nicht für die Kontrolle der Antikoagulation durch niedermolekulare Heparine. Diese besitzen eine überwiegende Wirkung auf FXa. Die Wirkung kann daher verlässlich nur durch die Bestimmung der Anti-FXa-Einheiten kontrolliert werden.
Einzelfaktoren. Die Einzelfaktorenbestimmung erfolgt mit-
⊡ Abb. 37.3. Analyse plasmatischer Gerinnungsfaktoren mit Partialtests. Grün dargestellt sind die Vitamin-K-abhängigen Faktoren, gelb unterlegt die Kofaktoren der Serinproteasen. Ein Defekt einzelner Faktoren lässt sich grob orientierend näher lokalisieren und dann durch Einzelfaktorenanalyse identifizieren. Ein isolierter Faktor-VIIIMangel wie bei der Hämophilie A fällt z. B. durch eine isolierte aPTTVerlängerung auf, ein Faktor-VII-Mangel durch eine isolierte Verlängerung der Thromboplastinzeit bzw. durch eine Erniedrigung des Quickwertes
koagulopathie und Vitamin-K-Mangel verursacht werden. Eine isolierte TPZ-Verlängerung spricht für einen FaktorVII-Mangel. Die TPZ eignet sich für die Kontrolle der Antikoagulation durch Vitamin-K-Antagonisten nicht jedoch zur Kontrolle der Heparinisierung. Cave Eine normale Thromboplastinzeit (TPZ) schließt eine Hämophilie A oder B nicht aus!
aPTT. Die aPTT ist die Zeitdauer der nach Aktivierung durch oberflächenaktive Substanzen und partielle Thromboplastine (Phospholipide) ausgelösten Fibringerinnselbildung. Sie erfasst die Faktoren des intrinsischen Systems (FXII, FXI, FIX und FVIII, Präkallikrein und »high molecular weight« (HMW)-Kininogen sowie FX, FV und, weniger empfindlich, FII und Fibrinogen. Eine verlängerte aPTT findet sich bei einem Mangel der in die Messung eingehenden Einzelfaktoren. Eine isolierte aPTT-Verlängerung wird bei der Hämophilie A und B sowie beim Faktor-XI-, Faktor-XII-, Präkallikrein- und HMWKininogen-Mangel beobachtet. Wie die TPZ ist sie ebenfalls bei Lebersynthesestörungen und der Verbrauchskoagulopathie verlängert. Die aPTT reagiert sehr empfindlich auf Heparin und eignet sich daher zur Kontrolle der Antikoagulation mit Standardheparin. Da von den Vitamin-K-abhängigen Faktoren nur FIX erfasst wird, eignet sich die Bestimmung nicht zur Kontrolle der Antikoagulation durch Vitamin-K-Antagonisten.
tels modifizierter aPTT oder TPZ-Tests unter Verwendung von Mangelplasma zur Verdünnung der zu untersuchenden Probe. Unter optimalen Bedingungen wird die Gerinnungszeit nur von der im Plasma des Patienten vorhandenen Konzentration des Einzelfaktors bestimmt, der dem jeweiligen Mangelplasma fehlt. Die Einzelfaktorbestimmung ist bei auffälligen Partialtests der Gerinnung indiziert. Die Transglutaminaseaktivität des FXIIIa kann mittels glutaminhaltiger Peptidsubstrate indirekt über die Freisetzung von Ammoniak und dessen enzymatischen Nachweis photometrisch gemessen werden. 37.2.2 Faktor-I-Mangel Defekte des Fibrinogens können mit Blutungen, aber auch mit Thrombosen einhergehen (McDonagh et al. 1994). Die Afibrinogenämie wird autosomal-rezessiv vererbt. Blutungen nach Abfallen der Nabelschnur können das erste klinische Zeichen sein. Es finden sich meist profuse Blutungen nach geringfügigem Trauma und Wundheilungsstörungen. Auch intrakranielle Blutungen kommen vor, während Gelenkblutungen, anders als bei Hämophilien, selten sind. Die Hypofibrinogenämie ist definiert als Faktor-I-Mangel mit Werten zwischen 20–100 mg/dl. Klinische Manifestationen sind dabei eher selten. Hämostaseologisch finden sich bei Fibrinogenmangel eine verlängerte aPTT, eine verlängerte Prothrombinzeit und eine verlängerte Thrombinzeit. Die funktionelle Aktivität, gemessen als Fibrinogen nach Clauss, und die immunologisch bestimmte Konzentration sind vermindert. Therapeutisch kommen gefrorenes Frischplasma und kommerziell erhältliches Fibrinogenkonzentrat in Betracht. Die Substitution bei einer Blutung erfolgt im Regelfall nur alle 2 Tage, da die Halbwertszeit des Fibrinogens mit 3 Tagen recht lang ist. Die erforderliche Dosis findet sich in ⊡ Tabelle 37.1. Die Dysfibrinogenämie als qualitativer Defekt kann zusätzlich mit einer Defizienz kombiniert sein. Blutungen sind eher selten. Bestimmte Dysfibrinogenämien können auch mit einer Thromboseneigung bzw. Abortneigung einhergehen.
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⊡ Tabelle 37.1. Indikationen, Dosierung und Applikation zur Therapie von Gerinnungsstörungen (Hämophilie Kap. 38)
Indikation
Präparat
Dosis
Frequenz und Dauer
Faktor-I-Mangel Faktor-II-Mangel
FI-Konzentrat
40–70 mg/kg KG
Nach Bedarf
Prothrombinkomplex
Defizit × E/kg KG Faktor
FIX-Konzentrata
Defizit × E/kg KG Faktor
Faktor-V-Mangel
FFPb
20 ml/kg KG
Alle 12 h
Faktor-VII-Mangel
FVII-Konzentrat
20–30 E/kg KG
4–8× täglich
Zielbereich >1000 mg/l Quick >60% Quick >60%
Prothrombinkomplex
Defizit × E/kg KG Faktor
Quick >60%
FIX-Konzentrat a
Defizit × E/kg KG Faktor
Quick >60%
FXI-Mangel
FFP
10–20 ml/kg KG
Alle 24–48 h
>20%
Faktor-XIII-Mangel (schwer)
FXIII-Konzentrat
10 E/kg KG
Alle 4 Wochen zur Prophylaxe
Nach Effekt
Faktor-XIII-Mangel (große Operation)
FXIII-Konzentrat
35 E/kg KG
Präoperativ; postoperativ bis zu 1× täglich (Spiegel!)
>30%
AT-Mangel (angeboren, bei Schwangerschaft)
AT-Konzentrat
Differenz zu 120% × E/kg KG
Alle 3 Tage als Prophylaxe
AT nicht <60%
AT-Mangel (erworben)
AT-Konzentrat
Defizit × E/kg KG
Frequenz abhängig von Grunderkrankung
>80% >70%
Faktor-X-Mangel
Protein-C-Mangelb Protein-S-Mangel (schwer)b a
PC-Konzentrat
Defizit × E/kg KG
2× täglich
FFPc
10–20 ml/kg KG
2–3× täglich
FFPc
10–20 ml/kg KG
2–3× täglich
Nur wenige FIX-Konzentrate enthalten noch FII und FX. Auf ausreichenden Gehalt an diesen Faktoren ist daher zu achten. b Die Angaben gelten für akute thrombotische Ereignisse. c Bei wiederholter Applikation von FFP ist auf eine eventuelle Volumenbelastung zu achten.
37.2.3 Faktor-II-Mangel Die Aprothrombinämie oder Hypoprothrombinämie wird in der Regel autosomal-rezessiv vererbt, wie ihr Auftreten in konsanguinen Familien vermuten lässt (zum Prothrombingen Tabelle im Anhang). Es sind auch eine Reihe qualitativer Defekte im Sinne einer Dysprothrombinämie beschrieben worden. Es ist daher sinnvoll, bei einem Faktor-IIMangel auch den immunologischen Nachweis des FII:Ag zu führen. Beschrieben werden Blutungen nach Abfallen der Nabelschnur, Blutungen nach geringfügigem Trauma, Hämatome und Schleimhautblutungen aber auch schwere Muskelblutungen, z. B. nach intramuskulärer Impfung. Hämostaseologisch finden sich eine verlängerte aPTT und ein erniedrigter Quickwert bei normaler Thrombinzeit und normalen Werten für alle Einzelfaktoren außer FII. Die therapeutische Substitution kann durch Prothrombinkomplexkonzentrat erfolgen, aber auch durch gefrorenes Frischplasma, da es wegen der langen Prothrombinhalbwertszeit (60 h) nicht zur Volumenüberladung kommen muss. Plasmaspiegel von 20–30% genügen im Allgemeinen für eine effektive Hämostase (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). 37.2.4 Faktor-V-Mangel Die schwere Form dieser seltenen Gerinnungsstörung, auch Parahämophilie genannt, wird autosomal-rezessiv vererbt
(zum FV-Gen Tabelle im Anhang). Klinisch manifestiert sich der Faktor-V-Mangel durch Nachblutungen beim Abfall der Nabelschnur, Haut- und Schleimhautblutungen, Hämaturie, abdominelle Blutungen und Menorrhagien. Gelenkblutungen sind selten, Hirnblutungen ebenfalls (Mammen 1983). Die Diagnose wird durch Einzelfaktoranalyse nach pathologischer aPTT und erniedrigtem Quickwert bei normaler Thrombinzeit gestellt. Zur Therapie kommt im Wesentlichen nur gefrorenes Frischplasma in Frage (erforderliche Dosis Tabelle 37.1). Jedoch kann auch Thrombozytenkonzentrat wegen des Gehalts von FV in den Plättchen die Hämostase dieser Patienten verbessern. Interessanterweise schützt der Faktor-V-Mangel nicht vor Thrombosen. Eine Variante des FV, der so genannte FV Leiden ist für die APC-Resistenz, ein Risikofaktor für Thrombosen ( Kap. 40), verantwortlich. 37.2.5 Kombinierter Faktor-VIII/Faktor-V-Mangel Diese erstmals von Oeri et al. (1954) beschriebene Gerinnungsstörung ist eine eigene Entität. In der Literatur sind 58 Familien beschrieben worden. FV- und FVIII-Werte liegen im Bereich von 5–30%. Der Erbgang ist autosomal-rezessiv. Defekte des LMAN-1-Gens (synonym ERGIC-53), das für einen intrazellulären Proteintransporter kodiert, sind für einen Teil des kombinierten Faktor-VIII/Faktor-V-Mangels verantwortlich. Aufgrund der Homologie zwischen FV und FVIII ist durch den ERGIC-53-Defekt die Sekretion beider
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378
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
Gerinnungsfaktoren gestört (Nichols et al. 1998). Ein weiteres beteiligtes Gen (MCFD-2) wurde kürzlich identifiziert (Zhang et al. 2003). In Abhängigkeit vom FV- und FVIII-Spiegel sind die klinischen Symptome mehr oder weniger schwerwiegend. Therapeutisch kommen für die FV-Substitution nur gefrorenes Frischplasma, für die FVIII-Substitution FVIII-Konzentrate in Betracht, bei milderen Formen ist ein Therapieversuch mit DDAVP indiziert (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). 37.2.6 Faktor-VII-Mangel Der schwere Faktor-VII-Mangel verursacht eine klinisch ausgeprägte Blutungsneigung, ist jedoch mit einer Prävalenz von 1:500.000 sehr selten. Die Vererbung ist autosomal-rezessiv (zum FVII-Gen Tabelle im Anhang). Die klinische Symptomatik ähnelt der Hämophilie. Gelenkblutungen können wie bei der Hämophilie zu schweren Arthropathien führen. Neugeborene sind geburtstraumatisch bedingt durch ZNSBlutungen gefährdet. Die Diagnose wird vermutet bei Nachweis einer isolierten Verlängerung der Prothrombinzeit bei normaler aPTT und normaler Thrombinzeit und schließlich durch Einzelfaktorenanalyse bestätigt. Eine molekulare Diagnostik ist einfach durchzuführen (Cooper et al. 1997a). Heterozygote Personen haben normalerweise keine Blutungssymptome. Die Höhe der FVII-Restaktivität korreliert schlecht mit der Blutungsneigung. Auch Patienten mit einem FVII zwischen 5–10% können asymptomatisch sein und erst bei Operationen oder Beginn der Menstruationsblutungen auffallen. Therapeutisch kommen FVII-Konzentrat sowie aktivierter rekombinanter FVII (rFVIIa) zum Einsatz. Im Notfall ist auch die Gabe von Prothrombinkonzentrat möglich. Gentechnisch hergestellter rekombinanter FVII ist ebenfalls verfügbar. Wegen der geringen Halbwertszeit von nur 3–6 h sind häufige Substitutionen bzw. Dauerinfusionen notwendig. Dabei ist eine Anhebung des FVII auf >30% (ggf. 50%) meist ausreichend. Die Therapie, v. a. mit dem aktivierten rekombinanten Präparat, ist sehr teuer (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). Die gemessenen FVII-Aktivitäten nach Substitution mit rFVIIa sind in dem üblichen Assay sehr hoch und eignen sich nicht zum Monitoring, das sich besser am klinischen Erfolg orientiert. 37.2.7 Faktor-X-Mangel Der schwere Faktor-X-Mangel ist eine sehr seltene, autosomal-rezessiv vererbte Gerinnungsstörung, die klinisch durch Haut- und Schleimhautblutungen, Epistaxis, Menorrhagien, Hämaturie, gelegentlich Gelenkblutungen sowie durch Blutungen nach geringfügigem Trauma gekennzeichnet ist (zum FX-Gen Tabelle im Anhang). Frauen mit schwerem Faktor-X-Mangel neigen zu Fehlgeburten, vorzeitiger Plazentalösung und Frühgeburten. Ein rein quantitativer Defekt von einem dysfunktionellen FX unterschieden werden. Man beobachtet eine verlängerte aPTT und einen erniedrigten Quickwert bei normaler Thrombinzeit. Durch Einzelfaktorenanalyse wird die Diagnose gesichert; durch Bestimmung
des FX-Antigens wird zwischen dysfunktionellem und quantitativem Defekt differenziert. Auch eine molekulare Diagnostik ist möglich (Cooper et al. 1997b). Da der FX mit 40 h eine lange Halbwertszeit besitzt, ist die therapeutische Gabe von gefrorenem Frischplasma in Fällen kleinerer Blutungen ausreichend. Darüber hinaus kann Prothrombinkomplexkonzentrat gegeben werden. Dabei muss jedoch der sehr unterschiedliche Gehalt an FX in den verschiedenen Präparaten und die Möglichkeit von Thrombosen berücksichtigt werden (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). 37.2.8 Faktor-XI-Mangel Ein schwerer Faktor-XI-Mangel, auch Hämophilie C genannt, ist mit einer deutlichen Blutungsneigung korreliert. Er ist allgemein sehr selten, erreicht jedoch in einzelnen Populationen höhere Prävalenzen, wie z. B. bei Ashkenazi-Juden mit einer Häufigkeit von 13:1.000. Der Erbgang ist nicht streng autosomal-rezessiv, da auch bei Heterozygotie durchaus Blutungen beobachtet werden (zum FXI-Gen Tabelle im Anhang). Die klinische Symptomatik ist variabel (Ragni et al. 1985) und lässt sich kaum mit der FXI-Restaktivität korrelieren. Schwerere Blutungen sind selten und treten praktisch nur im Rahmen von Verletzungen und Operationen auf. Nasenbluten, Weichteilblutungen und Nachblutungen nach Zahnextraktion sowie Menorrhagien werden gelegentlich beobachtet. Gelenkblutungen treten praktisch nie auf. Wegweisend ist beim schweren FXI-Mangel die stark verlängerte aPTT, bei normalem Quickwert und normaler Thrombinzeit. Die Diagnose wird durch Einzelfaktorenanalyse gesichert. Ähnlich deutliche Verlängerungen der aPTT werden beim schweren Faktor-XII-Mangel beobachtet. Therapeutisch ist wegen der langen Halbwertszeit des FXI von 48 h die Gabe von gefrorenem Frischplasma in der Regel ausreichend. Insbesondere bei Blutungen oder Eingriffen im HNO-Bereich empfiehlt sich die zusätzliche Gabe von Fibrinolysehemmern wie Tranexamsäure (10–20 mg/kg KG). 37.2.9 Faktor-XII-Mangel Die fehlende Korrelation zwischen einem schweren FaktorXII-Mangel und einer signifikanten Blutungsneigung hat schon früh Zweifel an der Bedeutung der Kontaktfaktoren für die Initiierung des intrinsischen Wegs der Gerinnung geweckt. Tatsächlich ist der Faktor-XII-Mangel recht häufig, wird jedoch praktisch nur bei Routine-Gerinnungsuntersuchungen, z. B. präoperativ durch die korrespondierende verlängerte aPTT entdeckt. Insbesondere bei Kindern wird der milde Faktor-XII-Mangel als passageres, infektassoziiertes Phänomen häufig beobachtet. Blutungen in Assoziation mit einem Faktor-XII-Mangel wurden nur an Einzelfällen berichtet. Hingegen sind Fallberichte über eine Assoziation des Faktor-XII-Mangels mit thromboembolischen Ereignissen, aber auch Spontanaborten und Frühgeburten deutlich häufiger (Braulke et al. 1993). Es wurde angenommen, dass die Bedeutung von FXII für die Fibrinolyse größer ist als für die Gerinnung und dass daher ein Faktor-XII-Mangel eher mit Thromboembolien kor-
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relieren sollte. Untersuchungen an größeren Patientenkollektiven führten jedoch zu widersprüchlichen Ergebnissen (Halbmayer et al. 1992; Koster et al. 1994). Selbst bei schwerem Faktor-XII-Mangel konnte eine eindeutige Thromboseneigung nicht nachgewiesen werden (Zeerleder et al. 1999). 37.2.10 Faktor-XIII-Mangel Für die Stabilisierung des Fibringerinnsels durch die Transglutaminaseaktivität des FXIII-A sind nur relativ geringe Spiegel erforderlich. Daher findet man eine klinisch signifikante Symptomatik fast ausschließlich bei homozygoten oder compound-heterozygoten Patienten mit schwerem Faktor-XIII-Mangel. Bei Neugeborenen fällt der sehr seltene schwere Faktor-XIII-Mangel (<1% Restaktivität) durch die prolongierte Nabelblutung, später durch Hämatome, verlängerte Blutungen nach Verletzungen und nicht selten durch Hirnblutungen auf. 23 Tage verspätet auftretende Nachblutungen nach Operationen sind wegweisend. Oft treten diese Blutungen jedoch auch sofort auf (Fisher et al. 1966). FXIIIWerte >10% machen sich klinisch kaum bemerkbar. Bei Werten <30% können Wundheilungsstörungen mit ausgeprägter Narbenbildung beobachtet werden. Einen erworbenen Faktor-XIII-Mangel, der 30% jedoch meist nicht unterschreitet, findet man bei der anaphylaktoiden Purpura Schönlein-Henoch sowie beim Morbus Crohn. Die klinische Relevanz in Verbindung mit diesen Krankheitsbildern ist unklar. Bei Patienten mit angeborenem Mangel ist der FXIII im Plasma und in den Thrombozyten reduziert. Heterozygote Patienten mit FXIII-Werten um 40−50% sind in der Regel asymptomatisch. Im Plasma besteht FXIII aus zwei α-Ketten, die die enzymatische Aktivität einer durch Thrombin und Ca++ zu aktivierenden Transglutaminase tragen, und zwei β-Ketten, die als Trägerprotein fungieren. Defekte in α- oder β-Ketten, die von unterschiedlichen Genen kodiert werden ( Tabelle im Anhang) können für den Faktor-XIII-Mangel verantwortlich sein. In Thrombozyten finden sich nur die α-Ketten. Mit den üblichen Partialtests (aPTT, Quick, Thrombinzeit) lässt sich ein Faktor-XIII-Mangel nicht erfassen, da die Wirkung des FXIII erst nach der Fibrinbildung einsetzt, wohl aber, bei der schweren Form mittels Thrombelastographie. Die Bestimmung erfordert z. B. die Messung der Transglutaminaseaktivität des FXIII an einem geeigneten synthetischen Substrat über die Freisetzung von Ammoniak oder immunologische Methoden. Durch letztere kann zwischen den α-Ketten und den β-Ketten differenziert werden. Therapeutisch ist die Substitution von FXIII-Konzentrat Mittel der ersten Wahl, ggf. auch gefrorenes Frischplasma. Zur Behandlung von Blutungen sollten Werte >30% angestrebt werden. Der minimale notwendige Wirkspiegel ist jedoch mit 5–10% sehr niedrig und die Halbwertszeit des FXIII mit 57 Tagen sehr lang. Es genügen daher in der Regel Substitutionsabstände von mehreren Tagen bis Wochen (erforderliche Dosen Tabelle 37.1).
37.3
Erworbene Koagulopathien
37.3.1 Vitamin-K-Mangel-Koagulopathie Physiologie Zu den Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren gehören FVII, FIX, FX und FII sowie die Gerinnungsinhibitoren Protein C und Protein S. Sie werden nach ihrer primären Biosynthese an speziellen Glutaminsäureresten, die in der so genannten Gla-Domäne der Gerinnungsfaktoren konzentriert sind, unter Addition von CO2 durch die γ-Carboxylase carboxyliert. Die hierdurch entstandenen Gla-Reste mit ihren 2 Carboxylgruppen sind in der Lage, Kalzium zu binden. Diese Interaktion mit Kalzium ermöglicht erst die normale Bindung der Gerinnungsfaktoren an Membranoberflächen. Reduziertes Vitamin K (Vitamin-K-Hydroquinon) ist an der Carboxylierung der oben genannten Gerinnungsfaktoren als Kofaktor beteiligt. Es wird dabei unter Aufnahme von Sauerstoff und Freisetzung von Wasser zu einem inaktiven Epoxid oxidiert. Eine Vitamin-K-Epoxidreduktase überführt das Vitamin-K-Epoxid wiederum in Vitamin K, das durch die Vitamin-K-Reduktase erneut zum aktiven Hydroquinon reduziert wird (Furie u. Furie 1990). Der Zyklus lässt sich durch Kumarine hemmen, die wahrscheinlich spezifisch die Epoxidreduktase inhibieren (⊡ Abb. 37.4). Dieser Effekt wird für die Antikoagulanzientherapie durch die Kumarine, d. h. Vitamin-K-Antagonisten wie Warfarin und Phenprocoumon, genutzt. Vitamin K wird mit der Nahrung aufgenommen. Da es sich um ein fettlösliches Vitamin handelt, fördert eine lipidreiche Nahrung die Resorption. Zusätzlich wird Vitamin K durch die Standortflora des Darmes synthetisiert. Die Speicherung von Vitamin K erfolgt in der Leber. Bei Vitamin-KMangel werden die nicht carboxylierten Vorstufen (»protein induced in vitamine K absence«; PIVKA) weiterhin synthetisiert und können immunologisch nachgewiesen werden. Pathophysiologie Der Vitamin-K-Mangel zeichnet sich durch mangelnde Aktivität der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren FVII, FIX, FX und FII sowie der Inhibitoren Protein C und Protein S aus (Shearer et al. 1990) Unter besonderen Umständen kann der Mangel der Inhibitoren Protein C und Protein S überwiegen, mit der Folge einer Thrombophilie. Der Vitamin-KMangel kann alimentär oder durch Resorptionsstörungen im Darm bedingt sein. Letztere wiederum sind ein sekundäres Phänomen bei Malabsorptions- und Maldigestionssyndromen wie Kurzdarmsyndrom, Zöliakie, zystische Fibrose, postenteritisches Syndrom, Enterokolitis und bei Cholestasestörungen. Komplette parenterale Ernährung ohne VitaminK-Supplementation sowie aufgehobene endogene Biosynthese von Vitamin K im Darm durch die Darmflora bei langdauernder Antibiotikatherapie sind weitere Ursachen. Einen generellen Mangel aller Vitamin-K-abhängigen Faktoren ohne Vitamin-K-Mangel gibt es als Folge eines seltenen hereditären Defekts der γ-Carboxylase (Brenner et al. 1998) oder des Vitamin-K-Epoxidreduktase-Komplexes (Pauli et al. 1987; Oldenburg et al. 2000; Rost et al. 2004), die an der Carboxylierung der Gerinnungsfaktorvorstufen beteiligt sind.
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Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
⊡ Abb. 37.4. Vitamin-K-Zyklus. Glu Glutamat enthaltende Proteine, Gla γ-carboxylierte Glutamatreste, KO-Reduktase VitaminK-Epoxidreduktase ( Text)
II
! Die häufigste Vitamin-K-Mangelkoagulopathie, v. a. jenseits des frühen Säuglingsalters, ist Folge einer Antikoagulanzientherapie mit Phenprocoumon (Marcumar) und damit iatrogen. Dabei spielen Unzuverlässigkeit der Einnahme und Dosierungsprobleme eine Rolle.
der fehlenden Besiedelung des Darms durch Vitamin-K-produzierende Bakterien. Der Mangel an Prothrombinkomplex beruht zusätzlich auf einer verminderten Synthese der Gerinnungsfaktoren durch Unreife der Leber. Der Gerinnungsdefekt ist bei Frühgeborenen ausgeprägter. Spätform der Vitamin-K-Mangelblutung. Die späte Form der
Klinische Symptomatik Frühform der Vitamin-K-Mangelblutung. Die früheste Mani-
festationsform der Vitamin-K-Mangelblutung besteht in einer schweren Blutungsneigung bereits während des ersten Lebenstages, häufig verbunden mit zerebralen Blutungen (Sutor et al. 1990; Suzuki et al. 2001). Oft war dann die Schwangerschaft kompliziert durch die Einnahme von Medikamenten, wie Antikonvulsiva, Vitamin-K-Antagonisten und Antibiotika. Auch ein Laxanzienabusus kann eine Rolle spielen. Jedoch findet man nicht immer eine Ursache bei der Mutter. Morbus haemorrhagicus neonatorum. Die klassische Form der Vitamin-K-Mangelblutung, der Morbus haemorrhagicus neonatorum bei nicht ausreichendem Prothrombinkomplex tritt bei fehlender Vitamin-K-Prophylaxe bei 0,11% der Neugeborenen während der ersten 25 Lebenstage auf und manifestiert sich als Nabelblutung, Schleimhautblutung und Neigung zu flächenhaften Hämatomen, durch Blutungen aus dem Magen-Darmtrakt und Blutungen aus Punktionsstellen, z. B. nach Blutentnahme für Screening-Zwecke. Manchmal treten auch zerebrale Blutungen auf. Seit der Durchführung einer Vitamin-K-Prophylaxe wird diese Form praktisch nicht mehr beobachtet. Der Vitamin-K-Mangel des Neugeborenen beruht auf dem ungenügenden diaplazentaren Transfer, einem nur geringen Speicher in der Leber, der fehlenden Zufuhr während der ersten Lebenstage bei geringer Trinkmenge und niedrigem Vitamin-K-Gehalt der Muttermilch sowie
Vitamin-K-Mangelblutung jenseits der ersten Lebenswoche bis zu mehrere Wochen postnatal beruht auf nicht ausreichender oraler Zufuhr meist in Verbindung mit einer Resorptionsstörung von Vitamin K. Die gefürchtete Folge können subdurale und intrazerebrale Blutungen sein. Man beobachtet diesen Blutungstyp v. a. bei voll gestillten Säuglingen, da Muttermilch nur 1/4 des Vitamin-K-Gehalts von Kuhmilch besitzt, und meist im Rahmen von Grunderkrankungen wie chronischer Diarrhö, zystischer Fibrose, α1-Antitrypsinmangel, Hepatitiden und Cholestasesyndromen. Die späte Vitamin-K-Mangelblutung als isoliertes Symptom sollte daher immer Anlass für eine diesbezügliche Diagnostik sein. Ein Vitamin-K-Mangel wird auch bei Kindern beobachtet, die einseitig mit Sojamilch ernährt werden. Diagnostik Der niedrige Quickwert weist auf die reduzierten Aktivitäten von FII, FVII und FX hin, die in der anschließend durchgeführten Einzelfaktorenbestimmung bestätigt werden. Die aPTT ist ebenfalls verlängert, da auch der FIX betroffen ist ( Abb. 37.3). Neben den Faktoren des Prothrombinkomplexes sind auch Protein C und Protein S erniedrigt. Erniedrigte Werte für FV (Lebersynthesestörung) sprechen gegen einen Vitamin-K-Mangel. Aufgrund der kurzen Halbwertszeit des FVII (3–4 h) fällt die FVII-Aktivität sowohl bei Vitamin-KMangel als auch bei Leberfunktionsstörung am raschesten ab.
381 37 · Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse
Prophylaxe und Therapie Nach Einführung der allgemeinen Vitamin-K-Prophylaxe in Deutschland mittels intramuskuläre Injektion direkt nach der Geburt wurden Vitamin-K-Mangelblutungen praktisch nicht mehr beobachtet. Sie traten wieder auf, nachdem aufgrund von Berichten über eine Assoziation von intramuskulärer Vitamin-K-Gabe und gehäuften Krebserkrankungen im Kindesalter die intramuskuläre Gabe verlassen wurde und zunächst durch nur einmalige orale Gabe ersetzt wurde. Die einmalige orale Gabe war bei einem Teil der Neugeborenen, überwiegend solchen mit Resorptionsstörungen, nicht ausreichend. Mit der jetzt geübten Praxis der dreimaligen oralen Gabe von 2 mg Vitamin K am 1. Lebenstag, am 5. bis 7. Lebenstag und in der 3. bis 4. Lebenswoche sowie der parenteralen Gabe bei kranken Neugeborenen werden Vitamin-K-Mangelblutungen wiederum überwiegend verhindert (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte 1994). Ein Problem der dreimaligen oralen Vitamin-K-Prophylaxe ist die schlechtere Compliance gegenüber der einmaligen intramuskuläre Gabe. Daher sollte Vitamin K postpartal sowie anlässlich der Vorsorgeuntersuchungen (U2 und U3) verabreicht werden. Mit einer neuen Applikation von Vitamin K in Form von Mischmizellen sollte das Problem der Resorptionsstörung verhindert werden. Dennoch ist auch diese Applikation nicht so sicher wie die frühere intramuskuläre Gabe oder die intravenöse Gabe (Schubiger et al. 2002). Wenn eine Vitamin-K-Mangelblutung heute dennoch auftritt, ist entweder die Prophylaxe nicht erfolgt oder die Resorption des oralen Präparates war nicht ausreichend. Nur in äußerst seltenen Fällen können Stoffwechseldefekte, wie z. B. ein Carboxylasemangel für eine Vitamin-K-Resistenz verantwortlich sein. Die Therapie sollte daher in der sofortigen intravenösen Gabe von Vitamin K bestehen. Es ist überraschend zu erleben, wie hierunter der Quickwert schon innerhalb der ersten Stunde auf weniger bedrohliche Werte ansteigt. Dies ist durch das Vorhandensein der bereits synthetisierten Gerinnungsfaktorvorstufen, die lediglich noch carboxyliert werden müssen, zu erklären. Bei lebensbedrohlichen Blutungen sollte zusätzlich ein Prothrombinkomplexpräparat appliziert werden (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). 37.3.2 Hepatopathische Koagulopathie Pathophysiologie Die Leber ist Hauptsyntheseort für die meisten Gerinnungsfaktoren. Daher ist eine schwere Leberfunktionsstörung mit einer Erniedrigung der leberabhängigen Gerinnungsfaktoren und ggf. mit einer Koagulopathie korreliert. Darüber hinaus wird ihre Funktion als Clearance-Organ für aktivierte Gerinnungsfaktoren und Plasminogenaktivatoren eingeschränkt. Auch wird die Hämostase durch Verlust von Gerinnungsfaktoren in Aszitesflüssigkeit und durch abnorme Glykosylierung der Gerinnungsfaktoren beeinträchtigt. Sekundär wird außerdem ein Vitamin-K-Mangel beim Cholestasesyndrom beobachtet (Joist 1994). Thrombozytopenie, gestörte Plättchenfunktion, disseminierte intravasale Gerinnung und gesteigerte Fibrinolyse tragen zum Gesamtbild der hepatischen Hämostasestörung bei (Lechner et al. 1977). Ursachen sind eine akute infektiöse,
toxische oder immunologisch bedingte Hepatitis, Leberzirrhose, Synthesestörung nach Lebertransplantation, Thrombosen der Pfortader oder der größeren Lebervenen (BuddChiari-Syndrom) sowie Verschluss der kleinen Lebervenen (»veno-occlusive disease«, VOD). Diagnostik Charakteristisch ist beim Leberversagen eine Verlängerung aller Gerinnungszeiten in den Partialtests. Faktoren, die nicht in der Leber synthetisiert werden, wie z. B. der im Endothel und in den Thrombozyten gebildete Von-Willebrand-Faktor (VWF) ist normal oder sogar häufig erhöht. Obwohl in der Leber gebildet, ist der FVIII weniger erniedrigt und oft ebenfalls erhöht. Hier spielt die Syntheserate eine geringere Rolle als die den FVIII schützende Bindung an den VWF. Milde bis mittelschwere Thrombozytopenien finden sich sowohl bei der akuten infektiösen Hepatitis als auch bei chronischer Lebererkrankung. Bei der Leberzirrhose und bei Thrombosen kann über den resultierenden Pfortaderhochdruck und dem damit verbundenen erhöhten Druck der Vena lienalis auch ein Hyperspleniesyndrom mit Thrombozytopenie auftreten. Therapie Die Therapie besteht in der Substitution der leberabhängigen Faktoren durch gefrorenes Frischplasma oder Prothrombinkomplexkonzentrate (PPSB) sowie Antithrombin. Bei der Substitution mit PPSB ist allerdings wegen der Gefahr von Thrombosen Vorsicht angebracht. Rekombinanter aktivierter FVII hat sich in vielen Fällen bei hepatopathischer Koagulopathie als sehr wirksam erwiesen. Thrombozytopenien können durch Thrombozytenkonzentrate korrigiert werden. In vielen Fällen wird nach Anlegen einer portakavalen Anastomose eine Verbesserung der Thrombozytopenie beobachtet. Fibrinolysehemmer wie ε-Aminocapronsäure und Tranexamsäure scheinen in Situationen gesteigerter Fibrinolyse von Nutzen für die Blutungskontrolle zu sein. Eine generelle Therapieempfehlung ist bei dem komplexen Bild der hepatischen Hämostasestörung naturgemäß nicht möglich. Die Substitution mit Gerinnungsfaktoren und Inhibitoren wie Antithrombin, Thrombozytenkonzentraten und die Gabe von Fibrinolysehemmern ist daher von der jeweils vorherrschenden Hämostasestörung abhängig zu machen (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). 37.3.3 Disseminierte intravasale Gerinnung
Definition Die disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) ist eine erworbene Gerinnungsstörung, die durch unterschiedliche akute oder chronische Krankheiten ausgelöst werden kann. Charakteristischerweise entwickelt sich ein systemischer intravasaler Gerinnungsprozess, der zunächst eine Thrombenbildung in der Mikrozirkulation auslöst und dann sekundär eine Fibrinolyse initialisiert. Dies führt zu einem erhöhten Umsatz sowohl von Thrombozyten als auch von Gerinnungsfaktoren und kann eine erhöhte Blutungsneigung verursachen.
37
382
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
Pathophysiologie Am häufigsten tritt die DIC im Rahmen von Infektionen und Sepsis auf (v. a. bei Infektionen mit Gram-negativen Bakterien oder Meningokokken). Endotoxin oder Lipopolysaccharid (LPS), das Membranbestandteil von gramnegativen Bakterien ist, gilt als der am besten untersuchte und häufigste Auslöser der DIC (Bick et al. 2002; Bone et al. 1994; Fijnvandraat et al. 1995) Aber auch virale Infektionen, wie z. B. Varizellen (Canpolat u. Bakir 2002; Fehr et al. 2002), große Operationen, Trauma, maligne Erkrankungen, Gefäßerkrankungen oder die extrakorporale Zirkulation bei Operationen können eine DIC auslösen. Der aktivierte Gerinnungsprozess wird durch Freisetzung von Gewebethromboplastin, das von Monozyten und Endothelzellen stammt, initialisiert. Dies bewirkt die Bildung von Thrombin und Entstehung von Fibringerinnseln in der Mikrozirkulation. Die Thrombosierung der Hautkapillaren führt letztendlich zu den typischen Hautnekrosen (Purpura fulminans). Außer der Thrombozytopenie, Erhöhung der D-Dimere und Veränderung der Globaltests kann sich ein Protein-C- und Protein-S- sowie Antithrombin-Mangel entwickeln.
II
Klinisches Erscheinungsbild Aufgrund der Dysbalance zwischen aktivierter Gerinnung und Hyperfibrinolyse resultiert einerseits eine hämorrhagische Diathese mit Petechien, Ekchymosen und vermehrter Blutung bei Verletzung. Aufgrund der Mikrothromben und Infarzierung können sich Hautnekrosen (⊡ Abb. 37.5) und Organschäden (Lungen, Nieren) entwickeln. Die pulmonalen Mikrothromben bewirken häufig eine mangelnde Oxygenierung (Bick et al. 1996). Diagnostik Für die Diagnosestellung müssen die Anamnese, der klinische Verlauf und mehrere Labortests berücksichtigt werden. Die klassische DIC verläuft ohne Intervention progredient und ist dann mit einer infausten Prognose zu sehen. Im frühen Stadium korreliert sie noch nicht mit einer Koagulopathie, sondern ist lediglich durch eine Gerinnungsaktivierung, die man durch eine erhöhte Thrombingeneration (Thrombin-Antithrombin-Komplex TAT und Prothrombin-
fragmente F1+2) nachweisen kann sowie das Auftreten von Fibrinspaltprodukten gekennzeichnet (Madlener et al. 1998; Müller-Berghaus et al. 1998). Die Globaltests wie aPTT und Thrombinzeit fallen normal oder verkürzt aus. Die Aktivität einzelner Faktoren wie FII, FV, FVIII ist gesteigert. Fibrinogen befindet sich im unteren Bereich der Norm, kann aber im Rahmen eines septischen Krankheitsbilds als »Akute-PhaseProtein« auch deutlich erhöht sein. Die Thrombozyten liegen noch im Normbereich. Das Vollbild der Verbrauchskoagulopathie ist charakterisiert durch eine Defibrinierung mit hochpathologischer Gerinnung bis zur Ungerinnbarkeit des Blutes. Somit sind die Globaltests stark verlängert bis nicht messbar. Auch die übrigen Einzelfaktoren sind, ebenso wie die Thrombozytenzahl, stark erniedrigt. Die Fibrinolyseparameter hingegen sind deutlich erhöht. Diagnostisch wegweisend sind erhöhte Fibrinogenspaltprodukte oder D-Dimere. Therapie Die Therapie der Grundkrankheit, die zu einer DIC geführt hat, ist von elementarer Bedeutung. Somit haben die Bekämpfung eines Schockzustandes mit Volumenersatz und Katecholaminen und die rasche antibiotische Therapie bei einer Sepsis erste Priorität, um so möglichst rasch den Zyklus »Gerinnungsaktivierung/Hyperfibrinolyse« zu unterbrechen. Gesicherte Therapieempfehlungen liegen leider nicht vor. Gefrorenes Frischplasma (»fresh frozen plasma«, FFP) kann gleichzeitig als Volumenersatz wie für die Substitution der Gerinnungsfaktoren und der Inhibitoren der Gerinnung verwendet werden (erforderliche Dosen Tabelle 37.1). Häufig wird zusätzlich Heparin appliziert, um die Gerinnungsaktivierung zu bremsen. Allerdings ist die Heparingabe umstritten, da sie die Blutungsneigung (insbesondere bei ausgeprägter Thrombozytopenie) verstärken kann. Thrombozyten sollten erst dann infundiert werden, wenn sich Blutungskomplikationen entwickeln oder eine ausgeprägte Thrombozytopenie vorliegt. Bei niedrigem Antithrombin (AT) kann dieses substituiert werden. Allerdings konnte in keiner AT-Studie eine Senkung der Mortalität gezeigt werden (Lechner u. Kyrle 1995). Ein neuer vielversprechender Therapieansatz ist die Infusion von Protein-C-Konzentrat.
a
b ⊡ Abb. 37.5a, b. Hautmanifestationen bei disseminierter intravasaler Gerinnung
383 37 · Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse
37.3.4 Immunologisch bedingte Störungen
37.4
Fibrinolyse
der plasmatischen Hämostase 37.4.1 Physiologie der Fibrinolyse Die Diagnosestellung »erworbene Inhibitoren« gestaltet sich meist schwierig, da das klinische Bild und der laborchemische Verlauf sehr heterogen sind. Es werden unter den »erworbenen Inhibitoren« mehrere Gruppen von Inhibitoren unterschieden.
Erwachsenenalter häufig berichteten erworbenen Hemmkörper (Autoimmun-Antikörper) gegen einzelne Gerinnungsfaktoren sind bei Kindern sehr selten (Feinstein 1987). Im Kindesalter sind bei Patienten mit Hämophilie (Hemmkörperhämophilie) v. a. die Inhibitoren gegen FVIII oder FIX zu erwähnen, die sich meist nach den ersten FVIII- bzw. FIX-Substitutionen entwickeln (Allo-Antikörper). Das klinische Bild ist durch anhaltende Blutungen trotz FVIII- bzw. FIX-Gabe geprägt. Nach Substitution ist die Wiederfinderate (»recovery«) von FVIII bzw. FIX im Plasma schlecht. Der Inhibitortiter wird in Bethesda-Einheiten (BE) gemessen.
Die Fibrinolyse ist ein effizientes proteolytisches System zur Auflösung von Blutgerinnseln mit dem Ziel, eine über das physiologische Maß hinausgehende Thrombusbildung rückgängig zu machen und somit einen ungestörten Blutfluss im Gefäß wieder herzustellen. Das zentrale Enzym der Fibrinolyse ist Plasmin, das über Aktivatoren und Inhibitoren eng reguliert wird. Dabei ist Plasmin nicht spezifisch für das Fibringerinnsel, sondern spaltet eine Vielzahl von Substraten zwischen den Aminosäuren Lysin und Arginin (Mihalyi et al. 1976). Somit hat Plasmin auch eine wichtige Funktion bei der Auflösung der extrazellulären Matrix, um Zellmigration und Invasion zu ermöglichen essenzielle Vorgänge bei Wachstumsprozessen, Gewebereparatur, aber auch bei Tumorinvasion und Metastasierung (Danø et al. 1985). Die Spezifität der Fibrino-/Proteolyse wird daher nicht von Plasmin selbst gewährleistet, sondern durch das Zusammenspiel von Plasmin mit dem Substrat und mehr oder weniger spezifischen Plasminogenaktivatoren. Plasminogenaktivatoren sind Serinproteasen mit hoher spezifischer Aktivität für Plasminogen. Neben dem Gewebsplasminogenaktivator tPA (»tissue plasminogen activator«) und dem Urokinase-Plasminogenaktivator (uPA) besitzen auch die Kontaktfaktoren FXIIa und Kallikrein die Fähigkeit, Plasminogen zu aktivieren. Die tPA-Wirkung ist fibrinabhängig. Dies stellt einen Mechanismus zur Lokalisation und Begrenzung der Plasminwirkung auf das Fibringerinnsel dar, was theoretisch einen höheren Sicherheitsaspekt im Hinblick auf eine Lysetherapie bedeuten sollte. uPA hingegen kann auch in Abwesenheit von Fibrin Plasminogen aktivieren und hat seine Hauptaufgabe bei der Auflösung von Zell-Zell- und Zell-Matrix-Bindungen (Danø et al. 1985).
⊡ Abb. 37.6. Ablauf der Fibrinolyse: Gewebsplasminogenaktivator (t-PA) aktiviert proteolytisch Plasminogen (Plg) zu Plasmin (PL). Dieses wird in der Zirkulation rasch durch die Bindung an α2-Antiplasmin (α2-APL) inaktiviert (Plasmin-Antiplasmin-Komplex, PAP). Im Fibringerinnsel fehlt α2-APL; daher kann Plasmin hier seine fibrinolytische
Wirkung entfalten. Es entstehen Fibrinspaltprodukte (FSP). Ein weiterer Gegenspieler der Fibrinolyse ist Plasminogenaktivator-Inhibitor I (PAI-1), der t-PA bindet und damit inaktiviert. Kompetitiv wird PAI-1 wiederum durch den aktivierten Protein-C-Komplex (PC) inaktiviert. Dies erklärt die fördernde Wirkung von Protein C auf die Fibrinolyse
»Unspezifische Inhibitoren« im Kindesalter. Im Kindesalter
werden am häufigsten so gennante »unspezifische Inhibitoren« beobachtet, die sich meist parainfektiös entwickeln und häufig klinisch stumm verlaufen. Sie werden oft erst im Rahmen einer präoperativen Diagnostik entdeckt, da die aPTT verlängert ist. Die Ätiologie und Pathogenese dieser Hemmkörper ist unklar. In den meisten Fällen tritt keine vermehrte Blutungsneigung auf, nur in 2 Fällen in Deutschland wurden bisher Blutungssymptome beobachtet. Die »unspezifischen Inhibitoren« bilden sich meist innerhalb von 39 Monaten spontan zurück. Eine Therapie ist nicht bekannt. Bezüglich der Laboranalysen sind Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zu den so genannten »Lupusantikörpern« ( Kap. 40) zu beobachten. Hemmkörper gegen einzelne Gerinnungsfaktoren. Die im
37
384
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
Im Plasma wird das entstehende Plasmin praktisch vollständig an α2-Antiplasmin gebunden und dadurch inaktiviert. Nur im Thrombus, in Abwesenheit von α2-Antiplasmin, kann freies Plasmin seine Wirkung entfalten. Ein weiterer Regelmechanismus besteht in der Inhibition von tPA durch Bindung an Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI-1), einem Serinprotease-Inhibitor (Serpin). Auch aktiviertes Protein C (APC) ist an dem fibrinolytischen Regelkreis beteiligt. Bindung von PAI-1 an APC verhindert die inhibitorische Wirkung auf tPA und fördert damit die Plasminbildung (⊡ Abb. 37.6). APC besitzt damit neben seiner Inhibitoreigenschaft gegen FVa und FVIIIa eine profibrinolytische Aktivität (Sakata et al. 1985). 37.4.2 Störungen der Fibrinolyse Hereditäre und erworbene Defekte des Fibrinolysesystems können Ursache von Thrombosen aber auch von Blutungen sein. Ein erhöhter PAI-1-Spiegel wird mit einer Thrombophilie in Zusammenhang gebracht, jedoch konnte dies an einem Kollektiv von 203 Patienten mit spontanen oder familiären Thrombosen nicht bestätigt werden. Für eine Assoziation der hereditären Hypo-/Dysplasminogenämie mit einer Thrombophilie gibt es ebenfalls keinen eindeutigen Beweis, da die Berichte hierüber widersprüchlich sind. Meist beruhen die positiven Assoziationen nur auf Fallbeschreibungen. Es ist in diesem Sinne bemerkenswert, dass Patienten mit dem autosomal-rezessiv vererbten schweren Plasminogenmangel aufgrund homozygoter oder compound-heterozygoter Mutationen des Plasminogengens klinisch nicht durch Thrombosen, sondern durch eine »lignöse Konjunktivitis« auf der Basis primärer Fibrinablagerungen der konjunktivalen Membranen auffallen (⊡ Abb. 37.7; Schuster et al. 1997). Zusätzlich zu diesem Symptom, das zur Erblindung führen kann und durch Lys-Plasminogenkonzentrat gut therapierbar wäre (Schott et al. 1998), treten tracheobronchiale Obstruktionen, Nasopharyngitis und ein Hydrocephalus internus auf. Alle Symptome sind durch exzessive Fibrinablagerungen erklärbar. Leider ist die Produktion des erwähnten Konzentrats wegen der nur geringen Anzahl der Patienten nicht über die Erpro-
⊡ Abb. 37.7. Lignöse Konjunktivitis bei einem Mädchen mit schwerem Plasminogenmangel (<3%). Die Fibrinbeläge gehen mit einer schweren Einschränkung des Sehvermögens einher. In Folge einer chirurgischen Abtragung kam es zu einer überschießenden Gewebsneubildung (Foto: V. Knospe)
bungsphase hinausgekommen. Die Produktion wurde eingestellt. Eine hämorrhagische Diathese wird im Zusammenhang mit einer verstärkten Fibrinolyse beobachtet. Diese findet man beim hereditären α2-Antiplasmin-Mangel und beim hereditären PAI-1-Mangel. Ein erworbener α2-AntiplasminMangel tritt im Rahmen von Lebersynthesestörungen, bei disseminierter intravasaler Gerinnung, durch Verlust beim nephrotischen Syndrom und durch eine Lysetherapie auf. Insgesamt sind die hereditären Störungen der Fibrinolyse sehr selten. Die erworbenen Störungen sind jedoch auch quantitativ von Relevanz.
Das hämostaseologische Gleichgewicht ist das Resultat einer fein abgestimmten Regulation prokoagulatorischer, inhibitorischer und fibrinolytischer Faktoren. Dabei können abhängig vom Aktivierungszustand dieselben Faktoren zum Teil gegensätzliche Funktionen wahrnehmen, was die Komplexität dieses Systems unterstreicht. Von besonderem Interesse sind aber auch die Interaktionen mit anderen Systemen, wie der Komplementkaskade im Rahmen der Antwort auf inflammatorische Ereignisse und Infektionen sowie der Vorgänge von Wachstum, Invasion und Metastasierung von Tumoren. Gerade das letztere Thema findet ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse, da man sich von der besseren Kenntnis der Bedeutung von Gerinnungs- und Fibrinolysefaktoren und der Gerinnungsinhibitoren für die Tumorbiologie neue therapeutische Ansätze verspricht. Die heute bereits vorhandenen pharmakologischen Möglichkeiten der Beeinflussung der Hämostase würden eine schnelle Umsetzung dieser Erkenntnisse erleichtern.
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385 37 · Physiologie und Pathophysiologie von plasmatischer Gerinnung und Fibrinolyse
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37
Hämophilie A und B II
W. Muntean, M. Köstenberger
38.1 38.2 38.3 38.4
Pathophysiologie – 386 Genetik – 386 Klinik – 386 Diagnostik – 387
38.4.1
Biochemische Diagnostik und Differenzialdiagnose – 387 Molekularbiologische, Carrierund Pränataldiagnostik – 387
38.4.2
38.5
Therapie
38.5.1 38.5.2 38.5.3 39.5.4 38.5.5 38.5.6
Therapieziele – 387 Akute Blutung – 388 Elektive Chirurgie – 388 Dauertherapie – 388 Nebenwirkungen – 389 Gentherapie – 391
Literatur
– 387
Dadurch kommt es bei schweren Hämophilen auf geringste Auslöser hin zu »spontanen« Blutungen, typischerweise in Gelenke und Muskulatur, sowie zu einer verstärkten Blutung und schlechten Wundheilung nach Verletzung oder Operation. Die Blutungen in das Gelenk ziehen eine Reaktion der Synovia mit Verdickung und Entzündung sowie Schädigung der Gelenkknorpel nach sich. Diese Veränderungen begünstigen zusätzlich weitere Blutungen, die den Prozess verstärken und zur Entwicklung eines chronisch veränderten Gelenkes, der »hämophilen Arthropathie«, führen. Blutungen in die Muskulatur führen zu Fibrose und Verkürzung, so dass bei unbehandelten Hämophilen schwerste chronische Veränderungen an Muskel- und Skelettapparat bis hin zur Verkrüppelung entstehen.
– 391
38.2 Die Hämophilie ist molekularbiologisch, biochemisch und in ihrer klinischen Manifestation ausgezeichnet erforscht; eine pränatale Diagnostik ist möglich. Für die Therapie stehen hochgereinigte Faktorenkonzentrate zur Verfügung. Faktor VIII- und IX sind die bisher größten gentechnologisch erzeugten Proteine zum therapeutischen Einsatz. Erste Gentransferstudien laufen. Die Therapie der Hämophilie bedarf aber eines sehr großen medizinischen, logistischen und finanziellen Aufwandes, und der Erfolg wurde in der Vergangenheit aufgehoben durch die Nebenwirkung der Übertragung transfusionsrelevanter Viren. Inhibitorentstehung und Inhibitorsuppressionstherapie bedürfen weiterer Studien.
38.1
Pathophysiologie
Hämophilie ist eine angeborene X-chromosomal rezessive Erkrankung mit einem Mangel an Gerinnungsfaktor VIII (Hämophilie A) oder IX (Hämophilie B) bei einer Inzidenz von etwa 20–25 pro 100 000 Männern, wobei 85% davon Hämophilie A-Patienten sind. Spontane Fälle machen bis zu 30% aus. Faktor IX wird durch den Faktor-VIIa-TissueFaktor-Komplex initial und in der Folge auch durch thrombinaktivierten Faktor XI aktiviert. Faktor VIII wird durch Thrombin aktiviert und ist ein Kofaktor im Tenase-Komplex, wobei Faktor IXa gemeinsam mit Faktor VIIIa den Faktor X aktiviert. Mangel an Faktor VIII oder IX führt daher zu einer Störung dieser Schlüsselreaktion der Thrombingeneration und klinisch zu einer schweren plasmatischen Gerinnungsstörung.
Genetik
Hämophilie A ist bedingt durch heterogene Mutationen im für Faktor-VIII-kodierenden Gen, lokalisiert an Xq28 und bestehend aus 26 Exons. Eine Inversion am Intron 22 ist bei etwa 40% der Patienten Ursache einer schweren Hämophilie. Bislang sind über 500 weitere Mutationen beschrieben, bei einigen wenigen Patienten konnte trotz ausführlicher Untersuchung keine Mutation gefunden werden, was auf weitere Mechanismen hinweist. Das Faktor-IX-Gen ist proximal des Faktor-VIII-Gens am X-Chromosom lokalisiert und es wurden ebenso große und kleine Deletionen, Mutationen sowie Punktmutationen beschrieben. 38.3
Klinik
! Bei der Hämophilie findet sich eine vermehrte Blutungsneigung vom verzögerten Typ nach Verletzung, die Wundheilung ist schlecht, Petechien fehlen.
Die Hämophilie wird meist durch die ersten »spontanen« Blutungen auffällig, wobei das Manifestationsalter sehr unterschiedlich ist. In einer Untersuchung an deutschen Hämophilen traten die ersten Blutungen im Mittel mit 1,22 Jahren auf, die erste Gelenkblutung mit 1,91 Jahren. Hirnblutungen sind sehr selten die Erstmanifestation. Überraschenderweise manifestiert sich die Hämophilie nicht sehr häufig in der Neugeborenenperiode. Die schmerzhaften Gelenkblutungen führen zum typischen Bild der durch die Gelenkkapsel begrenzten Schwellung (⊡ Abb. 38.1), Muskelblutungen bedingen ebenfalls eine Schwellung, werden aber oft in ihrer Bedeutung, insbesondere in Hinsicht auf die Folgen, unterschätzt. Spontane Schleimhautblutungen sind nicht typisch für die Hämophilie, kleine Verletzungen können aber zu massiven Blutungen führen. Zungenbiss oder Blutung aus
387 38 · Hämophilie A und B
38.4.2 Molekularbiologische, Carrier-
und Pränataldiagnostik Molekularbiologische Diagnose. Eine molekularbiologische Diagnose trägt nicht unmittelbar zu Therapieentscheidungen bei, ist aber trotzdem anzustreben, da die Art des genetischen Defektes zum Verständnis des Verlaufs der Erkrankung beitragen kann. Vor allem aber ist sie anzustreben, da die bereits durchgeführte genetische Diagnostik beim Indikatorfall die Carrier- und pränatale Diagnose erleichtert. Carrier-Diagnostik. Die Aktivität des Faktors VIII oder IX
⊡ Abb. 38.1. Erste Gelenkblutung in den Knöchel bei einem 14 Monate alten Patienten mit Hämophilie A
Lippenbändchen sind häufige Erstmanifestation. Oft ist ein bestimmtes Gelenk besonders betroffen, es kommt zur Ausbildung von so genannten »target joints« (Pollmann et al. 1999). 38.4
Diagnostik
38.4.1 Biochemische Diagnostik
und Differenzialdiagnose ! Als wichtigster Screening-Test ist die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (APTT) bei schwerer Hämophilie massiv verlängert. Bei milder Hämophilie kann die PTT grenzwertig sein. Die Diagnose erfolgt durch die Bestimmung der Aktivität von Faktor VIII und IX.
Von schwerer Hämophilie spricht man bei einem Wert unter 1%, von mittelschwerer bei Werten von 1–5% und von milder bei Werten von 5–30%. Überträgerinnen können Erniedrigungen des Faktors bis auf 50% haben, wobei in der Regel die Erniedrigung bei Überträgerinnen der Hämophilie B deutlicher ist. Vor allem die milde Hämophilie A ist abzugrenzen gegen die unterschiedlichen Formen des Von-WillebrandSyndroms. Bei Hämophilie A findet sich eine Erniedrigung des Faktors VIII bei normalem Von-Willebrand-FaktorAntigen und Von-Willebrand-Faktor-Aktivitätstests. Besonders schwierig kann die Differenzialdiagnose bei Fehlen des typischen Erbgangs zum Von-Willebrand-Syndrom Typ Normandie sein, bei dem sich dieselbe biochemische Konstellation findet. Zur Differenzialdiagnose ist eine Bestimmung der Faktor-VIII-Bindungskapazität des Von-Willebrand-Faktors notwendig. Die Kontrolle des Therapieerfolges erfolgt durch FaktorVIII- oder -IX-Aktivitätsbestimmung. Bei einem der rekombinanten Präparate muss eine chromogene Methode angewandt werden (Mikaelsson u. Oswaldsson 2002; Tuley et al. 1991).
kann bei Carriern niedriger sein; die Diagnose kann so mit hoher Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit letzter Sicherheit, gestellt werden. Lässt sich die Intron-22-Mutation verhältnismäßig einfach nachweisen, bleibt beim Rest der Patienten die vollständige Untersuchung des großen Faktor-VIII-Gens aufwändig. Einfacher sind indirekte Genanalysen mittels Polymorphismus-Linkage. Diese Methode ist aber limitiert durch Fehlen eines Indexpatienten bei häufiger Spontanmutation und hoher HIV-Mortalität bei Hämophilie. Pränataldiagnostik. Die pränatale Diagnostik kann aus einer Chorionbiopsie in der 10. bis 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden; es gelten dieselben Überlegungen wie für die Carrier-Diagnostik unter gleichzeitig bestehendem Zeitdruck. Verschiedene Strategien für die molekularbiologische Testung wurden beschrieben. Biochemische Diagnose durch fetale Blutabnahme ist möglich, aber nur indiziert bei Versagen anderer Methoden. Es werden Faktor-VIII-Aktivität oder besser VIII-Antigen im Verhältnis zum VonWillebrand-Faktor-Antigen bestimmt. Eine Durchführung ist schwierig aufgrund der möglichen Voraktivierung und Verdünnung der Proben und sollte Zentren mit Erfahrung vorbehalten bleiben (Mibashan et al. 1980; Oldenburg 2001).
38.5
Therapie
38.5.1 Therapieziele ! Ziel einer modernen Hämophiliebehandlung ist es, durch Gabe von Gerinnungsfaktorenkonzentraten ein möglichst blutungsfreies Leben zu ermöglichen sowie im Falle eines Unfalls oder einer Operation eine adäquate Substitutionstherapie durchzuführen. Die Folgen am Muskel- und Skelettapparat sind zu verhindern.
Unter »comprehensive hemophilia care« wird die umfassende Hämophiliebehandlung zusammengefasst, die Substitutionstherapie, Physiotherapie, orthopädische Betreuung sowie psychische und soziale Unterstützung umfasst. Sie geschieht am besten in Zusammenarbeit zwischen einem spezialisierten Hämophiliezentrum und dem niedergelassenen Arzt vor Ort. »Comprehensive hemophilia care«, früh begonnen und konsequent durchgeführt, ermöglicht hämophilen Kindern ein weitgehend normales Leben mit guter Lebensqualität.
38
388
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
38.5.2 Akute Blutung Operation bei Patienten mit Hämophilie:
II
Die Therapie einer akuten Blutung hat so schnell wie möglich zu erfolgen. Durch den Patienten subjektiv wahrgenommene erste Anzeichen gelten unbedingt als Indikation. Der angestrebte Plasmaspiegel bei der Substitution mit Faktor-VIIIoder -IX-Konzentrat richtet sich nach dem Schweregrad der Blutungen (⊡ Tabelle 38.1, auch Tabelle 26 im Anhang). Bei einer unkomplizierten Blutung in ein nicht chronisch verändertes Gelenk ist meist die einmalige Gabe ausreichend. Bei Verletzungen oder Muskelblutungen muss die Substitution bis zum Abschluss der Wundheilung bzw. vollständigen Resorption fortgesetzt werden. Es ist daher in der Regel die wiederholte Gabe von Faktor VIII alle 8 h, von Faktor IX alle 12 h, notwendig. Bei Schleimhautblutungen, etwa kleinen Verletzungen im Mund, muss zusätzlich zur Substitutionstherapie eine antifibrinolytische Therapie bis einige Tage nach dem Stillen der Blutung verabreicht werden. Bei kleinen Läsionen kann eine antifibrinolytische Therapie allein ausreichend sein. Bei Hämaturie ist festzulegen, ob es sich um eine distale oder um eine glomeruläre handelt. Glomeruläre Hämaturie im Sinne einer Immunkomplex-Nephritis kommt ausnahmsweise als Komplikation der Substitutionstherapie vor, eine Steroidtherapie kann versucht werden. Bei mittelschwerer und leichter Hämophilie ist bei kleineren Blutungen und auch kleinen Eingriffen DDAVP eine gute Alternative. Bezüglich Dosierung, Nebenwirkungen und möglicher Dauer der Therapie gelten die gleichen Richtlinien wie beim Von-Willebrand-Syndrom ( Kap. 39).
Diagnose Inhibitortestung Blutkomponenten bereit (auch für Komplikationen ausreichend) Gerinnungslabor bereit, dann: Substitutionsbeginn knapp vor Operation, nach Laborkontrolle: Operation, nach Laborkontrolle: Weitere Substitution nach Plan und Verlauf
Die Substitution mit Hochkonzentrat kann durch Bolusgabe oder durch kontinuierliche Infusion erfolgen ( Abschn. 38.5.2). Kontinuierliche Infusion führt nachweislich zur Einsparung an Faktorenkonzentrat, verlangt aber eine gute labormäßige Kontrolle. Zuletzt gab es Hinweise, dass die kontinuierliche Gabe vielleicht häufiger zu Inhibitorentstehung führen könnte. ! Die Substitutionsbehandlung ist bis zum Abschluss der Wundheilung durchzuführen, wobei je nach Schwere des Eingriffs und klinischem Verlauf die Dosen schrittweise reduziert werden können (Batorova u. Martinowitz 2002; Muntean 1997).
39.5.4 Dauertherapie »On-demand«-Behandlung. Unter »On-demand«-Behand-
38.5.3 Elektive Chirurgie Als wichtiges Prinzip gilt, dass Hämophile jede Art von Chirurgie unter denselben Indikationen wie gerinnungsgesunde Patienten haben sollen. Dies ist unter guter Substitutionstherapie tatsächlich auch möglich. Eine Reihe von organisatorischen Voraussetzungen sind aber unbedingt zu erfüllen:
lung versteht man die Substitutionsbehandlung nur auf das Blutungsereignis hin. In aller Regel wird eine Heim- und Selbstbehandlung angestrebt. Typischerweise wird bei sehr jungen Kindern die Substitutionstherapie durch den Hausarzt, in der Folge durch die Eltern und sobald wie möglich durch den Patienten selbst durchgeführt. Insbesondere die Selbstbehandlung gibt ein Gefühl der Sicherheit und ermöglicht die Teilnahme an Aktivitäten fern der behandelnden Institution.
⊡ Tabelle 38.1. Substitution bei Hämophilie. Eine Einheit des Faktorenkonzentrats/kg KG ergibt einen Anstieg im Plasma von etwa 2%
Ereignis
Ziel Plasmaspiegel
Oberflächliche Blutung
15–20%
Schleimhäute
15–50% plus Antifibrinolytika
Gelenkblutung, Muskelblutung
30–50%
ZNS-, intestinale Blutung, Verletzung
50–100%
Präoperativ und 1. + 2. postoperativer Tag
50–100%
Ab 3. postoperativem Tag
Je nach Verlauf niedriger bis zum Abschluss der Wundheilung
Substitution
Dosierung
Intermittierende Substitution
1. bis 2. postoperativer Tag: Hämophilie A alle 6–8 h, Hämophilie B alle 12 h danach: Hämophilie A alle 8–12 h, Hämophilie B alle 12–24 h
Kontinuierliche Substitution
Bolus auf 80%, 4–5 E/kg KG/h am 1. Tag, 2–3 E/kg KG/h ab 2. bis 3. Tag
Substitution bei Inhibitor
FEIBA: 50–100 E/kg KG alle 6 h initial, je nach Verlauf Verlängerung des Dosisintervalls rVIIa: 90 µg/kg KG 1. bis 2. Tag: alle 2–3 h, 3. bis 7. Tag: alle 2–4 h, bis Wundheilung: alle 6–8 h
389 38 · Hämophilie A und B
Primäre und sekundäre Prophylaxe. Auch durch eine gut
durchgeführte »On-demand«-Behandlung lassen sich in aller Regel nicht alle Veränderungen am Muskel- und Skelettsystem verhindern. Bei einer Selbstbehandlung werden naturgemäß auftretende Blutungen zwar rasch behandelt, aber nicht verhindert. Durch Substitution etwa 3-mal wöchentlich bei Hämophilie A und 2-wöchentlich bei Hämophilie B mit 20–40 E/kg KG bleiben die Patienten in aller Regel weitgehend blutungsfrei. Es wurde gezeigt, dass unter dieser prophylaktischen Therapie die Gelenksveränderungen noch geringer sind als unter einer guten »On-demand«-Behandlung. Dosis und Frequenz der prophylaktischen Behandlung sind so anzupassen, dass der Spiegel nicht unter 1% abfällt. Vor allem sollten unter prophylaktischer Therapie keine spontanen Blutungen mehr auftreten. Es besteht Konsens darüber, das Kinder mit häufigen Blutungsereignissen eine prophylaktische Therapie haben sollen. Kein eindeutiger Konsens besteht über den Zeitpunkt des Beginns einer so genannten primären Prophylaxe. Definitionsgemäß müsste sie vor der ersten Blutung einsetzen. Da die ersten Blutungsereignisse aber zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten beobachtet werden, würde das für eine Reihe von Patienten eine unnötige Substitutionstherapie mit dem Risiko der Inhibitorentstehung bedeuten. Zudem ist bei jungen Kindern häufig ein zentraler Venenzugang notwendig. Beste Erfolge werden mit einer individualisierten Therapie erreicht. Viele Zentren gehen so vor, dass nach der ersten oder zweiten spontanen Blutung mit der Prophylaxe begonnen wird. Im PedNet, einer Gruppe europäischer Hämophiliezentren, wurde Konsens erzielt, dass von einer primären Prophylaxe gesprochen werden kann, wenn nach der ersten oder zweiten Blutung vor Ende des zweiten Lebensjahres mit einer Prophylaxe begonnen wird. ! Eine prophylaktische Dauertherapie ist unbedingt angezeigt, wenn es zur Ausbildung eines »target joints« mit chronischen Veränderungen gekommen ist.
Eine solche sekundäre Prophylaxe ist bis zur weitgehenden Rückbildung bzw. Besserung durchzuführen. Zysten und Pseudotumoren als Folge großer Blutungen sollten bei richtig behandelten Kindern nicht mehr gesehen werden (Kreuz et al. 1998; Ljung et al. 1999; Ljung et al. 2000; Van-den-Berg et al. 2001). Orthopädische Betreuung, Physiotherapie, Sport. Nach akuten Blutungen und bei chronischen Veränderungen ist eine spezialisierte Physiotherapie unabdingbar. Während der Physiotherapie muss eine prophylaktische Substitutionstherapie durchgeführt werden. Orthopädische Probleme aufgrund der Hämophilie sollten bei guter Behandlung im Kindesalter nicht mehr auftreten. Bestehende geringe Fehlstellungen wie Knick-Senkfüße sollten aber gut betreut werden, da diese Fehlstellungen zu »spontanen« Blutungen führen können. Eine gut entwickelte Muskulatur trägt wesentlich zur Reduzierung der Blutungshäufigkeit bei. Es gilt in jedem Fall den Teufelskreis Blutung, Bewegungsarmut, schwache Muskulatur zu durchbrechen. Wichtiger Bestandteil hierbei ist regelmäßige sportliche Betätigung. Ideale Sportarten sind
solche, die zu einem guten Aufbau der Muskulatur ohne zu große Belastung der Gelenke führen, wie beispielsweise Schwimmen. Viele Hämophile betreiben aber mit gutem Erfolg auch Sportarten, die nach diesen Kriterien nicht als ideal anzusehen sind. Auch hier ist am besten eine individuelle Betreuung des Patienten (Santavirta et al. 2001). Evaluierung des Therapieerfolgs. Das Muskel- und Skelett-
system muss regelmäßig überprüft werden. Hierfür stehen klinische Scores und als radiologischer Score der so genannte Pettersson-Score zur Verfügung. Beide Scores sind im Kindesalter überholt, da sie nicht in der Lage sind geringgradige Veränderungen zu erfassen. Aus diesem Grund werden zur Zeit sowohl empfindlichere klinische als auch MRI-Scores entwickelt. ! Es sollte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen therapeutischen Maßnahmen und Belastung für den Patienten einerseits und der Lebensqualität der Patienten angestrebt werden.
Spezielle Instrumente zum »Quality of Life Assessment« bei Hämophilen sind derzeit ebenfalls in Ausarbeitung (Manco Johnson et al. 2000; Pettersson u. Gilbert 1985; Soler et al. 2002). 38.5.5 Nebenwirkungen Übertragung transfusionsrelevanter Viren In der Vergangenheit war die Übertragung transfusionsrelevanter Viren die schwerwiegendste Nebenwirkung der regelmäßigen Substitutionstherapie, so dass an Stelle von Blutungen Hepatitis B (HBV) und Hepatitis C (HCV), später HIV zur Haupttodesursache bei Hämophilen wurden. Heute tragen zur Virussicherheit Spenderauswahl, Screening, definierte Größe der Plasma-Pools, Screening der Pools auf Antikörper und mittels PCR, Abreicherung von Viren durch Produktionsverfahren und v. a. Virusinaktivierungsverfahren bei. Alle zugelassenen Virusinaktivierungsverfahren, insbesondere Pasteurisierung, S/D-Verfahren und Kombination mehrerer Verfahren, sind in Hinsicht auf HBV, HCV und HIV sicher. S/D-Verfahren wirken bei nicht lipidumhüllten Viren (Hepatitis A, Parvovirus B19) nicht. Parvovirus B19 ist sehr hitzestabil und wird auch durch andere Verfahren nicht sicher inaktiviert. Hepatitis-A-Viren (HAV) wurden durch S/D-inaktivierte Konzentrate nachweislich übertragen. Parvovirus-B19-Antikörper finden sich bei Hämophilen häufiger als in der Normalpopulation. Rekombinante Faktorenkonzentrate sind nicht vollkommen risikolos in Hinsicht auf Übertragung von Viren aufgrund von Säugetierzellkulturen, viralen Vektoren, in der Vergangenheit zugesetztem bovinem oder humanem Albumin sowie Reinigung mit monoklonalen Antikörpern. Parvovirus B19 wurde nachweislich durch rekombinanten Faktor VIII übertragen, und es besteht das zumindest theoretische Risiko der Übertragung nicht-humaner Viren. Die Übertragung des »New-variant-CreuzfeldJakob-Agens (nvCJD-Agens) sowohl durch humane als auch durch rekombinante Faktorenkonzentrate kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden (Baxter et al. 1998; Eis-Hübinger et al. 1996; Hay et al. 1985;
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II
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
Horowitz et al. 1988; Mannucci et al. 1990; Mannucci 1992; Muntean et al. 2002).
BU eine verminderte Recovery und verkürzte Halbwertszeit gefunden werden.
Inhibitorentstehung Pathogenese. Die schwerwiegendste Komplikation der Substitutionsbehandlung ist die Entwicklung eines Hemmkörpers gegen Faktor VIII oder IX. Diese Hemmkörper sind polyklonale, vorwiegend IgG4-Antikörper und gegen unterschiedliche Epitope des Faktor-VIII- oder -IX-Moleküls gerichtet. Die Art des genetischen Defekts hat einen Einfluss auf die Inhibitorhäufigkeit, bei großen Deletionen ist das Risiko etwas höher. HLA-Klasse-II-Antigene scheinen einen sehr schwachen Einfluss auf die Inhibitorentwicklung zu haben. Nach Anwendung eines bestimmten doppelt Virus-inaktivierten Konzentrates traten gehäuft Inhibitoren auf. Abgesehen von diesen Zwischenfällen lässt sich ein Unterschied zwischen den einzelnen Konzentraten aber nicht mit Sicherheit zeigen. Auch die mit Einführung der rekombinanten Faktorenkonzentrate postulierte Vermutung, dass diese häufiger zu Inhibitorbildung führen als plasmatische Konzentrate, ist noch nicht mit Sicherheit widerlegt oder bestätigt. Der Zeitpunkt der ersten Gabe eines Konzentrates mag von Bedeutung sein. Neuere Studien zeigen, dass das Risiko deutlich höher ist, wenn die erste Gabe innerhalb der ersten 6 Lebensmonate erfolgt. In einer Studie war das Risiko am geringsten, wenn nur ein plasmatisches Faktor-VIII-Konzentrat für die gesamte Substitutionsdauer verwendet worden war. Eine mögliche Ursache der Inhibitorentstehung mag in der Modifizierung der Immunantwort durch zugleich stattfindende Entzündungsvorgänge oder Impfungen sowie große Operationen liegen (Briet et al. 1994; Ehrenforth et al. 1992; Hay et al. 1997; Mauser-Bunschoten et al. 1994; Oldenburg et al. 2000; Wight u. Paisley 2002).
Therapie akuter Blutungen. Die Therapie einer akuten Blu-
Häufigkeit, Klinik. In einer Metaanalyse fand sich eine Inhibi-
torhäufigkeit zwischen 0 und 45% (Briet et al 1994). Diese unterschiedlichen Ergebnisse erklären sich durch die kleinen Zahlen und die Unterschiedlichkeit der untersuchten Populationen. Das Entstehen eines Inhibitors ist bei ersten Gaben wahrscheinlicher als bei einem schon lang dauernd behandelten Patienten. Bei Patienten mit »On-demand«-Behandlung kommt es zwar nicht zu häufigerem Auftreten von Blutungen; der klinische Erfolg der Substitutionstherapie ist aber nicht mehr in derselben Weise wie vor dem Auftreten des Inhibitors gegeben. Bei Patienten unter prophylaktischer Behandlung wird diese unwirksam; die Blutungsereignisse nehmen zu (Lorenzo et al. 2002; Scharrer u. Neutzling 1993). Diagnostik. Die labormäßige Diagnose eines Hemmkörpers
ist bei klinischem Verdacht und vor elektiven chirurgischen Eingriffen durchzuführen. Da die Hemmkörperbildung eine häufige Komplikation darstellt, sollte eine Hemmkörperbestimmung unter Substitutionstherapie in regelmäßigen Abständen durchgeführt werden, in der Regel alle 3–6 Monate. Die Bestimmung des Hemmkörpertiters erfolgt nach der Bethesda-Methode oder einer ihrer Modifikationen in Bethesda Units (BU). Darüber hinaus wird insbesondere zur Verlaufskontrolle einer Inhibitorsuppressionstherapie die Faktor-VIII- oder IX-Recovery und Halbwertszeit bestimmt. Bei sehr niedrigen Hemmkörpertitern kann trotz negativer
tung ist abhängig vom Hemmkörpertiter des Patienten. Man unterscheidet Patienten, bei denen Antigenkontakt zu einem raschen und hohen Anstieg des Hemmkörpertiters führt – so genannte »high responder« mit Titern über 5 BU – von solchen mit geringem Anstieg – »low responder« mit Titern unter 5 BU. Unter 5 BU lässt sich der Hemmkörper durch hohe Dosen an Faktor VIII oder IX überkommen. Es sind aber vielfach höhere Dosen als bei Patienten ohne Hemmkörper notwendig; bei Bolusgabe muss aufgrund der stark verkürzten Halbwertszeit diese in kürzeren Abständen erfolgen. Eine regelmäßige Laborkontrolle der Spiegel ist unabdingbar. Bei einem Hemmkörpertiter über 5 BU ist eine Therapie mit einem Faktor-VIII- oder -IX-Konzentrat nicht mehr möglich. Bei akuten Blutungen wird mit aktiviertem Prothrombinkomplex, FEIBA oder rekombinantem aktiviertem Faktor VII (rVIIa) behandelt. Der Wirkmechanismus beider Therapieprinzipien ist nicht eindeutig geklärt, die Wirksamkeit aber belegt. Der Effekt bei akuten Blutungen ist gut, aber nicht so vorhersehbar wie bei Patienten ohne Hemmkörper mit normaler Substitutionsbehandlung. Auch große Operationen wurden erfolgreich sowohl mit aktiviertem Prothrombinkomplexen, FEIBA als auch rVIIa durchgeführt. Das Problem der Patienten mit Hemmkörpern ist insgesamt nicht so sehr die akute Blutung als vielmehr die prophylaktische Therapie. Eine Prophylaxe mit Prothrombinkomplexkonzentrat oder FEIBA ist möglich und wurde zugleich mit der Immuntoleranzinduktionstherapie durchgeführt ( unten; Hilgartner u. Knatterud 1983; Shapiro 2000). Hemmkörpersuppresssionstherapie (Immuntoleranzinduktion, ITI). Von Brackmann (Brackmann et al. 1996) war als
erstem gezeigt worden, dass regelmäßige Zufuhr von Faktor VIII in hohen Dosen über längere Zeit zum Verschwinden des Inhibitors führen kann. Im so genannten Bonner Protokoll wurden 2-mal täglich 100 Einheiten Faktor VIII/kg KG gleichzeitig mit täglich 50 Einheiten FEIBA als Blutungsprophylaxe bis zum Verschwinden des Hemmkörpers gegeben. Dieses Protokoll erwies sich in der Folge als sehr erfolgreich zur ITI und wird in Modifikationen weiterhin häufig angewandt. Es wurde auch gezeigt, dass mit viel geringeren Dosen und nur 3-mal wöchentlicher Gabe bei einem großen Teil von Inhibitorpatienten ebenfalls ein Verschwinden des Inhibitors erreicht werden kann. Bei einigen Patienten scheint die ITI mit Von-Willebrand-Faktor-haltigen Konzentrat effektiver zu sein (⊡ Abb. 38.2), wahrscheinlich in Abhängigkeit vom Epitop, gegen das der Antikörper gerichtet ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keinerlei Sicherheit in Hinsicht auf notwendige Dosis und Frequenz der Applikation bei der ITI. Es werden weltweit sehr unterschiedliche Protokolle angewandt, insgesamt gelingt aber bei den meisten Patienten die ITI: Eine Umfrage im PedNet ergab, dass etwa 80% aller Inhibitorpatienten erfolgreich behandelt wurden. Eine derzeit laufende internationale kooperative Studie untersucht so unterschiedliche Dosen wie 50 E/kg KG Faktor VIII 3-mal wöchentlich gegenüber 200 E/kg KG täglich. Die Etablierung eines aussichtsreichen Protokolls mit
391 38 · Hämophilie A und B
Zwischenfälle wurden insbesondere mit weniger reinen Prothrombinkomplexkonzentraten in der Vergangenheit beobachtet. Die Behandlung der Hämophilie B durch Prothrombinkomplexkonzentrat ist daher mit Ausnahme der Hemmkörperhämophilie obsolet (De Biasi et al. 1991; Mannucci et al. 1994). 38.5.6 Gentherapie
⊡ Abb. 38.2. Immuntoleranzinduktion bei einem Patienten mit Hämophilie A und hochtitrigem Hemmkörper: Täglich zweimalige Gabe von 100 E/kg KG eines rekombinantem Faktor-VIII-Konzentrat führt zu weiterem Anstieg des Hemmkörpers, nach Umstellen auf ein Von-Willebrand-Faktor-haltiges humanes Konzentrat kommt es zum kontinuierlichen Abfall des Hemmkörpers. BU Bethesda Units
den geringst möglichen Dosen ist von entscheidender Bedeutung bei den extrem hohen Kosten und dem hohen logistischen Aufwand der ITI. Ein weiteres ITI-Protokoll, das so genannte Malmö-Protokoll setzt initial eine Immunabsorption zur Reduktion des Hemmkörpertiters und nachfolgend hohe Dosen an Faktorenkonzentrat gemeinsam mit immunsuppressiver Therapie ein. Das Malmö-Protokoll ist v. a. von Bedeutung bei der Hämophilie B mit Hemmkörpern, da bei Gabe von FaktorIX-Konzentrat häufig massive allergische Reaktionen beobachtet werden. Bei einem Großteil der Patienten kommt es unter regelmäßiger Faktor-IX-Gabe auch zur Entwicklung eines nephrotischen Syndroms. Dies macht die ITI durch alleinige Gabe von Faktor-IX-Konzentraten bei einem großen Teil der Hämophilie-B-Patienten unmöglich (Dharnidharka et al. 1998; Nilsson et al. 1986; Warrier et al. 1997). Andere Nebenwirkungen Akute Nebenreaktionen finden sich mit modernen Hochkonzentraten äußerst selten. Auch bei nicht infizierten Hämophilen finden sich bei regelmäßiger Substitutionstherapie Veränderungen der Lymphozytensubpopulationen. Diese sind aber bei HIV- und HCV-negativen Patienten ohne klinisches Korrelat. Es wurde gezeigt, dass bei HIV-positiven Patienten die Veränderungen an den Lymphozytensubpopulationen unter Substitution mit einem hochreinen Konzentrat langsamer voranschreiten. Da plasmatische und rekombinante Produkte durch monoklonale Antikörper gereinigt werden, können Anti-Maus-Antikörper bei hämophilen Patienten nachgewiesen werden. Cave Prothrombinkomplexkonzentrate, insbesondere aktivierte Prothrombinkomplexkonzentrate, können Thrombosen oder disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) induzieren.
Die Voraussetzungen einer Therapie durch Gentransfer sind bei der Hämophilie günstig: Obwohl sowohl Faktor VIII als auch IX vorwiegend in der Leber produziert werden, ist es möglich, Faktor VIII und IX auch an anderen extrahepatischen Zellen zu exprimieren. Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen erscheint bei der Hämophilie eine Regulation der Faktor-VIII- oder -IX-Spiegel nicht von entscheidender Bedeutung, da in einem weiten Bereich ein guter therapeutischer Effekt zu erwarten ist. Nur bei extrem hohen Spiegeln ist eine Thromboseneigung zu befürchten. Genlokus, Funktion und Struktur des Faktor-VIII- bzw. -IX-Gens sind gut abgeklärt. Beim Menschen finden zur Zeit eine Reihe von Phase-1-Studien statt. Der Zeitpunkt, an dem Gentherapie im Kindesalter eine Alternative zu einer gut durchgeführten primär prophylaktischen Substitutionstherapie darstellen wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Theoretisch denkbar bleibt ein Gentransfer an das Neugeborene, wie er bei neugeborenen Mäusen in die Leber mit retroviralem Vektor bereits durchgeführt wurden (Choo et al. 1982; Kay et al. 2000; Roth et al. 2001). Galt die Hämophilie früher als eine nicht behandelbare Krankheit, so ist heute bei adäquater Therapie und insbesondere sorgfältiger Prophylaxe eine hohe Lebensqualität zu erreichen. Ungelöst bleibt aber noch das Problem der recht häufigen Inhibitorentstehung. Eine erfolgreiche Therapie durch Gentransfer ist derzeit noch nicht abzusehen.
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393
Von-Willebrand-Syndrom R. Schneppenheim
39.1 39.2 39.3
Definition – 393 Klinische Symptomatik – 393 Von-Willebrand-Faktor – 394
39.3.1 39.3.2 39.3.3
Biosynthese und Regulation – 394 Funktion – 395 Molekulare Genetik – 395
39.4
Labordiagnostik
39.4.1 39.4.2
Phänotypische Charakterisierung – 396 Genotypisierung – 396
39.5 39.6 39.7 39.8
Klassifikation – 397 Differenzialdiagnose – 398 Erworbenes Von-Willebrand-Syndrom Therapie und Prophylaxe – 399
39.8.1 39.8.2
DDAVP – 400 Substitutionstherapie – 401
Literatur
39.1
– 396
– 399
– 401
Die Von-Willebrand-Erkrankung ist die häufigste hereditäre hämorrhagische Diathese mit einer Prävalenz von bis zu 1% (Rodeghiero et al. 1987). Sie weist eine ausgeprägte klinische und laborchemische Heterogenität auf. Sie beruht auf erblichen quantitativen und qualitativen Defekten des Von-WillebrandFaktors (VWF), der eine Schlüsselfunktion in der primären Hämostase einnimmt und zusätzlich eine wichtige Funktion in der sekundären Hämostase besitzt (Zimmerman et al. 1971). Im deutschen Sprachgebrauch wird die Erkrankung auch als Von-Willebrand-Jürgens-Syndrom bezeichnet, in der englischen Literatur als von Willebrand disease in Abgrenzung zum von Willebrand syndrome, das auch die erworbene Form einschließt. Entsprechend wird in dem vorliegenden Kapitel die Bezeichnung Von-Willebrand-Erkrankung für die hereditäre Form, der Name Von-Willebrand-Syndrom (VWS) als Oberbegriff für die hereditäre und die erworbene Form benutzt.
39.2 Erik Adolf von Willebrand, ein finnischer Professor aus Helsinki (Helsingfors) beschrieb 1926 am Beispiel einer Blutersippe von den Åland-Inseln eine neue hereditäre hämorrhagische Diathese als »hereditäre Pseudohämophilie« (von Willebrand 1926). Im Unterschied zur Hämophilie fand er eine verlängerte Blutungszeit und einen autosomalen Erbgang, der jedoch Frauen stärker als Männer zu betreffen schien. So waren Todesfälle durch Verbluten in der untersuchten Sippe nur bei Mädchen und Frauen aufgetreten. Die Bezeichnung »Pseudohämophilie« erhielt neue Bedeutung durch die Entdeckung einer Assoziation zwischen der verlängerten Blutungszeit und einem erniedrigten Faktor VIII bei Patienten mit Von-Willebrand-Syndrom (VWS) durch Alexander und Goldstein (1953). Erst 1971 konnten Zimmerman und Mitautoren immunologisch nachweisen, dass der für das VWS verantwortliche Faktor nicht mit dem Faktor VIII identisch, wohl aber mit diesem assoziiert war (Zimmerman et al. 1971). Die Bezeichnung FVIII-assoziiertes Antigen stammt aus dieser Zeit und wurde später durch »von Willebrand-Faktor« (VWF) ersetzt. Die Klonierung des VWFGens 1985 durch mehrere Arbeitsgruppen bestätigte den VWF als eigenen Faktor mit einem erstaunlich komplexen funktionellen Spektrum in der primären wie sekundären Hämostase.
Definition
Klinische Symptomatik
Leitsymptome des VWS sind die verlängerte Blutungszeit und die Schleimhautblutung. Entsprechend manifestieren sich Blutungen im HNO-Bereich, im Gastrointestinaltrakt und im Urogenitalsystem. Am häufigsten sind Epistaxis, und bei Mädchen nach der Menarche Menorrhagien, die unbehandelt auch zum Tod durch Verbluten führen können, wie bereits durch von Willebrand beschrieben. Anhaltende Blutungen nach Geburten führen gelegentlich auch heute noch, bei Unkenntnis der Diagnose, zur Hysterektomie. Im Gegensatz zur Hämophilie findet man bei einem klinisch relevanten VWS lang anhaltende Blutungen auch aus kleinsten Schnitt- und Schürfwunden. Beinahe regelhaft treten lang anhaltende Blutungen nach Zahnwechsel, Zahnextraktion und Einriss des Zungenbändchens auf. Diese Blutungen werden bezüglich der Quantität oft unterschätzt, da das Blut verschluckt wird. Schwere Anämien sind die Folge. ! Neben einer auch im normalen Leben relevanten Blutungsneigung können unerwartete Blutungen im Rahmen von Tonsillektomien, Zahnextraktionen oder Adenotomien Erstmanifestation eines VWS sein und den Operateur überraschen. In den meisten Fällen können derartige Ereignisse nicht durch die übliche präoperative Gerinnungsdiagnostik vorhergesagt werden.
Hämophilieartige Blutungen wie Gelenk- und Muskelblutungen treten in der Regel nur bei der sehr seltenen schweren Von-Willebrand-Erkrankung (Typ 3) oder bei einer Sonderform, dem Typ 2N ( unten) auf und korrelieren immer mit einem entsprechend niedrigen Faktor VIII (FVIII).
39
394
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
39.3
II
Von-Willebrand-Faktor
Der VWF ist ein durch Polymerisierung hochmolekulares adhäsives Molekül. Er besitzt Bindungsstellen für zirkulierende Proteine (FVIII), unlösliche Strukturen des Subendotheliums (Kollagen) sowie zelluläre Oberflächenstrukturen (Thrombozytenoberflächen-Glykoproteine GpIb, GpIIb/ IIIa). Hierauf beruht seine Schlüsselstellung in der primären Hämostase als Mediator der Thrombozytenadhäsion an das verletzte Subendothel. Diese Funktion korreliert positiv mit dem Polymerisierungsgrad. Die zweite wichtige Funktion ist die Bindung von Faktor VIII, der hierdurch vor einem vorzeitigen Abbau durch aktiviertes Protein C geschützt ist. Diese Funktion ist von der VWF-Größe unabhängig (Ruggeri u. Zimmerman 1987). 39.3.1 Biosynthese und Regulation Der VWF wird in Endothelzellen und Megakaryozyten synthetisiert. Die Biosynthese des VWF ist sehr komplex (Übersicht bei De Wit u. Van Mourik 2001). Innerhalb des endoplasmatischen Retikulums (ER) erfolgt eine C-terminale Dimerisierung über die »Cystin-knot-like« (CK)-Domäne des Pro-VWF. Dieser Vorgang ist normalerweise quantitativ, so dass nur VWF-Dimere das ER Richtung Golgi-Apparat verlassen. Im Golgi-Apparat findet eine Polymerisierung der VWF-Dimere über die cysteinreiche D3-Domäne statt. Innerhalb des Transgolgi-Netzwerks erfolgt eine weitere Polymerisierung zu VWF-Multimeren unterschiedlicher Größe (⊡ Abb. 39.1; Ruggeri u. Zimmerman 1981). Zusätzlich wird der Pro-VWF proteolytisch in das Propeptid (741 Aminosäuren), auch VW-Ag II genannt, und den reifen VWF (2050 Aminosäuren) gespalten. Innerhalb der Zellen bleiben jedoch VWF und VWF-Propeptid nicht-kovalent assoziiert. Die Funktion des VWF-Propeptids nach der Trennung vom reifen VWF ist unklar. Für die Multimerisierung spielt das Propeptid jedoch eine entscheidende Rolle. Deletion der
⊡ Abb. 39.1. Polymerisierung von VWFDimeren zu Multimeren mit deren größenabhängigen Bindungsfunktionen
Prosequenz oder Punktmutationen in der D1- oder D2-Domäne des Propeptids führen zu absoluten bzw. relativen Störungen der N-terminalen VWF-Multimerisierung und damit zum Funktionsverlust des VWF in der primären Hämostase. Ähnliche Störungen der Multimerisierung und entsprechende Funktionsverluste können auch durch Mutationen in der Dimerisierungsregion (CK-Domäne des VWF) und in der Multimerisierungsregion (D3-Domäne des VWF) hervorgerufen werden. Der VWF wird entweder konstitutiv in das Plasma abgegeben oder aber zunächst, v. a. in Form besonders großer Multimere, in den so genannten »Weibel-Palade-bodies« des Endothels, bzw. in den α-Granula der Thrombozyten gespeichert. Durch stimulierte Sekretion auf ein adäquates Signal hin wird der VWF durch Exozytose aus den Endothelzellen freigesetzt. Man nimmt an, dass die stimulierte Sekretion, die z. B. durch ADH, Adrenalin und Thrombin, aber auch durch exogene Faktoren wie Stress, Rauchen und Infektionen ausgelöst werden kann, der quantitativ wichtigere Weg ist. Einer der Signalwege hierfür beginnt mit der Aktivierung endothelständiger Vasopressinrezeptoren (AVPR2) z. B. durch ADH. Dies ist die Grundlage für die hämostyptische Wirkung des synthetischen ADH-Analogons (DDAVP). Ähnlich wie das C-reaktive Protein und Fibrinogen ist der VWF ein Akute-Phase-Protein, das im Rahmen von Infektionen und anderen entzündlichen Vorgängen sowie Tumorerkrankungen auf das Mehrfache des Normwertes ansteigen kann. Der aus »Weibel-Palade-bodies« freigesetzte, zunächst noch endothelständige VWF ist von enormer Größe – bis in den Millimeterbereich in expandierter Form. Ohne wirksamen Regulationsmechanismus dieser so genannten supranormalen Multimere würde er spontane Thrombozytenaggregationen und somit Thrombosen v. a. in der Mikrozirkulation auslösen, wie es von der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) bekannt ist. Als die Multimergröße regulierender Faktor konnte kürzlich eine VWF-spezifische Metalloprotease (ADAMTS13) identifiziert werden, die VWF spezifisch zwischen Tyrosin 1605 und Me-
395 39 · Von-Willebrand-Syndrom
⊡ Abb. 39.2. Domänenstruktur des VWF. CB Bindungsstelle für Kollagen, CGLC an der Multimerisierung beteiligte Disulfidisomerase-Konsensussequenzen, Dim. Dimerisierungsregion, FVIIIB FVIII-Bindungs-
region, GpIb, GpIIb/IIIa Bindungsregionen für GpIb und GpIIb/IIIa, Mult. Multimerisierungsregion, PS proteolytische Schnittstelle
thionin 1606 in der A2-Domäne spaltet (Dent et al. 1990). Fehlen dieser Protease führt zum Krankheitsbild der TTP ( Kap. 40).
zifische Bindungsregionen und zirkulieren als Komplex im Plasma. Aufgrund dieser Tatsache wurde der VWF ursprünglich als FVIII-assoziiertes Antigen bezeichnet. Die VWF-Bindungstelle für den FVIII liegt in der D‘-Domäne am N-terminalen Ende des VWF. Ohne die Bindung an VWF unterliegt FVIII einer schnellen Proteolyse v. a. durch den aktivierten Protein C-Komplex. Völliges Fehlen des VWF und damit dessen Schutzfunktion bzw. eine fehlende Bindung durch Punktmutationen entweder im FVIII-Gen oder im VWF-Gen können mit FVIII-Werten bis hinunter zu 1% korrelieren. Damit ist in diesen Fällen auch die sekundäre Hämostase, das eigentliche Gerinnungssystem, betroffen. Klinisch kann sich dies mit hämophilieartigen Blutungsereignissen manifestieren.
39.3.2 Funktion Zu über 90% ist der VWF aus 4 verschiedenen sich wiederholenden homologen Domänen zusammengesetzt (⊡ Abb. 39.2). Resultat ist ein Protein, das mehrere völlig verschiedene Funktionen in sich birgt, die jedoch in einem idealen funktionellen Zusammenhang einer effektiven Hämostase dienen. Primäre Hämostase. Der initiale Kontakt zwischen verletz-
tem Endothel und VWF findet zwischen subendothelialen Proteinen (z. B. Kollagen) und den entsprechenden Bindungsdomänen des VWF statt. In dieser Hinsicht erscheinen v. a. 2 Kollagenbindungsregionen in der A1- und der A3-Domäne des VWF von Interesse. Eine Heparinbindungsstelle befindet sich ebenfalls in der A1-Domäne. Ihre biologische Funktion könnte in der Bindung des VWF an Matrix-Proteoglykane des Subendothels liegen. Die Bindung der Thrombozyten an endothelständigen VWF erfolgt zunächst über GpIbα des Thrombozyten und eine GpIb-Bindungsstelle des VWF in der A1-Domäne. Es handelt sich dabei um eine sehr schnelle, allerdings reversible Bindung, die zu einer relativ zum Blutfluss verlangsamten Bewegung der Thrombozyten führt. Erst danach ist unter den Bedingungen eines hohen Scherstresses (Arterien und Arteriolen) ein für die Aktivierung der Thrombozyten ausreichend langer Kontakt zur Gefäßwand und die Exposition von GpIIb/IIIa an der Thrombozytenoberfläche möglich. Für eine irreversible Adhäsion und die folgende Plättchenaggregation ist die Bindung von Plättchen-GpIIb/IIIa an die RGDS-Sequenz des VWF in der C1Domäne notwendig (Ruggeri 2001). Im arteriellen System spielt Fibrinogen dabei nur eine stabilisierende Rolle. Die Funktion des VWF in der primären Hämostase wird v. a. durch die großen Multimere vermittelt. Dies ist wahrscheinlich v. a. auf die mit der Multimergröße korrelierten hohen Anzahl möglicher Bindungsstellen zurückzuführen, die bei expandiertem Molekül unter Bedingungen hohem Scherstresses exponiert werden. Alle Mechanismen, die zu einem Fehlen oder relativen Verlust der großen Multimere führen, sind mit Störungen der primären Hämostase assoziiert. Sekundäre Hämostase. Eine weitere wichtige Funktion des
VWF liegt in seiner stabilisierenden Wirkung auf den Gerinnungsfaktor VIII. FVIII und VWF besitzen füreinander spe-
39.3.3 Molekulare Genetik Das für den VWF kodierende Gen ist am distalen Ende des kurzen Arms vom Chromosom 12 lokalisiert (12p13.3–13.2). Es besteht aus 178 Kilobasen (kb), die sich auf 52 Exons und 51 Introns verteilen (Mancuso et al. 1989). Die kodierende Sequenz enthält 8439 Nukleotide (nt) für 2813 Aminosäuren. Die Analyse des VWF-Gens wird durch die Existenz eines Pseudogens auf Chromosom 22 kompliziert. Dieses ist zu 97% homolog zu den Exons 24–34 des eigentlichen Gens. Allein aufgrund der Größe des Gens sind Mutationen sehr häufig. Dies wird durch die große Zahl von Polymorphismen und das heterogene Spektrum von krankheitsverursachenden Mutationen belegt. Alle denkbaren Arten von Mutationen wurden bei der Von-Willebrand-Erkrankung bisher nachgewiesen. Generell wurden bei der schweren Form mit fehlendem VWF, dem Typ 3, im wesentlichen große und kleine Deletionen, Insertionen, Duplikationen, Nonsense- und SpleißMutationen, aber zum Teil auch Missense-Mutationen nachgewiesen, während bei qualitativen Defekten des VWF Missense-Mutationen dominieren. Einige wenige Mutationen sind offensichtlich durch Rekombination mit dem Pseudogen auf Chromosom 22 entstanden. ! Die Von-Willebrand-Erkrankung wird autosomal vererbt. Daher sind im Gegensatz zur Hämophilie auch Mädchen und Frauen betroffen. Wegen der oft isoliert auftretenden Menorrhagien und Blutungskomplikationen bei Geburten wird die Von-WillebrandErkrankung bei Frauen sogar häufiger diagnostiziert als bei Männern.
Aufgrund dieser Beobachtung bezeichnete von Willebrand den Erbgang als geschlechtsgeprägt. In den meisten Fällen ist der Erbgang autosomal-dominant. Der schwere Typ 3 sowie
39
396
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
ein bestimmter qualitativer Defekt (IIC) und der FVIII-Bindungsdefekt werden jedoch rezessiv vererbt.
II
39.4
Labordiagnostik
Wegen der Multifunktionalität des VWF ist eine ausführliche Labordiagnostik sehr komplex. Suchtests erleichtern den diagnostischen Gang in klassischen Fällen; in vielen weiteren Fällen ist die Sensitivität und Spezifität jedoch nicht ausreichend. Bei negativem Ausfall der Suchtests ist daher ein VWS nicht ausgeschlossen. Eine weiterführende komplette Diagnostik wird nur in wenigen Laboratorien Deutschlands angeboten. 39.4.1 Phänotypische Charakterisierung Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Von-Willebrand-Erkrankung ist die standardisierte Erhebung der Eigen und Familienanamnese. Anamnese bei Verdacht auf eine hämorrhagische Diathese:
Hautblutungen, Hämatomneigung Nasenbluten Blutung nach Trivialverletzungen Menstruationsblutungen, Blutung nach Geburten Blutungen nach Operation, Zahnextraktion, Tonsillektomie Bluttransfusionen Gelenk- und Muskelblutungen Familiäre Häufung
Bei positiver Anamnese sollten die quantitativen und funktionellen Parameter des VWF bestimmt werden. Das diesbezügliche Untersuchungsprogramm findet sich in ⊡ Tabelle 39.1. Als klinische Untersuchung ist die Bestimmung der Blutungszeit aufwändig und mit Fehlermöglichkeiten behaftet. Eine neuere Methode zur Bestimmung der »In-vitro-Blutungszeit«, bei der die Verschlusszeit einer unter hohem Fluss mit der Blutprobe durchströmten Apertur in einer Membran gemessen wird (PFA100), hat den Anspruch einer besseren Standardisierbarkeit. Der VWF wird quantitativ als VWF:AG durch immunologischen Nachweis bestimmt. Bei der Interpretation ist zu
⊡ Tabelle 39.1. Laboruntersuchungen bei Verdacht auf ein von-Willebrand-Syndrom
Screening
Erweiterte Tests
Spezialtests
Blutungszeit
VWF:Ag
RIPA
PFA 100
VWF:RCo
VWF:FVIIIB
aPTT
VWF:CB
Multimeranalyse
FVIIL:C
Gendiagnostik
berücksichtigen, dass das VWF:AG auch normal bzw. in einigen Fällen sogar erhöht sein kann und dass lediglich die funktionellen Tests eine Defizienz nachweisen. Einen gewissen Hinweis auf die biologische Aktivität erhält man über den Ristocetin-Kofaktor (VWF:RC) oder über die Kollagenbindungsaktivität des VWF (VWF:CB). Schwierig und nur Speziallaboratorien vorbehalten ist die Differenzierung der Von-Willebrand-Erkrankung in die verschiedenen Typen und Subtypen, die jedoch wegen der typspezifischen Therapieoptionen notwendig ist. Die wichtigste Methode zur Unterscheidung der Typ-2-Subtypen ist die VWF-Multimeranalyse. Diese beruht auf einer SDS-Agarosegel-Elektrophorese zur Auftrennung der unterschiedlich großen Polymere des VWF (Multimere) mit anschließendem immunologischen Nachweis (⊡ Abb. 39.3). Diagnostisch aussagekräftig sind dabei das Fehlen der biologisch besonders aktiven großen oder auch der mittelgroßen Multimere und/oder von der normalen Struktur abweichende aberrante Elektrophoresebanden (Ruggeri u. Zimmerman 1981). Mittels der Ristocetin-induzierten Plättchenagglutination (RIPA) im plättchenreichen Plasma des Patienten bei niedrigen Ristocetin-Konzentrationen lässt sich eine verstärkte Affinität des VWF zum Plättchenrezeptor GpIb und damit ein Typ 2B diagnostizieren. Obwohl sich dieser Subtyp durch einen Funktionsgewinn des VWF auszeichnet, führt die hierdurch in vivo ausgelöste spontane Aggregation der Thrombozyten nicht zu Gefäßverschlüssen, sondern über den Verbrauch der großen Multimere und eventuell zusätzlich eine Thrombozytopenie zu einer hämorrhagischen Diathese (Ruggeri et al. 1980; Ware et al. 1991). Dieser Mechanismus ist therapeutisch von Bedeutung ( unten). Der Typ 2B wird gelegentlich als Immunthrombozytopenie fehldiagnostiziert. Anders als bei der ITP bessert eine Splenektomie die Thrombozytopenie nicht und ist daher nicht indiziert. Mittels Bestimmung der FVIII-Bindungsaktivität des VWF (VWF:FIIIB) kann der Typ 2N diagnostiziert werden, der sich bei homozygotem Defekt nur durch einen erniedrigten FVIII:C wie bei der Hämophilie A zu erkennen gibt. Problematisch ist die fehlende Standardisierbarkeit vieler der genannten Untersuchungen. Mit der konventionellen Diagnostik nicht eindeutig klassifizierbare Typen können durch eine molekulargenetische Untersuchung näher charakterisiert werden. 39.4.2 Genotypisierung Wegen der Größe (8439 bp) und Komplexität des VWF-Gens (52 Exons), zusätzlich wegen des sehr heterogenen Mutationsspektrums kann die molekulargenetische Analyse nicht am Anfang der Diagnostik stehen. Allerdings kann heute durch die zur Verfügung stehenden Informationen zur Phänotyp-Genotyp-Korrelation eine Vorhersage über den zugrunde liegenden molekularen Defekt gemacht werden, die die Suche nach Mutationen einzugrenzen hilft. Eine Genanalyse ist immer dann indiziert, wenn eine fundierte genetische Beratung, insbesondere bei der schweren Von-WillebrandErkrankung, gewünscht wird. In den entsprechenden Familien ist der Überträgerstatus nur durch die Genanalyse sicher
397 39 · Von-Willebrand-Syndrom
⊡ Abb. 39.3. Multimeranalyse des VWF verschiedener Subtypen des VWS Typ 2. Gemeinsam ist allen Patientenplasmen die relative oder vollständige Reduzierung der großen VWF-Multimere, besonders ausgeprägt bei den Phänotypen IIC und IID
zu erkennen. Dies trifft auch auf andere rezessiv vererbte Formen sowie schwer zu diagnostizierende Subtypen der Von-Willebrand-Erkrankung zu. In besonders schwierigen Fällen, in denen die phänotypische Diagnostik versagt, kann die Diagnose manchmal dennoch durch die Genanalyse gestellt werden. Leider ist bei der wichtigsten Indikation zur Gendiagnostik, beim schweren Typ 3, die molekulare Analyse am aufwändigsten, da Mutationen theoretisch überall im Gen lokalisiert sein können. Allerdings ist in Deutschland und den Ostsee-Anrainerstaaten eine 1-Basendeletion im Exon 18 beim schweren Typ 3 besonders häufig, so dass es sich lohnt, zunächst auf diesen Defekt zu screenen (Schneppenheim et al. 1994). Bei speziellen funktionellen Defekten sind die Mutationen in einer begrenzten Genregion lokalisiert, z. B. beim FVIII-Bindungsdefekt in der D‘-Domäne, bei erhöhter Affinität zu GpIb mit der Folge eines verstärkten Verbrauchs des VWF in der A1 Domäne. Ähnliches gilt auch für strukturelle Defekte durch Dimerisierungsstörungen (CK-Domäne) oder Multimerisierungsstörungen (D1-, D2-, D3-Domäne) bzw. größere proteolytische Empfindlichkeit (A2-Domäne). In solchen Fällen kann die exakte phänotypische Beschreibung die Gendiagnostik sehr erleichtern. ⊡ Abbildung 39.4 zeigt die Lokalisation der Mutationen bei qualitativen Defekten. Mutationen und Polymorphismen des VWF-Gens können aus der VonWillebrand-Faktor-Datenbank der Universität Sheffield abgerufen werden.
⊡ Abb. 39.4. Lokalisation der Mutationen qualitativer Defekte des VWF (Typ 2). Die aufgeführten Subtypen korrelieren mit denen in Abb. 39.2. CB Lokalisation von Kollagenbindungsdefekten
39.5
Klassifikation
! Das primäre klinische Kennzeichen zur Unterscheidung der verschiedenen Typen der Von-WillebrandErkrankung ist die Schwere der Blutungssymptomatik. Charakteristisch sind Schleimhautblutungen und eine Neigung zu Hämatomen.
Gelenk- und Muskelblutungen, die Hauptsymptome der Hämophilie, sind selten und beschränken sich auf die schwere Von-Willebrand-Erkrankung, den Typ 3, verursacht durch völlige Abwesenheit des VWF und sehr niedrigen FVIII-Spiegeln, sowie auf den Typ 2N bei Patienten mit einem isolierten FVIII-Mangel. So kann allein durch die Beschreibung des Spektrums der Blutungssymptome bei einem Patienten zwischen einem Defekt der primären Hämostase oder der sekundären Hämostase oder einer Kombination von beiden unterschieden werden. Die Hauptklassifikation der Von-Willebrand-Erkrankung in 3 Typen hat sich über die Jahre nicht geändert. Die Differenzierung zwischen einem Typ 1 mit gleichsinnig erniedrigtem VWF:AG und VWF-Aktivität und einem Typ 3 mit einem vollständigen VWF-Mangel sowie einem Typ 2 mit qualitativen Defekten, unabhängig von der Menge an VWF wird allgemein akzeptiert. Darüber hinaus sind jedoch alle Versuche einer Subklassifikation wegen der fehlenden Informationen über die biochemische und molekulare Basis verschiedener Varianten oder auch häufigere Typen und Sub-
39
398
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
⊡ Tabelle 39.2. Vergleich der 2 verschiedenen Klassifikationen der von-Willebrand-Erkrankung nach Ruggeri bzw. Sadler und Ginsburg
II
Ruggeri Typ
Sadler Typ
Spezifische Mutationen
I platelet normal
1
Nein
I platelet low
Nein
IA
Nein
I-1, I-2, I-3
Nein
IIA
2A
IB
Ja Nein
I platelet discordant
Nein
IIC
Ja
IID
Ja
IIE
Ja
IIF
Ja
IIG
Nein
IIH
Nein
II-I
Nein
IIA-1, IIA-2, IIA-3
Nein
IIB
2B
I New York/Malmö
Ja Ja
B
2M
Ja
I Vicenza
Ja
IC
Nein
ID
39.6
Nein
FVIII-Bindungsdefekt
2N
Typ Normandie 3
Differenzialdiagnose
Generell kommen differenzialdiagnostisch andere Störungen der primären Hämostase, wie z. B. Thrombozytopathien ( Kap. 32) in Betracht. Eine entsprechende Diagnostik ist bei negativen Ergebnissen der VWF-Parameter aber signifikanter Blutungsneigung indiziert.
Ja Ja
III
Die Entdeckung vieler individueller Phänotypen erforderte eine Revision der Klassifikation. Die heute gültige Klassifikation (Sadler 1994) beinhaltet, neben dem Typ 1 und Typ 3 als quantitative Defekte, 4 Untergruppen des Typ 2, von denen der Subtyp 2A sich auf Varianten mit einer erniedrigten plättchenabhängigen Funktion aufgrund eines Verlustes an großen VWF-Multimeren, die in der primären Hämostase funktionell am aktivsten sind, bezieht. Varianten mit einer erhöhten Affinität für GpIb werden Subtyp 2B genannt und umfassen Phänotypen mit einem Verlust großer Multimere, aber auch solche mit einem normalen Multimermuster (Ruggeri et al. 1980, Ware et al. 1991). Der Subtyp 2M beruht auf plättchenabhängigen funktionellen Defekten des VWF trotz der Präsenz großer Multimere. Der Subtyp 2N ist durch eine isolierte defekte FVIII-Bindung des VWF charakterisiert und ist ohne Durchführung des FVIII-Bindungs-Assays nicht von einer Hämophilie A zu unterscheiden (Nishino et al. 1989). Die frühere differenziertere Klassifikation wurde somit stark vereinfacht, obwohl sich v. a. der häufigste Subtyp 2A aufgrund phänotypischer Merkmale, die sich durch Genotypisierung bestätigen lassen, in mehrere klar voneinander abgrenzbare Varianten aufteilen lässt (Schneppenheim et al. 2001). ⊡ Tabelle 39.2 korreliert die bisher beschriebenen Subtypen und Varianten mit der gültigen Klassifikation.
Ja
typen der Von-Willebrand-Erkrankung immer noch nicht befriedigend gelungen. Eine erste umfassende und differenzierende Übersicht der verschiedenen Typen und Subtypen der Von-Willebrand-Erkrankung wurde von Ruggeri publiziert (1987). Obwohl es sich eher um eine Liste aller bekannten Varianten, integriert in eine bestimmte Struktur, handelte, wurde es doch die Basis für die Klassifikation im praktischen Umgang (⊡ Tabelle 39.2). ⊡ Tabelle 39.3 illustriert die Laborbefunde bei verschiedenen Typen der Von-WillebrandErkrankung.
! Die wichtigste Differenzialdiagnose ist jedoch die Hämophilie A, insbesondere im Hinblick auf die schwere Von-Willebrand-Erkrankung Typ 3.
Sowohl klinisch wie bezüglich der Suchtests ist die Unterscheidung bei männlichen Personen oft unsicher. Hingegen ist ein signifikanter FVIII-Mangel bei Mädchen und Frauen bis auf Ausnahmen eher auf eine Von-Willebrand-Erkrankung zurückzuführen. Bei der Hämophilie wie bei der VonWillebrand-Erkrankung Typ 3 ist die aPTT aufgrund des FVIII-Mangels verlängert. Diese Störung der sekundären Hämostase, die somit auch beim Typ 3 gefunden wird, kann
⊡ Tabelle 39.3. Konstellation von Laborparametern bei verschiedenen Typen des von-Willebrand-Syndroms
Typ
Erbgang
BZ
FVIII:C
VWF:Ag
VWF:RCo
l
AD
↓
AD/AR
↑/N ↑
↓
2A
↓/N
↓ ↓/N ↓
2B
AD
↑
↓/N
2M
AD
↑
2N
AR
3
AR
N ↑↑
↓/N ↓↓ ↓
VWF:CB
RIPA
Multimere im Plasma
Multimere in Thrombozyten
↓
↓
↓
↓
N/↓
Alle vorhanden
Alle vorhanden
↓/N
Große und/oder mittelgroße fehlen
Alle vorhanden oder wie Plasma
↓
↓
↑↑
Große fehlen
Alle vorhanden
↓N
N/↓
↓/N
Alle vorhanden
Alle vorhanden
N/↓
N/↓
N/↓
N
Alle vorhanden
Alle vorhanden
nn
nn
nn
nn
nn
nn
AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv, BZ Blutungszeit, nn nicht nachweisbar.
399 39 · Von-Willebrand-Syndrom
⊡ Abb. 39.5. Flussschema der Diagnostik des VWS in Abgrenzung zur Hämophilie
mit einem hämophilieartigen Blutungstyp einhergehen (Gelenk- und Muskelblutungen). Ein einziger Laborwert, das VWF:AG, kann dann die Diagnose sichern. Dieser Wert ist bei der Hämophilie normal, beim Typ 3 liegt er unter der Nachweisgrenze (⊡ Abb. 39.5). Eine wichtige Ausnahme hiervon bildet der Typ 2N, auch Typ 2 Normandie genannt. Basis dieses Subtyps ist ein rezessiv vererbter FVIII-Bindungsdefekt des VWF. Man findet einen isolierten FVIII-Mangel, je nach molekularem Defekt im Bereich zwischen 1–20%, bei normalem VWF:AG (Nishino et al. 1989; Schneppenheim et al. 1996). Der Subtyp 2B kann leicht mit einer Immunthrombozytopenie (ITP) verwechselt werden. Obwohl er selten ist, ist die Unterscheidung bezüglich der therapeutischen Konsequenzen von besonderer Bedeutung. So sind bei solchen Patienten unter der Fehldiagnose »chronisch-rezidivierende ITP« Splenektomien durchgeführt worden, die verständlicherweise keinen Erfolg brachten. Leider hilft die Thrombozytenzahl nicht bei der Differenzierung, da auch beim Typ 2B Werte von <10/nl gefunden werden. Auch die Korrelation akuter thrombozytopenischer Episoden mit Infektionen und anderen entzündlichen Vorgängen sowie eine mögliche Besserung nach Kortikoiden bei Patienten mit dem Subtyp 2B erhöhen die Verwechslungsgefahr mit der ITP. ! Zum Ausschluss eines Typ 2B sollte daher bei Verdacht auf chronische ITP auch eine Von-WillebrandDiagnostik mit Ristocetin-induzierter Plättchenaggregation und Multimeranalyse durchgeführt werden.
39.7
Erworbenes Von-Willebrand-Syndrom
Typischerweise tritt ein erworbenes VWS spontan auf und die bisherige Eigen- und Familienanamnese ist leer. Ein erworbenes VWS resultiert entweder aus einer reduzierten VWF-Syntheserate aufgrund sekundärer Faktoren, einem
erhöhten Verbrauch bzw. einem schnelleren Abbau oder aus dem Auftreten von Autoantikörpern gegen VWF (Federici et al. 2000). Beispiel für eine reduzierte VWF-Syntheserate ist die Hypothyreose. Von den Tumorerkrankungen können lymphoproliferatives Syndrom, multiples Myelom, Non-HodgkinLymphom, Haarzell-Leukämie und Nebennierenrindenkarzinom ein erworbenes VWS induzieren, das auf der Adsorption des VWF an die Tumorzellen beruht. Im Kindesalter wurde v. a. ein Zusammenhang zwischen Nephroblastom und erworbenem VWS beobachtet (Noronha et al. 1979). Mechanische Zerstörung v. a. der großen VWF-Multimere findet in der Zirkulation unter Bedingungen hohen Scherstresses statt. Somit findet man ein erworbenes VWS z. B. bei Kindern mit Herzklappenfehlern und Aortenstenosen. Korrektur der angeborenen Vitien geht auch mit einer Normalisierung des VWF einher. Eine medikamenteninduzierte Verminderung des VWF wurde im Kindesalter unter antikonvulsiver Therapie mit Valproat beobachtet. Ein Teil der Patienten wies auch Blutungssymptome auf. Bisher wurden die Ergebnisse allerdings nicht reproduziert. Eigene Erfahrungen und die Ergebnisse einer bisher nicht publizierten prospektiven Untersuchung sprechen eher gegen eine klinisch relevante Blutungsneigung unter Valproat-Therapie. 39.8
Therapie und Prophylaxe
Neben lokalen Maßnahmen der Blutstillung und dem Einsatz von Fibrinolysehemmern wie Tranexamsäure stehen für Therapie und Prophylaxe der Von-Willebrand-Erkrankung in Abhängigkeit vom Typ prinzipiell 2 verschiedene spezifische Optionen zur Verfügung: Rekrutierung körpereigener Speicher des VWF in Form der »Weibel-Palade-bodies« durch das synthetische ADHAnalogon DDAVP, Substitution des fehlenden oder defekten
39
400
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
⊡ Tabelle 39.4. Therapie der von-Willebrand-Erkrankung
Typ 1
II
Typ 2
Typ 3
DDAVP*
(FVIII/VWF)
(FVIII/VWF)
Tranexamsäure
Tranexamsäure
Tranexamsäure
(FVIII/VWF)
DDAVP*
(TKZ)
kursiv Mittel der ersten Wahl, (…) evtl. zusätzlich notwendig, * nur nach erfolgreicher Testung. Fibrinolysehemmer wie Tranexamsäure sollten v. a. bei Blutungen im Schleimhautbereich gegeben werden. Cave: DDAVP bei VWS 2B! Kontrollen: VWF: RCo, PFA 100. TKZ Thrombozytenkonzentrat (eventuell beim Typ 3).
Blutstillung, aber auch als Prophylaxe vor kleineren operativen Eingriffen ausreichend und hilft somit den Einsatz von Plasmaprodukten zu vermeiden. Die Wirksamkeit von DDAVP sollte jedoch bei Diagnosestellung einer Von-Willebrand-Erkrankung überprüft werden. Dies gilt auch für den Typ 1, insbesondere jedoch für die verschiedenen Varianten des Typ 2. Bisher wurde der DDAVP-Test und somit auch die Behandlung bei Patienten mit einem Typ 2B als kontraindiziert angesehen, da durch ihn eine Thrombozytopenie ausgelöst bzw. verschlimmert werden kann. Jedoch haben erfolgreiche Versuche mit DDAVP auch bei diesen Patienten diese Lehrmeinung etwas modifiziert.
39.8.1 DDAVP
! Einigkeit besteht jedoch darüber, dass DDAVP bei Patienten mit einem VWF Typ 2B nicht eingesetzt werden sollte, wenn bereits eine signifikante Thrombozytopenie besteht bzw. wenn in der Vergangenheit signifikante Thrombozytopenien aufgetreten waren.
Die erste Option, die ursprünglich von Mannucci 1977 beschrieben wurde, setzt sowohl das Vorhandensein als auch eine ausreichende Funktion des VWF in den Speicherorganellen des Patienten voraus. Somit ist sie für Patienten mit Typ 3 nicht geeignet, ist jedoch Mittel der Wahl für Patienten mit einer leichten Form, dem Typ 1. Bei Patienten mit Typ 2 kann in den meisten Fällen ebenfalls eine Freisetzung des VWF aus den »Weibel-Palade-bodies« und damit eine Erhöhung des VWF:AG erreicht werden. Zu berücksichtigen ist dabei aber, dass es sich in der Regel um einen funktionell defizienten VWF handelt, so dass dessen ausreichende klinische Wirksamkeit nicht gewährleistet ist. Nach DDAVP-Gabe kann auch bei Normalpersonen ein Anstieg des VWF:AG auf das 2- bis 4fache des Ausgangswertes beobachtet werden. Dieser Effekt ist für eine effektive
Die Wirkung von DDAVP setzt rasch ein. Bereits 30 min nach Infusionsende von 0,3 µg/kg KG DDAVP kann ein operativer Eingriff durchgeführt werden. Die Wirkungsdauer wird zwischen 4–8 h gesehen. Bei manchen Patienten ist sie deutlich niedriger. Wiederholte Gaben sind möglich, jedoch in der Folge weniger wirksam wegen der vorhergegangenen Entleerung der Speicher (Tachyphylaxis). Auch ist insbesondere bei Kindern die Gefahr der Wasserretention mit Hyponatriämie zu beachten. Aus diesem Grunde sollte DDAVP nach Möglichkeit nicht bei Kindern unter 3 Jahren eingesetzt werden, wenn doch, dann nur unter stationären Bedingungen. Eine Flüssigkeitsrestriktion ist notwendig. DDAVP kann Krampfanfälle, v. a. bei besonders prädisponierten Patienten, auslösen. Patienten mit einem Anfallsleiden sollten daher kein DDAVP erhalten. Neben einem Nullwert sowie Blutentnahmen zu den Zeitpunkten 1 h und 2 h sollte der DDAVP-Test
VWF durch VWF-haltige Konzentrate (⊡ Tabelle 39.4). Empfohlene Dosierungen sind in ⊡ Tabelle 39.5 angegeben.
⊡ Tabelle 39.5. Indikationen, Dosierung und Applikation zur Therapie der von-Willebrand-Erkrankung. Bei nicht ausreichender Hämostase eventuell zusätzlich Thrombozytenkonzentrat (TKZ)
Indikation
Präparat
Dosis
Frequenz und Dauer
Zielbereich
VWS Typ 1
DDAVP (nach Testung)
0,3 µg/kg KG, p.i. (30 min)
Maximal 2×/Tag, max. für 2 Tage
RiCof >50%
FVIII/VWF-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
Nach Bedarf
RiCof >50%
VWS Typ 2
DDAVP (nach Testung)
0,3 µg/kg KG, p.i. (30 min)
Maximal 2×/Tag, max. für 2 Tage
RiCof >50%
FVIII/VWF-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
Nach Bedarf
RiCof >50%
VWS Typ 3 Große Operation
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+ TKZ)
2×/Tag, 10–14 (–21 Tage)
RiCof >80–50%
ZNS-, gastrointestinale Blutung
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+ TKZ)
2×/Tag, 10–14 (–21 Tage)
RiCof >80–50%
Adenotomie, Tonsillektomie
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG
1×/Tag, 5–10 Tage
RiCof >50–30%
Zahnextraktion
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
1×/Tag, 3–5 Tage
RiCof >30–50%
Gelenk-, Muskelblutungen
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
2–1×/Tag, 5–10 Tage
RiCof >80–50% Ri Cof >5%
Dauertherapie
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG, 2-mal/Woche
2×/Woche
Schleimhautblutung, -operation
Tranexamsäure (zusätzlich)
10–20 mg/kg KG (auch p.o.)
Alle 6 h maximal 2 g/Tag
401 39 · Von-Willebrand-Syndrom
auch eine Blutentnahme zum Zeitpunkt 4 h beinhalten, um Patienten zu identifizieren, deren Ansprechen nur von kurzer Dauer ist. 39.8.2 Substitutionstherapie Für den Fall nicht ausreichender Wirksamkeit von DDAVP sollte bei operativen Eingriffen ein VWF-haltiges FVIII-Konzentrat bereitgestellt und ggf. appliziert werden. Dosierungen sind präparateabhängig. Bei Patienten, die bereits im DDAVP-Test kein ausreichendes Ansprechen gezeigt haben, bei jenen mit einer Kontraindikation gegen DDAVP und natürlich für Patienten mit einem Typ 3, ist ein solches Konzentrat Mittel der ersten Wahl. Cave Rekombinante und hochgereinigte FVIII-Präparate sind für die Behandlung eines VWS nicht geeignet, da sie keinen VWF enthalten!
Trotz des Einsatzes geeigneter Präparate kann v. a. beim Typ 3 die Hämostase nicht immer vollständig korrigiert werden. Dies könnte beim Typ 3 an dem ebenfalls fehlenden thrombozytären VWF liegen. In solchen Fällen ist die Transfusion von Thrombozytenkonzentraten zu erwägen. Laborkontrollen zur Überprüfung der Prophylaxe bzw. Therapie können durch Bestimmung des VWF:RCo und/ oder Bestimmung der Kapillarverschlusszeit mit dem Plättchenfunktions-Analyser durchgeführt werden. Ein besonderes Problem stellt die mögliche Entwicklung von Alloantikörpern gegen VWF bei Patienten mit schwerer Von-Willebrand-Erkrankung Typ 3 dar. In der Regel finden sich bei diesen Patienten schwere Gendefekte, wie z. B. komplette Deletionen des Gens. In solchen Fällen ist die Substitution mit VWF nicht nur ineffektiv, sondern wegen möglicher anaphylaktischer Reaktionen durch Immunkomplex-Bildung potenziell lebensbedrohlich. Die Behandlung kann z. B. durch kontinuierliche Infusion von rekombinantem FVIII erfolgen, der keinen VWF enthält und zumindest die sekundäre Hämostase korrigiert, auch wenn hierzu kontinuierliche hohe Dosen notwendig sind. Prinzipiell ist auch der Einsatz von rekombinantem aktiviertem Faktor VII zu erwägen. Eine Inhibitorelimination kann mit immunsuppressiver Therapie versucht werden.
Das Von-Willebrand-Syndrom in seiner angeborenen Form – der von-Willebrand-Erkrankung – ist die häufigste hereditäre hämorrhagische Diathese mit einer Prävalenz von bis zu 1,3%. Zusammen mit der erworbenen Form hat es eine besondere klinische Relevanz, da es Ursache von erheblichen Komplikationen bei Operationen im Schleimhautbereich sowie bei Geburten sein kann. Darüber hinaus hat es einen signifikanten ursächlichen Anteil an chronischen Anämien bei Frauen und Mädchen jenseits der Menarche. Quantitative und qualitative Defekte des von-Willebrand-Faktors sind die Ursache des von-Willebrand-Syn-
▼
droms, während seine Überfunktion zum Krankheitsbild der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura führt. Der von-Willebrand-Faktor steht damit repräsentativ für das Gleichgewicht der Hämostase, dessen Störung zur Blutung bzw. zur Thrombose führen kann.
Literatur Dent JA, Berkowitz SD, Ware J et al (1990) Identification of a cleavage site directing the immunochemical detection of molecular abnormalities in type IIA von Willebrand factor. Proc Natl Acad Sci USA 87:6306–6310 De Wit TR, Van Mourik JA (2001) Biosynthesis, processing and secretion of von Willebrand factor: biological implications. Best Pract Res Clin Haematol 14:241–255 Federici AB, Rand JH, Bucciarelli P et al (2000) Acquired von Willebrand syndrome: Data from an international registry. Thromb Haemost 84:345–349 Mancuso DJ, Tuley EA, Westfield LA et al (1989) Structure of the gene for human von Willebrand factor. J Biol Chem 264:19514–19527 Nishino M, Girma JP, Rothschild C et al (1989) New variant of von Willebrand disease with defective binding to factor VIII. Blood 74:1591–1599 Noronha PA, Hruby MA, Maurer HS (1979) Acquired von Willebrand disease in a patient with Wilms tumor. J Pediatr 95:997–999 Rodeghiero F, Castaman GC, Dini E (1987) Epidemiological investigation of the prevalence of von Willebrand’s disease. Blood 69:454– 459 Ruggeri ZM (1987) Classification of von Willebrand disease. In Verstraete M, Vermylen J, Lijnen R, Arnout J (eds) Thrombosis and haemostasis, pp 419–445. Leuven University Press, Leuven Ruggeri ZM (2001) Structure of von Willebrand factor and its function in platelet adhesion and thrombus formation. Best Pract Res Clin Haematol 14:257–279 Ruggeri ZM, Pareti FI, Mannucci PM (1980) Heightened interaction between platelets and factor VIII/von Willebrand factor in a new subtype of von Willebrand’s disease. N Engl J Med 302:1047–1051 Ruggeri ZM, Zimmerman TS (1981) The complex multimeric composition of factor VIII/von Willebrand factor. Blood 57:1140–3 Sadler JE (1994) A revised classification of von Willebrand disease. Thromb Haemostas 71:520–525 Schneppenheim R, Budde U, Krey S (1996) Results of a screening for von Willebrand disease type 2 N in patients with suspected haemophilia A or von Willebrand disease type 1. Thromb Haemost 764:598–602 Schneppenheim R, Budde U, Ruggeri ZM (2001) A molecular approach to the classification of von Willebrand disease. Best Pract Res Clin Haematol 14:281–298 Schneppenheim R, Krey S, Bergmann F (1994) Genetic heterogeneity of severe von Willebrand disease type III in the German population. Human Genetics 94:640–652 Willebrand EA von (1926) Hereditär pseudohemofili. Finska Läkaresällskapets Handlingar 672:7–112 Ware J, Dent JA, Azuma H (1991) Identification of a point mutation in type IIB von Willebrand disease illustrating the regulation of von Willebrand factor affinity for the platelet membrane glycoprotein Ib-IX receptor. Proc Natl Acad Sci USA 887:2946–2950 Zimmerman TS, Ratnoff OD, Powell AE (1971) Immunologic differentiation of classic hemophilia (factor 8 deficiency) and von Willebrand‘s disease, with observations on combined deficiencies of antihemophilic factor and proaccelerin (factor V) and on an acquired circulating anticoagulant against antihemophilic factor. J Clin Invest 50: 244–254
39
Angeborene und erworbene Thrombophilien II
R. Schneppenheim, K. Helmke, F. Bergmann
40.1 40.2 40.3
Definition und Epidemiologie – 402 Klinische Symptomatik – 403 Bildgebende Diagnostik – 403
40.3.1 40.3.2 40.3.3 40.3.4
Sonographie – 403 Angiographie – 404 Computertomographie – 405 Magnetresonanztomographie – 405
40.4
Hereditäre Thrombophilien – 406
40.4.1 40.4.2 40.4.3 40.4.4
Gerinnungsfaktoren – 406 Gerinnungsinhibitoren – 408 Fibrinolyse – 409 Hereditäre Stoffwechseldefekte – 410
40.5
Erworbene Thrombophilien
40.5.1 40.5.2 40.5.3 40.5.4
Immunologisch bedingte Thrombophilien – 410 Heparin-induzierte Thrombozytopenie – 411 Nephrotisches Syndrom – 411 Vitamin-K-Antagonisten – 411
– 410
Wegen der möglichen Folgen von Thromboembolien bei Kindern im Hinblick auf deren normale körperliche und geistige Entwicklung haben die therapeutischen Aspekte wie Lysetherapie und Antikoagulation zunehmende Bedeutung. Im letzten Jahrzehnt hat die Forschung zu den Ursachen und Auslösern von Thromboembolien, wie äußere Einflüsse oder so genannte Thrombophiliefaktoren, erhebliche Fortschritte verzeichnet. Es besteht Einvernehmen darüber, dass Thrombosen einen multifaktoriellen Ursprung haben. Nach zahlreichen Publikationen zur Assoziation einzelner oder mehrerer Thrombophiliefaktoren mit einer Thromboembolie ist das derzeitige Interesse auf deren prognostische Bedeutung mit den möglichen Konsequenzen für Therapie und Prophylaxe fokussiert. Viele ungelöste Fragen in dieser Hinsicht mahnen zum vorsichtigen Umgang mit der Thrombophiliediagnostik im Einzelfall und den daraus abzuleitenden Konsequenzen.
40.6
Labordiagnostik
40.6.1 40.6.2 40.6.3
Diagnostisches Programm – 412 Besonderheiten der Präanalytik und Analytik Diagnostik des Antiphospholipidantikörpersyndroms – 413
40.7
Therapie und Prophylaxe – 413
Definition
40.7.1 40.7.2 40.7.3 40.7.4 40.7.5 40.7.6
Hereditärer Inhibitorenmangel – 413 Erworbener Inhibitorenmangel – 414 Weitere etablierte Thrombophiliefaktoren – 414 Heparin-induzierte Thrombozytopenie – 414 Mangel der VWF-spaltenden Protease ADAMTS13 – 414 Therapie des Antiphospholipidantikörpersyndroms – 415 Durchführung und Monitoring der Antikoagulation – 415 Durchführung und Monitoring der Lysetherapie – 416
Unter Thrombophilie versteht man eine angeborene oder erworbene Verschiebung des hämostaseologischen Gleichgewichts in Richtung eines prokoagulatorischen Zustands.
40.7.7 40.7.8
Literatur
– 412 – 412
– 416
Thromboembolien sind im Kindesalter ein seltenes Ereignis. Daher ist das Wissen über Diagnostik, Therapie und Prophylaxe unter Kinderärzten nur begrenzt. In den letzten Jahren hat dieses Thema jedoch zunehmende Aufmerksamkeit erfahren, was dazu führte, dass Thromboembolien bei Kindern häufiger diagnostiziert werden. Hinzu kommt wahrscheinlich eine tatsächliche Zunahme der Häufigkeit in Folge der mit den Fortschritten der Intensivmedizin und Kardiologie heute möglichen Behandlung schwerstkranker Kinder, sehr kleiner Frühgeborener bzw. von Kindern mit komplexesten Herzfehlern.
▼
40.1
Definition und Epidemiologie
Sie kann verursacht werden durch Defekte und Störungen einzelner Gerinnungsfaktoren, Inhibitoren der Gerinnung, Faktoren und Inhibitoren der Fibrinolyse, Thrombozytose, eine gesteigerte Funktion der Thrombozyten oder Faktoren, die die Funktion und Integrität des Endothels beeinflussen. Die Kombination einer Thrombophilie mit auslösenden exogenen Faktoren prädisponiert zu einem thromboembolischen Ereignis. Bei der Thrombophilie ist somit die Wahrscheinlichkeit einer Thromboembolie erhöht. Thrombosen sind ein multifaktorielles Geschehen, wobei die Wertigkeit einzelner Thrombophiliefaktoren sehr unterschiedlich ist. Generell ist zwischen venösen und arteriellen Thrombosen zu unterscheiden. Venöse Thrombosen imponieren histopathologisch als Fibrinthromben (roter Thrombus durch Einschluss von Erythrozyten), während arterielle Thromben zum großen Teil aus Thrombozyten und Von-WillebrandFaktor bestehen und nur zusätzlich durch Fibrin stabilisiert werden (weiße Thromben). Während im venösen System bei geringen Flüssen die initiale Thrombenbildung nur wenig von Scherkräften gestört wird, ist im arteriellen System ein spezifischer Mechanismus wirksam, der die Thrombozyten an der Gefäßwand relativ zum Blutfluss verlangsamt und da-
403 40 · Angeborene und erworbene Thrombophilien
mit ihre Aktivierung, Adhäsion und Aggregation ermöglicht. Die wichtigsten Faktoren hierfür sind der Von-WillebrandFaktor (VWF) und die Thrombozytenoberflächenglykoproteine GpIb sowie GpIIb/IIIa. Aufgrund der unterschiedlichen Pathophysiologie könnte daher auch auf für das venöse und das arterielle System unterschiedliche Thrombophiliefaktoren geschlossen werden. Im Erwachsenenalter sind Thrombosen mit einer jährlichen Inzidenz von durchschnittlich 1:1000 ein relativ häufiges Ereignis. Dabei variiert die Inzidenz zwischen 1:10.000 bei Erwachsenen unter 45 Jahren und 1:100 bei über 70-Jährigen (Rosendaal 1997). Die Mehrzahl der Thrombosen wurde in der Vergangenheit als idiopathisch eingeordnet. In den letzten Jahren konnten jedoch zunehmend neue Risikofaktoren identifiziert werden, so dass heute in vielen Fällen einer spontan aufgetretenen Thrombose erworbene oder hereditäre prädisponierende Faktoren nachgewiesen werden können. Die hohe Prävalenz hereditärer Thrombophiliefaktoren auch in der Normalbevölkerung ist als Selektion für den präthrombotischen Zustand anzusehen. Offensichtlich wurde ein effektives System zur Blutstillung nach Verletzung und insbesondere bei Frauen zur Vermeidung starken Blutverlusts im Rahmen der Regelblutung und bei Geburten von der Evolution begünstigt (Lindqvist et al. 2001). Die negative Seite der Selektion, die Neigung zu Thrombosen, trifft das Individuum meist erst nach der Reproduktionsphase und ist damit nur von geringer Bedeutung für die Population. Im Kindesalter treten Thrombosen deutlich seltener auf. Schmidt und Andrew (1995) geben eine Häufigkeit von 0,24 auf 10.000 Krankenhauseinweisungen an. Aus den Daten einer prospektiven ESPED-Studie wurde eine Inzidenz von 5,2 auf 100.000 Geburten geschätzt (Nowak-Göttl et al. 1997), während die jährliche Inzidenz venöser Thromboembolien bei Kindern und Jugendlichen nach den prospektiv gesammelten Daten einer holländischen Arbeitsgruppe 1,4 auf 100.000 beträgt (van Ommen et al. 2001). Thrombosen im Kindesalter spielen, abgesehen von der unmittelbaren Bedrohung, aufgrund ihrer Bedeutung für Störungen des Wachstums und der Entwicklung von Kindern eine wichtige Rolle. Über 80% aller venösen Thrombosen im Kindesalter sind auf das Vorliegen einer schweren Grunderkrankung oder andere prädisponierende Faktoren zurückzuführen (David u. Andrew 1993; van Ommen et al. 2001). Die Inzidenz bei Kindern ist deutlich altersabhängig mit einem Häufigkeitsgipfel prä- und perinatal sowie im Neugeborenen- und frühen Säuglingsalter, einer sehr niedrigen Inzidenz im späteren Säuglingsalter bis zum Eintritt in die Pubertät und einem Anstieg auf die Thromboseinzidenz des jungen Erwachsenen jenseits der Pubertät. Arterielle Thrombosen sind abgesehen von Hirninfarkten oder im Rahmen invasiver Prozeduren eher selten. Hirninfarkte treten im Kindesalter mit einer Häufigkeit zwischen 3–8:100.000 jährlich auf (Giroud et al. 1995; Lynch et al. 2002). Die höchste Inzidenz findet sich bei Neugeborenen mit ca. 28:100.000 jährlich (Perlman et al. 1994). Somit stellen Hirninfarkte neben den möglichen Folgen auch quantitativ das größte Problem dar. In allen Fällen sind Thrombosen im Kindesalter auch beim Vorliegen exogener kausaler Faktoren, wie z. B. zentraler Katheter, ein ungewöhnliches Ereignis. Sie sollten Anlass zur Erhebung einer aus-
führlichen Familienanamnese sowie zur Durchführung einer Thrombophiliediagnostik sein, um die Prognose und damit eventuell notwendig werdende prophylaktische Maßnahmen einschätzen zu können. Dabei sollte bei der Beurteilung des Thromboserisikos immer die absolute Zahl von Thrombosen im Kindesalter im Blick bleiben. So würde selbst ein Risikofaktor von 80, wie für die homozygote APC-Resistenz beschrieben, die Thromboseinzidenz im Kindesalter lediglich auf die durchschnittliche Inzidenz des Erwachsenenalters anheben. 40.2
Klinische Symptomatik
Die klinischen Symptome und Komplikationen können in akute und langfristige unterschieden werden. Akute Symptome von venösen Thrombosen sind Schmerzen, Schwellung und Hautverfärbung betroffener Extremitäten. Eine obere Einflussstauung findet man bei einer Thrombose im Bereich der V. cava superior. Venöse Thrombosen im Abfluss großer Gefäße von Organen können zum Verlust des gesamten Organs oder zu Funktionsverlust bzw. -einschränkungen führen. Akuter Kopfschmerz, Sehstörungen, Krampfanfälle und Zeichen der venösen Stauung deuten auf eine Sinusvenenthrombose hin. Sekundär kann ein hämorrhagischer Infarkt hinzukommen. Bei akuter Atemnot, Schmerzen und Rechtsherzbelastung ist an eine Lungenembolie zu denken. Als wichtigste langfristige Folge einer Thrombose ist das postthrombotische Syndrom mit chronisch-venöser Insuffizienz und Hautulzerationen in bis zu 63% der Fälle anzusehen (Kuhle et al. 2003). 40.3
Bildgebende Diagnostik
Der klinische Verdacht einer Thrombose erfordert eine bildgebende Diagnostik. Auf diese Weise sollen zusätzliche Informationen für die Therapie gewonnen werden. Resultate einer solchen Bildgebung sind der direkte Nachweis eines Thrombus, seiner Größe und seines Alters, Darstellung von Kollateralen und die Erfolgskontrolle einer Lysetherapie. Zum Einsatz kommen prinzipiell die Farb-Doppler-Sonographie, die MR-Tomographie, die Computertomographie und die Angiographie. Vergleichende Studien dieser Verfahren wurden für die Thrombosen im Bereich der tiefen Bein- und Beckenvenen bei Erwachsenen durchgeführt (Becker et al. 1997; Garg et al. 2000). Dabei zeigte sich für die unterschiedlichen Arbeitsgruppen, dass die bildgebenden Verfahren hinsichtlich der Spezifität, der Sensitivität und der Genauigkeit nicht signifikant differieren. Der Einsatz des Verfahrens wird sich im Wesentlichen nach der Lokalisation der vermuteten Thrombose richten. Weitere wichtige zu berücksichtigende Faktoren sind das Alter des Kindes und die Art der therapeutischen Indikation. 40.3.1 Sonographie Prinzipiell gilt, dass der Ultraschall bei Kindern das wichtigste bildgebende Verfahren ist. Der Einsatz der anderen Verfahren richtet sich nach dem Resultat der Farb-Doppler-Sono-
40
404
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
II
a
c
e
b
d
f
⊡ Abb. 40.1a–f. Männliches Frühgeborenes der 28. SSW nach Applikation eines Nabelarterienkatheters. Das native Sonogramm (a) zeigt eine Thrombusbildung direkt vor dem Abgang des Truncus coeliacus, wobei die Gefahr des Verschlusses dieses Gefäßabgangs besteht. Im Power-Angio-Mode kann nachgewiesen werden, dass der Thrombus
graphie bzw. des Power-Angio-Mode (Reimer u. Landwehr 1998). Es gilt, je oberflächlicher ein Gefäß verläuft, desto besser ist es zu untersuchen. Der entscheidende Vorteil dieser Methode gegenüber den anderen Verfahren ist, dass Strömungsprofile »online« zur Verfügung stehen und die Untersuchung an die vorliegende Gefäßsituation angepasst werden kann. Der Ultraschall kann außerdem direkt am Krankenbett, ohne Limitierungen für die Anzahl der Wiederholungsuntersuchungen und in jeder Schnittrichtung durchgeführt werden. Die Untersuchungszeiten sind relativ kurz (⊡ Abb. 40.1) Der wichtigste Nachteil der Sonographie ist, dass Luftüberlagerungen im Darm oder im thorakalen Bereich eine Gefäßdarstellung unmöglich macht. Diese Feststellung gilt prinzipiell auch für die knöchernen Strukturen, die jedoch als Schallhindernis häufig zu umgehen sind. Die dünnen und platten Schädelknochen bei Kindern schränken die Untersuchungsbedingungen ein. Thrombosen im Bereich des Kopfes und des Herz-Lungen-Abschnittes sollten zusätzlich mit anderen Verfahren objektiviert werden. Nach unseren Erfahrungen sind Aussagen mit Hilfe des Ultraschalls am Hals, im Bereich des Schultergürtels, des Abdomens, des Beckens sowie des Arm- und Beinbereichs zuverlässig. Allerdings gibt die Sonographie kein Übersichtsbild, so dass häufig die Länge des Thrombus nur abgeschätzt werden kann. Gut nachweisbar ist dagegen die Kollateralisationssituation. Die 3-D-Sonographie wird hier zu zusätzlichen Erkenntnissen führen. Bezüglich des Alters des Thrombus ergeben sich die folgenden Hinweise:
noch deutlich umspült ist (b). Resultat nach zweitägiger Lysetherapie: Verringerung der Thrombusgröße dargestellt in beiden Bildmodalitäten (c, d). Als Therapieerfolg stellt sich innerhalb von 7 Tagen eine komplette Auflösung des Thrombus ein (e, f )
Tipp für die Praxis Ein frischer Thrombus ist eher echoarm. Mit zunehmender Zeit steigt die Echointensität an. Gelegentlich ist bei langem Verlauf die Gefäßwand nicht mehr abgrenzbar; bisweilen kommt es sogar zu Verkalkungen.
40.3.2 Angiographie Die Angiographie ist für Kinder die wichtigste Ergänzung zur Farb-Doppler-Sonographie. Dieses Verfahren ist invasiv und geht mit einer Strahlen- und Kontrastmittelapplikation (KM) einher (Salcuni et al. 1996). Die erzeugten Bilder sind bezüglich der Umgehungskreisläufe übersichtlich (⊡ Abb. 40.2). Die Länge eines Thrombus kann nicht in jedem Fall bestimmt werden. Eine Altersabschätzung ist zu Beginn einer Thrombose anhand der Kollateralisationssituation möglich, mit zunehmender Zeit nimmt der Wert einer solchen Angabe ab. Allerdings besitzt diese Methode den Vorteil, dass sie insbesondere auf Intensivstationen bei Früh- und Neugeborenen ohne Transport durchgeführt werden kann. Meist befindet sich der thromboseauslösende Katheter noch in dem entsprechenden Gefäß, so dass zusätzliche Eingriffe nicht nötig sind. Diese direkte Bildgebung hat bei den kleinen Kindern dann Nachteile, wenn die Kollateralisation aus zahlreichen kleinen Gefäßen besteht und es zu KM-Verdünnungseffekten kommt. Eine Differenzierung hinsichtlich des endgültigen Abflusses auch durch den Einsatz einer digitalen Subtraktionsangiographie (DSA) ist schwierig.
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a
b
c
d
⊡ Abb. 40.2a–d. 10-jähriger Junge mit rechtsseitigem intrathorakalen Tumor. a Das Kontrastmittel-CT ergibt die komplette Verlegung der V. cava inferior, als deren Ursache eine Tumorkompression im oberen Anteil anzusehen ist. Der Thrombus ist inhomogen und mit einigen hypodensen Arealen versehen, so dass für den zeitlichen Ablauf der Thrombose mehrere Tage anzunehmen sind. Die Folge dieses Gefäßverschlusses war eine ausgiebige Aszitesbildung. b Diese Farb-Doppler-Untersuchung mit Längsschnitt durch die V. cava inferior entstand zum gleichen Zeitpunkt wie der CT-Scan. Es handelt sich jedoch nicht, wie zunächst vermutet, um einen einheitlichen Thrombus, sondern
um mehrere Fraktionen, die durch flüssigkeitshaltige Abschnitte unterbrochen sind. Die verschiedenen Anteile dürften zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sein. c Während der Therapie kommt es in der Farb-Doppler-Sonographie zum Nachweis von Strömungsphänomenen in der V. cava inferior. d Sonographische Querschnittsdarstellung: Der Thrombus ist zunächst noch an einer Stelle wandadhärent. Im Übrigen ist er aber gut umspült. Diese Situation ergab sich nach 7-tägiger Substitution mit Protein-C-Konzentrat bei Protein-CMangel. Nach einer Behandlungszeit von insgesamt 14 Tagen war das Gefäß frei durchgängig
40.3.3 Computertomographie
40.3.4 Magnetresonanztomographie
Die Computertomographie (CT) ist im Kindesalter als Verfahren zur Thrombosesuche deutlich in den Hintergrund getreten, auch wenn die Untersuchungszeit bei modernen Spiral-CT und »Multislice«-Geräten kurz ist (Schoepf et al. 2001). Wichtigster Nachteil bleibt die Kontrastmittel- und Strahlenapplikation. Die Länge eines Thrombus lässt sich im CT häufig sicher bestimmen. Eine Altersabschätzung ergibt sich im Verlauf aus der Änderung der Dichtewerte des Thrombus. Die Dichte ist in der akuten Phase erhöht und nimmt mit der Zeit ab (Dolinskas et al. 1977). Aussagen zum Alter, die die Ausprägung des Kollateralkreislaufs ins Kalkül ziehen, bleiben vage. Der Platz des CT wird zunehmend von der Magnetresonanztomographie (MRT) übernommen.
Diese Methode ist vor allen Dingen im Kopf-, Herz- und Thoraxbereich nach Einführung von schnellen Sequenztechniken von großer Bedeutung. Der Hauptnachteil ergibt sich durch die langen Untersuchungszeiten, wobei zumindest bei kleineren Kindern eine Sedierung notwendig wird. Im MRT können z. B. durch die Phasenkontrastangiographie sowohl das durchströmte Lumen als auch der Thrombus selbst dargestellt werden. Eine KM-Angiographie ist für die differenzialdiagnostischen Erwägungen Thrombus versus Tumor notwendig, da eine KM-Aufnahme nur im Tumor erfolgt. Das Alter eines Thrombus kann im MRT sicherer als im CT bestimmt werden. Grundlage dieser Altersschätzung im MRT ist die mit fortschreitender Zeit zunehmende Hämosiderinansammlung im Thrombus, die in den Turbo-Gradientenechosequenzen Signalveränderungen zur Folge hat.
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Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
Im MRT können folgende Phasen der Thrombenbildung differenziert werden (Gomori et al. 1987; Zimmerman et al. 1988): ▬ Akutes Stadium: Der Thrombus zeigt sich innerhalb der ersten Stunden bis zum 4. Tag in der T2-Wichtung isodens (Oxihämoglobin und Desoxyhämoglobin). ▬ Subakutes Stadium: Nach dem 7. Tag und innerhalb der folgenden Monate ergibt sich in der T1- und deutlicher noch in der T2-Wichtung ein Signalanstieg durch zunehmende Methämoglobinbildung. ▬ Chronisches Stadium: Nach Ablauf von 6 Monaten kommt es dann durch Hämosiderin/Ferritin-Abbauprodukte zu einem Signalverlust sowohl in der T1- als auch in der T2-Wichtung. Für die MRT-Diagnostik von Thrombosen werden bereits spezielle Sequenzen entwickelt, die die Diagnostik weiter verbessern werden (Fraser et al. 2002). 40.4
Hereditäre Thrombophilien
Die Identifizierung hereditärer thrombophiler Risikofaktoren begann 1965 mit der Beschreibung eines abnormen Fibrinogens in einer Familie mit Thrombosen (Beck et al. 1965). Im gleichen Jahr wurde auch erstmals der Antithrombinmangel als familiäre Ursache von Thrombosen beschrieben (Egeberg 1965). 1981 und 1984 kamen der hereditäre ProteinC-Mangel (Griffin et al. 1981) bzw. Protein-S-Mangel (Comp u. Esmon 1984) hinzu. Quantitativ spielen diese Risikofaktoren jedoch keine große Rolle und machen insgesamt weniger als 10% in Thrombosekollektiven aus. Für viele weitere familiäre Fälle fand man keine Erklärung, bis 1993 Dahlbäck und Mitarbeiter eine Resistenz gegen aktiviertes Protein C mit einer hohen Prävalenz in Thrombose-Kollektiven beschrieben (Dahlbäck et al. 1993; Zoller et al. 1994), die auch bei Thrombosen im Kindesalter in bis zu 30% der Fälle gefunden wird (Aschka et al. 1996). Seitdem haben potenzielle Thrombophiliefaktoren großes klinisches und wissenschaftliches Interesse erfahren. Es folgte eine Vielzahl von Studien, die sich mit der Überprüfung weiterer möglicher Risikofaktoren befassten. Unter anderem wurde ein Nukleotidaustausch in der 3′-untranslatierten Region des Prothrombingens entdeckt, der ebenfalls in Thrombosekollektiven gehäuft vorkam (Poort et al. 1996). Die Etablierung hereditärer Risikofaktoren ist ein komplexer Vorgang, der durch pathophysiologische Überlegungen und Familien- oder populationsgenetische Analysen initiiert werden kann. Kandidatenrisikofaktoren werden zunächst bezüglich ihrer Verteilung in der Patientenpopulation und in einer Kontrollpopulation untersucht. Signifikante Ergebnisse müssen in unabhängigen Studien und in anderen ethnischen Gruppen überprüft werden, um zufällige Unterschiede auszuschließen. Die Segregation eines Kandidatenrisikofaktors mit dem klinischen Phänotyp der Thromboseneigung innerhalb einer Familie wäre eine weitere Bestätigung. Schließlich sollte der pathogenetische Mechanismus geklärt und plausibel sein. Bei Anlage dieser Maßstäbe können nur wenige Risikofaktoren als etabliert gelten. Zahlreiche Studien mit widersprüchlichen Ergebnissen wurden publiziert, für klinische Entscheidungen
dürfen jedoch nur etablierte Risikofaktoren herangezogen werden. 40.4.1 Gerinnungsfaktoren Eine angeborene Erhöhung der Plasmakonzentration einzelner Gerinnungsfaktoren, ihrer Aktivitäten oder ihrer Resistenz gegenüber dem natürlichen Inaktivierungs- oder Regelungsmechanismus können mit einer Thrombophilie korreliert sein. Fibrinogen Fibrinogen ist ein Akute-Phase-Protein. Erhöhungen des Plasmakonzentration bei entzündlichen Erkrankungen oder einer Sepsis sind somit in der Regel erworben und tragen zur Hyperkoagulopathie im Rahmen schwerer Krankheitsbilder bei. Allerdings finden sich in den Promotorregionen der Gene aller 3 Fibrinogenketten IL-6-responsive Elemente, die für die Fibrinogenerhöhung in der akuten Phase verantwortlich sind und deren Einfluss auf die Fibrinogenexpression durch Polymorphismen der Gene moduliert werden kann. Überwiegend hereditär bedingt sind Dysfibrinogenämien, die mit einer Thrombophilie einhergehen können. Abnorme Polymerisation, gestörte Bindung an Plasminogen und Resistenz gegenüber der Fibrinogenolyse sind die Mechanismen, die bei diesen Fibrinogenvarianten zur Thrombophilie führen (Liu u. Wallen 1984; Kaudewitz et al. 1986). Die zugrunde liegenden Defekte sind sehr heterogen. Die Fibrinogenspiegel und -aktivitäten können normal aber auch vermindert sein. Obwohl keine verlässlichen Daten zur Prävalenz von Thrombophilie-assoziierten Dysfibrinogenämien vorliegen, müssen sie als sehr selten angenommen werden. Dennoch gehört die Dysfibrinogenämie neben dem Antithrombinmangel zu den ersten identifizierten familiären Thrombophiliefaktoren (Beck et al. 1965). Neben der Bedeutung von Dysfibrinogenämien bei venösen Thromben spielen erhöhte Fibrinogenspiegel bei arteriellen Thrombosen eine signifikante Rolle. Prothrombin Eine Sequenz-Variante in der 3′-untranslatierten Region des Prothrombingens 20210G>A korreliert mit einem erhöhten Prothrombinspiegel (Poort et al. 1996). Als Mechanismus wird eine verbesserte Effizienz des 3′-mRNA-Processings mit in der Folge erhöhter mRNA-Akkumulation angenommen (Gehring et al. 2001). Mehrere Studien, u. a. auch bei Kindern konnten eine Assoziation von FII 20210A mit Thrombosen nachweisen (Poort et al. 1996; Junker et al 1999; Young u. Manco-Johnson 2002). In einer großen kanadischen Studie war FII 20210A allerdings nur bei älteren Kindern von Bedeutung (Revel-Vilk et al. 2003). Die Variante wird mit einer Prävalenz von ca. 2,7% in der weißen Normalbevölkerung (n=11.932) und mit 7,1% in unselektierten Thrombosekollektiven (n=2884) gefunden, woraus sich ein relatives Thromboserisiko von 2,6 ergibt (kumulative Daten aus mehreren Untersuchungen). Nach Haplotypanalysen ist die Mutation vor ca. 20.000–30.000 Jahren als Founder-Effekt aufgetreten. Homozygotie für die Variante, Kombination mit einer APC-Resistenz oder anderen Risikofaktoren erhöhen das Risiko für Thrombosen. Auch bei arteriellen Thrombosen scheint 20210G>A eine Rolle zu spielen. Studienergebnisse zur Be-
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deutung bei Hirninfarkten im Kindesalter sind allerdings uneinheitlich (Ganesan et al. 1998; McColl et al. 1999; NowakGöttl et al. 1999; Kenet et al. 2000; Young et al. 2002). Reinfarkte scheinen nicht mit FII 20210G>A zu korrelieren (Kurnik et al. 2003). Der diagnostische Nachweis von FII 20210A ist nur durch Mutationsanalyse möglich. Faktor V Aktivierter Faktor V spielt als Kofaktor bei der Aktivierung von Prothrombin zu Thrombin durch den FX-Komplex eine wichtige Rolle. Er ist außerdem in seiner nicht aktivierten Form als Kofaktor des aktivierten Protein-C-Komplex an der FVIII-Inaktivierung beteiligt. Hierzu ist allerdings seine vorhergehende proteolytische Spaltung an der natürlichen FVInaktivierungsschnittstelle neben Arg506 notwendig. Seine Doppelfunktion als Gerinnungsfaktor, aber auch als Antikoagulans betont die regulative Bedeutung von FV. 1993 wurde von Dahlbäck und Mitarbeitern (Dahlbäck et al. 1993) erstmals das Phänomen einer Resistenz des Gerinnungsvorgangs gegenüber dem Gerinnungsinhibitor Protein C im Plasma von Mitgliedern einer Familie mit Thrombophilie nachgewiesen. Von Bertina und Mitarbeitern aus Leiden wurde diese APC-Resistenz (APCR) 1994 auf den Basenaustausch G1691A im FV-Gen zurückgeführt (Bertina et al. 1994). Diese, auch FV Leiden genannte Mutation, führt zum Aminosäureaustausch Arg506Gln und damit zum Verlust der wichtigsten proteolytischen Schnittstelle des FV zwischen Arg506 und Gly507 (Kalafatis et al. 1994) mit der Folge einer um das 10fache verlangsamten Inaktivierung (⊡ Abb. 40.3; Kalafatis et al. 1996). Überraschenderweise fand sich eine hohe Prävalenz Heterozygoter in der weißen Normalbevölkerung von durchschnittlich ca. 5%, mit Prävalenzen in einzelnen Populationen von bis zu 15% (Zoller et al. 1996). Arg506Gln erfüllt damit die Kriterien eines genetischen Polymorphismus. In nicht-kaukasischen Populationen konnte die Mutation praktisch nicht nachgewiesen werden, hat allerdings eine hohe Prävalenz auch in der arabischen und türkischen Bevölkerung. Wie bei der Prothrombinmutante G20210A sprechen Haplotyp-
⊡ Abb. 40.3 Aktivierung von Faktor V und dessen Inaktivierung durch aktiviertes Protein C (APC). Die Aktivierung erfolgt durch proteolytische Entfernung der B-Domäne durch Thrombin. Deren Bindungsfunktion wird von Ca++-Ionen übernommen. Die Inaktivierung erfolgt
analysen für einen Founder-Effekt vor ca. 20.000–30.000 Jahren. Bezüglich ihrer Bedeutung als Thrombophiliefaktor kommen die meisten bisherigen Studien zu übereinstimmenden Ergebnissen. Das relative Thromboserisiko für Heterozygote beträgt das ca. 6- bis 8-fache. Homozygotie erhöht das Thromboserisiko auf das bis zu 80-fache (Koster et al. 1993). Von Bedeutung sind außerdem Kombination mit der Prothrombinmutante sowie Besonderheiten der Lebensführung wie Einnahme oraler Kontrazeptiva (Vandenbroucke et al. 1994) und Rauchen. Auch Segregationsanalysen betroffener Familien können die Validität von FV Leiden als etablierten Risikofaktor bestätigen, obwohl die Penetranz der klinischen Symptomatik mit Thrombosen unvollständig ist. Letztlich konnten funktionelle Studien des mutanten FV dessen verminderte Proteolyse und damit das pathogenetische Prinzip belegen (Kalafatis et al. 1996). Verschiedene Studien haben auch die Bedeutung des FV Leiden für Thrombosen im Kindesalter belegt (Aschka et al. 1996; Sifontes et al. 1998; Junker et al. 1999). Eine Bedeutung des FV Leiden für arterielle Thrombosen wie Myokardinfarkt, arterielle Verschlusskrankheit und Hirninfarkte bei Erwachsenen konnte in den meisten Fällen nicht nachgewiesen werden. Ähnlich wie für die Prothrombinmutante wird allerdings über eine Beteiligung bei Hirninfarkten im Kindesalter berichtet (Nowak-Göttl et al. 1999), jedoch existieren dazu auch widersprüchliche Ergebnisse (Kenet et al. 2000). Die Diagnostik erfolgt funktionell mittels modifiziertem aPTT-Assay mit und ohne Zusatz von aktiviertem Protein C (APC). Zum Ausschluss störender Faktoren sollte mit FV-Mangelplasma verdünnt werden. Meist ist eine Ratio <2 mit einer APCR assoziiert. Die Diagnosesicherung sollte durch Nachweis der Mutation erfolgen, auch um eine eventuelle Homozygotie zu erfassen. Faktor VIII Obwohl erhöhte FVIII-Spiegel (>150%) als Thrombophiliefaktor gelten und familiäre Erhöhung von FVIII beobachtet wurde, konnte eine hereditäre Grundlage bisher nicht festge-
durch APC-vermittelte Proteolyse an 3 Positionen. Dabei liegt die wichtigste Schnittstelle bei Arg506. Deren Spaltung erleichtert die weitere und vollständige Proteolyse bei Arg306 und Arg679. Bei der APC-Resistenz ist Arg506 zu Gln mutiert (nach Kalafatis et al. 1994)
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stellt werden. Dies liegt möglicherweise auch daran, dass FVIII-Spiegel auch von anderen Faktoren mitbestimmt werden, wie z. B. VWF und das AB0-System. Ein zur APC-Resistenz analoger Mechanismus wurde für den Faktor VIII bisher nicht gefunden, obwohl FV und FVIII strukturell zueinander homolog sind und beide durch aktiviertes Protein C proteolytisch inaktiviert werden. Von-Willebrand-Faktor Aufgrund seiner Funktion in der primären Hämostase bei der Plättchenadhäsion an das verletzte Endothel und bei der Plättchenaggregation v. a. unter Bedingungen hoher Flussgeschwindigkeiten würde man v. a. eine Bedeutung des VWF für arterielle Thrombosen erwarten. Tatsächlich konnten erhöhte VWF:AG-Spiegel mit Myokard- und Hirninfarkt sowie arterieller Verschlusskrankheit korreliert werden (Folsom et al. 1997; Qizilbash et al. 1997; Jastrzebskaet al. 2002). Die Wirksamkeit spezieller Thrombozytenaggreagtionshemmer gegen Re-Infarkte, die gegen GpIIb/IIIa der Thrombozyten gerichtet sind und damit deren Bindung an die Aminosäuresequenz »RGDS« (Arg-Gly-Asp-Ser) des VWF hemmen, sprechen ebenfalls für VWF als Thrombophiliefaktor im arteriellen System. Wegen seiner Eigenschaft als Akute-Phase-Protein können erhöhte VWF:AG-Spiegel nur schwer auf einen genetischen Hintergrund zurückgeführt werden, obwohl versucht wurde, einzelne Polymorphismen des Gens mit erhöhten Spiegeln und Thromboseneigung zu korrelieren (Van Der Meer et al. 2004). Der VWF Neugeborener ist durch einen höheren Anteil biologisch besonders aktiver großer Multimere ausgezeichnet, die bei der erhöhten perinatalen Hirninfarktrate eine Rolle spielen könnten. Dies ist bisher nicht systematisch untersucht worden. Nachgewiesen ist jedoch die Rolle, die diese besonders großen Multimere bei der Pathogenese der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) spielen, die sich neben Hämolyse und Thrombozytopenie durch Thrombosen und Hirninfarkte manifestiert (Moake et al. 1982). In zukünftigen Studien zur Bedeutung des VWF als Thrombophiliefaktor sollten neben der quantitativen Bestimmung auch funktionelle Parameter berücksichtigt werden. 40.4.2 Gerinnungsinhibitoren Um die Blutgerinnung auf den Ort der Blutung zu begrenzen, existieren wirksame Regelmechanismen der Hämostase. Hierzu gehören die Inhibitoren der Gerinnung, Antithrombin, das Protein-C-System und der »tissue factor pathway inhibitor« (TFPI). Quantitative oder funktionelle Defekte dieser Inhibitoren sind Thrombophiliefaktoren. Antithrombin Ein erworbener oder hereditärer Mangel des Proteinaseinhibitors Antithrombin (AT, frühere Bezeichnung AT III) korreliert mit einer Thrombophilie (Egeberg 1965). Die hereditäre Form wird unterteilt in einen quantitativen Typ 1- und den qualitativen Typ 2-AT-Defekt. Die Häufigkeit eines klinisch relevanten hereditären AT-Mangels wird mit 1:2000 angegeben (Rosenberg 1975). Der Erbgang ist autosomal-dominant, gelegentlich rezessiv. Der Genort liegt auf Chromosom 1q23–25.
AT inhibiert neben Thrombin auch weitere Serinproteasen, wie FXIIa, FXIa, FIXa und FXa des endogenen Systems, während FVIIa durch AT nur wenig inaktiviert wird. Die Wirkung von AT durch Bindung von Thrombin wird in Gegenwart von Heparin durch allosterische Konformationsänderung um den Faktor 1000 gesteigert. Für die hierzu nötige Bindung von Heparin an AT existieren spezielle Bindungsstellen. Einen erworbenen Mangel an AT beobachtet man im Rahmen thrombotischer Ereignisse und der Verbrauchskoagulopathie, bei schwerer Lebersynthesestörung, beim nephrotischen Syndrom, unter Heparinisierung und ausgeprägt unter Asparaginasetherapie bei akuter lymphatischer Leukämie. Hereditäre funktionelle Defekte beeinträchtigen z. B. die Heparinbindungsregion oder die Thrombinbindungsstelle. Ein schwerer homozygoter AT-Mangel wurde bisher nicht beobachtet und ist wahrscheinlich nicht mit dem Leben vereinbar. Ein AT-Mangel kann bei relativer Heparinresistenz und im Rahmen der oben genannten erworbenen Krankheiten vermutet werden. ! Bei Thrombosen im Kindesalter und bei familiärer Thromboseneigung gehört die AT-Bestimmung zur obligatorischen Diagnostik.
Durch Bestimmung der AT-Aktivität und des AT-Antigens lässt sich zwischen AT-Mangel Typ 1 und Typ 2 unterscheiden. Der AT-Mangel findet sich in Thrombosekollektiven bei bis zu 5% der Patienten. Ein hereditärer AT-Mangel ist mitunter von einem erworbenen Mangel schwer abzugrenzen. Hier können eine Familienanalyse und/oder die molekulargenetische Diagnostik weiterhelfen. Protein-C-System Zum Protein-C-Inhibitorsystem gehören Protein C sowie Protein S und nicht-aktivierter FV als Kofaktoren. Der Mangel an Protein C oder Protein S manifestiert sich mit thromboembolischen Ereignissen sowie, bei schweren Mangelzuständen, mit dem charakteristischen Bild der Purpura fulminans (⊡ Abb. 40.4). Es gibt hereditäre und erworbene Mangelzustände dieser Faktoren. Der Erbgang der angeborenen Formen ist autosomal-dominant mit erheblicher Variation in der Expressivität. Das Bild der Purpura fulminans findet sich praktisch nur bei homozygotem Mangel oder aber bei den erworbenen Formen, z. B. bei schwerem Protein-SMangel, der gelegentlich im Rahmen von Varizellen- und anderen Infektionen beobachtet wird (Bergmann et al. 1995). Zu den Defekten des Protein-C-Systems gehört auch die Resistenz des aktivierten Faktor V gegenüber seiner proteolytischen Inaktivierung durch aktiviertes Protein C ( Faktor V im Abschn. 40.4.1). Protein C ist eine Protease, die an definierten proteolytischen Schnittstellen aktivierten Faktor V und aktivierten Faktor VIII inaktiviert ( Abb. 40.3). Protein S fungiert als essenzieller Kofaktor und liegt in 2 Formen im Plasma vor: ▬ als freies, funktionell aktives Protein und ▬ in inaktiver Form im Komplex mit C4-Bindungsprotein. Aktiviertes Protein C ist auch an der Fibrinolyse durch Inaktivierung des Plasminogenaktivator-Inhibitors I (PAI-I) beteiligt ( Kap. 37).
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⊡ Abb. 40.4. Purpura fulminans bei einem Kind mit erworbenem Protein-S-Mangel im Rahmen einer Infektion
Neben Antithrombin und TFPI ist das Protein-C-System der wichtigste Inhibitor der Blutgerinnung. Quantitative und qualitative Defekte von Protein C und Protein S sind Ursache von ca. 3–5 % der Thrombosen im Erwachsenenalter (Pabinger et al. 1992). Bei jedem thrombotischen Ereignis im Kindesalter sollte auch nach Defekten des Protein-C-Systems geforscht werden. Neben der Bestimmung von Protein C und freiem Protein S durch funktionelle Tests sollte bei pathologischen Werten auch das jeweilige Antigen bestimmt werden, um zwischen quantitativen und funktionellen Defekten zu differenzieren. Wegen der altersabhängig großen Unterschiede der Normwerte sollte die Untersuchung der Eltern zur Unterstützung der Diagnose genutzt werden, ebenso wie der molekulargenetische Nachweis eines Protein-C- bzw. Protein-S-Defekts. »Tissue factor pathway inhibitor« »Tissue factor pathway inhibitor« (TFPI), auch »lipoproteinassociated coagulation inhibitor« (LACI) genannt, wurde 1987 entdeckt und ist der zentrale Inhibitor für die Tissue Faktor/FVIIa-abhängige Aktivierung von FIX und FX ( Abb. 37.2). Homozygote Defekte dieses Faktors beim Menschen sind nicht bekannt. Homozygote TFPI-»Knock-out«Mäuse versterben intrauterin an einer Verbrauchskoagulopathie, homozygote schwere TFPI-Defekte sind auch beim Menschen wahrscheinlich mit dem Leben nicht vereinbar. Ein heterozygoter Aminosäureaustausch wurde beschrieben und geht möglicherweise mit einer Thromboseneigung einher. Von-Willebrand-Faktor-spaltende Protease Das 1924 erstmals von Moschcowitz beschriebene Krankheitsbild der thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP) war bis zum Einsatz wirksamer Therapien mit einer Mortalität von über 90% verbunden. Es ist gekennzeichnet durch eine hämolytische Anämie mit Schistozyten, thrombozytopenische Purpura sowie Thromboembolien in der Mikrozirkulation mit ZNS-Manifestation (Moschcowitz 1924). Als bei Kindern mit TTP durch Infusion von Plasma Remis-
sionen erzielt werden konnten, wurde ein fehlender Plasmafaktor als Ursache der TTP postuliert (Schulman et al. 1960). Nach dem Nachweis ungewöhnlich großer VWF-Multimere im Plasma von TTP-Patienten, die man mit der Pathogenese der TTP in Zusammenhang brachte (Moake et al. 1982), konnte von 2 unabhängigen Arbeitsgruppen das Fehlen einer VWF-spaltende Protease als ursächlich für die TTP nachgewiesen werden (Furlan et al. 1996; Tsai 1996). Diese wurde kürzlich von mehreren Arbeitsgruppen als die Metalloprotease ADAMTS13 identifiziert. Während bei Erwachsenen die Erkrankung überwiegend durch Autoantikörper gegen ADAMTS13 hervorgerufen wird, sind im Kindesalter v. a. hereditäre ADAMTS13-Defekte ursächlich (Schneppenheim et al. 2003). Das Fehlen der Protease geht mit einer ungenügenden Größenregulierung der aus dem Endothel freigesetzten übernormal großen biologisch besonders effektiven VWF-Multimere einher. Es kommt zur spontanen Thrombozytenadhäsion und Aggregation insbesondere in Bereichen von hohen Scherkräften wie in der Mikrozirkulation. Ubiquitäre »hyaline« Thromben mit hohem Anteil an Thrombozyten und VWF und geringem Fibringehalt sind die Folge (Moschcowitz 1924). Die zugrunde liegenden genetischen Defekte sind »compound«-heterozygote und homozygote Mutationen des ADAMTS13-Gens, entsprechend einem autosomalrezessiven Erbgang (Levy et al. 2001; Schneppenheim et al. 2003). Heterozygote Mutationsträger sind in der Regel selbst nicht betroffen, zeigen jedoch eine erniedrigte Proteaseaktivität. Die Diagnose wird durch Bestimmung der Proteaseaktivität gestellt, die bei der TTP mit <5% gemessen wird. Zur Unterscheidung der hereditären von der erworbenen Form kann der allerdings nicht sehr zuverlässige Antikörpernachweis durchgeführt werden. In Zweifelsfällen ist die molekulargenetische Diagnostik notwendig. Im Kindesalter können oligosymptomatische Formen mit einer ITP oder einem Evans-Syndrom verwechselt werden (Schneppenheim et al. 2004). Therapie. Bei der hereditären Form der TTP ist im akuten Schub die Gabe von Frischplasma lebensrettend und in vielen Fällen ausreichend. Bei Vorliegen von Autoantikörpern müssen eine Plasmapherese bzw. ein Plasmaaustausch in Kombination mit immunsuppressiver Therapie und eventuell Splenektomie durchgeführt werden. 40.4.3 Fibrinolyse Unter Fibrinolyse wird der Prozess zur Proteolyse von Fibrin in Thromben durch die Protease Plasmin verstanden ( Kap. 37). Hereditäre und erworbene Defekte des Fibrinolysesystems können Ursache von Thrombosen aber auch von Blutungen sein. Ein erhöhter PAI-I-Spiegel ist mit einer Thrombophilie assoziiert. Der Beitrag hereditärer Faktoren hierzu ist allerdings unklar. Für eine Assoziation der hereditären Hypo- bzw. Dysplasminogenämie mit einer Thrombophilie gibt es keinen eindeutigen Beweis, Berichte hierüber sind widersprüchlich sind. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Patienten mit einem autosomal-rezessiv vererbten komplet-
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Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
tem Plasminogenmangel aufgrund homozygoter oder »compound«-heterozygoter Mutationen im Plasminogengens klinisch nicht durch eine Thrombophilie auffallen ( Kap. 37). Auch Mutationen des Gens für »tissue plasminogen activator« (tPA) oder Urokinase (uPA) wurden bisher nicht mit einer klinisch relevanten Thromboseneigung korreliert. 40.4.4 Hereditäre Stoffwechseldefekte Homozystinurie Die klassische Homozystinurie ist ein hereditärer Stoffwechseldefekt, der meist auf einer Defizienz der Cystathionin-βSynthase oder der 5-Methyltetrahydrofolsäure-Homocystein-Methyltransferase beruht und aufgrund des massiv erhöhten Homocysteins und den damit verbundenen Endothelschäden mit einer ausgeprägten Thromboseneigung korreliert. Die Aktivität der 5-Methyltetrahydrofolsäure-Homocystein-Methyltransferase wiederum ist vom Angebot an 5-Methyl-Tetrahydrofolsäure abhängig, deren Spiegel u. a. durch 5, 10-Methylentetrahydrofolsäure-Reduktase (MTHFR) reguliert wird. Eine häufige genetische thermolabile MTHFR-Variante (MTHFR, 677C>T) geht in ihrer homozygoten Form mit einem mäßig erhöhten Homocysteinspiegel im Blut einher. Das thermolabile MTHFR-Allel findet sich zu 30–35% in der kaukasischen Normalbevölkerung, ca. 10% sind homozygot. Studien zur Bedeutung dieser Mutante bei Erwachsenen und Kindern mit venösen oder arteriellen Thrombosen kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen (Nowak-Göttl et al. 1999; Kenet et al. 2000). Wahrscheinlich wird der Einfluss dieser Mutation durch Folsäure in der Nahrung unterdrückt. Die Mutationsanalyse ist daher ohne Bedeutung. Lipoprotein (a) Lipoprotein (a) wurde in mehreren Studien bei Kindern aus Deutschland als milder venöser und arterieller Thrombophiliefaktor beschrieben (Nowak-Göttl et al. 1999). Es existieren allerdings auch widersprüchliche Berichte (Revel-Vilk 2003). Lp(a)-Spiegel sind in der Bevölkerung sehr variabel und in der Regel genetisch determiniert, variieren jedoch im Rahmen von Akute-Phase-Reaktionen. So kann Interleukin 6 die Transkription von Lp(a) um das 2-bis 3fache erhöhen. Auch im Rahmen von Endothelschäden und Angiogenese findet man einen Anstieg von Lp(a), so dass erhöhte Spiegel von Lp(a) bei Thrombosen auch ein sekundäres Phänomen sein könnten. Die Normwerte im Plasma liegen zwischen 7,2±13,1 mg/dl bei Singapur-Chinesen und 45,7±25,9 bei Schwarzafrikanern, in der deutschen Bevölkerung bei 18,7±23,1. Diese großen Unterschiede in den bisher untersuchten Populationen relativiert die Bedeutung von Lp(a) als etabliertem Risikofaktor für Thrombosen. Lp(a) besteht aus einem »Low-density«-Lipoproteinanteil und einem Glykoproteinanteil, dem »Apolipoprotein (a)«. Apo(a) besitzt eine hohe strukturelle Homologie mit Plasminogen ohne dessen funktionelle Aktivität. Der pathophysiologische Mechanismus könnte daher auf einer kompetitiven Hemmung von Plasminogen beruhen. Gegen diese Hypothese spricht das Fehlen einer ausgesprochenen Thromboseneigung bei Patienten mit komplettem Plasminogenmangel. Eine neuere Untersuchung führt die thrombogene Eigen-
schaft von Lp(a) auf die Inhibition des »tissue factor pathway inhibitor« zurück (Caplice et al. 2001). Lp(a)-Spiegel können durch Niacin gesenkt werden. Somit wäre bei Kindern mit Thrombosen und erhöhtem Lp(a) eine Interventionsmöglichkeit gegeben. Es gibt derzeit jedoch keine Daten, die eine solche dauerhafte Prophylaxe rechtfertigen. Insofern ist die Lp(a)-Bestimmung derzeit nur von wissenschaftlichem Interesse. 40.5
Erworbene Thrombophilien
Erworbene Veränderungen des Gerinnungssystems sind auch im Kindesalter Ursache von arteriellen oder venösen Gefäßverschlüssen. Die Thrombophiliediagnostik darf sich daher nicht auf die Analyse der hereditären Risikofaktoren beschränken. Häufig findet sich eine Kombination von hereditären und erworbenen Risikofaktoren, die zur Erstmanifestation einer Thromboseneigung im Kindesalter beitragen. Im Hinblick auf die erworbenen Thrombophilien ist es wichtig, dass sie im Gegensatz zu hereditären Formen durch die Behandlung der Grunderkrankung therapeutisch zu beeinflussen sind. Auch die Dauer einer notwendig werdenden Antikoagulation lässt sich bei erworbenen Thrombophilien besser einschätzen. 40.5.1 Immunologisch bedingte Thrombophilien Antiphospholipidantikörper und Antiphospholipidantikörpersyndrom Das Krankheitsbild des Antiphospholipidantikörpersyndroms (APS) wurde ursprünglich in den 80er-Jahren bei jungen Frauen beschrieben, die durch arterielle und venöse Thrombosen – oft an atypischer Lokalisation (z. B. Subclaviaoder Mesenterialvenenthrombose) –, Thrombozytopenie und Frühaborte aufgefallen waren (Hugh 1998). Das Spektrum der Symptome ist inzwischen durch vielfältige neurologische Symptome erweitert worden: transitorisch ischämische Attacke, Insult, »MS-like disease«, Migräne, Krampfanfälle, Seh- und Hörstörungen infolge Gefäßverschlüssen (Brey u. Escalante 1998). Aber auch Symptome wie die Livido reticularis, Herzklappenverdickungen und eine hämolytische Anämie sollten an das APS denken lassen. Bei Aborten oder Frühgeburtlichkeit als Folge einer infarktbedingten Plazentarinsuffizienz schließt sich der Kreis. In diesen Fällen sollte der Pädiater die notwendige Diagnostik zum Ausschluss eines APS bei der Mutter veranlassen. Das APS wird in primäre (Ätiologie unklar) und sekundäre Formen eingeteilt. Zu den Letzteren zählt das APS bei Kollagenose (z. B. SLE) und Infektion (z. B. Varizellen, HCV, HIV und Borreliose) sowie das paraneoplastisch oder medikamentös (Valproat, Penicillin und -derivate u. a.) induzierte APS (Triplett 1998). In Thrombosekollektiven junger Erwachsener (Alter <45 Jahre) wird die Prävalenz von Antiphospholipidantikörpern (APA) mit ca. 10–20% angegeben. Für die Prävalenz im Kindesalter gibt es Daten zu Kindern mit cerebralem Insult (Kenet et al. 2000). In der ESPED-Erhebung von 1997 waren Cardiolipin Antikörper bei 10% der betroffenen Kinder nachweisbar (Nowak-Göttl et al. 1997). Da in dieser Studie jedoch keine systematischen Untersuchen
411 40 · Angeborene und erworbene Thrombophilien
zum Nachweis eines Lupusantikoagulans erfolgt waren, liegt die tatsächliche Prävalenz vermutlich höher. Eine wesentlich höhere Prävalenz von APA (20–60%) findet sich bei Kindern mit SLE, 30–40% der Betroffenen hatten einen symptomatischen Gefäßverschluss (Manco-Johnson et al. 1998). APA sind die häufigsten erworbenen Inhibitoren der Gerinnung. Sie setzen sich aus verschiedenen IgG- und IgMAutoantikörpern, die gegen negativ geladene PhospholipidProtein-Komplexe gerichtet sind, zusammen und können in vivo und in vitro mit dem Gerinnungssystem interferieren. Einige dieser APA verlängern die Phospholipid-abhängigen Gerinnungszeiten (z. B. PTT), weshalb auch von einem Antikoagulans gesprochen wird. Unter dem Oberbegriff APA werden Anti-Cardiolipinantikörper, Antikörper gegen β2Glykoprotein I und die erstmals bei SLE-Patienten beschriebenen Lupusantikoagulanzien zusammengefasst. Die Bezeichnung Antikoagulans suggeriert eine Blutungsneigung, die jedoch nur in Einzelfällen beobachtet wird. Vielmehr nimmt man durch die Bindung der APA an die entsprechenden Strukturen eine Aktivierung von Oberflächen wie z. B. der Thrombozytenmembran an, die hierüber zur Hyperkoagulabilität beitragen. Fortschritte in der Diagnostik, insbesondere durch den Einsatz monoklonaler Antikörper gegen spezifische Strukturen der APA, führten zu weiteren neuen Erkenntnissen. Bisher wurde postuliert, dass APA direkt gegen entsprechende Phospholipidstrukturen gerichtet sind. Als Pathomechanismus wird jetzt jedoch die direkte Bindung der Antikörper gegen Proteine angenommen, die eine hohe Affinität zu Phospholipiden haben wie β2-Glykoprotein I und Prothrombin. Diese wurden früher als Kofaktoren, heute als Zielantigene (Target-Antigene) bezeichnet; weitere Zielantigene sind Faktor V, Protein C und S und Annexin V. Es gibt noch eine Vielzahl weiterer APA wie Antikörper gegen Phosphatidylserin und -ethanolamin. Da der Nachweis dieser APA bisher nicht standardisiert ist, bleibt die Analytik wissenschaftlichen Zwecken vorbehalten. Aus den Befunden kann keine Therapie- bzw. Prophylaxeempfehlung abgeleitet werden. Antikörper gegen Gerinnungsinhibitoren Im Rahmen von Infektionskrankheiten oder Autoimmunprozessen können Autoantikörper gegen Gerinnungsfaktoren auftreten. Blutungskomplikationen durch eine erworbene Hämophilie oder ein erworbenes Von-Willebrand-Syndrom durch die entsprechenden Autoantikörper sind im Kindesalter große Raritäten. Häufiger beschrieben sind dagegen Autoantikörper gegen die physiologischen Inhibitoren der Gerinnung (Protein C und S), die zumeist parainfektiös auftreten und mit einer entsprechenden Thromboseneigung bzw. mit dem Bild einer Purpura fulminans korrelieren (Bergmann et al 1995). Insbesondere nach Varizellen-, Salmonellen oder Meningokokken-Infektionen können diese Verläufe beobachtet werden ( Abb. 40.4).
da inzwischen die Diagnostik verbessert und häufiger angefordert wird. Im Erwachsenenalter ist die HIT die häufigste medikamentenbedingte Thrombozytopenie. Man unterscheidet den Typ 1 vom Typ 2 ( Kap. 82). Die HIT Typ 1 (nicht immunologisch bedingt) verläuft klinisch stumm. Es kommt innerhalb der ersten Behandlungstage mit Heparin zu einer mäßigen Thrombozytenerniedrigung, die sich trotz weiterer Heparintherapie nach kurzer Zeit wieder normalisiert. Die Thrombozytenzahl fällt selten unter Werte von 100×109/ml. Hier ist keine weitere Therapie notwendig. Hingegen ist die HIT Typ 2 bei in der Regel sinkenden Thrombozytenzahlen paradoxerweise mit dem Auftreten von akuten Gefäßverschlüssen korreliert. Auslöser sind Antikörper gegen den Plättchenfaktor 4/Heparin-Komplex, deren Bindung an Thrombozyten zur Gerinnungsaktivierung und Thrombinbildung führt (Greinacher et al. 2003). Beobachtet werden diese Antikörper überwiegend nach Einsatz von unfraktioniertem Heparin, nur selten nach niedermolekularem Heparin (Warkentin et al. 1995). Auch jede Thrombose unter Heparinprophylaxe, das Nicht-Ansprechen der PTT auf die Heparintherapie (»Heparinresistenz«), ein wachsender Thrombus unter Heparin oder stark gerötete, schmerzhafte Injektionsstellen müssen an eine HIT denken lassen. Im Kindesalter sind 2 Risikogruppen zu beachten: Neugeborene oder Kleinkinder nach kardiochirugischem Eingriff und Jugendliche, die unfraktioniertes Heparin zur Thrombosebehandlung bekommen. Bei Verdacht auf HIT ist die entsprechende Diagnostik und ein Umsetzen auf eine Alternativantikoagulation umgehend zu veranlassen (Greinacher et al. 2003; Severin et al. 2002). 40.5.3 Nephrotisches Syndrom Thromboembolische Komplikationen werden bei 10–25% der Patienten mit einem nephrotischen Syndrom (NS) beobachtet, neben tiefen Beinvenenthrombosen können auch Thrombosen an ungewöhnlicher Lokalisation, z. B. Subclavia-, Mesenterial- oder Sinusvenenthrombose, beobachtet werden. Die Hyperkoagulabilität, die bei Patienten mit akutem NS bekannt ist, ist folge einer Kombination von Risikofaktoren (Hoyer et al. 1986). Hierzu gehören Verlust an Antithrombin über die Niere, verstärkte Aggregationsbereitschaft der Thrombozyten, Anstieg von Fibrinogen, FVIII/VWFKomplex, FV- und FVII-Aktivität und die Hypercholesterinämie. Über Veränderungen der Inhibitoren Protein C und S wie auch der Faktoren des fibrinolytischen Systems liegen widersprüchliche Ergebnisse vor. Es ist unumstritten, dass bei Patienten mit nephrotischem Syndrom eine Thromboseprophylaxe in Risikosituationen erfolgen sollte, umstritten ist jedoch die Gabe von Antithrombin parallel zur Heparintherapie bei Patienten mit einer akuten Thrombose. Die Einführung niedermolekularer Heparine, die den Kofaktor Antithrombin für ihre Wirksamkeit nicht benötigen, sollte diese Diskussion überflüssig machen.
40.5.2 Heparin-induzierte Thrombozytopenie 40.5.4 Vitamin-K-Antagonisten Die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) ist im Kindesalter bislang selten beschrieben. Allerdings nimmt in den letzten Jahren die Anzahl der entsprechenden Kasuistiken zu,
Bei angeborenem Protein-C- oder Protein-S-Mangel kann es im Rahmen einer Antikoagulantientherapie mit Vitamin-K-
40
412
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
Antagonisten neben einer Koagulopathie auch zu thrombotischen Ereignissen kommen. Das klinische Bild der Kumarin-Nekrose entspricht dem der Purpura fulminans ( Abb. 40.4). Es wird hervorgerufen durch den vergleichsweise zu den Gerinnungsfaktoren schnelleren Abfall der Vitamin-Kabhängigen Gerinnungsinhibitoren, Protein C und Protein S und der daraus resultierenden Verschiebung der Hämostase in Richtung Thrombophilie. 40.6
Labordiagnostik
40.6.1 Diagnostisches Programm Die Vielzahl möglicher Thrombophiliefaktoren hat zu einer Verunsicherung bezüglich der notwendigen und sinnvollen Laboruntersuchungen im Rahmen einer Thrombophiliediagnostik geführt. Eine rationelle Diagnostik ist zielgerichtet auf Thrombophiliefaktoren, die von prognostischem und therapeutischem Interesse sind. Darüber hinausgehende Untersuchungen sind von überwiegend wissenschaftlichem Interesse und sind daher nur im Rahmen solcher Studien sinnvoll (⊡ Tabelle 40.1). Obwohl selten, ist ein Mangel an Gerinnungsinhibitoren von prognostischer und therapeutischer Relevanz. Daher gehören Bestimmungen von AT, Protein C und Protein S zum Standarduntersuchungsprogramm. Auch ein Antiphospholipidantikörpersyndrom hat nach stattgehabter Thrombose prognostische Bedeutung und sollte diagnostiziert werden. Die Bestimmung des Homocysteinspiegels kann sinnvoll sein, da sich erhöhte Spiegel durch Folsäuresubstitution senken lassen. Jedoch ist die Bestimmung der homozygoten MTHFR-Mutante C677T, die mit einem leicht erhöhten Homocysteinspiegel assoziiert ist, nicht nötig. Bei Thrombosen
⊡ Tabelle 40.1. Gegenüberstellung relevanter, etablierter und potenzieller Thrombophiliefaktoren. Lediglich die in der ersten Spalte aufgeführten Thrombophiliefaktoren sind bei Thromboembolien für den einzelnen Patienten derzeit von unmittelbarer therapeutischer bzw. prognostischer Relevanz. Die in der zweiten Spalte aufgeführten Faktoren sind etabliert, die therapeutische und prognostische Relevanz ihres Nachweises ist jedoch noch unklar. Zu den potenziellen Thrombophiliefaktoren in der dritten Spalte findet man unterschiedliche Daten, insbesondere bei Kindern, ihr therapeutischer und prognostischer Wert für den einzelnen Patienten ist zweifelhaft
1
2
3
Antithrombin
APC-Resistenz
PAI-I-Polymorphismus
Protein C
Prothrombin G20210A
Plasminogen
Protein S
Lipoprotein (a)
Heparinkofaktor II
Antiphopholipidantikörper
Dysfibrinogenämie
FVIII
Homocystein
FIX
HIT Typ 2
FXI
ADAMTS13
FXIII VWF
in Verbindung mit Thrombozytopenie bzw. Thrombozytenabfall muss eine Untersuchung auf Heparin-induzierte Antikörper (HIT), bei zusätzlichen Hämolyseparametern auch eine Bestimmung der VWF-spaltenden Protease erfolgen. Wegen der hohen Prävalenz der APC-Resistenz (APCR) in Thrombosekollektiven (bei Kindern 30%) besteht bei dieser Bestimmung die größte Aussicht auf ein positives Ergebnis. Die APCR gilt als relativ milder Thrombophiliefaktor. In Risikosituationen (Immobilisation, zentrale Katheter) ist jedoch bei Kenntnis dieser Prädisposition bei Kindern, die bereits eine Thrombose erlitten haben, eine Thromboseprophylaxe zu erwägen. Die Untersuchung sollte bei positivem Ausfall durch die Mutationsanalyse ergänzt werden, um Homozygote zu erfassen. Die prognostische Bedeutung ist unklar. Während einige Studien eine erhöhte Rezidivrate für Träger der Mutation nachwiesen (Simioni et al. 1997; NowakGöttl et al. 2001), konnte in anderen größeren Untersuchungen an unselektierten Patienten kein solcher Nachweis geführt werden (Eichinger et al. 1997; Baglin et al. 2003). Auch in einer neueren Untersuchung an Kindern war die APCR nicht mit einer erhöhten Rezidivrate korreliert (Revel-Vilk et al. 2003). Ähnliches gilt für den Nachweis der Prothrombinmutante 20210G>A, die nur gendiagnostisch zu erfassen ist und in Thrombosekollektiven in 7% der Fälle gefunden wird. Das relative Thromboserisiko ist geringer als bei der APCR. Für den klinischen Alltag irrelevant ist auch die Bestimmung vieler weiterer mehr oder weniger »etablierter« thrombophiler Risikofaktoren, da sich von ihnen keine Erkenntnisse im Hinblick auf Prognose, Therapie oder Prophylaxe ableiten lassen. Diagnostische Empfehlungen zur Thrombophilie im Kindesalter, wie Sie vom wissenschaftlichen Standardisierungskommittee der International Society of Thrombosis and Hemostasis publiziert wurden (Manco-Johnson et al. 2002), sind daher aus klinischer Sicht überzogen und sollten lediglich als Maximalprogramm im Rahmen wissenschaftlicher Studien gesehen werden. Besonders problematisch sind genetische Analysen bei asymptomatischen Familienmitgliedern. ! Der Nachweis »milder« genetischer Risikofaktoren ist bei Kindern, die bisher noch keine Thrombose erlitten hatten, ohne prognostischen Nutzen (Tormene et al. 2002). Darüber hinaus kann die Diagnose zu übertriebenen Ängsten, zu Stigmatisierung und möglicherweise später zu versicherungstechnischen Nachteilen führen. Dies ist gerade bei Kindern zu bedenken, die zudem vor Vollendung des 14. Lebensjahrs als nicht einwilligungsfähig bezüglich einer Gendiagnostik gelten.
40.6.2 Besonderheiten der Präanalytik und Analytik Die Analytik wird aus Citratplasma durchgeführt, für molekulargenetische Analysen wird DNA aus Zellen des Citratbzw. EDTA-Bluts isoliert. Die Blutentnahme sollte morgens nüchtern erfolgen. Um falsch erhöhte Homocysteinwerte durch kontinuierliche Freisetzung aus Erythrozyten zu vermeiden, muss das Plasma binnen 2 h abzentrifugiert werden. Unter der oralen Antikoagulation mit einem Vitamin-K-Antagonisten sind die Vitamin-K-abhängigen Faktoren und
413 40 · Angeborene und erworbene Thrombophilien
somit auch Protein C und Protein S subnormal oder vermindert und dürfen zunächst nicht als pathologisch bewertet werden. Eine Blutentnahme unter laufender Heparinisierung ist möglich, sofern die aPTT im angestrebten Bereich liegt, d. h. die Probe nicht überheparinisiert ist. Sollte niedermolekulares Heparin in therapeutischer Dosierung eingesetzt werden, ist die Blutentnahme direkt vor einer subkutanen Gabe durchzuführen, um Störungen der Messungen durch zu hohe Heparinspiegel (>1 E/ml) zu vermeiden. Jede Gerinnungsstörung, ob angeborenen oder erworben, sollte durch eine Kontrolle ggf. mit einem ergänzenden Testsystem und nach Möglichkeit im symptomfreien Intervall bestätigt werden, um passagere von hereditären Störungen abzugrenzen und Therapieempfehlungen nicht auf einen Abnahme- oder Laborartefakt zu begründen. Findet sich eine verminderte Aktivität eines Gerinnungsinhibitors, sollte die Konzentrationsbestimmung angeschlossen werden, um zu unterscheiden, ob es sich um eine Veränderung vom Typ I (gleichsinnige Verminderung von Aktivität und Konzentration) oder Typ II (dysfunktionelles Protein) handelt. ! Die physiologischen Inhibitoren werden im Rahmen frischer Thrombosen bzw. das Antithrombin auch unter Heparintherapie mit verbraucht. Die Diagnostik in der Akutsituation ist daher nur eingeschränkt zu beurteilen und bedarf der Bestätigung im symptomfreien Intervall. Die altersentsprechenden Normwerte sind unbedingt zu berücksichtigen.
40.6.3 Diagnostik des Antiphospholipid-
antikörpersyndroms Die Diagnose APS wird gestellt, wenn zusätzlich zu einem thromboembolischen Ereignis mindestens ein Laborkriterium, d. h. Nachweis eines Lupusantikoagulans und/oder erhöhter Cardiolipinantikörper Typ IgG oder IgM, mittlerer oder hoher Titer, mit Bestätigung nach 6 Wochen erfüllt wurde. Für die Diagnostik des Lupusantikoagulans sind genaue Testkriterien einzuhalten (Brandt et al. 1995; Wilson et al. 1999): ▬ Verlängerung eines phospholipidabhängigen Gerinnungstestes, z. B. Kaolinzeit oder verdünnte »Russel-viper venom«-Zeit (dRVVT) ▬ fehlende Korrektur der Gerinnungszeit nach Mischen mit Normalplasma ▬ Ausschluss anderer Gerinnungsstörungen, verursacht durch den Einfluss von Heparin oder eines spezifischen Faktoreninhibitors z. B. gegen FVIII ▬ Verkürzung der Gerinnungszeit nach Zusatz von Phospholipiden im Überschuss. Tipp für die Praxis Bei mindestens 2–3 (-8) % der Normalbevölkerung und bei 0,7–2,4% unauffälliger Kinder sind Antiphospholipidantikörper (APA) nachweisbar, ohne dass eine entsprechende klinische Symptomatik vorliegt. Aufgrund der fehlenden Standardisierung des Cardiolipinantikörper-ELISA ist vor einem Vergleich der Ergebnisse, die mit unterschiedlichen Testsystemen gefunden wurden, zu warnen.
40.7
Therapie und Prophylaxe
Unabhängig von eventuell zugrunde liegenden Risikofaktoren sollte bei Manifestation eines thromboembolischen Ereignisses eine Antikoagulation mit Heparin in therapeutischer Dosierung für 7–14 Tage erfolgen. Ziel ist es, ein Wachsen der Thrombose zu verhindern und eine endogene Lyse zu ermöglichen. Bei zerebralen Insulten ist ein solches Vorgehen allerdings umstritten. Hier umfassen die akuten Maßnahmen »Low-dose«-Heparinisierung, Acetylsalicylsäure (ASS) oder lediglich Abwarten ohne Antikoagulation. Letzteres gilt insbesondere bei hämorrhagischen Infarkten. Fundierte Richtlinien gibt es nicht. Allerdings besteht Einigkeit über den Sinn einer längerfristigen Prophylaxe bei Infarkten im Rahmen eines APS. Die Prophylaxe sollte erst beendet werden, wenn APA wiederholt negativ gemessen wurden. Darüber hinaus gibt es über die notwendige Dauer einer Antikoagulation nach Thrombosen im Kindesalter keine gesicherten Erkenntnisse. Einige behandelnde Ärzte sind dazu übergegangen, bei Fehlen von Thrombophiliefaktoren eine Antikoagulation von 3 Monaten mit niedermolekularem Heparin zu empfehlen, bei Vorliegen solcher Faktoren eine Antikoagulation von 6 Monaten, entweder mit niedermolekularem Heparin oder aber mit Vitamin-K-Antagonisten. Bei längerer Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin besteht die Gefahr der Osteoporose. Bei Infarkten im arteriellen System kommen auch bei Kindern Thrombozytenaggregationshemmer wie ASS zum Einsatz. Je nach Lokalisation und Ausdehnung einer Thrombose sowie nach zu erwartenden sekundären Folgen (Organverlust, postthrombotisches Syndrom) sollte auch eine Lysetherapie mit Urokinase oder rekombinantem tPA in Erwägung gezogen werden. Diese sollte mit unfraktioniertem Heparin als Reokklusionsprophylaxe kombiniert werden, da niedermolekulares Heparin bei therapeutisch bedingten Blutungsereignissen durch Protaminsulfat nur wenig antagonisierbar ist. Die bekannten Kontraindikationen gegen eine Lyse sind zu beachten. Bei lebensbedrohlichen Thromboembolien ist auch ein gefäßchirurgischer Eingriff bzw. eine Thrombektomie mittels interventionellem Katheter zu erwägen. Relativ neu ist ein Katheterverfahren, bei dem mittels einem turbinenbetriebenen Propeller der Thrombus mechanisch zerkleinert und sukzessive abgesaugt wird (Muller-Hulsbeck et al. 2001). 40.7.1 Hereditärer Inhibitorenmangel Bei der Purpura fulminans, verursacht durch homozygoten oder »compound«-heterozygoten Mangel an Protein C oder Protein S, ist der Ersatz dieser Faktoren entweder durch Einzelfaktorengabe (Protein C) oder durch Frischplasma (Protein S) die einzige lebensrettende Maßnahme. Eine dauerhafte Antikoagulation bzw. neuerdings auch die Substitution mit Protein-C-Konzentrat beim schweren Protein-C-Mangel ist zwingend indiziert. Ein absoluter Antithrombinmangel wurde bisher nicht beschrieben und ist vermutlich mit dem Leben nicht vereinbar. Der heterozygote Mangel dieser Faktoren und auch Antithrombinmangel korrelieren eindeutig mit
40
414
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
einer Thrombophilie. Die therapeutischen und prophylaktischen Möglichkeiten bei Inhibitormangel erfordern die Bestimmung dieser Faktoren nach thromboembolischen Ereignissen. Bei Erwachsenen wird bereits ein thrombotisches Ereignis in Verbindung mit einem hereditären Mangel an Antithrombin, Protein C oder Protein S als Indikation zur dauerhaften Antikoagulation gesehen (Pabinger u. Schneider 1996). Für Kinder gibt es keine entsprechenden Daten. Bei hereditärem Inhibitormangel im Kindesalter sollten 2 thrombotische Ereignisse eine dauerhafte Prophylaxe indizieren. Bei Thrombosen aufgrund Protein-C-Mangel kann der Einsatz eines Protein-C-Konzentrats auch zur Unterstützung der endogenen Lyse eingesetzt werden, da Protein C einen Inhibitor der Fibrinolyse, PAI-I, bindet und inaktiviert (Dosierungen für Protein-C-, Protein-S- und Antithrombinsubstitution Tabelle 37.3). Eine besondere Gefährdung der Patienten mit Protein-Coder Protein-S-Mangel besteht bei Einleitung einer Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten. Beide Inhibitoren sind Vitamin-K-abhängig. Wegen der geringeren Halbwertszeit im Vergleich zu den meisten Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren entsteht zunächst ein prothrombotischer Zustand mit der Gefahr einer Purpura fulminans bzw. der so genannten Marcumarnekrose. Die Einleitung einer Marcumartherapie muss daher immer unter Heparinschutz durchgeführt werden. 40.7.2 Erworbener Inhibitorenmangel Hier steht an erster Stelle nach Möglichkeit die Behandlung der Grunderkrankung. So ist in den foudroyant verlaufenden Fällen neben der Antikoagulation und Substitutionstherapie mit Frischplasma bzw. Einzelfaktoren unter Umständen eine parallele immunsuppressive Therapie indiziert, im Rahmen einer bakteriellen Sepsis die Antibiotikatherapie. ! Die alleinige Substitution von Protein-C-Konzentrat oder rekombinantem PC ist bei einem Protein-S-Inhibitor nicht ausreichend, um weitere Gefäßverschlüsse zu verhindern.
40.7.3 Weitere etablierte Thrombophiliefaktoren Gegen die durch APCR oder die Prothrombinmutante G20210A bedingte Thrombophilie gibt es keine kausale Therapie. Eine Prophylaxe ist wie nach Thrombosen ohne Thrombophiliefaktoren durchzuführen. Ob eine längere Rethromboseprophylaxe von Nutzen ist, ist nicht bekannt. Eine Dauerantikoagulation wie nach Thrombosen bei hereditärem Inhibitormangel im Erwachsenenalter ist nicht indiziert. Die derzeit nicht belegbaren Konsequenzen der Diagnose im Kindesalter stellen den Nutzen der entsprechenden Untersuchung in Frage. Ein erhöhter Homocysteinspiegel, der mit thromboembolischen Ereignissen korreliert, lässt sich durch diätetische Maßnahmen, d. h. durch die Gabe von Folsäure senken.
40.7.4 Heparin-induzierte Thrombozytopenie Bei Verdacht auf eine HIT sollte die Heparintherapie umgehend beendet werden. Man beobachtet dann meist eine Normalisierung der Thrombozyten innerhalb von 3–10 Tagen. Für die weitere Antikoagulation kann ein Heparinoid (Danaparoid-Natrium) oder das rekombinante Hirudin (Refludan) eingesetzt werden (Greinacher et al. 1999, 2001; Severin et al. 2002). Die Überwachung der Danaparoid-Natrium-Therapie erfolgt mittels Bestimmungen der Anti-FXa-Aktivität. Blutungskomplikationen im Rahmen von Überdosierungen von Danaparoid-Natrium sind gefürchtet, da es für DanaparoidNatrium kein Antidot gibt. Bei wenigen Patienten kam es bei Danaparoid-Natrium-Therapie zu einer Thrombozytenaktivierung (Kreuzreaktion), die in Einzelfällen zur klinischen Verschlechterung führte. Da unter Hirudintherapie keine Kreuzreaktionen berichtet wurden, wird häufig rekombinantes Hirudin eingesetzt. Allerdings wurden bisher bei 8 Patienten, die neben anderen Medikamenten Hirudin erhalten haben, schwere anaphylaktische Reaktionen beobachtet. Ob diese anaphylaktischen Reaktionen durch Hirudin allein verursacht wurde, ist bislang nicht geklärt. Auch für Hirudin steht kein Antidot zur Verfügung. Zum Monitoring der Hirudintherapie wird die aPTT und die »ecarin clotting time« (ECT) eingesetzt. Vorteil des Hirudins ist seine kurze Halbwertszeit (etwa 2 h) im Vergleich zu Danaparoid (>24 h). Cave Bei Patienten mit HIT sollten keine niedermolekularen Heparine verwendet werden, da sie ebenfalls mit den HIT-Antikörpern reagieren.
40.7.5 Mangel der VWF-spaltenden Protease
ADAMTS13 Abhängig von der Genese des ADAMTS13-Mangels ist entweder die alleinige Substitution durch Gabe von Frischplasma (hereditäre Form) oder aber ein Plasmaaustausch kombiniert mit immunsuppressiver Therapie (antikörpervermittelte erworbene Form) notwendig. Bei der hereditären Form ist eine regelmäßige Substitution in 14-tägigen Abständen ausreichend, um schwere thromboembolische Ereignisse zu verhindern (Kentouche et al. 2002). ADAMTS13 wurde bereits von einigen Labors rekombinant hergestellt und könnte somit in Zukunft auch als Einzelfaktor für die Substitution zur Verfügung stehen. Für die Therapie der immunologisch bedingten Form gibt es kein etabliertes Protokoll. Neben der obligaten Plasmapherese werden konventionelle immunsuppressive Therapien zunehmend mit neueren Ansätzen, wie z. B. Einsatz eines monoklonalen Anti-CD20Antikörpers (Rituximab®) kombiniert. Für eine dauerhafte Remission ist in manchen Fällen auch die Splenektomie erfolgreich.
415 40 · Angeborene und erworbene Thrombophilien
40.7.6 Therapie des Antiphospholipid-
40.7.7 Durchführung und Monitoring
antikörpersyndroms
der Antikoagulation
Ist die Diagnose eines APS gesichert, so besteht eine Indikation zur Antikoagulation, da bei Persistenz der APA von einem hohen Rezidivrisiko auszugehen ist. Auch hier kann nur auf Erfahrungen aus der inneren Medizin zurückgegriffen werden; das Rezidivrisiko wird mit 22–69% nach Beendigung der oralen Antikoagulation angegeben (Khamashta et al. 1995; Schulman et al. 1998). Welche Form der Antikoagulation bevorzugt wird, sollte auch in Abhängigkeit von der Lokalisation des Gefäßverschlusses entschieden werden. Bei Gefäßverschlüssen auf dem arteriellen Schenkel hat sich die suffiziente Hemmung der Thrombozytenaggregation als effektiv gezeigt, auf dem venösen Schenkel ist neben dem niedermolekularen Heparin langfristig die orale Antikoagulation mit einem Vitamin-KAntagonisten zu bevorzugen. Ihre Intensität ist weiterhin umstritten. Ob eine höhere Ziel-INR 3–3,5 weiter zu empfehlen ist, wird derzeit kontrovers diskutiert (Lockshin u. Erkan 2003). Im Kindesalter handelt es sich zumeist um ein passageres, parainfektiöses oder auch Antibiotika-induziertes Phänomen. Diese Antikörper sind im Allgemeinen ohne klinische Relevanz (Male C et al. 2000; Kap. 80). Eine Blutungsneigung wurde bei Kindern beschrieben, die eine parallele Verminderung des Quick-Werts mit Faktor-II-Verminderung zeigen. Hier sollte man von einem elektiven Eingriff abraten, da es keine spezifische Therapie im Falle einer Blutungskomplikation gibt.
Die in ⊡ Tabelle 40.2 gegebenen Prophylaxe- und Therapieempfehlungen sind in Anlehnung an einen aktuellen ReviewArtikel (Chan et al. 2003) zu sehen und basieren auch auf der Konsensusempfehlung des American College of Clinical Pharmacy (ACCP; Monagle et al. 2001). Es ist anzumerken, dass die hier gegebenen Empfehlungen nicht auf den Ergebnissen großer, randomisierter Studien basieren, sondern vielfach von internistischen Studien abgeleitet wurden und somit die Therapieentscheidung im Kindesalter immer auch eine individuelle Entscheidung sein sollte. Zulassungsstudien der im Folgenden erwähnten Medikamente für Kinder gibt es im Allgemeinen nicht. Vorteile des niedrig-molekularen Heparins sind die deutlich bessere Bioverfügbarkeit, weniger Labormonitoring, die geringe HIT-Inzidenz und die s.c. Anwendung. Außerdem wird durch die längere Halbwertzeit eine therapeutische Dosierung durch eine 2-malige tägliche Gabe möglich. Erwähnt werden Präparate, für die Dosisfindungsstudien vorliegen. Tipp für die Praxis Bei Neugeborenen ist die zu applizierende Menge eines niedrig-molekularen Heparins so gering, dass sie im Konus oder der Nadel einer Tuberkulinsprize verbleiben kann. Es empfiehlt sich daher eine Vorverdünnung mit Aqua bidest. 1:1 vorzunehmen.
Sollte es sich jedoch um ein besonders blutungsgefährdetes Kind handeln oder ist kurzfristig mit einer Operation zu rechnen, ist der Einsatz von Standardheparin wegen der
⊡ Tabelle 40.2. Antikoagulanzien – Dosierungen für Therapie und Prophylaxe in Abhängigkeit vom Alter. Empfehlungen zur Dosisreduktion bei eingeschränkter Nieren- oder Leberfunktion sind zu beachten
LMWH (s.c.) *
Neugeborene
Kinder
Prophylaxe
Enoxaparin
2×1,5 mg/kg/Tag
2×1mg/kg/Tag
1× täglich Gabe
Dalteparin
–
120–200 E/kg/Tag
50–100 E/kg/Tag
Reviparin
2×150 E/kg/Tag
2×100 E/kg/Tag
1× täglich Gabe
Danaparoid
–
Bolus 30 E/kg, Infusion 1–2 E/kg/h*
Hirudin**
–
Bolus 0,4 mg/kg, 0,15 mg/kg/h
Standardheparin (i.v.)***
Bolus 75 E/kg in 10 min, Infusion 28 E/kg/h
Bolus 75 E/kg in 10 min, Infusion 20 E/kg/h
100–200 E/kg/Tag
Heparin-Antidot (Protamin)
–
1 ml neutralisiert 1000 E (Nebenwirkungen beachten, fraktioniert und langsam i.v. geben)
–
Phenprocoumon (Marcumar; immer unter Heparinschutz beginnen)
–
1. Tag 6 mg/m2, 2. Tag 3 mg/m2, ab 3. Tag 1–2 mg/m2 (Ziel INR 2–3, in Abhängigkeit von der Indikation ggf. höher
ASS****
–
Ca. 2 mg/kg/Tag
*
Ziel: Heparinspiegel (Anti-FXa-Aktivität) 0,5–1,0 E/ml, bezogen auf einen definierten Abnahmezeitpunkt 3–4 h nach Gabe (Maximalspiegel), Heparinspiegel 0,1–0,4 E/ml bei Abnahmezeitpunkt direkt vor Gabe (Minimalspiegel). ** Kontrolle mittels Ecarin-Gerinnungszeit oder ggf. aPTT (1,5- bis 3-facher Ausgangswert). *** Erste Laborkontrolle nach 4 h, ggf. Dosisanpassung und Kontrolle nach 4 h nach jeder Dosisanpassung, mindestens 1×/Tag Thrombozytenzahl, PTT-Ziel: 60–85 s oder Anti-FXa-Aktivität 0,4–0,8 E/ml (oder Heptest). **** ggf. antiaggregatorischen Effekt einmalig durch Untersuchung der Thrombozytenfunktion bestätigen, da Ansprechbarkeit variabel.
40
416
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
deutlich kürzeren Halbwertzeit und der Möglichkeit zur Antagonisierung mit Protamin vorzuziehen.
II
40.7.8 Durchführung und Monitoring
der Lysetherapie Die Indikation zur systemischen Lysetherapie, insbesondere bei einer venösen Thrombose, wird heute kontrovers diskutiert, und ist auch bei einer arteriellen Thrombose im Kindesalter streng zu stellen. Kontraindikationen (hämorrhagische Diathese, Asphyxie, ZNS-Trauma, Operation etc.) sind zu beachten. Die Eltern müssen über die Rate tödlicher Blutungskomplikationen von ca.1% aufgeklärt werden. Mögliche Indikationen sind: drohender Organ- bzw. Gliedmaßenverlust infolge ausgedehnter, unter Umständen arterieller Thrombose, obstruierender intrakardialer Thrombus, massive Lungenembolie. Eine Lysetherapie sollte selbstverständlich gut überwacht und von erfahrenen Kollegen betreut werden. Der Erfolg muss regelmäßig mit der geeigneten Methodik überprüft werden. Empfohlene Dosierungen für die Lysetherapie sind in ⊡ Tabelle 40.3 angeführt. Um Blutungskomplikationen zu vermeiden, sollte das Fibrinogen >0,5 g/l und die Thrombozytenzahl >50/nl gehalten werden. Die Dosis sollte reduziert werden, wenn der Patient diffus blutet (z. B. auch aus älteren Punktionsstellen) oder die Globalteste der Gerinnung plötzlich deutlich pathologisch ausfallen. Bei einem unklaren Hämoglobinabfall ist die Lysetherapie zu stoppen. Um Rethrombosen zu vermeiden sollte bei rt-PA parallel eine Heparinprophylaxe mit Standardheparin (100–150 E/kg/ Tag), bei Urokinaselyse größerer Kinder auch eine therapeutische Dosierung gegeben werden. Nach erfolgreicher Lyse ist eine therapeutische Heparinisierung über einige Tage anzuschließen und in Abhängigkeit von der Indikation ggf. die orale Antikoagulation überlappend einzuleiten. Die zu überprüfenden Gerinnungstests/Faktoren sind: TPZ, PTT, Fibrinogen, Antithrombin, D-Dimere (aus 1–1,3 ml Citratblut), Hämoglobinkonzentration und Thrombozytenzahl mindestens einmal täglich. Cave Die Fibrinogenbestimmung mit der Methode nach Clauss kann bei hohen D-Dimeren falsch-niedrig ausfallen.
Lokale Katheterlyse. Der Einsatz von Urokinase für die lokale Katheterlyse hat sich in der klinischen Praxis bewährt ( Kap. 80). Bei noch offenem Restlumen oder Appositions-
⊡ Tabelle 40.3. Dosierungen für die systemische Lysetherapie
Bolus über 10 min
Infusion
Therapiedauer
Urokinase
4400 IE/kg
4400 IE/kg/h
Maximal 6–7 Tage
rt-PA
0,1–0,2mg/kg
0,1–0,5 mg/kg/h
Maximal 6–7 Tage
thrombus an der Katheterspitze besteht die Urokinasedosis aus 200–500 IE/kg Kg/h. Bei Katheterverschluss können 3000 IE/ml Urokinase instilliert werden, z. B. maximal 1,5 ml für das Port-a-cath-System. Bevor nach Instillation von Urokinase die Durchgängigkeit eines Katheters geprüft wird, muss die Urokinase aus dem Kathetersystem abgezogen werden. Bei wiederholter Anwendung, insbesondere bei kleinen Kindern, kommt es leicht zu einer Kumulativdosis, die der einer systemischen Lyse entspricht.
Der fatalistische Umgang mit Thromboembolien im Kindesalter hat heute keine Berechtigung mehr. Bei jedem Verdacht ist immer eine intensive bildgebende Diagnostik indiziert, um das Ausmaß und die möglichen Konsequenzen für die Gesundheit und die ungestörte Entwicklung eines Kindes abzuschätzen. In Verbindung mit der Bestimmung der beeinflussbaren Thrombophiliefaktoren können dann die möglichen therapeutischen und prophylaktischen Optionen abgeleitet werden. Diese können aus einer Lysetherapie, Antikoagulation/Antiaggregation und Substitution von Gerinnungsinhibitoren bestehen. Wie bei allen medizinischen Maßnahmen, insbesondere im Kindesalter, ist jedoch immer das mögliche Risiko einer Therapie und Prophylaxe, im Wesentlichen die Blutung, gegen den potenziellen Nutzen der Maßnahme abzuwägen.
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40
418
II
Pädiatrische Hämostaseologie: Koagulopathien
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie Grundlagen 41
Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
– 421
P. Kaatsch, C. Spix, J. Schüz
42
Genetik und genetische Prädisposition – 436 O.A. Haas
43
Zellbiologie
– 454
K.-M. Debatin, S. Fulda
44
Tumorimmunologie
– 471
H. Lode
Diagnostik 45
Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose – 485 B. Selle
46
Pathologie
– 495
D. Schmidt, I. Leuschner, C. Poremba
47
Minimale Resterkrankung – 521 T. Lion, M. Dworzak
48
Bildgebende Diagnostik
– 531
B. Stöver
49
Funktionelle Genomik und Proteomik – 553 S. Burdach, M.S. Staege
Therapie 50
Chemotherapie
– 560
L. Kager, C. Langebrake, U. Kastner
51
Strahlentherapie – 578 R. Pötter, K. Dieckmann
52
Chirurgische Therapie
– 595
H. Mau
53
Hyperthermie
– 604
R. Wessalowski, U. Göbel
54
Differenzierungs- und antiangiogene Therapie – 613 L. Schweigerer
55
Gentherapie – 620 S. Burdach
56
Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation – 634 U. Creutzig, M. Zimmermann
421
Epidemiologie, Ätiologie, Prävention P. Kaatsch, C. Spix, J. Schüz
41.1 41.2 41.3
Einleitung – 421 Diagnosenspektrum maligner Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter – 421 Diagnosenspezifische Inzidenzen, internationale Variation, Überlebensraten – 424
41.3.1 41.3.2 41.3.3
Leukämien – 424 Lymphome – 425 Tumoren des zentralen Nervensystems (ZNS-Tumoren) – 426 41.3.4 Neuroblastom (sowie andere Tumoren des sympathischen Nervensystems) – 426 41.3.5 Retinoblastom – 428 41.3.6 Nephroblastom (sowie andere Nierentumoren) – 428 41.3.7 Lebertumoren – 428 41.3.8 Knochentumoren – 428 41.3.9 Weichteilsarkome – 430 41.3.10 Keimzelltumoren – 430 41.3.11 Karzinome, maligne Melanome und andere maligne Erkrankungen – 431 41.3.12 Langerhans-Zell-Histiozytose – eine nicht-maligne Erkrankung im Kindesalter – 431
41.4
Ätiologische Faktoren für spezifische Erkrankungen – 432
41.4.1 41.4.2 41.4.3
Leukämien – 432 ZNS-Tumoren – 432 Übrige Erkrankungen – 433
41.5
Prävention maligner Erkrankungen im Kindesalter – 434
41.5.1 41.5.2
Allgemeines Gesundheitsverhalten – 434 Modellprojekt zur Früherkennung des Neuroblastoms – 434
41.6
Datenquellen – 434 Literatur – 435
Welches sind die Ursachen von Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter? Welche Rolle spielen Umweltfaktoren bei der Entstehung dieser Erkrankungen? Eine Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen bilden epidemiologische Krebsregister, wie etwa das 1980 auf Initiative der deutschsprachigen pädiatrischen Onkologen gegründete Deutsche Kinderkrebsregister. Mit einem solchen Register kann z. B. beantwortet werden, wie häufig Krebserkrankungen auftreten, ob Veränderungen in der Auftretenshäufigkeit zu beobachten sind oder ob sich die Prognose generell verbessert hat. Dies ist dank der guten Zusammenarbeit der Krebsregister untereinander möglich und wird intensiv genutzt. Aufbauend auf der damit verbundenen, möglichst genauen Beschreibung des Krank-
▼
heitsgeschehens kann weitergehende epidemiologische Forschung erfolgen und Antworten auf die eingangs gestellten Fragen können gegeben werden.
41.1
Einleitung
Die Ätiologie von Krebserkrankungen im Kindesalter ist noch weitgehend ungeklärt. Epidemiologische Studien zeigen, dass Umweltfaktoren bei den Leukämien wohl einen deutlich geringeren Stellenwert haben als lange Zeit vermutet (Schüz 2002). Bei den Hirntumoren hingegen scheinen umweltbedingte Expositionen eine etwas größere Rolle zu spielen (Schüz u. Kaatsch 2002). Wegen der noch zu wenig bekannten Ursachen hat die primäre Prävention bei kindlichen Malignomen bisher noch einen relativ geringen Stellenwert. Dies wird sich durch verstärkt beginnende internationale Kooperationen eventuell in absehbarer Zeit ändern. Die möglichst genaue Beschreibung der Auftretenshäufigkeit und der über die Zeit deutlich verbesserten Prognose bildet die Grundlage für weitergehende epidemiologische Forschung. In Deutschland kann dies durch das Deutsche Kinderkrebsregister (für unter 15-Jährige) in nahezu idealer Weise erfolgen. Die in diesem Register ermittelten Inzidenzen und Überlebenswahrscheinlichkeiten werden in dem Beitrag dargestellt und in einen internationalen Kontext gestellt. 41.2
Diagnosenspektrum maligner Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter
Im Folgenden wird zunächst das Diagnosenspektrum für deutsche Kinder beschrieben, deren Erkrankungen vor ihrem 15. Geburtstag diagnostiziert wurden (⊡ Tabelle 41.1). Anschließend erfolgt dies auch für die Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen, wobei hierzu auf amerikanische Daten zurückgegriffen werden muss. ! In Deutschland treten jährlich etwa 1800 neu diagnostizierte Fälle unter 15 Jahren auf.
Bei einer Bevölkerungszahl von etwa 13 Millionen unter 15-Jährigen ergibt dies eine Erkrankungsrate (Inzidenz) von 13,9 pro 100.000 Kinder dieser Altersgruppe. Die Wahrscheinlichkeit für ein neugeborenes Kind, innerhalb seiner ersten 15 Lebensjahre eine bösartige Erkrankung zu erleiden, beträgt 207/100.000 (0,2%), somit wird bei jedem 500. Kind bis zu seinem 15. Geburtstag eine bösartige Krebserkrankung diagnostiziert wird. Die größten Diagnosengruppen stellen die Leukämien (33,8%), die ZNS-Tumoren (20,3%) und die Lymphome dar (12,5%).
41
422
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 41.1. Anzahl der an das Deutsche Kinderkrebsregister gemeldeten Erkrankungsfälle nach ICCC-Diagnosengruppen (Kramarova u. Stiller 1996), Inzidenzen und Überlebenswahrscheinlichkeiten (1992–2001)
Diagnosegruppe
III
Anzahl der Fälle in Deutschland 1992–2001
Anteil in %
Inzidenz pro 100.000 Kinder Altersstandardisiert
Kumulativ
Anteil Überlebender 5 Jahre nach Diagnose in %
Leukämien* ALL AML Lymphome
6032 4962 905 2234
33,8 27,8 5,1 12,5
4,7 3,9 0,7 1,7
70,2 57,8 10,5 25,0
78 84 52 91
Tumoren des zentralen Nervensystems
3625
20,3
2,8
41,7
69
Tumoren des sympathischen Nervensystems
1535
8,6
1,3
18,8
73
Retinoblastome
356
2,0
0,3
4,4
99
Nierentumoren
1079
6,1
0,9
12,9
88
Lebertumoren
159
0,9
0,1
1,9
38
Knochentumoren
822
4,6
0,6
9,1
67
Weichteilsarkome
1151
6,5
0,9
13,3
61
Keimzelltumoren
611
3,4
0,5
7,1
90
Karzinome
207
1,2
0,2
2,3
73
18
0,1
0,0
0,2
57
13,9
207,1
78
Sonstige Gesamt
17.829
100
* ohne MDS. ALL akute lymphoblastische Leukämie; AML akute myeloische Leukämie; altersstandardisierte Inzidenz: jährliche Erkrankungsrate für Kinder unter 15 Jahre; kumulative Inzidenz: Wahrscheinlichkeit für ein Neugeborenes, bis zum 15. Lebensjahr zu erkranken.
! Das Diagnosenspektrum für Kinder weicht von dem der Erwachsenen deutlich ab. So treten im Kindesalter zum großen Teil embryonale Tumoren (z. B. Neuroblastom, Retinoblastom, Nephroblastom, Medulloblastom, embryonale Rhabdomyosarkome, Keimzelltumoren) auf. Hingegen sind Karzinome im Kindesalter äußerst selten (ca. 1,5% der malignen Erkrankungen).
⊡ Abbildung 41.1 zeigt die alters- und geschlechtsspezifischen Inzidenzen für die Erkrankungen insgesamt. Kinder erkranken in ihren ersten 5 Lebensjahren etwa doppelt so häufig wie zwischen dem 6. und 15. Lebensjahr. In jeder Altersgruppe erkranken Jungen häufiger als Mädchen (im Verhältnis 1,2:1). ⊡ Abb. 41.1. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzen für die kindlichen Krebserkrankungen insgesamt (1992–2001)
Das Diagnosenspektrum ist in den einzelnen Altersklassen sehr unterschiedlich (⊡ Abb. 41.2). Während im Säuglingsalter das Neuroblastom nahezu ein Drittel aller Erkrankungen stellt und gemeinsam mit Retinoblastom und Nephroblastom die Hälfte der Erkrankungen ausmacht, überwiegen bei den 1- bis 4-Jährigen deutlich die Leukämien (43,9%). In der Altersgruppe 5–9 Jahre und 10–14 Jahre bilden Leukämien, ZNS-Tumoren und Lymphome etwa drei Viertel aller Erkrankungen; Knochentumoren sind erst in diesem Alter in nennenswerter Zahl zu verzeichnen. Die meisten der genannten embryonalen Tumoren treten jenseits des 5. Lebensjahres gar nicht oder nur noch sehr vereinzelt auf. Aus den USA liegen aussagefähige Daten auch für Krebserkrankungen bei Jugendlichen im Alter von 15–19 Jah-
423 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
a
c
b
d
⊡ Abb. 41.2a–d. Relative Häufigkeit der an das Deutsche Kinderkrebsregister gemeldeten Erkrankungsfälle (1992–2001) nach den häu-
figsten Diagnosengruppen für verschiedene Altersgruppen: a unter 1-Jährige, b 1- bis 4-Jährige, c 5- bis 9-Jährige d 10- bis 14-Jährige
ren vor (SEER-Register; Ries et al. 1999). Basierend auf diesen Daten sind in Ergänzung zur vorherigen Abb. die relativen Häufigkeiten der im Jugendalter auftretenden Diagnosen in der ⊡ Abb. 41.3 wiedergegeben, während sich alle übrigen Ergebnisse in diesem Kapitel grundsätzlich auf unter 15-Jährige beziehen. Die Erkrankungsrate bei den 15- bis 19-Jährigen entspricht insgesamt etwa der bei den unter 5-Jährigen.
So überwiegen bei den Jugendlichen die Lymphome (Morbus Hodgkin 16,1%, Non-Hodgkin-Lymphome 7,6%), die Keimzelltumoren (15,2%) und die im Kindesalter kaum zu verzeichnenden Karzinome (12,4%; davon 7,2% Schilddrüsenkarzinome, jedoch nahezu keine epithelialen Karzinome von Lunge, Brust oder Kolon). Auch die malignen Melanome stellen 7,0% der Krebserkrankungen im Jugendalter. Von den Weichteiltumoren sind die nicht-rhabdomyosarkomatösen Tumoren (5,9%) deutlich stärker vertreten als die Rhabdomyosarkome (1,9%). Embryonale Tumoren sind im Jugendalter nahezu nicht zu verzeichnen. Nach den Daten des SEERRegisters weicht auch das Geschlechterverhältnis in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen von dem in der Gruppe der unter 15-Jährigen teilweise deutlich ab. Während bei den Kindern nur 20% mehr Knaben als Mädchen an akuter lymphoblastischer Leukämie erkranken (1,2:1), sind es bei den Jugendlichen 120% mehr (2,2:1). An Morbus Hodgkin erkranken weniger männliche als weibliche Jugendliche, im Kindesalter überwiegen hingegen die Knaben. Bei den Keimzelltumoren ist es umgekehrt. Während im Kindesalter Jungen und Mädchen etwa gleich häufig an einem Knochentumor erkranken, überwiegen im Jugendalter die männlichen Jugendlichen deutlich. Die Überlebenswahrscheinlichkeiten haben sich in den vergangenen 30 Jahren dank deutlich differenzierterer Diagnostik und des Einsatzes multimodaler Therapiekonzepte dramatisch verbessert (Creutzig et al. 2003). Während die Wahrscheinlichkeit, 5 Jahre nach Diagnosestellung noch zu leben, für die Anfang der 80er-Jahre erkrankten unter 15-jährigen Kinder 69% betrug, liegt dieser Wert mittlerweile bei
! Bei den Jugendlichen weicht das Diagnosenspektrum bereits stark von dem der Kinder ab.
⊡ Abb. 41.3. Relative Häufigkeit der im amerikanischen SEER-Programm registrierten Erkrankungsfälle (1986–1995) nach den häufigsten Diagnosengruppen für die 15- bis 19-Jährigen (Ries et al. 1999)
41
424
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
81%. Die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit beträgt für alle zwischen 1991 und 2002 Erkrankten unter 15 Jahren und für die malignen Erkrankungen insgesamt 78%. Dabei ist die Spannweite über die einzelnen Diagnosen sehr groß ( Tabelle 41.1). Um die für Deutschland ermittelten Inzidenzen in diesem Buchbeitrag in einen internationalen Kontext zu stellen, wurde eine umfassende Publikation der weltweit in über 60 Ländern beobachteten Krebsinzidenzen bei Kindern herangezogen (Parkin et al. 1998). Das Deutsche Kinderkrebsregister stellt mit den 4 Krebsregistern in England und Wales, Kanada, Australien und den USA (SEER-Register) das Register mit den meisten Erkrankungsfällen dar. Insgesamt gibt es 24 Krebsregister, die jährlich mehr als 100 Erkrankungsfälle bei Kindern verzeichnen. Internationale Variation. Die höchste für alle Erkrankungen ermittelte Erkrankungsrate beträgt 16,1/100.000 (USA, Los Angeles, weiße Bevölkerung), die niedrigste 12,2/100.000 (England/Wales). Die skandinavischen Krebsregister zeigen mit die höchsten Inzidenzen (zwischen15,2 und 15,9/100.000). Die nordamerikanischen Register liegen mit Erkrankungsraten zwischen 14,5 und 15,0/100.000 etwas darunter. Die für Deutschland berechnete Inzidenz ist vergleichsweise niedrig, sie lag für den bei Parkin et al. (1998) zugrunde gelegten Zeitraum bei 13,4/100.000, was insbesondere in einer Untererfassung der ZNS-Tumoren begründet ist ( Abschn. 41.3.3). Ermittelt man diagnosenspezifisch die Erkrankungsrate, die von der Hälfte der 24 größten Krebsregister jeweils überschritten wird, so entsprechen die deutschen Erkrankungsraten für die meisten Erkrankungsgruppen diesen medianen Inzidenzen, liegen jedoch bei den ZNS-Tumoren deutlich darunter (2,6 versus 3,0/100.000). In den folgenden Abschnitten werden die für Deutschland beobachteten Erkrankungsraten jeweils mit denen aus den 4 genannten Registern oder den größten 24 in Parkin et al. 1998 enthaltenen Registern verglichen. Für den europäischen Vergleich der Überlebensraten wurden Daten aus dem 1990 initiierten Verbundprojekt EUROCARE herangezogen (Capocaccia et al. 2001), für den Vergleich mit den USA Daten aus dem SEER-Register ( Abschn. 41.6; Ries et al. 1999).
⊡ Abb. 41.4. Altersspezifische Inzidenzen für akute Leukämien (1992–2001)
41.3
Diagnosenspezifische Inzidenzen, internationale Variation, Überlebensraten
41.3.1
Leukämien
! Leukämien sind die häufigsten malignen Erkrankungen im Kindesalter, sie stellen ein Drittel der Erkrankungen dar (33,8%).
Es handelt sich in der Regel um akute Leukämien. Chronische myeloische Leukämien treten im Kindesalter sehr selten auf (0,7% der Leukämien), chronische lymphatische Leukämien sind gar nicht zu verzeichnen. Den größten Anteil stellt die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) dar (82,3% aller Leukämien), die akute myeloische Leukämie (AML) hat einen Anteil von 15,0%. ⊡ Abbildung 41.4 zeigt die altersspezifische Verteilung der akuten Leukämien. Sie haben ihren Altersgipfel im 3. und 4. Lebensjahr, der Altersmedian liegt bei 4 Jahren 11 Monaten. Jungen erkranken häufiger als Mädchen (1,2:1), dies ist bei der AML etwas weniger stark ausgeprägt als bei der ALL. Das Risiko eines Kindes, innerhalb seiner ersten 15 Lebensjahre an einer Leukämie zu erkranken, beträgt etwa 0,07%. Die Inzidenz liegt bei 4,7/100.000 unter 15-jährigen Kindern (3,9/100.000 für die ALL; 0,7/100.000 für die AML). Die Altersverteilungen der ALL und der AML weichen deutlich voneinander ab: Die AML weist in den ersten beiden Lebensjahren die höchste Inzidenz auf, danach sind die Erkrankungsraten relativ konstant (unter 1-Jährige: 1,5/100.000 dieser Altersgruppe; 1- bis 4-Jährige: 0,8/100.000; 5- bis 14Jährige: 0,6/100.000). Der Altersmedian liegt bei 6 Jahren 3 Monaten. Bei der ALL hingegen steigt die Inzidenz innerhalb der ersten 3 Lebensjahre stark an, fällt dann kontinuierlich bis zum 10. Lebensjahr ab und bleibt dann etwa konstant. Somit ist die Erkrankungsrate der ALL bei Vorschulkindern am höchsten (unter 1-Jährige: 1,6/100.000; 1- bis 4-Jährige: 7,5/100.000; 5- bis 9-Jährige: 3,4/100.000, 10- bis 14-Jährige: 1,9/100.000). Der Altersmedian bei der ALL liegt mit 4 Jahren 9 Monaten unterhalb dem der AML. Akute myeloische Leukämien entwickeln sich häufig aus einem myelodysplastischen Syndrom (MDS). Die MDS sind in diesem Kapitel nicht in der Gruppe der Leukämien enthalten, weil sie erst nach der neuen, noch unveröffentlichten internationalen Diagnosenklassifikation (ICCC) zu den
425 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
malignen Erkrankungen gehören, dies aber bei der derzeitig gültigen ICCC (Kramarova u. Stiller 1996) noch nicht der Fall ist. Dennoch wird die MDS seit Mitte der 90er-Jahre mit zunehmender Vollzähligkeit am Deutschen Kinderkrebsregister erfasst. Etwas über 20 Kinder mit MDS werden derzeit jährlich gemeldet. Die Erkrankungsrate der MDS liegt bei 0,1/100.000, der Altersmedian bei etwa 8 Jahren ( Kap. 61). Überlebensrate. Die Prognose ist für die ALL deutlich besser als für die AML: Nach 5 Jahren beträgt die Wahrscheinlichkeit des Überlebens für die ALL 84% (nach 10 Jahren 78%) und für die AML 52% (49%). Bei der ALL verbesserte sich die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit von 76% bei den Anfang der 80er-Jahre erkrankten Kinder auf 87% bei den Ende der 90er-Jahre diagnostizierten Fällen. Für die AML wurde innerhalb dieses Zeitraums eine Verbesserung von 38% auf 58% erzielt. Der europäische Vergleich von Überlebenswahrscheinlichkeiten der späten Achtziger- und frühen 90er-Jahre zeigt Deutschland für die ALL deutlich oberhalb des europäischen Durchschnitts von 72% (5-Jahres-Überleben; 1985–89). Eine bessere Prognose als in Deutschland zeigen unter den europäischen Ländern nur Finnland (81%) und die Niederlande (82%). In den USA lag das 5-Jahresüberleben Anfang der 90er-Jahre in der weißen Bevölkerung ebenfalls bei 78%. Bei der AML lag Deutschland Ende der 80er-Jahre bei der Prognose der AML mit 45% 5-Jahresüberleben deutlich oberhalb des europäischen Durchschnitts von 38% und auch leicht oberhalb des US-amerikanischen Werts der weißen Bevölkerung für den Anfang der 90erJahre (43%). ! Die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit für die
Leukämien beträgt insgesamt 78%. Internationale Variation. Die international beobachteten
Erkrankungsraten variieren für die Leukämien recht stark. Die höchsten Raten sind für die ALL in Costa Rica und bei der Bevölkerung spanischen Ursprungs in Los Angeles zu verzeichnen. Generell sind ethnische Unterschiede zu sehen: Bei schwarzen Kindern treten Leukämien weitaus seltener auf als bei weißen Kindern, bei der ALL ist die für schwarze Kinder ermittelte Inzidenz nur etwa halb so hoch (z. B. SEERRegister: Schwarze 2,1 und Weiße 3,8/100.000). Die LeukämieInzidenz für Deutschland entspricht der aus den 24 Registern ermittelten medianen Inzidenz. Der Knabenüberschuss ist am stärksten in Australien (1,4:1).
⊡ Abb. 41.5. Altersspezifische Inzidenzen für Morbus Hodgkin und Non-HodgkinLymphome (1992–2001)
41.3.2
Lymphome
12,5% der malignen Erkrankungen sind Lymphome. Von 100.000 unter 15-jährigen Kindern erkranken jährlich 4,7. Die Lymphome setzen sich zu 41% aus Kindern mit Morbus Hodgkin, zu 51% aus Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL) und zu 7% aus Burkitt-Lymphomen zusammen, die nach der ICCC nicht zu den NHL gezählt werden, sondern eine eigene Gruppe bilden. Die großzelligen anaplastischen Lymphome hingegen sind in der Gruppe der NHL enthalten. ! Lymphome treten bei unter 15-Jährigen mit einem Altersmedian von 10 Jahren 4 Monaten mit zunehmendem Kindesalter häufiger auf (⊡ Abb. 41.5), was sich in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen weiter fortsetzt. Im Kleinkindalter sind nahezu keine Fälle, insbesondere nicht mit Morbus Hodgkin, bekannt.
Der Altersmedian beträgt für die unter 15-jährigen Kinder mit Morbus Hodgkin 12 Jahre 5 Monate. Bei den Lymphomen ist der Überschuss an Knaben besonders deutlich zu beobachten: Auf eine Erkrankung bei einem Mädchen kommen beim Morbus Hodgkin 1,8 Erkrankungen bei einem männlichen Kind, beim NHL ist dieses Verhältnis mit 1 zu 2,0 noch deutlicher ausgeprägt. Überlebensrate. Die Prognose eines Lymphoms ist mit 91%
(5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit) und besonders beim Morbus Hodgkin mit 96%, verglichen mit anderen malignen Erkrankungen, sehr gut. Bis Anfang der 90er-Jahre wurden zunehmende Therapieerfolge verzeichnet, seither wird das erreichte hohe Niveau gehalten. Ende der 80er-Jahre lag Deutschland mit einem 5-Jahres-Überleben von 79% deutlich über dem europäischen Durchschnitt (74%). Die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeiten in den USA sind bei den Lymphomen Anfang der 90er-Jahre praktisch identisch mit dem jeweiligen europäischen Durchschnitt. Internationale Variation. Der internationale Vergleich weist
darauf hin, dass in Deutschland die Lymphome besonders vollständig erfasst werden. Besonders für das NHL liegt die Inzidenz mit 0,8/100.000 höher als für die anderen vier großen Register (0,5–0,6/100.000). Von den übrigen Registern weist mit 0.9/100.000 nur Spanien eine höhere Inzidenz auf. Für den Morbus Hodgkin weisen die 5 großen Register
41
426
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Raten zwischen 0,5 und 0,6/100.000 auf. Besonders niedrig ist die Inzidenz in Japan (0,1), besonders hoch in Costa Rica (1,1/100.000). 41.3.3
III
tionen sind Hirnstamm (13,8%; meist die Pons), Dienzephalon (13,1%) und das infratentorielle Hirn (11,8%). Wegen der beschriebenen Untererfassung weist die Mehrzahl der anderen Krebsregister höhere Inzidenzen auf. Die Untererfassung ist besonders ausgeprägt für Astrozytome niedrigen Malignitätsgrades.
Tumoren des zentralen Nervensystems (ZNS-Tumoren)
Überlebensrate. 69% aller erfassten Hirntumorpatienten
Die heterogene Gruppe der ZNS-Tumoren setzt sich aus morphologisch malignen und morphologisch nicht- oder semimalignen Erkrankungen zusammen. Die Erstgenannten werden in der Regel chemotherapeutisch behandelt und somit von einer pädiatrisch-onkologischen Abteilung betreut: Diese Tumoren sind mit hoher Vollzähligkeit zentral erfasst. Bei der anderen Gruppe wird meist keine Chemotherapie durchgeführt, hier findet die Behandlung insbesondere in neurochirurgischen und neuropädiatrischen Abteilungen statt, von denen Meldungen an das Deutsche Kinderkrebsregister in noch nicht zufriedenstellend hohem Maß erfolgen. Verglichen mit Nordamerika liegt die Untererfassung in Deutschland in den Jahren 1992–2001 bei etwa 13% für alle ZNS-Tumoren. Sie ließ sich zwar durch neue Kooperationen und Nacherfassungen in den letzten Jahren weiter reduzieren, die hier präsentierten Daten sind jedoch nur mit der Einschränkung der noch zu geringen Vollzähligkeit zu interpretieren (Kaatsch et al. 2001). ! Die ZNS-Tumoren stellen insgesamt 20,3% der Erkrankungen dar, die Inzidenz beträgt 2,8/100.000 unter 15-Jährige. Häufigste Tumoren sind Astrozytome (1,2/100.000), zerebrale primitive neuroektodermale Tumoren (cPNET; 0,7/100.000), Ependymome (0,3/100.000) und Kraniopharyngeome (0,1/100.000) (⊡ Tabelle 41.2).
überleben derzeit ihre Erkrankung um mindestens 5 Jahre; dies unterscheidet sich jedoch sehr stark bei den einzelnen Erkrankungen (⊡ Tabelle 41.2). Die Astrozytome mit dem WHO Grad 1 und 2 wiesen mit 82% nach 5 Jahren noch eine relativ gute Prognose auf, für Erkrankungen mit Grad 3 oder 4 überleben nur 24% der Kinder mit Astrozytom die ersten 5 Jahre nach Diagnosestellung. Eine generelle leichte Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit wurde seit 1980 beobachtet. Der europäische Vergleich von Überlebensraten der späten 80er- und frühen 90erJahre zeigt Deutschland im Mittelfeld, in einigen skandinavischen Ländern wurden schon in den Jahren 1985–1989 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeiten bis zu 75% erzielt (Deutschland: 60%). In Nordamerika lag sie Mitte der 90erJahre in der weißen Bevölkerung bei 66%. Internationale Variation. Eine ausführliche Beschreibung
epidemiologischer Daten über Hirntumoren bei Kindern, zusammen mit einem detaillierten internationalen Inzidenzvergleich, findet sich bei Kaatsch et al. 2001.
Neuroblastom (sowie andere Tumoren des sympathischen Nervensystems)
41.3.4
! Bei den Tumoren des sympathischen Nervensystems handelt es sich nahezu immer um Neuroblastome. Das Neuroblastom ist der häufigste solide Tumor im Kindesalter.
Insgesamt erkranken Jungen etwas häufiger an einem Hirntumor als Mädchen, dies ist besonders ausgeprägt beim cPNET (1,6:1). Es gibt keinen ausgeprägten Altersgipfel, aber generell treten Hirntumoren im Alter bis 9 Jahre etwas häufiger auf (3,0/100.000) als in der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen (2,2/100.000). Die Tumoren sind in 27,9% der Fälle im Kleinhirn (besonders im Wurm und im 4. Ventrikel) und bei 21,2% im Großhirn lokalisiert. Die nächsthäufigen Lokalisa-
Die Inzidenz von 1,3 Fällen pro 100.000 Kinder liegt im internationalen Vergleich eher im oberen Bereich. Am Neuroblastom erkranken Jungen etwas häufiger als Mädchen (1,1:1). Es handelt es sich um einen Tumor mit embryonalem Ur-
⊡ Tabelle 41.2. Anzahl der an das Deutsche Kinderkrebsregister gemeldeten Erkrankungsfälle für Tumoren des zentralen Nervensystems, Inzidenzen und Überlebenswahrscheinlichkeiten (1992–2001); altersstandardisierte Inzidenz: jährliche Erkrankungsrate für Kinder unter 15 Jahre; kumulative Inzidenz: Wahrscheinlichkeit für ein Neugeborenes, bis zum 15. Lebensjahr zu erkranken; (addiert sich nicht auf 100%, da unspezifizierte ZNS-Tumoren nicht explizit aufgeführt sind)
Diagnosegruppe
Ependymome Astrozytome Primitive neuroektodermale Tumoren (cPNET) Kraniopharyngiome ZNS-Tumoren gesamt
Anzahl der Fälle in Deutschland 1992–2001
Anteil in %
Inzidenz pro 100.000 Kinder Altersstandardisiert
Kumulativ
Anteil Überlebender 5 Jahre nach Diagnose in %
364
10,0
0,3
4,3
66
1.569
43,3
1,2
18,0
76
894
24,5
0,7
10,3
55
5,2
0,1
2,1
99
2,8
41,7
69
189 3.625
100
427 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
⊡ Abb. 41.6a–d. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzen für einige embryonale Tumoren (1992–2001): a Neuroblastom, b Retinoblastom, c Nephroblastom, d Hepatoblastom
a
b
c
d
41
428
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
sprung, ablesbar an der mit dem Lebensalter stark abnehmenden Inzidenz (⊡ Abb. 41.6a). Beim Neuroblastom gibt es seit 1995 in Deutschland einen ansteigenden Inzidenztrend, der seine Ursache in dem Modellprojekt Neuroblastomfrüherkennung hat ( Abschn. 41.5.2). Dies mag auch die im internationalen Vergleich für Deutschland etwas höhere Inzidenz erklären. Neuere Erkenntnisse aus diesem Modellprojekt deuten darauf hin, dass es sich beim Neuroblastom möglicherweise um 2 Diagnosenentitäten handelt: einer langsam wachsenden und zu einem hohen Anteil symptomlos spontan regredierenden Variante sowie einer schnell und aggressiv progredierenden Variante mit hoher Neigung zum Metastasieren und sehr schlechter Prognose. Bislang überleben ca. 73% aller Kinder ein Neuroblastom um mindestens 5 Jahre. Die Prognose des Neuroblastoms differiert sehr stark mit Alter und Stadium. Nahezu alle Säuglinge mit Stadium 1 überleben ihre Krankheit, während ältere Kinder mit metastasiertem Tumor nur zu etwa 27% die nächsten 5 Jahre überleben. In den letzten Jahren zeichnet sich beim Neuroblastom jedoch eine deutliche Verbesserung der Prognose ab, auch bei den Subgruppen mit ungünstiger Prognose (Burkhardt-Hammer et al. 2002). Im internationalen Vergleich lag Deutschland bezüglich der Überlebenswahrscheinlichkeit bereits Anfang der 90er-Jahre fast gleichauf mit den USA und im europäischen Vergleich in der Spitzengruppe. 41.3.5
Retinoblastom
Für das Retinoblastom mit einer relativen Häufigkeit von 2% der malignen Erkrankungen variieren die Erkrankungsraten international kaum (zwischen 0,4 und 0,6/100.000). Lediglich Italien mit 0,2 und Neuseeland mit 0,8/100.000 weichen davon ab. Die Inzidenz in Deutschland beträgt 0,3/100.000 unter 15-jährigen Kindern pro Jahr. ! Das Retinoblastom stellt den Tumor mit dem niedrigsten Altersmedian dar (1 Jahr 3 Monate), ein Viertel der Kinder erkrankten im ersten halben Lebensjahr, kaum ein Patient ist älter als 3 Jahre (⊡ Abb. 41.6b).
Jungen und Mädchen sind gleichermaßen betroffen. Das Retinoblastom hatte schon in den 80er-Jahren eine sehr gute Prognose, in den letzten 5 Jahren wurden in Deutschland überhaupt keine Todesfälle mehr gemeldet. 41.3.6
Nephroblastom (sowie andere Nierentumoren)
Das Nephroblastom (Wilmstumor) stellt mit 98,6% den relevanten Anteil kindlicher Nierentumoren. Zur Gruppe der Nierentumoren gehören auch die eher dem Erwachsenenalter zuzurechnenden Nierenkarzinome (in Deutschland bei Kindern etwa 1 Fall pro Jahr). Es werden durchschnittlich 0,9 Kinder mit Nephroblastom pro 100.000 Kinder pro Jahr gemeldet. Der Altersgipfel liegt für Jungen in den ersten 3 Lebensjahren, für Mädchen im 4. und 5. Lebensjahr (⊡ Abb. 41.6c). Die Inzidenz im Säuglingsalter beträgt
2,2/100.000, bei den 1- bis 4-Jährign 1,9/100.000 und nimmt dann mit dem Alter stark ab. Jenseits des 10. Lebensjahrs treten kaum noch Nephroblastome auf. ! Das Nephroblastom ist eine der wenigen malignen Erkrankungen mit einem Übergewicht an betroffenen Mädchen gegenüber Jungen (1:0,8).
Die Inzidenz in Deutschland liegt geringfügig oberhalb des internationalen Medians, gleichauf mit den skandinavischen Ländern. Die Prognose ist relativ gut. 88% aller Kinder überleben ihre Krankheit mindestens 5 Jahre, dabei hat sich die Prognose über die Jahre seit 1980 leicht, aber stetig verbessert. Ende der 80er-Jahre lag Deutschland im europäischen Vergleich bei den Überlebenswahrscheinlichkeiten leicht oberhalb des Durchschnitts, aber schon damals wurden in den USA Überlebenswahrscheinlichkeiten von über 90% erzielt. 41.3.7
Lebertumoren
Lebertumoren in der Kindheit sind sehr selten, ca. 16 Fälle pro Jahr ergeben 0,1 Fälle pro 100.000 Kinder. Am häufigsten sind Hepatoblastome (81,8% der Lebertumoren), weiterhin werden wenige hepatozelluläre Karzinome beobachtet (3 pro Jahr in Deutschland). Die meisten Kinder erkranken im ersten Lebensjahr, ab dem Schulalter gibt es nur noch sehr wenige, dann im Wesentlichen bei Jungen auftretende Erkrankungsfälle. Jungen sind mehr als doppelt so oft betroffen wie Mädchen (2,3:1; ⊡ Abb. 41.6d). Nennenswerte internationale Variationen der Inzidenzen sind nicht zu sehen. Die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit beträgt 38%. Ältere Jungen haben eine besonders schlechte Prognose. Ende der 80er-Jahre lag Deutschland bezüglich des Überlebens in der Gruppe der Länder in Europa mit der besten Prognose etwa gleichauf mit den USA. 41.3.8
Knochentumoren
Die häufigsten Sarkome im Kindesalter sind die der Knochen (4,6% der malignen Erkrankungen im Kindesalter) und der Weichteile (6,5%). Knochentumoren sind besonders im jugendlichen Alter und jungen Erwachsenenalter zu verzeichnen und gehören neben dem Morbus Hodgkin zu den Tumoren mit dem höchsten Altersmedian (bezogen auf die hier betrachteten unter 15-Jährigen: 11 Jahre 6 Monate). ⊡ Abbildung 41.7 zeigt die mit zunehmendem Kindesalter kontinuierlich ansteigende Inzidenz. Die häufigsten Knochentumoren sind die Osteosarkome (52,9%), die im Kleinkindalter praktisch gar nicht auftreten, und die EwingSarkome (44,6%). Sehr vereinzelt sind Chondrosarkome zu beobachten (in Deutschland etwa ein Kind pro Jahr). Beim Ewing-Sarkom überwiegen Jungen gegenüber Mädchen, Osteosarkome hingegen treten geringfügig häufiger bei Mädchen als bei Jungen auf. Internationale Variation. Die Inzidenz der Knochentumoren liegt bei etwa 0,6/100.000. Die Erkrankungsraten in den 5 größten Registern liegen nahe beisammen. Beim Geschlechtsverhältnis jedoch sind Unterschiede zu beobachten:
429 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
⊡ Abb. 41.7. Altersspezifische Inzidenzen für Osteo- und Ewing-Sarkome (1992–2001)
⊡ Abb. 41.8a, b. Überlebenswahrscheinlichkeiten für Osteosarkome (a) und EwingSarkome (b) nach Lokalisation (1980–2001)
a
b
41
430
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Im kanadischen und australischen Register ist der Knabenanteil vergleichsweise höher als in den anderen drei Registern, im britischen Register sind mehr Mädchen als Knaben erkrankt. Die Inzidenzen für das Osteosarkom liegen zwischen 0,1 und 0,4/100.000 und für das Ewing-Sarkom zwischen 0,04 und 0,4/100.000.
III
Überlebensrate. Nur rund 67% aller Patienten mit Knochentumor überleben länger als 5 Jahre. Ein Unterschied zwischen Ewing-Sarkom und Osteosarkom ist praktisch nicht erkennbar, jedoch ist die Prognose abhängig von der Lokalisation des Tumors (⊡ Abb. 41.8a, b). Bei beiden Entitäten, besonders aber beim Ewing-Sarkom, ist bis etwa Anfang der 90er-Jahre die Prognose verbessert worden. Im europäischen Vergleich lag Deutschland Ende der 80er-Jahre bei der Prognose des Osteosarkom im europäischen Durchschnitt, beim EwingSarkom deutlich darüber. Beim Osteosarkom sind seither weitere Erfolge erzielt worden. Die Werte der USA lagen bis Mitte der 90er-Jahre leicht unter denen in Europa.
41.3.9
Weichteilsarkome
Bei den Weichteilsarkomen handelt sich um eine sehr inhomogene Krankheitsgruppe (⊡ Tabelle 41.3). Sie treten mit einer Inzidenz von 0,9/100.000 unter 15-Jährigen auf. Die häufigste Erkrankung in dieser Gruppe ist das Rhabdomyosarkom (57,1%), das sich zu etwa zwei Drittel aus der embryonalen und zu einem Drittel aus der alveolären Form zusammensetzt. Die übrigen Weichteilsarkome verteilen sich insbesondere auf Fibrosarkome und periphere primitive neuroektodermale Tumoren (pPNET oder MPNT) mit jeweils über 8% sowie auf Synovialsarkome und extraossäre Ewing-Sarkome mit jeweils 4,3% der Weichteilsarkome. Weitere Weichteiltumoren sind Liposarkome, Leiomyosarkome und Blutgefäßtumoren. Tendenziell sind Jungen im Verhältnis von 1,2 zu 1 gegenüber Mädchen häufiger betroffen, beim Rhabdomyosarkom ist dies etwas ausgeprägter.
Internationale Variation. Weichteilsarkome und insbeson-
dere die Rhabdomyosarkome (medianes Alter: 4 Jahre 7 Monate) treten im Vorschulalter häufiger auf als in späterem Kindesalter, jedoch werden sie prinzipiell in jeder Altersgruppe diagnostiziert. Bei der Gegenüberstellung mit anderen Ländern liegt die deutsche Inzidenz für das Rhabdomyosarkom mit 0,5/100.000 im oberen Bereich (Spannweite zwischen 0,2 und 0,6/100.000), wobei die 5 größten Register alle bei einem Wert von 0,5/100.000 liegen. Überlebensrate. Die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit
beträgt insgesamt und auch für die Untergruppe der Rhabdomyosarkome 61%. Bereits Ende der 80er-Jahre lag Deutschland mit ähnlichen Überlebenszahlen, wie sie auch jetzt beobachtet werden, etwas über dem europäischen Durchschnitt, die Heilungserfolge in den USA sind leicht besser. 41.3.10
Keimzelltumoren
Die Keimzelltumoren stellen ebenfalls eine sehr heterogene Erkrankungsgruppe dar. Sie können gonadal (häufigste, prognostisch sehr gute Gruppe), intrakranial oder an anderen Stellen lokalisiert sein (⊡ Tabelle 41.4). Die Altersverteilung ist zweigipfelig (⊡ Abb. 41.9): Sie zeigt einen deutlichen Peak in den ersten zwei Lebensjahren, dann geht die Erkrankungsrate fast auf 0 zurück, um ab dem 7. Lebensjahr mit einer höheren Inzidenz für Mädchen wieder anzusteigen. Die Mädchen überwiegen im Verhältnis von 0,7 Jungen zu 1 Mädchen. Intrakraniale Keimzelltumoren betreffen am ehesten pubertierende Jungen, gonadale Keimzelltumoren die pubertierenden Mädchen und männliche Säuglinge, die übrigen Keimzelltumoren treten am ehesten bei weiblichen Säuglingen auf. Gonadale Karzinome sind extrem selten (in Deutschland 7 innerhalb von 10 Jahren). Die Spannweite der Inzidenzen in anderen Ländern umfasst Werte zwischen 0,4 und 0,6/100.000, jedoch weisen das japanische und das amerikanische Register (Los Angeles, Hispanics) Raten von 0,8 und 1,0/100.000 auf. Die Prognose für alle Keimzelltumoren liegt
⊡ Tabelle 41.3. Anzahl der an das Deutsche Kinderkrebsregister gemeldeten Erkrankungsfälle für Weichteilsarkome, Inzidenzen und Überlebenswahrscheinlichkeiten (1992–2001); altersstandardisierte Inzidenz: jährliche Erkrankungsrate für Kinder unter 15 Jahre; kumulative Inzidenz: Wahrscheinlichkeit für ein Neugeborenes, bis zum 15. Lebensjahr zu erkranken; (addiert sich nicht auf 100%, da unspezifizierte Weichteilsarkome nicht explizit aufgeführt sind)
Diagnosegruppe
Anzahl der Fälle in Deutschland 1992–2001
Rhabdomyosarkome Alveolär Embryonal
657 144 443
Fibrosarkome
Anteil in %
Inzidenz pro 100.000 Kinder Altersstandardisiert
57,1 12,5 38,5
0,5 0,1 0,4
Kumulativ
7,7 1,7 5,2
Anteil Überlebender 5 Jahre nach Diagnose in % 61 36 69
101
8,8
0,1
1,2
71
Synovialsarkome
50
4,3
0,0
0,5
91
Periphere primitive neuroektodermale Tumoren (pPNET)
96
8,3
0,1
1,9
62
50
4,3
0,3
3,8
69
1.151
100,0
0,9
13,3
61
Extraossäre Ewing-Sarkome Weichteilsarkome gesamt
431 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
⊡ Tabelle 41.4. Anzahl der an das Deutsche Kinderkrebsregister gemeldeten Erkrankungsfälle für Keimzelltumoren, Inzidenzen und Überlebenswahrscheinlichkeiten (1992–2001); altersstandardisierte Inzidenz: jährliche Erkrankungsrate für Kinder unter 15 Jahre; kumulative Inzidenz: Wahrscheinlichkeit für ein Neugeborenes, bis zum 15. Lebensjahr zu erkranken; (addiert sich nicht auf 100%, da unspezifizierte Keimzelltumoren nicht explizit aufgeführt sind)
Diagnosegruppe
Anzahl der Fälle in Deutschland 1992–2001
Anteil in %
Inzidenz pro 100.000 Kinder Altersstandardisiert
Kumulativ
Anteil Überlebender 5 Jahre nach Diagnose in %
Intrakraniale Keimzelltumoren
156
25,5
0,1
1,7
78
Gonadale Keimzelltumoren
253
41,4
0,2
2,9
96
Andere Keimzelltumoren
174
28,5
0,1
2,2
89
Keimzelltumoren gesamt
611
0,5
7,1
90
100
⊡ Abb. 41.9. Alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzen für Keimzelltumoren (1992–2001)
nach 5 Jahren bei 90%, deutlich schlechter ist sie mit 78% für die intrakranialen Keimzelltumoren. Kleinkinder haben eine deutlich bessere Prognose als Ältere. Die Prognose hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Ende der 80er-Jahre lag Deutschland im europäischen Vergleich der Überlebenswahrscheinlichkeiten auf einem Spitzenplatz. 41.3.11
Karzinome, maligne Melanome und andere maligne Erkrankungen
Diese Gruppe stellen etwa 1,3% der malignen Erkrankungen dar. Größte Untergruppe sind bei den Kindern die Schilddrüsenkarzinome mit 0,6% aller malignen Erkrankungen (50,7% aus dieser Krankheitsgruppe). Es folgen das Nasopharynxkarzinom (11,6%), das Nebennierenrindenkarzinom (9,7%) und das maligne Melanom (8,7%). Durch diese Heterogenität bedingt treten auch im internationale Vergleich recht starke Schwankungen der Erkrankungsraten auf. Die niedrigste Inzidenz ist für das deutsche Register zu verzeichnen, sie beträgt 0,2/100.000 und liegt damit deutlich unter dem für die 24 Register ermittelten Median von 0,5. Die höchste Inzidenz wurde für Neuseeland beobachtet (0,7/100.000). Auch der Vergleich der 5 größten Register untereinander zeigt für diese Diagnosegruppe eine große Variation: Während z. B. der relative Anteil dieser Erkrankungen an der Gesamtzahl aller gemeldeten Kinder
in Deutschland 1,3% beträgt, ist in Australien etwa jede 20. maligne Erkrankung im Kindesalter ein Karzinom oder eine andere epitheliale Erkrankung. Diese starke Variation ist insbesondere durch die unterschiedliche Häufigkeit des Auftretens des malignen Melanoms bedingt. Während in Australien 3,1% aller im Register erfassten Kinder ein malignes Melanom aufweisen, sind es bei den anderen vier großen Registern höchstens 1,1% (in Deutschland nur 0,1%). Die altersstandardisierte Melanominzidenz beträgt in Australien 0,4/100.000. In Neuseeland liegt sie mit 0,5/100.000 bei den Eingewanderten (Non-Maori) noch etwas höher. Dies ist Ausdruck der in Australien und Neuseeland starken Sonnenlichtexposition, die sich bei hellhäutigen Kindern wie bei Erwachsenen in einer hohen Melanominzidenz wiederspiegelt. 41.3.12
Langerhans-Zell-Histiozytose – eine nicht-maligne Erkrankung im Kindesalter
Die Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH; früher: Histiozytosis X) ist keine maligne Erkrankung. Da sie jedoch vor Veröffentlichung der ICCC (Kramarova u. Stiller 1996) in einer vorherigen Diagnosenklassifikation für Krebs im Kindesalter (Birch u. Marsden 1987) aufgenommen war, wurde diese Erkrankung von Anfang an am Deutschen Kin-
41
432
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
derkrebsregister – wie auch in wenigen anderen Registern, z. B. in England/Wales – mit hoher Vollzähligkeit erfasst. Die LCH weist in Deutschland eine Erkrankungsrate von 0,5/100.000 unter 15-Jährige auf. Am häufigsten erkranken die unter 1-Jährigen mit einer Inzidenz von 2,3/100.000 Kindern dieser Altersgruppe. Die LCH ist bei Knaben im Verhältnis 1,7 zu 1 häufiger als bei Mädchen zu verzeichnen. Der Altersmedian liegt bei 3,5 Jahren. Seit 1983 werden pädiatrische klinische Studien zur LCH, seit einigen Jahren auch im internationalen Rahmen, durchgeführt. 41.4
Ätiologische Faktoren für spezifische Erkrankungen
41.4.1
Leukämien
Die höhere Inzidenz an Kinderleukämie in den Industrieländern sowie wiederholte Beobachtungen zeitlich begrenzter, kleinräumiger regionaler Häufungen von Leukämieerkrankungen in ländlichen Gegenden haben mittlerweile verstärkt zu Hypothesen geführt, die infektiösen Erregern eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Leukämien im Kindesalter zuordnen. Hierbei scheinen v. a. Kinder mit einem im Säuglingsalter nur unzureichend modulierten Immunsystem ein höheres Leukämierisiko zu haben, wenn sie später vermehrt mit Infektionserregern in Kontakt kommen (Greaves 2002). Eine aktuelle Übersicht über die Ätiologie kindlicher Leukämien ist von Schüz (2002) erstellt worden. 41.4.2
Die Ursachen von Leukämien im Kindesalter sind auch heute noch weitgehend unklar. Umwelteinflüsse wie niedrige Dosen ionisierender Strahlung sowie nicht-ionisierende Strahlung oder Pestizide wurden lange verdächtigt, einen Großteil kindlicher Leukämien zu verursachen. ! Inzwischen hat sich für die meisten Umweltfaktoren gezeigt, dass, selbst wenn ein schwacher Zusammenhang mit dem Auftreten von Leukämien im Kindesalter nicht ausgeschlossen werden kann, der Anteil dadurch verursachter Fälle doch eher gering ist.
Bezüglich der Umweltfaktoren fasst ⊡ Tabelle 41.5 den aktuellen Erkenntnisstand für deutsche Verhältnisse zusammen.
ZNS-Tumoren
Ein Inzidenzanstieg für ZNS-Tumoren ist in den vergangenen Dekaden in einer Reihe von Ländern beobachtet worden (u. a. McNally et al. 2001). Dies mag unter anderem mit allgemeinen Veränderungen in den Umweltfaktoren und durch damit bedingte Expositionen zusammenhängen. Eine Reihe epidemiologischer Studien beschäftigen sich mit diesen Fragen (z. B. zum möglichen Einfluss von ionisierender Strahlung, elektromagnetischen Feldern oder Pestiziden und von elterlichen Expositionen, wie etwa der Ernährung der Mütter, oder genetischen Aspekten). Ein Review zur Ätiologie von ZNS-Tumoren bei Kindern wurde von Schüz und Kaatsch 2002 erstellt. Daraus sind die wichtigsten, derzeit diskutierten ätiologischen Faktoren in ⊡ Tabelle 41.6 zusammengestellt.
⊡ Tabelle 41.5. Übersicht zu Umweltfaktoren und deren Assoziation mit Leukämie im Kindesalter (modifiziert entnommen aus Schüz 2002)
Faktor Ionisierende Strahlung
Bemerkungen (für deutsche Verhältnisse) Gesicherter Risikofaktor bei hohen Dosen Geringes Zusatzrisiko bei Röntgenuntersuchungen der Mutter während der Schwangerschaft (bei medizinischer Indikation ist eine nicht aufschiebbare Untersuchung aber akzeptabel; besondere Vorsicht durch höhere Dosis bei Computertomographien) Kein erhöhtes Risiko bei moderater Anwendung von Röntgenuntersuchungen des Kindes Kein erhöhtes Risiko in Gegenden mit höheren Radonbelastungen Möglicherweise Einzelfälle durch präkonzeptionelle Exposition des Vaters Kernkraftwerke: kein generell erhöhtes Risiko Tschernobyl: kein Risiko nachgewiesen, Follow-up wird fortgeführt
Elektromagnetische Felder
Konsistente epidemiologische Hinweise auf schwach erhöhtes Risiko bei hohen und langdauernden Expositionen (selten) Kein biologischer Wirkungsmechanismus bekannt Bei Kausalität wären weniger als 1% aller Leukämien auf die Exposition zurückzuführen
Pestizide
Epidemiologische Hinweise auf schwach erhöhtes Risiko, allerdings heterogen für verschiedene Expositionsarten und leukämische Subtypen Da spezielle Substanzen nicht identifiziert wurden, ist unklar, inwieweit heutige Expositionen in der Landwirtschaft relevant sind Bei Leukämiehäufungen in ländlich geprägten Regionen als Mitverursacher nicht auszuschließen
Chemikalien
Alkylierende Substanzen als Risikofaktor gesichert (fast ausschließlich relevant bei Sekundärleukämien nach Chemotherapie der Primärerkrankung) Mütterliche Exposition mit Lösungsmitteln, Farben und Lacken kann als Ursache für Einzelfälle relevant sein Für viele Chemikalien unzureichende Datenlage
433 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
⊡ Tabelle 41.6. Übersicht über mögliche Risikofaktoren von Hirntumoren im Kindesalter (modifizierter Auszug aus Schüz u. Kaatsch 2002, weiterführende Literatur dort)
Risikofaktoren
Erhöhtes Risiko für
Faktoren mit schlüssiger Evidenz Genetische Syndrome
Kinder mit Neurofibromatose, tuberöser Sklerose, Li-Fraumeni- oder Turcot-Syndrom oder nävoidalem Basalzell-Syndrom haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Hirntumoren; insgesamt tragen diese genetischen Syndrome aber nur zu einem geringen Anteil kindlicher ZNS-Tumoren bei.
Therapeutische kraniale Bestrahlung
Kinder mit strahlentherapeutischer Behandlung eines vorherigen Malignoms haben ein erhöhtes Risiko für einen sekundären Hirntumor.
Faktoren mit vermuteter Evidenz Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft
Ein höheres Erkrankungsrisiko zeigt sich für Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft häufig gepökeltes Fleisch oder andere nitrosaminhaltige Nahrungsmittel zu sich nehmen. Während der Schwangerschaft eingenommene Vitaminpräparate hingegen reduzieren das ZNS-Tumorrisiko. Außer den Nitrosaminen könnten auch andere Ernährungsfaktoren eine Rolle bei der Tumorgenese des Kindes spielen.
Landwirtschaft (cPNET)
Das höhere Erkrankungsrisiko für in landwirtschaftlich aktiven Haushalten aufgewachsene Kinder könnte auf eine Übertragung karzinogen wirksamer Polyoma- oder Papova-Viren vom Tier auf den Mensch zurückzuführen sein.
Familiäre Belastung
Die in manchen Studien beobachtete Assoziation könnte durch Vererbung erklärt werden. Erhöhte Erkrankungszahlen wurden in einigen Studien bei Kindern beobachtet, deren Geschwister an einem Tumor erkrankt waren.
41.4.3
Übrige Erkrankungen
Es muss festgestellt werden, dass für die meisten pädiatrischonkologischen Erkrankungen die Ursachen noch unbekannt sind. Einen sehr guten Überblick über zur Ursachenforschung durchgeführte epidemiologische Studien gibt Little (Little 1999). Die wenigen und oft kleinen epidemiologischen Studien zu Ursachen von Lymphomen im Kindesalter sind bisher nur zu wenigen überzeugenden Erkenntnissen über Risikofaktoren gekommen. Ein erhöhtes Risiko, an einem NHL zu erkranken, besteht für Kinder mit angeborener (z. B. Ataxia teleangiectatica) oder erworbener Immundefizienz (AIDS). Auch eine immunsuppressive Therapie führt zu einer Erhöhung des NHL-Risikos. Als Risikofaktoren für das BurkittLymphom sind Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus oder persistierende Malaria-Infektionen bekannt, die jedoch beide in unseren Breiten keine Rolle spielen. Ein Zusammenhang zwischen Lymphomen und einer Belastung mit ionisierender Strahlung wird vermutet, ist aber nicht belegt. Für das Neuroblastom ist keine genetische Prädisposition bekannt. Studien zu Risikofaktoren kamen bisher nicht zu konsistenten Ergebnissen. Einige Studien berichten ein erhöhtes Risiko für Kinder, insbesondere Jungen, die in utero gegenüber der mütterlichen Einnahme von Geschlechtshormonen exponiert waren. Allerdings ist der Zusammenhang schwach und würde nur einen geringen Anteil der Neuroblastomerkrankungen erklären. Zwischen 40 und 50% der an einem Retinoblastom Erkrankten weisen eine vererbte Form der Krankheit auf (darunter die zweiseitig auftretenden Erkrankungen). Von diesen sind 25% hereditär und 75% auf neue Mutationen in den elterlichen Keimzellen zurückzuführen. Über molekulare Studien konnte eine Mutation beider Allele des Retinoblas-
tomgens auf Chromosom 13q nachgewiesen werden. Über Ursachen der nicht familiär vererbten Retinoblastome kann nur spekuliert werden. Einflüsse vor der Konzeption oder während der Schwangerschaft sind wahrscheinlich; Studien zu elterlichen Tätigkeiten oder nicht beruflichen Expositionen in diesen Zeiträumen sind aber inkonsistent. Vereinzelte Berichte gibt es über ein erhöhtes Risiko für Kinder von vor der Konzeption rauchenden Vätern, im Beckenbereich geröntgten Vätern oder Vätern, die am Arbeitsplatz schweißten oder mit Metallen arbeiteten. Ein Teil der Nephroblastome ist auf genetische Syndrome zurückzuführen, von denen das Beckwith-Wiedemann-Syndrom auch zum größten Teil erklärt, warum Kinder mit einem höheren Geburtsgewicht ein erhöhtes Risiko haben, an einem Nephroblastom zu erkranken. Andere Risikofaktoren konnten bisher nicht mit ausreichender Sicherheit nachgewiesen werden. Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) ist als Prädisposition für das Hepatoblastom bekannt. Die einzige epidemiologische Studie zu Hepatoblastomen fand keinen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und elterlicher Hepatitisinfektion sowie mütterlichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Der Anteil an Knochentumoren mit genetischer Ätiologie wird auf weniger als 5% geschätzt. Weder für Osteosarkome noch für Ewing-Sarkome konnten bisher Ursachen nachgewiesen werden. Die Vermutung, dass das Wachstum während der Pubertät über eine erhöhte Knochenproliferation einen Einfluss auf das Knochentumorrisiko hat, wird durch epidemiologische Daten nicht gestützt. Der Anteil genetisch bedingter Weichteiltumoren ist vermutlich etwas höher als bei den meisten anderen soliden Tumoren im Kindesalter und wird auf etwa 10% geschätzt. Angeborene Fehlbildungen wurden bei Rhabdomyosarkom-
41
434
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
patienten häufiger beobachtet als erwartet. Weitere Risikofaktoren sind nicht bekannt. Allerdings waren die Fallzahlen der epidemiologischen Studien zu dieser Tumorentität zu gering, um andere als sehr starke Zusammenhänge nachweisen zu können. Zu Risiken für Keimzelltumoren ist wenig bekannt. Kryptorchismus ist allgemein ein gesicherter Risikofaktoren bei testikulären Keimzelltumoren. Schilddrüsenkarzinome sind bei vorheriger anderer maligner Erkrankung nicht selten als Folge der strahlentherapeutischen Behandlung zu verzeichnen. 41.5
Prävention maligner Erkrankungen im Kindesalter
41.5.1
Allgemeines Gesundheitsverhalten
Primäre Prävention. Unter primärer Prävention versteht man, sich bekannten Risikofaktoren möglichst nicht auszusetzen. Sie dient konkret zur Krankheitsvermeidung und hat damit die größte präventive Bedeutung. Aus den Ausführungen des vorherigen Abschnittes zeigt sich, dass nahezu keine relevanten ursächlichen Faktoren für das Entstehen von kindlichen malignen Erkrankungen gesichert nachgewiesen sind. Insofern hat die primäre Prävention bei kindlichen Malignomen bisher noch einen relativ geringen Stellenwert. Verstärkte, bereits geplante internationale Kooperationen sind jedoch insofern vielversprechend, als durch sie möglicherweise doch weitere Erkenntnisse gewonnen werden können, die sich in konkretere Empfehlungen zur Vermeidung von Krebserkrankungen im Kindesalter umsetzen lassen. Primäre Prävention kann aber durchaus – auch aus anderen gesundheitlichen Überlegungen heraus – darin bestehen, sich allgemein nicht unnötig möglicherweise krebserregenden Expositionen, wie etwa gegenüber Chemikalien, ionisierender Strahlung oder zu massiver Sonneneinwirkung, auszusetzen. Solche Maßnahmen sind auch alleine dann sinnvoll, wenn sie dem allgemeinen Wohlbefinden zugute kommen und möglicherweise bestehende Ängste damit reduziert werden. Sekundäre Prävention. Die sekundäre Prävention dient der Früherkennung einer Erkrankung. Hierzu ist zu empfehlen, die seit vielen Jahren etablierten Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen. Da die meisten malignen Erkrankungen im Vorschulalter auftreten, in dem diese Untersuchungen recht engmaschig erfolgen, kann die regelmäßige Teilnahme deutlich dazu beitragen, die eine onkologische Erkrankung charakterisierenden Symptome eher festzustellen als bei Kindern, die nicht an den Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen (z. B. abdominale Tumorschwellung). So werden etwa 10% der Nephroblastome im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen bei asymptomatischen Kindern diagnostiziert. Manche Erkrankungen weisen zunächst nur sehr unspezifische Symptome auf (z. B. Niedergeschlagenheit, Blässe, Knochenschmerzen bei Leukämien). Im Zweifel sollte die diagnostische Abklärung bei solchen Beobachtungen grundsätzlich durch ein pädiatrisch-onkologisches Zentrum erfolgen.
Tertiäre Prävention. Tertiäre Prävention umfasst die erforderliche Nachsorge, nachdem eine Erkrankung bereits aufgetreten ist, um beispielsweise Rezidive oder Spätfolgen frühzeitig zu erkennen.
41.5.2
Modellprojekt zur Früherkennung des Neuroblastoms
In Deutschland, wie auch z. B. in Kanada, Frankreich oder Japan, wurde in den vergangenen Jahren intensiv über die Einführung eines Neuroblastom-Screenings nachgedacht, entsprechende Studien wurden durchgeführt. Grundlage ist, dass bei einem Kind mit Neuroblastom im Urin häufig Katecholaminmetabolite enthalten sind und diese mit einem einfachen Windeltest nachgewiesen werden können. Ziel einer solchen Screening-Maßnahme wäre die Senkung der Mortalität durch eine Reduktion der Inzidenz des prognostisch äußerst schlecht verlaufenden metastasierten Neuroblastoms. In Deutschland wurde von 1995–2000 in einigen Bundesländern der Windeltest angeboten, in den anderen (Kontrollgebiet) nicht. Das deutsche Ergebnis dieses Modellprojektes (Schilling et al. 2002) deckt sich mit dem kanadischen: ! Eine Einführung des Neuroblastom-Screenings konnte nicht empfohlen werden. Der Nutzen ist zu gering und kaum erkennbar, und das Ausmaß der unnötig behandelten Patienten ist nicht vertretbar.
41.6
Datenquellen
Die für dieses Kapitel zugrunde liegenden Daten stammen aus international anerkannten Forschungseinrichtungen. Für Deutschland ist mit dem Deutschen Kinderkrebsregister (http://www.kinderkrebsregister.de) eine optimale Datenbasis für die Epidemiologie von Krebs im Kindesalter gegeben (Kaatsch et al. 1995). Dieses Register wurde 1980 von Michaelis gegründet und ist an dem bis 2001 von ihm geleiteten Mainzer Universitätsinstitut IMBEI angesiedelt. Auf seine Initiative ist ein integrativer Dokumentationsverbund zwischen behandelnden Kliniken, Kinderkrebsregister und den pädiatrisch-onkologischen klinischen Studien als Basis für die Arbeit des Kinderkrebsregisters aufgebaut worden (Michaelis u. Kaatsch 1990). Die International Agency for Research on Cancer (IARC), Lyon, erarbeitet unter anderem Standards zur Krebsregistrierung und veröffentlicht internationale Zusammenstellungen von Krebsinzidenzen. Eine solche Monographie für Krebs bei Kindern wurde von Parkin et al. 1998 herausgegeben und mit ACCIS (Automated Childhood Cancer Information System; http://www-dep.iarc.fr/accis.htm) wurde die weltweit größte Datenbank zu Krebs im Kindesalter erstellt (160.000 Erkrankungsfälle aus 80 Krebsregistern) (Steliarova-Foucher et al. 2002). Unter Federführung der IARC wurde auch die internationale Klassifikation der kindlichen Krebserkrankungen (ICCC) erarbeitet (Kramarova u. Stiller 1996), nach der die Diagnoseneinteilung in diesem Kapitel erfolgte. Die besten in den USA vorhandenen Daten zur Epidemiologie maligner Erkrankungen bei Kindern werden durch das am NCI geführte SEER-Programm (Surveillance, Epidemio-
435 41 · Epidemiologie, Ätiologie, Prävention
logy, and End Results) vorgehalten. Es umfasst eine 14%ige, für die gesamte US-Bevölkerung repräsentative Bevölkerungsstichprobe. Ein umfassender Bericht über knapp 20.000 unter 15-Jährigen in den USA an Krebs erkrankte Kinder ist im Internet unter http://seer.cancer.gov/publications/ childhood abrufbar. Überlebensraten lassen sich auf europäischer Ebene hervorragend im Rahmen des EUROCARE-Projektes miteinander vergleichen, in dem Daten aus 45 bevölkerungsbezogenen Krebsregistern ausgewertet werden. Zu dem für Kinder verfügbaren Datenmaterial ist von Capocaccia et al. 2001 ein eigener Sonderband herausgegeben worden.
In Deutschland können die Krebserkrankungs- und Überlebensraten bei Kindern dank des Deutschen Kinderkrebsregisters sehr genau beschrieben werden. Es treten jährlich etwa 1800 neu diagnostizierte Fälle unter 15 Jahre auf (etwa 14 pro 100.000 Kinder dieser Altersgruppe). Die Ätiologie von Krebserkrankungen im Kindesalter ist noch weitgehend ungeklärt; die primäre Prävention hat bisher einen relativ geringen Stellenwert. Durch verstärkt beginnende internationale Kooperationen wird die ätiologische Forschung jedoch intensiv vorangetrieben.
Literatur Birch JM, Marsden HB (1987) A classification scheme for childhood cancer. Int J Cancer 40:620–624 Burkhardt-Hammer T, Spix C, Brenner H et al (2002) Long-term survival of children with neuroblastoma prior to the neuroblastoma screening project in Germany. Med Pediatr Oncol 39:156–162 Capocaccia R, Gatta G, Magnani C et al (2001) Childhood cancer survival in Europe 1978–1992: the EUROCARE study. Eur J Cancer 37:671–816 Creutzig U, Henze G, Bielack S et al (2003) Krebserkrankungen bei Kindern – Erfolg durch einheitliche Therapiekonzepte seit 25 Jahren. Dt Ärztebl 100:A842–852 Greaves MF (2002) Childhood leukaemia. BMJ 324:283–287 Kaatsch, P, Haaf G, Michaelis J (1995) Childhood malignancies in Germany – Methods and results of a nationwide registry. Eur J Cancer 31A:993–999 Kaatsch P, Rickert CH, Kühl J et al (2001) Population-based epidemiologic data on brain tumours in german children. Cancer 92:3155– 3164 Kramarova E, Stiller CA (1996) The international classification of childhood cancer. Int J Cancer 68:759–765 Little J (1999) Epidemiology of childhood cancer. IARC scientific publication 149. International Agency for Research on Cancer, Lyon McNally RJO, Kelsey AM, Cairns DP et al (2001) Temporal increases in the incidence of childhood solid tumors seen in Northwest England (1954–1998) are likely to be real. Cancer 92:1967– 1976 Michaelis J, Kaatsch P (1990) Use of information from clinical trials for an integrated cancer registry. Methods Inf Med 29:92–98 Parkin DM, Kramarova E, Draper GI et al (1998) International incidence of childhood cancer, Vol II. IARC scientific publication 144. International Agency for Research on Cancer, Lyon Ries LAG, Smith MA, Gurney JG et al (eds) (1999) Cancer incidence and survival among children and adolescents: United States SEER Program 1975–1995. National Cancer Institute, SEER Program. NIH Pub. No. 99–4649. Bethesda, MD
Schilling FH, Spix C, Berthold F et al (2002) Neuroblastoma screening at one year of age. N Engl J Med 346:1047–1053 Schüz J (2002) Leukämien im Kindesalter und die Rolle von Umwelteinflüssen bei deren Entstehung. Umweltmed Forsch Prax 7:309– 320 Schüz J, Kaatsch P (2002) Epidemiology of pediatric tumours of the central nervous system. Expert Rev Neurotherapeutics 2:469– 479 Steliarova-Foucher E, Berrino F, Coebergh JW et al (2002) ACCIS pass 1.01, software for analysis and presentation of data on incidence and survival of children and adolescents in Europe. Lyon: European Network of Cancer Registries
41
Genetik und genetische Prädisposition O.A. Haas
III 42.1
42.1 42.2
Einleitung – 436 Genetische Grundlagen
42.2.1 42.2.2
Die Anatomie des humanen Genoms – 438 Sequenzvarianten, Mutationen und Polymorphismen – 438 Intra- und interindividuelle Genomvarianten: Klon, Mosaik und Chimäre – 439 Telomere und Telomerase – 441 DNA-Integrität und -Reparatur – 442 Epigenetische Phänomene und Imprinting – 442
42.2.3 42.2.4 42.2.5 42.2.6
42.3 42.4
Einleitung
– 438
42.5
Genetische Untersuchungsmethoden – 443 Art, Funktion und Konsequenz von Genom-, Chromosom- und Genmutationen – 445 Genetische Prädisposition – 446
42.5.1 42.5.2 42.5.3
Konstitutionelle Chromosomenanomalien – 446 Autosomal-dominante Prädispositionsformen – 447 Autosomal-rezessive Prädispositionsformen – 450
42.6
Regelungen der genetischen Diagnostik und Beratung bei Kindern – 450 Literatur – 451
In diesem Kapitel werden die wesentlichen humangenetischen Konzepte dargestellt, die für das Verständnis der Pathogenese von Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen und Tumorprädisposition von Bedeutung sind. Es werden die für diese Thematik wichtigen Strukturen des Genoms sowie die unterschiedlichen Arten und Konsequenzen der mit einer Tumorerkrankung assoziierten Mutationen und epigenetischen Störungen erörtert und die klinische Relevanz der daraus resultierenden Erkenntnisse aufgezeigt. Des weiteren werden die grundlegenden Prinzipien der zyto- und molekulargenetischen Untersuchungsmethoden zusammengefasst sowie ihre spezifischen Anwendungsgebiete und ihre Bedeutung für die Tumordiagnostik und -behandlung beschrieben. Im Zusammenhang mit der genetische Prädisposition und den familiären Tumorerkrankung wird auf die gesetzlichen Vorschriften, die bei genetischen Untersuchungen zu berücksichtigen sind, eingegangen und werden die speziellen Probleme aufgezeigt, die bei der Beratung von manifest erkrankten und v. a. potenziell betroffenen gesunden prädisponierten Kindern auftreten können und daher besondere Beachtung verdienen.
Zellen und Organismen sind thermodynamisch offene Systeme und stehen während ihres ganzen Lebens in einer stetigen Wechselwirkung mit ihrer Umwelt. Die Milliarden aus einer einzelnen befruchteten Eizelle hervorgehenden Tochterzellen übernehmen unterschiedliche Funktionen und organisieren sich zu komplexen Organsystemen und Organismen. Der erwachsene Mensch z. B. besteht aus ungefähr 1014 Zellen und ca. 300 verschiedenen, hoch spezialisierten Zelltypen. Während des gesamten Lebens befindet sich nun die Gesamtzahl dieser Zellen in einem »labilen« Gleichgewicht, das durch eine laufenden Zellneubildung sowie einem kontrollierten Zellabbau aufrecht erhalten wird. Der menschliche Körper bildet und erneuert dabei jede Minute ungefähr 200 Millionen Zellen, so dass alle 35 Tage praktisch jene Zellmenge, die den gesamten Körper ausmacht, ersetzt wird. Die Wachstums- Entwicklungs-, Differenzierungs- und Regulationsprozesse, die für die Aufrechterhaltung eines solch komplexen Systems notwendig sind, werden über komplizierte Zell-Zell-Interaktionen und über ein Netzwerk von extra- und intrazellulären Signalübertragungswegen gesteuert, an denen eine Vielzahl von Botenstoffen (Wachstums- und Hemmfaktoren) sowie deren Rezeptoren beteiligt sind. Endogene und exogene Störungen der normalen Funktionsabläufe können in einem erstaunlichen Ausmaße kompensiert und, falls notwendig, einzelne defekte Bestandteile bis zu einem gewissen Maße auch repariert werden. Falls solche physiologischen Kompensations- und Reparaturmechanismen nicht mehr ausreichen, stirbt die Zelle entweder ab oder sie entartet, d. h. um überleben zu können müssen sich ihre destabilisierten genetischen Komponenten, Stoffwechselvorgänge und zellulären Interaktionen in einem evolutionären Prozess laufend an die entsprechenden Umweltbedingungen ansprechen (Rubin 2001). Diese Vorstellungen bilden die Grundlage für die vielfältig variierte Theorie der klonalen Evolution von Tumorerkrankungen (Anderson et al. 2001; Cahill et al. 1999; Da Costa et al. 2002; Duesberg et al. 1998; Greaves 2002; Hanahan et al. 2000; Klausner 2002; Lengauer et al. 1998; Liotta et al. 2001; Maser et al. 2002; Matzke et al. 2003; Nowak et al. 2002; Ponder 2001; Sen 2000; Vogelstein et al. 1993). Definition Die Theorie der klonalen Evolution besagt, dass sich hämatologische Neoplasmen und solide Tumoren in einem dynamischen Prozess über mehrere Stadien aus einer einzelnen, undifferenzierten Vorläuferzelle entwickeln.
Die neoplastische Transformation selbst ist dabei die Folge von sukzessiven Störungen des genetischen Programms in
437 42 · Genetik und genetische Prädisposition
⊡ Abb. 42.1. Genetische Laboruntersuchungen verbessern zweifellos das klinische Management von Tumor- und Leukämieerkrankungen. Dem medizinischen Nutzen und Vorteilen stehen jedoch die vielfältigen ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen gegenüber, die sich aus den aus solchen Untersuchungen ableitbaren Informationen über die genetischen Besonderheiten des jeweiligen Individuums ergeben (Roses 2000)
Form von Mutationen, die in vielen Fällen auch als Chromosomenanomalien sichtbar werden, sowie von epigenetischen Defekten, die die normale Genexpression und die Prozessierung der entsprechenden Genprodukte grundlegend verändern. Davon betroffen sind v. a. Gene und Genfamilien, die eine wesentliche Rolle bei der Teilung, dem Wachstum, der Differenzierung, dem Altern und auch dem kontrollierten Absterben dieser Zellen spielen (Hanahan et al. 2000). Durch das entstehende Ungleichgewicht von stimulierenden und hemmenden Signalen entziehen sich die betroffenen, genetisch instabilen Zellen physiologischen Regelmechanismen. Störungen in der Differenzierung und im Wachstumsverhalten führen in weiterer Folge auch zu einer unkontrollierten Expansion, diffusen Infiltration und Metastasierung solcher Gewebe, die dann letztendlich klinisch als Leukämien, Lymphome und Tumoren in Erscheinung treten. Diese Neoplasmen können anhand ihres jeweiligen Differenzierungsgrades, ihres typischen Immunophänotyps, ihrer spezifischen zyto- und molekulargenetischen Veränderungen sowie ihrer charakteristischen Genexpressionsmuster ihrem Ursprungsgewebe zugeordnet und anhand dieser Merkmale entsprechend klassifiziert werden. Die primäre Diagnostik und Einteilung hämatologischer Neoplasmen und solider Tumoren beruht auch heute noch v. a. auf klinischen und histomorphologischen Kriterien. Die Erforschung der mit den diversen Tumor- und Leukämieer⊡ Abb. 42.2. Prädisposition, Screening, Diagnose, Prognose, Pharmakogenetik und Therapiemonitoring sind Bereiche in denen genetische Untersuchungen wesentlich zu einer individuell adaptierbaren Behandlung und somit zu einer personalisierten Medizin beitragen (Ginsburg et al. 2001)
krankungen spezifisch assoziierten genetischen Veränderungen sowie die kontinuierliche Umsetzung der daraus resultierenden Erkenntnisse bilden jedoch eine immer wichtiger werdende Voraussetzung für ein erfolgreiches klinisches Management der betroffenen Patienten. Die entsprechenden genetischen Parameter und die laufenden Verbesserungen der Untersuchungsmethoden tragen wesentlich dazu bei, die Diagnostik, Differenzialdiagnostik sowie die biologisch und medizinisch relevante Subklassifikation der entsprechenden Erkrankungen zu verfeinern (⊡ Abb. 42.1). Diese spezifischen Kenntnisse bilden wiederum die Voraussetzung für die Entwicklung und Anwendung von innovativen DNA- und RNAbasierender Strategien zum Nachweis residueller Tumorzellpopulationen, die eine sehr sensitive Überwachung des Therapieerfolges und damit auch die Früherkennung von Rezidiven erlauben. Daneben hilft die Analyse genetischer Veränderungen aber auch die Ursache, Entstehung und Entwicklung der jeweiligen Neoplasmen sowie nicht zuletzt die normale Funktion der von diesen Störungen betroffenen physiologischen Regelkreise besser zu verstehen. Dieses Verständnis bildet andererseits eine wichtige Grundlage um spezifische und individualisierte Therapiekonzepte zu entwickeln, die nicht nur dazu beitragen sollen, die Heilungsaussichten zu verbessern, sondern auch die Behandlung insgesamt komplikationsloser und nebenwirkungsfreier zu gestalten (⊡ Abb. 42.2).
42
438
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
42.2
Genetische Grundlagen
42.2.1 Die Anatomie des humanen Genoms
III
Das Genom eines Organismus besteht aus funktionell unterschiedlichen, hierarchisch klar strukturierten Einheiten (⊡ Abb. 42.3; Guttmacher et al. 2002; Hood et al. 2003). Die detaillierte Kenntnis des Aufbaus und der Zusammensetzung des Genoms bildet eine wichtige Voraussetzung für unser Verständnis von Prozessen, die auch eine wichtige Rolle im Rahmen der Krebsentstehung und -entwicklung spielen. Diese sind v. a. die Regulation der Genexpression, die DNAReplikation, -Reparatur und -Rekombination, die Chromosomensegregation, die epigenetische Vererbung sowie die genomische Instabilität (Felsenfeld et al. 2003; Futaki et al. 2001; Hoeijmakers 2001; Jaenisch et al. 2003; Levitt et al. 2002; Pollack et al. 2002; Wood et al. 2001). Eine humane diploide Zelle enthält ungefähr 6,2×109 Paare der Basen Adenin (A) und Thymidin (T) sowie Cytosin (C) und Guanin (G). Diese DNA ist in 46 fadenförmigen Molekülen angeordnet, die zwischen 50 und 250 Megabasen (Mb) lang sind. Diese DNA/Protein-Komplexe werden während der Zellteilung in kondensierter und verpackter Form als individuelle Chromosomen sichtbar. Die 46 Chromosomen einer diploiden humanen Zelle setzen sich aus 22 paarigen Autosomen sowie jeweils 2 Geschlechtschromosomen (XY beim Mann und XX bei der Frau) zusammen (Trask 2002). Die grundlegenden physikalischen und funktionellen Einheiten der Vererbung sind die Gene (Guttmacher et al. 2002; Hood et al. 2003; Pollack et al. 2002). Diese speziellen DNA-Abschnitte enthalten in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Information für die Produktion von Proteinen. Nach neuesten Erkenntnissen besteht das humane Genom aus 30.000–35.000 Genen, für deren Kodierung allerdings nur 2–3% der gesamten DNA benötigt werden. Ungefähr die Hälfte des nicht kodierenden Bereiches besteht aus verschiedenen Arten repetititver Sequenzen (Strachan 1992). Die Funktion des nicht-kodierenden Anteils des Genoms, der bisher meist als »junk DNA« apostrophiert wurde, ist zur Zeit noch nicht vollkommen geklärt (⊡ Abb. 42.3). Dieser Bereich spielt aber wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der chro-
⊡ Abb. 42.3. Struktur des humanen Genoms (Strackman 1992)
mosomalen Strukturierung und Verpackung des Genoms sowie bei der Regulation, wo, wann und in welcher Quantität Gene exprimiert werden (Hood et al. 2003; Jaenisch et al. 2003; Pollack et al. 2002). Auch die kodierenden Segmente (Exons) funktioneller Gensequenzen sind durch solche nicht-kodierende Abschnitte (Introns) unterbrochen. Die im primären Transkript der Ribonukleinsäure (RNA) noch vorhandenen Introns werden bei der Prozessierung zur Boten-RNA (messenger-RNA; mRNA) heraus gespleißt. Diese dient dann als Vorlage für die Proteinsynthese an den Ribosomen. Die funktionelle Vielfalt der Proteine wird anschließend noch durch Abwandlungen ihrer Tertiärstruktur sowie durch posttranlationelle Modifikationen in Form von Azetylierung, Phosphorylierung und Glykosylierung gewährleistet. Der größte Anteil des Genoms ist jedoch in jeder Zelle inaktiv, d. h. es wird jeweils nur jene genetische Information in Genprodukte umgesetzt, die für die Entwicklung, Differenzierung und Funktion der jeweiligen Zelle bzw. des entsprechenden Gewebes notwendig ist. 42.2.2 Sequenzvarianten, Mutationen
und Polymorphismen Die inter- und intraindividuelle Flexibilität und Plastizität des humanen Genoms ist nicht zuletzt auch auf eine Vielzahl von Normvarianten zurückzuführen, die sowohl auf der Ebene der DNA als auch auf der Ebene der Chromosomen existiert. Diese Normvarianten entstanden im Laufe der Evolution durch Mutation und Selektion. Definition Der Begriff Mutation bezeichnet dabei die Veränderung der genetischen Information einzelner Gene oder der Struktur oder der Anzahl von Chromosomen. Mit dem Ausdruck Polymorphismus werden Mutationen bezeichnet, die in einer Population mit einer Frequenz von zumindest 1% auftreten.
Praktisch alle bisher bekannten Gene weisen Polymorphismen auf. Wenn die Aminosäuresequenz durch eine Mutation
439 42 · Genetik und genetische Prädisposition
nicht beeinflusst wird oder eine Mutation in einem Intron vorliegt, bleibt das entsprechende Genprodukt funktionell wahrscheinlich unverändert. Anderenfalls modifiziert eine Mutation das Genprodukt, das dann weiterhin eine identische oder aber auch unterschiedliche Funktion haben kann. Mutationen können entweder »spontan« auftreten, sich auf Grund eines nicht reparierten Fehlers während der DNA Replikation manifestieren oder aber durch externe Faktoren, wie Chemikalien, Strahlung und Viren induziert werden. Wesentlich ist die Unterscheidung von Keimbahnmutationen, die in allen Körperzellen (inklusive der Keimzellen) vorhanden sind und daher auch weitervererbt werden können, und von erworbenen, somatischen Mutationen, die nur in bestimmten Körperzellen oder Geweben auftreten und daher nicht an die Nachkommen weiter gegeben werden. Erstaunlicherweise kann unter Umständen bereits der Austausch einer einzelnen Base in einem besonders vulnerablen Genbereich in oft vorhersagbarer Art und Weise zu einer tödlich verlaufenden Erkrankung prädisponieren oder diese direkt verursachen. Andererseits variieren jedoch bereits die »normalen« Gensequenzen verschiedener Individuen in einem sehr beträchtlichem Ausmaße, ohne dass dies einen offensichtlich erkennbaren direkten Einfluss auf deren normale Entwicklung hat. ! Die rasch zunehmenden Erkenntnisse über die Auswirkungen solcher DNA-Sequenzpolymorphismen und Genvarianten sowie der Interaktionen von Genen untereinander, aber auch mit Umweltfaktoren, führt dazu, dass die Grenze zwischen Normvarianten und krankheitsrelevanten Veränderungen zunehmend verschwimmt und daher der Krankheitsbegriff laufend neu definiert werden muss (Temple et al. 2001).
Unter den vielen DNA-Polymorphismen seien hier nur die im Zusammenhang mit der vorgegebenen Thematik 2 wichtigsten, die Mikrosatelliten und die Einzelnukleotidpolymorphismen, die so genannten »single nucleotid polymorphisms (SNP)«, herausgegriffen. Mikrosatelliten sind 1–4 Basenpaar lange, tandemartig angeordnete Nukleotidwiederholungen, die ca. 0,5% der gesamten DNA ausmachen und über das ganze Genom verstreut auftreten (Strachan 1992). Die Länge der meisten Mikrosatellitenbereiche variiert sehr stark, so dass man diese Polymorphismen zur molekulargenetischen Unterscheidung von Spender- und Empfängerzellen nach Knochenmarktransplantation verwendet. In der Tumordiagnostik werden diese DNA-Marker aber auch zum indirekten Nachweis eines fehlerhaften »DNA-mismatch« Reparatursystems verwendet, die v. a. ursächlich an der Entstehung von verschiedenen Formen sporadischer und familiärer solider Tumorerkrankungen des Erwachsenenalters beteiligt sind und im betroffenen Tumorgewebe zu einer Mikrosatelliteninstabilität, dem so genannten Mutatorphänotyp, führt (Hoeijmakers 2001; Loeb 2001; Wood et al. 2001). ! Die größte interindividuelle genetische und phänotypische Variabilität des humanen Genoms wird durch SNP verursacht. Diese Polymorphismen sind
damit auch der wichtigste genetische Faktor, der für die unterschiedliche Wahrscheinlichkeit bestimmte Erkrankungen zu erleiden, verantwortlich ist.
SNP spielen aber auch eine wichtige Rolle sowohl bei der Genkartierung als auch bei der Entschlüsselung der Funktion des humanen Genoms im Allgemeinen (Evans et al. 1999; Perera 1997; Relling et al. 2001; Roses 2000; Sachidanandam et al. 2001; Wang et al. 2001). Zur Zeit sind über 1,4 Millionen solcher SNP im humanen Genom bekannt und kartiert, so dass durchschnittlich alle 1,9 Kilobasen (kb) mit dem Auftreten einer solchen DNA-Variante zu rechnen ist. Ca. 60.000 davon sind in den kodierenden und untranslatierten Genregionen (Exons) lokalisiert und 85% aller SNP liegen nicht weiter als 5 kb vom nächsten Exon entfernt (Sachidanandam et al. 2001). Man nimmt an, dass wahrscheinlich 70% dieser SNP genetisch inert sind, die restlichen 30% aber direkt oder indirekt die Prädisposition und Entwicklung von vielen Erkrankungen wesentlich beeinflussen. ! Sequenzvarianten in Form von Polymorphismen und insbesondere SNP, die in den Genen von Enzymen, die Medikamente metabolisieren, sowie in Genen von Transportproteinen, Rezeptoren und anderen therapeutisch wichtigen zellulären Bestandteilen vorhanden sind, sind häufig für die unterschiedliche Wirksamkeit und Toxizität von Medikamenten mitverantwortlich.
Die Analyse dieser pharamakogenetisch wirksamen Genpolymorphismen spielt daher eine zunehmend wichtige Rolle, auch im Rahmen der Krebsbehandlung. Die Berücksichtigung solcher prädisponierender Faktoren bei der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten ist eine wichtige Voraussetzung um die entsprechenden Therapien den individuellen Bedürfnissen adäquat anpassen und damit insgesamt optimieren zu können (⊡ Abb. 42.1 und 42.2). 42.2.3 Intra- und interindividuelle Genomvarianten:
Klon, Mosaik und Chimäre Eine Gruppe von genetisch identischen Zellen, die von einer einzelnen Zelle abstammen, bezeichnet man als Klon. Mutationen sowie die Expansion der davon betroffenen Zellen und Zellpopulationen können in jedem Entwicklungsstadium eines Organismus auftreten. Je früher dies in der Embryonal- oder Organentwicklung passiert, desto größer ist der Anteil der jeweiligen Zellpopulation im fertig entwickelten Organismus bzw. Gewebe (Youssoufian et al. 2002). Ein Individuum, in dem eine solche Mutation de novo auftritt, besteht daher aus 2 unterscheidbaren Zellkompartments und wird als ein konstitutionelles Mosaik bezeichnet. Bei einem somatischen Mosaik sind die 2 unterschiedlichen Zelllinien auf verschiedene Gewebe, bei einem Gewebemosaik auf ein einzelnes Gewebe beschränkt. Obwohl somatische Mosaike prinzipiell keine Erbkrankheiten verursachen können, kommt ihnen dennoch ein wichtiger Stellenwert im Rahmen der Pathogenese von vielen Erkrankungen zu, deren prominentesten Beispiele sicherlich die Tumor- und Leukämieerkrankungen sind.
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440
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Bei einem konstitutionellen oder somatischen Mosaik können prinzipiell auch die Keimzellen betroffen sein, so dass bei einem solchen Keimzellmosaik sowohl mutierte als auch normale Keimzellen in einem gesunden, phänotypisch nicht betroffenen Individuum vorliegen. Keimzellmosaike sind nicht direkt nachweisbar. Sie sind aber wahrscheinlich die häufigste Ursache für das wiederholte Auftreten von Erbkrankheiten bei Kindern, die auf spezifischen Keimbahnmutationen zurückzuführen sind, ohne dass die korrespondierenden Mutationen bei den Eltern mit den üblichen genetischen Untersuchungen nachgewiesen werden können. Frauen repräsentieren eine ganz besonders interessante Form eines physiologischen konstitutionellen Mosaiks, da bei ihnen zum Zwecke der Gendosiskompensation in einem sehr frühen embryonalen Entwicklungsstadium in jeder Zelle jeweils eines der beiden X-Chromosomen nach dem Zufallsprinzip inaktiviert wird (Puck et al. 1998). Der überwiegende Anteil der auf dem von der Inaktivierung betroffenen X-Chromosom lokalisierten Gene wird dabei, u. a. durch Methylierung, praktisch irreversibel abgeschaltet, so dass an alle Nachkommen der jeweiligen Zelle ein identisches X-Inaktivierungsmuster weitergegeben wird. Mittels polymorpher Marker und adäquaten Methylierungs-sensitiven Nachweismethoden kann man nun dieses für die jeweilige Zellpopulation charakteristische Muster als klonalen Marker benutzen. Eine wesentliche Abweichung von einer normalerweise vorliegenden 50:50-Verteilung bezeichnet man als Skewing der X-Inaktivierung. Ein solches Skewing kann in sehr seltenen Fällen direkt genetisch determiniert sein. Wesentlich häufiger aber ist es Ausdruck einer klonalen Expansion einer Zellpopulation, die durch einen positiven oder negativen Selektionsdruck verursacht wird (Busque et al. 1996; Christensen et al. 2000; Gale RE et al. 1997; Gale et al. 1994; Parolini et al. 1998; Puck et al. 1998; Vickers et al. 2001). In der Onkologie dienen Klonalitätsuntersuchungen primär zur Differenzialdiagnose zwischen monoklonalen (meist, aber nicht immer bösartigen) und polyklonalen (meist, aber nicht immer gutartigen) Gewebe- und Zellhyperplasien bei hämatologischen Systemerkrankungen, Lymphomen und Tumoren sowie dem v. a. im Zusammenhang mit einer (minimalen) Resterkrankung wichtigen Nachweis eines residuellen neoplastischen Klons. Je nach Fragestellung und technischer Möglichkeit können für solche Untersuchungen Klonalitätsmarker auf verschiedenen genetischen Ebenen herangezogen werden, nämlich Chromosomen, DNA und deren Methylierung sowie RNA. Die unterschiedlichsten Karyotypanomalien können dabei mit den entsprechenden Sonden in Interphasekernen mittels Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) detektiert werden. Im epigenetischen Bereich wird v. a. die differenzielle Methylierung bestimmter Genbereiche in Tumor- und Normalgewebe sowie die differenziell inaktivierten methylierten Bereiche der X-Chromosomen ausgenutzt. Auf der DNAEbene stehen mutationsinduzierte Sequenzvarianten zur Verfügung . Dazu zählen z. B. Punktmutationen, Mikrosatellitenpolymorphismen, die Produkte der physiologischen Immunoglobulin(IG)- und T-Zellrezeptor(TCR)-Genumlagerungen sowie die Fusionsbereiche von neoplasiespezifi-
schen Gen-Rearrangements. Auf der RNA-Ebene werden aberrant exprimierte Genprodukte, insbesondere die Hybrid-RNA von Fusionsgenen verwendet. Vor allem im Zusammenhang mit dem Nachweis einer minimalen Resterkrankung ist jedoch zu beachten, dass die Sensitivität dieser Nachweismethoden meist sehr unterschiedlich ist, von vielen technischen und systemimmanenten Faktoren abhängt und daher auch von Untersuchung zu Untersuchung schwanken kann. Zusätzlich können im Rahmen der kontinuierlichen klonalen Evolution heterogene Subpopulationen entstehen, deren ursprünglich vorhandenen klonalen Merkmale verloren gehen oder sich so verändern, dass sie nicht mehr detektierbar sind. Nicht zuletzt muss auch beachtet werden, dass die exprimierte RNA-Menge nicht notwendigerweise mit der Zellzahl und damit den DNA-basierenden Ergebnissen korrelieren muss. Zum Verständnis, ob ein »normaler«, »benigner« oder »maligner« Klon vorliegt, ist es daher unbedingt notwendig zu wissen, welches genetisches Merkmal zu seiner Definition und Identifikation herangezogen wurde. Weiterhin sind für die Interpretation und den Vergleich von verschiedenen Klonalitätsuntersuchungen die richtige Beurteilung der Wertigkeit der entsprechenden Marker wichtig. Im Gegensatz zu den echten neoplasiespezifischen Markern, wie z. B. Chromosomenaberrationen, Mutationen und Fusionsgenprodukten, kommt den reinen Klonalitätsmarkern, wie z. B. der klonalen X-Inaktivierung und den bei lymphopoetischen Systemerkrankungen eingesetzten IG- und TCR-Gen-Rearrangements, ja per se keine spezifische Krankheitsbedeutung zu. Aufgrund dieser Prämissen verwundert es daher auch nicht, dass es bei der gleichzeitigen Anwendung verschiedener Nachweissysteme unter Umständen zu diskrepanten und eventuell auch widersprüchlichen Ergebnissen kommen kann. Cave Der Nachweis einer klonalen Proliferation mittels reinen Klonalitätsmarkern erlaubt keinen direkten Rückschluss auf die benigne oder maligne Ursache eines Klons.
Als Illustration dazu seien hier die biologisch eng verwandten monoklonalen Proliferationen von undifferenzierten hämatopoetischen Vorläuferzellen beim Morbus Down angeführt. Während das ausschließlich postpartal auftretende transiente myeloproliferative Syndrom (»transient myeloproliferative disorder«, TMD) spontan remittiert, handelt es sich bei den üblicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt auftretenden myelodysplastischen Syndromen (MDS) und akuten myeloischen Leukämien (AML) um echte, progrediente Neoplasmen. Nichtsdestoweniger existieren zur Zeit keine wie immer gearteten klonalen Marker, die eine eindeutige Differenzierung dieser Zustände erlauben (Groet et al. 2003; Rainis et al. 2003; Wechsler et al. 2002). Auch bei den IG- und TCR-Gen-Rearrangements, die bei lymphoblastischen Leukämien zum Nachweis des spezifischen neoplastischen Klons im Rahmen der Diagnostik und zur Therapieüberwachung sehr erfolgreich eingesetzt werden, handelt es sich um keine neoplasiespezifischen Marker. Solche nicht funktionellen Gen-Rearrangements spiegeln
441 42 · Genetik und genetische Prädisposition
primär das Entwicklungsstadium wider, in dem die leukämische Ursprungszelle immortalisiert bzw. transformiert wurde und in dem die physiologischer Weise, im Rahmen der B- oder T-Zellreifung stattfindende Genumlagerung blockiert und damit fixiert wurde. Solche Klonalitätsmarker haben allerdings den wesentlichen Vorteil, dass sie in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der lymphoblatischen Leukämien unabhängig von neoplasiespezifischen Markern existieren, als DNA-Marker mehr oder minder stabil sind und auch in relativ gut standardisierbarer Form eingesetzt werden können. In den letzten Jahren konnten mittels solcher Klonalitätsanalysen bei Zwillings- und Drillingsleukämien sowie durch den retrospektiven Nachweis des neoplastischen Klons in den auf Guthrie-Karten konservierten postpartal abgenommenen Blutproben von Kindern mit Leukämien gezeigt werden, dass die ersten Schritte der Transformation bei einem nicht unbeträchtlichen Anteil dieser Fälle bereits in einer sehr frühen Phase der Embryonalentwicklung stattfinden (Fasching et al. 2001; Gale KB et al. 1997; Greaves 1997, 1999; Mori et al. 2002; Panzer-Grümayer et al. 2002; Wasserman et al. 1992; Wiemels et al. 1999). In welcher zeitlichen Abfolge die verschiedenen Transformationsereignisse auftreten, kann sehr elegant mittels Vergleichs der unterschiedlichen Klonalitätsmarker untersucht werden (Weston et al. 2001). Kein anderes natürliches Modell ist daher für die Aufklärung der an der Leukämieentstehung beteiligten Faktoren besser geeignet als die akute lymphoblastischen Leukämie (ALL) des Kindesalters. Die Beschäftigung mit den Konzepten der Klonalität und der Mosaike ist nicht nur rein von akademischem oder philosophischem Interesse. Sie ist essenziell für das Verständnis der Pathogenese von Krebserkrankungen im Allgemeinen und kann unter Umständen auch sehr praktische Konsequenzen im Zusammenhang mit der Interpretation von Forschungs- und Untersuchungsergebnissen haben (Haas et al. 1993). Einen wichtigen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang auch die Analyse und Erforschung der biologischen Relevanz von »personenübergreifenden« interindividuellen Klonen und Mosaiken, in Form von Chimären, gewonnen. Ein physiologischer Chimärismus tritt im Rahmen von Schwangerschaften zwischen Feten und Müttern auf und kann in diesem Zusammenhang unter Umständen auch zu einem späteren Zeitpunkt sehr spezifische Krankheitsbilder hervorrufen (Bianchi 2000; Bonney et al. 1997). Persistierende Fremdzellen können sowohl bei den Müttern als auch bei immundefizienten Kindern evtl. zu Krankheitsbildern führen, die als Autimmunerkrankungen imponieren oder der nach Knochenmarktransplantationen (KMT) auftretenden Spender gegen Empfänger Reaktion, der »graft versus host disease (GVHD)«, ähneln (Bianchi 2000; Bonney et al. 1997). Zumindest ebenso interessant ist aber auch die bereits erwähnte Möglichkeit der intrauterinen Übertragung eines prämalignen Klons von einem Zwilling bzw. Drilling auf den anderen, die dann postpartal zur klonalen Expansion und der Manifestation von simultanen oder konsekutiven Leukämien in beiden Zwillingen führen kann (Ford et al. 1993, 1997, 1998; Gill Super et al. 1994; Maia et al. 2001). Nicht zuletzt muss in diesem Rahmen auch der iatrogen produzierte Chimärismus, der bei Organ- und Knochenmarktransplantationen generiert wird, erwähnt werden. Die pa-
thophysiologischen Konsequenzen der Vermischung von immunologisch mehr oder weniger kompatiblen Spenderund Empfängerzellen sowie jene, die sich aus den nachfolgenden therapeutischen Maßnahmen ergeben, führen zu einer dynamischen zellkompartmentspezifischen Expansion, Fluktuation und Umverteilung von Spender- und Empfängerzellen. Die Untersuchung solcher Vorgänge ist in der Zwischenzeit ein sehr weit reichendes Aufgabengebiet der zytound molekulargenetischen Diagnostik und Forschung geworden. Primär leisten diese Untersuchungen dabei einen wichtigen Beitrag zur Steuerung der tumorspezifischen als auch der immunmodulierenden Therapie. Die Interpretation von außergewöhnlichen Ergebnissen solcher Klonalitätsuntersuchungen kann unter Umständen eine sehr große intellektuelle Herausforderung darstellen, deren Lösungen aber vielfach zu neuen, spektakulären Einsichten verhelfen. Als abschließendes Beispiel seien daher in diesem Zusammenhang jene Mosaikformen erwähnt, die bei der Fanconi-Anämie gefunden werden können. Dieses heterozygot vererbte Fehlbildungs- und DNA-Reparaturdefizienzsyndrom ist auf Mutationen in zumindest 11 verschiedenen Genen zurückzuführen, die maßgeblich an der Aufrechterhaltung der Stabilität unseres Genoms beteiligt sind (D’Andrea et al. 2003; Joenje et al. 2001). Bi- und polyfunktionelle Alkylanzien verursachen DNA-Interstrangvernetzungen, die die betroffenen Zellen nicht mehr reparieren können und dadurch die charakteristischen und diagnostisch wichtigen Chromosomenbrüche und Austauschfiguren produzieren (D’Andrea et al. 2003; Joenje et al. 2001). Interessanterweise findet man neben chromosomal abnormalen Lymphozyten aber auch solche mit nicht geschädigten, normalen Chromosomen. Detaillierte molekulargenetische Untersuchungen von Fällen mit 2 unterschiedlichen Mutationen, sogenannte kombinierte Heterozygote, haben nun ergeben, dass eine funktionell normale Zellpopulation durch Rückmutationen generiert werden kann. Dabei wird der entsprechende Gendefekt in einem mutierten Allel durch intragenische mitotische Rekombination oder Genkonversion eliminiert. Die klonale Expansion einer solchen korrigierten, nunmehr monoallelisch heterozygoten, undifferenzierten Vorläuferzelle kann dann eventuell zu einer Normalisierung des Blutbildes und auch zu kompletten spontanen hämatologischen Remissionen führen (Gregory et al. 2001; Lo Ten Foe et al. 1997; Waisfisz et al. 1999). 42.2.4 Telomere und Telomerase Definition Die Enden von Chromosomen werden von besonderen Strukturen, den Telomeren, begrenzt. Sie bestehen beim Menschen aus ca. 2000 Kopien der Hexamersequenz TTAGGG.
In normalen somatischen Zellen verkürzen sich die Telomere bei jeder Zellteilung. Sie repräsentieren somit ein Zählwerk, das die Anzahl der möglichen Zellteilungen begrenzt. Normale Zellen stellen daher bei einer kritischen Telomerlänge das Wachstum ein und altern, bzw. sterben ab. In Tumorzellen wird aber ein Enzym, die Telomerase, reaktiviert,
42
442
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
das normalerweise nur in Keimzellen (und in geringerem Maße auch in Stammzellen) aktiv ist. Dieses Enzym synthetisiert laufend Telomersequenzen nach, wirkt dadurch der Verkürzung der Telomere entgegen und verhindert damit das Absterben der Zellen. Eine entsprechende Telomerdysfunktion trägt zusammen mit einem defekten DNA-Reparatursystem wesentlich zur chromosomalen Instabilität bei (Maser et al. 2002). Da über 85% aller menschlichen Tumoren eine Telomeraseaktivität aufweisen, findet dieses Enzym auch als Tumormarker Verwendung. Nicht zuletzt versucht man auch telomerasespezifische Hemmstoffe therapeutisch einzusetzen. 42.2.5 DNA-Integrität und -Reparatur Die DNA ist ein hochgradig thermoinstabiles Molekül, dessen Integrität zusätzlich noch durch eine Vielzahl exogener und endogener Faktoren permanent gefährdet ist. Zu den exogenen Noxen zählen eine Vielzahl von Chemikalien, ionisierende Strahlen und das UV-Licht. Endogene Schädigungen können durch Produkte, die im Rahmen des Zellmetabolismus entstehen, der unvermeidbaren Freisetzung von reaktiven Sauerstoffmolekülen während der Zellatmung und einer fehlerhaften DNA-Replikation hervorgerufen werden. Alle diese Faktoren führen dazu, dass in jeder Körperzelle pro Tag durchschnittlich 12.000 Purinbasen und 600 Pyrimidinbasen verloren gehen, etwa 200 Cytosinbasen desaminiert werden und bis zu 55.000 Einzelstrangbrüche, 9 Doppelstrangbrüche und acht Quervernetzungen auftreten (Kalb et al. 2002). Zur Sicherung der Stabilität und Integrität des Genoms ist daher ein hocheffizientes Überwachungs-, Schutz- und Reparatursystem notwendig, das spontane und induzierte DNA-Schäden erkennt, entfernt, ggf. repariert und während der dafür notwendigen Zeit die betroffene Zelle auch an der Proliferation und Teilung hindert (Anderson et al. 2001; Breivik 2001; Friedberg 2003; Futaki et al. 2001; Hoeijmakers 2001; Levitt et al. 2002; Prolla 1998; Schar 2001; Wood et al. 2001). Gelingt die Reparatur nicht, wird die geschädigte Zelle entweder durch Apoptose unschädlich gemacht oder die Fehler manifestieren sich in Form von Mutationen und werden dann an die Tochterzellen weitergegeben. Keimbahnmutationen in den Reparaturenzymgenen selbst verursachen daher eine Vielzahl von Tumorprädispositions- und Chromosomenbruchsyndromen. In Form von somatischen Störungen kommt ihnen aber auch eine wesentlich allgemeinere
⊡ Tabelle 42.1. Anzahl der derzeit bekannten Gene, die zur Aufrechterhaltung der Genomintegrität und DNA-Reparatur beitragen (Anderson et al. 2001)
Verantwortliche Genfamilie
Anzahl der Gene
DNA-Reparatur
247
DNA-Replikation
233
Chromosomensegregation
423
Zellzykluskontrolle
49
Andere (Nukleasen, Rekombinasen)
52
Rolle bei der Initiation und Progression von Tumorerkrankungen zu. Zur Zeit sind bereits über 1000 Gene und deren Produkte bekannt, die an der Aufrechterhaltung der Genomintegrität und DNA-Reparatur beteiligt sind (⊡ Tabelle 42.1). Die 4 wichtigsten Klassen der DNA-Reparaturenzyme sind für die »nucleotid excision repair (NER)«, »base excision repair (BER)«, »mismatch repair« und »recombinational repair« zuständig. 42.2.6 Epigenetische Phänomene und Imprinting Definition Der Begriff Epigenetik fasst jene potenziell vererbbaren, DNA-Sequenz unabhängigen Steuermechanismen der Genexpression zusammen, die für die flexible Umsetzung der DNA-kodierten Information in die entsprechenden zell- und gewebespezifischen Genaktivitätsmuster verantwortlich sind.
Wesentliche daran beteiligte Faktoren sind die Methylierung und Azetylierung der DNA und der sie umhüllenden Histonproteine. Dadurch werden in einem dynamischen Prozess permissive und repressive Chromatinstrukturen generiert, die die Bindung von Regulatoren der Transkription ermöglichen oder behindern (Felsenfeld et al. 2003; Jaenisch et al. 2003). Diese epigenetische Kontrolle der Genexpression spielt eine sehr wichtige Rolle bei der normalen Entwicklung von Zellen, Organen und Organismen und hat daher sowohl in der Human- als auch in der Tumorgenetik in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen (Baylin et al. 2002; Jaenisch et al. 2003; Jones et al. 2002; Jones et al. 1999; Pfeifer 2000; Plass et al. 2002; Ponder 2001; Singal et al. 1999). Epigenetische Merkmale können im Rahmen der Zellteilung als DNA-Sequenz-unabhängiges zelluläres »Gedächtnis« von Zelle zu Zelle weitergegeben werden. Damit wird garantiert, dass auch die Informationen über das Genaktivitätsmuster der Ursprungszelle auf die Tochterzellen übertragen wird. Epigenetische Merkmale können aber auch über die Keimzellen von Eltern an ihre Nachkommen vererbt werden. Das klassische Modell einer solchen epigenetischen Vererbung ist das Phänomen der Prägung (Imprinting) bestimmter Gene, das dazu führt, das nur die väterliche oder mütterliche Kopie eines Gens Verwendung findet (Pfeifer 2000). Von praktischer Relevanz ist dabei, dass das resultierende Vererbungsmuster sich von jenen unterscheidet, die von den Mendel-Gesetzen her bekannt sind. Imprinting-Defekte stören v. a. die Embryonalentwicklung und führen unter anderem zu Wachstumsanomalien in den betroffenen Geweben oder Individuen in Form von Hypound Hypertrophien (Haas 1996). Das bekannteste Beispiel eines auf heterogene Defekte unterschiedlicher, aber miteinander interagierender geprägter Gene zurückzuführenden Tumorprädispositionssyndrom ist das Beckwith-Wiedemann Syndrom (Bliek et al. 2001; DeBaun et al. 2002; Li et al. 1997; Steenman et al. 2000; Weksberg et al. 2001). Obwohl vererbbare epigenetische Störungen, so genannte Paramutationen, die DNA-Sequenz selbst nicht verändern,
443 42 · Genetik und genetische Prädisposition
entsprechen ihre Auswirkungen dennoch oft jenen von »echten« DNA-Mutationen. Einer der wesentlichen dabei involvierten Faktoren ist die Methylierung der DNA einzelner Gen- oder Chromosomenabschnitte (Baylin et al. 2002; Jaenisch et al. 2003; Jones et al. 2002; Jones et al. 1999; Pfeifer 2000; Plass et al. 2002; Ponder 2001; Singal et al. 1999). Die Methylierungsdichte moduliert dabei u. a. die Aktivität der Regulatorelemente (Promotoren) von Genen. Störungen der DNA-Methylierung destabilisieren das komplexe Zusammenspiel verschiedener Gene und verursachen so in den betroffenen Zellen massive Änderungen der physiologischen Genaktivität. Aus den bisherigen Darstellungen wird daher auch verständlich, warum Stoffe, die die DNA-Methylierung beeinflussen, krebsinduzierend (karzinogen) wirken können, ohne selbst jedoch direkt genotoxisch wirken zu müssen. Tatsächlich findet man lokale Anomalien des Methylierungsmusters bereits häufig in einem sehr frühen Stadium der Tumorentwicklung und sie nehmen auch im Rahmen der Tumorprogression weiter zu. Es handelt sich dabei meist um eine generelle Hypomethylierung der DNA, die zu einer globalen Deregulation der Genexpression führt. Daneben wird aber auch eine meist genspezifische, regionale Hypermethylierung und eine allgemein erhöhte Aktivität der für die DNA-Methylierung verantwortlichen Enzyme, der Methyltransferasen, gefunden. Interessanterweise gehen solche hypermethylierte Abschnitte in einem weiter fortgeschrittenen Stadium der Tumorentwicklung häufig verloren oder sind zumindest in komplexen Gen- und Chromosomen-Rearrangements verwickelt. 42.3
Genetische Untersuchungsmethoden
! Das Genom kann mit 2 prinzipiell unterschiedlichen, jedoch komplementären Ansätzen untersucht werden, nämlich morphologisch mittels mikroskopischen und chemisch mittels molekulargenetischen Methoden.
Zu den morphologischen Techniken zählen alle Varianten der konventionellen licht- und fluoreszensmikroskopischen Zytogenetik sowie alle molekularzytogenetischen Methoden der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH). Praktisch alle wesentlichen Erkenntnisse über die Art sowie die biologische, prognostische und klinische Relevanz von Neoplasie-assoziierten genetischen Veränderungen leiten sich primär von den Befunden und Ergebnissen zytogenetischer Untersuchungen ab. Diese haben einerseits den Nachteil, dass von nur wenigen Beobachtungen auf Einzelzellniveau generelle Schlüsse abgeleitet werden. Andererseits kann man aber mit keiner anderen Labormethode einen besseren primären globalen Überblick über die vielfältigen möglichen genetischen Störungen erhalten und Hinweise auf deren Ursache gewinnen (Dal Cin et al. 1997; Mertens et al. 1994; Mitelman et al. 1997; Trask 2002). Die Verschmelzung von molekularen und zytogenetischen Techniken Mitte der 80er-Jahre in Form innovativer FISH-Methoden bedeutete einen revolutionären Durchbruch in der morphologischen Analytik des Genoms (⊡ Abb. 42.4; Kearney 1999; Raimondi 2000; Tönnies 2002; Trask 2002). Gegenüber der konventionellen Zytogenetik
haben FISH-Methoden den Vorteil eines wesentlich besseren Auflösungsvermögens. Insbesondere können sie aber auch für Untersuchungen in der Interphase und im Zytoplasma herangezogen und sogar auf isolierter DNA und RNA angewandt werden. Ihr Auflösungsvermögen und ihre Sensitivität erreichen dabei z. T. jene von rein molekulargenetischen Verfahren, wobei im Gegensatz zu diesen jedoch in der Regel der wichtige topologische Kontext bei der Analyse erhalten bleibt. Bei allen molekulargenetischen Untersuchungsverfahren handelt es sich um eine chemische Analyse des genetischen Materials mit dem Ziel, Informationen über die Reihenfolge der Basen (Nukleotidsequenz) kurzer DNA-Abschnitte zu gewinnen um diese dann mit einer bekannten »normalen« Referenzsequenz zu vergleichen (Guttmacher et al. 2002; Hood et al. 2003). Die Vielzahl der Methoden beruhen auf nur wenigen Prinzipien, die allerdings je nach Fragestellung technisch und logistisch hoch kompliziert variiert werden können. Die Auswahl der Untersuchungsmethode hängt nun wesentlich von der entsprechenden Fragestellung ab. Man muss dabei aber immer einen Kompromiss zwischen dem Aufwand (Arbeitszeit, Material, und Kosten) und der Wahrscheinlichkeit, alle potenziellen Sequenzvarianten (Polymorphismen) und Mutationen in der untersuchten DNA-Region eindeutig identifizieren zu können, eingehen. Den weitaus größten Stellenwert in der molekulargenetischen Diagnostik haben heutzutage die vielfältigen Varianten der PolymeraseKettenreaktion (PCR)-Technik, mit der man auch sehr kleine Mengen spezifischer DNA- und RNA-Abschnitte in kurzer Zeit soweit vervielfältigen kann, dass sie einer weiteren Analyse mittels elektrophoretischer Auftrennung, Hybridisierung oder Sequenzierung wesentlich besser zugänglich werden. Die Loslösung der DNA- und RNA-basierenden FISHMethoden von ihrem nukleären und zellulären topologischen Kontext, die Verfeinerung der Hybridisierungstechniken, die expandierenden Möglichkeiten der Computeranalytik sowie nicht zuletzt auch die aus dem Genomprojekt gewonnen Erkenntnisse über die humane DNA-Sequenz wurden in den letzten Jahren in die Entwicklung von Microarray- oder Chip-Verfahren umgesetzt. Damit können gleichzeitig bis zu mehrere 10.000 Oligonukleotid- oder andere DNA-Sequenzen im Hinblick auf mögliche Sequenz- oder Expressionsunterschiede, aber auch auf genomische Imbalancen hin untersucht werden (⊡ Abb. 42.5; The chipping forecast 2002). Auf der DNA-Ebene können damit mittels der Matrix-CGH (»comparative genome hybridization«) Gewinne oder Verluste des genetischen Materials hochpräzise detektiert und kartiert werden sowie auf der RNA-Ebene mittels dem »gene expression profiling« die Genexpressionsmuster verschiedener normaler und pathologischer Gewebe definiert und verglichen werden (Cheung et al. 2002; Chung et al. 2002; Ferrando et al. 2002; Liotta et al. 2000; Lockhart et al. 2000; Pollack et al. 2002; Yeoh et al. 2002). ! Bei der Anwendung und Interpretation der »verführerischen und manches Mal auch demoralisierenden« Microarray-Untersuchungsverfahren sollte man nie Durchsatz mit Ertrag und Daten mit Wissen gleichsetzen bzw. verwechseln (Duyk 2002).
42
444
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
III
⊡ Abb. 42.4. Beispiele für die Möglichkeiten, mittels unterschiedlicher FISH-Techniken die bei einer akuten lymphoblastischen Leukämie entdeckten komplexen Karotypanomalien näher zu charakterisieren. In einem Klon wurden bei der zytogenetischen Analyse 47 Chromosomen und 2 unterschiedlich große Ringchromosomen entdeckt (A, B und D), während in einem zweiten Klon mit 46 Chromosomen neben einem Ringchromosom 21 ein langes Markerchromosom 13 vorhanden war (C und E). Mittels 24 Farben FISH konnte nachgewiesen werden, dass sowohl alle 3 Ringchromosomen als auch das zusätzliche Material am Chromosom 13 ausschließlich vom Chromosom 21 ab-
⊡ Abb. 42.5. Microarray-Untersuchungen ermöglichen eine simultane genomweite Analyse der genetischen Variabilität, sowohl auf DNAals auch auf RNA-Ebene. Sie tragen damit wesentlich zum besseren Verständnis der genetischen Grundlagen von komplexen Veranlagungen und neoplastischen Krankheiten bei (Cheung et al. 2002)
stammen (A und C) und daher, trotz der zytogenetisch komplett unterschiedlichen Muster beide Klone mit großer Wahrscheinlichkeit auseinander hervorgegangen sind. Mittels genregionspezifischen Sonden (ETV6 in grün auf 12p und AML1 in rot auf 21q) konnte dann gezeigt werden, dass in beiden Klonen zwar die AML1-Genregion amplifiziert war, daneben aber auch noch andere Bereiche des Chromosoms 21 mitbeteiligt waren. Auch in Interphasekerne konnten mittels dieser Sondenkombination das pathologische Karyotypmuster eindeutig identifiziert werden (F)
445 42 · Genetik und genetische Prädisposition
42.4
Art, Funktion und Konsequenz von Genom-, Chromosomund Genmutationen
Die mit der neoplastischen Transformation einhergehenden DNA- und Gendefekte sowie die assoziierten Destabilisierungs- und Selektionsprozesse gehen mit einer auf das neoplastische Gewebe beschränkten Umstrukturierung des Genoms einher, die sich auf morphologischer Ebene in Form von zytogenetisch erkennbaren Karyotypanomalien manifestiert. Interessanterweise existieren keine Neoplasie assoziierten Anomalien, die auch konstitutionell vorkommen. Prinzipiell kann man zwischen einfachen, krankheitsspezifischen Gen-Rearrangements und sehr komplexen, relativ unspezifischen balancierten und unbalancierten Chromosomen-Rearrangements unterscheiden. Erstere treten überwiegend bei Leukämien, Lymphomen und mesenchymalen Tumoren, wie z. B. Sarkomen in Erscheinung und sind bei Neoplasmen epithelialen Ursprungs sehr selten. Umgekehrt findet man bei den meisten epithelialen Neoplasmen überwiegend den zweiten Typ, der wiederum bei Leukämien, Lymphomen und mesenchymalen Tumoren sehr selten ist. Primäre, krankheitsspezifische Veränderungen sind definitionsgemäß ausschließlich reziproke Chromosomenanomalien. Sekundäre Anomalien, können entweder bereits bei Diagnosestellung zusätzlich vorhanden sein oder erst im Verlauf der Krankheit auftreten. Sie bestehen überwiegend aus unbalancierten Veränderungen. Primäre Anomalien werden insbesondere durch Umweltfaktoren induziert, wohingegen die Art der sekundären Veränderungen eher durch konstitutionellen Faktoren determiniert werden. Auch die sekundären Anomalien sind nicht zufällig verteilt, sondern korrelieren eng mit der jeweiligen zugrunde liegenden spezifischen primären Anomalie. Eine klonale Evolution kann zu sehr komplexen Karyotypveränderungen führen. In solchen Fällen ist dann die Identifizierung der primären, krankheitsspezifischen Chromosomenanomalie besonders schwierig.
! Aufgrund ihrer genetischen Besonderheiten, Funktionen und Auswirkungen wurden die bei der Kanzerogenese involvierten Gene in 3 Klassen eingeteilt, die entweder für die positive (Proto-Onkogene) oder die negative (Tumorsuppressorgene) Regulation der Zellteilung oder aber für die Überwachung des korrekten Ablaufs der DNA-Synthese und -Reparatur (Mutatorgene) verantwortlich sind (⊡ Tabelle 42.2). Proto-Onkogene. Das sind jene Gene, die das normale Zellwachstum und die Zelldifferenzierung positiv beeinflussen. Bereits durch Mutationen eines Allels, wie z. B. einer Basensubstitution, Translokation oder Amplifikation, werden sie zu dominant agierenden Onkogenen. Die dadurch verursachte Hyperaktivität führt zu einem unangepassten Wachstumsverhalten und auch Störung der physiologischen Zelldifferenzierung. Tumorsuppressorgene. Sie hemmen das Zellwachstum. Damit die Zelle die Wachstumskontrolle verliert, müssen beide Allele eines Gens inaktiviert werden. Eine solche Schädigung kann durch Genmutationen, Deletionen oder Verlust ganzer Chromosomen oder der entsprechenden Chromosomenund Genregionen verursacht sein oder aber auch durch Hypermethylierung zur Inaktivierung führen. Der erste genetische Defekt kann bereits ererbt und daher in allen Körperzellen vorhanden sein. Es kommt dadurch zu einer genetisch bedingten familiären Tumorprädisposition. Sekundäre Mutationen des zweiten Allels, die im Laufe des Lebens in somatischen Zellen auftreten, bedingen dann meist spezifische Formen von Tumoren. Liegt keine prädisponierende konstitutionelle Mutation vor, müssen beide homologen Allele durch somatische Mutationen geschädigt werden, um ähnliche Auswirkungen zu zeigen. Mutatorgene. Die Ausschaltung von »Mismatch«-Reparatu-
renzymen, die auch als Mutatorgene bezeichnet werden, verhalten sich genetisch gesehen wie Tumorsuppressorgene. Sie verursachen zwar genomweite Störungen, v. a. in repetitiven
⊡ Tabelle 42.2. Charakteristika von Genen, die in der Pathogenese von Tumorerkrankungen eine wesentliche Rolle spielen
Eigenschaft
Proto-Onkogene
Tumorsuppressorgene
Mutatorgene
Anzahl der zur malignen Entartung notwendigen Mutationen
1 (dominant)
2 (rezessiv)
2 (rezessiv)
Funktionsverlust
Funktion des mutierten Allels
Funktionszunahme
Funktionsverlust
Ursprung der Mutation
Somatisch*
Vererbt oder somatisch
Vererbt oder somatisch
Funktion des Genproduktes
Teil des Signalübertragungsweges
Negative Regulation der Zellteilung
Überwachung des DNA-Replikationsprozesses
Beispiele
Wachstumshormone Rezeptoren G-Proteine Proteinkinasen Transkriptionfaktoren Zykline
Transkriptionsfaktoren und Proteine, die Transkriptionsfaktoren und Proto-Onkogene steuern
Reparaturenzyme, die Fehler der DNA-Replikation beseitigen
* nur in sehr seltenen Fällen auch vererbt.
42
446
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
DNA-Sequenzen, jedoch erstaunlicherweise praktisch keine Chromosomenanomalien. Balancierte Veränderungen, wie reziproke Translokationen und Inversionen, führen entweder zur Fusion oder Deregulation von Genen. Bisher wurden die Bruchpunkte von über 200 solcher Chromosomen-Rearrangements kloniert, die daran beteiligten Gene mit molekulargenetischen Methoden identifiziert und z. T. auch im Detail charakterisiert. Genfusion. Im Falle einer Genfusion kommt es zur Produktion einer hybriden RNA und in der Folge in der Mehrzahl der Fälle auch eines chimären Proteins, das gegenüber den physiologischen Ausgangsprodukten veränderte Eigenschaften aufweist und ursächlich zur neoplastischen Transformation beiträgt. Die typischen und bekanntesten Beispiele für diese Art von Translokationen bei kindlichen Leukämien sind die t(9;22), t(4;11), t(12;21) und die t(1;19), die mit einer BCR/ABL-, MLL/AF4-, TEL/AML1- bzw. E2A/PBX-Genfusion einhergehen. Solche Fusionsprodukte sind sowohl auf der DNA-Ebene mit FISH als auch auf dem mRNA-Niveau mittels »Reverser-Transkriptase-PCR« (RT-PCR) nachzuweisen. Genderegulation. Bei der zweiten Art von Translokation
wird das Proto-Onkogen in die Nähe regulatorischer Einheiten eines anderen Gens verlagert und verursacht dadurch dessen dauernde unphysiologische Aktivierung. Ein typisches Beispiel für diesen überwiegend mit IG- und TCR-Genen assoziierten Translokationen ist die t(8;14) des BurkittLymphoms. Dabei wird das MYC-Proto-Onkogen vom Chromosom 8 auf das Chromosom 14 vor das Gen der schweren Kette des IG verlagert und durch IG-spezifische EnhancerSequenzen hoch reguliert. Diese Art von Translokationen sind mit FISH nur teilweise und mit PCR praktisch nicht detektierbar. Quantitative Karyotypanomalien. Bei den quantitativen Karyotypanomalien findet man Zugewinn und Verlust von Chromosomenmaterial. Die pathogenetische Rolle von numerischen Chromosomenanomalien und Isochromosomen ist noch völlig unklar. Genamplifikationen können intrachromosomal in Form von »homogeneous staining regions« (HSR) oder extrachromosomal in Form von »double minutes« (DM) vorliegen. Der Prototyp für diese Veränderungen bei Tumoren im Kindes- und Jugendalter ist die Amplifikation des NMYC-Gens bei Neuroblastomen. Die Multiplikation entweder eines einzelnen Proto-Onkogens oder aber eines Chromosomenabschnitts führt zu einer vermehrten Expression und Produktion von Proteinen, die von in der amplifizierten Region gelegenen Genen kodiert werden (Schwab 1998). Der Verlust einzelner Chromosomen oder bestimmter Chromosomenabschnitte impliziert, dass in diesen Regionen pathogenetisch relevante Tumorsuppressorgene lokalisiert sind. Die Größe dieser Deletionen sind von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Man nimmt daher an, dass das für die Tumor- oder Leukämieentwicklung relevante Gen im kleinsten gemeinsam deletierten Bereich lokalisiert sein muss. Interessanterweise ist es jedoch bei Leukämien bisher trotz intensiver Suche noch nicht gelungen, in solchen Deletionsbereichen Gene zu identifizieren, die tatsächlich bi-allelisch inaktiviert sind. Alternative Hypothesen schlagen daher unter anderem vor, dass für die funktionelle Deregulation eine
durch die Deletion bedingte Haploinsuffizienz völlig ausreicht (Fodde u. Smits 2002). 42.5
Genetische Prädisposition
Die Unterscheidung zwischen genetisch determinierter Erkrankung, umweltbedingter Ursache und zufälliger familiärer Häufung ist in der Praxis nicht immer einfach. Nicht zuletzt auch deswegen, weil meist wenig Bedacht auf eine adäquate Familienanamnese gelegt wird und das Wissen über die vielfältigen Formen der familiären Tumorprädisposition noch relativ wenig verbreitet ist. Da aber gerade in betroffenen Familien oftmals ein effektives Screening mit spezifischer Beratung sowie entsprechender Prävention möglich ist, muss sich auch der pädiatrische Onkologe zunehmend mit dieser Materie auseinander setzen. ! Genetische Prädispositionsfaktoren umfassen Chromosomenanomalien, Gen- und Chromosomendefekte, die nach den Mendel-Gesetzen – autosomal-dominant, autosomal-rezessiv und X-chromosomal gebunden – vererbt werden, sowie solche, die nicht diesen Gesetzen folgen. Letztere schließen Erkrankungen mit ein, die auf Störungen in diversen geprägten Genen und in der mitochondrialen DNA zurückzuführen sind.
Bisher sind mehr als 600 genetische Faktoren bekannt, die zur Entwicklung neoplastischer Erkrankungen prädisponieren. Sie inkludieren neben den seltenen, aber hoch penetranten dominanten Mutationen, auch wesentlich häufiger vorkommende genetische Polymorphismen, die die individuelle Gefährdung gegenüber Umweltfaktoren stark beeinflussen können (Perera 1997; Woo et al. 2000). Neben ethnisch bedingten Merkmalen tragen aber auch noch Faktoren wie Alter, Geschlecht und Lebensstil wesentlich zu einer individuell unterschiedlichen Anfälligkeit bei. Anders als Erwachsene sind Säuglinge und Kleinkinder aufgrund ihrer sehr frühen und ungleichen Art der Exposition sowie ihrer physiologischen Unreife und erhöhten Zellproliferationsrate während der Embryonalentwicklung besonders anfällig gegenüber spezifischen Mutagenen und Karzinogenen, da sie relativ zu ihrem Körpergewicht wesentlich mehr Nahrung, Wasser und Luft, und damit auch die darin enthaltenen toxischen Substanzen zu sich nehmen. Die noch nicht voll entwickelten zellulären Detoxifikations- und Reparatursysteme während dieser Entwicklungsphase tragen zusätzlich zu einer erhöhten Retentionsrate solcher Substanzen bei (Perera 1997). 42.5.1 Konstitutionelle Chromosomenanomalien Die weitaus bekannteste konstitutionelle Chromosomenanomalie, die v. a. zur Manifestation von Leukämien in einem sehr frühen Lebensalter prädisponiert, ist sicherlich die Trisomie 21 (Hasle 2001). Nachdem lange Zeit der dafür verantwortliche Gendefekt am Chromosom 21 selbst vermutet wurde, konnte erst vor kurzem gezeigt werden, dass Mutationen im GATA1-Gen, das allerdings am X-Chromosom lokalisiert ist, an der Entstehung von zumindest der häufigsten Leukä-
447 42 · Genetik und genetische Prädisposition
mieform, der Megakaryozytenleukämie, wesentlich mitbeteiligt sind (Wechsler et al. 2002). Identische Mutationen wurden in der Folge jedoch auch bei der selbst limitierenden leukämoiden Reaktion, dem transienten myeloproliferativen Syndrom (TMD), gefunden. Man nimmt daher an, dass solche Mutationen die normale Zelldifferenzierung blockieren, aber nicht direkt für die maligne Transformation verantwortlich sind (Groet et al. 2003; Rainis et al. 2003; Wechsler et al. 2002). Inwieweit und in welchem Ausmaße die häufig bei myeloproliferativen und myelodysplastischen Syndromen vorhandene Trisomie 8 evtl. auch nur ein präexistentes konstitutionelles Mosaik repräsentiert und daher nicht notwendigerweise einen für die Neoplasie spezifischen Marker darstellt, ist schwierig zu untersuchen; der tatsächliche Beweis ist bisher auch nur in wenigen Einzelfällen gelungen (Haas et al. 1993; Maserati et al. 2002). Phänotypisch normale Mädchen und Frauen mit einem kompletten oder partiellen Y Chromosom sollen in bis zu 25% der nicht vorzeitig ovarektomierten Fälle in der zweiten bis dritten Lebensdekade ein Gonadoblastom in ihren fibrotischen Stranggonaden entwickeln (Manuel et al. 1976). Wie vor kurzem aber mittels epidemiologischer Untersuchungen bewiesen wurde, trifft dies offensichtlich für Y-Chromosompositive Patientinnen mit Turner-Syndrom nicht zu (Hasle et al. 1996). Im Gegensatz zu der in vielen Fallberichten geäußerten Meinung scheinen auch Männer mit einem Klinefelter-Syndrom weder ein erhöhtes Leukämie- noch ein generell erhöhtes Tumorrisiko zu haben, jedoch überdurchschnittlich häufig an malignen mediastinalen Keimzelltumoren zu erkranken (Hasle et al. 1995). Neben diesen numerischen Chromosomenanomalien spielen v. a. auch noch Mikrodeletionen, wie z. B. jene am langen Arm des Chromosoms 13 und jene am kurzen Arm des Chromosoms 11, die zu Retinoblastomen bzw. Wilms-Tumoren prädisponieren, eine sehr wichtige Rolle. Obwohl Deletionen dieser Chromosomenregionen in der Keimbahn sehr selten vorkommen, haben sie dennoch wesentlich zur Aufklärung der Pathogenese dieser Tumorerkrankungen und zur Identifizierung der dafür verantwortlichen Gene, dem Retinoblastomgen (RB-Gen) und dem Wilms-Tumorgen (WT1Gen) beigetragen (Knudson 2001). Eine Deletion 11p verursacht das »WAGR-Syndrom«, das durch eine Aniridie, genitale Anomalien und einer mentalen Retardierung charakterisiert ist und somit bereits klinisch leicht erkennbar ist. Daneben existieren aber auch noch eine Reihe anderer genetischer Mechanismen, die die Entwicklung eines Wilms-Tumors begünstigen (Huff 1998). So ist das Denys-Drash-Syndrom auf autosomal-dominant vererbbare »Missense«-Mutationen des WT1-Gens und das BeckwithWiedemann Syndrom auf epigenetische Störungen verschiedener interagierender geprägter Gene in der benachbarten Chromosomenregion zurückzuführen (Bliek et al. 2001; DeBaun et al. 2002; Li et al. 1997; Steenman et al. 2000; Weksberg et al. 2001). Die Gendefekte, die zu den übrigen autosomaldominant vererbten familiäre Wilms-Tumorformen prädisponieren sind zur Zeit noch nicht bekannt. Man weiß aber, dass sie mit Sicherheit nicht in der Chromosomenregion 11p liegen (Huff 1998; Rapley et al. 2000).
42.5.2 Autosomal-dominante
Prädispositionsformen ! Im Vergleich zu sporadischen Tumorerkrankungen treten hereditäre Formen wesentlich früher auf und man findet charakteristischerweise multiple und bilaterale Tumoren, eine entsprechende Familienanamnese und in vielen Fällen auch angeborene Fehlbildungen oder andere distinkte klinische Merkmale.
Nachdem sich konstitutionelle Gendefekte in mehreren verschiedenen Geweben auswirken können, können sie oft auch zu unterschiedlichen multisystemischen Tumoren, sowohl in einzelnen Individuen, als auch in verschiedenen betroffenen Familienmitgliedern führen. Die Art der involvierten Gewebe und das Muster der Tumoren sind dabei für das jeweilige Prädispositionssyndrom immer sehr typisch. Allerdings muss nicht jeder Mutationsträger auch tatsächlich an einem Tumor erkranken. Seit der Entdeckung des ersten, mit einem familiären Prädispositionssyndrom assoziierten Tumorsuppressorgens, des Retinoblastomgens, im Jahre 1988 wurden bereits über 30 weitere Gene, die für knapp mehr als 20 verschiedene autosomal-dominante familiäre Prädispositionssyndrome verantwortlich sind, identifiziert (⊡ Tabelle 42.3; Fearon 1997; Lindor et al. 1998; Marsh et al. 2002). Wie von Knudson in seinem Zweistufenmodell genial ausgeführt, liegt in allen diesen familiären Fällen eine heterozygote Keimbahnmutation im entsprechenden prädisponierenden Gen vor. Somatische Mutationen des zweiten Allels dieses Gens schalten dieses dann zumindest funktionell komplett aus und bedingen damit in besonders vulnerablen Geweben die Tumorbildung (Knudson 2001). In den korrelierenden sporadischen Fällen verläuft dieser Prozess analog, wobei jedoch die bi-allelische Geninaktivierung im Tumor auf 2 somatische Mutationen zurückzuführen ist. Autosomal-dominant vererbbare Tumorprädispositionssyndrome können auch noch weiter in jene unterteilt werden, die durch inaktivierende Mutationen eines Tumorsuppressorgens und jene, die durch die konstitutionelle Aktivierung eines Proto-Onkogens ausgelöst werden (⊡ Tabelle 42.3). Zu ersteren zählen die bereits oben beschriebenen RB- und WT1-Genalterationen, aber auch die Neurofibromatose 1 und 2; das auf Mutationen des p53-Gens zurückzuführende Li-Fraumeni-Syndrom sowie eine Reihe anderer familiärer Tumorformen (Fearon 1997; Lindor et al. 1998; Marsh et al. 2002). Aktivierende Mutationen in einem Proto-Onkogen kommen hingegen wesentlich seltener vor. Dazu zählen v. a. das durch Keimbahnmutationen des RETGens verursachte Syndrom der multiplen endokrinen Neoplasien Typ 2A und 2B (MEN2) und das durch Mutationen im MET-Gen hervorgerufene hereditäre papilläre Nierenzellkarzinom (Fearon 1997; Lindor et al. 1998; Marsh et al. 2002).
42
448
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 42.3. Auswahl der wesentlichen Tumorprädispositionssyndrome, die v. a. für den onkologisch tätigen Pädiater von Interesse sind. Ausführliche Informationen zu dem entsprechenden Syndrom können unter der jeweiligen OMIM (»Online Mendelian Inheritance in Man«) Nummer unter http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/ gefunden werden
III
OMIM
Syndrom
Chromosom
Gen
Erbmodus
Art der Mutation
Assoziierte Neoplasien
101000
Neurofibromatose 2
22(q12)
NF2
AD
IA
Meningeom, Akustikusneurinom
109400
Gorlin
9(q22)
PTC
AD
IA
Basalzellnävus und -karzinom, ZNS-Tumoren
127550
Dyskeratosis congenita
IA
Panzytopenie, MDS
224230 305000
3(q21-q28)
TERC
AD
?
?
AR
X(q28)
DKC1
XR
130650
Beckwith-Wiedemann (BWS)
11(p15)
IGF2 H19 CDKN1C KVLQT1
AD
IMP
Wilms-Tumor, Hepatoblastom, adrenokortikales Karzinom, Rhabdomyosarkom
131100
Multiple endokrine Neoplasien 1
11(q13)
Menin
AD
IA
Diverse Tumoren endokriner Organe
133700
Hereditäre multiple Exostosen
8(q24)
EXT1
AD
IA
Exostosen, Chondrosarkome
133701
11(p12)
EXT2
600209
19(p?)
EXT3
135290
Familiäre infiltrative Fibromatose
5(q21) 3(p22)
APC CTNNB1
AD
IA
Fibrome, Desmoide
136680
Frasier
11(p13)
WT1
AD
IA
Wilms-Tumor, Gonadoblastom
151623
Li-Fraumeni
17(p13) 22(q12)
p53 hCHK2
AD
IA
Sarkome, ZNS-Tumoren, Leukämien, adrenokortikales Karzinom
153480
Bannayan-Zonana
10(q23)
PTEN
AD
IA
Lipome, Hemangiome, Meningiome, Hamartome
155600
Familiäres Melanom
9(p21) 12(q14)
CDKN2A CDK4
AD
IA
Melanome
158350
Cowden
10(q23) 10(q22)
PTEN BMPR1A
AD
IA
Hamartome, diverse Karzinome im Erwachsenenalter
160980
Carney
17(q21)
PRKAR1A
AD
IA
Nävi, Fibrome, Myxome
162200
Neurofibromatose 1
17(q11)
NF1
AD
IA
ZNS-Tumoren, Optikusneurinome, Sarkome, Neurofibro(sarko)me, JMML
163950
Noonan
12(q24)
PTPN11
AD
IA
JMML
166000
Multiple Enchondromatose
3(p22)
PTHR1
AD?
IA
Hämangiome, Chondrosarkome
168000
Hereditäres Paragangliom
1(q21) 11(q22)
SHDC SHDD
AD
IA
Paragangliom, Phäochromozytom
171400
Multiple endokrine Neoplasien 2A
10(q11)
RET
AD
A
Medulläres Schilddrüsenkarzinom, Phäochromozytom, Nebenschilddrüsenadenome
162300
Multiple endokrine Neoplasien 2B
10(q11)
RET
AD
A
Medulläres Schilddrüsenkarzinom, Phäochromozytom, Nebenschilddrüsenadenome
174900
Juvenile intestinale Polypose
18(q21)
SMAD4
AD
IA
Polypose, Hamartome
175100
Familiäre Polypose coli (Gardner)
5(q21)
APC
AD
IA
Polypose, Kolon, Hepatoblastom, adrenokortikales Karzinom, Pankreas, Schilddrüse
175200
Peutz-Jeghers
19(p13)
STK11
AD
IA
Polypen, Hamartome, diverse Karzinome im Erwachsenenalter
179755
Papilläres Nierenkarzinom
7(q31)
MET
AD
A
Papilläres Nierenkarzinom
449 42 · Genetik und genetische Prädisposition
⊡ Tabelle 42.3 (Fortsetzung)
OMIM
Syndrom
Chromosom
Gen
Erbmodus
Art der Mutation
Assoziierte Neoplasien
180200
Hereditäres Retinoblastom
13(q14)
RB1
AD
MD, IA
Retinoblastom, Osteosarkom
190685
Morbus Down
21
?
(AD)1
Trisomie
Leukämien
191100
Tuberöse Sklerose
9(q34)
TSC1
AD
IA
ZNS-Tumoren, Fibrome, Myxosarkom
16(p13)
TSC2
von Hippel-Lindau
3(q25–26)
VHL
AD
IA
Hämangiom, Phäochromozytom, Niere Wilms-Tumor
191082 193300 194072
WAGR2
11(p13)
WT1
AD
MD, IA
194080
Denys-Drash
11(p13)
WT1
AD
IA
Wilms-Tumor
194071
Familiärer Wilms-Tumor
11(p15)
WT2
AD
IA
Wilms-Tumor
194090
16(q?)
WT3
601363
17(q12-q21)
WT4
7(p15-p11)
WT5
601583 208900
Ataxia teleangiectatica
11(q22–23)
ATM
AR
IA
Leukämien, Lyphome
210600
Seckel
3(q22–24)
ATR
AR
IA
Panzytopenie, MDS
18(p11)
SCKL2
AR
210900
Bloom
15(q26)
RECQL3
AR
IA
Leukämien, Lyphome
227650
Fanconi-Anämie
16(q24) 13(q12) 9(q22) 13(q12) 3(p25) 6(p21) 11(p15) 9(p13)
FANCA FANCB FANCC FANCD1 FANCD2 FANCE FANCF FANCG
AR
IA
MDS, Leukämien
236000
Familiärer Morbus Hodgkin
6p?
?
AR?
?
Hodgkin
251260
Nijmegen Breakage
8(q21)
NBS1
AR
IA
Lymphome, ZNS-Tumoren, Rhabdomyosarkom
268400
Rothmund-Thomson
8(q24)
RECQL4
AR
IA
Osteosarkome, Basalzellkarzinom
276300
Turcot
5(q21) 3(p21) 7(p22)
APC MLH1 PMS2
AD
IA
Polypose, ZNS-Tumoren
277700
Werner
8(p12)
RECQL2
AR
IA
Sarkome, ZNS-Tumoren, Leukämien
606741
278700
Xeroderma pigmentosa
Mindestens 4
XPA-XPF
AR
IA
Diverse Hauttumoren
306100
Gonadendysgenesie
?
?
XR, AD?
XY Frauen
Gonadoblastome, Dysgerminome
308240
X-gebundene Lymphoproliferation
X(q25)
SH2D1A
XR
IA
EBV-assoziierte Lymphome
312870
Simpson-GolabiBehmel
X(q26)
GPC3
XR
IA
Wilms-Tumor, embryonale Tumoren
1
nur im Falle einer Robertson-Translokation; die wesentlich häufigere freie Trisomien entsteht jedoch de novo. Wilms-Tumor, Aniridie, urogenitale Anomalien und mentale Retardation. A Aktivierung, AD autosomal-dominant, AR autosomal-rezessiv, EBV Epstein-Barr-Virus, IA Inaktivierung, IMP Imprinting-Defekt, JMML juvenile myelomonozytäre Leukämie, MD Mikrodeletion, MDS myelodysplastisches Syndrom, XR X-Chromosom gebunden rezessiv, ZNS Zentralnervensystem. 2
42
450
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
! Ein generelles Identifikationsmerkmal inaktivierender Mutationen in Tumorsuppressorgenen ist, dass sie sehr heterogen sind und über das komplette Gen verstreut auftreten. Hingegen weisen aktivierende Mutationen in Proto-Onkogenen aufgrund ihrer Natur nur ein sehr beschränktes Spektrum und nur sehr wenig Variabilität auf und sind meist in hoch konservierten Genbereichen zu finden.
42.5.3 Autosomal-rezessive Prädispositionsformen Autosomal-rezessive Tumorprädispositionsformen sind wesentlich seltener als autosomal-dominante Formen (⊡ Tabelle 42.3). Die weitaus überwiegende Zahl wird durch Mutationen in Genen verursacht, die Enzyme kodieren, die DNA-Schäden erkennen und reparieren. Die bi-allelische Ausschaltung eines oder, wie im Falle der Fanconi-Anämie, die heterozygoten Mutationen zweier kooperierender Gene, resultieren in einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber spontaner oder exogen induzierter DNA-Schädigung und verursachen dadurch nach Mutagenexposition die charakteristischen Chromosomenbrüche (Schindler u. Höhn 2003). ! Die klinische Symptomatik der autosomal-rezessiven Formen ist generell variabler und wesentlich ausgeprägter als jene von autosomal-dominanten Prädispositionsformen. Neoplasmen manifestieren sich überwiegend bereits im Kindesalter.
Ein erhöhtes Risiko in spezifischen ethnischen oder geographischen Gruppen kann auf einen Gründereffekt oder eine erhöhte Konsanguinitätsrate zurückgeführt werden. Da für die Manifestation einer entsprechenden Prädisposition 2 inaktivierende Mutationen benötigt werden, können zwar oft mehrere Geschwister betroffen sein, jedoch praktisch nie Familienangehörige in 2 oder mehreren Generationen. Die Chance von Nachkommen eines heterozygoten Elternpaares beide mutierte Allele zu erben ist eins zu vier, so dass in kleinen Familien solche Fälle häufig als sporadische Tumorerkrankungen interpretiert werden. 42.6
Regelungen der genetischen Diagnostik und Beratung bei Kindern
Genetische Untersuchungen haben in den letzten Jahren in allen Gebieten der Medizin zunehmend an Bedeutung gewonnen. Aufgrund ihrer besonderen ethischen und sozialen Wertigkeit unterliegen sie in vielen Ländern speziellen Vorschriften, die zum Teil auch gesetzlich geregelt sind. Cave Genetische Untersuchungen dürfen nur unter strenger Berücksichtigung der entsprechenden Voraussetzungen (Datenschutz, Patienteneinwilligung, genetische Beratung etc.) durchgeführt werden.
Zusätzlich existieren auch noch eine Reihe von Stellungnahmen und Richtlinien zu spezifischen Problemen und Fragestellungen, die von diversen Berufsverbänden und Fachge-
sellschaften herausgegeben, laufend an die neuen technischen Entwicklungen angepasst und aktualisiert werden. Die für Deutschland (und auch für Österreich) relevanten Richtlinien und Stellungnahmen des »Berufsverbandes Medizinische Genetik e.V.« und der »Deutschen Gesellschaft für Humangenetik e.V.« sind über die Homepage des Berufsverbandes einzusehen und abrufbar (http:// www.bvmedgen.de/). Leider werden bei der Anordnung bzw. Durchführung von genetischen Untersuchungen häufig die vielfältigen rechtlichen, ethischen und Beratungs-assoziierten Probleme, die die Identifizierung eines krankheitsverursachenden ererbten oder vererbbaren Gendefektes nach sich ziehen kann, oft nicht vorausgesehen und ausreichend bedacht. Den möglichen positiven Aspekten einer (molekular)genetischen Diagnostik für den Betroffenen selbst müssen dabei immer auch die möglichen Konsequenzen für gesunde, aber vielleicht betroffene blutsverwandte Mutationsträger gegenübergestellt werden ( Abb. 42.1). Abhängig von der Art der Untersuchungen und von den für die zu untersuchende Person zu erwartenden Auswirkungen kann man zwischen der Abklärung einer potenziell genetisch bedingten Erkrankungen zur Sicherung der Diagnose, der Feststellung eines Überträgerstatus bei bereits bekannter Mutation in einer Familie bzw. einer prädiktiven Diagnostik bei gesunden Personen zur Feststellung einer Anlage, die zur Entwicklung einer Krankheit prädisponiert, differenzieren. Die Mehrzahl der genetischen Untersuchungen im Zusammenhang mit der Diagnostik und Differenzialdiagnostik einer Tumor- oder Leukämieerkrankung fallen sicherlich in die erste Gruppe und sind daher vom ethischen und sozialen Standpunkt aus gesehen eher unproblematisch, da es sich dabei um die Abklärung von erworbenen, auf somatische Zellen beschränkte Gendefekte handelt. Mit der zunehmenden Zahl an diagnostizierbaren, potenziell vererbbaren Keimbahnmutationen bei sporadischen und familiären Tumorprädispositionssyndromen muss sich aber auch der onkologisch tätige Pädiater immer häufiger mit den speziellen Beratungsanforderungen und Entscheidungsfindungen auseinandersetzen. ! Laut den Richtlinien des Berufsverbandes ist eine prädiktive genetische Diagnostik im Kindesalter nur dann sinnvoll, wenn mit dem Auftreten der entsprechenden Erkrankung regelmäßig in diesem Lebensalter zu rechnen ist. Darüber hinaus müssen auch sinnvolle medizinische Maßnahmen zur Prävention der Erkrankung selbst bzw. von Komplikationen oder zur Therapie ergriffen werden können.
Für eine erst im Erwachsenenalter auftretende Erkrankung hingegen sollte eine prädiktive Diagnostik bei einem gesunden Kind in der Regel nur dann durchgeführt werden, wenn im Falle eines positiven Untersuchungsergebnisses eine medizinische Intervention angeboten werden kann. Ansonsten hat die individuelle Entscheidungsautonomie des Kindes hinsichtlich der Inanspruchnahme von genetischen Untersuchungen Vorrang vor den eventuellen Wünschen Dritter und damit auch der Eltern. Eine prädiktive Diagnostik sollte daher immer solange zurückgestellt werden, bis das Kind sowohl den genetischen Sachverhalt, als auch die emotionalen und sozialen Konsequenzen der verschiedenen möglichen
451 42 · Genetik und genetische Prädisposition
Untersuchungsergebnisse verstehen kann, was in der Regel ab dem 18. Lebensjahr gegeben sein wird.
Die Untersuchung und Abklärung der mit Tumor- und Leukämieerkrankungen assoziierten genetischen Veränderungen ist ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil eines erfolgreichen klinischen Managements der betroffenen Patienten. Moderne Untersuchungsmethoden verfeinern die Diagnostik und Differenzialdiagnostik und ermöglichen eine spezifische und hochsensitive Überwachung des Therapieerfolgs sowie die Früherkennung von Rezidiven. Die Erforschung der genetischen Grundlagen von Tumorerkrankungen und der sich daraus ableitenden pathophysiologischen Konsequenzen trägt wesentlich zur Entwicklung von innovativen Therapiekonzepten bei. Diese sollen nicht nur helfen, die Heilungsaussichten zu verbessern, sondern auch komplikationslosere und nebenwirkungsfreieren Maßnahmen ermöglichen, die auch die Lebensqualität während der Behandlung steigern.
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42
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
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453 42 · Genetik und genetische Prädisposition
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42
Zellbiologie K.-M. Debatin, S. Fulda
III Einleitung
43.1 43.2
Einleitung – 454 Wachstumsfaktoren – 455
43.1
43.2.1 43.2.2
Wachstumsfaktoren und Rezeptoren – 456 Signaltransduktion von Wachstumsfaktorrezeptoren – 456 Ektope Wachstumsstimulation und Tumorerkrankungen – 456
Die molekulargenetische und zellbiologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat die Grundlagen von Tumorerkrankungen weitgehend aufgeklärt: Krebs ist eine genetische Erkrankung aufgrund gestörter Signaltransduktion in somatischen Zellen, verursacht durch Deletion, Mutation oder epigenetische Veränderungen (Ponder 2001; Hahn u. Weinberg 2002; Hanahan u. Weinberg 2000; Klausner 2002). Trotz der Diversität der verschiedenen Tumorerkrankungen weisen maligne Tumoren charakteristische Merkmale auf, die sie von gutartigen Neubildungen unterscheiden und ein autonomes Wachstum über die Grenzen der normalen Gewebehomöostase hinaus ermöglichen (⊡ Tabelle 43.1). So besitzen Tumorzellen die Fähigkeit, sich unabhängig von exogenen Wachstumssignalen, die über lösliche Wachstumsfaktoren, Zell-Zell-Kontakte oder Zell-Matrix-Kontakte vermittelt werden, autonom zu vermehren. Die unkontrollierte Proliferation von Tumorzellen wird außerdem durch eine intrinsische oder erworbene Resistenz gegenüber antiproliferativen Signalen gefördert. Weiter ist das Replikationspotenzial von Tumorzellen unbegrenzt, während normale Zellen ein begrenztes Teilungspotenzial besitzen und nach einer definierten Anzahl von Zellteilungen in einen Ruhezustand übergehen, der als »Senescence« bezeichnet wird. Die Tumorentstehung und Progression wird nicht nur durch unkontrollierte und unbegrenzte Proliferation begünstigt, sondern auch dadurch, dass sich Tumorzellen dem intrinsischen Zelltodprogramm, das als Apoptose bezeichnet wird, entziehen. Des weiteren können Krebszellen Angiogenese induzieren und aufrechterhalten. Ein charakteristisches Merkmal von malignen Tumoren im Gegensatz zu benignen Tumorerkrankungen ist, dass maligne Tumoren im mehrstufigen Prozess der Kanzerogenese schließlich die Fähigkeit zur Invasion und Metastasierung gewinnen.
43.2.3
43.3
Zellzyklus
43.3.1
Zykline, zyklinabhängige Kinasen und ihre Inhibitoren – 458 Zellzyklusinhibitoren als Tumorsuppressorgene Rb- und E2F-Familie – 458 p53 und Zellzyklusregulation – 459 Myc und Zellzyklusregulation – 459 DNA-Reparatur – 460 Zellzyklus, Telomerase and Senescence – 460
43.3.2 43.3.3 43.3.4 43.3.5 43.3.6 43.3.7
– 457
– 458
43.4
Apoptose
43.4.1 43.4.2 43.4.3
Apoptosesignalwege – 461 Regulation von Apoptose – 463 Apoptose bei Tumorerkrankungen – 463
43.5 43.6
Angiogenese, Invasion und Metastasierung – 464 Molekulare Ansätze in der Diagnostik und Therapie von Tumoren im Kindesund Jugendalter – 465
43.6.1 43.6.2 43.6.3 43.6.4
Molekulare Defekte – 465 Molekulare Diagnostik – 465 Molekulare Mechanismen von Zytotoxizität Tumortherapie durch Modulation von Signalwegen – 466
Literatur
– 460
– 465
– 468
Krebs wird heute als eine genetische Erkrankung gestörter Signaltransduktion in der Tumorzelle angesehen. Maligne Tumoren weisen trotz der Diversität der verschiedenen Tumorerkrankungen charakteristische Veränderungen in fundamentalen zellulären Prozessen, wie Proliferation, Zellzyklusregulation, Apoptose, Angiogenese und Invasion auf, die autonomes Wachstum über die Grenzen der normalen Gewebehomöostase ermöglichen. Die bisher entdeckten Signalwege, die Zellzyklus und Proliferation sowie Apoptose steuern, bilden die Grundlage für Untersuchungen an klinischem Tumormaterial. Ziel ist es dabei, aus der molekularen Analyse diagnostische und prognostische Aussagen treffen zu können. Da auch die Antitumortherapie wesentlich von der Aktivierung intrazellulärer Signalkaskaden abhängt, ist zu erwarten, dass die Forschung zu zellbiologischen und molekulargenetischen Ursachen von Tumorerkrankungen zukünftig nicht nur prognostische Aussagen, sondern auch neue therapeutische Ansätze ermöglicht.
! Die molekularen Veränderungen in fundamentalen zellulären Programmen, wie Proliferation, Zellzyklusregulation, Apoptose, Angiogenese und Invasion, bilden die Grundlage der malignen Transformation.
Bei der Tumorentstehung im höheren Lebensalter spielen exogene Noxen als Induktoren genetischer Veränderungen v. a. in epithelialen Geweben wahrscheinlich eine entscheidende Rolle. Demgegenüber wird die Entstehung von embryonalen Tumoren v. a. auf eine Fehlregulation von Wachstumsprozessen während der Organentwicklung zurückgeführt (Maris u. Denny 2002). Embryonale Tumoren entstehen vermutlich aus einer Stammzellpopulation, die aufgrund einer fehlerhaften Entwicklung und Differenzierung ein abnormes Proliferationspotenzial erworben hat. Durch die Akkumula-
455 43 · Zellbiologie
⊡ Tabelle 43.1. Charakteristika maligner Tumoren
Charakteristikum
Beispiel
Unabhängigkeit von exogenen Wachstumsstimuli
Aktivierung Ras-Onkogen
Resistenz gegenüber antiproliferativen Signalen
Rb-Verlust
Unbegrenzte Replikationsfähigkeit
Erhöhte Telomeraseaktivität
Apoptoseresistenz
Dominanz antiapoptotischer Moleküle
Angiogenese
VEGF-Produktion
Invasion und Metastasierung
Inaktivierung Cadherin
tion zusätzlicher Genmutationen wird die Tumormanifestation weiter begünstigt. Bei einigen Tumoren ist die bi-allele Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen allein ausreichend für die Tumorentstehung, so z. B. beim Retinoblastom durch Deletion beider Allele des Rb-Gens, was zum so genannten »Two-hit-Modell« der Kanzerogenese geführt hat (Knudson 2001). Häufiger jedoch ist die Kanzerogenese ein mehrstufiger Prozess, in dem es sequenziell zur Dysregulation der nachstehend beschriebenen Signalwege kommt (Hanahan u. Weinberg 2000). Ein prototypisches Beispiel hierfür ist die Adenom-Karzinom-Sequenz beim Kolonkarzinom (Kinzler u. Vogelstein 1996). Dabei entsteht aus einer normalen Kolonepithelzelle infolge bi-alleler Mutation des Tumorsuppressorgens APC ein adenomatöser Polyp, der nach Aktivierung von K-Ras infolge Mutation zum dysplastischen Polyp wird. Mutationen in p53 initiieren schließlich den Übergang zum Karzinom. In den letzten Jahren sind wichtige Mechanismen der zellulären Wachstumskontrolle entschlüsselt worden. Im Detail handelt es sich dabei jedoch jeweils um äußerst komplexe Regulationsvorgänge mit gegenseitiger Verflechtung und Verknüpfung mit anderen intrazellulären Signalwegen.
43.2
Wachstumsfaktoren
Nicht-maligne Zellen benötigen mitogene Wachstumssignale, um aus der Phase des Zellzyklusarrests wieder in den Zellzyklus einzutreten und zu proliferieren (Sears u. Nevins 2002; Blume-Jensen u. Hunter 2001). Diese mitogenen Signale werden über lösliche Wachstumsfaktoren, Zell-Zell-Kontakte oder Zell-Matrix-Kontakte vermittelt. Somit ist im gesunden Organismus Proliferation und Überleben von Zellen und Gewebe von Signalen aus der Umgebung abhängig. Beim Fehlen dieser Überlebenssignale, z. B. beim Entzug von Wachstumsfaktoren, kommt es zum Zelltod (»death by default«). Im Gegensatz dazu haben Tumorzellen die Fähigkeit erworben, unabhängig von diesen Überlebensfaktoren autonom ihr Wachstum zu steuern. Dies beruht z. B. darauf, dass Tumorzellen Wachstumsfaktoren wie »insulin like growth factor« (IGF) produzieren und damit ihr eigenes Wachstum oder das von benachbarten Tumorzellen autokrin bzw. parakrin stimulieren (Moschos u. Mantzoros 2002). Darüber hinaus aktivieren Onkogene wie c-Myc oder Ras-Signalwege, die die Proliferation fördern (Evan u. Vousden 2001). Somit können sich Tumorzellen den Regulationsmechanismen entziehen, die im normalen Gewebe eine unkontrollierte Proliferation begrenzen.
⊡ Tabelle 43.2. Ektope Wachstumsstimulation bei Tumoren im Kindes- und Jugendalter
Wachstumsfaktor
Wachstumsfaktorrezeptor
Funktion
Tumor
Referenz
IGF-1, IGF-2
IGF-1R
Ubiquitäres Mitogen
Neuroblastom, Wilms-Tumor, Rhabdomyosarkom
Moschos u. Mantzoros 2002
EGF
EGFR
Mitogen für epitheliale Zellen
Glioblastom
Kari et al. 2003
PDGF
PDGFR
Mitogen für mesenchymale Zellen
Ewing-Tumor, Osteosarkom, Glioblastom
Blume-Jensen u. Hunter 2001
NGF, BDNF, NT3/4/5
TrkA, TrkB, TrkC, NGFR
Differenzierung und Überleben von neuronalen Zellen
Neuroblastom, Medulloblastom, Wilms-Tumor
Nakagawara 2001
SCF
c-kit
Überleben neuronaler und hämatopoetischer Zellen
Leukämien, Neuroblastom, Glioblastom
Blume-Jensen u. Hunter 2001
BDNF »brain derived neurotrophic factor«, EGF »epidermal growth factor«, IGF »insulin like growth factor«, NGF »nerve growth factor«, NT3 »neurotrophine-3«, PDGF »platelet derived growth factor«, TrkA, TrkB, TrkC »Tyrosinkinase-Rezeptoren für Neurotrophine«, SCF »stem cell factor.
43
456
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
43.2.1 Wachstumsfaktoren und Rezeptoren
III
Der Begriff Wachstumsfaktor ist ein historischer Name, mit dem Polypetide bezeichnet wurden, die das Zellwachstum fördern (Blume-Jensen u. Hunter 2001; Moschos u. Mantzoros 2002). Viele Wachstumsfaktoren wie z. B. IGF wurden zunächst als Hormone identifiziert, da sie endokrine Eigenschaften aufweisen und über weite Distanzen ihre Wirkung ausüben. Darüber hinaus wirken Wachstumsfaktoren auch lokal oder parakrin auf benachbarte Zellen. Sie können in löslicher oder membranständiger Form vorkommen. Wachstumsfaktoren, die in der Tumorbiologie eine Rolle spielen, umfassen u. a. IGF-1, IGF-2, EGF, PDGF, NGF, BDNF, NT3/4/5 oder SCF (⊡ Tabelle 43.2). Die Wirkung von Wachstumsfaktoren auf Zellen wird über membranständige Rezeptoren mit Tyrosinkinaseaktivität vermittelt.
⊡ Abb. 43.1. Signaltransduktion durch Rezeptor-Tyrosin-Kinasen: Bindung von Wachstumsfaktoren (WF) an Wachstumsfaktorrezeptoren (WF-R) führt zur Aktivierung des Ras/MAPK bzw. des PI3-Kinase (PI3 K)/AKT-Signalwegs. Aktivierung von AKT fördert das Überleben der Zelle durch Stimulation des Stoffwechsels, der Proliferation und Angiogenese, während gleichzeitig Apoptose gehemmt wird. Die Aktivität von Akt wird durch das Tumorsuppressorgen PTEN gehemmt (weitere Details Text)
43.2.2 Signaltransduktion
von Wachstumsfaktorrezeptoren ! Die Bindung von Wachstumsfaktoren an die korrespondierenden Wachstumsfaktorrezeptoren führt in Abhängigkeit von den jeweiligen Adapterproteinen zur Aktivierung von spezifischen Signalkaskaden, die die biologische Wirkung vermitteln (⊡ Abb. 43.1; Blume-Jensen u. Hunter 2001).
Infolge Ligand-Rezeptor-Interaktion kommt es zur Rezeptoroligomerisierung und zur Aktivierung durch reziproke Autophosphorylierung von Tyrosinresten im zytoplasmatischen Anteil benachbarter Rezeptoren. Durch die Phosphorylierung entstehen Bindungsstellen für Adapter- und Signalmoleküle. Dabei wird das Signal über Protein-Protein Interaktionsdomänen wie z. B. SH2 (»src homology-2«) oder PTB (»protein tyrosine-binding«)-Domänen weitergeleitet. Wachstumsfaktorrezeptoren können durch die Bindung von Proteinen, die intrinsische Kinaseaktivität besitzen wie z. B. PI3-Kinase, direkt Signalwege aktivieren. PI3-Kinase umfasst eine Familie von Lipidkinasen, die dadurch charakterisiert sind, dass sie die 3′-OH-Gruppe des Inositolrings von Inositol Phospholipiden phosphorylieren (Cantley 2002). Dies führt zur Bildung von Phosphoinositolen an der Plasmamembran, über die die Bindung an Proteine mit PH (»Pleckstrin-homology«)-Domänen wie z. B. von AKT oder PDK-1 vermittelt wird. Die Rekrutierung von AKT zur Plasmamembran führt zur Phosphorylierung und damit zur Aktivierung von AKT. AKT beeinflusst durch die Phosphorylierung von spezifischen Substraten, die alle die Konsensussequenz RXRXXS/ T aufweisen, multiple zelluläre Funktionen wie Proliferation, Apoptose, Zellzyklus, Angiogenese und Glykogen bzw. Proteinmetabolismus (Vivanco u. Sawyers 2002). Die Aktivität von AKT wird durch das Tumorsuppressorgen PTEN, das in zahlreichen Tumoren wie z. B. Glioblastom oder Mammakarzinom mutiert oder inaktiviert ist, negativ kontrolliert (Comer u. Parent 2002). PTEN ist eine Phosphoinositolphosphatase, die als Gegenspieler von PI3 K-Inositol-Phospholipiden dephosphoryliert und damit den intrazellulären Spiegel an Phosphoinositol reduziert. Folglich führt der Verlust des Tu-
morsuppressorgens PTEN zur verstärkten Aktivierung des PI3-Kinase/AKT-Signalwegs. Des weiteren können Wachstumsfaktorrezeptoren über Adaptorproteine wie Shc oder Grb2 und »Guanine-nukleotide-exchange«-Faktoren (GEF) wie Sos (»son of sevenless«) den Ras-Signalweg aktivieren. ! Der Ras-Signalweg spielt eine zentrale Rolle in der Regulation von normalem Wachstum und maligner Transformation (Downward 2003). Eine erhöhte Ras-Aktivität führt zur Aktivierung von verschiedenen Signalkaskaden wie dem MAPKSignalweg.
Im MAPK-Signalweg wird eine Kaskade von 3 verschiedenen Serin-Threonin-Kinasen nacheinander aktiviert. So führt z. B. eine erhöhte Ras-Aktivität zur Aktivierung von Raf als MAPKKK, was die Aktivierung von MEK als MAPKK und ERK als MAPK bewirkt. Alle genannten Signalwege wirken als starke Aktivatoren der Zellproliferation und vermitteln das Überleben der Zellen. Experimentell konnte gezeigt werden, dass die Aktivierung des Ras-Signalwegs in Tumoren, z. B. durch »Gain-of-function«-Mutationen, ein wesentlicher Schritt in der Transformation darstellt. 43.2.3 Ektope Wachstumsstimulation
und Tumorerkrankungen IGF-1 bzw. IGF-2 wirkt auf verschiedene Zelltypen einschließlich Tumorzellen als Mitogen und fördert Proliferation und Wachstum (Baserga 1999; Moschos u. Mantzoros 2002). Verschiedene pädiatrische Tumoren wie Neuroblastom, WilmsTumor oder Rhabdomyosarkom weisen eine erhöhte Expression von IGF-1/2 bzw. IGF-1R auf, was auf einen autokrinen bzw. parakrinen Loop hinweist (Moschos u. Mantzoros 2002; Baserga 1999; Cianfarani u. Rossi 1997). Wilms-Tumoren sind durch den Verlust des Tumorsuppressorgens WT1 gekennzeichnet, eines Transkriptionsfaktors, der die Transkription von IGF-2 bzw. IGF-1R reprimiert (Werner et al. 1993). Folglich führen Mutationen, Deletionen oder eine verminderte Expression von WT1 zur Aktivierung des IGF-Signalwegs.
457 43 · Zellbiologie
EGF ist ein Wachstumsfaktor, der insbesondere das Wachstums von epithelialen Zellen fördert (Kari 2003). Eine hohe Expression von EGF und EGFR ist in Glioblastomen und zahlreichen Karzinomen nachgewiesen worden, was mit einem autokrinen Wachstum verbunden war. Zur PDGF-Familie der Wachstumsfaktoren zählen u. a. PDGF, SCF (»stem cell factor«) und VEGF (Blume-Jensen u. Hunter 2001). PDGF-A wurde vermehrt beim Osteosarkom, Glioblastom und Melanom nachgewiesen (Blume-Jensen u. Hunter 2001). PDGF-C wurde als eines der Targetgene von EWS/FLI1 identifiziert, einer chromosomalen Translokation t(11;22), die typischerweise bei Ewing-Tumoren vorkommt (Zwerner u. May 2001; Mackall et al. 2002; Kovar 1998). Eine autokrine Wachstumsregulation durch den SCF/c-kit-Signalweg ist für Leukämien und für Tumoren des Nervensystems wie Glioblastom und Neuroblastom beschrieben (Brodeur 2003; Blume-Jensen u. Hunter 2001). Neurotrophine und ihre Rezeptoren regulieren die Entwicklung, das Wachstum und die Differenzierung von Zellen des peripheren und zentralen Nervensystems (Nakagawara 2001). Zur Neurotrophinfamilie gehören NGF (»nerve growth factor«), BDNF »brain derived neurotrophic factor« sowie NT-3, -4, -5, die mit unterschiedlicher Affinität an die verschiedenen Trk-Rezeptoren TrkA, TrkB bzw. TrkC binden. Die Aktivierung von TrkA-Rezeptoren bewirkt Zellzyklusarrest, Apoptose und Hemmung der Angiogenese, während die Aktivierung von TrkB-Rezeptoren Proliferation und Metastasierung stimuliert (Nakagawara 2001). Neben TrkA als dem so genannten hochaffinen NGF-Rezeptor bindet NGF außerdem an den niedrigaffinen NGFRezeptor p75, wodurch Apoptose induziert wird. Neurotrophine und Trk-Rezeptoren sind v. a. beim Neuroblastom, Medulloblastom, Glioblastom, Ewing-Tumoren sowie beim Wilms-Tumor nachgewiesen worden (Nakagawara 2001). Das ras-Onkogen spielt eine zentrale Rolle in der Wachstumsregulation und malignen Transformation; die meisten Krebsarten weisen eine Dysregulation des Ras-Signalwegs auf (Downward 2003). So finden sich bei vielen Tumoren aktivierende Punktmutationen in ras-Genen selbst, wie z. B. beim Pankreaskarzinom, oder eine pathologische Akti-
vierung des Ras-Signalwegs infolge erhöhter Expression von Wachstumsfaktorrezeptoren. Ferner ist die juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) durch aktivierende RasMutationen bzw. durch Aktivierung des Ras-Signalwegs infolge Verlust des Tumorsuppressorgens nf1 gekennzeichnet (Flotho et al. 1999). Das nf1-Gen kodiert Neurofibromin, ein GTPase-aktivierendes Protein, das Ras negativ reguliert (Downing u. Shannon 2002). In bestimmten Situationen kann eine erhöhte Ras-Aktiviät auch in Apoptose münden, wobei die hierfür verantwortlichen molekularen Mechanismen derzeit noch unklar sind (Downward 1998). In diesem Zusammenhang ist interessanterweise eine verstärkte Ras-Aktivität beim Stadium 4S des Neuroblastoms beschrieben, das durch eine hohe Rate an Spontanregressionen charakterisiert ist (Kitanaka et al. 2002).
⊡ Abb. 43.2. Zellzyklusregulation: Zur Teilung muss eine Zelle verschiedene sequenziell angeordnete Phasen des Zellzyklus durchlaufen (G1-, S-, G2-, M-Phase), die durch verschiedene Promotoren bzw. Inhibitoren reguliert werden. So fördern zyklinregulierte Protein-
kinasen (zyklinabhängige Kinasen, CDK) und Transkriptionsfaktoren der E2F-Familie die Zellzyklusprogression. Zu den negativen Regulatoren des Zellzyklus gehören Proteine der p16INK4a-Familie bzw. p21Familie sowie das Tumorsuppressorgen Rb (weitere Details Text)
43.3
Zellzyklus
! Zur Teilung muss eine Zelle verschiedene sequenziell angeordnete Stadien des »Zellzyklus« durchlaufen (⊡ Abb. 43.2; Nurse 2000; Sherr 2000; Malumbres u. Barbacid 2001). So genannte »Checkpoints« garantieren, dass die jeweils vorhergehende Phase abgeschlossen ist, bevor die Zelle in die nächste Phase eintreten kann.
So wird z. B. sichergestellt, dass das chromosomale Material nur einmal repliziert wird, die DNA-Synthese abgeschlossen ist, und Irrtümer z. B. durch DNS-Schädigung korrigiert sind, bevor die Mitose stattfinden kann. Der Eintritt von Zellen aus der Ruhephase (G0-Phase) und/oder der terminalen Differenzierung in den Zellzyklus wird z. B. durch Wachstumsfaktoren induziert. Neben externen Kontrollsignalen durch Wachstumsfaktoren, gibt es interne Kontrollen, die u. a. die Integrität der DNA überprüfen. Der Ablauf des Zellzyklus ist durch verschiedene Phasen charakterisiert, die durch unterschiedliche Moleküle kontrolliert werden. Ruhende Zellen treten aus der G0-Phase in die erste Phase des Zellzyklus ein,
43
458
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
die G1 (Gap1) genannt wird, in dem die für die DNA-Synthese notwendigen Komponenten (Enzyme) synthetisiert werden. In der zweiten Phase (S-Phase) wird die chromosomale DNA repliziert, bevor die Zelle in eine zweite Ruhephase (G2) eintritt, in der der Abschluss der DNA-Replikation kontrolliert wird und DNS-Schädigungen repariert werden. Danach findet die Mitose mit Aufteilung der Zelle in ihre Tochterzellen statt. In einer sich rasch teilenden humanen Zelle dauert der gesamte Zellzyklus etwa 24 h. Davon entfallen ca. 12 h auf die G1-Phase, 6 h auf die S-Phase, 6 h auf die G2-Phase und nur etwa 30 min für die M-Phase, die eigentliche Zellteilung. Defekte in den Molekülen, die die Checkpoints kontrollieren, können zur Tumorentstehung beitragen. Exogene Faktoren, wie Wachstumsfaktoren, sind neben der Rekrutierung von Zellen aus G0 lediglich für den Übertritt von der G1- in die S-Phase erforderlich. Zellen in G1, die nicht durch Wachstumsfaktoren stimuliert werden, können wieder in G0 übergehen. In der späten G1-Phase ist die Zellzyklusprogression jedoch unabhängig von Mitogenen. Der Übertritt von einem Kontrollpunkt zum nächsten wird durch die Aktivität von Zyklinen, zyklinabhängigen Kinasen (CDK) und Inhibitoren der zyklinabhängigen Kinasen (CDKI) bestimmt. Weitere Schlüsselmoleküle der Regulation des Zellzyklus sind die Tumorsuppressorgene Rb (Retinoblastoma) und p53 sowie die durch DNS-Schädigung induzierten, ATM vermittelten Signalwege und DNA-Reparaturmechanismen. 43.3.1 Zykline, zyklinabhängige Kinasen
und ihre Inhibitoren Die Zellzyklusprogression wird durch zyklinregulierte Proteinkinasen kontrolliert (zyklinabhängige Kinasen; Sherr u. Roberts 1999; Morgan 1995). Zykline sind eine Gruppe von Proteinen, die eine so genannte Zyklinbox aufweisen, über die CDK aktiviert werden. Aktivierte CDK phosphorylieren Substrate, die für den Übertritt in die nächste Zellzyklusphase wichtig sind. So ermöglicht die Phosphorylierung von Histonproteinen die chromosomale Kondensation und die Bildung der Mitosespindel. Für den Übertritt in die S-Phase des Zellzyklus sind Transkriptionsfaktoren der E2F-Familie entscheidend für die Bildung von Enzymen und Proteinen, die für die DNS-Synthese wichtig sind (Helin 1998). Durch Bindung an das Retinoblastomgenprodukt Rb wird E2F im Ruhezustand der Zelle inhibiert.
tiven Zellzyklus-Regulatoren gehören weitere Moleküle wie ATM (»ataxia-telangiectasia-mutated«) sowie p53-abhängige Signalwege, die mit anderen intrazellulären Programmen wie der Apoptose eng verknüpft sind (Vogelstein et al. 2000; Shiloh 2003). Sie spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle bei der zellulären Reaktion auf DNS-Schädigung. 43.3.2 Zellzyklusinhibitoren
als Tumorsuppressorgene Der Ausfall von negativen Regulatoren des Zellzyklus durch Mutation oder Deletion der Gene oder gestörte Genexpression ist ein entscheidender Schritt der malignen Entartung von Zellen (Sherr 2000). Die physiologische Funktion von Tumorsuppressorgenen wie rb, p53, p16INK4α und atm bei der Kontrolle von DNA-Replikation und Zellteilung besteht dabei v. a. in der Vermeidung von DNS-Schäden, der Sicherstellung der DNA-Reparatur und dem Schutz vor unkontrollierter Proliferation (⊡ Abb. 43.3, Tabelle 43.3; Macleod 2000; Sherr u. Weber 2000; Vogelstein et al. 2000; Shiloh 2003; Classon u. Harlow 2002; Planas-Silva u. Weinberg 1997). 43.3.3 Rb- und E2F-Familie Die physiologische Funktion des Retinoblastomproteins besteht darin, Transkriptionsfaktoren der E2F-Faktoren zu binden (Weinberg 1995). Phosphorylierung von Rb führt zur Freisetzung von E2F, das die Transkription von Genen initiiert, die für Zellzyklusprogression wichtig sind (Phillips u. Vousden 2001). Ein Verlust des Retinoblastomproteins führt somit zu einer unkontrollierten Expression zellzyklusstimulierender Faktoren. Rb wird durch CDK4 negativ reguliert (Weinberg 1995). CDK4 wiederum wird durch den Zellzyklusinhibitor p16INK4α
! Neben den positiven Regulatoren, den Zyklinen und CDK, wurden Moleküle identifiziert, die als Inhibitoren der CDK (CDKI) fungieren. CDKI inhibieren Zyklin-CDK-Komplexe und wirken so als »Bremsen« der zellulären Proliferation.
Zwei verschiedene CDKI-Familien sind bekannt, die sich in ihrer strukturellen Homologie, ihrer Spezifität für verschiedene CDK sowie im Hemmungsmechanismus unterscheiden. Mitglieder der p16INK4a-Familie (p16INK4a, p15INK4b, p18INK4c, p19INK4d) hemmen Zyklin D/CDK4/CDK6-Komplexe in der frühen G1-Phase. Moleküle der p21-Familie (p21, p27, p57) sind in der späten G1-Phase und in anderen Phasen des Zellzyklus wirksam. Die Aktivität der Inhibitoren kann direkt durch p53, das auf p21 wirkt, oder TGF-β, das auf p16INK4a ähnliche Inhibitoren wirkt, gesteuert werden. Zu den nega-
⊡ Abb. 43.3. Zellzyklusinhibition durch Tumorsuppressorgene: Zu den negativen Zellzyklus-Regulatoren gehören Tumorsuppressorgene wie p16INK4α/ARF, Rb, p53 und ATM. p16INK4α, eines der beiden Genprodukte des p16INK4α/ARF-Genlokus, aktiviert den Rb-Signalweg, während ARF den p53-Signalweg aktiviert. Tumorsuppressorgene können durch Onkogene wie Ras bzw. Myc sowie DNA-Schädigung aktiviert werden, was als Schutz der Zelle vor unkontrollierter Proliferation bzw. DNS-Schäden dient (weitere Details Text)
459 43 · Zellbiologie
⊡ Tabelle 43.3. Alterationen in Zellzyklusgenen bei Tumoren im Kindes- und Jugendalter
Gen
Funktion
Rb
Inhibition von E2F
Alteration
Tumor
Referenz
Deletion
Retinoblastom
Weinberg 1995
Mutation
Neuroblastom, Glioblastom, Burkitt‘s Lymphom
Classon u. Harlow 2002
p16INK4a
CDK-Inhibitor
Deletion, Hypermethylierung
Neuroblastom, Glioblastom, Ewing-Tumor, Leukämien
Malumbres u. Barbacid 2001
p53
Zellzyklusarrest, Apoptose
Zytoplasmatische Sequestrierung, MDM2-Überexpression
Neuroblastom
Vousden u. Lu 2002
in seiner Funktion gehemmt. p16INK4α ist eines der beiden Genprodukte des p16INK4α/arf-Genlokus (Sherr u. Roberts 1999). Das zweite Produkt dieses Genlokus, arf (»alternate reading frame«), das durch eine »Frameshift«-Transkription generiert wird, greift in die Zellzyklusregulation über Interaktion mit p53 ein. Der Verlust beider Allele des rb-Gens als Ursache der Genese des Retinoblastoms charakterisiert rb als den Prototyp eines Tumorsuppressorgens (Classon u. Harlow 2002). Darüber hinaus kommt es bei anderen Tumoren wie z. B. Glioblastom, Burkitt-Lymphom oder Osteosarkom durch Mutationen zum funktionellen Verlust von rb (Sellers u. Kaelin 1997). Der p16INK4α/arf-Genlokus, der auf Chromosom 9p21 lokalisiert ist, gehört zu den am häufigsten veränderten Genorten in menschlichen Tumoren, z. B. bei Glioblastom,Neuroblastom,Ewing-Tumoren oder Leukämien (Louis et al. 2002; Brodeur 2003; Kovar 1998; Malumbres u. Barbacid 2001). 43.3.4 p53 und Zellzyklusregulation ! p53, das in Tumoren am häufigsten mutierte Gen, hat eine Schlüsselfunktion für Zellzyklusarrest und Apoptoseinduktion nach DNS-Schädigung ( Abb. 43.3; Vogelstein et al. 2000; Vousden u. Lu 2002).
Obwohl das p53-Protein nicht direkt am Zellzyklus beteiligt ist, übt es eine wichtige Funktion am G1/S-Checkpoint aus. Bevor Zellen in die S-Phase eintreten, muss sichergestellt werden, dass keine geschädigte DNA repliziert wird. DNSSchädigung führt zum raschen Anstieg der Konzentration des p53-Proteins. p53 aktiviert die Transkription des CDKInhibitors p21 und interferiert mit verschiedenen ZyklinCDK-Komplexen. Somit wird die Zelle in G1 arretiert und DNS-Schäden können repariert werden. Neben der wichtigen Rolle bei Zellzyklusarrest und DNAReparatur nach DNS-Schädigung ist p53 Ausgangspunkt für die Initiation von Apoptosesignalwegen. Die Induktion von p53-Protein erfolgt im wesentlichen durch posttranslationelle Modifikation des p53-Proteins. Die meisten Funktionen von p53 im Rahmen von Zellzykluskontrolle und Apoptoseinduktion werden durch die Aktivität von p53 als Transkriptionsfaktor induziert. So tragen die Gene vieler Zellzyklus-regulierender Moleküle, z. B. p21, gadd45 und 14–3-3, oder die Gene von Apoptose-induzierenden Proteinen, wie bax, noxa und cd95, regulatorische Sequenzen für p53 in ihren Promotoren.
Allerdings kann p53 auch unabhängig von transkriptioneller Aktivität, z. B. durch direkte Insertion in die mitochondriale Membran oder durch Veränderung des intrazellulären Transports von Apoptosesignalmolekülen wie CD95 aus intrazellulärem Speichern (Golgi-Apparat) zur Zellmembran wirken (Marchenko et al. 2000; Bennett et al. 1998). Zwei andere Proteine, p63 und p73, zeigen eine hohe Homologie mit p53 (Melino et al. 2002). Aufgrund von unterschiedlichen Promotoren wird entweder p73-Protein gebildet, das Zellzyklusarrest und Apoptose induziert, oder eine N-terminal trunkierte ∆Np73-Variante mit dominant-negativer Funktion, die antiapopoptotisch wirkt. Das p73-Gen ist auf Chromosom 1 lokalisiert (1p36.33), einer Region, die häufig beim Neuroblastom deletiert ist. Interessanterweise ist die Expression der dominant-negativen Variante ∆Np73 mit einer schlechten Prognose beim Neuroblastom assoziiert (Casciano et al. 2002). Während das Tumorsuppressorgen p53 bei einem Großteil von Malignomen des Erwachsenenalters, z. B. bei Karzinomen, mutiert ist, weisen Tumoren im Kindes- und Jugendalter nur in seltenen Fällen p53-Mutationen auf (Brodeur 2003; Gump et al. 2001). p53-Mutationen sind z. B. bei Rezidiverkrankungen oder bei therapierefraktären Varianten wie dem anaplastischen Wilms-Tumor beschrieben (Bardeesy et al. 1994). Allerdings kann bei Tumorerkrankungen des Kindesalter der p53-Signalweg durch die fehlerhafte Lokalisation von p53 im Zytoplasma statt im Kern oder durch die Überexpression von p53-Antagonisten wie HDM 2 inaktiviert sein, was z. B. für das Neuroblastom beschrieben ist (Vousden u. Lu 2002; Nikolaev et al. 2003). 43.3.5 Myc und Zellzyklusregulation Eine erhöhte Expression von c-Myc ist ein Merkmal vieler maligner Tumoren, insbesondere in fortgeschrittenen Tumorstadien (Pelengaris et al. 2002). Die deregulierte konstitutive Expression von c-Myc bei der t(8;14)-Translokation, die das Burkitt-Lymphom charakterisiert, ist der wohl allein entscheidende Faktor in der Lymphomgenese. Amplifikation von N-Myc, einem anderen Mitglied der Myc-Familie, ist charakteristisch für das Neuroblastom (Westermann u. Schwab 2002). Die physiologische Rolle von c-Myc besteht v. a. in der Stimulation der Proliferation als Antwort auf mitogene Reize (Pelengaris et al. 2002). Die onkogene Aktivierung von c-Myc führt zur konstitutiven Aktivierung von Myc-abhängigen
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Signalwegen. c-Myc ist ein Transkriptionsfaktor, der verschiedene zelluläre Funktionen wie Proliferation, Wachstum, Differenzierung und Apoptose steuert. Dabei reguliert c-Myc als Heterodimer mit seinem Bindungspartner Max (»myc associated protein X«) die Transkription durch ChromatinRemodelling. Die verschiedenen zellulären Funktionen von c-Myc werden durch die Aktivierung von distinkten Zielgenen vermittelt. So ist die Aktivierung von Zyklin D2 und CDK2 wichtig für die Zellzyklusprogression, während die Aktivierung von Bax bzw. ARF Apoptose fördert. c-Myc oder N-Myc können außerdem Zellen gegenüber verschiedenen proapoptotischen Stimuli wie Chemotherapie sensitivieren, was u. a. auf einer gesteigerten Freisatzung von Zytochrom c aus den Mitochondrien ins Zytoplasma beruht. Die duale Rolle von c-Myc, gleichzeitig Proliferation und Apoptose zu induzieren, ist ein typisches Beispiel dafür, dass onkogener Stress bei intakten Apoptosesignalwegen in Apoptose münden kann, was als Schutzmechanismus der Zelle vor Onkogenen interpretiert wird (Sears u. Nevins 2002). c-myc kann mit anderen Onkogenen wie ras bei der Zelltransformierung kooperieren, während Aktivierung von c-myc alleine meist nur zur unkontrollierten Proliferation führt (Pelengaris et al. 2002). 43.3.6 DNA-Reparatur Strangbrüche der DNA können durch Irrtümer bei der DNAReplikation, durch γ-Bestrahlung und zytotoxische Medikamenten verursacht werden (Rich et al. 2000). Während der Zellteilung müssen diese Strangbrüche repariert werden, um genetische Alterationen zu verhindern. Daher existiert ein im Detail noch nicht komplett verstandenes System, das DNASchädigungen detektiert und Zellzyklusarrest und DNAReparatur induziert. Weiterhin ist dieses System mit der Apoptoseinduktion verknüpft, um Zellen, deren DNA-Schädigung nicht repariert werden kann, zu eliminieren. Eines der Schlüsselmoleküle des Programms zur Erkennung von DNA-Schädigungen ist ATM (»ataxia-telangiectasia-mutated«; Shiloh 2003). ATM ist ein hochmolekulares Protein (350.000 KD), das direkt an Doppelstrangbrüche der DNA binden kann und durch diese Bindung als Kinase aktiviert wird. Aktivierung von ATM führt über Phosphorylierung von p53 zur Induktion p53-vermittelter Signalwege, die zu Zellzyklusarrest und Apoptose führen. Weiterhin kann ATM direkt, über Checkpoint-Kinase (CHK)-vermittelte Phoshorylierung, die Aktivität von CDC25C blockieren, einer Kinase, die für den G2/M-Übergang wichtig ist. Das atm-Gen liegt auf Chromosom 11q22 und ist bei Patienten mit Ataxia telangiectasia mutiert. Diese Erkrankung ist durch Immundefizienz, zerebellare Ataxie sowie eine ca. 100fach erhöhte Tumorrate charakterisiert, Zellen von Patienten mit Ataxia telangiectasia zeigen eine erhebliche Chromosomeninstabilität und Radiosensitivität.
mus darin, dass die proliferative Lebensspanne einer Zelle normalerweise begrenzt ist (Hahn u. Weinberg 2002). Diese wird u. a. durch die Länge der Telomere bestimmt, die bei jeder Zellteilung verkürzt werden (Neumann u. Reddel 2002). Telomere sind »tandem repeats« an den Chromosomenenden, deren Funktion u. a. darin besteht, die Chromosomenenden vor Degradation zu schützen und die vollständige Replikation der Chromosomen sicherzustellen. Außerdem verhindern Telomere, dass Chromosomenenden fälschlicherweise als DNA Brüche erkannt werden und DNA-Reparaturprozesse initiieren. Wenn Telomere nach einer definierten Anzahl von Zellteilungen eine kritische Länge erreicht haben, wird ein zelluläres Programm aktiviert, das zur Senescence führt. Definition Unter Senescence versteht man einen replikativen Ruhezustand der Zelle, der prinzipiell reversibel ist, allerdings bisher nur in Zellkultur nachgewiesen werden konnte (Mathon u. Lloyd 2001).
Das Senescence-Programm wird jedoch trotz einer erreichten kritischen Anzahl von Teilungen nicht aktiviert, wenn die Telomerlängen stabilisiert sind, z. B. infolge erhöhter Telomeraseaktivität in Tumorzellen. Telomerase ist eine telomerspezifische Ribonukleoprotein-Reverse-Transkriptase, die einzelsträngige »telomer repeats« an den N-Terminus von Chromosomen hängt und damit eine Verkürzung der Telomeren verhindert (Shay u. Wright 2002). Die Telomeraseaktivität korreliert mit der proliferativen Kapazität und ist z. B. relativ hoch in Geweben mit hoher Regenerationsfähigkeit wie in hämatopoetischen Zellen oder in Zellen der Epidermis. Ferner zeichnen sich Tumorzellen im Vergleich zu nicht-malignen Zellen durch eine erhöhte Telomeraseaktivität aus (Shay u. Wright 2002). Beim Neuroblastom z. B. haben sich die Telomeraseaktivität und Expression als unabhängige prognostische Parameter herausgestellt (Poremba et al. 2000). Im Gegensatz zu dieser replikativen Senescence, die nach einer definierten Anzahl von Zellteilungen durch eine intrinsische mitotische Uhr in der Zelle aktiviert wird, wird die vorzeitige Senescence durch extrinsische Signale stimuliert (Mathon u. Lloyd 2001; Roninson et al. 2001). Hierzu zählen Onkogene wie ras, DNS-Schäden oder oxidatitiver Stress. Interessanterweise spielt Senescence nicht nur eine Rolle in der Kontrolle von Proliferation und Gewebealterung, sondern auch beim Ansprechen von Tumorzellen auf zytotoxische Therapie (Schmitt et al. 2002). Die molekularen Mechansmen, die das zelluläre Senescence-Programm steuern, sind bislang nur teilweise bekannt und weisen auf eine Rolle der Tumorsuppressorgene p53 bzw. ARF hin (Schmitt et al. 2002). 43.4
43.3.7 Zellzyklus, Telomerase and Senescence Ein zusätzlicher Mechanismus gegen unkontrollierte Proliferation und Tumorentstehung besteht im gesunden Organis-
Apoptose
Die Fähigkeit von malignen Tumoren, über das normale Maß hinaus an Zahl und Masse zuzunehmen, kann neben einer übermäßigen Proliferation auch auf einer verminderten Apoptoserate beruhen (Lowe u. Lin 2000).
461 43 · Zellbiologie
43.4.1 Apoptosesignalwege Apoptose kann durch eine Vielzahl von Stimuli ausgelöst werden (Hengartner 2000). So triggern z. B. Todesliganden der TNF/NGF-Familie wie CD95-Ligand, TRAIL (»TNFrelated apoptosis inducing ligand«), TNF-α oder APO-3Ligand nach Bindung an ihre membranständigen Rezeptoren auf der Oberfläche der Zelle ein Apoptosesignal. Apoptose kann weiter durch Störungen der Mitochondrienfunktion oder beim Fehlen von Wachstumsfaktoren ausgelöst werden (»death by default«). ⊡ Abb. 43.4. Morphologie von Apoptose und Nekrose: Bei Apoptose kommt es zum Schrumpfen der Zelle, zu bläschenförmigen Abschnürungen der Zellmembran (»blebbing«) und zur Kondensierung und Fragmentierung der DNA. Abgeschnürte apoptotische Zellkörperchen (»apoptotic bodies«) werden von Phagozyten aufgenommen, so dass keine Entzündungsreaktion auftritt. Bei Nekrose schwillt die Zelle bis zum Platzen, so dass das Zellinnere freigesetzt wird und es zur Entzündungsreaktion des Gewebes kommt (weitere Details Text)
! Apoptose oder programmierter Zelltod ist die häufigste Form des Zelltods in eukaryontischen Organismen. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der Geweberegulation während der Entwicklung, Gewebehomöostase und im Immunsystem (Hengartner 2000; Debatin 1997).
Apoptose ist durch typische morphologische Veränderungen charakterisiert (⊡ Abb. 43.4): Die Zelle schrumpft, und es kommt zu bläschenförmigen Ausstülpungen und Abschnürungen der Zellmembran, was als »blebbing« bezeichnet wird, ferner zur Kondensierung und Fragmentierung des Zellkerns sowie zur Fragmentierung der DNA in hochmolekulare oder niedermolekulare internukleosomale Fragmente. Abgeschnürte apoptotische Zellkörperchen, so genannte »apoptotic bodies«, werden von benachbarten Phagozyten aufgenommen, so dass es zu keiner Entzündungsreaktion des Umgebungsgewebes kommt. Im Gegensatz dazu kommt es bei Nekrose, dem Zelltod durch Zusammenbruch des energetischen Stoffwechsels, zu Wassereinstrom, Anschwellen und Platzen der Zellen. Bei einer Vielzahl von Krankheiten kann der zugrundeliegende Defekt auf ein »zuviel« oder »zuwenig« an Apoptose zurückgeführt werden (Thompson 1995). So findet man ein »zuwenig« an Apoptose bei malignen Tumoren, bei denen es aufgrund einer verminderten Apoptoserate zur unkontrollierten Proliferation der entarteten Tumorzellen kommt (Lowe u. Lin 2000). Die Beobachtung, dass Apoptose eine Barriere gegen die Tumorenentstehung darstellen könnte, wurde zuerst im Jahre 1972 von Kerr und Whyllie gemacht, die in einem hormonabhängigen Tumor massive Apoptose nach Hormonentzug beschrieben (Kerr et al. 1972). Die Bedeutung des apoptotischen Zelltods bei der Tumorprogression wurde anhand von Untersuchungen an Kolonkarzinomen zu unterschiedlichen Stadien der AdenomKarzinom-Karzinogenese deutlich, die zeigen, dass die Apoptoserate im normalen Kolonepithel hoch ist und im Verlauf der Adenom-Karzinom-Transition progressiv abnimmt (Kinzler u. Vogelstein 1996).
Zelltodexekution durch Caspasen. In allen bisher molekular
charakterisierten Apoptosesystemen spielen Zysteinproteasen (Caspasen) als Effektormoleküle eine entscheidende Rolle (Thornberry u. Lazebnik 1998; Fulda u. Debatin 2002). Ihre Aktivierung verursacht die Morphologie apoptotischer Zellen und ist für die Aktivierung der DNase verantwortlich. Nach der Sequenz ihrer Aktivierung werden Initiatorcaspasen und Effektorcaspasen unterschieden. Die Aktivierung von Caspase-3, der prototypischen Effektorcaspase, führt zur proteolytischen Spaltung einer Vielzahl intrazellulärer Substrate, z. B. von Zytoskelettproteinen, sowie zur Aktivierung der DNAse (CAD, caspase activated DNase), die die Apoptose-typische Zerstörung der DNA (DNA-Leiter) bewirkt (Nagata 2000). Die Aktivierung von Caspase-3 erfordert die proteolytische Aktivität von Initiatorcaspasen, die durch 2 prinzipiell verschiedene Signalwege, den Rezeptorsignalweg bzw. den Mitochondriensignalweg, in Molekülkomplexen generiert werden (⊡ Abb. 43.5). Bei Todesrezeptor/Liganden-induzierter Apoptose z. B. über CD95 wird die Aktivierung der Caspase-Kaskade durch Bindung von Caspase-8 an einen Rezeptor-Adaptor-Komplex, dem so genannten »death-inducing signaling complex« (DISC) initiiert (Walczak u. Krammer 2000). Weiterhin ist die Aktivierung von Effektor-Caspasen durch Veränderungen der mitochondrialen Zellmembran mit Freisetzung apoptogener Moleküle wie Zytochrom c möglich, was zur Bildung eines Mitochondrien-assoziierten Komplexes (Apoptosom) mit Aktivierung von Caspase-9 führt (Debatin et al. 2002; van Loo 2002). Rezeptor/Liganden-Systeme. Apoptose kann durch extrazelluläre Liganden der TNF-Familie nach Bindung an ihre zugehörigen Rezeptoren induziert werden (Ashkenazi 2002; Walczak u. Krammer 2000; Chen u. Goeddel 2002). Apoptoseinduzierende Mitglieder der TNF-Familie sind TNF-α, CD95Ligand, TRAIL (»TNF-related apoptosis inducing ligand« = APO-2L) und APO-3-Ligand. Die Rezeptoren dieser Zytokine gehören zur Familie der TNF/NGF-Rezeptoren. TRAIL bindet an 4 verschiedene zelluläre Rezeptoren, von denen 2 so genannte »Decoy«-Rezeptoren über keinen intrazellulären Anteil verfügen und die Aktivität des Liganden auf der Zelloberfläche neutralisieren können (LeBlanc u. Ashkenazi 2003; Wajant et al. 2002). Die agonistischen TRAIL-Rezeptoren vermitteln ihr Apoptosesignal über den gleichen Signalweg wie CD95. Das CD95-System ist am besten untersucht und kann prototypisch den Todesrezeptorsignalweg verdeutlichen. CD95 (Fas/APO-1) ist ein membranständiger Rezeptor, dessen intrazellulärer Anteil eine hochkonservierte »Todesdomäne« enthält, die das Apoptosesignal vermittelt (Walczak
43
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
III
⊡ Abb. 43.5. Apoptosesignalwege: Stimulation des Rezeptorsignalwegs durch Bindung von Todesliganden wie CD95-Ligand (CD95-L), TRAIL, Apo3-Ligand (Apo3-L) oder TNF-α führt zur Rezeptortrimerisierung und zur Rekrutierung von FADD und Caspase-8 (Casp-8) zum Rezeptor, so dass Caspase-8 aktiviert wird. Caspase-8 kann direkt Effektorcaspasen wie Caspase-3 spalten. Alternativ kann die Aktivierung von Caspase-3 über den mitochondrialen Signalweg durch die Freisetzung von Zytochrom c (cyt C) aus den Mitochondrien ins Zytoplasma ausgelöst werden, z. B. durch "Stress"-Signale. Ein Binde-
glied zwischen dem Rezeptor- und dem mitochondrialen Signalweg stellt Bid dar, das durch aktivierte Caspase-8 gespaltet wird, zu Mitochondrien transloziert und die Freisetzung von Zytochrom c bewirkt. Granzym B, das von zytotoxischen T Zellen freigesetzt wird, induziert durch Aktivierung von Caspasen Apoptose. Die Aktivierung von Caspasen resultiert in der Spaltung zellulärer Substrate bzw. in der Aktivierung von DNasen wie der Caspasen-aktivierten DNase (CAD), was zur DNA-Fragmentierung und schließlich zum Zelltod führt (weitere Details Text)
u. Krammer 2000; Wajant 2002). Nach Oligomerisierung des Rezeptors durch den multimeren Liganden wird eine Signalkaskade durch Rekrutierung von Adaptormolekülen wie FADD (»Fas-associated death domain«) und Bindung von Caspase-8 initiiert. Die Rekrutierung von Caspase-8 in den DISC führt zur autokatalytischen Spaltung mit Freisetzung proteolytisch aktiver Fragmente, die das Todessignal vermitteln. In vielen Zellen (Typ-I-Zellen) führt die DISC-Bildung zur Generierung einer ausreichenden Zahl aktiver Caspase-8-Fragmente und damit zur direkten Aktivierung von Effektorcaspasen wie Caspase-3 (Scaffidi et al. 1998). In manchen Zellen (TypII-Zellen) ist für eine effiziente Apoptoseindukution über CD95 allerdings ein zusätzlicher Signalweg erforderlich, der den mitochondrialen Apoptosesignalkomplex involviert. Durch aktive Caspase-8 wird Bid aktiviert, das durch Stimulation des mitochondrialen Signalwegs den CD95Signalweg verstärkt (van Loo et al. 2002). Neben der Aktivierung von Apoptose kann die Stimulation von Todesrezeptoren auch zur Aktivierung von Signalwegen führen, die Proliferation und Überleben fördern, was insbesondere über den Transkriptionsfaktor NFκB vermittelt wird (Karin et al. 2002; Budd 2000).
drialen Apoptosesignalwegs (van Loo et al. 2002). Nach Freisetzung von Zytochrom c aus den Mitochondrien führt die Bildung des so genannten »Apoptosom-Komplexes«, der aus Zytochrom c, Apaf-1 (»apoptotic protease activating factor-1«) und Caspase-9 besteht, zur Aktivierung von Caspase-9, die wiederum Caspase-3 als Effektor aktivieren kann. Neben Zytochrom c werden weitere apoptogene Moleküle aus Mitochondrien freigesetzt. AIF (»apoptosis inducing factor«) induziert hochmolekulare DNA-Fragmentierung (Cande et al. 2002), während Smac bzw. HtrA2/Omi-Proteine Apoptose fördern, indem sie Caspase-Inhibitoren der IAPFamilie hemmen (Salvesen u. Duckett 2002). Der mitochondriale Signalweg mit Zytochrom c, Apaf-1 und Caspase-9 ist ein entscheidender Mechanismus der »intrinsischen Apoptoseauslösung« als Antwort auf Zellschädigung (Debatin et al. 2002). Dabei ist noch nicht geklärt, wie die Freisetzung der apoptogenen Faktoren aus Mitochondrien initiiert wird (van Loo et al. 2002). Möglicherweise spielen dabei eine »Stress«-induzierte Aktivierung von Caspase-2 oder proapoptotische Bcl-2-Proteine wie Bim eine Rolle (Lassus et al. 2002; Puthalakath u. Strasser 2002). Die Freisetzung apoptogener mitochondrialer Faktoren ist Angriffspunkt der Apoptoseregulation durch Bcl-2-Proteine. So kann die Permeabilität der Mitochondrienmembran durch proapoptotische Bcl-2-Proteine wie Bid oder Bax sowie durch direkte Interaktion mit p53 verändert werden (Marchenko et al. 2000; van Loo et al. 2002).
Mitochondrialer Signalweg. Mitochondrien sind nicht nur
das »Kraftwerk der Zellen«, in dem der Energieträger ATP generiert wird, sondern auch Ausgangspunkt des mitochon-
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43.4.2 Regulation von Apoptose Die Signaltransduktion von Apoptose kann auf verschiedenen Ebenen reguliert werden (Igney u. Krammer 2002a). Auf der Ebene der Todesrezeptoren können inhibitorische Proteine wie z. B. FLIP (»FLICE-inhibitory protein«) die Rekrutierung von Caspase-8 zu aktivierten Rezeptorkomplexen verhindern und damit die Aktivierung von Caspase-8 blockieren (Igney u. Krammer 2002b).
Ferner kann der NFκB-Signalweg durch zytotoxische Therapie wie Chemotherapie oder Bestrahlung aktiviert werden. Dies kann von Bedeutung für die Therapieresistenz von Tumoren sein, da generell eine Hemmung von NFκB zur Verstärkung von Apoptose und Zytotoxizität führt. 43.4.3 Apoptose bei Tumorerkrankungen Physiologische Wachstumskontrolle und Apoptose. In multi-
Bcl-2-Proteine. Zur Bcl-2-Familie gehören Moleküle mit anti-
apoptotischer Funktion (Bcl-2, Bcl-XL, Bcl-w, Mcl-1, A1/Bfl-1) oder mit proapoptotischer Funktion (Bax, Bad, Bak, Bid, Bim, Bik, Bcl-Xs, Bok, Hrk), die v. a. in Membranen wie der Mitochondrienmembran und der nukleären Membran lokalisiert sind (Cory u. Adams 2002). Bcl-2-Proteine modifizieren Apoptosesignale, indem sie die Aktivierung von Caspasen im mitochondrialen Signalweg regulieren. Die Balance zwischen Apoptose und Überleben scheint dabei vom Zellgehalt an proapoptotischen und antiapoptotischen Bcl-2-Komplexen bestimmt zu sein. Proapoptotische Bcl-2-Proteinkomplexe (z. B. Bax) lagern sich als Poren oder Kanäle in die Mitochondrienmembran ein und induzieren so die Freisetzung der apoptogenen mitochondrialen Proteine (Zytochrom c, AIF, Smac, HtrA2/Omi). IAP. Die deletäre proteolytische Aktivität aktivierter Caspa-
sen erfordert eine strikte Kontrolle ihrer Aktivierung und Effektorfunktion. Diese wird durch Moleküle der IAPFamilie (»inhibitors of apoptosis proteins«) ausgeübt, zu der XIAP (»X-linked inhibitor of apoptosis protein«), cIAP1, cIAP2, Survivin oder ML-IAP (Livin) gehören (Salvesen u. Duckett 2002). IAP wiederum können durch Smac bzw. HtrA2/Omi negativ reguliert werden, die nach Apoptosestimulation aus den Mitochondrien freigesetzt werden und die inhibitorische Wirkung von IAP neutralisieren. Einige IAPProteine wie Survivin hemmen nicht nur Caspasenaktivierung, sondern sind interessanterweise auch direkt an der Kontrolle der Mitose durch Interaktion mit dem Spindelapparat beteiligt (Altieri 2003). NFkB. NFκB ist ein Transkriptionsfaktor, der eine zentrale
Rolle bei der Regulation von Wachstum, Zellzyklus, Apoptose sowie bei der angeborenen Immunanwort spielt (Karin et al. 2002; Baldwin 2001). Verschiedene Tumoren wie HodgkinLymphom oder Pankreaskarzinom weisen eine konstitutive NFκB-Aktivierung auf, was als ein wichtiger Schritt in der Tumorgenese angesehen wird. NFκB liegt im inaktiven Zustand im Zytoplasma an IκB-Proteine gebunden vor. Aktivierung des NFκB-Signalwegs, z. B. infolge Phosphorylierung des IκB-Kinase-Komplexes (IKK), führt zur Phosphorylierung und proteasomalen Degradation der IκB-Proteine, so dass NFκB in den Kern translozieren kann. Die Bindung an spezifische DNS-Sequenzen bewirkt eine Transkription von Zielgenen, die die Wirkung von NFκB vermitteln. Zu den NFκB-Zielgenen gehören antiapoptotische Proteine wie cIAP1, cIAP2, Bfl-1/A1, Bcl-XL oder FLIP. Interessanterweise können auch einige proapoptotische Proteine wie CD95L, CD95, TRAIL-R1 oder TRAIL-R2 durch NFκB induziert werden, was der Beobachtung entspricht, dass NFκB unter bestimmten Bedingungen Apoptose fördern kann.
zellulären Organismen existieren verschiedene Überwachungsmechanismen, die das physiologische Gleichgewicht zwischen Proliferation und Absterben kontrollieren und damit die Gewebehomöostase sicherstellen. Da es eine enge Verflechtung der Zellzyklusregulation mit intrazellulären Apoptosesignalwegen gibt (Sears u. Nevins 2002), ist eine unkontrollierte Proliferation allein oft für die Tumorentstehung nicht ausreichend. ! Ein charakteristisches Merkmal des malignen Tumorwachstums ist neben der gesteigerten Proliferation die Resistenz gegenüber Apoptose. Dadurch können übermäßige Proliferationssignale in unkontrolliertes Wachstum über die normalen Grenzen hinaus münden. Apoptosinduktion durch das Immunsystem. Neben den oben beschriebenen molekularen Mechanismen, die Proliferation mit dem Zelltodprogramm verknüpfen, wird unkontrolliertes Wachstum auch durch das Immunsystem überwacht (Debatin 1997). Hieran ist das adaptive Immunsystem, d. h. zytotoxische T-Zellen, und das angeborene Immunsystem, d. h. NK-Zellen, beteiligt (Krammer 2000). Zytotoxische T-Lymphozyten und NK-Zellen, die nach Aktivierung CD95-Ligand exprimieren, zerstören u. a. über CD95 ihre Zielzellen. Der zweite Zytotoxizitätsmechanismus der Killerzellen verläuft über die Perforin vermittelte Einschleusung von Granzyme B in das Zytoplasma der Zielzellen, wo Granzyme B direkt v. a. Caspase-8 aktiviert. Die Resistenz von Tumorzellen gegenüber diesen Tötungsmechanismen führt nicht nur zum so genannten Immunescape von Tumoren, sondern auch zur Resistenz gegenüber Immuntherapien (Igney u. Krammer 2002b). Defekte in Apoptoseprogrammen bei Tumorerkrankungen.
Tumorzellen haben multiple Mechanismen zur Evasion von Apoptose entwickelt (⊡ Tabelle 43.4). Defekte in Apoptoseprogrammen beruhen entweder auf der Überexpression von antiapoptotischen Molekülen oder auf der verminderten Expression von proapoptotischen Molekülen (Igney u. Krammer 2002). So führt z. B. die chromosomale Translokation t(14,18) beim follikulären Lymphom zur Überexpression von Bcl-2, wobei die Translokation des Immunoglobulinlokus in unmittelbare Nähe des Bcl-2-Gens zur transkriptionellen Aktivierung von Bcl-2 führt (Tsujimoto et al. 1984). Die Überexpression von Bcl-2 und Bcl-xL in humanen Tumorzellen kann zu einer deutlichen Reduktion der apoptotischen Antwort auf Chemotherapie führen (Schmitt et al. 2000). Weiterhin sind IAP in zahlreichen Tumoren hoch exprimiert, was mit einer schlechten Prognose und Chemoresistenz assoziiert ist (Salvesen u. Duckett 2002). Survivin, ein Protein der IAP-Familie, ist möglicherweise von besonderer
43
464
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 43.4. Mechanismen der Apoptoseresistenz
III
Mechanismus
Molekül
Tumor
Referenz
Erhöhte Expression antiapoptotischer Moleküle
Bcl-2
Follikuläres Lymphom, Leukämien
Campos et al. 1993, Coustan-Smith et al. 1996
Verminderte Expression proapoptotischer Moleküle
IAP
Neuroblastom, Leukämien
Altieri 2003; Tamm et al. 2000
Caspase-8
Neuroblastom, Medulloblastom, Ewing-Tumor
Teitz et al. 2000
CD95
Morbus Hodgkin, Leukämien
Debatin et al. 2003
Bax
Leukämien
Prokop et al. 2000
Apaf-1
Leukämien
Debatin et al. 2003
Bedeutung beim Neuroblastom, da die häufigste chromosomale Aberration beim Neuroblastom, die Amplifikation des Chromosoms 17q, zur Überexpression von Survivin führt (Altieri 2003). Eine verstärkte Expression von XIAP, cIAP1 oder cIAP2 ist z. B. bei akuten Leukämien mit einer schlechten Prognose assoziiert (Tamm et al. 2000). Ferner ist das antiapoptotische Protein FLIP in vielen Tumoren hoch exprimiert und spielt eine Rolle bei Chemoresistenz und bei der Resistenz von Tumoren gegenüber der Kontrolle durch das Immunsystem (Igney u. Krammer 2002b). Des weiteren können Defekte in Apoptoseprogrammen auf einer fehlenden Expression von proapoptotischen Molekülen beruhen. So findet man bei vielen Tumoren eine reduzierte oder fehlende Expression von Todesrezeptoren wie CD95 (Debatin et al. 2003). Eine lösliche Form des CD95-Rezeptors kann durch alternatives Splicing generiert werden; eine Rezeptorvariante ohne intrazelluläre Todesdomäne wurde ebenfalls beschrieben. Mutationen im CD95-Rezeptor sind bei Kindern mit lymphoproliferativer Erkrankung (ALPS) gefunden worden, was auf die Schlüsselfunktion des CD95-Ligand/Rezeptor-Systems für die Homöostase in lymphatischen Zellen hinweist (Debatin et al. 2003). Auch bei Leukämien und Hodgkin-Lymphomen wurden heterozygote CD95-Mutationen gefunden (Beltinger et al. 1998; Muschen et al. 2000). Caspase-8 kann v. a. bei neuroektodermalen Tumoren, wie z. B. beim Neuroblastom, Medulloblastom oder EwingTumoren, aufgrund einer Hypermethylierung von genregulatorischen Bereichen des Caspase-8-Gens inaktiviert sein (Teitz et al. 2000; Fulda et al. 2001; Baylin u. Bestor 2002). Eine reduzierte Expression von Bax bzw. Apaf-1 infolge Mutation oder Promotorhypermethylierung ist z. B. bei Leukämien beschrieben und mit einer schlechten Prognose verbunden (Debatin et al. 2003; Ong et al. 2000). 43.5
Angiogenese, Invasion und Metastasierung
Für die normale Funktion von Geweben ist die Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen über das Gefäßsystem von essenzieller Bedeutung (Carmeliet u. Jain 2000). Die Diffusionskapazität ins Gewebe ist begrenzt, so dass im gesunden Organismus die Gewebeexpansion durch die Abhängigkeit von einem funktionstüchtigen Gefäßsystem limitiert ist.
Im Gegensatz dazu entwickeln maligne Tumoren zu einem bestimmten Zeitpunkt während der Tumorprogression die Fähigkeit, selber Angiogenese zu induzieren und aufrechtzuerhalten, was auch als »angiogenese switch« bezeichnet wird (Folkman 2002). Dieser »angiogenese switch« wird v. a. durch eine Veränderung im Gleichgewicht von Angiogenesestimulatoren bzw. -inhibitoren initiiert. So produzieren Tumorzellen in verstärktem Maße Angiogenesefördernde Faktoren wie VEGF bzw. FGF und weisen gleichzeitig erniedrigte Spiegel an Inhibitoren wie Thrombospondin-1 oder β-Interferon auf. ! Maligne Tumoren gewinnen – im Gegensatz zu benignen – im mehrstufigen Prozess der Kanzerogenese schließlich die Fähigkeit zur Invasion und Metastasierung (Hahn u. Weinberg 2002; Chambers et al. 2002; Bissell u. Radisky 2001).
Hierbei spielen Veränderungen in der Interaktion zwischen Tumorzellen und dem umgebenden Stroma eine wichtige Rolle, die die lokale Invasion und Ausbreitung in entfernte Organe begünstigen. So kommt es zu einer veränderten Expression von Zell-Zell-Adhäsionsmolekülen wie E-Cadherin oder N-CAM oder zu verminderter Zell-Matrix-Adhäsion infolge Veränderungen im Expressionsmuster von Integrinen. Weiterhin fördert eine erhöhte Expression von extrazellären Proteasen wie z. B. Matrix-Metalloproteasen bzw. eine verminderte Expression von Proteaseninhibitoren die Degradation von Matrixbestandteilen und damit das Eindringen von Tumorzellen in das umliegende Gewebe. Der Prozess der Metastasierung kann in verschiedene Stadien eingeteilt werden, die alle erfolgreich durchlaufen werden müssen, damit es zur Metastasierung in entfernte Gewebe kommt. Diese Stadien umfassen das Ablösen von Tochterzellen vom primären Tumor in die Blutzirkulation, Überleben dieser Tochterzellen in der Zirkulation, Arretieren und Extravasation ins Umgebungsgewebe sowie Initiieren und Aufrechterhalten des Tumorwachstums am Ort der Metastasierung. Einige Tumoren zeigen ein charakteristisches, organspezifisches Metastasierungsmuster, das sowohl durch Eigenschaften der Tumorzellen als auch durch Faktoren des organspezifischen Umgebungsmilieus bestimmt wird.
465 43 · Zellbiologie
43.6
Molekulare Ansätze in der Diagnostik und Therapie von Tumoren im Kindesund Jugendalter
43.6.1 Molekulare Defekte In Tumoren bei Kindern und Jugendlichen kann das normale Gleichgewicht zwischen Wachstum und Absterben von Zellen durch die Fehlregulation von zellulären Signalwegen auf vielfältige Weise gestört sein. So wird eine unkontrollierte Proliferation durch ektope Aktivierung von Ras oder durch Überexpression von Wachstumsfaktoren und deren Rezeptoren, z. B. von IGF beim Neuroblastom bzw. Wilms-Tumor oder EGF beim Glioblastom gefördert (Cianfarani u. Rossi 1997; Kari 2003). TrkA-Rezeptoren vermitteln beim Neuroblastom eine Hemmung der Zellzyklusprogression und Angiogenese und induzieren Apoptose, während über TrkB-Rezeptoren die Proliferation von Neuroblastomzellen stimuliert wird (Nakagawara 2001). Eine ektope Stimulation des Wachstumsfaktorsignalwegs führt nicht nur zur vermehrten Proliferation, sondern hemmt gleichzeitig den Zelltod. Darüber hinaus kann die Proliferation durch Onkogene wie N-Myc oder c-Myc beim Neuroblastom bzw. Burkitt-Lymphom stimuliert werden (Pelengaris et al. 2002; Westermann u. Schwab 2002). Beim Retinoblastom führt der Verlust des Tumorsuppressorgens Rb infolge homozygoter Deletion zur Resistenz gegenüber antiproliferativen Signalen (Classon u. Harlow 2002). Eine abnorme Zellzyklusprogression ist außerdem das Merkmal fast aller Tumoren im Kindes- und Jugendalter, was in vielen Fällen auf der Inaktivierung des Zellzyklusinhibitors p16INK4a beruht. Daneben haben maligne Tumoren vielfältige Mechanismen entwickelt, sich dem intrinsischen Zelltodprogramm zu entziehen. Beispiele hierfür sind die Überexpression von antiapoptotischen Molekülen wie Bcl-2 beim Lymphom oder von Survivin beim Neuroblastom (Altieri 2003; Tsujimoto et al. 1984). Ferner sind häufig proapoptotische Moleküle inaktiviert, wie z. B. Caspase-8 beim Neuroblastom, Medulloblastom oder Ewing-Tumor, CD95 bei Leukämien bzw. Morbus Hodgkin sowie Apaf-1 oder Bax bei Leukämien (Debatin et al. 2003; Fulda et al. 2001). 43.6.2 Molekulare Diagnostik Die meisten Untersuchungen zur Rolle von Signalmolekülen und Signalwegen sind bisher in vitro durchgeführt worden. Analog dazu haben auch in-vivo-Untersuchungen in Mausmodellen die kritische Rolle von einigen Signalmolekülen gezeigt. Basierend auf diesen Ergebnissen sind eine Reihe von Untersuchungen an primärem Tumormaterial mit der Frage durchgeführt worden, welche prognostische Bedeutung der Expression von Signalmolekülen zukommt. So sind p53-Mutationen, die in Tumoren bei Kindern und Jugendlichen eher selten sind, häufiger bei Rezidiverkrankungen, z. B. bei ALL (Gump et al. 2001), oder bei aggressiven Tumorvarianten wie beim anaplastischen Wilms-Tumor (Bardeesy et al. 1994). Beim Neuroblastom korrelierte eine erhöhte Expression von Survivin mit dem metastasierten Stadium und einer schlechten Prognose (Adida et al. 1998).
Eine hohe Expression von TrkA bzw. von TrkC beim Neuroblastom bzw. beim Medulloblastom ist mit einer guten Prognose assoziiert, während eine hohe Expression von TrkB bzw. von BDNF beim Neuroblastom sowie bei Wilms-Tumoren mit einer schlechten Prognose korreliert (Nakagawara 2001). Untersuchungen zur prognostischen Relevanz von Bcl-2 an primärem Tumorproben haben unterschiedliche Resultate ergeben. So korrelierte bei AML im Erwachsenenalter eine hohe Bcl-2-Expression mit einem schlechten Ansprechen auf Chemotherapie, und Kinder mit ALL-Rezidiv wiesen im Vergleich zum Zeitpunkt der Erstdiagnose reduzierte Bax/ Bcl-2-Spiegel auf (Campos et al. 1993; Prokop et al. 2000). Im Gegensatz dazu zeigten andere Studien keine Korrelation der Bcl-2-Expression mit dem Überleben oder dem Ansprechen auf Chemotherapie bei Kindern mit ALL bzw. AML (Coustan-Smith et al. 1996; Naumovski et al. 1998). Die z. T. widersprüchlichen Ergebnisse dieser Untersuchungen an klinischen Proben spiegeln wahrscheinlich die komplexe Situation in primären Tumoren in vivo wieder. Die Fokussierung auf singuläre Signalmoleküle repräsentiert vermutlich nicht das Netzwerk von Signalkaskaden, die typischerweise in Tumoren dereguliert sind. Deshalb werden zukünftige Analysen von Genexpressionsmustern zur Diagnostik und Prognoseeinstufung immer mehr auf dem Einsatz von Genarrays bzw. Proteomarrays basieren (Bertucci et al. 2003). Erste prominente Beispiele hierfür sind Genexpressionsanalysen bei Kindern mit ALL bzw. malignen Hirntumoren, die zeigen, dass die Diagnose und Prognoseabschätzung mittels Genexpressionsmustern möglich ist und z. T. sogar sensitiver sein könnten als die bisher eingesetzten diagnostischen Verfahren (Ferrando et al. 2002; Yeoh et al. 2002; Pomeroy et al. 2002). 43.6.3 Molekulare Mechanismen von Zytotoxizität Da Tumoren insbesondere durch ihr pathologisch gesteigertes Wachstum gekennzeichnet sind, hat man in den Anfängen der Tumortherapie Zytostatika entwickelt, die die Zellteilung und damit die Proliferation hemmen (Farber et al. 1947). ! Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre haben allerdings gezeigt, dass die Wirkung der wesentlichen Therapieverfahren in der Onkologie wie Chemotherapie, γ-Bestrahlung oder Immuntherapie v. a. auf der Induktion von Zelltod in Targetzellen beruht (Herr u. Debatin 2001; Johnstone et al. 2002).
Während eingehende Untersuchungen zu den biochemischen und pharmakologischen Zusammenhängen von Zytostatika-Zielstruktur (z. B. DNA-Interaktionen) vorliegen, sind jedoch die Mechanismen des Zelltods nach zytotoxischer Therapie bislang nur zum Teil aufgeklärt. Zytotoxische Therapie kann zur DNS-Schädigung, Mitoseblockade und Stoffwechselinhibition führen. Chemotherapeutika wie Anthrazykline oder Platinderivate und γ-Bestrahlung verursachen DNS-Schäden, die entweder repariert werden können oder bei unzureichenden Reparaturvorgängen zur Induktion von Apoptose führen (Rich et al. 2000). Bei der Erkennung von DNS-Schädigung spielen Moleküle der ATM-Familie wie ATM, ATR und DNA-PK eine wichtige
43
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Rolle, während p53 eine wesentliche Rolle bei der Apoptoseauslösung zugeschrieben wird (Rich et al. 2000). Nach zytotoxischer Therapie kommt es außerdem zur Aktivierung des so genannten »Stress-Signalwegs« mit Aktivierung von Stresskinasen und Phosphatasen wie Komponenten der Mitogen-aktivierten Proteinkinasen (MAPK) und c-jun-Kinase (JNK)/Stress-aktivierte Proteinkinasen (SAPK), die Apoptosesensitivität über transkriptionelle Regulation, z. B. von CD95-Ligand, beeinflussen können (Davis 2000; Leppa u. Bohmann 1999). Zytostatika wie z. B. Doxorubicin induzieren in einigen untersuchten Zellen die Bildung von CD95-Ligand, CD95 und TRAIL-Rezeptoren und erhöhen die Sensitivität für Todesrezeptor-induzierte Apoptose (Friesen et al. 1996; Herr u. Debatin 2001). Darüber hinaus haben insbesondere Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt, dass Mitochondrien eine zentrale Rolle bei der Vermittlung und Regulation von Apoptose durch zytotoxische Therapien spielen (Debatin et al. 2002). Auf bisher nicht genau geklärte Weise bewirken Zytostatika, z. B. Anthrazykline (Doxorubicin) die Generierung von reaktiven Sauerstoffradikalen sowie Veränderungen in der Mitochondrienfunktion. Dies führt zur Freisetzung von Apoptosefördernden Molekülen aus den Mitochondrien ins Zytoplasma, wodurch Apoptose-Effektorsysteme aktiviert werden. Die Sensibilität von Tumorzellen gegenüber zytotoxischen Therapien wie Chemotherapie, γ-Bestrahlung oder Immuntherapie hängt dabei v. a. davon ab, dass Schlüsselelemente des Apoptoseprogramms in der Zelle intakt sind und durch die Therapie getriggert werden können. Neben Apoptose gibt es auch andere Formen des Zelltodes wie z. B. Nekrose, über die die Wirkung von zytotoxischen Therapien vermittelt werden (Leist u. Jaattela 2001). Im Gegensatz zur Apoptose als programmiertem Zelltod ist Nekrose ein passiver Zelltod, z. B. durch Sauerstoffmangel oder bestimmte Toxine, bei dem Zellen durch Störungen der Membranfunktionen (Ionenfluxe) sowie durch Ausfall der mitochondrialen ATP-Generierung anschwellen. Durch Zerstörung der Zellmembran werden zytoplasmatische Proteine freigesetzt, die eine inflammatorische Reaktion der Umgebung induzieren. Ferner ist Senescence ein zelluläres Programme, das durch zytotoxische Stimuli wie Chemotherapie aktiviert werden kann und die Chemosensitivität beeinflusst (Mathon u. Lloyd 2001). Darüber hinaus können neben der
Induktion von Apoptose zytotoxische Therapien wie Zytostatika oder Bestrahlung auch Signalwege stimulieren, die das Überleben der Krebszellen fördern, wie z. B. die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NFκB (Karin et al. 2002). 43.6.4 Tumortherapie durch Modulation
von Signalwegen Basierend auf dem Konzept, dass die Fehlregulation von intrazellulären Signalwegen zur Tumorprogression und Therapieresistenz führt und dass die Wirkung der meisten Therapieverfahren v. a. auf der Induktion von Zelltod in Zielzellen beruht, sind experimentelle Strategien entwickelt worden, die spezifisch auf die molekularen Defekte in Tumorzellen abzielen (⊡ Tabelle 43.5) (Reed 2003; Nicholson 2000). So kann z. B. durch die Stimulation von Todesrezeptoren in Tumorzellen direkt Apoptose ausgelöst werden. Weiter kann die autokrine/parakrine Stimulation durch Wachstumsfaktorrezeptoren durch blockierende Antikörper oder Tyrosinkinaseinhibitoren gehemmt werden. Ferner sind spezifische Inhibitoren zur Blockade der abnormen Zellzyklusprogression bzw. der pathologischen Angiogenese entwickelt worden. Therapeutische Modulation von Apoptose. Das Konzept,
Apoptose in Tumorzellen über die Aktivierung von Todesrezeptoren auszulösen, erscheint attraktiv, da Todesrezeptoren eine direkte Verbindung zur Todesmaschinerie der Zelle haben (Ashkenazi 2002). TRAIL ist ein vielversprechender Kandidat für eine potenzielle klinische Anwendung, da TRAIL vornehmlich auf Tumorzellen und nicht auf normale Zellen wirkt und deshalb eine im Vergleich zu CD95-Ligand oder TNF-α relativ geringe Toxizität besitzt (LeBlanc u. Ashkenazi 2003). Zahlreiche In-vitro-Untersuchungen und präklinische Testungen in Tiermodellen haben die Antitumoraktivität von TRAIL gezeigt (LeBlanc u. Ashkenazi 2003; Wajant et al. 2002). Allerdings zeigen ein beträchtlicher Anteil aller bisher untersuchten Tumorzellinien in vitro eine mehr oder weniger ausgeprägte Resistenz für TRAIL-vermittelte Apoptose (Wajant et al. 2002). Durch eine kombinierte Behandlung mit TRAIL zusammen mit Chemotherapie oder Be-
⊡ Tabelle 43.5. Experimentelle Tumortherapien: therapeutische Modulation von Apoptose (nach Reed 2003)
Substanz/Strategie
Strategie
Status
TRAIL-Rezeptoragonisten
Anti-DR4-Agonist
Phase I
IAP-Antagonisten
Bcl-2/Bcl-XL-Antagonisten
Weitere
Anti-DR5-Agonist
Präklinisch
TRAIL, extrazelluläre Domäne
Präklinisch
Survivin-Antisense
Präklinisch
XIAP-Antisense
Präklinisch
Smac-Agonisten
präklinisch
Bcl-2-Antisense
Phase II+III
Bcl-2-small-molecule-Antagonist
Präklinisch
Bax-Adenovirus
Phase I
p53-Adenovirus
Phase II+III
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strahlung konnte in vielen Fällen eine synergistische Antitumorwirkung erzielt werden. Zur Zeit werden agonistische Antikörper gegen TRAIL-Rezeptor-1 bzw. TRAIL-Rezeptor-2 sowie rekombinanter TRAIL-Ligand in präklinischen und Phase-I-Studien getestet ( Tabelle 43.5; Reed 2003). Ein weiteres Prinzip zur Apoptoseinduktion in Tumorzellen beruht auf der Inhibition von antiapoptotischen Molekülen wie z. B. von IAP ( Tabelle 43.5). Antisense Oligonukleotide gegen XIAP oder Survivin haben in präklinischen Untersuchungen eine Wirkung bei verschiedenen Tumoren gezeigt, allein oder in Kombination mit Chemotherapie (Altieri 2003). Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Apoptoseblockade durch IAP mittels Smac-Agonisten antagonisiert werden kann (Fulda et al. 2002). Ferner sind Bcl-2-Antisense-Strategien bereits in klinischen Studien eingesetzt worden, z. B. in der Behandlung von Non-Hogdkin Lymphomen (Waters et al. 2000). Da Apoptose-fördernde Moleküle in vielen Tumorzellen inaktiviert sind, kann Apoptose auch durch Re-Expression von proapoptotischen Molekülen induziert werden ( Tabelle 43.5). Hierzu zählen Gentherapieansätze mit Bax Adenoviren oder die Gabe von Demethylierungssubstanzen (Decitabine) zur Re-Expresseion von inaktivierten Genen, z. B. von proapoptotischen Molekülen wie Caspase-8 (Reed 2003; Fulda et al. 2001).
bei CML sowie bei Philadelphiachromosom positiver ALL erfolgreich eingesetzt wird (Capdeville et al. 2002; Selle et al. 2002). Zur Inhibition des Ras-Signalwegs sind insbesondere Farnesyltransferase-Inhibitoren entwickelt worden, deren kompetitive Hemmung auf der typischen CAAXSequenz von Ras beruht (Singh u. Lingham 2002).
Therapeutische Modulation von Wachtumsfaktoren und deren Rezeptoren. Da eine übermäßige Stimulation über
Die Identifizierung der Signalwege, die Zellzyklus und Proliferation sowie Apoptose steuern, ist für die Onkologie von großer Bedeutung. Sequenziell akquirierte Veränderungen in diesen Signalwegen sind als entscheidende Schritte im mehrstufigen Prozess der Karzinogenese identifiziert worden. Experimentell konnte gezeigt werden, dass nur wenige genetische Veränderungen (Onkogenaktivierung, Ras-Mutation, Telomeraseaktivität) ausreichen, um manche menschliche Zellen zu transformieren (Hahn u. Weinberg 2002). Die bisher entdeckten Signalwege bilden die Grundlage für Untersuchungen an klinischem Tumormaterial mit dem Ziel, aus der molekularen Analyse prognostische Aussagen treffen zu können. Diese Analysen werden durch die Entwicklung der DNA- und Protein-Array-Technik zukünftig noch weiter verbessert werden. Da auch die Antitumortherapie wesentlich von der Aktivierung von Zelltodprogrammen abhängt, ist zu erwarten, dass die Forschung auf diesen Gebieten zukünftig auch neue therapeutische Ansätze ermöglicht.
Therapeutische Modulation von Zellzyklusproteinen. Da die
meisten Tumoren einen Verlust der Regulation der G1/STransition aufweisen, haben sich viele Strategien darauf konzentriert, diesen Restriktionspunkt wiederherzustellen und damit die Zellen in eine Phase des Zellzyklusarrestes zu bringen. Hierzu wurden CDK-Inhibitoren entwickelt wie z. B. Flavopiridol bzw. UCN-O1, die sich in der klinischen Erprobung befinden (Senderowicz u. Sausville 2000). Darüber hinaus wurden gentherapeutische Ansätze zur Wiederherstellung der CKI-Funktion entwickelt sowie Antisense-Strategien, die gegen Zykline, die die Zellzyklusprogression fördern, gerichtet sind (Malumbres u. Barbacid 2001). Ferner werden Demethylierungssubstanzen (Decitabine) zur Reaktivierung der Genexpression von p16INK4α eingesetzt, das in vielen Tumoren durch Hypermethylierung epigenetisch inaktiviert ist (Lubbert 2000).
Wachtumsfaktoren und deren Rezeptoren die Tumorprogression und Therapieresistenz fördern, sind verschiedene Ansätze entwickelt worden, die autokrine bzw. parakrine Liganden-Rezeptor-Interaktion zu unterbrechen (⊡ Tabelle 43.6). So verhindern Antikörper, die gegen Wachtumsfaktorrezeptoren gerichtet sind, die Bindung von Liganden und damit die Aktivierung des Signalwegs (Ross et al. 2003). Humanisierte Antikörper gegen EGFR (Trastuzumab, Herceptin) werden bereits erfolgreich in der Therapie des Mammakarzinoms eingesetzt (Drevs et al. 2003). Suramin ist ein Peptidantagonist, der die biologische Aktivität von IGF, EGF oder PDGF blockiert (Stein 1993; Ross et al. 2003). Da die Wirkung von Wachtumsfaktoren über membranständige Rezeptoren mit Tyrosinkinaseaktivität vermittelt wird, sind verschiedene Tyrosinkinaseinhibitoren entwickelt worden (Drevs et al. 2003; Boutin 1994). Beispiele hierfür sind ZD1839 (Iressa), ein Tyrosinkinaseinhibitor gegen EGF-Rezeptor (Schiller 2003), oder Glivec (STI571, Imatinib), ein selektiver Inhibitor von c-Abl-Kinase, der v. a.
⊡ Tabelle 43.6. Experimentelle Tumortherapien: therapeutische Modulation von Wachstumsfaktoren und deren Rezeptoren
Target
Strategie
Substanz
Tumor
Referenz
IGF-1
Peptidantagonist
Suramin
Ewing-Tumor, Neuroblastom, Rhabdomyosarkom
Stein 1993
EGFR
Antikörper
Trastuzumab (Herceptin)
Glioblastom, Mammakarzinom
Schiller 2003
Tyrosinkinase
Kinaseinhibitor
STI-571 (Glivec)
CML, AML
Capdeville et al. 2002
Ras
Farnesyltransferase-Inhibitor
R115777 (Zanestra)
Leukämien, Karzinome
Singh u. Lingham 2002
IGF »insulin like growth factor«, EGFR epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Literatur
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
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471
Tumorimmunologie H. Lode
44.1 44.2
Einleitung – 471 Allgemeine Tumorimmunologie
44.2.1 44.2.2
Spezifische Tumorerkennung – 471 Unspezifische Mechanismen – 477
44.3
Therapeutische Ansätze
44.3.1 44.3.2
Zelltherapie – 478 Antikörper – 480
Literatur
– 471
– 478
– 482
Seit der Entdeckung von Antikörpern Ende des 19. Jahrhunderts durch Emil von Behring wurde wenige Jahre später deren Einsatz als »magic bullets« und »poisoned arrows« bereits durch Paul Ehrlich postuliert. Es dauerte aber ein Jahrhundert, bis sich die ersten Antikörper als wirksame Therapeutika gegen maligne Erkrankungen etabliert haben. Diese Zeitachse verdeutlicht die Komplexizität der Entwicklung eines immunologischen Prinzips zu einem Therapeutikum. Die Ursachen hierfür liegen in der Notwendigkeit gezielter Eingriffe in grundlegende immunologische Mechanismen, deren Gesetzmäßigkeiten bis heute teilsweise nur verstanden sind. Dieses Kapitel ermöglicht einen Einblick in die Grundlagen der Tumorimmunologie und deren therapeutische Anwendung in der pädiatrischen Onkologie.
44.1
Einleitung
Die Tumorimmunologie ist etwa so alt wie die Immunologie selbst und ist von Beginn an immer ein sehr kontrovers diskutiertes Teilgebiet der Immunologie geblieben. Vor etwas mehr als 100 Jahren beschrieb William Coley die Tumorregression nach Stimulation des Immunsystems durch bakterielle Toxine. Nach dieser Entdeckung entwickelte sich das Gebiet allerdings nur zögerlich und führte zu dem Konzept der Kontrolle und Elimination maligner transformierter Zellen durch das Immunsystem im Sinne der »Immune-surveillence«-Theorie nach Burnet (Silverstein 1988), die eine kontinuierliche Überwachung des Körpers durch das Immunsystem (zellulär und humoral) und die Zerstörung von Zellen in maligner Transformation postuliert. In welchem Ausmaß dieser Mechanismus für Krebserkrankungen beim Menschen eine Rolle spielt, ist immer noch unklar, obwohl große Fortschritte auf dem Gebiet der Tumorimmunologie gemacht wurden. Voraussetzung hierfür waren eine Reihe von bahnbrechenden Entdeckungen auf der Ebene der molekularen Mechanismen der immunologischen Erkennung. Von besonderer Bedeutung ist die Restriktion der T-Zellrezeptorerkennung durch Majorhistokompatibili-
täts(MHC)-Antigene (Zinkernagel u. Doherty 1997; Zinkernagel 1997) sowie deren Präsentation immunogener Peptide als der Hauptbestandteil der immunologischen Synapse. Die Beobachtung, dass intrazelluläre Proteine die Quelle für T-Zell-Peptidantigene darstellen und diese durch exogene synthethische Peptide ersetzt werden können, die wiederum der antigenen Determinante entsprechen (Townsend et al. 1986), erweiterte das Spektrum potenzieller Tumorantigene auf jedes im Tumor exprimierte zelluläre Protein, solange es vom Immunsystem erkannt werden kann. Dies ist eine überaus wichtige Feststellung, denn solche Antigene können immunologisch »selbst« oder »nicht selbst« sein. 44.2
Allgemeine Tumorimmunologie
Die Aktivierung des Immunsystems und die anschließende Erkennung und Lyse von Tumorzellen kann über spezifische (zellulär und humoral) sowie unspezifische Mechanismen erfolgen. Die tumorimmunologisch relevanten Grundlagen für eine Antitumor-Immunantwort sollen im Hinblick auf das Verständnis eingesetzter Immuntherapiestrategien in diesem Abschnitt dargestellt werden. 44.2.1 Spezifische Tumorerkennung Der spezifische zelluläre Arm des Immunsystems, der über CD8+-T-Zellen vermittelt ist, wird als der bei malignen Tumoren effektivste Mechanismus angesehen, weil er hochspezifisch Antigene erkennt und mit einer sich selbst erhaltenden Amplifizierung ausgestattet ist. Die Entstehung einer zellulären Antitumor-Immunantwort setzt die Existenz eines Tumorantigens voraus, das vom Immunsystem T-Zellrezeptor-vermittelt erkannt werden kann. Solche Antigene werden von antigenpräsentierenden Zellen (APC) den T-Zellen präsentiert. Herkunft und Eigenschaften solcher Tumorantigene, die Verstoffwechselung dieser Antigene (Antigenprozessierung), die Tumorantigenpräsentation und die Aktivierung der CD8+-T-Zellen über den T-Zellrezeptor sind die wesentlichen immunologischen Grundlagen die auch zum Verständnis von Vakzinierungsstrategien von Bedeutung sind. Zelluläre Immunantwort Die Aktivierung von CD8+-T-Zellen, auch als »Priming« bezeichnet, erfordert 2 Signale (⊡ Abb. 44.1). Das kritische erste Signal wird vom Tumorantigen selbst ausgelöst und das kostimulatorische zweite Signal entweder durch Zytokine oder APC-T-Zell-Interaktionen. Hier zeigt sich bereits die zentrale Rolle des Tumorantigens. Tumorantigene werden von antigenpräsentierenden
44
472
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Die Entstehung der zytolytischen CD8+-T-Zellen (CTL) erfolgt nach klonaler Expansion dieser spezifischen T-Zellen und der Expression von Organellen, die nach spezifischer Erkennung des Tumorantigen-MHC-Klasse-I-Komplexes auf der Tumorzelle die Zytolyse durch Ausschüttung von Perforinen und Granzymen auslösen und direkt die Tumorzellmembran zerstören können (⊡ Abb. 44.1, unterer Teil). Die Voraussetzung für eine vollständige Aktivierung von CD8+-T-Zellen und die Induktion eines immunologischen Gedächtnisses ist die Gegenwart von Hilfe durch CD4+-TZellen (Janssen et al. 2003; Gao et al. 2002).
III
! Antigene für eine CD4+-T-Zell-Aktivierung sind hauptsächlich extrazellulärer Herkunft, werden aufgenommen durch Phagozytose, endosomal prozessiert und im Endosom mit MHC-Klasse II zusammengesetzt, bevor die Komplexe auf der Oberfläche der APC präsentiert werden.
⊡ Abb. 44.1. Aktivierung von CD8+-T-Zellen. Mindestens zwei Signale sind zur Aktivierung einer T-Zell-Immunantwort erforderlich. Das erste Signal erfolgt durch die Interaktion von MHC-Peptid-Komplexen mit dem T-Zellrezeptor. Das zweite kostimulatorische Signal wird durch Zytokine oder Zell-Zell-Interaktionen von antigenpräsentierender Zelle und T-Zelle über beispielsweise B7.1-CD28 an CD4 und CD8 pos. T-Zellen bereitgestellt. Sowohl die Induktion einer CD8+-T-Zell-Immunantwort, als auch die Ausbildung eines immunologischen Gedächtnisses wird durch CD4+-T-Zellen unterstützt. Der grundlegende Mechanismus ist die Interaktion von CD4+-T-Zellen mit der antigenpräsentierenden Zelle über CD40-Ligand und CD40
Zellen (APC) prozessiert und als kurze Peptide mit einer Länge von 8–10 Aminosäuren im Kontext von MHC-Klasse I oder 12–20 Aminosäuren im Kontext von MHC-Klasse II auf der Zelloberfläche präsentiert. ! Antigene, die über MHC-Klasse I auf der Oberfläche von APC präsentiert werden, haben vornehmlich einen endogenen, intrazellulären Ursprung und werden im endoplasmatischen Retikulum mit MHC-Klasse I zusammengesetzt und an die Zelloberfläche transportiert.
Der Tumorantigen-MHC-Klasse-I-Komplex wird durch eine hochaffine Interaktion mit dem T-Zellrezeptor von CD8+-TZellen erkannt. Als Korezeptor dient das CD8-Molekül, das an die α3-Domäne der α-Kette von MHC-Klasse I bindet. Diese Interaktion vermittelt das erste Signal der T-ZellAktivierung. Das zweite notwendige Signal wird durch APC-T-Zell-Interaktionen wie z. B. B7-CD28, bereitgestellt (⊡ Abb. 44.1, oberer Teil; Hwang et al. 2000). Bleibt dieses Signal aus, sterben T-Zellen durch Apoptose (Kishimoto u. Sprent 1999).
Der CD4+-T-Zellrezeptor erkennt das Tumorantigen im Kontext von MHC-Klasse II auf den APC. Als Korezeptor agiert hier das CD4-Molkül, das an die β2-Domäne der β-Kette des heterodimeren MHC-Klasse-II-Moleküls bindet. Auch CD4+-T-Zellen benötigen wie CD8+-T-Zellen ein zweites Signal, das sich grundsätzlich nicht von dem für CD8+T-Zellen unterscheidet. Die Aktivierung der CD4+-T-Zellen führt zur Freisetzung von Zytokinen, die eine Entstehung von CTL unterstützen. Das Spektrum der freigesetzten Zytokine lässt eine Einteilung der CD4+-Helfer-Immunantwort in TH1 (IFN-α) und TH2 (IL-4) zu. Die Entstehung einer wirksamen CD8+-T-Zell-vermittelten Antitumor-Immunität wird vornehmlich durch eine TH1-CD4+-Helfer-Immunantwort gefördert. Eine weitere wichtige Helferfunktion der CD4+-T-Zelle ist die Stimulation von antigenpräsentierenden Zellen über CD40 auf der APC und CD40-Ligand auf der CD4+-T-Zelle, was zu einer Verbesserung der MHC-vermittelten Antigenpräsentation sowie zur Hochregulierung von B7 auf der APC führt (Schoenberger et al. 1998). So wird das Priming der CD8+-T-Zellen ermöglicht. Nach erfolgreicher Aktivierung der CD8+-T-Zellen beginnen diese sich zu teilen. Sie expandieren klonal und bilden viele Tochterzellen mit identischen T-Zellrezeptoren, die alle das eine initiale Peptidantigen im Kontext von MHC-Klasse I erkennen. Auf diese Weise wird ein Pool zytotoxischer T-Zellen bereitgestellt, die rezirkulieren und die Zytolyse von Tumorzellen im Primärtumorbereich und/oder bei Fernmetastasen auslösen können. Dies erfolgt hochspezifisch nach Erkennung des Peptid-MHC-Klasse-I-Komplexes auf der Zielzelle sowie der Freisetzung von Perforinen oder Granzymen, die Zellmembranen zerstören. Aus diesem Pool der zytotoxischen T-Zellen entsteht ein immunologisches Gedächtnis, dessen Natur noch kontrovers diskutiert wird. Es handelt sich dabei entweder um eine besondere Population an Gedächtnis-T-Zellen (Sprent u. Surh 2002) oder um zytotoxische T-Zellen, die unter kontinuierlicher Antigenexposition persistieren (Kundig et al. 1996; Zinkernagel et al. 1996). Funktional reagiert das Gedächtnis nach erneuter Antigenexposition mit einer raschen Wiederherstellung des Pools zytotoxischer T-Zellen.
473 44 · Tumorimmunologie
Humorale Immunantwort Für eine wirksame Antitumor-Immunität ist eine starke zelluläre Immunantwort eine Conditio sine qua non. Dies ist die herrschende Meinung in der Tumorimmunologie. Trotzdem kann die Induktion einer durch humorale Antikörper vermittelten Immunität von zusätzlicher Bedeutung sein. Deren Wirkung beruht auf hochspezifischen Immunglobulinen, die fast ausschließlich Tumorantigene auf der Zelloberfläche erkennen. Dies führt dann zu »antibody-dependent celluar cytotoxicity« (ADCC) oder »complement-dependent cytotoxicity« (CDC). Beide Mechanismen führen zur Lyse von Tumorzellen. ADCC ist über den Fc-Teil in der konstanten Region der schweren Kette des Antikörpers vermittelt, der nach Antikörperbindung von Fc-Rezeptor tragenden Effektorzellen wie NK-Zellen und Makrophagen erkannt wird. CDC wird über die Komplementbindungsstelle des Immunglobulins ausgelöst, die ebenfalls in der konstanten Region der schweren Kette des Immunglobulins liegt. Sie führt über eine Kettenreaktion einer Reihe von löslichen Serumproteinen ähnlich der Blutgerinnung zur Bildung eines zytolytische Membrankomplexes. ! Obwohl die Bildung solcher tumorspezifischen Immunglobuline bei Patienten mit malignen Erkrankungen beschrieben ist, liegt die Bedeutung von Antikörpern in der Krebstherapie am ehesten in deren Verwendung im Sinne einer passiven Immunisierung.
Das heißt, monoklonale Antikörper werden gegen tumorassoziierte Antigene hergestellt, die nach parenteraler Gabe entweder direkt über ADCC und CDC einen Antitumor-Effekt auslösen oder als Vehikel benutzt werden, um Substanzen spezifisch an den Tumor zu transportieren. Diese Substanzen können entweder Zytostatika (»drug targeting«), Radioisotope oder enzymatisch wirksame Moleküle sein, die eine Umwandlung von inaktiven Zytostatikaderivaten (Prodrugs; Senter 1990) in das aktive Zytostatikum vornehmen was als »antibody-dependent enzyme prodrug therapy« (ADEPT) bezeichnet wird (Bagshawe 1993). Eine weitere Rolle der humoralen Immunantwort in der Krebstherapie im Sinne einer aktiven Immunisierung ist die Induktion einer antiidiotypischen Immunantwort durch das antiidiotypische Netzwerk (⊡ Abb. 44.2). Dies beruht auf der Induktion einer humoralen Immunantwort gegen die Antigenbindungsstelle eines Idiotypantikörpers (Ab1), den man als Ab2 oder Antiidiotypantikörper bezeichnet und der somit ein Spiegelbild des Originalantikörpers Ab1 ist (Urbain et al. 1977; Cazenave 1977). Dieser Ab2-Antikörper wiederum kann über seine eigene Antigenbindungsstelle durch eine erneute humorale Immunantwort zur Bildung eines zweiten Spiegelbildantikörpers führen, den man als Anti-Antiidiotypantikörper oder Ab3 bezeichnet. Der Ab3 erlangt somit dieselbe Antigenspezifität wie der Ab1. Therapeutisch wird das antiidiotypische Netzwerk unterschiedlich ausgenutzt. Ein Prinzip beruht auf der Herstellung eines monoklonalen antiidiotypischen Antikörpers (Ab2), der das Spiegelbild zu einem tumorspezifischen Idiotypantikörper darstellt (Ab1). Dieser Ab2 wird kombiniert mit Adjuvanzien einem Patienten in der Regel subkutan ap-
⊡ Abb. 44.2. Antiidiotypische Immunantwort. a Ein zur passiven Immuntherapie eingesetzter monoklonaler Idiotypantikörper (Ab1) kann zur Bildung eines »Spiegelbildantikörpers« der Antigenbindungsstelle führen (Antiidiotypantikörper; Ab2). Über einen zweiten Immunisierungsschritt erfolgt dann die Bildung des Anti-Antiidiotypantikörpers (Ab3), der analog zum Ausgangsantikörper Ab1 wieder an den Tumor spezifisch bindet. Über diesen Mechanismus kann sich auch nach passiver Immuntherapie ein humorales immunologisches Gedächtnis ausbilden. b Bei B-Zell-Lymphomen wird der Idiotypantikörper (Ab1) auf der Zelloberfläche exprimiert. Nach der Isolierung der Idiotypantikörper (Ab1) können diese in Verbindung mit geeigneten Adjuvanzien zur Immunisierung eingesetzt werden. Das führt bereits im ersten Immunisierungsschritt zur Bildung eines lymphomspezifischen Antiidiotypantikörper (Ab2)
pliziert. Über eine aktive humorale Immunantwort bildet der Patient den Anti-Antiidiotypantikörper Ab3, der wiederum das Antigen auf der Tumorzelle erkennt und diese über ADCC und CDC lysiert. ! Der Vorteil gegenüber einer passiven Immunisierung durch parenterale Gabe des tumorspezifischen Ab1 liegt in der kontinuierlichen endogenen Produktion des Antitumor-Antikörpers Ab3 durch den Patienten als Resultat der aktiven Immunisierung mit Ab2-Antikörper.
Bei B-Zell-Lymphomen wird das idiotypische Immunglobulin (Ab1) auf der Tumoroberfläche exprimiert. Die Isolierung dieser Ab1-Immunglobuline von Lymphompatienten ermöglicht nach Zugabe wirksamer Adjuvanzien die Herstellung eines Idiotypenimpfstoffs, der über die Bildung des antiidiotypischen Antikörpers Ab2 eine Antilymphomwirkung induziert (Tao u. Levy 1993). Hierbei handelt es sich um einen patientenspezifischen Therapieansatz, da diese Idiotypantikörper ganz charakteristisch für jeden einzelnen Lymphompatienten sind (Meeker et al. 1985). Ferner wird mehr und mehr deutlich, dass auch bei
44
474
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 44.1. Überexpression von Onkogen-kodierten und normalen Proteinen in humanen Tumoren
III
Protein
Funktion
Vorkommen
Zyklin D1
Reguliert den G1-S-Übergang im Zellzyklus
Zyklin E
Reguliert den G1-S-Übergang im Zellzyklus Phosphoprotein im Zellkern, das die Funktion von p53 hemmt Rezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität für EGF, TGF-α, Amphiregulin, Heparin bindendes EGF, β-Cellulin Rezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität, Ligand noch unklar
Mammakarzinom (20%), Kolonkarzinom (20%), B-Zell-Lymphom (100% in Mantelzell-Lymphomen), Schilddrüsenkarzinom, Leberzellkarzinom (11–13%), »Head-and-neck«-Karzinome (30–60%) Mammakarzinom (90%)
Mdm2 Epidermaler Wachstumsfaktor (EGF) Erb B2* (Her-2/neu)
Erb B3 FibroblastenWachstumsfaktor (FGF) Rezeptor I Insulin like growth factor-I Rezeptor MET c-myc*
N-myc L-myc Wildtyp p53*
Rezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität, Ligand noch unklar Rezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität für basischen und sauren Fibroblasten-Wachstumsfaktor Rezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität für »insulin like growth factor« Rezeptor mit Tyrosinkinase-Aktivität für Hepatozyten Wachstumsfaktor Transkriptionsfaktor
Bcl-2 Tyrosinase* TRP-2 MAGE (1–6)*
Transkriptionsfaktor Transkriptionsfaktor Tumorsuppressorprotein; wirkt als Transkriptionsfaktor, der Apoptose als Antwort auf DNA-Schädigung induziert Apoptose-Inhibitor Melaninproduktion Melaninproduktion Unbekannt CT-Antigen
BAGE*
Unbekannt
GAGE* RAGE1* Pmel17/gp100* Melan-A/MART-1* MUC-1* NY-ESO-1 SCP-1 SSX1 SSX2 MAGE-C1 (CT-7) XAGE CEA* Survivin Telomerase* (hTERT) PRAME*
Unbekannt Unbekannt Differenzierung Unbekannt Mucin Bestandteil CT-Antigen** CT-Antigen CT-Antigen CT-Antigen CT-Antigen CT-Antigen Differenzierung Apoptose-Inhibitor Bildet Telomere an Chromosomenden Unbekannt
Sarkome (30–60%), Leukämien (42–73%), Glioblastome und anaplastische Astrozytome (10–15%) Lungenkarzinom (80%), Gliome, Blasenkarzinom (70%), Nierenzellkarzinom (73%), »Head-and-neck«-Karzinome (50%) Mammakarzinom (26%), Ovarialkarzinom (20–30%), Magenkarzinom (11%), Kolonkarzinom (4%) Adenokarzinom der Lunge (30%), Osteosarkom Mammakarzinom (10–30%), Kolonkarzinom, Pankreaskarzinom (35%) Gliome (100%, n=5), Pankreaskarzinom (100%, n=5), Melanom, Mammakarzinom (12%) Mammakarzinom (50–95%), Lungenkarzinom Schilddrüsenkarzinom, Ovarialkarzinom (28%) Mammakarzinom (6–57%), Kleinzelliges Lungenkarzinom (20–30%), Zervixkarzinom (30%), Hodenkarzinom, Kolonkarzinom, »Head-andneck«-Karzinome Lungenkarzinom (20%), Neuroblastom (20%) Lungenkarzinom Astrozytome (60–80%), »Head-and-neck«-Karzinome (34%), Sarkome (17%), akute myeloische Leukämie (69%) Mamma-, Lungen-, Ovarial-, Kolon-, Blasen-, Pankreas-, Prostata-, Schilddrüsen-, Leberzellkarzinom, multiples Myelom, Lymphom Non-Hodgkin-Lymphome (40–80%) Melanom Melanom Neuroblastom (66%), Rhabdomyosarkom (>50%), Melanom (75%), »Head-and-neck«- (68%), Lungen- (53%), Mamma- (25%), Kolon- (25%), Prostata- (20%), Magen-, Hoden-, Blasenkarzinom (42%) Rhabdomyosarkom (6%), Melanom (22%), Blasen- (22%), Mamma(10%), Magen-, Ovarial-, Hodenkarzinom Rhabdomyosarkom (9%), Melanom, Magen-, Ovarial-, Hodenkarzinom, Nierenzellkarzinom (21%) Melanom Melanom, Neuroblastom Mamma-, Kolon-, Pankreas-, Ovarialkarzinom, multiples Myelom Neuroblastom (33%), Melanoma, Mammakarzinom CML (23%), AML (5,7%), Myeloma (10%), Hodgkin-Lymphom Melanom, Neuroblastom Ewing-Sarkom Kolonkarzinom Leukämien Ubiquitäres Tumorantigen Nierenzellkarzinom (40%), ALL (20%), AML (62%), CML, Hodenkarzinom, multiples Myelom, Wilms-Tumor, Neuroblastom
* Bei Patienten beobachtete oder in vitro induzierbare zelluläre Immunantwort; **CT-Antigen (»Cancer-testis«-Antigen). Proteine, die in Hodengewebe exprimiert werden und in einer Vielzahl maligner Tumoren überexprimiert sind.
475 44 · Tumorimmunologie
der passiven Immuntherapie mit monoklonalen tumorspezifischen Antikörpern die Induktion einer anti-antiidiotypischen Immunantwort, also die Bildung eines Ab3, mit einer lang anhaltenden Remission korreliert (Cheung et al. 2000) . Das heißt also, dass die passive Wirkung monoklonaler tumorspezifischer Antikörper über ADCC und CDC hinaus eine aktive immunisierende Komponente über das antiidiotypische Netzwerk besitzt. Tumorantigene Ein Tumorantigen muss Determinanten exprimieren, die vom Immunsystem präsentiert und erkannt werden. Ferner müssen sich diese Determinanten entweder quantitativ oder qualitativ von Determinanten unterscheiden, die auf normalen Geweben exprimiert werden, um nach erfolgreicher Immunisierung Autoimmunphänomene zu minimieren. Zwei Klassen von Tumorantigenen lassen sich grundsätzlich voneinander unterscheiden, Fremdantigene und Selbstantigene (⊡ Tabelle 44.1). Fremdantigene. Fremdantigene sind vom Tumor exprimier-
te Epitope, die Bestandteile eines Virus (z. B. E6 oder E7) des humanen Papillomavirus (HPV) enthalten, die mutierte endogene Proteine (z.B. p53, RAS) oder Fusionsproteine nach chromosomalen Translokationen (z. B. BCR/ABL) sein können. Bei mutierten endogenen Proteinen kann die Änderung einer Aminosäure bereits eine Immunisierung auslösen, vorausgesetzt, das mutierte Peptid wird adäquat prozessiert und in MHC-Klasse I präsentiert. Eine Zusammenstellung möglicher Neoantigene als Targets für Immuntherapiestrategien findet sich ohne Anspruch auf Vollständigkeit in ⊡ Tabelle 44.2. Selbstantigene. In den letzten Jahren wurde mehr und mehr
deutlich, dass es Tumorantigene gibt, gegen welche zytotoxische T-Zellen gerichtet sind, die weder fremde noch mutierte endogene Proteine darstellen, sondern von unveränderten endogenen Proteinen abstammen und somit Selbstantigene sind. Die erste Beschreibung dieses interessanten immunologischen Phänomens erfolgte für Proteine des Melanoms wie MAGE, MART und Tyrosinase und ist auf den ersten Blick ein immunologisches Paradoxon, denn es darf erwartet werden, dass alle gegen solche Selbstantigene reaktiven T-Zellen durch Negativselektion im Thymus deletiert wurden (Sprent u. Surh 2003). Es gibt 3 Mechanismen, wie T-Zellen der Negativselektion entkommen und als peripher tolerante T-Zellen persistieren können: ▬ niedrige Affinität des T-Zellrezeptors für den Selbstantigen-MHC-Klasse-I-Komplex (Lee et al. 1999), ▬ Kompartimentierung von bestimmten Antigenen und dadurch niedrige Expression eines Antigens im Thymus, ▬ subdominante und kryptische Determinanten bei Selbstantigenen, die nach Deletion von T-Zellen gegen dominante Epitope als Selbstantigene in Erscheinung treten. Daraus ergib sich, dass eine scharfe Trennung einer Antitumor-Immunantwort in »fremd« und »selbst« schwer möglich ist und eine arbiträre Einteilung in »gefährlich« und »harm-
los« angemessener erscheint. Gefährliche Antigene wären also solche, die in hohem Maße auf normalen Geweben exprimiert sind und so nach Induktion einer Antitumor-Immunantwort durch Autoimmunreaktion eine Gefahr für den Organismus darstellen, die größer ist als die maligne Erkrankung selbst. In diese arbiträre Definition gefährlicher Antigene fließt die Gefahr für den Organismus durch die maligne Erkrankung mit ein und erlaubt so eine kritische Abwägung der Bedrohung durch Autoimmunität gegenüber der durch die maligne Erkrankung. Im Gegensatz hierzu wären harmlose Antigene solche, die wegen der Kompartimentierung, der kryptischen Natur des Selbstantigens oder der kompletten Fremdartigkeit keine Autoimmunität auslösen können. ! Wichtig für die Funktion eines Proteins als Tumorantigen ist eine adäquate Antigenprozessierung und Präsentation, die von spezialisierten antigenpräsentierenden Zellen (APC) des Immunsystems wahrgenommen werden (Sprent 1995).
Die molekulare Grundlage der T-Zell-Erkennung ist die adäquate intrazelluläre Prozessierung und anschließende Präsentation von Antigenen durch MHC-Klasse-I- und -II-Moleküle auf der Zelloberfläche (⊡ Abb. 44.3). Zwei grundlegende Entdeckungen führten zu dieser Erkenntnis: Erstens wurde nachgewiesen, dass die T-Zell-Immunantwort MHC-restringiert ist. Das heißt, eine T-Zelle kann eine Targetzelle nur dann erkennen, wenn sie sowohl das Antigen als auch das entsprechende MHC-Molekül exprimiert (Zinkernagel, 1997). Zweitens wurde gezeigt, dass MHC-Moleküle Rezeptoren für Peptide darstellen (Rammensee et al. 1993) und diese besonders durch bestimmte Anker-Aminosäuren in Peptidbindungstaschen von MHC-Molekülen eine physikalische Bindung eingehen. Die T-Zell-Erkennung des MHC-PeptidKomplexes erfolgt über den T-Zellrezeptor. Die Anzahl an MHC-Molekülen, die durch ein bestimmtes Peptidantigen besetzt sein müssen, damit eine T-Zell-Aktivierung erfolgreich stattfindet, scheint extrem niedrig zu sein und wird in einem Bereich von 40–100 MHC-Peptid-Komplexen vermutet (Kimachi et al. 1997; Valitutti et al. 1995). ! Die Antigene, die in MHC-Klasse I oder II präsentiert
werden, stammen aus 2 unterschiedlichen Quellen. Ein nach wie vor geltendes Paradigma ist, dass MHC-Klasse-I-Moleküle hauptsächlich Peptide von Proteinen intrazellulärer und MHC-Klasse-II-Moleküle Peptide von Proteinen extrazellulärer Abstammung präsentieren.
Die Identifizierung solcher Peptide nach Elution aus der Bindung mit MHC-Molekülen ergab charakteristische Längen für Peptide, die in MHC-Klasse I präsentiert werden, von 8– 10 Aminosäuren im Gegensatz zu MHC-Klasse II Peptide, die eine Länge von 12–20 Aminosäuren aufweisen. Die Bindung eines Peptids an ein MHC-Molekül ist durch das Vorhandensein besonderer Aminosäuren an charakteristischen Positionen im Peptid, den so genannten Ankerpositionen, vorherbestimmt. Nachdem heutzutage eine Vielzahl von Peptidsequenzen bekannt sind, ist es möglich, anhand der Sequenz eine Vorhersage zu treffen, ob und wie gut ein bislang unbekanntes Peptid an MHC-Klasse I oder II binden kann (http://bimas.cit.nih.gov/molbio/hla_bind/ oder http://www. uni-tuebingen.de/uni/kxi/ link:Database SYFPEITHI).
44
476
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
⊡ Tabelle 44.2. Expression mutierter Onkogenproteine als Neoantigene in humanen Tumoren
III
Protein
Mutation/Genumlagerung
Vorkommen
CSF-1-Rezeptor
Tyr969-Cys
AML (6–12%), MDS (9–12%)
RET
Met918-Thr Cys634-Mutation
MEN2B (100%) MEN2a 80%
EGFR
Deletion Bp275–1075
Gliome
N-ras*
Gly12, Gly13, Glu61
AML, Melanom, Schilddrüsenkarzinom, Seminom, Hepatoblastom, Lymphome; variabel bis zu 70%
K-ras*
Gly12, Gly13, Glu61
Pankreas-, Kolon-, Schilddrüsen-, Lungenkarzinom, Seminom; variabel bis zu 80%
H-ras*
Gly12, Gly13, Glu61
Blasenkarzinom, Schilddrüsenkarzinom, Nierenzellkarzinom; variabel bis zu 17%
p53*
>1000 bekannte Mutationen, 86% Kodon 120–290 Arg175, Arg248, Arg273
Ewing-Sarkom, Lungenkarzinom, Mammakarzinom, Kolonkarzinom, Zervixkarzinom, Lymphom, Leberzellkarzinom; am häufigsten
PML-RARA
t(15,17) Retinolsäure-Rezeptor α und Retinolsäure-Bindungsregion fusioniert an PML-Zink-Finger-Domäne
AML M3
E2A-PBX1
t(1,19) Ersatz der DNA Bindungsregion von E2A durch die von PBX1
prä-B-ALL (6%)
p210 BCR-Abl*/**
t(9,22)
CML 95%, ALL (3–5% bei Kindern, 30–50% bei Erwachsenen)
p185 BCR-Abl*
t(9,22)
ALL (3–5%)
ALL1-AF-4
t(4,11)
ALL (2%)
TEL-AML1
t(12,21)
ALL (16–22%)
TEL-MN1
t(12;22)
AML
TEL-ABL
t(5,12)
ALL
TEL-PDGFRβ
t(5,12)
JMML
TLS-ERG
t(16;21)
AML M3
PAX3-FKHR
t(2,13)
Rhabdomyosarkom
PAX7-FKHR
t(1,13)
Rhabdomyosarkom
EWS-FLI1
t(11,22)
Ewing-Sarkom, pPNET (88–95%)
EWS-ERG
t(21,22)
Ewing-Sarkom, PNET
EWS-ETV1
t(7,22)
Ewing-Sarkom, PNET
EWS-WT1
t(11,22)
Desmoblastom, Ewing-Sarkom
EWS-ATF1
t(X,22)
Klarzellsarkom
EWS-FLI1
t(11,22)
Ewing-Sarkom, PNET
NPM-ALK
t(2,5)
Anaplastisch großzelliges Lymphom
SYT-SSX1/2
t(X,18)
Synovialsarkom
KIP1
t(12,v)
ALL (5–10%)
MYC-bHLH
t(8,14)
ALL L3 (1–2%), NHL L3 (Burkitt-Lymphom)
AML1-ETO
t(8,21)
AML (15%)
MLL Fusionen
11q23 Rearrangement t(11;19)
AML (5–6%), ALL (7–10%)
WT1
11q13
Nephroblastom
Igk-MYC
t(2;8)
ALL/NHL L3 (B-ALL, Burkitt-Lymphom)
MYC-IgL
t(8;22)
ALL/NHL L3 (B-ALL, Burkitt-Lymphom)
* Bei Patienten beobachtete oder in vitro induzierbare zelluläre Immunantwort; **Fusionsproteine aus chromosomalen Translokatione mit einer Frequenz von <1% sind nicht berücksichtigt. ALL akute lymphoblastische Leukämie, AML akute myeloische Lekämie, bHLH basisches Helix-Loop-Helix-Protein, CML chronische myeloische Leukämie, CSF-1 »colony stimulating factor 1«, E2A ein Transkriptionsfaktor, EGFR epidermaler Wachstumsfaktor Rezeptor, JMML juvenile myelomonozytäre Leukämie, MDS myelodysplastisches Syndrom, PBX Homöobox enthaltendes Protein, PML Promyelozytenleukämie, pPNET peripherer primitiver neuroektodermer Tumor, RARA Retinolsäure-Rezeptor α, RET Rezeptor-Tyrosinkinase.
477 44 · Tumorimmunologie
⊡ Abb. 44.3. Antigenprozessierung und -präsentation. Die Präsentation von Antigenen erfolgt für intrazelluläre Proteine im Kontext von MHC I und für extrazelluläre Proteine im Kontext von MHC II. Überschneidungen in beide Richtungen sind beschrieben. Proteine aus intrazellulären Quellen werden im Proteasom zu Peptiden mit 8–10 Aminosäuren degradiert. Nach aktivem Transport in das endoplasmatische Retikulum erfolgt die Bildung des MHC-IPeptid-Komplexes, der nach Transport über den Golgi-Apparat auf der Zelloberfläche präsentiert wird. Proteine aus extrazellulären Quellen werden im »compartment for peptide loading« (CPL) in Fragmenten von 12–20 Aminosäuren mit MHC II zusammengesetzt und anschließend ebenfalls auf der Zelloberfläche präsentiert
Zellmembran
Endosom
Golgi-Apparat
CPL
Proteasom
Endoplasmatisches Retikulum
TAP-Transporter
Man unterscheidet grundsätzlich 2 Präsentationswege für Antigen-MHC-Klasse-I- und -II-Komplexe, die teilweise in unterschiedlichen Zellorganellen ablaufen. Endogene Proteine werden zu MHC-Klasse-I-Antigen-Komplexen, nachdem sie vom Proteasom degradiert werden (Groettrup et al. 1996). Die entstandenen Peptide befinden sich zunächst im Zytosol und werden dann in das endoplasmatische Retikulum (ER) transportiert. Hier werden sie mit der MHC-KlasseI-α-Kette und dem β2-Mikroglobulin zum MHC-Klasse-IAntigen-Komplex zusammengefügt. MHC-Klasse-II-Antigen-Komplexe entstehen hingegen in einem speziellen endosomalen Zellkompartiment, das als »compartment for peptide loading« (CPL) bezeichnet wird (Watts 2001). Hier werden aus dem extrazellulären Bereich durch Pinozytose und Phagozytose Proteine aufgenommen, die bei niedrigem pH proteolytisch gespalten werden. Die resultierenden Peptide werden dann mit MHC-Klasse-II-α- und -β-Ketten zum MHC-Klasse-II-Peptid-Komplex zusammengesetzt. Der MHC-Klasse-I-Präsentationsweg ist ubiquitär und findet sich in jeder Körperzelle, während der MHC-Klasse-II-Präsentationsweg auf bestimmte immunologische Zellen beschränkt ist, wie z. B. dendritische Zellen, B-Zellen und Makrophagen. 44.2.2 Unspezifische Mechanismen Natürliche Killerzellen. Natürliche Killerzellen (NK) sind ne-
ben antigenspezifischen T-Zellen eine Population aktivierter Lymphozyten, die potente Effektoren gegen maligne Zellen darstellen. Die Tumorzellerkennung erfolgt hier auf Basis des Fehlens einer spezifisch MHC-mediierten Inhibition. MHC-
Klasse-I-α-Kette
Klasse-II-α/β-Kette
β2-Microglobulin
Antigen
Invariante Kette
Calnexin
Klasse I spielt allerdings eine Rolle bei NK-Zell-vermittelter Zytolyse. NK-Zellen haben keinen T-Zellrezeptor, erkennen aber MHC-Klasse I auf der Targetzell-Oberfläche über so genannte »killing inhibitory receptors« (KIR) und werden dann inhibiert (Raulet u. Held 1995; Raulet 1996). Damit sind sie ein komplementäres System zu tumorspezifischen T-Zellen, die nur nach spezifischer Erkennung von Peptid-MHC-Klasse-IKomplex über den T-Zellrezeptor aktiviert werden. Tumorassoziierte Makrophagen. Tumorassoziierte Makrophagen (TAM) stellen einen großen Anteil inflammatorischer Infiltrate bei einer Reihe humaner Tumoren dar. Sie haben einen direkten unspezifischen antitumoralen Effekt, spielen aber auch bei der spezifischen T-Zell-vermittelten AntitumorImmunität eine wichtige Rolle. Der direkte Antitumoreffekt von aktivierten TAM wird über sekretorische Produkte wie TNF, IL-1, freie Sauerstoffradikale, Proteasen und NO vermittelt. Der spezifische Beitrag erfolgt über deren Fähigkeit, MHC-Klasse II zu exprimieren, was es ihnen erlaubt, Antigenen Helfer-T-Zellen zu präsentieren, die CD4+ sind. Diese MHC-Klasse-II-vermittelte Präsentation von Antigen durch TAM resultiert in der Sekretion von hauptsächlich TH1-HelferZytokinen im Tumormikromilieu, die die Grundlage für das so genannte »danger signal« darstellen (Matzinger 1998). ! Das »danger signal« führt zu verstärktem Einwandern von weiteren unspezifischen Immunzellen wie NK-Zellen oder TAM sowie von spezifischen CD8+-TZellen. Ferner wird durch die TH1-Zytokine das zweite Signal für die Aktivierung von tumorspezifischen CD8+-T-Zellen bereitgestellt.
44
478
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Ferner sind TAM neben Granulozyten die wichtigsten Effektoren in der Fc-Rezeptor-vermittelten ADCC-Reaktion. 44.3
III
Therapeutische Ansätze
Die Ursprünge der Entwicklung therapeutischer Krebsimpfstoffe geht an den Anfang des letzten Jahrhunderts zurück. Der erste klinische Nutzen wurde bereits 1909 von Coca und Gilman 1909 beschrieben (Silverstein 1988), nach wiederholter Vakzinierung in 14-tägigen Abständen mit vitalen autologen und allogenen Tumorzellen. Das wachsende Verständnis tumorimmunologischer Mechanismen sowie die Weiterentwicklung zell- und molekularbiologischer Technologien führte zu einem Arsenal an Vakzinierungsstrategien, deren neuere Entwicklungen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit angesprochen werden. Jede Vakzinierungsstratie benötigt eine Quelle für mindestens ein tumorassoziiertes Antigen (TAA). Die gesamte Bandbreite von autologen oder allogenen Tumorzellen über Tumorzelllysate, Proteinen bis zu Peptiden kann hier zum Einsatz kommen oder deren entsprechende Nukleinsäure (DNA oder RNA). Aufgrund der niedrigen Antigenität und Immunogenität eines TAA spielen Maßnahmen zur Erhöhung der Adjuvantizität des Vakzins durch verbesserte Kostimulation und optimierte Antigenprozessierung und Antigenpräsentation eine entscheidende Rolle. 44.3.1 Zelltherapie Bei der Verwendung von Tumorzellen als Antigenquelle unterscheidet man grundsätzlich zwischen allogenen und autologen Zellvakzinen. Unter allogener Vakzine versteht man ein standardisiertes Gemisch an Zelllinien, die nicht mit dem MHC-Spektrum des Patienten übereinstimmen. Allerdings enthält so ein Gemisch die wichtigen TAA eines malignen Tumors. Einer der wesentlichen Voraussetzungen für das Funktionieren einer allogenen Zellvakzine überhaupt ist das Vorhandensein kreuzreaktiver Antigene in diesem Zellgemisch. Das heißt, MHC-Peptid-Antigen-Komplexe im allogenen Zellgemisch müssen in der Lage sein eine T-Zellimmunantwort auszulösen, die mit MHC-Peptid-Komplex auf den Tumorzellen des Patienten kreuzreagiert. Das ist aufgrund der MHC-Mismatch-Situation bei gleichzeitiger MHC-Restriktion der Peptid-Antigenerkennung durch den T-Zellrezeptor keine Selbstverständlichkeit. Dass es solche Kreuzreaktivität gibt wurde beim malignen Melanom bereits gezeigt (Morton et al. 1993) und ist für andere maligne Erkrankungen denkbar (Bowman et al. 1998a). Dieses Problem existiert bei der autologen Vakzine nicht. Hier müssen die Tumorzellen des Patienten gewonnen werden wodurch ein MHC-Mismatch vermieden wird. Die Kunst bei diesem Prinzip liegt in der Erhöhung von Antigenität und Immunogenität, was durch eine Vielzahl von Verfahren erreicht werden kann. Hier kommt die Gentherapie zum Einsatz mit dem Ziel z. B. immunstimulatorische Moleküle (Zytokine/Chemokine; Lode et al. 1999; Bowman et al. 1998b; Dranoff et al. 1993), T-Zellrezeptor kostimulatorische Elemente (B7.1, B7.2; Stripecke et al. 2000), CD40-Ligand (Kato
et al. 1998) oder allogene MHC-Klasse-I-Moleküle (Borgmann et al. 1998) durch die Tumorzellvakzine produzieren zu lassen. Durch diese Manipulation wird eine tumorspezifische Aktivierung des Immunsystems erreicht, die idealer Weise in eine lang anhaltende Immunprotektion mündet. Eine weitere Zellvakzinierung, die sich gegenwärtig einer großen Beliebtheit erfreut, ist der Einsatz von dendritischen Zellen. Diese sind »professionelle antigenpräsentierende Zellen«, die am besten in der Lage sind, die beiden notwendigen Signale zur T-Zellaktivierung bereitzustellen (Banchereau et al. 2001). In klinischen Studien werden dendritische Zellen aus peripherem Blut von Patienten isoliert oder hämatopoetische Stammzellen, die dann unter besonderen Kulturbedingungen in dendritische Zellen zur Differenzierung angeregt werden. In vitro werden die dendritischen Zellen mit Antigen beladen oder mit Nukleinsäuren (DNA oder RNA) genetisch verändert, so dass sie intrazellulär das Antigen selbst herstellen. ! Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Einsatz der genannten Zellvakzinstrategien liegt in der effizienten Durchbrechung der Toleranz für Tumorantigene.
Gentransfer Das Einschleusen neuer genetischer Information in eukaryotische Zellen kann durch chemische, physikalische und biologische Verfahren erreicht werden. Nur ein kleiner Teil dieser Verfahren ist klinisch anwendbar. Die Injektion nackter DNA in Muskelgewebe ist eines der Verfahren, das zu humoraler und zellulärer Immunität gegen in Plasmid-DNA kodierte Antigene führen kann. Die DNA selbst wirkt dabei als Adjuvanz durch stimulierende CpGMotive, die eine TH1-Immunantwort begünstigen. Nach der DNA-Injektion erfolgt die Produktion der kodierten Proteinoder Peptidantigene in der Muskelzelle. Die Antigene werden in sekundär lymphatischen Organen besonders in den drainierenden Lymphknoten aufgenommen und durch APC präsentiert. Die Vorstellung, dass durch Muskelzellen direkt präsentierte Antigene einen wesentlichen Beitrag leisten, wurde bereits wieder verlassen. Die Impfung mit Plasmid-DNA kann durch Kopplung mit Liganden wie Rezeptorliganden, Antikörper oder Viruspartikel optimiert werden. Diese DNA-Ligand-Konstrukte nutzen eine Bindungsstelle auf der Zellmembran aus, um so die spezifische Aufnahme in eine Zielzelle durch Endozytose zu optimieren. Verschiedenste Liganden wurden hier bereits eingesetzt, wie z. B. Transferrin, Histone, Antikörper und Adenoviruspartikel. Die Verpackung von Plasmid-DNA in kationische Lipidkomplexe oder Liposomen verbessert die direkte Interaktion mit der Zelloberfläche und erleichtert so die intrazelluläre Aufnahme. Auf diese Weise wird der Gentransfer in die Zielzelle erheblich verbessert. Der Goldpartikel-vermittelte Gentransfer erfolgt nach deren Beladung mit Plasmid-DNA. Diese werden durch Gasdruck beschleunigt und in die Haut oder einen Tumor geschossen, ein unter dem Begriff »gene gun« bekannt gewordenes Verfahren. Bakterielle Vektorsysteme aus der Gruppe der attenuierten Salmonellen werden erfolgreich zur Immunisierung eingesetzt. Hier macht man sich den natürlichen Infektionsweg durch apathogene Salmonellen zu Nutze, in welche Plasmid-
479 44 · Tumorimmunologie
DNA eingebracht werden kann, die für Tumorantigene kodiert. Nach der Infektion sterben diese attenuierten Salmonellen, werden von APC aufgenommen und setzten die Plasmid-DNA frei. Nach Transkription des kodierten Proteins erfolgt dann die Immunisierung in den Peyerschen Plaques. Bei viralem Gentransfer unterscheidet man retrovirale und nicht-retrovirale Techniken. Bei retroviralen Vektoren werden Gene, die für Kapsidproteine (gag), reverse Transkriptase (pol) und Hüllproteine (env) kodieren, deletiert, damit keine infektiösen Partikel mehr aus dem viralen Genom heraus entstehen können und das Virus sich nicht mehr vermehren kann. Zur Herstellung eines infektiösen Virus werden diese essenziellen Bestandteile durch eine Verpackungszelllinie bereitgestellt. So entsteht ein infektiöses, aber nicht replizierendes Retrovirus. Nicht-retrovirale Viren aus der Pockenvirus-, Adenovirus- oder Herpes-Familie sind für viralen Gentransfer sehr gut geeignet. Auch bei den nicht-retroviralen Virussystemen sind Gene, die zur Virusreplikation notwendig sind entfernt, um die Sicherheit zu erhöhen. Der wesentliche Unterschied von retroviralem Gentransfer zu den anderen Methoden ist die Integration in das Genom der Targetzelle. Der Vorteil liegt in einer stabileren und zeitlich längeren Genexpression im Gegensatz zu den anderen Verfahren mit hauptsächlich episomaler und dadurch zeitlich limitierter Genexpression. Allerdings kann die Integration zu unvorhersehbaren Änderungen der Funktion des Genoms führen. Tumorzellvakzine Das Ziel der genetischen Modifikation von Tumorzellen ist die Erhöhung von deren Antigenität. Zur Zeit wird dies nach Gewinnung autologer Tumorzellen vom Patienten und dem Gentransfer ex vivo und in vitro erreicht, was eine Reihe technischer Probleme mit sich bringt. Die genetisch veränderten Tumorzellen werden nach Attenuierung durch Bestrahlung dem Patienten injiziert. Die tumorspezifische Genapplikation in vivo wäre ein weiterer Fortschritt auf diesem Gebiet, ist allerdings noch in der Entwicklungsphase. Zur Erhöhung der Tumorantigenität wurde vielfach der Zytokingentransfer eingesetzt. Sehr wirksam erwiesen sich TH1-Zytokine wie IL-2, IL-12 IFN-γ, und IL-18, die den Weg in die Klinik bereits gefunden haben. Bei pädiatrischen Tumoren kam bislang die Zytokingentherapie mit IL-2 beim Neuroblastom zum Einsatz, die bei einigen Patienten im fortgeschrittenen Stadium eine vollständige Remission erzielte (Bowman et al. 1998b). Im Prinzip wurde der Gentransfer aller Immunmodulatoren einschließlich Kombinationen mit Chemokinen in präklinischen Modellen getestet und die Ergebnisse versprechen Fortschritte auf diesem Gebiet (Dilloo et al. 1996). Auch der Gentransfer von allogenen MHC-Klasse-I- und -II-Molekülen oder bakteriellen Superantigenen wurde eingesetzt. Hier zeigte sich zwar eine gute Aktivierung des Immunsystems, allerdings häufig unspezifisch ohne die erwünschte tumorspezifische Immunisierung. Eine zweite wichtige Molekülgruppe, die erfolgreich im Gentransfer eingesetzt wird sind kostimulatorische Moleküle (B7, LFA-1 etc.), die das zweite Signal zur T-Zell-Aktivierung bereitstellen. Das Prinzip dieses Ansatzes ist ähnlich dem des Zytokingentransfers und optimiert die tumorspezifische T-Zellaktivierung durch die genetisch veränderte Zell-
vakzine, wobei das erste Signal durch ein in MHC-Klasse I präsentiertes TAA auf der Oberfläche der Zellvakzine bereitgestellt werden muss. Dendritische Zellen Da Tumorzellen keine professionellen APC sind, sind Tumorzellvakzine aufgrund der Notwendigkeit der Präsentation eines TAA im Kontekt von MHC-Klasse I und II limitiert. Aus diesem Grund kommen dendritische Zellen vermehrt zum Einsatz. Diese können Antigene ausgezeichnet präsentieren, wenn man Ihnen eine Antigenquelle zur Verfügung stellt; dies ist bei der Tumorzellvakzine nicht erforderlich. ! Das Beladen dendritischer Zellen mit TAA kann mittels Tumorzelllysaten, gereinigten oder rekombinanten Proteinen oder Peptiden erfolgen. Ferner stellt der Gentransfer von Nukleinsäuren (DNA oder RNA), die für TAA kodieren, in dendritische Zellen eine wirksame Methode dar. Auch Zellfusionen zwischen dendritischen Zellen und Tumorzellen wurden in mehreren präklinischen Studien bereits erfolgreich eingesetzt.
Dendritische Zellen können entweder direkt dem Patienten zur aktiven Immunisierung verabreicht werden, oder sie dienen zur Herstellung von T-Zellen ex vivo. Diese werden dann zur adoptiven Zelltherapie eingesetzt. Bei pädiatrischen Patienten mit soliden Tumoren wurde die subkutane Gabe von dendritischen Zellen bereits eingesetzt, die mit autologen Tumorzelllysaten als Antigenquelle beladen wurden (Felzmann et al. 2002). Eine Phase-I-Studie zeigte gute Verträglichkeit der Therapie und die Induktion einer tumorspezifischen T-Zellaktivierung (Geiger et al. 2001). Adoptive Zelltherapie Definition Bei der adoptiven zellulären Immuntherapie werden T-Lymphozyten des Patienten ex vivo stimuliert, um anschließend reinfundiert zu werden.
Die Stimulation erfolgt in der Regel mit dendritischen Zellen, die mit mindestens einem TAA beladen sind, so dass die Voraussetzung zum erste Signal der T-Zellrezeptoraktivierung (Antigen-MHC-Komplex) gewährleistet ist. Das zweite Signal wird üblicherweise über z.B. B7.1-CD28-Interaktion bereitgestellt. Mit dieser Methode konnten bereits eine Vielzahl tumorspezifischer T-Zellen ex vivo erzeugt werden, die nach Reinfusion klinisch vielversprechende Ergebnisse zeigten (Yee et al. 2002; Dudley et al. 2002; Couzin 2002). Auch bei Tumoren im Kindes- und Jugendalter ist dieses Verfahren erfolgreich zur Erzeugung von T-Zellen gegen BCR/ABL (Clark et al. 2001) oder MYCN (Sarkar u. Nuchtern 2000) eingesetzt worden. Klinische Studien sind mit diesem Verfahren bis auf wenige Ausnahmen bislang nur bei Melanompatienten durchgeführt worden. Im weitesten Sinne ist auch die Donorlymphozyteninfusion (DLI) nach allogener Knochenmarktransplantation eine adoptive Immuntherapie. Aufgrund der Inkompatibilitäten zwischen Spender und Empfänger werden residuelle Leu-
44
480
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
kämiezellen von den Spenderlymphozyten als »fremd« erkannt. Dies bezeichnet man auch als »Graft-versus-leukemia«-Effekt. Die Zielantigene, die von den Donorlymphozyten erkannt werden, sind in der Regel hämatopoesespezifische Minorhistokompatibilitätsantigene (z. B. HA-1, HA-2). Eine mögliche zweite Antigengruppe stellen Neoantigene dar, die durch genetische Aberrationen in Leukämiezellen (z. B. bcr/abl) entstehen. In einer größeren Studie bei pädiatrischen Patienten konnte eine signifikante Abnahme der Inzidenz eines Rückfalls bei Kindern mit AML, ALL und MDS nach allogener Stammzelltransplantation durch DLI beobachtet werden (Beck et al. 2002). Insbesondere solche Patienten, die nach der Transplantation einen gemischten Chimärismus aufwiesen, zeigten nach prophylaktischer DLI eine reduzierte Rezidivrate.
-VH VL-
Heavy chain-Light chain
-CH1 CLCH2CH3Maus
Humanisiert
44.3.2 Antikörper Lange nach deren Entdeckung bewiesen monoklonale Antikörper ihre Wirksamkeit gegen Krebserkrankungen. Dies wurde durch Fortschritte in der Antikörpertechnologie realisierbar, die eine Verbesserung der Limitierungen durch monoklonale Antikörper, die von der Maus abstammen, möglich gemacht hat. Diese Limitierungen sind die Immunogenität des Mausproteins im Menschen, eine verkürzte Serumhalbwertszeit sowie ineffiziente Effektorfunktionen. Die angewendeten Schlüsseltechnologien, um Mausantikörper der menschlichen Immunglobulinsequenz anzu gleichen, sind in ihrer historischen Reihenfolge Chimärisierung, Humanisierung und Herstellung komplett humaner Antikörper in Mäusen, die transgen für das menschliche Immunglobulin-Repertoire sind (⊡ Abb. 44.4). Eine weitere Möglichkeit zur Herstellung komplett humaner Antikörper besteht durch den Einsatz der Phage-Display-Technologie (Barbas 1993). Monoklonale Mausantikörper werden nach Immunisierung von Mäusen oder Ratten durch Fusion deren B-Zellen mit nicht-sezernierenden Myelomzellen hergestellt, die man dann als Hybridom bezeichnet (Köhler u. Milstein 1975; Mausanteil 100%). Chimäre Antikörper entstehen durch genetische Fusion der kodierenden Sequenzen der variablen Regionen eines monoklonalen Mausantikörpers mit den konstanten Regionen der schweren und leichten Kette eines humanen Immunglobulins (Boulianne et al. 1984; Mausanteil: 30%). Humanisierung erfolgt durch das Einsetzen der CDR (»complementarity determining region«) des monoklonalen Mausantikörpers, also dem Bereich der direkt die Antigenbindung vermittelt, in ein humanes Immunglobulin (Mausanteil <5%). Komplett humane Antikörper werden durch Phage-Display-Libraries hergestellt. Hier wird das gesamte menschliche Immunglobulinrepertoire auf der Oberfläche von Bakteriophagen präsentiert. Über einen Selektionsprozess, den man als »biopanning« bezeichnet, kann ein antigenspezifischer Phage isoliert werden, aus dem die humanen spezifischen variablen Regionen isoliert werden, die anschließend zur Herstellung eines gesamt IgG dienen. Das zweite Prinzip zur Herstellung humaner Antikörper ist die Immunisierung von Mäusen, deren endogene Antikörperproduktion genetisch zerstört wurde, die aber Transgene tragen, die für einen großen Anteil des humanen Immunglobulin-Repertoires kodieren. Mit der
Human
Chimär Maus
Human
CDR
⊡ Abb. 44.4. Monoklonale Antikörper. Schematische Darstellung monoklonaler Antikörper differenziert nach relativen murinen (rot) und humanen (blau) Proteinanteilen. CDR »complementarity determining region«
klassischen Hybridomtechnik werden also aus diesen Mäusen humane monoklonale Antikörper hergestellt. Klinischer Einsatz von Antikörpern Eine Reihe von tumorspezifischen Antikörpern befinden sich in klinischer Phase-II/III-Prüfung und insgesamt 5 sind bereits klinisch zugelassene Therapeutika (⊡ Tabelle 44.3; Carter 2001). Die meisten Antikörper sind direkt gegen Epitope auf der Zelloberfläche gerichtet. Die Wirkung nackter Antikörper wird entweder durch ADCC und CDC vermittelt oder besteht in der Induktion einer antiidiotypischen Immuantwort. Diese Mechanismen monoklonaler Antikörper wirken am effektivsten bei reduziertem Tumorbefall im Stadium der minimalen Resterkrankung (MRD). Eine Reihe von Strategien werden derzeit untersucht, die Wirksamkeit solcher Antikörper zu optimieren, einschließlich der Verbesserung immunologischer Effektorfunktionen sowie die direkte und indirekte Beladung der Antikörper zur gerichteten zytotoxischen Therapie. Der erste zugelassene monoklonale Antikörper zur Therapie maligner Erkrankungen ist Rituximab, der zur Behandlung CD20-positiver NonHodgkin-Lymphome eingesetzt wird (Maloney et al. 2002). Auch wurde dieser Antikörper bereits zur Behandlung EBVinduzierter lymphoproliferativer Erkrankungen wiederholt angewendet (Faye et al. 1998). Der chimäre Antigangliosid-GD2-Antikörper ch14.18 (Handgretinger et al. 1995) sowie der murine AntigangliosidGD2-Antikörper 3F8 (Kushner et al. 2001) sind monoklonale Antikörper, die bei einer Vielzahl von Neuroblastompatienten bereits zum Einsatz kamen. Beide Antikörper erkennen das Gangliosid GD2, ein Antigen das beim Neuroblastom stark überexprimiert wird.Vielversprechende Ansprechraten konnten in diesen Studien beobachtet werden, so dass diese Anti-
481 44 · Tumorimmunologie
⊡ Tabelle 44.3. Monoklonale Antikörper in der Onkologie (nach Carter 2001)
Bezeichnung
Antigen
Antikörper
Angenommenes Wirkungsprinzip
Erkrankungen
Avastin
VEGF
huIgG1
Kombination mit Chemotherapie
Kolonkarzinom Lungenkarzinom
BEC2
Antiidiotyp mAb für Gangliosid GD3
muIgG
Vakzine
Melanom
Mitumomab
Kleinzelliges Lungenkarzinom
Tosistumab Bexxar
CD20
muIgG2a
131
Alemtuzumab Campath
CD52
huIgG1
Nackter Antikörper
B-Zell-CLL
CeaVac
Antiidiotyp mAb für CEA
muIgG
Vakzine in Kombination mit Chemotherapie
Kolonkarzinom Lungenkarzinom
Trastuzumab Herceptin
ErbB2
huIgG1
Nackter Antikörper in Kombination mit Chemotherapie
Mammakarzinom
IMC-C225
EGFR
chIgG
Nackter Antikörper in Kombination mit Chemotherapie und Bestrahlung
Kolonkarzinom
CD22
huIgG1
Nackter Antikörper
Jod
Centuximab Epratuzumab LymphoCide
Non-Hodgkin-Lymphom
»Head-and-neck«-Karzinom Non-Hodgkin-Lymphom
MDX-210
ErbB2 x CD64
muF(ab´)2
Bispezifisches Fab-Fragment
Ovarialkarzinom
Gemtuzumab Ozogamicin Mylotarg
CD33
huIgG4
Calicheamicin Immunkonjugat
AML
Edrecolomab Panorex
EpCam
muIgG2a
Kombination mit Chemotherapie
Kolonkarzinom
Rituximab Rituxan
CD20
chIgG1
Kombination mit Chemotherapie
Non-Hodgkin-Lymphom
Pemtumomab Theragyn
PEM
muIgG1
90
Ovarialkarzinom Magenkarzinom
Zamyl
CD33
huIgG1
Kombination mit Chemotherapie
AML
Ibritumomab Zevalin Tituxetan
CD20
muIgG1
90
Non-Hodgkin-Lymphom
1A7
Antiidiotyp mAb für Gangliosid GD2
muIgG2a
Nackter Antikörper
Melanom Neuroblastom
Ch14.18
Gangliosid GD2
chIgG1
Nackter Antikörper
Neuroblastom
Yttrium
Yttrium
AML akute myeloische Leukämie, CEA karzinoembryonales Antigen, CLL chronisch lymphatische Leukämie, PEM polymorphes epitheliales Muzin, VEGF vasoendothelialer Wachstumsfaktor, EpCam epitheliales »cell adhesion molecule«.
körper in Phase-II- und -III-Studien in den USA und in Europa weiter evaluiert werden. Auch Kombinationen dieser Antikörper mit Zytokinen (IL-2 und GM-CSF) werden derzeit klinisch untersucht (Hank et al. 1994; Kushner et al. 2001). Ein weiterer vielversprechender Einsatz von Antikörpern besteht in der Induktion einer antiidiotypischen Immunantwort. Hier wird ein Spiegelbildantikörper zur Immunisierung verwendet, der im Sinne einer aktiven Immunisierung im Patienten zu einer humoralen Immunantwort führt, die dann gegen den Tumor gerichtet ist. Bei Patienten mit GD2 positiven Tumoren wird der Antiidiotypantikörper 1A7, der ein Spiegelbild zu dem ch14.18-Anti-GD2-Antikörper darstellt, erfolgreich eingesetzt. Erste klinische Ergebnisse zeigen bei Melanompatienten einen ausgezeichneten Immunisierungseffekt (Foon et al. 2000).
Auf diesen Ergebnissen aufbauend ist eine Studie an der UC San Diego bei Neuroblastompatienten gestartet worden. Langzeitergebnisse stehen allerdings noch aus. Auch bei Patienten mit B-Zell-Lymphomen ist eine Antiidiotypvakzinierung in der klinischen Prüfung. Hier wird das von den malignen B-Zellen auf der Oberfläche exprimierte Immunglobulin zur Immunisierung eingesetzt. Die Schwierigkeit liegt in der Isolierung oder Identifizierung des malignomspezifischen Immunglobulins aus Patientenmaterial, das dann zur Vakzinierung eingesetzt werden kann (Timmerman et al. 2002; Davis et al. 2001). Die Ergebnisse erster klinischer Studien sind vielversprechend mit Berichten über komplette Remissionen nach Idiotypvakzinierung bei Patienten mit Resterkrankung nach konventioneller Therapie.
44
482
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
Modifizierte Antikörper Die am weitesten verbreitete Strategie, die Wirksamkeit tumorspezifischer Antikörper zu verbessern, ist deren direkte Beladung mit Toxinen oder Radionukliden und somit die Herstellung von Immunkonjugaten. Diese zeigen in präklinischen Modellen bessere Wirksamkeit, als die ungekoppelten Ausgangsmoleküle. Ein Antikörperkonjugat ist bereits für AML zugelassen (Myelotarg®; Tabelle 44.3) und zwei weitere stehen kurz vor der Zulassung (Bexxar®, Zevalin®). Beim Myelotarg® handelt es sich um ein Anti-CD33Antikörper, der mit dem Toxin Calicheamicin gekoppelt ist. Mit diesem Konjugat konnten bei CD33-positiven akuten myeloischen Leukämiepatienten in der Rezidivsituation komplette Remissionen erzielt werden (Sievers et al. 2001). Die bisherige Erfahrung bei Kindern mit rezidivierender bzw. therapieresistenter AML zeigt, dass die Remission gewöhnlich von kurzer Dauer ist; in einigen Fällen konnte jedoch in der Remissionsphase eine Stammzelltransplantation erfolgreich durchgeführt werden (Zwaan et al. 2003). Die Verwendung von kleinen hochtoxischen organischen Molekülen zur Herstellung von Immuntoxinen scheint ein vielversprechender Ansatz zu sein. Bislang war der Einsatz von Konjugaten aus Antikörper und Zytostatika durch eine zu niedrige Potenz des Zytostatikums limitiert. Hochpotente Toxine wie Calicheamicin und Maytansinoid ermöglichen eine Applikation geringer Mengen des Konjugats, was unspezifische Bindung reduziert und so die Tumorspezifität deutlich verbessert. Ferner kann die Konjugation des Antikörpers mit dem Toxin so gewählt werden, dass es zu einer Reduktion der Toxizität im Konjugat kommt und nach Abspaltung des Toxins vom Antikörper am Tumor seine volle Wirksamkeit wieder entfalten kann, ähnlich einem Prodrug-Prinzip. Weitere toxische Moleküle zur Herstellung von Immuntoxinen sind toxische Proteine wie z. B. PseudomonasExotoxin oder die A-Kette des Ricins, die rekombinant mit Antikörpern oder Antikörperfragmenten fusioniert werden können. Ferner finden tumorspezifische Antikörper Anwendung in der Herstellung von Immunoliposomen. Diese bestehen aus einer Lipidmembran (Bilayer), in die toxische Moleküle wie z. B. Doxorubicin eingebracht werden können, und so unerwünschte Nebenwirkungen vermindert. Die Oberfläche dieser Liposomen kann mit tumorspezifischen Antikörpern versehen werden, die den tumorspezifischen Effekt erzeugen. Die Beladung von Antikörpern mit Radionukliden führt zur Bildung von Radioimmunkonjugaten, die nach tumorspezifischer Erkennung einen Bystander-Effekt haben. Das liegt an der Verwendung von Radionukliden, die β-Teilchen emittieren (131Iod, 186/188Rhodium, 90Yttrium), und deshalb über viele Zelldurchmesser hinaus wirken. Ein erfolgreiches Konstrukt ist Zevalin, ein 90Yttrium Radioimmunkonjugat eines Anti-CD20-Antikörpers zur Therapie von Non-Hodgkin-Lymphompatienten. In einer klinischen Studie wird auch die Überlegenheit des Radioimmunkonjugats Zevalin über die Wirksamkeit des nackten Antikörpers Rituxan in Analogie zu den präklinischen Daten wahrscheinlich gemacht (Marcus 2005). Radionuklide wie 212/213Bismuth und 211 Astatin, die α-Partikel emittieren, wurden evaluiert. Der hohe lineare Energietransfer durch α-Partikel ermöglicht ebenfalls einen wirksamen Bystander-Effekt, allerdings über ein kürzere Distanz von <100 µm.
Eine vielversprechende Alternative zu Immunkonjugaten sind Immunzytokine. Der tumorspezifische Antikörper ist hier gentechnisch mit einem Zytokin wie IL-2, IL-12 oder GM-CSF fusioniert und führt so zu einer Erhöhung der Zytokinkonzentration im Tumormikromilieu. Das induziert eine Immunantwort über Aktivierung körpereigener Effektoren wie T-, B-, und NK-Zellen oder Makrophagen in Abhängigkeit vom verwendeten Zytokin. In einigen präklinischen Modellen konnte sogar eine T-Zellimmunisierung erreicht werden gefolgt von der Ausbildung einer Gedächtnisimmunantwort (Lode et al. 1998). Ein humanisiertes Immunzytokin aus Interleukin-2 und dem AntigangliosidGD2-Antikörper 14.18 (hu14.18-IL-2) wird derzeit in einer Phase-I/II-Studie der COG evaluiert. Auch bispezifische Antikörper werden zur aktiven Immuntherapie eingesetzt. Diese erkennen sowohl ein tumorassoziiertes Antigen als auch ein zweites Epitop. Das auf T-Zellen exprimierte CD3 ist ein beliebtes Target, welches sowohl T-Zellen anlockt; dies führt unspezifisch aktiviert zu einer Zytolyse der Tumorzellen. Ein CD3xCD19-bispezifischer Antikörper ist für Patienten mit B-Zell-Lymphomen (Manzke et al. 2001) in der klinischen Entwicklung. Auch ein H22xKi-4-Konstrukt ist in einer frühen Phase der klinischen Entwicklung für refraktäre Hodgkin-Lymphompatienten (Borchmann et al. 2002).
Vor dem Hintergrund der vielseitigen in der Entwicklung befindlichen Therapieansätze der passiven und aktiven Immuntherapie steht es außer Zweifel, dass das Potenzial immuntherapeutischer Strategien zur Behandlung maligner Erkrankungen noch nicht ausgeschöpft ist. Eine der wesentlichen Schwächen des gesamten Gebiets ist die bislang noch monotherapeutisch ausgerichtete Vorgehensweise. Das verstärkte Nachdenken über geschickte Kombinationen immuntherapeutischer Strategien wird die Entwicklung differenzierter Immuntherapieprotokolle ermöglichen, wie wir sie bisher aus der Chemotherapie kennen.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Grundlagen
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45
485
Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose B. Selle
45.1 45.2 45.3 45.4 45.5
45.7 45.8 45.9 45.10
Einleitung – 485 Lymphadenopathie – 486 Kopfschmerzen und/oder Erbrechen – 488 Knochen- und Gelenkschmerzen – 488 Abdominale Schwellung und Bauchschmerzen – 489 Allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber, Blässe – 490 Blutungsneigung – 490 Husten, Dyspnoe, obere Einflussstauung – 491 Weichteilschwellung – 491 Etablierung der Diagnose – 491
45.10.1 45.10.2 45.10.3
Labordiagnostik – 491 Bildgebende Diagnostik – 492 Zytologische/histologische Diagnostik – 492
45.11
Früherkennung von onkologischen Erkrankungen im Kindesalter – 493 Literatur – 493
45.6
Angefangen hatte alles mit Schmerzen in den Beinen nach der Fahrradtour vor 4 Wochen. Zunächst schienen die Beschwerden der 7-jährigen Eva harmlos, denn der Orthopäde fand selbst beim Röntgen der Hüfte keine krankhaften Veränderungen. Aber irgendwie war Eva schneller erschöpft als früher. Dann bekam sie Fieber und Halsschmerzen für einige Tage. Und danach waren die Beinschmerzen wieder da, heftiger als zuvor und auch nachts. Jetzt fielen dem Kinderarzt bei der Untersuchung die leicht vergrößerte Leber und Milz auf. Deshalb veranlasste er eine Blutbildanalyse: Hämoglobinkonzentration, Leukozyten- und Thrombozytenzahl waren deutlich vermindert. Die Knochenmarkuntersuchung in der Kinderklinik bestätigte den Verdacht: Eva hatte eine akute lymphoblastische Leukämie.
45.1
Einleitung
Die Diagnose einer Tumorerkrankung im Kindesalter beginnt mit der sorgfältigen Anamnese und klinischen Untersuchung. Mögliche Tumorsymptome zu erkennen ist der erste Schritt und zugleich die erste Hürde: Tumorkrankheiten sind selten gegenüber den alltäglichen, meist infektiös verursachten Gesundheitsstörungen bei Kindern. Die klinischen Symptome von Tumorerkrankungen sind vielfältig, bedingt durch die Unterschiedlichkeit der Tumorarten und -lokalisationen. Sie sind meist unspezifisch und vieldeutig, nur selten charakteristisch. Hinter den in der Kinderarztpraxis so häufig vorkommenden Beschwerden
wie Fieber, Blässe, Lymphknotenschwellung, Kopfschmerzen, Erbrechen, Gliederschmerzen, Bauchschmerzen oder Husten können sich Tumorerkrankungen verbergen, da sie zugleich Leitsymptome kindlicher Neoplasien sind (⊡ Tabelle 45.1). Wie ist es möglich, Verdachtsmomente für das Vorliegen einer Tumorerkrankung – gewissermaßen die Stecknadel im Heuhaufen – zu entdecken? Grundvoraussetzung ist, die Möglichkeit einer Tumordiagnose auch beim Kind nicht aus dem Auge zu verlieren (Young et al. 2000). Immerhin erkrankt jedes 500. Kind im Laufe seiner ersten 14 Lebensjahre an einer malignen Neoplasie – eine kumulative Inzidenz, die diejenige des kindlichen Diabetes mellitus Typ 1 in Deutschland übertrifft. Hinweisend auf eine Tumorerkrankung ist oft die Kombination der Symptome und ihr kontinuierliches oder undulierendes Fortbestehen über Wochen. Auch vage, wechselnd geäußerte, nicht auf den ersten Blick durch klinische Befunde objektivierbare Beschwerden können auf eine Tumorerkrankung hinweisen, wenn sie persistieren. Nicht selten nehmen die Eltern einen Unterschied der Beschwerden gegenüber zurückliegenden Erkrankungen wahr, ohne dass sie diesen Unterschied präzise in Worte fassen können: Irgend etwas ist anders, das Kind will nicht mehr spielen, ist anlehnungsbedürftiger. Sie spüren, »dass etwas nicht stimmt«. »Das Wis-
⊡ Tabelle 45.1. Symptome maligner Tumorkrankheiten bei Kindern und Jugendlichen. Beobachtung bei 90 unselektionierten neuerkrankten onkologischen Patienten der Universitätskinderklinik Heidelberg über die Jahre 1999–2000. Mehrfachnennungen von Symptomen pro Patient war möglich
Symptom
% der Patienten
Schwäche, Blässe
20
Fieber
20
Lymphadenopathie
13
Blutung
9
Knochen- und Gelenkschmerzen/-schwellung
34
Bauchschwellung/Bauchschmerzen
14
Erbrechen
13
Kopfschmerzen
11
Neurologische Auffälligkeit/Krampfanfälle
19
Schwindel Weichteilschwellung
8 10
Husten, Atemnot, obere Einflussstauung
3
Kein Symptom (zufällige Diagnose)
1
Andere (Harnverhalt/Hämaturie/Dysurie, Kopfschiefhaltung, Opso-/Myoklonus, Virilisierung)
9
486
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
sen der Eltern kann bei der Identifikation einiger Störungen nützlicher sein als Checklisten von Symptomen« (DixonWoods et al. 2001). Cave
III
Die Akuität der Erkrankung und die Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes sind bei Tumorerkrankungen anfänglich weniger eindrucksvoll als bei vielen Infektionen. Dies erschwert die diagnostische Einordnung von Tumorsymptomen und spiegelt die vitale Bedrohung des Patienten nicht wider.
Die körperliche Untersuchung liefert weitere wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose einer malignen Neoplasie. Bei der akuten lymphoblastischen Leukämie findet man bei 2 Drittel der Kinder zusätzlich zu den geklagten Beschwerden (Mattigkeit, Gliederschmerzen, Fieber) neben den sichtbaren Auffälligkeiten (Blutungen, Lymphknotenschwellung) eine Hepato- oder Splenomegalie. Bei den meisten Nephroblastomen kann der Tumor als derbe abdominale Raumforderung palpiert werden. Etwa jeder 10. Abdominaltumor eines Kindes wird sogar zufällig anlässlich klinischer Untersuchungen aus anderen Gründen z. B. bei einer Vorsorgeuntersuchung entdeckt (Golden et al. 2002). Das Alter des erkrankten Kindes ist ein weiterer Schlüssel für die Einordnung möglicher Tumorsymptome. Während die Abdominalschwellung des jüngeren Säuglings am ehesten durch ein Neuroblastom verursacht wird, überwiegen bei Kleinkindern die Nephroblastome. Zur Anamnese bei Verdacht auf eine Tumorkrankheit gehört schließlich die sorgfältige Erhebung der Vorgeschichte des Kindes und der Familienanamnese. Neoplasien bei Kindern können mit genetisch bedingten Erkrankungen wie der Trisomie 21, der Neurofibromatose, der Fanconi-Anämie, dem WiedemannBeckwith-Syndrom und verschiedenen Immundefektsyndromen assoziiert sein. Ebenso können bestimmte Umweltfaktoren wie eine Exposition gegenüber radioaktiver Bestrahlung, bestimmten chemischen Substanzen oder Virusinfektionen wie HIV (humanes Immundefizienz-Virus) oder EBV (Epstein-Barr-Virus) das Risiko einer Tumorerkrankung im Kindesalter beeinflussen. 45.2
! Unter einer Lymphadenopathie versteht man über 1–2 cm im Durchmesser hinaus vergrößerte Lymphknoten. Für einen neoplastischen Ursprung charakteristisch sind indolente, nicht selten vom Kind selbst unbemerkte, nicht gerötete oder überwärmte, teilweise miteinander oder mit der Umgebung adhärente Lymphknoten von meist derberer Konsistenz (»Sack voller Nüsse«) oder auch Lymphknoten in ungewöhnlicher Lokalisation.
Supraklavikulär sind bereits kleinere Lymphknoten tumorverdächtig. Die Mehrzahl der peripheren malignen Lymphadenopathien ist supradiaphragmal und hier meist zervikal lokalisiert (Wollner et al. 1993; ⊡ Abb. 45.1). Differenzialdiagnostik. Die seltenen tumorbedingten Lymph-
adenopathien bei Kindern müssen differenzialdiagnostisch von den häufigen, meist infektiös verursachten Lymphknotenschwellungen abgegrenzt werden. In der differenzialdiagnostischen Einordnung sind anamnestische Informationen zu Lebensumwelt (Landwirtschaft, Tierkontakt, Auslandsreisen, Umgebungserkrankungen), Vorerkrankungen, Verletzungen und Medikamenteneinnahmen (Phenytoin, Ciclosporin A) wesentlich. Generalisierte Lymphknotenschwellungen treten v. a. bei den lymphotropen Virusinfektionen durch Epstein-BarrVirus, Zytomegalievirus (CMV) und bei zahlreichen weiteren, z. T. mit anderen charakteristischen Symptomen wie Exanthemen einhergehenden Virusinfektionen wie Röteln, Masern oder auch Adenoviren, sehr selten auch bei systemischen bakteriellen Infektionen wie Bruzellose, Listeriose, Salmonellose auf.
Lymphadenopathie
Dass die Lymphadenopathie zu den häufigsten Symptomen einer Tumorkrankheit bei Kindern in Westeuropa und Nordamerika gehört (⊡ Tabelle 45.2), leuchtet ein, hat doch mit der akuten lymphoblastischen Leukämie und den malignen Lymphomen fast die Hälfte der malignen Neoplasien ihren Ursprung im lymphatischen System. Auch bei den soliden Tumoren, am häufigsten beim Neuroblastom und Rhabdomyosarkom, treten Lymphadenopathien infolge Metastasierung auf. Beim Schilddrüsen- oder Nasopharynxkarzinom imponieren zervikale Lymphadenopathien mitunter als erstes Tumorsymptom. Einzelne, kleine tastbare Lymphknoten, v. a. zervikal im Kieferwinkel, sind infolge der ständigen Exposition gegenüber neuen Viren und Bakterien über den Nasen-RachenRaum im Kindesalter normal.
⊡ Abb. 45.1. Periphere Lymphadenopathie bei akuter lymphoblastischer Leukämie
487 45 · Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose
⊡ Tabelle 45.2. Häufige Symptome und Untersuchungsbefunde bei Tumorerkrankungen im Kindesalter und deren Differenzialdiagnosen
Symptome
Tumorkrankheit
Differenzialdiagnosen
Diagnostik
Allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber, Schwäche, Blässe, Gewichtverlust, Inappetenz
Leukämie MDS Lymphom Neuroblastom Ewing-Sarkom
Bakterielle, virale und Protozoen-Infektionen (EBV, CMV, HIV, Mykoplasmen, Tb, Bruzellose, Malaria, Leishmanien u. a.) Systemische rheumatische Erkrankungen, Vaskulitiden, SAA, HLH
BSG, CRP BB, KMP VMA, HVA LDH
Periphere Lymphadenopathie
Leukämie Lymphom Rhabdomyosarkom Schilddrüsenkarzinom Nasopharynxkarzinom Neuroblastom
EBV, CMV, HIV, Röteln, Adenoviren, Masern, Influenza, Staphylokokken, Streptokokken, Tuberkulose, MOTT, Bruzellose, Bartonella henselae, Haemophilus, Listerien, Aktinomykose, Tularämie, Toxoplasmose, Mykoplasmen, Autoimmunerkrankungen, Kawasaki-Syndrom, Immundefektsyndrome, Histiozytosen, Rosai-Dorfman, Kikuchi, Castleman-Syndrom, Sarkoidose, Medikamente, Speicherkrankheiten
BSG, CRP BB, KMP VMA, HVA Röntgen-Thorax Sono-Lymphknoten Sono-Abdomen
Spontanblutungen (Haut, Schleimhaut, insbesondere Nase)
Leukämie Neuroblastom (Rhabdomyosarkom mit lokaler Schleimhautinfiltration)
ITP, SAA, HLH Kongenitale Thrombozytopenie, Thrombozytopathie, WJS
BB, KMP VMA, HVA
Bauchschwellung/ Bauchschmerzen
Wilms-Tumor Neuroblastom Lymphom Weichteilsarkom Hepatoblastom Keimzelltumor Leukämie
Multizystische Nierendegeneration Megakolon, Megasigma Invagination (idiopathisch, Meckel-Divertikulose) Kolitis, Appendizitis Echinokokkenzyste Benigner Abdominaltumor (z. B. Leberhamartom)
BB VMA, HVA, AFP, β-HCG LDH, Sono-Abdomen MRT/CT
Weichteilschwellung (auch Protrusio bulbi, pharyngeale Masse)
Weichteilsarkom LCH Neuroblastom AML NHL
Hämatom Phlegmone (Staphylokokken u. a.)
BB, CRP, BSG, VMA, HVA, Sono, MRT
Kopfschmerzen und/oder Erbrechen, neurologische Symptome, Tortikollis, Krämpfe
Hirntumor ZNS-Metastasen (Neuroblastom, ALL, NHL, Ewing-Sarkom)
Migräne und andere Kopfschmerzsyndrome Sinusitis Meningitis/Enzephalitis, Hirnabszess Metabolische Erkrankungen HLH
MRT, CT, Liquor, BB, CRP, Augenfundus, EEG, BZ, NH3 Astrup HVA, VMA, AFP
Knochen-/ Gelenkschmerzen, -schwellung
Leukämie Neuroblastom Osteosarkom Ewing-Sarkom Lymphom LCH
Osteomyelitis, rheumatische Erkrankungen/Vaskulitiden Aseptische Knochennekrosen, benigne Neoplasien (Osteoblastom u. a.)
BB, KMP VMA, HVA, BSG, CRP, Röntgen, Szintigraphie, Sono MRT/CT
Husten, Dyspnoe, obere Einflussstauung
Lymphom Leukämie Keimzelltumor Neuroblastom Weichteilsarkom
Pneumonie, Bronchitis, Tracheitits, Fremdkörperaspiration, CF, Tuberkulose, Sarkoidose, Karditis, Kardiomyopathie, bronchogene Zysten, enterogene Zysten, Lipome, Lymphangiome, Hämangiome
BB, KMP HVA, VMA, AFP, CRP, Röntgen-Thorax MRT/CT
AFP α-Fetoprotein, AML akute myeloische Leukämie, Astrup Säure-Basen-Status-Bestimmung im Blut, BB peripheres Blutbild, BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit, BZ Blutzucker, CF zystische Fibrose, CRP C-reaktives Protein, HLH hämophagozytische Lymphohistiozytose, HVA Homovanillinsäure, ITP idiopathische thrombozytopenische Purpura, KMP Knochenmarkpunktion, LCH Langerhans-Zell-Histiozytose, LDH Laktatdehydrogenase, MDS myelodysplastisches Syndrom, MOTT Mykobakterien außer Tuberkulose, NH3 Ammoniak im Blut, NHL Non-Hodgkin-Lymphom, SAA schwere aplastische Anämie, TB Tuberkulose, VMA Vanillinmandelsäure, WJS Von-Willebrand-JürgensSyndrom.
45
488
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Bei akuten unilokulären, meist deutlich dolenten, geröteten und überwärmten, mitunter fluktuierenden Lymphknotenschwellungen liegt am ehesten eine bakterielle Lymphadenitis durch Staphylokokken oder Streptokokken vor. Bei weniger dolenten und subakut entstandenen unilokulären Lymphadenopathien stehen eher Mycobakterium avium und andere Mykobakterien oder Bartonella henselae im Vordergrund. Selten kann es sich auch um eine Toxoplasmoseinfektion handeln. In der Differenzialdiagnose der Lymphadenopathie bei Kindern müssen schließlich die HIV-Infektion, angeborene Immun- und Granulozytendefekte sowie Histiozytosen berücksichtigt werden. Bei weiteren Symptomen wie Fieber, Exanthem und Schleimhautrötung ist an das Kawasaki-Syndrom zu denken. Selten kommen andere Vaskulitiden und Autoimmunerkrankungen in Frage. Weitere seltene, ätiologisch ungeklärte Krankheitsbilder mit Lymphadenopathien sind die RosaiDorfman-Erkrankung mit ausgeprägten schmerzlosen, meist bilateral zervikalen Lymphknotenschwellungen durch Proliferation von sinusoidalen Histiozyten ( Kap. 20) und die Kikuchi-Krankheit mit einer histiozytischen nekrotisierenden Lymphadenitis typischerweise eines Halslymphknotens (Twist 2002). Auch das Castleman-Syndrom präsentiert sich bei einem Drittel der betroffenen Kinder als periphere Lymphadenopathie, in anderen Fällen mit abdominalen oder – seltener als bei Erwachsenen – mit mediastinalen Manifestationen. Häufig treten zusätzlich Fieber und andere Allgemeinsymptome auf. Diese benigne lymphoproliferative Erkrankung unklarer Ätiologie zeigt 2 histologische Varianten. Im Kindesalter überwiegt der hyaline vaskuläre Typ assoziiert mit einer lokalisierten Erkrankung, bei der es ausschließlich der kompletten chirurgischen Exzision bedarf. Die Plasmazellvariante ist häufiger multizentrisch und bei Erwachsenen prognostisch ungünstiger (Parez et al. 1999). Diagnostik. Die Labordiagnostik bei Lymphadenopathie beginnt mit einem Blutbild. Eine Zytopenie oder blastenverdächtige Zellen können für die Diagnose einer Leukämie sprechen. Die sonographische Darstellung großer, nichtovalärer, hypoechogener Lymphknoten kann den Tumorverdacht erhärten. Findet sich in der Thoraxröntgenaufnahme, die bei jeder Lymphadenopathie im Zweifel veranlasst werden sollte, ein Mediastinaltumor, ist eine maligne Neoplasie wahrscheinlich. Auch ohne zusätzliche Symptome sollte bei Persistenz einer ätiologisch unklaren Lymphadenopathie nach 2–4 Wochen eine Biopsie zur diagnostischen Klärung erwogen werden. Bei primären Verdachtsmomenten für eine Tumorerkrankung wird die Biopsie oder bei Blutbildveränderungen die Knochenmarkpunktion ohne Verzögerung angestrebt.
45.3
Kopfschmerzen und/oder Erbrechen
Kopfschmerzen kommen bei Kindern v. a. ab dem Schulalter häufig vor. Ihre Prävalenz wird mit bis zu 90% und für migränetypischen Kopfschmerz mit bis zu 7% angegeben (Linet et al. 1989). Selten sind Kopfschmerzen Symptome eines Hirntumors. Chronische, nicht-migränetypische Kopfschmerzen von über 6 Monaten Dauer ohne weitere Symp-
tome werden nur in 0,01% der Fälle durch einen Hirntumor verursacht (Medina et al. 2001). Kombiniert mit Erbrechen dagegen sind Kopfschmerzen die häufigsten Beschwerden bei Hirntumoren im Kindesalter (Metha et al. 2002), da deren Lokalisation direkt oder indirekt durch Liquorzirkulationsstörung oft zu Hirndruck führt. ! Mit Erbrechen assoziierte Kopfschmerzen, v. a. wenn sie morgens auftreten oder zum Erwachen aus dem Schlaf führen oder wenn sie in Häufigkeit und Intensität zunehmen, sind verdächtig für das Vorliegen eines Hirntumors!
Erbrechen bei Hirntumoren tritt typischerweise ohne Übelkeit auf. Es findet sich häufig morgens, aber auch ohne Tageszeitbindung. Meist wird außerdem über Kopfschmerzen geklagt, gelegentlich beginnt die Symptomatik jedoch allein mit Erbrechen. Länger als 1–2 Wochen persistierendes Erbrechen bei einem Kind ohne Diarrhö oder Bauchschmerzen sollte an einen Hirntumor denken lassen. Die klassische Anamnese bei Hirntumoren mit progredienten morgendlichen Kopfschmerzen und Erbrechen findet man allerdings keineswegs regelhaft. Es gibt eine große Variabilität in den Merkmalen der Kopfschmerzsymptomatik. Kopfschmerzen bei kleineren Kindern können sich primär durch Verhaltensänderungen wie Irritabilität oder durch Schlagen auf den Kopf offenbaren. Die sorgfältige klinische Untersuchung zeigt bei der Mehrzahl der Kinder mit Hirntumoren zusätzlich pathologische neurologische Befunde wie Gangstörungen oder Verhaltensänderungen (Honig 1982). Eine jenseits des Säuglingsalters neu aufgetretene, persistierende Kopfschiefhaltung stellt ebenfalls ein typisches Symptom eines Hirntumors oder einer ZNS-Manifestation eines anderen Malignoms dar. Bei einer Minderheit der Kinder mit Hirntumoren beginnt die Symptomatik ohne Kopfschmerzen oder Erbrechen mit fokalen neurologischen Auffälligkeiten (Hirnnervenparesen, Koordinationsstörungen, Krampfanfällen; Halperin et al. 2001; Metha et al. 2002). Die augenärztliche Untersuchung kann z. B. durch den Befund eines Papillenödems den Hirntumorverdacht stützen. Auch neuroendokrin verursachte Störungen wie Wachstumsstillstand oder Diabetes insipidus können durch einen Hirntumor bedingt sein. 45.4
Knochen- und Gelenkschmerzen
Knochen- und Gelenkschmerzen kommen am häufigsten bei akuter lymphoblastischer Leukämie, bei primären Knochentumoren und bei in Knochen und Knochenmark metastasierenden Tumoren, v. a. beim Neuroblastom, vor. Mitunter liegt ihnen eine Langerhans-Zell-Histiozytose, selten auch ein primäres Knochenlymphom zugrunde. ! Mehr als 2 Wochen persistierende Knochen- oder Gelenkschmerzen können Symptom einer Tumorerkrankung sein und bedürfen der Abklärung.
Differenzialdiagnostisch kommen nach Ausschluss traumatischer Ursachen andere, in der Kinderarztpraxis nicht alltägliche Erkrankungen wie Osteomyelitis und Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, daneben auch aseptische Knochennekrosen sowie benigne Neoplasien in Betracht.
489 45 · Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose
⊡ Tabelle 45.3. Seltene Symptome/Manifestationen von Tumorerkrankungen im Kindesalter
Symptom/Manifestation
Art der Erkrankung
Endokrinopathien (Pubertas praecox, prämature Thelarche, Virilisierung, Cushing, Wachstumsrückstand, Diabetes insipidus) Hautinfiltrate
Hirntumor, Keimzelltumor, Nebennierenrindenkarzinom, Hepatoblastom, Langerhans-Zell-Histiozytose Leukämie (besonders akute Monoblastenleukämie), Neuroblastom, Langerhans-Zell-Histiozytose, NHL Leukämie, Neuroblastom Neuroblastom Leukämie, NHL Rhabdomyosarkom, Nephroblastom, Nierenzellkarzinom Rhabdomyosarkom Nephroblastom, Neuroblastom, Phäochromozytom Leukämie, Lymphom
Schleimhautinfiltrate, Ulzera, Aphthen Chronische Diarrhö Nierenversagen Hämaturie Harnverhalt, Dysurie Hypertension Paraneoplastische Autoimmunerkrankungen (RhA, Dermatomyositis, Myasthenie, Raynaud, Lupus erythematodes, nephrotisches Syndrom, Hepatitis) Hyperkalzämie Systolikum, Herzrhythmusstörung Akuter Visusverlust, neu aufgetretener Strabismus Akuter Zahnverlust, periodontaler Tumor Akute Querschnittssymptomatik Priapismus, Klitorismus Hypertrophe Osteoarthropathie
ALL NHL, Keimzelltumor, Weichteilsarkom Retinoblastom, Hirntumor, NHL Langerhans-Zell-Histiozytose, Weichteilsarkom, Lymphom, Neuroblastom Neuroblastom, Ewing-Sarkom, Weichteilsarkom, NHL, ALL AML, CML Nasopharynxkarzinom, Osteosarkom, Morbus Hodgkin, Rhabdomyosarkom u. a.
ALL akute lymphoblastische Leukämie, AML akute myeloische Leukämie, CML chronische myeloische Leukämie, NHL Non-Hodgkin-Lymphom, RhA rheumatoide Arthritis.
Knochenschmerzen bei Tumorerkrankungen werden typischerweise, und anders als bei rheumatischen Erkrankungen, nicht oder nicht allein in die Gelenke lokalisiert. Auch persistierende Rückenschmerzen besonders beim jüngeren Kind können Symptom einer Neoplasie sein (Antunes 2002). Mitunter sind sie nicht durch ossäre Läsionen, sondern durch intraspinale Weichteiltumoren mit Kompression des Rückenmarks verursacht (z. B. beim Neuroblastom, NHL, Ewing-Sarkom). Knochenschmerzen bei primären Knochentumoren beginnen häufig intermittierend, auch belastungsabhängig, und nehmen im Verlauf der Erkrankung an Intensität und Häufigkeit zu. Eine sichtbare Schwellung, in der Regel außerhalb der unmittelbaren Gelenkregion, tritt oft erst später hinzu. Für Knochenschmerzen bei Leukämie sind eine wechselnde Lokalisation und das Fehlen von objektivierbaren Veränderungen wie Schwellung, Rötung, Überwärmung in der schmerzhaften Region typisch. Mitunter äußern sich Knochenschmerzen bei Kleinkindern auch als hinkender Gang oder Gehverweigerung. Da Autoimmunerkrankungen, wie rheumatoide Arthritis oder Dermatomyositis, auch paraneoplastisch auftreten können (⊡ Tabelle 45.3), schließen eine entsprechende klinische Symptomatik ebenso wie der Nachweis von Autoantikörpern bei Knochenschmerzen eine Tumorerkrankung jedoch nicht aus (Cabral u. Tucker 1999). Bei persistierenden Knochen- oder Gelenkschmerzen gehört ein Blutbild unverzichtbar zur Diagnostik. Spätestens vor Beginn einer Steroidbehandlung bei Verdacht auf eine rheumatische Erkrankung sollte auch ohne Blutbildveränderungen in der Regel eine Knochenmarkdiagnostik veranlasst werden. Ungeklärte Knochen- oder Gelenkschmerzen
erfordern außerdem eine radiologische Diagnostik. Dabei sind neben dem schmerzhaften Knochen auch die benachbarten Gelenke bzw. Knochenabschnitte mit abzubilden. Mitunter führt die konventionelle Röntgenaufnahme nicht zur Klärung der Diagnose, so dass sie bei Fortbestehen der Beschwerden durch ein MRT und eine Skelettszintigraphie ergänzt werden sollte. 45.5
Abdominale Schwellung und Bauchschmerzen
Ein Fünftel der malignen Tumoren bei Kindern in Westeuropa und Nordamerika sind primär im Abdomen oder Becken lokalisiert. Neben den am häufigsten in dieser Lokalisation vorkommenden Nephroblastomen und Neuroblastomen gehören maligne Lymphome, v. a. das Burkitt-Lymphom, maligne Keimzelltumoren, Hepatoblastome und Weichteilsarkome hierzu. Differenzialdiagnostisch muss die Gruppe der selteneren benignen Abdominaltumoren (z. B. Hamartome, Teratome, Fibrome, Lymphangiome, Hämangiome) und der seltenen malignen Neoplasien (z. B. Karzinoide, Nebennierenrindenkarzinome, Nierenkarzinome) abgegrenzt werden. Die sichtbare Vorwölbung des Bauches oder die tastbare Tumormasse im Bauch oder Becken sind die typische Präsentation abdominaler Neoplasien im Kindesalter. Hierbei kann es sich um den Primärtumor handeln oder um eine Tumordissemination in die Leber (am häufigsten beim Neuroblastom Stadium 4S; ⊡ Abb. 45.2) oder in Leber und Milz (Leukämie, malignes Lymphom).
45
490
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
III
⊡ Abb. 45.2. Abdominalschwellung beim Neuroblastom Stadium 4S mit Leberbefall
! Eine indolente abdominale Raumforderung ist immer verdächtig auf eine neoplastische Erkrankung, wenn als Tumor imponierende Scybala bei Koprostase und eine maximal gefüllte Harnblase bei Blasenentleerungsstörung ausgeschlossen wurden.
Maligne Neoplasien imponieren meist als harte und unbewegliche Tumoren (Golden et al. 2002). Bei sicht- oder tastbaren abdominalen Tumoren wird gelegentlich, aber keineswegs regelmäßig, über häufig nicht sehr intensive Bauchschmerzen geklagt. Eine Analyse bei 250 Patienten mit Nephroblastomen zeigte, dass in der relativ kleinen Gruppe der Patienten mit Bauchschmerzen (14%) häufiger eine Tumorruptur, ein höheres Stadium und eine anaplastische Histologie vorkamen (Davidoff et al. 1998). Seltener sind persistierende oder rezidivierende Bauchschmerzen alleiniges klinisches Anzeichen einer abdominalen Neoplasie. Heftige, krampfartige Bauchschmerzen, oft mit Erbrechen, Inappetenz und Gewichtsabnahme treten v. a. bei einer Invagination verursacht durch ein intestinales Burkitt-Lymphom auf. ! Invaginationen bei über 2-jährigen Kindern ohne anamnestische Darmerkrankung oder vorausgegangene Laparotomie bedürfen immer der sorgfältigen Abklärung mittels Sonographie und ggf. MRT/CT (Navarro et al. 2000), um auslösende Tumoren zu identifizieren.
Neben sicht- oder tastbarem Tumor und Bauchschmerzen können selten Obstipation, Diarrhö, Erbrechen, Leberfunktionsstörung, Dysurie, Hämaturie, Harnverhalt, vaginale oder rektale Blutung führendes Symptom eines Tumors in Abdomen oder Becken eines Kindes sein. 45.6
Allgemeines Krankheitsgefühl, Fieber, Blässe
Diese Symptome, einzeln oder kombiniert, sind ein besonders vages, vieldeutiges Beschwerdebild. Fieberhafte Episoden, die sich innerhalb eines Zeitraumes weniger Wochen mehrfach wiederholen oder über eine Woche hinaus andauern, können Symptom verschiedener Tumorerkrankungen sein. Am häufigsten besteht Fieber bei Leukämien, seltener bei Lymphomen, Neuroblastomen oder Ewing-Sarkomen
in disseminierten Tumorstadien. Leicht erhöhte Temperaturen bei Morbus Hodgkin werden mitunter erst bei regelmäßigen Messungen festgestellt. Körperliche Schwäche und Blässe entwickeln sich bei Tumorerkrankungen meist langsam und werden deshalb nicht selten zuerst außerhalb der Familie, z. B. in der Schule oder bei Arztvorstellungen, bemerkt. Typisch ist auch das Weiterbestehen dieser Symptome nach Abklingen eines fieberhaften Infektes. Die Blutbilduntersuchung, bei entsprechenden Auffälligkeiten die Knochenmarkzytologie, aber auch die Bestimmung von Tumormarkern wie der Katecholaminmetabolite Vanillinmandelsäure (VMA) und Homovanillinsäure (HVA) oder des alpha-Fetoprotein (AFP) können richtungsweisend sein. Bei fehlender Klärung sollte an bildgebender Diagnostik eine Thoraxröntgenuntersuchung und eine Abdominalsonographie sowie ggf. eine Skelettszintigraphie ergänzt werden. Wesentliche Differenzialdiagnosen sind neben systemischen bakteriellen, viralen, mykotischen und ProtozoenInfektionen die aplastische Anämie, HämophagozytoseSyndrome, Autoimmunerkrankungen und periodische Fiebersyndrome wie das familiäre Mittelmeerfieber. 45.7
Blutungsneigung
Eine hämorrhagische Diathese als Symptom einer neoplastischen Erkrankung im Kindesalter ist in erster Linie Folge der verminderten Thrombozytenbildung bei Leukämien oder selten bei Knochenmarkinfiltration durch solide Tumoren, in wenigen Fällen beruht sie auf einer Koagulopathie, z. B. bei AML (FAB M3, auch M5) oder T-ALL mit Hyperleukozytose. Klinisch imponieren Hautblutungen in Form von Petechien, Sugillationen oder Hämatomen, mitunter auch Schleimhautblutungen wie eine Epistaxis. Organblutungen, v. a. Hirnblutungen, sind vor Beginn der Chemotherapie äußerst ungewöhnlich. Eine sehr charakteristische, gleichsam pathognomonische Blutung ist das Orbitahämatom als so genanntes Brillen- oder Monokelhämatom. Bei Fehlen eines Schädelhirntraumas liegt hier meist eine Orbitametastase eines Neuroblastoms (⊡ Abb. 45.3, Tabelle 45.4) vor. Die Blutbilduntersuchung weist in den meisten Fällen den diagnostischen Weg. Wenn sich neben einer Thrombozytopenie auch eine Anämie oder Granulozytopenie oder eine Leukozytose mit Blasten in der Zytologie findet, liegt die Diagnose einer neoplastischen Knochenmarkerkrankung nahe. Seltener besteht nur eine isolierte Thrombozytopenie, dann ist die wichtigste Differenzialdiagnose die idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP). Die Knochenmarkuntersuchung klärt die Diagnose und sollte bei isolierter Thrombozytopenie im Zweifel vor Beginn einer Therapie mit Steroiden stehen. Zahlreiche Studien konnten jedoch zeigen, dass bei klinisch typischer ITP das Risiko einer nicht erkannten Leukämie gering ist (Dubanski et al. 1989; Klaasen et al. 2001). Weitere seltene Differenzialdiagnosen der isolierten Thrombozytopenie sind die medikamentös induzierten Zytopenien, die kongenitalen Bildungsstörungen und gelegentlich eine thrombotisch-thrombozytopenische Purpura ( Kap. 35).
491 45 · Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose
Sehr viel seltener sind mediastinale Manifestationen von Schilddrüsenkarzinomen, Weichteilsarkomen, Ewing-Tumoren und Lymphknotenmetastasen z. B. von Neuroblastomen, möglich. Differenzialdiagnostisch kommen an benignen Läsionen bronchogene und enterogene Zysten, Lymphangiome, Hämangiome und Teratome in Frage. Bei mediastinalen, v. a. hilären Lymphadenopathien sind in der Differenzialdiagnose in erster Linie die Tuberkulose und andere Mykobakterien zu berücksichtigen, daneben die Sarkoidose sowie in Westeuropa seltene Infektionen wie die Histoplasmose. Die sehr raren primär kardialen Tumoren, am häufigsten Rhabdomyome bei tuberöser Sklerose, aber auch Keimzelltumoren oder Lymphome, können durch neuaufgetretene Herzgeräusche oder Herzrhythmusstörungen imponieren. 45.9 ⊡ Abb. 45.3. Orbitametastasen bei Neuroblastom
⊡ Tabelle 45.4. Seltene, pathognomonische Symptome von Tumorerkrankungen im Kindesalter
Symptom
Erkrankung
Brillen-/Monokelhämatom
Neuroblastom, AML
Protrusio bulbi
Neuroblastom, Weichteilsarkom, AML
Ataxie-OpsomyoklonusSyndrom (»dancing eye«)
Neuroblastom
Horner-Syndrom
Neuroblastom, Spinaltumoren
Leukokorie
Retinoblastom
45.8
Husten, Dyspnoe, obere Einflussstauung
10–15% der Tumoren des Kindesalters haben eine primär thorakale Manifestation, die oft keine oder nur unwesentliche klinische Symptome verursacht. Nicht selten werden Mediastinaltumoren erst im Rahmen der Staging-Diagnostik, zufällig bei Röntgenthoraxaufnahmen oder bei banalen Atemwegsinfekten entdeckt. Mitunter fallen Kinder mit großen Mediastinaltumoren durch eine obere Einflussstauung oder durch eine Dyspnoe infolge der Kompression von großen Gefäßen oder Atemwegen auf (Freud et al. 2002; Grosfeld et al. 1994). Andere Patienten haben einen über Tage oder Wochen persistierenden, nicht-produktiven Husten ohne weitere Anzeichen einer Infektion. Thorakale Neoplasien bei Kindern sind fast immer im Mediastinum lokalisiert. Primär pulmonale Tumorerkrankungen (z. B. pleuropulmonale Blastome) sind bei Kindern mit <1% außerordentlich rar. Im hinteren Mediastinum kommen am häufigsten Neuroblastome vor, die vom sympathischen Grenzstrang entspringen; Tumoren im vorderen und mittleren Mediastinum findet man bei Lymphomen, Leukämien (besonders T-ALL) und Keimzellneoplasien.
Weichteilschwellung
! Sichtbare, mehr als 1–2 Wochen persistierende Weichteilschwellungen beim Kind sind immer tumorverdächtig, v. a. ohne bekanntes auslösendes Trauma und ohne Hinweise für eine entzündliche Genese.
Sie können durch Weichteilsarkome oder extraossäre EwingSarkome, Neuroblastome, Lymphome oder Langerhans-ZellHistiozytosen verursacht werden. Bei Tumoren der Hoden, der Steißbeinregion oder selten am Hals kann es sich auch um Keimzelltumoren handeln. Kutane oder subkutane Infiltrate können außerdem im Rahmen einer AML, meist einer akuten Monoblastenleukämie, auftreten. Selten repräsentieren Weichteiltumoren in Form eines Myelosarkoms sogar die einzige Manifestation einer solchen hämatologischen Neoplasie. Weichteilschwellungen in der Orbita bei Rhabdomyosarkomen, Neuroblastomen oder Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL) können als Protrusio bulbi imponieren. Bei Primärmanifestation im Nasopharynx können eine behinderte Nasenatmung und/oder eine mitunter blutige Rhinorrhö auffallen. Eine ausgeprägte auch einseitige Tonsillenhyperplasie kann v. a. beim älteren Kind neoplastischer Genese sein und ebenfalls als Atemhindernis symptomatisch werden. Ursächlich kommen Lymphome, selten auch andere Malignome wie das Nasopharynxkarzinom in Frage. Deshalb sollte bei einer Tonsillektomie in diesen Fällen immer eine histologische Aufarbeitung veranlasst werden. 45.10
Etablierung der Diagnose
45.10.1 Labordiagnostik Die Labordiagnostik bei Tumorverdacht beginnt mit dem Blutbild einschließlich Differenzierung der Leukozyten. Eine Anämie mit verminderter Retikulozytenzahl, Thrombozytopenie, Granulozytopenie oder Leukozytose mit Nachweis auffälliger blastärer Zellelemente im Differenzialblutbild können für die Diagnose einer Leukämie sprechen oder – seltener – für eine andere das Knochenmark infiltrierende maligne Tumorerkrankung wie Neuroblastom, Rhabdomyo-
45
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
sarkom oder Ewing-Sarkom. Zur Diagnose führt die Knochenmarkaspirationszytologie. Zur Labordiagnostik von Tumorerkrankungen gehört außerdem die Bestimmung der so genannten Tumormarker. Die Katecholaminmetabolite VMA und HVA sind bei 90% der Neuroblastome in Serum oder Urin erhöht, differenzialdiagnostisch kommt lediglich das im Kindesalter seltene Phäochromozytom in Frage. Ein zweiter nützlicher Serummarker ist das AFP, das bei dem Befund eines Lebertumors die Diagnose eines Hepatoblastoms (bei >90% erhöht), seltener eines Leberzellkarzinoms begründet. Ein erhöhtes AFP und/oder β-HCG (β-humanes Choriogonadotropin) im Serum findet man ebenso bei verschiedenen malignen Keimzelltumoren, die im Abdomen, im Becken, im Mediastinum, am Hals und im Gehirn (Tumormarker auch im Liquor) lokalisiert sein können. Ein unspezifischer, aber für die Beurteilung von Tumormasse bzw. -zellumsatz und Prognose wertvoller zusätzlicher Laborparameter ist die Laktatdehydrogenase (LDH). Sind Hämolyse und Hepatopathie ausgeschlossen, kann eine deutlich erhöhte LDH als Indiz für das Vorliegen eines hochmalignen Tumors gelten. Die LDH ist oft erhöht bei Leukämien, Lymphomen oder Neuroblastomen, seltener bei anderen soliden Tumoren. Erhöhte Serumwerte für die neuronenspezifische Enolase (NSE) und das Ferritin sind typisch beim fortgeschrittenen Neuroblastom und hier mit einer ungünstigeren Prognose assoziiert. Dasselbe gilt für die erhöhte alkalische Phosphatase bei Osteosarkomen. CRP-Anstieg und BSG-Beschleunigung beobachtet man am häufigsten bei Morbus Hodgkin und akuter Leukämie, auch bei Ewing-Sarkomen. Weitere Tumormarker wie CA 19-9, CA 125 spielen bei pädiatrischen Neoplasien nur in Einzelfällen eine Rolle (Lahdenne u. Heikinheimo 2002). Zur Laborbasisdiagnostik bei vermuteter maligner Neoplasie gehören außerdem Untersuchungen, die Aufschluss über mögliche Organfunktionsstörungen infolge von Tumorinfiltration oder Tumorlysesyndrom geben können. Hierzu zählen die Bestimmung der Serumkonzentrationen von Kreatinin, Harnsäure, Bilirubin, GPT und eine Gerinnungsanalyse. Eine erhöhte Harnsäure findet sich am häufigsten bei akuten Leukämien, malignen Lymphomen und Tumoren mit hoher Proliferations- und Apoptoserate und/oder zusätzlicher Nephropathie. In seltenen Fällen ist die erhöhte Harnsäure sogar der auffälligste pathologische Laborbefund. Eine unerklärte isolierte Hyperurikämie beim Kind sollte immer auch an eine akute Leukämie denken lassen. 45.10.2 Bildgebende Diagnostik Zur radiologischen Diagnostik bei Verdacht auf Tumorerkrankung gehört die Thoraxröntgenuntersuchung mit der Frage nach einem Mediastinaltumor (malignes Lymphom, Leukämie, Neuroblastom, Keimzelltumor) oder Lungenmetastasen. Die Sonographie des Abdomens ist die Basisuntersuchung bei Verdacht auf einen Abdominaltumor. Ergibt sich aus der Symptomatik und dem klinischen Untersuchungsbefund sowie der dargestellten radiologischen und Labordiagnostik ein weitergehender Verdacht, können mittels MRT bzw. CT oder MIBG (Meta-Jodbenzylguanidin)-Szintigraphie
(Neuroblastom), Skelettszintigraphie (primäre Knochentumoren, Neuroblastom, Lymphome) und ggf. einer FDGPET-Untersuchung (Fluorodesoxyglukose-Positronenemissionstomographie) weitere Informationen über Art und Ausbreitung der Tumorkrankheit gewonnen werden. 45.10.3 Zytologische/histologische Diagnostik Die Sicherung und Präzisierung einer Tumordiagnose setzt immer die zytologische bzw. histologische und immunhistochemische Analyse des Tumorgewebes voraus. Sie wird häufig durch zytogenetische bzw. molekulargenetische Untersuchungen von Tumorgewebe ergänzt. Nach der klinischen Verdachtsdiagnose sowie gezielter Labor- und bildgebender Diagnostik entscheidet die sorgfältige Planung der Gewebegewinnung über Qualität und Geschwindigkeit in der Etablierung der exakten Diagnose. Die erste Entscheidung bei der Vorbereitung der Gewebeentnahme gilt dem Weg der Materialgewinnung. Bei mehreren Tumormanifestationen sollte die Stelle biopsiert werden, die mit dem geringsten Risiko erreichbar und gleichzeitig in hohem Maße repräsentativ für den Tumor ist. Tipp für die Praxis Bei allen soliden Tumoren muss bedacht werden, dass die Qualität der lokalen Tumorkontrolle wesentlich für die Prognose ist und deshalb bereits beim Primäreingriff berücksichtigt werden muss.
Bei kleineren Tumoren bedeutet dies, dass bereits vor dem Eingriff festzulegen ist, ob eine vollständige Tumorentfernung primär möglich und sinnvoll erscheint. Wird eine vollständige Tumorentfernung angestrebt, ist diese dann zwingend unter den Gesichtspunkten einer onkologisch ausreichenden Radikalität (Sicherheitsabstände!) durchzuführen. Bei Hinweisen auf eine Knochenmarkinfiltration wie Blutbildveränderungen oder auch deutlich erhöhten Werten für LDH oder Harnsäure als Indizien für hohe Tumormasse, sollte als erstes eine Knochenmarkpunktion erfolgen. Hierdurch kann nicht nur bei Leukämien, sondern mitunter auch bei Lymphomen oder Neuroblastomen, selten sogar bei Sarkomen, die Diagnose gestellt werden. Auch die Punktion eines mit einem thorakalen Tumor assoziierten Pleuraergusses kann bereits zur Diagnose führen. Das im vorderen Mediastinum lokalisierte lympoblastische NHL geht in 71% der Fälle mit einem Pleuraerguss einher (Chaignaud et al. 1998). Eine Feinnadelbiopsie erlaubt in der Regel nur die Gewinnung sehr begrenzter Gewebemengen. Bei Tumorerkrankungen im Kindesalter ist die Inkaufnahme der dadurch eingeschränkten Aussage nur in wenigen Fällen gerechtfertigt. Feinnadelbiopsien in Lokalanästhesie sind am ehesten bei großen Mediastinaltumoren mit Atemwegskompression indiziert, da hier eine Allgemeinanästhesie mit Muskelrelaxation mit einem hohen Risiko einer dekompensierten respiratorischen Insuffizienz belastet ist. Die Planung der Gewebeentnahme sollte in enger Kooperation zwischen Chirurgen, Radiologen, Pathologen und pädiatrischen Onkologen an einem Zentrum mit spezieller
493 45 · Klinische Tumordiagnose und Differenzialdiagnose
⊡ Abb. 45.4. Der Weg zur onkologischen Diagnose
kinderonkologischer Kompetenz erfolgen. Das gewonnene Tumorgewebe sollte schnellstmöglich steril (z. B. in einem mit NaCl 0,9% angefeuchteten Tupfer) dem Pathologen überbracht werden. In besonders schwierigen Fällen kann auch die Anwesenheit des Pathologen im Operationssaal notwendig sein. Das Untersuchungsmaterial wird mit dem Pathologen steril für die verschiedenen Untersuchungen aufgeteilt und zubereitet. 45.11
Früherkennung von onkologischen Erkrankungen im Kindesalter
Sinnvolle Früherkennungsstrategien wie bei einigen Karzinomerkrankungen des Erwachsenen konnten bei den Neoplasien des Kindesalters bisher nicht etabliert werden. Hinderungsgründe liegen v. a. in den Besonderheiten der Tumorbiologie, u. a. den hohen Proliferationsraten und der frühen systemischen Metastasierung, so dass ein sinnvolles Zeitfenster für Früherkennungsstrategien fehlt. Selbst beim Neuroblastom, das mit der Katecholaminausscheidung im Urin nicht-invasiv detektiert werden kann, gelang es mit den bisherigen Screening-Projekten nicht, die Tumormortalität zu senken. Ein frühkindliches Screening auf molekulare Veränderungen, die mit bestimmten kindlichen Neoplasien assoziiert sind und z. T. Jahre vor der Tumordiagnose gefunden werden können, wie der Nachweis des TEL/AML1-Rearrangements in neonatal gewonnenen Blutproben, scheidet gegenwärtig aus, da weder die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der assoziierten Tumorkrankheit noch der Vorteil einer Frühdiagnose für die Prognose geklärt sind (Wiemels et al. 1999; Taub et al. 2002).
Leitsymptome der klinischen Tumordiagnose im Kindesalter sind am häufigsten persistierende oder progrediente Lymphadenopathien, Knochenschmerzen, Kopfschmerzen mit Erbrechen, Abdominalschwellung oder Bauchschmerzen, Fieber und allgemeines Krankheitsgefühl, Blutungsneigung, Husten bzw. Dyspnoe oder eine Weichteilschwellung. Daneben kommen eine Vielzahl seltener Krankheitszeichen und -manifestationen, darunter auch pathognomonische Symptome bei Tumoren im Kindesalter vor. Die Aufmerksamkeit für ein tumorverdächtiges Beschwerdebild und auffällige klinische Untersuchungsbefunde sowie eine rationale Labor- und bildgebende Diagnostik bestimmen den Weg zur frühzeitigen Identifikation von Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen (⊡ Abb. 45.4).
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495
Pathologie D. Schmidt, I. Leuschner, C. Poremba1
46.1 46.2
Einleitung – 495 Untersuchungsgut
46.2.1 46.2.2
Biopsie – 496 Resektat – 496
46.3 46.4
Methoden – 496 Nephroblastom und andere Nierentumoren – 498
46.4.1 46.4.2 46.4.3 46.4.4 46.4.5
Tumoren niedriger Malignität – 498 Tumoren intermediärer Malignität – 499 Tumoren hoher Malignität – 500 Nephrogene Reste und Nephroblastomatose – 501 Histopathologische Stadieneinteilung – 501
46.5 46.6
Neuroblastom – 502 Hepatoblastom – 504
46.6.1 46.6.2
Rein epitheliales Hepatoblastom – 504 Gemischtes epithelial/mesenchymales Hepatoblastom – 504
– 496
46.7
Keimzelltumoren
46.7.1 46.7.2 46.7.3 46.7.4 46.7.5
Teratom – 505 Dottersacktumor – 506 Germinom – 506 Choriokarzinom – 506 Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ – 506
– 505
46.8
Ewing-Tumoren
46.8.1 46.8.2 46.8.3 46.8.4 46.8.5 46.8.6
Klassischer Ewing-Tumor – 507 Atypischer Ewing-Tumor – 507 Maligner peripherer neuroektodermaler Tumor – 507 Zytogenetik und Molekulargenetik – 507 Molekulargenetik und Expressionsanalyse – 508 Molekulare Diagnostik – 509
– 507
46.9
Rhabdomyosarkom
46.9.1 46.9.2 46.9.3 46.9.4
Rhabdomyosarkom mit günstiger Prognose – 510 Rhabdomyosarkom mit intermediärer Prognose – 510 Rhabdomyosarkom mit ungünstiger Prognose – 511 Zytogenetik und Molekulargenetik – 512
– 510
46.10 Nicht-rhabdomyosarkomatöse Weichteiltumoren – 514 46.10.1 46.10.2 46.10.3 46.10.4
Synovialsarkom – 514 Kongenitales (infantiles) Fibrosarkom Lipoblastom und Liposarkom – 515 Undifferenzierte Sarkome – 515
46.11 Osteosarkom – 515 46.12 Langerhans-Zell-Histiozytose Literatur – 516
1
Der 7-jährige Johannes erkrankte an einer schmerzhaften Schwellung des Radius. Ein Röntgenbild legte den Verdacht auf einen hochmalignen Knochentumor nahe. Die daraufhin durchgeführte Entfernung eines Teils des Radius unter Belassung des Periosts ergab im Schnellschnitt einen kleinblau-rundzelligen Tumor, der aufgrund der Histomorphologie im Paraffinschnitt und der positiven PAS-Reaktion als EwingSarkom klassifiziert wurde. Vor Beginn der Polychemotherapie wurde die im Behandlungsprotokoll für Ewing-Sarkome vorgeschriebene Knochenmarkpunktion am hinteren und am vorderen Beckenkamm durchgeführt, die zur Überraschung eine B-Vorläufer-ALL (PAS-positiv) ergab. In Kenntnis dieses Befundes wurde die erste Diagnose Ewing-Sarkom revidiert und als klein-blau-rundzellige Neoplasie des Radius interpretiert, zu vereinbaren mit Infiltraten einer ALL. 15 Jahre später befindet sich der Patient in anhaltender Erstremission seiner ALL. Der fehlende Teil des Radius ist nachgewachsen. Die Fehlinterpretation des erstbeurteilenden Pathologen wäre heute bei Anwendung der Immunhistologie und der Molekulargenetik nicht mehr möglich und zeigt exemplarisch den Wert dieser Methoden der modernen Pathologie für die pädiatrische Onkologie. Heute ist es üblich, dass eine Tumorgewebsprobe zusätzlich zu der konventionellen Lichtmikroskopie zumindest mit einer, wenn nicht sogar mit mehreren Zusatzmethoden untersucht wird.
– 515
– 516
Wir widmen dieses Kapitel Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Harms, em. Professor, ehemaliger Direktor des Instituts für Paidopathologie und Leiter des Kindertumorregisters bei der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie und würdigen hiermit seine großen Verdienste um die Versorgung krebskranker Kinder und Jugendlicher durch eine engagierte und hervorragende Diagnostik.
46.1
Einleitung
Die pathologisch-anatomische Diagnostik hat wesentlich dazu beigetragen, dass der therapeutische Erfolg bei den soliden Tumoren des Kindes- und Adoleszentenalters in den letzten Jahren gesteigert werden konnte. Schon die Entwicklung neuer Klassifikationsschemata brachte es mit sich, dass eine streng am Krankheitsrisiko adaptierte Therapie möglich wurde. Hinzu kamen aber auch neue Erkenntnisse, die aus der konsequenten Anwendung moderner Zusatzmethoden wie die Immunhistochemie, die Elektronenmikroskopie und zuletzt die Molekularpathologie gewonnen wurden. Heute ist es üblich, dass eine Tumorgewebsprobe zusätzlich zu der konventionellen Lichtmikroskopie zumindest mit einer, wenn nicht sogar mit mehreren Zusatzmethoden untersucht wird. Hierdurch gelingt es in den meisten Fällen, den Tumor präzise zu klassifizieren, sowohl hinsichtlich seiner Art als auch seiner möglichen Prognose bei standardisierter Therapie.
46
496
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
46.2
Untersuchungsgut
46.2.1 Biopsie Definition
III
Biopsie ist jede ärztliche Maßnahme, die mit der morphologischen Begutachtung von Zell- und Gewebsproben Lebender in Zusammenhang steht. Sie beschreibt den Vorgang der Entnahme selbst. Das Produkt ist das Biopsat, das nach geeigneter Fixierung und Einbettung geschnitten wird, anschließend gefärbt und zuletzt mit Hilfe des Mikroskops betrachtet wird.
Bei der Gewebsentnahme ist darauf zu achten, dass die Probe repräsentativ ist, nicht nur oberflächlich entnommen wurde und nicht während des Transports zum Pathologen austrocknet. Feinnadelbiopsien sind nach allgemeiner Überzeugung für die Erstdiagnose eines Tumors ungeeignet. Sie liefern zum einen nicht genügend Gewebe für die Zusatzdiagnostik, zum anderen ist die Probe in den meisten Fällen für den in Frage kommenden Tumor nichtrepräsentativ. Von einer ausreichend großen Gewebsmenge sollte stets ein Teil tiefgefroren werden, um an diesem Gewebe später zusätzliche Untersuchungen wie Histochemie, Immunhistochemie und Molekulargenetik durchführen zu können. In Ausnahmesituationen bei kritisch krankem Patienten mit ausgeprägtem abdominellen Tumor plus Aszites oder oberer Einflussstauung in Folge eines Tumors im vorderen oberen Mediastinum kann die Diagnose durch Ultraschall- bzw. CTgesteuerte Punktion des vermuteten Lymphoms gesichert werden. Insbesondere bei Vorliegen von Aszites bzw. Pleuraerguss kann dabei das notwendige Material für die immunologischen und molekulargenetischen Untersuchungen gewonnen werden. Für die Elektronenmikroskopie sollte möglichst unmittelbar nach der Operation ein ca. 5×5 mm großer nicht-nekrotischer Gewebsanteil mit einem scharfen Skalpell in weitere kleine Würfel mit einer Kantenlänge bis 1 mm zerlegt werden. Diese werden dann in kaltem 2,5% gepuffertem Glutaraldehyd fixiert. 46.2.2 Resektat Definition Resektate sind größere Operationspräparate, die vor der weiteren Aufarbeitung von einem Arzt für Pathologie zugeschnitten werden müssen.
Bei diesem Vorgang werden die für den Krankheitsprozess repräsentativen Gewebsanteile entnommen und insbesondere auch der Bezug des Tumors zum umgebenden Normalgewebe und zu den Resektionsrändern dargestellt. Ist ein Operationspräparat sehr groß, z. B. Wilms-Tumor mit angrenzender Niere, muss für eine ausreichende Formalinmenge gesorgt werden. Diese sollte ca. das 8- bis 10fache Volumen des Tumors selbst ausmachen, da das Formalin während des Fixierungsvorgangs »chemisch verbraucht«
wird. Idealerweise wird das Präparat dem Pathologen im Nativzustand übergeben, damit er nach Rücksprache mit dem Kliniker zunächst Teile des Tumorgewebes für zusätzliche Untersuchungen entnehmen und anschließend das restliche Tumorpräparat in geeigneter Weise, zumindest über Nacht, fixieren kann. Tipp für die Praxis Der Pathologe sollte das gesamte Präparat erhalten und nach Rücksprache mit dem Kliniker ggf. weitere Untersuchungen veranlassen.
46.3
Methoden
Histopathologie. Basis der täglichen Routinediagnostik ist
nach wie vor die konventionelle lichtmikroskopische Diagnostik am Paraffinschnitt unter Anwendung der Hämatoxylin-Eosin-Färbung. Weitergehende Informationen lassen sich durch die Anfertigung von Spezialfärbungen gewinnen. Hierzu gehören: ▬ die PAS(Period-Acid-Schiff)-Färbung zur Darstellung von Glykogen und neutralen Mukopolysacchariden, ▬ die Trichromfärbung zur Differenzierung von Bindegewebe und Muskulatur, ▬ die Versilberung (Gomori, Bielschowsky) zur Anfärbung der Retikulinfasern und Nervenfasern sowie ▬ die Giemsa-Färbung zur besseren Darstellung der Zelldifferenzierung in einem lymphatischen Tumorgewebe. Auf diese zusätzlichen Färbungen sollte nicht verzichtet werden, da sie in der Zusammenschau der Befunde einen erheblichen Zugewinn an Informationen liefern. Schnellschnitt. Dieser Begriff beschreibt einen Vorgang, der zum Ziel hat, in kürzester Frist (ca. 15 min nach Empfang der Gewebsprobe) eine morphologische Diagnose zu stellen, die unmittelbare therapeutische Konsequenzen nach sich zieht (in der Regel in Bezug auf weitere operative Schritte). ! Ein Schnellschnitt ist in der Diagnostik der Tumoren im Kindesalter zum Zwecke der Diagnosestellung nicht indiziert und sollte, wenn überhaupt, die Ausnahme bleiben.
Allerdings ist die Einsendung von Biopsiegewebe als Frischgewebe (wie oben dargelegt) und ggf. ein Schnellschnitt daraus durchaus zur Klärung der Frage geeignet, ob die Biopsie repräsentatives Tumorgewebe beinhaltet. Außerdem wird so dem Arzt für Pathologie die Möglichkeit gegeben, das zum Schnellschnitt eingefrorene Gewebe sofort für molekularpathologische Untersuchungen aufzuarbeiten oder entsprechend bei –80°C zu asservieren. Die nachfolgende Begutachtung von nicht gefrorenen Teilen der sorgfältig geplanten Biopsie am Paraffinschnitt ist bei der diagnostischen Schwierigkeit der Tumoren von Kindern und Jugendlichen unumgänglich. Immunhistochemie. Für immunhistochemische Untersu-
chungen stehen heute eine Vielzahl hochsensitiver Detek-
46
497 46 · Pathologie
⊡ Tabelle 46.1. Immunreaktivität der klein-rund-blauzelligen Tumoren (Prozentsatz positiver Fälle, n=9606)
⊡ Tabelle 46.2. Immunhistochemische Befunde bei spindelzelligen Weichteilsarkomen
Antikörper
ES
PNET DSRCT
Antikörper
Leiomyosarkom
MPNST
Synovialsarkom
Vimentin Desmin SMA HHF35 Myogenin AE1/AE3 EMA NSE S-100 Synaptophysin GFAP CGA NFP NB84 CD99 CD117 CD57 Fli1 WT1
85 1 0 4 0 8 0 40 17 5 0 0 16 23 95 0 (1 Fall) 19 70 0
86 1 0 4 0 20 10 52 31 39 0 1 23 26 63 50 24 70 0
Aktin (HHF35) CD146 P75NTR SMA H-Caldesmon EMA Desmin BCL-2 Protein S-100 Calponin E-Cadherin Cortactin CK19 PGP 6.5
89 100 4 89 76 8 68 34 6 82 13 85 0 34
20 20 85 11 0 17 10 28 64 0 5 0 4 94
0 0 94 15 0 78 1 94 25 0 61 0 80 67
NB
RMS
87 67 94 3 12 0 8 0 0 0 85 0 93 15 75 85 9 32 26 65 6 4 8 73 0 73 42 100 22 0 0 55 68 9 100 (1 Fall) 0 92 12
94 96 35 93 87 13 12 37 7 0 0 0 27 6 20 18 17 0 54
EMA epitheliales Membranantigen, MPNST maligner peripherer Nervenscheidentumor, SMA glattmuskuläres Aktin. Diagnostische wichtige Reaktionen sind kursiv hervorgehoben.
CGA Chromogranin, DSRCT »desmoplastic small roundcell tumor«, ES Ewing-Sarkom, GFAP saures Gliafaserprotein, NB Neuroblastom, NFP Neurofilamentprotein, PNET peripherer neuroektodermaler Tumor, RMS Rhabdomyosarkom, SMA glattmuskuläres Aktin. Diagnostische wichtige Reaktionen sind kursiv hervorgehoben.
Cave Keine Tumordiagnose allein aufgrund der Immunhistochemie!
In den meisten Fällen gelingt es nach Anfertigung geeigneter Immunreaktionen, eine aufgrund der Lichtmikroskopie vermutete Diagnose zu bestätigen oder abzulehnen. Der Anteil unklassifizierter Weichteilsarkome konnte so im Kindertumorregister in Kiel auf 3,9% gesenkt werden (Harms 1995). Auf die Einzelheiten der immunhistochemischen Befunde bei den verschiedenen Tumortypen wird im speziellen Teil unter den jeweiligen Tumorkapiteln eingegangen. Immunhistochemische Untersuchungen können nicht nur diagnostisch richtungweisend oder gar entscheidend sein, sie liefern auch wichtige Informationen hinsichtlich eines Ansprechens auf eine Therapie mit monoklonalen Antikörpern. Erfolgversprechende Ansätze hierzu gibt es mit dem Tyrosinkinaseinhibitor STI-571. Tumoren, die CD117 exprimieren können, sind in ⊡ Tabelle 46.4 zusammengestellt.
tionsmethoden und eine kaum noch überschaubare Menge an poly- und monoklonalen Antikörpern zu Verfügung. Immunhistochemische Untersuchungen sind unerlässlich bei der Differenzialdiagnose der klein-rund-blauzelligen Tumoren (⊡ Tabelle 46.1), aber auch bei spindelzelligen Weichteilsarkomen (⊡ Tabelle 46.2) und den Keimzelltumoren (⊡ Tabelle 46.3). Die verschiedenen Tabellen zeigen, dass es häufig Überschneidungen im Expressionsprofil zwischen verschiedenen Tumortypen gibt. Hieraus folgt, dass es nicht möglich ist, allein aufgrund eines speziellen Markerprofils eine Diagnose zu stellen. Für die Sicherung einer Diagnose ist die Synopse aller Befunde einschließlich der klinischen Angaben und der Histopathologie unerlässlich.
⊡ Tabelle 46.3. Immunreaktivität der verschiedenen Keilzelltumoren
Typ
AFP
CD30
CK8
CK19
β-HCG
Inhibin
PLAP
Andere
Seminom/Germinom
–
–
–/+
–
–
–
+
CD117+
Embryonales Karzinom
–
+/–
+
–
–
–
+/–
Dottersacktumor
+
–/+
+
+
–
–
–/+
Choriokarzinom
–
–
+
+
+
+
+
EMA+, HPL+
+: >90% der Tumorzellen positiv; +/–: 50–90% der Tumorzellen positiv; –/+: 10–50% der Tumorzellen positiv; –: <10% der Tumorzellen positiv. AFP α-Fetoprotein, β-HCG humanes Choriongonadotropin, EMA epitheliales Membranantigen, HPL humanes Plazentalaktogen, PLAP plazentare alkalische Phosphatase.
498
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
⊡ Tabelle 46.4. CD117-Positivität bei verschiedenen Tumortypen (Auswahl)
Tumortyp GIST, epitheloid
III
Gastrointestinales Stromasarkom
Fallzahl 13
% positiv 100
127
93
Fibromatose, NOS
34
77
Mesenteriale Fibromatose
24
60
5
60
Neuroblastom
22
55
Nephroblastom
21
53
PNET
51
51
Epitheloides Sarkom
10
50
Extraossäres Ewing-Sarkom
11
46
Synovialsarkom
52
41
Klarzellensarkom
44
28
Leiomyosarkom
164
7
Melanotisches Schwannom
Negative Tumortypen: DSCRT, MPNST, alveoläres Rhabdomyosarkom, solitärer fibröser Tumor. GIST gastrointestinaler Stromatumor; PNET peripherer neuroektodermaler Tumor.
Elektronenmikroskopie. Die Elektronenmikroskopie (EM) wird heute nur noch selten in der Tumordiagnostik eingesetzt. Gründe hierfür sind der große Aufwand in der Bearbeitung der Gewebsprobe sowie die hohen Investitions- und Betriebskosten. Es ist jedoch unstrittig, dass die EM durchaus in der Diagnose und Differenzialdiagnose von Tumoren bei Kindern und Jugendlichen weiterhelfen kann. ! Die Elektronenmikroskopie ist insbesondere in der Diagnostik der klein-rund-blauzelligen Tumoren, aber auch für die Langerhans-Zell-Histiozytose sinnvoll. Molekularpathologie. Molekularpathologische Untersu-
chungen sind sowohl am Gefriermaterial als auch am Paraffinmaterial möglich. Inzwischen steht eine Vielzahl von Methoden zur Verfügung, mit denen sich Veränderungen nachweisen lassen, die sowohl diagnostisch als auch prognostisch wichtig sind. Auf die Einzelheiten wird in den entsprechenden Kapiteln eingegangen. 46.4
Nephroblastom und andere Nierentumoren
len aber typische Nierentumoren des Kindesalters dar und sind ebenfalls in die SIOP-Klassifikation der kindlichen Nierentumoren aufgenommen. Die SIOP (Stockholm) Working Classification of Renal Tumors of Childhood wurde kürzlich geändert, um die Ergebnisse der letzten SIOP-Studie zu berücksichtigen (Vujanic et al. 2002).Diese neue Klassifikation ist Grundlage der derzeitigen Wilms-Tumor-Studie SIOP 2001/GPOH. Sie nimmt neben den morphologischen Typen auch auf den Effekt einer präoperativen Chemotherapie Rücksicht. Daher ist es für die Klassifikation wichtig, ob ein primär operierter Tumor oder ein Resektat nach präoperativer Chemotherapie vorliegt. 46.4.1 Tumoren niedriger Malignität Mesoblastisches Nephrom. Mesoblastische Nephrome der Niere finden sich gewöhnlich innerhalb des ersten Lebensjahres (Schmidt 1989). Der älteste, im Rahmen der amerikanischen National Wilms Tumor Study (NWTS) dokumentierte Fall, wurde im Alter von 29 Monaten diagnostiziert. Heute werden die »mesoblastischen Nephrome« bei älteren Kindern der Gruppe der so genannten metanephrischen Stromatumoren zugeordnet – einer neuen Entität, die kürzlich definiert wurde (Argani u. Beckwith, 2000). Zwei Varianten des mesoblastischen Nephroms existieren: Der klassische Typ und der zelluläre Typ (Kelly 1985). Der klassische Typ des mesoblastischen Nephroms ist ein aus Fibroblasten und Myofibroblasten aufgebauter monomorpher Tumor. Die Zellen sind in Bündeln und Wirbeln angeordnet. Die Begrenzung zum Nierengewebe ist unscharf und es finden sich häufig »fingerförmige Ausläufer«. Typischerweise finden sich auch kleine Areale eingeschlossenen präexistenten Nierengewebes. Der zelluläre Typ des mesoblastischen Nephroms weist eine schärfere Abgrenzung zum Nierengewebe auf. Die Zellularität ist deutlich höher als beim klassischen Typ; es finden sich zahlreiche Mitosen. Beide Typen des mesoblastischen Nephroms können den Nierensinus oder das perirenale Fettgewebe infiltrieren. Eine Beurteilung des Resektionsrandes ist daher unbedingt notwendig, um eine komplette Entfernung der Tumoren zu erreichen. Rezidive und Metastasen sind in einem Teil der Fälle beschrieben worden, besonders bei Kindern älter als 6 Monate. Rezidive treten in der Regel innerhalb von 12 Monaten auf und sind bevorzugt beim zellulären Typ des mesoblastischen Nephroms zu beobachten (Beckwith, persönliche Mitteilung). Zystisches, partiell differenziertes Nephroblastom. Zysti-
Aufgrund der Korrelation zwischen morphologischen Merkmalen und Überleben der Patienten konnten 3 prognostische Untergruppen für die kindlichen Nierentumoren in den vorangegangenen SIOP-Nephroblastom-Studien definiert werden: ▬ niedrige Malignität (low risk), ▬ Standardrisiko (intermediäres Risiko) sowie ▬ hohe Malignität (high risk). Mesoblastische Nephrome, Klarzellensarkome der Niere sowie Rhabdoidtumoren der Niere sind separate Entitäten, die von den Nephroblastomen abgegrenzt werden müssen, stel-
sche, partiell differenzierte Nephroblastome sind eine Variante der Wilms-Tumoren, die bei Kindern unter 2 Jahren vorkommen (Eble u. Bonsib 1998). Bereits makroskopisch ist ein gut abgegrenzter Tumor zu sehen, der ausschließlich aus Zysten mit dünnwandigen Septen besteht. Auch mikroskopisch sind die Septen dünn und können kleine Nester aus undifferenziertem Blastem, Tubuli und Stromazellen enthalten (Joshi 1979). Größere solide Areale dürfen beim zystisch, partiell differenzierten Nephroblastom nicht vorkommen. Histogenetisch ist diskutiert worden, dass das zystische, partiell differenzierte Nephroblastom die unreife Variante eines zystischen Nephroms darstellen könnte, die zu einem
499 46 · Pathologie
zystischen Nephrom ausreifen könnte (Beckwith, persönliche Mitteilung; Eble u. Bonsib 1998). Komplett nekrotisches Nephroblastom. Die präoperative
Chemotherapie in den SIOP-Nephroblastom-Studien hat zur Folge, dass in zahlreichen Tumoren so genannte »Chemotherapie-induzierte Veränderungen« auftreten. Ein Teil der Tumoren zeigt eine so hohe Chemosensibilität, dass nach der eigentlichen Tumorresektion kein vitales Tumorgewebe mehr nachweisbar ist. In einer vorangegangenen Studie konnte gezeigt werden, dass vollständig nekrotische WilmsTumoren eine exzellente Prognose haben und somit keiner weiteren postoperativen Chemotherapie bedürfen (BocconGibod et al. 2000). Für diese Diagnose ist es notwendig, dass einerseits durch klinische Untersuchungen das Vorliegen eines Nephroblastoms gesichert ist, andererseits ausreichend Gewebe untersucht wurde, um sicher zu gehen, dass kein vitales Tumorgewebe mehr vorhanden ist. Teilweise lassen sich in den Nekrosearealen noch schemenhaft avitale Tumorstrukturen erkennen, die die Diagnose eines vollständig nekrotischen Nephroblastoms unterstützen. ! Eine präoperative Chemotherapie kann zur vollständigen Nekrose des Nephroblastoms führen.
46.4.2 Tumoren intermediärer Malignität Epithelreiches Nephroblastom. Epithelreiche Nephroblastome treten gewöhnlich bei jungen Kindern auf (mittleres Lebensalter in der SIOP-Studie: 9 Monate). Ca. 80% dieser Tumoren finden sich im Stadium I (Vujanic et al. 2002). Bei älteren Kindern sollte man jedoch mit dieser Diagnose zurückhaltend sein, da sich nach intensiver Suche bei diesen Patienten gehäuft eine Anaplasie findet ( unten). Dieser Subtyp des Nephroblastoms besteht definitionsgemäß aus mehr als 65% epithelial differenzierten Tumorzellen. Diese können in Form von Tubuli, Rosetten oder glomeruloiden Strukturen vorhanden sein. Blastemnester können ebenfalls auftreten, jedoch sollten sie insgesamt weniger als 10% des vitalen Tumorgewebes ausmachen. Auch sollten keine größeren, makroskopisch bereits sichtbaren Blastemnester vorhanden sein. Die Stromakomponente kann in variablem Umfang auftreten. Definitionsgemäß machen die regressiven Veränderungen weniger als 65% aus. Stromareiches Nephroblastom. Stromareiche Nephroblastome stellen einen Subtyp mit Prädominanz einer Stromadifferenzierung dar. Das fetale rhabdomyomatöse Nephroblastom, das in früheren Klassifikationen zu der günstigen Prognosegruppe (low-risk) gezählt wurde (Wigger 1976), ist wegen der Seltenheit dieses Tumors mit in die Gruppe der stromareichen Nephroblastome aufgenommen worden. In diesen Tumoren findet sich ein starkes Überwiegen der Stromakomponente (>65% des vitalen Tumorgewebe). Im größten Teil der Fälle besteht die Stromakomponente aus spindeligen Zellen, die teilweise eine deutliche myogene Differenzierung aufweisen. Zusätzlich können auch Differenzierungen in Knorpelgewebe und Fettgewebe vorhanden sein. Ebenso lässt sich z. T. Osteoid nachweisen. Blastemnester
können auftreten, jedoch sollten sie insgesamt weniger als 10% des vitalen Tumorgewebes ausmachen. Auch sollten keine größeren, makroskopisch bereits sichtbaren Blastemnester vorhanden sein. Die Epithelkomponente kann in variablem Umfang auftreten. Die regressiven Veränderungen müssen unter 65% des Tumors ausmachen. Eine spezielle Differenzierung in der Stromakomponente tritt gehäuft nach präoperativer Chemotherapie auf, insbesondere in Form von Rhabdomyoblasten. Der Anteil der stromareichen Tumoren ist nach präoperativer Chemotherapie deutlich größer als ohne eine solche Vorbehandlung, so dass davon ausgegangen werden muss, dass in einem Teil dieser Tumoren vorher ein chemosensibles Tumorgewebe (ausschlussweise Blastem) vorgelegen hat, das durch die Therapie zerstört wurde. Stromareiche Nephroblastome treten gewöhnlich bei jungen Kindern auf. Dies gilt insbesondere für die Tumoren, die nur minimale regressive Veränderungen aufweisen und bei denen man davon ausgehen kann, dass auch vor der präoperativen Chemotherapie bereits ein stromareicher WilmsTumor vorgelegen hat. Die Stromakomponente ist gegenüber der Chemotherapie resistent. Das seltene fetale rhabdomyomatöse Nephroblastom, das heute als eine Variante des stromareichen Nephroblastoms angesehen wird, tritt in ca. 30% der Fälle bilateral auf (Wigger 1976). ! Auf eine präoperative Chemotherapie reagieren die verschiedenen Anteile eines Nephroblastoms ganz unterschiedlich. Blastemzellen sind in den meisten Fällen chemosensibel, Stromazellen demgegenüber chemoresistent. Gemischtes Nephroblastom. Gemischte Nephroblastome sind eine relativ heterogene Gruppe von Tumoren, in denen keine der Tumorkomponenten dominiert, d. h keine der Komponenten macht mehr als 65% des vitalen Tumorgewebes aus (⊡ Abb. 46.1). Die verschiedenen Differenzierungsmuster sind die gleichen wie in den anderen Nephroblastomtypen mit einer prädominierenden Komponente. Die regressiven Veränderungen müssen unter 65% des Tumors ausmachen. Regressives Nephroblastom. Der regressive Typ des Nephroblastoms zeigt ausgeprägte Veränderungen nach präoperativer Chemotherapie, wobei definitionsgemäß mehr als 2 Drit-
⊡ Abb. 46.1. Typisches Nephroblastom: Das Tumorgewebe besteht aus undifferenziertem Blastem, einem Tubulus und etwas Stroma
46
500
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
tel des Tumors regressiv verändert sein sollen. In dem verbliebenen vitalen Tumorgewebe (weniger als 35% des Gesamttumors) können alle histologischen Komponenten des Wilms-Tumors auftreten. Die typischen histologischen Veränderungen von vorbehandelten Nephroblastomen sind eine Mischung aus frischen Nekrosen, einem teils myxoiden, unterschiedlich zellreichen Narbengewebe sowie Ansammlungen von Makrophagen, die teilweise den typischen Aspekt von Schaumzellen haben, zusätzlich sind häufig Hämosiderinablagerungen zu sehen. In den frischen Nekrosen sind häufig noch schemenhaft Strukturen des untergegangenen Tumorgewebes, beispielsweise Blastem, erkennbar. Nephroblastom mit fokaler Anaplasie. Solche Nephroblasto-
me werden in der derzeitigen Studie zur Standardrisikogruppe (intermediäres Risiko) zugerechnet, da sowohl die amerikanische NWTS-Studie (Faria et al. 1996) als auch die SIOP 93–01/GPOH-Studie (Vujanic et al. 1999) gezeigt haben, dass die Prognose von Patienten mit einem fokal anaplastischen Nephroblastom vergleichbar ist derjenigen mit nicht-anaplastischen Nephroblastomen (mit Ausnahme des blastemreichen Wilms-Tumors). Die Kriterien für eine Anaplasie sowie die Unterscheidung zwischen diffuser und fokaler Anaplasie sind im Abschn. 46.4.3 aufgelistet. 46.4.3 Tumoren hoher Malignität Blastemreiches Nephroblastom. Blastemreiche Nephroblas-
tome werden als Tumoren der Hochrisikogruppe angesehen, wenn diese Diagnose nach vorausgegangener präoperativer Chemotherapie gestellt wird. Bei primär operierten blastemreichen Wilms-Tumoren wird nach wie vor ein intermediäres Risiko angenommen. Daher ist bei dieser Diagnose die klinische Information über eine möglicherweise vorgenommene präoperative Chemotherapie zwingend notwendig. Diese Tumoren bestehen mikroskopisch ganz überwiegend (>65%) aus Blastemzellen, d. h. aus kleinen undifferenzierten Tumorzellen mit kaum erkennbarem Zytoplasma. Diese Zellen sind in größeren soliden Nestern angeordnet, die keine organoiden Strukturen erkennen lassen. Die Mitoserate ist meist hoch. Eine Epithel- oder Stromakomponente kann vorhanden sein. Die regressiven Veränderungen betragen weniger als 35% des Gesamttumors. Nephroblastom mit diffuser Anaplasie. Eine Anaplasie in
Nephroblastomen ist in ungefähr 5% der Patienten nachzuweisen (Zuppan et al. 1988). Anaplastische Wilms-Tumoren zeigen eine relativ typische Altersverteilung: In den ersten 6 Lebensmonaten ist bisher keine Anaplasie beschrieben worden, bei Kindern zwischen 6 und 12 Monaten ist sie extrem selten. Das mittlere Alter zum Zeitpunkt der Diagnose ist 61 Monate, mehr als 50% der Kinder sind älter als 5 Jahre. In früheren Studien konnte die Anaplasie bereits als ein ungünstiger morphologischer Prognosemarker dargestellt werden (Beckwith u. Palmer 1978). Die Kriterien für die Anaplasie sind sowohl für die fokale als auch für die diffuse Anaplasie gleich, nur das Verteilungsmuster innerhalb des Tumors ist unterschiedlich.
⊡ Abb. 46.2. Anaplastisches Nephroblastom: Das Tumorgewebe enthält große, hyperchromatische Kerne und atypische Mitosen
Folgende Kriterien sind für die Diagnose einer Anaplasie notwendig (⊡ Abb. 46.2): ▬ Der Nachweis von deutlich vergrößerten atypischen tri- oder multipolaren Mitosen, ▬ eine ausgeprägte Kernvergrößerung, mindestens das 3-fache der umgebenden Tumorzellkerne ausmachend, und ▬ der Nachweis von deutlich hyperchromatischen Zellkernen (Beckwith u. Palmer 1978). Eine Anaplasie kann in allen Komponenten des Wilms-Tumors auftreten, wobei eine Anaplasie im Blastem am häufigsten ist (Beckwith u. Palmer 1978). Bezüglich der topographischen Verteilung im Tumor wird eine diffuse und eine fokale Anaplasie unterschieden. Bei der fokalen Anaplasie findet sich im Tumor entweder ein solitärer, höchstens jedoch 1–2 scharf begrenzte Tumorherde, die Zellen mit den oben angegebenen Kriterien aufweisen. Das umgebende Tumorgewebe zeigt diese Veränderungen nicht. Bei evtl. nachgewiesener extrarenaler Tumorausdehnung dürfen hier keine anaplastischen Zellen vorhanden sein. Bei der diffusen Anaplasie muss zumindest eines der folgenden Kriterien erfüllt sein (Drut u. Pollono 1987; Faria et al. 1996): ▬ Anaplastische Zellen finden sich an verschiedenen Stellen im Tumor und sind nicht klar begrenzt oder anaplastische Tumorzellen finden sich außerhalb der Nierentumorkapsel. ▬ anaplastische Zellen finden sich in intrarenalen oder extrarenalen Gefäßen, im Nierensinus oder in Metastasen; ▬ die anaplastischen Tumorzellen sind fokal begrenzt (wie für die fokale Anaplasie definiert), aber das angrenzende Tumorgewebe zeigt eine starke nukleäre Atypie, die aber die Kriterien der Anaplasie hier noch nicht erfüllt (»nuclear unrest Grad 3«); ▬ anaplastische Tumorzellansammlungen, die nicht scharf vom angrenzenden Gewebe abgegrenzt sind; oder ▬ eine Anaplasie, die in einer Tumorbiopsie nachgewiesen wurde Die vorangegangenen Studien haben gezeigt, dass die präoperative Chemotherapie die Inzidenz der Anaplasie nicht
501 46 · Pathologie
verändert, da es sich sehr wahrscheinlich um chemotherapieresistente Tumorzellklone handelt (Alvarez-Silvan et al. 1989). ! Es werden eine fokale und diffuse Anaplasie unterschieden. Nephroblastome mit fokaler Anaplasie sind intermediär maligne, solche mit diffuser Anaplasie hochmaligne. Klarzellensarkom der Niere. Ca. 5% aller Nierentumoren des Kindesalters sind Klarzellensarkome (Murphy et al. 1993). Sie treten extrem selten in den ersten 6 Lebensmonaten sowie auch in der Adoleszenz auf. Der Hauptteil der Patienten mit einem Klarzellensarkom hat ein Alter zwischen 2 und 3 Jahren. Das männliche Geschlecht ist deutlich häufiger betroffen. Assoziationen zu Syndromen, spezifischen genetischen Veränderungen oder anderen Missbildungen sind bisher nicht berichtet worden. Klarzellensarkome sind nahezu ausschließlich unilateral und unifokal, im Gegensatz zu Nephroblastomen. Mikroskopisch zeigen Klarzellensarkome ein insgesamt ruhiges, Gutartigkeit vortäuschendes Bild, das verschiedene histologische Differenzierungsformen aufweist. Das klassische Muster hat einen sehr gleichmäßigen Aufbau aus relativ kleinen Zellen mit unauffälligen Zellkernen, kaum erkennbaren Nukleoli, blassem Zytoplasma. Die Kernmembran ist kaum erkennbar. Im Gegensatz zu der Namensgebung des Tumors findet sich ein klarzelliges Zytoplasma nur in ca. 20% der Fälle. Das Gefäßmuster ist hochcharakteristisch, bestehend aus einem stark verzweigten, teilweise sehr dichten Kapillarnetz Immunhistochemisch sind Klarzellensarkome der Niere positiv für Vimentin. Dagegen sind Reaktionen gegen Zytokeratine, epitheliales Membranantigen, Desmin, Protein S100, glattmuskuläres Aktin sowie Faktor-VIII-assoziiertes Antigen in der Regel negativ (Argani et al. 2000). Die Histogenese der Klarzellensarkome ist unklar. Nur einmal wurde eine epitheliale Differenzierung in diesem Tumortyp beschrieben (Schmidt et al. 1985). Ebenso ist ein typischer molekulargenetischer Marker für diese Tumoren bisher nicht bekannt. Rhabdoidtumor der Niere. Rhabdoidtumoren der Niere sind selten, entsprechend ungefähr 2% der kindlichen Nierentumoren (Murphy et al. 1993). Sie treten typischerweise im frühen Kindesalter auf. Ca. 80% der Patienten sind jünger als 2 Jahre, nach dem 5. Lebensjahr sind Rhabdoidtumoren der Niere extrem selten. Diese Tumoren können assoziiert sein mit synchronen oder metachronen Hirntumoren, wie Medulloblastomen, sowie auch einer Hyperkalzämie (Mayes et al. 1984). Eine Nephroblastomatose wird bei Rhabdoidtumoren der Niere typischerweise nicht gefunden. Mikroskopisch besteht der Rhabdoidtumor der Niere aus diffus infiltrierend wachsenden rundlichen Zellen mit breitem eosinophilem Zytoplasma sowie großen, häufig exzentrisch gelegenen Kernen mit prominentem großen Nukleolus sowie sehr prominenter Kernmembran. Im Zytoplasma findet sich häufig ein wirbeliger Einschluss aus Intermediärfilamenten. Die typische Anordnung in großen nicht-kohäsiven Tumorzellansammlungen kann nur fokal realisiert sein, an anderer Stelle können sklerosierte Areale vorkommen (Schmidt et al. 1989). Dennoch sollte auch in diesen Arealen
die typische Zytologie der Rhabdoidtumorzellen vorhanden sein. Immunhistochemisch findet sich in der Regel eine typische Koexpression von Vimentin (insbesondere in den Intermediärfilamentinklusionen im Zytoplasma) mit Zytokeratinen, zusätzlich ist häufig eine Positivität für Desmin, S-100, NSE sowie weitere Antigene zu finden. Auch eine CD99-Positivität kann auftreten (Schmidt et al. 1989). 46.4.4 Nephrogene Reste
und Nephroblastomatose Definition Nephrogene Reste sind Ansammlungen aus embryonalen Zellen, die nach der 36. Schwangerschaftswoche persistieren. Diese Zellen werden als mögliche Vorläuferläsionen der Nephroblastome angesehen. Treten die nephrogene Reste diffus oder multifokal auf, werden sie als Nephroblastomatose bezeichnet (Hou 1961; Beckwith 1990).
Nephrogene Reste werden in ca. 25–40% der Patienten mit einem Nephroblastom gefunden (Beckwith 1993). Die Inzidenz in Nieren, die bei einer perinatalen Autopsie untersucht wurden, liegt bei ca. 1%. Nephrogene Reste werden praktisch ausschließlich bei Wilms-Tumoren gefunden. Zwei Haupttypen der nephrogenen Reste sind zu unterscheiden: perilobäre und intralobäre Reste. Diese können weiter unterteilt werden in ruhende (»dormant«), sklerosierte oder hyperplastische Reste. Zusätzlich können adenomatöse Reste vorkommen. Prinzipiell können auch innerhalb einer Niere alle Formen der nephrogenen Reste existieren. Die nephrogenen Reste können entweder verschwinden (Umbau zu Narbengewebe) oder progredient in einen Wilms-Tumor übergehen. Die Unterscheidung zwischen einem hyperplastischen Rest und einem kleinen WilmsTumor kann z. T. sehr schwierig, in Einzelfällen unmöglich sein. Große hyperplastische Reste wurden früher als so genannte Wilms-Tumorlets bezeichnet. Da sie sich biologisch wohl wie ein manifester Wilms-Tumor verhalten, werden sie ebenfalls mit einer Chemotherapie behandelt. Perilobäre Reste können mit einer Hemihypertrophie sowie einem Beckwith-Wiedemann-Syndrom assoziiert sein. Demgegenüber findet sich eine Assoziation zwischen intralobären Resten mit dem WAGR- sowie Denys-Drash-Syndrom (Beckwith 1993). 46.4.5 Histopathologische Stadieneinteilung Die Stadieneinteilung ist überaus wichtig für die weitere Therapie sowie die Prognose der betroffenen Patienten. In den vorangegangenen Studien konnte immer wieder gezeigt werden, dass die Stadieneinteilung in einem Teil der Fälle überaus problematisch ist (SIOP-Wilms-Tumor-Pathologenpanel, persönliche Mitteilung). Dies liegt daran, dass die Wilms-Tumoren zum Zeitpunkt der Nephrektomie teilweise extrem groß sind und daher die Beurteilung der Beziehungen zu den normalen Nierenstrukturen wie Hilus und Sinus erschwert
46
502
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
ist. Die Stadieneinteilung bei Nephroblastomen wird im Rahmen der Studie 2001/GPOH nach der präoperativen Chemotherapie vorgenommen. Hierbei sollte immer das lokale (abdominale) Stadium des Primärtumors angegeben werden, auch in Fällen, in denen Metastasen bekannt sind und hier abschließend ein Stadium IV vorliegt.
III
Stadium I ▬ Der Tumor ist begrenzt auf die Niere oder ist von einer fibrösen Pseudokapsel umgeben, wenn der Tumor die normale Nierenkontur vorwölbt. Die Nierenkapsel bzw. Pseudokapsel kann durch Tumorzellen infiltriert sein, jedoch zeigt sich kein Einbruch in das extrakapsuläre Gewebe. Der Tumor muß vollständig reseziert sein. ▬ Der Tumor kann sich in das Nierenbecken vorwölben und hierbei auch das bedeckende Urothel zerstören. (Eine Infiltration der eigentlichen Nierenbeckenwand bzw. Ureterwand stellt eine Infiltration des perihilären Gewebes dar und ist nicht mit einem Stadium I vereinbar.) ▬ Die Gefäße des Nierensinus sind tumorfrei. Intrarenaleintratumorale Tumorinfiltrationen können vorhanden sein. Eine Feinnadelaspiration oder eine perkutane Nadelbiopsie sind generell im diagnostischen Procedere der Studie nicht vorgesehen. Falls diese dennoch durchgeführt wurden, bedeutet dies nicht automatisch ein höheres Tumorstadium (wie in vorangegangenen Studien). Die Größe der verwendeten Nadel und evtl. auch der Bereich der vorangegangenen Biopsie sollte klinischerseits mitgeteilt werden. Der Nachweis von nekrotischem Tumorgewebe oder Chemotherapie-induzierten regressiven Veränderungen im Nierensinus, perihilär sowie im perirenalen Fettgewebe- wird nicht mehr als ein Grund für ein höheres Tumorstadium angesehen. Dieses gilt ebenfalls für regressiv veränderte Tumorthromben in Nierensinus-Hilus, wenn diese vollständig entfernt wurden. Stadium II ▬ Vitale Tumoranteile lassen sich außerhalb der Nierenkapsel bzw. fibrösen Pseudokapsel nachweisen, wurden aber vollständig reseziert. ▬ Vitale Tumoranteile sind im Nierensinus und/oder Blutbzw. Lymphgefäßen außerhalb des Nierenparenchyms nachweisbar, wurden aber vollständig reseziert. ▬ Der Tumor infiltriert Nachbarorgane oder die V. cava, wurde aber vollständig rezesiert. ▬ Eine offene Biopsie wurde vor der präoperativen Chemotherapie vorgenommen. Stadium III ▬ Der Tumor wurde nicht vollständig reseziert (makroskopische oder mikroskopische Tumorreste). ▬ Lymphknotenmetastasen liegen vor. Auch regressive Veränderungen wie Schaumzellen mit Fibrosierungen werden nach wie vor als Lymphknotenmetastasen angesehen. ▬ Prä- oder intraoperative Tumorruptur (unabhängig von anderen Kriterien für das Ausbreitungsstadium).
▬ Der Tumor wächst infiltrierend in das Peritoneum. ▬ Tumorabsiedlungen sind auf dem Peritoneum nachgewiesen. ▬ Tumorthromben/-Ausläufer sind an den Resektionsrändern der Gefäße bzw. am Resektionsrand des Ureters nachweisbar. Hierzu zählen auch in Teilstücken resezierte Tumoranteile im Bereich der Resektionslinie, die topographisch nicht sicher zugeordnet werden können. Im Gegensatz zum Stadium I und II wird regressiv verändertes Tumorgewebe in Form von Schaumzellen und Fibrosierungen in Lymphknoten sowie auch am Resektionsrand nach wie vor als Nachweis einer Tumorinfiltration angesehen. Insbesondere bei den Lymphknoteninfiltrationen haben vorangegangene Studien gezeigt, dass auch regressiv verändertes Tumorgewebe in Lymphknoten die Prognose der Patienten analog zu vitalen Lymphknotenmetastasen deutlich verschlechtert. Stadium IV Hämatogene Metastasen (Lunge, Leber, Knochen, Gehirn etc.) oder Lymphknotenmetastasen außerhalb der abdomino-pelvinen-Region (ein lokales Tumorstadium sollte jeweils angegeben werden). Stadium V Bilaterale Tumoren zum Zeitpunkt der Diagnose (ein lokales Tumorstadium sollte jeweils angegeben werden). 46.5
Neuroblastom
! Neuroblastome stellen eine Gruppe von peripheren Sympathikustumoren dar, die ein ganz unterschiedliches biologisches Verhalten zeigen.
Neben Spontanregressionen und Ausreifung können ganz ungünstige Verläufe auftreten. Die Morphologie alleine kann dieses unterschiedliche Verhalten nicht oder nur ungenügend voraussagen. Das Alter der Patienten, das klinische Stadium und insbesondere molekulargenetische Veränderungen sind extrem wichtige prognostische Parameter. Klassifikation. Die heute empfohlene Klassifikation des International Neuroblastoma Pathology Committee (INPC) basiert auf der 1984 veröffentlichten Shimada-Klassifikation (Shimada et al. 1984), die erstmals neben dem Differenzierungsgrad der Tumorzellen auch den Gehalt von Schwannzellen sowie auch die Proliferationsaktivität (Mitose-Karyorrhexis-Index) in Relation zum Alter des Patienten berücksichtigte. Hierdurch konnte eine »günstige« (»favorable«) sowie eine »ungünstige« (»unfavorable«) Prognosegruppe gebildet werden. In der Gruppe der Schwannzell-reichen Tumoren wurde eine so genannte »noduläre Variante« (»nodular variant«) identifiziert (Schmidt et al. 1988), die wegen des Vorhandenseins von unreifen Tumorzellklonen ohne Ausreifungstendenz zu der ungünstigen Prognosegruppe gezählt werden muss.
46
503 46 · Pathologie
INPC-Klassifikation der neuroblastischen Tumoren (Shimada et al. 1999; Joshi et al. 2000):
Neuroblastom Diffuses Ganglioneuroblastom Noduläres Ganglioneuroblastom Ganglioneurom
Neuroblastom. Die in diese Gruppe gehörenden Tumoren bestehend ganz überwiegend aus unreifen Neuroblasten. Makroskopisch findet sich eine dunkle, blutreiche Schnittfläche mit häufig nachweisbaren Verkalkungen. Das undifferenzierte Neuroblastom zeigt mikroskopisch keinerlei Differenzierung in Form von so genanntem Neuropil oder beginnender Ganglienzelldifferenzierung (⊡ Abb. 46.3). Die Diagnose muss immunhistochemisch mittels Antikörpern, z. B. NB-84, Synaptophysin und Chromogranin untermauert werden. Der pleomorphe Subtyp des undifferenzierten Neuroblastoms enthält Zellen mit vergrößerten, stark pleomorphen Zellkernen sowie teilweise stark verbreitertem Zytoplasma. Eine Ausreifung in Ganglienzellen wird nicht selten in Neuroblastomen beobachtet. Ganglienzellen finden sich dann meist diffus im Tumor verteilt. Macht dieser Differenzierungsanteil weniger als 5% des Tumors aus, wird von einem gering differenzierten Neuroblastom gesprochen, bei einer Differenzierung in mehr als 5% des Tumors von einem differenzierten Neuroblastom. Diffuses Ganglioneuroblastom. Die Gruppe der Ganglioneuroblastome beinhaltet Tumoren, die aus einer Mischung von Neuroblasten, Schwannzellproliferaten und Ganglienzellen unterschiedlichem Reifegrades (ganglioneuromatöse Komponente) bestehen. Die ganglioneuromatöse Komponente muss dabei definitionsgemäß mehr als 50% des Tumorgewebes ausmachen. Bei dem gemischten Ganglioneuroblastom (»intermixed«) finden sich die neuroblastischen Areale nur in Form von kleinen, nur mikroskopisch sichtbaren Herden. Makroskopisch sind die Tumoren weißlich, fest und zeigen nicht die typische dunkle blutreiche Farbe der Neuroblastome. Bereits makroskopisch sichtbare dunkle Knoten, die sich bei der histologischen Untersuchung als neuroblastische
⊡ Abb. 46.3. Neuroblastom: Das Tumorgewebe besteht aus rundlichen Zellen, angeordnet in Form von Pseudorosetten; im Zentrum der Pseudorosetten ein fibrilläres Material (Neuropil)
Herde erweisen, schließen die Diagnose eines gemischten Ganglioneuroblastom aus. Noduläres Ganglioneuroblastom. Der so genannte klassi-
sche Typ des nodulären Ganglioneuroblastoms (»nodular«) zeigt bereits bei der makroskopischen Untersuchung einen knotigen Aufbau mit dunklen blutreichen Knoten. Diese Knoten entsprechen großen, gut abgegrenzten neuroblastischen Herden, die von den ganglioneuromatösen Tumorarealen gut separiert sind. Der ganglioneuromatöse Anteil des Tumors sollte aber ebenfalls über 50% betragen. Die so genannten atypischen nodulären Ganglioneuroblastome können in zwei Varianten auftreten: Der ganglioneuromatöse Anteil ist nur als schmaler Saum in der Peripherie oder in Form von Septen zwischen den neuroblastischen Knoten zu sehen. In diesen Fällen ist meist der noduläre Aufbau nur mikroskopisch nachweisbar. Bei der zweiten Variante entspricht der Primärtumor einem diffusen Ganglioneuroblastom oder Ganglioneurom, in Metastasen finden sich aber Tumorzellinfiltrate entsprechend einem Neuroblastom. Ganglioneurom. Diese Tumoren sind ausschließlich aus ei-
ner ganglioneuromatösen Komonente aufgebaut. Herde einer neuroblastischen Komponente fehlen. In der INPC-Klassifikation werden reife Ganglioneurome (»mature«), die überhaupt keine Neuroblasten, sondern nur reife Ganglienzellen aufweisen von reifenden Ganglioneuromen (»maturing«) unterschieden. Letztere dürfe einzelne Neuroblasten, auch in Form kleinster Herde, sowie unreife Ganglienzellen enthalten. Zytogenetik und Molekulargenetik. 3 prognostisch unter-
schiedliche Neuroblastomgruppen basierend auf klinischen und molekularen Parametern lassen sich voneinander unterscheiden (⊡ Tabelle 46.5). Neue molekulare Prognoseparameter, die insbesondere in Ergänzung zu den konventionellen Markern differenzierte Aussagen für den individuellen Patienten erlauben, sind der Nachweis der Telomeraseaktivität (Poremba et al. 1999, 2000; Krams et al. 2003) sowie der Nachweis eines Zugewinns genetischen Materials auf dem langen
⊡ Tabelle 46.5. Biologische Subtypen des Neuroblastoms unter Berücksichtigung von klinischen und molekularen Befunden (Brodeur et al. 1998)
Klinik/ Molekulargenetik
Typ 1
Typ 2
Typ 3
MYCN-Amplifikation
Fehlt
Fehlt
Vorhanden
1p-Deletion
Fehlt
Gelegentlich vorhanden
Vorhanden
Ploidiestatus
Hyperdiploid/ triploid
Diploid/ tetraploid
Diploid/ tetraploid
Trk-Expression
A±C
Keine
B
Alter (Jahre)
0–1
>1
1–5
INSS-Stadium
Alle
2, 3, 4
3, 4
Überleben
>90%
30–50%
10–20%
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Arm von Chromosom 17 (17q21–17qter; Brinkschmidt et al. 1998; Bown et al. 1999). 46.6
III
Hepatoblastom
Obwohl Hepatoblastome insgesamt selten sind, stellen sie doch die häufigsten Lebertumoren dar (40%). Unter den malignen Lebertumoren machen sie ca. 55% aus (Stocker 2001). Am häufigsten kommen diese Tumoren bei kleinen Kindern vor (höchste Inzidenz in den ersten beiden Lebensjahren). Innerhalb der ersten 5 Lebensjahre treten ca. 80–90% aller Fälle auf. Es findet sich eine deutlich erhöhte Inzidenz bei Jungen (m:w=1,6:1). In 80–90% der Fälle findet sich eine exzessive Erhöhung des Serum-AFP-Spiegels, der auch als Indikator für den Therapieerfolg eingesetzt wird. Hepatoblastome können im Rahmen unterschiedlicher Syndrome oder Assoziationen, wie die familiäre Polyposis coli, das Beckwith-Wiedemann-Syndrom und die Hemihypertrophie, auftreten (Stocker 2001). Hepatoblastome treten bevorzugt im rechten Leberlappen (55–60% der Fälle) auf. Eine Beteiligung beider Lappen wird in ca. 25–30% der Fälle beobachtet. Die ganz überwiegende Zahl der Tumoren ist unifokal, in ca. 15% finden sich Satellitenherde als Ausdruck einer Multifokalität (von Schweinitz et al. 1997). Gefäßeinbrüche sind teilweise bereits makroskopisch darstellbar. Mikroskopisch zeigen Hepatoblastome eine sehr große Variabilität (Ishak u. Glunz 1967; Haas et al. 1989). Neben unterschiedlichen epithelialen Differenzierungen finden sich häufig mesenchymale Komponenten. Die epitheliale Differenzierung variiert in Form von kleinen primitiven »anaplastischen« Zellen über wenig differenzierte »embryonale« Zellen, gut differenzierten »fetalen« Hepatozyten bis zu großen atypischen Zellen, die man sonst in hepatozellulären Karzinomen findet. Zellen der Hämatopoese lassen sich in einem Großteil der Hepatoblastome finden. Aufgrund der verschiedenen Differenzierungsformen werden 2 Typen des Hepatoblastoms unterschieden (Weinberg u. Finegold 1999): das rein epitheliale und das gemischt epithelial/mesenchymale Hepatoblastom. 46.6.1 Rein epitheliales Hepatoblastom In diesen Tumoren findet sich ausschließlich eine epitheliale Differenzierung. Eine mesenchymale Komponente fehlt. Je nach Verteilung der einzelnen epithelialen Differenzierungformen werden rein fetale von gemischt embryonal/fetalen Hepatoblastome unterschieden. Eine besondere Variante stellt das kleinzellig anaplastische Hepatoblastom dar (Kasai u. Watanabe 1970), das ausschließlich aus kleinen, undifferenzierten Zellen besteht und keine lebertypischen Differenzierungsmerkmale aufweist. Der makrotrabekuläre Typ stellt eine Übergangsform zu hepatozellulären Karzinom dar und wird ganz überwiegend bei älteren Kindern und Jugendlichen gefunden (Gonzalez-Crussi et al. 1982). Die embryonal differenzierten Zellen entsprechen sehr frühen Entwicklungsstadien der Leberentwicklung. Das Zytoplasma ist im Verhältnis zum Zellkern relativ schmal und zeigt in der Regel eine Basophilie. Die fetalen Zellen haben
demgegenüber einen deutlich breiteres Zytoplasma, das oft sehr hell ist. Die so genannte Kern-Zytoplasma-Relation ist bei fetal differenzierten Zellen deutlich zugunsten des Zytoplasmas verschoben. Die Zellen sind bei beiden Differenzierungsformen meist in großen soliden Knoten, manchmal mit Ausbildung von rosettenartigen Strukturen, angeordnet. Ein weiteres Differenzierungsmuster ist die Tubulusbildung, die an Gallengänge erinnert (Zimmermann 2002). Die viel selteneren kleinzellig-anaplastischen und makrotrabekulären Differenzierungsformen können sowohl in Kombination mit den oben genannten embryonalen und fetalen Komponenten auftreten als auch in einzelnen Tumoren dominieren bzw. als einzige Komponente auftreten. Die makrotrabekuläre Differenzierung zeigt sich durch Ausbildung von relativ großen, an ein gut differenziertes hepatozelluläres Karzinom erinnernde Zellen, die in Trabekeln, bestehend aus 5–10 Zelllagen, aufgebaut sind. Die kleinzellig-anaplastischen Zellen haben demgegenüber ein kaum erkennbares Zytoplasma, sind in soliden großen Knoten angeordnet und zeigen keine Ausbildung von organoiden Strukturen. Sie entsprechen so genannten »kleinrund-blauzelligen« Tumoren ohne erkennbare Differenzierung. Die epitheliale Natur der Zellen kann nur mittels Immunhistochemie gezeigt werden. In einigen Tumoren finden sich Muzin-produzierende Zellen sowie auch Plattenepithelnester. Weiterhin kann gelegentlich eine neuroepitheliale Differenzierung mittels Immunhistochemie, eine Melaninproduktion sowie auch eine Ganglienzellbildung gefunden werden (Manivel et al. 1986; Ruck u. Kaiserling 1993). Auch dottersackartige Strukturen können auftreten. Wegen dieser Differenzierungsformen ist immer wieder der Übergang zwischen reinem Hepatoblastom und Teratom diskutiert worden. 46.6.2 Gemischtes epithelial/mesenchymales
Hepatoblastom In dieser Gruppe findet sich in den Tumoren neben den oben beschriebenen verschiedenen epithelialen Differenzierung eine mesenchymale Komponente. Diese tritt meist in Form von so gennanten Osteoidinseln auf. Knorpel kann ebenfalls gefunden werden, ist jedoch wesentlich seltener als die Osteoidbildung. In wenigen Fällen finden sich auch Muskelzellen. Der Anteil der mesenchymalen Komponenten kann sehr variabel sein. Insbesondere in Tumorresektaten, die nach einer präoperativen Chemotherapie histologisch untersucht werden, kann der Anteil der mesenchymalen Komponente deutlich zunehmen. Dies ist wahrscheinlich dadurch zu erklären, dass die epithelialen Zellen durch die Chemotherapie zerstört wurden, die mesenchymalen Anteile jedoch übriggeblieben sind und somit eine relative Zunahme vorliegt. Eine prognostische Bedeutung konnte für die Ausbildung einer mesenchymalen Komponente bisher nicht gezeigt werden. Immunhistochemisch lässt sich in den epithelial differenzierten Tumorzellen eine Zytokeratin-Expression zeigen, die sowohl für Leberzellen als auch Gallengangsepithelien typisch ist (Zytokeratine 7, 8, 18 und 19). Die mesenchymale Komponente kann ebenfalls eine Zytokeratin-Expression aufweisen. AFP kann in ca. 60–70% der Tumoren immun-
505 46 · Pathologie
histochemisch nachgewiesen werden (Schmidt et al. 1985; Abenoza et al. 1987; van Eyken et al. 1990). 46.7
Keimzelltumoren
Definition Die Keimzelltumoren stellen eine sehr heterogene Gruppe von Tumoren dar, zu denen reife und unreife Teratome, Germinome (Seminome, Dysgerminome), embryonale Karzinome, Dottersacktumoren sowie Choriokarzinome gehören. Auch Gonadoblastome, die sich in dysgenetischen Gonaden bilden können, werden zu den Keimzelltumoren gezählt.
Es wird davon ausgegangen, dass sich ganze Tumoren aus primitiven Keimzellen entwickeln, in denen eine neoplastische Transformation aufgetreten ist. Alternativ wird diskutiert, dass Keimzelltumoren aus totipotenten embryonalen Zellen entstehen können. Aufgrund verschiedener molekulargenetischer Daten sowie auch einer differenten topographischen Verteilung der Tumorlokalisationen wird heute davon ausgegangen, dass kindliche Keimzelltumoren eine separate Tumorgruppe darstellen, die von den Keimzelltumoren des Erwachsenenalters abgegrenzt werden müssen (Perlman u. Hawkins 1998). Klassifikation. Für die morphologische Einteilung der Keimzelltumoren existieren verschiedene Klassifikationen. Die WHO-Klassifikation hat sich als sehr praktikabel erwiesen und wird für die Einteilungen der Tumoren im Rahmen der MAKEI- sowie MAHO-Studien der GPOH verwendet. Die WHO-Klassifikation hat den Vorteil, dass sie von eindeutig definierten Entitäten ausgeht. Da in Keimzelltumoren verschiedene Differenzierungsformen auftreten können, kann man gemäß der WHO-Klassifikation von so genannten gemischten Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ sprechen, bei den dann die einzelnen Komponenten aufgeführt werden können. Lokalisation. Die 3 Hauptlokalisationen der Keimzelltumoren
des Kindes- und Adoleszentenalters sind das Ovar (27,7%), die Sakrokokzygealregion (26,6%) und der Hoden (22,1%; Harms et al. 1983). Diese Lokalisationen machen zusammen 70,4% der Fälle aus. Sämtliche übrigen Tumorlokalisationen, wie ZNS, Mediastinum, Hals, Retroperitoneum, sind demgegenüber selten. Unter den malignen Keimzelltumoren treten im Ovar am häufigsten Dysgerminome sowie gemischte maligne Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ auf (Göbel et al. 2000). In der Sakrokokzygealregion sind ebenfalls die gemischten malignen Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ am häufigsten, während im Hoden reine Dottersacktumoren dominieren. Im Gehirn sind die reinen Germinome am häufigsten. 46.7.1 Teratom Teratome können Differenzierungen aller 3 Keimblätter aufweisen. Daher können verschiedenste epitheliale, mesenchy-
male sowie neurale Komponenten in sehr variabler quantitativer Verteilung vorhanden sein. Es können auch organartige Strukturen nachweisbar sein, wie beispielsweise Pankreasgewebe, Darmwandanteile, Bronchusanlagen oder knöcherne Strukturen. Wenn nur Anteile von 1 oder 2 Keimblättern vorhanden sind, können diese Tumoren auch als monodermale oder bidermale Teratome bezeichnet werden. Die Teratome lassen sich, unabhängig von der Tumorlokalisation, in reife und unreife Teratome einteilen (Norris et al. 1976; Gonzalez-Crussi et al. 1982; Heifetz et al. 1998). Weiterhin ist eine maligne Transformation möglich, die vom Vorhandensein anderer maligner Keimzelltumorkomponenten abgegrenzt werden muss. Insgesamt ist aber diese maligne Transformation, die beispielsweise als eine Kanzerisierung präexistenter Teratomstrukturen in Form von Plattenepitheloder Adenokarzinomen sowie Sarkomen auftreten kann, sehr selten. Reifes Teratom. Diese Form der Teratome ist makroskopisch meist zystisch. Mikroskopisch finden sich vollständig ausgereifte Gewebskomponenten, die entweder diffus miteinander vermischt sein können oder aber organoide Strukturen ausbilden. Am häufigsten finden sich Haut mit Anhangsgebilden, Speicheldrüsen, respiratorisches Epithel, Lebergewebe, Zähne, Knorpel- und Knochengewebe, Fettgewebe, glatte und quergestreifte Muskulatur sowie gliöses Gewebe. Im Hoden bei jungen Kindern auftretende Zysten, die ausschließlich von einem Plattenepithel ausgekleidet sind, werden als monodermale reife Teratome angesehen. Unreifes Teratom. Definitionsgemäß enthalten unreife Teratome zumindest fokal unreife (embryonale) Strukturen beziehungsweise nicht vollständig ausgereifte Gewebselemente (Heifetz et al. 1998). Makroskopisch zeigen unreife Teratome meist eine sowohl zystische als auch solide Schnittfläche. Der solide Anteil hat häufig einen weißlich-gräulichen Aspekt, der an Hirngewebe (enzephaloid) erinnert. Mikroskopisch zeigt sich die Unreife am häufigsten in Form von primitiven neuroektodermalen Strukturen. Diese bestehen meist aus primitiven Neurotubuli. Auch Rosetten können vorkommen. Im Gegensatz zu den neuralen Differenzierungsformen finden sich in den epithelialen und mesenchymalen Anteilen nur sehr selten unreife Strukturen. Der Grad der Unreife eines Teratoms wird in den publizierten Klassifikationen etwas unterschiedlich erfasst. Im Rahmen der MAKEI- und MAHO-Studien der GPOH wird ein Graduierungssytem nach Gonzalez-Crussi verwendet, das auf der Grundlage des von Thurlbeck und Scully beschriebenen Systems für Ovarialteratome entwickelt wurde und für extra-gonadale Teratome ebenfalls anwendbar ist (Thurlbeck u. Scully 1960; Gonzalez-Crussi 1982; Dehner 1986). Im Gegensatz zu den anderen Graduierungssystemen wird hierbei semiquantitativ für den gesamten Tumor der Anteil der unreifen Komponenten bestimmt und in 4 Kategorien (Grad 0: reif; Grad 1: <10% unreif; Grad 2: 10–50% unreif; Grad 3: >50% unreif) eingeteilt. Andere Grading-Systeme bestimmen den Grad der Unreife nach der Zahl der unreifen Herde pro untersuchtem Gesichtsfeld (Norris et al. 1976). Für alle Grading-Systeme konnte eine gute Korrelation zur Prognose gezeigt werden. So haben sehr unreife Teratome eine hohe Rezidivneigung und
46
506
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
enthalten auch vermehrt kleine Herde einer malignen Komponente, die dann die Prognose bestimmen. Unreife Teratome des Ovars können auch zu einer ausgeprägten Aussaat im Peritoneum führen. Diese Implantate haben häufig einen höheren Reifegrad als der Primärtumor und finden sich meist als Gliaknötchen (Gliomatosis peritonei). Die Prognose von Patienten mit einer solchen Gliomatosis peritonei ist meist günstig (Harms et al. 1989). Der Begriff Sakrokokzygealteratom wird meist als Überbegriff für die Keimzelltumoren in dieser Region verwendet (Harms et al. 1989). Sie stellen den häufigsten, größeren Tumor des Neugeborenen sowie den häufigsten Keimzelltumor des Kindesalters dar. Mädchen sind deutlich häufiger betroffen (w:m=3–4:1). Ca. 80% dieser so genannten Sakrokokzygealteratome sind reine Teratome, davon ca. 1/5 unreif. Die übrigen 20% enthalten zumindest Anteile eines malignen Keimzelltumors, meist einen Dottersacktumor. Die Lokalisation ist wichtig, da präsakral lokalisierte Sakrokokzygealteratome eine ungünstigere Prognose haben als postsakral gelegene Tumoren. Eine Mitresektion des Steißbein ist heute obligatorisch, da ohne Steißbeinresektion die Prognose auch der postsakral lokalisierten Tumoren ungünstiger ist als bei einer Mitentfernung. Innerhalb des ersten Lebensjahres aufgetretene Sakrokokzygealteratome haben eine sehr günstige Prognose, nach dem ersten Lebensjahr sind vermehrt ungünstige Verläufe zu erwarten (Calaminus et al. 2003). 46.7.2 Dottersacktumor Diese malignen Tumoren, auch endodermale Sinustumoren genannt, imitieren Strukturen, die an embryonale Dottersackanteile erinnern (Marsden et al. 1981). Sie können in reiner Form oder als Komponente in Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ auftreten. In reiner Form sind sie die häufigsten malignen Keimzelltumoren des Kindesalters (knapp 40% der malignen Keimzelltumoren im Kindertumorregister der GPOH). Hauptlokalisationen reiner Dottersacktumoren sind der Hoden, die Sakrokokzygealregion sowie das Ovar (Haas et al. 1995), jedoch können sich diese Tumoren in allen Lokalisationen entwickeln, in denen Keimzelltumoren entstehen können. Dottersacktumoren des Hodens treten typischerweise bei Säuglingen und Kleinkindern auf, während ovarielle Dottersacktumoren etwas ältere Mädchen betreffen (medianes Alter bei Fällen des Kindertumorregisters der GPOH: 129 Monate). Makroskopisch weisen Dottersacktumoren eine typische schwammartige Beschaffenheit auf. Mikroskopisch sind die Tumoren aus überwiegend hellen, mittelgroßen Zellen aufgebaut, die meist in girlandenartigen Formationen angeordnet sind (Gonzalez-Crussi et al. 1979; Dehner 1986; Harms u. Jänig 1986). Es können auch tubuläre und solide Strukturen auftreten. Häufig findet man so genannte Schiller-DuvalKörperchen mit glomeruloiden Strukturen im Zentrum sowie einer mukoiden Auflockerung in der Umgebung. PASpositive intra- und extrazytoplasmatische rundliche Körperchen sind ebenfalls in einem Großteil der Fälle zu sehen. Besondere Differenzierungsformen sind so genannte hepatoide und endometrioide Varianten, die insbesondere auch als kleine Foci in Teratomen auftreten und dann leicht bei der
Befundung übersehen werden können (Pratt et al. 1982; Clement et al. 1987; Heifetz et al. 1998). Immunhistochemisch sind Dottersacktumoren durch eine variable Expression von AFP gekennzeichnet. ! Der Dottersacktumor ist der häufigste maligne Keimzelltumor des Kindesalters.
46.7.3 Germinom Germinome des Gehirns, Seminome des Hodens sowie Dysgerminome des Ovars sind Synonyme für einen Tumortyp, der aus analogen Zellen aufgebaut ist. Sie sind im Kindesund Adoleszentenalter deutlich seltener als Dottersacktumoren und Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ (Harms u. Jänig 1986). Sie können in reiner Form auftreten oder in Kombination mit anderen Keimzelltumorkomponenten. Das Gehirn sowie das Ovar sind die häufigsten Lokalisationen. Makroskopisch haben diese Tumoren in reiner Form eine weiche gelblich-weißliche Schnittfläche. Mikroskopisch zeigen sich rundliche, mittelgroße Zellen, die in großen Aggregaten angeordnet sind. Das Zytoplasma ist meist hell und zeigt eine feingranuläre PAS-Positivität. Die Zellkerne weisen einen zentral liegenden, prominenten Nukleolus auf. Typisch sind Lymphozyteninfiltrate zwischen den Tumorzellen. Gelegentlich findet man auch Epitheloidzellherde. Immunhistochemisch exprimieren die Zellen die plazentäre alkalische Phosphatase (PLAP). Die Zytokeratinexpression ist meist gering (Perlman et al. 1998). 46.7.4 Choriokarzinom Reine Choriokarzinome sind im Kindes- und Adoleszentenalter extrem selten (Talerman 1985; Belchis 1993). Als Komponente sind Tumorzellen mit einer Choriokarzinomdifferenzierung in Keimzelltumoren aus mehr als einem histologischen Typ etwas häufiger zu finden. Die Zellen sind groß und deutlich polymorph. Das Zytoplasma ist breit, meist hell, die Zellkerne sind irregulär. Die Zellen sind zumeist in soliden Komplexen angeordnet. Immunhistochemisch wird eine starke β-HCG-Expression gefunden, die mit den Serumwerten korreliert (Morinaga et al. 1983). Gelegentlich findet man in Keimzelltumoren β-HCG-positive Riesenzellen, die einzeln oder in kleinen Nestern liegen. Die Zellen zeigen nicht die Atypien eines Choriokarzinoms und werden nicht als Choriokarzinomkomponente gewertet. Diese Zellen werden aber für eine klinisch messbare β-HCG-Erhöhung im Serum bei Patienten mit einem Keimzelltumor verantwortlich gemacht. 46.7.5 Keimzelltumoren aus mehr als einem
histologischen Typ Diese Gruppe von Keimzelltumoren beinhaltet alle Tumoren, die mehr als eine der oben beschriebenen Keimzelltumortypen enthalten. Sie machen im Untersuchungsgut des Kindertumorregisters der GPOH neben den Dottersacktumoren ebenfalls fast 40% der Keimzelltumoren aus. Die am häufigs-
507 46 · Pathologie
ten gefundene Komponente ist ein Dottersacktumoranteil, gefolgt von Teratomdifferenzierungen unterschiedlichen Reifegrades. Germinomanteile sind seltener, gelegentlich kann auch eine Choriokarzinomkomponente nachweisbar sein. 46.8
Ewing-Tumoren
Die in dieser Gruppe von Tumoren zusammengefassten Malignome haben typischerweise eine Translokation, die das EWS-Gen auf dem Chromosom 22 involviert. In den meisten Fällen liegt eine t(11;22)-Translokation vor, die in einem EWS/ FLI1-Fusionsprotein resultiert und in verschiedenen Typen, je nach involvierten Exonen, auftreten kann. Seltenere Translokationstypen resultieren in einer t(21;22)(q22;q12) mit dem Fusionsprodukt EWS-ERG sowie in einer t(7;22)(p22;q12) mit dem Fusionsprodukt EWS-ETV1 (Lopez-Terrada 1996; Dagher et al. 2001). Morphologisch und immunhistochemisch lassen sich 3 Typen unterscheiden (Harms et al. 1998): ▬ klassische Ewing-Sarkome, ▬ atypische Ewing-Sarkome und ▬ maligne periphere neuroektodermale Tumoren (MPNT). Gemeinsam ist allen 3 Typen eine Expression des CD99-Antigens in der Zellmembran. Die CD99-Expression ist aber nicht spezifisch für Tumoren der Ewing-Tumorgruppe, sondern wird auch in verschiedenen anderen Tumoren gefunden, insbesondere auch in bestimmten kindlichen Lymphomen, die differentialdiagnostisch aufgrund der Morphologie mit in Betracht gezogen werden müssen (Hess et al. 1997). 46.8.1 Klassischer Ewing-Tumor Das klassische Ewing-Sarkom ist aus monomorphen rundlichen Zellen aufgebaut, die in großen soliden Rasen angeordnet sind (⊡ Abb. 46.4). Die Zellkerne sind rundlich und haben ein leicht hyperchromatisches, relativ feines Chromatin. Das Zytoplasma ist kaum erkennbar. Dazwischen ist meist noch ein zweiter Zelltyp mit stark hyperchromatischen Zellkernen
zu finden. Diese letzteren Zellen entsprechen wahrscheinlich »präapoptotischen« Tumorzellen. In der PAS-Färbung sind ca. 50% der Fälle granulär positiv. Die Darstellung der Retikulinfasern zeigt, dass die Tumorzellnester nahezu frei von Fasern sind. Immunhistochemisch exprimieren die Tumoren neben CD99 schwach Vimentin. Eine neurale Differenzierung ist nicht nachweisbar (NSE, S-100, Synaptophysin etc.). Eine geringe Zytokeratinexpression in einzelnen Zellen ist möglich. 46.8.2 Atypischer Ewing-Tumor Diese Gruppe ist dadurch charakterisiert, dass die Tumoren entweder ein einzelnes neurales Antigen, meistens NSE oder Synaptophysin, exprimieren, bei klassischer Ewing-SarkomZytologie der Tumorzellen. Eine weitere Gruppe dieser Tumoren hat eine deutliche membranständige CD99-Positivität, jedoch ist die Zytologie der Zellen nicht typisch für ein Ewing-Sarkom. Häufig sind die Zellen größer und polymorpher. Die Zellkerne sind meist ovoid und deutlich hyperchromatisch. Eine Expression eines neuralen Antigens kann vorhanden sein, jedoch gehören auch Tumoren mit »atypischer« Zytologie und fehlender neuraler Antigenexpression in diese Gruppe. 46.8.3 Maligner peripherer neuroektodermaler
Tumor Dieser Tumor ist identisch mit dem peripheren primitiven neuroektodermalen Tumor (pPNET) der angloamerikanschen Literatur. Um eine Verwechslung mit dem zentralen primitiven neuroektermalen Tumor (cPNET), der nicht zu der Gruppe der Ewing-Tumorfamilie gehört, zu vermeiden, wurde der Begriff »maligner peripherer neuroektodermaler Tumor« (MPNT) für diese peripheren Malignome der Weichgewebe geschaffen (Schmidt et al. 1991). Begriffe wie peripheres Neuroblastom oder peripheres Neuroepitheliom sollten für diesen Tumortyp nicht mehr verwendet werden. Die Morphologie der Tumorzellen ist identisch wie bei klassischen oder atypischen Ewing-Tumoren, jedoch exprimieren die Tumoren mindestens 2 neurale Antigene, wie NSE, S-100, Synaptophysin, PGP 9.5 oder andere. Eine Ausbildung von neuralen Rosetten, wie Homer-Wright- oder Flexner-Rosetten wird ebenfalls als neurale Differenzierung im Sinne eines MPNT gewertet, selbst wenn kein oder nur ein neurales Antigen exprimiert wird. Der Askin-Tumor ist sowohl morphologisch als auch immunhistochemisch ein typischer MPNT mit Lokalisation in der Thoraxwand. In diesem anatomischen Bereich treten vermehrt Tumoren der Ewing-Tumorfamilie auf, die eine starke neurale Differenzierung zeigen. 46.8.4 Zytogenetik und Molekulargenetik
⊡ Abb. 46.4. Klassisches Ewing-Sarkom: Das Tumorgewebe besteht aus monomorphen Zellen mit rundlichen Kernen und einem hellen Zytoplasma
Dass die Ewing-Sarkome und die pPNET eine zusammengehörende Gruppe von Tumoren sind, wurde durch die Entdeckung einer beiden Tumorarten gemeinsamen, charakteristischen chromosomalen Aberration maßgeblich unterstützt.
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Dabei handelt es sich um eine t(11;22)-Translokation, die zur Fusion des 5’-Teils des auf Chromosom 22q12 gelegenen EWS-Gens mit dem 3’-Teil des FLI1-Gens auf 11q24 führt. Bei FLI1 handelt es sich um das humane Homolog des murinen »Friend’s leukemia integration site 1«-Gens, eines Mitglieds der ETS-Transkriptionsfaktorfamilie (Delattre et al. 1992; Delattre et al. 1994; Ida et al. 1995). Da die Ewing-Sarkome zusammen mit den pPNET die ersten soliden Tumoren waren, für die eine spezifische Genfusion als eindeutiges Charakteristikum beschrieben wurde, kommt der molekularen Beschreibung dieser Erkrankung Modellcharakter zu. Die Umlagerungen von Chromosom 22, die letztlich zur Bildung eines EWS-Fusionsgens führen, wurden in den 80erJahren mit Hilfe zytogenetischer Untersuchungen bei ES und pPNET als charakteristisch für diese Erkrankungen beschrieben (Turc-Carel et al. 1988; Whang-Peng et al. 1984). Die in diesen Arbeiten erzielten Ergebnisse stellten die Grundlage für die späteren molekulargenetischen Studien dar. Neben der am häufigsten gefundenen t(11;22)(q24;q12)-Translokation sind auch zytogenetische Varianten in ES und pPNET beschrieben worden, bei denen ein drittes Chromosom, wie 4q21, 5q3 l, 6p21, 7q12, 10p11.2, 12q14, 14q11, 18p23 und möglicherweise 10q14, in die Umlagerung mit einbezogen ist. Zusätzlich zur t(11;22)-Translokation, die in etwa 87% zytogenetisch detektiert werden kann, wurden in ES weitere, nicht zufällige Chromosomenänderungen nachgewiesen (Hattinger et al. 1996; Hattinger et al. 1999). Trisomien oder Tetrasomien von Chromosom 8 oder 12 wurden in 56% bzw. in 29% der Fälle gesehen. Eine nicht balancierte Translokation der(16)t(1;16) wurde in 17% von Fällen gesehen, und Verluste von 1p36 in 15% der Fälle. Bei der t(1;16)-Translokation handelt es sich um ein nichtbalanciertes Ereignis mit variablen Bruchpunkten auf beiden Chromosomen (Douglass et al. 1990; Stark et al. 1997). Das Resultat ist das Entstehen von 1 oder 2 derivatisierten Chromosomen 16, zusammen mit einer teilweisen Tri- oder Tetrasomie lq und einer teilweisen Monosomie 16. Die Analyse der Tumormetaphasen zeigt die Bruchpunkte von Chromosom 1 in allen Fällen auf dessen langem Arm, während auf Chromosom 16 in der überwiegenden Zahl der Fälle der lange Arm, in einigen Fällen aber auch der kurzen Arm betroffen ist. Durch Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierungsanalysen (FISH) konnten YAC- und Cosmid-Klone identifiziert werden, die die präzise Lokalisierung der Bruchpunktregionen ⊡ Abb. 46.5. Chromosom-22-Umlagerungen in Ewing-Tumoren
EWSR1 auf Chromosom 22 und EWSR2 auf Chromosom 11 im Metaphasepräparat erlaubten (Zucman 1992). Mit dieser Technik konnte v. a. auch gezeigt werden, dass das Entstehen eines EWS/ERG-Fusionsgens häufig aus komplexen Translokationen hervorgeht, die die Umlagerung von mehr als 2 Chromosomen involviert (Desmaze et al. 1997). Die Daten der zytogenetischen Untersuchungen werden durch die Analyse von Ewing-Tumoren mit Hilfe der komperativen genomischen Hybridisierung (CGH) ergänzt, die auch die Beurteilung von gefrorenen oder formalinfixierten Tumorproben erlaubt (Armengol et al. 1997). In 75% der Tumoren konnten Strukturänderungen der Genoms, meist Zugewinne von ganzen Chromosomen oder zumindest ganzen Armen von Chromosomen, nachgewiesen werden. Rekurrente Ereignisse waren Hinzugewinne von Chromosom 8 (7 von 20 Proben; 35%), 1q (5 Proben; 25%) und 12 (5 Proben; 25%). High-Level-Amplifikationen treten in Ewing-Tumoren nur sehr selten auf und wurden bisher in Einzelfällen für die Regionen 8q13–24, 1q und 1q21–22 beschrieben. Damit zeigt der Vergleich der bisher veröffentlichten CGH-Daten bei Ewing-Tumoren weitgehende Übereinstimmung mit den zytogenetischen Befunden. ! In Ewing-Tumoren finden sich eine Reihe rekurrenter
nicht-zufälliger Chromosomenänderungen wie Translokationen – am häufigsten t (11;22) –, Trisomien, Tetrasomien und Chromosomenverluste.
46.8.5 Molekulargenetik
und Expressionsanalyse EWS/ETS-Fusionsgene. Etwa 85–90% der Ewing-Tumoren
weisen auf molekularer Ebene die Fusion des EWS-Gens (Chromosom 22q12) mit dem FLI1-Gen (Chromosom 11q24), 5–10% eine Fusion mit dem ERG-Gen (Chromosom 21q22) auf (⊡ Abb. 46.5). Als Mitglieder der ETS-Transkriptionsfaktorfamilie besitzen FLI1 und ERG eine Helix-Loop-HelixDNA-Bindungsdomäne, die auch als ETS-Domäne bezeichnet wird (Donaldson et al. 1996). Innerhalb der 84 Aminosäuren umfassenden DNA-Bindungsdomäne sind das FLI1 und das ERG-Protein auf 82 Positionen identisch, die Gesamthomologie beträgt 80 % (Prasad et al. 1992). In Einzelfällen konnten auch Fusionen mit den ETS-Genen FEV, E1AF und ETV-bei Ewing-Tumoren nachgewiesen werden, wobei ins-
509 46 · Pathologie
besondere die beiden letzteren aber eine geringere Homologie zu FLI1 und ERG besitzen (Jeon et al. 1995; Kaneko et al. 1996; Peter et al. 1997). Die genaue Lokalisation der Bruchpunkte innerhalb der beteiligten Gene variieren bei t(11;22)-positiven Tumoren von Patient zu Patient. Innerhalb des EWS-Gens sind sie auf den Bereich von Intron 7 bis Intron 10 beschränkt, während sie in FLI1 in einem weiten Bereich von Intron 3 bis Intron 9 verteilt sind (Zucman et al. 1992). Bei detaillierteren Untersuchungen des Intron 6 von EWS, das unmittelbar neben den Bruchpunktregionen dieses Gens liegt, konnte beim Vergleich von afrikanischer und europäischer Bevölkerung ein struktureller Polymorphismus nachgewiesen werden. In welchem Ausmaß dieser interethnische Unterschied zu der deutlich höheren Inzidenz der Ewing-Tumoren bei Kaukasiern beiträgt, kann jedoch noch nicht sicher beantwortet werden (Stiller u. Parkin 1996; Zucman-Rossi et al. 1997). In jedem Fall führen die Translokationen auf RNA-Ebene zu einer In-frame-Fusion der beteiligten Exone. Dabei findet man besonders häufig Verbindungen zwischen Exon 7 des EWS-Gens und Exon 6 oder 5 des FLI1-Gens, die bei ihrer ersten Beschreibung als Typ I bzw. Typ II bezeichnet wurden (Delattre et al. 1992). Mittlerweile sind mindestens 10 Varianten der EWS/FLI1-Fusion und 4 Varianten der EWS/ERG-Fusion beschrieben. Obwohl die Molekulargenetik der EwingTumoren oben als modellhaft für die Gruppe der mesenchymalen Tumoren, die durch eine spezifische Translokation charakterisiert sind, bezeichnet wurde, ist diese ausgeprägte Heterogenität ausschließlich bei den Ewing-Tumoren zu finden. Die minimale kodierende Sequenz, die man in den Ewing-Tumoren findet, umfasst Exon 1 bis 7 des EWS-Gens und das 3´-Ende von FLI1 oder ERG ab Exon 8. Zwischen diesen minimalen Anteilen können je nach Transkripttyp weitere Regionen liegen, für die u. a. Funktionen bei der Protein-Protein-Interaktion und damit regulatorische Funktionen postuliert werden (Watson et al. 1997). Molekularbiologische Effekte der EWS/Ets-Transkriptionsfaktoren. Die Anwesenheit eines chimären EWS/ets-Trans-
kriptionsfaktors in ET als rekurrentes Ereignis suggeriert bereits eine kritische Funktion dieses Proteins in der Onkogenese. Transfiziert man NIH3T3-Zellen (immortalisierte Fibroblasten der Maus) mit EWS-FLI1 oder EWS-ERG, so entwickeln diese Zellen charakteristische Eigenschaften von Tumoren, wie Wachstum in Soft-Agar-Nährboden und Tumorbildung in immundefizienten Mäusen (May et al. 1993; Ohno et al. 1994). Unterdrückt man andererseits die Expression des EWS-FLI1-Gens in Ewing-Tumorzellen durch Antisense-RNA-Behandlung, so verlieren diese ihre Proliferations- und Tumorbildungsfähigkeit (Ouchida et al. 1995; Kovar et al. 1996; Tanaka et al. 1997). Sowohl der N-terminale EWS-Teil als auch der C-terminale, DNA-bindende Teil von FLI1 bzw. ERG sind für die transformierende Aktivität unabdingbar, d. h. eine Transfektion mit Wildtyp FLI1 resultiert nicht in einem malignen Phänotyp. Die Suche nach Interaktionspartnern von EWS/FLI1, die für die Transformation der Zellen ebenfalls erforderlich sind, ist zur Zeit noch in ihren Anfängen. Bekannt ist zumindest, dass EWS-FLI1 mit dem hsRPB7-Protein, einer Untereinheit der RNA-Polymerase II, interagiert (Petermann et al.
1998). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass für die Ausbildung des malignen Phänotyps von NIH3T3-Zellen die Expression des Rezeptors des »insulin-like growth factor« erforderlich ist (Toretsky et al. 1997). Vieles spricht dafür, dass die molekularbiologischen Effekte von EWS/FLI1 v. a. durch dessen Aktivität als Transkriptionsmodulator vermittelt werden (May et al. 1993; Zhang et al. 1993). Ein direktes Zielgen von EWS/FLI1 ist offenbar das C-MYC-Gen, dessen Promotor es direkt zu aktivieren vermag und dessen Genprodukt immer in erhöhten Mengen in Ewing-Tumoren zu finden ist (Bailly et al. 1994). Weiterhin sind offenbar auch die Expressionslevel von mE2-C, ein in den Abbau von Cyclin B durch Ubiquitin-Markierung involviertes Genprodukt (Arvand, 1998), und des »Manic-fringe«Gens, unmittelbar von EWS-FLI1 stimuliert (May et al. 1997). »Manic fringe« besitzt eine Schlüsselrolle in der normalen Gewebeentwicklung. Interessanterweise zeigt eine konstitutiv erhöhte »Manic-fringe«-Expression in in-vitro- und in vivo Modellen einen ähnlichen tumorigenen Effekt wie EWS-FLI1 (May et al. 1997). Auf der anderen Seite ist EWS/ FLI1 auch in der Lage, spezifisch die Expression anderer Gene zu reprimieren. So wird bei der Regulation des Rezeptors des »transforming growth factor-β« ein dominant negativer Effekt des Fusionsproteins gegenüber anderen, antagonistisch wirkenden ETS-Proteinen angenommen (Hahm et al. 1999; Im et al. 2000). 46.8.6 Molekulare Diagnostik Der zytogenetische oder molekulargenetische Nachweis der t(11;22)- bzw. der t(21;22)-Translokation als charakteristisches Phänomen bei der überwiegenden Zahl der Ewing-Tumoren ist mittlerweile integraler Bestandteil der routinemäßigen pathologischen Begutachtung der klein- und rundzelligen Knochen- und Weichteilsarkome und ist v. a. in Grenzfällen ein wertvolles differentialdiagnostisches Hilfsmittel bei der Abgrenzung der Ewing-Tumoren von anderen Rundzellsarkomen. Während für die klassischen zytogenetischen Untersuchungen frisches Tumormaterial erforderlich ist, kann mit Hilfe von FISH-Analysen auch gefrorenes und formalinfixiertes Gewebe untersucht werden (Desmaze et al. 1994; McManus et al. 1995; Nagao et al. 1997; Kumar et al. 1999; Monforte-Munoz et al. 1999). Insbesondere der Nachweis des mRNA-Transkriptes des Fusionsgens mit Hilfe der Reversen-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR) hat sich als wichtiges diagnostisches Hilfsmittel etabliert (Sorensen et al. 1993; Delattre et al. 1994; Barr et al. 1995a, b, Dockhorn-Dworniczak et al. 1994, 1997; Downing et al. 1995). Diese chimären Transkripte können ebenfalls sowohl im frischen bzw. gefrorenen als auch im Paraffin-eingebetteten Tumormaterial nachgewiesen werden (Adams et al. 1996). Von besonderem differenzialdiagnostischen Interesse ist der Nachweis der Translokation v. a. bei solchen Tumoren, die sich durch eine ungewöhnliche Lokalisation auszeichnen und deren Zugehörigkeit zur Ewing-Tumorfamilie zumindest z. T. noch kontrovers diskutiert wird: Der Askin-Tumor (auch Askin-Rosai-Tumor), ein primitiver, maligner, neuroektodermaler Tumor mit klein- und rundzelliger Histologie, ist charakterisiert durch sein Auftre-
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
ten in der thorakopulmonalen Region (Askin et al. 1979). Auch er betrifft v. a. Kinder und Heranwachsende und wird wegen des rekurrenten Auftretens der t(11;22)-Translokation den Ewing-Tumoren zugerechnet. Kleinzellige Osteosarkome des Knochens, die etwa 1,3% aller Osteosarkome ausmachen (Nakajima et al. 1997), können zu Schwierigkeiten bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung zum Ewing-Sarkom führen, wenn sie keine erkennbare Osteoidbildung aufweisen (Dickersin et al. 1991). Der Nachweis einer t(11;22)-Translokation im untersuchten Tumorgewebe kann hier richtungsweisend für die Diagnose sein (Noguera et al. 1990). ! Der Nachweis einer t (11;22)-Translokation mit Hilfe
der RT-PCR ist auch in tiefgefrorenen und Paraffineingebetteten Gewebsproben möglich, was diese Methode zu einem wichtigen Instrument in der Differenzialdiagnose der Ewing-Tumoren macht.
46.9
Rhabdomyosarkom
Rhabdomyosarkome (RMS) werden nach der Internationalen Rhabdomyosarkom-Klassifikation (Newton et al. 1995) eingeteilt. Diese Klassifikation beruht auf der Einteilung von Horn und Enterline (1958), wobei 3 Subgruppen voneinander unterschieden wurden. Die Subgruppen haben eine unterschiedliche Prognose, wenn die Patienten nach den heute üblichen Therapieschemata behandelt werden (Leuschner u. Harms 1999). Die morphologische Diagnose »Rhabdomyosarkom« basiert auf einer Kombination von zytologischen Merkmalen, Wachstumsart sowie immunhistochemischem Nachweis von verschiedenen Antigenen, wie sie in den folgenden Abschnitten für die einzelnen Typen beschrieben ist. Eine myogene Differenzierung sollte immer immunhistochemisch abgesichert werden. Heute wird am häufigsten der Nachweis von Myogenin und/oder MyoD1 verwendet (Dias et al. 2000; Kumar et al. 2000). Beide im Zellkern exprimierte Proteine sind spezifisch für eine Skelettmuskeldifferenzierung und haben einen ähnlich hohen Wert für die Diagnosesicherung. Weniger differenzierte RMS, wie z. B. die alveolären RMS, exprimieren in der Regel stärker Myogenin im Zellkern als gut differenzierte RMS. Beide Proteine werden auch in regenerierenden Muskelfasern sowie auch in anderen Tumoren mit Skelettmuskelkomponenten, wie Wilms-Tumoren oder Ektomesenchymomen, nachgewiesen und sind daher nicht spezifisch für RMS. Eine Myogenin- bzw. MyoD1-Expression ist auch in einzelnen Fälle einer Myofibromatose berichtet worden (Cessna et al. 2001). Weitere spezifische Antigene einer Skelettmuskeldifferenzierung sind Myoglobin und Myosin. Diese Proteine treten jedoch erst in späteren Abschnitten der normalen Myogenese auf, so dass meist nur gut differenzierte Tumorzellen diese Proteine exprimieren. Desmin und Aktine werden in verschiedenen Tumoren mit myogener Differenzierung nachwiesen und sind nicht spezifisch für eine Skelettmuskeldifferenzierung. Dennoch kann der Nachweis dieser Proteine in Kombination mit den anderen oben genannten Markern in der Diagnostik des RMS hilfreich sein.
46.9.1 Rhabdomyosarkom mit günstiger
Prognose ! Rhabdomyosarkome mit günstiger Prognose sind der botryoide und der spindelzellige Subtyp. Botryoider Typ des embryonalen Rhabdomyosarkoms. Er
macht ca. 7% aller RMS aus und kann nur in Hohlorganen, entstehen, da der Tumor eine charakteristische polypoide, «traubenartige» Vorwölbung in das Lumen zeigt. Ganz überwiegend kommen diese Tumoren in den Nasen- bzw. Nasennebenhöhlen und im Nasopharynx vor, gefolgt von Harnblase, Vagina und Gallenwegen, gelegentlich in der Anusregion. Mikroskopisch ist eine charakteristische Kondensierung der Tumorzellen parallel unter dem bedeckenden Oberflächenepithel («Kambiumschicht») zu sehen. Die Basis der Läsion ist in der Regel sehr zellarm. Die charakteristische Kambiumschicht ist sehr hilfreich für die Diagnose eines botryoiden Typs des embryonalen RMS, jedoch konnte gezeigt werden, dass prognostisch das polypoide Wachstum wichtiger ist als die Ausbildung einer Kambiumschicht, die teilweise schwer zu identifizieren ist (Leuschner et al. 2001). Häufig ist der Differenzierungsgrad in den Tumoren hoch und es lassen sich Myotuben und teilweise auch eine Querstreifung finden. Molekulargenetisch konnten beim botryoiden Typ des embryonalen RMS bisher keine der derzeit bekannten genetischen Veränderungen bei RMS gezeigt werden. Einzelberichte haben Trisomien auf verschiedenen Chromosomen sowie Deletionen gezeigt (Kadan-Lottick et al. 2000; Scholl et al. 2000; Clawson et al. 2001). Es ist davon auszugehen, dass dieser Typ des embryonalen RMS eine eigenständige Entität ist. Spindelzelltyp des embryonalen Rhabdomyosarkoms. Er
macht ca. 3–8% aller RMS aus und kommt ganz bevorzugt in der paratestikulären Region vor. Definitionsgemäß sind mehr als 75% des Tumors aus Spindelzellen aufgebaut. Das Wachstumsmuster in Bündeln und Strängen erinnert an eine glattmuskuläre Differenzierung, jedoch sind die Tumoren immunhistochemisch eindeutig skelettmuskulär differenziert und haben sogar eine sehr hohen Differenzierungsgrad (Cavazzana et al. 1992; Leuschner et al. 1993). Typischerweise werden Desmin und Aktin stark exprimiert, zusätzlich findet man Myosin, Myoglobin, Troponin T und Titin. Myogenin und MyoD1 können wegen des hohen Differenzierungsgrads meist nur in geringem Umfang nachgewiesen werden. Analog dem botryoiden Typ weist der Spindelzelltyp des embryonalen RMS molekulargenetisch keine der typischen genetischen Veränderungen auf. Auch für diesen Tumortyp liegen nur Einzelfallberichte über genetische Untersuchungen vor, die verschiedene strukturelle Veränderungen auf den Chromosomen 1, 8, 12, 21 und 22 gezeigt haben (GilBenso et al. 1999). 46.9.2 Rhabdomyosarkome mit intermediärer
Prognose »Klassisches« embryonales Rhabdomyosarkom. Diese Gruppe umfasst alle Sarkome mit skelettmuskulärer Differenzierung, die nicht dem alveolären RMS oder den beiden oben
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genannten Subtypen des embryonalen RMS zugeordnet werden können. Nach der internationalen Klassifikation werden auch die als pleomorphe RMS des Kindes- und Jugendlichenalters bezeichneten Tumoren zu dieser Gruppe gezählt. Es findet sich daher ein sehr heterogenes histologisches Bild unter diesen so bezeichneten Tumoren. Grundsätzlich können embryonale RMS in praktisch allen Regionen des Körpers vorkommen, es findet sich aber eine Häufung im Kopf-Hals-Bereich (ca. 46% aller embryonaler RMS) sowie im Urogenitalbereich (28%), während im Bereich der Extremitäten nur 8% aller RMS diese Typs anzutreffen sind. Im pelvinen Bereich (Harnblase und Prostata) kommen dagegen praktisch ausschließlich embryonale RMS vor. Einige Lokalisationen, in denen ebenfalls ganz überwiegend embryonale RMS vorkommen (Orbita, paratestikulär), sind mit einer deutlich günstigeren Prognose assoziiert. Histologisch findet sich ein überwiegend aus spindeligen bis ovoiden Zellen aufgebauter Tumor mit unscharfer Begrenzung zum umgebenden Gewebe. Der Zellreichtum in den Tumoren kann ganz variabel sein. Auch kommen ganz unterschiedliche Anordnungsformen der Zellen von stark myxoiden Arealen bis hin zu Anordnungen in Bündeln und Strängen vor. Auch der Gehalt an fibrösen Fasern und Retikulinfasern kann stark variieren. Zumindest teilweise finden sich Zellen mit einem stark eosinophilen Zytoplasma, die das morphologische Korrelat für die z. T. ausgeprägte Myogenese der Tumorzellen darstellt. Diese Eosinophilie kann auch in Form von großen, rundzelligen Elementen, so genannten Myoblasten, auftreten, oder sie kann in Form von so genannten Tandemzellen mit mehreren Zellkernen vorkommen. Nach einer durchgeführten Chemotherapie kann eine starke Zunahme von Myoblasten beobachtet werden. Die biologische Bedeutung einer solchen induzierten Differenzierungszunahme ist bisher nicht eindeutig geklärt (Leuschner et al. 2001). In einem Teil der Fälle ist es trotz einer solchen Differenzierungszunahme zu einem sehr ungünstigen Verlauf gekommen, so dass auch Faktoren wie eine Chemoresistenz der Tumorzellen mit diskutiert werden müssen. Anaplasie. Als ein Faktor für eine ungünstigere Prognose ist das Auftreten von anaplastischen Zellen zu werten (Kodet et al. 1993). Analog zu den Kriterien für Wilms-Tumoren müssen diese Zellen deutlich vergrößerte, mindesten 3-mal so große Kerne im Vergleich zu den umgebenden Tumorzellen aufweisen. Zusätzlich sind häufig stark atypische Mitosen in Form von z. B. Tetrastern vorhanden, die als weiteres Kriterium für eine Anaplasie herangezogen werden können. Die Identifizierung dieses Merkmals erscheint wichtig, da in einer Untersuchung der IRS gezeigt werden konnte, dass das Auftreten anaplastischer Tumorzellen mit einer signifikant schlechteren Prognose assoziiert war. Möglicherweise wird die Identifizierung solcher Differenzierungsformen in der Zukunft therapeutische Konsequenzen analog zu den WilmsTumoren haben.
46.9.3 Rhabdomyosarkome mit ungünstiger
Prognose ! Die alveolären Rhabdomyosarkom stellen eine separate Gruppe myogener Sarkome dar, die wegen eines deutlich unterschiedlichen biologischen Verhaltens von den embryonalen Rhabdomyosarkom abgetrennt werden müssen.
Bereits in den 50er-Jahren wurde das histologisch andersartige Bild dieses RMS von Riopelle und Theriault erkannt, und wegen des Auftretens »alveolenartiger« Regressionsräume wurde der Name des alveolären RMS geschaffen. Alveoläre RMS haben eine deutlich andere Altersverteilung als embryonale RMS. Bei Kindern unter 1 Jahr treten sie selten auf (4,7% aller alveolärer RMS), dann folgt ein Anstieg der Inzidenz bis zum 5. Lebensjahr. Danach ist eine relative gleichmäßige Verteilung bis in das frühe Erwachsenenalter zu beobachten (Harms 1995). Männliche Kinder sind geringfügig häufiger von einem alveolären RMS betroffen (m: w=1,17:1). Die Verteilung der anatomischen Lokalisationen ist ebenfalls anders als beim embryonalen RMS. Diese Tumoren werden ganz überwiegend an den Extremitäten (ca. 45%) gefunden, gefolgt vom Kopf-Hals-Bereich (ca. 22%) und Stamm (ca. 12%). Im Gegensatz zu embryonalen RMS findet sich bei alveolären RMS zum Zeitpunkt der Diagnose bereits eine deutlich höhere lymphogene Metastasierungsrate (Harms 1995). Daher ist die Stadienverteilung im Vergleich zu den embryonalen RMS deutlich zu den Stadium-IV-Patienten verschoben. Das histomorphologische Bild weist ganz charakteristische rundliche Zellen mit relativ großen rundlichen Zellkernen und relativ schmalem Zytoplasma auf (⊡ Abb. 46.6). Die Zytologie dieser Zellen ist deutlich unterschiedlich von denen der embryonalen RMS. Die Zellkerne bei den embryonalen Rhabdomyosarkomen sind deutlich kleiner und weisen ein dunkleres Chromatin auf. Die Tumorzellen des alveolären RMS sind in großen soliden Komplexen angeordnet, die als Regressionsphänomene eine Hohlraumbildung aufweisen können. In diesen Hohlräumen können große Tumorriesenzellen vorkommen. Im klassischen Fall bleibt als Auskleidung
⊡ Abb. 46.6. Alveoläres Rhabomyosarkom: Tumorgewebe mit alveolärem Grundaufbau; rundliche Zellen mit pleomorphen Kernen und spärlichem PAS-positivem Zytoplasma. Die Kernpleomorphie ist ausgeprägter als beim klassischen Ewing-Sarkom
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
auf den umgebenden fibrösen Septen eine einreihige Lage von Tumorzellen übrig (»lining«), das das charakteristische histologische Bild des alveolären RMS ausmacht. Ist es nicht bzw. noch nicht zur Ausbildung von Alveolen-artigen Hohlräumen gekommen, bezeichnet man diese initiale Form als »solide Variante« des alveolären RMS (Tsokos et al. 1984). Die Identifizierung dieser soliden Variante ist immens wichtig, da sich diese Tumoren prognostisch wie die »klassischen« alveolären RMS verhalten und einer entsprechend aggressiven Therapie bedürfen. Die Abgrenzung von einem embryonalen RMS ist einerseits durch die Zytologie der Zellen, andererseits aufgrund des Gitterfasermusters der Tumoren möglich. Die embryonalen RMS weisen in der Silberfärbung in der Regel ein diffus verteiltes, relativ feines Retikulinfasernetzwerk auf. Ganz im Gegensatz dazu sind die eigentlichen Tumorzellverbände des alveolären RMS praktisch frei von Retikulinfasern. Nur die umgebenden fibrösen Septen stellen sich in der Silberfärbung deutlich dar. Aufgrund dieses charakteristischen Gitterfasermusters ist die Identifizierung auch der soliden Variante des alveolären RMS in der Regel gut möglich.
Es kommen RMS vor, die nur fokal eine alveoläre Histologie aufweisen. In früheren Studien der IRS wurden diese Tumoren als gemischt embryonal/alveolär bezeichnet (Newton et al. 1988). Aufgrund der prognostischen Bedeutung der alveolären Differenzierung konnte bereits Anfang der 80er-Jahre gezeigt werden, dass sich diese Tumoren wie die »rein« alveolären RMS verhalten, so dass heute die Regel akzeptiert ist, dass ein Fokus einer alveolären Differenzierung die Diagnose eines alveolären RMS notwendig macht (Harms et al. 1985).
⊡ Abb. 46.7. Ein charakteristisches Merkmal alveolärer Rhabdomyosarkome ist die reziproke Translokation t(2;13)(q35;q14). Chromosomenbrüche in den Regionen 2q35 und 13q14 führen zur Entstehung derivatisierter Chromosomen 2 und 13, wobei chromosomale Abschnitte ausgetauscht werden, ohne dass dabei genetisches Material verloren geht. Bei den Umlagerungen werden Teile der betroffenen Gene, FKHR (»forkhead related«) auf Chromosom 13q14 und PAX3 (»paired box«) auf Chromosom 2q35 auf den derivatisierten Chromo-
somen fusioniert. Dadurch entsteht auf dem neu gebildeten der(13) ein Fusionsgen, dass den 3´-Bereich des FKHR-Gens und den 5´-Bereich des PAX3-Gens aufweist. Das Protein, das durch dieses Fusionsgen kodiert wird, entspricht einem aberranten (verfremdeten) Transkriptionsfaktor, dem offenbar eine Bedeutung in der Entstehung der Rhabdomyosarkome zukommt. (Abbildung freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Dr. K.-L. Schäfer, Institut für Pathologie, Universitätsklinikum Düsseldorf )
! Grundlage der histologischen Diagnose des alveolären Rhabdomyosarkoms ist die Zytologie der Tumorzellen und nicht ausschließlich das Wachstumsmuster, d. h., auch alveoläre Rhabdomyosarkome mit solidem Wachstumsmuster (solide Variante) sind als solche zu erkennen.
46.9.4 Zytogenetik und Molekulargenetik Alveoläre RMS (aRMS) weisen in 2/3 der Fälle eine t(2;13) (q35;q14)-Translokation und bei 1/5 der Fälle eine t(1;13)(p36;q14)-Translokation auf (⊡ Abb. 46.7; Barr et al.
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1997; Davis u. Barr 1997). Bei der 2;13-Translokation resultiert nach Translation des fusionierten Gens ein Hybridprotein, dass sich aus dem aminoterminalen Bereich des HomeoboxProteins PAX3 (Paired-Box-3-Gen) auf Chromosom 2 mit einer DNA-bindenden Domäne und dem carboxyterminalen Bereich des Transkriptionsfaktors FKHR (»forkhead-related gene«) auf Chromosom 13 mit transaktivierenden Domänen zusammensetzt (del Peso et al. 1999; Bennicelli et al. 1999; Anderson et al. 1999). Bei der selteneren 1;13-Translokation besteht das fusionierte Gen aus dem Homeobox-Gen PAX7 mit dem FKHRTranskriptionsfaktor. Klinisch ist die 1;13-Translokation möglicherweise mit einer günstigeren Prognose assoziiert (Kelly et al. 1997). Die 1;13- und 2;13-Translokation lassen sich sowohl in Frischgewebe als auch formalinfixiertem und paraffineingebettetem Gewebe nachweisen und sind für die Diagnose des aRMS von hoher Relevanz (Anderson et al. 1997; Edwards et al. 1997). Darüber hinaus lässt sich in einem Großteil der aRMS eine NMYC-Amplifikation nachweisen, wobei die diagnostische oder prognostische Signifikanz der NMYC-Amplifikation bislang unklar ist (Hachitanda et al. 1998). Eine Zusammenstellung der charakteristischen chromosomalen Translokalisationen mit diagnostischer Bedeutung findet sich in ⊡ Tabelle 46.6. Für embryonale RMS (eRMS) konnte bislang keine tumorspezifische Translokation identifiziert werden. Nach einer neuen Studie finden sich jedoch Translokationsbruchpunkte der Region 1p11-q11 in mehr als 60% der eRMS und Zugewinne der Chromosomen 2, 8, 12 und 13, die funktionell signifikant sein könnten (Gordon et al. 2001). Eine gut untersuchte, häufige und molekulargenetisch detektierbare Veränderung bei eRMS ist ein Heterozygotieverlust eines Teils des kurzen Arms von Chromosom 11 (LOH11p15). Möglicherweise betroffene Gene sind das MyoD1-Gen, das Wilms-Tumorgen 1 (WT1) sowie das IGF2- und H19-Gen. Die 11p15-Region unterliegt in normalen Geweben einem genomischen Imprinting mit Transkription ausschließlich
des väterlichen Allels (Scrable et al. 1989, Minniti et al. 1994; Casola et al. 1997). Kommt es zum LOI, resultiert daraus eine aktive Transkription sowohl des paternalen als auch des maternalen Allels, die über einen zweifachen Gendosiseffekt zur Genüberexpression bestimmter, in diesem Bereich gelegener Gene führen kann. Eigene Untersuchungen haben gezeigt, dass Heterozygotieverluste von Chromosom 11p15.5 nicht nur bei embryonalen, sondern auch in etwa der Hälfte der untersuchten alveolären RMS auftreten (Brinkschmidt et al. 1998). In etwa der Hälfte der untersuchten eRMS bzw. 1/3 der aRMS waren diese 11p15.5-Verluste mit Allelverlusten auf dem langen Arm von Chromosom 11 assoziiert. CGH- und FISH-Analyse dieser Fälle zeigte ganzchromosomale Zugewinne genetischen Materials von Chromosom 11 bei allen untersuchten eRMS und bei einem Fall eines aRMS. Ein weiteres aRMS der Studie war durch ganzchromosomale Verluste gekennzeichnet. Die anderen aRMS zeigten keine Hinweise auf genetische Imbalancen des Chromosoms 11. In der FISH-Analyse zeigte sich in den Fällen, die in der CGH Zugewinne genetischen Materials aufwiesen, ein Überwiegen der Zentromer-11-Signale gegenüber den Zentromer7-Signalen, was auf eine Polysomie hindeutet. Verluste genetischen Materials in der CGH korrespondierten mit Hinweisen auf eine Monosomie des Chromosoms 11 in der FISH-Untersuchung. Bei 2 aRMS mit disomalem Chromosom-11-Status fand sich ein LOI für IGF2 mit bialleler IGF2Expression. Bei 2 eRMS mit uniparentaler Polysomie, einem aRMS mit uniparentaler Polysomie und einem weiteren aRMS mit Monosomie wurde jeweils nur ein IGF2-Allel exprimiert. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Alterationen von Chromosom 11 eine bedeutende Rolle sowohl bei eRMS als auch bei aRMS spielen. 3 Mechanismen könnten hierbei in der Tumorigenese der RMS von Bedeutung sein: ▬ Durch Verlust eines Allels von Chromosom 11 kommt es zu einer Hemizygotie, mit dem möglichen Verlust eines oder mehrerer möglicher Regulatorgene. Die erhöhte
⊡ Tabelle 46.6. Charakteristische chromosomale Translokationen mit diagnostischer Bedeutung bei soliden Tumoren bei Kindern und Jugendlichen
Entität
Gen 1
Genort
Gen 2
Genort
Ewing-Tumor
FLI1 ETV1 ERG E1AF FEV WT1 ATF-1 PAX3 PAX7
11q24 7p22 21q22 17q22 2q33 11p13 12q13 2q37 1p36
EWS EWS EWS EWS EWS EWS EWS FKHR FKHR
22q12 22q12 22q12 22q12 22q12 22q12 22q12 13q14 13q14
Myxoides Liposarkom
CHOP CHOP
12q13 12q13
TLS 12q13
16p11 22q12
Kongenitales Fibrosarkom und mesoblastisches Nephrom Synovialsarkom
ETV6 SSX1 SSX2 SSX4
12p13 Xp11 Xp11 Xp11
NTRK3 SYT SYT SYT
15q25 18q11 18q11 18q11
Myxoides Chondrosarkom
TEC
9q22
EWS
22q12
Desmoplastischer Rundzelltumor Malignes Weichteilmelanom (Klarzellsarkom) Rhabdomyosarkom, alveolärer Typ (aRMS)
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
IGF2-Expression könnte in diesem Fall durch den Verlust eines möglichen Regulatorgens für das IGF2-Gen auf dem maternalen Allel erklärt werden. Als Kandidat wird hier das ebenfalls auf Chromosom 11p lokalisierte H19Gen diskutiert. ▬ Der Verlust der Heterozygotie von Chromosom 11 geht mit gleichzeitigen chromosomalen Zugewinnen einher, mit den Folgen einer uniparentalen Di- bzw. Polysomie, d. h., mit Vermehrung von Kopien nur eines elterlichen Allels bei gleichzeitigem Verlust des vom 2. Elternteil stammenden Allels. Da das IGF2-Gen des väterlichen Allels im Gegensatz zu dem maternalen IGF2-Gen keinem Imprinting unterliegt, wären im Fall eines Verlustes des maternalen Allels mehrere aktive Kopien des paternalen IGF2-Gens vorhanden, die zu einer erhöhten IGF2-Expression führen könnten. ▬ Bei RMS ohne nachweisbare strukturelle Chromosom11-Aberrationen könnte eine erhöhe IGF2-Expression durch Verlust des Imprintings (LOI) vorliegen, wie in 2 alveolären RMS unserer Studie mit unauffälligem disomalem Chromosom 11-Status, die eine biallele IGF2-Expression aufwiesen, nachzuweisen war. ! Entscheidend für die molekularpathologische Diagnostik ist der Nachweis der 1;13- oder 2;13-Translokation, der eine klare Differenzierung zwischen alveolären und embryonalen RMS erlaubt. Andere, oben beschriebene genetische Veränderungen sind momentan noch ohne diagnostische Relevanz.
46.10
Nicht-rhabdomyosarkomatöse Weichteiltumoren
46.10.1 Synovialsarkom Synovialsarkome treten ganz überwiegend an den Extremitäten auf, können aber in nahezu allen Lokalisationen, wie Thoraxwand oder Kopf-Halsbereich, entstehen. Die höchste Inzidenz findet sich bei Jugendlichen zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr. Obwohl die früher vermutete Entstehung in der Synovialis mittels Immunhistochemie und Elektronenmikroskopie ausgeschlossen werden konnte, wird aus praktischen Gründen der Name »Synovialsarkom« bisher beibehalten, da die eigentliche Stammzelle dieser Sarkome bisher nicht bekannt ist. Die Synovialsarkome sind so genannte biphasische Tumoren mit einer epithelialen und mesenchymalen Komponente. Die spindeligen mesenchymalen Zellen sind in kurzen plumpen Bündel angeordnet. Die epitheliale Komponente kann bereits in konventionell gefärbten Schnitten in Form von drüsenartigen Hohlräumen zu sehen sein. In vielen Fällen kann sie aber erst mittels Immunhistochemie gezeigt werden (Schmidt et al. 1991). Tumoren, die nur mittels Immunhistochmie eine ganz geringe epitheliale Differenzierung zeigen, werden auch monophasische Synovialsarkome genannt. Die molekulargenetische Untersuchung ist in solchen Fällen, ebenso wie bei vollständig fehlender epithelialer Differenzierung, wichtig. Ob ein monophasisch epitheliales Synovialsarkom existiert, wie immer wieder in der Literatur diskutiert,
wird nur mittels Molekulargenetik entschieden werden können. Immunhistochemisch exprimieren Synovialsarkome Vimentin in der mesenchymalen Komponente. Glattmuskelaktin kann in einzelnen Fällen ebenfalls nachgewiesen werden. Die epithelialen Zellen sind positiv für Zytokeratine und epitheliales Membranantigen (EMA). Zusätzlich sind die spindeligen Zellen im Zytoplasma positiv für CD99 sowie für bcl-2. Zytogenetik und Molekulargenetik. Synovialsarkome zeigen
eine konsistente, spezifische Translokation des X-Chromosoms und des Chromosoms 18. Zytogenetisch handelt es sich um eine balancierte reziproke t(X;18)(p11.2;q11.2)-Translokation, die sich bei mehr als 90% aller Synovialsarkome, sowohl bei der monophasischen als auch bei der biphasischen Variante, findet (Reeves et al. 1989). Die Translokation war ursprünglich mit traditionellen zytogenetischen Verfahren in Zellkulturen nachgewiesen worden. Moderne Techniken wie die FISH ermöglichen heutzutage auch den Nachweis der translozierten Chromosomen in Gefriermaterial oder formalinfixierten und paraffineingebettetem Geweben (Shipley et al. 1998; Lu et al. 1999). Auf der molekularen Ebene führt die X;18-Translokation zu einer Fusion zwischen dem Synovialsarkom-Translokationsgen (SYT) auf Chromosom 18 und den SynovialsarkomX-Bruch-1- oder -2-Genen (SSX1 oder SSX2), 2 weitgehend homologen Genen auf Xp11 (Clark et al. 1994; Shipley et al. 1994; Crew et al. 1995). Das resultierende Genfusionsprodukt, SSYT-SSX-chimäre RNA, kann mittels Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR) in RNA aus Frischgewebe und formalinfixiertem und paraffineingebettetem Gewebe nachgewiesen werden (Argani et al. 1998). Der molekulargenetische Nachweis der t(X;18)-Translokation hat große diagnostische Bedeutung in der Pathologie, da diese Translokation für Synovialsarkome spezifisch zu sein scheint und bislang nicht überzeugend in anderen Tumoren nachgewiesen wurde. Kürzlich sind weitere Varianten dieser Translokation in vitro und in vivo beschrieben worden (Sonobe et al. 1999, Mancuso et al. 2000). Die biologische Bedeutung der Translokation beruht auf der Schaffung eines neuen transkriptionellen Regulators: Das SYT-Protein enthält eine offenbar transkriptionsaktivierende Domäne und ist ultrastrukturell innerhalb nukleärer Körperchen lokalisierbar. Die SSX-Gene kodieren Proteine mit Aminosäuresequenzen, die ultrustrukturell diffus im Zellkern lokalisiert sind (Brett et al. 1997; Dos Santos et al. 1997). Molekularpathologisch und klinisch konnte kürzlich eine signifikante Korrelation zwischen dem Genotyp (SYT/ SSX1 oder SYT/SSX2) und der histologischen Variante gezeigt werden (Antonescu et al. 2000): Translokationspositive biphasische Synovialsarkome tragen überwiegend das SSYT/ SSX1-Hybrid, während translokationspositive monophasische Synovialsarkome zumindest in mehr als der Hälfte der Fälle durch die SYT/SSX2-Variante gekennzeichnet sind. Über die oben beschriebene Korrelation zwischen Genotyp und histologischer Variante hinaus haben Kawai et al. (1998) zeigen können, dass der Nachweis des Translokationstyps bei translokationspositiven Tumoren von prognostischer Bedeutung ist: Bei Patienten mit lokalisierten Synovialsarko-
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men mit Nachweis des SYT/SSX2-Hybrids fand sich eine signifikant längere Überlebenszeit ohne Metastasenbildung. Diese Ergebnisse sind mittlerweile durch weitere Studien bestätigt worden (Nilsson et al. 1999). Der Nachweis weiterer Bruchpunktvarianten der SSYT/ SSX-Translokation könnte in Zukunft eine weiter diversifizierte Prognoseabschätzung ermöglichen. ! Das Synovialsarkom ist den meisten Fällen ein biphasisches Sarkom mit epithelialen und mesenchymalen Anteilen, was molekularpathologisch durch eine t(X;18)-Translokation charakterisiert ist.
46.10.2 Kongenitales (infantiles) Fibrosarkom Bei kongenitalen (infantilen) Fibrosarkomen (CFS) handelt es sich um schnell wachsende maligne Tumoren eines insgesamt niedrigen Malignitätsgrades, die bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern vor dem 2. Lebensjahr auftreten. Hauptlokalisationsort sind die Extremitäten. Vom histologischen Bild her zeigen die Tumoren eine gleichartige Morphologie wie die Fibrosarkome des Erwachsenen, sind aber vom biologischen Verhalten her signifikant weniger agressiv und metastasieren kaum. Differentialdiagnostisch kann die Abgrenzung zur aggressiven Fibromatose, einer benignen Läsion, schwierig sein. Molekularzytogenetisch zeigen kongenitale Fibrosarkome eine t(12;15)p(13/q25)-Translokation. Auf der molekularen Ebene liegt eine Fusion zwischen dem ETS-Translokationsvariante-6-(ETV6)-Gen (auch als TEL-Gen bekannt) auf Chromosom 12p13 und dem neurotrophen Tyrosinkinaserezeptortyp-3(NTKR3)-Gen (auch bekannt als TRKC) auf Chromosom 15q25 zugrunde. Dieses Genfusionstranskript führt zur Expression einer chimären Protein-Tyrosinkinase mit Eigenschaften eines Onkogens durch Unterbrechung von Signaltransduktionswegen (Knezevich et al. 1998a, Wai et al. 2000). Vollständigkeitshalber sei darauf hingewiesen, dass gleichartige Genfusionstranskripte auch bei der zellulären Variante des mesoblastischen Nephroms, einem seltenen Nierentumor des Säuglingsalters, nachgewiesen werden (Knezevich et al. 1998b). Kürzlich wurden die Genfusionstranskripte der 12;15-Translokation darüber hinaus als charakteristischer Marker beim sekretorischen Mammakarzinom beschrieben (Tognon et al. 2002), einem distinkten, relativ seltenen und mit zumeist besserer Prognose behafteten Subtyp der invasiven Mammakarzinome, der interessanterweise auch im Kindes- und Adoleszentensalter auftritt. ! Das infantile Fibrosarkom ähnelt histologisch dem
adulten Fibrosarkom, verhält sich jedoch klinisch weitaus weniger aggressiv.
46.10.3 Lipoblastom und Liposarkom Lipoblastome sind benigne Fettgewebstumoren des Kindesalters, die vorwiegend vor dem 3. Lebensjahr auftreten. Lipoblastome können lokal invasiv wachsen oder auch multifokal auftreten (so genannte Lipoblastomatose), metastasieren jedoch nicht. Histologisch bestehen Lipoblastome aus Läppchen von fetalen Lipoblasten zwischen reifen Fettzellen. Mor-
phologisch kann die Abgrenzung zu myxoiden Liposarkomen (s. unten) schwierig sein. Molekularzytogenetisch konnten Bruchpunkte der chromosomalen Region 8q11–q13 nachgewiesen werden, wobei die Bedeutung dieser Translokationen bei der Tumorigenese des Lipoblastoms bislang unbekannt ist (Dei Tos et al. 1997). Liposarkome hingegen sind bei Kindern selten und haben ihren Altersgipfel in der 3. und 7. Lebensdekade. Histologisch unterscheidet man als häufigste Subtypen das gut differenzierte adipozytäre, das myxoide, das rundzellige und das pleomorphe Liposarkom. Von diesen Subtypen ist einzig die myxoide Variante bei Kindern beschrieben worden. Molekularzytogenetisch findet sich in mehr als 75% der myxoiden Liposarkome eine t(12;16)(q13;p11)-Translokation. Diese Translokation führt zu einer Fusion des CCAAT-«Enhancer-binding-protein-homologous-protein(CHOP)-Gens auf Chromosom 12 mit dem TLS(»translocated in liposarcoma«)-Gen auf Chromosom 16 (Panagopoulos et al. 1996). Diese Translokation ist nach bisherigem Wissen für das myxoide Liposarkom charakteristisch und wurde bislang in keiner anderen Art von myxoiden Sarkomen identifiziert. Das CHOP/TLS-Fusionsgen scheint einen aktivierten Transkriptionsfaktor zu kodieren (Thelin-Jarnum et al. 1999), dessen Mechanismus ähnlich wie bei den EWS/ETS-Fusionsprodukten sein könnte. Der Nachweis dieses Genfusionstranskriptes mittels RT-PCR ist molekularpathologisch in der Abgrenzung zu anderen myxoiden Sarkomen und insbesondere zum Lipoblastom im Kindesalter diagnostisch relevant (Hisaoka et al. 1998). 46.10.4 Undifferenzierte Sarkome Die Gruppe umfasst Sarkome, deren Histogenese nicht weiter geklärt werden kann. Der Differenzierungsgrad ist meist so niedrig, dass eine so genannte »linienspezifische« Antigenexpression nicht gezeigt werden kann. Die Gruppe ist daher recht heterogen. Immunhistochemisch findet sich in der Regel eine Vimentinexpression. Andere Antigene fehlen oder passen in keines der bekannten Expressionsmuster. Häufig wird die Diagnose mittels Ausschluss der bekannten Sarkomtypen gestellt. 46.11
Osteosarkom
! Das Osteosarkom ist der häufigste primäre maligne
knochenbildende Tumor. Er tritt gehäuft zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr auf und betrifft das männliche Geschlecht etwas häufiger als das weibliche (3:2).
Prädilektionsstellen sind die distale Femur- und die proximale Tibiametaphyse sowie die proximale Humerusmetaphyse. Die meisten Osteosarkome entstehen intramedullär und zerstören erst im weiteren Krankheitsverlauf den kortikalen Knochen. In den meisten Fällen handelt es sich um solitäre Tumoren, multizentrisches Wachstum (synchron oder metachron) ist jedoch möglich und dann verbunden mit einem klinisch aggressiveren Verlauf (Parham et al. 1985).
46
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Einige Typen entstehen primär an der Knochenoberfläche (juxtakortikal). Folgende Typen werden somit unterschieden: ▬ konventionelles Osteosarkom, ▬ parosteales Osteosarkom, ▬ periostales Osteosarkom, ▬ hochmalignes Osteosarkom der Knochenoberfläche, ▬ teleangiektatisches Osteosarkom, ▬ fibrohistiozytisches Osteosarkom, ▬ hochdifferenziertes (niedrig malignes) intraossäres Osteosarkom und ▬ kleinzelliges Osteosarkom. Letzteres erinnert an einen Ewing-Tumor. Im Gegensatz zum Ewing-Tumor findet sich jedoch eine Osteoidproduktion. Entsprechend den unterschiedlichen Typen variieren sowohl die makroskopischen als auch die mikroskopischen Befunde. Die Tumoren können hart sein, weich und bröckelig, solide oder auch zystisch. Der entscheidende mikroskopische Befund ist der Nachweis einer Osteoidproduktion durch maligne Zellen. Zusätzlich zu einer knöchernen Matrix können knorpelige Anteile vorhanden sein, beim periostalen Osteosarkom bestimmen sie das histologische Bild. Teleangiektatische Osteosarkome können mit aneurysmalen Knochenzysten verwechselt werden, auch hier ist der Nachweis von Osteoid produzierenden atypischen Zellen in den Zystensepten diagnostisch entscheidend. Immunhistochemisch lassen sich im Osteosarkom regelmäßig Vimentin und alkalische Phosphatase nachweisen, gelegentlich glattmuskuläres Aktin, Desmin, Protein S-100, Keratin und EMA (Hasegawa et al. 1991; Swanson et al. 1994). Ursprünglich wurden die Reaktionen gegen Osteonektin und Osteopontin als entscheidend in der Differenzialdiagnose angesehen. In der Zwischenzeit hat sich gezeigt, dass beide Proteine auch in nicht-osteosarkomatösen malignen Knochentumoren nachweisbar sein können. Der für die prognostische Einschätzung entscheidende Befund ist das Ansprechen auf eine präoperative Chemotherapie. Als »good responder« gelten Patienten, deren Tumor zu mehr als 90% aus Nekrose besteht (Davis et al. 1994). Die häufigsten zytogenetischen Anomalien betreffen die Chromosomen 1, 2, 6, 12 und 17. Bislang wurde jedoch noch keine spezifische chromosomale Anomalie gefunden (Ozisik et al. 1994). 46.12
Langerhans-Zell-Histiozytose
Eine ausführliche Darstellung der Histologie der Langerhans-Zell-Histiozytose findet sich in Kap. 20.
Stütze der pathologischen Diagnostik war und ist die histologische Untersuchung einer speziell aufgearbeiteten Gewebsprobe. Die großen Fortschritte im Verständnis und der Methodik der molekularen Genetik machen aber inzwischen die zytogenetische und insbesondere molekularzytogenetische Untersuchung zu einem wesentlichen Hilfsmittel für eine genaue histopathologische Diagnose.
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Die exakte histologische Klassifikation des Tumortyps ist unumgänglich für die Therapieplanung. Darüber hinaus erlauben molekulare und molekularzytogenetische Daten in vielen Fällen auch Aussagen über das biologische Verhalten und damit zur Prognose des Tumors. Mit der rasch fortschreitenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms und Identifikation immer wieder neuer Gene, die sich in Genfusionstranskripten nachweisen lassen, sind die Polymerase-Kettenreaktion (insbesondere die RT-PCR) die Methode der Wahl für einen schnellen, sensitiven und spezifischen Nachweis von molekularzytogenetischen und molekularen Alterationen in Tumoren des Kindesalter geworden. In den kommenden Jahren wird es nicht mehr vordringlich sein, die Detektionsmethoden noch weiter zu verfeinern, sondern monoklonale Antikörper zu generieren, die zu einem in der Diagnostik und Differenzialdiagnostik weiterhelfen, zum anderen neue, prognostisch wichtige Hinweise liefern. Einige solche Antikörper stehen heute schon zur Verfügung (z. B. Ki67, Her2/neu, c-kit). Die mit molekularen Methoden erhobenen Befunde stellen so eine Ergänzung zur konventionellen Diagnostik dar und werden v. a. bei der prognostischen und therapeutischen Einschätzung und Therapie wichtige Informationen liefern, die weit über das heute bekannte Maß hinausgehen. Oft zitiertes Fernziel wäre ein Befund, in dem der Pathologe nicht nur die Diagnose eines Tumors spezifiziert, sondern gleichzeitig auf bestimmte genetische Veränderungen hinweist, die ein Ansprechen oder Nicht-Ansprechen auf eine bestimmte Therapie erwarten lassen.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
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521
Minimale Resterkrankung T. Lion, M. Dworzak
47.1
Biologische und klinische Bedeutung – 521
47.1.1 47.1.2 47.1.3
Akute lymphoblastische Leukämie – 522 Akute myeloische Leukämie – 524 Chronische myeloische Leukämie – 524
47.2
Methoden zur Detektion minimaler Resterkrankung – 524
47.2.1 47.2.2
Multiparameter-Durchflusszytometrie (Flow-Zytometrie) – 524 Nukleinsäure-Amplifikation – 525
47.3
Wahl der optimalen Nachweismethode – 528
47.3.1 47.3.2
Akute lymphoblastische Leukämie – 528 Akute myeloische Leukämie – 528
47.4
Perspektiven
47.4.1 47.4.2 47.4.3 47.4.4
Akute Leukämien – 528 Maligne Lymphome – 529 Solide Tumoren – 529 Methodische Entwicklungen – 529
Literatur
– 528
– 530
Ist es für die erfolgreiche Therapie einer malignen Neoplasie im Sinne einer dauerhaften Remission oder Heilung erforderlich, alle Tumorzellen zu eradizieren? Oder genügt es, die Tumorzelllast so weit zu reduzieren, dass das Immunsystem die restlichen Tumorzellen eliminieren oder zumindest langfristig unter Kontrolle halten kann? Spielt die Kinetik der Tumorzellreduktion unter Therapie eine prognostische Rolle? Bestehen Unterschiede zwischen verschiedenen malignen Erkrankungen hinsichtlich der prognostischen Bedeutung einer unvollständigen Eradikation der Tumorzellen? Gibt es eine kritische residuelle Tumorzellmenge, die als prognostischer Parameter herangezogen werden kann? Wie in diesem Kapitel dargelegt, können diese und andere Fragen durch die Überwachung der so genannten minimalen Resterkrankung beantwortet werden.
47.1
Biologische und klinische Bedeutung
Definition Der Begriff minimale Resterkrankung (MRD, »minimal residual disease«) bezeichnet residuelle Tumorzellmengen im untersuchten Material unterhalb der Nachweisgrenze morphologischer Untersuchungsmethoden, deren Sensitivität bei etwa 1% liegt.
Bei Diagnose einer Leukämie kann die Gesamtmenge maligner Blasten in der Größenordnung von 1012 Zellen liegen. Diese Zellzahl entspricht einer Tumorzellmasse von ungefähr einem Kilogramm. Aufgrund des Sensitivitätslimits mikroskopischer Untersuchungen von etwa 1% könnten daher zum Zeitpunkt einer morphologisch definierten, kompletten Remission immer noch 1010 neoplastische Zellen vorhanden sein (⊡ Abb. 47.1). Da der Zusammenhang zwischen der Tumormasse und dem Therapieerfolg bei akuten Leukämien gut belegt ist, können MRD-Untersuchungen die Tumorlast im Verlauf der Erkrankung dokumentieren und damit eine Grundlage für verbesserte, risikoadaptierte Behandlungsstrategien liefern. Die vorliegenden Daten über den qualitativen Nachweis einer MRD sprechen dafür, dass bei unbehandelt aggressiven Leukämieformen, etwa der AML mit t(15;17) oder ALL mit t(9;22), die Persistenz leukämischer Zellen mit einem sehr hohen Rezidivrisiko assoziiert ist, während die Detektion einer MRD bei anderen Neoplasien, etwa der CML, der AML mit t(8;21), oder den follikulären Lymphomen mit t(14;18), keine klinisch verwertbaren Hinweise auf ein drohendes Rezidiv der Erkrankung liefert. Möglicherweise ist, zumindest bei manchen malignen Erkrankungen, eine komplette Eradizierung des Tumorzellklons für eine anhaltende Remission nicht erforderlich. Es wäre aber auch denkbar, dass nicht alle Zellen, die den jeweils verwendeten MRD-Marker tragen, zum malignen Klon gehören. Nach einem allgemein akzeptierten Konzept der Tumorentstehung, der »Two-hit«-Theorie (Knudson 1971), müssen mindestens 2 genetische Veränderungen in einer Zelle auftreten, bevor ein maligner Phänotyp entstehen kann. Es wäre daher denkbar, dass ein MRD-Marker ( Abschn. 47.2) sowohl an leukämischen als auch an präleukämischen Zellen detektiert werden kann. Somit müsste ein positiver MRDBefund nicht zwingend das Vorliegen residueller, maligner Zellen bedeuten. Beispielsweise dürfte die ALL mit t(12;21) oft aus einem bereits bei Geburt nachweisbaren, präleukämischen Zellklon mit dieser Translokation als Folge eines »Second-hit«-Ereignisses entstehen. Im Gegensatz dazu zeigen vorliegende Daten sehr eindrucksvoll, dass der quantitative Nachweis einer MRD das wesentlich geeignetere Mittel zur Überwachung der minimalen Resterkrankung bei Leukämien darstellt. Die Quantifizierung residueller Leukämiezellen ermöglicht das Verfolgen der Erkrankungsdynamik im Therapieverlauf. ! Das Dokumentieren der Tumorzelllast-Reduktion unter Therapie und der Nachweis der Proliferationskinetik des leukämischen Residualklons sind wichtige prognostische Marker geworden.
47
522
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
III
⊡ Abb. 47.1. Schematische Darstellung der möglichen Leukämiekinetiken unter Therapie. Die Ordinate zeigt die Menge leukämischer Zellen, die Abszisse die Zeit nach Therapiebeginn. Die Steilheit der Leukämiezellreduktion unter Induktionstherapie kann, wie in den 2 hypothetischen Kurven dargestellt, unterschiedlich sein. Dementsprechend wird eine komplette morphologische Remission (1) und ggf. auch eine molekulare Remission (2) nach unterschiedlicher Zeitspanne erreicht. Die Größe des leukämischen Residualklons zu ver-
schiedenen Zeitpunkten im Therapieverlauf kann mit quantitativen MRD-Nachweismethoden dokumentiert werden. Der Prozess einer klonalen Expansion kann mit molekularen Verfahren erkannt werden und frühzeitige Therapiemaßnahmen ermöglichen. Der gestrichelte Pfeil (rechts) symbolisiert den expandierenden leukämischen Klon. Die Überschreitung der unteren Trennlinie (3) kennzeichnet das molekulare Rezidiv, der Schnittpunkt der oberen Trennlinie das hämatologische Rezidiv (4)
47.1.1 Akute lymphoblastische Leukämie
Die Überwachung der MRD spielt nicht nur während der »Front-line«-ALL-Therapie, sondern auch während der Rezidivbehandlung und vor allogener Knochenmarktransplantation (KMT) eine wichtige Rolle: Bei Patienten nach einem ALL-Rezidiv ist das Ansprechen auf die zweite Induktionstherapie ein entscheidender prognostischer Parameter. Während zu diesem Zeitpunkt das Vorliegen einer MRD auf niedrigem Niveau (<1:103) mit einem guten rezidivfreien Überleben korreliert, ist die Prognose bei einem MRDNiveau von ≥1:103 extrem schlecht (Eckert 2001). Kinder mit ALL, bei denen insbesondere vor einer T-Zelldepletierten allogenen Stammzelltransplantation eine Restleukämie auf hohem Niveau (zwischen 1:102–103) nachgewiesen wurde, haben in den bisher vorliegenden Studien ausnahmslos ein Rezidiv erlitten. Bei Vorliegen einer MRD auf niedrigem Niveau (zwischen 1:103–105) lag das ereignisfreie 2-Jahres-Überleben bei 35–50%, unabhängig von der Art des Transplantats. Bei negativer MRD vor KMT betrug das ereignisfreie 2-JahresÜberleben hingegen mehr als 70% (Knechtli 1998; Uzunel 2001; Bader 2002). Diese Beobachtungen können als Grundlage für therapeutische Konsequenzen herangezogen werden.
In mehreren Studien bei pädiatrischen Patienten mit ALL konnte klar gezeigt werden, dass das Niveau und die Dynamik der MRD eine verlässliche Einschätzung insbesondere des frühen Rezidivrisikos (innerhalb der ersten 2 Jahre ab Therapiebeginn) ermöglichen (Coustan-Smith 1998, 2000; Cave 1998, van Dongen 1998; Dworzak 2002; Nyvold 2002). Jüngste Untersuchungen der internationalen BFM-Studiengruppe (I-BFM-SG) belegen, dass die Kinetik der Tumorlastreduktion, gemessen nach 4 und 11 Wochen, jeweils am Ende der ersten bzw. zweiten Phase der Induktionstherapie, eine Einteilung der Patienten in 3 Gruppen mit unterschiedlichem Rezidivrisiko ermöglicht. Ähnliche Erfahrungen wurden im Rahmen von Untersuchungen bei Behandlung nach anderen Therapieprotokollen gemacht (EORTC-CLG 58881, SJCRH Total Therapy XIII, NOPHO-ALL 92). Für alle genannten Studien gilt, dass der MRD-Status einen unabhängigen und übergeordneten prognostischen Parameter darstellt, der im Rahmen der Behandlungsprotokolle zur Therapiestratifizierung herangezogen werden kann. Das Monitoring residueller Leukämiezellen bei der ALL hat daher bereits den Stellenwert eines diagnostischen Routineverfahrens erreicht. In mehreren europäischen und amerikanischen Therapieprotokollen werden daher derzeit MRD-Nachweisverfahren, zumeist in Verbindung mit anderen Risikoparametern, zur Therapiestratifizierung, herangezogen ( Kap. 58). ! Der MRD-Status am Ende der Induktionstherapie stellt derzeit den prognostischen Faktor mit der höchsten Signifikanz dar, der unabhängig von anderen, klinisch relevanten Parametern (z. B. Patientenalter, Blastenzahl, Immunphänotyp, chromosomale Aberrationen bei Diagnose oder PrednisonResponse) ist.
! Hinsichtlich der klinischen Relevanz scheint das erforderliche Sensitivitätsniveau der MRD-Untersuchungsmethoden in der Größenordnung von 1:104 zu liegen.
Im Allgemeinen gilt, dass Patienten, die zu den als klinisch wichtig erkannten Zeitpunkten keine residuellen Leukämiezellen (<1:104) oder eine MRD auf niedrigem Niveau (je nach Untersuchungszeitpunkt 1:104–103) aufweisen, ein geringes Rezidivrisiko haben. Umgekehrt ist das Rezidivrisiko bei Patienten, die zu den festgelegten Zeitpunkten eine MRD von mehr als 1:103 haben, in der Regel hoch. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse konnten bereits Risiko-adaptierte Therapieansätze erarbeitet werden ( Kap. 58).
523 47 · Minimale Resterkrankung
⊡ Tabelle 47.1. Beispiele für Translokations-assoziierte Gen-Rearrangements, die für den MRD-Nachweis mittels (RT)-PCR herangezogen werden können
Erkrankung
Chromosomale Anomalie
Gen-Rearrangement
Inzidenz bei Kindern
t(12;21)(p13;q22)
TEL/AML-1
20–30%
t(11q23) t(4;11)(q21;q23) t(11;19)(q23;p13.3)
MLL/andere MLL/AF-4 MLL/ENL
Gesamt 5–8% 3–5% ca. 1%
t(1;19)(q23;p13)
E2A/PBX1
5–8%
t(9;22)(q34;q11)
BCR/ABL
Akute lymphoblastische Leukämie B-Präkursor-ALL
5–8% B-Präkursor-ALLgesamt 40–≈50%
B-ALL
( Burkitt-Typ-Lymphome)
T-ALL
TAL1-Deletion
SIL/TAL1
10–25%
t(14q11) t(8;14)(q24;q11) t(11;14)(p15;q11) t(11;14)(p13;q11) t(1;14)(p34;q11) t(10;14)(q24;q11)
TCR*/andere MYCC/TCR LMO1/TCR LMO2/TCR TAL-1/TCR HOX11/TCR
Gesamt 5–10%
T-ALL gesamt 15–35% Akute myeloische Leukämie FAB-Subtyp M2
t(8;21)(q22;q22)
AML1/ETO
10–15%
FAB-Subtyp M3
t(15;17)(q21;q11) t(11;17)(q23;q11) t(5;17)(q32;q11)
PML/RARα PLZF/RARα NPM/RARα
5–7% <1% <1%
FAB-Subtyp M4Eo
inv(16)(p13q22), t(16;16)(p13;q22)
CBFβ/MYH11
12%
FAB-Subtyp M4/M5
t(11q23)
MLL/andere
Gesamt bis zu 20% (Säuglinge >50%)
t(9;11)(p22;q23)
MLL/AF9
t(6;11)(q27;q23)
MLL/AF6
t(11;19)(q23;p13.1)
MLL/ELL
FAB-Subtyp M4/M5
t(8;16)(p11;p13)
MOZ/CBP
1%
FAB-Subtyp M2/M4
t(6;9)(p23;q34)
DEK/CAN
<1% AML gesamt 30–40%
Chronische myeloische Leukämie t(9;22)(q34;p11)
BCR/ABL
>95% CML gesamt >95%
Non-Hodgkin Lymphome: Lymphoblastische Lymphome Lymphoblastisches B-Präkursor NHL
( Akute lymphoblastische Leukämie)
Lymphoblastisches T-NHL Burkitt-Typ-Lymphome/B-ALL
Großzellige anaplastische Lymphome
t(8q24)
MYCC/andere
Gesamt ≈100%
t(8;14)(q24;q32)
MYCC/IgH
80%
t(2;8)(p11;q24)
MYCC/IgK
15%
t(8;22)(q24;q11)
MYCC/IgL
5%
t(2;5)(p22;q35)
NPM/ALK
50–85%
* Die TCR-Gen-Rearrangements werden zum Unterschied von allen anderen angeführten Fusionsprodukten auf dem DNA-Niveau nachgewiesen..
47
524
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
47.1.2 Akute myeloische Leukämie
III
Die Bedeutung und der klinische Nutzen von MRD-Untersuchungen bei Kindern mit AML sind im Vergleich zur ALL weniger gut etabliert. Der Grund dafür liegt in der biologischen Heterogenität der myeloischen Leukämien und des damit verbundenen Fehlens verlässlicher MRD-Marker bei einem großen Teil der Patienten. Als MRD-Nachweisverfahren kommt derzeit insbesondere die Durchflusszytometrie in Frage, die bei über 75% der Patienten anwendbar ist. Bei der Detektion myeloischer Blasten weist diese Methode jedoch eine relativ geringe Sensitivität auf. Nukleinsäure-Amplifikationsverfahren zum Nachweis leukämiespezifischer Fusionstranskripte (⊡ Tabelle 47.1) ermöglichen zwar einen MRDNachweis mit sehr hoher Sensitivität, können aber zur Zeit nur bei 30–40% der pädiatrischen AML-Patienten eingesetzt werden. Nach den bisher vorliegenden MRD-Untersuchungen bei AML-Patienten mit molekularen Verfahren ist die klinische Bedeutung eines positiven Nachweises noch nicht ganz klar, denn das klinisch relevante MRD-Niveau scheint bei verschiedenen Formen der AML sehr unterschiedlich zu sein. Während Patienten mit einer PML/RARα-positiven AML [t(15;17)] ohne Erreichen einer molekularen Remission eine sehr schlechte Prognose haben, korreliert der Nachweis einer MRD bei Patienten mit AML1/ETO [t(8;21)]- oder CBFB/ MYH11[inv(16)]-positiver AML nicht mit dem Auftreten eines späteren Rezidivs. Allerdings könnte bei diesen und anderen AML-Formen die MRD-Kinetik bzw. das MRD-Niveau zu gewissen Zeitpunkten im Therapierlauf eine prognostische Rolle spielen (Marcucci 1998; Viehmann et al. 2003). Mit Hilfe der Durchflusszytometrie konnte bereits gezeigt werden, dass eine rasche Leukämiezellreduktion nach Induktionstherapie auf ein MRD-Niveau von <1:103 ein günstiger prognostischer Parameter ist (San Miguel 2001). Es wird aber noch zu klären sein, ob diese Beobachtung für alle AML-Subtypen, sowie bei verschiedenen Therapieprotokollen gleichermaßen Gültigkeit hat. Insgesamt sind die zur Zeit vorliegenden MRD-Daten von Patienten mit verschiedenen AML-Formen noch nicht ausreichend, um den möglichen klinischen Nutzen der MRD-Überwachung zu beurteilen. Zur Klärung dieser Fragen werden daher derzeit in vielen Therapieprotokollen MRD-Untersuchungen mittels Durchflusszytometrie und RT-PCR breit getestet, u. a. auch im Rahmen des aktuellen AML-BFM 2004-Konzeptes, aber nur in seltenen Fällen zur Therapiestratifizierung herangezogen. Eine Ausnahme stellt die aktuelle Behandlungsstudie des St. Jude’s Childrens’s Research Hospital, im Rahmen derer die Durchflusszytometrie zur Therapiesteuerung herangezogen wird.
meisten klinischen Situationen keine prognostische Relevanz hat. ! Lediglich nach einer Knochenmarktransplantation, der zur Zeit einzigen kurativen Therapie für die CML, korreliert die Detektion leukämischer Zellen mehr als 6 Monate nach Transplantation mit einem erhöhten Rezidivrisiko. Unter anderen Therapieformen liefert nur die Überwachung des leukämischen Klons mit Hilfe quantitativer RT-PCR-Methoden (⊡ Tabelle 47.1) Aufschlüsse über das biologische Verhalten der malignen Zellen, aus denen verlässliche prognostische Aussagen getroffen werden können (Lion 1996).
Der Nachweis eines expandierenden leukämischen Klons mit Hilfe quantitativer PCR-Analysen, für den der Begriff PCRRezidiv eingeführt wurde (Lion 1993), ermöglicht die verlässliche Vorhersage eines drohenden hämatologischen Rezidivs. Die Möglichkeit der sensitiven Überwachung der Krankheitsdynamik bzw. der Tumorzelllast hat neue diagnostische Perspektiven eröffnet (Lion 1999) und eine Grundlage für neue Therapiekonzepte geliefert. Allerdings gibt es, trotz der langjährigen Erfahrungen mit quantitativen MRD-Untersuchungsverfahren bei Patienten mit chronischer myeloischer Leukämie (Lion 1994), international noch keine konzertierte Vorgehensweise bei der Implementierung des MRD-Status in therapeutische Konzepte. Bei Patienten nach allogener KMT ist mit der Infusion von Donorlymphozyten (DLI) eine wirksame therapeutische Option vorhanden, die bei Vorliegen einer molekularen Krankheitsprogression bereits seit Jahren mit Erfolg eingesetzt wird (Hehlmann et al. 2000). Um aber das diagnostische Potential der verfügbaren molekularer Methoden zur Überwachung der minimalen Resterkrankung optimal zu nutzen, müssen die Grundlagen für einheitliche Richtlinien zur Therapiesteuerung auf Basis der MRD-Analyse im Rahmen multizentrischer Studien, u. a. auch der pädiatrischen CMLStudie (CML-Päd), noch erarbeitet werden. 47.2
Methoden zur Detektion minimaler Resterkrankung
Für die Erkennung maligner Zellen und deren Unterscheidung von normalen hämatopoetischen Progenitorzellen werden im Rahmen der MRD-Diagnostik v. a. klonspezifische Gen-Rearrangements, immunphänotypische Charakteristika und chromosomale Translokationen herangezogen. Im Folgenden wird die klinische und biologische Wertigkeit der wichtigsten Methoden zur Überwachung der MRD dargestellt.
47.1.3 Chronische myeloische Leukämie 47.2.1 Multiparameter-Durchflusszytometrie Die Erfahrungen aus MRD-Untersuchungen bei Patienten mit chronischer myeloischer Leukämie (CML) haben die klinische Bedeutung der Persistenz residueller Leukämiezellen relativiert. Bei Patienten mit CML konnte nämlich gezeigt werden, dass der bloße Nachweis residueller Leukämiezellen mit empfindlichen Methoden, unter Verwendung der BCR/ABL-Fusionstranskripte als Marker, in den
(Flow-Zytometrie) ! Die durchflusszytometrische Analyse von zellulären Antigenen ermöglicht die Identifizierung leukämischer Zellen durch den Nachweis eines für verschiedene Leukämieformen charakteristischen, aberranten Immunphänotyps.
47
525 47 · Minimale Resterkrankung
A
B
C
⊡ Abb. 47.2. Durchflusszytometrische Darstellung phänotypischer Aberrationen leukämischer B-Vorläuferzellen zum Nachweis minimaler Resterkrankung. Die Punktgraphiken (logarithmische Quantitätsdarstellung) zeigen die Dichte von 2 Zelloberflächenantigenen (CD45RA von links nach rechts ansteigend, CD10 von unten nach oben) auf verschiedenen Knochenmarkzelltypen, wobei jeder Punkt eine Zelle darstellt. Die hier dargestellten Analysen wurden an Knochenmarkproben von einem Kind mit B-Vorläuferzell-ALL bei Diagnose (A) bzw. im Verlauf der Therapie (B), sowie von einem gesunden Knochenmarkspender (C) durchgeführt. Leukämische Lymphoblasten
sind rot dargestellt. Die normalen Differenzierungshauptstadien von unreifen B-Lymphozyten im Knochenmark sind in blau (sehr unreif ) über grün bis gelb (reifzellig) repräsentiert. Alle anderen Zelltypen erscheinen grau. Bei den leukämischen Lymphoblasten (A) fällt die deutliche Überexpression von CD10 sowie der Verlust der CD45RAExpression im Vergleich zu den normalen B-Lymphozytenstadien (C) auf. Abbildung B zeigt den quantitativen Nachweis residueller Leukämiezellen (0,6%) im Therapieverlauf. Mit freundlicher Genehmigung von Taylor & Francis Ltd. (http://www.tandf.co.uk/journals) aus Dworzak et al. 2003
Die auf Leukämiezellen detektierbaren Antigene unterscheiden sich nicht grundsätzlich von jenen, die auf normalen hämatopoetischen Vorläuferzellen ähnlicher Differenzierungsstufe exprimiert werden. Typischerweise ist aber das Muster der koordinierten Antigenexpression bei Leukämiezellen aberrant. Die auf leukämischen Zellen auftretenden Veränderungen des Immunphänotyps sind üblicherweise durch die Überexpression bestimmter Antigene, gepaart mit dem Expressionsverlust anderer Marker charakterisiert (Dworzak 1998, 1999). Seltener wird der Nachweis von leukämischen Zellen durch die gleichzeitige Expression von Antigenen ermöglicht, die normalerweise auf unterschiedlichen Zellarten vorkommen (z. B. myeloische Antigene auf leukämischen Lymphoblasten).
47.2.2 Nukleinsäure-Amplifikation
! Insgesamt betrachtet stellt diese Methodik ein sensitives und quantitatives Verfahren dar, mit dem zur Zeit bei 95% der ALL-Patienten und bei etwa 75–85% der AML-Patienten ein charakteristisches Oberflächenmarkerprofil auf den leukämischen Blasten festgestellt werden kann.
Die Überwachung des leukämischen Klons mit Hilfe dieses Verfahrens ist derzeit auf einem Sensitivitätsniveau zwischen 1:103–105 durchführbar. Allerdings kann es während der Phasen einer intensiven physiologischen Regeneration der Hämatopoese zu einer Einschränkung der Sensitivität kommen. Darüber hinaus stellt die mögliche Änderung des Oberflächenmarkerprofils durch medikamentöse Einflüsse (Steroidtherapie) oder als Zeichen klonaler Evolution während der Krankheitsprogression ein potenzielles Problem dieser Methodik dar. Durch die Analyse multipler Antigenkombinationen kann die Gefahr von falsch negativen MRD-Resultaten aber weitgehend reduziert werden (⊡ Abb. 47.2).
Die DNA- bzw. RNA-Amplifikationsmethoden, unter denen die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) die meistverbreitete ist, sind unter den derzeit verfügbaren Verfahren die sensitivsten Möglichkeiten der Detektion residueller Leukämiezellen. Diese Methodik wird einerseits zum Nachweis klonspezifischer DNA-Rearrangements der Immunglobulin(Ig)bzw. T-Zellrezeptor(TCR)-Gene, und andererseits zur Detektion tumorspezifischer, in der Regel Translokationsassoziierter Gen-Rearrangements verwendet. Die letzteren können zumeist nur auf der Ebene der mRNA-Transkripte nachgewiesen werden. Ig- und TCR-Gen-Rearrangements. Sie stellen Produkte physiologischer Vorgänge im Rahmen der Lymphopoese dar, die für die Vielfalt der spezifischen Immunantwort erforderlich sind. Jede derart rearrangierte Zelle kann Ausgangspunkt eines Klons sein, der dasselbe Rearrangement-Muster trägt. Das ermöglicht die Verwendung von Ig- und TCR-Rearrangements als Marker für klonal expandierte Zellen bei hämatologischen Neoplasien. Wenn das für den malignen Klon charakteristische Rearrangement-Muster bei Diagnose der Erkrankung ermittelt wird, können residuelle Leukämiezellen im Verlauf der Therapie detektiert werden. ! Die molekulare Detektion spezifischer Ig- und TCRRearrangements (⊡ Abb. 47.3) ermöglicht die Erkennung klonaler leukämischer Blasten bei etwa 95% aller ALL bzw. Lymphompatienten, aber nur bei einem sehr geringen Prozentsatz von AML-Patienten (<10%).
Die Verwendung des Real-time-PCR-Verfahrens (RQ-PCR) für den Nachweis klonaler Gen-Rearrangements gestattet eine quantitative Überwachung der MRD mit einer Sensiti-
526
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
III
⊡ Abb. 47.3. Prinzip der PCR-Detektion leukämischer Zellen anhand eines klonspezifischen DNA-Markers, am Beispiel des ImmunglobulinSchwerkettengens (IGH). Für den MRD-Nachweis bei lymphoblastischen Malignomen können klonspezifisch rearrangierte DNA-Sequenzen der Immunglobulin-Schwerketten-(IGH)- und -Leichtketten (IGL)Gene sowie der T-Zellrezeptor(TCR)-Gene herangezogen werden. Die Rearrangements (Sequenzumlagerungen) innerhalb der variablen Domänen dieser Gene sind für die enorme Vielfalt der antigenspezifischen Immunglobuline bzw. Rezeptoren von Lymphozyten verantwortlich. Sie treten in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung jedes heranreifenden Lymphozyten auf. Da Malignome klonal aus einer mutierten Zelle hervorgehen, tragen alle Tumorzellen das gleiche Rearrangement, das zum Nachweis residueller maligner Lymphoblasten mit Hilfe von RQ-PCR-Methoden herangezogen werden kann. Als Beispiel für ein klonales Gen-Rearrangement ist der IGH-Genkomplex auf Chromosom 14q32 dargestellt, der aus mindestens 40 funktionellen V- (variable), 27 D- (diversity), und 6 J (joining)-Segmen-
vität von 1:103–105. Das Problem einer klonalen Entwicklung der Neoplasie mit Verlust einzelner Klonalitätsmarker, und die damit verbundene Gefahr falsch negativer MRD-Untersuchungsergebnisse, kann durch die gleichzeitige Analyse mehrerer klonaler Marker minimiert werden (⊡ Tabelle 47.2). Translokations-assoziierte Gen-Rearrangements. Sie kön-
nen bei 40–50% der pädiatrischen Patienten mit ALL, bei etwa 30–40% der AML-Patienten und bei über 95% der CML-Patienten für das MRD-Monitoring verwendet werden ( Tabelle 47.1). Diese genetischen Anomalien bleiben auch bei klonaler Weiterentwicklung der Neoplasie erhalten, und stellen somit sehr verlässliche Marker für die malignen Zellen dar. Mit einer Sensitivität von 1:104–106 stellen sie eine wichtige Option zur qualitativen und quantitativen MRDÜberwachung dar. Die jüngste Entwicklung weitgehend automatischer Systeme zur Durchführung quantitativer PCR-Analysen wird zu einer Verbesserung der klinischen Einsatzmöglichkeiten dieser Methodik beitragen. Die Translokations-assoziierten Gen-Rearrangements werden aus technischen Gründen zumeist nicht auf dem Niveau der DNA, sondern auf dem Niveau der Messenger-
ten besteht. An diese variablen Domänen schließt die konstante Domäne (C) mit den für die IG-Isotypen relevanten Genabschnitten an. Die oberste Reihe zeigt die Keimbahnkonstellation vor Auftreten der Genumlagerungen. Im Rahmen des Genumlagerungsprozesses werden nicht benötigte DNA-Segmente herausgeschnitten und die flankierenden Genabschnitte zu einer neuen Sequenz verbunden (DH>JH, anschließend VH>DH-JH). Die höchste Spezifität in der neu entstandenen Gensequenz liegt im Bereich der Junktionszonen: Ein klonspezifischer Junktionszonen-Primer (auch ASO, »allele-specific oligonucleotide primer«) wird gemeinsam mit einem zweiten, nicht spezifischen Primer (positioniert im Bereich einer unveränderten Keimbahnsequenz des IGH-Gens) für die PCR-Analyse verwendet. Die Spezifität und die quantitative Analyse im Rahmen des RQ-PCR-Assays wird durch die Verwendung einer fluoreszenzmarkierten, sequenzspezifischen Sonde (JH-Probe) ermöglicht. Diese Nachweisstrategie wird z. B. im Rahmen des aktuellen AIEOP-BFM-ALL-2000-Protokolls angewandt (Verhagen 2000)
⊡ Tabelle 47.2. Häufigkeit von Immunglobulin- und T-Zellrezeptor-Gen-Rearrangements als verwendbare Marker für den PCR-Nachweis der MRD bei Kindern mit ALL. Die Häufigkeit der Verfügbarkeit von mindestens einem bzw. zwei hochsensitiven Klonalitätsmarkern für den MRD-Nachweis ist angeführt (Szczepanski 2002)
Gen
VorläuferB-Zell-ALL
T-ALL
IGH
98%
IGK
50%
0%
TCRG
55%
95%
TCRD Zumindest 1 PCR-Target 2 hochsensitive PCR-Targets
23%
40%
55%
>95%
>95%
80%*
80%*
* hochsensitiv: Nachweisgrenze liegt zumindest bei einer leukämischen Zelle auf 10.000 normale Zellen. IGH Immunglobulin-Schwerketten-Genkomplex; IGK Immunglobulin-Kappa-Leichtketten-Genkomplex; TCRG T-ZellrezeptorGamma-Genkomplex; TCRD T-Zellrezeptor-Delta-Genkomplex.
527 47 · Minimale Resterkrankung
⊡ Abb. 47.4. Prinzip der Detektion eines Leukämie-assoziierten Fusionstranskriptes mittels RT-PCR am Beispiel des TEL/AML1-GenRearrangements. Das Schema zeigt die DNA-Struktur der von der Translokation t(12;21) betroffenen Gene, TEL am Chromosom 12 und AML1 am Chromosom 21. Die nummerierten Blöcke stellen die kodierenden Abschnitte (Exons), die dazwischenliegenden Linien die nicht kodierenden Abschnitte (Introns) der beiden Gene dar. Die Bruchstellen in beiden Genen liegen im Bereich langer Introns. Aufgrund der variablen Position der Bruchstellen innerhalb der Introns, kann das TEL/AML1-Fusionsprodukt nicht auf DNA-Ebene mittels PCR nachgewiesen werden. Da bei der Bildung der mRNA die Intron-Sequenzen herausgeschnitten werden, um die kodierenden Exons aneinander
zu fügen, stellt die hochgradig variable Lokalisation der Bruchpunkte in den Introns kein Hindernis für die Diagnose dar. In der TEL/AML1Fusions-mRNA wird Exon Nr. 5 des TEL-Gens mit Exon Nr. 2 oder 3 des AML1-Gens zusammengefügt (je nach dem ob der Bruch vor oder hinter Exon 2 auftritt) und dient als Vorlage für das pathologische Fusionsprotein. Die Fusion zwischen den beteiligten Genen TEL und AML1 kann auf dem Niveau der mRNA relativ einfach mittels RNA-PCR (RT-PCR) nachgewiesen werden. Die PCR-Primer werden im TEL-Exon Nr. 5 und AML1-Exon Nr. 3 positioniert. Mit Hilfe der RT-PCR können leukämische Zellen, die das TEL/AML1-Rearrangement enthalten und exprimieren mit hoher Empfindlichkeit nachgewiesen werden
RNA(mRNA)-Transkripte mittels RT-PCR detektiert (⊡ Abb. 47.4). Während der MRD-Nachweis mittels FlowZytometrie und Ig/TCR-Rearrangement-Analyse unmittelbar mit der Anzahl residueller Leukämiezellen korreliert, gibt die mRNA-Expression der Translokationsprodukte nur indirekt das MRD-Niveau wieder. Die Expression der Translokationsprodukte (Genfusionsprodukte) innerhalb der leukämischen Zellen kann in Abhängigkeit von ihrer biologischen Aktivität variieren: Das Vorliegen vieler, transkriptorisch wenig aktiver Leukämiezellen und die Präsenz weniger, aber hoch aktiver Tumorzellen würden bei RT-PCR-Analyse ein ähnliches Resultat liefern (d. h. ähnliche Gesamtmenge der Genfusionstranskripte).
sage von PCR-Untersuchungen der MRD bei Verwendung von DNA- und RNA-Markern sehr ähnlich sein dürfte (De Haas 2002). Die bisher vorliegenden Ergebnisse müssen allerdings im Rahmen großer prospektiver Vergleichstudien überprüft werden.
! Die RT-PCR-Untersuchung stellt eine Methode dar, die nicht notwendigerweise die Anzahl, sondern vielmehr die biologische Aktivität der residuellen Leukämiezellen reflektiert.
Es handelt sich daher um eine funktionelle Untersuchung und nicht unbedingt um eine indirekte Mengenbestimmung der neoplastischen Zellen. Trotz der angeführten Unterschiede haben einige Studien gezeigt, dass die prognostische Aus-
Andere genetische Anomalien. Neben den oben beschriebenen, zur Zeit gängigsten Verfahren zum Nachweis minimaler Resterkrankung, gibt es eine Reihe weiterer molekularer Marker, die zur Identifizierung leukämischer Zellen herangezogen werden können. Zu diesen gehört das Wilms-Tumorgen (WT1), das bei verschiedenen Leukämieformen hoch exprimiert wird. Die Messung der WT1-mRNA-Transkriptmenge mit Hilfe quantitativer RT-PCR-Methoden, insbesondere der RQ-PCR, ermöglicht den Nachweis residueller leukämischer Blasten mit einer Sensitivität von 1:103–105 (Lion 1999). Weitere Beispiele für genetische Anomalien, die zur Erkennung leukämischer Blasten und damit zum Nachweis der MRD herangezogen werden können, stellen das FLT3(»FMSlike tyrosine kinase 3«)-Gen und das RAS-Onkogen dar. Diese gehören zu den am häufigsten mutierten Genen bei
47
528
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Patienten mit AML. Bei Kindern werden FLT3-Mutationen in 17% und RAS-Mutationen in etwa 25% der AML-Fälle beobachtet (Kiyoi 1999; Meschinchi 2001). Trotz der vielfältigen Möglichkeiten, verschiedene Leukämie-assoziierte genetische Aberrationen für den molekularen Nachweis leukämischer Zellen zu verwenden, stehen die Ig/TCR- und die Translokations-assoziierten Gen-Rearrangements zur Zeit im Vordergrund. Wichtigste Verfahren zum Nachweis einer MRD bei Leukämien: Durchflusszytometrie: Nachweis aberranter Antigenexpressions-Profile RQ-PCR: Nachweis klonaler Imunglobulin/ T-Zellrezeptor-Gen-Rearrangements RQ-RT-PCR: Nachweis Leukämie-assoziierter Fusionsgentranskripte
47.3
Wahl der optimalen Nachweismethode
Zur Zeit werden einige Studien durchgeführt, im Rahmen derer die angeführten MRD-Detektionsverfahren im Hinblick auf ihre klinische Wertigkeit bei verschiedenen hämatologischen Neoplasien verglichen werden. Neben möglichst optimaler Informativität spielen auch ökonomische Überlegungen eine zunehmend wichtige Rolle. Es wird aus Gründen der Finanzierbarkeit künftig nicht mehr möglich sein, alle verfügbaren Methoden als Grundlage für klinische Entscheidungen heranzuziehen. Es ist offensichtlich, dass bei gleicher Informativität die Kosten eines MRD-Detektionsverfahrens ein entscheidendes Auswahlkriterium darstellen werden. 47.3.1 Akute lymphoblastische Leukämie Bisherige Untersuchungen weisen darauf hin, dass der PCRNachweis der Ig/TCR-Gen-Rearrangements und der durchflusszytometrische Nachweis des leukämischen Immunphänotyps gut vergleichbare Ergebnisse im Hinblick auf die Detektion und Überwachung der MRD liefern. Mit beiden Verfahren können bei nahezu allen ALL-Patienten informative Marker definiert werden und beide Verfahren gestatten eine quantitative Erfassung des leukämischen Residualklons mit vergleichbarer Sensitivität (Neale 1999; Dworzak 2003). Während die angeführte DNA-PCR-Methodik und die Durchflusszytometrie direkt oder indirekt die Anzahl der residuellen Leukämiezellen wiedergeben, liefert der RT-PCR Nachweis der Expression von Leukämie-assoziierten Fusionstranskripten Einblicke in die biologische Aktivität der malignen Zellen. Es ist daher ein funktioneller Parameter, der eventuell über die Menge der restlichen Leukämiezellen hinausgehende Informationen liefern kann, die für die Einschätzung des Proliferationsverhaltens der Tumorzellen von Bedeutung sein können. Es ist denkbar, dass Untersuchungen auf dem Niveau der Genexpression Informationen bieten, die zu den beiden erstgenannten Methoden komplementär sind.
! Bisher vorliegende, vergleichende Untersuchungen bei ALL-Patienten mit einem TEL/AML1-Rearrangement haben gezeigt, dass die Real-time-RT-PCRÜberwachung der Fusionstranskripte und die DNAPCR-Detektion der MRD gut übereinstimmende Resultate liefern (De Haas 2002).
Im Hinblick auf die angeführten ökonomischen Überlegungen gilt es nun, die Ergebnisse der laufenden Vergleichsstudien abzuwarten. Es ist noch offen, ob die Methoden, abgesehen von ihrer vermutlich ähnlichen Sensitivität, auch in ihrer prognostischen Aussagekraft vergleichbar sein werden. Darüber hinaus muss auch die Robustheit der MRDDetektionsverfahren im Rahmen großer multizentrischer Studien untersucht werden. Wenn sich die bisherigen Beobachtungen bestätigen, könnten sich mittelfristig die schnelleren und wesentlich kostengünstigeren Verfahren, d. h. die Durchflusszytometrie und, bei Vorliegen eines geeigneten Fusionstranskript-Markers, die Real-time-RT-PCRfür das therapiebestimmende, initiale MRD-Monitoring bei ALL-Patienten durchsetzen. Untersuchungen im späteren Behandlungsverlauf, etwa nach Therapieabschluss oder nach Knochenmarktransplantation, dürften jedoch den molekularen Methoden vorbehalten bleiben, da die Durchflusszytometrie in Zeiten der hämatopoetischen Regeneration eine eingeschränkte Sensitivität hat. 47.3.2 Akute myeloische Leukämie Der PCR Nachweis von klonalen Immunglobulin- oder T-Zellrezeptor-Rearrangements stellt bei myeloischen Neoplasien keine Option dar, aber der Nachweis verschiedener Leukämie-assoziierter, genetischer Anomalien ( oben) mit Hilfe quantitativer PCR-Methoden käme für die Überwachung der MRD in Frage. In Analogie zur ALL wäre es vorstellbar, dass bei Vorliegen eines geeigneten Markers, der mittels PCR oder RT-PCR zum MRD-Nachweis herangezogen werden kann, dieser Technologie der Vorzug zu geben wäre, während andere Patienten mit durchflusszytometrischen Methoden überwacht werden könnten. Insgesamt sind die bisher vorliegenden Daten jedoch nicht ausreichend, um die Wertigkeit einzelner Methoden zu beurteilen. Entsprechende Vergleichstudien müssen noch durchgeführt werden. 47.4
Perspektiven
47.4.1 Akute Leukämien Die MRD-Nachweisverfahren bei akuten Leukämien beruhen zumeist auf der Untersuchung von Knochenmarkproben, was im Hinblick auf den Ursprungsort der Erkrankung, insbesondere der B-zellulären und der myeloischen Reihe, auch biologisch naheliegend ist. Die Verdünnung mit peripherem Blut bei technisch mangelhafter Aspiration und die daraus resultierende Schwierigkeit, einen in quantitativer Hinsicht repräsentativen Befund zu erstellen, stellt aber ein bisher ungelöstes Problem dar. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert, die Analysen auch aus dem peripheren Blut durchführen zu können.
529 47 · Minimale Resterkrankung
Einige Beobachtungen sprechen dafür, dass die prognostische Aussagekraft von MRD-Analysen aus peripherem Blut nicht nur bei der T-ALL, sondern auch bei den B-ZellvorläuferALL vergleichbar sein könnte, vorausgesetzt, dass die Untersuchungszeitpunkte und die klinisch relevanten MRD-Grenzwerte entsprechend modifiziert werden. Für eine abschließende Beurteilung dieser Option müssen aber die Ergebnisse umfassender Vergleichsstudien noch abgewartet werden. 47.4.2 Maligne Lymphome Weitere Anwendungsmöglichkeiten für die MRD-Diagnostik sind insbesondere im Bereich der pädiatrischen NonHodgkin-Lymphome (NHL) gegeben. Aufgrund der Seltenheit dieser Erkrankungen und des interindividuell sehr heterogenen Befallsmusters muss man allerdings davon ausgehen, dass mit klinisch verwertbaren Ergebnissen nicht so rasch zu rechnen sein wird. In methodischer Hinsicht kommen für die MRD-Detektion bei lymphoblastischen und bei reifzelligen Lymphomen der B-Zellreihe (Burkitt-Typ inklusive B-ALL und reiferen Entitäten), in Analogie zur Situation bei der ALL, insbesondere die Durchflusszytometrie und PCR-Verfahren basierend auf Ig- bzw. TCR-Rearrangements in Frage. Darüber hinaus können PCR-Verfahren auf DNA-Niveau zum Nachweis einiger aus Translokationen hervorgehenden Gen-Rearrangements herangezogen werden, z. B. dem Burkitt-assoziierten MYCC/IgH-Rearrangement, das mit der Translokation t(8;14) assoziiert ist ( Tabelle 47.1). Die Real-time-RT-PCR kann bei anaplastischen großzelligen Lymphomen zum Nachweis des mit der Translokation t(2;5) assoziierten NPM/ALK-Fusionstransskripts ( Tabelle 47.1) eingesetzt werden. Die klinische Relevanz solcher Untersuchungen könnte u. a. in der sensitiven Bestimmung des tatsächlichen Disseminationszustandes bei Diagnose und dessen prognostischer Bedeutung liegen. Diese Fragestellung ist Gegenstand des aktuellen Europäischen Intergroup Behandlungsprotokolls für T-lymphoblastische Lymphome (T-LBL 2003). Daneben können MRD-Detektionsverfahren auch zur Untersuchung von autologen Zytaphereseprodukten auf eine Kontamination mit Lymphomzellen verwendet werden. Die MRD-Analyse solcher Zellprodukte ist bei T-Zell-Lymphomen von besonderer Relevanz, da nach einer Hochdosistherapie wegen resistenter Erkrankung autologe Stammzellreinfusionen protokollgemäß zur Anwendung kommen. 47.4.3 Solide Tumoren Der Nachweis disseminierter Tumorzellen im Knochenmark, in Lymphknoten und im peripheren Blut wird in zunehmendem Maß für das Staging und damit für das therapeutische Vorgehen bei verschiedenen soliden Tumoren verwendet. Die klinische Relevanz der Detektion kleinster Mengen verstreuter Tumorzellen als prognostischer Parameter ist bei einer Reihe solider Neoplasien des Erwachsenalters bereits gut etabliert und dient als Grundlage für adjuvante Therapieansätze, mit dem Ziel, zirkulierende Tumorzellen und okkulte Mikrometastasen frühzeitig zu eradizieren.
Darüber hinaus werden bei Patienten mit soliden Tumoren, die mit einer autologen Stammzelltransplantation behandelt werden, die Stammzellprodukte auf das Vorliegen einer Kontamination mit Tumorzellen untersucht, um das von reinfundierten Tumorzellen ausgehende Rezidivrisiko zu minimieren. Zur Erkennung der Tumorzellen werden immunhistochemische und molekulare Methoden eingesetzt, wobei (RT-)PCR-Nachweisverfahren eine besonders wichtige Rolle spielen. Als Zielsequenzen werden u. a. gewebespezifische Gentranskripte, beispielsweise Zytokeratin-mRNA für epitheliale Zellen, oder, wenn verfügbar, tumorspezifische genetische Veränderungen herangezogen. Bei soliden Tumoren des Kinder- und Jugendalters liegen vorläufige Erfahrungen mit molekularen Methoden zur Detektion residueller oder disseminierter Tumorzellen v. a. beim Neuroblastom und bei Ewing-Tumoren vor (Horibe 2001; Schleiermacher 2003). Neuroblastomzellen können durch den RT-PCR-Nachweis der Tyrosinhydroxylase-mRNA detektiert werden, bei Ewing-Tumoren stehen die EWS-FLI1oder EWS-ERG-Fusionstranskripte als tumorspezifische Marker zur Verfügung. Obwohl einige Beobachtungen darauf hinweisen, dass der molekulare Nachweis mikrometastatischer Absiedlungen von Tumorzellen im Knochenmark bei Diagnose oder unter Therapie eine klinische Rolle spielen könnte, müssen für die Beurteilung der möglichen prognostischen und therapeutischen Implikationen die Ergebnisse der laufenden multizentrischen Studien abgewartet werden. 47.4.4 Methodische Entwicklungen Das Spektrum der für die MRD-Diagnostik verfügbaren Methoden könnte in naher Zukunft um eine weitere Option, die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH), bereichert werden. ! Die FISH-Technik ermöglicht den Nachweis leukämiespezifischer, struktureller oder numerischer Aberrationen auch in Interphasezellen, d. h. unabhängig von Mitosen im untersuchten Präparat.
Die Sensitivität des Verfahrens ist im Wesentlichen durch die Anzahl der auszählbaren Zellen limitiert. Durch die jüngst etablierte Möglichkeit, FISH-Hybridisierungssignale im Zellkern durch automatische Mikroskopiersysteme zu detektieren und die Anzahl positiver (z. B. leukämischer) Zellen exakt in Relation zu normalen Zellen anzugeben, könnte die FISH als quantitatives Verfahren eine zunehmend wichtige klinische Rolle spielen. Die erreichbare Sensitivität liegt sicherlich im Bereich von 1:106, eventuell sogar darüber. Nach bisher vorliegenden Daten wäre es allerdings denkbar, dass diese Empfindlichkeit bei hämatologischen Neoplasien aus klinischer Sicht nicht erforderlich ist.
Die FISH ermöglicht darüber hinaus einen hochsensitiven und quantitativen Nachweis der KM-Aussaat von Tumorzellen bei soliden Neoplasien. Das Verfahren gestattet eine gleichzeitige oder sequenzielle Untersuchung verdächtiger Zellen mit verschiedenen Techniken (Mehes 2001).
▼
47
530
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Es ist möglich, den Nachweis des Immunphänotyps mit der FISH-Analyse zu kombinieren, so dass die beobachteten genetischen Veränderungen einem bestimmten Zelltyp exakt zugeordnet werden können. Die Untersuchung einzelner Zellen mit unterschiedlichen Methoden stellt eine bedeutende Erweiterung der diagnostischen Möglichkeiten dar und könnte für den Nachweis kleinster Mengen leukämischer oder solider Tumorzellen in Zukunft eine klinisch wichtige Rolle spielen.
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531
Bildgebende Diagnostik B. Stöver
48.1
Methoden
48.1.1 48.1.2 48.1.3 48.1.4 48.1.5 48.1.6 48.1.7
Sonographie – 531 Konventionelle radiologische Verfahren – 532 Computertomographie – 534 Nuklearmedizinische Untersuchungen – 535 Magnetresonanztomographie – 538 Bildgebung der Metastasen – 539 Bildgebung im Verlauf einer Tumorerkrankung – 540
48.2
Organbezogene Bildgebung – 540
48.2.1 48.2.2 48.2.3 48.2.4 48.2.5 48.2.6 48.2.7 48.2.8 48.2.9
Knochenmark – 540 Leukämien – 540 Langerhans-Zell-Histiozytose Retinoblastom – 540 Kopf-Hals-Region – 542 Thorax – 542 Abdomen – 543 Becken – 547 Extremitäten – 547
Literatur
– 531
48.1
Methoden
48.1.1 Sonographie – 540
– 551
Die 14-jährige Alexandra leidet nach einem Sturz von einer Steintreppe an heftigen Schmerzen im Oberarm. Die Röntgenuntersuchung wird als Fraktur im proximalen Oberarmdrittel gedeutet. Nach 4-wöchiger Kontrolle der Röntgenaufnahme wird konstatiert, dass keine Kallusbildung eingetreten ist. In der unmittelbaren Nachbarschaft hat sich die Struktur des Humerus noch deutlicher verändert als dies auf der Erstaufnahme bereits der Fall war. Eine Kontrollaufnahme nach weiteren 2 Wochen weist eine zunehmende knöcherne Destruktion des Oberarmschaftes auf. Daraufhin wird eine Kernspintomographie angefertigt, die den Verdacht auf das Vorliegen eines Knochentumors ergibt. Unter dieser Diagnose wird das Mädchen in die Klinik eingewiesen. Zu diesem Zeitpunkt, an dem das vermutete Osteosarkom histologisch bestätigt werden kann, bestehen keine Fernmetastasen. Nach zytostatischer Therapie wird der Tumor reseziert und der Oberarm teilprothetisch versorgt. Ein Jahr später treten Lungenmetastasen auf, die chirurgisch entfernt werden. Dem zweiten Rezidiv erliegt das Mädchen 4 Jahre nach Diagnosesicherung. Alle bildgebenden Methoden haben in den letzten Jahren einen erheblichen technischen Fortschritt aufzuweisen. Die verfügbaren Verfahren können dem Anspruch, der seitens der pädiatrischen Onkologie an die Bildgebung gestellt wird, gerecht werden, indem sie effiziente diagnostische Aussagen schnell, präzise, mit niedriger Strahlenexposition und geringer Belästigung für das Kind liefern.
▼
Im Folgenden werden die bildgebenden Verfahren dargestellt; ihr Stellenwert wird aufgezeigt. Welche Methode zur Anwendung gelangt, wird im Kontext der Erkrankung jeweils diskutiert und bewertet.
Die Ultraschalluntersuchung ist in der Mehrzahl aller Fragestellungen beim Kind die bildgebende Methode der ersten Wahl. Das Verfahren ist wenig belastend und nach den bisherigen Erkenntnissen im angewandten Frequenzbereich biologisch unbedenklich. Untersucht wird mit Ultraschallwellenfrequenzen von 2,5–15 MHz. In einer Ultraschallsonde werden in großer Zahl nebeneinander liegende Quarzkristalle angeregt. Eine kurzfristig angelegte Wechselspannung bewirkt eine mechanische Schwingung, die sich im Körper ausbreitet und die jeweils an Grenzflächen reflektiert wird. Die reflektierten Ultraschallwellen werden über die Kristalle der Sonde in elektrische Impulse umgewandelt (Piezoeffekt). Die Zeit, die ein Ultraschallimpuls benötigt, um sich im Körper auszubreiten und wieder zurück zu gelangen, wird umgesetzt in die Ortsauflösung. ! In der Sonographie kommen nur noch Geräte mit schnellem Bildaufbau und Multielementverfahren zur Anwendung. Beim Kind werden Sektor-, Konvex- oder Linearsonden in einer Frequenz von 2,5–13 MHz oder höher eingesetzt.
Die farbkodierte Duplex-Sonographie nutzt die Tatsache, dass Schallwellen, die von bewegten Objekten reflektiert werden, bei ihrer Reflexion eine Frequenzverschiebung erfahren. Diese ist direkt proportional zu der Geschwindigkeit des bewegten Objektes bzw. der Geschwindigkeit des Erythrozyten. Bei der farbkodierten Duplex-Sonographie wird die Blutströmung über multiple Messvolumina semiquantitativ gemessen, zudem kann eine Richtungsänderung der Blutströmung z. B. im Portalvenensystem erfasst werden. Die Sonographie hat breite Anwendung gefunden zur Darstellung des ZNS durch die offene Fontanelle im ersten Lebensjahr. Die Methode ist für die Organe des Halses einschließlich der Schilddrüse, für die obere Thoraxapertur, das Mediastinum und begrenzt für Lungenveränderungen geeignet. Alle parenchymatösen Oberbauchorgane, die großen abdominellen Gefäße, das Retroperitoneum und die Organe des kleinen Beckens lassen sich ebenso wie das Skrotum und die Weichteile ohne Belastung für das Kind exzellent darstellen. Der Einsatz der Ultraschallmethode ist limitiert bei LuftGewebe-Grenzflächen und beim Knochen (Hofmann et al.
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532
Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
III
a
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b ⊡ Abb. 48.1a, b. Sonographie bei einem 8-jährigen Mädchen mit pulmonal metastasierendem Nephroblastom. a Linke Niere längs: ausgedehnter intrarenaler, überwiegend solider, echodichter Tumor, einzelne echoarme Nekrosen, dilatierte Kelchsystemreste, echofrei. b Abdomen, Cava längs: Tumorzapfen in der Cava
1996). Voraussetzung ist die Erfahrung des Untersuchers, der bei onkologischen Fragestellungen vorrangig Tumorart, Gewebeunterschiede, Tumorwachstum und -ausbreitung, Lymphknotenbefall und Gefäßveränderungen zu beurteilen hat (⊡ Abb. 48.1). 48.1.2 Konventionelle radiologische Verfahren b
Nativdiagnostik. Die radiologische Nativdiagnostik hat ihre
Bedeutung insbesondere in der Thoraxdiagnostik und zur Darstellung von Skelettveränderungen behalten. Aufnahmen des Achsenskeletts, v. a. aber solche der peripheren Skelettabschnitte, werden initial und im Verlauf einer onkologischen Erkrankung auch beim Kind weiterhin durchgeführt. Die Röntgennativdiagnostik zeichnen v. a. die schnelle Verfügbarkeit, das vertretbare Maß an Strahlenexposition und die einfache Anwendung aus (⊡ Tabelle 48.1). Thoraxübersichtsaufnahmen sind unverändert erforderlich bei Tumoren des Thorax, der Thoraxwand und des Mediastinums, additiv zur Computertomographie (CT) bei Metastasensuche sowie bei pulmonalen Komplikationen wie z. B. Infektionen während der Therapie.
⊡ Abb. 48.2a, b. GVHD des Darms nach KMT bei einem 5-jährigen Mädchen mit multiplen Dünndarmstenosen. Obere MDP, wasserlösliches KM, Verdünnung 1:1. a Kraniale Stenose jenseits der ersten Jejunalschlinge nach außen abgeleitet, distal liegende Dünndarmschienung. b Füllung der distalen Dünndarmschienung: multiple Stenosen mit prästenotischen Dilatationen
Bei Fragestellungen, die das Abdomen betreffen, sind Röntgennativaufnahmen nur noch selten anzufertigen, sie werden wegen des größeren Informationsgehaltes durch Sonographie und Magnetresonanztomographie (MRT) ersetzt. Übersichtsaufnahmen des Abdomens sind im Anschluss an die Sonographie dann unerlässlich, wenn ein Ileus oder eine Perforation vermutet wird. Die Übersichtsaufnahme des Ab-
533 48 · Bildgebende Diagnostik
⊡ Tabelle 48.1. Bildgebende Strategien bei Tumorverdacht
Lokalisation
Methode
Ebene
KM
Alternative Methoden
ZNS Intrakraniell Spinal
MRT MRT
3 2
+ +
US: 1. Lebensjahr, CT: Notfall
Thorax-ÜA MRT
2 3
– +
– CT
MRT Thorax-ÜA MRT CT
3 2 3 1
+ – + +
(US) – CT + KM –
US MRT
3
+
(CT)
3
+
(CT)
3
+
CT + KM
3
+
–
3
+
(CT)
3
+
–
3 2 3
+ – +
(CT) – (CT)
Thorax Knöcherner Thorax Thoraxwand Intrathorakaler Tumor Lungenparenchym Retroperitoneales Abdomen Nierentumor Nebenniere Lymphknoten
Intraperitoneales Abdomen Leber Extrahepatische Tumoren Milz Lymphadenopathie Skelett
US MRT US MRT
US MRT US MRT US MRT US MRT ÜA MRT Szintigraphie
MRT Magnetresonanztomographie, US Ultraschall, CT Computertomographie, ÜA Übersichtsaufnahme.
domens a.p. im Liegen wird ergänzt durch eine Aufnahme a.p. in linker Seitenlage. Durchleuchtungsuntersuchungen des Gastrointestinaltraktes kommen initial bei onkologischen Fragestellungen nicht mehr zum Einsatz. Sie können jedoch im Verlauf einer Erkrankung bei Komplikationen erforderlich werden, um z. B. schwere Veränderungen der Ösophagusschleimhaut oder schwere »Graft-versus-host«-Reaktionen des Darms und deren Folgen abzuklären (⊡ Abb. 48.2). Zur Kontrastdarstellung des Gastrointestinaltraktes ist die Verwendung von wasserlöslichem Kontrastmittel schonender als die Gabe von Bariumsulfat. Ein Kontrasteinlauf des Kolons ist nur selten erforderlich, er sollte bei granulozytopenischen Kindern wegen der Gefahr einer Bakteriämie bzw. Sepsis vermieden werden. Alle Untersuchungen sollten an Durchleuchtungsgeräten durchgeführt werden, die eine geringe Strahlenexposition gewährleisten. Mit Hilfe der digitalen und gepulsten Durchleuchtung kann die Strahlenexposition um 50–70% reduziert werden. Röntgenaufnahmen des ZNS sind nur noch in Ausnahmefällen notwendig, da die Schnittbildverfahren überlegene Informationen liefern. Knöcherne Schädelveränderungen
einschließlich der Schädelbasis beschreiben CT und MRT, Schädelübersichtsaufnahmen werden lediglich bei der Langerhans-Zell-Histiozytose eingesetzt. Die Untersuchung des Spinalkanals erfolgt ausschließlich durch die MRT, die Myelo-CT wird hierdurch ersetzt. Postoperativ kann die Interpretation von Veränderungen des Spinalkanals sowohl in der CT als auch in der MRT limitiert sein, wenn metallisches Material eingebracht wurde, das erhebliche Artefakte in der CT bzw. eine Signalauslöschung in der MRT generiert. Röntgenübersichtsaufnahmen des Achsen- und des peripheren Skeletts haben ihre Bedeutung behalten. Die Indikation zur Wirbelsäulenaufnahme ist auf eine Metastasierung in den Wirbelkörper sowie auf die ausgeprägte Osteoporose mit Verdacht auf eine Sinterung des Wirbelkörpers beschränkt. In der Mehrzahl der Fälle führen lokale Schwellung und Schmerz im Bereich der Extremitäten initial zur Röntgenübersichtsaufnahme, auf der ein Knochentumor vermutet oder bereits sicher diagnostiziert wird. Der Übersichtsaufnahme folgt beim Kind die MRT der gesamten Tumor tragenden Extremität, die den extra- und intraossären Tumoranteil beschreibt und zudem »skip lesions« erfasst. Skelettmetasta-
48
534
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
sen werden szintigraphisch oder mittels MRT dargestellt. Zur Korrelation mit dem nuklearmedizinischen Befund erfolgen zusätzliche Skelettaufnahmen (Benz-Bohm 2005; Lemerle 1989; Parker 2000). Intravenöses Pyelogramm. Diese Untersuchung ist nur noch in Ausnahmenfällen erforderlich, bei pädiatrisch-onkologischen Fragestellungen wird sie durch die Schnittbilddiagnostik komplett ersetzt. Miktions-Zysto-Urethrographie. Auch diese Untersuchung
ist in der Onkologie selten erforderlich, sie kann jedoch bei Komplikationen z. B. nach Strahlentherapie des Beckenbereiches Informationen liefern. Angiographie/Phlebographie. Eine Angiographie ist beim
Kind selten indiziert. Dies gilt auch für das ZNS, da die MR-Angiographie die konventionelle Angiographie ersetzt hat. Eine Karotisangiographie kann erforderlich werden, wenn ein peripheres Gefäßstromgebiet dargestellt werden muss. Angiographien bei Interventionen und bei lokalen Therapien sind selten. Phlebographien vor einer zentralvenösen Katheterversorgung werden durchgeführt, wenn sonographisch der Verdacht auf einen Gefäßverschluss besteht.
48.1.3 Computertomographie Die Inkremental-CT, die Einzelschichten erstellte, wurde durch die Spiral-CT abgelöst, die bei gleichzeitigem Tischvorschub und rotierendem Zentralstrahl mehrere Schichten erfasst. Diese Technik wird bereits weiter verbessert durch die Multislice-CT, bei der durch 8–64 Detektoreinheiten mit erhöhter Rotationszeit eine immense Datenmenge des gesamten durchstrahlten Gewebes gewonnen wird. Aus diesen Daten können alle gewünschten Schichten ohne Schichtlücken nicht nur die axiale Schichtrichtung sondern alle 3 Raumebenen rekonstruiert werden. Entsprechend den zu erwartenden Dichteunterschieden in einzelnen Geweben (Lunge, Weichteil, Knochen) werden unterschiedliche »Fenstereinstellungen« gewählt. Zudem können Dichtemessungen in Geweben vorgenommen werden. Die CT stellt eine erhebliche Strahlenexposition dar, wenn sie nicht in der Anwendung am Kind modifiziert wird (⊡ Tabelle 48.2). Es ist möglich, die Untersuchung für das Kind abzuwandeln, indem die Scan-Energie (mAs) so weit reduziert wird, dass die notwendige diagnostische Information erhalten bleibt (⊡ Abb. 48.3). Das Signal-Rausch-Verhältnis wird zwar ungünstiger, die Strahlenexposition ist jedoch auf wenigstens ein Drittel zu reduzieren (Rogalla et al. 1999; Stöver u. Rogalla 1999). Mit Hilfe kontrastmittelgestützter
⊡ Tabelle 48.2. Effektive Dosis bei Röntgen- und Nuklearmedizinischen Untersuchungen
Methode
Effektive Dosis (mSv)
Risiko einer tödlich verlaufenden Krebserkrankung
Röntgenübersichtsaufnahmen Schädel a.p./p.a.
0,03
Schädel lateral
0,01
1:670.000 1:2.000.000
Thorax p.a.
0,01
1:1.000.000
Thorax lateral
0,04
1:500.000
BWS a.p.
0,4
1:50.000
BWS lateral
0,3
1:67.000
LWS a.p.
0,7
1:29.000
LWS lateral
0,3
1:67.000
Abdomen a.p.
0,7
1:29.000
Beckenübersicht a.p.
0,7
1:29.000
Weitere Untersuchungen Ausscheidungsurogramm
2,5
1:8000
Magen-Darm-Passage fraktioniert
3
1:6700
Kolon-Kontrasteinlauf
7
1:3000
CT Schädel
2
1:5000
6
1: 3000
CT Thorax CT Abdomen
10
1:1000
CT Becken
10
1:1000
99mTechnetium-MDP
4
1:5000
J131MIBG
5
1:4000
Nuklearmedizinische Untersuchungen
67Galliumcitrat
12
1.1500
111Indium-Leukozyten
27
1:700
8
1:2500
18F-FDG-PET
535 48 · Bildgebende Diagnostik
Material zur Tumorklassifikation häufig nicht alle erforderlichen Informationen. Umschriebene periphere Läsionen der Lunge, des Knochens und des Retroperitoneums sowie mediastinale und abdominelle Lymphome können mittels Feinnadelbiopsie zuverlässig abgeklärt werden. Wird im Verlauf einer Tumorerkrankung eine Abszessdrainage erforderlich, kann diese Sonographie- oder CT-gesteuert erfolgen. 48.1.4 Nuklearmedizinische Untersuchungen Szintigraphie. Das Szintigramm stellt die Aktivitätsvertei-
lung eines Radiopharmakons im Körper dar. Mit Hilfe einer Gammakamera wird die Verteilung des Radiopharmakons über den gesamten Körper bzw. seine Anreicherung in Tumorgewebe oder in Metastasen erfasst. Die Untersuchung kann bei gleicher Strahlenexposition zur Mehrphasenszintigraphie erweitert werden, bei der die arterielle Perfusion und ein evtl. vergrößerter venöser »bloodpool« darstellbar sind. Zum Nachweis von Skelettmetastasen sind nuklearmedizinische Untersuchungen die Methode der Wahl. 99mTcMDP (Methylendiphosphat) wird generell bei allen Tumoren verwandt, die in das Skelett metastasieren können. Beim Neuroblastom wird zusätzlich 123J-MIBG (Metajodbenzylguanidin) verabreicht zum Nachweis von Primärtumor und Metastasen (⊡ Abb. 48.4).
a
Single-Photon-Emissions-Computertomographie (SPECT). b ⊡ Abb. 48.3a, b. CT bei einem 6-jährigen Mädchen mit pulmonal metastasierendem Nebennierenkarzinom. a Thorax-CT: 100 kV, 140 mA, Nachweis der Metastase im Segment 6. b Low-dose-Thorax-CT 120 kV, 10 mA zur Markierung der Metastasen vor der Operation. Stärkeres Signal-Rausch-Verhältnis, jedoch kein Informationsverlust hinsichtlich der Nachweisbarkeit der Metastase
CT-Untersuchungen sind Gefäßstrukturen, Lymphknoten und Gewebeveränderungen erkennbar. Im Bereich des Neurokraniums sind Aussagen zu Raumforderungen, inflammatorischen Prozessen, wie auch zu Ödem, Ischämie und Infarkt bzw. Blutung möglich. Die abdominelle CT-Diagnostik erfordert in aller Regel eine Darmkontrastierung, (Bariumsulfat oder wasserlösliches Kontrastmittel in 2% Verdünnung), die im oberen Abdomen meist gut gelingt. Zur Differenzierung pelviner Strukturen ist die orale Kontrastierung jedoch häufig unzureichend, da die Passagezeit individuell erheblich differiert. ! Der überwiegende Einsatz der CT bei pädiatrischonkologischen Fragestellungen betrifft die Lunge, seltener sind Magen-Darm-Tumoren mittels CT abzuklären. In der Notfalldiagnostik des ZNS ist die CT weiterhin die Methode der ersten Wahl. Bei allen abdominellen Fragestellungen sollte aus Gründen der Strahlenhygiene die CT beim Kind durch die MRT ersetzt werden ( Tabelle 48.1). Interventionelle Radiologie. Die zunächst unter Durchleuchtung vorgenommenen Feinnadelbiopsien sind der Biopsie unter Sonographie-, CT- und MRT-Kontrolle gewichen. Initial liefert jedoch das durch eine solche Punktion gewonnene
Mit Hilfe einer SPECT-Untersuchung wird durch eine rotierende Gammakamera die Aktivitätsverteilung im Körper in beliebigen Schnittebenen dargestellt. Es entstehen Schnittbilder, die im Organ und insgesamt im Körper besser topographisch zuzuordnen sind. Durch die Fusion der CT mit den Schnittbildern aus der SPECT-Untersuchung kann eine unmittelbare Zuordnung der Läsionen im Organ vorgenommen werden (⊡ Abb. 48.5). Das Verfahren erfasst schnelle Funktionsabläufe nicht, es ist zudem zeitaufwendig, wenn es als Ganzkörperuntersuchung durchgeführt wird. Beim Einsatz als Teilkörperuntersuchung fallen diese Nachteile weniger ins Gewicht, z. B. bei der Hirn-SPECT-Untersuchung (Johnson et al. 1990; Schicha u. Schober 2003). Bei dieser Methode, bei der im Kindesalter zur Diagnostik der Hirntumoren z. B. 201Thalliumchlorid verwendet werden kann, wird die Aufnahme des Radiopharmakons im Tumor bzw. die frei werdende Gammastrahlung mit Hilfe des um den Patienten rotierenden Scanners erfasst. Die Methode wird in der pädiatrischen Onkologie zur Detektion und zum Monitoring von Hirntumoren eingesetzt, wobei zudem die vermehrte Anreicherung im Rezidiv diagnostisch verwandt werden kann. Auch ein Grading des Tumors ist möglich, ferner die Abgrenzung vom Tumorgewebe zur Radionekrose. Im Vergleich zur 18F-Fluorodesoxyglukose-Positronenemissionstomographie ( unten) kann die SPECT mit 201TI bei kindlichen Hirntumoren in der Detektion überlegen sein (Maria et al. 1998). Positronenemissionstomographie (PET). Das Verfahren stellt
die Verteilung Positronen emittierender Isotope innerhalb des Körpers dar, erfasst somit physiologische und metabolische Aktivität mit Hilfe von Positronenstrahlern. Zur Dar-
48
536
Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
III
a
b ⊡ Abb. 48.4a,b. Szintigraphie bei einem 2-jährigen Mädchen mit ossär metastasierendem Neuroblastom. a 99mTc-DPD-Knochenszintigramm: Mehrspeicherung im distalen Drittel der distalen Femur-
123
diaphyse links, physiologische epiphysäre Anreicherung. b J-MIBGSzintigramm: fokale Mehrspeicherung in der Kalotte, mediastinal und im distalen Drittel der Femurdiaphyse links
537 48 · Bildgebende Diagnostik
48
a
a
b ⊡ Abb. 48.5a, b. 123J-MIBG-Szintigramm und SPECT bei einem 14 Monate alten männlichen Säugling mit Neuroblastom. a Rekonstruktion des Abdomens 4 Stunden p.i., Mehranreicherung paravertebral rechts in Höhe L5. b MRT koronar T2-w: irregulär flach lumbosakral mehr rechts der Mittellinie wachsendes Neuroblastom
⊡ Abb. 48.6a, b. PET und MRT eines 10 Monate alten Säuglings mit Hemihypertrophie und Hepatoblastom. a Ganzkörper 18-F- FDG-PET: geringfügige Mehrspeicherung im Segment 4 sowie unterhalb der Gallenblase. b MRT T1-w koronar: korrespondierender Tumor, hypointens, glatt berandet, histologisch hier Hepatoblastom, 2. Speicherung ohne Korrelat in der MRT und Operation
b
538
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
stellung werden Positronentomographen bzw. eine Gammakamera, die den Positronenzerfall ebenfalls zu erfassen in der Lage ist, mit einem CT-Gerät kombiniert, so dass wie bei der SPECT-Untersuchung funktionelle Ergebnisse mit der Morphologie korreliert werden können (PET-CT). Werden spezifische Tracer mit Positronen in Transmittern gelabelt, können die Prozesse des Positronenzerfalls dargestellt werden. Visualisiert werden also biologische und biochemische Vorgänge. Als Tracer werden entweder Liganden verwendet, die sich an die Rezeptoren binden oder aber Substrate, die nach der Reaktion intrazellulär verbleiben. Wird ein Positronenstrahlung emittierendes Radiopharmakon wie 18F-FDG (Fluorodesoxyglukose) verabreicht, dann kann in bestimmten Geweben der Glukosemetabolismus oder seine Störung über den Positronenzerfall gemessen werden. Mit 18F-FDG-PET wird die gesteigerte Aktivität des Glukosestoffwechsels sichtbar gemacht und die Tatsache genutzt, dass die Glukosekonzentration in Tumorzellen erhöht ist, bedingt durch einen gesteigerten Membrantransport und den Anstieg von Hexokinase, die für die Phosphorylierung von Glukose verantwortlich ist. 18F wird wie Glukosetransporterproteine in die Zelle transportiert und durch Hexokinase in FDG-6-Phosphat phosphoryliert. Dieses wird nicht weiter abgebaut sondern verbleibt in der Zelle, in der es mit Hilfe des Tracers sichtbar gemacht wird (⊡ Abb. 48.6). Dieser reichert außer im Gehirn auch stärker in der Kaumuskulatur und im Myokard an, er wird glomerulär filtriert, höhere Werte sind beim Erwachsenen in der Blasenwand nachgewiesen worden (Kostakoglu et al. 2003). ! PET-Untersuchungsindikationen ergeben sich derzeit für das Kindesalter seltener bei Hirntumoren und v. a. bei malignen Lymphomen, die initial erfasst werden können; ein Staging wie auch ein Restaging sind mit der Methode möglich. Weitere Indikationen zur Diagnostik und im Verlauf einer onkologischen Erkrankung beim Kind werden derzeit untersucht.
48.1.5 Magnetresonanztomographie Die Optimierung der Magnetresonanztomographie (MRT) hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass diese Methode, die nicht mit einer Strahlenexposition verbunden ist, auch für das Kindesalter breite Anwendung findet (Cohen u. Edwards 1990; Reither 1999). ! Die MRT ist die überlegene Methode zur Darstellung des ZNS und des Spinalkanals. Sie hat die Myelographie inzwischen vollständig verdrängt. Im Bereich des Mediastinums kommt diese Methode zum Einsatz, für die Diagnostik des Lungenparenchyms muss derzeit noch die CT durchgeführt werden. Intraabdominelle Raumforderungen und alle muskuloskelettalen Tumoren werden mittels MRT abgeklärt.
Zur Bildgebung werden die zahlreich vorhandenen Wasserstoffprotonen des Körpers herangezogen. Werden diese in ein homogenes Magnetfeld verbracht, richten sie sich parallel oder antiparallel zum externen Magnetfeld aus. Im Patienten entsteht dann ein Magnetfeld längs zum externen Magnetfeld. Wird kurzfristig ein Hochfrequenzimpuls (HF-Impuls) mit der gleichen Frequenz eingestrahlt, die der Präzessions-
frequenz der Protonen entspricht, nehmen diese zum einen Energie auf, zum anderen wird die Präzession der Protonen synchronisiert, es entsteht eine Transversalmagnetisierung. Die durch fortwährende kurzzeitige Einstrahlung von Hochfrequenzimpulsen sich ständig ändernden magnetischen Momente induzieren einen elektrischen Strom, der zur Bildgebung genutzt wird und das eigentliche MR-Signal darstellt. Wird der Hochfrequenzimpuls abgeschaltet, kehren die Protonen in ihren Ausgangszustand zurück; die Magnetisierung längs des externen Magnetfeldes nimmt wieder zu, beschrieben durch die Zeitkonstante T1. Die Abnahme der transversalen Magnetisierung beschreibt die Zeitkonstante T2. Obgleich die Zeiten für T1 und T2 keine spezifischen Gewebewerte darstellen, gilt generell für Flüssigkeiten, dass sie eine lange T1- und eine lange T2-Zeit aufweisen. Dies trifft auch z. B. für pathologisch veränderte Gewebe wie Tumoren zu. Fett hat dagegen eine kurze T1-Zeit. Für die diagnostische Bildgebung können unterschiedliche Feldstärken von 0,5 T (Tesla; 1 T=10.000 Gaus) bis derzeit 3 T, im Bereich des ZNS bereits 8 T eingesetzt werden. In den zur Bildgebung zugelassenen Feldstärken kann von der biologischen Unbedenklichkeit ausgegangen werden. Beim Kind sollten so genannte Hochfeldgeräte ab 1 T eingesetzt werden, die eine deutlich bessere Bildqualität als die Niederfeldgeräte aufweisen. Sequenzen. Es werden unterschiedliche Sequenzen durch-
geführt, wobei Spinechosequenzen (SE) bei fast allen Fragestellungen angewandt werden. Diese SE werden ergänzt durch Gradientenechosequenzen (GRE), Fettsuppressionssequenzen und solche, die stark T2-gewichtet sind, wie z. B. RARE- (»rapid acquisition with relaxation enhancement«), HASTE- (»half Fourier acquisition single-shot turbospin echo«) oder TURBO-FSE (»fast spin echo«)-Sequenzen. Kontrastmittel. Die Signalintensität des Gewebes kann durch
Gabe von paramagnetischen Metallionen beeinflusst werden, indem diese über eine Relaxationszeitverkürzung gewebespezifische Parameter ändern. Zugelassen ist das Gadolinium (an DTPA gebunden und somit nicht toxisch). Etwa 99% dieses Kontrastmittels werden über die Niere ausgeschieden. Eine Kontrastmittelunverträglichkeit ist beim Kind selten. Wird Gadolinium-DTPA i.v. verabreicht, sind über das Kontrastmittel die Vaskularisierung des Tumors ebenso wie die Permeabilität des Endothels, die intratumorale Nekrose und die Dynamik der Kontrastmittelaufnahme eines Tumors unter der Therapie darstellbar. Sedierung. Die Mehrzahl der Säuglinge und Kleinkinder
kann in oraler Sedierung untersucht werden. Die Anästhesie betrifft den Ausnahmefall. Kontraindikationen. Kontraindikationen sind Schrittmacher, ältere Liquor ableitende Systeme, ältere Wirbelsäulen stabilisierende Materialien. Liquor ableitende Ventile, die nachstellbar sind, müssen unmittelbar nach der Untersuchung korrigiert werden, da sie ferromagnetisch sind. Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass alle neuen Materialien, die bei chirurgischen und interventionellen Maßnahmen zum Einsatz kommen, in aller Regel aus Titan bestehen und damit nicht ferromagnetisch sind, muss bei
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eignet sich begrenzt für prognostische Aussagen bei Hirntumoren (Barkovic 2000). Funktionelle MRT (fMRT). Bei der fMRT werden geringe Änderungen der MRT-Signale erfasst, die mit der neuronalen Aktivität des Gehirns in Zusammenhang stehen über den so genannten BOLD-Mechanismus (»blood oxygen leveldependent«). Eine Zunahme der neuronalen Aktivität bewirkt eine Zunahme der lokalen Durchblutung, diese eine Abnahme des Desoxyhämoglobins lokal, das paramagnetisch wirkt und über einen umschriebenen Signalanstieg zur Information genutzt wird. Mit Hilfe der Gradientenechotechnik sind Messungen im Gehirn in 50–100 ms in Multislice-Technik möglich. Nach einer Aufgabenstellung bzw. nach akustischen oder visuellen Stimulationen werden Signalintensitätsanstiege umschrieben gemessen. Für die derzeitige klinische Anwendung bedeutet dies, dass ein »brain mapping« kritischer sensorischer und motorischer Funktionen vorgenommen und die Information z. B. für eine chirurgische Intervention verwendet werden kann (Gore 2003).
a
48.1.6 Bildgebung der Metastasen Die Bildgebung der Metastasen erfolgt in Abhängigkeit von der Lokalisation des Tumors sowie der für den Tumor zu erwartenden typischen Metastasierungswege. ZNS. Intrazerebrale, meningeale sowie spinale Metastasen werden ausnahmslos durch die MRT dargestellt.
b ⊡ Abb. 48.7a, b. MRT und Spektroskopie eines 13-jährigen Mädchens mit Ponsgliom. a Koronare T1-w post KM: aufgetriebener pontiner Bereich; unregelmäßige, kräftige KM-Aufnahme durch den Tumor. b Spektroskopie: deutlich erhöhter Cholin-Kreatin-Ratio, N-Acetylaspartylglutamat (NAA) erniedrigt
Lunge. Auf Nativaufnahmen sind 3–5 mm messende Lungenmetastasen in aller Regel nicht zu erkennen. Ausnahme sind die initial verkalkenden Metastasen des Osteosarkoms, die durch ihre Dichte auch in dieser Größe erkannt werden können. Alle in die Lunge metastasierenden Tumorarten werden prätherapeutisch und im Verlauf mit der CT untersucht. Die Auflösung der MRT reicht für diese Fragestellung derzeit nicht aus, bei der Frage hilärer Lymphombildungen kann sie jedoch zum Einsatz kommen. Abdomen. Metastasen innerhalb der Leber werden zuverläs-
nicht bekannten Materialien der Hersteller befragt werden oder das Material separat unmittelbar am Magneten getestet werden. MR-Angiographie. Sie wird außerhalb des ZNS als kontrastmittelgestützte MR-Angiographie durchgeführt. Die Vorteile der MRT liegen zum einen darin, dass keine ionisierenden Strahlen erforderlich sind. Die Untersuchung kann in allen 3 Raumebenen erfolgen und die MR-Angiographie zusätzlich eingesetzt werden. MR-Spektroskopie. Diese ist nur an supraleitenden Magneten möglich und wird im wesentlichen als Protonen(H)- und Phosphor(P31)-Spektroskopie durchgeführt. Mit Hilfe der H-MR-Spektroskopie zerebraler Neoplasien können relative Konzentrationen von Cholin, N-Acetyl-Aspartat, Inositol und Laktat dargestellt werden (⊡ Abb. 48.7). Die Methode
sig durch die Sonographie erfasst, zusätzlich sind Metastasen in der MRT darstellbar, z. B beim Neuroblastom. Hingegen können sonographisch eindeutig nachgewiesene Metastasen oder Lymphknoten im Hilusbereich mit der MRT u. U. nur unzureichend detektiert werden. Wird eine CT durchgeführt, muss sie kontrastmittelgestützt erfolgen. Die KM-CT erfasst Metastasen der Milz, der Nebenniere und der Niere sowie des Pankreas. Es sind jedoch Milzbeteiligung ebenso wie die retroperitonealen Lymphknotenmetastasen zuverlässig auch in der MRT darzustellen. Wenn es sich um kleine Läsionen handelt, können sie in der retroperitonealen Lokalisation der Sonographie entgehen. Skelett. Skelettmetastasen werden durch die Szintigraphie erfasst, verwandt wird 99mTc-MDP, beim Neuroblastom zusätzlich 123J-MIBG (⊡ Tabelle 48.3). Die szintigraphisch nachgewiesenen Metastasen werden ergänzend durch Röntgenübersichtsaufnahmen in 2 Ebenen dargestellt.
48
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
⊡ Tabelle 48.3. Bildgebung zur Erkennung von Metastasen
Lokalisation
Methode
Ebene
KM
Alternative Methode
ZNS Thorax
MRT Röntgen-ÜA CT US MRT US MRT 99m TcMDP-Szintigraphie J123 MIBG-Szintigraphie/Neuroblastom Röntgenaufnahmen speichernder Läsionen
3 2 1
+ – +
– –
3
+
(CT)
3
+
–
Abdomen/Leber Retroperitoneum Skelett
2
MRT Magnetresonanztomographie, US Ultraschall, CT Computertomographie, ÜA Übersichtsaufnahme.
48.1.7 Bildgebung im Verlauf einer
Tumorerkrankung Initial müssen Tumorgröße, Volumen, Gewebeveränderungen, Tumorausbreitung und Metastasierung durch wenigstens zwei Schnittbildverfahren dezidiert erfasst werden. Im Verlauf kommt dann nur noch diejenige Methode zum Einsatz, die den Tumor am besten beschreibt und die mit der geringsten Strahlenexposition verbunden ist. Zudem werden die Organe im Verlauf der Erkrankung kontrolliert, in die der Tumor metastasieren kann. Kontrolluntersuchungen werden in den Zeitintervallen durchgeführt, in denen Rezidive zu erwarten sind. 48.2
Organbezogene Bildgebung
Die Bildgebung der ZNS-Tumoren wird in Kap. 66 behandelt. 48.2.1 Knochenmark Mit Hilfe der MRT ist es möglich geworden, das Knochenmark und seine tumorbedingten Veränderungen darzustellen. Das blutbildende Mark, das zu 40% aus Wasser, zu 40% aus Fett und nur zu 20% aus Protein besteht, erzeugt ein niedriges Signal in der T1-w und nur ein gering höheres Signal in der T2-w. Da das Fettmark zu 15% aus Wasser, zu 80% aus Fett und zu 5% aus Proteinen besteht, ist die Signalintensität in der T1- und T2-w hoch. In Abhängigkeit von der Art der Tumorzellen führt eine Tumorzellinfiltration in den Medullärraum zu einer Abnahme der Signalintensität (SI) in der T1-w und einer Zunahme der SI in der T2-w (⊡ Abb. 48.8). 48.2.2 Leukämien Bei unklaren Gelenkschmerzen, die initial bei lymphoblastischer Leukämie der B-Zellreihe auftreten können, ist ein medullärer Befall, dargestellt in der MRT, u. U. erster Hinweis auf die Erkrankung. Der Nachweis des Knochenmarkbefalls mit einer verlängerten T1-Relaxationszeit, einer signalreichen T2-Gewichtung, die initial diffus und im Verlauf fleckförmig
zur Darstellung kommt, ist für die Diagnose und für den Verlauf in aller Regel entbehrlich. Die Thoraxübersichtsaufnahme erfolgt zur Abklärung mediastinaler oder hilärer Lymphome, eine Sonographie des Abdomens zur Organgrößenbestimmung ist in jedem Fall erforderlich, auch im Verlauf, die MRT nur bei lokalem Befund. 48.2.3 Langerhans-Zell-Histiozytose Da die granulomatöse Proliferation von Langerhans-Zellen unilokulär oder im gesamten RES auftreten kann, v. a. lokalisiert in den Knochen und in der Haut vorkommt, richtet sich die Bildgebung nach dem initialen Symptom. Fällt das Kind durch einen isolierten Herd, z. B. durch Schwellung und Schmerz, auf, und wird eine knöcherne Läsion radiologisch dargestellt, dann ist der komplette Skelettstatus unverzichtbar, um einen lokalisierten oder multilokulären Skelettbefall nachzuweisen (⊡ Abb. 48.9). Dem Skelettstatus folgt die Sonographie des Abdomens, damit Hepatosplenomegalie und Lymphknotenbefall bewiesen oder ausgeschlossen werden können. Das Szintigramm ersetzt den Skelettstatus nicht, da einige, jedoch nicht alle Herde speichern können. Beim ZNS-Befall kommt die MRT zum Einsatz. Diese wird auch bei Vertebra plana initial erforderlich, da mit Hilfe der MRT abzuklären ist, ob prä- oder paravertebrale bzw. intraspinale Weichteilveränderungen vorliegen. In der MRT ist der auch in der Übersichtsaufnahme erkennbare, gut abgegrenzte Herd durch eine niedrige Signalintensität in der T1-Wichtung und eine angehobene Signalintensität in der T2-Wichtung wie auch in der STIR-Sequenz charakterisiert. Die Läsionen können, müssen jedoch nicht Kontrastmittel anreichern. Es ist kernspintomographisch zudem eine Regression der Läsionen darzustellen. 48.2.4 Retinoblastom Die Zunahme der Augen erhaltenden Therapie und der Verzicht auf die Biopsie fordern von der bildgebenden Diagnostik präzise Aussagen bei der Initialdiagnose des Retinoblastoms, zum Staging und während Verlaufskontrollen.
541 48 · Bildgebende Diagnostik
48
b
a ⊡ Abb. 48.8a, b. MRT beider Oberschenkel koronar bei einem 14-jährigen Mädchen mit B-Lymphom. a T2-gewichtet, b fettgesättigt nach
KM: irreguläres medulläres Signal im Femurschaft beiderseits, bedingt durch leukämische Infiltrate
a
b ⊡ Abb. 48.9a, b. Sonographie und Übersichtsaufnahme bei einem 6-jährigen Mädchen mit Langerhans-Zell-Histiozytose der Klavikula. a Sonographie: Nachweis des Weichteilanteils und der knöchernen
Destruktion. b Übersichtsaufnahme: osteolytischer Prozess der linken Klavikula, sternales Drittel
542
Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
48.2.5 Kopf-Hals-Region
III Lymphome und Karzinome des Nasopharynx sind in aller Regel nur mit Hilfe der Kernspintomographie abzuklären. In der Diagnostik der Tumoren der Speicheldrüsen kommt initial die Sonographie zum Einsatz. In jeder der genannten Lokalisationen ist die Bildgebung entscheidend zum Nachweis der Ausdehnung, der Raumforderung und der Alteration umgebender Strukturen, sie ist jedoch nicht diagnoseweisend für eine Tumorart. 48.2.6 Thorax a
Die thorakalen Rhabdomyosarkome und die Tumoren, die primär vom Lungenparenchym oder den Bronchien ausgehen, Pulmoblastome und Adenome werden zunächst anhand Thoraxübersichtsaufnahme dargestellt, im Verlauf durch die MRT weiter abgeklärt und mittels Nativübersichtsaufnahmen und MRT überwacht. In der postoperativen Phase folgt der Übersichtsaufname die MRT, wenn ein Rezidiv vermutet wird. Pleurale Neoplasien. Pleurale Neoplasien und Metastasen
erfassen die CT und die MRT. Vorderes Mediastinum. Raumforderungen des vorderen Mediastinums sind Lymphadenopathien, die hilär, paratracheal oder tracheobronchial lokalisiert sein können. Thymusinfiltrationen bei Leukämien und Lymphomen sind auf Übersichtsaufnahmen weder durch die Größe noch durch die Konfiguration des Thymus zu diagnostizieren (⊡ Abb. 48.11). Auch Sonographie und CT differenzieren nicht eindeutig zwischen normalem Thymus und Tumorinfiltration. In der MRT hat der Thymus ein intermediäres Signal in der T1-wSequenz, eine angehobene SI in T2-w-Sequenzen. Eine stark
b ⊡ Abb. 48.10a, b. MRT bei einem 18 Monate alten Jungen mit Retinoblastom. a Axiale T2-w: papillennah Nachweis feinfleckiger hypointenser Tumoranteile links. b Sagittale T1-w post KM: breitbasig aufsitzendes, stark KM aufnehmendes Retinoblastom
Die Sonographie, die beim Kleinkind nur in tiefer Sedierung oder Narkose erfolgen kann, erfasst Kalzifikationen und Retinaläsionen, die nicht immer ein Korrelat in der CT haben, von 3D-Sonographien ist zu erwarten, dass sie die Diagnostik verbessern. Die MRT der Orbita ist unverzichtbar, da sie die Ausbreitung des Tumors in der Retina und die Beteiligung des Nervus opticus erfasst und zudem diagnostische Aussagen zu pseudoneoplastischen Läsionen liefert (⊡ Abb. 48.10). Folgende Technik wird dabei eingesetzt: 2 mm Schichten mit einer Oberflächenspule T1-w und T2-w-SE-Sequenzen, zusätzlich FSE- sowie T2-w-Sequenzen mit Fettsättigung, alle 3 Raumebenen, post-KM-Serien, T1-gewichtet, ebenfalls mit Fettsättigung. Unilaterale sowie bilaterale Tumoren sind darstellbar, bei großen Tumoren kann nicht differenziert werden, ob es sich um uni- oder multifokale Herde handelt.
⊡ Abb. 48.11. Thoraxaufnahme p.a. bei einem 12-jährigen Jungen mit T-ALL: ausgedehnter mediastinaler Weichteiltumor rechts, weniger ausgeprägt links
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48.2.7 Abdomen ! Bei allen abdominellen Untersuchungen ist die Indikation zur CT aus Gründen der Strahlenhygiene restriktiv zu handhaben.
⊡ Abb. 48.12. CT bei einem 14-jährigen Jungen mit Morbus Hodgkin: vorwiegend im mittleren Mediastinum gelegene Raumforderung, hypodens, den Hauptbronchus links ummauernd
Jede unklare abdominelle Raumforderung, die sonographisch erkannt wird, benötigt in aller Regel als zweites Schnittbildverfahren die MRT. Die Signalintensitäten (SI) der einzelnen Gewebeanteile charakterisieren Organ und Tumor, d. h. anhand der gewebespezifischen SI ist die Organzuordnung möglich und die Dignität zu vermuten. Im Falle des Malignoms ist ein Staging vorzunehmen, ein Grading wird stets versucht (Stöver 2001; Strunk u. Gutjahr 1996). MRT-Technik. Schnelle und ultraschnelle Sequenzen stehen
angehobene Signalintensität innerhalb des Thymus spricht bei den genannten Grundkrankheiten für einen zystischnekrotischen Umbau. Die 67Ga-Szintigraphie wird aus strahlenhygienischen Gründen nicht mehr durchgeführt, jedoch ist 18F-FDG-PET bei dem Verdacht auf ein Rezidiv einzusetzen. Mittleres Mediastinum. In dieser Lokalisation sind ebenfalls
Lymphadenopathien im Rahmen der Leukose, des Lymphoms und des Morbus Hodgkin abzuklären. Zur Diagnostik des Morbus Hodgkin sind Sonographie und Hals-MRT, Thorax-CT, Abdomen-MRT und -Sonographie sowie die 99m Tc-MDP-Szintigraphie erforderlich. Die Thorax-CT erfolgt zum Nachweis oder Ausschluss des Lungenbefalls, sie kann derzeit noch nicht durch die MRT ersetzt werden (⊡ Abb. 48.12). Die CT vermag nicht in jedem Fall bei Lymphknoten um 1 cm Größe zwischen Lymphknotenbefall und normalen, nicht befallenen Lymphknoten zu differenzieren. Dies gelingt in der MRT ebenfalls nur bedingt. Neurofibrome im mittleren Mediastinum werden auf der Übersichtsaufnahme vermutet, insbesondere hinsichtlich ihres Wachstums in Richtung auf die großen Gefäße und den Tracheobronchialbaum mit Hilfe der MRT weiter abgeklärt. Hinteres Mediastinum. Neurogene Tumoren des hinteren
Mediastinums, wie Neuroblastom, Ganglioneurom und Ganglioneuroblastom, imponieren auf der Übersichtsaufnahme als homogen dichte Raumforderungen, die den Interkostalraum aufweiten können und selten die Rippen arrodieren. Auch diese Tumoren werden in der Folge durch die MRT dargestellt, die insbesondere die Infiltration in den Spinalkanal nachweist und neurenterische Zysten von soliden Tumoren differenziert. Selten ist präoperativ eine CT zur Darstellung der knöchernen Destruktion erforderlich. Thoraxwand. In der Thoraxwand wachsende Raumforderun-
gen, wie Rhabdomyosarkom, Ewing-Sarkom, PNET (AskinTumor), werden durch die Übersichtsaufnahme unzureichend erfasst. Die CT beschreibt die knöcherne Destruktion. Mit Hilfe der MRT lassen sich alle in den Tumor einbezogenen Gewebekomponenten darstellen.
zur Verfügung. HASTE-, RARE-, TURBO-SE-Sequenzen in allen 3 Raumebenen sind bei normaler Atmung in sequenziellen Schichten initial hilfreich, wobei atembedingte Schichtverschiebungen und Überlappungen dabei unerheblich sind. T1-w-schnelle SE-Sequenzen werden als aussagefähigste Abbildungsebenen vor und nach KM-Gabe angeschlossen. Es wird die kleinstmögliche Schichtdicke gewählt, große Tumoren können auch mit größerer Schichtdicke abgebildet werden. Gradienten-Echo-Sequenzen werden vor und unmittelbar nach KM-Gabe als dynamische Sequenzen angewandt. Ob eine Fettsättigung erforderlich ist, bestimmt die Fragestellung. Eine MR-Angiographie wird vor der T1-wpost-KM-Sequenz vorgenommen. Die gewählte Matrix hängt ab von der Fragestellung. Kontrastmittelgestützte Serien ermöglichen über die SIÄnderung Aussagen zur Vitalität des Malignoms initial und im Verlauf unter Therapie. Mit Hilfe der kontrastmittelgestützten MR-Angiographie werden Aussagen zur Gefäßversorgung, zur Gefäßinvasion des Tumors und zu seiner Lage zu großen Gefäßen möglich. Lebertumoren. Diese werden primär sonographisch untersucht. Der Sonographie folgt die MRT. Das Leberparenchym ist in der MRT durch kurze T1- und T2-Relaxationszeiten charakterisiert, d. h. die Leber stellt sich normal hyperintens zur Milz in der T1-w und hypointens in T2-w dar. Leberläsionen lassen sich mit Fettsuppression vom normalen Parenchym abgrenzen. Benigne Leberläsionen wie Hamartom, Adenom und FNH (fokal noduläre Hyperplasie) zeichnen sich durch eine intermediäre SI, geringe KM-Aufnahme und eine scharfe Begrenzung aus. Sie sind in der MRT damit nicht eindeutig zu definieren und benötigen stets die Biopsie. Sind zystische Läsionen nicht eindeutig als solche zu charakterisieren, dann ist eine stark T2-w-, z. B. RARE-Sequenz oder eine Turbo-SESequenz, hilfreich, die im Falle der Zyste homogen und stark in der SI angehoben ist. Lebermetastasen werden sonographisch dargestellt, u. U. zusätzlich durch eine MRT. Es kann die Metastase in der T1-w nicht in jedem Fall von normaler Leber differenziert werden, obwohl sie sonographisch eindeutig erkennbar ist. In T2-wSequenzen können Metastasen hyperintens sein, wie z. B. beim Neuroblastom (⊡ Abb. 48.13).
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⊡ Abb. 48.13. MRT (T2-w axial) bei einem 3 Monate alten Säugling mit Neuroblastom Stadium IVS: Die gesamte Leber ist durchsetzt von feinknotigen Neuroblastommetastasen angehobener Signalintensität, Primärtumor unbekannt
⊡ Abb. 48.15. MRT (T1-w axial) bei einem 4 Monate alten Jungen mit Hepatoblastom: relativ scharf begrenzter raumfordender Tumor des rechten Leberlappens mit angehobener SI
⊡ Abb. 48.14. MRT (axiale GRE) bei einem 14-jährigen Jungen mit hepatozellulärem Karzinom: Das HCC erfasst nahezu den gesamten linken Leberlappen und Teile des rechten Leberlappens. Angedeutete zentrale Narbe, Signalintensität angehoben zum übrigen Lebergewebe, periphere Nekrosen
Hepatozelluläre Karzinome lassen sich in aller Regel gegenüber dem Leberparenchym abgrenzen, Kapselbildung und zentrale Narbe sind meist erkennbar. In fettsupprimierten GRE-Sequenzen imponieren die Läsionen, die multipel die Leber durchsetzen, meist als homogene Tumoren, die rasch Kontrastmittel aufnehmen, die Lebergefäße primär verlagern und erst sekundär invadieren (⊡ Abb. 48.14). Hepatoblastome sind meist gut begrenzt innerhalb des Leberparenchyms zu erkennen. Auch ihre Tendenz zur Invasion sowohl in die Pfortader als auch in die Lebervene ist gut darstellbar. Die SI ist in der Regel sehr heterogen (⊡ Abb. 48.15). Milzläsionen. Umschriebene Läsionen, die bei Lymphomen
oder lymphoretikulären Erkrankungen auftreten können, werden sowohl in der Sonographie als auch in der MRT zuverlässig erfasst.
⊡ Abb. 48.16. Sonographie bei einem 6 Wochen alten Säugling mit älterer Nebennierenblutung: kraniale Anteile echoarm, kaudal gemischte Echogenität der Blutung, Schichtungsphänomen
Nebennierenblutung. Im Neugeborenenalter sind Nebennierenblutungen von einem Neuroblastom sonographisch abzugrenzen (⊡ Abb. 48.16). Um innerhalb der Blutung die Entstehung eines Neuroblastoms zu erkennen, wird die Nebennierenblutung so lange sonographisch kontrolliert, bis eine vollständige Involution nachweisbar ist. Die Echogenität einer Nebennierenblutung ändert sich innerhalb von 2 Wochen. Tritt sie nicht ein, wird eine MRT durchgeführt. Die frische Nebennierenblutung ist hyperintens in T1-w- und T2w und zeigt eine SI-Abnahme innerhalb der ersten zwei bis drei Wochen. Liegt die Blutung länger zurück, entsteht ein typischer Hämosiderinring, der sowohl in der T1-w als auch in der T2-w erkennbar ist und das ältere Hämatom beweist.
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⊡ Abb. 48.17. MRT (T1-w post KM) bei einem 3-jährigen Mädchen mit Neuroblastom: Invasion des Neuroblastoms in den Spinalkanal
Neuroblastom. Besteht jedoch primär der Verdacht auf das
Vorliegen eines Neuroblastoms (⊡ Abb. 48.17), ist zusätzlich zur Sonographie die Durchführung der MRT unverzichtbar, um eine mögliche Invasion des Neuroblastoms in den Spinalkanal in allen 3 Raumebenen zu beweisen oder auszuschließen. Das Neuroblastom ist in der T1-w muskelisointens, in der T2-w hyperintens. Neuroblastome sind homogen in der SI, können jedoch auch irreguläre Strukturen aufweisen. Kalzifikationen innerhalb des Neuroblastoms sind kernspintomographisch nicht zu erkennen, sie sind sonographisch und nativ röntgenologisch nachweisbar. In axialen und koronaren Schichten werden die Organzugehörigkeit, die Beziehung zu den umgebenden Strukturen und die gesamte Tumorausdehnung in der MRT nachge-
wiesen, Lymphknotenkonglomerate werden erkannt. Auch ohne KM lassen sich die großen Gefäße vom Neuroblastom gut abgrenzen (⊡ Abb. 48.18). Bei ausgedehntem spinalen Befall sind sagittale und axiale SE-Sequenzen einzusetzen, die fettsupprimiert noch zu optimieren sind. Das Neuroblastom wächst flach intraspinal ein. Da ein intraspinaler Befall nicht in unmittelbarer Tumornähe sichtbar sein muss, sondern dem Tumor anliegende spinale Segmente überspringen kann, ist die Darstellung des gesamten Spinalkanals notwendig ( Abb. 48.17). Tumorinvasion und Verlagerung der Gefäße sind durch die MRT eindeutig zu erfassen wie auch die Metastasierung in das übrige Abdomen und die Leber. Weiterhin ist die Metastasierung in das Knochenmark kernspintomographisch zu beweisen ebenso ein Durabefall bei zerebralem Wachstum (⊡ Abb. 48.19). Zusätzlich wird 123JMIBG zur spezifischen Markierung sowohl des Primärtumors als auch der Fernmetastasen eingesetzt. Darüber hinaus ist beim Verdacht auf Metastasierung im Skelett eine 99mTc-MDP-Szintigraphie erforderlich. ! Neuroblastome, Ganglioneurome und Ganglioneuroblastome sind sonographisch und kernspintomographisch nicht voneinander zu unterscheiden. Phäochromozytome. Phäochromozytome werden in der
MRT als unterschiedlich große Raumforderungen sichtbar. Sie sind glatt begrenzt und aufgrund der verlängerten T2Relaxationszeit in der T2-Gewichtung stark hyperintens. Die KM-Aufnahme des Tumors ist sehr variabel. Nebennierenkarzinome. Solche Karzinome sind im Kindesalter selten; sie sind stets hormonaktiv und zum Zeitpunkt der Diagnosestellung vorwiegend große Raumforderungen, die sonographisch und mittels MRT erfasst werden (⊡ Abb. 48.20). Nierentumoren. Da beim Nephroblastom allein klinische
⊡ Abb. 48.18. MRT bei einem 2 Monate alten Säugling mit Neuroblastom: Das oberhalb der Niere gelegene Neuroblastom verlagert die Niere und ihre Gefäße nach kaudal
Parameter und das Ergebnis der Bildgebung eine präoperative Chemotherapie einleiten, müssen mindestens 2 Schnittbildverfahren vorliegen, um die Diagnose zu sichern. Es sind die Ausbreitung des Tumors innerhalb der Niere, der evtl. bilaterale Befall und die perinephritische Ausbreitung des Tumors, der Lymphknotenbefall und die Stadienzugehörigkeit zu definieren. Eine Differenzierung in hoch und niedrig maligne Tumoren gelingt durch die Bildgebung nicht. Im Verlauf nach Chemotherapie werden insbesondere die Abnahme der Vitalität des Tumors und die Zunahme der Nekrosen mittels Sonographie und MRT nachgewiesen. In der MRT werden KM-gestützte Serien zu jeder Kontrolluntersuchung herangezogen. Die Nekrose ist homogen hypointens in der T1-w und stark hyperintens in der T2-w. Vitale Tumoren nehmen Kontrastmittel auf, Nekrosen verhalten sich gegensinnig (⊡ Abb. 48.21 und 48.22). Die Tumorinvasion in die Nachbarorgane sowie der Lymphknotenbefall sind durch die MRT gut darstellbar, wohingegen das Einwachsen des Tumors in die Nierenkapsel häufig nicht eindeutig zu erkennen ist. Nephroblastomatosen können bilateral die Nieren durchsetzen und sind sonographisch darzustellen. Diese Verdachtsdiagnose ist dann mittels MRT zu bestätigen, wenn es sich um multiple, bilaterale hypointense Areale in den Nieren
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⊡ Abb. 48.20. MRT (T2-w axial) bei einem 15-jährigen Mädchen mit Nebennierenkarzinom: große Raumforderung mit heterogener Signalintensität, verdrängendes Wachstum
a
⊡ Abb. 48.21. MRT (T1-w nach KM) bei einem 18 Monate alten Jungen mit doppelseitigem Wilms-Tumor. Zentrale hypointense ausgedehnte Nekrosen, randständige KM-Aufnahme beidseits
b ⊡ Abb. 48.19a, b. MRT des Schädels bei einem 3-jährigen Mädchen mit Neuroblastom Stadium IV. a T1-w: Die hypointense Metastase durchbricht die Dura. b T1-w post KM: irreguläre, insgesamt kräftige KM-Aufnahme. Die Metastase durchsetzt die Kalotte frontal, zusätzlich extrakranielles Wachstum
⊡ Abb. 48.22. MRT (T2-w axial) bei einem 2-jährigen Mädchen mit Wilms-Tumor links: intrarenal rechts bis an die vordere Bauchwand wachsender Tumor heterogener Signalintensität, über die Mittellinie nach rechts wachsend, an die großen Gefäße unmittelbar heranreichend
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b ⊡ Abb. 48.24a, b. MRT bei einem 13-jährigen Mädchen mit Teratom des Ovars. a Koronare STIR-Sequenz: vergrößertes rechtes Ovar, zentral hypointense Masse. b Fettgesättigte T1-w: Das auf der STIR-Sequenz ringförmige Areal ist nach Fettsättigung wie das übrige Fettgewebe signalarm. Beweis des Fettanteils des Teratoms
handelt, die kein KM aufnehmen. Wegen der Transformation nephroblastomatöser Veränderungen zum Wilms-Tumor ist eine konsequente engmaschige bildgebende Überwachung erforderlich (⊡ Abb. 48.23). Eine Differenzierung der verschiedenen histologischen Varianten der Nierentumoren gelingt mittels Kernspintomographie oder Sonographie nicht. Das mesoblastische Nephrom durchsetzt die funktionslose Niere komplett. 48.2.8 Becken Das Teratom zeigt in der MRT ein typisches Signalverhalten. Fett ist nachweisbar durch Fettsuppression, zystische Läsionen und Einblutungen sind eindeutig, Kalzifikationen (⊡ Abb. 48.24) werden vermutet. Alle übrigen Keimzelltumoren können zystische und solide Komponenten aufweisen, sie sind kernspintomographisch nicht weiter zu differenzieren. b ⊡ Abb. 48.23a, b. MRT bei einem Neugeborenem mit Nephroblastomatose. a Koronare T1-w post KM: großer Nephroblastomatoseherd rechts mit Verschiebung der Nierenachse, hypointense Läsion kranial in der linken Niere, ebenfalls einer Nephroblastomatose entsprechend. b Gleiches Kind 2 Jahre später nach Transformation in einen WilmsTumor beidseits. Koronare T2-w: Zustand nach Tumorexstirpation links mit Verbleib einer kleinen Niere, Funktion 30%, vor Tumorexstirpation der rechten, zentral lokalisierten Raumforderung
48.2.9 Extremitäten Osteosarkom. Ein Osteosarkom ist anhand der Bildgebung entsprechend der Häufigkeit seiner Lokalisation zu vermuten. Seine Entstehung zentral in der Metaphyse eines langen Röhrenknochens, seine Ausdehnung im Medullärraum, sein Wachstum in Richtung auf den Kortex und die Anhebung des
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⊡ Abb. 48.25a, b. Übersichtsaufnahme in 2 Ebenen bei einem 11-jährigen Jungen mit Osteosarkom der Ulna: langstreckige Kontinuitätsunterbrechung mit anschließenden Osteolysen, Osteoid produzierender großer Weichteiltumor
a
Periosts sind bildgebend zu erfassen, wie auch das Verhalten zur Epiphysenfuge und das Überschreiten der Gelenkkapsel darstellbar sind. Durchgeführt werden Übersichtsaufnahmen und die MRT. Die CT des Thorax sowie Thoraxübersichtsaufnahmen in 2 Ebenen erfolgen zur Diagnostik der Metastasen, eben so die 99mTc-MDP-Szintigraphie. Auf der Röntgenübersichtsaufnahme imponiert der Tumor als destruktive Läsion metaphysär, mit diffuser Sklerose, feinfleckigen Osteolysen und einer großen Weichteilmasse, innerhalb derer periostale Knochenneubildung und Tumorknochenbildung sichtbar werden (⊡ Abb. 48.25). Das Ausmaß der Sklerose ist abhängig von der Menge des
Osteoids, die der Tumor bildet. Das so genannte »SunburstZeichen« entsteht, indem der Tumor durch den Kortex hindurch wächst und laminäre oder spikulaähnliche periostale Reaktionen hervorruft. Spiculae, die radiär oder fächerförmig angeordnet sind, sind typisch wie auch das so genannte Codman-Dreieck (schichtförmige, nicht solide periostale Ossifikation zwischen der Schulter des Tumors und der Kompakta). Bei lytischen osteogenen Sarkomen reicht der radiologische Aspekt von ausgedehnten Osteolysen bis hin zur diskreten Verdünnung der Trabekuli. Die teleangiektatische Form des Osteosarkoms kennzeichnet einen breiten Durchbruch
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des Tumors in die Weichteile mit asymmetrischer Weichteilreaktion. ! Es gelingt durch bildgebende Verfahren nicht, zwischen osteoblastischem Osteosarkom, chondroblastischem Osteosarkom, fibroblastischem oder teleangiektatischem Tumor zu unterscheiden.
Bei der MRT wird folgende Technik eingesetzt: STIR-Sequenz, T1-w- und T2-w-SE-Sequenzen, Fettsuppression sowie KM, u. U. MR-Angiographie. In dynamischen Untersuchungen (GRE-Sequenzen) erfolgt eine KM-Aufnahme rascher im malignen als im benignen Tumor. Eine eindeutige Differenzierung maligne/benigne gelingt jedoch durch diese Methode nicht. Hinsichtlich des SI-Verhaltens in der MRT ist entsprechend den 4 Subklassen lediglich auszusagen, dass der vorwiegend osteoblastische Tumor in der SI in beiden Gewichtungen herabgesetzt ist, der chondroblastische Tumor in der T2-w eine angehobene SI aufweist, der fibroblastische ist in der T1- und T2-Zeit verkürzt und somit signalgemindert, wohingegen T1- und T2-Zeit im teleangiektatischen Tumor verlängert sein können, entsprechend der vaskulären oder nekrotischen Anteile. Nekrose, Blutung oder Sklerose können Osteosarkome kernspintomographisch vollständig homogen oder extrem heterogen in der Signalintensität erscheinen lassen. Der Tumor, der wenig Osteoid produziert, ist eher signalarm, homogen; der stark Osteoid produzierende Tumor ist heterogen in der SI.
a
! Die wichtigste Aussagen der MRT betreffen die Tumorausdehnung innerhalb des Medullärraums, die Zerstörung des Kortex sowie den Weichteilanteil und dessen Lokalisation zu Gefäßen und Nerven. »Skip lesions«, d. h. innerhalb des gleichen Röhrenknochens gelegene Osteosarkomanteile, können zuverlässig erfasst werden.
Ein Tumor ist im Bereich des Medullärraums um so einfacher abgrenzbar, je älter das Kind ist, d. h. je mehr Fettmark vorhanden ist (⊡ Abb. 48.26). Nur im Bereich des extraossären Tumoranteils ist es möglich, das peritumorale Ödem, das jedes hoch maligne Sarkom umgibt, vom Tumorkern zu differenzieren, im intraossären Tumoranteil gelingt dies nicht. Es kann nur mittels Biopsie unterschieden werden, ob es sich um einen medullären Tumorbefall oder um ein medulläres Ödem handelt. In T1-w-Sequenzen mit Fettsättigung und KM wird der extraossäre Tumoranteil gegenüber der Muskulatur besser abgrenzbar und weitaus besser abgrenzbar gegenüber Fett. In GRE- und fettsupprimierten Sequenzen erscheinen die Nekrosen dunkel, es lässt sich das Gefäßnervenbündel zum Tumor abgrenzen. Vor der Resektion des Tumors kann eine MR-Angiographie u. U. Bedeutung erlangen. Die juxtakortikalen Osteosarkome und das periostale Osteosarkom sind in der MRT nur durch die Aussage zur medullären Beteiligung differenzierbar bzw. über die Länge des Befalls von Periost und Kortex. Ewing-Tumoren. Die aufgrund der Bildgebung vermutete Diagnose basiert auf der Lokalisation und den bildgebenden Charakteristika der pathologisch veränderten Gewebeanteile, die dem Osteosarkom ähnlich sein können.
b ⊡ Abb. 48.26a, b. MRT bei einem 10-jährigen Mädchen mit Osteosarkom des distalen Femurs. a Sagittale T1-w, fettgesättigt, post KM: Der Tumor respektiert die Epiphysenfuge nicht, breites, irregulär begrenztes intramedulläres Wachstum sowie ausgedehnter Weichteiltumor mit hypointensem Tumorosteoid. b Axiale T1-w, fettgesättigt, post KM: Darstellung des Gefäßnervenbündels, an das ein zipfliger Ausläufer des dorsalen Weichteiltumors unmittelbar angrenzt
Initial ist die Röntgenübersichtsaufnahme des Primärtumors in 2 Ebenen erforderlich. Zusätzlich muss der Primärtumor durch ein, besser 2 Schnittbildverfahren, die eine Volumetrie erlauben, untersucht werden, wobei die MRT zur Beurteilung von Knochenmark und Weichteilen sowie zur Lokalisation des Tumors zu Gefäßen und Nerven eingesetzt wird (Technik oben). Unter Umständen kann die CT zur Darstellung herangezogen werden, um die kortikalen knö-
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chernen Läsionen besser zur Darstellung zu bringen. Die CT ist wie die Übersichtsaufnahme des Thorax zur Diagnostik der Metastasen erforderlich, die 99mTc-MDP-Szintigraphie wird gemäß Studienprotokoll ebenfalls durchgeführt.
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! Auf der Übersichtsaufnahme sind die Ewing-Tumoren charakterisiert durch eine kortikale mottenfraßähnliche Destruktion, Osteolysen, singulär oder in breiten Zusammenhang stehend, und eine lamilläre oder zwiebelschalenartige periostale Reaktion sowie einen Weichteilanteil des Tumors.
⊡ Abb. 48.27. Übersichtsaufnahme bei einem 12-jährigen Jungen mit Ewing-Sarkom in der linken Fibula: periostale Ossifikation, zwiebelschalenartig, radiärer Abgang von Spiculae ⊡ Abb. 48.28. MRT (T1-w fettgesättigt, T1-w prae und T1-w post KM koronar) bei einem 16-jährigen Mädchen mit Ewing-Sarkom in der proximalen Tibia: vorwiegend intramedullär wachsender Tumor, Kortikalisarrosion, kein ausgedehnter Weichteiltumor; erhebliche KM-Aufnahme, zentrale Nekrose
25% der Tumoren zeigen Spiculae und ein Codman-Dreieck ( oben). Auch wenn die Ewing-Tumoren medullär beginnen, ist die kortikale Destruktion das dominante radiologische Zeichen (⊡ Abb. 48.27). In diaphysärer Lokalisation besteht meist eine zentral gelegene Läsion, die große Teile der Diaphyse erfassen kann. Die Kortikalis ist laminär destruiert mit u. U. senkrecht abgehenden Spiculae. Während sich Spiculae eher selten finden, ist die extraossäre Weichteilkomponente immer vorhanden. Kalzifikationen innerhalb des Weichteiltumors fehlen meist. Diese charakterisieren jedoch den metaphysär wachsenden Ewing-Tumor, der Spiculae und einen laminär destruierten Kortex aufweist. Innerhalb des bindegewebig präformierten Knochens, z. B. des Os ilium, bestehen laminär aufgebaute periostale Knochenneubildungen wie auch ein u. U. ausgedehnter Weichteilanteil. In der MRT ist der Ewing-Tumor in der T1-w intermediär in der SI, in der T2-w ist die SI angehoben. In Abhängigkeit der histologisch bestehenden pathologischen Gewebekomponenten ist die SI heterogen, u. U. ist in der MRT eine Differenzierung zum Osteosarkom kaum oder gar nicht möglich. Dies gilt auch für die Homogenität oder Heterogenität der Weichteilmasse (⊡ Abb. 48.28). Die charakteristische Zwiebelschalenbildung und die Spiculae werden in der MRT weniger deutlich nachweisbar als in der CT. Die medulläre Ausbreitung des Tumors ist jedoch in der MRT eindeutig besser darzustellen als in der CT. Wie beim Osteosarkom ist auch beim Ewing-Tumor in der MRT die gesamte befallene Extremität darzustellen, um
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primär sonographisch zu untersuchen, eine Destruktion der angrenzenden Knochenstrukturen lässt einen malignen Tumor vermuten, der zusätzlich kernspintomographisch untersucht werden muss (Bohndorf 1991).
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b ⊡ Abb. 48.29a, b. MRT bei einem 8-jährigen Jungen mit Rhabdomyosarkom von der Prostata ausgehend. a Sagittale T2-w: Auftreibung des Blasenhalses, Tumorwachstum vorwiegend im Blasenboden, Blase mit verkleinertem Lumen zusätzlich nach kranial verlagert. Rektum komprimiert. b Axiale T1-w post KM: irreguläres Tumorwachstum in das Blasenlumen
»skip lesions« zu erfassen, die als lokoregionale Metastasen gewertet werden. Zusätzlich werden alle Tumoren sonographisch und duplexsonographisch untersucht. In der Sonographie sind destruierte kortikale Areale innerhalb des Weichteiltumors erkennbar. Bei Untersuchungen im Verlauf weist eine Abnahme der Perfusion auf die Reduktion der Tumorvitalität hin. Ewing-Sarkome, die in den Weichteilen ohne Knochenbeteiligung auftreten, werden bildgebend in dieser Lokalisation sonographisch und in der MRT untersucht. Eine Tumorklassifikation durch bildgebende Verfahren ist nicht möglich. Weichteilsarkome. Rhabdomyosarkome werden primär sonographisch diagnostiziert. Die MRT vermag aufgrund der hohen Gewebskontrastdarstellung meist zu differenzieren, ob das Rhabdomyosarkom vom Blasendach, der Prostata oder aber von der Vagina ausgeht (⊡ Abb. 48.29). Rhabdomyosarkome im Bereich des Gesichtsschädels sind ebenfalls
Mit Hilfe von SPECT, PET und MRT sowie optischer Methoden wie Fluoreszenz und Biolumineszenz ist es möglich geworden, pharmakodynamische und pharmakokinetische Vorgänge bildlich darzustellen. Bei allen Verfahren wird die Applikation eines zur Bildgebung beitragenden Stoffes erforderlich. Während der Interaktion des Stoffes mit dem umgebenden Gewebe wird Energie frei und zur Bildinformation genutzt. Alle Verfahren sind derzeit nur komplementär und keinesfalls kompetitiv zu den übrigen radiologischen Verfahren einzusetzen. In der Gentherapie und in der molekularen Bildgebung werden so genannte Reporter oder Marker appliziert, die als hochspezifische Kontrastmittel agieren und mit einem Zielmolekül in Wechselwirkung treten. Reporter- oder Marker-Gene sind solche, deren Genprodukte sich mit einer bildgebenden Methode nachweisen lassen (Rudin u. Weissleder 2003). Während SPECT und PET durch eine hohe Sensivität, jedoch ein geringes räumliches Auflösungsvermögen charakterisiert sind, ist bei der molekularen MR-Bildgebung bei einer Voxel-Größe von 50 µm in vivo bzw. 10 µm in vitro eine Bildgebung auf annähernd zellulärem Niveau möglich. Die Sensitivität der Methode ist durch neue Kontrastmittel noch zu steigern. Es handelt sich dabei um Eisenoxide, die superparamagnetische Eigenschaften aufweisen. Ihre Suszeptibilitätsunterschiede sind selbst in geringen Konzentrationen innerhalb des Gewebes darstellbar. Werden diese Kontrastmittel an spezifische Liganden gebunden, ist damit eine spezifische MR-Bildgebung möglich. Im einzelnen eignet sich die molekulare MR zur Erfassung von Enzymaktivitäten, Genexpression, Darstellung von Oberflächenrezeptoren und von Immunantworten der Zelle. Fluoreszenz und Biolumineszenz kennzeichnen ein hohes zeitliches Auflösungsvermögen, jedoch eine geringe Eindringtiefe, d. h. diese optischen Techniken sind weiterhin auf oberflächliche Körperregionen beschränkt. Die derzeitige Entwicklung spricht jedoch dafür, dass Fluoreszenz bis zu einer Tiefe von 10 cm einsetzbar werden wird. Das Biolumineszenzverfahren ist als bildgebendes Verfahren beim Menschen derzeit nicht anzuwenden.
Literatur Barkovich AJ (2000) Pediatric neuroimaging. Lippincott Williams &Wilkins, Philadelphia Benz-Bohm G (2005) Kinderradiologie. Thieme, Stuttgart Bohndorf K (1991) MR-Tomographie des Skeletts und der peripheren Weichteile. Springer, Berlin-Heidelberg-New York Cohen MD, Edwards MK (1990) Magnetic resonance imaging of children. Decker, Philadelphia Gore JG (2003) Principles and practice of functional MRI of the human brain. J Clin Invest 112:4–9 Hofmann V, Deeg KH, Hoyer PF (1996) Ultraschalldiagnostik in Pädiatrie und Kinderchirurgie. Thieme, Stuttgart New York
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Allgemeine pädiatrische Onkologie · Diagnostik
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Funktionelle Genomik und Proteomik S. Burdach, M.S. Staege
49.1 49.2
Einleitung – 553 Methoden – 554
49.2.1 49.2.2
Allgemeines – 554 DNA-Microarrays und andere Verfahren zur Analyse des Transkriptoms – 554 Proteomanalyse – 555 Bioinformatik – 555
49.2.3 49.2.4
49.3
Anwendungen
49.3.1 49.3.2 49.3.3
Tumorbiologie – 556 Diagnostik – 556 Selektive Therapie – 556
Literatur
– 556
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»Für die Entstehung der Tumorzelle sind offenbar Vorgänge an bestimmten Strukturen im Zellplasma und Kern entscheidend« (Domagk 1956). Trotz seines Alters hat dieser Satz auch heute noch uneingeschränkte Aktualität. Die Eigenschaften von Zellen und Geweben werden im Wesentlichen durch das Zusammenspiel der in diesen Zellen und Geweben vorliegenden Proteine bestimmt. Unterschiede in der Zusammensetzung und im Zustand dieser Proteine zwischen Tumorzellen und den entsprechenden normalen Zellen sind nach unserer heutigen Vorstellung für Tumorentstehung und -progression entscheidend verantwortlich. Diese Parameter werden durch genetische und epigenetische Mechanismen gesteuert. Die Aufklärung solcher Mechanismen – keineswegs beschränkt auf Fragen der Krebsforschung – ist Gegenstand der relativ neuen Forschungsgebiete der funktionellen Genomik und Proteomik.
49.1
Einleitung
Bereits in den Jahrzehnten vor der Aufklärung der DNAStruktur und der Entschlüsselung des genetischen Kodes wurden vergleichende Untersuchungen zur Biochemie von Tumoren im Vergleich zu Normalgeweben durchgeführt. Hierbei wurden auch quantitative und qualitative Unterschiede im Gehalt an Proteinen und Nukleinsäuren beschrieben (zusammengefasst bei Butenandt u. Dannenberg 1956). Obgleich sich aus einigen dieser Arbeiten langreichende diagnostische und sogar therapeutische Ansätze entwickeln konnten, mussten aufgrund der noch fehlenden technischen Vorraussetzungen die meisten dieser Untersuchungen rein deskriptiven Charakter tragen. Dies trifft insbesondere für diejenigen Arbeiten zu, die die Gesamtheit der in Tumorzellen und normalen Zellen vorliegenden Nukleinsäuren bzw. Proteine ohne Beschränkung auf einzelne Molekülspezies (also das, was wir auf Ebene der Nukleinsäuren als Genom
(DNA) bzw. Transkriptom (RNA) und auf Ebene der Proteine als Proteom bezeichnen) zum Gegenstand haben. Erst der molekularbiologische Wissenszuwachs und die technischen Entwicklungen der letzten Jahre auf molekularbiologischem und proteinbiochemischem Gebiet haben die notwendigen Vorraussetzungen geschaffen, um globale Expressionsanalysen auf RNA- und Proteinebene mit hinreichender Auflösung durchzuführen. Zu diesen Entwicklungen gehört die im Februar 2001 vorläufig veröffentlichte und im Frühjahr 2003 als abgeschlossen präsentierte Sequenzierung des menschlichen Genoms, die als ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte betrachtet wird, weniger weil es sich hier um eine große intellektuelle, als vielmehr um eine gigantische logistische Leistung handelt. Der vorzeitige Abschluss dieses epochalen Projekts beruht auf dem vitalen Wettbewerb zwischen öffentlicher und privat finanzierter Wissenschaft. Sie ist die Grundlage für viele wissenschaftliche Weiterentwicklungen des 21. Jahrhunderts. Eine der wesentlichen Überraschungen des Abschlusses der Sequenzierung des Genoms des Menschen und anderer Spezies war die Entdeckung, dass das menschliche Genom relativ wenige Gene enthält. ! Mit ca. 35.000 Genen verfügt der Mensch nur über unwesentlich mehr Gene als der Fadenwurm Caenorhabditis oder der Kreuzblütler Arabidopsis, und sicherlich über weniger als die Reispflanze (Bennetzen 2002). Eine wesentliche Erkenntnis aus der Sequenzierung der Genome des Menschen und wichtiger Modellorganismen besteht darin, dass komplexeste biologische Funktionen durch eine relativ geringe Zahl verschiedener Gene gesteuert werden.
Während die klassische Genetik und Biochemie bei der Untersuchung von Krankheiten einzelne Gene bzw. Proteine betrachtet, ist es das Ziel der funktionellen Genomik und Proteomik die Gesamtheit des Genoms bzw. Proteoms in einem spezifischen Funktions- oder Krankheitszustand einer Zelle zu analysieren. Erst die Verfügbarkeit der mehr oder weniger kompletten Sequenzinformation des menschlichen Genoms ermöglicht die En-bloc-Analyse dieser Parameter. Ein bedeutendes Werkzeug der funktionellen Genomik und neuerdings auch Proteomik stellen Microarrays dar, mit deren Hilfe die in einer Zelle vorhandenen RNAs bzw. Proteine quantitativ erfasst werden können. Microarrays ermöglichen somit die Beantwortung der Frage, in welcher Zahl die Transkripte oder Proteine in einer Zelle in einem bestimmten Funktions- oder Krankheitszustand vorhanden sind. Hierdurch erlauben Microarrays die Identifikation differenzieller Gen- und Proteinexpressionsprofile zwischen
49
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
zwei Funktionszuständen bzw. einer kranken und einer gesunden Zelle. 49.2
Methoden
49.2.1 Allgemeines
III
Die Analyse des Transkriptoms bzw. Proteoms von Tumorzellen und normalen Vergleichsgeweben stellt zunächst hohe Anforderungen an Probengewinnung und Probenaufarbeitung, da RNA und Proteine außerhalb der lebenden Zelle teilweise außerordentlich instabil sind. Um unkontrollierte Degradation des Materials zu vermeiden, muss daher die Verarbeitung schnellstmöglich erfolgen. Ein weiteres Problem insbesondere bei der Analyse nativer solider Tumorproben ist die Durchsetzung mit nichtmalignem Stroma. Bei der Aufarbeitung unseparierten Tumormaterials werden RNA bzw. Proteine des Stromas mit isoliert, die das Untersuchungsergebnis verfälschen können. Dies muss nicht unbedingt ein Nachteil sein, denn das Stroma besitzt eine unstrittige Bedeutung für die Biologie eines Tumors und Gene, die im Stroma in tumorspezifischer Weise exprimiert werden, können daher für die Aufklärung dieser Biologie durchaus interessant sein und prinzipiell auch therapeutische Zielstrukturen repräsentieren (Erickson u. Barcellos-Hoff 2003). In Fällen, in denen jedoch eine Beschränkung auf in der Tumorzelle selbst vorhandene Transkripte oder Proteine erforderlich ist, ist allerdings eine Separation von Tumorzellen und Stroma notwendig. Mit modernen Methoden der Mikrodissektion ist dies auch möglich (Elkahloun et al. 2002; Knezevic et al. 2001) und prinzipiell die Untersuchung des Expressionsprofils einer geringen Zahl isolierter Tumorzellen technisch realisierbar. Aufgrund der bei derartigen Untersuchungen oftmals notwendigen Amplifikation des Ausgangsmaterials ergeben sich hierbei jedoch besondere Anforderungen an eine Qualitätskontrolle. 49.2.2 DNA-Microarrays und andere Verfahren
zur Analyse des Transkriptoms Definition Grundsätzlich basieren DNA-Microarrays auf der Hybridisierung von entsprechend vorbehandelter und markierter RNA mit DNA-Sonden, die auf einem festen Trägermaterial aufgebracht wurden.
Zur Herstellung von DNA-Microarrays haben im Wesentlichen 3 Technologien Verbreitung gefunden (Schena u. Davis 1999): ▬ Bei photolithographischen Verfahren werden die Oligonukleotidsonden direkt auf der Oberfläche synthetisiert (Fodor et al. 1991). Dieses Verfahren ermöglicht eine hohe Dichte der Sonden und es ist prinzipiell möglich, Microarrays zu konstruieren, die das gesamte menschliche Genom mit einem einzigen Microarray abfragen. ▬ Alternativverfahren auf der Basis der Technologie von Tintenstrahldruckern (Theriault et al. 1999) werden
ebenfalls zur direkten Synthese von Sonden auf der Oberfläche verwendet. Hier können alternativ jedoch auch vorgefertigte Sonden berührungsfrei und punktförmig auf der Oberfläche aufgebracht werden (»spotted arrays«). ▬ Vorgefertigte Sonden werden auch bei dem dritten Verfahren auf die Oberfläche des Microarrays transferiert. Dieses als »microspotting« bezeichnete Verfahren basiert auf der robotergesteuerten direkten Auftragung der Sonden auf die Oberfläche (Schena et al. 1995). Als Sonden können entweder synthetische Oligonukleotide oder cDNA verwendet werden. Im Allgemeinen werden für diese Microarrays längere Sonden verwendet und eine geringere Anzahl an Sonden aufgebracht als auf photolithographisch hergestellten Microarrays. Da im Gegensatz zu photolithographisch hergestellten Microarrays bei letzteren Verfahren keine Masken zur Herstellung benötigt werden, können je nach den Anforderungen des Untersuchers diese Microarrays mit höherer Flexibilität und relativ kostengünstig hergestellt werden. Während der Prozessierung der RNA wird diese direkt oder indirekt fluoreszenzmarkiert, so dass nach der Hybridisierung die Signale der sondengebundenen RNA-Moleküle sichtbar und durch geeignete Bilderfassungsgeräte detektiert werden können. Hierbei können verschiedene Farbstoffe bei der Prozessierung der RNA in verschiedene Proben eingebaut werden. Dies ermöglicht die gleichzeitige Hybridisierung von Microarrays mit 2 Proben verschiedenen Ursprungs, die zuvor mit unterschiedlichen Farbstoffen markiert wurden. Dies kann bei Untersuchungen, bei denen ein paarweiser Vergleich von Proben möglich ist (z. B. Zellen mit Expression eines Transgens versus Zellen ohne diese Expression) hilfreich sein, da durch Hybridisierung dieser Proben auf einem gemeinsamen Microarray experimentell bedingte Unterschiede teilweise minimiert werden können. Größere Probenzahlen, die nicht paarweise geordnet werden können (z. B. Tumorproben größerer Patientenzahlen), werden jedoch sinnvollerweise auf jeweils individuellen Microarrays analysiert, wobei experimentell bedingte Schwankungen durch eine entsprechend große Probenzahl ausgeglichen werden müssen. ! DNA-Microarrays ermöglichen die Analyse des mehr oder weniger kompletten Genexpressionsprofils von Tumoren oder Vergleichsgeweben in jeweils einem einzigen Experiment.
Dies erlaubt die Bearbeitung großer Probenzahlen in relativ kurzer Zeit. Ein Nachteil dieser Analysemethode ist jedoch, dass nur Transkripte nachgewiesen werden können, deren Existenz bereits bekannt ist und für welche Sonden auf dem Microarray vorhanden sind. Alternative Verfahren zur Analyse differenzieller Genexpressionsmuster (z. B. »differential display« etc.) ermöglichen dagegen die Identifikation noch nicht bekannter Transkripte. Ein Nachteil dieser Methoden liegt jedoch in der Beschränkung auf eben diese differenziell exprimierten Transkripte, denn auch diese Gene erfüllen ihre Funktion nur im Zusammenspiel mit anderen, möglicherweise nicht differenziell exprimierten Genen. Eine funktionelle Bewertung
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differenziell exprimierter Gene ist daher letztlich nur in der Zusammenschau des gesamten Transkriptoms möglich. Es gibt Methoden, die die Vorteile der Gesamterfassung der Transkriptominformation und der Unabhängigkeit von Sequenzinformationen vereinen. Hierzu gehört insbesondere die so genannte SAGETechnologie (»serial analysis of gene expression«). Hierbei wird das gesamte Transkriptom einer Probe in Form sogenannter SAGE-tags, kurzer Nukleotidsequenzen, die jedoch lang genug sind, um für einzelne RNA-Spezies spezifisch zu sein, abgebildet. Hierdurch wird, ähnlich wie bei DNAMicroarrays, das komplette Transkriptom abfragbar und zusätzlich auch die Identifikation von Sequenzen möglich, die bislang noch nicht als Gen identifiziert wurden (Ye et al. 2002). Allerdings hat auch diese Technologie gewisse Nachteile: relativ hohe Kosten und relativ hoher experimenteller Aufwand. Diese Nachteile verhindern bislang die generelle Verbreitung dieser Technologie und den Einsatz bei der Analyse größerer Probenzahlen. 49.2.3 Proteomanalyse Inzwischen ist hinreichend bekannt, dass nicht alle zellulären RNAs auch für Proteine kodieren sondern z. T. wesentliche Funktionen insbesondere der Genregulation direkt durch RNA vermittelt werden (Storz 2002). Dennoch sind am Ende Proteine für die charakteristischen Eigenschaften einer Zelle verantwortlich. Die Analyse der Gesamtheit der in einer Zelle exprimierten Proteine (des Proteoms) ist daher für die verschiedensten medizinischen Fragestellungen von außerordentlichem Interesse (Hanash 2003). Leider gibt es kein effizientes und vergleichbar einfaches Pendant zur Hybridisierung von Nukleinsäuren, das für die Proteomanalyse nutzbar wäre. Daher ist die Analyse des Proteoms vergleichsweise experimentell aufwendig und bislang noch nicht mit gleicher Probenzahl durchführbar. Die wesentliche Entwicklung, die die Analyse des Proteoms ermöglichte, war die Beobachtung, dass Proteingemische mit hoher Auflösung trennbar sind, wenn eine normale Gelelektrophorese mit einer isoelektrischen Fokussierung (IEF) kombiniert wird (Klose 1975; O‘Farrell 1975). Bei der hierbei zunächst durchgeführten IEF (1. Dimension) erfolgt eine Trennung von Proteinen aufgrund ihrer isoelektrischen Punkte. Anschließend wird das Material mit den getrennten Proteinen auf ein normales SDS (Natriumdodecylsulfat)-Gel aufgebracht. Hier erfolgt eine Trennung der Proteine entsprechend ihrem Molekulargewicht (2. Dimension). Da die Wahrscheinlichkeit dafür, dass 2 Proteine in beiden Parametern (isoelektrischer Punkt und Molekulargewicht) gleich sind, ausgesprochen gering ist, erlaubt diese zweidimensionale Gelelektrophorese die Trennung und anschließende Visualisierung von komplexen Proteingemischen, wie sie in einer Zelle vorliegen. Wird diese Analyse unter immer identischen Bedingungen durchgeführt, so finden sich identische Proteine immer an der gleichen Stelle auf dem Gel wieder und durch Vergleich von Proben unterschiedlicher Herkunft lassen sich differenziell vorkommende Proteine zunächst visualisieren. Um diese Methode zur Proteomanalyse mit praktischem Nutzen einsetzten zu können, war es jedoch notwendig,
Methoden zur Identifikation der nachgewiesenen Proteine zu entwickeln. Dies ist inzwischen mit modernen Verfahren der Mikrosequenzierung und Massenspektrometrie möglich. Hierdurch lassen sich Teilsequenzen aus identifizierten Proteinen bestimmen und durch anschließende Datenbankrecherche die Zuordnung dieser Sequenzen zu bekannten Proteinen vornehmen. Auch hier wird deutlich, welche Bedeutung die Sequenzierung des humanen Genoms hat, denn die hierdurch zur Verfügung stehende Information ermöglicht erst die Identifikation jeder einzelnen Sequenz. Motiviert durch die Erfolge der Microarray-Technologie auf dem Gebiet der Transkriptomanalyse findet diese Technologie auch zunehmend Anwendung bei der Analyse des Proteoms (MacBeath 2002). So wurden Microarrays, die anstelle von DNA-Sonden ein Spektrum proteinspezifischer Antikörper tragen, entwickelt, allerdings mit weit weniger unterschiedlichen Spezifitäten, als dies bei DNA-Microarrays der Fall ist (Knezevic et al. 2001; Kusnezow et al. 2003). Der Einsatz von Microarray-Technologien ist jedoch nicht auf den Nachweis der entsprechenden Proteine beschränkt. In einer Reihe von Arbeiten der letzten Jahre (zusammengefasst bei MacBeath 2002) wurde diese Technologie auch für Funktionsstudien genutzt. In diesen Fällen wurden Proteine, deren Funktion untersucht werden sollte, quasi als Sonden auf Microarrays aufgebracht. Dies ermöglicht beispielsweise die Identifikation von Protein-Protein-Interaktionen in Multiproteinkomplexen oder von Enzym-Substrat-Wechselwirkungen. 49.2.4 Bioinformatik Ein fundamentales methodisches Probleme von Transkriptom- und Proteomanalysen besteht darin, dass die Experimente eine überwältigende Datenflut liefern. Der Untersucher scheitert an der Masse der Daten, sofern sie nicht durch geeignete bioinformatische Prozessierung aufbereitet werden (Alizadeh 2001; Boguski u. McIntosh 2003; Butte 2002; Orr u. Scherf 2002). Neben Fragen der Normalisierung und Standardisierung der Rohdaten hat sich die Bioinformatik v. a. mit der Klassifikation von Krankheitsgruppen sowie der Identifikation neuer Krankheitsgruppen beschäftigt. Hierzu wurden zahlreiche unterschiedliche Verfahren entwickelt, die je nach Fragestellung nebeneinanderstehend ihre Berechtigung haben. Eine abschließende Beurteilung über den Wert dieser einzelnen Verfahren, die auf identische Rohdaten angewendet zu teilweise wesentlich verschiedenen Ergebnissen führen, ist zur Zeit noch nicht möglich. Neben der Identifikation neuer Klassen und der Zuordnung einzelner Proben zu definierten Klassen ist in der angewandten Forschung die Identifikation von therapeutischen Zielstrukturen von fundamentaler Bedeutung. Für die Analyse der Daten können sowohl klassische statistische Methoden verwendet werden, die jedoch durch die hohe Anzahl der Untersuchungsvariablen (Sonden) im Vergleich zur Probenzahl eingeschränkt einsetzbar sind, als auch von statistischen Methoden unabhängige Verfahren, die sich für praktische Zwecke bewährt haben. So lässt sich beispielsweise Überexpression durch Vergleich von Perzentilen von Expressionsdaten interessierender Zielstrukturen in kranken und gesunden Zellen definieren.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
49.3
Anwendungen
49.3.1 Tumorbiologie
III
Das unterschiedliche biologische Verhalten von Tumorzellen im Vergleich zu normalen Zellen und von Tumorzellen unterschiedlicher Tumoren untereinander spiegelt sich im Gen- und Proteinexpressionsprofil dieser Zellen wieder. Durch vergleichende Analyse derartiger Expressionsprofile lassen sich somit in vielen Fällen Hinweise auf pathogenetische Mechanismen finden. So erlaubt die differenzielle Genexpressionsanalyse von Tumorzellen und ihren normalen histogenetischen Korrelaten die Identifikation von regulatorischen Molekülen und die Etablierung von regulatorischen Modellen der Pathogenese der Tumorerkrankung. Eine besondere Bedeutung besitzen derartige Analysen darüber hinaus für das Verständnis der Wirkungsweise einzelner Gene, für die eine Beteiligung an der Tumorentstehung vermutet wird. Der Vergleich von Gen- bzw. Proteinexpressionsmustern von Zellen, die derartige Gene z. B. als Transgen exprimieren, mit solchen Zellen, die diese Gene nicht exprimieren, erlaubte in zahlreichen Fällen Einblicke in die durch diese Gene verursachten Veränderungen in Tumorzellen (Liebig et al. 2005; Menssen u. Hermeking 2002; Nishimori et al. 2002; Schuhmacher et al 2001; Shiio et al. 2002; Shtutman et al. 2002; Watson et al. 2002). Ein zur Zeit noch unbefriedigend gelöstes Problem hierbei stellt die relative Unzuverlässigkeit von diesen Untersuchungsmethoden dar. So wird vermutet, dass mit den heute verfügbaren Technologien nur mittelstark bis hoch exprimierte Gene detektiert werden. Diese mögen für viele Fragestellungen auch die im wesentlichen relevanten Gene sein, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Gene mit niedriger Expression für die Biologie der untersuchten Zelle von entscheidender Bedeutung sind (Evans et al. 2002; Ishi et al. 2000). Andererseits muss die mit DNA-Microarrays gemessene Expressionsstärke nicht notwendigerweise mit der Stärke der Expression des korrespondierenden Proteins korrelieren (Futcher et al. 1999; Griffin et al. 2002; Gygi et al. 1999); darüber hinaus können einzelne Sonden aufgrund von Fehlhybridisierungen falsch positive Resultate ergeben. Es ist daher notwendig, die mittels DNA-Microarrays identifizierten Transkripte mit Hilfe unabhängiger Verfahren auf RNA- (z. B. mittels Polymerase-Kettenreaktion oder In-situ-Hybridisierung) und möglichst auch auf Proteinebene (z. B. bei Verfügbarkeit entsprechender Antikörper mittels Immunhistochemie oder Immunoblot) zu verifizieren. 49.3.2 Diagnostik ! Neben der Klärung der biologischen Relevanz differenziell exprimierter Gene ermöglicht die DNAMicroarray-Analyse eine molekulare Klassifikation von Erkrankungen. Es ist bereits absehbar, dass die funktionelle Genomik die Klassifikation von Erkrankungen revolutionieren wird. Die Klassifikation von Erkrankungen aufgrund von klinischen oder histologisch-morphologischen Ähnlichkeiten wird abge-
löst durch eine Klassifikation, die durch Homologien im Profil des genetischen Informationsflusses definiert ist.
Einzelne molekulare Marker (z. B. translokationsbedingte Fusionstranskripte) werden bereits heute in der Routinediagnostik verwendet (z. B. Kojima et al. 2002; Liang et al. 2002; Peter et al. 2001). Jedoch sind nicht für alle Tumorerkrankungen molekulare Marker bekannt und selbst bei relativ gut charakterisierten molekularen Markern werden immer wieder neue Varianten beschrieben, die mit den etablierten Verfahren nicht nachweisbar sind. Globale Expressionsanalysen erlauben hier eine Diagnosefindung auch dann, wenn einzelne Marker nicht exprimiert sind. So wie ein Ausschnitt einer Photographie oftmals ausreicht um die sich dahinter verbergende Persönlichkeit zu erkennen, ist es bei Anwendung entsprechender bioinformatischer Verfahren möglich, Genexpressionsprofile eindeutig einzelnen Tumorentitäten zuzuordnen, auch wenn einzelne Tumoren aufgrund biologischer oder experimenteller Variabilität im Detail von prototypischen Genexpressionsprofilen für diese Tumorentität abweichen. Unterschiedliche Algorithmen für die Bearbeitung derartiger Fragestellungen wurden entwickelt und teilweise an identischen Rohdatensätzen evaluiert. Wenngleich die einzelnen Algorithmen zu leicht unterschiedlichen Ergebnissen führen (insbesondere in Bezug auf die Zahl der Gene, die benötigt werden, um zwischen verschiedenen Tumorentitäten unterscheiden zu können), so besteht doch große Übereinstimmung darin, dass Unterschiede in Genexpressionsprofilen auch von solchen Tumoren bestehen, die histologisch nur schwer zu unterscheiden sind und eine molekulare Zuordnung erlauben, und dass für einzelne Erkrankungen spezifische Signaturen im Genexpressionsprofil definierbar sind. Ein schönes Paradigma für eine derartige molekulare Klassifikation bietet die Gruppe der »klein-rund-blauzelligen Tumoren« (Ewing-Tumoren, Rhabdomyosarkome, Neuroblastome, Lymphome), die histologisch teilweise schwierig zu diagnostizieren sind, über ihre Genexpressionsprofile jedoch eindeutig zu differenzieren sind (Khan et al. 2001; Schäfer et al. 2002; Staege et al. 2003, 2004; Tibshirani et al. 2002; Wai et al. 2002). Zusätzlich konnte in mehrerer Fällen gezeigt werden, dass globale Genexpressionsanalysen innerhalb von Patientengruppen mit einzelnen Tumorerkrankungen solche Patienten identifizieren können, die eine gute bzw. schlechte Prognose haben (z. B. Beer et al. 2002; Ohali et al. 2004; van der Vijver et al. 2002; Yeoh et al. 2002). Es besteht die Hoffnung, dass dies in Zukunft zu einer molekular begründeten und patientenangepassten Therapie bei insgesamt reduzierter Toxizität führen kann. 49.3.3 Selektive Therapie Die Identifikation von selektiven Zielstrukturen auf neoplastischen Zellen ermöglicht die Entwicklung mannigfaltiger Strategien der selektiven Therapie dieser Erkrankungen (⊡ Abb. 49.1), wie dies in Einzelfällen bereits demonstriert wurde (Weinschenk et al. 2002; Yagyu et al. 2002).
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⊡ Abb. 49.1. Mögliche Wege zur Ausnutzung von Expressionsanalysen zur Entwicklung neuer therapeutischer Strategien. Durch globale Expressionsanalysen (z. B. DNA-Microarray-Analysen) identifizierte und mittels unabhängiger Verfahren (z. B. mittels PCR, in-situ-Hybridisierung, Immunhistochemie, Immunoblots) verifizierte potenzielle Zielmoleküle können bei Vorliegen einer essenziellen Funktion für die Zelle funktionell (z. B. mittels Kinaseinhibitoren, Proteaseinhibitoren) oder auf Expressionsebene (z. B. mittels Ribozymen oder siRNA) inaktiviert werden. Zusätzlich können diese Moleküle je nach Lokalisation entweder für die Zielfindung zytotoxischer Agenzien (toxin- oder radionuklidmarkierter Antikörper bzw. spezifischer Liganden, onkolytischer Viren) oder für die Stimulation antigenspezifischer Effektorzellen eingesetzt werden. Langfristiges Ziel ist es, nach entsprechenden Untersuchungen in vitro und nötigenfalls in geeigneten Tiermodellen, die neuen Zielstrukturen innerhalb kontrollierter klinischer Studien einzusetzen
Zielstrukturen mit essenzieller Bedeutung für Wachstum bzw. Überleben der Tumorzelle können durch Funktionsinhibition (wie z. B. durch Kinaseinhibitoren) bzw. Expressionsinhibition (z. B. durch Antisense-Strategien, Ribozyme oder RNA-Interferenz) ausgeschaltet werden (Agami 2002; Kashani-Sabet 2002; Oberbauer 1997; Pindola u. Zarowitz 2002; Sawyers 2002). Handelt es sich um Oberflächenstrukturen, können Antikörper gegen diese Zielstrukturen hergestellt werden, wie diese bereits in die klinische Praxis Eingang gefunden haben (Milenic 2002). Hier kann im Falle von funktioneller Bedeutung dieser Zielstrukturen für das Überleben der Zelle alleine die Blockade der Funktion durch den Antikörper den therapeutischen Effekt erzielen. In anderen Fällen ist die Kopplung der Antikörper an geeignete Wirkstoffe (Radionuklide, Toxine) möglich. Eine neuerlich an Aktualität gewinnende Therapiestrategie stellt der Einsatz onkolytischer Viren dar (Mullen u. Tanabe 2002). Für die Konstruktion derartiger Viren stellen mit Hilfe von Methoden der funktionellen Genomik und Proteomik identifizierte tumorspezisch exprimierte Proteine potenzielle Zielstrukturen sowohl für den Eintritt in die Tumorzelle als auch für die tumorzellspezifische Aktivierung des lytischen Programms dieser Viren dar (z. B. durch Verwendung entsprechender Promotoren von tumorspezifisch exprimierten Genen).
⊡ Abb. 49.2. Allogene zytotoxische T-Lymphozyten (CTL) als zelluläre Immunotherapeutika. CTL werden zusammen mit allogenen Stimulatorzellen, die zuvor mit Peptiden aus einem geeigneten Antigen stimuliert wurden, inkubiert. Bei Vorliegen eines HLA-Mismatches zwischen den CTL und den Stimulatorzellen werden neben allospezifischen auch allorestringierte CTL mit Spezifität für die verwendeten Peptide aktiviert. Nach Selektion dieser Zellen (z. B. mittels Grenzverdünnungsverfahren) können diese peptidspezifischen Zellen im Sinne eines adoptiven Transfers eingesetzt oder der entsprechende T-Zellrezeptor (TcR) kloniert und als Transgen in Zellen des zu behandelnden Patienten eingeführt werden. (Nach Staege u. Burdach 2003)
Die Entwicklung von spezifischen Medikamenten für Tumorerkrankungen oder genetische Erkrankungen im Kindesalter ist durch die Zulassungs- und Entwicklungsaufwendungen für Medikamente unter den heutigen Regulierungsbedingungen des pharmazeutischen Marktes nur in Einzelfällen möglich. Die funktionelle Genomik und Proteomik und insbesondere der Einsatz von MicroarrayTechnologien zur Entdeckung von neuen Zielstrukturen für kausal in den genetischen Informationsfluss eingreifende Medikamente gewinnt hierdurch besondere Bedeutung. Dieses Konzept wird als Therapiestrategie z. B. durch Entwicklung von monoklonalen Antikörpern Verbreitung finden, die gegen Zielstrukturen gerichtet sind, die durch Methoden der funktionellen Genomik und Proteomik identifiziert wurden. Erwähnenswert ist die Nutzung von selektiven Zielstrukturen für eine zelluläre Immuntherapie. Zelluläre Zielstrukturen können unter Berücksichtigung der HLA-Eigenschaften des Patienten auf Peptide untersucht werden, die durch die Moleküle des jeweiligen HLA-Haplotyps besonders effizient präsentiert werden können (Weinschenk et al. 2002). Durch geeignete Verfahren können sowohl tumorspezifische autologe als auch tumor- und gewebespezifische allorestringierte T-Zellen (Morris et al. 2003; Sadovnikova et al. 2002) angereichert oder durch Gentransfer hergestellt werden, die bei dem Patienten therapeutisch zum Einsatz kommen können (⊡ Abb. 49.2). Durch die Identifikation neuer Zielstrukturen für die Pharmako-, Immun- und Gentherapie von Krebserkrankungen können die funktionelle Genomik und Proteomik neue therapeutische Optionen auch für krebskranke Kinder eröffnen.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Diagnostik
Literatur
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559 49 · Funktionelle Genomik und Proteomik
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49
Chemotherapie L. Kager, C. Langebrake, U. Kastner
III 50.1
Grundlagen der Chemotherapie – 560
50.1.1 50.1.2
Das Problem der optimalen Dosis Polychemotherapie – 561
50.2
Klinische Pharmakologie
50.2.1 50.2.2 50.2.3 50.2.4 50.2.5 50.2.6 50.2.7
Wirkungsmechanismen von Zytostatika – 562 Resistenz und In-vitro-Resistenztestung – 562 Unerwünschte Wirkungen – 562 Pharmakokinetik und Pharmakodynamik – 563 Pharmakogenetik – 563 Applikation – 564 Arzneimittelinteraktionen – 564
– 561
50.3
Antimetabolite – 565
50.3.1 50.3.2
Antifolate: Methotrexat – 565 Nukleosidanaloga und Nukleosidbasen
50.4
Alkylanzien und nicht-klassische alkylierende Substanzen – 567
50.4.1 50.4.2 50.4.3 50.4.4 50.4.5
Stickstofflost-Derivate – 567 Ethyleniminderivate – 568 Alkylalkansulfonat – 568 N-Nitrosoharnstoffderivate – 568 Sonstige alkylierende Substanzen – 568
50.5 50.6 50.7
Cisplatin und Carboplatin – 569 Anthrazykline und Anthracendione – 569 Zytostatische Antibiotika aus Streptomyces-Arten – 570 Vincaalkaloide – 570 Epipodophyllotoxine – 570 Camptothecine – 571 Glukokortikoide – 571 L-Asparaginase und Pegaspargase – 571 All-trans-Retinsäure – 572 Gezielte Therapie – 572 Vermeidung und Behandlung wichtiger unerwünschter Wirkungen – 572
50.8 50.9 50.10 50.11 50.12 50.13 50.14 50.15
50.1
Grundlagen der Chemotherapie
– 560
– 566
50.15.1 Akut vital bedrohliche unerwünschte Wirkungen – 572 50.15.2 Nicht vital bedrohliche unerwünschte Wirkungen – 573
Literatur und wichtige Websites – 575
»How is it that we know so little, given that we have so much information?« (Noam Chomsky). Gerade auf dem Gebiet der molekularen Medizin und Pharmakologie ist ein enormer Wissenszuwachs zu verzeichnen, der neue therapeutische Perspektiven eröffnet. Trotzdem erfolgt der Einsatz der Chemotherapie derzeit noch weitgehend empirisch. Dieses Kapitel soll zur rationalen Anwendung der Chemotherapie beitragen.
Die onkologische Chemotherapie orientierte sich lange am Modell der antimikrobiellen Chemotherapie mit dem Ziel, entartete maligne Zellen abzutöten ohne andere Körperzellen zu schädigen. Dies setzt Unterschiede zwischen malignen und normalen Zellen voraus. Das wichtigste Diskriminierungsmerkmal war die Proliferationskinetik. So entwickelte Zytostatika haben sich als sehr wirksam erwiesen und ihre Anwendung hat wesentlich zum Erfolg in der pädiatrischen Onkologie beigetragen, allerdings mit dem Preis einer teilweise lebensbedrohlichen Toxizität aufgrund der geringen Spezifität. Basierend auf dem Wissenszuwachs im Bereich der Molekularbiologie sind zahlreiche Strategien zur Verbesserung der spezifischen Wirkung entwickelt worden (Barinaga 1997). Auch das Dogma der Zellabtötung ist in Frage gestellt (»Must we kill to cure?«), da prinzipiell auch eine Veränderung des malignen Phänotyps, beispielsweise durch Induktion der Differenzierung therapeutisch wirken kann (Schipper et al. 1995). Obwohl einige auf diesen Prinzipien basierenden Substanzen bereits erfolgreich klinisch eingesetzt werden ( Abschn. 50.13 und 50.14), wird die konventionelle Chemotherapie in nächster Zeit auch weiterhin eine tragende Rolle in der Therapie von Malignomen bei Kindern und Jugendlichen spielen. 50.1.1 Das Problem der optimalen Dosis Das Dosierungsproblem wird bei zytostatischen Substanzen besonders evident, da sowohl Über- als auch Unterdosierung potenziell letal sind. Basierend auf In-vitro-Analysen der Zellabtötung wurde das Modell der maximalen Dosisintensität (Dosis pro Zeiteinheit) erstellt. »If a little is good, then more is better« (Kamen et al. 2000). Demnach ist die therapeutische Wirkung umso besser, je höher die Dosisintensität des wirksamen Zytostatikums ist. Die maximal tolerable Dosis (MTD) wird durch Dosistitration im Rahmen von Phase-I-Studien ermittelt. In Phase-II-Studien wird der Effekt der MTD in Patienten geprüft. Obwohl das Modell der maximalen Dosisintensität für viele Situationen zutrifft, ist es nicht generell anwendbar. Das bessere Verständnis pathologischer Prozesse, wie beispielsweise das der Tumorgefäßversorgung, und klinische Beobachtungen im Rahmen von Hochdosistherapien zeigen die Schwächen auf. »More really is not better« (Fidler u. Ellis 2000). Durch Anwendung rationaler Strategien (z. B. Pharmakogenomik) sollte es künftig möglich sein, die Dosisfindung zu optimieren.
561 50 · Chemotherapie
50.1.2 Polychemotherapie Schon früh wurde der Vorteil der kombinierten Gabe von Zytostatika offensichtlich. Sowohl die Rate als auch die Dauer der Remissionen konnten bei Kindern mit Leukämien durch Kombination mehrerer Zytostatika signifikant verbessert werden. Ergebnisse der molekularen Pharmakologie unterstützen das Konzept weitgehend. So wird die Polychemotherapie der Heterogenität im Tumorgewebe weit besser gerecht und die Selektion resistenter Zellen kann unterdrückt werden. Unterschiede im Toxizitätsprofil und im zellulären Wirkmechanismus sind ebenfalls von Vorteil. Zu bedenken sind potenziell negative Wechselwirkungen, da verschiedene Zytostatika beispielsweise über gleiche Transporter in Zielzellen gelangen können. Auch die Sequenz der Gabe ist wichtig. Fludarabin und Cytarabin wirken in Zielzellen durch Interaktion im Metabolismus je nach Zeitpunkt der Gabe synergistisch oder antagonistisch (Woo et al. 1999).
⊡ Abb. 50.1. Zielstrukturen klassischer Zytostatika. Die häufigsten Zielmoleküle sind die Nukleinsäuren, Desoxyribonukleinsäure (DNA) und Ribonukleinsäure (RNA). Diese können direktes (z. B. Alkylanzien) oder indirektes (z. B. Antimetabolite) Ziel sein. Topoisomerasen sind
Das Konzept der Polychemotherapie wird limitiert durch die Erkenntnis, dass die zelltoxische Wirkung nicht nur auf substanzspezifischen, direkt zellabtötenden Mechanismen, sondern auch auf der Aktivierung und Exekution allgemeiner Zellstress-Signalwege beruht. Störungen in diesem Programm (gemeinsame Endstrecke) führen zu unspezifischer Resistenz ( Abschn. 50.2.2), die durch Polychemotherapie nicht einfach überwunden werden kann (Johnstone et al. 2002). 50.2
Klinische Pharmakologie
Die Aufgabe der klinischen Pharmakologie ist die Generierung und Bereitstellung von Daten, die einen möglichst effizienten Einsatz der Chemotherapie ermöglichen.
Zielstruktur für Epipodophyllotoxine, Camptothecine und Anthrazykline. Glukokortikoide binden im Zellplasma an Glukokortikoidrezeptor, Vincaalkaloide binden an Mikrotubuli und Spindelapparatvorstufen. Asparaginase bindet extrazellulär an Asparagin
50
562
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
50.2.1 Wirkungsmechanismen von Zytostatika
III
Zytostatika binden an verschiedene Zielstrukturen, Moleküle mit diversen wichtigen biologischen Funktionen (⊡ Abb. 50.1). Die Bindung an diese Zielmoleküle verursacht letztlich Zellschäden. Schwere Schäden können Zellen direkt abtöten. Häufiger werden jedoch nicht akut letale Schäden gesetzt, die zur Aktivierung und Exekution von Zellstress-Signalwegen, u. a. auch zur Apoptose, führen ( Abb. 50.2; Johnstone et al. 2002). 50.2.2 Resistenz und In-vitro-Resistenztestung Spezifische und unspezifische Resistenz. Zytostatikaresistenz kann zahlreiche Ursachen haben, die in Übersichten ausführlich dargestellt sind (Gottesman 2002; Gottesman et al. 2002; Johnstone et al. 2002). Man unterscheidet zwischen klassischer Resistenz und Resistenz durch Störung der Effektormechanismen. Während erstere spezifisch (Bildung von Antikörpern, gestörter spezifischer Membrantransport, verstärkte Expression der Zielmoleküle etc.) oder unspezifisch (Elimination durch Transporter wie ABC-Transporter, intrazelluläre pH-Wertänderung, unspezifische Detoxifikation etc.) sein kann, führen Störungen der Zellstress-Signalwege (gemeinsame Endstrecke) zu unspezifischer Resistenz. Mechanismen der klassischen Resistenz verhindern die Entstehung von Zellschäden (⊡ Abb. 50.2), Störungen im Bereich der Effektormechanismen verhindern nicht den Zellschaden (meist eine DNA-Schädigung) per se, sondern u. a. die Aktivierung und Exekution der Apoptose (»damage without death«). Dies begünstigt die Entstehung von Mutationen, die den malignen Phänotyp verstärken können (Johnstone et al. 2002). Resistenz kann a priori vorhanden sein oder induziert werden. Störungen der DNA-Reparatur-
⊡ Abb. 50.2. Zytostatika binden an Zielstrukturen, wodurch Zellschäden gesetzt werden. Je nach Schwere des Zellschadens werden Zellen direkt abgetötet (»catastrophic death«) oder es werden Zellstress Signalwege aktiviert, die zum Zelltod durch Apoptose, aber auch zu Zellzyklus Störungen mit Langzeitarretierung führen. Geringe Zellschäden werden manchmal repariert, besonders wenn Störungen
mechanismen können ebenfalls zur Resistenz beitragen (Claij u. te Riele 1999). Auch für neuere Substanzen wie etwa Imatinib sind Resistenzen bekannt (Gambacorti-Passerini et al. 2003). Weitere Details finden sich in den jeweiligen Abschnitten der Arzneistoffe. In-vitro-Resistenztestung. Mit Hilfe des MTT-Tests (Dime-
thyl-Thiazoldiphenyltetrazolium-Bromid) kann die Sensibilität von Zellen auf Zytostatika untersucht werden (Zytotoxizitätstest). Dabei wird die Fähigkeit mitochondrialer Dehydrogenasen vitaler Zellen ausgenutzt, wasserlösliche Tetrazoliumsalze in unlösliches Formazan zu reduzieren. Dessen Absorption kann, nach Solubilisierung der Formazankristalle, spektrophotometrisch bestimmt werden, wobei die Konzentration des entstandenen Formazans ein Maß für den Anteil vitaler Zellen darstellt. ! Der MTT-Assay besitzt prognostische Wertigkeit und wird in manchen Therapieprotokollen zur Behandlung akuter lymphoblastischer Leukämien (ALL) zur Stratifizierung verwendet (Janka-Schaub et al. 1999).
Ein analoges Prinzip liegt dem WST-1-Test (IodophenolNitrophenol-Tetrazolio-Benzoldisulfonat) zugrunde. Eine funktionelle Analyse der Aktivität der Effluxpumpe P-Glykoprotein, die über das MDR1-Gen (»multi-drug resistance«) exprimiert wird, kann mit Rhodamin 123 erfolgen. Der BrdU-Test (5-Bromo-2′-deoxyuridin) dient zur Quantifizierung des Zellwachstums. 50.2.3 Unerwünschte Wirkungen Aufgrund der geringen Spezifität konventioneller Zytostatika treten oftmals lebensbedrohliche unerwünschte Wirkungen
im Bereich der Effektormechanismen vorliegen. Mechanismen der klassischen Zytostatikaresistenz behindern die Zytostatikum-Zielstruktur-Interaktion und damit die Entstehung eines Zellschadens. Resistenz bedingt durch Störungen im Bereich der Effektormechanismen verhindert nicht den Zellschaden selbst, sondern nur die Exekution z. B. der Apoptose (»damage without death«)
563 50 · Chemotherapie
⊡ Tabelle 50.1. Wichtige pharmakokinetische Begriffe
Bezeichnung
Abkürzung(en)
Einheit
Definition
Bioverfügbarkeit
F (Fraktion)
Prozent (%)
Ausmaß in dem ein Pharmakon nach extravasaler Applikation (z. B. oral) freigesetzt und resorbiert wird und schließlich am Wirkort verfügbar ist.
Verteilungsvolumen
Vd (»volume of distribution«)
Milliliter (ml)
Jenes Flüssigkeitsvolumen, das erforderlich ist, um das im Organismus befindliche Pharmakon in der gleichen Konzentration zu lösen wie im Plasma; Substanzcharakteristikum.
Halbwertszeit
HWZ, T1/2
Zeiteinheiten (meist h)
Die Zeit, nach der die Plasmakonzentration einer Substanz auf die Hälfte abfällt. Ermöglicht eine grobe Abschätzung wie schnell eine Substanz eliminiert wird. Die meisten Substanzen sind nach 5 Halbwertszeiten vollständig ausgeschieden.
Fläche unter der Kurve
AUC (»area under the curve«)
Konzentration × Zeit (z. B. µM × h)
Maß für die Wirkmöglichkeit eines Pharmakons; Bestimmung (Integration) der Konzentrationen eines Pharmakons über den gesamten Zeitraum seiner Anwesenheit im Körper. Es ist zu beachten, dass die AUC nur die Plasmaspiegel eines Zytostatikums wiedergibt, und damit nur eine allenfalls lose Korrelation zwischen Wirkung und AUC besteht.
Clearance
Cl
Volumen pro Zeit (z. B. ml/min)
Maß für die Elimination eines Pharmakons. Die Gesamt-Clearance ist die Summe aller Eliminationswege (z. B. renale, hepatische etc.). Die meisten Medikamente werden entsprechend einer Kinetik 1. Ordnung eliminiert, d. h. pro Zeiteinheit wird ein konstanter Anteil der Substanz eliminiert.
Biotransformation
–
–
Beschreibt den enzymatischen Metabolismus (Aktivierung einer unwirksamen Substanz = Anabolismus, Inaktivierung einer aktiven Substanz = Katabolismus) eines Pharmakons. Durch metabolische Reaktionen wird eine lipophile Substanz wasserlöslicher gemacht. Die dafür notwendigen Reaktionen werden in Phase-1- (Oxidation, Reduktion etc.) und Phase-2-Reaktionen (Kopplungsreaktionen: z. B. Glukuronidierung etc.) unterteilt.
auf. Besonders geschädigt werden Zellen mit hoher Proliferationsrate (hämatopoetische Zellen, intestinale Epithelien und Haar-Matrixkeratinozyten). Ergebnisse aus Tierversuchen weisen auf eine wichtige Rolle von p53 in der Pathogenese hin. Zellschäden nach zytostatischer Therapie sind in p53-Knockout-Mäusen wesentlich geringer ausgeprägt als in Wildtyptieren. Zudem fand sich in unterschiedlichen Geweben eine direkte Korrelation zwischen p53-Expression und Zellschaden. Da Tumorzellen häufig p53-defizient sind, könnte die Gabe von p53-Inhibitoren selektiv zu einer Schadensbegrenzung in normalen Geweben führen. Diese Hypothese wurde im Tierversuch durch Gabe von Pifithrin-α (Inhibitor der p53-Transkriptionsaktivierung) erfolgreich getestet (Johnstone et al. 2002). Die Kombination eines genotoxischen Zytostatikums mit einem Apoptoseinhibitor ist jedoch in Hinsicht auf Sekundärmalignome besonders bei Kindern sehr bedenklich. Details zu unerwünschten Wirkungen sind ausführlich bei den einzelnen Zytostatika sowie im Abschn. 50.15 beschrieben.
Organismus untersucht. Eine Schwierigkeit ist, dass der wichtigste PD-Endpunkt der Chemotherapie, die Heilung der behandelten Patienten, erst nach Jahren bestimmt werden kann. Die klassische PK bediente sich des LADME-Modells (Liberation, Adsorption, Distribution, Metabolismus, Elimination). Wichtige PK-Parameter und deren kurze Beschreibung finden sich in ⊡ Tabelle 50.1. Neue Konzepte versuchen Limitationen im klassischen LADME-Modell zu überwinden. Integration von PK- (Konzentration pro Zeit) und PD-Daten (Wirkung pro Konzentration) im so genannten PK/PDModelling ermöglichen die Analyse von Wirkung-pro-ZeitProfilen. Methoden wie Mikrodialyse und bildgebende Verfahren (z. B. Positronenemissionstomographie) erlauben Konzentrationsbestimmungen im Zielgewebe (ZielgewebsPK; Müller et al. 2001). Auf Details bezüglich des therapeutischen Drug monitorings (TDM) muss aus Platzgründen auf die Spezialliteratur verwiesen werden (Hon u. Evans 1998). 50.2.5 Pharmakogenetik
50.2.4 Pharmakokinetik und Pharmakodynamik Im Rahmen der Pharmakokinetik (PK) wird die Wirkung des Organismus auf ein Pharmakon, im Rahmen der Pharmakodynamik (PD) die Wirkung des Pharmakons auf den
Die Pharmakogenetik versucht, erblich bedingte interindividuelle Unterschiede von Arzneimittelreaktionen durch Sequenzvariationen in Zielgenen (Pharmakogenetik) oder in einem Netzwerk von Genen (Pharmakogenomik) zu erklären
50
564
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
(Evans u. Relling 1999). In jedem Gen finden sich Variationen der Basensequenz. So liegt etwa alle ≈2000 Basenpaare ein »single nucleotide polymorphism« (SNP) vor. Funktionell wichtige SNP liegen meist in kodierenden Genabschnitten und führen zu Änderung der Aminosäuresequenz (»nonsynonymous SNP«, nsSNP) und oftmals auch der Funktion des kodierten Proteins.
III
Thiopurin-Methyltransferase-Genpolymorphismus. Das beste Beispiel der angewandten Pharmakogenetik sind Sequenzvariationen im Thiopurin-Methyltransferase(TPMT)Gen, deren Bestimmung einen rationalen Einsatz von Thiopurinen ermöglicht ( Abschn. 50.3). Das TPMT-Gen kodiert für das Enzym TPMT, das Thiopurine inaktiviert (einziger Inaktivierungsweg in hämatopoetischen Zellen) und damit sowohl deren therapeutische (zytostatische, immunsuppressive) als auch toxische Wirkung (Hämatotoxizität) beeinflusst. Drei nsSNP verursachen mehr als 90% der klinisch relevanten Variationen und charakterisieren die 3 wichtigsten Allele: ▬ TPMT*2-Allel (*2 bezeichnet das variante Allel) nsSNP 238G>C (in Nukleotidposition 238 ist Guanin durch Cytosin ersetzt) und Ala80Pro (durch den Basenaustausch wird auch die Aminosäuresequenz geändert – Ersatz von Alanin durch Prolin in Kodon 80), ▬ TPMT*3C-Allel (nsSNP 719A>G führt zu Tyr240Cys), ▬ TMPT*3A-Allel (dieses Allel enthält 2 nsSNP: 460G>A, Ala154Thr und 719A>G, Tyr240Cys).
Die wichtigsten varianten Allele können durch DNA-Analyse mittels mutationsspezifischer Polymerase-Kettenreaktion (PCR) rasch bestimmt werden. Der Hauptanteil der Bevölkerung (≈89%) trägt das Wildtypgen (zwei TPMT*1 Allele) mit normaler TPMT-Aktivität. Etwa ein von 300 Individuen hat im TPMT-Gen zwei mutante Allele, was zur Bildung von instabilen TPMT-Protein führt. Diese Patienten reagieren auf eine Thiopurinstandarddosis mit lebensbedrohlicher Hämatotoxizität, weil toxische Thioguaninnukleotide in hämatopoetischen Zellen kumulieren. Eine Dosisreduktion um 85–90% der Standarddosis ist erforderlich. Rund 10% der Individuen sind Träger eines varianten TPMT-Allels, was mit einem weniger ausgeprägten Verlust an TPMT-Enzymaktivität einhergeht. Kinder mit akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL) und verminderter TPMTAktivität (ein oder zwei variante TPMT-Allele), sprechen besser auf Thiopurintherapie an und haben eine bessere ALL-Kontrolle. Allerdings werden v. a. in Zusammenhang mit Topoisomerase-II-Inhibitor- und Radiotherapie mehr Sekundärleukämien beobachtet (Relling u. Dervieux 2001). Oftmals ist bei Patienten mit einem varianten Allel eine Dosisreduktion bis zu 50% (hängt v. a. von der Begleittherapie ab) erforderlich. Weitere Variationen der Basensequenz. Andere wichtige Basensequenzvariationen, die die Wirkung von Zytostatika beeinflussen (Nagasubramanian et al. 2003; Pui et al. 2002): ▬ Glutathion-S-Transferase (GSTs; Detoxifizierung von reaktiven Metaboliten, höheres Risiko an Todesfällen in der AML-Induktionstherapie), ▬ Zytochrom P450 (CYP3A4; Metabolisierungsenzym, vermindertes Risiko von Sekundärleukämien),
▬ Dihydropyrimidin-Dehydrogenase (DPD; Abbau von 5-Fluoruracil [5-FU], 5-FU-Toxizität), ▬ UDP-Glucuronyltranferase 1A1 (UGT1A1; Glukuronierung von SN-38-Irinotecan, Irinotecan-Toxizität), ▬ Methylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR; Carbonsäure/Folat-Stoffwechsel, Methotrexat[MTX]-Toxizität), ▬ Thymidylatsynthetase (TYMS; Zielenzym von MTX und 5-FU, Einfluss auf die Wirksamkeit und Toxizität von 5-FU und MTX) und ▬ Immunglobulin-G-Fc-Rezeptor (FCGR3A-158V; dieses Oberflächenmolekül ist wichtig für die Auslösung der antikörperabhängigen Zell-mediierten Zytotoxizität, Effizienz der Rituximab-Therapie). 50.2.6 Applikation Zytostatika werden vorwiegend parenteral verabreicht. Die häufigste Applikationsart, die intravenöse (i.v.) Injektion oder Infusion, erlaubt meist die gewünschte Plasmakonzentration kontrollierbarer als nach peroraler Gabe zu erreichen. Da viele Zytostatika lokal irritierend wirken ( Abschn. 50.15.2), ist dieser Weg oft die einzige Möglichkeit, da die Wände der Blutgefäße relativ unempfindlich sind und Zytostatika zudem durch das Blut verdünnt werden. Die subkutane Injektion (s.c.) ist nur bei lokal nicht reizenden Substanzen möglich; sie bietet den Vorteil einer protrahierten Liberation mit lang andauernder Wirkung. Der Stoffaustausch zwischen Blutgefäßen und Geweben findet im Wesentlichen über Endothelzellen im Bereich der Kapillaren statt. In den meisten Kapillarnetzen sind diese Endothelzellen durch eine hohe transzytotische Aktivität gekennzeichnet. In Gehirn und Rückenmark ist diese Aktivität deutlich geringer. Deshalb müssen zur Prophylaxe bzw. Therapie eines ZNS-Befalls mit malignen Zellen Zytostatika direkt in den Subarachnoidalraum injiziert werden (intrathekale Applikation). Bei der Chemotherapie von Malignomen des Zentralnervensystems sind Unterschiede zwischen der Blut-Hirn- und der Blut-Liquor-Schranke und im transepithelialen Transport (z. B. ABC-Transporter) zu bedenken (Batchelor et al. 2001). Die Verfügbarkeit eines Arzneistoffs ist nach oraler Gabe (p.o.) aufgrund der variablen Resorption und/oder Metabolisierung in der Leber oftmals unvollständig und ungleichmäßig. Strategien zur Verbesserung der Bioverfügbarkeit, beispielsweise durch temporäre Inhibition von Drug-Transportsystemen und Zytochrom-P450-Isoenzymen sind in Erprobung (Kruijtzer et al. 2002). 50.2.7 Arzneimittelinteraktionen Wegen der geringen therapeutischen Breite von Zytostatika sind Arzneimittelinteraktionen besonders zu beachten. Grundsätzlich kann eine Interaktion die Pharmakokinetik (z. B. Metabolismus) oder die Pharmakodynamik (z. B. Bindung an Zielmolekül) der zytostatischen Substanz beeinflussen. Details finden sich in Übersichten (McLeod 1998; Kivisto et al. 1995; van Meerten et al. 1995), klinisch relevante Beispiele werden kurz dargestellt.
565 50 · Chemotherapie
Interaktionen sind oft komplexer Natur. Die Wirkung von Methotrexat wird beispielsweise durch TrimethoprimSulfamethoxazol (TMPS) auf verschiedenen Ebenen (tubuläre Sekretion, Plasmaeiweißbindung, Bindung an Dihydrofolatreduktase etc.) komplex beeinflusst.
Die gleichzeitige orale Gabe von 6-Mercaptopurin (6-MP) und Allopurinol hat einen 5fach höheren Plasmaspiegel von 6-MP mit entsprechender Toxizität zur Folge. Ursache ist eine Hemmung der Xanthinoxidase (XO) durch Allopurinol. XO ist das wichtigste 6-MP inaktivierende Enzym im Gastrointestinaltrakt (McLeod 1998). Eine wichtige Rolle spielen auch Enzyme des Zytochrom-P450(CYP)-Systems, da diverse Isoenzyme (wichtigstes Isoenzym: CYP3A4) den Metabolismus zahlreicher Zytostatika (Anthrazykline, Vincaalkaloide etc.) bestimmen. Eine umfassende Darstellung bedeutender CYP-Isoenzyme, deren Aktivatoren, Inhibitoren und Substrate findet sich auf der website der Indiana University (http://www.drug-interactions.com). Die antifungal wirksamen Azole sowie Makrolidantibiotika sind beispielsweise potente Inhibitoren des Isoenzyms CYP3A4. Dadurch kann die metabolische Inaktivierung von Vincristin (Resultat: verstärkte Neurotoxizität), Irinotecan (Resultat: verstärkte Hämatotoxizität) und anderen Substanzen signifikant vermindert werden (Kehrer et al. 2002; Kivisto et al. 1995). Andererseits vermindern CYP3A4-Aktivatoren (die meisten Antikonvulsiva außer Valproinsäure, Benzodiazepine und Gabapentin) die Plasmaspiegel zahlreicher Zytostatika (Anthrazykline, Vincaalkaloide, Epipodophyllotoxine, Camptothecine und Glukokortikoide). CYP3A4-aktivierende antikonvulsive Therapie kann die Clearance dieser Zytostatika verstärken und damit die Effizienz der Polychemotherapie vermindern (Relling et al. 2000). Kinder mit akuter lymphoblastischer Leukämie und gleichzeitiger Enzym-induzierender antikonvulsiver Therapie hatten ein signifikant schlechteres Therapieergebnis verglichen zur Gruppe ohne antikonvulsiver Begleitmedikation (Relling et al. 2000).
im Syntheseprozess von Nukleosidvorstufen. Methotrexat (MTX) ist ein Strukturanalogon der Folsäure. Der Wirkungsmechanismus ist in ⊡ Abb. 50.3 dargestellt. Bedeutend für die Zytotoxizität ist die Aktivierung zu MTX-Polyglutamylaten
⊡ Abb. 50.3. Pharmakologie von Methotrexat in Zielzellen. Die Aufnahme erfolgt hauptsächlich über »reduced folate carrier« (RFC), bei höheren Konzentrationen auch passiv. Im Zellplasma erfolgt eine Aktivierung zu Methotrexatpolyglutamylaten (MTXPG) über Folylpolyglutamylatsynthetase (FPGS). MTXPG hemmen nicht nur die Dihydrofolatreduktase (DHFR), sondern auch weitere Enzyme (Thymidilat-
synthetase [TS] und Enzyme der De-novo-Purinsynthese [DNPS]) und können im Gegensatz zu MTX nicht aus dem Zellplasma transportiert werden (Speicherform). MTXPG werden intralysosomal über Gammaglutamyl-Hydrolase (GGH) zu MTX abgebaut. MTX kann über MDRProteine (»multi-drug resistance«) oder durch passive Diffusion aus der Zelle eliminiert werden
Cave Während einer MTX-Therapie sollte TMPS nicht gegeben werden (van Meerten et al. 1995).
50.3
Antimetabolite
Für den Prozess der Zellteilung sind u. a. besonders essenzielle Kofaktoren und Intermediärprodukte der Nukleinsäuresynthese erforderlich. Maligne Zellen benötigen aufgrund ihrer hohen Zellteilungsrate ein Übermaß solcher Substanzen. Ersatz dieser Moleküle durch biologisch unwirksame Strukturanaloga hemmt die Nukleinsäuresynthese und damit die Zellteilung, und kann Zellstress-Signalwege aktivieren. 50.3.1 Antifolate: Methotrexat Wirkungsweise. Folsäurederivate sind essenzielle Kofaktoren
50
566
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
(MTXPG). Der Zelltod wird durch ein Zusammenspiel verschiedener Mechanismen wie Unterbrechung der DNA-Synthese und Induktion von DNA-Strangbrüchen ausgelöst. In vitro sind zahlreiche Resistenzmechanismen wie Änderung des Membrantransportes oder erhöhte Aktivität der Zielenzyme beschrieben.
III
Pharmakokinetik. Wichtige Indikationen sind lymphatische Malignome und Osteosarkome. Während bei lymphatischen Blasten eine Steady-State-Plasmakonzentration zwischen 20 und 50 µM zytotoxisch wirkt (Evans et al. 1998), dürfte bei Osteosarkomen ein Plasmaspitzenspiegel um 1000 µM erforderlich sein (Graf et al. 1994). Sowohl nach p.o. (meist 20–40 mg/m2 pro Gabe) als auch i.v. Gabe (meist 0,5–12 g/m2 pro Gabe) variieren pharmakokinetische Parameter. Die Elimination erfolgt multiphasisch mit einer terminalen Halbwertszeit von 8–12 h. Innerhalb von 6 h wird etwa 80% der MTX-Dosis unverändert renal ausgeschieden (Messmann u. Allegra 2001). Hochdosiertes MTX (HD-MTX) wird bei Kleinkindern rascher eliminiert. Etwa 12 h nach HD-MTX erscheinen Metabolite, das aktive 7-OH-MTX (7-HydroxyMethotrexat) und die inaktive DAMPA (4-Deoxy-4-AminoN10-Methylpteroinsäure) im Harn. Kumulation innerhalb eines dritten Raums (z. B. Aszites) kann die Ausscheidung verzögern und die Toxizität erhöhen. Einige neue Antifolate sind in Erprobung (Messmann u. Allegra 2001). Nebenwirkungen. Wichtige unerwünschte Wirkungen sind
Hämatotoxizität und orointestinale Mukositis. Intravenöse HD-MTX-Therapie ist ohne entsprechende Begleitmaßnahmen letal. MTX-Plasmaspiegelmessungen und Schutz normaler Zellen durch Antagonisierung der MTX-Wirkung mit Leukovorin (5-Formyl-Tetrahydrofolsäure überbrückt den MTX-induzierten Dehydrofolatreduktase-Block) ermöglichen diese Behandlungsform. HD-MTX ist nephrotoxisch (Ausfallen von MTX, DAMPA und 7-OH-MTX bei saurem pH), deshalb sind Hydrierung und Alkalisierung erforderlich. Die Pathogenese der akuten Hepatopathie ist ebenso unklar wie die der Hauttoxizität. Verschiedene Formen von Neurotoxizität (akute Enzephalopathie, chronische Leukenzephalopathie, Krampfanfälle) treten mit einer Häufigkeit von 3–15% auf (je nach Dosierung, Applikation und Begleitmedikation) und sind meist reversibel (Messmann u. Allegra 2001). Als pathogenetische Faktoren werden eine Erhöhung von Homocystein (Hcy) oder Adenosin im Liquor diskutiert. Ob Dextrometorphan (Hemmung der exzitatorischen Wirkung von Hcy) von Nutzen ist, wird derzeit geprüft (Drachtman et al. 2002). Infusion von Aminophyllin (Antagonismus der Adenosin Wirkung) ist bei akuter Enzephalopathie erfolgreich angewendet worden (Peyriere et al. 2001). Die lebensbedrohlichen Komplikationen MTX-Intoxikation und MTX-Schock sind in Abschn. 50.15.1 dargestellt. 50.3.2 Nukleosidanaloga und Nukleosidbasen Purinantimetabolite: Thiopurine 6-Mercaptopurin. Thiopurine sind Strukturanaloga der Purinbasen Hypoxanthin und Guanin. Sie unterliegen einem ausgeprägten Metabolismus, sind hydrophil und müssen ins
Zellinnere transportiert werden. Intrazellulär wird 6-MP entweder über 6-Thioinosin-Monophosphat (6-TIMP) zu Thioguanin-Nukleotid (TGN) aktiviert und als falsches Nukleotid in DNA und RNA eingebaut, bzw. über ThiopurinMethyltransferase (TPMT) oder Xanthinoxidase (XO) inaktiviert. Der TPMT-vermittelte Abbau ist der einzige Inaktivierungsmechanismus in hämatopoetischen Zellen. In Leberzellen und gastrointestinalen Epithelien wird 6-MP hauptsächlich durch XO inaktiviert. Der Einbau von TGN in DNA hemmt die Zellreplikation, beeinflusst DNA-Reparationsmechanismen und aktiviert Zellstress-Signalwege. Eine Überexpression von »Multi-resistant«-Proteinen (MRP) kann Resistenz verursachen. 6-MP wird hauptsächlich in der Behandlung akuter lymphoblastischer Leukämien eingesetzt. Die Gabe erfolgt meist als orale Langzeittherapie (Dosis u. a. abhängig vom TPMT Status; 25–100 mg/m2/Tag). Extrazelluläre Konzentrationen zwischen 1 und 10 µM sind in vitro zytotoxisch. Die Absorption ist inkomplett und sehr variabel. Nach Gabe von 75 mg/m2 schwankt die Bioverfügbarkeit zwischen 5 und 39%, Plasmaspitzenspiegel (0,3–1,8 µM) treten nach etwa 2 h auf (Hande 2001). Die geringe Bioverfügbarkeit ist Folge der Inaktivierung durch XO (u. a. auch in Kuhmilch enthalten) in Darmepithelien und Leberzellen. XO wird durch Allopurinol gehemmt, wodurch die Bioverfügbarkeit verfünffacht wird. Die Halbwertszeit beträgt etwa 1 h, die Elimination erfolgt renal. 6-Thioguanin. 6-TG wird meist oral (Dosis: 60–100 mg/m2/
Tag) in der Behandlung lymphoblastischer und myeloischer Malignome angewendet. Obwohl 6-TG nicht durch XO inaktiviert wird, sind pharmakokinetische Daten ähnlich wie bei 6-MP (Hande 2001). Der Abbau von Thiopurinen über TPMT ist von eminenter Bedeutung für therapeutische Wirkung und Toxizität (s. Abschn. 50.2.5). Wichtigste unerwünschte Wirkung ist die Hämatotoxizität. Patienten mit dosislimitierender Hämatotoxizität haben eine signifikant geringere TPMT-Aktivität, eine Dosisreduktion ist erforderlich ( Abschn. 50.2.5). Umgekehrt scheint die selten auftretende Hepatotoxizität (milder cholestatischer Ikterus) mit einer hohen TPMT-Aktivität assoziiert, da die durch TPMT gebildeten methylierten TPMetabolite hepatotoxisch sind (Evans et al. 2001). Purinantimetabolite: Deoxyadenosinderivate Fludarabin. Fludarabin ist ein fluoriertes und phosphoryliertes Adenosinderivat und wird in der Rezidivtherapie bei myeloischen Leukämien und zur Konditionierung vor Stammzelltransplantation eingesetzt. Bei letzterer wird die selektive Hämatotoxizität (T-Lymphozyten) genutzt, bei ersterer die Steigerung der intrazellulären Akkumulation von Arabinosid-C. Nach intravenöser Gabe (25–40 mg/m2/Tag) wird Fludarabin (F-ara-AMP) innerhalb von etwa 4 Minuten zu 2-Fluorovidarabin (F-ara-A) metabolisiert, das entweder über Nukleotidtransporter in Zellen aufgenommen und dort zum eigentlichen Wirkstoff, dem Triphosphat (F-ara-ATP) umgewandelt, oder renal eliminiert wird (Halbwertszeit: 7–33 h; Hande 2001). Die zytotoxische Wirkung auf sich teilende und ruhende Zellen wird durch ein Zusammenspiel verschiedener Me-
567 50 · Chemotherapie
chanismen erreicht: Direkte Hemmung wichtiger Enzyme der DNA-Replikation und -Reparatur durch F-ara-ATP, Einbau in DNA mit Synthesetermination. Wichtigste unerwünschte (bei Konditionierung erwünschte) Wirkung ist die Myelo- und Immunosuppression mit hauptsächlicher Verminderung von CD4- und CD8-positiven T-Lymphozyten. Selten tritt eine autoimmunhämolytische Anämie (Therapie: Glukokortikoide) auf. Irreversible Neurotoxizität wurde bei hoher Dosierung (>40 mg/m2/Tag für 5 Tage) beobachtet (Hande 2001). Cladribin. Cladribin (2-CdA) wird im Rahmen der Induktionstherapie bei akuter myeloischer Leukämie in Kombination mit Cytarabin geprüft. Nach intravenöser Gabe (9 mg/m2/Tag) wird 2-CdA rasch aktiv in Zellen aufgenommen und durch Deoxycytidinkinase zum eigentlichen Wirkstoff, dem Triphosphat (2-CdATP) phosphoryliert. 2-CdATP kumuliert bis zu 30 h intrazelluär und entfaltet seine zytotoxische Wirkung ähnlich wie Fludarabin. Cladribin wird zu etwa 50% renal eliminiert (Halbwertszeit: 9–30 h; Krance et al. 2001). Wichtige unerwünschte Wirkungen sind Myelound Immunosuppression mit vorwiegender Beeinträchtigung der Monozyten (bis zu 3 Wochen Leukozytopenie).
Pyrimidinantimetabolite Cytosin-Arabinosid. Cytosin-Arabinosid (Cytarabin, Ara-C) ist eine der wichtigsten Substanzen in der Behandlung akuter myeloischer Leukämien, aber auch integrativer Bestandteil in der Behandlung akuter lymphoblastischer Leukämien (ALL). Ara-C wird bei Plasmakonzentrationen zwischen 0,5–1 µM, die nach Standarddosierung (75–200 mg/m2/Tag) erreicht werden, vorwiegend über »human equilibriative nucleosid transport-facilitating protein 1« (hENT1) ins Zellinnere transportiert. Bei hochdosierter i.v. Gabe mit 1–3 g/m2 (meist alle 12 h über 1–3 h) werden Plasmaspiegel um 10 µM erreicht und es überwiegt die passive Diffusion (Galmarini et al. 2002a). Der limitierende Schritt im Rahmen der intrazellulären Aktivierung ist die Phosphorylierung zu Ara-CMP durch Deoxycytidinkinase. Der Zelltod wird vorwiegend durch direkte Hemmung der DNA-Polymerase und Einbau von Ara-CTP in DNA verursacht (Galmarini et al. 2002a). Der Hauptanteil von Ara-C wird innerhalb von etwa 30 Minuten aus dem Plasma eliminiert, die terminale Halbwertszeit (von Bedeutung nur bei HD-Ara-C) beträgt bis zu 150 Minuten (Garcia-Carbonero et al. 2001). Vermehrung des Zielenzyms, verstärkte Inaktivierung und verminderte intrazelluläre Aufnahme sind bekannte Resistenzmechanismen (Galmarini et al. 2002b). Eine verstärkte Expression von hENT1 in Blasten von Säuglingen mit ALL dürfte für die gute Wirksamkeit von Ara-C in dieser Patientengruppe verantwortlich sein (Stam et al. 2003). Die Expositionsdauer ist von Bedeutung für die Toxizität. Eine i.v. Bolusgabe von 4 g/m2 wird wegen der raschen Inaktivierung besser als eine Dauerinfusion von 1 g/m2 über 48 h toleriert. Besonders im Rahmen von HD-AraC-Therapien kommt es zu ausgeprägter Beeinträchtigung der Thrombo- und Myelopoese. Gastrointestinale Symptome sind meist transienter Natur, können aber lebensbedrohlich (z. B. Blutungen) sein. Äußerst gefährlich ist die selten auftretenden Neurotoxizität mit zerebralen und zerebellären Dysfunktio-
nen (Ataxie, Nystagmus), die in etwa 40% der Fälle irreversibel ist. Konjunktivitis erfordert eine Lokaltherapie mit topischen Steroiden (Garcia-Carbonero et al. 2001). Fluoropyrimidine. 5-Fluorouracil (5-FU) ist wichtiger Bestandteil der Chemotherapie epithelialer Malignome des Kindesalters. Wie alle Nukleosidanaloga wird 5-FU intrazellulär durch Phosphorylierung aktiviert. Hemmung der Thymidilatsynthetase und Einbau v. a. in die RNA verursachen die zytotoxische Wirkung. Die Gabe kann als i.v. Bolusinfusion (Mayo-Schema: 450–600 mg/m2 Bolus täglich für 5 Tage alle 4 Wochen) erfolgen. Eine kontinuierliche Gabe (1 g/m2 über 24 h) scheint bei Erwachsenen ein günstigeres Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil zu haben. Bei Bolusgabe ist die Myelosuppression dosislimitierend, bei kontinuierlicher Infusion überwiegt die gastrointestinale Toxizität (Grem 2001).
50.4
Alkylanzien und nicht-klassische alkylierende Substanzen
! Alkylanzien führen zu DNA-Zwischenstrang- und Proteinvernetzungen mit Störung der Replikation und Transkription und besitzen zytotoxische, mutagene und kanzerogene Wirkungen (Tew et al. 2001).
50.4.1 Stickstofflost-Derivate Oxazaphosphorine Cyclophosphamid. Das in vitro unwirksame Prodrug wird durch mikrosomale Leberenzyme (CYP3A4) in 4-OH-Cyclophosphamid bzw. das tautomere Aldophosphamid umgewandelt, das unter Abspaltung von Acrolein (urotoxisch) zur Freisetzung des stark alkylierenden N-Lost-Phosphorsäurediamids und weiterer Metabolite mit geringer zytotoxischer Wirkung führt. Der Einsatz erfolgt bei akuten Leukämien, Lymphomen, soliden Tumoren und zur Konditionierung vor Stammzelltransplantation (SZT). Durch stärkere Proteinbindung nach i.v. Gabe (150–1200 mg/m2/Tag) ist die alkylierende Wirkung nach peroraler Gabe (50–100 mg/m2/Tag) bei guter Resorption 3-mal höher; die Plasmahalbwertszeit beträgt etwa 4 h. Die alkylierende Wirkung wird durch Allopurinol, Cimetidin und Paracetamol verstärkt. Cyclophosphamid wirkt myelosuppressiv unter relativer Schonung der Thrombozyten, bei hohen Dosen werden Myokardtoxizität und interstitielle Lungenveränderungen bedeutsam. Zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen zählen Übelkeit, Erbrechen, Alopezie und transiente Wasserretention (SIADH, Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion). Hydrierung und die Gabe von MESNA (Natrium-2-Mercaptoethansulfonsäure, in einer Dosierung von 60–100% des Alkylans) sind essenzielle Maßnahmen zur Vermeidung der Acrolein-induzierten hämorrhagischen Zystitis. Störung der Spermatogenese und ovarielle Dysfunktion, Nierentubulusschäden (Fanconi-Syndrom: Proteinurie, Glukosurie, Aminoazidurie, Phosphat- und Bicarbonatverlust) sowie Kanzerogenität sind als chronische Toxizität zu werten (Tew et al. 2001).
50
568
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Ifosfamid. Das im Vergleich zu Cyclophosphamid besser
III
wasserlösliche Ifosfamid besitzt eine geringere Affinität zum Aktivierungsenzym der Leber, wodurch 4-mal höhere Dosen für eine adäquate alkylierende Aktivität benötigt werden. Durch Enzyminduktion bei wiederholter Applikation von geteilten Dosen wird die Halbwertszeit gegenüber hochdosierter Bolusgabe nahezu halbiert. Trotz ausgezeichneter oraler Resorption erfolgt die Gabe ausschließlich i.v. (1–3 g/m2 täglich bis zu 5 Tagen entweder als Kurzinfusion über 1 h oder 24-stündige Infusion bis zu 5 g/m2) unter MESNA-Schutz. Die Nebenwirkungen sind jenen des Cyclophosphamids ähnlich. Das Risiko einer Ifosfamid-induzierten Nephropathie (Fanconi-Syndrom) steigt durch Vorbehandlung mit nephrotoxischen Medikamenten (Cisplatin >450 mg/m2) und wird häufiger bei jüngeren Patienten beobachtet (Rossi et al. 1993). Eine Enzephalopathie mit Somnolenz, Verwirrung, Psychosen, Krämpfen, Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma kann innerhalb von wenigen Stunden nach hohen Bolusgaben auftreten und verschwindet zumeist spontan nach einigen Tagen, letale Verläufe sind selten. Neurotoxizitätsrisikofaktoren sind ein niedriges Serumalbumin, eingeschränkte Nierenfunktion, Vorbehandlung mit mehr als 300 mg/m2 Cisplatin, Azidose und orale Applikation (Tew et al. 2001). Trofosfamid. Mit insgesamt 3 Chlorethylgruppen wird Tro-
fosfamid enteral nahezu vollständig resorbiert (Plasma-Peak der aktiven Metabolite nach 4 h, schnelle renale Elimination, gute Liquorgängigkeit aufgrund der Lipophilie) und im Vergleich zu Cyclophosphamid in einer 50% höheren Dosierung eingesetzt. Neben den bekannten unerwünschten Wirkungen ist eine Hämaturie häufig zu beobachten, ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist erforderlich (Tew et al. 2001). Melphalan Melphalan wird hochdosiert (140 mg/m2 am Tag –1; 30 mg/m2/ Tag für 6 Tage) im Rahmen der Konditionierung zur autologen Stammzelltransplantation eingesetzt. Die Applikation erfolgt meist oral (i.v. Gabe möglich). Nach variabler, oft ungenügender Resorption (Bioverfügbarkeit: 32–100%) ist Melphalan nach 1 h im Plasma nachweisbar; die Plasmahalbwertszeit beträgt etwa 90 min (sekundäre und tertiäre Elimination durch Eiweißbindung). Die Aufnahme in Zielzellen erfolgt über einen physiologischen Aminosäuretransporter und kann kompetitiv gehemmt werden. Die Myelotoxizität ist dosislimitierend; ab 35 mg/m2/Tag treten Übelkeit, Alopezie und erhebliche Knochenmarksdepression auf. Bei hochdosierter Behandlung stehen Schleimhautschädigungen im Vordergrund (Tew et al. 2001). Chlorambucil Chlorambucil unterscheidet sich strukturell nur wenig von Melphalan, die orale Resorption ist jedoch zuverlässiger. Bei ähnlicher Toxizität erfolgt der Einsatz (3–6 mg/m2/Tag) bei chronisch myeloischer Leukämie, Lymphomen und beim Plasmazytom (Tew et al. 2001).
50.4.2 Ethyleniminderivate Thiotepa wird schnell in Tepa (Triethylenphosphoramid) umgewandelt, beide Verbindungen penetrieren gut ins Zentralnervensystem (ZNS). Indikationen sind Konditionierung vor Knochenmarktransplantation (i.v. Dosis: 30 mg/m2/Tag für 3 Tage) und intrathekale Behandlung (i.th. 10 mg/m2) bei ZNS-Tumoren (Tew et al. 2001). 50.4.3 Alkylalkansulfonat Busulfan zeigt nach oraler Gabe starke individuelle Schwankungen in der Pharmakokinetik (Hassan et al. 1991). Hochdosiert (4 mg/kg/Tag oder 120 mg/m2/Tag für jeweils 4 Tage) ist es wichtiger Bestandteil der Konditionierung vor Stammzelltransplantation, wobei die Suche nach dem therapeutischen Fenster mit optimalem Antitumoreffekt bei noch tolerierbaren Nebenwirkungen bei Kindern noch nicht abgeschlossen ist. Neben Myelosuppression, Haut- und Neurotoxizität ist v. a. die Hepatotoxizität (»hepatic veno-occlusive-disease«, HVOD) dosislimitierend (Bolinger et al. 2001). Busulfan wird in der Leber über die Glutathion-S-Transferase und über den Zytochrom-P-450-Komplex metabolisiert, auf Interaktionen im Rahmen der Begleitmedikation ist zu achten (z. B. Krampfprophylaxe: Beeinflussung der Plasmaspiegel durch Phenobarbital und Carbamazepim, nicht jedoch durch Clonazepam, Oxazepam oder Lorazepam). Intravenöse Zubereitungen befinden sich derzeit in klinischer Prüfung. 50.4.4 N-Nitrosoharnstoffderivate BCNU (Bis-Chloroethyl-Nitrosourea), CCNU (Cyclohexylchloroethyl-Nitrosourea), Methyl-CCNU (Methylcyclohexylchlorethyl-Nitrosourea) werden in der Therapie von Hirntumoren, malignen Lymphomen und verschiedenen Karzinomen in einer Dosierung von 80–125 mg/m2 (CCNU) bzw. 60–250 mg/m2 (BCNU) eingesetzt. Aufgrund der Lipophilie eignen sich die Nitrosoharnstoffderivate zur oralen Applikation mit vollständiger Diffusion ins ZNS. Die Myelosuppression tritt verzögert ein und kann bis zu 6 Wochen dauern. Die kumulative Toxizität ist beträchtlich (BCNU: pulmonale Toxizität bei >1500 mg/m2, CCNU: schwere Nephrotoxizität bei >1000 mg/m2), auf Tachykardie und Blutdruckabfall bei i.v. Therapie ist zu achten (Tew et al. 2001). 50.4.5 Sonstige alkylierende Substanzen Dacarbazin. Es wird in der Leber zum hochreaktiven Methyl-
carboniumion und weiteren alkylierenden Metaboliten abgebaut, die in allen mitotischen Zellzyklen zytotoxische Wirkung zeigen. Der Einsatz (150–250 mg/m2/Tag für 3 Tage) erfolgt bei Weichteilmalignomen, Melanom und Lymphomen. Myelosuppression mit mäßiggradiger Leuko- und Thrombopenie, lokale Venenreizung sowie ausgeprägte Übelkeit, Diarrhö und grippeähnliche Symptome mit Fieber sind häufige unerwünschte Wirkungen. Das gonadotoxische Potenzial ist geringer als bei Procarbazin (Tew et al. 2001).
569 50 · Chemotherapie
Procarbazin. Es wurde ursprünglich in einer Serie von
Monoaminoxidasehemmern synthetisiert; im Rahmen von präklinischen Studien zeigte sich eine antineoplastische Wirkung, wobei die in der Leber entstehenden Metabolite den Hauptanteil der Zytotoxizität darstellen. Myelo- und Immunsuppression sowie v. a. die bleibende Azoospermie limitieren den Einsatz auf die Behandlung von Lymphomen (100 mg/m2/Tag für 15 Tage). Neurotoxizität (Parästhesien, Bewusstseinsstörungen, gute Penetration der Blut-HirnSchranke), Dysphorie und hypertensive Krisen im Zusammenhang mit tyraminreichen Speisen sind beschrieben (MAO-Hemmer; Tew et al. 2001).
Ototoxizität (oft permanenter Hörverlust im Hochtonbereich durch Zerstörung von Haarzellen) treten häufiger unter CDDP Therapie, v. a. bei Kumulativdosen über 400 mg/m2, auf. Die stark emetogene Wirkung von CDDP erfordert eine erweiterte Antiemese. Amifostin scheint die Inzidenz von Nieren- und neurotoxischen Schäden zu verringern (Koukourakis 2002). Carboplatin kann bei hoher Dosierung Probleme wie CDDP verursachen, bei konventioneller Dosis steht die Hämatotoxizität mit Thrombozytopenie im Vordergrund (Reed 2001). 50.6
50.5
Cisplatin und Carboplatin
Wirkungsweise. Cisplatin (Cis-Diamino-Dichloro-Platinium,
CDDP) kann Zellmembranen passiv passieren und bindet im Zellkern an DNA (Adduktbildung). Dies verursacht eine räumliche Strukturänderung im DNA-Molekül mit Aktivierung spezifischer DNA-Reparaturmechanismen. Im Idealfall wird ein CDDP-DNA-Addukt als irreparabel erkannt und das Apoptoseprogramm gestartet. Oft liegen in malignen Zellen Störungen im Apoptoseprogramm und/oder Störungen der DNA-Reparaturmechanismen vor, die zur Resistenz führen (Guminski et al. 2002). Carboplatin hat den gleichen Wirkungsmechanismus. Indikationen sind Keimzelltumoren, Osteosarkom, Neuroblastom, Wilms-Tumor, Hirntumoren, Hepatoblastom, Nasopharyngeales Karzinom und Konditionierung zur Stammzelltransplantation.
Anthrazykline und Anthracendione
Die Anthrazyklinantibiotika Doxorubicin (Synonym: Adriamycin, ADR), Daunorubicin (DNR), Idarubicin und Epirubicin sowie die Anthracendione Mitoxantron und Amsacrin gehören zu den wichtigsten Zytostatika. Daunorubicin, Idarubicin und Mitoxantron werden vorwiegend bei akuten Leukämien angewendet. Doxorubicin – bei nur marginalen Unterschieden in der chemischen Struktur – besitzt eine breitere zytostatische Wirksamkeit. Wirkungsweise. Der den Anthrazyklinen und Anthracendio-
nen zugrundeliegende Wirkmechanismus beruht auf einer Interkalation in die DNA-Doppelhelix, wodurch die DNAReplikation und die Aktivität von DNA- und RNA-Polymerasen inhibiert wird. Zusätzlich scheint die Hemmung der Topoisomerase II ein entscheidender Faktor der Zytotoxizität zu sein. Die enzymatische Reduktion von Anthrazyklinen führt zur Bildung von hoch reaktiven Sauerstoffmetaboliten, die u. a. kardiotoxisch sind (Xu et al. 2001).
Pharmakokinetik. CDDP wird meist i.v. in unterschiedlichen
Dosierungen (20–100 mg/m2/Tag) und Infusionsprotokollen (1–24 h), selten auch i.a. appliziert. Plasmaeiweißbindung führt innerhalb von 3 h zur Inaktivierung von etwa 90% der verabfolgten Substanz. Die Elimination erfolgt renal, 1/4 wird innerhalb von 24 h ausgeschieden. Carboplatin wird ebenfalls i.v. gegeben, die Dosis kann anhand der CalvertFormel bestimmt werden: Definition Dosis (mg) = Carboplatin-Zielbereichs-AUC (mg/ml × min) × [GFR (ml/min) + (0,36 × kg Körpergewicht)]
Die Zielbereichs »area under the curve« (AUC) beträgt meist 4–6 mg/ml × min (Reed 2001). Carboplatin wird in geringerem Ausmaß durch Plasmaeiweißbindung inaktiviert (50% nach 24 h), 90% wird innerhalb von 24 h renal eliminiert (Reed 2001). Nebenwirkungen. Die Nephrotoxizität ist bei CDDP bedeutsamer, tritt aber auch bei höher dosiertem Carboplatin auf. Pathogenetisch scheint die Bildung von Sauerstoffradikalen ursächlich (Schrier 2002). Ausreichende Hydrierung, osmotisch wirksame Diuretika (Mannit) und Kationensubstitution sind während der Therapie erforderlich. Furosemid ist kontraindiziert, da der Wasserverlust eine Konzentrierung von CDDP zur Folge hat. Die Einschränkung der Nierenfunktion ist bei Kindern meist reversibel. Neurotoxizität mit
Pharmakokinetik. Alle Anthrazykline werden nach intra-
venöser Infusion rasch aus dem Plasma eliminiert und in Herz, Niere, Lunge, Leber und Milz aufgenommen ohne die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Doxorubicin wird meist in einer Dosierung von 30–75 mg/m2 i.v. als Einzeldosis, oder 20 mg/m2/Tag für 3 Tage appliziert. Die Elimination erfolgt multiphasisch mit Eliminationshalbwertszeiten zwischen 3 und 30 h. Die empfohlene Dosierung für Daunorubicin beträgt 30–60 mg/m2/Tag über 3 Tage, für Idarubicin 12 mg/m2/ Tag über 3 Tage. In Kombination mit Cytarabin sind diese beiden Zytostatika Mittel der Wahl zur Therapie der akuten myeloischen Leukämie. Idarubicin folgt einer Eliminationskinetik dritten Grades mit einer terminalen Halbwertszeit von etwa 35 h. Nebenwirkungen. Der limitierende Faktor bei der Anwendung von Anthrazyklinen und Anthracendionen ist die dosisabhängige Kardiotoxizität. Die seltene akute Kardiotoxizität kann transiente Tachykardien, atrioventrikuläre und Schenkelblockaden sowie unspezifische EKG-Veränderungen hervorrufen. Symptome und Zeichen der chronischen Kardiotoxizität, die noch Monate oder Jahre nach Beendigung der Therapie manifest werden kann, sind Tachykardien, Arrhythmien oder Kardiomyopathie. Eine Herzinsuffizienz kann entstehen. Die Häufigkeit kardiotoxischer Schäden nimmt exponentiell ab einer kumulativen Dosis von 350– 400 mg/m2 zu und kann durch andere Substanzen, wie Cyclophosphamid oder Ifosfamid, verstärkt werden.
50
570
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Weitere Risikofaktoren sind Dosisintensität, weibliches Geschlecht und junges Alter bei Diagnose; zusätzlich ist das Auftreten der akuten Kardiotoxizität ein wichtiger Risikofaktor für die Entstehung chronischer Herzschäden ( Abschn. 50.15.2). Ausgeprägte Myelosuppression, Stomatitis, gastrointestinale Störungen und Haarausfall sind häufige unerwünschte Wirkungen (Doroshow 2001).
III 50.7
Zytostatische Antibiotika aus Streptomyces-Arten
Actinomycin D. Durch reversible Bindung an Guanin-Cyto-
sin-Basenpaare induziert Actinomycin D eine dosisabhängige Hemmung der RNA- und DNA-Synthese. Neben dieser interkalierenden Wirkung dürfte die Bildung von reaktiven Molekülen das Auftreten von DNA-Einzelstrangbrüchen begünstigen. Die Verabreichung erfolgt streng i.v. mit einer täglichen Dosis von 15 µg/kg (maximal 0,5 mg ED) über 5 Tage bei Wilms-Tumoren, Weichteilmalignomen, Keimzelltumoren und Ewing-Sarkomen. Resistenzinduktion durch verstärkte MDR(»multi-drug resistance«)-Protein Expression ist möglich. Die Knochenmarksuppression ist durch Thrombozytopenie in der 2. Woche und Granulozytopenie in der 3. Woche geprägt, milde bis mittelschwere Hepatotoxizität unter dem Bild einer HVOD wird beobachtet. Weitere unerwünschte Wirkungen sind beträchtliche Übelkeit, Alopezie, Enteritis, Schleimhautläsionen, Exantheme (bei Jugendlichen Akne) und eine radiomimetische Wirkung (Erythem in bereits bestrahlten Regionen, so genannte »radiation recall«; Verweij et al. 2001). Bleomycin. Das komplexe Glykopeptidgemisch Bleomycin bindet mit einem Ende an Guaninbasen der DNA mit dem anderen Ende an Metallionen, die unter Bildung von Sauerstoffradikalen DNA-Strangbrüche induzieren. Verstärkte Expression von DNA-Reparaturenzymen und inaktivierende Aminopeptidasen werden als Resistenzmechanismen diskutiert. Die ausschließlich parenterale Applikation (1 Aktivitätseinheit entspricht 1,2–1,8 mg Protein) erfolgt bei Keimzelltumoren und Lymphomen, selten bei soliden Tumoren. Eine Dosisreduktion ist bei eingeschränkter Nierenfunktion erforderlich. Wichtige unerwünschte Wirkungen sind Fieber, Kopfschmerzen, allergische Reaktionen (Bronchospasmus, Schock), Hyperpigmentierung und Hyperkeratosis (dosisabhängig, verstärkt durch Bestrahlung). Dosislimitierend ist die pulmonale Toxizität (interstitielle Pneumonie bis zur Lungenfibrose), eine Einschränkung der Lungenfunktion ist ab kumulativen Dosen von 75 mg/m2 zu erwarten. Klinische Symptome treten in 10% der Patienten ab einer Dosis von 450 mg/m2 auf. Risikofaktoren sind höheres Alter, erhöhte Sauerstoffexposition, Bestrahlung oder pulmonale Vorerkrankungen. Ein rationale Therapie existiert nicht, Einzelberichte über den Einsatz von Steroiden sind kritisch zu beurteilen (Verweij et al. 2001).
50.8
Vincaalkaloide
! Die aus Vinca rosea isolierten Alkaloide Vincristin (VCR), Vinblastin (VBL) und Vindesin (VDS) binden nach aktivem Transport in die Zelle an Tubulin, was eine Störung verschiedener zellulärer Funktionen zur Folge hat (Neurotransmittertransport, Aufbau von Spindelstruktur) und den regulären Ablauf der Zellteilung blockiert.
Wichtigster Resistenzmechanismus ist die verstärkte Elimination aus Zielzellen über MDR-Proteine. VCR wird streng i.v. in der Therapie von lymphatischen und soliden Malignomen (1,5 mg/m2 oder 0,05 mg/kg, maximale ED 2 mg), VBL (2–6 mg/m2/Tag) bei Langerhans-Zell-Histiozytosen, Hodenmalignomen und Morbus Hodgkin und VDS (3 mg/m2/Tag, maximale ED 5 mg) in der Rezidivtherapie von akuten Leukämien, eingesetzt. Dosislimitierend bei VCR ist die periphere Neurotoxizität ( Abschn. 50.15.2). Eine akzidentelle intrathekale Applikation von VCR ist in der Regel letal ( Abschn. 50.15.1). Als weitere unerwünschte Wirkungen treten Leukozytopenie (VBL), Erbrechen, Myalgien und Schleimhautläsionen auf (Rowinsky u. Donehower 2001). 50.9
Epipodophyllotoxine
Wirkungsweise. Epipodophyllotoxine entfalten ihre Wirkung durch Bindung an Topoisomerase II (Topo-II). DNA liegt in vivo in verschiedenen Formen, mehr oder weniger verwunden oder abgewickelt, vor. Diese dynamischen Formen werden Topoisomere genannt und sind Vorraussetzung für eine erfolgreiche DNA-Replikation. Verschiedene Topoisomere können nur gebildet werden, wenn der DNA-Strang inzidiert, danach verdreht und wieder zusammengefügt wird. Dies wird durch verschiedene Topoisomerasen ermöglicht. Topo-II ist hauptsächlich für das Verwinden von DNA zuständig. Dabei erfolgt eine transiente Komplexbildung mit DNA. Epipodophyllotoxine induzieren die Stabilisierung dieser Komplexe, was DNA-Strangbrüche auslöst. Erhöhte Topo-II- und MDR-Protein-Expression werden als Resistenzmechanismen diskutiert. Etoposid (VP-16) und Teniposid (VM-26) werden sowohl bei hämatologischen Malignomen als auch soliden Tumoren eingesetzt. Pharmakokinetik. Die Wasserlöslichkeit ist schlecht, weshalb alkoholische Lösungsmittel erforderlich sind. Etoposidphosphat ist wasserlöslich und wird im Plasma rasch zu Etoposid umgewandelt. Pharmakokinetische Parameter unterliegen ausgeprägten interindividuellen Schwankungen (Pommier et al. 2001). Oral wird VP-16 meist im Rahmen palliativer Konzepte (25–150 mg/m2/Tag) gegeben (Wolff et al. 2002). Die Bioverfügbarkeit schwankt zwischen 20% und 100%. Nach i.v. Gabe wird VP-16 (20–400 mg/m2/Tag; Hochdosistherapie: 0,4–2 g/m2) biphasisch sowohl renal (40%) als auch hepatisch eliminiert. Die terminale Halbwertszeit beträgt etwa 6–8 h (Pommier et al. 2001). Teniposid (70–180 mg/m2/Tag) wird sehr variabel (HWZ 10–20 h), vorwiegend hepatisch eliminiert (Pommier et al. 2001).
571 50 · Chemotherapie
Nebenwirkungen. Dosislimitierend ist die Myelosuppression. Zu beachten ist das leukämogene Potenzial, das bei mehr als 10% der Behandelten zum Auftreten von therapieinduzierten akuten myeloischen Leukämien (t-AML) führen kann. Diese t-AML sind meist von M4/M5-Morphologie und werden nicht selten noch während der Ersttherapie oder kurz danach manifest. In 70% der t-AML Fälle finden sich Translokationen des MLL(»mixed-lineage leukemia«)-Gens (Blanco et al. 2001). Pharmakokinetische Charakteristika dürften kein Risikofaktor für die Induktion von t-AML sein. Die Bedeutung der Kumulativdosis wird kontrovers beurteilt (Relling et al. 1998; Le Deley et al. 2003).
50.10
Camptothecine
Wirkungsweise. Camptothecine sind pentazyklische Ring-
strukturen und binden an Topoisomerase I (Topo-I). Dieses Enzym katalysiert die Umstrukturierung verwundener DNA-Moleküle. Camptothecine modifizieren diese Wirkung. Der Topo-I-Camptothecin-Komplex bindet irreversibel an DNA und induziert Doppelstrangbrüche, die ZellstressSignalwege aktivieren. Demnach wandeln Camptothecine das endogene Enzym Topo-I in ein zelluläres DNA-Toxin um. Um an Topo-I zu binden müssen Camptothecine in LactonForm vorliegen. Resistenzmechanismen sind in vitro beschrieben (z. B. geringe Topo-I Expression).
aktiviert. Dexamethason ist ein fluoriertes Strukturanalogon von Prednisolon. Wirkungsweise. GC gelangen per diffusionem in Zielzellen,
wo sie an Glukokortikoidrezeptor (GR) binden. Dies löst eine Reihe von Folgereaktionen aus: Bindung des modifizierten GR an so genannte »glucocorticoid response elements« (GRE) die in Promotorregionen von »GC-responsive« Genen lokalisiert sind; diese Gene werden danach meist aktiviert (Transaktivierung); aktivierter GR kann aber auch direkt an Transkriptionsfaktoren binden (z. B. »activating protein-1«) und diese inaktivieren (Transrepression). Die Transaktivierung von proapoptotischen Faktoren und die Transrepression von antiapoptotischen Faktoren führt zur Einleitung des Zelltodes (Tissing et al. 2003). Eine geringe Zahl von GR in leukämischen Blasten korreliert mit einer schlechten Prognose (Ronghe et al. 2001). Indikationen. GC werden bei der Behandlung von akuten
lymphoblastischen Leukämien (ALL), Lymphomen und Langerhans-Zell-Histiozytosen eingesetzt. Pharmakokinetik. GC werden nach oraler Gabe fast voll-
Dosierung. Topotecan wird i.v. in Dosierungen um 2 mg/m2/
ständig resorbiert (>80%). Pharmakokinetische Daten zeigen ausgeprägte interindividuelle Unterschiede. Fraktionierung der Tagesdosis auf 3 Gaben erhöht die Wirksamkeit von Prednisolon (40–60 mg/m2/Tag). Dexamethason (6–20 mg/m2/Tag) hat eine etwa 5fach stärkere Wirksamkeit und doppelt so lange Halbwertszeit (4,5 h) wie Prednisolon (Ronghe et al. 2001). Die Elimination erfolgt vorwiegend hepatisch. Fehlende Bindung an Transcortin im Plasma wird als bedeutsam für die unter Dexamethasontherapie gesehene geringere Rate an ZNS-Rezidiven bei Kindern mit ALL erachtet (Bostrom et al. 2003).
Tag (1–5,2 mg/m2/Tag) über 5 Tage (3–12 Tage) gegeben (Bomgaars et al. 2001; Langler et al. 2002).
Nebenwirkungen. Dexamethason scheint wesentlich stärker
Indikationen. Camptothecine sind bei zahlreichen therapie-
refraktären Malignomen im Rahmen von Phase I und II Studien getestet worden und scheinen v. a. bei Rhabdomyosarkomen und Neuroblastomen wirksam zu sein.
Pharmakokinetik. Die Elimination erfolgt renal (mittlere
HWZ etwa 4 h). Pharmakokinetische Parameter aller Camptothecine zeigen ausgeprägte interindividuelle, jedoch geringe intraindividuelle Schwankungen. Irinotecan (CPT11) wird durch Carboxylesterase (CE) zu dem bis zu 1000-fach wirksameren Metaboliten SN-38 aktiviert. Leber und intestinale Epithelien sind reich an CE, weshalb nach oraler Gabe die Umwandlung zu SN-38 wesentlich effizienter ist als nach intravenöser (nur 10% der Dosis wird aktiviert). Die Inaktivierung erfolgt hepatisch durch Glukuronidierung (UGT1A1) oder Reaktion mit Zytochrom-P450 (CYP3A4). Polymorphismen in den entsprechenden Enzymen können die systemische Exposition beeinflussen. Optimale Dosis, Dauer und Kombinationen sind noch festzulegen.
als Prednisolon das lineare Knochenwachstum und den Knochenstoffwechsel zu beeinträchtigen sowie eine Gewichtszunahme hervorzurufen (Ahmed et al. 2002). GC induzierte avaskuläre Knochennekrosen (AVN) mit Gefahr der progressiven Gelenkszerstörung treten bei etwa 10% aller Kinder nach moderner ALL Behandlung auf. Risikofaktoren sind weibliches Geschlecht und Alter über 10 Jahre (Inzidenz der AVN bis zu 20%; Mattano, Jr. et al. 2000). Knochenmorbidität im allgemeinen (Frakturen und AVN) wird v. a. nach Dexamethasongaben mit einer kumulativen 5-JahresInzidenz von bis zu 30% gesehen (Strauss et al. 2001). Auch kognitive Funktionsstörungen scheinen nach Dexamethasontherapie häufiger aufzutreten (Waber et al. 2000). 50.12
L-Asparaginase und Pegaspargase
Nebenwirkungen. Myelosuppression und Typhlitis (granulozy-
topenische Kolitis) sind dosislimitierend (Furman et al. 2002). 50.11
Glukokortikoide
! Verwendet werden die synthetischen Glukokortikoide (GC) Prednison, Prednisolon und Dexamethason. Prednison wird in der Leber zu Prednisolon
Wirkungsweise. Asparagin ist nicht essenziell für normale
Körperzellen, aber essenziell für lymphatische Blasten, da letzteren das Enzym zur Synthese von Asparagin fehlt. L-Asparaginase katalysiert die Desaminierung von Asparagin zu Asparaginsäure und führt zur Depletion des zirkulierenden Asparagin-Pools mit Verarmung von lymphatischen Blasten an dem für die Zellteilung essenziellen Asparagin.
50
572
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Pharmakokinetik. Bei einer Dosierung von 3000–6000 Einheiten/m2 an jedem 2. Tag bzw. 10000 Einheiten/m2 an jedem 3. Tag fällt der Plasmaspiegel sofort nach Gabe der Substanz, wobei eine Aktivität von 100 U/l über eine Woche aufrecht erhalten werden sollte. Etwa 1–3 Wochen nach Applikation ist keine Plasmaaktivität mehr nachweisbar.
III
Nebenwirkungen. Da L-Asparaginase aus Bakterien (Esche-
richia coli bzw. Erwinia chrysanthemi) gewonnen wird, liegt das Hauptproblem in der möglichen Bildung von Antikörpern und damit verbundenen Hypersensitivitätsreaktionen und/oder Inaktivierung. Die Sensibilisierungsrate ist unterschiedlich; in manchen Therapieprotokollen wurden bei 70% der zuvor Behandelten Anti-Asparaginase-Antikörper gefunden, wobei klinisch manifeste Hypersensitivitätsreaktionen bei bis zu 45% der Patienten auftraten (Woo et al. 2000). Die Rate der Hypersensitivitätsreaktionen steigt mit der Anzahl der Gaben innerhalb eines Therapiezyklus, v. a. aber mit erneuter Gabe nach einem Asparaginase-freien Intervall (Muller u. Boos 1998). Mangel an Asparagin führt zu Proteinsynthesestörungen: Hypolipoproteinämie und/oder Hypoalbuminämie, Hypoinsulinämie mit Hyperglykämie, sowie Gerinnungsstörungen ( Abschn. 50.15.2). Weitere seltene unerwünschte Wirkungen sind Pankreatitis sowie hepatische und neurologische Dysfunktionen. Pegaspargase. Anlagerung von Polyethylenglykolmolekülen (PEG) an L-Asparaginase (Pegaspargase) erhöht die Plasmahalbwertszeit um das 6-fache und verringert die PlasmaClearance. Der Hauptvorteil dieser chemischen Modifikation liegt allerdings im deutlich reduzierten Risiko immunologischer Reaktionen. So kann Pegaspargase auch bei Patienten eingesetzt werden, die durch das native Enzym immunisiert sind. Wirksamkeit und Toxizität werden durch die Einführung der PEG-Gruppen nicht beeinflusst (Asselin 1999).
50.13
All-trans-Retinsäure
! All-trans-Retinsäure (ATRA) ist eine hochspezifische und effektive Substanz zur Remissionsinduktion bei der akuten Promyelozytenleukämie (APL, AMLFAB M3). Wirkungsweise. Der zugrundeliegende molekulare Mechanismus wird erklärt mit einer reduzierten Retinsäuresensitivität eines nukleären Rezeptor-Korepressors, der an das APL-spezifische Fusionsprotein PML-RARα (»promyelocytic leukemia gene« – »retinoic acid receptor-α«) bindet. Dieses Fusionsprotein inhibiert die Dissoziation des HistonDeacetylase-Korepressor-Komplexes, was eine Differenzierungsblockade zur Folge hat. ATRA ermöglicht die Dissoziation des Korepressors, die anschließende Bindung des Koaktivators SRC-1 (»steroid receptor coactivator-1«) mit Histon-Acetylierungsaktivität und somit die weitere Transkription und Differenzierung der Zellen. Die Bindungsaffinität von ATRA an das Fusionsprotein PML-RARα ist höher als an das Wildtypprotein RARα, so dass eine spezifische Therapie der APL möglich ist. Allerdings ist eine alleinige Differenzierungsinduktion zum Erreichen und
Aufrechterhalten einer kompletten Remission nicht ausreichend, es muss zusätzlich eine zytostatische Polychemotherapie durchgeführt werden (Mann et al. 2001). Nebenwirkungen. Da ATRA ein natürlicher Metabolit des Retinols ist, umfassen die unerwünschten Wirkungen v. a. den Symptomkomplex einer Hypervitaminose A. Das Retinsäure-Syndrom, ein Komplex aus Fieber, Kapillardefekt, Hyperleukozytose, Organinfiltrationen von Leukozyten und Pseudotumor cerebri, ist als schwerwiegende Nebenwirkung für Therapie-assoziierte Mortalität und Morbidität verantwortlich.
50.14
Gezielte Therapie
Die bisher vorgestellten zytostatischen Arzneistoffe sind aufgrund ihres Wirkmechanismus nicht in der Lage, spezifisch maligne Zellen anzugreifen, sondern entfalten ihre Wirkung auch in normalen Körperzellen ( Abschn. 50.2.3). Arzneistoffe, die gezielt maligne Zellen bekämpfen (»targeted therapy«), sollten theoretisch sicherer und effektiver als konventionelle Zytostatika sein. Das Aminopyrimidinderivat Imatinibmesylat wirkt selektiv auf die aus dem PhiladelphiaChromosom [Translokation t(9;22)] resultierende Tyrosinkinase BCR-ABL ein. Dies hat in BCR-ABL-exprimierenden Zellen folgende Effekte: ▬ Hemmung der BCR-ABL-Auto- und Substratphosphorylierung, ▬ Inhibition der Proliferation und ▬ Induktion der Apoptose. Eine Imatinibmesylat-Behandlung findet momentan Anwendung bei der chronisch myeloischen Leukämie (CML); der Einsatz bei der prognostisch ungünstigen PhiladelphiaChromosom-positiven ALL wird derzeit in klinischen Studien geprüft (Gambacorti-Passerini et al. 2003). Das Wirkprinzip von Gemtuzumab-Ozogamicin beruht auf der Kopplung des zytotoxischen Calicheamicins an einen gegen das humane Oberflächenantigen CD33 gerichteten Antikörper. CD33 wird von der Mehrzahl myeloischer Blasten exprimiert. Nach der spezifischen Antigen-AntikörperBindung wird der Komplex internalisiert und induziert den Zelltod. In Studien zur Testung der klinischen Wirksamkeit wurde über schwerwiegende unerwünschte Wirkungen, wie Hypersensitivitätsreaktionen, pulmonale Toxizität und Hepatotoxizität berichtet (Bross et al. 2001; Giles et al. 2001). Eine Bewertung kann zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht vorgenommen werden. 50.15
Vermeidung und Behandlung wichtiger unerwünschter Wirkungen
50.15.1 Akut vital bedrohliche unerwünschte
Wirkungen Methotrexat-Intoxikation und MTX-Schock. Hochdosiertes
i.v. verabreichtes Methotrexat (HD-MTX) ist potenziell letal, kann aber unter strikter Einhaltung klar definierter Rahmen-
573 50 · Chemotherapie
bedingungen relativ sicher gegeben werden (Inzidenz letaler Komplikationen unter 1%; Messmann u. Allegra 2001). Trotz Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften kann unter HDMTX eine Einschränkung der Nierenfunktion auftreten. Dies ist eine akut lebensbedrohliche Situation. Da MTX vorwiegend renal eliminiert wird, kommt es zur Kumulation extrem hoher MTX-Mengen mit der Gefahr schwerer, potenziell tödlicher Organschädigungen (Nieren, Leber, Knochenmark, Schleimhäute). Je nach Schweregrad der verzögerten MTX-Ausscheidung ist eine adäquate Erhöhung des »leucovorin-rescue« (Kalziumfolinat), unter Beachtung des Kalziumspiegels (cave: Gefahr kardialer Arrhythmien bei zu schneller Infusion; Flombaum u. Meyers 1999), oder bei schwerer Intoxikation die Gabe von Carboxypeptidase-G2 (CPDG2: 50 U/kg) indiziert (Krause et al. 2002). CPDG2 spaltet MTX zu den inaktiven Metaboliten DAMPA (4-Deoxy-4-Amino-N10-Methylpteroinsäure) und Glutaminsäure. Die Gabe von CPDG2 ist wirksam, sicher und sollte bei protrahierten MTX-Plasmaspiegeln über 10 µmol/l in Betracht gezogen werden (Krause et al. 2002). Hämo- und Peritonealdialyse sind mögliche, jedoch sehr aufwendige Verfahren. Cave Unter laufender MTX-Infusion (12 g/m2) sind bei Osteosarkompatienten wiederholt Schockzustände aufgetreten, die nur durch aggressive kreislaufunterstützende Maßnahmen beherrschbar waren und nur unter diesen Bedingungen auch ohne wesentliche Folgeschäden verliefen. Bei fehlender Aufrechterhaltung des Nierenperfusionsdrucks wurde eine massive Toxizität beobachtet (Bielack 2003).
Sonographische Hinweise sind Lebervergrößerung, Aszites, Gallenblasenwand-verdickungen, Änderung im Durchmesser der Portal- und Lebervenen sowie Veränderungen des Portal- und Leberveneflusses mit Flussumkehr in den Paraumbilikalvenen. Klinische Diagnosekriterien (Seattle) sind: Vor Tag 20 nach SZT finden sich mindestens 2 der folgenden Kriterien: ▬ Bilirubin 2 mg/dl (≈34 µmol/l), ▬ Hepatomegalie, Schmerz im rechten Oberbauch, ▬ Aszites +/– unerklärte Gewichtszunahme um mehr als 2%. Oft zeigt sich im Vorfeld eine transfusionsrefraktäre Thromobozytopenie. Eine effektive Prophylaxe ist bislang nicht bekannt. Bei bekannt hohem Risiko sollten lebertoxische Substanzen möglichst vermieden werden. Ein endothelprotektiver Effekt wird für Defibrotide beschrieben und zeigt in den bislang vorliegenden Studien Therapieerfolge (Dosierung von 40–60 mg/kg/Tag). Defibrotide ist ein Einzelstrang Polydeoxyribonukleotid, das in kleinen Gefäßen an Endothelzellen (z. B. SEC) bindet und lokal die Koagulation hemmt und die Fibrinolyse steigert. Wegen der kurzen Halbwertszeit sollte Defibrotide viermal täglich i.v. verabreicht werden; als unerwünschte Wirkungen sind leichte Blutdruckabfälle mit Tachykardie und nicht signifikante Veränderungen der Gerinnungsparameter zu erwarten (Chopra et al. 2000). Defibrotide ist für die Indikation der HVOD im deutschsprachigen Raum nicht zugelassen, die Anwendung erfolgt bislang mit experimentellem Ansatz. Intrathekale Injektion von Vincristin. Die akzidentelle in-
Hepatische venookklusive Erkrankung. Die HVOD ist eine
Hauptursache der Morbidität und Mortalität nach Hochdosis Chemotherapie vor Stammzelltransplantation (SZT). Die Inzidenz wird je nach Grunderkrankung und einwirkenden Noxen mit bis zu 70%, die Mortalität mit bis zu 67% angegeben (Coppell et al. 2003). Risikofaktoren sind Lebervorschäden, frühere SZT, Konditionierungsregime (Cyclophosphamid, Busulfan, Dacarbazin, Gentuzumab-Ozogamicin), Art der SZT (höheres Risiko: allogene SZT; geringeres Risiko: T-Zell-depletierte, CD34+-selektierte Grafts und Grafts von syngenen Spendern), Begleitmedikation (Cyclosporin-A, MTX, Azathioprin, Norethisteron) und genetische Faktoren (Polymorphismen im Glutathion-S-Transferase- und im Tumornekrosefaktor-α-Gen). Die Pathogenese ist nicht genau geklärt, jedoch dürften Störungen der Glutathionregulierten Entgiftungsreaktionen in sinusoidalen Endothelzellen (SEC) eine wichtige Rolle spielen, da diese initial geschädigt werden. Laborchemisch lässt sich initial oft nur eine Hyperbilirubinämie fassen. Später können die Transaminasen ansteigen. Ein früher Transaminasenanstieg spiegelt einen schweren hepatozellulären Schaden mit schlechter Prognose wider. Veränderungen der plasmatischen Gerinnung (Erniedrigung: AT-III, Protein C und S, Erhöhung: vWF, Thrombomodulin und Plasminogenaktivator Inhibitor-I) werden gesehen. Plasmaspiegel von Hyaluronsäure, CA-125 und die Aktivitätsbestimmung der vWF-spaltenden Protease (ADAMTS13) scheinen prädiktiv und diagnostisch zu sein.
trathekale Gabe von Vincristin führt zu einer aufsteigenden Myeloenzephalopathie mit ausgeprägten Nekrosen. Nur bei sofortiger Intervention konnte bislang in Einzelfällen der letale Ausgang verhindert werden. Akutmaßnahmen umfassen eine sofortige Aspiration von kontaminiertem Liquor gefolgt von einer möglichst raschen zerebrospinalen Lavage zur Beseitigung des toxischen Agens, die über einen Ventrikelkatheter über mindestens 24 h (z. B. Ringer-Laktat 100 ml/h) erfolgen sollte. Zeichen einer chemisch induzierten Leptomeningitis und Ventrikulitis sind jedoch nicht zu verhindern, die Toxizität ist dosisabhängig und kann stark variieren. Ein spezifisches Antidot existiert nicht (Alcaraz et al. 2002). 50.15.2 Nicht vital bedrohliche unerwünschte
Wirkungen Paravasate. Als Paravasat oder Extravasat wird eine unbe-
absichtigte Applikation eines Zytostatikums in das Unterhautfettgewebe oder tiefere Gewebsschichten statt der gewünschten – meist intravenösen – Anwendung bezeichnet. Die Häufigkeit wird mit 0,1–6 % angegeben (Barth u. Klonke 2003), wobei eine exakte Inzidenz schwierig zu erheben ist. ⊡ Tabelle 50.2 zeigt eine Einteilung der wichtigsten Zytostatika in die Kategorien schwach reizend, reizend und Nekrose-induzierend. Einige Zytostatika sind lokal untoxisch und können s.c. oder i.m. verabreicht werden, während alle unter Nekrose-induzierend aufgeführten Zytostatika bei Paravasation zu Ulzeration und Gewebstod führen.
50
574
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
⊡ Tabelle 50.2. Lokale Toxizität von Zytostatika nach Paravasation (nach Barth u. Kloke 2003). Die Einteilung der Zytostatika wird in der Literatur unterschiedlich vorgenommen und ist bei einigen Substanzen sehr umstritten
III
Schwach reizend (nicht vesikant)
Reizend (irritant)
Nekroseinduzierend (vesikant)
Asparaginase*
Carmustin
Amsacrin
Bleomycin*
Dacarbazin
Dactinomycin
Carboplatin
(Docetaxel)*
Daunorubicin
Cisplatin
Estramustin
Doxorubicin
Cladribin
Mitoxantron
Epirubicin
Cyclophosphamid
(Paclitaxel)*
Idarubicin
Cytarabin*
(Thiotepa)*
Etoposid
Mitomycin C Vinblastin
Fludarabin
Vincristin
5-Fluoruracil*
Vinorelebin
Gemcitabin Ifosfamid Irinotecan Melphalan Methotrexat* Oxaliplatin Pentostatin Tenoposid Topotecan * die Kategorie »schwach reizend« ist als relativ zu sehen, da einige Substanzen auch subkutan und/oder intramuskulär gegeben werden können.
Symptome einer Extravasation sind Schmerzen und Brennen im Bereich der Injektionsstelle, Schwellung, Rötung, Abnahme der Infusionsgeschwindigkeit, Widerstand bei der Injektion und/oder geringe oder gar keine mögliche Aspiration von Blut. Falls ein Patient während der Applikation eines Zytostatikums über die oben genannten Symptome klagt, sind unverzüglich folgende Maßnahmen zu ergreifen: ▬ sofortiges Stoppen der Infusion, ▬ Aspiration von Paravasat aus dem Gewebe bei liegender Nadel, ▬ Ruhigstellen der Extremität und Gabe lokaler, sofern vorhanden spezifischer Antidota. Die Applikation von Kälte oder Wärme muss differenziert erfolgen, da substanzabhängige Kontraindikationen bestehen. Die spezifische Behandlung von Paravasaten mit lokalen Antidota erfolgt in der Regel empirisch, wobei den beiden Substanzen Hyaluronidase und DMSO (Dimethylsulfoxid) ein gesicherter interventioneller Wert zugeschrieben wird, während für die subkutane Gabe von Glukokortikoiden, Natriumthiosulfat oder Natriumhydrogencarbonat keine gesicherten Daten hinsichtlich des Nutzens vorliegen. Das Enzym Hyaluronidase führt über die Depolymerisation von Hyaluronsäure zu einer Auflockerung von Bindeund Stützgewebe. Durch den erleichterten Flüssigkeitsaustausch zwischen Gewebe und Gefäßen wird die systemische Aufnahme subkutaner Flüssigkeitsmengen erleichtert. DMSO
verfügt über antiinflammatorische, lokalanästhetische, vasodilatatorische und Kollagen-auflösende Wirkungen. Bezüglich detaillierter Therapieempfehlungen muss aus Platzgründen auf entsprechende Fachliteratur verwiesen werden (Mader 2002). Kardiotoxizität und deren Vermeidung. Da die Kardiotoxizität der Anthrazykline und Anthracendione ( Abschn. 50.6) einen entscheidenden limitierenden Faktor ihrer klinischen Anwendung darstellt, gibt es diverse Ansätze, das Verhältnis von erwünschter zu unerwünschter Wirkung zu optimieren. Eine Strategie ist die Verbesserung der Galenik. Die Verpackung von Anthrazyklinen in Liposomen, die an ihrer Oberfläche hydrophile Methoxypolyethylenglykol-Ketten enthalten, ändert deren pharmakokinetische Eigenschaften. Diese Ketten bilden einen Oberflächenschutz. Dies bewirkt eine verlängerte Zirkulation im Blutkreislauf, reduziert die Konzentration des freien Arzneistoffs und führt zur Anreicherung des Wirkstoffs in Tumorzellen. Dadurch konnte eine deutliche Reduktion der akuten Kardiotoxizität bei mindestens gleicher Effektivität erreicht werden (Cortes et al. 2001). Allerdings sind bisher noch keine Langzeitdaten vorhanden. Ein zweiter Ansatz beruht auf dem Einsatz kardioprotektiver Substanzen. Obwohl viele potenziell wirksame Substanzen getestet wurden (Digoxin, Vitamin E, Carnitin, Acetylcystein oder Kortikosteroide), konnte nur für Dexrazoxan (in Deutschland derzeit kein Präparat zugelassen) gezeigt werden, dass es vor Anthrazyklin induzierter Kardiotoxizität schützt, ohne deren zytostatische Effektivität negativ zu beeinflussen (Basser et al. 1994). Dabei scheint die Chelatisierung von Eisen eine entscheidende Rolle zu spielen. Dosislimitierender Faktor des Dexrazoxans ist die Myelotoxizität, Langzeiterfahrungen fehlen. Vincristin-Neuropathie. Dosislimitierend bei Vincristin ist
die periphere (kumulative) Neurotoxizität, die sensorische Fasern (Abschwächung der Muskeleigenreflexe, Parästhesien der distalen Extremitäten, Muskelschwäche der Fuß- und Handheber, Unterkieferschmerzen, Lähmungen der Hirnund Kehlkopfnerven) und das autonome Nervensystem (Obstipation, paralytischer Ileus, Harnverhalt, Hypotonie, Impotenz) betreffen kann. Verursacht wird die Neurotoxizität wahrscheinlich durch die Interaktion von Vincristin mit Mikrotubuli, wodurch der axonale Transport blockiert und eine axonale Degeneration induziert wird (Gidding et al. 1999). Die Mehrzahl der Veränderungen ist auch ohne Gabe von Aminosäuren, Vitaminen, Folsäure oder Gangliosiden reversibel, bleibende Schäden kommen aber vor. Als Risikofaktoren gelten Leberfunktionsstörungen und Kumulativdosis (Konzentration × Zeit des Alkaloids). Auf regelmäßige Stuhlentleerung ist zu achten und ggf. mit Lactulose oder anderen Laxanzien nachzuhelfen. Asparaginase-bedingte Koagulopathie. Therapie mit
L-Asparaginase beeinflusst die Proteinsynthese. Dadurch können Blutgerinnungsstörungen auftreten, die sich als Hämorrhagie, disseminierte intravasale Koagulation oder thrombotische Komplikationen mit z. T. erheblicher klinischer Relevanz manifestieren. Die Gesamtprävalenz thromboembolischer Komplikationen bei Kindern unter Asparagi-
575 50 · Chemotherapie
nasetherapie beträgt einer aktuellen prospektiven Studie zufolge 36,7%, der Anteil an symptomatischen thromboembolischen Komplikationen wird mit 4–5% angegeben (Mitchell et al. 2003). Patienten mit Defekten der Gerinnungskaskade (FaktorII- und Faktor-V-Mutationen, Protein-S-, Antithrombin- und Protein-C-Mangel) haben ein erhöhtes Thromboserisiko (Müller u. Boos 1998). Eine Korrelation zwischen Asparaginaseaktivität und Gerinnungsfaktorstatus konnte jedoch nicht gezeigt werden. Im Rahmen der Kombinationstherapie mit Glukokortikoiden scheint der Ersatz von Prednison durch Dexamethason das Auftreten von Thromboembolien signifikant zu verringern, was jedoch noch prospektiv zu prüfen ist (Nowak-Göttl et al. 2003).
Die Arzneimittelwirkung wird wesentlich durch die individuelle biochemische und genetische Ausstattung von normalen und malignen Zellen beeinflusst. Die Entschlüsselung dieser komplexen Mechanismen und deren Nutzung zur Therapiesteuerung im Sinne einer individuellen Chemotherapie sind wesentliche Ziele der modernen Pharmakologie. Einen Lösungsansatz bietet die Pharmakogenomik ( Kap. 49) an. Im Zusammenhang mit dem humanen Genomprojekt sind zahlreiche Paradigmenwechsel u. a. im Bereich der Pharmakologie angekündigt worden (Peltonen u. McKusick 2001; Ratain u. Relling 2001). Obwohl sogar die Nomenklatur von Pharmakogenetik zu Pharmakogenomik geändert wurde, bleibt die Fragestellung prinzipiell unverändert: Ist es möglich, Variationen im Genotyp mit dem Phänotyp Arzneimittelreaktion zu korrelieren? Die etwa 3,2 Billionen Basenpaare der menschlichen Desoxyribonukleinsäure (DNA) weisen zwischen nicht verwandten Individuen eine Homologie von 99,9% auf; die Variabilität von 0,1% bedeutet, dass Unterschiede in etwa 3 Millionen Basenpaare vorliegen. Diese sind meist »single nucleotide polymorphisms« (SNP). Die Entschlüsselung von SNP-Muster, die direkt oder durch Assoziation mit bekannten Genen (»linkage disequilibrium«) definierte Arzneimittelreaktionen hervorrufen, ist ein ultimatives Ziel der Pharmakogenomik. Fortschritte in diesem Bereich sind wesentlich von der Verbesserung der Methodik, z. B. Genotypisierung mittels Massenspektrometrie und leistungsfähigen Computerprogrammen zur statistischen Auswertung, abhängig. Eine mögliche Strategie zur Entschlüsselung komplexer Arzneimittelreaktionen im Rahmen der Polychemotherapie ist die Anwendung der Microarray-Chip-Technologie. Diese Methodik erlaubt beispielsweise die Bestimmung und den Vergleich der Genexpression in Tumorzellen vor und nach Therapie mit bestimmten Substanzen. Tatsächlich konnte in einer rezenten Studie eine solche substanzspezifische Änderung des Genexpressionsmusters in leukämischen Blasten gezeigt werden (Cheok et al. 2003). Mit Hilfe dieser und weiterer neuer Strategien (z. B. Proteomik) sollte es möglich sein komplexe zelluläre Wirkmechanismen von Zytostatika genauer zu charakterisieren und basierend auf diesem Wissen die konventionelle Zytostatikatherapie zu optimieren und neue Zielstrukturen für eine wirksame, nebenwirkungsarme Therapie zu finden.
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576
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
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50
Strahlentherapie R. Pötter, K. Dieckmann
III
51.1 51.2
Einleitung – 578 Physikalische Grundlagen
51.2.1 51.2.2 51.2.3
Ionisierende Strahlung – 579 Apparative Grundlagen – 580 Technische Aspekte der Qualitätssicherung und Strahlenschutz – 580
– 579
51.3
Biologische Grundlagen
51.3.1 51.3.2 51.3.3
Zelluläre Reaktionen – 580 Dosis-Überlebenskurven – 581 Besonderheiten der Tumorreaktion
51.4
Allgemeine Aspekte der Radiotherapie – 582
51.4.1 51.4.2 51.4.3
Strahlendosen und Volumina – 582 Dosierung und Fraktionierung – 583 Kombination von Radiotherapie und medikamentöser Therapie – 584 Kombination von Radiotherapie und Operation
51.4.4
– 580
– 581
51.5
Spezielle Planung und Durchführung der Radiotherapie – 585
51.5.1 51.5.2 51.5.3 51.5.4 51.5.5 51.5.6 51.5.7 51.5.8 51.5.9
Grundlagen und aktuelle Entwicklungen Patientenlagerung – 585 Sedierung – 586 Therapieplanung – 586 Teletherapie – 586 Ganzkörperphotonentherapie – 587 Brachytherapie – 587 Intraoperative Radiotherapie – 588 Hadronentherapie – 588
– 585
51.6
Akute und chronische Strahlenfolgen – 588
51.6.1 51.6.2 51.6.3 51.6.4 51.6.5 51.6.6 51.6.7 51.6.8 51.6.9 51.6.10 51.6.11 51.6.12 51.6.13 51.6.14 51.6.15 51.6.16
Skelett und Weichteile – 589 Endokrine Organe – 589 Haut – 590 Verdauungstrakt – 590 Leber – 590 Knochenmark – 590 Nervensystem – 591 Herz – 591 Lunge – 591 Nieren – 591 Harnblase – 591 Mamma – 591 Auge – 591 Ohr – 592 Speicheldrüsen und Zähne – 592 Sekundärmalignome – 592
Literatur
– 592
– 585
»Schwester Karin hat mir erzählt, dass ich mich allein auf einen kalten Tisch unter eine Riesenmaschine legen muss und immer ruhig liegen muss. Aus dem riesigen Geräte sollen Strahlen kommen. Die Schwestern und meine Mama werden nach draußen gehen und die Tür zumachen. Strahlen sollen nicht weh tun, aber das glaube ich nicht. Morgen wollen sie mir die »Bestrahlungsfelder« aufmalen, die ich dann nicht mehr abwaschen soll«. Ängste, Gefühle und Fragen des 10-jährigen Kai. Die Radioonkologie hat in den letzten 100 Jahren eine stürmische Entwicklung durchlaufen; sie hat enorme Fortschritte auf physikalisch-technischem Sektor und bei den klinischen Anwendungen zu verzeichnen. Moderne Bestrahlungsgeräte und computergestützte Bestrahlungstechniken mit unterschiedlichen Dosierungen und Fraktionierungen ermöglichen vielfältigste individuelle Verteilungen der Strahlendosis. Dieses Kapitel wird einen Einblick in die Grundlagen der Radioonkologie und deren therapeutischen Anwendung in der pädiatrischen Onkologie geben.
51.1
Einleitung
Indikation. Indikationsstellungen zur Anwendung von ionisierenden Strahlen im Rahmen pädiatrisch onkologischer Behandlungskonzepte haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich gewandelt. Bei insgesamt deutlich verbesserten Ergebnissen der onkologischen Therapie sind die therapieassoziierten Spätfolgen bei der Entwicklung von Therapieprotokollen und bei der Festlegung der individuellen Therapiestrategie heute von großer Bedeutung. Besonders bei Kleinkindern wurde bei entsprechenden Therapiealternativen (v. a. durch Chemotherapie) bei zu erwartenden erheblichen radiogenen Spätfolgen (z. B. Wachstumsstörungen, neuropsychologische Defizite) die Indikation einer Strahlentherapie einer kritischen Evaluation unterzogen. Bei prognostisch günstigen Subgruppen konnte bei einigen Malignomen (z. B. ALL, NHL, Nephroblastome, Neuroblastome) auf die Strahlentherapie im Rahmen der interdisziplinären Therapiekonzepte weitgehend verzichtet werden (Dörr et al. 2000). In zahlreichen pädiatrisch-onkologischen Behandlungskonzepten ist die Strahlentherapie allerdings nach wie vor essenzieller Bestandteil der multimodalen Therapie: Morbus Hodgkin, Hirntumoren, Weichteilsarkome, Leukämierezidive. Auch bei diesen Tumorgruppen wird die Intensität der Behandlung einschließlich der Radiotherapie (Dosis und Volumen) an das jeweilige individuelle Risiko so weit möglich angepasst.
579 51 · Strahlentherapie
! Bei der kurativen Primärtherapie können durch die Kombination der unterschiedlichen Behandlungsoptionen die Nebenwirkungen der einzelnen Therapiemodalitäten bei vergleichbarer Effektivität oft deutlich reduziert werden.
Im Rahmen der palliativen Therapie behält die Strahlentherapie als sehr gut wirksame lokale Therapie, bei nur mäßig ausgeprägten akuten Nebenwirkungen bei der Mehrzahl der Malignome im Kindesalter, nach wie vor ihren hohen Stellenwert. Computergestützte Strahlentherapie. Die heutigen strah-
lentherapeutischen Anwendungen profitieren wesentlich von der Weiterentwicklung bildgebender Verfahren (Computertomographie, Magnetresonanztomographie, 3D-Ultraschall). Die hierauf basierenden computergestützten dreidimensionalen Bestrahlungsplanungssysteme, die moderne Beschleuniger-Technologie sowie die Computertechnologie, ermöglichen eine unmittelbare Integration all dieser Informationen. Die neuen bildgebenden Verfahren (einschließlich PET) gestatten eine genauere Abgrenzung des Tumors und des klinischen Zielgebietes sowohl im Rahmen der primären diagnostischen Abklärung und der Evaluation des Tumoransprechens, als auch in der Bestrahlungsplanung. Mithilfe der integrierten computergestützten 3D-Technologie lassen sich bei Anwendung hochpräziser individueller Lagerungssysteme die erforderlichen Bestrahlungsdosen auf das Zielgebiet fokussieren und umgebendes gesundes Gewebe deutlich besser schonen. Stellenwert der Radiotherapie im interdisziplinären Behandlungskonzept. Der Stellenwert der Strahlentherapie bei
Malignomen des Kindesalters ist von zahlreichen Faktoren abhängig: ▬ Histologie, tumorbiologische Eigenschaften, ▬ Tumorstadium einschließlich Tumorvolumen und -topographie (insbesondere Nachbarschaft zu strahlenempfindlichen Risikoorganen), ▬ wahrscheinlicher lokaler und systemischer Krankheitsverlauf, ▬ Strahlenempfindlichkeit des Tumors, ▬ Möglichkeiten der zusätzlich verfügbaren Behandlungsmodalitäten. Wegen der hohen Chemosensitivität der Mehrzahl der Malignome im Kindesalter und der häufigen systemischen Ausbreitung erfolgt zu Beginn der Behandlung nach bioptischer Sicherung meist eine Polychemotherapie. Wenn bei soliden Tumoren mit einem lokalisierten Tumorgeschehen im Anschluss nicht onkologisch radikal reseziert werden kann, wird eine definitive Strahlenbehandlung mit einer auf das Risiko abgestimmten Dosis durchgeführt: Weichteilsarkome, z. B. RME (32–45 Gy), inoperable Ewing-Sarkome (>50 Gy), inoperable Hirntumoren (55–70 Gy). Entsprechend ist das Vorgehen beim Morbus Hodgkin und den Leukämien, wobei wegen der hohen Radiosensitivität allerdings geringere Strahlendosen erforderlich sind (12–35 Gy). Nach onkologisch radikaler chirurgischer Tumorentfernung wird bei nennenswertem lokoregionalem Rezidivrisiko eine adjuvante Strahlenbehandlung des primären »Tumor-
bettes« bzw. der vermuteten regionalen Ausbreitung angeschlossen zur Verbesserung der lokoregionalen Tumorkontrolle, meist in Kombination mit einer Chemotherapie. Die Strahlendosis variiert mit der Strahlenempfindlichkeit und liegt meist deutlich unter der Strahlendosis, die für eine definitive Behandlung notwendig ist. Zur Linderung von Beschwerden (z. B. bei Knochen- und Weichteilmetastasen, Organmetastasen, inoperabler intraspinaler Metastasierung) erfolgt bei inkurablen Patienten eine den Symptomen angepasste lokale palliative Strahlenbehandlung. Die Dosis ist dabei individuell und abhängig vom angestrebten Therapieziel. ! Wird nach der präoperativen Chemotherapie nicht radikal reseziert, erfolgt eine definitive Strahlenbehandlung. Eine adjuvante Strahlenbehandlung, meist in Kombination mit einer Chemotherapie wird nach radikaler Tumorresektion zur Reduktion des lokoregionalen Rezidivrisikos durchgeführt.
51.2
Physikalische Grundlagen1
51.2.1 Ionisierende Strahlung In der Strahlentherapie werden meist Strahlenarten (Photonenstrahlung, γ-Strahlung, Elektronen) in Energiebereichen 50 kV bis 25 MV angewandt. Die Einheit der Energiedosis ist das Gray (Gy), ein Gray entspricht einer Energie von einem Joule pro Kilogramm (1 Gy=1 J/kg). Die früher verwendete, veraltete Einheit der Energiedosis ist das Rad (»radiation absorbed dose«, 1 Gy=100 rad; 1 cGy=1 rad). Photonenstrahlung. Röntgenstrahlen, hochenergetische Photonenstrahlung und γ-Strahlung sind elektromagnetische Wellen mit definierter Energie und von ihrer Natur her identisch, lediglich die Art der Erzeugung bzw. Herkunft unterscheidet sie. ▬ Röntgenstrahlen werden im Allgemeinen in Röntgengeräten erzeugt. ▬ γ-Strahlung entsteht durch Kernreaktionen beim Zerfall radioaktiver Elemente (z. B. 90Cobalt, 192Iridium). ▬ Hochenergetische Photonenstrahlung wird in so genannten Beschleunigern (z. B. Kreisbeschleuniger, Linearbeschleuniger) erzeugt. Der physikalische Grundvorgang ist derselbe wie bei der Erzeugung von Röntgenstrahlung: beschleunigte Elektronen werden an einem Target abgebremst, wobei hochenergetische Photonen entstehen.
Für alle Strahlenqualitäten nimmt die Energiedosis nach dem Dosismaximum (Dosisaufbau) mit zunehmender Tiefe ab (Dosisabfall). Die Steilheit des Dosisabfalls mit zunehmender Tiefe, aber auch die Lage des Dosismaximums hängt in erster Linie von der Energie der ionisierenden Strahlung ab. Elektronenstrahlung. Elektronenstrahlung unterscheidet sich grundsätzlich von Photonenstrahlung. Elektronen besitzen sowohl eine Masse als auch eine (negative) elektrische
1
Weiterführende Informationen und Literatur siehe Richter u. Flentje 1998.
51
580
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Ladung. Die Wechselwirkung von geladenen Teilchen mit Materie findet kontinuierlich unter Energieverlust statt, ihre Eindringtiefe ist begrenzt.
nanztomographie), andererseits die physikalischen Basisdaten der jeweiligen Strahlenart. 51.2.3 Technische Aspekte der Qualitätssicherung
51.2.2 Apparative Grundlagen
III
Teletherapie. Unter Teletherapie versteht man eine strahlentherapeutische Behandlung, bei der sich die Strahlenquelle in einem gewissen Abstand außerhalb des Patienten befindet. In allen Bestrahlungsgeräten, die in der Teletherapie Anwendung finden (konventionelle Röntgentherapiegeräte, Telecobaltbestrahlungsgeräte, Beschleuniger) muss die im Gerät erzeugte Strahlung an das gewünschte Bestrahlungsfeld angepasst (»kollimiert«) werden. Therapieplanung und Therapiesimulator. Ein Therapiesimulator ist technisch gesehen ein Röntgendurchleuchtungsgerät, das nahezu alle Einstell- und Bewegungsmöglichkeiten eines Teletherapiebestrahlungsgerätes in identischer Geometrie aufweist. Mithilfe eines Simulators werden die Bestrahlungsfelder mit dem Zielgebiet und den Risikoorganen, wie sie sich auf Röntgenbildern präsentieren lassen (Kontrastmittel), sowie alle geometrischen Parameter am Patienten für die folgende Bestrahlung festgelegt und entsprechende Markierungen auf der Haut des Patienten eingezeichnet. Brachytherapie. Unter Brachytherapie versteht man die An-
wendung umschlossener radioaktiver Stoffe in unmittelbarer Nähe zum Tumor. Charakteristisch für die Brachytherapie ist die Applikation hoher Dosen in unmittelbarer Tumornähe oder im Tumor unter weitgehender Schonung des umliegenden gesunden Gewebes. Bei der interstitiellen Therapie werden radioaktive Strahler direkt in das zu bestrahlende Gewebe implantiert. In der intrakavitären Therapie werden mithilfe von Applikatoren, in denen sich die radioaktive Quelle während der Bestrahlung befindet, körpereigene Hohlräume ausgenützt, um das Zielvolumen zu bestrahlen (z. B. Gynäkologie). Die Brachytherapie bietet die Möglichkeit, eine hohe Dosis in kurzer Zeit (wenige Minuten) zu applizieren. Je nach Dosisleistung wird zwischen »high-dose-rate« (HDR), »medium-dose-rate« (MDR) und »low-dose-rate« (LDR) bzw. »pulsed-dose-rate« (PDR) unterschieden. Die Dosisleistungen für diese Definitionen sind: HDR >12 Gy/h, MDR 2–12 Gy/h und LDR bzw. PDR <2 Gy/h. Bei der so genannten Afterloading-Technik (Nachladeverfahren) gibt es sowohl manuelle als auch motorische Applikationstechniken. Bei den heute üblichen motorischen Nachladetechniken wird die Quelle ferngesteuert aus einem Tresor in die Applikatoren gefahren. Dieses Prinzip ist die für den Strahlenschutz günstigere Alternative im Vergleich zu den früher üblichen manuellen Verfahren (Gerbaulet et al. 2002).
und Strahlenschutz Die für die Durchführung einer Strahlentherapie notwendigen technischen Geräte bzw. Hilfsmittel unterliegen strengen periodischen Kontrollen nach entsprechenden nationalen und internationalen Vorschriften (z. B. DIN, ÖNORM, EU-Richtlinien). ! Wie bisherige Erfahrungen gezeigt haben, sind bei Beachtung der Vorschriften weder das Personal noch die Patienten einer ungewollten Strahlenbelastung ausgesetzt. Die Einhaltung der Strahlenschutzmaßnahmen ist durch eine entsprechende Protokollierung nachvollziehbar. Die Strahlentherapie stellt heute bei richtiger Anwendung keine Gefahr für Patienten oder Personal dar.
51.3
51.3.1 Zelluläre Reaktionen Durch Wechselwirkungen zwischen ionisierender Strahlung (Photonen, Elektronen oder Protonen) und Wasser, das die in lebenden Systemen am häufigsten vorkommende Substanz darstellt, kommt es zur Bildung von freien Radikalen wie etwa von OH−. Diese Radikale reagieren mit biologischen Makromolekülen und verändern bzw. schädigen diese. ! Für die biologische Wirkung der Strahlung spielen Veränderungen an der DNA, insbesondere Doppelstrangbrüche, eine wesentliche Rolle, wobei auch Schäden an anderen Makromolekulen eine Bedeutung haben können. Von diesen primären, strahleninduzierten Veränderungen nehmen zahlreiche Signalübertragungsprozesse ihren Ausgang, in denen Moleküle wie etwa ATM, DNA-PKKCS oder TP-53 involviert sind.
Diese Signale werden mit anderen zellulären Signaltransduktionsprozessen, wie etwa Wachstumssignalen, Stressantwort, Hypoxiereaktion, integriert. Das Ergebnis dieser Integration bestimmt schließlich die zelluläre Reaktion auf ionisierende Strahlung (Schmidt-Ullrich et al. 2000). Zelluläre Reaktionen auf ionisierende Strahlung: Auslösung des programmierten Zelltodes (Apoptose) Temporäre oder permanente Unterbrechung des Zellzyklus Postmitotischer Zelltod bei induzierter genetischer Instabilität Weiterleben der Zellen nach fehlerfreier oder fehlerhafter (Mutation) Reparatur der Schäden
Rechnergestützte Bestrahlungsplanung. In der modernen
Brachy- und Teletherapie wird sowohl die Dosisverteilung im Patienten als auch die Bestrahlungszeit mithilfe geeigneter Software und leistungsfähiger Computer berechnet. Als Daten für diese Bestrahlungsplanung dienen einerseits anatomische Informationen, die durch bildgebende Systeme gewonnen werden (Computertomographie, Magnetreso-
Biologische Grundlagen2
2
Weiterführende Informationen und Literatur siehe Hall 2001.
581 51 · Strahlentherapie
In der Strahlentherapie wird unter Zelltod der Verlust der Klonogenität der malignen Zelle verstanden und nicht unbedingt ihr physischer Untergang. Die Abhängigkeit der zellulären Strahlenreaktion von der Integration strahleninduzierter und zellspezifischer Signale erklärt auch die seit über hundert Jahren bekannte Beobachtung, dass mitotisch aktive Zellen im Allgemeinen strahlensensibler sind als Zellen mit geringer Teilungsrate (Rosen et al. 1999). So reagieren beispielsweise Leukämiezellen bzw. Zellen der Darmschleimhaut oder des Knochenmarks aufgrund ihrer hohen Teilungsrate besonders sensibel auf ionisierende Strahlen, während differenzierte Zellen eines Teratoms oder Myozyten eine viel geringere Strahlensensibilität aufweisen. 51.3.2 Dosis-Überlebenskurven Zur Abschätzung der tumorbiologischen Wirksamkeit als auch der Nebenwirkungswahrscheinlichkeit eines radioonkologischen Therapieschemas ist die quantitative Beschreibung der Strahlenwirkung mit dem Endpunkt des Zelltodes erforderlich. Diese erfolgt anhand von so genannten Dosis-Überlebenskurven. Hierbei wird die Dosis im linearen Maßstab auf der Abszisse und das Zellüberleben (unabhängig von der Art des Zelltodes) im logarithmischen Maßstab auf der Ordinate aufgetragen. Diese Dosis-Überlebenkurve ist im einfachsten Fall eine Exponentialfunktion, also eine Gerade in der verwendeten halblogarithmischen Darstellung. Im Anfangsteil ist diese Kurve jedoch meist gekrümmt, entsprechend einem geringeren Effekt bei kleinen Dosen. Diese reduzierte Effektivität geringer Dosen bedeutet, dass die Wirkung einer fraktionierten Bestrahlung (z. B. 10 Fraktionen zu 2 Gy) in Bezug auf den Zelltod immer geringer ist als die einer einzeitigen (1 Fraktion zu 20 Gy). Diese Reduktion der Wirksamkeit ist jedoch im Allgemeinen zwischen Tumor und Normalgewebe unterschiedlich, da Tumoren meist eine eher gerade verlaufende Dosisüberlebenkurve zeigen während diese bei Normalgeweben deutlich stärker gekrümmt ist. Dies bedeutet, dass der Wirkungsverlust gegenüber der einzeitigen Bestrahlung bei Normalgeweben wesentlich stärker ist als bei malignen Tumoren. Somit besteht bei fraktionierter Bestrahlung der Vorteil einer selektiv höheren Wirkung auf das maligne Gewebe, weshalb die fraktionierte Bestrahlung das Standardverfahren in der Radioonkologie ist (Bentzen 1993). ! Aufgrund weit reichender Erfahrungen sowie theoretischer Überlegungen wird eine Fraktionierung von 2 Gy pro Tag mit einer Dosis von 10 Gy pro Woche als Standardtherapieschema angesehen. Abweichungen von diesem Fraktionierungsschema sind jedoch zur Erreichung besonderer Ziele wie Hyperfraktionierung, Hypofraktionierung, Akzelerierung und Protrahierung möglich.
51.3.3 Besonderheiten der Tumorreaktion Bei der Entwicklung eines stahlentherapeutischen Therapieschemas (Gesamtdosis, Einzeldosis, Fraktionierung sowie eventuelle Kombination mit zytotoxischer Chemotherapie) sind einige biologische Besonderheiten der Reaktion von Tumoren auf ionisierende Strahlung zu bedenken. Repair. Tumor- wie auch Normalgewebszellen brauchen für
die oben erwähnten intrazellulären Reaktionen auf ionisierende Strahlung eine gewisse Zeit. Überlebende Zellen reagieren also während dieser Reaktionszeit im Allgemeinen empfindlicher auf eine neuerliche Bestrahlung, als wenn diese Prozesse bereits abgelaufen sind. Obwohl jedes Zellsystem eine andere Zeitskala für die Reaktion auf ionisierende Strahlung besitzt, kann man für die klinische Praxis annehmen, dass nach 6 h eine Dosis-Überlebenskurve der die erste Fraktion überlebenden Zellen wieder so aussieht wie vor der ersten Fraktion. Deshalb wird in der Praxis ein zeitlicher Abstand von mindestens 6 h zwischen 2 Fraktionen gewählt. Reoxygenierung. Makroskopische Tumoren unterscheiden sich vom Normalgewebe durch die Existenz einer hypoxischen, bzw. anoxischen Zone. Während die anoxischen, nekrotischen Zellen für die Strahlentherapie ohne Bedeutung sind, zeigen die hypoxischen, aber noch vitalen Tumorzellen eine bis um den Faktor 3 reduzierte Strahlenempfindlichkeit. ! Bei einer Einzelbestrahlung werden die gut oxy-
genierten Tumorzellen präferenziell abgetötet. Durch diesen Zellverlust kommt es zu einer besseren Sauerstoffversorgung der bis dahin hypoxischen Zellen, die bei einer weiteren Einzelbestrahlung dann wieder eine günstigere Strahlensensitivität aufweisen.
Dieses Phänomen ist neben den im vorigen Absatz genannten Gründen eine der wesentlichsten Ursachen für die Fraktionierung der Strahlentherapie. Repopulation. Das Wachstum von Tumorzellen, das auch
während der Radiotherapie stattfindet, wirkt dem Effekt der Zellreduktion durch die Strahlung entgegen. Zusätzlich bewirkt der strahlenbedingte Zellverlust im Tumor, dass sich die überlebenden Tumorzellen aufgrund der nun günstigeren metabolischen Bedingungen rascher teilen können. Deshalb wird versucht, diese Repopulation des Tumors durch eine adäquat kurze Gesamtbehandlungszeit gering zu halten. Redistribution. Da die Zellen in verschiedenen Phasen
des Zellzyklus unterschiedlich strahlensensibel sind, bewirken ionisierende Strahlen eine partielle Synchronisation der Zellzyklusphase im Tumor. Dieser Effekt, der eine potenziell höhere Effizienz der Radiotherapie durch genaue Beachtung der zeitlichen Abfolge der Einzelfraktionen in der Theorie bewirken könnte, hat jedoch in der klinischen Praxis den erwarteten Vorteil bisher vermissen lassen.
51
582
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
51.4
Allgemeine Aspekte der Radiotherapie3
Die Effekte der Strahlentherapie auf Tumoren und Normalgewebe lassen sich im Wesentlichen beschreiben durch die Variablen »Dosis«, »Volumen« und »zeitliche Applikation der Dosis« (Fraktionierung, Dosisleistung), unabhängig von der jeweiligen Strahlenempfindlichkeit (Hall 2001).
III 51.4.1 Strahlendosen und Volumina Im Rahmen einer Strahlentherapie als alleiniger Therapieform sowie im Zusammenhang multimodaler Therapiekonzepte wird die Strahlendosis der (noch) vorhandenen Zellzahl bzw. dem Tumorvolumen angepasst (⊡ Abb. 51.1). So genügt z. B. bei Leukämie bzw. Hodgkin-Zellen bei einem residualen Tumorvolumen nach Chemotherapie unter der makroskopischen Nachweisbarkeitsgrenze (<1 mm3, Zellzahl <1 Mio.) eine Gesamtdosis von etwa 12/18 Gy bzw. 20 Gy in konventioneller Fraktionierung, um in >95% eine lokale Tumorkontrolle zu erzielen. Bei Sarkomen beträgt die notwendige Gesamtdosis nach Chemotherapie und ggf. Tumorresektion bei minimalem Residualvolumen ca. 45 Gy (32 Gy bei hyperfraktioniert akzelerierter Behandlung prognostisch günstiger Subgruppen von Rhabdomyosarkomen), bei Hirntumoren nach Tumorresektion abhängig von der Histologie etwa 50 Gy. Bei einem Tumorvolumen deutlich über der makroskopischen Nachweisbarkeitsgrenze 1–10–100 cm3 3
Weiterführende Informationen und Literatur siehe Scherer u. Sack 1996 sowie Bamberg et al. 2003.
⊡ Abb. 51.1. Reduktion der Tumormasse bei soliden Tumoren durch unterschiedliche Therapieformen. Schematische Darstellung des Anteils der überlebenden Zellen solider Tumoren bei unterschiedlichen Therapiestrategien: alleinige Radiotherapie, Radiotherapie in Kombination mit Chemotherapie, Radiotherapie in Kombination mit (präoperativer) Chemotherapie und Operation. Abhängig von der Strahlenempfindlichkeit und der Tumorgröße sind unterschiedliche Strahlendosen zur Reduktion der Zellzahl (6–9 bis hin zu 10–12 Zehnerpotenzen) notwendig. Die chirurgische Entfernung des Tumors kann zur vollständigen Elimination der Tumorzellen oder lediglich zu einer Reduktion der Tumormasse führen. Die Chemotherapie erzielt bei soliden Tumoren im Allgemeinen eine Reduktion der Tumor-
(Zellzahl 109–1011) ist zur Erzielung eines ähnlichen Effektes bei der entsprechenden Tumorentität jeweils eine höhere Strahlendosis notwendig: Morbus Hodgkin 20–35 Gy, Weichteilsarkome >45 Gy, Ewing-Sarkome 45–55 Gy, Hirntumoren >55 Gy. Für eine systematische Planung der Therapie, zur Erzielung einer eindeutigen, zuverlässigen und reproduzierbaren Kommunikation im klinischen Alltag wie auch im Rahmen wissenschaftlicher Studien haben sich in der Radioonkologie national und international im letzten Jahrzehnt zunehmend verbindliche Definitionen zur Beschreibung von Strahlendosen und Volumina durchgesetzt, die von der International Commission on Radiation Units and Measurements (ICRU, Bethesda) vorgeschlagen wurden (ICRU Report 50, 62). Abhängig von der therapeutischen Intention (kurativ, palliativ) sowie von den klinischen Ausbreitungswegen eines Tumors einschließlich der lymphogenen Metastasierungswege wird zwischen »gross tumor volume« (GTV), »clinical target volume« (CTV), und »planning target volume« (PTV) unterschieden (⊡ Abb. 51.2) Letzteres ist das für die Radiotherapie entscheidende Volumen, da es alle unvermeidlichen Unsicherheitsquellen bei der Applikation der Strahlung berücksichtigt. Der ICRU-Referenzpunkt repräsentiert die Dosis im Zielvolumen und ist klinisch relevant. Er ist einfach und unmissverständlich definiert, üblicherweise im Schnittpunkt der Bestrahlungsfelder. Die Dosis im ICRU-Referenzpunkt wird als ICRU-Referenzdosis bezeichnet. Bei einer Dosisangabe wird üblicherweise von dieser Dosisdefinition ausgegangen.
zellzahl um ein bis zwei Zehnerpotenzen, abhängig von der Ausgangssituation bis hin zu einer Zellzahl von 1010 bis 105. Dies entspricht einer Reduktion der Tumormasse um 50–99%. Die Strahlendosis ist abhängig vom gesamten therapeutischen Vorgehen. In der Abbildung wird eine durchschnittliche Strahlenempfindlichkeit angenommen, wobei 2 Gy (eine Fraktion) zu einer 50%igen Inaktivierung der klonogenen Tumorzellen führt. Leukämien und maligne Lymphome weisen eine höhere Strahlenempfindlichkeit auf. Eine geringere Strahlendosis von 35–40 Gy ist notwendig um z. B. eine Lymphomtumormasse von 50–300 g (Zellzahl 109–11) dauerhaft zu kontrollieren (modifiziert nach Wambersie u. Scalliet 1989)
583 51 · Strahlentherapie
⊡ Abb. 51.2. Schematische Darstellung der Volumendefinitionen am Beispiel einer Dreifeldertechnik bei der Strahlentherapie eines prävertebralen Tumors (z. B. Lymphknoten). GTV makroskopisch abgrenzbares Tumorvolumen (»gross tumour volume«, CTV klinisches Zielvolumen (»clinical target volume«, PTV Planungs-Zielvolumen (»planning target volume«; CTV + Sicherheitsabstand). »Behandeltes
Volumen«: mit vorgeschriebener Strahlendosis behandeltes Volumen. Die unterschiedliche Schraffierung des bestrahlten Volumens entspricht den unterschiedlichen Strahlendosen, die deutlich unter der vorgeschriebenen Strahlendosis liegen. Der ICRU-Punkt dient der Dosisspezifikation (modifiziert nach Pötter et al. 2003; ICRU 50, 62)
51.4.2 Dosierung und Fraktionierung
Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge sind über die konventionelle Fraktionierung hinaus Fraktionierungsschemata für die klinische Praxis entwickelt worden, die versuchen, diese unterschiedlichen Aspekte zu berücksichtigen (⊡ Abb. 51.3).
! In der Strahlentherapie wird die Gesamtdosis üblicherweise in zahlreichen Einzeldosen »fraktioniert« über einen Gesamtbehandlungszeitraum von 2–6 Wochen appliziert.
Das Ziel dieser Fraktionierung ist eine lokale Tumorkontrolle unter Schonung des gesunden Gewebes. Diese fraktionierte Strahlenapplikation induziert zahlreiche Effekte, die sich z. T. unterschiedlich auf Tumor und Normalgewebe auswirken. Für die Reparaturvorgänge nach erfolgter Strahlenschädigung wird allgemein angenommen, dass gesunde Zellen über eine höhere Reparaturkapazität als Tumorzellen verfügen, bzw. ein Zellschaden, der weitere Mitosen erschwert bzw. verhindert, sich nicht unmittelbar auf die Zellfunktion auswirkt. Unter zunehmender Tumorschrumpfung wird der Tumor besser mit Sauerstoff versorgt (»Reoxygenierung«), so dass der »Sauerstoffeffekt« zu einer höheren Strahlenempfindlichkeit des Tumors führt (Hall 2001). Während der fraktionierten Strahlentherapie kommt es infolge des Zelluntergangs des Tumorgewebes zu einer verstärkten proliferativen Aktivität von Tumorzellen (»Repopulierung«). Die Geschwindigkeit dieser Repopulierung ist abhängig von der individuellen Zellkinetik des Tumors und beginnt bei rasch proliferierenden Tumoren etwa nach 3–4 Wochen. Ein Teil der Strahlendosis, die über diesen Zeitraum hinaus appliziert wird, ist deshalb nicht für die ursprünglich vorhandene Tumorzellmasse, sondern für die neugebildeten Tumorzellen notwendig.
Konventionell fraktionierte Strahlentherapie. Zur Erzielung einer adäquaten Tumorwirkung werden Einzeldosen von 1,5–2,0 Gy pro Fraktion pro Tag und 7,5–10 Gy pro Woche zugrundegelegt. Diese Strahlendosen werden entsprechend der notwendigen Gesamtdosis von 12–60 Gy in einem Gesamtbehandlungszeitraum von etwa 2–6 Wochen mit je 5 Fraktionen pro Woche appliziert, wobei üblicherweise an den Wochenenden nicht behandelt wird: konventionelle Fraktionierung. Diese »konventionelle Fraktionierung« stellt seit etwa 2–3 Jahrzehnten die übliche Form der Dosisapplikation in der kurativen Strahlentherapie dar. Hyperfraktionierte Strahlentherapie. Bei der hyperfraktio-
nierten Strahlentherapie wird eine größere Anzahl kleinerer Strahlendosen verwendet ohne Veränderung der Gesamtzeit der Strahlenbehandlung: mehrmalige Bestrahlungen pro Tag (2 bzw. 3 Fraktionen) mit Verringerung der Einzeldosis pro Fraktion (1,0–1,6 Gy). Ziel dieser Behandlungsstrategie ist die Erhöhung der Gesamtdosis oder die Verringerung von Spätfolgen durch Verwendung niedriger Einzeldosen. Niedrige Einzeldosen führen bei spät reagierenden Geweben zu vergleichsweise geringeren Effekten als bei akut reagierenden Geweben und Tumoren. Auf diese Weise ist zur Verbesserung der Tumorwirkung eine Dosiseskalation möglich
51
584
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
III
⊡ Abb. 51.3. Unterschiedliche Fraktionierungsschemata in der (pädiatrischen) Radioonkologie (vgl. Text)
unter Inkaufnahme einer begrenzten Zunahme akuter Nebenwirkungen (Protokoll bei Hirntumoren). Anderseits ist bei gleichbleibender Gesamtdosis eine Verringerung der Spätfolgen möglich (Leukämieprotokoll). Akzelerierte Strahlentherapie. Bei der akzeleriert fraktionierten Strahlentherapie wird die Gesamtbehandlungszeit der Strahlenbehandlung verkürzt: Erhöhung der Zahl der Fraktionen pro Tag bzw. pro Woche bei unveränderter bzw. nur geringfügig reduzierter Einzeldosis pro Fraktion. Ziel dieser Strategie ist es, den Effekt einer bestimmten Strahlendosis auf das Tumorgewebe zu erhöhen: durch Verkürzung der Behandlungszeit wird der gegenläufige Effekt der nach 3–4 Wochen der Strahlentherapie einsetzenden Tumorzellproliferation verringert bzw. weitgehend ausgeschaltet. Begrenzend für diese Intensivierung der Dosisapplikation ist die akute Toxizität der Strahlentherapie. Hyperfraktioniert-akzelerierte Strahlentherapie. Bei der
hyperfraktioniert-akzelerierten Form der Radiotherapie werden die Vorteile beider Fraktionierungsschemata miteinander verknüpft. Sowohl die Wirkung auf den Tumor wie auf die akut reagierenden Normalgewebe werden im Vergleich zur konventionellen Fraktionierung erheblich verstärkt. Für die Restitutio ad integrum der Normalgewebe kommt der lokalen supportiven Therapie bei diesen Schemata eine große Bedeutung zu. Kombinationen mit Chemotherapie. Hyperfraktioniert-
akzelerierte Behandlungsschemata in Kombination mit zytostatischer Behandlung wurden bisher in nennenswertem Umfang bei Sarkomen im Kindes- und Jugendalter untersucht (Ewing-Sarkome, Weichteilsarkome; VACA/VAIA), seit kürzerer Zeit auch bei Hirnstammtumoren und Medulloblastomen. Neben der Tumorwirkung ist v. a. die akute Toxizität an akut reagierenden Geweben nennenswert erhöht (Schleimhäute Verdauungstrakt, Haut). In der Behandlung
der Malignome des Kindesalters sind deshalb Behandlungspausen der Radiotherapie nicht unüblich (ca. 2 Wochen), wobei hierdurch die Effektivität vermindert werden kann. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Zytostatika so auszuwählen, dass das Spektrum der akuten Toxizität beider Behandlungsmodalitäten sich nicht überschneidet, z. B. durch Verzicht auf die schleimhauttoxischen Zytostatika Adriamycin und Actinomycin D. Hypofraktionierte Strahlentherapie. Die hypofraktionierte Strahlentherapie verwendet eine kleinere Anzahl größerer Fraktionen (>2 Gy) ohne Veränderung der Gesamtbehandlungszeit (hypofraktionierte Strahlentherapie). In der pädiatrischen Onkologie wird eine hypofraktionierte Strahlentherapie (Verminderung der therapeutischen Breite) in der palliativen Situation eingesetzt.
51.4.3 Kombination von Radiotherapie
und medikamentöser Therapie Chemotherapie. Bei kombinierter Radio-Chemotherapie
werden Radiotherapie und Chemotherapie überwiegend zytotoxisch wirksam; sie können jedoch auch über andere Mechanismen wirksam werden, wie z. B. über die Induktion des apoptotischen Zelltods. Die Wirkungsmechanismen können unterschiedlich, ähnlich oder gleich sein (z. B. direkte Wirkung auf DNA, Verminderung der Reparaturfähigkeit). Dabei kann die Zahl der Tumorzellen, die lokal durch Radiotherapie inaktiviert werden, abhängig von der Dosis, bis 109–11 betragen, was einem Tumorvolumen bis zu 10–100 cm3 entspricht. Diese Reduktion ist bei soliden Tumoren um ein Vielfaches höher als die durch Chemotherapie. ! Die Chemotherapie wirkt bei Malignomen im Kindesalter in ähnlicher Intensität meist sowohl lokal wie auch systemisch und kann lokal die Strahlenwir-
585 51 · Strahlentherapie
kung unmittelbar am Tumor verstärken (»additive Wirkung«). In Ergänzung zur lokoregional wirkenden Strahlentherapie inaktiviert die systemisch wirkende Chemotherapie Fernmetastasen (»räumliche Kooperation«).
tiert, z. B. Interferone, Interleukine, tumorinfiltrierende Lymphozyten (TIL), monoklonale Antikörper, und unspezifische Immunmodulatoren wie etwa Bacille-Calmette-Guérin (BCG; attenuiertes Tuberkulosebakterium).
Bei den soliden Tumoren wird die Zellzahl durch die Chemotherapie meist um bis zu 1–2 Zehnerpotenzen reduziert (klinisch partielle oder komplette Remission/Ausschaltung sämtlicher Tumorzellen bei primär kleiner Tumorzellzahl). Bei malignen Lymphomen und Leukämien kann eine komplette Remission mit Ausschaltung sämtlicher Tumorzellen erzielt werden. Die Kombinationsbehandlung erfolgt meist durch sequenzielle Applikation (z. B. Morbus Hodgkin). Simultane Applikationen sind aufgrund der intensiven Chemotherapie nur in eingeschränktem Maße möglich (Sarkome: Reduktion der Intensität bei simultaner Chemotherapie). Im Idealfall sollten bei einer Kombinationsbehandlung die Nebenwirkungen der Chemotherapie unabhängig von denen der Strahlentherapie sein, d. h. die Wirkung auf das Normalgewebe sollte nicht additiv sein. Dies ist v. a. bei den schleimhauttoxischen Zytostatika zu beachten, die nicht in zeitlicher Nähe zu einer Radiotherapie eingesetzt werden sollten (Adriamycin, Actinomycin D). Bei großvolumigen Strahlenfeldern, die nennenswerte Anteile des blutbildenden Knochenmarks einschließen, ist die ausgeprägte radiogene Knochenmarktoxizität zu beachten.
51.4.4 Kombination von Radiotherapie
Molekulare Therapie. Die Strahlentherapie wird wahrscheinlich in absehbarer Zukunft von neuen Entwicklungen im Rahmen der molekularen Medizin profitieren. Sie wird gezielt bei kombinierter Behandlung v. a. bei Tumoren, die gegenüber konventionellen Strahlendosen wenig empfindlich sind, und in Situationen, die einen besonderen Schutz strahlenempfindlicher Gewebe benötigen, eingesetzt werden. Eine Möglichkeit, Tumorzellen selektiv gegen Strahlen zu sensibilisieren, ist die gezielte genetische Modulation der Expression von Enzymen (»Gentherapie«), deren Bedeutung für eine Strahlenresistenz erwiesen ist. Potenzielle Kandidaten für eine gentherapeutische Intervention sind z. B. das p53-Protein, verschiedene Mitglieder der Bcl-2-Familie, radikal-desoxifizierende Enzyme (Superoxiddismutase, Katalase u. a.) und verschiedene DNA-Reparaturenzyme. Eine weitere Möglichkeit, den Effekt ioniserender Strahlen auszunützen, wäre die gezielte Einführung von durch Strahlen induzierbaren Promotoren (DNA-Sequenzen zur Steuerung von nachgeschalteten Genen) in Tumorzellen, die in Folge selektiv nur in den bestrahlten Arealen die Expression von strahlensensibilisierenden Faktoren bewirken (z. B. TNF-α und Interferone) und damit das Ansprechen auf die Radiotherapie verbessern (Rosen et al. 1999). Analoge Prinzipien können für eine gentherapeutisch herbeigeführte Reduktion der Strahlenempfindlichkeit von Normalgewebe und somit für die Reduktion radiogener Nebenwirkungen genutzt werden (Rosen et al. 1999).
51.5.1 Grundlagen und aktuelle Entwicklungen
Biological response modifier. Sie können die natürlichen Ab-
wehrmechanismen des Körpers gegenüber Tumoren unterstützen bzw. verstärken; sie werden ebenfalls für die Kombination mit strahlentherapeutischen Anwendungen disku-
und Operation Da die Mehrzahl der Tumoren lokal sowohl auf eine Radiotherapie als auch auf eine Chemotherapie gut ansprechen, genügt bei Malignomen im Kindesalter oft eine chirurgisch makroskopische Tumorentfernung. Ausnahmen sind u. a. Hirntumoren und Sarkome des Knochens. Bei makroskopischer Tumorentfernung kann die Strahlentherapie zur Inaktivierung mikroskopischer Metastasen in unmittelbarer Nachbarschaft des Tumors (»Tumorbett«) bzw. in den regionären Lymphknoten eingesetzt werden (prä-/postoperativ). Die therapieassoziierte Morbidität wird bei dieser Form der lokoregionalen Kombinationsbehandlung sowohl für die chirurgische wie für die strahlentherapeutische Maßnahme gesenkt bei vergleichbarer Effektivität. Die Strahlentherapie erfolgt üblicherweise mit reduzierter Gesamtdosis im Vergleich zu einer alleinigen Strahlentherapie. 51.5
Spezielle Planung und Durchführung der Radiotherapie4
Unter Berücksichtigung des gesamten interdisziplinären Therapiekonzepts wird das klinische Zielvolumen, die Gesamtdosis und die Fraktionierung sowie die zulässige Dosis an Risikoorganen bestimmt. In Zusammenhang mit dem klinischen Erscheinungsbild werden auf Grundlage eines bildgebenden diagnostischen Verfahrens (Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Ultraschall) das Zielvolumen der Bestrahlung (CTV) detailliert festgelegt und die mögliche Belastung von benachbarten Risikoorganen abgeschätzt. Hierfür sind genaue Kenntnisse über das biologische Verhalten des Tumors, den Metastasierungstyp, sowie über die Tumorausdehnung bei Diagnose (GTV) und nach Chemotherapie bzw. nach Operation (GTV2) notwendig ( Abb. 51.2). 51.5.2 Patientenlagerung Das Kind wird für die Bestrahlung so gelagert, dass diese Haltung bequem eingehalten und einfach reproduziert werden kann. Die heute meist verwendete Lagerung ist die liegende Position in stabiler Rückenlage auf einem verstellbaren Behandlungstisch mit harter Unterlage. Die Einstellung der Strahlenfelder erfolgt üblicherweise durch Änderung der Position des Strahlerkopfes, ohne dass die Lage des Kindes verändert werden muss. Zur reproduzierbaren Lagerung im Raum werden an den Wänden der Behandlungsräume 4
Weiterführende Informationen und Literatur siehe Scherer u. Sack 1996 sowie Bamberg et al. 2003.
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586
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
an definierten Punkten angebrachte Laserlichtvisiere verwendet (3D-Koordinaten), die Lichtpunkte bzw. Striche auf die Haut des Kindes projizieren, die mit Farbpunkten bzw. -strichen markiert werden. Dieses heute übliche Vorgehen gewährleistet eine große tägliche Einstellgenauigkeit. Allgemeine und speziell gefertigte individuelle Lagerungshilfen kommen häufig unterstützend zum Einsatz. Knierollen aus semiflexiblem Material für eine entspannte Lage der Beine und unterschiedliche vorgefertigte feste Schalen für eine bequeme Kopflagerung werden überwiegend verwendet. Bei Hochpräzisionsbestrahlungen wird zusätzlich eine individuelle Lagerungshilfe speziell gefertigt: aus modellierbarem Plastikmaterial z. B eine Gesichtsmaske oder eine Halterung für eine Extremität; aus Gips eine halboffene Ganzkörperschale für eine Bestrahlung des gesamten Liquorraums in Bauchlage (Halperin et al. 1999d). 51.5.3 Sedierung Die strahlentherapeutische Behandlung erfolgt mit entsprechender Motivation des Kindes ohne Sedierung, wenn dies vom Entwicklungsalter des Kindes her möglich ist. Falls eine Sedierung notwendig ist, sollten möglichst wenig eingreifende Maßnahmen eingesetzt werden (Halperin et al. 1999a). Die Belastung durch Narkosen oder aufwendige Maßnahmen zur Sedierung beeinflusst die Wahl des Behandlungsschemas insofern, als z. B. hyperfraktionierte Therapien kaum zumutbar sind. 51.5.4 Therapieplanung Die Planung der Strahlentherapie hat sich in den letzten 2 Jahrzehnten grundlegend gewandelt aufgrund von Entwicklungen der bildgebenden Verfahren, der Lokalisationstechniken sowie der Computertechnologie, die zu einem richtungsweisenden Innovationsschub geführt haben. Zur Zeit sind in der Planung der Radiotherapie folgende, sich ergänzende Vorgehensweisen möglich: ▬ Röntgendurchleuchtungs-gestützte Therapiesimulation (Beispiel: lateral opponierende Strahlenfelder bei Bestrahlung des Neurokraniums), ▬ Röntgendurchleuchtungs-gestützte Therapiesimulation und CT-gestützte Rechnerplanung (Beispiel: Liquorraumbestrahlung bei Hirntumoren; Morbus Hodgkin), ▬ 3D-schnittbildgestützte Rechnerplanung basierend auf vollständiger dreidimensionaler Abbildung der entsprechenden Volumina und Risikoorgane, ggf. mit zusätzlicher Röntgendurchleuchtung gestützter Therapiesimulation (Beispiel: Tumoren des ZNS, Weichteilsarkome, Ewing-Sarkome). In Ergänzung zur Röntgendurchleuchtung-gestützten Therapiesimulation wurde die Computertomographie systematisch in die computergestützte Rechnerplanung eingeführt. An modernen Computertomographen (Spiral-CT, Multi-sliceCT) kann heute eine umfassende und effiziente Bilderstellung für das gesamte Zielvolumen und die Risikoorgane eines Patienten erfolgen unter den Bedingungen der späteren
Strahlentherapie: Schnittführung, Patientenlagerung, Topographie von Zielvolumen und Risikoorganen. Die Bilddaten werden über eine direkte Datenleitung an die leistungsfähigen Planungsrechner der Strahlentherapie geschickt (Netzwerk). An den Computerarbeitsplätzen erfolgt die 3D-Therapieplanung in enger Kooperation zwischen Radioonkologen, Medizinphysiker und medizinisch-technischem Assistenzpersonal. Die individuelle Tumorsituation des Patienten kann in dieser individualisierten 3D-Planung umfassend Berücksichtigung finden sowohl in der Gestaltung des Zielvolumens als auch in der Schonung von Risikoorganen, auch unter Hinzuziehung der Informationen der Kernspintomographie, des Ultraschall und der PET (»biological imaging«). Ziel ist die bestmögliche Anpassung des Behandlungsvolumens an das Planungszielvolumen. In Anlehnung an die seit Jahrzehnten praktizierte Therapiesimulation mithilfe der Röntgendurchleuchtung, die unmittelbar am Patienten erfolgt, wird dieser Prozess als schnittbildund computergestützte Therapieplanung (»virtuelle Simulation«) bezeichnet. Dosis-Volumen-Histogramme (DVH) mit Darstellung der Dosisverteilung in bestimmten Volumina werden erstellt und die Dosisverteilung durch entsprechende Anordnung der Strahlenfelder optimiert. In der allgemeinen Radioonkologie kann mithilfe von klinisch validierten Rechenmodellen die Tumorkontrollwahrscheinlichkeit (TCP, »tumour control probability«) bzw. die Häufigkeit des Auftretens von Komplikationen am Normalgewebe (NTCP, »normal tissue complication probability«) abgeschätzt werden (»biologische Therapieplanung«; Lyman 1985). Neben der Dosis und Fraktionierung hat die Größe des bestrahlten Volumens bzw. der Anteil des bestrahlten Volumens am Gesamtvolumen eines Organs entscheidenden Einfluss auf die zu erwartenden Effekte: Knochen, Weichteile, endokrine Organe, Lunge, Herz, Leber, Niere, Rückenmark (Smith u. Purdy 1991). Der klinische Nutzen dieser komplexen Therapieplanung führt v. a. zu einer Vergrößerung der therapeutischen Breite. Die sich hiermit eröffnenden vielfältigen Möglichkeiten der 3D-Therapieplanung haben in den letzten Jahren in der pädiatrischen Onkologie v. a. bei den Tumoren des ZNS, den Sarkomen und den abdominellen Tumoren zunehmend Anwendung gefunden. 51.5.5 Teletherapie Die Teletherapie wird heute in der pädiatrischen Onkologie nahezu ausschließlich mit Linearbeschleunigern durchgeführt, die über die Möglichkeit der Photonen- und Elektronenbestrahlung verfügen mit Energien zwischen 4 und 10 MV. Telecobalttherapiegeräte werden heute in der pädiatrischen Onkologie nur noch ausnahmsweise eingesetzt. Bei der Mehrzahl der Patienten wird das Zielgebiet über mehrere Stehfelder bestrahlt, damit die umliegenden Gewebe möglichst geschont werden können. Die häufigsten Techniken in der pädiatrischen Onkologie umfassen 2 Stehfelder, die oft gegenüberliegend (»opponierend«) angeordnet sind: Morbus Hodgkin, Nephroblastom, Neuroblastom, EwingSarkom, Weichteilsarkom, Neurokranium. Eine Mehrfeldertechnik mit 3 oder 4 Feldern kommt v. a. bei einigen Sarkomen und Tumoren des ZNS zum Einsatz. Bei Mehrfelder-
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techniken mit Photonen wird einerseits das »behandelte Volumen« deutlich verkleinert, gleichzeitig jedoch das »bestrahlte Volumen« deutlich vergrößert ( Abb. 51.2). Ein einzelnes Stehfeld wird beispielsweise verwendet bei der spinalen Bestrahlung oder bei der isolierten Bestrahlung einer oberflächlichen Lymphknotenregion wie etwa der Leiste. Entsprechend den klinischen Notwendigkeiten erfolgt häufig eine Bestrahlung mit unterschiedlichen Dosen in unterschiedlichen Zielvolumina, wobei in der Region mit einem größeren Tumorvolumen eine entsprechend höhere Dosis appliziert wird: Boostbestrahlung, »Shrinking-field«-Technik für das residuelle Tumorvolumen. Schließlich hat sich die klinische Qualitätskontrolle der Bestrahlungsfelder am Therapiegerät durch systematische Einführung von (digital erstellten) Feldkontrollaufnahmen (»portal imaging«) richtungsweisend verbessert.
In jüngster Zeit findet eine modifizierte stereotaktische Radiotherapie auch bei extrakraniellen Tumoren Anwendung (primäre und sekundäre Lebertumoren, rückenmarksnahe Tumoren). Eine spezielle Weiterentwicklung der 3D-Konformationsradiotherapie stellt die intensitätsmodulierte Radiotherapie (IMRT) dar. Hierbei wird die Intensität der Strahlung durch entsprechende Feldgestaltung mithilfe von Kollimatoren moduliert: die Strahlenisodosen können so der unterschiedlichen Tiefenausdehnung von Tumoren bzw. Risikoorganen noch besser angepasst werden. Häufig ist mit dieser Technik eine beträchtliche Vergrößerung des bestrahlten Volumens verbunden (niedrige Dosis), so dass von dieser Technik für die Verwendung in der pädiatrischen Onkologie Verbesserungen nur unter bestimmten Bedingungen erwartet werden können (bei geringer Anzahl von Feldern; Huang et al. 2002).
3D-konformale Radiotherapie (3D-CRT). Die Anpassung des
Behandlungsvolumens an das klinische Zielvolumen war schon immer erklärtes Ziel der Radiotherapie (»Konformation«). Aufgrund der oben beschrieben Entwicklung (Schnittbildlokalisation, Computertechnologie) und dem Fortschritt in der Beschleunigertechnologie (u. a. Multileaf-Kollimator) kann dieses Ziel heute auch in der klinischen Routine deutlich besser erreicht werden. Die Begriffe »3D-Konformationsradiotherapie« oder »3D-Strahlentherapie« bezeichnen diese äußerst präzise Form der Strahlentherapie mit höchsten Anforderungen an die dreidimensionale Darstellung von CTV und Risikoorganen in sämtlichen Schritten der Planung und Durchführung der Strahlentherapie (Smith u. Purdy 1991). In der pädiatrischen Onkologie sollte die 3D-konformale Strahlentherapie heute bei den entsprechenden Indikationen im klinischen Alltag routinemäßig eingesetzt werden. Eine Sonderform der 3D-Strahlentherapie ist die intrakranielle »stereotaktische Radiotherapie«, die in der pädiatrischen Onkologie bisher nur sehr eingeschränkte Anwendung findet (z. B. Rezidive bei Hirntumoren; Dieckmann et al. 1999). Die Anforderungen an die Präzision der Therapie liegen hier noch deutlich höher. Die sehr aufwendigen stereotaktischen Bestrahlungen mit Verwendung spezieller Hilfsmittel (z. B. »stereotaktischer Rahmen«) können an einem speziellen Cobalttherapiegerät mit einer großen Zahl fokussierter Strahlenquellen erfolgen (»Gammaknife«), allerdings v. a. am Linearbeschleuniger mit spezieller Stereotaxie-Ausrüstung durch konvergierende Bewegungsbestrahlung oder durch eine größere Zahl individuell geformter statischer oder sich bewegender Strahlenfelder (Mikromulitleaf-Kollimator). Diese extreme Fokussierung der Strahlung führt zu einem äußerst steilen Dosisabfall in allen Strahlrichtungen bei gleichzeitig deutlich vergrößertem bestrahltem Volumen mit niedriger Dosis ( Abb. 51.2). Definition Von einer stereotaktischen Einzeitbestrahlung (Radiochirurgie) spricht man, wenn in einer einzigen Sitzung die gesamte Strahlendosis appliziert wird. Bei der stereotaktisch geführten fraktionierten Strahlentherapie wird die erforderliche Gesamtdosis in mehrere Fraktionen aufgeteilt.
51.5.6 Ganzkörperphotonentherapie ! Ziel der Ganzkörperphotonentherapie (Barrett 2001) im Rahmen einer Stammzelltransplantation ist die vollständige Eliminierung der Tumorzellen nach Hochdosischemotherapie und die Unterstützung der Immunsuppression, damit hämatopoetische Stammzellen sich anschließend im tumorfreien Markraum ansiedeln können.
Aufgrund des Ausbreitungsmusters der malignen Stammzellen und der immunkompetenten Zellen ist das Zielvolumen der Strahlentherapie der gesamte Körper unter Einschluss der Haut. Zur Reduktion der nach Hochdosischemotherapie noch verbliebenen Stammzellen (bis zu 106–7 im Stadium der klinisch kompletten Remission) sind im Rahmen der Behandlung akuter Leukämien Ganzkörperdosen von 5–15 Gy notwendig. Heute wird typischerweise die Strahlendosis über 6–8 Fraktionen an 3 oder 4 aufeinanderfolgenden Tagen appliziert bis zu einer Gesamtdosis von 10–12 Gy bezogen auf die Körpermitte in Nabelhöhe. Die am stärksten gefährdeten Risikoorgane sind die Lunge, die Gonaden und die Linsen. Für die Lunge werden unterschiedliche Abschirmtechniken verwandt, als zulässige Toleranzdosis gelten 8–10 Gy. Interstitielle Pneumonitiden nach dieser intensiven Radiochemotherapie sind bei Beachtung der üblichen Vorgaben heute selten (<10%). Katarakte werden als Spätfolge in bis zu 20% nach fraktionierter Ganzkörperbestrahlung beobachtet. Nahezu obligat treten irreversible Störungen der gonadalen reproduktiven Funktionen bei Männern und Frauen auf. 51.5.7 Brachytherapie Bei der Brachytherapie erfolgt eine direkte Platzierung der Bestrahlungsquellen (z. B. 192Iridium) im Tumor oder in unmittelbarer Nähe zum Tumor (Gerbaulet et al. 2002). Die brachytherapeutische Behandlung eignet sich in der pädiatrischen Onkologie besonders als »Boost-Therapie« in Kombination mit einer teletherapeutischen Behandlung oder als alleinige Therapie bei kleinvolumigen, gut abgegrenzten Tumorvolumina z. B. bei Rhabdomyosarkomen (u. a. Vagina,
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Prostata, Zunge) bzw. bei ausgesuchten gut zugänglichen Rezidiven nach strahlentherapeutischer Vorbelastung (Gerbaulet u. Pötter 2002). Die biologischen Wirkungen der LDR (»low dose rate«), MDR (»medium dose rate«), HDR (»high dose rate«) und PDR (»pulsed dose rate«) Brachytherapie bezogen auf Tumoren und Normalgewebe sind sehr unterschiedlich, wobei hohe Einzeldosen (HDR) die Wahrscheinlichkeit von Spätfolgen deutlich erhöhen. Eine Brachytherapie in der pädiatrischen Onkologie ist nach derzeitigem Wissensstand mit LDR oder PDR durchführbar. Bei Einsatz der HDR-Brachytherapie muss eine niedrige Dosis pro Fraktion gewählt werden. 51.5.8 Intraoperative Radiotherapie Ziel der vereinzelt angewendeten intraoperativen Radiotherapie (IORT) ist die Konzentration der Bestrahlung auf den Tumor mittels Elektronen oder Röntgenstrahlen, während das umliegende chirurgisch mobilisierte Normalgewebe geschont werden kann. Dies ist aufgrund des steilen Dosisabfalls von Elektronenstrahlen durch Anpassung der Elektronenenergie an die gewünschte Tiefe im Zielvolumen möglich. Die Strahlendosis bei den Einzeitbestrahlungen liegt im Bereich von 10–22 Gy. Diese hohen Einzeldosen haben im Vergleich zur fraktionierten Bestrahlung eine deutlich höhere Wirkung auf Tumoren und eine bei weitem noch höhere Wirkung auf Normalgewebe. Zur IORT ausschließlich des Tumorbetts kann auch ein »flap« verwendet werden. Hierbei handelt es sich um eine flexible Kunststoffplatte mit eingelassenen Kanälen, die im Nachladeverfahren mit einem Radionuklid beschickt wird (Merchant et al. 1998). Eindeutige klinische Indikationen für eine intraoperative Radiotherapie in der pädiatrischen Onkologie sind bisher nicht etabliert. 51.5.9 Hadronentherapie Strahlentherapie mit schweren Teilchen (Protonen, Heliumionen, Schwerionen) wird in nur wenigen Forschungs- und Behandlungszentren durchgeführt. Die Erzeugung dieser Teilchenstrahlung erfolgt in großen, speziell konstruierten Beschleunigeranlagen (Zyklotron, Synchrotron) und ist mit größerem technischen, personellen und finanziellen Aufwand verbunden. Aufgrund der physikalischen Charakteristika dieser Teilchenstrahlung (u. a. steiler Dosisabfall in der Tiefe so genannter Bragg-Peak) ist bei Protonen und Ionen eine deutlich bessere Konformation als bei Photonen möglich. Bei den Ionen kommt als weiterer Vorteil eine höhere biologische Aktivität im Bereich der Dosisspitze im Zielvolumen hinzu (physikalische und biologische Selektivität). In der pädiatrischen Onkologie können v. a. die Protonen zu einer Verbesserung der therapeutischen Breite führen. Der steile Dosisabfall in der Tiefe führt zu einer maximalen Schonung des gesunden Gewebes. Protonen werden zur Zeit in zunehmendem Maße bei Sarkomen an amerikanischen Protonenzentren eingesetzt (Hug et al. 2002).
51.6
Akute und chronische Strahlenfolgen
Die radiogenen Effekte auf Normalgewebe sind in Abhängigkeit von der jeweiligen therapeutischen Breite nicht selten begrenzend für die Applikation therapeutischer Strahlendosen. Effekte auf Normalgewebe sind in diesem Zusammenhang grundsätzlich nicht als Folgen einer unsachgemäß durchgeführten Therapie anzusehen (»Strahlenschäden«), sondern als mögliche, bewusst akzeptierte, unerwünschte Folgen der Therapie, die für eine erfolgreiche Strahlenbehandlung unvermeidbar sind. Sie sind vergleichbar mit der Ausbildung von Defekten und Defiziten infolge eines chirurgischen Eingriffes. Um derartige Folgen so weit wie möglich durch entsprechende Therapieplanung zu minimieren bzw. zu vermeiden, ist der klinische Begriff der »Toleranzdosis« (TD) eingeführt worden. Definition Unter Toleranzdosis ist die Strahlendosis gemeint, bei der nur in einem geringen Prozentsatz (z. B. 5%) nach einem Zeitraum von mehreren Jahren (z. B. 5) ein nennenswerter klinischer Effekt im Rahmen von Therapiestudien festgestellt wurde (z. B. TD 5/5; Emami et al. 1991).
Hierbei ist zusätzlich immer das bestrahlte Volumen des Organs mit zu berücksichtigen (gesamtes oder partielles Organvolumen). In der kurativen pädiatrischen Radiotherapie sind insbesondere chronische Therapiefolgen von erheblicher Bedeutung für die Lebensqualität der Kinder. Eine detaillierte Kenntnis der akuten Effekte ist für die adäquate Durchführung der meist multimodalen Therapieschemata Voraussetzung, v. a. bei der Verwendung intensiver Therapieprotokolle (z. B. unkonventionelle Fraktionierung, Chemoradiotherapie). In erster Linie werden neben den Endothelzellen der Gefäße die Stammzellen der jeweiligen parenchymatösen Strukturen durch Strahlen geschädigt (Hall 2001; Halperin et al. 1999b). Die einzelnen Gewebearten differieren beträchtlich hinsichtlich ihrer Strahlenempfindlichkeit, wobei hinsichtlich des Reaktionsmusters im Wesentlichen zwischen akut und spät reagierenden Geweben zu unterscheiden ist. Rasch proliferierende Gewebe (Haut, Schleimhäute, Knochenmark) reagieren innerhalb von Wochen und führen zu passageren akuten Effekten. Langsam proliferierende Gewebe (Parenchymzellen, Gefäße, Binde- und Stützgewebe) reagieren klinisch erst nach einer Latenzzeit, die Monate bzw. Jahre betragen kann. Diese Effekte der Strahlentherapie sind in ihrer Ausprägung abhängig von Dosis, Fraktionierung und bestrahltem Volumen, die akuten Effekte darüber hinaus von der Gesamtbehandlungszeit (Hall 2001). Beachtenswert ist, dass zwischen der Häufigkeit klinisch auffälliger akuter Effekte und der Wahrscheinlichkeit von Späteffekten kein direkt proportionaler Zusammenhang besteht – von einzelnen Ausnahmen abgesehen, so dass das Vorhandensein bzw. das Nichtvorhandensein von akuten Effekten keine Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit von Späteffekten erlaubt. Während sich die akuten Effekte in der Regel komplett innerhalb einiger Tage oder Wochen zurückbilden, entwickeln sich die chronischen Effekte in der Regel
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langsam progredient und sind meist irreversibel (Hall 2001). Für die klinische Ausprägung der Effekte ist die funktionellanatomische Struktur der Organe maßgeblich: Bei der seriellen Organisation (Rückenmark, Darm) führt schon die Schädigung einer funktionellen Organeinheit zu einem entsprechenden klinischen Effekt, während bei paralleler Organisation (Niere, Lunge, Leber) eine derartige Schädigung kompensiert werden kann (Withers et al. 1988). Am ausgeprägtesten sind Effekte ionisierender Strahlen in Phasen vermehrter Zellproliferation (»proliferatives Wachstum«), während die Phase der Zellhypertrophie nur wenig strahlenempfindlich ist (»hypertrophes Wachstum«). Die Strahlenempfindlichkeit einzelner Gewebe unterscheidet sich somit entsprechend dem jeweils aktuellen und zukünftigen Wachstumstyp erheblich (angegeben die Zeiten maximalen Wachstums): Binde- und Stützgewebe (postnatal; Kleinkind; Pubertät), Nervengewebe (postnatal; Kleinkind), reproduktive Organe (Pubertät), lymphatische Organe (bis Pubertät). Das Alter eines Kindes während der Strahlentherapie, der aktuelle und zukünftige Wachstumstyp sowie das Wachstumspotenzial des betreffenden Organs spielen demnach eine maßgebliche Rolle für die Ausprägung von Spätfolgen (Halperin et al. 1999b). Vorschädigung. Die Wahrscheinlichkeit akuter bzw. chronischer Therapiefolgen an einzelnen Organen ist erhöht, wenn eine Vorerkrankung an diesem Organ vorliegt wie z. B. bei entzündlicher Darmerkrankung, bei allgemeinen Erkrankungen wie z. B. bei Störungen des Stoffwechsels (Diabetes mellitus), bei Störungen des Ernährungszustandes sowie bei bestimmter genetischer Disposition (z. B. Ataxia teleangiectatica, Fanconi-Anämie). Des weiteren müssen grundsätzlich operative Eingriffe hinsichtlich einer Beeinflussung radiogener Effekte mit in Betracht gezogen werden, meist im Sinne einer Verstärkung der Strahlenwirkung. Nach abdominellen operativen Eingriffen werden beispielsweise häufiger radiogene Therapiefolgen am Darm bei Bestrahlungen im Bereich des Beckens beobachtet (Baumann 1995).
eingeführt worden (Kutcher et al. 1991; Lyman 1985). Bedeutend ist die Beachtung verschiedener Endpunkte für die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Effekte (z. B. Lunge: radiologisch nachweisbare Fibrose; klinischer Funktionsverlust).Abhängig von der »Target-Zelle« schwankt die NTCP für unterschiedliche Organe, jedoch auch innerhalb von einzelnen Organen nennenswert (Burman et al. 1991; Emami et al. 1991). Für die Bedingungen der pädiatrischen Onkologie müssen diese Modelle auf der Grundlage klinischer Erfahrungswerte adaptiert werden. 51.6.1 Skelett und Weichteile Die einzelnen Skelettabschnitte und Weichteile reagieren entsprechend ihrem Wachstumsmuster und ihrem Wachstumspotenzial unterschiedlich (Dieckmann u. Pötter 2000, Dieckmann et al. 2002; Pötter 1993; Pötter et al. 1993). Sie sind in besonderer Weise strahlenempfindlich während der maximalen Wachstumsphasen im Kleinkindalter (0–6 Jahre) sowie vor und während der Pubertät (11–13 Jahre; Probert u. Parker 1975). Besonders empfindlich sind die Chondroblasten, die durch die Bestrahlung entweder zugrunde gehen oder eine verminderte Syntheseleistung zeigen. Myoblasten weisen eine ähnliche Strahlenempfindlichkeit auf wie Chondroblasten. Ein inkompletter Wachstumsstillstand kann bei 10–20 Gy, ein permanenter Wachstumsstillstand nach 20–30 Gy beobachtet werden (Probert u. Parker 1975; Willich et al. 1990; Willman et al. 1994). Bei Kleinkindern führen Dosen >30 Gy zu einem kompletten Stillstand der enchondralen Ossifikation (Epi- und Metaphysen). Die perichondrale Ossifikation (Diaphysen) sowie die desmale Ossifikation (Hirnschädel) gelten als weniger strahlenempfindlich. Analoges gilt für die Ausbildung von Hypoplasien im Bereich der Weichteile (Muskulatur; Halperin et al. 1999b). Nach Dosen >50–60 Gy können aufgrund von Störungen der Mikrozirkulation langfristige trophische Störungen im Bereich der Weichteile bzw. am gesamten Knochen entstehen (Dieckmann u. Pötter 2000).
Kombination mit Chemotherapie . In Abhängigkeit von dem
jeweiligen Nebenwirkungsspektrum der beiden Therapiemodalitäten können die radiogenen Effekte auf das Normalgewebe verstärkt werden, v. a. bei additiven Wirkungen, z. B. am Knochenmark, an den Schleimhäuten des Verdauungstraktes und der Haut (Adriamycin, Actinomycin D), an der Lunge (Bleomycin), am Gehirn (Methotrexat), am Herzen (Adriamycin, nicht-additiv) oder an den Geschlechtsorganen (z. B. Alkylanzien; Rubin et al. 1998). Klassifikation und Wahrscheinlichkeit der Nebenwirkungen.
Die Nebenwirkungen werden auf der Grundlage international anerkannter Richtlinien innerhalb bestimmter Systeme klassifiziert: EORTC/RTOG-Score, LENT SOMA-Score (nordamerikanische und europäische Radiotherapiegesellschaft; Seegenschmiedt u. Zimmermann 2000; Eifel et al. 1995). Die Wahrscheinlichkeit radiogener Nebenwirkungen lässt sich in ähnlicher Weise wie die Tumorkontrollwahrscheinlichkeit auf der Grundlage der Auswertung klinischer Erfahrungen in gewisser Weise abschätzen (Emami et al. 1991). Als Begriff ist hierfür die »normal tissue complication probability« (NTCP)
51.6.2 Endokrine Organe Reproduktive Organe. Eine radiogene Störung der Spermatogenese tritt als Strahlenfolge schon nach geringen Strahlendosen auf (>1–2 Gy Gesamtdosis) und kann zu bleibender Azoospermie führen. Eine radiogene Störung der Testosteronproduktion in den Leydigschen Zwischenzellen wird erst nach höheren Strahlendosen beschrieben (>10 Gy; Halperin et al. 1999b; Shalet et al. 1985; Brämswig et al. 1983). Die Oogenese wird durch höhere Strahlendosen (>5 Gy bis >18 Gy) bleibend gestört und führt zu bleibender Sterilität (Dieckmann et al. 1996; Sy Ortin et al. 1990). Geringfügig höhere Strahlendosen werden für eine Störung der Granulosazellen angegeben, die zur Verminderung der Östrogen-/ Gestagenbildung führt. Hypophyse-Hypothalamus. Bei Bestrahlungen mit Dosen
zwischen 35 und 60 Gy (hypophysennahe Hirntumoren, Weichteilsarkome, Nasopharynxkarzinome) wird dosisab-
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
hängig eine mäßige bis komplette Reduktion der hypothalamisch-hypophysären Hormonbildung induziert (Constine et al. 1993; Bieri et al. 1997). Diese Störungen treten mit einer Latenzzeit von Monaten bis Jahren auf und sind meist irreversibel. Regelmäßige Routinekontrollen sind erforderlich. Am empfindlichsten sind die Wachstumshormone (STH), gefolgt von TSH, LH/FSH, ACTH, Prolaktin und ADH bzw. den jeweiligen »releasing hormones«. Nach 45 Gy ist bei 100% der Patienten mit einer Störung der STH-Produktion zu rechnen. Bei Strahlendosen von weniger als 24 Gy sind pathologische STH-Spiegel selten, jedoch fallen die STHProvokationstest bei circa 70% der Patienten pathologisch aus (Brennan et al. 1998; Halperin et al. 1999b).
nisch zu unterschiedlichen Ausprägungen einer passageren Gastroenterokolitis im Magen-Darm-Bereich (Durchfälle, Schmerzen; Donaldson et al. 1975). Das vielfältige klinische Erscheinungsbild der chronischen Strahlenfolgen (z. B. Malabsorptionssyndrom) wird wesentlich geprägt durch die fibrosierenden Veränderungen im Bereich der Mikrovaskulatur, die entsprechende Auswirkungen auf alle Wandschichten nach sich ziehen kann, wie z. B. Mukosaatrophie und fibrosierende Veränderungen in der Submucosa. Als Toleranzdosis TD 5/5 wird 45–50 Gy angegeben (Coia et al. 1995).
Schilddrüse. Störungen der Schilddrüsenhormonproduktion
Strahlenreaktionen der strahlenempfindlichen Leber werden klinisch sehr selten beobachtet. Akute Strahlenreaktionen können im bestrahlten Lebersegment zu Hyperämie, Ödem und Leberstauung führen. Betroffen sind v. a. die Sinusoide sowie die Zentralvenen und die Hepatozyten. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer Sklerosierung und Obliteration der Zentralvenen, zu einer interstitiellen Fibrosierung in den Zentren der Läppchen und zu einer Bindegewebsseptierung. Diese venookklusive Erkrankung (VOD) kann in extrem seltenen Fällen unter dem Bild einer akuten Strahlenhepatitis foudroyant verlaufen. Die VOD ist prinzipiell jedoch reversibel; sie kann aber auch in eine chronisch progrediente Leberzirrhose übergehen (Herrmann et al. 2000). Die Ausprägung einer VOD ist abhängig von der Strahlendosis und dem Volumen des bestrahlten Lebersegmentes. Sie kann sich Wochen bis Monate nach Gesamtleberbestrahlung mit Strahlendosen über 25–30 Gy entwickeln. Die Toleranzdosis für die gesamte Leber bei zusätzlicher Gabe lebertoxischer Chemotherapie wird deshalb mit etwa 15–20 Gy angegeben, für kleinere Lebervolumina liegt sie deutlich höher (Flentje et al. 1994; Tefft et al. 1970).
treten nach unterschiedlichen Strahlendosen beginnend bei etwa 20–25 Gy mit zunehmender Häufigkeit auf. Ein laborchemischer Hypothyreoidismus bzw. eine klinisch manifeste Hypothyreose kann sich im Verlauf von bis zu 20 Jahren entwickeln (Hancock et al. 1991). Pathologische Funktionstests (T3/T4, TSH) einschließlich der TRH-TSH-Stimulationstests wurden bei einem großen Teil der Kinder nach Strahlentherapie mit 45 Gy bei Morbus Hodgkin, bei Medulloblastomen oder ZNS-Leukämie beobachtet (37–78%). Bei Dosen von 15–25 Gy ist der Anteil der pathologischen TSH-Werte deutlich geringer (Bhatia et al. 1996a). Pathologische Werte treten mit zunehmender Häufigkeit und einem Maximum nach etwa 3–4 Jahren auf. Akute Funktionsstörungen sind nicht bekannt. Spontane Normalisierungen pathologischer Laborparameter (wie z. B. bei isolierten TSH-Erhöhungen) sind nicht selten (Constine et al. 1984). Eine Substitutionstherapie ist bei klinisch manifester Hypothyreose stets erforderlich. 51.6.3 Haut Die akute Strahlenreaktion der Haut beginnt nach etwa 2– 3 Wochen Bestrahlung mit einem Erythem, gefolgt von Epilation und Hyperpigmentierung. Abhängig von der Dosis können trockene (40 Gy) und gelegentlich auch feuchte (≈60 Gy) Epitheliolysen auftreten. Erythem und Epitheliolyse sind passager. Bei hohen Strahlendosen in der Haut können Epilation, Hyperpigmentierung, und v. a. Aussetzen der Schweißdrüsen- und Talgdrüsenfunktion persistieren. Die Mehrzahl der Spätreaktionen der Haut sind Teleangiektasien (40–50 Gy), Atrophien der Cutis und Fibrosen der Subcutis (50–60 Gy; Budach u. Zimmermann 2000). 51.6.4 Verdauungstrakt Die akute Strahlenreaktion an den strahlenempfindlichen Schleimhäuten des Digestionstraktes ist eine Kombination aus einer Epithelhypoplasie mit erosiven und ulzerativen Veränderungen und einer entzündlichen Reaktion der Submukosa mit Erythem und Ödembildung. Sie beginnt in der dritten Woche der Bestrahlung. In der Folge kommt es abhängig von Dosis, Fraktionierung und Volumen der Bestrahlung zu Ausbildung von Fibrinbelägen bis hin zu konfluierenden Pseudomembranen (Kopf-Hals-Region), bzw. kli-
51.6.5 Leber
51.6.6 Knochenmark Das hämatopoetische System reagiert akut schon nach kleinen Strahlendosen im Bereich des Knochenmarks mit einer deutlichen Verminderung der Stammzellen (1–2 Gy). Das Ausmaß dieser Reduktion der Stammzellkapazität ist v. a. abhängig vom Volumen des bestrahlten Knochenmarks und der Strahlendosis und einer möglichen zusätzlichen Schädigung durch andere Noxen, wie v. a. durch myelotoxische Zytostatika. Klinisch wird diese Schädigung der Stammzellen entsprechend dem Zellumsatz der unterschiedlichen Populationen nach einer Zeitverzögerung von Wochen (Granulozyten) bis hin zu Monaten (Erythropoese) manifest mit entsprechenden Veränderungen im Blutbild und möglicherweise klinischer Symptomatik. Eine langfristige Kompensation erfolgt im Wesentlichen durch die Hyperplasie anderer nicht bestrahlter Knochenmarksbereiche. Eine gewisse Restitution kann auch durch eine Migration von Stammzellen in hypoplastisches Knochenmark erfolgen (Halperin et al. 1999b). Radiogene Veränderungen der nicht-myeloischen Komponente des Immunsystems sind schon nach geringen Strahlendosen bekannt und äußern sich v. a. in einer Verminderung immunkompetenter Zellen des lymphatischen Systems (Belka et al. 2000).
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51.6.7 Nervensystem Am Gehirn können gelegentlich akute Strahlenreaktionen als Folge einer Zunahme eines peritumoralen Ödems oder als meningeale Reizung auftreten mit klinischen Zeichen einer intrakraniellen Drucksteigerung (Kopfschmerzen, Erbrechen). Nach Wochen bis Monaten kann es infolge einer passageren radiogenen Demyelinisierung der Nervenfasern zu einem breiten Spektrum von passageren Symptomen kommen: nach Bestrahlungen im Bereich des Gehirns zu einer allgemeinen gewissen Verlangsamung bis hin zum »Somnolenzsyndrom« und im Bereich des Rückenmarks zum »Lhermitte-Syndrom« (elektrisierendes Gefühl in den Armen und/oder Beinen bei Flexion der HWS). Strahlenspätfolgen im ZNS (Latenzzeit: Jahre) sind Ausdruck meist irreversibler vaskulärer, glialer und neuronaler Schäden, die von Entzündungsreaktionen unterschiedlichen Ausmaßes begleitet werden (Wenz et al. 2000). Das Spektrum der entsprechenden klinischen Symptome und Syndrome ist außerordentlich vielfältig entsprechend der Lokalisation und dem Ausmaß der jeweiligen Läsionen und reicht von diskreten Störungen feinmotorischer und kognitiver Funktionen (Mulhern et al. 1991) bis hin zu unterschiedlichen epileptischen Anfällen und dem Bild einer diffusen nekrotisierenden Enzephalopathie (Griffin 1980). Die Strahlentoleranz des Gehirns im Säuglings- und Kleinkindalter ist deutlich eingeschränkt, später gilt sie als relativ hoch (TD 5/5 45–60 Gy; Halperin et al. 1999b). 51.6.8 Herz
fassbare Strahlenreaktion der insgesamt strahlenempfindlichen Lunge ist wesentlich bestimmt durch das Verhältnis zwischen bestrahltem und nichtbestrahltem Lungengewebe, der Strahlendosis und der vorbestehenden Lungenfunktion des Patienten (Riesenbeck u. Herrmann 2000; Halperin et al. 1999b). Umschriebene kleine Lungenvolumina können meist ohne nennenswerte Beeinträchtigung der allgemeinen klinischen Lungenfunktion mit hohen Strahlendosen belastet werden (>40–45 Gy). Die Toleranzdosis für die simultane Bestrahlung beider Lungen liegt bei maximal 18 Gy (Mc Donald et al. 1995). Eine verminderte Compliance aufgrund von erheblichen radiogenen Wachstumsstörungen des Thorax nach Bestrahlungen im Kleinkindalter kann die Lungenfunktion zusätzlich beeinträchtigen (Benoist et al. 1982). 51.6.10 Nieren Die Strahlenreaktionen an den strahlenempfindlichen Nieren (ab 15–25 Gy) betreffen im wesentlichen das Gefäßendothel (Glomerula) und das Tubulusepithel mit entsprechender Gefäßobliteration und Fibrosierung und führen nach einer Latenzzeit von etwa 6–12 Monaten zu einer lokalen radiogenen Nephritis, die in eine chronische Verlaufsform übergeht (Wiegel et al. 2000). Die Ausprägung und die klinischen Folgen dieser üblicherweise asymptomatischen Nephritis mit z. B. Proteinurie und Anämie sind v. a. abhängig von dem bestrahlten Nierenvolumen und der Strahlendosis. Als Toleranzdosis wird eine Dosis von <20 Gy (12–15 Gy) angegeben (Pötter et al. 1993).
Strahlendosen im Bereich des Herzens von über 40 Gy können pathologische Proliferationen der Endothelzellen in kleinen Gefäßen induzieren (Kapillaren, Arteriolen), die erst nach längeren Zeiträumen klinisch manifest werden (Stewart et al. 1995). Diese Verengungen führen zu myokardialen Zirkulationsstörungen mit möglichen Ischämien sowie Fibrosierungen des Myokards. Bei meist fehlenden klinischen Symptomen können diese Veränderungen nach Jahren bzw. Jahrzehnten mittels EKG, Szintigraphie und Ultraschall erkennbar werden (Gottdiener et al. 1983; Hancock et al. 1991; Steinherz et al. 1995). Als Toleranzdosis wird heute eine Dosis von 40 Gy angegeben (Hancock et al. 1993).
51.6.11 Harnblase
51.6.9 Lunge
Die Brustdrüsenknospe ist um die Mamille lokalisiert und sehr strahlenempfindlich. Nach Strahlendosen >5–10 Gy kommt es während der Ausbildung der Brust zu Hypoplasien bzw. zu Aplasien des bestrahlten Brustanteils (Morbus Hodgkin: Axilla) bzw. der gesamten bestrahlten Brust (Thoraxwandsarkom, Ganzlungenbestrahlung; Furst et al. 1989; Dieckmann et al. 2002).
Die Strahlenreaktion der Lunge ist in ihrer Pathogenese komplex und wird bestimmt durch eine Schädigung der alveolokapillären Membran, einer Schädigung der Pneumozyten (Typ II), einer Schädigung des Kapillarendothels, sowie der Aktivierung von Wachstumsfaktoren (TGF-beta) und Fibroblasten. Nach einer Latenzphase von mehreren Wochen bis hin zu Monaten kommt es zur Ausbildung einer Pneumonitis mit einem interstitiellen Ödem (Therapie: Kortikoide und Antibiotika), das häufig auch von einer alveolären Komponente begleitet wird. Die akute Pneumonitis kann im Verlaufe von Monaten ohne Folgen ausheilen. Häufig geht die Pneumonitis in eine langsam über Jahre progrediente Fibrose über. Die klinisch
Die akuten Strahlenreaktionen an der Harnblase werden mit einer radiogenen Störung des Prostaglandinstoffwechsels in Zusammenhang gebracht. Chronische Strahlenfolgen sind Folge einer spät einsetzenden Denudation des Urothels (Monate). Im weiteren Verlauf kann ein fibrotischer Umbau der Blasenwand mit entsprechender Verminderung der Blasenkapazität folgen (Wiegel et al. 2000). Die Toleranzdosis liegt wahrscheinlich deutlich über 50 Gy. 51.6.12 Mamma
51.6.13 Auge Die Strahlenreaktionen am Auge sind vielfältig entsprechend der Vielzahl der beteiligten Gewebe. Die Haut der Augenlider wie auch die Konjunktiven zeigen ähnliche Strahlenreaktionen wie Haut und Schleimhäute, akut als Erythem und Ödem,
51
592
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
chronisch als Teleangiektasie und Fibrose. Eine radiogene Atrophie der Tränendrüsen (ab 40–50 Gy) führt zum Syndrom des »trockenen Auges« mit konsekutiver Keratoconjunctivitis sicca. Die Augenlinse ist sehr strahlenempfindlich (2–12 Gy) und reagiert nach Jahren mit einer chronisch progredienten Linsentrübung. An der Retina kann sich nach Jahren eine radiogene Retinopathie entwickeln (50 Gy; Halperin et al. 1999b). 51.6.14 Ohr Die akuten Strahlenreaktionen am Ohr beziehen sich im Wesentlichen auf Haut und Schleimhäute. Im Mittelohr kann es nach 40–50 Gy zu einer passageren akuten serösen Otitis media kommen. Nach hohen Strahlendosen (>50 Gy) kann es v. a. bei nachfolgender Cisplatin-Chemotherapie mit hohen kumulativen Dosen zu ausgeprägter Innenohrschwerhörigkeit kommen (direkte Wirkung auf Cochlea und Gefäße; Halperin et al. 1999b; Huang et al. 2002). 51.6.15 Speicheldrüsen und Zähne Strahlenreaktionen an den Speicheldrüsen beginnen schon während der Strahlentherapie als Ausdruck einer akuten Strahlenreaktion und führen über ein chronisches Ödem zu einem progredienten fibrotischen Umbau des Drüsengewebes mit weitgehend irreversiblem Funktionsverlust. Die Xerostomie verstärkt ihrerseits die Mukositis, beeinträchtigt die Geschmacksfunktion und führt zu einer indirekten Zahnschädigung. Als Toleranzdosis für den Erhalt der Speicheldrüsenfunktion wird seit kurzem eine mittlere Dosis von 26 Gy angegeben (Erwachsene; Eisbruch et al. 2000). Die Zahnentwicklung wird dosisabhängig (>10–20 Gy) bei direkter Einwirkung auf die Zahnanlagen bzw. die wachsenden Zähne nachhaltig geschädigt (Halperin et al. 1999b; Maguire et al. 1987). 51.6.16 Sekundärmalignome Die zytotoxische Wirkung ionisierender Strahlen ist äußerst stark, die kanzerogene Wirkung relativ schwach. In der Kanzerogenese, bei der zwischen Tumorinduktion und Tumorpromotion unterschieden wird, gilt die ionisierende Strahlung neben anderen (z. B. UV-Strahlung, Chemotherapeutika) als typischer Tumorinduktor (einmaliges kurzzeitiges Ereignis), der andere Tumorpromotoren während einer längeren Zeitperiode folgen müssen, wie z. B. Chemikalien, mechanische oder andere Irritationen. Entsprechend liegen die Latenzzeiten für das Auftreten eines Zweitmalignoms nach Strahlentherapie zwischen Jahren und Jahrzehnten mit zunehmender Häufigkeit. Als typische, durch eine Radiotherapie induzierte Tumoren gelten Sarkome (Osteosarkome, Chondrosarkome, Weichteilsarkome), Schilddrüsenkarzinome und Mammakarzinome, die vornehmlich im Bereich der therapeutischen Dosis im klinischen Zielvolumen entstehen (Bhatia et al. 1996b; Meadows et al. 1985).
Besondere Risikofaktoren bei der Entstehung von Zweittumoren im Kindesalter sind: großes proliferatives Potenzial der Zellsysteme (Alter der Patienten), genetische Faktoren (z. B. bei Retinoblastomen, Knochentumoren), Kombinationsbehandlung mit bestimmten Chemotherapeutika (z. B. Alkylanzien), applizierte Bestrahlungsdosen (10–50 Gy) und Größe der bestrahlten Volumina (De Vathaire et al. 1989; Kony et al. 1997; Halperin et al. 1999c).
Strahlentherapeutische Behandlungen werden auch in Zukunft einen wesentlichen Stellenwert in der pädiatrischen Onkologie haben. Basierend auf den fusionierten Daten moderner morphologischer (MRT, Multislice-CT) und biologischer Bildgebung (z. B. PET, SPECT) werden Therapiepläne entstehen, die eine selektive Bestrahlung tumoraktiven Gewebes erlauben. Unterstützt durch technische Weiterentwicklungen und Einsatz neuer Strahlenarten (Protonen) wird es möglich sein, die Strahlendosis weiter zu fokussieren und Organbewegungen zu berücksichtigen. Fortschritte der molekularen Medizin werden zu einer Modulation der Strahlenempfindlichkeit führen, z. B. durch Beeinflussung der Genexpression. Hieraus wird wahrscheinlich eine Zunahme der Strahlensensibilität in Tumoren resultieren, die eine Reduktion der Strahlendosis sowie eine Abnahme der Strahlensensibilität im Normalgewebe mit konsekutiv erhöhter Strahlentoleranz erlauben. Ein umfassendes Verständnis des Krankheitsverlaufs unter Berücksichtigung prognostischer Parameter und der individuellen Tumorausdehnung wird einen gezielteren und räumlich eingeschränkteren Einsatz der Strahlentherapie möglich machen.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
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595
Chirurgische Therapie H. Mau
52.1 52.2 52.3
Allgemeine Grundsätze – 595 Die Zusammenarbeit zwischen Operateur und Pathologie – 596 Operationsvorbereitungen – 596
52.3.1 52.3.2
Gefäßzugänge – 597 Lagerung – 597
52.4
Operation
52.4.1 52.4.2 52.4.3 52.4.4 52.4.5
Zugangswege – 597 Biopsie – 599 Definitive Tumorexstirpation – 599 »Debulking« – 601 Metastasenchirurgie – 601
– 597
52.5
Dauerhafte zentralvenöse Zugänge – 602
52.5.1 52.5.2
Operative Prozedur – 602 Pflege und Komplikationen Literatur – 603
– 603
Theodor Billroth hatte bereits 1877 als Grundgedanken der Tumortherapie formuliert, dass eine Geschwulst entfernt und ihre Ausbreitung verhindert werden müsse. Er erkannte, dass die Lösung des Problems in der Erkennung des biologischen Verhaltens des Tumors liegt. Heroische Geschwulstoperationen prägten eine Epoche der Medizin, ohne dass auch nur ein Kind davon profitiert hätte. Erst die Fortschritte der Narkosetechnik schufen die Voraussetzungen dafür, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine systematische operative Behandlung von Tumoren bei Kindern und Jugendlichen begonnen werden konnte. So war es logisch, dass auch die ersten erfolgreichen Tumorresektionen dem Wagemut gestandener Chirurgen zu verdanken waren, wie die erste Pankreasresektion bei einem Säugling im Jahr 1936 durch Ferdinand Sauerbruch. In den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte sich die systematische chirurgische Behandlung tumorkranker Kinder, beginnend mit den soliden Tumoren. Operateure aus verschiedenen Fachgebieten erkannten die Aufgabe und schufen gemeinsam mit Kinderärzten Behandlungsstrategien, die den biologischen Eigenschaften des Tumors und dem Lebensalter Rechnung trugen. Die ursprüngliche Prämisse der onkologischen Chirurgie: »Radikalität als Voraussetzung der Heilung« wurde in dem Maße aufgegeben, in dem sich andere Behandlungsmöglichkeiten aus der Chemo- und Strahlentherapie ergaben. Aus der systematischen Erfassung und Auswertung von Behandlungsverläufen konnten Erkenntnisse gewonnen werden, die eine kritische Wertung von Nutzen und Risiken spezieller Operationen gestatteten. Auf diese Weise wurde die pädiatrisch/onkologische Chirurgie ein integraler Bestandteil der multidisziplinären Tumortherapie des Kindesalters.
52.1
Allgemeine Grundsätze
Die operative Behandlung eines soliden Tumors entspricht einer oder mehrerer Etappen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes, das Art und Ausdehnung des Tumors, Lebensalter und alle weiteren Begleitumstände berücksichtigt. Zeitpunkt und Ausmaß der Resektion sowie Radikalität werden nicht vom chirurgisch Machbaren, sondern von den Erfordernissen bestimmt, die aus dem biologischen Verhalten des Tumors abgeleitetet werden. Um diese Entscheidungen kompetent treffen zu können, muss der Kinderchirurg in ein Team von pädiatrischen Onkologen, Pathologen, Radiologen, Strahlentherapeuten und Molekularbiologen eingebunden sein (»team approach«). Operationsentscheidungen sind Teamentscheidungen. Die Besonderheiten der pädiatrischen Onkochirurgie gegenüber der Onkochirurgie des Erwachsenenalters sind in den biologischen Eigenschaften der einzelnen Tumorarten begründet, die obendrein auch erheblich vom Lebensalter beeinflusst werden. Wenn es nicht besondere Umstände verbieten, sollte die Behandlungskonzeption der entsprechenden Studienprotokolle exakt eingehalten werden. Entscheidend für die Einordnung eines Tumorpatienten in einen Behandlungsmodus nach »Studie« ist die histologische Diagnose, ggf. mit immunologischer und molekularbiologischer Differenzierung. Aus diesem Grund muss der bildgebenden Diagnostik die Gewebsentnahme zur histologischen Untersuchung folgen. In manchen Fällen ist in diesem Schritt die radikale Tumorexstirpation sinnvoll (z. B. Neuroblastom, Weichteilsarkom). Die Entscheidung hängt auch hier nicht allein von den operativen Möglichkeiten ab, sondern wird von der Tumorart, dem Ausbreitungsstadium und dem Lebensalter bestimmt. ! Studiengerecht heißt tumoradaptiert operieren.
Als Methoden der Materialgewinnung stehen konventionelle und minimal-invasive Chirurgie in Konkurrenz (Allendorf 1998). Ausnahmen stellen diejenigen Tumoren dar, bei denen die Diagnose zweifelsfrei aus Punktionsmaterial gestellt werden kann (z. B. Burkitt-Lymphom). Anders als die Knochenmarkpunktion, deren Bedeutung in der Diagnostik der Neuroblastome unverändert groß ist, hat sich die Bewertung der Punktionszytologie in den letzten 10 Jahren geändert. Die enthusiastische Beurteilung, die die Nadelbiopsie in Verbindung mit der Schichtbilddiagnostik bis zu Beginn des letzten Jahrzehntes erfahren hatte, ist einer nüchternen Betrachtung gewichen. Die damit gewonnenen Gewebsmengen entsprechen nicht den in den Studienprotokollen verlangten Größenordnungen und bergen bei der feingeweblichen Untersuchungen zu viele Unsicherheiten, besonders bei negativen Tumorbefunden.
52
596
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Die Entwicklung eines speziellen Instrumentariums für die minimal-invasive Chirurgie, mit dem Zugang zu praktisch allen Körperregionen erlangt werden kann, hat hier neue Kriterien der diagnostischen Zuverlässigkeit ermöglicht. Bei intraabdominellen, intrathorakalen, retroperitonealen und intraluminalen Tumoren profitieren die Patienten von minimalen Operationswunden und der zusätzlichen Sicherheit der Tumorbeurteilung durch direkte Betrachtung (Holcomb 1995; Waldhausen 2000). Zumindest in tierexperimentellen Studien konnte nachgewiesen werden, dass bei laparoskopischem Vorgehen das Risiko der Tumorzellverschleppung geringer ist als bei konventioneller Operationstechnik (Allendorf 1998). Durch die Auswertung der großen multizentrischen Tumorstudien können die Auswirkungen einzelner Schritte der multimodalen Therapie genauer eingeschätzt werden. Daraus definiert sich auch der Wert der operativen Tumorentfernung oft neu. Eine unerwartete Situation bei der Biopsie, die eine Neubestimmung des Tumorstadiums zur Folge hat, kann eine kurzfristige Änderung des Therapiekonzeptes notwendig machen. Aus diesem Grunde ist die permanente Verfügbarkeit des therapieführenden pädiatrischen Onkologen im Operationssaal ein notwendiger Bestandteil der Teamarbeit. ! Die Art der operativen Behandlung wird nicht durch das chirurgisch Mögliche, sondern durch das onkologisch Sinnvolle definiert. Chirurgische Radikalität im ersten Anlauf stellt oft nicht den Weg der Heilung dar, besonders, wenn sie nur auf Kosten des Verlustes von Organfunktionen erlangt werden kann.
Sehr eindrucksvoll haben die Erfahrungen mit der organerhaltenden Therapie bei Rhabdomyosarkomen der Genitalorgane und bei bilateralen Nephroblastomen die Richtigkeit dieses Vorgehens bestätigt. Anlässlich des ersten operativen Eingriffs die radikale Tumorentfernung vorzunehmen hat allerdings für den Operateur den Vorzug, in Gewebe arbeiten, das nicht durch vorangegangene Eingriffe vernarbt ist. Abweichungen vom Normalen können dabei mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Tumorkrankheit bezogen werden und die bei Zweiteingriffen schwierige Frage: »Narbe, Resttumor oder Rezidiv?« stellt sich nicht. Eine primäre definitive Tumorexstirpation ist meist operationstechnisch risikoärmer als ein Sekundäreingriff. 52.2
Die Zusammenarbeit zwischen Operateur und Pathologie
Der Pathologe ist unverzichtbares Mitglied des multimodalen onkologischen Teams. Er sollte besondere Erfahrung in der pädiatrischen Tumorpathologie haben; die enge Zusammenarbeit mit den Tumorreferenzzentren muss für ihn selbstverständlich sein. Bei intraoperativen Entscheidungen hat der Pathologe in der pädiatrischen Onkologie eine andere Rolle als in der Erwachsenenonkologie. Die Festlegungen über das Ausmaß von Probebiopsien oder Resektionsgrenzen beruhen bei geplanten Eingriffen weniger auf der direkten Inaugenscheinnahme des Tumorsubstrats als auf den Resultaten der vorangegangenen bildgebenden Diagnostik. Obendrein ist bei
vielen Malignomen die Grenze der zellulären Infiltration keineswegs identisch mit der, die bei der Betrachtung mit dem bloßen Auge als solche erscheint. Trotzdem kann die Anwesenheit eines versierten Kinderpathologen bei der Beurteilung von unklaren Läsionen eine große Hilfe sein, z. B., wenn ein tumorverdächtiger Befund unerwartet auftaucht. Für den Pathologen selbst ist es vorteilhaft zu wissen, aus welcher Region das ihm zur Verfügung stehende Untersuchungsmaterial stammt. Die Lymphknotenbiopsie hat einen hohen Stellenwert bei der Therapieplanung. Dabei ist von großer Bedeutung, die Grenze zwischen tumorös befallenen und unveränderten Lymphknoten zu erfassen. Erst der peripher des Tumors gewonnene, histologisch unauffällige Lymphknoten beweist das Erreichen des Ziels. Makroskopisch ist oft nicht zwischen reaktiv verändertem und Tumorlymphknoten zu unterscheiden, so dass die Hilfe eines Pathologen (TouchPräparate) im Operationssaal entscheidend sein kann. Die Anforderungen an die Schnellschnittdiagnostik haben sich mit der Verbesserung der bildgebenden Diagnostik reduziert. ! Ein leistungsfähiges pädiatrisch-onkologisches Tumorteam vorausgesetzt, stellt die histologische Untersuchung nicht den Anfang, sondern den Schlussstein der Diagnostik dar. Die Frage an den Pathologen lautet nicht »Tumor?«, sondern »welcher Tumor?«. Die Beantwortung dieser Frage erfordert Untersuchungstechniken, die über die Möglichkeiten der Schnellschnittdiagnostik hinausgehen.
52.3
Operationsvorbereitungen
Die sinnvollste Operationsvorbereitung ist die Fallbesprechung, in der pädiatrischer Onkologe, Radiologe, Pathologe, Anästhesist und Kinderchirurg anhand aller vorliegenden Informationen den Ablauf festlegen. Zugangsweg, Ausdehnung des Eingriffs, besondere Lagerung und ggf. notwendige Erweiterung müssen mit dem Anästhesisten beraten werden. Große tumorreduzierende Operationen können durch Volumenverschiebungen zu plötzlichen Kreislaufbelastungen führen, ebenso die temporäre Unterbrechung großer Gefäße. Dem muss der Anästhesist durch einen entsprechenden Flüssigkeitsvorlauf begegnen können. Blutverluste müssen vom Operateur so exakt prognostiziert werden, dass angemessene Mengen der (inzwischen teuren und nur begrenzt verfügbaren) Blutprodukte bereitgestellt werden können. Bei einer optimal vorbereiteten Operation bilden Chirurgen, Anästhesisten und instrumentierende Pflegekräfte ein Team, das alle Komplikationsmöglichkeiten einkalkuliert hat. Die Vorbereitung auf den schlimmsten Fall ermöglicht das beste Ergebnis. Bei der Wahl des Zugangsweges sollten die nachfolgenden Eingriffe bedacht werden. Wenn im Laufe der Behandlung die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines anderen Fachgebietes abzusehen ist, sollte ein kompetenter Vertreter von Anfang an in die Behandlungsplanung eingebunden sein.
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Operation
52.3.1 Gefäßzugänge
52.4
Bei der Anlage der für den Eingriff notwendigen Zugänge für Substitution und Monitoring müssen die Erfordernisse einer nachfolgenden Chemotherapie bedacht werden. Die gängigen zentralvenösen Verweilkathetersysteme sind aufgrund der geringen Querschnitte – besonders bei Mehrlumenkathetern – für die Narkoseführung nicht geeignet. Die Einbringung eines solchen Systems findet zweckmäßigerweise am Ende der Tumoroperation statt, denn so wird zumindest verhindert, dass der korrekt eingebrachte Katheter bereits während der Operation durch einen Thrombus verschlossen oder lädiert wird. Die für die Narkoseführung eingebrachten Substitutions- und Messkatheter, darunter mindestens 2 venöse Zugänge, benötigen bei der Lagerung Sorgfalt und Umsicht. Katheterkomplikationen ereignen sich während einer Operation immer in kritischen Phasen und bei der Neuanlage eines Gefäßzuganges gerät dann die Sterilität in Gefahr. Für die Anlage der Gefäßzugänge ist ausreichend Zeit einzuplanen. Versierte Kinderanästhesisten, denen die gesamte Produktpalette an konfektionierten Venen- und Arterienkathetern zur Verfügung steht, können auf operative Gefäßfreilegungen verzichten. Auf Einzelheiten der Anlage und Pflege der dauerhaften zentralvenösen Zugänge wird im Abschn. 52.5 eingegangen.
52.4.1 Zugangswege
52.3.2 Lagerung Medizinrechtlich gehört die Lagerung in den Verantwortungsbereich des Operateurs. In der täglichen Arbeit stellt sie einen Kompromiss zwischen den Wünschen des Operateurs, den anatomisch gegebenen Grenzen und den Notwendigkeiten der Anästhesie dar. Eingriffe im Hals-, Zwerchfell- und unteren Beckenbereich können durch eine unzureichende Lagerung zu Strapazen für den Operateur und zur Ursache für dauernde Verstöße gegen die Sterilitätsgebote werden. Dem können eine gründliche Vorabsprache mit Anästhesisten und Operationspersonal sowie die Bereitstellung von geeigneten Lagerungshilfen vorbeugen. Für die Verfügbarkeit von altersgerechten Silikonpolstern ist der Betreiber des Operationssaals verantwortlich, in der Regel der Kinderchirurg. Diese Hilfsmittel sind zwar teurer als gerollte Operationstücher, aber sehr viel preiswerter als der Schadenersatz für einen lagerungsbedingten Nervenschaden. Bei den häufig zeitlich ausgedehnten Eingriffen ist in Phasen der verminderten Kreislaufzirkulation bei vorgeschädigten Kindern das Risiko von Druckschäden ähnlich hoch wie bei sehr alten Patienten. Die Anbringung von Klebeelektroden – sowohl für die Überwachung als auch für die Arbeit mit dem Kauter – soll so erfolgen, dass diese weder durch Feuchtigkeit beeinflusst werden können noch durch Druck das Gewebe schädigen können. Monopolare Elektrik birgt aus physikalischen Gründen ein höheres Risiko als bipolare. Bei Thoraxeingriffen, sowohl konventionellen als auch minimal-invasiven, muss darauf geachtet werden, dass die Arme im Schultergelenk nicht mehr als 90° abduziert sind und die Radialseite des Oberarms gleichmäßig gepolstert ist. Druckschäden im Brachialisbereich und Plexusschädigungen ziehen gewöhnlich Haftungsverfahren nach sich.
Abdomen/Retroperitonealraum Für onkochirurgische Abdominaleingriffe bieten sich quere Laparotomien an. Sie haben den Vorteil, jederzeit über die Mittellinie hinaus erweitert werden zu können. Großräumige Explorationen des gesamten Bauchraums sind von diesem Zugang her möglich. Wenn von vornherein die ganze Bauchhöhle exploriert werden soll, ist beim Säugling und Kleinkind der supraumbilikale Querschnitt sinnvoll, weil nur von ihm aus auch die infradiaphragmalen Regionen erreicht werden können. Nach Durchtrennung des Ligamentum falciforme (die Vena umbilicalis kann beim Trimenonsäugling meist ohne Schwierigkeiten mechanisch rekanalisiert und als Gefäßzugang verwendet werden) und der Leberbänder lässt sich die Leber nach kaudal abdrängen, so dass die Facies diaphragmatica operativen Maßnahmen (Metastasenexstirpation, Probeexzision etc.) zugänglich ist. Auch für Eingriffe am Pankreas und der infradiaphragmalen Aorta ist dieser Zugangsweg optimal geeignet. Bei unilateralen Wilms-Tumoren und retroperitonealen Neuroblastomen, die nicht die Mittellinie überschreiten, kann der asymmetrisch angelegte Oberbauchquerschnitt alle Anforderungen erfüllen. Auch wenn grundsätzlich gilt, dass jeder retroperitoneale Tumor transperitoneal angegangen werden soll, kann es vorteilhaft sein, den Peritonealsack zunächst uneröffnet von der Bauchwand abzuschieben. Er schützt während des Vorgehens im Retroperitonealraum den Interstinaltrakt vor Verletzung und Austrocknung. Kranialwärts wird der Zugang zur Gegenseite durch die inferioren Mesenterialgefäße begrenzt. Nach kaudal kann das Retroperitoneum bis weit über das Promontorium freigelegt werden, wenn man die Vasa spermatica bzw. ovarica ab der hinteren Bauchwand belässt. Auf diese Weise kann eine Aussage über die makroskopischen Tumorgrenzen, evtl. Mittellinienüberschreitung, Infiltration der großen Gefäße und erkennbaren Lymphknotenbefall getroffen werden, womit die Voraussetzungen für die Planung des weiteren Vorgehens gegeben sind. Wenn das Peritoneum sich ohne Verwachsungen und Infiltrationen ablösen lässt, ist die Wahrscheinlichkeit von intraperitonealen Tumorabsiedlungen gering; trotzdem muss nach der Tumorexstirpation das Peritoneum eröffnet und die gesamte Bauchhöhle abgesucht werden, wobei der Mesenterialwurzel besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Sollte sich ausnahmsweise mit dem Querschnitt keine ausreichende Übersicht erzielen lassen, kann er ohne weiteres durch einen senkrecht aufgesetzten, nach kranial oder kaudal geführten Schnitt erweitert werden. Dabei ist zu bedenken, dass der kosmetisch beste Schnitt in der Mittellinie aus Gründen der Gefäßversorgung die schlechteste Heilungstendenz hat. ! Nur ein ausreichender Zugang erlaubt gefahrloses Operieren und ermöglicht die erforderliche Radikalität.
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Thorax/Mediastinum Die konventionelle Thorakotomie ist für Tumoreingriffe angezeigt, wenn Kontraindikationen für den Einsatz der minimal-invasiven Verfahren bestehen. Diese können sowohl in Größe und Lage des Tumors als auch in vorangegangenen Eingriffen bestehen. Dann wird in der Regel die Thorakotomie im 4., 5. oder 6. Interkostalraum durchgeführt. Der Haut-Muskelmantel sollte mit einer Schnittführung zwischen mittlerer und hinterer Axillarlinie eröffnet werden. Diese Schnittführung liefert bessere kosmetische Resultate und ist muskelschonend. Um zu dem gewünschten Interkostalraum zu kommen, bleibt man ventral des Musculus latissimus dorsi und durchtrennt nur die Köpfe des Musculus serratus. Dabei lässt sich der Nervus thoracicus dorsalis immer schonen. Von hieraus lassen sich alle Eingriffe an der Lunge und dem vorderen und hinteren Mediastinum durchführen (⊡ Abb. 52.1). Allerdings ist das vordere Mediastinum leichter von der medianen oberen und unteren Mediastinotomie zu erreichen. Der Zugangsweg ist kürzer, die Pleura bleibt geschlossen, auf Pleuradrainagen kann verzichtet werden und die Kinder sind deutlich weniger beeinträchtigt.
Eine Thorakotomie wird heute kaum explorativ indiziert sein, da Schichtbilduntersuchungen und ggf. eine Thorakoskopie alle Fragen beantworten können. Wenn durch die präoperative Diagnostik nicht sichergestellt werden kann, dass eine minimal-invasive Tumorexstirpation möglich ist, sollte zunächst eine Thorakoskopie erfolgen. Ggf. kann dann von der Troikareintrittsstelle aus thorakotomiert werden. Die dadurch zustande kommende Vergrößerung und Verlängerung des Eingriffs ist unwesentlich. Kleines Becken Bei Weichteiltumoren im kleinen Becken hat die bioptische Diagnosesicherung Vorrang vor der chirurgischen Therapie. Obstruktionen der Harnwege können aber frühzeitige operative Interventionen notwendig machen, z. B. bei Rhabdomyosarkomen der Prostata, der Vagina oder der Blase. In diesen Fällen empfiehlt sich als Zugang die quere Unterbauchlaparotomie nach Pfannenstiel. Wenn die dadurch erlangte Übersicht nicht ausreichend ist, kann man problemlos beide Mm. recti quer durchtrennen. Teratome der unteren Rumpfregion werden mit Vorteil von kaudal angegangen. Die Lagerung erfolgt in Steinschnitt-
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b
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⊡ Abb. 52.1. Zugangsweg bei der Thorakotomie. a Hautschnitt, b Eingehen ventral des Musculus latissimus dorsi, c interkostaler Zugang nach Durchtrennung der Köpfe des Musculus serratus lateralis
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position. Bei übergroßen Tumoren erfolgt der Hautschnitt V-förmig gleichsam im Niveau der vorderen Bauchwand dorsal des Anus. Weit nach kranial reichende Tumoranteile erfordern die Eröffnung der Bauchhöhle und bei dieser Positionierung entfällt die Umlagerung. Minimal-invasive Eingriffe Fortschritte in der Technik und beim Instrumentarium haben alle Körperregionen der minimal-invasiven Chirurgie zugänglich gemacht (Ure et al. 2002). Bei Eingriffen in Körperhöhlen besteht der Vorteil dieser Technik neben der geringeren Traumatisierung in der besseren optischen Erfassung der Tumorsituation, die außerdem ohne besonderen Aufwand dokumentiert werden kann (Videodokumentation). Bei Wiederholungseingriffen kann der Befund mit den Resultaten anderer bildgebender Untersuchungsverfahren abgeglichen werden, woraus für Operateur und Patient zusätzliche Sicherheit erwächst. Die Positionierung der Optik- und Arbeitstroikare ist in weiten Grenzen variabel und richtet sich u. a. nach dem verwendeten Instrumentarium. Für blutungsarmes Operieren stehen Diathermie-, Ultraschall- und Laserschneidetechniken zur Verfügung. Wofür sich der Operateur entscheidet, dürfte im Wesentlichen von seiner Erfahrung und seinem Trainingszustand abhängig sein. Ohnehin wird er einen onkochirurgischen Eingriff nur dann minimal-invasiv in Angriff nehmen, wenn er in der Methode trainiert und ihm die Region von konventionellen Eingriffen her vertraut ist. 52.4.2 Biopsie Definition Das Ziel der Probebiopsie ist die Gewinnung einer repräsentativen Gewebsprobe bei möglichst geringer Beeinträchtigung des Patienten.
Eine zu kleine, an falscher Stelle entnommene Biopsie stellt dem Pathologen eine unlösbare Aufgabe und hat eine erneute Operation zur Folge. Aus dem Zentrum des Tumors entnommenes Gewebe ist häufig für die Untersuchung unbrauchbar, da nekrotische oder fibrös umgewandelte Partien das histologische Bild bestimmen können. Die Entnahme einer Gewebsprobe ist also keine Anfängeroperation; ihre Durchführung im Tumorteam sollte mit der gleichen Gründlichkeit besprochen werden wie ein kurativer Eingriff. Der erfahrene Tumorchirurg nimmt aus dem Eingriff zugleich Eindrücke über Durchblutung und Infiltrationsverhalten der Neubildung mit und verwertet sie bei der Planung weiterer Prozeduren. Um dem Pathologen möglichst gut beurteilbares Gewebe zu liefern, sollte die Probe mit dem kalten Messer entnommen werden, denn bei Entnahme mit dem elektrischen Messer, dem Laser oder dem Ultraschallmesser kommt es zu einer Schädigung der Randpartien des Exzisates, die möglicherweise gerade den für den Pathologen wichtigen Teil betreffen. Nach erfolgter Chemo- und/oder Strahlentherapie können unklare MRT-Befunde den Verdacht auf ein lokales Rezidiv oder einen Resttumor nähren. In topographisch komplizierten Regionen wie dem hinteren Mediastinum oder
der paraaortalen Oberbauchregion hat bereits der Radiologe Schwierigkeiten in der Differenzierung zwischen Therapienarbe und Rezidiv. Intraoperativ stellen sich die bildgebend erfassten Gewebeunterschiede meist noch diskreter dar, so dass der Operateur nur mit der Kenntnis des Erstbefundes die verdächtigen Gewebsabschnitte auffindet (zu Möglichkeiten der Markierung Abschn. 52.4.5). Ein Sonderfall der Biopsie ist die Lymphknotenentnahme. Die ohnehin subtile Lymphknotendiagnostik wird zur undifferenzierten Deutung, wenn der Lymphknoten gequetscht, geteilt oder koaguliert ist. Nach Möglichkeit sollte der Lymphknoten unter Schonung seiner Kapsel aus der Gewebsumgebung herauspräpariert werden, ohne dass er mit einem chirurgischen Werkzeug direkt angefasst wurde. Durch sorgfältige Abdeckung der Umgebung bei jeder Probebiopsie kann verhindert werden, dass der Eingriff im folgenden Therapiekonzept als Tumorruptur betrachtet werden muss. 52.4.3 Definitive Tumorexstirpation Bei Neuroblastomen, Wilms-Tumoren, Rhabdomyosarkomen und Keimzelltumoren kann das Ziel der Erstoperation in der vollständigen Exstirpation des Tumors bestehen, wenn die in der betreffenden Tumorstudie gegebenen Bedingungen erfüllt sind. Da es sich bei diesen Eingriffen immer um elektive Operationen handelt, ist stets Zeit genug, mit dem pädiatrischen Onkologen das Vorgehen abzustimmen und so zu organisieren, dass dieser sowie ein kompetenter Pathologe für den Eingriff zur Verfügung stehen. ! Die Festlegung auf einen Radikaleingriff ist eine Teamentscheidung.
Die präoperativ entwickelten Vorstellungen über Art, Ausdehnung und Stadium des Tumors müssen intraoperativ kontrolliert werden. Sollten sich neue Gesichtspunkte ergeben, muss vor Ort über das weitere Vorgehen entschieden werden. Die elektive Radikaloperation soll ▬ die Diagnose sichern, ▬ die angrenzenden Lymphknoten bergen, ▬ das Tumorstadium definieren und ▬ den Tumor radikal beseitigen. Das hat zu geschehen, ohne dass Organe oder Funktionsgewebe zerstört werden. Es ist nicht gerechtfertigt, den Patienten um den Preis der Radikalität vital zu gefährden oder mit heroischen Prozeduren postoperative Komplikationen heraufzubeschwören. Bevor der Entschluss zur radikalen Tumorexstirpation gefasst wird, muss Gewissheit herrschen, dass keine Metastasierung vorliegt. In Studien wurde gezeigt, dass das Risiko, an einer Operationskomplikation zu sterben, höher ist als das, dem Grundleiden zu erliegen. Wenn die Forderung nach »schadensfreier Tumorresektion« nicht erfüllt werden kann, muss rechtzeitig in Richtung Biopsie umgeplant werden. Das setzt beim Operateur vorausschauendes Denken und Erfahrung voraus. Für den Eingriff sollte eine sterile topographische Skizze des Operationsgebietes bereitliegen, in der die mit bildgebender Diagnostik erfassbaren Markierungspunkte enthalten sind. In ihr können vom Operateur die Tumorgrenzen und die
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
⊡ Abb. 52.2a, b. Laparatomie. a Situationsskizze für die Operation, b mit eingezeichneter Lage des Tumors
Kinderchirurgie Name
Kinderchirurgie Datum
Name
Diagnose
Datum
Diagnose
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Lage der entnommenen Lymphknoten möglichst genau markiert werden (⊡ Abb. 52.2). Es nützt nichts, wenn der Pathologe die Lymphknoten subtil aufarbeitet, ohne dass klar ist, ob sie von der rechten oder linken Tumorgrenze stammen. Unter der Voraussetzung, dass unter Zuhilfenahme von radiologisch erfassbaren Koordinatenpunkten die Entnahmestellen von Tumor und Gewebsproben auch postoperativ genau lokalisiert werden können, ist der Verzicht auf Markierungsimplantate gerechtfertigt. Gelingt dies aus irgendwelchen Gründen nicht, müssen Metall-Clips (ausschließlich Titan) oder (später zu entfernender) Metalldraht eingebracht werden. Unterbleibt das, wird die radiologische Diagnostik zum Ausschluss von lokalen Rezidiven sehr erschwert und die Strahlentherapie kann zum »Glücksspiel« werden.
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Zwerchfell oder sogar bis in den Vorhof reichen, sollte ein kardiovaskulärer Chirurg hinzugezogen werden. Der höhere Aufwand ist auf jeden Fall gerechtfertigt, da sich gezeigt hat, dass selbst bei Infiltration der Venenwand die Überlebensprognose nicht schlechter als bei den Fällen ohne Infiltration ist, vorausgesetzt, dass die befallene Gefäßwand im Gesunden reseziert wurde (Ritchey 1988). Ein mittellinienüberschreitendes Tumorwachstum kann zur Folge haben, dass die großen Gefäße von ventral nicht zugänglich sind. Dann muss der Tumor von seiner kaudalen Begrenzung angegangen werden, wobei die kurzen, aus der Aorta ziehenden Gefäße mit Vorsicht zu behandeln sind. Sie reißen gerne aus der Wand aus und verursachen heftigste Blutungen.
Besonderheiten beim Wilms-Tumor. Beim Wilms-Tumor
Tipp für die Praxis
sind eine Reihe von tumortypischen Besonderheiten zu berücksichtigen. Im Säuglingsalter ist bei multiplen Tumorknoten eine Nephroblastomatose (Hou 1961; Kap. 46) zu bedenken, weiterhin das kongenitale mesoblastische Nephrom, das wegen seiner intensiven Infiltrationstendenz hohe Ansprüche an die Schnellschnittdiagnostik stellt. Sowohl angrenzendes Nierengewebe als auch das perirenale Fettgewebe kann von makroskopisch nicht erkennbaren fingerförmigen Tumorausläufern durchsetzt sein. Beim Wilms-Tumor jeden Lebensalters muss von dem onkochirurgischen Grundsatz »erst Ligatur des abführenden Gefäßes, dann Ligatur des zuführenden Gefäßes« abgewichen werden, will man nicht die Ruptur des Tumors riskieren. Hier hilft das synchrone Anschlingen beider Gefäße mit einem Torniquet möglichst weit zentral, um sie dann getrennt zu versorgen. Ein in der Nierenvene nachweisbarer Tumorzapfen, selbst wenn er bis in die Vena cava caudalis reicht, ist kein Grund, die radikale Tumorexstirpation aufzugeben. Kurze Kava-Tumorthromben lassen sich bei ausgeklemmter Vena cava über die erweiterte Eröffnung der Nierenvenenmündung meist leicht extrahieren. Sie haben oft keine Verbindung zur Gefäßwand. Bei Tumorthromben, die bis an das
Wenn die radikale Tumorexstirpation nur um den Preis der Nephrektomie zu erreichen ist, sollte die Nebenniere erhalten und der Ureter so tief wie möglich abgesetzt werden. Die rechtsseitige Tumornephrektomie kann bei Hilusbefall und kurzer Vene durch ein temporäres Ausklemmen der Vena cava caudalis sicherer gestaltet werden.
Besonderheiten beim Neuroblastom. Beim Neuroblastom wird der Modus der operativen Behandlung vom Tumorstadium nach EVANS und molekularen Parametern bestimmt (Brodeur 1993) ( Kap. 46). Die oben genannten Ziele der Radikaloperation gelten für diesen Tumor mit Einschränkungen, denn das Streben nach Radikalität tritt beim Ersteingriff gegenüber der Materialgewinnung für die Histologie und die Bestimmung des Lymphknotenbefalls in den Hintergrund (von Schweinitz 2002). Eine vollständige Tumorentfernung auf Kosten einer Mutilation ist unangebracht, da dieses Ziel bei einem Zweiteingriff, ggf. nach Chemotherapie, mit geringerem Risiko erreicht werden kann. Obendrein ist im Säuglingsalter die Möglichkeit der spontanen Regression gegeben.
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⊡ Abb. 52.3. Bauchwanderweiterungsplastik unter Verwendung von Goretex
Ausgedehnte Eingriffe sind indiziert, wenn tumorbedingte Organfunktionsstörungen auftreten. Diese können im Abdominalraum durch Tumorprogression zu intestinaler Obstruktion und Harnabflussstörungen führen. Im Thorax sind Lungenkomplikationen seltener, häufiger sind Rückenmarkschädigungen durch Einwachsen des Tumors in den Spinalkanal, die eine sofortige Laminektomie indizieren können. Außerdem kann die vermehrte Produktion von vasointestinalem Peptid unbeherrschbare Durchfällen verursachen. Bei Säuglingen mit Stadium 4S kann es durch diffusen Leberbefall zu lebensbedrohlichen Vergrößerungen des Organs kommen. Wenn sie bedrohliche Ausmaße annimmt, kann eine Bauchdeckenerweiterungsplastik (ggf. unter Verwendung von Goretex) helfen, die Zeit bis zur spontanen Regression zu überbrücken (⊡ Abb. 52.3).
b
c ⊡ Abb. 52.4a–c. Fixierung von Markierungsankern nach Rogalla. a Aus der Punktionskanüle ausgefahrener Markierungsanker. b Computertomogramm mit Markierungsspirale in situ. c Thorakoskopischer Aspekt mit eingebrachter Markierungsspirale
52.4.4 »Debulking« Eine weitere Variante des chirurgischen Vorgehens bei technischer Unmöglichkeit der radikalen Exstirpation ist die Tumorverkleinerung. Als »debulking« wurde die geplante Reduktion der Tumormasse vor mehr als 30 Jahren inauguriert (Koop 1971) und hat bis heute als Therapieschritt insbesondere bei technisch nicht radikal zu entfernenden Tumoren ihren Wert unter Beweis gestellt. Bei manchen nicht komplett resektablen Tumoren ist die Zytoreduktion eine der Voraussetzungen für den erfolgversprechenden Einsatz von Chemo- und Strahlentherapie, so z. B. beim Neuro-
blastom und beim Hepatoblastom. Beim Rhabdomyosarkom der Beckenorgane ermöglicht die wiederholte Tumorreduktion die Organerhaltung. 52.4.5 Metastasenchirurgie Solitäre pulmonale Metastasen nach Wilms-Tumorresektion sollten frühzeitig, möglichst 2 Wochen post primam operationem, angegangen werden. Bei bis zu 3 Metastasen bietet
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
sich die atypische parenchymsparende Resektion mit dem Stapler an, wenn die Lage der Herde ausreichend oberflächennahe ist. Bei tieferer Lage einer oder mehrer Metastasen kann es notwendig werden, den Eingriff bis zur Lobektomie auszuweiten. Weitergehende Resektionen sind ohne Nutzen. Das intraoperative Auffinden von oberflächenfernen Lungenmetastasen kann trotz des Nachweises im Computertomogramm schwierig und zeitaufwändig sein. Hilfreich ist dabei die von Kniep und Rogalla entwickelte Methode, bei der unter computertomographischer Kontrolle Metallanker in den Tumorherden fixiert werden (⊡ Abb. 52.4). Das Verfahren ist besonders gut für die minimal-invasive Chirurgie geeignet, bei der die Möglichkeit wegfällt, eine Metastase palpatorisch zu lokalisieren. 52.5
Dauerhafte zentralvenöse Zugänge
Für die medikamentöse Behandlung eines malignomkranken Kindes ist die Anlage eines zentralvenösen Dauerkatheters oft erforderlich. Die von Broviac (1973) inaugurierte und von Hickman (1979) für onkologische Patienten modifizierte Verwendung subkutan getunnelter Venenkatheter (»tunneled central venous access devices«, TCVAD) ermöglichte den dauerhaften Verbleib derselben bei erheblich reduziertem Infektionsrisiko. Eine Alternative stellen vollständig implantierbare Kathetersysteme (»implanted central venous infusion port«, ICVIP) dar, bei denen die Applikation der Medikamente durch Punktion einer subkutan gelagerten Kammer (»Port«) mit einer speziellen Kanüle stattfindet. Beide Systeme werden heute unter dem Begriff »central venous access devices« (CVAD) zusammengefasst. Vorteile der getunnelten und voll implantierten Katheter: Auf wiederholte Venenpunktionen für Diagnostik und Therapie kann verzichtet werden. Über den großlumigen Zugang in einem zentralen Gefäß können gewebstoxische Substanzen verabreicht werden. Mehrlumige Katheter erlauben die parallele Infusion von inkompatiblen Substanzen.
Diese Vorzüge werden mit dem erhöhten Infektionsrisiko eines dauerhaft implantierten und die Haut perforierenden Fremdkörpers erkauft. Die Achillesferse eines CVAD ist der Hautdurchtritt. Trotzdem ist gegenüber einem in konventioneller Technik, sei es durch Punktion oder durch Venae sectio, über eine periphere Vene nach zentral geführtem Katheter das Risiko aber erheblich niedriger, da beim TCVAD der subkutane Tunnel und der Katheter-Cuff einen Schutz vor der Bakteriämie bieten. Der Cuff, eine Gewebsmanschette aus synthetischem Material und Kollagen, u. U. zusätzlich mit antibakteriellen Zusätzen, wird durch einsprossendes Granulationsgewebe zu einer Barriere gegen das Eindringen von Bakterien in den Tunnel. Beim ICVIP kann die Punktionskanüle (»Huber-Nadel«) zwischen den Therapieschritten entfernt werden, so dass in dieser Zeit ein komplett implantiertes System ohne Außenweltverbindung vorliegt.
52.5.1 Operative Prozedur Die Implantation eines CVAD hat als reguläre operative Prozedur im Operationssaal in Allgemeinnarkose zu erfolgen. In Vorbereitung des Eingriffs sollten die zentralen Venen dopplersonographisch dargestellt und die Blutgerinnung kontrolliert werden. Nach Auswahl der Kathetereintrittsstelle in die Vene und Markierung der Austrittsstelle in der Haut wird mit einem speziellen Instrument (»tunneler«) ein subkutaner Tunnel geschaffen. Für die folgenden Schritte sollte der Operateur tunlichst nur das zum Katheter gehörige Originalzubehör verwenden und die sehr detaillierten Anweisungen der Hersteller genau befolgen, um Beschädigungen des Materials zu vermeiden. Als venöser Eintrittsort für den Katheter sind Vena subclavia und Vena jugularis geeignet, jedoch besteht bei Benutzung der Vena subclavia die Gefahr, dass der Katheter zwischen der Clavicula und der ersten Rippe abgeklemmt wird, besonders, wenn die Vene im medialen Bereich punktiert wird. Für jüngere Kinder empfiehlt sich deshalb der Zugang über die Vena jugularis. Dabei können sowohl die Punktion als auch die Position der Katheterspitze sonographisch kontrolliert werden. Der Katheter wird mit dem Tunnelierinstrument vom Hautaustritt zu der Hilfsinzision über dem Venenzugang geführt. Neben der konventionellenVenotomie besteht die Möglichkeit, mit Hilfe der konfektionierten Hilfsmittel den Katheter in einer modifizierten Seldinger-Technik in das Gefäßlumen zu bringen, nachdem er auf die benötigte Länge gebracht wurde. Die Katheterspitze soll in Höhe der CavaVorhof-Grenze zu liegen kommen, nicht im Vorhof (Gefahr von Reizleitungsstörungen und Perforationen). Bei unsicheren Venenverhältnissen ist es nützlich, zunächst die ultraschallgestützte Venenpunktion bis zum Einbringen des Seldinger-Drahtes vorzunehmen und erst danach den Kathetertunnel anzulegen, um zu vermeiden, eine Inzision über einer Vene durchzuführen, in die der Katheter aus irgend welchen Gründen dann nicht eingeführt werden kann. Nach Kontrolle der korrekter Position der Katheterspitze mittels Ultraschall oder Röntgen muss der Cuff in der richtigen Distanz zur Hautoberfläche platziert werden. Der distale Cuff-Rand soll in 2 cm Tiefe mit einer resorbierbaren Naht fixiert werden. Die Abdeckung der Katheteraustrittsstelle erfolgt steril mit einem konfektionierten Pflasterverband oder mit transparenten semipermeablen Folienverband. Pflaster hat den Vorzug einer höheren mechanischen Belastbarkeit, Folien erlauben eine bessere Wundkontrolle. Vorund Nachteile beider Verbände scheinen sich die Waage zu halten. Bei Verwendung eines ICVIP kann in jedem Fall als erster Schritt die Katheterspitze ins Gefäßlumen gebracht werden, da der Katheter peripher beliebig gekürzt werden kann. Besondere Aufmerksamkeit muss allerdings auf die ordnungsgemäße Konnektierung des Katheters mit dem Port verwendet werden, für die die Hersteller sehr detaillierte Anweisungen geben. Die Lokalisation des Ports soll folgende Bedingungen erfüllen: ▬ Ausrechend subkutanes Fett, um Drucknekrosen zu verhüten. ▬ Keine Behinderung der Spontanbewegungen in der therapiefreien Zeit.
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▬ Sichere Fixierungsmöglichkeit der Huber-Nadel mit möglichst geringer Beeinträchtigung spontaner Körperpositionen. 52.5.2 Pflege und Komplikationen In Bezug auf Infektionsgefährdung und Funktionsdauer ergeben sich bis heute keine klaren Vorteile für das eine oder andere System. Das Dislokalisationsrisiko ist genau wie die Häufigkeit von Materialschäden bei TCVAD-System größer. Bei ICVIP-Systemen ist die Gefahr der Thrombosierung deutlich höher. Beide Systeme verlangen eine qualifizierte Pflege, in die die Patienteneltern unbedingt einbezogen werden müssen. Detaillierte Hinweise zu Pflege, Komplikationsprophylaxe und -management finden sich in den evidenzbasierten Empfehlungen zur Anwendung dauerhafter, zentralvenöser intravaskulärer Zugänge in der pädiatrischen Onkologie, herausgegeben von Simon für den Arbeitskreis Qualitätssicherung der Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie (Simon 2001).
Die chirurgische Therapie nimmt nach wie vor einen wichtigen Platz in der multimodalen Therapie von Tumorerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ein. Voraussetzung für eine erfolgreiche Tumortherapie sind regelmäßige interdisziplinäre Konferenzen und Konsile. Für die initiale Biopsie stehen heute minimal-invasive chirurgische Verfahren und interventionelle radiologisch gesteuerte Punktionen zur Verfügung. Das optimale Vorgehen muss bei jedem Patienten interdisziplinär und individuell festgelegt werden. Der Zeitpunkt der definitiven Tumoroperation, in der Regel nach einer präoperativen Chemotherapie, ist in den einzelnen Therapieoptimierungsstudien festgelegt. Eine weitere wichtige Rolle spielt die Chirurgie bei operativ zu legenden zentralvenösen Zugängen und bei der Behandlung von Tumormetastasen.
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Hyperthermie R. Wessalowski, U. Göbel
III 53.1 53.2
Einleitung – 604 Biologische Grundlagen
53.2.1 53.2.2 53.2.3 53.2.4
Zytotoxische Effekte – 604 Dosis-Wirkungs-Relation – 605 Hyperthermie und Bestrahlung – 606 Pharmakotherapie und Hyperthermie – 606
– 604
53.3
Klinische Anwendung
53.3.1 53.3.2 53.3.3 53.3.4 53.3.5
Lokoregionale Hyperthermie – 607 Ganzkörperhyperthermie – 607 Temperaturmonitoring – 607 Behandlungskonzepte – 608 Indikationen bei Kindern und Jugendlichen
Literatur
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– 609
– 611
In der thermobiologischen Forschung lassen sich direkte zelluläre Angriffspunkte der Hyperthermie im Temperaturbereich 42–44°C abgrenzen von einer hitzeinduzierten Sensibilisierung der Zellen gegenüber Radiotherapie und Chemotherapie. Durch diese unterschiedlichen Wirkungen von Hyperthermie werden zytotoxische Effekte hervorrufen oder verstärkt. Neben diesen thermisch-bedingten Zellschäden lassen sich weitere pathophysiologische Einflüsse der Hyperthermie auf das Tumor- und Normalgewebe beschreiben, die durch Veränderungen von Gewebeperfusion, Stoffwechselmilieu (»microenvironment«) und immunologischen Phänomenen bedingt sind. Zudem werden nach einem Hitzestress verschiedene zelluläre Proteine identifiziert (Stressproteine), die im Zusammenhang mit einem temporären Schutz der behandelten Zellen gegenüber einer neuerlichen Hyperthermie stehen und auch als Hitzeschockproteine bezeichnet werden. Durch das wachsende Verständnis dieser thermobiologischen Zusammenhänge, Entwicklung von verbesserten Wärmeapplikatoren und Thermometrieverfahren sowie erste erfolgreiche Phase-III-Studien bei Tumorerkrankungen von Erwachsenen eröffnen sich auch für Kinder und Jugendliche mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen neuartige Behandlungskonzepte.
53.1
Einleitung
Im Jahre 1975 wurde der erste internationale Kongress für »hyperthermic oncology« in Washington abgehalten, der ein weltweites Interesse an der Hyperthermie hervorgerufen und im nächsten Jahrzehnt zu einer zunehmenden Euphorie geführt hat – erkennbar an einer exponentiell steigenden Anzahl von Publikationen und Teilnehmern an Fachtagungen
(Van der Zee 2002). Danach schwand das Interesse durch enttäuschende Ergebnisse der ersten randomisierten Studien, die begleitet waren von einer schwindenden Unterstützung der Hyperthermieforschung (Wessalowski 2002). Gegenwärtig wird das Interesse an Hyperthermietechniken erneut geweckt, da erste randomisierte Phase-IIIStudien bei Erwachsenen eine signifikante Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle (Wendtner 2002; Wessalowski 2003) und des Langzeitüberlebens durch zusätzliche Hyperthermie zeigen (Hildebrandt 2002; Van der Zee 2002). Unabdingbare Voraussetzung ist jedoch, dass adäquate Wärmetechniken und entsprechende Temperaturüberwachungen eingesetzt werden. Das nachfolgende Kapitel beschreibt die Grundlagen des Einsatzes von Hyperthermie in der Tumorbehandlung, verfügbare Methoden zur Wärmeerzeugung sowie Temperaturmonitoring, klinische Ergebnisse mit Betonung der Einsatzmöglichkeiten bei Kindern und Jugendlichen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen. 53.2
Biologische Grundlagen
53.2.1 Zytotoxische Effekte Thermischer Stress erhöht die kinetische Energie sämtlicher Moleküle eines zellulären Systems und beim Überschreiten einer spezifischen Aktivierungsenergie (≈140 kcal/Mol) entsteht ein letaler Zellschaden (Hahn 1982). Abzugrenzen sind Temperaturen >200°C, die zu einer Karbonisation und Temperaturen >50°C, die zur Kolliquation des Gewebes führen, von thermischen Effekten in einem Temperaturbereich von 42–44°C, die zu einer Tumorzellnekrose oder Apoptose führen. Die Mechanismen, die nach Einwirkung einer erhöhten Temperatur im Bereich von 42–44°C den Zelltod verursachen, sind bisher nicht vollständig aufgeklärt. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass die Denaturierung von Proteinen für die zellschädigenden Prozesse von entscheidender Bedeutung sind, während durch die Hyperthermie kein direkter DNA-Schaden entsteht (Leopold 1992). Eine akute oder chronische Erhitzung hat zudem eine Vielzahl weiterer intrazellulärer Veränderungen wie Alterationen des Zellkerns, des Zytoskelettes, der Membranen, des zellulären Metabolismus und der Synthese von makromolekularen Strukturen zur Folge (⊡ Tabelle 53.1). Grundsätzlich besteht in Bezug auf die Hyperthermieempfindlichkeit – mit Ausnahme von myeloproliferativen Neoplasien – kein intrinsischer Unterschied zwischen normalen und Tumorzellen. Ein selektiver Absterbemechanismus im Temperaturbereich von 42–44°C ergibt sich in vivo dennoch durch die ungeordnete Blutgefäßarchitektur von
605 53 · Hyperthermie
⊡ Tabelle 53.1. Molekulare Targets von Hyperthermie
Zellmembranen, Zytoskelett
Intrazelluläre Makromoleküle
Veränderte zelluläre Funktionen
Veränderungen der Fluidität/Membranstabilität
Beeinträchtigung der Proteinsynthese
Intrazellulärer Metabolismus von anderen Substraten
Veränderungen der Zellform- und Architektur
Proteindenaturierung
Genexpression, Signaltransduktion (Apoptoseinduktion/Beeinflussung der Zellzyklusregulation)
Beeinträchtigung des transmembranösen Transports
Aggregation von Proteinen in der nukleären Matrix
Veränderungen des Membranpotenzials
Induktion der HSP-Synthese
Modulation von transmembranösen Pumpen
Beinträchtigung der RNA/DNA-Synthese Inhibition von Reparaturenzymen
soliden Tumoren. Durch die Hyperthermieeinwirkung finden sich Tumorareale mit Zeichen der Hypoxie und erniedrigten pH-Werten, die zu einer erhöhten thermischen Sensibilität der Tumorzellen führen (Vaupel 1998). ! Die Hyperthermieempfindlichkeit von Zellen ist in hohem Maße von externen Milieufaktoren wie pHWert, O2- und Nährstoffversorgung abhängig, die wiederum maßgeblich von der Perfusion des Gewebes beeinflusst werden.
Sowohl die Fluidität der Membranarchitektur als auch die Konformation und Funktion von Membranproteinen können durch thermischen Stress beeinträchtigt werden. Es wird angenommen, dass die primär hitzesensiblen Strukturen transmembranöse und integrative Proteine sind, die in ihrer Funktion von Membranlipiden moduliert werden (Streffer 1995). Der TNF- und der CD-95-Rezeptor (TNF/NGF-Rezeptorfamilie) sind in diesem Zusammenhang bedeutsam, da die Aktivierung des Caspasesystems auch durch Wärmezufuhr getriggert wird (Han 2002; Hashimoto 2003; Hermisson 2000; Takahashi 2003).Veränderte Membranpotenziale an normalen und malignen Zellen nach thermischem Stress, die durch veränderte intrazelluläre Ionenkonzentrationen bedingt sind, weisen zudem auf die Beeinträchtigung der Funktion von Membranpumpen (Na+/K+ bzw. Ca++-ATPase) hin (Remani 1998). Aktuelle In-vitro-Untersuchungen an Tumorzellen mittels transkriptionaler DNA-Microarray-Analysen zeigen, dass die Expression von Genen durch den Einfluss von Hyperthermie erheblich verändert werden und die Expressionshöhe von Cisplatin-modulierten Genen durch gleichzeitige Wärmebehandlung signifikant zunimmt (NeuroblastomModell). Interessanterweise werden durch kombinierten Einsatz von Thermochemotherapie eine große Anzahl von Genen in der Expression modifiziert, die durch alleinige Behandlung mit Cisplatin oder Hyperthermie unverändert bleiben (Schulte 2003). Hinweise, dass Zellschädigungen durch Hyperthermie und/oder Chemotherapie über selektive Genaktivierung und proapoptotische Signaltransduktion sowie über Regulationsfaktoren des Zellzyklus (p53, Zykline, zyklinabhängige Kinasen) zum Zelltod führen können, ergeben neue Einsichten in die molekularen Wirkungsweisen von thermobiologischen Mechanismen.
53.2.2 Dosis-Wirkungs-Relationen An exponentiell wachsenden Zellkulturen (z. B. Zellen von chinesischen Hamsterovarien) lässt sich in einem definierten Temperaturbereich von 41–47°C eine typische Dosis-Wirkungs-Beziehung durch Auftragen der Rate des Zellabsterbens gegen die Einwirkzeit von Hyperthermie zeigen (Arrhenius-Plot). Korrespondierende Überlebenskurven lassen im Temperaturbereich von 42,5°C eine typische »Schulter« (Breakpoint) erkennen, die einen zweiphasischen Prozess des Absterbens wiedergibt. Oberhalb dieses Breakpoints halbiert sich die notwendige Behandlungszeit zur Erzielung eines definierten zytotoxischen Effektes mit jedem Grad Celsius der Temperaturanhebung. Unterhalb des Breakpoints ist die Relation für viele Zellsysteme linear. Deshalb wird die thermische Dosis (D), abgeleitet von der Expositionszeit (t) und der erzielten Temperatur (T), häufig angegeben als D=tRT=43 mit R=2 bei Temperaturen ≥43°C und R=4 bei Temperaturen <43°C oder im Fall von unterschiedlichen T, eine Summe der Dosisfraktionen und Zeitdauer (t+T). Die erforderliche thermische Energie (Aktivierungsenergie) zur Erzielung einer exponentiellen Absterberate ist vergleichbar mit der zur zellulären Proteindenaturierung. Diese Beobachtung hat zu der Hypothese geführt, dass die zytotoxischen Effekte der Hyperthermie vorzugsweise durch eine Denaturierung von zytoplasmatischen und membrangebundenen Proteinen bedingt sind (Dewhirst 1995; Sapareto 1984). ! In einem Temperaturbereich <42,5°C verhalten sich behandelte Zellen gegenüber einer kontinuierlichen Temperatureinwirkung (ca. 2–4 h) zunehmend resistent, d. h. sie entwickeln nach einer bestimmten Behandlungszeit eine Thermotoleranz. Dieses Phänomen steht im Zusammenhang mit einer stressbedingten Expression von Hitzeschockproteinen (HSP) und klingt nach 48–72 h wieder ab. Diese Beobachtung ist bei der Planung klinischer Studien zu berücksichtigen.
53
606
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
53.2.3 Hyperthermie und Bestrahlung
III
Der Mechanismus der thermischen Radiosensibilisierung von Zellen beruht auf einer Inhibition der Reparatur eines subletalen oder potenziell letalen Bestrahlungsschadens in Form von DNA-Strangbrüchen. Es hat sich gezeigt, dass durch die Behandlung mit Hyperthermie verschiedene DNAReparaturenzyme, wie die DNA-Polymerasen inaktiviert und DNA-Strangbrüche somit nicht repariert werden. Bei den Experimenten hat sich herausgestellt, dass das Reparaturenzym Polymerase β eine höhere Thermosensibilität aufweist als die Aphidicolin-resistenten DNA-Polymerasen α, δ und ε (Raaphorst 1999). Der Nachweis eines Anstieges von HSP im Zellkern legt die Vermutung nahe, dass durch Proteinaggregate die Bindungsstellen der Reparaturenzyme blockiert werden (Kampinga 1988; Warters 1993). Der radiosensibilisierende Effekt der Hyperthermie, der im Schrifttum als »thermal enhancement ratio« (TER) bezeichnet wird, ist bei der simultanen Applikation von Hyperthermie und Bestrahlung am stärksten ausgeprägt (Overgaard 1980). Grundsätzlich ist das Ausmaß der TER für Normal- und Tumorgewebe gleich stark, kann aber durch die Fokussierung des Wärmefeldes auf das Tumorareal im normalen Körpergewebe abgeschwächt werden. Neben der Bedeutung der zeitlichen Differenz der Applikation von Hyperthermie und Bestrahlung ist der radiosensibilisierende Effekt der Hyperthermie sowohl von der Höhe der Temperatur als auch der Einwirkzeit funktionell abhängig. Da in der klinischen Behandlungssituation die Wirksamkeit von Hyperthermie und Bestrahlung maßgeblich von den metabolischen Stoffwechselbedingungen des Gewebes abhängig ist, ergeben sich zudem komplementäre Angriffspunkte der kombinierten Thermoradiotherapie. Tumorareale, in denen durch ungünstige Perfusion eine Hypoxie und Azidose aufgetreten und zudem Zellen in die G0-Phase des Zellzyklus eingetreten sind, erweisen sich als besonders radioresistent. Da durch eine Verminderung der Tumorperfusion der Einfluss einer Temperaturerhöhung weitaus schlechter kompensiert werden kann als in Geweben mit hohem Blutfluss und zudem eine Hypoxie und Azidose des Gewebes den Hyperthermieeffekt verstärken kann, ergeben sich in solchen Bereichen des Tumors günstige Angriffspunkte für eine zusätzliche Hyperthermiebehandlung (Overgaard 1995a; Song 1984). Im Falle einer Perfusionssteigerung im Tumorareal kann durch eine Verbesserung der Oxygenierung der zytotoxische Effekt der Bestrahlung ebenfalls gesteigert werden (Song 2001). 53.2.4 Pharmakotherapie und Hyperthermie Die Wirksamkeit einer Vielzahl von Chemotherapeutika wird in einem Temperaturbereich zwischen 40–44°C verstärkt (Debes 2002; Urano 1999). Neben einer thermischen Wirkungsverstärkung von verschiedenen N-Lostderivaten (Melphalan, Cyclophosphamid und Ifosfamid), zytotoxischen Antibiotikaderivaten (Mitoxantron, Bleomycin, Mitomycin C und Actinomycin D) sowie Nitroseharnstoffen (BCNU und CCNU) ist insbesondere auch bei Platinanaloga durch den Einfluss der Hyperthermie eine Steigerung der zytotoxischen
Wirksamkeit gefunden worden. Im Vergleich zur thermischen Radiosensibilisierung ergibt sich für die Thermochemotherapie ein komplexeres Muster von Wirkungsmechanismen, das durch unterschiedliche Angriffspunkte und pharmakokinetische Eigenschaften der Zytostatika bedingt ist (Dahl 1995). Obwohl sich gezeigt hat, dass durch den Einfluss der Hyperthermie chemische Reaktionen, Enzymfunktionen oder passive und aktive Diffusion der Medikamente durch die Zellmembran verändert werden, sind viele Ursachen der Wirkungsverstärkung noch nicht hinreichend bekannt. Ebenso sind die Effekte der Hyperthermie, die zur Überwindung von Resistenzphänomenen gegenüber Chemotherapie führen, im Prinzip ungeklärt. Genexpressionsanalysen mittels Oligonukleotid-Arrays sowie Untersuchungen von apoptotischen Signalwegen ( Abschn. 53.2.1) ergeben jedoch zunehmende molekularbiologische Einsichten in die synergistischen Wechselwirkungen von Hyperthermie und Chemotherapie (Schulte 2003; Mautz-Körholz 2003). Auch die Beobachtung, dass durch Cisplatin die hitzeinduzierte Akkumulation des Stressproteins HSP-72 in Tumorzellen unterdrückt werden kann, zeigt, dass offensichtlich nicht nur durch Hyperthermie der zytostatische Effekt der Medikamente gesteigert, sondern auch umgekehrt durch die medikamentenbedingte Inhibition von Schutzfunktionen die thermische Schädigung der Zellen erhöht werden kann (Matsumoto 1998). ! Die Effektsteigerung von Zytostatika durch den Einfluss der Hyperthermie ist charakteristischerweise bei simultaner Applikation am stärksten ausgeprägt. Grundsätzlich werden Zytostatika, die temperaturabhängig zu einer linearen Wirkungssteigerung führen (additiver Effekt), unterschieden von Zytostatika, die temperaturabhängig eine exponentielle Wirkungssteigerung verursachen (synergistischer Effekt).
Betont werden muss an dieser Stelle jedoch auch, dass durch eine erhöhte Behandlungstemperatur einige Zytostatika in ihrer Wirksamkeit nicht oder nur gering gesteigert, andere Zytostatika in ihrer Wirkung in Abhängigkeit von der Behandlungssequenz sogar abgeschwächt werden können (Debes 2002; Dynlacht 1994). 53.3
Klinische Anwendung
Verschiedene physikalische Wärmequellen (Applikatoren) werden benutzt, um einen umschriebenen Körperbereich (lokoregionale Hyperthermie) oder den gesamten Körper des Patienten zu erhitzen (Ganzkörperhyperthermie). Dabei sind Applikatoren, die zur Wärmeerzeugung direkt in den Körper eingebracht werden (invasive Techniken), zu unterscheiden von Applikatoren, die sich außerhalb des Körpers befinden (nicht-invasive Techniken). Aus Sicht des Patienten sind die unterschiedlichen Techniken hinsichtlich der Invasivität des Hyperthermieverfahrens bedeutsam, während aus therapeutischer Sicht die Hyperthermie hinsichtlich der lokalen bzw. lokoregionalen oder systemischen Anwendung in Abhängigkeit vom Stadium der Erkrankung zu bewerten ist.
607 53 · Hyperthermie
53.3.1 Lokoregionale Hyperthermie Bei den nicht invasiven Verfahren werden vorwiegend elektromagnetische Wellen als Energiequellen eingesetzt. Aufgrund des elektrischen Widerstandes des Körpers können elektromagnetische Wellen vom Körpergewebe absorbiert werden. Diese Wellenabsorption führt zu einer Temperaturerhöhung, die proportional der spezifischen Absorptionsdichte (SAR) des Gewebes ist, so dass sich gewöhnlich nach 5–10 min ein Gleichgewicht einstellt. Die Einstellung des Gleichgewichtes ist abhängig von der geometrischen Anordnung der Applikatoren, der applizierten Leistung, des lokalen Blutflusses, spezifischen Gewebeeigenschaften und von der Kühlung der Hautoberfläche durch einen Wasserbolus. Durch Auswahl niedrigerer Frequenzen (<100 MHz) und einer ringförmigen Anordnung von mehreren Mikrowellenantennen ist es auch möglich durch Wellenüberlagerung ein Wärmefeld in tiefer gelegenen Körperabschnitten zu erzeugen (so genannte »Annular-phased-array«-Systeme). Bei der Anwendung von invasiven Techniken werden Radiofrequenzelektroden oder Mikrowellenantennen direkt in das Tumorareal oder ein benachbartes Hohlorgan eingebracht. Auch wasserdurchströmte Röhren, ferromagnetische Implantate, die durch wechselnde externe magnetische Felder erhitzt werden, sowie Laserstrahlen sind zur Gewebeerhitzung entwickelt worden (Wust et al. 2002). Zudem wird zur lokoregionalen Behandlung z. B. von Extremitätenoder Lebertumoren das Verfahren der isolierten hyperthermen Perfusion angewandt. Bei diesem Verfahren wird das Blut des Patienten, das die Extremität oder die Leber versorgt, über einen extrakorporalen Shunt in einem Wärmeaustauscher erhitzt und durch Einsatz einer Rollerpumpe in den isolierten Kreislauf zurück infundiert (Aigner 1984; Krementz 1994). 53.3.2 Ganzkörperhyperthermie Zur Durchführung der Ganzkörperhyperthermie werden entweder ein extrakorporaler Shunt (arteriovenös oder venovenös) zur Erhitzung des Blutes oder aber Wärmekammern eingesetzt, die über verschiedene Energieträger wie Radiofrequenzwellen oder wasserdurchströmte Röhren den Körper von außen erwärmen (Robins 1985; Wiedemann 1994; Willnow 1989). Ein Vorteil dieser Verfahren ist, dass Tumoren in allen Bereichen des menschlichen Körpers relativ gleichmäßig erhitzt werden können. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die Ganzkörperhyperthermie meist nur in einem Temperaturbereich von 40°C bis maximal 42°C eingesetzt wird , da höhere Gesamtkörpertemperaturen lebensbedrohlich sein können. Bei diesen Behandlungsverfahren sind der personelle Aufwand durch die Kreislaufbelastung des Patienten und anästhesiologischen Maßnahmen zu berücksichtigen, die die Wiederholbarkeit des Verfahrens einschränken (Lees 1980; Page 1987). 53.3.3 Temperaturmonitoring Die Messung der Temperaturverteilung im Körper des Patienten ist ein wichtiger Bestandteil der Hyperthermie-
anwendung. Bei der regionalen Tiefenhyperthermie ist aufgrund einer inhomogenen Temperaturverteilung im Tumorund angrenzendem Normalgewebe derzeit – insbesondere bei sedierten Kindern – die Durchführung einer invasiven Temperaturüberwachung (Thermometrie) unverzichtbar. Zur Durchführung werden endständig verschlossene Kunststoffkatheter (Thermistorkatheter) entweder CT-gesteuert oder chirurgisch im Tumorareal platziert und mittels Hautnaht kutan fixiert. Diese Katheter dienen zur Einführung von Thermistoren während der Hyperthermie, über die einerseits effektive intratumorale Temperaturen dokumentiert, andererseits besonders hohe Temperaturen (»hot spots«) innerhalb und außerhalb des Behandlungsfeldes durch Streufelder der elektromagnetischen Wärmetechnik vermieden werden. Die zur Bewertung der Behandlungsqualität verwendeten Kenngrößen sind wie folgt definiert (Leopold 1992): ▬ Tmax maximale Temperatur, ▬ T50 Temperatur, die von 50% der Messpunkte überschritten wird, ▬ T90 Temperatur, die von 90% der Messpunkte überschritten wird, ▬ Tmin minimale Temperatur. Die Zusammenhänge der über den Thermistorkatheter erfassten inhomogenen Gewebetemperaturen und die Bestimmung der oben genannten Kenngrößen zur Bewertung der Temperaturen im Tumorgewebe und im angrenzenden gesunden Gewebe anhand der ermittelten Temperaturprofile sind schematisch auf der ⊡ Abb. 53.1 dargestellt. Die von der Arrhenius-Relation abgeleitete thermische Dosis ( Abschn. 53.2.2) ist zudem in das Konzept der thermalen Isoeffektivdosis (TID) integriert worden (Sapareto 1984): – CEM43T90=∑(∆t)R(43–T ) CEM43T90 äquivalente kumulative Anzahl von Minuten bei einer T90, die auf 43°C übertragen wird, ∆t Zeitintervall, das für Temperaturmessung angenommen wird, − T mittlere Temperatur während des Zeitintervalls ∆t, R 0,25 bei T<43°C oder 0,5 bei T≥43°C. Die TID-Formel wird häufig in der klinischen Praxis angewendet, um mehrere Hyperthermieanwendungen mit unterschiedlichen Temperaturprofilen miteinander vergleichen zu können. Dabei werden entsprechend der ArrheniusRelation die erzielten Temperaturen auf eine äquivalente Anzahl von Minuten bei einer Standardtemperatur von 43°C übertragen. Die Kalkulation von TID berücksichtigt die Tatsache, dass eine Temperaturerniedrigung um 1°C im Temperaturbereich von 42,5–47°C kompensiert werden kann durch eine Verdoppelung der Expositionszeit (R=2), während unterhalb von 42,5°C die Expositionszeit deutlich länger sein muss (R=4), um einen vergleichbaren Effekt zu erreichen ( Abschn. 53.2.2). Obwohl die TID-Methode bei der Hyperthermie durch verschiedene Faktoren (Tumorbiologie, Tumorblutfluss, intra- und extrazellulärer pH-Wert, andere metabolische
53
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
III
⊡ Abb. 53.1. Temperaturverteilung im Tumor und angrenzenden Normalgewebe unter Berücksichtigung der Position des Thermistorkatheters im Gewebe bei Anwendung von regionaler Tiefenhyperthermie. Zur Bewertung der Behandlungsqualität sind die Messwerte für Tmax, T50, T90 und Tmin im Tumor und angrenzenden Normalgewebe zu bestimmen
Faktoren, Thermotoleranz etc.) beeinflusst wird, lassen sich auch bei Kindern TID-Werte berechnen, die bei Erwachsenen mit dem Behandlungserfolg korreliert worden sind (Tumoransprechen, Dauer der Tumorkontrolle; Oleson 1993). 53.3.4 Behandlungskonzepte Hyperthermie als Monotherapie Obwohl Hyperthermie allein – wie in vielen experimentellen Untersuchungen gezeigt – in höheren Temperaturbereichen ≥42°C direkt zytotoxische Effekte auf das Zellwachstum ausübt, hat die alleinige klinische Anwendung von Hyperthermie im Temperaturbereich von 42–44°C keinen Stellenwert. Diese Feststellung gilt auch vor dem Hintergrund historischer Studien bei Erwachsenen, in denen durch den alleinigen Einsatz von Hyperthermie ein Tumoransprechen bei etwa der Hälfte der Patienten mit 10–16% kompletten Remissionen beschrieben worden ist. Bei der Betrachtung dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass die Remissionen durch alleinigen Einsatz von Hyperthermie in typischer Weise nur von kurzer Dauer sind (Overgaard 1995a). Diese Erkenntnis ist bei der Behandlungsplanung von Tumoren des Kindesalters besonders zu beachten, da dauerhafte Remissionen beim Einsatz intensiver Behandlungsmodalitäten in dieser Patientengruppe im Vordergrund stehen. ! Die Anwendung von Hyperthermie in einem Temperaturbereich von 42–44°C hat stets in Kombination mit Chemotherapie und/oder Bestrahlung zu erfolgen. Während bei systemischer Anwendung (Ganzkörperhyperthermie) die Temperaturen meist auf maximal 42°C begrenzt sind, werden bei lokoregionaler Hyperthermie 42–44°C angestrebt.
Hyperthermie mittels Perfusionsverfahren Während im letzten Jahrzehnt auch bei Kindern und Jugendlichen vorwiegend nicht-invasive Techniken (Radiofrequenz-
hyperthermie) zur Intensivierung von Chemotherapie und/ oder Radiotherapie eingesetzt werden, sind in der Frühphase der Hyperthermieanwendung wichtige Ergebnisse über die Wirksamkeit der Thermochemotherapie durch extrakorporale Perfusionsverfahren gewonnen worden. In einer Ganzkörperperfusionsstudie haben Willnow und Mitarbeiter gezeigt, dass die Ganzkörperhyperthermie (WBH) über einen extrakorporalen Dialyse-Shunt in einem Temperaturbereich von 41–42°C zusammen mit systemischer Chemotherapie bei Kindern mit fortgeschrittenen Tumoren eingesetzt werden kann (Willnow 1989). Durch eine 2- bis 3-stündige Behandlung mit WBH in Kombination mit Cyclophosphamid, Actinomycin D und Vincristin ist bei 9 von 16 Kindern mit metastasierten Tumoren, einschließlich Sarkomen, Neuro- und Nephroblastomen sowie einem Leberzellkarzinom und einem nicht-resektablen Hirnstammtumor, ein günstiges Ansprechen (1 CR, 8 PR) beobachtet worden. Trotz der Notwendigkeit invasiver Maßnahmen und einer Vollnarkose hat sich die Methode bei den meisten Kindern als gut steuerbar erwiesen. Neben der Myelosuppression durch die systemische Chemotherapie haben einige Patienten eine neurologische und/oder hepatische Toxizität aufgewiesen, insbesondere bei Patienten mit mehr als 3 Behandlungskursen oder hohen Behandlungstemperaturen. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass dieses Verfahren zur Anwendung von Thermochemotherapie bei den meisten Kindern nicht kurativ gewesen ist. Bei der Bewertung der Behandlungsergebnisse muss die zumeist infauste Prognose bei Kindern mit Rezidiven +/– Metastasen von malignen Tumoren berücksichtigt werden (Van Heek-Romanowski 1995). Auch das Verfahren der isolierten hyperthermen Extremitätenperfusion (IHP) ist bei einigen Kindern und Jugendlichen mit Erfolg eingesetzt worden. Baas et al. berichten über 6 Kinder und 8 Jugendliche, die aufgrund von malignen Melanomen im Stadium IA (9 Patienten) oder IIIB (5 Patienten) mit IHP in Kombination mit Melphalan behandelt worden sind. Die Wirksamkeit dieses Verfahrens wird durch eine Überlebensrate in diesem Patientenkollektiv von 93% nach 5 Jahren bzw. 81% nach 10 Jahren belegt (Baas 1989). Radiofrequenzhyperthermie und Bestrahlung In 2 multizentrischen Phase-III-Studien der European Society for Hyperthermic Oncology (ESHO) ist unter Einhaltung von strengen Qualitätskriterien hinsichtlich der Temperaturerfassung der kombinierte Einsatz von Thermoradiotherapie mit der alleinigen Strahlentherapie verglichen worden. Dabei hat sich hinsichtlich der lokalen Tumorkontrolle die Überlegenheit der Radiotherapie in Kombination mit Hyperthermie gegenüber der alleinigen Strahlentherapie bei der Behandlung des metastasierten oder rezidivierten malignen Melanoms und des Mammakarzinoms nachweisen lassen (Overgaard 1995b, 1996; Vernon 1996). Inzwischen ist zudem gezeigt worden, dass der Einsatz von lokoregionaler Tiefenhyperthermie im Beckenbereich in Kombination mit Standardbestrahlung bei nicht-resezierbaren Tumoren der Blase, der Zervix und des Rektums zu einer höheren lokalen Tumorkontrolle und Überlebensrate führt. Der zusätzliche Effekt der Hyperthermie ist besonders deutlich bei Patienten mit Zervixkarzinomen, bei denen das Gesamtüberleben nach 3 Jahren von 27% auf 51% verbessert worden ist (Van der Zee 2000).
609 53 · Hyperthermie
Radiofrequenzhyperthermie und Chemotherapie Im Gegensatz zu den umfangreichen klinischen Studien zur Anwendung von Thermoradiotherapie existieren bisher nur begrenzte klinische Ergebnisse über den Einsatz von Radiofrequenzhyperthermie in Kombination mit Chemotherapie bei lokoregional begrenzten Tumoren. Besonders zu beachten ist deshalb eine multizentrische Phase-III-Studie (RHT-96) der EORTC, in der die Wirksamkeit von zusätzlicher neoadjuvanter lokoregionaler Tiefenhyperthermie bei Hochrisiko-Weichteilsarkomen von Erwachsenen gegenüber konventionellen Therapiemaßnahmen einschließlich Chemotherapie, Operation und Bestrahlung geprüft wird. In vorhergehenden Phase II-Studien bei Patienten dieser Risikogruppe hat sich die zusätzliche Hyperthermie prädiktiv für eine bessere lokale Tumorkontrolle und Langzeitüberlebensrate herausgestellt (Issels 1990, 2001; Wendtner 2002). Aufgrund der ermutigenden Erfahrungen bei Erwachsenen mit rezidivierten und fortgeschrittenen Tumoren werden auch Kinder und Jugendliche im Rahmen von individuellen Heilversuchen nach erfolgloser Ausschöpfung von etablierten Behandlungsverfahren mit den gleichen Therapiemodalitäten behandelt. Erste generierte Behandlungsergebnisse sind von Romanowski et al. gesammelt und unter einheitlichen Kriterien ausgewertet worden. In der Frühphase der Anwendung hat sich bei 6 von 34 intensiv vorbehandelten Patienten unter 18 Jahre ein Tumoransprechen erzielen und die grundsätzliche Anwendbarkeit der Methode für diese Altersgruppe belegen lassen (Romanowski 1993). 53.3.5 Indikationen bei Kindern und Jugendlichen Durch den Einsatz der etablierten Standardtherapie gemäß den Protokollen der Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie können je nach Diagnose und Tumorstadium zwischen 30–99% der Kinder und Jugendlichen mit bösartigen Tumoren erfolgreich behandelt werden. Aufgrund der oftmals günstigen Heilungschancen durch konventionelle Therapien und den derzeitigen Beschränkungen der Radiofrequenzhyperthermie auf Tumoren einzelner Körperregionen (Gehirn und Lungentumoren werden zur Zeit im Kindes- und Jugendalter nicht mittels lokoregionaler Hyperthermie behandelt), ist eine sorgsame Prüfung der Indikation notwendig. Aufgrund der geringen Fallzahl von Kindern und Jugendlichen mit malignen Tumoren und der frühzeitigen Entwicklung von Fernmetastasen kommen derzeit ca. 20 Patienten/Jahr für die lokoregionale Hyperthermie in Betracht (Wessalowski 1999). Da die lokoregionale Hyperthermie angewendet wird, um einen operativen Eingriff +/– Bestrahlung zu erleichtern (nicht zu ersetzten), sind vor der Durchführung entsprechende Fachkonferenzen notwendig. Der Einsatz von lokoregionaler Hyperthermie ist im Kindesalter unter kurativen Zielen zu planen, so dass entsprechende Staging-Untersuchungen voranzustellen sind. Eine weitere Voraussetzung zur Indikation ist der Allgemeinzustand (Karnofsky ≥70%) und eine ausreichende Regeneration der Hämatopoese nach Chemotherapie, da wiederholte Behandlungen notwendig sind. Eine maßgebliche Reduktion der Chemotherapie (>20– 30%) führt nach derzeitigem Kenntnisstand zu einer deutlichen Verminderung der Erfolgschancen (Van Heek-Roma-
⊡ Tabelle 53.2. Anwendung der lokoregionalen Thermochemotherapie bei malignen Tumoren bei Kindern und Jugendlichen. Es werden 4–8 Zyklen nach dem Hyper-PEI-2003-Protokoll der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) durchgeführt
PEI
Dosis
Applikationszeit
Behandlungstag
Cisplatin1
40 mg/m2
30 min
Tag 1, 4
Etoposid
100 mg/m2
30 min
Tag 1, 2, 3, 4
Ifosfamid2
1800 mg/m2
30 min
Tag 1, 2, 3, 4
RHT
42–44°C
60 min
Tag 1, 4
1
forcierte Dirurese mit Mannitol; 2 MESNA-Uroprotektion.
nowski 1995; Wessalowski 1997, 2002). Bei Indikationsstellung nach intensiver Vorbehandlung sind deshalb vorher periphere Stammzellen zu asservieren. In dem Hyper-PEI-2003Protokoll (⊡ Tabelle 53.2) zur Anwendung von lokoregionaler Hyperthermie mit systemischer Chemotherapie werden Kinder und Jugendliche mit soliden Tumoren ohne Fernmetastasierung berücksichtigt, die entweder einen nicht resezierbaren oder rezidivierten Tumor aufweisen. Vorzugsweise sollen Patienten mit Keimzelltumoren, Ewing- und Rhabdomyosarkomen berücksichtigt werden. Lokoregionale Hyperthermie bei Kindern und Jugendlichen Zur Generierung von lokoregionaler Hyperthermie werden verschiedene Geräte verwendet. Für das BSD-2000-System sind umfangreiche Prüfungen der Energieverteilung im Gewebe und ein Planungsprogramm (Hyperplan) vorhanden (Gellermann 2000). Es besteht aus einem parallel verarbeitenden Computer mit einem PDOS-Betriebssystem, der zum einen über 2 Leistungsverstärker den eingesetzten Wärmeapplikator ansteuert und zum anderen die Daten des Thermometriesystems aufzeichnet. Der Ringapplikator zur Durchführung von Tiefenhyperthermien besteht aus einem Plexiglaszylinder, an dem 8 bipolare Antennenpaare abstandsgleich angeordnet sind. Sämtliche Temperaturmesswerte werden über Thermistoren (Messgenauigkeit ±0,1°C) aus flexibler Kohlefaser (Bowman-Sonden) an ein Thermometriesystem (so genannte Mappingbox) weitergeleitet (⊡ Abb. 53.2). Zur Applikation von Wärme in tiefer gelegenen Abschnitten bei Kindern und Kleinkindern stehen konstruktionsgleiche Ringapplikatoren mit geringeren Innendurchmessern zur Verfügung. Der Sigma-30-Applikator (27 cm Innendurchmesser) des BSD-2000-Systems ist ursprünglich zur Behandlung von Extremitätentumoren von Erwachsenen konstruiert worden. Nach bautechnischen Veränderungen der Herstellerfirma ist zudem die Anwendung des Applikators zur Überwärmung des Becken- und Bauchraums bei Kleinkindern möglich. Der Sigma-40-Applikator mit einem Innendurchmesser von 42 cm ist speziell zur Erzeugung von Tiefenhyperthermie bei Kindern konzipiert worden (Wessalowski 2002).
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Thermometriesystem Ringapplikator
Bowman Sonden
III Zytostatika
Bipolare Antennen
BSD Computer mit Parallelverarbeitung
Leistungsverstärker ⊡ Abb. 53.2. Schematische Darstellung des BSD-2000-Hyperthermiesystems. Ein parallel verarbeitender Computer steuert über 2 Leistungsverstärker den zur Wärmeerzeugung eingesetzten Ringapplikator an und zeichnet die Daten des Thermometriesystems auf. An Innenseite des Ringapplikators befindet sich ein Wasserbolus, der zur Verbesserung der elektromagnetischen Ankopplung und zur Kühlung der Körperoberfläche dient
Nebenwirkungen und Komplikationen Die überwiegenden Risiken für den Patienten ergeben sich aus den hochdosierten Chemotherapeutika, die denen von anderen pädiatrischen Studienprotokollen entsprechen. Zu beachten ist zudem, dass bei Behandlungen im Mittel- und Oberbauch die Nephrotoxizität von Cisplatin erhöht ist (Wessalowski 1998). In dieser Situation kann eine Umstellung des Behandlungsplans auf Carboplatin erforderlich sein. Durch die Überwärmung besteht grundsätzlich die Gefahr eines thermischen Schadens der Haut und tieferen Gewebeschichten. Außerdem sind vereinzelt Hüftkopfnekrosen aufgetreten, die möglicherweise durch die Hyperthermiebehandlung mitbedingt sind (Wessalowski 1998). Durch die Optimierung der Behandlungseinstellungen und die kontinuierliche invasive Temperaturüberwachung sind Verbrennungen bei Anwendung von Ringapplikatoren auch im Kindesalter selten (Grad II–III<1%; Wessalowski 2002). In diesem Zusammenhang sind die Kontraindikationen für die Anwendung von Radiofrequenzhyperthermie zu beachten, da Metallimplantate einen extremen Temperaturanstieg bewirken und elektronische Bauteile gestört werden. Kontraindikationen der lokoregionalen Hyperthermie Kardiale Risiken (Herzinsuffizienz, Herzklappenfehler etc.) Herzschrittmacher Endoprothesen im Behandlungsgebiet Metallimplantate mit Antennenwirkung Ketten von chirurgischen Clips
Behandlungsergebnisse Inzwischen bestätigen vergleichende Untersuchungen, dass die Radiofrequenzhyperthermie mit ausreichender Sicherheit auch bei Kleinkindern anzuwenden ist und zu intratumoralen Temperaturen führt, die bei Erwachsenen mit einer Verbesserung der Heilungschancen korrelieren. Neben den erzielbaren maximalen Temperaturen von 42–44°C sind in diesem Zusammenhang die gemessenen Werte für T50 ≥41, 3°C und für T90 von 39,4 bzw. 40,4°C sowie CEM43T90 >5 min in den Altersgruppen <5 Jahre und 5–15 Jahre von Bedeutung, da die niedrigsten intratumoralen Temperaturen für die Prognose mitentscheidend sind ( Abschn. 53.3.3; Wessalowski 2002). Bei Kindern und Jugendlichen mit Keimzelltumoren, Ewing- und Rhabdomyosarkomen lassen sich durch Cisplatin-basierende Thermochemotherapie inzwischen Langzeitremissionen erzielen. Die bestmöglichen Heilungschancen bestehen, wenn die Hyperthermie bei entsprechender Indikationsstellung möglichst frühzeitig im 1. Rezidiv oder bei fehlendem Ansprechen auf die primäre Therapie angewendet wird (Wessalowski 2003). Zur weiteren Überprüfung der Wirksamkeit von Thermochemotherapie werden Kinder und Jugendliche mit refraktären und/oder rezidivierten bösartigen Tumoren unterschiedlicher Diagnosegruppen mittels PEI-Chemotherapie und regionaler Tiefenhyperthermie im Rahmen einer prospektiven Therapieoptimierungsstudie (Hyper-PEI) behandelt.
In der Hyperthermie hat eine progressive technologische Weiterentwicklung stattgefunden, Wärmeerzeugung und Temperaturmonitoring wurden optimiert. Damit ausgedehnte Tumoren besser erreicht werden, befinden sich elektromagnetische Applikatoren mit 24 bipolaren Antennen in 3-dimensionaler Anordnung zur lokoregionalen Hyperthermie in der Erprobung. Hierdurch wird eine höhere und homogenere Temperatur im Tumorareal erwartet. Diese Applikatorgeneration (BSD-2000/3D/MR) kann in MRT-Systeme integriert werden und ermöglicht eine nicht-invasive, simultane Temperaturerfassung (Sreenivasa 2003). Bei einer weiteren neuartigen Methode zur interstitiellen Hyperthermie wird eine Flüssigkeit mit magnetischen Nanopartikeln intratumoral appliziert, die sich in einem nicht-invasiven Applikator mit wechselnden Magnetfeldern erwärmen lässt (Jordan 2001). Weiterhin befinden sich thermosensible Liposomen in der Prüfung, die bei gleichzeitiger Anwendung von lokoregionaler Hyperthermie zu einer verbesserten intratumoralen Freisetzung von zytostatischen Substanzen wie z. B. Doxorubicin führen und dadurch einen höheren zytotoxischen Effekt im Tumorareal hervorrufen (Shimose 2001; Suzuki 2003). Hitzeschockproteine (HSP), die durch einen nichtletalen Hitzeschock auf der Oberfläche von malignen Zellen, nicht jedoch auf normalen Zellen, exprimiert werden, können Effektorzellen des Immunsystems, wie NK-Zellen, dendritische Zellen und zytotoxische T-Zellen, sowie eine Zytokinausschüttung aktivieren. Diese tumorspezifische Immunantwort kann möglicherweise zur Herstellung einer Vakzine genutzt werden, um residuale Tumorzellen zu eliminieren (Multhoff 1995; Noessner 2002).
611 53 · Hyperthermie
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
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613
Differenzierungs- und antiangiogene Therapie L. Schweigerer
54.1 54.2 54.3
Einleitung – 613 Embryogenese – 613 Tumorigenese – 613
54.3.1
Tumorigenese als fehlgesteuerte Gewebedifferenzierung – 613 Molekulare Ursachen und experimentelle Modulation – 614
54.3.2
54.4
Tumorprogression
54.4.1 54.4.2
Invasion – 615 Angiogenese und Metastasierung
54.5
Therapeutische Ansätze
54.5.1 54.5.2
Tumorzellen: Differenzierungstherapie – 615 Tumorstromazellen: Antiangiogenese – 617
Literatur
– 614 – 615
– 615
– 619
Unreife normale Gewebe und maligne Tumoren des Kindesalters haben viele Gemeinsamkeiten in der Entwicklung. Diese Gemeinsamkeiten sind seit mehr als 100 Jahren grundsätzlich bekannt, wurden jedoch erst in jüngster Zeit durch die Resultate grundlagenwissenschaftlicher Untersuchungen auf molekularer Ebene bestätigt. Dieses Kapitel beschreibt die erwähnten Gemeinsamkeiten und zeigt Beispiele der klinischen Anwendung dieser grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisse in Form differenzierungsfördernd erund antiangiogener Therapiestrategien.
54.1
Einleitung
Die empirische, multimodale Behandlung von Malignomen hat die Überlebensraten betroffener Kinder in den letzten Jahrzehnten eindrucksvoll gesteigert. Die Intensivierung dieser konventionellen Ansätze hat jedoch keinen entsprechenden Zugewinn an Überlebensraten erbracht (Van Eys 1989). Deshalb wurden neue Ansätze entwickelt, die durch Angriff an den molekularen Krankheitsursachen die Differenzierung unreifer maligner Zellen und die Suppression der Tumorangiogenese bewirken sollten. Der Einsatz mancher Substanzen zeigte unerwartet eindrucksvolle Therapieerfolge, die zu einem Paradigmenwandel bei der Behandlung einiger Malignome im Kindesalter führte (O’Dwyer et al. 2002). 54.2
Embryogenese
Aus der befruchteten Eizelle entstehen alle somatischen und Keimzellen des menschlichen Organismus. Voraussetzung ist
die Proliferation der befruchteten Eizelle und aller davon abgeleiteten Zellen. Mit zunehmender Generation werden zelluläre Differenzierungsprogramme aktiviert. Dadurch nehmen Pluripotenz und Proliferationspotenzial der Zelle ab und ihre differenzierten Fähigkeiten zu (Ruiz i Altaba 1991). Bis zur dritten Schwangerschaftswoche wächst der Embryo ohne Zirkulation durch Proliferation unreifer Stammund Vorläuferzellen. Einige dringen in benachbarte Gewebsverbände ein und bilden die Basis zur Organentwicklung. Sauerstoff und Nährstoffe gelangen noch passiv – mittels Diffusion – in die embryonalen Zellen. Die zunehmende metabolische Aktivität des expandierenden Embryo führt jedoch zur relativen Hypoxie und Azidose und dies wiederum zur Aktivierung genetischer Programme, deren Ergebnis die Anregung der Blutgefäßbildung (Angiogenese) ist (Wilting et al. 1995). Zu diesem Prozess tragen viele Angiogenesemodulatoren bei. Die bekanntesten Vertreter sind der »vascular endothelial growth factor« (VEGF), »basic fibroblast growth factor« (bFGF) und die Angiopoetine-1 und -2. Alle Moleküle vermitteln ihre Wirkung mittels Bindung an spezifische Zelloberflächenrezeptoren und die Aktivierung nachgeschalteter, intrazellulärer Signalwege. Diese Prozesse führen zur Differenzierung unreifer mesenchymaler Zellen in unreife Gefäße (Vaskulogenese) und später zur Neubildung reifer Blutgefässe (Angiogenese) (Carmeliet u. Jain 2000). Bei der Angiogenese wird zunächst die unterhalb der Gefäßendothelzellen gelegene Basalmembran mittels Proteolyse aufgelöst. Die Endothelzellen dringen dann in Richtung auf den angiogenen Stimulus in benachbartes Gewebe ein. An der Spitze der eingedrungenen Endothelzellen kommt es zur Proliferation: die Endothelzellen vermehren sich mittels Teilung. In der Mitte der neu gebildeten Struktur entsteht ein Lumen und damit eine funktionelle Kapillare. Umgebende mesenchymale Zellen werden durch molekulare Signale (z. B. Angiopoetin-1) angelockt. Sie differenzieren sich in Supportivzellen wie Perizyten und glatte Gefäßmuskelzellen, legen sich den Kapillaren an und verleihen dem Gefäß strukturelle Stabilität (Schweigerer 1995). 54.3
Tumorigenese
54.3.1 Tumorigenese als fehlgesteuerte
Gewebedifferenzierung ! Die Entstehung maligner Krankheiten des Kindesalters kann auch interpretiert werden als ein Prozess der fehlgesteuerten Morphogenese mit inadäquat erhöhter Proliferationsrate und fehlender Gewebedifferenzierung.
54
614
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Seit mehr als 100 Jahren sind die Ähnlichkeiten zwischen embryonalem Gewebe und Tumorgewebe bekannt. So postulierte Cohnheim 1875 als Ätiologie solider Malignome die Existenz inmitten reifer Gewebe gelegener Nester unreifer Zellen, die später reaktiviert und maligne transformiert würden. Unterstützt wurde diese Hypothese durch den Jahrzehnte später erfolgten Nachweis der Pluripotenz teratokarzinomatöser »Stammzellen«: Letztere können sich histologisch und morphologisch sehr divers differenzieren (Sherbet 1982). Darüber hinaus gelang in den letzten Jahrzehnten der Nachweis karzinoembryonaler Antigene in Tumorgeweben. Cohnheim’s Hypothese geriet in Vergessenheit, erhielt aber in jüngster Zeit wieder Auftrieb durch die Ergebnisse molekularpädiatrischer Arbeiten. Die Proliferationsraten von Zellen aus Malignomen Erwachsener unterscheiden sich nicht wesentlich von denjenigen nicht-maligner Gewebe. Dagegen ist die Proliferationsrate von Zellen prävalenter Malignome des Kindesalters meist um ein Vielfaches höher als diejenige von Zellen entsprechender Gewebe, in bzw. aus denen sie entstanden sind. Pädiatrischen Onkologen ist diese Tatsache vertraut durch die klinische Beobachtung des explosionsartigen Wachstums mancher Tumoren – darunter die meisten embryonalen Tumoren und die B-Lymphome. Die Proliferationsraten dieser Tumoren erreichen in vielen Fällen die Werte embryonaler Zellen (Schweigerer 1995). Die Gemeinsamkeiten zwischen Malignomen im Kindesalter und Embryonalgewebe erstrecken sich nicht nur auf die ähnlich hohen Proliferationsraten, sondern auch auf den ausgeprägten Grad der Unreife. Tatsächlich sind manche Malignome derart undifferenziert, dass keine histologische Zuordnung möglich ist. Als Beispiel seien hier genannt die so genannten »klein-rund-blauzelligen Tumoren«, deren klonale Ursprungszellen offenbar sehr immatur und undifferenziert sind (Variend 1985). Die Verbindung zwischen Tumorigenese und fehlgesteuerter Entwicklung/Differenzierung wird schließlich auch offenkundig durch die Klassifizierung vieler Tumoren, darunter insbesondere Teratokarzinome, Keimzelltumoren, Retinoblastome, Rhabdomyosarkome und Neuroblastome, als »embryonale Tumoren«. Manche Entitäten wie das Neuroblastom können spontan in normales Gewebe differenzieren. Embryonale Tumoren treten oft gemeinsam mit isolierten Fehlbildungen und/oder Syndromen auf. So sind Neuroblastome gelegentlich assoziiert mit Neurofibromatose 1, Keimzelltumoren mit Klinefelter-Syndrom, hämatologische Neoplasien mit DownSyndrom und einige andere Malignome (darunter die Nephroblastome) mit Beckwith-Wiedemann-Syndrom ( Kap. 69). 54.3.2 Molekulare Ursachen
und experimentelle Modulation Ergebnisse molekulargenetischer Experimente an Malignomen des Kindesalters unterstützen die Hypothese, dass Proliferation und Differenzierung zwei sich gegenseitig weitgehend ausschließende Prozesse sind. ! Es wird vermutet, dass molekulare Aberrationen in den betroffenen malignen Zellen zu einem Differenzierungsblock führen, über den hinaus die Zellen
sich nicht mehr weiter in reifere Zellen differenzieren können. Stattdessen akkumulieren die zur Differenzierung unfähigen, malignen Zellen auf der Stufe des genetischen Blocks: Als Folge entsteht ein maligner Tumor (Mark et al. 1997).
Belegt wird diese Hypothese insbesondere durch Experimente an kultivierten Neuroblastomzellen mit MYCNAmplifikation. Durch Zugabe von cis-Retinolsäure normalisiert sich in einigen Zelllinien die stark erhöhte MYCN-Expression. Begleitend dazu erlangen die Zellen erneut die Fähigkeit zur Differenzierung in neuronale Zellen, wobei sie parallel dazu die Fähigkeit zur raschen Proliferation einbüssen (Thiele et al. 1985). Ein Differenzierungsblock scheint auch zur Pathogenese mancher embryonaler Rhabdomyosarkome beizutragen. In einigen Zelllinien kann die Zugabe differenzierungsfördernder Substanzen wie cis-Retinolsäure oder Dimethylsulfoxid einen Proliferationsstop und die Differenzierung in unreife Muskelzellen bewirken. Retinolsäure kann die Differenzierung von Teratokarzinomzellen in verschiedene benigne Gewebe anregen (Reynolds u. Lemons 2001). Darüber hinaus vermag All-trans-Retinolsäure (ATRA) in vitro und in vivo die Differenzierung unreifer promyelozytärer, leukämischer Blasten in Granulozyten mit einer normalen Proliferationsrate anzuregen (Mann et al. 2001). Blasten akuter lymphoblatischer und chronisch myeloischer Leukämien mit BCRABL-Rearrangement können in vitro und in vivo durch den Tyrosinkinaseinhibitor STI-571 zur Differenzierung und Apoptose gezwungen werden (O’Dwyer et al. 2002). 54.4
Tumorprogression
Auch bei der Progression instrumentalisieren maligne Tumoren genetische Programme, die essenziell für die normale Morphogenese sind. Die Invasion benachbarter Gewebe ist ein wichtiger Teilprozess der Embryonalentwicklung. Der Trophoblast des sich entwickelnden Embryo dringt aktiv in das Endometrium ein. Keimzellen und undifferenzierte Zellen der Neuralleiste legen weite Strecken bis zu ihren Zielorten zurück, und Gefäße dringen in avaskuläre, expandierende Gewebe ein (Sherbet 1982). Ermöglicht wird dies durch ▬ die Aktivierung von Serin- oder Matrix-Metalloproteasen und die anschließende Verdauung der extrazellulären Matrix und ▬ die gerichtete Migration der Zellen. Während der normalen Entwicklung unterliegen der Umbau der extrazellulären Matrix und die Zellmigration einer strikten Kontrolle. Nach Abschluss der Gewebe- bzw. Organentwicklung werden proteolytische Enzyme, migrationsfördernde und proangiogene Signale abgeschwächt oder inaktiviert. Damit sistieren Matrixumbau, Zellmigration und Angiogenese (Woodhouse et al. 1997). In soliden Malignomen sind die physiologischen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt. Tumorzellen und -stroma bewirken über die Aktivierung und Freisetzung von Proteasen eine ungebremste, kontinuierliche Verdauung der extrazellulären Matrix. Die Zerstörung der endothelialen
615 54 · Differenzierungs- und antiangiogene Therapie
! Essenziell zur Anregung der Tumorangiogenese ist ein Ungleichgewicht zwischen pro- und antiangiogenen Signalen.
⊡ Abb. 54.1. Schematische Darstellung der Tumorangiogenese. Ein Mikrotumor kann antiangiogene Signale abschwächen oder proangiogene Signale aktivieren und damit das Gefäßwachstum anregen. Gelingt dies, so kann der Tumor weiter wachsen und letztendlich auch über die neugebildeten Gefäße metastasieren
Basalmembran ermöglicht das Eindringen von Tumorzellen in benachbartes normales Gewebe und – umgekehrt – von Endothelzellen in den Tumor. Gleichzeitig ermöglicht der Tumor durch unkontrollierte Aktivierung proangiogener Signale die Migration von Endothelzellen in den Tumor und fördert dort deren Proliferation. Ergebnis ist ein rascher, aber weitgehend unkoordinierter »Gewebe«-Aufbau (⊡ Abb. 54.1). Dies betrifft auch die Architektur der Tumorgefäße. Während im normalen Gewebe eine geregelte Abfolge von Arterie–Arteriole–Kapillare–Venole–Vene vorliegt, so ist diese Ordnung im Tumor verloren gegangen. Man findet gleichzeitig arteriovenöse und venovenöse Kurzschlüsse, dilatierte, z. T. sakkuläre Gefäße und den Verlust periendothelialer Perizyten. Die Tumorgefäße sind deshalb fragil und durchlässig. Diese Phänomene erklären Tumorödem, intratumorale Hämorrhagien und Gefäßstase. Die Gefäßstase ist auch das Ergebnis des durch Tumorexpansion resultierenden erhöhten interstitiellen Drucks, der letztendlich die Tumorgefäße komprimiert. 54.4.1 Invasion An der Tumorinvasion sind insbesondere die ca. 20 Mitglieder der Matrix-Metalloproteasen (MMP) beteiligt. Das in normalen Geweben herrschende Gleichgewicht zwischen MMP und ihren Inhibitoren, den sogenannten »tissue inhibitors of metalloproteases« (TIMP) ist zugunsten der Proteolyse verschoben. Im Tumorstroma, aber auch in den Tumorzellen selbst werden besonders MMP-2 und -9 überexprimiert. Ihre Inaktivierung stellt einen potenziellen Ansatz einer antiinvasiven Therapie dar (Woodhouse et al. 1997).
Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass ein solches Ungleichgewicht durch Überaktivität proangiogener Signale oder Abschwächung bzw. Inaktivierung antiangiogener Moleküle oder durch beide Mechanismen gleichzeitig zustande kommen kann. Die wesentlichen, an der Tumorangiogenese beteiligten proangiogenen Moleküle sind bFGF und VEGF. bFGF besitzt keine Signalsequenz und kann folglich nicht sezerniert werden. In Tumoren kann der Faktor allerdings effektiver mobilisiert und – auf bislang unbekannte Weise – freigesetzt werden. VEGF kann in Malignomen aufgrund verschiedener Alterationen konstitutiv überexprimiert werden. Erwähnenswert sind insbesondere Mutationen verschiedener Onkogene, darunter HRAS, KRAS und BCL2. Das VEGF-Gen besitzt einen Hypoxie-responsiblen Promoter, der das Gen in hypoxischen Geweben aktiviert. Dies gilt für sich ausdehnende normale Gewebe gleichermaßen wie für Tumorgewebe. In hypoxischem, noch vitalem Tumorgewebe wird die konstitutive VEGF-Überexpression durch diesen Mechanismus noch potenziert (Carmeliet u. Jain 2000). Aktivierte Onkogene können jedoch auch die Wirkung physiologischer Angiogeneseinhibitoren abschwächen. Mutationen von RAS bewirken die Suppression des Angiogeneseinhibitors Thrombospondin-1 und die Amplifikation von MYCN im Neuroblastom die Suppression der Angiogeneseinhibitoren Activin A, »leukemia inhibitory factor« und Interleukin-6. ! Auch die Tumormetastasierung ist das Ergebnis einer fehlenden Kontrolle der oben genannten Invasions- und Angiogenese-modulierenden Faktoren.
54.5
Therapeutische Ansätze
Molekulartherapeutische Ansätze haben sich in der Vergangenheit ausschließlich auf die Tumorzellen selbst konzentriert. In jüngster Zeit wird mittels Differenzierungsstrategien versucht, den den Tumorzellen inhärenten Differenzierungsblock aufzuheben. Solide Tumoren bestehen jedoch nicht nur aus dem Tumorkompartment, sondern auch aus dem Tumorstroma. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Bindegewebe und Blutgefäße. Das Tumorstroma besitzt eine entscheidende Rolle beim Wachstum des Tumors. Es kann einerseits das Wachstum des Tumors durch Freisetzung verschiedener humoraler Mediatoren (z. B. bFGF) fördern, andererseits werden die darin enthaltenen Gefäße vom Tumor selbst generiert und garantieren weiteres Tumorwachstum. Die Suppression der Tumorblutgefäße könnte deshalb einen neuen Ansatz zur molekularen Tumortherapie darstellen.
54.4.2 Angiogenese und Metastasierung 54.5.1 Tumorzellen: Differenzierungstherapie Das Ungleichgewicht proteolytischer und antiproteolytischer Enzyme trägt auch zur Tumorangiogenese bei. Pathophysiologisch sind insbesondere MMP-2 und -9 beteiligt.
Molekulare Therapieansätze können darauf abzielen, den in manchen Malignomen des Kindesalters vorhandenen Dif-
54
616
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
ferenzierungsblock zu durchbrechen. Als klinisch relevant haben sich insbesondere der Tyrosinkinaseinhibitor STI-571 und die Retinolsäure erwiesen.
III
STI-571 »Signal transduction inhibitor-571« (STI-571; Imatinib) wurde initial entwickelt als Inhibitor des »platelet-derived growth factor«(PDGF)-Rezeptors. Spätere Untersuchungen zeigten jedoch eine weitaus potentere Wirksamkeit gegen das BCR-ABL-Fusionsprotein. ! Imatinib bindet an die ATP-Bindungsstelle des als Tyrosinkinase wirkenden Proteins und verhindert damit die Phosphorylierung von Substraten, die für die Proliferation der malignen leukämischen Zelle verantwortlich sind (⊡ Abb. 54.2).
Abhängig vom Bruchpunkt im BCR-Lokus entstehen verschieden lange BCR-ABL-Fusionsproteine. Bei der chronischen myeloischen Leukämie (CML) dominiert mit 90% die 210 kD-Form des Proteins, bei der akuten lymphoblastischen Leukämie (ALL) des Erwachsenen mit 20% die gleiche Form und bei der Ph+-ALL des Kindesalters mit 5% die 185 kDForm. In Leukämiezellen hemmt Imatinib die Proliferation, induziert die Differenzierung und schließlich die Apoptose (O’Dwyer et al. 2002). Derzeit ist Imatinib zugelassen zur Behandlung von Patienten mit CML in der Blastenkrise, in der akzelerierten Phase oder in der chronischen Phase bei Versagen von Interferon α. Darüber hinaus auch zur Behandlung unresezierbarer und/oder metastasierter maligner gastrointestinaler Stromatumoren Erwachsener. Drei offene, nicht kontrollierte klinische Phase-II-Studien wurden bei adulten Patienten mit Ph+-CML in der akzelerierten Phase, der myeloischen Blastenkrise und bei Patienten mit Versagen einer vorausgehenden Therapie mit Interferon α (IFN) in der chronischen Phase durchgeführt. In der akzelerierten Phase konnte bei 63% von insgesamt 235 Pa-
⊡ Abb. 54.2. Schematische Darstellung des Wirkmechanismus von STI571. Die konstitutiv aktive BCR-ABL-Tyrosinkinase bindet ATP, überträgt Phosphat von ATP auf Tyrosinreste verschiedener Substrate und verursacht so die für die CML charakteristische überschießende
tienten ein hämatologisches Ansprechen nachgewiesen werden, bei 28% ein vollständiges hämatologisches Ansprechen, bei 21% ein relevantes zytogenetisches Ansprechen (d. h. eine Reduktion auf <35% Ph+-Metaphasen) und bei 14% eine komplette zytogenetische Remission. In der Blastenkrise zeigten 26% von insgesamt 260 Patienten ein vollständiges hämatologisches Ansprechen. Ein relevantes zytogenetisches Ansprechen wurde bei 13,5% der Patienten gesehen. Nach Versagen der Interferontherapie und Beginn der Therapie mit Imatinib fand sich bei 88% von 532 Patienten ein vollständiges hämatologisches Ansprechen und bei 30% eine komplette Remission (O’Dwyer et al. 2002). Alle berichtete Daten stammen von Erwachsenen. Daten zur klinischen Wirksamkeit von Imatinib bei Kindern mit CML wurden bislang nicht publiziert ( Kap. 62). Retinolsäuren Zur Präparateklasse der Retinoide rechnet man natürliche und synthetische Analoga, darunter insbesondere Alltrans-Retinolsäure (ATRA) bzw. 13-cis-Retinolsäure (cis-RA). Sie stimulieren die Differenzierung des Epithels, besonders der Schleimhäute. Oral applizierte cis-RA verhindert bei mehr als der Hälfte der Patienten mit Xeroderma pigmentosum die Entwicklung von Hautkrebs (Reynolds u. Lemons 2001). ! ATRA induziert in vitro bei transformierten hämopoetischen Zelllinien, einschließlich Zelllinien der myeloischen Leukämie des Menschen, die Zelldifferenzierung und hemmt die Zellproliferation.
Ihr Wirkungsmechanismus bei der akuten Promyelozytenleukämie ist nicht bekannt, hängt aber wohl zusammen mit der zugrunde liegenden molekularen Alteration. Nahezu alle Fälle der Promyelozytenleukämie (AML-M3) sind assoziiert mit einer Translokation der Chromosomen 15 und 17. Als Produkt entsteht ein Fusionsprotein, das aus dem so genannten PML-Protein und dem Retinolsäurerezeptor α (RARα) be-
Proliferation myeloischer Zellen. STI-571 blockiert die Bindung von ATP an die BCR-ABL-Tyrosinkinase, hemmt damit seine Aktivität, verhindert so die Phosphorylierung der Substrate und schließlich die Proliferation der Blasten
617 54 · Differenzierungs- und antiangiogene Therapie
steht. Dieses Protein supprimiert offenbar die natürliche Transduktion des RARα und verhindert dadurch Differenzierung und Apoptose der transformierten Zellen. Umgekehrt vermutet man, dass ATRA den supprimierenden Effekt des PML-RARα Fusionsproteins aufheben kann und damit Differenzierung der malignen Zellen in reife Granulozyten und die natürliche Apoptose wieder zulässt. Durch alleinige Behandlung mittels ATRA kann die Mehrzahl der Patienten (>90%) mit akuter Promyelozytenleukämie in Remission gebracht werden. Diese ist jedoch nicht anhaltend, und nur 20% der Patienten im Rezidiv können erneut in Remission gebracht werden. Deshalb wird derzeit eine sich anschließende Chemotherapie empfohlen (Mann et al. 2001). Diesen Erkenntnissen hat sich die Therapiestudie AML-BFM 98 für die akuten myeloischen Leukämien bei Kindern angeschlossen, indem sie eine konventionelle Therapie im Anschluss an die ATRA-Behandlung empfiehlt. Die Behandlungsergebnisse sind hervorragend ( Kap. 60). Die Inkubation etablierter Neuroblastomzellen mit cis-RA oder ATRA bewirkt in vitro die Verminderung von MYCN-Expression und Zellproliferation und eine morphologische Differenzierung. Ähnliche Ergebnisse konnten mit Neuroblastomzellen erzielt werden, die unmittelbar nach Tumorprogression unter Chemoradiotherapie aus Neuroblastomen entnommen worden waren. Dies ließ vermuten, dass sich cis-RA zur Behandlung rezidivierter Neuroblastome eignen könnte. In einer randomisierten Studie mit 175 in Remission befindlichen Neuroblastompatienten der Stadien 3 und 4 erhielt die Hälfte cis-RA in einer Dosis von 0,75 mg/kg/Tag p.o. über bis zu 4 Jahren. Diese Gruppe zeigte im Vergleich zur Plazebogruppe keinen Vorteil bezüglich des ereignisfreien Überlebens (Kohler et al. 2000). In einer anderen Phase-IIIStudie wurde cis-RA einer Gruppe von Neuroblastompatienten nach myeloablativer Therapie und Knochenmarktransplantation in einer Dosis von 160 mg/m2/Tag über 2 Wochen pro Monat und über eine Gesamtzeitraum von 6 Monaten verabreicht. Die Ergebnisse zeigten ein ereignisfreies Überleben von 46% der mit cis-RA behandelten Patienten vs. 29% der Patienten ohne cis-RA-Behandlung (Matthay et al. 1999). Die besseren Ergebnisse der zweiten Studie resultieren möglicherweise aus der 8-fach höheren cis-RA-Dosis und dem Einschluss von Patienten mit höherem Risiko. 54.5.2 Tumorstromazellen: Antiangiogenese Grundlagen Gefäße sind dynamische Strukturen. Sie werden gebildet, umgebaut und abgebaut. Während der Embryonalentwicklung wird die Linse durch die Arteria hyaloidea ernährt. Das Gefäß verschwindet jedoch später mittels Apoptose. Auch der Ductus arteriosus wird zurückgebildet. Die Gefäße des Corpus luteum werden zyklisch auf- und abgebaut. Auch pathologische Gefäße können sich spontan zurückbilden. Als Beispiel seien hier die Gefäße im »klassischen« Hämangiom angeführt. Auch Tumorgefäße sind keine statischen Gebilde, sondern können um- und abgebaut werden. Sie besitzen allerdings in der Regel eine sehr viel raschere Bildungsrate als die Gefäße in dem entsprechenden
Normalgewebe. Das Gefäßendothel ist ein genetisch stabiles Zellkompartiment, so dass Resistenzen gegen endothelzellspezifische Substanzen nicht auftreten sollten. Diese Beobachtungen gaben Anlass zu der Hoffnung, dass die Antiangiogenese eine Option zur Verbesserung der konventionellen Therapie solider Malignome darstellen könnte. Mit der Identifizierung der wichtigsten proangiogenen Moleküle und ihrer Signaltransduktionsmoleküle waren die Grundlagen zur Definition molekularer Angriffspunkte gelegt. Tatsächlich gelang es in Tiermodellen, die Tumorangiogenese zu hemmen und Tumorwachstum zu bremsen. In einigen Fällen gelang sogar die Tumoreradikation (Ferrara u. Alitalo 1999). Therapeutische Konzepte Antiangiogene Therapieansätze zielen auf ▬ die Hemmung der Gefäßinvasion mittels Proteaseinhibitoren und ▬ die Hemmung der Angiogenese mittels antiangiogener Substanzen (Bikfalvi u. Bicknell 2002). Proteaseinhibitoren. Die Prävalenz von Matrix-Metalloproteasen (MMP), insbesondere von MMP-2 und -9 in vielen Tumoren gab Anlass zur Entwicklung von MMP-Inhibitoren. Präklinische Untersuchungen mit verschiedenen MMPInhibitoren in vitro und im Tiermodell zeigten antiproliferative Effekte auf verschiedene, kultivierte Tumor- und Gefäßendothelzellspezies. Zu den Inhibitoren mit eher breitem Wirkspektrum zählen Batimastat, Marimastat und Prionomastat. Der Einsatz von Prionomastat führte im Tierversuch zu kompletten Remissionen von Primärtumoren und Metastasen. Später wurden spezifischere, gegen MMP-2, -3 und -9 gerichtete Inhibitoren entwickelt, darunter Neovastat, Metastat, BAY 12-9566 und BMS-275291 (Sparano et al. 2004). Angiogeneseinhibitoren. Diese Klasse umfasst Substanzen,
deren Wirkmechanismus abzielt auf die Hemmung aktivierter Angiogenesestimulatoren oder den Ersatz verloren gegangener bzw. den Einsatz pharmakologischer Konzentrationen physiologischer Inhibitoren. VEGF ist in vielen Malignomen erhöht exprimiert, wird von dort sezerniert, erscheint im Blut und anderen Körperflüssigkeiten und bindet an die VEGF-Rezeptoren 1 und 2, die selbst wiederum in einigen Malignomen erhöht exprimiert sein können. Dieser Sachverhalt ließ die Hemmung des VEGF/VEGF-Rezeptorsystems als geeignete antiangiogene Strategie erscheinen. Als Ansatzpunkte wurde die Normalisierung erhöhter VEGF-Expression (Interferon-α), die Neutralisierung von VEGF mittels monoklonaler Antikörper (Bevacizumab) und die Blockierung bzw. Inaktivierung von VEGF-Rezeptoren mittels monoklonaler Antikörper (DC101) oder kleinmolekularen Inhibitoren der VEGF-Rezeptor-Tyrosinkinasen (SU5416, SU6668) gewählt. In Tierversuchen waren alle Ansätze erfolgreich und bewirkten Tumorstabilisierung bis hin zur Tumorregression (Carmeliet u. Jain 2000). Angiostatin und Endostatin sind Fragmente von Plasminogen bzw. Kollagen XVIII und stellen damit physiologische Angiogeneseinhibitoren dar. Anders als die intakten Vorläufermoleküle besitzen beide potente antiangiogene Eigenschaften in vitro und im Tierversuch. Andere Proteine, darunter Activin A (Breit et al. 2000), Interleukin-6 (Hatzi et al.
54
618
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
2002b) und »leukemia inhibitory factor« (Hatzi et al. 2002a) werden in experimentellen Neuroblastomen durch erhöhte MYCN-Expression herunterreguliert. Unter experimentellen Bedingungen hemmen sie die Tumorangiogenese. Die genannten Angiogeneseinhibitoren hemmen die Angiogenese spezifisch. Darüber hinaus wurden weitere, weniger spezifische Inhibitoren nachgewiesen, die zwar die Angiogenese hemmen, daneben aber auch (in meist höherer Dosierung) das Tumorwachstum. Auch viele Chemotherapeutika hemmen erwartungsgemäß die Tumorangiogenese. Einerseits besitzen sie ihren höchsten Konzentrationsgradienten im Endothel und zum anderen proliferiert – wie oben erwähnt – insbesondere das Tumorendothel. Wahrscheinlich beruhen die klinisch beobachteten Wirkungen der Langzeitinfusion niedrig dosierter Chemotherapeutika (z. B. Anthrazykline) eher auf der Hemmung der Tumorangiogenese als auf der Hemmung des direkten Tumorzellwachstums (Schweigerer 1995) . Die molekularen Wirkmechanismen der meisten unspezifischen Inhibitoren wie z. B. auch Thalidomid sind wenig bis nicht definiert. Von diesen erscheint 2-Methoxyöstradiol am erfolgversprechendsten, denn die Substanz ist kleinmolekular, oral applizierbar, in niedrigen Konzentrationen wirksam und besitzt keine östrogenartige Wirkung (Fotsis et al. 1994). Inhibitoren aktivierter Angiogenesestimulatoren. Zur Re-
duktion potenzieller Nebenwirkungen erscheint es sinnvoll, Angiogeneseinhibitoren mit unterschiedlichem molekularem Angriffspunkt miteinander zu kombinieren. Tatsächlich zeigten experimentelle in vitro und in vivo Untersuchungen eine additive Wirkung verschiedener Angiogeneseinhibitoren, darunter beispielsweise Arginindeiminase SU5416, DC101 und 2-Methoxyöstradiol in experimentellen Neuroblastomen (Gong et al. 2003). Diese Strategie erscheint in Anlehnung an die mit der Polychemotherapie gemachten
Erfahrungen insofern recht erfolgversprechend, als maligne Tumoren offenbar mehr als einen angiogenen Signalweg benutzen und auf diese Weise additive angiogene Wirkungen bei gleichzeitig reduziertem Nebenwirkungspotenzial erzielt werden könnten (Pavlakovic et al. 2001). Inhibitoren aktivierter Angiogenesestimulatoren + konventionelle Therapie. Tierexperimentelle Untersuchungen
haben den additiven Effekt antiangiogener und konventioneller Strategien gezeigt. Der monoklonale VEGF-Antikörper Bevacizumab verstärkt den Effekt von Cisplatin auf experimentelle embryonale Rhabdomyosarkome. In höherer Konzentration bewirkt Bevacizumab die Tumorregression (Ferrara 1999). DC101 wirkt additiv mit Vinblastin auf experimentelle Neuroblastome und bewirkt eine Langzeitstabilisation der Tumoren (Klement et al. 2000). DC101 und SU5416 verstärken den Effekt von Radiotherapie auf experimentelle Neuroblastome mit erhöhter MYCN-Expression (Gong et al. 2003). Klinische Studien Die vielen erfolgreichen tierexperimentellen Resultate haben hohe Erwartungen an die Ergebnisse klinischer Studien mit antiangiogenen Substanzen geweckt. Mittlerweile liegen die ersten Ergebnisse vor. Sie sind überwiegend ernüchternd und zeigen deutlich, dass tierexperimentelle Ergebnisse nicht einfach auf die klinische Situation übertragbar sind. Die Gründe sind z. T. recht offensichtlich. So ging man beispielsweise davon aus, dass Tumoren in vivo lediglich einen angiogenen Signalweg (z. B. VEGF; Kim et al. 1993) – statt (wie offensichtlich der Fall; Pavlakovic et al. 2001) mehrere solcher Wege – benutzen. Insofern war absehbar, dass die Blockade eines einzigen Moleküls – nämlich VEGF – nicht den erwünschten Erfolg haben würde. Erst die Kombination des spezifischen VEGF-Antagonisten mit Polychemotherapie zeigte ermuti-
⊡ Tabelle 54.1. Klinische Studien mit antiangiogenen Substanzen
Allgemeiner/ spezieller Wirkmechanismus
Substanz
Phase Indikation
Patientengruppe
Applikation
Nebenwirkungen
Wirkungen
Literatur
Hemmung von MatrixMetalloproteasen
Marimastat
III
Metastasierte Mammakarzinome
179
p.o., 20 mg/d
Myalgien, Gelenkschmerzen
Keine Hemmung des Tumorwachstums
Saparo et al. (2004)
II
Metastasiertes Nierenkarzinom
116
Monotherapie, 10 mg/kg/ 2 Wochen vs. Plazebo
Kopfschmerzen, Übelkeit, Thrombosen
Aufschub Tumorwachstum, 2,5-mal wie Plazebogruppe
Yang et al. (2003)
III
Metastasiertes Kolonkarzinom
813
5 mg/kg/ 2 Wochen ± Irinotecan, 5-Fluorouvacil, Leukovirin
Kopfschmerzen, Übelkeit, Hypertension
Aufschub des progressionsfreien Überlebens um 4,4 Monate
Hurwitz et al. (2004)
Rezidivierte/ metastasierte Mammakarzinome
31
0,5–1,0 g/Tag über 28 Tage
Keine
?
Lakhani et al. (2003)
Hemmung proangiogener Aktivitäten
Stimulation der Endothelzellapoptose
BevaciVEGFAntago- zumab nisten
2-Methoxy- I östradiol
619 54 · Differenzierungs- und antiangiogene Therapie
gende Resultate. ⊡ Tabelle 54.1 zeigt einige repräsentative Studien und deren Ergebnisse. Zukünftige antiangiogene Strategien müssen daher darauf zielen, mehrere angiogene Signalwege gleichzeitig zu blockieren und antiangiogene Strategien additiv zu konventionellen Strategien einzusetzen.
Die Ergebnisse klinischer Studien mit differenzierungsfördernden und antiangiogenen Substanzen sind ermutigend und haben die prinzipielle Wirksamkeit dieser therapeutischen Ansätze eindrucksvoll dokumentiert.
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54
55
Gentherapie
S. Burdach
III 55.1
Einleitung
55.1.1 55.1.2
Historische Aspekte – 620 Konzeptionen, Strategien und Paradigmen – 620
– 620
55.2
Methodische Aspekte
55.2.1 55.2.2
Zielzellen – 623 Genomische Integration und Transduktionseffizienz – 623 Klassische Vektoren – 624 Alternative retrovirale Vektorsysteme – 626
55.2.3 55.2.4
– 622
55.3 55.4 55.5
Risiken – 627 Präklinische Modelle – 628 Spezielle Indikationen und Verfahren der Gentherapie – 628
55.5.1 55.5.2
Korrektur angeborener Erkrankungen – 628 Gentherapie onkologischer Erkrankungen – 629
55.6
Perspektiven der klinischen Gentherapie – 631 Literatur – 631
Gentherapie wird im Allgemeinen für ein modernes Therapiekonzept gehalten; allerdings wurde die Vorstellung einer Behandlung von Erkrankungen des Menschen durch Manipulation von Genen schon vor fast 40 Jahren sehr klar formuliert. Bereits die Pioniere der molekularen Genetik hatten erkannt, dass die Entdeckungen ihres neuen Fachgebietes sowohl zu medizinischen Fortschritten als auch zu ethischen Konflikten führen können.
55.1
Einleitung
55.1.1 Historische Aspekte Der Begriff Gentherapie wurde geprägt, um die ärztliche und therapeutische Zielsetzung abzugrenzen von den Implikationen des »human genetic engineering« im Huxleyschen Sinne (Huxley 1932). Gentherapie kann definiert werden als die Anwendung molekulargenetischer Erkenntnisse auf die Behandlung von Erkrankungen des Menschen. Insofern verbindet die Gentherapie Konzepte der Pharmakotherapie und der Molekulargenetik. Die Gentherapie erweitert mithin das Konzept einer spezifischen molekularen Therapie, das auf die Entdeckung der molekularen Interaktion von Rezeptor und Ligand zurückgeht (Langley u. Sherrington 1891; Goodmann u. Gilman 1985; http://www.rsc.org/pdf/books/medicisc.pdf). Gentherapieverfahren, die eine Addition oder Modifikation von Genen beinhalten, sind konzeptionell Fortentwicklungen der Proteinsubstitutionstherapien zur Behandlung hereditärer oder erworbener Erkrankungen, z. B. der Faktor-
VIII-Gabe bei Hämophilie A oder der Insulingabe bei Diabetes mellitus. Hierbei sind die transienten Gentherapieverfahren durch RNA-Therapie oder epigenetische virale oder nonvirale Vektoren diesen konventionellen Proteinsubstitutionstherapien noch sehr ähnlich. Allerdings unterscheiden sich die permanenten Gentherapieverfahren unter Gebrauch von viralen Vektoren, die in nukleäre DNA integrieren (Adeno-assoziierte Viren, Onkoretro-, Lenti- und FoamyViren etc.), prinzipiell von den konventionellen Verfahren der Proteinsubstitution, da das verabreichte Gen permanent in das chromosomale Genom der Zielzelle eingegliedert wird. In gewisser Weise ähnelt hier die Gentherapie einem operativen Verfahren, wodurch Gewebe oder Organe auf Dauer verändert werden. Zwischenzeitlich hat das zentrale Dogma der Molekularbiologie (Watson: DNA–RNA–Protein) die prinzipielle Möglichkeit aufgezeigt, durch Veränderungen in der DNA auch Veränderungen im Funktionsprotein zu erzielen. Über die Entwicklung der Gentherapie von 1960 bis in die 1980er-Jahre sowie deren wichtigsten Errungenschaften und Misserfolge gibt es eine Reihe einschlägiger Literatur (Tatum 1966; Lederberg 1973; Rogers 1963; Rogers u. Moore 1963; Terheggen et al. 1975; Cline et al. 1980). Vielfach haben schlecht konzipierte Studien die klinische Entwicklung verzögert. Als Konsequenz wurde entschieden, dass alle künftigen klinischen Gentherapiestudien in den USA durch das Recombinant DNA Advisory Committee (RAC) des National Institute of Health begutachtet und befürwortet werden müssen. Im letzten Jahrzehnt hat das Gebiet wissenschaftliche Glaubwürdigkeit gewonnen und trotz einzelner Rückschläge sind Fortschritte zu verzeichnen. ! Die Gentherapie kombiniert die Vorteile der medikamentösen Therapie mit den Möglichkeiten der Chirurgie zur dauerhaften Veränderung eines Organs. Die Gentherapie hat folglich das Potenzial, sich zu einer neuen Disziplin der Medizin neben den etablierten Fächern der medizinischen und chirurgischen Therapie zu entwickeln (Wolff u. Lederberg 1994).
55.1.2 Konzeptionen, Strategien und Paradigmen Die kurative Behandlung genetischer Erkrankungen, an deren Pathogenese hämatopoetische oder lymphatische Zellen beteiligt sind, durch die Transplantation von genetisch normalen allogenen hämatopoetischen Stammzellen lieferte Paradigma und Rationale für die klinische Erforschung der Gentherapie. Unter Verwendung von genetisch korrigierten autologen Stammzellen erfolgt die Behandlung der gleichen Erkrankung, deren Kurabilität durch die allogene Transplantation belegt wurde.
621 55 · Gentherapie
Ihre leichte experimentelle Zugänglichkeit hat die hämatopoetische Stammzelle zu einem idealen Modell der Exvivo-Gentherapie gemacht. Alsbald wurden die Erkenntnisse aus dem hämatopoetischen Gentransfer genutzt, um auch nicht-hämatopoetische Zielzellen mit therapeutischen Transgenen zu versehen. Hierzu zählten Hepatozyten, Endothelzellen, Muskelzellen, Chondrozyten, und mesenchymale Stammzellen. Bei der Ex-vivo-Gentherapie wird die Zielzelle dem Patienten entnommen, in vitro mit dem Transgen ausgestattet und danach dem Patienten zurückgegeben. Bei der In-vivo-Gentherapie wird hingegen das therapeutische Gen entweder ex vivo in die Zielzelle oder systemisch appliziert. Bei der systemischen Applikation wird der Tropismus des therapeutischen Vehikels genutzt, um das therapeutische Transgen in die gewünschte Zielzelle zu verbringen. Aufgrund der Praxisnähe und der fachspezifischen Thematik des vorliegenden Fachbuchs steht im Folgenden der Gentransfer in hämatopoetische Zielzellen im Vordergrund. Idealerweise kann die Verwendung autologer Zellen für den Genersatz die immunologischen Probleme vermeiden, die mit einer allogenen hämatopoetischen Stammzelltransplantation einhergehen, infolgedessen auch die Notwendigkeit einer immunsuppressiven Therapie. Präziser wäre hier von einer lympho-hämatopoetischen Stammzelltransplantation zu sprechen. ! Die elementaren methodischen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gentherapie unter Verwendung hämatopoetischer Stammzellen umfasst sowohl den effektiven Transfer des therapeutischen Gens in die Stammzelle als auch die adäquate Expression des Transgens in der Effektorzelle ohne nachteilige Auswirkungen auf die Funktion der Stamm- oder Effektorzelle.
Stammzellen sind ideale Zielzellen für die genetische Modifikation, da sie eine Nachkommenschaft an Effektorzellen produzieren, die für die Lebensspanne des Wirtes ausreicht. Im Gegensatz zu Progenitor- oder Vorläuferzellen sind Stammzellen qua definitionem pluripotent und replikationsfähig im Sinne des »self renewal«. Daher resultieren Modifikation und »engraftment« einer Stammzelle in einer permanenten therapeutischen Wirkung. Im Gegensatz hierzu hat der Gentransfer in Progenitorzellen einen befristeten Effekt,
der sich aufzehrt, wenn die modifizierte Zellpopulation erschöpft ist und durch neue Progenitorzellen ersetzt wird, die von nicht modifizierten Stammzellen abstammen. Neoplasien und monogenetische hämatologische oder metabolische Erkrankungen sind die wichtigsten lebensbedrohlichen Erkrankungen im Kindesalter, bei denen im Einzelfall auch ein Heilversuch mit risikobehafteten Therapien wie z. B. unverwandte Stammzelltranplantationen oder auch Gentherapie gerechtfertigt erscheint. Monogenetische Erkrankungen können durch genetische Korrektur in hämatopoetischen Stammzellen behandelt werden. Man spricht daher von der Strategie der genetischen Korrektur. Neoplastische Erkrankungen können durch verschiedene gentherapeutische Ansätze behandelt werden, bei denen überwiegend additive Strategien zur Anwendung kommen. »Gene enhancement« ist die positivistische Bezeichnung der additiven Strategien in der angloamerikanischen Literatur. Definition Bei der additiven Gentherapie werden zusätzliche Gene in eine neoplastische Zielzelle oder eine immunologische Effektorzelle eingeführt, um die Elimination der Tumorerkrankung zu beschleunigen.
Unter die additiven Strategien zählt die Verstärkung der Immunantwort gegen den Tumor entweder durch eine genetische Modifikation der Tumorzelle, die den Tumor für das Immunsystem besser sichtbar macht oder durch eine genetische Modifikation im Immunsystem selbst. Bei der genetischen Modifikation im Immunsystem können sowohl die Antigenerkennung als auch die zytotoxische Immunreaktion gegen den Tumor verstärkt werden. Eine weitere additive onkologische Gentherapiestrategie besteht in der Vermittlung von Sensitivität gegenüber toxischen Wirkstoffen. Dieser Sensitivitätstransfer wird mit der euphemistischen Konnotation, den Tumor suizidal zu stimmen, auch als Suizidgentherapie ( Abschn. 55.5.2) bezeichnet. Danach kann auch die Anwendung konditional selektiver onkolytischer Viren ( Abschn. 55.5.2) bei Tumoren unter die additive Strategien gefasst werden, während die Genrepression von Onkogenen (s. Abschn. 55.3) eine korrektive Strategie darstellt (⊡ Tabelle 55.1).
⊡ Tabelle 55.1. Gentherapeutische Strategien bei onkologischen Erkrankungen Additive Strategie
Verstärkung der Immunantwort gegen Tumoren
Vermittlung von Sensitivität gegenüber toxischen Wirkstoffen Konditional selektive onkolytische Viren Korrektive Strategie
Genrepression von Onkogenen Transfer von Tumorsuppressorgenen
Genetische Modifikation der Tumorzelle Genetische Modifikation des Immunsystems Verstärkung der Antigenerkennung Verstärkung zytotoxischer Immunreaktionen gegen Tumoren
55
622
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
⊡ Tabelle 55.2. Strategien der genetischen Korrektur und potenzielle Indikationen der Gentherapie mit lympho-hämatopoetischen Zielzellen Genersatztherapie (korrektive Gentherapie monogenetischer Erkrankungen) Primäre Immundefekte
Schwerer kombinierter Immundefekt (SCID) Septische Granulomatose (CGD) Wiskott-Aldrich-Syndrom X-chromosomale β-Globulinämie (Morbus Bruton)
Hämoglobinopathien
Sichelzellanämie Thalassämie
Speichererkrankungen unter Beteiligung von Makrophagen
Morbus Gaucher Hurler-Syndrom Hunter-Syndrom Adrenoleukodystrophie Pulmonale Alveolarproteinose
Stammzellerkrankungen
Fanconi-Anämie
III
Genmodifikation zur Verbesserung der Zelleigenschaften (additive Gentherapie, »gene enhancement«) Maligne Erkrankungen
Transfer von Resistenzgenen zur Steigerung der therapeutischen Effizienz zytotoxischer Chemotherapie Transfer von Sensibilitätsgenen zur Verminderung der Komplikationen allogener Stammzelltransplantationen Gene, die Onkogene blockieren (z. B. Antisense, iRNA, Ribozyme) Ersatz von Tumorsuppressorgenen (z. B. p53, Rb) Expression von Tumor-assoziierten Antigenen und/oder immunstimulierenden Zytokinen in dendritischen Zellen, abgeleitet aus Stammzellen für die Krebsimmuntherapie
Infektiöse Erkrankungen
Immundefizienz-Virus-Typ-1-Infektion Zytomegalovirus-Infektion Parvovirus-B19-Infektion
Im Gegensatz zur korrektiven Genrepression von Onkogenen hat der korrektive Transfer von Tumorsuppressorgenen wenig Verbreitung gefunden. Das fundamentale Problem aller nicht-immunologischen Gentherapiestrategien in der Onkologie besteht darin, dass die Transduktionseffizienz hoch genug sein muss, um auch die letzte Tumorzelle zu erfassen, von der ein Rezidiv ausgehen kann. Monogenetische Erkrankungen (⊡ Tabelle 55.2) stellen mithin ein fundamentales Paradigma für die Entwicklung der Gentherapie als kuratives Verfahren dar. Wie oben dargestellt, besteht bereits für eine Reihe monogenetischer Erkrankungen »proof of principle of cure« durch die Transplantation allogener hämatopoetischer Wildtyp-Stammzellen. Diese Erkrankungen umfassen nicht nur Erkrankungen der Blutbildung, sondern auch metabolische Erkrankungen, die sich außerhalb des hämatopoetischen Systems manifestieren. Hierbei handelt es sich insbesondere um Erkrankungen des Monozyten/Makrophagen-Systems. In diesen Fällen können hämatopoetische Zellen als Vehikel für den Gentransfer benutzt werden. Durch Genkorrektur mittels allogener Transplantation hämatopoetischer Stammzellen ist es gelungen Krankheiten zu heilen, die in der Lunge und nicht direkt im hämatopoetischen System eine Ursache haben (Dirksen et al. 1999). Neben den monogenetischen hereditären Erkrankungen sind Malignome die zweite bedeutsame Zielgruppe der Gentherapie. Es werden sowohl solide Tumoren als auch Leukämien gentherapeutisch behandelt. Zusätzlich zu den vor-
genannten additiven und korrektiven antineoplastischen Gentherapiestrategien finden bei der Behandlung der Leukämie additive Verfahren im Rahmen der Stammzelltransplantation Anwendung. Hierbei handelt es sich sowohl um Verfahren, die dem Transplantat Resistenz gegen Zytostatika vermitteln, als auch um Verfahren, mittels derer die transplantierten Zellen für zytotoxische Substanzen sensibilisiert werden. Während der Resistenztransfer zur einer positiven Selektion eines putativ leukämiefreien autologen Tansplantats genutzt wird, kommt beim Sensitivitätstransfer eine negative Selektion von allogen transplantierten Effektorzellen zum Einsatz, um die Komplikationen der Spender-gegenEmpfänger-Reaktion (»graft versus host disease«, GVHD) zu vermindern. Beide Verfahren wurden vor über 20 Jahren etabliert, einschließlich der verwendeten Enzyme für Positivselektionen (Dihydrofolatreduktase) und Negativselektionen (HSV-tk). 55.2
Methodische Aspekte
Fortschritte in der Behandlung genetischer Erkrankungen durch Gentherapie erfordern Fortschritte in der Lieferung des Transgens an die Zielzelle sowie in der Expression des Transgens.
623 55 · Gentherapie
55.2.1 Zielzellen ! In der Gentherapie ist die genetisch defekte krank-
heitsverursachende Zelle die ideale Zielzelle des Gentransfers. Hierbei wird das kranke Gen belassen und zusätzlich eine nicht mutierte Kopie des Gens eingebracht.
Bei hämatopoetischen Erkrankungen kann die Zielzelle eine hämatopoetische Stammzelle, eine Progenitorzelle oder eine Effektorzelle sein. Stammzellen sind die idealen Zielzellen des Gentransfers, da hier die Wirkung des gentherapeutischen Eingriffs permanent ist. Allerdings kann auch der Transfer in reife Effektorzellen, wie z. B. langlebige Lymphozyten, eine nachhaltige, wenn auch befristete Wirkung haben. Aufgrund der Seltenheit nicht-hämatopoetischer Stammzellen wird bei nicht-hämatopoetischen Erkrankungen sui generis meist eine reife Effektorzelle bevorzugt, sowie z. B. bei Hämophilie A oder B der Faktor-VIII- oder -IX-Gentransfer in Hepatozyten. Allerdings liefern die Erfolge der Behandlung von mesenchymalen nicht-hämatopoetischen Erkrankungen wie z. B. die Behandlung der Osteogenesis imperfecta durch Knochenmarktransplantation (Horwitz et al. 1999) auch »proof of principle« für die Behandlung hereditärer Erkrankungen mesenchymaler Zellen durch Gentransfer ins Knochenmark, z. B. residente mesenchymale Stammzellen. Diese Strategie wird neben der Korrektur seltener hereditärer Erkrankungen insbesondere für die Entwicklung neuer Therapien für degenerative Gelenk- und Knochenerkrankungen genutzt. Der Gentransfer in Tumorzellen stellt insofern einen Sonderfall dar, da Tumorzellen über manche Eigenschaften von Stammzellen verfügen, wodurch sie sich in besonderer Weise für einen Gentransfer eignen. Beim Gentransfer in Tumorzellen werden auch korrektive Strategien verfolgt. Allerdings untersucht der überwiegende Teil der klinischen Protokolle additive Strategien. Hierbei werden sowohl immunaugmentative als auch sensitivitättransferierende Strategien verfolgt. Der Nachteil der sensitivitättransferierenden Strategien liegt darin, dass der Vektor auch die letzte Tumorzelle erreichen muss, von der ein Rezidiv ausgehen kann. Dieser Einschränkung unterliegen die immunologischen Strategien nicht. Sie streben durch »gene enhancement« an, die Tumorzelle immunologisch besser sichtbar zu machen. Klinische Studien konnten bisher allerdings nicht die zellbiologisch aufgedeckte pathogenetische Verknüpfung von Onkogenese und »immune escape« auflösen (Staege et al. 2002). ! Beim Gentransfer in funktionell differenzierten
Zellen wird in der Regel eine additive Strategie verfolgt.
Dies gilt sowohl für die Transfektion von antigenpräsentierenden oder zytotoxischen Effektorzellen im Rahmen der Immunaugmentation als auch für den Sensitivitätstransfer von HSV-tk in reife Effektorzellen bei der allogenen Stammzelltransplantation oder den Resistenztransfer von Dihydrofolatreduktase (DHFR), z. B. in autologe Stamm-, Progenitorund Effektorzellen bei autologer Transplantation. Beim Gentransfer in eine funktionell differenzierte therapeutische Effektorzelle wird durch den Gentransfer selbst nur in seltenen Fällen der genetische Defekt korrigiert, wie
z. B. beim Transfer von Adenosindeaminase (ADA) in Lymphozyten beim autosomal-rezessiven schweren kombinierten Immundefekt (SCID). Meist wird hingegen durch den Gentransfer die therapeutische Eigenschaft der Effektorzelle verbessert. Der therapeutische Effektor kann eine zelluläre Modifikation erhalten, wie im Falle der Transplantation Methotrexat-resistenter autologer Stamm-, Progenitor- oder Effektorzellen. Ferner können sowohl autologe als auch allogene transgene T-Zellen beim Gentransfer eingesetzt werden. Bei autologen T-Zellen ist die Verbesserung der Erkennung von Tumorantigenen durch transgene Expression von Wildtyp oder chimären T-Zellrezeptoren das therapeutische Ziel. Bei allogenen T-Zellen ist die Begrenzung ihrer sowohl therapeutischen als auch toxischen Wirkung im Rahmen der »graft vs. host« bzw. »graft vs. leukemia reaction« das Ziel. Es wird erreicht durch transgene Expression eines Sensitivität-vermittelnden Enzyms, z. B. HSV-tk. Ferner kommen unter korrektiven Strategien auch transgene Effektorzellen zum Einsatz, die funktional rekonstitutiv wirken, wie z. B. transgene Makrophagen bei hereditären Stoffwechseldefekten, insbesondere Speichererkrankungen. Eine weitere, verbreitete Anwendung des Gentransfers besteht in der genetischen Markierung von transplantierten Zellen, in der angloamerikanischen Literatur als »gene marking« bezeichnet. »Gene marking« dient dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn über transplantierte Zellen, z. B. hinsichtlich der Fragen, ob Transplantate Tumorzellen enthalten (Brenner 1998), oder ob adoptiv transferierte immunologische Effektorzellen ihr Ziel im Tumor erreichen (Halene u. Kohn 2000, Bollard et al. 2001). 55.2.2 Genomische Integration
und Transduktionseffizienz Genomische Integration. Die Nachhaltigkeit eines gentherapeutischen Eingriffs ist nicht nur davon abhängig, ob das Transgen in einer Stammzelle exprimiert wird, sondern auch davon, ob das Transgen in das chromosomale Genom integriert oder lediglich episomal verbleibt. Nur im Falle der chromosomalen Integration ist der therapeutische Effekt permanent. Verbleibt der Vektor hingegen episomal, kann er bei einer Zellteilung nicht auf beide Tochterzellen übertragen werden und postmitotisch verloren gehen. Der Effekt der Genexpression bleibt folglich transient. Für die korrektive Gentherapie hereditärer Erkrankungen ist ein chromosomal-integrierender Vektor mit Stammzelltropismus ideal. Allerdings muss, wie bereits ausgeführt, der Vektor zur Erzielung eines therapeutischen Effekts nicht obligatorisch in Stammzellen integriert werden, sondern fakultativ auch in Progenitor- oder Effektorzellen. Auch eine transiente Expression kann eine therapeutische Wirkung haben. Transduktionseffizienz. Die Integration des Transgens in
verschiedene hämatopoetische Stammzellen muss häufig genug erfolgen, um zur Veränderung des Phänotyps der Erkrankung auszureichen. Das Verhältnis transgener zu nichttransduzierten Zellen nach erfolgtem Gentransfer wird als Transduktionseffizienz bezeichnet. Die erforderliche Transduktionseffizienz zur Erzielung eines therapeutischen Effekts
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
⊡ Tabelle 55.3. Schwellenwerte für den Gentransfer in hämatopoetischen Stammzellen zur Erreichung einer therapeutischen Wirkung
III
Low-level-Gentransfer (≈0,01%)
Moderate-level-Gentransfer (0,05–5,00%)
High-level-Gentransfer (≈100%)
Kongenitale Immundefekte
Speichererkrankungen
Hämoglobinopathien
Fanconi-Anämie HIV-1-Infektion
Proteindefizienz: Hämophilie, α1-Antitrypsinmangel Resistenz gegenüber Chemotherapie-induzierter Myelosuppression
Malignome: Onkogenrepression, Tumorsuppressorgensubstitution
⊡ Tabelle 55.4. Strategische Anforderungen an Gentherapievektoren
Zielzelle des Gentransfers
Stammzelltropismus
Integration in das nukleäre Genom
Transduktionseffizienz
Pathogenetische Zelle des Gendefekts
+
+
(–)*
Therapeutische Effektorzelle
–
–
+
* erkrankungsabhängig.
beim korrektiven Gentransfer ist erkrankungsabhängig. Stammzellerkrankungen erfordern eine hohe Transduktionseffizienz, andere Erkrankungen eine niedrigere Transduktionseffizienz. Die Variation reicht von <1% korrigierter Zellen bei einigen Enzymdefekten bis zu ~100% bei Sichelzellanämie (⊡ Tabelle 55.3). Die erforderliche Transduktionseffizienz ist durch den pathogenetischen Mechanismus der Erkrankung bedingt. Bei Erkrankungen, bei denen der genetische Effekt zu einem Selektionsnachteil der erkrankten Zellen führt (FanconiAnämie, γcSCID), reicht eine geringe Transduktionseffizienz aus, da die Expression des Transgens den korrigierten Zellen einen Wachstumsvorteil verschafft. Bei der Hämophilie A reicht eine mittlere Transduktionseffizienz aus, um das fehlende Protein zu substituieren. Eine hohe Transduktionseffizienz ist hingegen erforderlich bei Hämoglobinopathien wie der Sichelzellanämie, bei der die erkrankte Zelle nicht einfach fehlt, wie im Fall der Stammzellerkrankungen, sondern selbst schädliche Wirkungen auf den Gesamtorganismus ausübt. Eine hohe Transduktionseffizienz ist ferner erforderlich in der korrektiven Strategie zur Behandlung einer malignen Erkrankung. Ein Rezidiv kann im Prinzip aus einer einzigen nicht transduzierten Tumorzelle entstehen (⊡ Tabelle 55.4). 55.2.3 Klassische Vektoren
Definition Vektoren sind die Vehikel des Gentransfers in die Zielzelle des therapeutischen Interesses. Sie werden auch als Genfähren, Gentaxis oder allgemein als Genfahrzeuge bezeichnet. Man unterscheidet nicht-virale und virale Vektoren.
Nicht-virale Vektoren Nicht-virale Vektoren sind kationische oder anionische Lipide oder Dendrimere, die DNA verpacken, so dass sie einerseits die Zellmembran passieren und andererseits der lysosomalen Degradation entkommen können (»lysosomal escape«). Nicht-virale Vektoren integrieren in der Regel nicht chromosomal, sondern verbleiben episomal. Folglich gehen sie bei der Zellteilung nicht auf beide Tochterzellen über. Sie kommen daher für Anwendungen in Frage, für die eine transiente Genexpression ausreichend ist. Zu den nicht-viralen Vektoren sind darüber hinaus modulare Proteine viralen oder humanen Ursprungs zu zählen, die durch »genetic engineering« künstliche Proteinmodule erhalten haben, die die Bindung an spezifische Oberflächenstrukturen fördern. Somit kann durch »coating design« ein zellulärer Tropismus erreicht werden. Hierzu zählt z. B. das Polyoma-VP1-Hüllprotein (Stubenrauch et al. 2001) oder das γ-Kristallin aus der Augenlinse des Menschen (Rudolph et al. 1990). Die chromosomale Integration nicht-viraler Vektoren ist ein sehr seltenes Ereignis (<10-3). Enthalten diese Vektoren jedoch Selektionsmarker, können bei der Verwendung von Zelllinien auch Transfektanten mit stabiler Integration des Transgens selektioniert werden (Staege et al. 2003). Virale Vektoren (⊡ Tabelle 55.5) Wie bereits ausgeführt, ist der Gentransfer in hämatopoetische Stammzellen die für klinische Zwecke aussichtsreichste Strategie.Viele monogenetischen Erkrankungen, wie Stammzellerkrankungen, Thalassämien, Hämoglobinopathien, die septische Granulomatose und spezifische Immundefekte, könnten durch Genkorrektur in hämatopoetischen Stammzellen geheilt werden. Optimal für diesen Zweck sind chromosomal integrierende Vektoren, die nach Integration das Transgen permanent exprimieren. Hauptvertreter dieser Gruppe sind die retroviralen Vektoren mit ihren
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⊡ Abb. 55.1. Gentransfer durch retrovirale Vektoren. LTR »long term repeat«
3 Untergruppen: Onkoretroviren, Lentiviren, Foamy-Viren (⊡ Abb. 55.1). Demgegenüber hat das ebenfalls chromosomal integrierende Adeno-assoziierte Virus (AAV) derzeit weniger Bedeutung für die Anwendung an hämatopoetischen Stammzellen. ! Allen therapeutischen retroviralen Vektoren ist in der Regel gemeinsam, dass sie replikationsinkompetent sind und in das Genom der Zielzelle integrieren können, im Gegensatz zu den nachfolgend genannten viralen und den nicht-viralen Vektoren, die episomal verbleiben und meist nach 5–10 Zellteilungen verloren gehen.
Nicht integrierende virale Vektoren wie Adeno- und Herpesviren (HSV, CMV, EBV) sind für den korrektiven Gentransfer nur mit Einschränkungen geeignet. Herpesviren können 2 verschiedene Lebenszyklen einschlagen, den lytischen oder den latenten Zyklus. Im latenten Zyklus persistiert das Genom episomal. Der latente Zyklus kann in der Regel nur in bestimmten Zielzellen etabliert werden: für HSV in neuronalen Zellen, für EBV in B-Zellen, und für CMV in hämatopoetischen Zielzellen. Für eine permanente Genkorrektur kommen diese Vektoren deshalb nur für die jeweiligen Zielzellen in Frage. HSV und CMV (bzw. α- und β-Herpesviren) replizieren in vielen Zellen lytisch, was in der Regel zum Tod der infizierten Zellen führt. EBV (γ-Herpesviren) verfällt in der Regel (»by default«) in vielen Zielzellen sofort in den latenten Zyklus, während der lytische Zyklus eher die Ausnahme ist. Trotzdem persistiert das EBV-Genom in der Regel nur in B-Zellen. Mit den genannten Vektoren mag es möglich sein, diverse hämatopoetische Zellen zu transduzieren. Ob dies für Stammzellen möglich ist, bleibt fraglich und scheint allenfalls für CMV wahrscheinlich.
! Für die korrektiven Strategien in hämatopoetischen Stammzellen kommen vorzugsweise virale replikationsinkompetente, integrierende Vektoren in Betracht. Onkoretroviren (⊡ Tabelle 55.5). Unter den Retroviren be-
steht die größte klinische Erfahrung mit Onkoretroviren die vom Moloney-Leukemia-Virus (MLV) abgeleitet sind. Gut etabliert ist die Methodik zur Entwicklung onkoretroviraler Produzentenlinien, die einen Vektortiter mit 105–106 infektiösen Partikeln pro ml produzieren. Es sollte in der Analyse von Komplikationen der Gentherapie mit Onkoretroviren, insbesondere der 2002 aufgetretenen lymphoproliferativen Erkrankungen bei γcSCID-Patienten, nicht übersehen werden, dass Onkoretroviren bei anderen Erkrankungen in großer Zahl ohne unerwünschte Wirkungen angewendet worden sind. Zum Einsatz bei anderen Stammzellerkrankungen, bei denen die therapeutische Expression des Transgens nicht zu einem Selektionsvorteil führt, sind jedoch Verbesserungen gegenüber den bisher etablierten onkoretroviralen Vektorsystemen erforderlich. Ein wesentliches Hindernis des Gentransfers in hämatopoetische Stammzellen besteht darin, dass der Rezeptor für amphotrope Retroviren auf humanen hämatopoetischen Stammzellen in sehr niedriger Dichte exprimiert ist (Kurre et al. 2001). Die niedrige Rezeptorexpression resultiert in niedriger Transduktionseffizienz und ist deshalb limitierend für die Integration des Retrovirusgenoms in das Genom der Zielzelle (Kurre et. al. 1999). Hinzu kommt, dass humane Stammzellen in der Interphase eine wenig durchlässige nukleäre Membran haben und der onkoretroviralen Präintegrationskomplex diese Membran nicht durchdringen kann. In Anbetracht der Instabilität des retroviralen Präintegrationskomplexes ist das Zusammentreffen mehrerer Variabeln für die chromosomale Integration erforderlich. Die Mitose der Stammzellen mit Permeabilität der nukleären
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
⊡ Tabelle 55.5. Eigenschaften viraler Vektoren
III
Eigenschaft
Murines Retrovirus
Adenoassoziiertes Virus
Lentivirus
Foamy-Virus
Adenovirus
Herpesvirus
Integration Einsatzgröße Zellteilung
Manchmal 2,0–4,5 kb Bevorzugt S-Phase Nicht pathogen ?
Ja 8–9 kb Nicht benötigt, aber hilfreich Wahrscheinlich pathogen ?
Ja 9–10 kb Nicht benötigt aber hilfreich Nicht pathogen
Nein 7–36 kb Nicht benötigt
nein 10–100 kb Nicht benötigt
106–1012/ml
106–108/ml Keine stabilen Produktionslinien
Schwach pathogen Immungenetisch und entzündlich 1011–1012/ml
Verschieden
Titer
Ja 6–7 kb Benötigt Mitosen Potenziell gefährlich Komplementinaktiviert 106–107/ml
104–1010/ml
Genom
RNA
ssDNA
RNA
dsDNA
dsDNA
Helfervirusa Pathogenität Immunantwort
a
? 104–105/ml Wildtyp 109 Keine stabilen Produktionslinien RNA
? (Latent)
Virus, aus dem das Hüllprotein für die Verpackung des therapeutischen Gens kommt.
Membran muss mit der Präsenz eines nur für wenige Stunden stabilen Präintegrationskomplexes zusammentreffen. Zytokine können die Zellteilung von Stammzellen bei Mäusen erhöhen, und damit die Wahrscheinlichkeit der Integration. Dies gilt aber nicht für Stammzellen des Menschen (Kurre et al. 2001). Ohnehin befindet sich bei Mäusen ein höherer Anteil der Stammzellen im Zellzyklus als beim Menschen. Die Kokultur mit Stromazellen kann die Transduktionseffizienz erhöhen. Sie ist jedoch mit einer niedrigen Stammzell-Recovery assoziiert, die zwar nicht bei der Maus, allerdings in einer autologen Transplantationssituation beim Menschen ein Problem darstellen kann. Optimierung der Transduktionseffizienz. Die Transduktions-
effizienz wurde durch die Verwendung von Zytokin-mobilisierten peripheren CD34+-Nabelschnurblutzellen verbessert. Diese Zellpopulation exprimiert möglicherweise den amphotropen Retrovirusrezeptor in höherer Dichte und enthält einen größeren Anteil von Stammzellen, die sich in der G1Phase des Zellzyklus befinden. Durch eine Zytokinstimulation mit Stammzellfaktor kann auch die Fähigkeit dieser Stammzellen zur Ansiedlung im Knochenmark erhöht werden. Die Entdeckung der Begünstigung des Gentransfers durch eine Kolokalisation von Vektor und Zielzelle mittels extrazellulären Matrixmolekülen durch Moritz (1996) und ihre Optimierung durch Hanenberg (1997) hat zu einem Durchbruch der klinischen Gentherapie geführt. Fibronektin ist ein solches extrazelluläres Matrixmolekül. Fibronektinfragmente verknüpfen den Vektor und die Zielzelle und erhöhen damit die Transduktionseffizienz. Das Fibronektinfragment CH296 ist für therapeutische Zwecke kommerziell erhältlich. Diese Verbesserung der Methodik haben zu einer Transduktionseffizienz von 5–10% der Knochenmarkprogenitoren geführt. Es konnten ebenfalls Markierungen von Stammzellen, die das Knochenmark für die Dauer von mindestens einem Jahr besiedeln, in einer Frequenz von 5–10% nachgewiesen werden. Auch die erste erfolgreiche klinische Gentherapie bei γcSCID nutzte diesen Experimentalzugang (Fischer u. Malissen 1998).
Zu einer weiteren Verbreitung des retroviralen Gentransfers insbesondere bei Erkrankungen, bei denen der genetische Defekt nicht mit einem Selektionsnachteil einhergeht (z. B. Thalassämien, Hämoglobinopathien) sind jedoch weitere Verbesserungen der Transduktionseffizienz hämatopoetischer Stammzellen erforderlich. Häufig werden dabei alternative Hüllproteine für Onkoretroviren (Pseudotypisierung) verwendet, teilweise auch mit dem Ziel, den Tropismus zu steuern (Kurre et al. 2003). Hierbei wird ein Hüllprotein in den Vektor eingebaut, dessen Rezeptor auf humanen hämatopoetischen Stammzellen in höherer Dichte exprimiert ist als der Rezeptor für amphotrope Retroviren für die vom Moloney-Leukemia-Virus (MLV) abgeleiteten klassischen Onkoretroviren. Besonderes Interesse haben die Hüllproteine von Primaten-Retroviren gefunden, namentlich des Gibbon-ApeLeukemia-Virus (GALV). Der GALV-1-Rezeptor (GALVR) ist mit dem amphotropen MLV-Rezeptor Ram-1 verwandt. GALVR ist allerdings auf hämatopoetischen Stammzellen höher exprimiert als Ram-1. GALV-pseudotypisierte Vektorpartikel in einer optimierten Kultur mit RetroNectinTM resultieren in höheren Transfektionseffizienzen in hämatopoetischen Stammzellen. Gern wird auch das Hüllprotein G des Vesicular-Stomatitis-Virus verwendet. Dies erhöht angeblich auch die Stabilität der retroviralen Partikel. Andere Vektoren (⊡ Tabelle 55.5), die großes Interesse für den Gentransfer in hämatopoetischen Stammzellen erzeugt haben, sind die Adeno-assoziierten Viren (Girod et al. 1999), die Lentiviren (HIV; Horn et al. 2002) sowie Foamy-Viren (Leurs et al. 2003). 55.2.4 Alternative retrovirale Vektorsysteme Lentiviren Lentiviren haben einen ähnlichen Lebenszyklus wie die murinen MLV-abgeleiteten Onkoretroviren. Sie haben 2 wesentliche Vorteile gegenüber Onkoretroviren für die Infektion von ruhenden Stammzellen:
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▬ Ihr Präintegrationskomplex ist mit einer Dauer von Tagen stabiler als der nur für Stunden stabile Präintegrationskomplex von Onkoretroviren. Somit ist die Wahrscheinlichkeit der Persistenz in ruhenden Zellen und die konsekutive Integration in das Genom größer. ▬ Der lentivirale Präintegrationskomplex enthält nukleäre Transportsignale, die eine Translokalisation durch die Kernmembran erleichtern. Allerdings zeigen neuere Ergebnisse, dass eine Zellzyklusprogression die Transduktionseffizienz auch für die lentivirale Integration deutlich erhöht. Die Transduktionseffizienz wird um ein Vielfaches größer, wenn die Zielzelle aus der G0in die G1-Phase übergeht. Unter den Lentiviren ist das HIV der bisher am besten beforschte und therapeutisch am intensivsten untersuchte Vektor. Allerdings erhöht die multiple Integration des Vektors in hämatopoetische Stammzellen auch das Risiko der Insertionsmutagenese (Woods et al. 2003). Offensichtlich ist bei diesem Verfahren die obligatorische Vermeidung einer Rekombination zwischen dem replikationsdefizienten Lentivirus-Vektor und den »Helfergenen« (den zur Verpackung bzw. Produktion notwendigen Genen) in der Produzentenzelle ein Sicherheitsanliegen von höchster Bedeutung wegen der Gefahr der Rekonstitution replikationskompetenter Lentiviren bzw. Vektoren. Darüber hinaus ist es nicht völlig klar, von welchen HIV-Genprodukten das pathogene Potenzial ausgeht. Angesichts der potenziellen Risiken von HIV-Vektoren sind auch nicht humanpathogene Lentiviren anderer Spezies Gegenstand der Vektorentwicklung. Hierzu zählen feline Lentiviren (Price et al. 2002) und das kaprine Arthritisvirus (CAV; Morin et al. 2003). Foamy-Viren Foamy-Viren scheinen ebenfalls bei einem breiten Wirtsspektrum nicht humanpathogen zu sein. Ihr »long terminal repeat« (LTR) ist abhängig von einem viral kodierten Transaktivator (Bel-1), der an anderer Stelle im Genom (»in trans«) während der Virusproduktion bereitgestellt werden kann, so dass der LTR in den Zielzellen, die erfolgreich transfiziert worden sind, abgeschaltet ist. Durch technische »Kunstgriffe« wird der retrovirale LTR während der Replikation oft gezielt durch andere Promotoren ausgetauscht. Der 3′-terminale LTR wird nämlich während der Replikation an das 5′-Ende kopiert. Wenn also bei den retroviralen Konstrukten am 3′-Ende ein anderer Promoter verwendet wird (bzw. ein chimärer LTR) so erscheint dieser Promoter nach der Replikation am 5′-Ende und treibt dann die Transgenexpression.Auch die Integration von Foamy-Viren scheint weniger von der Zellteilung abhängig zu sein als die von Onkoretroviren. ! Foamy-Viren können menschliche hämatopoetische Stammzellen effektiv transduzieren (Leurs et al. 2003)
Unabhängig von der Erzielung von Fortschritten im Transfer in Zielzellen und in der Expression des Transgens ist jedoch das Problem einer eventuellen Immunreaktion gegenüber dem Transgen zu lösen. Dieses Problem besteht grundsätzlich bei genetischen Defekten, bei denen die Deletion oder
Mutation immunogene Epitope des Genproduktes betreffen. Diese Problematik ist aus der Faktor-VIII-Substitution bei Hämophilie A sehr vertraut; sie ist nicht auf die Proteinsubstitutionstherapie beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den korrektiven Gentransfer. Eine mögliche Lösung des Problems besteht z. B. in der lymphomyeloablativen Konditionierung und konsekutiver Induktion von Toleranz vor einer autologen Transplantation genetisch korrigierter Stammzellen. 55.3
Risiken
! Retroviren sind die in den meisten Protokollen eingesetzten Vektoren ( Abb. 55.1). Sie haben v. a. den Vorteil, dass ihre Biologie und die Sicherheitsrisiken sehr gut bekannt sind. Retroviren können jedoch sowohl bei Mäusen als auch bei Primaten pathogen sein.
Die murinen Leukämieviren, die als Vektoren benutzt werden, enthalten keine Onkogene, selbst dann nicht, wenn sie replikationskompetent sind. Allerdings verursachen sie Lymphome bei permissiven Mausstämmen durch die multiple Insertion von Provirus in das Genom von Vorläuferzellen im Thymus. Diese Insertionen führen schließlich zur Aktivierung von Proto-Onkogenen wie z. B. myc und pim (Tsichlis 1987; Kung et al. 1991). Es wurde bei den bisherigen Sicherheitsberechnungen stets angenommen, dass ein onkogenes Ereignis unwahrscheinlich ist, da der virale Vektor nur ein- oder zweimal im Genom der Zielzelle integriert. Diese Wahrscheinlichkeitsberechnungen ergeben sich aus dem Verhältnis von ProtoOnkogenen zu der Gesamtzahl der Gene im Genom der Zielzelle. Die vektorspezifischen Sicherheitsüberlegungen bezogen sich bisher darüber hinaus im Wesentlichen auf die Vermeidung der Entstehung eines replikationskompetenten Virus durch Rekombination zwischen Vektor und Genen in der Produzentenzelllinie. Allerdings zeigen die ganz aktuellen Erfahrungen mit einer möglicherweise bevorzugten Integration von γc-Rezeptorgen tragenden Retroviren in den LMOLocus, dass es unerwartete präferenzielle Insertionen von retroviralen Vektoren mit therapeutischen Transgenen, in diesem Fall insbesondere von Wachstumsfaktorrezeptoren in zelluläre Proto-Onkogene geben kann (Baum et al. 2003). Eine erhöhte Häufigkeit der Integration in LMO ist allerdings nicht definitiv bewiesen. Jedenfalls ist die Kombination einer auch zufälligen Integration in ein Proto-Onkogen in Verbindung mit dem Wachstumsfaktorrezeptor fatal. Würde das Transgen keinen Selektionsvorteil bewirken, hätte die Aktivierung des Proto-Onkogens möglicherweise keinen Effekt. Diese Insertion eines Retrovirus-Vektors mit einem Wachstumsfaktorrezeptor-Gen in ein zelluläres ProtoOnkogen kann augenscheinlich zu einer lymphoproliferativen Erkrankung führen, wobei genetische Translokationsereignisse imitiert werden, die ebenfalls zu einer Aktivierung eines Onkogens führen können. Ursächlich für die Aktivierung des Onkogens ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der LTR (bzw. der verwendete Promoter) und nicht primär das Wachstumsfaktorrezeptor-Gen selbst ( Abschn. 55.5.1).
55
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Andere Sicherheitsbedenken der Gentherapie sind unabhängig von der Verwendung von Vektoren und beziehen sich auf die Kultur lebender Zellen in fetalem Kälberserum und in Medien, die Proteinzusätze von anderen Spezies enthalten. Die Sorge ist hier, dass unter Überwindung der xenogenen Barriere Krankheitserreger übertragen werden könnten, wie z. B. pathogene Prionen. Diese Risiken sind allgemeine Risiken der Zelltherapie, die jedoch besonders im Zusammenhang mit der Gentherapie artikuliert werden. Die ethische Problematik der Gentherapie wird oft im Zusammenhang mit dem ethischen Konfliktpotenzialen anderer Aspekte der molekularen Medizin erörtert. Die gesamte Thematik, insbesondere auch die Möglichkeit des Missbrauchs von Technologien, die zur Therapie entwickelt werden, für Zwecke des »gene enhancement«, kann in diesem Rahmen nicht adäquat gewüdigt werden. Hierzu sei auf einschlägige Publikationen verwiesen (z. B. Bayertz 2000; Burdach 2001). 55.4
Die in den letzten beiden Jahrzehnten etablierte leistungsfähige Technik der gezielten Deletion von Genen in der Keimbahn hat viele Mausmodelle für menschliche Erkrankungen geschaffen, so für Immundefekte, Hämoglobinopathien und lysosomale Speicherkrankheiten. Diese genetisch manipulierten Mäuse stellen wertvolle Modelle für die Erprobung von Gentherapiestrategien dar. So konnte bei den jak-3-/-SCID-Mäusen sowohl eine Korrektur der Immundefizienz als auch eine Selektion durch Expression des therapeutischen Transgens gezeigt werden (Bunting et al. 1998, 1999, 2000). Roesler (Roesler et al. 2002) und Dinauer (Dinauer et al. 2001) zeigten in einem murinen Modell der septischen Granulomatose ebenfalls eine Protektion gegenüber anderweitig letalen Pathogenen. Schließlich konnten Pawliuk und Mitarbeiter auch eine Genkorrektur in einem murinen Modell der erythropoetischen Protoporphyrie mit Normalisierung der Resistenz gegenüber UV-induzierter Photosensitivität demonstrieren (Pawliuk et al. 1999).
Präklinische Modelle 55.5
! Eine wesentliche Voraussetzung der Entwicklung der klinischen Gentherapie besteht in der Entwicklung adäquater präklinischer Modelle. Das ansonsten in der Biomedizin sehr verbreitete und bewährte Mausmodell hat in der Gentherapie nur einen geringen prädiktiven Wert.
Eine wesentliche Einschränkung des Mausmodells besteht darin, dass Retroviren in murine hämatopoetische Stammzellen deutlich besser integrieren als in humane hämatopoetische Stammzellen. Somit ist die präklinische Entwicklung der Gentherapie auf Primatenmodelle angewiesen, was erhebliche Kosten und auch Tierschutzbedenken hervorruft. Eine Alternative besteht in der Entwicklung des nod/ SCID-Modells, das die Möglichkeit bietet, menschliche hämatopoetische Stammzellen in diese immundefizienten Mäusestämme zu transplantieren. Diese Strategie wird allerdings durch das etwas karge »engraftment« normaler hämatopoetischer Zellen beeinträchtigt. Die Koexpression von menschlichen Stromazellen in diesen Zytokine exprimierenden Mäusen, hat dieses Problem nur z. T. gelöst. Erforderlich sind die verbesserte zellbiologische Charakterisierung der hämatopoetischen Stammzelle des Menschen und die Identifikation der molekularen Gesetzmäßigkeiten, die der Replikation und Differenzierung in humanen hämatopoetischen Stammzellen zugrunde liegen. Spontan auftretende β-Glukuronidase-Defizienzen bei Mäusen und bei Hunden führen zu den Symptomen einer Mukopolysaccharidose VII. Diese Modelle haben in der präklinischen Gentherapie Verbreitung gefunden. Mehrere Laboratorien haben gezeigt, dass der Transfer des normalen β-Glukuronidase-Gens in Knochenmarkzellen und eine anschließende Knochenmarktransplantation viele der peripheren Manifestationen der Erkrankungen korrigieren kann, obwohl die Korrektur der ZNS-Manifestation variabel ist und die Verwendung der Ganzkörperbestrahlung bei jungen Mäusen erwartungsgemäß zu neurologischen Störungen führt. Ferner existieren Hundemodelle lysosomaler Speicherkrankheiten wie auch des X-chromosomalen SCID.
Spezielle Indikationen und Verfahren der Gentherapie
Der erste erfolgreiche therapeutische Gentransfer gelang im Grunde genommen bereits 1977 mit der Behandlung eines Patienten mit Fanconi-Anämie durch eine allogene Knochenmarktransplantation (Barrett et al. 1977) mit einer Korrektur des Gendefektes ausschließlich in lymphohämatopoetischen Zellen. Das Beispiel illustriert die Schnittmengen der Gentherapie mit der Stammzell- und der Immuntherapie. In der Tat stellt die Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen, wie bereits dargestellt, eine frühe und effektive Form der Gentherapie dar. Genetisch bedingte hämatologische Erkrankungen (z. B. die Thalassämie) sowie Erkrankungen, die zur Entwicklung von Tumoren disponieren (z. B. die Fanconi-Anämie), können durch die Transplantation von Stammzellen, die das Wildtypgen tragen, korrigiert werden. Zellbasierte Trägersysteme zum Transport von therapeutischen Genen zum Zielorgan stellen eine wesentliche Perspektive der systemischen Gentherapie dar (Harrington et al. 2002). Darüber hinaus wird die Gentherapie zur Immuntherapie von malignen oder Autoimmunerkrankungen erforscht. Immuntherapie und die Stammzelltherapie werden hier nur insofern behandelt, wie gentechnisch veränderte Zellulartherapeutika eingesetzt werden. Ferner beschränkt sich dieses Kapitel auf die Darstellung des gegenwärtigen Status der klinischen Gentherapie. 55.5.1 Korrektur angeborener Erkrankungen γc-X-SCID ist ein X-chromosomal gebundener monogener Immundefekt, der auf einer Deletion im Gen der gemeinsamen γ-Kette von 5 Zytokinrezeptoren beruht (IL2, IL4, IL7, IL13, IL15). 11 Patienten mit γc-X-SCID wurden durch retroviralen Gentransfer von Wildtyp γc erfolgreich behandelt (Hacein-Bey-Abina et al. 2002). 2 der Kinder entwickelten jedoch ein Leukämie-ähnliches Krankheitsbild mit einer Proliferation von T-Zellen. Ursache der lymphoproliferativen
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Erkrankung war die Integration des therapeutischen Retrovirus in das LMO2-Gen, das an der Pathogenese der t(14;18) αβ-T-ALL beteiligt ist, und ein unkontrolliertes Wachstum transgener T-Zellen verursacht. Das klinische Bild der Retrovirus-induzierten Leukämieähnlichen lymphoproliferativen Erkrankungen unterscheidet sich jedoch von der spontan vorkommenden t(14;18) αβ-T-ALL. In einem der beiden Fälle waren γδ-CD4, CD8 doppelt positive T-Lymphozyten betroffen (Hacein-BeyAbina et al. 2003). Die Deregulation und Überexpression des Wachstumsfaktorrezeptors γc sowie das junge Alter der Kinder und der vorbestehende Immundefekt können als Kofaktoren in der Pathogenese der Erkrankung gesehen werden. Die hohe Frequenz der Integration des Retrovirus in ein wachstumsrelevantes Gen übersteigt deutlich zuvor angestellte Berechnungen. Die Wahrscheinlichkeit der Transformation einer Einzelzelle durch einen retroviralen Vektor wurde zuvor auf weniger als 1 in 1012 geschätzt. Diese Schätzung beruhte auf dem Postulat, dass 2 oder mehr Mutationen für eine Transformation erforderlich sind. Allerdings weisen neuere experimentelle Ergebnisse auf ein höheres Risiko der Insertionsmutagenese durch Retroviren hin (Li et al. 2002). Relativ weit fortgeschritten ist die korrektive Gentherapie monogener Erkrankungen bei der Hämophilie. Bereits 1993 wurde aus China von der ersten klinischen Gentherapiestudie bei 2 Hämophilie-B-Patienten mit einem klinisch wirksamen Anstieg des Faktor IX berichtet (Lu et al. 1993). 2000 veröffentlichte die Arbeitsgruppe um Kay an der Kinderklinik der Stanford-Universität die ersten Ergebnisse bei 3 Patienten mit Hämophilie B, die mit intramuskulärer Injektion von AAV-Vektoren behandelt wurden. Interessanterweise reichte bereits eine geringe Vektordosis für die Genexpression aus. Neutralisierende Antikörper wurden nicht beobachtet (Kay et al. 2000). 2001 wurde die erste Studie bei Hämophilie A publiziert. Hier wurde eine nicht-virale Plasmidtransfektion mit Selektion und Klonierung der Faktor-VIII-transgenen Zellen eingesetzt. Die transgenen Zellen wurden laparoskopisch ins Omentum majus platziert. Nach 12 Monaten zeigten 4 von 6 Patienten einen Anstieg des Faktor-VIII-Spiegels und eine klinische Wirkung. Inhibitoren des Faktor VIII wurden nicht beobachtet. 55.5.2 Gentherapie onkologischer Erkrankungen In der onkologischen Gentherapie kommen hauptsächlich 4 Konzepte zum Einsatz: ▬ Immunogentherapie, ▬ Transfer von Sensitivitätsgenen in Tumorzellen und von Resistenzgenen in normale Zellen (Suizidgentherapie), ▬ Genrepression, ▬ konditionale selektive onkolytische Viren. Immunogentherapie Immunaugmentation. Bei der Gentherapie durch Immun-
augmentation wurden v. a. Zytokine, Chemokine und/oder andere immunaugmentative, z. B. akzessorische Moleküle transgen in Tumorzellen exprimiert. Die Rationale des Konzepts besteht darin, die Tumorzellen für das Immunsystem besser sichtbar zu machen. Während diese therapeutischen
Ansätze insbesondere im Mausmodell beeindruckten (u. a. Dilloo et al. 1996), hat ihr klinischer Einsatz bei Patienten mit großer Tumorlast und immunsuppressiver Vorbehandlung erwartungsgemäß nur begrenzte Wirkungen gezeigt. Therapeutische Effekte bei pädiatrischen Neoplasien (Bowman et al. 1998a, b; Engel et al. 1998; Rousseau et al. 2003) sind in Einzelfällen beobachtet worden. Dies gilt auch für bekannt immunogene Tumoren des Erwachsenenalters wie das maligne Melanom (Chang et al. 2000), das Hypernephrom (Galanis et al. 1999) oder auch für Lymphome (Schmidt-Wolf et al. 1999). Bei der Maus kann ein besserer Vakzinierungseffekt erzielt werden, wenn die immunaugmentativen Zytokine in professionellen antigenpräsentierenden Zellen, insbesondere in dendritischen Zellen exprimiert werden (Klein et al. 2000). Allerdings können endogene Wildtyp-Tumorzellen spezifischen T-Lymphozyten entkommen (»immune escape«), unabhängig davon, ob diese T-Lymphozyten mit transgenen Tumorzellen oder transgenen professionellen antigenpräsentierenden Zellen stimuliert wurden. Ein wichtiger Grund für dieses »Immune escape«-Phänomen liegt darin, dass onkogene Ereignisse in der Tumorzelle ihren immunogenen Phänotyp und die Erkennbarkeit revidieren (Staege et al. 2002). Sind tumorspezifische oder tumorassoziierte antigene Epitope bekannt, können die T-Zellrezeptoren kloniert und transgene T-Zellen hergestellt werden (Uckert et al. 2000). Auch chimäre Ig/T-Zellrezeptoren können in T-Zellen transgen exprimiert werden (Rossig et al. 2002). Transgene T-Zellen können als autologe Zellen, die tumorspezifische Epitope erkennen, oder als allogene T-Zellen, die tumor- oder gewebespezifische Epitope in einem allogenen HLA-Kontext erkennen, zum Einsatz kommen (Morris et al. 2003, Staege u. Burdach 2003). Transgene T-Zellen sind ein gutes Beispiel für den Einsatz von funktionell differenzierten Zellen als Vehikel der systemischen Tumorgentherapie. DNA-Vakzination. Bei der klassischen Impfung werden Peptide oder Proteine zur Immunisierung verwendet. Die Entdeckung der immunogenen Eigenschaften evolutionär konservierter Gefahrensignale in der DNA eröffnete die Möglichkeit der DNA-Vakzination als neuer Impfmethodologie. Bei den evolutionär konservierten Gefahrensignalen handelt es sich um CpG-Nukleotidsequenzen, die im prokaryotischen Genom wesentlich häufiger als im eukaryotischen Genom vorliegen. Diese CpG-Motive liegen in der ProkaryontenDNA im Gegensatz zu Säugergenomen unmethyliert vor und werden deshalb von Immunzellen als Gefahrensignal erkannt (Wagner 2002; Krieg 2002). Derartige Vakzine mit karzinoembryonalen Antigenen wurden z. B. bei kolorekalen Tumoren eingesetzt. Allerdings wurden bei etablierten Tumorerkrankungen bisher keine klinischen Remissionen dokumentiert (Conry et al. 2002). Hingegen führte die DNA-Vakzination mit Plasmid, das cDNA vom Idiotyp enthält, beim B-Zell-Lymphom zu objektivierbaren therapeutischen Wirkungen bei 75% der Patienten (Timmerman et al. 2002). Eine wichtige Anwendung der DNAVakzination liegt im Bereich der Virus-induzierten Tumoren. Hier konnte gezeigt werden, dass die DNA-Vakzination gegen humanes Papilloma-Virus Typ 16 junge Frauen wirksam gegen Zervixneoplasien schützen kann (Koutsky et al. 2002).
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Sensitivitätstransfer (Suizidgentherapie) Durch Herpes-, Adeno- oder Retroviren können Enzyme transgen exprimiert werden, die in Tumorzellen Antimetabolite oder alkylierende Zytostatika aktivieren oder in normalen Zellen Antimetabolite aktivieren oder inaktivieren. Hierdurch werden Tumorzellen sensitiv für Zytostatika (Kramm et al. 2002) und normale Zellen werden entweder geschützt oder wie im Fall transplantierter allogener T-Zellen sensitiv für die bei GVHD im Bedarfsfall eingesetzten Antimetaboliten-Aktivatoren (Sorrentino 2002). Dieses Konzept nutzt man z. B. bei der transgenen Expression von HerpesvirusThymidinkinase (HSV-tk: Aktivierung von Gancyclovir) oder Cytosindeaminase (CD: Desaminierung von 5-Fluorcytosin zu 5-Fluoruracil). Hierdurch kann eine selektive Metabolisierung von inerten Molekülen zu aktiven Antimetaboliten in Tumorzellen oder allogenen T-Zellen erzielt werden. Das therapeutische Problem besteht darin, dass sehr viele, wenn nicht alle Tumorzellen durch den Vektor des Transgens erreicht werden müssen. Abhilfe schafft hier ein Bystander-Effekt. Dieser Begriff beschreibt eine Aktivierung des Immunsystems infolge der Apoptoseinduktion durch Aktivierung der Antimetaboliten in den transgenen Tumorzellen. Dieser Effekt wurde auch in klinischen Studien bei Kindern mit Hirntumoren beobachtet (Packer et al. 2000; Kramm et al. 2002). Der Transfer von Sensitivitätsgenen in Tumorzellen kann auch in Kombination mit einer immunogentherapeutischen Strategie erfolgen (Staege et al. 2003). Klinische Studien mit Retroviren zeigten, dass der Sensitivitätstransfer sicher ist, allerdings sind klinisch-therapeutische Effekte oder Remissionen bisher nicht überzeugend dokumentiert (Ram et al. 1997). Darüber hinaus können sensitivitätsvermittelnde Enzyme auch retroviral transgen in allogenen T-Zellen nach hämatopoetischer Transplantation exprimiert werden, um eine Spender-gegen-EmpfängerReaktion und eine Spender-gegen-Leukämie-Reaktion zu regulieren. Dieser Ansatz hat erfolgreich Eingang in die Klinik gefunden (Maury et al. 2002). Hierbei besteht das Risiko einer retroviralen Insertionsmutagenese prinzipiell in gleicher Weise wie beim korrektiven Gentransfer im Falle von γc-XSCID; allerdings wird das Risiko als geringer erachtet, da das Verfahren aufgrund des höheren GVHD-Risikos v. a. bei Erwachsenen zum Einsatz kommt und das Transgen keinen Wachstumsvorteil vermittelt. Genrepression Onkogene können durch verschiedene Genrepressionsansätze ausgeschaltet werden. Antisense-Oligonukleotide. Klinische Studien mit TNFα-
Antisense-Oligonukleotiden bei Freiwilligen haben »proof of principle« für die klinische Wirksamkeit der AntisenseStrategien geliefert. Während bei Morbus Crohn und CMVInfektionen (TVS Group 2002) überzeugende klinische Effekte beschrieben wurden, konnten bei onkologischen Studien mit pkc- und bcl2-Antisense-Oligonukleotiden keine Remissionen erzielt werden. Ribozyme. In geringerem Maße sind beim Menschen Ribo-
zyme eingesetzt worden. Ribozyme sind katalytische RNA-
Moleküle. Sie werden bei Tumor- und Infektionserkrankungen (Wong-Staal et al. 1998) sowie bei genetischen Erkrankungen verwendet, die durch Überexpression spezifischer Gene bedingt sind (z. B. der autosomal-dominanten Retinitis pigmentosa; Fueyo et al. 1998). Insbesondere kommen Ribozyme bei HIV-Infektionen und im Indikationsbereich der Antiangiogenese zum Einsatz. Die künftige Forschung muss folgende Probleme der Antisense- und Ribozym-Therapie lösen: ▬ Zelluläre Proteine können die Bindung von Ribozymen oder Antisense-Oligonukleotiden an die Ziel-RNA hemmen oder sie können die aktive Konfirmation des Ribozyms stören. ▬ Die intrazelluläre Konzentration von Metallionen kann nicht ausreichend sein für eine optimale Ribozymspaltung. ▬ Ribozyme können leicht durch RNAsen attackiert werden. ▬ Wie für alle gentherapeutischen Ansätze ist das zelluläre Zustellungsproblem zu lösen. Darüber hinaus müssen Ribozyme innerhalb der Zelle in das zelluläre Zielkompartiment gelangen. In jüngster Zeit ist eine neue und hocheffiziente Strategie zur Inaktivierung von Ziel-RNA beschrieben worden (Elbashir et al. 2001; Tuschl 2002). Diese Strategie beruht auf dem Phänomen der RNA-Interferenz und benutzt doppelsträngige RNA-Moleküle für die Aktivierung von Enzymen, die schließlich zur Degradation der komplementären Ziel-RNA führen. Diese RNA-Moleküle werden als »small-interfering RNA« (siRNA) bezeichnet (Couzin 2002). Konditionale selektive onkolytische Viren Viren können nicht nur als Vehikel des Gentransfers in der Tumortherapie zum Einsatz kommen, sondern es kann auch ihre onkolytische Wirkung direkt genutzt werden. Die Vorstellung, replizierende Viren als Wirkstoffe gegen Tumoren zu nutzen, ist nicht neu. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden bereits Remissionen von spontan auftretenden Tumoren nach Tollwutimpfung oder nach viralen Erkrankungen beobachtet. Allerdings eröffnet die genetische Modifikation von Viren die Möglichkeit zur Entwicklung potenter und tumorspezifischer Vektoren. Indem wir mehr über die Funktion von viralen Genprodukten in der Kontrolle des Säugerzellzyklus und in der Inaktivierung zellulärer Abwehrmechanismen lernen, können wir spezifische virale Funktionen verstärken oder eliminieren, um die virale antineoplastische Effizienz zu erhöhen. Bei der viralen onkolytischen Therapie ist die paradoxe Rolle des Immunsystems zu berücksichtigen: Einerseits behindert das Immunsystem die Verbreitung der viralen Infektionen und andererseits verstärkt es die Tumorzellzerstörung durch Rekrutierung von T-Zellen, die gegen die Tumorantigene gerichtet sind (Mullen u. Tabane 2002; Kruyt u. Curiel 2002; Bonnet et al. 2000). ! Das Konzept, Viren zur Zerstörung von Tumorzellen einzusetzen, beruht im Prinzip darauf, dass Tumorzellen aufgrund des erhöhten Nukleinsäure- und Proteinumsatzes gute Bedingungen für die Replikation von Viren bieten.
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Nicht nur das Herpes-Simplex-Virus (HSV), sondern auch das Adenovirus können sich sowohl in proliferierenden als auch in ruhenden Zellen replizieren. Man kann diese Viren dahingehend modifizieren, dass sie sich selektiv nur in Tumorzellen vermehren können, z. B. indem man dem HSV das Gen für Thymidinkinase deletiert. Nach der Deletion kann das Virus in ruhenden Zellen nicht mehr gut replizieren, da dort nicht genügend Nukleotidbausteine zur Verfügung stehen. Das Adenovirus muss, um sich in ruhenden Zellen zu replizieren, die Wächter des Zellzyklus, p53 und Rb, binden und inaktivieren. Viele Tumoren exprimieren kein Wildtyp-p53 oder -Rb. Adenoviren können gentechnisch dahingehend manipuliert werden, dass ihre E1B- und E1A-Proteine nicht mehr an ihre Partner p53 und Rb binden und diese inaktivieren können. Somit replizieren diese Virusvarianten sich selektiv in p53- und Rb-mutierten Tumorzellen. Solche konditional selektiv replizierende Viren befinden sich zur Zeit bei Glioblastomen und refraktären Plattenepithelkarzinomen aus dem Kopf-HalsBereich (Nemunaitis et al. 2001) in der klinischen Prüfung. 55.6
Perspektiven der Gentherapie
Die klinische Gentherapie hat mit der kurativen Korrektur des angeborenen Immundefektes γc-X-SCID einen bahnbrechenden Erfolg erzielt. Allerdings stellte sich bald heraus, dass dieser Erfolg einen hohen Preis hatte: Bis Ende 2003 entwickelten 2 Patienten ein lymphoproliferatives Krankheitsbild; bei einem dritten Patienten ist die pathognomonische Insertion des Retrovirus in das LMO-Proto-Onkogen aufgetreten. Solche Rückschläge werden die weitere Entwicklung möglicherweise verzögern, aber sicherlich nicht aufhalten. Die Gentherapie hat in den letzten 10 Jahren wesentliche Fortschritte in der präklinischen Entwicklung gemacht und 4 klinische Anwendungsgebiete für die nahe Zukunft eröffnet: ▬ die Anwendung von DNA-Vakzinen bei Krebs- oder Infektionserkrankungen, ▬ die Anwendung von konditional replikativen onkolytischen Viren, die ein oder mehrere supplementierende Gene tragen, in der Tumortherapie, ▬ die Neoangiogenese-induzierende Gentherapie für kardiovaskuläre und periphere Verschlusskrankheiten, höchstwahrscheinlich mit VEGF oder FGF-1, sowie ▬ die Gentherapie bei einer genetischen Erkrankung, höchstwahrscheinlich bei der Hämophilie.
Mit dem Abschluss der Sequenzierung des menschlichen Genoms im Jahre 2003 eröffnet sich die Perspektive, immer mehr krankheitsverursachende Gene zu charakterisieren und zu klonieren. Ferner konnten aufgrund der technologischen Perfektionierung der funktionellen Genomik neue Zielstrukturen für die Gentherapie entwickeln werden. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die somatische Gentherapie eine realistische Therapiechance darstellt.
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Die Sequenzierung des menschlichen Genoms erschließt neue therapeutische Möglichkeiten für letale und kurativ nicht zu behandelnde Erkrankungen, wie angeborene Erkrankungen der Hämatopoese und des Immunsystems, Leukämien, solide Tumoren und Infektionserkrankungen wie AIDS. In der klinischen Anwendung haben sich die meisten Verfahren auf die Modifikation langlebender hämatopoetischer Stammzellen konzentriert, da deren genetische Korrektur die Voraussetzung für einen kurativen Ansatz bei genetischen Erkrankungen darstellt. Allerdings hat sich gezeigt, dass Stammzellen eine gentherapeutisch schwer erreichbare Zielpopulation darstellen, insbesondere mit der gegenwärtig verbreitetsten Technologie, die auf Onkoretroviren basiert. Allerdings trägt auch der retrovirale Gentransfer in Progenitorzellen durchaus zu einer Verbesserung verschiedener klinischer Krankheitszustände bei (Kurre et al. 1999). Fortschritte in der Vektorentwicklung, in der Expression des therapeutischen Transgens und in der Kontrolle der Immunreaktion gegen das Transgenprodukt sind anstehende Aufgaben, um die klinischen Möglichkeiten der Gentherapie weiterzuentwickeln.
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55
Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation U. Creutzig, M. Zimmermann
III 56.1 56.2 56.3
Einleitung – 634 Planung und Durchführung von klinischen Studien in der pädiatrischen Onkologie – 635 Grundlagen zum Studiendesign – 635
56.3.1 56.3.2 56.3.3 56.3.4 56.3.5 56.3.6 56.3.7 56.3.8 56.3.9
Hypothesentests, Fehler 1. und 2. Art – 635 Phase-II-Studien – 636 Parallelgruppenplan – 636 Cross-over-Design – 636 Faktorieller Plan – 637 Test auf Überlegenheit – 637 Test auf Nicht-Unterlegenheit/Äquivalenz – 637 Sequenzielle Pläne und Interimsanalysen – 637 Data Monitoring Committee – 638
56.4
Studienprotokoll – 638
56.4.1 56.4.2 56.4.3 56.4.4 56.4.5 56.4.6 56.4.7
Hintergrund und Fragestellung – 638 Studienziele – 638 Patientenauswahl und Kontrollgruppe – 638 Historische Kontrollen – 638 Single- und Multicenter-Studien – 639 Behandlungsplan – 639 Ermittlung der Wirksamkeit – Evaluationskriterien – 639 Statistik – 639
56.4.8
56.5
Studiendurchführung
56.5.1 56.5.2 56.5.3 56.5.4 56.5.5 56.5.6 56.5.7
Einwilligungserklärung – 640 Registrierung – 640 Randomisierung – 640 Datenerhebung – 641 Ermittlung der Sicherheit – 641 Qualitätssicherung – 641 Nachbeobachtung – 642
– 640
56.6
Auswertung – 642
56.6.1 56.6.2 56.6.3 56.6.4
Auswertungskollektive – 642 Auswertungsverfahren – 642 Bericht und Schlussfolgerungen – 643 Metaanalyse – 643
Literatur
– 643
Klinische Studien sind das wichtigste Instrument zur Entwicklung wissenschaftlich abgesicherter Behandlungen von Kindern mit malignen Erkrankungen. Die Planung und Durchführung von multizentrischen Therapieoptimierungsstudien ist nicht trivial und bedarf grundlegender Kenntnisse zur Auswahl des Studiendesigns, der Studienziele, der Patienten und der Evaluationskriterien. Die entscheidenden Schritte bei der Studiendurchführung und späteren Auswertung werden besonders für die Therapieoptimierungsstudien in der pädiatrischen Onkologie dargestellt.
56.1
Einleitung
Im Gegensatz zu klinischen Studien kann man mit retrospektiven Analysen und Anwendungsbeobachtungen prinzipiell den Effekt einer Behandlung nicht zuverlässig messen, weil diagnostische Maßnahmen, die Zuordnung der Behandlung und die Untersuchungen im Verlauf und nach Abschluss der Therapie Gegenstand individueller Entscheidungen von Ärzten und Patienten sind und sie weder standardisiert noch unabhängig vom Untersuchungsgegenstand erfolgen. So kann man z. B. allein anhand von Überlebensdaten aus einem Register für stammzelltransplantierte Patienten den therapeutischen Wert dieser Behandlungsform nicht beurteilen, da die Patienten nicht nachvollziehbar selektiert sind, die Behandlung nicht standardisiert ist und Vergleichsgruppen fehlen. Klinische Prüfungen werden üblicherweise verschiedenen Typen oder Phasen der Arzneimittelentwicklung zugeordnet: ▬ Phase-I-Studien sind erste Studien mit einer neuen, aktiven Substanz beim Menschen, oft erst bei gesunden Probanden. Ziel ist eine vorläufige Wertung der Unbedenklichkeit der Anwendung, um pharmakokinetische/ pharmakodynamische Profile der aktiven Substanz beim Menschen zu erhalten. In der Onkologie werden bei Phase-I-Studien keine gesunden Probanden ausgewählt, sondern im allgemeinen erwachsene Krebspatienten, bei denen eine Standardtherapie nicht mehr wirksam ist. ▬ Phase-II-Studien sind therapeutische Pilotuntersuchungen mit dem Ziel, die Aktivität einer neuen Substanz mit einer ausgewählten, etwas größeren Zahl von Probanden bzw. Patienten nachzuweisen. Hierbei wird die verträgliche Dosis auf Wirksamkeit in einem bestimmten Indikationsgebiet geprüft. Zur Phase II gehören auch Dosisfindungsstudien, die dazu dienen, die optimale Dosis für die Planung von größeren therapeutischen Studien zu ermitteln ( Abschn. 56.3). ▬ In Phase-III-Studien wird an größeren Patientengruppen eine therapeutische Maßnahme eingesetzt. Ziel dieser Studien ist es, den Wert der Maßnahme im Vergleich zu therapeutischen Alternativen (Standard) zu bestimmen. Dazu gehört die Feststellung der Inzidenz unerwünschter Wirkungen. ▬ In Phase-IV-Studien werden zugelassene Arzneimittel eingesetzt, um den therapeutischen Wert oder den Wert von Strategien zu bewerten. Ziele sind eine genauere Abschätzung der Wirksamkeit, das Erkennen seltener Nebenwirkungen und Kosten-Nutzen-Analysen. Klinische Studien, in denen z. B. neue Indikationen, neue Darreichungswege oder neue Kombinationen geprüft werden, sind als Arzneimittelstudien zu betrachten (Committee for Proprietary Medicinal Products 2002).
635 56 · Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation
Die Behandlungen von Kindern mit malignen Erkrankungen im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien ist heute »standard of care in pediatric oncology« (U.S. Department of Health and Human Services, FDA, CDER, and CBER 2001). Therapieoptimierungsstudien entsprechen i. d. R. am ehesten klinischen Prüfungen der Phase III, es können aber auch Kriterien für Phase II und IV zutreffen. Bei den Therapieoptimierungsstudien geht es aber im Gegensatz zu den industriegeförderten Studien nicht um die Entwicklung von Arzneimitteln mit dem Ziele der Vermarktung. Charakteristisch ist, dass nicht einzelne Medikamente, sondern Therapiekonzepte geprüft werden mit dem Ziel der Weiterentwicklung von interdisziplinären multimodalen Therapieansätzen. Es handelt sich hier um so genannte »investigator-initiated trials«, d. h. aus eigenem Interesse und ohne Profit durchgeführte Studien. Ein erheblicher Klärungsbedarf besteht im Hinblick auf die Stellung solcher Studien im Rahmen des Arzneimittelgesetzes. Dieses Gesetz legt strenge Maßstäbe an klinische Prüfungen der Pharmaindustrie an, um einen potenziellen Schaden, der durch Arzneimittel entstehen kann, möglichst zu vermeiden (James 1965). Inwieweit diese strengen Maßstäbe und die damit verbundenen hohen Kosten für die Studiendurchführung auch für Therapieoptimierungsstudien gelten müssen, ist nicht abschließend geklärt. Der populationsbasierte Ansatz der Therapieoptimierungsstudien (zumindest der GPOH-Studien, die zum Ziel haben, möglichst alle Patienten mit einer Diagnose im Rahmen einer Studie zu behandeln) und die knappen, aus Spenden finanzierten Mittel für diese Studien setzen dem tragbaren Aufwand enge Grenzen. ! In Deutschland werden mehr als 90% aller Kinder mit malignen Erkrankungen einheitlich im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien behandelt. Seit etwa 25 Jahren gibt es für fast alle Tumoren und Systemerkrankungen Studienprotokolle.
Die heute darin enthaltenen diagnostischen und therapeutischen Therapieempfehlungen basieren auf der langjährigen Erfahrung mit vorangegangenen Studien und den Erfahrungen aus Studien bei Erwachsenen bzw. Studien anderer pädiatrisch-onkologischer Studiengruppen. Das jeweils aktuelle Protokoll enthält neue Modifikationen mit dem Ziel, die Therapie zu optimieren, d. h. die Prognose zu verbessern und/oder die Toxizität bei gleichen Heilungschancen zu verringern. Dieses Vorgehen hat dazu geführt, dass die Diagnostik und Behandlung in der pädiatrischen Onkologie ständig evidenzbasiert verbessert wurde (Creutzig et al. 2003; Creutzig u. Winkler 1994). Gleichzeitig leisten diese Studien einen erheblichen Beitrag zur Qualitätssicherung (Qualität der Diagnose, Beratung der teilnehmenden Ärzte, Dokumentation der Prozess- und Ergebnisqualität). 56.2
Planung und Durchführung von klinischen Studien in der pädiatrischen Onkologie
Voraussetzung für die Durchführung einer klinischen Studie ist ein Studienprotokoll im Sinne einer schriftlichen Anleitung zur Durchführung einer Studie ( Abschn. 56.4). Verant-
wortlich für die Planung, Durchführung und Analyse einer Studie ist der Studienleiter. Zu den Verpflichtungen des Studienleiters gehört es sicherzustellen, dass die Teilnehmer einer Studie vor studienbedingten Risiken geschützt werden. Die Grundsätze dazu sind in der Deklaration von Helsinki (WMA General Assembly 2002) festgelegt. Ein zentrales Element ist hier der so genannte »informed consent«, womit das Einverständnis zur Behandlung in einer Studie nach adäquater Patientenaufklärung in verständlicher Form gemeint ist. Das mögliche Risiko einer Studie für den einzelnen Patienten muss minimiert werden und der Nutzen, zumindest für Patienten, die von dem Erkenntnisgewinn aus einer Studie profitieren, maximal sein. Der Erkenntnisgewinn für spätere Patienten darf nicht dazu führen, dass die in der Studie behandelten Patienten einem unvertretbaren Risiko ausgesetzt werden. Es ist nicht vertretbar, schlecht geplante Studien durchzuführen, die weder eine wissenschaftliche Fragestellung beantworten können noch einen Nutzen für die Teilnehmer leisten. Zu einer gut geplanten Studie gehört auch die Auswahl eines passenden Studiendesigns und die Beachtung von biometrischen Prinzipien (s. unten). Zu den allgemeinen Grundlagen von klinischen Studien sei auf die Literatur verwiesen (z. B. Schumacher u. Schulgen 2002). 56.3
Grundlagen zum Studiendesign
56.3.1 Hypothesentests, Fehler 1. und 2. Art Grundlage für die statistische Planung und Auswertung einer Studie ist die Testtheorie (Neyman u. Pearson 1928). Andere Grundrichtungen der Statistik, die Bayes-Verfahren, haben sich bisher nicht durchgesetzt (Tau u. Machin 2002). ! Für die Zielkriterien ( Abschn. 56.4.7) der Studie
wird eine Teststatistik konstruiert, z. B. die Differenz zwischen Response-Raten. Dann wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass die beobachtete Differenz rein zufällig auftritt, obwohl in Wahrheit kein Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen besteht.
Tatsächlich liefert dieses Ergebnis des statistischen Tests (der so genannte p-Wert) noch keine Entscheidung. Zur Entscheidung wird vor Erhebung der Daten die wissenschaftliche Frage in Form der so genannten Nullhypothese und der Alternativhypothese dargestellt. Die Nullhypothese wird als Negation des gewünschten Ergebnisses formuliert. Wenn man sich z. B. durch ein zu prüfendes Medikament eine höhere Response-Rate als mit dem Standardmedikament erhofft, aber nicht ausschließen kann, dass der Response auch schlechter sein kann, lautet die Nullhypothese: Die Response-Raten sind in Wahrheit gleich. Anhand des Testergebnisses und einer Entscheidungsregel wird die Entscheidung getroffen. Die Entscheidungsregel lautet hier: Wenn die Wahrscheinlichkeit für den gefundenen höheren Unterschied im Response bei Gültigkeit der Nullhypothese kleiner 5% ist, wird die Nullhypothese (kein Unterschied) verworfen und die Alternativhypothese (Unterschied vorhanden) angenommen. Das bedeutet aber gleich-
56
636
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
zeitig, dass in 5% der Fälle, in denen die Nullhypothese des Tests zutrifft, tatsächlich die Alternativhypothese (es gibt einen Unterschied) angenommen wird. Dies ist die Irrtumswahrscheinlichkeit des Tests, auch α-Fehler oder Typ-I-Fehler genannt. Der β- oder Typ-II-Fehler ist die Wahrscheinlichkeit, aufgrund des Testergebnisses auf einen nicht vorhandenen Unterschied zu schließen, also die Nullhypothese anzunehmen, wenn in Wahrheit ein Unterschied vorhanden ist. Die Annahme der Nullhypothese bedeutet keineswegs, dass die geprüften Behandlungen sich nicht unterscheiden, sondern nur, dass es nicht gelungen ist, einen Unterschied nachzuweisen. Tatsächlich kann in Wahrheit ein Unterschied vorliegen, er ist nur entweder in der Studie zufällig gering, insgesamt zu klein oder die Fallzahl war nicht hoch genug. Oft dürfte eine Kombination aus einem geringeren als dem erwarteten Unterschied und einer zu kleinen Fallzahl vorliegen. Oft wird ein nicht-signifikantes Testergebnis als Beweis für die Gleichwertigkeit zweier Behandlungen interpretiert. Für den formalen Beweis der Äquivalenz ist ein Äquivalenztest nötig ( Abschn. 56.3.7). Die übliche Signifikanzgrenze von 5% ist eine Konvention, keine sachliche Notwendigkeit. Man muss sich auch darüber klar sein, dass die Testtheorie zwar einfache Entscheidungsregeln liefert, die Optimierung von Tests erlaubt und gut in den formalen Rahmen von klinischen Arzneimittelprüfungen passt, aber möglicherweise dazu zwingt, komplexe Entscheidungen zu simplifizieren und damit u. U. Entwicklungen in die falsche Richtung lenkt. Ein Vorteil der Testtheorie besteht darin, dass es möglich ist, die erforderlichen Patientenzahlen für eine Studie zu berechnen. Diese ergeben sich z. B. für eine Therapieoptimierungsstudie, die auf der Verbesserung der Rate von langzeitüberlebenden Kindern mit Krebs abzielt, aus (1) der minimalen Differenz im Überleben, die zu entdecken wichtig erscheint, (2) der Höhe des akzeptablen Typ-I- und Typ-IIFehlers und (3) der erwarteten Prognose mit der Standardtherapie. Unter bestimmten Voraussetzungen und Annahmen kann man dann die Fallzahlen berechnen (Freedman 1982). Ob diese Annahmen realistisch sind und die Vorraussetzungen gegeben sind, hängt vom Einzelfall ab. Ein Test kann einseitig oder zweiseitig sein. Beim einseitigen Test wird nur auf Unter- oder Überlegenheit geprüft. Vorteil ist, dass die benötigten Fallzahlen etwas geringer sind; Nachteil ist, dass, wenn der Unterschied nicht in der gewünschten Richtung liegt, keine Aussage über ein Testergebnis möglich ist, weil man diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen hat. 56.3.2 Phase-II-Studien ! Der Sinn einer Phase-II-Studie ist zu prüfen, ob eine neue Therapieform so wirksam ist, dass es lohnt, sie in weiteren Studien genauer zu evaluieren.
Es ist üblich, hierfür Studien an einer begrenzten Zahl von Patienten durchzuführen und als Zielgröße für die Wirksamkeit den Tumorresponse zu wählen. Der Phase-II-Plan von Gehan sieht vor, nach Behandlung einer ersten Kohorte von Patienten zu entscheiden, ob die Weiterverfolgung des Ansatzes sinnvoll ist. Wenn kein Response unter N Patienten
(abhängig vom vorher festgelegten Fehler zweiter Art und der minimalen Wirksamkeit) beobachtet wird, wird abgebrochen. Wenn mindestens ein Response beobachtet wird, wird eine zweite Kohorte von Patienten behandelt. Die Größe dieser Kohorte richtet sich nach der Zahl der Responder in der ersten Gruppe und der gewünschten Präzision des Schätzwertes (Gehan 1961). Wenn die Genauigkeit des Schätzwertes nicht interessiert, sondern nur die grobe Unterscheidung von »interessanten« und »uninteressanten« Therapieformen, kommen andere Pläne zum Einsatz. Der einfachste sieht vor, eine Gruppe von Patienten zu behandeln und am Ende anhand des Konfidenzintervalls für die Response-Rate zu entscheiden, ob sie mit großer Wahrscheinlichkeit über dem festgelegten Minimum liegt. Dieser Ansatz wurde erweitert auf zwei- oder mehrstufige Pläne (Fleming 1982; Simon 1989). Wenn eine größere Anzahl neuer Therapien geprüft werden soll und genügend Patienten zur Verfügung stehen, sind randomisierte Phase-II-Prüfungen sinnvoll (Simon et al. 1985). Andere Autoren betonen die Vorteile von Bayes-Methoden im Hinblick auf die Verwendung von Vorinformationen, kontinuierliches Monitoring und die gleichzeitige Auswertung mehrerer Zielgrößen (Estey u. Thall 2003; Tan u. Machin 2002). 56.3.3 Parallelgruppenplan ! Der gebräuchlichste Plan für klinische Prüfungen der Phase III ist der Parallelgruppenplan. Dabei werden die Patienten einer von 2 Behandlungsgruppen, normalerweise einer Standard- oder Kontrollgruppe und einer experimentellen Behandlung, zugeordnet. Die Zuordnung erfolgt nach dem Zufallsprinzip ( Abschn. 56.5.3).
Damit soll erreicht werden, dass sich die Gruppe der »experimentell« behandelten Patienten nur in diesem einen Punkt, nämlich der durchgeführten Behandlung, von anderen standardmäßig behandelten Patienten unterscheidet. Die »Kontrolle« kann auch anders definiert werden, z. B. als »historische« Kontrolle (z. B. mit Patienten der Vorläuferstudie) oder intraindividuell im Cross-over-Design ( unten). Beides hat prinzipbedingte Nachteile. 56.3.4 Cross-over-Design Definition Im Cross-over-Design wird jeder Patient zu einer Sequenz von 2 oder mehreren Therapieelementen randomisiert.
In der einfachen Anordnung eines 2×2 Cross-over-Designs erhält jeder Patient eine von 2 Behandlungen in einer randomisierten Reihenfolge in 2 aufeinanderfolgenden Behandlungsperioden. Er dient damit als eigene Kontrolle. Dies ist prinzipiell vorteilhaft, weil dadurch die Patientenzahlen reduziert werden. Cross-over Designs sind aber nur sinnvoll, wenn sich der Effekt der Behandlung schnell messen lässt und nach Absetzen der Behandlung wieder völlig verschwindet.
637 56 · Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation
Das Hauptproblem bei Cross-over-Studien besteht darin, dass man nicht grundsätzlich ausschließen kann, dass Resteffekte wirksam bleiben. Ein weiteres Problem betrifft die Interpretationsschwierigkeiten, die dadurch auftreten, dass Patienten frühzeitig ausscheiden und z. B. nur mit einem Therapiekurs behandelt werden. Für Studien in der pädiatrischen Onkologie kommt das Design i. d. R. nicht in Frage, da die genannten Voraussetzungen nicht gegeben sind.
Definition
weniger invasiv, weniger teuer bzw. insgesamt kostensparender ist. Für den Nachweis der Äquivalenz ist es nötig, dass ein Äquivalenzbereich festgelegt wird, der angibt, welcher Unterschied im Effekt klinisch nicht mehr relevant ist. Besonders wichtig bei Äquivalenzstudien ist die sorgfältige Wahl von Versuchs- und Kontrollbehandlung. Eine Äquivalenzstudie, bei der die Kontrollbehandlung nicht nachgewiesenermaßen wirksam ist, ist sinnlos. Kritisch ist auch die Äquivalenzdosis beim Vergleich verschiedener Medikamente. Ob die Dosis der experimentellen Therapie wirklich die richtige Äquivalenzdosis ist, ist unsicher, wenn nicht mehrere Dosisstufen gleichzeitig geprüft werden.
Bei einem faktoriellen Design werden 2 oder mehr Fragen bei der gleichen Gruppe von Patienten mit mehreren Randomisationen gestellt.
56.3.8 Sequenzielle Pläne und Interimsanalysen
56.3.5 Faktorieller Plan
Der Vorteil des faktoriellen Plans ist, dass innerhalb einer Studie mehrere Fragen beantwortet werden können und damit die Effizienz erhöht wird. Ein Beispiel für ein faktorielles Design wäre die Randomisation einer postoperativen Radiotherapie im Vergleich zum Standardarm ohne Radiotherapie und zusätzlich Randomisation zwischen 2 verschiedenen Chemotherapie-Regimen. Voraussetzung für faktorielle Pläne ist, dass die Fallzahl ausreicht, um auch unterschiedliche Wirkungen der Behandlungen in den einzelnen Behandlungskombinationen, d. h. Wechselwirkungen, zu erfassen oder dass diese ausgeschlossen werden können. Eher unwahrscheinlich sind z. B. Wechselwirkungen bei einer chirurgischen Fragestellung mit anschließender Chemotherapiefrage. 56.3.6 Test auf Überlegenheit In den meisten klinischen Studien geht es darum zu zeigen, dass eine bestimmte neue (experimentelle) Form der Behandlung besser ist als eine andere (die Kontrollbehandlung). Während die Kontrollbehandlung in klinischen Studien der Pharmaindustrie oft ein Plazebo ist, ist in Therapieoptimierungsstudien der pädiatrischen Onkologie i. d. R. die bisherige Standardbehandlung die Kontrolle. 56.3.7 Test auf Nicht-Unterlegenheit/Äquivalenz Definition Unter einer Nichtunterlegenheits- bzw. Äquivalenzstudie versteht man eine Studie, bei der gezeigt werden soll, dass die neue Behandlung nicht weniger effektiv als oder gleich effektiv ist wie die Standardbehandlung.
Meist gebraucht man für beide Studientypen den Begriff Äquivalenzstudie, streng genommen wird bei einer Äquivalenzstudie jedoch die untere und die obere Grenze des Behandlungseffektes getestet. Beispiele hierfür sind Bioäquivalenzstudien der Pharmaindustrie. In der Onkologie geht es meist um Nicht-Unterlegenheitsfragen, wenn z. B. geprüft werden soll, ob eine neue Behandlung weniger toxisch,
Bei einem sequenziellen Design liegt die Zahl der Patienten, die im Rahmen der Studie behandelt werden, am Anfang noch nicht fest. Ursprünglich stammen sequenzielle Designs aus der Materialprüfung in industriellen Prozessen. Grundidee ist, nicht mehr Versuchseinheiten zu benutzen, als unbedingt nötig. Deshalb wird jedes Mal, wenn das Ergebnis für eine Versuchseinheit (hier Patient) bekannt ist, getestet, ob das Ziel der Studie erreicht ist, also Unterlegenheit oder Überlegenheit bewiesen. Dies setzt voraus, dass die Wirksamkeit eines Experiments sehr schnell gemessen werden kann. In onkologischen Studien mit häufig sehr späten »events« und deshalb langem Follow-up der Patienten ist dies nicht gegeben. Sequenzielle Pläne können aber z. B. zum Monitoring der Toxizität einer Induktionstherapie verwendet werden. Normalerweise dauern Studien in der pädiatrischen Onkologie sehr lange, weil die Rekrutierung einer sinnvollen Patientenzahl aufgrund der Seltenheit der Krankheit Zeit erfordert und weil vor der Auswertung eine gewisse Nachbeobachtungszeit abgewartet werden muss, bis fast alle »events« aufgetreten sind. Deshalb ist die Versuchung groß, schon vor Ablauf dieser Zeit Zwischenauswertungen durchzuführen. Neben der Tatsache, dass noch nicht alle möglichen »events« aufgetreten sind, ist ein Problem, dass durch mehrere Tests, z. B. jeweils mit der Irrtumswahrscheinlichkeit (Typ-IFehler) von 5%, die Irrtumswahrscheinlichkeit für die Studie insgesamt nicht mehr 5% beträgt, sondern erheblich höher sein kann. Dieser experimentbezogene Fehler steigt mit der Zahl der Zwischenauswertungen. Dies hat zur Entwicklung von so genannten gruppensequenziellen Plänen geführt. Grundidee dabei ist, die Irrtumswahrscheinlichkeiten für die Zwischen- und die Endauswertung so zu verringern, dass der Fehler der 1. Art insgesamt den vorher festgelegten Wert nicht überschreitet. Der gebräuchlichste Plan hierfür ist der von O’Brien und Fleming, bei dem die Irrtumswahrscheinlichkeiten für die Zwischenauswertungen anfangs sehr klein sind (ein Abbruch der Studie also unwahrscheinlich ist), die Irrtumswahrscheinlichkeit für die Endauswertung aber sehr nahe bei 5% liegt (O’Brien u. Fleming 1979). Ein anderer Ansatz ist die Benutzung einer so genannten »alpha-spending function«, bei der Zahl und Zeitpunkte von Zwischenauswertungen flexibel gewählt werden können. Eine Weiterentwicklung gruppensequenzieller Pläne sind so genannte adaptive Designs, bei denen aufgrund von
56
638
III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Zwischenauswertungen nicht nur über den Abbruch der Studie, sondern auch über andere Änderungen des laufenden Versuchs entschieden werden kann, z. B. Änderung der Fallzahl, der Teststatistik, der Zielgrößen, ja sogar der Studienpopulation (Posch 2002). Inwieweit soweit gehende Anwendungen adaptiver Designs im allgemeinen und insbesondere in der pädiatrischen Onkologie sinnvoll sind und den zunehmenden formalen Ansprüchen an Studien genügen, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Dramatische Änderungen einer laufenden Studie sind der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse sicher nicht förderlich. 56.3.9 Data Monitoring Committee Studienleiter und die Mitglieder der Studienkommission von Studien in der pädiatrischen Onkologie sind in der Regel direkt und – über ihre Beratungstätigkeit – indirekt an der Behandlung von Patienten beteiligt. Durch die Einsicht in aktuelle Studienergebnisse zu Toxizität und Effektivität gerät die Studienleitung leicht in Versuchung, eine Studie vorzeitig abzubrechen oder den Verlauf der Studie möglicherweise unbewusst oder auch mit besten Absichten zu beeinflussen, z. B. von der Randomisierung bestimmter Risikopatienten abzuraten. Die Beurteilung von Zwischenergebnissen sollte deshalb einem unabhängigen Gremium, dem Data Monitoring Committee anvertraut werden. Dessen Mitglieder müssen unabhängig von der Studie sein und Erfahrung in der Durchführung, der statistischen Analyse und der Interpretation klinischer Studien haben. 56.4
Studienprotokoll
Die Erstellung eines Studienprotokolls ist Voraussetzung für die Durchführung einer klinischen Studie. Dieses beinhaltet Hintergründe und Fragestellungen der Studie, eine schriftliche Anleitung zur Durchführung der Therapie sowie die Festlegung von Ein- und Ausschlusskriterien. Weiterhin ist die genaue Dokumentation der Durchführung der Studie, die Festlegung von Untersuchungen und Nachbeobachtungen und die Messung von Response und Toxizität für jeden Patienten der Studie dort festgelegt. Bei der Erstellung muss auf die Einhaltung von administrativen, gesetzlichen und ethischen Richtlinien, z. B. die Good Clinical Practice(ICH-GCP)Richtlinien (Committee for Proprietary Medicinal Products 2002) geachtet werden. 56.4.1 Hintergrund und Fragestellung Im Abschnitt »Hintergrund/Begründung/Rationale« des Studienprotokolls werden die Ausgangssituation, die Problemstellung, der Stand des Wissens zum Krankheitsbild, der Stand der therapeutischen Forschung sowie die Fragestellung und deren Begründung dargestellt. Eine NutzenRisiko-Abwägung sollte nicht fehlen. Der Wert einer klinischen Studie wird entscheidend durch die praktische Bedeutung der Fragestellung beeinflusst. Diese muss sich aus der Darstellung des Hintergrundes der Studie, einschließlich einer zusammenfassenden Wertung publizierter Daten, über-
zeugend ergeben. Es ist darauf zu achten, dass die Frage mit den zur Verfügung stehenden Mitteln beantwortet werden kann. Aus der Hauptfragestellung leiten sich die zu prüfenden statistischen Hypothesen ab. Neben der Hauptfragestellung können weitere Fragen, z. B. zu bestimmten Untergruppen gestellt werden. Die Beantwortung dieser Fragen darf aber nicht die Beantwortung der Hauptfragestellung beeinträchtigen. 56.4.2 Studienziele Die Ziele müssen klar definiert werden, mit einer Fragestellung, die konkrete Ergebnisse erwarten lässt und von jedem Studienteilnehmer mitgetragen wird. Jedes Ziel muss in eine statistische Hypothese umsetzbar sein. Es ist besser, nur ein oder zwei Ziele zu definieren. Wenn mehr als ein Ziel gesetzt wird, erfordert dies entweder eine erhöhte Anzahl von Parallelgruppen (je 2 pro Fragestellung) oder ein faktorielles Design. Für letzteres müssen Wechselwirkungen zwischen Prüfbehandlungen auszuschließen sein. Wenn dies nicht der Fall ist und Tests der Wechselwirkungen eingeplant werden müssten, treibt dies die Fallzahl erheblich in die Höhe. 56.4.3 Patientenauswahl und Kontrollgruppe Die Patienten, die in die Studie aufgenommen werden sollen, werden mit Hilfe von Ein- und Ausschlusskriterien beschrieben. Dadurch soll verhindert werden, dass bestimmte Patienten eine experimentelle Therapie erhalten, die sie größeren Risiken aussetzten würde als andere Patienten. Außerdem soll vermieden werden, dass Patienten behandelt werden, die vermutlich nicht von der experimentellen Therapie profitieren würden. Während für Studien in frühen Entwicklungsstadien einer Behandlung die Patienten so ausgewählt werden können, dass ein Effekt mit größter Sicherheit beobachtet werden kann, sollten die Patienten für spätere Phasen möglichst wenig selektiert sein. Durch zu enge Ein- und Ausschlusskriterien wird die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einer Studie verringert. Bei Therapieoptimierungsstudien sollte deshalb eine repräsentative Patientenpopulation eingeschlossen werden; Patienten, bei denen Kontraindikationen gegen die vorgesehene Therapie bestehen, z. B. bedingt durch schwere Vorerkrankungen, sollten nicht an der Studie teilnehmen. Der Standard für die Evaluation einer neuen Therapie ist eine zweiarmige Studie, bei der eine Gruppe von Patienten die Standardtherapie (Kontrollgruppe), eine andere Gruppe die neue Therapie erhält. Dies erscheint auf den ersten Blick als Verschwendung von Ressourcen, da die Wirkung der Standardtherapie ja »bekannt« ist. Tatsächlich kann aber nur so ein unverzerrter Vergleich erfolgen. Die Benutzung einer so genannten »historischen Kontrolle« ist nur unter besonderen Umständen gerechtfertigt. 56.4.4 Historische Kontrollen Bei sehr seltenen Erkrankungen ist es u. U. nicht möglich, eine Kontrollgruppe mit der Standardtherapie gleichzeitig
639 56 · Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation
mit der experimentellen Gruppe zu behandeln, da die Fallzahl zu gering ist. Stattdessen werden die Patienten einer Vorstudie als Kontrollgruppe benutzt. Dabei besteht jedoch immer die Gefahr, dass sich die aktuelle Gruppe anders zusammensetzt als die Gruppe, die mit der zu vergleichenden historischen Therapiestrategie behandelt wurde und andere als die untersuchten Faktoren variieren. Ein Beispiel dafür wäre die Einführung einer neuen potenziell kurativen Therapie in einer Patientengruppe, die zuvor nur rein palliativ behandelt wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden Patienten, die bereits in einem sehr schlechten Allgemeinzustand sind oder eine längere Vorbehandlung hinter sich haben, der neuen Behandlung nicht zustimmen. Die historische Patientengruppe dürfte dagegen einige Patienten mit extrem ungünstiger Prognose enthalten und damit nicht die gleichen Auswahlkriterien aufweisen. Sie wäre damit mit der Patientengruppe, die jetzt mit der neuen Therapie behandelt wird, nicht vergleichbar. Auch wenn in der historischen Gruppe dieselben Auswertungskriterien gelten sollten, sind Änderungen in der Diagnostik möglich, die die Patientenselektion beeinflussen. Zusätzlich können Fortschritte in der Supportivbehandlung die Überlebenswahrscheinlichkeit verbessern. Damit sprechen viele Gründe dafür, dass ein Vergleich von Therapieoptionen ohne Bias, d. h. ohne einen systematischen Unterschied zwischen den Vergleichsgruppen, grundsätzlich nur in kontrollierten, randomisierten Studien möglich ist ( Abschn. 56.5.3). 56.4.5 Single- und Multicenter-Studien Wenn die Fallzahl in einer einzelnen Institution ausreicht, um eine Studie durchzuführen, sind Singlecenter-Studien möglich. Der organisatorische Aufwand ist hierbei geringer als wenn mehr als eine Institution beteiligt ist. Maligne Erkrankungen bei Kindern sind jedoch selten, daher sind in der pädiatrischen Onkologie Multicenter-Studien die Regel. 56.4.6 Behandlungsplan Die vorgesehene Protokolltherapie sollte präzise und sorgfältig definiert werden. Durch Therapieabweichungen oder -variationen kann die Interpretation der Ergebnisse schwierig oder sogar unmöglich werden. Es sollten alle Aspekte der Therapie berücksichtigt werden – inklusive des operativen Vorgehens und der Supportivtherapie. Angaben für Behandlungsmodifikationen im Fall von Toxizität sind notwendig. Bei komplexen Protokollen ist eine Graphik nützlich, die die zeitlichen Zusammenhänge zwischen Chemotherapie und ggf. anderen Therapieelementen von Studienbeginn über die verschiedenen Behandlungsphasen, wie Induktion, Konsolidierung, Dauertherapie bis zum Therapieende aufzeigt.
56.4.7 Ermittlung der Wirksamkeit –
Evaluationskriterien ! Um den Effekt einer Behandlung zu messen, müssen so genannte Endpunkte oder Zielkriterien definiert werden. Die Endpunkte sollten objektiv, praktikabel und der klinischen Situation angepasst sein. Sie sind die Basis der statistischen Analyse. Bei ihrer Definition sollte genau angegeben werden, welche Messdaten während oder nach der Behandlung den Zielkriterien des Protokolls entsprechen.
Während in Phase-I-Studien mit neuen zytostatischen Substanzen generell das Ausmaß der Toxizität als Endpunkt gilt, sind in Phase-II-Studien eher das Ansprechen und die Dauer des Ansprechens auf eine neue Therapie Zielkriterien. Für das Ansprechen auf die Behandlung (Remission) sind bei Leukämien die CALGB-Kriterien gebräuchlich (Cheson et al. 1990). Bei soliden Tumoren wurden seit dem Jahr 2000 die WHO-Kriterien für die Remission, die Dauer der Vollremission und Dauer des Gesamtansprechens durch die RECISTGuidelines abgelöst (National Cancer Institute 2000; Sylvester et al. 2002; Therasse et al. 2000). In Phase-III-Studien bei malignen Erkrankungen geht es um langfristige Therapieerfolge. Die Überlebenszeit (»survival«) bzw. der Anteil von Patienten, der die Krankheit überlebt, ist generell der entscheidende Parameter. Andererseits ist die Überlebenszeit oft unzureichend für die Beurteilung eines Therapieerfolges, weil interventionelle Maßnahmen, besonders die Therapie nach einem Rezidiv, hier ebenfalls eine Rolle spielen. Besonders in pädiatrischen Studien ist das ereignisfreie Überleben (»event-free survival«, EFS) der entscheidende Endpunkt. Als »event« werden die Ereignisse bezeichnet, die ein Versagen der Therapie für den Patienten bedeuten: Nicht-Ansprechen auf die Therapie (»nonresponse«), Tod in der Induktion (vor Remission), Rezidiv oder Progress der Erkrankung nach dem Erreichen einer Remission, Tod in Remission und Auftreten eines Zweitmalignoms. Im Sinne einer standardisierten, genauen und vollständigen Erfassung der Toxizität sollten einheitliche Toxizitätskriterien – vorzugsweise die NCI Common Toxicity Criteria – eingesetzt werden (National Cancer Institute 2003) Zu den weiteren Endpunkten gehört die Lebensqualität, die jedoch schwer zu quantifizieren ist. Insbesondere bei Kindern sind aber Endpunkte wie das Auftreten von Sekundärmalignomen, von Wachstumsschäden und neuropsychologischen Schäden von Bedeutung ( Kap. 93). 56.4.8 Statistik Für jede Studienfrage muss die zugehörige Nullhypothese formuliert und die Alternativhypothese angegeben werden. Die Endpunkte müssen genau definiert werden. Im Protokoll sollten alle Testverfahren und Verfahren zum Berechnen von Schätzwerten für die Bewertung der Hauptfragestellungen festgelegt werden. Statistische Modelle und evtl. zu benutzende Kovariablen sollten spezifiziert werden. Wichtig ist auch, von vornherein festzulegen, ob ein- oder zweiseitige Tests und Konfidenzintervalle geplant sind. Auch wenn die
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III
Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Therapietoxizität nicht im Mittelpunkt der Studie steht, sollten Verfahren zur Überwachung beschrieben werden. Für bestimmte Auswertungen wird u. U. nur ein Teil der Studienpatienten ausgewählt. Diese Auswertungskollektive müssen von vornherein definiert werden. Zum Beispiel sollten bei randomisierten Tests auf Unterschied alle randomisierten Patienten in dem Arm ausgewertet werden, in den sie randomisiert wurden (»Intent-to-treat«-Prinzip). Bei Äquivalenzprüfungen sollte aber i. d. R. eine »Per-protocol«Kollektiv definiert und ausgewertet werden (ICH Expert Working Group and International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use 1998). Eine Analyse nach beiden Methoden gibt Aufschlüsse über Probleme bei der Studiendurchführung. Das Signifikanzniveau und – bei mehr als einem geplanten Test – Verfahren zur alpha-Adjustierung sind anzugeben. Methoden (z. B. das verwendete Computerprogramm) und Vorgaben bzw.Annahmen (Power, erwarteter Effekt, Baseline) zur Fallzahlberechnung sind Bestandteil jedes Studienprotokolls, ebenso Angaben zur Rekrutierungsrate, der geplanten Dauer der Studie und Nachbeobachtungszeit. Wenn Interimsanalysen geplant sind, sind Zeitpunkte bzw. Kriterien für die Durchführung (z. B. Durchführung einer Zwischenanalyse bei Erreichen einer bestimmten Zahl von »events«) festzuhalten. Die Definition von Abbruchkriterien und das Prozedere bei Erreichen dieser Kriterien gehören ebenfalls hierher. 56.5
Studiendurchführung
56.5.1 Einwilligungserklärung ! Bei allen Versuchen am Menschen ist eine Einwilligungserklärung nach entsprechender Aufklärung, der so genannte »informed consent«, Voraussetzung zur Durchführung. Damit geben der mündige Patient bzw. die Erziehungs- oder Sorgeberechtigten seine/ ihre Zustimmung, an der Studie teilzunehmen. Zur Aufklärung gehört auch ggf. das Verständnis der Randomisation und die Möglichkeiten einer Alternativtherapie.
§41 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) bestimmt, dass neben den Sorgeberechtigten auch der minderjährige Patient entsprechend aufzuklären ist und seine Einwilligung erteilen muss, wenn er in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der zu prüfenden Therapie einzusehen und seinen Willen danach zu bestimmen. Ob die Voraussetzungen des §41 Abs. 3 AMG bei einzelnen Patienten vorliegen, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt werden. Bei Kindern ab 12 Jahren, die mit ihrer Krankheit vertraut sind, kann dies durchaus der Fall sein. Es obliegt dem behandelnden Arzt, in Abstimmung mit den Sorgeberechtigten zu prüfen, ob danach eine Aufklärung des Minderjährigen über die Therapiestudie und seine Einwilligung erforderlich sind. Gegebenenfalls sollte das Aufklärungsgespräch im Beisein und mit Unterstützung der Sorgeberechtigten in einer dem kindlichen Alter des Patienten angemessenen Form behutsam geführt werden. Über die
Datenweitergabe an Dritte (z. B. Register) muss ebenfalls aufgeklärt werden, und eine datenschutzrechtliche Einwilligungserklärung muss vorhanden sein. 56.5.2 Registrierung Für Therapieoptimierungsstudien mit dem Ziel, alle Patienten einer Diagnosegruppe zu erfassen, sollte jeder Patient bei Diagnose formal als Studienpatient registriert werden. Dadurch wird garantiert, dass alle Patienten, die die Einschlusskriterien erfüllen, auch erfasst werden, und es wird vermieden, dass Patienten mit frühen Ereignissen (Frühtod, früher Progress, früher Therapieabbruch) für die Studie verloren gehen. Dies ist für die Beurteilung der Vergleichbarkeit von Studien und für die Analyse von Risikofaktoren wichtig. 56.5.3 Randomisierung Definition Eine Randomisierung wird durchgeführt, um einen systematischen Bias in der Zuordnung von Patienten zu Behandlungsarmen zu verhindern. Unter einem Bias versteht man einen Effekt mit systematischem Einfluss auf ein Studienergebnis, die Datensammlung oder Analyse, der unabhängig von dem Effekt der aktuellen Behandlung in der Studie ist.
Ein extremes Beispiel ist der Vergleich einer Chemotherapie mit einer Operation, bei der die Behandlung von dem Allgemeinzustand des Patienten abhängt (bei schlechtem Allgemeinzustand ist keine Operation möglich). Das bedeutet, dass die operativ behandelten Patienten eine bessere Ausgangsposition von Anfang an haben und bei einem besseren Ergebnis mit Operation nicht entschieden werden kann, inwieweit dieses Ergebnis von der Behandlungsart oder von dem Ausgangsbefund abhängt. ! Die entscheidende Grundlage einer klinischen Prüfung ist, dass die Frage, um die es geht, nicht entschieden ist (»uncertainty principle«).
Auch wenn der Arzt dieses akzeptiert, kann es im Einzelfall schwierig für ihn sein, einen Patienten dem Behandlungsarm zuzuführen, den die Studie vorschreibt, wenn er diesen vor der Zuteilung kennt. Dies wäre z. B. bei einfach alternierender Patientenzuteilung der Fall. Stattdessen sollten die Behandlungen so zugeordnet werden, dass der Therapiearm nicht vorhersehbar ist. Dies geschieht durch Randomisation, d. h. die zufällige, nicht vorhersagbare Zuordnung. Bei Studien, die Subgruppen von Patienten mit hinreichend evaluierten prognostischen Merkmalen enthalten, verbessert eine Berücksichtigung dieser Merkmale bei der Randomisation die Vergleichbarkeit der Behandlungsgruppen. Die einfachste Methode ist hierfür die stratifizierte Randomisation. Dabei wird jede mögliche Subgruppe separat randomisiert. Bei steigender Zahl von Faktoren und Faktorstufen stößt diese Methode an ihre Grenzen. Deshalb wurden verschiedene Formen der adaptiven Zuordnung entwickelt, um eine möglichst gleichförmige Verteilung der
641 56 · Klinische Studien: Planung, Durchführung und Interpretation
Behandlungen auf die Risikofaktoren zu erreichen (»minimization«; Pocock u. Simon 1975). Die Randomisation sollte zentral mit Hilfe von Randomisierungslisten oder Computerprogrammen erfolgen, da so die Eingangskriterien für die Randomisierung geprüft werden können und Manipulationen ausgeschlossen werden können. Generell sollten die Patienten so spät wie möglich vor Beginn der zu vergleichenden Therapie randomisiert werden. Wenn das Intervall zwischen Randomisation und Therapiebeginn im vorgesehenen Therapiearm zu lang ist, werden einige Patienten versterben bzw. aufgrund eigener Entscheidung oder aus medizinischer Notwendigkeit die zugeordnete Therapie nicht erhalten. Wenn alle diese Patienten in der Analyse enthalten sind, wird der Vergleich unscharf durch die Patienten, die nicht die zugeordnete Therapie erhalten. Wenn sie ausgeschlossen werden, kann andererseits ein Bias entstehen, falls die Nichtdurchführung mit der entsprechenden Zuordnung zusammenhängt. Zum Beispiel wird ein Patient mit einer schlechten Prognose eher eine Behandlung ablehnen oder es wird für ihn unmöglich sein, eine intensivere Behandlung zu tolerieren. 56.5.4 Datenerhebung Traditionell werden für die Dokumentation Erhebungsbögen (»case record forms«, CRF) verwendet. Diese werden von der Studienleitung erstellt, in den behandelnden Kliniken ausgefüllt und an eine Datenzentrale zur Erfassung geschickt. Die Erstellung von Dokumentationsbögen ist nicht trivial und erfordert die Zusammenarbeit von Klinikern, Statistikern und Datenmanagern. Alle Daten, die zur Durchführung der Studie und für die Analyse notwendig sind, müssen enthalten sein. Aber auch Merkmale, die zur Analyse prognostischer Faktoren – einem Nebenziel aller Therapieoptimierungsstudien – nötig sind, sollten berücksichtigt werden. Hierbei ist auf Vergleichbarkeit mit Vorstudien und den Studien anderer Studiengruppen zu achten. Die Sammlung von zu vielen und nicht essenziellen Daten führt zu verminderter Datenqualität und zum unökonomischen Einsatz von Zeit und Arbeit aller Beteiligten. Generell sollten die Erhebungsbögen so leicht wie möglich auszufüllen sein. Je komplizierter sie sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für fehlerhafte oder fehlende Daten. In der Datenzentrale werden die Daten in eine Datenbank eingegeben. Hierbei können durch Validierung bei der Eingabe bereits mögliche Fehler entdeckt werden. Doppelte Dateneingabe kann die Zahl der Eingabefehler vermindern. Ob dabei der Nutzen den Aufwand immer übersteigt, ist fraglich. Explorative Datenanalysen, mit denen nicht nur die Übertragung der Daten vom Papier in die elektronische Form, sondern die Plausibilität der Daten einzelner Patienten im Zusammenhang mit der Gesamtstudie geprüft werden, sind für die Datenqualität essenuiell (Day et al. 1998). Seit einiger Zeit wird versucht, das traditionelle Datenmanagement mit Papiererhebungsbögen durch Datenferneingabe (»remote data entry«, RDE, oder »electronic data capture«, EDC) zu ersetzen. Hierbei werden die Daten in der
Klinik mit Hilfe eines Computerprogramms direkt in eine Datenbank eingegeben. Da heutzutage die erheblichen technischen Probleme für dieses Vorgehen weitgehend gelöst sind, scheint EDC dem traditionellen Vorgehen aus verschiedenen Gründen überlegen zu sein: Es entfallen Zwischenschritte der Datenverarbeitung, Eingabefehler können gleich überprüft und korrigiert werden, Erhebungsformulare sind stets aktuell, Hilfen sind online verfügbar, und der ganze Prozess des Datenmanagements wird beschleunigt. Demgegenüber stehen hohe Kosten für Computer-Hardund insbesondere -Software. Vor allem aber erfordert die Umstellung auf EDC Änderungen und Anpassungen auf vielen Ebenen und ist ein zeit- und arbeitsintensiver Prozess (Zwiebel 2002). Technische Fragen stehen dabei eher im Hintergrund (Bunn 2002). EDC kann ein Monitoring und die Validierung der Daten vor Freigabe für die Auswertung nicht ersetzen, dies ist sogar noch wichtiger als bei der traditionellen Form der Datenerhebung. 56.5.5 Ermittlung der Sicherheit Neben den Informationen, die zur Beantwortung der Studienfragen benötigt werden, sind die Erfassung und Bewertung von schweren unerwünschten Ereignissen in allen Studien notwendig. Definition Unter einem unerwünschten Ereignis versteht man Erkrankungen, Krankheitszeichen oder Symptome, die nach Einschluss des Patienten in die Studie eintreten oder sich verschlechtern.
Schwerwiegende und unerwartete unerwünschte Ereignisse wie Todesfälle innerhalb der protokollgemäßen Therapie, schwere Organtoxizitäten oder Toxizitäten mit persistierenden oder schweren Folgeschäden müssen dokumentiert und der Studienleitung gemeldet werden, unabhängig davon, ob nach Meinung des Prüfarztes ein ursächlicher Zusammenhang mit der Therapie besteht. 56.5.6 Qualitätssicherung Die Qualitätssicherung einer Studie bedeutet nicht nur die Überprüfung von Daten auf Vollständigkeit und Richtigkeit, sondern umfasst alle Schritte von der Planung bis zur Datenanalyse (Knatterud et al. 1998). Die effizienteste Methode zur Qualitätssicherung ist die Vermeidung von Fehlern. Präzise und verständliche Anweisungen im Protokoll zu allen Schritten der Studiendurchführung (z. B. Überprüfung der Eingangskriterien, Diagnosesicherung, therapeutische Maßnahmen, Verlaufsdiagnostik, Dokumentation) in Verbindung mit Arbeitshilfen wie Checklisten sind der erste Schritt der Qualitätssicherung. Die Schulung von Ärzten und Dokumentationsmitarbeitern ist eine weitere mögliche Maßnahme, die aber bedingt durch den finanziellen und personellen Aufwand bei großen Multicenter-Studien mit langer Laufzeit und geringen Patientenzahlen pro Klinik schwer zu realisieren ist.
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
Die Überprüfung der Daten bei Eingabe, der Vergleich der erhobenen Daten mit der Originaldokumentation (»source data verification«) und statistische Überprüfungen sind Maßnahmen der Qualitätskontrolle und können helfen, Fehler zu entdecken und zu beheben. Zur Qualitätssicherung gehört auch die Validierung der eingesetzten Hard- und Software im gesamten Prozess der Datenverarbeitung von der Eingabe über die Speicherung bis zur statistischen Analyse. Es muss sichergestellt sein, dass die Ergebnisse der Studie nicht durch Fehler in diesen Systemen verfälscht werden. Der Qualitätssicherung nicht nur der Studie, sondern auch der Behandlung dient die Etablierung von Referenzzentren für Diagnostik und Therapieplanung. So konnte beispielsweise dadurch in den deutschen Studien zur Behandlung des Morbus Hodgkin bei Kindern und Jugendlichen eine deutliche Steigerung der Qualität erreicht werden (Dörffel 2001). 56.5.7 Nachbeobachtung In Phase-I- und Phase-II-Studien ist die Nachbeobachtung (Follow-up) der Patienten generell auf die Periode bis zum definierten Endpunkt beschränkt (z. B. akute Toxizität, Remission oder Progression). Phase-III- und Therapieoptimierungsstudien bei Krebserkrankungen benötigen ein weitaus längeres Follow-up. Im Idealfall sollten Patienten in diesen Studien bis zu ihrem Lebensende weiter dokumentiert werden. Mit diesem ausgedehnten Follow-up ist es möglich, die tatsächlichen Heilungsraten besser zu beurteilen, da auch späte Ereignisse (insbesondere späte Rezidive und Sekundärmalignome) auftreten können. Außerdem können Spätfolgen, wie späte Kardiotoxizität, endokrine Störungen und kognitive Störungen entdeckt werden. Im Studienprotokoll sollte hierfür ein Nachsorgeschema enthalten sein, das auf alle notwendigen krankheitsspezifischen Untersuchungen hinweist. Ein Problem ist die Fortführung des Follow-up für Patienten, die das Erwachsenenalter erreicht haben. Das Deutsche Kinderkrebsregister bemüht sich, das Langzeit-Followup auch unter Einbeziehung von Krebsregistern für Erwachsene, von Einwohnermeldeämtern und der Patienten selbst sicherzustellen. 56.6
Auswertung
56.6.1 Auswertungskollektive ! Zumindest für die Darstellung der Gesamtergebnisse einer Studie sollten alle aufgenommenen Patienten auch ausgewertet werden.
Wenn für weitere Analysen Patienten ausgeschlossen werden, sollte genau dargestellt werden, warum welche Patienten ausgewählt bzw. ausgeschlossen wurden. Die Analyse der Ergebnisse sollte bei randomisierten Prüfungen auf Überlegenheit nach dem »Intent-to-treat-Prinzip« erfolgen, d. h. alle Patienten werden entsprechend der Gruppe, der sie per Randomisation zugeordnet wurden, analysiert. Dadurch werden
mögliche Verzerrungen vermieden. Zum Beispiel wird bei Risikopatienten, die mit einer toxischen, experimentellen Therapie behandelt werden, die Behandlung eher abgebrochen werden als bei Patienten mit Standardtherapie. Vielleicht wechseln sie auch nach kurzer Zeit zur Standardtherapie. Wenn diese Patienten ausgeschlossen oder der Standardgruppe zugeordnet werden, findet eine Selektion zugunsten der experimentellen Therapie statt. Dadurch wird der Effekt der neuen Therapie überschätzt, ein Test wird eher falsch signifikant. Anders ist es bei Prüfungen auf Äquivalenz oder Nicht-Unterlegenheit. Auch hier werden Patienten im Zweifelsfalle eher zur Standardtherapie wechseln. Den Effekt bei einer »Intent-to-treat«-Auswertung kann man sich am besten durch einen fiktiven Extremfall vorstellen. Alle Patienten der – angenommen – tatsächlich weniger wirksamen neuen Therapie wechseln kurz nach der Randomisierung zur Standardtherapie. Das Ergebnis eines Äquivalenztests wäre auch hier eher falsch signifikant. Deshalb ist bei Äquivalenzprüfungen eine Analyse notwendig, bei der die Patienten der Therapie zugeordnete werden, die sie tatsächlich erhalten haben (»Per-protocoll«-Analyse). Die richtige Definition dieser Gruppe und die Zuordnung einzelner Patienten als »Per-protocol« kann im Einzelfall problematisch sein. 56.6.2 Auswertungsverfahren Die Auswertung konventioneller Phase-II-Studien ist durch das Design festgelegt (Simon 1989) und dadurch relativ einfach. Zusätzlich zur gefundenen Responserate und der Aussage, ob eine weitere Prüfung der neuen Therapieform angebracht erscheint, sollte ein Konfidenzintervall für die Schätzung der Responserate angegeben werden. Definition Ein Konfidenzintervall beinhaltet den Bereich, in dem mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (z. B. 95%) die »wahre« Response-Rate liegt.
Wenn z. B. unter 30 Patienten 20 Responder beobachtet wurden (67%), liegt das 95%-Konfidenzintervall zwischen 47% und 83% (Geigy Scientific Tables 1981). Wenn mehrere Raten verglichen werden sollen, kommen die in einschlägigen Statistiklehrbüchern beschriebenen Methoden wie der ChiQuadrat-Test oder – bei kleinen Fallzahlen – der Fisher-Test zur Anwendung (Sachs 2002). Falls mehrere Einflussgrößen berücksichtigt werden sollen (z. B. Therapiegruppe und Stadium) ist die logistische Regression das Standardverfahren. Ein häufiger Fehler bei der Analyse von Überlebenszeiten ist, auch hier mit Raten, z. B. der Rezidivrate und den entsprechenden Tests, zu rechnen. In der Regel ist aber zum Zeitpunkt der Auswertung nicht auszuschließen, dass noch »events« auftreten können. Außerdem kann es sein, dass Patienten nicht mehr nachbeobachtet werden können, weil sie z. B. ins Ausland verzogen sind (»lost to follow-up«, LFU). In beiden Fällen sind die Überlebenszeiten zensiert, und Raten sind kein unverzerrter Schätzwert für die wahre Ereigniswahrscheinlichkeit.
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Stattdessen sollte man deshalb Überlebenswahrscheinlichkeiten nach der Kaplan-Meier-Methode verwenden (Kaplan u. Meier 1958). Damit kann für jeden Zeitpunkt, zu dem ein »event« beobachtet wird, die geschätzte Überlebenswahrscheinlichkeit berechnet werden. Diese Wahrscheinlichkeiten können gut graphisch in Form von Kaplan-Meier-Plots (Überlebenskurven) dargestellt werden. Für den Vergleich von Überlebensverteilungen hat sich als Standard der »Log-rank«-Test etabliert (Mantel 1966). Auch für den univariaten Vergleich, insbesondere aber wenn der Einfluss mehrerer Faktoren auf das Überleben analysiert werden soll, ist das »Cox-proportional-hazard«-Modell (CoxRegression) geeignet (Cox 1972). Hier, wie bei allen statistischen Verfahren, muss man bei der Anwendung darauf achten, dass die Voraussetzungen des Tests erfüllt sind. Wenn sich z. B. Überlebenskurven schneiden, weil bei einer aggressiven Therapiemodalität verglichen mit der Standardtherapie anfangs vermehrt Therapietodesfälle auftreten, was später aber durch weniger Rezidive ausgeglichen wird, sind die Voraussetzungen für die Cox-Regression nicht erfüllt. Dies gilt zwar nicht formal für den »Log-rank«-Test, trotzdem ist er nicht mehr gut interpretierbar. In diesem Fall ist es besser, ein so genanntes »Cure-model« zu verwenden. Im einfachsten Fall ist dies der Vergleich von 2 Überlebenskurven zu einem bestimmten Zeitpunkt. Einzelheiten zu diesen und anderen Verfahren zur Überlebenszeitanalyse sind speziellen Lehrbüchern zu entnehmen (z. B. Harris u. Albert 1991; Kalbfleisch u. Prentice 1980). 56.6.3 Bericht und Schlussfolgerungen Der Wert einer klinischen Studie wird nicht nur durch Fragestellung, Design, Durchführung und Auswertung bestimmt, sondern wesentlich auch von der Qualität der Publikation. Publikationen lassen jedoch häufig keine genaue Beurteilung der Ergebnisse zu, Vergleiche mit anderen klinischen Studien sind manchmal schwierig. Deshalb wurden bereits 1979 erstmalig Empfehlungen für eine standardisierte Berichterstattung seitens der Weltgesundheitsorganisation erarbeitet. Inzwischen sind diese Standards deutlich erweitert worden, einschließlich Checklisten mit notwendigen Informationen für Berichte über Ergebnisse von klinischen Studien (Working Group on Recommendations for Reporting of Clinical Trials in the Biomedical Literature 1994; Rennie 1996; McNamee u. Horton 1996). Für die grobe Struktur eines Manuskriptes kann man sich an den oben genannten Standards orientieren. Entscheidend für den kritischen Leser sind aber auch Details einer Präsentation und die Frage, wie gut alle Aspekte der speziellen Studie berücksichtigt sind. Wenn sich hier der Eindruck aufdrängt, dass nicht mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet wurde, kann dies auch eine gute Studie in Misskredit bringen und die Akzeptanz des Ergebnisses verhindern.
56.6.4 Metaanalyse Definition Eine Metaanalyse ist eine quantitative Zusammenfassung von Ergebnissen mehrerer Studien in einem bestimmten Bereich. Sie unterscheidet sich von dem üblichen Literaturreview v. a. dadurch, dass Studien zu einem bestimmten Themenbereich nach einem vorher festgelegten Plan bewertet und ausgewählt werden und dass die Ergebnisse in einer Teststatistik zusammengefasst werden.
Zum Thema Metaanalyse gibt es umfangreiche Literatur (Zusammenstellung wichtiger Arbeiten bei Shuster u. Gieser 1996). Es ist inzwischen allgemein anerkannt, dass Metaanalysen einen wichtigen Beitrag zum medizinischen Fortschritt bringen, es gibt aber auch eine Reihe von Problemen, die den Wert einer Metaanalyse relativieren können. Eines ist der so genannte »publication-bias«: Eine Studie wird eher publiziert, wenn sie ein signifikantes Ergebnis gezeigt hat als eine Studie, bei der das nicht der Fall war. Bei allen Bemühungen, diesen Effekt zu vermeiden, wird er sich nicht ganz ausschließen lassen. Ein anderes Problem sind die Annahmen, die bei einer Metaanalyse vorrausgesetzt werden: Die Studien, die der Metaanalyse zugrunde liegen, sollten voneinander unabhängig sein, und der erwartete Effekt (z. B. die Überlegenheit einer Therapieform gegenüber einer anderen) sollte in allen Studien gleich groß sein. Die Heterogenität der Studien in Population und Behandlung ist aber geradezu charakteristisch für eine Metaanalyse (Machtay et al. 2000). Sie ist i. d. R. retrospektiv und fasst Studien zusammen, deren Planung u.U. von vorangegangen beeinflusst wird. Die Übertragbarkeit des Ergebnisses einer Metaanalyse auf eine bestimmte Population unter speziellen Bedingungen kann man kaum beweisen.
Die Qualität einer klinischen Studie hängt entscheidend von der sorgfältigen Planung, Durchführung und Auswertung ab. Dabei sind verschiedene biostatistische Instrumentarien bei der klinischen Forschung zu berücksichtigen, wenn ein medizinischer Sachverhalt und seine Konsequenzen für die Behandlung korrekt beurteilt werden soll. Nur so kann er zur Prognoseverbesserung oder zu einer optimierten Therapie beitragen.
Literatur Bunn G (2002) Scaling up EDC: How to move away from paper trials. Applied Clinical Trials (suppl) 12–14. http://www.actmagazine.com Cheson BD, Cassileth, PA, Head, DR et al (1990) Report of the National Cancer Institute-sponsored workshop on definitions and response in acute myeloid leukemia. J Clin Oncol 8:813–819 Committee for Proprietary Medicinal Products (2002) Guideline for good clinical practice. ICH Topic E6 (CPMP/ICH/135/95). http:// www.emea.eu.int/pdfs/human/ich/013595en.pdf Cox DR (1972) Regression models and life tables. J Royal Statist Soc, Series B 34:187–220
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Allgemeine pädiatrische Onkologie: Therapie
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie Leukämien und Lymphome 57
Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome – 647 D. Reinhardt, J. Ritter
58
Akute lymphoblastische Leukämien – 656 M. Schrappe, J. Harbott, H. Riehm
59
Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie – 680 A. von Stackelberg, G. Henze
60
Akute myeloische Leukämien – 690 U. Creutzig, D. Reinhardt
61
Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonozytäre Leukämie – 715 C. Niemeyer, C. Kratz
62
Chronische myeloproliferative Erkrankungen – 724 M. Suttorp
63
Non-Hodgkin-Lymphome
– 732
A. Reiter, G. Mann, R. Parwaresch
64
Morbus Hodgkin – 752 W. Dörffel, G. Schellong
65
Erworbene lymphoproliferative Syndrome – 770 W. Holter, A. Heitger
Solide Tumoren 66
ZNS-Tumoren
– 777
J. Kühl †, R. Korinthenberg
67
Retinoblastome
– 823
R. Wieland, W. Havers
68
Neuroblastome
– 829
R. Ladenstein, F. Berthold, I. Ambros, P. Ambros
69
Nierentumoren
– 847
N. Graf, C. Rübe, M. Gessler
70
Weichteilsarkome – 865 J. Treuner, I. Brecht
71
Osteosarkome
– 882
A. Zoubek, R. Windhager, S. Bielack
72
Ewing-Tumoren
– 894
H. Jürgens, M. Paulussen, A. Zoubek
73
Lebertumoren
– 911
D. von Schweinitz
74
Keimzelltumoren
– 922
G. Calaminus, D.T. Schneider, P. Schmidt, R. Wessalowski
75
Endokrine Tumoren
– 939
P. Bucsky, M. Brauckhoff, C. Reiners
76
Seltene Tumoren R. Mertens, L. Lassay
– 950
647
Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome D. Reinhardt, J. Ritter
57.1 57.2 57.3 57.4 57.5 57.6 57.7 57.8 57.9
Einleitung – 647 Definition leukämischer Blasten – 647 Geschichtlicher Hintergrund – 648 WHO-Klassifikation – 648 Diagnosefindung bei akuten Leukämien – 649 Klinisches Erscheinungsbild – 651 Morphologie/Zytochemie – 652 Immunologie – 653 Molekulargenetik/Zytogenetik – 653 Literatur – 654
Die 12-jährige Cornelia erkrankte mit Fieber und rezidivierenden Knochenschmerzen. Das Blutbild zeigte eine Anämie und Thrombozytopenie. Bei Verdacht auf Leukämie wurde eine Knochenmarkpunktion durchgeführt. Diese ergab eine Infiltration des Knochenmarks mit großen, undifferenzierten Blasten, die teilweise in Nestern zusammen lagen. Zytochemisch war die PAS-Reaktion positiv. Aufgrund der ungewöhnlichen Morphologie wurde zunächst der Verdacht auf einen Knochenmarkbefall bei hochmalignem Weichteilsarkom oder Ewing-Tumor diagnostiziert. Ausführliche weitergehende Untersuchungen einschließlich GanzkörperMRT und -PET ergaben bis auf die massive Knochenmarkinfiltration keinen Hinweis für das Vorliegen eines Sarkoms oder eines Ewing-Tumors. Die Chromosomenanalyse zeigte einen hyperdiploiden Chromosomensatz mit 57–65 Chromosomen in 8 von 20 untersuchten Metaphasen mit einer Tetrasomie der Chromosomen 1, 6, 18, 19, 20, 21 und eine Trisomie der Chromosomen 5, 8, 11 und 12. Leukämiespezifische Chromosomentranslokationen wurden nicht gefunden. Die immunologische Klassifikation der Knochenmarkhistologie ergab positive Reaktionen für CD10, CD20 und CD79a sowie negative Reaktionen für Desmin, Vimentin, CD99, Chromogranin und Synaptophysin. Somit konnte mit den derzeit zur Verfügung stehenden Klassifikationsmethoden zweifelsfrei eine hyperdiploide B-Vorläufer-ALL diagnostiziert werden. Drei Jahre nach Einleitung einer Polychemotherapie entsprechend Protokoll ALL-BFM 2000 befindet sich die Patientin in anhaltender erster Remission.
57.1
Einleitung
Die präzise Diagnose und Klassifikation einer Leukämie oder eines malignen Lymphoms ist Voraussetzung für die optimale und erfolgreiche Behandlung. Dies erfordert eine enge
Zusammenarbeit von pädiatrischen Hämatologen/Onkologen, Pathologen und medizinisch-technischen Assistentinnen mit spezieller hämatologischer Erfahrung sowie Zellbiologen und Molekularbiologen. Wünschenswert ist es, alle neuen Patienten in regelmäßigen hämatopathologischen Konferenzen gemeinsam zu besprechen. Voraussetzung für die exakte Klassifikation einer hämatologischen Neoplasie ist die Anamnese, die klinische Untersuchung sowie die korrekte Materialgewinnung von Blut, Knochenmark, Lymphknotengewebe und Liquor ( Kap. 2). Eine Leukämie ist durch den Nachweis vermehrter maligner Blasten im Knochenmark definiert. Vor allem bei Non-Hodgkin-Lymphomen ist beim Übergang in einen leukämischen Verlauf der prozentuale Anteil der Blasten für die Diagnosestellung wichtig. Die morphologische Zuordnung einer Zelle als leukämischer Blast kann nicht nur dem Ungeübten Probleme bereiten, zumal verschiedene morphologische Zellformen als Blasten eingestuft werden (WHO 2001). 57.2
Definition leukämischer Blasten
Lymphoblasten mit ungranuliertem Zytoplasma, imponieren mit mehr oder weniger deutlichen Nucleoli und einer gesteigerten Kern-Zytoplasma-Relation. Zudem muss die Myeloperoxidase in der Zytochemie negativ sein. Bei lymphatischen Blasten ist die PAS-Reaktion häufig positiv. Als Myeloblasten I werden Zellen mit deutlichen Nucleoli, aufgelockertem Chromatin und ungranuliertem Zytoplasma bei ebenfalls gesteigerter Kern-Zytoplasma-Relation bezeichnet. Myeloblasten II weisen ähnliche Merkmale auf, im Zytoplasma finden sich jedoch azurophile Granula. Bei ausgeprägterer Granulation und Ausbildung von Progranula werden die Blasten als Myeloblasten III (promyeloblastär) bezeichnet ( Kap. 60). Ebenfalls als Blasten eingestuft werden die Monoblasten, die mit einem relativ weiten, ungranulierten Zytoplasma und teils runden bis beginnend gelappten Zellkernen auffallen. Zuletzt sind die Megakaryoblasten zu erwähnen, die typischerweise pseudopodienartige Zytoplasmaaustülpungen aufweisen ( Kap. 60). ! Prinzipiell erfolgt die Klassifikation der Leukämien und Lymphome entsprechend der hämatopoetischen Zelllinien und Differenzierungsstufen, denen sie anhand morphologischer, immunologischer oder genetischer Merkmale zugeordnet werden können ( Kap. 1).
Allerdings kann die eindeutige Klassifikation aufgrund mangelnder Differenzierung oder der Expression von Charakteristika verschiedener Progenitoren auf denselben Zellen in einigen Fällen schwierig sein.
57
648
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
57.3
IV
Geschichtlicher Hintergrund
Erstmals beschrieben wurden Leukämien 1827, als eigene Entität jedoch erst zwischen 1845 und 1856 durch Virchow (Virchow 1845), Bennett (Bennett 1845) und Craigie (Craigie 1845) definiert. Der Begriff »Leukämie« wurde 1856 von Virchow geprägt (Virchow 1856). Die akute myeloische Leukämie wurde 1857 durch Friedreich beschrieben (Friedreich 1857) und dann als eigenes Krankheitsbild 1878 von Neumann (Neumann 1878) etabliert. Die Entwicklung der morphologischen Färbetechniken von Ehrlich 1891 (Ehrlich 1891), später ergänzt durch die Zytochemie, machte dann die weitere Einteilung der Leukämien in chronische lymphatische Leukämie (CLL), chronische myeloische Leukämie (CML), akute lymphoblastische Leukämie (ALL), akute myeloische Leukämie (AML) und Erythroleukämie durch Reschad und Schilling-Torgau möglich (Reschad u. SchillingTorgau 1913). 1976 wurde eine standardisierte Klassifikation der Leukämien durch eine Arbeitsgruppe von französischen, britischen und amerikanischen Pathologen und Hämatologen publiziert (FAB-Klassifikation, »French, American, Britisch«). Sie beruhte ausschließlich auf der Morphologie und Zytochemie (Bennett et al 1976). 1985 erfolgte die bis heute noch gültige Präzisierung der FAB »Classification of Leukemias« (Bennett et al 1985b). Sie wurde in den folgenden Jahren durch die Nutzung der immunologischen Diagnostik durch weitere Subtypen, v. a. der AML, ergänzt (Bennett et al. 1985a, 1991). Während die FAB-Klassifikation bei der AML bis heute eine hohe Akzeptanz findet und entsprechend ausführlich in die aktuelle Klassifikation der WHO integriert wurde ( Kap. 60), reichte die alleinige morphologische Klassifikation bei der ALL nicht aus, da die beiden hauptsächlichen Subtypen, die B-lymphoblastischen bzw. T-lymphoblastischen Leukämien unterschiedliche prognostische und therapeutische Konsequenzen ergaben. So wurde bereits 1987 von der First MIC Coorperation Group eine Klassifikation publiziert, die die Leukämien anhand der Morphologie, Immunologie und Zytogenetik (MIC) gruppierte (First MIC Cooperative Study Group 1987). Dadurch sollte der zunehmenden Kenntnisse im Bereich der Immunologie und v. a. der Zytogenetik Rechnung getragen werden. Allerdings fand diese Klassifikation keine allgemeine Anwendung, so dass insbesondere bei der Diagnostik der lymphatischen Leukämie weitere Klassifikationen, die eine bessere prognostische Aussagekraft versprachen, entwickelt wurden. Dabei ist v. a. die immunologische Definition der Subtypen durch die Europäische Arbeitsgruppe zur Klassifikation der Leukämien (EGIL) zu nennen, die 1995 ein Panel monoklonaler Antikörper zur Definition der Linienzugehörigkeit und des Differenzierungsgrads veröffentlichte (Bene et al. 1995). Die klinische Beschreibung der Hodgkin-Lymphome erfolgte 1832 (Hodgkin 1832). Die Abgrenzung und Definition als eigene Entität basierte auf dem Nachweis der typischen Morphologie der Reed-Sternberg-Zellen (Sternberg 1898), die 1966 in die Rye-Klassifikation (Lukes et al. 1966) mündete ( Kap. 64). Eine Systematik der malignen Lymphome wurde erstmals 1903 von Türk (Türk 1903) vorgelegt. Auch für die Non-Hodgkin-Lymphome wurden eine Reihe von Klassifikationen (Rappaport, Lukas-Collins, KIEL und REAL), auf Grundlage der Zytologie, des Wachstumsmuster und später
den immunologischen und molekulargenetischen Methoden vorgeschlagen ( Kap. 63). 57.4
WHO-Klassifikation
Die WHO-Klassifikation der Leukämien und Lymphome, die 2001 veröffentlich wurde, soll unter Berücksichtigung der verfügbaren diagnostischen Methoden (Morphologie, Zytochemie, Immunologie, Molekulargenetik, Zytogenetik) auch prognostische und entwicklungsbiologische Aspekte bei der Klassifikation vereinen. In ⊡ Tabelle 57.1 und ⊡ Tabelle 57.2 sind die wesentlichen, im Kindesalter relevanten Entitäten aufgeführt. Während diese Einteilung bei den internistischen Hämatologen/Onkologen weitgehend Zustimmung fand, wurde in der pädiatrischen Hämatologie/Onkologie v. a. die Abgrenzung und Klassifikationen der myelodysplastischen/ myeloproliferativen Erkrankungen diskutiert und eine mo-
⊡ Tabelle 57.1. Klassifikation der akuten lymphoblastischen Leukämien, Non-Hodgkin-Lymphome und Hodgkin-Lymphome in Anlehnung an die Klassifikation der WHO (2001)
Häufigkeiten1 Akute lymphoblastische Leukämie (ALL) Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) B-Vorläufer-ALL Pro-B-ALL »Common«-ALL Prä-B-ALL B-ALL
60%
T-Vorläufer-ALL Unreife T-ALL Thymische (kortikale) T-ALL Reife T-ALL Non-Hodgkin-Lymphome B-Vorläufer-NHL <25% Blasten T-Vorläufer-NHL <25% Blasten B-Zell-Lymphom (Burkitt-Lymphom) Burkitt-Lymphom Zentroblastisch Zentroblastisch-zentrozytisch Immunoblastisch Großzellig-anaplastisch
16%
T-Zell-Lymphom Immunoblastisch Lymphohistiozytisch Großzellig-anaplastisch Hodgkin-Lymphome Klassisches Hodgkin-Lymphom Lymphozytenreicher Typ Nodulär sklerosierender Typ Mischtyp Lymphozytenarmer Typ
11%
Noduläres (lymphozytenprädominantes) Hodgkin-Lymphom 1
Die Häufigkeiten der Leukämien und Lymphome wurden durch das Kinderkrebsregister Mainz (2002) ermittelt (Kaatsch u. Spix 2002).
649 57 · Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome
⊡ Tabelle 57.2. WHO-Klassifikation der akuten myeloischen Leukämien und der myelodysplastischen/myeloproliferativen Erkrankungen (WHO 2001). Die Klassifikation des myelodysplastischen/myeloproliferativen Syndrom wurde entsprechend des Vorschlags von Hasle et al. (2003) modifiziert Akute myeloische Leukämie AML mit typischen genetischen Aberrationen AML mit t(8;21)(q22;q22) AML mit inv(16)(p13q22) oder t(16;16)(p13,q22) AML mit t(15;17)(q22;q12) AML mit 11q23
Fusionsgen
Häufigkeit
AML1/ETO CBFβ/MYH11 PML/RARα MLL/XX-Rearrangements
AML mit einer Mehrliniendysplasie AML ohne vorangegangenes MDS AML nach MDS Therapieassoziierte AML und MDS AML nach Alkylanzien AML nach Topoisomeraseinhibitoren Andere AML, die in den oben genannten Gruppen nicht kategorisiert werden können Minimal differenzierte AML AML ohne Reifung AML mit Reifung Akute myelomonozytäre Leukämie Akute monozytäre Leukämie Akute erythroide Leukämie Akute megakaryozytäre Leukämie Akute basophile Leukämie Akute Myelofibrose Myelosarkom/extramedulläre Leukämie Akute Leukämien mit unklarer Linienzugehörigkeit Akute undifferenzierte Leukämie Akute bilineale Leukämie Akute biphänotypische Leukämie MDS/MPS1 JMML Sekundäre CMML Ph−-CML
11%
Entspricht nach FAB M0 M1 M2 M4 M5 M6 M7 M2 baso
0,5%
3%
1
MDS Refraktäre Zytopenie (RC) Refraktäre Zytopenie mit Blasten (RAEB) Refraktäre Zytopenie mit Blasten (RAEB-T) AML/MDS bei Down-Syndrom AML/MDS bei Down-Syndrom (Alter >1/2 Jahr) TMD/TAM1
1%
1 Die Häufigkeiten der Leukämien und Lymphome wurden durch das Kinderkrebsregister Mainz (2002) ermittelt (Kaatsch u. Spix 2002). AML akute myeloische Leukämie, CML chronische myeloische Leukämie, CMML chronische myelomonozytäre Leukämie, JMML juvenile myelomonozytäre Leukämie, MDS mylodysplastisches Syndrom, MPS myeloproliferatives Syndrom, TAM transiente abnormale Myelopoese, TMD transitorisches myeloproliferatives Syndrom.
difizierte Klassifikation vorgeschlagen (Hasle et al. 2003). Für die detaillierte Beschreibung Kap. 61. 57.5
Diagnosefindung bei akuten Leukämien
Die Diagnosestellung und die Einteilung in Subtypen hat v. a. prognostische Bedeutung und ist somit für die Therapiestratifizierung notwendig. Dabei kommen im zeitlichen Ablauf verschiedene Aspekte zum Tragen. Einige Leukämiefor-
men oder Symptomkonstellationen bedeuten eine akute Lebensbedrohung für den Patienten, so dass die sofortige korrekte Diagnose erforderlich ist. Hierzu stehen in der Regel nur die Anamnese, die klinische Symptomatik und die Morphologie, in einigen Zentren auch die Immunphänotypisierung zur Verfügung. Im Folgenden sind einige Beispiele für Symptome und Befunde mit sofortigem Handlungszwang aufgeführt. Das Syndrom der oberen Einflussstauung mit Hustenattacken, Atemnot und/oder Orthopnoe durch mediastinale
57
650
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
IV
⊡ Abb. 57.1. Algorithmus zur Diagnostik akuter Leukämien
651 57 · Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome
⊡ Abb. 57.1 (Fortsetzung)
Tumoren kommt nahezu ausschließlich bei der T-lymphoblastischen ALL oder dem mediastinalen Non-HodgkinLymphom vor. Es kann schnell zur vollständigen Verlegung der Atemwege kommen. Dieses muss vor der eventuellen Einleitung einer Narkose bedacht werden ( Kap. 58). Sowohl bei der ALL als auch der AML bedeutet die Hyperleukozytose (>100.000 Leukozyten/µl) ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Leukostase (Lunge, Niere) und Blutungen (ZNS). Bei raschem Blastenabfall nach Therapieeinleitung kann es aufgrund der starken Tumorlyse zum akuten Nierenversagen, akuten Atemnotsyndrom (ARDS) oder Blutungen bei disseminierter intravasaler Gerinnung (DIC) kommen (Tumorlysesyndrom; Kap. 58, 77, 80). Die morphologische Diagnose einer akuten Promyelozytenleukämie erlaubt den sofortigen Einsatz der All-transRetinsäure (ATRA), wodurch das Risiko schwerer Blutungen, die in der Zeit vor Einführung dieses Medikamentes bei etwa einem Drittel der Kinder zu frühen Todesfällen führte, deutlich vermindert werden kann (Mann et al. 2001; Kap. 60). Die Wahl des initialen Therapieschemas basiert auf den schnell durchführbaren diagnostischen Möglichkeiten. So ist der Nachweis stark vakuolisierter großer, basophiler Lymphoblasten (L3 nach FAB; Kap. 63) ein fast pathognomoni-
scher Hinweis auf das Vorliegen einer B-Zellleukämie, die den B-Non-Hodgkin-Lymphomen zugeordnet und dementsprechend therapiert wird. Demgegenüber stehen die Ergebnisse der Molekulargenetik in der Regel erst nach einigen Tagen, die der Zytogenetik erst nach 1–2 Wochen zur Verfügung. Die erkrankungstypischen Mutationen bzw. Translokationen sind v. a. für die Therapiestratifizierung und damit für die Intensität der Therapie von Bedeutung. Die Translokationen t(9;22) oder t(4;11) bei der ALL bedeuten die Zuordnung in die Hochrisikogruppe der Therapiestudien und eine entsprechende, intensivere Therapie. Demgegenüber werden bei der AMLSubtypen mit dem Nachweis der t(8;21), t(15;17) oder inv(16) prognostisch günstiger beurteilt und eine im Vergleich zur Hochrisikogruppe weniger intensive Therapie angewandt bzw. es entfällt die Indikation zur Stammzelltransplantation in erster Remission ( Kap. 60). 57.6
Klinisches Erscheinungsbild
Der in ⊡ Abb. 57.1 dargestellte Algorithmus soll die wegweisenden Befunde und die zur definitiven Diagnose führen-
57
Oft in Nestern Oft in Nestern Oft in Nestern (Pseudorosetten)
Negativ Negativ Diffus Postitiv
Auerstäbchen
Diffus Positiv Negativ
Morphologische Besonderheiten
L3-Blasten
Positiv Negativ Saure Phosphatase
Negativ
Negativ Negativ
Negativ Negativ
Negativ Negativ
Gelegentlich positiv Diffus Positiv
Negativ Positiv
Negativ Negativ
Negativ Negativ Negativ
Negativ
POX
Unspezifische Esterase
Negativ
Granulär Positiv Negativ Feingranulär Positiv Gelegentlich feingranulär Positiv Negativ Positiv oder negativ Negativ
B-ALL
Schollig Positiv PAS
Monoblasten Myeloblasten B-Vorläufer-ALL
T-ALL
Myeloische Blasten
Die morphologische Beurteilung ist die entscheidende Methode zur Diagnose einer Leukämie und ermöglicht in der Regel die Einteilung in AML, ALL oder reife B-ALL (NHLLymphom). Auch die Abgrenzung zum MDS, zur aplastischen Anämie, zur CML oder zur JMML ist häufig möglich. Während morphologisch bei der ALL nur eine grobe Einteilung des Differenzierungsgrads möglich ist (L1-/L2-/L3Blasten), lassen sich bei der AML 7 (FAB M1, 2, 3, 4, 4Eo, 5, 6) der 9 beschriebenen Subtypen (zusätzlich M0, M7) morphologisch und zytochemisch eindeutig zuordnen. Klassisches Zeichen der AML sind Auerstäbchen, die bei einen Blastenanteil von >20% die Diagnose beweisen. Liegen die Auerstäbchen in »Büscheln« vor, so kann die Diagnose einer AML FAB M3 gestellt werden. Auch die in der Regel nur im Knochenmark nachweisbaren atypischen eosinophilen Blasten bei der AML M4Eo sind pathognomonisch. Lediglich die FAB-Typen M0 und AML FAB M7 bedürfen der immunologischen Bestätigung. In der Zytochemie lassen sich ebenfalls typische Zuordnungen finden (⊡ Tabelle 57.3). Der Nachweis einer positiven Myeloperoxidase belegt die Diagnose einer myeloischen Leukämie (M1–M4), bei positiver Esterase kommt eher eine monoblastäre Leukämie infrage (FAB M4/M5). Demgegenüber sind die ALL meist PAS- und/oder saure Phosphatasepositiv (Ritter et al. 1975). Nur in seltenen Fällen können auch ALL-Blasten eine diskrete Granulation aufweisen. Die Peroxidasereaktion ist dann stets negativ.
Lymphoblasten
Morphologie/Zytochemie
⊡ Tabelle 57.3. Morphologische und zytochemische Charakterisierung maligner, das Knochenmark infiltrierender Blasten
57.7
Megakaryoblasten
⊡ Abb. 57.2. Gingivahyperplasie bei einem Kind mit akuter monoblastärer Leukämie
den Untersuchungen verdeutlichen. So können Hautinfiltrate oder eine Gingivahyperplasie (⊡ Abb. 57.2) ein Hinweis für eine akute monoblastäre Leukämie (AML FAB M5) sein. Wie oben bereits erwähnt, kommen eine Mediastinalverbreiterung und Pleura-/Perikardergüsse vermehrt bei T-lymphoblastischen Leukämien vor, während Lymphome im Abdomen, z. B. im Ileozäkalbereich häufiger bei Blymphoblastischen Lymphomen (Burkitt-Typ-Lymphom) auftreten. Bei etwa 30% der Patienten mit B-Vorläufer-Leukämien werden anamnestisch Bein- bzw. Knochenschmerzen berichtet.
Granulär Positiv
Rhabdomyoblasten Neuroblasten
IV
Negativ
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Ewing-TumorBlasten
652
653 57 · Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome
⊡ Abb. 57.3. Antigenexpressionmustern in der Hämatopoese
57.8
Immunologie
Die Immunologie ist unbedingt für die Subklassifikation der ALL und den NHL erforderlich. Bei der AML muss die Diagnose bei der AML FAB M0 bzw. undifferenzierten Leukämie und bei der akuten megakaryoblastäre Leukämie immunologisch bestätigt werden. Bei den anderen Formen der AML oder beim MDS kann die Immunphänotypisierung hilfreich sein, ist zur Diagnosefestlegung jedoch nicht zwingend erforderlich. Der Differenzierungsgrad der Leukämien wird am Antigenexpressionsmuster der Blasten festgelegt. Dabei erfolgt die Orientierung and den Differenzierungsstufen der normalen Hämatopoese, obwohl eine asynchrone Expressionsmuster oder die linienaberrante Antigene gehäuft vorkommen (Greaves et al. 1987). ⊡ Abb. 57.3 gibt eine Übersicht über die Entwicklungsstufen der Hämatopoese und den korrespondierenden Antigenmustern. 57.9
Molekulargenetik/Zytogenetik
Obwohl viele rekurrente Translokationen bzw. Mutationen für einen bestimmten Leukämie- oder Lymphomtyp typisch
sind (⊡ Abb. 57.4), kommt es auch bei identischen genetischen Veränderungen zu unterschiedlichen Phänotypen. So lassen Translokationen wie t(1;11), t(2;11); t(6;11) oder t(9;22) allein keine eindeutige Entscheidung zwischen ALL, AML, CML oder JMML zu, so dass andere Methoden zur Festlegung der Diagnose erforderlich sind. Die neuesten Informationen sind über folgende Website abrufbar: www.infobiogen.fr/services/ chromcancer/index.html
Die Weiterentwicklung diagnostischer Methoden mit genomweiten Genexpressionanalysen (Yeoh et al. 2002) und einer systematischen Analyse der Proteinprofile (Proteomik; Ota et al. 2003; Singh et al. 2002) wird zu einer weiter spezifizierten Subgruppeneinteilung führen. Diese könnte sowohl ätiologische Aspekte der Leukämie einschließen als auch therapierelevante genetische Prädispositionen der Patienten im Medikamentenstoffwechsel sowie Polymorphismen gesteigerter Infektionsanfälligkeit berücksichtigen (Kishi et al. 2003; Lehrnbecher u. Chanock 2003; Pui et al. 2002).
57
654
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Abb. 57.4. Typische Translokationen bei ALL (t(1;19), t(4;11), t(8;14), t(9;22), NHL (8;14) und AML t(8;21), t(15;17); inv(16); t(9;11); (Abbildung von J. Harbott)
IV
Literatur Bene MC, Castoldi G, Knapp W et al (1995) Proposals for the immunological classification of acute leukemias. European Group for the Immunological Characterization of Leukemias (EGIL). Leukemia 9:1783–1786 Bennett JH (1845) Case of hypertrophy of the spleen and liver in which death took place from suppuration of the blood. Edinburgh Med Surg J 64:413–423 Bennett JM, Catovsky D, Daniel MT et al (1976) Proposals for the classification of the acute leukaemias. French-American-British (FAB) Co-operative Group. Br J Haematol 33:451–458 Bennett JM, Catovsky D, Daniel MT et al (1985a) Criteria for the diagnosis of acute leukemia of megakaryocyte lineage (M7). A report of the French-American-British Cooperative Group. Ann Intern Med 103:460–462 Bennett JM, Catovsky D, Daniel MT et al (1985b) Proposed revised criteria for the classification of acute myeloid leukemia. A report of the French-American-British Cooperative Group. Ann Intern Med 103:620–625 Bennett JM, Catovsky D, Daniel MT et al (1991) Proposal for the recognition of minimally differentiated acute myeloid leukaemia (AML-M0). Br J Haematol78:325–329 Craigie D (1845) Case of disease of the spleen in which death took place in consequence of the presence of purulent matter in the blood. Edinburgh Med Surg J 64:400–413 Ehrlich P (1891) Farbenanalytische Untersuchungen zur Histologie und Klinik des Blutes. Hirschwald, Berlin First MIC Cooperative Study Group (1987) Morphologic, immunologic, and cytogentic (MIC) classification of acute lymphoblastic leukemia. Cancer Genet Cytogenet 23:189–197 Friedreich N (1857) Ein neuer Fall von Leukämie. Virchow‘s Arch Pathol Anat 12:37–58 Greaves MF, Chan LC, Furley AJ et al (1987) Lineage promiscuity in hemopoietic differentiation and leukemia. Blood 67:1–11
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655 57 · Klassifikation der Leukämien und malignen Lymphome
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57
Akute lymphoblastische Leukämien1 M. Schrappe, J. Harbott, H. Riehm
IV
Epidemiologie
58.1 58.2
Epidemiologie – 656 Ätiologie und Pathogenese – 656
58.1
58.2.1 58.2.2 58.2.3
Genetische Faktoren – 657 Umweltfaktoren – 657 Infektion – 657
58.3
Einteilung und Klassifikation – 657
58.3.1 58.3.2 58.3.3
Morphologie – 657 Immunphänotypisierung – 658 Zyto- und Molekulargenetik – 658
Die ALL ist mit 3,3 Erkrankungen auf 100.000 Einwohner <15 Jahre und einem Anteil von ca. 30% die häufigste Krebserkrankung im Kindesalter (Kaatsch et al. 1995). Die Inzidenz ist etwa 5-mal höher als bei der AML (0,7/100.000). Das Erkrankungsalter beträgt bei der ALL bis zum 18. Lebensjahr im Median 4,7 Jahre, bei der AML 7,9 Jahre. Die Altersverteilung zeigt bei der ALL einen Häufigkeitsgipfel zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr. Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen beträgt 1,2:1, allerdings ist das Geschlechterverhältnis bei Säuglingen mit ALL (bis 12 Monate) umgekehrt. Die Inzidenz in Deutschland, Costa Rica, Australien und unter kaukasischen Kindern in den USA liegt um das Doppelte höher als in Indien, Kuwait, Cuba und unter afroamerikanischen Kindern. Die Gründe dafür sind noch nicht aufgeklärt (Bhatia et al. 2002). Es gibt nur indirekte Hinweise, dass die sozioökonomischen Bedingungen einen Einfluss auf die Inzidenzraten haben können, wie ein Beispiel aus der Tschechischen Republik zeigt: Dort ergab sich von 1980–1999 ein 1,5facher Anstieg für Mädchen im Alter von 1–4 Jahre (Hrusak et al. 2002). Auch eine amerikanische Untersuchung versuchte zwischen der Altersverteilung und den sozioökonomischen Bedingungen eine Beziehung herzustellen (Swensen et al. 1997).
58.4
Klinische Symptomatik
58.4.1 58.4.2
Anamnese und Frühsymptome – 660 Symptome zum Zeitpunkt der Diagnose
– 660
58.5
Diagnostik
58.5.1 58.5.2 58.5.3
Spezielle Leukämiediagnostik – 661 Klinische Diagnostik – 662 Leukämiediagnostik im Verlauf – 662
58.6 58.7
Differenzialdiagnose Therapie – 664
58.7.1 58.7.2 58.7.3 58.7.4
Elemente der Chemotherapie – 664 Extrakompartmenttherapie – 665 Hämatopoetische Stammzelltransplantation – 666 Supportivtherapie – 667
58.8 58.9
Komplikationen – 667 Prognose – 668
58.9.1 58.9.2
Prognoseparameter bei Diagnose – 668 Prognose anhand von Verlaufsparametern
– 660
– 661
– 664
58.10 Zukünftige Entwicklungen Literatur – 674
– 671
– 673
Die akute lymphoblastische Leukämie ist die häufigste Krebserkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Die Entwicklung der intensiven Polychemotherapie seit Anfang der 70er-Jahre und die konsequente Mitbehandlung der so genannten Extrakompartimente (in erster Linie des Zentralnervensystems) hat zu der entscheidenden Verbesserung der Heilungsrate geführt. Neue präzise Methoden zur Bestimmung der In-vivo-Therapieresistenz erlauben eine zuverlässigere Aussage zur Prognose als die meisten Parameter zum Zeitpunkt der Diagnose. Das bessere Verständnis der Biologie der Leukämiezelle lässt Rückschlüsse auf die Pathogenese zu, trägt aber auch zur Entwicklung spezifischer Therapieansätze bei. Trotz aller Fortschritte ist die erste Behandlung bei einem Viertel der Kinder nicht erfolgreich. Darüber hinaus ist die derzeit verfügbare Therapie durch die Therapiedauer und durch einzelne, teilweise schwerwiegende und unerwartete Nebenwirkungen sehr belastend.
58.2
Ätiologie und Pathogenese
Die Daten zur Ätiologie der ALL haben in den letzten 10 Jahren rapide zugenommen. Spontane somatische Mutationen oder präexistierende Keimbahnmutationen sind als wahrscheinlichste Ursache bei den meisten Patienten anzunehmen. Die Inzidenz der akuten Leukämie ist deutlich erhöht bei Kindern mit konstitutionellen chromosomalen Aberrationen: Kinder mit Trisomie 21 haben ein ca. 20-fach erhöhtes Risiko, an akuter Leukämie zu erkranken. Die genaue Ursache dafür ist allerdings noch nicht bekannt. Genetische Syndrome wie z. B. Fanconi-Anämie, Neurofibromatose Typ 1 (NF1) und Bloom-Syndrom, gehen ebenfalls mit einer deutlich erhöhten Leukämieinzidenz einher. Die erhöhte Prädisposition für maligne Tumoren und Leukämie (v. a. AML) weist auf die Rolle des NF1-Tumorsuppressorgens hin; beim Auftreten der malignen Erkrankung wird ein Allelverlust von NF1 beobachtet (Shannon et al. 1994).
1
Dieses Kapitel ist Frau Edelgard Odenwald zum 65. Geburtstag gewidmet, die über 30 Jahre lang unermüdlich maßgeblich die zytomorphologische Referenzbegutachtung der ALL-BFM-Studie durchgeführt hat. Im Namen aller Studienteilnehmer sei ihr dafür herzlich gedankt!
657 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
58.2.1 Genetische Faktoren Es mehren sich die Hinweise, dass zumindest für einige wichtige Subtypen der ALL bereits in utero die Translokationen auftreten, die später bei Diagnosestellung gefunden werden. Die verbesserten Methoden der Molekulargenetik erlaubten innovative Experimente, die wesentlich zum pathogenetischen Verständnis beigetragen haben. Durch Vergleiche von Blutproben vom Diagnosezeitpunkt und zum Zeitpunkt der Geburt (mit Hilfe der Untersuchung von Guthrie-Karten) ließ sich dies für Patienten mit Nachweis des TEL-AML1- bzw. des MLL-AF4-Fusionsgens belegen (Wiemels et al. 1999; Gale et al. 1997). Untersuchungen an konkordanten Zwillingen, die beide zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine TEL-AML1positive ALL entwickelten, zeigten eine identische genomische DNA-Sequenz für TEL-AML1, was als Hinweis für einen gemeinsamen Ursprung der Leukämie in utero gewertet wurde (Ford et al. 1998). Damit war allerdings nicht erklärt, welche Ursachen in utero zu DNA-Brüchen und zur Bildung dieser Fusionsgene führten. Für Patienten mit Nachweis von MLL-Fusionsgenen, die besonders bei Säuglingen mit akuter Leukämie gefunden werden, wird angenommen, dass eine transplazentare Exposition mit »DNA-schädigenden« Substanzen einen wesentlichen Schrittmacher darstellt. Dabei scheinen nicht nur Inhibitoren der Topoisomerase II eine Rolle zu spielen (Alexander et al. 2001). Jüngere Daten belegten, dass typische Fusionsgene (TEL-AML1 für B-VorläuferALL, AML1-ETO für AML) 100-mal häufiger im Blut von gesunden Neugeborenen gefunden werden als nach der Inzidenz dieser Leukämieformen zu erwarten wäre (Mori et al. 2002). Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass weitere leukämogene Faktoren postnatal wirksam sein müssen, die die Entstehung der Leukämie schließlich verursachen. Auch für Patienten mit hyperdiploider ALL gibt es durch neuere Untersuchungen Hinweise, dass bereits in utero die chromosomale Nondisjunktion in der frühen B-Zellentwicklung aufgetreten ist (Panzer-Grümayer et al. 2002). 58.2.2 Umweltfaktoren Bislang ist noch nicht geklärt, welche exogenen Faktoren (Strahlung, Infektionen, Chemikalien, Ernährung) besonders zur Entstehung der Leukämie beitragen (Greaves 1997). Die mutagene Rolle einer exogenen Bestrahlung (z. B. als Folge einer mehrfach durchgeführten Röntgenuntersuchung in der Schwangerschaft oder im Rahmen einer therapeutisch erforderlichen Bestrahlung postnatal) ist wahrscheinlich noch am besten belegt (Bhatia et al. 1999; Löning et al. 2000; Neglia et al. 1991). Der Einfluss von sehr geringer radioaktiver Strahlung wurde lange diskutiert, ist aber aus methodischen Gründen sehr viel schwieriger zu belegen (Greaves 1997; Alexander u. Greaves 1998b; Michaelis et al. 1992). Bei den anderen exogenen Faktoren ist vermutlich zwischen transplazentar wirksamen und direkten postnatalen Einflüssen zu unterscheiden. Grundsätzlich könnten allerdings dieselben pathogenetischen Mechanismen wirksam werden. Wie bereits erwähnt, stehen Inhibitoren der Topoisomerase II im Mittelpunkt des Interesses, da diese auch bei der Entstehung von sekundären Leukämien (nach durchgemachter Leukämietherapie) ursächlich wirksam zu sein
scheinen (Pui et al. 1989; Pui u. Relling 2000). Es ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Substanzklasse v. a. für die Säuglingsleukämie relevant ist (Stanulla et al. 1997). Andere exogene Faktoren, die direkt und indirekt auf die fetale Entwicklung Einfluss haben könnten, sind toxische Expositionen, denen die Eltern ausgesetzt sind, sei es am Arbeitsplatz, durch die Ernährung oder durch Nikotinabusus (Alexander et al. 2001; Ji et al. 1997). Die Beobachtung, dass bei Kindern, deren Mütter zuvor Fehlgeburten erlitten hatten, ALL gehäuft beobachtet werden, kann sowohl auf unerkannte genotoxische Einflüsse als auch auf noch nicht identifizierte Keimbahnmutationen oder auf klinisch inapperente Infektionen zurückzuführen sein (Bhatia et al. 1999). Auch die genetische Variation für detoxifizierende Enzyme kann als Kofaktor angesehen werden. So weisen afro-amerikanische Kinder eine andere Verteilung in polymorphen Genotypen der Glutathiontransferase-Subtypen (GSTT1 und GSTM1) auf als kaukasische Kinder. Dies beeinflusst möglicherweise nicht nur die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Leukämie (häufiger bei weißen als bei schwarzen Kindern), sondern auch die Behandlungserfolge mit Chemotherapie (schlechter bei schwarzen als bei weißen Kindern; Chen et al. 1997). 58.2.3 Infektion Über einen kausalen Zusammenhang zwischen Infektionen und der Pathogenese der ALL ist wenig bekannt. Verschiedene epidemiologische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass eine Exposition gegenüber infektiösen Erregern, die wiederum auch von sozioökonomischen Faktoren nur schwer zu trennen sind, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Leukämie beeinflussen kann (Alexander et al. 1997, 1998a). Die oben geschilderten Beobachtungen bezüglich des zeitlich versetzten Auftretens von TEL-AML1-positiver Leukämie in konkordanten Zwillingen legten bereits die Vermutung nahe, dass weitere auslösende Faktoren, zu denen auch Infektionen und die inadäquate Reaktion des Immunsystems gehören können, eine wichtige Schrittmacherfunktion haben (Greaves 1999). 58.3
Einteilung und Klassifikation
58.3.1 Morphologie Die Einteilung der ALL nach morphologischen Kriterien entsprechend der FAB-Klassifikation in die Subtypen L1, L2 und L3 (Bennett et al. 1976) hat für die klinische Diagnostik durch die genauere Typisierung mit immunologischen, zytound molekulargenetischen Methoden an Bedeutung verloren (Creutzig u. Schrappe 1996; Head u. Pui 1999). Andererseits ist die Zytomorphologie nach wie vor die schnellste Methode der Diagnosefindung und in der Regel für die Abgrenzung ALL vs. AML gut nutzbar, v. a., wenn die Myeloperoxidase (POX)-Reaktion verfügbar ist (ALL: <3% POX-positiv). Wegen der unmittelbaren therapeutischen Konsequenzen ist die Erkennung der L3-Morphologie (uniforme Blasten mit deutlich basophilem Zytoplasma, oft mit Vakuolisierung) nach wie vor wichtig ( Kap. 57).
58
658
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
58.3.2 Immunphänotypisierung
58.3.3 Zyto- und Molekulargenetik
Durch die vielerorts verfügbare Durchflusszytometrie und den breiten Einsatz von direkt markierten Antikörpern ist eine zuverlässige Subtypisierung der Leukämien möglich und unverzichtbar geworden (Ludwig et al. 1989, 1990, 1993; van der Does van den Berg et al. 1992; Pui et al. 1993). In Europa ist die EGIL (European Group for the Immunological Classification of Leukemias) Klassifikation jetzt am weitesten verbreitet (Bene et al. 1995). In ⊡ Tabelle 58.1 und 58.2 sind die Definitionen dargestellt ( Kap. 57). Einige Subgruppen lassen sich mittlerweile durch neue Antikörper noch präziser beschreiben. So können insbesondere Kinder mit ALL und AML, die ein MLL-(11q23-)-Rearrangement aufweisen, mithilfe des Antikörpers MoAb 7.1 mit guter Sensitivität erfasst werden (Wuchter et al. 2000). Auch bei der T-Zell-ALL sind prognostisch unterschiedliche Subtypen zu beschreiben (Schott et al. 1998; Niehues et al. 1999). Die Mehrfarben-Durchflusszytometrie hat den Nachweis von leukämieassoziierten Immunphänotypen verfeinert und damit zur spezifischeren immunologischen Erfassung minimaler Resterkrankung (MRD) beigetragen (Campana et al. 1990; Coustan-Smith et al. 1998).
Seit Nowell und Hungerford 1960 das so genanntes Philadelphia-Chromosom bei der CML beschrieben haben, sind spezifische Chromosomenaberrationen bei Leukämien bekannt (⊡ Tabelle 58.3). Dank zunehmender Verbesserung der zytogenetischen Methoden (Bandenfärbung) und der Einführung molekularer Techniken in die genetische Diagnostik der Leukämien wie Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) oder Polymerase-Kettenreaktion (PCR) wurden in der Folgezeit eine Reihe chromosomaler Aberrationen beschrieben, von denen viele ganz typisch für bestimmte Leukämieformen sind. Auf diese Weise hat sich die Tumor(zyto)genetik von der reinen Beschreibung chromosomaler Aberrationen in Leukämiezellen zu einem wichtigen diagnostischen Werkzeug entwickelt (van der Does van den Berg et al. 1992). So werden die chromosomalen Aberrationen für die Eingruppierung der Patienten in risikoadaptierte Therapiestudien genutzt, und ein Screening nach typischen Veränderungen wird sowohl bei Diagnosestellung als auch beim Auftreten eines Rezidivs dringend empfohlen (Harris et al. 1999).
⊡ Tabelle 58.1. Immunologische Klassifizierung der ALL (entsprechend den EGIL-Kriterien; Bene et al. 1995) ALL
Immunologische Kriterien
ALL der B-Zell-Linie
CD19+ und/oder CD79α+ und/oder CD22+ Positiv mindestens 2 von 3 oben genannten Antigenen Meist TdT+ und HLA-DR+ (Ausnahme B-ALL: oft TdT-)
pro-B-ALL
Keine Expression weiterer Differenzierungsantigene der B-Zell-Linie
common-ALL
CD10+
prä-B-ALL
Zytoplasmatisches IgM+
B-ALL/B-NHL
Ig+ (membranständig oder zytoplasmatisch) Membranständig κ- oder λ−Ig-Leichtketten+
ALL der T-Zell-Linie
Zytoplasmatisch (membranständig) CD3+ Meist TdT+, HLA-DR- und CD34-
pro-T-ALL
CD7+
prä-T-ALL
CD2+ und/oder CD5+ und/oder CD8+
Intermediäre T-ALL
CD1a+
Reife T-ALL
Membranständig CD3+, CD1a-
α/β+-T-ALL
Anti-TCRα/β+
γ/δ+-T-ALL
Anti-TCRγ/δ +
ALL mit Koexpression von myeloischen Antigenen (My+ALL)
CD13, CD33, CD65 auf >20% der Lymphoblasten einer immunphänotypischen ALL
⊡ Tabelle 58.2. Biphänotypische akute Leukämie. (Liegt vor, wenn der Score >2 Punkte für die myeloische und für eine der lymphatischen Zellreihen beträgt)
Punkte
B-Marker
T-Marker
Myeloische Marker
2
CD79α
CD3 (cyt/m)
Anti-MPO
Cyt IgM
Anti-TCRα/β
Cyt CD22
Anti-TCRγ/δ
1
CD19, CD10, CD20
CD2, CD5, CD8, CD10
CD13, CD33, CD65, CD117
0,5
TdT, CD24
TdT, CD7, CD1a
CD14, CD15, CD64
659 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
⊡ Tabelle 58.3. Die wichtigsten chromosomalen Aberrationen bei ALL im Kindesalter und ihre Häufigkeit ( Abb. 58.1). Informationen zu allen chromosomalen Aberrationen bei Leukämien unter www.infobiogen.fr/services/chromcancer/
Aberration
Molekulargenetik
Leukämieform
Prognose
t(1;19)(q23;p13)
PBX1
5%
prä-B-ALL
Unklar
t(4;11)(q21;q23)
AF4
4%
pro-B-ALL
Schlecht
t(11;19)(q23;p13)
MLL
4%
pro-B-ALL
Schlecht
t(8;14)(q24;q32)
MYC
3%
B-Zell-ALL, B-Zell-Lymphom
Gut
t(8;22)(q24;q11)
MYC
3%
B-Zell-ALL, B-Zell-Lymphom
Gut
t(2;8)(p12;q24)
IgK
3%
B-Zell-ALL, B-Zell-Lymphom
Gut
t(9;22)(q34;q11)
ABL
3%
c-ALL
Schlecht
t(12;21)(p13;q22)
TEL
22%
c-ALL
Gut
Hyperdiploid >50
25%
c-ALL
Gut
14q11-Aberrationen
Unbekannt TCRα/TCRβ
T-ALL
Intermediär
t(11;14)(p13;q11)
TTG2
t(10;14)(q24;q11)
HOX11
t(8;14)(q24;q11)
MYC
t(1;14)(p32;q11)
TAL1
5–10%
Der Vergleich zytogenetischer Befunde zeigt, dass bei etwa 70–80% der Patienten Aberrationen gefunden werden, während bei den übrigen ein normaler Karyotyp vorliegt. Es darf davon ausgegangen werden, dass in allen Leukämiezellen chromosomale Veränderungen vorliegen. Jedoch konnten sie möglicherweise bisher nicht nachgewiesen werden, da entweder die Auflösung des Lichtmikroskops nicht ausreicht (Mikrodeletionen, Punktmutationen) oder die ausgetauschten Stücke in Größe und Anfärbung ähnlich sind. Ein Beispiel für diese Theorie ist die Translokation t(12;21), die 1994 mittels der FISH-Technik entdeckt wurde und bei der 2 gleich große und gleich gefärbte Chromosomenstücke ausgetauscht werden (Romana et al. 1994). Heute weiß man, dass dies die häufigste balancierte Chromosomenveränderung der ALL im Kindesalter ist (Pui u. Evans 1998). Alle diese Chromosomenanomalien beruhen auf somatischen Mutationen. Sie entstehen in hämatopoetischen Stammzellen oder stammzellnahen Vorläuferzellen. Spezifische Chromosomenveränderungen Bei der überwiegenden Anzahl der leukämiespezifischen Aberrationen handelt es sich um balancierte Veränderungen, meist Translokationen, seltener Inversionen. In diese Umlagerungen des genetischen Materials sind nicht nur immer wieder dieselben Chromosomen involviert, sondern sie betreffen auch immer wieder dieselben Gene. So werden Hybridgene gebildet, deren Bedeutung für die Leukämogenese in einigen Fällen nachgewiesen ist (Head u. Pui 1999). Die wichtigsten Aberrationen bei der ALL sind die Translokationen t(1;19), t(4;11), t(8;14), t(9;22), t(11;14) und t(12;21); Kap 57. Neben diesen balancierten strukturellen Aberrationen findet sich sehr häufig eine Gruppe mit numerischen Anomalien, die als »hyperdiploid mit mehr als 50 Chromosomen« bezeichnet werden. In dieser Gruppe variiert die Chromosomenzahl zwischen 51 und 63 mit einer Häufung bei 54–55 Chromosomen. Meist liegen die Chromosomen X, 4, 6, 10, 14, 17 und 18 trisom vor, während man von Chromosom 21
meist 4 Kopien findet (Ritterbach et al. 1998). Die Trisomien haben je nach Therapieprotokoll eine etwas unterschiedlichere Prognose (Harris et al. 1992; Heerema et al. 1998, 2000). Auch für die AML sind eine Reihe ganz typischer Veränderungen bekannt. Hier handelt es sich ebenfalls meist um Translokationen: t(9;11), t(8;21), t(15;17), t(1;22) und die perizentrische Inversion inv(16). Für die CML hingegen ist bis heute nur eine einzige ganz spezifische Translokation beschrieben, die t(9;22), bei der es zur Entstehung eines verkürzten Chrosomom 22 kommt, dem so genannten Philadelphia-Chromosom (Ph). Von den meisten dieser Aberrationen sind darüber hinaus auch variante Formen beschrieben. In allen Fällen ist dann eines der Chromosomen in Translokationen mit unterschiedlichen Partnerchromosomen involviert, wobei immer dasselbe Gen auf diesem Chromosom betroffen ist. Das bekannteste Beispiel für dieses Phänomen sind die 11q23-Aberrationen. Neben den häufigsten Formen t(4;11) bei ALL und t(9;11) bei AML sind bis heute mehr als 40 variante Formen dieser Translokationen bekannt. Immer ist jedoch das MLL-Gen in 11q23 betroffen und mehr als 20 verschiedene Partnergene konnten bisher identifiziert werden. Nur wenige dieser Variationen treten bei ALL auf (t(11;19)(q23;p13) – MLL/ENL; t(1;11)(p32;q23) – MLL/AF1p), während der überwiegende Teil bei AML gefunden wird (z. B. t(X;11)(q13;q23) – MLL/AFX; t(10;11)(p12;q23) – MLL/AF10; Koreth et al. 1999). Die genannten Veränderungen machen etwa 70% aller Aberrationen bei ALL bzw. AML aus, während die t(9;22) bei der CML in mehr als 90% aller Fälle gefunden wird. Alle anderen Aberrationen treten mehr oder weniger sporadisch auf. Einige von ihnen findet man auch als Sekundäraberrationen in Kombination mit den oben genannten leukämiespezifischen Anomalien (z. B. del(6q), der(9p), der(12p) bei ALL oder +8 bei AML). Die meisten dieser spezifischen Aberrationen der akuten Leukämien im Kindesalter sind auch molekulargenetisch sehr gut charakterisiert (⊡ Tabelle 58.3).
58
660
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
58.4
Klinische Symptomatik
58.4.1 Anamnese und Frühsymptome
IV
Die Anamnese von Kindern mit ALL ist in der Regel kurz und beträgt wenige Tage bis einige Wochen. Gelegentlich ist allerdings eine mehrmonatige unspezifische Anamnese erinnerlich, die mit unklaren wechselnden Schmerzen, langsam zunehmender Schwäche und fiebrigen Infekten einhergeht; diese Kombination wird besonders bei den Patienten mit sehr niedriger Blastenzahl oder mit fehlenden Blasten im Blut gefunden. ! Eine Früherkennung für ALL gibt es nicht, charakteristische Frühsymptome sind schwer zu erkennen.
58.4.2 Symptome zum Zeitpunkt der Diagnose Aus der Verdachtsdiagnose »Akute Leukämie« wird in der Regel erst durch die Kombination von eher unspezifischen Einzelsymptomen oder durch das Auftreten von ungewöhnlichen Organmanifestationen, schließlich durch die wegweisende spezifische Diagnostik die Diagnose (⊡ Abb. 58.1). ! Gewöhnlich sind hohes Fieber, Abgeschlagenheit, Blässe und Blutungsneigung sowie Knochen- bzw. Gelenkschmerzen die führenden Symptome bei der Diagnose der ALL. Sie reflektieren die hämatopoetische Situation durch die massive Knochenmarkinfiltration als Folge der schließlich zur Diagnose führenden leukämischen Proliferation.
Die Knochen- und Periostinfiltration ist für die Schmerzen, zum Teil verbunden mit Gelenkschwellungen, verantwort-
lich. Gerade dieser Symptomenkomplex führt immer wieder zu den Fehldiagnosen Osteomyelitis und rheumatoide Arthritis. Bei den am häufigsten betroffenen Patienten der Altersgruppe von 2–4 Jahren kann die Weigerung zum Laufen wegweisend sein. Gelegentlich sind die Skelettbeschwerden das Leitsymptom bei fehlenden sonstigen Symptomen oder Blutbildveränderungen. Allerdings werden radiologische Skelettläsionen fast genauso oft auch bei Patienten ohne Skelettbeschwerden vorgefunden (Müller et al. 1999). Abdominelle Schmerzen werden nur von ca. einem Fünftel der Kinder angegeben; sie sind meist auf eine rasch zunehmende Hepato- und/oder Splenomegalie zurückzuführen. Im Einzelfall kann aber auch eine Invagination oder ein Ileus die Symptomatik verursachen, bedingt durch atypische Lymphknoten v. a. im Bereich des ileozökalen Übergangs. Hier ist besonders an die B-ALL/-NHL (L3-Morphologie) zu denken. Die Lymphknotenvergrößerung, besonders der zervikalen und nuchalen Lymphknoten, wird bei nahezu der Hälfte der Patienten gefunden und führt auch in den meisten Fällen zur Vorstellung beim Kinderarzt. Wenn mediastinale Lymphknoten bzw. der Thymus massiv vergrößert sind, kann auch eine Atemwegsobstruktion mit Dyspnoe zum führenden Symptom werden. Die massive mediastinale Beteiligung ist relativ typisch für die T-Zell-Leukämie. Wenn zur Atemwegsobstruktion noch ein Pleura- oder Perikarderguss hinzukommt, kann sich in kurzer Zeit eine der kritischen initialen Notfallsituationen entwickeln. Kopfschmerzen sind ein seltenes Symptom und können mit einer ZNS-Beteiligung assoziiert sein. Die indolente, in der Regel einseitige Hodenschwellung ist hochverdächtig für eine leukämische Testisbeteiligung. Weitere eher seltene Manifestationsorte sind Lunge, Herz, Haut und Auge (Ritter
⊡ Abb. 58.1. Verdacht auf akute Leukämie: Vom klinischen Verdacht zur Diagnose – die häufigen (rot umrandet) und seltenen (schwarz umrandet) Leitsymptome
661 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
u. Schrappe 1999). Besonders bei hohen Zellzahlen ist die Nierenbeteiligung eine eher häufige Beobachtung; daher ist initial die Sonographie der Nieren obligat. Die für andere onkologische Erkrankungen typischen Zeichen wie Gewichtsverlust und Appetitverlust werden nur bei einer Minderzahl der Patienten anamnestisch angegeben (Göbel 2003). 58.5
Diagnostik
Die erforderliche initiale Diagnostik ist heute dank der detaillierten Vorgaben in Studienprotokollen und Leitlinien weitgehend bekannt und muss bestimmten Mindestanforderungen genügen (van der Does van den Berg et al. 1992; Schrappe u. Creutzig 2001). Die notwendigen Maßnahmen zur Diagnosefindung sind nicht besonders umfangreich; für eine umfassende biologische Charakterisierung ist letztendlich doch ein recht großer Aufwand erforderlich, v. a. einen zeitgerechten Versand des frisch gewonnenen Untersuchungsmaterials in entsprechende Referenz- und Speziallabors zu gewährleisten. Cave Wichtig ist die richtige Prioritätensetzung nach Eintreffen des Patienten mit Verdacht auf oder bereits diagnostizierter akuter Leukämie, um jede mögliche vitale Gefährdung auszuschließen.
In erster Linie ist alles zu unternehmen, um initiale Komplikationen zu vermeiden bzw. bestehende sofort und adäquat zu behandeln. Im Sinne eines raschen Therapiebeginns sollte sich die Diagnostik nicht verzögern, in ihrer Abfolge und im Umfang sich allerdings den Gegebenheiten des Patienten,
z. B. bei Vorliegen einer schweren Anämie, anpassen. ⊡ Abbildung 58.2 verdeutlicht die Vorgehensweise in der Absicherung der Vitalfunktionen mit gleichzeitigem Bemühen um zuverlässige Diagnosestellung. In besonderen Situationen ist es angebracht, auf Teile der Diagnostik zu verzichten. Zum Beispiel kann an dem Material aus einem Pleurapunktat ohne weiteres die gesamte Diagnostik durchgeführt werden; allerdings bleibt dann noch die Frage, ob ein Knochenmarkbefall vorliegt, oder ob es sich um ein lymphoblastisches Non-Hodgkin-Lymphom handelt. Die spezielle Leukämiediagnostik ist im Vergleich zu den initial üblichen klinischen Untersuchungen, wie z. B. kranielles CT oder MRT, EKG oder Sonographie dringlich; allerdings dürfen kritische klinische Befunde, wie z. B. ein großer Mediastinaltumor, vor einer evtl. geplanten Intubation (beispielsweise wegen KMP und Anlage eines zentralen Venenkatheters) nicht übersehen werden. 58.5.1 Spezielle Leukämiediagnostik Die wichtigsten Komponenten der initialen speziellen Leukämiediagnostik sind in Abb. 58.2 dargestellt. Die Methoden wurden bereits in Abschn. 58.3 beschrieben. Im Vordergrund steht immer die eindeutige Diagnosestellung, um dem Patienten die adäquaten Therapiekomponenten auf der Basis einer differenzierten Diagnose zukommen lassen zu können. Bei nur geringer Materialmenge aus dem Knochenmark sind die diagnostischen Prioritäten an dem jeweils gültigen Behandlungsplan auszurichten. Beispielsweise steht derzeit bei Patienten der Therapiestudie ALL-BFM 2000 die Gewinnung von Zellen zur DNA-Isolierung und nachfolgenden Charakterisierung von Rearrangements in den Genen des T-Zellrezeptors (TZR) und der schweren Kette der Immun-
⊡ Abb. 58.2. Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf akute Leukämie. PO4 Phosphat
58
662
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 58.4. Blutbildbefunde bei Diagnose einer ALL (Quelle: Studien ALL-BFM 86/90; Daten von 1132 Patienten)
Leukozyten/µl
IV
Patienten (%)
Hb (g/dl)
Patienten (%)
Thrombozyten × 1000/µl
Patienten (%)
<4500
25
<6
24
<50
47
4500–24.999
43
6–9
53
50–99
35
≥25.000
32
≥10
23
≥100
18
globuline (IgH) im Vordergrund, da diese patientenspezifisch zu erhebenden Befunde für den nachfolgenden Nachweis von minimaler Resterkrankung genutzt werden müssen. Wenn die morphologische Diagnose nach der Beurteilung des Blutausstrichs keine eindeutige Diagnose und Zuordnung ALL vs. AML erlaubt, ist die Immunphänotypisierung wahrscheinlich in der Prioritätenliste noch vor der Zyto- und Molekulargenetik anzusiedeln. Allerdings ist für eine initiale RT-PCR oder eine FISH-Untersuchung im Vergleich zur zytogenetischen Untersuchung auch noch eine kleine Zellmenge ausreichend. Therapeutisch relevant ist dabei der Nachweis von MLL-Rearrangements und des BCRABL-Fusionsgens. Die Bestimmung der In-vitro-Resistenz mithilfe des MTT-Tests (Pieters et al. 1991; 1994) ist für Patienten in der COALL-Studie relevant; dafür ist ebenfalls vitales Knochenmark und heparinisiertes Blut bereitzustellen. Die Liquoruntersuchung ist für die Therapieplanung von großer Bedeutung, insbesondere weil aktuelle Behandlungspläne immer seltener eine präventive Bestrahlung des Zentralnervensystems einsetzen. Sinnvollerweise wird die erste Lumbalpunktion nach Diagnosestellung aus dem Blutausstrich durchgeführt, um nach Entnahme des für die Diagnostik erforderlichen Liquors die adäquate intrathekale Medikation zu applizieren. Definition Die gültige Definition eines ZNS-Befalls umfasst den eindeutigen Nachweis von leukämischen Blasten im Zytozentrifugenpräparat und gleichzeitig einer Zellzahl von über 5 Zellen/µl eines nicht blutigen Liquors (van der Does van den Berg et al. 1992).
Ist der Liquor blutig tangiert, kann die Abgrenzung eines initialen ZNS-Befalls von einer sekundären Kontamination schwierig sein. Eine differenzielle Zählung der Erythrozyten und Blasten getrennt im Blutausstrich und im Zytozentrifugenpräparat kann hier allerdings oft noch eine Klärung herbeiführen. Die traumatische Liquorpunktion hat eine ungünstige prognostische Bedeutung und daher therapeutische Konsequenzen (Bürger et al. 2003; Gajjar et al. 2001). 58.5.2 Klinische Diagnostik Die klinische Untersuchung und die technisch-klinischen Verfahren haben nicht nur den Zweck, die Ausbreitung und Organmanifestationen der Erkrankung zu ermitteln, sondern dienen auch der Abschätzung von leukämiebedingten Vorschädigungen und dem Ausschluss von Komplikations-
⊡ Tabelle 58.5. Blutbild bei Diagnose einer ALL: Konstellation »normales kleines Blutbild« (Quelle: Studie ALL-BFM 90)
Leukozyten/µl
Hb (g/dl)
Thrombozyten/µl
Patienten (%)
5000–15.000
>10
>150.000
3%
möglichkeiten. Neben der gründlichen körperlichen Untersuchung ist ein Mindestkatalog von Untersuchungsmaßnahmen zu erfüllen ( Abb. 58.2). Das Blutbild ergibt initial in den meisten Patienten klare Hinweise auf die leukämiebedingte hämatopoetische Insuffizienz (⊡ Tabelle 58.4). Bei einem kleinen Teil von Patienten wird aber sogar eine normale Konstellation vorgefunden (⊡ Tabelle 58.5). 58.5.3 Leukämiediagnostik im Verlauf Nachdem das In-vivo-Ansprechen auf die Leukämietherapie in seiner prognostischen Bedeutung durch systematische Studien in den 80er-Jahren erkannt wurde (Riehm et al. 1987; Gaynon et al. 1997), haben die Anforderungen an alle diagnostischen Maßnahmen zugenommen, die für eine ResponseBeurteilung geeignet sind. Besonders wenig anfällig ist die Beurteilung von Blutausstrichen, da Artefakte fast ausgeschlossen sind. Die ALL-BFM-Gruppe hat die prognostische Bedeutung der Blastenreduktion im peripheren Blut nach einer Woche Prednison und einer intrathekalen Gabe von Methotrexat mehrfach beschrieben (Reiter et al. 1994; Dördelmann et al. 1999; Schrappe et al. 1998c, 2000a,c); andere Gruppen haben dies methodisch gleichermaßen nachvollziehen und damit Hochrisikopatienten identifizieren können (Arico et al. 2002). Auch die Untersuchung des Knochenmarks im Verlauf liefert Hinweise auf das Therapieansprechen, wobei der prädiktive Wert eines blastenreichen Knochenmarkbefunds (M3-Mark: >25% Blasten) nach der gesamten Induktionstherapie größer ist als nach nur 2 Wochen Therapie (Gaynon et al. 1997; Janka-Schaub et al. 1992). Allerdings ist der Prozentsatz der Patienten, die nach 4–5 Wochen Induktionstherapie keine Remission erreicht haben, mit ca. 2% sehr gering (Schrappe et al. 2000a,c). Exemplarisch zeigt ⊡ Abb. 58.3, welche Verlaufsuntersuchungen in der üblichen 8-wöchigen ALL-BFM-Anfangstherapie zum Erfassen des Therapieansprechens durchgeführt wurden. Das frühe Ansprechen wurde im Blut an Tag 8 und im Knochenmark an Tag 15 erfasst;
663 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
⊡ Abb. 58.3. Diagnostik im Verlauf der ALL-Induktionstherapie (»Protokoll I«) am Beispiel der Induktionsphase in Studie ALL-BFM 90: Prüfung des Ansprechens im Blut und im Knochenmark
die morphologische Remissionsbewertung im Knochenmark erfolgte am Tag 33 nach der Phase 1 der Induktion. Bei den Knochenmarkpunktionen erfolgte auch die Entnahme von Material für die prospektive Untersuchung auf minimale Resterkrankung (MRD). Dieses Vorgehen wird auch in der aktuellen Induktionstherapie beibehalten. ! Die Definition von Leukämie-assoziierten Immunphänotypen, der Nachweis von leukämie-typischen Fusionsgenen und schließlich die Charakterisierung von klonspezifischen Rearrangements in den Genen des TZR und von IgH eröffnen neue diagnostische Fenster zur Überwachung des Therapieansprechens durch den Nachweis von MRD (⊡ Abb. 58.4).
Verschiedene Studien in den 90er-Jahren haben die methodische Basis gelegt und schließlich prospektiv geprüft, welche
⊡ Abb. 58.4. Modelle für das Verhalten der Leukämiezellpopulation während der Therapie einer ALL im Kindes- und Jugendalter: Nach-
Response-Muster mit den sensitiven Instrumenten gefunden werden können (Coustan-Smith et al. 1998, 2002; Dworzak et al. 2002; Yokota et al. 1991; Cayuela et al. 1996; van Dongen et al. 1998; Cave et al. 1998). Die Separation der Patienten in gut abgrenzbare Subgruppen ist damit noch besser möglich; die verschiedenen Ansätze sind in einem Review zu MRD gut zusammengefasst (Szczepanski et al. 2001). Erschwert wird durch die hochsensitiven Nachweismethoden die Einheitlichkeit der Definition von »Remission« und »Rezidiv«. Daher ist zunächst der prädiktive Wert einer Verlaufsuntersuchung zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gesamttherapieablauf (während Intensivchemotherapie, vor und nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation, während und nach Erhaltungstherapie) streng prospektiv zu definieren ( Tabelle 58.7).
weis der minimalen Resterkrankung (MRD) im submikroskopischen diagnostischen Fenster durch höhere Empfindlichkeit der Methodik
58
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
58.6
IV
Differenzialdiagnose
Unter den nicht-malignen Differenzialdiagnosen einer ALL sind die juvenile rheumatoide Arthritis und die Osteomyelitis zu nennen. Während die radiologischen Befunde nicht immer aussagekräftig sind, wird ein Keimnachweis oder auch eine KMP weiterführend sein. Zu den hämatologischen Differenzialdiagnosen zählen die aplastische Anämie, das myelodysplastische Syndrom und die idiopathische Thrombozytopenie. Auch hier kann nur die Knochenmarkdiagnostik Klarheit bringen. Vor einer Gabe von Kortikosteroiden wegen einer der genannten Krankheitsbilder ist eine KMPunktion vorzunehmen, um eine Leukämie auszuschließen. Unter den malignen Differenzialdiagnosen steht an erster Stelle die AML, gefolgt vom Non-Hodgkin-Lymphom. Auch ein disseminiertes Neuroblastom kann sich mit denselben Symptomen präsentieren, v. a. bei ausgedehntem Knochenmarkbefall. 58.7
Therapie
In der Therapie der ALL im Kindesalter ist eine risikoadaptierte Stratifizierung ein vorrangiges Ziel. Biologische Faktoren sind zwar in seltenen Untergruppen hilfreich (z. B. Identifikation der Patienten mit t(9;22) oder t(4;11), die ein besonders hohes Rückfallrisiko haben), konnten aber bislang nicht zur Charakterisierung der Mehrzahl der Patienten, die einen Rückfall erleiden, beitragen. Klinische Faktoren wie die initiale Leukozytenzahl und das Alter sind zwar für eine orientierende Risikoabschätzung hilfreich, erlauben aber keine ausreichend spezifische Charakterisierung. Ein wichtiger, in verschiedenen Untergruppen wirksamer Indikator eines hohen Rezidivrisikos ist der inadäquate PrednisonResponse, der die frühe In-vivo-Antwort auf eine 7-tägige Steroidvorphase (und eine Gabe i.th. MTX) beschreibt (Riehm et al. 1987). ! Der »Prednison Poor Response« (PPR) ist ein früher Indikator der Multiresistenz der ALL bei ca. 10% der Patienten; er erfasst somit nicht nur die Resistenz auf Prednison.
58.7.1 Elemente der Chemotherapie Abbildung 58.4 zeigt schematisch die wesentlichen Elemente der Polychemotherapie. In Abb. 58.3 ist eine Induktionstherapie, wie sie im Wesentlichen seit den 70er-Jahren im Einsatz ist, im Detail dargestellt.
Induktionstherapie Bei der ALL im Kindesalter sind 5 Substanzen für eine Remissionsinduktion im Einsatz: Kortikosteroide (Prednison, in einigen Therapieplänen auch Dexamethason), L-Asparaginase, Vincristin, Daunorubicin und intrathekales Methotrexat (Reiter et al. 1994; Riehm et al. 1977; Henze et al. 1982; Schrappe et al. 1987; Rivera et al. 1991). Allerdings wurden Versuche unternommen, Kindern mit nicht so hohem Rezidivrisiko die Anthrazykline zu ersparen (Tubergen et al. 1993a). Die holländische Studiengruppe verzichtete dabei insgesamt auf Anthrazykline, setzte dafür aber intensiv
Dexamethason ein (Veerman et al. 1996). In den COALL-Studien kommt Asparaginase erst nach der Induktion zum Einsatz; das Risiko thromboembolischer Komplikationen konnte dadurch verringert werden (Mauz-Körholz et al. 1999). Aus praktisch klinischer Sicht kommt es bei der Durchführung der Induktionstherapie nicht nur auf die Dosisintensität der eingesetzten Substanzen, sondern auch auf die vorbestehenden Infektionen des Patienten an. Stark schleimhautschädigende Therapiepläne sind hier von Nachteil, da invasive Infektionen begünstigt werden. Die Frage, ob Dexamethason das effektivere Kortikosteroid für die Induktionstherapie ist, kann nur vor dem Hintergrund der ansonsten verabreichten Therapie betrachtet werden. Derzeit sind mehrere randomisierte Studien, die Dexamethason mit Prednison in der Induktionstherapie vergleichen, im Gange oder gerade abgeschlossen; allerdings variieren auch die Dosierungen (Bostrom et al. 2003). In den BFM-basierten Therapieplänen kommt im Anschluss an die bis Tag 33 dauernde Induktionsphase (Zeitpunkt der obligaten Remissionskontrolle im Knochenmark) eine zweite Phase, die bei der Children’s Cancer Group (CCG) »consolidation« genannt wird. Hier werden v. a. alkylierende Substanzen und Antimetabolite eingesetzt ( Abb. 58.3). Konsolidierung Als Konsolidierung wird jetzt meist die Phase zwischen Induktion und Reintensivierung bezeichnet. Hier zielt die systemische Therapie besonders auf das Erreichen von Extrakompartimenten, wie z. B. Hoden und ZNS. Besonders geeignet scheint Methotrexat zu sein. Während hochdosiertes intravenös verabreichtes MTX zusammen mit i.th. MTX im Liquor offenbar zytotoxisch wirksame Spiegel aufbaut, genügt schon mittelhoch dosiertes MTX, um wirksam Hodenrezidive zu verhindern (Dördelmann et al. 1998a). Die Studie ALL-BFM 81 zeigte allerdings, dass der Einsatz von nur 0,5 g Methotrexat (pro m2, 24 h-Infusion) in Kombination mit intrathekalem Methotrexat selbst bei Standardrisiko Patienten keinen ausreichenden Schutz gegen das Auftreten von ZNSRezidiven bietet, wenn zugleich auf den Einsatz der präventiven Schädelbestrahlung verzichtet wird (Schrappe et al. 1987, 1998b, c, 2000a, b). Erst die Einführung von hochdosiertem Methotrexat und die Verdichtung der intrathekalen MTX-Gaben in der Induktionsphase waren in der Lage, eine Konsolidierung der Remission im ZNS auch ohne präventive Schädelbestrahlung zu erzielen ( Abschn. 58.7.2; Reiter et al. 1994; Schrappe et al. 2000a, b). In den COALL-Studien wird nach den ersten 4 Wochen der Behandlung eine Therapie mit unterschiedlichen Zytostatikablöcken durchgeführt (Intensivierung/Konsolidierung), in denen u. a. mittelhochdosiertes Methotrexat (1 g/m2), hochdosierte Asparaginase und hochdosiertes Cytarabin zur Anwendung kommen. Die initiale Leukozytenzahl als Indikation für eine ZNS-Bestrahlung wurde von Studie zu Studie angehoben und liegt jetzt bei 200/nl für Patienten mit non-T-ALL. Alle Patienten mit T-ALL erhalten eine Radiotherapie. Nicht bestrahlte Patienten haben mit diesem Vorgehen eine geringe Wahrscheinlichkeit von <3%, ZNS-Rezidive zu erleiden (Harms u. Janka-Schaub 2000).
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Reintensivierung ! Die Einführung der Reintensivierung ist als einer der wichtigsten Meilensteine in der Entwicklung moderner ALL-Therapie zu bezeichnen.
Prinzipiell wird nach mehrwöchigem Abstand die Induktionstherapie (inklusive einer verkürzten 2. Phase mit Thioguanin, Cyclophosphamid und Cytarabin) in ähnlicher Form wiederholt; allerdings kommt dann Dexamethason als Kortikosteroid und Doxorubicin als Anthrazyklin zum Einsatz. Die entscheidende Studie, die dieses Prinzip prüfte, war die Studie ALL-BFM 76. Es zeigte sich für Hochrisikopatienten im Vergleich zur Studie 70 fast eine Verdopplung des krankheitsfreien Überlebens (Henze et a. 1990; Riehm et al. 1990). Dieses Prinzip wurde nachfolgend von anderen Gruppen erfolgreich angewandt (Tubergen et al. 1993) und erweitert (Nachman et al. 1998). Auch ALL-Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko profitieren erheblich von der Reintensivierung (⊡ Abb. 58.5; Schrappe et al. 2000c; Riehm et al. 1990; Kamps et al. 1999). Diese Studie (ALL-BFM 83) demonstrierte auch die präventive Wirkung dieses Therapieelements bezogen auf die Inzidenz von ZNS-Rezidiven (alle Patienten dieser Risikogruppe waren nicht bestrahlt worden). Erhaltungstherapie Die Erhaltungstherapie mit oral verabreichtem Methotrexat und 6-Mercaptopurin hat einen großen Stellenwert, wie fehlgeschlagene Versuche gezeigt haben, in denen auf die Erhaltungstherapie zumindest teilweise verzichtet wurde (Reiter et al. 1994; Schrappe et al. 2000a, c). Aufgrund der unterschiedlichen Rezidivkaskade für Patienten mit B- bzw. T-Zell-ALL überwiegt die Bedeutung der Erhaltungstherapie bei Patienten mit B-Vorläuferzell-ALL. Es gibt Hinweise, dass zusätzliche Pulse mit Prednison und Vincristin die Remissionserhaltung verbessern können (Riehm et al. 1990; Bleyer et al. 1991). Eine große Metaanalyse aus Oxford zeigte, dass viele der Maßnahmen, die eine Reduktion der Rezidive erreichen, am Ende doch nicht mit einem besseren Überleben einhergehen (Group 1996). Die adäquate Dosierung von 6-MP und MTX, selbst unter Inkaufnahme von Lebertoxiziät, ist essenziell, um den größten therapeutischen Nutzen zu erzielen (Schmiegelow u. Pulczynska 1990; Schmiegelow 1991; Harms et al. 2003). ⊡ Abb. 58.5. Einfluss der Reinduktionstherapie bei Niedrigrisikopatienten auf krankheitsfreies Überleben (pDFS) und die kumulative Inzidenz von ZNS-Rezidiven: Ergebnisse der randomisierten Studie ALL-BFM 83
Möglicherweise hat die Erhaltungstherapie besonders für Jungen eine wichtige remissionserhaltende Wirkung. Aus diesem Grund erhalten in amerikanischen Therapieprogrammen Jungen meistens eine um 1 Jahr längere Erhaltungstherapie. 6-Mercaptopurin ist auch in der COALL-Studie das Standardmedikament für die Erhaltungstherapie. 6-Thioguanin, das wegen seiner direkteren Umwandlung in die zytotoxischen 6-Thioguanin-Nukleotide potenzielle Vorteile hat, erwies sich in einer randomisierten Studie nicht als überlegen. Häufige Thrombozytopenien machten die Therapie schwerer steuerbar (Harms et al. 2003). 58.7.2 Extrakompartmenttherapie Die Einführung der prophylaktischen Schädelbestrahlung (damals unter Einschluss der Wirbelsäule, kraniospinal) hat in den 60er-Jahren zur Verbesserung der Heilungsrate für ALL beigetragen. Aufgrund der akuten und späten Nebenwirkungen, v. a. wegen des erhöhten Risikos, an einem Zweittumor zu erkranken, ist seit mehreren Jahren nach Wegen gesucht worden, die Bestrahlung durch eine bessere systemische und intrathekale Chemotherapie zu ersetzen (Conter et al. 1995). Frühe Versuche bei Standardrisikopatienten (Studie ALL-BFM 81) waren zunächst nicht erfolgreich, da i.th. MTX und mittelhoch dosiertes MTX (0,5 g über 24 h i.v., 4-mal) v. a. ZNS-Rezidive nicht verhindern konnten (Schrappe et al. 1987, 2000a, b, c). 1983 war die ALL-BFM-Gruppe die erste Studiengruppe, die prophylaktisch nur noch 12 Gy bei Patienten mit intermediärem Rezidivrisiko einsetzte. Diese Dosis wurde nachfolgend in allen Risikogruppen, die noch eine Radiotherapie erhielten, für den präventiven Einsatz verwendet (Schrappe et al. 1998b, c). Auch die CCG führte mehrere randomisierte Studien durch, um allmählich auf die Bestrahlung verzichten zu können (Tubergen et al. 1993b). Es ist noch offen, ob Patienten mit T-ALL ein besonderes Risiko für ZNS-Rezidive haben, das den Einsatz von präventiver Radiotherapie rechtfertigt (Conter et al. 1997). Mit Einführung von Hochdosis Methotrexat, aber auch durch die häufigeren Gaben von i.th. MTX in der Chemotherapie gelang eine Senkung der Gesamtinzidenz von Rezidiven mit ZNS-Beteiligung auf unter 5% in Studie ALL-BFM 90
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(Schrappe et al. 2000a, c). Auch im internationalen Vergleich ist das ein sehr gutes Ergebnis, v. a. vor dem Hintergrund, dass in der BFM-Strategie auf intrathekale Gaben in der Erhaltungstherapie verzichtet wird. 58.7.3 Hämatopoetische Stammzelltransplantation Prinzipien
IV
! Für ALL-Patienten mit besonders ungünstiger Prognose, d. h. mit ungenügendem Ansprechen auf die Chemotherapie, stellt die allogene Knochenmarkbzw. Blutstammzelltransplantation (HSCT) eine potenziell kurative Therapiemaßnahme dar (Niethammer et al. 1996; Peters et al. 1998; Storb 2003).
Es bedurfte zahlreicher Untersuchungen in den letzten 30 Jahre, um die HSCT zu einer sicheren, therapeutisch überzeugenden Therapie zu entwickeln. Zunächst wurden nur HSCT von phänotypisch HLA-identischen Geschwistern durchgeführt; dabei ergaben sich signifikante Unterschiede in der Überlebenswahrscheinlichkeit in Abhängigkeit vom verwendeten Konditionierungsschema zugunsten des Einsatzes von Ganzkörperbestrahlung (Davies et al. 2000). Erst in den späten 80er- und v. a. in den 90er-Jahren wurden dank verbesserter, insbesondere genetischer Methoden zur Charakterisierung von transplantationsrelevanten HLA-Konstellationen die Voraussetzungen geschaffen, auch nicht verwandte Blutstammzellspender für eine erfolgreiche HSCT heranzuziehen (Petersdorf et al. 1998). Außerdem wurden neue Strategien zur Aufreinigung der essenziellen CD34positiven Blutstammzellen entwickelt, die die Transplantation von nicht passenden (HLA-nicht-identischen) Spendern ermöglichten (Green et al. 1999). Auch für die haploidentische Transplantation wurden vielversprechende Strategien entwickelt (Aversa et al. 1998; Peters et al. 1999; Handgretinger et al. 1999). Trotzdem ist die transplantationsbezogene Mortalität bei SZT von anderen als Geschwisterspendern noch hoch, so dass Indikation und Durchführung einer permanenten kritischen Evaluation zu unterwerfen sind. Indikationen Es besteht kein internationaler Konsens darüber, welche pädiatrischen Patienten mit ALL in erster Remission einer allogenen HSCT bedürfen. Daten der britischen ALL-Studiengruppen (MRC-Studien UKALL X und XI) ergaben keinen Vorteil für die allogene Knochenmarktransplantation (KMT) bei Hochrisiko-ALL (Wheeler et al. 2000). Allerdings wurde von Studiengruppen der Internationalen BFM-Studiengruppe ein Konsens Mitte der 90er-Jahre gefunden, der die Basis für eine große internationale Studie bildete, die das Überleben nach dem »Intent-to-treat«-Prinzip analysierte und derzeit in allen Details ausgewertet wird. Richtschnur für die Indikation zur allogenen KMT war ein erwartetes ereignisfreies Überleben von unter 50% für die jeweilige Subgruppe von Hochrisiko-ALL, wenn diese Patienten nur mit Chemotherapie behandelt werden. Für eine KMT von (phänotypisch) HLA-identischen Geschwisterspendern waren folgende Patienten qualifiziert: ▬ Philadelphia-Chromosom-positive ALL; ▬ t(4;11);
▬ keine Remission im Knochenmark nach 5-wöchiger Induktionstherapie; ▬ Prednison Poor Response (PPR) mit mindestens einem der folgenden Zusatzcharakteristika: T-ALL, pro-B-ALL, Leukozytenzahl >100.000/µl. In den COALL-Studien, in denen der Prednison-Response nicht verwendet wird, sind Patienten, die nach 5 Wochen noch nicht in Remission sind oder eine Translokation 9;22 oder 4;11 aufweisen, für eine Transplantation von Geschwistern oder passenden Fremdspendern qualifiziert. Derzeitiges Protokoll Für Patienten mit den eben genannten Indikationen, die in der laufenden Studie ALL-BFM 2000 noch durch die Kombination PPR plus M3-Mark an Tag 15 und durch den Nachweis von MRD auf hohem Niveau (≥10-3) in Woche 12 der Therapie erweitert werden, wird grundsätzlich der Einsatz von allogener HSCT von HLA-identischen Geschwistern und von passenden unverwandten Spendern zugelassen. Allerdings sind hier strenge Kriterien bei der Auswahl des SZ-Spenders wie auch bei allen anderen Schritten des Verfahrens anzulegen. Die Konditionierung basiert für Patienten im Alter von ≥24 Monaten auf der Anwendung von fraktionierter Ganzkörperbestrahlung (fTBI) in Kombination mit der Gabe von Etoposid, bei Einsatz von unverwandten Spendern zusätzlich mit Antithymozytenglobulin (ATG). Bei anderen TBI-basierten HSCT-Regimen wird statt Etoposid Cyclophosphamid eingesetzt (Davies et al. 2000). Jüngere Patienten (<24 Monate) werden ohne TBI, dafür mit Busulfan, Cyclophosphamid und Etoposid (bei Fremdspendern zusätzlich mit ATG) konditioniert. Für Patienten mit t(4;11) wird eine AML-orientierte Konditionierung empfohlen. Die Immunsuppression basiert auf Ciclosporin A, bei Fremdspendern zusätzlich auf MTX. Die Dauer der Immunsuppression richtet sich ebenfalls nach Art des Stammzellspenders. Die HSCT sollte in der intensiven Rekonsolidierungsphase ca. 3 Monate nach Ende der Induktionstherapie (Protokoll I) stattfinden. (Das jeweilige aktuelle SZT-Protokoll ist zu beachten!) Spenderauswahl Abgesehen von (phäno-und genotypisch) HLA-identischen Geschwistern werden zunehmend auch unverwandte Stammzellspender für die HSCT eingesetzt. Die hochauflösende HLA-Genotypisierung erlaubt eine präzise Zuordnung geeigneter Spender. Zunehmend wird dabei auf eine größere Zahl von passenden Antigenen und Allelen geachtet. Die Wahl eines nicht-verwandten Spenders wird aber nicht nur vom Grad der HLA-Übereinstimmung, sondern auch von Faktoren wie CMV-Status, Geschlecht und Alter des Stammzellspenders beeinflusst. Wegen des stetigen Wandels auf diesem Gebiet wird für Details auf die jeweils gültigen Konsensusvereinbarungen verwiesen, die innerhalb der Päd-AG KBT und in den maßgeblichen Transplantationsprotokollen festgelegt sind. Ergebnisse Die Effizienz der allogenen HSCT wird meist im Vergleich zu einer intensiven Polychemotherapie bewertet; im Vorder-
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grund der meisten Analysen steht dabei das Überleben, oder das leukämiefreie Überleben. Teilweise wird die größere antileukämische Potenz eines Verfahrens durch die größere transplantationsbezogene Mortalität wieder zunichte gemacht. Der Vergleich von HSCT mit Chemotherapie ist mit großen methodischen Problemen behaftet, die sich v. a. auf die Selektion der Patienten, aber auch auf die unterschiedliche Dauer und Komposition der vor HSCT durchgeführten Chemotherapie, die Inhomogenität der Transplantationsregime und der Immunsuppression beziehen. Vergleiche von verschiedenen Konditionierungsverfahren können Hinweise für die Überlegenheit bestimmter Verfahren geben. So gelten bei der ALL derzeit die auf TBI-basierten Regime als insgesamt effektiver bezüglich des leukämiefreien als auch des insgesamt beobachteten Überlebens (Davies et al. 2000). Große internationale Metaanalysen in genetisch definierten Subgruppen der ALL im Kindesalter ergaben unterschiedliche Effizienzen der HSCT, was auf die Bedeutung der biologischen Eigenschaften der ALL-Subtypen hinweist: Für Patienten mit t(9;22) ergab sich insgesamt ein Überlebensvorteil für die allogene HSCT, während für Patienten mit 11q23 Aberrationen die HSCT keinen Überlebensvorteil brachte (Arico et al. 2000; Pui et al. 2002). Zweifelsohne ist gerade das Gebiet der HSCT einem raschen Wandel unterworfen, so dass historische Vergleiche erschwert werden (Locatelli et al. 2002). Eigene, noch nicht publizierte Daten deuten an, dass die große Gruppe von Patienten mit primär relativ therapieresistenter T-Zell-Leukämie, mit t(9;22) oder mit fehlender Remission nach Induktionstherapie von der allogenen HSCT profitieren. Auch gibt es Hinweise, dass die Dauer und Intensität der prä-HSCT Chemotherapie maßgeblich den Erfolg der SZT beeinflussen. 58.7.4 Supportivtherapie Das Ziel einer risikoadaptierten Supportivtherapie ist die Prävention therapiebezogener Komplikationen, deren Auftreten allerdings von der Diagnose, der Therapiephase und der (genetischen) Konstitution des Patienten abhängt. Daneben gibt es noch eine weitere Ebene der Supportivtherapie, die sich primär auf das »Wohlbefinden« des Patienten bezieht (z. B. Prävention und Therapie von Übelkeit, Therapie von Schmerzen). Die Substitution von Blutbestandteilen ist der essenziellste Teil der Supportivtherapie. Teilweise umstritten ist der Umfang der antiinfektiösen Supportivtherapie, da prospektive Studien weitgehend fehlen. Fest etabliert ist nur der Einsatz von Cotrimoxazol zur Prävention von Infektionen mit Pneumocystis carinii. Nicht sicher belegbar ist der Einsatz von nicht-resorbierbaren Antibiotika und Antimykotika ( Kap. 79). 58.8
Komplikationen
Die meisten Kinder mit ALL, die nach Diagnosestellung ein »Ereignis« erleiden, werden als erstes ein Rezidiv erleiden: 83% aller ungünstigen Ereignisse sind Rezidive (⊡ Abb. 58.6). Insgesamt trat bei 467 von 2178 Kindern mit ALL ein ungünstiges Ereignis ein. Ein kleiner, aber relevanter Anteil geht auf Komplikationen, Infektionen und toxische Todesfälle zurück (Schrappe et al. 1998b, 2000a, b, c).
⊡ Abb. 58.6. Verteilung von negativen »Ereignissen« als Ergebnis der Therapiestudie ALL-BFM 90
Wichtige v. a. initial auftretende Komplikationsmöglichkeiten wurden in Kap. 58.5 bereits erläutert. Dabei handelt es sich um Komplikationen, die unmittelbar auf die Dissemination der Leukämie zurückzuführen sind (z. B. Organinsuffizienzen, Pleuraerguss, Mediastinaltumor mit Tracheakompression). Initial genauso relevant sind die gerade bei großer Leukämiemasse leicht möglichen Therapiekomplikationen durch Organinfiltrate und durch die Auslösung des Zellzerfalls. Der unkontrollierte Zellzerfall kann zu Elektrolytverschiebungen (Hyperkaliämie, Hyperphosphatämie) und zu einem massiven Anstieg der Harnsäurekonzentration und damit zur Uratnephropathie führen. Letztere lässt sich überzeugend durch den präventiven Einsatz von Allopurinol, noch effektiver gerade bei hohen initialen Leukozytenzahlen durch den Einsatz von Uratoxidase verhindern (Pui et al. 1997). In der Intensivtherapiephase stehen schwere Infektionen an erster Stelle der letal verlaufenden Komplikationen; etwa 2 Drittel der tödlichen therapiebezogenen Zwischenfälle sind auf meist bakterielle Infektionen zurückzuführen. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer sorgfältigen klinischen Überwachung der Patienten, aber auch der umfassenden Aufklärung der Behandler und der Eltern. Eine gute Aufklärung der Eltern über die Frühsymptome einer schweren Infektion ist v. a. vor dem Hintergrund der zunehmend ambulant durchgeführten Therapie besonders wichtig. Für die Behandlung von Infektionen in den Phasen der Granulozytopenie, aber v. a. in den intensiven Therapieabschnitten, in denen Kortikosteroide eingesetzt werden, gilt als oberstes Ziel der rasche Behandlungsbeginn, um die Entwicklung einer Sepsis und/oder Pneumonie zu verhindern. Letal verlaufende Blutungen wurden in den letzten ALL-BFM auch fast nur in der Induktionstherapie beobachtet; Risikofaktoren sind gastrointestinale Ulzera, Thrombozytopenie und eine gestörte Hämostase. Es fällt auf, dass ältere Patienten überproportional von diesen Komplikationen betroffen sind. Unter den nicht tödlich verlaufenden Komplikationen sind neben der fast obligat zu beobachtenden Hämatotoxizität der Therapie Infektionen, Mukositis, Lebertoxizität, Pankreatitis und Gerinnungsstörungen mit klinisch relevanten venösen Thrombosen zu nennen. Eine periphere Neurotoxizität ist in der Regel auf den Einsatz von Vincristin zurückzuführen. Bei zentraler Neurotoxizität ist auch an das
58
668
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
IV
⊡ Abb. 58.7. Kumulative Inzidenz von Zweitmalignomen nach ALLBFM-Therapie in Abhängigkeit vom Einsatz der kranialen Radiothera-
pie (RT +/-): Analyse von 5006 Patienten behandelt von 4/79–4/95 (Löning et al. 1998)
Auftreten von Sinusvenenthrombosen zu denken, die bei gleichzeitigem Einsatz von Asparaginase und Kortikosteroiden gehäuft auftreten. ( Kap. 80). Der intensive Einsatz von Kortikosteroiden scheint bei ALL-Patienten maßgeblich zur Entstehung von avaskulären Knochennekrosen beizutragen (Pieters et al. 1987; Bömelburg et al. 1989; Murphy u. Greenberg 1998; Körholz et al. 1998; Ojala et al. 1999). Die Inzidenz ist gerade bei ALLPatienten im Alter von über 10 Jahren erhöht (Mattano et al. 2000). Durch die Einführung der Magnetresonanztomographie hat sich zwar die Diagnostik erheblich verbessert, so dass sogar asymptomatische Osteonekrosen erkannt werden können (Ribeiro et al. 2001). Leider stehen aber gesicherte wirksame Therapieverfahren für eine breite Anwendung nicht zur Verfügung. Die wahrscheinlich gefürchtetste Spätkomplikation nach erfolgreich durchgeführter ALL-Behandlung ist die Entwicklung einer Zweitneoplasie (Meadows et al. 1989). In einer Untersuchung an 5000 Patienten, die im Rahmen der ALLBFM-Studien behandelt wurden (⊡ Abb. 58.7), ergab sich eine signifikante Häufung von Zweitmalignomen (meist maligne Hirntumoren mit langer Latenzzeit), wenn eine Schädelbestrahlung durchgeführt worden war (Löning et a. 1998). Dieser Zusammenhang wurde auch in anderen Studien gesehen (Neglia et al. 1991; Kimball Dalton et al. 1998; Rimm et al. 1987), während v. a. Untersucher aus St. Jude sekundäre akute myeloische Leukämien als Zweitmalignome beschrieben (Pui et al. 1989). Hier wurden v. a. Epipodophyllotoxine, aber auch andere antileukämische Substanzen als Auslöser angesehen (Pui et al. 1991; 1995; Relling et al. 1998, 1999).
sich demonstrieren, dass der Therapie-Response auch in genetisch determinierten Subgruppen eine differenzierte prognostische Beurteilung zulässt, was den Einfluss von Wirtsfaktoren (z. B. Pharmakogenetik) verdeutlicht, die von biologischen Eigenschaften der Leukämiezelle unabhängig sein können.
58.9
Prognose
Die Prognose von Kindern mit ALL lässt sich durch eine Vielzahl von Parametern abschätzen. Neben klinischen und biologischen Charakteristika haben in den letzten Jahren v. a. solche Parameter an Bedeutung gewonnen, die sich auf die Dynamik des Therapieansprechens beziehen. Vielfach ließ
58.9.1 Prognoseparameter bei Diagnose Klinische Parameter In ⊡ Tabelle 58.6 sind wichtige klinische Parameter zum Zeitpunkt der Diagnose zusammen mit ihrer jeweiligen Prognose dargestellt. Es zeigt sich ein deutlicher Einfluss dieser Charakteristika auf das Therapieergebnis. Die mit Abstand größte und am besten zu behandelnde Altersgruppe ist die der 2- bis 5-jährigen Kinder, die 60% der Gesamtgruppe umfasst. Die kleine Gruppe der Säuglinge mit ALL hat das ungünstigste Therapieergebnis mit einer 6-JahresÜberlebenswahrscheinlichkeit von nur 50%. Allerdings ist diese Gruppe durch besondere klinische (Hyperleukozytose) und genetische Charakteristika (insbesondere durch MLLRearrangements) belastet (Dördelmann et al. 1999; Biondi et al. 2000a; Borkhardt et al. 2002). Anhand der Daten aus den ALL-BFM-Studien lässt sich zudem aber belegen, dass der Prednison-Response einen hochsignifikanten Einfluss auf das Therapieergebnis der Säuglings-ALL hat (Dördelmann et al. 1999). Patienten im Alter von 10–18 Jahren haben eine ungünstigere Prognose als solche unter 10 Jahren. Diese Beobachtung trifft allerdings nur für Patienten mit B-Vorläuferzell-ALL, nicht für Patienten mit T-Zell-ALL zu. Insgesamt zeigt sich in den BFM-Studien kein Unterschied in der Prognose zwischen den über 10-jährigen Patienten bis 14 und über 14 Jahre. Eine aktuelle französische Studie konnte zeigen, dass Patienten im Alter von 15–20 Jahren einen signifikanten Überlebensvorteil haben, wenn sie in der pädiatrischen und nicht in der internistischen Studie behandelt werden (Boissel et al. 2003). Die Autoren konnten zeigen, dass in den klinisch
669 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
⊡ Tabelle 58.6. Wichtige klinische Charakteristika der ALL und 6-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit (6-Jahres-EFS) (Schrappe 2000c)
Patienten
Verteilung (%)
Alle Patienten
2178
100
Jungen
1261
57,9
75% (1)
917
42,1
82% (1)
Mädchen
6-Jahres-EFS (SE (%)
p (log-rank)
78% (1) 0,0001
Alter (Jahre) 59
2,7
50% (7)
1–5
<1
1316
60,4
83% (1)
6–9
417
19,2
74% (2)
10–13
245
11,2
66% (3)
14–18
141
6,5
64% (4)
1000
45,9
85% (1)
343
15,8
80% (2)
0,0001
Leukozytenzahl (×103/µl) <10 10–19
0,0001
20–49
350
16,1
81% (2)
50–199
358
16,4
66% (3)
≥200
127
5,8
36% (5)
54
2,5
48% (7)
Mediastinaltumor
171
8,1
64% (4)
0,0001
Leber >4 cm*
673
30,9
71% (2)
0,0001
Milz >4 cm*
589
27,0
68% (2)
0,0001
ZNS-Beteiligung
0,0001
* unter dem Rippenbogen in MCL.
und biologisch sehr gut vergleichbaren Kohorten nur die initiale Leukozytenzahl und die jeweilige Therapie prognostisch signifikante Faktoren waren; bei Patienten mit T-ZellALL war es sogar nur die Therapiestudie. In der Gesamtüberlebenswahrscheinlichkeit nach 5 Jahren war die pädiatrisch behandelte Kohorte (FRALLE-93) 33% besser als die internistisch behandelte Gruppe (LALA-94): 78±11% vs. 45±11% (p<0,0001). Bei direktem Vergleich der Therapieregime fiel die deutlich intensivere Verwendung von Kortikosteroiden, Asparaginase (20-mal mehr) und VP-16 im pädiatrischen Behandlungsplan auf. Auch Therapieverzögerungen werden als eine von wahrscheinlich mehreren Ursachen diskutiert. Der prognostische Einfluss der Leukämiezellmasse ist seit langem bekannt (Riehm et al. 1977; Schrappe et al. 1987; Langermann et al. 1982) und in allen Studiengruppen trotz mittlerweile intensiverer Therapie unstrittig (Schrappe et al. 2000a, c; Conter et al. 2000; Eden et al. 2000; Maloney et al. 2000; Gustafsson et al. 1998; Gaynon et al. 2000; Pui et al. 2000). Die Kombination aus Alter und Leukozytenzahl wird weithin für die Risikostratifizierung genutzt; für die B-Vorläuferzell-ALL hat sich zumindest für die Therapiestudien, die nicht den Therapie-Response für die Stratifizierung nutzen, die so genannte NCI-Risikoklassifizierung (Smith et al. 1996) weit verbreitet, die Patienten mit weniger als 50.000 Leukozyten und einem Alter von 1–9 Jahre als Standardrisikopatienten bezeichnet, während ältere Patienten oder solche mit mehr als 50.000 Leukozyten/µl der Hochrisikogruppe zugeordnet werden. Für vergleichende Auswertungen von verschiedenen ALL-Studien aus dem Zeitraum von 1981 bis etwa 1995 wurde u. a. diese Klassifikation zugrunde gelegt (Schrappe et al. 2000c). Für die unterschiedlichen Ergebnisse ist die unterschiedliche Therapieintensität der ein-
zelnen Therapieprogramme die wahrscheinlichste Ursache (Schrappe et al. 2000a, c; Harms et al. 2000; Eden et al. 2000; Pui et al. 2000; Gaynon et al. 2000). Das ungünstigere Therapieergebnis von Jungen mit ALL im Vergleich zu Mädchen ist in allen Therapiestudien evident, aber nicht erklärt. Der Unterschied ist nicht durch Hodenrezidive erklärbar, sondern deutet sich schon früh durch eine höhere Rate von Prednison-resistenten Patienten an (Reiter et al. 1994; Schrappe et al. 2000c). Der initiale Befall des ZNS gilt als prognostisch ungünstiger Befund (Reiter et al. 1994; Schrappe et al. 1987, 1998b, c, 2000b, c; Bleyer 1989; Pui et al. 1998). In der Charakteristik dieser Patienten fällt auf, dass besonders viele Patienten mit ungünstigen prognostischen Variablen, wie männliches Geschlecht, hohe Leukozytenzahl, Alter über 10 Jahre und T-Zelltyp in dieser Gruppe vertreten sind (Bürger et al. 2003). Besondere Aufmerksamkeit verdient die Gruppe der Patienten, die zwar nicht die Kriterien des initialen ZNS-Befalls erfüllen, aber durch die Präsenz von Blasten im Liquor (<5 Zellen/µl; »CNS 2«) oder durch eine traumatische (»blutige«) Punktion (»TLP+«) imponieren (Gajjar et al. 2001). In der Studie ALL-BFM 95 war zwar die Charakteristik dieser beiden Subgruppen, die jeweils etwa doppelt so groß wie die Gruppe der ZNS-positiven Patienten (»CNS 3«) sind, ebenfalls ungünstiger als die der ZNS-negativen Patienten (»CNS 1«), im Ergebnis war aber lediglich die Gruppe der TLP+Patienten benachteiligt. Es ist zu vermuten, dass in dieser Gruppe doch einige Patienten enthalten sind, die in Wahrheit ebenfalls einen initialen ZNS-Befall hatten (Bürger et al. 2003). Der mediastinale Befall galt zwar ursprünglich als prognostisch ungünstig (Henze et al. 1981; Steinherz et al. 1998),
58
670
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
die Ergebnisse in aktuelleren BFM-Studien zeigen aber, dass trotz der Assoziation mit hohen Leukozytenzahlen keine ungünstigere Prognose mehr erkennbar ist, wenn für die hier fast ausschließlich diagnostizierte T-Zell-Leukämie eine adäquate Therapie zum Einsatz kommt (Reiter et al. 1994; Attarbaschi et al. 2002). Besonders günstig war das Abschneiden von Patienten mit der verwandten Entität der T-Zell-NonHodkin-Lymphome (Reiter et al. 2000). In Studie ALL-BFM 90, in der Patienten mit T-Zell-ALL aufgrund des schlechten Abschneidens in der relativ großen Subgruppe von Prednison Poor Respondern insgesamt ein schwächeres Therapieergebnis hatten, war der mediastinale Befall mit einer schlechteren Prognose assoziiert. Der testikuläre Befall durch leukämische Blasten wird nur sehr selten klinisch diagnostiziert, ist aber vermutlich mit einer etwas ungünstigeren Überlebenswahrscheinlichkeit assoziiert (Gajjar et al. 1996). 1,5% der ALL-Patienten haben ein Down-Syndrom (Dördelmann et al. 1998b). Auffällig ist bei diesen Patienten das Fehlen von initialem ZNS-Befall und des T-Zelltyps. Auch sprechen fast alle Patienten günstig auf die Prednison-Vorphase an. Wenn diese Patienten einer adäquaten Therapie zugeführt werden, ist ihre Rezidivwahrscheinlichkeit gegenüber ALL-Patienten ohne Down-Syndrom gleich. Patienten mit Down-Syndrom sind aber durch mehr Therapiekomplikationen gefährdet, die u. a. auf eine schlechtere Verträglichkeit von Methotrexat zurückzuführen ist (Dördelmann et al. 1998b). Immunphänotyp Die 4 wichtigsten Immunphänotypen der ALL gehen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten des ereignisfreien Überlebens einher (⊡ Abb. 58.8). Am günstigsten schneidet die Gruppe der Patienten mit common-ALL ab, die zugleich die größte Subgruppe ist. Das ungünstigere Abschneiden der Patienten mit pro-B-ALL und mit T-ALL ist insbesondere auf die hohe Rezidvrate von Patienten mit Prednison Poor Response zurückzuführen (Schrappe et al. 2000c). Außerdem ist in der Gruppe der Patienten mit pro-B-ALL die hohe Inzidenz von Säuglingen mit ALL zu berücksichtigen. Die Gruppe der T-ALL-Patienten hatte in der vorangegangenen Studie ALL-BFM 86 ein besseres Ergebnis, was insbesondere
⊡ Abb. 58.8. Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens nach 5 Jahren (5-J.-EFS) entsprechend des Immunphänotyps: Ergebnis der Studie ALL-BFM 90
auf das Ergebnis bei Patienten mit gutem Ansprechen auf Prednison zurückzuführen war (Reiter et al. 1994). Unveröffentlichte Daten zeigen, dass gerade diese Subgruppe der T-ALL von der Einführung der Hochdosistherapie mit Methotrexat profitierte. Auch die Beibehaltung der präventiven Schädelbestrahlung für Patienten mit T-ALL war offenbar vorteilhaft (Conter et al. 1997). In-vitro-Resistenztestung Eine In-vitro-Resistenztestung der Leukämiezellen mit den Zytostatika Prednisolon, Vincristin und Asparaginase (PVAScore) erwies sich in mehreren Studien als Prognosefaktor. In den COALL-Studien wird der PVA-Score nach der Stratifizierung in traditionelle Risikofaktoren für eine zweite Stratifizierung verwendet. Obwohl durch späte Rezidive die ursprüngliche Diskriminierung in 3 Prognosegruppen verloren ging, ist der prognostische Unterschied zwischen Patienten mit sehr sensitiven und sehr resistenten Leukämiezellen weiter signifikant (den Boer et al. 2003). Genetische Subtypen: Nosologische und prognostische Bedeutung In Tabelle 58.3 waren die wichtigsten Chromosomenanomalien zusammengestellt. Diese Tabelle demonstriert die hohe Spezifität der Chromosomenaberrationen sowohl für die immunologisch bestimmten Untergruppen der ALL als auch für die morphologisch definierten Subtypen der AML (FABKlassifikation). Vor allem diese enge Korrelation mit bestimmten Untergruppen macht die klinische Bedeutung der Chromosomenaberrationen im Kindesalter aus. Zytogenetische Befunde sind oft hilfreich bei der Einteilung der verschiedenen Formen. Wichtiger ist jedoch noch die prognostische Bedeutung (⊡ Abb. 58.9). Mehrere lang dauernde Therapiestudien konnten zeigen, dass einigen dieser Veränderungen eine prognostische Aussagekraft zukommt. So werden z. B. alle Kinder mit ALL und einer t(9;22) oder t(4;11) dem Hochrisikozweig zugeordnet (Schrappe et al. 2000a, c). Trotz einer seit vielen Jahren durchgeführten sehr intensiven Chemotherapie liegt das ereignisfreie Überleben (EFS) für diese Kinder bei 20–30% (Schrappe et al. 1998a; Pui et al. 2002). Im Gegensatz dazu korreliert die t(12;21) (Borkhardt et al. 1997) oder
671 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
⊡ Abb. 58.9. Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens nach 5 Jahren (5-J.-EFS) entsprechend der wichtigsten genetischen Untergruppen der ALL und bei Patienten mit normalem Karyotyp: Ergebnis der Studie ALL-BFM 90
Hyperdiploidie >50 mit einer sehr guten Prognose und einem EFS von 80–90%. Auch für die AML lassen sich prognostisch günstige und ungünstige Gruppen aufgrund der vorliegenden Aberrationen bilden: Während die t(8;21), t(15;17) und inv(16) eine bessere Prognose anzeigen, gilt ein Karyotyp mit einer Monosomie 7, 11q23-Aberrationen – außer t(9;11) – oder mit mehr als 2 verschiedenen Aberrationen als schlecht therapierbar (Grimwade et al. 1998). Die t(9;11) hatte in den vergangenen Studien auch eine eher schlechte Prognose, jedoch scheinen neuere Ergebnisse auf einen besseren Verlauf hinzudeuten. 58.9.2 Prognose anhand von Verlaufsparametern Klinischer und molekulargenetischer Response Das Therapieansprechen eines Kindes mit ALL lässt sich in der Regel nicht nur an der (zytologischen) Blastenreduktion im Blut und Knochenmark ablesen, sondern wird auch durch die Abnahme der Organmanifestationen und der Lymphknotenvergrößerungen und die Verbesserung des Allgemeinzustands evident. Die verschiedenen Untersuchungen zur Bestimmung des Therapieansprechens haben wesentlich zur Verfeinerung der Prognoseabschätzung beigetragen. Der große Vorteil der In-vivo-Sensitivitätsbestimmung liegt in der Erfassung sowohl von leukämiespezifischen Resistenzmechanismen als auch in der gleichzeitigen Erfassung von individuellen – pharmakogenetischen – Wirtsfaktoren, die für die Wirksamkeit der Chemotherapie entscheidend sein können. Die verschiedenen Methoden der Response-Erfassung wurden in Abschn. 58.5.3 bereits dargestellt. Die einfachste, gut reproduzierbare Methode ist die Bestimmung der Blastenreduktion im Blut nach der einwöchigen Prednison-Vorphase und der initialen intrathekalen MTX-Injektion (Riehm et al. 1987). Dieser In-vivo-Test war auch in der Studie ALL-BFM 90 in der Lage, 2 prognostisch ganz unterschiedliche Subgruppen präzise zu beschreiben (⊡ Abb. 58.10). Allerdings ist die Spezifität eines Prednison Good Response nur gering, wie an der Tatsache abzulesen ist, dass sich 72% der Rezidive in dieser großen Patientengruppe ereignen. Die Blastenreduktion im Blut war auch in einer Studie aus
St. Jude von großer prognostischer Relevanz, obwohl dort die initiale Therapie auch andere Medikamente umfasste (Gajjar et al. 1995). Wenn die initiale Blastenzahl niedrig ist (<1000/µl), lässt sich der Prednison-Response sinnvollerweise nicht mehr an der Grenze von 1000 Blasten an Tag 8 der Therapie festlegen. Es ließ sich zeigen, dass solche Patienten eine günstigere Prognose haben als Patienten mit Prednison Good Response, die initial >1000 Blasten hatten. Wenn die Blasten in der Vorphase ansteigen, aber an Tag 8 noch nicht über 1000 angestiegen sind, ist keine schlechtere Prognose erkennbar (Lauten et al. 2001). Das Ansprechen auf Kortikosteroide lässt sich nicht nur in klinischen Subgruppen wie z. B. bei Säuglingen belegen (Dördelmann et al. 1999), sondern hat auch zum Verständnis von Heterogenität in zytogenetisch definierten Subgruppen, wie z. B. der Gruppe von Patienten mit Ph+-ALL beigetragen (Schrappe et al. 1998a). Dies ist von großer praktischer Bedeutung, da Patienten mit Ph+-ALL, die inadäquat auf die Prednison-Vorphase ansprechen, mit der derzeitig verfügbaren Chemotherapie keine realistische Chance haben, in dauerhafte Remission zu kommen. Damit sind diese Patienten bereits nach einer Woche Therapie für eine experimentelle Therapie qualifiziert, während alle Ph+-ALL-Patienten mit gutem Ansprechen auf Prednison aufgrund der allein durch Chemotherapie schon signifikant besseren Heilungschance sorgfältig auf eine allogene Blutstammzelltransplantation vorbereitet werden können. Für diese Gruppe ist der Erfolg der HSCT besonders gut belegt; vermutlich ist die Qualität der (molekularen) Remission zum Zeitpunkt der Transplantation erheblich besser als bei den Patienten mit schlechtem Ansprechen auf Prednison. Das Ansprechen nach zytologischen Kriterien im Knochenmark wird von vielen Studiengruppen für die Stratifizierung genutzt, obwohl die Bestimmung des tatsächlichen Blastenbestand durch technische Mängel (z. B. inadäquate, nicht repräsentative Aspiration) erheblich eingeschränkt sein kann. Das Ansprechen im KM nach 7 oder 14 Tagen Therapie erlaubt die Identifizierung von Patienten mit hohem Rezidivrisiko (Steinherz et al. 1996; Nachman et al. 1997; Schrappe et al. 1996). Eigene aktuelle Daten zeigen zwar, dass die Wahrscheinlichkeit für ereignisfreies Überleben für Patienten mit einem M3-Mark (>25% Blasten) an Tag 15 erheblich ungüns-
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
IV
⊡ Abb. 58.10. Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens nach 8 Jahren (8-J.-EFS) entsprechend des Therapieansprechen auf die Prednison-Vorphase und eine intrathekale Gabe von Methotrexat:
der Prednison-Response; Ergebnis der Studie ALL-BFM 90. 72% der Ereignisse ereigneten sich in der prognostisch günstigen, aber großen Gruppe der Patienten mit »Prednison Good Response«
⊡ Tabelle 58.7. Charakteristika von MRD-Detektionsmethoden bei ALL
Empfindlichkeit Anwendbarkeit B-Vorläuferzell-ALL T-ALL
Durchflusszytometrie (Immunphänotypisierung)
PCR-Analyse chromosomaler Aberrationen (Detektion von Fusionsgenen mit RT-PCR)
PCR Analyse der klonalen Ig/ TZR-Gene (in den junktionalen Regionen)
1:1000 (bis 1:10.000)
1:10.000 (maximal bis 1:100.000)
1:10.000 (bis 1:100.000)
80–90%
40–50%*
90–95%
90–95%
10–25%
95%
Vorteile
Für die meisten Patienten geeignet Relativ günstige Kosten Rasche Ergebnisse (1–2 Tage)
Anwendbar für praktisch alle Patienten, wenn IGH-, IGKKde-, TZRG- und TZRD-GenRearrangements als klonale Marker genutzt werden Sensitiv und patientenspezifisch Rasche Ergebnisse (2–3 Tage), wenn die klonspezifischen Regionen bekannt sind, und die quantitative PCR genutzt wird
Nachteile und potenzielle Probleme
Limitierte Sensitivität Mindestens 2 aberrante Immunphänotypen sollten pro Patient verfügbar sein, m falsch-positive Resultate zu vermeiden
Nur in einer Minderzahl von Patienten nutzbar Kontamination mit PCR-Produkten kann zu falsch-positiven Resultaten führen Expressionsniveau ist nicht notwendigerweise mit Zahl von Leukämiezellen korreliert
Relativ einfach und günstige Kosten Sensitiv und leukämiespezifisch Stabile Marker während des Verlaufs Rasche Ergebnisse: 2–3 Tage Geeignet für die Überwachung einheitlicher Patientengruppen (z. B. Ph+ ALL)
* bei ALL im Kindes- und Jugendalter ist am häufigsten t(12;21) mit TEL-AML1 als Fusionsgen.
Zeitaufwendige Identifikation der leukämiespezifischen Genabschnitte und der Sensitivität der Sonden Relativ teuer Wegen möglicher klonaler Evolution sind pro Patient 2 Gensonden anzustreben, um falsch negative Resultate zu vermeiden
673 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
⊡ Abb. 58.11. Wahrscheinlichkeit des rezidivfreien Überleben (pRFS) entsprechend des DNA-basierten MRD-Nachweises nach 5 (Zeitpunkt 1) bzw. 12 Wochen Therapie (Zeitpunkt 2) und entsprechend des Prednison-Responses (PPR, »Prednison Poor Response«): Aktualisiertes Ergebnis der I-BFM-SG Studie zu MRD (van Dongen et al. 1998). Diese Analyse bildet die Basis für die Definition neuer MRD-basierter Risikogruppen
tiger ist als für Patienten mit einem M1-Mark (<5% Blasten), aber aufgrund der sehr unterschiedlichen Gruppengrößen verteilen sich die Rezidive doch gleichermaßen auf die 3 Untergruppen (M1/M2/M3). Also ist auch diese Methode durch eine unzureichende Sensitivität und Spezifität charakterisiert. Vereinzelt wird auch der KM-Befund von Tag 21 oder 28 zur Stratifizierung genutzt; entsprechend klein ist der Anteil der Patienten mit noch hohem Blastenbestand (Janka-Schaub et al. 1992). Die präzisere Definition von Leukämiesubtypen durch immunologische und molekulargenetische Charakteristika hat neue Möglichkeiten zur Remissionskontrolle und damit auch zur Erfassung von MRD eröffnet. Besonders gut eignen sich solche Methoden, die leukämiespezifische Marker nutzen können, wie z. B. die Expression von Fusionsgenen. Mithilfe der reversen Transkriptase PCR lassen sich bei Patienten mit ALL entsprechende Marker wie z. B. TEL/AML1 oder BCR/ABL detektieren (Borkhardt et al. 1997; Harbott et al. 1995). Damit lässt sich ein relativ großer Anteil, aber weniger als 50% der ALL-Patienten auch auf MRD testen, wobei die Quantifizierung sorgfältig kontrolliert werden muss (Nakao et al. 1996; Seeger et al. 2001). Der weitaus größere Anteil an ALL-Patienten kann durch den Nachweis des aberranten Immunphänotyps (Coustan-Smith et al. 1998) oder durch die DNA-basierte klonspezifische Analyse der Rearrangements in den T-Zell-Rezeptor- und den Immunglobulingenen charakterisiert werden (van Dongen et al. 1998; Cave et al. 1998; Hansen-Hagge et al. 1989; Brisco et al. 1994). ⊡ Tabelle 58.7 stellt die verschiedenen Methoden nebeneinander (für weitere Details: Szczepanski et al. 2001). Dieser Ansatz ist deutlich aufwendiger, kann aber auch systematisch organisiert und standardisiert werden (Pongers-Willemse et al. 1998, 1999; Nakao et al. 2000; Panzer-Grümayer et al. 2000). Die prospektive Analyse von MRD in großen Studien ist die Voraussetzung, um den prognostischen Stellenwert von MRD-Befunden objektiv zu ermitteln. Zwei große Studien haben die prognostische Bedeutung von MRD durch die semiquantitative Messung an festgelegten Zeitpunkten eindrucksvoll belegt (van Dongen et al. 1998; Cave et al. 1998). Die von der Internationalen BFM Studiengruppe initiierte Studie konnte durch die kombinierte Analyse insbesondere von frühen Kontrollzeitpunkten (MRD nach 5 und 12 Wo-
chen) 3 Patientengruppen definieren, die sich in der jeweiligen Rezidivinzidenz drastisch unterschieden (⊡ Abb. 58.11). Besonders bemerkenswert war die Größe einer neuen Gruppe von Patienten, die trotz des Einsatzes von hochempfindlichen Sonden bereits nach 5 Wochen Chemotherapie keine messbaren minimale Resterkrankung mehr aufwiesen und fast ausnahmslos rezidivfrei geblieben sind. Eine kleinere Studie konnte zeigen, dass bereits an Tag 15 der ALL-BFM Therapie einige Patienten frei von MRD sind und rezidivfrei verbleiben (Panzer-Grümayer et al. 2000). Der Nachweis von MRD zur Response-Bewertung zeigt etwas unterschiedliche Muster bei Patienten mit B-Vorläuferzell- und T-ALL (Biondi et al. 2000b; Willemse et al. 2002). Es scheint, dass der »MRD-Response« für Patienten mit T-ALL eine noch stärker diskriminierende Bedeutung hat. Korrelationen zwischen MRD- und Prednison-Response werden in verschiedenen Studien gesehen (van Dongen et al. 1998; Schmiegelow et al. 2001). 58.10
Zukünftige Entwicklungen
Klinische Charakteristika (z. B. Alter, Leukozytenzahl, Organbefall) und biologische Faktoren (Translokationen, Immunphänotyp, In-vitro-Chemosensitivität) dienen der Prognoseabschätzung, können aber nur in begrenztem Umfang das individuelle Anprechen auf die Therapie vorhersagen. Die In-vivo-Sensitivität der Erkrankung gegenüber der Chemotherapie ist aber für fast alle Patienten der entscheidende Prognoseparameter, da er auch so genannte Wirtsmechanismen (z. B. Medikamentenmetabolisierung) mit berücksichtigt. Gut reproduzierbar ist der zytologische Nachweis von leukämischen Blasten im Knochenmark und v. a. im Blut zu definierten Zeitpunkten nach Einleitung der Chemotherapie; durch den Nachweis von MRD lässt sich das Therapieansprechen weitaus präziser beschreiben. Allerdings muss die genaue prognostische Signifikanz für jede Therapie erst prospektiv ermittelt werden. Die Studien zur Bestimmung von minimaler Resterkrankung haben die Stratifizierung aktueller Therapieprotokolle wesentlich geprägt. Die Wahl der adäquaten Methode für den klinischen Einsatz wird maßgeblich durch die Fragestellung,
58
674
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
IV
⊡ Abb. 58.12. Stratifizierung in Studie ALL-BFM 2000: Risikogruppen werden mit Ausnahme der Translokationen t(4; 11) und t(9;22) ausschließlich entsprechend des Therapieansprechens definiert. Die MRD-basierte Stratifizierung führt zu Therapiefragen, die sich auf
aber auch durch die logistische und technische Machbarkeit bestimmt. Wenn das primäre Ziel die Identifikation von Hochrisikopatienten ist, genügt eine weniger empfindliche Methode. Die AIEOP- und ALL-BFM-Studiengruppe haben sich gemeinsam das Ziel gesetzt, die Ergebnisse der I-BFMSG MRD-Studie für eine umfassende Überarbeitung ihrer Stratifizierung und Postinduktionstherapie zu nutzen (⊡ Abb. 58.12). Das besondere Ziel dieser Studie ist die Frage, ob das Verschwinden von MRD an 2 frühen Postinduktionszeitpunkten (nach 5 und 12 Wochen) eine Reduktion der Reinduktionstherapie und damit eine Einsparung von potenziell toxischen Substanzen und eine Reduktion von Komplikationen erlaubt. Für Patienten mit geringer MRD nach der Induktion sind nur moderate Therapiemodifikationen vorgesehen, während die Patienten der Hochrisikogruppe sowohl mit einer anderen Chemotherapie als auch mit einem breiteren Spektrum von Transplantationsmodalitäten behandelt werden können. Die intensiven Analysen zum Therapie-Response haben bereits angedeutet, dass nicht allein die Resistenz der Leukämiezellen für das heterogene Ansprechen verantwortlich sein können. Es mehren sich die Hinweise, dass sowohl das frühe Ansprechen, wahrscheinlich aber auch das langfristige Therapieergebnis (Rezidive, Zweitmalignome, Komplikationen) durch die genetische Variation der Patientenpopulation determiniert werden (Relling et al. 1998, 1999; Evans u. Relling 1999; Evans et al. 2001; Stanulla et al. 1999, 2000; Anderer et al. 2000; Lauten et al. 2002). Dies eröffnet langfristig die Möglichkeit der »wirtspezifischen« Therapie.
die unterschiedliche Intensität und Komposition der Reintensivierungstherapie beziehen. Zur Erläuterung sind die kumulativen Dosierungen kritischer Substanzen in den (randomisierten) Therapiezweigen angeben
Die Entschlüsselung der für die leukämische Transformation und den funktionellen Phänotyp verantwortlichen Gene ist ein seit langem angestrebtes Ziel der Leukämieforschung. Durch die Kombination von optimierten und automatisierten molekulargenetischen Analyseverfahren und Methoden der Informationsverarbeitung entstand die Technik der Microarray-Analysen zur Bestimmung von Expressionsprofilen. Erste Ergebnisse an Zellen von ALL-Patienten haben vielversprechende Perspektiven aufgezeigt (Chen et al. 2001). Ob diese Technologie langfristig die am Anfang dieses Kapitels dargestellte Diagnostik ablösen wird, bleibt noch unklar. Zweifelsohne ist die Technik wie auch andere derzeit entwickelte Verfahren als Instrument zur Identifizierung funktionell und prognostisch relevanter Gene interessant, bedarf aber der Ergänzung durch weitere Analysen.
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
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679 58 · Akute lymphoblastische Leukämien
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58
Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie A. von Stackelberg, G. Henze
IV
59.1 59.2 59.3 59.4 59.5 59.6
Historischer Hintergrund – 680 Ätiologie und Pathogenese – 680 Biologie der Erkrankung – 681 Klinisches Erscheinungsbild – 682 Differenzialdiagnose – 682 Diagnostik – 682
59.6.1 59.6.2
Initialdiagnostik – 682 Verlaufsdiagnostik – 683
59.7 59.8
Klassifikation – 683 Therapie – 684
59.8.1 59.8.2 59.8.3
Chemotherapie – 684 Radiotherapie – 684 Stammzelltransplantation – 685
59.9 Prognose – 686 59.10 Komplikationen – 687 59.11 Spätfolgen – 687 Literatur – 688
Der nunmehr 6-jährige Sebastian kommt mit Kopfschmerzen und Erbrechen in die Ambulanz der hämatologisch-onkologischen Abteilung. Vor fast 3 Jahren war er wegen einer akuten lymphoblastischen Leukämie, einer TEL/AML1 positiven common-ALL, gemäß dem Protokoll ALL-BFM 2000 behandelt worden. Ein sogleich angefertigtes Blutbild zeigt einen Abfall von Hämoglobin und Thrombozyten. Darüber hinaus finden sich einzelne leukämieverdächtige Zellen im Ausstrich. Es werden eine Lumbal- und eine Knochenmarkpunktion durchgeführt. Im Liquorpräparat finden sich lymphoblastische Leukämiezellen mit der für das Liquormilieu typischen Morphologie. Der Knochenmarkausstrich zeigt eine leukämische Metaplasie mit 90% Leukämiezellen. Bei einer umfangreichen klinischen sowie sonographischen und röntgenologischen Untersuchung findet sich keine weitere Organmanifestation. Es bestätigt sich somit ein spätes kombiniertes Knochenmarkrezidiv einer TEL/AML1positiven c-ALL mit ZNS-Beteiligung. Damit gehört Sebastian einer intermediären Risikogruppe an. Er wird nun gemäß dem Rezidivprotokoll ALLREZ BFM 2002 behandelt. Zunächst erhält er Blöcke bestehend aus einer intensiven Kombinationschemotherapie. Trotz frühem Erreichen einer zytologischen Remission im Knochenmark und im Liquor lässt sich im Therapieverlauf mit molekularbiologischen Methoden eine erhöhte minimale residuelle Leukämie nachweisen. Bei dieser Konstellation ist die Prognose mit alleiniger Chemotherapie ungünstig. Deshalb wird zur weiteren Erhaltung der Zweitremission eine Stammzelltransplantation empfohlen.
59.1
Historischer Hintergrund
In den 60er- und 70er-Jahren wurde zur Behandlung von Kindern mit ALL-Rezidiv meist die gleiche Chemotherapie wie bei der Erstbehandlung verwendet. Damit konnte zwar ein Teil der Kinder in eine zweite komplette Remission gebracht werden, diese war jedoch meist von kurzer Dauer (Cornbleet u. Chessells 1978; Creutzig u. Schellong 1980; Rivera et al. 1976). In den 80er- und 90er-Jahren wurden analog zur Erstbehandlung der ALL Studien konzipiert mit dem Ziel, die Behandlung von Kindern mit ALL-Rezidiv prospektiv zu optimieren. Dabei wurden Mehrfachkombinationen und Hochdosis-Regime von Zytostatika eingesetzt. Als zusätzliches Element zur Erhaltung einer zweiten Remission wurde die Stammzelltransplantation (SZT) eingeführt, die aufgrund einer Hochdosischemo/Radiotherapie im Rahmen der Konditionierung sowie aufgrund eines anhaltenden »Graft-versus-leukemia«-Effektes zu einer besseren Rezidivfreiheit führte (Johnson et al. 1981; Woods et al. 1983). Allerdings musste eine erheblich höhere therapiebedingte Toxizität und Mortalität in Kauf genommen werden, so dass die Indikation zur SZT nach wie vor ein kontroverses Thema und Gegenstand von klinischen Studien ist. Seit 1983 führt im deutschsprachigen Raum die ALLREZ-BFM-Studiengruppe prospektive multizentrische Studien zur Behandlung von Kindern mit ALL-Rezidiv durch (Henze et al. 1994, 1989). In diesem Kapitel wird exemplarisch auf Behandlung und Ergebnisse v. a. dieser Studien-Gruppe Bezug genommen. 59.2
Ätiologie und Pathogenese
Ein ALL-Rezidiv kann aufgrund einer Resistenz von Leukämiezellen gegenüber der initialen Chemotherapie oder aufgrund einer Persistenz der Zellen an einem vor der Chemotherapie relativ geschützten Ort entstehen. Dies betrifft insbesondere das ZNS und den Hoden, die von der systemischen Chemotherapie nur bedingt erreicht werden und trotz spezifischer lokaler Protektion im Rahmen der Erstbehandlung neben dem Knochenmark typische Rezidivorte darstellen. Auf isoliert extramedulläre Rezidive regelmäßig folgende systemische Rezidive lassen auf eine Rückbesiedlung des Knochenmarks durch Leukämiezellen aus dem Extrakompartiment schließen. Die Leukämiezellen weisen beim ALL-Rezidiv in der Regel gleiche morphologische, immunologische und molekulargenetische Merkmale wie bei der Ersterkrankung auf. Der Nachweis klonaler Stabilität – auch bei sehr späten Rezidiven – spricht gegen die Vermutung, dass es sich um eine Zweitleukämie handeln könnte (Lo Nigro et al. 1999). Gleichzeitig lassen sich aber Veränderungen nachweisen, die
681 59 · Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie
Hinweise auf die Ätiologie der Rezidivs geben. So zeigen die Zellen beim Rezidiv im Vergleich zur Ersterkrankung ein wesentlich ungünstigeres Resistenzprofil gegenüber Zytostatika (Klumper et al. 1995). Es muss demnach entweder eine Selektion von resistenteren Subklonen stattgefunden haben, oder zunächst sensible Zellen haben im Rahmen der Therapie Resistenzmechanismen entwickelt. Selten lassen sich gegenüber der Ersterkrankung veränderte morphologische oder auch immunologische Merkmale nachweisen (Lilleyman et al. 1995; van Wering et al. 1995). Darüber hinaus sind auch Veränderungen von klonspezifischen molekulargenetischen Markern möglich, die sich im Rahmen von Selektion als klonaler »shift« oder als klonale Evolution abspielen können (Guggemos et al. 2003; Rosenquist et al. 1999; Steward et al. 1994). Im Kap. 58 ist der Nachweis von präleukämischen TEL/ AML1-positiven Klonen erwähnt, die möglicherweise erst durch weitere Mutationen zu einer ALL transformiert werden (Wiemels et al. 1999). Erste Untersuchungen an einzelnen Patienten geben Hinweise darauf, dass diese Hypothese auch für die Rezidivsituation zutreffen könnte. Demnach kann ein ALL-Rezidiv aus einem persistierenden und erneut transformierten präleukämischen Klon hervorgehen, auch wenn der Klon der Ersterkrankung durch die Initialbehandlung anhaltend eliminiert wurde (Konrad et al. 2003). Dazu passt der für TEL/AML1-positive Leukämien typische vergleichsweise späte Rezidivzeitpunkt. Die Häufigkeit von ALL-Rezidiven hängt maßgeblich von der Effektivität der Erstbehandlung ab. Deren zunehmende Intensivierung senkt die Rezidivhäufigkeit, führt aber durch einen höheren Selektionsdruck gleichzeitig zu einer Zunahme der Resistenz der Zellklone, die dann für das Rezidiv verantwortlich sind. ! Somit steht der Behandlungserfolg der Rezidivtherapie mit der Art der Erstbehandlung in direktem Zusammenhang und ist nur in Kenntnis dieser interpretierbar.
59.3
Biologie der Erkrankung
Der bei der Ersterkrankung nachgewiesene Immunphänotyp ebenso wie klonspezifische Translokationen mit ihren entsprechenden Fusionstranskripten finden sich beim ALLRezidiv wieder (⊡ Tabelle 59.1). Im Gegensatz zur Ersterkrankung sind Leukämien der T-Zellreihe im Rezidiv wesentlich aggressiver und resistenter als die der B-Zellreihe. Die Rezidive treten zu einem früheren Zeitpunkt auf, und die Remissionsrate sowie die Wahrscheinlichkeit rezidivfreien Überlebens in zweier Remission sind geringer (Chessells et al. 1994; Henze et al. 1989). Die prognostisch ungünstigen Translokationen sind bei Kindern mit ALL-Rezidiv im Vergleich zur Ersterkrankung überrepräsentiert (⊡ Tabelle 59.2). Dies betrifft insbesondere das BCR/ABL-Fusionstranskript, das Korrelat zur Translokation t(9;22) (Beyermann et al. 1997). Kontrovers wird die Rezidivrate von TEL/AML1-positiven Leukämien (kryptische Translokation t(12;21)) beurteilt, die in der Literatur zwischen 0 und 20% angegeben wird (Rubnitz et al. 1999; Seeger et al. 1999). Dieses Fusionstranskript ist mit prognostisch günstigen Faktoren assoziiert. Rezidive TEL/AML1-positiver Klone treten vergleichsweise spät auf (Seeger et al. 2001). So mag eine längere Beobachtungszeit zu einer Annäherung der erwähnten Rezidivraten führen. Andererseits sind TEL/ AML1-positive Leukämiezellen gegenüber bestimmten Zytostatika (v. a. L-Asparaginase) besser empfindlich, so dass auch die Behandlung selbst die divergenten Ergebnisse erklären könnte (Ramakers-van Woerden et al. 2000). Bei etwa 70% der ALL-Rezidivpatienten lässt sich keines der bekannten Fusionstranskripte nachweisen. Die genetische Grundlage für die Veränderung des Resistenzprofils gegenüber Zytostatika ist noch weitgehend ungeklärt. Das mit Zytostatikaresistenz assoziierte P-Glykoprotein, Polymorphismen von Zytostatika metabolisierenden Enzymen und am Apoptosemechanismus beteiligte Proteine mögen hier eine Rolle spielen (Dhooge u. De Moerloose 1999; Dhooge et al. 1999; Ivy et al. 1996; Prokop et al. 2000).
⊡ Tabelle 59.1. Häufigkeit der Immunphänotypen bei Kindern mit erstem ALL-Rezidiv der Studien ALL-REZ BFM 90, 95 und 96 inklusive Pilotstudien (zum Vergleich Ergebnisse der Erstbehandlungsstudien ALL-BFM 90 und 95, mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. M. Schrappe)
Linie
Reife*
T
Prä-T
90
7,1%
(3,4%)
Kortikale T
56
4,4%
(7,1%)
Reife T
38
3,0%
(1,7%)
Nicht klassifiziert B-Vorläufer
Prozent
–
(Prozent bei Ersterkrankung)
(0,8%)
Pro-B
88
6,9%
(3,7%)
Calla
693
54,7%
(62,0%)
Prä-B
249
19,7%
(17,7%)
0,3%
(0,2%)
Nicht klassifiziert Biphänotypische Leukämie Keine Untersuchung durchgeführt bzw. keine Diagnose möglich Gesamt**
N
– 4
(0,3%)
49
3,9%
(3,1%)
1267
100%
(100%)
* Klassifikation gemäß (modifizierten) EGIL-Kriterien (Bene et al. 1995); **Patienten ohne Angaben zur Untersuchung sind ausgeschlossen.
59
682
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 59.2. Häufigkeit der bekannten Fusionstranskripte bei Kindern mit erstem ALL-Rezidiv der Studien ALL-REZ BFM 90, 95 und 96 inklusive Pilotstudien
Linie
BCR/ABL
IV
TEL/AML1 MLL/AF4
N*
Prozent
Positiv
59
7,9%
Negativ
691
92,1%
Positiv
82
17,2%
Negativ
396
82,8%
Positiv
10
4,9%
Negativ
193
95,1%
(Prozent bei Ersterkrankung) (3%) (22%) (4%)
* Patienten ohne Untersuchung/ohne Angaben sind ausgeschlossen.
59.4
Klinisches Erscheinungsbild
es zu einer überschießenden lymphatischen Regeneration, einem »lymphatischen Rebound« kommen. Ein entsprechender Knochenmarkbefund kann mit einem beginnenden Rezidiv verwechselt werden. ZNS-Rezidiv. Differenzialdiagnosen zum ZNS-Rezidiv sind Meningitiden und Enzephalitiden, sowie eine chemische Arachnoiditis nach intrathekaler Chemotherapie. Im Liquor zeigt sich dann eine reaktive granulozytäre bzw. lymphozytäre Pleozytose ohne das typische monomorphe Zellbild einer »meningeosis leukaemica«. Bei nicht eindeutigen Befunden kann eine Immunphänotypisierung der Zellen in Liquor oder eine molekulargenetische Untersuchung hinsichtlich möglicher bei Ersterkrankung nachgewiesener klonaler Marker weiterführend sein. Neurologische Symptome können auch durch Hirntumoren als Zweitmalignom nach Chemo-/Strahlentherapie bedingt sein. Hodenrezidiv. Das Hodenrezidiv muss von anderen schmerz-
losen Hodenschwellungen wie einer Variko- oder Hydrozele unterschieden werden.
Knochenmarkrezidiv. Kinder mit einem Knochenmarkre-
zidiv leiden wie bei Ersterkrankung an einer metaplasiebedingten Knochenmarkinsuffizienz, die mit einer Anämie, Thrombozytopenie und Granulozytopenie einhergeht. Darüber hinaus kann die Zahl von Leukämiezellen im Blut erhöht sein. Da es sich in der Regel um resistentere Klone handelt, sind die Zellzerfallsparameter (LDH, Harnsäure) nicht in dem Ausmaß wie bei der Ersterkrankung erhöht. Ein Zellzerfallssyndrom im Rahmen der Induktionstherapie ist dennoch möglich und es bedarf einer ausreichenden Diurese sowie einer engmaschigen Überwachung der Zellzerfallsparameter. ZNS-Rezidiv. Kinder mit einem ZNS-Rezidiv fallen durch
diverse neurologische Symptome auf. Dies können Hirndruckzeichen mit Kopfschmerzen und Nüchternerbrechen sein und/oder Hirnnervenlähmungen, psychische Alterationen oder Polyphagie. Weitere Rezidive. Ein Hodenrezidiv imponiert fast immer als schmerzlose, meist derbe ein- oder beidseitige testikuläre Schwellung. ALL-Rezidive können darüber hinaus an vielen anderen extramedullären Orten auftreten. Lymphknotenrezidive treten besonders häufig bei der T-ALL auf, bei der auch Mediastinaltumoren zu einer oberen Einflussstauung und Dyspnoe führen können. Es kann zu Pleuraergüssen kommen, in denen sich meist Leukämiezellen nachweisen lassen. Selten kann das Auge bzw. die Orbita betroffen sein, entsprechend verbunden mit Sehstörung oder Exophthalmus.
59.6
Diagnostik
59.6.1 Initialdiagnostik Das diagnostische Vorgehen bei einem ALL-Rezidiv entspricht dem bei der Ersterkrankung ( Kap. 58). Zur Klassifikation der ALL werden erneut die Zytomorphologie, Zytochemie, Immunphänotypisierung sowie Zyto- und Molekulargenetik der Leukämiezellen herangezogen. Zur Beurteilung der Knochenmarkbeteiligung ist ein Differenzialblutbild sowie ein Knochenmarkaspirat obligatorisch. Durch eine Lumbalpunktion und umfassende bildgebende Diagnostik werden weitere extramedulläre Manifestationen der ALL erfasst. Während ein isoliertes Knochenmarkrezidiv per definitionem bei einem Blastenanteil von über 25% im Knochenmarkausstrich vorliegt (KM3), spricht man bei extramedullären Rezidiven schon bei einem Blastenanteil von mindestens 5% (5%–25%: KM2) von einer KM-Beteiligung und demnach von einem kombinierten Rezidiv. Eine Identifizierung klonspezifischer Marker an Hand von Rearrangements in den Genen des T-Zellrezeptors (TCR) und der schweren Kette der Immunglobuline (IgH) ist erneut notwendig, da ein klonaler Shift der Leukämie nicht auszuschließen ist. Diese dienen auch im Rezidivfall zur Quantifizierung der minimalen Resterkrankung unterhalb der zytologischen Nachweisgrenze, die sich kürzlich als wesentlicher prognostisch relevanter Parameter erwiesen hat (Eckert et al. 2001). Definition
59.5
Differenzialdiagnose
Knochenmarkrezidiv. Von einem Knochenmarkrezidiv sind Sekundärleukämien zu unterscheiden, wie z. B. eine AML oder ein myelodyplastisches Syndrom (MDS). Neben klinischen Hinweisen sind zur Differenzierung Zytologie, Zytochemie, Immunphänotypisierung und Molekulargenetik unerlässlich. Nach dem Abschluss der Chemotherapie kann
Ein ZNS-Rezidiv ist definiert als eindeutiger morphologischer Nachweis von Leukämiezellen bei einer Liquorzellzahl von mehr als 5/µl.
Lymphoblastische Leukämiezellen im Liquor sehen gegenüber Blut- und KM-Ausstrichen deutlich alteriert aus: Der Zellkern ist meist gelappt bzw. »schmetterlingförmig« ein-
683 59 · Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie
b
a
⊡ Abb. 59.1a, b. a Lymphoblastische Leukämiezellen im Liquormilieu; b lymphoblastische Leukämiezellen im Knochenmarkausstrich (FAB L1)
gezogen, es findet sich häufig eine deutliche perinukleäre Aufhellung (⊡ Abb. 59.1). Bei blutiger Kontamination des Liquors können Blasten aus dem Blut nachweisbar sein. Diese weisen allerdings nicht die Liquormilieu-bedingten Alterationen auf, und ihr Verhältnis zu anderen kernhaltigen Zellen und zu Erythrozyten sollte dem im Blutbild entsprechen. Diese Situation wird nicht als ZNS-Rezidiv gewertet, ihr wird allerdings durch eine intensivierte intrathekale Therapie Rechnung getragen. Selten sind bei ZNS-Rezidiven keine Leukämiezellen im Liquor nachweisbar. In solchen Fällen lässt sich das Rezidiv manchmal als Kontrastmittelanreicherung oder als Lymphom durch ein MRT des Kopfes darstellen. Lymphknoten und Hodenschwellung werden sonographisch untersucht. Echogenität und die Perfusion können hilfreich zur Abgrenzung gegenüber reaktiven Erkrankungen sein. Isolierte extramedulläre Manifestationen müssen bioptisch gesichert werden. Bei einem Hodenrezidiv muss zum Ausschluss eines mikroskopischen Befalls auch der kontralaterale, klinisch nicht befallene Hoden biopsiert werden. Wie bei der Ersterkrankung werden vor dem Beginn der Chemotherapie Ausgangsbefunde der relevanten Organfunktionen erhoben. Schließlich erfolgt eine umfangreiche Untersuchung klinisch-chemischer und virusserologischer Parameter sowie eine HLA-Typisierung, die für eine eventuell notwendige Knochenmarkspendersuche benötigt und ggf. bei der Auswahl geeigneter Thrombozytenkonzentrate berücksichtigt wird. 59.6.2 Verlaufsdiagnostik Im Verlauf der Therapie erfolgen regelmäßige Knochenmarkpunktionen zur Einschätzung des Ansprechens auf die Therapie. Definition Eine Remission liegt vor, wenn der Anteil an Leukämiezellen weniger als 5% beträgt, und ein Wiedereinsetzen der normalen Blutbildung erkennbar ist.
Zur Definition einer vollständigen Remission gehört auch, dass keine extramedullären Manifestationen der ALL mehr nachweisbar sind. Dazu gehört ein blastenfreier Liquor ebenso wie der fehlende Nachweis andere Organmanifestationen
durch entsprechende sonographische, röntgenologische bzw. computer- oder kernspintomographische Methoden. Molekulargenetische Untersuchungen des Knochenmarks erlauben das Verfolgen des Ansprechens auf die Therapie auch unterhalb der zytologischen Nachweisgrenze. Die auf diese Weise bestimmte minimale Resterkrankung stellt wie bei der Ersterkrankung auch beim ALL-Rezidiv einen entscheidenden Prognosefaktor dar, der inzwischen bei der Indikation für eine Stammzelltransplantation bei Intermediärrisiko-Patienten Berücksichtigung findet (Eckert et al. 2001). 59.7
Klassifikation
Zur Klassifikation des ALL-Rezidivs dienen die Parameter Zeitpunkt und Ort des Rezidivs sowie der Immunphänotyp der ALL. Je früher das Rezidiv erfolgt, desto ungünstiger ist die Prognose (Gaynon et al. 1998). Kinder mit einem isolierten KM-Rezidiv haben eine schlechtere Prognose als die mit einem kombinierten (Bührer et al. 1993). Am günstigsten ist die Prognose bei isoliert extramedullärem Rezidiv. Bei der T-ALL ist die Prognose deutlich schlechter als bei einer B-Vorläuferzell-ALL. Betrachtet man diese Risikofaktoren gemeinsam in einer multivariaten Analyse, so ergibt sich eine unabhängige signifikante prognostische Relevanz aller 3 Parameter. Aus diesen lässt sich eine Risikoeinteilung konstruieren, die eine Zuordnung der Patienten zu Gruppen mit deutlich unterschiedlicher Prognose erlaubt (⊡ Tabelle 59.3). Bei Kindern mit spätem (mehr als 6 Monate nach Ende der Dauertherapie), isoliert extramedullärem Rezidiv ist eine Überlebensrate von etwa 75% zu erwarten (Standardrisiko). Bei frühen isolierten oder sehr frühen Knochenmarkrezidiven oder jeglichen KM-Rezidiven einer T-ALL liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit mit alleiniger Chemotherapie unter 10% (Hochrisiko). Bei den übrigen Patienten (spätes isoliertes KM-Rezidiv, spätes oder frühes kombiniertes Rezidiv einer B-Vorläufer-ALL sowie frühes oder sehr frühes isoliert extramedulläres Rezidiv) liegt die Überlebensrate bei ca. 35%.
59
684
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 59.3. Klassifikation von Kindern mit ALL-Rezidiv an Hand der Parameter Zeitpunkt und Lokalisation des Rezidivs sowie Immunphänotyp der Erkrankung. Definition: sehr früh: innerhalb von 18 Monaten nach Erstdiagnose; früh: innerhalb von 6 Monaten nach Ende der vorangegangenen Chemotherapie; spät: später als 6 Monate nach Ende der vorangegangenen Chemotherapie
Lokalisation/Zeitpunkt
IV
Sehr früh Früh Spät
Immunphänotyp: non-T
Immunphänotyp: (prä-)T
EM isoliert
KM kombiniert
KM isoliert
EM isoliert
KM kombiniert
KM isoliert
IR IR SR
HR IR IR
HR HR IR
IR IR SR
HR HR HR
HR HR HR
EM extramedullär; HR Hochrisiko; IR Intermediärrisiko; KM Knochenmark; SR Standardrisiko.
59.8
Therapie
oder Thioguanin) und ein- bis zwei-wöchentlichen Gaben von niedrig dosiertem Methotrexat.
59.8.1 Chemotherapie Wie bei der Erstbehandlung besteht die Therapie aus einer Induktions-, Konsolidierungs- und einer Dauerchemotherapie. Dabei werden in erster Linie die bereits bekannten Zytostatika – allerdings in höherer Dosierung, mehrfacher Kombination und dichterer Abfolge – eingesetzt (Chessells 1998; Henze 1997). Die ALL-REZ-BFM-Studiengruppe setzt alternierende etwa einwöchige blockartige Mehrfachkombinationen von zum Teil hoch dosierten Zytostatika ein. Anschließend folgt ein etwa zweiwöchiges therapiefreies Intervall zur Regeneration der Knochenmarkfunktion. In jedem Block erfolgt mindestens eine intrathekale Applikation von Methotrexat, Cytarabin und Prednison zur therapeutischen bzw. präventiven ZNS-Behandlung (⊡ Tabelle 59.4). Zu achten ist auf eine Begrenzung der kumulativen Anthrazyklindosis wegen des Risikos für eine Kardiomyopathie. Ebenso sollten Podophyllinderivate im Hinblick auf das Risiko für ein MDS nur begrenzt eingesetzt werden. Die Dauertherapie der ALL-REZ-BFM-Protokolle erfolgt mit täglichen Gaben von einem Antimetaboliten (6-Mercaptopurin
! Die Dauer der Chemotherapie richtet sich nach der Risikogruppe: Standardrisiko-Patienten erhalten 8 Chemotherapieblöcke und 12 Monate Dauertherapie. Intermediärrisiko-Patienten erhalten 10 Chemotherapieblöcke und 24 Monate Dauertherapie. Hochrisiko- und Untergruppen der Intermediärrisiko-Patienten erhalten nach Erreichen einer vollständigen Remission eine Stammzelltransplantation.
Andere Studiengruppen setzen vergleichbar intensive Chemotherapien in anderer Kombination (Lawson et al. 2000; Schroeder et al. 1995) oder Protokolle mit einer kontinuierlichen, weniger hoch dosierten Therapie ein (Buchanan et al. 2000; Rivera et al. 1996). 59.8.2 Radiotherapie Die Radiotherapie wird bei ALL-Rezidiven zur Behandlung von »Extrakompartimenten« eingesetzt, in denen die Leukämiezellen vor der systemischen Chemotherapie relativ ge-
⊡ Tabelle 59.4. Design der Chemotherapieblöcke F1 und F2 sowie R1 und R2 zur Induktion und Konsolidierung der Therapiestudie ALL-REZ BFM 96
Chemotherapeutikum
Applikation
Dosis/m2
F1 Tag
F2 Tag
R1 Tag
R2 Tag
Dexamethason 6-Mercaptopurin 6-Thioguanin Vincristin Vindesin Methotrexat Cytarabin Cytarabin Ifosfamid Daunorubicin Asparaginase* MTX/ARA-C/Pred
p.o. p.o. p.o. i.v. i.v. 36 h i.v. 3 h i.v. 3 h i.v. 1 h i.v. 24 h i.v. 2 h i.v. i.th.
20 mg 100 mg 100 mg 1,5 mg 3 mg 1g 2×3 g 2×2 g 400 mg 35 mg 10.000 U Altersabhängig
1–5 – – 1+6 – 1 – – – – 4 1**
1–5 – – 1 – – 1+2 – – – 4 5
1–5 1–5 – 1+6 – 1 – 5 – – 6 1
1–5 – 1–5 – 1 1 – – 1–5 5 6 1**
* native E.-coli-Asparaginase. Bei allergischen Reaktionen Einsatz eines Alternativpräparates. ** bei ZNS-Beteiligung zusätzlich Tag 5. MTX Methotrexat; ARA-C Cytarabin; Pred Prednison.
685 59 · Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie
⊡ Tabelle 59.5. Dosierungsschema der ZNS-Bestrahlung bei ALL-Rezidiv
Bestrahlungsfreies Intervall
Alter
Vorbestrahlung
ZNSBestrahlung
KM-Rezidiv ohne ZNS-Beteiligung ≥24 Monate
≥2 Jahre
<24 Gy
12 Gy
≥24 Monate
≥2 Jahre
≥24 Gy
0 Gy
≥24 Monate
<2 Jahre
≥18 Gy
0 Gy
<24 Monate
≥2 Jahre
≥18 Gy
0 Gy
<24 Monate
<2 Jahre
≥15 Gy
0 Gy
≥24 Monate
≥2 Jahre
<18 Gy
18 Gy
≥24 Monate
≥2 Jahre
≥18 Gy
15 Gy
≥24 Monate
<2 Jahre
≥15 Gy
15 Gy
<24 Monate
≥2 Jahre
≥15 Gy
15 Gy
<24 Monate
<2 Jahre
≥12 Gy
15 Gy
ZNS-Rezidiv
schützt sind. Die Bestrahlung erfolgt in der Regel fraktioniert mit Einzeldosen von 1,5–2 Gray (Gy) pro Tag. Kinder mit einem ZNS-Rezidiv erhalten nach dem Ende der intensiven Therapiephase eine therapeutische Bestrahlung des ZNS. Die Dosis beträgt in der Regel 18 Gy. Es ist bis heute nicht geklärt, ob eine kraniale Bestrahlung ausreicht, oder ob die gesamte Neuroaxis bestrahlt werden sollte. Die ALL-REZ-BFM-Gruppe konnte zusätzlich zeigen, dass Kinder mit isoliertem Knochenmarkrezidiv von einer präven tiven Schädelbestrahlung profitieren. Hierfür wird eine Dosis von 12 Gy als ausreichend angesehen (Bührer et al. 1994). Bei hoher Strahlen-Vorbelastung im Rahmen der Erstbehandlung oder kurzem Abstand zu einer Vorbestrahlung wird die Strahlendosis nach dem in ⊡ Tabelle 59.5 angegebenen Schema reduziert. Eine weitere Indikation zur Bestrahlung besteht beim Hodenrezidiv. In den ALL-REZ-BFM-Protokollen wird empfohlen, einen klinisch befallenen Hoden zu entfernen, während bei dem kontralateralen, klinisch nicht befallenen Hoden eine lokale Bestrahlung mit 15 Gy vorgesehen ist, bzw. mit 18 Gy, wenn dieser subklinisch befallen war (Wolfrom et al. 1997). Nach diesen Strahlendosen kommt es in der Regel zum Eintritt einer Pubertät ohne Hormonsubstitution (Castillo et al. 1990). Klinisch befallene, nicht entfernte Hoden sollten mit einer Dosis von 24 Gy bestrahlt werden. Dies führt allerdings zu einem vollständigen Funktionsverlust und zu einer Atrophie und verhindert nicht absolut sicher lokale Folgerezidive (Leiper et al. 1986). Daher ist bei einem bilateralen testikulären Rezidiv eine beidseitige Orchiektomie mit anschließender Implantation einer Hodenprothese vorzuziehen. 59.8.3 Stammzelltransplantation Die antileukämische Wirksamkeit der Stammzelltransplantation beruht neben der ultrahochdosierten Chemo- und Strahlentherapie im Rahmen der Konditionierung auf der »Graft-versus-host«-Reaktion (GVHD), die offensichtlich
einen »Graft-versus-leukemia«-Effekt (GVL-Reaktion) mit sich bringt (Passweg et al. 1998). Daher ist eine akute GVHD in Maßen, d. h. bis maximal Grad II, erwünscht (Weisdorf et al. 1987). Darüber hinaus gehende Reaktionen sind jedoch mit einer deutlich erhöhten Therapiemorbidität und -mortalität verbunden. Sie bedürfen einer intensiven Immunsuppression, die wiederum auch den GVL-Effekt antagonisiert. Eine chronische GVHD ist mit einer besseren Rezidivfreiheit assoziiert. Eine intensivere GVHD-Prophylaxe dagegen ist mit einer erhöhten Rezidivrate assoziiert (Locatelli et al. 2000). Nach einer SZT ist die therapieassoziierte Letalität und Morbidität deutlich höher als nach einer Chemotherapie. Die SZT von einem HLA-identischen verwandten Spender ist mit einer therapiebedingten Mortalität von ca. 10% assoziiert, während nach Transplantationen von unverwandten Spendern mit einer therapiebedingten Mortalität von ca. 25% gerechnet werden muss. Allerdings ist die Transplantation von unverwandten Spendern wegen eines stärkeren GVL-Effekts auch mit einer besseren Rezidivfreiheit verbunden (Dopfer et al. 1991; Oakhill et al. 1996; Schroeder et al. 1999; Weisdorf et al. 1997). Bei Transplantationen von HLA-differenten Spendern muss in der Regel eine T-Zelldepletion vorgenommen, oder die Immunsuppression muss erheblich intensiviert werden. Dadurch ist der GVL-Effekt eher reduziert. Es ist noch unklar, mit welcher Art der Immunodulation die besten Ergebnisse erzielt werden können. Diese Art der Transplantation bleibt nur Kindern der Hochrisikogruppe vorbehalten, wenn sich kein passenderer Spender finden lässt. Ein wichtiges Ziel aktueller Therapiestudien ist es, möglichst präzise die Patienten zu definieren, die von einer Transplantation eindeutig profitieren. ! Während die SZT von einem HLA-identischen verwandten Spender bei allen Kindern mit Knochenmarkrezidiv gerechtfertigt ist, wird die Transplantation von unverwandten Spendern nur bei Kindern der Hochrisikogruppe und bei Kindern der Intermediärrisikogruppe mit zusätzlichen ungünstigen Faktoren empfohlen.
Dies können ungünstige molekulargenetische Konstellationen (BCR/ABL), eine hohe Leukämiezellzahl im Blut bei Rezidivdiagnose oder ein MRD-Nachweis nach der Induktionstherapie von mehr als 10–3 sein (Bührer et al. 1996; Eckert et al. 2001). Voraussetzung für die Transplantation ist in der Regel eine vollständige Remission. Nur in Einzelfällen konnten längerfristige Remissionen auch bei Patienten mit anhaltendem Rezidiv vor der SZT erreicht werden. Selbst der Nachweis von MRD unterhalb der zytologischen Nachweisgrenze ist mit einem sehr hohen Rezidivrisiko nach SZT assoziiert (Bader et al. 2002; Knechtli et al. 1998). Die autologe SZT ist wesentlich weniger toxisch als die allogene, ist aber mit folgenden Nachteilen verbunden: Es fehlt der allogene GVL-Effekt. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass man im Anschluss an die Hochdosiskonditionierung mit dem autologen Transplantat residuelle Leukämiezellen retransfundiert. Die antileukämische Wirksamkeit ist daher deutlich geringer als bei der allogenen SZT. Ein Vorteil der autologen SZT gegenüber alleiniger Chemotherapie konnte
59
686
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
von der ALL-REZ-BFM-Gruppe nicht belegt werden (Borgmann et al. 1995). 59.9
Prognose
! Das ereignisfreie Überleben nach 5 Jahren beträgt bei Kindern mit ALL-Rezidiv, die gemäß den ALLREZ-BFM-Protokollen behandelt wurden, ca. 35%.
IV
Aktuell liegt die Remissionsrate bei ca. 85%, die Therapietodesrate bei ca. 6% und die kumulative Sekundärmalignomrate nach 10 Jahren bei ca. 2%. Somit erleiden 50–60% der Patienten ein Folgerezidiv (unveröffentlichte Ergebnisse der ALL-REZ-BFM-Studiengruppe). In ⊡ Abb. 59.2 ist das ereignisfreie Überleben der oben genannten Risikogruppen nach alleiniger Chemotherapie dargestellt. Während die Prognose für die Standardrisikogruppe nach einer Chemotherapie akzeptabel ist, ist sie bei Kindern der Hochrisikogruppe sehr ungünstig, so dass hier eine klare Transplantationsindikation besteht. Die Intermediärrisikogruppe hat ein EFS (ereignisfreies Überleben) von 38% nach 10 Jahren. In dieser Gruppe lassen sich zusätzliche Prognosefaktoren ermitteln, die eine weitere Differenzierung erlauben. Dies betrifft die Blastenzahl im Blut bei Rezidivdiagnose sowie die BCR-ABL-Expression (⊡ Tabelle 59.6, Abb. 59.3). Ein weiterer wichtiger Faktor ist die minimale Resterkrankung als Parameter für das Therapieansprechen nach der Induktionstherapie. Bei Kindern mit isoliertem ZNS-Rezidiv haben sich darüber hinaus das Geschlecht und das Alter bei Erstdiagnose als relevante prognostische Faktoren herausgestellt. In der letzten abgeschlossenen Studie ALL-REZ BFM 96 wurde die Transplantation der Hochrisikogruppe konsequent verfolgt. Erreichen Kinder eine komplette Remission, so können sie ein EFS von ca. 40% nach der Stammzelltransplantation erwarten. Ob sich die Prognose der IntermediärrisikoGruppe durch eine SZT verbessern lässt, ist noch nicht abschließend geklärt. Andere Studiengruppen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen, wobei für die vergleichende Beurteilung der Effektivität der Rezidivtherapie immer die Intensität und Effektivität der entsprechenden Erstbehandlung berücksichtigt werden muss (⊡ Tabelle 59.7; Buchanan et al. 2000; Gaynon et al. 1998; Lawson et al. 2000; Ritchey et al. 1999; Sadowitz et al. 1993; Schroeder et al. 1995; Wheeler et al. 1998; Wofford et al. 1992).
⊡ Abb. 59.2. Ereignisfreies Überleben von Kindern mit erstem ALLRezidiv nach Chemotherapie, Standard(SR)- versus Intermediär(IR)und Hochrisikogruppe (HR). ALL-REZ BFM 83, 85, 87, 90 Pilot- und Hauptstudien; Stammzelltransplantation ist ein zensiertes Ereignis
⊡ Abb. 59.3. reignisfreies Überleben von Kindern mit erstem ALLRezidiv nach Chemotherapie, Subgruppen A–D ( Tabelle 59.6) der Intermediärrisikogruppe ( Tabelle 59.3). ALL-REZ BFM 83, 85, 87, 90 Pilot- und Hauptstudien; Stammzelltransplantation ist ein zensiertes Ereignis
⊡ Tabelle 59.6. Prognostische Subgruppen der Intermediärrisikogruppe
Ort Zeitpunkt
Isoliert KM Spät
<1/µl PBC
A
1 bis <10.000/µl
B
≥10.000/µl
C
BCR/ABL-positiv
C
Kombiniert KM
Isoliert extramedullär Früh/sehr früh
Spät
Früh
A
B
C
C
D
687 59 · Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie
⊡ Tabelle 59.7. Übersicht über Therapieergebnisse ausgewählter Studiengruppen bei Kindern mit ALL-Rezidiv
Studiengruppe
Autor
Protokoll
Rezidivort/Zeitpunkt
Patientenzahl
EFS/DFS-Rate
ALL-REZ BFM
Henze 1994
ALL-REZ BFM 83/85/87
Henze 1997 Wolfrom 1997
ALL-REZ BFM 83/ 85/87/90 ALL-REZ BFM 83/ 85/87/90
KM, früh* KM, spät* ZNS, isoliert Testis, isoliert
146 183 73 59
DFS=9% DFS=39% EFS=42% EFS=53%
CCG
Gaynon 1998
CCG 100 series 1983–89
KM, früh** KM, intermediär** KM, spät** ZNS, isoliert Testis, isoliert
267 220 275 220 112
DFS=5–9% DFS=10–11% DFS=33–48% DFS=37% DFS=64%
MRC/UKALL
Wheeler 1998
UKALL X 1985–93
Lawson 2000
MRC/UKALL R1 1991–99
Grundy 1997
UKALL 1972–87
KM, früh*** KM, intermediär*** KM, spät*** KM, früh*** KM, intermediär*** KM, spät** ZNS, isoliert Testis, isoliert
106 57 169 29 39 119 26 33
DFS=0–11% DFS=14–40% DFS=33–50% DFS=0–5% DFS=25–41% DFS=51–81% DFS=58% EFS=59%
Buchanan 2000 Sadowitz 1993 Ritchey 1999 Wofford 1992
POG 8303 1982–87 POG 8304 1983–89 POG 9061 1990–93 POG 8304 1983–89
KM, früh* KM, spät* ZNS, isoliert Testis, isoliert
297 105 83 80
DFS=8% EFS=37% EFS=70% EFS=53–84%
POG
Definition des Rezidivzeitpunktes: Früh
Intermediär
*
<6
–
Spät >6 Monate nach Ende der Initialtherapie
**
<18
18–36
>36 Monate nach Erstdiagnose
***
<24
24–36
>36 Monate nach Erstdiagnose
BFM Berlin/Frankfurt/Münster; CCG Children’s Cancer Study Group; DFS »disease-free survival«; EFS »event-free survival«; KM Knochenmark; MRC Medical Research Council; POG Pediatric Oncology Study Group; ZNS zentrales Nervensystem; UKALL United Kingdom ALL Study Group.
59.10
Komplikationen
Die Rezidivbehandlung ist mit zahlreichen Risiken behaftet. Während der Induktionstherapie versterben etwa 4%, nach dem Erreichen der Remission nochmals etwa 6% der Kinder infolge von therapieassoziierten Komplikationen. Während nach dem Erreichen der Remission nur ca. 3% der Patienten nach fortgesetzter Chemotherapie versterben, ist dies bei knapp 20% der Patienten nach allogener SZT der Fall. Dabei versterben etwa 8% der Kinder nach Transplantation von einem verwandten Spender, die Therapieletalität nach SZT von unverwandten Spendern liegt dagegen bei 25–30%. Neben diesen letalen Komplikationen können nach den intensiven Chemotherapieblöcken eine Reihe weiterer schwerer Nebenwirkungen auftreten. Hierzu gehören Übelkeit/ Erbrechen, Durchfall, Knochenmarkdepression, Sepsis bei Granulozytopenie, Krampfanfälle und Thrombosen, die sich in der Regel durch eine konsequente und intensive Supportivtherapie vermeiden oder behandeln lassen.
59.11
Spätfolgen
Zu den Spätfolgen der Behandlung zählen neuropsychologische und somatische Entwicklungsstörungen, insbesondere dann, wenn eine Bestrahlung des ZNS erforderlich war. Diese kann als weitere unerwünschte Spätfolge eine Schilddrüsenunterfunktion oder ein Schilddrüsenkarzinom nach sich ziehen (Gleeson u. Shalet 2001). Nach einer Hodenbestrahlung ist mit einer Infertilität zu rechnen (Grundy et al. 1997). Aseptische Knochennekrosen können sich als Folge der wiederholten und hochdosierten Kombinationschemotherapie mit dem Einschluss von Glukokortikoiden (Gaynon u. Carrel 1999) und auch nach SZT einstellen. Kardiomyopathien sind insbesondere nach hohen kumulativen Anthrazyklindosen beschrieben(Lipshultz et al. 1991). Weiterhin besteht das bereits oben erwähnte Risiko für die Entwicklung eines Sekundärmalignoms. Spezifische Spätfolgen nach Stammzelltransplantationen sind in den Kapiteln 4 und 88 aufgeführt.
59
688
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Neben den konventionellen Prognosefaktoren erlaubt das Monitoring der minimalen residuellen Leukämie auch bei Patienten mit intermediärem Risiko eine bessere Einschätzung ihrer Prognose und damit eine Stratifizierung in einen Zweig, für den eine konventionelle Chemotherapie vermutlich ausreichend ist, und in einen zweiten, in dem durch die SZT eine Verbesserung der Prognose möglich erscheint. Die Information über MRD ermöglicht zusätzlich die Voraussage von Folgerezidiven nach einer SZT. Aktuelle klinische Studien untersuchen, ob eine Reintensivierung der Therapie bei Patienten mit positivem MRD-Befund vor der SZT zu einer Reduktion von MRD und zu einer Verbesserung der Prognose nach der SZT führen kann und welche Therapieelemente dazu am besten geeignet sind. Wie bei anderen malignen Erkrankung liegt eine große Hoffnung auf der Entwicklung von Medikamenten, die aufgrund molekulargenetischer Charakteristika der ALL-Zellen spezifisch antileukämisch wirksam werden können. Als ein Beispiel sei die Substanz STI571 genannt. Es handelt sich um einen für BCR-ABL-positive Leukämien entwickelten Tyrosinkinaseinhibitor, der bei diesen Leukämien ausgezeichnete Wirkung zeigt. Allerdings wurden beim Einsatz dieses Medikaments bereits zahlreiche Resistenzmechanismen nachgewiesen (Weisberg u. Griffin 2000). Die »Gene-array-microchip«-Technologie ermöglicht die Untersuchung der Expression einer Vielzahl von Genen eines ALL-Klons (Yeoh et al. 2002). Möglicherweise wird man zukünftig spezifische Merkmale, genetische Varianten, Polymorphismen oder Mutationen des betreffenden ALL-Klons erkennen und direkt therapeutisch angreifen können. Weiterhin ist auch die Immuntherapie eine möglicherweise noch nicht voll ausgeschöpfte Therapiemöglichkeit. Sie kommt besonders im Bereich der allogenen SZT in Betracht. Eine antileukämische Immunreaktion lässt sich durch Reduktion der GVHD-Prophylaxe oder auch durch eine Infusion von Spenderlymphozyten erreichen. Ziel ist es, den GVL-Effekt zu intensivieren und die GVHD in einem möglichst akzeptablen Rahmen zu halten. Trotz umfangreicher Forschung gibt es im Bereich der autologen Tumorimmunität bis jetzt keine vielversprechenden therapeutischen Ansätze.
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689 59 · Rezidive der akuten lymphoblastischen Leukämie
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59
Akute myeloische Leukämien U. Creutzig, D. Reinhardt
IV
60.1 60.2 60.3 60.4
Einleitung – 690 Pathogenese – 690 Epidemiologie – 691 Ätiologie – 691
60.4.1 60.4.2 60.4.3
Genetische Faktoren – 692 Strahlenexposition und toxische Substanzen Therapieinduzierte sekundäre AML – 693
60.5 60.6 60.7 60.8 60.9 60.10 60.11
Klinisches Erscheinungsbild – 693 Diagnostik – 693 Klassifikation – 694 Immunphänotypisierung – 698 Zytogenetik und Molekulargenetik – 698 Minimale Resterkrankung – 699 Sonderfälle – 699
60.11.1 60.11.2
Extramedulläre AML – 699 Down-Syndrom – 699
60.12
Therapie
60.12.1 60.12.2 60.12.3 60.12.4 60.12.5 60.12.6
Allgemeine Aspekte der Behandlung – 700 Remissionsinduktionstherapie – 701 Konsolidierung und Intensivierung – 701 ZNS-Bestrahlung – 704 Dauertherapie – 704 Stammzelltransplantation – 705
60.13
Prognostische Faktoren für risikoadaptierte Behandlungsstrategien – 706 Therapieoptionen für spezielle Patientengruppen – 707
60.14
– 692
– 700
60.14.1 60.14.2
Akute Promyelozytenleukämie – 707 AML mit anderen spezifischen Karyotypen – 707
60.15
Notfälle bei der Primärdiagnose einer AML – 707
60.15.1 60.15.2 60.15.3 60.15.4
Hyperleukozytose – 707 Blutungen – 708 Infektionen – 708 Weitere Nebenwirkungen und Spätfolgen der Chemotherapie – 708
60.16 60.17
Rezidive – 708 Neue Therapiemöglichkeiten – 709
60.17.1 60.17.2 60.17.3 60.17.4
Pharmakokinetik – 709 Neue Zytostatika – 709 Immuntherapie – 709 Molekulare Targets – 710
Literatur
– 710
Bei einem 2-jährigen Mädchen wurden multiple livide Hautveränderung am Thorax und an den Extremitäten beobachtet und zunächst als Hämangiome gedeutet. Der Allgemeinzustand war gut und das Blutbild normal. Nach
▼
2 Monaten vergrößerten sich diese Hautveränderungen deutlich. Die Hautbiopsie zeigte zunächst das histologische Bild eines Burkitt-Lymphoms. Ein Befund der klinisch zu den stark vergrößerten axillären Lymphknoten passte. Die an einem entfernten Lymphknoten durchgeführte immunhistologische Untersuchung ergab jedoch den Nachweis von myeloischen Markern, während ein B-Zell-Lymphom durch das Fehlen der B-Zell-Marker CD19 und CD24 ausgeschlossen werden konnte. Im Knochemarkausstrich wurden vereinzelt myelomonozytäre leukämischen Blasten gesehen. Mit der protokollgemäßen AML-Therapie bildeten sich die Hautinfiltrate zurück. Die hier aufgezeigten diagnostische Schwierigkeiten sind bei Kindern mit extramedullärem Befall einer AML nicht ungewöhnlich. Sie führen häufig zur Verzögerung der wirksamen systemischen Therapie und können durch immunhistologische Untersuchungen des Biopsates vermieden werden.
60.1
Einleitung
Akute myeloische Leukämien (AML) sind bei Kindern mit einem Anteil von 15%–20% aller Leukämien deutlich seltener als die akuten lymphoblatischen Leukämien (ALL). Von wenigen Ausnahmen abgesehen, entspricht die Biologie der AML bei Kindern der bei Erwachsenen. Obwohl die AML eine höhere Chemotherapieresistenz aufweist als die ALL, haben sich die Behandlungsergebnisse bei Kindern mit AML in den letzten 20 Jahren deutlich verbessert (Hann et al. 1997). ⊡ Abb. 60.1 zeigt die Verbesserung der Prognose am Beispiel der deutschen AML-BFM-Studien. Mit einer intensiven Induktionschemotherapie erreichen 80–90% aller Kinder eine komplette Remission (CR), die zu einem ereignisfreien Überleben (EFS) bei 50–60% der Patienten führt. Die Therapiestrategie, zunächst mit einer intensiven Induktionstherapie eine Remission und damit Wiederherstellung der normalen Hämatopoese zu erreichen, ist allgemein anerkannt. Dagegen gibt es über die Postremissionstherapie unterschiedliche Vorstellungen. Zunächst ist jedoch eine korrekte Diagnose erforderlich, um eine adäquate und ggf. risikoadaptierte Behandlung zu ermöglichen. 60.2
Pathogenese
Die AML entsteht durch die maligne Transformation früher hämatopoetischer Vorläuferzellen. Untersuchungen bei Patienten mit AML, bei denen leukämiespezifische genetische Alterationen auch in isolierten Stammzellpopulationen nachgewiesen wurden, deuten darauf hin, dass für die Mehr-
691 60 · Akute myeloische Leukämien
⊡ Abb. 60.1. Anstieg der Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern mit AML innerhalb der AML-BFM-Studien seit 1978
zahl der AML-Erkrankungen eine multipotente hämatopoetische Stammzelle als Ausgangszelle des malignen Klons anzusehen ist. Eine Ausnahme davon dürfte der Subtyp M3, die akute Promyelozytenleukämie sein, bei der der leukämische Klon auf der Ebene bereits reiferer myeloisch determinierter Vorläuferzellen entsteht (Haase et al. 1995). In experimentellen Mausmodellen oder humanen Invivo-Systemen konnte gezeigt werden, dass Fusionsgene, die bei der AML relativ häufig sind ( Abschn. 60.9), als alleinige genetische Veränderungen nicht ausreichend sind, um eine AML zu induzieren. Dies wurde sowohl beim AML1/ETO- als auch beim PML/RARα-Fusionsgen gezeigt. Es wird angenommen, dass für die Entstehung der AML mindestens 2 kritische genetische Veränderungen notwendig sind, die gemeinsam das normale Proliferations- und Differenzierungsprogramm der frühen hämatopoetischen Vorläuferzellen verändern. 60.3
Epidemiologie
In Deutschland erkranken pro Jahr durchschnittlich 96 Kinder im Alter von unter 15 Jahren an einer AML (Kaatsch et al. 2002). Die Inzidenz liegt bei 0,7 pro 100.000 Kindern mit einem Verhältnis von Mädchen zu Jungen von 1:1,1. Die Inzidenz ist in den ersten beiden Lebensjahren hoch, sie fällt dann ab (ohne den von der ALL bekannte Häufigkeitsgipfel im Alter von 2–4 Jahren) und bleibt relativ konstant, um dann im jugendlichen Alter anzusteigen. Der weitere Anstieg im Erwachsenenalter ist zunächst gering und nimmt erst vom 55. Lebensjahr an steil zu (⊡ Abb. 60.2). Bei Kindern gibt es geographische Unterschiede in der Inzidenz und in den Subtypen der Leukämien. So ist die Inzidenz der AML bei Kindern in Japan und in einigen afrikanischen Ländern höher als die der ALL.
⊡ Abb. 60.2. Alters-und geschlechtsspezifische Inzidenz der AML (Daten der AML-Studien BFM 93 und 98)
Ebenso variieren die Erscheinungsformen der AML, so sind z. B. in der Türkei und in einigen afrikanischen Ländern Myeloblastome oder Chlorome der Orbita häufiger. In bestimmten etnischen Gruppen (z. B. Bevölkerung spanischer und italienischer Herkunft) ist der Anteil der akuten Promyelozytenleukämie mit 20% sehr hoch. 60.4
Ätiologie
Die Ursache der AML ist letztlich noch weitgehend ungeklärt. Es gibt jedoch einige genetische oder kongenitale prädisponierende Faktoren, die mit der Entstehung einer AML bei Kindern assoziiert sind. Dazu gehört die intrauterine Exposition mit Benzol, ionisierender Strahlung oder verschiedenen Medikamenten. Auch eine vorausgegangene
60
692
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Chemotherapie wegen anderer Malignome oder anderen Erkrankungen kann bei Kindern eine AML auslösen (therapieinduzierte AML, Abschn. 60.4.3). Für die meisten Patienten sind jedoch keine prädispositierenden Faktoren bekannt (Li u. Bader 1993). 60.4.1 Genetische Faktoren
IV
Ungewöhnlich häufig sind AML bei Kindern mit bestimmten angeborenen Syndromen und genetischen Erkrankungen (⊡ Tabelle 60.1; Miller u. Miller 1990). Patienten mit kongenitalen Syndromen, die mit einer gesteigerten Chromosombrüchigkeit oder einem gestörtem DNA-Reparaturmechanismus verbunden sind (z. B. Fanconi-Anämie und Bloom-Syndrom) haben ein deutlich gesteigertes Risiko, eine AML zu entwickeln (Li u. Bader 1993). Das gilt auch für Kinder mit kongenitalen Erkrankungen der Myelopoese wie das Kostmann-Syndrom und die Diamond-BlackfanAnämie. Kinder mit Down-Syndrom (Trisomie 21) haben ein 14bis 20-fach erhöhtes Risiko, an einer Leukämie zu erkranken (Creutzig et al. 1996; Hasle 2001). Zudem treten im Neugeborenenalter häufig transiente myeloproliferative Erkrankungen (»transient myeloproliferate disorder«, TMD) auf, die normalerweise eine Sponatanremission ausweisen (Creutzig u. Baumann 1998; Hasle et al. 2003). Diese Besonderheiten lassen einen Zusammenhang des zusätzlichen Chromosom 21 mit der Entwicklung einer Leukämie vermuten ( Abschn. 60.4.3). Bei Kindern mit Neurofibromatose ist das Risiko für bösartige Erkrankungen, insbesondere einem myelodys-
plastischen Syndrom (MDS) und AML erhöht. Als Ursache wird eine Mutation des Neurofibromatosis-Typ-1-Gens (NF1Gens), ein Tumorsuppressorgen, angenommen. In den myeloischen Blasten von Patienten mit Neurofibromatose und AML konnte nur das veränderte Gen nachgewiesen werden, wodurch es zum Abfall des regulierenden Genproduktes Neurofibromin kommt (Shannon et al. 1994). Bei eineiigen Zwillingen ist die Wahrscheinlichkeit, dass der zweite Zwilling erkrankt, mit etwa 15% hoch. Als Ursache wird der transplazentare Übergang von einzelnen Leukämiezellen hier eher angenommen als eine genetische Prädisposition (Greaves 1993). Dies ist bisher jedoch nur für die ALL belegt. 60.4.2 Strahlenexposition und toxische
Substanzen Bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen können Strahlen und toxische Substanzen, einschließlich der Chemotherapie, auslösend für eine AML sein (Shimizu et al. 1990; Tucker et al. 1987). Strahleninduzierte AML, die bei Überlebenden von Atombombenexplosionen gesehen wurden, und bei Patienten, die hohe Strahlendosen in utero erhielten, kommen heute nur noch selten vor. Es wird kontrovers diskutiert, ob die Exposition mit niedrigfrequenter nicht-ionisierter Bestrahlung, z. B. bei elektromagnetischen Feldern, die Entstehung einer Leukämie begünstigt (Linet et al. 1997). Toxisch induzierte AML können nach elterlicher Exposition mit Pestiziden, durch Exposition in utero mit Äthanol sowie durch in Lebensmitteln enthaltenen Topoisomerase-IIInhibitoren auftreten (Robison et al. 1989).
⊡ Tabelle 60.1. Risiko, eine Leukämie (speziell AML) zu entwickeln, bei der gesamten Population (im Alter von unter 15 Jahren) und von Patienten mit konstitutionellen Erkrankungen (modifiziert nach Miller 1990)
Gruppe
Geschätztes Risiko
Relatives Risiko Alle Leukämien (AML)
Alle Leukämien
AML
Gesamte Population (<15 Jahre alt)
1/23.750*
1/143.000*
Geschwister eines Leukämiekindes (<15 Jahre alt)
1/25.800*
1,09
Geschwister eines identischen Zwillings (<10 Jahre alt)
1/6
467
1,0
Konstitutionelle Erkrankungen Down-Syndrom (Trisomie 21) (<10 Jahre alt)
1/74
1/100–200
38 (14–20)
Erhöhte chromosomale Fragilität Fanconi-Anämie (<21 Jahre alt) Bloom-Syndrom (<26 Jahre alt)
1/12
1/10** 1/8
132 198
Ataxia teleangiectica (<25 Jahre alt)
1/8
198
Neurofibromatose Typ 1
1/200** 1/10**
Schwere kongenitale Neutropenie (Kostmann-Syndrom) Diamond-Blackfan-Anämie
Erhöht**
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
Erhöht
Shwachman-Diamond-Syndrom
Erhöht**
Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom
Erhöht
* Inzidenz pro Jahr; **AML und MDS.
693 60 · Akute myeloische Leukämien
60.4.3 Therapieinduzierte sekundäre AML ! Therapieinduzierte sekundäre AML (t-AML) gehören zu den häufigsten Sekundärmalignomen, die im Anschluss an eine Chemotherapie für eine primäre maligne Erkrankung vorkommen.
Sie lassen sich grundsätzlich in 2 Gruppen einteilen (Pedersen-Bjergaard et al. 2002): ▬ Leukämien, die nach einer Behandlung mit alkylierenden Substanzen auftreten. Diese entstehen innerhalb von 4–10 Jahren nach der Therapie und weisen häufig Deletionen an den Chromosomen 5 oder 7 auf. Sie werden v. a. bei Erwachsenen im höheren Lebensalter gefunden (Tucker et al. 1987). ▬ Leukämien nach Vorbehandlung mit Topoisomerase-IIInhibitoren, insbesondere den Epipodophyllotoxinen, die nach einer Latenzzeit von 2–4 Jahren auftreten. Hierbei werden vorzugsweise monoblastäre Subtypen, AML FAB M4 oder M5, aber auch akute Promyelozytenleukämien gesehen. Typischerweise sind Chromosomenveränderungen an der 11q23-Bande mit Rearrangements des MLL Gens nachzuweisen (Pui et al. 1991). Diese Genveränderung ist auch bei der B-Zellvorläufer-ALL bei jungen Kindern und bei De-novo-AML mit FAB-Typ M4 und M5 häufig (Thirman et al. 1993). In beiden Gruppen von t-AML ist die Behandlung schwierig und die Prognose ungünstig. 60.5
Klinisches Erscheinungsbild
Die ersten Symptome der AML sind häufig uncharakteristisch und bestehen aus den Symptomen der Anämie (Blässe und Müdigkeit), Fieber, Infektionen und Blutungszeichen. Bedingt durch die Infiltration des Knochenmarks mit leukämischen Blasten wird die normale Hämatopoese (Erythropoese, Granulopoese und Thrombopoese) reduziert. Dies führt zur normozytären Anämie und in manchen Fällen zur hämodynamischen Instabilität. Parallel dazu bedingt oft eine Neutropenie ein erhöhtes Risiko für bakterielle Infektionen. Infolge der Thrombozytopenie können Petechien, Purpura, Scheimhautblutungen oder seltener Hirnblutungen auftreten. Bei Patienten mit Hyperleukozytose besteht initial ein hohes Risiko für Blutung und/oder Leukostase ( Abschn. 60.15). Knochenschmerzen können durch die Blastenvermehrung im Knochenmark entstehen, aber auch durch subperiostale Blutungen. Extramedulläre Infiltrationen betreffen die Lymphknoten, Leber und Milz. Bei etwa einem Drittel aller Patienten liegt eine Hepatosplenomegalie vor. Eine Beteiligung des zentralen Nervensystems (ZNS) mit mehr als 5 leukämischen Blasten pro µl im Liquor oder mit klinischen oder radiologischen Zeichen des intrazerebralen Befalls wird bei 5–10% aller Kinder mit AML gesehen. Gelegentlich treten auch extramedulläre Manifestationen der AML als Tumoren im ZNS auf. Symptome des ZNS-Befalls sind Kopfschmerzen, Nervenlähmungen, fokale neurologische Defizite oder Krampfanfälle.
Weitere extramedulläre Infiltrationen kommen in der Haut (Chlorome, Leukaemia cutis), in den Weichteilen, der Gingiva, der Orbita oder in anderen Organen vor. Morphologisch werden in den extramedullären Infiltraten besonders häufig monozytäre Blasten nachgewiesen. 60.6
Diagnostik
! Die Diagnose der AML wird durch eine Knochenmarkzytologie in Verbindung mit der Immunologie und Zytogenetik gesichert.
Ausnahmen bilden hier Patienten mit einer Hyperleukozytose (>100.000 Leukozyten/µl), bei denen eine primäre Knochenmarkaspiration bzw. die erforderliche Narkose ein hohes Risiko darstellen. Bei Patienten mit dem Verdacht einer Myelofibrose kann zusätzlich eine Knochenmarkbiopsie erforderlich sein. Bei extramedullären Manifestationen der Krankheit, die ohne eine Knochenmarkbeteiligung einhergehen, kann die bioptische Sicherung mit einer entsprechenden Immunhistochemie die Diagnose bestätigen. Klinische Diagnostik. Die allgemeine körperliche Untersuchung bei Kindern mit Verdacht einer AML sollte zunächst eine Einschätzung des Allgemeinzustandes umfassen, um vitalbedrohliche Komplikationen wie Septitiden oder schwerwiegende Blutungen zu erfassen. Vitalparameter wie Blutdruck, Oxygenierung und kardiale Funktion müssen gesichert sein. Die allgemeine Inspektion kann Hinweise auf petechiale oder flächige Blutungen als Ausdruck einer bestehenden Thrombozytopenie oder gestörten Gerinnung geben. Häufig ist eine Hepatosplenomegalie zu diagnostizieren. Andere Organmanifestationen wie Hodeninfiltrationen, knotige extramedulläre Hautmanifestationen oder auch Infiltrationen in die Gingiva müssen dokumentiert werden. Eine ausführliche neurologische Untersuchung muss insbesondere leukämiebedingte Hirnnervenausfälle als Ausdruck einer zentralnervösen Beteiligung beachten. Laborchemische Diagnostik. Bei Verdacht des Vorliegens
einer AML sind initial ein Differenzialblutbild, die Bestimmung der Elektrolyte (Natrium, Kalium, Kalzium), der Harnsäure, der Laktatdehydrogenase, des Kreatinins, der Transaminasen und der Entzündungsparameter – einschließlich Blutsenkungsgeschwindigkeit und des C-reaktiven Proteins – erforderlich. Zudem muss ein umfassender Gerinnungsstatus erhoben werden. Zur Abklärung differenzialdiagnostischer Erkrankungen sollten Serologien für EBV, CMV, Hepatitis A, B und C bestimmt werden. Bei Verdacht auf Mangelernährung können weitere Parameter wie der Eisenstatus (einschließlich Serumeisen und Ferritin) sowie der Vitamin-B12-Spiegel oder Folsäure hilfreich sein. Bildgebende Diagnostik. Die bildgebende Diagnostik um-
fasst eine Thoraxröntgenaufnahme zur Erfassung eines Mediastinaltumors. Die Sonographie dient der Statuserhebung der abdominellen Organe und ggf. der diagnostischen Unterstützung bei Verdacht auf extramedulläre Manifestationen. Bei dem Verdacht auf Organinfiltrationen kann
60
694
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
die Kernspintomographie sinnvoll sein, auf jeden Fall ist sie zur Abklärung von zentralnervösen Infiltrationen erforderlich. ! Die AML kann grundsätzlich durch zytologische, zytochemische, immunologische, zytogenetische und molekulargenetische Untersuchungen gut von der ALL abgegrenzt werden.
IV
Differenzialdiagnose. Differenzialdiagnostisch können andere maligne Erkrankungen bei Kindern ein ähnliches morphologisches Bild im Knochenmark zeigen. Zytologisch ähneln die Zellen beim alveolären Rhabdomyosarkom und beim Neuroblastom den Monoblasten (FAB M5). Ebenso sind die Zellen der Langerhans-Zell-Histiozytose oft schwer von den monozytären Leukämiezellen zu unterscheiden. Die Blasten der undifferenzierten Leukämie, der FAB L2 ALL oder die des metastasierenden alveolären Rhabdomyosarkoms können der akuten Megakaryozytenleukämie (FAB M7) ähneln. Mit Hilfe der Immunphänotypisierung und Chromosomenanalyse lassen sich hier meist eindeutige Unterscheidungen treffen.
60.7
Klassifikation
Die am weitesten verbreitete Klassifikation der akuten myeloischen Leukämien erfolgte 1986 durch die French-American-British (FAB) Group nach morphologischen und immunologischen Kriterien (⊡ Tabelle 60.2; Bennett et al. 1985a). Die im Jahre 2001 durch die World Health Organisation (WHO) veröffentlichte, aktuelle Einteilung der AML berücksichtigt im zunehmenden Maße genetische und kausale Kriterien, wodurch die Klassifikation der akuten myeloischen Leukämien besser den therapeutischen und prognostischen Faktoren angepasst werden soll (Harris et al. 1999). Die WHO-Klassifikation teilt die AML entsprechend den nachgewiesenen chromosomalen Aberrationen wie der t(8;21), t(9;11), t(15;17), inv(16), 11q23 MLL bzw. den korrespondierenden Fusionsgenen (AML1/ETO, PML/RAR α, CBFβ/MYH11) ein (Harris et al. 1999; Kap. 57). Darüber hinaus wurden eigene Kategorien für die sekundären Leukämien und Leukämien mit myelodysplastischen Veränderungen der verschiedenen Zelllinien eingeführt. Erst für die so nicht einzuordnenden Leukämien erfolgt eine morphologische und
⊡ Abb. 60.3a–h. Morphologische Bilder der FAB-Typen, a AML FAB M1: undifferenzierte, mittelgroße Blasten mit teils entrundetem Zellkern und aufgelockertem Chromatin, häufig Nucleoli, blass-blaues Zytoplasma mit geringer Granulation. b AML FAB M2 mit Auerstäbchen: mittelgroße Blasten, Zellkern mit aufgelockertem Chromatin und Nucleoli, teils perinukleäre Aufhellung. Granuliertes Zytoplasma mit Nachweis von Auerstäbchen (Dysgranulation). Rechts oben: Peroxidasereaktion: in der Zytochemie positive Reaktion mit Peroxidase (>3%). c AML FAB M3: mittelgroße Blasten mit perinukleärer Aufhellung, Zytoplasma meist blau-grau mit deutlicher Granulation. In der Zytochemie ausgeprägte Reaktion mit Peroxidase (bis 100%). Rechts oben Auerbüschel: Nachweis von »Auerbüscheln« (unregelmäßige Ansammlung von Auerstäbchen). d AML FAB M4: Blasten wechselnder Größe, häufig sowohl myeloblastär als auch monoblastär. In einem Teil sind Granula nachweisbar, die auch in der Zytochemie POX-positiv sein können. Monoblasten mit unregelmäßigem Zellkern
immunologische Klassifikation, die weitgehend den FABDefinitionen entspricht. Bei der Diagnose einer AML kommen allerdings der Morphologie und der Immunologie der größte Stellenwert zu, da diese Methoden schnell anwendbar sind und früh eine Zurodnung zu Risikogruppen ermöglichen. Morphologisch werden undifferenzierte, myeloische, myelomonoblastäre, monoblastäre, erythroblastäre und megakaryoblastäre Leukämien unterschieden. Diese werden entsprechend der FABKlassifikation von M0–M7 benannt (⊡ Abb. 60.3; Bennett et al. 1985a, 1985b, 1991). Die AML FAB M0 zeichnet sich durch weitgehend undifferenzierte, ungranulierte Blasten aus, die zytochemisch negativ mit Peroxidase oder Esterase reagieren. Die Zuordnung zur AML erfolgt ausschließlich durch den immunologischen Nachweis myeloischer Antigene (Bennett et al. 1991). Die AML FAB M1 und M2 weisen eine mäßige bis deutliche Differenzierung der leukämischen Blasten mit Granulation und eine positive Reaktion mit Peroxidase (>3% der Blasten) in der Zytochemie auf. Dabei zeigen die Blasten bei der FAB M1 nur eine geringe Ausreifungstendenz mit weniger als 10% später myeloischer Differenzierungsstufen. Das Auftreten von so genannten Auerstäbchen, die Zeichen der Dysgranulation der leukämischen Blasten sind, ist häufig assoziiert mit dem Nachweis einer Translokation 8;21 bzw. dem korrespondierenden Fusionsgen AML1/ETO. Die akute Promyelozytenleukämie (FAB M3) ist durch eine deutliche Differenzierung der Blasten bis zu den Promyelozyten charakterisiert, wobei sich im Zytoplasma typische Auerbüschel, eine Ansammlung multipler Auerstäbchen, zeigen. Die zytochemische Reaktion mit Peroxidase ist meist sehr ausgeprägt. Die AML FAB M3 ist fast immer mit einer Translokation 15;17 (Fusionsgen PML/RARα) assoziiert. Den Übergang zu den monoblastären Leukämien bildet die AML FAB M4, bei der sich sowohl myeloische, d. h. granulierte Blasten als auch monoblastäre Zellen nachweisen lassen. Die monoblastäre Leukämie (AML FAB M5) wird dagegen dominiert durch Monoblasten, meist ungranulierte Zellen mit einem exzentrisch, teils gelappten Zellkern. Typischerweise findet sich sowohl bei der FAB M4 als auch bei der FAB M5 eine positive Esterasereaktion. Als molekulargenetisches Korrelat lässt sich häufig ein MLL-Rearrangement nachweisen. Sehr viel seltener sind die erythroblastären Leukämien (AML FAB M6), bei denen mehr als 50% der medullären Blut-
und ungranuliertem Zytoplasma. e AML FAB M4eo: Blasten häufig wie bei M4 jedoch zusätzlich atypische Eosinophile mit deutlichen basophilen und eosinophilen Granula, unregelmäßige Größe grob-retikulärem Chromatin. f AML FAB M5: große Blasten mit retikulärem Chromatin, runden bis gelapptem Kern, blasses, ungranuliertes Zyplasma, teils so genannte »hand-mirror«-Form. Rechts oben: Esterasereaktion: diffus positive Esterasereaktion. g AML FAB M6: hoher Anteil der Erythropoese (>60%) mit meist deutlicher Dyserythropoese; sowohl myeloblastäre als auch undifferenzierte Blasten können nachweisbar sein. Teils schwierige Abgrenzung zum myelodysplastischen Syndrom. h AML FAB M7: mittelgroße Blasten mit rundem Zellkern, blaues, mittelweites, ungranuliertes Zytoplasma mit eindrücklichen Zytoplasmaausstülpungen/Abschnürungen. Die Diagnose muss durch den immunologischen Nachweis megakaryzytärer Antigene (CD41, CD42b, CD61) bestätigt werden
695 60 · Akute myeloische Leukämien
60
IV 696
Subtypen
FAB-Klassifikation der akuten myeloischen Leukämie
Häufigkeit (AML-BFMStudien 93/98 n=838)
Immunphänotypisierung
Genetik
Myeloisch
Stammzellantigene
Besonderaberrante lymphatische heiten Antigene
Zytogenetik1
Molekulargenetik
Blastengröße
Zellkern
Zytoplasma
Zytochemie
Spezielle Merkmale
AML FAB M0
Größenvariable Blasten
Aufgelockerte Chromatinstruktur, unregelmäßig, runder Kern mit Nucleoli
Schmales bis mittelweites, ungranuliertes schwach basophiles Zyloplasma
Negativ
Immunologisch: CD13, CD33, CD15
5,5%
CD13, CD33
CD34
CD7
Normal MLL/AF-4 komplex2 t(4:11) Trisomie 8
AML FAB M1
Mittelgroß
Aufgelockerte Chromatinstruktur, Kerneinbuchtungen, Nucleoli
Mittelweit, teils granuliert, vereinzelt Auerstäbchen möglich
POX>3%
<10% Ausreifung der Granulopoese
12,9% (AML FAB M1 Auer: 7,4%)
CD13, CD15low, CD33
CD34, CD117
CD7; CD56
Normal t(8;21) (q22;q22)
AML1/ETO
AML FAB M2
Mittelgroß
Kerneinbuchtungen, Nucloli
Granuliert, häufig Auerstäbchen
POX-positiv
>10% Ausreifung der Granulopoese
25,4% (AML FAB M2 Auer: 19,1%)
CD13,CD15, CD33
CD34, CDU 7
CD56.CD19
t(8;21) (q22:q22) normal
AML1/ETO
AML FAB M3
Mittelgroß
Kerneinbuchtung, tiefbasophiles, aufgelockertes Chromatin
Granuliert, Auerbüschel
POX-positiv (bis 100%)
Auerbüschel
5,1%
CD13, CD15, CD33
CD117±
HLA-DR negativ
t(15;17) (q22;q12)
PML/RARa
AML FAB M4
Mittelgroße Myeloblasten, große Monoblasten
Myeloblasten: unregelmäßig; Monoblasten: gelappter Zellkern
Myeloblasten: granuliert, Auerstäbchen möglich Monoblasten ungranuliert
Myeloblasten POX-positiv; Monoblasten Esterasepositiv
>20% Monoblasten; >20% Myeloblasten
11,0%
CD13, CD14, CD15, CD33, CD65W
CD34±, CD117±
moAB 7.1
Normal 1(9; 11) komplex
MLL/AF-9
CD7, CD56
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 60.2. FAB-Klassifikation der AML und Korrelation mit immunologischen, zytogenetischen und molekularbiologischen Merkmalen
Mittelgroße Myeloblasten, große Monoblasten
Myeloblasten: unregelmäßig; Monoblasten: gelappter Zellkern
Myeloblasten: granuliert, Auerstäbchen möglich; Monoblasten ungranuliert
Myeloblasten POX-positiv; Monoblasten Esterasepositiv
Atypische Eosinophile
AML FAB M5 monoblastär
Mittelgroß − groß
Rund, feinstrukturiert, Nucleoli
Mäßig bis deutlich basophil, azurophile Granulation möglich
Esterasepositiv
>80% monozytär
6,9%
CD13, CD14, CD15, CD33, CD65w
CD34±, CD117±
CD2, CD5G
CD13, CD14, CD15, CD33, CD65w
CD34±
CD56, CD4 low moAB 7.1
inv(16) (p13q22)
MLL/AF-9
t(9;11) normal komplex
20,4% CD56, CD4 low
AML FAB M5 monozytär
Groß
Gelappt, feinstrukturiert
Mäßig bis deutlich basophil
Esterasepositiv
>80% monozytär
AML FAB M6
Mittelgroß
Aufgelockerte Chromatinstruktur, Kerneinbuchtungen, Nucleoli
Gering granuliert, vereinzelt Auerstäbchen
Erythoid: PAS-positiv; Myeloblasten POX-positiv
Erythropoese >50% mit Dyserythropoese; Blasten mehr als 30% der Restmyelopoese
3,5%
CD13,CD15 low, CD33
CD34±, CD117±
CD7, CD56
CD36, Glykophorin A
Normal Trisomie 8 komplex
AML FAB M7
Mittelgroß bis groß
Rund, irregulär, Chromatin fein retikulär strukturiert
Meist ungranuliert, Pseudopodien
PAS teils positiv; immunologisch: CD41, CD42b, CD61
9,3%
CD13, CD15 low, CD33
CD34±, CD117±
CD7
CD36, CD41, CD42b, CD61
Trisomie 8 normal 1(1;22) komplex
1
CD13, CD14, CD15, CD33, CD65w
CBFb/ MYH11
60 · Akute myeloische Leukämien
AML FAB M4eo
Angaben in der Reihenfolge der Häufigkeiten, 2mehr als 3 Aberrationen.
697
60
698
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
bildung der Erythropoese zuzuordnen sind. In der verbleibenden Myelopoese befinden sich mindestens 30% myeloische oder weitgehend undifferenzierte Blasten. Die megakaryozytäre Leukämie (AML FAB M7) ist morphologisch durch ungranulierte Blasten mit häufigen Zytoplasmaausstülpungen, die wie Pseudopodien imponieren, charakterisiert. Letztlich kann die Klassifikation jedoch nur durch den immunologischen Nachweis megakaryozytärer Differenzierungsantigene (CD41, CD42b, CD61) erfolgen. Als letzte Kategorie sind die akuten »Mixed-lineage«Leukämien zu erwähnen, die sich nicht eindeutig der myeloischen oder lymphatischen Zelllinie zuordnen lassen, bzw. Charakteristika beider Zelllinien aufweisen. 60.8
Immunphänotypisierung
Die Immunphänotypisierung ermöglicht den Nachweis von Antigenen, die auf der Oberfläche der leukämischen Blasten oder im Zytoplasma exprimiert werden. Zur Charakterisierung der AML wird ▬ eine asynchrone Expression von Stammzellantigenen (CD34, CD117) mit späteren myeloischen Differenzierungsantigenen (CD13, CD15, CD33, CD65), ▬ die Expression linienaberranter Antigene (CD2, CD7, CD19, Cd56) oder ▬ die atypische Antigenintensität genutzt. Auch wenn sich bei der AML im Gegensatz zur akuten lymphoblastischen Leukämie keine eindeutige Subtypenklassifikation allein aus der Immunologie herleiten lässt, korrelieren bestimmte Expressionsmuster mit den morphologischen Subtypen. Während die myeloischen FAB-Typen (M1/M2) eher eine asynchrone Expression von Stammzellantigenen und späteren myeloischen Antigenen aufweisen, zeigen die monoblastär dominierten Leukämien (FAB M4, M5) häufig die Expression von Antigenen wie CD4 low, CD65 oder CD14. Charakteristisch für die Promyelozytenleukämie (FAB M3) ist der fehlende Nachweis von HLA-DR. Als einziger bislang bekannter spezifischer Antikörper gilt der monoklonale Antikörper moAB7.1, der das Antigen NG2 detektiert. Dieses ist assoziiert mit einem MLL-Rearrangement. 60.9
Zytogenetik und Molekulargenetik
! Bei etwa 80% der AML bei Kindern können zytogenetische Aberrationen nachgewiesen werden.
Die häufigsten Chromosomenaberrationen bei de novo AML einschließlich der jeweils beteiligten Gene sind in ⊡ Tabelle 60.2 aufgeführt. Es ist davon auszugehen, dass sich der Prozentsatz der Patienten ohne chromosomale Veränderungen mit zunehmender Verbesserung der zytogenetischen Analyse (z. B. 24-Farben-FISH und »comparative genomic hybridization«, CGH) weiter verringern wird. Durch die verfeinerten molekularbiologischen Analysen werden wahrscheinlich in Zukunft bei allen AML-Patienten molekulare Veränderungen nachweisbar sein. Es konnte bereits gezeigt werden, dass bei etwa 30–40% aller Patientenproben bei Erwachsenen (10% bei Kindern ), die in der üblichen Zytoge-
netik einen normalen Karyotyp aufweisen, eine konstitutiv aktivierende FLT3-Tandemmutation (FLT3-LM+) oder Punktmutationen der Rezeptor-Tyrosinkinase FLT3 nachweisbar sind (Schnittger et al. 2002). Etwa 20% aller Patienten mit AML zeigen balancierte chromosomale Translokationen, bei denen chimäre Fusionsgene gebildet werden, die in der Regel nicht in der normalen Zelle exprimiert werden. Damit wird die normale Funktion und/oder die Expressionsstärke der beteiligten Gene verändert. Zu den balancierten chromosomalen Veränderungen gehören als häufigste Einzelaberrationen die Translokationen 8;21, 9;11, 15;17 und die inv(16). Während die Translokationen 8;21, 15;17 und inv(16) mit einem Differenzierungsstopp in den leukämischen Blasten einhergehen, spielt das MLL als Transkriptionsfaktor wahrscheinlich bereits bei der Proliferation und Differenzierung der früher Vorläuferzellen eine wesentlich Rolle. Je nach beteiligten Genen lassen sich Gruppen von Genfamilien bilden: Am besten untersucht sind bislang die so genannten »core binding factors« (CBF), die v. a. in der Differenzierungsregulation eine Rolle spielen. Durch Veränderungen oder Blockade von Transkriptionskomplexen wird die Proteinsynthese gestört und die Differenzierung der myeloischen Zellen verhindert. Das bislang am besten aufgeklärte Beispiel ist die akute Promyelozytenleukämie. Bei der zugrundeliegenden Translokation 15;17 blockiert das resultierende Fusionsprotein PML/RARα die All-trans-Retinsäure (ATRA)-vermittelte Ablösung eines Korepressorkomplexes (N-COR). Dieses führt dazu, dass entsprechende Kostimulationsmoleküle nicht an die abzulesende DNA binden können und somit die Proteinsynthese – und damit die Differenzierung – blockiert ist (Guidez et al. 1998). Speziell in diesem Fall können pharmakologische Dosierungen von ATRA die PMLRARα-bedingte Ablösungsblockade des Korepressors überwinden, so dass letztlich eine Ausdifferenzierung der Blasten zu Promyelozyten erreicht werden kann. Ähnliche Mechanismen scheinen bei der t(8;21) mit dem Fusionsprotein AML1/ETO und der inv(16), bei der ein Fusionsprodukt CBFβ/MYH11 entsteht, eine Rolle zu spielen. Einschränkend muss erwähnt werden, dass allein die Aufhebung der fusionsproteinbedingten Differenzierungsblockade nicht zur Heilung der Leukämie führt, sondern dass immer eine zusätzliche, intensive zytostatische Therapie erforderlich ist. Die Bedeutung weiterer Aberrationen ist speziell im Kindesalter nur unzureichend belegt. Nicht selten treten in leukämischen Blasten eine Trisomie 21 oder Trisomie 8 auf. Während myeloische Blasten von Kindern mit einer somatischen Trisomie 21 eine ausgeprägt gesteigerte Zytostatikaempfindlichkeit aufweisen, gilt dieses für die erworbene Trisomie 21 in den leukämischen Blasten nicht. Auch von dem Nachweis einer Trisomie 8, Monosomie 7 oder einem komplexen Karyotyp kann nicht direkt in jedem Fall eine prognostische Aussage abgeleitet werden, obwohl die Prognose insgesamt ungünstiger ist. Möglicherweise spielt hier der Zeitpunkt, zu dem eine solche Aberration in den leukämischen Blasten akquiriert wurde, eine Rolle. So ist z. B. bei der Monosomie 7 mit einer Mutation auf Stammzellebene das Ansprechen auf eine zytostatische Therapie schlecht, so dass nur eine Stammzelltransplantation eine langfristige Heilung ermöglicht. Bei Patienten, die ein gutes Therapieansprechen
699 60 · Akute myeloische Leukämien
auf eine zytostatische Therapie zeigen, könnte die Monosomie erst in späteren Progenitoren entstanden sein oder auch nur einen Subklon der leukämischen Blasten betreffen. Der Nachweis molekulargenetischer Aberrationen kann zur Diagnostik der minimalen Resterkrankung ( Abschn. 60.10) herangezogen werden. Molekulargenetische Expressionsanalysen, die mit Microarray-Techniken die gleichzeitige Untersuchung des gesamten Genoms erlauben, könnten bei der Diagnostik und Identifikation von Risikofaktoren große Fortschritte bieten, um so eine zunehmend individuell angepasste Therapie zu ermöglichen. Bislang lassen sich anhand der Genexpressionsprofile bestimmte AML-Subtypen klassifizieren (Golub et al. 1999). 60.10
Minimale Resterkrankung
Molekulargenetische Marker und immunologische Methoden können eingesetzt werden, um eine minimale Resterkrankung (MRD) in morphologischer Remission zu erkennen und damit Patienten mit erhöhtem Rezidivrisiko zu identifizieren. Eine Definition der kompletten Remission auf molekularer und immunologischer Ebene ist möglich, jedoch aufgrund der Heterogenität der AML sind hier unterschiedliche Grenzwerte erforderlich. Bei der AML werden 2 Methoden eingesetzt. Mit Hilfe der Polymeraseketten-Reaktion (PCR)-Analyse lassen sich abnorme Gen-Rearrangements oder Fusionsgene bis zu einer Sensitivität von 10-5–10-6 nachweisen. Allerdings sind AML-spezifische Marker nur bei etwa 30% der Patienten verfügbar. Mit der »Real-time reverse transcriptase« (RQ-RT)-PCR lässt sich heute nicht nur ein Nachweis der mokeluaren Marker führen, sondern auch eine höhere Sensitivität erreichen und quantitative Angaben zum MRD-Level machen. Bisher ist jedoch im Gegensatz zur ALL die klinische Bedeutung der MRD-Befunde bei AML noch nicht oder nur in Ausnahmefällen bekannt. Dazu gehört die akute Promyelozytenleukämie mit einem nachweisbaren RARα-Rearrangement (Miller et al. 1992). Hier erlaubt die Persistenz des abnormen Gen-Rearrangements die Voraussage für ein späteres Rezidiv (Diverio et al. 1993). Andererseits spricht bisher der alleinige qualitative Nachweis eines AML1/ETO-Rearrangements bei Patienten mit der Translokation 8;21 (Kozu et al. 1993) nicht für eine ungünstige Prognose. Diese Veränderung wurde bei Patienten mit Langzeitremission gefunden (Jäger et al. 1995). Mit den Methoden der quantitativen PCR, die auch den Abfall und Anstieg der Fusionsgenkopien messbar macht, werden jedoch auch hier bessere Aussagen zur Prognose erwartet (Viehmann et al. 2002). Mit der Immunphänotypisierung mittels Durchflusszytometrie werden bei etwa 80% der Patienten informative Immunphänotypen gefunden, aber die Sensitivität dieser Methode ist im Vergleich zur PCR deutlich niedriger (10–3– 10–4; Kap. 47). Außerdem kommen bestimmte Immunphänotypen, die bei hohen Blastenkonzentrationen eine AML eindeutig charakterisieren, auch im normalen und insbesondere im regenerierenden Knochenmark in niedriger Konzentration vor. Erste Ergebnisse bei Erwachsenen und Kindern deuten daraufhin, dass das Therapieansprechen mittels Immunphänotypisierung mit einer guten Sensitivität
messbar ist und möglicherweise zur Therapiestratifizerung herangezogen werden kann (Reinhardt et al. 2002b). 60.11
Sonderfälle
60.11.1 Extramedulläre AML ! Etwa 20–30% aller Kinder mit AML weisen extramedulläre Manifestationen der Leukämie auf.
Dabei sind häufig das zentrale Nervensystem betroffen, gefolgt von Infiltraten in Haut und Schleimhäuten. Der extramedulläre Befall bei manifester Knochenmarkbeteiligung tritt gehäuft bei monoblastären Leukämien auf. Während bei den prognostisch günstigeren Formen wie der AML FAB M2 mit Auerstäbchen bzw. der AML mit t(8;21) der extramedulläre Befall keinen prognostisch ungünstigen Faktor darstellt, konnte besonders für die myelomonoblastäre oder monoblastären Leukämien eine extramedulläre Infiltration mit leukämischen Blasten als prognostisch ungünstiger Faktor identifiziert werden (Creutzig et al. 2001a). Eine Rarität ist dagegen der isolierte extramedulläre Befall, bei dem mit herkömmlichen Methoden im Knochenmark keine malignen Blasten nachweisbar sind. Die Diagnose lässt sich histologisch und immunhistochemisch im extramedullären Biopsat stellen. Aufgrund der typischen grünlichen Farbe werden extramedulläre Manifestationen bei den myeloischen Leukämien (FAB M1/M2) auch als Chlorome bezeichnet. Insgesamt überwiegen auch bei den isolierten Myelosarkomen Haut- oder Schleimhautinfiltrationen mit monozytären Blasten. Da der Allgemeinzustand der Patienten häufig nicht beeinträchtigt ist, wurde bisher häufig der Therapiebeginn verzögert oder nur eine reduzierte Therapie gegeben, was letztlich die Heilungschancen verschlechtert (Reinhardt et al. 2000). Bei sofortiger und adäquater systemischer Therapie entspricht die Prognose für Patienten mit extramedullärer Leukämie der korrelierenden AML, d. h. Patienten mit AML FAB M2 mit Auerstäbchen weisen eine günstigere Prognose auf als Patienten mit Monoblastenleukämie. Die Ätiologie des isolierten extramedullären Befalls ist unklar. Möglicherweise kommt es durch Faktoren wie Adhäsionsmoleküle (Integrine) oder chemotaktischen Mechanismen zu einem so genannten »Homing«-Effekt, d. h. die malignen Blasten können in extramedulläre Kompartimente, z. B. in die Subkutis, einwandern oder sich dort anreichern und proliferieren. Zusätzlich könnten veränderte Bedingungen der Immunreaktion in diesen extramedullären Kompartimenten die Elimination der Blasten erschweren. Diese Theorie wird durch das relativ häufige Auftreten von extramedullären Rezidiven im Anschluss an Stammzelltransplantationen unterstützt. 60.11.2 Down-Syndrom Das erwähnte hohe Risiko (14- bis 20-fach) von Kindern mit Down-Syndrom, an einer Leukämie zu erkranken, entspricht einer Inzidenz von etwa 1% bei Kindern mit Down-Syndrom. Dabei ist das Verhältnis des Auftretens einer ALL zur AML im
60
700
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Kindesalter mit 1,2: 1 im Vergleich zu den Nicht-Down-Patienten im Kindesalter (4:1) deutlich in Richtung der AML verschoben. ! Im Alter von unter 4 Jahren haben Kinder mit DownSyndrom etwa ein 100-mal höheres Risiko, an einer AML zu erkranken im Vergleich zu Kindern ohne Down-Syndrom (Creutzig et al. 1996). Der vorherrschende Subtyp bei diesen Patienten ist die akute Megakaryoblastenleukämie (FAB M7).
IV
Morphologisch ist meist ein einheitliches Bild einer undifferenzierten oder megakaryoblastär und teilweise erythroblastär differenzierten Leukämie, zu erkennen. Zudem tritt relativ häufig eine myelodysplastische Vorphase vor der Entwicklung einer AML auf (Zipursky et al. 1994a). Dieser Subtyp sollte unabhängig von der Blastenzahl (unter oder über 30%) als eine einheitliche Erkrankung angesehen werden und als M7/Down klassifiziert werden (Creutzig et al. 1996; Zipursky et al. 1994a). Diese Entität kann auch deutlich von der M7-Leukämie bei Kleinkindern ohne Down-Syndrom mit t(1;22) oder M7-Leukämie bei älteren Patienten mit 3q-Abnormalitäten abgegrenzt werden. Pathophysiologisch ist anzunehmen, dass eine gemeinsame Vorläuferzelle von thrombo- und erythropoetischen Zellen betroffen ist. Dafür spricht der Nachweis klonaler spezifischer Marker von Zellen beider Linien in der Interphasenzytogenetik (Zipursky et al. 1994b). Vieles deutet darauf hin, dass die Entwicklung der M7/Down-Leukämie mit einer kritischen Periode in der prä- oder perinatalen Hämatopoese assoziiert ist. Dazu passen auch das Auftreten des transienten myeloproliferativen Syndroms (TMD) bei Neugeborenen mit Down-Syndrom (Yumura-Yagi et al. 1994) und die Beobachtung, dass die meisten dieser Leukämien innerhalb der ersten Lebensjahre auftreten. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass Mutationen des Transkriptionsfaktors GATA1, die zu einem trunkierten Protein führen, sowohl bei der M7/Down-Leukämie als auch beim TMD eine Rolle zu spielen scheinen (Wechsler et al. 2002). Im Gegensatz zur bekannten schlechten Prognose bei Nicht-Down-Kindern mit FAB Typ M7 haben AML-Patienten mit Down-Syndrom höhere Überlebensraten (Zipursky et al. 1994a). Sie sprechen gut auf die Chemotherapie an (Ravindranath et al. 1992), was möglicherweise mit einem verstärkten intrazellulären Metabolismus von Cytarabin zu Cytarabintriphosphat (Ara-CTP) in den Down-SyndromZellen begründbar ist (Taub et al. 1999). Thrombozytopenien sind die vorherrschenden Symptome im Frühstadium bei M7/Down-Patienten. Darum sollte bei Petechien oder bei Thrombozytopenien eine Knochenmarkbiopsie durchgeführt werden. Wenn die Diagnose der M7-Leukämie bestätigt wird, sollte eine Behandlung so bald wie möglich angeschlossen werden. Es wird jedoch aufgrund der niedrigen Rezidivraten (Ravindranath et al. 1992; Zipursky et al. 1994a) und hohen Response-Raten empfohlen, eine Überbehandlung zu vermeiden. Im Rahmen der AML-Berlin-Frankfurt-Münster (BFM)-Studien wird die Standard-AML-Therapie mit einmaliger Gabe von hochdosiertem Cytarabin und mit reduzierten Anthrazyklingaben und Verzicht auf die Schädelbestrahlung empfohlen. Ebenso sollte auf eine allogene Stammzelltransplantation in erster Remission verzichtet werden. Mit dieser reduzierten Chemotherapie und entsprechender
supportiven Behandlung kann das Risiko von infektionsbedingten Todesfällen reduziert werden. Transientes myeloproliferatives Syndrom. Eine weitere Be-
sonderheit ist das Auftreten einer transienten myeloproliferativen Erkrankung (TMD; WHO 2001) bei Neugeborenen mit Down-Syndrom. Synonym dazu wird auch von »transienter abnormaler Myelopoese« (TAB) gesprochen (Hasle et al. 2003). Das hämatologische Bild der akuten Leukämie ist bei diesen Neugeborenen identisch mit dem der akuten Leukämie älterer Kinder mit Down-Syndrom. Bei den TMDPatienten kommt es jedoch zu einer spontanen Remission ohne spezifische Chemotherapie (Creutzig u. Baumann 1998). Andererseits ist eine intensive Supportivtherapie zur Reduzierung der Hyperviskosität und Behandlung der teilweise schweren Gerinnungsstörungen nötig. Ebenso können Erythrozyten- und Thrombozytentransfusionen erforderlich sein. Als weitere TMD-assoziierte Komplikation kann eine akute Lebertoxizität auftreten, die wahrscheinlich Ausdruck einer persistierenden extramedullären Blutbildung ist und durch Zytokinfreisetzung zur Leberfibrose führen kann. Die leukämischen Blasten zeigen morphologische und immunologische Merkmale der akuten Megakaryoblastenleukämie (FAB M7). Bei manchen Patienten werden zusätzliche klonale Aberrationen wie die Trisomie 8 beobachtet, die in klinischer Remission verschwindet. In Einzelfällen wurde im Gegensatz zu älteren Kindern mit Down-Syndrom und Nicht-Down-Syndrom-Patienten normales Wachstum und Differenzierung der TMD Blasten in den In-vitro-Zellkulturen nachgewiesen. Es ist anzunehmen, dass der initiale proliferierende Zellklon seinen Wachstums- und Reifungsvorteil verliert, was zu einer spontanen Remission bei Neugeborenen mit Down-Syndrom und TMD führt. Auf der anderen Seite haben diese Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko von etwa 20% eine AML während der nächsten 2–4 Lebensjahre zu entwickeln. Aus diesem Grund ist eine engmaschige Überwachung dieser Patienten notwendig. 60.12
Therapie
60.12.1 Allgemeine Aspekte der Behandlung Das Hauptziel der Therapie ist die Vernichtung der Leukämiezellen und die Wiederherstellung der normalen Hämatopoese. Durch die meist höhere Resistenz und die Entstehung der Erkrankung in früheren Vorläuferzellen der Myelopoese im Vergleich zur ALL ist dieses nur durch eine deutlich intensivere Therapie möglich. Zunächst erfolgt die intensive Induktionstherapie, die die Remission (CR) ermöglichen soll. Eine Sonderstellung nimmt die AML FAB M3 ein, da hier durch die Anwendung von All-trans-Retinsäure (ATRA) zunächst eine Differenzierung der promyelozytären Blasten angestrebt wird ( Abschn. 60.9, »AML-FAB M3«). Die erste Evaluierung des Therapieansprechens erfolgt am Tag 15 anhand der Blastenzahl im Knochenmark. Nach den Ergebnissen der AML-BFM-Studien lagen die CR-Rate und das rezidivfreie Überleben bei Kindern mit einer deutlich reduzierten Blastenzahl am Tag 15 (<5% Blasten) signifikant über der bei Kindern mit mehr als 5% Blasten (Creutzig et al. 1999).
701 60 · Akute myeloische Leukämien
Spezielle morphologische Kenntnisse sind jedoch erforderlich, um ein hypoplastisches Knochenmark zu beurteilen.
60.12.2 Remissionsinduktionstherapie
In den meisten AML-Studien wird versucht, eine Remission mit 1 oder 2 Blöcken dieser kurzen und intensiven Therapie zu erreichen. Grundlage dafür waren die Ergebnisse der Cancer and Leukemia Group B (CALGB)-Studie bei Erwachsenen, die gezeigt hatte, dass die 7-tägige Cytarabingabe der 5-tägigen überlegen ist. Eine Gabe von Cytarabin über 7 Tage hinaus war zu toxisch und führte zu keiner Erhöhung der Remissionsrate (Rai et al. 1981). Neuere Daten von Erwachsenen, die mit hochdosiertem (3 g/m2) Cytarabin im Vergleich zu einer Standarddosis Cytarabin (100 mg/m2) in der Induktion behandelt wurden, zeigten längere Remissionszeiten in der Hochdosisgruppe (Bishop et al. 1996). Die Toxizität war jedoch extrem hoch. Mit Daunorubicin ergaben sich die besten Ergebnisse bei einer 3-tägigen Gabe von 60 mg/m2 (Büchner et al. 1991; Büchner et al. 1999). Die Einführung der ADE-Induktion (Ara-C [Cytarabin], Daunorubicin [60 mg/m2 × 3], Etoposid) in der AML-BFM-83-Studie erbrachte eine deutliche Verbesserung der Langzeitergebnisse bei Kindern mit AML (Creutzig et al. 1990). Heute werden neben dem Daunorubicin neuere Anthrazykline wie Idarubicin und Mitoxantron bei Erwachsenen und Kindern mit AML während der Induktion, Konsolidierung und Intensivierung eingesetzt. Bei Erwachsenen ergaben sich höhere Remissionsraten mit Idarubicin (12 mg/m2 × 3) im Vergleich zu Daunorubicin (45 mg/m2 oder 50 mg/m2 × 3; Berman et al. 1991), jedoch keine unterschiedlichen Langzeitergebnisse. Arlin et al. (1990) zeigten eine höhere CR-Rate nach einem einzigen Induktionskurs mit Mitoxantron (12 mg/m2 × 3) im Vergleich zur Standardinduktion mit Daunorubicin (45 mg/m2 × 3). Bei all diesen Studien bestehen Probleme mit der Vergleichbarkeit, da nicht von einer Äquivalenz der Dosen ausgegangen werden kann (The AML Collaborative Group 1998). In der pädiatrischen Studie AML-BFM 93 wurde Idarubicin (12 mg/m2 pro Tag × 3) mit Daunorubicin (60 mg/m2 pro Tag × 3) während der Induktion verglichen. Die Ergebnisse waren hinsichtlich der CR-Raten und des Überlebens ähnlich, die Blastenreduktion am Tag 15 im Knochenmark war jedoch signifikant besser unter der Idarubicintherapie, was für einen etwas besseren antileukämischen Effekt spricht (Creutzig et al. 2001b). Häufig ist eine zweite Induktion mit identischen oder anderen Zytostatika notwendig, um eine Remission zu erreichen, wie es in vielen Studien üblich ist. Büchner et al. (1991, 1999) konnten bei Erwachsenen zeigen, dass eine intensive Doppelinduktion die Langzeitergebnisse verbessert.
! Durch die Induktionstherapie sollen eine CR erreicht
60.12.3 Konsolidierung und Intensivierung
! Ein vollständiges Ansprechen (Remission) kann erst nach 4–8 Wochen beurteilt werden. Die Remission erfordert nach den Kriterien des National Cancer Institutes weniger als 5% Blasten im Knochenmark, eine Zellularität im Knochenmark von über 20% und mindestens 1500/µl zirkulierende Neutrophile und 100.000/µl Thrombozyten mit einer Ansprechdauer von mindestens 4 Wochen (Cheson et al. 1990).
Nach der Induktionstherapie sind weitere intensive Postremissionskurse zur Elimination residualer Leukämiezellen erforderlich. MRD, definiert als jene residuellen Leukämiezellen, die nicht morphologisch identifiziert werden können (Paietta 2002), kann in Zukunft mit immunologischen und molekulargenetischen Methoden (Campana u. CoustanSmith 1999) sensitiver bestimmt werden, um so möglicherweise die Definition der kompletten Remission zu verbessern. Die Dauer der Postremissionstherapie ist umstritten. Im Allgemeinen werden intensive Chemotherapieblöcke, bezeichnet als Konsolidierungs- und/oder Intensivierungsblöcke, zusammen mit einer ZNS-Prophylaxe durchgeführt. Daran schließt sich meist eine weniger intensive Erhaltungschemotherapie an (Creutzig et al. 2004; Abb. 60.4). Das aktuelle AML-BFM-Behandlungsprotokoll ist unter www.kinderkrebsinfo.de abrufbar. Eine allogene oder autologe Knochenmarktransplantation kann als weitere Form der Intensivierung (⊡ Tabelle 60.3) zur Remissionserhaltung notwendig sein. Der eine Differenzierung induzierende Wirkstoff ATRA wird bei Patienten mit AML M3 eingesetzt. Er bewirkt statt einer Zellzerstörung eine Zelldifferenzierung und -ausreifung (Warrell et al. 1991). Intensive Überwachung und Supportivtherapie sind in allen Behandlungsphasen notwendig, besonders jedoch während der ersten Tage und Wochen der intensiver Induktionstherapie. Bei den heute erreichbaren verbesserten Ergebnissen der AML-Behandlung ist das Abwägen zwischen Behandlungsintensität und Toxizität noch wichtiger als früher. Daher wird die Therapie zunehmend risikoadapiert durchgeführt ( Abschn 60.13).
und die Langzeitergebnisse verbessert werden. Im Allgemeinen kann dies durch einen einzigen 7-TagesBlock mit Cytarabin (Ara-C) und 3 Tagen Anthrazyklinen erreicht werden.
Die Induktionstherapien der verschiedenen AML-Studien unterscheiden sich durch die Art der Verabreichung der Medikamente. Üblich ist eine kurze oder eine kontinuierliche Infusion von Cytarabin (100–200 mg/m2 pro Tag für 7 Tage) kombiniert mit Daunorubicin (45–60 mg/m2 pro Tag für 3 Tage) und teilweise zusätzlicher Gabe von Medikamenten wie 6-Thioguanin oder Etoposid ( Tabelle 60.3).
! Unter der Bezeichnung Konsolidierung versteht man
die erneute Gabe von 2 oder mehreren Kursen mit Medikamentenkombinationen, die denen in der Induktion entsprechen. Nicht-kreuzresistente Zytostatikakombinationen werden in der Intensivierung eingesetzt, um eine Resistenzentwicklung zu vermeiden.
Derartige Kurse können für einige Monate oder bis zu einem Jahr gegeben werden (z.B in der VAPA Studie (Weinstein et al.
60
IV 702
Studie/ Laufzeit (Literatur)
Induktionstherapie (Tage)
ZNSProphylaxe
Postremissionstherapie
SZTa
Patientenzahl (Alter, Jahre)
Vollremissionsrate (%)
5-JahrespDFS (SE) (%)
5-JahrespDFS (SE) in Untergruppen (%)
POG-8821 1988–1993 Ravindranath et al. 1996
DNR, Ara-C, TG (3+7+7) +HD-Ara-C (6)
i. th. Ara-C
VP/AZ, HD-Ara-C (6), DNR+Ara-C + TG ISC (6 Monate)
Allogene SZT autologe SZT vs. ISC
649 (<21)
85b
40 (im Alter von 3 Jahren)
34 (3) (nach Allogene 3 Jahren) SZT 52 (8) autologe SZT 38 (6) ISC 36 (6) (nach 3 Jahren)
CCG-2891 1989–1993 Woods et al. 1993
DCTER ×2 (2×4) Intensiv vs. Standard-Timing
i. th. Ara-C
DCTER ×2 + HD-Ara-C/ ASp ×2+ISC (4 Monate)
Allogene SZT autologe SZT vs. ISC
589 (<21)
74
Keine Angaben
Intensives Timing 55 (8) StandardTiming 37 (8) (nach 3 Jahren)
Intensives Timing 42 (7) StandardTiming 27 (7) (nach 3 Jahren)
Intensives Timing 51 (7) StandardTiming 39 (7) (nach 3 Jahren)
NOPHOAML-1993 1993 Lie et al. 2003
Ara-C, VP, DOX, TG ×2 (5)
i. th. MTX
HD-Ara-C (+/− Mitox oder VP) ×4
Allogene SZT autologe SZT
219 (<18)
91
54 (4)
Allogene SZT 64%c ISC/autologe SCT 51%
49 (4)
64 (4)
AIEOP 1987–1990 Amadori et al. 1993
DNR, Ara-C (3+7) DNR, Ara-C (2+5)
i. th. Ara-C+P
DNR, Ara-C, TG ISC (9 Monate)
Allogene SZT autologe SZT vs. ISC
161 (<14)
79
31 (5)
Allogene SZT 51 (13) autologe SZT 21 (8) ISC 27 (8)
25 (4)
42 (4)
MRC AML 10 1988–1995 Stevens et al. 1998
DNR, Ara-C, TG ×2 vs. DNR, Ara-C, VP ×2 (10+8)
i. th. Ara-C, MTX, P
MACE + MidAC
359 (<14) Allogene SZT autologe SZT vs. keine weitere Therapie
92
52 (5)
Autologe SZT 68 keine weitere Therapie 48
49 (5)
58 (5)
BFM-1993 1993–1998 Creutzig et al. 2001
DNR oder IDR, Ara-C, VP (3+8+3)
i. th. Ara C + CRT
6-wöchige Konsolidation, 7 Medikamente + HD-Ara-C (6) Mitox oder VP ×2
(Allogene SZT)
82
62 (3)
51 (2)
60 (3)
470 (<17)
5-JahrespEFS (SE) (%)
5-JahresÜberlebenswahrscheinlichkeit (SE) (%) 42 (3) (nach 3 Jahren)
Abschn. 60.12.6 (allogene/autologe SZT in erster CR) zum Vergleich der SZT-Ergebnisse; b einschließlich Patienten mit M2-Knochenmark (5–15% Blasten im Knochenmark); c Überlebenswahrscheinlichkeit gleich (71% vs. 69%). ADR Adriamycin; Ara-C Cytarabin; Asp Asparaginase; AZ Azacytidin; CR komplette Remission; CRT »cranial irradiation« (Schädelbestrahlung); DCTER Dexamethason Ara-C TG VP DNR; DFS disease-free survival (erkrankungsfreies Überleben); DNR Daunorubicin; EFS »event-free survival« (ereignisfreies Überleben); HD Hochdosis; i.th. intrathekal; IDR Idarubicin; ISC intensive sequenzielle Chemotherapie; MACE Amsacrine Ara-C VP; MidAC Mitoxantron HD-Ara-C; MTX Methotrexat; P Prednison; p »probability« (Wahrscheinlichkeit); SE Standardfehler; SZT Stammzelltransplantation; TG Thioguanine; VP VP-16/213 (Etoposid). a
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 60.3. Behandlungsstrategien und Ergebnisse von ausgewählten pädiatrischen AML-Studien
703 60 · Akute myeloische Leukämien
⊡ Abb. 60.4. Behandlungsstrategien und Übersicht über die eingesetzten Medikamente und kumulativen Dosen von Cytarabin und Anthrazyklinen in 5 pädiatrischen Studien. CRT »cranial irradiation«, Schädelbestrahlung; 5-AZA 5-Azacytidin; ADE Ara-C/Daunorubicin/ Etoposid; AIE Ara-C/Idarubicin/Etoposid; Ara-C Cytarabin; auto autolog; CR komplette Remission; DA DNR/Ara-C; DAT DNR/Ara-C/Thioguanin;
DNR Daunorubicin; DOX Doxorubicin; HAM HD-Ara-C/Mitoxantron; HD Hochdosis; HR Hochrisiko; i.th. intrathekal; MACE Amsakrin/Ara-C/ VP; MidAC Mitoxantron/HD-Ara-C; MTX Methotrexat; P Prednison; R Randomisation; SR Standardrisiko; SZT Stammzelltransplantation; G Thioguanin; VP VP-16/213 (Etoposid)
60
704
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
1983)). In den BFM-Studien wird eine 6- oder 8-wöchige Konsolidierung mit 7 unterschiedlichen Zytostatika eingesetzt (Creutzig et al. 1990, 1993) sowie 2 Blöcke einer Intensivierung mit hochdosiertem Cytarabin. In der Nordic Society of Pediatric Haematology and Oncology (NOPHO)Studie AML 93 wurden 4 Intensivierungsblöcke mit hochdosiertem Cytarabin gegeben (Lie et al. 2003) und in der Medical Research Council MRC-AML10-Studie 2 intensive Blöcke, die unter anderem Mitoxantron und hochdosiertes Cytarabin enthielten (⊡ Abb. 60.4; Tabelle 60.3; Stevens et al. 1998). Nach den Daten dieser pädiatrischen Studien und den Studien bei Erwachsenen (Bloomfield et al. 1998) konnten die Rezidivraten nach der Einführung einer intensiven Chemotherapie mit hochdosiertem Cytarabin als Postremissionstherapie verringert werden (Cassileth et al. 1992). Diese Ergebnisse weisen auf einen »Dose-response«-Effekt von Cytarabin bei Patienten mit AML hin. Die Bedeutung der Dosisintensität konnte in der Children’s Cancer Group (CCG) 213P-Studie gezeigt werden. Die Überlebensraten waren höher, wenn 2 Kurse hochdosiertes Cytarabin/Asparaginase in einem Intervall von 7 Tagen im Vergleich zu einem Intervall von 28 Tagen gegeben wurde (Wells et al. 1993). Die Zahl und Intensität von Chemotherapieblöcken, die bei Kindern mit AML notwendig sind, ist jedoch weiterhin nicht bekannt. 60.12.4 ZNS-Bestrahlung Die präventive ZNS-Bestrahlung ist nicht generell in den Therapieschemata für die AML bei Erwachsenen und Kindern enthalten. Dies beruht historisch auf Ergebnissen von Studien bei Kindern mit ALL und der in den 70er-Jahren durchgeführten AML-Studie in St. Jude (Dahl et al. 1978), die ergaben, dass die präventive Bestrahlung ZNS-Rezidive zwar verhindern kann, aber keinen Einfluss auf das Gesamtüberleben hat. Ein Effekt auf die Remissionsdauer insgesamt wurde nicht bewiesen (Baehner et al. 1984). In den meisten AML-Studien bei Kindern und Erwachsenen wird intrathekal Methotrexat oder Cytarabin oder eine Kombination dieser
⊡ Abb. 60.5. Kumulative Rezidivhäufigkeit der Patienten mit und ohne Schädelbestrahlung in der AML-BFM-Studie 87
Substanzen mit Hydrokortison eingesetzt. In den AML-BFMStudien war die Durchführung einer ZNS-Bestrahlung präventiv und therapeutisch generell üblich. In der Studie AMLBFM 87 wurde prospektiv geprüft, ob die ZNS-Bestrahlung durch eine späte Intensivierung mit hochdosiertem Cytarabin in Kombination mit Etoposid ersetzt werden könnte. Die Studie wurde nur zum Teil randomisiert durchgeführt, und die Ergebnisse ergaben unter Einschluss der nicht randomisierten Gruppe, die keine ZNS-Bestrahlung erhalten hatte, dass die Gesamtrezidivrate bei Verzicht auf die ZNS-Bestrahlung angestiegen war (⊡ Abb. 60.5; Creutzig et al. 1993). Bisher wurden derartige Untersuchungen nicht in anderen Studiengruppen prospektiv überprüft, so dass die Bestätigung der Notwendigkeit der präventiven ZNS-Bestrahlung aussteht. Es ist auch unklar, ob die intrathekale und hochdosierte Cytarabin- oder Methotrexatgabe ausreichend ist, um eine geringe Blastenzahl im ZNS zu kontrollieren oder ob hier die ZNS-Bestrahlung notwendig ist. 60.12.5 Dauertherapie Bisher gibt es bei der AML kein standardisiertes Vorgehen hinsichtlich der Durchführung und ggf. der Zeitdauer einer Erhaltungschemotherapie. Wie bei der ALL wurde die Erhaltungschemotherapie zunächst eingesetzt, um die Remissionsdauer zu verlängern. Der Effekt auf die Heilungsrate ist jedoch umstritten. In Studien bei Erwachsenen konnte gezeigt werden, dass eine Erhaltungschemotherapie nach 4 Konsolidierungskursen (Mandelli et al. 1992) oder nach einem hochintensiven Konsolidierungskurs (Büchner et al. 1993b) die Langzeitergebnisse nicht verbesserte. Auf der anderen Seite ergab eine Metaanalyse (Büchner et al. 1993b), dass die Ergebnisse bei erwachsenen Patienten mit Standard- oder intensiver Erhaltungschemotherapie besser waren als bei Patienten, die nur reduzierte Dosen oder keine Erhaltungschemotherapie erhalten hatten. Die Rate von anhaltenden kontinuierlichen kompletten Remissionen betrug 25% gegenüber 13%. Ins-
705 60 · Akute myeloische Leukämien
gesamt zeigen die Ergebnisse, dass in Abhängigkeit von der Initialtherapie die Dauertherapie einen zusätzlichen Anteil an den erhöhten Überlebensraten hat. In den AML-BFM-Studien betrug die Gesamttherapiedauer früher 2 Jahre, heute 1,5 Jahre. In 2 anderen pädiatrischen AML-Studien wurde gezeigt, dass eine Erhaltungschemotherapie nach Induktion und intensiver Postremissionschemotherapie mit hochdosiertem Cytarabin nicht notwendig ist (CCG-Studie 213; Wells et al. 1993; Woods et al. 1990). In der französischen LAME-Studie war eine niedrig dosierte Erhaltungschemotherapie sogar eher ungünstiger als die Beendigung der Therapie nach intensiver Induktion und Konsolidierung (Perel et al. 2002). Damit bleibt die Erhaltungschemotherapie weiterhin umstritten, die Beurteilung muss jedoch das jeweilige Therapieschema berücksichtigen. 60.12.6 Stammzelltransplantation Allogene Stammzelltransplantation vom Familienspender ! Der antileukämische Effekt einer allogenen SZT entsteht durch die Konditionierung mit einer knochenmarkablativen Chemotherapie und dem immunologischen »Graft-versus-leukemia«-Effekt. Die gesteigerte Intensität der SZT und der zusätzliche therapeutische immunologische Effekt bedeuten gleichzeitig auch eine erhöhte Toxizität. Insbesonders die Spätfolgen wie Infertilität, Wachstumsstörungen oder neuropsychologische Folgen sind bei Kindern zu beachten.
Vergleichende Analysen zur Bedeutung der allogenen SZT in erster Remission vom verwandten Spender (»matched related«) wurden in verschiedenen Studiengruppen durchgeführt ( Tabelle 60.3). Die Ergebnisse waren mit SZT teilweise besser (CCG-Studien 251 und 213; Lange et al. 1993) oder sie lagen im gleichen Bereich wie die der konventionellen Postremissionschemotherapie (AML-BFM-Studien 83, 87 und 93; St. Jude 1980–83; Creutzig et al. 2001c; Dahl et al. 1990). Das Muster der Ereignisse war jedoch unterschiedlich. Knochenmarkrezidive traten häufiger nach sequenzieller Chemotherapie auf, Todesfälle in CR häufiger nach einer SZT. In der MRC-AML10-Studie betrug die Überlebensrate der Gesamtgruppe nach 7 Jahren 56% und war damit deutlich besser als in vorangegangenen Studien. Die Rezidivrate war nach allogener und autologer SZT reduziert, aber es zeigte sich kein signifikanter Vorteil für das Überleben der transplantierten Patienten im Vergleich zu Patienten bei denen die Chemotherapie beendet wurde. 11 Todesfälle in anhaltenden Vollremission standen im Zusammenhang mit der SZT (Riley et al. 1999). Grundsätzlich haben sich die Ergebnisse für Kinder, die eine allogene SZT in erster Remission bei einer AML erhalten haben, in den letzten 10–15 Jahren deutlich verbessert. Michel et al. (1992) konnten zeigen, dass dies durch eine verringerte transplantationsbedingte Mortalitätsrate von 36% (1979–1986) auf 3% (1987–1990) bedingt war. Die Konditionierungsregime bei allogener SZT bestehen bei Kindern im Allgemeinen aus Busulfan und Cyclophos-
phamid. Nach den Daten der Europäischen Bone Marrow Transplantation Group (EBMT), die diese Konditionierung mittels «Matched-pair»-Analyse mit Patienten, die Cyclophosphamid und Ganzkörperbestrahlung erhalten hatten verglichen (Appelbaum 2000), zeigte sich kein Unterschied in der transplantationsbedingten Mortalität, den Rezidivraten und dem krankheitsfreien Überleben. Im Zusammenhang mit der SZT können Organtoxizitäten auftreten, z. B. «hepato-venoocclusive disease» (VOD), interstitielle Pneumonie, akute Spender-gegen-EmpfängerErkrankung («acute graft-versus-host disease», GVHD), die sich klinisch in Form von Hautausschlag, Lebertoxizität, Diarrhö, Mukositis oder Fieber bemerkbar macht. Mögliche Spättoxizitäten sind Wachstumsstörungen, endokrinologische Störungen, Langzeitkardiotoxizität und chronische GVHD (Leahey et al. 1999). ! Bisher ist umstritten, ob alle Patienten mit AML, die eine erste Remission erreicht haben und einen HLAidentischen verwandten Spender haben, auch transplantiert werden sollen. Der Trend geht dahin, zumindest bei Patienten mit niedrigem Rezidivrisiko in erster CR darauf zu verzichten.
Damit würden nur die wenigen Patienten, die dann rezidivieren, in zweiter Remission transplantiert werden und den meisten dieser Patienten würde die transplantationsbedingten Früh- und Spätfolgen erspart bleiben (Stevens et al. 1998; Creutzig u. Reinhardt 2002). Unverwandte Stammzelltransplantation Diese Form der SZT entspricht in ihrer antileukämischen Wirksamkeit der SZT mit einem verwandten Spender. Da die Mortalität und Morbidität jedoch im Vergleich zur allogenen SZT vom verwandten Spender höher ist, sollte die unverwandte SZT nur in Ausnahmefällen in erster CR bei Kindern mit AML eingesetzt werden (Ladenstein et al. 1997). Autologe Stammzelltransplantation Wenn ein »rescue« durch autologe SZT möglich ist, kann eine hochdosierte Chemotherapie und Radiotherapie, die zur vollständigen Vernichtung der Hämatopoese führt eingesetzt werden. Die autologe SZT ist gegenüber der allogenen SZT weniger toxisch, weil das GVHD-Risiko entfällt. Andererseits hat sie sich als weniger wirksam erwiesen, weil das Risiko der Reinfusion von leukämischen Stammzellen besteht und der »Graft-versus-leukemia«-Effekt entfällt (Gorin et al. 1996). Mit der Methode des »in vitro purging« soll das entnommene Knochenmark von residualen Leukämiezellen befreit werden. Das »purging« wird bei der AML mit Cyclophosphamidabkömmlingen, wie dem 4-Hydroperoxycyclophosphamid (4-HC) oder Mafosfamid, durchgeführt. Mit diesem Vorgehen wurden 1- bis 3-jährige Überlebensraten von 30–50% für Patienten in Erstremission und von etwa 20% für Patienten in Zweitremission erreicht. In den randomisierten Studien 8821 der Pediatric Oncology Group (POG) (Ravindranath et al. 1996) und in der AIEOP/LAM-87-Studie ( Tabelle 60.3; Amadori et al. 1993) ergaben sich keine Unterschiede im ereignisfreien Überleben beim Vergleich der autologen SZT mit der intensiven Konsolidierungchemotherapie (ICC). In der MRC-AML10-Studie war die Rezidivrate mit der autologen SZT nach 4 Kursen
60
706
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
intensiver Chemotherapie geringer als mit alleiniger Chemotherapie, aber Morbidität und Mortalität waren erhöht (Burnett et al. 1998). Hinzu kommt, dass diese Option nicht mit einem zusätzlichen Block Chemotherapie verglichen worden war.
IV
! Als Konsequenz gilt die autologe Stammzelltransplantation nur als Option für Spätrezidive nach Zweitremission. Nach den bisherigen Ergebnissen entspricht die Wirkung der autologen SZT einem zusätzlichem hochdosierten Chemotherapiekurs, mit der die Heilungsraten bei Kindern mit AML nicht oder nur minimal erhöht werden. Es ist jedoch möglich, dass sich durch verbesserte »Purging«-Methoden und Konditionierungsprotokolle die Ergebnisse verbessern (Linker et al. 1998).
60.13
Prognostische Faktoren für risikoadaptierte Behandlungsstrategien
Mit Hilfe von prognostischen Faktoren wird versucht, das individuelle Risiko für Therapieversagen möglichst zum Diagnosezeitpunkt oder sobald wie möglich danach zu ermitteln. Als gesicherte günstige prognostische Faktoren gelten bestimmte Karyotypen wie t(8;21), t(15;17) und inv(16). Diese korrelieren mit den FAB-Subtypen AML M1/2 mit Auerstäbchen, AML M3 und der AML M4eo. AML mit komplexen Karyotypen, FLT3-Tandemduplikationen, Monosomie 7 oder Hyperleukozytose (≥100.000 Leukozyten/µl) scheinen dagegen eher mit einer ungünstigen Prognose einherzugehen (Dastugue et al. 1995). Auch die morphologischen Subtypen FAB M0, M4, M6 und M7 werden als ungünstig betrachtet (Buckley et al. 1989). Allerdings sind die meisten prognostischen Faktoren nicht unabhängig und ihre Bedeutung kann sich mit der Behandlungsintensität ändern. Bei Kindern mit AML wird das junge Lebensalter (<2 Jahren) als ein ungünstiger prognostischer Faktor angesehen. Dies wurde speziell für Säuglinge im Vergleich zu älteren Kindern berichtet (Buckley et al. 1989) und in den Studien AML-BFM 83 und 87 bestätigt (Creutzig et al. 1999). Kürzlich wurde von Chessels et al. (2002) darüber berichtet, dass die Prognose bei Säuglingen mit AML im Vergleich zu Säuglingen mit ALL deutlich günstiger sei. Es konnte wie in den AML-BFM-Studien gezeigt werden (Creutzig et al. 1999), dass in dieser Altersgruppe fast nur Kinder mit Hochrisikokriterien (ungünstige Morphologie und/oder ungünstiger Karyotyp) vorkommen. In den AML-BFM-Studien entsprach die Prognose der unter 2-Jährigen der von älteren Patienten mit Hochrisikokriterien. Das bedeutet, dass das Alter nicht als unabhängiger Risikofaktor angesehen werden kann. ! Nach den Ergebnissen der AML-BFM-Studien war eine Hyperleukozytose mit einem erhöhten Risiko für Frühtod durch Blutung und/oder Leukostase besonders bei Patienten mit AML M5 zu erkennen (Creutzig et al. 1987).
Patienten mit Hyperleukozytose waren darüber hinaus häufiger Non-Responder. Nach dem Erreichen einer Remission wich das Rezidivrisiko nicht signifikant von Patienten
mit einer niedrigeren Leukozytenzahl ab (Creutzig et al. 1999). Multivariat bestand eine hohe Korrelation mit anderen Risikofaktoren, besonders dem verzögerten Blastenabfall am Tag 15. Bedingt durch die Heterogenität der AML ist die Bedeutung der Leukozytenzahl bei den FAB-Subtypen variabel. Bei Patienten mit FAB M3 ist die Leukozytenzahl bei Diagnose gewöhnlich niedrig. Diese Patienten haben jedoch ein höheres Risiko für frühe letale Blutungen durch eine dissiminierte intravasale Gerinnung. Dieses Risiko korreliert mit der Leukozytenzahl und steigt bereits bei Werten über 10.000/µl Leukozyten deutlich an. Bei anderen Subgruppen wie der AML FAB M7 scheint dagegen eher eine niedrige Leukozytenzahl und ein geringerer Blastenanteil mit einem höheren Risiko für ein fehlendes Therapieansprechen assoziiert zu sein. Der Vergleich der ersten beiden AML-BFM-Studien 78 and 83 zeigte eine Verbesserung der Prognose für Patienten mit FAB-Typen mit typischer granulozytärer Differenzierung (FAB M1–M4) nach Intensivierung der Anfangstherapie in der Studie 83. Nach den Ergebnissen der Studien AMLBFM 83 and 87 war es möglich, zwei Risikogruppen (Standard und Hochrisiko) zu definieren, wobei vorwiegend prätherapeutische Parameter, die die FAB-Typen und morphologische Befunde wie Auerstäbchen und atypische Eosinophile einbezogen und die Blastenreduktion im Knochenmark am Tag 15 (⊡ Abb. 60.6; Creutzig et al. 1999), maßgeblich waren. Diese Risikogruppen korrelieren mit den auf zytogenetischen Befunden basierten Risikokriterien, die in anderen Studien eingesetzt werden, z. B. in den MRC-Studien (Wheatley et al. 1999). Es besteht eine Assoziation zwischen den FAB-Typen M1 und M2 mit Auerstäbchen, M3 und M4eo und den günstigen zytogenetischen Kariotypen t(8;21), t(15;17) und inv(16) ( Tabelle 60.2; Creutzig et al. 1999; Dastugue et al. 1995; Martinez-Climent et al. 1995; Raimondi et al. 1999). Eine risikostratifizierte Therapie wird in verschiedenen Studien eingesetzt, insbesondere um die Indikation für die Stammzelltransplantation in erster Remission festzulegen.
⊡ Abb.60.6. Risikostratifikation bei AML am Beispiel der BFM-Studien
707 60 · Akute myeloische Leukämien
60.14
Therapieoptionen für spezielle Patientengruppen
60.14.1 Akute Promyelozytenleukämie ! Bei Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie gehört heute eine Differenzierung induzierende Therapie mit ATRA zum Standard.
Durch das Fusionsprotein (PML-RARα) wird die Dissoziation des Histon-Deacetylase-Korepressor-Komplexes verhindert. Mit pharmakologischen, jedoch nicht mit physiologischen ATRA-Konzentrationen kann der Korepressor abgespalten werden. Dies führt dann zur Transkription und Differenzierung (Guidez et al. 1998). In großen kooperativen Studien sind hohe Remissionsraten unter alleiniger Behandlung mit ATRA oder mit ATRA in Kombination mit Chemotherapie erreicht worden. Die besten Ergebnisse wurden bei gleichzeitiger Gabe von ATRA und Chemotherapie erzielt (Fenaux et al. 1999). Bei Erwachsenen wurden mit Idarubicin als alleinigem Zytostatikum in Kombination mit ATRA gute Ergebnisse erreicht. Hieraus wurde gefolgert, dass auf Cytarabin in der Induktion verzichtet werden könnte (Lo Coco et al. 1998). Zusätzliche Daten vom MD-Anderson-Hospital und von der PETHEMA-Gruppe (Mandelli et al. 1997) ergaben, dass Cytarabin auch in der Konsolidierung entbehrlich ist, wenn Anthrazykline gegeben werden (Lo Coco et al. 1998). Bei Kindern sollte jedoch bedacht werden, dass die Toleranzgrenze für kumulative Anthrazyklindosen niedriger liegt und dass daher Erwachsenenprotokolle für die akute Promyelozytenleukämie nicht ohne weiteres zu übernehmen sind. Bei Resistenz auf ATRA, z. B. im Rezidiv, kommt Arsentrioxid als alternative Therapie in Frage (Soignet et al. 1998). 60.14.2 AML mit anderen spezifischen Karyotypen Neben der akuten Promyelozytenleukämie mit der Translokation t(15;17) gibt es andere spezifische Aberrationen bei der AML, die mit einer guten Prognose assoziiert sind. Dazu gehört die Translokation 8;21 (q22;q22), die vorwiegend beim M2-Subtyp gefunden wird. Patienten mit t(8;21) haben molekulargenetisch das AML1/ETO-Fusionstranskript, das in Studien mit Erwachsenen mit einer relativ guten Prognose assoziiert ist, besonders dann wenn Cytarabin, auch hochdosiert, gegeben wird (Bloomfield et al. 1998). Eine weitere prognostisch günstige balancierte Translokation ist die Inversion 16 mit dem Fusionstranskript CBFβ/ MyH11. Auch hier konnten Studien bei Erwachsenen zeigen, dass die Behandlung mit hochdosiertem Cytarabin mit einer verbesserten Prognose einherging (Ghaddar et al. 1994). Daraus lässt sich schließen (Bloomfield et al. 1998), dass bei bestimmten Subtypen eine auf spezifischen Medikamenten basierende Therapie sinnvoll sein könnte. Bei der akuten Monoblastenleukämie mit 11q23-Aberrationen (Martinez-Climent et al. 1995) könnten ebenfalls spezielle Zytostatika besonders wirksam sein. Generell ist die Prognose der akuten Monozytenleukämie ungünstiger als die anderer FAB-Typen (Creutzig et al. 1999; Dastugue et al. 1995). Es konnte jedoch bereits vor Jahrzehnten gezeigt wer-
den, dass Monoblasten empfindlicher auf Etoposid reagieren als andere AML-Subtypen. Damals lag in einer Phase-IStudie bei rezidivierten AML-Patienten mit anderen Subtypen die Remissionsrate mit Etoposid bei 20% im Vergleich zu 35–70% für Patienten mit den Subtypen M4 and M5 (Cavalli 1982). Kürzlich ergaben In-vitro-MTT-Untersuchungen, dass AML-M5-Blasten sensitiver auf Etoposid, 2-Chlorodeoxoyadenosin (2-CDA) und Cytarabin waren. Die Zellen sprachen auch auf Medikamente an, die gewöhnlich für die ALL-Behandlung eingesetzt werden, wie Vincristin und L-Asparaginase (Zwaan et al. 2000). In klinischen Studien mit 2-CDA war das Ansprechen besonders bei Kindern mit AML und einer Translokation (9;11) gut (Santana et al. 1994), so dass möglicherweise eine subgruppenspezifische Therapie sinnvoll sein könnte. 60.15
Notfälle bei der Primärdiagnose einer AML
60.15.1 Hyperleukozytose ! Eine ausgeprägte Hyperleukozytose mit mehr als 100.000/µl Leukozyten, die bei etwa 20% der Patienten auftritt, ist mit mehreren akut lebensbedrohlichen Komplikationen assoziiert. Patienten mit myelomonozytärer oder monozytärer Leukämie (FAB M4 oder M5) und Hyperleukozytose haben ein besonders hohes Risiko für Blutung und/oder Leukostase (Creutzig et al. 1987).
Unter Leukostase versteht man eine Akkumulation von leukämischen Zellen in den Gefäßen. Durch die veränderte Viskosität des Blutes kommt es bei der Leukostase zu Mikrothromben und Embolie. Dieses betrifft v. a. die Lungenkapillaren, woraus klinisch eine Dyspnoe resultiert, aber auch die Endstromgebiete des ZNS und der Nieren mit neurologischen Symptome oder Nierenversagen (Riley et al. 1999). Zusätzlich ist die Hämostase im Sinne einer disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) betroffen. Als weitere Komplikation kann bei begonnener Therapie ein Tumorlysesyndrom zur Hyperkaliämie (Gefahr des akuten Herztodes) oder zu rheologischen Problemen, insbesondere der Nieren, führen. Als therapeutische Massnahme muss v. a. für eine ausreichende Flüssigkeitssubstitution gesorgt werden. Durch die Alkalisierung und/oder eine enzymatische Induktion des Harnsäurestoffwechsels (Rasburicase) soll die Elimination der Zellabbauprodukte verbessert werden. Bei klinischen Symptomen einer Leukostase kann eine Austauschtransfusion oder Leukapherese lebensrettend sein. Diese Maßnahmen werden immer bei Zellzahlen über 200.000/µl und bei monozytären Leukämien bereits bei Werten >100.000–150.000/µl empfohlen. Sie sind insbesondere bei Kindern mit Auffälligkeiten der Gerinnung oder radiologisch und klinisch nachweisbaren Zeichen einer beginnenden Leukostase notwendig. Welcher der beiden Methoden Vorrang zu geben ist, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden (Porcu et al. 1997). Aus methodischen Gründen kommt die Austauschtransfusion eher für Säuglinge und
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Kleinkinder in Frage, weil die benötigten Volumina einen geringeren Umfang haben und die für die Leukapherese erforderlichen intravenösen Zugänge häufig nicht verfügbar sind. Außerdem ist eine vorsichtige Blastenreduktion, z. B. mit Hydroxyurea, Thioguanin oder niedrig dosiertem Cytarabin notwendig. Eine intensivmedizinische Überwachung der Patienten ist immer erforderlich. 60.15.2 Blutungen
IV
Akute Blutungen bei der AML können zum einen durch die Thrombozytopenie bedingt sein, werden allerdings häufig durch die direkte Beeinflussung der Gerinnungsfaktoren durch die leukämischen Blasten bzw. deren Zerfallsprodukte hervorgerufen. Dieses gilt insbesondere für die akute Promyelozytenleukämie, bei der die früher ungünstige Prognose insbesondere durch primäre Blutungsereignisse bedingt war. ! Durch Einsatz von ATRA kann das Risiko einer lebensbedrohlichen Blutung bei den akuten Promyelozytenleukämien deutlich gesenkt werden (Mann et al. 2001).
Beim Auftreten einer disseminierten intravasalen Gerinnung ist möglicherweise eine Heparinisierung und ggf. Substitution von Gerinnungs- bzw. antithrombotischen Faktoren erforderlich. Bei thrombozytopenisch bedingten Blutungen sollte sobald als möglich die Substitution mit Thrombozytenpräparaten erfolgen. 60.15.3 Infektionen Die medulläre Verdrängung der normalen Myelopoese und Lymphopoese durch die malignen Blasten führt bei den Patienten mit AML zu einer stark verminderten Immunabwehr, so dass bereits bei Diagnose schwere Infektionen und Septitiden vorliegen können. Nach adäquater Diagnostik, einschließlich der Asservation von Blut- und Urinkulturen bzw. Haut-, Rachen- und Analabstrichen, sollte eine breite antibiotische Therapie eingeleitet werden. Ohne Kenntnis des Erregers kommen am ehesten Cephalosporine der dritten Generation in Kombination mit einem Aminoglykosid zur Anwendung. Spezielle antivirale oder antimykotische Medikation ist ohne nachgewiesene virale Infektion oder Mykose in der Regel erst im weiteren Verlauf erforderlich.
der Chemotherapie verstärkt berücksichtigt werden (kumulative Dosis der Anthrazykline, Kardiotoxizität). Eine der schwersten Spätfolgen einer Krebserkrankung im Kindesalter sind Sekundärmalignome. Das Risiko dafür ist gegenüber der Normalbevölkerung um das 10fache erhöht. Die AML kommt als Sekundärmalignom besonders häufig vor ( Abschn. 60.4.3). Zum späteren Auftreten eines Sekundärmalignoms nach primärer AML gibt es nur wenige Daten. Im Rahmen der AML-BFM-Studien sind bei 928 Kindern, die mehr als 3 Jahre überlebt haben, nur 12 Sekundärmalignome bekannt. 60.16
Rezidive
Die Prognose für Patienten, die keine Remission mit der primären Therapie erreichen oder die rezidivieren, ist generell ungünstig. Sie hängt jedoch entscheidend vom Zeitpunkt des Rezidivs ab. Späte Rezidive mit einer Remissionsdauer von mehr als 1 Jahr haben eine deutlich bessere Prognose als frühe Rezidive (⊡ Abb. 60.7; Stahnke et al. 1998). Patienten, die nach dem Rezidiv mit erneuter, intensiver Chemotherapie eine Remission erreichen und danach eine SZT erhalten, haben noch eine geschätzte Überlebenswahrscheinlichkeit von 30–45% (Stahnke et al. 1998; Reinhardt et al. 2002a). Dabei hat der Einsatz der allogenen SZT (vom Familien- oder Fremdspender) eine höhere Priorität als der der autologen SZT, die nur bei Patienten mit späten Rezidiven empfohlen wird. Im Rezidiv werden verschiedene Chemotherapieschemata mit neuen Substanzen oder HochdosischemotherapieBlöcken eingesetzt, die in der Primärtherapie noch nicht gegeben wurden, um Resistenzen zu überwinden. Mit derartigen hochdosierten Chemotherapiekursen erreichen etwa 50–60% der Patienten eine zweite komplette Remission und damit die Möglichkeit, durch eine weitere Intensivierung vorwiegend durch Einsatz der allogenen SZT eine langfristige Zweitremission zu erreichen. Für viele Patienten kommt jedoch nur eine palliative Therapie in Frage ( Kap. 90).
60.15.4 Weitere Nebenwirkungen
und Spätfolgen der Chemotherapie Neben der bereits genannten Infektionsgefahr, die durch die generell auftretende schwere Knochenmarkaplasie entsteht, können weitere Nebenwirkungen auftreten. Dazu gehören die Kardiomyopathie, abhängig von den kumulativen Anthrazyklindosen, Neurotoxizität nach Vincristingabe und hochdosiertem Cytarabin und Hepatotoxizität nach Mitoxantron und Cytarabin. Bei den verbesserten Heilungsraten von Kindern mit AML müssen die späten Nebenwirkungen
⊡ Abb. 60.7. Wahrscheinlichkeit des Überlebens bei Patienten mit frühen und späten Rezidiven
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60.17
Neue Therapiemöglichkeiten
Die Prognose von Kindern mit AML hat sich in den letzten 25 Jahren von weniger als 10% auf über 50% verbessert. Dies war vorwiegend durch eine intensive Chemotherapie und verbesserte supportive Behandlung möglich. Der Vergleich von Behandlungsstrategien und Ergebnissen ( Tabelle 60.3) zeigt, dass neben einer intensiven Induktion mit Anthrazyklinen in einer adäquaten Dosierung, eine Konsolidierung und/oder Intensivierung mit mehreren Blöcken hochdosiertem Cytarabin, sowie eine Form der ZNS-Prophylaxe, die auch eine ZNS-Bestrahlung enthält, nötig sind und wenigstens einige Monate einer intensiven Blocktherapie oder einer Erhaltungschemotherapie angeschlossen werden sollten. Für Patienten mit ungünstiger Prognose ist die Stammzelltransplantation mit einem HLA-identischen Spender aus der Familie eine weitere Option. Die Behandlung der AML ist risikoreicher und schwieriger im Vergleich zur ALL, insbesondere treten häufiger initiale lebensbedrohliche Komplikationen wie Blutung und/oder Leukostase auf. Hinzu kommt, dass die meisten Zytostatika, die bei myeloischen Blasten effektiv sind, auch die normale Hämatopoese angreifen. Um eine weitere Verbesserung der Prognose bei der AML zu erzielen, sind neue Strategien der Behandlung notwendig. 60.17.1 Pharmakokinetik Hierzu gehört die Applikationsart, z. B. beim Cytarabin. Bei diesem Medikament ist die zelluläre Aufnahme und intrazelluläre Phosphorylierung für den zytostatischen Effekt notwendig. Es gibt deutliche Unterschiede in der Ara-CTPRetention bei den verschiedenen morphologischen Subtypen der AML und ALL. Die Akkumulation ist zunächst in allen Zelltypen ähnlich, jedoch fällt die Cytarabinkonzentration bei der T-ALL und AML deutlich schneller ab als bei der B-ALL. Aus diesem Grund ist es aus pharmakokinetischen Gründen sinnvoll, Cytarabin als kontinuierliche Infusion zu geben (Boos et al. 1996; Kap. 50). 60.17.2 Neue Zytostatika Bekannte Substanzen in verbesserter Zubereitung Derartige Substanzen können pharmakologische Effektivitätsvorteile haben und gleichzeitig zur Verminderung von Nebenwirkungen beitragen. Ein Beispiel dazu ist die Entwicklung des liposomalen Daunorubicins, das in der verkapselten Form eine längere Halbwertzeit im Serum aufweist und sich nicht in der Herzmuskulatur anreichert. Nach bisherigen Ergebnissen zeigt sich eine gute antileukämische Wirkung in Rezivstudien bei Erwachsenen und Kindern (Reinhardt et al. 2002a; Yeoh et al. 2002). Eine Kardiotoxizität wurde erst bei extrem hohen Dosen gesehen. Neue Zytostatika mit unterschiedlichem Wirkungsmechanismus – Nucleosidanaloge Chlorodeoxyadenosin (2-CDA). Zu den Nukleosidanalogen, die bereits eingesetzt werden, gehört das 2-Chlorodeoxyadenosin (2-CDA), das eine deutliche antileukämische Wirkung
bei rezidivierten AML-Patienten aufweist. Bei Kindern konnte in einer Phase-II-Studie zunächst mit Monotherapie, später innerhalb einer Window-Studie gute Ergebnisse erzielt werden (Santana et al. 1994). 2-CDA ist eine vielversprechende Substanz, die in der Kombination mit Cytarabin in einer maximalen Inhibition der DNA-Synthese resultiert (Schoch et al. 2002). Fludarabin und Clofarabin. Fludarabin wird gewöhnlich zur Verstärkung der Cytarabinaktivität eingesetzt. Im so genannten FLAG-Regime (Fludarabin, Cytarabin [Ara-C], G-CSF) wird es mit hochdosiertem Cytarabin und G-CSF kombiniert. Bisher wurde FLAG überwiegend bei Patienten mit rezidivierter oder refraktärer AML mit gutem Erfolg eingesetzt (Nokes et al. 1997) oder auch mit Mitoxantron kombiniert (FLANG; Clavio et al. 1996). Im Rahmen der internationalen I-BFM-Rezidivstudie bei Kindern mit AML wird derzeit die Kombination FLAG mit FLAG plus zusätzlichem Anthrazyklin, in diesem Fall dem liposomalen Daunorubicin, verglichen. Neben dem Fludarabin und dem 2-CDA wurden kürzlich auch das Clofarabin (Giles 2002), ein Adenosinnukleosidanalog, das die Eigenschaften von Fludarabin und 2-CDA kombiniert, entwickelt. Die ersten Ergebnisse von Phase-I/IIStudien sind vielversprechend mit hohen Response-Raten (CR bei 12 von 20 Patienten mit refraktärer oder rezidivierter AML; Giles 2002).
Hämatopoetische Wachstumsfaktoren und Medikamente zur Zelldifferenzierung Wachstumsfaktoren (GM-CSF and G-CSF) stimulieren die Proliferation von klonalen leukämischen Zellen in vitro (Griffin et al. 1986). Aus diesem Grund wird der Einsatz von Wachstumsfaktoren besonders bei der AML zurückhaltend gesehen. Andererseits konnte durch die Gabe von G-CSF die Dauer der Neutropenie reduziert werden. Die Länge des Krankenhausaufenthaltes und das Vorkommen von schweren Infektionen und die Langzeitprognose wurde allerdings wenig beeinflusst (American Society of Clinical Oncology 1996). Bei erwachsenen Patienten mit AML war die Zeit bis zur Erholung der Granulozyten signifikant kürzer nach G-CSF oder GM-CSF ohne nachteilige Effekte auf die Remissionsdauer und das Überleben (Geller 1996). G-CSF wurde auch zur Erzielung eines »Priming«-Effekts und damit zur Verstärkung der antileukämische Chemotherapie eingesetzt. Unter der Vorstellung, die Zellen in ihrer sensitiven Phase des Zellzyklus anzureichern, soll ihre Sensitivität für zyklusabhängige Chemotherapie gesteigert werden. Dieses konnte in vitro gezeigt werden, aber die ersten Ergebnisse bei AML-Patienten, die mit Chemotherapie und GM-CSF behandelt wurden, waren kontrovers (Büchner et al. 1993a). 60.17.3 Immuntherapie Bei der AML waren die Ergebnisse der nichtspezifischen Immuntherapie, z. B. mit Bacille-Calmette-Guérin (BCG) als Methanolextraktion unbefriedigend (Foon u. Gale 1984). Mit Interleukin 2 (IL-2) lässt sich ein immunmodulatorische Effekt z. B. nach autologer SZT bei Patienten mit AML er-
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
reichen. Jedoch sind bisher keine überzeugenden Verbesserungen der Gesamtprognose bekannt. Hinzu kommt, dass IL-2 eine erhebliche systemische Toxizität bei etwa 30% der Patienten verursacht. 60.17.4 Molekulare Targets Gezielte antikörpergestützte Chemotherapie und Anti-Angiogenese
IV
! Die gezielte Antikörper-vermittelte Chemotherapie soll durch die selektive Wirkung auf die Tumorzellen die Therapieeffektivität steigern und gleichzeitig die Nebenwirkungen reduzieren.
Das Antikörperkonjugat CMA-676 (Gemtuzumab-ozogamicin Myelotarg) besteht aus einem CD33-Antikörper, der mit Calicheamicin, einem Toxin, verbunden ist. Der Antikörper wird an das CD33-Antigen, das auf der Mehrzahl der AMLBlasten exprimiert wird, gebunden und der gesamte Komplex internalisiert. Intrazellulär wird dann das Toxin freigesetzt. In Phase-I- und -II-Studien bei Erwachsenen mit rezidivierter AML wurde eine Ansprechrate von etwa 30% erreicht (Sievers et al. 2001). Die Nebenwirkungen bestanden aus Fieber und Schüttelfrost kurz nach der Antikörpergabe und einer Myelosuppression, die insbesondere zu langanhaltenden Thrombozytopenien führte. Relativ häufig trat dagegen schwere Lebertoxizitäten auf. Erste Studien bei Kindern wurden kürzlich begonnen. Bei Erwachsenen mit AML wird die Substanz bereits mit anderen Zytostatika kombiniert. Ein weiteres neues Antikörperkonjugat ist 131I-Anti-CD45. Der Vorteil der gezielten Therapie besteht darin, dass die CD45-Expression auf den hämatopoetischen Zellen höher ist als die von CD33 und dass der Antikörper nicht ins Zellinnere transportiert wird und somit eine verlängerte Exposition der Knochenmarkzellen zum Radionuklid erlaubt (Appelbaum 1999). Nachteilig ist die Expression von CD45 auf allen hämatopoetischen Zellen, so dass auf jeden Fall eine SZT im Anschluss erforderlich ist. Weitere Möglichkeiten der Immuntherapien bestehen in der adoptiven Immuntherapie, bei der T-Zellen, die ex vivo manipuliert werden und so leukämische Blasten angreifen (Mutis et al. 1999). Diese Optionen sind derzeit in der präklinischen Phase oder im ersten Einsatz im Rahmen von Phase-I-Studien ( Kap. 55 und 54). Die gezielte Hemmung der Angionese könnte ebenfalls eine Verbesserungen der Prognose ermöglichen. Zu den bisher eingesetzten Substanzen gehört Thalidomid, ein Angioneseinhibitor, der bereits Aktivitäten bei MDS-Patienten gezeigt hat (Raza et al. 2001). Tyrosinkinase- und Farnesyltransferase-Inhibitoren Ein Durchbruch in der gezielten und rationalen Therapie der pathophysiologischen Mechanismen von Leukämien gelang in den letzten Jahren mit Imitimab, einem spezifischen Inhibitor der Tyrosinkinase. Bei der CML hemmt Imitimab spezifisch die Funktion des Fusionprotein BCR-ABL und verhindert die weitere Proliferation der leukämischen Blasten. Da auch bei der AML Mutationen des StammzellfaktorRezeptors c-kit vorkommen, ebenfalls eine Tyrosinkinase, wurde diese Substanz auch dort eingesetzt. Allerdings
war die Effektivität nicht besonders gut, so dass neue, eventuell spezifischere Substanzen wie SU5416 erprobt werden (Smolich et al. 2001). Einen ähnlichen Ansatz wurde mit der Entwicklung von Inhibitoren der Farnesyltransferase (z. B. R115777) gewählt. Die Farnesyltransferase ist insbesondere in die posttranslationalen Signalvermittlung der ras-Gen-Kaskade involviert, die bei der Zellproliferation eine entscheidende Rolle spielt und bei der AML in einigen Fällen durch Mutationen der ras-Gene verändert ist (Levis et al. 2002).
Mit der Entwicklung einer gezielten zytostatischen Therapie und dem besseren Verständnis der molekularen Pathogenese der AML ist es schon jetzt gelungen, Medikamente zu entwickeln, die die Differenzierung des malignen Klons erlauben. In Zukunft wird voraussichtlich durch weitere Charakterisierung von speziellen prognostischen Subgruppen, relevanten Prädispositionen und spezifischen Wirkstoffen eine gezielte Therapie möglich werden. Mit den neuen Methoden der Genexpressionsanalyse können Einblicke in die veränderten Genprodukte gewonnen werden. Damit werden molekularbiologisch basierte Therapien möglich, z. B. der Transfer von therapeutischen Genprodukten oder Gen-Engineering zur Veränderung der biologischen Eigenschaften von kritischen Zellen. Es können auch neue biologische Subgruppen von AML-Patienten identifiziert werden, die bisher mit traditionellen morphologischen, immunologischen und zytogenetischen Untersuchungen nicht erkennbar waren. Ein Beispiel dafür sind Ergebnisse bei Säuglingen mit AML oder ALL, bei denen ein besonderes Expressionsmuster von MLL-Rearrangements gefunden wurde, das wichtig sein könnte für zukünftige Risikoklassifikationen und gezielte Therapieoptionen (Willman 2002).
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60
714
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
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715
Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonzytäre Leukämie C. Niemeyer, C. Kratz
61.1 61.2 61.3 61.4 61.5 61.6 61.6.1 61.6.2
Einführung – 715 Pathophysiologie – 715 Klassifikation – 717 Primäre und sekundäre myelodysplastische Syndrome – 717 Epidemiologie – 718 Niedriggradige und fortgeschrittene myelodysplastische Syndrome – 718 Niedriggradige myelodysplastische Syndrome: refraktäre Zytopenie – 718 Fortgeschrittene myelodysplastische Syndrome – 719
61.7
Juvenile myelomonozytäre Leukämie – 720
61.7.1
Klinisches und laborchemisches Erscheinungsbild – 720 Prognostische Faktoren – 721 Zytogenetik – 721 Differenzialdiagnose – 721 Pathophysiologie – 721 Therapie – 722
61.7.2 61.7.3 61.7.4 61.7.5 61.7.6
Literatur
– 722
Im Jahre 1997 veröffentlichten B. Bader-Meunier und Mitarbeiter die Beobachtung, dass bei 4 Patienten mit NoonanSyndrom, einem autosomal vererbten Dysmorphiesyndrom mit Kleinwuchs, Gesichtsdysmorphien, Skelettanomalien und Herzfehlern, eine juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) diagnostiziert wurde. 3 der betroffenen Kinder zeigten eine spontane Rückbildung ihrer Leukämie. Vier Jahre später gelang es der New Yorker Arbeitsgruppe um B. Gelb Keimbahnmutationen im Gen PTPN11 (»protein tyrosine phosphatase, non-receptor type 11«) auf Chromosom 12 Bande q24.1 als Ursache des Noonan-Syndrom bei 50% der untersuchten Patienten zu identifizieren. Die seltene Assoziation zwischen Noonan-Syndrom und JMML veranlasste international kooperierende Wissenschaftler zur Hypothese, dass somatische PTPN11-Mutationen auch bei Patienten mit JMML, bei denen kein Noonan-Syndrom besteht, auftreten. Die anschließenden Mutationsanalysen ergaben, dass bei etwa 35% der Kinder mit JMML PTPN11Mutationen auftreten. Gleichzeitig spielten PTPN11-Mutationen eine Rolle bei der Progression myelodysplastischer Syndrome (MDS). Durch diese Entdeckung wurde nicht nur ein neue Klasse von Onkogenen identifiziert, sondern auch ein neuer diagnostischer Marker für Patienten mit JMML und MDS, möglicherweise ein neuer Ansatzpunkt experimenteller Therapien.
61.1
Einführung
Myelodysplastische Veränderungen von Blut- und Knochenmarkzellen (⊡ Abb. 61.1) sind im Kindesalter häufig und bei einer Vielzahl von ätiologisch sehr heterogenen Erkrankungen zu finden (⊡ Tabelle 61.1). Nur selten muss beim Vorliegen myelodysplastischer Veränderungen ein myelodysplastisches Syndrom (MDS) diagnostiziert werden. Definition Myelodysplastische Syndrome sind eine heterogene Gruppe klonaler Stammzellerkrankungen, die mit Zytopenie, hypo- bis hyperzellulärem Knochenmark (KM), ineffektiver Hämatopoese, gestörter Blutzellausreifung und Progression zu akuter myeloischer Leukämie (AML) einhergehen.
Im Kindesalter kann die Diagnose eines MDS gestellt werden, wenn mindestens 2 der folgenden Merkmale bestehen (Hasle et al. 2003): ▬ anhaltende unerklärte Zytopenie, ▬ Myelodysplasie mindestens zweier Zellreihen, ▬ eworbene klonale zytogenetische Veränderung hämatopoetischer Zellen und ▬ Blastenvermehrung auf ≥5% im KM. 61.2
Pathophysiologie
Das MDS ist eine erworbene Erkrankung multipotenter, hämatopoetischer Progenitoren. Vererbte oder erworbene initiierende molekulare Ereignisse verbleiben bis heute weitgehend unbekannt. Wahrscheinlich gibt es verschiedene MDS verursachende genetische Veränderungen sowie weitere Mutationen, die zu einem Fortschreiten der Erkrankung führen. MDS auslösende genetische Veränderungen können, wie bei der Fanconi-Anämie, zur genetischen Instabilität pluripotenter hämatopoetischer Vorläuferzellen führen, die weitere genetische Veränderungen begünstigt. Genetische Veränderungen, die bei Patienten mit MDS gefunden werden, sind Mutationen in Proto-Onkogenen wie RAS und P53 sowie Verlust chromosomaler Fragmente einschließlich Deletion des langen Arms von Chromosom 7 (Deletion 7q) und des gesamten Chromosom 7 (Monosomie 7). Möglicherweise tragen diese Fragmente Tumorsuppressorgene (LunaFineman et al. 1999).
61
716
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
IV
⊡ Abb. 61.1. Myelodysplastische Veränderungen in hämatopoetischen Zellen (mit freundlicher Genehmigung von I. Baumann, Erlangen)
⊡ Tabelle 61.1. Nicht-maligne Erkrankungen, bei denen dysplastische Veränderungen von Blut- oder Knochenmarkzellen nicht selten beobachtet werden
Kategorie
Beispiele
Infektionen
Parvovirus B19, Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus
Mangelzustände
Vitamin-B12-Mangel, Folsäuremangel, Kupfermangel, Vitamin-C-Mangel, Thiaminmangel
Stoffwechselstörungen
Mukoviszidose, Hypothyreose
Mitochondriopathien
Pearson-Syndrom
Medikamentenassoziiert
Chemotherapie, Chloramphenicol
Angeborene Erkrankungen mit Knochenmarkversagen
Fanconi-Anämie, Dyskeratosis congenita, Shwachmann-Diamond-Syndrom
Erkrankungen mit extramedullärer Blutbildung
Osteomyelofibrose, Osteopetrose
Hämolytische Anämien
Kugelzellanämie
Seltene kongenitale oder erworbene Erkrankungen
Kongenitale dyserythropoetische Anämie, Chédiak-Higashi-Syndrom, paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie, Wiskott-Aldrich-Syndrom, Pelger-Huet-Anomalie, ParisTrousseau-Syndrom, Myelokathexis
717 61 · Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonzytäre Leukämie
61.3
Klassifikation
1982 schlug die französisch-amerikanisch-britische (FAB) Gruppe eine aus 5 Untergruppen bestehende Klassifikation des MDS vor (Bennett et al. 1982).
Zytogenetik und klinische Präsentation für die Differenzierung zwischen MDS und AML ausschlaggebend sind. Dies erlaubt, Patienten mit 20–30% Blasten bis zur sicheren Einordnung als MDS oder De-novo-AML zunächst zu beobachten. Das Auftreten von Auerstäbchen spielt bei der Klassifikation keine Rolle.
FAB-Klassifikation der MDS:
Refraktäre Anämie (RA) Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten (RARS) Refraktäre Anämie mit Blastenexzess (RAEB) Refraktäre Anämie mit Blastenexzess in Transformation (RAEB-T) Chronische myelomonozytäre Leukämie (CMML)
Obwohl das FAB-System auf der Auswertung von Blut- und Knochenmarkausstrichen erwachsener Patienten basierte, fand es auch bei pädiatrischen Hämatologen Akzeptanz, da es die Kommunikation über diese heterogene Gruppe maligner Erkrankungen mit Myelodysplasien erleichterte. 2002 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine überarbeitete Einteilung maligner myeloischer Erkrankungen, die neben morphologischen auch onkogenetische Veränderungen berücksichtigt (Jaffe et al. 2001). Die CMML und die juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) wurden in eine neugeschaffene Kategorie von Erkrankungen mit mylodysplastischen und myeloproliferativen Eigenschaften platziert. Der für die Diagnose einer AML geforderte Blastenanteil im KM wurde von 30% auf 20% herabgesetzt, so dass im WHO-System die Kategorie der RAEB-T entfällt. 2003 berichtete eine internationale Expertengruppe über eine pädiatrische Version der WHO-Klassifikation (Hasle et al. 2003). Diese Klassifikation berücksichtigt 3 Gruppen maligner Erkrankungen mit myelodysplastischen Veränderungen: ▬ Myelodysplastische/myeloproliferative Erkrankungen (MDS/MPD): JMML, sekundäre CMML und BCR-ABLnegative chronische myeloische Leukämie (Ph–CML). ▬ Down-Syndrom-assoziierte Erkrankungen einschließlich transiente abnormale Myelopoese (TAM), MDS und AML bei Down-Syndrom. MDS und AML beim Kleinkind mit Down-Syndrom sind als eine Erkrankung zu verstehen. Diese Form des MDS/AML ist ausgesprochen chemotherapiesensitiv und geht nach Behandlung mit modifizierten AML-Protokollen mit einer guten Prognose einher. Myeloische Neoplasien bei Patienten mit Down-Syndrom werden in Kap. 57 diskutiert. ▬ Primäres und sekundäres MDS mit den 3 Untergruppen refraktäre Zytopenie (RC; PB-Blasten <2% und KMBlasten <5%), RAEB (PB-Blasten 2–19% oder KM-Blasten 5–19%) und RAEB-T (PB- oder KM-Blasten 20–29%). Da viele Patienten mit RA keine Anämie haben, hingegen bei Diagnose eine Granulozytopenie und/oder eine Thrombozytopenie zeigen, wird der Begriff RA durch den Begriff »refraktäre Zytopenie« ersetzt. Im Gegensatz zum WHO-System wird in der pädiatrischen Version der WHO-Klassifikation die Kategorie RAEB-T beibehalten, da nicht das Erreichen einer willkürlich festgelegten »Blastengrenze«, sondern Progressionsdynamik,
61.4
Primäre und sekundäre myelodysplastische Syndrome
Ein »sekundäres MDS« ist ein MDS ▬ nach Chemo- oder Strahlentherapie, ▬ bei kongenitalen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen, ▬ nach erworbener aplastischer Anämie (AA) oder ▬ bei familiären Erkrankungen. Alle anderen Fälle werden als »primäres MDS« zusammengefasst, auch wenn angenommen werden muss, dass auch bei diesen Erkrankungen prädisponierende Genveränderungen zugrunde liegen. Sekundäre MDS nach Chemo- oder Strahlentherapie.
Chemo- und Strahlentherapie können zur MDS Entstehung beitragen (Pui et al. 1990; Pui et al. 1991). Ein MDS nach Therapie mit alkylierenden Substanzen manifestiert sich typischerweise 3–5 Jahre nach Beendigung der Behandlung und ist assoziiert mit Monosomie 7. Eine kürzere Latenzzeit von weniger als 3 Jahren bis zur malignen myeloischen Transformation und eine Assoziation mit Rearrangements des MLL-Gens auf Chromosom 11 Bande q23 finden sich bei einigen mit Topoisomerase-II-Inhibitoren vorbehandelten Patienten. Sekundäre MDS bei kongenitalem Knochenmarkversagen.
Eine maligne myeloische Transformation wird bei etwa 50% der Patienten mit Fanconi-Anämie (Butturini et al. 1994), bei etwa 10% der Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie (Freedman et al. 2000) und bei bis zu 30% der Patienten mit Shwachman-Diamond-Syndrom beobachtet (Smith et al. 1996). Vereinzelt erkranken Patienten mit Diamond-Blackfan-Anämie an MDS (Hasle et al. 1999a; Hasle et al. 1999b). Die Dyskeratosis congenita ist nur selten mit MDS assoziiert (Dokal 2000). Myeloische Neoplasien bei Patienten mit kongenitalem Knochenmarkversagen manifestieren sich zum Teil erst im Erwachsenenalter. Sekundäre MDS bei erworbener aplastischer Anämie. Bis
heute ist unklar, warum einige Patienten mit AA als Komplikation eine klonale hämatologische Erkrankung entwickeln. MDS und AML treten mit einer kumulativen Inzidenz von 16% innerhalb der ersten 10 Jahre nach Behandlung der AA auf (Socie et al. 1993). Insbesondere mit Immunsuppression und nicht mit Stammzelltransplantation (SZT) behandelte Patienten mit AA entwickeln ein myeloische Neoplasie (Ohara et al. 1997; Führer et al. 1998). Die Rolle von G-CSF bei der myeloischen Transformation wird kontrovers diskutiert. Familiäre MDS. Mehrere familiäre MDS-Fälle, insbesondere
mit Monosomie 7, wurden beschrieben (Shannon et al. 1989;
61
718
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Luna-Fineman et al. 1999). Bis zu 10% pädiatrischer MDSFälle sind familiär (Hasle et al. 1999a). Besondere Vorsicht ist daher bei der Untersuchung potenzieller Familienspender vor SZT geboten, insbesondere bei Patienten mit MDS und Monosomie 7. 61.5
IV
Epidemiologie
Unter Ausschluss myeloischer Neoplasien bei Kindern mit Down-Syndrom repräsentieren primäre und sekundäre MDS 4% aller hämatologischen Malignome im Kindesalter entsprechend einer jährlichen Inzidenz von 1,8/106 Kinder bis 14 Jahren (Hasle et al. 1995; Hasle et al. 1999b). Die »European Working Group on MDS in Childhood (EWOG-MDS)« hat sich u. a. zur Aufgabe gemacht, die Behandlung für Kinder und Jugendliche mit MDS mittels klinischer Studien zu verbessern. In einer vorläufigen Auswertung der prospektiven Studie EWOG-MDS 98 mit über 300 Patienten mit MDS hatten 54% der Patienten eine RC, 25% eine RAEB und 21% eine RAEB-T (unveröffentlichte Daten).
versagen dysplastische Veränderungen aufweisen können, kann die Abgrenzung von einer RC morphologischerseits alleine unmöglich sein. Neben Anamnese, körperlichem Untersuchungsbefund und früheren hämatologischen Befunden sind genetische Untersuchungen zum Ausschluss einer Fanconi-Anämie oder einer anderen oben aufgeführten Erkrankung mit kongenitalem Knochenmarkversagen sinnvoll. Es gibt jedoch auch eine Reihe weiterer, seltener und ungenügend beschriebener Erkrankungen mit kongenitalem Knochenmarkversagen, die im Einzelfall nicht sicher von RC und AA zu unterschieden sind. Vermutlich wird erst die Identifizierung RC auslösender Genveränderungen, die im Einzelfall schwierige Unterscheidung zwischen Erkrankungen mit kongenitalem Knochenmarkversagen und RC erleichtern. Umgekehrt kann bei Patienten mit kongenitalen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen eine klonale Erkrankung (MDS) nur diagnostiziert werden, wenn die Blasten erhöht sind, eine klonale chromosomale Veränderung besteht oder sich bei persistierender Zytopenie im PB ein hyperzelluläres KM entwickelt. Zytogenetik. Die Monosomie 7 ist die häufigste genetische
61.6
Niedriggradige und fortgeschrittene myelodysplastische Syndrome
Neben der Differenzierung zwischen primärem und sekundärem MDS unterscheidet man zwischen niedriggradigem und fortgeschrittenem MDS. Ersteres beschreibt die RC, letzteres die RAEB, die RAEB-T und die MDR-AML (für MDS-related AML). 61.6.1 Niedriggradige myelodysplastische
Syndrome: refraktäre Zytopenie Definition Eine anhaltende Zytopenie mit hypo-, normo- oder hyperzellulärem dysplastischem KM und einem Blastenanteil von unter 5% spricht für das Vorliegen einer RC, wenn Infektionen, metabolische Erkrankungen und andere Erkrankungen ausgeschlossen sind.
In einer retrospektiven Analyse von 67 Patienten mit RC hatte über die Hälfte der Kinder neben einer Anämie eine Granulozytopenie <1,0×109/l und/oder eine Thrombozytopenie <100×109/l (Kardos et al. 2003). Das mittlere Erythrozytenvolumen (MCV) war in 75% der Fälle erhöht. Im Gegensatz zum Erwachsenenalter zeigt die RC im Kindesalter in der Mehrzahl der Fälle ein hypozelluläres KM. Ringsideroblasten werden im Kindesalter sehr selten beobachtet. Erkrankungen mit Ringsideroblasten werden daher in die Kategorie RC integriert. Differenzierung zwischen RC, AA und kongenitalen Erkrankungen mit Knochenmarkversagen. Eine Panzytopenie mit
verminderter Zellularität im KM wird bei RC, aplastischer Anämie (AA) und angeborenen Störungen mit Knochenmarkversagen beobachtet. Da sowohl eine AA unter Therapie als auch eine angeborene Erkrankung mit Knochenmark-
Veränderung bei der hypo-, normo- oder hyperzellulären RC (⊡ Tabelle 61.2). Im Gegensatz zu Patienten mit normalem Karyotyp oder anderen chromosomalen Veränderungen erleiden nahezu alle Kinder mit RC und Monosomie 7 eine Progression zu einem fortgeschrittenen MDS (⊡ Abb. 61.2; Kardos et al. 2003). Therapie. Die kurative Therapie für Patienten mit RC ist die allogene SZT. Für Kinder mit RC und Monosomie 7 ist sie – unabhängig von der Spendersituation – frühzeitig nach Diagnosestellung zu empfehlen. Bei Patienten mit anderen Karyotypen und geringerem Risiko, eine Blastenvermehrung zu entwickeln, sind auch andere Therapieformen denkbar. Bei Vorhandenseins eines HLA-identischen Geschwisterspenders ist allerdings auch in dieser Situation eine SZT anzuraten. Kinder mit RC, die nach klassischer ablativer Konditionierung mit Busulfan und Cyclophosphamid vom Geschwisterspender transplantiert werden, haben 8 Jahre nach SZT eine Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens von über 80% (EWOG-MDS, unveröffentlichte Daten). Demgegenüber geht eine Fremdspendertransplantation auch heute bei bestmöglichem Match mit einer höheren transplantationsbedingten Mortalität einher. Bei fehlendem Geschwisterspender hängen weitere Therapieentscheidun-
⊡ Tabelle 61.2. Zellularität und Karyotyp bei Patienten mit refraktärer Zytopenie (unveröffentlichte Daten der prospektiven Studie EWOG-MDS 98)
Karyotyp
Hypozellulär (N=84)
Normo- und hyperzellulär (N=33)
Kein Ergebnis
15%
3%
Normal
60%
46%
Monosomie 7
12%
30%
Andere
13%
21%
719 61 · Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonzytäre Leukämie
⊡ Tabelle 61.3. Chromosomale Veränderungen bei hochgradigem MDS (unveröffentlichte Daten der prospektiven Studie EWOG-MDS 98)
⊡ Abb. 61.2. Refraktäre Zytopenie: Wahrscheinlichkeit der Progression zum fortgeschrittenem MDS in Abhängigkeit vom Karyotyp (Kardos et al. 2003)
gen im wesentlichen davon ab, ob eine Transfusionsbedürftigkeit besteht oder ob bei niedrigen Granulozytenzahlen, z. B. bei einer absoluten Neutrophilenzahl (ANC) von <1000/µl, gehäuft Infektionen auftreten. Besteht klinisch kein Behandlungszwang, kann zunächst eine Verlaufsbeobachtung sinnvoll sein. In einigen Fällen kann auch ein Therapieversuch mit immunsuppressiver Therapie mit Antithymozytenglobulin und Ciclosporin wie bei AA zur kompletten Remission führen; größere Studien und Langzeitbeobachtungen hierzu stehen aus. 61.6.2 Fortgeschrittene myelodysplastische
Syndrome In diese Gruppe fallen refraktäre Anämie mit Blastenexzess (RAEB), refraktäre Anämie mit Blastenexzess in Transformation (RAEB-T) und MDS-assoziierte AML. Differenzierung zwischen fortgeschrittenen MDS und de novo akuten myeloischen Leukämien. MDS und De-novo-
AML unterscheiden sich hinsichtlich Pathogenese und klinischem Verlauf. Die De-novo-AML ist eine chemosensitive Erkrankung, die durch typische Rearrangements wie t(15;17),
⊡ Abb. 61.3. Progressionsdynamik: myelodysplastische Syndrome im Vergleich mit de novo akuten myeloischen Leukämien (modifiziert nach Head 2002)
Primäres MDS N=72
Sekundäres MDS N=42
Normaler Karyotyp
43%
21%
Monosomie 7
32%
35%
Deletion 7q
0%
5%
Trisomie 8
8%
0%
11q23-Aberration
3%
0%
Komplexer Karyotyp
6%
33%
Andere
8%
5%
t(8;21) und inv(16) charakterisiert ist. Hingegen sind MDS und MDR-AML chemoresistente Erkrankungen und durch numerische chromosomale Veränderungen wie Monosomie 7 gekennzeichnet (⊡ Tabelle 61.3). Während es bei der Denovo-AML in der Regel zu einem schnellen Anstieg der Blastenzahl kommt, ist der Blastenanteil bei MDS vergleichsweise lange Zeit stabil (⊡ Abb. 61.3). Zur Unterscheidung der beiden Entitäten kann daher im Zweifelsfall eine erneute KM-Punktion nach 1–2 Wochen sinnvoll sein. Ein Befall des Zentralnervensystems, eine Hepatosplenomegalie oder eine Leukozytose weisen auf das Vorliegen einer De-novo-AML hin. Ein Algorithmus zur Unterscheidung zwischen MDS und Denovo-AML ist in ⊡ Abb. 61.4 dargestellt. Ein hoher Blastenanteil spricht für das Vorliegen einer AML, jedoch sollten Patienten mit AML-typischen Translokationen auch bei einem Blastenanteil <30% als AML diagnostiziert und behandelt werden. Gleichzeitig sind Erkrankungen mit Monosomie 7 und einer Blastenzahl von ≥30% ähnlich chemoresistent wie ein MDS mit geringerer Blastenzahl und sollten nach einem MDS Konzept behandelt werden. Therapie. Die einzige kurative Therapie für Patienten mit
fortgeschrittenen MDS ist die allogene SZT, mit der ca. 50% der Patienten geheilt werden können. Die laufende prospektive EWOG-MDS-Studie zur Transplantation dieser Patienten untersucht zur Zeit die Effizienz einer Konditionierung mit Busulfan, Cyclophosphamid und Melphalan. Die Zwischenauswertungen zeigen, dass die Blastenzahl bei Beginn der Konditionierung das ereignisfreie Überleben nach SZT
61
720
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Abb. 61.4. Algorithmus zur Unterscheidung zwischen myelodysplastischen Syndromen und de novo akuten myeloischen Leukämien (mit freundlicher Genehmigung von H. Hasle, Aarhus, Dänemark)
IV
61.7
Juvenile myelomonozytäre Leukämie
Definition Die JMML ist eine myeloproliferative Erkrankung des frühen Kindesalters, die durch Hepatosplenomegalie, Hautinfiltrate, Leukozytose mit Monozytose und Ausschwemmung unreifer myeloischer Vorstufen gekennzeichnet ist.
⊡ Abb. 61.5. Ereignisfreies Überleben nach Stammzelltransplantation für Patienten mit MDS in Abhängigkeit von der Blastenzahl im Knochenmark zum Zeitpunkt der Transplantation (unveröffentlichte Daten der prospektiven Studie EWOG-MDS 98)
Hypersensitivität gegenüber GM-CSF (»granulocyte/monocyte colony stimulating factor«) und pathologische Aktivierung der RAS-RAF-MAP-Kinase-Signalkette sind pathophysiologisch bedeutsam. Aktuell ist die allogene SZT die einzige kurative Behandlung. Die Inzidenz der JMML beträgt ca. 1,2/106 Kinder pro Jahr (Hasle et al. 1995; Hasle et al. 1999b). Eine JMML wird bei 2,4% der Kinder mit bösartigen hämatologischen Erkrankungen diagnostiziert. Zum Zeitpunkt der Diagnose sind nur 4% der Kinder älter als 5 Jahre (Niemeyer et al. 1997). Jungen erkranken doppelt so häufig wie Mädchen (Niemeyer et al. 1997; Luna-Fineman et al. 1999). Eine Neurofibromatose Typ 1 (NF1) kann klinisch bei 15% der Patienten mit JMML diagnostiziert werden (Niemeyer et al. 1997). Die Inzidenz der JMML ist bei Kindern mit NF1 über 200-fach erhöht (Stiller et al. 1994). 7% der Kinder haben nicht-NF1-assoziierte Anomalien (Niemeyer et al. 1997). Mehrere Kinder mit JMML und Noonan-Syndrom, einer mit Herzfehler, Kleinwuchs, Gesichtsdysmorphien und Skelettanomalien einhergehenden Entwicklungsstörung, wurden beschrieben (Bader-Meunier et al. 1997; Side u. Shannon, 1997; Tartaglia et al. 2003). 61.7.1 Klinisches und laborchemisches
Erscheinungsbild ⊡ Abb. 61.6. Ereignisfreies Überleben für Patienten mit fortgeschrittenem MDS in Abhängigkeit von der Therapieintensität vor Stammzelltransplantation (unveröffentlichte Daten der prospektiven Studie EWOG-MDS)
nicht wesentlich beeinflusst (⊡ Abb. 61.5). Eine Zytoreduktion mit intensiver AML-Therapie vor SZT verbessert das Überleben nach SZT nicht (⊡ Abb. 61.6). Komplexe Karyotypen, die bevorzugt bei sekundärem MDS gefunden werden, stellen auch nach SZT einen ungünstigen Prognosefaktor dar.
Zum Diagnosezeitpunkt stehen Blässe, ausladendes Abdomen durch Hepatosplenomegalie, Petechien, Fieber und Husten im Vordergrund. Ein Drittel der Patienten haben Hautinfiltrationen, oft als makulopapulöses Exanthem. Es besteht eine Leukozytose mit Monozytose, Anämie und Thrombozytopenie. Patienten ohne Monosomie 7 haben oft eine deutliche Erhöhung des fetalen Hämoglobins (HbF).Das KM ist normo- bis hyperzellulär. Die Zahl der Megakaryozyten ist meistens reduziert. Oft besteht eine granulozytäre Hyperplasie. Die Monozytose im KM ist weniger ausgeprägt als im PB. 10% der Patienten haben einen KM-Blastenanteil von >10% (Niemeyer et al. 1997).
721 61 · Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonzytäre Leukämie
61.7.2 Prognostische Faktoren
Die JMML ist bedingt durch eine exzessive klonale Proliferation myelomonozytärer Zellen (Flotho et al. 1999). Ein In-
vitro-Merkmal der JMML ist die exzessive endogene Produktion der Zytokine Interleukin-1, GM-CSF und Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) durch Monozyten. Zudem besteht eine Hypersensitivität der Progenitoren für GM-CSF. Zusammen führen diese beiden Merkmale zu einer scheinbar spontanen Proliferation der Progenitorzellen in nicht-monozytendepletierten Kultursystemen (Emanuel et al. 1991). Die Hypersensitivität der Progenitorzellen für GM-CSF ist bedingt durch die pathologische Hyperaktivität der RAS/MAPK-Signalkaskade (⊡ Abb. 61.7) (Birnbaum et al. 2000). In 15–30% der JMML-Fälle verursachen onkogene RAS-Mutationen die pathologische Aktivität der RAS/MAPK-Kaskade. Bei JMML Patienten mit NF1 resultiert der proliferative Vorteil der Leukämiezellen aus der somatischen Inaktivierung des normalen NF1-Allels (Shannon et al. 1994; Side et al. 1997). Da das NF1Genprodukt, Neurofibromin, RAS negativ reguliert, führt die Inaktivierung des normalen NF1-Allels zur RAS-Hyperaktivität (Bollag et al. 1996). Über 50% der Kinder mit Noonan-Syndrom haben Keimbahnmutation im PTPN11-Gen, das für die Protein Tyrosinphosphatase SHP-2 kodiert (Tartaglia et al. 2001). SHP-2 ist als wichtiges intrazelluläres Signalmolekül notwendig für die Aktivierung der RAS/MAPK-Kaskade. JMML heilt bei Noonan-Syndrom Patienten oft spontan aus (Bader-Meunier et al. 1997). Daher war die Entdeckung, dass somatische PTPN11-Mutationen das häufigste molekulare Ereignis nichtsyndromaler JMML Fälle repräsentieren, überraschend. PTPN11-Mutationen werden bei 34% aller JMML Patienten gefunden (Niemeyer et al. 2002; Tartaglia et al. 2003). Mutationen in NF1, RAS und PTPN11 schließen sich gegenseitig aus. Ihre kombinierte Prävalenz beträgt etwa 75% aller JMML-Fälle. Wahrscheinlich gibt es daher mindestens ein weiteres Gen, das bei der JMML eine Rolle in der Aktivierung der RAS/MAPK-Kaskade spielt.
⊡ Abb. 61.7. GM-CSF-Rezeptor – RAS/MAPK-Signalkette bei der JMML. 34% der an JMML erkrankten Kinder haben somatische Mutation im Noonan-Gen PTPN11, das für das Protein SHP-2 kodiert. 15% Prozent der Kinder haben somatische RAS-Mutationen. 27% der Patienten haben Defekte im NF1-Gen. PTPN11-, RAS- und NF1-Muta-
tionen aktivieren den RAS-Signaltransduktionsweg. Eine der 3 Veränderungen scheint auszureichen, denn die Mutationen schließen sich gegenseitig aus. Die verbleibenden 25% der JMML Patienten ohne PTPN11-, RAS- oder NF1-Mutationen tragen vermutlich Mutationen in mindestens einem noch unbekannten JMML-Gen
Niedrige Thrombozytenwerte, Alter über 2 Jahre und hohe HbF-Werte bei Diagnose sind die Prognosefaktoren, die ein kurzes Überleben vorhersagen. Von 110 retrospektiv analysierten Patienten mit JMML starben alle Kinder mit Thrombozytenwerten ≤33×109/l bei Diagnose innerhalb eines Jahres. Hingegen hatten Kinder mit höheren Thrombozytenwerten und einem Alter unter 2 Jahren die längste Überlebenszeit mit einem Median von 3 Jahren (Niemeyer et al. 1997). 61.7.3 Zytogenetik Bei 60% der Kinder findet sich in zytogenetischen Analysen keine Aberrationen. Eine klassische Metaphasenzytogenetik zeigt eine Monosomie 7 meist isoliert bei 25–30% der Kinder. 10% der Kinder haben andere Veränderungen einschließlich Deletion 7q (Niemeyer et al. 1997; Harbott et al. 2002). 61.7.4 Differenzialdiagnose Einige Kinder mit Virusinfektionen und JMML ähnlichem Krankheitsbild wurden beschrieben (Niemeyer et al. 1998). Auch Leukozytenadhäsionsdefekte können selten das klinische Bild einer JMML nachahmen (Kuijpers et al. 1997). 61.7.5 Pathophysiologie
61
722
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
61.7.6 Therapie
IV
Allogene Stammzelltransplantation. Die allogene SZT ist die einzige kurative Behandlung (Locatelli et al. 1997), mit der ein Drittel der retrospektiv untersuchten Patienten geheilt werden konnte. Eine Zwischenauswertung der prospektiven Studie EWOG-MDS 98 zeigt, dass bei nicht-signifikant unterschiedlichem ereignisfreiem Überleben für Patienten transplantiert vom Familien- oder Fremdspender das Rezidiv nach Transplantation das wesentliche Ereignis ist (⊡ Abb. 61.8). Rückfälle treten innerhalb des ersten Jahres nach SZT auf, durchschnittlich nach 3,5 Monaten. Einige dieser Kinder können durch eine zweite SZT geheilt werden. Eine Splenektomie vor Transplantation führt nicht zu einer Verringerung des Rezidivrisikos oder zu einer Verbesserung des Überlebens nach SZT. Kinder mit JMML und Noonan-Syndrom sollten zunächst beobachtet werden, da diese Kinder spontane Remissionen zeigen können. Chemotherapie und experimentelle Therapieansätze.
JMML-Zellen sind in der Regel gegenüber konventioneller Chemotherapie resistent (Niemeyer et al. 1997). Orales Mercaptopurin kombiniert mit niedrig dosiertem Cytarabin führt bei einigen Patienten zu einer Zustands- und Blutbildverbesserung (Lilleyman et al. 1977). Isotretioin hemmt in vitro das spontane JMML-Zellwachstum, jedoch ist die Rolle dieser Substanz in der Therapie der JMML nicht unumstritten (zusammengefasst in Niemeyer u. Kratz 2003). GM-CSF und die pathologische Aktivierung der RAS/ MAPK-Signalkette spielen eine zentrale Rolle in der Pathophysiologie der JMML. Mehrere therapeutische Strategien, die mit diesem Zytokinsignalweg interferieren, wurden beschrieben: ▬ Störung der GM-CSF-Zellbindung an die Zelloberfläche durch das GM-CSF-Analog E21R oder durch an GM-CSF gebundenes Diphtherietoxin, ▬ Blockierung der RAS-Funktion durch Hemmung posttranslationaler Modifikationen durch Farnesyltransferase-Inhibitoren (FTI)
⊡ Abb. 61.8. Ereignisfreies Überleben für Kinder mit JMML nach Stammzelltransplantation vom HLA-identischen Familien (MFD) oder Fremdspender (MUD) (unveröffentlichte Daten der prospektiven Studie EWOG-MDS 98)
▬ Unterdrückung der Proteinexpression des RAS-abhängigen Proteins RAF-1 durch mRNA-Degradation mittels speziell entwickelter DNA-Enzyme. Rationale Therapien haben vermutlich eine wichtige Rolle in zukünftigen multimodalen Therapiekonzepten (zusammengefasst in Niemeyer u. Kratz, 2003).
In den letzten Jahren ist es gelungen, die Diagnostik für Patienten mit MDS und JMML zu verbessern und die verschiedenen Erkrankungsformen genauer zu klassifizieren. Insbesondere genetische Analysen ergaben neue pathophysiologische Erkenntnisse, wie z. B. die Entdeckung von Mutationen im Onkogen PTPN11 bei etwa 35% der Patienten mit JMML. Mit modernen Transplantationsregimen können viele Patienten mit MDS oder JMML geheilt werden. Allerdings wird es in Zukunft notwendig sein, die Toxizität dieser Therapiemodalitäten zu vermindern und die Rolle neuer, derzeit noch experimenteller Behandlungsansätze zu prüfen.
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723 61 · Myelodysplastische Syndrome und juvenile myelomonzytäre Leukämie
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61
Chronische myeloproliferative Erkrankungen M. Suttorp
IV
62.1 62.2 62.3 62.4 62.5
Klassifikation und Inzidenz – 724 Polycythaemia vera – 725 Essenzielle Thrombozythämie – 725 Idiopathische Myelofibrose – 726 Chronische myeloische Leukämie – 726
62.5.1
Klinisches Bild, Diagnostik, Krankheitsphasen und Prognose – 726 Philadelphia-Chromosom – 727 Therapie – 728
62.5.2 62.5.3
Literatur
märe somatische Mutation, die einer multipotenten hämatopoetischen Stammzelle einen klonalen Proliferationsvorteil verschafft. Die einzelnen Entitäten zeigen im Gegensatz zu den myelodysplastischen Syndromen eine mehr oder weniger isolierte Proliferation von einer oder mehreren myeloischen Zellreihen (Granulopoese, Erythropoese oder Megakaryopoese) mit einer relativ normalen, effektiven Ausreifung (Tefferi 2001). Bei weniger als 5% der Patienten finden sich jedoch überlappend sowohl Dysplasie- als auch Proliferationshinweise (Neuwirtova et al. 1996). Die wichtigsten Charakteristika und Leitsymptome der einzelnen CMPEEntitäten finden sich in ⊡ Tabelle 62.1 gegenübergestellt. Die höchste Inzidenz der CMPE wird im fortgeschrittenen Lebensalter beobachtet (Emanuel 1999). Eine Transformation in eine akute Leukämie tritt bei Erwachsenen nach 100 Monaten Beobachtungszeit bei 4% der Patienten mit ET, bei 9% der Patienten mit PV, bei 20% der Patienten mit IM und bei 70% der Patienten mit CML auf (Georgii 1996; Hernandez et al. 1993; Rozman et al. 1991). In pädiatrischen Kollektiven bedingen die Seltenheit und zum Teil die Schwierigkeiten bei der Klassifikation schwankende Angaben zur Inzidenz (0,05–0,40 pro 100.000). Eine in den letzten Jahren etablierte WHO-Klassifikation ist auch bei pädiatrischen Patienten hilfreich (Harris et al. 1999). Der Nachweis des Philadelphia-Chromosoms (Ph+) mit der zugrunde liegenden BCR-ABL-Translokation trennt die CML scharf von den anderen Ph-negativen CMPE ab. Abzugrenzen ist von den CMPE das transiente myeloproliferative Syndrom bei Neugeborenen mit Morbus Down mit normalerweise spontaner Rückbildung ( Kap. 60) sowie die juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML; frühere Bezeichnung: »juvenile CML«), die den myelodysplastischen Syndromen zuzuordnen ist ( Kap. 61).
– 729
Chronische myeloproliferative Erkrankungen manifestieren sich typischerweise im fortgeschrittenen Erwachsenenalter; in der Pädiatrie sind sie selten. Als klonale Erkrankungen gehen sie von einer hämatopoetischen Stammzelle aus und sind durch autonome Proliferation einer oder mehrere Zellreihen der Hämatopoese charakterisiert. Gewöhnlich verlaufen diese Erkrankungen über mehrere Jahre bis Jahrzehnte chronisch; mit unterschiedlicher Schnelligkeit transformieren sie sich in aggressivere Formen, die dann von einer akuten Leukämie nicht zu unterscheiden sind.
62.1
Klassifikation und Inzidenz
Als chronische myeloproliferative Erkrankungen (CMPE) werden die essenzielle Thrombozythämie (ET), die Polycythaemia vera (PV), die idiopathische Myelofibrose (IM) und die chronische myeloische Leukämie (CML) zusammengefasst. Gemeinsam sind sie charakterisiert durch eine pri-
⊡ Tabelle 62.1. Charakteristika der chronischen myeloproliferativen Erkrankungen
Chronische myeloische Leukämie
Polycythaemia vera
Essenzielle Thrombozythämie
Idiopathische Myelofibrose
Leukozytenzahl
↑↑
↑
(↑)
Erythrozytenzahl
↓ (↑)
(↑)
↓ (↑) ↓
Thrombozytenzahl
(↓) ↑
↑↑ ↑
↑↑
↓ (↑)
Myelofibrose
(+)
(+)
(+)
++
Splenomegalie
+/++ ↓
(+) ↑
(+)
++ ↑
ALP-Index
(↑)
Philadelphia-Chromosom
Ja
Nein
Nein
Nein
Mediane Überlebenszeit bei Erwachsenen (Jahre)
3–5
10–12
12–15
4–6
ALP alkalische Leukozytenphosphatase.
725 62 · Chronische myeloproliferative Erkrankungen
62.2
Polycythaemia vera Diagnostische Kriterien für Polycythaemia vera:
Die Polyzythämie ist definiert als Erhöhung von Erythrozytenzahl, Hämoglobinkonzentration und Hämatokrit. Entsprechend der zugrunde liegenden Pathophysiologie werden 3 Typen klassifiziert (Prchal u. Prchal 1999): ▬ Polycythaemia (rubra) vera (PV) oder primäre Polyzythämie, ▬ sekundäre Polyzythämie und ▬ relative Polyzythämie. Die primäre und sekundäre Polyzythämie sind assoziiert mit einer Erhöhung der Erythrozytenmasse, während Patienten mit relativer Polyzythämie eine normale Erythrozytenmasse, aber ein reduziertes Plasmavolumen aufweisen (Pseudopolyzythämie aufgrund von Flüssigkeitsmangel, Erbrechen, Plasmaverlust bei Verbrennungen und Enteropathie). Die sekundäre Polyzythämie kann vielerlei Ursachen haben: eine überschießende Erythropoetinbildung (EPOBildung) infolge einer erniedrigten Gewebeoxygenierung (als physiologisch adäquate Reaktion: z. B. Höhenaufenthalt, angeborene Herz-Kreislauf-Erkrankungen); eine überschießende EPO-Sekretion aus einem Tumor (Nierenkarzinom, Uterusfibromyom, Leberzellkarzinom, zerebelläres Hämangioblastom); ein (angeborener) erniedrigter 2,3-Diphosphoglycerol (DPG)-Gehalt in den Erythrozyten oder eine veränderte Sauerstoffaffinität des Hämoglobins (Grier u. Civin 1992). Als primäre Polyzythämie, die aber nicht zum Formenkreis der myeloproliferativen Erkrankungen gehört, ist die ausgesprochen seltene primäre familiäre und angeborene Polyzythämie (»primary familiar congenital polycythemia«, PFCP) zu erwähnen (Najean et al. 1987). Die Erkrankung wird üblicherweise autosomal-dominant vererbt; vereinzelt wurden auch rezessive Erbgänge berichtet. Bei positiver Familienanamnese ist ein früher Erkrankungsbeginn typisch. PFCP-Progenitorzellen zeigen in der Kultur eine EPO-Hypersensitivität, aber keine EPO-unabhängige Proliferation (Correa et al. 1994). Ursächlich finden sich Mutationen im EPO-Rezeptor; der abnormal trunkierte EPORezeptor ist hypersensitiv gegenüber dem EPO-Ligand (Juvonen et al. 1991; de la Chapelle et al. 1993). Die meisten Familienmitglieder mit PFCP benötigen keine medizinische Intervention. Diagnostik und Differenzialdiagnostik. Ein rationales Vorgehen zur Differenzialdiagnostik umfasst bei bestehender Polyzythämie die Untersuchung des Erythrozytengesamtvolumens mit 51Cr-markierten Erythrozyten und des Plasmavolumens mit 125J-Albumin. Wenn diese Untersuchungen eine absolute Polyzythämie bestätigen, sollte der Patient im Hinblick auf eine PV untersucht werden. Hier kommen neben dem Leitsymptom Polyglobulie auch erhöhte Leukozytenzahlen und Plättchenzahlen vor. Die Kriterien der Polycythaemia-vera-Study-Group können auf Kinder genauso wie auf Erwachsene angewendet werden (Michiels u. Thiele 2002). Für die Diagnose wird das Vorhandensein von allen Hauptkriterien oder der ersten beiden Hauptkriterien und zweier Nebenkriterien gefordert.
Hauptkriterien Erhöhtes Erythrozytenvolumen (männliches Geschlecht >36 ml/kg KG, weibliches Geschlecht >32 ml/kg KG) Arterielle O2-Sättigung >92% Splenomegalie Nebenkriterien Thrombozytose Leukozytose Erhöhte alkalische Leukozytenphosphatase (ALP) Vitamin B12 erhöht oder ungesättigte Vitamin-B12Bindungskapazität
Im Knochenmark ist bei der PV die Zelldichte aller Zellreihen deutlich erhöht bis zur kompletten Verdrängung der Fettzellen. Auffällig ist die Vermehrung der Megakaryozyten mit deutlicher Größenvarianz und tief lobulierten Kernen; eine leichte Basophilie kann vorliegen. Kürzlich wurde die erhöhte Expression von PRV-1-mRNA in Granulozyten als hilfreich bei der diagnostischen Sicherung der PV beschrieben (Liu et al. 2003). Therapie. Die Überlebenszeit beträgt viele Jahre. Zur Zytoreduktion sollten bei pädiatrischen Patienten Zytostatika oder radioaktive Phosphorverbindungen aufgrund des leukämogenen Potenzials eher nicht eingesetzt werden. Eine regelmäßige Aderlasstherapie reicht oft aus, um den Hämatokrit zu kontrollieren. Hydroxyurea, Interferon-α oder -γ sowie Anagrelide werden bei Erwachsenen eingesetzt, um die Zellzahl zu senken und sind auch bei pädiatrischen Patienten wirksam. Niedrig dosierte Acetylsalicylsäure (ASS) wird zur Sekundärprophylaxe nach thromboembolischen Komplikationen bei Erwachsenen empfohlen und kann ohne wesentliches Blutungsrisiko eingesetzt werden. Der Stellenwert von niedrig dosiertem ASS in der Primärprophylaxe ist noch nicht geklärt (Lengfelder u. Hehlmann 2000).
62.3
Essenzielle Thrombozythämie
Bei Patienten mit essenzieller Thrombozythämie (ET) findet sich eine persistierende Thrombozytose ohne mögliche ätiologische Zuordnung. Der klonale Ursprung der ET ist gesichert; Chromosomenanomalien sind nicht nachweisbar. Klinik. Der klinische Verlauf ist sehr variabel: einige Patienten
bleiben über mehr als 10 Jahre symptomlos; in seltenen Fällen transformiert sich die Erkrankung in eine akute Leukämie. Im Kindesalter stellt sie eine ausgesprochene Rarität dar; weniger als 30 Fälle sind publiziert (Michiels u. Van Genderen 1997; Randi et al. 2000). Thrombohämorrhagische Komplikationen treten bei bis zu 40% der Erwachsenen mit ET auf; klinische Studien zeigen, dass thromboembolische Ereignisse bei ET eine größere Gefahr als Blutungen darstellen. Typische mikrovaskuläre Komplikationen treten bereits bei Thrombozytenzahlen zwischen 400–1000/nl auf. Diese Komplikationen lassen sich durch Acetylsalicylsäure (ASS) sehr gut vermei-
62
726
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
den, ohne das Blutungsrisiko zu steigern. Bei Thrombozytenwerten über 1000/nl treten aber Mikrothrombosen als auch Schleimhautblutungen häufiger auf. In dieser Situation erhöht ASS das Blutungsrisiko, so dass mittels Anagrelide zunächst die Thrombozytenzahl abgesenkt werden sollte. Diagnostik. Die ET zeigt konstant erhöhte Thrombozyten-
IV
zahlen (>600/nl) mit Vermehrung der Megakaryozyten im Knochenmark. Häufig sind nur geringe Anomalien sichtbar: Cluster von vergrößerten bis riesigen Megakaryozyten mit reifem Zytoplasma und übersegmentierten Kernen bei normaler oder leicht erhöhter Zellularität. Eine geringe Leukozytose mit leichter Basophilie und Eosinophilie im peripheren Blut findet sich ähnlich wie bei der CML. Das Thrombopoetin ist bei Erwachsenen mit ET gewöhnlich erhöht; im Kindesalter scheint dieses nicht immer zuzutreffen. Die Diagnose der ET im Kindesalter ist eine Ausschlussdiagnose, v. a. von häufigeren entzündlich bedingten Thrombozytosen (Randi et al. 1991; Sutor 1995). Therapie. Anagrelide allein oder in Kombination (Inter-
feron-α, Hydroxyurea, niedrig dosierte Acetylsalicylsäure) sind die Mittel der Wahl bei den Kindern, die aufgrund von thromboembolischen Komplikationen behandelt werden müssen. 62.4
Idiopathische Myelofibrose
Die idiopathische Myelofibrose (IM, Synonyme: Osteomyelofibrose, Osteomyelosklerose, primäre Myelofibrose; »agnogenic myeloid metaplasia«) verläuft schleichend und ist charakterisiert durch Kollagenablagerungen im Knochenmark mit Vermehrung der Gitterfasern und/oder der Spongiosa bis zur völligen Verdrängung des Marks mit extramedullärer Blutbildung und progressive Hepatosplenomegalie. Das periphere Blutbild kann der CML ähneln; zusätzlich bestehen aber deutliche Erythrozytenanomalien (Anisopoikilozytose, Erythroblasten im peripheren Blut, Dakryozyten) sowie Pelger-Huet-Zellen. Abzugrenzen ist die primäre (idiopathische) Form von Verlaufsformen, bei denen sich die Knochenmarkfibrose sekundär in Folge einer anderen CMPE entwickelt (Barosi 1999). Nur 3% aller Patienten sind unter 30 Jahre alt; im Kindesalter ist die Erkrankung eine ausgesprochene Rarität (Cervantes et al. 2001). Einzelne Fälle familiärer Häufung wurden beschrieben. Diagnostik. Eine Knochenmarkaspiration gelingt aufgrund der Markfibrose häufig nicht, so dass die Biopsie diagnostisch wegweisend ist (Michiels u. Thiele 2002). Zytogenetische Aberrationen (20q-, 13q-, +8, +9, 12p-, Abnormalitäten an den Chromosomen 1 und 7) finden sich nicht selten. Zunächst zeigt sich eine Normo- bis Hyperzellularität mit betonter, atypischer Thrombopoese in der Hälfte aller Fälle. Es dominieren in Clustern liegende mittel- bis riesiggroße Megakaryozyten mit wolkigen, bulbären und oft hyperchromen Kernen. Im weiteren Verlauf tritt die Hyperzellularität in den Vordergrund bei geringer bis stark ausgeprägter Markfibrose (Thiele et al. 2002). Die Leukozytenzahl beträgt meist unter 30/nl mit Linksverschiebung im Rahmen der extramedullären Blutbildung (Leukoerythroblastose). Dann entwickelt
sich zunehmend eine Panzytopenie. Röntgenaufnahmen des Knochenskelettes zeigen die beginnende Osteosklerose. Klinik. Eine hämolytische Anämie ist bei Hypersplenismus
möglich. Bei progressiver Hepatomegalie kann sich eine portale Hypertension entwickeln. Milzinfarkte und andere thromboembolische Ereignisse wurden bei Erwachsenen beschrieben. Mit fortschreitender Erkrankung entwickeln 15–20% der erwachsenen Patienten eine Transformation in eine akute Leukämie. Die 10-Jahres-Überlebensrate liegt unter 20%, wobei der individuelle Verlauf stark variieren kann (Barosi 1999). Einzelne Berichte bei Kindern betonen aber einen eher langsameren Verlauf der Erkrankung mit Überlebenszeiten von mehr als 10 Jahren. Demgegenüber existieren auch Varianten mit primär ausgeprägter Myeloproliferation und schnell nachfolgender Anämie und Thrombozytopenie. Therapie. Die medikamentöse Therapie ist palliativ und hält den Verlauf der Erkrankung nicht auf (Tefferi 2000). Hieraus resultiert eine zurückhaltende Therapieindikation bei fehlender Symptomatik (Therapie bei ausgeprägter Thrombozytose mit der Gefahr thromboembolischer Komplikationen Abschn. 62.3; bei symptomatischer Hypersplenie: Hydroxyurea, Chlorambucil, Busulfan oder Thioguanin). Eine Splenektomie bei portaler Hypertension mit Ösophagusvarizenblutungen stellt eine Ultima ratio dar. Kurativ ist die Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen. Die Indikation sollte innerhalb der ersten Jahre nach Diagnosestellung unter Berücksichtigung einer optimalen Spenderauswahl immer wieder überprüft werden. Die Abstoßungsrate bzw. ein ausbleibendes Anwachsen des Transplantates aufgrund der Markfibrose erscheint bei der IM nicht höher als bei anderen Transplantationsindikationen (Guardiola et al. 1999).
62.5
Chronische myeloische Leukämie
62.5.1 Klinisches Bild, Diagnostik,
Krankheitsphasen und Prognose Im Alter unter 18 Jahren macht die chronische myeloische Leukämie (CML) ca. 2% aller Leukämien aus und stellt somit in der Pädiatrie die häufigste CMPE dar (Altman 1997). Selten tritt eine CML bereits im ersten Lebensjahr auf; 60% aller Fälle im Kindes- und Jugendalter werden nach dem 10. Lebensjahr diagnostiziert. Eine Geschlechtspräferenz liegt nicht vor (Creutzig et al. 1996). Bei Diagnosestellung bestehen häufig unspezifische Symptome: Leistungsknick, Bauchschmerzen bei Hepatosplenomegalie, Gewichtsverlust, Fieber, Knochen- und Gelenkschmerzen. Typisch ist initial eine exzessive Leukozytose von im Mittel 250 Leukozyten/nl mit starker Linksverschiebung. Rheologische Probleme aufgrund der Hyperleukozytose bestehen jedoch nur in Einzelfällen. Als Ausdruck der mitbetroffenen Megakaryozytopoese findet sich in 1/3 der Fälle eine Thrombozytose. Eine Vermehrung atypischer Basophiler und Eosinophiler wird ebenfalls häufig beobachtet. Weitere typische Laborparameter sind eine stark erniedrigte oder nicht nachweisbare alkalische Leukozytenphos-
727 62 · Chronische myeloproliferative Erkrankungen
phatase sowie erhöhte Laktatdehydrogenase und Harnsäure im Serum. Im Knochenmark imponiert die ausgeprägte Hyperzellularität mit massiv gesteigerter Granulopoese und erhöhter (Mikro-) Megakaryozytenzahl. Gelegentlich fallen Pseudo-Gaucher-Zellen auf. Eine Myelofibrose tritt initial selten auf, wird aber im Verlauf häufiger. Bei der Differenzialdiagnose ist der Nachweis des Ph-Chromosoms und/oder des BCR-ABL-Rearrangements (s. unten) beweisend für die CML. Andere Erkrankungen wie leukämoide Reaktion bei schweren Infektionen, septische Granulomatose, juvenile myelomonozytäre Leukämie oder andere CMPE ( Tabelle 62.1) sind auszuschließen. Der klinische Verlauf ist meist zwei oder dreiphasig. Nach initial chronischer Phase (CP) tritt im Mittel nach 4–5 Jahren eine instabile, so genannte akzelerierte Phase (AP) auf (Castro-Malaspina et al. 1983; Marin et al. 1992). Dieses uneinheitlich definierte Krankheitsstadium zeigt einen Teil der folgenden Merkmale: steigende Leukozytenzahlen trotz Dosiserhöhung der zytostatischen Therapie, Fieber, Gewichtsverlust, progrediente Splenomegalie, Anämie, Thrombozytopenie oder Thrombozytose, Eosinophilie oder Basophilie von >20%, zusätzliche chromosomale Aberrationen (zweites Ph-Chromosom pro Metaphase, Trisomie 8, Isochromosom 17, Trisomie 19), zunehmende Knochenmarkfibrose (Cervantes et al. 1996). Relativ plötzlich im Verlauf der CP oder einige Monate im Anschluss an die AP tritt die so genannte (terminale) Blastenphase oder Blastenkrise (BC) auf. Diese ist morphologisch und klinisch von einer akuten Leukämie nicht zu unterscheiden. Da die meisten Patienten mit CML wenige Monate nach Übergang in AP versterben, ist die Dauer der CP ein wichtiger Prognoseparameter. Zur Risokoabschätzung haben sich traditionell bei Erwachsenen der Sokal- und der neuere Hasford-Score bewährt (Hasford et al. 1998). Diese für das Erwachsenenalter entwickelten Scores erscheinen jedoch für das Kindesalter ungeeignet, da das Alter als Prognosefaktor stark gewichtet wird.
⊡ Abb. 62.1. Translokation t(9;22)(q34;q11) mit Ausbildung des BCR-ABL-Gen-Rearrangements (Einzelheiten Text)
62.5.2 Philadelphia-Chromosom ! Charakteristisches Merkmal der CML ist die balancierte chromosomale Translokation t(9;22)(q34;q11) – das so genannten Philadelphia(Ph)-Chromosom (⊡ Abb. 62.1).
Typischerweise ist hauptsächlich die Granulopoese betroffen; aber die Erythropoese, die Megakaryozyten, die B-Lymphozyten und manchmal auch die T-Lymphozyten, nicht jedoch die Knochenmarkfibroblasten können ebenfalls Ph-positiv sein. Auf molekularer Ebene betrifft der Bruchpunkt im Chromosom 9 das ABL-Gen (ABL: humanes Homolog des murinen Abelson-B-Zell-Leukämie-Virusonkogen). Er kann innerhalb eines weiten Bereiches von mehr als 100 Kilobasen (kb) variieren; demgegenüber ist der Bruchpunkt im Chromosom 22 fast immer auf einen relativ geringen Abschnitt von 5,8 kb Länge – die bcr-Region (»breakpoint cluster region«) – beschränkt (Sawyers 1999). Die klassische Ph-Translokation wird bei ca. 90% der Patienten mit CML gefunden. Darunter finden sich selten auch komplexere Translokationen mit Beteiligung mehrerer Chromosomen – wobei aber immer auch die beiden Chromosomen 9 und 22 involviert sind (Hochhaus u. Hehlmann 1996). Obwohl das Ph-Chromosom typischerweise bei der CML vorkommt, ist es kein exklusives Merkmal dieser Leukämie, sondern findet sich im Kindesalter ebenfalls bei 3–10% der akuten Leukämien und noch häufiger bei Erwachsenen (akute myeloische Leukämie: 2–3%; akute lymphoblastische Leukämie: 25–33%) ( Kap. 58). Das c-ABL-Gen kodiert für ein 145 kd-Protein (p145ABL), das sowohl im Zytoplasma, überwiegend aber im Zellkern aller hämatopoetischen Zellen lokalisiert ist und als ProtoOnkogen in allen Differenzierungsstadien aktiviert wird. Als Tyrosinkinase partizipiert es an der Signaltransduktion sowie an der Regulation der Gentranskription (Gotoh u. Broxmeyer 1997). Es reguliert negativ das Zellwachstums während des Übergangs von der G1- in die S-Phase des Zellzyklus. Das
62
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Leukozytenzahl auf niedrig-normale Werte einzustellen, genügt bei Diagnose eine Monotherapie mit oral applizierbarem Hydroxyurea. 90% der Patienten erreichen damit eine klinische und hämatologische Remission. In der Chromosomenanalyse findet sich jedoch keine nennenswerte Reduktion des Anteils Ph-positiver Zellen. Es handelt sich also um eine palliative Therapie, die lediglich die überschießende proliferative Aktivität kontrolliert (Suttorp et al. 1996). Interferon-α. Für Patienten, die nicht transplantiert werden
IV ⊡ Abb. 62.2. Unterschiedlich lokalisierte Bruchpunkte des ABL- und BCR-Gens führen zu unterschiedlich langen m-RNA-Transkripten (Einzelheiten Text)
BCR-ABL-Fusionsgen kodiert bei der CML typischerweise für ein 210 kd-Protein (p210). Diese p210-Kinase unterscheidet sich von der normalen ABL-Kinase (p145) durch eine erhöhte Tyrosinkinaseaktivität, durch die Fähigkeit zur Aktivitätssteigerung durch Autophosphorylierung und durch eine überwiegende zytoplasmatische Lokalisation. Vor allem die zytoplasmatische Lokalisation exponiert das Fusionsprotein einem veränderten Spektrum an Substraten, wodurch BCR-ABL an zahlreichen Signaltransduktionskaskaden (STAT, RAS, JUN-Kinasen, MYC und PI3 K) beteiligt ist. Bei der Fusion bricht das ABL-Gen typischerweise innerhalb eines mehr als 300 kb langen Abschnittes entweder in Richtung des 5′-Ende jenseits des Exons 1b, zwischen den beiden Exons 1a und 1b, oder in Richtung des 3′-Endes von Exon 1a (⊡ Abb. 62.2). Innerhalb des BCR-Gens liegt der Bruchpunkt bei der CML meistens innerhalb der 5,8 kb langen so genannten »Major-breakpoint-cluster«-Region (M-bcr). Diese erstreckt sich über 5 Exons (Exons 12–15), die aus historischen Gründen mit b1–b5 bezeichnet werden. Bei der überwiegenden Zahl der Patienten finden sich in den CML-Zellen m-RNA-Transkripte mit dem b3a2- oder b2a2-Fusionsprodukt, die für das p210BCR-ABL-Hybridprotein kodieren. Je weiter der Bruchpunkt auf dem BCR-Gen in Richtung 5′-Ende verschoben ist, um so maligner scheint der resultierende Phänotyp zu sein. Bei 2/3 der Patienten mit Ph-positiver akuter lymphoblastischer Leukämie und in sehr seltenen Fällen von CML findet sich das e1a2-Fusionstranskript (»Minor-breakpoint-cluster«-Region, m-bcr), aus dem das p190BCR-ABL-Fusionsprotein resultiert. Das e19a2-Fusionstranskript (»Micro-breakpoint-cluster«-Region, µ-bcr) kodiert für ein 230 kD-Protein und wird bei der seltenen chronischen neutrophilen Leukämie gefunden, die meist mit einem protrahierten Verlauf assoziiert ist und bei Erwachsenen erst spät in eine Blastenkrise übergeht (Melo 1997). 62.5.3 Therapie Initiale Zytoreduktion und palliative Maßnahmen Hydroxyurea. Die Symptome der CML in CP sind durch Medikamente relativ gut zu beeinflussen, ohne dass dadurch eine Heilung erreicht wird. Einzige kurative Therapiemodalität ist die allogene Transplantation hämatopoetischer Stammzellen. Um die Tumorzellmasse zu reduzieren und die
können, hat sich auch die langfristige s.c. Injektion von Interferon-α (IFN-α) bewährt. Neben hämatologischen Remissionen sind bei einem Teil der Patienten auch zytogenetische Teilremissionen oder sogar komplette zytogenetische Remissionen (bei <5% aller Patienten) beschrieben. Patienten mit gutem zytogenetischen Ansprechen haben durch IFN-α einen Überlebensvorteil von mehren Jahren. Dabei ist nicht klar, ob dieser Effekt dem IFN-α zuzuschreiben ist, oder ob durch die Therapie eine Selektion von a priori besonders günstigen Verläufen stattfindet. Auch IFN-α wirkt nicht kurativ; bei zytogenetischen Respondern kommt es nach Beendigung der Injektionen zum Rezidiv der CML (Hochhaus et al. 2000). Die Verträglichkeit von IFN-α bezüglich des Auftretens von akuten Nebenwirkungen (grippeähnlichen Beschwerden) ist schlechter als von Hydroxyurea (Dow et al. 1991). Imatinib. Vorwiegend bei erwachsenen Patienten werden gegenwärtig Kombinationstherapien von IFN-α mit Hydroxyurea, niedrig dosiertem Cytosin-Arabinosid oder Busulfan in Studien erprobt. Für erwachsene Patienten wurde im Jahre 2001 ein selektiver Inhibitor der ABL-Tyrosinkinase einschließlich der Hybridproteine p210BCR-ABL und p190BCR-ABL zugelassen (Imatinib). Dieses oral applizierbare Medikament induziert bei einem deutlich höheren Anteil erwachsener Patienten hämatologische und zytogenetische Remissionen als IFN in Kombination mit Ara-C bei einer bislang deutlich geringeren Rate an Nebenwirkungen. Die Beobachtungszeiten von wenigen Jahren sind jedoch noch viel zu kurz, um Aussagen bezüglich des Langzeitüberlebens und Spätfolgen zu erlauben. Beachtenswert ist, dass selbst bei Patienten mit kompletten Remissionen BCR-ABL-Transkripte weiterhin nachweisbar bleiben und das Resistenzen gegenüber Imatinib bereits nach kurzer Therapiedauer auch in CP beobachtet wurden. Deshalb sind die Risiken einer Langzeittherapie gegenwärtig für pädiatrische Patienten nicht abschätzbar. Zukünftig bieten wahrscheinlich Kombinationen von Imatinib mit den bisherigen Standardmedikamenten (IFN, Hydroxyurea, Ara-C) einen weiteren palliativen Therapiefortschritt (Druker 2003). Mittels Imatinib kann auch in der BC der CML und bei der Ph-positiven ALL eine hämatologische Remission induziert werden. Aufgrund von Resistenzentwicklung dauert diese allerdings nur wenige Wochen bis Monate an (Druker et al. 2001; Kantarjian et al. 2002) ( Kap. 58 und 54).
Transplantation hämatopoetischer Stammzellen Gegenwärtig ist die einzige kurative Therapie der CML die Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen. Die autologe Transplantation spielt bei erwachsenen Patienten als Palliation in begrenzten Umfang eine Rolle; Kinder
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⊡ Tabelle 62.2. Wahrscheinlichkeiten für das Überleben, das Leukämie-freie Überleben (LFÜ) bzw. für ein Rezidiv bei pädiatrischen Patienten mit CML 3 Jahre nach Stammzelltransplantation (nach Roberts et al. 1998)
Status bei Transplantation
HLA-identischer Geschwisterspender (n=280; 64% <1 Jahr nach Diagnose transplantiert)
HLA-gleicher Fremdspender (n=123; 55% <1 Jahr nach Diagnose transplantiert)
Überleben (%)
Überleben (%)
LFÜ (%)
Rezidiv (%)
LFÜ (%)
Rezidiv (%)
1. CP
75
65
24
67
62
13
2. CP
52
46
–
55
46
–
AP
35
24
62
34
27
15
BC
49
21
62
–
–
–
sollten primär mit einer kurativ wirkenden Therapie behandelt werden (Klingebiel et al. 1990; Suttorp et al. 1996; Biggs et al. 1992). Die Ergebnisse hängen wesentlich vom Krankheitsstadium ab; sie sind besser, wenn in CP innerhalb eines Jahres nach Diagnosestellung die Transplantation erfolgt (⊡ Tabelle 62.2) (Clift et al. 1994; Gratwohl et al. 1993; Hansen et al. 1998). Im Vergleich zur Geschwisterspender-Transplantation ist die Mortalität bei der Fremdspender-Transplantation erhöht durch die häufigere akut oder chronisch verlaufende Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion (GVHD; Dini et al. 1996; Roberts et al. 1998). Dieser durch Spender-T-Lymphozyten ausgelöste immunologische Effekt ist aber auch verbunden mit der Elimination residueller Leukämiezellen (»Graft-versus-leukemia«-Effekt, GVL; Antin 1993). Insgesamt erleiden ca. 15–20% der Patienten mit CML ein Rezidiv nach Transplantation; diese sind in der Gruppe der Patienten mit GVHD jedoch viermal seltener als bei Patienten ohne GVHD (Arcese et. al. 1993; Goldman et al. 1988; Speiser et al. 1997). Molekulare Rezidive (positiver Nachweis des BCR-ABLRearrangements mittels PCR) sind von zytogenetischen Rezidiven (Nachweis der t(9,22) mittels konventioneller oder quantitativer FISH-Zytogenetik), von hämatologischen Rezidiven (pathologische Blutbildparameter) und klinischen Rezidiven (Krankheitssymptome) abzugrenzen. Erneute Remissionen können um so einfacher und erfolgreicher erreicht werden, je früher das Rezidiv bei noch geringer Tumorzellmasse diagnostiziert wird. In den ersten Monaten nach der Transplantation kann z. B. das Absetzen der immunsuppressiven Medikation und/oder eine (Wieder-)Aufnahme einer IFN-α-Therapie wirksam sein. Mit kurativer Intention kann eine Spenderlymphozyteninfusion eingesetzt werden (Kolb et al. 1990; Shlomchik u. Emerson 1996). Gut verträglich mit einer kompletten zytogenetischen Remissionsrate von ca. 75% ist die Infusion der Lymphozyten in Aliquots mit einem zeitlichen Abstand von 2–3 Monaten, wobei die Dosis nur bei kontrollierbarer GVHD schrittweise eskaliert wird (Dazzi et al. 2000). Bei hämatologischen oder gar klinischen Rezidiven ist zunächst eine erneute zytoreduktive Therapie notwendig. Falls daraus ein längerfristig stabiles Therapieansprechen resultiert, ist eine Retransplantation möglich, sofern der mit der Konditionierungstherapie verbundenen Toxizität Rechnung getragen wird.
Nach gegenwärtigem Kenntnisstand sind CMPE klonale Erkrankungen, die aus einer veränderten pluripotenten hämatopoetischen Stammzelle entstehen. Die CML lässt sich aufgrund des positven Ph-Chromosom-Nachweises zweifelsfrei von den übrigen 3 CMPE abtrennen. Zwar besteht Konsens, dass es sich bei den Ph-negativen CMPE um distinkte Entitäten handelt, es gibt aber auch zahlreiche dokumentierte Übergänge zwischen den einzelnen Formen im Verlauf der Erkrankung. Zukünftig können vielleicht molekulare Marker wie die erhöhte Expression des Thrombopoetinrezeptors bei der ET, der Nachweis von definierten Chromosomenaberrationen (+9/+9p) bei der PV und die erhöhte Freisetzung von Zytokinen (TGF-β) bei der IM hilfreich bei der Klassifikation und der Prognoseabschätzung sein. Ein genaues Verständnis der pathophysiologischen Abläufe ist Voraussetzung für eine kausale Therapie; der Einsatz von Imatinib bei der CML realisiert in diesem Sinne seit kurzem erstmals in der onkologischen Behandlung das Prinzip der Hemmung von Signaltransduktionskaskaden. Die Persistenz des molekularen BCR-ABL-Rearrangements unter der Imatinib-Behandlung lässt jedoch eine definitive Heilung der CML unwahrscheinlich erscheinen, so dass für pädiatrische Patienten weiterhin die Stammzelltransplantation die einzige kurative Option bleibt. Aufgrund der Seltenheit der CMPE im Alter unter 18 Jahren lassen sich nur im Rahmen prospektiver internationaler Studien epidemiologische Daten, ein besseres Verständnis für pathogenetische Zusammenhänge und v. a. therapeutische Verbesserungen generieren.
Literatur Altman AJ (2000) Chronic leukemias of childhood. In: Pizzo PA, Poplack DG (eds) Principles and practice of pediatric oncology, pp 591– 614. Lippincott-Raven, Philadelphia Antin JH (1993) Graft-versus-Leukemia: no longer an epiphenomenon. Blood 82:2273–2277 Arcese W, Goldman JM, D’Arcangelo E et al (1993) Outcome for patients who relapse after allogeneic bone marrow transplantation for chronic myeloid leukemia. Chronic Leukemia Working Party. European Bone Marrow Transplantation Group. Blood 82:3211– 3219
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
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731 62 · Chronische myeloproliferative Erkrankungen
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62
Non-Hodgkin-Lymphome A. Reiter, G. Mann, R. Parwaresch
IV
63.1 63.2 63.3 63.4 63.5 63.6
Einleitung – 732 Historischer Hintergrund – 732 Epidemiologie – 733 Ätiologie und Disposition – 733 Prävention und Früherkennung – 733 Biologie und Pathogenese – 735
63.6.1 63.6.2
Lymphopoese und Lymphomentstehung – 735 Zytogenetik und Molekulargenetik – 735
63.7
Pathologie und Klassifikation – 736
63.7.1 63.7.2 63.7.3
Vorläufer-Zell-lymphoblastische Lymphome – 736 Periphere B-Zell-NHL – 736 Periphere T-Zell-NHL – 738
63.8 63.9 63.10 63.11
Klinisches Erscheinungsbild – 739 Diagnostik – 739 Staging – 740 Differenzialdiagnose der Lymphadenopathie – 741 63.12 Therapie und Prognose – 742 63.12.1 63.12.2 63.12.3 63.12.4 63.12.5
Allgemeine Prinzipien – 742 Einteilung in strategische Therapiegruppen – 742 Therapie der lymphoblastischen Lymphome – 743 Therapie der peripheren B-Zell-Lymphome – 744 Therapie der großzellig-anaplastischen Lymphome – 747 63.12.6 Therapie seltener NHL-Subtypen – 747
63.13 Komplikationen der Erkrankung und der Behandlung – 748 63.14 Nachsorge – 748 63.15 Spätfolgen – 748 63.16 Rezidive – 748 Literatur – 749
In den 70er-Jahren hatten Riehm und Mitarbeiter in Berlin ein hoch effizientes Therapieprotokoll zur Behandlung von Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie entwickelt, das weltweit ein Standard der ALL-Therapie geworden ist. Ein kleiner Teil der Patienten fiel durch sehr frühe Rezidive während der Therapie auf. Diese Kinder hatten oft große Tumoren, meist im Abdomen. Nachfolgend erkannte man die »Leukämie« dieser Kinder als die generalisierte Form des Burkitt-Lymphoms. Diese auch als B-ALL bezeichnete Krankheit hatte eine so schlechte Prognose, dass sie in den 80erJahren vielfach als Indikation für die inzwischen etablierte allogene Knochenmarktransplantation angesehen wurde. In kontrollierten kooperativen Therapiestudien wurden alternative Strategien entwickelt, die dazu führten, dass heute über 80% der Patienten geheilt werden können. Alle Medikamente der heutigen erfolgreichen Protokolle waren
▼
schon in den 70er-Jahren verfügbar und wurden auch in der ALL-Therapie eingesetzt. Zur erfolgreichen Behandlung der fortgeschrittenen Burkitt-Lymphome und der B-ALL musste man lernen, sie in anderer Weise in der für diese Krankheit richtigen Art anzuwenden.
63.1
Einleitung
Die Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) des Kindes- und Jugendalters sind eine sehr heterogene Gruppe maligner Erkrankungen des lymphatischen Systems. Das Spektrum reicht von malignen Entartungen der Vorläufer-T- und -BZellen mit engem Bezug zu den akuten lymphoblastischen Leukämien bis zu Neoplasmen weit ausdifferenzierter Lymphozyten. Es weicht erheblich von der Verteilung der NHL-Subtypen des Erwachsenenalters ab. In Deutschland sind die NHL mit einem Anteil von 6,5% die vierthäufigste maligne Erkrankung des Kindesalters (Kaatsch u. Spix 2002). Die klinischen Erscheinungsformen sind außerordentlich vielfältig. Mit modernen, nach biologischen Entitäten stratifizierten Behandlungskonzepten wurde inzwischen eine Überlebenswahrscheinlichkeit von über 80% erreicht. 63.2
Historischer Hintergrund
Die ersten Beschreibungen von Lymphknotenschwellungen als Krankheit stammen von Thomas Hodgkin aus dem 19. Jahrhundert. Virchow prägte den Terminus Lymphom als generelle Bezeichnung für Lymphknotenschwellungen. Die Beschreibung der Hodgkin-Zellen durch Reed leitete die Zweiteilung in Hodgkin und Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) ein. Während die Hodgkin-Reed-Sternberg-Zellen das Hodgkin-Lymphom als uniforme Entität definierten, wies die Komplementärgruppe der NHL eine enorme morphologische und klinische Heterogenität auf. Infolgedessen war und ist die Klassifikation der NHL Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion bis heute. Das Wachstumsmuster (diffus versus nodulär) und die Zytologie (undifferenziert versus differenziert) waren die Kernkriterien der Rappaport-Klassifikation (Rappaport 1966). Die Lukes-Collins-Klassifikation basierte erstmals auf der Dichotomie des lymphozytären Systems in T- und BLymphozyten (Lukes u. Collins 1975). In der Kiel-Klassifikation wurde erstmals versucht, die Erkenntnisse zur Organisation des lymphatischen Systems in ein Ordnungsprinzip der NHL umzusetzen, indem die Lymphomzellen morphologisch und immunphänotypisch in Bezug zu den Zellkategorien des Immunsystems gesetzt wurden (Gerard-
733 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
Marchand et al. 1974; Lennert u. Feller 1992). Die Weiterführung des Prinzips der Kiel-Klassifikation mündete in die Revised European-American Classification of Lymphoid Neoplasms (Harris et al. 1994), die ihrerseits Eingang in die WHO-Classification of Neoplastic Diseases of the Hematopoetic and Lymphoid Tissues fand (WHO 2001). Die REAL-Klassifikation präzisiert die Unterteilung der NHL nach den Abschnitten der Ontogenese der Lymphozyten. Neoplasien der Vorläufer-B- und -T-Zellen des antigenunabhängigen Differenzierungskompartiments werden als lymphoblastische Lymphome den Neoplasmen der reifen B- und T-Zellen des antigenabhängigen Differenzierungskompartiments gegenübergestellt. Aus der Anwendung immunologischer und molekularbiologischer Methoden resultierte nicht nur eine immer genauere Klassifizierung biologischer Subtypen, sondern auch die Identifizierung von NHL-Entitäten, die zuvor als nicht-lymphatische Malignome angesehen wurden, z. B. die Abgrenzung der großzelliganaplastischen Lymphome von der malignen Histiozytose (Stein et al. 1985; Bucsky et al. 1989). Fast die Hälfte der NHL des Kindesalters sind BurkittLymphome, die bei Erwachsenen selten sind. Dennis Burkitt beschrieb 1958 ein »sarcoma involving the jaw in African children«, das wenig später von O’Connor als Lymphom erkannt wurde. Burkitt erkannte auch die endemische Natur der Erkrankung (Burkitt 1970), die durch die Isolierung des Epstein-Barr-Virus aus Lymphomzellen untermauert wurde (Epstein et al. 1964). Ein Großteil der bei Kindern in Nordamerika und Europa vorkommenden NHL waren morphologisch identisch mit dem Burkitt-Lymphom. Da sie keine geographische Begrenzung und in der Mehrzahl auch keine Assoziation mit der EBV-Infektion aufwiesen, wurden sie als sporadische Burkitt-Lymphome dem endemischen Burkitt-Lymphom Zentralafrikas gegenübergestellt. Ohne Chemotherapie hatten auch Patienten mit lokalisierten Lymphomen nach chirurgischer Resektion und lokaler Bestrahlung nur eine geringe Überlebenschance und verstarben meist am systemischen Rezidiv. Die Ära der Chemotherapie der NHL begann in Afrika, wo Dennis Burkitt mit Cyclophosphamid langfristige Remissionen bei Kindern mit Burkitt-Lymphom erzielte (Burkitt 1967). Der therapeutische Durchbruch kam mit der Einführung der Kombinationschemotherapie, Cyclophosphamid kombiniert mit Vincristin, Methotrexat und Prednison (COMP; Ziegler 1977), dem LSA2-L2-Protokoll (Wollner et al. 1976) und dem Berliner Induktionsprotokoll I von Riehm (Riehm et al. 1976; MüllerWeihrich et al. 1982). Die nächste entscheidende Wegmarke der Therapieentwicklung war die Erkenntnis, dass die Behandlung von lymphoblastischen bzw. nichtlymphoblastischen Lymphomen unterschiedliche Therapiestrategien erfordert (Anderson et al. 1983; Müller-Weihrich et al. 1982, 1984). 63.3
Epidemiologie
In Deutschland liegt die Inzidenz der NHL des Kindesalters bei 0,8 pro 100.000 Kinder unter 15 Jahren pro Jahr und zeigt in der zurückliegenden Dekade keine signifikante Änderung. Das mediane Erkrankungsalter ist 9,25 Jahre. Vor dem dritten
Lebensjahr sind NHL selten. Ab dem 4. Lebensjahr ist die Inzidenz gleichbleibend ohne ausgeprägten Altersgipfel (Kaatsch u. Spix 2002). Das Geschlechtsverhältnis weiblich : männlich ist 1:2; es variiert stark nach Subentitäten (⊡ Tabelle 63.1). 63.4
Ätiologie und Disposition
Die Ätiologie der im Kindesalter auftretenden NHL ist ungeklärt. Ionisierende Strahlen oder mutagene Chemikalien scheinen bei Kindern und Jugendlichen eine untergeordnete Rolle zu spielen (Preston et al. 1994; Hardell et al. 2001; Meinert et al. 2000). Bei der Mehrzahl der NHL des Kindesalters sind die Genloci der schweren bzw. der leichten Immunglobulinketten in typspezifischen chromosomalen Translokationen involviert. An diesen Genloci finden die genetischen Schlüsselvorgänge der Generierung einer spezifischen Immunantwort statt, Rekombination von Gensegmenten, Subklassenwechsel der schweren Ketten und Hypermutationen der variablen Regionen ( Abschn. 63.6). Ob die im Kindesalter gehäuften Infektionen über diese Vorgänge eine erhöhte genetische Vulnerabilität dieser Genabschnitte für pathogenetisch wirksame chromosomale Translokationen herstellen, bleibt vorerst hypothetisch. Eine direkte ätiologische Beziehung ist bisher nur zwischen der Epstein-Barr-Virus (EBV)-Infektion und dem endemischen Burkitt-Lymphom Zentralafrikas beschrieben, ohne dass die pathogenetische Rolle des EBV definitiv geklärt wäre (Burkitt 1970; Epstein et al 1964; De-Thé 1985; Ruf 1999). In Mitteleuropa weisen dagegen nur 11% der kindlichen Burkitt-Lymphome EBV-RNA in den Lymphomzellen auf (Karajannis et al. 2002). Andere infektiöse Agenzien, die mit einem erhöhten Lymphomrisiko einhergehen sind HHV8 (»primary effusion lymphoma«, Castleman-Erkrankung), Hepatitis-CVirus und Helicobacter pylori (MALT-Lymphome; Waters et al. 2005). ! Nur bei einem kleinen Teil der Patienten liegt eine erkennbare Disposition vor. Dies sind angeborene Immundefekte und Chromosomenbruchsyndrome (ca. 2% der NHL-Patienten; Seidemann et al. 1999; Kap. 42) sowie erworbene Immundefekte (HIV) und Immunsuppression nach allogenen Transplantationen ( Kap. 65).
63.5
Prävention und Früherkennung
In Unkenntnis der Ätiologie ist eine Prävention nicht möglich. Bei Patienten mit konstitutioneller oder iatrogener Prädisposition ist jedoch durch die Betreuung an einem spezialisierten Zentrum eine Früherkennung möglich und auch hilfreich, da die Prognose mit dem Ausbreitungsstadium sinkt. Das Risiko einer lymphoproliferativen Erkrankung nach Transplantation kann durch regelmäßige Quantifizierung der EBV-Last eingeschätzt und eventuell durch frühzeitige Intervention gemindert werden ( Kap. 65).
63
734
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 63.1. WHO Klassifikation der malignen Lymphome (WHO 2001), Häufigkeit im Kindes- und Jugendalter, Erkrankungsalter und Geschlechtsverhältnis
Diagnosen
% Patienten*
Medianes Erkrankungsalter* (Jahre)
w:m*
Vorläuferzell-Lymphome (lymphoblastische Lymphome)
IV
Vorläufer-B-Zell-lymphoblastisches Lymphom
7
9,8
1,4:1
Vorläufer-T-Zell-lymphoblastisches Lymphom
14
8,1
1:1,8
Periphere B-Zell-NHL B-CLL
0
Lymphoplasmozytisches Lymphom
0
Mantelzell-Lymphom
0
Follikuläres B-Zell-Lymphom
0
Marginalzonen Lymphom MALT-Lymphom Haarzellenleukämie Plasmozytisches Myelom Burkitt-Lymphom/»Burkitt-like«-Lymphom Akute B-Zell-Leukämie Diffus großzellige B-Zell-NHL Zentroblastisch Immunoblastisch T-Zell-Histiozyten-reiches B-Zell-Lymphom Anaplastisches B-Zell-Lymphom Primär mediastinales (thymisches) großzelliges B-Zell-Lymphom
0 Einzelfälle 0 0 34
8,2
1:4,4
9
9,5
1:3,4
11,9 13,9 11,3
1:1,9 1:2,5 1:3,5
14,8
2:1
7,0
1:2
10 1 1 Einzelfälle 2
Periphere T-Zell-NHL T-CLL/T-PLL T-Zell-großgranuläre Leukämie Aggressive NK-Zell-Leukämie
0 0 Einzelfälle
Mykosis fungoides/Sezary
0
Subkutanes, Pannikulitis-ähnliches peripheres T-Zell-NHL
0
Hepatosplenisches γδ-T-Zell-Lymphom Angioimmunoblastisches T-Zell-Lymphom Extranodales NK/T-Zell-Lymphom, nasal
Einzelfälle 0 Einzelfälle
Enteropathie Typ T-Zell-Lymphom
0
Peripheres T-Zell-Lymphom, nws, entsprechend in Kiel-Klassifikation: Pleomorphes T-Zell-Lymphom, kleinzellig, mittelund großzellig Großzellig-anaplastisches Lymphom − Primär systemisch − Primär kutanes CD30+
1
13 Einzelfälle
Primär kutanes CD30+-T-Zell-Lymphom
Einzelfälle
Andere
11,6
1:1,5
8
* Daten der kooperativen multizentrischen Therapiestudie NHL-BFM 95, N=793 Patienten, rekrutiert von April 1996 bis März 2001. nws nicht weiter spezifiziert; MALT »mucosa associated lymphoid tissue«; CLL chronische lymphatische Leukämie; PLL Prolymphozytenleukämie.
735 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
63.6
Biologie und Pathogenese
63.6.1 Lymphopoese und Lymphomentstehung Das lymphatische System dient einer plastischen Abwehr zur Erhaltung der Integrität des Individuums. Das Knochenmark wird als ein zentrales oder primäres lymphatisches Organ für die B-Zelldifferenzierung, der Thymus als das primäre lymphatische Organ der T-Zelldifferenzierung angesehen. Im Knochenmark vollzieht sich die antigenunabhängige Differenzierung der B-Lymphozyten aus den hämopoetischen Stammzellen unter apoptotischen Ausschluss autoreaktiver Zellen (Osawa et al. 1996). Im Thymus wird die Differenzierung der Progenitoren der T-Zellreihe geregelt und die autoreaktiven Zellen in die Apoptose getrieben. Bei der organspezifischen Verteilung (»homing«) der Lymphozytensubpopulationen in den peripheren lymphatischen Organen wie Lymphknoten, Milz und Mukosa-assoziiertem lymphatischen Gewebe (MALT) spielen die Adhäsionsmoleküle auf den Endothelien, besonders auf den hohen Endothelien der postkapillären Venolen in der T-Zone der peripheren lymphatischen Organe, eine entscheidende Rolle. In den peripheren lymphatischen Organen werden die antigenspezifischen Abwehrvorgänge durch die Effektorlymphozyten ausgeführt. ! Am Beispiel der NHL des Kindesalters wird deutlich, dass das lymphatische System häufig während der Entwicklung der Vorläuferzellen und während der Keimzentrumsreaktion der B-Zellen neoplastisch entgleist. Offensichtlich bergen diese Entwicklungsphasen besonders hohe onkogene Risiken.
Im Knochenmark vollziehen sich wichtige Schritte der somatischen Umlagerung der Immunglobulingene der B-Zellen. Dabei wird aus zahlreichen Optionen für die Gensegmente V, D, J und C jeweils eine einzige gewählt und für die Umlagerung herangezogen. Während der Thymuspassage der T-Zellen geht die Rekombination der T-Zell-Rezeptorgene mit Einbau von zufälligen Nukleotidsequenzen einher. Der Umlagerungsvorgang und das nachfolgende »editing« gehen parallel mit der Aktivierung von Mastergenen zum B- und T-LinienCommitment wie Pax5 und Notch1 einher. Diese aktivieren ihrerseits viele andere Gene. Die gleichzeitige Aktivierung von Umlagerungsgenen wie RAG1 und 2 zur Expression der terminalen Nukleotidtransferase bei einem hoch aktiven Zellzyklus und einer ebenso hohen Proliferationsaktivität stellt eine seltene Situation für das sonst gut geschützte Genom dar. Hierauf wird die besondere Häufung von Mutationen und von Translokationen in Vorläuferzell-Lymphomen und Leukämien zurückgeführt. Diese Deutung wird gestützt von der Tatsache, dass Neoplasien der Vorläufer-Bund -T-Zellen, die akute lymphoblastische Leukämie (ALL) und lymphoblastischen Lymphome (LBL), zusammen mit ca. 30% (28% + 2%) die weitaus häufigsten Malignome des Kindesalters darstellen. Ob ALL und LBL biologisch gleiche Neoplasien sind, die sich lediglich dadurch unterscheiden, dass die LBL primär außerhalb des Knochenmarks entstehen, während die ALL primär meist im Knochenmark entsteht, bleibt vorerst offen. Eine ähnlich große Vulnerabilität für das Genom der lymphatischen Zellen, insbesondere der B-Zellen liegt wäh-
rend ihrer Keimzentrumspassage vor. Auch hier muss die DNA Enzymen wie »activation induced cytidine deaminase (AID) für Klassenswitch, somatische Hypermutation, »editing« und Telomerelongation zugängig gemacht werden. Die verlängerten Telomere gestatten eine maximale Aktivierung des Zellzyklus und der Proliferation. Sowohl die Differenzierung der Lymphoblasten als auch die der Keimzentrumszellen gleichen einer Gratwanderung zwischen der Lizenzierung zum Überleben und zur Proliferation und dem Zelltod durch die Apoptose. Während die hoch-proliferierenden (hoch-malignen, aggressiven) Lymphoproliferationen meist Defekte in den regulativen Mechanismen der Proliferationskontrolle wie Bcl6 oder Myc aufweisen, zeigen die niedrigproliferierenden (niedrig-malignen, indolenten) Lymphome Aberrationen in dem Apoptose-Schenkel dieses Gleichgewichts. Entsprechend stellen Neoplasien der Keimzentrumszellen – Burkitt-Lymphom, zentroblastische oder immunoblastische Lymphome, T-Zell-reiches B-Zell-Lymphom und großzellige, anaplastische B-Zell-Lymphome – mit einem Anteil von über 60% mit Abstand die größte Gruppe der NHL des Kindesalters dar ( Kap. 57). Während die meisten Stationen der antigenabhängigen B-Zelldifferenzierung in den peripheren lymphatischen Geweben gut erforscht sind, ist das Wissen über den funktionellen Differenzierungsduktus der T-Lymphozyten jenseits der antigenunabhängigen Differenzierung während der Thymuspassage noch sehr lückenhaft. Entsprechend unvollständig sind die Erkenntnisse zu den peripheren T-Zellneoplasien. Im Kindesalter sind die großzellig-anaplastischen Lymphome vom T-Zelltyp die weitaus häufigsten Malignome dieses Kompartiments. Eine biologisch interessante, aber bisher unerklärte Beobachtung ist die starke Knabenwendigkeit fast aller NHL des Kindes und Jugendalters ( Tabelle 63.1). 63.6.2 Zytogenetik und Molekulargenetik ! Bei den meisten NHL-Subtypen des Kindesalters können spezifische chromosomale Translokationen in den Lymphomzellen nachgewiesen werden (⊡ Tabelle 63.2).
Beim Burkitt-Lymphom wurden 3 spezifische chromosomale Translokationen identifiziert. Dabei ist stets das Proto-Onkogen c-myc auf Chromosom 8 involviert. Auf dem zweiten beteiligten Chromosom sind jeweils Immunglobulingene – entweder im Genabschnitt der schweren Kette der Immunglobuline (IgH) auf Chromosom 14 oder im Immunglobulinleichtketten-Gen auf Chromosom 2 (κ) bzw. Chromosom 22 (λ) – betroffen. Das Resultat der Translokation ist jeweils die Juxtaposition des Proto-Onkogens c-myc zu einem Immunglobulingen. Die Folge ist möglicherweise die Dysregulation der Expression von c-myc, dessen Proteinprodukt ein Transkriptionsfaktor für Gene ist, die in die Steuerung des Zellzyklus involviert sind (Lindstrom et al. 2002). Ein analoges Prinzip ist bei den lymphoblastischen T-Zell-Lymphomen erkennbar. Auf einem in die Translokation involvierten Chromosom sind entweder die Genabschnitte der αδ-Kette des T-Zellrezeptor-Komplexes (TCRαδ)
63
736
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
auf Chromosom 14q11 oder die Genabschnitte der β-Kette des T-Zellrezeptor-Komplexes (TCRβ) auf Chromosom 7q35 betroffen. Auf dem zweiten Chromosom ist jeweils ein ProtoOnkogen involviert, das in den meisten Fällen ebenfalls Transkriptionsfaktoren kodiert (Übersicht: Kirsch 1997). Bei lymphoblastischen T-Zell-Lymphomen werden auch Chromosomentranslokationen beobachtet, in deren Folge ein Fusionsgen entsteht mit Bildung eines chimären Genproduktes. Bei den großzellig-anaplastischen Lymphomen wurden inzwischen mehrere Translokationen dieser Kategorie identifiziert (Tabelle 63.2). Allen gemeinsam ist die Beteiligung des ALK-Gens auf Chromosom 2p23. ALK ist ein transmembranöses Glykoprotein und gehört zur Insulinrezeptorfamilie mit Tyrosinkinase-Aktivität und ist physiologisch nur an Zellen des Nervensystems exprimiert. Fast alle chimären Genprodukte haben als gemeinsame Eigenschaft eine hohe Homo-Oligodimerisierungpotenz. Die Fusionsproteine liegen infolgedessen als Homo-Di/Oligomere vor. Für das NPM-ALK-Fusionsprotein ist die transformierende Wirkung in vitro belegt (Review: Stein et al. 2000; Kutok u. Aster 2002). 63.7
Pathologie und Klassifikation
Mit der Ableitung der Lymphomentitäten von der bimodalen Entwicklung der Lymphozyten, setzt die Kieler Klassifikation (Stansfeld et al. 1988) die erste wissenschaftliche Grundstruktur für die Definition und Abgrenzung der bekannten und noch zu beschreibenden Entitäten. Auch die aktuelle WHO-Klassifikation (WHO 2001) folgt dieser Grundstruktur und trennt die Lymphome entsprechend der bimodalen Differenzierung der Lymphozyten in B- und T-Phänotypen. Definition Alle Neoplasien mit dem Phänotyp der Vorläuferzellen des antigenunabhängigen Differenzierungskompartiments werden als Vorläufer-B- oder T-Lymphoblastische Lymphome bezeichnet. Von den lymphoblastischen Vorläuferzelllymphomen werden alle anderen malignen Lymphoproliferationen als nichtlymphoblastische periphere T- und B-Zell-Lymphome abgegrenzt.
Die im Kindes- und Jugendalter vorherrschenden NHL sind die lymphoblastischen Lymphome, die Burkitt-Lymphomgruppe, die diffusen, großzelligen B-Zell-Lymphome und die großzellig-anaplastischen Lymphome ( Tabelle 63.1). Die übrigen Subtypen peripherer NHL kommen in Kindesalter nur sehr selten oder überhaupt nicht vor.
tur auf. Nukleolen sind variabel und meist klein. In größeren Blasten können sie prominent sein. Mitosen sind in T-LBL häufiger als in Vorläufer-B-LBL. In T-LBL sind die Infiltrate gelegentlich besonders dicht und mit apoptotischen Zellen übersät, so dass ein Sternhimmelaspekt wie bei einem Burkitt-Lymphom vorgetäuscht werden kann. Immunphänotyp der Vorläufer-B-LBL. Die meisten exprimieren Pax5, TdT, cCD79a und CD19. Die frühen Vorläufer Formen (pro-B-LBL/ALL ) sind durch Pax5, TdT, cCD79a, cCD22, und CD19 definiert. Eine intermediäre Variante (präB-LBL/ALL), auch als Common-ALL bekannt, ist durch die zusätzliche Expression von CD10 gekennzeichnet. Die reifste Form (prä-B-LBL/ALL) zeigt eine zytoplasmatische (c) Expression für das Immunglobulin(Ig) µ. Die nächste Differenzierungsstufe umfasst die unreifen naiven B-Zellen. Diese zeigen eine Oberflächenexpression für IgM, jedoch eine lymphoblastische Zytomorphologie (FAB L1, L2). Immunphänotyp der Vorläufer-T-LBL. Die präthymischen
pro-T-LBL exprimieren Notch1, TdT, cCD3 und CD7. T-LBL vom Thymuskortex-Phänotyp sind positiv für Notch1, TdT, sCD3, CD4, CD5, CD8 und CD1a. T-LBL vom ThymusmarkPhänotyp weisen Notch1, sCD3, CD4 (Helfer-, SuppressorT-Zellen) oder CD8 (Killer-, zytotoxische T-Zellen) auf. Koexpression von myelomonozytären Antigenen kommen bei Vorläufer-Zell-lymphoblastischen Lymphomen vor. Genetik. Vorläufer-B-LBL zeigen eine klonale Umlagerung
der Ig-Gene und häufig gleichzeitig eine klonale Umlagerung der Gammakette des TCR-Gens als ein nicht-funktionales Rearrangement. Die T-LBL zeigen in der Regel ein Rearrangement der TCR-Gene. Etwa 35% der T-LBL zeigen chromosomale Translokationen der TCR-Ketten-Loci ( Tabelle 63.2). Differenzialdiagnose. So genannte klein-rund-blauzellige
Tumoren (Neuroblastom, Ewing-Sarkomfamilie, Rhabdomyosarkom) sind differenzialdiagnostisch abzugrenzen. Morphologisch und immunhistochemisch gelingt die Trennung nicht immer. Hilfreich kann eine molekulargenetische Analyse der klonalen Umlagerung der Ig-Gene sein. 63.7.2 Periphere B-Zell-NHL In der pädiatrischen Onkologie spielen nur die Burkitt-Lymphome und die diffus großzelligen B-Zell-Lymphome eine wichtige Rolle. Burkitt-Lymphom
63.7.1 Vorläufer-Zell-lymphoblastische
Lymphome Zytomorphologie/Histopathologie. Die Zytomorphologie entspricht FAB L1 oder L2. Es handelt sich um rundliche, mittelgroße Blasten mit knapp entwickeltem, schwach basophilem und strukturarmem Zytoplasma, das selten Vakuolen oder plumpe azurophile Granula besitzen kann. Das Chromatin weist eine fein disperse bis deutlich verdichtete Struk-
! Das Burkitt-Lymphom ist die aggressivste Form aller lymphoproliferativen Erkrankungen. Es tritt als ein extranodaler oder nodaler Tumor oder in leukämischer Form auf.
Die WHO unterscheidet derzeit 3 Formen: ▬ das endemische Burkitt-Lymphom, ▬ das sporadische Burkitt-Lymphom und ▬ das HIV-assoziierte Burkitt-Lymphom.
737 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
⊡ Tabelle 63.2. Spezifische Chromosomentranslokation bei den häufigsten NHL-Subtypen des Kindesalters (nach Kirsch 1997; Kutok 2002; Lindstrom 2002)
NHL-Subtyp
Translokation
Beteiligte Gene
Beteiligtes Proto-Onkogen
Resultat der Translokation
Burkitt-Lymphom
t(8;14)(q24;q32) t(2;8)(p11;q24) t(8;22)(q24;q11)
IgH Igκ Igλ
c-myc c-myc c-myc
Dysregulation der Expression des ProtoOnkogens c-myc infolge Juxtaposition zu einem Immunglobulingen
Lymphoblastische T-Zell-Lymphome
t(1;14)(p32;q11) t(11;14)(p13;q11) t(11;14)(p15;q11) t(10;14)(q24;q11) t(8;14)(q24;q11) t(7;19)(q35;p13) t(1;7)(p34;q34)
TCRαδ TCRαδ TCRαδ TCRαδ TCRαδ TCRβ TCRβ
TAL1 RHOM2 RHOM1 HOX11 c-myc LYL1 LCK
Dysregulation der Expression eines ProtoOnkogens infolge Juxtaposition zu einem T-Zellrezeptor-Gen
Großzelliganaplastische Lymphome
t(2;5)(p23;q35) t(1;2)(q21;p23) t(2;3)(p23;q21) t(2;17)(p23;q23) t(2;X)(p23;q11)
ALK TPM3 ALK ALK ALK
NPM ALK TFG CLTC MSN
Genfusion → chimäres Proteinprodukt Genfusion ALK von 2p23 mit Partnergenen, deren Produkte als gemeinsame Eigenschaft hohe Homo-Oligomerisierungspotenz haben. Fusionsproteine: C-terminalen 563 AS von ALK (intrazelluläre Domäne), N-terminale HomoOligomerisierungsdomäne der Partnergenprodukte, konstitutive Tyrosinkinaseaktivität, Transformationsaktivität in vitro
TCR T-Zellrezeptor; Ig Immunglobulin; TAL1 »T-cell acute lymphocytic leukemia 1«; RHOM1 Rhombotin 1; RHOM2 Rhombotin 2; HOX11 Homeo Box 11; LYL1 »leukemia lymphoid 1«; LCK »lymphocyte-specific protein-tyrosine kinase«; ALK »anaplastic lymphoma kinase«; NPM Nukleophosmin; TPM3 Tropomyosin 3; TFG »TRK-fused gene«; CLTC »clathrin heavy polypeptide« MSN Moesin; AS Aminosäure(n).
Allen gemeinsam ist die typische Zytologie und Histologie sowie eine gemeinsame biologische Endstrecke mit Translokation (t(8;14), t(8;22) oder t(2;8)) und nachfolgender Deregulation des c-myc-Gens. Epidemiologie. Das Burkitt-Lymphom wurde erstmals in
Äquatorialafrika bei 4- bis 7-jährigen Kindern, überwiegend Knaben, als ein endemisches Lymphom beschrieben. Die endemische Form ist zu 100% mit dem Epstein-Barr-Virus assoziiert (Burkitt 1970). Die sporadisch vorkommende Form des Burkitt-Lymphoms ist das häufigste Non-HodgkinLymphom im Kindesalter (30–50% aller NHL). Auch diese Form ist 2- bis 3-mal häufiger bei Knaben, tritt überwiegend im mittleren Kindesalters auf und ist nur zu 10% mit dem EBV assoziiert (Karajannis et al. 2002).
Zahlreiche Aufhellungen durch apoptotische Zellen und phagozytotische Makrophagen lassen das Bild des Sternhimmels entstehen. Das Zytoplasma ist basophil und enthält häufig Lipidvakuolen. Zahlreiche Mitosen und Apoptosen kommen vor, seltener zeigt ein Burkitt-Lymphom eine plasmozytoide Differenzierung. Von einem atypischen Burkittoder Burkitt-ähnlichen Lymphom spricht die WHO-Klassifikation, wenn die mittelgroßen Blasten eine gewisse Pleomorphie aufweisen. Der Begriff »atypisches BurkittLymphom« oder »Burkitt-ähnliche Lymphom-Variante« sollte eigentlich nur beim Nachweis einer Translokation t(8;14) diagnostiziert werden. Diese Formen werden als Variante des Burkitt-Lymphoms verstanden, bilden jedoch keine eigene Entität. Immunphänotyp. Die typischen B-Zellmerkmale wie mono-
Klinik. Klinisch handelt es sich meist um abdominale oder
tonsilläre Tumoren. Ein Teil der sporadischen Burkitt-Lymphome zeigt einen primär leukämischen Verlauf (reife BALL, FAB-L3-ALL). Seit dem Beginn der HIV-Epidemie spielt das HIV-assoziierte Burkitt-Lymphom zunehmend eine Rolle, ist jedoch eher bei Adoleszenten und Erwachsenen zu beobachten. Diese Variante ist zu 30% EBV assoziiert und zeigt ein meist variables histologisches Bild (atypische Burkitt-Lymphome oder »Burkitt-like«). Eine Beteiligung des Zentralnervensystems ist bei allen 3 Varianten möglich. Zytomorphologie/Histopathologie. Das charakteristische
Bild wird durch kohärente, dicht gelagerte, mittelgroße Blasten bedingt. Das Wachstum ist monoton und diffus.
klonales IgM mit Leichtkettenrestriktion, CD19, CD20, CD22 und CD79a werden bei allen Fällen beobachtet. Typischer Weise wird CD10 und Bcl-6 exprimiert, was auf eine Keimzentrumsherkunft hinweist. In diesem Sinne ist auch die Negativität für Bcl2 zu interpretieren. CD5 und CD23 sowie TdT sind negativ. Die Proliferationsaktivität beläuft sich fast immer auf über 90%. CD21 wird bei den endemischen Formen zuweilen beobachtet. Großzellig-diffuse B-Non-Hodgkin-Lymphome Es handelt sich um diffuse Proliferationen von großen neoplastischen B-Zellen. In Anlehnung an die Kiel-Klassifikation unterscheidet die WHO verschiedene histologische Varianten. Mit Abstand am häufigsten im Kindesalter ist die zentroblastische Variante.
63
738
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Zentroblastische B-Zell-Lymphome. Zytologisch bestehen sie aus Zentroblasten mit nur wenigen Immunoblasten. Die Zentroblasten besitzen rundlich ovale Kerne mit grobem und randständigem Chromatin. Das Zytoplasma ist mittelbreit und nur schwach basophil.
IV
Immunoblastische B-Zell-Lymphome. Bei dieser Variante machen die Immunoblasten-ähnlichen Zellen über 90% der Tumorzellen aus. Die Immunoblasten besitzen einen ovalären Kern mit hellem Chromatin, zentralem und prominentem Nukleolus. Das Zytoplasma ist kräftig basophil und breit. Anaplastische B-Zell-Lymphome (Ki1-Lymphome vom B-Typ). Diese Variante besteht aus polymorphen Hodgkin-
Sternberg-Reed-ähnlichen Zellen mit großen Kernen. Diese enthalten besonders große Nukleolen. Meist exprimieren sie CD30. T-Zell- oder histiozytenreiche B-Zell-Lymphome. Die eigentlichen Tumorzellen machen nur etwa 10% der Infiltratzellen aus. Meist ähneln sie den Immunoblasten, Zentroblasten, klassischen Hodgkin-Zellen oder L- und H-Zellen des lymphozytenreichen Hodgkin-Lymphoms. Im Vordergrund jedoch stehen die reaktiven T-Zellen und Histiozyten oder Epitheloidzellen.Wegen dieser ausgeprägten reaktiven Tumorkomponente ist eine Fehlinterpretation als eine reaktive Läsion häufig.
Primär mediastinale B-Zell-Lymphome Diese Entität ist im Wesentlichen durch seine primäre Lokalisation im Mediastinum charakterisiert. Wahrscheinlich leitet sich dieser Tumor von thymischen B-Zellen ab. Histologisch handelt es sich um große, oft pleomorphe B-Blasten mit hellem Zytoplasma. Meist findet sich eine ausgeprägte Sklerose, die im Extremfall die eigentlichen Tumorzellen in den Hintergrund drängen kann. Diese Sklerose ist lokalisationsbedingt und nicht obligat. Eine schwache CD30-Expression kann differenzialdiagnostische Schwierigkeiten zum Morbus Hodgkin bereiten. Immunphänotyp. Die diffusen großzelligen B-Zell-Lym-
phome exprimieren die Antigene Pax5, CD79a und CD20. Alle anderen Antigenexpressionen sind unregelmäßig. Als Zeichen ihrer Abkunft von Keimzentrumszellen sind manche positiv für CD10 und Bcl6. Anaplastische B-Zell-Lymphome exprimieren CD30. 63.7.3 Periphere T-Zell-NHL Großzellig-anaplastische Lymphome
Definition Diese Entität ist eine in sich sehr heterogene Gruppe von Lymphomen (Stein et al. 1985). Gemeinsam ist ihnen die Expression des Ki1-Antigens, das später als CD30 klassifiziert wurde, und das diffuse Wachstumsmuster, oft unter Einbeziehung der Lymphknotensinus.
Die Mehrzahl der Blasten stellen große pleomorphe Zellen mit anaplastischen Kernen dar, die zum Teil an Hodgkinund Sternberg-Reed-Zellen erinnern. Die Entdeckung von immer mehr chromosomalen Translokationen mit Beteiligung vom ALK-Gen auf Chromosom 2p23 ( Abschnitt 63.6 und Tabelle 63.2) führte zu der Erkenntnis, dass diese Entität morphologisch eine außerordentliche Vielfalt aufweist, die zum einen die Zytologie, zum anderen die anteilmäßige Zusammensetzung von Tumorzellen und Begleitzellen betrifft. Die wichtigsten morphologischen Varianten sind der »Common«-Typ, der kleinzellig monomorphe Typ und die lymphohistiozytische Variante, bei der die Beimengung von Lymphozyten und Histiozyten besonders ausgeprägt ist. In manchen Fällen sind die Tumorzellen nur locker verteilt. Besteht gleichzeitig eine Fibrosklerose, wird die Variante als Hodgkin-ähnliches großzellig-anaplastisches Lymphom bezeichnet. Weitere sehr seltene Varianten sind der sarkomatoide sowie der monomorph kleinzellige Typ. Häufig können mehrere verschiedene histologische Subtypen in einem Tumor und/oder in verschiedenen Tumorlokalisationen nachgewiesen werden. Auch ist ein Wechsel des histologischen Subtyps bei Tumorrezidiven möglich. Immunphänotyp. Neben dem gemeinsamen Merkmal CD30
wird meist auch das epitheliale Membranantigen (EMA) exprimiert. Die meisten großzellig-anaplastischen Lymphome zeigen eine Umlagerung der T-Zellrezeptor-Gene γ oder β. Als T-Zellmerkmale werden in einem Teil der Fälle CD3, CD4, CD5, CD2, und CD7, in aller Regel jedoch CD43 sowie die zytotoxischen Moleküle Perforin, Granzym-B oder TIA-1 beobachtet. Die Expression von CD56 ist selten. Die B-Zellmerkmale fehlen. In den meisten kindlichen Fällen ist das ALK-Protein positiv ( Abschn. 63.6 und Tabelle 63.2). Dabei kann den unterschiedlichen Translokationen ein spezifisches nukleäres oder zytoplasmatisches ALK-Färbemuster zugeordnet werden. Das ALK-Protein wird aber auch als Ausdruck einer Wildtyp-ALK-Expression bei Rhabdomyosarkomen, Neuroblastomen, Glioblastomen und inflammatorischen myofibroblastischen Tumoren beobachtet. Primär kutane großzellig-anaplastische Lymphome Diese Lymphome treten primär in der Haut auf, sie können aber auch von einer lymphomatoiden Papulose ausgehen. Eine ALK-Expression wird bei diesen Lymphomen offenbar nicht beobachtet. Immunphänotypisch sind die Tumorzellen CD30, z. T. auch CD3, TIA-1/GMP17, Perforin und/oder Granzym-B-positiv. Periphere T-Zell-NHL ohne weitere Spezifizierung Diese Lymphome entsprechen den pleomorphen T-ZellLymphomen der Kiel-Klassifikation. Sie machen weniger als 1% der kindlichen Lymphome aus. Obwohl zur Zeit in eine Gruppe subsummiert, handelt es sich hierbei um eine heterogene Gruppe von malignen Lymphomen. Morphologisch bestehen sie aus unterschiedlich großen Blasten. Die Blasten sind pleomorph, meist mit chromatinarmen bizarr geformten Kernen. Das Zytoplasma ist hell und strukturarm und das Wachstum diffus. Bei einem primären und bevorzugtem Befall von Fettgewebe wird von einem pannikulitischen Typ gesprochen.
739 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
63.8
Klinisches Erscheinungsbild
! Häufigstes Leitsymptom der NHL des Kindesalters sind schmerzlose Lymphknotenschwellungen. Remittierende Bauchschmerzen und chronischer Husten, im fortgeschrittenen Fall Stridor sind unspezifische, aber häufige Symptome in der Anamnese von Kindern mit abdominellen bzw. mediastinalen NHL. Seltener sind Kopfschmerzen (bei ZNS-Befall). Häufigstes Allgemeinsymptom ist Fieber.
Die Mehrzahl der Kinder ist bei Diagnosestellung in einem wenig beeinträchtigten Allgemeinzustand. Andere präsentieren sich mit schwerwiegenden Symptomen oder lebensbedrohlichen Notfallsituationen ( Abschn. 63.13). Die häufigsten Lokalisationen sind zervikale Lymphknoten, Abdomen einschließlich Leber und Milz, Mediastinum (⊡ Abb. 63.1) und HNO-Bereich (⊡ Abb. 63.2). Weitere Manifestationsorte sind Knochen, Knochenmark (KM) und Zentralnervensystem (meist als Meningeosis, aber auch als Tumor im Parenchym; Kap. 66) sowie Epiduralraum, Nieren, Hoden, Ovarien, Haut (⊡ Abb. 63.3) und Weichteile. Selten betroffen sind Pankreas, Nebennieren, Schilddrüse und Speicheldrüsen. Das Muster der klinischen Manifestationen unterscheidet sich deutlich nach NHL-Subentitäten ⊡ Abb. 63.4). Ein Mediastinaltumor ist typisch für ein lymphoblastisches T-Zell-Lymphom, aber nicht spezifisch. Das primär mediastinale (thymische) großzellige B-Zell-Lymphom (mit Sklerose) ist per Definition ein Mediastinaltumor, gekennzeichnet durch besonders aggressiv invasives Wachstum in Nachbarstrukturen, Pleura- und Perikarderguss und häufigen fokalen Befall der Nieren (Seidemann et al. 2003). Die typische Lokalisation des Burkitt-Lymphoms ist der Abdominalraum.
⊡ Abb. 63.2. Tumor im Bereich des rechten Ramus mandibulae bei einem Kind mit Burkitt-Lymphom
⊡ Abb. 63.3. Typischer Hautbefall bei einem Kind mit großzelliganaplastischem Lymphom. Die meist erythematösen makulopapulomatösen Läsionen weisen oft wie hier eine zentrale Ulzeration auf
Hier reichen die Manifestationen von einem kleinen Darmwandtumor, der eine Invagination und Ileus verursacht (⊡ Abb. 63.5), bis zu den Bauchraum ausfüllenden Tumormassen mit Aszites. 63.9
Diagnostik
! Die exakte Klassifizierung ist Voraussetzung für die Wahl der geeigneten Therapieform ( Abschn. 63.12). ⊡ Tabelle 63.3 zeigt das vollständige diagnostische Programm
⊡ Abb. 63.1. Mediastinaltumor und Pleuraerguss links als typische Manifestation eines lymphoblastischen T-Zell-Lymphoms
und die dafür notwendige Asservierung von Material. Bei Verdacht auf ein malignes Lymphom sollte zunächst geprüft werden, ob die Diagnose ohne Operation gesichert werden kann. Bei malignen Körperhöhlenergüssen oder signifikantem Knochenmarkbefall (>20% Lymphomzellen) ist dies fast immer mittels Zytomorphologie, Immunphänotypisierung
63
740
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Abb. 63.4. Klinische Manifestationsformen bei unterschiedlichen NHL-Subtypen (N=1602 konsekutive Patienten der multizentrischen Therapiestudien NHL-BFM). KM Knochenmarkbefall; ZNS Befall des Zentralnervensystems; LBL-T lymphoblastisches T-Zell-Lymphom; Zentrobl zentroblastisches Lymphom; PMLBL primär mediastinales (thymisches) großzelliges B-Zell-Lymphom; ALCL großzellig-anaplastisches Lymphom
IV
Cave Eine vollständige Resektion ist nur im Falle kleiner lokalisierter Lymphome sinnvoll, die ohne Funktionsverlust sicher zu resezieren sind. Debulking-Chirurgie oder Resektion ganzer Organe ist ohne therapeutischen Wert und daher obsolet.
Eine Nadelbiopsie ist nicht geeignet, Material für die vollständige Klassifizierung zu gewinnen und sollte deshalb Ausnahmen vorbehalten bleiben, wenn ein größerer Eingriff eine ungebührliche Gefährdung des Patienten darstellen würde. Zum diagnostischen Vorgehen in Notfallsituationen, z. B. bei Patienten mit kritisch großem Mediastinaltumor, Abschn. 63.13.
⊡ Abb. 63.5. Typische Manifestation eines Burkitt-Lymphoms. Kleiner Tumor der Darmwand des terminalen Ileums, der eine ileozökale Invagination verursacht hatte, wodurch der Patient symptomatisch geworden war
63.10
und Genetik möglich. Nur wenn diese Option nicht besteht oder keine eindeutige Diagnose gestellt werden kann, sollte ein operativer Eingriff zur Diagnosesicherung erfolgen. Dieser sollte ein minimaler Eingriff sein und nur der Asservierung ausreichenden Biopsiematerials für eine vollständige Charakterisierung dienen.
Staging
Das prätherapeutische Staging umfasst die körperliche Untersuchung, Sonographie des Abdomens, Thorax-Röntgenaufnahme in 2 Ebenen und kraniale Schnittbilddiagnostik. Weitere bildgebende Untersuchungen orientieren sich am individuellen Befallsmuster. Da Skelettbefall in mehreren Analysen keine negative prognostische Bedeutung aufwies,
⊡ Tabelle 63.3. Diagnosesicherung
Methode (Klassifizierungssystem)
Material
Zytomorphologie (FAB-Klassifikation)
Tupfpräparate, Zytozentrifugenpräparate von malignen Ergüssen, Knochenmarkausstriche
Histologie (WHO-Klassifikation)
Formol-fixiertes Tumormaterial
Immunphänotypisierung: Immunhistochemie (WHO-Klassifikation) Durchflusszytophotometrie (EGIL-Klassifikation; Bene et al. 1995)
Formol-fixierte Proben Vitale Zellen in flüssigem Medium: Ergussflüssigkeit, heparinisiertes Knochenmark
Zytogenetik, FISH, NHL-spezifische Chromosomentranslokationen
Vitale Zellen in flüssigem Medium: Tumorfrischmaterial, Ergussflüssigkeit, heparinisiertes Knochenmark
Molekulargenetik, NHL-spezifische Genumlagerungen, Genexpressionsanalyse (DNA-Microarray)
Schockgefrorene Probe oder vitale Zellen in flüssigem Medium: Tumorfrischmaterial, Ergussflüssigkeit, heparinisiertes Knochenmark
63
741 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
⊡ Tabelle 63.4. Stadieneinteilung nach Murphy (Murphy 1980)
Stadium
Definition
Verteilung nach häufigsten NHL-Subtypen* LBL N=204
BL** N=474
CB N=56
ALCL N=102
I
Ein einzelner nodaler oder extranodaler Tumor ohne lokale Ausbreitung, mit Ausnahme von mediastinalen, abdominalen und epiduralen Lokalisationen
5%
10%
30%
10%
II
Mehrere nodale und/oder extranodale Manifestationen auf derselben Seite des Zwerchfells mit oder ohne lokale Ausbreitung. Lokalisierte resektable abdominale Tumoren
6%
22%
41%
22%
Nicht: mediastinale, epidurale oder ausgedehnte nicht resektable abdominale Lokalisationen III
Lokalisationen auf beiden Seiten des Zwerchfells, alle thorakalen Manifestationen (Mediastinum, Thymus, Pleura), alle ausgedehnten nicht resektablen abdominalen Manifestationen, Epiduralbefall
65%
40%
29%
63%
IV
Befall des Knochenmarks (<25%) und/oder des ZNS
24%
8%
0%
5%
* Daten der Therapiestudie NHL-BFM 90; ** 20% der Patienten mit Burkitt-Lymphomen haben bei Diagnosestellung eine Knochenmarksinfiltration mit ≥25% Lymphomzellen; dies wird als leukämisches Stadium des Burkitt-Lymphoms bzw. als akute B-Zell-Leukämie bezeichnet. LBL lymphoblastisches Lymphom; BL Burkitt-Lymphom; CB zentroblastische Lymphome; ALCL großzellig-anaplastisches Lymphom.
ist eine Skelettszintigraphie zur Aufdeckung klinisch okkulter Knochenherde nicht erforderlich (Lones et al. 2002; Kolb et al. 2002). Größere Knochenläsionen sind fast immer symptomatisch und dann auch mit einfacher Röntgendiagnostik darstellbar. Obligate Laboruntersuchungen sind Differenzialblutbild, Knochenmarkuntersuchung, Liquoruntersuchung (Zellzahl und Zytomorphologie), Serumkonzentrationen der LDH sowie der Elektrolyte und harnpflichtigen Substanzen zur Erkennung eines akuten Zellzerfallsyndroms. Die Stadieneinteilung nach Murphy (Murphy 1980) ist für die NHL im Kindesalter allgemein akzeptiert und anwendbar (⊡ Tabelle 63.4). Ihre Schwäche liegt in der Einordnung von Patienten mit ausgedehntem Haut- oder Knochenbefall ohne Knochenmarkbefall. Bei lymphoblastischen Lymphomen mit Knochenmarkbefall erfolgt die Abgrenzung zur akuten lymphoblastischen Leukämie per Definition bei einem Anteil von ≥25% Lymphoblasten im Knochenmark. Beim Burkitt-Lymphom wird eine Infiltration des Knochenmarks mit mehr als 25% Lymphomzellen als akute B-ZellLeukämie bezeichnet. Die Verteilung der Stadien ist sehr unterschiedlich nach NHL-Subtypen (⊡ Tabelle 63.4). Die Definition von ZNS-Befall ist international nicht standardisiert. Als harte Kriterien für einen manifesten ZNSBefall gelten eine Liquorzellzahl >5/µl mit Nachweis von Blasten im Liquor oder/und eine intrazerebrale Raumforderung (Reiter et al. 1999, 2000; Seidemann et al. 2001; Patte et al. 2001). Die Wertung von Hirnnervenlähmungen und paraspinalem Befall als Kriterien für manifesten ZNS-Befall ohne gleichzeitige Präsenz der erstgenannten harten Kriterien ist dagegen unterschiedlich. Eine Hirnnervenlähmung allein wird im Allgemeinen nur als Kriterium für ZNS-Befall gewertet, wenn extrazerebrale Ursachen ausgeschlossen sind.
Der paraspinale Befall ohne Nachweis von Blasten im Liquor wird von einigen Gruppen als ZNS-Befall betrachtet (Patte et al. 2001), von anderen nicht (Reiter et al. 1999, 2000; Seidemann et al. 2001). 63.11
Differenzialdiagnose der Lymphadenopathie
Lymphknotenschwellungen, definiert als eine Vergrößerung von >1 cm im größten Durchmesser am Hals und >1,5 cm in den Leisten, sind häufige Vorkommnisse in der Pädiatrie. Die physiologische Zunahme lymphatischen Gewebes auf das Doppelte in den ersten 12 Lebensjahren reflektiert die kontinuierliche Auseinandersetzung des Organismus mit infektiösen Agenzien und führt im ersten Lebensjahr zu in der Regel palpablen zervikalen und inguinalen Lymphknoten. Die Volumenvermehrung beruht bei Infektionen auf einer Proliferation und Einwanderung von Zellen des spezifischen und unspezifischen Abwehrsystems. Zellen der MonozytenMakrophagenreihe sind bei Speicherkrankheiten und Histiozytosen vermehrt, während bei neoplastischen Erkrankungen die Infiltration durch maligne Zellen unter Umständen zusammen mit einer Proliferation und Einwanderung von Abwehrzellen zur Schwellung führt. Angeborene Lymphknotenschwellungen sind ein Hinweis auf intrauterine Infektionen und immer abklärungswürdig, wobei differenzialdiagnostisch kongenitale Fehlbildungen wie Halszysten und muskuläre Läsionen im Bereich des Musculus sternocleidomastoideus in Betracht zu ziehen sind. Im frühen Säuglingsalter überwiegen bakterielle Infektionen mit E. coli oder Staphylococcus aureus als Ursache, im Kleinkindesalter zunehmend Streptokokken. Virale Infektio-
742
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
nen führen meist zu Lymphknotenschwellungen in mehreren Regionen und sind die häufigste Ursache einer Lymphadenopathie im späteren Kindesalter. ! Die Kenntnis der anatomisch-topischen Zugehörigkeit drainierender Lymphknotenstationen ist Voraussetzung für die gezielte Suche nach allfälligen Eintrittspforten oder neoplastischen Primärpozessen.
IV
In der überwiegenden Mehrzahl wird die Zusammenschau aus Anamnese und Klinik, allenfalls unterstützt durch einfache Laborparameter wie Blutbild und Entzündungsparameter im Zusammenhang mit dem Alter des Patienten, richtungsweisend sein: ▬ Erkrankungsdauer, ▬ Expositionsmöglichkeit: Familienanamnese, Tierkontakte, Reisetätigkeit, bei Jugendlichen Sexualkontakte, ▬ Allgemeinsymptome, ▬ Vorbehandlung, ▬ klinische Befunde wie Lymphknotengröße, -lokalisation, -konsistenz, Abgrenzbarkeit, Rötung, Schmerzhaftigkeit, Lokalisation im Verhältnis zu möglicher Eintrittspforte, lokalisierte versus generalisierte Lymphadenopathie, lokale und generalisierte Entzündungszeichen, Atembeschwerden, Hepatosplenomegalie, Blässe und Blutungsneigung. ! Bei epitrochleären, supraklavikulären, retroaurikulären und mediastinalen Lokalisationen, derber Konsistenz, raschem Wachstum, verbackenen oder fixierten Lymphknoten, fehlender Schmerzhaftigkeit sowie Ausbleiben einer Rückbildung nach mehr als 2 Wochen sollten an eine neoplastische Ursache gedacht werden.
63.12
Therapie und Prognose
63.12.1 Allgemeine Prinzipien Die NHL des Kindesalters neigen zu früher Generalisierung. Eine effektive Kombinationschemotherapie ist deshalb der Eckpfeiler einer erfolgreichen Behandlung. Das Rückfallrisiko steigt mit dem Ausbreitungsstadium und der Tumormasse, die deshalb wichtige Kriterien zur Anpassung der Intensität und Dauer der Chemotherapie sind. Aufgrund der hohen Tendenz zur systemischen Ausbreitung kommt der Behandlung der Extrakompartimente ZNS und Hoden eine ähnliche Bedeutung zu wie in der Behandlung der akuten Leukämien ( Kap. 58). Nach Reduzierung systemischer Rezidive durch eine effektive Kombinationschemotherapie ist das Wiederauftreten bzw. der Progress lokaler Manifestationen die häufigste Ursache eines Therapieversagens (⊡ Abb. 63.6). Deshalb ist die Frage nach dem Stellenwert lokaler Therapiemaßnahmen weiterhin von Bedeutung. Ein entscheidender Schritt in der Entwicklung der heutigen Behandlungskonzepte war die Erkenntnis, dass verschiedene NHL-Subtypen eine sehr unterschiedliche Chemotherapiestrategie erfordern. Aufgrund der unterschiedlichen Tendenz zur Ausbreitung in Extrakompartimente und der Variabilität der klinischen Manifestation verschiedener NHL-Subtypen muss auch die Rolle der Extrakompartmenttherapie und der Lokaltherapie für die einzelnen NHL-Subtypen gesondert betrachtet werden. 63.12.2 Einteilung in strategische
Therapiegruppen
Als nützlich kann sich eine einfach durchzuführende Punktionszytologie erweisen, die das Vorgehen bei Lymphknotenbiopsie bzw. Resektion steuern kann. Vor geplanter Biopsie sollte eine orientierende Bildgebung mit Thorax-Röntgen und abdomineller Sonographie über eine allfällige Ausbreitung informieren. Für eine adäquate Materialversorgung des Biopsates sollte in Abhängigkeit des Befundes einer Abklatschzytologie Sorge getragen werden ( Tabelle 63.3).
Die Unterscheidung in lymphoblastische und nichtlymphoblastische Lymphome ist die wichtigste therapiestrategische Unterteilung (Anderson et al. 1983). Für lymphoblastische Lymphome sind Therapiestrategien der ALL, basierend auf dem Prinzip einer kontinuierlichen Zytostatika-Exposition über längere Zeiträume eine adäquate Behandlung (MüllerWeihrich et al. 1982, 1984; Reiter et al. 1995; 2000). In der Therapie der Lymphome vom Burkitt-Typ und anderer hochmaligner nichtlymphoblastischer NHL erwies sich eine
⊡ Abb. 63.6. Rezidivlokalisationen nach NHL-Subtypen. Involvierung der verschiedenen Kompartimente isoliert und/oder kombiniert bei Rezidivpatienten in Prozent (N=85 konsekutive Rezidivpatienten der multizentrischen Therapiestudien NHL-BFM). KM Knochenmark-
befall; ZNS Befall des Zentralnervensystems; LBL-T lymphoblastisches T-Zell-Lymphom; Zentrobl zentroblastisches Lymphom; PMLBL primär mediastinales (thymisches) großzelliges B-Zell-Lymphom; ALCL großzellig-anaplastisches Lymphom
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⊡ Abb. 63.7. Ereignisfreie Überlebenswahrscheinlichkeit nach 5 Jahren für Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen (LBL) B-NHL einschließlich B-ALL und großzellig-anaplastischen Lymphomen (ALCL) in den 3 aufeinanderfolgenden Therapiestudien NHL-BFM 86, 90, 95 der Deutsch-Österreichisch-Schweizerischen BFM-Studiengruppe
Strategie kurzer intensiver Chemotherapiekurse mit hoher Dosisintensität, basierend auf Kortikosteroiden, Cyclophosphamid und Methotrexat, als effektiver (Müller-Weihrich et al. 1982, 1984; Reiter et al. 1995, 2000; Patte et al. 2001; Murphy et al. 1986). Diese Therapieform ist prinzipiell auch in der Behandlung der großzellig-anaplastischen Lymphome wirksam (Reiter et al. 1994a; Seidemann et al. 2001). International hat sich eine Einteilung der NHL des Kindesalters in 3 therapeutische Hauptgruppen durchgesetzt: ▬ lymphoblastische Lymphome, ▬ periphere B-Zell-Lymphome (B-NHL) einschließlich B-ALL und ▬ großzellig-anaplastische Lymphome (unabhängig vom Immunphänotyp). Mit einer so stratifizierten Therapie haben die Patienten aller Entitäten etwa vergleichbare Überlebenschancen (⊡ Abb. 63.7). Für einige zahlenmäßig kleine Subentitäten, z. B. periphere T-Zell-Lymphome und NK-Zell-Lymphome, ist die geeignetste Therapieform noch unklar. 63.12.3 Therapie der lymphoblastischen
Lymphome Chemotherapie ! Für Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen stellt eine ALL-Therapiestrategie eine effektive Behandlung dar.
In großen multizentrischen Therapiestudien wurden für Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen eine Wahrscheinlichkeit für langfristiges ereignisfreies Überleben zwischen 60% und über 80% erzielt. Das von Wollner entwickelte LSA2-L2-Protokoll war lange Zeit weltweit das Standardprotokoll zur Behandlung von Kindern mit lymphoblastischen Lymphomen und wurde in zahlreichen Modifikationen eingesetzt (Eden et al. 1992; Patte et al. 1992; Tubergen et al. 2002; Wollner et al. 1975). Es wurde mehr und mehr ersetzt durch das BFM-ALL-Protokoll (Riehm et al. 1976; Müller-Weihrich et al. 1982), das sich insbesondere zur
Behandlung der lymphoblastischen T-Zell-Lymphome als hoch-effektiv erwies (Reiter et al. 2000). Zudem weist die BFM-Strategie gegenüber anderen Protokollen, insbesondere dem LSA2-L2-Protokoll, ein günstigeres Profil der kumulativen Dosen von Medikamenten mit erhöhtem Spätfolgenrisiko auf. Demgegenüber beinhaltet das BFM-Protokoll als einziges Hochdosis Methotrexat (HD-MTX) 5 g/m2 Körperoberfläche (KOF) als Dauerinfusion über 24 h. 6-Mercaptopurin und MTX p.o. sind Grundbestandteile der remissionserhaltenden Dauertherapie, die bis zu einer Gesamttherapiedauer von 18–24 Monaten durchgeführt wird. Die Therapiestrategie für lymphoblastische Lymphome der BFM-Studiengruppe stimmt mit der Basistherapie der BFM-ALL-Strategie weitgehend überein. Deren Grundelemente sind in Kap. 58 beschrieben. Mit Ausnahme der BFMStrategie werden in vielen Studienprotokollen zusätzlich multiple Intensivierungspulse unterschiedlicher Zusammensetzung angewendet. Es gibt nur wenige Studien, die alternative Therapiestrategien bzw. den Stellenwert einzelner Medikamente in randomisierter Form prüften. Strategien, die schwergewichtig auf den Medikamenten Cyclophosphamid, Doxorubicin, Prednison mit oder ohne Methotrexat aufbauten und eine mehr pulsartige Strategie aufwiesen, ergaben im Vergleich zur LSA2-L2-Strategie keine besseren Ergebnisse. Die Wirksamkeit der L-Asparaginase bei Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen wurde in einer randomisierten Studie der POG belegt (Amylon et al. 1999). In einer auf der BFM-Strategie basierenden Studie zeigte dagegen die zusätzliche Gabe von Hochdosis Cytarabin in Kombination mit HD-Methotrexat in der KonsolidierungsphaseProtokoll M keinen Effekt (Millot et al. 2001). Extrakompartmenttherapie Für Patienten mit Stadium I und II kann mit intrathekaler MTX-Applikation und systemischer Hochdosis-MTX-Therapie mit 0,5–5 g/m2 KOF ohne Schädelbestrahlung eine ausreichende ZNS-Protektion erzielt werden (Link et al. 1997; Reiter et al. 1995; Neth et al. 2000). Ob auch bei Patienten mit Stadium III und IV ohne manifesten ZNS-Befall auf die präventive Schädelbestrahlung bei Hochdosis-MTX-Therapie verzichtet werden kann, wird in klinischen Studien geprüft. Patienten mit klinisch manifestem ZNS-Befall werden in allen Therapiestudien mit Schädelbestrahlung in Dosen von 18–24 Gy behandelt (Ausnahme: Kinder im ersten Lebensjahr). Die HD-MTX-Therapie hat sich auch als wirksam zur Prävention von Hodenrezidiven erwiesen (Reiter et al. 2000). Lokaltherapie Der größte Teil der Patienten mit lymphoblastischen Lymphomen hat bei Diagnosestellung ein fortgeschrittenes Krankheitsstadium. Die Rolle der Chirurgie beschränkt sich auf die Gewinnung ausreichenden Biopsiematerials. Ob die vollständige Resektion lokalisierter Lymphome Chemotherapie einsparen kann, ist unklar und aufgrund der kleinen Patientenzahl auch schwer zu prüfen. Der therapeutische Stellenwert der Strahlentherapie muss im Kontext der Effizienz der durchgeführten Chemotherapie gesehen werden. In einer frühen randomisierten Studie bei Kindern mit lymphoblastischen T-Zell-Lymphomen wurde mit zusätzlicher Mediastinalbestrahlung (15 Gy) ein signifikant besseres Therapieergebnis erzielt als mit
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Chemotherapie allein (Wahrscheinlichkeit des krankheitsfreien Überlebens 66% versus 16%; Mott et al. 1984). Das Ergebnis belegt jedoch lediglich, dass Strahlentherapie eine wirksame Therapiekomponente ist und die Chemotherapie der Studie im Vergleich zu modernen Protokollen als ungenügend wirksam bewertet werden muss. Das Therapieergebnis für Patienten mit lokalisierten Lymphomen ist mit alleiniger moderater Chemotherapie moderner Bauart so gut, dass es durch zusätzliche Lokalbestrahlung kaum verbessert werden kann. In einer randomisierten Studie hatten Patienten mit lokalisierten Stadien I und II mit »Involved-field«-Bestrahlung keinen Vorteil gegenüber den Patienten ohne Bestrahlung, aber eine höhere Toxizität (Link et al. 1990). Auch bei Patienten in fortgeschrittenen Stadien wurde die Bestrahlung von »bulky disease« – meist definiert als lokale Tumoren mit >3 cm Durchmesser – inzwischen gänzlich verlassen, nachdem mit Chemotherapie allein krankheitsfreie Überlebensraten von über 80% erreicht wurden. Zudem ist die häufigste Primärmanifestation lymphoblastischer Lymphome bei Kindern ein Mediastinaltumor. Mediastinalbestrahlung im Kindes- und Jugendalter birgt spezielle Risiken wie die Entwicklung von Koronaraneurysmen, Kardiomyopathien, sekundären akuten myeloischen Leukämien und Mammakarzinom bei Frauen (Bhathia et al. 1996; Hancock et al. 1993; Ingram et al. 1987). Bei einem nicht geringen Anteil der Patienten bleibt die Rückbildung lokaler Lymphommanifestationen unter der Induktionschemotherapie unvollständig. Lange Zeit sahen Therapieprotokolle für diese Patienten eine Bestrahlung des Resttumors vor. Die prognostische Relevanz einer residuellen »mediastinalen Masse« ist jedoch möglicherweise nur im Kontext der Gesamtstrategie zu bewerten. In einer retrospektiven Analyse der englischen Studiengruppe hatten Patienten mit einem mediastinalen Resttumor am Tag 60 der Induktion ein 3,5fach höheres Risiko, nachfolgend einen Tumorprogress zu erleiden, als diejenigen mit Normalisierung des Röntgenbildes (Shepherd et al. 1995). In einer prospektiven Studie der BFM-Gruppe hatte dagegen bei Patienten mit T-LBL ein Resttumor am Tag 33 bzw. am Ende der Induktionstherapie keinen signifikant negativen Einfluss auf die Prognose (Reiter et al. 2000). Eine Ausnahme sind Patienten mit weitgehend fehlender Regression. Das adäquate therapeutische Vorgehen bei Patienten mit unvollständiger Tumorrückbildung ist jedoch noch nicht erschöpfend geklärt. Die komplexe topographische Anatomie des Mediastinums und die Vielgestaltigkeit der residuellen Befunde erschwert die reproduzierbare quantifizierende Bewertung der Tumorregression und damit die Evaluierung ihrer prognostischen Bedeutung in prospektiven Studien. Ob neuere Diagnoseverfahren wie die Positronenemissionstomographie (PET) einen höheren prädiktiven Wert für die Bedeutung von Tumorresiduen und damit bessere Steuerungskriterien für therapeutische Interventionen, z. B. zusätzliche lokale Bestrahlung sind, bedarf der Evaluierung in prospektiven Studien. Prognoseparameter Die prognostische Bedeutung einzelner Parameter ist nur auf der Basis der durchgeführten Therapie zu bewerten. In der Therapiestudie NHL-BFM 90, in der eine vergleichsweise
sehr hohe Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens speziell für Patienten mit T-LBL erreicht wurde, hatten von den bewertbaren klinischen und biologischen Parametern nur B-Symptome eine negative prognostische Bedeutung (Reiter et al. 2000). Alter, Geschlecht, Stadium, ein Resttumor nach der Hälfte bzw. am Ende der Induktionstherapie und auch der Differenzierungsgrad der T-Lymphoblasten hatten keinen signifikanten Einfluss auf das Therapieergebnis. Allerdings konnte die prognostische Bedeutung genetischer Merkmale mangels ausreichender Zahl untersuchter Patienten nicht abschließend bewertet werden. 63.12.4 Therapie der peripheren
B-Zell-Lymphome Chemotherapie Die Chemotherapiestrategie dieser Gruppe ist auf die biologischen Besonderheiten des Burkitt-Lymphoms zugeschnitten, das diese Gruppe zahlenmäßig dominiert. Die Strategie erwies sich auch als effektiv zur Behandlung der diffus großzelligen B-NHL des Kindes- und Jugendalters. Die therapiestrategisch wichtigste Eigenschaft des Burkitt-Lymphoms ist seine hohe Proliferationsaktivität und die rasche Generalisierung. ! Moderne Therapiestrategien versuchen diesen biologischen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Sie folgen dem Prinzip, durch fraktionierte Verabreichung und durch Dauerinfusion zytotoxisch wirksame Medikamentenkonzentrationen über einen so langen Zeitraum aufrechten zu erhalten, dass möglichst jede Lymphomzelle im vulnerablen aktiven Zellzyklus getroffen wird.
Die Kombination mehrerer Zytostatika soll bereits bestehenden Resistenzmechanismen Rechnung tragen und der Entwicklung neuer Resistenzen vorbeugen. Es wird eine hohe Dosisintensität angestrebt, um mit jedem Kurs ein Maximum an Tumorzytolyse zu erreichen. Eine beträchtliche postchemotherapeutische Knochenmarksuppression wird dabei akzeptiert. Durch kurze Abstände zwischen den Therapiekursen soll die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Wachstums und damit der Resistenzentwicklung vermindert werden. Therapiestrategien, die diesem Prinzip 4–7 Tage dauernder dosisintensiver Therapiekurse folgen, führten zu einem dramatischen Anstieg der Heilungsrate bei dieser Krankheitsgruppe. In multizentrischen Therapiestudien werden ereignisfreie Überlebenswahrscheinlichkeiten von 80–90% für die Gesamtgruppe erzielt. Als Medikamente werden Kortikosteroide, Cyclophosphamid, Ifosfamid, MTX, Cytarabin, Doxorubicin, Vincristin und Etoposid eingesetzt. Cyclophosphamid und MTX gelten als die wichtigsten Medikamente. Die Wirksamkeit von Hochdosis-Cytarabin und -Etoposid konnte bei rezidivierten Patienten belegt werden (Gentet et al. 1990). ⊡ Abbildung 63.8 zeigt die Zusammensetzung der Therapiekurse in den Therapieprotokollen der französischen LMB-Gruppe und der BFM-Gruppe, die im internationalen Vergleich die erfolgreichsten multizentrischen Therapiestudien sind. Beide Strategien setzen ähnliche Medikamente ein, aber in zum Teil sehr unterschiedlicher Dosis und Verabreichungsform.
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⊡ Abb. 63.8. Zusammensetzung der Therapiekurse COPADM (rot) bzw. BB (blau) in den Therapieprotokollen zur Behandlung von Patienten mit peripheren B-NHL (einschließlich B-ALL) der französischen LMB-Gruppe und der BFM-Gruppe (Patte et al. 2001; Reiter et al. 1999). Pred Prednison; Dex Dexamethason; VCR Vincristin; Dox Doxorubicin; MTX Methotrexat; CP Cyclophosphamid. Bei Einsatz derselben Medi-
! Die wichtigsten Kriterien zur Stratifizierung der Therapieintensität sind das Stadium, die Tumormasse und der Befall des Zentralnervensystems.
Patienten mit kleinen vollständig resezierbaren Lymphomen sind mit 2 Therapiekursen ausreichend behandelt. Patienten mit nicht resezierten lokalisierten Lymphomen (Stadium I und II) und solche mit fortgeschrittenen Krankheitsstadien (Stadium III, IV und B-ALL) erhalten 4–8 Therapiekurse (Patte et al. 2001; Reiter et al. 1999). Eine längere Therapie ist nicht sinnvoll, da mehr als ein Drittel der Rezidive schon während der Therapie auftreten. Die Dosis des Methotrexats variiert je nach Therapiestudie und innerhalb von Studienprotokollen je nach Risikogruppe von 0,5–8 g/m2 KOF. Für Patienten mit lokalisierten Stadien und geringer Tumormasse werden mit MTX-Dosen von 0,5–1 g/m2 KOF Überlebensraten von ca. 90% erzielt. Für Patienten mit fortgeschrittenen Stadien und großer Tumormasse ist dagegen eine höhere MTX-Dosis von Vorteil. Für B-ALL-Patienten konnte in den NHL-BFM-Studien durch die Steigerung der MTXDosis von 0,5 g/m2 auf 5 g/m2 KOF die Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens von 50% auf fast 80% erhöht werden (Reiter et al. 1992). Der Tumorwirksamkeit dieser Strategien steht eine beträchtliche Toxizität gegenüber, wobei die orointestinale Mukositis die klinisch bedeutsamste Akuttoxizität ist. Sie ist nicht allein, aber vornehmlich verursacht durch HD-MTX. Zusammen mit der hochgradigen Granulozytopenie im Gefolge der dosisintensiven Therapiekurse begünstigt sie schwere Infektionen, v. a. Septikämien durch Darmbakterien. Am meisten gefährdet sind Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung. Bei diesen liegt die Rate an toxizitätsbedingten Todesfällen auch in jüngsten Therapiestudien bei 4–5%, bei B-ALL-Patienten noch höher (Patte et al. 2001; Reiter et al. 1999).
kamente/Medikamentenklassen sind die wichtigsten Unterschiede: Prednison (LMB) vs. Dexamethason (BFM), längere Infusionsdauer und höhere Dosis für Doxorubicin in COPADM, längere Infusionsdauer von MTX in Kurs BB, kürzeres Intervall zwischen den fraktionierten CP-Dosen im Kurs COPADM. *Dosis von MTX 8 g/m2 in Risikogruppe C; **Dosis CP 250 mg/m2 im ersten Kurs, 500 mg/m2 im zweiten Kurs
Cave Das Therapierisiko ist am höchsten während und nach dem ersten Therapiekurs.
Aus diesem Grund wird die Therapie mit einer zytoreduktiven Vorphase eingeleitet, die meist aus einem Kortikosteroid und niedrig dosiertem Cyclophosphamid besteht. Ziel ist die Stabilisierung der bei Aufnahme mitunter schwerkranken Patienten und die Reduzierung des Risikos metabolischer Komplikationen des Tumorzellzerfalls ( Kap. 77). Extrakompartmenttherapie Für Patienten ohne manifesten ZNS-Befall ist die intrathekale Chemotherapie mit MTX, Cytarabin, Kortikosteroid zusammen mit systemischer Methotrexattherapie eine ausreichende ZNS-Protektion. Eine Schädelbestrahlung ist nicht erforderlich (Patte et al. 1991; 2001; Reiter et al. 1995, 1999). Für Patienten mit manifestem ZNS-Befall sind 3 prinzipielle Strategien zur Sanierung des ZNS in Anwendung: ▬ Schädelbestrahlung, ▬ intraventrikuläre Chemotherapie und ▬ intensivierte, lumbal verabreichte intrathekale Chemotherapie. Der therapeutische Nutzen der Schädelbestrahlung ist fraglich. Bei ZNS-positiven Patienten treten ZNS-Rezidive teilweise schon vor Ende der Chemotherapie auf. Infolgedessen ist die Platzierung der Schädelbestrahlung nach Ende der Chemotherapie von fraglichem Wert (Patte et al. 2001; MüllerWeihrich et al. 1984). Die Platzierung in der Chemotherapiephase kann diese verzögern und damit systemische Rezidive begünstigen. Mit einer über mehrere Tage fraktioniert intraventrikulär via Ommaya-Reservoir verabreichten Chemotherapie in
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Kombination mit systemischer Hochdosis-MTX-Therapie werden ohne Schädelbestrahlung vergleichbare Ergebnisse erzielt wie in Studien mit Schädelbestrahlung (Reiter et al. 1999). Mit intensivierter, lumbal verabreichter Chemotherapie wurde für ZNS-positive Patienten eine Wahrscheinlichkeit des ereignisfreien Überlebens von 64%±13% erreicht. (Bowman et al. 1996). Allerdings war die systemische MTXTherapie dieser Studie mit 1 g/m2 KOF in der Dosis nicht ZNS-optimiert. Ob mit intensivierter, lumbal verabreichter Chemotherapie in Kombination mit Hochdosis-MTX in Dosen von 5 g/m2 (BFM) bzw. 8 g/m2 KOF (LMB) und Hochdosis-Cytarabin für ZNS-positive Patienten ein gleich gutes Therapieergebnis wie für Patienten ohne manifesten ZNSBefall erreicht wird, bleibt abzuwarten. Hodenrezidive bei Jungen sind mit Therapiestrategien, die HD-MTX einschließen, auch ohne spezielle lokale Maßnahmen eine Rarität (Patte et al. 2001; Reiter et al. 1999). Lokaltherapie Eine vollständige Resektion kleiner lokalisierter Lymphome kann vorteilhaft sein. Diese Patienten haben mit nur 2 Chemotherapiekursen über je 5 Tage eine Überlebenschance, die nahe 100% liegt. Resektionen um den Preis funktioneller Verluste sind jedoch nicht gerechtfertigt. Patienten mit frühem Krankheitsstadium haben auch ohne Resektion mit einer etwas intensiveren Therapie eine vergleichbar hohe Überlebenswahrscheinlichkeit. ! Bei fortgeschrittenem Stadium sollte sich die Operation immer auf einen minimalen diagnostischen Eingriff zur Asservierung von ausreichendem Biopsiematerial beschränken. Teilresektionen – auch subtotale – sind ohne therapeutischen Wert (Reiter et al. 1994a). Vielmehr können sie durch eine Verzögerung des Beginns der Chemotherapie die Prognose negativ beeinflussen.
In den modernen Therapieprotokollen ist eine Lokalbestrahlung nicht vorgesehen. Das Ergebnis für Patienten mit lokalisierten Lymphomen ist mit moderater Chemotherapie allein so gut, dass es durch zusätzliche Lokalbestrahlung nicht verbessert werden kann (Link et al. 1990). Auch bei Patienten in fortgeschrittenen Krankheitsstadien werden mit Chemotherapie allein progressfreie Überlebensraten von 70–85% erreicht. Die Patienten, die mit derzeitigen Chemotherapiestrategien ein Rezidiv erleiden, haben meist einen so ausgedehnten Tumorbefall insbesondere im Abdomen, dass eine effektive involved field Bestrahlung mit sehr hoher Toxizität verbunden wäre. Zudem stellen Einzelbeobachtungen von Strahlenresistenz residueller Tumoren die Effektivität der Strahlentherapie speziell beim Burkitt-Lymphom in Frage (Reiter et al. 1995). Die Regression lokaler Lymphommanifestationen unter Chemotherapie ist anfangs meist rasch, aber oft unvollständig, und dies stellt häufig ein therapeutisches Dilemma dar. Dies betrifft besonders häufig Patienten mit einem primär mediastinalen großzelligen B-Zell-Lymphom (Seidemann et al. 2003). Die Erkenntnisse aus Therapiestudien können wie folgt zusammengefasst werden: ▬ Patienten mit einer verzögerten Tumorregression haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, nachfolgend einen Progress zu erleiden, als Patienten mit rascher und voll-
ständiger Tumorregression. Diese trifft v. a. zu für Patienten mit hoher initialer Tumormasse und für Patienten ohne erkennbare Tumorregression in den ersten Tagen der Therapie (Patte et al. 1991, 2001; Reiter et al. 1995, 1999). ▬ Auch von Patienten mit hoher Tumormasse bleiben bei initial guter, aber unvollständiger Tumorregression über 80% in der Folge progressfrei. Bei der Mehrzahl der Patienten mit Residualtumor in bildgebenden Verfahren findet sich bei der histologischen Untersuchung des Resektionsmaterials nach 2–3 Therapiekursen nur nekrotisches Gewebe bzw. Narbengewebe ohne vitale Lymphomanteile (Reiter et al. 1994a, 1999). ▬ Nur Patienten mit einem vitalen Resttumor nach 2–3 Therapiekursen haben ein hohes Risiko, einen Tumorprogress zu erleiden, den weder die chirurgische Resektion noch eine Lokalbestrahlung verhindern kann (Reiter et al. 1994a, 1995). Dagegen haben in jüngeren Therapiestudien die meisten Patienten mit vitalem Resttumor nach 3–5 Kursen, bei denen eine Megadosischemotherapie mit hämatopoetischem Stammzell-Rescue durchgeführt wurde, progressionsfrei überlebt (Reiter et al. 1999; Patte et al. 2001). Das optimale Vorgehen bei unvollständiger Tumorrückbildung ist aber nach wie vor nicht geklärt. Das zentrale Problem liegt in der Schwierigkeit, diejenigen Patienten mit unvollständiger Tumorrückbildung zu erkennen und einer intensivierten Therapie zuzuführen, die ein besonders großes Risiko tragen, nachfolgend einen Progress zu erleiden. Zum einen erschwert die Vielgestaltigkeit der residuellen Befunde eine Evaluierung des therapeutischen Vorgehens in prospektiven Studien, zum anderen sind weder die Ergebnisse hochauflösender Schnittbilddiagnostik noch die der histologischen Untersuchung resezierter Tumorresiduen absolut prädiktiv für den Verlauf. Ob neuere Verfahren wie die PET einen höheren prädiktiven Wert haben, muss in prospektiven Studien evaluiert werden. Prognoseparameter ZNS-Befall ist ein negativer Prognosefaktor in allen Therapiestudien (Patte et al. 2001; Reiter et al. 1999; Bowman et al. 1996; Atra et al. 2000). Patienten mit lokalisiertem Stadium I oder II haben mit weniger Therapie eine bessere Überlebenschance als Patienten mit fortgeschrittenem Stadium III, IV oder B-ALL. Bei letzteren ist die Serumkonzentration der LDH als Tumormassenparameter wichtiger als das Stadium (Reiter et al. 1999; Patte et al. 2001). Andere negative Prognosefaktoren sind fehlendes Ansprechen auf die zytoreduktive Vorphase und Alter über 15 Jahre (Patte et al. 2001). Der histologische Subtyp hat in den Kollektiven einzelner Therapiestudien keinen Einfluss auf das Ergebnis (Reiter et al. 1999; Patte et al. 2001). Die schlechtere Prognose zahlenmäßig kleiner Subgruppen wie des primär mediastinalen (thymischen) großzelligen B-NHL kommt erst bei Betrachtung der Patientenkollektive mehrerer konsekutiver Therapiestudien zum Ausdruck (Seidemann et al. 2003). Die prognostische Bedeutung genetischer Merkmale konnte mangels ausreichender Zahl untersuchter Patienten bisher nicht bewertet werden.
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63.12.5 Therapie der großzellig-anaplastischen
Lymphome Chemotherapie Die großzellig-anaplastischen Lymphome (ALCL) wurden erstmals 1985 beschrieben (Stein et al. 1985), aber erst Anfang der 90er-Jahre als eigenständige klinisch-pathologische Lymphomentität akzeptiert (Kadin 1994). Mit Therapieprotokollen für lymphoblastische Lymphome, wie dem LSA2-L2 Protokoll, und der für B-NHL entwickelten kurzen Pulstherapiestrategie, wurden vergleichbare Therapieergebnisse erzielt. Die ALCL unterscheiden sich in wesentlichen therapierelevanten Eigenschaften von anderen NHL des Kindesalters: seltener KM- und/oder ZNS-Befall, sowohl initial wie im Rezidiv, häufigeres Auftreten neuer Manifestation im Rezidiv und deutlich bessere Überlebensprognose der Patienten nach Eintritt eines Rezidivs. Die Kriterien zur Stratifizierung der Therapieintensität und Therapiedauer sind weniger gut begründet als bei anderen NHL-Entitäten, da auch die Prognoseparameter weniger gut definiert sind (s. unten). Das Ausbreitungsstadium hat – abgesehen von dem seltenen Stadium I – bei den bisherigen Therapiestrategien wenig Einfluss auf das Ergebnis. Die bisher eingesetzten Behandlungsprotokolle unterscheiden sich erheblich bezüglich Therapiedauer (zwischen 2 und 24 Monate) und der kumulativen Dosis von Zytostatika mit Spätfolgenpotenzial, insbesondere alkylierende Substanzen, Anthrazykline und Epipodophyllotoxine. In den NHL-BFMTherapiestudien wurden Patienten mit ALCL seit ihrer Beschreibung mit der B-NHL-Chemotherapie in Abhängigkeit vom Stadium mit 3–6 Therapiekursen behandelt (Reiter et al. 1994b; Seidemann et al. 2001). Im internationalen Studienvergleich wurden in den BFM-Studien mit der kürzesten Therapiedauer und den vergleichsweise niedrigsten kumulativen Dosen der oben genannten, spätfolgenträchtigen Zytostatika bisher die besten Therapieergebnisse erzielt. Im Unterschied zu Vergleichsstudien wurde nur in den BFM-Studienprotokollen Dexamethason, Ifosfamid und MTX als Infusion über 24 h mit spätem Folinsäure-Rescue eingesetzt. Der Stellenwert einzelner Medikamente ist jedoch mangels kontrollierter Phase-II/III-Studien unklar. Extrakompartmenttherapie Die Inzidenz von ZNS-Rezidiven bei initial ZNS-negativen Patienten ist sehr gering mit Therapieprotokollen, die Kortikosteroide und systemische MTX-Therapie mit oder ohne intrathekale Therapie einschließen (Brugieres et al. 1998; Reiter et al. 1994b; Seidemann et al. 2001). Eine prophylaktische Schädelbestrahlung ist nicht erforderlich. Ob bei HDMTX-Therapie auch die intrathekale Chemotherapie verzichtbar ist, wird derzeit u. a. in einer internationalen Studie geprüft. Ein manifester ZNS-Befall zum Zeitpunkt der Erstdiagnose ist selten. Derzeit wird die zusätzliche Durchführung einer Schädelbestrahlung empfohlen. Hodenbefall wurde in publizierten Studienergebnissen bisher weder initial noch im Rezidiv beobachtet. Lokaltherapie ! Die primäre Operation sollte sich auf einen diagnostischen Eingriff zur Asservierung von adäquatem Biopsiematerial beschränken.
Bei einer einzigen gut resektablen Manifestation kann die vollständige Resektion Chemotherapie »einsparen«. Ein Sonderfall können Patienten mit ausschließlichem Hautbefall sein, bei denen die vollständige Resektion aller Manifestationen, sofern machbar, die definitive Therapie sein kann ( unten). Der Stellenwert einer »Involved-field«-Bestrahlung ist bisher nicht kontrolliert evaluiert. Auch ist unklar, ob eine Bestrahlung residueller Tumoren nach Chemotherapie von therapeutischen Wert ist (Seidemann et al. 2001). Der potenziell therapeutische Wert einer Lokalbestrahlung wird zusätzlich durch die Beobachtung eingeschränkt, dass im Rezidiv häufig neue, initial nicht betroffene Regionen befallen sind, und diese neuen Manifestationen in einigen Fällen sogar die einzigen Rezidivlokalisationen darstellen ( Abb. 63.6). Bezüglich neuer diagnostischer Verfahren wie der PET Abschn. 63.12.4, Lokaltherapie). Prognoseparameter Studienübergreifend hatten bei einer multivariaten Analyse der gepoolten Daten von 235 Patienten aus 3 Studiengruppen von den klinischen Parametern nur Mediastinalbefall, Viszeralbefall (Lunge, fokaler Leberbefall oder Lebervergrößerung >5 cm, fokaler Milzbefall oder Milzvergrößerung >5 cm) und Hautbefall eine negative prognostische Bedeutung (LeDeley et al. 1999). Weder der Immunphänotyp der Lymphomzellen noch der histomorphologische Subtyp konnten bisher eindeutig als prognostisch bedeutsam für das Ergebnis der »Front-line«-Therapie beschrieben werden (Brugieres et al. 1998; Seidemann et al. 2001). Im Unterschied zu Erwachsenen mit ALCL hat in den Therapiestudien zur der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ALCL die ALK1-Positivität bzw. -Negativität keinen signifikanten Einfluss auf das Therapieergebnis (Brugieres et al. 1998; Seidemann et al. 2001). Eine Besonderheit sind möglicherweise großzellig-anaplastische Lymphome, die sich auf die Haut beschränken und eine sehr gute Prognose aufweisen. Sie kommen als De-novo-Lymphome der Haut vor oder entstehen auf dem Boden einer vorbestehenden lymphomatoiden Papulose der Haut. Derzeit ist unklar, ob diese auf die Haut beschränkten großzelliganaplastischen Lymphome einer Chemotherapie bedürfen (Bekkenk et al. 2000). 63.12.6 Therapie seltener NHL-Subtypen Knapp 2% der NHL des Kindes- und Jugendalters sind nichtanaplastische periphere T-Zell-Lymphome, die in sich eine wiederum heterogene Gruppe von Lymphomen darstellen. Bezüglich ihrer klinischen und biologischen Charakteristika unterscheiden sie sich von anderen NHL. Ihre Abgrenzung von der kleinzelligen Variante des ALCL ist mitunter schwierig, wenn nicht eine ALCL-typische Chromosomentranslokation bzw. ALK1-Positivität die Differenzialdiagnose klärt. Allein schon aufgrund der kleinen Fallzahl ist die geeignetste Therapieform bisher nicht definiert. In den NHL-BFMTherapiestudien wurden periphere T-Zell-Lymphome nach der Strategie für lymphoblastische Lymphome behandelt, allerdings mit deutlich geringerem Erfolg als diese (Bucsky et al. 1990; Reiter et al. 1995). Für andere, noch seltenere En-
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
titäten gibt es keine geprüften Behandlungsansätze. Wenn typische NHL-Entitäten des Erwachsenenalters bei Kindern auftreten, kann versucht werden, einschlägigen Therapieprotokollen zu folgen. 63.13
Komplikationen der Erkrankung und der Behandlung
bei denen der zugrunde liegende Mediastinaltumor bei Verzicht auf eine Thorax-Röntgenaufnahme nicht erkannt wird. Im letzteren Fall scheint die meist schnelle Besserung der respiratorischen Symptomatik die Diagnose zu bestätigen, die Komplikation tritt erst ein durch die Folgen des akuten Zellzerfalls. 63.14
IV
Cave Kinder mit NHL können mit lebensbedrohlichen Notfallsituationen zur Aufnahme kommen: Stridor, Atemnot und obere Einflussstauung durch Kompression der Vena cava superior, der Trachea und der Hauptbronchien bei Mediastinaltumor, oft verbunden mit einem ausgedehnten Pleuraerguss und/oder Perikarderguss, der zur Herztamponade und »Low-output«-Herzversagen führen kann.
Lymphome des Darmtraktes können Ursache eines Ileus sein. Oligo-/Anurie kann die Folge einer beidseitigen Niereninfiltration oder Ureterkompression sein, möglicherweise aggraviert durch die Folgen eines spontanen Zellzerfalls. Seltenere, aber gravierende Komplikationen sind Hirnnervenlähmungen, Amaurose, Querschnittslähmung bei epiduralem Befall, Darmperforation und disseminierte intravasale Gerinnung. Das Vorgehen in diesen Situationen sowie Prophylaxe und Therapie des akuten Tumorlysesyndroms (ATLS) sind in Kap. 77 u. 78 ausführlich beschrieben. Kinder mit einer Oligo-/Anurie sind aufgrund der oft rasch ansteigenden Hyperkaliämie lebensbedrohlich gefährdet. Die führende Ursache der Oligo-/Anurie sollte durch bildgebende Diagnostik und Laboruntersuchungen rasch eruiert werden: Bei einer beidseitigen Niereninfiltration und/oder Kompression der ableitenden Ureteren durch Lymphommassen ist die Einleitung einer tumorwirksamen Therapie die Voraussetzung zur Wiederherstellung der Nierenfunktion. Dies kann nur in Dialysebereitschaft erfolgen und unter intensiver Prophylaxe/Therapie des ATLS. Liegt die Konstellation eines ATLS ohne wesentliche Infiltration der Nieren und ohne Harnwegsobstruktion vor, sollte erst das ATLS behandelt und der Beginn der tumorwirksamen Therapie bis zur Verbesserung der Nierenfunktion zurückgestellt werden. Andere Komplikationen wie Infektionen, Leukenzephalopathie nach HD-MTX oder i.th. MTX, Vincristin-induzierter peripherer Neuritis und Obstipationssyndrom, L-Asparaginase-assoziierte Komplikationen und Knochennekrosen hat die NHL-Therapie mit der Behandlung anderer Malignome gemeinsam (z. B. ALL-Therapie, Kap. 58). Mitunter werden Notfallsituationen bei zuvor wenig beeinträchtigten Kindern erst durch invasive diagnostische oder therapeutische Maßnahmen hervorgerufen. Die gravierendsten Komplikationen treten ein, wenn auf der Basis von Fehldiagnosen unter Verkennung der zugrunde liegenden Lymphomkrankheit diagnostische und therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden wie symptomatische Therapie unter Annahme einer Laryngitis subglottica (Pseudokrupp) oder eine Kortikosteroidtherapie unter Annahme einer Asthmaaerkrankung bei Kindern mit Husten und Stridor,
Nachsorge
! Nach Therapieende dauert die Risikoperiode für das Auftreten von Rezidiven bei Patienten mit B-NHL/ B-ALL etwa 6–9 Monate, bei Patienten mit großzellig-anaplastischen Lymphomen etwa 1 Jahr. Bei Kindern mit lymphoblastischen T-Zell-Lymphomen treten fast alle Rezidive vor Ende der Dauertherapie auf, bei Vorläufer-B-Zell-Lymphomen auch später.
Bei Patienten mit peripheren T-Zell-Lymphomen wurden auch nach 5 Jahren noch Rezidive beobachtet. In den ersten 3–6 Monaten nach Therapieende ist das Rezidivrisiko am höchsten. Entsprechend engmaschig müssen in dieser Periode Kontrollen zur Überwachung der Remission erfolgen. Geeignete Methoden sind Blutbild, Serum-LDH sowie klinische und bildgebende Kontrollen des Lokalbefundes. Untersuchungen des Knochenmarks und des Liquors sind nach Therapieende nur bei Rezidivverdacht angezeigt. Im weiteren Verlauf sind bildgebende und laborchemische Untersuchungen nur im Falle eines konkreten Rezidivverdachts notwendig. Dennoch sollten auch später mindestens einmal jährlich klinische Untersuchungen zur Erkennung möglicher Spätfolgen der Therapie vorgenommen werden. 63.15
Spätfolgen
Die kumulative Inzidenz von Zweitmalignomen nach erfolgreicher Behandlung eines NHL im Kindesalter wird nach 10 Jahren mit 2,1% angegeben (Leung et al. 2001). Andere potenzielle Langzeitrisiken sind Anthrazyklin-bedingte Kardiomyopathie, Knochennekrosen, Gonadotoxizität (insbesondere bei Jungen) und Neurotoxizität. 63.16
Rezidive
Patienten mit Rezidiv eines lymphoblastischen Lymphoms werden überwiegend nach Therapieprotokollen für ALLRezidivpatienten behandelt ( Kap. 59). Während Rezidivpatienten mit Vorläufer-B-Zell lymphoblastischen Lymphomen mit dieser Strategie erfolgreich behandelt werden können (Neth et al. 2000), haben Kinder mit Rezidiv eines T-Zell lymphoblastischen Lymphoms eine nur geringe Überlebenschance um 10% (Reiter et al. 2000). Für Patienten mit B-NHL/B-ALL, die eine »Front-line«Therapie wie oben beschrieben erhalten haben, gibt es bisher keine erfolgversprechende Rezidiv-Therapiestrategie. Knapp ein Drittel der Rezidive treten schon während der Erstbehandlung auf, die restlichen fast alle innerhalb der ersten 2– 3 Monate nach Therapieende. Dies reflektiert den hohen Resistenzgrad der Lymphomzellen. Zu diesem Zeitpunkt haben
749 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
sich die Patienten noch nicht von der Erstbehandlung erholt und haben eine entsprechend reduzierte Therapietoleranz. Therapieansätze bestanden bisher in dem Versuch, mit einer hochintensiven Zytostatikakombinationen eine erneute Remission zu induzieren und durch eine nachfolgende Hochdosischemotherapie mit autologem Blutstammzell-Rescue zu sichern. Die therapiebedingte Todesrate war beträchtlich. Bezogen auf alle Rezidivpatienten mit Burkitt-Lymphom/ B-ALL liegt die Zahl der Überlebenden bei 10–15%, wobei die meisten Langzeitüberlebenden ein isoliertes ZNS-Rezidiv hatten. Die Überlebensrate von Kindern mit Rezidiv eines diffus großzelligen B-NHL ist deutlich höher. Allogene Blutstammzelltransplantationen wurden bisher nur bei einer Minderzahl ohne erkennbar besseren Erfolg durchgeführt (Ladenstein et al. 1997; Atra et al. 2001). Ob neuere Therapieoptionen wie Anti-B-Zell-spezifische monoklonale Antikörper (Wössmann et al. 2003a; Corbacioglu et al. 2003) eine Rolle in der Behandlung dieser Patienten haben, bedarf der Prüfung in prospektiven Phase-II-Studien. Die Überlebenschance von Patienten mit Rezidiv eines großzellig-anaplastischen Lymphoms ist deutlich höher als für Patienten mit anderen NHL-Subtypen. In einer retrospektiven Studie, die Patienten bis zurück zu den 70er-Jahren einschloss, wurden eine Überlebensrate von 69% angegeben (Brugieres et al. 2000). Ob dies auch für Patienten zutrifft, die eine Erstbehandlung wie in Abschn. 63.12.5 beschrieben erhielten, ist offen. Die Effektivität einer Rezidivstrategie, bestehend aus einer intensiven Reinduktionschemotherapie mit 2–3 Kursen mit ähnlichen aber höher dosierten Zytostatikakombinationen wie in der Erstbehandlung und nachfolgender Blutstammzelltransplantation wird zur Zeit prospektiv geprüft. ! Für alle NHL-Entitäten gilt, dass Patienten, die einen Progress ihrer Erkrankung während der Erstbehandlung erleiden, derzeit so gut wie keine Überlebenschance haben.
Trotz beachtlicher Erfolge in der Behandlung der NHL des Kindes- und Jugendalters bleibt die weitere Optimierung der Therapie eine Herausforderung. Die Entwicklung einer wirksamen und tolerablen Therapiestrategie zur Behandlung von Rezidivpatienten ist ein ebenso vorrangiges Nahziel wie die weitere Reduzierung des Akut- und Spätrisikos therapieassoziierter Morbidität. Dabei wird die immer engere Adaptation der Therapie an die Erfordernisse biologisch uniformer Subentitäten von Bedeutung sein. Aufgrund der dadurch immer kleineren Fallzahl pro Subgruppe ist eine internationale Kooperation eine essenzielle Voraussetzung, um Therapiefragen in kontrollierten Studien in überschaubaren Zeiträumen prüfen zu können. Ob monoklonale Antikörper gegen linienspezifische Membranantigene der Lymphomzellen wie bei hochmalignen NHL des Erwachsenen eine Ergänzung oder Alternative zur Chemotherapie sind, bedarf der Evaluierung in kontrollierten Studien. Die Entwicklung gezielter Interventionstechniken gegen Onkogene, denen eine zentrale Rolle in der Lymphomgenese zugeschrieben wird, und ihre
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Umsetzung in therapeutische Strategien sind eine nicht unrealistische mittelfristige Perspektive: Onkogenprodukte als Zielstrukturen von »Small-molecule«-Inhibitoren vom Prototyp STI571 (s. Kap. 54 und 55), Immuneffektormechanismen (Passoni et al. 2002) oder direkte Blockierung von Onkogenen durch RNA-Interferenz (Borkhardt 2002; Wössmann et al. 2003b). Die Identifizierung von Prädispositionsfaktoren, möglichen Ätiologien und ihre Umsetzung in Früherkennungs- oder Präventionsstrategien sind ein Fernziel.
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63
750
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
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751 63 · Non-Hodgkin-Lymphome
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63
Morbus Hodgkin W. Dörffel, G. Schellong
IV
64.1 64.2 64.3 64.4 64.5
Krankheitsbegriff – 752 Epidemiologie – 752 Ätiologie und genetische Disposition – 753 Pathogenese und Molekularbiologie – 753 Pathologie – 754
64.5.1 64.5.2
Noduläres Lymphozyten-prädominantes Hodgkin-Lymphom – 754 Klassisches Hodgkin-Lymphom – 754
64.6 64.7 64.8 64.9 64.10
Klinisches Erscheinungsbild – 754 Diagnostik – 755 Klassifikation und Prognosefaktoren – 756 Differenzialdiagnose – 757 Therapie – 757
64.10.1 64.10.2 64.10.3 64.10.4
Radiotherapie – 757 Chemotherapie – 759 Kombinierte Chemo-Radiotherapie – 759 Therapie des nodulären Lymphozytenprädominanten Hodgkin-Lymphoms – 761
64.11 64.12 64.13
Rezidiv – 762 Spätfolgen – 763 Nachsorge – 765 Literatur – 766
Die Behandlung des Morbus Hodgkin bei Kindern geht seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts im Vergleich zur Therapie bei erwachsenen Patienten eigene Wege. Führende pädiatrische Gruppen können schon seit den 80er-Jahren auf Heilungsraten über 90–95% verweisen. Die im Vergleich zu anderen onkologischen Erkrankungen besonders große Zahl langzeitüberlebender Patienten rückte aber auch die negativen Therapiefolgen stärker in den Blickpunkt. Seither ist es das Hauptanliegen der pädiatrischen Onkologen, die Therapie des Morbus Hodgkin in der Weise zu optimieren, dass die Patienten unter Beibehaltung gleichguter Heilungschancen weniger Spätfolgen der Behandlung erleiden. Auf diese Weise hat die Entwicklung der Therapie des Morbus Hodgkin bei Kindern und Jugendlichen eine Vorreiterrolle für die heute bei fast allen onkologischen Erkrankungen angestrebte maßgeschneiderte Behandlung gespielt, unter dem Motto: so viel wie nötig, so wenig als möglich.
64.1
wiegend das lymphatische Gewebe betrifft und die histologisch durch charakteristische Tumorzellen in einem adäquaten inflammatorischen Begleitinfiltrat gekennzeichnet ist. Die Tumorzellen sind morphologisch und immunphänotypisch zu charakterisieren als einkernige Hodgkinund mehrkernige Reed-Sternberg-Zellen (HRS-Zellen) beim klassischen Hodgkin-Lymphom und als »L&H-Zellen« beim nodulären Lymphozyten-prädominanten Hodgkin-Lymphom. 64.2
Epidemiologie
Die lange Zeit rätselhafte Biologie der Erkrankung hat epidemiologische Studien mit interessanten Ergebnissen stimuliert. So wurde beschrieben, dass in industrialisierten Ländern mit gutem sozioökonomischen Status ein bimodaler Altersgipfel zu beobachten ist, mit einem ersten Gipfel um das 25. und einem zweiten jenseits des 55. Lebensjahres; es wurde vermutet, dass sich dahinter verschiedene Krankheiten verbergen könnten. In Ländern mit geringen ökonomischen Ressourcen fand man eine Verschiebung des ersten Altersgipfels in die Kindheit sowie histologisch überwiegend gemischtzellige Formen mit positiver EBV-Serologie. Diese Fakten haben in Analogie zur Poliomyelitis annehmen lassen, dass in Entwicklungsländern eine Infektion in der frühen Kindheit eine entscheidende Rolle spielt (Mueller u. Grufferman 1999). In Deutschland betrug die Inzidenz des Morbus Hodgkin in den Jahren 1997–2001: 0,7 auf 100.000 Kinder unter 15 Jahren (Kaatsch u. Spix 2002). Die Alters- und Geschlechtsverteilung im Rahmen der Studie GPOH-HD 95 zeigt die ⊡ Abb. 64.1. Bemerkenswert ist auch die Verteilung der histologischen Subtypen unter den Studienpatienten: bei den
Krankheitsbegriff
Das von Thomas Hodgkin beschriebene (Hodgkin 1832) und später nach ihm benannte Krankheitsbild »Morbus Hodgkin« (Synonyma: Hodgkin-Lymphom, Lymphogranulomatose, »Hodgkin’s disease«) ist eine Erkrankung, die vor-
⊡ Abb. 64.1. Verteilung der Patienten nach Alter und Geschlecht in der Studie GPOH-HD 95. Für die über 16-Jährigen ist die hier dargestellte Verteilung nicht repräsentativ, da sie nicht ausschließlich in pädiatrischen Studien behandelt werden
753 64 · Morbus Hodgkin
Knaben mehr lymphozytenprädominante (13% vs. 3% bei Mädchen) und gemischtzellige Subtypen (12% vs. 6% bei Mädchen, bei Knaben unter 10 Jahren mit 46% vorherrschender Subtyp), während bei den Mädchen in allen Altersstufen mit insgesamt 79% die noduläre Sklerose dominiert. 64.3
Ätiologie und genetische Disposition
Die Ätiologie des Morbus Hodgkin ist unbekannt. Auf die Bedeutung genetischer Faktoren deuten unter anderem erhebliche Unterschiede in der Inzidenz bei internationalen Vergleichen (Stiller 1997) und analoge Verhältnisse in ethnischen Subpopulationen hin, z. B. in den USA. Auch familiäre Häufungen mit einem bis zu 7-fach erhöhtem Erkrankungsrisiko für Geschwister von in jungem Erwachsenenalter an Morbus Hodgkin Erkrankten und eine Konkordanz bei eineiigen, nicht jedoch bei zweieiigen Zwillingspaaren (Mack et al. 1995) lassen eine genetische Disposition vermuten. Umfangreiche Studien belegen eine Korrelation von Epstein-Barr Viren (EBV) mit Erkrankungen an Morbus Hodgkin. So ist bekannt, dass nach einer Erkrankung an infektiöser Mononukleose ein erhöhtes Risiko für eine Hodgkin-Erkrankung besteht (Hjalgrim 2000). In HRSZellen wurden klonale EBV-Genome nachgewiesen (Weiss et al. 1989). Seroepidemiologische Fallkontrollstudien haben gezeigt, dass bei Hodgkin-Patienten im Vergleich zu Kontrollpersonen erhöhte Titer gegen »virus capsid antigen« (VCA), »early antigen« (EA) und oft auch gegen »EBV nuclear antigen« (EBNA) vorliegen. Darüber hinaus haben Kohortenstudien zeigen können, dass erhöhte EBNA-Titer einen nachfolgenden Morbus Hodgkin vorhersagen lassen (Mueller u. Grufferman 1999). Die EBV-spezifische Zyto-
toxizität hingegen ist in Hodgkin-Lymphomen (HL) ausgeschaltet (Frisan et al 1995). Die Inzidenz EBV-assoziierter Hodgkin-Erkrankungen ist höher bei Kindern und älteren Erwachsenen, beim männlichen Geschlecht, beim histologischem Subtyp »mixed cellularity« (MC-Mischtyp); sie ist höher bei Asiaten und niedriger bei Afro-Amerikanern sowie höher in armen und kinderreichen Familien. EBV-positive HL sind bei Kindern in unterprivilegierten Ländern in bis zu 90% anzutreffen, dagegen in den Industrieländern Europas und in den USA nur in 30–50%. Angeborene wie auch erworbene Formen von Immuninsuffizienz sind prädisponiert für Hodgkin-Erkrankungen, so z. B. auch HIV-Infizierte oder Patienten nach allogenen Knochenmarktransplantationen (Rowlings et al. 1999). 64.4
Pathogenese und Molekularbiologie
In klassischen Hodgkin-Lymphomen (CHL) finden sich in der Regel weniger als 1% Tumorzellen vom Typ der HRS-Zellen, während die Masse des Lymphoms aus so genannten Bystander-Zellen besteht. Erst durch die mikromanipulierte Gewinnung von HRS-Einzelzellen aus Gefrierschnitten und die anschließende enzymatische Amplifikation ihres genetischen Materials konnte die Herkunft der HRS-Zellen geklärt werden (Küppers et al. 1994). In fast allen Fällen des CHL sind klonale Immunglobulin(Ig)-Gen-Rearrangements in den Tumorzellen nachweisbar, die ihre Herkunft von präapoptotischen germinalen B-Zellen offenbaren (Kanzler et al. 1996). Denn es ließen sich in vielen HRS-Zellen auch destruktive Mutationen der Ig-Gene nachweisen, die normalerweise in Keimzentren zum apoptotischen Zelltod führen (⊡ Abb. 64.2). Als mögliche Erklärung für die Apoptoseresistenz gilt eine
⊡ Abb. 64.2. Modell der Entstehung von HRS- und L&H-Zellen im Keimzentrum von Lymphknoten (nach Küppers u. Rajewski 1998; Stein et al. 1999). CB Zentroblast, CC Zentrozyt; weitere Erläuterungen im Text
64
754
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
in HRS-Zellen nachgewiesene Aktivität von konstitutiven Nuklearfaktor-κ-B (NFκB ), einem als Anti-Apoptosesignal fungierenden Transkriptionsfaktor (Bargou et al. 1997). In einigen Fällen konnten auch T-Zellrezeptor-Rearrangements in HRS-Zellen nachgewiesen werden, so dass CHL in seltenen Fällen auch T-Zell-Lymphome darstellen (Küppers et al. 2000). In den als »L&H«-Zellen bezeichneten Tumorzellen beim nodulären lymphozytenprädominanten Hodgkin-Lymphom lassen sich ebenfalls Ig-Gen-Rearrangements nachweisen, aber im Unterschied zu HRS-Zellen auch Sequenzvarianten klonaler Ig-Gene. Dies deutet darauf hin, dass in diesen Zellen der Hypermutationsmechanismus noch aktiv ist und die L&H-Zellen folglich transformierte germinale B-Zellen darstellen (Marafioti et al. 1997; ⊡ Abb. 64.2). Für den Morbus Hodgkin konnten bisher keine charakteristischen Chromosomentranslokationen oder Mutationen in Onkogenen oder Tumorsuppressorgenen gefunden werden, obwohl untersuchte HRS-Zellen in der Regel zahlreiche komplexe chromosomale Aberrationen aufweisen (Sarris et al. 1999). Die von HRS- und Bystander-Zellen sezernierten Zytokine werden mit spezifischen morphologischen und funktionellen Eigenheiten der Erkrankung assoziiert. So wird postuliert, dass die Interleukine IL-1, -6 und -9 sowohl als autokrine Wachstumsfaktoren für die HRS-Zellen fungieren als auch die Bystander-Zellen parakrin stimulieren. IL-5, -2 und -3 sollen die Eosinophilie induzieren und TGF-β (transforming growth factor β), IL-1 und Tumornekrosefaktor (TNF) die Fibrose in Hodgkin-Lymphomen. Für die B-Symptomatik ( Abschn. 64.6 und 64.8) werden in erster Linie IL-6, TNF, Lymphotoxin-α und IL-1 verantwortlich gemacht, für die Immunsuppression TGF-β und IL-10 (Stein et al. 1999; Küppers et al. 2000; Skinnider u. Mak 2002). 64.5
Pathologie
Die aktuelle WHO-Klassifikation der malignen Lymphome (Harris et al. 1999) basiert für die HL auf der Rye-Klassifikation (Lukes et al. 1966). Neu daran ist die Sonderstellung des nodulären lymphozytenprädominanten Hodgkin-Lymphoms (frühere Bezeichnung: noduläres Paragranulom): WHO-Klassifikation der malignen Lymphome: Noduläres lymphozytenprädominantes HodgkinLymphom (NLPHL, auch LPHD) Klassisches Hodgkin-Lymphom (CHL) − Lymphozytenreiches klassisches HodgkinLymphom (LRCHL, auch LR) − Noduläre Sklerose (NS), Grad 1 und 2 − Mischtyp (MC) − Lymphozytenarmer Subtyp (LD)
Wesentlich für Abtrennung des NLPHD vom CHL ist der unterschiedliche Immunphänotyp der Tumorzellen. Während die Tumorzellen des CHL immer CD30, häufig auch CD15 und nur selten CD20 exprimieren, sind die Tumorzellen des
NLPHL immer positiv für CD20; auch CD79a sowie J-Ketten sind bei ihnen als weitere B-Zellmarker meist exprimiert. 64.5.1 Noduläres Lymphozyten-prädominantes
Hodgkin-Lymphom Das NLPHL (etwa 9% der Fälle in der Studie GPOH-HD 95) ist morphologisch durch die L&H-Zellen charakterisiert, genannt nach den vorherrschenden Lymphozyten und Histiozyten im Begleitinfiltrat. Sie sind im Zentrum stark vergrößerter, progressiv transformierter Keimzentren anzutreffen. Die Mehrzahl der Fälle zeigt überwiegend eine knotige Anordnung (noduläre Variante). Weniger als 1% der Fälle zeigen überwiegend diffuse Areale (diffuse Variante). 64.5.2 Klassisches Hodgkin-Lymphom Die 4 Subtypen des CHL unterscheiden sich durch die unterschiedliche Anzahl der HRS-Zellen (in zunehmender Reihenfolge: LR–NS–MC–LD), die zelluläre Zusammensetzung des Begleitinfiltrats und die Anordnung der extrazellulären Matrix. Beim lymphozytenreichen klassischen Hodgkin-Lymphom (LRCHL, etwa 1% der Fälle in der Studie GPOH-HD 95) finden sich im Begleitinfiltrat vorwiegend Lymphozyten, hingegen keine eosinophilen und neutrophilen Granulozyten und keine Fibrose. Die noduläre Sklerose (NS; 68% in der Studie GPOH-HD 95, mit einem Verhältnis von Grad 1 zu Grad 2 wie 3:1) ist charakterisiert durch polarisationsoptisch doppelbrechende und PAS-positive Kollagenfaserbündel, die Knoten von gemischtzelligen Infiltraten umschließen. Nach dem Anteil der HRS-Zellen und anderen Kriterien lässt sich ein Grading in Typ 1 und 2 vornehmen (Bennett et al. 1983). Der Mischtyp (MC; 21% der Fälle in der Studie GPOHHD 95) weist eine heterogene Mischung von HRS-Zellen, Lymphozyten, eosinophilen und neutrophilen Granulozyten, Histiozyten, Plasmazellen und Fibroblasten auf, jedoch keine bandförmigen Fibrosen. Auch Hodgkin-Lymphome, die sich keinem anderen Subtyp zuordnen lassen, werden als Mischform klassifiziert. Beim lymphozytenarmen Subtyp (LD; unter 1% der Fälle in der Studie GPOH-HD 95) wurden früher diffus fibröse von retikulären Typen unterschieden. Letztere sind mitunter schwierig von Non-Hodgkin-Lymphomen zu unterscheiden. 64.6
Klinisches Erscheinungsbild
! Das häufigste klinische Zeichen eines Morbus Hodgkin ist eine schmerzlose, gummiartig-derbe, Schwellung peripherer Lymphknoten, meist zervikal und supraklavikulär, seltener axillär oder inguinal.
Die Dauer der Anamnese variiert zwischen wenigen Tagen und vielen Monaten. Bei Kindern und Jugendlichen besteht in etwa ¾ der Erkrankungen eine mediastinale Beteiligung, die mitunter zu Husten, venösen Einflussstauungen oder Atemnot führt. Selten stehen Symptome eines infradiaphragmalen Befalls, wie Milzvergrößerung, Lebererkrankung und
755 64 · Morbus Hodgkin
Beschwerden durch einen Knochen- oder Lungenbefall im Vordergrund. Systemische Krankheitszeichen in Form von Gewichtsverlust, Fieber und Nachtschweiß (»B-Symptome«) kommen bei etwa einem Drittel der Kinder und Jugendlichen mit Morbus Hodgkin vor. Juckreiz ist bei Kindern selten und ohne prognostische Bedeutung. In Einzelfällen manifestiert sich die Krankheit primär mit einem paraneoplastischen Syndrom, z. B. als nephrotisches Syndrom, als Immunthrombozytopenie und/oder autoimmunhämolytische Anämie, als Polymyositis, als limbische Enzephalitis oder subakute zerebelläre Degeneration (Bierman et al. 1999). Bei Hodgkin-Patienten finden sich häufig komplexe immunologische Störungen, v. a. im Sinne einer erworbenen zellulären Immundefizienz mit verminderter oder aufgehobener Reaktion vom verzögerten Typ (negative Hautteste mit Tuberkulin, Dinitrochlorbenzol u. a.), was sich oft auch in einer erhöhten Empfänglichkeit für begleitende Infektionen mit Bakterien, Viren, Pilzen und Parasiten manifestiert (Poppema u. Potters 1999). Im Blutbild findet sich oft eine normochrome, normozytäre Anämie, gelegentlich eine Leukozytose und eine Eosinophilie und in fortgeschrittenen Fällen eine Lymphopenie. Ausgeprägte Panzytopenien lassen einen Knochenmarkbefall vermuten. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) ist in der Regel erhöht und auch der Gehalt an Laktatdehydrogenase (LDH), Kupfer und Ferritin im Serum können gesteigert sein. 64.7
Diagnostik
Die Diagnose wird durch Biopsie eines repräsentativen Lymphknotens bzw. aus befallenem Gewebe gesichert. Die Untersuchung des Gewebes erfolgt im allgemeinen zytologisch (Tumortupfpräparate; ⊡ Abb. 64.3), histologisch, immunhistologisch und in Zweifelsfällen, z. B. zur Abgrenzung von Non-Hodgkin-Lymphomen, auch molekulargenetisch.
⊡ Abb. 64.3. Reed-Sternberg-Zelle (große Zelle im Zentrum des Bildes) in einem Tumortupfpräparat (mit freundlicher Genehmigung von G. Kuling, Helios Klinikum Berlin)
Obligate Verfahren zur initialen Staging-Diagnostik: Klinische Untersuchung einschließlich sorgfältiger Dokumentation aller tastbaren Lymphknoten Sonographie peripherer Lymphknotenregionen, des oberen, vorderen Mediastinums und des Abdomens (Leber und Milz, zöliakale, paraaortale, iliakale Lymphknoten) Röntgenuntersuchung des Thorax Computertomographie (CT) des Thorax mit Lungenund Weichteil-»Fenster« Magnetresonanztomographie (MRT) oder CT des Halses, des Abdomen und des Beckens Ganzkörperskelettszintigraphie, zumindest ab Stadium IIB 1–2 Knochenmarkstanzbiopsien ab Stadium IIB, d. h. nicht obligat in Stadium I und IIA Labor: BB, BSG; LDH, Leber- und Nierenparameter im Serum; Serologie: Viren (EBV, VZV, HIV; Hepatitis A, B, C), Toxoplasmose, Candida, Aspergillen EKG, Echokardiographie
Fakultative Verfahren im Einzelfall: Bei Verdacht auf Skelettbefall gezielte Röntgen- und MRT- (oder CT-)Untersuchung Bei dringendem Verdacht auf Skelettbefall Biopsie wenigstens eines Herdes Biopsien aus grenzwertig vergrößerten peripheren Lymphknotenstationen Eine selektive Laparoskopie (oder Laparotomie) ohne Splenektomie (!) ist bei geplanter ChemoRadiotherapie nur dann erforderlich, wenn mittels bildgebender Verfahren keine Klärung über einen Befall infradiaphragmaler Lokalisationen herbeizuführen ist Positronenemissionstomographie mit 18-Fluorodesoxyglukose (FDG-PET)
In der Ära, in der man Hodgkin-Patienten nur mit einer Bestrahlung behandelte, war es wichtig, auch minimalen Befall zu detektieren. Zu dieser Zeit waren auch die Möglichkeiten der bildgebenden Diagnostik noch sehr beschränkt. Deshalb galt damals die explorative Laparotomie mit Splenektomie als obligate Staging-Diagnostik, obwohl diese ausgedehnten invasiven Eingriffe belastend waren und unter Umständen gefolgt von Bridenileus (5% bei laparotomierten Kindern der Studie DAL-HD 90; Schellong 1996) und schweren überfallartigen Infektionen infolge der Splenektomie (3,4% Todesfälle durch interkurrente Infektionen bei splenektomierten Patienten der Studien DAL-HD 78 bis -HD 87; Schellong 1996). In der multinationalen Studie GPOH-HD 95 wurde die Indikation zur explorativen Laparoskopie oder Laparatomie auf die mittels bildgebender Diagnostik nicht eindeutig zu klärenden Fälle beschränkt und somit unter 1018 Studienpatienten nur noch in 3,2% eine Laparotomie und in 2,1% eine Laparoskopie durchgeführt. Die bildgebenden Verfahren haben Präferenzen für verschiedene Lokalisationen und können sich sinnvoll ergänzen. Die Sonographie ist besonders für die Erfassung und Verlaufsdiagnostik peripherer Lymphome und ihre differenzial-
64
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Klassifikation des Morbus Hodgkin
IV
⊡ Abb. 64.4. MRT-Aufnahme: initialer Befall zervikal und supraklavikulär beidseits, infraklavikulär und axillär links sowie mediastinal bei einem 16-jährigen Jungen mit Morbus Hodgkin (mit freundlicher Genehmigung von H. Marciniak, Helios Klinikum Berlin)
diagnostische Abgrenzung zu benignen Veränderungen geeignet, aber auch zur Diagnostik von Lymphomen im oberen Mediastinum, im Abdomen und Becken (Mende et al. 1997); sie ist in der Diagnostik des nodalen Milzbefalls der MRT und CT überlegen (Siniluoto et al. 1994; Trauzeddel u. Dörffel 1997). Zur Diagnostik des Lungenbefalls ist das Thorax-CT die optimale Methode; es sollte zur Verminderung der Strahlenbelastung als Niedrigdosis-CT erfolgen. Die MRT-Untersuchung ist mit ihrer multiplanaren Darstellung für die Dokumentation und Verlaufskontrolle hervorragend geeignet und hat sich besonders in der Diagnostik des extranodalen Befalls der Thoraxwand, des Perikards, des Knochen- und Knochenmarkbefalls bewährt (⊡ Abb. 64.4) Die Positronenemissionstomographie mit Fluorodesoxyglukose (FDG-PET) hat in der internistischen Onkologie bereits einen hohen Stellenwert in der Diagnostik von Hodgkin-Erkrankungen erlangt, denn offenbar können nodale und extranodale Manifestationen mittels PET mit einer höheren Sensitivität und Spezifität detektiert werden als mit allen anderen bisher bekannten bildgebenden Verfahren (Reske u. Kotzerke 2001; Körholz et al. 2003). Bei Kindern gibt es aber bisher kaum publizierte Erfahrungen und es scheint ratsam, die Methode zunächst mit einer qualitätssichernden Referenzdiagnostik im Rahmen von prospektiven Studien einzuführen (Wickmann et al. 2003; Körholz et al. 2003). 64.8
Klassifikation und Prognosefaktoren
Die auf der Ann-Arbor-Klassifikation (Carbone et al. 1971) basierende, von der UICC (Union Internationale Contre le Cancer) empfohlene Stadieneinteilung sieht folgende Klassifikation vor (Wittekind et al. 2002):
Stadium I: Befall einer einzelnen Lymphknotenregion (I) oder lokalisierter Befall eines einzelnen extralymphatischen Organs oder Bezirks (IE). Stadium II: Befall von 2 oder mehr Lymphknotenregionen auf der gleichen Seite des Zwerchfells (II) oder lokalisierter Befall eines einzelnen extralymphatischen Organs oder Bezirks und seines (seiner) regionären Lymphknoten mit oder ohne Befall anderer Lymphknotenregionen auf der gleichen Zwerchfellseite (IIE). Stadium III: Befall von Lymphknotenregionen auf beiden Seiten des Zwerchfells (III), ggf. zusätzlich lokalisierter Befall eines extralymphatischen Organs oder Bezirks (IIIE) oder gleichzeitiger Befall der Milz (IIIS) oder gleichzeitiger Befall von beiden (IIIE+S) Stadium IV: Disseminierter (multifokaler) Befall eines oder mehrerer extralymphatischer Organe mit oder ohne gleichzeitigen Lymphknotenbefall; oder isolierter Befall eines extralymphatischen Organs mit Befall entfernter (nichtregionärer) Lymphknoten.
Jedes Stadium wird in A- und B-Kategorien unterteilt, A bei Fehlen und B bei Vorhandensein folgender definierter Allgemeinsymptome: ▬ unerklärlicher Gewichtsverlust von mehr als 10% in den letzten 6 Monaten und/oder ▬ unerklärtes persistierendes oder rekurrierendes Fieber über 38°C und/oder ▬ starker Nachtschweiß. Als eigenständige Lymphknotenregionen gelten nach der Ann-Arbor-Klassifikation die in ⊡ Abb. 64.5 dargestellten »nodalen« Lokalisationen; dabei gelten auch die seitendifferenten Lymphknotenregionen, z. B. zervikal-supraklavikulär-nuchal rechts und links als je 1 Region. Darüber hinaus werden von manchen Autoren auch die auf dem Meeting in Cotswold 1988 (Lister et al. 1989) beschlossenen Übereinkünfte für die Klassifikation genutzt. Als »bulky disease« gelten danach ein Mediastinaltumor mit einer Breite, die mehr als ein Drittel des inneren Thoraxdurchmessers in Höhe von Th5–6 beträgt, außerdem Lymphome mit einem maximalen Durchmesser über 10 cm (bei Erwachsenen!). Bei »extranodalen« Ausbreitungsorten sind umschriebene Beteiligungen (E-Stadien), per continuitatem von nodalen Lokalisationen ausgehend oder benachbart, z. B. in der Lunge, der Pleura oder Thoraxwand, dem Perikard oder Knochen, zu unterscheiden von disseminierten Herden z. B. in Lunge, Leber, Knochen oder Knochenmark (Stadium IV). Mit der klinischen Stadieneinteilung kann auch eine prognostische Aussage getroffen werden. So werden allgemein für die Therapiestratifizierung frühe (I, II und IIIA) von fortgeschrittenen Stadien (IIIB und IV) unterschieden. Die frühen Stadien werden von vielen Studiengruppen weiter aufgeteilt nach dem Vorliegen von Risikofaktoren (RF) wie »bulky disease«, extranodaler Befall, B-Symptome, 3 und mehr betroffene Lymphknotenregionen, aber auch z. B. hohe BSG und Anämie, in solche mit günstiger Prognose (ohne RF,
757 64 · Morbus Hodgkin
64.9
Differenzialdiagnose
Klinik. Klinisch sind Lymphknotenschwellungen das füh-
rende Symptom des Morbus Hodgkin. Zu ihrer differenzialdiagnostischen Abklärung ist an andere häufige Ursachen, insbesondere Infektionen zu denken, aber auch an NonHodgkin-Lymphome (NHL), solide Tumoren (z. B. Weichteilsarkome, Neuroblastome, Nasopharynxkarzinome oder Metastasen), Histiozytosen und benigne Malformationen (z. B. Halszysten). Histologie. Histologisch bereitet die Abgrenzung zwischen
den verschiedenen Subtypen des CHL, dem NLPHL und verschiedenen NHL-Entitäten auch heute noch zuweilen Probleme. Bei Kindern und Jugendlichen gibt es sie am ehesten zwischen dem NLPHL und dem T-zellreichen B-Zell-Lymphom (TCR-BCL) einerseits und zwischen dem CHL (meist LD oder NS Grad 2) und dem großzellig-anaplastisches Lymphom (ALCL) andererseits, zumal auch Übergangsformen und »composite lymphomas« dieser Erkrankungen beobachtet wurden (Braziel u. Oyama 1997; Jaffe u. MuellerHermelink 1999; Rüdiger 2000). ⊡ Abb. 64.5. Eigenständige nodale Befallsregionen nach der AnnArbor-Klassifikation; zusätzlich wurde der Zwerchfellrecessus als wichtige (nicht eigenständige Region!) hinzugefügt
64.10
Therapie
64.10.1 Radiotherapie bezeichnet als »early favourable« oder limitierte Stadien) und solche mit ungünstiger Prognose (mit RF, »early unfavourable« oder intermediäre Stadien). Darüber hinaus gibt es viele weitere Faktoren in Form klinischer wie auch labordiagnostischer Parameter einschließlich von Zytokinen im Serum, die bei verschiedenen Studiengruppen als Prognosefaktoren gelten (Specht u. Hasenclever 1999). In der pädiatrischen Studie GPOH-HD 95 konnten an über 1000 Patienten in uni- und multivariaten Analysen folgende Merkmale als statistisch signifikante Risikofaktoren ermittelt werden: ▬ B-Symptome, ▬ noduläre Sklerose Grad 2, ▬ extranodaler Befall in Form von E-Stadien oder Stadium IV und ▬ männliches Geschlecht. Ein mediastinaler Bulky-Tumor erwies sich hingegen nicht als Risikofaktor.
Gilbert entdeckte den kontinuierlichen Ausbreitungsweg der Lymphogranulomatose und Kaplan konnte zeigen, dass mit einer steigenden Strahlendosis eine zunehmende lokale Kontrolle bzw. Rezidivfreiheit im Strahlenfeld zu erreichen war, mit einem Maximum von 99% bei 4400 R (entsprechend 44 Gy; Kaplan 1966). Mit der hochdosierten »Extendedfield«-Radiotherapie (EF-RT: Bestrahlung aller befallenen wie auch der benachbarten Lymphknotenregionen) konnte bereits die Mehrzahl aller Patienten mit Frühstadien der Erkrankung geheilt werden. Für die EF-RT wurden Bestrahlungsfelder definiert: für supradiaphragmale Herde das Mantelfeld (⊡ Abb. 64.6) oder das Mantel-Paraaortalfeld mit Einschluss der Milz und der paraaortalen Lymphknoten (auch als subtotale nodale Bestrahlung – STNI – bezeichnet); für infradiaphragmale Herde das »umgekehrte Y-Feld« (Milz, paraaortale, iliakale und inguinale Lymphknoten) und für Herde ober- und unter-
⊡ Abb. 64.6. Strahlenfelder für »totale nodale Bestrahlung«, »Mantelfeld«, »involved field« und lokales Feld
»
«
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 64.1. Gebräuchliche Chemotherapieregime für die Behandlung des Morbus Hodgkin
Behandlungsregime
Dosierung
Zeitintervall
ABVD (28 Tage; Bonadonna u. Santoro 1982)
IV
Adriamycin
25 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Dacarbacin
375 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Bleomycin
10 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Vinblastin
6 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
COPP (in Klammern DAL-Modifikation, 28 Tage; Morgenfeld 1972/DAL: Breu 1982) Cyclophosphamid
650 (500) mg/m2 i.v.
Vincristin (O=Oncovin)
1,4 (1,5) mg/m2, maximal 2 mg i.v.
Tag 1+8
Procarbazin
100 mg/m2/Tag p.o.
Tag 1–14 (–15)
Prednison
40 mg/m2/Tag p.o.
Tag 1–14 (–15)
d1+8
COPP/ABV (28 Tage; von der CCG eingesetzte Version: Nachmann et al. 2002) Cyclophosphamid
600 mg/m2 i.v.
Vincristin
1,4 mg/m2, maximal 2 mg i.v.
Tag 1
Procarbazin
100 mg/m2/Tag p.o.
Tag 1–7
Prednison
40 mg/m2/Tag p.o.
Tag 1–14
Adriamycin
35 mg/m2 i.v.
Tag 8
Bleomycin
10 U/m2 i.v.
Tag 8
Vinblastin
6 mg/m2 i.v.
Tag 8
Tag 1
OPPA (28 Tage; Breu et al. 1982) Vincristin (O=Oncovin)
1,5 mg/m2, maximal 2 mg i.v.
Tag 1+8+15
Procarbazin
100 mg/m2/Tag p.o.
Tag 1–15
Prednison
60 mg/m2/Tag p.o.
Tag 1–15
Adriamycin
40 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
OEPA (28 Tage; Schellong et al. 1999), wie OPPA, aber Procarbazin ersetzt durch: Etoposid
125 mg/m2 i.v.
Tag 3–6
BEACOPP-escaliert (in Klammern: BEACOPP-basis, 28 Tage; Diehl et al. 1997 u. 1998) Bleomycin
10 mg/m2 i.v.
Etoposid
200 (100) mg/m2 i.v.
Tag 1–3
Adriamycin
35 (25) mg/m2 i.v.
Tag 1
Cyclophosphamid
1250 (650) mg/m2 i.v.
Tag 1
Vincristin
1,4 mg/m2, maximal 2 mg i.v.
Tag 8
Procarbazin
100 mg/m2 p.o.
Tag 1–7
Prednison
40 mg/m2 p.o.
Tag 1–14
Adriamycin
25 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Vinblastin
6 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Mechlorethamin
6 mg/m2 i.v.
Tag 1
Vincristin
1,4 mg/m2, maximal 2 mg i.v.
Tag 8+22
Bleomycin
5 U/m2 i.v.
Tag 8+22
Etoposid
60 mg/m2 i.v.
Tag 15+16
Prednison
40 mg/m2 p.o.
Alternierend (jeden 2. Tag)
Tag 8
Stanford V (28 Tage; Bartlett et al. 1995)
VAMP (28 Tage; Donaldson et al. 2002) Vinblastin
6 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Adriamycin
25 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Methotrexat
20 mg/m2 i.v.
Tag 1+15
Prednison
40 mg/m2 p.o.
Tag 1–14
VBVP (21 Tage; Landman-Parker 2000) Etoposid (V=VP 16)
100 mg/m2 i.v.
Tag 1–5
Bleomycin
10 mg/m2 i.v.
Tag 1
Vinblastin
6 mg/m2 i.v.
Tag 1+8
Prednison
40 mg/m2 p.o.
Tag 1–8
759 64 · Morbus Hodgkin
halb des Zwerchfells die »totale nodale Bestrahlung« (TNI, ⊡ Abb. 64.6). Wegen der bei Kindern beobachteten Neben- und Spätwirkungen der Bestrahlung (Donaldson u. Kaplan 1982) wurde in pädiatrischen Studien bald angestrebt, sowohl die Bestrahlungsdosis (Donaldson 1980; Breu et al. 1982) als auch die Bestrahlungsvolumina (Oberlin et al. 1985) zu reduzieren. In Kombination mit einer Chemotherapie (»combined modality therapy«, CMT) wurde schließlich eine niedrig dosierte Bestrahlung nur der befallenen Regionen (»Involved-field«-Radiotherapie«, IF-RT) zur Standardtherapie (Schellong et al. 1986; Donaldson u. Link 1987). In den DAL/GPOH-Studien wurden die Bestrahlungsvolumina schließlich noch weiter reduziert und individualisiert (⊡ Abb. 64.6; Schellong et al. 1999; Dieckmann et al. 2002). Bei der Festlegung der Dosis für befallene extralymphatische Organe ist die jeweilige Strahlentoleranz zu berücksichtigen. Für Lunge und Leber sollte die Dosis 12–15 Gy nicht überschreiten, wenn größere Anteile der Organe bestrahlt werden. Als optimale Fraktionierung werden für noduläre Herde allgemein 1,8 Gy (1,5–2,0 Gy ) im Referenzpunkt pro Dosis an 5 Tagen der Woche empfohlen, für große Bestrahlungsvolumina eine Reduktion auf 1,5 Gy und für die Lunge unter Verwendung von Transmissionsblöcken 1–1,2 Gy als Einzeldosis. Eine computergestützte 3-dimensionale Strahlentherapieplanung bietet heute optimale Bedingungen. Bei Kindern sollten asymmetrische Wirbelsäulenbestrahlungen (cave Skoliose), Bestrahlungen der Kieferknochen mit den Zahnanlagen (deshalb bei Befall des Waldeyer-Rachenrings seitlich opponierende Strahlenfelder!), hochdosierte Bestrahlungen des ganzen Herzen (partielle Ausblockung möglichst ab 16–20 Gy) und der Milz sowie Bestrahlungen der proliferierenden Brustdrüsen und der Gonaden (Verlagerung der Ovarien aus dem Strahlenfeld!) möglichst vermieden werden ( Kap. 51; Mendenhall et al. 1999). 64.10.2 Chemotherapie Die von De Vita und Mitarbeitern entwickelte Kombinationschemotherapie MOPP (Mechlorethamin, Oncovin = Vincristin, Procarbazin und Prednison) kombiniert Monotherapeutika mit guter Wirksamkeit bei Morbus Hodgkin, mit unterschiedlichen Wirkungsmechanismen zur Vermeidung einer Kreuzresistenz und mit möglichst wenig überlappender Toxizität. Damit erzielten sie bei 188 Patienten mit fortgeschrittenen Stadien ein rezidivfreies Überleben (RFS) von 66% und ein Überleben (OS) von 48% nach 20 Jahren (De Vita et al. 1970; Longo et al. 1986). In der Folgezeit wurden viele MOPP-Varianten mit einem Austausch von Medikamenten erprobt, z. B. statt Mechlorethamin Cyclophosphamid (COPP) oder Chlorambuzil, Lomustin oder Carmustin, sowie Ersatz von Vincristin durch Vinblastin. Diese Varianten zeigten teilweise eine geringere Toxizität, aber die Wirksamkeit war nicht besser (Hough u. Hancock 1999). Erst die von der italienischen Arbeitsgruppe um Bonadonna entwickelte Kombinationschemotherapie ABVD (⊡ Tabelle 64.1; Bonadonna u. Santoro 1982) erwies sich sowohl allein als auch alternierend mit MOPP angewandt noch wirksamer als MOPP (Canellos et al 1992). Später bewährten
sich auch Varianten so genannter Hybridchemotherapien aus MOPP oder COPP und ABV(D). Eine beachtenswerte Weiterentwicklung stellt die »Stanford V« (Bartlett et al. 1995; ⊡ Tabelle 64.1, Tabelle 64.3) genannte Kombinationstherapie dar, mit einer im Vergleich zu MOPP/ABV-Hybridtherapien gesteigerten Dosisintensität bei dennoch verringerten kumulativen Dosen für Adriamycin, Bleomycin und Mechlorethamin sowie Vermeidung von Procarbazin. Das von der Deutschen Hodgkin-Lymphom-Studiengruppe (DHSG) entwickelte Hybridschema BEACOPP (⊡ Tabelle 64.1) mit erhöhten (»eskalierten«) Dosen von Adriamycin und Cyclophosphamid sowie Etoposid und in einem auf 3 Wochen verkürztem (»akzelerierten«) Intervall führte – unter Inkaufnahme einer etwas höheren Toxizität – zu einer sprunghaft gesteigerten Effektivität in der Behandlung erwachsener Patienten mit fortgeschrittenen Stadien (Diehl et al. 1998). Es gibt in der pädiatrischen Onkologie zahlreiche Publikationen zu Studien mit alleiniger Chemotherapie, einerseits aus Ländern mit geringen Resourcen ohne Möglichkeiten für Radiotherapie und andererseits aus Industrieländern in dem Bemühen auf Radiotherapie zu verzichten, darunter auch 3 größere randomisierte Studien (Weiner et al. 1997; Hutchinson et al. 1998; Nachman et al. 2002). Aber obwohl diese Studien teilweise beachtenswerte Ergebnisse erzielten, wurde bisher keine einzige Studie mit alleiniger Chemotherapie als vorteilhafte Alternative zu einer kombinierten Chemo-Radiotherapie international anerkannt (Donaldson et al. 1999; Donaldson 2003). In der Response-adaptierten Studie GPOH-HD 95 bewährte sich erstmals eindeutig ein Radiotherapieverzicht für Patienten niedriger Stadien, die nach 2 Zyklen OPPA oder OEPA eine komplette Remission (hier definiert als Tumorvolumenregression über 95% und residuelle Lymphome unter 2 ml) erreicht hatten. Für 113 Patienten ohne Radiotherapie betrug das DFS (»disease free survival«) nach 5 Jahren 97% und war damit nahezu identisch zu dem von 281 Patienten (94%), die am Ende der Chemotherapie keine CR erreicht und deshalb eine IF-RT erhalten hatten (Dörffel et al. 2003). 64.10.3 Kombinierte Chemo-Radiotherapie In vielen pädiatrischen Studien wurden bereits seit den 70er-Jahren alle Patienten mit einer Kombination aus beiden Modalitäten behandelt. In ⊡ Tabelle 64.2 sind einige bewährte pädiatrische Therapieregime zur Behandlung des Morbus Hodgkin in frühen Stadien zusammengestellt. Die Stratifizierung der Patienten in »frühen Stadien« erfolgte in den einzelnen Studiengruppen sehr unterschiedlich ( Abschn. 64.8), weshalb der Anteil dieser Patienten an allen Patienten mit Morbus Hodgkin zwischen 26% und 60% variiert. Die italienische Gruppe behandelte mit ABVD, die französische Gruppe mit VBVP (ohne Alkylanzien und Anthrazykline), die »SDS«-Gruppe (Universität Stanford, Dana-Farber Cancer Institute in Boston, St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis) mit VAMP (ohne Alkylanzien), die Children’s Cancer Group (CCG) mit COPP/ABV und die multinationale GPOH-Studiengruppe mit OPPA oder OEPA. Alle Studiengruppen erzielten ein EFS über 91%.
64
760
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 64.2. Bewährte pädiatrische Therapieregime zur Behandlung des Morbus Hodgkin in frühen Stadien, Zytostatika mit Dosisintensität in mg/m2/Woche und dahinter in Klammern kumulative Dosen in mg/m2, applizierte Radiotherapie und ereignisfreies Überleben (EFS)
IV
Zahl der Zyklen
3 ABVD
4 VBVP*
4 VAMP
4 COPP/ABV
2 OPPA oder OEPA**
Studie
AIEOP-MH89
France: MHD 90
USA: SDS
USA: CCG
GPOH-HD 95
Publikation
Vecchi 1997
Landman-Parker 2000
Donaldson 2002
Nachmann 2002
Dörffel 2003
Behandlungsdauer
12 Wochen
12 Wochen
16 Wochen
16 Wochen
8 Wochen
Adriamycin
12,5 (150)
12,5 (200)
8,75 (140)
20 (160)
Bleomycin
5 (60)
3,3 (40)
2,5 (40)
Cyclophosphamid Dacarbazin
150 (2400) 188 (2250)
Etoposid
167 (2000)
Methotrexat
**=125 (1000) 10 (160)
Prednison
93 (1120)
140 (2240)
Procarbazin Vinblastin
3 (36)
4 (48)
3 (48)
21 Gy
20 Gy (bis 40 Gy und Milz/paraaortal)
15,5–25,5 Gy
Vincristin IF-RT-Dosis (mit Variationen)
140 (2240)
225 (1800)
175 (2800)
375 (3000), **=0!
1,5 (24) 0,35 (5,6)
1,1 (9)
21 Gy (36% der Patienten ohne RT)
20 Gy (bis 35 Gy, 30% der Patienten ohne RT)
Patienten (n)
100
202
110
294
408
% aller Patienten
39%
60%
34%
26%
40%
EFS
91% (7 Jahre)
91% (5 Jahre)
93% (5 Jahre)
95% (3 Jahre)
94% (5 Jahre)
* 27 MHD 90-Patienten wurden als »poor responder« (Tumorregression <70%) zusätzlich mit 1–2 OPPA-Zyklen behandelt; ** OEPA für Jungen zur Vermeidung des gonadotoxischen Procarbazins (außer Stadium IIIB).
Vergleicht man in den verschiedenen Therapieregimen einerseits die Dosisintensität der Zytostatika, die nach Hryniuk (Hryniuk u. Bush 1984) für die Effektivität ausschlaggebend ist, und andererseits die kumulativen Dosen der Zytostatika, die bekanntermaßen maßgeblich für die (Spät-)Toxizität der eingesetzten Zytostatika sind, so zeigen die Zytostatikakombinationen in der GPOH-Studie ein besonders günstiges Profil. Während hier die höchsten Werte bezüglich der Dosisintensität für Adriamycin, Prednison und Vincristin erreicht werden, liegen die Werte für die kumulativen Dosen im moderaten Bereich. Ein Vergleich der Spättoxizitäten für die verschiedenen Therapieregime steht noch aus, lässt aber in erster Linie Folgeerkrankungen der Radiotherapie allein oder in Kombination mit Anthrazyklinen, Alkylanzien und Bleomycin erwarten. Schwieriger ist ein Vergleich der Therapieergebnisse bei intermediären und fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung, v. a. wegen der unterschiedlichen Stratifizierung in den einzelnen Studiengruppen. In den pädiatrischen DAL/GPOH-HD-Studien wurden seit 1978 6 Studienprotokolle mit kombinierter Chemo- und Radiotherapie erprobt (⊡ Abb. 64.7 und 64.8; Schellong 1996; Schellong et al. 1999; Dörffel et al. 2003). Die Patienten wurden stadienabhängig in 3 Therapiegruppen (TG) behandelt: TG1 für Stadium I und IIA, TG2 für IIB/IIIA und TG3 für IIIB/IV; seit der Studie HD 90 wurden Patienten mit extranodalem Befall (E-Stadien) in die nächst höhere TG stratifiziert. Patienten in TG2 und TG3 wurden ab der Studie DAL-HD 82 mit 4 bzw. 6 Chemotherapiezyklen (HD 82: 2 OPPA- und 2 bzw. 4 COPP-Zyklen) und abgestufter IF-RT
(HD 82: TG 2 mit 30 Gy und TG 3 mit 25 Gy) behandelt. In der Studie DAL-HD 85 wurde das gonadotoxische Procarbazin aus der Therapie eliminiert (ersatzlos in »OPA« statt OPPA und in COPP ersetzt durch Methotrexat als »COMP«), was besonders in den fortgeschrittenen Stadien zu einer hohen Rezidivrate führte, weshalb die Studie vorzeitig beendet wurde. Dank einer effektiven Rezidivtherapie konnte aber auch in dieser Studie insgesamt eine 10-Jahres-Überlebensrate von über 95% erzielt werden. In der Studie DAL-HD 90 wurde für die Jungen eine Therapie mit OEPA statt OPPA (Ersatz von Procarbazin durch Etoposid) eingeführt und die Radiotherapie in Bezug auf Volumen (»lokale RT«, Abb. 64.6) und Dosis (TG1 und 2: 25 Gy, TG3 20 Gy) weiter reduziert. Damit wurde für TG2 ein 5-Jahres-EFS von 93% und für TG3 von 86% erzielt. In der letzten, bereits abgeschlossenen Studie GPOHHD 95 wurde die Standard-RT-Dosis für alle Therapiegruppen auf 20 Gy reduziert und bei Patienten mit einer kompletten Remission nach Chemotherapie ganz auf die Radiotherapie verzichtet. Das war – wie bereits ausgeführt – in der TG1 ohne Verschlechterung der DFS-Rate möglich, nicht aber in den mittleren und fortgeschrittenen Stadien, wo das DFS nach 6,5 Jahren bei den Patienten ohne Radiotherapie signifikant schlechter ausfiel als bei den bestrahlten Patienten (TG2 und TG3 zusammen: 79% vs. 91%, p=0,0008; Dörffel et al. 2003). Von 1988 bis 1994 wurden in einer SIOP-Studie 117 Patienten mit Stadium IV aus 7 europäischen Ländern mit 2 Zyklen OPPA und 4 Zyklen COPP sowie einer IF-RT mit 20 Gy behandelt. Das Ergebnis bestätigte die Reproduzier-
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⊡ Abb. 64.7. Wahrscheinlichkeit für ereignisfreies Überleben (EFS) in den DAL/GPOHStudien HD 78 bis HD 95 (n=2.263)
⊡ Abb. 64.8. Wahrscheinlichkeit für Überleben (OS) in den DAL/GPOH-Studien HD 78 bis HD 95
barkeit der DAL-Studien mit einem EFS von 86% und einem OS von 90% nach 5-Jahren (Schellong et al. 1997). Diese Behandlung ist für Kinder mit Stadium IV auch heute noch Standard in vielen europäischen Ländern. In den USA wurden im Rahmen einer beachtenswerten Studie der CCG Patienten mit intermediären Stadien mit 6 Zyklen COPP/ABV und solche mit fortgeschrittenen Stadien mit je 2 Zyklen von Hochdosis-Cytarabin/Etoposid plus COPP/ABV und CHOP (Cyclophosphamid, Adriamycin, Vincristin, Methylprednison und Prednison) behandelt. Die Patienten wurden randomisiert für oder gegen eine IF-RT nach durch Chemotherapie erzielter CR, definiert als Tumorvolumenregression >70% und negative Galliumszintigraphie. Das EFS betrug nach 3-Jahren für die intermediären Stadien 88% (mit RT) bzw. 83% (ohne RT) und für die fortgeschrittenen Stadien 91% (mit RT) bzw. 79% (ohne RT) (Nachman et al. 2002). In der Studie HD9 der DHSG konnte bei 460 erwachsenen Patienten mit ungünstigen Prognosefaktoren mit 8 Zyklen der eskalierten BEACOPP-Therapie und einer Bestrahlung auf initiale Bulky-Tumoren (30 Gy) sowie Restlymphome nach Chemotherapie (40 Gy) ein »freedom from treatment failure« (FFTF) von 89% und ein OS von 91% nach 3 Jahren erzielt werden (Diehl et al. 2001). Diese 8 eskalierten
BEACOPP-Zyklen führen allerdings zu sehr hohen kumulativen Dosen für Adriamycin, Bleomycin, Cyclophosphamid und Etoposid (⊡ Tabelle 64.3), die eine hohe Spättoxizität erwarten lassen. Es zeichnet sich auch bereits ein erhöhtes Risiko für sekundäre Leukämien ab (Diehl et al. 2001). Die DHSG-Studie HD12 prüft nun, ob nicht auch wieder eine gewisse Deeskalation der Therapie bei Erwachsenen möglich ist (Ansen et al. 2001). Auch mit der bereits erwähnten »Stanford V«-Therapie ( Tabelle 64.1 und 64.3) konnte in einer Studie an 142 erwachsenen Patienten mit ungünstigen Prognosekriterien – in Kombination mit einer Bestrahlung initialer Bulky-Lymphome – ein EFS von 89% und ein OS von 96% nach 5 Jahren erzielt werden (Horning et al. 2002). 64.10.4
Therapie des nodulären Lymphozytenprädominanten Hodgkin-Lymphoms
Patienten mit einem (nodulären) Lymphozyten-prädominanten Hodgkin-Lymphom (NLPHL; Abschn. 64.4 und 64.5) wurden in der Vergangenheit zumeist ebenso behandelt wie Patienten mit einem klassischen HL. Es wurden aber bereits in den achtziger Jahren erwachsene Patienten mit NLPHL
64
762
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Tabelle 64.3. Verschiedene Chemotherapieregime für Morbus Hodgkin in fortgeschrittenen Stadien mit Angabe der Dosisintensität in mg/m2/Woche und der kumulativen Dosen in mg/m2 (in Klammern)
IV
Zahl der Zyklen, Herkunft/Studie
6 ABVD Bonadonna
6 COPP/ABV CCG/AIEOP
8 BEACOPP escaliert (DHSG)
3 Stanford V (Stanford)
2 OPPA oder OEPA* + 4 COPP (DAL/GPOH)
Dauer in Wochen
24
24
24
12
24
Adriamycin
12,5 (300)
8,75 (210)
11,7 (280)
12,5 (150)
20 (160)
Bleomycin
5 (120)
2,5 (60)
3,3 (80)
2,5 (30)
150 (3600)
417 (10 000)
Cyclophosphamid Dacarbazin
250 (4000)
188 (4500)
Etoposid
200 (4800)
30 (360)
Mechlorethamin Prednison
140 (3360)
187 (4480)
Procarbazin
175 (4200)
233 (5600)
Vinblastin
nur *125 (1000)
1,5 (18)
3 (72)
Vincristin
140 (1680)
375 (9000) *(6000)
1,5 (36) 0,35 (8,4)
175 (4200)
3 (36) 0,47 (11,2)
0,7 (8,4)
0,88 (21)
* OEPA für Jungen, OPPA für Mädchen.
beschrieben, die nach einer chirurgischen Exstirpation in 88% (Miettinen et al. 1983) bzw. 90% (Hansmann et al. 1984) 5 Jahre überlebten. Bei 4 von 31 nur chirurgisch behandelten Patienten traten Non-Hodgkin-Lymphome auf, so dass seither bei NLPHL ein erhöhtes Risiko für sekundäre NHLErkrankungen angenommen wird (Miettinen et al. 1983). In einer retrospektiven multizentrischen Studie aus jüngerer Zeit wurden 219 Fälle von LPHL ausgewertet, die mit Chemooder Radiotherapie oder mit einer Kombination beider behandelt worden waren. Auch hier überlebten nach 8 Jahren Patienten im Stadium I zu 99%, Patienten in den Stadien II und III zu je 94%, aber im Stadium IV (6% aller Patienten) nur zu 41%. Von den 31 verstorbenen Patienten waren nur 8 am LPHL, aber 10 an sekundären malignen Neoplasien (5 akute Leukämien, 2 NHL, 3 solide Tumoren) verstorben (Diehl et al. 1999). Die seltenen disseminierten Verlaufsformen (Stadium IV) sind oft schwer von T-zellreichen B-Zell-Lymphomen (TCRBCL) abzugrenzen und bedürfen einer intensiveren Therapie (Rüdiger et al. 2002). Für erwachsene Patienten mit primär refraktären Erkrankungen oder Rezidiven von NLPHL wurden auch Behandlungen mit Anti-CD20-Antikörpern (Rituximab) kasuistisch (Keilholz et al. 1999 u. a.) und in Phase-II-Studien erprobt (Lucas et al. 2000; Rehwald et al. 2000). Es gibt wenig Publikationen zu NLPHL-Erkrankungen bei Kindern. Zusammengefasst waren in 2 amerikanischen Studien, einer über 26 Fälle aus den Jahren 1984–1993 (Karayalcin et al. 1997) und einer anderen über 51 Fälle aus den Jahren 1962–2000 (Sandoval et al. 2002) sowie 84 Fälle in der Studie GPOH-HD 95 (Publikation in Vorbereitung), in über 80% Jungen betroffen, zumeist mit Lymphknotenschwellungen zervikal, axillär oder inguinal im Stadium I oder II (über 85%). Die Behandlung erfolgte in den amerikanischen Studien mit kombinierter Chemo- und Radiotherapie oder mit alleiniger Chemo- oder Radiotherapie. In der GPOH-Studie wurden 11% nur chirurgisch behandelt, 64% nur mit Chemotherapie und 25% zusätzlich auch mit einer
lokalen RT. Das EFS nach 5 Jahren betrug in den amerikanischen Studien 86,5% (Karayalcin et al. 1997) und 97% (Sandoval et al. 2002), in der GPOH-Studie 94,2%. Nur in der amerikanischen Studie mit der längsten Beobachtungsdauer und dem höchsten Anteil bestrahlter Patienten (44/51) traten insgesamt 5 Sekundärmalignome auf, davon 4 (3 Karzinome und 1 Osteosarkom) im Bestrahlungsfeld (Sandoval et al. 2002). 64.11
Rezidiv
Dank der guten Ergebnisse der primären Behandlung gibt es wenig Publikationen über die Behandlung größerer pädiatrischer Patientenkohorten mit Progress oder Rezidiv eines Morbus Hodgkin. In den DAL-Studien HD 78 bis HD 90 traten unter 1245 Studienpatienten insgesamt 125 Progresse oder Rezidive im Zeitraum bis zu 15 Jahren nach Diagnose auf, davon 80% in den ersten 3 Jahren und 89% bis zu 5 Jahren (Schellong u. Riepenhausen 2002). Nach histologischer Sicherung erfolgte die Therapie seit 1986 nach einem einheitlichen Konzept mit 4–5 Zyklen alternierender Chemotherapie, vorwiegend IEP (Ifosfamid 2 g/m2/Tag p.i. über 24 h, Tag 1–5, Etoposid 125 mg/m2/Tag p.i. über 2 h, Tag 1–5 und Prednison 100 mg/m2/Tag p.o. Tag 1–5) und ABVD, teilweise COPP und nur in Einzelfällen CEP (CCNU 80 mg/m2 p.o. Tag 1, Etoposid 100 mg/m2/Tag p.o Tag 1–5, Prednimustin 60 mg/m2/ Tag p.o. Tag 1–5). Anschließend erhielten die Patienten eine IF-RT mit einer Dosis von 25–30 Gy bzw. in vorbestrahlten Regionen bis zu einer kumulativen Dosis von maximal 45 Gy (Schellong u. Hörnig-Franz 1993). Bei Tumorprogressionen, Früh- oder Mehrfachrezidiven und bei schlechtem Ansprechen auf die Chemotherapie erfolgten in den letzten Jahren auch zunehmend häufiger myeloablative Hochdosischemotherapien (HD-CT) mit nachfolgender Transplantation hämatopoetischer Stammzellen (HSCT). Unter Einschluss der Rezidive aus der Studie GPOH-HD 95 wurden nach diesem Konzept (HD-ST 86) ins-
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gesamt 174 Patienten behandelt, mit einem EFS von 50%, einem DSF von 61% und einem OS von 74% nach 10 Jahren. Die Prognose war in erster Linie abhängig vom Zeitpunkt des Rezidivs. Während Rezidive mehr als 12 Monate nach Ende der Primärtherapie ein DFS von 84% erreichten, lag das DFS der Frührezidive (therapiefreies Intervall von 3– 12 Monaten) bei 53% und das der Progresse (unter Therapie bis zu 3 Monaten nach Therapieende) bei 42% (Schellong et al. 2003). Für Salvage-Chemotherapien gibt es eine Vielzahl empfohlener Regime, aber keine einzige randomisierte Studie zu ihrem Vergleich. Zur Behandlung von Hodgkin-Erkrankungen mit verminderter Chemotherapiesensitivität haben sich seit über 20 Jahren verschiedene Regime von HD-CT mit autologer Stammzelltransplantation bewährt. Zwei prospektive randomisierte Studien an erwachsenen Patienten ergaben bei einem Vergleich konventioneller Chemotherapien mit einer HD-CT (beide mit BEAM: BCNU, Etoposid, ArabinosylCytosin, Melphalan) signifikant bessere EFS-Werte für die mit HD-CT behandelten Patienten (Linch et al. 1993; Schmitz et al. 2002). Auch für unterschiedliche Kohorten chemotherapierefraktärer Hodgkin-Erkrankungen pädiatrischer Patienten wurden mit einer HD-CT und nachfolgenden HSCT vergleichbare EFS-Werte im Bereich von 31–67% erreicht (Williams et al. 1993; Baker et al. 1999; Verdeguer et al. 2000; Frankovich et al. 2001; GPOH-Erfahrungen: Zintl et al. 2002). Eine kooperative randomisierte Studie der DHSG, EBMT und EORTC vergleicht gegenwärtig bei erwachsenen Patienten mit chemosensitiven Rezidiven nach einer Salvage-Therapie mit 2 Zyklen DHAP (Dexamethason, Hochdosis-Cytosin-Arabinosid und Cisplatin) eine sequenzielle HD-CT (Cyclophosphamid, Methotrexat, Etoposid und BEAM) im Vergleich zu einer einmaligen HD-CT mit BEAM (Josting et al. 2000). Behandlungen mit allogenen HSCT resultierten im Vergleich zu autologen HSCT in einer höheren Rate rezidivfreier Verläufe, was als Indiz für einen »Graft-versus-Hodgkin«Effekt gewertet wird. Leider führt die GVH-Reaktion aber auch zu einer höheren therapiebedingten Mortalität. In den letzten Jahren konnten die Ergebnisse der allogenen HSCT durch den Einsatz dosisreduzierter, nicht-myeloablativer Konditionierungen verbessert werden (Reece 2002, erste GPOHErfahrungen: Claviez et al. 2003). Mit der Intensität der Rezidivtherapien nimmt auch das Risiko für schwere Infektionen, kardiopulmonale Komplikationen, Sekundärmalignome und andere Spätfolgen zu. 64.12
Spätfolgen
Bei langzeitüberlebenden erwachsenen Patienten rangiert unter den Todesursachen 15–20 Jahre nach Diagnose kumulativ der Morbus Hodgkin an erster Stelle, wird dann aber von dem zunehmendem Risiko, an späten Therapiekomplikationen zu sterben, überholt (Henry-Amar u. Somers 1990; Hoppe 1997). Das gilt nicht in gleicher Weise für pädiatrische Patienten. Aber in einer Analyse von 387 Kindern und Jugendlichen, die von 1968–1990 im St. Jude Children’s Research Hospital wegen eines Morbus Hodgkin behandelt worden waren, wurde ebenfalls die kumulative Inzidenz
der Todesfälle an Morbus Hodgkin nach 20 Jahren (9,8%) durch Todesfälle anderer Ursachen (kumulativ an sekundären malignen Neoplasien 4,3%, Herzerkrankungen 2,9%, Infektionen 2,9%, Unfällen und Suiziden 2,1%) übertroffen (Hudson et al. 1998). Für die 1081 Patienten der Studien DAL-HD 78 bis HD 90 war die Wahrscheinlichkeit des Überlebens mit 94% nach 20 Jahren deutlich höher (Schellong u. Riepenhausen 2002). Sekundäre maligne Neoplasien (SMN) werden nach Behandlung eines Morbus Hodgkin im Kindesalter häufiger als nach allen anderen primären malignen Neoplasien beobachtet (Neglia et al. 2001). Es gibt sehr viele Publikationen mit widersprüchlichen Ergebnissen und Kommentaren dazu. So wird die kumulative Inzidenz für alle SMN nach Behandlung eines Morbus Hodgkin im Kindes- und Jugendalter 15 Jahre nach Diagnose mit 3,6% (Sankila et al. 1996), 7–8% (Beaty et al. 1995; Bhatia et al. 1996; Green et al. 2000) oder 12% (Tarbell et al. 1993) beziffert, 20 Jahre nach Diagnose mit etwa 7% (Sankila 1996; Schellong u. Riepenhausen 2002) bis 19% (Jenkin 1996) und nach 30 Jahren zwischen 18% (Sankila 1996), 26% (Bhatia 2003) und 31% (Jenkin 1996). Sekundäre akute nichtlymphoblastische Leukämien (ANLL) werden überwiegend auf Alkylanzien und Topoisomerase-II-Inhibitoren zurückgeführt und haben eine sehr schlechte Prognose. Alkylansbedingte Leukämien manifestieren sich etwa 2–15 Jahre nach Chemotherapie, mit einem Gipfel zwischen 5 und 10 Jahren. Kombinationschemotherapien, die Mechlorethamin oder Chlorambuzil enthalten, führen in 2–6% zu ANLL. Nach Topoisomerase-II-Inhibitoren, z. B. Etoposid, ist das Intervall kürzer und die Leukämien sind zytologisch (FAB-Typ M4 oder M5) und zytogenetisch (11q23) gut charakterisiert (van Leeuwen et al. 1999). Über die Ursachen sekundärer Non-Hodgkin-Lymphome ist weniger bekannt. Sie korrelieren eher mit einer Alkylanzientherapie (Bhatia et al. 1996), werden aber allgemein auch der krankheits- und therapiebedingten Immundefizienz beim Morbus Hodgkin zugeschrieben. Ähnlich wie bei den ANLL ist ihr Auftreten fast auf die ersten 15 Jahre nach Therapie beschränkt. In den DAL-HD-Studien wurden kumulativ nur insgesamt 1,4% sekundäre hämatologische Neoplasien (ANLL und MDS 0,6%) beobachtet und bisher kein einziger Fall einer mit Etoposid assoziierten ANLL (Schellong u. Riepenhausen 2002). Radiotherapie erhöht ebenfalls das Risiko für hämatologische Zweitneoplasien, aber v. a. für sekundäre solide Tumoren. Diese treten selten in den ersten Jahren und zunehmend häufiger erst etwa ab dem 15. Jahr nach der Behandlung des Morbus Hodgkin, meist im Strahlenfeld oder in deren Grenzbereichen auf. Sie zeigen im Gegensatz zu den hämatologischen Neoplasien bisher in den meisten Studien keine Plateaubildung in der kumulativen Inzidenz nach über 30 Jahren. In den meisten Analysen ist das weibliche Geschlecht häufiger betroffen, auch dann, wenn man die Mammakarzinome subtrahiert. Zum Einfluss der Bestrahlungsmodalitäten (Technik, Dosis und Fraktionierung) auf die Kanzerogenese gibt es wenig gesicherte Daten und auch widersprüchliche Aussagen. Nur in den unteren Dosisbereichen (unter 2–5, bis 10 Gy) soll das Risiko für die meisten SMN linear ansteigen und danach nur noch gering zuneh-
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
⊡ Abb. 64.9. Kumulative Wahrscheinlichkeiten für SMN bis zu 20 Jahre nach Erkrankung an einem Morbus Hodgkin im Kindes- und Jugendalter
IV
men, sodass man nicht postulieren kann, dass eine Reduktion der Radiotherapiedosen von 40 auf 20 Gy die Inzidenz radiogener SMN verringern muss (Epstein et al. 1997; van Leeuwen et al. 1999; Prosnitz 2002). Nach Strahlentherapie im Kindesalter werden besonders häufig Mammakarzinome und Schilddrüsenkarzinome beobachtet, aber auch Knochen- und Weichteilsarkome, gastrointestinale, urogenitale oder pulmonale Karzinome u. a. Besonders alarmierend sind die hohen Erkrankungsraten an Mammakarzinomen bei Frauen nach einer Bestrahlung im Bereich des Thorax oder der Axillen im Alter zwischen 10 und 16 (–30) Jahren, also in einer Zeit, wo die Brustdrüse proliferiert. Nach einem Intervall von (8–)10–15 Jahren treten in zunehmender Häufigkeit Mammakarzinome bis zu einer maximalen kumulativen Inzidenz von 20% bei 45-jährigen Frauen auf (Bhatia et al.2003). Aber die Angaben zur errechneten Wahrscheinlichkeit variieren auch hier beträchtlich (u. a. Sankila et al 1996; Wolden et al 1998; van Leeuwen et al. 1999 u. 2000; Neglia et al. 2001). Für die Schilddrüse ist der karzinogene Effekt ionisierender Bestrahlung bei Kindern besonders hoch. Meist handelt es sich um papilläre Schilddrüsenkarzinome, die nach einem Intervall von wenigen Jahren in zunehmender Inzidenz beobachtet werden (Inskip 2001). In den DAL-HD-Studien ergab sich bei 1245 zwischen 1978 und 1995 wegen eines Morbus Hodgkin behandelten Patienten 20 Jahre nach Diagnose eine kumulative Inzidenz an SMN von 7,1% (⊡ Abb. 64.9). Beobachtet wurden insgesamt 34 SMN und darunter 9 maligne hämatologische Neoplasien (5 ANLL/MDS und 4 ALL/NHL) sowie 25 solide Tumoren (9 Schilddrüsenkarzinome, je 3 Mammakarzinome, Sarkome und Basalzellkarzinome und 7 andere, verschiedene Tumoren; Schellong u. Riepenhausen 2002). Nach der Hodgkin-Erkrankung selbst und den SMN stehen kardiale Komplikationen in den meisten retrospektiven Analysen an dritter Stelle der Todesursachen. Von 635 Kindern und Jugendlichen, die von 1961–1991 in Stanford behandelt worden waren, starben nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 10 Jahren 12 Patienten an Herzkrankheiten, davon 7 an Myokardinfarkten, 3 an Herzklappenerkrankungen und 2 an radiogener Peri- bzw Pankarditis (Hancock et al. 1993). Derartige Spätkomplikationen dürften bei der heute gängigen Praxis der niedriger dosierten Radio-
therapie mit Ausblockung von Teilen des Herzens bei Kindern mit Morbus Hodgkin nur noch selten drohen. Allerdings ist das Langzeitrisiko für Koronarerkrankungen und Herzinfarkte bei der aktuellen Therapie noch weitgehend unbekannt. Unter den Zytostatika verursachen in erster Linie Anthrazykline dosisabhängig Herzschäden, aber auch Alkylanzien können, besonders in Kombination mit einer Bestrahlung, zu Kardiomyopathien führen (Hancock 1999; Donaldson et al. 1999). Lungenschäden drohen nach höher dosierter Bestrahlung großer Anteile der Lunge (u. a. Pneumonitis, Lungenfibrose und Venenverschlusskrankheit) und bei der Behandlung mit Bleomycin, Busulfan und Nitroseharnstoffderivaten, insbesondere bei Patienten mit einer Salvage-Therapie (Donaldson et al. 1999; Cosset u. Hoppe 1999). Infektionen haben heute für die Spätmortalität keine wesentliche Bedeutung mehr, seitdem die Splenektomie vermieden wird ( Abschn. 64.7) Jedoch kann auch eine Milzbestrahlung in Dosen über 20 Gy zu einer funktionellen Hypo- oder Asplenie mit der Gefahr von schweren, unter Umständen tödlichen Infektionen, führen (Coleman et al. 1982; Weiner et al. 1995). Unter den endokrinen Spätfolgen dominieren Schildrüsenerkrankungen und Fertilitätsstörungen. Das Risiko für Schilddrüsenerkrankungen nach Bestrahlung ist größer für Kinder und insbesondere Jugendliche sowie für höhere Strahlendosen (Hancock et al. 1991; Vose et al. 1999). Am häufigsten lassen sich subklinische Hypothyreosen mit einer TSH-Erhöhung nachweisen, aber auch Hyperthyreosen, euthyreote Ophthalmopathien, Autoimmunthyreoditis, benigne Zysten oder Knoten und – wie schon ausgeführt – Karzinome der Schilddrüse. In den DAL-HD-Studien gaben von 1091 Patienten 225 (19,8%) Schilddrüsenerkrankungen an, davon 156 (14,3%) zumeist subklinische Hypothyreosen und 68 (6,3%) Knoten bzw. 9 (0,8%) beides sowie 9 (0,8%) Karzinome. Da nicht bekannt war, ob bei den Patienten regelmäßig Schilddrüsen-Screeninguntersuchungen erfolgt sind, dürfte die Zahl der Schilddrüsenerkrankungen in Wirklichkeit noch etwas höher anzunehmen sein (Schellong u. Riepenhausen 2002). Eine Schädigung der Gonaden kann bei beiden Geschlechtern sowohl durch Radiotherapie als auch durch Chemotherapie verursacht werden. Testikuläre Bestrahlung
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kann schon in geringen Dosen (Streustrahlung) temporär und in Dosen ab 2–3 Gy zu einer bleibenden Azoospermie führen (Ash 1980). Unter den Zytostatika führen v. a. Alkylanzien wie Mechlorethamin, Chlorambuzil und Cyclophosphamid dosisabhängig zu einer vorübergehenden oder irreversiblen Fertilitätsstörung. Einen besonders ausgeprägten gonadotoxischen Effekt hat Procarbazin bei männlichen Patienten. So wurde eine Erhöhung der basalen FSH-Werte bei 28,9% der männlichen Patienten schon nach 2 Zyklen OPPA nachgewiesen, während nach Behandlung mit 2 Chemotherapiezyklen unter Vermeidung von Procarbazin (OPA) oder mit Ersatz durch Etoposid (OEPA) die FSH-Werte im Normbereich lagen (Gerres et al. 1998). Auch die im ABVDZyklus enthaltenen Zytostatika führen in der Regel nicht zu permanenten Azoospermien (Kulkarni et al. 1997). Die endokrine Funktion der Leydig-Zellen wird im Rahmen der Hodgkin-Therapie nur selten beeinträchtigt. Für das weibliche Geschlecht ist das gonadotoxische Potenzial der Radio- und Chemotherapie insgesamt niedriger und v. a. präpubertär geringer als bei erwachsenen Frauen. Beide Therapiemodalitäten können aber dosisabhängig zu passagerer Amenorrhö und auch zu einer vorzeitigen Menopause führen (Byrne 1999). Zu den DAL-HD-Studien ergab eine Befragung von 102 Frauen im Alter über 25 Jahren, dass sie zu etwa 40% Kinder geboren hatten, unabhängig von der Dauer der Chemotherapie. Demgegenüber waren nur 16% der über 25-jährigen Männer nach einer Behandlung für frühe Stadien (n=69), und nur 8% nach einer Behandlung für intermediäre und fortgeschrittene Stadien (n=75) Väter geworden, was mit der Anzahl der Chemotherapiezyklen und der kumulativen Procarbazindosis korreliert. Anomalien oder Krankheiten wurden bei keinem der insgesamt 150 gemeldeten Kinder angegeben (Schellong u. Riepenhausen 2002). Tipp für die Praxis Vor einer potenziell gonadotoxischen Therapie sollten Jugendliche heute über Möglichkeiten zu präventiven und fertilitätserhaltenden Maßnahmen beraten werden (Pfeifer u. Coutifaris 1999).
Störungen des Längenwachstums sind bei der aktuellen Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Morbus Hodgkin nicht zu erwarten, aber lokale Wachstumsstörungen von Knochen, Weichteilgewebe und Organen können nach einer Bestrahlung umso ausgeprägter beobachtet werden, je höher die Strahlendosis und je jünger die Kinder zum Zeitpunkt der Behandlung waren. Bei einer Bestrahlung des Halses und der Supraklavikularregion können eine Verkürzung der Claviculae, eine Hypotrophie der Muskulatur und des Weichteilgewebes sowie unter Umständen auch Einschränkungen der Beweglichkeit der Halswirbelsäule resultieren (Donaldson u. Kaplan 1982; Grulich et al. 1990). Neben somatischen Spätfolgen verdienen Untersuchungen zum Einfluss von Erkrankung und Behandlung auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität und zu ihren Auswirkungen auf physische Leistungsfähigkeit, soziale Lebensumstände und emotionale Befindlichkeit von langzeitüberlebenden Patienten zunehmendes Interesse (HenryAmar et al. 1999). So wurden z. B. bei erwachsenen Patienten
nach erfolgreicher Behandlung eines Morbus Hodgkin im Vergleich zur Normalbevölkerung vermehrt (bei Männern 24 vs. 9%, bei Frauen 27 vs. 12%) Symptome des als Fatigue bezeichneten Komplexes gefunden (Loge et al. 1999). Für die pädiatrische Onkologie wurde die Methodik derartiger Untersuchungen zur Lebensqualität erst in den letzten Jahren entwickelt (Calaminus et al. 2000) und es gibt bisher wenig Daten zur Lebensqualität nach Hodgkin-Erkrankung im Kindesalter (Crom et al. 1999). 64.13
Nachsorge
Nachuntersuchungen dienen der Rezidiverkennung, der Diagnostik von sekundären Erkrankungen und der psychologischen Führung der Patienten. Rezidiverkennung. Für die Rezidiverkennung sind klinische Untersuchungen alle 6 Wochen sowie Sonographie und Thorax-Röntgenuntersuchungen alle 3 Monate in den ersten 2 Jahren nach Therapieende sowie in doppeltem Abstand im 3. Jahr zu empfehlen. Im Einzelfall sind darüber hinaus weitere bildgebende Untersuchungen primär befallener Regionen mittels MRT oder CT (bei Lungenbefall!) im gleichen Zeitraster wie die Sonographie angezeigt. Ab dem 4. Jahr sind bildgebende Verfahren nur noch individuell bei Rezidivverdacht angezeigt. Das ergibt sich aus der geringen Rezidivwahrscheinlichkeit nach 3 Jahren und ist v. a. darin begründet, dass auch in früheren Zeiten mit regelmäßig geplanten Kontrolluntersuchungen über viele Jahre nur ein geringer Anteil der Rezidive dadurch entdeckt wurde, während die meisten Rezidive nach dem 3. Jahr durch vom Patienten selbst wahrgenommene Symptome oder »Knoten« erkannt wurden (Radford et al. 1997; eigene unveröffentlichte Erhebungen). Zweiterkrankungen und Spätfolgen. Zur Diagnostik von Zweiterkrankungen und Spätfolgen ergeben sich aus den im vorangegangenem Abschnitt dargelegten Zusammenhängen folgende minimale Empfehlungen: ▬ nach Bestrahlung des Halses oder des Mediastinums Schilddrüsensonographie und -hormondiagnostik (TSH, T4) einmal jährlich, ▬ nach Behandlung mit höheren Anthrazyklindosen oder Bestrahlung des Herzens EKG und Echo-Kardiographie etwa alle 2 Jahre, ▬ nach Lungenbestrahlung oder Bleomycintherapie Lungenfunktionsprüfungen, ▬ bei Männern ab dem 18. Lebensjahr und bei Mädchen mit Amenorrhö spätestens ab dem 15. Lebensjahr Gonadotropine und Sexualhormone und evtl. weitere Fertilitätsdiagnostik, ▬ bei Frauen nach Bestrahlung im Bereich des Thorax oder der Axillen ab 25. Lebensjahr Mammakarzinom-Screening.
Hinzu kommen gezielte Untersuchungen für besondere Fragestellungen und ein erweitertes Spektrum für Patienten mit einer Rezidivtherapie (Calaminus et al. 2000; Langer et al. 2002). Alle diese Untersuchungen müssen nach heutigem Kenntnisstand lebenslang erfolgen und die Patienten sollten über mögliche Folgekrankheiten adäquat aufgeklärt sein.
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
Viele Studiengruppen bemühen sich um die Entwicklung und Erprobung von neuen, effektiven und weniger toxischen Zytostatikakombinationen. In Anbetracht des besonderen Gewichts radiogener Spätfolgen bei Kindern und Jugendlichen gilt es auch, die Bestrahlungsindikationen, -volumina und -dosen weiter zu reduzieren. Bei der Weiterentwicklung risikoadaptierter Behandlungsprotokolle werden möglicherweise auch neue biologische Prognosefaktoren helfen. Für Response-adaptierte Protokolle könnte die 18-FDG-PET eine besondere Bedeutung erlangen. Somit könnte in Zukunft eine maßgeschneiderte Therapie dem individuellem Risiko jedes einzelnen Patienten besser gerecht werden, als das noch heute der Fall ist. Ganz neue Perspektiven verspricht auch die tumorspezifische Immuntherapie. Seit einigen Jahren werden verschiedene Therapiestrategien mit monoklonalen Antikörpern entwickelt. So wurden Antikörper gegen TumorTargetantigene, wie das auf allen HRS-Zellen vorhandene CD30-Antigen, mit Immuntoxinen pflanzlicher (Ricin oder Saporin) oder bakterieller Herkunft (Diphtherietoxin oder Pseudomonas-Exotoxin A) gekoppelt, mit Radioisotopen oder mit einem weiteren Antikörper gegen tumorspezifische Effektorzellen (Hartmann et al. 1997; Winkler et al. 1999). Besonders vielversprechend erscheint der Einsatz bispezifischer Anti-CD16/CD30-Antikörper, die über CD16NK-Zellen aktivieren, die dann über antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität (ADCC) eine Zytolyse der antikörperbeladenen HRS-Zellen bewirken (Hartmann et al. 2001). Auch Behandlungen mit »prodrugs« und Vakzinen sowie gentherapeutische Verfahren könnten neue Perspektiven bieten. Nach dem heutigen Erkenntnisstand versprechen aber alle diese biologischen Verfahren eher keine ausreichende Wirkung auf die volle »Tumorlast«, sondern werden vielleicht nur in der Lage sein, minimale residuale Erkrankungen nach einer konventionellen Primärtherapie auszuschalten.
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769 64 · Morbus Hodgkin
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64
Erworbene lymphoproliferative Syndrome W. Holter, A. Heitger
IV
65.1 65.2 65.3 65.4 65.5 65.6
Einleitung und Definition – 770 Epidemiologie und Risikofaktoren – 770 Biologie der EBV-Infektion – 771 Klinik – 773 Diagnostik – 773 Therapie – 774 Literatur – 775
Susanne erkrankt im Alter von 12 Jahren an einem myelodysplastischen Syndrom (refraktäre Zytopenie). Nach 6-monatigem Krankheitsverlauf, der durch 2 septische Episoden bei schwerer Granulozytopenie kompliziert war, erhält sie nach Konditionierung mit Fludarabin, Thiotepa und Antithymozytenglobulin periphere Stammzellen eines HLA identischen Fremdspenders. Nach vorerst komplikationslosem Verlauf entwickelt sie am Tag 55 nach der Transplantation eine foudroyante zervikale Lymphknotenschwellung, die zu einer schweren respiratorischen Insuffizienz führt. Histologisch und virologisch wird ein EBV-assoziiertes lymphoproliferatives Syndrom diagnostiziert. Nachdem eine Therapie mit Foscarnet keine Besserung erbringt, wird sie mit einem monoklonalen Antikörper gegen CD20 (Rituximab) behandelt. Innerhalb weniger Stunden kommt es zu einer Besserung der respiratorischen Insuffizienz und einer deutlichen Rückbildung der zervikalen Lymphome. Ein Jahr später befindet sich Susanne in anhaltender Remission ihres MDS. Weitere Episoden des lymphoproliferativen Syndroms sind bislang nicht aufgetreten.
65.1
Einleitung und Definition
Erworbene lymphoproliferative Syndrome (LPS) sind durch eine unkontrollierte Proliferation von Lymphozyten, meist von B-Zellen, charakterisiert. Grundlage für die Entwicklung eines LPS ist eine beeinträchtigte immunologische Kontrolle einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV). Das LPS ist daher eine typische Komplikation eines angeborenen oder erworbenen Immundefekts, insbesondere in der Folge einer Stammzelltransplantation oder einer Transplantation solider Organe. Nur vereinzelt wurden auch EBV-negative LPS nach Transplantation solider Organe beobachtet. Das klinische Spektrum reicht von einer nicht-neoplastischen Lymphadenitis über eine fulminant verlaufenden Mononukleose bis zur Entwicklung maligner Lymphome.
65.2
Epidemiologie und Risikofaktoren
Das Purtilo-Syndrom (»X-linked lymphoproliferation«, XLP) stellt den Prototyp eines angeborenen Immundefektes dar, der typischerweise ein EBV-assoziiertes LPS nach sich zieht. Bei Patienten mit XLP besteht wegen eines Defektes des SH2D1A-Gens trotz guter allgemeiner T-Zellimmunität aufgrund von relativ diskreten Funktionsstörungen von TZellen und NK-Zellen eine spezifische Unfähigkeit, EBVtransformierte Lymphoblasten in ihrer Proliferation zu hemmen bzw. auch die reagierenden T-Zellen regelrecht zu kontrollieren (Coffey et al. 1998; Parolini et al. 2000). Etwa 50% dieser Patienten versterben nach einer EBVInfektion im Rahmen einer fulminanten Mononukleose, ein weiteres Drittel erkranken später an EBV-assoziierten Lymphomen. Jedoch auch bei Patienten mit anderen angeborenen Immundefekten (v. a. SCID, Syndrome mit chromosomaler Instabilität wie dem Bloom-Syndrom oder dem Nijmegen-Breakage-Syndrom, Ataxia telangiectatica, Wiskott-Aldrich-Syndrom, CVID) besteht ein erhöhtes Risiko für ein LPS. Bei dieser Patientengruppe stellen Lymphome, gleichfalls häufig EBV-assoziiert, bis zu 50% aller Tumorerkrankungen dar (Elenitoba-Johnson u. Jaffe 1997; Penn 1998). Unter den erworbenen Immundefekten ist die HIVInfektion und die iatrogene Immunsuppression in der Folge von Transplantationen von klinischer Relevanz. In der Folge einer Stammzelltransplantation steigt das generelle Risiko, ein Malignom zu entwickeln, kumulativ auf ca. 7% nach 20 Jahren, ohne zu diesem Zeitpunkt ein Plateau zu entwickeln (Baker et al. 2003). Bei diesen Patienten stellen NonHodgkin-Lymphome einschließlich LPS die zweitgrößte Gruppe an Malignomen nach sekundärer AML/MDS. Die Entwicklung erworbener LPS in der Folge von Transplantationen wird von mehreren Faktoren, insbesondere vom Typ des Transplantats und der Dauer und Intensität der medikamentösen Immunsuppression, beeinflusst. Bei Organtransplantationen (OT) stammen die proliferierenden Lymphozyten in der Regel vom Organempfänger ab (Haque u. Crawford 1998), und das Risiko wird durch das transplantierte Organ und der damit assoziierten Intensität der Immunsuppression bestimmt. Nach Leber- oder Nierentransplantation entwickeln 1–3%, nach Herz- oder Lungentransplantationen jedoch bis zu 19% aller Patienten eine Lymphoproliferation (Benkerrou et al. 1993; Boyle et al. 1997). Die höchste Inzidenz wurde mit 32% nach Dünndarmtransplantationen bei Kindern berichtet (Finn et al. 1998). Obwohl ein EBV-assoziiertes LPS bereits wenige Monate nach der Transplantation auftreten kann, manifestierte sich die Mehrzahl von 36 Fällen eines LPS bei 524 kindlichen Transplantationspatienten jedoch erst nach 1,99±2,48 Jahren (Hayashi et al. 2001); dieses Zeitintervall kann sich jedoch
771 65 · Erworbene lymphoproliferative Syndrome
bei Intensivierung der Immunsuppression beträchtlich verkürzen (O’Reilly et al. 1998). Die Verwendung von Tacrolimus oder eines T-Zellantikörpers zur Behandlung einer Abstoßungskrise wurde ebenfalls mit einer höheren Inzidenz eines LPS assoziiert (Swinnen et al. 1990). Im Gegensatz zu der Situation nach Organtransplantationen stammen bei einem LPS nach Stammzelltransplantationen (SCT) die proliferierenden Zellen fast immer vom Stammzellspender ab, da eine myeloablative Konditionierung die Empfänger-B-Lymphozyten mit einer ggf. vorhandenen latenten EBV-Infektion eliminiert und SpenderB-Zellen in der Regel mittransplantiert werden (Gratama et al. 1988). Das Auftreten erreicht 2–6 Monate nach SCT einen Gipfel. Die Inzidenz variiert je nach Studie zwischen 0,5 und 16%; in einzelnen Serien wurde eine Inzidenz bis zu 24% bei Vorliegen multipler Risikofaktoren berichtet (Shapiro et al. 1988; Gerritsen et al. 1996; Übersicht: Meijer et al. 2002). Der wichtigste Risikofaktor für ein EBV-assoziiertes LPS ist eine T-Zelldepletion des Grafts unter relativer Aussparung der B-Lymphozyten entweder in vitro oder in vivo (z. B. durch Graft-Manipulation in vitro mittels isolierter T-Zelldepletion oder durch Konditionierung mit einem CD3-spezifischen monoklonalen Antikörper oder ATG; Swinnen et al. 1990). Erfolgt die T-Zelldepletion mit Campath, einem CD52-Antikörper, der sowohl B- als auch T-Zellen entfernt (und auch an bestimmte dendritische Zellen bindet), so ist die Inzidenz geringer (Hale u. Waldmann 1998). Weitere, meist jedoch ebenfalls mit einer T-Zelldepletion assoziierte Risikokonstellationen stellen Transplantationen vom Fremdspender oder Stammzelltransplantationen über einen HLA-Mismatch dar. Eine besondere Gefahrsituation für eine fulminante LPD besteht, wenn nach der Transplantation bei seronegativem Organempfänger oder seronegativem Stammzellspender eine primäre EBV-Infektion zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem die T-Zellimmunität noch kaum regeneriert ist oder noch eine massive Immunsuppression besteht (Haque u. Crawford 1998). Vereinzelt wurden auch EBV-negative lymphoproliferative Erkrankungen nach Transplantationen beschrieben; diese entwickeln sich im Mittel deutlich später als EBV-assozierte LPS, sind meist von monomorpher Histologie und von aggressivem Verlauf (Leblond et al. 1998; Nelson et al. 2000). In diese Gruppe fallen auch Lymphome mit T-Zellhistologie (Hanson et al. 1996). Das Castleman-Syndrom (»Castleman disease«, CD) ist eine im Kindesalter seltene lymphoproliferative Erkrankung, die sich beim Immunkompetenten meist in der lokalisierten Form manifestiert und hier auch eine gute Prognose hat (Parez et al. 1999). Die multizentrische, histologisch meist plasmoblastisch dominierte Variante ist wiederum mit einer Immunsuppression (klassischerweise durch eine HIV-Infektion) assoziiert, dort findet sich oft ein weiteres lymphotropes Herpesvirus, das Kaposi-Sarkom-assoziierte Herpesvirus (KSHV) bzw. HHV-8. HHV-8 wurde z. T. gemeinsam mit EBV auch in Zellen primärer Ergusslymphome (PEL) gefunden (Du et al. 2002; Oksenhendler et al. 2002; Shaw et al. 2002). Die Lymphoproliferation bei CD ist offensichtlich mit einer Dysregulation von IL-6 und VEGF-assoziiert, möglicherweise durch virale Gene von HHV-8 verursacht (Foss et al. 1997; Nishi u. Maruyama 2000).
! Obwohl Berichte von EBV-negativen LPS belegen, dass eine EBV-Assoziation kein absolutes diagnostisches Kriterium sein darf (siehe oben), wird doch der überwiegende Anteil an erworbenen LPS durch EBV hervorgerufen.
In der Folge soll daher näher auf die Biologie der EBV-Infektion und ihre Interaktion mit dem Immunsystem eingegangen werden. 65.3
Biologie der EBV-Infektion
Der primäre Kontakt mit EBV führt initial zu einer lytischen Infektion im Bereich des Oropharynx mit Virusreplikation und massiver Ausscheidung im Speichel. Untersuchungen an Patienten mit X-chromosomaler Agammaglobulinämie lassen vermuten, dass bereits die initiale Infektion B-Lymphozyten befällt (Faulkner et al. 1999). Anschließend bildet sich ein Reservoir an sekundär infizierten B-Lymphozyten heraus, die möglicherweise während deren Passage durch oropharnygeale lymphatische Organe infiziert werden. Hierbei kommt es zur Etablierung einer latenten Infektion, bei der normalerweise kein infektiöses Virus produziert wird (⊡ Abb. 65.1). Die Infektion von B-Lymphozyten beginnt mit der Bindung des viralen membranständigen Glykoprotein gp350/220 an den auf der Zellmembran exprimierten C3d-Komplementrezeptor CD21 (Cooper et al. 1988). Üblicherweise bildet sich eine lineare virale DNA-Form, die in ein zirkuläres episomales Plasmid übergeht (Pritchett et al. 1976). Da dieses Plasmid durch humane DNA-Polymerasen repliziert wird, sind in dieser Phase der Infektion Virustatika wie Acyclovir, die virale DNA-Polymerasen hemmen, wirkungslos. Die latente Infektion führt zur Expression von zumindest 11 EBVGenen, 2 davon kodieren für die kleinen nicht-polyadenylatierten, nicht-kodierenden RNA-Moleküle EBER-1 and EBER-2, 6 für die nukleären Proteine EBNA-1, -2, -3A, -3B, -3C und LP sowie 3 für die Membranproteine LMP-1, -2A und -2B. Unter diesen Proteinen kommen dem EBNA-1 (Erhaltung der latenten Infektion), EBNA-2 (Immortalisierung von BZellen) und dem LMP-1 (zelluläre Aktivierung) eine zentrale Rolle zu (⊡ Tabelle 65.1). Die Interaktion von LMP-1 mit dem LMP-1-assoziierten Protein, einem TNF-α-Rezeptor-assoziierten Faktor (TRAF), führt zur Aktivierung von NFκB und imitiert so den physiologischen Signaltransduktionsweg von TNF-α und CD40 mit ihren Rezeptoren, woraus eine Aktivierung und Proliferation von B-Zellen resultiert. Während der latenten Infektion induziert EBV weiterhin die Produktion und Sekretion von zellulärem IL-6 und IL-10 sowie von BCRF-1, die autokrine Wachstumsfaktoren darstellen und die Suszeptibilität der B-Zellen für Apoptose reduzieren (Miyazaki et al. 1993). ! Zusammen führen die latenten EBV-kodierten Gene zu einer Immortalisierung befallener B Lymphozyten, die in vivo auch bei intakter T-Zellimmunitätpersistieren und sich in vitro unbegrenzt in Form lymphoblastoider Zelllinien vermehren lassen.
65
772
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
IV
⊡ Abb. 65.1. Schema des Lebenszyklus von EBV und der mit den Stadien assoziierten möglichen Klinik. IM infektiöse Mononukleose; FIM fulminante IM; LPS lymphoproliferatives Syndrom; NK natürliche
Killerzellen; NKT natürliche Killer-T-Zellen; CTL zytotoxische T-Lymphozyten; Th-Zellen T-Helferzellen (bezüglich Abkürzungen der EBVassoziierten Antigene Text)
⊡ Abb. 65.2a–f. Effekt einer EBV-spezifischen adoptiven T-Zelltherapie auf die Lymphomhistologie eines LPS bei einem 11-jährigen Jungen nach allogener Knochenmarkstransplantation. a Die initiale Histologie (Pre) zeigt ein immunoblastisches Lymphom (HE-Färbung). b Die meis-
ten Zellen färben sich mit CD20 (B-Marker); c wenige T-Zellen lassen sich nachweisen. d–f Die entsprechenden Färbungen nach adoptiver Immuntherapie (Post) illustrieren das Ansprechen des Lymphoms auf die Therapie (aus Rooney et al. 1998)
773 65 · Erworbene lymphoproliferative Syndrome
⊡ Tabelle 65.1. Latente EBV-Gene und deren Funktion (Auswahl)
EBV-Gen
Funktion
EBNA-1
Erhaltung der latenten Infektion; bindet an OriP, das für die DNA-Synthese der episomalen EBV-DNA in latent infizierten B-Zellen verantwortlich ist; minimal immunogen
EBNA-2
Transkriptionsaktivator von viralen und zellulären Genen
LMP-1
Transkriptionsaktivator; involviert Signalproteine für TRAF (s. Text), aktiviert NFκB, imitiert CD40-mediierte Signale; moduliert Apoptose durch Induktion von bcl-2
EBNA-3A–3C
Transkriptionsaktivatoren; Kontrolle von EBNA-2, DNA-Bindung
Entsprechend der Expression von EBV-assoziierten Genen sind 3 vorherrschende Muster der latenten Infektion zu unterscheiden. Mischformen, auch innerhalb einer lymphoproliferativen Manifestation können vorkommen: ▬ Typ 1: ausschließliche Expression von EBNA-1 und den EBER-Genen, minimale Immunogenität, typischer Befund in Burkitt-Lymphomen; ▬ Typ 2: zusätzliche Expression von LMP-1, typisch für Nasopharnxkarzinomen und EBV positiven HodgkinLymphomen; ▬ Typ 3: Expression aller latenten EBV-Gene, typischer Befund bei in vitro immortalisierten B-Zellen und der Mehrzahl der transplantationsassoziierten lymphoproliferativen Syndrome. In unregelmäßigen Abständen kommt es auch bei Gesunden zu lytischen Phasen der EBV-Infektion mit einer Produktion infektiöser Viruspartikel. Der Beginn eines lytischen Zyklus ist gekennzeichnet durch die Produktion des ZEBRA Proteins (»Z-EBV replication activator«) und führt zur erhöhten Produktion des »immediate early antigens« (EA) (⊡ Abb. 65.1). Zelluläre Immunantwort gegen EBV. Während der Primärinfektion mit EBV kommt es zu einer ausgeprägten T-ZellLymphozytose mit einer Expansion von aktivierten HLADR-positive, CD8-positive Zellen. Zusätzlich umfasst die Immunantwort gegen EBV auch eine NK-Zellaktivierung, und die Rekrutierung von T-Zellen mit NK-ähnlicher zytolytischer Aktivität gegen EBV-transformierte B-Zellen (Wallace et al. 1982; Strang u. Rickinson 1987). Analysen mit epitopspezifischen HLA Tetrameren zeigten, dass während der Akuterkrankung bis zu 50% der zirkulierenden T-Zellen spezifisch für einzelne EBV kodierte Proteine sind (Callan et al. 1998). Nach Abklingen der klinischen Symptomatik verbleiben überwiegend EBV-spezifische HLA-I-restringierte CD8-positive T-Zellen, in geringerer Anzahl EBV-spezifische CD4positive T-Zellen. Bei gesunden EBV-seropositiven Individuen persistieren Vorläuferzellen von spezifischen zytotoxischen T-Lymphozyten (CTL) in Frequenzen von 1/400– 1/42.000. In der Phase der latenten Erkrankung reagieren diese Zellen nur mit einem schmalen Spektrum von EBV-
Antigenen, vorwiegend EBNA-3, -4 und -6. Zusätzlich persistieren aber auch CD8-positive EBV-spezifische T-Zellen gegen die »immediate early transactivator« Proteine ZEBRA und BHRF-1, wodurch die Anzahl an EBV transformierten B-Zellen und somit die Kapazität infektiöse Viren zu produzieren, in Grenzen gehalten werden. Das Fehlen einer EBNA-1-spezifischen CD8-positive CTL-Antwort erklärt sich daraus, dass EBNA-1 nicht in Verbindung mit HLA-I-Molekülen präsentiert werden kann. Eine EBNA-1-spezifische CD4-positive T-Zellantwort lässt sich jedoch nachweisen (Paludan et al. 2002). 65.4
Klinik
Eine lokalisierte Manifestation einer EBV-assoziierten Erkrankung beim Immunsupprimierten ist die orale Leukoplakie, eine benigne epitheliale Hyperplasie, in der Form einer manchmal warzenähnlichen weißlichen Verdickung, meist an der Seite der Zunge gelegen. Innerhalb der Läsion lässt sich in situ replizierendes EBV nachweisen. Sie tritt vor allem bei HIV infizierten Patienten auf, aber auch bei transplantierten Patienten unter Immunsuppression, manchmal auch beim Immungesunden (Greenspan et al. 1985; Walling et al. 1995). Sie spricht meist gut auf eine Therapie mit Acyclovir an. Beim organtransplantierten Patienten äußern sich fulminante Formen als diffuse lymphoide Infiltrationen und entsprechender organspezifischer Symptomatik, beispielsweise einer Pneumonitis. Bei dieser Patientengruppe manifestiert sich jedoch ein LPS häufiger lokalisiert. Tumoröse Präsentationen in Form von Lymphomen sind oft extranodal gelegen und können Obstruktionen oder Perforationen hervorrufen. Manifestationen im Bereich des Gastrointestinaltraktes und des ZNS wurden jeweils in etwa 25% einer Patientenserie beschrieben (Nalesnik 1990; Penn u. Porat 1995). Vor allem nach Transplantationen von Lunge und Niere ist das Transplantat selbst häufig betroffen, jedoch seltener nach Herztransplantationen. Auch isolierte Hautmanifestationen wurden beschrieben (Nalesnik 1998). Nach Stammzelltransplantation sieht man häufiger das Krankheitsbild einer fulminant verlaufenden Mononukleose, seltener bilden sich allmählich solide Lymphome. Klinische Symptome der systemischen Manifestation sind vielgestaltig und können Fieber, Exantheme, Pharyngitis, Lymphadenopathien, eine Hepatosplenomegalie, Hepatitis, oder eine Pneumonie umfassen. Typische Laborbefunde zeigen eine Knochenmarkaplasie, Hyper- oder Hypogammaglobulinämien, ein Anstieg des CRP, eine Lymphozytose mit Expansion der B-Zellen sowie evtl. auch Koagulopathien. 65.5
Diagnostik
! Die Diagnostik eines EBV-assoziierten LPS stützt sich auf die Trias klinische Symptomatik, Histologie und Virusnachweis. Entscheidend ist die Wahrnehmung einer spezifischen Risikosituation.
Obwohl die klinische Symptomatik vielgestaltig und anfangs auch diskret und unspezifisch sein kann, lässt sie sich bei
65
774
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
entsprechendem Verdacht meist als typisch erkennen. Wie bei allen lymphoproliferativen Erkrankungen ist jedoch die definitive Diagnosestellung nur mittels histologischem Befund möglich. Dabei werden nach WHO-Klassifikation 3 Subtypen des EBV-assoziierten LPS unterschieden (Harris et al. 1999): ▬ die plasmazytische Hyperplasie, ▬ die polymorphe (meist polyklonale) B-Zellhyperplasie und ▬ das klassische monomorphe B-Zell- (>90%) oder T-ZellLymphom. Die Unterscheidung zwischen den beiden letztgenannten Subtypen ist oft arbiträr. Oftmals zeigen die Läsionen Mischformen und ein Nebeneinander von monoklonalen und polyklonalen Populationen, so dass molekularbiologische Untersuchungen nicht für Therapieentscheidungen herangezogen werden können (Hanto et al. 1989; Chadburn et al. 1995). Trotz der Tatsache, dass EBV-negative LPS vorkommen können, bleibt weiterhin der Nachweis von EBV im Resektions- bzw. Biopsiepräparat mittels In-situ-Hybridisierung, PCR, oder Immunfluoreszenz von zentraler Bedeutung. Typischerweise lässt sich während, aber auch oft bereits vor der klinischen Manifestation eines LPS EBV-DNA in hoher Kopienanzahl mittels quantitativer PCR in der Zirkulation nachweisen (Rooney et al. 1995a; Bai et al. 1997; Rowe et al. 1997). In mehreren publizierten Serien wurde die Sensitivität und die Spezifität dieser Methode für die Diagnose eines LPS mit jeweils 70–100% beschrieben, wenn Werte zwischen 1000 und 100.000 Genomäquivalente pro µg zelluläre DNA (Bestimmung aus mononukleären Zellen des peripheren Blutes) oder pro ml Plasma (zellfreie Bestimmung) als diagnostischer Schwellenwert gewählt wurden (Übersicht: Meijer et al. 2002). Die Viruslast kann fulminant rasch oder über Wochen hinweg langsam ansteigen. Allerdings kann auch beim Immunsupprimierten ohne LPS in der PBMC-Fraktion mit sensitiven PCR-Methoden EBV-DNA nachweisbar sein. Aufgrund dieser Daten hat die regelmäßige quantitative Bestimmung der Viruslast bei Patienten in einer Risikosituation eine wichtige Bedeutung erlangt, um rechtzeitig präemptive Maßnahmen oder weitere diagnostische und therapeutische Schritte setzten zu können. 65.6
Therapie
Nach Organtransplantationen, allerdings meist nicht nach SZT, führt bereits die Reduktion der Immunsuppression bei einer Vielzahl der Patienten zu einer Remission der Lymphoproliferation, wobei v. a. lokalisierte Läsionen mit polymorpher Histologie auf diese Maßnahme ansprechen (Hayashi et al. 2001). Als Nebenwirkung muss jedoch mit dem Verlust des transplantierten Organs durch Abstoßung bzw. mit der Entwicklung einer GVHD nach SZT gerechnet werden. Es gibt Hinweise darauf, dass eine antivirale Prophylaxe möglicherweise das Risiko der Entstehung eines EBV-assoziierten LPS bei organtransplantierten Patienten senken kann (Darenkov et al. 1997). Da jedoch Virustatika hauptsächlich in der lytischen Phase der Virusvermehrung wirken, die wahrscheinlich am Beginn, nicht aber später für den Verlauf
eines LPS entscheidend sein dürfte, ist eine solche Behandlung bei einem etabliertem LPS im Allgemeinen ineffektiv. Zunehmend als Therapie der Wahl durchgeführt wird eine Therapie mit B-Zell-spezifischen monoklonalen Antikörpern (Benkerrou et al. 1998). Insbesondere der CD20spezifische Antikörper Rituximab führte in mehreren Studien zu Ansprechraten von über 60% (Milpied et al. 2000; Faye et al. 2001). In einer prospektiven Studie mit 49 erwachsenen Patienten, die ein T-Zell-depletiertes Stammzell-Graft erhielten, evaluierten daher van Esser und Mitarbeiter, ob eine präemptive Rituximab-Therapie aufgrund eines EBV-PCRNachweises über 1000 Genomäquivalenten pro ml Plasma geeignet wäre, in einer solchen Risikogruppe die Häufigkeit eines LPS zu senken. In dieser Studie gelang es, die Inzidenz des LPS von 49% auf 18% zu senken und die damit assoziierte Mortalität zu vermeiden (van Esser et al. 2002). Die wichtigste Nebenwirkung dieser Therapie ist eine langanhaltende Depletion der B-Zellen mit assoziierter humoraler Immundefizienz. Wenn andere Therapieoptionen versagt haben, kann eine Polychemotherapie, v. a. bei Patienten nach Organtransplantationen, für die Behandlung des LPS erfolgreich sein und Remissionsraten von bis zu 75% erreichen (Meijer et al. 2002; Watts et al. 2002). Eine weitere Option stellt eine Behandlung mit IFN-α dar, wobei sich diese Immunmodulation, ähnlich wie eine Reduktion der Immunsuppression, bei Vorliegen einer GVHD verbietet. Die Rationale für eine IFN-α-Behandlung besteht in der antiproliferativen und antiviralen Aktivität der Typ-I-Interferone sowie in der immunmodulatorischen Wirkung im Sinne eines Zytokin-Shifts von T-Zellen zu einem Th1-Muster. In kleinen klinischen Serien und kasuistischen Berichten konnten mit diesem Vorgehen auch Komplettremission erzielt werden, wobei Interferon meist zusammen mit weiteren Maßnahmen eingesetzt wurde (Übersicht: Faro 1998). Ebenfalls wirksam im Sinne einer Behebung der zugrunde liegenden Risikokonstellation, nämlich der beeinträchtigen T-zellulären Immunität, hat sich eine adoptive Therapie mit unspezifischen oder in vitro expandierten EBV-spezifischen T-Zellen erwiesen. Während nichtmodifizierte PBMC durch die darin enthaltenen EBV spezifischen Memory-Zellen bereits einen antiviralen Effekt enfalten können, besteht hier die Gefahr einer Induktion oder Verstärkung einer GVHD (Papadopoulos et al. 1994). Effektiver und sicherer, jedoch mit beträchtlichem logistischen Aufwand verbunden, ist eine Infusion von in vitro expandierten EBV-spezifischen T-Zellen, die sowohl eine therapeutische als auch eine prophylaktische Wirksamkeit eindrucksvoll bewiesen haben (⊡ Abb. 65.2) (Rooney et al. 1995b; Rooney et al. 1998).
Trotz all dieser therapeutischen Optionen ist die Prognose eines LPS immer noch ernst. Abhängig von der zugrunde liegenden Risikosituation, dem Zeitpunkt der Manifestation, dem histopathologischen Subtyp sowie abhängig davon, ob sich die Erkrankung lokalisiert oder disseminiert manifestierte, betrug die Mortalität in älteren Serien bis zu 80%. Die in den letzten Jahren verbesserten diagnos-
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775 65 · Erworbene lymphoproliferative Syndrome
tischen Techniken, die eine regelmäßige Überwachung der Viruslast ermöglichen, sowie die Einführung spezifischer monoklonaler Antikörper als rasch verfügbares und wirksames Therapieprinzip sind jedoch geeignet, diese schlechte Prognose zu verbessern.
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Leukämien und Lymphome
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ZNS-Tumoren J. Kühl †, R. Korinthenberg
66.1 66.2 66.3 66.4
Einführung – 778 Klassifikation (T. Pietsch) – 778 Histogenese (T. Pietsch) – 779 Anamnese und klinische Symptomatik (R. Korinthenberg) – 780
66.11.8 Begleittherapie – 799 66.11.9 Zusammenfassende Therapiekonzeption – 799 66.11.10 Prognose – 800
66.4.1 66.4.2 66.4.3
Unspezifische Symptome, »Fernsymptome« – 780 Spezifische Symptome, »Lokalsymptome« – 780 Anamnese und Verlauf – 781
66.5
Neuroradiologie und Nuklearmedizin (M. Warmuth-Metz) – 781
66.5.1 66.5.2 66.5.3
Computertomographie – 781 Magnetresonanztomographie – 781 Differenzierung der Tumorart in den Schnittbildverfahren – 783 Postoperative Resttumordiagnostik – 783 MRT-Diagnostik spinaler Prozesse – 783 Neuroradiologische Diagnostik im Rahmen der Nachsorge – 784 Funktionelle Untersuchungsmethoden – 784
66.5.4 66.5.5 66.5.6 66.5.7
66.6
Operative Behandlung und perioperatives Management (V. van Velthoven-Wurster) – 784
66.6.1 66.6.2 66.6.3 66.6.4 66.6.5
Präoperative Planung – 785 Präoperative Behandlung – 785 Operative Behandlung – 785 Postoperative Therapie – 786 Schlussfolgerung – 787
66.7
Strahlentherapie (R.-D. Kortmann) – 787
66.7.1 66.7.2
Bestrahlungstechniken – 787 Qualitätssicherung – 789
66.8
Chemotherapie (I. Slavc)
66.8.1 66.8.2 66.8.3 66.8.4
Spezielle Aspekte bei Hirntumoren – 790 Stellenwert der Chemotherapie – 790 Derzeit verwendete Zytostatika – 790 Erzielung ausreichender Zytostatikakonzentrationen – 790
66.9
Experimentelle Therapieansätze (J.E.A. Wolff) – 791
66.9.1 66.9.2
Neue Chemotherapeutika – 791 Beeinflussung der Blut-Hirn-Schranke
Ependymome (M.C. Frühwald) – 800
66.12.1 66.12.2 66.12.3 66.12.4 66.12.5 66.12.6
Pathologie und molekulare Biologie Klinik und Diagnostik – 800 Neurochirurgische Therapie – 800 Strahlentherapie – 801 Chemotherapie – 802 Prognose – 802
66.13
Medulloblastome und primitive neuroektodermale Tumoren (S. Rutkowski) – 802
66.13.1 66.13.2 66.13.3 66.13.4
Klinisches Erscheinungsbild – 802 Diagnostik – 803 Staging und Risikofaktoren – 803 Therapie und Prognose – 804
66.14
Atypische teratoide/rhabdoide Tumoren (M.C. Frühwald) – 806
66.14.1 66.14.2 66.14.3 66.14.4
Pathologie und molekulare Biologie Diagnostik – 807 Therapie – 807 Prognose – 808
66.15
Kraniopharyngeome (N. Sörensen) – 808
66.15.1 66.15.2
Klinisches Erscheinungsbild und Diagnostik Therapie – 808
66.16
Plexustumoren (J.E.A. Wolff) – 810
66.16.1 66.16.2 66.16.3
Ätiologie und Genetik – 810 Pathologie und Pathogenese – 811 Klinisches Erscheinungsbild, Diagnostik und Differenzialdiagnose – 811 Therapie – 811 Prognose und Nachsorge – 811
– 789 66.16.4 66.16.5
66.17
– 791
66.10 Gliome mit niedriger Malignität (A. Gnekow) – 791 66.10.1 Epidemiologie und biologisches Verhalten – 791 66.10.2 Therapie und Prognose – 792 66.10.3 Therapiestrategie – 793
66.11 Gliome mit hoher Malignität und Ponstumoren (J.E.A. Wolff) 66.11.1 66.11.2 66.11.3 66.11.4 66.11.5 66.11.6 66.11.7
66.12
– 796
Definition und Klassifikation – 796 Epidemiologie – 797 Ätiologie und Prophylaxe – 797 Klinisches Erscheinungsbild und Diagnostik Neurochirurgische Therapie – 798 Radiotherapie – 798 Chemotherapie – 799
– 797
66.18 66.19
– 800
– 807
– 808
Tumoren der Pinealisregion (M.C. Frühwald und J. Ritter) – 811 Maligne Lymphome (J. Ritter) – 812 Tumoren des Spinalkanals (R.-D. Kortmann) – 812
66.19.1 66.19.2 66.19.3
Klinisches Erscheinungsbild und Diagnostik – 812 Therapie – 812 Von extraspinal nach intraspinal einwachsende Tumoren – 814
66.20
ZNS-Metastasen und ZNS-Mitbeteiligung (J. Ritter) – 814
66.20.1 66.20.2
Solide Tumoren – 814 Maligne Systemkrankheiten und Histiozytosen
66.21
Spätfolgen und Rehabilitation (R. Korinthenberg) – 815
66.21.1 66.21.2 66.21.3 66.21.4
Tumorbedingte Spätfolgen – 816 Therapiebedingte Spätfolgen – 816 Diagnostik – 817 Therapie und Rehabilitation – 818
Literatur
– 818
– 815
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
Eine 3-jährige Patientin wird als Notfall in der neuropädiatrischen Sprechstunde einer Universitätsklinik vorgestellt. Seit ca. 2 Wochen besteht eine an Schwere zunehmende Ataxie, die mit Schwindel und Erbrechen einhergeht. Nach dem Erbrechen nimmt der Schwindel meist ab. Vor 4 Wochen hatte die Patientin eine Windpockeninfektion durchgemacht, vereinzelt finden sich am Integument abgeheilte Effloreszenzen. Neurologisch besteht eine ausgeprägte Gang- und Rumpfataxie mit Fallneigung sowie weiteren zerebellären Zeichen. Ein wesentlicher Meningismus besteht nicht, Kernigund Brudzinski-Zeichen sind fraglich-positiv. Unter dem Verdacht auf eine postinfektiöse Zerebellitis nach Varizelleninfektion wird eine Lumbalpunktion vorbereitet; die unmittelbar vorher durchgeführte Fundoskopie zeigt jedoch Stauungspapillen beidseits. Im Notfall-CT ist eine hyperintense, kräftig Kontrastmittel aufnehmende Raumforderung in der Mittellinie des Kleinhirns zu erkennen, die das Foramen magnum nicht erreicht, sowie ein ausgeprägten Hydrocephalus internus. Nach Anlegen einer externen Ventrikeldrainage bessert sich der Zustand des Kindes rasch. Ein MRT der gesamten Neuroachse bestätigt den zerebellären Befund, zeigt aber kein leptomeningeales Enhancement. Nach klinischer Stabilisierung erfolgt die Resektion eines Tumors, der sich histologisch als Medulloblastom vom klassischen Typ darstellt.
66.1
Einführung
Die Neoplasien des zentralen Nervensystems sind eine heterogene Gruppe von Tumorentitäten mit sehr unterschiedlicher Histogenese und biologischer Wertigkeit. Im Erwachsenenalter bilden sie mit 2% nur eine kleine Untergruppe aller Tumorerkrankungen; dagegen stellen die ZNS-Tumoren im Kindes- und Jugendalter mit mehr als 20% nach den Leukämien und Lymphomen die zweithäufigste Krebserkrankung dar. Ihre altersstandardisierte Inzidenz beträgt weltweit 2,5– 3/100.000 und Lebensjahr, jährlich ist mit knapp 400 Neuerkrankungen in Deutschland zu rechnen. Das Spektrum der Tumorentitäten unterscheidet sich zwischen den Altersgruppen sehr: Während im Erwachsenenalter maligne Gliome, Meningeome und metastatische Tumoren am häufigsten sind, kommen im Kindesalter besonders häufig gutartige gliale Tumoren, insbesondere pilozytische Astrozytome, vor. Aber auch mit sehr bösartigen Tumoren, den so genannten embryonalen Tumoren (z. B. PNET), die im Erwachsenenalter Raritäten darstellen, ist bei Kindern und Jugendlichen zu rechnen. 66.2
Klassifikation
Die histopathologische Klassifikation (WHO-Klassifikation für Gehirntumoren; Kleihues u. Cavenee 2000) verwendet Bezeichnungen, die historisch entstanden sind und oft die als am wahrscheinlichsten angenommene Histogenese wiedergeben. Des Weiteren werden die Tumorentitäten gradiert (WHO-Grad I–IV), um ihre biologische Wertigkeit als benigne (WHO I) bis maligne (WHO IV) zu definieren.
WHO-Klassifikation der Hirntumoren mit prozentualer Verteilung der Häufigkeit im Kindes- und Jugendalter: Tumoren des neuroepithelialen Gewebes Astrozytische Tumoren (30–35%) − Astrozytom: pilozytisches Astrozytom, fibrilläres Astrozytom − Anaplastisches Astrozytom − Glioblastoma multiforme − Pleomorphes Xanthoastrozytom − Subependymales Riesenzellastrozytom Oligodendrogliale Tumoren (0–1%) − Oligodendrogliom − Anaplastisches Oligodendrogliom Gemischte Gliome − Oligoastrozytom − Anaplastisches Oligoastrozytom Ependymale Tumoren (10–15%) − Ependymom − Anaplastisches Ependymom − Myxopapilläres Ependymom − Subependymom Tumoren des Plexus chorioideus (2–3%) − Plexuspapillom − Plexuskarzinom Neuronale und gemischt neuronal-gliale Tumoren − Gangliozytom − Dysembryoplastischer neuroepithelialer Tumor − Gangliogliom − Desmoplastisches infantiles Gangliogliom − Anaplastisches Gangliogliom − Zentrales Neurozytom Tumoren des Pinealisparenchyms (2–3%) − Pineozytom − Pineoblastom Embryonale Tumoren (15–20%) − Medulloblastom − Primitiver neuroektodermaler Tumor − Atypischer teratoider/rhabdoider Tumor Meningeale Tumoren (0–1%) Meningeom Hämangioperizytom Melanozytischer Tumor Hämangioblastom Primäre Lymphome des ZNS (<1%) Keimzelltumoren (3–5%) Germinom Embryonales Karzinom Dottersacktumor Choriokarzinom Teratom Gemischter Keimzelltumor Tumoren der Sellaregion (8–10%) Hypophysenadenom Hypophysenkarzinom Kraniopharyngeom Metastasen extrazerebraler Tumoren
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Man geht heute davon aus, dass sich Hirntumoren nicht unbedingt aus ausgereiften Zellen des ZNS herleiten müssen. Vielmehr werden als zellulärer Ursprung verschiedene, häufig nicht genau definierte Progenitorzellen angenommen, die sich auch noch im adulten Gehirn nachweisen lassen. Als zellulären Ursprung der zumeist im Kleinhirn oder supratentoriell in der Mittellinie vorkommenden gutartigen pilozytischen (»haarförmigen«) Astrozytome (WHO Grad I) vermutet man noch nicht genau definierte astroglial differenzierte Zellen. Mit ihrem meist langsamen und umschriebenen Wachstum unterscheiden sich diese Tumoren grundsätzlich von den diffusen Gliomen, deren Zellen durch eine besonders ausgeprägte Infiltrationsneigung charakterisiert sind. Weiterhin nimmt man an, dass die selteneren malignen Gliome des Kindesalters (anaplastische Astrozytome WHOGrad III und Glioblastome WHO-Grad IV) nicht durch Progression aus niedriggradigen Gliomen, sondern de novo aus anderen astroglialen Ursprungszellen entstehen und dass in ihrer Pathogenese andere genetische Mechanismen eine Rolle spielen. Sie sind durch rasches Wachstum und Infiltrationsneigung (Migration) gekennzeichnet. Diese Eigenschaft spiegelt wahrscheinlich entsprechende genetisch determinierte Wanderungsprogramme von Vorläuferzellen wider, die für die normale Entwicklung des Gehirns von Bedeutung sind. Die Infiltrationsneigung bedingt leider, dass diese Gliome bereits zum Zeitpunkt ihrer klinischen Präsentation nicht mehr vollständig reseziert werden können, da sich Abkömmlinge schon weit entfernt im makroskopisch normal erscheinenden Gehirngewebe befinden. Ependymome, die 6–12% der Gehirntumoren bei Kindern ausmachen und auch in anaplastischen Varianten vorkommen, leiten sich von den Ventrikel-auskleidenden Ependymzellen bzw. ihren Progenitoren ab. Sie breiten sich typischerweise nicht im Gehirnparenchym, sondern innerhalb der Liquorräume aus (»plastisches Wachstumsmuster«). Im Unterschied zu den glialen Neoplasien ähneln die Tumorzellen der primitiven neuroektodermalen Tumoren (PNET, WHO-Grad IV) sehr den unreifen neuralen Progenitoren, die früh in der Embryonal- und Fetalentwicklung auftreten. Gleichwohl können auch diese Tumoren Zellnester enthalten, die entsprechend ihrer Multipotenz beginnende gliale, neuronale oder auch myogene Differenzierungsmerkmale aufweisen. Diese Tumoren, die ein Drittel der Gehirntumoren im Kindesalter ausmachen und deren häufigster Vertreter das im Kleinhirn lokalisierte Medulloblastom ist, sind durch eine hohe Proliferationsaktivität und auch Invasionsfähigkeit gekennzeichnet. Des Weiteren können sie leicht entlang der Liquorräume absiedeln. Für primäre Gehirntumoren ansonsten sehr ungewöhnlich, können PNET auch systemisch metastasieren. 66.3
Histogenese
Die meisten Gehirntumoren im Kindesalter entstehen sporadisch, ohne dass exogene ätiologische Faktoren identifiziert werden können. Während bestimmte Karzinogene (z. B. Nitrosoharnstoffe) im Tiermodell eindeutig ZNS-Tumoren verursachen, scheinen solche Substanzen bei der Entstehung von Gehirntumoren im Kindesalter keine Rolle zu spielen.
Kontrovers wird die Bedeutung bestimmter neurotroper Viren in der Pathogenese diskutiert: So wurden in den USA in Ependymomen SV40-Virusgenomanteile, in Medulloblastomen das auch normalerweise in der Bevölkerung weit verbreitete Polyomavirus JC nachgewiesen. In anderen tumorgenetischen und epidemiologischen Studien konnte jedoch ein ursächlicher Zusammenhang nicht belegt werden, obwohl die Inokulation dieser Viren in das Gehirn von Nagern und Primaten sehr wohl Tumoren verursachen kann. Man geht heute davon aus, dass Gehirntumoren häufig durch zufällige genetische Mutationsereignisse verursacht werden, die dann zum Wachstums- bzw. Überlebensvorteil von Tumorzellen beitragen können, wenn Protoonkogene aktiviert bzw. Tumorsuppressorgene inaktiviert werden. Die Relevanz bestimmter Gene wird durch die Beobachtung einer deutlich erhöhten Tumorinzidenz in Familien mit bereits vorbestehenden Keimbahnmutationen untermauert. So beobachtet man bei Familien mit Neurofibromatose Typ I (NF-I-Gen) gehäuft pilozytische Astrozytome des Nervus opticus, bei Patienten mit adenomatöser Polyposis coli (APCGen) gehäuft Medulloblastome. Bei sporadischen Fällen können, müssen aber nicht dieselben Gene beteiligt sein. Eine dritte interessante Gruppe von veränderten Genen in Tumoren sind die so genannten DNA-Reparaturgene. Patienten mit Keimbahnmutationen solcher Gene entwickeln gehäuft maligne astrozytäre Gliome. Die an der Entstehung der Gehirntumoren im Kindesalter beteiligten und für deren besondere Biologie verantwortlichen Gene sind zum großen Teil noch nicht identifiziert. Allerdings werden zurzeit durch neue genetische Technologien und durch die Aufschlüsselung des menschlichen Genoms rasche Fortschritte erzielt. Bei dem häufigen Medulloblastom des Kindesalters, insbesondere seiner desmoplastischen Variante, sind die Entschlüsselung von Pathomechanismen und die Entdeckung der Ursprungszelle bereits exemplarisch gelungen. Die Histogenese des Medulloblastoms war seit längerer Zeit umstritten. Neue Befunde deuten darauf hin, dass Medulloblastome tatsächlich keine einheitliche Entität darstellen, sondern aus mindestens 2 Erkrankungen bestehen. Während klassische Medulloblastome Marker von periventrikulären Vorläuferzellen exprimieren, tragen desmoplastische Medulloblastome Marker äußerer Körnerzellvorläufer, aus denen sich die reifen Körnerzellneurone des Kleinhirns herleiten. Für diese Entstehungshypothese spricht auch die Lokalisation der Tumoren im Kleinhirn: Während die klassischen Medulloblastome in der Mittellinie lokalisiert sind, entstehen die desmoplastischen Medulloblastome zumeist in den Kleinhirnhemisphären, was der Verteilung von Körnerzellprogenitoren entspricht. Die Identifizierung von »Patched«-Genmutationen in desmoplastischen Medulloblastomen deutet auf die Involvierung des »Sonic-hedgehog/patched«-Entwicklungskontrollsignalwegs in ihrer Entstehung hin. Dieser Signalweg, der entwicklungsgeschichtlich hoch konserviert ist, steuert normalerweise Zellschicksal und Proliferation von Vorläuferzellen des Gehirns, die »patched«-kodierte Transmembranrezeptoren tragen. Während der Entwicklung des Kleinhirns bei Säugern bindet der Ligand »sonic hedgehog« an »patched«, aktiviert dadurch den Signalweg in Körnerzellvorläufern und fördert die Zellproliferation (Wechsler-Reya
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u. Scott 1999). »Patched«-Mutationen imitieren nun diese in der Entwicklung des Gehirns physiologische Aktivierung auf unkontrollierte Weise. Ähnliche Effekte können auch durch Mutationen anderer Komponenten des Signalwegs verursacht werden. Der »Patched«-Entwicklungskontrollsignalweg scheint bei der Mehrheit der desmoplastischen Medulloblastome involviert zu sein. In einem Mausmodell führte die Inaktivierung eines »Patched«-Allels zur Entwicklung von Medulloblastomen (Berman et al. 2002).
IV
! Es ist zu vermuten, dass auch andere Gehirntumoren des Kindesalters durch ähnliche Veränderungen in für die normale Wachstumskontrolle und Differenzierung verantwortlichen Signalwegen entstehen können. Das Verständnis solcher Pathomechanismen könnte in Zukunft die Histogenese der Tumoren aufdecken und Möglichkeiten eröffnen, das biologische Verhalten der Tumorzellen gezielt therapeutisch zu beeinflussen.
66.4
Anamnese und klinische Symptomatik
Tumoren und andere Raumforderungen (intra- und extraaxiale Zysten, Angiome) können im gesamten Zentralnervensystem auftreten. Anamnese und klinische Symptomatik hängen ab vom Ort der primären Entstehung und sekundären Ausbreitung des Prozesses innerhalb des Hirngewebes, von der Beteiligung extra-parenchymaler Strukturen (Hirnnerven, Nervenwurzeln, Hirnhäute, Skelettanteile), von einer eventuellen Beeinträchtigung des Liquorflusses und schließlich von der Wachstumsgeschwindigkeit der Raumforderung. 66.4.1 Unspezifische Symptome,
»Fernsymptome« Durch Tumormasse, peritumorales Ödem und v. a. durch eine Blockade des Liquorflusses kommt es zu Symptomen aufgrund gesteigerten intrakraniellen Drucks. Hierzu gehören Kopfschmerzen von drückendem Charakter, Übelkeit und Erbrechen (v. a. morgendliches Nüchternerbrechen, initial mit Besserung im Tagesverlauf), Wesensveränderung, Strabismus mit Doppelbildern durch druckbedingte Funktionsstörung des III., IV. und VI. Hirnnerven, und bei Säuglingen eine vorgewölbte Fontanelle und ein abnormes Kopfwachstum. Der Nachweis einer Stauungspapille ist für einen gesteigerten intrakraniellen Druck beweisend. Dabei ist zu beachten, dass eine akut entstandene Hirndrucksteigerung erst mit zeitlicher Latenz zur Ausbildung einer Sehnervenschwellung führt. Im Extremfall und besonders bei akutem Verlauf kommt es zur Einklemmung des Hirnstamms, Atemstillstand und Tod. Da mehr als die Hälfte der Hirntumoren im Kindesalter in der hinteren Schädelgrube oder in der Nähe des dritten Ventrikels entstehen und früh zu Liquoraufstau führen, gehören diese Beschwerden zu den häufigsten Erstsymptomen. Bei 40–50% stellen Hirndruckzeichen das erste Symptom dar, zum Zeitpunkt der Diagnosestellung liegen sie dann bei 70–80% der Kinder vor. Bis dahin haben aber 90% der
Patienten weitere neurologische Symptome entwickelt, was auf die Wichtigkeit wiederholter sorgfältiger neurologischer Kontrolluntersuchungen bei Kindern mit Kopfschmerzerkrankungen hinweist. Liquorzirkulationsstörungen können auch gelegentlich erstes Symptom eines Tumors im Halsmark oder oberen Thorakalmark sein. Bei erworbenem Hydrozephalus unklarer Genese ist an diese Möglichkeit zu denken (Jacobi 1982; Dobrovoljac et al. 2002). 66.4.2 Spezifische Symptome,
»Lokalsymptome« Neurologische Herdsymptome weisen auf den Ursprungsort und die lokale oder metastatische Ausbreitung eines Tumors hin (⊡ Abb. 66.1): ▬ Ataxie und Nystagmus: Kleinhirn (Gang- und Standataxie: Kleinhirnwurm, Extremitätenataxie: gleichseitige Kleinhirnhemisphäre), Hirnstamm und Kleinhirnbindearme, Rückenmark (Hinterstrangataxie, positives Romberg-Zeichen). ▬ Krampfanfälle: kortikaler Sitz des Tumors mit lokalisatorischer Bedeutung der Anfallssymptomatik oder sekundär bei gesteigertem intrakraniellem Druck. ▬ Hirnnervenlähmungen: unspezifisch druckbedingt im Bereich der Hirnnerven III, IV und VI. Sonst Hinweis auf eine primäre Lokalisation des Tumors oder sekundäre Ausbreitung in Hirnstamm oder Kleinhirnbrückenwinkel. Eine Lähmung multipler Hirnnerven mit gekreuzter spastischer Hemiparese ist ein typischer Befund bei Tumoren der Brücke. ▬ Motorische Paresen: motorische Kortexareale oder absteigende Bahnen (spastische Hemiparese), Rückenmark (spastische Hemi- oder Paraparese mit schlaffer Parese in den betroffenen Segmenten, sehr langsame Progredienz bei intramedullären Tumoren), Conus medullaris/Cauda equina (schlaffe Parese der Beine). ▬ Sehstörungen: unspezifisch bei länger bestehender Stauungspapille. Visusminderung und Gesichtsfeldausfälle (unilateral, bilaterale und homonyme Hemianopsie), evtl. mit Sehnervenatrophie bei Läsion der Sehbahn (intraorbital, Chiasma, Sehstrahlung), v. a. bei Tumoren der Sellaregion. ▬ Sensorische und spezifische neuropsychologische Defizite (Aphasie, Gedächtnisstörungen): Kortikal in spezifischen Hirnarealen. ▬ Sensibilitätsstörungen: halbseitig bei Thalamustumoren, mit segmentalem Niveau bei spinalen Tumoren. Radikuläre Schmerzsyndrome sind häufig erstes Symptom eines spinalen extramedullären Tumors oder einer spinalen Metastasierung. ▬ Blasen-/Mastdarmlähmung: spinale Prozesse (primär und metastatisch). ▬ Endokrinologische Ausfälle (v. a. Kleinwuchs, Diabetes insipidus): Tumoren der Sellaregion, Kraniopharyngeom, Langerhans-Zell-Histiozytose ( Kap. 20). ▬ Abmagerungssyndrom, Wesensveränderung, Essstörungen oder zunehmende Adipositas, Schlaf-Wach-Umkehr: hypothalamische Tumoren.
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rückgetreten. Eine Schädelleeraufnahme dient allenfalls noch zur präoperativen Orientierung für den Neurochirurgen. Die Angiographie bleibt speziellen Fragestellungen vorbehalten. So z. B. der Beurteilung von atypisch verlaufenden Sinus bei der Planung des operativen Zugangs zur hinteren Schädelgrube, und der interventionellen präoperativen Therapie von gefäßreichen Tumoren. 66.5.1 Computertomographie
⊡ Abb. 66.1. Prozentuale Verteilung der Hirntumoren im Kindesalter nach Lokalisation in den verschiedenen Abschnitten des ZNS (nach Jacobi 1982): Großhirnhemisphären (19%), rostraler Hirnstamm (16%), supraselläre Region (10%), kaudaler Hirnstamm (15%) und Kleinhirn/ IV. Ventrikel (37%)
66.4.3 Anamnese und Verlauf Wesentliche Determinanten für die Geschwindigkeit der Symptomentwicklung und Diagnosestellung sind das Alter des Kindes und die histologische Dignität des Tumors. Eine aktuelle retrospektive Analyse ergab, dass nur 30% der Tumoren innerhalb von 30 Tagen nach Auftreten der ersten Symptome diagnostiziert worden waren, während der Diagnoseverzug bei über 10% der Patienten mehr als ein Jahr betrug. Dabei spielte eine Verkennung der Erstsymptome durch die Eltern eine deutlich geringere Rolle als ärztliche Faktoren. Obwohl die Erhebung spezifischer Befunde bei jungen Kindern sehr viel schwieriger als bei älteren ist, wurde die korrekte Diagnose bei Kleinkindern eher zeitiger gestellt. Hierbei mag eine Rolle spielen, dass ältere Kinder häufiger an benignen, kaum wachsenden kortikalen Tumoren mit sehr umschriebener Symptomatik leiden als jüngere Kinder. Bei diesen führen rasch wachsende Malignome (Kleinhirnmedulloblastom, Ependymom) mit nahezu obligatem Liquoraufstau zu einer früheren Diagnose (Dobrovoljac et al. 2002). ! Bei Kindern mit rezidivierenden Kopfschmerzen, insbesondere von Druckcharakter und mit morgendlicher Betonung sind häufige neurologische Kontrolluntersuchungen, und v. a. bei Symptomwechsel oder -verstärkung bildgebende Untersuchungen erforderlich.
66.5
Neuroradiologie und Nuklearmedizin
Zur radiologischen Diagnostik von ZNS-Tumoren sind heute v. a. die Schnittbildverfahren Computertomographie (CT) und Magnetresonanztomographie (MRT) indiziert (⊡ Tabelle 66.1). Sie weisen den Tumor nach und geben seine Lokalisation in 3 Dimensionen wieder. Bei Berücksichtigung der Dichte bzw. Signalintensität, der allgemeinen Morphologie und des Kontrastverhaltens erlauben sie in Grenzen auch eine artdiagnostische Zuordnung. Die konventionelle Röntgendiagnostik und die Angiographie sind dagegen weit zu-
Die CT ist ein Röntgenverfahren, bei dem während des Umlaufs einer Röntgenröhre die Strahlenabsorption eines Objektes in zahlreichen Projektionen einer Schicht gemessen wird. Dieser wird für jede Volumeneinheit eine dimensionslose Zahl (Hounsfield-Einheit) zugeordnet. Zur bildlichen Wiedergabe wird jede Hounsfield-Einheit als Grauwert dargestellt. Tumoren sind durch Dichteunterschiede zum normalen Gehirn charakterisiert, oder sie geben sich indirekt durch die Verlagerung der normalen Strukturen zu erkennen. Störungen der Bluthirnschranke manifestieren sich durch eine Kontrastmittelanreicherung im Gewebe. Nach intravenöser Applikation von jodhaltigem Kontrastmittel werden Arterien und Venen durch eine Dichtesteigerung gut erkennbar. Bei Verwendung entsprechend dünner Schichten können Angiographie-ähnliche dreidimensionale Bilder rekonstruiert werden (CT-Angiographie, CTA). Die CT ist die am weitesten verbreitete und damit am leichtesten verfügbare und schnellste Schnittbildmethode. Durchführung. Die CT wird in axialen Schichten von 2–10 mm Schichtdicke durchgeführt. Spezielle Techniken zur sekundären Rekonstruktion oder die CTA erfordern geringere Schichtdicken. Eine direkte Bestrahlung der Augenlinse ist durch eine angepasste Kippung der Abtasteinheit (Gantry) zu vermeiden. Falls die CT als alleinige Methode der Diagnostik geplant ist, muss sie vor und nach intravenöser Applikation eines Kontrastmittels durchgeführt werden und den gesamten Schädelinhalt erfassen. Falls sie nur als erste orientierende Untersuchung oder zur weiterführenden Diagnostik dient, kann man sich in Abhängigkeit von der Fragestellung auf eine Untersuchung ohne Kontrastmittel oder Teilbereiche des Gehirns beschränken.
66.5.2 Magnetresonanztomographie Die MRT beruht auf dem physikalischen Phänomen der Kernresonanz. Es werden keine Röntgenstrahlen benötigt. Der Weichgewebskontrast, der v. a. auf der unterschiedlichen Verteilung und Bindung von Wasser beruht, ist hierbei sehr viel höher als bei der CT. Da die Anregung in allen 3 Raumachsen erfolgen kann, sind entsprechende Schichtbilder ohne sekundäre Rekonstruktion möglich. Die Sensitivität für das paramagnetische Kontrastmittel Gadolinium ist sehr viel höher als die der CT für jodhaltiges Kontrastmittel, so dass eine geringere Kontrastmittelmenge ausreicht. Störungen der Blut-Hirn-Schranke oder eine Kontrastmittelaufnahme in den Meningen können sehr viel besser erkannt werden. Die MRT ist der CT besonders in der hinteren Schädelgrube überlegen, da in der CT Artefakte durch die starken Dicht-
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Tumor
CT
MRT – T1
MRT – T2
Anmerkungen
Pilozytisches Astrozytom
Hypodens (maximal isodens), Zyste(n), Verkalkungen 10%
Hypo- bis isointens, Gd-Anreicherung immer im soliden Anteil
Hyperintens
IMT-positiv, Tumor gut begrenzt, Meningeose selten
Fibrilläres Astrozytom
Hypodens (maximal isodens), keine KM-Anreicherung
Hypointens, keine KM-Anreicherung
Hyperintens, relativ homogen
IMT-positiv, Meningeose selten
Anaplastische Astrozytom
Peritumorales Ödem; KM-Anreicherung
Gd-Anreicherung häufig
Inhomogene Signalintensität
Meningeose zunehmend
GBM
Inhomogen, peritumorales Ödem und Raumforderung zunehmend, Nekrosen
Inhomogene Signalintensität, z.T. girlandenartige Gd-Anreicherung, Nekrosen
Inhomogene Signalintensität, ausgeprägtes Ödem
Meningeose besonders im Verlauf häufig
Medulloblastom
Hyperdens, Vermis 90% Hemisphären 10%
Iso-, hypointens, variable Gd-Anreicherung
Variable Signalintensität, häufig hypointens, inhomogen
SRI-positiv, Meningeose häufig
stPNET
KM-Anreicherung häufig, heterogen
Variable Signalintensität
Variable Signalintensität
SRI-positiv, Meningeose möglich
Ependymom II und III
Inhomogen, hyperdens (isodens); 50% Verkalkungen, häufig Zysten
Hypointens, meist kräftige Gd-Anreicherung
Hyperintens, inhomogen
Meningeose initial selten
Kraniopharyngeom
Verkalkungen, Zysten
Zysten ohne/mit solidem Anteil, hypo- bis hyperintens (Kolloid)
Zysten hyperintens, Kalk hypointens
Kalknachweis (CT, Röntgen) wichtig zur Differenzialdiagnose
Keimzelltumor
Hyperdens
Deutliche Gd-Anreicherung, isobis hyperintens
Hyperdens
Suprasellär und/oder Pinealisregion, Meningeose häufig
Plexuspapillom
Verkalkungen, Plexuslokalisation, KM-Anreicherung
Kräftige Gd-Anreicherung, knotig, häufig Verkalkungen
Isointens
Hydrozephalus durch Liquorüberproduktion
Gangliogliom
Häufig Verkalkungen, Zysten und KM-Anreicherung
Hypointens
Hyperintens
Lage im Temporallappen häufig
AT/RT
Hyperdens, wechselnde KM-Aufnahme, z.T. Zysten (Nekrosen) und Einblutungen
Variable Signalintensität, häufig Gd-Anreicherung, Zysten/Nekrosen
Variable Signalintensität
Häufig sehr junge Kinder
AT/RT atypischer teratoider/rhabdoider Tumor des ZNS; GBM Glioblastoma multiforme; Gd Gadolinium; IMT 123J-K-Methyltyrosin (nuklearmedizinisches Verfahren; KM Kontrastmittel; SRI »somatostatin receptor imaging« (nuklearmedizinisches Verfahren mit dem Somatostatinanalogon 111In-Pentetreotid als Tracer); stPNET supratentorieller primitiver neuroektodermaler Tumor.
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 66.1. Neuroradiologische Kennzeichen von ZNS-Tumoren im Kindesalter. Angegeben ist das typische Signalverhalten der häufigsten ZNS-Tumoren des Kindes- und Jugendalters. Bei Astrozytomen, Medulloblastomen und stPNET können nuklearmedizinische Methoden unter Umständen hilfreich in der differenzialdiagnostischen Beurteilung oder der Rezidiv- bzw. Residualtumordiagnsotik sein
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unterschiede an den Felsenbeinpyramiden häufig die Bildbeurteilung beeinträchtigen. Durch die bessere Weichteilauflösung ist die MRT zur alleinigen Methode bei der Diagnostik intraspinaler Raumforderungen oder einer spinalen meningealen Tumoraussaat geworden (Kramer et al. 1991). Durchführung. Standardsequenzen zur Untersuchung des
Kopfes in der MRT sind T1- und T2-gewichtete axiale Schichten, deren Dicke 5–6 mm nicht überschreiten sollte. Für kleine Läsionen, wie Raumforderungen der Hypophyse oder des Chiasma opticum, sind dünnere Schichten und koronale oder sagittale Schnittführungen erforderlich. Meist bietet die intravenöse Applikation von paramagnetischen Kontrastmitteln zusätzliche Informationen. Zur Unterscheidung zwischen zystischen Tumoren und Abszessen sowie zur Diagnostik frischer Hirninfarkte eignet sich besonders die Diffusionswichtung. Bei Verlaufsuntersuchungen ist besonders auf die Einhaltung der Standardebenen und -sequenzen zu achten, da es bei Aufnahmen in unterschiedlichen Schichtrichtungen unmöglich sein kann, geringe Unterschiede in Tumorgröße oder Kontrastaufnahme zu erkennen. Natürlich können die Standardschichten durch alle erforderlichen Zusatzsequenzen ergänzt werden. 66.5.3 Differenzierung der Tumorart in den
Schnittbildverfahren Obwohl Signalintensitätsunterschiede in den verschiedenen MRT-Sequenzen für bestimmte Tumoren charakteristisch sein können, ist dennoch die Dichte eines Tumors in der CT für die Tumorart spezifischer (Barkovich 2000). Zellreiche rundzellige Tumoren, wie das Germinom oder die malignen Tumoren der hinteren Schädelgrube, zeigen meist zum umgebenden Gehirn hyper- bis isodense Dichtewerte. Die zellarmen nieddriggradigen Gliome hingegen weisen fast immer hypodense Werte auf. Die CT ist deshalb v. a. in der Differenzialdiagnose von Tumoren in der Umgebung des Hypophysenstiels und des IV. Ventrikels hilfreich (Warmuth-Metz u. Kühl 2002). Auch Verkalkungen, die in der MRT nicht immer zuverlässig identifiziert werden können, sind in der CT gut erkennbar. Dies erlaubt häufig eine Abgrenzung z. B. zwischen suprasellären Kraniopharyngeomen und astrozytären Tumoren ( Tabelle 66.1). Darüber hinaus kann der Ausgangspunkt einer Läsion, ob vom Hirnparenchym selbst (intraaxial) oder von den Meningen (extraaxial), wichtige Hinweise auf die wahrscheinliche Histologie einer Raumforderung geben. Auch die Lokalisation in bestimmten Kompartimenten des Schädelinnenraums oder des Gehirns kann wegweisend für die Artdiagnose sein. Diese können mit der MRT meist besser beurteilt werden als mittels CT. Trotz der fortgeschrittenen diagnostischen Möglichkeiten kann die Bildgebung die histologische Diagnose aber noch nicht ersetzen. Die dreidimensionale Darstellung einer Raumforderung in der MRT mit ihrer Beziehung zu wichtigen Hirnstrukturen und Gefäßen ist aber für die Planung der Biopsie und endgültigen Operation unverzichtbar.
66.5.4 Postoperative Resttumordiagnostik Die radiologische Diagnostik eines postoperativen Resttumors mittels MRT oder CT erfolgt üblicherweise innerhalb von 48–72 h nach der Operation anhand einer Untersuchung ohne (zum Nachweis von operationsbedingtem Blut) und mit Kontrastmittel (Forsting et al. 1993). Durch das Operationstrauma kommt es nach dieser Zeit oft zu knotigen kontrastmittelaufnehmenden Arealen, die unterschiedlich lange persistieren und mit einem Enhancement in verbliebenem Tumorgewebe verwechselt werden können. Die Definition eines kontrastmittelaufnehmenden Tumorrestes kann deshalb nach der Zeitspanne von 72 h für lange Zeit unmöglich sein. 66.5.5 MRT-Diagnostik spinaler Prozesse Die MRT des Spinalkanals hat die Myelographie und das postmyelographische CT zur Abbildung von Raumforderungen im Wirbelkanal, insbesondere zur Diagnostik einer meningealen Tumoraussaat, vollständig ersetzt. Für die spinale MRT stehen hochauflösende Oberflächenspulen zur Verfügung, die Bildmatrix sollte 512×512 nicht unterschreiten. Bei der Suche nach intraspinalen Läsionen sollte eine Schichtdicke von 3 mm nicht überschritten werden. Die Standardebene ist sagittal, sie wird durch axiale oder koronare Schichten ergänzt. Standardsequenzen sind T1- und T2-gewichtete Turbospinechosequenzen. Zur alleinigen Beurteilung einer Meningeose kann nach der Kopfuntersuchung die MRT des Spinalkanals angeschlossen werden. In diesem Fall kann ggf. auf die native T1- und die T2-Sequenz verzichtet werden. Eine noduläre Kontrastmittelakkumulation der Leptomeninx ist dringend verdächtig auf eine meningeale Tumoraussaat. Laminäres Enhancement der weichen Hirnhäute kann hingegen auch bei einer Meningitis gesehen werden. Die zuverlässige Interpretation solcher Befunde erfordert deshalb die Mitbeachtung der Liquorbefunde. Auch eine Kontrastmittelaufnahme der Dura mater ist unspezifisch. Sie kann nach Liquorpunktionen, nach liquorableitenden Operationen oder nach sonstigen operativen Eingriffen auftreten. Bei bis zu 20% aller spinalen MR-Untersuchungen ist zwischen dem ersten Tag und 4 Wochen nach einer Operation der hinteren Schädelgrube eine band- oder polsterartige Kontrastmittelaufnahme zu sehen, die die Innenfläche des Wirbelkanals auskleidet und vom Rückenmark durch den Liquor getrennt ist (Kaufman et al. 1995). Diese Veränderungen sind sehr charakteristisch, sie sollten nicht mit einer Meningeose verwechselt werden (⊡ Abb. 66.2). In Unkenntnis dieser Veränderungen kann eine Meningeose aber auch falsch positiv diagnostiziert werden. Aufgrund dessen ist es sinnvoll, bei Tumoren des Kleinhirns die spinale Staging-Untersuchung vor der Operation durchzuführen. Mit den hochauflösenden Oberflächenspulen zur spinalen MRT ist auch die Erkennbarkeit der physiologischen Gefäße, in der Regel der Venen des Rückenmarks möglich geworden. Diese können auf dem Konus recht kaliberkräftig sein und dann zur Verwechslung mit einer Meningeose führen. Axiale Schichten der zweifelhaften Region sind dann unverzichtbar, da allein in der sagittalen Schichtebene die tubulären Strukturen der Rückenmarksvenen, die häufig ge-
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
a
b
⊡ Abb. 66.2a, b. Unspezifische, subdurale postoperative Kontrastmittelaufnahme: axiale (a) und sagittale (b) T1-gewichtete MR-Bilder nach Kontrastmittelgabe 2 Tage nach Operation eines Medulloblastoms.
Polsterförmige Enhancement-Säume im subduralen Raum kleiden den zervikalen Wirbelkanal ventral aus
schlängelt verlaufen oder sich auf spinale Wurzeln fortsetzen, nicht sicher von Meningeoseknoten unterschieden werden können.
Proliferationsverhalten möglich. Sie eignen sich sowohl zur Differenzierung zwischen entzündlichen Raumforderungen und Tumoren, als auch zur Beurteilung von posttherapeutischen Veränderungen wie einer operationsbedingten Schrankenstörung oder einer Strahlen- und Chemotherapie-induzierten Nekrose. Mit tumorspezifischen Markern wie dem Somatostatinanalogon Octreotid sind in der SPECT Metastasen oder auch Rezidive abgrenzbar (Müller et al. 1998).
66.5.6 Neuroradiologische Diagnostik im Rahmen
der Nachsorge Die Nachsorge nach Behandlung eines Hirntumors im Kindesalter erfordert regelmäßige neuroradiologische Kontrolluntersuchungen über viele Jahre. Diese können mit der MRT ohne Strahlenbelastung nahezu beliebig oft wiederholt werden. Häufigkeit und Dauer der radiologischen Untersuchungen sind in den jeweiligen Behandlungsprotokollen festgelegt. Neben der Rezidivüberwachung interessiert dabei auch die Beurteilung eventueller Therapiefolgen. Hierzu ist sowohl die CT zum Nachweis von subkortikalen und Stammganglien-Verkalkungen, noch sensitiver jedoch die MRT zum Nachweis einer Leukoenzephalopathie geeignet (Hertzberg et al. 1997; Warmuth-Metz et al. 1999). 66.5.7 Funktionelle Untersuchungsmethoden Mittels Positronenemissionstomographie (PET), SinglePhoton-Emissions-Computertomographie (SPECT) und Magnetresonanzspektroskopie (MRS) können nicht-invasiv Stoffwechselparameter in Geweben erfasst werden (Barker et al. 1997; Fulham u. DiChiro 1996; Girard et al. 1998). Mit diesen Methoden sind deshalb Rückschlüsse auf die Art eines Tumors, speziell auf seinen Energiestoffwechsel und sein
66.6
Operative Behandlung und perioperatives Management
Tumoren des zentralen Nervensystems (ZNS) sind die häufigsten soliden Neoplasien im Kindesalter. In den vergangenen Jahren konnten die Überlebenschancen der Patienten durch Weiterentwicklungen in den Bereichen Bildgebung, operative Techniken, Anästhesie und Intensivmedizin, Radiotherapie und Chemotherapie teils dramatisch verbessert werden. Trotzdem ergeben sich nach wie vor häufig erhebliche Probleme bei der chirurgischen Behandlung. Viele der Tumoren sind in eloquenten Hirnarealen mit hoher funktioneller Bedeutung für Sprache, Motorik und Wahrnehmung lokalisiert, so dass eine operative Entfernung nur unter Inkaufnahme erheblicher funktioneller Defizite möglich ist. Maligne und auch benigne Tumoren infiltrieren das umliegende Hirngewebe oft weit über die in der Bildgebung sichtbaren Grenzen hinaus. In diesen Fällen ist eine radikale Entfernung nicht denkbar, bei einigen müssen die chirurgischen Maßnahmen auf eine Biopsie beschränkt bleiben.
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Über die postoperative Morbidität hinaus können neuropsychologische oder endokrinologische Defizite und das Auftreten eines Zweitmalignoms Folgen der aggressiven, multimodalen Therapie eines Hirntumors sein. Der Arzt steht vor der schwierigen Entscheidung, einerseits den Hirntumor beherrschen, andererseits die Integrität des noch in der Entwicklung befindlichen ZNS erhalten zu müssen. Deshalb ist im Kindesalter noch mehr als bei Erwachsenen eine enge und koordinierte Zusammenarbeit zwischen allen behandelnden Disziplinen und dem familiären Umfeld von essenzieller Bedeutung und entscheidend für den endgültigen Behandlungserfolg (Mamelak u. Edwards 1994). 66.6.1 Präoperative Planung Zur Definition des erreichbaren und anzustrebenden Operationszieles ist neben den technischen Voraussetzungen eine zahlreiche Faktoren berücksichtigende präoperative Planung wesentlich. Anamnese und neurologischer Untersuchungsbefund sind auch heute noch unumgängliche und entscheidende Grundlagen. Die Art und v. a. die Dauer und Entwicklung der Symptomatik können bezüglich der Dignität des Tumors richtungsweisend sein ( Abschn. 66.4). Die Art der neurologischen Ausfallserscheinungen und v. a. ihr Ansprechen auf eine präoperative Glukokortikoidgabe sind grundlegend für die Beurteilung des operativen Risikos und der perioperativen Morbidität ( unten). Die bildgebende Diagnostik, v. a. die Magnetresonanztomographie, ermöglicht heute nicht nur die Abbildung selbst kleinster Krankheitsherde, sondern auch die genaue Lokalisation der Läsion in Beziehung zu den umgebenden wichtigen und eloquenten Hirnarealen. Durch die Schnittbildgebung in 3 Ebenen ist eine dreidimensionale Vorstellung der Läsion und ihrer Umgebung zu gewinnen. Kritische Gefäßstrukturen, v. a. im Bereich des Circulus Willisii, können durch MR-Angiographie dargestellt werden. Damit besteht die Möglichkeit, eine genaue Operationsplanung vorzunehmen. Insbesondere kann im Vorhinein der Zugangsweg über natürliche Spalträume festgelegt und damit das operative Risiko entscheidend reduziert werden. 66.6.2 Präoperative Behandlung Hochdosierte Glukokortikoide (Dexamethason, Methylprednison) haben einen abschwellenden Effekt auf das peritumorale Hirnödem. Der intrakranielle Druck kann gesenkt und Zeit für die erforderliche Planung der Operation gewonnen werden. Herdsymptome, die durch das Begleitödem verursacht werden, lassen sich ebenfalls häufig lindern. Wenn sich bei supratentoriellen Tumoren mit begleitender Hemiparese die Symptomatik nach Kortikoidgabe zurückbildet, ist eine Operation sehr wahrscheinlich ohne neurologisches Defizit möglich. Hierdurch kann die Indikation zur operativen Entfernung eines solchen Tumors wesentlich beeinflusst werden. Weiterhin scheint die perioperative Gabe von Dexamethason das Risiko postoperativer Krampfanfälle zu vermindern, so dass auf die Gabe eines Antikonvulsivums unter Umständen
verzichtet werden kann. Bei infratentoriellen Tumoren, bei denen meist ein obstruktiver Hydrocephalus wesentlich zur Symptomatik beiträgt, kann mit der Kortikoidgabe die Zeit bis zur Operation überbrückt und eine Ventrikeldrainage vermieden werden. In der Chirurgie des Rückenmarks gilt die präoperative hochdosierte Verabreichung von Methylprednison als wirksame Prophylaxe postoperativer Ausfallserscheinungen. Durch Infusion osmotisch wirksamer Substanzen kann ebenfalls der Hirndruck gesenkt und eine drohende Hirnstammeinklemmung verhindert werden. Diese Therapie ist allerdings durch ein hohes Risiko von Elektrolytstörungen und einen kurzfristigen Rebound-Effekt belastet, so dass ihr Einsatz nur bei kritischer Druckerhöhung in der unmittelbaren präoperativen Phase zu vertreten ist. 66.6.3 Operative Behandlung Der Erfolg der operativen Behandlung von Tumoren des ZNS ist an 2 Kriterien zu messen: Einerseits soll der Tumor möglichst vollständig entfernt werden, andererseits sollen durch die Operation keine zusätzlichen neurologischen oder neuropsychologischen Ausfälle verursacht werden. Vor allem bei tiefer Lage des Tumors und in funktionell wichtigen Arealen kann es schwierig sein, diesen Kriterien gerecht zu werden. Um die operative Behandlung sicherer zu gestalten, stehen dem Neurochirurgen heute die intraoperative Neuronavigation, mikrochirurgische Operationstechniken, intraoperatives Mapping und elektrophysiologisches Monitoring zur Verfügung. Intraooperative Neuronavigation. Subkortikale und tief gelegene Tumoren sind meistens an der Hirnoberfläche nicht sichtbar. Um sie dennoch zu lokalisieren, werden intraoperative Hilfsmittel wie der intraoperative Ultraschall oder die computergesteuerte Neuronavigation eingesetzt (Wagner et al. 1999; Reinacher u. Van Velthoven 2002). So kann ein unnötiges »Suchen« nach der Läsion und zusätzlicher Schaden vermieden werden. Mikrochirurgische Operationstechniken. Die Einführung
des Operationsmikroskops und des entsprechenden mikrochirurgischen Instrumentariums führte dazu, dass die Eingriffe gründlicher und v. a. gewebeschonender gestaltet werden können. Neurone reagieren sehr empfindlich auf Durchblutungsstörungen und mechanischen Druck, und der Verschluss kleinster Hirnarterien kann zu irreversiblen Ausfallserscheinungen führen. Durch fokussierte Beleuchtung und Vergrößerung unter dem Mikroskop kann die Läsion haarscharf von dem umliegenden, gesunden Gewebe abpräpariert und Strukturen wie Nervengewebe und Gefäße erhalten werden. Neben den feinen, mikrochirurgischen Instrumenten verfügt der Neurochirurg über einen UltraschallAspirator (CUSA), der das Tumorgewebe zertrümmert und absaugt. Ein Einsatz der intrakraniellen Endoskopie kommt in der Tumorchirurgie eher nicht in Frage. Falls diese Methode dennoch in Betracht gezogen wird, beschränkt sie sich auf die Operation kleiner Tumoren und Zysten in präformierten Hohlräumen, wie dem Ventrikelsystem.
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Intraoperatives Mapping und Monitoring. Das intraoperative neurophysiologische Mapping und Monitoring wird zur Überwachung der Integrität funktionell wichtiger Hirnareale, etwa der Zentralregion, der Sprachregion oder verschiedener Hirnnerven eingesetzt (Sala et al. 2002). Wenn der Neurochirurg die aus dem Monitoring gewonnenen Informationen in seine Operationsstrategie einfließen lässt, kann von einem »funktionell gesteuerten« Vorgehen gesprochen werden. Auf diese Weise lassen sich viele Eingriffe sicherer gestalten.
IV
Operationsziel. Die Prognose eines Kindes mit einem Hirn-
tumor hängt meist stark vom Erfolg der Operation ab (Wisoff et al. 1998). Ziel und Umfang des neurochirurgischen Eingriffs lassen sich in 3 Ebenen klassifizieren: ▬ Gewinnung einer Histologie zur Definition des Tumors und therapeutischen Planung, ▬ Entfernung einer Tumormasse und/oder eines Liquoraufstaus zur Senkung des intrakraniellen Drucks, zur Behebung einer funktionellen (Visus!) und vitalen (Einklemmung!) Bedrohung, und zur Verbesserung der Lebensqualität – selbst wenn der Tumor nicht komplett entfernbar ist –, und schließlich ▬ radikale Entfernung des Tumors mit dem Ziel einer langfristigen Remission oder Heilung (Mamelak u. Edwards 1994). Eine isolierte Biopsie wird nur dann durchgeführt, wenn eine umfangreichere Operation nicht möglich und die histologische Information zur weiteren Therapieplanung erforderlich ist, oder wenn die Planung der endgültigen Operation die vorherige Kenntnis der Histologie voraussetzt. Rein diagnostisch-bioptische Eingriffe können offen mit mikrochirugischer Technik oder mit geringerer Invasivität stereotaktisch durchgeführt werden. Zur möglichst fehlerfreien Befundung des durch stereotaktische Punktion gewonnenen Gewebes ist die Anwesenheit des Pathologen im Operationssaal äußerst hilfreich. In allen anderen Fällen wird die histologische Sicherung der Tumorentität im Rahmen der endgültigen Operation erfolgen. Sehr häufig wird die letzte Entscheidung über den Operationsumfang – palliative Teilresektion zur Massenverminderung oder Totalexstirpation in kurativer Absicht – trotz eingehender präoperativer Planung erst intraoperativ möglich sein. Zu beachten ist die Tatsache, dass im ZNS eine Resektion »im Gesunden« aus funktionellen Gründen in der Regel nicht möglich ist, und nur von »operationsmikroskopischer« oder »neuroradiologischer« Radikalität gesprochen werden kann. Dies begründet die v. a. bei Gliomen nicht seltenen Rezidive trotz scheinbar radikaler Exstirpation und die Notwendigkeit einer adjuvanten Strahlen- und/oder Chemotherapie bei allen infiltrierenden und malignen Tumoren. Verschlusshydrozephalus. Aufgrund der alterstypischen
Lokalisation pädiatrischer Hirntumoren in der hinteren Schädelgrube präsentieren sich die Patienten sehr häufig mit einem Verschlusshydrozephalus. Nachdem dieser früher in der Regel zunächst vor der eigentlichen Tumoroperation durch Einlage einer ventrikuloatrialen oder -peritonealen Drainage entlastet wurde, besteht heute weitgehend Einigkeit darin, dass eine Shunt-Anlage primär vermieden und direkt
die Tumoroperation durchgeführt werden sollte. In seltenen Fällen kann eine externe Drainage postoperativ kurzfristig zur Kontrolle des intrakraniellen Drucks belassen werden. Langfristig ist die Rate der Kinder, die nach erfolgreicher Entfernung des Tumors einer Drainage bedürfen, gering. Anästhesie und Monitoring. Nicht nur das beschriebene operative Vorgehen hat zur Reduktion der operativen Morbidität bei ZNS-Tumoren geführt. Auch die Fortschritte der pädiatrischen Anästhesie haben durch Einsatz moderner Anästhetika mit möglicherweise hirnprotektiver Wirkung wesentlich zur Verbesserung der Behandlungsergebnisse beigetragen. Vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern ist wegen der geringen Reserven die Überwachung und Unterstützung vitaler Funktionen lebenswichtig. So werden spezielle Heizgeräte und Wärmematten eingesetzt und die Temperatur des Operationssaals angehoben, um einen Abfall der Körpertemperatur zu verhindern. Ausreichend großlumige venöse Zugänge ermöglichen im Notfall die rasche Gabe von Medikamenten, Blut und Plasmaexpandern. Zur hämodynamischen Überwachung dient ein arterieller Zugang, der auch eine engmaschige Kontrolle der Blutgase und anderer Laborparameter erlaubt. Die intravenöse Gabe von osmotisch wirksamen Substanzen sollte über einen zentralen Venenkatheter erfolgen, der auch die Kreislaufüberwachung durch Messung des zentralen Venendrucks ermöglicht. Die Harnausscheidung wird kontinuierlich mittels eines pädiatrischen Blasenkatheters ohne Ballon überwacht. Die intraoperative Lagerung des Patienten (Bauch- oder Rückenlage, sitzende Position) hängt vom geplanten Eingriff und Zugangsweg ab. Um Lagerungsschäden zu vermeiden, werden die Extremitäten mit Watte umwickelt und alle Körperteile auf speziellen Polstern gelagert. Die Extremitäten ruhen leicht flektiert in physiologischer Haltung. Am Ende der Lagerung wird der endotracheale Tubus fixiert und mit einem Tuch bedeckt, um das Ankleben der Abdeckungstücher zu verhindern.
66.6.4 Postoperative Therapie Kinder, die an einem ZNS-Tumor operiert wurden, werden postoperativ auf eine pädiatrisch erfahrene Intensivstation verlegt und dort unter optimalen Bedingungen extubiert. Laborwerte, v. a. Hämatokrit, Gerinnungsparameter und Elektrolyte, werden kontrolliert und bei Bedarf ausgeglichen. In manchen Fällen ist mit einem Diabetes insipidus, einem Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) oder einem zentralen Salzverlustsyndrom zu rechnen. Die Flüssigkeitszufuhr wird unter Beachtung der Bilanz zur Verminderung des Hirnödems eher knapp gehalten. Gelegentlich liegt eine perioperative externe Ventrikeldrainage, die besondere Aufmerksamkeit erfordert. Hierüber kann der intrakranielle Druck überwacht und durch Variation der Ablaufmenge gesteuert werden. Bei Säuglingen muss der Liquorverlust zur Vermeidung einer Hyponatriämie durch intravenöse Kochsalzzufuhr in gleicher Menge ersetzt werden. Die präoperativ begonnene Gabe von Glukokortikoiden wird zunächst in unveränderter Dosis fortgesetzt. Nach Operation supratentorieller Tumoren sollten in Absprache mit Neurochirurg und Neuropädiater Antikonvulsiva zur Verhinderung epileptischer Anfälle, die mit der Erholung des
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Gehirns interferieren könnten, verabreicht werden. Dabei ist von Anfang an auf ausreichende Serumspiegel zu achten. Falls nicht eine Epilepsie vorbesteht, sollte die Anfallsschutzbehandlung in der Regel bis zur Entlassung aus der Klinik wieder beendet werden. Bei intraoperativ schwierigen Verhältnissen und auf Indikation des Neurochirurgen wird unmittelbar postoperativ ein CT durchgeführt, um eine Nachblutung oder andere Komplikationen mit unmittelbaren therapeutischen Konsequenzen ausschließen zu können. Die Radikalität der Operation wird am besten mittels MRT beurteilt. Diese Untersuchung muss innerhalb von 48–72 h ohne und mit Gabe von Gadolinium erfolgen, um Resttumorgewebe, Blut und Granulationsgewebe oder Veränderungen durch Schädigung der Blut-Hirn-Schranke voneinander unterscheiden zu können. 66.6.5 Schlussfolgerung Die Operation mit radikaler Entfernung des Tumors ist, wenn möglich, die erste Therapie der Wahl bei Tumoren des ZNS im Kindesalter. Ausnahmen sind diffus wachsende pontine oder hypothalamische Gliome ohne exophytische Komponente, Optikus- und Chiasmagliome bei erhaltenem Visus oder im Rahmen einer Neurofibromatose sowie die hoch strahlensensiblen Germinome. Subependymale Riesenzellastrozytome bei Patienten mit tuberöse Sklerose erfordern eine operative Behandlung nur bei Vorliegen einer ForamenMonroi-Blockade mit Hydrocephalus occlusus. Die radikale Entfernung eines ZNS-Tumors hat im Kindesalter bei den meisten Tumorentitäten einen positiven Einfluss auf die Prognose. Sie kann unter Umständen die Notwendigkeit einer adjuvanten Behandlung mit ihren spezifischen Risiken vermindern oder zumindest aufschieben. In geeigneten Fällen (benigne Astrozytome, Plexuspapillome) ist auch bei Rezidiv oder Resttumor eine erneute Operation zu erwägen. ! In jedem Fall ist eine individuelle, interdisziplinäre Planung im Hinblick auf das erreichbare Therapieziel und die zu erhaltende Lebensqualität des Patienten notwendig.
66.7
Strahlentherapie
Die Radiotherapie von Tumoren des Zentralnervensystems stellt nach den chirurgischen Verfahren die wirksamste Behandlungsmodalität dar. Gesamtdosis und Fraktionierung, Planungszielvolumina und Bestrahlungstechnik werden wesentlich durch die Ausbreitungscharakteristik des jeweiligen Tumors, die Dosiswirkungsbeziehung des Tumorgewebes, durch die Strahlentoleranz benachbarter Risikostrukturen und den Reifungszustand des Zentralnervensystems bestimmt. Dabei ist neben der Strahlentoleranz des Gehirns diejenige der Augenlinse, des Chiasma opticum, der Nervi optici sowie des Hirnstamms und des zervikalen Marks besonders zu beachten.
66.7.1 Bestrahlungstechniken Heute haben sich flächendeckend moderne Linearbeschleuniger etabliert, die hochenergetische Röntgenstrahlung mit unterschiedlicher Energie und Elektronen mit kurzer Reichweite produzieren. In Verbindung mit neueren, dreidimensionalen Bestrahlungsplanungssystemen werden präzise Bestrahlungen mit individuellen Feldanpassungen ermöglicht (Kortmann et al. 1998). Entsprechend der Ausbreitungscharakteristik der einzelnen Tumoren werden 3 grundsätzliche Zielvolumenkonzepte realisiert. Zielvolumenkonzepte der Strahlentherapie: Lokalbehandlung der erweiterten Tumorregion Supratentorielle Tumoren Niedrig- und hoch-maligne Gliome Optikusgliom Kraniopharyngeom Ependymom (nicht liquorogen metastasiert)
Ganzhirnbestrahlung Maligne Systemerkrankungen (lymphoblastische Leukämien) Behandlung des gesamten Liquorraums (Neuroachse) Infratentorielle Tumoren Medulloblastom Ependymom Supratentorielle Tumoren Pinealistumoren (Keimzelltumoren, Pinealoblastom) PNET Ependymom (liquorogen metastasiert)
Bestrahlung der Tumorregion Die Behandlung konzentriert sich auf das Tumorbett einschließlich eines Sicherheitssaums mit möglichem subklinischem Befall (in der Regel 2,0 cm). Zur Optimierung der Bestrahlung werden individuell computergestützte Bestrahlungspläne angefertigt, um möglichst viel umgebendes Gewebe zu schonen. Die Anwendung individualisierter Gesichtsmasken oder Aufbisstechniken ist Grundvoraussetzung, um eine reproduzierbare Lagerung des Kopfes zu erreichen. Die Vorteile der computergestützten Bestrahlungsplanung sind die exakte Lokalisierung des Zielvolumens sowie eine präzise Abgrenzung kritischer Organe wie des Hirnstamms und des Chiasmas. Die CT gewinnt für die physikalische Bestrahlungsplanung zusätzlich Dichtewerte, die für die Strahlungsabsorption und Berechnung des Bestrahlungsplans notwendig sind, so dass eine individualisierte, optimale Feldanpassung und Dosisverteilung berechnet werden kann. Fraktionierte stereotaktische Bestrahlung. Fraktionierte stereotaktische Konformationsbestrahlungen bieten die Möglichkeit einer verbesserten lokalen Tumorkontrolle bei gleichzeitiger Reduzierung radiogen bedingter Nebenwirkungen. Es werden dem Zielvolumen individuell adaptierte (konformale) statische Therapiefelder appliziert. Die Indikationsstellungen erstrecken sich derzeit vorwiegend auf
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
a
b ⊡ Abb. 66.3a, b. Kernspintomographische Darstellung eines Optikusglioms links. Visus vor Bestrahlung: 0,1. b Konformationstherapie.
Isodosenplan mit Schonung von Hypophyse und kontralateralem Auge. Visus nach Bestrahlung: 1,0. Rückbildung des Exophthalmus
schädelbasisnahe, irregulär konfigurierte Tumoren wie Kraniopharyngeome und Optikusgliome (⊡ Abb. 66.3). Zur Erstellung des Bestrahlungsplans werden zusätzlich Dosis/ Volumen-Histogramme und 3D-Visualisierungen der einstrahlenden Felder unter Einsatz von Oberflächenkonturierungen verwandt. Das System erlaubt eine exakte Berechnung und Dokumentation der integralen Dosis im Zielvolumen sowie in benachbarten Risikoorganen.
Zusätzlich eröffnet diese Technik die Möglichkeit einer lokalen Dosiseskalation v. a. im Bereich der Schädelbasis, wie z. B. bei Chordomen und Chondrosarkomen. Ein weiteres Einsatzgebiet sind Tumoren der Retina sowie arteriovenöse Malformationen. Sie bietet möglicherweise auch einen Vorteil bei irregulär konfigurierten niedrig-malignen Gliomen der Sehbahn (Hug et al. 2002). Interstitielle Therapie. Eine weitere Möglichkeit der Strahlen-
Stereotaktische Einzeitbestrahlung. Prinzipiell werden
Linearbeschleuniger-gestützte und 60Co-Systeme verwandt. Das Ziel der stereotaktischen Einzeitbehandlung besteht darin, eine klinisch ausreichende Dosis innerhalb des Tumors zu applizieren und eine Mitbestrahlung normalen, umgebenden Hirngewebes auszuschließen bzw. zu minimieren. Mit einer Einzeitbestrahlung können gut abgegrenzte Tumoren geringer Ausdehnung exakt und hochdosiert bestrahlt werden. Für die stereotaktische Konvergenztherapie werden Rotationstechniken mit unterschiedlich eingewinkelten Kreisbögen eingesetzt (Linearbeschleuniger). Hierdurch können individuell konfigurierte, ellipsoide Therapiefelder berechnet werden. Das »Gamma knife« besteht aus einer Einheit von 201 unabhängigen, statischen 60Co-Quellen, die auf ein definiertes Isozentrum ausgerichtet sind. Stereotaktische Einzeitbestrahlungen finden ihren Stellenwert bei Rezidivbehandlungen oder in der Aufsättigung eines persistierenden Resttumors in der Primärtherapie von Medulloblastomen und Ependymomen (Bestandteil der prospektiven HIT Rez 97 bzw. HIT 2000 Studie). Protonentherapie. Aufgrund ihrer physikalischen Eigen-
schaften (keine Austrittsdosis und präzise energieabhängige Reichweite der Protonen mit definiertem Dosisaufbau; »Bragg-peak«) wird eine ideale Zielvolumenanpassung der Therapiefelder erreicht. Hierdurch können irregulär konfigurierte intrakranielle Tumoren besser bestrahlt werden.
behandlung von Hirntumoren besteht in der stereotaktischen interstitiellen Brachytherapie bei kleineren inoperablen Hirntumoren als Implantation mit 125Jod - oder 192IridiumSeeds. In den beiden in Deutschland für diese spezielle Therapieform etablierten Zentren in Freiburg und Köln lassen sich aufgrund langjähriger Erfahrung eines geschulten Ärzteteams günstige Ergebnisse erzielen. Die Instillation von 198 Gold- oder 90Yttrium-Suspensionen in Zysten von Kraniopharyngeomen kann ebenfalls als effektiv angesehen werden (Voges et al. 1997). Ganzhirnbestrahlung (»Helmfeld«) Voraussetzung ist eine vollständige Erfassung des gesamten Neurokraniums mit der Schädelbasis und der Retrobulbärräume unter besonderer Beachtung der Fossa cribriformis und der seitlich tief herabführenden Temporallappen. Zur präzisen Applikation werden üblicherweise Maskensysteme eingesetzt (⊡ Abb. 66.4). Abweichungen vom definierten Zielvolumen können den Anteil von ZNS-Rezidiven erhöhen. Individuelle anatomische Abweichungen, die in ca. 40–50% der Patienten zu erwarten sind, sollten in der Computer- oder Kernspintomographie in Maskenlagerung geprüft werden (Kortmann et al. 1995). Strahlenbehandlung der Neuroachse Sie besteht im Wesentlichen aus der so genannten »Helmtechnik« und daran anschließenden spinalen Bestrahlungs-
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⊡ Abb. 66.4. Lagerung mit Gesichtsmaske bei Bestrahlung des Ganzhirns unter Einschluss der Meningen (»Helmfeld-Technik«)
feldern. Der Spinalkanal wird über 1–2 direkte dorsale Felder bestrahlt. Diese Feldanordnung soll lateral die Bogenwurzeln erfassen (ohne zusätzliche Verbreiterung im Sakralbereich) und sich vom kaudalen Rand der beiden Schädelfelder bis zum zweiten Sakralsegment erstrecken. Die Qualität der Neuroachsenbestrahlung hat einen entscheidenden Einfluss auf das therapeutische Ergebnis bei metastasierenden Tumoren (⊡ Tabelle 66.2; Kortmann et al. 1999).
66.7.2 Qualitätssicherung In den letzten Jahren wurden international gültige Qualitätsstandards etabliert, um eine korrekte, reproduzierbare und qualitativ hochwertige Bestrahlung zu gewährleisten. Zielvolumendefinition, Dosisberechnung, -applikation und -dokumentation beruhen auf den international akzeptierten Richtlinien des ICRU 50/62 Reportes (Carrie et al. 1999).
Aufsättigung der hinteren Schädelgrube und der primären Tumorregion. Heute werden in der Regel moderne dreidi-
mensionale Bestrahlungsplanungssysteme eingesetzt. Durch Einwinkelung der Felder wird eine bessere Schonung des Innenohrs erreicht. Der typische Verlauf des Tentoriums kann durch die modernen Planungssysteme besser berücksichtigt werden. Bei supratentoriellem Tumorsitz (z. B. Keimzelltumoren, Ependymom, supratentorielle PNET) erfolgt die Bestrahlung der erweiterten Tumorregion.
66.8
Chemotherapie
Verglichen mit der raschen Entwicklung der zytostatischen Therapie anderer Neoplasien bei Kindern und Jugendlichen verliefen die Fortschritte bei ZNS-Tumoren langsamer. Die Ursachen hierfür liegen in Unterschieden der Hirntumoren im Vergleich zu anderen soliden Tumoren.
⊡ Tabelle 66.2. Der Einfluss der Qualität der Bestrahlung beim Medulloblastom auf das therapeutische Ergebnis
Autor/Studie
Patientenzahl
»Niedrige Qualität«
»Hohe Qualität«
Überleben
Signifikanzen
Packer et al. 1991
108
RT 1975–82 n=67
RT 1983–89 n=41
5-Jahres-Ü 49% vs. 5-Jahres-PFÜ 82%
p=0,004
Grabenbauer et al. 1996
40
RT vor 1980
RT nach 1980
5-Jahres-Ü 64% vs. 80%
p=0,02
Miralbell et al. 1997
77
36 inadäquate Helmfelder
41 adäquate Helmfelder
5-Jahres-PFÜ 94% vs. 72%
p=0,016
Carrie et al. 1999
169
Geringe Abweichungen: 67 (40%) Große Abweichungen: 53 (31%), hiervon in 36 Fällen eine, in 11 Fällen 2 und in 6 Fällen 3 große Abweichungen
49 (29%)
3-Jahres-Rückfallrate: 33%: alle Patienten 23%: korrigierte Therapie 17%: 1 große Abweichung 67%: 2 große Abweichungen 78%: 3 große Abweichungen
p=0,04
Packer et al. 1999
63
Abweichungen: 20 Fällen
Keine Abweichung: 43 Fällen
5-PFÜ 81% vs. 70%
Nicht signifikant p=0;42
RT Radiotherapie, Ü Überleben, PFÜ progressionsfreies Überleben.
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66.8.1 Spezielle Aspekte bei Hirntumoren
IV
Eine Besonderheit von Hirntumoren, die bei der Wahl der Zytostatika berücksichtigt werden muss, ist die Blut-Hirnbzw. Blut-Liquor-Schranke, die die Passage von Arzneimittel vom Blut in das Gehirn bzw. in den Liquor behindert. Anatomisch beruht die Schranke auf einer spezifischen Wandstruktur der Hirnkapillaren. Rall und Zubrod (1962) haben die biochemischen Eigenschaften, die ein Medikament haben muss, um in das Gehirn zu penetrieren, wie folgt zusammengefasst: Lipidlöslichkeit, niedriges Molekulargewicht, geringe Ionisation im Plasma und geringe Eiweißbindung. Während die Blut-Hirn-Schranke bei einigen Hirntumoren, wie den Medulloblastomen, nur eine geringe Rolle spielt, scheint sie für diffus infiltrativ wachsende Gliome sehr wohl von Bedeutung zu sein. Hier ist es oft nicht möglich, in der Infiltrationszone in der Peripherie des Tumors ausreichende Zytostatikaspiegel zu erreichen. Viele Hirntumoren haben außerdem eine niedrige mitotische Aktivität mit Wachstumsfraktionen zwischen 10 und 30%, so dass jeweils nur ein relativ kleiner Teil der Tumorzellpopulation auf eine zellzyklusspezifische Chemotherapie empfindlich ist (Levin 1975). Dabei handelt es sich bei Hirntumoren nicht um eine homogene Gruppe. Jede Entität hat eigene biologische Charakteristika und ein unterschiedliches Ansprechen auf Zytostatika. Die Fähigkeit der Tumorzellen, Zytostatika in der Zelle zu retinieren und zu akkumulieren bzw. einen eingetretenen Zellschaden zu reparieren, hängt ganz wesentlich von der Tumorart ab. Neben der unterschiedlichen Sensitivität verschiedener Tumorentitäten auf ein Zytostatikum spielen auch primäre, intrinsische oder erworbene Resistenzmechanismen eine Rolle (Bredel 2001). Eine weiteres Problem stellt die Tendenz maligner pädiatrischer Hirntumoren dar, frühzeitig über den Liquorweg zu disseminieren. Für die erfolgreiche Chemotherapie maligner Hirntumoren einschließlich Prävention von Parenchym- und Liquormetastasen ist es deshalb notwendig, zytotoxische Arzneimittelkonzentrationen im Tumor selbst, im Hirnparenchym und im Liquor zu erreichen. 66.8.2
Stellenwert der Chemotherapie
Da eine onkologisch radikale Resektion von Hirntumoren häufig nicht möglich ist, kommt der Strahlen- und Chemotherapie bei der Bekämpfung der Resttumorzellast eine besondere Bedeutung zu. Die Wirksamkeit einer adjuvanten Chemotherapie wurde sowohl für maligne Gliome als auch für Medulloblastome eindeutig belegt. Patienten, die zusätzlich zur Operation und Strahlentherapie eine Chemotherapie erhielten, zeigten höhere Überlebensraten (Sposto et al. 1989; Freeman et al. 2002). Die Chemotherapie wird in der pädiatrischen Neuroonkologie aber nicht nur zur Verbesserung der Überlebensdauer eingesetzt, sondern auch zur Reduktion der Morbidität. Aufgrund der beträchtlichen Spätfolgen v. a. der Ganzhirnund Spinalkanalbestrahlung auf die geistige, hormonelle und Wachstumsentwicklung des Kindes wird die Chemotherapie auch eingesetzt, um die zur Tumorkontrolle notwendigen Bestrahlungsdosen reduzieren zu können. Bei bestimmten Patienten konnte durch den Einsatz der Chemotherapie auf
die Radiotherapie völlig verzichtet werden. Vor allem für Säuglinge und Kleinkinder, deren ZNS noch in Entwicklung begriffen ist und deshalb besonders empfindlich auf die Bestrahlung reagiert, ist die Chemotherapie in den letzten 10 Jahren die Therapie der ersten Wahl geworden. Das gilt sowohl für maligne Hirntumoren als auch für ausgewählte Patienten mit niedriggradigen Gliomen, deren Tumor nicht ohne prohibitive Morbidität chirurgisch resektabel ist. 66.8.3
Derzeit verwendete Zytostatika
Für eine Reihe von Zytostatika wie Vincristin, Procarbazin, Nitrosoharnstoffe, Etoposid, Cisplatin, Carboplatin, Cyclophophamid, Ifosfamid, Methotrexat und Temozolomid wurden signifikante Ansprechraten berichtet. Ähnlich wie die meisten Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen werden auch Hirntumoren mit einer Kombinationschemotherapie behandelt. Davon erwartet man eine höhere Effektivität, eine geringere Möglichkeit für die Tumorzellen, Resistenzmechanismen aufzubauen und eine geringere Myelosuppression, da die schädigende Wirkung von Zytostatika auf die hämatopoetischen Stammzellen zum Teil von der Expositionsdauer abhängt. Da Hirntumoren bei Kindern selten sind, kann die Frage nach der Effektivität einer bestimmten Chemotherapiekombination für eine bestimmte Tumorentität nur in großen nationalen und internationalen kooperativen Studien beantwortet werden. 66.8.4
Erzielung ausreichender Zytostatikakonzentrationen
Für die meisten Zytostatika gilt, dass die Liquorexposition nach systemischer Applikation weniger als 10% der Plasmaexposition beträgt. Um trotz des Hindernisses, das die BlutHirn- bzw. Blut-Liquor-Schranke darstellt, ausreichende Konzentrationen der zytotoxischen Substanzen in Gehirn und Liquor zu erreichen, gibt es verschiedene Ansätze. Eine Möglichkeit besteht in der Dosiseskalation, da bei einer erhöhten systemischen Verfügbarkeit auch erhöhte Tumor- und Liquorkonzentrationen erreicht werden. Die hochdosierte Chemotherapie mit autologem Stammzellsupport wurde in den letzten Jahren v. a. bei Kindern mit chemotherapiesensitiven Rezidivtumoren, wie Medulloblastomen und supratentoriellen PNET, und bei jungen Kindern mit malignen Hirntumoren erfolgversprechend eingesetzt. Für weniger chemotherapiesensitive Tumoren wie Ependymome und Hirnstammtumoren waren die Ergebnisse entäuschend. Zytostatika, die bei diesen Hochdosisregimen zum Einsatz kamen, waren v. a. Thiotepa, Etoposid, Carboplatin, Melphalan, Busulphan, Cyclophosphamid und Carmustin (Dunkel u. Finlay 2002). Eine andere Möglichkeit, zytotoxische Arzneimittelkonzentrationen im Liquor zu erreichen, besteht in der regionalen intrathekalen Therapie. Diese erfolgt am besten intraventrikulär über ein subkutan implantiertes OmmayaReservoir, weil damit eine bessere Verteilung des Arzneimittels gewährleistet wird. Vorteile der intrathekalen Therapie sind die hohen Zytostatikakonzentrationen, die im Liquor
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aufgrund des vergleichsweise kleinen initialen Verteilungsvolumens mit niedrigen Dosen erreicht werden können (Liquor 140 ml versus Plasma 3500 ml beim Erwachsenen), und die daraus resultierende geringe systemische Toxizität. Außerdem ist die terminale Halbwertszeit für die meisten Arzneimittel im Liquor länger als im Plasma, wodurch sich die Expositionsdauer erhöht. Dies spielt v. a. für zellzyklusspezifische Zytostatika wie Methotrexat eine Rolle. Methotrexat ist das derzeit einzige für die intrathekale Therapie zugelassene und auch bei Hirntumoren bedingt wirksame Zytostatikum. Tipp für die Praxis Ein weiterer Aspekt, der berücksichtigt werden muss, ist das Liquorvolumen. Dieses nimmt bei Kindern viel rascher zu als die Körperoberfläche und entspricht im Alter über 3 Jahren praktisch dem eines Erwachsenen. Deshalb müssen Zytostatika zur intrathekalen Therapie nach dem Lebensalter und nicht nach der Körperoberfläche dosiert werden.
Nachteile der intrathekalen Therapie sind die potenziell inhomogene Verteilung mit der Gefahr der lokalen Toxizität bzw. Unterdosierung und die minimale Gewebepenetration. Damit eignet sich die intrathekale Applikationform v. a. zur Behandlung subklinischer leptomeningealer Absiedlungen und frei im Liquor schwimmender Tumorzellen, also zur Prävention leptomeningealer Metastasen. Mit der Entwicklung neuer Arzneimittel zur intrathekalen Therapie, die zurzeit in Phase-I- und -II-Studien erprobt werden, hofft man die derzeit zur Prävention eingesetzte kraniospinale Bestrahlung reduzieren und in geeigneten Fällen ersetzten zu können (Kerr et al. 2001). 66.9
Experimentelle Therapieansätze
Neue Therapien beinhalten ein höheres Risiko unerwarteter Nebenwirkungen. Sie sollten daher nicht eingesetzt werden, wenn etablierte Methoden mit vertretbarem und gut bekanntem Nebenwirkungsspektrum eine Krankheit beherrschen können. In allen Situationen jedoch, in denen etablierte Therapien bekanntermaßen den tödlichen Ausgang einer Erkrankung nicht verhindern können, sollten neue Methoden diskutiert werden. In dieser Situation ist die experimentelle Therapie als Bestandteil normaler klinischer Versorgung anzusehen. Bei den folgenden kindlichen Hirntumoren besteht hierzu eine Indikation: ▬ atypischer teratoider/rhabdoider Tumor (AT/RT), ▬ diffuses intrinsisches Ponsgliom, ▬ primär metastasiertes Medulloblastom, ▬ Rezidive embryonaler Tumoren und hochgradiger Gliome nach vollständiger onkologischer Primärtherapie. Eine experimentelle Therapie ist jedoch auch in diesen Situationen nur in seltenen Fällen isoliert einzusetzen. Bei den meisten Indikationen sind auch die etablierten Therapien begrenzt wirksam; die experimentelle Therapie sollte daher im Verbund mit traditionellen Methoden angewandt werden.
66.9.1
Neue Chemotherapeutika
Einige chemotherapeutische Substanzen sollen eine Apoptose der Tumorzellen bewirken. Neue Medikamente dieser Gruppe, deren Wertigkeit und Nebenwirkungsspektrum noch nicht abzuschätzen sind, sind z. B. Temozolomid, Topotecan, Imatinib, Paclitaxel, Fotemustin und Irinotecan. Andere neue Substanzen hemmen Resistenzmechanismen und können so in Verbindung mit alten Substanzen eingesetzt werden. Wichtigstes Beispiel ist O6-Benzguanidin, das die Chemoresistenz gegen Nitroseharnstoffderivate, Temozolomid und Oxazaphosphorine aufheben kann (Friedmann et al. 2002). Innovativ und experimentell kann aber auch der Einsatz von alten Substanzen sein, wenn sie in veränderter Dosierung, in neuen Kombinationen mit anderen Substanzen oder mit Radiotherapie eingesetzt werden. 66.9.2
Beeinflussung der Blut-Hirn-Schranke
Die Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ist ein vielfach bearbeitetes therapeutisches Ziel. Erste Erfolge gelangen durch Schrumpfung der Endothelzellen mit hyperosmolaren Lösungen, die Nebenwirkungen dieses Vorgehens verhinderten jedoch eine Fortführung der Studien. Neuere Ansätze verwenden pharmakologische Öffnungen mit Phosphocholinen (Erdlenbruch et al. 2002). Nanopartikel und liposomale Verpackung geben der Oberfläche der Substanzen andere biophysikalische Eigenschaften und helfen so, die Blut-HirnSchranke zu überwinden. Noch direkter ist die interstitielle Applikation von Chemotherapeutika in den Hirntumor. Dies gelingt durch direkte Infusion mit multiplen Infusionsschläuchen, durch Implantation von abbaubaren Polymeren oder Depots von Zytostika (Sheleg et al. 2002). Weitere experimentelle Behandlungsansätze im Bereich der Tumorimmunologie werden in Kap. 44, im Bereich von Differenzierungsinduktion und Antiangiogenese in Kap. 54 und im Bereich der Gentherapie in Kap. 55 dargestellt. 66.10
Gliome mit niedriger Malignität
66.10.1 Epidemiologie und biologisches
Verhalten Mit 30–40% aller primären Hirntumoren des Kindesalters stellen die Gliome der WHO-Grade I und II die größte histologische Gruppe dar. Aufgrund von Besonderheiten der Lokalisation, der Assoziation mit genetischen Erkrankungen und in Abhängigkeit vom Alter des Patienten ergeben sich aber zahlreiche klinische Verlaufstypen. Subgruppen der niedrig-malignen Gliome (»low-grade glioma«, LGG) sind mit genetischen Erkrankungen assoziiert. Bis zu 20% der Patienten mit Neurofibromatose Typ I leiden an LGG im Verlauf der Sehbahn und im Dienzephalon, aber auch in anderen Hirnregionen (Listernick et al. 1997). Bei bis zu 15% der Genträger des Tuberöse Sklerosekomplexes entwickelt sich bis zur Adoleszenz ein subependymales Riesenzellastrozytom. Bislang konnten bei den LGG des Kindesalters, im Gegensatz zu den Tumoren bei Erwachsenen, durch konventionelle
66
792
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Karyotypisierung keine Genloci mit spezifischen Veränderungen gefunden werden (Orr et al. 2002). Der gelegentliche Verlust von Anteilen des langen Arms von Chromosom 17, einschließlich der Region des NF-I-Gens, ging bei sporadischen pilozytischen Astrozytomen nicht mit spezifischen Mutationen einher. Im Allgemeinen gelten die Gliome niedriger Malignität als biologisch indolente Läsionen mit langsamem Wachstum, das zudem von Phasen des Wachstumsstillstandes geprägt ist. Letzteres könnte durch Veränderungen der spontanen Apoptoserate oder der Blutversorgung, aber auch durch eine Abnahme der Spiegel autokriner Wachstumsfaktoren erklärt werden. Tumorprogressionen korrelieren hingegen mit ansteigenden Spiegeln für VEGF, einer Herunterregulation von N-CAM oder ansteigenden Proliferationsraten im Ki67/MIB-1-Index. Diese bei Erwachsenen gewonnenen Daten ließen sich aber bislang nicht sicher mit dem spontanen Tumorverlauf im Kindesalter korrelieren. Insgesamt legen ein aggressives lokales Tumorwachstum in Einzelfällen und die Entwicklung disseminierter Tumoren bei 5–10% der Kinder nahe, dass innerhalb der Gliome niedrigen Malignitätsgrades biologisch unterschiedliche Entitäten abzugrenzen sind, für die bislang kein morphologisches Korrelat gefunden wurde. Lediglich die pilomyxoide Variante des juvenilen pilozytischen Astrozytoms (JPA) scheint mit einer erhöhten Progressionsrate einher zu gehen (Tihan et al. 1999). 66.10.2 Therapie und Prognose Die meisten Kinder mit niedrig-malignen Gliomen überleben viele Jahre, so dass die Analyse des Überlebens als Parameter für die Wirksamkeit unterschiedlicher Therapiemaßnahmen ungeeignet ist. Andererseits ist es unabdingbar, den Einfluss von Therapiemaßnahmen auf den natürlichen Krankheitsverlauf zu bewerten, da die Überlebenden auch den Nebenwirkungen und Spätfolgen aller eingesetzten Therapien ausgesetzt sind. Letztlich ist aber wenig über den »natürlichen Verlauf« niedrig-maligner Gliome bekannt. Bislang konnten keine klinischen, biologischen oder histologischen Risikoprofile für das proliferative Potenzial erstellt werden. Spontane Regressionen ohne vorherige Resektion sind bislang nur für Patienten mit Neurofibromatose Typ I dokumentiert (Perilongo et al. 1999). Operatives Management Therapie der Wahl für alle Gliome niedrigen Malignitätsgrades ist die chirurgische Resektion sowohl zum Zeitpunkt der Primärdiagnose als auch im Falle eines Rezidivs. Moderne technische Ausrüstung kann die Tumorlokalisierung zwar verbessern, letztlich ist die Chance einer kompletten Resektion aber weiterhin vom Tumorsitz abhängig. Eine vollständige Resektion gelingt bei bis zu 90% der Tumoren der Großhirnhemisphären und bei 2 Dritteln bis 90% der Kleinhirntumoren, aber nur in Ausnahmefällen bei Tumoren der supratentoriellen Mittellinie (Abdollazadeh et al. 1994; Pollack et al. 1995; Sutton et al. 1995). Nach vollständiger Resektion, die durch eine früh-postoperative Bildgebung bestätigt werden sollte ( Abschn. 66.5), liegt das Risiko für ein lokales Rezidiv im Cerebellum unter
10%. Unvollständige Resektionen führen hingegen besonders in den ersten Jahren zur Tumorprogression und zu einem Absinken der 10-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit auf 15–50%. Während für Tumoren der Großhirnhemisphären und des Cerebellums das Volumen des Resttumors das Progressionsrisiko bestimmt, ist die Wahrscheinlichkeit für die Notwendigkeit weiterer Therapiemaßnahmen bei Tumoren des Hypothalamus und der Sehbahn hiervon unabhängig; sie liegt bei 77% nach 2 und bei 81% nach 5 Jahren (Janss et al. 1995). ! Wenn in prekären Lokalisationen eine radikale Resektion angestrebt wird, muss immer geprüft werden, ob das Ausmaß nachfolgender funktioneller neurologischer Ausfälle durch den zu erwartenden Erfolg gerechtfertigt ist.
Radiotherapie Obwohl die Radiotherapie niedrig-maligner Gliome jahrzehntelang als Standardtherapie angesehen wurde, ist ihr optimaler Einsatz bis heute noch nicht sicher definiert. Zum einen werden Tumoren bestrahlt, die einer Resektion nicht zugänglich sind, zum anderen wird die Indikation nach inkompletten Resektionen oder bei Rezidiven gestellt. Da bislang für das Kindesalter kein eindeutiger Vorteil einer routinemäßigen postoperativen Bestrahlung nachgewiesen werden konnte, sollte ihr Einsatz wegen des Risikos nachfolgender neurokognitiver und endokriner Störungen erst bei Progression des Resttumors bzw. nach unvollständiger Operation eines Rezidivs erfolgen. Trotz unterschiedlicher Progressionsraten nach inkompletter chirurgischer Resektion und sofortiger Bestrahlung gegenüber primärer Beobachtung und Bestrahlung erst bei Progression ist die Überlebensrate nach 5 und 10 Jahren identisch (Fisher et al. 2001). Der Effekt einer Radiotherapie nach Versagen einer vorgeschalteten Chemotherapie ist bislang kaum untersucht. Unter den Kindern, die aufgrund ihres jungen Alters (<5 Jahre) primär eine Chemotherapie erhielten, stellen diejenigen mit weiterer Progredienz vermutlich eine prognostisch ungünstige Gruppe dar. Für ältere Kinder sind progressionsfreies Überleben und Gesamtüberleben nicht anders als bei den Patienten, die primär bestrahlt wurden. Als Gesamtherddosen werden 50–54 Gy in Fraktionen von <2 Gy appliziert, mit denen die Responserate bei über 90% liegt. Dosisreduktionen aufgrund von Alter, Tumorgröße oder -lokalisation sind wegen höherer Progressionsraten nicht gerechtfertigt. Zu Details der Bestrahlungstechnik sei auf Abschn. 66.7 verwiesen. Chemotherapie In den vergangenen 10 Jahren ist der Einsatz von Chemotherapien v. a. bei jungen Kindern im Alter unter 5 Jahren und bei dienzephalen Tumoren geprüft worden. Bei insgesamt ermutigenden Ergebnissen müssen aber die Patientengruppen und die klinischen Situationen, in denen eine Chemotherapie erfolgreich ist, noch genauer definiert werden (Garvey u. Packer 1996; Grill et al. 2000). ! Das primäre Ziel der Chemotherapie ist die Verschiebung des Zeitpunktes, zu dem eine Radiotherapie erfolgt.
793 66 · ZNS-Tumoren
⊡ Tabelle 66.3. Ergebnisse in Chemotherapiestudien bei neu diagnostizierten, niedrig-malignen Gliomen
Substanz
Fallzahl
CR/PR/OR
SD
Response
Therapieergebnis
Autor
ACT-D + VCR
24
37,5%
58,3%
95,8%
Mediane Zeit bis zur Progression: 4,3 Jahre
Packer et al. 1988
ACT-D + VCR
29
66%
31%
97%
Mediane Zeit bis zur Progression: 3 Jahre
Janss et al. 1995
VCR + VP 16
20
20%
55%
75%
Tumorstabilisierung für 10–42 Monate
Pons et al. 1992
TPDVC
42
36%
59%
95%
Mediane Zeit bis zur Progression: 132 Wochen
Prados et al. 1997
Carboplatin + VCR (CCSG)
37
62,2%
35,1%
97,3%
Keine Angaben
Packer et al. 1993
Carboplatin + VCR (CCSG)
78
56,4%
37,2%
93,5%
PFS nach 3 Jahren: 68%±7%
Packer et al. 1997
BB-SFOP
85
56%
31%
87%
PFS nach 3 Jahren: 48% (37–60%)
Laithier et al. 2000
Carboplatin + VCR (GPOH)
84 (auswertbar: 70)
50%
44,3%
94,3%
PFS nach 3 Jahren: 72%
Gnekow et al. 2000
Carboplatin + VCR (SIOP)
204
50%
33,7%
83,7%
PFS nach 5 Jahren: 48% (95%-Konfidenzintervall: 31,6–64,2%)
Walker et al. 2002; Perilongo et al. 2000
CR komplette Response; PR partielle Response, Tumorverkleinerung um >50%; OR objektiver Response, Tumorverkleinerung um 25–50%; SD keine Änderung des Tumorvolumens, d. h. Tumorverkleinerung um <25% und Tumorvergrößerung um <25%; Response CR+PR+OR+SD; PFS progressionsfreies Überleben; VCR Vincristin; ACT-D Actinomycin D; TPDVC 6-Thioguanin, Procarbazin, Dibromodulcitol, Vincristin, CCNU; BB-SFOP Protokoll der Societé Francaise d‘Oncologie Pediatrique für Kleinkinder: Carboplatin, Cisplatin, Cyclophosphamid, Vincristin, VP 16 und Procarbazin.
Dabei ist bislang noch offen, ob die Strahlentherapie bei einzelnen Kindern völlig vermieden werden kann. Für sehr junge Kinder, v. a. mit großen Tumoren, ist diese Strategie unbestritten. Dies gilt ebenfalls für Kinder mit NF I, die zur Entwicklung weiterer, auch höhergradiger Hirntumoren neigen (Packer 2000). Bei ihnen sind angesichts der häufig vorbestehenden Entwicklungsstörungen auch die kognitiven Spätfolgen der Radiotherapie besonders bedeutsam. Außerdem scheinen NF-I-Patienten nach Bestrahlung häufiger stenosierende Vaskulopathien der Hirnarterien zu erleiden. Bei älteren Kindern ist die Rationale für den Einsatz der primären Chemotherapie weniger eindeutig, obwohl es sinnvoll sein kann, präpubertäre Kinder mit hypothalamischen Tumoren zur Vermeidung eines gestörten Wachstums mit Chemotherapie zu behandeln (Packer 2000). In der Behandlung niedrig-maligner Gliome wurden bereits nahezu alle verfügbaren Chemotherapeutika eingesetzt. Formale Phase-II-Studien liegen für Carbo-/Iproplatin und Cyclophosphamid vor. Die meisten Therapiestudien erfolgten mit Kombinationstherapien. Ein Überblick über publizierte Studien, überwiegend bei Patienten mit inoperablen LGG der Mittellinie, findet sich in ⊡ Tabelle 66.3. Trotz unterschiedlicher eingesetzter Substanzen findet sich relativ vergleichbar eine objektive Response-Rate (Abnahme des Tumorvolumens um mehr als 50%) von 30–60% sowie zusätzlich eine Rate nicht weiter fortschreitender Tumoren in der gleichen Größenordnung. Die mediane progressionsfreie Überlebensdauer betrug 3–4 Jahre. Dies bedeutet, dass innerhalb dieses Zeitraums ein beträchtlicher Anteil der Kinder nicht bestrahlt werden musste. Welchen Einfluß Alter, NF-IStatus, Ausmaß des primären Response oder Zeitpunkt des
Therapiebeginns auf das progressionsfreie Überleben haben, kann angesichts teils widersprüchlicher Ergebnisse der bisherigen Studien jedoch noch nicht als eindeutig geklärt gelten. 66.10.3 Therapiestrategie Die dargestellten Daten begründen eine therapeutische Strategie für Kinder mit Gliomen niedrigen Malignitätsgrades unabhängig von der Lokalisation (⊡ Abb. 66.5). Nach Diagnosestellung werden Kinder, bei denen der Tumor vollständig reseziert werden konnte, ausschließlich beobachtet. Sollte sich ein Rezidiv entwickeln, müssen die Möglichkeiten einer neuerlichen Resektion geprüft werden. Auch auf eine zweite komplette Resektion folgt eine nochmalige Beobachtung. Nach unvollständiger Tumorresektion werden Kinder ohne schwere neurologische Symptome zunächst ebenfalls beobachtet. Der alleinige radiologische Tumornachweis stellt noch keine Therapieindikation dar. Nur das Vorhandensein gravierender neurologischer Symptome bei Diagnosestellung oder der Nachweis einer klinischen oder neuroradiologischen Progression ergeben die Indikation zur nichtchirurgischen Therapie, wobei Chemo- oder Radiotherapie in Abhängigkeit vom Alter eingesetzt werden. Für die externe Strahlentherapie wird ein Mindestalter von fünf Jahren angeraten, wobei in Studien unterschiedliche Altersgrenzen gelten. Diese grundsätzliche Strategie muss jedoch an die Besonderheiten der unterschiedlichen Tumorlokalisationen angepasst werden.
66
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Abb. 66.5. Therapiestrategie für Gliome niedriger Malignität
IV
LGG der supratentoriellen Mittellinie Die Tumoren der Nervi optici, des Chiasmas, des Hypothalamus und des Thalamus stellen zusammen etwa 25% aller niedrig-malignen Gliome des Kindesalters dar. Besonders bei großen, infiltrativ wachsenden Läsionen ist es oft nicht möglich, die Ausgangsstruktur zu definieren (⊡ Abb. 66.6). Die subjektive Symptomatik ist bei Kindern mit Sehbahngliomen, Visusminderung und Einschränkungen des Gesichtsfeldes oft erstaunlich gering. Zudem sind diese Befunde bei jungen Kindern schwierig oder überhaupt nicht zu objektivieren. Hinweisend sind eine Proptosis bei intraorbitalem Wachstum und ein Nystagmus von meist ruckartiger Qualität. Bei Beteiligung des Hypothalamus können sich als Lokalsymptome endokrinologische Störungen finden, oder die als »dienzephales Abmagerungssyndrom« bezeichnete Konstellation von Gedeihstörung trotz adäquater Kalorienaufnahme mit Gewichtsverlust bis zur Emaziation bei scheinbarer Euphorie (Poussaint et al. 1997). Thalamische Tumoren sind meist durch motorische oder sensorische Defizite gekennzeichnet. Bei beidseitigen Läsionen treten zu-
⊡ Abb. 66.6. Disseminiertes niedrig-malignes Gliom mit Primärtumor im Chiasma-Hypothalamusbereich und leptomeningealen Absiedelungen besonders in der hinteren Schädelgrube und spinal. Klinisch lagen bei dem 2-jährigen Knaben ein schwerwiegendes dienzephales Syndrom sowie ein Nystagmus und massive Einschränkungen von Visus und Gesichtsfeld vor
sätzliche Störungen des Bewusstseins und ein obstruktiver Hydrozephalus hinzu (Allen 2000). Während es sich bei den Tumoren der Sehbahn, insbesondere bei Patienten mit NF I, fast ausschließlich um pilozytische Astrozytome WHO-Grad I handelt, kommen in den anderen Regionen der supratentoriellen Mittellinie auch andere histologische Entitäten vor. Nur bei extensiven Sehbahngliomen mit oder ohne Assoziation mit NF I, die charakteristische MRT-morphologische Kriterien erfüllen, kann gelegentlich auf die bioptische Diagnosesicherung verzichtet werden. Therapie. Das Management der Tumoren der supratentoriellen Mittellinie hängt von der Tumorausdehnung, dem Vorliegen einer NF I und dem Alter des Patienten ab. ▬ Isolierte (intraorbitale) Nervus-opticus-Tumoren eines erblindeten Auges werden, besonders bei Proptosis, meist reseziert, um das Erscheinungsbild des Patienten zu verbessern. Besteht noch ein Restvisus, so ist eine initiale Beobachtung vertretbar. Bei drohendem Visusverlust kann mit fokussierter Radiotherapie eine Stabilisierung oder Besserung des Visus versucht werden (Grabenbauer et al. 2000). Obwohl bei einzelnen Kindern eine Chemotherapie eingesetzt wurde, sind Daten, die die Effektivität dieser Therapie belegen, spärlich. ▬ Hypothalamisch-chiasmatische Tumoren sind einer weitergehenden chirurgischen Resektion nur selten zugänglich. Debulking-Maßnahmen bei erheblichen zystischen Anteilen können erwogen werden. Endokrinologische Ausfälle, der zusätzliche Verlust von Gesichtsfeldanteilen oder eine weitere Visusreduktion sind jedoch bei 45–75% der operierten Kinder zu erwarten. Bei asymptomatischen Patienten (meist NF I mit Tumordiagnose im Rahmen eines Screenings) oder klinischer Stabilität kann eine initiale Beobachtung vertreten werden. Eine klinische oder radiologische Progression, insbesondere der weitere Visusverlust, stellt jedoch eine Indikation zur Behandlung dar. Die Bestrahlung chiasmatisch-hypothalamischer Tumoren mit 50–54 Gy führt kurzfristig bei den meisten Patienten zu Tumorregression oder -stillstand, und zur Stabilisierung oder Besserung der Sehfähigkeit (Bataini et al. 1991; Grabenbauer et al. 2000). Bei bis zu 40% der Patienten ist aber langfristig mit einer Sehverschlechterung zu rechnen. Aus
795 66 · ZNS-Tumoren
66
den genannten Überlegungen wird für die Gruppe der jungen Kinder mit ausgedehnten hypothalamisch-chiasmatischen Gliomen ohne oder mit Assoziation zur Neurofibromatose eine Chemotherapie eingesetzt, um den Beginn einer Strahlentherapie zu verzögern und möglicherweise für einzelne Patienten gänzlich zu vermeiden (Gnekow et al. 2000; Laithier et al. 2000; Packer et al. 1997). ▬ Tumoren des Thalamus und anderer Mittellinienstrukturen sind überwiegend einer chirurgischen Resektion nicht zugänglich. Da jedoch über 50% der Tumoren von höherer Malignität sind, ist eine Biopsie erforderlich (Allen 2000). Bei niedrig-malignen Gliomen gelten die Therapieprinzipien wie bei den hypothalamisch-chiasmatischen Tumoren; allerdings weisen besonders die bithalamischen Tumoren ein aggressives biologisches Verhalten und eine ungünstige Prognose auf (Reardon et al. 1998). LGG der zerebralen Hemisphären und des Cerebellums 30–50% aller Tumoren der Großhirnhemisphären sind Gliome niedriger Malignität; zerebelläre LGG machen 12–18% aller primären Hirntumoren aus. Histologisch handelt es sich überwiegend um pilozytische Astrozytome Grad I, aber auch alle anderen histologischen Entitäten der LGG kommen vor. Das klinische Bild wird vorwiegend vom Sitz und der Größe des Tumors bestimmt. Zu den wesentlichen fokalen Symptomen der Tumoren der Großhirnhemisphären gehören therapierefraktäre Krampfanfälle, besonders bei Gangliogliomen und Oligodendrogliomen. Die Lokalsymptome hängen im Übrigen von der sehr variablen Lokalisation und Tumorinfiltration ab. Zerebelläre Tumoren entstehen überwiegend in der Region des Vermis (50–70%). 30% sind auf die Hemisphären begrenzt und 25% greifen auf Hirnstammstrukturen über (⊡ Abb. 66.7). Unter den Symptomen stehen Zeichen des erhöhten Hirndrucks im Vordergrund. Die Anamnesedauer ist mit median 4–5 Monaten deutlich länger als bei den malignen Kleinhirntumoren. Die Tumoren der zerebralen Hemisphären und des Cerebellums sind überwiegend einer primären Resektion zugänglich. Der Einsatz von Radio- oder Chemotherapie ist beschränkt auf wenige Kinder nach unvollständiger Tumorresektion oder im Rezidiv. Für Tumoren der zerebralen Hemisphären werden die Langzeitüberlebensraten nach kompletter Resektion mit über 90%, nach inkompletter Resektion mit zusätzlicher sofortiger oder verzögerter Bestrahlung mit 74–94% angegeben (Pollack et al. 1995). Für die zerebellären pilozytischen Astrozytome Grad I ist nach vollständiger Resektion ebenfalls langfristig ein hohes rezidivfreies Überleben von über 80–90% zu erwarten. Nicht vollständig resezierbare, meist nicht-pilozytische Astrozytome mit Tumorausdehnung in den Hirnstamm, leptomeningealer Infiltration oder Umwachsen von Hirnnerven weisen hingegen über lange Zeiträume eine signifikante Progressionstendenz auf, ihre rezidivfreie Überlebensrate liegt nach 5 und 10 Jahren nur bei 29–80% (Abdollazadeh et al. 1994; Pencalet et al. 1999; Smoots et al. 1998). Kleine Fallserien legen nahe, dass diese Patientengruppen von einer zusätzlichen Radiotherapie profitieren können, wobei der Einfluss auf das Überleben aber unklar bleibt. Chemotherapie wird in Einzelfällen bei jungen Kindern eingesetzt.
a
b ⊡ Abb. 66.7a, b. Pilozytisches Astrozytom (WHO Grad I) des Kleinhirnwurms. Kontrastmittelaufnehmender Tumor mit ausgeprägter Zystenbildung im Kleinhirnwurm, axiale (a) und sagittale Schnittebene (b)
LGG des kaudalen Hirnstamms Hirnstammgliome machen etwa 30% aller Gliome aus. Da viele dieser Läsionen allein auf der Grundlage neuroradiologischer Befunde diagnostiziert werden (Albright et al. 1993), ist die tatsächliche Verteilung der histologischen Untergruppen unklar. Neben den 80% diffusen, intrinsisch wachsenden Ponsgliomen, die wegen ihres ungünstigen biologischen Verhaltens unabhängig von ihrer Histologie zu den hoch-malignen Gliomen gezählt werden ( Abschn. 66.11), treten Hirnstammgliome in 20% als fokale Läsionen auf, die teilweise einen dorsal-exophytischen Anteil aufweisen.
796
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Tumoren des zervikomedullären Übergangs und tektale Gliome sind histologisch sowohl pilozytische Grad-I- wie fibrilläre Grad-II-Astrozytome und vereinzelte Gangliogliome, sie zeigen ein anderes Wachstumsverhalten und eine deutlich günstigere Prognose als die Tumoren der Pons. Die Möglichkeiten der chirurgischen Resektion sind bei diesen Tumoren meist limitiert, das Risiko zusätzlicher neurologischer Ausfälle beinhaltet auch die Konsequenz einer langfristigen künstlichen Beatmung bei bis zu 30% der Patienten. Viele Tumoren weisen trotz unvollständiger Resektion längere Phasen der Stabilität auf (Epstein u. McCleary 1996). Eine weitergehende Tumorstabilisierung gelingt sowohl mit Chemo- als auch mit Radiotherapie. 80–90% der Patienten leben mit stabilisierter Erkrankung noch nach 5 Jahren. Disseminierte LGG Multizentrisches Auftreten niedrig-maligner Gliome ist nicht ungewöhnlich: bis zu 5% bei Diagnosestellung und 10% bei Progression (Gajjar et al. 1995; Mamelak et al. 1994). Alle Altersgruppen sind betroffen, aber nahezu ein Drittel der Patienten ist jünger als ein Jahr. Am häufigsten liegen pilozytische Astrozytome Grad I mit hypothalamisch-chiasmatischem Primärtumor vor ( Abb. 66.6). Wenn eine Biopsie der Absiedlungen erfolgte, entsprach die Histologie dem Ursprungstumor. Die Tendenz zu langsamem Wachstum persistiert auch in den disseminierten Herden. Das Management dieser Patienten richtet sich nach der allgemeinen Strategie für Gliome niedriger Malignität (Tamura et al. 1998). Soweit möglich sollte eine Resektion der Primärläsion erfolgen; isolierte Absiedlungen können ebenfalls reseziert werden. Bei symptomatischen inoperablen Läsionen, bei Neuauftreten einer Disseminierung oder ihrer Progredienz ist eine nicht-chirurgische Therapie indiziert. Da es sich zumeist um junge Patienten handelt und auch für disseminierte LGG ein günstiges Ansprechen berichtet wurde, ist primär eine Chemotherapie indiziert. Bei weiterer Progredienz kann eine Radiotherapie einzelner Herde erwogen werden, über den Einsatz einer kraniospinalen Bestrahlung liegen nur Einzelberichte vor. Bei einer hohen Progressionsrate liegt das Gesamtüberleben dieser Gruppe nach 3 Jahren bei bis zu 79%. Ausblick Trotz vieler Anstrengungen konnte noch nicht für alle Subgruppen der Gliome niedrigen Malignitätsgrades ein optimales Management erarbeitet werden. Möglicherweise macht der Einsatz moderner neurochirurgischer Techniken zukünftig für weniger Kinder eine postoperative nicht-chirurgische Therapie erforderlich. Für die nicht-resezierbaren Tumoren muss in prospektiven Studien nach Risikofaktoren gesucht werden, um das Progressionsrisiko besser definieren und Patientengruppen identifizieren zu können, bei denen eine Intensivierung der Therapie gerechtfertigt ist. Fortschritte der Bestrahlungstechnik, durch die mögliche Spätfolgen reduziert werden, lassen die Radiotherapie überwiegend bei älteren, gelegentlich aber auch bei jüngeren Kindern mit kleinen Läsionen weniger problematisch erscheinen. Eine »Standardchemotherapie« für Gliome niedrigen Malignitätsgrades kann noch nicht definiert werden. Zurzeit werden randomisierte Studien durchgeführt, in denen Chemo-
therapieprotokolle unterschiedlicher Intensität verglichen werden. Es ist sorgfältig abzuwägen, wie intensiv und nebenwirkungsbehaftet das Behandlungsregime für diese Tumoren mit geringer Proliferationstendenz, aber gelegentlich zweifelhafter biologischer Dignität sein darf. Zusätzlich müssen neue Therapieansätze, wie z. B. antiangiogenetische Therapien, geprüft werden. 66.11
Gliome mit hoher Malignität und Ponstumoren
Definition Der Begriff »malignes Gliom« stellt einen klinisch häufig verwendeten Sammelbegriff für verschiedene, histologisch definierte Gehirntumoren dar. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von glialen Zellen ausgehen, Zeichen der Anaplasie aufweisen und für ihre schlechte Prognose bekannt sind.
Die diffusen intrinsischen Ponsgliome werden wegen ihres ähnlichen biologischen Verhaltens hier mit den histologisch definierten hoch-malignen Gliomen zusammengefasst, sie sind aber radiomorphologisch definiert. Eine kurative operative Behandlung ist bei ihnen nicht möglich. Die Überlebensprognose ist daher schlecht, die Patienten können allerdings durch Verbesserung ihrer Lebensqualität von einer Behandlung profitieren. In Deutschland werden diese beiden Tumorgruppen gegenwärtig nach den gleichen Therapieprotokollen behandelt. 66.11.1 Definition und Klassifikation Bei den malignen Gliomen haben die histomorphologischen Merkmale höchste prognostische Relevanz. Neben der astrozytären oder oligodendroglialen Differenzierung der Tumorzellen sind zur Einordnung in diese Gruppe v. a. die Merkmale der Malignität wichtig. Dazu gehören die zelluläre Anaplasie, mitotische und apoptotische Figuren, hohe Zelldichte, Angiogenese und Nekrosen (Kleihues u. Cavenee 2000). Im klinischen Alltag werden alle WHO-Grad-III- und -Grad-IVTumoren unter dem Sammelbegriff hochgradige Gliome zusammengefasst (⊡ Tabelle 66.4). Alle malignen Gliome wachsen schnell infiltrativ, vornehmlich entlang der Fasersysteme der weißen Substanz. Nur sehr selten metastasieren sie, dann am häufigsten über den Liquor cerebrospinalis. Eine präoperative Stadieneinteilung wie bei anderen Tumoren ist nicht üblich. Auch postoperativ unterscheidet man in der Regel nur zwischen operationsmikroskopisch vollständiger oder unvollständiger Resektion. Bei den Hirnstammgliomen stellt sich die Situation anders dar. Tumoren dieser Lokalisation können wegen des hohen operativen Morbiditätsrisikos oft nicht histologisch klassifiziert werden. Darüber hinaus ist die prognostische Relevanz der Histomorphologie bei Tumoren dieser Lokalisation geringer. Daher werden diese Tumoren in erster Linie radiomorphologisch klassifiziert. Man unterscheidet:
797 66 · ZNS-Tumoren
⊡ Tabelle 66.4. Klassifikation der »malignen Gliome« WHO-Grad
ICD-O
Glioblastoma multiforme
IV
M9440/3
Riesenzell-Glioblastom
IV
M9441/3
Glioblastom mit sarkomatöser Komponente
IV
M9442/3
Anaplastisches Astrozytom
III
M9401/3
Malignes Gliom
Nicht definiert
M9380/3
Anaplastisches Oligodendrogliom
III
M9451/3
Malignes Oligo-Astrozytom
III
M9382/3
Gliomatosis cerebri
III
M9381/3
Gliosarkom
IV
M9442/3
In der ICD 10 werden alle Entitäten als C71.9 oder 71.1–72.9 klassifiziert.
▬ ▬ ▬ ▬
typische diffuse intrinsische Ponsgliome, typische Mittelhirngliom (Mesenzephalongliom), dorsal exophytische zerebellomedulläre Gliome und untypische Hirnstammgliome.
Nur das typische diffuse intrinsische Ponsgliom verhält sich prognostisch wie ein hoch-malignes Gliom und wird daher in diesem Abschnitt besprochen (die übrigen Entitäten verhalten sich wie niedrig-maligne Gliome und werden im Abschn. 66.10 abgehandelt). Der Tumor ist in der Brücke lokalisiert. Die Tumorgrenzen sind in der Bildgebung nur schwer auszumachen, vielmehr ist die Pons diffus aufgetrieben. Der Tumor erscheint in der kranialen Computertomographie (CCT) hypodens, gibt in T1-gewichteter MRT ein hypointenses und in T2-gewichteter MRT ein hyperintenses Signal (⊡ Abb. 66.8). Eine Kontastmittelanreicherung findet sich typischerweise anfangs nicht, im weiteren Verlauf der Erkrankung kann eine solche jedoch auftreten. 66.11.2 Epidemiologie
⊡ Abb. 66.8. Diffuses Gliom der Pons mit Verlagerung des 4. Ventrikels
Syndrom, Taybi-Rubinstein-Syndrom, Hippel-Lindau-Erkrankung und Bloom-Syndrom. Eine molekulare Veränderung ist auch bei familiärer Häufung nicht immer aufklärbar, häufig findet man aber eine Keimbahnmutation des p53-Gens. Maligne Gliome gehören auch zu den typischen Zweitmalignomen, z. B. nach Leukämie. In diesen Fällen ist die endogene und exogene (Leukämietherapie) Ursachengruppe nicht sicher unterscheidbar. Eine gesicherte Prophylaxe gibt es nicht. 66.11.4 Klinisches Erscheinungsbild
und Diagnostik In Deutschland werden knapp 100 Neuerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen pro Jahr gemeldet. Davon sind 60% diffus intrinsische Ponsgliome und 40% histologisch definierte maligne Gliome. Dies entspricht einer Häufigkeit von 0,5–1 Neuerkrankung pro 100 000 Einwohnern unter 15 Jahren. 66.11.3 Ätiologie und Prophylaxe Unter den exogenen ätiologischen Faktoren sind Photonenstrahlen gut belegt, Chemikalien und virale Induktion bleiben unsicher (Howe et al. 1989; Dailey et al. 1995). Endogene Faktoren sind bei malignen Gliomen häufig; jeder fünfte Patient leidet an einer disponierenden Grunderkrankung oder zeigt eine Häufung von malignen Erkrankungen in der Familie. Im Einzelnen sind zu nennen: Neurofibromatose Typ I, Li-Fraumeni-Syndrom, Gorlin-Syndrom, Turcot-
Das klinische Erscheinungsbild wird durch die Tumorlokalisation und das Alter des Patienten bestimmt. Es unterscheidet sich nicht von Hirntumoren anderer histologischer Diagnosen, allenfalls kann eine rasche Progredienz der Symptomatik einen malignen Prozess vermuten lassen. Ponsgliome fallen durch Hirnnervenausfälle, Ataxie und Pyramidenbahnläsionen auf. Die Tumoren werden am besten in der Kernspintomographie dargestellt. Im Falle der typischen diffus intrinsischen Ponsgliome gilt damit nach heutigen Kriterien die Diagnose als gesichert (Albright et al. 1993). Andere maligne Gliome bedürfen der Tumoroperation und der histologischen Klärung zur Sicherung der Diagnose (⊡ Abb. 66.9).
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
66.11.5 Neurochirurgische Therapie Wie alle anderen Tumoren, die mit nichtoperativen Methoden allein nicht zu beherrschen sind, sollten auch maligne Gliome so weit wie möglich reseziert werden. Die vorteilhafteste operative Radikalität für den individuellen Patienten ist jedoch in der Regel schwierig im voraus zu planen. Bei Kindern spielt die Menge operativ entfernten Tumorgewebes eine entscheidende Rolle für die Überlebenszeit (Sposto et al. 1989; Wolff et al. 2002a). Diesbezüglich besteht offenbar ein relevanter biologischer Unterschied zu den gleichnamigen Tumoren bei Erwachsenen. Die zuverlässig dokumentierten Krankheitsverläufe langzeitüberlebender Kinder betrafen nahezu alle oberflächennah gelegene maligne Gliome, die primär makroskopisch vollständig entfernt werden konnten. Aus den Erfahrungen der bisherigen multizentrischen Studien lassen sich die folgenden Empfehlungen ableiten: ▬ Supratentorielle kortikale Lokalisation: Eine komplette Resektion sollte angestrebt werden. Langzeitüberleben ist möglich. Tumoren dieser Lokalisation unterscheiden sich am deutlichsten von den gleichnamigen Tumoren des Erwachsenenalters. ▬ Dienzephale Tumoren: eine komplette Resektion ist in der Regel nicht möglich. Empfohlen werden eine bioptische Sicherung der Diagnose und die Fortführung der Therapie mit anderen Methoden. ▬ Diffuse intrinsische Ponsgliome mit kurzer Anamnese, typischer Radiomorphologie und Klinik: eine Operation ist nicht indiziert (mit Ausnahme einer eventuellen stereotaktischen Biopsie). ▬ Untypische Hirnstammgliome: Biopsie, Vorgehen dann nach histologischem Ergebnis.
IV
a
Die Festlegung der histologischen Diagnose maligner Gliome bei Kindern ist häufig schwierig. Für die Beratung der lokalen Pathologen und Neuropathologen steht das Referenzzentrum für Hirntumoren zur Verfügung. Bei der Tumoroperation sollte zusätzlich natives Tumormaterial gewonnen werden, das für spätere wissenschaftliche Fragestellungen eingefroren wird. Zur Bestimmung der Resttumorgröße als Ausgangspunkt für die postoperative Therapie und Verlaufskontrolle sollte wie bei anderen Tumoren innerhalb von 48–72 h nach der Operation eine kernspintomographische Untersuchung ohne und mit Kontrastmittel erfolgen ( Abschn. 66.5.2). 66.11.6 Radiotherapie
b ⊡ Abb. 66.9a, b. Malignes »anaplastisches« Gliom des Thalamus (Astrozytom WHO Grad III) mit schlierenförmiger Kontrastmittelaufnahme in axialer (a) und koronarer Schnittebene (b)
Es wird allgemein angenommen, dass eine Radiotherapie das Überleben von Patienten mit malignen Gliomen und diffusen intrinsischen Ponsgliomen verlängern kann, jedoch nicht zur Heilung führt. Diese Annahme basiert nicht auf randomisierten kontrollierten Studien, sondern nur auf der historischen Erfahrung der Verlängerung der Überlebenszeit seit Einführung der Radiotherapie sowie auf dem objektiven Ansprechen von Resttumoren auf eine Strahlenbehandlung. Zumindest bei den Ponsgliomen ist dies in vielen Fällen auch mit einer deutlichen klinischen Verbesserung verbunden und hat somit auch palliativen Wert.
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! Nach dem gegenwärtigen Stand der Information kann die Radiotherapie für Kinder mit malignen Gliomen und diffus intrinsischen Ponsgliomen empfohlen werden, wenn sie älter als 3 Jahre alt sind.
Die Standardradiotherapie erfolgt nach konventionellem Fraktionierungsschema, das heißt es wird in 5 Einzelfraktionen/Woche von je 1,8 Gy eine Zielvolumendosis von insgesamt 54 Gy (3–5 Jahre alte Kinder) bzw. 59,5 Gy (bei Kindern ab dem 7. Lebensjahr) über einen Zeitraum von 6–7 Wochen appliziert. Das Zielvolumen erfasst die erweiterte Tumorregion mit einer Sicherheitszone von 2 cm. Bei Hirnstammgliomen sollte besondere Sorgfalt auf die Schonung der Innenohren gelegt werden. Hyperfraktionierte Schemata wurden bei Kindern mit Ponstumoren eingesetzt, haben sich aber nicht bewährt. Die Nebenwirkungen der Strahlentherapie werden häufig überschätzt. Übelkeit, Kopfschmerz, und Hautrötung treten zwar regelhaft auf, bleiben in ihrer Auswirkung aber meist weit hinter dem positiven Einfluss der Bestrahlung zurück. 66.11.7 Chemotherapie Im Unterschied zu den anderen therapeutischen Modalitäten ist ein Vorteil der Chemotherapie im Sinne verlängerter Überlebenszeiten nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern mit malignen Gliomen durch kontrollierte, randomisierte Studien belegt worden. Beim Vergleich einer Kombinationstherapie mit CCNU, Vincristin und Prednison gegenüber keiner Chemotherapie war der chemotherapeutische Arm überlegen (CCG, p=0,026, nach 5 Jahren in 46% der Fälle ereignisfreies Überleben; Sposto et al. 1989). Diese Studie wurde wiederholt wegen der kleinen Fallzahlen und der geringen Standardisierung der neuropathologischen Diagnostik kritisiert. Eine Überprüfung mit moderner Histologie ergab jedoch mit noch kleineren Fallzahlen den gleichen Befund (Wolff et al. 2002a). Ein randomisierter Vergleich der beiden chemotherapeutischen Protokolle BCNU+Cisplatin und Cyclophosphamid+VP16 zeigte einen Vorteil des BCNU/Cisplatin-Arms. Es ist unklar, ob Cisplatin einen Anteil an dem Erfolg hatte, oder ob der Unterschied ausschließlich auf BCNU zurückzuführen ist, das auch bei Erwachsenen Wirksamkeit zeigte. In deutschen Studien ergab sich in der Untergruppe der Patienten mit kompletter Resektion eines malignen Glioms ein Vorteil durch das Protokoll HIT-91-S, in dem vor der Radiotherapie Cisplatin mit VP16 gefolgt von Methotrexat und Ifosfamid/Ara-C eingesetzt wurde (so genannte Sandwich-Chemotherapie; Kühl et al. 1998). Auch hier waren die Patientenzahlen klein. In der Studie HIT-GBM-B, die systemische Chemotherapie gleichzeitig mit der Radiotherapie einsetzte, traten weniger frühe Tumorprogressionen auf als in der vorangegangenen Studie HIT-GBM-A. Die Beobachtungszeit ist noch kurz und es bleibt abzuwarten, ob dieser Erfolg zu verlängerten Überlebenszeiten führen wird (Wolff et al. 2002b). ! Die grundsätzliche Wirksamkeit der systemischen Chemotherapie ist gut belegt. Der gewonnene Vorteil ist jedoch noch immer zu gering, um ein Standardprotokoll formulieren zu können.
66.11.8 Begleittherapie Glukokortikoide vermindern das maligne Gliome umgebende extrazelluläre Hirnödem und führen oft schon nach einem Tag zu einer klinischen Besserung. Sie können jedoch das Tumorwachstum nicht verhindern und verlängern nicht die Überlebensdauer. Im Zusammenhang mit der Chemotherapie könnten sie Medikamentenresistenzen erzeugen und Nebenwirkungen verstärken sowie im Zusammenhang mit einer zukünftigen experimentellen Immuntherapie deren Wirksamkeit durch Hemmung der T-Zellaktivität vermindern. Sie sollten daher mit Zurückhaltung eingesetzt werden (Wolff et al. 1998). Weitere Aspekte der Palliativtherapie, Schmerzbehandlung und Sterbebegleitung, die besonders in dieser Gruppe von Kindern mit schlechter Tumorprognose häufig relevant werden, sind in den Kap. 85 und 91 ausführlich besprochen. 66.11.9 Zusammenfassende Therapiekonzeption Die prinzipielle Wirksamkeit einiger der oben diskutierten Therapieelemente ist gut belegt. Sie bleibt aber in der Summe und auf Dauer gering, so dass die Prognose von hoch-malignen Gliomen und diffusen intrinsischen Ponsgliomen noch immer schlecht ist. Der wichtigste prätherapeutische Schritt besteht darin, nach ausführlicher Aufklärung der Erziehungsberechtigten und ggf. des Patienten eine Entscheidung darüber zu fällen, ob im vorliegenden Fall überhaupt eine Behandlung des Tumors erfolgen soll, und wenn ja, ob die Ausrichtung eine kurative oder eine palliative ist. Die bislang schlechte Prognose macht es erforderlich, fortwährend nach neuen Konzepten zu suchen, um die Behandlungsergebnisse zu verbessern. Diese Konzepte müssen neben den bewährten alten auch neue Elemente enthalten und sind daher ihrem Wesen nach immer auch experimentell. Die malignen Gliome des Kindes sind sehr selten und unterscheiden sich erheblich von denen des Erwachsenenalters. Aus diesem Grund und wegen der experimentellen Aspekte der Behandlung sollte diese im Rahmen einer der national oder international organisisierten, multidisziplinären und multizentrischen Studie erfolgen. Therapieprotokolle mit kurativer Intention beginnen mit einer intensiven Lokaltherapie (Operation, Strahlentherapie), die die Haupttumormasse mit den im Verbund wachsenden Tumorzellen mit eigenen Tumorgefäßen beseitigen soll. Anschließend folgt in der Regel eine Erhaltungstherapie, um die infiltrierenden Zellen im Randgebiet und die überlebenden Tumorzellen des ehemaligen Verbundes zu beseitigen. Im deutschsprachigen Raum erhalten die meisten Patienten eine Behandlung im Rahmen des Netzwerks der HITProtokolle. Hochgradige Gliome und diffuse intrinsische Ponsgliome werden in einer prospektiven Kohorten-Vergleichsstudie behandelt, die in 2-jährigem Rhythmus das Therapieprotokoll wechselt. Im Jahr 2003 ist das Protokoll HIT-GBM-D aktiv. Darin bekommen alle Patienten simultane Radiochemotherapie mit den Substanzen Cisplatin, Ifosfamid, Etoposid und Vincristin, gefolgt von der in früheren Protokollen erfolgreichen Erhaltungstherapie mit CCNU, Prednison und Vincristin. In einem von 2 Therapiearmen
66
800
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
wird vor diesem Gesamtkonzept hochdosiertes Methotrexat verabreicht. Wenn ein Tumor nach Anwendung des ersten Therapieprotokolls rezidiviert, kann eine erneute Behandlung erwogen werden. Erneut muss die Therapieintensität sorgsam im Lichte der nun noch geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit bedacht werden. Die Qualität des verbleibenden Lebensabschnittes bekommt damit noch größeres Gewicht.
IV
66.11.10
Prognose
Ohne Behandlung liegt das mediane progressionsfreie Überleben von Kindern mit malignen Gliomen und diffusen intrinsischen Ponsgliomen zwischen 3 und 6 Monaten. Mit maximaler Therapie verlängert sich diese Zeit für diffuse Ponsgliome auf ein Jahr. Bei malignen Gliomen anderer Lokalisation wurden mit multimodaler Therapie 5-JahresÜberlebensraten um 50% beschrieben (Allen et al. 1998), andere Autoren berichten aber von niedrigeren Zahlen. Prognostisch relevant ist der klinische Zustand bei Diagnosestellung, die Tumorlokalisation (pontin schlechter, kortikal besser als Durchschnitt) und das Ausmaß der Resektion. Langzeitüberlebende Patienten nach kompletter Resektion kortikal gelegener Tumoren mit nachfolgender intensiver multimodaler Therapie wurden vielfach berichtet. In der Datenbank der HIT-GBM-Studien gehören 57 von 327 Kindern in diese prognostisch günstige Gruppe. Die Überlebensraten dieser Patientengruppe waren nach 3 Jahren 52%, nach 4 Jahren 48% und nach 5 Jahren ebenfalls 48% (KaplanMeier Projektion, Auswertung Juli 2002). In der ungünstigsten Gruppe der Patienten ohne jede Tumorresektion betrug die 3-Jahres-Überlebensrate nur 3%. 66.12
Ependymome
Ependymome sind langsam wachsende Tumoren, die von der ependymalen Auskleidung der Ventrikelwände und des Zentralkanals ausgehen. Sie machen 8–12% aller ZNS-Tumoren im Kindesalter aus, bei Kindern unter 5 Jahren sind es etwa 50%. 90% der Ependymome dieser Altersgruppe liegen intrakraniell, hiervon bis zu 60% in der hinteren Schädelgrube. Supratentorielle Tumoren finden sich überwiegend in den Seitenventrikeln oder dem III. Ventrikel, infratentorielle Ependymome liegen meist am Boden, im seitlichen Rezessus oder am Dach des IV. Ventrikels (Merchant 2002). Eine Metastasierung entlang der Neuraxis findet sich zum Diagnosezeitpunkt bei 3–17% der Patienten (Smyth et al. 2000). 66.12.1 Pathologie und molekulare Biologie Die WHO-Klassifikation unterscheidet unter den ependymalen Tumoren: ▬ Subependymom (WHO I), ▬ myxopapilläres Ependymom (WHO I), ▬ Ependymom (WHO II) und ▬ anaplastisches Ependymom (WHO III).
Das in der Literatur noch vereinzelt als Ependymom klassifizierte Ependymoblastom gehört zur Gruppe der PNET. Makropathologisch sind Ependymome scharf begrenzte, gräulich-rote Tumoren mit zystischen, nekrotischen oder hämorrhagischen Elementen. Charakteristisches histologisches Merkmal sind ependymale Rosetten sowie perivaskuläre Pseudorosetten. In der Histologie sieht man rundliche, polygonale Zellen, die in ihren Fortsätzen GFAP-positive Fibrillen zeigen. Ependymome mit vermehrter vaskulärer Proliferation, Nachweis von Nekrosen und erhöhter mitotischer Aktivität und verminderten echten ependymalen Rosetten werden als anaplastisch bezeichnet. Anaplastische Ependymome machen ungefähr 30% aller Ependymome aus (Kleihues et al. 2002). Über die Ependymomen zugrunde liegenden genetischen Veränderungen ist wenig bekannt. Zytogenetische und molekularbiologische Untersuchungen zeigen, dass sich Ependymome von Astrozytomen und Oligodendrogliomen unterscheiden. CGH-Analysen (»comparative genomic hybridization«) identifizierten Verluste auf Chromosom 22q (in 30% aller Ependymome) sowie Gewinne auf Chromosom 1q als häufigste zytogenetische Veränderungen. Seltener finden sich Verluste der Chromosomen 9q, 10, 17p und 13. Diese Befunde deuten auf die Existenz von zytogenetisch definierbaren Ependymom-Subtypen hin (Carter et al. 2002). 66.12.2 Klinik und Diagnostik Wie für die meisten ZNS-Neoplasien des Kindesalters hängt die klinische Symptomatik vom Alter des Patienten und der Lokalisation des Tumors ab ( Abschn. 66.4). In der CT erscheinen Ependymome aufgrund ihrer dichten Zellstruktur isodens im Vergleich zur Kleinhirnrinde und leicht heterogen. In bis zu 50% finden sich Verkalkungen und etwas seltener auch Zysten. In der T1-gewichteten MRT erscheinen Ependymome iso- bis hypointens, im T2-gewichteten Bild hyperintens. Sowohl in der CT als auch MRT findet man eine kräftige Kontrastmittelanreicherung. Von Medulloblastomen lassen sich Ependymome durch ihre Lokalisation und ihre Struktur abgrenzen. Typischerweise präsentieren sich Ependymome als kräftig kontrastmittelaufnehmende, traubenähnliche Tumoren, die durch das Foramen Magendii in den Kleinhirnbrückenwinkel und nach spinal wachsen. 66.12.3 Neurochirurgische Therapie Während erweiterte Therapiemaßnahmen wie Strahlen- und Chemotherapie in der Literatur kontrovers diskutiert werden, besteht Einigkeit hinsichtlich der Bedeutung einer möglichst kompletten neurochirurgischen Resektion. Diese erfolgt bei infratentoriellen Tumoren über eine subokzipitale Kraniektomie und Präparation des Bodens des IV. Ventrikels (Smyth et al. 2000). Postoperativ leiden Patienten mit großem Mittellinientumor oftmals unter einer oropharyngealen Apraxie mit ausgeprägten Schluckstörungen und einem zerebellären Mutismus, die möglicherweise durch eine operative Schonung der unteren Anteile des Vermis sowie präoperative Therapie mit Dexamethason vermieden wer-
801 66 · ZNS-Tumoren
a
b
c
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⊡ Abb. 66.10a–f. Typischer Verlauf bei anaplastischem Ependymom: a Bei Diagnosestellung im T1-gewichteten MRT vom Kleinhirn an den Hirnstamm heranreichender Tumor mit knotigen iso- bis hypointensen Arealen und kräftiger Kontrastmittelanreicherung. b Im postoperativen CT großer Resttumor, der nach 14 Tagen erneut operiert wurde. c Sechs Monate nach dem Zweiteingriff, nach konventioneller
Bestrahlung und unter Chemotherapie hirnstammnaher Tumorknoten mit kräftiger Kontrastmittelanreicherung. d Nach erneuter Operation im CT tumorverdächtiger Gewebanteil direkt dem Hirnstamm aufliegend. e, f 9 und 18 Monate nach Bestrahlung mit Gamma-Knife annähernd größenkonstanter Befund, jedoch Abnahme des Signalverhaltens
den können (Dailey et al. 1995). Unglücklicherweise gelingt eine neurochirurgisch komplette Resektion v. a. der Tumoren mit Hirnstammbeteiligung und Ausbreitung in den Kleinhirnbrückenwinkel in nur 40–60% der Fälle (Merchant 2002). Bei oberflächlich gelegenen supratentoriellen Ependymomen kann eine Heilung durch eine komplette Resektion ohne Nachbehandlung gelingen. In der bislang größten europäischen Studie wiesen Patienten mit einer kompletten Resektion eine 10-Jahres-Überlebensrate von 70% auf, während bei inkompletter Resektion dieses Ziel nur bei 32% erreicht werden konnte (Perilongo et al. 1997). Folglich spielt bei Ependymomen wie bei kaum einem anderen ZNS-Tumor des Kindesalters die Zweitoperation (ggf. weitere) eine große Rolle (⊡ Abb. 66.10).
66.12.4 Strahlentherapie Häufigstes Rückfallereignis bei Kindern mit Ependymomen ist ein Lokalrezidiv. Bereits in den 70er-Jahren konnte ein deutlicher Anstieg der Überlebenswahrscheinlichkeit durch eine adjuvante Strahlentherapie demonstriert werden. Überdies zeigen neuere Untersuchungen, dass das Hinauszögern einer Bestrahlung bei Kindern unter 3 Jahren zu signifikant niedrigeren Überlebensraten führt. Die Tumorkontrolle bei Ependymomen zeigt eine ausgeprägte Dosis-WirkungsBeziehung. Zahlreiche retrospektive Analysen belegen die Notwendigkeit einer lokalen Tumordosis von über 45 Gy. In der aktuellen Studie HIT 2000 der GPOH werden für Kinder unter 4 Jahren mit einem Tumorrest 54 Gy in konventioneller Fraktionierung mit Einzeldosen von 1,8 Gy angestrebt.
66
802
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Patienten über 4 Jahren ohne Resttumor werden mit 68 Gy in Hyperfraktionierung (2-mal täglich 1,0 Gy) und solche mit Resttumor mit 72 Gy in Hyperfraktionierung bestrahlt. Patienten mit disseminiertem Befall erhalten eine zusätzliche kraniospinale Bestrahlung (<4 Jahre 35,2 Gy, >4 Jahre 40 Gy, hyperfraktioniert). Bei umschriebenem Resttumor wird in den meisten Protokollen, falls möglich, eine zusätzliche stereotaktische Einzeitbestrahlung vorgeschlagen (Timmermann et al. 2002).
IV
66.12.5 Chemotherapie Die Rolle der Chemotherapie ist bei Patienten mit Ependymomen bislang nicht klar definiert. Größtes Problem bei der Bewertung des Nutzens einer adjuvanten Chemotherapie sind die unterschiedlichen Raten an anaplastischen Ependymomen, die in derartige Studien einbezogen wurden. Nur bei dieser Gruppe von Tumoren ist ein wesentlicher Effekt einer Chemotherapie zu erwarten. In der Pilotstudie HIT ‚88/‘89 wurde mit intensiver Sandwichchemotherapie und kraniospinaler Strahlentherapie eine progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate von 52% erreicht. Ermutigende Hinweise auf eine positive Wirkung einer Chemotherapie lieferte eine weitere Studie, die bei Patienten mit Ependymomen (9/19 anaplastische Ependymome) nach einer Strahlentherapie durch eine Kombination von Carboplatin, und Vincristin im Wechsel mit VP16 und Ifosfamid eine progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate von 80% erzielen konnte (Needle et al. 1997). Eine Dosisintensivierung im Rahmen eines Hochdosischemotherapieansatzes mit Cisplatin, Cyclophosphamid, VP16 und Vincristin konnte trotz einer signifikanten Verlängerung des progressionsfreien Überlebens die Gesamtüberlebensrate nicht verbessern (Strother et al. 2000). In der aktuellen Studie HIT 2000 erhalten über 4 Jahre alte Patienten mit einem anaplastischen Ependymom nach der Strahlentherapie 5 Zyklen Chemotherapie (alternierend Cyclophosphamid/Vincristin und Carboplatin/VP16). Bei Kindern unter 4 Jahren wird durch Chemotherapie unter enger bildgebender Kontrolle versucht, den Bestrahlungszeitpunkt hinauszuzögern (3 Zyklen Cyclophosphamid/Vincristin, Methotrexat/Vincristin und Carboplatin/Etoposid, gefolgt von 2 Zyklen Cyclophosphamid/Vincristin und Carboplatin/Etoposid). Anschliessend erfolgt die Strahlentherapie (Timmermann et al. 2002). Vorstellbare Aufgaben der Chemotherapie bei Ependymomen können in Zukunft sein: ▬ Überbrückung des Intervalls vor einer Zweitresektion oder vor einer geplanten Bestrahlung bei neurologisch geschädigten Patienten, ▬ Verkleinerung eines Resttumors vor einer Zweitresektion und damit Verminderung der Morbidität einer erneuten Operation.
⊡ Tabelle 66.5. Prognosekriterien bei Kindern mit Ependymomen
Gute Prognose
Ungünstige Prognose
Resektionsgrad
Komplett
Residualtumor
Alter
>3 Jahre
<3 Jahre
Histologie
Differenziert
Anaplasie
Metastasierung
Lokaler Tumor
Leptomeningeale Aussaat
Lokalisation
Supratentoriell
Infratentoriell
eingeteilt werden (⊡ Tabelle 66.5). Patienten mit einer kompletten Resektion erreichen im Schnittt eine progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate von 51–75%, bei einer inkompletten Resektion liegen diese Zahlen zwischen 0 und 26%. Kinder mit einem supratentoriellen Tumor scheinen bessere Chancen auf Heilung zu haben, da Tumoren in dieser Lokalisation besser zu resezieren sind (van Veelen-Vincent et al. 2002). Wie auch bei den Medulloblastomen und den PNET haben kleine Kinder eine schlechtere Prognose. Bei Kindern unter 3 Jahren wurde eine progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate von 12% angegeben, für ältere Kinder wird diese allgemein auf etwa 60% geschätzt (Pollack et al. 1995). Die prognostische Rolle des Differenzierungsgrades wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Eine Studie fand bei Patienten mit einem anaplastischen Ependymom eine progressionsfreie 2-Jahres-Überlebensrate von 32±14%, während sie bei klassischen Ependymomen 84±7% betrug (Merchant 2002). Der Einfluss von weiteren adjuvanten Therapiemodalitäten muss in größeren Studien belegt werden. 66.13
Medulloblastome und primitive neuroektodermale Tumoren
Primitiv neuroektodermale Tumoren (PNET) gehören zu den embryonalen Tumoren. Sie stellen mit einem Anteil von 25% die zweithäufigste Entität Hirntumoren bei Kindern und Jugendlichen dar. Zu etwa 75% gehen sie vom Kleinhirn aus und werden dann als Medulloblastom bezeichnet. Demgegenüber ist der supratentorielle PNET (stPNET) seltener. Die stPNET entstehen überwiegend in den Großhirnhemisphären oder in der Pinealisregion, wo sie auch als Pineoblastom bezeichnet werden. Der stPNET tritt im Vergleich zum Medulloblastom bei jüngeren Kindern auf und zeigt ein aggressiveres lokales Wachstumsverhalten. Durch prospektive Studien konnte gezeigt werden, dass die zytostatische Chemotherapie im Rahmen von risikoadaptierten Behandlungsprotokollen neben der Operation und der Strahlentherapie einen festen Platz in der Behandlung von Kindern mit PNET hat.
66.12.6 Prognose 66.13.1 Klinisches Erscheinungsbild Eine Vielzahl von Studien hat sich mit der Prognose von Kindern mit Ependymomen auseinandergesetzt. Danach können Ependymome generell in 2 prognostische Gruppen
Das klinische Erscheinungsbild wird durch unspezifische Fernsymptome und Lokalsymptome bestimmt ( Abschn. 66.4.2).
803 66 · ZNS-Tumoren
tere Symptome, z. B. spinale neurologische Defizite, hinzukommen. 66.13.2 Diagnostik Initial sollte neben der allgemeinen und neurologischen Untersuchung eine Beurteilung des Augenhintergrundes erfolgen. Die neuroradiologische Diagnostik folgt den in Abschn. 66.5 dargestellten Prinzipien. Die kranielle MRT, nur falls nicht verfügbar eine CT, sollte nativ und nach Kontrastmittelgabe durchgeführt werden (⊡ Abb. 66.11). Bei Verdacht auf ein Medulloblastom/PNET sollte bereits präoperativ eine spinale MRT erwogen werden, unter anderem, da bei primärer Metastasierung, charakteristischen Befunden und stabilem klinischem Zustand eine präoperative systemische Chemotherapie diskutiert werden kann. Eine früh-postoperative MRT-Kontrolle gilt für die Resttumordiagnostik als Standard und sollte innerhalb der ersten 48–72 h durchgeführt werden, da später eine sichere Interpretation wegen unspezifischer postoperativer Schrankenstörungen nicht mehr möglich ist. Bei Verdacht auf systemische Metastasierung sind weitere Untersuchungen erforderlich, wie z. B. eine Skelettszintigraphie, eine Knochenmarkzytologie sowie eine Sonographie von Schädel, Lymphknoten oder Abdomen. Bei unsicherem Metastasennachweis oder bei verspäteter postoperativer Resttumordiagnostik kann eine Rezeptorszintigraphie (OctreoScan) sinnvoll sein. Die Diagnostik zur Erfassung eines Residualschadensyndroms und zur Beurteilung von therapiebedingten Spätfolgen wird in Abschn. 66.19 abgehandelt.
a
66.13.3 Staging und Risikofaktoren
b ⊡ Abb. 66.11a, b. Medulloblastom des Kleinhirnwurms. a KM-Aufnahme im CCT, b MRT in sagittaler Schnittführung, kleine Absiedlung im 3. Ventrikel
Medulloblastome des IV. Ventrikels und Vermis cerebelli verursachen früh Hirndrucksymptome, während ataktische Störungen v. a. bei jungen Kindern häufig lange nicht erkannt werden. Hirnnervenparesen weisen auf eine Infiltration des Bodens des IV. Ventrikels hin. Bei stPNET sind Lokalsymptome entsprechend dem Sitz und der lokalen Ausbreitung des Tumors anzutreffen. Bei Metastasierung können wei-
Das meist vom Kleinhirnwurm ausgehende Medulloblastom wächst lokal infiltrierend, z. B. in den IV. Ventrikel oder in den Hirnstamm, sowie per continuitatem entlang der Liquorwege. Die modifizierte Klassifikation nach Chang (Harisiadis u. Chang 1977) ist international akzeptiert, obwohl die prognostische Relevanz des Tumorstadiums T1–T4, das vom Neurochirurgen intraoperativ beurteilt wird, umstritten ist (⊡ Tabelle 66.6). Unumstritten ist der ungünstige Einfluss von bereits bei Diagnosestellung manifesten Metastasen. Eine okkulte ZNS-Metastasierung durch Dissemination von Tumorzellen über die Liquorwege kann initial bei 25% der Kinder im lumbal gewonnenen Liquor nachgewiesen werden (M1). Deshalb ist die Untersuchung des Liquors auf Tumorzellen bei Medulloblastomen/PNET stets erforderlich (⊡ Abb. 66.12). Gemäß dem aktuellen Behandlungsprotokoll HIT 2000 liegt ein signifikanter Liquorbefall (M1) vor, wenn 14 Tage postoperativ noch Tumorzellnester oder mehrere Einzelzellen, die immunzytologisch als PNET-Zellen identifizierbar waren, im lumbal gewonnenen Liquor gefunden werden. Cave Die Liquordiagnostik mittels Lumbalpunktion ist jedoch zu unterlassen, solange erhöhter Hirndruck mit Einklemmungsgefahr besteht!
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 66.6. Modifizierte Klassifikation des Medulloblastoms nach Chang
Tumorgröße/-ausdehnung
IV
T1
Tumordurchmesser <3 cm und begrenzt auf Kleinhirnwurm, Dach des IV. Ventrikels oder Kleinhirnhemisphäre
T2
Tumordurchmesser ≥3 cm, dringt in eine Nachbarstruktur ein (z. B. Kleinhirnschenkel) oder füllt den IV. Ventrikel teilweise aus
T3a
Tumor dringt in 2 Nachbarstrukturen ein oder füllt den IV. Ventrikel vollständig aus mit Ausdehnung zum Aquädukt, Foramen Magendii oder Foramen Luschkae und Hydrocephalus internus
T3b
Tumor füllt den IV. Ventrikel vollständig aus und infiltriert den Hirnstamm/Boden des IV. Ventrikels
T4
Ausdehnung jenseits des Aquäduktes bis ins Mittelhirn oder in den III. Ventrikel oder bis zum oberen Halsmark
M0
Kein Anhalt für Metastasen
M1
Mikroskopischer Tumorzellnachweis im Liquor (s. Text)
M2
Makroskopische Metastasen im zerebellären und/oder zerebralen Subarachnoidalraum und/oder in den supratentoriellen Ventrikeln
M3
Makroskopische Metastasen im spinalen Subarachnoidalraum
M4
Metastasen außerhalb des Zentralnervensystems
Solide intrakranielle (M2) oder spinale Metastasen (M3) sind initial bei 30% der Kinder vorhanden. Dagegen tritt eine systemische Metastasierung (M4) in Knochen, Knochenmark, Lunge oder Lymphknoten initial sehr selten auf. Verschiedene Untersuchungen konnten zeigen, dass nach 5 Jahren die progressionsfreie Überlebensrate von Patienten ohne postoperativen Resttumor höher war als bei Patienten mit Resttumor (Zeltzer et al. 1999). Eine prognostische Bedeutung des Ansprechens eines Resttumors oder von Metastasen auf eine intensive Chemotherapie wurde in den deutschen Therapiestudien HIT ‚88/‘89 und HIT-SKK ‚87 gezeigt (Kühl et al. 1998), konnte jedoch bisher in keiner anderen Studie bestätigt werden. Auch das Alter der Patienten hat einen großen Einfluss auf die Prognose und auf das Ausmaß der therapiebedingten Spätfolgen. Es ist wichtig, zukünftig weitere Risikofaktoren zu finden, die eine Einteilung in Risikogruppen und eine daran adaptierte Therapie ermöglichen. So gibt es neuerdings Hinweise auf molekularbiologisch determinierte Risikofaktoren (Grotzer et al. 2000).
66.13.4 Therapie und Prognose Medulloblastom Da Medulloblastome lokal infiltrierend wachsen und zur Metastasierung neigen, kann die alleinige Resektion des Tumors nicht kurativ sein. Erst nach Einführung der postoperativen Strahlentherapie wurden Heilungen erzielt. Im Verlauf wurde die Wirksamkeit zusätzlicher Chemotherapie in Therapiestudien bestätigt. Operation. Die primäre Operation ist von größter Bedeutung, da Patienten mit Medulloblastom nicht selten durch die lokale Raumforderung und eine Liquorzirkulationsstörung vital bedroht sind. Die Operation des Tumors dient auch der Gewinnung von Material für die histologische Diagnosestellung und für tumorbiologische Untersuchungen. Ziel der Operation ist eine operationsmikroskopisch vollständige Resektion (Albright et al. 1996). Dies gelingt mit Hilfe von modernen mikrochirurgischen Operationstechniken heute bei über 50% der Kinder auf schonende Weise. Obwohl verschiedene Therapiestudien zeigen konnten, dass das Ausmaß der Resektion für die Prognose von Bedeutung ist, sollten operationsbedingte bleibende Schäden nicht in Kauf genommen werden. Für den Patienten besonders belastend sind postoperative Hirnnervenausfälle mit Atemantriebs- und Schluckstörungen sowie mimischer Entstellung. In bis zu 25% der Fälle wird postoperativ das »Fossa-posterior-Syndrom« beobachtet. Dabei kommt es in unterschiedlicher Ausprägung zu Kleinhirnsymptomen, wobei der im Vordergrund stehende zerebelläre Mutismus in der Regel von passagerer Natur ist (Janssen et al. 1998). Strahlentherapie. Da bei jedem Kind mit Medulloblastom/
⊡ Abb. 66.12. Medulloblastom-Zellnest im lumbal gewonnenen Liquor
PNET mit einer okkulten Mikrometastasierung über die Liquorwege gerechnet werden muss, erfolgt die Bestrahlung des gesamten Liquorraums unter Einschluss von Gehirn und Rückenmark. Als Standard gilt bislang die kraniospinale Bestrahlung von 36 Gy bei einer Einzeldosis von 1,6–1,8 Gy/Tag, gefolgt von einer Aufsättigung im Primärtumorbereich auf 54 Gy zur Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle.
805 66 · ZNS-Tumoren
⊡ Abb. 66.13. Therapieübersicht HIT 2000, Medulloblastom, ohne Metastasen (M0), Alter 4–21 Jahre. R Randomisierung
Chemotherapie. Das Medulloblastom ist mit Response-
Raten von 60–70% der am meisten chemotherapiesensible Hirntumor. Die Wirksamkeit einer adjuvanten Chemotherapie bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko wurde bereits Ende der 70er-Jahre in 2 randomisierten Studien bestätigt. Die Frage, ob auch bei Standardrisikopatienten ohne Metastasen die Prognose durch eine zusätzliche Chemotherapie verbessert werden kann, wurde in der dritten Medulloblastomstudie der SIOP (PNET 3) prospektiv randomisiert untersucht. Die Studie konnte einen signifikanten Vorteil einer Sandwich-Chemotherapie im Vergleich zur alleinigen postoperativen Bestrahlung zeigen. Somit steht fest, dass auch Kinder mit Standardrisiko Medulloblastom von einer Chemotherapie profitieren. In der multizentrischen Therapieoptimierungsstudie deutschsprachiger Länder HIT ‚91 wurde durch postoperative Bestrahlung und adjuvante Erhaltungs-Chemotherapie mit Cisplatin, CCNU und Vincristin für Patienten über 3 Jahre ohne sichtbare Metastasen mit einer progressionsfreien 5-Jahres-Überlebensrate von 79% ein exzellentes Ergebnis erreicht (Kortmann et al. 2000). Hierdurch wurden ältere Ergebnisse einer monozentrischen Studie aus Philadelphia bestätigt (Packer et al. 1994). ! Die adjuvante Chemotherapie mit Cisplatin, CCNU und Vincristin nach postoperativer Strahlentherapie kann derzeit bei Kindern über 3 Jahren als Standardtherapie des Medulloblastoms ohne Metastasen angesehen werden.
In der gegenwärtig aktiven Therapiestudie HIT 2000 soll bei Patienten ohne Metastasierung (M0) durch eine hyperfraktionierte Strahlentherapie (2×1 Gy/Tag, 36 Gy kraniospinal, lokale Aufsättigung 68 Gy), gefolgt von der etablierten Erhaltungs-Chemotherapie, eine weiter verbesserte lokale und systemische Tumorkontrolle erreicht werden (⊡ Abb. 66.13). Randomisiert dazu wird eine reduzierte kraniospinale, konventionelle Bestrahlung zur Verminderung radiogener Spätfolgen untersucht (1×1,8 Gy/Tag, 23,4 Gy kraniospinal, lokale Aufsättigung 68 Gy).
In der abgeschlossenen Therapiestudie HIT ‚91 hatten Kinder mit sichtbarer ZNS-Metastasierung (M2/M3) mit einer progressionsfreien 5-Jahres-Überlebensrate von 34% ein signifikant schlechteres Ergebnis. Dabei war das Ergebnis nach neoadjuvanter Sandwich-Chemotherapie in der Tendenz günstiger als die Standardtherapie. Daher erhalten in der aktuellen Studie HIT 2000 Patienten mit Metastasierung (M1–M4) eine postoperative Sandwich-Chemotherapie (⊡ Abb. 66.14). Eine Therapieintensivierung wird durch eine Hyperfraktionierung der Strahlentherapie angestrebt (2×1,0 Gy/Tag, 36 Gy kraniospinal, lokale Aufsättigung bis 68 Gy). Alternativ ist in HIT 2000 bei einem Ansprechen auf Chemotherapie für Patienten mit primärer Metastasierung eine Hochdosischemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation, gefolgt von einer Strahlentherapie, vorgesehen. Säuglinge und Kleinkinder. Bei Kindern unter 3 Jahren ver-
hält sich das Medulloblastom aggressiver als bei älteren Patienten. Die kognitive Entwicklung wird in dieser Altersgruppe zudem in besonderem Maße durch die Strahlentherapie beeinträchtigt. Daher wird angestrebt, eine Bestrahlung bei Kindern in den ersten 3–4 Lebensjahren zu vermeiden oder hinaus zu zögern (Duffner et al. 1993). In einer Chemotherapiestudie der Children’s Cancer Group lag die progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate von Kindern unter 3 Jahren bei nur 32% (Zeltzer 1999). In der Studie HIT-SKK ‚92 erhielten alle Kinder unter 3 Jahre postoperativ 3 modifizierte Zyklen einer HIT-Chemotherapie sowie intraventrikuläres Methotrexat, das über eine Rickham-Kapsel oder ein Ommaya-Reservoir verabreicht wurde. Durch dieses Therapieelement sollte die kraniospinale Bestrahlung ersetzt werden. Die progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate der Kinder ohne Resttumor und ohne sichtbare Metastasen lag nach dieser Therapie bei 74%, 16 der 19 geheilten Kinder waren nicht bestrahlt worden. Es konnte gezeigt werden, dass sich der Verzicht auf die Bestrahlung auch günstig auf die neurokognitive Leistungsfähigkeit auswirkte. In der Folgestudie HIT 2000 werden Kinder unter 4 Jahren aufgrund dieser günstigen Ergebnisse mit 2 zusätzlichen
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Abb. 66.14. Therapieübersicht HIT 2000, Medulloblastom, mit Metastasen (M1–M4), Alter 4–21 Jahre
2 Zyklen Chemotherapie (HIT-SKK 2000) Cycloposphamid/VCR 2×HD Methotrexat/VCR Carboplatin/Etoposid Methotrexat intraventrikulär
OP
IV Hyperfraktionierte Bestrahlung 40 Gy Gehirn/Rückenmark 60 Gy hintere Schädelgrube 68 Gy Tumorregion
Chemotherapieblöcken (ohne intraventrikuläres Methotrexat) behandelt. Daneben soll die ungünstige Prognose von Kindern mit primärer Metastasierung in HIT 2000 bei Ansprechen auf Chemotherapie durch eine Hochdosischemotherapie und autologe Stammzelltransplantation verbessert werden. Mit verbesserter Kontrolle der Erkrankung innerhalb des ZNS scheint die relative Inzidenz an Metastasen außerhalb des ZNS zuzunehmen. So traten in einer Serie aus Boston bei 9 von 50 Kindern, die nur bestrahlt wurden, Knochenmetastasen auf, dagegen bei keinem von 39 Kindern, die zusätzlich mit einer Chemotherapie behandelt worden waren. Bei Auftreten eines Rezidivs sollte die weitere Behandlung individuell erörtert werden. Im Rahmen des Behandlungsnetzwerks HIT steht dafür ein eigenes Behandlungsprotokoll (HIT-REZ) zur Verfügung. ! In der modernen Behandlung des Medulloblastoms wird eine Therapieintensivierung durch hyperfraktionierte Bestrahlung angestrebt. Bei Kindern ohne Metastasen sollen hierbei hohe Heilungsraten bei geringeren Spätfolgen durch Reduktion der kraniospinalen Strahlendosis erreicht werden. Die unbefriedigende Prognose von Kindern mit Metastasen hofft man durch intensivere Chemotherapie zu verbessern. Bei Kindern unter 4 Jahren dient die Chemotherapie dazu, die Bestrahlung zu ersetzen. Bei allen Patienten soll die Chemotherapie das Auftreten systemischer Metastasen verhindern.
Supratentorieller PNET Obwohl supratentoriell gelegene PNET auf Chemotherapie ebenso empfindlich reagieren wie Medulloblastome, ist die Prognose aufgrund eines aggressiveren lokalen Wachstumsverhaltens und eines niedrigeren Erkrankungsalters der Kinder ungünstiger. In einer retrospektiven Analyse von 36 Kindern lag die progressionsfreie 5-Jahres-Überlebensrate nur bei 18%, ob-
Erhaltungschemotherapie 4 Blöcke mit Cisplatin, CCNU, VCR
wohl lediglich bei einem Kind eine initiale Metastasierung vorlag (Dirks 1996). In der Studie HIT ‚91 lag die progressionsfreie 4-Jahres-Überlebensrate bei Kindern ab 3 Jahren mit 50% über den historischen Zahlen, war aber ebenfalls signifikant schlechter als beim Medulloblastom. Daher wird in der aktuellen Therapiestudie HIT 2000 eine Therapieintensivierung mittels hyperfraktionierter Bestrahlung und nachfolgender verlängerter Erhaltungschemotherapie durchgeführt. In der Altersgruppe unter 3 Jahren trat in HIT-SKK ‚92 bei allen 12 Kindern mit stPNET unter Verzicht auf eine Strahlentherapie innerhalb von 2 Jahren ein Rezidiv bzw. eine Tumorprogression auf. Daher erhalten Kinder dieser Gruppe in HIT 2000 eine Therapieintensivierung durch verlängerte Chemotherapie, gefolgt von einer Strahlentherapie mit reduzierter kraniospinaler Dosis und erhöhter Dosis auf die Tumorregion. 66.14
Atypische teratoide/rhabdoide Tumoren
Maligne rhabdoide Tumoren (MRT) wurden erstmals 1978 als Raumforderungen der Nieren beschrieben. Der erste Fall eines zerebral gelegenen Tumors mit histologischen Charakteristika ähnlich den renalen Tumoren wurde 1985 publiziert. Um den verschiedenartigen Gewebeelementen dieser Tumoren, bestehend aus rhabdoiden, primitiven neuroepithelialen, epithelialen und mesenchymalen Zellanteilen, gerecht zu werden, wurde 1996 der Begriff des atypischen teratoiden/ rhabdoiden Tumors (AT/RT) geprägt (Rorke et al. 1996). AT/RT entspringen meist dem Kleinhirnbrückenwinkel und befallen invasiv wachsend umliegende Strukturen (50%). 39% finden sich supratentoriell (im Marklager der Hemisphären oder suprasellär); pineal sind ca. 5%, multifokal und spinal je 2% gelegen (⊡ Abb. 66.15). Zum Zeitpunkt der Diagnose weisen 15–40% bereits eine leptomeningeale Metastasierung auf. Die Inzidenz von AT/RT ist unklar. Insgesamt wird das Verhältnis stPNET zu AT/RT bei Kindern unter 3 Jahren auf etwa 4:1 geschätzt (Packer et al. 2002).
807 66 · ZNS-Tumoren
von epithelialem Membranantigen (EMA) und Vimentin in den rhabdoiden Zellen; vereinzelt sind diese auch positiv für saures Gliafaserprotein (GFAP), Neurofilamentprotein (NFP) und Keratin. Zytogenetische Analysen zeigen in einem Großteil der AT/RT eine Monosomie 22 oder Verluste der chromosomalen Bande 22q11. Hier findet sich das Gen SMARCB1 (Synonym hSNF5/INI1), das eine Vielzahl von Punkt- und Leserastermutationen in AT/RT aufweist. SMARCB1 spielt eine Rolle in der Regulation der Chromatinstruktur, die eng verknüpft ist mit Genaktivierung und -inaktivierung, so dass SMARCB1 eine Tumorsuppressorrolle spielen könnte (Versteege et al. 1998). 66.14.2 Diagnostik Die klinische Symptomatik entspricht wie bei anderen Tumoren Tumorsitz und -ausbreitung. Neuroradiologisch sieht man im CCT eine hyperdense Raumforderung mit ungleichmäßiger Kontrastmittelanreicherung, vereinzelten Einblutungen und Zystenbildung. In der T1-gewichteten MRT ist eine isointense Raumforderung mit hyperintensen Foci und kräftiger Kontrastanreicherung typisch. Im T2-Bild stellen sich AT/RT aufgrund von Zysten, Blutungen und zellulärer Heterogenität komplex dar (Zuccoli et al. 1999).
a
! Wegen der Möglichkeit des zeitgleichen Auftretens von Tumoren im ZNS und in den Nieren sollten alle Kinder mit einem AT/RT einer Bildgebung des Abdomens zugeführt werden.
66.14.3 Therapie
b ⊡ Abb. 66.15. a Sagittale T1-gewichtete MR-Tomographie nach Gadolinium. Von infratentoriell nach supratentoriell wachsender Tumor mit kräftiger Kontrastmittelanreicherung und hyperintensen Foci als Spiegel verschiedenartiger Gewebekomponenten sowie dem Auftreten von Zysten, Nekrosen und Einblutungen. b Histologischer Schnitt durch einen AT/RT mit Darstellung von rhabdoiden Zellen, die sich durch große randständig gelegene Kerne mit prominenten Nukleolen auszeichnen. Die rhabdoiden Zellen finden sich oftmals vor dem Hintergrund kleinzelliger primitiver neuroektodermaler Zellanteile
66.14.1 Pathologie und molekulare Biologie Makropathologisch ähneln AT/RT Medulloblastomen, allerdings finden sich vereinzelt Nekrosen, Zysten und Einblutungen. Histologisch weisen alle AT/RT eine rhabdoide Komponente aus mittelgroßen, plumpen Zellen mit einem randständig gelegenen Nukleus und einem prominenten Nukleolus auf. 2/3 der Tumoren weisen zusätzlich eine embryonale, 1/3 eine mesenchymale Komponente auf. Lichtmikroskopisch besteht die Gefahr einer Verwechslung mit einem PNET. Immunhistochemisch sieht man wegen der verschiedenartigen Gewebekomponenten ein komplexes Bild mit Expression
Die Behandlung von Kindern mit einem zerebralen AT/RT ist bislang nicht in größeren Studien evaluiert worden. Es gibt Hinweise, dass Patienten, bei denen eine neurochirurgisch komplette oder annähernd komplette Resektion erfolgen konnte, längere Überlebenszeiten aufweisen. Da die meisten AT/RT bei Kindern unter 3 Jahren auftreten, finden sich in der Literatur mehr Erfahrungsberichte mit Chemotherapie als mit Strahlentherapie. Unter anderem wurden Schemata mit HD-Cyclophosphamid, Cisplatin, VP16 und Vincristin, sowie die Kombination Ifosfamid, Carboplatin,Vincristin und VP16 verwendet. Ein Ansprechen wurde in vereinzelten Fällen beobachtet, die progressionsfreie Überlebensrate lag nach 3 Jahren aber unter 20%. Einige der Patienten wurden einer Hochdosischemotherapie, gefolgt von autologer Stammzelltransplantation, unterzogen. Auch diese Regimes waren der konventionellen Chemotherapie nicht überlegen. Da einige der Patienten zudem bestrahlt worden waren, sind die Daten zudem nicht sicher zu evaluieren. Am erfolgversprechendsten erscheint ein aggressives Schema, das sich an die für Rhabdomyosarkome verwendeten Therapieprotokolle anlehnt. Es besteht aus Vincristin, Cisplatin, Doxorubicin, Cyclophosphamid und VP16 sowie einer intraventrikulären Therapie mit Methotrexat, CytosinArabinosid und Hydrokortison, gefolgt von einer ZNSBestrahlung. Da die meisten Rezidive von AT/RT lokal auftreten, ist zu erwarten, dass eine lokale Bestrahlung zu einer Verbesserung der Prognose beiträgt (Packer et al. 2002).
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
66.14.4 Prognose
IV
Die Prognose von Kindern mit einem zerebralen AT/RT ist sehr schlecht. So wurden bei Kindern jünger als 3 Jahre mittlere Überlebensraten von maximal 15 Monaten berichtet. Die meisten Patienten mit längeren Überlebenszeiten waren älter als 5 Jahre und wurden zusätzlich zu aggressiver Chemotherapie einer Strahlentherapie unterzogen (Weiss et al. 1998). Es ist dringend notwendig, Patienten mit AT/RT in nationalen/multinationalen Therapiestudien unter Einschluss epidemiologischer und molekularbiologischer Daten zu erfassen und zu behandeln. 66.15
Kraniopharyngeome
Das Kraniopharyngeom ist der häufigste nicht-gliale intrakranielle Tumor im Kindes- und Jugendalter. Seine jährliche Inzidenz beträgt 0,5–2 pro 1 Million Einwohner. Da der Tumor etwa je zur Hälfte im Kindes- und Erwachsenenalter manifest wird, ist in Deutschland mit durchschnittlich 50 Neuerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen pro Jahr zu rechnen. Das Hauptmanifestationsalter liegt hier zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr. Das Kraniopharyngeom ist ein Fehlbildungstumor aus Überresten der Rathke-Tasche. Es wächst als histologisch benigner, extraaxialer Tumor in der Sella turcica und in der perisellären Region. Der im Kindesalter vornehmlich vorliegende adamantinöse Typ neigt zu Zystenbildung und Verkalkungen, während der papilläre Typ mehr solide ist und nicht verkalkt. Daneben kommen auch gemischt adamantinös-papilläre Typen vor (Einhaus u. Sanford 1999). 66.15.1 Klinisches Erscheinungsbild
und Diagnostik Aufgrund der Lagebeziehung zu den Strukturen der suprasellären Region bestehen die klinischen Leitsymptome in Wachstumsmangel, Diabetes insipidus, Sehstörungen und in fortgeschrittenen Fällen Hirndrucksymptomen. Die augenärztliche Untersuchung deckt Gesichtsfelddefekte, Visusminderung und Sehnervenatrophien auf. Hypophysäre und hypothalamische endokrine Funktionsstörungen werden durch adäquate Hormonuntersuchungen und Belastungstests nachgewiesen (Hoffman et al. 1999). Die Diagnose eines Kraniopharyngeoms wird am besten durch Magnetresonanztomographie gesichert. Diese erlaubt gleichzeitig eine Aussage über die topographische Beziehung zu den Nachbarstrukturen (⊡ Abb. 66.16). Die Computertomographie ist hilfreich für den Nachweis von verkalkten Tumoranteilen (⊡ Abb. 66.17). Differenzialdiagnostisch können Chiasma-/Hypothalamusgliome, intrakranielle Keimzelltumoren, ein zentraler Befall bei Langerhans-ZellHistiozytose (LCH; Kap. 20) und Zysten der Rathke-Tasche Schwierigkeiten bereiten. Wenn im CT Verkalkungen fehlen, ist das Vorliegen eines Kraniopharyngeoms aber unwahrscheinlich. Die so genannten »sezernierenden« Keimzelltumoren können durch den Nachweis erhöhter Tumormarker (α1-Fetoprotein, β-HCG, CEA) in Serum und Liquor erfasst werden (Keimzelltumoren des ZNS werden in Kap. 74 behan-
delt). Ansonsten ist eine bioptische Klärung erforderlich. MRT und CT geben auch Auskunft über das Ausmaß einer bestehenden Liquorzirkulationsstörung. 66.15.2 Therapie Es gibt keine einheitlichen, auf kontrollierten Studien basierenden therapeutischen Richtlinien. Vielmehr werden die zur Verfügung stehenden neuroonkologischen Behandlungsmöglichkeiten (Zystenentlastung, partielle Resektion, Totalresektion, Radiotherapie) häufig noch kontrovers diskutiert. Die Therapie des Kraniopharyngeoms im Kindes- und Jugendalter stellt infolgedessen alle beteiligten Disziplinen vor große Schwierigkeiten. Die Therapieentscheidung muss bis zum Vorliegen besser gesicherter Daten in jedem Einzelfall individuell durch ein erfahrenes Team aus Neurochirurgen, Radiotherapeuten, pädiatrischen Neurologen/Onkologen und Endokrinologen getroffen werden (Müller u. Sörensen 2002). Chirurgische Therapie und Komplikationen Nur wenige Neurochirurgen haben die Möglichkeit, während ihrer Lebensarbeitszeit mehr als 50–100 Kraniopharyngeome zu operieren. Die in der Literatur berichteten Serien sind selten miteinander vergleichbar und schwer zu interpretieren. Das liegt darin begründet, dass in vielen Serien Kinder und Erwachsene nicht getrennt erfasst und unterschiedliche Tumorlokalisationen nicht differenziert betrachtet wurden. Wir wissen heute, dass sich die Biologie des Tumors selbst im Kindesalter unterschiedlich verhält. So erleiden Säuglinge und junge Kleinkinder bis zum 3. Lebensjahr nach operativer Resektion in über 30% Rezidive (Choux et al. 1991). Aus chirurgischer Sicht wäre es erstrebenswert, diesen extraaxialen, benignen Tumor mit seinen meist soliden und zystischen Anteilen operationsmikroskopisch total zu resezieren. Trotz aller technischen Fortschritte in der Mikroneurochirurgie gelingt dies aber selten ohne zusätzliche Operationsmorbidität. Die oft innigen Beziehungen zu den Nachbarschaftsstrukturen können eine vollständige Tumorresektion unmöglich machen. Leider sind auch die anderen Therapiestrategien (Zystenentlastung, partielle Resektion mit nachfolgender Radiotherapie, intracavitäre Radiotherapie) im Langzeitverlauf mit einer oft hohen Morbidität und Rezidivrate belastet. Ein intraselläres Kraniopharyngeom, das auf transnasalem Zugangsweg operiert werden kann, hat eine wesentlich niedrigere Operationsmorbidität als ein großzystischer suprasellärer Tumor (Fahlbusch et al. 1999). Die überwiegenden suprasellären, soliden und zystischen Tumoren des Kindesalters nehmen ihren Ausgang im Bereich des Tuber cinereum und des Hypophysenstiels. Bei typischem Wachstum können die Nervi optici und das Chiasma meist schonend operativ entlastet werden (Yasargil et al. 1990). Bei sehr langsamem Wachstum können die Sehnerven und das Chiasma aber so ausgedünnt sein, dass eine operative Dekompression oder auch nur Zystenentlastung zu einer Erblindung führen kann. Leider ist es nur selten möglich, den Hypophysenstiel so zu schonen, dass seine Funktion erhalten bleibt. Ob durch den Erhalt des Hypophysenstiels die Rezidivrate höher ist als bei Mitresektion, ist strittig; ein
809 66 · ZNS-Tumoren
⊡ Abb. 66.16. Ausgedehntes Kraniopharyngeom mit Eindringen in den Temporallappen
anatomisch erhaltener Hypophysenstiel bedeutet noch nicht, dass er auch funktionell intakt bleibt. Die größten operativen Probleme bereiten die über lange Zeit retro-/suprasellär gewachsenen Kraniopharyngeome, die oftmals den III. Ventrikel ausfüllen. Die chirurgischen Möglichkeiten bei diesen Tumoren, die eine enge Beziehung mit dem Hypothalamus eingehen können, sind sehr begrenzt. Schwere hypothalamische Funktionsstörungen (SchlafWach-Rhythmus, Temperaturregulation, Elektrolytentgleisungen) können auftreten. Eine weitere, für die heranwachsenden Kinder sehr belastende hypothalamische Funktionsstörung ist eine medikamentös nicht zu beeinflussende massive Adipositas mit all ihren sekundären Krankheitsfolgen. Diese Tumoren dürfen allenfalls partiell reseziert werden und müssen, unter Berücksichtigung des Alters des Kindes, postoperativ bestrahlt werden (Rajan et al. 1993). Alternativ können offene, endoskopische oder stereotaktisch geführte Zystenentlastungen indiziert sein. Weitere Behandlungsmöglichkeiten bestehen in der intrakavitären Instillation von Bleomycin und Radioisotopen.
Die Indikation zur erneuten Operation bei einem Tumorrezidiv ist so differenziert zu stellen, dass eine allgemein gültige Empfehlung nicht gegeben werden kann. Der Operateur sollte in einem solchen Fall möglichst genaue Angaben über den Verlauf und die Besonderheiten der Erstoperation erhalten, um eventuell auch eine alternative Therapie empfehlen zu können. Strahlentherapie Obwohl es sich beim Kraniopharyngeom um einen benignen, langsam wachsenden und häufig in erster Linie durch seine zystischen Anteile zu Symptomen führenden Tumor handelt, kann der Krankheitsverlauf nach den Ergebnissen – allerdings retrospektiver – Studien durch eine lokale Strahlentherapie wesentlich mit beeinflusst werden. Während durch eine operationsmikroskopisch radikale Resektion nach 5 und 10 Jahren rezidivfreie Überlebenszeiten von 70–80% erzielt werden konnten, liegt diese Rate nach nur subtotaler Operation mit nur 30–50% sehr viel niedriger (Pierre-Kahn et al. 1988). Durch postoperative Radio-
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 66.17. Zystisches Kraniopharyngeom mit Verkalkung der Zystenwand
therapie kann die rezidivfreie Überlebensrate jedoch nach den Ergebnissen mehrerer katamnestischer Studien ebenfalls in den Bereich von 80% angehoben werden (Rajan et al. 1993). Jedoch ist auch die lokale Strahlentherapie der suprasellären Region trotz nachgewiesener Wirksamkeit nicht frei von Nebenwirkungen. Hypophysäre Insuffizienz, bei besonders jungen Kindern und großem Bestrahlungsvolumen auch neuropsychologische Defizite, und das – wenn auch geringe – Risiko von Zweittumoren erfordern ebenfalls eine klare Indikationsstellung. Ohne Absicherung durch geeignete Studien und in Anlehnung an publizierte Leitlinien (Müller u. Sörensen 2002) können die Indikationen zur Strahlentherapie wie folgt definiert werden: ▬ nach neurochirurgischer Totalexstirpation abwartendes Verhalten; ▬ bei primärer Inoperabilität, subtotaler und partieller Resektion oder Drainage von Zysten und/oder Hydrozephalus entweder postoperativ lokale Strahlentherapie mit 50,4–54 Gy Zielvolumendosis, fraktioniert in Einzeldosen von 1,8 Gy, oder abwartendes Verhalten und Bestrahlung erst bei Progredienz; ▬ Im Fall eines Rezidivs nach – wenn vertretbar – erneuter Operation postoperative Nachbestrahlung. Bei Kindern unter 6 Jahren sollte wegen der in diesem jungen Alter besonders relevanten Nebenwirkungsrisiken auf jeden Fall zunächst eine Beobachtungsphase vor dem Entschluss zur Bestrahlung vorgesehen werden. Neben der externen fraktionierten Strahlentherapie kann bei sehr kleinen (Rest-)Tumoren auch eine strahlenchirurgische Behandlung, bei Zysten eine Instillation von Radioisotopen in Betracht gezogen werden.
Endokrinologische Therapie und Nachsorge Aufgrund der Lagebeziehungen des Tumors ist als Folge der Erkrankung und der Behandlung neben neurologischen und neuropsychologischen Spätschäden v. a. mit Sehstörungen (sonderpädagogische Frühförderung, Sonderschule für Sehbehinderte/Blinde oder Integrationsmodelle) und endokrinologischen Ausfällen zu rechnen. Die offene operative Behandlung eines Kraniopharyngeoms führt in 80–95% der Fälle zu einer hochgradigen Hypophyseninsuffizienz, so dass die vital notwendigen Hormone Hydrokortison und ADH (DDAVP) bereits perioperativ verabreicht werden müssen. Postoperativ ist dann im Verlauf auszutesten, welche Hormone auf Dauer substituiert werden müssen (Müller u. Sörensen 2002). Aber auch die Strahlentherapie der suprasellären Region führt mit Latenz von Monaten bis wenigen Jahren zu einer meist partiellen hypophysären Insuffizienz. Eine regelmäßige Überwachung auxiologischer Daten, des Wasserhaushaltes und endokrinologischer Befunde ist deshalb zur rechtzeitigen Einleitung einer eventuell notwendigen Substitution langfristig regelmäßig erforderlich. Aufgrund der komplexen Symptomatik muss die Nachsorge durch eine erfahrenes multidisziplinäres Team erfolgen. MRT-Kontrollen ohne und mit Kontrastmittelgabe werden im ersten Jahr nach Therapie alle 3–6 Monate und in der Folge jährlich empfohlen. Eine umfassende endokrinologische Abklärung sollte 3 Monate nach Therapie, und dann jährlich erfolgen. Eine augenärztliche Untersuchung ist v. a. bei auffälligen Befunden halbjährlich zu empfehlen. Neuropsychologische Untersuchungen werden erforderlich, wenn sich bei gezielter Schul- und Leistungsanamnese auffällige Befunde ergeben. 66.16
Plexustumoren
Mit einer jährlichen Häufigkeit von nur 0,5 pro 1 Million Menschen machen Choroidplexustumoren (CPT) nur 0,4% aller Hirntumoren aus (Janisch u. Staneczek 1989). In Deutschland werden 5–10 Neuerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen pro Jahr gemeldet. Da CPT aber einen deutlichen Häufigkeitsgipfel im frühesten Lebensalter haben, sind sie in diesem Alter die häufigsten Hirntumoren. 66.16.1 Ätiologie und Genetik Viele Daten weisen daraufhin, dass SV40, ein sonst nicht human-pathogenes Virus, Choroidplexustumoren hervorrufen kann. Sowohl in der Zellkultur als auch im Tierversuch ist dieser Zusammenhang experimentell nachgewiesen, in Tumorbiopsien von Menschen ist das Virus molekularbiologisch nachweisbar (Bergsagel et al. 1992). Die Tumoren sind auch im Zusammenhang mit X-Chromosom-gebundenen Syndromen und mit Keimbahnalterationen von p53 beschrieben. In der Pathogenese spielt eine p53-Alteration besonders bei der malignen Variante, den Choroidplexuskarzinomen, eine Rolle (Jay et al. 1996).
811 66 · ZNS-Tumoren
66.16.2 Pathologie und Pathogenese
66.16.5 Prognose und Nachsorge
Man unterscheidet die weniger malignen Choroidplexuspapillome (CPP), die höher malignen Choroidplexuskarzinome (CPC) und Übergänge zwischen diesen beiden wie das atypische Choroidplexuspapillom. Ausgangspunkt des Tumorwachstums sind die Plexus choroidei, am häufigsten in den Seitenventrikeln, aber auch im III. oder IV. Ventrikel oder im Kleinhirnbrückenwinkel. Je benigner die Ausbildungsform, desto mehr ähnelt das Tumorgewebe dem epithelialen Ausgangsgewebe. Die maligne Variante ist durch mehrschichtige epitheliale Zellverbände, Nekrosen, pleomorphe Zellen und Mitosen gekennzeichnet. Immunhistochemisch überwiegt dann CD44- und CEA-Expression. Die Grenze zwischen hoch- und niedriggradigen Tumoren ist jedoch nicht scharf zu ziehen. Auch Metastasen, die sich meist über den Liquor cerebrospinalis ausbreiten, kommen nicht nur bei CPC vor.
Operativ vollständig entfernte Plexuspapillome ohne Metastasen zeigen auch ohne weitere onkologische Behandlung eine 10-Jahres-Überlebensrate von 80% (Wolff et al. 2002). Im Falle eines Rezidivs ist eine zweite Therapie indiziert. Die Nachsorge muss dementsprechend engmaschiger sein als bei anderen niedrig-malignen Tumoren und sollte mit mindestens dreimonatigen kernspintomographischen Untersuchungen beginnen. Solange die Fontanelle noch nicht geschlossen ist, sollten zusätzlich Ultraschallkontrollen in monatlichen Abständen durchgeführt werden. Die Überlebensrate von Patienten mit Choroidplexuskarzinomen nach vollständiger multimodaler Tumortherapie liegt im Mittel bei 50%, ist aber sehr vom Erfolg der Operation und den Möglichkeiten der weiteren onkologischen Therapie abhängig (Wolff et al. 1999). Die Nachsorge orientiert sich ansonsten an den Prinzipien der Medulloblastom-Nachsorge.
66.16.3 Klinisches Erscheinungsbild, Diagnostik
66.17
Tumoren der Pinealisregion
und Differenzialdiagnose Entsprechend ihres Ausgangsgewebes können die Tumoren große Mengen von Liquor cerebrospinals produzieren und einen Hydrocephalus hypersecretorius hervorrufen. In der MRT stellen sich die Tumoren meist als scharf begrenzte, sehr stark Kontrastmittel anreichernde Raumforderung in einem Ventrikel oder im Kleinhirnbrückenwinkel dar. Zum Nachweis von Metastasen ist eine MRT der ganzen kraniospinalen Achse erforderlich. Die Verdachtsdiagnose ist gerechtfertigt, wenn bei einem Säugling ein stark kontrastmittelanreichernder ventrikulärer Tumor gefunden wird. Differenzialdiagnostisch kann die Sestamibi-Szintigraphie hilfreich sein, die bei CPT positiv, bei den meisten Differenzialdiagnosen (Ventrikelblutung, andere Tumoren) aber negativ ist (Kirton et al. 2002). Bei CPC kann CEA im Serum nachgewiesen werden. 66.16.4 Therapie Erster therapeutischer Schritt ist die möglichst vollständige Tumorresektion. Die Bedeutung der Operation ist bei diesem Tumor so groß, dass nach Bekanntwerden der Histologie als erstes eine Nachresektion eventuell verbliebener Tumorreste erwogen werden sollte. Die weitere Therapie richtet sich nach dem Alter des Patienten, der Ausbreitung des Tumors und der histologischen Dignität. Bei maligner Histologie, bei Metastasen oder bei wachsendem, nicht mehr resezierbarem Resttumor ist eine nicht-operative onkologische Therapie indiziert. Da die Patienten in der Regel für eine Strahlentherapie zu jung sind, findet Chemotherapie mit Kombinationen aus Oxazaphosphorinen (z. B. Cyclophosphamid), Topoisomerase-Hemmstoffen (Etoposid), Vincaalkaloiden (Vincristin) und Platinderivaten (Carboplatin) Anwendung. Bei älteren Patienten kann auch Radiotherapie erfolgreich eingesetzt werden (Wolff et al. 1999).
Tumoren der Pinealisregion machen etwa 2% aller primären ZNS-Tumoren bei Kindern und Jugendlichen aus. Prinzipiell findet man hier 3 verschiedene Kategorien von Neoplasien: ▬ Keimzelltumoren, die von neurochirurgisch sanierbaren Teratomen zu disseminiert wachsenden malignen Germinomen reichen können; ▬ parenchymatöse Pinealistumoren mit einem Spektrum von Histologien, an deren einem Ende die differenzierten Pineozytome und an deren anderem Ende die malignen Pineoblastome liegen; ▬ weitere Entitäten, wie intraaxiale Astrozytome, gemischte Gliome und Ependymome. Selten findet man Tumoren ausgehend von umliegenden Strukturen wie z. B. Meningeome, Dermoidtumoren und Epidermoidtumoren. Die Keimzelltumoren machen bis zu 50% der Pinealistumoren im Kindesalter aus. Von den Keimzelltumoren des Zentralnervensystems befinden sich etwa 2/3 in der Pinealisregion und ein weiteres Drittel suprasellär. Die Keimzelltumoren des ZNS geben sich in der Regel durch eine Erhöhung von AFP bzw. β-HCG im Liquor und im Serum zu erkennen ( Kap. 74). Während Keimzelltumoren des ZNS ihren Häufigkeitsgipfel in der 2. Lebensdekade haben sowie ein Überwiegen des männlichen Geschlechts (männlich:weiblich 2:1 bis 9:1) zeigen, findet man parenchymatöse Pinealistumoren meist im Kleinkindalter (Median bei 5 Jahren). Pineoblastome machen etwa 50% aller parenchymatösen Pinealistumoren aus. In der Histologie sieht man Schichten von undifferenzierten, kleinen, dicht gepackten Zellen, oft mit neuroblastischen Rosetten (Homer-Wright-Rosetten). Flexner-Winterstein-Rosetten, die eine Differenzierung in Richtung Retinoblastom anzeigen, kommen ebenfalls vor. Ein seltenes familiäres Syndrom, bei dem ein Pineoblastom mit einem bilateralen Retinoblastom assoziiert ist, wird als »trilaterales Retinoblastom« bezeichnet. In der Bildgebung zeigen parenchymatöse Pinealistumoren (Pineozytom, -blastom) meist eine homogene Kontrastaufnahme, sind in der T1-MRT hypo- bis isointens und in der
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
T2 hyperintens. Teratome zeigen hingegen eine heterogenes Enhancement in T1, und Germinome können Zysten aufweisen. Eine neurochirurgische Biopsie ist zur Artdiagnose bei nicht wegweisenden Aktivitätsparametern (z. B. AFP) im Liquor bzw. Serum anzustreben (Packer et al. 1984). Die Therapie von Pineoblastomen orientiert sich im Wesentlichen an der Therapie von anderen PNET des ZNS und beinhaltet an erster Stelle die Neurochirugie, gefolgt von Strahlentherapie und von multimodaler Chemotherapie. Im deutschsprachigen Raum werden Pineoblastome wie andere stPNET behandelt. Ältere Patienten (4–21 Jahre) erhalten eine Radiatio von 36 Gy auf die Neuraxis gefolgt von einem Tumor-Boost bis 66 Gy auf die Tumorregion. Im Anschluss erfolgt eine Erhaltungstherapie wie bei Medulloblastomen. Die Therapie bei Kleinkindern und Säuglingen unter 4 Jahren beinhaltet eine Chemotherapie mit intraventrikulären Methotrexatgaben sowie intravenösem Cyclophosphamid und Carboplatin gefolgt von einer Bestrahlung mit 24 Gy auf die Neuraxis und 54 Gy auf die erweiterte Tumorregion. Patienten mit Pineoblastomen sprechen signifikant besser auf die Therapie an als andere stPNET (Cohen et al. 1995; Gururangan et al. 2003). Bei den übrigen parenchymatösen Tumoren der Pinealisregion handelt es sich meist um niedriggradige Pineozytome. Bei diesen langsam wachsenden Tumoren kommt es ebenso wie bei den übrigen Tumoren der Pinealisregion infolge Kompression des kaudalen 3. Ventrikels bzw. des Aquäduktes frühzeitig zu Liquorabflussstörungen und damit zum Hydrozephalus und zu klinischen Zeichen eines erhöhten Hirndrucks. Diagnostik, Therapie und Prognose entsprechen derjenigen von niedriggradigen Gliomen ( Abschn. 66.10). Meist ist ein neurochirurgischer Eingriff kurativ. 66.18
können so genannte »Stiftgliome« bilden und sich über mehrere Rückenmarkssegmente mit Zystenbildung erstrecken. Anaplastische Astrozytome oder Glioblastome sind selten. 66.19.1 Klinisches Erscheinungsbild
und Diagnostik Die klinische Symptomatik wird durch die Höhenlokalisation des spinalen Prozesses und seine räumlichen Beziehung zu Rückenmark und Nervenwurzeln bestimmt. Über der Wirbelsäule lokalisierte Schmerzen sind das dominierende Symptom (75%). Durch Kompression der Nervenwurzeln tritt ein radikulärer, ausstrahlender Schmerz auf. Durch Stau des venösen Abflusses kann ein dumpfer Schmerz erzeugt werden, der durch ein Valsalva-Manöver verstärkt werden kann. Weitere Symptome sind motorische Störungen (75%), Dysästhesien (65%) und Störungen der Sphinkterfunktion (15%; Abschn. 66.4). Intramedulläre Astrozytome wachsen sehr langsam; dies resultiert in häufig sehr langen Anamnesen mit nur diskret voranschreitenden neurologischen Symptomen. Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule können durch knöcherne Destruktionen, Erweiterung des Foramen intervertebrale oder Ausweitung des Spinalkanals auf einen Tumor hinweisen. Die Kernspintomographie ist die Methode der Wahl, um spinale Raumforderungen direkt nachzuweisen, sowie ihre Lage bezüglich Höhe und betroffenem Kompartiment zu definieren (⊡ Abb. 66.18). Aus neurologischer Sicht sind neben der detaillierten klinischen Befunderhebung elektrophysiologische (EMG, SSEP) und urologische Untersuchungen (Restharn, Urodynamik) für die Läsionsdiagnostik und Verlaufskontrolle essentiell.
Maligne Lymphome 66.19.2 Therapie
Primäre maligne Lymphome des ZNS sind selten (<1%) und bereiten oft diagnostische Probleme. Sie bedürfen daher einer Bestätigung der pathologisch-anatomischen Diagnose durch Pathologen, die über besondere Erfahrung bei der Diagnostik maligner Lymphome verfügen (LymphknotenRegister). Maligne Non-Hodgkin-Lymphome des ZNS werden nach den Richtlinien der NHL-Studie klassifiziert und behandelt ( Kap. 63). 66.19
Tumoren des Spinalkanals
Tumoren des Spinalkanals sind selten. Ihre Häufigkeit gegenüber intrakraniellen Geschwülsten wird zwischen 1% und 6% angegeben. Die überwiegende Zahl ist histologisch benigne. Nach anatomischen Gesichtspunkten unterscheidet man zwischen intraduralen und extraduralen Neoplasien. Extradural finden sich von den Knochen ausgehende Tumoren, Neurinome/Schwannome und Neuroblastome. Die intraduralen Neoplasien werden zusätzlich in extra- (meistens Ependymome, Meningeome und Abtropfmetatstasen) und intramedullär gelegene Tumoren (meistens Gliome) unterteilt. Die intramedullären Neoplasien machen etwa 1/3 aller primären Tumoren des Spinalkanales aus. Astrozytome
Eine radikale Tumorresektion ohne Markschädigung gelingt v. a. bei extraduralen, histologisch gutartigen und kleinen, umschriebenen Tumoren. Wegen des nicht unerheblichen Morbiditätsrisikos muss sich bei intramedullären Tumoren in vielen Fällen der operative Eingriff auf die Biopsie beschränken. In der Regel wird nach inkompletter Resektion eine Bestrahlung empfohlen. Gliome Niedrig-maligne Gliome des Rüchenmarks zeigen einen sehr protrahierten Krankeitsverlauf. Die progressionsfreie Überlebensrate nach postoperativer Bestrahlung beträgt nach 5 Jahren 60–80%, und nach 10–20 Jahren 50–70% (⊡ Tabelle 66.7). Pilozytäre Astrozytome haben gegenüber anderen Histologien eine deutlich besserer Prognose; in einer aktuellen Untersuchungsserie betrugen die 5 und 10 Jahre progressionsfreien Überlebensraten 80%, gegenüber 15% bei fibrillären Astrozytomen (WHO II). Der Stellenwert der postoperativen Bestrahlung ist aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen unklar. In der genannten Studie fand sich ein Vorteil durch postoperative Bestrahlung, während eine Operation sich eher als negativer prognostischen Faktor erwies. Bei Kindern empfiehlt sich derzeit eine Bestrahlung nur bei gesicherter Progredienz. Angaben zur Kontrolle der
813 66 · ZNS-Tumoren
ken für das Wachstum der Wirbelsäule und für die Entstehung radiogener Rückenmarkschäden zu verschieben. Bei hohen Überlebenschancen ist das funktionelle Therapieergebnis für Patienten mit spinalen Astrozytomen entscheidend. Mitgeteilte Überlebensraten von 88% nach Chemotherapie (mediane Nachbeobachtungszeit 4,8 Jahre) erscheinen mit den Ergebnissen der Strahlentherapie vergleichbar. Ependymome Ependymome entstehen zu 60% in den distalen Abschnitten des Spinalkanals, sie wachsen dort extramedullär. Bei Lokalisation im Zervikal- und Thorakalmark zeigen sie jedoch meist eine intramedulläre Ausbreitung. Aufgrund der extramedullären Lage wird eine komplette Resektion mit mikrochirurgischen Techniken bei den Ependymomen eher als bei den Astrozytomen erreicht. Als günstige prognostische Faktoren werden jüngeres Alter, WHOGrad I–II (myxopapillärer Subtyp), Lokalisation im Bereich der Cauda equina und eine komplette Resektion diskutiert. Progressionsfreie 5- und 10-Jahres-Überlebensraten nach alleiniger, kompletter Resektion von 92% wurden mitgeteilt. Durch postoperative Bestrahlung nach inkompletter Resektion konnte eine progressionsfreie Überlebensrate von 59% nach 5 und 10 Jahren erreicht werden (⊡ Tabelle 66.8). Patienten mit WHO-Grad-III/IV-Tumoren zeigten ein 9fach erhöhtes Risiko für Tumorprogression. Eine weitere Studie belegte die Notwendigkeit einer postoperativen Bestrahlung nach inkompletter Resektion: die 5 und 10 Jahre-Überlebensraten nach alleiniger kompletter Resektion bzw. inkompletter Resektion gefolgt von postoperativer Bestrahlung waren mit 93 und 91% nahezu identisch. In derselben Serie wurde durch die kombinierte Therapie eine Besserung der neurologischen Symptomatik bei 54% der Patienten, eine Stabilisierung bei 38% und eine Verschlechterung bei 8% beobachtet, gegenüber 41% Besserung, 47% Stabilisierung und 12% Verschlechterung nach alleiniger Resektion. Derzeit wird daher nach inkompletter Resektion eine postoperative Bestrahlung, jedoch keine weitere Therapie nach kompletter Resektion empfohlen (Jyothirmayi et al. 1997). Verwertbare Daten zur Chemotherapie spinaler Ependymome liegen nicht vor. In Einzelfällen kann nach den Prinzipien bei intrakraniellen Tumoren verfahren werden. ⊡ Abb. 66.18. Unregelmäßig Kontrastmittel aufnehmender Tumor (Astrozytom) des Thorakalmarks mit Aufweitung des Zentralkanals
neurologischen Defizite sind gering. Eine Studie erreichte durch Bestrahlung eine Besserung bei 12 von 23 Patienten, einen konstanten Befund bei weiteren 9, und nur bei 2 Patienten lag eine Progredienz vor. Bei hoch-malignen Gliomen kann die lokale Strahlentherapie aufgrund der limitierten Gesamtdosis nur temporär Symptome lindern. Die lokale Rückfallrate beträgt 100%, die mediane Überlebenszeit lediglich 6 Monate. Trotz noch spärlicher Datenlage scheint auch die Chemotherapie spinaler Astrozytome zu einer bemerkenswerten funktionellen Besserung zu führen. Insbesondere bei ausgedehnten Tumoren und jungen Kindern ergibt sich dadurch die Möglichkeit, die Strahlentherapie mit ihren Risi-
Spinale Bestrahlungstechnik und Dosierung Gemäß den in Abschn. 66.7 dargestellten Prinzipien wird eine Strahlentherapie der erweiterten Tumorregion durchgeführt. Empfohlen wird ein Sicherheitsabstand von einer Wirbelkörperhöhe; es muss jedoch nicht die gesamte Syrinx in das Bestrahlungsfeld einbezogen werden. Die Erfahrungen zur Dosis-Wirkungsbeziehung bei niedrigmalignen Gliomen und Ependymomen sind gering. Dosierungen unter 40 Gy sind jedoch offenbar mit einer schlechteren Tumorkontrolle verbunden, während Dosierungen über 50 Gy keine weitere Verbesserung der Überlebensrate erreichen. Daher wird derzeit eine Zielvolumendosis von 50,4 Gy bei einer Einzeldosis von 1,8 Gy und 5 Fraktionen pro Woche empfohlen.
66
814
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 66.7. Überleben nach Operation und/oder Bestrahlung spinaler niedrig-maligner Gliome
IV
Autor/ Zeitraum
Patientenzahl
Altersgruppe
Therapie
Progressionsfreies Überleben
Gesamtüberleben
Nachbeobachtungsdauer
Linstadt et al. 1989, 1957–86
12
Erwachsene und Kinder
Op + RT 35,2–51,8 Gy ED: 1,6–1,8 Gy
5 Jahre: 66% 10 Jahre: 53% 15 Jahre: 53%
5 Jahre: 91%
Median 23 Jahre
Chun et al. 1990, 1969–83
16
Erwachsene und Kinder
Op + RT 20–55 Gy FD: 1,8–2,0 Gy
5 Jahre: 40% 10 Jahre: 25%
5 Jahre: 60% 10 Jahre: 40%
5–20 Jahre
Hulshof et al. 1993, 1970–90
10
Erwachsene und Kinder
Op + RT 36–59 Gy ED: 1,6–2,0 Gy
k.A.
5 Jahre: 58% 10 Jahre: 43%
k.A.
O‘Sullivan et al. 1994, 1959–1990
12
Kinder
Op + RT 20–56 Gy ED: k.A
10 Jahre: 83% 20 Jahre: 71%
10 Jahre: 83% 20 Jahre: 71%
k.A.
Minehan et al. 1995, 1958–88
64
Erwachsene und Kinder
Op + RT 13,1–66,6 Gy median: 49,84 Gy ED: 1,4–12,5 Gy Median: 1,8 Gy
k.A.
5 Jahre: 55% 10 Jahre: 50% pilozytisches Astrozytom 5/10 Jahre: 80% fibrilläres Astrozytom 5/10 Jahre: 15%
1–24 Jahre, median: 6,3 Jahre
Abdel-Wahab et al. 1999, k.A.
25
Erwachsene und Kinder
Op + RT 35,2–58,3 Gy ED: 1,6–2,0 Gy Median: 1,8 Gy
5 Jahre: 54% 10 Jahre: 46%
5 Jahre: 64% 10 Jahre: 54%
k.A.
k.A. keine Angaben, RT Radiotherapie, Op Operation, ED Einzeldosis.
66.19.3 Von extraspinal nach intraspinal
einwachsende Tumoren Häufiger als primäre spinale Tumoren sind primäre extraspinale Tumoren, die sekundär über die Foramina intervertebrale in den Spinalkanal einwachsen und so zu einer Querschnittslähmung führen können. Hierbei handelt es sich stets um pädiatrisch onkologische Notfälle, die der sofortigen Intervention bedürfen ( Kap. 77). Zu den Tumoren, die häufig in den Spinalkanal einwachsen, gehören das Neuroblastom ( Kap. 68), die EwingTumoren ( Kap. 72), die parameningealen Weichteilsarkome ( Kap. 70), maligne Non-Hodgkin-Lymphome ( Kap. 63) sowie die Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH), die sich als Knochendestruktion im Wirbelbereich (Vertebra plana) mit intraspinaler Tumorausdehnung manifestieren kann ( Kap. 20). 66.20
ZNS-Metastasen und ZNS-Mitbeteiligung
Metastasen im ZNS kommen bei Kindern und Jugendlichen wesentlich seltener vor als bei Erwachsenen. 66.20.1 Solide Tumoren Hirnmetastasen können insbesondere bei den folgenden Tumoren von Kindern und Jugendlichen auftreten:
▬ bei Rhabdomyosarkomen, besonders bei parameningealem Sitz und bei primär metastasierter Erkrankung ( Kap. 70); ▬ bei Ewing-Tumoren, ebenfalls insbesondere bei parameningealem Sitz und primär metastasierten Erkrankungen ( Kap. 72); ▬ bei Osteosarkomen, insbesondere bei Patienten, die Lungenmetastasen entwickelt haben, sowie bei primär disseminierten (multifokalen) Tumoren ( Kap. 71); ▬ bei Keimzelltumoren, wobei neben den primär intrazerebralen Keimzelltumoren ( Abschn. 66.19) auch primär multifokale Keimzelltumoren mit oder ohne gonadale Beteiligung vorkommen können ( Kap. 74); ▬ bei Rhabdoidtumoren, wobei neben den primären atypischen teratoiden/rhabdoiden Tumoren ( Abschn. 66.14) auch primär multifokale Rhabdoidtumoren mit abdominellem, meist Nierenbefall und ZNS-Befall vorkommen können ( Kap. 69); ▬ bei Neuroblastomen, wobei neben primärem Befall der Schädelknochen, besonders charakteristisch der retroorbitalen Schädelknochen mit Ausprägung eines einoder zweiseitigen Exophthalmus, auch sekundäre Metastasen subdural oder im Hirnparenchym vorkommen können ( Kap. 68). ! Bei den genannten Tumorentitäten sind daher neben einer prätherapeutischen Suche nach einem ZNSBefall mittels kranieller Bildgebung im weiteren Verlauf engmaschige neurologische Untersuchungen notwendig, um frühzeitig weitere diagnostische und ggf. therapeutische Schritte einleiten zu können.
815 66 · ZNS-Tumoren
⊡ Tabelle 66.8. Überleben nach Operation und/oder Bestrahlung spinaler (extra- und intramedullärer) Ependymome (Kortmann)
Autor/Zeitraum
Patienten- Altersgruppe zahl
Therapie
Progressionsfreies Überleben
Gesamtüberleben
Nachbeobachtungsdauer
Chun et al. 1990, 1969–83
16
Erwachsene und Kinder
Op + RT 20–55 Gy ED: 1,8–2,0 Gy
5 Jahre: 80% 10 Jahre: 43%
5 Jahre: 87% 10 Jahre: 67%
5–20 Jahre
Whitaker et al. 1991, 1950–87
58
Erwachsene und Kinder
Op + RT (n=39) 35,2–51,8 Gy ED: 1,6–1,8 Gy
5 Jahre: 59% 10 Jahre: 59%
5 Jahre: 69% 10 Jahre: 63%
Median 70 Monate
Nur OP (n=19)
5 Jahre: 92% 10 Jahre: 92%
5 Jahre:92% 10 Jahre: 92%
Clover et al. 1993, 1971–90
8
Erwachsene und Kinder
Op + RT 45–54 Gy ED: 1,6–2,0 Gy
k.A.
5 Jahre: 100% 10 Jahre: 80%
Median 7,4 Jahre
Waldron et al. 1993, 1958–87
59
Erwachsene und Kinder
Op + RT 24–61,6 Gy ED: k.A.
5 Jahre: 83% 10 Jahre: 83%
5 Jahre: 83% 10 Jahre: 75%
Median 130 Monate
Hulshof et al. 1993, 1970–90
34
Erwachsene und Kinder
Op + RT 36–59 Gy ED: 1,6–2,0 Gy
k.A.
5 Jahre: 91% 10 Jahre: 91%
k.A.
O‘Sullivan et al. 1994, 1959–1990
11
Kinder
Op + RT 20–56 Gy ED: k.A.
10 Jahre: 61% 20 Jahre: 40%
10 Jahre: 76% 20 Jahre: 61%
k. A.
Stüben et al. 1997, 1963–95
15
Erwachsene und Kinder
Op + RT 30–55 Gy ED: k.A.
5 Jahre: 41% 10 Jahre: 24%
5 Jahre: 62% 10 Jahre: 62%
k.A.
McLaughlin et al. 1998, 1969–91
10
Erwachsene und Kinder
Op + RT 45–55,8 Gy ED median 11,72 Gy
5 Jahre: 100% 10 Jahre: 100%
5 Jahre: 100% 10 Jahre: 100%
k. A.
Abdel-Wahab et al. 1999, k.A.
25
Erwachsene und Kinder
Op + RT 35,2–58,3 Gy ED: 1,6–2,0 Gy Median: 1,8 Gy
5 Jahre: 64% 10 Jahre: 46%
5 Jahre: 94% 10 Jahre: 67%
k. A.
k.A. keine Angaben, RT Radiotherapie, Op Operation, ED Einzeldosis.
66.20.2 Maligne Systemkrankheiten
und Histiozytosen Ein primärer und ein ZNS-Befall im weiteren Krankheitsverlauf findet sich bei folgenden malignen Systemerkrankungen: ▬ akute lymphoblastische Leukämien ( Kap. 58), ▬ akute myeloische Leukämien ( Kap. 60), ▬ Non-Hodgkin-Lymphome ( Kap. 63). Die Symptomatik eines ZNS-Befalls ist häufig uncharakteristisch, gelegentlich klagen die Patienten über Kopfschmerzen und Erbrechen oder diffuse Rückenschmerzen. Im weiteren Verlauf einer ZNS-Beteiligung dieser malignen Systemerkrankungen kann es dann zu neurologischen Ausfällen kommen. Zum Nachweis bzw. Ausschluss einer ZNS-Beteiligung ist daher eine prätherapeutische Lumbalpunktion mit Auswertung der Zellen mittels Zytozentrifugentechnik erforderlich. Ebenso ist im weiteren Verlauf und in der Tumornachsorge bei allen Patienten mit einem Rezidiv sowie bei
Patienten mit entsprechender Symptomatik eine Lumbalpunktion erforderlich. Auch bei den Histiozytosen findet sich nicht selten eine ZNS-Beteiligung. Dies gilt insbesondere für die LangerhansZell-Histiozytose ( Kap. 20) sowie für die hämophagozytische Lymphohistiozytose ( Kap. 21). Auch bei diesen Erkrankungen ist eine prätherapeutische Liquoruntersuchung erforderlich. Im weiteren Verlauf muss im Falle eines Rezidivs oder bei entsprechender Symptomatik eine Lumbalpunktion durchgeführt werden. 66.21
Spätfolgen und Rehabilitation
Patienten, die an einem Tumor des Zentralnervensystems leiden oder gelitten haben, zeigen in Verlauf und Spätstatus oft neurologische und neuropsychologische Funktionsstörungen und Behinderungen. ⊡ Tabelle 66.9 gibt Empfehlungen zur Häufigkeit von entsprechenden Nachsorgeuntersuchen wieder. Über diese tumorspezifischen Untersuchungen hinaus sind die folgenden Untersuchungen regelmäßig erfoderlich:
66
816
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
▬ Bei Patienten mit suprasellärer Ausdehnung des Tumors bzw. suprasellärer oder Ganzhirnbestrahlung halbjährlich Somatogramm und Pubertätsstaus, jährlich Knochenalter und Hormonstatus (T3/T4/TSH, IGF1, IGFBP3, Kortisol, DHEA; Wachstumsparameter nur bei pathologischer Wachstumskurve; mit Beginn der Pubertät LH/FSH, Testosteron; 2 Jahre nach Therapieende Empfehlung zur Funktionstestung). ▬ Bei spinal bestrahlten Patienten: Sitzhöhe ½-jährlich. ▬ Bei bestimmten Chemotherapeutika: Nierenfunktion jährlich, Hörtestung zunächst jährlich, dann bei Symptomen. Zahlreiche Studien haben sich mit der Entwicklung der Hirnfunktion bei Kindern mit Hirntumoren beschäftigt. Dabei fand sich häufig eine signifikante Intelligenzminderung, selbst bei Patienten mit nur geringen neurologischen Ausfällen. 12–60% der Kinder zeigten einen IQ unterhalb des Normalbereichs, wobei der Handlungs-IQ meist stärker als der Verbal-IQ betroffen war. Die Schulleistungen waren sehr häufig beeinträchtigt; bis zu 70% der Patienten brauchten eine gesonderte schulische Betreuung. Neuropsychologische Untersuchungen zeigten, dass die schlechten Schulleistungen überwiegend auf einem Mangel an Aufmerksamkeit, Wahrnehmungsstörungen, gestörter feinmotorischer Koordination und verlangsamtem psychomotorischem Tempo beruhten (Mulhern et al. 1992; McCabe et al. 1995). Während diese Fakten als solche bei einer primären Erkrankung des Gehirns und Rückenmarks nicht erstaunlich sind, ist es weniger klar, ob die Ursachen dieser Behinderungen in der Krankheit selbst oder in den durchgeführten Behandlungsmaßnahmen zu suchen sind (Ater et al. 1996).
66.21.1 Tumorbedingte Spätfolgen Der Tumor selbst manifestiert sich, wie in Abschn. 66.4 ausführlich dargestellt, mit spezifischen und unspezifischen neurologischen Funktionsstörungen. Soweit diese durch lokale Druckwirkung, Ödem oder Ventrikelerweiterung verursacht werden, sind sie nach effektiver Therapie weitgehend reversibel. Dies gilt besonders für das Kindesalter, wo selbst subtotale spinale Querschnittssyndrome häufig eine erfreuliche Rückbildung zeigen. Unmittelbare Tumorinfiltration mit Zerstörung des Nervengewebes, Ischämie durch Tumordruck oder Massenverlagerung/Einklemmung und Parenchymblutungen hinterlassen jedoch Gewebsdefekte, die selbst nach optimaler onkologischer Therapie zu neurologischen und kognitiven Residuen führen können. Solche Folgen können nur durch eine möglichst frühzeitige Diagnosestellung und zeitgerechte Therapie verhindert werden. 66.21.2 Therapiebedingte Spätfolgen Erstes Behandlungsprinzip bei Hirntumoren ist stets die Überprüfung der Operabilität. Diese hängt bei den modernen neurochirurgischen Techniken weniger von der Größe als von der Lage und dem Infiltrationsverhalten des Tumors ab. Obwohl operationsabhängige ödem- und druckbedingte Funktionsstörungen ebenfalls meist über Wochen gut reversibel sind, müssen direkte Läsionen des gesunden Parenchyms und seiner Gefäßversorgung wegen der zu erwartenden irreversiblen Ausfälle strikt vermieden werden. Solche für die Lebensqualität und die soziale Integration des Patienten verheerenden Komplikationen können sein: Erblindung durch Läsion der Sehbahn, Polyphagie/Adipositas permagna und Wesensveränderung durch Läsion des Hypo-
⊡ Tabelle 66.9. Vorschlag für die Häufigkeit von Nachsorgeuntersuchungen bei Kindern mit ZNS-Tumoren. Die Tabelle gibt nur eine grobe Orientierung. Abweichungen können durch das Alter und den klinischen Zustand des Patienten, vorhandenen und eventuell an Größe zunehmenden Resttumor, besondere therapeutische Verhältnisse und Komplikationen erforderlich werden. In den kooperativen Studien der GPOH für die verschiedenen Tumortypen sind zum Teil häufigere oder umfangreichere studienspezifische Untersuchungen vorgesehen, die in diesen Fällen zu beachten sind
1. und 2. Jahr nach Therapie
3. bis 5. Jahr nach Therapie
6. bis 10. Jahr nach Therapie
Klinische Untersuchung (neurologische und internistische Untersuchung, Untersuchung des muskuloskelettären Systems, Entwicklungs- und Schulanamnese)
Alle 3–6 Monate
Alle 6–12 Monate
Jährlich
MRT kranial
Postoperativ: nach 3 Monaten., danach: Benigne Tumoren: ohne Rest ½-jährlich mit stabilem Rest ½-jährlich mit wachsendem Rest ¼-jährlich Maligne Tumoren: ohne Rest: im ersten Jahr ¼-jährlich, dann ½-jährlich mit Rest: ¼-jährlich
1-jährlich Ohne Rest 1-jährlich Mit Rest ½-jährlich
ohne Rest ½-jährlich
MRT spinal und Lumbalpunktion
Bei klinischen Verdachtsmomenten einer spinalen Aussaat
Augenarzt
½-jährlich
1-jährlich
1-jährlich
Bei Symptomen
817 66 · ZNS-Tumoren
thalamus oder seiner Gefäßversorgung; komplette Hemiparese bei Operation tiefer Hemisphären- und Thalamustumoren; Hirnnervenparesen und insbesondere eine Bulbärparalyse mit Schluckunfähigkeit, Stridor, Tracheotomie und evtl. künstlicher Beatmung bei Eingriffen am Hirnstamm; Querschnittslähmung bei spinalen Operationen. Endokrinologische Ausfälle nach Operation suprasellärer Tumoren und das Fossa-posterior-Syndrom nach Eingriffen im Kleinhirn stellen ebenfalls ernste, wegen ihrer Behandelbarkeit bzw. Reversibilität jedoch weniger gravierende Operationsfolgen dar. ! Neben der Chance, den Tumor zu entfernen oder wesentlich zu verkleinern und der Bedeutung dieses Umstandes für die Überlebensprognose bestimmt das Risiko solcher Komplikationen letztlich in jedem Einzelfall die Operabilität.
Neben den Gefahren der Tumorkrankheit und der Operation wurden die Spätfolgenrisiken der weniger invasiven Behandlungsverfahren lange Zeit nicht beachtet. Während die Strahlentherapie stets bemüht war, radiogene Nekrosen durch Berücksichtigung der Gewebstoleranz und ausreichende Fraktionierung zu vermeiden, wurde das Auftreten auch leichterer radiogener Funktionsstörungen erst allmählich bekannt. Seit Ende der 70er-Jahre zeigten retrospektive und prospektive Studien wiederholt, dass für die kognitive Entwicklung hirntumorkranker Kinder neben der prämorbiden Intelligenz und dem Ort und der Ausdehnung des Tumors v. a. auch eine Ganzhirnbestrahlung in Kombination mit jungem Alter eine signifikante Rolle spielt. Die Bedeutung der Strahlentherapie wurde am deutlichsten in den Studien, die bestrahlte und nichtbestrahlte Kinder verschiedenen Alters mit Tumoren gleicher Lokalisation verglichen, oder die prospektive serielle Untersuchungen vor und nach Radiotherapie durchführten. ! Es muss als erwiesen gelten, dass die Schädelbestrahlung v. a. bei sehr jungen Kindern zu neuropsychologischen Funktionseinbussen führt, die mit dem Älterwerden deutlicher werden und ihre Ursache wahrscheinlich in einer Hemmung der Hirnreifung haben (Korinthenberg 1993; Radcliffe et al. 1994; Mulhern et al. 1999).
Neben den genannten Funktionsstörungen treten bei Kindern mit Bestrahlung der Neuroachse auch häufig und ebenfalls altersabhängig Wachstumsstörungen auf. Diese haben ihre Ursache zum einen in einer Hemmung des Wirbelsäulenwachstums durch die spinale Bestrahlung (disproportioniert kurzer Rumpf), zum anderen in einer Hemmung der Hypophysenfunktion mit Wachstumshormonmangel und eventuell Panhypopituitarismus durch Ganzhirnbestrahlung bzw. supraselläre Lokalbestrahlung. Diese Störungen manifestieren sich nicht akut, sonderm mit einer Latenz von ein bis mehreren Jahren (Marx et al. 2000). Alle gegenwärtigen Therapieprotokolle tragen seit Jahren diesen Komplikationen Rechnung, indem sie bei Kindern unter 3–5 Jahren die Strahlentherapie durch Vorschaltung einer intensivierten Chemotherapie in ein höheres Alter verschieben oder diese ganz ersetzen. Erste Ergebnisse von neuropsychologischen Verlaufsuntersuchungen konnten zeigen, dass sich der Verzicht auf die Strahlentherapie tatsäch-
lich günstig auf die kognitive Entwicklung auswirkt (Ottensmeier u. Kühl 1999). Weitere, erst in den letzten Jahren erkannte Spätfolgen einer Strahlentherapie des kindlichen Gehirns sind das Auftreten häufig multipler zerebraler Kavernome (Heckl et al. 2002) und die Entwicklung einer stenosierenden Vaskulopathie der Hirnbasisarterien (Siffert u. Allen 2000). Neben der Strahlentherapie sind aber auch mögliche neurologische und neuropsychologische Spätfolgen einer intensivierten Chemotherapie zu beachten. Methotrexat, Cytosin-Arabinosid, Ifosfamid und Vincristin sind für ihre dosisabhängige Neurotoxizität bekannt. Bei Überdosierung oder gestörter Ausscheidung kommt es zu akuten Enzephalopathien mit Somnolenz und Krampfanfällen. Vor allem bei Methotrexat sind aber bei hochdosierter, langfristiger Anwendung, v. a. in Kombination mit Strahlentherapie auch chronische Enzephalopathien mit im MRT nachweisbarer Leukoenzephalopathie bekannt. Untersuchungen, die sich gezielt mit den möglichen neuropsychologischen Langzeitfolgen einer intensivierten Chemotherapie beschäftigen, sind noch selten und die vorliegenden Ergebnisse widersprüchlich. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass neuropsychologische Spätschäden protokollspezifisch in Abhängigkeit von Medikamentenkombination und -dosierung auftreten können. Es ist deshalb notwendig, jedes neue Behandlungsprotokoll durch geeignete neurologische, radiologische und neuropsychologische Verlaufsstudien zu begleiten (Korinthenberg 1995). Neben den direkten Effekten auf das Zentralnervensystem sind auch Schädigungen peripherer Nerven und Sinnesorgane mit indirekter Auswirkung auf die Entwicklung zu beachten. Vincristin führt dosisabhängig zu einer Polyneuropathie, die erheblich zur Bewegungsstörung der betroffenen Kinder beitragen kann. Eine der gravierendsten Nebenwirkungen der platinhaltigen Zytostatika ist die Schädigung des Hörorgans, vom Hochtonverlust bis zur vollständigen Ertaubung (Johannesen et al. 2002). 66.21.3 Diagnostik Nicht nur im Rahmen wissenschaftlicher Begleitstudien, sondern auch im Rahmen der individuellen Nachsorge sind regelmäßig Basis- und Verlaufsuntersuchungen der wesentlichen Parameter zur Erfassung des Residualschadensyndroms und zur Verlaufsbeurteilung von therapiebedingten Spätfolgen erforderlich. In Abhängigkeit von Tumorort und Operation, Strahlentherapie und der Art einer durchgeführten Chemotherapie müssen kinderärztliche, entwicklungsneurologische, endokrinologische, augenärztliche und HNOärztliche Untersuchungen erfolgen. Diese müssen fallweise sinnvoll durch neurophysiologische Untersuchungen (EEG, VEP, AEP, SSEP) ergänzt werden. Regelmäßige MRT-Untersuchungen sind bereits im Rahmen der Tumornachsorge erforderlich, sie können auch Auskunft über gelegentliche Therapiefolgen geben (subkortikale Verkalkungen, Leukenzephalopathie, Hirnatrophie). Falls sich bei gezielter Befragung der Bezugpersonen der Verdacht auf Lern- oder Verhaltensstörungen ergibt, ist eine gezielte neuropsychologische und ggf. kinderpsychiatrische Diagnostik erforderlich. Gerade die Therapiefolgen manifestieren sich häufig nicht
66
818
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
mit einem unübersehbaren Intelligenzdefekt, sondern mit diskreteren neuropsychologischen Funktionsstörungen, die dennoch für den schulischen und beruflichen Werdegang und das Selbstwertgefühl des Kindes von allergrößter Bedeutung sein können. 66.21.4 Therapie und Rehabilitation
IV
Im Rahmen der Behandlungsprotokolle für Hirntumoren erfolgen zunehmend systematische Untersuchungen der Lebensqualität, der neuropsychologischen sowie der neuroendokrinen Funktionen. Festgestellte Funktionsstörungen können zur Verbesserung der Behandlungsverfahren beitragen (Indikationsänderung oder Optimierung von Operationstechniken und Strahlentherapie, Modifizierung der Chemotherapie). Vor allem müssen sie aber individuell zu therapeutischen Konsequenzen und rehabilitativen Maßnahmen führen (McCabe et al. 1995). Hierzu ist die Zusammenarbeit mit Kinderneurologen, sozialpädiatrischen Zentren, niedergelassenen Therapeuten, sonstigen Fachärzten und sonderpädagogischen Beratungsstellen und Fördereinrichtungen erforderlich. Motorische Behinderungen und Störungen der Körperwahrnehmung werden mit Krankengymnastik, Ergotherapie und ggf. gezielter Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln angegangen (Orthesen, Sitzschale, Korsett, handgetriebene oder elektrische Rollstühle). Pflegehilfsmittel können den Alltag des Kindes und der Familie sehr erleichtern (Pflegebett, Badehilfe, Lifter). Spastische Muskelverkürzungen können gelegentlich medikamentös gebessert werden (generalisiert: Spasmolytika, intrathekales Baclofen; fokal: Botulinumtoxin); längerfristig besteht evtl. die Möglichkeit einer orthopädischen Operation. Sinnesbehinderungen müssen apparativ (Hörgerät, Kochlear-Implantat, Brillenversorgung, spezielle Computereinrichtungen und -programme) und pädagogisch behandelt werden (Frühförderung für Sehbehinderte und Hörbehinderte, Sonderschulen). Neuropsychologische Teilleistungsstörungen (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Merkfähigkeitsstörung, Dyslexie und Dyskalkulie etc.) können teilweise durch gezieltes Wahrnehmungs- oder kognitives Training gebessert werden (Ergotherapie, Heil- und Sonderpädagogik). Zur Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung und Selbstkontrolle kann im Rahmen eines multimodalen Betreuungskonzeptes auch Methylphenidat versucht werden. Schwerere kognitive Defektzustände erfordern im Kleinkindalter eine heilpädagogische, später überwiegend eine sonderpädagogische Betreuung in angemessener schulischer Umgebung. Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrische Symptome sind meist weniger auf die Tumorerkrankung und die Therapie selbst, als auf die sekundäre Reaktion des Kindes und der Familie zurückzuführen. Wenn sich in diesem Bereich Probleme ergeben, ist eine erfahrene psychologische oder psychiatrische Betreuung essenziell. Sehr bewährt hat sich, auch schon zur Vermeidung solcher sekundären Probleme, eine gemeinsame Betreuung von Kind und Familie im Rahmen einer sich bald an den initialen Klinikaufenthalt anschließenden Kur in einer kinderonkologisch spezialisierten Einrichtung.
Tumoren des ZNS sind die häufigsten soliden Tumoren bei Kindern und Jugendlichen. Trotz einer großen Heterogenität erlauben Alter des Patienten, anatomische Lokalisation des Tumors, funktionelle und anatomische bildgebende Verfahren sowie die Bestimmung von tumorassoziierten Aktivitätsparametern meist eine Einengung der Diagnose. Derzeit wird aber in der Regel immer noch die histologische Absicherung der Verdachtsdiagnose gefordert. Die in den letzten Jahren zu verzeichnenden deutlich gestiegenen Überlebensraten bei Kindern mit bösartigen ZNS-Tumoren werden von signifikanten Einschränkungen im täglichen Leben überschattet. So leidet ein Großteil der Patienten an Störungen endokriner und neuraler Funktionen. Die Ursache hierfür ist v. a. in der Strahlensensibilität des sich entwickelnden ZNS zu suchen. Fortschritte in der Diagnostik und Therapie werden erwartet von Neuerungen in der Bildgebung und in der Neurochirurgie, wie dem Einsatz von stereotaktischen Operationsmethoden und Neuronavigationssystemen sowie intraoperativem MRT und »brain mapping«. Hoffnungen werden auch auf den gezielteren Einsatz der Strahlentherapie, z. B. durch neue Fraktionierungsschemata und Konformationstechniken, ggf. in Verbindung mit Radiosensitizern, gesetzt. Bei allen Bemühungen um möglichst hohe Überlebensraten muss ein weitgehend normales Leben mit dem Erreichen wichtiger Meilensteine der Entwicklung oberstes Ziel bleiben. Dies kann nur im Rahmen engster interdisziplinärer Zusammenarbeit gelingen.
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823
Retinoblastome R. Wieland, W. Havers
kung ist in der Regel sporadisch (ohne Familienanamnese), die bilaterale Erkrankung tritt sporadisch (ca. 90%) oder als familiäres Retinoblastom (ca. 10%) auf. Das mediane Alter bei Diagnose beträgt 14 Monate (bilaterales Rb) bzw. 2 Jahre (unilaterales Rb). 95% der Erkrankungen werden vor dem 8. Lebensjahr diagnostiziert.
67.1 67.2
Epidemiologie – 823 Genetik – 823
67.2.1 67.2.2
Genetische Prädisposition – 823 Genetische Beratung und Früherkennung
67.3 67.4 67.5 67.6
Molekularbiologie – 824 Pathologie – 824 Klinisches Erscheinungsbild Diagnostik – 825
67.6.1 67.6.2 67.6.3 67.6.4
Ophthalmologische Untersuchung – 825 Pädiatrische Untersuchung – 825 Bildgebende Verfahren – 825 Histologische Diagnosesicherung – 825
67.2
67.7 67.8
Einteilung, Klassifikation und Stadien – 825 Therapie – 826
67.8.1 67.8.2 67.8.3 67.8.4
Enukleation – 826 Kryotherapie/Photokoagulation – 826 Strahlentherapie – 826 Chemotherapie – 826
Ein Retinoblastom entsteht durch den Verlust beider Allele des Retinoblastomgens RB1 in einer Retinazelle (Knudson 1971). Ursachen für Verlust oder Inaktivierung des ersten RB1-Allels sind ▬ Vererbung von Vater oder Mutter, der/die konstitutioneller Genträger ist, ▬ De-novo-Mutation während der Gametogenese und ▬ somatische Mutation in der Retinazelle.
– 823
– 824
67.9 Prognose – 827 67.10 Komplikationen von Erkrankung und Behandlung – 827 Literatur – 827
Das Retinoblastom ist der häufigste maligne intraokulare Tumor des Kindesalters. Die Erkrankung betrifft ein Auge oder beide Augen. Sie kann sporadisch oder familiär gehäuft vorkommen. Die Inaktivierung beider Allele des Tumorsuppressorgens RB1 (Chromosom 13) ist Ursache für ein Retinoblastom. Individuen mit konstitutioneller Heterozygotie für eine Rb1-Mutation haben zusätzlich ein erhöhtes Risiko für die Entstehung unabhängiger Zweittumoren. Durch eine Kombination verschiedenster Therapiemethoden liegt die Heilungsrate bei rein intraokularer Erkrankung bei nahezu 100%, während bei Patienten mit disseminierter metastasierter Erkrankung erst in den letzten Jahren eine kurative Behandlung möglich wurde.
67.1
Epidemiologie
Das Retinoblastom (Rb) ist ein Tumor des Säuglings- und Kleinkindalters. Die weltweit konstante Inzidenz beträgt 1 auf 18.000 Lebendgeborene. Der Anteil an den malignen Neubildungen im Kindesalter liegt bei 2%. 60% der Kinder haben eine einseitige Retinoblastomerkrankung, 40% der Kinder haben schon bei der Erstdiagnose multifokale Tumoren, meist in beiden Augen oder sie entwickeln im weiteren Verlauf noch weitere okuläre Tumoren. Die unilaterale Erkran-
Genetik
67.2.1 Genetische Prädisposition
Der Verlust des zweiten Allels erfolgt immer postzygotisch als somatische Mutation in der Retinazelle. Die Vererbung einer Mutation am RB1-Gen oder eine De-novo-Mutation während der Gametogenese führen zu einer konstitutionellen Mutation; alle Körperzellen des betroffenen Individuums sind heterozygot für die RB1-Mutation. Wenn in einer Retinazelle auch das zweite Allel mutiert wird, kommt es zum Verlust der Heterozygotie (»loss of heterozygosity«) und zur Entstehung eines hereditären Retinoblastoms. Wenn beide Mutationen in der Retinazelle stattgefunden haben, entsteht ein sporadisches unilaterales Retinoblastom. 67.2.2 Genetische Beratung und Früherkennung Alle Individuen mit bilateralem Retinoblastom oder multifokalem unilateralen Retinoblastom gelten als Träger einer konstitutionellen Mutation, die autosomal-dominant vererbt wird. Bei Vererbung der Mutation liegt das Erkrankungsrisiko bei fast 100%. Mutationsanalysen sollten bei allen Nachkommen von Individuen mit bilateralem Retinoblastom durchgeführt werden, eine pränatale Diagnostik ist möglich. Eine Mutationsanalyse aus peripherem Blut ist bei über 75% der Patienten mit sporadischem bilateralen Rb möglich (Lohmann 1997). Hatte ein Elternteil ein uni- oder bilaterales Retinoblastom oder ist im Säuglings- oder Kleinkindalter eines enukleiert worden, muss der Augenhintergrund des Neugeborenen in den ersten beiden Lebenswochen in Allgemeinnarkose untersucht werden, wenn eine Vererbung der RB1-Mutation nicht durch eine molekulargenetische Untersuchung auszu-
67
824
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
schließen war. Regelmäßige Fundusuntersuchungen sind bis zum dritten Lebensjahr indiziert. Nachkommen oder Geschwister von Patienten mit sporadischem unilateralem Retinoblastom haben kein erhöhtes Erkrankungsrisiko, allerdings sind Individuem mit unilateralem Retinoblastom in einer Häufigkeit von ca. 2–10% Träger einer Keimbahnmutation (Vogel 1979; Draper 1992). 67.3
IV
Molekularbiologie
Das Retinoblastomgen RB1 ist auf Chromosom 13 in der Position 13q14 lokalisiert (Friend 1986). Funktionseinschränkung oder Verlust des Retinoblastomproteins pRB beeinträchtigen die Zellzykluskontrolle (Weintraub 1995; Brehm 1998; Magnaghi-Jaulin 1998). Es kommt zu unkontrollierter Zellproliferation, klonalem Wachstum und maligner Transformation (Weinberg 1995). Lokalisation und Art der Mutation korrelieren nicht mit dem Phänotyp der Erkrankung (Lohmann 1996). Nachgewiesene Mutationen im RB1-Gen werden in einer Datenbank gesammelt (www.d-lohmann. de/Rb/mutations.html). 67.4
Pathologie
Das Retinoblastom ist ein maligner Tumor der embryonalen Retina. Histologisch besteht es aus zytoplasmaarmen Zellen mit hyperchromatischen Kernen. Nekrosen und Verkalkungen sind häufig. Der Nachweis hochdifferenzierter Tumorzellformationen (Flexner-Wintersteiner-Rosetten) ist charakteristisch, für eine Diagnose jedoch nicht notwendig. Immunhistochemisch ist der Nachweis von neuronalen Markern wie neuronspezifische Enolase (NSE), Synaptophysin und Chromogranin möglich. Das Retinoblastom wächst endophytisch in Richtung auf den Glaskörper und/oder exophytisch zum subretinalen
Raum (⊡ Abb. 67.1). Glaskörperaussaat oder Retinaablösung sind bei größeren Tumoren häufig. Sekundäre Glaukome entstehen durch neoplastische Gefäße, die den Kammerwinkel okkludieren. Strukturen, über die ein extraokuläres Wachstum erfolgen kann: Ausdehnung über die Sklera hinweg in die Orbita, häufig entlang der Ziliararterien Invasion des Nervus opticus mit Metastasierung entlang der Axone ins Gehirn, Ausdehnung über die Pia mater in den Subarachnoidalraum und Meningeosis Durchbruch durch die Bruchmembran in die vaskularisierte Chorioidea mit hämatogener Metastasierung, bevorzugt in Knochen und Knochenmark
Eine lymphogene Metastierung ist selten, da nur wenige okuläre Strukturen lymphatisch drainiert werden. Lymphatisches Abflussgebiet von Lid und Konjunktiva sind die präaurikulären und submandibulären Lymphknoten. 67.5
Klinisches Erscheinungsbild
Häufige Symptome, die zur Diagnose eines Retinoblastom führen, sind eine Leukokorie, eine neu aufgetretene Schielstellung oder Schmerzen durch ein Sekundärglaukom. Die Leukokorie wird von den Eltern häufig als ein »Schimmer im Auge« beschrieben, in der Literatur wird häufig der Begriff »Katzenauge« erwähnt. Ein Visusverlust bleibt meist unbemerkt. Seltener sind Schmerzen durch ein Sekundärglaukom, eine Rubeosis iridis, eine unilateral dilatierte Pupille oder Rötung und Schwellung der periorbitalen Weichteile.
⊡ Abb. 67.1. Bulbusschnitt mit möglichen intra- und extraokulären Ausbreitungswegen des Retinoblastoms (Donaldson et al. 1996)
825 67 · Retinoblastome
Die wichtigsten Differenzialdiagnosen der Leukokorie sind der Morbus Coats, retrolentale fibrovaskuläre Membranen wie bei Frühgeborenenretinopathie, Uveitis, Infektionen (Toxoplasmose, Toxocara). Sie können in der Regel von einem erfahrenen Untersucher ophthalmoskopisch differenziert werden. Selten sind andere Augentumoren wie Medulloepitheliome, Retinome oder Astrozytome der Retina. 67.6
Diagnostik
67.6.1 Ophthalmologische Untersuchung Die indirekte Ophthalmoskopie ist die Methode mit der größten Sensitivität und Spezifität für die Diagnose und Verlaufsbeurteilung des Retinoblastoms. Probebiopsien sind immer kontraindiziert. Man sieht einen oder mehrere Netzhauttumoren, häufig mit Verkalkungen und Netzhautablösung, eventuell eine Tumoraussaat in den Glaskörper oder in die Vorderkammer. Neue digitale Bildsysteme ermöglichen eine exakte Photodokumentation (⊡ Abb. 67.2). Die ophthalmologische Diagnostik beinhaltet immer die Inspektion beider Augen zum Ausschluss bilateraler Tumoren. Sie muss mit maximal dilatierter Pupille und bei Säuglingen und Kleinkindern in Allgemeinnarkose durchgeführt werden.
67.6.2 Pädiatrische Untersuchung Bei der pädiatrischen Untersuchung werden klinische Hinweise für das Vorliegen einer extraokulären Erkrankung und Hinweise für ein 13q–-Syndrom gesucht. Bei Verdacht oder Nachweis eines extraokulären Erkrankung müssen zusätzliche Untersuchungen durchgeführt werden, um die Ausdehnung der Erkrankung festzulegen. Dazu gehören eine Röntgenuntersuchung des Thorax, eine Abdomensonographie, ein 99mTc-Szintigrammm und die zytologische Untersuchung von Liquor und Knochenmark inklusive immunzytologischer Methoden. 67.6.3 Bildgebende Verfahren Mit der Ultraschalluntersuchung des Bulbus und der Orbita ist eine Größenbestimmung einzelner Tumoren möglich. Ein extraokuläres Wachstum über die Sklera hinaus kann häufig ebenfalls nachgewiesen werden. Ein Magnetresonanztomogramm (MRT) des Schädels soll bei allen Patienten im Rahmen des initialen Staging durchgeführt werden, um extraokuläres Wachstum, ZNS-Metastasen und einen Mittellinientumor auszuschließen. Ein Computertomogramm (CT) des Schädels sollte wegen der Strahlenbelastung nicht durchgeführt werden. 67.6.4 Histologische Diagnosesicherung
Cave Eine Biopsie des intraokulären Tumors ist wegen der Gefahr der Ausbreitung und Verschleppung von Tumorzellen in andere Strukturen des Bulbus und in die Orbita immer kontraindiziert.
Eine sorgfältige histologische Aufarbeitung des Bulbus nach der Enukleation und die Entnahme von Tumormaterial für die molekulargenetische Untersuchung sollten gewährleistet sein. Es müssen Aderhaut, Sklera und der Nervus opticus, insbesondere an der Resektionsfläche, auf das Vorliegen von Tumorzellinfiltration untersucht werden. 67.7
⊡ Abb. 67.2. Fundusphotographie mit Retinoblastom, erweiterte zuführende retinale Gefäße
Einteilung, Klassifikation und Stadien
Bei der Stadieneinteilung einer Retinoblastom-Erkrankung muss die Tumorausdehnung für beide Augen getrennt beurteilt werden. Die Reese-Ellsworth-Klassifikation (⊡ Tabelle 67.1) beschreibt den intraokulären Befund (Linn Murphree 2005), die TNM-Klassifikation (Hermanek et al. 1987) hat sich für das Retinoblastom nicht durchgesetzt. Eine Klassifikation der extraretinalen Erkrankung muss nach Risikogruppen einteilen (Chantada et al. 2004), diese sind insbesondere die histologische Diagnose der Aderhaut- und Sklerainvasion, die Infiltration des Nervus opticus, insbesondere des Resektionsrandes, eine Extension des Tumors in die Orbita und das Vorliegen von hämatogenen Metastasen oder Metastasierung ins ZNS (Meningeosis).
67
826
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
67.8.2 Kryotherapie/Photokoagulation ⊡ Tabelle 67.1. Reese-Ellsworth Klassifikation
IV
Stadium
Beschreibung
I
Solitäre/multiple Tumoren, <4 Dd, am/hinter dem Äquator
II
Solitäre/multiple Tumoren, 4–10 Dd, am oder hinter dem Äquator
III
Tumor diesseits des Äquators oder solitärer Tumor >10 Dd hinter dem Äquator
IV
Multiple Tumoren, einige >10 Dd, Tumor rostral der Ora serrata
V
Ausgeprägtes Tumorwachstum in mehr als 50% der Retina oder Glaskörperaussaat
Dd Diskusdurchmesser.
67.8
Therapie
! Ziele der Behandlung des Retinoblastoms sind die Heilung der onkologischen Erkrankung und der Erhalt des Visus. Bei der Aufstellung eines Behandlungsplan ist zu berücksichtigen, ob ein oder beide Augen betroffen sind und ob für ein Auge oder beide Augen nach der Therapie noch Sehfähigkeit zu erwarten ist.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Augenarzt, Kinderarzt und Strahlentherapeut ist schon in der initialen Diagnostik absolut notwendig, da in vielen Situationen eine Kombination der Therapiemodalitäten einen besseren Visus oder den Erhalt eines Bulbus ermöglicht. Beim sporadischen unilateralen Retinoblastom ist der Tumor bei Erstdiagnose häufig so groß, dass das betroffene Auge enukleiert werden muss. Beim hereditären Retinoblastom wird das weniger betroffene Auge sehr oft mit lokaler Therapie behandelbar sein. Während der bulbuserhaltenden Therapie ist die Regression des Tumors ophthalmoskopisch gut zu verfolgen, so dass eine Anpassung der Behandlung im Therapieverlauf möglich ist. Die Behandlung ist deshalb sehr individuell und darf nur in Zentren erfolgen, in denen der Ophthalmologe, der pädiatrische Onkologe und der Strahlentherapeut ausreichende Erfahrung in der Behandlung des Retinoblastoms haben.
Durch Kryotherapie und Photokoagulation (Argonlaser) können Tumoren bis zu einem Durchmesser von etwa 3 mm zerstört werden. Die Kryotherapie kommt v. a. bei Tumoren im vorderen Abschnitt der Retina zur Anwendung, mit der Photokoagulation werden kleinere Tumoren im hinteren Teil der Retina behandelt. 67.8.3 Strahlentherapie Die perkutane Strahlentherapie der Retina ist indiziert bei Augen mit vielen Tumoren oder großen Tumoren, die mit lokalen Therapieverfahren nicht zu behandeln sind und für die nach der Therapie ein noch brauchbarer Visus zu erwarten ist. Dies gilt insbesondere für Tumoren nahe des Nervus opticus oder der Makula und bei massiver Glaskörperaussaat. Selbst bei fortgeschrittenem Tumorwachstum kann häufig noch Visus erhalten werden. Die gesamte Netzhaut erhält bis zu den Ora serrata eine Zielvolumendosis zwischen 40 und 50 Gy in Fraktionen von 200–250 cGy (McCormick et al. 1988; Schipper 1983). Kleinere Tumoren können mit radioaktiven Kontaktstrahlern (Brachytherapie) behandelt werden (Shields et al 2001). Verwendet werden die 125Jod- oder 106RutheniumApplikatoren bei kleinen bis mittelgroßen, einzelnen Tumoren. Sie werden in Höhe der Tumorbasis auf die Sklera genäht und für einige Tage belassen. Die Kontaktstrahler können auch bei Rezidiven nach perkutaner Strahlentherapie eingesetzt werden ( Kap. 51). 67.8.4 Chemotherapie Die am häufigsten eingesetzten Substanzen zur Behandlung des Retinoblastoms sind Cyclophosphamid, Carboplatin, Etoposid und Vincristin. Die Erfahrungen stammen aus der Behandlung von Patienten mit extraokulärer Erkrankung (z. B. Doz et al. 1995). Auch die intraokuläre Erkrankung zeigt fast immer ein gutes Ansprechen auf Chemotherapie, so dass die Indikationen in den letzten Jahren erweitert werden, auch mit dem Ziel, bei möglichst wenigen Patienten die perkutane Strahlentherapie durchzuführen (Shields et al. 2002; Bellaton et al. 2003). Größenreduktion intraokularer Tumoren. Mit einer Poly-
67.8.1 Enukleation Die Enukleation ist indiziert, wenn keine Aussicht auf Sehfähigkeit des betroffenen Auges besteht. Augen mit nicht beherrschbaren Komplikationen wie Glaukom, totale Netzhautablösung und/oder Strahlenretinopathie müssen ebenso enukleiert werden, wie Augen, bei denen nach abgeschlossener konservativer Therapie nicht eindeutig zu erkennen ist, ob der Tumor noch vital ist.
chemotherapie können intraokulare Tumoren verkleinert werden, um sie dann mit einer fokalen Therapie (Laser, Applikator) zu behandeln (Bornfeld et al. 1997). Dadurch können in Einzelfällen perkutane Bestrahlung oder Enukleation vermieden werden. Kombinationen mit lokaler Hyperthermie (Schüler et al. 2003) oder zusätzliche Gabe von Ciclosporin (Chan et al. 1996; Wilson et al. 1996) sind publiziert worden. Adjuvante Chemotherapie. Als Indikationen für eine adju-
vante Chemotherapie gelten das histologisch nachgewiesene Tumorwachstum in die Sklera oder in den postlaminären Nervus opticus (insbesondere bei infiltriertem Resektionsrand) oder eine massive Infiltration der Aderhaut. Verwendet
827 67 · Retinoblastome
werden die Substanzen Cyclophosphamid, Carboplatin, Etoposid und Vincristin für 4–6 Zyklen. Ausdehnung in die Orbita, metastasierte Erkrankung. Bei
Tumorausdehnung in die Orbita muss zusätzlich zur Chemotherapie und Enukleation des Bulbus eine Strahlentherapie der Orbita durchgeführt werden. Bei der Behandlung der metastasierten Erkrankung wurden unterschiedliche Kombinationen von Cyclophosphamid, Doxorubicin, Carboplatin, Etoposid und Vincristin eingesetzt (Doz et al. 1995; Schvartzman et al.1996). Wenn aufgrund der disseminierten Krankheit eine zusätzliche lokale Therapie – Bestrahlung und/oder Operation – nicht möglich ist, kommt es bei konventioneller Chemotherapie trotz längerer Remissionen bei den meisten Kindern zu Rezidiven. Bei hämatogener Metastasierung und bei einer Metastasierung ins Zentralnervensystem erhöht eine Hochdosistherapie mit nachfolgender Reinfusion autologer Stammzellen die kurative Chance (Namouni et al. 1997; Dunkel et al. 2000; Kremens et al. 2003).
Rezidiv. Intraokulare Rezidive können häufig erneut mit fokalen Therapiemethoden behandelt werden. Ist eine konservative Behandlung nicht möglich oder misslingt sie, muss rechtzeitig die Enukleation des Auges durchgeführt werden. Bei isoliertem Orbitarezidiv ist eine zytostatische Chemotherapie mit Bestrahlung der Orbita indiziert. Wegen der schlechten Prognose quoad vitam werden Patienten mit systemischem Rezidiv häufig einer Hochdosistherapie mit autologer Stammzellreinfusion zugeführt. Insbesondere bei Patienten mit Metastasierung ins ZNS sollte in das Therapiekonzept auch eine Strahlentherapie integriert werden. Trilaterales Retinoblastom. Bei ca. 3% der Patienten mit hereditärem Retinoblastom wird zusätzlich ein ektopes Retinoblastom in der Pinealisregion oder suprasellär diagnostiziert, meist in einem Zeitraum von 4 Jahren nach Diagnose des Retinoblastoms. Die Prognose des »trilateralen Retinoblastoms« ist schlecht, insbesondere wenn eine Meningeosis vorliegt (Paulino 1999). Sekundärmalignome. Patienten mit hereditärem Retino-
67.9
Prognose
Visus. Nach Anwendung lokaler Therapieverfahren (Laser-, Kryotherapie, Brachytherapie) hängt der verbleibende Visus von der Lokalisation der behandelten Tumoren ab. Mit dem verbleibenden Visus nach perkutaner Radiatio eines oder beider Augen können 50% der Patienten ein normales Leben führen (Migdal 1983). Überleben. Bei rein intrabulbärem Tumorwachstum liegt
das krankheitsfreie 5-Jahres-Überleben bei nahezu 100%. Die Prognose verschlechtert sich, wenn histologisch eine invasives Wachstum nachgewiesen wird (Infiltration des Sehnerven, Sklerainvasion, massiver Aderhauteinbruch) oder gar extraokuläres Wachstum oder Metastasierung vorliegen. In diesen Situationen ist eine aggressive Therapie notwendig, da unbehandelt die Mortalität von 15% bei Sklerainvasion bis auf über 90% bei invasivem Wachstum in die Orbita ansteigt (Ellsworth 1977; Shields et al. 1994, 1997). Bei Vorliegen von Fernmetastasen ist die hochdosierte zytostatische Chemotherapie mit anschließender Stammzellreinfusion der einzige kurative Therapieansatz (Namouni et al. 1997; Kremens et al. 2003). Das Langzeitüberleben der Patienten mit hereditärem Retinoblastom wird bestimmt von der erhöhten Rate von Sekundärmalignomen (Draper et al. 1986; Eng et al. 1993). 67.10
Komplikationen von Erkrankung und Behandlung
Wachstumsstörungen. Wachstumsstörungen der Mittelgesichtsknochen können nach Enukleation vorkommen oder durch die Bestrahlung verursacht werden (Anteby 1998). Bei Strahlentherapie in den ersten 2 Lebensjahren sind deutliche kosmetische Deformitäten möglich. Endokrinologische Störungen von Wachstum und Entwicklung durch die Strahlentherapie sind nicht zu erkennen (Hauffa et al. 1995).
blastom haben eine erhöhte Rate von Zweittumoren, insbesondere wenn sie eine Strahlentherapie erhalten haben. Am häufigsten sind Sarkome, v. a. Osteosarkome. Die Inzidenz der Zweitmalignome steigt mit dem Lebensalter, sie liegt nach 20 Jahren bei ca. 20% (Abramson et al. 1998; Wong et al. 1997; Imhof et al. 1997).
Frühe Diagnose und erfolgversprechende Kombination von lokalen Therapieformen wie z. B. Photokoagulation, Hyperthermie oder radioaktive Applikatoren in Kombination mit systemischer Chemotherapie werden zunehmend den Bulbuserhalt ermöglichen, vielleicht den verbleibenden Visus verbessern und häufig die perkutane Strahlentherapie vermeiden lassen. Die Rezidivhäufigkeit nach diesen Therapien ist noch nicht endgültig bekannt. Eine große Herausforderung ist die hohe Rate an Sekundärmalignomen bei Individuen mit konstitutioneller Heterozygotie. Alle Therapieformen müssen auch im Hinblick auf die Induktion von Zweitmalignomen untersucht werden. Wegen des erhöhten Zweittumorrisikos ist die lebenslange onkologische und ophthalmologische Nachsorge der Betroffenen ausgesprochen wichtig.
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67
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
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829
Neuroblastome R. Ladenstein, F. Berthold, I. Ambros, P. Ambros
68.1 68.2 68.3 68.4 68.5
Einführung – 829 Epidemiologie – 830 Ätiologie – 830 Prävention, Früherkennung und Screening – 830 Genetik und Biologie des Neuroblastoms – 830
68.5.1 68.5.2
68.5.4 68.5.5
Strukturelle chromosomale Aberrationen – 830 Subtypen neuroblastischer Tumoren aufgrund des DNA-Gehalts – 831 Genese neuroblastischer Tumoren und genetische intratumorale Heterogenität – 831 Spontane Tumorregression – 832 Spontane Tumorausreifung – 832
68.6
Pathogenese und Pathologie – 832
68.6.1 68.6.2
Aufarbeitung des Tumormaterials – 832 Pathohistologische Untersuchung – 832
68.5.3
68.7
Klinisches Erscheinungsbild
68.7.1 68.7.2
Klinische Präsentation – 833 Typische Symptome – 833
– 833
68.8
Diagnostik
68.8.1 68.8.2 68.8.3 68.8.4 68.8.5
Labordiagnostik – 833 Bildgebende Verfahren – 834 Knochenmarkdiagnostik – 834 Tumorbiopsie – 834 Internationale Kriterien für Diagnosestellung, Stadieneinteilung und das Ansprechen auf Therapie – 834
– 833
68.9 68.10
Differenzialdiagnose – 834 Prognostische Faktoren – 835
68.10.1 68.10.2 68.10.3
Alter – 835 Stadium und klinische Faktoren – 835 Biologische Prognosefaktoren – 836
68.11
Therapie
68.11.1 68.11.2 68.11.3 68.11.4 68.11.5 68.11.6 68.11.7
Chirurgische Therapie – 837 Chemotherapie – 837 Megatherapie – 837 Radiotherapie – 838 Meta-Jodbenzylguanidin-Therapie – 839 Differenzierende Substanzen – 839 Therapeutische Sonderfälle – 839
68.12
Aktuelle Therapiestrategien
68.12.1 68.12.2
Strategien der ESIOP/NBL – 840 Aktuelle Therapiestrategien in Deutschland – 841
68.13 68.14
Therapie und Prognose von Rezidiven – 842 Zukünftige Entwicklungen und Ausblick – 842
68.14.1 68.14.2 68.14.3 68.14.4
Topoisomerase-I-Inhibitoren – 842 Differenzierende Substanzen – 842 Andere Strategien – 842 Aktivitäten der ESIOP Neuroblastom Gruppe
Literatur
– 836
– 843
R. ist das erste Kind gesunder Eltern. Nach einer unauffälligen Neugeborenenperiode fallen ab der 6. Lebenswoche zunehmende Unruhe und Schreiattacken auf. In der Folge beobachtet die Mutter verminderte Strampelbewegungen, eine zunehmende Berührungsempfindlichkeit und opisthotone Körperhaltung v. a. beim Füttern. Im Alter von 12 Wochen manifestiert sich eine Querschnittsymptomatik. Ergänzend finden sich massiv erhöhte Harnkatecholamine, desgleichen deutlich erhöhte Werte für neuronenspezifische Enolase, Laktatdehydrogenase und Ferritin. Das AkutMRT zeigt die retroperitoneale Raumforderung mit Einwachsen in den intraspinalen Raum im Bereich der Segmente Th10 bis L4. Die Indikation zur Laminektomie und Entlastung des Duralsacks wird trotz der bereits hochgradig fortgeschrittenen Ausfallssymptomatik gestellt. Erfreulicherweise zeigt sich bereits bei Extubation ein spontanes Bewegungsmuster und Fußgreifreflexe, Achillessehnen- sowie Patellarsehnenreflex sind schwach auslösbar. Die Histopathologie bestätigt das Vorliegen eines Neuroblastoms, das sich biologisch als prognostisch günstig erweist. In der weiteren Abklärung und Beobachtung findet sich kein Anhaltspunkt für eine Metastasierung. Entsprechend der Europäischen Therapieoptimier ungsstudie für Säuglingsneuroblastome wird aufgrund der primär ausgeprägten Neurologie und des nicht resektablen Primärtumors eine adjuvante Chemotherapie eingeleitet, gefolgt von einer differenzierenden Therapie mit 13-cisRetinolsäure. Im Ultraschall findet sich noch ein deutlich verkalkter, links paravertebral gelegener inoperabler Resttumor. Ein Jahr später, bei einem Fest für ehemalige onkologische Patienten, kommt uns R. mit einem unauffälligen Gangmuster über die Wiese entgegengelaufen.
68.1
Einführung
– 840
– 842
Das Neuroblastom ist der häufigste extrakranielle solide Tumor des Kindesalters. Der Tumor geht von embryonalen sympathischen Neuroblasten des Nebennierenmarkes oder des Grenzstrangs aus; 70% der Fälle sind im Bauchraum lokalisiert. Der Verlauf der Erkrankung kann sehr variabel sein. Im Säuglingsalter können Spontanremissionen sogar bei metastasierten Erkrankungen auftreten, während das 5-Jahres-Überleben älterer Kinder mit metastasierter Erkrankung nur bei etwa 40% liegt. Wichtige prognostische Faktoren sind das Alter des Patienten bei Diagnosestellung, das Erkrankungsstadium sowie molekulargenetische Marker. Die Behandlung des Neuroblastoms muss risikoadaptiert
68
830
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
erfolgen. Bei lokalisierten Tumoren ist unter gewissen Voraussetzungen eine operative Tumorentfernung ausreichend, selbst wenn der Tumor nicht komplett entfernt wurde. Bei metastasierten Tumoren und/oder bei Vorliegen von Risikofaktoren ist neben der Operation meist eine intensive Chemotherapie, ggf. in Kombination mit autologer Stammzellreinfusion und mit Strahlentherapie, erforderlich. Neuere Therapieansätze fokussieren sich auf den Zeitpunkt der minimalen Resterkrankung bei Tumoren mit aggressivem biologischen Profil und befassen sich speziell mit Differenzierung und Immunmodulation. 68.2
Epidemiologie
Das Neuroblastom umfasst etwa 10% aller kindlichen Krebserkrankungen. Als embryonaler Tumor ist das Neuroblastom ein Tumor des Säuglings- und Kleinkindesalters. Mit einer Inzidenz von 1,1 Erkrankungen auf 100.000 Kinder <15 Jahren (Inzidenz vor Einführung des Screenings) ist das Neuroblastom der häufigste extrakranielle solide Tumor des Kindesalters. Bis zum Ende des ersten Lebensjahres sind fast 40% aller Neuroblastome diagnostiziert, bis zum Alter von 6 Jahren mehr als 90%. Dennoch findet man auch selten Patienten im Adoleszenten- oder Erwachsenenalter (ca. 1,3%). Bei Autopsien von Säuglingen, die nicht an einer tumorassoziierten Erkrankung verstorben waren (SIDS und andere Todesursachen) wurde ein überraschend hoher Anteil an so genannten In-situ-Neuroblastomen dokumentiert. Diese Beobachtung war der erste Hinweis auf das Phänomen der spontanen Tumorregression im Säuglingsalter. Familiäres Auftreten ist selten (Maris et al. 2002). In den Studien der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) waren von ca. 2500 Patienten 7 Familien mit 15 erkrankten Individuen betroffen (0,3%; Berthold et al. 2003). Etwa die Hälfte aller Patienten präsentiert sich bei Diagnose bereits mit metastasierter Erkrankung (davon entfallen ca. 40% auf das Stadium 4 und 10% auf das Stadium 4s). Patienten mit Stadium 4 sind bei Diagnosestellung zumeist älter. Im Säuglingsalter sind nur 15%, jenseits des ersten Lebensjahres aber 60% der Neuroblastome metastasiert. 68.3
Ätiologie
Das Neuroblastom ist keine homogene klinisch-biologische Entität, sondern eine Tumorgruppe mit völlig unterschiedlichem klinischen Verhalten. Auch die genetischen Veränderungen sind sehr heterogen, und es konnte bis dato kein spezifisches und konstantes genetisches Ereignis gefunden werden, das in allen Neuroblastomen auftritt. Die Ätiologie des Neuroblastoms ist nach wie vor weitgehend unklar. Der Einfluss von Umweltfaktoren oder einer beruflichen Belastung der Eltern wurde in unterschiedlichen Studien bisher ohne eindeutige Hinweise kontrovers diskutiert (Olshan et al. 1999).
68.4
Prävention, Früherkennung und Screening
Da ein Großteil der Neuroblastome Katecholaminmetaboliten im Urin ausscheidet, kann eine wenig belastende Urinuntersuchung zur Diagnose klinisch noch stummer Tumoren führen. Eine solche Frühentdeckung vor dem Eintreten einer Metastasierung wurde zuerst in Japan Anfang der 70er-Jahre initiiert und später in England, Frankreich, Deutschland und Kanada weiterentwickelt. Die Screening-Programme innerhalb der ersten 6 Lebensmonate führten jedoch zu einer erheblichen Zunahme der Inzidenz, da Neuroblastome diagnostiziert wurden, die sonst unbemerkt eine Spontanremission erfahren hätten. Die betroffenen Säuglinge hatten aufgrund niedriger Stadien und günstiger biologischer Profile insgesamt eine exzellente Prognose (Hayashi et al. 1992; Yamamoto et al. 1998, Woods et al. 2002). Auch bei späterem Screening im Alter von ca. 1 Jahr wurde eine deutliche Überdiagnose an lokalisierten Neuroblastomen in den ScreeningGebieten beobachtet, ohne dass gleichzeitig eine Reduktion der Inzidenz metastasierter Erkrankungen auftrat (Schilling et al. 2002). Somit können Screening-Programme die Entwicklung fortgeschrittener, biologisch ungünstiger Neuroblastome nicht oder nur zum Teil verhindern. Jedoch wurden in 37% der zu diesem Zeitpunkt durch das Screening detektierten Tumoren ungünstige genetische Eigenschaften nachgewiesen (Kerbl et al. 2003). Außerdem haben Screening-Programme zu einem vertieften Verständnis und Einblick in die Natur des Neuroblastoms beigetragen. Der Beginn der Beschreibung der Tumorheterogenitäten in Hinblick auf das biologische Profil bei Kindern jeder Altersklasse durch Ambros und Mitarbeiter (Ambros et al. 2001b) fußt im österreichischen, regional durchgeführten Screening-Programm (Kerbl et al. 1997, 2003). ! Es besteht aus heutiger Sicht jedoch keine Indikation mehr, ein Neuroblastom-Screening durchzuführen.
68.5
Genetik und Biologie des Neuroblastoms
68.5.1 Strukturelle chromosomale Aberrationen Für die Beurteilung der Dignität von neuroblastischen Tumoren hat sich in den letzten Jahren die Amplifikation des MYCN-Onkogens (Brodeur et al. 1984; Seeger et al. 1985) als entscheidender Marker herauskristallisiert. Amplifikationen dieses Onkogens werden in etwa 20% der Tumoren beobachtet und sind häufig mit Deletionen des kurzen Arms von Chromosom 1, del1p36 assoziiert (Brodeur u. Ambros 2000). Beide Aberrationen werden in beiden großen, auf dem unterschiedlichen DNA-Gehalt beruhenden, genetischen Untergruppen gefunden (⊡ Abb. 68.1). Warum aber MYCN-Amplifikationen und/oder Aberrationen der chromosomalen Region 1p36.3 nur in ca. 15% der nahe-triploiden neuroblastischen Tumoren, dieselben Aberrationen jedoch in ca. 56% der diploiden Gruppe beobachtet werden (unpublizierte Daten), ist nach wie vor völlig unklar. Zu den am häufigsten
831 68 · Neuroblastome
⊡ Abb. 68.1. Genese neuroblastischer Tumoren. Genetische und klinisch/biologische Gruppen der neuroblastischen Tumoren. Spontane Regression und Maturation sind ausschließlich auf die nahe-triploide (±3n) bzw. polyploide (5n, 6n) Tumorgruppe beschränkt (grüne Linien). Das Fehlen von »nerve growth factor« (NGF) wird in Tumoren mit spontaner Regression häufig beobachtet. Konstantes Merkmal der ausreifenden Tumoren (Ganglioneuroblastome, Ganglioneurome) ist die Anwesenheit von normalen Schwann-Zellen. In diploiden (2n)
Neuroblastomen können 2 Hauptgruppen unterschieden werden. Eine Gruppe weist meist Amplifikationen des MYCN-Gens und/oder Deletionen des kurzen Arms von Chromosom 1 auf. Hingegen weist die andere Gruppe hauptsächlich Verlust von Heterozygotie (LOH) von 11q neben 3p, 4p, und 14q auf. Auch triploide Tumoren können ungünstige genetische Eigenschaften dazugewinnen (roter schräger Pfeil), was zu einem aggressiven Tumorwachstum führt. Zugewinn von 17q kann sowohl in der ±3n- wie auch in der 2n-Gruppe gefunden werden
in neuroblastischen Tumoren anzutreffenden, genetischen Veränderungen gehört die Vermehrung von langen Armen des Chromosoms 17 (66–69% aller Fälle; Van Roy et al. 1997; Bown et al. 1999). Die prognostische Wertigkeit dieser Aberration ist aber noch nicht vollständig geklärt.
68.5.3 Genese neuroblastischer Tumoren
68.5.2 Subtypen neuroblastischer Tumoren
aufgrund des DNA-Gehalts Basierend auf dem unterschiedlichen DNA-Gehalt können neuroblastische Tumoren in 2 große Gruppen unterteilt werden. Etwas mehr als die Hälfte aller Tumoren (55%) weisen einen nahe-triploiden DNA-Gehalt (DNA-Index zwischen 1,26 und 1,74) auf, und in ca. 45% der neuroblastischen Tumoren wird ein diploider (oder tetraploider bzw. kombiniert di-/tetraploider) Chromosomensatz beobachtet. Spontane, nicht therapieinduzierte Regressions- und Maturationsprozesse, wie sie bei neuroblastischen Tumoren immer wieder auftreten, sind vermutlich auf die nahe-triploide Untergruppen beschränkt (Ambros et al. 1996); in ca. 15% der Fälle kann jedoch auch in dieser ein aggressives Verhalten beobachtet werden (Ambros, nicht publiziert). Man findet dann nur manchmal strukturelle chromosomale Veränderungen (MYCN-Amplifikation, 1p-Deletion). Die meisten diploiden Tumoren sind hingegen auch ohne MYCN-Amplifikation und ohne 1p36.3 Aberrationen aggressiv, und zwar unabhängig vom Alter des Patienten bei Diagnose und vom Ausbreitungsstadium des Tumors (Ladenstein et al. 2001). Stadium-4-Tumoren weisen in 40% einen diploiden DNAGehalt auf. Umbauten des Genoms finden sich allerdings bei so gut wie allen diploiden Tumoren.
und genetische intratumorale Heterogenität Basierend auf der Tumorzellploidie können 2 unterschiedliche Gruppen von neuroblastischen Tumoren unterschieden werden ( Abb. 68.1). In der überwiegenden Mehrzahl der nahe-triploiden Tumoren werden ausschließlich numerische Chromosomenaberrationen gefunden, was für das (oft selbst-limitierte) Tumorwachstum ausreichend sein dürfte. Zeitlich nachfolgende- sekundäre Veränderungen, wie die MYCN-Amplifikation und die 1p36.3 Aberration führen jedoch zu maligner Transformation. In der diploiden (2n) Tumorgruppe, also ohne Chromosomenzugewinne, ist das tumorinitiierende Ereignis nach wie vor unbekannt, auch wenn weitere Chromosomenaberrationen wie del 11q23 (Guo et al. 1999; Luttikhuis et al. 2001; Spitz et al. 2002), del 3p26 (Vandersampele et al. 1998) und 17q-Zugewinn (Van Roy et al. 1997; Bown et al. 1999; Spitz et al. 2003; Brodeur u. Ambros 2000) beschrieben wurden. Gemeinsam ist aber allen diploiden Tumoren ein aggressives Zellwachstum ( Abb. 68.1). Seit der Erstbeschreibung von familiären Neuroblastomen in der Mitte des letzten Jahrhunderts sind nur wenige familiäre Fälle bekannt geworden. Hier scheint eine Beteiligung der chromosomalen Region 16p von Bedeutung zu sein (Maris et al. 2002). Bis vor kurzem bestand die Annahme, dass neuroblastische Tumoren zwar histologisch heterogen, aber genetisch homogen seien, und dass somit die Untersuchung eines kleinen Tumorareals (z. B. Biopsie) für den gesamten Tumor genetisch repräsentativ sei. Mehrere Faktoren führten jedoch
68
832
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
zu der Erkenntnis, dass diese Annahme revidiert werden muss. Verfeinerte Techniken sowie die seriellen genetischen Untersuchungen im Rahmen von Therapieprotokollen und des Neuroblastom-Screenings führten zur Entdeckung von auch genetisch inhomogenen Tumoren. ! Es zeigte sich, dass bei bis zu 15% aller MYCN-amplifizierten Tumoren die MCYN-Amplifikation nur fokal, d. h. nicht ubiquitär im Tumorgewebe nachweisbar war (Ambros et al. 2001b).
IV
Die Entdeckung der fokalen MYCN-Amplifikation legt nahe, dass diese genetische Veränderung zumindest bei einzelnen Tumoren erst im Laufe der Tumorprogression erworben wird und, zumindest vorübergehend, zu heterogenen Zellpopulationen innerhalb eines Tumors führen kann. Es ist anzunehmen, dass im weiteren Verlauf die amplifizierten Zellen aufgrund ihres Proliferationsvorteils die nicht-amplifizierten Zellen »überwachsen«. Die Beobachtungen heterogener Tumoren sind zwar für neuroblastische Tumoren unerwartet, aber keineswegs untypisch für andere Tumoren, bei denen amplifizierte neben nicht-amplifizierten Arealen anzutreffen sind. 68.5.4 Spontane Tumorregression Unter spontaner Regression versteht man eine ohne zytotoxische Therapie erfolgende Tumorrückbildung selbst »metastasierter« Tumoren. Dies ist ein bis heute nicht geklärtes Phänomen. Auch wenn die spontane Regression am häufigsten in den als 4s bezeichnetem Stadium vorkommt (D’Angio et al. 1971), so ist sie nicht nur darauf beschränkt. Sie wird auch bei lokalisierten Tumoren (Yamamoto et al. 1998) und sogar in »klassischen« Stadien 4, die im sechsten Lebensmonat durch das Neuroblastom-Massen-Screening detektiert wurden, beobachtet. Bei Tumoren, die die Fähigkeit zur Spontanremission haben, wurden nahe-triploide (oder polyploide) Chromosomensätze, jedoch keine MYCN-Amplifikation oder 1p-Deletionen gefunden (Ambros et al. 1995; Abb. 68.1). Zudem ist die Telomeraseaktivität in Stadium4s-Tumoren nicht erhöht (Hiyama et al. 1999), wie das in vielen anderen menschlichen Neoplasien der Fall ist (Poremba et al. 1999). Eine Ausnahme bilden allerdings 4s-Tumoren von Patienten mit letalem Verlauf, die eine erhöhte Telomeraseaktivität aufwiesen (Hiyama et al. 1999; Poremba et al. 1999). 68.5.5 Spontane Tumorausreifung Die spontane, ebenfalls nicht durch zytotoxische Therapie induzierte, Tumorausreifung tritt, im Gegensatz zur Regression, so gut wie nie im ersten Lebensjahr auf, sondern wird erst beginnend mit dem zweiten Lebensjahr beobachtet. Mehr oder weniger vollständig ausgereifte Tumoren, so genannte Ganglioneurome, werden meist erst nach dem vierten Lebensjahr oder sogar erst im Erwachsenenalter, diagnostiziert. Die genetischen Veränderungen bestehen in einer Triploidisierung des Genoms (bzw. Penta- oder Hexaploidisierung) und einem Fehlen von Chromosom 1p36.3 sowie MYCN-Veränderungen (Ambros et al. 1996). In allen Gang-
lioneuroblastomen und Ganglioneuromen wird neben einer triploiden Zellpopulation eine diploide Zellpopulation gefunden. In-situ-Hybridisierungen zeigten, dass es sich bei der diploiden Zellpopulation um die in ausreifenden Tumoren auftretenden Schwann-Zellen handelt (Ambros et al. 1996). Bis dahin wurden die während des Ausreifungsprozesses immer zahlreicher werdenden Schwann-Zellen genau so wie die in diesen Tumoren vorhandenen Ganglienzellen für Tumorzellen gehalten, was zu der bis vor kurzem vorherrschenden Lehrmeinung führte, dass sich Neuroblastome aus einer »pluripotenten« Neuralleistenzelle (Tsokos et al. 1987) entwickeln. Eine Differenzierung eines triploiden Neuroblasten in eine triploide Ganglienzelle und in eine diploide SchwannZelle ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Nach dem derzeitigen Modell (Ambros u. Ambros 2000) sind es die Neuroblastomzellen selbst, die im Laufe des zellulären Differenzierungsprozesses beginnen, chemotaktische, mitogene und auch differenzierungsinduzierende Faktoren zu exprimieren, und somit Schwann-Zellen aus dem umgebenden Gewebe »anlocken« und zur Proliferation und schließlich auch zur Differenzierung anregen (Marchionni et al. 1993; Minghetti et al. 1996; Morrissey et al. 1995). Zusätzlich wirken Schwann-Zellen auf Neuroblasten einerseits antiproliferativ und andererseits differenzierungsfördernd (Reynolds u. Woolf 1993; Snider 1994; Ambros u. Ambros 2000). Diese Erkenntnisse legen die zentrale, aber reaktive Rolle der Schwann-Zelle beim Ausreifungsprozess nahe. 68.6
Pathogenese und Pathologie
68.6.1 Aufarbeitung des Tumormaterials Die Aufarbeitung des Tumormaterials sollte immer von einem Pathologen unter sterilen Bedingungen durchgeführt werden. Er hat die entscheidende Aufgabe, repräsentatives Tumormaterial inklusive morphologisch auffälliger Areale für die Untersuchung auszuwählen. Bei resektablen Tumoren wird empfohlen, Proben von mindestens 2 morphologisch unterschiedlichen Arealen (wenn vorhanden) für die molekulargenetischen Untersuchungen einzusenden. Auch bei nicht-resektablen Tumoren sollte, wenn ohne Gefährdung des Patienten möglich, von verschiedenen Arealen Tumormaterial biopsiert werden, um die mögliche histologische und genetische Heterogenität zu berücksichtigen (Ambros et al. 2001b; Lorenzana et al. 1997). Das genaue Procedere wurde detailliert beschrieben (Ambros u. Ambros 2001a). 68.6.2 Pathohistologische Untersuchung Der Tumor sollte nach der 1999 publizierten internationalen Neuroblastomklassifikation (»International Neuroblastoma Pathology Classification«, INPC) klassifiziert werden (Shimada et al. 1999a, 1999b). Zusätzlich ist es für weitere Studien günstig, die Mitoserate und eventuell vorhandene Verkalkungen anzugeben. Das Anliegen der INPC war es, eine bereits lange Zeit in Gebrauch gewesene und vertraute Terminologie (Neuroblastom, Ganglioneuroblastom, Ganglioneurom) wieder einzuführen und mit jenen morphologischen Merk-
833 68 · Neuroblastome
malen zu verbinden, die prognostisch die größte Aussagekraft haben. Ein weiteres Anliegen war die Schaffung einer einheitlichen Klassifikation dieser Tumoren. Die statistischen Analysen an einer großen Serie neuroblastischer Tumoren zeigten, dass die Shimada-Klassifikation mit der Berücksichtigung des so genanten Mitose-KaryorrhexisIndex (MKI), die zelluläre Differenzierung der Neuroblasten, das Vorhandensein und Ausmaß eines Schwann-Zellstromas in Kombination mit dem Alter des Patienten die beste prognostische Aussagekraft und eine 90%ige Konsensusrate hatten. Die INPC stellt jedoch nicht bloß eine Übernahme der ursprünglichen Shimada-Klassifikation dar, sondern beruht auf gut abgesicherten biologischen Konzepten. 68.7
Klinisches Erscheinungsbild
68.7.1 Klinische Präsentation Etwa die Hälfte aller Primärtumoren entstehen in den Nebennieren, ungefähr 25–30% entlang der abdominellen und etwa 15–20% entlang des thorakalen oder zervikalen Grenzstrangs. Auch mit sensiblen diagnostischen Verfahren wird bei ca. 2% der Patienten bei Diagnose kein Primärtumor gefunden. Metastasen treten v. a. im Knochenmark (80–90%) und den Knochen (50–70%) sowie in lokoregionären Lymphknoten auf, aber weniger häufig in Fernlymphknoten. Im Stadium 4s sind v. a. die Leber (Pepper-Syndrom) und livide imponierende Hautmetastasen typische Befallsmuster; zudem findet sich auch eine Häufung multilokulärer Primärtumoren. Intrakranielle Metastasierungen kommen bei bis zu 10% der Patienten vor, Lungenmetastasen bei der Primärdiagnose bei bis zu 5%. 68.7.2 Typische Symptome Die initiale Symptomatik des Neuroblastoms erklärt sich zum Teil durch die Lage von Primärtumor und Metastasen. Tumoren des Grenzstrangs zeigen die Tendenz, durch die Neuroforamina intraspinal vorzuwachsen (Sanduhrtumoren) und durch eine Querschnittsymptomatik aufzufallen. Zervikale Tumoren oder Tumoren des oberen Thorax können eine Horner-Trias (Miosis, Ptosis und Enophthalmie) durch Beeinträchtigung des Ganglion stellatum verursachen. Pulmonale Symptome wie Husten, Pneumonie oder Luftnot können bei thorakalen Tumoren auftreten. Tumoren des Bauchraums behindern gelegentlich den Harnabfluss, in schweren Fällen bis zur Entstehung einer Hydronephrose. Ein ein- oder beidseitiges Brillenhämatom, wahrscheinlich verursacht durch retrobulbäre Infiltrationen, ist charakteristisch für ein metastasiertes Neuroblastom. Sehr selten können initiale ZNS-Metastasen durch intrazerebrale Symptomatik (Hirndrucksymptomatik, Krampfanfälle) zur Diagnose führen. Neben diesen Lokalsymptomen findet sich bei etwa 2% der Patienten ein paraneoplastisches OpsomyoklonusAtaxie-Syndrom (»dancing eye syndrome«, KinsbourneSyndrom; Abschn. 68.11.7), charakterisiert durch eine typische neurologische Symptomatik mit Myoklonien von Rumpf und Extremitäten, Ataxie und Opsomyoklonus
(kurze, schnelle und unregelmäßige Augenbewegungen) (Rudnick et al. 2001). Auf psychosomatische Entwicklungsverzögerungen muss bei diesen Patienten geachtet werden. Da ein Opsomyoklonus-Ataxie-Syndrom ohne Neuroblastom selten ist, sollte bei einer solchen Symptomatik ein Neuroblastom ausgeschlossen werden, ggf. auch wiederholt, wenn sich noch nicht das Vollbild des OpsomyoklonusAtaxie-Syndrom zeigt. Therapieresistenter Durchfall bei erhöhter Sekretion von vasointestinalem Peptid (VIP) durch den Tumor und Hypertonie durch pressorisch wirkende Katecholaminmetaboliten sind seltene, aber ebenfalls sehr charakteristische Symptome eines Neuroblastoms. Allgemeinsymptome wie Schmerzen (33%) – verursacht durch den Tumor oder Metastasen –, Fieber (26%) und Gewichtsverlust (12%) findet man häufiger bei fortgeschrittenen Erkrankungen. Immer wieder wird bei Patienten mit metastasiertem Neuroblastom lange Zeit wegen Knochenschmerzen fälschlich eine Erkrankung des rheumatischen Formenkreises oder eine Osteomyelitis vermutet. Bei ausgeprägter Knochenmarkinfiltration können mitunter Anämie oder Thrombozytopenie erste Symptome sein. Rund 20% aller Neuroblastome werden ohne wesentliche Symptome per Zufall gefunden, z. B. bei einem auffälligem Tastbefund im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen oder durch Ultraschall- oder Röntgenuntersuchungen bei der diagnostischen Abklärung anderer malignomunabhängiger Krankheitszeichen sowie bislang auch im Rahmen von Screening-Programmen. 68.8
Diagnostik
68.8.1 Labordiagnostik Katcholaminmetabolite. Neuroblastomzellen können ebenso wie die chromoaffinen Zellen des Nebennierenmarks Katecholamine produzieren. So können bei über 80% der Patienten mit Neuroblastom Katecholaminmetaboliten (Homovanillinsäure, Vanillinmandelsäure, Dopamin) im Spontanurin oder Serum erhöht nachgewiesen und als Tumormarker bei Diagnose und Verlauf benutzt werden (Evans et al. 1987). Die Werte müssen >3 SD (»standard deviation«; Standardabweichung) über dem Mittelwert für das jeweilige Alter sein (gemessen in µmol per mmol Kreatinin) um als erhöht zu gelten, und zumindest 2 dieser Metaboliten müssen untersucht werden. Die Adaptierung der Werte aus dem Spontanurin mittels des Kreatininwerts erübrigt klassische 24 h-Urin-Sammlung. Die Substanzen sind ausreichend stabil, so dass das Material auch per Post zu Speziallaboratorien versandt werden kann. Die Bestimmung im Urin ist sensitiver als die Bestimmung im Serum. Es besteht die Möglichkeit, diese Stoffe mittels hochsensitiver Methoden (HPLC) u. a. auch auf mit Urin benetztem Filterpapier nachzuweisen. Dieses Vorgehen wurde beim NeuroblastomScreening im Säuglingsalter eingesetzt (Kerbl et al. 1997). Tumorassoziierte Aktivitätsparameter. LDH und Ferritin
(Hann et al. 1985) sind bei Diagnose oft erhöht, eignen sich aber wegen ihrer geringen Spezifität nicht als unabhängige Tumormarker. Allerdings haben Patienten mit erhöhter LDH
68
834
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
bzw. erhöhtem Ferritin bei Diagnose eine schlechtere Prognose als Ausdruck der Tumorlast bzw. der Tumoraktivität (Berthold et al. 1992; Hann et al. 1985). Auch die neuronspezifische Enolase kann als Tumormarker im Verlauf eingesetzt werden. Erhöhte Werte wurden ebenfalls mit einer schlechteren Prognose in Bezug gesetzt (Zeltzer et al. 1986). 68.8.2 Bildgebende Verfahren
IV
Bildgebend stellt sich das Neuroblastom oft als inhomogener Tumor mit zentralen Nekrosen und Verkalkungen dar. Vor allem Tumoren des Bauchraums können oft bereits mittels der Sonographie gut abgebildet werden. Die gezielte Magnetresonanztomographie (MRT) der betroffenen Körperregion ist der Computertomographie (CT) wegen der fehlenden Strahlenbelastung und wegen der besseren Detaildarstellung überlegen. Die charakteristischen Verkalkungen werden allerdings im MRT (im Gegensatz zum CT) nicht dargestellt. Zur Ganzkörperuntersuchung wird 123Meta-Jodbenzylguanidin (mIBG), ein Noradrenalinanalogon, herangezogen (Suc et al. 1996). Etwa 85% aller Neuroblastome reichern mIBG an. Der Tracer wird auch von Nebenniere, Schilddrüse, Leber, Darm und Myokard aufgenommen und über den Harntrakt ausgeschieden. Deshalb ist vor Applikation von mIBG eine Schilddrüsenblockade mit Kaliumjodid notwendig. Die Abgrenzung von Organen in unmittelbarer Nachbarschaft zu physiologisch anreichernden Organen kann schwierig sein und wird durch Schnittbilder in der SPECT-Technik erleichtert. Die 123mIBG-Szintigraphie erlaubt keine genaue Differenzierung zwischen Knochen und Knochenmarksbefall. Bei mIBG-negativen Primärtumoren wird die Technetium(99Tc)-Szintigraphie zur Klärung eines Skelettbefalls herangezogen. Es ist zu beachten, dass beide Methoden keine komplette Konkordanz aufzeigen (mIBG: Knochenmark und Knochen, Tc: Knochen). Der mIBG-Szintigraphie wird aufgrund der höheren Sensitivität und Spezifität in Europa der Vorrang gegeben (Shulkin et al. 1992). Der Nachweis von Osteolysen im konventionellen Röntgenbild belegt die fortgeschrittene Knochenmetastasierung und ist prognostisch ungünstiger als die mIBG-Positivität ohne nativradiologische Osteolysen (Labreveux et al. 1994).
68.8.4 Tumorbiopsie Vor Behandlungsbeginn ist eine histologische Diagnosesicherung unumgänglich. Nur bei einem Knochenmarkbefall über 60% kann die Diagnose einschließlich der notwendigen molekulargenetischen Analysen aus dem Knochenmark gestellt werden: So kann bei schwer kranken Kindern bei Diagnose auf eine Tumorbiopsie unter Umständen verzichtet werden. 68.8.5 Internationale Kriterien für Diagnose-
stellung, Stadieneinteilung und das Ansprechen auf Therapie Die Diagnose Neuroblastom gilt als bewiesen, wenn eine eindeutige pathologische Diagnose des Tumorgewebes erstellt wurde, und zwar im Lichtmikroskop (mit oder ohne Immunhistologie, Elektronenmikroskopie und erhöhten Urin- oder Serumkatecholaminen oder deren Metaboliten) – oder – wenn das Knochenmark eindeutig Tumorzellen enthält (z. B. immunzytologisch positive Zellnester) und erhöhte Urin- oder Serumkatecholamine oder Metaboliten gefunden werden. Heute wird die Diagnose Neuroblastom zusätzlich durch das Vorliegen typischer genetischer Charakteristika (wie 1p-Deletion, MYCN-Amplifikation) gestützt. Die internationale Stadieneinteilung INSS (»International Neuroblastoma Staging System«; Brodeur et al. 1993) stellt eine Weiterentwicklung und Spezifizierung der alten Evans-Klassifikation (Stadien I, II, III, IV, IVs) dar und ist durch arabische Zahlen gekennzeichnet (Stadien 1, 2a, 2b, 3, 4, 4s). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Einteilung nicht mehr überwiegend auf klinischen und radiologischen Untersuchungsergebnissen beruht, sondern dass auch chirurgische und histologische Kriterien maßgebend sind. Dadurch sind die lokalisierten Stadien schärfer gegeneinander abgrenzbar (Castleberry et al. 1994; ⊡ Tabelle 68.1). Im Rahmen der INSS-Kriterien wurde auch das Tumoransprechen genau definiert (Brodeur et al. 1993): CRVGPR-PR (»complete – very good partial – partial remission«), MR-NR (»mixed – no response«) und PD (»progressive disease«). 68.9
Differenzialdiagnose
68.8.3 Knochenmarkdiagnostik Beidseitig gewonnene Knochenmarkaspirate der hinteren Darmbeinschaufelleiste und Biopsien des Knochenmarkkerns werden benötigt, um eine Beteiligung des Knochenmarks (KM) auszuschließen (4 Punktionsstellen!). Ein einziges positives Ergebnis bestätigt eine Beteiligung des Knochenmarks. KM-Biopsien müssen zumindest 1 cm Knochenmark (ohne Knorpel) enthalten, um berücksichtigt werden zu können. Von jeder Punktionsstelle sollte mindestens 5 ml Knochenmark gewonnen werden und jeweils 3 ungefärbte Ausstriche zur zytologischen und immunologischen Bestimmung des Tumorzellanteils mittels monoklonaler Antikörper hergestellt werden. Mittels monoklonalen GD2-Nachweises und sequenzieller FISH-Analysen kann etwa eine Tumorzelle auf 106 Zellen nachgewiesen werden (Mehes et al. 2001).
Morphologisch sind Neuroblastome aus unreifen Zellelementen zusammengesetzt, den Neuroblasten, und – je nach Ausmaß der Differenzierung – aus teilweise oder komplett ausgereiften Ganglienzellen und Schwann-Zellen. Lichtmikroskopisch ähneln Neuroblasten den primitiven Vorläuferzellen und imponieren als »kleine, runde und blaue Zellen« mit dichtem Kern und spärlichem Zytoplasma. Gelegentlich sind sie rosettenförmig angeordnet mit Neuropil im Zentrum (Homer-Wright-Rosetten). Differenzialdiagnostisch sind die unreifen Tumoren von anderen klein-rund-blauzelligen Tumoren (v. a. Ewing-Tumoren, primitive neuroektodermale Tumoren, Rhabdomyosarkome, desmoplastische klein- und rundzellige Tumoren und Non-Hodgkin-Lymphomen) abzugrenzen. Bei undifferenzierten Tumoren können immunhistochemischen Zusatzuntersuchungen und eine molekulargenetische Abklärung ( Kap. 42 und 43) notwendig sein.
835 68 · Neuroblastome
⊡ Tabelle 68.1. INSS-Stadieneinteilung
Stadium
Kriterien
Stadium 1
Lokalisierte Tumoren mit makroskopisch kompletter Entfernung (mit oder ohne mikroskopischen Resttumor); repräsentative ipsi-und kontralaterale Lymphknoten sind histologisch ohne Tumorbefall; mit dem Tumor entfernte anhängende Lymphknoten dürfen befallen sein.
Stadium 2A
Lokalisierter Tumor mit makroskopisch inkompletter Entfernung; repräsentative ipsilaterale (nicht am Tumor adhärente) Lymphknoten sind histologisch ohne Tumorbefall.
Stadium 2B
Lokalisierter Tumor mit oder ohne makroskopisch kompletter Entfernung; ipsilaterale nicht adhärente Lymphknoten zeigen Tumorbefall, vergrößerte, kontralaterale Lymphknoten müssen histologisch negativ sein.
Stadium 3
Nicht resektabler unilateraler Tumor mit Überschreiten der Mittellinie mit oder ohne Lymphknotenbefall oder unilateraler lokalisierter Tumor mit kontralateralem Lymphknotenbefall oder Mittellinientumor mit bilateraler Ausdehnung durch Infiltration (nicht resektabel) oder durch Lymphknotenbefall. (Das Überschreiten der Mittellinie ist definiert durch infiltratives Erreichen/Überschreiten der Wirbelkante der Gegenseite.)
Stadium 4
Dissemination des Tumors in Fernlymphknoten, Knochen, Knochenmark, Leber, Haut und/oder andere Organe ausgenommen Stadium 4s.
Stadium 4S
Lokalisierter Primärtumor bei Säuglingen im ersten Lebensjahr (definiert entsprechend dem Stadium 1, 2A oder 2B) mit Dissemination in Haut, Leber und/oder das Knochenmark. Der Knochenmarkbefall muss minimal sein, d. h. in der Knochenmarkbiopsie oder Aspiration sind weniger als 10% aller kernhaltiger Zellen maligne – bei größerem Anteil an Tumorzellen Einordnung als Stadium 4 –, mIBG-Szintigramm im Knochenmark negativ.
Mehrherdige primäre Tumoren (z. B. bilaterale primäre Nebennierentumoren) sollten nach dem am weitesten entwickelten primären Tumorherd eingestuft werden, wie oben definiert, und die Definition sollte mit dem Subscript »M« rechts versehen werden, z. B. Stadium 3M. Nur ungefähr 20% der betroffenen Kinder haben bei Diagnosenstellung einen operablen, d. h. chirurgisch entfernbaren Primärtumor und zeigen keine weiteren Tumorzellabsiedelungen (Metastasen; Stadium 1 und 2). Die Mehrzahl der Patienten wird nach wie vor im fortgeschrittenen Stadium entdeckt mit zunächst regionaler Ausdehnung und Lymphknotenbefall in weiteren 20% (Stadium 3). In etwa 60% sind bei Diagnosenstellung das Knochenmark und/oder die Knochen von Tumorzellen infiltriert. Bevorzugte Stellen sind dabei Schädeldach, Augenhöhle (Brillenhämatome) und lange Röhrenknochen (Stadium 4). Leber und Haut sind v. a. bei Säuglingen ein typischer Absiedelungsort (Stadium 4s), während Lunge und Gehirn insgesamt nur selten betroffen sind.
68.10
Prognostische Faktoren
Nach den Daten des Mainzer Kindertumorregisters konnte in den letzten 2 Dekaden die 15-Jahres-Überlebensrate von Kindern mit Neuroblastom kontinuierlich von ca. 42% (1980) auf 74% (1998) verbessert werden (Periodenanalyse nach Brenner et al. 1994; Kaatsch et al. 2000). Die Prognose ist jedoch nach wie vor stark vom Alter und vom Erkrankungsstadium bei Diagnose beeinflusst (Cotterill et al. 2000; Evans et al. 1987). 68.10.1 Alter Das Gesamtüberleben für alle Stadien gemeinsam liegt in der Gruppe der unter Einjährigen bei etwa 90% (nahe 100% für Stadien 1 und 2), während die prognostische Erwartungshaltung insgesamt bei den älteren Kindern auf 60% absinkt. Dabei ist die enge Korrelation zwischen Alter und Stadium zu beachten. Jüngere Kinder haben häufiger niedrige Stadien. Aber auch innerhalb eines Stadiums bleibt der Alterseinfluss erhalten. Zum Beispiel findet sich beim Stadium 4 im Register der EBMT (European Group for Bone Marrow and Stem Cell Transplantation) ein Gesamtüberleben nach 5 Jahren für Patienten: <1 Jahr von 63%, im Alter von 1–2 Jahre von 41% und 24% für alle älteren Patienten (p=0,01; Ladenstein et al. 1996; Cotterill et al. 2001; Philip et al. 1997; Paul et al. 1991).
68.10.2 Stadium und klinische Faktoren Neben dem Stadium wird die Prognose zusätzlich von der Radikalität der Tumorresektion und dem Ansprechen auf die Chemotherapie beeinflusst. So ist z. B. die Persistenz von Skelettmetastasen und/oder eines Knochenmarkbefalls im Stadium 4 am Ende der Induktionstherapie ein ungünstiges Zeichen (Ladenstein et al. 1998). Lokalisierte Neuroblastome. Ungefähr 20–30% der Kinder mit der Diagnose Neuroblastom haben initial resektable Primärtumoren und keine Fernmetastasen (Stadium 1 und 2). Die Prognose für diese Patienten ist im Allgemeinen sehr gut mit einem 5-Jahres-Überleben im Bereich von 80–100%. Alter bei Diagnosestellung von unter 1 Jahr, thorakale Lokalisation und das Fehlen einer regionalen Lymphknotenbeteiligung sind klassische günstige Prognoseparameter. Säuglinge mit prä- oder perinatal durch Ultraschall diagnostiziertem, voraussichtlichem Stadium-1Nebennierentumoren können ohne weitere Diagnostik ausschließlich beobachtet werden (Holgersen et al. 1996). Die Überlebensraten für Patienten mit ausgedehnter regionaler Erkrankung (Stadium 3) sind sehr variabel in einem Bereich von 20–90%, wobei die Gruppe der Säuglinge mit Stadium 3 im 90% Niveau liegen.
68
836
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Stadium 4s. Säuglinge mit Stadium 4s haben im Allgemeinen eine relativ gute Prognose von ca. 80%. Diese Kinder sind v. a. durch eine initiale, rasche Tumorprogredienz bedroht. Diese lebensbedrohliche Komplikation wird fast ausschließlich mechanisch durch die typische enorme Hepatomegalie hervorgerufen. Es obliegt dem Ermessen des Arztes, rechtzeitig und elektiv die Indikation zu einer Chemotherapie und/oder Strahlentherapie (Leberbestrahlung) zu stellen, um ein solches Geschehen abzufangen. Leider lässt sich der Verlauf trotz rechtzeitiger Maßnahmen nicht immer günstig beeinflussen, und es versterben bis zu 20% der Säuglinge mit Stadium 4s in der Frühphase der Erkrankung. Säuglinge, die schon bei Diagnose schwerst krank sind, sind höchst gefährdet und sollten einer Therapie zugeführt werden (Hsu et al. 1996). Die Mehrzahl der 4s-Neuroblastome haben eine günstige Biologie und die Fähigkeit zur Spontanregression zu einem späteren Zeitpunkt ohne jegliche aggressive Therapie (Katzenstein et al. 1998). Primär metastasierte Neuroblastome. Das disseminierte Neuroblastom (Stadium 4) bei Kindern über einem Jahr hat nach wie vor eine schlechte Langzeitprognose, obwohl mit der Intensivierung der Chemotherapie die initialen Ansprechraten auf etwa 90% verbessert wurden und das Überleben nach 2 Jahren von ehemals 10% auf 50–60% anstieg. Dennoch liegt die Prognose dieser Patienten nach 5 Jahren zwischen 30 und 40% (Berthold et al. 2003; Cotteril et al. 2001; Philip et al. 1997). 20% der zu diesem Zeitpunkt überlebenden Patienten erleiden ein spätes Rezidiv (Cotterill et al. 2001; Philip et al. 1997). Das Ansprechen auf die Induktionstherapie ist von prognostischer Bedeutung. Im EBMT-Register zeigen Kinder mit persistierendem KM-Befall ein 5-Jahres-Überleben von 23%, während es für jene mit einer Knochenmarksremission 32% beträgt. Die Children‘s Cancer Study Group (CCSG) konnte diese Beobachtung an eigenen Daten nachvollziehen. Die Unterscheidung von Knochen oder Knochenmarkbefall durch den mIBG-Scan ist schwierig, weshalb man im Falle einer Speicherung diese Patienten vorzugsweise als skelettpositiv bezeichnet. Ein weiterer deutlich diskriminierender Faktor scheint die Persistenz von mIBG-positivem Skelettbefall (43% der Patienten) am Ende der Induktionstherapie zu sein und zwar unabhängig vom Primärtumor. Mit einer Megatherapie und nachfolgender Stammzelltransplantation (MGT/SCT) haben diese Patienten ein ereignisfreies Über-
leben (EFS) von 15% im Gegensatz zu Patienten ohne Skelettmetastasen mit einem EFS von 38% nach 5 Jahren (p=0,017; Ladenstein et al. 1998). Basierend auf EBMT-Registerdaten konnte gezeigt werden, dass nur Spätrezidive eines Stadiums 4 (12 Monate nach Therapieende) bei neuerlich gutem Ansprechen und ohne vorangehende MGT/SCT von einer Intensivierung durch eine MGT/SCT profitieren können (Ladenstein et al. 1993). Alle übrigen Rezidivpatienten sollten anderen Therapieansätzen zugeführt werden. 68.10.3 Biologische Prognosefaktoren ! Serologische Prognosefaktoren bei Diagnose sind erhöhte Serumkonzentrationen von LDH (Berthold et al. 1992), der neuronspezifischen Enolase (NSE; Zeltzer et al. 1986) und des Ferritins (Hann et al. 1985; Ladenstein et al. 1996).
Mit der zunehmend verbesserten Standardisierung der Diagnostik biologischer Faktoren der Tumorzellen (⊡ Tabelle 68.2), wie z. B. der MYCN-Amplifikation, rückt deren Bedeutung in den Vordergrund und wird ihr prognostischer Einfluss klarer (Berthold et al. 1997; Brodeur u. Ambros 2000; Katzenstein et al. 1998; Ambros et al. 1995), dennoch ist die Überprüfung vieler Faktoren in prospektiv geführten, ausreichend großen Behandlungsgruppen noch ausständig. 68.11
Therapie
Die Behandlung von Neuroblastompatienten muss den unterschiedlichen Verlaufsformen Rechnung tragen und sollte daher immer im Rahmen von kooperativen Therapieoptimierungsstudien erfolgen. Grundsätzlich unterscheiden die meisten Studien eine Beobachtungsgruppe, eine Standardrisikogruppe und eine Hochrisikogruppe. Für die Stratifizierung werden von den einzelnen Studiengruppen (European Society of Pediatric Oncology/Neuroblastoma Group, ESIOP/ NBL); Children’s Oncology Group, COG/USA; Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie, GPOH/ Deutschland) ähnliche Kombinationen prognostischer Faktoren, nämlich das Alter, das Stadium, pathohistologische und molekulargenetische Merkmale herangezogen (Bowman
⊡ Tabelle 68.2. Biologische Prognosefaktoren
Merkmal
Ungünstiger Einfluss
Referenz
MYCN
Amplifikation
Seeger et al. 1985; Brodeur et al. 1984
DNA-Ploidie
Di-/tetraploid
Carlsen et al. 1992; Ladenstein et al. 2001; Look et al. 1991
1p(36.3)
Deletion
Ambros et al. 1995; Caron et al. 1996; Christiansen u. Lampert 1988; Spitz et al. 2002
17q
Zugewinn
Bown et al. 1999; Plantaz et al. 1997
11q
Deletion
Guo et al. 1999; Luttikhuis et al. 2001; Spitz et al. 2003
MRP-Expression
Hoch
Norris et al. 1996
Telomerase
Hohe Aktivität
Hiyama et al. 1999; Maitra 1991
TrkA-Expression
Fehlend
Kogner et al. 1993; Nakagawara et al. 1993
CD44-Expression
Fehlend
Combaret et al. 1997; Terpe et al. 1994
837 68 · Neuroblastome
et al. 1997; Berthold et al. 1997). Das Spektrum der Therapieoptionen reicht entsprechend der Stratifizierung von ausschließlich chirurgischen Maßnahmen bis hin zu maximalen Kombinationskonzepten der diversen Therapiemodalitäten wie Operation, Polychemotherapie, Megatherapie/Stammzellreinfusion (MGT/SCT), Bestrahlung (konventionell und/ oder therapeutischer Einsatz von 123Iod-mIBG), Differenzierungstherapie mit Retinolen und Immuntherapie. 68.11.1 Chirurgische Therapie Die chirurgische Resektion ist die einzige und erste Maßnahme für Patienten mit resektablen Primärtumoren ohne Metastasierung, d. h. Vorliegen eines Stadiums 1 und 2. Eine genaue Inspektion der regionalen Lymphknoten entsprechend den INSS-Kriterien ist angezeigt. Die initiale Chirurgie sollte mit keiner oder nur minimaler Morbidität für das Kind verbunden sein (Azizkhan 1993; Shamberger 1998). Langfristige Folgezustände (z. B. Nephrektomie bei Tumorexstirpation) sollten unbedingt vermieden werden. Gemäß INSS-Kriterien sind Stadien 3 primär nichtresektabel, womit die initiale Biopsie die erste chirurgische Maßnahme zur Klärung der Histologie und des biologischen Profils ist. Der Versuch der kompletten Tumorresektion folgt in der Regel nach 4–6 Chemotherapiezyklen, nachdem ein ausreichendes Tumoransprechen erzielt wurde. Bei Stadien 4 wird bei Diagnose eine Biopsie des Primärtumors nur dann angestrebt, wenn der Tumorzellbefall unter 60% im Knochenmark beträgt und die Materialgewinnung für eine biologische Zuordnung nicht ausreichend ist. So genannte »True-cut«-Biopsien dürfen die offene Biopsie ersetzten und ermöglichen ebenfalls einen guten molekularpathologischen Informationsgewinn. Nach der initialen Chemotherapieinduktionsphase sollte eine komplette Resektion angestrebt werden. Eine retrospektive Metaanalyse der ESIOP/NBL-Studiengruppe fand eine Lokalrezidivrate von 40% in rezenten Therapiestudien für Stadien 4. Eine Intensivierung der lokalen Maßnahmen zur verbesserten Lokalkontrolle erscheint daher angezeigt (Haase et al. 1991). Die Notwendigkeit der Resektion des meist kleinen Primärtumors bei Stadium 4s ist aufgrund des vorwiegend günstigen biologischen Profils bei Regression der Metastasen aus heutiger Sicht in Frage zu stellen (DeCou et al. 1995). Sowohl die italienische Studiengruppe als auch die amerikanische Pediatric Oncology Group (POG) konnten keinen Unterschied in der Überlebensrate von Säuglingen mit Stadium 4s mit oder ohne Operation des Primärtumors finden (Guglielmi et al. 1996; Nickerson et al. 2000). 68.11.2 Chemotherapie In konventioneller Dosierung haben folgende Zytostatika als Monosubstanz Wirksamkeit gezeigt: Vincristin, Cyclophosphamid, Ifosfamid, Dacarbazin, Cisplatin, Carboplatin, Doxorubicin, Epipodophyllotoxine (Etoposid, Tenoposid), Peptichemio und Melphalan (Carli et al. 1982; Pinkerton et al. 1989). Die Überlebenswahrscheinlichkeit mit diesen Kombinationen betrug allerdings unter 10% für Kinder über einem
Jahr mit primär metastasierter Erkrankung. Der zusätzliche Einsatz von Cisplatin und Epipodophyllotoxinen führte zu einer signifikanten Steigerung der Ansprechrate, aber erbrachte nur eine minimale Verbesserung der Überlebenswahrscheinlichkeit (Bernard et al. 1987; Shafford et al. 1984). Allerdings wurde eine Verbesserung des Überlebens bei Patienten mit Stadium 3 erzielt. Auch mit hochdosiertem Cisplatin (200 mg/m2), Ifosfamid (9 g/m2), Cyclophosphamid und Carboplatin (Hartmann et al. 1988; Pinkerton et al. 1990) wurden nur höhere Ansprechraten beobachtet. In einer retrospektiven Analyse der Literatur wurde versucht, eine Korrelation zwischen Dosisintensität, Ansprechraten und medianem progressionsfreien Überleben bei Patienten mit primär metastasierten Neuroblastomen herzustellen (Cheung u. Heller 1991). Die herausragenden Substanzen dieser Analyse waren Cisplatin und Etoposid, obwohl der potenzielle Bias solcher Analysen in die Bewertung (unterschiedliche Applikationsmodi, Dosierungsintervalle, Therapiedauer etc) nicht einging. Sowohl durch höhere Zytostatikadosierungen als auch durch eine Verkürzung der Intervalle zwischen den einzelnen Zytostatikakursen kann Resistenzentwicklungen gegengesteuert werden. In der randomisierten ENSG5-Studie (Pearson et al. 1994) wurden 2 Therapiearme mit gleichen Kumulativdosen der Zytostatika verglichen, wobei sich aber die Intervalle zwischen den einzelnen Kursen unterschieden: Der OPEC/OJEC Arm folgte mit 3-wöchigen Intervallen dem klassischen Weg, während im Rapid-COJEC-Arm ein 10-tägiges Dosierungsintervall vorgegeben war. Die Dosisintensität war dadurch im Rapid-COJEC-Arm 1,8-mal stärker und führte zu einem signifikant besseren Ansprechen am Ende der Induktion. Daher wurde dieses Therapieschema für die laufende Europäische Hochrisikostudie für Neuroblastome (HR-NBL-1/ ESIOP Study; Beginn 02.02.2002) zur initialen Reduktion der Tumorlast gewählt. In der deutschen Studie wird mit Zytostatikadauerinfusionen in den Therapieblöcken und mit der Gabe von G-CSF versucht, Ansprechraten und Therapietoxizität in einer ausgewogenen Balance zu halten. 68.11.3 Megatherapie Das Prinzip der Megatherapie (Dosiseskalation der Substanzen im myeloablativen Wirkbereich) gefolgt von einer autologen Stammzellreinfusion kam erstmals in den 70erJahren mit dem Einsatz von hochdosierten Melphalan bei Patienten mit fortgeschrittenem Stadium eines Neuroblastoms oder in der Rezidivsituation zum Einsatz. Es gibt bisher nur 2 randomisierte Studien, die eine Prognoseverbesserung durch MGT/SCT zeigen konnten. In der ENSG1 wurde die MGT mit hochdosiertem Melphalan bei Stadien 3 und 4 randomisiert geprüft (Pinkerton et al. 1987). Nach 10 Jahren Beobachtungszeit zeigte sich ein Überlebensvorteil für die Megatherapiegruppe. Die Children’s Cancer Study Group (CCSG) Studie 3891 (Matthay et al. 1995, 1999) untersuchte den prognostischen Einfluss der Megatherapie CEM-TBI bestehend aus Cyclophosphamid/Etoposid und Melphalan und Ganzkörperbestrahlung (»total body irradiation«) gefolgt von der Gabe autologen Knochemarks im Vergleich mit 3 weiteren Zyklen einer intensiven konsolidierenden Chemotherapie. Das Überleben war im Mega-
68
838
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 68.2. EBMT (European Group for Bone Marrow and Stem Cell Transplantation) Registry – Daten von Neuroblastompatienten der Hochrisikogruppe mit Vergleich verschiedener Megatherapieansätze (nur 1 Kurs), gefolgt von autologer Stammzellreinfusion im Rahmen der Erstbehandlung. Gemäß der Ergebnisse in dieser Patientenkohorte
erscheint eine Megatherapie mit Einsatz von Busulphan und Melphalan die beste Überlebensrate zu erzielen. Eine prospektive, randomisierte Evaluierung dieser Kombination erscheint daher wünschenswert und erfolgt derzeit in der European SIOP – High Risk Neuroblastoma Study (HR-NBL-1/ESIOP)
therapiearm (34%) signifikant besser als im Chemotherapiearm (18%). Das Bestreben die MGT durch diverse Zytostatikakombinationen weiter zu optimieren, findet sich in einer Reihe von Publikationen wieder (Corbett et al. 1992; Frappaz et al. 2000; Gaze et al. 1995; Hartmann et al. 1987; Kushner et al. 1991; Kletzel 2002; Grupp et al. 2000). Im Sammelregister der EBMT (European Group for Bone Marrow and Stem Cell Transplantation) wurde Busulphan/Melphalan (BUMEL) als überlegen identifiziert (⊡ Abb. 68.2; Ladenstein et al. 2004). Diese Kombination wird derzeit in der laufenden HR-NBL-1/ ESIOP-Studie evaluiert, die erstmals die Effektivität zweier Megatherapieschemata (BUMEL versus CEM [Carboplatin, Etoposid, Melphalan]) randomisiert prüft (Hartmann et al. 1999; Villablanca et al. 1995). Die deutsche Studiengruppe bleibt aufgrund ihrer vergleichsweise günstigen Langzeitergebnisse für Hochrisikopatienten bei der MEC-Kombination für die Konditionierung (Berthold et al. 2003). Die initiale Hoffnung eines therapeutischen Zugewinns durch die Ganzkörperbestrahlung wurde nicht erfüllt (Ladenstein et al. 1998; Philip et al. 1997; Corbett et al. 1991; Klingebiel et al. 1991; Miano et al. 2001). Die therapieassoziierte Toxizität steht in direktem Bezug zur Intensität der MGT; die Mortalität schwankt in der Literatur in einem Bereich von 1,5 bis über 20%. Allerdings ist ein deutlicher Rückgang auf generell unter 5% Todesfälle in den letzten 10 Jahren zu beobachten. Dies dürfte zum Großteil dem Einsatz autologer peripherer Stammzellen und der damit im Schnitt auf 10 Tage verkürzten Aplasiedauer zuzuschreiben sein (Philip et al. 1997). Die Sorge mit dem Stammzellprodukt Tumorzellen zu reinfundieren, war Anlass, verschiedene Stammzellreinigungsverfahren (»purging«) zu untersuchen (Reynolds et al. 1986). Obwohl die erfolgreiche Entfernung von Tumorzellen aus dem Stammzellprodukt (Knochenmark oder peripheres Blut) demonstriert wurde, konnte bisher in keiner prospek-
tiven klinischen Studie ein prognostischer Vorteil durch den Einsatz eines Stammzell-»Purgings« demonstriert werden (Garaventa et al. 1993). Die Studien von Brenner et al. (1994) konnten allerdings mit Hilfe der Markierung von Tumorgenen zeigen, dass reinfundierte Tumorzellen am Rezidiv mitbeteiligt sind. Ob die Elimination einer Tumorzellkontamination aus dem Stammzellprodukt in einem definierten Bereich zu einer nachweisbaren Prognoseverbesserung führt, wird derzeit in der laufenden Studie der amerikanischen Children’s Oncology Group (COG) randomisiert geprüft. Der potenzielle Vorteil von allogenen Stammzellen wird von der Toxizität der GVHD assoziierten Komplikationen überlagert, so dass das ereignisfreie Überleben für Patienten nach einer allogenen Stammzelltransplantation eher schlechter, aber keinesfalls besser war (Ladenstein et al. 1994; Matthay et al. 1994). Auch wenn die assoziierte Toxizität außer Acht gelassen wurde, konnte keine Senkung der Rezidivrate festgestellt werden. 68.11.4 Radiotherapie Gemäß In-vitro-Daten ist das Neuroblastom ein radiosensitiver Tumor mit einer geringen Reparaturkapazität der gesetzten Strahlenschädigung auf Zellebene (Deacon et al. 1985). Dennoch ist die Indikation zur Lokalbestrahlung mehr denn je in Diskussion und muss heutzutage im Licht der biologischen Dignität des jeweiligen Neuroblastoms gesehen werden. So erhalten in den laufenden Studien der europäischen SIOP-NBL-Gruppe ebenso wie in der deutschen Therapiestudie lokalisierte Neuroblastome der Stadien 1–3 ohne MYCN-Amplifikation keine Lokalbestrahlung. Fünf potenzielle Indikationsgebiete sollen hier diskutiert werden:
839 68 · Neuroblastome
Stadium-3-Neuroblastome. Eine randomisierte, nordameri-
kanische POG-Studie zeigte ein verbessertes ereignisfreies Überleben und Gesamtüberleben für Patienten mit Stadium C (lokoregionale Erkrankung) im Radiotherapiearm bei gleichzeitiger Gabe von niedrig dosiertem Cyclophosphamid, Doxorubicin und chirurgischer Resektion (Castleberry et al. 1991). Die empfohlene Dosishöhe in dieser Studie betrug 24 Gy bei Kindern unter 3 Jahren und 36 Gy für ältere Patienten. Stadium-4-Neuroblastome. Viele Studiengruppen bestrah-
len am Ende der Induktionsbehandlung den Primärtumor und zum Teil auch persistierende Metastasen. Aus der Sicht der ESIOP/NBL-Studiengruppe wird in Europa die Rücknahme der Indikation zur Lokalbestrahlung oder eine Indikation zur Feldverkleinerung erst nach Erreichen einer deutlich verbesserten lokalen Kontrolle neuerlich zur Diskussion stehen. Die deutsche Studiengruppe empfiehlt eine Lokalbestrahlung der Primärtumoren mit 36–40 Gy nur dann, wenn zum Ende der Induktionstherapie noch vitales Resttumorgewebe (mIBG-Aufnahme) nachweisbar ist. Therapiekomponente von Megatherapien. Die EBMT-Re-
gister-Daten konnten keinerlei Vorteil weder für das Gesamtüberleben noch für die Dauer des rezidivfreien Überlebens zeigen, so dass dieser Therapiemodalität für diese Indikation aufgrund der assoziierten Spätfolgen aus heutiger Sicht kein Platz mehr zukommt (Philip et al. 1997).
zytopenie oder bei höheren Dosierungen und in Kombination mit Chemotherapie eine profunde Knochenmarksaplasie, die die Gabe von autologen Stammzellen erfordert. Die Gruppe in Amsterdam verwendet wiederholte Therapiezyklen mit 131I-mIBG als Monosubstanz bis zur Resektabilität des Primärtumors. Die kommerziellen Zubereitungen von 131I-mIBG enthalten auch unmarkiertes mIBG, das kompetitiv die Bindung von 131I-mIBG verhindert. Die Reinheit der Zubereitung und die Entwicklung einer genaueren Dosimetrie könnten helfen, diese Therapiestrategien in Zukunft weiter zu optimieren. 68.11.6 Differenzierende Substanzen Der Einsatz der Retinole als alternative oder komplementäre Therapie beruht auf der Beobachtung, dass 13-cis- und alltrans-Retinolsäure in Neuroblastomzellen in vitro auch in chemotherapieresistenten Zelllinien eine verminderte Proliferation, morphologische Differenzierung, verminderte Expression von MYCN sowie eine verstärkte Expression der Retinolsäurerezeptoren bewirken (Reynolds u. Lemons 2001). Retinolsäure hatte pharmakologisch ein günstigeres Profil. Die 6-monatige orale Gabe von 13-cis-Retinolsäure zeigte signifikante Wirksamkeit in einer randomisierten Phase-IIIStudie der CCSG (Matthay et al. 1999). Dadurch wurde diese Therapieform zu einer Standardtherapiemodalität in der Behandlung der minimalen Resterkrankung.
Interventionelle Radiotherapie bei Stadium 2 und 4s. Bei
Vorliegen von bedrohlichen Symptomen durch eine Rückenmarkkompression im Stadium 2 oder aufgrund einer massiven Leberinfiltration bei Säuglingen mit Stadium 4s ist die Strahlentherapie eine effektive Therapiemodalität. Dennoch wird die Strahlentherapie in neueren Studien zunehmend zugunsten einer effektiven, kombinierten Chemotherapie (CBDCA/VP16) und/oder chirurgischen Intervention zurückgedrängt. Palliative Bestrahlung. Die Radiotherapie ist ein geeignetes
Mittel, um bei Palliativpatienten oft schon mit geringen Dosen eine gute Schmerzkontrolle bei fortschreitender Erkrankung zu erreichen. 68.11.5 Meta-Jodbenzylguanidin-Therapie Wird in Tumoren gespeichert, die sich vom sympathischen Nervensystem ableiten. Durch die Koppelung von radioaktivem 131Jod an Meta-Jodbenzylguanidin (131I-mIBG) kann die Bestrahlung durch intravenöse Applikation dieses Radiopharmakons direkt in das Tumorgewebe gebracht werden. Gemäß mathematischer Modelle ist diese Therapie am effektivsten bei großen Tumormassen. Phase-I- und -II-Studien berichten über eine Response-Rate im Bereich von 30–40% (Hoefnagel et al. 1991; Klingebiel et al.1991). In der Folge wurde 131I-mIBG auch als Teil von MGTSchemata bei Patienten im Rezidiv oder mit resistenter Erkrankung eingesetzt (Corbett et al. 1991; Gaze et al. 1995, Mastrangelo et al. 1995). In Abhängigkeit von der zugeführten Aktivität ist die vorrangige Toxizität entweder die Thrombo-
68.11.7 Therapeutische Sonderfälle Intraspinales Neuroblastom. Die natürlichen Verbindungen, die zwischen dem sympathischen Nervensystem und dem Rückenmark bestehen, ermöglichen es dem Neuroblastom, die Foramina intervertebralia zu infiltrieren und in den Spinalkanal einzudringen. Obwohl das Tumorwachstum fast immer extradural bleibt, kann es eine Kompression der Medulla spinalis bewirken und zu einer irreversiblen Paraplegie führen. Dieses Sanduhrneuroblastom ist signifikant häufiger bei jüngeren Kindern mit lokalisierter Krankheit anzutreffen und tritt öfters in Verbindung mit einem intrathorakalem Primärtumor auf. Das MRT eignet sich besonders gut zur Beurteilung der intraspinalen Ausläufer. Bei 10–15% der Kinder mit Neuroblastomen konnte so eine Beteiligung des Rückenmarks erfasst werden; allerdings hatten nur 60% Zeichen einer Rückenmarkkompression und davon nur wenige eine komplette Paraplegie. Sowohl die Laminektomie (Risiko von später auftretenden Wirbelsäulendeformitäten) als auch die Strahlentherapie (beeinträchtigtes Wachstum der bestrahlten Wirbel und die Gefahr sekundären Malignität) haben potenzielle Nachteile. Chemotherapie in Verbindung mit Dexamethason ist eine adäquate Therapie für Kinder mit lokalisiertem Neuroblastom, die Zeichen einer Rückenmarkkompression zeigen, ohne die Chance einer neurologischen Erholung zu kompromittieren. Eine Ausnahme sind Fälle, die sich mit einer rapiden neurologischen Verschlechterung präsentieren und wo die Laminektomie immer noch als die Therapie der Wahl angesehen wird.
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Opsomyoklonus-Ataxie-Syndrom (Kinsbourne-Syndrom).
IV
Selten präsentieren sich Kinder mit Neuroblastom mit dem paraneoplastischen Bild einer zerebellären Ataxie (»dancing feet«) und ungerichtetem Nystagmus (»dancing eye«). Das biologische Profil ist in der Regel günstig und somit auch die Langzeitprognose. Die neurologischen Auffälligkeiten sind meistens bei Diagnose präsent, treten aber manchmal erst nach Entfernung des Primärtumors auf. Die Patienten mit Opsomyoklonus erleiden in noch unklarer Häufigkeit permanente neurologische und kognitive Defizite einschließlich einer psychomotorischen Retardierung (Russo et al. 1997). Therapieoptionen umfassen den Einsatz von Glukokortikoiden, Plasmapherese, intravenöse Gammaglobuline und Einsatz des immunsuppressiven Effekts einer mäßig intensiven Chemotherapie (Azizkhan u. Haase 1993; Mitchell et al. 2002; Russo et al. 1997). ACTH wird in Europa aufgrund des Nebenwirkungsprofils abgelehnt, dagegen in den USA standardmäßig verwendet. Derzeit besteht eine internationale (europäisch-amerikanische) Kooperation zur Erarbeitung eines gemeinsamen Therapieoptimierungsprotokolls für dieses seltene, aber von großer Morbidität behaftete Syndroms. 68.12
Aktuelle Therapiestrategien
68.12.1 Strategien der ESIOP/NBL Die ESIOP/NBL-Gruppe hat sich 1994 formiert und in den Folgejahren risikoadaptierte Behandlungsprotokolle etabliert, die derzeit in 16 teilnehmenden Ländern zur Anwendung kommen. Patientengruppe, bei denen chirurgische Maßnahmen ausreichen In diesen Studien werden Kinder jeder Altersgruppe mit primär resektablen Tumoren (INNS-Stadium 1 und 2) und günstigem biologischen Profil geführt. Die Prognoseerwartung im Rahmen der Erstbehandlung liegt nach 3 Jahren für Säuglinge bei über 95% und für Kinder über einem Jahr bei 85%. Eine komplette Resektion ist nicht erforderlich, da diese Tumoren je nach Alter des Patienten das biologische Potenzial zur Regression oder Ausreifung besitzen (Localised Neuroblastoma European Studies: LNESG-1/Nachfolgestudie LNESG-2; Michon et al. 2000). Patientengruppe mit Bedarf an neo-/adjuvanter Chemotherapie Bei diesen Patienten finden sich Neuroblastome mit günstigem biologischen Profil, die bei Diagnosestellung nichtresektabel oder bereits metastasiert sind (⊡ Tabelle 68.3). Bei Säuglingen werden in der Infant Neuroblastoma European Study (INES) folgende Behandlungsgruppen unterschieden: ▬ Säuglinge mit nicht-resektablem Neuroblastom (INES 99.1): Die 3-Jahres-Überlebensrate liegt in dieser Gruppe bei über 90%. Es erfolgt eine stufenweise Intensivierung nach jeweils 2 Chemotherapiekursen (maximal 6) entsprechend dem Ansprechen mit der Möglichkeit die Chemotherapie bei sehr gutem Ansprechen nach jeweils 2 Kursen (CO, VP16/CBDCA, CADO) zu beenden.
▬ Säuglinge mit Stadium 4s ohne MYCN-Amplifikation, aber bedrohlichen Symptomen oder Säuglinge mit Stadium 4 ohne MYCN-Amplifikation ohne Knochen-, Pleura- oder ZNS-Metastasierung (INES 99.2): Die 3-Jahres Überlebensrate liegt hier bei 85%. Da Säuglinge mit 4s schon auf einen einzigen Kurs (VP16/CBDCA) ein ausreichendes Ansprechen zeigen können, werden weitere Kurse nur bei weiter bestehender Gefährdung gemäß dem Philadelphia-Risiko-Score verabreicht (Hsu et al. 1996). Besteht nach 2 Kursen kein Ansprechen, wird die Therapie um maximal 4 weitere Kurse CADO erweitert, kann aber nach jedem Chemotherapiezyklus bei dokumentiertem Ansprechen beendet werden. Eine Resektion des Primärtumors ist nicht erforderlich, es sei denn, sie wurde im Rahmen der Initialdiagnostik durchgeführt, oder ist ohne Risiko möglich. ▬ Säuglingen mit Stadium 4, ohne MYCN-Amplifikation, aber mit Knochenmetastasen (fassbar auf Röntgenbildern und/oder CT), oder mit Pleura- oder ZNS-Metastasen (INES 99.3): Säuglinge mit Stadium 4 ohne MYCNAmplifikation haben eine gute Prognose mit einer mäßig intensiven Chemotherapie (Matthay et al. 1998). Die Prognoseerwartung im Rahmen der Erstbehandlung liegt bei einer 2-Jahres-Überlebensrate von über 70%. Bei kompletter Rückbildung der Knochenmetastasen, lokalem Ansprechen und der Möglichkeit zur Resektion des Primärtumors wird nach 4 Kursen VP16/CBDCA von jeder weiteren Chemotherapie Abstand genommen. Bei persistierenden Knochenmetastasen erfolgt der Wechsel auf 2 Kurse CADO. Nach erfolgter Resektion des Primärtumors wird keine weitere Lokaltherapie angestrebt. Auch Kinder über einem Jahr mit chirurgisch primär nicht entfernbaren Neuroblastomen ohne MYCN-Amplifikation werden einheitlich behandelt (ESIOP Study for children over the age of one year with unresectable localised neuroblastoma without MYCN amplification). Diese Kinder erhalten insgesamt 6 Therapiekurse aus VP16/CBDCA und CADO. Nach 4 Kursen erfolgt der Versuch der Tumorresektion. Diese Therapiedauer wird durch das schlechtere Überleben von Kindern über einem Jahr gerechtfertig, deren Primum nicht resektabel ist. Die Überlebensraten liegen in einem Bereich von 40–50%. Patientengruppe mit maximaler Therapieintensität In dieser Therapiegruppe finden sich Patienten jeden Alters, deren Neuroblastome der Stadien 2, 3 oder 4 eine MYCNAmplifikation aufweisen und alle Patienten mit Stadium 4 über einem Jahr unabhängig vom biologischen Tumorprofil. ▬ Im Säuglingsalter wird gemäß INES 99.4 behandelt. Ziel ist die Verbesserung der Überlebensrate von bisher ca. 50% nach 2 Jahren durch Einsatz eines intensivierten, multimodalen Vorgehens. Initial erhalten Säuglinge je 2 Kurse VP16/CBDCA und CADO, gefolgt von der Operation des Primums und Gewinnung von Stammzellen (aus dem peripheren Blut nach Stimulation mit einem Stammzellwachstumsfaktor (G-CSF) oder aus dem Knochenmark). Postoperativ folgt je ein Kurs VP16/CBDCA und CADO, gefolgt von einem Kurs MGT (Busulphan und Melphalan) und autologer Stammzellreinfusion. Zusätz-
841 68 · Neuroblastome
⊡ Tabelle 68.3. Zusammenfassung der diversen Chemotherapiezyklen innerhalb der ESIOP-NBL-Studienprotokolle
Kurs
Zytostatika
Dosis/Tag/Säuglinge
CO
Cyclophosphamid Vincristin
5 mg/kg 0,05 mg/kg
Tag 1–5 Tag 1
/
/
VP16/CBDCA
Etoposid Carboplatin
5 mg/kg 6,6 mg/kg
Tag 1–3 Tag 1–3
150 mg/m2 200 mg/m2
Tag 1–3 Tag 1–3
CADO
Cyclophosphamid Doxorubicin Vincristin
10 mg/kg 1 mg/kg 0,05 mg/kg
Tag 1–5 Tag 4+5 Tag 1+5
300 mg/m2 30 mg/m2 1,5 mg/m2
Tag 1–5 Tag 4+5 Tag 1+5 (maximale Dosis 2 mg)
Rapid COJEC
Carboplatin Etoposid Vincristin Cisplatin (24 h) Cyclophosphamid
BUMEL
Busulphan Melphalan
CEM*
Carboplatin Etoposid Melphalan
/
120 mg/m2 140 mg/m2 /
Dosis/Tag/Kinder >1 Jahr
750 mg/m2 175 mg/m2 1,5 mg/m2 80 mg/m2 1050 mg/m2
/
Tag 3, 43 Tag 3/4, 23/24, 43/44, 63/64 Tag 3, 12, 23, 32, 43, 52, 63, 72 Tag 12, 32, 52, 72 Tag 23/24, 63/64
Tag 1–4 Tag 5
150 mg/m2 140 mg/m2
/
4,1 mg/ml/min Tag 1–4 338 mg/m2 Tag 1–4 Tag 1–3 70 mg/m2
Tag 1–4 Tag 5
* bei reduzierter Nierenfunktion mit GFR<100 ml/min/1,73 m2 Dosisreduktion von Etoposid (200 mg/m2/Tag) und Melphalan (60 mg/m2/Tag).
lich werden eine Lokalbestrahlung sowie eine Erhaltungstherapie mit 13-cis-Retinolsäure durchgeführt. ▬ Hochrisikopatienten über einem Jahr (HR-NBL-1/ ESIOP-Studie): Bei Patienten über einem Jahr wird einer bisherigen Überlebensrate von 30% nach 5 Jahren durch weitere Intensivierungen im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes Rechnung getragen. Im RapidCOJEC-Regime wird innerhalb der Hälfte der Zeit, im Vergleich zu bisher üblichen Standardprotokollen, die Chemotherapie im 10-tägigen Rhythmus unabhängig von der Myelosuppression appliziert. Dieses Vorgehen hat in der randomisierten Vorgängerstudie ENSG5 (UK) eine bedeutende Verbesserung der Ansprechraten erbracht. Zusätzlich prüft eine erste Randomisierung den Einsatz des Wachstumsfaktors G-CSF in der Induktionsphase. Nach peripherer Stammzellsammlung und möglichst kompletter Resektion des Primärtumors folgt die randomisierte Prüfung von 2 Hochdosistherapiekombinationen: Busulphan/Melphalan (BUMEL) und Carboplatin/Etoposid/Melphalan (CEM). Danach kommt die Radiotherapie bei allen Patienten lokal zum Einsatz. Daran schließt sich die orale Erhaltungstherapie mit 13-cis-Retinolsäure über 6 Monate an (Differenzierungstherapie; Matthay et al. 1999). In der zweiten Randomisierung sollte die zusätzliche Effektivität des chimären, monoklonalen Mausantikörpers antiGD2 ch14.18 geprüft werden (Immuntherapie; Handgretinger et al. 1995; Yu et al. 1998). 68.12.2 Aktuelle Therapiestrategien
in Deutschland Beobachtungsgruppe. In dieser Gruppe (ca. 45% aller Patienten, ⊡ Abb. 68.3) wird die Fähigkeit des Neuroblastoms
zur spontanen Regression ausgenutzt. Hierzu zählen deshalb nur Patienten mit Tumoren, die nicht MYCN-amplifiziert sind. Säuglinge mit den Stadien 4S, 3, 2 und 1 sowie Patienten über 1 Jahr mit Stadium 1 oder weitgehend resektablem Stadium 2 werden postoperativ nur nachbeobachtet, auch wenn große Resttumoren (z. B. beim Stadium 3) noch vorliegen. Die 5-Jahres-Überlebensprognose liegt derzeit bei 96±1%. Stadardrisikogruppe. Wenn bedrohliche Symptome (z. B.
Atem-, Niereninsuffizienz, Querschnittssyndrom) auftreten, kann natürlich nicht die Spontanregression abgewartet werden. Diese Patienten werden dann zusammen mit Stadium2-Patienten (nicht-resektabel) und Stadium-3-Patienten über 1 Jahr nach Standardrisiko mit 4 Blöcken Chemotherapie (2×Block N5 und 2×Block N6) therapiert und ggf. einer Zweitoperation zugeführt. Die Standardrisikogruppe macht etwa 15% aller Patienten aus und hat eine 5-Jahres-Prognose von 87±4% (⊡ Abb. 68.3). Hochrisikogruppe. Alle Patienten mit Stadium 4 und mit
MYCN-amplifizierten Tumoren der Stadien 1, 2, 3 und 4S werden der Hochrisikogruppe zugeordnet (⊡ Abb. 68.3). Nach derzeitigen Empfehlungen erhalten sie postoperativ nach der Biopsie 6 Induktionschemotherapieblöcke, Megatherapie mit autologer Stammzelltransplantation (MECKonditionierung) und einjährige orale Retinolsäurebehandlung. Der nicht randomisierte Einsatz der Immuntherapie mit dem monoklonalen Antikörper ch14.18 in der NB-97-Studie scheint nach ersten vorläufigen Daten keinen wesentlichen Fortschritt zu bringen und wurde in Deutschland wieder verlassen. Zur Hochrisikogruppe gehören etwa 40% aller Patienten. Sie umfasst das Stadium 4 (ausgenommen Säuglinge) und alle MYCN-amplifizierten Tumoren unabhängig von Stadium und Alter. Die 5-Jahres-Überlebensrate
68
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Wenn eine Rezidivtherapie gewünscht wird, sollten auch diese Patienten möglichst nach kooperativen Therapieprotokollen behandelt werden. Phase-I/II-Therapieprotokolle schließen auch diverse immuntherapeutische Optionen (Anti-GD2-Antikörpertherapie, Tumorvakzination) oder Differenzierungsstrategien mit ein (13-cis-Retinolsäure, Fenretinin, unten). 68.14
IV
Zukünftige Entwicklungen und Ausblick
68.14.1 Topoisomerase-I-Inhibitoren
⊡ Abb. 68.3. Überleben von 895 Patienten mit Neuroblastom in Abhängigkeit vom Behandlungsarm. GPOH-Studie NB 97. EFS ereignisfreies Überleben 5-Jahres5-JahresEFS Überleben
DNA-Topoisomerase I wird von Neuroblastomen exprimiert. Mehrfache Berichte liegen in jüngster Zeit über den Einsatz von Topotecan vor, und zwar als Monosubstanz, in Kombination mit etablierten Zytostatika (Kushner et al. 2001a; Längler et al. 2002; Park et al. 2000; Saylors et al. 2001) sowie zusammen mit therapeutischer 131I-mIBG-Bestrahlung. Auch Irinotecan ist derzeit im Rahmen von weiteren Phase-II-Studien in Anwendung (Längler et al. 2002; Saylors et al. 2001). 68.14.2 Differenzierende Substanzen
Beobachtungspatienten
n=407
84±2%
96±1
Standardrisikopatienten
n=135
72±4%
87±4
Hochrisikopatienten
n=353
37±3%
50±3
beträgt 50±3%. Einzelheiten zu den Chemotherapieblöcken sind in einer Übersicht dargestellt (Berthold et al. 2003). 68.13
Therapie und Prognose von Rezidiven
In vitro erreicht die 13-cis-Retinolsäure eine rasche Reduktion der MYCN-Überexpression, induziert eine Differenzierung und unterstützt die Apoptose. Die randomisierte CCSG-Studie konnte eine signifikante Verbesserung des ereignisfreien Überlebens durch ihren Einsatz aufzeigen (Matthay et al. 1999). Zwei weitere Substanzen werden derzeit in Hinblick auf ihre klinische Wirksamkeit und mögliche Bedeutung geprüft: 9-cis-Retinolsäure und Fenretinin (Reynolds u. Lemons 2001). 68.14.3 Andere Strategien
Die Prognose und Behandlung von Rezidiven oder progredienten Erkrankungen hängt maßgeblich von folgenden Faktoren ab: ▬ initiales Stadium, ▬ biologische Tumorcharakteristika, ▬ Lokalisation und Ausmaß des Rezidivs oder der Progredienz, ▬ frühere Behandlung, aber auch ▬ individuelle patientenspezifische Überlegungen. Bei disseminiertem Rückfall ist die Prognose in der Regel schlecht (Castel et al. 2000; Ladenstein et al. 1998). Im Gegensatz zur Erstmanifestation der Erkrankung ist eine Beteiligung des ZNS mit Kompression durch kranielle Metastasen häufig. Seltener finden sich eine meningeale Aussaat oder isolierte intrakranielle Metastasen (Blatt et al. 1997; Kramer et al. 2001). Lokale Rezidive der Stadien 1–3 sind durchaus aussichtsreich zu behandeln. Metastasierte Rückfälle primär lokalisierter Tumoren haben eine Prognose wie primär metastasierte Neuroblastome. Stadium-4-Patienten mit Rezidiven haben höchstens eine 10%ige Überlebenschance.
In vitro konnten weitere Substanzen mit einem Effekt auf Neuroblastomzelllinien und im Xenograftmodell identifiziert werden (Vassal et al. 1997). Dazu gehören Modulatoren der Chemotherapieresistenz (Verapamil, Valspodar), der Apoptose (Botulinsäure) und der Glutathiondepletierung (Buthioninsulfoximid) sowie Inhibitoren der Angiogenese (AGM.1470). Bisher gibt es mit diesen Substanzen keine oder nur sehr limitierte erste klinische Studien und ihre klinische Bedeutung ist noch unklar. 68.14.4 Aktivitäten der ESIOP Neuroblastom
Gruppe Im letzten Jahrzehnt hat sich die Europäische SIOP (International Society of Pediatric Oncology) Neuroblastomgruppe mit dem Ziel formiert, in gemeinsamen, risikoadaptierten Therapieprotokollen die Prognose zu verbessern und, wenn möglich, die therapieassoziierte Morbidität zu mindern. Die ESIOP-NBL-Gruppe fördert die Integration der klinischen Studienaspekte und der angewandten Forschung in einer
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gemeinsamen Plattform. Im Jahr 2002 erhielt die ESIOPGruppe im 5. Rahmenprogramm eine Förderung der Europäischen Kommission zur Ausbau des Forschungsnetzwerkes in Europa auf dem Gebiet des Neuroblastoms (SIOPEN-RNET: Thematic Network Contract no. QLRT-CT-2002–01768). Diese Mittel werden dem Ausbau der Studienplattformen (https://www.siopen-r-net.org) dienen und eine bisher nicht mögliche, kontinuierliche Standardisierung in der Erhebung und Interpretation der Daten im Rahmen der kontrollierten Studien ermöglichen. Neben der Integration von Labor und Forschungsdaten wird eine »telemedizinische Komponente« geschaffen werden. Ein weiterer Schwerpunkt dieser großangelegten Studie ist eine begleitende Qualitätskontrolle der einzelnen diagnostischen Verfahren.
Der größte Fortschritt in der modernen Neuroblastomforschung liegt in der weiteren Definition und Abgrenzung von Risikogruppen sowie in der erfolgreichen Therapiereduktion für Kinder mit niedrigem oder mittleren Risiko. Somit kann vielen Kindern der Einsatz der Chemotherapie oder einer Lokalbestrahlung erspart werden, ohne ihre Prognose zu gefährden. Im Bereich der Hochrisikopopulation ist es gelungen, das Überleben durch intensivierte Chemotherapieprotokolle, dem Einsatz der Hochdosistherapie und autologer Stammzellreinfusion, gefolgt von der Gabe von 13-cis-Retinolsäure zu verbessern. Eine weitere Verbesserung der Überlebenswahrscheinlichkeit in dieser Gruppe ist nur von neueren Therapieansätzen wie z. B. der Immuntherapie, Vakzinestrategien und der Weiterentwicklung differenzierungsinduzierender Agenzien zu erwarten, die sich aber derzeit noch in frühen Entwicklungsstadien befinden.
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68
846
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
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69
847
Nierentumoren N. Graf, C. Rübe, M. Gessler
69.1 69.2 69.3 69.4
Einleitung – 847 Epidemiologie – 847 Ätiologie und Risikofaktoren – 848 Pathogenese, Molekularbiologie und Genetik – 848
69.4.1 69.4.2
Nephrogener Rest und Nephroblastomatose Molekularbiologie und Genetik – 849
69.5 69.6
Prävention und Früherkennung – 850 Pathologie und pathohistologische Klassifikation – 850
69.6.1
Histopathologie – 850
69.7 69.8
Stadieneinteilung und Prognosefaktoren – 851 Klinische Symptomatik und Differenzialdiagnose – 853
69.8.1 69.8.2 69.8.3
Symptomatik – 853 Diagnose und Differenzialdiagnose Verlaufsdiagnostik – 854
– 848
– 853
69.9
Therapie
69.9.1 69.9.2 69.9.3 69.9.4 69.9.5 69.9.6
69.9.8
Operation – 855 Strahlentherapie – 856 Chemotherapie – 857 Therapie der Nephroblastomatose – 860 Therapie bilateraler Nephroblastome – 860 Therapie von Nephroblastomen mit extrarenaler Lokalisation oder in einer Hufeisenniere – 860 Therapie von Erwachsenen mit einem Nephroblastom – 860 Therapie von Rezidiven – 860
69.10 69.11 69.12
Akutfolgen der Therapie – 861 Nachsorge – 861 Andere Tumoren der Niere – 861
69.12.1 69.12.2 69.12.3 69.12.4
Klarzellensarkom – 861 Rhabdoidtumor der Niere – 861 Nierenzellkarzinom – 861 Kongenitales mesoblastisches Nephrom
69.9.7
Literatur
– 855
– 862
– 862
Vorwort zum Heft 1: Die Mischgeschwülste der Niere Wenn ich es versuche, in diesen Heften einen Beitrag zur Frage des Baues, Wachstums und Ursprungs der so viel diskutierten und doch noch unaufgeklärten Mischgeschwülste zu liefern, so ist es zunächst nur meine Absicht, einzelne der kompliziertesten Tumorformen in ihren Eigenarten zu definieren, um dann an der Hand der Resultate solcher Studien auf die Geschwulstfragen überhaupt einige Streiflichter zu werfen. Dabei vertrete ich aber, wie ich von vornherein bemerke, nicht die Auffassung, als sei alles, was für
▼
Mischgeschwülste von Bedeutung, für alle Tumoren oder wenigstens für alle Sarkome gültig; sondern zum Studium der Entwickelung einfacherer Geschwülste halte ich eine weitere eingehende Arbeit für durchaus notwendig. Das Kapitel der Mischgeschwülste ist schon an sich so umfangreich, dass es ein zu kühnes Unterfangen für den Einzelnen ist, sich von vornherein die Untersuchung aller derartigen Geschwülste vorzunehmen. Dazu steht dem Einzelnen Zeit und besonders Material kaum zur Verfügung. Aus dem Grund werde ich mich bescheiden, einzelne Tumorgruppen der Mischformen herauszugreifen und hier zu erörtern. Die einzelnen Gruppen werde ich nicht zusammen, sondern nacheinander in einzelnen Heften der Monographie abhandeln, weil es dadurch möglich ist, je nach weiteren Resultaten neue Kapitel anzufügen. Zunächst ist für das erste Heft die Lehre von den Nierenmischgeschwülsten in Aussicht genommen; Für das zweite Heft die Lehre von den Uterus- und Scheidenmischtumoren; Für das dritte Heft die Lehre von den Mischgeschwülsten der Kopfregion, besonders der Parotis und Parotisgegend. Weitere Dispositionen werden so bald wie möglich folgen. Leipzig, April 1899
69.1
M. Wilms
Einleitung
Der Wilms-Tumor bzw. das Nephroblastom wurde erstmals 1814 von Rance als renale Neoplasie klassifiziert (Rance 1814) und 1899 von dem Chirurgen Max Wilms in einer 90-seitigen Monographie »Die Mischgeschwülste der Niere« ausführlich beschrieben (Wilms 1899). Der ehemals immer zum Tod führende Tumor gilt heute als Paradebeispiel einer heilbaren malignen Erkrankung. Die Verbesserungen in der Behandlung des Nephroblastoms sind begründet durch die Fortschritte in der Chirurgie, der Radiotherapie und in der Entwicklung effektiver Chemotherapien. Interdisziplinäre Zusammenarbeit der beteiligten Fachdisziplinen (Radiodiagnostiker, Chirurgen, Radiotherapeuten, Pathologen, Pädiater) und prospektive randomisierte Therapiestudien haben einen erheblichen Beitrag zu diesem Erfolg geleistet. 69.2
Epidemiologie
Die Inzidenz des Wilms-Tumors liegt bei 7 pro 1.000.000 Kinder unter 15 Jahren. In der Bundesrepublik Deutschland ist jährlich mit ca. 100 Neuerkrankungen zu rechnen. Mit 6% aller kindlichen Malignome stellen Nephroblastome den häufigsten bösartigen Nierentumor im Kindesalter dar.
848
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Der Wilms-Tumor tritt häufiger bei Mädchen als bei Jungen auf. Es bestehen zudem Unterschiede in der Inzidenz in unterschiedlichen Rassen und geographischen Regionen. So liegt die Rate an Nephroblastomen in asiatischen Ländern deutlich unter der Rate in den USA oder in Europa. Die meisten Kinder erkranken zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr. Bei Erwachsenen tritt der Tumor ausgesprochen selten auf. Ungefähr 5% aller Nephroblastome treten bilateral auf. Das durchschnittliche Alter dieser Kinder ist im Vergleich zu Kindern mit unilateralem Tumor niedriger (Gutjahr et al. 1990). Bilaterale Tumoren sind häufiger mit kongenitalen Anomalien assoziiert als unilaterale Tumoren.
(BWS; Hemihypertrophie, Omphalozele, Makroglossie), dem Denys-Drash-Syndrom (DDS; Pseudohermaphroditismus, Glomerulopathie und Wilms-Tumor), dem Perlman-Syndrom (Makrozephalus, tief sitzende Augen und Ohren, Makrosomie und Organomegalie) und der Neurofibromatose Recklinghausen auf (⊡ Tabelle 69.1). Umweltfaktoren spielen nach heutigem Erkenntnisstand keine Rolle in der Genese des Nephroblastoms (Birch u. Breslow et al. 1995). 69.4
Pathogenese, Molekularbiologie und Genetik
69.4.1 Nephrogener Rest 69.3
Ätiologie und Risikofaktoren
und Nephroblastomatose
1964 berichten Miller et al. erstmals über eine Assoziation zwischen Wilms-Tumor und Aniridie. Seit dieser Zeit ist die Assoziation des Nephroblastoms mit weiteren und unterschiedlichen Fehlbildungen bekannt. Zu diesen zählen insbesondere Hemihypertrophie und urogenitale Fehlbildungen (Kryptorchismus, Hypospadie, Pseudohermaphroditismus und Gonadendysgenesie). Aniridie und Hemihypertrophie treten in der Normalbevölkerung ausgesprochen selten auf. ! Bei Kindern mit den genannten Anomalien sollte deshalb regelmäßig auf das Auftreten eines WilmsTumors geachtet werden.
Der Wilms-Tumor tritt gehäuft bei Kindern mit dem WAGRSyndrom (Wilms-Tumor, Aniridie, urogenitale Missbildung, geistige Retardierung), dem Beckwith-Wiedemann-Syndrom
⊡ Tabelle 69.1. Syndrome und kongenitale Anomalien mit einer Prädisposition für Nephroblastome und deren Häufigkeit (Bürger et al. 1986)
SIOP (%)
NWTS (%)
Syndrome/Anomalien mit vermehrtem Wachstum Beckwith-Wiedemann Syndrom (BWS) Isolierte Hemihypertrophie
3,13
Perlman-Syndrom
<1,00
Sotos-Syndrom
<1,00
Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom
<1,00
2,47
Syndrome/Anomalien ohne Wachstumsstörungen WAGR Syndrom Augenmissbildungen
<1,00 2,17
Isolierte Aniridie Denys-Drash-Syndrom (DDS)
1,21 0,84
<1,00
Urogenitale Missbildungen
4,41
4,61
ZNS-Missbildungen
1,66
0,47
Bloom-Syndrom
<1,00
Trisomie 18
<1,00
Morbus Recklinghausen
<1,00
Familiärer Wilms-Tumor
1,00
Nephrogene Reste bzw. eine Nephroblastomatose können als Vorstufen eines Nephroblastoms auftreten und diagnostiziert werden (Beckwith et al. 1990). Der Begriff Nephroblastomatose wurde erstmals 1961 von Hou und Holman benutzt, um eine ausgeprägte bilaterale Nephromegalie bei einem Frühgeborenen zu beschreiben. Charakteristisch fanden sie eine erhaltene Nierenform bei diffus verändertem embryonalem Parenchym der Nieren, das dem Aussehen bei Wilms-Tumoren glich. Die Definition der Nephroblastomatose ist seither in ständigem Fluss. Synonym wird manchmal der Begriff »nephrogener Rest« benutzt. Hierunter sollten jedoch alle Läsionen zusammengefasst werden, die potenzielle Vorstufen des Nephroblastoms darstellen. Die Nephroblastomatose ist dann als das diffuse oder multifokale Auftreten von nephrogenen Resten definiert. Eine andere Definition charakterisiert die Nephroblastomatose als ein Spektrum von Entitäten mit persistierendem abnormalem embryonalem Nierengewebe jenseits der 36. Gestationswoche. Von Beckwith sind die verschiedenen Formen der Nephroblastomatose entsprechend ihrer Lokalisation im Nierenlappen in folgende Formen unterteilt worden (Beckwith et al 1990): ▬ perilobäre Nephroblastomatose, ▬ intralobäre Nephroblastomatose, ▬ gemischt peri-/intralobäre Nephroblastomatose und ▬ panlobäre Nephroblastomatose. Der Einfluss einer abnormalen metanephrischen Differenzierung auf die Entstehung des Wilms-Tumors bleibt weiterhin unklar. Trotz der histologischen Ähnlichkeit zum WilmsTumor verhält sich die Nephroblastomatose wie Residuen von primitivem embryonalem Gewebe und scheint keine invasive oder metastatische Tendenz zu besitzen. Der wohl wichtigste Hinweis, dass es sich bei der Nephroblastomatose um eine prämaligne Läsion handelt, ist ihr Vorkommen in ungefähr 40% aller Kinder mit einem Wilms-Tumor, verglichen mit einer Häufigkeit von 0,6% in kindlichen Autopsieserien. Die Progression von einer Nephroblastomatose zum Nephroblastom wird beobachtet. Die Nephroblastomatose mag die erste Mutation im »Two-hit«-Modell der Entstehung des Wilms-Tumors darstellen. Deletionen von Chromosom 11p als auch epigenetische Mutationen in der Region 11p15.5 sind bei der Nephroblastomatose gefunden worden und ein weiterer Hinweis, dass es sich hierbei um eine Vorstufe des Wilms-Tumors handelt.
849 69 · Nierentumoren
Bei anderen Nierentumoren des Kindesalters ist der histogenetische Ursprung unklar. Das Klarzellensarkom stellt jedoch möglicherweise die maligne Variante des mesoblastischen Nephroms dar. Bei dem malignen Rhabdoidtumor handelt es sich nicht um einen ausschließlich in der Niere vorkommenden Tumor, sondern er ist in vielfältigen extrarenalen Lokalisationen beschrieben worden (Schmidt et al. 1995). Molekulargenetisch weist dieser Tumor Mutationen von INI1 auf Chromosom 22 auf (22q11.2) (Biegel et al. 1999). 69.4.2 Molekularbiologie und Genetik Das Nephroblastom ist ein genetisch heterogener Tumor. Seine Entstehung ist wesentlich komplexer als durch das einfache »Two-hit«-Paradigma zu beschreiben, das beim Retinoblastom entwickelt wurde. In die Entwicklung dieses Tumors sind nicht nur unterschiedliche Gene involviert, sondern auftretende Mutationen können zudem eine inkomplette Penetranz aufweisen. ! Als Mechanismen der Tumorentwicklung werden neben Genmutationen, der Verlust von Heterozygotie (»loss of heterozygosy«, LOH) und von Imprinting (»loss of imprinting«, LOI) gefunden. Damit besitzt dieser Tumor die gleiche Komplexität wie maligne Tumoren des Erwachsenenalters.
Unterschiedlich ist jedoch, dass das Nephroblastom meistens einen euploiden Chromosomensatz aufweist und die Frequenz des Verlustes von Heterozygotie im Genom auf einem sehr niedrigen Niveau von weniger als 5% liegt (Huff 1998). Die hieraus resultierende genomische Stabilität und die relativ niedrige Anzahl somatischer Alterationen bei fehlenden exogenen Faktoren machen gefundene genetische Veränderungen als unmittelbare Ursache der Tumorentstehung sehr wahrscheinlich. Das Nephroblastom eignet sich deshalb hervorragend, um allgemein die Rolle genetischer Veränderungen in der Tumorentwicklung zu untersuchen. Inzwischen sind mehrere Chromosomenabschnitte bekannt, die eine entscheidende Rolle in der Entstehung des Nephroblastoms spielen. Bis heute wurde jedoch lediglich das Wilms-Tumorsuppressorgen WT1 auf dem Chromosom 11p13 identifiziert und kloniert (Gessler et al. 1990). Deletionen oder eine Inaktivierung dieses Gens finden sich in 10–30% der Wilms-Tumoren. Weitere Loci für Wilms-Tumorkandidatengene wurden auf den Chromosomen 11p15.5 (WT2), 16q (WT3), 17q12-q21 (FWT1) und 19q13 (FWT2) lokalisiert. Zytogenetisch wurden tumorspezifische numerische und strukturelle Veränderungen insbesondere der Chromosomen 1, 6, 7, 8, 11, 12, 16, 18 und 22 nachgewiesen. Allelverlust (LOH) betrifft dabei am häufigsten (ca. 40%) 11p. Seltener wird LOH für 1p, 7p und 16q beobachtet. Neben diesen genetischen Alterationen werden epigenetische Alterationen beobachtet, die in erster Linie einen Verlust des »genomic imprinting« (LOI) von 11p15.5 betreffen. Wilms-Tumorsuppressorgen WT1 Bei Wilms-Tumorpatienten mit dem seltenen WAGR-Syndrom wurde eine zytogenetische Deletion gefunden, die immer die Bande 11p13 umspannt. Patienten mit entsprechender Deletion haben oft auch urogenitale Missbildungen, Aniridie
und sie sind geistig retardiert. Diese Ergebnisse, zusammen mit der Analyse von überlappenden Deletionen verschiedener Patienten (Gessler et al. 1989) führten zur Isolierung des WT1-Gens auf dem kurzen Arm von Chromosom 11 in der Bande p13, das spezifisch in der Niere exprimiert wird und eine Schlüsselrolle in der urogenitalen Entwicklung spielt. WT1 kodiert einen Transkriptionsfaktor und fungiert als Tumorsuppressorgen. Interessanterweise werden Promotoren einiger für das Zellwachstum kritischer Gene über das Wilms-Tumorprotein gesteuert (Madden et al. 1991; Scharnhorst et al. 2001). Hierzu zählen der »insulin-like growth factor 2« (IGF2), der »platelet-derived growth factor A« (PDGFA), der »epidermal growth factor receptor« (EGFR) und der »retinoic acid receptor α« (RAR-α). Über alternative Spleiß-Prozesse entstehen unterschiedliche Isoformen (Gessler et al. 1992) mit unterschiedlichen Funktionen des entsprechenden Wilms-Tumorproteins. Insofern determinieren spezifische Veränderungen im Genotyp den Phänotyp. Eindrucksvoll gezeigt werden kann dies an einer spezifischen WT1-Spleißmutation, die zum FraserSyndrom führt (Klamt et al. 1998). Dieses ist charakterisiert durch einen männlichen Pseudohermaphroditismus und eine progressive Glomerulopathie (fokale segementale Glomerulosklerose), die in der Adoleszenz zum Nierenversagen führt. Diese Patienten entwickeln häufig ein Gonadoblastom aber keinen Wilms-Tumor. Somit stellt die Regulation dieses Spleiß-Prozesses einen kritischen Faktor in der Entwicklung des Urogenitalsystems, aber auch der Tumorentstehung dar. Wegen der Schlüsselfunktion in der urogenitalen Entwicklung führen Keimbahnmutationen im WT1-Gen oft zu urogenitalen Missbildungen beim Patienten (Huff 1998), u. a. beim WAGR-Syndrom und beim Denys-Drash-Syndrom. Beim WAGR-Syndrom finden sich bei männlichen Patienten typischerweise Hypospadie und Kryptorchismus. Durch die Deletion von 11p13 fehlen in allen Körperzellen sowohl WT1 als auch PAX6 (Aniridiegen) auf einem der beiden Chromosomen und die verbleibende WT1-Gendosis reicht nicht mehr für eine korrekte embryonale Entwicklung aus. Beim Denys-Drash-Syndrom liegt dagegen eine Punktmutation im WT1 Gen vor (Pelletier et al. 1991). Selten (5%) finden sich Keimbahnmutationen ohne kongenitale Anomalien. Bei diesen Patienten treten aber häufiger bilaterale Tumoren auf. Dagegen sind unilaterale Tumoren durch somatische und nicht durch Keimbahnmutationen charakterisiert. Dies steht im Einklang mit dem genetischen Modell, dass unilaterale Tumoren durch somatische Mutationen und bilaterale Tumoren durch Keimbahnmutationen entstehen. Immer verhalten sich WT1-Mutationen dabei rezessiv. ! Es müssen beide Allele des WT1 betroffen sein, damit sich ein Tumor entwickeln kann.
Insgesamt weist nur ein geringer Anteil von Wilms-Tumoren (10–30%) Deletionen oder Mutationen von WT1 auf. Dies bedeutet entweder, dass die WT1 Funktion durch andere genetische Alterationen, als durch direkte Mutationen im Bereich 11p13 gestört ist, oder dass andere genetische Veränderungen zur Entstehung der meisten Wilms-Tumoren notwendig sind. Daneben finden sich Veränderungen im WT1-Gen bei verschiedenen anderen Neoplasien, wie bei Mesotheliomen, Leukämien und Mammakarzinomen.
69
850
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Genetische Veränderungen außerhalb von 11p13 Die Assoziation des Beckwith-Wiedemann-Syndrom (BWS) mit Wilms-Tumor weist auf ein zweites Gen in 11p15.5 (WT2) hin, welches bei der Entwicklung von Wilms-Tumoren eine Rolle spielen könnte (Li et al. 1998; Maher u. Reik 2000). Es gibt Hinweise darauf, dass beide Gene WT1 und WT2 für die Tumorentwicklung kooperieren können, da Nephroblastome mit konstitutionellen Deletionen in 11p13 und LOH von 11p15.5-Markern im Tumor beschrieben wurden. In der kritischen Region von Chromosom 11p15.5 liegen mehrere Gene, deren Expression durch Imprinting gesteuert wird. Dies führt dazu, dass immer nur eines der beiden Allele aktiv ist. Welches Allel exprimiert wird, wird dabei durch die Herkunft, ob vom Vater oder von der Mutter, bestimmt. Unter anderem sind 2 »wachstumshemmende« Gene (CDKN1C, auch bekannt als p57KIP2, und H19) und ein »wachstumsförderndes« Gen (IGF2) betroffen. Imprinting führt dabei normalerweise zur Expression des mütterlichen H19- und CDKN1C-Allels und des väterlichen IGF2-Allels. Alle 3 Gene spielen eine Rolle beim BWS und in der Tumorentwicklung. Der »insulin-like growth factor« (IGF2) stellt einen mitogenen Faktor dar, der in vielen Zelltypen prä- und postnatal zur Expression kommt. CDKN1C kodiert für einen zyklinabhängigen Kinaseinhibitor, der zu einem Stop im Zellzyklus in der G1-Phase führt. Die H19-RNA, eine nichtkodierende RNA spielt ebenfalls eine Rolle in der Wachstumssuppression. Die väterliche uniparentale Disomie (UPD) als Ursache des BWS stimmt dabei gut mit der Expression der Gene in 11p15.5 überein, indem die väterlich exprimierten Gene wachstumsfördernd und die mütterlich exprimierten Gene wachstumshemmend sind. Frühe Beobachtungen in Wilms-Tumoren zeigten, dass Allelverluste von 11p15 in Wilms-Tumoren fast ausschließlich mütterliche Allele betreffen. Das Wilms-Tumorkandidatengen WT2 ist über diesen spezifisch mütterlichen Verlust von Heterozygotie von 11p15.5 definiert. Neben Wilms-Tumoren findet sich LOH und LOI von 11p15 auch in anderen Tumoren, was auf die allgemeine Bedeutung einer veränderten Expression der Gene des Locus 11p15 zur Tumorgenese hinweist. LOH von Chromosom 16q findet sich in ca. 20% der Tumoren. Hieraus wird auf die Existenz eines dritten WilmsTumorgens (WT3) geschlossen (Maw et al. 1992). Bei LOH von 16q scheint es sich um einen prognostisch ungünstigen Marker zu handeln. Eine ähnliche Korrelation zur Prognose zeigen auch LOH von 11q und 22q (Klamt et al. 1998). Diese Veränderungen sind ebenfalls mit anaplastischen WilmsTumoren assoziiert. Der Nachweis von Veränderungen an Chromosom 17p beim Wilms-Tumor führte zur Analyse von p53-Mutationen. Der Vergleich mit der Histopathologie zeigt dabei eine enge Assoziation von p53-Mutationen mit dem Nachweis von Anaplasie im Tumor oder fortgeschrittener Erkrankung. Ein weiteres Wilms-Tumorkandidatengen wird auf 7p15-p11.2 vermutet.
haben weder eine Kopplung mit 11p13 noch mit 11p15 ergeben (Huff et al. 1988). Deshalb wurde für diese familiäre Form des Wilms-Tumors ein weiteres Gen postuliert. Die Untersuchung einer großen kanadischen Familie mit 7 bestätigten Fällen von Wilms-Tumor über 3 Generationen führte zur Entdeckung eines solchen Kandidatengens auf Chromosom 17q12-q21(FWT1 [WT4]; Rahman et al. 1998). In der Familie wurden keine anderen Malignome oder kongenitalen Anomalien gefunden. Interessanterweise lag das durchschnittliche Alter bei Diagnose mit 5 Jahren relativ hoch und überwiegend lagen unilaterale Tumoren vor. Besonderheiten in den histologischen Subtypen waren nicht zu verzeichnen. Neben dem FWT1-Kandidatengen wird aufgrund von LinkageAnalysen in 5 Familien ein weiteres familiäres Wilms-Tumorgen (FWT2) auf Chromosom 19q13 postuliert (McDonald et al. 1998). Somit können Veränderungen in WT1, FWT1, FWT2 und vermutlich noch weiteren Loci eine genetische Prädisposition zu familiärem Wilms-Tumor bewirken.
Familiärer Wilms-Tumor Eine familiäre Häufung liegt bei ca. 1% aller Kinder vor. Sie folgen dann einem autosomal-dominanten Erbgang mit variabler Penetranz. Hierzu zählen alle bilateralen Tumoren. Die meisten unilateralen Tumoren sind nicht erblich. Kopplungsanalysen in 3 Familien mit erblicher Prädisposition für Wilms-Tumoren ohne assoziierte Anomalien
69.6.1 Histopathologie
69.5
Prävention und Früherkennung
Die meisten Nephroblastome treten sporadisch im Kleinkindesalter auf, ohne klinisches Syndrom und ohne familiäre Vorgeschichte eines Nephroblastoms. Bei fehlendem Tumormarker ist ein Screening auf ein Nephroblastom nicht möglich. Dagegen sollten Kinder mit einer Aniridie, mit urogenitalen Missbildungen, einem BWS oder mit anderen Syndromen, die gehäuft mit einem Nephroblastom assoziiert sind ( Tabelle 69.1), als Risikopatienten für die Entwicklung dieses Tumors angesehen werden. Zum heutigen Zeitpunkt fehlen molekulargenetische Untersuchungsmethoden, um bei einem Patienten das individuelle Risiko zur Entwicklung eines Nephroblastoms zu bestimmen. Lediglich bei Kindern mit Aniridie kann heute das Risiko der Entwicklung eines Wilms-Tumors durch molekulargenetische Untersuchungen abgeschätzt werden (Muto et al. 2002). ! Bei Kindern mit einem erhöhten Risiko sind neben der klinischen Untersuchung mit Palpation des Abdomens abdominelle Ultraschalluntersuchungen im dreimonatigen Abstand indiziert.
Inwieweit hierdurch eine Früherkennung des Nephroblastoms möglich ist, ist Gegenstand von verschiedenen zur Zeit laufenden Studien. In Deutschland werden ca. 10% der Kinder mit einem Nephroblastom im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen (U3 und U4) durch den Kinderarzt durch Palpation und Sonographie zu einem Zeitpunkt völliger Beschwerdefreiheit entdeckt (Gutjahr et al. 1990). 69.6
Pathologie und pathohistologische Klassifikation
Trotz enormer Fortschritte in der molekulargenetischen Charakterisierung der Nephroblastome beruht die Diagnose des Nephroblastoms auf der histopathologischen Klassifikation (Schmidt u. Beckwith 1995). In den meisten Fällen tritt dieser Tumor einzeln und unilateral auf. Ungefähr 5% aller Wilms-
851 69 · Nierentumoren
⊡ Tabelle 69.2. Die SIOP-Klassifikation kindlicher Nierentumoren für Patienten, die eine präoperative Chemotherapie erhielten (Vujanic et al. 2002) I. Nephroblastom – niedriger Malignitätsgrad (günstige Histologie)
Zystisches, partiell differenziertes Nephroblastom (CPDN) Komplett nekrotisches Nephroblastom (nach präoperativer Chemotherapie) Mesoblastisches Nephrom*
II. Nephroblastom – intermediärer Malignitätsgrad (Standardhistologie)
Epithelreiches Nephroblastom Stromareiches Nephroblastom Mischtyp des Nephroblastom Regressives Nephroblastom (postchemotherapeutische Veränderungen) Nephroblastom mit fokaler Anaplasie
III. Nephroblastom – hoher Malignitätsgrad (ungünstige Histologie)
Nephroblastom mit diffuser Anaplasie Blastemreiches Nephroblastom Klarzellensarkom* Rhabdoidtumor der Niere*
IV. Andere Tumoren oder Läsionen
Benigne Tumoren Zystisches Nephrom Adenome Maligne Tumoren Nierenzellkarzinom (alle Varianten) »transitional cell carcinoma« Neuroepitheliale Tumoren (renales Neuroblastom, renaler PNET, renales Karzinoid) Verschiedene Sarkome Renales Lymphom Angiomyolipom Andere Tumoren und Läsionen Metastasen von anderen Lokalisationen
V. Addendum
Vorhandensein oder Fehlen von nephrogenen Resten muss immer beachtet werden
* kein eigentliches Nephroblastom.
Tumoren treten bilateral auf. Makroskopisch imponiert er als solide Raumforderung, die die Niere überschreiten kann. Er ist häufig gelappt, aber auch zystisch und weist oft enzephaloide Areale auf. Klassische Nephroblastome (Mischtyp) sind renale Tumoren mit einer blastemischen, epithelialen (Tubuli) und mesenchymalen Komponente (Stroma). Der Anteil dieser 3 Komponenten kann stark variieren, so dass es sich nicht immer um triphasische Tumoren handelt. Gemäß dem Konzept von Wilms ist das Nephroblastom ein Tumor mesodermalen Ursprungs und entwickelt sich in der embryonalen Niere. Damit erklärt sich die Vielfalt der Differenzierungen. Der Tumor besteht aus lockerem myxoiden Stroma, in welchem sich Zellhaufen mit hyperchromatischen ovoiden Kernen entwickeln, dem Blastem. In diesem Blastem formieren sich Rosetten, Tubuli und pseudoglomeruläre Strukturen. Im Stroma findet sich nicht selten eine besondere Differenzierung, am häufigsten in Form quergestreifter Muskulatur, daneben auch in Knorpel, Knochen, Fett und neurale Elemente. Die pathohistologische Klassifikation kindlicher Nierentumoren erfolgt im Rahmen der International Society of Paediatric Oncology (SIOP) nach einer im Jahr 2002 überarbeiteten Fassung der StockholmWorking-Klassifikation von 1995 mit der Unterscheidung von niedriger, intermediärer oder hoher Malignität (⊡ Tabelle 69.2; Vujanic et al 2002). Die National Wilms Tumor Study Group (NWTS) unterscheidet nur eine günstige (»favorable«) und eine ungünstige (»unfavorable«) Histologie. Die Tumoren mit niedriger und
intermediärer Malignität in der SIOP entsprechen weitgehend den Tumoren der Gruppe mit günstiger Histologie der NWTS. Die Verteilung der histologischen Subtypen beim bilateralen Nephroblastom gleicht dem Spektrum, das bei unilateralem Befall gesehen wird. Charakteristischerweise finden sich beim bilateralen Tumor nephrogene Reste als Vorstufen zum Wilms-Tumor. 69.7
Stadieneinteilung und Prognosefaktoren
Basierend auf der Korrelation zwischen histologischem Erscheinungsbild und Prognose kann dieser Tumor in unterschiedliche Risikogruppen unterteilt werden (Graf et al. 2000; Green et al 1995), die sich in der histologischen Klassifikation der SIOP und der NWTS widerspiegeln. Der Unterschied zwischen beiden Klassifikationen beruht in erster Linie auf dem unterschiedlichen Therapieansatz, indem in der SIOP der Tumor erst nach einer präoperativen Chemotherapie histologisch untersucht wird. Als Ergebnis einer präoperativen Chemotherapie ändert sich die Verteilung der verschiedenen histologischen Subtypen. So nimmt insbesondere der blastemreiche Subtyp nach präoperativer Chemotherapie deutlich ab, während es zu einem geringen Anstieg der Tumoren mit Anaplasie kommt. Einige Tumoren werden nach 4 Wochen präoperativer Behandlung mit Vincristin und Actinomycin D kom-
69
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 69.3. SIOP-Stadieneinteilung des Nephroblastoms
IV
Stadium
Beschreibung
I
Der Tumor ist auf die Niere beschränkt und kann vollständig entfernt werden
II
Tumorausdehnung über die Niere hinaus, jedoch vollständig entfernt
III
Unvollständige Tumorentfernung oder lokale Lymphknotenmetastasen bei Fehlen hämatogener Metastasen
IV
Fernmetastasen, insbesondere in Lunge, Leber, Knochen, Gehirn usw.
V
Bilaterales Nephroblastom
plett nekrotisch und wenige sind nur noch in der Grundstruktur mit schemenhaften Tumorzellen erkennbar. Andere Tumoren (25%) zeigen ausgeprägte regressive Veränderungen in Form von Nekrosen, Fibrosierung und Ansammlung xanthomatöser Zellen. Gleichwohl sind noch Areale vitalen Nephroblastomgewebes wie Blastem oder Tubuli nachweisbar. Diese Fälle werden als schwer klassifizierbar eingestuft und der Gruppe mit intermediärer Malignität zugeordnet (Vujanic et al. 2002). ! Der Nachweis einer diffusen Anaplasie ist jenseits des Stadium I von prognostischer Bedeutung (Graf u. Reinhard 2003). Ebenso besitzt das blastemreiche Nephroblastom nach präoperativer Chemotherapie eine ungünstigere Prognose als nach primärer Operation.
Neben der histologischen Subtypisierung muss die Ausdehnung des Tumors genau beschrieben werden. Die Einteilung in die SIOP-Stadien I–V ist von wesentlicher klinischer Bedeutung (⊡ Tabelle 69.3). Die Überschreitung der Tumorkapsel durch den Tumor stellt dabei das entscheidende Merkmal zwischen Stadium I und II dar. Ein Einbruch in die Gefäße ⊡ Abb. 69.1. Prognose von Patienten mit einem unilateralen, nicht metastasierten Nephroblastom in Abhängigkeit von der Histologie, die entsprechend der SIOP-93–01/ GPOH-Studie behandelt wurden (n=512 Patienten; November 2003)
(einschließlich der V. cava, wenn diese operativ vollständig saniert werden konnte) bedingt ein Stadium II. Jede unvollständige operative Entfernung eines Thrombus der V. cava ist ebenso wie der Lymphknotenbefall und jede Tumorruptur oder Tumorbiopsie und die unvollständige Tumorentfernung dem Stadium III zuzuordnen. Im Stadium IV liegen Fernmetastasen vor. Bilaterale Tumoren werden als Stadium V gekennzeichnet. Selten tritt der Wilms-Tumor extrarenal oder in einer Hufeisenniere auf. Die Prognose des Nephroblastoms ist neben der durchgeführten Therapie in erster Linie abhängig vom Tumorstadium und dem histologischen Subtyp (Graf u. Reinhard 2003). Weitere prognostische Kriterien stellen das Ansprechen auf die präoperative Chemotherapie dar. Hierbei spielen sowohl das Tumorvolumen nach präoperativer Chemotherapie als auch der histologische Subtyp eine entscheidende Rolle. Zusätzlich scheinen verschiedene molekulargenetische Marker (LOH von 1 p,11q, 16q, 22q und p53 Mutationen) im Tumor mit einer schlechten Prognose zu korrelieren. Die Prognose der Erkrankung ist in den LifeTable-Analysen der ⊡ Abb. 69.1 und 69.2 dargestellt. ! 90% aller Kinder mit einem Nephroblastom können heute geheilt werden. Patienten mit niedriger und intermediärer Malignität überleben bei nicht metastasiertem Tumor zu über 90%. Patienten mit einem Tumor mit diffuser Anaplasie und einem blastemreichen Nephroblastom nach präoperativer Chemotherapie haben dagegen eine deutlich ungünstigere Prognose.
Im Stadium IV ist die Prognose der Patienten entscheidend abhängig vom Ansprechen auf die durchgeführte Chemotherapie. Kann eine komplette Remission nach präoperativer Chemotherapie und operativer Tumorentfernung erzielt werden, weisen diese Patienten eine Heilrate von 80% auf. Ebenso hat sich die Prognose des Klarzellensarkoms deutlich verbessert mit Heilraten um 80%, während der Rhabdoidtumor weiterhin durch eine sehr schlechte Überlebenschance von nur 10% gekennzeichnet ist (Graf u. Reinhard 2003).
853 69 · Nierentumoren
⊡ Abb. 69.2. Die Prognose von Patienten mit einem unilateralen, nicht metastasierten Nephroblastom in Abhängigkeit vom präoperativen Tumorvolumen, die entsprechend der SIOP-93–01/GPOH-Studie behandelt wurden (n=407; November 2003)
69.8
Klinische Symptomatik und Differenzialdiagnose
69.8.2 Diagnose und Differenzialdiagnose
69.8.1 Symptomatik Typischerweise ist das erste Zeichen eines Wilms-Tumors der asymptomatische palpable oder sichtbare abdominale Tumor. Seltener sind Schmerz oder eine Hämaturie das Erstsymptom der Erkrankung. Der Hypertonus ist ein seltenes Symptom des Nephroblastoms. Bei erhöhten Blutdruckwerten kann dieser jedoch unter einer präoperativen Behandlung schwer einzustellen sein und große Probleme bereiten. Ausgesprochen selten treten im Zusammenhang mit dem Nephroblastom humorale Gerinnungsstörungen auf, die nach operativer Tumorentfernung verschwinden (Coppes et al. 1992). Ungefähr 10% der Nephroblastome werden im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen (meist U3 und U4) entdeckt. ⊡ Tabelle 69.4 gibt die Häufigkeit der Erstsymptome wieder (Gutjahr et al. 1990).
⊡ Tabelle 69.4. Erstsymptome bei Diagnose eines Nephroblastoms (Gutjahr et al. 1990)
Symptom
Häufigkeit
Asymptomatische tumoröse Raumforderung
61,6%
Hämaturie
15,1%
Vorsorgeuntersuchung
9,2%
Obstipation
4,3%
Gewichtsverlust
3,8%
Harnwegsinfekt
3,2%
Diarrhö
3,2%
Diagnose bei Trauma Nausea, Erbrechen, Schmerz, Hernie, Pleuraerguss, hoher Blutdruck
2,7% Selten
Die Diagnose des Nephroblastoms beruht neben der klinischen Untersuchung zunächst auf bildgebenden Verfahren (⊡ Abb. 69.3; Babyn et al. 1995). Hierzu zählen heute der abdominelle Ultraschall und ein weiteres bildgebendes Schnittverfahren, vorzugsweise die Magnetresonanztomographie des Abdomens nativ und mit i.v. Kontrastmittelgabe und nur bei fehlender Verfügbarkeit die Computertomgraphie. Eine orale Kontrastierung des Darms sollte dabei immer erfolgen. Das Ausscheidungsurogramm, eine Cavographie oder Angiographie sind nur bei besonderen Fragestellungen indiziert. Um bei einer präoperativen Chemotherapie das Risiko einer Fehldiagnose mit der Konsequenz einer nicht indizierten Zytostatikatherapie zu reduzieren, müssen die bildgebenden Untersuchungen von guter Qualität sein. Die Beurteilung setzt zudem eine große Erfahrung voraus. Die wesentlichen Kriterien, die eine sichere bildgebende Diagnose erlauben, sind in ⊡ Tabelle 69.5 aufgeführt (Rieden et al. 1993). Differenzialdiagnostisch müssen folgende Erkrankungen vom Nephroblastom abgegrenzt werden: Neuroblastom, Lymphom der Niere, Nierenzellkarzinom, Nephroblastomatose, Rhabdoidtumor, Teratom, Ganglioneurom, zystisches Nephrom, Hamartom, Nierenzysten, Hämatom, Nierenabszess, xanthogranulomatöse Pyelonephritis, Angiomyolipom, Adenom. Das Risiko einer Fehldiagnose bei Anwendung von Ausscheidungsurogramm und Sonographie als diagnostische Maßnahme wurde in der SIOP-6-Studie anhand von 1095 Patienten ermittelt (Tournade et al. 1993). Dabei wurde die Diagnose mit einer 93%igen Sicherheit gestellt. Bei 3,5% der Kinder handelte es sich um andere maligne Tumoren Bei 4% der radiologisch als Nephroblastom diagnostizierten Kinder lag keine maligne Erkrankung vor und 1,5% der Kinder erhielten eine präoperativ nicht indizierte Chemotherapie. Das Risiko einer Fehldiagnose kann durch die Einführung einer zentralen Referenzradiologie gesenkt werden. Im Vordergrund der Diagnostik bilateraler Tumoren steht die Bildgebung mit Ultraschall und CT bzw. NMR.
69
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 69.3. Computertomographie eines beidseitigen Nephroblastoms mit nephrogenen Resten (unterbrochener Pfeil) und Wilms-Tumoren (durchgezogener Pfeil). Es handelt sich um Schnittbilder eines CT vom gleichen Patienten in unterschiedlicher Höhe. (Die Bilder ent-
stammen der Strahlenklinik und Poliklinik, Charité Campus VirchowKlinikum, Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, und sind dankenswerterweise von Herrn Prof. Dr. med. Dr. h.c. R. Felix zur Verfügung gestellt worden.)
Differenzialdiagnostisch sind insbesondere Lymphome der Niere abzugrenzen, die ähnlich wie die Nephroblastomatose als homogene Raumforderung im CT imponieren. Die Diagnose der Nephroblastomatose kann nur unter Berücksichtigung des klinischen Bildes, der Bildgebung und der Histologie bewiesen werden. Anamnestische Hinweise sind eine positive Familienanamnese bezüglich eines Nierentumors bei Verwandten 1. Grades, renale Anomalien, weitere Organfehlbildungen im Kontext übergeordneter genetisch determinierter Krankheitsbilder (Trisomie 13, Trisomie 18, Beckwith-Wiedemann-Syndrom, kongenitale Herzerkrankungen, Klippel-Trenaunay-Syndrom, Milzagenesie mit Lebermalformation ). Typischerweise handelt es sich um sehr junge Kinder mit einem medianen Alter zwischen 11 und 16 Monaten. Sie werden symptomatisch durch bilaterale abdominale Raumforderungen, wobei häufig multiple meistens unscharf begrenzte Tumorknoten beschrieben werden. Ansonsten sind die Patienten meist unauffällig. Obwohl die Nephroblastomatose als bilateraler Prozess angesehen werden muss, ist ein symmetrischer Befall beider Nieren nicht obligat ( Abb. 69.3). Die Evaluation einer Nephromegalie beim Säugling sollte immer eine ausführliche bildgebende Diagnostik beinhalten. Bei persistierend großen Nieren jenseits des 2. bis 3. Lebens-
monats muss immer eine Nephroblastomatose ausgeschlossen werden. Differenzialdiagnostisch müssen bilaterale polyzystische Nierendysplasien, bilaterale Hydronephrosen, Lymphome, Leukämien, das kongenitale mesoblastische Nephrom und bilaterale Wilms-Tumoren erwogen werden. Die Verdachtsdiagnose kann nur histologisch bestätigt werden, so dass eine offene Nierenbiopsie notwendig sein kann. Eine frühzeitige Diagnose ist wegen der potenziellen Gefahr der Entwicklung eines Nephroblastoms anzustreben. Charakteristische bildgebende Befunde bei der Nephroblastomatose sind in Tabelle 69.5 aufgelistet. Bei histologischer Diagnose eines Klarzellensarkoms ist die Durchführung einer Skelettszintigraphie zum Ausschluss von Knochenmetastasen notwendig. Wegen der erhöhten Rate an Hirnmetastasen sollte eine Computertomographie oder MRT-Untersuchung des Schädels bei diesen Patienten und bei Patienten mit einem Rhabdoidtumor erfolgen. 69.8.3 Verlaufsdiagnostik In Abhängigkeit von der durchgeführten Therapie, des histologischen Subtyps und des postoperativen Stadiums wird eine auf den Patienten abgestimmte Verlaufsdiagnostik
⊡ Tabelle 69.5. Charakteristische bildgebende Befunde beim Nephroblastom und der Nephroblastomatose (Rieden et al. 1993)
Nephroblastom
Nephroblastomatose
Der Tumor ist solide und inhomogen mit teilweise zystischen Arealen und Arealen niedriger Dichte Der Tumor ist glatt und scharf begrenzt Das umgebende Gewebe wird eher verdrängt als infiltriert Charakteristisch ist die Destruktion, Spreizung und Verdrängung der Kelche und des Nierenbeckens Die Inhomogenität im Tumor steigt nach i.v. Kontrastmittelgabe im CT Einblutungen in den Tumor sind relativ häufig (27%) Verkalkungen im Tumor sind selten (8%)
Es findet sich eine bi- oder unilaterale meist symmetrische Nephromegalie Multiple unscharf begrenzte nicht runde Tumorknoten sind im Ultraschall darstellbar Es findet sich eine Verdrängung und mediale Verlagerung des Nierenbeckenkelchsystems ohne Zeichen der Obstruktion In der Computertomographie liegt eine homogene Nephromegalie ohne Kontrastmittel-Enhancement vor
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durchgeführt. Diese dient zum einen dem frühzeitigen Erkennen eines Rezidivs und zum anderen der Evaluation von Spätfolgen. Zu den diagnostischen Maßnahmen zählen bildgebende Verfahren (in erster Linie Ultraschall) und funktionsdiagnostische Untersuchungen im Bereich der Niere (Nephrektomie, Ifosfamid, Carboplatin), des Herzens (Anthrazykline), der Ohren (Carboplatin) und der Gonaden (Radiatio). 69.9
Therapie
Verbesserungen der Therapie und der Prognose des Nephroblastoms sind bei der heute hohen Heilungsrate nur noch in Studien, in die viele Patienten eingebracht werden, zu erzielen. Die Therapie dieses Tumors sollte deshalb immer in prospektiven Studien erfolgen, wobei Operation, Chemotherapie und Bestrahlung in unterschiedlichem Ausmaß zur Anwendung kommen. ! Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen einem primären operativen Vorgehen (NWTS) und einem zunächst präoperativen chemotherapeutischen Ansatz (SIOP und GPOH; ⊡ Abb. 69.4, 69.5, 69.6).
Argumente für eine präoperative Chemotherapie sind die Reduktion der Zahl der intraoperativen Tumorrupturen und die deutliche Erhöhung der Zahl der Patienten mit einem postoperativen lokalen Stadium I der Erkrankung. Beides erlaubt eine deutliche Therapiereduktion, insbesondere auch eine Minderung der Zahl postoperativ zu bestrahlender Kinder (⊡ Abb. 69.7). Seit Beginn der 70er-Jahre wurden in prospektiven Studien der SIOP (⊡ Tabelle 69.6), NWTS und der UKCCG wichtige Erkenntnisse gewonnen (⊡ Tabelle 69.7). Diese bilden die Grundlage heutiger Therapiestudien (Graf et al. 2000; Neville et al. 2000).
69.9.1 Operation Die Operation eines Wilms-Tumors ist fast immer ein elektiver Eingriff, der relativ selten mit Komplikationen verbunden ist (Ritchey et al. 1992; Roth et al. 1996). Sehr selten handelt es sich um eine notfallmäßige Operation wie bei traumatischer oder spontaner Tumorruptur. Selbst wenn die Tumornephrektomie in den meisten Fällen technisch einfach erscheint, sollten das erfahrenste Team von Chirurgen und Anästhesisten den Eingriff durchführen. Bei der Operation ist der Tumor onkologisch radikal zu entfernen und gleichzeitig die Tumorausbreitung festzustellen. Bei der intraoperativen Stadieneinteilung ist zu berücksichtigen, dass die Qualität der initialen bildgebenden Diagnostik wesentlich verbessert wurde und ein bilateraler Nierenbefall mit großer Sicherheit diagnostiziert wird. Ist die kontralaterale Niere bei guter Qualität der initialen Bildgebung unauffällig, kann bei der Operation auf die Freilegung dieser normalen Niere verzichtet werden. Bestehen vor oder während der Operation Zweifel an der Diagnose eines Nephroblastoms, darf eine Biopsie oder Punktion des Tumors nur bei sicher inoperablen Tumoren erwogen werden, da dabei ein hohes Risiko einer peritonealen Tumorzellaussaat besteht. Dagegen sollte bei Zweifel an der Art und Dignität der renalen Raumforderung anhand der bildgebenden Diagnostik und guter Operabilität die primäre komplette Tumorentfernung einer Biopsie vorgezogen werden. Etwa die Hälfte der renalen Tumoren des Säuglingsalters und fast 90% der Nephroblastome der Neugeborenenzeit sind nach den Daten der SIOP-Studien kongenitale mesoblastische Nephrome, d. h. Tumoren mit niedriger Malignität. Kongenitale mesoblastische Nephrome zeigen ein für Nephroblastome ungewöhnliches Wachstumsverhalten mit feinen fingerförmigen Ausläufern in das angrenzende renale Fettgewebe.
⊡ Abb. 69.4. Rupturrate und postoperative Stadienverteilung im Verlauf der SIOP-Studien (Graf et al. 2000)
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IV
⊡ Abb. 69.5. Tumorvolumenabnahme bei einem Patienten mit einem unilateralen Nephroblastom, der entsprechend der SIOP-93–01/GPOH-
Studie für 4 Wochen präoperativ mit Vincristin und Actinomycin D behandelt wurde
⊡ Abb. 69.6. Reduktion des Tumorvolumens und postoperative Stadienverteilung nach präoperativer Chemotherapie (SIOP-9-Studie; Tournade et al. 2001)
! Wegen der Tumorausläufer in die Umgebung ist bei der Operation besonders sorgfältig auf eine komplette Entfernung inklusive der Nierenfettkapsel möglichst unter Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes zu achten.
auf die Behandlung von Lungenmetastasen beschränkt werden (Graf u. Reinhard 2003). Eine Radiotherapie erfolgt sowohl im Rahmen der amerikanischen NWTS-Studien wie auch der SIOP-Studien bei lokalem Stadium III sowie bei hoher Malignität jenseits des Stadium I.
69.9.2 Strahlentherapie
Indikation zur Strahlenbehandlung entsprechend der SIOP-Empfehlung:
Das Nephroblastom ist ein ausgesprochen strahlenempfindlicher Tumor. Mit der Entwicklung effektiver Chemotherapiekombinationen konnte die Anwendung der Strahlentherapie auf lokale Risikosituationen und in wenigen Fällen
Intermediär-maligne Histologie: Stadium III Hoch-maligne Histologie: Stadium II und III
▼
857 69 · Nierentumoren
⊡ Abb. 69.7. Reduktion der Strahlentherapie im Verlauf der SIOP-Studien (Graf et al. 2000)
69.9.3 Chemotherapie Stadium IV und Stadium V: Die Strahlentherapie richtet sich nach der Histologie und dem lokalen Stadium. Bei niedriger und intermediärer Malignität: wie lokales Stadium III, bei hoher Malignität: wie lokales Stadium II und III Metastasen: keine Vollremission nach präoperativer Chemotherapie und Operation
Die Gesamtdosis beträgt in den SIOP-Studien 15 Gy bei intermediärer und 30 Gy bei hoher Malignität. Bestrahlt wird das Tumorbett entsprechend der Tumorausdehnung vor Behandlungsbeginn mit einem Sicherheitssaum. Bei makroskopischen Resten erfolgt eine lokale Dosiserhöhung um weitere 10–15 Gy auf das verbliebene Tumorareal. Die Behandlung erfolgt im allgemeinen postoperativ, insbesondere in den NWTS-Studien war ein Bestrahlungsbeginn innerhalb der ersten 10 Tage nach Operation prognostisch relevant. Eine Ganzabdomenbestrahlung wird bei diffuser peritonealer Aussaat oder nach ausgeprägter Tumorruptur durchgeführt. Hierbei ist eine Dosisbeschränkung im Hinblick auf die Leber und insbesondere die nicht befallene Niere (12 Gy) erforderlich. Auf eine Bestrahlung von Lungenmetastasen kann nach den Daten der SIOP-Studien verzichtet werden, wenn diese unter der Chemotherapie nicht mehr nachweisbar werden und keine hohe Malignität des Tumors vorliegt. Im Rahmen der NWTS-Studien wird weiterhin eine thorakale Bestrahlung jedes Kindes mit Lungenmetastasen durchgeführt. Bei der Bestrahlungsplanung ist zu berücksichtigen, dass insbesondere bei Dosen über 15 Gy die Wirbelsäule in ihrer ganzen Breite homogen erfasst wird, um Wachstumsstörungen mit späterer Skoliose zu vermeiden. Auch die Dosis an den Geschlechtsorganen ist zu berücksichtigen. Sie sollte möglichst unter 2 Gy bei mindestens einem Ovar und unter 1 Gy für die Hoden liegen (Pfeil et al. 1986; Thomas et al. 1983).
SIOP-Studien Angaben zur aktuellen SIOP-2001/GPOH-Studie sind im Internet unter http://www.uniklinik-saarland.de/kinder onkologie/wilms.html zu finden. Präoperative Therapie. Eine präoperative Chemotherapie wird in den SIOP-Studien grundsätzlich durchgeführt. Sie erfolgt bei sicherer bildgebender Diagnose bei allen Patienten mit einem Alter von über 6 Monaten und unter 16 Jahren. An Medikamenten werden Vincristin und Actinomycin D eingesetzt. Anthrazykline werden nur beim primär metastasierten Nephroblastom verabreicht. Die Dauer der präoperativen Behandlung erstreckt sich über 4 Wochen bzw. 6 Wochen bei initialen Metastasen. Hierdurch ist eine deutliche Tumorvolumenabnahme zu erzielen, die in erster Linie vom histologischen Subtyp abhängig ist. Der Anteil der Patienten mit einem lokalen Stadium I kann so auf 60% gesteigert werden. Die Rate der operativ bedingten Tumorrupturen konnte durch die präoperative Therapie von 20% auf unter 5% deutlich reduziert werden ( Abb. 69.4). Bei Patienten mit einem bilateralen Nephroblastom wird die präoperative Chemotherapie mit Vincristin und Actinomycin D individualisiert durchgeführt. Die Therapiedauer orientiert sich in dieser Situation in erster Linie an der Möglichkeit nierenerhaltend zu operieren. Säuglinge unter 6 Monaten und Jugendliche über 16 Jahre werden auch im Rahmen der SIOP-Studien primär operiert, da in diesen Altersgruppen andere Nierentumoren (kongenitales mesoblastisches Nephrom, Nierenzellkarzinom) gehäuft auftreten. Postoperative Therapie. Die postoperative Behandlung er-
folgt immer auf der Basis von lokalem Stadium und histologischem Subtyp. Daneben wird der Response auf die präoperative Chemotherapie, gemessen am Tumorvolumen vor Operation, in der jetzt laufenden SIOP-2001-Studie evaluiert. Für die einzelnen histologischen Subtypen gelten heute folgende Richtlinien:
69
IV 858
Name
Zeitraum
Anzahl Patienten
Randomisierte Fragestellung
Ergebnisse
Literatur
SIOP 1
1971–1974
398
1. präoperative Bestrahlung versus primäre Operation
1. Vorbehandlung reduziert Anzahl der Tumorrupturen und führt zu einem »downstaging«
Lemerle et al. 1976
2. Ein postoperativer versus mehrere Kurse ACT-D
2. Mehr ACT-D in der postoperativen Therapie ohne Prognoseverbesserung
SIOP 2
1974–1976
138
Nicht-randomisierte Studie 86 Patienten erhielten präoperative Bestrahlung plus 5 Tage ACT-D, 52 Patienten wurden primär operiert
Bestätigung der Ergebnisse der SIOP-1-Studie Auch kleine Tumoren rupturieren bei primärer Operation häufig
Voûte et al. 1978
SIOP 5
1977–1979
397
Präoperative Chemotherapie mit VCR und ACT-D versus präoperative Bestrahlung plus ACT-D
Gleiche Wirksamkeit bezüglich der Stadienverteilung und der Prognose
Lemerle et al. 1983
SIOP 6
1980–1987
1095
1. Stadium I: 17 Wochen versus 38 Wochen postoperative Therapie mit VCR und ACT-D
Kein Unterschied in der Prognose
Tournade et al. 1993
2. Stadium II N–: 20 Gy versus 0 Gy lokale Bestrahlung
Kein Unterscheid in der Prognose
3. Stadium II N+/III: Doxorubicin versus intensiviertes VCR
Unterschied im DFS, nicht im Gesamtüberleben
SIOP 9
1987–1991
852
4 Wochen versus 8 Wochen präoperative Chemotherapie
Verlängerung der präoperativen CT führt zu weiterer Tumorvolumenreduktion aber nicht zu günstigerer Stadienverteilung
Tournade et al. 2001
SIOP 93–01
1993–2001
2162
1 Kurs versus 3 Kurse VCR + ACT-D im Stadium I bei intermediärer Malignität und Anaplasie
Kurzer und langer postoperativer Therapiearm haben gleiche Prognose
Graf et al. 2000
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 69.6. Übersicht über die bisher durchgeführten multizentrischen, prospektiven Studien der SIOP
859 69 · Nierentumoren
⊡ Tabelle 69.7. Gewonnene Erkenntnisse durch bisherige Nephroblastomstudien der NWTS, SIOP und UKCCSG (UKW); (Neville et al. 2000; Graf et al. 2000; Green et al. 2001; Mitchell et al. 2000; Pritchard-Jones et al. 2003; Tournade et al. 2001)
Studiengruppen Die Therapie muss entsprechend dem Stadium und dem histologischen Subtyp erfolgen
SIOP, NWTS, UKW
Die Kombination von Vincristin und Actinomycin D ist effektiver als der alleinige Einsatz eines der beiden Zytostatika (Ausnahme: sicheres Stadium I und primäre Operation)
SIOP, NWTS, UKW
Im Stadium I ist keine Bestrahlung notwendig
SIOP, NWTS
Im Stadium II ist bei intermediärer Malignität keine Bestrahlung notwendig
SIOP, NWTS
Bei Gabe von Adriblastin im Stadium III kann die Strahlendosis bei intermediärer Malignität reduziert werden
NWTS
Die zusätzliche Gabe von Cyclophosphamid führt zu keiner Prognoseverbesserung im Stadium IV, jedoch zu einer fraglichen bei vorhandener Anaplasie
NWTS
Anthrazykline sind für die Prognose des Klarzellensarkoms entscheidend
SIOP, NWTS
Die einmalige Bolusgabe von Actinomycin D ist gleich effektiv wie die gesplittete Gabe
NWTS
Die Dauer der Behandlung beträgt bei intermediärer Malignität im Stadium I bis 10 Wochen, ab Stadium II nicht länger als 6 Monate
NWTS, SIOP, UKW
Durch eine präoperative Therapie wird eine signifikante Reduktion von Tumorrupturen sowie eine Zunahme niedriger Tumorstadien erzielt
SIOP
Eine präoperative Chemotherapie mit Vincristin und Actinomycin D ist gleich effektiv wie eine präoperative Radiatio mit 20 Gy
SIOP
Durch eine 4-wöchige präoperative Chemotherapie mit Vincristin und Actinomycin D ist die gleiche postoperative Stadieneinteilung wie durch eine 8-wöchige Therapie zu erzielen
SIOP
Bei Patienten mit Lungenmetastasen und kompletter Remission nach präoperativer Chemotherapie kann auf eine lokale Therapie der Metastasen verzichtet werden
SIOP
Bislang kann keine Patientengruppe definiert werden, die durch eine alleinige Operation geheilt werden kann (Ausnahme: kongenitales mesoblastischen Nephrom und niedrige Malignität)
NWTS, SIOP
Niedrig-maligne Nephroblastome. Bei niedrig-malignen
Nephroblastomen (günstige Histologie) liegt überwiegend ein Stadium I vor, und die Mehrzahl der Patienten erhält bei einem Erkrankungsalter unter 6 Monaten keine präoperative Chemotherapie. Der prognostische Vorteil einer postoperativen Chemotherapie bei kompletter Tumorentfernung ist nicht bewiesen. Die Behandlung wird nach der Operation beendet. Bei Kindern mit einem postoperativem Tumorrest muss die Behandlung entsprechend den Kriterien für intermediär maligne Nephroblastome (Standardhistologie) erfolgen. Intermediär-maligne Nephroblastome (Standardhistologie).
Intermediär-maligne Nephroblastome im Stadium I machen etwa 45% aller Patienten mit einem Nephroblastom aus. Die rezidivfreie Überlebensrate liegt mit der SIOP-93–01-Therapie bei 90% (Graf et al. 2000). Im Stadium II und III erhalten die Patienten eine Dreimitteltherapie bestehend aus Vincristin, Actinomycin D und Adriamycin über 6 Monate. Bei Patienten mit initialem Stadium IV, deren Metastasen nach 6-wöchiger präoperativer Chemotherapie nicht mehr nachweisbar sind (Responder), erfolgt die postoperative Behandlung entsprechend der Histologie und dem abdominalem Stadium nach Nephrektomie. Auf eine Bestrahlung der Lungenmetastasen kann dann verzichtet werden. Bei Patienten im Stadium IV mit nach 6-wöchiger präoperativer Chemotherapie und Operation noch nachweisbaren Metastasen (Non-Responder) ist die Chemotherapie durch weitere Medikamente (Etoposid, Cyclophosphamid, Anthrazykline, Carboplatin) zu intensivieren. Die Metastasen sollten möglichst operativ entfernt werden. Eine Strahlentherapie ist
bei nicht erzielbarer Remission nach Operation notwendig (de Kraker et al. 1990). Hoch-maligne Nephroblastome (ungünstige Histologie).
Bei Patienten mit hoher Malignität, die etwa 10% der Nephroblastome ausmachen, ist die Prognose bei Einsatz von Vincristin, Actinomycin D, Anthrazyklin und Ifosfamid mit einem rezidivfreien Überleben nach 2 Jahren von unter 50% unbefriedigend. Eine Erhöhung der Bestrahlungsdosis oder der kumulativen Dosis der bisher eingesetzten Medikamente erscheint wenig sinnvoll, da Rezidive nicht selten bereits unter Therapie beobachtet werden. Deswegen werden bevorzugt die bei der Behandlung von Rezidiven und Non-Respondern erfolgreich eingesetzten Substanzen VP-16 und Carboplatin an Stelle von Vincristin und Actinomycin D gegeben. NWTS-Studien Eine präoperative Behandlung wird nicht durchgeführt. Die postoperative Behandlung erfolgt immer auf der Basis von operativem Stadium und histologischem Subtyp. Die wichtigsten Medikamente in der Behandlung sind Vincristin, Actinomycin D und Anthrazykine. Die NWTS-4-Studie evaluierte eine frühe Intensivierung der Behandlung durch die häufigere und simultane Gabe effektiver Substanzen in maximal tolerierten Dosen. Es zeigte sich, dass diese so genannte »Pulse-intensive«-Behandlung der Standardtherapie gleichwertig ist und zusätzlich in den Kosten wegen seltenerer Krankenhausbehandlungen günstiger liegt. Daneben konnte gezeigt werden, dass die Dauer der Behandlung auf maximal 6 Monate verkürzt werden kann (Green et al. 1998). Ungefähr 25% der Kinder in den NWTS-Studien erhalten
69
860
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
eine Strahlenbehandlung und Anthrazykline. Bislang konnte keine Gruppe von Kindern definiert werden kann, bei denen auf eine postoperative Chemotherapie ohne erhöhtes Risiko verzichtet werden kann. Inwieweit die Stratifizierung der Therapie nach LOH von 1p und 16q eine Gruppe von Kindern definiert, die durch eine alleinige Operation geheilt werden kann, wird zur Zeit evaluiert. Bei weiterhin schlechter Prognose der Kinder mit einem Nephroblastoms mit diffuser Anaplasie jenseits des Stadium I und einem Rhabdoidtumor der Niere wird versucht die Überlebensrate durch eine Intensivierung der Behandlung zu verbessern. 69.9.4 Therapie der Nephroblastomatose Die Frage der Therapie der Nephroblastomatose wird kontrovers diskutiert. Operative Maßnahmen beschränken sich zunächst auf die Biopsie zur Diagnosesicherung. Nach Diagnosestellung kann bei gesicherter nicht diffuser Nephroblastomatose eine Resektion oder partielle Nephrektomie des Nephroblastomatoseanteils erwogen werden. Eine initiale totale Nephrektomie ist nicht indiziert. Die postoperative Behandlung orientiert sich an der Therapie des Wilms-Tumors. Bei gleichzeitigem Vorliegen eines Wilms-Tumors wird die Therapie entsprechend dem histologischen Befund und dem Stadium des Tumors durchgeführt. Die Prognose des WilmsTumors ist dabei unabhängig von dem Fehlen oder Vorhandensein einer Nephroblastomatose. Bei alleinigem Vorhandensein einer Nephroblastomatose ohne Wilms-Tumor wird die Durchführung einer protrahierten Chemotherapie mit Vincristin und Actinomycin D empfohlen. Hierunter sind eindrucksvolle Regressionen beschrieben (Stone et al. 1990). Die Indikation zur Strahlenbehandlung ist sehr zurückhaltend zu stellen. Im Verlauf der Behandlung ist eine engmaschige sonographische Kontrolle der Nieren notwendig, um frühzeitig die Entwicklung eines Wilms-Tumors zu erkennen. 69.9.5 Therapie bilateraler Nephroblastome Das therapeutische Bemühen ist darauf gerichtet so viel Nierengewebe wie möglich zu erhalten (Coppes et al. 1989; Ritchey u. Coppes 1995). Eine präoperative Chemotherapie ist immer indiziert. Diese sollte individualisiert werden und so lange erfolgen, bis nierenerhaltende Operationen möglich sind. Autotransplantationen nach Tumorentfernung auf einer Arbeitsbank sind zu erwägen. Die postoperative Therapie orientiert sich an der histologischen Subtypisierung und dem lokalen Stadium, wobei das höchste lokale Stadium beider Seiten für die Therapie ausschlaggebend ist. Sie wird entsprechend der Therapie bei unilateralem Befall durchgeführt. Die wesentlichen Medikamente in der Behandlung sind Vincristin und Actinomycin D, die präoperativ in Abhängigkeit vom Ansprechen und postoperativ in Abhängigkeit vom Stadium um Anthrazykline ergänzt werden können. Die Behandlung bei hochgradiger Malignität wird entsprechend der Therapie bei unilateralem Befall durchgeführt. Die Prognose der Erkrankung ist bei adäquater Therapie gut. Sie liegt in den SIOP-Studien nach 10 Jahren bei 70% Überleben. Als Spätfolge der Behandlung sind in erster Linie Nie-
renfunktionsstörungen zu beachten, die bis zur Niereninsuffizienz führen können und Dialyse oder eine Nierentransplantation notwendig machen können. Als eine Ursache wird die Hyperfiltration des verbliebenen Restnierenparenchyms angesehen. ! Patienten mit bilateralen Nephroblastomen sollten immer in einem pädiatrisch onkologischen Zentrum behandelt werden.
69.9.6 Therapie von Nephroblastomen
mit extrarenaler Lokalisation oder in einer Hufeisenniere Selten (<1%) tritt ein Nephroblastom extrarenal auf. Die Diagnose wird histopathologsich nach primärer Operation gestellt. Die postoperative Therapie und Prognose entspricht der für primär operierte Nephroblastom der Niere. Bei Vorliegen eines Nephroblastoms in einer Hufeisenniere ist die Therapie an den Richtlinien für bilaterale Tumoren zu orientieren. Durch eine präoperative Chemotherapie muss versucht werden, eine maximale Tumorverkleinerung zu erreichen, um nach der Tumorresektion ausreichend gesundes Nierenparenchym zu erhalten. Dies ist bei den meisten Patienten möglich. Die postoperative Behandlung und Prognose entspricht der für unilaterale Nephroblastome. 69.9.7 Therapie von Erwachsenen mit einem
Nephroblastom Selten wird ein Nephroblastom auch bei Erwachsenen diagnostiziert. Die Behandlung sollte entsprechend der Therapie für Kinder erfolgen. Im Unterschied zu diesen erfolgt zunächst immer die operative Tumorentfernung zur histologischen Sicherung. Häufig ist der Tumor in dieser Patientengruppe weiter fortgeschritten, mit einem hohen Anteil an Patienten mit initialen Metastasen. Hieraus ergibt sich die bislang berichtete schlechtere Prognose im Vergleich zu Kindern. Ursache kann aber auch die nicht standardisierte Behandlung im Erwachsenenalter sein, so dass nur über heterogen therapierte Patientenkollektive berichtet wird. Eine Verbesserung der Prognose ist zu erwarten (Reinhard et al. 2003). Auf die erhöhte Neurotoxizität des Vincristins ist in dieser Altersgruppe zu achten. 69.9.8 Therapie von Rezidiven Tritt ein Rezidiv auf, können die Patienten entsprechend der Prognose in 2 Gruppen unterteilt werden. Eine hohe Überlebenschance besitzen bei konventioneller Therapie nur Kinder mit erstem Rezidiv, das später als 6 Monate nach Nephrektomie in einem zuvor nicht bestrahlten Feld aufgetreten ist. Zudem darf keine Lymphknotenmetastase bestehen, es darf nur ein Gewebe oder Organ befallen sein und es darf keine hochgradige Malignität vorliegen. Bei allen anderen Rezidiven liegt die Überlebenschance unter 20% (Miser u. Tournade 1995). Inwieweit bei solchen Patienten durch eine Hochdosischemotherapie mit nachfolgendem Stammzell-
861 69 · Nierentumoren
Rescue die Prognose verbessert werden kann, ist unklar (Kremens et al. 2002; Pein et al. 1998) und ist zur Zeit Gegenstand einer geplanten prospektiven randomisierten Studie. Die Therapie von Patienten mit einer hohen Heilrate richtet sich nach der Erstbehandlung. Eingesetzt werden Vincristn, Actinomycin D, Doxorubicin, Ifosfamid, Carboplatin und Etoposid. Eine Strahlenbehandlung ist oft notwendig, Die Behandlung sollte immer in kinderonkologischen Zentren stattfinden. 69.10
Akutfolgen der Therapie
Insbesondere das Auftreten einer Venenverschlusskrankheit der Leber (»venous occlusive disease«, VOD) bereitet Probleme (Flentje et al. 1994; Ludwig et al. 1992). Bei Säuglingen und Kleinkindern kann unter der präoperativen Zytostatikatherapie und auch postoperativ eine VOD auftreten. Diese steht am ehesten im Zusammenhang mit einer relativen Überdosierung von Actinomycin D bei dystrophen Kindern mit einem niedrigen Körpergewicht. Weitere Risikofaktoren sind rechtsseitiger Tumor und postoperative Strahlentherapie mit Einschluss von Lebergewebe. Andere akute Nebenwirkungen sind selten. Sie betreffen hauptsächlich Infektionen, Neuropathien (Vincristin) und Nebenwirkungen am Darm durch die Raumforderung. Operative Komplikationen sind nach präoperativer Behandlung geringer und liegen in einer Größenordnung von 5%. 69.11
Nachsorge
Langfristig ist v. a. auf Wachstumsstörungen von Skelett und Weichteilen als Folge der Radiatio zu achten (Thomas et al. 1983). Zumeist wird dies während der Wachstumsschübe offenkundig. Das Ausmaß der Beeinträchtigung ist abhängig von der Bestrahlungsdosis, dem Bestrahlungsvolumen und dem Alter des Kindes bei der Bestrahlung. Manifestationsformen der Spättoxizität sind Kyphoskoliose, Hypoplasien im Bereich von Wirbelsäule, Becken, Rippen und Weichteilgewebe der Flanke sowie die Entwicklung von Osteochondromen. Es wird erwartet, dass nach Bestrahlung mit niedrigen Dosen (15 Gy) die Beeinträchtigungen nur wenig ausgeprägt sind. Spätfolgen am Herzen (Anthrazykline) und an den Nieren (einseitige Nephrektomie, Gabe von Ifosfamid und Carboplatin bei hoher Malignität) sind möglich. Ultrastrukturelle Veränderungen an der gesunden Niere zeigen eine Verdickung hyaliner Membranen mit Entwicklung einer glomerulären Sklerose als Folge der Hyperfiltration bei einseitiger Niere. Ungefähr 80% der Patienten entwickeln im weiteren Verlauf eine Mikroalbuminurie (Srinivas et al. 1998). Ein gehäuftes Auftreten von Zweitmalignomen ist nicht zu erwarten. Im Rahmen der Studien der NWTS wurden 1% maligne Zweittumoren beobachtet (Breslow et al. 1988). 69.12
Andere Tumoren der Niere
Weniger als 10% aller Nierentumoren im Kindesalter sind nicht der Gruppe der Nephroblastome zuzuordnen. Hierzu zählen in erster Linie das Klarzellensarkom, der Rhabdoid-
tumor der Niere, das mesoblastische Nephrom und das Nierenzellkarzinom. Klarzellensarkome, Rhabdoidtumoren und mesoblastische Nephrome – früher zu den Nephroblastomen gezählt – werden heute als eigenständige Tumorentitäten betrachtet. Neuroepitheliale Tumoren der Niere (renaler PNET, renales Neuroblastom, renales Karzinoid), Onkozytome, nephrogene Adenofibrome, transitionale Zellkarzinome, renale Lymphome, Angiomyolipome und juxtaglomeruläre reninproduziernede Tumoren treten ausgesprochen selten im Kindesalter auf. Daneben können selten Metastasen anderer Tumoren die Niere befallen. 69.12.1 Klarzellensarkom Der histogenetische Ursprung des Klarzellensarkoms ist unklar. Der Tumor entwickelt bei 40–60% der Patienten Knochenmetastasen, während diese nur in 2% beim Nephroblastom auftreten. Das Klarzellensarkom tritt nicht bilateral auf und ist nicht mit nephrogenen Resten assoziiert. Seine Prognose hat sich mit Erhöhung der kumulativen Anthrazyklindosis und Intensivierung der Behandlung mit Carboplatin und Etoposid deutlich verbessert. Über 80% der Patienten können heute geheilt werden. Allerdings muss bei diesem Tumor auch mit Spätrezidiven gerechnet werden (Argani et al. 2000). 69.12.2 Rhabdoidtumor der Niere Der Rhabdoidtumor wird den hochgradig malignen Nierentumoren zugerechnet. Ungefähr 2% der Nierentumoren weisen diese Histologie auf (Broecker 2000). Es handelt sich allerdings nicht um einen ausschließlich in der Niere vorkommenden Tumor, sondern er ist in vielfältigen extrarenalen Lokalisationen beschrieben worden. Der Tumor tritt typischerweise bei jungen Säuglingen oft bereits im metastasierten Stadium auf. Insbesondere treten cerebrale Manifestationen entweder primär oder als Metastasen auf. Molekulargenetisch findet sich im Bereich vom Chromosom 22q11 eine Deletion. INI1, das distal in der Region der Deletion liegt, wird als Kandidatensuppressorgen des Rhabdoidtumors angesehen (Zhou et al. 2000). Der Tumor ist therapierefraktär und führt über eine rasche Progression schnell zum Tod. 69.12.3 Nierenzellkarzinom Das Nierenzellkarzinom ist der häufigste renale Tumor des Erwachsenen. Nur 1–2% dieser Tumoren treten im Alter unter 21 Jahren auf (Indolfi et al. 2003). Das mediane Alter liegt bei Kindern zwischen 9 und 15 Jahren. Es besteht keine Geschlechtspräferenz. Eine Assoziation mit dem HippelLindau-Syndrom und der tuberösen Sklerose ist bekannt. Daneben besteht eine hohe Inzidenz zu Abnormalitäten am Chromosom 3. Pathologie. Die Nierenzellkarzinome entstehen aus den Epithelien der verschiedenen Tubulusabschnitte. Die histologische Einteilung erfolgt im deutschsprachigen Raum nach zytomorphologischen Kriterien. Es werden das klarzellige,
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862
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
das chromophilzellige, das chromophobzellige, das spindelbzw. pleomorphzellige Nierenzellkarzinom und das DuctusBellini-Karzinom unterschieden. Im angelsächsischen Sprachraum werden die klarzelligen (hypernephroiden), papillären, granularzelligen, chromophobzelligen, sarkomatoiden und Ductus Bellini Karzinome der Niere unterschieden. Das histomorphologische Grading und die Ploidie der Tumorzellen sind wichtige Differenzierungszeichen und von prognostischem Wert. Mit abnehmender Differenzierung wird eine Unterteilung in Grad 1 bis 4 (hoch, mäßig, geringgradig und undifferenziert, anaplastisch) vorgenommen. Die TNMKlassifikation berücksichtigt die Tumorausbreitung und die histomorphologische Differenzierung der Nierenzellkarzinome. Bilaterale Tumoren sind bekannt. Der Tumor metastasiert sowohl lymphogen als auch hämatogen. Lunge, Knochen, Leber und Lymphknoten sind die häufigsten Metastasenorte. Klinik und Diagnose. Die häufigsten Symptome sind Flankenschmerzen und eine Makrohämaturie. Der Tumor selbst ist oft nicht tastbar, sondern nur durch Bildgebung darstellbar. Hierbei lässt er sich nicht vom Nephroblastom unterscheiden. Paraneoplastische Symptome sind im Gegensatz zu Erwachsenen selten. Die Differenzialdiagnose entspricht der des Nephroblastoms. Therapie und Prognose. Das Nierenzellkarzinom spricht nicht auf Chemotherapie und Strahlentherapie an. Wichtigstes prognostisches Kriterium ist die komplette Tumorresektion und ein niedriges Tumorstadium. Im Stadium I überleben 90% der Patienten und im Stadium II und III ungefähr 50%, während bei Metastasierung die Prognose als infaust einzustufen ist (Broecker 2000). In der Behandlung des fortgeschrittenen Nierenkarzinoms sind die Zytokine Interferonα-2-a und -b (IFN-α) und Interleukin-2 (IL-2) die Therapeutika der ersten Wahl.
69.12.4 Kongenitales mesoblastisches Nephrom Etwa die Hälfte der renalen Tumoren des Säuglingsalters bzw. 86% der Nephroblastome der Neugeborenenzeit sind nach den Daten der SIOP 9/GPOH-Studie kongenitale mesoblastische Nephrome. Der Tumor tritt in zwei unterschiedlichen Varianten auf. Der typische oder fibromatöse Typ ist immer benigne und findet sich v. a. bei Säuglingen unter 3 Monaten, während die zelluläre Variante bei älteren Säuglingen und Kleinkindern diagnostiziert wird und potenziell maligne ist. Bei diesem Typ sind Lokalrezidive als auch Metastasen möglich. Molekulargenetisch lässt sich bei der zellulären Variante eine typische Translokation nachweisen (t(12;15)(p13;q25) mit Genfusionsprodukt ETV6-NTRK3). Kongenitale mesoblastische Nephrome zeigen ein für Nephroblastome ungewöhnliches Wachstumsverhalten mit feinen fingerförmigen Ausläufern in das angrenzende Gewebe. Wegen der Tumorausläufer in die Umgebung ist bei der Operation besonders sorgfältig auf eine komplette Entfernung inklusive der Nierenfettkapsel möglichst unter Einhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes zu achten. Nierenteilresektionen sind aus diesem Grund nicht indiziert. Die komplette Tumorresektion führt zur Heilung. Eine Chemotherapie ist nur
bei inkompletter Resektion, zellulärem Subtyp, hoher mitotischer Aktivität oder im Rezidiv sowie bei Nachweis von Metastasen indiziert. Bei inkompletter Resektion sollte zunächst immer die Möglichkeit einer Nachresektion mit den Chirurgen diskutiert werden. Auf eine Bestrahlung ist bei inkompletter Resektion in Anbetracht des jungen Alters zu verzichten.
Der Wilms-Tumor gehört zu den embryonalen Tumoren und stellt die häufigste bösartige Neubildung der Niere im Kindesalter dar. Er tritt insbesondere im Kleinkindesalter auf und ist häufig mit kongenitalen Anomalien und Syndromen assoziiert. Pathogenetisch kann sich der Tumor aus nephrogenen Resten bzw. einer Nephroblastomatose entwickeln. In der Tumorgenese spielen sowohl genetische als auch epigenetische Veränderungen eine wichtige Rolle und stellen zum Teil prognostisch ungünstige Marker dar. Im Rahmen der SIOP-Studien beginnt die zytostatische Therapie nach bildgebender Diagnose vor einer histologischen Sicherung des Tumors. Neben der Chemotherapie ist immer eine operative radikale Tumorentfernung notwendig. Die postoperative Behandlung richtet sich nach dem histologischen Subtyp und dem erzielten postoperativem Stadium. Die Chemotherapie muss in höheren Stadien oder bei hoher Malignität durch eine Radiatio ergänzt werden. Ungefähr 90% der Patienten mit einem Wilms-Tumor können heute dauerhaft geheilt werden. In Anbetracht dieser hohen Erfolgsrate ist ein besonderes Augenmerk auf akute Nebenwirkungen und Spätfolgen der Erkrankung und Therapie zu richten. Andere Tumoren der Niere sind im Kindesalter selten. Hierzu zählen das Klarzellensarkom, der Rhabdoidtumor, das Nierenzellkarzinom und das mesoblastische Nephrom. Bildmorphologisch lassen sich diese Tumoren nicht vom Wilms-Tumor trennen. Die Prognose des Rhabdoidtumors ist weiterhin sehr schlecht, während das Klarzellensarkom heute durch Therapieintensivierung heilbar geworden ist. Kinder mit einem Adenokarzinom der Niere überleben nur, wenn der Tumor in einem niedrigen Stadium chirurgisch radikal entfernt werden kann. Das mesoblastische Nephroms ist durch alleinige Operation heilbar; lediglich bei der zellulären Variante treten Lokalrezidive und Metastasen auf.
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863 69 · Nierentumoren
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69
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
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865
Weichteilsarkome J. Treuner, I. Brecht
70.1 70.2 70.3 70.4
Einführung – 865 Epidemiologie – 865 Ätiologie – 866 Histologie, Biologie und Klassifikation – 866
70.4.1 70.4.2 70.4.3 70.4.4 70.4.5 70.4.6 70.4.7 70.4.8 70.4.9 70.4.10 70.4.11 70.4.12 70.4.13
Rhabdomyosarkome – 867 Extraossäre Ewing-Sarkome und periphere primitive neuroektodermale Tumoren – 868 Synovialsarkome – 868 Undifferenzierte Sarkome – 868 Maligne periphere Nervenscheidentumoren – 868 Fibrosarkome – 868 Leiomyosarkome – 868 Liposarkome – 868 Maligne fibröse Histiozytome – 869 Vaskuläre Sarkome – 869 Andere seltene Weichteilsarkome – 869 Grading – 869 Molekulargenetik – 870
70.5 70.6
Klinik – 870 Diagnostik – 872
70.6.1 70.6.2 70.6.3 70.6.4 70.6.5
Allgemeine Prinzipien – 872 Initialdiagnostik – 872 Differenzialdiagnose – 872 Stadieneinteilung – 873 Diagnostik im Verlauf und Nachsorge
70.7
Therapie
70.7.1 70.7.2 70.7.3 70.7.4 70.7.5 70.7.6 70.7.7
Allgemeine Prinzipien – 874 Risikofaktoren – 874 Chirurgische Therapie – 874 Radiotherapie – 875 Chemotherapie – 876 Komplikationen und Spätfolgen Prognose – 877
Therapieoptimierungsstudien
70.8.1 70.8.2 70.8.3 70.8.4
IRS-Studien SIOP-Studien ICG-Studien CWS-Studien
Literatur
70.1
– 873
– 874
70.8
– 877
– 877
– 877 – 878 – 878 – 878
– 879
Im Alter von 9 Monaten fielen bei der zuvor gesunden kleinen K. ein vorgewölbter Bauch, Schwierigkeiten beim Wasserlassen sowie ein Abgang von »polypenartigen Gebilden« aus der Harnröhre auf. Eine transurethrale Blasenspiegelung mit Probeexzision führte zu der Diagnose eines botryoiden Rhabdomyosarkoms der Harnblase. In der Bildgebung stellte sich ein vom Blasenboden ausgehender, komplexer, traubenförmig wachsender Tumor (3,8×3,5×3,2 cm) ohne ein-
▼
deutige Demarkierung gegen den Uterus und das Scheidengewölbe dar. Lymphknotenbefall oder Fernmetastasen zeigten sich nicht. Da nach 9 Wochen neoadjuvanter Chemotherapie nur ein partielles Ansprechen des Tumors zu erkennen war und eine Strahlentherapie aufgrund des Alters der kleinen Patientin ausschied, wurde eine radikale Zystektomie mit partieller Urethrektomie und Resektion der Scheidenvorderwand vorgenommen. Die Scheidenvorderwand wurde durch Einnaht eines Segments Lyodura als Proliferationsschiene und die Harnableitung mittels eines Mainz-Pouches II rekonstruiert. Die histologische Untersuchung zeigte ein noch 1,5 cm großes, überwiegend sklerosiertes Rhabdomyosarkom mit subepithelial gelegenen Resten vitaler Tumorelemente (10%), das komplett entfernt werden konnte. Postoperativ wurde die Chemotherapie fortgesetzt und nach weiteren 6 Blöcken beendet. Die kleine Patientin befindet sich jetzt seit 7 Jahren rezidivfrei in der Nachsorge und hat sich gut entwickelt.
Einführung
Die Gruppe der malignen Weichteiltumoren des Kindes- und Jugendalters umfasst eine Vielzahl von histologischen Entitäten mit unterschiedlichem biologischen Verhalten. Gemeinsam ist ihnen die Abstammung von mesenchymalen Stammzellen sowie das Vorkommen in den Weichteilen des Körpers. Die histologische Vielfalt und die Variabilität der klinischen Manifestationen maligner Weichteiltumoren erfordern ein differenziertes diagnostisches und therapeutisches Vorgehen entsprechend den initialen Faktoren Histologie, Lokalisation, Tumorgröße, lokales Wachstumsverhalten, systemische Streuung, Resezierbarkeit des Tumors und Patientenalter. Neben diesen initialen Faktoren sind für die Behandlung der Weichteilsarkome auch die Chemo- und Radiotherapieempfindlichkeit des Tumors von entscheidender Bedeutung. Ziel der Therapie ist es, ein rezidivfreies Überleben bei möglichst wenig funktionellen oder kosmetischen Einbußen zu sichern. Dabei hat das Überleben des Patienten Priorität vor den funktionellen und kosmetischen Aspekten, jedoch muss die Lebensqualität von Beginn der Behandlung an bedacht werden. 70.2
Epidemiologie
Inzidenz. Die Inzidenz der malignen Weichteilsarkome (WS)
liegt in Deutschland im Jahr bei 1 pro 100.000 Kindern unter 15 Jahren (Kaatsch u. Spix 2002). Damit machen die WS ca. 7–10% aller malignen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter aus und sind nach den Leukämien, Lymphomen,
70
866
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
ZNS-Tumoren und Neuroblastomen die vierthäufigste Tumorgruppe. Geschlechtsverhältnis. Das Verhältnis Jungen zu Mädchen
beträgt 1,2:1. Das mediane Erkrankungsalter ist 4,6 Jahre (Kaatsch u. Spix 2002). Bei den unterschiedlichen Tumorentitäten divergieren Geschlechtsverhältnis sowie Altersverteilung jedoch sehr.
IV
Häufigkeitsverteilung. Die im Kindesalter häufig vorkommenden Weichteilsarkome sind im Erwachsenenalter selten; umgekehrt stellen die im Erwachsenenalter häufig gesehenen Histologien im Kindesalter Raritäten dar. Überlappungen finden sich im Jugendalter. Aus den 4 nationalen Therapiestudien CWS-81, CWS-86, CWS-91 und CWS-96 (Cooperative Weichteilsarkom-Studie) ergibt sich die folgende relative Häufigkeitsverteilung der wichtigsten Histologien bei Kindern und Jugendlichen bis zum 21. Lebensjahr (Stand 10/2003, unveröffentlichte Daten).
Häufigkeitsverteilung der wichtigsten Weichteilsarkome: Rhabdomyosarkom (RMS) 54% Extraossäres Ewing-Sarkom (EES)/peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor (pPNET) 11% Synovialsarkom (SS) 7% Maligner peripherer Nervenscheidentumor (MPNST): Neurofibrosarkom (NFS) und malignes Schwannom 4% Fibrosarkom (FS) 2% Leiomyosarkom (LMS) 2% Malignes fibröses Histiozytom (MFH) 1% Unklassifiziertes Sarkom (UKS) 1% Undifferenziertes Sarkom (UDS) 2% Andere, seltene Weichteilsarkome 16%
70.3
Ätiologie
Vermutlich entwickeln sich maligne Weichteilsarkome aus mesenchymalen Stammzellen, wobei sie eine mehr oder weniger erkennbare Differenzierung erfahren, die auch innerhalb eines Tumors noch variiert. Dabei kommen auch Tumoren vor, die 2 oder 3 verschiedene Ausgangsgewebe enthalten (Harms et al 2002). Maligne Weichteilsarkome entwickeln sich selten aus gutartigen Weichgewebstumoren, ausgenommen das maligne Schwannom, das sich aus einem Neurofibrom entwickeln kann. Dieses wird in 10% der Patienten mit Neurofibromatose Typ 1 beobachtet (Ferner u. O’Doherty 2002). Als Ursache für die Entstehung von malignen Weichteilsarkomen werden verschiedene chemische Faktoren, Strahlenbelastung, Immundefekte und genetische Faktoren beschrieben. Die Evaluierung der Faktoren ist jedoch schwierig, da häufig lange Latenzperioden von der Exposition zur Entstehung des Malignoms vorliegen und möglicherweise multiple Umweltfaktoren in Kombination mit Erbfaktoren eine Rolle spielen. Einige Umweltkarzinogene wie verschiedene Pestizide, Asbest und Nickel wurden mit der Entstehung von Sarkomen
in Verbindung gebracht (Goggon u. Acheson 1983; Selikoff et al. 1964; Szepsenwol et al. 1985). Ungefähr 0,1% der Patienten, die im Rahmen einer malignen Erkrankung bestrahlt wurden, entwickeln innerhalb von 5 Jahren ein Sarkom der Weichteile oder der Knochen ( Kap. 71). Langzeitimmunsuppression – beispielsweise von Ciclosporin nach Organtransplantation – kann die Entstehung verschiedener Weichteilsarkome induzieren. Es gibt Hinweise, dass in Familien mit Karzinombelastung Kinder gehäuft an Rhabdomyosarkomen erkranken (Birch et al 1990) und es besteht eine höhere Tumorinzidenz bei Zwillingen, von denen einer ein Rhabdomyosarkom entwickelt hat (Usui et al. 1984). 70.4
Histologie, Biologie und Klassifikation
Über die letzten Jahrzehnte wurden verschiedene Versuche unternommen, eine umfassende und brauchbare Klassifikation der Weichteilsarkome zu entwickeln. Die heutigen Klassifikationen – so die der Weltgesundheitsorganisation von 2002 – basieren v. a. auf der Art der Differenzierung der Tumorzellen (Fletcher et al. 2002). Subtypen wurden eingeführt, wenn sie hilfreich für die Diagnose waren oder unterschiedliches biologisches Verhalten zeigten. Beschreibende Bezeichnungen wie »spindelzelliges Sarkom« oder »pleomorphes Sarkom« versucht man zu vermeiden, da sie wenig Informationen über das biologische Verhalten der Tumoren beinhalten. Trotzdem bleiben ca. 5% der Weichteilsarkome unklassifizierbar. Für die Rhabdomyosarkome im Kindesund Jugendalter ist eine eigene Klassifikation durch kooperative Zusammenarbeit der großen pädiatrischen Weichteilsarkomstudien entstanden (Newton et al. 1995). Eine genaue Beschreibung der Klassifikation und Pathologie der Rhabdomyosarkome sowie anderer Weichteilsarkome findet sich im Kap. 46). An dieser Stelle sollen nur die für die Klinik unmittelbar relevanten Aspekte erwähnt werden. Für die Strategie der Behandlung der WS in Bezug auf den Einsatz von Chemotherapie und Radiotherapie sowie das Ausmaß des chirurgischen Eingriffes, ist die Einteilung nach Chemotherapieempfindlichkeit von essenzieller Bedeutung (Treuner u. Morgan 1995; Flamant et al. 1998). Aus diesem Grund hat die Cooperative Weichteilsarkom-Studie (CWS-Studie) eine Einteilung gewählt, die die Chemosensibilität der Tumoren als Grundlage nimmt. In diesem Schema gibt es 3 Gruppen (⊡ Tabelle 70.1): ▬ die Gruppe der chemotherapieempfindlichen Weichteilsarkome, die RMS-artigen Tumoren, ▬ die Gruppe der mäßig chemotherapieempfindlichen Weichteilsarkome innerhalb der Non-RMS-artigen Tumoren, ▬ die Gruppe der nicht chemotherapiesensiblen Weichteilsarkome innerhalb der Non-RMS-artigen Tumoren. Die vorgenommene Einteilung bezieht sich auf das zu erwartende Ansprechen der einzelnen Weichteilsarkome auf Chemotherapie, schließt jedoch nicht aus, dass innerhalb dieser 3 Gruppen (A, B, C) auch Abweichungen vorkommen. Die gleiche Tumorentität kann aufgrund zum Teil noch nicht bekannter Faktoren in bestimmten Fällen auf die Chemotherapie ansprechen, in anderen Fällen nicht. Beispielsweise ist das kongenitale Fibrosarkom chemotherapieempfindlich,
867 70 · Weichteilsarkome
⊡ Tabelle 70.1. Klassifizierung der Weichteilsarkome nach Chemosensibilität und Histologie
A
B
CWS-Gruppe
RMS-artige Tumoren
Non-RMS-artige Tumoren
Chemotherapieempfindlichkeit
Gut chemotherapieempfindlich
Mäßig chemotherapieempfindlich
Nicht chemotherapieempfindlich
Alveoläres Weichteilsarkom Klarzellsarkom Epitheloides Sarkom Leiomyosarkom Liposarkom Maligner peripherer Nervenscheidentumor Malignes fibröses Histiozytom Maligner Rhabdoidtumor Hämangioperizytom Angiosarkom Kongenitales Fibrosarkom Desmoplastischer, klein- und rundzelliger Tumor Inflammatorisches myofibroblastisches Sarkom
Alveoläres Weichteilsarkom Fibrosarkom* Extraskelettales Chondrosarkom Klarzellsarkom Hämangioendotheliom
Enthält:
Günstige Histologie
Ungünstige Histologie
Embryonales Rhabdomyosarkom
Alveoläres Rhabdomyosarkom Extraossäres Ewing-Sarkom Peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor Synovialsarkom Undifferenziertes Sarkom
C
* ohne kongenitales FS. CWS Cooperative Weichteilsarkom-Studie; RMS Rhabdomyosarkom.
die nach dem ersten Lebensjahr auftretenden Fibrosarkome sind jedoch bei gleichem histologischen Bild meistens unempfindlich gegenüber einer Chemotherapie (GonzalesCrussi et al. 1980; Soule u. Pritchard 1977). 70.4.1 Rhabdomyosarkome 54% der WS im Kindes- und Jugendalter sind Rhabdomyosarkome (RMS). Sie lassen sich histogenetisch von der quergestreiften Muskulatur ableiten. Daher können entsprechend dem Differenzierungsgrad Antigene der Skelettmuskulatur wie Myogenin und MyoD1 immunhistochemisch nachgewiesen werden. Durch den geweblichen Ursprung der Rhabdomyosarkome können diese in nahezu allen Organen auftreten und sind nicht an das Vorhandensein von quergestreifter Muskulatur gebunden. Aufgrund histologischer Kriterien und unterschiedlichen biologischen Verhaltens lassen sich 4 verschiedene Subtypen mit divergierender Prognose unterscheiden (Leuschner u. Harms 1999): ▬ RMS mit günstiger Prognose sind der botryoide und der spindelzellige Typ des embryonalen Rhabdomyosarkoms (RME). Der botryoide Typ des RME manifestiert sich als »traubenartige« Vorwölbung in Hohlorganen wie Harnblase, Vagina, Gallengängen, Ohren, Nase und gelegentlich in der Analregion. Mikroskopisch ist eine charakteristische Kondensierung der Tumorzellen parallel unter dem bedeckenden Oberflächenepithel (»Kambiumschicht«) zu sehen. ▬ Der Spindelzelltyp des RME tritt bevorzugt in der paratestikulären Region auf. Er ist gekennzeichnet durch ein
Wachstumsmuster aus Bündeln und Strängen mit mehr als 75% Spindelzellen und einer immunhistochemisch skelettmuskulären Differenzierung (Cavazzana et al. 1992). ▬ Das klassische embryonale Rhabdomyosarkom besitzt eine intermediäre Prognose. Eine Häufung findet sich im Kopf-Hals-Bereich (46% aller RME) und im Urogenitalbereich (28% aller RME), prinzipiell kann es jedoch in allen Regionen des Körpers vorkommen. RME der Orbita und der paratestikulären Region gehen mit einer besonders günstigen Prognose einher. Der Tumor ist aus spindeligen bis ovoiden Zellen aufgebaut. Als morphologisches Korrelat der teilweise ausgeprägten Myogenese finden sich einige Zellen mit stark eosinophilem Zytoplasma (Harms et al. 1985). Als prognostisch ungünstig gilt das Auftreten anaplastischer Zellen. ▬ Alveoläre RMS (RMA) machen ca. 20% der RMS aus. Sie kommen überwiegend an den Extremitäten und am Stamm vor. Trotz häufig sehr gutem Ansprechen auf die Chemotherapie sind RMA prognostisch wesentlich ungünstiger als RME, da eine hohe Lokalrezidivrate und Metastasierungstendenz besteht (Brecht et al. 2003). Morphologisch sind sie gekennzeichnet durch alveoläre Hohlräume. Sind diese noch nicht ausgebildet, spricht man von einer soliden Variante des RMA. RMS, die eine nur fokale alveoläre Histologie zeigen, werden den RMA zugeordnet. RMA sind zytogenetisch durch die spezifischen t(2;13)- und t(1;13)-Translokationen gekennzeichnet (Sorenson et al. 2002).
70
868
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
70.4.2 Extraossäre Ewing-Sarkome
und periphere primitive neuroektodermale Tumoren
IV
Die Ewing-Tumoren gehören zu den so genannten kleinrund-blauzelligen Tumoren des Kindesalters ( Kap. 72). Gemeinsam sind diesen Tumoren eine Translokation auf dem Chromosom 22, meist t (11;22). Morphologisch unterscheidet man das klassische Ewing-Sarkom, das atypische EwingSarkom und den peripheren primitiven neuroektodermalen Tumor (pPNET; Synonym: maligner peripherer neuroektodermaler Tumor, MPNT), wobei letzterer mindestens 2 neurale Antigene, wie neuronspezifische Enolase (NSE), S-100, Synaptophysin und PGP 9,5, exprimiert und/oder eine neurale Rosettenbildung zeigt. Diese Tumoren unterscheiden sich histologisch und zytogenetisch nicht von den EwingSarkomen des Knochens. Ob sie in der Prognose unterschiedlich zu bewerten sind, ist nicht geklärt: Nach den bisherigen Analysen sind sie wohl in ihrem biologischen Verhalten vergleichbar. Prognostisch stehen sie dem RMA nahe. Sie besitzen eine hohe Metastasierungstendenz und der Altersgipfel liegt eher im späten Kindes- bis Jugendalter (Harms et al. 1998). 70.4.3 Synovialsarkome Die Synovialsarkome (SS) finden sich meistens an den Extremitäten in der Nähe von Gelenken, können aber auch im Kopf-Hals-Bereich vorkommen. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr. Die SS haben eine hohe Metastasierungstendenz. Sie metastasieren vorwiegend in die Lunge, dies noch Jahre nach Diagnosestellung (Ladenstein et al. 1993; Niethammer et al. 1993; Okcu et al. 2003; Schmidt et al. 1991;). Histologisch lassen sich 2 Formen unterscheiden: die so genannten biphasischen SS mit einer epithelialen und mesenchymalen Komponente und die monophasischen SS, die eine geringe epitheliale Differenzierung zeigen. Immunhistochemisch exprimieren SS Vimentin, die epithelialen Zellen sind positiv für Zytokeratin und epitheliales Membranantigen. Zusätzlich sind die spindelzelligen Zellen CD99-positiv. Nahezu alle SS weisen eine typische chromosomale Translokation t(X;18) auf (Clark et al. 1994). 70.4.4 Undifferenzierte Sarkome Die Histogenese der undifferenzierten Sarkome (UDS) ist unbekannt. Sie haben einen sehr niedrigen Differenzierungsgrad. Häufig wird die Diagnose durch Ausschluss anderer Sarkomtypen gestellt. Die Prognose der UDS ist ungünstig und analog dem RMA und den EES/pPNET einzustufen. 70.4.5 Maligne periphere Nerven-
scheidentumoren Die frühere Bezeichnung für die malignen peripheren Nervenscheidentumoren (MPNST) lautete Neurofibrosarkom (NFS) oder »malignes Schwannom« da sie als maligne Variante von Schwannom-/Neurofibromzellen angesehen
werden. Sie sind von spindelzelligem Charakter und von Fibrosarkomen oder dem spindelzelligen SS abzugrenzen. Immunhistochemisch findet sich meist eine fokal betonte Positivität für neurale Antigene, insbesondere S-100-Protein für die NSE. Sie manifestieren sich v. a. an den Extremitäten und im Retroperitonealraum. Eine hohe Inzidenz für diese Tumoren findet sich bei der Neurofibromatose (Morbus Recklinghausen). Die Prognose hängt insbesondere von der primären Resezierbarkeit ab, da sie wenig chemotherapieempfindlich sind. Sie zeigen eine hohe Metastasierungsrate (Neville et al. 2003). 70.4.6 Fibrosarkome Die Fibrosarkome (FS) kommen vorwiegend in den Extremitäten vor. Sie zeichnen sich durch ihre Spindelzellformation in Form von langgezogenen Spindelzellen aus und haben außer einer Vimentinexpression keine weiteren Differenzierungsmerkmale. Molekularzytogenetisch zeigt sich eine t(12;15)p(13/q25)-Translokation. Zu unterscheiden sind das klassische Fibrosarkom des Kindes- und Erwachsenenalters von dem kongenitalen Fibrosarkom (cFS), wobei das cFS mitunter schwer von der Fibromatose abzugrenzen ist. Im Gegensatz zu den juvenilen Fibrosarkomen, deren Prognose im Wesentlichen von der primären Resezierbarkeit abhängt, spricht das cFS gut auf eine Chemotherapie an, metastasiert selten und hat eine günstige Prognose (Soule et al. 1977). 70.4.7 Leiomyosarkome Mikroskopisch sind Leiomyosarkome (LMS) typische Spindelzellsarkome, die eine deutliche glattmuskuläre Differenzierung aufweisen. Diese geht mit einer starken Expression von Glattmuskelaktin sowie einer meist schwächeren Desminexpression einher. LMS machen ca. 4% aller Weichteilsarkome im Kindesalter aus. Eine Häufung findet sich im Gastrointestinaltrakt, Gallengangssystem, Bronchialbaum der Lunge, in der Harnblase und Prostata. Sie sind in der Regel wenig chemotherapieempfindlich, metastasieren im Kindesalter jedoch selten (Ferrari et al. 2001a). Eine Häufung von LMS bei immunsupprimierten Kindern konnte mit einer EBV-Infektion in Verbindung gebracht werden. 70.4.8 Liposarkome Liposarkome (LPS) sind im Kindesalter sehr selten. Die Hauptlokalisation ist das Fettgewebe der Oberschenkel, der Stammregion, des Kopf-Hals-Bereichs, oder des Mediastinums. Im Kindes- und Jugendalter findet sich meist das myxoide LPS, das eine t(12;16)-Translokation trägt und eine Tendenz zur Metastasierung in die Lunge aufweist. Die Resezierbarkeit des Tumors spielt prognostisch eine große Rolle. Der Tumor spricht auf Radiotherapie an, die Rolle der Chemotherapie ist unklar. Die im Erwachsenenalter häufiger auftretenden, oft hochdifferenzierten Liposarkome, die prognostisch ungünstiger sind, treten bei Kindern und Jugendlichen praktisch nicht auf (Ferrari et al. 1999).
869 70 · Weichteilsarkome
70.4.9
Maligne fibröse Histiozytome
Die häufiger im Erwachsenenalter auftretenden malignen fibrösen Histiozytome (MFH) sind im Kindes- und Adoleszentenalter selten und kommen dort v. a. in der Kopf-HalsRegion vor. Mikroskopisch werden verschiedene Typen unterschieden. Bei Kindern ist der storiform-pleomorphe Typ am häufigsten. Immunhistochemisch sind die Zellen positiv für Vimentin und histiozytäre Marker (CD68), können aber auch myogene oder neurale Antigene exprimieren. Als Sonderform der MFH wurde früher das angiomatöse, fibröse Histiozytom (AFH) angesehen (Enzinger 1979). Die Prognose dieser v. a. an den Extremitäten vorkommenden Form ist besonders günstig. Das AFH kann mit Gewichtsverlust, Fieber und Thrombozytopenie einhergehen. Immunhistochemisch exprimieren die Zellen Vimentin, Aktin, Desmin, CD68 und Lysozym (Daw et al. 2003; Raney et al. 1986). 70.4.10 Vaskuläre Sarkome Vaskuläre Tumoren im Kindes- und Jugendalter treten überwiegend in Form von Hämangiomen oder Gefäßmalformationen auf. Diese können lokal aggressiv wachsen, zeigen aber häufig eine Spontanregression. Maligne Gefäßtumoren sind in dieser Altersgruppe sehr selten, die Häufigkeit der vaskulären Sarkome (VS) liegt bei 2% aller malignen Weichteiltumoren. Bei den vaskulären Sarkomen gilt es, das Hämangioendotheliom (HE), das Hämangioperizytom (HP) und das Angiosarkom (AS) zu unterscheiden. Während das HP und das HE eine sehr gute Prognose besitzen, sind die Heilungschancen für Patienten mit einem AS sehr gering. Nur das HP zeigt ein Ansprechen auf Chemotherapie (Ferrari et al. 2002). Die Abgrenzung der Tumoren zu den gutartigen Hämangiomen ist schwierig. Besonders das HP lässt sich meist erst im Verlauf als benigne oder maligne erkennen (Ferrari et al. 2001b). 70.4.11 Andere seltene Weichteilsarkome: Andere seltene Weichteilsarkome im Kindes- und Jugendalter sind:
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
alveoläre Weichteilsarkome (AWTS), Klarzellsarkome der Weichteile (CCS), extraskelettale Chondrosarkome (ECS), epitheloide Sarkome (ES), desmoplastische klein- und rundzellige Tumoren (DRT), inflammatorische myofibroblastische Tumoren (IMFT), maligne Rhabdoidtumoren der Weichteile (MRT),
Diese Tumoren sind sehr selten, sie haben eine unterschiedliche Präferenz bezüglich Alter, Lokalisation und sind in ihrem biologischen Verhalten sehr variabel (Raney et al. 1996). 70.4.12 Grading ! Die klinische Relevanz der für die Sarkome im Erwachsenenalter entwickelten Grading-Schemata ist bei Kindern und Jugendlichen fraglich, da die meisten Weichteilsarkome im Kindes- und Jugendalter als »High-grade«-Sarkome anzusehen sind.
Diese Grading-Schemata beruhen auf morphologischen Parametern wie Differenzierung, mitotische Aktivität sowie Ausmaß von Nekrosen. Das so genannte Coindre-GradingSchema der Fédération Nationale des Centres de Lutte Contre le Cancer (FNCLCC-Grading) ist weltweit verbreitet und besitzt eine gute prognostische Relevanz im Erwachsenenalter (Coindre et al. 2001). Die amerikanische Pediatric Oncology Group (POG) hat ein Grading-Schema speziell für Sarkome entwickelt, das spezifische prognostische Faktoren der Sarkome im Kindesalter einschließt (Parham et al. 1995). So werden manche Tumorentitäten per se einem definierten Grading zugeordnet, da die klassisch-morphologischen Grading-Parameter bei diesen Tumoren nicht zutreffen oder nicht verlässlich anwendbar sind. Zusätzlich wird bei verschiedenen Tumoren das Lebensalter der Patienten berücksichtigt (⊡ Tabelle 70.2). Rhabdomyosarkome kommen in diesem Schema nicht vor, da sie als Grad-3-Tumoren angesehen werden und im Rahmen der internationalen Klassifikation eine Unterteilung in prognostische Subgruppen vorgenommen wurde. Es ist zu empfehlen, bei den Sarkomen, die nicht zu den Rhabdomyosarkomen gehören, sowohl das Coindre- als auch das POG-Grading-Schema (⊡ Tabelle 70.2)
⊡ Tabelle 70.2. Sarcoma Grading System der Pediatric Oncology Group (POG)
Grad 1
Grad 2
Grad 3
Myxoides, hochdifferenziertes Liposarkom Tiefsitzendes Dermatofibrosarcoma protuberans Myxoides Chondrosarkom, extraskelettal Hochdifferenziertes Leiomyosarkom Hochdifferenzierter maligner peripherer Nervenscheidentumor Malignes hochdifferenziertes Hämangioperizytom Infantiles Fibrosarkom
Alle Sarkome, nicht Grad 1 oder 3, mit folgenden Kriterien: − <15% Nekrosen − <5 Mitosen pro 10 HPF − keine ausgeprägten nukleären Atypien − keine sehr hohe Zellularität Fibrosarkome und maligne Hämangioperizytome bei Kindern unter 4 Jahren sind Grad-2-Tumoren (bzw. Grad 1), auch bei hoher Zellularität und Mitosezahl
HPF high power field.
Pleomorphes Liposarkom Mesenchymales Chondrosarkom Osteosarkom (extraskelettal) Maligner Triton-Tumor Alveoläres Weichteilsarkom Alle anderen Sarkome: − nicht Grad 1 oder 2 − >15% Nekrosen − >5 Mitosen pro 10 HPF
70
870
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 70.3. Tumorspezifische Translokationen bei Weichteiltumoren
Translokation ews-fli1
IV
Tumortyp t(11;22)(q24;q12)
ews-erg
t(21;22)(q22;q12)
ews-etv1
t(7;22)(p22;q12)
ews-eaf1
t(17;22)(q12;q12)
ews-atf1
t(12;22)(p13;q12)
Klarzellsarkom
ews-wt1
t(11;22)(p13;q12)
Desmoplastischer, klein- und rundzelliger Tumor
(Extraossäres) Ewing-Sarkom/peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor
ews-chop
t(12;22)(q13;q12)
fus-chop
t(12;16)(q13;p11)
pax3-fkhr
t(2;13)(q35;q14)
pax7-fkhr
t(1;13)(p36;q14)
syt-ssx1
t(X;18)(p11;q11)
syt-ssx2
t(X;18)(p11;q11)
Synovialsarkom
etv6-ntrk3
t(12;15)(p13;q25–26)
Infantiles Fibrosarkom
hmgic-lpp
t(3;12)(q27–28;q14–15)
Lipom
col1a1-pdgfb
t(17;22)(q22;q13)
Dermatofibrosarcoma protuberans
Myxoides Liposarkom
Alveoläres Rhabdomyosarkom
anzuwenden, um zukünftig durch prospektive Analysen die prognostische Relevanz der Grading-Schemata ermitteln zu können.
kationsmarker könnten die Fusionsgene einem Einstieg in neue Therapieverfahren auf der Basis molekularer Methoden dienen.
70.4.13 Molekulargenetik
70.5
Neben den klassischen, histopathologischen und immunhistochemischen Kennzeichen weisen viele Sarkome tumorspezifisch chromosomale Translokationen auf (⊡ Tabelle 70.3; Bennicelli et al. 1999; Sandberg 2002). Die Bruchpunkte liegen innerhalb von Transkriptionsgenen. Die Expression führt zu chimären Genexpressionsregulatoren mit im Vergleich zum Wildtypprotein veränderten Eigenschaften. Die Tabelle gibt einen Überblick über die tumorspezifischen Translokationen bei Weichteiltumoren. Auch scheinen unterschiedliche Genfusionsvarianten bei bestimmten Weichteilsarkomen wie dem ossären EwingSarkom, dem alveolären Rhabdomyosarkom und dem Synovialsarkom Hinweise auf den klinischen Verlauf geben zu können. Hier besteht jedoch noch erheblicher Forschungsbedarf. Die RT-PCR (Reverse-Transkriptase Polymerasekettenreaktion), mit der die charakteristischen Fusionstranskripte identifiziert werden können, stellt aufgrund der hohen Spezifität und Sensitivität eine ideale Methode zur Ergänzung der klassischen Routinediagnostik dar. Ferner besteht durch die hohe Sensitivität der RT-PCR die Möglichkeit, minimale Mengen zirkulierender potenziell metastatischer Tumorzellen im Blut und Knochenmark zum Zeitpunkt der Erstdiagnose oder in der Nachsorge (minimale Residualerkrankung, MRD) sowie im Leukapheresematerial bei der Vorbereitung einer autologen Stammzelltransplantation nachzuweisen. Neben der diagnostischen und prognostischen Bedeutung tumorspezifischer Translo-
Das klinische Bild der WS wird im Wesentlichen von der Lokalisation und der Ausdehnung des Tumors geprägt. Da WS nahezu in allen Lokalisationen vorkommen können,
Klinik
⊡ Abb. 70.1. Orbitaler Tumor bei einem 4 Monate alten Kind (embryonales Rhabdomyosarkom) mit Verdrängung des Augapfels nach vorne (MRT-Bild bei Diagnosestellung)
871 70 · Weichteilsarkome
⊡ Abb. 70.2. Weichteilsarkom (alveoläres Rhabdomyosarkom) im Bereich der Extremität mit Verdrängung und Verlagerung des Knochens
ist das Bild sehr variabel. WS, die sich oberflächlich entwickeln, verursachen eine häufig rasch zunehmende Schwellung bzw. Schmerzen. Beides wird nicht selten auf ein stattgehabtes Trauma zurückgeführt. Weiterhin kann es zu Funktionseinbußen im betroffenen Organ kommen, z. B. Sehstörungen bei Orbita RMS (⊡ Abb. 70.1) oder Bewegungseinschränkungen im Bereich der Extremität (⊡ Abb. 70.2). Tumoren, die sich in Körperhöhlen manifestieren, bleiben lange unentdeckt. Auch sie verursachen ggf. Schmerzen und/oder Funktionsstörungen der betroffenen Organe. Bei Weichteilsarkomen des Nasopharynx liegt bei Diagnose nicht selten eine lang andauernde Obstruktion oder nasaler
Ausfluss vor, im Bereich des Mittelohres können sie eine Otitis media oder eine Mastoiditis vortäuschen. Durch Einbezug der Schädelbasis kann es zu Ausfällen der Hirnnerven kommen. Tumoren der Blase/Prostata und des kleinen Beckens können durch Obstipation und/oder Harnverhalt auffallen (⊡ Abb. 70.3 und 70.4). In anderen Lokalisationen fallen die WS häufig nur durch die Tumormasse auf und die Kinder und Jugendlichen befinden sich in gutem Allgemeinzustand. In seltenen Fällen wird die Diagnose durch weit gestreute Metastasen gestellt, ohne dass ein Primärtumor gefunden werden kann.
⊡ Abb. 70.3. Botryoider Tumor im Bereich der Blase, traubenförmiges Wachstum eines embryonalen Rhabdomyosarkoms (MRT-Bilder) bei einem 3-jährigen Patienten
⊡ Abb. 70.4. MRT-Bilder eines embryonalen Rhabdomyosarkoms im Bereich des kleinen Beckens mit Verdrängung der Blase
70
872
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
70.6
Diagnostik
70.6.1 Allgemeine Prinzipien
IV
Die Diagnose stützt sich auf Anamnese, klinische Untersuchung, Bildgebung, Laboruntersuchung, Histologie und molekularbiologische Untersuchung. Letzte Sicherheit kann nur die Histologie und/oder Molekularbiologie bringen. Die klinische Untersuchung sollte auf 3 Kriterien achten, die für eine Malignität sprechen: ▬ Weichteilschwellung unklarer Genese, ▬ verdächtig feste Konsistenz, ▬ Adhäsion an tiefe Schichten. ! Jeder Tumor bei Kindern und Jugendlichen sollte so lange als bösartig angesehen werden, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Bei Verdacht auf einen malignen Tumor sollte ein interdisziplinäres Team aus Chirurgen, Onkologen und Radiologen präoperativ entscheiden, ob eine primäre komplette Exzision des Tumors mit Sicherheitsabstand oder eine Biopsie erfolgen kann. Soll eine Biopsie durchgeführt werden, so besteht die Möglichkeit einer offenen Inzisionsbiopsie mit eventuell kompletter Tumorentfernung nach Bestätigung der Malignität durch Schnellschnitt oder mittels einer MRT- oder Sonographie-gesteuerter Feinnadelbiopsie. Bei kleineren Tumoren, die ohne wesentliche ästhetische und funktionelle Nachteile primär komplett entfernt werden können, kann eine Exzision ohne vorherige histologische Diagnose angestrebt werden. Jedoch sollte eine ausreichende Biopsie die Regel und eine primäre Exzision vor histologischer Diagnosestellung nur die Ausnahme darstellen. Zu vermeiden ist »das Ausschälen des Tumors im Gesunden« unter dem Verdacht, dass es sich um einen gutartigen Tumor handelt. 70.6.2 Initialdiagnostik
Faktoren für die Risikostratifizierung: Exakter Sitz des Tumors (Lokalisation) Begrenzung auf das Ausgangsorgan/Gewebe (T-Status) Lymphknotenstatus (N-Status) Metastasierung (M-Status) Histologie (histologischer Subtyp) Postchirurgisches Stadium (IRS-Grouping-System I–IV) Patientenalter (≤ oder >10 Jahre) Tumorgröße (≤ oder >5 cm Durchmesser)
Die initiale Diagnostik sollte diese Faktoren berücksichtigen. Sie beinhaltet eine hochauflösende Schnittbilddiagnostik der Tumorregion, die nicht nur den Primärtumor, sondern auch die im Drainagebereich des Tumors liegenden Lymphknotenstationen darstellen sollte. Dieses ist insbesondere bei Tumoren mit hohem Risiko für Lymphknotenstreuung wie RMA, ES und CCS von großer Bedeutung. Aufgrund der wesentlich höheren Kontrastauflösung der Magnetresonanztomographie (MRT) gegenüber der Computertomographie
(CT) sollte dem Magnetresonanzverfahren in der Regel der Vorzug gegeben werden. ! Eine qualitativ hochwertige präoperative Bildgebung ist nicht nur für die Operationsplanung, sondern auch für die postoperative Abgrenzung der durch den chirurgischen Eingriff bedingten Reaktionen von prognostisch relevanten Tumorveränderungen von großer Bedeutung.
Um die initiale Tumorausbreitung beurteilen zu können (Staging), sind folgende Untersuchungen notwendig: ▬ Nativröntgenaufnahmen der Lunge in 2 Ebenen, ▬ CT des Thorax, Spiral-CT falls verfügbar, ▬ Schädel-MRT oder -CT vor und nach Kontrastmittelapplikation, ▬ Sonographie bzw. Kernspintomographie des Abdomens, ▬ Knochenmarkbiopsie und/oder -aspiration an 2 Stellen, ▬ Skelettszintigraphie. Darüber hinaus erfordert jede pädiatrisch-onkologische Behandlung die exakte Anamnese, körperliche Untersuchung, Labormedizin, EEG, Audiogramm, EKG und Echokardiogramm sowie die bei soliden Tumoren zu bestimmenden tumorassoziierten Aktivitätsparameter (NSE, AFP, CEA, β-HCG, Katecholamine, LDH). Bei bestimmtem Sitz des Tumors sind zusätzliche Untersuchungen notwendig. Tumoren im Kopf-Hals-Bereich, parameningeal und paravertebal, die möglicherweise Anschluss an das Liquorsystem aufweisen, erfordern eine Liquorzytologie. Eine Lungenfunktionsprüfung ist bei allen im Respirationstrakt liegenden Tumoren angezeigt. Eine spezielle endokrinologische Diagnostik ist bei Tumoren, die in der Nähe von hormonproduzierenden Organen liegen, z. B. Nebennieren, Schilddrüse, Hypophyse, Hypothalamus sinnvoll. Vor allem sind diese Untersuchungen vor einer zytostatischen Behandlung notwendig, um eine Affektion durch Chemotherapie von einer Funktionsbeeinträchtigung der Organe durch die Tumorinfiltration abzugrenzen. 70.6.3 Differenzialdiagnose Aufgrund des Vorkommens der WS in prinzipiell allen Regionen des Körpers und der Vielfalt der Symptome ist die Liste der möglichen Differenzialdiagnosen lang. Hierzu gehören in erster Linie benigne Weichteiltumoren, aber auch andere maligne Erkrankungen. Nicht selten werden maligne WS primär unter nicht onkologischen Kriterien operiert, in der Annahme, dass es sich beispielsweise um ein Lipom oder Fibrom handelt. Bei Synovialsarkomen ist aufgrund ihrer meist langen Anamnesedauer und ihrer Lage in Gelenksnähe das Ganglion eine häufige Fehldiagnose. Im Bereich der Orbita müssen differenzialdiagnostisch auch Retinoblastome, Optikusgliome, Lymphome und Neuroblastommetastasen abgegrenzt werden. Aufgrund ihres Erscheinungsbildes werden WS zudem häufig als Infektionen oder Traumata fehlgedeutet. Beispiele sind die Osteomyelitis im Bereich der Extremitäten oder die Zystitis im Bereich der Blase oder Prostata. Auch histologisch-morphologisch ist die Zuordnung zu einer bestimmten Subentität der Weichteiltumoren häufig schwierig und erfordert immunhistochemische, zytogenetische und molekulargenetische Untersuchungen.
873 70 · Weichteilsarkome
70.6.4 Stadieneinteilung Gebräuchlich sind die prächirurgische TNM-Klassifikation der SIOP, das »grouping system« der Intergroup Rhabdomyosarkomstudie (IRS) und die postchirurgische histopathologische Klassifikation der SIOP (Wexler u. Helman 1997; Rodary et al. 1989; Donaldson u. Anderson 1997): Prächirurgische TNM-Klassifikation: Tumor T0 Kein Anhalt für Primärtumor T1 Tumor auf Ausgangsorgan oder -gewebe beschränkt mit − T1a: größtem Tumordurchmesser ≤5 cm − T1b: größtem Tumordurchmesser >5 cm T2 Tumor nicht auf Ausgangsorgan oder -gewebe beschränkt mit − T2a: größtem Tumordurchmesser ≤5 cm − T2b: größtem Tumordurchmesser >5 cm TX Inadäquate Information über Ausdehnung des Primärtumors (wie T2 zu bewerten) Lymphknoten N0 Kein Anhalt für Befall der regionären Lymphknoten N1 Befall der regionären Lymphknoten NX Inadäquate Information über Lymphknotenstatus (wie N0 zu bewerten) Metastasen M0 Kein Anhalt für Fernmetastasen oder Befall nicht-regionärer Lymphknoten M1 Fernmetastasen oder Befall nicht-regionärer Lymphknoten MX Inadäquate Information über Metastasenstatus (wie M0 zu bewerten)
Intergroup Rhabdomyosarcoma Study-Grouping System (IRS): Group I: Tumor primär komplett entfernt, kein Anhalt für mikroskopischen Rest Group II: Tumor primär komplett entfernt, Verdacht auf mikroskopische Reste Group III: Makroskopische Reste bei primärer Biopsie oder Teilresektion Group IV: Fernmetastasen bei Erkrankungsbeginn nachweisbar (einschl. Lymphknotenmetastasen jenseits der regionären Lymphknotenstationen)
Postchirurgische histopathologische Klassifikation (pTNM): pT (Primärtumor) pT0 Kein Hinweis auf einen Tumor in der histologischen Gewebeaufarbeitung pT1 Tumorausdehnung begrenzt auf Ausgangsorgan oder -gewebe, und Tumor ist vollständig entfernt mit histologisch freien Rändern pT2 Tumorausdehnung nicht begrenzt auf Ausgangsorgan oder -gewebe, aber Tumor ist
▼
vollständig entfernt mit histologisch freien Rändern pT3 Tumorausdehnung begrenzt oder nicht begrenzt auf Ausgangsorgen oder -gewebe, Tumor ist nur unvollständig entfernt: − pT3a mit Vorhandensein mikroskopischer Tumorreste − pT3b mit Vorhandensein makroskopischer Tumorreste, oder lediglich durchgeführter Biopsie − pT3c mit Vorliegen eines malignen Ergusses unabhängig von der Resttumorgröße pTX Die Ausdehnung der lokalen Infiltration kann nicht bestimmt werden pN (regionäre Lymphknoten) pN0 Kein Hinweis auf Tumorgewebe in der histologischen Gewebeaufbereitung der regionären Lymphknoten pN1 Befall der regionären Lymphknoten: − pN1a: die befallenen Lymphknoten sind vollständig entfernt worden − pN1b: die befallenen Lymphknoten sind nicht vollständig entfernt worden pNX Die Ausdehnung der regionären Infiltration kann nicht bestimmt werden, d. h. es wurde keine pathologische Untersuchung der regionären Lymphknoten durchgeführt, oder es gibt nur inadäquate Informationen zu den pathologischen Befunden.
70.6.5 Diagnostik im Verlauf und Nachsorge Die intensive chemotherapeutische Behandlung der WS beinhaltet auch Risiken. Die möglichen Nebenwirkungen der eingesetzten Medikamente erfordern eine fortlaufende Überwachung der Organsysteme. Hierzu gehören regelmäßige Laborkontrollen, EKG und Herzechographie insbesondere bei Anthrazyklinen, Hörprüfungen bei Cisplatin- und Carboplatingabe, Nierenfunktion bei Ifosfamidmedikation. Ziel muss sein, durch frühzeitiges Erkennen von Toxizitäten und entsprechende Dosisreduktionen der Medikamente sowie prophylaktische Maßnahmen akute Nebenwirkungen und Spätfolgen zu vermeiden. Zudem sollte der Tumorverlauf durch sonographische Kontrollen und CT- oder MRT-Untersuchungen während der Therapie genau dokumentiert werden. Bei einer primären Chemotherapie soll so die Chemotherapie-Response des Tumors frühzeitig ermittelt werden, um das Chemotherapieregime sowie die lokaltherapeutischen Maßnahmen anpassen zu können. Vor einer Resektion muss ein ausführliches Staging erfolgen, um die chirurgischen Maßnahmen im Sinne der Resezierbarkeit und den Einsatz der Strahlentherapie planen zu können. ! In der Tumornachsorge sind sorgfältige Kontrollen innerhalb des ersten Jahres von besonderer Bedeutung. Hier treten 2/3 der Rezidive bei RMS-artigen Tumoren auf (Mattke et al. 2003a).
70
874
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
70.7
Therapie
70.7.1 Allgemeine Prinzipien
IV
Aufgrund der verschiedenen Histologien mit ihrem unterschiedlichen biologischen Verhalten erfordert die Behandlung der Weichteilsarkome im Kindes- und Jugendalter ein sehr subtiles, an das Alter der Patienten, die Histologie des Tumors, den Tumorsitz und seine Ausdehnung, die Resezierbarkeit sowie die Chemo- und Radiotherapieempfindlichkeit angepasstes therapeutisches Vorgehen. Ziel der Behandlung muss es sein, bei möglichst weitgehender Schonung der körperlichen und seelischen Integrität ein rezidivfreies Überleben zu sichern. Die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Behandlung sind Chirurgie, Radiotherapie und Chemotherapie. Diese 3 Therapiemodalitäten müssen auf die individuelle Situation des Patienten abgestimmt sein und mit minimalstem Risiko für Akut- und Spätfolgen eingesetzt werden. Aus diesem Grund ist eine intensive interdisziplinäre Kooperation zwischen klinisch tätigen Onkologen, Pathologen, Radiologen, Radiotherapeuten und Chirurgen erforderlich. 70.7.2 Risikofaktoren ! Histologie, Tumorausdehnung (TNM-Status), initiale
Tumorgröße, Lokalisation, Resezierbarkeit und Patientenalter bestimmen das initiale therapeutische Vorgehen und sind das Instrument einer risikoadaptierten Therapie.
Es lassen sich mit den genannten Faktoren Risikogruppen definieren, die es ermöglichen, die Chemotherapie, Radiotherapie und die chirurgischen Maßnahmen adäquat und individuell einzusetzen (⊡ Tabelle 70.4).
Die möglichen Lokalisationen der WS wurden nach einer internationalen Übereinkunft in 7 Hauptlokalisationen eingeteilt, welchen jeweils eine unterschiedliche prognostische Bedeutung zukommt (Donaldson et al. 1986): ▬ Orbita = günstig ▬ Kopf-Hals-Region – parameningeal = ungünstig ▬ Kopf-Hals-Region – nicht parameningeal = günstig ▬ Urogenitaltrakt, Blase/Prostata = ungünstig ▬ Urogenitaltrakt, nicht Blase/Prostata = günstig ▬ andere Lokalisation (z. B. retroperitoneal) = ungünstig ▬ Extremitäten = ungünstig Die Definition der günstigen und ungünstigen Histologie bezieht sich auf die RMS-artigen Tumoren. Hier gelten RME als eher günstig in der Prognose, RMA, SS, EES, pPNET und UDS hingegen als ungünstig. Neuere Analysen haben gezeigt, dass Patientenalter und initiale Tumorgröße von prognostischer Bedeutung sind (Mattke et al. 2003b). Eine initiale Tumorgröße von >5 cm und ein Patientenalter >10 Jahre sind mit einem schlechteren Überleben korreliert. 70.7.3 Chirurgische Therapie Primäre Operation des Tumors Grundsätzlich gelten für alle Weichteilsarkome im Kindesund Jugendalter die gleichen Prinzipien der Lokaltherapie. Bei den Non-RMS-artigen Tumoren hat die Chirurgie jedoch für die lokale Tumorkontrolle eine größere Bedeutung, so dass hier alle Möglichkeiten einer weiträumigen Resektion in der Operationsplanung berücksichtigt werden müssen. Die Resezierbarkeit muss auch unter den Möglichkeiten der rekonstruktiven plastischen Chirurgie, der Mikrochirurgie und der Kombination verschiedener chirurgischer Disziplinen gesehen werden. Bei den chemotherapiesensiblen Sarkomen kann durch die multimodale Therapie eine Hei-
⊡ Tabelle 70.4. Risikostratifizierung der CWS-2002P Studie für lokalisierte RMS-artige Tumoren. Grau unterlegt sind die aus der Hochrisikogruppe in die Gruppe Standardrisiko bzw. sehr hohes Risiko verlagerten Patientengruppen. Günstige Histologie: embryonales Rhabdomyosarkom, ungünstige Histologie: alveoläres Rhabdomyosarkom, extraossäres Ewing-Sarkom, peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor, Synovialsarkom, undifferenziertes Sarkom; günstige Lokalisation: Orbita ohne knöcherne Infiltration, Kopf/Hals – nicht parameningeal, urogenital – nicht Blase/Prostata, ungünstige Lokalisation: Kopf/Hals, Orbita mit knöcherner Infiltration – parameningeal, urogenital – Blase/Prostata, Extremitäten, Andere (Thorax, Becken, Stamm)
Risikogruppe
Histologie
IRS-Stadium
Lokalisation
Lymphknotenstatus
Tumorgröße und Patientenalter
Niedrigrisiko
Günstig
I
Alle
N0
Günstig
Standardrisiko
Günstig
I
Alle
N0
Ungünstig
Günstig
II, III
Günstig
N0
Alle
Günstig
II, III
Ungünstig
N0
Günstig
Günstig
II, III
Ungünstig
N0
Ungünstig
Günstig
II, III
Alle
N1
Alle
Ungünstig
I, II, III
Alle
N0
Alle
Ungünstig
II, III
Alle
N1
Alle
Hochrisiko
Sehr hohes Risiko
N0 kein Befall regionärer LK, N1 Befall regionärer LK; Tumorgröße/Patientenalter günstig: Alter ≤10 Jahre und Tumorgröße ≤5 cm, Tumorgröße/Patientenalter ungünstig: Alter >10 Jahre und/oder Tumorgröße >5 cm.
875 70 · Weichteilsarkome
lung in den meisten Fällen auch ohne eine primäre R0-Resektion erreicht werden. ! Trotzdem sollte die initiale komplette Tumorresektion (R0-Resektion) das primäre Ziel der operativen Lokaltherapie sein, da sich eine frühe Lokalkontrolle als prognostisch günstig herausgestellt hat (Koscielniak et al. 1999). Eine primäre komplette Resektion ermöglicht es zudem, auf eine radiotherapeutische Maßnahme zu verzichten.
Falls nach dem Ersteingriff keine sichere R0-Resektion vorliegt, sollte durch eine frühe Nachresektion eine komplette Entfernung des Tumors ohne Verstümmelung angestrebt werden. Sollte diese Zweitoperation innerhalb kurzer Zeit zu einer sekundären R0-Resektion führen, kann bezüglich der Radiotherapie und Chemotherapie wie bei einer primären R0-Resektion verfahren werden (Hays et al. 1989). Sicherheitsabstand Die Definition einer R0-Resektion ist die komplette Entfernung des Tumors (»ohne dass der Operateur den Tumor zu Gesicht bekommt«). Dabei muss die Schnittführung und der Präparationsweg so gewählt sein, dass immer eine Schicht gesunden Gewebes zwischen Tumor und Resektionsrand liegt. Hierbei kann es sich um eine Faszie, ein Periost oder ein Perineurium handeln. In der Kinderheilkunde wird dieses als ausreichender Sicherheitsabstand angesehen. Die metrische Definition des Sicherheitsabstandes (2–5 cm) kann in der pädiatrischen Tumorchirurgie nicht zur Anwendung kommen, da die kleinen Organverhältnisse derartige Resektionsgrenzen nicht zulassen. Die Beschreibung der Wachstumsform des Tumors im pathologischen Bericht, z. B. gut abgegrenzt mit Pseudokapsel oder lokal infiltrierend, gibt Hinweise auf das biologische Verhalten des Tumors und trägt somit zur Beurteilung der weiteren lokalen Therapiemaßnahmen bei. Um eine möglichst sichere Aussage zum Resektionsstatus zu erhalten, ist eine Zusammenarbeit von Chirurgen und Pathologen notwendig. Der Pathologe sollte den Tumor und aus den Randgebieten entnommene Sicherheitsbiopsien nach einer exakten Zeichnung des Chirurgen aufarbeiten und sich definitiv auf den Resektionsgrad sowie den pT-, N- und M-Status festlegen können. Dabei sollten am Tumorpräparat alle für die Beurteilung des Sicherheitsabstandes wesentlichen Zonen vom Chirurgen markiert und in der Operationsskizze vermerkt werden. Lymphknotenbiopsie Bei verdächtigen Lymphknoten im MRT, CT oder in der Sonographie sollten im Rahmen des primären chirurgischen Eingriffs Proben des Lymphknotengewebes entnommen werden. Auch bei primär nicht resezierbarem Tumor und schnittbildgebend verdächtiger Lymphknotenstruktur muss eine Lymphknotenbiopsie angestrebt werden, da diese bei positivem pathologischen Befund für die Prognose des Patienten von essenzieller Bedeutung ist. Vor allem im Bereich der Extremitäten muss die Indikation zur diagnostischen Lymphknotenbiopsie großzügiger gestellt werden, besonders in Verbindung mit ungünstigen Histologien wie bei RMA, EES, pPNET, SS, UDS, ES und CCS.
! Die Indikation zur totalen Lymphadenektomie sollte nur in Rücksprache mit dem pädiatrischen Onkologen erfolgen, insbesondere bei der Kombination von Resektion und Bestrahlung, da es zu nicht vertretbaren Nebenwirkungen kommen kann.
»Second-look«-Biopsie/»Second-look«-Resektion Unter dem Begriff »Second-look«-Operation werden die »Second-look«-Biopsie mit rein diagnostischem Charakter und die »Second-look«-Resektion nach erfolgter adjuvanter Therapie zusammengefasst. Die »Second-look«-Biopsie wird eingesetzt, um bei einer radiologisch beschreibbaren Struktur Narbengewebe von vitalem Tumorgewebe unterscheiden zu können. 70.7.4 Radiotherapie Die Strahlentherapie ist für einen Teil der Patienten mit WS ein essenzieller Bestandteil der Therapie. Die chemotherapieempfindlichen Weichteilsarkome sind in der Regel auch radiotherapieempfindlich. Im Falle einer Inoperabilität stellt die Radiotherapie vorerst die einzige Möglichkeit einer Lokaltherapie dar. Berichte aus der Zeit vor dem verstärkten Einsatz von Chemotherapie zeigen auf, dass durch alleinige Radiotherapie mit einer relativ hohen Strahlendosis (60 Gy) bei einem Teil der Rhabdomyosarkome Tumorfreiheit erlangt werden kann (Sagerman et al. 1972). Die Kunst der strahlentherapeutischen Behandlung besteht heute darin, den Einsatz der Radiotherapie bezüglich Dosis, Zeitpunkt und genereller Notwendigkeit unter Berücksichtigung der Resezierbarkeit und Chemotherapieempfindlichkeit der Tumoren sowie des Alters der Patienten in bezug auf Überlebenschancen und Spätfolgen balanciert einzusetzen. Die Strahlentherapie erfolgt primär nach einer initialen Resektion oder sekundär nach einer chemotherapeutischen Vorbehandlung, sie sollte jedoch innerhalb des multimodalen Therapiekonzeptes nicht zu spät erfolgen und nicht unterbrochen werden (Koscielniak et al. 1994). Die Bestrahlungsdosis liegt zwischen 32 und 50 Gy. Sie wird in konventioneller (1-mal täglich 1,8 Gy), hyperfraktionierter (2-mal täglich 1,2 Gy) oder akzeleriert hyperfraktionierter (2-mal täglich 1,6 Gy) Weise appliziert. Durch die Hyperfraktionierung und Akzeleration kann die Gesamtdosis und potenziell die Gefahr der Spätfolgen reduziert und die Chemotherapiepause verkürzt werden (Koscielniak et al. 1994; Regine et al. 1995). Die Indikation zur Strahlentherapie richtet sich nach der Histologie, dem primären oder sekundären Resektionsgrad, dem Ansprechen auf die Chemotherapie und dem Alter des Patienten. Im Falle einer kompletten Resektion eines RMS mit günstiger Histologie oder eines nicht RMS-artigen Tumors kann auf eine Bestrahlung verzichtet werden. Das gilt auch für Patienten mit einem RMS-artigen Tumor günstiger Histologie und sekundärer R0-Resektion, sofern der Tumor zuvor gut auf Chemotherapie angesprochen hat. Liegt jedoch ein schlechtes Ansprechen oder Tumorreste nach einer Resektion vor, so sollte mit 44–50 Gy bestrahlt werden. Bei Patienten mit nicht RMS-artigem Tumor und inkompletter Resektion muss eine Bestrahlung erfolgen. Patienten mit
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
ungünstiger Histologie sollten nach neueren Erkenntnissen auch dann eine Strahlentherapie erhalten, wenn eine R0Resektion möglich war. Patienten mit einem RMA, das komplett oder mit mikroskopischen Resten reseziert wurde, haben ein statistisch signifikant besseres Überleben, wenn sie eine Radiotherapie erhalten haben (82% vs. 52% nach 5 Jahren; Wolden et al. 1999). Bei Patienten mit günstiger Histologie und gutem Ansprechen auf die Chemotherapie kann mit einer reduzierten Dosis (32–40 Gy) bestrahlt werden (Koscielniak et al. 2001). Dadurch können unnötige Spätfolgen vermieden werden. Ebenso sollte die Strahlendosis der Toleranz der im Strahlenfeld liegenden Organe angepasst werden. Bei Kindern unter 1 Jahr gilt die Strahlentherapie als absolut kontraindiziert. Im Alter ≤3 Jahren stellt die Bestrahlung eine relative Kontraindikation dar und sollte nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Eine kritische RisikoNutzen-Abwägung der zu erwartenden funktionellen oder kosmetischen Einbußen durch die Strahlentherapie gegen die Folgen einer vollständigen Tumorresektion muss in Grenzfällen klären, ob eine Strahlentherapie erfolgen soll oder nicht. 70.7.5 Chemotherapie Der Einsatz der Chemotherapie hat zu einer Verbesserung der Prognose der chemotherapiesensiblen Weichteilsarkome geführt, einerseits durch eine geringere Metastasierungsrate, andererseits durch eine effektivere lokale Tumorkontrolle (Flamant u. Hill 1984). Analysen haben jedoch gezeigt, dass maximal 20–30% der chemotherapiesensiblen Sarkome mit einer alleinigen Chemotherapie geheilt werden können. Dieses sind Patienten in einem Alter unter 10 Jahre mit embryonalen Rhabdomyosarkomen unter 5 cm Durchmesser, die gut auf die Chemotherapie ansprechen (Pilgrim et al. 1997). ! Die adjuvante Chemotherapie bei RMS-artigen Tumoren ist heute obligatorisch. Eine neoadjuvante Chemotherapie trägt zur Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle und damit zur möglichen Reduzierung der Strahlentherapie und der chirurgischen Maßnahmen bei. Die Intensität und Dauer des Chemotherapieeinsatzes wird dem individuellen Risiko angepasst. RMS-artige Weichteilsarkome. Eine Risikostratifizierung der
RMS-artigen Weichteilsarkome (RMS, EES, pPNET, SS, UDS) sollte die Faktoren Histologie, postchirurgisches Stadium, TNM-Status, Tumorgröße und Patientenalter berücksichtigen und definiert in der Regel 4 Risikogruppen ( Tabelle 70.4; Treuner et al. 1991). Die verschiedenen pädiatrischen Weichteilsarkomstudien unterscheiden sich nur geringfügig in ihrem Konzept der risikoadaptierten Therapie. Für Patienten mit niedrigem Risiko ist eine Chemotherapie bestehend aus Vincristin und Actinomycin D für einen Zeitraum von ca. 20 Wochen indiziert. Für eine mittlere Standardrisikogruppe bei lokalisierten RMS-artigen Tumoren wird eine Kombination aus Vincristin, Actinomycin D und Cyclophosphamid oder Ifosfamid für ca. ein halbes Jahr empfohlen. Für die Hochrisikogruppe lokalisierter RMS-artiger
Weichteilsarkome werden diese genannten Kombinationen mit Anthrazyklinen oder anderen zytostatischen Substanzen wie Cisplatin oder VP-16 kombiniert. Für Patienten mit sehr hohem Risiko für ein Rezidiv oder eine Metastasierung (Weichteilsarkome mit ungünstiger Histologie und Lymphknotenbefall) sowie primär metastasierte WS werden neue Chemotherapiekonzepte im Rahmen von Studien geprüft. Während die weitere Intensivierung der Chemotherapie (Hochdosischemotherapie-Protokolle) bisher nicht zu verbesserten Behandlungsergebnissen führte, können möglicherweise eine Verlängerung der Therapie oder experimentelle und immuntherapeutische Therapieansätze die Überlebensraten erhöhen (Raney et al. 1988; Koscielniak et al. 1997; Klingebiel et al. 2003). Non-RMS-artige Tumoren. Bei den Non-RMS-artigen Tumoren gilt es, 3 Gruppen zu unterscheiden: Solche, die mäßig oder nicht chemotherapieempfindlich sind, und solche, die zwar chemotherapiesensibel sind, aber ein hohes Rezidivrisiko haben ( Tabelle 70.1; Raney et al. 1996). Zu den Tumoren, die mäßig auf die Chemotherapie ansprechen, gehören im Kindes- und Jugendalter beispielsweise die Liposarkome (54% Ansprechen), die malignen peripheren Nervenscheidentumoren (47%), die Leiomyosarkome (43%), die malignen fibrösen Histiozytome (42%), die infantilen Fibrosarkome (37%) und die epitheloidzelligen Sarkome (37%). Die Klarzellsarkome hingegen sprechen nur in 14% der Fälle auf die Chemotherapie an, die alveolären Weichteilsarkome in 28% (unveröffentlichte Daten der CWS- und ICG-Studie). Auch innerhalb der Gruppe der vaskulären Sarkome zeigt sich ein sehr unterschiedliches biologisches Verhalten. Während das Hämangioendotheliom nicht und das Angiosarkom kaum auf Chemotherapie ansprechen, kann bei dem kindlichen Hämangioperizytom in 83% ein Ansprechen erwartet werden (Ferrari et al. 2001; Ferrari et al. 2002). Der desmoplastische, klein- und rundzellige Tumor ist gut chemotherapiesensibel, hat jedoch eine ausgesprochen schlechte Prognose aufgrund eines hohen Rezidivrisikos. Ein multimodaler Therapieansatz mit intensiver Chemotherapie in Kombination mit Radiotherapie und möglichst radikaler Chirurgie geht mit den besten Überlebensraten einher (Bisogno et al. 2000). Für die Gruppe der Non-RMS-artigen, lokalisierten Weichteilsarkome gelten demnach folgende vereinfachte Indikationen für die Chemotherapie: ▬ Patienten mit primär kompletter Tumorentfernung ohne Lymphknotenbefall bedürfen keiner Chemotherapie, ▬ Patienten mit Lymphknotenbefall oder primär nicht resezierbarem Tumor sollten eine Chemotherapie erhalten (z. B. Kombination aus Vincristin, Actinomycin, Ifosfamid/Cyclophosphamid und Anthrazyklinen), ▬ Patienten mit malignem Rhabdoidtumor und desmoplastischem Rundzelltumor sollten ebenso eine Chemotherapie erhalten.
Insgesamt sind die Non-RMS-artigen Tumoren im Kindesund Jugendalter extrem selten und die Fallzahlen klein. Derzeit ist auf der Grundlage der in den letzten Jahren durch die pädiatrischen Weichteilsarkomstudien gesammelten Daten und gemeinsam durchgeführten Analysen ein gesamteuropäisches Protokoll für die nicht RMS-artigen Tumoren in
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Arbeit, das der unterschiedlichen Biologie der einzelnen Tumorarten noch besser Rechnung tragen soll. Nichtansprechen auf die Chemotherapie. Bei Nichtanspre-
chen auf die primäre Chemotherapie, initialer Tumorprogression sowie im Falle eines Rezidives richtet sich die Therapie nach den vorausgegangenen Chemotherapiekombinationen (Klingebiel et al. 1998). Beispielsweise sollten bei Patienten, die zuvor keine Anthrazykline oder Alkylanzien erhalten haben, diese Medikamente in der Rezidivsituation zur Anwendung kommen. Bei Patienten mit Nichtansprechen können Therapiekombinationen mit neuen Medikamenten wie Topotecan oder Carboplatin versucht werden. Hinsichtlich der Prognose lassen sich unter Berücksichtigung von Histologie, Rezidivart, Bestrahlungsverfügbarkeit und Zeitpunkt des Rezidivs 2 Gruppen unterscheiden: Für Patienten mit günstiger Histologie, Lokalrezidiv, ohne vorausgegangene Strahlentherapie und Auftreten des Rezidivs später als ein Jahr nach Therapieende, gibt es eine realistische Heilungschance. Dagegen haben Patienten mit ungünstiger Histologie nach vorangegangener intensiver Chemotherapie und Bestrahlung ein hohes Risiko für Fernmetastasen mit sehr geringer Überlebenschancen. ! Bei jeder Chemotherapie sind möglicherweise notwendige Dosismodifikationen aufgrund des Patientenalters, Dysfunktion von Organen oder vorbestehender Erkrankungen sowie die kumulative Toxizität bei einer Kombination von Chemotherapie und Bestrahlung für bestimmte Organe (z. B. Lunge, Herz, Orbita, Leber, Niere, Blase, Prostata) zu berücksichtigen.
70.7.7 Prognose Die Prognose der Weichteilsarkome im Kindes- und Jugendalter konnte durch die Behandlung innerhalb der Therapieoptimierungsstudien in den letzten Jahrzehnten immer weiter verbessert werden. RMS-artige und Non-RMS-artige Tumoren, die primär komplett resezierbar sind, gehen heute mit einer Überlebenschance von 90–95% einher. Dabei gilt es, zwischen Patienten mit RMS-artigen Tumoren ungünstiger Histologie mit einem rezidivfreien Überleben von ca. 80% und Patienten mit Tumoren günstiger Histologie mit einem rezidivfreien Überleben von ca. 85% zu unterscheiden (Crist et al. 2001). Patienten mit RMS-artigen oder Non-RMSartigen Tumoren, die primär bis auf mikroskopische Reste reseziert sind (Stadium II), besitzen eine rezidivfreie Überlebenschance von 70–75%. Patienten mit großen Tumoren, die primär nicht reseziert werden konnten, lassen sich bezüglich ihrer Histologie 2 Gruppen mit unterschiedlicher Prognose zuordnen. Patienten mit Tumoren günstiger Histologie zeigen eine Überlebenschance von ca. 65–70%, Patienten mit ungünstiger Histologie eine Überlebenschance von ca. 40%. Diese reduziert sich weiter auf 30%, wenn ein Lymphknotenbefall vorliegt (Treuner et al. 2003). Patienten mit primär metastasierenden Weichteilsarkomen haben nur eine rezidivfreie Überlebenschance von 10% bis maximal 30%. Dieses ist abhängig davon, ob sie bei Diagnose einen Knochenmark- oder Knochenbefall hatten und ob eine günstige oder ungünstige Histologie vorlag (Koscielniak et al. 1998). 70.8
Therapieoptimierungsstudien
70.8.1 IRS-Studien 70.7.6 Komplikationen und Spätfolgen Die Folgen der Behandlung von Weichteilsarkomen werden bestimmt von der primären Tumorausdehnung, dem Alter der Patienten bei Diagnosestellung und den Therapiemaßnahmen, die notwendig sind, um die Erkrankung zu beherrschen. Dabei muss man zwischen akuten Nebenwirkungen und Spätfolgen unterscheiden ( Kap. 89). Die wichtigsten durch die Chemotherapie verursachten Spätfolgen sind die Kardiomyopathie durch Anthrazykline und die Tubulopathie der Niere verursacht durch Ifosfamid und Cisplatin (Suarez et al. 1991). Die Anwendung von Radiotherapie kann durch Fibrosierungen und Narbenbildungen sowie Wachstumsdefizienzen im Knochen- und Weichteilbereich Funktionsbeeinträchtigungen und kosmetische Defekte verursachen (Rubin 1977). Spätfolgen durch chirurgische Maßnahmen sind Organdysfunktionen durch Resektion von z. B. Niere, Nerven, Muskeln oder Knochen, kosmetische Defekte und funktionelle Verluste durch verstümmelnde Maßnahmen, z. B. Anus praeter (Raney et al. 1993). Das Risiko für Zweittumoren liegt zwischen 2% und 5% und wird verstärkt durch die Kombination von Bestrahlung und Chemotherapie, hier v a. Alkylanzien ( Kap. 90). Es gibt Hinweise für eine genetische Prädisposition, z. B. die Mutation des P-53 Gens (Birch et al. 1990).
Die amerikanische Intergroup Rhadomyosarcom Study Group (IRS) hat in der Zeit von 1972–1997 4 Studien durchgeführt. Das 5-Jahres-Überleben konnte kontinuierlich verbessert werden (55% IRS-I-Studie, 63% IRS-II-Studie, 70% IRS-III-Studie und IRS-IV-Studie; Maurer et al. 1993; Crist et al. 2001). Die IRS konnte als erste Studiengruppe zeigen, dass für Patienten mit initial kompletter Resektion und günstiger Histologie eine Chemotherapiekombination aus Vincristin und Actinomycin D ohne Radiotherapie ausreichend ist (Maurer et al. 1988). Für Patienten mit makroskopischen Tumorresten oder primär nur biopsiertem Tumor konnte gezeigt werden, dass eine intensivierte Chemotherapiekombination bestehend aus Vincristin, Actinomycin und Cyclophosphamid in gesteigerter Dosierung die Überlebenschancen von 52% (IRS I) auf 74% (IRS III) verbessert (Crist et al. 1995). In der IRS-IV-Studie wurde für lokalisierte Hochrisikopatienten eine Randomisierung zwischen 3 Chemotherapiekombinationen durchgeführt (VAC, VIE vs. IVA). Es fand sich kein signifikanter Unterschied im ereignisfreien Überleben, so dass für die IRS-Studiengruppe die Kombination VAC seitdem als Standardtherapie angesehen wird. Das Gesamtüberleben dieser Patienten lag bei 86% nach 3 Jahren (Crist et al. 2001).
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70.8.2 SIOP-Studien
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Nach der IRS initiierte die SIOP (International Society for Paediatric Oncology) als erste europäische Studiengruppe eine randomisierte Studie (1975–1984). Der Vergleich einer präoperativen mit einer postoperative Chemotherapie in der Behandlung lokalisierter Rhabdomyosarkome bei definitiver lokaler Therapie ergab keinen Unterschied zwischen beiden therapeutischen Vorgehensweisen. Die Studie konnte aber deutlich machen, dass Patienten mit präoperativer Chemotherapie eine weniger aggressive lokale Behandlung benötigten (Flamant et al. 1985). Das 5-Jahres-Gesamtüberleben lag in dieser Studie bei 52%, in der folgenden Studie (1984– 1989) bei 68% und in der dritten Studie (1989–1995) bei 71% (Flamant et al. 1998). Die Ergebnisse der laufenden SIOPStudie MMT 95, die in der Hochrisikogruppe eine DreiMittel-Kombination gegenüber einer Sechsmittelkombination vergleicht, liegen noch nicht vor.
1996. Durch enge Kooperation der italienischen Weichteilsarkom-Studiengruppe mit der deutschen CWS-Studie wurde seit 1996 nach dem gleichen Studienkonzept behandelt. Das Gesamtüberleben für Patienten mit lokalisierten Rhabdomyosarkomen lag in der italienischen RMS-79 Studie bei 64% und in der RMS-88 Studie bei 74%. Eine Verbesserung des Gesamtüberlebens konnte v. a. bei Patienten mit embryonaler Histologie, negativem Lymphknotenbefall und parameningealer Lokalisation oder anderer Lokalisation, aber großem, invasiv wachsendem Tumor erreicht werden (Cecchetto et al. 2000). Die Ergebnisse gemeinsamer Analysen der ICG und CWS-96-Studien führten zu einer neuen Risikostratifizierung, die bereits in der CWS-2002P-Studie angewandt wird und für die im Jahr 2004/2005 beginnende gesamteuropäische ESSG-Studie geplant ist ( Tabelle 70.4). Die neue Risikostratifizierung berücksichtigt neben den bekannten Risikofaktoren auch Alter und Tumorgröße (Treuner et al. 2003).
70.8.3 ICG-Studien
70.8.4 CWS-Studien
Die Italian Cooperative Group (ICG) für Weichteilsarkome im Kindes- und Jugendalter initiierte eine erste Studie für den Zeitraum von 1975–1988 und eine zweite Studie für 1988–
Im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie (GPOH) wurden in der Zeit zwischen 1981 und 2002 4 Therapieoptimierungsstudien
⊡ Abb. 70.5. Übersicht über das Therapiekonzept RMS-artiger Tumoren der CWS-2002P-Studie. VA Chemotherapiekombination aus Vincristin und Actinomycin D in der Niedrigrisikogruppe; I2VA + VA I oder I2VA Chemotherapiekombination aus Ifosfamid, Vincristin und Actinomycin D in der Standardrisikogruppe; VAIA III + E-CYC/VBL Chemotherapiekombination aus Ifosfamid, Actinomycin D, Vincristin, Adriamycin und Erhaltungschemotherapie aus Cyclophosphamid und Vinblastin
in der Hochrisikogruppe. Günstige Histologie: embryonales Rhabdomyosarkom, ungünstige Histologie: alveoläres Rhabdomyosarkom, extraossäres Ewing-Sarkom, peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor, Synovialsarkom, undifferenziertes Sarkom. pR0 primär komplette Resektion; sR0 sekundär komplette Resektion; R1 Resektion mit verbliebenen mikroskopischen Tumorresten; RTX Radiotherapie; Gy Gray
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durchgeführt. Der Schwerpunkt der ersten Studie CWS-81 lag in einem einheitlichen Therapiekonzept entsprechend dem initialen chirurgischem Stadium (Koscielniak et al. 1991; Treuner et al. 1987). Therapiert wurde mit einer Vier-MittelKombination (Vincristin, Actinomycin D, Cyclophosphamid und Doxorubicin), wobei in der nachfolgenden Studie (CWS-86) Cyclophosphamid durch Ifosfamid ersetzt wurde, da es Hinweise für eine bessere Wirksamkeit gab. Das 5-Jahres-Gesamtüberleben konnte von 61% auf 69% gesteigert werden (Koscielniak et al. 1999). In der CWS-91-Studie wurde in der Niedrig- und Standardrisikogruppe aufgrund beobachteter Nierentoxizität in der CWS-86-Studie Ifosfamid durch Cyclophosphamid wieder ausgetauscht. Die Risikostratifizierung richtete sich nach IRS-Stadium, Lokalisation, Tumorgröße, T-Status und Chemotherapieresponse. Das Überleben konnte gegenüber der Vorgängerstudie nicht verbessert werden. In der CWS-96-Studie wurde die Chemotherapie für eine Zahl der Patienten in Dauer und Intensität reduzierte. Obwohl in Subgruppen Anthrazykline bzw. Alkylanzien nicht mehr gegeben wurden, haben bisherige Analysen bei diesen Patienten keine Reduzierung der Überlebenschancen gezeigt. Die Ergebnisse der CWS-96-Studie bilden die Basis für das Konzept der nachfolgenden Studie CWS-2002P sowie der geplanten ESSG-Studie (European Soft Tissue Sarcoma Group; Treuner et al. 2003). Wie aus der Übersicht (⊡ Abb. 70.5) zu ersehen ist, werden im aktuellen Therapiekonzept (CWS-2002P) für lokalisierte RMS-artige Tumoren 4 Risikogruppen definiert: Niedrig-, Standard-, Hochrisiko und sehr hohes Risiko. Die Niedrigrisikogruppe erhält eine Chemotherapie mit Vincristin und Actinomycin D (VA) über 20 Wochen und keine Radiotherapie. Die Standardrisikogruppe wird mit einer Kombination aus Vincristin, Actinomycin und Ifosfamid über 25 Wochen behandelt. Die Hochrisikogruppe erhält eine 25-wöchige Chemotherapie bestehend aus Vincristin, Adriamycin, Ifosfamid und Actinomycin D. Die Bestrahlung in der Standard- und Hochrisikogruppe richtet sich nach Histologie, Ansprechen auf die Chemotherapie und Resektionsstatus. Patienten mit sehr hohem Risiko werden nach einem gesonderten Stadium-IV-Protokoll für metastasierte WS behandelt.
Die Diagnose und Behandlung der Weichteilsarkome bei Kindern und Jugendlichen muss auch weiterhin in qualifizierten Zentren der Kinderonkologie erfolgen. Dabei sind Therapiekonzepte notwendig, die auf den neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Diese können aufgrund der Seltenheit der Weichteilsarkome nur durch einheitliche Therapiekonzepte und die systematische Auswertung der Behandlungsdaten auf nationaler und internationaler Ebene erlangt werden. Neben der Entwicklung von Behandlungsprotokollen tragen die Studienzentralen in der Funktion eines Referenzzentrums dazu bei, eine Qualitätssicherung für Patienten, Eltern und Klinikärzte zu gewährleisten. Neue molekularbiologische Erkenntnisse ermöglichen spezifischere und sensitivere diagnostische Verfahren und lassen hoffen, dass mit neuen Erkenntnissen zu Molekular-
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genese und Pathomechanismen der Weichteilsarkome auch spezifischere und risikoärmere Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden. Bis dahin ist es notwendig, die bekannten Risikofaktoren zu berücksichtigen und die Behandlungsmodalitäten mit dem Ziel einer hohen Heilungsrate bei Vermeiden von Spätfolgen einzusetzen.
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
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881 70 · Weichteilsarkome
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70
Osteosarkome A. Zoubek, R. Windhager, S. Bielack
IV
71.1 71.2 71.3 71.4 71.5
Einführung – 882 Epidemiologie – 882 Ätiologie – 882 Genetik und Molekularbiologie – 882 Pathologie – 883
71.5.1 71.5.2
Histologische Klassifikation – 883 Histologische Beurteilung des Tumoransprechens – 884
71.6 71.7 71.8
Stadieneinteilung – 884 Klinische Symptomatik – 885 Diagnostik – 885
71.8.1 71.8.2 71.8.3 71.8.4 71.8.5 71.8.6 71.8.7 71.8.8
Klinische Untersuchung – 885 Nativröntgenuntersuchung – 885 Magnetresonanztomographie – 885 Computertomographie – 886 Ganzkörperskelettszintigraphie – 886 Positronenemissionstomographie – 886 Labordiagnostik – 886 Histopathologische Diagnosesicherung – 886
71.9
Therapie
71.9.1 71.9.2 71.9.3
Chirurgische Therapie – 886 Chemotherapie – 890 Radiotherapie – 891
– 886
71.10 Metastasen und Rezidive – 891 71.11 Palliative Therapie – 891 71.12 Rehabilitation – 891 Literatur – 891
71.1
Einführung
Die Prognose des hochmalignen Osteosarkoms konnte in den letzten 3 Jahrzehnten deutlich verbessert werden. Mittels multimodaler Therapie überleben heute mehr als 70% aller Patienten mit Extremitätentumoren ohne erkennbare Metastasen. Extremitätenerhaltende Operationen sind heute bereits Routine. Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genetik und Molekularbiologie lassen zukünftig eine individuelle Therapie für möglich erscheinen. 71.2
Epidemiologie
Man zählt 200–250 Neuerkrankungen pro Jahr im deutschsprachigen Raum mit einer Inzidenz von 2–3/106 Personen/ Jahr, etwa 0,1% aller Krebserkrankungen. Osteosarkome sind die sechsthäufigste Neoplasie bei Kindern, bei Jugendlichen die dritthäufigste. Ein zweiter Altersgipfel tritt im 5. und 6. Lebensjahrzehnt auf (sekundäre Osteosarkome, nach Radiotherapie, Morbus Paget). Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen (Bielack et al. 2002). Das besondere Vorkommen liegt im zweiten Lebensjahrzehnt, mit einem ersten Gipfel von 14 Jahren bei Mädchen und von 16 Jahren bei Jungen. 71.3
Ätiologie
Im Dezember 1998 treten bei einer 18-jährigen Patientin während der Schwangerschaft intermittierende Schmerzen im rechten Bein auf. Nach der Entbindung werden zunehmende Schmerzen als Lumbischialgie interpretiert und behandelt. Im Juni 1999 werden eine Magnetresonanztomographie der Wirbelsäule und eine Röntgenuntersuchung des Beckens durchgeführt, wobei kein pathologischer Befund erhoben werden kann. Es erfolgt eine konservative Schmerztherapie. Mitte September 1999 stürzt die junge Frau auf einer Treppe und erleidet eine Fraktur des rechten Oberschenkels. Bei der Erstversorgung wird ein ausgedehnter Knochentumor festgestellt. Die Biopsie ergibt ein hochmalignes osteoblastisches Osteosarkom. In der Folge wird die Patientin nach dem COSS-96-Konzept behandelt und nach 12 Wochen bei der Resektion des Tumors eine Umdrehplastik durchgeführt. Aufgrund einer ausgedehnten Wund- und Weichteilinfektion muss schließlich eine Exartikulation des Replantates durchgeführt werden. Die Chemotherapie kann fortgesetzt werden und die Patientin ist nunmehr 4 Jahre nach Erstdiagnose tumorfrei.
Diese ist unbekannt (Fuchs u. Pritchard 2002; Ragland et al. 2002). Neben genetischer Prädisposition werden exogene Faktoren als Ursache diskutiert. Wichtigster Risikofaktor sind ionisierende Strahlen und alkylierende Substanzen, die dosisabhängig das Risiko erhöhen (Hawkins et al. 1996). Da Osteosarkome meist während des pubertären Wachstumsschubs an den Metaphysen der langen Röhrenknochen entstehen, wird eine Beziehung zum normalen Knochenwachstum postuliert (⊡ Abb. 71.1). Einige Untersucher fanden Simian-Virus-40-Sequenzen in menschlichen Osteosarkomen wie auch ein leicht erhöhtes Osteosarkomrisiko für Menschen, die mit dem Virus kontaminierte Poliovakzine erhalten hatten (Fisher et al. 1999). Nur für eine kleine Subgruppe von Patienten (weniger als 10%) lassen sich jedoch eindeutige genetische oder exogene Risikofaktoren ableiten. 71.4
Genetik und Molekularbiologie
! Hochmaligne Osteosarkome weisen sehr variable Karyotypen mit zahlreichen numerischen und strukturellen Veränderungen auf und sind fast stets aneuploid.
883 71 · Osteosarkome
Femur 846 - 49,7%
⊡ Abb. 71.1. Typisches Verteilungsmuster des Osteosarkom (aus Bielack et al. 2002)
Mittels komparativer genomischer Hybridisierung (»comparative genomic hybridization«, CGH) lassen sich sowohl Zugewinne als auch Verluste genetischen Materials nachweisen. Es scheint so, dass eine Störung des Zellzyklus mit Beteilung des als Tumorsuppressor-aktiven Retinoblastomgens RB1 vorliegt. Patienten nach hereditären Retinoblastomen erkranken extrem häufig an Osteosarkomen. Eine Inaktivierung von RB1 liegt jedoch auch in bis zu 80% der spontan entstandenen Tumoren vor. In der Regel findet sich LOH (»loss of heterozygosity«) am RB1-Locus auf Chromosom 13q14, deutlich seltener sind Punktmutationen oder strukturelle Rearrangements. Auch bei anderen regulatorischen Proteinen des G1/S-Übergangs, wie Cyclin D1, CDK4 oder INK4Ap16, finden sich Veränderungen. Das Tumorsuppressorgen P53 und P53-regulierende Gene (MDM 2, DCC-Gen, Paget-Kandidatengen) sind bei vielen Tumoren durch Punktmutation, Allelverlust oder durch Rearrangement verändert (Horstmann et al. 1997; Kruzelock et al. 1997). Hinzu kommt die Überexpression einer Reihe von Onkogenen wie SAS, c-fos, c-myc und c-erbB-2 (HER/neu) sowie von Wachstumsfaktoren wie TGFβ-1, TGFβ-3, IGF-1 und Met/HGF. Die prognostisch Bedeutung dieser Veränderungen bedarf der Überprüfung. Das kleinzellige Osteosarkom lässt sich bei Vorliegen einer Translokation 11;22 nur schwer von einem Ewing-Tumor unterscheiden. Die rasche Entwicklung der biomedizinischen Forschung sowie die Vereinfachung und Automatisierung vieler Labormethoden machen zyto-
genetische und molekulargenetische Analysen bei diesem Tumor zu einer Notwendigkeit. 71.5
Pathologie
71.5.1 Histologische Klassifikation Man findet malignes sarkomatöses Gewebe und die Produktion von Tumorosteoid und/oder Knochen (⊡ Abb. 71.2 und 71.3). Aktuelle WHO-Klassifikation der Osteosarkome (Fletcher et al. 2002): Konventionelles Osteosarkom (chondroblastisch, fibroblastisch, osteoblastisch): hoch-maligne Teleangiektatisches Osteosarkom: hoch-maligne Kleinzelliges Osteosarkom: hoch-maligne Niedrigmalignes zentrales Osteosarkom: niedrigmaligne Sekundäres Osteosarkom: in der Regel hoch-maligne Parosteales Osteosarkom: in der Regel niedrigmaligne Periosteales Osteosarkom: intermediäre Malignität Hoch-malignes Oberflächenosteosarkom: hochmaligne
71
884
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
71.5.2 Histologische Beurteilung
des Tumoransprechens
IV
⊡ Abb. 71.2. Histologisches Bild eines konventionellen Osteosarkoms (osteoblastischer Typ)
Präoperativ mit Chemotherapie behandelte Tumore müssen auf den Anteil verbliebener vitaler Tumorareale hin untersucht werden. Im deutschen Sprachraum hat sich die Klassifikation nach Salzer-Kuntschik (Salzer-Kuntschik et al. 1983) durchgesetzt: ▬ Regressionsgrad 1: keine vitalen Tumorzellen ▬ Regressionsgrad 2: einzelne vitale Tumorzellen oder ein Zell-Cluster von 0,5 cm ▬ Regressionsgrad 3: vitaler Tumor <10% der Gesamttumormasse ▬ Regressionsgrad 4: vitaler Tumor 10–50% der Gesamttumormasse ▬ Regressionsgrad 5: vitaler Tumor >50% der Gesamttumormasse ▬ Regressionsgrad 6: kein Effekt der Chemotherapie 71.6
Stadieneinteilung
In der ab dem Jahre 2003 gültigen neuesten TNM-Klassifikation (Sobin u. Wittekind 2002) finden sich für maligne Knochentumoren erhebliche Veränderungen. Das T-Stadium wird jetzt vom größten Tumordurchmesser abhängig gemacht und um Skip-Metastasen (Skelettmetastasen im selben Knochen, proximal vom Primärtumor, in benachbarten Knochen oder transartikulär, die keine Kontinuität zum Primärtumor aufweisen) erweitert. Das M1-Stadium wurde in Lungen- und andere Fernmetastasen unterteilt.
TNM-Klassifikation der Osteosarkome:
⊡ Abb. 71.3. Histologisches Bild eines konventionellen Osteosarkoms (fibroblastischer Typ)
Beim histopathologischen Grading gibt es folgende Unterteilungen: ▬ GX: Minimalerfordernisse nicht erfüllt ▬ G1: gut differenziert ▬ G2: mäßig differenziert ▬ G3: schlecht differenziert ▬ G4: undifferenziert Seltene Formen (z. B. sklerosierende osteoblastische Osteosarkome, malignes fibröses Histiozytom- und Chondroblastom-ähnliche Osteosarkome) werden den konventionellen Osteosarkomen zugeordnet. Die in der WHO-Klassifikation nicht gesondert aufgeführten kraniofazialen Osteosarkome metastasieren (außer Kalottentumoren) seltener als klassische Osteosarkome.
Primärtumor (T) TX: Minimalerfordernisse zur Beurteilung nicht erfüllt T0: kein Anhalt für einen Primärtumor T1: größte Tumorausdehnung ≤8 cm T2: größte Tumorausdehnung >8 cm T3: diskontinuierliche Tumoren in der primär befallenen Knochenregion Regionäre Lymphknoten (N) NX: Minimalerfordernisse zur Beurteilung nicht erfüllt NO: kein Anhalt für Befall regionärer Lymphknoten N1: Befall regionärer Lymphknoten Fernmetastasen (M) MX: Minimalerfordernisse zur Beurteilung nicht erfüllt MO: kein Anhalt für Fernmetastasen M1: Fernmetastasen vorhanden − M1a: Lunge − M1b: andere Fernmetastasen
885 71 · Osteosarkome
⊡ Tabelle 71.1. Stadieneinteilung nach Enneking der Muskuloskeletal Tumor Society (Enneking et al. 1980)
Stadium
Malignität
Lokalisation
IA
Niedrig-maligne
Intrakompartimentell
IB
Niedrig-maligne
Extrakompartimentell
IIA
Hoch-maligne
Intrakompartimentell
IIB
Hoch-maligne
Extrakompartimentell
III
Jeder Malignitätsgrad
Metastasen
Da das bisherige TNM-System die Verhältnisse nicht zweckmäßig abbildete, wird in der klinischen Praxis bislang die Stadieneinteilung nach Enneking der Muskuloskeletal Tumor Society bevorzugt (⊡ Tabelle 71.1). Es bleibt abzuwarten, ob die neue TNM-Stadieneinteilung bei Knochentumoren breite Akzeptanz findet und die Stadieneinteilung der Muskuloskeletal Tumor Society ablöst. 71.7
Klinische Symptomatik
Leitsymptome sind Schmerzen sowie eine lokale Schwellung im Tumorbereich. Die Anamnesedauer kann wenige Wochen bis mehrere Monate betragen. Bei etwa 5% aller betroffenen Patienten stellt eine pathologische Fraktur das erste Symptom dar. Allgemeinsymptome wie Fieber oder Gewichtsabnahme fehlen in der Regel. Am häufigsten findet man die Tumoren in den Metaphysen der Knochen mit dem ausgeprägtesten Pubertätswachstumschub (distaler Femur; proximale Tibia; proximaler Humerus; Abb. 71.1). 71.8
⊡ Abb. 71.4. Natives Röntgenbild eines Osteosarkoms des distalen Femur
Diagnostik
71.8.1 Klinische Untersuchung Man stellt neben einer schmerzhaften Schwellung oft auch eine Überwärmung sowie eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung fest. Die Haut über der Tumorregion kann gerötet oder livide verfärbt sein. In der Regel findet sich ein lokales Ödem sowie eine gelegentlich schmerzhafte Schwellung des benachbarten Gelenkes. 71.8.2 Nativröntgenuntersuchung Die Nativröntgenaufnahme in 2 Ebenen zeigt einen Befall von Medulla und Kortex mit Unterbrechung derselben. Man sieht meist eine permeative Destruktion mit unscharfer Randbildung. Häufig können nebeneinander osteosklerotische und osteolytische Veränderungen gefunden werden. Durch massive periostale Tumorknochenneubildung erscheint das Periost vom Kortex abgehoben und lässt meist ein Codman-Dreieck und ein »Sunburst«-Phänomen (charakteristische Spiculae-Bildungen) erkennen (⊡ Abb. 71.4). Ein charakteristischer Weichgewebetumor bildet sich bei infiltrativem Wachstum nach Durchbruch durch den Kortex.
⊡ Abb. 71.5. Magnetresonanztomographie des Osteosarkoms aus Abb. 71.4 am distalen Femur (T2-gewichtete Sequenz fettunterdrückt ohne Kontrastmittel)
71.8.3 Magnetresonanztomographie ! Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist heute die bildgebende Methode der Wahl, da sie eine genaue anatomische Abbildung der medullären Ausdehnung, des Weichteilbefalls sowie der anatomischen Beziehung zum Gefäßnervenbündel erlaubt (⊡ Abb. 71.5).
Sie sollte noch vor der Biopsie durchgeführt werden. Die Suche nach Skip-Metastasen macht die Anfertigung einer
71
886
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
MRT der Tumorregion einschließlich der angrenzenden Knochen erforderlich. Sie lässt die genaue Beziehung des Tumors zum benachbarten Gelenk erkennen. Er wächst selten durch die Epiphyse ins benachbarte Gelenk ein (Schima et al. 1994). Durch die Gabe des Kontrastmittels (Gd-DTPA) können die vitalen Tumoranteile besser vom umgebenden Weichgewebe abgegrenzt werden. Nicht nur Tumorausdehnung und -volumen, sondern auch das Ansprechens auf die präoperative Polychemotherapie kann man mit der MRT bestimmen. Trotz dynamischer Verfahren ist eine Voraussage über das histologische Ansprechen und damit eine Risikoeinschätzung noch nicht exakt möglich (Reddick et al. 2001). 71.8.4 Computertomographie Die CT-Untersuchung des Primärtumors ohne und mit Kontrastmittel ist gegenüber der MRT von untergeordneter Bedeutung (Ausnahme Abschn. 71.9.1). Eine prätherapeutische CT-Untersuchung der Thoraxorgane zur Suche nach Lungenmetastasen ist vor Therapiebeginn obligatorisch. 71.8.5 Ganzkörperskelettszintigraphie Die mit Technetium (99Tc) oder Thallium (201Ta) durchgeführte Skelettszintigraphie erlaubt neben Ausdehnung und Erkennung von Skelett- bzw. Skip-Metastasen die Beurteilung des Ansprechens auf die neoadjuvante (präoperative) Chemotherapie. 71.8.6 Positronenemissionstomographie Erste Ergebnisse haben gezeigt, dass Positronenemissionstomographie (PET) zur Evaluation des Ansprechens auf die präoperative Chemotherapie der Skelettszintigraphie möglicherweise überlegen ist (Hawkins et al. 2002). 71.8.7 Labordiagnostik Diese ist von untergeordneter Bedeutung, spezifische Tumormarker sind bislang nicht beschrieben. Die alkalische Phosphatase und die Laktatdehydrogenase sind bei 40% bzw. bei 30% der Patienten im Serum erhöht (Bacci et al. 2002; Ferrari et al. 2001). 71.8.8 Histopathologische Diagnosesicherung Obwohl Anamnese, Klinik, Lokalisation und radiologisches Erscheinungsbild bei der Mehrzahl der Patienten fast beweisend sind, ist die histologische Untersuchung zur endgültigen Diagnosefestlegung unbedingt erforderlich ( Abschn. 71.5.1).
71.9
Therapie
! Die Behandlung der Osteosarkome umfasst die komplette Tumorentfernung weit im Gesunden sowie eine Polychemotherapie.
Da in historischen Patientenkollektiven mehr als 80% aller Fälle nach alleiniger chirurgischer Behandlung im weiteren Krankheitsverlauf Lungenmetastasen entwickelten, müssen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung nicht nachweisbare Metastasen vorliegen. Diese Mikrometastasen sind für die Prognose von entscheidender Bedeutung und begründen die Notwendigkeit einer systemischen Polychemotherapie. Erst nach Einführung zunächst adjuvanter, später neoadjuvanter Polychemotherapien hat sich die Prognose entscheidend verbessern lassen (Rosen et al. 1982; Winkler et al. 1984). Demgegenüber besitzt die Radiotherapie im interdisziplinären Therapiekonzept nur einen geringen Stellenwert. 71.9.1 Chirurgische Therapie Diese stellt die einzig verlässlich wirksame Lokalmaßnahme in der Behandlung dar. In den letzten 30 Jahren konnten Amputationen bis auf einen Anteil von 10–20% durch Extremitäten erhaltende Eingriffe ersetzt wurden (Sluga et al. 1999). Voraussetzung dafür ist die sichere Entfernung des Tumors unter Einhaltung weiter oder radikaler Resektionsgrenzen, d. h. Entfernung des Tumors in einer Schicht gesunden Gewebes bzw. die Entfernung des gesamten tumortragenden Kompartments (Enneking et al. 1980). Marginale Resektionen (der Tumor wird entlang der reaktiven Zone entfernt) oder intraläsionale Eingriffe (Tumor wird intraoperativ eröffnet oder Tumorreste bleiben zurück) sind als inadäquat zu betrachten und mit einem signifikant erhöhten Rezidivrisiko behaftet (Picci et al. 1994). Prinzipiell sollte unter Einhaltung dieser Resektionsgrenzen kein Unterschied in der Rezidivhäufigkeit zwischen ablativen und extremitätenerhaltenden Verfahren bestehen (Sluga et al. 1999), obwohl höhere Rezidivraten bei extremitätenerhaltenden Eingriffen angegeben werden (Bielack et al. 1996; Meyers et al. 1998). Erhöhte Lokalrezidivraten wurden auch bei schlechtem Tumoransprechen gefunden (Picci et al. 1994). Eine exakte Vorhersage des histologischen Ansprechens ist nicht möglich ( Abschn. 71.8.3), so dass bei allen Überlegungen zwischen Amputation und Extremitäten erhaltender Chirurgie die Aspekte der weiten Tumorresektion im Vordergrund stehen müssen. Die erzielbare Funktion muss gemeinsam mit anderen Faktoren wie Alter, Lokalisation, Prognose und nicht zuletzt Aktivität des Betroffenen in den Entscheidungsprozess einfließen. Außerdem wird die Entscheidung auch durch inadäquate Voroperationen (auch Biopsie) mitbeeinflusst. Biopsie Die Risiken einer inadäquat durchgeführten Biopsie sind Hämatome mit Tumorzellverschleppung (neurovaskuläre Strukturen/Gelenke), die im Falle einer Extremitätenerhaltung mit einem enormen Funktionsverlust einhergehen, da das gesamte durch die Biopsie onkologisch kontaminierte
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Gebiet bei der definitiven Resektion mitentfernt werden muss (Mankin et al. 1996). ! Vor einer Biopsie muss bereits der Plan für eine spätere operative Versorgung feststehen. Die Biopsie sollte im Idealfall in einem Zentrum für Tumororthopädie von dem Chirurgen ausgeführt werden, der auch die definitive Operation durchführen wird.
Alternativ zur offenen Biopsie, die den Vorteil der ausreichenden Gewebsentnahme bietet (molekularbiologische Untersuchungen möglich), kann auch eine perkutane Trokaroder Nadelbiopsie durchgeführt werden. Dies setzt allerdings eine interdisziplinäre Aufarbeitung voraus, um aus dem spärlichen Material die exakte Diagnose stellen zu können (Skrzynski et al. 1996). Für perkutane Biopsien gelten die gleichen onkologischen Kautelen bei der späteren operativen Versorgung, wenngleich der zu exzidierende Weichteilanteil geringer ist. Operationsplanung Für die Planung muss das noch vor der Biopsie angefertigte MRT des gesamten Kompartments herangezogen werden. Anhand longitudinaler und axialer Aufnahmen kann das Ausmaß der Resektion bzw. die Höhe der Amputation bestimmt werden. Besonderes Augenmerk muss auf die Nähe zu Gefäßen und Nerven und im Gelenkbereich auf die Infiltration der Gelenkkapsel oder Bandstrukturen gelegt werden. Ein Gelenkeinbruch ist bei Osteosarkomen selten und meist durch eine pathologische Fraktur oder iatrogen bedingt. Ein Gelenkerguss hat in Bezug auf den Gelenkeinbruch eine geringe Spezifität (Schima et al. 1994). Bei Infiltration von Bandstrukturen muss unbedingt auch das benachbarte Gelenkkompartment mittels MRT abgeklärt werden. Im Becken- und Wirbelsäulenbereich kann durch ein aus CTSchnitten rekonstruierten dreidimensionalen Modells und die exaktere Planung die Rate der inadäquaten Tumorresektionen signifikant reduziert werden (Windhager et al. 1996). Bei Tumoren im Becken oder Gefäßkompression sollte präoperativ auch ohne Symptome eine Phlebographie durchgeführt werden, da das Thromboserisiko deutlich erhöht ist. Nach exakter Aufarbeitung der bildgebenden Diagnostik muss dann bei den verschiedenen rekonstruktiven Möglichkeiten die zu erwartende Funktion abgeschätzt werden. Amputationen sind v. a. indiziert, wenn trotz aufwändigster rekonstruktiver Maßnahmen keine zufriedenstellende Funktion oder ein sehr hohes Komplikationsrisiko zu erwarten wären. Eine Alternative zwischen Amputation und Extremitätenerhaltung stellt die Resektion/Replantation dar, bei welcher der tumortragende Teil in zylindrischer Form reseziert wird. Diese Art der Tumorentfernung und Rekonstruktion ist an der unteren Extremität in Form der Umdrehplastik bekannt (Kotz u. Salzer 1982; Winkelmann 1986), kann jedoch auch an der oberen Extremität angewendet werden (Windhager et al. 1995). Amputation Diese werden in den meisten Fällen durch das tumortragende Kompartment durchgeführt und entsprechen somit einer weiten Tumorresektion. Bei jeder Amputation sollte ein möglichst langer Stumpf für eine zufriedenstellende Prothesenversorgung erhalten werden. Da die Weichteilresektion
jedoch von der Lokalisation des Tumors bestimmt wird, müssen statt klassischer Amputationsverfahren meist individuelle Präparationen bzw. Rekonstruktionen der Weichteilmanschette um den Prothesenstumpf eingesetzt werden. Amputationen nehmen im Bereich der unteren Extremität von proximal nach distal zu kontinuierlich zu, da im Bereich des Fußes und distalen Unterschenkels adäquate Resektionsgrenzen kaum zu erreichen sind und zudem die funktionellen Ergebnisse nach Extremitätenerhaltung unbefriedigend sind. Amputationen und Prothesenversorgung unterhalb des Kniegelenkes ergeben sehr gute Ergebnisse, während Amputationen im Oberschenkelbereich mit abnehmender Stumpflänge schlechtere Ergebnisse aufweisen. An der oberen Extremität werden Amputationen nur in Ausnahmefällen durchgeführt, zumal Osteosarkome vorwiegend im proximalen Humerusbereich lokalisiert sind und dem Erhalt der Hand- und Unterarmfunktion auch bei unbefriedigender Schulterfunktion der Vorzug gegeben wird. Umdrehplastik Diese Resektion/Replantation stellt eine partielle Extremitätenerhaltung dar und besteht in einer Adaptation des distalen Teils unter Drehung des distalen Anteils um 180° (Kotz u. Salzer 1982; Winkelmann 1986). Hierdurch übernimmt das Sprunggelenk die Funktion des Kniegelenks (⊡ Abb. 71.6). Trotz der guten funktionellen Ergebnisse hat diese Methode den Nachteil der bizarren Kosmetik, so dass sie bei weiblichen Patienten kaum akzeptiert wird. Eine weitere Indikationsstellung für dieses Verfahren sind Kinder unter 7 Jahren, bei denen Extremitäten erhaltende Eingriffe aufgrund des Wachstums mit multiplen Folgeoperationen verbunden sind. Von der Lokalisation her kommen vorwiegend Tumoren im Bereich des Femur in Frage, wobei erst die mögliche Erhaltung des Nervus ischiadicus die Anwendung dieser Methode rechtfertigt (Gottsauner-Wolf et al. 1991). Extremitätenerhaltende Verfahren Bei der Rekonstruktion von Knochendefekten mit Rekonstruktion des Gelenkes kommen Endoprothesen, allogene Knochentransplantate oder Versteifungsoperationen in Frage. In den seltenen Fällen, in denen eine Tumorresektion ohne Mitnahme eines Gelenkteils möglich ist, kann dieser interkaläre Defekt mit einer autogenen Fibula überbrückt und mittels Osteosynthese stabilisiert werden. Bei Defekten über 10 cm empfiehlt es sich, die Fibulagefäße zu anastomosieren, um eine raschere Belastbarkeit der biologischen Rekonstruktion zu gewährleisten. Endoprothesen. Diese stellen derzeit die am weitesten ver-
breitete Form der Rekonstruktion dar. Modulare Endoprothesensysteme ermöglichen eine Rekonstruktion vom Hüftkopf bis zum Übergang des mittleren zum distalen Drittel des Unterschenkels sowie im Bereich der oberen Extremität vom Humeruskopf bis zum Ellbogengelenk. Für weiter distal liegende Defekte können Sonderanfertigungen herangezogen werden. Endoprothetische Rekonstruktionen im Bereich des distalen und proximalen Femurs (⊡ Abb. 71.7) führen zu sehr zufriedenstellenden Ergebnissen mit akzeptabler Komplikationsrate. Die Ergebnisse nach endoprothetischen Rekonstruktionen der proximalen Tibia korrelieren mit der Effizienz der Rekonstruktion des Ligamentum-patellae-
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a ⊡ Abb. 71.6. a 12-jähriger Patient. Zustand nach Nagelung einer Oberschenkelfraktur nach adäquatem Trauma. b Innerhalb eines Jahres nach dem Ereignis kam es zu einer zunehmenden Weichteilschwellung, die erst nach zweimaliger bioptischer Abklärung als
Osteosarkom diagnostiziert werden konnte. c Replantation des Unterschenkels nach 180°-Drehung und Anastomose der Gefäße. Einstellung des Tibiakopfes in das Acetabulum
Ansatzes, die in den meisten Fällen durch einen Transfer des Musculus gastrocnemius erfolgreich bewerkstelligt wird. Sehnenreinsertionen an die Prothese können mit Erfolg im Bereich des Trochanters durchgeführt werden (Giurea et al. 1998), sind jedoch im Bereich der proximalen Tibia und im Bereich des proximalen Humerus noch unbefriedigend. Bei letzterem ist durch die meist notwendige Resektion des Nervus axillaris die aktive Schulterfunktion ohnedies nicht gegeben. Die funktionellen Ergebnisse nach endoprothetischem Ersatz im Bereich der unteren Extremität zeigen einen Funktionserhalt von durchschnittlich 88%, wobei für ein gutes oder sehr gutes Ergebnis mehr als 40% der Muskelmasse
erhalten sein muss (Tsuboyama et al. 1993). Die Prothesenrevisionsraten werden mit 10%, die Infektionsraten mit 3–10% angegeben (Mittermayer et al. 2002; Holzer et al. 1997). Die Indikation für endoprothetische Rekonstruktionen konnte durch Einführung von verlängerbaren Prothesen auf das frühe Jugendlichenalter erweitert werden (Schiller et al. 1995). Obwohl die häufigen operativen Verlängerungseingriffe durch die Einführung einer automatisch verlängerbaren Prothese deutlich reduziert werden konnten (Windhager et al. 1995; Kotz et al. 2000), sollte diese Methode insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren kritisch indiziert und nur in speziellen Tumorzentren durchgeführt werden (⊡ Abb. 71.8).
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b ⊡ Abb. 71.7. a Zentrales Osteosarkom im distalen Femur mit geringer Weichteilkomponente bei einem 17-jährigen Patienten. Trotz der gelenknahen Lage finden sich keine Zeichen eines Gelenkeinbruchs.
b Nach extraartikulärer Resektion des distalen Femurs wurde der Defekt mit einer modularen Endoprothese rekonstruiert
Allogene Knochentransplantate. Die Rekonstruktion des Defektes mit allogenen Knochentransplantaten von Organspendern wird nur mehr vereinzelt durchgeführt, da die Revaskularisation großer Knochentransplantate sehr langsam und unvollständig vor sich geht (Enneking et al. 1991) und zudem die fehlende Propriozeption zu vorzeitiger Abnützung bzw. Destruktion führt. Allogene Knochentransplantate werden hingegen häufig bei interkalären Defekten mit einer gefäßgestielten Fibula kombiniert, wodurch eine verbesserte initiale Stabilität erzielt werden kann. Der Vorteil großer Knochentransplantate liegt in der Möglichkeit der Reinsertion von Sehnen an erhaltenen Sehnenansätzen am Transplantat, was man bei so genannten Composite-Allograft-Rekonstruktionen zu nutzen versucht. Hierbei wird die Rekonstruktion des Gelenks mit einer langgestielten Endoprothese vorgenommen, die in das Transplantat einzementiert und im Empfängerknochen stabil verankert wird. Während die Endoprothese die Rekonstruktion der Gelenkoberfläche sicherstellt, können Sehnen, Kapsel und Bänder direkt mit den allogenen Sehnenansätzen verbunden werden, wodurch v. a. im Schulterbereich und an der proximalen Tibia ausgezeichnete Resultate erzielt werden (Damron 1997).
die aktive Gelenkbewegung fehlen. Dies trifft v. a. im distalen Unterarmbereich zu, ebenso vereinzelt im Bereich des proximalen Humerus und des Beckens. Für die Überbrückung des Defektes muss auch hier auf allogene oder autogene Knochentransplantate zurückgegriffen werden.
Arthrodesen. Die Gelenkversteifung wird selten und vorwiegend in den Fällen zur Anwendung gebracht, in denen durch ausgedehnte Muskelresektionen entsprechende Motoren für
Becken und Wirbelsäule Osteosarkome im Bereich des Beckens sind zwar selten, bedürfen jedoch eines speziellen operativen Managements. Da externe Hemipelvektomien nur kosmetisch mit einer Exoprothese versorgt werden können und somit funktionell sehr unbefriedigende Ergebnisse mit sich bringen und andererseits die onkologische Sicherheit durch eine Amputation nicht verbessert wird, kommen auch hier in einem Großteil der Fälle extremitätenerhaltende Verfahren zur Anwendung. Es muss jedoch bedacht werden, dass Rekonstruktionsverfahren, sei es mit Hilfe von allogenen Knochentransplantaten oder sonderangefertigten Endoprothesen mit einer deutlich höheren Komplikationsrate einhergehen als im Bereich der Extremitäten. Auch Arthrodesen führen in diesem Bereich häufig zu Pseudoarthrosen, so dass der Trend zu gering rekonstruktiven Verfahren wie der iliofemoralen Adaptation unter Verkürzung des Beins geht (Winkelmann 1988; Windhager et al. 1996; Schwameis et al. 2002). Adäquate Tumorresektionen unter Einhaltung weiter oder zumindest marginaler Resektionsgrenzen sind sogar
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71.9.2 Chemotherapie Seit der kontrollierten Studie von Link et al. aus 1986 wird die Wirksamkeit einer Chemotherapie nicht mehr bestritten. Dabei ist eine Kombinationschemotherapie der wirksamsten Substanzen – hochdosiertes Methotrexat (HDMTX), Doxorubicin (DOX), Cisplatin (DDP) und Ifosfamid (IFO) – einer Monotherapie überlegen (Arndt u. Crist 1999; Link et al. 1991). Doxorubicin erscheint derzeit unentbehrlich und muss früh eingesetzt werden (Winkler et al. 1988). Die DOXDosisintensität eines Therapieprotokolls korreliert mit seiner Effektivität (Smith et al. 1991). Doxorubicin als weniger kardiotoxische Dauerinfusion über 48 h beeinträchtigt die Wirksamkeit im Vergleich zur Bolusgabe offenbar nicht (Bielack et al. 1994). Methotrexat ist bei Hochdosisanwendung (6–12 g/m2) wirksamer als bei intermediärer Dosierung (<1 g/m2) (Bacci et al. 1990). Möglicherweise muss ein kritischer Spitzenspiegel von 1000 µmol/l überschritten werden (Graf et al. 1994). Die Wirksamkeit von Cisplatin ist sowohl als Einzelmittel wie als Bestandteil von Kombinationstherapien gut belegt. Ifosfamid wird seit Mitte der 80er-Jahre in der Therapie verwendet. Sein Stellenwert ist jedoch noch umstritten (Meyer et al. 2001). Die simultane Gabe von IFO mit DDP ist nephrotoxisch, die sequenzielle Gabe (IFO Tag 1, 2, DDP ab Tag 3) jedoch möglich. Es besteht für IFO eine Dosis-WirkungsBeziehung, die sowohl erwünschte wie unerwünschte Wirkungen betrifft. Die besten Langzeitergebnisse beim lokalisierten Extremitätenosteosarkom liegen im Bereich von 70–80% metastasenfreiem Überleben nach 5 Jahren (Arndt und Crist 1999; Bacci et al. 1990; Bielack et al. 2002; Meyers et al. 1998; Rosen et al. 1982). Die teilweise erheblichen akuten Nebenwirkungen und Spätfolgen der im onkologischen Sinne erfolgreichsten Therapieschemata verlangen jedoch Anstrengungen, ähnliche oder bessere Ergebnisse bei geringerer Morbidität zu erzielen.
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Neoadjuvante (präoperative) Chemotherapie Das Osteosarkom kann seit den späten 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts als Paradebeispiel für den erfolgreichen Einsatz der neoadjuvanten Chemotherapie gelten. ⊡ Abb. 71.8. Wachstumsprothese mit automatischer Verlängerung im rechten Femur nach Wachstumsabschluss. Bei der Patientin wurde im Alter von 7 Jahren das rechte Femur wegen eines Osteosarkoms reseziert und mit einer Standardprothese rekonstruiert, welche im Alter von 9 Jahren gegen die Wachstumsprothese ausgetauscht worden ist
im Bereich der Wirbelsäule möglich, sofern der Tumor nicht den gesamten Wirbel erfasst hat. Bei Lokalisation im Wirbelkörper muss zumindest eine halbe Lamina vertebrae tumorfrei sein, um das Rückenmark respektive die Cauda equina durch diesen Laminektomieschlitz herauszupräparieren (Krepler et al. 2002). Da die Segmentwurzeln in der Regel mitreseziert werden, eignet sich dieses Verfahren v. a. für Tumoren im Bereich der Brustwirbelsäule, jedoch nur vereinzelt für die Lendenwirbelsäule. Die Rekonstruktion bedarf einer Wiederherstellung sowohl der ventralen als auch der dorsalen Säule.
! Vorteile der primären Chemotherapie sind der Zeitgewinn für die Operationsvorbereitung sowie die Möglichkeit extremitätenerhaltender Operationen.
Das Lokalrezidivrisiko ist bei Tumoren, die durch eine präoperative Chemotherapie devitalisiert werden konnten, deutlich vermindert (Picci et al. 1994). Darüber hinaus können aus dem Ausmaß des Tumoransprechens wertvolle prognostische Informationen zum Metastasenrisiko gewonnen werden (Rosen et al. 1982; Arndt u. Crist 1999; Bielack et al. 2002). Adjuvante Chemotherapie Die adjuvante Chemotherapie ist aus den oben beschriebenen Gründen derzeit nicht üblich. Die Heilungschancen betreffend scheint eine adjuvante Therapie mit den oben beschriebenen Medikamenten einer neoadjuvanten Behandlung gleicher Dauer ebenbürtig zu sein (Goorin et al. 2003).
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71.9.3 Radiotherapie Die Strahlentherapie ist nur bei inoperablen Tumoren des Achsenskeletts oder in Palliativsituationen zu diskutieren. Kürzlich wurde radioaktives 153Samarium-EDTMP als wirksam beschrieben (Franzius et al. 2002). Wegen unbewiesener Effektivität und erheblicher Toxizität wird eine prophylaktische Lungenbestrahlung als adjuvante Maßnahme nicht empfohlen (Wheelan et al. 2002). 71.10
Metastasen und Rezidive
Patienten mit primären Lungenmetastasen erhalten in den derzeitigen Therapieprotokollen die gleiche medikamentöse Therapie wie Patienten ohne erkennbare Lungenmetastasen (Kager et al. 2003). Eine echte kurative Chance besteht nur, wenn durch die Operation eine chirurgische Remission erreicht wird – selbst wenn im Thorax-CT nach Chemotherapie keine Herde mehr zu sehen sind (Goorin et al. 1984; Picci et al. 2001). Intraläsionale Resektionen sind zu vermeiden. Intraoperativ finden sich oft mehr Tumormanifestationen als nach dem Thorax-CT erwartet. Skip-Läsionen sollten bei der definitiven Tumoroperation reseziert werden. ! Bei 25–30% aller Osteosarkompatienten treten im Krankheitsverlauf Metastasen auf (Bielack et al. 1999).
Ein erneuter kurativer Therapieansatz ist indiziert, sofern sämtliche Tumormanifestationen komplett operabel erscheinen (Tsuchiya et al. 2002). Eine multivariate Analyse an skandinavischen Patienten und eine retrospektive Analyse aus Frankreich sprechen dafür, dass eine erneute Polychemotherapie ebenfalls von Nutzen sein kann (Saeter et al. 1995; Tabone et al. 1994). Dafür kommen neuere Kombinationen wie Carboplatin und VP16, bei fehlendem Ansprechen hochdosiertes Ifosfamid in Frage (Ferguson et al. 2001; Goorin et al. 2002). 71.11
sollten bereits vor der Operation durch Kontakt mit anderen Patienten, bei denen eine solche Operation durchgeführt wurde und durch geeignetes Bild- und Videomaterial auf ihr postoperatives Erscheinungsbild vorbereitet werden. Im weiteren Verlauf sollte eine Teilnahme an Sport- bzw. Schwimmgruppen von Patienten nach Amputationen oder Umdrehplastiken angeraten werden. Auch nach extremitätenerhaltenden Eingriffen ist bei sofortigen physiotherapeutischen Maßnahmen mit einer rascheren Erzielung der maximalen Funktion zu rechnen. In retrospektiven Studien hat sich gezeigt, dass trotz ausgezeichneter Ergebnisse bei extremitätenerhaltenden Operationen nicht immer eine bessere Lebensqualität im Vergleich zu Amputationen oder Umdrehplastiken resultiert (Felder-Puig et al. 1998).
Die letzten 30 Jahre haben eine dramatische Verbesserung der Überlebenschancen und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen mit Osteosarkomen gebracht. Dies ist wesentlich auf eine effektive Polychemotherapie und extremitätenerhaltende Tumorresektionen zurückzuführen. Aus chirurgischer Sicht wäre es wünschenswert, wenn die Tumoren möglichst früh mit kleinem Tumorvolumen diagnostiziert werden, so dass der Prozentsatz an erfolgreichen extremitätenerhaltendenden Operationen noch weiter ansteigt. Eine weitere Verbesserung der Heilungschance ist möglicherweise von neuen Zytostatikakombinationen zu erwarten. Bei chemotherapiesensiblen Tumoren wäre auch eine Verbesserung der Prognose durch Einführung von Hochdosistherapie mit autogenen Stammzellen zu erwarten. Allerdings liegen bislang nur geringe Erfahrungen mit dieser Therapieform vor (Sauerbrey et al. 2001; Fagioli et al. 2002). Der Einsatz von α- und β-Interferon als adjuvante Therapie beim Osteosarkom wird kontrovers diskutiert (Strander et al. 1993; Winkler et al. 1984). Liposomales Muramyl-Tripeptid wird derzeit multizentrisch in den USA getestet, scheint jedoch keine Vorteile zu bringen (Kurzman et al. 1995; Kleinerman et al. 1995).
Palliative Therapie Literatur
Eine Radiotherapie von symptomatischen Tumormanifestationen ist fast immer in der Lage, die Schmerzsymptomatik rasch zu bessern. In jüngster Zeit wird eine Therapie mit dem Radionukleotid-153Samarium mit Erfolg eingesetzt (Franzius et al. 2002). 71.12
Rehabilitation
Die Rehabilitation sollte bereits vor dem geplanten operativen Eingriff beginnen, mit dem Ziel, der Vorbereitung auf das zu erwartende, ggf. veränderte Körperbild und die zu erwartende Funktion. Nach Amputationen muss beachtet werden, dass sich der Stumpf unter der postoperativen Polychemotherapie in Form und Volumen erheblich verändert. Die definitive äußere Prothese wird daher erst nach Abschluss der onkologischen Therapie angefertigt. Zur Vermeidung von Kontrakturen ist eine konsequente Physiotherapie erforderlich. Patienten mit Umdrehplastiken
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893 71 · Osteosarkome
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71
Ewing-Tumoren H. Jürgens, M. Paulussen, A. Zoubek
72.1
IV
72.1 72.2 72.3
Einführung – 894 Epidemiologie – 894 Klinisches Erscheinungsbild und Diagnostik – 895
72.3.1 72.3.2 72.3.3 72.3.4 72.3.5 72.3.6
Symptomatik – 895 Primärtumor – 895 Labordiagnostik – 895 Bildgebende Diagnostik – 895 Biopsie – 897 Knochenmarksbeteiligung – 897
72.4 72.5
Pathologie – 897 Molekularbiologie – 898
72.5.1 72.5.2 72.5.3 72.5.4
Genetische Definition – 898 EWS-ETS-Genfusion – 898 Weitere chromosomale Abweichungen Molekulare Diagnostik – 899
72.6 72.7 72.8
Extraskelettale Ewing-Tumoren – 899 Differenzialdiagnose – 899 Therapie – 900
72.8.1 72.8.2 72.8.3
Chirurgische Therapie – 900 Radiotherapie – 900 Chemotherapie – 901
– 899
72.9 Primäre Metastasierung – 904 72.10 Prognostische Faktoren – 905 72.11 Toxizität und Spätfolgen – 906 Literatur – 907
Ein 14 Jahre alter Junge klagt seit einigen Wochen über Schmerzen im rechten Oberschenkel, die bei Belastung zunehmen, aber auch nachts fortbestehen. In jüngster Zeit ist eine Schwellung in dem betroffenen Bezirk hinzugetreten. Röntgenbild, Kernspintomographie und Knochenszintigraphie sind verdächtig für das Vorliegen eines bösartigen Knochentumors. Der Patient wird in einem pädiatrisch-onkologischen Zentrum vorgestellt. Histologisch wird ein Ewing-Sarkom nachgewiesen. Der Patient erhält eine systemische Chemotherapie, das betroffene Knochenareal wird operativ entfernt und endoprothetisch überbrückt, das Kompartiment nachbestrahlt. Fünf Jahre später ist der Junge in anhaltender Erstremission seiner Tumorerkrankung. Ewing-Sarkome sind die zweithäufigsten primären Knochentumoren im Kindes- und Jugendalter. Mit multimodaler Therapie liegen die Heilungsraten bei über 50%. Vordringlich ist eine rechtzeitige Diagnose: Fortbestehende Knochenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen müssen innerhalb von 4 Wochen differenzialdiagnostisch abgeklärt sein.
Einführung
Ewing-Tumoren sind eine klinisch und immunhistochemisch heterogene, molekular jedoch einheitliche Gruppe maligner klein-rund-blauzelliger Tumoren. Dazu gehören das klassische Ewing-Sarkom (EWS), heute charakterisiert durch die fehlende Expression neuronaler immunhistochemischer Marker, die peripheren malignen primitiven neuroektodermalen Tumoren (pPNET), immunhistochemisch charakterisiert durch den Nachweis neuronaler Marker, sowie die Askin-Tumoren (AST) der Thoraxwand. EwingTumoren sind gewöhnlich knöchernen Ursprungs, können jedoch gelegentlich auch weichteiliger Natur sein. Lücke (1866) und Hildebrand (1890) gelten als Erstbeschreiber. Die ersten Fallserien sind von James Ewing publiziert und als »diffuses Endotheliom« und »endotheliales Myelom« unter der Hypothese endothelialen Ursprungs beschrieben worden (Ewing 1921, 1924, 1939). Die genaue Histogenese ist auch heute noch nicht letztlich aufgeklärt. Es spricht vieles für den Ursprung von einer ubiquitären pluripotenten Stammzelle mit neuroektodermaler Determinierung (Cavazzana et al. 1987). Auf der molekularen Ebene sind Ewing-Tumoren durch eine tumorspezifische chromosomale Translokation charakterisiert mit Fusion des EWS-Gens auf dem langen Arm von Chromosom 22 mit zumeist (85%) dem FLI1-Gen auf Chromosom 11. Weniger häufig ist das EWS-Gen mit anderen Genen fusioniert, z.B. dem ERG-Gen auf Chromosom 21 (10%; Delattre et al. 1994; Sorensen et al. 1994; Abschn. 72.5). Die Genfusion als Resultat der tumorspezifischen chromosomalen Aberration ist diagnostisch für Ewing-Tumoren und differenziert Ewing-Tumoren von anderen klein-rund-blauzelligen Tumoren bei Kindern und Jugendlichen, z. B. Neuroblastomen, Rhabdomyosarkomen oder Non-Hodgkin-Lymphomen. Schon James Ewing war die Radiosensibilität der EwingTumoren bekannt (Ewing 1939). Bis vor ca. 30 Jahren sind dennoch über 90% aller an einem Ewing-Tumor erkrankten Patienten trotz unverzüglicher meist radiotherapeutischer Lokaltherapie innerhalb von 2 Jahren an systemischer Metastasierung verstorben. Dies ist Zeichen der frühen Mikrometastasierung und Dissemination dieser Erkrankung. Eine Heilung als Therapieziel konnte erst nach der Einführung systemischer Kombinationschemotherapie in Verbindung mit Lokaltherapie erreicht werden. Heute sind Heilungsraten von über 50% für Patienten mit lokalisierter Erkrankung zum Zeitpunkt der Diagnose erreichbar (Jürgens et al. 1988). 72.2
Epidemiologie
In der kaukasischen Bevölkerung sind Ewing-Tumoren der zweithäufigste primäre maligne Knochentumor bei Kindern
895 72 · Ewing-Tumoren
⊡ Abb. 72.1. Alters- und Geschlechtsverteilung. Datenbasis: 1426 Patienten der (EI)CESS-Studien
und Heranwachsenden und machen 10–15% aller primären malignen Knochentumoren aus. Die jährliche Inzidenz liegt in einer Größenordnung von 3 Neuerkrankungen pro 1 Mio. Kinder unter 15 Jahren und 2,4 pro 1 Mio. Heranwachsende zwischen 15 und 25 Jahren. Das mediane Alter bei Erstdiagnose ist 15 Jahre. Über 50% aller Erstmanifestationen betreffen das zweite Lebensjahrzehnt. Männer sind mit 1,5:1 stärker betroffen. Die männliche Prädominanz nimmt mit steigendem Lebensalter zu (⊡ Abb. 72.1). Es gibt keine Hinweise für eine genetische Prädisposition, bemerkenswert ist jedoch das fast völlige Fehlen von Ewing-Tumoren in der afrikanischen und chinesischen Population (Fraumeni u. Glass 1970; Hense et al. 1999b; Li et al. 1980; Price u. Jeffree 1970). Hinweise für äußere Einflussfaktoren sind nicht bekannt. 72.3
Klinisches Erscheinungsbild und Diagnostik
72.3.1 Symptomatik Erstsymptome sind gewöhnlich Schmerzen, weitere Symptome sind abhängig von Sitz und Ausbreitung. Die Schmerzen werden nicht selten kausal mit einem auslösenden Trauma in Verbindung gebracht, ohne dass es Hinweise gäbe für eine traumatische Genese von Ewing-Tumoren. Die Schmerzen nehmen gewöhnlich aktivitätsbezogen zu, bleiben jedoch nachts bestehen. Dem stärker werdenden, durch Dehnung des Periosts verursachten Schmerz folgt gewöhnlich ein Anschwellen der betroffenen Region, nicht selten als Entzündung gedeutet. Sind die Wirbelsäule oder periphere Nerven einbezogen, können Ausfallserscheinungen im Vordergrund stehen. Etwa ein Drittel der Patienten berichten über Fieber und sonstige Begleitsymptome. Diese Angaben korrelieren oft mit der Tumorgröße oder auch primär metastasierter Erkrankung und können daher indirekt von prognostischer Bedeutung sein. 72.3.2 Primärtumor Die häufigste Lokalisation des Primärtumors ist das knöcherne Becken, insbesondere das Os ilium, gefolgt von den
langen Röhrenknochen der Extremitäten, den Rippen, der Scapula und der Wirbelsäule (⊡ Abb. 72.2). Im Vergleich zu Osteosarkomen sind die flachen Knochen des Stammskeletts häufiger betroffen. In den Röhrenknochen ist der Tumorsitz gewöhnlich diaphysär und damit deutlich unterschieden von dem charakteristischen metaphysären Tumorsitz von Osteosarkomen (Campanacci 1991; Dahlin u. Unni 1996; Huvos 1991). 72.3.3 Labordiagnostik Ewing-Tumor-spezifische Laboruntersuchungen sind nicht bekannt. Die Blutsenkung ist gewöhnlich mäßig erhöht, je nach Tumorlast sind eine milde Anämie und eine Leukozytose charakteristisch. Eine Erhöhung der Serumlaktatdehydrogenase (LDH) korreliert mit der Tumorlast und disseminierter Erkrankung und ist damit indirekt von prognostischer Bedeutung. Insbesondere bei kleinen Kindern dient der Nachweis normaler Katecholamine im Urin der Abgrenzung gegenüber Neuroblastomen. 72.3.4 Bildgebende Diagnostik Konventionelle Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen, ergänzt durch eine Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT) gelten als Standard zur Beschreibung des Primärtumors, sowohl hinsichtlich der intramedullären Ausdehnung innerhalb des Knochens als auch der Beschreibung der Weichteilkomponente (⊡ Tabelle 72.1; Campanacci et al. 1998). ! Wichtig ist die Darstellung des gesamten betroffenen Kompartiments, denn die ursprüngliche Tumorausdehnung ist Grundlage der Planung der Lokaltherapie und Basis für die Beurteilung des prognostisch bedeutsamen Ansprechens auf die primäre Chemotherapie (Jürgens 1995).
Röntgenologisch charakteristisch ist eine osteolytische Destruktion mit Anhebung des Periosts (Codman-Dreieck) und Infiltration in das umgebende Weichgewebe. Die MRT ist der CT bezüglich der Beurteilung intraossärer Tumoraus-
72
896
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 72.2. Skelettverteilung der Ewing-Tumoren und prozentuale Verteilung der Primärmetastasen. Datenbasis: 1426 Patienten der (EI)CESS-Studien
dehnung überlegen. Im CT können im Vergleich zum MRT kortikale Veränderungen präziser abgebildet sein (⊡ Abb. 72.3; Campanacci et al. 1998). Zur Metastasensuche gelten die CT der Thoraxorgane in Ergänzung zum Thoraxröntgenbild sowie eine 99Tc-Knochenszintigraphie als Standard zum Ausschluss bzw. Nachweis von Lungen- und Knochen-
metastasen. In jüngster Zeit hat sich die Positronenemissionstomographie mit 18-Fluor-Deoxyglukose (FDG-PET) als sensitiv und der konventionellen 99Tc-Knochensizintigraphie hinsichtlich der Detektion von Knochenmetastasen bei Ewing-Tumoren als überlegen erwiesen (Franzius et al. 2000).
⊡ Tabelle 72.1. Staging-Untersuchungen bei Diagnose Untersuchung
Primärtumor
Metastasensuche
Röntgen in 2 Ebenen, gesamter Knochen und angrenzende Gelenke
++
Verdächtige Lokalisationen
MR und/oder CT, betroffene Knochen und angrenzende Gelenke
++
Verdächtige Lokalisationen
Biopsie: Histologie, Molekularbiologie
++
Verdächtige Lokalisationen
Thoraxröntgen und -CT
++
Knochenmarkbiospie und -aspirat: mikroskopische Untersuchung
++
99
++
++
FDG-PET
+
+
Tc-Knochenszintigraphie
++ unverzichtbar; + indiziert, wenn vorhanden. MR Magnetresonanztomographie, CT Computertomographie, FDG-PET Positronenemissionstomographie mit 18-Fluor-Deoxyglukose.
897 72 · Ewing-Tumoren
72
a
b
c
d ⊡ Abb. 72.3a–d. 17-jähriger Patienten mit einem ausgedehnten Ewing-Tumor des Beckens. a Röntgenbild; b MRT koronar; c CT transversal, d MRT transversal
72.3.5 Biopsie
72.3.6 Knochenmarksbeteiligung
Zur Sicherung der klinischen und apparativen Verdachtsdiagnose ist eine invasive Diagnostik als offene Biopsie oder Nadelbiopsie notwendig. Der bioptische Zugangsweg muss als kontaminiert angesehen und in die Planung der definitiven Lokaltherapie einbezogen werden (Ozaki et al. 1996; Winkelmann 1999). Ungefähr 25% aller Patienten haben zum Zeitpunkt der Diagnose eine nachweisbare Metastasierung ( Abb. 72.2; Paulussen et al. 1998, 2001c). Eine fragliche Metastasierung sollte bioptisch gesichert werden, da der Nachweis für Therapieplanung und Einschätzung der Prognose von Bedeutung ist. Das bei der Biopsie gewonnene Material muss ausreichend sein für die histologischen Standarduntersuchungen, die Immunzytochemie und molekularbiologische Untersuchungen (Dockhorn-Dworniczak et al. 1994a). Es hat sich als wichtig herausgestellt, dass auch die Biopsie in einem mit der Behandlung von Knochentumoren erfahrenen Zentrum durchgeführt wird (Winkelmann 1999).
Zum Nachweis bzw. Ausschluss einer Knochenmarkskontamination sind Knochenmarkpunktionen an mehreren Stellen erforderlich. Die konventionelle Untersuchung von Knochenmarkaspiraten und Knochenstanzen wird heute durch molekulare Untersuchungstechniken zum Nachweis von EWS-Genfusionstranskripten ergänzt (DockhornDworniczak et al. 1994b; Pein et al. 1995; Peter et al. 1995). Die prognostische Bedeutung einer isolierten molekularen Knochenmarkkontamination ohne konventionell nachweisbare ossäre Metastasierung ist Gegenstand derzeitiger prospektiver Untersuchungen (Schleiermacher et al. 2003). 72.4
Pathologie
Ewing-Tumoren sind makroskopisch gewöhnlich von grauweißlicher Farbe und fester Konsistenz. Das histologische Bild in der Routinefärbung (Hämatoxylin-Eosin) ist charakterisiert durch ein monomorphes Muster von Zellen mit kleinen, blauen und runden Zellkernen mit spärlichem Zytoplasma und mittels PAS-Färbung nachweisbaren zytoplas-
898
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
In fast allen weiteren Fällen können andere Fusionsereignisse des EWS-Gens nachgewiesen werden (de Alava u. Gerald 1998; Jeon et al. 1995; Kaneko et al. 1996; Peter et al. 1997; Sorensen et al. 1994; Urano et al. 1996, 1998; Zoubek et al. 1996; Zucman et al. 1993). Diesem molekularen Nachweis wird eine Schlüsselrolle in der Tumorpathogenese und Tumorbiologie zugeschrieben, ohne dass die Ursprungszelle bislang definiert ist. Die Hypothesen weisen am ehesten in Richtung einer primitiven pluripotenten neuroektodermalen oder mesenchymalen Stammzelle als Ursprungszelle der Ewing-Tumoren (de Alava et al. 2000; Kovar 1998; Kovar et al. 2001; Kovar 2003).
IV
72.5.2 EWS-ETS-Genfusion
⊡ Abb. 72.4. Typisches, klein-rund-blauzelliges histologisches Bild eines Ewing-Tumors. Charakteristisch ist auch der spärliche Zytoplasmasaum
matischen Glykogenablagerungen (⊡ Abb. 72.4; Dahlin u. Unni 1996; Huvos 1991; Roessner et al. 1993, 1996). Immunhistochemisch exprimieren über 95% aller EwingTumoren das Mic-2-Antigen (CD99; Ambros et al. 1991; Kovar et al. 1990; Perlman et al. 1994). CD99 ist jedoch nicht EwingTumor-spezifisch (Zhang et al. 2000). In unterschiedlichem Ausmaß exprimieren über 30% aller Ewing-Tumoren neuronale Marker wie das S100-Protein, die neuronenspezifische Enolase (NSE) sowie Synaptophysin (Schmidt et al. 1991). Auf der Grundlage der Expression neuronaler Marker werden Ewing-Tumoren ohne Nachweis neuronaler Differenzierung als klassische Ewing-Sarkome (EWS) bezeichnet, EwingTumoren mit dem Nachweis eines neuronalen Markers als atypische EWS und Ewing-Tumoren mit Nachweis von 2 und mehr neuronalen Markern als periphere maligne primitive neuroektodermale Tumoren (pPNET; Schmidt et al. 1991). Ewing-Tumoren sind gewöhnlich Vimentin-positiv, der fehlende Nachweis muskulärer oder hämatopoetischer Marker dient der Abgrenzung gegenüber Weichteilsarkomen oder Lymphomen (Roessner et al. 1984). 72.5
Molekularbiologie
Das Rearrangement des Ewing-Sarkom-Gens auf Chromosom 22q12 mit dem FLI1-Gen (»friend leukemia virus integration site 1«) auf Chromosom 11q24 gilt als molekularer Schlüssel zu den Ewing-Tumoren (Kovar 1998). Das EWSGen (Ewing-Sarkom-Gen) kodiert ein ubiquitär exprimiertes RNA-Bindungsprotein, das in Transkriptionsprozesse und die RNA-Prozessierung involviert ist. FLI1 kodiert ein Protein mit einer carboxyterminalen DNA-Bindungsdomäne, die charakteristisch ist für die Mitglieder der ETS-Familie (»erythroblastosis virus transferring sequence«) von Transkriptionsfaktoren. Als Konsequenz aus der Genfusion wird die EWS-RNA-Bindungsdomäne ersetzt durch die FLI1DNA-Bindungsdomäne. Dies führt zu der Bildung eines Transkriptionsfaktors mit starkem In-vitro-Transaktivierungspotenzial (⊡ Abb. 72.5). In 10–15% aller Ewing-Tumoren können alternative EWS-Genfusionen mit Mitgliedern der ETS-Genfamilie (meist ERG; »ETS related gene«) beobachtet werden (⊡ Tabelle 72.2). Die Fusion von EWS mit Mitgliedern der ETS-Genfamilie ist Ewing-Tumor-spezifisch. Das EWS-Gen ist darüber hinaus in verschiedene andere Translokationsereignisse bei soliden Tumoren und akuten Leukämien involviert. Die EWS- und FLI1-Gene bestehen aus 17 bzw. 9 Exonen. Die Bruchpunkte entstehen zwischen den EWS-Exonen 7 und 12 sowie den FLI1-Exonen 4 und 9. Die häufigsten EwingTumor-Genfusionen resultieren in einem Typ-1- (Fusion von EWS-Exon 7 zu FLI1-Exon 6 in ungefähr 50% der Fälle) oder in einem Typ-2-Produkt (Fusion von EWS-Exon 7 zu FLI1Exon 5 in ca. 27% der Fälle). In-vitro-EWS-FLI1-transformierte Zellen sind tumorigen in Nacktmäusen und führen zu einem klein-rund-blauzelligen Tumorparenchym. Diese Beobachtungen zeigen, dass die EWS-ETS-Genfusion als
72.5.1 Genetische Definition ! Unabhängig von der Expression neuronaler Marker sind Ewing-Tumoren durch den Nachweis einer tumorspezifischen Translokation als eine biologische Einheit charakterisiert. In etwa 85% aller EwingTumoren unter Einschluss der pPNET ist eine Translokation t(11;22)(q24;q12) und als molekulares Äquivalent eine EWS-FLI1-Genfusion nachweisbar (Delattre et al. 1992, 1994).
⊡ Tabelle 72.2. EWS-ETS-Genfusionen bei Ewing-Tumoren
Genfusion
Zytogenetisches Äquivalent
Häufigkeit
EWS-FLI1
t(11;22)(q24;q12)
85%
EWS-ERG
t(21;22)(q22;q12)
10%
EWS-ETV1
t(7;22)(p22;q12)
<1%
EWS-E1AF
t(17 ;22)(q12;q12)
<1%
EWS-FEV
t(2 ;21 ;22)
1%
899 72 · Ewing-Tumoren
⊡ Abb. 72.5. Chromosomentranslokation t(11;22)(q24;q12) bei Ewing-Tumoren
essenziell für die Ewing-Tumorpathogenese anzusehen ist. Die genaue Kaskade der Signaltransduktionsvorgänge bedarf jedoch der Aufklärung. Auch ist nicht geklärt, warum die In-vitro-Transduktion von EWS-FLI1 für die meisten Zelltypen, nicht jedoch für die Ursprungszelle von EwingTumoren ein letales Ereignis darstellt (Kovar 1998, 1999, 2003; Kovar et al. 1999a, 1999b, 2000a; 2000b, 2001, 2003). 72.5.3 Weitere chromosomale Abweichungen Neben der charakteristischen Translokation t(11;22) oder einer ihrer Varianten können auch zusätzliche genetische Veränderungen in Ewing-Tumoren nachweisbar sein, z. B. eine Trisomie 8 in 44% der Fälle oder eine Trisomie 12 in 29% der Fälle. Strukturelle Veränderungen betreffen in der Regel die Chromosomen 1 und 16, gewöhnlich resultierend in 1q-Zugewinnen und 16q-Verlusten oder der Entstehung eines derivativen Chromosoms der(1;16) (Hattinger et al. 2002; Ozaki et al. 2001; Udayakumar et al. 2002). Die biologische Bedeutung solcher Abweichungen ist noch nicht bekannt. 72.5.4 Molekulare Diagnostik Aufgrund der fast konstanten Präsenz gelten EWS-ETS-Genfusionen als molekularer Nachweis für Ewing-Tumorzellen. Der klassische zytogenetische Nachweis einer Translokation t(11;22)(q24;q12) ist heute weitgehend ersetzt durch die RTPCR bzw. FISH-Beschreibung der EWS-Bruchpunktregion auf Chromosom 22 mit einer Sensitivität, die den Nachweis einer Tumorzelle unter 105–106 normalen Zellen ermöglicht. So ist der Nachweis minimaler Kontamination in Knochenmark, peripherem Blut und Stammzellpräparaten möglich geworden (Dockhorn-Dworniczak et al. 1994b; Fagnou et al. 1998; West 2000; Zoubek et al. 1998). Die Untersuchung der prognostischen Bedeutung des Nachweises einer moleku-
larer Kontamination ist Gegenstand laufender Studienprojekte. 72.6
Extraskelettale Ewing-Tumoren
Ausschließlich extraskelettale Ewing-Tumoren sind selten (Ahmad et al. 1999). Die wesentliche Differenzialdiagnose umfasst klassische Ewing-Tumoren ossären Ursprungs mit extensiver Weichteil- und nur randständiger knöcherner Beteiligung. Hauptsächlich ist der Stamm betroffen. Die wenigen Weichteil-Ewing-Tumoren lassen keine männliche Prädominanz erkennen. Bezüglich Diagnostik und Therapie gelten die gleichen Richtlinien. Je nach Sitz kann das Risiko einer lymphatischen Aussaat größer sein und muss bei der Planung der Lokaltherapie, insbesondere eines etwaigen Strahlenfeldes, Berücksichtigung finden. Für die Differenzierung von anderen Weichteiltumoren sind immunhistochemische und molekulare Untersuchungsmethoden von zentraler Bedeutung. ! Der molekulare Nachweis eines Ewing-Tumor-spezifischen EWS-Rearrangements kann als pathognomonisch angesehen werden.
72.7
Differenzialdiagnose
Die wichtigste klinische Differenzialdiagnose von EwingTumoren ist die Osteomyelitis. Das radiologische Erscheinungsbild kann sehr ähnlich sein, außerdem können EwingTumoren sekundär infiziert sein. Histologisch sind EwingTumoren von anderen klein-rund-blauzelligen Tumoren abzugrenzen, insbesondere Rhabdomyosarkomen, Neuroblastomen (v. a. bei Kindern unter 5 Jahren), kleinzelligen Osteosarkomen und primär knöchernen Non-HodgkinLymphomen (Meis-Kindblom et al. 1996).
72
900
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Die histopathologische Differenzialdiagnostik ist neben der Morphologie von der Immunzytochemie und molekularen Methoden assistiert (Roessner et al. 1993). EwingTumoren sind durch Überexpression des Mic-2-Antigens (CD99) in über 85% der Fälle charakterisiert, exprimieren in der Regel den mesenchymalen Marker Vimentin und zeigen in ca. einem Drittel der Fälle eine neuronale Differenzierung mit Expression des S100-Proteins, der neuronenspezifischen Enolase (NSE), Synaptophysin sowie Chromogranin A und B. Der fehlende Nachweis myogener, fibrogener und hämatopoetischer Marker ist hilfreich zur Abgrenzung gegenüber anderen Weichteiltumoren und Lymphomen. Der molekulare Nachweis der Ewing-Tumor-typischen Genfusion gilt als pathognomonisch. 72.8
Therapie
Trotz Radiosensibilität wurden Ewing-Tumoren erst mit der Einführung multimodaler multidisziplinärer Therapiestrategien unter Einschluss der Kombinationschemotherapie und Lokaltherapie mittels Operation und/oder Bestrahlung heilbar. Langfristige Remissions- und Heilungsraten in einer Größenordnung von 50–65% gelten heute als Standard. Wichtige Erkenntnisse und Ergebnisse zur Verbesserung der Behandlungsresultate konnten im Rahmen multizentrischer und multinationaler Therapiestudien erzielt werden (Oberlin et al. 2000; Paulussen et al. 2001c; Rodriguez-Galindo et al. 2003). Da die Entwicklung der optimalen Ewing-TumorBehandlungsstrategie noch lange nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, sollten angesichts der Seltenheit der Erkrankung möglichst alle Patienten an spezialisierten Zentren im Rahmen von kooperativen Studien behandelt werden. Ewing-Tumoren müssen auch bei fehlendem apparativen Nachweis einer Metastasierung in die Lungen oder in das Skelettsystem als eine systemische Erkrankung angesehen werden. Sie bedürfen daher grundsätzlich einer systemischen Therapie in Form von Kombinationschemotherapie. Diese kann jedoch in keinem Fall die definitive Lokaltherapie mit Operation und/oder Bestrahlung ersetzen. Angesichts der Radiosensibilität von Ewing-Tumoren hat die definitive Radiotherapie lange als Standard in der Lokalbehandlung gegolten. Die verbesserten Remissionsraten mittels effektiver systemischer Chemotherapie haben jedoch das Risiko von Lokalrezidiven nach Bestrahlung verdeutlicht, so dass je nach Sitz und Größe des Primärtumors heute operativen Verfahren, in der Regel in Kombination mit Radiotherapie, der Vorzug gegeben wird, um ein Maximum an Sicherheit der lokalen Kontrolle erzielen zu können (Jürgens et al. 1998b; Schuck et al. 2003). 72.8.1 Chirurgische Therapie Ewing-Tumoren sind hochmaligne Tumoren mit rascher Extension in das umgebende Weichgewebe. Dieser extrakompartimentale Charakter ist bei der Planung der operativen Lokaltherapie zu berücksichtigen. Ebenso ist der initiale Biopsiekanal in die Planung der Lokaltherapie und das definitive Tumorresektat mit einzubeziehen (Kotz et al. 2002;
Winkelmann et al. 1989; Winkelmann 1999). Für die Klassifikation der chirurgischen Intervention gilt die Unterscheidung nach intraläsionalen, marginalen und weiten Resektionen nach den Enneking-Kriterien als Standard (⊡ Tabelle 72.3; Enneking 1988; 1989; Virkus et al. 2002). In der Regel erfolgt die definitive chirurgische Intervention nach chemotherapeutischer Vorbehandlung (Paulussen et al. 2001a; Schuck et al. 2003). Das Ansprechen des Primärtumors auf die initiale Chemotherapie ist histologisch klassifizierbar auf der Grundlage des Anteils nachweisbaren residualen vitalen Tumors im Resektat nach der Definition von Salzer-Kuntschik (Grad 1–6; Salzer-Kuntschik et al. 1983a, 1983b; ⊡ Tabelle 72.3). Die Grade 1–3 (<10% vitaler Resttumor) gelten in der Regel als gutes, die Grade 4–6 (>10% vitaler Resttumor) als ungünstiges Ansprechen. In Fällen marginaler oder intraläsionaler Resektion und bei histologischem Nachweis ungünstigen Ansprechens (≥10% vitaler Resttumor) ist in jedem Fall eine postoperative Radiotherapie indiziert. In vielen klinischen Studien haben sich das histologisch nachweisbare Ansprechen auf primäre Chemotherapie ebenso wie die nach Enneking klassifizierte chirurgische Radikalität als wichtige Prognosefaktoren herausgestellt. Die günstigste Prognose haben Patienten mit gutem Ansprechen auf die Initialtherapie und tumorfreien Resektaträndern (Ahrens et al. 1999; Cotterill et al. 2000; Jürgens et al. 1998a; Oberlin et al. 2001). Eine operative Lokaltherapie nach chemotherapeutischer Vorbehandlung wird heute primär angestrebt bei Extremitätentumoren und Tumoren der Thoraxwand sowie der Beckenregion, soweit nicht das Os sacrum betroffen ist und damit die Resektion mit einer hohen Morbidität assoziiert ist. Im Extremitätenbereich sind in der jüngsten Zeit die operativen Möglichkeiten durch die endoprothetische Entwicklung auch unter Einbezug verlängerbarer Endoprothesen bei Heranwachsenden verbessert worden (Kotz et al. 2002; Winkelmann 1999). In jedem Fall bedarf die Lokaltherapie einer intensiven interdisziplinären Diskussion zwischen dem Betroffenen und seiner Familie, dem pädiatrischen bzw. internistischen Onkologen, dem meist orthopädischen Chirurgen und dem Radiotherapeuten. Zusammenfassend lässt sich mit operativen lokaltherapeutischen Maßnahmen, in der Regel in Verbindung mit Radiotherapie, im Vergleich zu einer alleinigen Radiotherapie eine Verbesserung der Überlebenschance um 15–20% erzielen (Schuck et al. 2003). 72.8.2 Radiotherapie Schon Ewing hatte 1921 die Radiosensitivität von EwingTumoren erkannt und beschrieben (Ewing 1921). Die Radiotherapie hat seitdem in der Behandlung von Ewing-Tumoren einen festen Stellenwert (Donaldson et al. 1998). Als Standard gilt heute eine Kompartimentdosis in einer Größenordnung von 45 Gy mit einem Boost auf die Tumorregion auf 55 Gy (Dunst et al. 1991; Jenkin et al. 2002; Schuck et al. 2003). Die Dosisempfehlungen für eine postoperative Nachbestrahlung hängen ab von dem histologischen Ansprechen und den Resektionsrändern und liegen in einer Größenordnung von 45 Gy bei gutem Ansprechen und tumorfreien Resektionsrändern sowie von 55 Gy bei ungünstigem Ansprechen sowie
901 72 · Ewing-Tumoren
⊡ Tabelle 72.3. Enneking-Klassifikation chirurgischer Interventionen und Klassifikation des histologischen Ansprechens nach SalzerKuntschik
Enneking-Klassifikation
Definition
Radikal/weit
Tumor komplett entfernt; intraoperativ nicht eröffnet; makroskopisch und mikroskopisch vollständig umgeben von intaktem, gesundem Gewebe oder »Kapsel«; Biopsiekanal mit ausreichenden Sicherheitsrand en bloc zusammen mit dem Operationspräparat entfernt
Marginal
Tumor komplett entfernt; intraoperativ nicht eröffnet; eventuell mikroskopischer Nachweis von Tumorgewebe an den Schnitträndern; kein Nachweis residualen Tumorgewebes in situ
Intraläsional
Tumor inkomplett entfernt oder intraoperativ eröffnet oder Nachweis von Tumorgewebe an den Schnitträndern; makroskopischer Nachweis residualen Tumorgewebes
Salzer-Kuntschik-Klassifikation
Definition
Grad 1
Kein Nachweis vitaler Tumorzellen
Grad 2
Einzelne vitale Tumorzellen oder Tumorinsel <0,5 cm
Grad 3
<10% vitale Tumorzellen
Grad 4
10–50% vitale Tumorzellen
Grad 5
>50% vitale Tumorzellen
Grad 6
Kein Effekt der Chemotherapie
kontaminierten Resektionsrändern. Konventionell ist das gesamte betroffene Kompartiment in das Strahlenfeld einzubeziehen. ! Angesichts moderner Bildgebung und besserer Beschreibung der Tumorausdehnung gilt ein Sicherheitsabstand von mindestens 2 cm, wenn möglich 5 cm, als ausreichend. Insbesondere bei heranwachsenden Kindern kann so unter Umständen eine für die Größenentwicklung bedeutsame Epiphysenregion ausgespart werden. Unverzichtbar ist der Einbezug von Biopsiekanälen und Operationsnarben in das Strahlenfeld.
Besteht die Lokaltherapie in einer Kombination aus Operation und Bestrahlung, so wird die Bestrahlung in der Regel postoperativ durchgeführt. Eine präoperative Radiotherapie kann indiziert sein als Notfallindikation bei z. B. einer Myelokompression, bei Tumorprogress unter Chemotherapie oder wenn angesichts des Tumorsitzes und der Ausdehnung eine Resektion im Gesunden nicht durchführbar erscheint. 72.8.3 Chemotherapie Ewing-Tumoren sind zytostatikasensibel, insbesondere gegenüber alkylierenden Substanzen wie Ifosfamid und Cyclophosphamid, den Anthrazyklinen (Doxorubicin) und anderen Zytostatika wie Vincristin, Actinomycin D und dem Topoisomerase-II-Inhibitor Etoposid. Die Kombination von Zytostatika mit komplementären Wirkmechanismen unter Einbezug von Alkylierung, Inhibition der DNA-Synthese, Inhibition der DNA-Topoisomerase II und Inhibition der Mitose hat signifikant zur Verbesserung der erkrankungsfreien Überlebensrate beigetragen (Craft et al. 1997; Jürgens 1995; Oberlin et al. 2000; Rodriguez-Galindo et al. 2003). Die Intergroup Ewing’s Sarcoma Studies (IESS) haben die Überlegenheit eines Vier-Medikamente-Regimes mit Vincristin
(V), Actinomycin D (A), Cyclophosphamid (C) und Doxorubicin (D) im Vergleich zu einem Drei-MedikamenteRegime mit Vincristin, Actinomycin D und Cyclophosphamid (VAC) bezogen auf erkrankungsfreies Überleben (60% vs. 24%), aber auch Effektivität der lokalen Kontrolle (96% vs. 86%) gezeigt (Burgert et al. 1990; Nesbit et al. 1990). Studien des Memorial Sloan-Kettering Center (MSKCC) haben den Vorteil einer intensiven Kombinationsmedikation im Vergleich zu einer sequenziellen Verabreichung belegt (Rosen et al. 1981a, 1981b; Rosen 1982, 1988). Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass in den Studien zwischen 1970 und 1980 oft kumulative Doxorubicin-Dosen von >700 mg/m2 zum Einsatz kamen, bevor das Kardiomyopathierisiko bekannt war und die kumulative Gesamtdosis auf maximal 500 mg/m2 begrenzt worden ist (Rosen 1988). Die IESS- und MSKCC-Erfahrungen haben mit dazu geführt, dass Zytostatikakombinationen aus mindestens 4 Medikamenten zum Standard in der Ewing-Tumor-Behandlung geworden sind (Burgert et al. 1990; Craft et al. 1997; Hayes et al. 1989; Jürgens et al. 1988; Nesbit et al. 1990). Die nächste Generation der Therapiestudien hatte die Intensivierung der Alkylanziendosis zum Gegenstand und den Ersatz von Cyclophosphamid durch höher dosierbares Isofamid (Craft et al. 1998; Grier et al. 2003; Jürgens et al. 1989; Miser et al. 1987; Paulussen et al. 2001a). Die Ergebnisse wichtiger Therapiestudien bei Patienten mit lokalisiertem Ewing-Tumoren sind in Tabelle 72.4 zusammengefasst. Die Bedeutung der Therapieintensität ist in der IESS-II-Studie belegt mit dem Vergleich einer intermittierenden höher dosierten zu einer moderater dosierten kontinuierlichen Chemotherapie und dem Benefit für das intensivere Regime (68% vs. 48% erkrankungsfreie Überlebensrate nach 5 Jahren, vgl. ⊡ Tabelle 72.4; Burgert et al. 1990; Evans et al. 1991). Die Intensivierung der Chemotherapie ist durch den Einsatz von Wachstumsfaktoren, z. B. G-CSF, zur Abmilderung der hämatologischen Toxizität unterstützt worden (Kushner et al. 1995; Lehrnbecher 2001; Womer et al. 2000). Die Bedeutung der Therapieintensität für die Behandlungsergebnisse
72
IV 902
Studie
Referenz
Therapie
Patientenzahl
5-Jahres-DFS
p*
Interpretation
IESS-I (1973–1978)
Nesbit et al. 1990
VAC VAC +WLI VACD
342
24% 44% 60%
VAC/VAC+WLI: 0,001 VAC/VACD: 0,001 VAC+WLI/VACD: 0,05
Stellenwert von D Nutzen von WLI?
IESS-II (1978–1982)
Burgert et al. 1990
VACD-HD VACD-MD
214
68% 48%
0,03
Stellenwert aggressiver Zytoreduktion
1. POG–CCG (1988–1993)
Grier et al. 2003
VACD VACD + IE
NA
54% 69%
0,005
Stellenwert der Kombination IE
2. POG–CCG (1995–1998)
Granowetter et al. 2003
VCD +IE 48 Wochen VCD +IE 30 Wochen
492
75% (3 Jahre) 76% (3 Jahre)
0,57
Kein Benefit von Dosis-ZeitKompression
IESS-Studien
Memorial-Sloan-Kettering-Cancer-Centre-Studien T2 (1970–1978)
Rosen et al. 1978
VACD (adjuvant)
20
75%
Nach alleiniger Lokaltherapie, Erhöhung der kumulativen Dosis von D auf 600 mg/m2
P6 (1990–1995)
Kushner et al. 1995
HD-CVD + IE
36
77% (2 Jahre)
C-Dosiseskalation 4,2 g/m2/Zyklus
ES-79 (1978–1986)
Hayes et al. 1989
VACD
52
82% <8 cm (3 Jahre) 64% 8 cm (3 Jahre)
Tumorgröße als Prognosefaktor
ES-87 (1987–1991)
Meyer et al. 1992
Therapeutisches Fenster mit IE
26
Klinisches Ansprechen in 96%
Kombination IE wirksam
EW-92 (1992–1996)
Marina et al. 1999
VCDIE ×3 VCD/IE intensiv
34
78% (3 Jahre)
Tumorgröße (≥8 cm) verliert prognostische Relevanz bei zunehmender Therapieintensität
Bacci et al. 2002
VDC + VIA + IE
157
71%
Operation bei78% der Patienten
Oberlin et al. 2001
VD + VD/VA
141
58%
Histologisches Ansprechen als Prognosefaktor dem Tumorvolumen überlegen
St.-Jude-Studien
ROI Bologna/Italy REN-3 (1991–1997) SFOP/Frankreich EW-88 (1988–1991)
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 72.4. Therapie lokalisierter Ewing-Tumoren – Ergebnisse ausgewählter klinischer Studien
ET-1 (1978–1986)
Craft et al. 1997
VACD
120
41% Extremitäten 52% Axial 38% Becken 13%
Tumorlokalisation als wichtigster Prognosefaktor
ET-2 (1987–1993)
Craft et al. 1998
VAID
201
62% Extremitäten 73% Axial 55% Becken 41%
Bedeutung der Verabreichung von hochdosierten Alkylanzien
CESS-81 (1981–1985)
Jürgens et al. 1988
VACD
93
<100 ml 80% ≥100 ml 31% (je 3 Jahre) vitaler Tumor <10%: 79% >10%: 31% (je 3 Jahre)
Tumorvolumen (≥100 ml) und histologisches Ansprechen sind Prognosefaktoren
CESS-86 (1986–1991)
Paulussen et al. 2001a
<100 ml (SR): VACD ≥100 ml (HR): VAID
301
52% (10 Jahre) 51% (10 Jahre)
Therapieintensivierung mit I für Hochrisikopatienten Tumorvolumen (≥200 ml) und histologisches Ansprechen als Prognosefaktor
Paulussen et al. 2002
SR: VAID/VACD HR: VAID/EVAID
470
72%/59% 51%/61%
72 · Ewing-Tumoren
UKCCSG/MRC Studien
CESS-Studien
EICESS-Studien (CESS+UKCCSG) EICESS-92 (1992–1999)
0,5834 0,2913
Tumorvolumen (≥200 ml) und histologisches. Ansprechen als Prognosefaktor Hinzunahme von E: kein deutlicher Benefit
* p-Werte sind nur für randomisierte Studien angegeben. DFS »disease free survival«, erkrankungsfreies Überleben; NA »not available«, Daten liegen nicht vor; V Vincristin; A Actinomycin D; D Doxorubicin; E Etoposid, I Ifosfamid; WLI »whole lung irradiation«, Ganzlungenbestrahlung; HD Hochdosis; MD moderate Dosis; SR Standardrisiko; HR Hochrisiko.
903
72
904
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
72.9
Primäre Metastasierung
bei Ewing-Tumoren hat auch dazu geführt, dass HochdosisTherapieregimes mit autologer Stammzelltransplantation bei Hochrisiko-Ewing-Tumorpatienten zum Einsatz gekommen sind, insbesondere bei Patienten mit primär oder sekundär metastasierter Erkrankung (Burdach et al. 2002, 2003; Kushner et al. 2001; Ladenstein et al. 1993,1995; Paulussen et al. 1998). Die Hochdosistherapie erfolgt entweder ausschließlich zytostatisch mit Medikamenten wie Busulfan, Melphalan, Cyclophosphamid, Thiotepa, Etoposid und Carboplatin oder mit Medikamentenregimes in Verbindung mit Ganzkörperbestrahlung. Analysen des europäischen Knochenmarktransplantationsregisters (EBMT Registry) weisen auf einen Vorteil busulfanhaltiger Regimes, z. B. Busulfan/Melphalan, hin und lassen keinen Vorteil einer Ganzkörperbestrahlung erkennen (Ladenstein et al. 1995). Eine Busulfan/Melphalan-haltige Hochdosistherapiestrategie, gefolgt von einer Transplantation autologer Stammzellen, ist derzeit Gegenstand der European Ewing Tumour Working Initiative of National Groups (EURO-E.W.I.N.G.). Die Studie EURO-E.W.I.N.G. 99 wurde 1999 initiiert und kann als Muster der aktuellen Therapiestrategie für EwingTumoren gelten. Alle Patienten erhalten eine Induktionschemotherapie mit sechs Kursen, bestehend aus der Medikamentenkombination Vincristin, Ifosfamid, Doxorubicin und Etoposid (VIDE), gefolgt nach der dann anstehenden operativen und/oder radiotherapeutischen Lokaltherapie von einer Erhaltungschemotherapie, die nach den Risikofaktoren histologisches Tumoransprechen, Tumorgröße, und primäre Metastasierung entweder eine ifosfamidhaltige (I) Drei-Mittel-Kombination (VAI) mit einer cyclophosphamidhaltigen Drei-Mittel-Kombination (VAC) oder aber bei Hochrisikopatienten die konventionelle VAI-Erhaltungschemotherapie mit einem Busulfan/Melphalan-haltigen Hochdosistherapiekonzept mit Stammzelltransplantation vergleicht. Primär ossär metastasierte Patienten werden direkt nach der Induktionsbehandlung der Hochdosistherapie zugeführt (⊡ Abb. 72.6; Jürgens et al. 1999; Oberlin et al. 2000; Rodriguez-Galindo et al. 2003).
Ungefähr ein Viertel aller Ewing-Tumorpatienten haben zum Zeitpunkt der Diagnose klinisch und apparativ nachweisbare Metastasen in den Lungen, dem Skelettsystem oder dem Knochenmark (Bacci et al. 2003; Fröhlich et al. 1999; Paulussen et al. 1998; Rodriguez-Galindo et al. 2003). Im Gegensatz zum Osteosarkom, bei dem fast ausschließlich die Lunge als Ort der Metastasierung betroffen ist, macht die pulmonale Metastasierung bei Ewing-Tumoren etwa 2/5 aller Metastasen aus ( Abb. 72.2). Der Nachweis einer primären Metastasierung ist der wichtigste die Prognose ungünstig beeinflussende Faktor (Ahrens et al. 1999; Cotterill et al. 2000). Patienten mit Lungenmetastasen haben eine bessere Prognose als Patienten mit Skelett- oder Knochenmarkmetastasen (⊡ Abb. 72.7). Bei nachgewiesenen Lungenmetastasen gilt eine bilateral pulmonale Bestrahlung in einer Größenordnung von 14–20 Gy je nach Alter in Ergänzung zur konventionellen Chemotherapie als Standard (Paulussen et al. 1998; Whelan et al. 2002). Solitäre und umschriebene metastatische Knochenläsionen bedürfen einer Lokaltherapie nach den gleichen Kriterien wie sie für die Lokalbehandlung des Primärtumors gelten. Die Prognose der Patienten mit diffuser ossärer Dissemination ist extrem ungünstig und liegt unter 20% nach 2 Jahren (Paulussen et al. 1998). Der Stellenwert von Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation ist derzeit Gegenstand aktueller Therapiestudien (Jürgens et al. 1999). Ob sich wie beim disseminierten Neuroblastom eine Verbesserung der Prognose mit einer solchen Therapiestrategie wird erzielen lassen, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgesehen werden. Patienten, die nach intensiver Erstbehandlung Metastasen entwickeln, haben ebenfalls eine ungünstige Überlebensprognose (<10% nach 2 Jahren) unabhängig vom Ort der Metastasierung. Lediglich für Patienten mit einer relativ spät auftretenden Metastasierung (>2 Jahre nach Erstdiagnose) lässt sich eine etwas günstigere Überlebensprognose in einer Größenordnung von 20–25% nach 2 Jahren belegen (Burdach et al. 2003; Fröhlich et al. 1999). Die
⊡ Abb. 72.6. EURO-E.W.I.N.G.-99-Therapieschema. R1 Risikogruppe 1 (lokalisierter Tumor, gutes histologisches Ansprechen); R2 Risikogruppe 2 (lokalisierter Tumor, schlechtes histologisches Ansprechen, sowie Patienten mit ausschließlich Lungen/Pleura-Metastasen); R3 Risiko-
gruppe 3 (extrapulmonale Metastasierung); VIDE Vincristin, Ifosfamid, Doxorubicin, Etoposid; VAI Vincristin, Actinomycin D, Ifosfamid; VAC Vincristin, Actinomycin D, Cyclophosphamid; HDT Busulfan-Melphalan Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation
905 72 · Ewing-Tumoren
Abb. 72.7. Erkrankungsfreies Überleben nach Metastasierung zum Zeitpunkt der Erstdiagnose
späten Rückfälle sind in der Regel Lokalrezidive in vorbestrahlten Primärtumorregionen oder Lungenmetastasen. Eine ossäre Dissemination tritt im Allgemeinen früher auf. 72.10
Prognostische Faktoren
Die Prognose von Patienten mit einem Ewing-Tumor wird ungünstig beeinflusst von dem Nachweis einer Metastasierung zum Zeitpunkt der Diagnose, der Größe des Primärtumors und einem ungünstigen Ansprechen auf eine primäre Chemotherapie. Das Lebensalter scheint eine Rolle zu spielen, allerdings haben ältere Patienten in der Regel auch häufiger zentrale Tumoren, insbesondere im Beckenbereich, mit großem Tumorvolumen (⊡ Tabelle 72.5; Ahrens et al. 1999; Cotterill et al. 2000; Hense et al. 1999a; Oberlin et al. 2001). Die neuronale Differenzierung scheint keinen Einfluss auf die Prognose zu haben. Molekulare Faktoren wie der Typ
des Fusionstranskripts (Zoubek et al. 1996) oder der molekulare Nachweis minimaler Knochenmarkserkrankung sind Gegenstand derzeitiger prospektiver Analysen (Hattinger et al. 2000; Hattinger et al. 2002; Schleiermacher et al. 2003). Angesichts des evidenzbasierten Stellenwerts von primärer Metastasierung und Ansprechen auf Chemotherapie für die Prognose wird in vielen aktuellen Therapieregimes nach solchen Merkmalen stratifiziert. Die Suche nach einem besseren Regime für Patienten mit einer ungünstigen Konstellation von Risikofaktoren ist Gegenstand aktueller Studien (Jürgens et al. 1999; Oberlin et al. 2000; Rodriguez-Galindo et al. 2003). Die Überlegenheit z. B. von Hochdosistherapie-/ Stammzelltransplantation-basierten Regimes ist zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht belegt. Aus diesem Grunde kann eine Hochdosistherapie mit Stammzelltransplantation für Hochrisikopatienten nur als gerechtfertigt angesehen werden, wenn sie im Rahmen prospektiver Therapiestudien erfolgt.
⊡ Tabelle 72.5. Prognosefaktoren bei Ewing-Tumoren (Auflistung nach Relevanz; günstige >ungünstige Prognose)
Prognosefaktoren
Günstig
Ungünstig
Metastasen bei Diagnose
Nein Lunge/Pleura
Ja Knochen/Knochenmark
Histologisches Ansprechen
Gut
Schlecht
Tumorgröße
Tumordurchmesser <8 cm Tumorvolumen <200 ml
Tumordurchmesser >8 cm >200 ml
Tumorsitz
Distal >proximal >zentral
Zentral
Lokaltherapie
Operation ± Radiotherapie
Alleinige Radiotherapie
Alter bei Diagnose
<15 Jahre
>15 Jahre
Laborwerte
Serum-LDH normal
Serum-LDH erhöht
72
906
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
72.11
Toxizität und Spätfolgen
Die Diskussion zu Toxizität und Spätfolgen muss berücksichtigen, dass sich die Überlebenschance der Patienten mit lokalisierten Tumoren in den vergangenen 30 Jahren von <10% auf ca. 60% verbessert hat, aber immer noch das Rezidiv und die Metastasierung die Hauptgefahr und das Hauptrisiko darstellen.
IV
Chemotherapie. Akute Nebenwirkungen sind unvermeidbar, eine chemotherapieassoziierte Übelkeit mit Erbrechen ebenso wie die Beeinträchtigung von Schleimhäuten und der Hämatopoese mit Leukozytopenie, Thrombozytopenie und Anämie ebenso wie die temporäre Alopezie. Leukozytopenieassoziierte infektiöse Komplikationen sind das Hauptrisiko. Die damit verbundene Mortalität liegt bei einer Größenordnung von 1–2% (Jürgens 1995). Die Intensität der heute Ewing-Tumor-typischen systemischen Chemotherapie erfordert eine konsequente supportive Therapie mit unverzüglicher empirischer antibiotischer Therapie bei febrilen Komplikationen neutropenischer Patienten, ebenso wie eine routinemäßige chemotherapeutische Prophylaxe gegen Pneumocystis-jiroveci-assoziierte interstitielle Pneumonien in der Regel mit Trimetoprim/Sulfamethoxazol. Die meisten heute üblichen intensiven Chemotherapie-Regimes erfordern, zumindest in der Induktionsphase der Behandlung, eine supportive Therapie mit Zytokinen, z. B. G-CSF, um das Risiko Granulozytopenie-assoziierter Komplikationen zu vermindern (Womer et al. 2000). Die alkylierenden Substanzen Cyclophosphamid und Ifosfamid sind mit Nierentoxizität assoziiert. Die hämorrhagische Zystitis als früher häufige Komplikation als Folge einer Ifosfamid-Chemotherapie ist durch eine adäquate Infusionstherapie und Administration von Mesna zur Protektion der ableitenden Harnwege verhinderbar (Hensley et al. 1999; Schuchter et al. 2002). Hohe kumulative Dosen, insbesondere von Ifosfamid, sind assoziiert mit eingeschränkter renaltubulärer Funktion mit Hyperaminoazidurie, Glukosurie, Proteinurie und Phosphaturie, in schweren Fällen mit dem Vollbild eines renalen Fanconi-Syndroms mit sekundärer Rachitis und Osteomalazie (Rossi et al. 1999). Eine engmaschige Nachsorge und frühe Substitution mit v. a. Phosphat ist essenziell. Eine Ifosfamid-assoziierte Enzephalopathie ist in der Regel akut und meist innerhalb weniger Tage reversibel, auch wenn das Krankheitsbild subjektiv als bedrohlich empfunden werden kann, mit Halluzinationen, Bewusstseinsstörungen und zerebralen Krampfanfällen. Die Gabe von Methylenblau führt zu einer oft raschen Besserung (Pelgrims et al. 2000; Verstappen et al. 2003). Eine Spätfolge der Chemotherapie mit hohen kumulativen Dosen alkylierender Substanzen ist die Infertilität, insbesondere bei Jungen. Bei heranwachsenden Patienten ist das prätherapeutische Angebot einer Spermakryokonservierung daher von großer Bedeutung, um überlebenden Patienten eine die Reproduktion einschließende Lebensplanung zu ermöglichen (Kliesch et al. 1996). Die Ewing-Tumor-Therapiekonzepte beinhalten auch hohe kumulative Dosen an Vincaalkaloiden. Bei den meisten Patienten führt dies zu einer peripheren Neuropathie. Bei hohen Schweregraden und Parästhesien sind unter Umstän-
den eine Dosisreduktion oder ein Verzicht auf die weitere Behandlung mit Vincaalkaloiden in Erwägung zu ziehen (Verstappen et al. 2003). Actinomycin D kann mit Hepatotoxizität assoziiert sein. Das Auftreten einer Venookklusionserkrankung ist bei jüngeren Kindern häufiger. Anthrazykline, im Falle der Ewing-Tumor-Chemotherapie meist Doxorubicin, sind mit Kardiotoxizität assoziiert. Die kumulative Gesamtdosis im Rahmen aktueller Protokolle ist in der Regel auf <400 mg/m2 KOF begrenzt. Die Kardiotoxizität wird bei einer neuerlichen Bestrahlung unter Einschluss des Herzens verstärkt. Chronische Kardiomyopathien können noch Monate oder Jahre nach Beendigung der Chemotherapie auftreten (Elbl et al. 2003; Steinherz et al. 1995). Eine sorgfältige echokardiographische Verlaufsdiagnostik mit Bestimmung der linksventrikulären Verkürzungsfraktion ist daher dringend in zunächst 6-monatigen, dann jährlichen Abständen erforderlich. Chirurgische Therapie. Auch die Lokaltherapie kann mit
beeinträchtigenden Spätfolgen assoziiert sein. Dies schließt eine Beeinträchtigung des Körperbildes nach ablativen chirurgischen Verfahren ebenso ein wie die Veränderung durch eine Umdrehplastik oder die Bewegungsbeeinträchtigung nach endoprothetischer Versorgung oder Wachstumsstörungen bei Operation wachsender Kinder unter Einbezug der Wachstumsfugen (Hillmann et al. 2003; Hoffmann et al. 1999; Rödl et al. 2003). Strahlentherapie. Die akuten Nebenwirkungen der Strahlentherapie beinhalten Haut- und Schleimhautveränderungen wie gastrointestinale Irritationen und heilen in der Regel innerhalb von 10–14 Tagen nach Ende der Bestrahlung ab. Spätfolgen umfassen Wachstums- und Entwicklungsstörungen in den bestrahlten Regionen sowie die Entwicklung von Fibrosen und Lymphabflussstörungen (Kalapurakal et al. 1997; Meyers et al. 2000; Novakovic et al. 1997). Sekundärmalignome. Die Entwicklung von Sekundärmalignomen ist das schwerwiegendste Risiko sowohl der Chemotherapie wie auch der Bestrahlung. Langzeitüberlebende Patienten nach Ewing-Tumor-Chemotherapie und -Bestrahlung tragen ein Risiko für Zweitmalignome in einer Größenordnung von 5% nach 20 Jahren. Die chemotherapieassoziierten Zweitmalignome umfassen im Wesentlichen sekundäre myelodysplastische Syndrome sowie akute myeloische Leukämien, strahlenassoziiert treten vorwiegend osteogene Sarkome im Strahlenfeld auf. Die Überlebensaussichten nach Behandlung eines Sekundärmalignoms sind unterschiedlich, ungünstiger für sekundäre Systemerkrankungen im Vergleich zu sekundären soliden Tumoren (Kuttesch et al. 1996; Neglia et al. 2001; Paulussen et al. 2001b).
Die Aussicht für Patienten mit lokalisierten Ewing-Tumoren, länger als 5 Jahre nach Diagnose zu überleben, hat sich in den vergangenen 30 Jahren von weniger als 10% auf ca. 60% verbessert. Noch aber sind das Rezidiv und die Metastasierung die Hauptrisiken. Die Weiterentwicklung
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907 72 · Ewing-Tumoren
und Verbesserung der systemischen ebenso wie der Lokaltherapie unter Minimierung von Spätfolgen ist daher vordringliches Ziel. Die Evaluation neuer Substanzen unter Berücksichtigung molekularer Erkenntnisse zur Tumorbiologie ist ebenso wichtig wie die Weiterentwicklung von operativen und radiotherapeutischen Techniken zur Sicherung der lokalen Kontrolle. Die Prognose für Ewing-Tumorpatienten ist durch die Größe des Primärtumors, den Metastasierungsstatus und das biologische Ansprechen auf initiale Chemotherapie bestimmt. Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Verbesserung der Prognose ist die frühe Diagnose mit Einleitung sowohl einer systemischen Chemotherapie als auch einer Lokaltherapie. Eine intensive Kombinationschemotherapie mit mindestens 4 Medikamenten ist als Standard anzusehen. Den höchsten Stellenwert haben alkylierende Substanzen und Anthrazykline. Eine operative und/oder radiotherapeutische Lokaltherapie der Primärtumorregion ist unverzichtbar. Die Komplexität der Therapiestrategie bei dieser so seltenen Erkrankung erfordert die Therapie in auf Knochentumorbehandlung spezialisierten Zentren. Anschließend an die aktive onkologische Therapie ist eine engmaschige Nachsorge vonnöten, nicht nur zum Ausschluss oder zur Entdeckung eines eventuellen Rezidivs, sondern v. a. zur frühen Intervention bei sich abzeichnenden etwaigen Spätfolgen. Die große Mehrzahl erfolgreich behandelter Ewing-Tumorpatienten kann ein Leben ohne beeinträchtigende Spätfolgen führen.
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911
Lebertumoren D. von Schweinitz
73.1 73.2
Übersicht und Epidemiologie – 911 Pathogenese und Pathologie – 911
73.2.1 73.2.2 73.2.3 73.2.4
Hepatoblastom – 911 Hepatozelluläres Karzinom – 912 Andere Malignome – 912 Benigne Tumoren – 913
73.3
Genetik und Biologie
73.3.1 73.3.2 73.3.3
Hepatoblastom – 913 Hepatozelluläres Karzinom Andere Tumoren – 914
– 913 – 913
73.1
73.4
Diagnose
73.4.1 73.4.2 73.4.3
Klinische Symptomatik – 914 Diagnostisches Vorgehen – 914 Staging – 914
– 914
73.5
Therapie
73.5.1 73.5.2 73.5.3
Hepatoblastom – 915 Hepatozelluläres Karzinom – 917 Weitere Therapieverfahren für Hepatoblastom und hepatozelluäres Karzinom – 917 Nicht-epitheliale Malignome – 918 Benigne Lebertumoren – 918
73.5.4 73.5.5
– 915
73.6
Klinische Verläufe und Prognose – 919
73.6.1 73.6.2 73.6.3 73.6.4
Hepatoblastom – 919 Hepatozelluläres Karzinom – 919 Nicht-epitheliale Lebermalignome – 920 Benigne Tumoren – 920
Literatur
wird mit der Polychemotherapie (Ifosphamid, Cisplatin, Doxorubicin) begonnen. Drei Monate später wird nach Entfernung der Restleber eine Transplantation des linken Leberlappens seiner Mutter vorgenommen. Drei Jahre nach der Transplantation befindet sich N. in anhaltender Erstremission seines Hepatoblastoms. Seine Mutter hat die Lebendspende ohne Komplikationen überstanden.
Übersicht und Epidemiologie
Primäre Lebertumoren treten im Kindesalter selten auf, die bösartigen von ihnen machen ca. 1% aller kindlichen Malignome aus. Neben den epithelialen Malignomen Hepatoblastom (HB) und hepatozelluläres Karzinom (HCC) kommen auch Weichteilsarkome und verschiedene benigne Tumoren vor (⊡ Tabelle 73.1). Dabei ist ein bevorzugtes Auftreten der verschiedenen Neoplasien in typischen Altersperioden zu beachten. So kommt das HB überwiegend bei Kleinkindern von 6 Monaten bis 3 Jahren, das HCC dagegen bei Schulkindern und Jugendlichen vor, bei Neugeborenen ist der häufigste Tumor das benigne Hämangioendotheliom. Insgesamt sind 75% der primären Lebertumoren im Kindesalter maligne, die Mehrzahl tritt bei Säuglingen und Kleinkindern auf (von Schweinitz 1999).
– 920
73.2
Pathogenese und Pathologie
73.2.1 Hepatoblastom Der 3-jährige N. erleidet bei einem Fahrradsturz ein stumpfes Bauchtrauma mit Verdacht auf intraabdominelle Blutung. Die notfallmäßige Operation ergibt eine Einblutung in einen offensichtlich vorbestehenden Lebertumor sowie Blut in der Bauchhöhle. Zur Blutstillung ist eine Leberteilresektion erforderlich. Die Histologie ergibt ein Hepatoblastom. Die postoperative Bildgebung zeigt Tumorwachstum in den verbliebenen Anteilen der Leber. Zwölf Tage postoperativ
Das HB, der häufigste Lebertumor im Kindesalter, ist ein hochmalignes, embryonales Neoplasma. In den letzten Jahren wurde ein signifikant gehäuftes Auftreten nach extremer Frühgeburt festgestellt, ohne dass bisher eine Erklärung hierfür gefunden werden konnte (Tanimura et al. 1998). Makroskopisch sind HB meist große, sehr gut durchblutete, unifokale Tumoren, die den rechten Leberlappen bevorzugen
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⊡ Tabelle 73.1. Primäre Lebertumoren des Kindesalters entsprechend dem üblichen Alter bei Diagnosestellung und der Häufigkeit
Alter
Malignome
Benigne Tumoren
Säuglinge und Kleinkinder
Hepatoblastom (43%) Rhabdoidtumor (1%) Maligne Keimzelltumoren (1%)
Hämangioendotheliom und kavernöses Hämangiom (14%) Mesenchymales Hamartom (6%) Teratom (1%)
Schulkinder und Jugendliche
Hepatozelluläres Karzinom (23%) Sarkom (7%)
Adenom (2%) Fokal-noduläre Hyperplasie (2%)
73
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 73.1. Hepatoblastom ausgehend vom rechten Leberlappen bei einem 12 Monate alten Kind
⊡ Abb. 73.3. Computertomogramm eines multifokalen hepatozellulären Karzinoms bei einem 8 Jahre alten Jungen
(⊡ Abb. 73.1). Meistens setzen sie relativ spät Fernmetastasen und selten Lymphknotenabsiedelungen. Wenige HB wachsen primär sehr aggressiv mit multifokal disseminierter Verteilung in der Leber. Zunehmend finden sich Hinweise auf eine Entstehung aus unreifen Stammzellen der Leber, von wo die Tumorzellen überwiegend eine epitheliale, teilweise jedoch auch eine mesenchymale Differenzierung durchlaufen ( Kap. 46). Entsprechend findet sich histologisch in allen HB epitheliales Tumorgewebe, dass relativ hoch differenziert fetales oder weniger differenziert embryonales Lebergewebe imitiert, in seltenen Fällen auch undifferenziert kleinzellig erscheint. Das fetale HB hat regelmäßige Zellen mit nur relativ geringer Proliferationsaktivität und wenig Nekrosen, wohingegen embryonales Gewebe aus unregelmäßigen atypischen Zellen besteht, die eine deutlich verschobene Kernplasmarelation und eine hohe Mitoseaktivität aufweisen. 30% aller HB enthalten zusätzlich mesenchymale Tumoranteile mit unreifem fibrösen Gewebe, Spindelzellen und knorpelartigem Osteoid (⊡ Abb. 73.2). Ein typisches Phänomen für das HB ist das Auftreten von hämatopoetischen Herden im Tumor. Eine selten vorkommende, mehrschichtige, sogenannte makrotrabekuläre Anordnung von meist embryonalen Zellen ist, wie auch die kleinzellig undifferenzierte Form, mit einem besonders aggressiven Wachstum vergesellschaftet (Tomlinson u. Finegold 2002).
73.2.2 Hepatozelluläres Karzinom Im Gegensatz zum HB vermutet man als häufigste Ursache des HCC im Kindesalter eine Infektion mit hepatotropen Viren, auch wenn in Mitteleuropa nur in der Minderheit der Fälle eine Hepatitis-B- oder -C-Infektion nachweisbar ist. Anders als beim HB tritt das HCC auch im Kindesalter oft bereits primär multifokal in der Leber mit Infiltration der Umgebung und Lymphknotenabsiedelungen sowie Fernmetastasen auf (⊡ Abb. 73.3). Letztere finden sich bevorzugt in der Lunge und gelegentlich im Knochen. Histologisch gleichen die HCC im Kindesalter denen bei Erwachsenen. HCC unterscheiden sich von HB durch die größeren, sehr pleomorphen Tumorzellen, die in breiten Trabekeln angeordnet sind, ferner durch das Vorkommen von Tumorriesenzellen und das Fehlen von hämatopoetischen Nestern. Im Gegensatz zum Erwachsenen fehlt beim HCC im Kindesalter meist die zugrunde liegende Leberzirrhose. Eine spezielle Variante des HCC, der fibrolamelläre Subtyp, kommt bevorzugt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Leberzirrhose vor. Histologisch finden sich hier Areale aus plumpen hepatozytären Tumorzellen, die durch kollagenreiche, unregelmäßige fibröse Septen abgeteilt sind. Dieses fibrolamelläre Karzinom (FLC) produziert kein α-Fetoprotein, wächst relativ langsam und metastasiert erst spät (Tomlinson u. Finegold 2002; Kap. 46). 73.2.3 Andere Malignome
⊡ Abb. 73.2. Histologisches Bild eines gemischt epithelialen und mesenchymalen Hepatoblastoms mit embryonalen (Mitte), fetalen (links) und fibrösen (rechts) Arealen sowie Osteoid (oben und unten)
Die häufigsten Tumoren in der Gruppe der Sarkome im Kindesalter mit Befall der Leber sind embryonale Rhabdomyosarkome und undifferenzierte embryonale Sarkome (früher: maligne Mesenchymome). Die Rhabdomyosarkome entstehen überwiegend aus Gallengangsstrukturen und sind deshalb meist zentral in der Leber und hilusnahe lokalisiert. Histologisch entsprechen sie Rhabdomyosarkomen anderer Lokalisationen ( Kap. 70). Undifferenzierte Sarkome wachsen aggressiv im Leberparenchym und metastasieren gerne. Neben soliden Anteilen können sie auch Zysten enthalten. Das histologische Bild ist pleomorph mit Spindel- und sternförmigen Zellen, aber auch mehrkernigen Tumorriesenzellen mit fibrösem und myxoidem Gewebe. Sehr selten tritt
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auch in der Leber bei Kindern einmal primär ein Rhabdoidtumor auf, dessen histologische und biologische Eigenschaften denen in der Niere gleichen (Stringer 2002; Kap. 69). 73.2.4 Benigne Tumoren Das mesenchymale Hamartom kommt im frühen Kindesalter vor. Es entwickelt sich aus der embryonalen, periportalen Duktalplatte und enthält myxomatöses fibröses Gewebe, biliäre Zysten und reichlich portal-venöse Gefäße. Mesenchymale Hamartome unterliegen einem langsamen Wachstum in der frühen Kindheit, vereinzelt wurde eine maligne Entartung beschrieben. Ob und wie häufig eine spontane Regression möglich ist, ist umstritten (von Schweinitz 1999). Die etwas häufigeren vaskulären Lebertumoren sind fast alle gutartig. Kavernöse Hämangiome sind gewöhnlich asymptomatisch und deshalb oft ein Zufallsbefund. Zudem unterliegen sie meist einer spontanen Regression. Das Hämangioendotheliom der Leber ist dagegen der häufigste Lebertumor bei Neugeborenen und sehr jungen Säuglingen. Dieser schwammartige Tumor hat eine extrem starke arterielle Perfusion, was zu klinischen Symptomen mit Linksherzinsuffizienz aufgrund des Links-Rechts-Shunts, hämolytischer Anämie sowie massivem Thrombozytenverbrauch führen kann. Histologisch setzt sich die überwiegende Mehrzahl der infantilen Hämangioendotheliome aus einer Vielzahl irregulärer vaskulärer Sinusoiden zusammen, die von plumpen Endothelzellen ausgekleidet sind. Diese infantilen Hämangioendotheliome vom Typ I nach Dehner unterliegen wahrscheinlich immer einer spontanen Regressionstendenz, die den Tumor in der Mehrzahl der Fälle bis ins Kleinkindesalter komplett verschwinden lässt. Dies ist anders beim sehr seltenen histologischen Typ II mit einer erhöhten Proliferationstendenz von pleomorphen Endothelzellen, der zu Rezidiven neigt und selten einmal zu einem aggressiven Angiosarkom entarten kann (Meyers u. Scaife 2000). 73.3
Genetik und Biologie
73.3.1 Hepatoblastom HB können im Rahmen eines Wiedemann-Beckwith-Syndroms oder anderer Hemihypertrophie-Syndrome auftreten. Wie auch bei anderen embryonalen Tumoren finden sich aber auch bei sporadischen HB gehäuft Allelverluste bei Chromosom 11p15.5, wie auch auf dem Chromosom 1p und 1q ( Kap. 42). Ferner findet sich ein gehäuftes Auftreten von HB in Familien mit familiärer adenomatöser Polyposis (FAP). Zwar wurden nur in wenigen HB Mutationen im APC-Gen nachgewiesen, häufig (>50%) jedoch in anderen Molekülen des so genannten »wingless-WNT-pathways«, insbesondere im β-Catenin-Gen. Sowohl mit konventionellen zytogenetischen Methoden, als auch mit der komparativen genetischen Hybridisierung findet man eine Vielzahl chromosomaler Veränderungen. Welche Genveränderungen aber für die Entstehung von HB verantwortlich sind, ist noch unklar. Im übrigen hat sich bisher keine der Alterationen als eindeutig prognostisch relevant erwiesen (Tomlinson u. Finegold 2002).
Über die Biologie der HB liegen bisher nur wenig experimentelle Ergebnisse vor. HB mit histologisch wenig differenziertem Gewebe wachsen aggressiv, haben eine erhöhte Proliferationstendenz und scheinen leicht zu metastasieren. Gleichzeitig ist jedoch das Ansprechen auf Chemotherapie dieser Tumoren meist schlechter als das der differenzierten fetalen HB. Alle HB zeigen bereits initial eine geringe Expression verschiedener Resistenzmechanismen, allen voran das »Multiple-drug-resistance-1«-Protein (MDR1). In weiteren In-vitro- und Tierversuchen konnte gezeigt werden, dass dieses unter dem Einfluss von Zytostatika massiv hochreguliert wird. Dies entspricht einer meist raschen Resistenzentwicklung der Tumoren in der Klinik (von Schweinitz 1999). Nach neueren Erkenntnissen wird das biologische Verhalten von HB, ähnlich wie bei anderen Tumoren, in erheblichem Umfang von Wachstumsfaktoren gesteuert. Sehr wahrscheinlich spricht dabei der Hepatozytenwachstumsfaktor/»scatter factor« eine zentrale Rolle. Er fördert nicht nur die Tumorzellmigration, sondern scheint auch ein Überlebensfaktor für sie zu sein. Andere Zytokine, insbesondere solche, die Leberregeneration und Wachstum fördern, sind wahrscheinliche Faktoren, die auch Proliferation, Migration, Invasion und Metastasierung von HB-Zellen beeinflussen. Ob dies auch für hämatopoetische Zytokine gilt, die im Tumor produziert werden, ist noch unklar. Eine Reihe von Adhäsionsmolekülen, insbesondere verschiedene Integrine, scheinen eine wichtige Funktion bei diesen Phänomenen zu haben. Wie bei anderen Malignomen ist die Neoangiogenese auch beim HB wichtig für das Tumorwachstum, das sich durch antiangiogenetische Therapie im Tierversuch hemmen ließ. 73.3.2 Hepatozelluläres Karzinom Auch das HCC im Kindesalter ist mit einer Reihe genetischer Syndrome (Tyrosinämie, Alagille-Syndrom, Ataxia teleangiectatica und Fanconi-Anämie) assoziiert, sodass sich bei diesen Patienten die entsprechenden chromosomalen Veränderungen finden. Die häufigste Ursache für das HCC, insbesondere in Asien, Afrika und Südamerika, ist eine frühe Hepatitis-B-Virusinfektion, nach der die Virus-DNA in das Genom der Leberzellen integriert werden kann. Dies wurde für die Hepatitis beim Kind bisher nicht sicher nachgewiesen. Im sporadischen HCC können verschiedene chromosomale Veränderungen festgestellt werden, aus denen ein Muster kristallisiert, das von dem beim HB unterschieden ist. Im Gegensatz zum HB findet man beim HCC auch gehäuft Mutationen des TP53-Tumorsuppressorgens. Biologisch zeigten HCC bei Kindern und Jugendlichen dieselben Eigenschaften wie die bei Erwachsenen, nämlich aggressives, multifokales Wachstum, Gefäßinvasion und frühe Metastasierung. So findet sich meist eine hohe zelluläre Proliferationsrate und Expression von entsprechenden Markern. Mehr noch als das HB exprimiert das HCC MDR-1 und andere Chemotherapieresistenzgene. Eine intratumorale Hämatopoese findet sich beim HCC nicht (Tomlinson u. Finegold 2002).
73
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
73.3.3 Andere Tumoren
IV
Die genetischen und zellbiologischen Eigenschaften unterscheiden sich bei den Weichteilsarkomen der Leber nicht prinzipiell von denen anderer Lokalisationen. Dasselbe gilt für die extrem seltenen benignen und malignen Keimzelltumoren der Leber. Zum gutartigen infantilen Hämangioendotheliom liegen so gut wie keine Erkenntnisse über Entstehung und Wachstum auf zellulärer Ebene vor. Beim mesenchymalen Hamartom wurde mehrfach eine chromosomale Translokation t(19q)(13.4) gefunden, der Nachweis einer vermehrten Expression des Zytokins TGF-β lässt eine Rolle dieses Proteins beim Wachstum des Tumors vermuten (Meyers u. Scaife 2000). 73.4
Diagnostik
73.4.1 Klinische Symptomatik Die meisten Lebertumoren werden bei noch gutem Allgemeinzustand als große, tastbare Raumforderung auffällig. Bei fortgeschrittener Krankheit können Bauchschmerzen, Gewichtsverlust, Appetitlosigkeit und Erbrechen hinzukommen. Ein Ikterus tritt sehr selten auf, die Leberfunktion ist bei Lebertumoren im Kindes- und Jugendalter in aller Regel normal. Bei jungen Kindern mit einem HB kommen Fieber und selten eine Pubertas praecox vor. Beim fortgeschrittenen HB und HCC finden sich auch Aszites und bei pulmonaler Metastasierung entsprechende Symptome. ! Bei Neugeborenen und jungen Säuglingen ist eine Unterscheidung zwischen einem HB, einem benignen infantilen Hämangioendotheliom bzw. einem mesenchymalen Hamartom und einem Leberbefall durch Neuroblastom gelegentlich schwierig.
73.4.2 Diagnostisches Vorgehen Labordiagnostik. Labordiagnostisch findet sich bei den malignen Tumoren oft eine normochrome Anämie, beim HCC kommt selten einmal eine Polyzythämie vor. Beim HB findet man häufig eine exzessive Thrombozytose. Die obligat durchzuführende Leber- und Gerinnungsdiagnostik ergibt oft normale Werte. Virologische Tests auf HAV, HBV, HCV, CMV, EBV und HIV-1 können eine zugrunde liegende Infektion aufdecken. Der weitaus wichtigste Tumormarker ist das Serum-α-Fetoprotein (AFP), das bei 80% aller HB eine starke bis exzessive Erhöhung, bei 50% der HCC eine mäßig bis starke Erhöhung zeigt. Stets ist v. a. bei Säuglingen der altersentsprechende Normbereich des AFP zu beachten. Manche HB produzieren im Serum erhöht messbares β-HCG, weitere unspezifische Marker der malignen Tumoren sind LDH, Ferritin und CEA. Bei jungen Kindern ist die Messung des NSE sowie der Katecholaminmetaboliten für die Differenzialdiagnose zum Neuroblastom wichtig. ! Die Konstellation eines großen Lebertumors im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren, gepaart mit einem exzessiv erhöhten Serum-AFP (über 1000 ng/ml
und mehr als das Dreifache der Altersnorm) und ggf. einer Thrombozytose und einem erhöhten Serumβ-HCG macht die Diagnose eines HB sicher genug, so dass hier der Beginn einer Chemotherapie auch ohne vorherige histologische Sicherung gerechtfertigt erscheint. Alle anderen Kinder benötigen jedoch unbedingt eine histologische Diagnostik (von Schweinitz et al. 1994). Bildgebenden Diagnostik. In der bildgebenden Diagnostik steht die abdominelle Sonographie an erster Stelle. Mit ihr lässt sich ein Tumor der Leber sicher zuordnen, die Lage zum Hilus und zu den großen Gefäßen feststellen und aufgrund der inneren Struktur Hinweise auf die Tumorart bekommen. Die genaue Ausdehnung und Zuordnung zu Gefäßen und umgebenden Strukturen sollte dann im CT mit intravenösem Kontrastmittel oder noch besser mit dem MRT erfolgen. In der Regel wird damit die früher häufig angewandte Angiographie überflüssig. Auf alle Fälle sollte diese Diagnostik aber auch eine klare Zuordnung des Tumors zu den Stadiensystemen, insbesondere dem präoperativen PRETEXT-Gruppensystem (⊡ Abb. 73.4) ermöglichen (Brown et al. 2000). Im routinemäßig durchgeführten Thoraxröntgenbild werden gelegentlich größere Lungenmetastasen gesehen. Für eine genauere Evaluation ist aber das Thorax-Spiral-CT unbedingt notwendig. Beim HCC ist die Durchführung eines Knochenszintigramms zur Suche von Knochenmetastasen sinnvoll. Wegen der Seltenheit von Hirnmetastasen von Lebertumoren im Kindesalter ist eine zerebrales CT oder MRT nur bei Vorliegen von Symptomen zu fordern. Histologische Diagnostik. In der großen Mehrzahl der Fälle
ist die histologische Klärung der Diagnose unumgänglich. Diese kann sinnvollerweise über eine offene Biopsie oder bei kleinen Tumoren auch über eine Resektion erfolgen. Dabei ist zu beachten, dass wegen der Heterogenität der Tumoren reichlich Material, am besten von verschiedenen Stellen entnommen wird. Eine offene Biopsie über eine genügend große Laparotomie bietet überdies den Vorteil, dass die Tumorausdehnung endgültig exakt festgelegt werden kann. Das laparoskopische Vorgehen gewinnt mit besserer Technik an Beliebtheit, hat aber den Nachteil, dass nur wenig Material entnommen und nur die sichtbaren Anteile der Leber beurteilt werden können. Perkutane Stanzbiopsien können eine histologische Artdiagnose ermöglichen, bergen aber ein nicht unerhebliches Risiko der Fehldiagnose und das von schweren Blutungen. Nadelpunktionen mit zytologischer Diagnostik sind nicht weiterführend und deshalb überflüssig. Immer sollte zusätzliches Material des Tumors (und der gesunden Leber) für immunhistochemische und molekulargenetische Untersuchungen schockgefroren bei –80°C asserviert werden (von Schweinitz 1999). 73.4.3 Staging Traditionell wird für das HB und das HCC in den Therapiestudien der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) das auch in den USA gültige Stadiensystem benutzt, das auf der Tumorausdehnung im Hinblick auf die Operabilität beruht (⊡ Tabelle 73.2; Ortega et al. 2000;
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⊡ Abb. 73.4. Das PRETEXT-Gruppensystem für maligne epitheliale Lebertumoren
von Schweinitz et al. 1997b). Dieses System korreliert sowohl beim HB als auch beim HCC hochsignifikant mit der Prognose und ist auch gut auf die Situation übertragbar, in der nicht primär ein Resektionsversuch unternommen wird. Das PRETEXT-Gruppensystem, das in den Lebertumorstudien der Internationalen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie (SIOP) verwendet wird, charakterisiert im Gegensatz dazu den Tumor aufgrund der bildgebenden Diagnostik unabhängig von der Art des therapeutischen Vorgehens (⊡ Abb. 73.4). Außerdem konnte auch seine prognostische Relevanz für das HB und das HCC gezeigt werden (Brown et al. 2000). Es beschreibt die Ausdehnung eines Tumors über
⊡ Tabelle 73.2. Tumorstadien bezüglich Operabilität (GPOH und COG/USA)
Stadium I
Tumor komplett reseziert (auch mikroskopisch)
Stadium II
Tumor reseziert, mikroskopischer Resttumor A: Mikroskopischer Rest in der Leber B: Extrahepatischer mikroskopischer Rest
Stadium III
Makroskopischer Resttumor und/oder Lymphknotenbefall und/oder Tumorruptur A: Tumor komplett reseziert, Lymphknotenbefall und/oder Ruptur B: Makroskopischer Tumorrest und/oder Lymphknotenbefall und/oder Ruptur
Stadium IV
Fernmetastasen
die 4 chirurgisch relevanten Sektoren der Leber und hält ferner Invasion in die großen Gefäße (V, P), extrahepatische Ausdehnung (E) und Metastasierung (M) fest. Nach einer internationalen Übereinkunft sollte es in jeder kooperativen Studie verwendet werden. Deshalb werden derzeit in der deutschen Studie HB 99 der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) beide Systeme parallel verwendet. 73.5
Therapie
73.5.1 Hepatoblastom ! Nur eine komplette chirurgische Resektion gewährleistet eine Chance auf Heilung vom HB. Wegen des zumindest initial guten Ansprechens auf Chemotherapie sollten diese 2 Modalitäten jedoch miteinander kombiniert werden. Chemotherapie. Die wiederholte Beobachtung, dass manche
ausgedehnte HB durch Chemotherapie auf ein resektables Maß reduziert werden können, hat den Ansatz der neueren kooperativen Therapiestudien mit präoperativer Zytostatikagabe ermöglicht. Während in Europa die Tendenz stark in Richtung der generellen Anwendung einer Induktionschemotherapie geht, wird in den USA weiterhin der primäre Resektionsversuch favorisiert. In den deutschen Studien HB 89 und HB 94 hat sich gezeigt, dass das Therapieergebnis bei kleinen HB v. a. durch primäre inkomplette Resektionen verschlechtert wird. Deshalb soll in der aktuellen Studie
73
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IV
⊡ Abb. 73.5. Therapieschema für Hepatoblastome aus dem Protokoll der Studie HB 99
HB 99 bei Kindern mit der oben genannten typischen klinischen Konstellation davon Abstand genommen werden (⊡ Abb. 73.5). In allen großen kooperativen Studien wie auch in Laboratoriumsversuchen hat sich Cisplatin als das eindeutig wirksamste Medikament gegen das HB herausgestellt. Deshalb ist es in den meisten gebräuchlichen Zytostatikakombinationen enthalten. Dies gilt für das in der US-amerikanischen Children’s Oncology Group getestete Regime mit Cisplatin, Vincristin und 5-Fluorouracil (Ortega et al. 2000) und das Schema der SIOP mit Cisplatin und Doxorubicin (Pritchard et al. 2000). In der Japanischen Studiengruppe für Lebertumoren im Kindesalter (JPLT) werden Cisplatin und THP-Adriamycin verabreicht (⊡ Tabelle 73.3; Sasaki et al. 2002). In der deutschen Studie hat sich seit 1988 die Kombination Ifosfamid, Cisplatin und Doxorubicin (Adriamycin; IPA) sehr bewährt. Sie zeigt bei einer relativ guten Verträglichkeit eine Ansprechrate von über 90% aller HB (von Schweinitz et al. 1997a). In der aktuellen Studie HB 99 wird sie deshalb auch weiterhin für Standardrisiko-HB verwendet. Zu dieser Gruppe zählen in allen Studien auf die Leber beschränkte, potenziell resektable HB. Hochrisiko-HB dagegen sind solche mit multifokal disseminiertem Wachstum in der ganzen Leber, Invasion großer Gefäße, extrahepatischem Tumor, Lymphknotenabsiedelung und/oder Fernmetastasen. Die Auswertung der letzten Studiengeneration hat eindeutig gezeigt, dass diese Tumoren einer intensivierten Chemotherapie bedürfen, wenn die Überlebensrate deutlich über 30% angehoben werden soll. Dieses wird in den Studien der SIOP durch Erweiterung der Kombinationen um ebenfalls wirksames Carboplatin und Vermehrung der Kurse in konventioneller Dosierung umgesetzt. Um der Beobachtung Rechnung zu tragen, dass die meisten HB nach 2–3 Kursen konventioneller Chemotherapie multiple Resistenzmechanismen entwickeln, wird in der Studie HB 99 eine andere Strategie verfolgt: Nachdem gezeigt werden konnte, dass
einige unter IPA-Therapie refraktäre HB auf die Kombination Carboplatin und Etoposid einer Regression unterliegen, wird bei Hochrisiko-HB bereits primär diese Kombination eingesetzt, da sie auch als Hochdosistherapie in 5facher Dosierung einsetzbar ist (⊡ Abb. 73.5 und Tabelle 73.3; Fuchs et al. 2002). Die ersten Daten deuten darauf hin, dass über 50% der Hochrisiko-HB auf diese Kombination ansprechen und dann auch auf die Hochdosistherapie hin in eine ausgeprägte Regression kommen und teilweise chirurgisch saniert werden können. Bei fehlendem Ansprechen auf Carboplatin/ Etoposid kann mit IPA noch rechtzeitig zumindest eine partielle Regression erreicht werden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Strategie langfristig tatsächlich die Prognose der Hochrisiko-HB verbessert. Operative Therapie. Die chirurgische Resektion ist der
zweite Hauptbestandteil der Therapie des HB. Diese ist nach wirksamer Chemotherapie oft einfacher und sicherer durchzuführen (von Schweinitz 1999). ! Eine primäre Resektion ist nur bei kleinen Tumoren erlaubt, bei denen sie mit großem Sicherheitsabstand möglich ist, ohne die Lappengrenze zu überschreiten. Hierbei darf auf keinen Fall Tumorrest zurückbleiben, da oft sehr rasch multifokale Rezidive entstehen, bevor eine wirksame Chemotherapie begonnen werden kann.
Nach einer Induktionschemotherapie sollte in einem verzögerten Eingriff allerdings immer eine radikale Tumorentfernung angestrebt werden. Hierzu zählen neben den konventionellen Leberresektionen auch aufwändige Verfahren wie Resektion von Tumor und involvierten Gefäßen unter Kreislaufarrest und extrakorporaler Zirkulation sowie eine Ex-situ-Resektion des Tumors aus der Leber. Mehrere Untersuchungen zeigten, dass die Tumorentfernung mittels sogenannter anatomiegerechter Resektionen in der Regel radi-
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⊡ Tabelle 73.3. Chemotherapie-Regime für Hepatoblastome in den aktuellen, kooperativen Therapiestudien
Studie
Risiko
Chemotherapie
HB 99 (GPOH)
Standardrisiko
3× IFO 1 g/m2, Tage 1–3, +5× CDDP 20 mg/m2, Tage 4–8, + DOX 60 mg/m2 DI, Tage 9–10, 2–3 Kurse (IPA)
Hochrisiko
CARBO 800 mg/m2 + VP16 400 mg/m2 DI, Tage 1–4, 2 Kurse; wenn PR: 4× HD-CARBO 500 mg/m2/Tag + HD-VP16 500 mg/m2/Tag, Tage –8 bis –5 + ASCT Tag 0, 1–2 Kurse; wenn keine PR: IPA
Standardrisiko
CDDP 80 mg/m2, Tag 1 + DOX 60 mg/m2 DI, Tage 1–3 versus CDDP 80 mg/m2 24-h-DI; 3 Kurse
Hochrisiko
CARBO 500 mg/m2 DI + DOX 60 mg/m2 DI, Tage 1–3; CDDP 80 mg/m2 24-h-DI, Tag 14 alternierend; 3–5 Kurse
COG (USA)
Standardrisiko und Hochrisiko
CDDP 100 mg/m2, Tage 1 + VCR 1,5 mg/m2 Tage 3; 10 und 17+5-FU 600 mg/m2, Tage 3; Zugabe von Amifostine 740 mg/m2, 15 min pre-CDDP versus keine Zugabe von Amifostine, 4–6 Kurse
JPLT-1
Standardrisiko
CDDP 40 mg/m2 + THP-DOX 30 mg/m2 (Tag 1), 6 Kurse
Hochrisiko
CDDP 80 mg/m2 24-h-DI + THP-DOX 60 mg/m2 48-h-DI, Tag 2+3, 6 Kurse
SIOPEL-3
CDDP Cisplatin; DOX Doxorubicin; VCR Vincristin; 5-FU 5-Fluorouracil; CARBO Carboplatin; IFO Ifosfamid; VP16 Etoposid; THP-DOX Tetrahydropyranyl-Doxorubicin; HD Hochdosis; ASCT autologe Stammzelltransplantation; DI Dauerinfusion; PR partielle Response.
kaler gelingt als mit einer Enukleation oder einer »wedge resection«, weshalb von letzteren abgeraten wird. Bei nichtresektablen, aber auf die Leber beschränkten HB ist auch die Lebertransplantation berechtigt, zumindest wenn der Tumor zuvor auf Chemotherapie angesprochen hat. Sie hat in den letzten Jahren gute Ergebnisse erzielt und die Heilungsraten liegen kaum unter denen von konventionell resezierten, ausgedehnten HB (Reyes et al. 2000). Insbesondere bei den kindlichen Patienten bietet sich oft die so genannte »Splitliver«-Technik mit einer Lebendspende des linken Leberlappens von einem nahen Verwandten an. Allfällige, nach Chemotherapie noch verbliebene Lungenmetastasen sollten, wenn immer möglich, ebenfalls chirurgisch angegangen werden. Wiederholt konnte gezeigt werden, dass aggressive Resektionen von Metastasen, unter Umständen auch in mehrfachen Sitzungen, in vielen Fällen auch bei metastasierten HB noch eine Heilung ermöglichen (Perilongo et al. 2000). 73.5.2 Hepatozelluläres Karzinom Nur weniger als die Hälfte aller HCC im Kindes- und Jugendalter zeigen ein partielles und kurzfristiges Ansprechen auf Chemotherapie. So steht die Chirurgie in der Therapie des HCC ganz im Vordergrund (von Schweinitz 1999). ! Im Gegensatz zum HB sollte bei klinischem Verdacht auf ein HCC, insbesondere bei Schulkindern und Jugendlichen mit nur mäßig erhöhtem Serum-αFetoprotein, ggf. mit einer positiven HBV- oder HCVSerologie, sofort eine radikale Resektion angestrebt werden.
Hier können auch primär erweiterte Resektionsverfahren zur Anwendung kommen. Dies gilt ganz besonders für die fibrolamelläre Variante des HCC bei Jugendlichen, die einerseits relativ langsam wächst und spät metastasiert, andererseits kein gesichertes Ansprechen auf Chemotherapie oder Bestrahlung zeigt. Bei ausgedehnten Befunden, aber Beschrän-
kung auf die Leber kommt hier durchaus auch eine Lebertransplantation in Betracht. Beim HCC der üblichen Histologie ist allerdings die Indikation für eine Transplantation umstritten. Trotz des nur fraglichen Ansprechens enthalten alle kooperativen Studienprotokolle eine chemotherapeutische Komponente auch für das HCC (Czauderna et al. 2002; Katzenstein et al. 2002). Doxorubicin erscheint derzeit bei Erwachsenen als das wirksamste Medikament und die meisten Protokolle empfehlen, parallel zum HB die Kombination von Cisplatin und Doxorubicin. Wegen der schlechten Ergebnissen mit dieser Kombination wird in der Studie HB 99 derzeit untersucht, ob die Kombination Carboplatin und Etoposid eine Wirkung entfaltet und sieht deshalb für fortgeschrittene, nicht resektable HCC eine Therapie wie für Hochrisiko-HB vor. Die Dosierung und der Verabreichungsmodus der verschiedenen Zytostatikakombinationen gleichen in den Protokollen denen für Hepatoblastome ( Tabelle 73.3). Die beste vorbeugende Maßnahme in Gebieten mit endemischer Verbreitung von HBV ist die Hepatitis-B-Impfung im frühen Kindesalter, wie ein nationales Impfprogramm in Taiwan zeigte, mit dem die jährliche Inzidenz von HCC im Kindesalter auf die Hälfte gesenkt werden konnte (Chang et al. 1997). 73.5.3 Weitere Therapieverfahren
für Hepatoblastom und hepatozelluäres Karzinom Gerade für fortgeschrittene HB und HCC mit primärer oder entstandener Resistenz gegen konventionelle Chemotherapie bedarf es dringend alternativer Therapieansätze. Der oben angeführte Einsatz von Hochdosis-Zytostatikakombinationen kann in einigen dieser Fälle eine deutlich bessere Regression bewirken. Experimentelle Untersuchungen mit Tiermodellen haben weitere, potenziell wirksame Zytostatika gegen das HB identifiziert, wie Paclitaxel, Topotecan, Irinotecan, Gemcitabin und lipomosomale Präparationen von Doxorubicin und Cisplatin. Die Wirksamkeit dieser Medika-
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
mente auf HB und HCC ist noch unklar. Einzelne werden derzeit im Rahmen der kooperativen Studien bei RezidivTumoren getestet. Vor einigen Jahren erschien die Möglichkeit der Applikation von Zytostatika direkt in die A. hepatica vielversprechend. In der kooperativen japanischen HB-Studie JPLT-1 wurde hierdurch jedoch keine Verbesserung der Prognose erreicht (Sasaki et al. 2002). Die intraarterielle Einspritzung von embolisierenden Substanzen kombiniert mit wirksamen Zytostatika (Chemoembolisierung) hat in kleinen Serien beim HB und HCC zu sehr guten Regressionen geführt. Sie wird deshalb derzeit in einer Studie der COG in den USA weiter evaluiert (Malogolowkin et al. 2000). Diese Methode ist jedoch nur bei Tumoren sinnvoll, die auf die Leber beschränkt sind. Am Tiermodell konnte gezeigt werden, dass die Wirkung von Zytostatika auf HB mittels zusätzlicher Gabe von MDR-1-Modulatoren (z. B. Verapamil) gesteigert werden kann. Dieser Ansatz hat sich in der Klinik bei anderen Malignomen nicht wirklich bewährt, für Lebertumoren im Kindes- und Jugendalter liegen keine Ergebnisse vor. Radiotherapie hat beim HB und HCC generell einen nur begrenzten Effekt. Sie kann allerdings in Einzelfällen bei residualem Tumor oder nicht chemosensiblen Metastasen eine Wirkung haben und hier indiziert sein. Dann wird die Applikation einer Herddosis von 30–40 Gy empfohlen. Andere lokale, in der Behandlung des HCC beim Erwachsenen benutzte Verfahren, wie transkutane oder intraoperative Äthanolinjektionen oder Kryotherapie, können natürlich auch beim lokalisierten HCC oder chemoresistentem HB im Kindesund Jugendalter zur Anwendung gebracht werden. Ein Erfolg dieser Maßnahmen für eine höhere Heilungsrate wurde bisher aber noch nicht gezeigt (von Schweinitz 1999). 73.5.4 Nicht-epitheliale Malignome Die überwiegende Mehrzahl der nicht-epithelialen malignen Tumoren in der Leber bei Kindern sind embryonale Rhabdomyosarkome und undifferenzierte Sarkome. Beide werden gemäß den etablierten Strategien für maligne Weichteilsarkome, in Deutschland nach dem Protokoll der kooperativen Weichteilsarkomstudie der GPOH behandelt ( Kap. 70). Obwohl in der Leber die Tumorresektion eine große Bedeutung hat und die beste Voraussetzung für eine Heilung darstellt, wird diese wegen des potenziellen Ansprechens initial oder adjuvant mit Chemotherapie kombiniert. Das therapeutische Vorgehen richtet sich dabei nach der Lokalisation und Ausdehnung des Tumors. Undifferenzierte Sarkome lassen sich oft einfacher und sicherer resezieren als die meist hilusnahen lokalisierten Rhabdomyosarkome. Nach gutem Ansprechen auf Chemotherapie kann in Einzelfällen auch einmal eine Lebertransplantation in Betracht kommen. Bei den extrem seltenen, hoch-malignen Rhabdoidtumoren und Angiosarkomen muss versucht werden, den Tumor radikal zu entfernen. Diese Neoplasien zeigen ein sehr schlechtes Ansprechen auf Chemotherapie, die aber bei nicht vorhandener Resektabilität dennoch versuchsweise zum Einsatz kommen kann. Maligne Keimzelltumoren der Leber sind ebenfalls eine Rarität. Hier können Dottersacktumoren und Chorionkarzinome vorkommen. Entsprechend den Protokollen für die
Behandlung von Keimzelltumoren kommen Chemotherapie, gepaart mit einer Resektion für die Behandlung zur Anwendung ( Kap. 74; Stringer 2000). 73.5.5 Benigne Lebertumoren Die bei Erwachsenen wohl bekannten benignen hepatozellulären Geschwulste Adenom und fokal-noduläre Hyperplasie (FNH) kommen sehr selten auch im Kindesalter vor. Die Therapie ist entsprechend der des Erwachsenenalters. Wegen der unsicheren Prognose und dem Entartungsrisiko sollte ein Adenom reseziert werden; bei der FNH ist man dagegen zurückhaltend mit der chirurgischen Indikation. Beim mesenchymalen Hamartom des Kleinkindesalters ist in einigen Fällen beobachtet worden, dass es zu einem Wachstumsstillstand kommt. Ob es auch wirkliche Regressionen gibt, ist unklar. Umgekehrt sind vereinzelt Entartungen zu einem undifferenzierten Sarkom beschrieben. Deshalb ist eine komplette Resektion dieser Tumoren anzustreben. Verbliebener Tumor muss engmaschig kontrolliert werden, um erneutes Wachstum möglichst frühzeitig zu entdecken (von Schweinitz 1999). Die häufigsten vaskulären Tumoren bei Kindern in der Leber sind das kavernöse Hämangiom und das meist schon beim Neugeborenen klinisch relevante infantile Hämangioendotheliom. Bei typischen Befunden in der bildgebenden Diagnostik, negativen Tumormarkern und fehlender klinischer Beeinträchtigung kann zunächst zugewartet und die Läsion regelmäßig sonographisch kontrolliert werden. Auch bei eindeutiger Regression müssen diese Kontrollen langfristig bis zur vollständigen Involution fortgeführt werden, da in einzelnen Fällen eine Entartung und Wachstum eines Angiosarkoms beobachtet wurde. Liegen jedoch Symptome wie schwere Herzinsuffizienz, hämolytische Anämie und ein Thrombozytenverbrauch mit nachfolgendem KasabachMerrit-Syndrom vor, muss der Tumor direkt therapeutisch angegangen werden. Hierbei hängt es vom Schweregrad der Symptomatik ab, ob zunächst eine medikamentöse Therapie versucht wird. Die Effektivität einer Behandlung mit Kortikosteroiden (z. B. 2–5 mg/kg/Tag Prednison) wird in jüngerer Zeit zunehmend skeptisch beurteilt. Deutlich sicherer scheint eine Regression mit der Dauergabe von Interferon-α (1–3 mU/m2/Tag) oder Zytostatika wie Vincristin oder Cyclophosfamid erreichbar zu sein, jedoch können hier erhebliche Nebenwirkungen auftreten. Die Gabe von Angiogenesehemmern muss noch als experimentell eingestuft werden. Die Strahlentherapie hat sich bei diesen gutartigen Tumoren nicht durchgesetzt (Meyers u. Scaife 2000). Da Hämangiome und Hämangioendotheliome in der Regel ganz überwiegend arteriell gespeist werden, erscheinen Maßnahmen zur Unterbrechung des arteriellen Zuflusses v. a. in akuten Fällen besonders sinnvoll. Dies kann durch Arterienligatur über eine Laparotomie geschehen, die dann auch mit einer Tumorbiopsie zur Sicherung der Diagnose kombiniert werden kann. Alternativ wird interventionell die gezielte arterielle Embolisierung durchgeführt, die bei den kleinen Kindern technisch schwierig und riskant ist. In einigen dieser Fälle kommt es zudem schon nach wenigen Tagen zur Ausbildung von Kollateralgefäßen und damit zur erneuten Verschlechterung der Symptomatik. In einigen Zentren wird
919 73 · Lebertumoren
deshalb die Resektion als einzige kurative Therapie angesehen und für Extremfälle eine Lebertransplantation propagiert. Hier sollte jedoch angesichts des erheblichen chirurgischen Risikos bei den jungen Säuglingen und der in aller Regel spontanen Regressionstendenz Zurückhaltung geübt werden (Stringer 2000). Sehr selten werden in der kindlichen Leber Teratome gefunden. Diese sollten wegen der unklaren Dignität und der möglichen Entartung im Falle eines Rezidivs komplett reseziert werden (Stringer 2000). 73.6
Klinische Verläufe und Prognose
73.6.1 Hepatoblastom In allen großen kooperativen Studien wird eine Gesamtremissionsrate von ca. 75% erreicht. Da die Mehrzahl der Tumoren meist initial gut auf Chemotherapie ansprechen, können auch die meisten (85%) reseziert werden. In den deutschen Studien war die langfristige Remissionsrate ohne wesentliche Unterschiede für das Stadium I 98%, das Stadium II 78 %, das Stadium III 75% und das Stadium IV 38% (⊡ Abb. 73.6). Dies entspricht der Verteilung in den anderen kooperativen Studien. Die schlechtere Prognose von Stadium II im Vergleich zu den Stadium I-Tumoren ist Ausdruck der Tatsache, dass nach primär inkompletten Resektionen rasch Rezidive auftreten können. Mikroskopischer Tumorrest bei Resektionen nach effektiver Chemotherapie bedeuten jedoch nicht in allen Fällen eine eindeutig schlechte Prognose. In der Mehrzahl der Hepatoblastome dient das primär erhöhte Serum-AFP neben der bildgebenden Diagnostik als guter Marker für das Ansprechen auf Therapie. Der Abfall des AFP unter Chemotherapie ist ein prognostischer Faktor für die Heilungschance. Der initiale AFP-Serumspiegel hat insofern eine signifikante prognostische Bedeutung, als extrem hohe (>1 Mio. ng/ml) oder normale und niedrige (<100 ng/ml) Werte mit einer schlechten Prognose assoziiert
sind. Dies entspricht einerseits besonders ausgedehnten bzw. metastasierten und andererseits sehr undifferenzierten HB (von Schweinitz et al. 1997b). ! Erneutes Tumorwachstum geht oft schon früh mit einem Wiederanstieg des Serum-AFP einher, bevor ein neuer Tumor mit der bildgebenden Diagnostik lokalisiert werden kann.
Eine weitere prognostische Bedeutung haben die Tumorausdehnung und -verteilung in der Leber (wie mit den PRETEXT-Gruppen kategorisiert; Abb. 73.4) und eine Fernmetastasierung in die Lunge, die signifikant mit der Prognose korrelieren. Weniger eindeutig ist der Stellenwert der Tumorinvasion großer Gefäße und der Lymphknotenbefall (Brown et al. 2000). Aus diesen Daten ergeben sich auch die beiden oben genannten prognostischen Gruppen für eine differenziertere Therapie. Es bleibt abzuwarten, ob mit diesem Konzept eine Verbesserung der Therapieergebnisse erreicht werden kann. 73.6.2 Hepatozelluläres Karzinom Insgesamt hat das HCC im Kindes- und Jugendalter eine deutlich schlechtere Prognose als das HB (⊡ Tabelle 73.4). Dies liegt an den initial oft schon ausgedehnten multifokalen Tumoren mit extrahepatischer Invasion und der wesentlich häufigeren und früheren Fernmetastasierung. In der SIOPEL-1-Studie zeigten einige HCC ein initiales Ansprechen auf Chemotherapie. Auch adjuvante Chemotherapie kann einen Effekt haben. So sind die chirurgische Radikalität und das Ansprechen auf Chemotherapie die wichtigsten Indikatoren für den Verlauf. Fernmetastasen und Lymphknotenbefall bedeuten immer eine schlechte Prognose. Dem FLC wird eine bessere Prognose zugeschrieben, da es relativ langsam wächst und spät metastasiert. Dies gilt aber nur für primär resektable Tumoren, sodass hier die chirurgische Radikalität ganz im Vordergrund steht (Tomlinson u. Finegold 2002).
⊡ Abb. 73.6. Tumorfreies Langzeitüberleben von Hepatoblastompatienten in den Studien HB 89 und HB 94 (n=141)
73
920
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 73.4. Therapieergebnisse bei HCC im Kindesalter der GPOH-Studien HB 89, HB 94 und HB 99 (1989–2002)
IV
Stadium
Total (n)
Remission (n)
I
14
12
2
II
8
5
3
III
20
8
12
IV
25
4
21
Summe
67
29 (43%)
Verstorben (n)
38 (57%)
Maligne Sarkome der Leber werden wie Weichteilsarkome anderer Lokalisationen unter Einsatz chirurgischer Resektion und Chemotherapie behandelt. Bei den benignen Tumoren haben v. a. die vaskulären Neoplasien Hämangioendotheliom und kavernöses Hämangiom sowie das mesenchymale Hamartom bei Säuglingen und Kleinkindern eine Bedeutung. Die vaskulären Tumoren haben meist eine spontane Regressionstendenz und müssen deshalb nur bei klinischen Symptomen therapeutisch angegangen werden. Das mesenchymale Hamartom sollte chirurgisch entfernt werden.
73.6.3 Nicht-epitheliale Lebermalignome Die meisten embryonalen Rhabdomyosarkome, aber auch einige undifferenzierte Sarkome sprechen auf Chemotherapie nach den Weichteilsarkomprotokollen an. Dann kann auch eine Resektabilität erreicht werden, wobei die ungünstige hilusnahe Lage der Rhabdomyosarkome eine Resektion oft besonders schwierig gestaltet. So kann bei beiden Tumoren eine Remissionsrate von 50–70% erreicht werden ( Kap. 70). Bei Kindern mit einem Rhabdoidtumor wie auch bei Kindern mit einem Angiosarkom besteht oft ein sehr rasch und aggressiv wachsender Tumor, der früh metastasiert, und die Prognose ist meist infaust (Stringer 2000). 73.6.4 Benigne Lebertumoren Bei den gutartigen Lebertumoren hängt der Verlauf im Wesentlichen von den Möglichkeiten einer kompletten Resektion ab. Beim Adenom sind vereinzelte Entartungen mit Entstehung eines HCC bekannt. Ähnliches gilt für das mesenchymale Hamartom zum undifferenzierten Sarkom und für das Hämangioendotheliom vom Typ II zum Angiosarkom. Die überwiegende Mehrzahl der Hämangioendotheliome gehören zum Typ I und unterliegen in aller Regel, wie auch die kavernösen Hämangiome einer spontanen langsamen Regression. Teratome der Leber haben besonders beim Rezidivwachstum ein hohes Risiko für eine Entartung (Meyers u. Scaife 2000).
Primäre Lebertumoren sind im Kindesalter selten, umfassen aber ein breites Spektrum von malignen und benignen Erkrankungen. Im Vordergrund stehen die malignen epithelialen Tumoren Hepatoblastom (34%) und hepatozelluläres Karzinom (23%), ersteres bei Säuglingen und Kleinkindern, letzteres bei Schulkindern und Jugendlichen. Während das Hepatoblastom bei Behandlung mit wirksamer Chemotherapie und chirurgischer Resektion eine Heilungsrate von 75% hat, liegt diese beim hepatozellulären Karzinom unter 50%. Die Chemotherapie wird sowohl präoperativ als Induktionstherapie als auch adjuvant postoperativ verabreicht, in aller Regel als Zytostatikakombination. Die Tumorresektion sollte radikal erfolgen, beim HB kann auch die Lebertransplantation zur Anwendung kommen.
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921 73 · Lebertumoren
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73
Keimzelltumoren1 G. Calaminus, D.T. Schneider, P. Schmidt, R. Wessalowski
IV
74.1 74.2 74.3 74.4 74.5
Einführung – 922 Epidemiologie – 923 Histogenese – 923 Biologie – 926 Diagnostik – 927
74.5.1 74.5.2
Bildgebende Diagnostik und klinische Untersuchung – 927 Tumormarker – 927
74.6
Therapie
74.1
– 928
74.6.1
Entwicklung moderner Behandlungsprotokolle für maligne Keimzelltumoren – 928 74.6.2 Allgemeine Therapieprinzipien – 928 74.6.3 Hodentumoren – 930 74.6.4 Ovarialtumoren – 931 74.6.5 Steißbeintumoren – 933 74.6.6 Mediastinaltumoren – 934 74.6.7 ZNS-Tumoren – 934 74.6.8 Andere extragonadale Tumoren – 935 74.6.9 Disseminierte Choriokarzinome bei Neugeborenen und Säuglingen – 935 74.6.10 Rezidivbehandlung – 936
74.7
Nebenwirkungen der Chemotherapie Literatur – 937
– 936
Bei einem weiblichen Neugeborenen wird ein 4×6 cm großer Tumor im Bereich der Steißbeinregion diagnostiziert. Der Tumor wird in der 4. Lebenswoche gemeinsam mit der Steißbeinspitze reseziert, und histologisch als reifes Teratom befundet. Im Alter von 20 Monaten wird ein Anstieg der AFPWerte im Serum beobachtet. In der daraufhin durchgeführten Kernspintomographie stellt sich ein Rezidivtumor im Bereich des Steißbeinstumpfes dar. Der Tumor wird in mehreren Stücken reseziert, und die histologische Aufarbeitung ergibt einen reinen Dottersacktumor. Postoperativ werden 4 Zyklen Chemotherapie mit Cisplatin, Ifosfamid und Etoposid durchgeführt. Im weiteren Verlauf entwickelt die Patientin ein zweites Lokalrezidiv des Dottersacktumors und wird mit einer regionalen Tiefenhyperthermie kombiniert mit Cisplatin-haltiger Chemotherapie (insgesamt 4 Zyklen) behandelt. Da sich bei der »Third-look«-Operation noch vitale Tumoranteile darstellen, wird abschließend eine Bestrahlung mit 45 Gy durchgeführt. Die Patientin ist seit mehr als drei Jahren in anhaltender Remission. Sie ist harn- und stuhlkontinent. Bei der retrospektiven Analyse des primären Tumorresektates am histopathologischen Referenzzentrum stellen sich Mikrofoci von Dottersacktumorgewebe dar.
Einführung
Die Keimzelltumoren bei Kindern und Jugendlichen umfassen eine heterogene Gruppe von Tumoren. Sie treten entsprechend der Namensgebung in den Keimdrüsen auf, bei Kindern jedoch relativ häufiger an anderen mittelliniennahen Lokalisationen wie der Steißbeinregion, dem Mediastinum und dem zentralen Nervensystem. Hierdurch erklärt sich die Notwendigkeit der interdisziplinären Behandlung im Rahmen der aktuellen Therapieoptimierungsprotokolle. Keimzelltumoren zeigen ein charakteristisches Muster der Alters- und Geschlechtsverteilung in Bezug auf die verschiedenen Lokalisationen und histologischen Subentitäten mit unterschiedlicher Tumorbiologie und Prognose. Allen Tumoren ist jedoch der zelluläre Ursprung von der totipotenten primordialen Keimzelle gemeinsam. Dabei leiten sich Tumoren verschiedener Lokalisationen offensichtlich von verschiedenen Entwicklungsstadien dieser primordialen Keimzellen ab. Die Labordiagnostik bei Keimzelltumoren beinhaltet die Messung der Tumormarker AFP und β-HCG. Die moderne Schnittbilddiagnostik ist spezifisch für die einzelnen Lokalisationen zu erstellen und hat mögliche lokale Ausbreitungswege sowie jeweils typische Metastasierungswege zu berücksichtigen. Die Therapie folgt einem multimodalen Therapiekonzept, das seit der Einführung der Platin-haltigen Chemotherapie einen wichtigen Durchbruch erzielt hat. Dennoch ist nach wie vor die lokale Tumorkontrolle anzustreben, die meist durch eine komplette Tumorresektion erreicht wird. Bei großen oder infiltrierend wachsenden Tumoren ist es sinnvoll, eine präoperative Chemotherapie durchzuführen, da so die komplette Resektion erleichtert bzw. verstümmelnde Operationen vermieden werden. Bei Keimzelltumoren des ZNS kommt der Strahlentherapie die zentrale Aufgabe für die lokale Tumorkontrolle zu. Insgesamt ist die Prognose der malignen Keimzelltumoren bei Kindern und Jugendlichen als günstig zu werten. Zukünftige Aufgaben liegen in einer optimierten Therapiestratifizierung anhand klinischer und molekularbiologischer Parameter im Rahmen prospektiver Therapieoptimierungsprotokolle.
1
Herrn Prof. Dr. Ulrich Göbel gewidmet; in Anerkennung seiner unermüdlichen und innovativen Arbeit für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Keimzelltumoren. Dies findet besonderen Ausdruck im Aufbau und der Führung der Therapieoptimierungsstudie MAKEI, durch die in eindrucksvoller Weise in den letzten 20 Jahren das Überleben der Patienten verbessert werden konnte. Durch sein stetes Bemühen wurde der Dialog auch mit den anderen internationalen Fachgruppen begonnen, die Voraussetzungen für eine Konsensfindung in der Therapie dieser Patienten geschaffen und die Initiierung gemeinsamer Forschungsprojekte ermöglicht.
923 74 · Keimzelltumoren
74.2
Epidemiologie
Keimzelltumoren können in allen Altersgruppen, von der Fetalperiode bis in das hohe Alter, auftreten (Göbel et al. 2000). Bei Kindern bis zum Alter von 15 Jahren sind Keimzelltumoren vergleichsweise selten und machen im epidemiologisch ausgerichteten Kinderkrebsregister etwa 3–4% aller Diagnosen aus ( Kap. 41; Kaatsch et al. 2002). Bei einer Wohnbevölkerung von ungefähr 13 Millionen Kindern unter 15 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland (nach 1990 bzw. ca. 10 Millionen vor 1990) und 1157 zwischen 1982 und 2000 erfassten Patienten dieser Altersgruppe kann die jährliche Inzidenz auf 0,5 Neuerkrankungen auf 100.000 Kinder bis 15 Jahre geschätzt werden. Es ist allerdings zu beachten, dass die Erfassung von Teratomen in den Studienregistern mit Sicherheit lückenhaft ist, so dass insgesamt eine höhere Inzidenz angenommen werden kann. Dafür spricht auch die weiterhin ansteigende Zahl der in das Register gemeldeten Patienten. Außerdem ist davon auszugehen, dass ein signifikanter Anteil jugendlicher Patienten mit Hodentumoren entsprechend Therapieprotokollen der urologischen bzw. internistisch-onkologischen Disziplinen behandelt werden. Die Daten des klinischen Registers der Therapieoptimierungsstudien MAKEI und MAHO für Keimzelltumoren im Kindes- und Jugendalter der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) zeigen hinsichtlich Lokalisation und Histologie in Abhängigkeit vom Alter bei Diagnose ein charakteristisches Verteilungsmuster (Schneider et al. 2004). Bei Kleinkindern findet sich ein ausgewogenes Geschlechtsverhältnis und bei Jugendlichen eine geringe Mädchenwendigkeit (m:w=0,63:1). Allerdings bestehen bei den extragonadalen Keimzelltumoren ausgeprägte altersabhängige Geschlechtsunterschiede bei Vergleich der verschiedenen Lokalisationen und der histologischen Subentitäten. Die Gesamtgruppe der Keimzelltumoren zeigt eine zweigipfelige Alterverteilung. Der erste Häufigkeitsgipfel wird bei Neugeborenen und Kleinkindern beobachtet. Bei Neugeborenen handelt es sich histologisch in der Regel um reife oder unreife Teratome. Gegen Ende des ersten Lebensjahres und im Kleinkindalter überwiegen hingegen maligne Tumoren, in der Regel Dottersacktumoren. Erst später werden auch Seminome des Hodens bzw. Dysgerminome des Ovars oder Germinome des ZNS diagnostiziert, die histologisch identisch sind, aber aufgrund historischer Begebenheiten unterschiedlich benannt werden. Zeitgleich finden sich auch häufiger nicht-seminomatöse Tumoren, die sich als Choriokarzinom oder embryonales Karzinom manifestieren. ! Die Mehrzahl der Keimzelltumoren bei Kindern tritt außerhalb der Keimdrüsen auf.
Insgesamt überwiegen bei Kindern extragonadale Keimzelltumoren (⊡ Tabelle 74.1), die mittelliniennah, z. B. in der Steißbeinregion, mediastinal oder im Bereich der Pinealis oder Hypophyse auftreten können. Hodentumoren und mediastinale Tumoren haben eine zweigipfelige Häufigkeitsverteilung, während die Tumoren der Ovare und des Gehirns bevorzugt erst mit der Pubertät auftreten und andererseits Steißbeintumoren nahezu ausschließlich bei Säuglingen und Kleinkindern beobachtet werden.
⊡ Tabelle 74.1. Verteilung der Lokalisationen von 1442 prospektiv erfassten Keimzelltumoren der MAHO- und MAKEIRegister
Häufigkeit (%) Ovar
29
Hoden
17
ZNS
21
Steißbein
19
Mediastinum Andere
4 10
Die extragonadalen Keimzelltumoren zeigen in Abhängigkeit vom Erkrankungsalter einen ausgeprägten Wechsel der Geschlechtsprädilektion. So treten Keimzelltumoren bei Säuglingen und Kleinkindern häufiger bei Mädchen auf (2:1), während bei Jugendlichen die Jungen mit 2,6 zu 1 überwiegen. Schließlich ist auf die charakteristische Verteilung der histologischen Subentitäten in Abhängigkeit von Lokalisation und Alter hinzuweisen. Bei Kleinkindern bis zum Alter von 5 Jahren machen Dottersacktumoren 89% aller malignen Keimzelltumoren aus (Schneider et al. 2004). Zusätzlich zeigen in dieser Altersgruppe 7% der malignen gemischten Keimzelltumoren eine Dottersacktumorkomponente. Dagegen treten Choriokarzinome und embryonale Keimzelltumoren nur in seltenen Fällen im Kleinkindalter auf; bisher ist in den Studien der GPOH mit einer Ausnahme kein reines Germinom/Seminom bei einem Kleinkind diagnostiziert worden. Entsprechend finden sich keine Germinome oder Choriokarzinome in der Steißbeinregion, während Germinome den häufigsten Keimzelltumor im zentralen Nervensystem darstellen. ! Aufgrund der epidemiologischen Auswertung sind 2 Gruppen von Keimzelltumoren zu unterscheiden: Teratome/Dottersacktumoren bei Säuglingen und Kleinkindern sowie Seminome/Nicht-Seminome bei Jugendlichen und Erwachsenen.
74.3
Histogenese
Trotz der ausgeprägten Heterogenität der Keimzelltumoren bezüglich ihrer Lokalisation und Morphologie ist allen Tumoren die totipotente primordiale Keimzelle als zellulärer Ursprung gemeinsam. Entsprechend dem holistischen Konzept der Histogenese nach Teilum können sich einerseits Tumoren mit einer Keimepitheldifferenzierung (Seminom, Synonyma: Dysgerminom,Germinom) entwickeln (⊡ Abb. 74.1; Teilum et al. 1975). Andererseits werden bei nicht-seminomatöser Differenzierung unreife embryonale Strukturen ausgebildet, die entsprechend ihrer Morphologie als Dottersacktumor (⊡ Abb. 74.2c), Choriokarzinom oder embryonales Karzinom klassifiziert werden. In Teratomen werden zerrbildartig organähnliche Strukturen nachgeahmt (⊡ Abb. 74.2a), die bei unreifen Teratomen vorwiegend neurotubulären Strukturen (⊡ Abb. 74.2b) entsprechen. Im Kin-
74
924
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Abb. 74.1. Holistisches Konzept der Histogenese der Keimzelltumoren nach Teilum (1975)
IV
a
b
c
d
⊡ Abb. 74.2a–d. Histologie bei Keimzelltumoren. a Matures Teratom mit Nachweis von Plattenepithel, Knochen- und Knorpelgewebe und Knochenmark (HE); b immatures Teratom mit neurotubulären
Strukturen (HE); c Dottersacktumor mit retikulärem Wachstumsmuster (HE); d immatures Teratom mit Dottersacktumor (immunhistochemische Färbung für AFP)
desalter treten Keimzelltumoren oft als Tumoren mit gemischter Histologie auf. Hier ist besonders die Assoziation von Teratomen mit Dottersacktumoren charakteristisch (⊡ Abb. 74.2d). Dabei wird der natürliche Krankheitsverlauf von dem histologischen Anteil mit der höchsten Malignität bestimmt. Die Sensitivität der verschiedenen Tumorentitäten gegenüber zytotoxischen Medikamenten und der Bestrahlung ist entscheidend für den Behandlungsverlauf (⊡ Tabelle 74.2).
! Alle gonadalen und extragonadalen Keimzelltumoren der verschiedenen histologischen Typen leiten sich von der totipotenten primordialen Keimzelle ab.
Die histologischen Klassifikationssysteme berücksichtigen die ausgesprochene Heterogenität der Keimzelltumoren. In den aktuellen Studien hat sich zumeist das WHO Klassifikationssystem durchgesetzt, das eine detaillierte Beschreibung der histologischen Komponenten von Tumoren aus mehr als einem
74
925 74 · Keimzelltumoren
⊡ Tabelle 74.2. Produktion von Tumormarkern und Therapieansprechen in Abhängigkeit von der Histologie
Histologisches Grading
Tumormarker
Sensitivität gegenüber
AFP
β-HCG
Chemotherapie
Strahlentherapie (Gy)
Seminom, Germinom
Maligne
–
(+)
+++
+++
Embryonales Karzinom
Maligne
–
–
+++
+
(24) (45)
Dottersacktumor
Maligne
+++
–
+++
+
(45)
Choriokarzinom
Maligne
–
+++
+++
+
(45)
Teratom: reif
Benigne
–
–
–
?
(54)
unreif
Potenziell maligne
(+)
–
?
?
(54)
⊡ Tabelle 74.3. WHO-Klassifikation der testikulären und ovarialen Keimzelltumoren (ausgenommen spermatozytische Seminome, die nur bei älteren Erwachsenen auftreten; Serov u. Scully 1973; Mostofi u. Sobin 1993; Scully 2002)
Synonyme
Tumormarker AFP
β-HCG
1. Seminom
Dysgerminom, Germinom
–
–/+
2. Dottersacktumor
Endodermalsinustumor
+++
–
3. Embryonales Karzinom
–
–
–
4. Chorionkarzinom
–
–
+++
5. Teratom 5.1. Matur
–
–
–
5.1.1. Solide
–
–
–
5.1.2. Zystisch
–
Dermoidzyste
–
5.2. Immatur
–
–/+
–
5.3. Mit maligner Transformation
–
–/+
–
5.4. Monodermal
–
–
–
–
Abhängig von der Tumorkomponente
6. Tumoren mit gemischter Histologie + leicht erhöht, +++ stark erhöht.
histologischen Typ erlaubt und daher bei Keimzelltumoren im Kindesalter besonders aussagekräftig ist (⊡ Tabelle 74.3; Serov et al. 1973; Scully 2002; Mostofi u. Sobin 1993). Darüber hinaus hat es sich als wichtig erwiesen, bei immaturen Teratomen den Grad der Unreife zu bestimmen, da ein hoher Anteil immaturer Strukturen mit einem infiltrativen Wachstum und einem höheren Rezidivrisiko verbunden ist (⊡ Tabelle 74.4; Gonzalez-Crussi et al. 1978; Göbel et al. 1997, 1998). Die histologische Differenzierung korreliert außerdem streng mit der Produktion von Tumormarkern (α-Fetoprotein (AFP) beim Dottersacktumor und humanes Choriogonadotropin (β-HCG) beim Choriokarzinom ( Tabelle 74.2). Geringfügige Erhöhungen des AFP sind auch bei immaturen Teratomen beschrieben. Diese können jedoch auch Ausdruck von kleinen Dottersacktumorinseln sein, die der histologischen Diagnostik in großen Tumoren (z. B. Ovar, Steißbein) entgangen sind. ! Es besteht eine strenge Korrelation zwischen histologischer Differenzierung und Produktion der Tumormarker AFP und/oder β-HCG. Daher gehört die Tumormarkerbestimmung immer zur vollständigen Diagnostik eines Keimzelltumors.
⊡ Tabelle 74.4. Beurteilung des histologischen Reifegrades von Teratomen (nach Gonzalez-Crussi 1970)
Matures Teratom (Grad 0)
Alle histologischen Komponenten sind komplett ausgereift
Immatures Teratom
Einzelne Komponenten sind unvollständig ausgereift (in der Regel unreife neurotubuläre Strukturen)
Grad 1
<10%
Grad 2
10–50%
Grad 3
>50% der untersuchten Schnittfläche entsprechen immaturen Strukturen
Bei typischer Tumorlokalisation (z. B. Pinealis, Hypophyse, vorderes Mediastinum, kleines Becken) ermöglichen die Tumormarker im Kontext mit der modernen Schnittbilddiagnostik eine klinische Diagnose, ohne dass eine Tumorprobe gewonnen werden muss. Allerdings sind hierbei die physiologisch hohen AFP-Werte in den ersten beiden Lebensjahren zu beachten (⊡ Abb. 74.3). Außerdem sind andere
926
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 74.3. AFP-Serumwerte bei gesunden Neugeborenen und Säuglingen (nach Blohm et al. 1998)
Ursachen für eine Erhöhung der Tumormarker wie z. B. eine Schwangerschaft oder eine Lebererkrankung auszuschließen (Schneider et al. 2001a). Darüber hinaus sind die Tumormarker für die Beurteilung des Therapieansprechens bei präoperativer bzw. neoadjuvanter Chemotherapie unverzichtbar und für die Nachsorgeuntersuchungen nach Tumorresektion und adjuvanter Chemotherapie hilfreich ( Abschn. 74.5.2). 74.4
Biologie
Keimzelltumoren entwickeln sich aus totipotenten primordialen Keimzellen. Primordiale Keimzellen sind in der Embryogenese zunächst an der Basis der Allantois und des Dottersacks als distinkte Zellpopulation darstellbar (Anderson et al. 2000). Sie wandern entlang des dorsalen Mesenteriums zu den Keimsträngen und besiedeln sekundär die Gonadenanlagen. Durch molekulargenetische Analysen ist gezeigt worden, dass sich extragonadale Keimzelltumoren von primordialen Keimzellen ableiten, die während der Embryogenese die Keimanlagen nicht bevölkert haben und
extragonadal überdauert haben (Schneider et al. 2001b; Bussey et al. 2001). Während der Differenzierung der totipotenten Keimzelle kann auf noch unbekannte Wachstumsreize hin die maligne Transformation eintreten. Zytogenetisch bestehen Unterschiede zu den Keimzelltumoren des Erwachsenenalters: ▬ Das bei Erwachsenen typische Isochromosom i(12p), eine Junktion zweier kurzer Arme des Chromosoms 12 im Zentromer, ist bei Kindern nur in einzelnen Fällen nachgewiesen worden (Stock et al. 1995; Bussey et al. 1999). ▬ Häufig findet sich bei den Keimzelltumoren des Kindesalters eine Deletion am kurzen Arm des Chromosom 1 (del 1p 36) (Jenderny et al. 1996; Perlman et al. 1994; Bussey et al. 1999; Schneider et al. 2001c, 2002). Diese Deletion wird auch bei Neuroblastomen beobachtet und besitzt bei diesen prognostische Relevanz, während dies bei Kindern mit Keimzelltumoren noch ungeklärt ist. Anhand konventioneller Zytogenetik und der komparativen genomischen Hybridisierung ist weiterhin gezeigt worden,
⊡ Tabelle 74.5. Einteilung der Keimzelltumoren nach Alter, Tumorlokalisation, Histologie und Zytogenetik
Altersgruppen
Lokalisation
Histologie
Genetik
Säugling
Hoden, Ovar
TER, YST
Kleinkind
Extragonadal
Jugendliche
Hoden
TER, G, EC, YST, CHC
TER: selten i(12p), diploid Andere: i(12p) bzw. 12p Amplifikation in >90%, aneuploid
Jugendliche
Ovar
TER, G, EC, YST, CHC
TER: (23,X)x2 Andere: i(12p) bzw. 12p Amplifikation in >80%, aneuploid
Jugendliche
Extragonadal
TER, G, EC, YST, CHC
TER: +X, -Y Andere: i(12p) bzw. 12p Amplifikation, +X, -Y, aneuploid
TER: normal, diploid YST: -1p, +1q, -6q, +20, diploid, tetraploid
YST Dottersacktumor; CHC Choriokarzinom; EC embryonales Karzinom, G Germinom, Seminom, Dysgerminom; TER Teratom (matur oder immatur).
927 74 · Keimzelltumoren
dass bestimmte Anteile des Genoms bei Keimzelltumoren im Kindesalter oft überrepräsentiert sind (z. B. +1q, +3, +20q, +X), während andere deletiert sind (z. B. –4q, –6q, -Y). Das Muster chromosomaler Imbalancen unterscheidet sich von dem in Keimzelltumoren bei Erwachsenen (⊡ Tabelle 74.5; Jenderny et al. 1996; Perlman et al. 1994; Bussey et al. 1999; Schneider 2001c, 2002). 74.5
Diagnostik
74.5.1 Bildgebende Diagnostik und klinische
Untersuchung Die Inspektion und Palpation tumoröser Bezirke wird durch sonographische und computer- bzw. kernspintomographische Untersuchungen ergänzt, um neben der genauen Lokalisation und Größe unterschiedliche Strukturen und Flüssigkeitsansammlungen zu erkennen. Etwa 30% der malignen Tumoren haben mehrere Gewebskomponenten. Daher ist die zur Abbildung kommende Tumorstruktur oft sehr heterogen. Bei großen Tumoren mit teratomatösen Anteilen lassen sich auch Fettgewebe, Verkalkungen, Knochenstrukturen oder auch Zähne darstellen ( Abb. 74.2a). Bei Tumoren im kleinen Becken mit anatomischer Nähe zum Sakralplexus sind prätherapeutisch die Blasen- und Analsphinkterfunktion zu prüfen, da der Tumor häufig die den Beckenboden versorgenden Nerven ummauert, so dass schon vor Beginn der Therapie Funktionseinschränkungen vorliegen können. Vergrößerte Hoden sind behutsam zu palpieren, um aufgrund der Schmerzempfindlichkeit differenzialdiagnostische Hinweise zu erhalten. Häufig kann eine symptomatische Hydrozele den Tumorbefund maskieren. ! Die klinische und bildgebende Diagnostik ist lokalisationsspezifisch durchzuführen.
Die ausführliche Abdominalsonographie dient der Initialdiagnostik bei Prozessen im Abdomen und im Hoden. Darüber hinaus liefert sie Informationen bezüglich Lymphknoten- oder Organmetastasierung. Die Sonographie ist somit hervorragend für Verlaufskontrollen geeignet. Bei Verdacht auf einen ovarialen Tumor gilt eine vaginale Abdominalsonographie als besonders aussagekräftig. Bei retroperitonealen, thorakalen und intrakranialen Tumoren ist eine Schnittbilddiagnostik mittels Computeroder Kernspintomographie von entscheidender Bedeutung. Bei Keimzelltumoren des zentralen Nervensystems ist darüber hinaus die Kernspintomographie des Spinalkanals unerlässlich. Die bildgebende Diagnostik muss bei Tumoren der Gonaden v. a. auch die Lymphknotenstationen im Bereich des Nierenhilus berücksichtigen, da hier primär und in der Rezidivsituation bevorzugt Lymphknotenmetastasen auftreten. Zum Ausschluss einer pulmonalen Symptomatik ist eine Röntgenaufnahme in 2 Ebenen oder Computertomographie des Thorax erforderlich. Eine Skelettszintigraphie zum Nachweis von Skelettmetastasen empfiehlt sich nur bei klinischem Verdacht, da diese bei Kindern mit Keimzelltumoren nur selten (4%) beobachtet worden sind (Calaminus et al. 2003).
74.5.2 Tumormarker Für die Diagnostik bei Verdacht auf einen malignen Keimzelltumor hat sich die Untersuchung der Tumormarker α1-Fetoprotein (AFP) und humanes Choriongonadotropin (HCG, β-HCG) als außerordentlich hilfreich erwiesen, da sie in bestimmten Situationen eine klinische Diagnose ermöglichen können, die ohne histologische Bestätigung den unmittelbaren Einsatz einer präoperativen Chemotherapie gerechtfertigt. Dottersacktumoren und Choriokarzinome produzieren die Tumormarker AFP und β-HCG ( Abschn. 74.3 und Tabelle 74.2) und werden daher auch als sezernierende Keimzelltumoren bezeichnet. Da Keimzelltumoren an ganz verschiedenen Lokalisationen auftreten und diese Tumormarker auch in anderen klinischen Situationen erhöht sein können, ist eine sorgfältige Differenzialdiagnostik und eine gezielte Schnittbilddiagnostik erforderlich. Von grundsätzlicher Bedeutung ist dabei die Kenntnis der altersbezogenen Normalwerte für AFP bei Neugeborenen und Säuglingen ( Abb. 74.3; Blohm et al. 1998). Bei jugendlichen Patientinnen ist hingegen immer eine Schwangerschaft auszuschließen. Ansonsten sind die meisten in Frage kommenden Differenzialdiagnosen aufgrund der Anamnese sowie der klinischen und bildgebenden Untersuchungen mit sehr großer Sicherheit auszuschließen. ! Die Serumkonzentration des AFP ist im ersten Lebensjahr und in einigen Fällen auch im 2. Lebensjahr physiologisch erhöht.
Problematisch kann allerdings die Beurteilung von AFP produzierenden Tumoren im Bereich der Leber und des oberen Retroperitonealraums sein. Dort sind neben Keimzelltumoren auch primäre Lebertumoren sowie das Pankreatikoblastom der Bauchspeicheldrüse in Betracht zu ziehen. Somit ist bei dieser Tumorlokalisation eine primäre Tumorresektion zur Diagnosesicherung zu erwägen (Schneider et al. 2001a). Neben der Abgrenzung von Tumoren anderer Histogenese ist die Bestimmung der Tumormarker außerdem für die Abgrenzung verschiedener histologischer Anteile in Keimzelltumoren unverzichtbar. Besonders bei großen Tumoren ist eine Biopsie nicht immer repräsentativ, da in einem Teratom beispielsweise Herde eines Dottersacktumors der histologischen Diagnose entgehen können. Ebenso weist die Erhöhung des β-HCG über 50 µU/l bei einem Germinom auf einen klinisch relevanten Anteil eines Choriokarzinoms hin. In entsprechenden Fällen rechtfertigt ein eindeutig erhöhter Tumormarker daher auch bei anders lautendem histologischen Befund die Therapie nach der maligneren Tumorkomponente des sezernierenden Keimzelltumors. ! Bei charakteristischer Tumorlokalisation und Ausschluss anderer Grunderkrankungen ermöglicht die Bestimmung der Tumormarker AFP und β-HCG eine klinische Diagnose.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die engmaschige Verlaufskontrolle der Tumormarker nach einer Tumorresektion frühzeitig auf ein eventuelles Rezidiv hinweisen kann. Dieses ist besonderes bei Patienten, die entsprechend einer »Watch-and-wait«-Strategie nachbeobachtet werden, von großer Wichtigkeit. Zu berücksichtigen sind hierbei die unterschiedlichen Halbwertzeiten von AFP (ca. 6 Tage) und
74
928
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
β-HCG (ca. 22 h), da die Tumormarker mit unterschiedlicher Kinetik abklingen. Die serielle Messung während einer präoperativen Chemotherapie dient ferner in Zusammenschau mit der bildgebenden Diagnostik der Beurteilung des Ansprechens auf die zytostatische Therapie. Bei malignen Tumoren mit Teratomanteilen kann gelegentlich eine Größenzunahme des Tumors bei Normalisierung der Tumormarker beobachtet werden. Diese Situation wird als »growing teratoma syndrome« bezeichnet und beschreibt den Umstand, dass die maligne Tumorkomponente wunschgemäß auf die zytostatische Behandlung anspricht, während die therapierefraktäre Teratomkomponente proliferiert (Afifi et al. 1997). 74.6
Therapie
74.6.1 Entwicklung moderner Behandlungs-
protokolle für maligne Keimzelltumoren Vor 1980 war die Prognose der malignen Keimzelltumoren ungünstig und wurde durch die Parameter Alter, Tumorsitz, histologische Differenzierung und Stadium bestimmt. Nur testikuläre Dottersacktumoren im Stadium I und ovariale Dysgerminome hatten eine vergleichsweise günstige Prognose nach kompletter Resektion (Asadourian u. Taylor 1969; Bamberg et al. 1981; Caldwell et al. 1980; Brodeur et al. 1981). Ein durchschlagender Erfolg in der Behandlung der malignen Keimzelltumoren wurde 1977 mit der Einführung einer adjuvanten Kombinationschemotherapie mit Cisplatin, Vinblastin und Bleomycin (PVB) erzielt (Einhorn u. Donohue 1977). In der Folgezeit wurde die hervorragende Wirksamkeit von Etoposid nachgewiesen, die der von Vinblastin überlegen ist (Williams et al. 1980). Darüber hinaus erwies sich Ifosfamid bei refraktären Keimzelltumoren als wirksam. Mit der Kombination von Cisplatin mit Etoposid und Ifosfamid kann bei ca. 30% der Rezidivpatienten eine anhaltende Zweitremission erreicht werden (Nichols et al. 1999). ! Die malignen testikulären Keimzelltumoren bei jungen Männern sind das herausragende Beispiel eines – selbst bei metastatischer Erkrankung – mit Chemotherapie erfolgreich zu behandelnden soliden Tumors.
Bei rezidivierenden und refraktären Keimzelltumoren ist die Effizienz der Hochdosischemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation geprüft worden. Diese kann bei Patienten mit chemotherapiesensiblen Tumoren und nach Erreichen einer Zweitremission für die Konsolidierung der Zweitremission hilfreich sein (Beyer et al. 1996; Bokemeyer et al. 1999). Ermutigt durch die oben dargestellten Studien bei erwachsenen Patienten wurden in den 80er- und 90er-Jahren von verschiedenen nationalen Arbeitsgruppen prospektive pädiatrische Studien für die Behandlung von malignen Keimzelltumoren entwickelt. Allen Studien ist gemeinsam, dass Platinderivate (Cisplatin oder Carboplatin) in Kombination mit Etoposid sowie Bleomycin bzw. Ifosfamid entsprechend einer adjuvanten Strategie eingesetzt werden ( Tabelle 74.6; Ablin 1981, 1991; Mann et al. 1998, 2000; Flamant et al. 1984; Baranzelli et al. 1999). In diesen Studien wurde zumeist in mehr als 80% der Patienten eine dauerhafte Remission erreicht. Allerdings hat sich in einigen Analysen
gezeigt, dass extragonadale Tumoren und Tumoren mit hohen Serum-AFP-Konzentrationen ein höheres Rezidivrisiko aufweisen (Baranzelli et al. 2000). Seit 1982 werden deutsche Patienten entsprechend der Therapieoptimierungsstudien für testikuläre (MAHO) und nicht-testikuläre (MAKEI) Keimzelltumoren der deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) behandelt. Diese Studien beinhalten ebenfalls eine Cisplatin- und Etoposid-basierte Chemotherapie, eingebettet in ein multimodales Behandlungskonzept mit adjuvanter, bzw. bei fortgeschrittenen Tumoren neoadjuvanter Chemotherapie, Tumorresektion und insbesondere bei Tumoren des ZNS-Strahlentherapie (Haas et al. 1988, 1995; Göbel et al. 1986, 1993, 2001; Schneider et al. 2000). Da bereits mit den ersten Therapieprotokollen ein hohes Remissionsniveau mit einem ereignisfreien 5-Jahres-Überleben von über 80% erreicht worden ist, hat die MAKEI-Gruppe in den folgenden Studien eine Risikostratifikation anhand der Parameter Lokalisation, Histologie, Stadium und Resektionsstatus eingeführt. Dementsprechend werden zurzeit Patienten mit einem günstigen Risikoprofil nach kompletter Tumorresektion ausschließlich nachbeobachtet, während Patienten mit mittlerem Risiko 2–3 und Hochrisikopatienten 4–5 Chemotherapiezyklen erhalten. Darüber hinaus wird bei den Patienten mit mittlerem Risiko und kompletter Resektion anstelle der DreiMittel-Chemotherapie nur Cisplatin und Etoposid eingesetzt. Diese erhebliche Reduktion der kumulativen Chemotherapie hat sich nicht ungünstig auf die Behandlungsergebnisse ausgewirkt (Göbel et al. 2001; Schneider et al. 2000). 74.6.2 Allgemeine Therapieprinzipien Die Therapiestrategie bei Kindern und Jugendlichen mit Keimzelltumoren richtet sich v. a. nach den Parametern Histologie, Tumorlokalisation, Tumorstadium und Alter. Das Ansprechen auf eine zytostatische Therapie oder eine Strahlentherapie korreliert wesentlich mit der Histologie ( Tabelle 74.2). Bei reifen oder unreifen Teratomen ist die radikale chirurgische Tumorentfernung ausschlaggebend (Göbel et al. 1998; Cushing et al. 1999; Marina et al. 1999). Der Stellenwert der adjuvanten Chemo- oder Strahlentherapie ist hingegen bei Teratomen rückblickend unterschiedlich bewertet worden. Die Erfahrungen der letzten Jahre sprechen dafür, dass diese in der Regel schlecht auf eine solche Therapie ansprechen und deshalb mit höheren Strahlendosen zu behandeln sind. Hingegen sind Germinome außerordentlich sensibel gegenüber einer zytostatischen Therapie und zeigen gleichfalls ein gutes Ansprechen auf vergleichsweise geringe Strahlendosen (Bamberg et al. 1999). Maligne nicht-seminomatöse Keimzelltumoren sprechen generell günstiger auf eine zytostatische Therapie als auf eine Bestrahlung an; bei Durchführung einer Strahlentherapie sind deshalb deutlich höhere Dosen zu verabreichen als bei Germinomen (Calaminus et al. 1997). ! Cisplatin und Etoposid sind die wichtigsten Zytostatika in der Behandlung der malignen Keimzelltumoren.
Die Chemotherapie wird als Kombinationstherapie aus 2 bzw. 3 Medikamenten verabreicht (⊡ Tabelle 74.6). Der Goldstan-
929 74 · Keimzelltumoren
⊡ Tabelle 74.6. Aktuelle Chemotherapieregime für maligne Keimzelltumoren bei Kindern und Jugendlichen PEI (MAKEI 96, SIOP CNS GCT 96, MAHO 98); 2–4 Zyklen Cisplatin1
20 mg/m2
In 1 h
Tag 1, 2, 3, 4, 5
Etoposid
100 mg/m2
In 3 h
Tag 1, 2, 3
Ifosfamid2
1500 mg/m2
In 20 h
Tag 1, 2, 3, 4, 5
Cisplatin1
20 mg/m2
In 1h
Tag 4, 5, 6, 7, 8
Vinblastin
3 mg/m2 or 0,15 mg/kg
i.v. Bolus
Tag 1, 2
Bleomycin3
15 mg/m2
In 24 h
Tag 1, 2, 3
Bleomycin3
15 mg/m2
In 24 h
Tag 1, 2, 3
Etoposid
80 mg/m2
In 3 h
Tag 1, 2, 3
Cisplatin1
20 mg/m2
In 1 h
Tag 4, 5, 6, 7, 8
PVB (MAHO 98); 3 Zyklen
BEP (MAHO 98); 3 Zyklen
JEB (UKCCSG GCII); 5 Zyklen bzw. 2 Zyklen nach Erreichen einer kompletten Remission Carboplatin
600 mg/m2
In 1 h
Tag 2
Etoposid
120 mg/m2
In 1 h
Tag 1, 2, 3
Bleomycin3
15 mg/m2
In 15 min
Tag 3
Carboplatin1
600 mg/m2
In 1 h
Tag 1
Etoposid
100 mg/m2
In 3 h
Tag 1, 2, 3, 22, 23, 24
Ifosfamid2
1800 mg/m2
In 3 h
Tag 22, 23, 24, 25, 26
CarboPEI (SIOP CNS GCT 96); 2 Zyklen
1 plus Mannit-forcierte Diurese; 2 plus Mesna-Uroprotektion; 3 nicht bei Säuglingen; reduzierte Dosis (7,5 mg/m2) bei Kleinkindern im 2. Lebensjahr.
dard ist eine Chemotherapie mit Cisplatin (100 mg/m2 pro Zyklus), das zur besseren Verträglichkeit auf Einzeldosen von 20 mg/m2 an 5 aufeinanderfolgenden Tagen verteilt werden kann (Göbel et al. 2000). Höhere Cisplatindosen von beispielsweise 200 mg/m2 pro Zyklus zeigen einen nur begrenzten therapeutischen Nutzen, bergen aber das Risiko einer ausgeprägten Schwerhörigkeit bei der Mehrzahl der behandelten Kinder (Rescorla et al. 2001). Alternativ wird auch Carboplatin in einer Dosierung von 600 mg/m2 als Einzeldosis erfolgreich eingesetzt (Mann et al. 2000). Der geringeren Oto- und Nephrotoxizität von Carboplatin steht jedoch eine vergleichsweise höhere Myelotoxizität (insbesondere lang anhaltende Thrombozytopenie) entgegen, die das Risiko verlängerter Therapieintervalle beinhaltet. Kombinationen ohne Platinverbindungen gelten heute für die Primärtherapie als obsolet. In modernen Chemotherapieregimes wird das Platinderivat mit Etoposid kombiniert und in Abhängigkeit vom Rezidivrisiko zusätzlich mit Ifosfamid oder Bleomycin bzw. Vinblastin als Dreierkombination verabreicht. Besonders bei Säuglingen und Kleinkindern werden jedoch Bleomycin und Vinblastin wegen der bekannten Pulmo- bzw. Neurotoxizität nicht oder nur in reduzierter Dosierung eingesetzt. Ifosfamid ist hingegen mit einer höheren Myelo- und akuten Nephrotoxizität belastet und beinhaltet das Risiko eines Fanconi-Syndroms. In Abhängigkeit von Tumorstadium und Resektionsstatus werden 2–4 Chemotherapiezyklen verabreicht, die risikoadaptiert 2 oder 3 Zytostatika zeitgleich enthalten. Wesentlich für den Therapieerfolg dieser kurzen Gesamttherapie ist die Einhaltung der vorgegebenen Therapieintervalle.
! Die Chemotherapie wird risikoadaptiert anhand der Parameter Lokalisation, Histologie, Tumorstadium und Resektionsstatus stratifiziert.
Unabhängig von Histologie und Lokalisation kommt der lokalen Tumorkontrolle bei Keimzelltumoren des Kindesalters die entscheidende Bedeutung zu. Grundsätzlich ist immer eine radikale Resektion anzustreben. Erscheint bei malignen Keimzelltumoren eine primäre Resektion bei Diagnose nicht möglich oder nur durch eine verstümmelnde Operation erreichbar, so ist eine präoperative Chemotherapie indiziert. Im zentralen Nervensystem ist zumeist eine radikale Resektion bei Diagnose nicht möglich oder mit einem erheblichen Risiko verbunden. Daher wird bei Tumormarker produzierenden Tumoren eine präoperative Chemotherapie empfohlen, die durch eine nachfolgende Bestrahlung ergänzt wird. Schließlich besteht bei Rezidiverkrankungen oder Non-Respondern mit dem Einsatz der lokoregionalen Tiefenhyperthermie die Möglichkeit, die systemische Chemotherapie lokal zu intensivieren und auf diese Weise die lokale Tumorkontrolle zu erleichtern (Wessalowski et al. 1998). In den folgenden Abschnitten werden wichtige klinische Aspekte in Abhängigkeit von der Tumorlokalisation beschrieben, die für die Diagnostik wesentlich sind. Ausführlich sind die Diagnostik und Therapie in den kooperativen Behandlungsprotokollen niedergelegt ( Tabelle 74.6).
74
930
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
74.6.3 Hodentumoren Die Keimzelltumoren des Hodens zeigen eine zweigipfelige Altersverteilung. Bei Säuglingen überwiegen Teratome und bei älteren Säuglingen sowie Kleinkindern Dottersacktumoren (Schmidt et al. 2002). Zwischen dem 5. und 10. Lebensjahr sind Hodentumoren sehr selten. Nach Beginn der Pubertät kommt es zu einem erneuten Häufigkeitsanstieg von
IV
Hodentumoren, die sich histologisch überwiegend als Seminome oder maligne Nicht-Seminome, dabei oft als embryonale Karzinome oder gemischte Tumoren mit Anteilen von Dottersacktumor und Choriokarzinom, darstellen. Diagnostik. Aufgrund der exponierten anatomischen Lage
werden Hodentumoren bei Kleinkindern zumeist früh, d. h. zumeist im Stadium I, erkannt. In der Regel bemerken die
⊡ Tabelle 74.7. TNM-Klassifikation und Stadieneinteilung der germinalen Hodentumoren (UICC 1997)
PTNM
Definition
pT – Primärtumor PTX
Primärtumor kann nicht beurteilt werden (wenn keine radikale Orchiektomie durchgeführt wurde, wird der Fall als TX klassifiziert)
pT0
Kein Anhalt für Primärtumor (z. B. histologische Narbe im Hoden)
pTis
Intratubulärer germinaler Tumor (Carcinoma in situ)
pT1
Tumor begrenzt auf Hoden und Nebenhoden, ohne Blut-/Lymphgefäß-Invasion (der Tumor kann die Tunica albuginea infiltrieren, nicht aber die Tunica vaginalis)
pT2
Tumor begrenzt auf Hoden und Nebenhoden, mit Blut-/Lymphgefäß-Invasion, oder Tumor mit Ausdehnung durch die Tunica albuginea mit Befall der Tunica vaginalis
pT3
Tumor infiltriert Samenstrang (mit oder ohne Blut-/Lymphgefäß-Invasion)
pT4
Tumor infiltriert Skrotum (mit oder ohne Blut-/Lymphgefäß-Invasion)
pN – Regionäre Lymphknoten pNX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
pN0
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
pN1
Metastasierung in Form eines Lymphknotenkonglomerats, 2 cm oder weniger in größter Ausdehnung, und 5 oder weniger positive Lymphknoten, keiner mehr als 2 cm in größter Ausdehnung
pN2
Metastasierung in Form eines Lymphknotenkonglomerats, mehr als 2 cm, aber nicht mehr als 5 cm in größter Ausdehnung oder mehr als 5 positive Lymphknoten, keiner mehr als 5 cm in größter Ausdehnung, oder extranoduläre Tumorausbreitung
pN3
Metastasierung in Form eines Lymphknotenkonglomerates mehr als 5 cm in größter Ausdehnung
pM – Fernmetastasen pMX
Fernmetastasen können nicht beurteilt werden
pM0
Keine Fernmetastasen
pM1
Fernmetastasen pM1a Nicht-regionäre Lymphknoten- oder Lungenmetastasen pM1b Andere Fernmetastasen
Stadium
UICC 1997
Stadium 0
pTis N0 M0
Stadium I
Stadium II
Stadium III
A
pT1
B
pT2–4
S
Jedes pT/TX, aber Erhöhung von AFP, β-HCG oder LDH
A
N1
B
N2
S
N3
A
Jedes N M1,1a
B
N1–3 M0 Jedes N M1,1a Jeweils: AFP 1000–10.000 ng/ml, β-HCG 5–50.000 IU/l, LDH 1,5–10-facher Normalwert
C
N1–3 M0 Jedes N M1, aber AFP >10.000 ng/ml bzw. HCG >50.000 IU/l bzw. LDH>10-fache Normalwert Jedes N M1b
931 74 · Keimzelltumoren
⊡ Tabelle 74.8. Lugano-Klassifikation zur Stadieneinteilung der Hodentumoren (Cavalli et al. 1980)
Stadium
Definition
Frühe Stadien Stadium I
Kein Anhalt für Metastasierung
A
Tumor begrenzt auf Hoden und seine Anhänge
B
Tumor infiltriert den Samenstrang oder Tumor in nicht deszendiertem Hoden
C
Tumor infiltriert Skrotum oder Tumor, der nach inguinaler oder skrotaler Operation entstanden ist, oder Tumor, der durch transskrotale Biopsie oder Orchiektomie behandelt wurde
Stadium II
Metastasen nur in infradiaphragmatischen Lymphknoten
A
Alle befallenen Lymphknoten 2 cm oder kleiner
B
Wenigstens ein befallener Lymphknoten >2 cm, aber nicht >5 cm
Fortgeschrittene Stadien C
Retroperitoneale Lymphknotenmetastasen >5 cm
D
Tastbarer abdominaler Tumor oder fixierte Leistenlymphknoten
Stadium III
Befall mediastinaler oder supraklavikulärer Lymphknoten oder Fernmetastasen
A
Befall mediastinaler und/oder supraklavikulärer Lymphknoten ohne sonstige Fernmetastasen
B
Fernmetastasen nur in Lunge »minimal«: <5 Knoten in jeder Lunge, keiner >2 cm »advanced«: >5 Knoten in einer Lunge oder Knoten >2 cm oder Pleuraerguss
C
Hämatogene Ausbreitung außerhalb der Lunge
D
Nach definitiver Therapie erhöht bleibende Tumormarker ohne sonstigen Anhalt für Tumor
Eltern beim Windelwechsel eine ansonsten symptomlose Schwellung des Hodens. Die bildgebende Diagnostik beinhaltet die Sonographie des Hodens, der Leistenregion und des Abdomens. Darüber hinaus sind tomographisch retroperitoneale Lymphknotenmetastasen, insbesondere im Bereich des Nierenhilus auszuschließen. Die Messung des AFP im Serum ist zwingend erforderlich, da Dottersacktumoren bei Kleinkindern den häufigsten histologischen Typ repräsentieren. Differenzialdiagnostisch kann bei zystischen Tumoren unter Umständen eine Hydrocele testis schwer abzugrenzen sein. Außerdem sind bei Kleinkindern differenzialdiagnostisch Keimstrang-Stromatumoren des Hodens wie SertoliLeydig-Tumoren oder juvenile Granulosazelltumoren zu erwägen. Für das Staging der malignen Hodentumoren stehen verschiedene Klassifikationen zu Verfügung. Zur Zeit werden v. a. die TNM-Klassifikation mit der daraus resultierenden Stadieneinteilung bzw. alternativ die so genannte LuganoKlassifikation angewendet (⊡ Tabelle 74.7 und 74.8). Therapie und Prognose. Die operative Therapie besteht in
einer Ablatio testis über einen hohen inguinalen Zugang. Ein transskrotaler Zugang oder eine transskrotale Biopsie sind obsolet. Eine retroperitoneale Lymphadenektomie wird nicht empfohlen, um die Ejakulationsfähigkeit zu erhalten. In der postoperativen Nachsorge bei Patienten im Stadium T1 sind engmaschige AFP-Kontrollen erforderlich (»Watch-and-wait«Strategie), um bei einem verzögerten Rückgang der AFPWerte (d. h. bei einer Halbwertzeit größer als 6 Tage), frühzeitig eine adjuvante Chemotherapie einzusetzen (⊡ Abb. 74.4). ! Die Resektion testikulärer Keimzelltumoren erfolgt immer über eine hohe inguinale Orchiektomie. Eine transskrotale Biopsie ist obsolet.
Mit diesem Vorgehen kann der überwiegenden Mehrzahl der Kinder mit bösartigen Keimzelltumoren des Hodens eine adjuvante Chemotherapie erspart werden (Schmidt 2002). Bei etwa 15% der Patienten ist bei verzögert absinkenden Tumormarkern eine adjuvante Chemotherapie erforderlich, die in aller Regel kurativ ist. Die Grundvoraussetzung für diese »Watch-and-wait«-Strategie ist jedoch eine enge Führung und gute Compliance der Eltern, da sonst Rezidive erst in einem fortgeschrittenem Stadium erkannt werden, die dann eine deutlich ungünstigere Prognose haben. Die Prognose der testikulären Keimzelltumoren im Kindesalter (<15 Jahre) ist insgesamt äußerst günstig und liegt bei einer Heilungsrate von über 95% (Schmidt et al. 2002). 74.6.4 Ovarialtumoren Die Häufigkeit von Keimzelltumoren des Ovars steigt mit Beginn der Pubertät. Eine besondere Patientengruppe stellen Mädchen mit konstitutionellen Aberrationen der Geschlechtschromosomen und der sexuellen Entwicklung dar. So entwickeln sich Keimzelltumoren gehäuft bei Mädchen mit einer testikulären Feminisierung. Andere Patientinnen zeigen histologisch dysgenetische Ovarien mit Anteilen eines Gonadoblastoms und eines Dysgerminoms. Ansonsten entspricht die Morphologie der ovarialen Keimzelltumoren der anderer Lokalisationen. Diagnostik. Im Gegensatz zu Hodentumoren haben Keim-
zelltumoren des Ovars in vielen Fällen bei Diagnose eine erhebliche Größe und können deutlich über das kleine Becken hinaus reichen. Dennoch neigen diese Tumoren erst spät zu einem infiltrativen Wachstum. Entsprechend der Stadieneinteilung der International Federation of Gynecologic
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
IV
⊡ Abb. 74.4. Vereinfachte Therapiestrategie für testikuläre Keimzelltumoren nach Studienprotokoll MAHO 98. BEP Bleomycin/Etoposid/Cisplatin; PEI Cisplatin/Etoposid/Ifosfamid; PVB Cisplatin/Vinblastin/Bleomycin – weitere Erläuterungen Text
Oncology (FIGO; ⊡ Tabelle 74.9) werden sie daher zumeist im Stadium I diagnostiziert. Lymphogene Metastasen können sich im Bereich des Nierenhilus finden. In dieser Region manifestieren sich auch bevorzugt Rezidive nach vermeintlich erfolgreicher Primärtherapie. Therapie und Prognose. Die operative Therapie besteht in der Laparatomie mit uni- bzw. bilateraler Adnektomie bei beidseitigen Ovarialtumoren. Minimal invasive Eingriffe mittels Laparaskopie sind bei Keimzelltumoren nicht ausreichend validiert. Da besonders bei großen Tumoren der Tumor bei einer laparoskopischen Entfernung häufig eröffnet, geteilt
oder punktiert wird, kann ein solcher Eingriff nach onkologischen Kriterien nicht als komplett angesehen werden. Die gleiche Einschränkung gilt auch für ein Vorgehen mit Teilresektion des Ovars. Auf jeden Fall sind vor der Planung operativer Eingriffe bei jungen Patientinnen mit ein- oder beidseitigen Ovarialtumoren die Tumormarker zu bestimmen. Die Ergebnisse der MAKEI-Studie zeigen, dass bei Patientinnen mit – nach onkologischen Kriterien – komplett resezierten Tumoren des FIGO-Stadiums I ein abwartendes Verhalten entsprechend der oben dargestellten »Watch-andwait«-Strategie möglich ist. Die Voraussetzung hierfür ist eine engmaschige Nachsorge, d. h. initial wöchentliche Kon-
⊡ Tabelle 74.9. Stadieneinteilung der ovarialen Keimzelltumoren nach FIGO und TNM (Benedet 2000)
Stadium FIGO
TNM
Definition
Ia
T1aN0M0
Unilateraler Tumor, auf das Ovar begrenzt, mikroskopisch komplette Resektion
Ib
T1bN0M0
Bilateraler Tumor, auf das Ovar begrenzt, mikroskopisch komplette Resektion
Ic
T1cN0M0
Uni- oder bilateraler Tumor, Tumorzellen im Aszites, Tumorruptur oder mikroskopisch inkomplette Resektion
IIa
T2aN0M0
Infiltration von Uterus und/oder Tube, keine Tumorzellen im Aszites
IIb
T2bN0M0
Infiltration anderer Strukturen des kleinen Beckens, keine Tumorzellen im Aszites
IIc
T2cN0M0
IIa oder IIb, Tumorzellen im Aszites
IIIa
T3aN0M0
Mikroskopische peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens
IIIb
T3bN0M0
Makroskopische peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens, größter Durchmesser ≤2 cm
IIIc
TxN1M0
Makroskopische peritoneale Metastasen außerhalb des Beckens, größter Durchmesser >2 cm oder Lymphknotenmetastasen
IV
TxNxM1
Fernmetastasen
933 74 · Keimzelltumoren
⊡ Abb.75.5. Vereinfachte Therapiestrategie für nicht-testikuläre Keimzelltumoren nach Studienprotokoll MAKEI 96. PEI Cisplatin/Etoposid/Ifosfamid – weitere Erläuterungen Text
trollen der Tumormarker und Sonographien des Abdomens. Entscheidend ist also auch hier die strenge Patientenführung und eine gute Compliance, um durch die engmaschige Beobachtung ein Rezidiv rechtzeitig zu erkennen. Insgesamt ist bei ca. 20% der ausschließlich nachbeobachteten Patientinnen mit einem Rezidiv zu rechnen. Die im Rahmen der definierten Nachsorgestrategie diagnostizierten Rezidive haben aber mit einer adjuvanten Chemotherapie und ggf. einer »Second-look«-Operation eine vergleichbare Prognose wie Patientinnen mit mittlerem Risiko (FIGO Stadium II). Bei Patientinnen mit höheren Tumorstadien ab FIGO II wird generell eine Chemotherapie verabreicht (⊡ Abb. 74.5). Es hat sich als günstig erwiesen, Patientinnen mit großen Tumoren (»bulky disease«) oder metastatischer Erkrankung mit 3 Kursen einer präoperativen Chemotherapie, gefolgt von einer verzögerten Resektion und einem weiteren Chemotherapiekurs zu behandeln. Dadurch können verstümmelnde Eingriffe vermieden und die Rate der kompletten Tumorresektionen verbessert werden. Insgesamt ist die Prognose der Ovarialtumoren etwas ungünstiger als bei gleichartigen Hodentumoren und erreicht ein ereignisfreies 5-JahresÜberleben von etwa 90% (Baranzelli et al. 2000; Göbel et al. 2000). ! Bei nicht-resektablen Ovarialtumoren ist eine präoperative Chemotherapie, gefolgt von einer verzögerten Tumorresektion, durchzuführen.
74.6.5 Steißbeintumoren Die Steißbeinregion stellt die häufigste Lokalisation von Keimzelltumoren bei Kleinkindern dar. Bei Neugeborenen werden fast ausschließlich reife oder unreife Teratome mit hauptsächlich extrapelviner Manifestation beobachtet. Gegen Ende des ersten Lebensjahres und im Kleinkindalter sind Dottersacktumoren mit überwiegend intrapelviner Manifestation am häufigsten, die durch die Foramina des Os sacrum hindurchwachsen können. Klinische Leitsymptome bei diesen Säuglingen und Kleinkindern mit vorwiegend intrapelvinen Tumoren sind Defäkationsstörungen oder eine Ileusymptomatik, plötzlich auftretende inguinale Lymphknoten oder äußerlich sichtbare Schwellungen im Bereich der Sakralregion. Derartige Tumoren können auch in Rezidivsituationen auftreten, wenn zuvor bei einem Neugeborenen ein reifes oder unreifes Teratom inkomplett entfernt worden ist (Göbel et al. 1998). Diagnostik. Die initiale Diagnostik bei einem Kleinkind mit einem unklaren Tumor im kleinen Becken muss immer die Bestimmung des AFP im Serum beinhalten. Dieses ist im Falle eines Keimzelltumors außerdem nach der Tumorresektion engmaschig zu kontrollieren und mit dem Altersnormbereich zu vergleichen, um bei einem erneuten Anstieg oder nicht altersentsprechendem Rückgang ein Rezidiv frühzeitig zu erkennen. Embryonale Karzinome werden an dieser
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
⊡ Tabelle 74.10. Stadieneinteilung extragonadaler Keimzelltumoren entsprechend MAKEI (angelehnt an die TNM-Klassifikation für Weichteilsarkome)
TNM
Definition
Lokales Stadium
IV
T1a
Begrenzt auf das Ursprungsorgan, ≤5 cm
T1b
Begrenzt auf das Ursprungsorgan, >5 cm
T2a
Infiltration von Nachbarorganen, ≤5 cm
T2b
Infiltration von Nachbarorganen, >5 cm
Lymphknoten N0
Keine
N1
Lymphknotenmetastasen
vante Chemotherapie insgesamt nicht gesenkt wird. Allerdings finden sich bei adjuvant behandelten Teratomen keine Rezidivtumoren mit maligner Histologie, so dass in diesen Fällen die malignen Anteile offensichtlich durch die Chemotherapie eliminiert worden sind, während die Teratomanteile vital bleiben. Die Prognose von Patienten mit benignen und malignen Steißbeintumoren hat sich durch bessere Kenntnisse der Tumorbiologie und dementsprechend modifizierte Operationsverfahren und die Integration der präoperativen Chemotherapie erheblich verbessern lassen, so dass nunmehr mit einem ereignisfreien 5-Jahres-Überleben von über 80% gerechnet werden darf (Mann et al. 1998; Göbel et al. 2001). 74.6.6 Mediastinaltumoren
Fernmetastasen M0
Keine
M1
Fernmetastasen
Lokalisation selten gefunden, Seminome oder Choriokarzinome nie. Die Bildgebung beinhaltet neben einer abdominalen Sonographie generell auch die Kernspintomographie mit transversaler und sagittaler Schichtung, um die intrapelvine Ausdehnung des Tumors prätherapeutisch zu erfassen ( Abschn. 74.5.1). In den MAKEI-Therapieoptimierungsprotokollen hat es sich bewährt, die Stadieneinteilung angelehnt an das TNM-Klassifikationssystem für Weichteilsarkome durchzuführen (⊡ Tabelle 74.10). Therapie und Prognose. Eine ausgedehnte intrapelvine Tumorausdehnung macht eine Tumorentfernung gleichzeitig über einen ventralen und einen dorsalen operativen Zugang erforderlich. Der Tumor ist möglichst in einem Stück und ohne Verletzung der Tumorkapsel zu entfernen. Bei der Tumorresektion ist außerdem auf die komplette In-totoEntfernung des Steißbeins gemeinsam mit dem Tumor zu achten, da ein verbliebener Steißbeinrest den Ausgangsort für einen Lokalrezidiv darstellen kann. Aus diesen Gründen und aufgrund der engen anatomischen Beziehungen zum Sakralplexus ist die Tumorresektion oftmals problematisch und daher erfahrenen Kinderchirurgen vorbehalten. ! Die Resektion von Steißbeintumoren beinhaltet die Resektion des gesamten Steißbeins gemeinsam mit dem Tumor. Die komplette Tumorresektion ist der entscheidende therapeutische Schritt und stellt somit auch den wichtigsten prognostischen Faktor dar.
Makroskopisch inkomplett resezierte maligne Keimzelltumoren der Steißbeinregion haben trotz adjuvanter Chemotherapie ohne eine »Second-look«-Operation ein etwa fast 70%iges Rezidivrisiko (Göbel et al. 2001). Bei malignen Steißbeintumoren hat sich ebenfalls eine Cisplatin-haltige Chemotherapie als effektiv erwiesen, die bei großen und/oder metastatischen Tumoren immer präoperativ zu verabreichen ist. Hingegen ist der Effekt der adjuvanten Chemotherapie bei inkomplett resezierten Teratomen unklar. Die Analyse der Patienten der MAKEI-Studien zeigt, dass die Rezidivhäufigkeit bei Teratomen durch eine adju-
Im Mediastinum treten etwa 5% aller Keimzelltumoren im Kindesalter auf und zeigen wie die Hodentumoren eine zweigipfelige Häufigkeitsverteilung. Jugendliche mit einem Klinefelter-Syndrom haben ein signifikant erhöhtes Erkrankungsrisiko und erkranken in einem jüngeren Alter als Patienten mit einem unauffälligen konstitutionellen Karyotyp (Bussey et al. 1999; Schneider et al. 2002). Diagnostik. Die Tumoren entwickeln sich im vorderen Me-
diastinum, zumeist in enger anatomischer Beziehung zum Thymus und Herzbeutel. Dementsprechend ist das klinische Bild durch Symptome der Atemwegobstruktion mit Husten, Giemen und gelegentlich auch einer oberen Einflussstauung gekennzeichnet. Im Falle von sezernierenden Tumoren kann die Diagnose klinisch anhand der Tumormarker AFP und β-HCG gestellt werden, die daher zum diagnostischen Repertoire bei neu diagnostizierten Mediastinaltumoren gehören. Bei unauffälligen Tumormarkern ist eine histologische Diagnose anzustreben. Therapie und Prognose. Die Prognose der malignen Keimzelltumoren des Mediastinums kann im Kindesalter in Anlehnung an die aktuellen Therapiestrategien gleichfalls als günstig (ereignisfreies 5-Jahres-Überleben über 80%) eingeschätzt werden (Schneider et al. 2000; Billmire et al. 2001). Im Gegensatz dazu stellen die malignen Mediastinaltumoren bei Erwachsenen mit einem ereignisfreien Überleben von 45% eine prognostisch ungünstige Gruppe dar.
74.6.7 ZNS-Tumoren Aufgrund der besonderen Klinik werden die Keimzelltumoren des ZNS nach einem gesonderten Protokoll der International Society of Pediatric Oncology SIOP CNS GCT behandelt. Abgesehen von den seltenen konnatalen Teratomen manifestieren sich die Keimzelltumoren des ZNS meist erst gegen Ende der ersten Lebensdekade und haben ihren Häufigkeitsgipfel während der zweiten Lebensdekade. Jungen erkranken dreimal so häufig wie Mädchen. Die Tumoren treten in der Regel mittelliniennah, d. h. im Bereich der Pinealis oder in der suprasellären Region auf. Nicht selten werden auch bifokale Tumoren im Bereich der Pinealis und der Hypophyse angetroffen.
935 74 · Keimzelltumoren
Diagnostik. Entsprechend der Tumorlokalisation können
sich die Tumoren klinisch mit einer Hirndrucksymptomatik, Sehstörung (Doppelbilder, homonyme Hemianopsie, Parinaud-Syndrom) oder mit endokrinologischen Ausfällen wie z. B. einem Diabetes insipidus oder Libidoverlust bei jungen Männern manifestieren. Bei suprasellären Tumoren sind differenzialdiagnostisch Läsionen im Rahmen einer Langerhans-Zell-Histiozytose abzugrenzen. Hierbei kann die Bestimmung der Tumormarker AFP und β-HCG richtungsweisend sein ( Kap. 20). Bei einigen Tumoren können Absiedlungen im Ventrikelsystem oder im Spinalkanal bestehen. Daher muss die initiale Diagnostik eine Kernspintomographie des gesamten zentralen Nervensystems umfassen. Darüber hinaus ist eine zytologische Untersuchung des Liquors unabdingbar. Bei dieser Gelegenheit sind die Tumormarker AFP und HCG im Liquor und zeitgleich auch im Serum zu untersuchen, da gelegentlich diskordante Befunde in Liquor und Serum beobachtet werden. Bei einer Erhöhung des AFP über 25 µg/dl und des β-HCG über 50 IU/l kann bei Ausschluss anderer Ursachen und charakteristischer Tumorlokalisation ein sezernierender Keimzelltumor diagnostiziert werden. In solchen Fällen ist auf eine Tumorbiopsie zu verzichten. Bei negativen Tumormarkern ist eine Biopsie hingegen unverzichtbar, um reine Germinome, Teratome oder Hirntumoren anderer Histologie zu erkennen. ! Keimzelltumoren des zentralen Nervensystems werden kombiniert mit Chemo- und Radiotherapie behandelt. Die Behandlungsstrategie richtet sich nach der Tumorhistologie und dem initialen Staging. Therapie und Prognose. Unter den histologischen Subentitäten sind die Germinome am häufigsten. Diese sind gleichermaßen sensibel gegenüber einer Chemotherapie und der Bestrahlung. Es ist gezeigt worden, dass über 90% der Tumoren durch eine kraniospinale Bestrahlung (24 Gy plus 16 Gy Tumor-Boost) geheilt werden können (Bamberg et al. 1999). Allerdings wird diese Therapie besonders bei kleinen Kindern nicht als vorteilhaft angesehen, so dass alternativ ein multimodaler Therapieansatz mit Platin-haltiger Chemotherapie und fokaler Bestrahlung (40 Gy) empfohlen wird. Allerdings werden bei fokaler Bestrahlung Rückfälle im Bereich des Ventrikelsystems beobachtet (Alapetite et al. 2002). Deshalb ist für das kommende SIOP-CNS-GCT-Therapieprotokoll die Bestrahlung des Ventrikelsystems geplant. Insgesamt liegt die Langzeitprognose der intrakraniellen Germinome bei über 90% ereignisfreiem 5-Jahres-Überleben. Prognostisch ungünstig ist eine inkomplette initiale Diagnostik, z. B. wenn aufgrund einer inkompletten Bildgebung oder einer unvollständigen Liquordiagnostik bezüglich Zytologie und Tumormarker Metastasen nicht erkannt oder ein sezernierender Keimzelltumor nicht diagnostiziert wird (Calaminus et al. 2002). Bei den sezernierenden Keimzelltumoren besteht die Therapie aus einer initialen Cisplatin-haltigen Chemotherapie, an die bei lokalisierter Erkrankung eine fokale Bestrahlung mit 54 Gy angeschlossen wird. Bei metastatischen Tumoren wird eine kraniospinale Bestrahlung mit 30 Gy durchgeführt und der Primärherd sowie die metastatischen Absiedelungen auf 54 Gy aufgesättigt. Bei einem Residualbefund wird nach Ende der Chemotherapie außerdem eine
Tumorresektion empfohlen. Im Gegensatz zu den malignen nicht-seminomatösen Keimzelltumoren außerhalb des ZNS übernimmt hier die Strahlentherapie die entscheidende Bedeutung für die lokale Tumorkontrolle. Diese Empfehlung ist darin begründet, dass Operationen dieser zentral und mittelliniennah gelegenen Tumoren technisch schwierig und komplikationsbehaftet sind (Nicholson et al. 2002). Die Prognose der sezernierenden Keimzelltumoren des ZNS hat sich mit der Einführung einer stringenten Diagnostik und Therapie entsprechend dem SIOP CNS GCT Protokoll deutlich verbessert und kann zur Zeit mit 60% ereignisfreiem 5-Jahres-Überleben angegeben werden. Vergleichweise ungünstig sind dagegen die Behandlungsergebnisse für die sehr seltenen reinen Teratomen (ereignisfreies 5-Jahres-Überleben 50%; Calaminus et al. 1998). ! Keimzelltumoren des zentralen Nervensystems werden kombiniert mit Chemo- und Radiotherapie behandelt. Die Behandlungsstrategie richtet sich nach der Tumorhistologie und dem initialen Staging.
74.6.8 Andere extragonadale Tumoren Selten treten Keimzelltumoren auch an anderen, meist mittelliniennahen Lokalisationen wie den Nasennebenhöhlen, dem Hals, dem Darm, der Vagina, dem Uterus oder der Prostata auf. Histologisch überwiegen Teratome und Dottersacktumoren, während Germinome, embryonale Karzinome oder Choriokarzinome an diesen Lokalisationen in der Regel nicht anzutreffen sind. Die klinischen Symptome sind meist durch die lokale Tumormanifestation bedingt und deshalb vieldeutig. Beispielsweise können die sich schon pränatal manifestierenden Teratome des Kopf-Hals-Bereichs eine exzessive Größe erreichen und eine Kaiserschnittentbindung erforderlich machen. Infolge der mechanischen Obstruktion der Atemwege ist häufig eine Intubation erforderlich. Die Prognose ist trotz der bedrohlichen Frühsymptomatik selbst bei inkompletter Resektion gut; trotz einzelner Lokalrezidive haben alle in die MAKEI-Studien gemeldeten Patienten mit konnatalen Teratomen im Gesichts- und Halsbereich überlebt. Dagegen sind Tumoren von Vagina/Uterus bzw. Prostata, die meist im späten Säuglings- oder Kleinkindalter auftreten, fast ausschließlich Dottersacktumoren, die differenzialdiagnostisch mittels des AFP-Wertes leicht von den gleichfalls hochmalignen embryonalen Rhabdomyosarkomen unterschieden werden können. Durch die präoperative Chemotherapie sind diese Tumoren sehr gut heilbar, so dass auf die früher übliche Exenteratio des kleinen Beckens verzichtet werden kann (Mauz-Körholz et al. 2000). 74.6.9 Disseminierte Choriokarzinome
bei Neugeborenen und Säuglingen In seltenen Fällen kann sich bei einem Neugeborenen oder Säugling ein disseminiertes Choriokarzinom unter einem akut verlaufenden aber unspezifischen Bild mit schnell wachsenden Tumoren in Leber, Lungen oder Muskulatur, innerer oder äußerer Blutung und Anämie manifestieren. In diesen
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Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Situationen ist die klinische Diagnose durch den Nachweis eines meist extrem erhöhten β-HCG Wertes ausschlaggebend (Blohm et al. 2001). Unter Berücksichtigung der wenigen bisher publizierten Fälle erscheint auch bei disseminierten Chorionkarzinomen die präoperative oder neoadjuvante Kombinationschemotherapie mit Cisplatin effektiv. Dennoch ist residuales Tumorgewebe komplett zu resezieren (Blohm et al. 2001).
IV
! Bei Kindern tritt die Mehrzahl der Rezidive lokal auf. Daher ist neben der systemischen Chemotherapie die Lokaltherapie entscheidend.
Aufgrund der begrenzten Erfahrung bietet sich in jedem Fall eine enge Kooperation mit der Studienzentrale und die zentrale Koordinierung der interdisziplinären Therapieplanung bei diesen insgesamt selten gewordenen Ereignissen an.
74.6.10 Rezidivbehandlung 74.7 Die Mehrzahl der Rezidive bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit nicht-testikulären Keimzelltumoren tritt am Ort des Primärtumors auf (Göbel et al. 2001). Daher ist die suffiziente lokale Tumorkontrolle das vorrangige Ziel der Rezidivbehandlung (Schneider et al. 2001d). Wie in dem Behandlungsalgorithmus (⊡ Abb. 74.6) dargestellt, ist bei einem Rezidiv mit maligner Histologie (gesichert entweder durch Biopsie oder klinisch anhand der erhöhten Tumormarker) primär eine Chemotherapie, vorzugsweise mit Cisplatin, durchzuführen, um den Tumor zu verkleinern. Bei unzureichendem Ansprechen ist eine Therapieintensivierung mit lokoregionaler Tiefenhyperthermie effektiv (Wessalowski et al. 1997, 1998). Es schließt sich eine verzögerte Tumorresektion an, die unbedingt an einem kinderchirurgischen Zentrum zu erfolgen hat, das in der Behandlung rezidivierter Keimzelltumoren erfahren ist. Sollte keine nach onkologischen Kriterien komplette Resektion erreicht worden sein, so ist postoperativ eine lokoregionale Bestrahlung in Dosen von mindestens 45 Gy indiziert, da so die Tumorkontrolle und damit der Behandlungserfolg verbessert werden können. Eine Hochdosischemotherapie ist mit Blick auf die bislang gesammelten Erfahrungen nur sinnvoll, wenn zuvor eine komplette lokale Tumorkontrolle erreicht worden ist, und kann dann zur Remissionskonsolidierung eingesetzt werden.
Nebenwirkungen der Chemotherapie
In den MAKEI-Studien hat sich gezeigt, dass in etwa 20% der Patienten eine klinisch apparente Hörminderung zu beobachten ist. Auch wenn die renale und otoakustische Toxizität von Carboplatin im Vergleich zu Cisplatin geringer ist, so ist jedoch auf das substanzielle Risiko einer länger anhaltenden Thrombozytopenie bei Gaben von Carboplatin in effektiver Dosis (600 mg/m2) hinzuweisen, so dass die Therapieintervalle größer und mehr Therapieblöcke erforderlich werden (Mann et al. 2000). Bezüglich medikamentenspezifischer Nebenwirkungen der zytostatischen Therapie wird auf Kapitel 88 verwiesen. Das Risiko therapieassoziierter Leukämien ist abhängig von der Art der Behandlung und kann für chemotherapeutisch behandelte Patienten der MAKEI-Studien mit einem kumulativen Risiko von etwa 1% nach 10 Jahren angegeben werden (3 von 442 Patienten, Kaplan-Meier-Analyse). Das kumulative Risiko ist höher nach kombinierter Behandlung mit Chemo- und Strahlentherapie (4,2%; 3 von 174 Patienten; Schneider et al. 1999). Allerdings wiegt das Risiko therapieassoziierter Leukämien keinesfalls den Nutzen von Etoposid für die Behandlung von malignen Keimzelltumoren auf.
⊡ Abb. 74.6. Behandlungsalgorithmus für rezidivierte maligne Keimzelltumoren
937 74 · Keimzelltumoren
Trotz der ausgesprochenen Heterogenität der Keimzelltumoren bezüglich ihrer klinischen Präsentation und Histologie richtet sich die Therapie nach gleichen Richtlinien. Oberstes Prinzip ist die lokale Tumorkontrolle, die bei malignen Tumoren durch eine präoperative Platin-haltige Chemotherapie erleichtert werden kann. Die Chemotherapie erlaubt darüber hinaus frühzeitig eine erfolgreiche Behandlung von Metastasen. Bei einer sorgfältigen Diagnostik, die die spezifischen Situationen an den verschiedenen Tumorlokalisationen berücksichtigt, und einer konsequenten Therapie ist die Prognose der malignen Keimzelltumoren mittlerweile als günstig einzustufen. Die heute mögliche risikoadaptierte Therapie ist an die konsequente Nachsorge und die erforderliche Compliance der Patienten bzw. ihrer Eltern gebunden. Unter diesen Umständen kann bei gonadalen Keimzelltumoren mit einem niedrigen Tumorstadien zunehmend auf eine adjuvante Chemotherapie verzichtet werden. Bei Hochrisikopatienten ermöglicht der Einsatz innovativer Therapiekonzepte wie z. B. der regionalen Tiefenhyperthermie, auch Patienten mit lokal fortgeschrittenen oder rezidivierten Tumoren zu heilen. Schließlich ist zu hoffen, dass weiterführende molekularbiologische Studien in Zukunft eine verbesserte Therapiestratifizierung auf der Grundlage eines besseren Verständnisses der Tumorbiologie ermöglichen werden.
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
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939
Endokrine Tumoren P. Bucsky, M. Brauckhoff, C. Reiners
75.1 75.2
Einführung – 939 Schilddrüsenkarzinom – 939
75.2.1 75.2.2
Differenziertes Schilddrüsenkarzinom – 941 Medulläres Schilddrüsenkarzinom – 942
75.3
Adrenokortikales Karzinom – 943
75.3.1 75.3.2 75.3.3 75.3.4
Diagnostik – 943 Chirurgisches Vorgehen – 944 Chemotherapie – 944 Perkutane Radiotherapie – 944
75.4
Malignes Phäochromozytom
75.4.1 75.4.2 75.4.3 75.4.4
Diagnostik – 944 Chirurgisches Vorgehen – 945 Chemotherapie – 945 Perkutane Radiotherapie/nuklearmedizinische Therapieoptionen – 945
75.5
Karzinoid
75.5.1 75.5.2 75.5.3 75.5.4
Diagnostik – 946 Chirurgisches Vorgehen – 946 Chemotherapie – 946 Perkutane Radiotherapie/nuklearmedizinische Therapieoptionen – 946
75.6 75.7
Nebenschilddrüsenkarzinom Hypophysenadenom – 948 Literatur – 948
– 944
– 945
– 948
M. ist das erste Kind gesunder Eltern. Nach unauffälliger Schwangerschaft erfolgte die Geburt per Sectio bei Beckenendlage in der 39. Schwangerschaftswoche. Im Alter von 6 Monaten fiel den Eltern erstmals beim Kind eine leichte Behaarung des Penisschafts auf, mit 9 Monaten entwickelte sich eine Akne im Gesichtsbereich. Im Alter von 12 Monaten erfolgte beim Kinderarzt aufgrund der Akne und des auffälligen Genitale mit Penisvergrößerung und Schambehaarung eine Sonographie des Abdomens, wobei ein Tumor im Bereich der rechten Nebenniere entdeckt wurde. Nach Einweisung in eine Universitätskinderklinik zur weiterführenden Diagnostik und Therapie stellte man einen adoleszent vergrößerten Penis mit dunklen Flaumhaaren an der Peniswurzel fest, die Hoden waren beidseits deszendiert mit einem Volumen von ca. 2 ml, das Skrotum war dunkel pigmentiert. Bei der Bildgebung fand sich im Bereich der rechten Nebenniere eine etwa 9×5×7,5 cm große, relativ gut abgegrenzte Raumforderung mit einem Volumen von etwa 200 ml. Die Hormondiagnostik zeigte stark bis massiv erhöhte Serumspiegel von Testosteron, Dehydroepiandrosteron, Dehydrotestosteron und 17-Hydroxyprogesteron. Es bestand kein Anhalt für eine Metastasierung. Da eine primäre vollständige Tumorentfernung nicht möglich war,
▼
erfolgte vorerst eine Probeentnahme. Die pathohistologische Aufarbeitung ergab die Diagnose eines Nebennierenrindenkarzinoms. Nach erfolgreicher neoadjuvanter Therapie nach dem GPOH-MET-97-Protokoll (Verkleinerung des Tumors auf 20% des ursprünglichen Volumens mittels Polychemotherapie und anschließend kompletter chirurgischer Entfernung des total nekrotischen Tumors) ist der Knabe 2 Jahre nach Therapieabschluss in anhaltender Remission.
75.1
Einführung
Die endokrinen Tumoren stellen eine seltene, sehr heterogene Gruppe von Tumorerkrankungen dar. Die malignen Entitäten (die verschiedenen Typen der Schilddrüsenkarzinome, das adrenokortikale Karzinom (ACC), das maligne Phäochromozytom, das Karzinoid und das <18 Jahren extrem seltene Nebenschilddrüsenkarzinom) machen einschließlich aller bösartiger Tumoren epithelialer Herkunft etwa 2% aller malignen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren aus. Dieser klinischen und auch morphologischen Heterogenität liegt v. a. die unterschiedliche Anatomie und Funktion der zu dem (neuro-)endokrinen System gehörenden Organe zugrunde. Dementsprechend müssen sowohl die Diagnostik als auch Therapie und Nachsorge diagnoseorientiert individualisiert werden, wobei aufgrund der Komplexität dieser Erkrankungen eine enge Zusammenarbeit der betroffenen Fachdisziplinen unabdingbar ist. Da weder über Inzidenzen noch über ein standardisiertes Vorgehen bei Diagnostik, Therapie und Nachsorge Daten für Kinder und Jugendliche vorliegen (Parlowsky et al. 1996; Hung u. Sarlis 2002), sollten diese Informationen optimal im Rahmen von interdisziplinären Therapieoptimierungsstudien erzielt werden, beispielsweise durch die interdisziplinäre, multizentrische Studie »Maligne endokrine Tumoren im Kindes- und Jugendalter (GPOH-MET)« der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie. 75.2
Schilddrüsenkarzinom
Obwohl weniger als 10% aller thyreoidalen Karzinome (TC) in einem Alter unter 18 Jahren auftreten, stellen diese doch den häufigsten Karzinomtyp bei Kindern und Jugendlichen dar (Bucsky u. Pawlovsky 1997; Kaatsch et al. 1995). Tatsächlich spielen in der Altersstufe unter 18 Jahren aber nur die differenzierten (DTC; d. h. papillären, follikulären) und medullären Karzinome(MTC) eine Rolle.
75
940
Spezielle pädiatrische Onkologie · Solide Tumoren
Subtypen des Schilddrüsenkarzinoms:
Papilläres Schilddrüsenkarzinom Follikuläres Schilddrüsenkarzinom Medulläres Schilddrüsenkarzinom Undifferenziertes (anaplastisches) Schilddrüsenkarzinom Sonstige Schilddrüsenkarzinome
IV
Ätiologie der differenzierten Schilddrüsenkarzinome. Für die Entstehung der differenzierten Karzinome spielt die Strahlenexposition eine entscheidende Rolle. 95% der Kinder mit einem Tschernobyl-assoziierten TC entwickelten ein papilläres Karzinom (Furmanchuk et al. 1992; Reiners et al. 2002). Auch die lymphozytäre Hashimoto-Thyreoiditis soll das Entstehen eines papillären thyreoidalen Karzinoms (PTC) begünstigen (Dailey et al. 1955). Etwa 5% der PTC treten hereditär auf, und in einem Teil der PTC konnte die Aktivierung des RET-Protoonkogens bzw. eine Keimbahnmutation im APC-Gen, assoziiert mit familiärer adenomatöser Polyposis, nachgewiesen werden. Pathologie differenzierter Schilddrüsenkarzinome. Die pathohistologische Beurteilung epithelialer Schilddrüsentumoren hinsichtlich der Dignität kann schwierig sein. Die differenzierten Karzinome verhalten sich bei Kindern und Jugendlichen aggressiver als bei Erwachsenen, was besonders beim papillären Typ mit einer Häufung bei Mädchen in der Pubertät zutrifft (Farahati et al. 1997). Alter unter 10 Jahren bei Diagnose, papillärer Typ, Aneuploidie, Fas-Ligandund VEGF-Expression sind bei den DTC ungünstige prognostische Parameter. Obwohl und gerade weil das Gesamtüberleben in der Altersstufe unter 18 Jahren infolge relativ niedriger Malignität sehr günstig erscheint (Farahati u. Reiners 1999), muss die Behandlungsstrategie aufgrund der bei
Diagnosestellung noch hohen Lebenserwartung unbedingt einen kurativen Ansatz haben. Medulläres Schilddrüsenkarzinom. Medulläre Schilddrü-
senkarzinome leiten sich von den parafollikulären C-Zellen ab und speichern im Gegensatz zu den von den Follikelepithelien ausgehenden differenzierten Karzinomen kein Radiojod. Das medulläre thyreoidale Karzinom kann sporadisch oder familiär auftreten. Die autosomal-dominant vererbten familiären Formen sind (⊡ Tabelle 75.1): ▬ das familiäre MTC ohne weitere Endokrinopathien (FMTC), ▬ das MTC bei multipler endokriner Neoplasie (MEN) 2A und ▬ MTC bei MEN 2B. Bei Kindern kommen vorwiegend die familiären Formen vor. Sowohl MEN 2 als auch FMTC können mit der familiären Form der Hirschsprung-Krankheit kombiniert auftreten. Dem MTC geht meist eine diffus-noduläre C-Zellhyperplasie in der Schilddrüse voraus. Die Höhe des präoperativen Kalzitoninspiegels korreliert gut mit der Tumormasse. Tipp für die Praxis Da die molekularbiologische Früherkennung aller familiären Formen durch Nachweis von Mutationen des RETProtoonkogens auf Chromosom 10 (10q11.2) möglich ist, kann durch eine prophylaktische Thyreoidektomie das Auftreten eines familiären MTC verhindert werden (Dralle et al. 1996).
Diese Vorgehensweise wird empfohlen, da das MTC zur frühen Lymphknotenmetastasierung neigt (später auch Leber, Lunge und Skelettsystem). Obwohl eine Genotyp-Phänotyp-
⊡ Tabelle 75.1. MEN-Syndrome
Syndrom
Gendefekt
Auffälligkeiten/Neoplasien
MEN 1 (WermerSyndrom)
Allelverlust Chromosom 11 (11q13)
Hyperplasie/Adenome der Nebenschilddrüsen
Hormonproduktion
Häufigkeit [%] 95
(Multiple) Inselzelltumoren des Pankreas
Insulin, Glukagon, VIP, Gastrin
30–80
Hypophysenadenom
Prolaktin, STH, ACTH
50–70
Nebennierentumor
Selten
30 70–100
MEN 2A (SippleSyndrom)
Mutation RETProtoonkogen Chromosom 10 (10q11.2)
Medulläres Schilddrüsenkarzinom bzw. C-Zellhyperplasie
Kalzitonin
Phäochromozytom (bilateral)
Katecholamine
MEN 2B
Mutation RETProtoonkogen Chromosom 10 (10q11.2)
Medulläres Schilddrüsenkarzinom bzw. C-Zellhyperplasie
Kalzitonin
Phäochromozytom (bilateral)
Katecholamine
Hyperplasie/Adenome der Nebenschilddrüsen
50 10–20 100 50
Hyperplasie/Adenome der Nebenschilddrüsen
10–20
Multiple Neurinome der Schleimhaut, intestinale Ganglioneuromatose
90–100
Marfanoider Habitus
50–70
MEN multiple endokrine Neoplasie, VIP vasoaktives intestinales Peptid, STH Wachstumshormon, ACTH adrenokortikotropes Hormon.
941 75 · Endokrine Tumoren
Korrelation je nach Lokalisation der RET-Mutation auch bei Kindern zu bestehen scheint (Heptulla et al. 1999), ist die gegenwärtige Datenlage zu einer nach Genotyp individualisierten klinisch/therapeutischen Vorgehensweise noch zu begrenzt, wenn diese auch in naher Zukunft möglich erscheint (Machens et al. 2001). Der prognostisch äußerst ungünstige anaplastische Typ stellt in der Altersstufe unter 18 Jahren eine extreme Rarität dar. Er muss immer aggressiv mit Chemo-/ Radiotherapie angegangen werden. Ein Non-Hodgkin-Lymphom der Schilddrüse muss differenzialdiagnostisch ausgeschlossen werden. 75.2.1 Differenziertes Schilddrüsenkarzinom Diagnostik Der Verdacht eines Schilddrüsenkarzinoms ergibt sich meist aus der Beobachtung eines Schilddrüsenknotens, seltener einer rasch wachsenden Struma. Sonographisch zeigt sich ein Karzinom meist als ein echoarmer Knoten, szintigraphisch als »kalter« Knoten, wobei sich follikuläre Adenome ähnlich darstellen. Vergrößerte Halslymphknoten können auch das erste klinische Zeichen eines TC darstellen. Bei klinischem Verdacht sind Sonographie, 99mTc-Szintigraphie und MRT erforderlich. TSH, fT3, fT4, Thyreoglobulin (TG), Kalzitonin und CEA sind präoperativ zu bestimmen. Bei histologisch gesichertem DTC empfiehlt sich die Durchführung einer CT der Lungen (ohne jodhaltiges Kontrastmittel) und einer Skelettszintigraphie. Eine präoperative Punktionszytologie kann durchgeführt werden, ihre Effektivität wird in der Literatur aber kontrovers diskutiert. Bei einem kalten Knoten im Kindes- und Jugendalter kann auf eine operative Klärung, auch bei einer nicht suspekten Punktionszytologie, nicht verzichtet werden. Die endgültige Diagnose erfolgt durch die pathohistologische Aufarbeitung des Operationspräparates (⊡ Abb. 75.1). Chirurgisches Vorgehen Der Weg zur endgültigen Diagnose ist gleichzeitig auch die erste Therapiemaßnahme. Intraoperative Schnellschnittuntersuchungen sollten durchgeführt werden, sie sind aber nicht selten nur begrenzt bei der Entscheidung über die Dignität behilflich. Bei einem klinisch malignitätsverdächtigen Solitärknoten sollte eine ipsilaterale Hemiektomie durchgeführt werden. Cave Knotenbiopsien, -enukleationen und -resektionen sind obsolet!
Totale Thyreoidektomie. Lässt sich die Diagnose eines DTC
intraoperativ durch Schnellschnitt zweifelsfrei stellen, sollte die totale Thyreoidektomie und zusätzlich die systematische zentrale Lymphadenektomie erfolgen (Dralle et al. 1992). Lässt sich die Diagnose eines DTC intraoperativ durch Schnellschnittverfahren nicht zweifelsfrei stellen, die endgültige pathohistologische Diagnose lautet aber doch TC, ist eine Komplettierungsoperation erforderlich – ausgenommen bei einem nicht oxyphilen, nicht strahleninduzierten papillären TC bei pT1aN0M0 mit einem Durchmesser
⊡ Abb. 75.1. Sonographisches Bild eines differenzierten Schilddrüsenkarzinoms (vom follikulären Subtyp) im rechten Schilddrüsenlappen, bis zur Kapsel reichend
<10 mm (Hermanek et al. 1992). Beim Vorliegen eines ektopen DTC (z. B. im Ductus thyreoglossus) ist die totale Thyreoidektomie mit anschließender Radiojodtherapie angezeigt. Die totale Thyreoidektomie ist auch bei Kindern und Jugendlichen Therapie der Wahl, weil die vollständige Entfernung der Schilddrüse sowohl die Aussagekraft der postoperativen Radiojoddiagnostik als auch die Wirksamkeit der Radiojodtherapie erhöht. Bei Kindern beträgt die Rate an Fernmetastasen bis zu 25%. Die Aussagekraft des Serumthyreoglobulins als Tumormarker von residualem bzw. Rezidivtumorgewebe ist nach totaler Thyreoidektomie deutlich höher als nach nicht-totaler Thyreoidektomie. Auch die Rezidivrate nach totaler Thyreoidektomie ist signifikant niedriger als nach subtotaler Thyreoidektomie oder Lobektomie. Komplikationen. In erfahrenen Zentren – und nur in solchen sollten Kinder mit Schilddrüsenkarzinomen behandelt werden – ist auch nach totaler Thyreoidektomie die Zahl der Komplikationen sehr gering (ca. 2% Rekurrensparese und Hypokalzämie). Die häufigsten und zugleich bedeutsamsten Komplikationen sind die Rekurrensparese sowie der permanente Hypoparathyreoidismus. Mit Hilfe der Mikrodissektionstechnik (Dralle et al. 1992) wird die Präparation und die Erhaltung von Nerven und Nebenschilddrüsen vereinfacht. Darüber hinaus wird durch Anwendung des intraoperativen Neuromonitorings das Risiko einer Nervenschädigung reduziert (Brauckhoff et al. 2002).
Nuklearmedizinische Therapie Neben der Chirurgie mit totaler Thyreoidektomie als Standardtherapie hat die anschließende Radiojodtherapie (RIT) Priorität. Zur RIT sind die DTC aufgrund ihrer guten Jodspeicherung geeignet, mit Ausnahme des oxyphilen (onkozytären) Typs, der im Kindes- und Jugendalter eine Rarität darstellt. Die RIT ist bei bestehender Gravidität (Jugendliche!) kontraindiziert. Eine Gravidität soll möglichst bis 6 Monate nach Durchführung der RIT vermieden werden. Innerhalb von 4–6 Wochen nach Thyreoidektomie (vor RIT) dürfen weder jodhaltige Medikamente, Dermatologika, Desinfektionsmittel und Kontrastmittel noch Schilddrüsenhor-
75
942
Spezielle pädiatrische Onkologie · Solide Tumoren
monsubstitution verabreicht werden. Eine optimale Aufnahme von 131I ist erst bei TSH-Werten >30 mU/l gewährleistet. Voraussetzungen der RIT. Voraussetzung ist die totale Thy-
IV
reoidektomie. 3–4 Wochen nach der Operation (TSH-basal muss >30 mU/l sein) soll ein Radiojodtest zur Bestimmung des Restschilddrüsen- bzw. Resttumorgewebes erfolgen. Liegt der »Uptake«-Wert nach 24 h zwischen 10 und 20% sollte, bei Werten über 20% muss, die Frage einer erneuten Operation zur Reduktion des Resttumor- bzw. Restschilddrüsengewebes diskutiert werden.
Perkutane Radiotherapie Eine lokale perkutane Radiatio ist bei DTC-Patienten unter 18 Jahren indiziert, wenn in der Primärtherapie oder nach einem Rezidiv bei dem Primärtumor bzw. den Metastasen/ Rezidiven folgende Situationen gegeben sind: ▬ keine R0-Resektion, ▬ nachweisbarer Resttumor nach Abschluss der Radiojodtherapie(n), eventuell mit unzureichender Radiojodspeicherung, ▬ erneute chirurgische Intervention nicht erfolgreich oder nicht möglich, ▬ Progression.
Indikationen und Ziele der RIT. Hierzu gehören die Ablation
des postoperativ verbliebenen Restschilddrüsen- bzw. Tumorgewebes und der Nachweis von unentdeckten Fernmetastasen. Lungenmetastasen sind gelegentlich erst nach höheren Therapieaktivitäten von 131I zu erkennen. Außerdem erfolgt die RIT als kurative Therapie radiojodspeichender Metastasen oder Rezidive. Direkt vor einer RIT sind folgende Untersuchungen durchzuführen: TSH, TG mit Wiederfindung, Ca, P, Blutbild, Halssonographie, Lungenfunktion, Jodbestimmung im Urin (Ausschluss einer Jodkontamination). Die Bemessung der Aktivität von 131I (oral) richtet sich nach dem 24-h-»Uptake«Wert des postoperativen Radiojodtests. In der Regel sind zur Ablation des Schilddrüsen- bzw. Tumorrestes Aktivitäten in der Größenordnung von 50 MBq/kg KG erforderlich. 4–8 Tage nach RIT ist ein Ganzkörperszintigramm zum Nachweis von Resttumorgewebe/Metastase(n) anzufertigen. 4–6 Monate später sollte üblicherweise eine zweite Ganzkörperszintigraphie mit einer diagnostischen 131I-Aktivität in der Größenordnung von 100–300 MBq folgen. Findet sich eine Speicherung im Restgewebe oder Metastasen, so ergibt sich die Indikation zur weiteren Therapie mit erhöhten Aktivitäten in der Größenordnung von 100 MBq/kg KG. In der Regel werden die Radiojodtherapien in 4- bis 6-monatigen Abständen so lange wiederholt, bis der Tumormarker TG unter die Nachweisgrenze gesunken ist und pathologische Radiojodspeicherungen nicht mehr nachweisbar sind. Bei »therapieresistenten« Verläufen sollten allerdings nach mehr als 4–5 Kursen der Radiojodtherapie die Intervalle zwischen den Behandlungen vergrößert werden (Reiners u. Demidchik 2003). Komplikationen. Mögliche Spätfolgen der RIT sind: Sicca-
Syndrom infolge radiogener Sialoadenitis (20–30%), Lungenfibrose bei Lungenmetastasen (1%) sowie Sekundärleukämie nach ca. 5 Jahren (1%). Chemotherapie Indikationen für eine zytostatische Therapie bei DTC-Patienten unter 18 Jahren sind äußerst begrenzt (Bucsky u. Parlowsky 1997). Sie basiert auf Doxorubicin und Platinderivaten und ist bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nur in den folgenden seltenen Fällen eines DTC indiziert: inkomplett entfernte, nicht-jodspeichernde progrediente T4-Tumoren mit/ohne Metastasen, Non-Response mit Progression nach 2 durchgeführten Radiojodtherapien sowie Progression nach weiteren Radiojodtherapien.
Hierbei ist aber zu berücksichtigen, dass nach Strahlentherapie jede weitere chirurgische Intervention erschwert sein kann. Vor der Entscheidung zu einer Strahlentherapie muss daher unbedingt die Operabilität geklärt werden. Endokrine Substitution und Nachsorge ! Die lebenslange orale Gabe von Levothyroxin verfolgt das Ziel, das TSH als möglichen Wachstumsfaktor für DTC zu supprimieren.
Dabei soll keine iatrogene Hyperthyreose erzeugt werden, d. h. das Serum-T3/fT3 sollte möglichst im Normbereich liegen, wobei das TSH weit supprimiert werden muss (<0,1 mU/l). Auf die eventuellen katabolen Auswirkungen der suppressiven Levothyroxintherapie muss geachtet werden, genauso auf eine mögliche Hypokalzämie (Nebenschilddrüse!), die ggf. durch Vitamin-D-Analoga und Kalziumsupplementation auszugleichen ist. Die nuklearmedizinische Verlaufskontrolle ist bei Patienten mit Metastasen (N1 und/oder M1) jährlich über 5 Jahre, dann zweijährlich lebenslang durchzuführen. Laborchemisch ist das TG ein zuverlässiger Tumormarker. 75.2.2 Medulläres Schilddrüsenkarzinom Diagnostik Die präoperative Diagnostik ist ähnlich wie beim DTC ( Abschn. 75.2.1). Das sporadische MTC wird durch den operativen Primäreingriff histopathologisch diagnostiziert. Bei Patienten mit MTC muss eine Analyse des RET-Protoonkogens erfolgen. Im Falle des Nachweises einer Keimbahnmutation sollte bei allen Familienangehörigen ersten Grades ebenfalls eine RET-Analyse durchgeführt werden. Chirurgisches Vorgehen Bei Non-MEN-2B-RET-Mutationen sollte bei Patienten über 6 Jahren, unabhängig vom Ergebnis des Pentagastrintests, die (prophylaktische) Thyreoidektomie erfolgen. Bei Kindern im Alter unter 6 Jahren ist bei einem positiven Pentagastrintest ebenfalls die totale Thyreoidektomie umgehend erforderlich. Bei negativem Testergebnis ist die prophylaktische Thyreoidektomie im Alter von 5–6 Jahren anzustreben (Dralle et al. 1996). Lehnen die Sorgeberechtigten die prophylaktische Thyreoidektomie ab, ist 6-monatlich ein Pentagastrintest notwendig, um spätestens bei Konversion des Tests den Operationstermin festzulegen. Generell ist bei allen hereditären medullären Schilddrüsenkarzinomen eine totale Thyreoid-
943 75 · Endokrine Tumoren
ektomie erforderlich, da jede C-Zelle das Potenzial zu einer malignen Entartung besitzt. ! Kinder mit MEN-2B-Syndrom mit einer Mutation in Kodon 918 (>95% aller MEN-2B-Patienten) bzw. 883 (2–3% aller MEN-2B-Patienten) können bereits wenige Monate nach Geburt ein medulläres Schilddrüsenkarzinom entwickeln. Daher wird bei diesen Kindern eine totale Thyreoidektomie und Lymphadenektomie so früh wie möglich, also auch bereits im Alter von wenigen Monaten, empfohlen.
Während bei asymptomatischen MEN-2A-Kindern eine altersadjustierte Entscheidung für bzw. gegen eine zentrale Lymphadenektomie (Alter <10 Jahre: keine zentrale Lymphadenektomie, Alter >10 Jahre: zentrale Lymphadenektomie) empfohlen werden kann (Dralle et al.1998), sollten alle symptomatischen Patienten (d. h. Patienten mit einem Schilddrüsenknoten), unabhängig vom pT-Stadium, sowohl zentral als auch beidseits lateral lymphadenektomiert werden. Vor der Operation ist immer das Vorliegen eines Phäochromozytoms auszuschließen. Es ist zu betonen, dass die Chirurgie die einzige kurative Option ist (Gimm et al. 2001), zumal eine RIT, wie bei den DTC, nicht zur Verfügung steht. Chemotherapie Das MTC ist weitgehend resistent gegen alle gängigen Zytostatika, wobei in den meisten publizierten Erwachsenenstudien eine Mono-, eventuell eine Doppeltherapie und keine Polychemotherapie durchgeführt wurde. Eine auf Doxorubicin/Platinderivaten/Dacarbazin basierende Chemotherapie beim MTC kommt bei progredienten, inkomplett entfernten T4-Tumoren bzw. bei Tumoren mit nicht (komplett) resezierbaren Metastasen bei Progression in Frage. Bei Non-Response bzw. »stable disease« oder Auftreten von lokalem/systemischem Rezidiv kann eine anderweitig gewichtete Therapie (z. B. Somatostatinanaloga/Interferon-α in Kombination mit Adriamycin-Monotherapie) erwogen werden. Perkutane Radiotherapie Höher als beim DTC ist der Stellenwert der perkutanen Strahlentherapie. Sie ist beim MTC-Patienten unter 18 Jahren in gleichen Situationen indiziert wie beim DTC ( Abschn. 75.2.1), die Jodspeicherung bleibt unberücksichtigt. Endokrine Substitution und Nachsorge Ziel der altersabhängigen lebenslangen Substitution sind physiologische Spiegel von fT3/fT4/TSH ohne Suppression des letzteren. Die Kontrollen des Kalzitoninspiegels und die Durchführung eines Pentagastrintests sollten in den ersten 2–3 Jahren halbjährlich, danach über weitere 10 Jahre jährlich erfolgen. Zusätzlich zur biochemischen Rezidivdiagnostik sollten befundbezogen bildgebende Untersuchungen eingesetzt werden (Halssonographie, Thorax-CT bzw. 99mTc-VDMSA-Szintigraphie und/oder 111In-Octreotid-Szintigraphie, 18 F-FDG-PET, Thorakolaparoskopie). 75.3
Adrenokortikales Karzinom
Das adrenokortikale Karzinom macht bei Patienten unter 18 Jahren etwa 0,3% aller bösartigen Erkrankungen aus. Die
pathohistologische Diagnose eines ACC ist schwierig. Biologisches Verhalten und histologisches Bild korrelieren häufig nicht miteinander. Tumorgewicht und -diameter können als Entscheidungshilfe zur Feststellung der Dignität hinzugezogen werden. Kleinere Nebennierentumoren, meistens Adenome, werden nicht selten durch Bildgebung bei anderweitigen Indikationen gefunden (Inzidentalom). Die Ki-67-Positivität in mehr als 5% der Tumorzellen spricht eher für ACC. Molekularbiologische prognostische Faktoren konnten bisher nicht identifiziert werden. Das ACC tritt meistens als ein solitärer Tumor auf, in etwa 3% der Fälle sind die Tumoren bilateral. Etwa 20% der Kinder und Jugendlichen werden in fortgeschrittenen Stadien diagnostiziert. Die Ätiologie ist unklar, als Risikofaktor gilt die kongenitale adrenale Hyperplasie. Der Tumor kann hereditär auftreten, v. a. im Rahmen des Li-Fraumeni-Syndroms, des BeckwithWiedemann-Syndroms bzw. des MEN-1(Wermer)-Syndroms ( Tabelle 75.1) mit einem Allelverlust in den Tumorzellen auf dem langen Arm von Chromosom 11(11q13) ( Kap. 42). Das ACC kann aus allen 3 Zonen der Nebennierenrinde hervorgehen. Dementsprechend können endokrine Symptome wie Hyperkortisolismus, Virilisierung (häufig), Feminisierung und Hyperaldosteronismus (selten) einzeln bzw. kombiniert auftreten. Dies ist besonders deswegen der Fall, weil der Tumor bei Kindern und Jugendlichen, anders als bei Erwachsenen, in 95% der Fälle hormonaktiv ist. Hinsichtlich der Therapie des ACC gibt es weder bei Erwachsenen noch bei Kindern ein einheitliches, allgemein akzeptiertes therapeutisches Vorgehen. Die Prognose des ACC im Alter unter 18 Jahren hängt v. a. vom Stadium und der Radikalität der Operation ab. Bei Kindern mit kleineren lokalisierten Tumoren kann durch alleinige chirurgische Maßnahme die Heilung in etwa 65–70% der Fälle erreicht werden. Die primär metastasierten und die primär nicht operablen bzw. nicht in toto entfernbaren ACC weisen auch noch heute mit einer 5-Jahres-Überlebensrate um 7% eine äußerst schlechte Prognose auf (Teinturier et al. 1999). 75.3.1 Diagnostik Der klinische Verdacht entsteht meistens aufgrund der sich rasch entwickelnden Endokrinopathie mit/ohne Bauchschmerzen und dann per Sonographie mit der meistens darstellbaren Raumforderung in der entsprechenden Lokalisation. Parallel zu Bildgebung sind präoperativ die hormonellen Achsen mit Urinsteroidprofil zu evaluieren, zusätzlich Katecholamine, NSE, Chromogranin A. Cave Eine präoperative diagnostische Punktionszytologie darf nicht durchgeführt werden (Tumorruptur!).
Wenn sich die Diagnose eines ACC histologisch bestätigt, müssen Skelettszintigraphie, Thorax-CT und kraniales CT/ MRT erfolgen.
75
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Spezielle pädiatrische Onkologie · Solide Tumoren
75.3.2 Chirurgisches Vorgehen
IV
Da bis heute allein die komplette operative Tumorentfernung eine kurative Maßnahme beim ACC darstellt, ist die ausführliche präoperative bildgebende Diagnostik für eine sorgfältige Planung des vorgesehenen operativen Eingriffs unerlässlich. Bei klinisch/subklinisch hormonaktiven Tumoren muss auf die peri- und postoperative Hormonsubstitution geachtet werden. Generell sollte immer eine totale Adrenalektomie einschließlich der Entfernung des umgebenden Fettgewebes und der regionalen Lymphknoten erfolgen. Sind verdächtige regionale Lymphknoten vorhanden, müssen auch die Lymphknoten der nächsten Lymphknotenstation entfernt werden. Infiltriert der Tumor organüberschreitend benachbarte Strukturen, sollten die befallenen Anteile dieser Organe en bloc mit entfernt werden. Dieses Vorgehen ist in der Regel auch dann vorzuziehen, wenn bei der präoperativen Bildgebung Fernmetastasen (z. B. Lunge, Skelett) nachgewiesen worden sind. Diese soliden Metastasen sollten bei dem ersten Eingriff vorerst nicht angegangen werden, um das prognostisch wichtige und für das weitere Vorgehen entscheidende Ansprechen auf eine adjuvante systemische Therapie beurteilen zu können. Zeigt die Bildgebung einen Tumor, der primär nicht resektabel ist, sollte eine repräsentative Biopsieentnahme zur Diagnosesicherung erfolgen. Je nach Ansprechen auf eine neoadjuvante systemische Therapie soll die Entfernung des Primärtumors bzw. von Metastase(n) zu einem späteren Zeitpunkt elektiv erfolgen. ! Von größter Wichtigkeit ist, dass die in der Regel sehr weichen und oft insbesondere im Zentrum nekrotisch zerfallenen Tumoren nicht eröffnet, sondern mit intakter Kapsel oder en bloc mit infiltrierten Nachbarstrukturen entfernt werden. Die offene, transabdominelle Adrenalektomie ist bei Nebennierenrindenkarzinomen der Standardzugang (Dralle 1991).
75.3.3 Chemotherapie Als einziges Therapeutikum beim ACC besitzt als Adrenokortikozytolytikum das Mitotane (o,p'-DDD; ein Isomer des Insektizids DDT; 11-Hydroxylierungshemmer) eine nachgewiesene antineoplastische Wirkung (Lubitz et al. 1973); sie wurde auch bei Kindern festgestellt (Kay et al. 1983). Demgegenüber zeigten traditionelle Chemotherapeutika sowohl in Mono- als auch in Kombinationstherapie in den wenigen und relativ kleinen veröffentlichten Serien bei fortgeschrittenen ACC enttäuschende Ergebnisse (van Slooten u. van Oosterom 1983; Schlumberger et al. 1991). Die Kombination Cisplatin/Etoposid hat bei wenigen Patienten mit ACC Stadium IV in einer relativ niedrigen Dosierung einen partiellen Response erreichen können. Eine systemische zytostatische Therapie des ACC, basierend auf Platinderivaten, Ifosfamid, Etoposid bzw. Doxorubicin, ist bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren in allen Tumorstadien bei inkompletter Resektion, bei nachgewiesenen Metastasen und neoadjuvant bei primär inoperablen Tumoren indiziert. Bei Therapie mit Mitotane sind Spiegelmessungen unentbehrlich, da unter
einem Talspiegel von 14 µg/ml keine nennenswerte Wirkung zu erwarten ist. 75.3.4 Perkutane Radiotherapie Eine einheitliche Beurteilung dieser Option fehlt noch. Eine lokale perkutane Bestrahlung soll bei inoperablem Primärtumor, inoperablen Metastasen und bei R1/2-Resektion des Primärtumors erwogen werden. 75.4
Malignes Phäochromozytom
Phäochromozytome entstehen aus den chromaffinen Zellen des Nebennierenmarks oder der Paraganglien. Die extraadrenalen Tumoren finden sich in dem Zuckerkandl-Organ, seltener im Mediastinum, Gehirn oder in der Harnblase. Bei einer Inzidenz von 0,4/100.000 pro Jahr sind 10% der Patienten unter 10 Jahren. Die Häufigkeit maligner Phäochromozytome schwankt zwischen 10% und 46% in unterschiedlichen Untersuchungsserien, die Malignitätsrate der extraadrenalen Tumoren liegt höher. Mit Ausnahme von hereditären Syndromen wie Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL), NF1 oder MEN 2 sind ätiologische Faktoren nicht bekannt ( Tabelle 75.1). Das hereditäre Phäochromozytom (etwa 10%) ist häufig multifokal und/oder bilateral. Sowohl bei sporadischen als auch familiären Phäochromozytomen sind die gleichen zytogenetischen Aberrationen als Allelverlust der Chromosomen 1p, 3p, 17p und 22q beschrieben. Die molekulare Pathogenese ist jedoch unklar. Allerdings werden in der Region 1p mindestens 3 potenzielle Tumorsuppressorgene vermutet (Benn et al. 2000). Anscheinend sporadische Formen (d. h. MEN/VHL/NF1-negative Formen) weisen in bis zu 25% Keimbahnmutationen (und dadurch Heredität) in den Succinatdehydrogenase-D- und -B-Genen (SDHD-/SDHB-Genen) auf (Neumann et al. 2002). In einer großen Untersuchungsreihe wurde für Patienten mit einem malignen Phäochromozytom eine 5-Jahres-Überlebensrate von 36% ermittelt. Nach Auftreten von Metastasen beträgt die Überlebenszeit meist weniger als 3 Jahre (van Heerden et al. 1982). Optimale Therapiemodalitäten für das metastasierte Phäochromozytom sind nicht bekannt. Bei dem so genannten »composite phaeochromocytoma« ist der Neuroblastomanteil prognostisch entscheidend, danach richtet sich die Therapie. 75.4.1 Diagnostik Bei Kindern kommt es selten zu einer typischen Symptomatik (Flush, Hypertonus), meistens treten unspezifische Bauchschmerzen auf. Im Kindesalter ist das Risiko eines malignen Verlaufs bei sporadischen Fällen deutlich höher als beim hereditären Phäochromozytom. Das Auftreten von Primärtumoren oder Metastasen in Organen, die physiologisch nicht über chromaffine Zellen verfügen (Lunge, Leber, Knochen, Gehirn, Lymphknoten), ist der klinische Beweis für Malignität. Die Szintigraphie mit 123I-Metajodbenzylguanidin (MIBG) erlaubt die spezifische Lokalisation des Primär-
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tumors und seiner Metastasen. 111In-Octreotid-Szintigraphie bzw. 18F-FDG-PET sind besonders bei den MIBG-negativen Tumoren für die Erfassung der genauen Ausdehnung der Krankheit geeignet. Cave Eine präoperative diagnostische Punktionszytologie/Feinnadelbiopsie darf nicht durchgeführt werden (Gefahr der hypertensiven Krise!).
Bestätigt sich die Diagnose eines Phäochromozytoms, sollten Skelettszintigraphie, Thorax-CT, kraniales CT/MRT erfolgen. Bei gesicherter Diagnose sollte die molekularbiologische Untersuchung des RET-Protoonkogens bzw. der VHL-, SDHD/SDHB-Gene erfolgen. Wie bei den endokrinen Tumoren im Allgemeinen, kann auch beim Phäochromozytom die Beurteilung der Dignität äußerst schwierig oder unmöglich sein. Ein relativ großer Tumor – ähnlich wie beim Nebennierenrindenkarzinom (Durchmesser >5 cm) –, sehr hohe Chromogranin-A- und Noradrenalinspiegel sprechen eher für Malignität. Immunhistologisch weisen S-100-Negativität und eine durch MIB-1 (Ki-67) nachgewiesene erhöhte Proliferationsrate auf Malignität, Inhibin/Activin (B-Subunit-Expression) eher auf eine benigne Form hin.
Bei extraadrenalen Phäochromozytomen (Paragangliomen) ist immer eine radikale Resektion vorzunehmen, da es sich hierbei oft um maligne Tumoren handelt. Auch bei Auftreten eines Lokalrezidivs und bei Vorliegen von Fernmetastasen sollte stets zunächst der chirurgischen Therapieoption Vorrang gegeben werden (Dralle 1991). Für die postoperative Behandlung adrenaler Phäochromozytome muss zwischen uni- und bilateraler Adrenalektomie unterschieden werden. Während nach unilateraler Adrenalektomie keine perioperative Hydrokortisonsubstitution notwendig ist, erfordert eine totale bilaterale Adrenalektomie stets die Substitution von Glukokortikoiden und Mineralokortikoiden. Nach organerhaltenden bilateralen Operationen mit ausreichendem Nebennierenrest kann die perioperative adrenokortikale Hormonsubstitution ganz unterbleiben oder nur kurzfristig erforderlich sein (Dralle et al. 1994; Brauckhoff et al. 2003). In diesen Fällen ist die Durchführung eines ACTH-Tests empfehlenswert, um die basale und stimulierte Funktion des Nebennierenrestes zu kontrollieren. Nach bilateral totaler Adrenalektomie müssen alle Patienten einen Kortisonausweis erhalten. Zur frühzeitigen Erfassung von Rezidiven bzw. eines subklinischen bzw. manifesten Hypokortisolismus nach bilateral totaler Adrenalektomie ist eine regelmäßige Tumornachsorge erforderlich. 75.4.3 Chemotherapie
75.4.2 Chirurgisches Vorgehen Die Adrenalektomie stellt die einzige kurative Therapieoption beim Phäochromozytom dar. Die in der Altersgruppe unter 18 Jahren häufigeren familiären Varianten treten meist syn- oder metachron bilateral auf und sind biologisch meistens benigne, so dass in diesen Fällen organerhaltende Resektionen anzustreben sind. In den letzten Jahren hat auch bei Kindern der minimal-invasive Zugang (laparoskopisch oder retroperitoneoskopisch) die klassischen Zugangsvarianten (transabdominal, lumbal) abgelöst. Besonders für die endoskopische Operation ist eine konsequente Vorbereitung mit α1-Rezeptorantagonisten (z. B. Phenoxybanzamin, Prazosin) von größter Bedeutung, da nicht nur durch die chirurgische Manipulation, sondern auch durch Erzeugung des Pneumoperitoneums bzw. Pneumoretroperitoneums eine relevante Katecholaminliberation hervorgerufen wird. Wegen des erhöhten Narkoserisikos ist eine präoperative Kontaktaufnahme mit der Anästhesie notwendig. Einer postoperativen Hormonsubstitution zur Vermeidung des Risikos einer latenten bzw. manifesten adrenokortikalen Unterfunktion nach Operation wegen bilateraler Phäochromozytome kommt eine hohe Priorität im operativen Vorgehen zu. Obwohl nach subtotaler Adrenalektomie, insbesondere bei familiären Phäochromozytomen, vermutlich in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden RET-Mutation, von einem relevanten Rezidivrisiko ausgegangen werden muss, ist die organerhaltende Resektion der adrenokortikalen Substitution vorzuziehen. Rezidive familiärer Patienten treten in aller Regel erst nach vielen Jahren auf, das Risiko der Malignität ist niedrig. Rezidive können erneut erfolgreich organerhaltend operiert werden (Brauckhoff et al. 2004).
Über die monotherapeutische Aktivität von Zytostatika beim malignen Phäochromozytom liegen kaum Daten vor, die Daten einer Kombinationstherapie sind eher enttäuschend. Eine systemische zytostatische Therapie (Doxorubicin/Platin/Dacarbazin) ist bei Patienten unter 18 Jahren in allen Tumorstadien bei inkompletter Resektion eines histologisch eindeutig malignen Phäochromozytoms, bei nachgewiesenen Metastasen, präoperativ beim primär inoperablen, bioptisch malignen Phäochromozytom und bei Rezidiv eines histologisch zuvor als benigne klassifizierten Phäochromozytoms indiziert. 75.4.4 Perkutane Radiotherapie/nuklear-
medizinische Therapieoptionen Eine perkutane lokale Bestrahlung ist bei inoperablem Primärtumor, inoperablen Metastasen bzw. R1/2-Resektion des Primärtumors indiziert. Mit höheren initialen Dosen ist es möglich, länger anhaltende Remissionen zu erreichen (Yu et al. 1996). Voraussetzung für 131I-MIBG-Therapie(n) ist die MIBG-Avidität der Tumorzellen. Dies sollte durch eine diagnostische 123I-MIBG-Szintigraphie ermittelt werden. Für die Therapie werden ca. 370 MBq 131I-MIBG/kg KG verabreicht. 75.5
Karzinoid
Karzinoide sind Tumoren des so genannten diffusen neuroendokrinen Systems (DNES). Dieser Terminus technicus wurde von Oberndorfer für eine bestimmte Tumorart des Dünndarms mit einer sehr charakteristischen Pathohisto-
75
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IV
Spezielle pädiatrische Onkologie · Solide Tumoren
morphologie im Jahre 1907 eingeführt (Oberndorfer 1907). Ausgangszelle bei Lokalisationen im Darmtrakt ist die Kulschitzky-Zelle. Zellen dieser Art sind inzwischen in fast allen Organen beschrieben worden, wodurch Lokalisationen außerhalb des Darmtraktes zu erklären sind. Gemeinsam allen diesen Zellen ist die Produktion von biogenen Aminen (»amino precursor uptake and decarboxylation«: APUDSystem/APUDom; Pearse 1980). Karzinoide treten unter 18 Jahren selten auf. Daten über die Häufigkeit und Lokalisationen gibt es kaum. Am häufigsten sitzt der Tumor in der Appendix und ist hier biologisch meistens benigne (Parlowsky et al. 1996). Allerdings scheinen Karzinoide bei Kindern aggressiver zu sein als bei Patienten über 18 Jahren (Deans u. Spence 1995). Auch bei Erwachsenen ist die Appendix die bevorzugte Lokalisation (44%). Ätiologische Faktoren der Erkrankung sind nicht bekannt. Beim MEN-1-Syndrom ( Tabelle 75.1) können Karzinoide in verschiedenen Lokalisationen (Bronchialsystem, Thymus, Magen, Dünndarm) auftreten. Erstgradige Verwandte von Patienten mit der sporadischen Form des Tumors erkranken signifikant häufiger an Karzinoid als die Normalbevölkerung (Babovic-Vuksanovic et al. 1999), Karzinoidpatienten (auch <18 Jahren) leiden häufiger an anderen, koexistierenden Malignomen (Spunt et al. 2000). 75.5.1 Diagnostik Das so genannte Karzinoidsyndrom tritt meistens bei metastasierten Tumoren auf, wobei sehr oft die Leber das von Metastasen betroffene Organ ist. Typische Symptome sind Flush, Diarrhö, Koliken, Malabsorption, Bronchospasmus, Endokardfibrose, Glukoseintoleranz, Arthropathie und Hypotonie. Die dafür verantwortlichen Substanzen sind: Bradykinin, Hydroxytryptophan, Prostaglandine, vasoaktives intestinales Polypeptid (VIP), Histamin und vorrangigt Serotonin. Endokrine Symptome sind aber auch ohne Metastasen möglich, v. a. beim Bronchuskarzinoid. Obwohl die Dignität mit der Tumorgröße meist korreliert, können auch relativ kleine Tumoren bereits metastasiert sein. Tumoren über 2 cm Durchmesser werden klinisch als maligne angesehen, da sie signifikant häufiger metastasieren. Immunhistologisch erhöhte Ki-67- bzw. p53-Positivität können auf klinische Malignität hindeuten. Bei Verdacht auf ein Karzinoid sind im Serum Chromogranin A, β-HCG, Serotonin und CEA sowie im Urin 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) zu bestimmen. Sollte die spezifische 111In-Octreotid-Szintigraphie negativ sein, hat eine 123I-MIBG-Szintigraphie, ein Thorax-CT bzw. AbdomenSonographie/MRT zu erfolgen. Eine molekularbiologische Untersuchung für MEN 1 empfiehlt sich (Karges et al. 2000). 75.5.2 Chirurgisches Vorgehen ! Eine kurativ ausgerichtete Chirurgie ist bei jeder Lokalisation und jedem Stadium anzustreben, auch bei multifokalem Befall oder multiplen Metastasen.
Bei Tumoren mit einem Durchmesser ≤1 cm im MagenDarm-Trakt ist eine lokale Resektion mit angemessenem Si-
cherheitsabstand vorzunehmen. Bei Tumoren mit einem Durchmesser >1 cm oder bei einem Appendixkarzinoid mit Infiltration der Appendixbasis, des Mesenteriolums oder lymphangischer Karzinose muss eine radikale Standardresektion vorgenommen werden. Bei Bronchialkarzinoid soll immer eine Lobektomie erfolgen. Je nach Lokalisation des Primärtumors müssen alle regionalen bzw. suspekten Lymphknoten und je nach Möglichkeit auch die Metastasen mit kurativem Ansatz (mit)reseziert werden. Patienten mit Karzinoidsyndrom haben ein signifikant erhöhtes Operationsbzw. Anästhesierisiko, daher wird eine präoperative Kontaktaufnahme mit der Anästhesie empfohlen. 75.5.3 Chemotherapie Verschiedene Zytostatika wurden entweder als Monotherapie oder in Kombination geprüft. Die Remissionsraten betragen bei Erwachsenen in der Regel nur 10–30% bei einer Remissionsdauer von etwa 7 Monaten. Karzinoide mit anaplastischer Pathohistologie sprachen in einer kleineren Serie auf die Kombination Cisplatin/Etoposid gut an: 67% der Patienten erreichten einen guten bzw. kompletten Response mit einer medianen Überlebenszeit von 19 Monaten (Moertel et al. 1991). Die klinische Beschwerdesymptomatik ist meistens auf die biochemische Aktivität des Tumors zurückzuführen. Bei diesen Patienten (mit »stable disease«) sollten die sehr belastenden Symptome mit Somatostatinanaloga eliminiert/gelindert werden. In Anbetracht der sehr ungünstigen Prognose des metastasierten Karzinoids bei Erwachsenen scheint eine systemische zytostatische Therapie bei Patienten unter 18 Jahren indiziert zu sein: ▬ bei lokaler Irresektabilität in allen Tumorstadien ohne Metastase(n) bei Progression, ▬ bei nachgewiesenen progredienten Metastasen, ▬ bei(m) lokal irresektablen Rezidiv(en). In Frage kommen Platinderivate, Ifosfamid, Dacarbazin und Doxorubicin in Kombination. Diskutiert werden kann auch eine IFN-α-Therapie, eventuell in Kombination mit Somatostatinanaloga als Primärtherapie oder multimodale Therapieansätze wie Somatostatinanaloga, kombiniert mit systemischer bzw. intraarterieller Chemotherapie bei Lebermetastasen (Schmoll et al. 1999). Alle diese Maßnahmen wirken beim metastasierten Karzinoid aber meistens nur palliativ. 75.5.4 Perkutane Radiotherapie/nuklear-
medizinische Therapieoptionen Eine externe Bestrahlung ist bei inoperablem Primärtumor, inoperablen Metastasen bzw. bei R1/2-Resektion des Primärtumors und Progression indiziert. Patienten mit MIBG-positiven Tumoren sollten auch mit 131I-MIBG therapiert werden. Bei Nichtansprechen sämtlicher Therapiemodalitäten sollte bei Speicherung von 111In-Octreotid eine sich zur Zeit in der Erprobung befindliche Therapie mit anderen Somatostatinanaloga (z. B. Y-90-DOTATOC) diskutiert werden.
Tumorart
Genetik
Schilddrüsenkarzinom differenziert
Sporadisch
–
Mutation RET-Protoonkogen 10q11.2 APC-Genmutation 5q21
+ +
Sporadisch
–
Schilddrüsenkarzinom medullär
Mutation RET-Protoonkogen Chr. 10q11.2
Adrenokortikales Karzinom
Nebenschilddrüsenkarzinom
NF1 MEN 2A MEN 2B VHL SDHD/B
Diagnostik Szintigraphie MRT TSH/fT3/fT4/TG
Kalzitonin
+ + +
Kortisol Androgene Östrogene Aldosteron u. a.
+ + + +
Katecholamine
– MEN 1
Szintigraphie MRT TSH/fT3/fT4/TG/Kalzitonin/CEA Molekularbiologische Diagnostik
CT/MRT Plasma-/Urin-Steroid-/Hormonprofil
+
Prostaglandine VIP Histamin Serotonin Andere
CT/MRT 123 I-MIBG-Szintigraphie Katecholamine im Serum und 24-h-Urin Molekularbiologische Diagnostik
CT/MRT 5-HIAA im 24-h-Urin 111 In-Octreotid-Szintigraphie Chromogranin A/β-HCG/Serotonin/CEA Molekularbiologische Diagnostik
– MEN 2 (-1)
MEN 1
+
Parathormon
–
Prolaktin ACTH STH LH/FSH TSH
+
MRT
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Sporadisch Allelverlust 11q13
+ + +
Hormone
–
Sporadisch Mutation RET-Protoonkogen 10q11.2 (Allelverlust 11q13)
Hypophysenadenom
Li-Fraumeni-Syndrom Wiedemann-Beckwith-Syndrom MEN 1
Sporadisch Allelverlust 11q13
Familiarität
–
Sporadisch Genort 17q12 Mutation RET-Protoonkogen 10q11.2 VHL-Genort 3p25
Karzinoid
FMTC MEN 2A MEN 2B
Sporadisch p53 (17p13) Genort 11p15 Allelverlust 11q13
(Malignes) Phäochromozytom
Syndrom
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⊡ Tabelle 75.2. Ausgewählte Charakteristika mit wegweisender Diagnostik endokriner Tumoren
MRT Hormondiagnostik
75
ACTH adrenokortikotropes Hormon; APC adenomatöse Polyposis coli; CEA karzinoembryonales Antigen; Chr Chromosom; FMTC familiäres medulläres Schilddrüsenkarzinom; FSH Follikel-stimulierendes Hormon; fT3 freies Trijodthyronin; fT4 freies Thyroxin; HCG humanes Choriongonadotropin; HIAA Hydroxyindolessigsäure; LH luteinisierendes Hormon; MEN multiple endokrine Neoplasie; MIBG Metajodbenzylguanidin; NF Neurofibromatose; SDHD/B Succinatdehydrogenase D/B; STH Wachstumshormon; TG Thyreoglobulin; TSH Thyreoidea-stimulierendes Hormon; VHL Von-Hippel-Lindau-Syndrom; VIP vasoaktives intestinales Peptid.
948
Spezielle pädiatrische Onkologie · Solide Tumoren
75.6
IV
Nebenschilddrüsenkarzinom
Das Karzinom der Nebenschilddrüse ist in jeder Altersgruppe extrem selten. Es macht weniger als 0,5% aller Nebenschilddrüsentumoren aus und kommt meistens bei MEN 2 ( Tabelle 75.1) oder familiärem Hyperparathyreoidismus vor. Leitsymptome sind Zeichen eines Hyperparathyreoidismus mit Hyperkalzämie, eine Hormonproduktion ist aber nicht obligat. Zum Ausschluss von Metastasen sind Skelettszintigraphie, Thorax-CT und Abdomen-Sonographie/MRT notwendig. Der Tumor ist gering strahlen- und chemotherapieempfindlich: Die radikale Entfernung des Tumors inklusive einer regionalen systematischen Lymphadenektomie und ipsilateralen Hemithyreoidektomie ist die einzige Therapie mit kurativem Anspruch. Bisher eingesetzte Medikamentenkombinationen waren MTX/Doxorubicin/Cyclophosphamid/CCNU sowie Dacarbazin/5-FU/Cyclophosphamid (Schöber et al. 1999). 75.7
Hypophysenadenom
Hypophysenadenome machen etwa 2% aller intrakraniellen Tumoren der Altersstufe unter 18 Jahre aus, sie können im Rahmen des MEN-1-Syndroms auftreten ( Tabelle 75.1). Obwohl sie pathohistologisch benigne sind, besitzen sie meistens keine Kapsel und zeigen nicht selten ein invasives Wachstumsmuster. Je nach Tumorgröße werden Mikroadenome (<10 mm) oder Makroadenome (>10 mm) unterschieden. Sie sind entweder hormoninaktiv oder hormonproduzierend (Prolaktin, ACTH, Wachstumshormon, LH/FSH, TSH oder gemischt). Die Klinik ist durch das produzierte Hormon und/oder das Fehlen anderer Hormone, durch die Tumorgröße und/oder das verdrängende Wachstum charakterisiert. Prolaktinome sprechen sehr gut auf Dopaminagonisten, Somatotropinome auf Somatostatinanaloga an, auch mit Volumenreduktion des Adenoms. Bei ACTH-, TSH-, LH/FSHproduzierenden und hormoninaktiven Tumoren ist meistens die Resektion Therapie der Wahl. Bei ausbleibendem Effekt oder Rezidiv ist die Radiotherapie einsetzbar. Die Therapie muss immer interdisziplinär (Endokrinologe, Onkologe, Neurochirurg, Radiologe) gestaltet werden (Buchfelder 1999).
Unter den endokrinen Tumoren stellen die malignen Tumoren – besonders bestimmte Entitäten – auch heute noch eine große Herausforderung für die Kinder- und Jugendonkologie dar. Während die differenzierten Schilddrüsenkarzinome auch bei Kindern und Jugendlichen eine gute Prognose haben (obwohl eindeutige langfristige Daten hierzu noch fehlen), ist die Prognose der metastasierten adrenokortikalen Karzinome, malignen Phäochromozytome und Karzinoide sehr ungünstig. Bei diesen Entitäten – auch wenn sie sehr selten vorkommen – ist die Kinder- und Jugendonkologie zu größten Anstrengungen aufgefordert. Unerlässlich zu sein scheint die Bündelung der Kräfte in Studienarbeit. Die interdisziplinäre multizentrische Therapieoptimierungsstudie GPOH-MET 97 der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie versucht, dieser Herausforderung gerecht zu werden.
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949 75 · Endokrine Tumoren
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75
Seltene Tumoren R. Mertens, L. Lassay
IV
76.1 76.2
Einführung – 950 Tumoren der Kopf-Hals-Region – 950
76.2.1 76.2.2 76.2.3 76.2.4
Nasopharynxkarzinom – 950 Ameloblastom – 952 Juveniles Nasopharynxangiofibrom – 953 Larynxpapillomatose – 953
76.3
Tumoren von Lunge, Pleura und Herz – 953
76.3.1 76.3.2 76.3.3 76.3.4 76.3.5 76.3.6 76.3.7
Bronchialkarzinom – 953 Pneumoblastom – 954 Askin-Tumor – 954 Plasmazellgranulom – 954 Mesotheliom – 954 Herztumoren – 954 Thymom – 954
76.4
Gastrointestinale Tumoren – 955
76.4.1 76.4.2 76.4.3 76.4.4 76.4.5
Ösophaguskarzinom – 955 Magentumoren – 955 Pankreatoblastom – 955 Kolorektales Karzinom – 955 Karzinoid – 956
76.5
Tumoren der Haut – 956
76.5.1 76.5.2
Kaposi-Sarkom – 956 Malignes Melanom – 957
76.6
Fibromatosen
76.6.1 76.6.2
Aggressive Fibromatose – 957 Juvenile hyaline Fibromatose – 957
76.7 76.8 76.9 76.10
Desmoplastischer Rundzelltumor – 957 Rhabdoidtumor – 957 Nierenzellkarzinom – 958 Unbekannter Primärtumor – 958 Literatur – 958
– 957
Der dreijährige Daniel erkrankte innerhalb von 8 Wochen zweimal an einer schweren Pneumokokkenmeningitis. 23 Monate später entwickelte der Junge an der vorderen Thoraxwand sowie zervikal und nuchal livide, fast wie ein Naevus flammeus imponierende Hautveränderungen. Durch die hinzugezogenen Dermatologen erfolgte eine Hautbiopsie, die den typischen Befund eines Kaposi-Sarkoms ergab. Immunologisch fand sich ein angeborener T-Zelldefekt. Die HIV-Serologie war negativ. Im Rahmen der Ausbreitungsdiagnostik zeigte sich zusätzlich ein ausgedehnter Befall der Schleimhäute des Gastrointestinaltraktes sowie der Bronchialschleimhaut. Unter einer Therapie mit liposomalem Daunorubicin und Bleomycin, wie sie bei Erwachsenen HIV-Patienten mit Kaposi-Sarkom durchgeführt wird, trat eine Progression der Erkrankung auf. Daniel besaß einen HLA-identischen Bruder,
▼
so dass eine Knochenmarktransplantation erfolgen konnte. Er lebt seitdem in anhaltender Remission.
76.1
Einführung
Die nachfolgend aufgeführten Erkrankungen machen weniger als 5% aller Tumorerkrankungen im Kindesalter aus. Für diese seltenen malignen Erkrankungen, die in der Regel erst im Erwachsenenalter beobachtet werden, existieren bis auf wenige Ausnahmen keine eigenen pädiatrischen Therapieregimes, so dass es sich empfiehlt, bezüglich Diagnostik und Therapie auch die einschlägige internistische bzw. chirurgisch-onkologische Literatur zu konsultieren. Das nachfolgende Kapitel erhebt keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung aller seltenen Tumoren des Kindesalters. Die gewählte Auswahl orientiert sich im Wesentlichen an den Zahlen des Kinderkrebsregisters Mainz (⊡ Tabelle 76.1) und an den persönlichen Erfahrungen der Autoren. 76.2
Tumoren der Kopf-Hals-Region
76.2.1 Nasopharynxkarzinom Das Nasopharynxkarzinom (NPC) ist einer der wenigen epithelialen malignen Tumoren, der bei Kindern auftritt (Barrios 1993). Es weist eine große Streubreite in der geographischen Inzidenz auf. In Teilen Afrikas und Chinas ist es mit 10–20% ein häufiger Tumor im Kindesalter. In den USA und Europa kommt das NPC selten vor. Die Inzidenz beträgt hier 0,2% aller Tumoren im Kindesalter (Baker u. Clatchey 1981). Ätiologie und Pathogenese des undifferenzierten NPC sind eng assoziiert mit einer Epstein-Barr-Virus (EBV)-Infektion. Das EBV-Genom lässt sich im Tumorgewebe nachweisen, und verschiedene Antikörper gegen das EpsteinBarr-Virus können im Serum der Patienten zur Diagnosesicherung und zur Verlaufsbeobachtung bestimmt werden. Symptome Wegen der versteckten Lokalisation des Tumors und der unspezifischen Symptome wird die Diagnose in der Regel sehr spät gestellt, so dass sich über 90% der jungen Patienten bei Diagnosestellung bereits in einem fortgeschrittenen, prognostisch ungünstigen Stadium befinden. Folgende Symptome wurden bei NPC-Patienten (n=356) beobachtet (Mertens et al. 1997): Pharynxtumor 95%, Kopfschmerzen 95%, zervikale Lymphknotenschwellung 82%, Gewichtsverlust 77%, Obstruktion der Nase 59%, Fieber 50%, Nasenbluten 50%, Trismus 45%, Otitis 36%, Hirnnervenausfälle 25%.
951 76 · Seltene Tumoren
⊡ Tabelle 76.1. Anzahl der Meldungen an das Kinderkrebsregister Mainz für Kinder unter 15 Jahren im Zeitraum 1980–2003 (Persönliche Mitteilung: Dr. P. Kaatsch, Deutsches Kinderkrebsregister)
n
ICDO-2*
Ameloblastom
Malignes Ameloblastom
1
93103
Juveniles Nasopharynxangiofibrom
Angiofibrom
2
91600
Larynxpapillomatose
Papillomatose
5
80600
Lungentumoren
Plattenepithelkarzinom
1
80703
Karzinoid
2
82403
Mukoepidermoides Karzinom
5
84303
14
89723
Benignes Mesotheliom
1
90500
Malignes Mesotheliom
2
90503
Adenokarzinom
1
81403
Siegelringzellkarzinom
2
84903
Pneumoblastom Mesotheliome Magentumoren Pankreatoblastome
Kolorektale Karzinome
Neoplasma (unsicher, ob benigne oder maligne)
5
80001
Inselzellkarzinom
2
81503 81533
Malignes Gastrinom
1
Papillär-zystischer Tumor
6
84521
Azinäres duktales Karzinom
2
85503
Pankreatoblastom
5
89713
Karzinom
8
80103
Adenokarzinom
3
81403
Muzinöses Adenokarzinom
2
84803
2
84903
Siegelringzellkarzinom Nierenzellkarzinome
Adenokarzinom der Niere
Kaposi-Sarkome
Kaposi-Sarkom
Melanome (alle Lokalisationen)
Fibromatosen
28
83123
1
91493
Malignes Melanom
27
87203
Noduläres Melanom
2
87213
Amelanotisches Melanom
3
87303
Malignes Melanom bei präkanzeröser Melanose
1
87413
Superfiziell spreitendes Melanom
1
87433
Malignes Melanom in kongenitalem pigmentiertem Nävus
1
87613
Epitheloidzelliges Melanom
1
87713
Maligner blauer Nävuszellnävus
1
87803
4
88100
Aggressive Fibromatose
Fibrom
51
88211
Abdominale Fibromatose
1
88221
Desmoplastische Fibromatose
1
88231
27
88241
Fibröses Histiozytom
6
88300
Atypisches fibröses Histiozytom
8
88301
Dermatofibrom
2
88320
Myofibromatose
* International Classification of Diseases for Oncology, 2nd edition.
Diagnostik Die histologische Diagnose eines NPC wird in der Regel durch Biopsien aus dem Nasen-Rachen-Raum gestellt. Neben einer indirekten Spiegeluntersuchung ist die direkte Nasopharyngoskopie zur Festlegung des Lokalbefundes notwendig (Lupenendoskopie, Abstrichzytologie und gezielte Biopsieentnahme).Bei zervikaler Lymphknotenvergrößerung kann ein repräsentativer Lymphknoten entnommen werden.
Zur Ausbreitungsdiagnostik des Primärtumors (T-Stadium) und der Lymphknotenstationen (retropharyngeal, Schädelbasis, hoch zervikal und retroaurikulär) dient die Kernspintomographie (MRT), die meist eine gute Abgrenzung des Tumors von fazialem Muskelgewebe im T2-betonten Bild zeigt. Zur weiteren Ausbreitungsdiagnostik werden CT-Thorax-CT, Abdomensonographie, ggf. Abdomen-CT, Skelettszintigraphie sowie eine PET-Untersuchung durchgeführt.
76
952
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Epstein-Barr-Virus-Serologie. EBV spezifische Antikörper –
z. B. das Viruskapsidantigen (VCA) – lassen sich regelmäßig in Seren von NPC-Patienten nachweisen. IgA-Anti-VCA sind sehr spezifisch für das NPC, hohe Titer werden bei Diagnosestellung und bei Rezidiven gefunden. Ein Anstieg des Titers erweist sich als ein früher und sensitiver Rezidivmarker noch bevor das Rezidiv bzw. die Metastasierung klinisch manifest wird.
▬ »Low-risk«-Gruppe – Stadium I T1, N0, M0 – Stadium II T2, N0, M0 ▬ »High-risk«-Gruppe – Stadium III T3, N0, M0 oder T1–3, N1, M0 – Stadium IV T4, N0–3, M0 oder T1–4, N2, N3, M0 oder T1–4, N0–3, M1 Therapie
IV
»Early antigen«. 70% der Patienten mit NPC weisen einen Anti-EA-Antikörper vom IgA-Typ auf, dagegen nur 3% der Patienten mit anderen Malignomen. Mit einer relativ hohen Trefferrate kann IgA-EA zur Diagnosefindung eines undifferenzierten NPC bzw. zum Nachweis eines Rezidivs noch vor dem Auftreten einer klinischen Manifestation beitragen.
Klassifikation Die histologische Einteilung erfolgt nach der von Krüger und Wustrow modifizierten WHO-Klassifikation. Es wird zwischen dem Plattenepithelkarzinom (Typ I) und den lymphoepithelialen Karzinomen (Typ I bis III) unterschieden (Krüger u. Wustrow 1981). Die TNM-Klassifizierung des NPC erfolgt nach dem American Joint Committee on Cancer (AJCC 1992). TNM-Klassifikation des Nasopharynxkarzinom (AJCC): T1 Tumor auf einen Bezirk des Nasopharynx beschränkt T2 Tumor beschränkt auf 2 Bezirke T3 Tumor mit Ausdehnung auf die Nasenhaupthöhle und/oder den Oropharynx T4 Tumor mit Invasion der Schädelbasis und/oder mit Befall der Hirnnerven N0 Keine Evidenz für einen Befall regionärer Lymphknoten N1 Ipsilateraler einzelner Lymphknoten bis maximal 3 cm N2 Ipsilateraler Lymphknoten von 3–6 cm oder multiple ipsilaterale Lymphknoten <6 cm oder bilaterale Lymphknoten <6 cm N3 Lymphknoten >6 cm M0 Keine Evidenz für Fernmetastasen M1 Fernmetastasen vorhanden (Lunge, Knochen, Leber, andere Lokalisation)
Risikogruppen Für eine risikoadaptierte Therapie ist es notwendig, die Patienten hinsichtlich des Metastasierungsverhaltens und des daraus resultierenden Tumorstadiums in Risikogruppen einzuteilen. Nach den bisherigen Erfahrungen sind sowohl die Ausdehnung des Primärtumors auf die Nasenhaupthöhle und den Oropharynx als auch das Auftreten von Lymphknotenmetastasen mit einer signifikant schlechteren Prognose bei alleiniger Lokalbestrahlung assoziiert (Mertens et al. 1993). Anhand der bisher veröffentlichten Therapieergebnisse lassen sich 2 Risikogruppen definieren:
Chemotherapie. Mit einer multimodalen Behandlung ist die
Prognose der jungen NPC-Patienten entscheidend verbessert worden (Dimery et al. 1993; Ahern et al. 1994). Dabei spielt eine neoadjuvante Chemotherapie zur Vernichtung von Mikrometastasen eine entscheidende Rolle (Zubizarreta et al. 2000). Die erste multizentrische Studie zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit NPC (NPC-91) wurde 1992, gestützt durch die Gesellschaft für pädiatrische Hämatologie und Onkologie (GPOH), in Deutschland eingeführt. Für die neoadjuvante Chemotherapie wurden Methotrexat, Cisplatin und 5-Fluorouracil empfohlen, gefolgt von einer Strahlentherapie und einer Interferon-β-Behandlung. Strahlentherapie. Hinsichtlich der Bestrahlungsdosis und
des Bestrahlungsfeldes wurde das Strahlentherapiekonzept für adulte NPC-Patienten modifiziert übernommen. Durch die Einführung der oben genannten Chemotherapie konnten die Strahlentherapiedosen von ehemals 60–70 Gy auf 45–59 Gy gesenkt werden. Interferontherapie. Wegen der Virusgenese und EBV-Assoziation des NPC wurden in verschiedenen Pilotstudien Substanzen mit antiviralen, antiproliferativen und immunmodulierenden Eigenschaften (Interferone) eingesetzt. Der Index-Fall eines mit Chemotherapie und Bestrahlung vorbehandelten jungen Patienten mit Tumorprogression, bei dem Treuner und Mitarbeiter mit Interferon-β allein eine komplette Remission erreichten, sowie die Ansprechrate des Tumors auf eine Interferontherapie von 25% bei Patienten mit rezidiviertem NPC haben dazu geführt, die Interferontherapie in das Behandlungskonzept (NPC-91-GPOH-Studie) einzubinden (Treuner et al. 1980; Mertens et al. 1984). Die in dieser Studie erfolgte im Anschluss an die Bestrahlung die systemische Gabe von rekombinantem bzw. natürlichem Interferon-β in einer Dosis von 105 E/kg KG, 3×/Woche über ein halbes Jahr. Die guten Ergebnisse dieser Studien zeigen einmal mehr, dass durch den Einsatz einheitlicher multizentrischer Therapien die Prognose auch für seltene Tumorerkrankungen entscheidend verbessert werden kann. Cave Bei lang anhaltenden Kopfschmerzen, verstopfter Nase und eventuell persistierender zervikaler Lymphknotenschwellung unbedingt an ein Nasopharynxkarzinom denken.
76.2.2 Ameloblastom Das Ameloblastom ist ein Tumor, der aus den Epithelzellen der Zahnleiste hervorgeht und ein destruierendes Wachstum
953 76 · Seltene Tumoren
76.2.3 Juveniles Nasopharynxangiofibrom Das juvenile Angiofibrom (JNA) ist ein benigner, nicht verkapselter vaskularisierter Tumor, der überwiegend im Nasopharynx auftritt. Nur männliche Jugendliche erkranken an einem JNA; es macht ungefähr 0,5% aller Neubildungen im Kopf-Hals-Bereich aus (Batsakis et al. 1979). Die Pathogenese des JNA ist unklar. Aufgrund des ausschließlichen Befalls des männlichen Geschlechtes wird eine hormonelle Beeinflussung des Tumorwachstums diskutiert. Die Einteilung der Angiofibrome erfolgt nach der Fisch-Klassifikation, bei der als Stadium I ein auf den Nasopharynx (ohne Knochendestruktion) beschränkter Tumor definiert ist. Tumoren des Stadium IV weisen eine intrakranielle Invasion (Chiasma opticum oder Hypophysenloge) auf. Die Symptome des JNA sind unspezifisch wie behinderte Nasenatmung und Nasenbluten. Es können jedoch auch lebensbedrohliche Blutungen (massive Epistaxis/Hirnblutung bei intrakranieller Tumorausdehnung) auftreten. Therapie. Die Behandlung besteht in einer kompletten Resek-
tion des Gefäßtumors (Paris et al. 2001). Häufig wird im Rahmen der notwendigen präoperativen Angiographie eine Embolisation zur Vermeidung bedrohlicher intraoperativer Blutungen vorgeschaltet. Eine Bestrahlung sollte nur erfolgen, wenn der Tumor nicht komplett zu resezieren ist (Fisch u. Mattox 1988). ⊡ Abb. 76.1. Taubeneigroßer, glatt begrenzter, gefäßreicher Tumor des rechten Oberkiefers bei einem 2 Wochen alten Patienten
aufweisen kann (⊡ Abb. 76.1). In ca. 3% der Fälle neigt der Tumor zu Fernmetastasierung (Becelli et al. 2002; Verneuil et al. 2002). Er zeigt ein Nebeneinander von verschiedenen Zelltypen, wobei sowohl die Morphologie als auch die zu beobachtende Ausreifungstendenz eine Verwandtschaft mit dem Neuroblastom nahe legen. Die Pathogenese ist nicht bekannt. Molekulargenetische Veränderungen im Tumorgewebe wurden beschrieben (Heikinheimo et al. 2002). Nach einer ausführlichen Zusammenstellung über 158 Fälle von Cutler und Mitarbeiter tritt der Tumor vorwiegend in der Maxilla (69%) und an der Schädelbasis (11%) auf. In 95% der Fälle sind Kinder unter einem Jahr betroffen (Cutler et al. 1981). Wegen der unterschiedlichen histologischen Ausprägung sind mehrere Synonyma für diese ungewöhnliche Neoplasie gebräuchlich (Melanoameloblastom, melanotischer Anlagetumor, melanotischer neuroektodermaler Tumor des Säuglingsalters). Therapie. Die Therapie der Wahl ist die radikale Entfernung des Tumors. Bei nicht radikaler Entfernung wird eine Bestrahlung empfohlen, wobei jedoch das Risiko einer strahleninduzierten Wachstumshemmung des betroffenen Skelettabschnitts in Kauf genommen werden muss. Bei unzureichender Entfernung beträgt die Lokalrezidivrate bis zu 50% (Ord et al. 2002). Bei Inoperabilität kann eine Chemotherapie zur Tumorverkleinerung in Anlehnung an die Neuroblastombehandlung in Erwägung gezogen werden.
76.2.4 Larynxpapillomatose Die Larynxpapillomatose stellt die häufigste gutartige Neubildung im Larynxbereich dar (Armstrong et al. 2000). Es wird eine adulte und eine juvenile Form unterschieden. Ursache der Larynxpapillomatose ist eine wahrscheinlich intrapartal erworbene HPV-Infektion (humanes PapillomaVirus 6 und 11). Das Leitsymptom ist die persistierende Heiserkeit. Bei Kindern kann diese Erkrankung den gesamten Tracheobronchialbaum betreffen und in Form einer Lungenpapillomatose lebensbedrohlich verlaufen. Therapie. In der Regel werden die Papillome chirurgisch entfernt, häufig treten jedoch nach kurzer Zeit Rezidive auf. Nach eigenen Beobachtungen kann der zusätzliche Einsatz von Interferon-α i.m. besonders bei jungen Patienten die Rezidivfrequenz verringern und die intratracheale Ausbreitung verhindern (Aaltonen et al. 2002; Gerein et al. 1987). Neuerdings wird über eine erfolgreiche Kombinationsbehandlung aus Laserchirurgie und virustatischer Lokaltherapie mit Cidovovir berichtet (Chhetri et al. 2002). Gute Behandlungsergebnisse sind auch mit einer lokalen Injektion von Mumpsvakzine in der Kombination mit einer Karbondioxin-Laserbehandlung berichtet (Lieu u. Molter 2002).
76.3
Tumoren von Lunge, Pleura und Herz
76.3.1 Bronchialkarzinom Bronchialkarzinome treten im Kindesalter äußerst selten auf. Histologisch dominieren bei jungen Patienten Adeno-
76
954
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
karzinome der Lunge. Ungefähr 100 Kasuistiken werden in der Literatur beschrieben (Kaatsch 2003). An das Kinderkrebsregister in Mainz wurden im Zeitraum 1992–2001 keine Bronchialkarzinome, jedoch 9 Pneumoblastome gemeldet. 76.3.2 Pneumoblastom
IV
Das Pneumoblastom (Synonym: pleuropulmonales Blastom) ist ein seltener, aggressiv wachsender Lungentumor, der histologisch aus primitivem Blastem und malignem mesenchymalem Stroma besteht. Zytogenetisch findet sich häufig eine Polysomie des Chromosoms 8 in der mesenchymalen Tumorkompenente (Vargas et al. 2001). Pneumoblastome treten sowohl in Säuglings- als auch im späteren Kindesalter, selten jedoch im Erwachsenenalter auf. Dyspnoe und Husten sind die häufigsten initialen Symptome. Radiologisch zeigen die Tumoren meist zystische und solide Tumoranteile. Therapie. Therapie der Wahl ist eine möglichst vollständige Tumorentfernung. Ist diese nicht möglich, empfiehlt sich zusätzlich eine Strahlenbehandlung. Chemotherapieversuche mit Vincristin, Cyclophosphamid, Actinomycin D, Doxorubicin und Cisplatin haben sich bisher nicht als hilfreich erwiesen.
76.3.5 Mesotheliom Mesotheliome sind Tumoren, die von der Pleura, dem Peritoneum, seltener dem Perikard oder der Tunica albuginea ausgehen. Etwa 5% aller Mesotheliome treten im Kinderalter auf. Pleuramesotheliome werden häufiger bei Jungen, peritoneale Mesotheliome bei Mädchen diagnostiziert (Haliloglu et al. 2000). Bei Erwachsenen besteht ein offensichtlicher Zusammenhang mit einer Asbestexposition, wobei die Latenz zwischen Exposition und Erkrankungsbeginn oft mehr als 20 Jahre beträgt. Somit dürfte die Asbestätiologie bei jungen Patienten keine Rolle spielen. Auch werden Mesotheliome bei jungen Erwachsenen nach Bestrahlung im Kindesalter berichtet (Kelsey 1994). Bei Kindern ist die Ätiologie ungeklärt. Erstsymptome sind je nach Lokalisation Schmerzen, Husten, Dyspnoe, Aszites. Der Tumor neigt zu einer frühzeitigen Metastasierung. Bei disseminierter Erkrankung ist die Prognose ungünstig. Therapie. Therapeutisch wurde in Einzelfällen ein Ansprechen auf eine Cisplatin/Doxorubicin oder Ifosfamid gestützte Chemotherapie beschrieben (Berghmans et al. 2002; Mutafoglu-Uysal et al. 2002).
76.3.6 Herztumoren 76.3.3 Askin-Tumor Als Askin-Tumoren werden primitive neuroektodermale Tumoren (PNET) der Thoraxwand bezeichnet. Diese Entität wurde 1979 erstmals von Askin beschrieben (Askin et al. 1979). Therapie. Die Therapie folgt den Empfehlungen zur Behandlung von primitiven neuroektodermalen Tumoren anderer Lokalisation und besteht aus einer Kombination aus Operation, Chemotherapie und Bestrahlung ( Kap. 72).
76.3.4 Plasmazellgranulom Plasmazellgranulome (inflammatorischer Pseudotumor) treten bevorzugt in der Lunge jedoch auch im Gehirn, Skelettsystem und anderen Organen (z. B. Tonsillen, Adenoide) auf. Histologisch imponiert das Bild einer Entzündung mit Nachweis von Plasmazellen, Lymphozyten, Histiozyten, neutrophilen und eosinophilen Granulozyten sowie Riesenzellen. Darüber hinaus finden sich in den Pseudotumoren auch Fibroblasten, Myofibroblasten und hyaline Veränderungen (Phillip u. McKee 1996). Der klinische Verlauf ist variabel und reicht von spontaner Rückbildung bis zu ausgeprägter Organdestruktion. Therapie. Therapeutisch wird neben der operativen Entfernung des Pseudotumors ein abwartendes Verhalten genau so wie – bei Progression – eine immunsuppressive Behandlung und Strahlentherapie empfohlen.
Primäre Herztumoren treten ausschließlich bei jungen Kindern auf. Überwiegend werden gutartige Tumoren nachgewiesen. Die meisten Tumoren manifestieren sich in der linken Herzseite (70%; Zidere et al. 2002) In der Reihenfolge der Häufigkeit werden Rhabdomyome, Fibrome, Myome, Lipome und Hamartome gefunden. Das Rhabdomyom ist in 50% der Fälle mit einer tuberösen Sklerose (Bourneville-Krankheit) assoziiert (Elderkin u. Radford 2002). Kardiale Rhabdomyome neigen zur Spontanregression (Wu et al. 2002). Unter den malignen Tumoren werden Rhabdomyosarkome, Angiosarkome und Lymphome beobachtet ( Kap. 70). 76.3.7 Thymom Thymome sind seltene Neoplasien des Thymus. Nur in weniger als 10% treten sie vor dem 20. Lebensjahr auf und zeigen dann einen deutlich aggressiveren Verlauf als im Erwachsenenalter. Bekannte Assoziationen mit Autoimmunerkrankungen (Myasthenia gravis, Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis, Hypogammaglobulinämie, Thyreoiditis, »pure red cell aplasia«) oder Epstein-Barr-Virus-Infektionen werden im Kindesalter nur vereinzelt berichtet (Di Cataldo et al. 2000; Furman et al. 1985; Niehues et al. 1996). Krankheitssymptome sind Husten, Dyspnoe, Dysphagie, Engegefühl und schließlich Vena-cava-superior-Syndrom. Histologisch werden vorwiegend lymphozytische, lymphoepitheliale und vorwiegend epitheliale Tumoren beschrieben (Spigland et al. 1990). Nach Bergh werden 3 lokale Ausbreitungsstadien festgelegt (Bergh et al. 1978):
955 76 · Seltene Tumoren
▬ Stadium I: Tumor mit intakter Kapsel, ▬ Stadium II: perikapsuläres Wachstum in das mediastinale Fettgewebe, ▬ Stadium III: invasives Wachstum in umgebende Organe und/oder intrathorakale Metastasen. Fernmetastasierungen u. a. in Knochen, Leber, Nieren und Gehirn werden beschrieben (Spigland et al. 1990). Therapie. Die Therapie der Wahl besteht in einer möglichst vollständigen operativen Tumorresektion. Strahlen- und Chemotherapie werden bei fortgeschrittenen Tumorstadien eingesetzt (Spigland et al. 1990; Niehues et al. 1996). Die Prognose ist aufgrund des aggressiveren Wachstumsverhaltens im Kindesalter deutlich schlechter als bei erwachsenen Patienten.
zum sozioökonomischen Status. In Entwicklungsländern sind zum Teil mehr als 80% der Kinder HP-positiv. Weniger als 1% der HP-infizierten Individuen erkranken im späteren Lebensalter an einem Magentumor, so dass die Sinnhaftigkeit eines HP-Screenings mit nachfolgender genereller Eradikationsbehandlung kontrovers diskutiert wird (Imrie et al. 2001). Die klinische Symptomatik ist uncharakteristisch in Form von Übelkeit und persistierenden Schmerzen. Niedrig-maligne MALT-Lymphome des Magens weisen ein lokales Tumorwachstum auf und neigen im Gegensatz zu hoch-malignen Lymphomen nicht zu einer Disseminierung; im Krankheitsverlauf kann es jedoch zur Transformation in ein hoch-malignes Lymphom kommen. 20% der niedrigmalignen Lymphome enthalten auch hoch-maligne Anteile. Therapie. Therapeutisch erfolgt bei niedrig malignen Lym-
76.4
Gastrointestinale Tumoren
76.4.1 Ösophaguskarzinom Das Ösophaguskarzinom wird im Kindesalter sehr selten beobachtet. Während bei Erwachsenen starkes Rauchen und regelmäßiger Alkoholkonsum als Risikofaktoren bekannt sind, sind bei Kindern prädisponierende Faktoren BarrettÖsophagus bei chronischer Refluxkrankheit, Achalasie, Verätzung (Hassal et al. 1993). Auch im Rahmen syndromaler Erkrankungen können Ösophaguskarzinome beobachtet werden (Simon u. Hagedorn 1997). Symptome bei Diagnose sind Dysphagie, Schluckbeschwerden, Gewichtsabnahme, Erbrechen, Husten, Hämoptoe. Histologisch finden sich hauptsächlich Adenokarzinome und Plattenepithelkarzinome. Therapie. Neben einer operativen Therapie kommen auch
Strahlen- und Chemotherapie zum Einsatz. ! Die Entwicklung eines Barrett-Ösophagus mit dem Risiko einer Entartung zum Ösophaguskarzinom sollte durch konsequente medikamentöse bzw. operative Refluxbehandlung im Kindesalter vermieden werden.
76.4.2 Magentumoren Während im Erwachsenenalter Adenokarzinome über 90% aller malignen Magentumoren ausmachen, wurden an das Kindertumorregisters überwiegend Lymphome des Magens gemeldet. Dabei besteht eine enge Assoziation zu einer Helicobacter-pylori-Infektion (Imrie et al. 2001). Der Magen verfügt im Gegensatz zum Dünn- oder Dickdarm über kein eigenes lymphatisches Gewebe, eine Helicobacter-pylori-induzierte Gastritis bewirkt eine atopische Ausbildung intramukosaler Lymphfolikel (MALT: »mucosa associated lymphatic tissue«), die reaktiv proliferieren und so genannte Pseudolymphome bilden oder neoplastisch transformieren und zu einem malignen Lymphom werden können. Die Helicobacter-Infektion wird häufig bereits im Kindesalter erworben, dabei besteht eine strenge Assoziation
phomen im Stadium I lediglich eine HP-Eradikationstherapie. Der Stellenwert einer operativen Lymphomentfernung wird kontrovers diskutiert, für höhere Stadien bzw. hochmaligne Magenlymphome wird eine Chemotherapie, ggf. in Kombination mit einer Radiatio, empfohlen. Cave Anhaltende Oberbauchschmerzen sollten auch im Kindesalter Anlass zu einer endoskopischen Untersuchung geben.
76.4.3 Pankreatoblastom Pankreatoblastome sind seltene embryonale Tumoren des Kindesalters und enthalten sowohl exo- als auch endokrines Gewebe. Der Tumor kann im Pankreaskopf, -korpus oder -schwanz auftreten. Klinische Symptome sind neben einer palpablen Tumorschwellung, Oberbauchschmerzen oder Ikterus. Als Tumormarker können α1-Fetoprotein und LDH bei Diagnose und im Verlauf dienen (Willnow et al. 1996). Therapie. Therapie der Wahl ist eine möglichst vollstän-
dige chirurgische Tumorentfernung ohne Pankreatektomie. Chemotherapie und auch Radiotherapie sind bei primär inoperablem Tumor oder im Rezidiv indiziert. Bei primär inoperablem Tumor wird eine Chemotherapie mit Cisplatin und Doxorubicin empfohlen (Defachelles et al. 2001). 76.4.4 Kolorektales Karzinom Mehr als 20% der im Kindes- und Jugendalter auftretenden Karzinome sind kolorektale Karzinome (CRC). Für das Erwachsenenalter ist in den Industrieländern ein stetiger alterabhängiger Anstieg der CRC-Inzidenz ab dem 40. Lebensjahr zu verzeichnen. Für das Gebiet der BRD werden bei Erwachsenen 30.000 Todesfälle pro Jahr an CRC angegeben (Grothey et al. 2002). Im Kinderkrebsregister wurden von 1992–2001 8 Patienten mit CRC gemeldet. Histologisch finden sich im Erwachsenenalter in 85–90% Adenokarzinome (10% muzinöse Adenokarzinome), bei Kindern überwiegen muzinöse Adeno-
76
956
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
karzinome. Während genetisch determinierte Tumoren häufig im Colon ascendens lokalisiert sind, werden CRC bei Kindern überwiegend im Rektosigmoid gefunden. Mehr als ¼ aller Patienten mit CRC haben Verwandte mit der gleichen Tumorerkrankung. Eine erbliche Disposition (familiäre adenomatöse Polyposis, FAP; »hereditary non polyposis colorectal cancer«, HNPCC; hamartomatöse Polyposis) besteht bei 5–10% aller CRC-Patienten. 10–25% haben eine positive Familienanamnese, ohne dass die oben genannten Syndrome vorliegen. Auch eine lange bestehende chronisch-entzündliche Darmerkrankung wird als Risikofaktor angesehen. Einer vitamin- und ballaststoffreichen und fleischarmen Ernährung sowie regelmäßiger körperlicher Aktivität, Normgewichtigkeit und geringem Alkoholkonsum wird ein protektiver Effekt zugeschrieben. Zur Diagnose führende Symptome sind in erster Linie Stuhlunregelmäßigkeiten, abdominelle Schmerzen, Blutbeimengungen zum Stuhl. Zur Früherkennung werden neben der Testung auf fäkales okkultes Blut und regelmäßigen koloskopischen Untersuchungen für Risikopatienten kürzlich auch genetische Stuhltests zum Nachweis von Tumorzellen, die eine APC-Mutation tragen, in abgeschilferten Darmepithelien im Stuhl etabliert (Traverso et al. 2002).Die Stadieneinteilung erfolgt nach der UICC-Klassifikation bzw. nach Dukes (⊡ Tabelle 76.2).
76.4.5 Karzinoid
Therapie. Die Therapie des CRC ist in erster Linie chirurgisch
76.5.1 Kaposi-Sarkom
(onkologisch-radikale Tumorresektion unter Mitnahme der lokoregionären Lymphknoten entsprechend der Gefäßversorgung des Kolons (De Vita et al. 1997). Für die Stadien I und II ist der Wert einer zusätzlich zur Operation durchgeführten Chemotherapie nicht erwiesen. Im Stadium III und IV wird eine Chemotherapie mit 5-FU und Leucovorin, ggf. zusätzlich mit Irinotecan, über 6 (bis 12) Monate empfohlen. Eine an das Kindesalter adaptierte Studie wurde bereits 1999 von Pratt et al. (1999) veröffentlicht. Die dort noch zusätzlich empfohlene Interferonbehandlung wurde zwischenzeitlich wieder verlassen.
Karzinoidtumoren sind epitheliale Tumoren unterschiedlicher Dignität. Bei Kindern werden sie am häufigsten als Appendixkarzinoide im Rahmen einer Appendektomie gefunden und verhalten sich hier in der Regel benigne. Sie können aber auch in Lunge, Leber, Lymphknoten und multifokal auftreten sowie metastasieren (Russell et al. 2003). Das Karzinoidsyndrom mit Flush, Diarrhö, Koliken, Malabsorption und Bronchospasmus tritt nur bei metastasierter Erkrankung auf und wird durch die Freisetzung von Bradykinin, Hydroxytryptophan, Prostaglandinen, VIP, Histamin oder Serotonin verursacht. Diagnostisch ist die Bestimmung von 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA) im Sammelurin hilfreich ( Kap. 75). Therapie. Die Therapie ist operativ, bei fortgeschrittener Er-
krankung kommen auch Chemotherapie und gegebenenfalls MIBG-Therapie zum Einsatz (Bucsky 1997). Therapierichtlinien für das Kindesalter werden in der GPOH-Studie für die Behandlung maligner endokriner Tumoren im Kindes- und Jugendalter GPOH-Met 97 festgelegt. 76.5
Tumoren der Haut
Das Kaposi-Sarkom ist ein vom Gefäßendothel ausgehender Tumor, der insbesondere bei AIDS-Patienten auftritt. Endemische Kaposi-Sarkome wurden in Afrika beschrieben (Tulpule et al. 2002). In seltenen Fällen treten Kaposi-Sarkome auch unter Immunsuppression nach Organtransplantationen oder bei primärem Immundefekt (eigene Beobachtung) auf. Ätiologisch wird eine Infektion mit humanen Herpesviren (HHV-8-Infektion) angenommen (Jenson 2003). Neben der Haut können auch Schleimhäute und innere Organe betroffen sein. Im Kindesalter wird häufiger eine lymphadenopathische Verlaufsform beobachtet (Simmers 1992).
Cave Bei rezidivierenden, blutigen Stühlen sollte neben akut – und chronisch – entzündlichen Darmerkrankungen auch bei Kindern und Jugendlichen an ein CRC gedacht werden.
Therapie. Neben der Behandlung der Grundkrankheit wird bei disseminierter Erkrankung mit Schleimhaut- und Organbeteiligung eine Chemotherapie mit liposomalen Antrazyklinen, Bleomycin und Vincristin eingesetzt. Auch über
⊡ Tabelle 76.2. Stadieneinteilung der kolorektalen Karzinome
UICC
Dukes
TNM
0
A
Tis
I
A
T1
5-Jahres-Überlebensrate N0
M0 90%
T2 II
B
T3
60–80%
T4 III
IV
C
D
T1, T2
N1, N2
T3
N1, N2
T4
N1, N2
Jedes T
Jedes N
30–60%
M1
5%
957 76 · Seltene Tumoren
positive Effekte einer Paclitaxel-Behandlung bei vorher nicht chemotherapiesensiblem Tumor wurde berichtet (Tulpule et al. 2002). Ein eigener Patient mit disseminiertem KaposiSarkom bei primärem T-Zelldefekt befindet sich nach allogener Knochenmarkstransplantation in anhaltender Remission.
76.6.2 Juvenile hyaline Fibromatose
Zwischen 1992 und 2001 wurden dem Kindertumorregister in Mainz 18 Patienten mit malignem Melanom (14 Hautmelanome) gemeldet. 2% aller Melanome treten bei Kindern und Jugendlichen unter 20 Jahren auf. Die Inzidenz ist in den letzten 20 Jahren zunehmend, eine vermehrte Sonnenexposition wird als Risikofaktor angesehen (Hamre et al. 2002).
Die juvenile hyaline Fibromatose (JHF) ist eine sehr seltene autosomale rezessiv vererbte Erkrankung. Sie tritt hauptsächlich im Säuglings- und Kleinkindalter zwischen dem 3. Lebensmonat und 4 Jahren auf. Das klinische Bild ist durch eine papulonoduläres Exanthem und einer Gingivahypertrophie charakterisiert. Zudem treten Kontrakturen der großen Gelenke auf. Vereinzelt werden auch Knochenläsionen beobachtet. Pathogenethisch liegt ein Defekt in der Kollagensynthese vor (Winik et al. 1998). Differenzialdiagnostisch muss das JHF von einer kongenitalen generalisierten Fibromatose unterschieden werden, bei der man bereits bei der Geburt multiple Tumoren in der Haut und in der Subcutis findet. Ebenso können diese Tumoren im Gastrointestinaltrakt, in der Lunge und im Herzen lokalisiert sein.
Therapie. Neben der chirurgischen Therapie bei lokalisierter
Therapie. Die Behandlung der JHF besteht in einer weit-
Erkrankung konnte in verschiedenen Studien bei Patienten im Stadium II und III ein Überlebensvorteil durch eine Interferon-α-Τherapie nachgewiesen werden (Grob et al. 1998). Bei metastatischer Erkrankung kommen zusätzlich Chemotherapie und Strahlentherapie zum Einsatz. Die Prognose bei metastasierter Erkrankung ist schlecht und unterscheidet sich nicht von der des Erwachsenen (Wu u. Lambert 1997).
gehenden Exzision der Tumoren. Meist werden die Operationen aus kosmetischen Gründen durchgeführt. Bei nicht ausgedehnter chirurgischer Entfernung neigen diese Tumoren zu Lokalrezidiven. Es wird auch berichtet, dass diese Tumoren spontan mit zunehmenden Alter regredieren können (Larralde et al. 2001).
76.5.2 Malignes Melanom
! Prophylaktische Maßnahmen (Sonnenschutz) sowie Begutachtung melanozytischer Hautveränderungen bei Kindern durch Zusammenarbeit von Pädiatern und Dermatologen sollte zu einer frühzeitigen Therapie und somit besserer Prognose führen.
76.6
Fibromatosen
76.6.1 Aggressive Fibromatose Aggressive Fibromatosen (AF) werden in eine große Gruppe gutartiger, fibröser Gewebeproliferationen unterteilt. Sie sind selten mit einer Inzidenz von 2–4/1 Mio. Einwohner/Jahr und gutartig, jedoch mit der Fähigkeit in das umgebende Gewebe zu infiltrieren. Sie neigen bei nicht radikaler chirurgischer Entfernung zu Lokalrezidiven. Prädilektionslokalisation ist der Kopf-Hals-Bereich. AF treten meist bei jungen Patienten in den ersten 8 Lebensjahren, besonders häufig in den ersten beiden Jahren auf (Jain u. Agarwal 2001). Obwohl das histologische Bild in den einzelnen Entitäten ähnlich ist, werden sie in Subtypen untergliedert, da sie unterschiedliche klinische Charakteristika und Verläufe aufweisen: diffuser oder mesenchymaler, zellulärer oder fibroblastischer sowie desmoider Typ. In desmoiden Tumoren werden häufig Chromosomenaberrationen (Trisomie 8 sowie ein Stückverlust 5q) nachgewiesen (De Wever et al. 2000).
76.7
Desmoplastische Rundzelltumoren sind seltene, jedoch sehr aggressiv wachsende Neoplasien, die hauptsächlich bei Kindern und Jugendlichen auftreten. Sie sind durch eine Translokation t(11; 22)(p 13; q12) charakterisiert. Histologisch weist der Tumor Nester von kleinen Rundzellen auf, die in desmoplastischen Stroma eingebettet sind. Die Tumorzellen selbst sind positiv für epitheliale, muskuläre und neuronale Marker (Lae et al. 2002). In 90% der Tumoren lässt sich das EWS-WT1-Genfusiontranskript nachweisen (Carpentieri et al. 2002). Am häufigsten ist das Peritoneum betroffen. In seltenen Fällen können auch die Ovarien befallen sein (Slomovitz et al.2000). Therapie. Prinzipiell sind die desmoplastischen Rundzell-
tumoren chemotherapiesensibel. Die Prognose ist mit einer konventionellen Chemotherapie jedoch sehr schlecht. Empfohlen wird eine Hochdosischemotherapie mit anschließendem Stammzellsupport (Kurre et al. 2000). Grundsätzlich sollten die Patienten mit desmoplastischen Rundzelltumoren kombiniert mit einer Kombination von intensiver Chemotherapie, einer lokalen Bestrahlung und einer Operation behandelt werden. Die Prognose wird entscheidend von der Möglichkeit einer radikalen operativen Entfernung des Tumorgewebes und einer intensiven Chemo- und Radiotherapie bestimmt (Bisogno et al. 2000).
Therapie. Frühzeitig sollte eine chirurgische radikale Entfer-
nung angestrebt werden. Bei nicht operablen Tumoren oder Rezidiven wird eine Radiotherapie eventuell mit Chemotherapie kombiniert empfohlen. Bei der desmoiden Variante konnten gute Ergebnisse mit einer niedrig dosierten Chemotherapie (Vinblastin und Methotrexat) erzielt werden (Reich et al. 1999; Kap. 70).
Desmoplastischer Rundzelltumor
76.8
Rhabdoidtumor
Rhabdoidtumoren manifestieren sich überwiegend in den Nieren ( Kap. 69), aber auch als atypische teratoide/rhabdoide Tumoren (AT/RT) im Zentralnervensystem (Fenton u. Foreman 2003; Kap. 66). Die Rhabdoidtumoren sind seltene
76
958
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
Tumoren im Kindesalter mit einem sehr aggressiven Wachstum. Im Vergleich zu allen Tumoren im Kindesalter sind sie hoch-maligne. Häufig ist der Rhabdoidtumor assoziiert mit einer Deletion des Chromosoms 22 (Warton et 2003). Die Prädilektionslokalisation des ZNS-Rhabdoidtumors ist die hintere Schädelgrube und täuscht so ein Medulloblastom vor. Histochemisch kann ein AT/RT eindeutig vom einem PNET /Medulloblastom durch den Nachweis von epithelialen Markern, Vimentin und Muskelactin abgegrenzt werden. Zudem fehlen die germinalen Tumormarker. Bereits 1/3 der Patienten mit AT/RT weisen bei Diagnosestellung eine ZNSDisseminierung auf (Marick et al. 2003). Therapie. Die Standardtherapie des Medulloblastoms erweist sich als ineffektiv. Therapeutisch sollte eine radikale Operation angestrebt werden, anschließend wird eine Hochdosischemotherapie mit autologer Stammzelltransplantation empfohlen.
76.9
Nierenzellkarzinom
Nierenzellkarzinome Synonyma: Adenokarzinom der Niere, Hypernephrom) machen weniger als 10% der Nierentumoren im Kindesalter aus. Sie treten meist in der 2. Lebensdekade auf. Häufigste zur Diagnose führende Symptome sind Tumorschwellung oder Hämaturie. Bildgebend kann die Unterscheidung von einem Wilms-Tumor schwierig sein. Hinweise sind ggf. Lebensalter, Hämaturie bei kleinem Tumorvolumen oder ein mangelndes Ansprechen auf die präoperative Wilms-Tumor-Chemotherapie. Therapie. Therapie der Wahl ist eine radikale Nephrektomie mit Lymphknotendissektion. Die Prognose ist abhängig vom initialen Tumorstadium und der Operabilität. Patienten im Stadium I und II haben eine günstige Prognose, im Stadium III mit regionalen Lymphknotenmetastasen und Stadium IV werden postoperative adjuvante Therapieverfahren (Interferon-α, Interleukin-2) eingesetzt. Die Prognose in fortgeschrittenen Stadien ist ungünstig. Chemotherapieversuche haben sich als nicht hilfreich erwiesen ( Kap. 69).
76.10
Unbekannter Primärtumor
Bei erwachsenen Tumorpatienten kann in 5–10% der Fälle trotz Einsatz moderner diagnostischer Verfahren kein Primärtumor (»cancer of unknown origin«, CUP) gefunden werden (Regelink et al. 2002). Erstsymptome sind in der Regel zervikale Lymphknotenmetastasen. Histologisch handelt es sich meist um Plattenepithelkarzinome, undifferenzierte Karzinome oder Adenokarzinome. Bei Kindern ist in weniger als 1% der Erkrankungen kein Primärtumor zu detektieren. Hier kommen neben den oben genannten Entitäten auch Rhabdomyosarkome oder Neuroblastome vor (Motzer et al. 1995). Neben den modernen diagnostischen Maßnahmen (Computertomographie, Kernspintomographie, Endoskopie) stellt heute die FDG-PET eine wertvolle Erweiterung des diagnostischen Spektrums in der Primärtumorsuche dar. In verschiedenen Studien konnten mittels FDG-PET bisher unentdeckte Primärtumoren sowie noch nicht detektierte
Fernmetastasen gefunden werden (Albertini et al. 2003; Trampal et al. 2000). Die häufigste Lokalisation waren Lunge und Pankreas (Pavlidis et al. 2003). Die PET-Untersuchung sollte auch bei pädiatrischen Patienten mit unklarem Primärtumor zum Einsatz kommen um eine art- und stadiengerechte Therapie durchführen zu können.
Die in diesem Kapitel aufgeführten Erkrankungen stellen auch den erfahrenen Kinderonkologen bisweilen vor Probleme bezüglich notwendiger Diagnostik und therapeutischer Optionen. Daher erscheint es sinnvoll, diese im Kindesalter seltenen onkologischen Erkrankungen zentral zu sammeln, um standardisierte Therapierichtlinien zu erarbeiten, die auf möglichst breiter klinischer Erfahrung basieren.
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76
960
IV
Spezielle pädiatrische Onkologie: Solide Tumoren
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V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie 77
Notfälle
– 963
C. Urban, J. Ritter
78
Intensivtherapie
– 972
A. Borkhardt
79
Infektionen
– 978
A.H. Groll, A. Simon, T. Lehrnbecher
80
Blutungen und Thromboembolien
– 1010
V. Witt
81
Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren – 1021 T. Lehrnbecher
82
Transfusionsmedizin
– 1032
W. Ebell, A. Salama
83
Ernährung
– 1043
S. Buderus, M.J. Lentze
84
Behandlung von Übelkeit und Erbrechen – 1053 L. Kager, C. Langebrake
85
Schmerztherapie
– 1059
B. Zernikow
86
Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen – 1070 H. Labouvie, G. Bode
87
Komplementäre und alternative Therapieverfahren – 1077 B. Krammer, A. Längler
963
Notfälle C. Urban, J. Ritter
77.1 77.2 77.3 77.4 77.5 77.6 77.7 77.8 77.9 77.9.1 77.9.2 77.9.3 77.9.4
Einleitung – 963 Zellzerfallssyndrom – 963 Hyperleukozytose – 964 Granulozytopenie und Fieber – 965 Septischer Schock – 965 Disseminierte intravasale Gerinnung – 966 Trachealkompression und obere Einflussstauung – 966 Untere Einflussstauung – 966 Zentralnervöse Notfälle – 968 Akuter Hirndruck – 968 Krampfanfälle – 968 Zerebrovaskuläre Komplikationen und Sinusvenenthrombose – 968 Rückenmarkkompression – 969
Literatur
– 970
Tumorassoziierte Notfälle:
Einen Überblick über die Häufigkeit onkologischer Notfälle in Abhängigkeit von der Grunderkrankung gibt ⊡ Tabelle 77.1.
77.2 Der 12-jährige Junge leidet seit 3 Wochen an zunehmender Dyspnoe, besonders im Liegen. Unter Annahme einer Bronchitis wird zunächst ambulant eine Antibiotikatherapie eingeleitet, die zu keiner Besserung führt. Ein Röntgenbild des Thorax wird zunächst als ausgeprägte Kardiomegalie fehlgedeutet, bei Anfertigung einer seitlichen Aufnahme zeigt sich dann jedoch ein großer mediastinaler Tumor mit Pleuraerguss. Der Patient wird in die nächstgelegene Kinderklinik eingewiesen. Hier findet sich eine ausgeprägte obere Einflussstauung. Das Blutbild sowie eine Knochenmarkpunktion in Lokalanästhesie im Sitzen ergeben keine pathologischen Befunde. Die nachfolgende Ultraschallgesteuerte Punktion des Pleuraergusses ergibt zytologisch die Diagnose eines lymphoblastischen T-Non-HodgkinLymphoms. Nach Einleitung der Chemotherapie kommt es zu einer raschen Besserung des kritischen Zustandes. Der Patient befindet sich 12 Jahre nach Diagnosestellung in anhaltender Erstremission seines T-NHL.
77.1
Einleitung
Onkologische Notfälle sind durch maligne Erkrankungen bzw. deren Therapie bedingte lebensbedrohliche Zustände, die durch anatomische oder metabolische Veränderungen ausgelöst sind und unmittelbarer medizinischer Intervention bedürfen.
Zellzerfallssyndrom Hyperleukozytose Septischer Schock Disseminierte intravasale Gerinnung Trachealkompression und obere Einflussstauung Untere Einflussstauung Akuter Hirndruck Krampfanfälle Zerebrovaskuläre Komplikationen Rückenmarkkompression
Zellzerfallssyndrom
Ein Tumorzellzerfall kann bereits vor Therapie, häufiger jedoch nach Einleitung einer Therapie auftreten und führt zum raschen Freiwerden von intrazellulären Substanzen wie Kalium, Phosphor und Purinabbauprodukten mit Hyperkaliämie, Hyperphosphatämie, Hypokalziämie, Hyperurikämie und durch Ausfall von Kalziumphosphat und Uraten in der Niere zum Nierenversagen. Aufgrund der hohen Chemotherapiesensitivität und der meist sehr hohen Tumorlast sind Burkitt-Lymphome und T-Zell-Lymphome bzw. -Leukämien die häufigsten Ursachen für ein Tumorzellzerfallssyndrom. Allgemeine Therapie. Wesentlich ist die Initiierung und Aufrechterhaltung eines hohen Urinflusses (100–250 ml/m2/h) und eines Harn-pH-Wertes zwischen 7 und 7,5 durch anfangs kaliumfreie Infusionen mit 3000–6000 ml/m2/24 h (z. B. 500 ml Glukose 5% plus 500 ml NaCl 0,9% plus 40 mVal Natriumbikarbonat/l), bevor die zytoreduktive Vorphase begonnen wird. Mittels Uratoxidase kann die Harnsäure rasch enzymatisch abgebaut werden. Kurzfristige Elektrolytkontrollen (3-stündlich) und Monitoring der Patienten sind erforderlich, um eine allfällige Hyperkaliämie rechtzeitig erkennen und behandeln zu können. Gelingt es trotz entsprechender Flüssigkeitszufuhr und Furosemid nicht, eine ausreichende Harnausscheidung in Gang zu setzen, müssen rechtzeitig Vorbereitungen für eine Hämodialyse getroffen werden. Es liegt dann wahrscheinlich eine ausgedehnte Infiltration der Nieren oder eine Obstruktion der ableitenden Harnwege vor bzw. eine Harnsäure- oder Kalziumphosphatnephropathie steht zusätzlich bevor.
77
964
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
Die frühzeitige Information von Intensivstation/Nephrologie ist für den raschen, reibungslosen Ablauf der Hämodialyse (dialysetauglicher ZVK, Vorbereitung der Maschine etc.) wichtig.
++
+
++ +
+
+++
+ +
+
+ +++
+
+ +
+
+
+ + +
+
Krämpfe
Metabolische Situation und Volumenstatus entscheiden weit mehr als der absolute Wert des Serumkreatinin. Serumkalium zwischen 6–7 mmol/l trotz zuvor erwähnter Therapie, Zeichen der Hypervolämie (Lungenödem). Oligurie über 4–6 h trotz maximaler Diuresestimulation bis 10 mg/kg/Tag Furosemid i.v. (keine weiter Gabe von Furosemid, da dann toxisch). Die Harnsäure ist meist kein wesentliches Entscheidungskriterium mehr, da diese bei frühzeitiger (obligater) Gabe von Uratoxidase kein Problem mehr sein dürfte.
++ +++ sehr häufig, ++ häufig, + selten.
+++
Hepatoblastom
++ +
+
Wilms-Tumor
Weichteilsarkom
Knochensarkom
+++ Neuroblastom
+++
++
++ Hirntumor
Morbus Hodgkin
++
+++ +++ T-NHL
+++ +++ B-NHL
++
+++
++
++ AML
ALL
++
+++
77.3
Hyperleukozytose
Granulozytopenie/ Sepsis
plikation des Zellzerfallssyndroms ist die Hyperkaliämie, die innerhalb von Stunden eintreten kann mit Auftreten von ventrikulären Arrhythmien und der Gefahr der Asystolie. Sofortmaßnahmen sind Diuresesteigerung, Furosemid, Resonium 0,5–1 g rektal bzw. p.o., Kalziumglukonat 10% 1 ml/kg langsam i.v. und Natriumbikarbonat 8,4% 1–2 ml/kg i.v. Durch Gabe von 0,3 IE Altinsulin/kg plus Glukose 1 g/kg in 30 min i.v. kommt es zu Kalium- und Glukoseeinstrom in die Zelle; Kalium flutet jedoch nach 2–4 h wieder zurück. Deshalb ist diese Maßnahme nur als Zeitüberbrückung bis zur Dialyse geeignet. Indikationen zur Hämodialyse:
Zellzerfallssyndrom
⊡ Tabelle 77.1. Häufigkeit onkologischer Notfälle bezogen auf die Grundkrankheit
Obere/untere Einfluss-Stauung
V
Akuter Hirndruck
Zerebrovaskuläre Komplikation
Rückenmarkkompression
Therapie Hyperkaliämie. Die akut lebensbedrohliche Kom-
Hyperleukozytose
Durch Hyperleukozytose kann es zur Leukostase in Lungenund Hirngefäßen kommen. Die Inzidenz der Hyperleukozytose wird mit 9–13% bei ALL und 5–22% bei AML angegeben. Durch die resultierende Hypoxie der Gefäßwand können massive Blutungen entstehen. Das Risiko korreliert direkt mit der erhöhten Blutviskosität, bedingt durch die verminderte Verformbarkeit der leukämischen Blasten. Myeloblasten und Monoblasten sind größer und weniger verformbar als Lymphoblasten und CML-Granulozyten; daher sind Patienten mit akuter myeloischer Leukämie am meisten gefährdet. Die zumeist betroffenen Organe des Hyperviskositätssyndroms durch Hyperleukozytose sind: ▬ Lunge: pulmonale Insuffizienz mit Tachypnoe, Dyspnoe, Zyanose und diffusen interstitiellen Infiltraten, ▬ ZNS: Stupor, Sprachstörungen, Ataxie, Nystagmus, ▬ Augen: Visusverschlechterung, Doppelbilder, Stauungspapille Die Blutungsgefahr bei der AML wird noch erhöht durch die unter Umständen bereits bei Diagnose bestehende plasmatisch-fibrinolytische Gerinnungsstörung sowie durch metabolische und hämostasiologische Störungen im Rahmen des Zellzerfalls in der Anfangsphase der Induktionstherapie.
965 77 · Notfälle
Cave Eine Erniedrigung der Plasminogens unter 60% und eine Blastenzahl über 100.000/µl gelten als Risikofaktoren für eine drohende Gehirnblutung.
Therapie. Es werden kaliumfreie Infusion mit 3000 ml/m2/
24 h wie beim akuten Zellzerfallssyndrom verabreicht sowie Gerinnungsstatus einschließlich Fibrinogen, Plasminogen, ATIII sowie Globaltests durchgeführt. Das Gerinnungsdefizit wird durch 30–50 ml/kg FFP (»fresh frozen plasma«) pro 2 h, verteilt auf 3 Einzeldosen, ausgeglichen. Die Leukozytenzahl ist durch kontinuierliche Austauschtransfusion (doppeltes Blutvolumen) zu senken, der Hämoglobingehalt zur Viskositätsverminderung eher niedrig zu halten (um 8 g/dl). Dazu werden bestrahlte Erythrozytenkonzentrate mit isoagglutininfreiem FFP (1:3) verdünnt. Die Perfusoreinstellung in ml Bluteinfuhr/min entspricht der gleichzeitigen Perfusoreinstellung in ml Blutausfuhr/min aus einer großen Vene oder besser Arterie (z. B. A. radialis). Eine Leukapherese ist aufgrund der erhöhten Gefahr von Hirnblutungen zu vermeiden. Während der Austauschtransfusion und initialen Zytoreduktion müssen die Thrombozytenwerte über 60.000/mm3 gehalten werden. Bei Patienten mit AML erfolgt die zytoreduktive Chemotherapie mit Hydroxyurea 20 mg/kg p.o. 12-stündlich über 2 Tage und/oder ARA-C 40 mg/m2/Tag s.c. oder i.v. Bei Patienten mit ALL wird bei Hyperleukozytose die initiale Kortikosteroidtherapie einschleichend dosiert. 77.4
77
drohenden septischen Schocks ist das Fieber, gefolgt von Blutdruckabfall. Bedingt durch die infektiös-toxische Vasodilatation wirkt die Haut trotzdem warm und gut durchblutet (»warmer Schock«). Bei Nichteinleiten einer sofortigen, breiten antibiotischen Therapie besteht die Gefahr des irreversiblen septischen Schocks mit hoher Mortalität. Therapie. Zugleich mit der Abnahme von Blutkulturen (getrennte Abnahme aus peripheren Venen und Zentralvenenkatheterlumina), Abstrichen von Rachen, Haut, Schleimhaut, Anus und verdächtigen Infektionsherden, Stuhl- und Harnkulturen, sowie Virustiter sowie – falls verfügbar – VirusPCR, Pilz-PCR und Pilzantigenbestimmung muss unverzüglich mit einer breiten antibiotischen Therapie gegen Grampositive und -negative Keime begonnen werden. Sie ist auf die spezielle Keimsituation des Patienten und der Klinik abzustimmen (z. B. Carbapeneme, Piperacillin/Tazobactam oder Cefepim, bei Pseudomonasverdacht plus Aminoglykosid, zusätzlich bei Verdacht auf Katheterinfektion Vancomycin bzw. Teicoplanin). Bei Weiterbestehen des Fiebers über mehr als 4 Tage ohne lokalisierende Symptome sollte unter der Verdachtsdiagnose Pilzinfektion zusätzlich liposomales Amphotericin verabreicht werden sowie bei Verdacht auf Anaerobierinfektion zusätzlich Metronidazol. Bei Nichtansprechen auf die antibiotische Therapie, Auftreten von Husten/Hämoptysen bzw. pathologischen Röntgenbefunden der Lunge sind weiterführende diagnostische Maßnahmen (CT-Thorax, Bronchoalveolar-Lavage) erforderlich. Ein relevanter mikrobiologischer Befund ist oft erst aus Gewebe (Lungenbiopsie) möglich.
Granulozytopenie und Fieber 77.5
Das Risiko einer schweren Infektion korreliert mit der absoluten Zahl an neutrophilen Granulozyten (ANC) und ist besonders hoch bei einer schweren Granulozytopenie (ANC<200/mm3). Die anfänglich einzige Manifestation des
Septischer Schock
Der septische Schock ist meist durch Gram-negative Erreger aus der patienteneigenen Flora durch Verletzung von Schleimhautbarrieren bzw. durch Gram-positive Bakterien (Verlet-
a ⊡ Abb. 77.1a, b. Patientin mit septischem Schock in der Aplasiephase nach Induktionstherapie einer AML. a Bei der klinischen Untersuchung findet sich eine gangränöse, äußerst schmerzhafte Läsion in Anogenitalbereich mit rasch fortschreitender erysipelartiger Rötung. Der Keimabstrich ergibt Pseudomonas aeruginosa. b Nach sofortiger breitantibiotischer Therapie und erfolgreichem Management des septischen Schocks entsteht nach Blutbildregeneration ein ausgestanzter Gewebsdefekt, der langsam ausgranuliert. Nach Weiterführung der AML-Therapie befindet sich die Patientin seit 6 Jahren in Remission
b
966
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
zung der Hautintegrität durch Venenkatheter) bedingt. Durch Freisetzung von Endotoxinen kommt es zu Vasodilatation, »capillary leak«, Blutdruckabfall, disseminierter intravasaler Gerinnung, Schocklunge und als Folge der Gewebshypoxämie zu schwerer metabolischer Azidose, Ikterus und Oligurie. Die Patienten sind schockiert, tachykard, tachypnoisch, ängstlich, unruhig und verwirrt.
V
Therapie. Die Therapie besteht neben breiter antibiotischer Therapie aus der Suche nach eventuellen Erregereintrittspforten im Anogenitalbereich, Kathetereintrittsbereich, intraabdomineller Perforation etc. Die Kreislaufstabilisierung besteht aus Volumensubstitution unter Zentralvenendruckmessung, Sauerstoffzufuhr, Digitalisierung, Dopamin, Kortikoiden in hohen Dosen (zur Unterdrückung der Zytokinausschüttung als Reaktion auf bakterielle Toxine) und Therapie der disseminierten intravasalen Gerinnung. G-CSF und Leukozytenkonzentrate können zusätzlich zur Überbrückung der Aplasiephase eingesetzt werden (⊡ Abb. 77.1).
pnoe und Lufthunger. Tastbare supraklavikuläre, zervikale und generalisierte Lymphknoten können vorhanden sein (⊡ Abb. 77.2). Die Diagnose sollte aufgrund des erhöhten Narkoserisikos durch den geringsten invasiven Eingriff erreicht werden. So kann bereits das Blutbild in Verbindung mit erhöhten Harnsäure- und Serum-LDH-Werten den Hinweis auf eine Leukämie ergeben und die Diagnose durch eine schonende Knochenmarkpunktion in Lokalanästhesie bewiesen werden. Bei Pleura- oder Perikarderguss sowie tastbaren Lymphknotenvergrößerungen stellt die Pleura- bzw. Perikardpunktion bzw. Lymphknotenbiopsie in sitzender Position in Lokalanästhesie das geringste Risiko dar und führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Diagnose. Die Diagnose von mediastinalen Keimzelltumoren kann aufgrund erhöhter Tumormarker im Serum (αI-Fetoprotein, β-HCG, humane plazentare alkalische Phosphatase) gestellt werden. Therapie. Wenn eine primäre Diagnostik wegen des bedroh-
77.6
Disseminierte intravasale Gerinnung
Im Rahmen der disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) kommt es zur Bildung von Fibringerinnseln in der Mikrozirkulation und in weiterer Folge zu generalisierten kontinuierlichen Blutungen durch Verbrauch von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten. Die Aktivierung der Gerinnung im septischen Schock wird durch Endotoxine bzw. durch das Freiwerden von Gewebsfaktoren im Rahmen des Tumorzellzerfallssyndroms, des Hyperleukozytosesyndroms und der Promyelozytenleukämie verursacht. Therapie. Die Gerinnungslaborwerte zeigen eine Verlänge-
rung der Prothrombinzeit (PT) und partiellen Thromboblastinzeit (PTT), niedrige Thrombozytenzahl, niedrige Fibrinogenspiegel und erhöhte Fibrinspaltprodukte. Da die Veränderungen der plasmatischen Gerinnung multifaktoriell sind, sollten nicht einzelne Faktoren, sondern FFP, 30–50 ml/kg/ 24 h in 3 Einzeldosen, sowie zur Korrektur der Anämie und Thrombozytopenie Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentrate substituiert werden. Die DIC ist eine lebensbedrohliche Erkrankung und kann letztendlich nur beherrscht werden, wenn die zugrunde liegende Ursache beseitigt wird. Bei der Promyelozytenleukämie ist es durch den Einsatz von Retinoiden möglich geworden, die Blasten zur Ausdifferenzierung zu bringen und damit die Blutungsprobleme in der Anfangsphase der Induktionstherapie zu vermeiden. Der Nachteil dieser Retinoidtherapie ist jedoch die mögliche Hyperleukozytose und das so genannte ATRA-Syndrom. 77.7
Trachealkompression und obere Einflussstauung
Die häufigsten Ursachen sind Hodgkin-, Non-HodgkinLymphome und T-Zell-Leukämien. 12% aller Patienten mit Mediastinaltumor entwickeln eine obere Einflussstauung. Symptome sind ein plethorisches, geschwollenes Gesicht mit gestauten Halsvenen, Stauungspapille sowie Husten, Dys-
lichen Zustandsbildes nicht möglich ist, ist der Beginn einer empirischen zytoreduktiven Therapie, z. B. mit Prednison 0,5 mg/kg/Tag bzw. Strahlentherapie zulässig. Allerdings kann eine solche Therapie bereits nach 48 h die histologische Diagnose unmöglich machen. Durch den fulminantem Zellzerfall besteht außerdem die Gefahr des Zellzerfallssyndroms mit Asystolie durch Hyperkaliämie. 77.8
Untere Einflussstauung
Neben der Lebervenenverschlusskrankheit und dem BuddChiari-Syndrom, die sich eher langsam entwickeln, kommt es bei Säuglingen mit Neuroblastom Stadium IVs oft zu einer dramatischen intraabdominellen Drucksteigerung durch rasche und massive Zunahme der Lebermetastasen. Die Hepatomegalie führt zur mechanischen Kompression der intraabdominellen Organe, wie Gastrointestinaltrakt, Niere und ableitende Harnwege, sowie durch Zwerchfellhochstand zur Beeinträchtigung der Atemwege und des Herz-KreislaufSystems. Symptome sind massiv gespanntes Abdomen, Erbrechen, Tachy- und Dyspnoe mit Sauerstoffbedarf, Nierenfunktionsbeeinträchtigung, venöse Abflussbehinderung mit Beinödemen, unter Umständen Leberversagen und disseminierte intravasale Gerinnung (⊡ Abb. 77.3). Üblicherweise regredieren Neuroblastome im Stadium IVs spontan, bei dramatischer Zunahme des Bauchumfangs und schwerer Beeinträchtigung muss jedoch eine niedrig dosierte Chemotherapie mit Vincristin bzw. Cyclophosphamid eingeleitet werden. Kommt es trotz der Chemotherapie zu weiterer rapider Zunahme der abdominellen Symptomatik und respiratorischer Verschlechterung, so besteht in ganz seltenen Fällen die Indikation zu einer operativen Dekompression mit Einnähen eines Goretex-Lappens in die Bauchdecke. Eine weitere Ursache der unteren Einfluss-Stauung ist das Vorwachsen eines Wilms-Tumorthrombus von der Nierenvene in die Vena cava inferior bis in den rechten Vorhof. MRT und Echokardiographie geben Auskunft über die Ausdehnung des Tumorthrombus. Bei nur gering beeinträchtigter Herzauswurfleistung kann eine Chemotherapie mit Acti-
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77
a
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⊡ Abb. 77.2a–e. 4-jähriger Knabe mit massiver Gesichtsschwellung, plethorischem Hautkolorit und zervikaler Lymphknotenvergrößerung (a). Das Thoraxröntgen zeigt eine riesige Mediastinalverbreiterung mit Pleuraerguss rechts (b). Die zytologische Analyse des Pleurapunktats ergibt ein T-NHL. Unter zytoreduktiver Vorphase mit Prednison kommt es zu einem Rückgang des Mediastinaltumors am Tag 4 (c) und Tag 8 (d) und zu einem Rückgang der Gesichtsschwellung (e)
968
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
mit Zeichen der Mittellinienverlagerung, Einklemmung bzw. Ödem. Weitere mögliche Ursachen einer akuten Hirndrucksymptomatik sind Sinusvenenthrombose, Meningitis und Enzephalitis. Therapie. Folgende Therapiemaßnahmen sind zur Senkung des erhöhten Hirndrucks erforderlich: ▬ Dexamethason 0,5–1 mg pro kg i.v. initial, dann weiter mit 0,25 mg/kg i.v. 4-mal täglich, ▬ Mannit 0,5–1–2 g/kg in 30 min i.v., ▬ Intubation und Hyperventilation mit Erzielung von pCO2-Werten zwischen 20 und 25 mmHg (Reduktion des zerebralen Blutflusses), ▬ antiepileptische Therapie mit Clonazepam 0,1 mg/kg i.v., ▬ eventuell antibiotische Therapie (Meningitis, Abzess), ▬ eventuell antivirale Therapie (Enzephalitis), ▬ Thrombozytenkonzentrate bei Thrombozytopenie, Gerinnungsfaktoren bei Koagulopathie, ▬ eventuell Operation (Tumor, Subduralhämatom), ▬ Shunt-Ableitung bei Hydrozephalus
a
V
77.9.2 Krampfanfälle
b ⊡ Abb. 77.3. a 2 Monate alter Knabe mit massiv aufgetriebenem Abdomen, livider Verfärbung der unteren Abdominalhälfte mit Beinödemen und Skrotalödem als Zeichen der unteren Einflussstauung bei Neuroblastom Stadium IVs. b Das MR zeigt eine massive Vergrößerung der Leber durch multilokuläre metastatische Formationen des Neuroblastoms
nomycin D und Vincristin den Tumorthrombus verkleinern. Bei Patienten mit verminderter Herzauswurfleistung sollte jedoch frühzeitig Kontakt mit einem herzchirurgischen Zentrum aufgenommen werden und der Tumorthrombus unter kardiopulmonalen Bypass-Bedingungen entfernt werden (⊡ Abb. 77.4). 77.9
Zentralnervöse Notfälle
77.9.1 Akuter Hirndruck Die Symptome des akuten Hirndrucks sind (morgendliches) Erbrechen, Kopfschmerzen, Bradykardie, zunehmende Bewusstseinstrübung, Irritabilität, Krämpfe, Herdzeichen bzw. fokale Ausfälle, Hypoventilation und arterielle Hypertonie. Die Augenhintergrunduntersuchung ergibt in den meisten Fällen eine Stauungspapille. Nach medikamentöser Stabilisierung des Zustandes muss unverzüglich eine notfallmäßige MRT-Untersuchung des Gehirns durchgeführt werden. Eine Lumbalpunktion verbietet sich vor Ausschluss eines akuten Hirndrucks wegen der Gefahr der Hirnstammeinklemmung. Als häufige Ursachen eines Hirndrucks finden sich im MRT eine Raumforderung, wie Tumor, Hydrozephalus, Subduralhämatom, intrazerebrales Hämatom bzw. Infarkt oder Abzess
Krampfanfälle bei malignen Erkrankungen sind aufgrund der meist zusätzlichen Gerinnungsstörung und/oder Thrombopenie mit Gefahr von Hirnblutungen bzw. durch den konsekutiv erhöhten Hirndruck mit Gefahr einer Hirnstammeinklemmung onkologische Notfälle und müssen daher prompt behandelt werden. Die Ursachen von Krampfanfällen bei malignen Erkrankungen liegen entweder im Hirn selbst (Tumor, Infektion, zerebrovaskulärer Insult, Radionekrose) oder sind sekundärer Natur, z. B. metabolisch wie bei Hyponatriämie (meist iatrogene Überwässerung, übermäßige ADH-Sekretion), Hypokalziämie, Hypomagnesiämie, Hypoglykämie, Urämie bzw. hypoxisch oder behandlungsbedingt (z. B. MTX, Ifosfamid, Cisplatin, BCNU, HD-ARA-C, Vincristin). Symptome können fokal oder generalisiert sein. Therapie. Die unmittelbare, symptomatisch stabilisierende
Behandlung besteht in Freimachen der Atemwege mit Verhinderung von Aspiration sowie antiepileptischer (Clonazepam 0,1 mg/kg i.v.) und hirnentwässernder Therapie. Die Ursachenabklärung erfolgt mittels MRT (und eventuell erst daran anschließender Lumbalpunktion). Die kausale Therapie richtet sich nach dem entsprechenden Befund und besteht je nach Ursache in Elektrolyt- und Stoffwechselausgleich, antimikrobieller Therapie und bei entsprechender Indikation eventueller Operation. 77.9.3 Zerebrovaskuläre Komplikationen
und Sinusvenenthrombose Zerebrovaskuläre Komplikationen werden bei 3% aller Kinder mit Malignomen (exklusive Hirntumoren) beobachtet. Zu einem zerebrovaskulären Insult (thrombotisch, embolisch, hämorrhagisch) kommt es entweder durch Kompression (z. B. Hirntumor), hämatologisch/hämostaseologische Veränderungen (z. B. unter zytostatischer Therapie mit L-Asparaginase) oder ZNS-Infektionen. Symptome sind
969 77 · Notfälle
77
b
a
c ⊡ Abb. 77.4. a Phlebographie der unteren Hohlvene bei einem Patienten mit rechtsseitigem Wilmstumor. Auf Höhe des 2. Lendenwirbels kommt es zu einem Kontrastmittelstopp mit Abfluss über die Venae azygos und hemiazygos. b Der abdominelle Ultraschall zeigt in der Vena cava inferior, hinter der Leber, einen Tumorthrombus, der
noch von einem geringen Blutfluss umspült wird und bis in das rechte Atrium reicht. c Die MRT-Untersuchung zeigt die vom Tumorthrombus ausgefüllte Vena cava inferior beim Durchtritt durch das Zwerchfell mit Mündung in den rechten Vorhof. Der Tumorthrombus konnte unter kardiopulmonalem Bypass operativ entfernt werden
neurologische Verschlechterung, Pupillendifferenz, Anfälle, erhöhter Hirndruck und Herdzeichen. Eine Ultraschalluntersuchung des Herzens sollte thrombotische Auflagerungen an den Herzklappen bzw. ein offenes Foramen ovale als Embolieursache ausschließen. Besonderes Augenmerk muss auf die Möglichkeit einer Sinusvenenthrombose gerichtet werden, die bei hämatologischen Malignomen v. a. durch Gerinnungsstörungen (z. B. durch L-Asparaginase) oder durch Dehydration bedingt ist. Die MRT-Untersuchung mit Gadolinium-Kontrastmittelapplikation muss bei Verdacht auf Sinusvenenthrombose alle Schichten der Calvaria mit einschließen. Bei soliden Tumoren wird sie durch Kompression oder Infiltration der zerebralen Sinus durch Metastasen oder einen primären Hirntumor hervorgerufen.
Im Rahmen des Hyperleukozytosesyndroms bei Leukämien kann es in den Gehirngefäßen zu Leukostase, Leukozytenthromben und konsekutiver Gefäßhypoxie und Blutung kommen, die durch die disseminierte intravasale Gerinnung im Rahmen des Zellzerfalls noch aggraviert wird (Therapie Abschn. 77.3). Bei der Promyelozytenleukämie, Monoblasten- und myelomonozytären Leukämie kann es durch Freisetzung von Gewebsfaktoren ebenfalls zu zerebrovaskulären Blutungen im Rahmen der disseminierten intravasalen Gerinnung kommen (Therapie Abschn. 77.6). Bei ausschließlich thrombozytopenischer Hirnblutung sind rasche Anhebung der Thrombozytenwerte durch Thrombozytenkonzentrate sowie schonende hirnentwässernde Therapie erforderlich. Bei Tumoreinblutung ist eine schonende hirnentwässernde Therapie, ggf. eine Operation indiziert.
Therapie. Die Therapiemaßnahmen sind im Wesentli-
chen supportiv. L-Asparaginase kann durch eine Imbalance des pro- und antikoagulatorischen Systems sowohl zu Thrombosen als auch zu Blutungen führen. Eine Prophylaxe mit ATIII und FFP wird generell nicht empfohlen, ist jedoch bei manifester Thrombose bzw. Blutung indiziert.
77.9.4 Rückenmarkkompression Zur Rückenmarkkompression kommt es meist durch epidurale Ausbreitung paravertebraler Tumoren durch die Foramina intervertebralia. Ihre Inzidenzrate beträgt bei
970
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
tation (z. B. Knochenmark, Lymphknoten) gesichert werden kann, kann umgehend eine Therapie mit Steroiden begonnen werden. In allen anderen Fällen ist eine rasche Dekompression (Laminektomie, besser Laminotomie) mit histologischer Diagnosesicherung notwendig, damit die drohende Querschnittslähmung verhindert und eine spezifische Therapie eingeleitet werden kann (⊡ Abb. 77.5).
V
Onkologische Notfälle stellen nach wie vor eine besondere Herausforderung für das Behandlungsteam dar. Eine Optimierung der Supportivtherapie trägt wesentlich dazu bei, onkologische Notfälle entweder von vornherein zu verhindern oder erfolgreich zu managen. Voraussetzung dafür sind ein geschultes und erfahrenes Team sowie die enge Anbindung der hämatoonkologischen Abteilung an eine Intensivstation mit Dialysemöglichkeit. Daher empfiehlt es sich, Patienten mit einem hohen Notfallrisiko, wie z. B. Patienten mit AML, B-NHL, T-NHL, Hirntumoren oder metastasierenden soliden Tumoren (s. Tabelle 77.1), an ein Zentrum mit spezieller hämatoonkologischer Erfahrung, mit entsprechender Zahl jährlicher Neuzugänge und mit den erforderlichen intensivmedizinischen Möglichkeiten zu überweisen.
a
Literatur b ⊡ Abb. 77.5a, b. 2-jähriger Knabe mit lokalisierten Schmerzen im Bereich der oberen Brustwirbelsäule sowie Schwäche und Sensibilitätsstörung beider oberen Extremitäten. a Das MRT im Transversalschnitt zeigt einen im Bereich der oberen Brustwirbelsäule, im hinteren Mediastinum links gelegenen Tumor, der sanduhrförmig durch das Foramen intervertebrale in den Spinalkanal vordringt und zangenförmig das Myelon umgreift. b Im Sagittalschnitt sieht man die deutliche Bedrängung des Rückenmarks. Nach osteoplastischer Laminektomie (Abheben der Wirbelbögen, Tumordekompression und Wiederaufsetzen der Wirbelbögen) kommt es zur histologischen Diagnosesicherung, raschen Besserung des neurologischen Defizits und erfolgreichen Weiterbehandlung nach dem Neuroblastom-Chemotherapieprotokoll
kindlichen Krebserkrankungen 4%. Die häufigsten Ursachen sind Neuroblastom, Ewing-Sarkom, Non-Hodgkin-Lymphom, Morbus Hodgkin und Langerhans-Zell-Histiozytose. Die ersten Anzeichen sind Kreuzschmerzen, die entweder lokalisiert sind oder radikulär ausstrahlen. Später kommen Muskelschwäche, Hyporeflexie, Sensibilitätsstörungen sowie Harn- und Stuhlinkontinenz dazu. Bei Kindern mit maligner Erkrankung und Kreuzschmerzen besteht solange der Verdacht auf eine Rückenmarkkompression bis das Gegenteil bewiesen ist. Die entscheidenden diagnostischen Hinweise auf eine Rückenmarkskompression durch einen Tumor liefert das MRT. Therapie. Je länger die Diagnose verzögert wird, desto größer
ist die Wahrscheinlichkeit einer irreversiblen neurologischen Schädigung. Daher muss eine rasche Entscheidung für eine entsprechende Therapie getroffen werden. Wenn die Ursache (z. B. Non-Hodgkin-Lymphom) aus einer anderen Manifes-
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971 77 · Notfälle
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77
Intensivtherapie A. Borkhardt
78.1 78.2
V
Aufnahme auf die Intensivstation – 972 Respiratorisches und kardiozirkulatorisches Versagen – 972
78.2.1 Akutes Lungenversagen – 973 78.2.2 Behandlungsstrategien beim akuten Lungenversagen – 973
78.3
Sepsis und septischer Schock – 974
78.3.1 Therapieprinzipien – 974 78.3.2 Katecholamine – 975 78.3.3 Weitere Therapieansätze – 975
78.4 78.5
Neurologische Intensivtherapie bei Hirntumoren – 975 Akutes Nierenversagen – 976 Literatur – 977
Ein 6-jähriger Junge mit Common-ALL befindet sich 9 Wochen nach Therapiebeginn mit Prednison, Vincristin, Daunorubicin, L-Asparaginase, Cyclophosphamid, Cytarabin, 6-Mercaptopurin und intrathekalem Methorexat in einer stabilen Remission. Am Abend klagt er über leichte Kopfschmerzen und Unwohlsein und wird stationär aufgenommen. Die aktuelle Leukozytenzahl beträgt 400/µl. In den folgenden 2 Stunden benötigt der Knabe zunehmend Sauerstoff; es kommt es zu einer katecholaminpflichtigen Hypotension. Er muss intubiert werden, die Beatmungsparameter zur Aufrechterhaltung einer adäquaten Oxygenierung und Ventilation sind rasch ansteigend. Die mikrobiologische Untersuchung der Blutkultur erbringt den Nachweis von Staphylococcus aureus.
⊡ Abb. 78.1. Aufnahmegründe von onkologischen Patienten auf die pädiatrische Intensivstation
78.1
Aufnahme auf die Intensivstation
Die Aufnahme eines onkologischen Patienten auf die Intensivstation geschieht meist bei zunehmenden respiratorischen Versagen oder aufgrund einer volumenrefraktären Hypotension in Folge eines septischen Schocks (⊡ Abb. 78.1). Ein primär kardiales Versagen z. B. nach Anthrazyklintherapie oder bei malignem Perikarderguss stellt eher die Ausnahme dar. Hohe Mortalitätsraten von bis zu 85% in mehreren Studien vom Beginn der 90er-Jahre legten den Schluss nahe, dass onkologische Patienten, die intensivtherapiebedürftig (Beatmung, Kreislaufunterstützung mit Katecholaminen) geworden sind, nur noch geringe Aussichten auf Heilung haben (Heney et al. 1992; Meert et al. 1991; Butt et al. 1988). Dies trifft besonders für Kinder nach auto- oder allogener Stammzelltransplantation (SZT) zu. Kleinere Untersuchungsserien gehen von ca. 10–30% Langzeitüberleben nach maschineller Beatmung von länger als 3 Tagen aus (Veys u. Owens 2002). Ein frühzeitiger konsequenter Einsatz von nichtinvasiven Beatmungsformen bei respiratorisch beeinträchtigten Kindern auf der onkologischen Station (CPAP-Masken, »continous positive airway pressure«) kann helfen, die Rate der notwendigen Intubationen und maschinellen Beatmungen zu verringern. 78.2
Respiratorisches und kardiozirkulatorisches Versagen
Respiratorisches Versagen kann pulmonale und extrapulmonale Ursachen haben. Zu letzteren zählen Störungen des Atemzentrums durch Opiate, Hypnotika, Hirnstammgliome, Infektionen, Störungen der peripheren Nervenleitung, Stö-
973 78 · Intensivtherapie
rungen der Atemmuskulatur (»respiratory muscle fatigue«), extra- und intrathorakale Obstruktionen der Atemwege sowie restriktive Ventilationsstörungen durch Pneumo- oder Hämatothorax sowie Behinderungen der Zwerchfellmobilität bei Ileus oder Peritonitis. Besonders zu erwähnen sind Gasaustauschstörungen nach vorheriger pulmonaler Bestrahlung und nach der Anwendung von Busulfan, was noch Wochen und Monate nach der Applikation die Ursache für ein schweres pulmonales Versagen sein kann (Hartsell et al. 1995). 78.2.1 Akutes Lungenversagen
Definition Das akute Lungenversagen oder »acute respiratory distress syndrome« (ARDS) oder »acute lung injury« (ALI) ist eine akute respiratorische Insuffizienz, die als schwere diffuse Schädigung des Lungenparenchyms zumeist als Komplikation einer anderen Erkrankung auftritt.
Es handelt sich um eine klinische Kennzeichnung, die folgende Charakteristika aufweist: ▬ arterielle Hypoxämie nicht-kardialer Ursache, ▬ röntgenologisch nachweisbare Infiltrationen, ▬ verminderte Compliance der Lunge und ▬ erniedrigte funktionelle Residualkapazität. Die willkürliche Unterscheidung zwischen ALI und ARDS liegt im unterschiedlichen Ausmaß der Oxygenierungsstörung (ALI: paO2/FiO2<300 mmHg versus ARDS: paO2/ FiO2<200 mmHg. Der Hauptnachteil dieser Definition besteht darin, dass leichtere Frühformen der Oxygenierungsstörungen nicht einbezogen werden. Beim akuten Lungenversagen spielen, gerade bei onkologischen Patienten, inflammatorische Reaktionen als typische Reaktionen auf bakterielle, virale oder mykotische Erreger die entscheidende Rolle (⊡ Abb. 78.2).
Pathophysiologie. Beim ALI/ARDS steht die Schädigung der alveolokapillären Membran im Mittelpunkt. Durch Schädigung des Endothels kommt es zum »capillary leakage syndrome«, d. h. zu einem vermehrten transendothelialen Flüssigkeitsaustritt in die septalen und interstitiellen und letztlich auch alveolären Räume. Dies führt zu einer schweren Beeinträchtigung des Gasaustausches und über eine weitere Surfactant-Inaktivierung zur Atelektasenbildung. Wenn weite Bereiche des Lungenparenchyms nicht mehr belüftet werden, kommt es zu einem ausgeprägten Rechts-Links-Shunt, der bis zu 50% betragen kann. Es besteht eine pulmonale Hypertension, deren Ausmaß echokardiographisch durch die Schwere der Trikuspidalinsuffizienz beurteilt werden kann. Die Größe des Rechts-Links-Shunts bestimmt das Ausmaß der arteriellen Hypoxämie. In Spätphasen des ARDS steht eine Mesenchymalzellaktivierung und -proliferation bis zur Fibrose, der so genannten »Hepatisation« des Lungenparenchyms, im Vordergrund. Die Atelektasen lassen sich auch durch hohe Beatmungsdrücke nicht mehr eröffnen, der pulmonale Gasaustausch bricht zusammen. Je nach Schweregrad des ARDS schwankt die Letalität zwischen 40– 75%, beim sepsisassoziierten Lungenversagen bis 90%.
78.2.2 Behandlungsstrategien beim akuten
Lungenversagen Die Behandlungsstrategien beim ARDS müssen berücksichtigen, dass in der frühen Phase des Lungenversagens der Alveolarkollaps die wesentliche Ursache der Gasaustauschstörung ist. Die Wiedereröffnung der Alveolen (»recruitment«) durch Applikation eines positiven endexspiratorischen Druckes (PEEP) ist vorrangiges Ziel. Nichtinvasive Beatmung. Eine bestehende Gasaustauschstörung sollte frühzeitig durch den Einsatz von nichtinvasiver Beatmung wie CPAP bzw. PEEP behandelt werden. Einzelne größere Studien haben eine Erfolgsrate (Vermeidung der Intubation) von ca. 50% angegeben. Für den Verlauf unter nichtinvasiver Beatmung ist die Mitarbeit des Patienten ein wesentlicher Faktor für den Erfolg (Alter des Kindes?). Selbst bei initial erfolgreicher nichtinvasiver Beatmung kann es im weiteren Verlauf zu einem Therapieversagen kommen. »Late failures« (>48 h unter nichtinvasiver Beatmung), die dann doch noch intubiert werden müssen, weisen eine besonders hohe Letalität auf (⊡ Abb. 78.3). Die inspiratorische Sauerstoffkonzentration sollte längerfristig nicht über 50% liegen, um eine Schädigung des Alveolarepithels zu vermeiden.
Empfehlungen zur initialen PEEP-Einstellung für Kinder über 10 Jahre:
⊡ Abb. 78.2. Typisches Röntgenbild bei einem Kind mit ausgeprägtem ARDS. In diesem Falle war eine Infektion mit Pneumocystis carinii die Ursache
Ausgangswert 5 cm H2O Änderungen in kleinen Schritten (1–2 cm H2O) PEEP-Werte über 14 cm H2O über längeren Zeitraum nicht sinnvoll Unterbrechung des PEEP z. B. während Transporten unbedingt vermeiden! Sorgfältige Überwachung der Hämodynamik (Verminderung des pulmonalen Blutstroms!)
78
974
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 78.1. Klinische Sepsiszeichen und deren Häufigkeit
Klinischer Befund
V
Inzidenz (%)
Schüttelfrost
20
Fieber >38°C
70
Hypothermie* <36°C
13
Tachypnoe
99
Tachykardie
97
Veränderungen des mentalen Status
35
Hypotensionen
77
Oligurie
54
* Auch eine Normothermie schließt das Vorliegen einer Sepsis nicht aus!
⊡ Abb. 78.3. Algorithmus zum Einsatz der nichtinvasiven Beatmung (NIV) bei respiratorischer Insuffizienz. Erfolgskriterien: Abnahme des paCO2, SaO2>92%, Abnahme von Herz- und Atemfrequenz, subjektive Besserung. Abbruchkriterien: FiO2 >50% und transkutane SaO2 <84%, Anstieg von paO2 mit Abfall des pH, progrediente Bewusstseinsverschlechterung, massive Aerophagie, Maskenprobleme, Aspiration
Weitere Therapiestrategien. Die weiteren Maßnahmen zur
Beherrschung eines Lungenversagens durch Surfactant-Einsatz, Beatmung mit umgekehrtem Zeitverhältnis, Permissive Hyperkapnie, NO-Beamtung, extrakorporale Membranoxygenierung sind detailliert in den Lehrbüchern der pädiatrischen Intensivmedizin beschrieben. Erwähnt sei, dass die Beatmung mit kleineren Atemzugvolumina (6 ml/kg KG) verglichen mit größeren Atemzugvolumina (12 ml/kg KG) in einer großen multizentrischen Studien zur Abnahme der Letalität bei ARDS um 22% geführt hat (The Acute Respiratory Distress Syndrome Network 2000). Trotz anfänglich schlechterer Blutgaswerte in der mit niedrigeren Tidalvolumina behandelten Gruppe war deren endgültiger Behandlungserfolg deutlich besser, so dass die Studie vorzeitig abgebrochen wurde und sich das Konzept als »protective ventilation strategy« schnell im klinischen Alltag durchgesetzt hat. Entscheidende Bedeutung bei der Behandlung des Lungenversagens kommt weiterhin einer negativen Flüssigkeitsbilanzierung zu. Ein primäres nicht-sepsisbedingtes kardiozirkulatorisches Versagen kommt bei onkologischen Patienten eher selten vor. Eine Ausnahme stellt das gefürchtete Kapillarleck-Syndrom nach Stammzelltransplantation dar. Zu denken sind ferner an eine Anthrazyklin-induzierte Kardiomyopathie und an einen malignen Perikarderguss. 78.3
Sepsis und septischer Schock
! Sepsis, septischer Schock und sepsisinduziertes Multiorganversagen stellen Haupttodesursachen für pädiatrisch-onkologische Patienten dar, die auf einer Intensivstation aufgenommen werden müssen.
Die Sepsis wird als eine systemische Entzündungsreaktion auf einen infektiösen Stimulus definiert, wobei sich die Diagnose auf klinische und klinisch-chemische Parameter
stützt (⊡ Tabelle 78.1). Der mikrobiologische Nachweis einer Bakteriämie gelingt nicht immer. Ein der bakteriellen Sepsis ähnliches Krankheitsbild kann auch ohne Vorliegen einer mikrobiellen Infektion durch analoge Mediatorfreisetzung entstehen (»systemic inflammatory response syndrome«, SIRS). Die sepsisinduzierte Aktivierung des Immunsystems führt zu erheblichen kardiozirkulatorischen Auswirkungen, zu einer zellulären Sauerstoffminderversorgung und damit zu direkten Zell- und Organschäden. ARDS, disseminierte intravasale Gerinnung, Leber- und Nierenversagen und das hämorrhagische Schockenzephalopathiesyndrom stellen gefürchtete Komplikationen dar. Die Kreislaufinsuffizienz manifestiert sich zunächst über eine so genannte »hyperdyname, warme« Phase, die durch einen niedrigen peripheren Widerstand bedingt ist. Sie ist gekennzeichnet durch warme Extremitäten, hohe Blutdruckamplitude bei niedrigem arteriellen Mitteldruck (MAD); nachlassende Urinproduktion, hohes Herzzeitvolumen, Hyperventilation, unter Umständen sogar respiratorische Alkalose. Es schließt sich die Zentralisationsphase mit kühlen Extremitäten, Hypotonie, Bewusstseinstrübung, reduziertem Herzzeitvolumen (septische Kardiomyopathie!) verminderter Mikrozirkulation, hoher arteriovenöser Sauerstoffdifferenz und Laktazidose an. 78.3.1 Therapieprinzipien Die Therapieprinzipien bei Sepsis und septischem Schock beinhalten neben der selbstverständlichen (wenn möglich resistenzgerechten) Behandlung einer auslösenden bakteriellen oder mykotischen Infektion supportive Maßnahmen der Kreislauftherapie. Die Gewährleistung einer adäquaten Gewebsoxygenierung soll erreicht werden durch: ▬ Verbesserung des globalen Sauerstofftransports, ▬ Verringerung des Missverhältnisses zwischen regionalem Sauerstoffangebot und -verbrauch und ▬ Aufrechterhaltung eines Substrat- und Gasaustausches auf der Ebene der Mikrozirkulation. Eine Steigerung des Herzzeitvolumens kann durch ausreichenden Volumenersatz erzielt werden. Am Beginn eines
975 78 · Intensivtherapie
septischen Krankheitsgeschehens ist die Volumentherapie primär in Form von Ringerlösung (cave: ZVD-Messung, Bilanzierung) oft die wichtigste therapeutische Maßnahme. Zusätzlich kann, je nach Hämodynamik, der Einsatz von positiv-inotropen Substanzen und der Einsatz von Vasopressoren notwendig werden. Zur rationalen Therapiesteuerung ist ein entsprechendes Monitoring (Herzfrequenz, transkutane Sauerstoffsättigung, ZVD; arterielle, kontinuierliche Blutdruckmessung, Blasenkatheter) obligat. 78.3.2 Katecholamine Ein Verständnis der Wirkung der Katecholamine ist auch für die Intensivtherapie onkologischer Patienten wesentlich und in der Folge kurz zusammengefasst. Noradrenalin. Aufgrund der ausgeprägten α1-Rezeptor-Wir-
kung Mittel der ersten Wahl, wenn zur Gewährleistung eines ausreichenden MAD eine Anhebung des meistens im septischen Schock deutlich verminderten peripheren Gefäßwiderstandes angestrebt wird. Der Einsatz ist bei einer volumenrefraktären Hypotension gerechtfertigt. Die potenziell nachteiligen Wirkungen der Vasokonstriktion und Minderperfusion sind in Rechnung zu stellen. Der Dosisbereich beträgt 0,1–1 µg/kg/min. Nebenwirkungen sind Herzrhythmusstörungen (Extrasystolen, bis zu Kammerflimmern), Hyperglykämie, Angstgefühle, Tachykardie, Zittern und Hautblässe. Adrenalin. In niedrigeren Dosen (0,1–0,3 µg/kg/min) wirkt Adrenalin vorwiegend auf periphere β1- und β2-adrenerge Rezeptoren, bei höheren Dosen tritt die vasokonstriktorische α-Rezeptor-Wirkung in den Vordergrund. Bei deutlicher myokardialer Komponente des septische Kreislaufversagens (Kardiomyopathie) ist Adrenalin besser einsetzbar als Noradrenalin, da aufgrund der β-mimetischen Wirkung das Herzzeitvolumen (HZV) gesteigert wird. Die Nebenwirkungen entsprechen denen des Noradrenalins. Dopamin. In Europa ist Dopamin meist nur in so genann-
ter »Nierendosis« (2,5 µg/kg/min) im Einsatz. Die Wirkung wird über eigene Dopaminrezeptoren vermittelt. Bis etwa 10 µg/kg/min ist die Wirkung vornehmlich β-mimetisch, analog der des Adrenalins. Höhere Dosierungen (10–20 µg/kg/ min) haben einen vasokonstriktiven α-Effekt (indirekt sympathomimetisch über Noradrenalinfreisetzung) zur Folge. Als Monosubstanz sind im septischen Schock unter Umständen Dosierungen bis 20 µg/kg/min notwendig, um einen ausreichenden MAD aufrecht zu erhalten. Daher ist die Kombination von Dopamin in »Nierendosis« mit gering dosiertem Noradrenalin oft günstiger. Dobutamin. Zur Behandlung der septischen Kardiomyopa-
thie (»low output syndrome«) wegen des positiv-inotropen Effekts sehr gut geeignet. Bei ausreichendem Volumenangebot wird das Herzzeitvolumen deutlich gesteigert. Der Dosierungsbereich beträgt 2,5–10 µg/kg/min. Limitierend beim Einsatz ist gerade bei Kindern die oft stark ausgeprägte Tachykardie. Weitere, wenn auch seltenere Nebenwirkungen sind Rhythmusstörungen, pektanginöse Beschwerden, Kopf-
schmerzen, Übelkeit, Blutdruckabfall (bei vorbestehendem Volumenmangel!) und Hypokalämie. 78.3.3 Weitere Therapieansätze Neben den Katecholaminen sind mehrere andere Substanzklassen beim septischen Schock eingesetzt worden. Vor allem Phosphodiesterasehemmer (Amrinon, Enoximon) erlauben eine weitere Steigerung des Herzzeitvolumens. Kontrollierte Studien liegen hierfür jedoch nicht vor. Dies gilt auch für die derzeit noch experimentellen Therapieansätze mit Interleukin-1-Rezeptorantagonisten, anti-TNF-α-Antikörpern, Plättchen-aktivierender Faktor-Antagonisten oder extrakorporalen Mediatoreliminationsverfahren. 78.4
Neurologische Intensivtherapie bei Hirntumoren
Erhöhter intrakranieller Druck Die Mehrzahl der Patienten mit Hirntumoren präsentiert sich bei Diagnosestellung oder im Verlauf mit einem erhöhten intrakraniellen Druck. Als intrakranieller Druck (ICP) wird der Druck bezeichnet, der in Höhe der Foramina Monroi in den Seitenventrikeln herrscht. Die Normwerte des intrakraniellen Drucks sind altersabhängig und schwanken zwischen <7,5 mmHg (Säuglinge) und <15 mmHg (Erwachsene). Eine intrakranielle Raumforderung (Hirntumor, Hirnödem, Blutung) führt zur Erhöhung des intrakraniellen Drucks mit konsekutiver Abnahme des cerebralen Perfusionsdrucks. Der zerebrale Perfusionsdruck kann näherungsweise als Differenz des mittleren arteriellen Blutdruckes und des intrakraniellen Drucks berechnet werden (zerebraler Perfusionsdruck = mittlerer arterieller Blutdruck – intrakranieller Druck). Dabei ist der zerebrale Blutfluss über die Autoregulation des intrakraniellen Gefäßwiderstandes über weite Blutdruckbereiche (50–150 mmHg) gesichert. Ist die Autoregulation z. B. durch Engstellung der Hirngefäße aufgehoben, kann es schon bei normalem zerebralen Perfusionsdruck zu einem signifikant verminderten zerebralen Blutfluss kommen. Dabei ist der zerebrale Gefäßtonus v. a. vom CO2-Partialdruck abhängig, während der Beitrag des O2-Partialdrucks in weiten Bereichen zu vernachlässigen ist. Im Bereich von 35– 60 mmHg bewirkt ein Abfall des arteriellen pCO2 um 1 mmHg eine ca. 4%ige Abnahme des zerebralen Blutflusses. Klinik Die klinischen Symptome der intrakraniellen Hypertension sind abhängig vom Zeitverlauf (akut oder chronisch) und können sehr unspezifisch sein. Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen sowie später die Ausbildung einer Stauungspapille sind die häufigsten Symptome. Die so genannte »CushingTrias« mit arterieller Hypertension (»Wasserhammerpuls«), Bradykardie und respiratorischer Arrhythmie findet man eher selten selbst bei massiv erhöhtem intrakraniellen Druck. Therapie Die Therapie des Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck besteht zunächst in der Sicherung einer adäquaten
78
976
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Hämodynamik und Oxygenierung. Neben dieser Basistherapie stehen zur Senkung eines pathologischen intrakraniellen Drucks eine Reihe von weiteren Maßnahmen zur Verfügung. Ihre Wirksamkeit im Einzelfall wird in der Literatur zum Teil kontrovers diskutiert. Oberköperhochlagerung. Ca. 15–20° mit Neutralstellung des
Kopfes.
V
Liquordrainage. »Mittel der Wahl«, da es eine einfache und effektive Maßnahme zur Senkung des intrakraniellen Drucks darstellt, wenn nicht schon primär eine Tumorresektion durchführbar ist. Die im klinischen Alltag immer wieder neu zu diskutierende Frage nach der Art der Ableitung (extern oder intern?, mit oder ohne Tumorfilter?, simultane Implantation eines Rickham-Reservoirs für die postoperative Chemotherapie?) hängt neben Tumorsitz, vermuteter Tumorentität und Liquorkomposition auch davon ab, ob nach einer anschließenden Tumorresektion voraussichtlich eine Liquorzirkulationsstörung bestehen bleiben wird oder nicht. Der größte Nachteil einer passageren externen Ableitung ist die hohe Infektionsgefahr. Osmodiuretika. Ungefähr 0,5 g/kg KG einer 20% Mannitlö-
sung. Damit ist eine rasche, effektive, leider auch sehr passagere Senkung des intrakraniellen Drucks möglich. Nach repetitiven Mannitgaben wird das so genannte »ReboundPhänomen« gefürchtet. Dies bedeutet, dass es zu einem Anstieg des intrakraniellen Drucks nach Mannitgabe kommt, der auf osmotisch wirksames »parenchymales Mannit« zurückgeführt wird. Die klinische Erfahrung lehrt jedoch, dass die Gefahr des Rebound nach Mannitgaben überschätzt wird. Hochdosis-Barbiturate. Barbiturate führen zur Reduktion des zerebralen Stoffwechsels, einer Senkung der Hirndurchblutung, einer milden Hypothermie und haben erwünschter Weise eine starke antikonvulsive Wirkung. Die Dauertropfinfusion Thiopental (ca. 3–5 mg/kg KG/h) senkt den intrakraniellen Druck meist deutlich. Der Hauptnachteil dieser einschneidenden Therapiemaßnahme ist, dass sie nur unter kontinuierlicher EEG-Messung durchgeführt werden sollte, da keine Korrelation zwischen Thiopentalspiegel und therapeutischer Wirkung besteht. Wenn im EEG ein »Burst-suppression«-Muster zu sehen ist, ist die maximale Reduktion des zerebralen Metabolismus erreicht. Das Hauptproblem der Therapie ist die unter Umständen deutliche Blutdruckwirksamkeit einer Thiopentaldauerinfusion, so dass vor einer Hochdosis-Barbituratbehandlung immer erst alle anderen Möglichkeiten der Senkung des intrakraniellen Drucks mittels tiefer Anlagosedierung (z. B. Fentanyl/Midazolam) ausgeschöpft sein sollten. Katecholamine. Katecholamine sind nur bei intakter Auto-
regulation sinnvoll. Eine Abnahme des zerebralen Blutvolumens und damit des intrakraniellen Drucks bei steigendem arteriellen Blutdruck wird nur erreicht, wenn die physiologischen Regelkreise noch intakt sind. Dann führt ein steigender Blutdruck zur Vasokonstriktion der Hirngefäße. Glukokortikoid. Verschiedene Dosierungen werden in der klinischen Praxis angewandt (z. B. Dexamethason 0,15 mg/kg KG
alle 6 h); die Wirksamkeit ist nur zur Verringerung eines perifokalen Tumorödems belegt. Hyperventilation. Die prolongierte forcierte Hyperventilation (paCO2<25–30 mmHg) ist heute obsolet, da die zerebrale Vasokonstriktion zwar den intrakraniellen Druck senkt, aber die zusätzlichen zerebralen Ischämien zu schlechteren neurologischen Endergebnissen führen. Hypothermie. Derzeit in klinischen Studien in Erprobung.
78.5
Akutes Nierenversagen
Im Hinblick auf die Pathogenese hat sich die Einteilung des akuten Nierenversagens in 3 Kategorien bewährt: ▬ prärenales Nierenversagen, ▬ intrinsisches Nierenversagen und ▬ postrenales Nierenversagen. Bei Kindern mit onkologischen Erkrankungen können alle 3 Formen vorkommen. Ein akutes Nierenversagen muss nicht mit einer Oligo- oder Anurie einhergehen und wird bei Kindern relativ häufig nur an Hand des Anstiegs von Kreatinin und Harnstoff diagnostiziert (v. a. intrinsisches Nierenversagen). Die Differenzierung prärenal/intrinsisch/postrenal ist für die weitere Therapie wichtig. Bei klinischer Eu- oder Hypervolämie (großes Herz, hoher ZVD, normale Rekapillierungszeit) sind Volumenbolusgaben (10–20 ml Ringer/NaCl 0,9% über 15 min) nicht indiziert. Fehlt bei normalem Intravasalvolumen die Ausscheidung, besteht der Verdacht auf ein intrinsisches Nierenversagen. Die diuretische Therapie sollte dann zunächst mit Furosemid/Theophyllin (Furosemid-Einzeldosis bis 10 mg/kg KG i.v. oder als Furosemid/ Theophyllin-Dauertropf mit täglich 10 mg kg KG Furosemid/ 6 mg kg KG Theophyllin) und evtl. Hydromedine (Einzeldosis 0,5–2 mg/kg KG) intensiviert werden. Die Indikationen zur Durchführung einer Nierenersatztherapie bei onkologischen Patienten sind streng zu stellen, insbesondere solange noch eine Diurese besteht. Bei diuretikaresistenter Hypervolämie mit respiratorischer Insuffizienz, Hyperkaliämie mit EKG-Veränderungen oder sehr schwerer Azidose sollte die Entwicklung eines urämischen Vollbildes (Perikarditis!) aber nicht abgewartet werden und mit einem extrakorporalem Eliminationsverfahren begonnen werden. Die physiologischen Grundlagen und die technische Durchführung der unterschiedlichen Filtrations- und Dialyseverfahren sind in den Lehrbüchern der Intensivmedizin beschrieben.
Die Überwachung, Sicherung und Wiederherstellung der Vitalfunktionen eines Kindes mit hämatologischer Systemerkrankung, solidem Tumor und/oder nach Blutstammzelltransplantation erfolgt grundsätzlich nach den selben Prinzipien wie bei anderen vital gefährdeten Kindern. Die jüngsten Fortschritte in der pädiatrischen Intensivtherapie haben – trotz der zahlreichen noch bestehenden Probleme – zu den verbesserten Heilungschancen dieser Kinder beigetragen.
977 78 · Intensivtherapie
Literatur The Acute Respiratory Distress Syndrome Network (2000) Ventilation with lower tidal volumes as compared with traditional tidal volumes for acute lung injury and the acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med 342:1301–1308 Butt W, Barker G, Walker C et al (1988) Outcome of children with hematologic malignancy who are admitted to an intensive care unit. Crit Care Med 16:761–764 Hartsell WF, Czyzewski EA, Ghalie R, Kaizer H (1995) Pulmonary complications of bone marrow transplantation: a comparison of total body irradiation and cyclophosphamide to busulfan and cyclophosphamide. Int J Radiat Oncol Biol Phys 32:69–73 Heney D, Lewis IJ, Lockwood L et al (1992) The intensive care unit in paediatric oncology. Arch Dis Child 67:294–298 Meert K, Lieh-Lai M, Sarnaik I, Sarnaik A (1991) The role of intensive care in managing childhood cancer. Am J Clin Oncol 14:379–382 Veys P, Owens C (2002) Respiratory infections following haemopoietic stem cell transplantation in children. Br Med Bull 61:151–174
78
Infektionen A.H. Groll, A. Simon, T. Lehrnbecher
79.1 79.2
V
79.2.1 79.2.2 79.2.3 79.2.4 79.2.5
Infektionsgefährdung des onkologischen Patienten – 978 Fieber bei Granulozytopenie – 979 Initiale Diagnostik – 981 Initiale antibakterielle Therapie – 982 Persistierendes Fieber unter empirischer antibakterieller Therapie – 984 Prognose bei Fieber und Granulozytopenie – 985 Supportive immunmodulatorische Verfahren – 986
79.3
Systembezogene infektiologische Differenzialdiagnose – 987
79.3.1 79.3.2 79.3.3 79.3.4 79.3.5 79.3.6
Zentralvenöse Katheter – 987 Respirationstrakt – 987 Zentralnervensystem – 989 Alimentationstrakt – 991 Urogenitaltrakt – 992 Integument – 992
79.4
Klinik, Diagnose und Management spezifischer Infektionen – 993
79.4.1 79.4.2 79.4.3 79.4.4 79.4.5 79.4.6 79.4.7 79.4.8 79.4.9 79.4.10 79.4.11
Nokardien – 993 Listerien – 993 Mykobakterien – 993 Mykoplasmen, Chlamydien und Legionellen Invasive Pilzinfektionen – 994 Pneumocystis jiroveci – 996 Toxoplasma gondii – 996 Viren der Herpesgruppe – 997 Ortho- und Paramyxoviren – 999 Adenoviren – 999 Parvovirus B19 – 1000
79.1
– 994
79.5
Infektionsprävention
79.5.1 79.5.2 79.5.3 79.5.4 79.5.5
Infektionskontrollprogramm – 1000 Nicht-medikamentöse Infektionsprävention – 1000 Medikamentöse Infektionsprävention – 1001 Infektionsprävention nach Splenektomie – 1003 Pävention mit Immunglobulinen und Vakzinen – 1003
Literatur
– 1000
– 1003
Mit wachsender Dosisintensität der antineoplastischen Chemotherapie und der Zunahme invasiver supportiver Verfahren sind Infektionen trotz verbesserter diagnostischer, therapeutischer und präventiver Verfahren weiterhin eine der wichtigsten Komplikationen bei der Behandlung bösartiger Erkrankungen. Die Mehrzahl der Krebserkrankungen des Kindes- und Jugendalters wird in kurativer Absicht behandelt. Infektiöse Komplikationen können durch eine Verzögerung der onkologischen Behandlung zu einer Verschlechterung der
▼
Heilungsaussichten der Grunderkrankung führen und nach wie vor trotz Einsatz aller zur Verfügung stehenden Interventionen unbeeinflussbar tödlich verlaufen. Die Beherrschung von Infektionen ist daher eine der wesentlichsten Voraussetzungen der erfolgreichen Behandlung neoplastischer Erkrankungen und der Durchführung etablierter und neuer Verfahren der hämatopoetischen Stammzelltransplantation.
Infektionsgefährdung des onkologischen Patienten
Beim onkologischen bzw. stammzelltransplantierten Patienten wird sowohl durch die Grunderkrankung selbst als auch durch die notwendige zytotoxische bzw. immunsuppressive Therapie eine komplexe Störung aller Abwehrsysteme hervorgerufen, die ihren Niederschlag in einem breiten Spektrum auch gleichzeitig möglicher oder relativ seltener Infektionserreger resultiert (⊡ Tabelle 79.1; Lehrnbecher et al. 1997). Ganz im Vordergrund der Infektionsgefährdung des onkologischen Patienten unter Polychemotherapie (⊡ Abb. 79.1) steht der Mangel an neutrophilen Granulozyten mit Risiko für bakterielle Infektionen, v. a. bei gleichzeitiger Schädigung der Schleimhäute. Ab einer Zahl von unter 500 neutrophilen Granulozyten/ml steigt das Risiko einer invasiven bakteriellen Infektion in Abhängigkeit von der Dauer der Granulozytopenie (Bodey et al. 1966; Schimpff et al. 1971). Bei ausgeprägter und prolongierter (<500/µl, >10 Tage) Granulozytopenie besteht darüber hinaus eine täglich wachsende Bedrohung durch invasive Hefe- und Schimmelpilzinfektionen (Pizzo et al. 1982b; Gerson et al. 1984). Komplexe und zum Teil langanhaltende Defekte der zellvermittelten Immunität als Folge von Grunderkrankung, antineoplastischer Chemotherapie bzw. der Therapie mit Kortikosteroiden (Mackall et al. 1995) prädisponieren zu Erkrankungen durch intrazelluläre Erreger, Viren und bestimmten Parasiten, während die gleichzeitige Störung der humoralen Immunität zu einer Gefährdung durch Bakterien und möglicherweise auch respiratorischen Viren beiträgt (Lehrnbecher et al. 1997). Speziell splenektomierte Patienten haben ein lebenslang erhöhtes Risiko für fulminante Bakteriämien durch bekapselte Bakterien (Reid 1994; Yuen et al. 1998; Kulkarni et al. 2000). Weitere, die Infektionsgefährdung bestimmende Einflussgrößen sind vielfältige Störungen der Granulozytenfunktion, die Unterbrechung der Haut-/Schleimhautbarriere durch Zytostatika, Strahlentherapie, Punktionen, Katheter, Drainagen und operative Eingriffe, die Kolonisation der
979
Zytomegalievirus Varicella-Zoster-Virus Herpes-simplex-Virus Epstein-Barr-Virus Humanes-Herpes-Virus 6 Masernvirus Respiratory-syncytial-Virus Parainfluenzaviren Influenzaviren Adenoviren Echoviren Toxoplasma gondii Cryptosporidium spp. Strongyloides stercoralis*
Schleimhäute durch Candida spp. und Hospitalkeime, Tumorobstruktionen, ZNS-Funktionsstörungen mit nachfolgender Aspirationsgefahr sowie der bei vielen Patienten reduzierte Allgemein- und Ernährungszustand (Lehrnbecher et al. 1997; Groll u. Müller 1998b). Hämatopoetische Stammzelltransplantation. Das Infektions-
* nur bei geographischer Exposition.
Legionella spp. Mycoplasma pneumoniae Chlamydia spp. Staphylococcus aureus Koagulase-negative Staphylokokken α-hämolysierende Streptokokken Enterokokken Pneumokokken Haemophilus influenzae Pseudomonas aeruginosa Escherichia coli Klebsiella spp. Enterobacter spp. Andere Gram-positive und Gram-negative Erreger Anaerobier Mycobacterium tuberculosis Atypische Mykobakterien Nocardia spp. Listeria spp.
Aspergillus spp. Candida spp. Cryptococcus neoformans Trichosporon beigelii Fusarium spp. Zygomycetes Pigmentierte Schimmelpilze Histoplasma capsulatum* Coccidioides immitis* Pneumocystis jiroveci
Viren Parasiten Pilze Intrazelluläre (atypische) Erreger Bakterien
⊡ Tabelle 79.1. Infektionserreger bei Kindern und Jugendlichen mit hämatologisch-onkologischen Erkrankungen (häufigste Erreger kursiv)
79 · Infektionen
risiko nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation (HSZT) folgt konzeptuell 3 Phasen, die von der in der jeweiligen Phase vorherrschenden Abwehrstörung bestimmt sind (⊡ Abb. 79.2): Die frühe Phase (Transplantation bis Engraftment) ist durch die Granulozytopenie und Schleimhautschädigung mit prädominantem Risiko invasiver Infektionen durch Bakterien der residenten Flora, Candida spp. und Aspergillus spp. sowie mukokutaner Herpes-simplex-Reaktivierungen bestimmt. Die mittlere Phase (Engraftment bis Tag +100) wird von der Störung der zellvermittelten erworbenen Immunität dominiert, die wesentlich vom Vorhandensein einer »graft versus host disease« (GVHD) bzw. ihrer Therapie beeinflusst wird. In dieser Phase sind die Patienten v. a. durch Herpesviren, insbesondere CMV, aber auch Aspergillus spp., Pneumocystis jiroveci (früher: carinii) und, bei T-Zell-depletiertem Transplantat, Adenoviren und Epstein-Barr-assoziierte lymphoproliferative Erkrankungen gefährdet. Die späte Phase (nach Tag +100) wird von der inkompletten Regeneration der erworbenen zellvermittelten und humoralen Immunität und Störungen des retikuloendothelialen Systems bei allogen transplantierten Patienten mit GVHD oder alternativen Spendern bestimmt. Die wichtigsten Erreger bei diesen Patienten umfassen Herpesviren (CMV, VZV), Epstein-Barr-assoziierte lymphoproliferative Erkrankungen, Adenoviren, respiratorische Viren, Aspergillus spp., P. jiroveci und Infektionen durch bekapselte Bakterien (z. B. Pneumokokken, H. influenzae). Patienten nach autologer HSZT haben in der Regel eine raschere Regeneration der erworbenen Immunität und damit ein deutlich geringeres Risiko für opportunistische Infektionen in Phase II und III. Das Risiko opportunistischer Infektionen nach allogener HSZT ist im Wesentlichen proportional zu Auftreten und Schweregrad der GVHD, deren Risiko wiederum mit dem Ausmaß der Divergenz der Histokompatibilität steigt. Wichtige zusätzliche Variablen der Infektionsgefährdung nach allogener HSZT sind das Konditionierungsregime (z. B. myeloablativ vs. nicht-myeloablativ), Manipulationen des Grafts (z. B. T-Zelldepletion in vivo bzw. ex vivo), die immunsuppressive Therapie (z. B. Steroide) sowie antiinfektiöse Supportivmaßnahmen (z. B. Fluconazol-Prophylaxe), die alle einem kontinuierlichem Wandel unterworfen sind und bei der Beurteilung des individuellen Patienten berücksichtigt werden müssen (Sable u. Donowitz 1994; CDC 2000). 79.2
Fieber bei Granulozytopenie
! Die Messung der Körpertemperatur sollte beim granulozytopenen krebskranken bzw. stammzelltransplantierten Patienten etwa alle 4 h erfolgen. Ambulante Patienten müssen bei Fieber umgehend die Klinik aufsuchen und evaluiert werden (⊡ Abb. 79.3).
79
980
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
V
⊡ Abb. 79.1. Einflussgrößen der Infektionsgefährdung onkologischer Patienten (nach Lehrnbecher et al. 1997)
⊡ Abb. 79.2. Infektionsrisiken nach hämatopoetischer Stammzelltransplantation in Abhängigkeit von der Zeit nach Transplantation (nach Centers for Disease Control 2000)
981 79 · Infektionen
⊡ Abb. 79.3. Diagnostisch-therapeutischer Algorithmus bei Fieber und Granulozytopenie. T-CT hochauflösende thorakale Computertomographie (nach Groll u. Müller 1998)
Nach internationalen Kriterien wird Fieber definiert als eine Temperaturerhöhung auf ≥38,3°C oral bei einer Messung bzw. eine Temperatur von ≥38,0°C über ≥1 h. Eine Granulozytopenie liegt vor bei <500 neutrophilen Granulozyten/µl oder einer Zahl von ≤1000 neutrophilen Granulozyten mit absehbarem Abfall auf <500/µl (Hughes et al. 2002). Grundsätzlich muss beim fiebernden granulozytopenen Patienten immer von einer Infektion ausgegangen werden. Spezifische klinische oder radiologische Zeichen fehlen häufig (Sickles et al. 1975); Fieber und Abgeschlagenheit können zunächst die einzige Manifestation einer invasiven Infektion sein. Andererseits ist Fieber nicht obligat und selbst bei banal erscheinenden fokalen Symptomen bzw. Befunden ist eine beginnende Infektion immer differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen. Da invasive bakterielle Infektionen bei eingeschränkter Abwehrlage binnen Stunden einen unbeeinflussbar tödlichen Verlauf nehmen können (Schimpff et al. 1971), ist eine rasche empirische und breite antibakterielle Behandlung des fiebernden oder infektionsverdächtigen granulozytopenen Patienten vor Erhalt mikrobiologischer Ergebnisse unbestrittener Standard der supportiven Therapie krebskranker und stammzelltransplantierter Patienten (De Pauw u. Donelly 1997; Pizzo 1993, Hughes et al. 2002). 79.2.1 Initiale Diagnostik Neben einer unmittelbaren Beurteilung von Kreislauf und Atmung dienen Anamnese, subjektive Symptome, insbeson-
dere Schmerzen, und die sorgfältige körperliche Untersuchung des Patienten v. a. der Lokalisation möglicher Infektionsherde. Nicht zu vergessen sind dabei Oropharynx, Ösophagus, Anogenitalbereich, die Weichteile und das Integument mit Punktionsstellen, Kathetereinstichstellen, subkutanen Katheterbestandteilen und dem Nagelfalz. Die routinemäßige Anfertigung einer Thoraxröntgenaufnahme ist kontrovers, erforderlich ist sie bei respiratorischen Symptomen bzw. Befunden und empfohlen bei geplanter ambulanter Therapie (Hughes et al. 2002). Die Laboruntersuchung sollte großes Blutbild, C-reaktives Protein, Serumelektrolyte, Parameter der Leber- und Nierenfunktion, Gerinnungsstatus, Urinstatus mit Urinkultur und ggf. einen Säure-Basen-Status umfassen. Nach Möglichkeit sind 2 Blutkultursets (6 Flaschen) zur gleichen Zeit (Lamy et al. 2002) abzunehmen, bei liegendem zentralvenösen Katheter ein Set aus jedem Lumen (Pizzo 1993); die Ausbeute der Kulturen ist dabei vom gewonnenen Probenvolumen und dem eingesetzten System abhängig (Weinstein et al. 1994; McDonald et al. 2001). Die zusätzliche Abnahme peripherer Blutkulturen ist umstritten, der Vergleich peripher und zentral gewonnener Kulturen zur Diagnose von Katheterinfektionen ist aufwändig und in der Routine nicht erforderlich (Hughes et al. 2002). Von zugänglichen infektionsverdächtigen Stellen ist Material für eine Gram-Färbung und für Routinekulturen auf Bakterien und Pilze zu gewinnen. Mikrobiologische Untersuchungen von Nasenrachensekret, Stuhl oder Liquor sind nur bei entsprechender Klinik angezeigt.
79
982
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Im Einzelfall können nach Bewertung der Befunde weitere bildgebende, endoskopische, bioptische und spezielle mikrobiologische diagnostische Verfahren erforderlich sein ( Abb. 79.3). 79.2.2 Initiale antibakterielle Therapie
V
Bei etwa 20% fiebernder granulozytopener Patienten kann ein Erreger in Blutkulturen nachgewiesen werden, etwa 20% haben eine mikrobiologisch gesicherte Infektion ohne Bakteriämie und weitere 20% eine nur klinisch-bildgebend nachweisbare Infektion; bei etwa 40% der Patienten kann eine Infektion als Ursache des Fiebers nicht gesichert werden (Fieber unbekannter Ursache, FUO; Pizzo et al. 1982b; Klastersky et al. 1988). Die überwiegende Mehrzahl mikrobiologisch gesicherter bakterieller Infektionen ist auf Erreger der endogenen Flora zurückzuführen, von denen wiederum etwa die Hälfte im Krankenhaus erworben ist (Schimpff et al. 1972). Im Laufe der 80er-Jahre wurde neben einer leichten relativen Abnahme der zuvor dominierenden Gram-negativen Erreger eine stetige Zunahme Gram-positiver Erreger (insbesondere Koagulase-negativer Staphylokokken, aber auch α-hämolysierender Streptokokken und S. aureus) in Blutkulturen registriert (Klastersky et al. 1988; Pizzo 1993; Bochud et al. 1994; Tunkel u. Sepkowitz 2002). In jüngerer Zeit wird jedoch aus einzelnen Zentren wieder eine Zunahme Gram-negativer Erreger berichtet (Aquino et al. 1995). Die Häufigkeit von Anaerobiern (Brown et al. 1989) als Infektionserreger mit Ursprung in Mundhöhle und Dickdarm blieb über die Jahre mit <5% konstant (Hughes et al. 2002). Empirische antibakterielle Therapie. Grundsätzliche Anfor-
derungen an die empirische antibakterielle Therapie granulozytopener pädiatrischer Patienten sind intravenöse Applizierbarkeit, hohe Serumbakterizidie, minimale Toxizität, geringes Potenzial für die Induktion von Resistenzmechanismen, Synergie bei Einsatz mehrerer Substanzen und ein breites Erregerspektrum, das auch bei erfolgreichem Erregernachweis in ggf. modifizierter Form wegen möglicher Zweitbzw. Doppelinfektionen beibehalten werden muss (Pizzo et al. 1991a; Groll et al. 1998b; Hughes et al. 2002). Eine initiale empirische Therapie mit oral verabreichten Substanzen ist bei definierten Niedrigrisikopatienten möglich (Freifeld et al. 1999), aber nicht für den ambulanten Bereich evaluiert und wird für pädiatrische Patienten von uns und anderen (Hughes et al. 2002) nicht empfohlen. Ein in jeder Situation optimales empirisches antibakterielles Regime existiert nicht. In Abhängigkeit vom abteilungsspezifischen Erregerspektrum und der Resistenzsituation, präexistenten Organfunktionsstörungen bzw. Allergien des Patienten und der Komedikation besteht die Initialtherapie aus einer Pseudomonas aeruginosa einschließenden Zweifachkombination aus einem Acylaminopenicillin (Mezlocillin, Piperacillin) bzw. einem Cephalosporin (Ceftazidim, Cefepim) oder Carbamapenem (Imipenem-Cilastatin bzw. Meropenem) und einem Aminoglykosid (Gentamycin, Tobramycin, Amikacin) (⊡ Tabelle 79.2; Hughes et al. 2002; De Pauw u. Donelly 1997; Pizzo 1993). Die tägliche Einmalgabe von Ceftriaxon in Kombination mit einem Aminoglykosid
erscheint gleichermaßen effektiv wie die Gabe von Ceftazidim und einem Aminoglykosid dreimal täglich (Charnas et al. 1997), ist jedoch weniger gut evaluiert. Aufgrund hoher Bakterizidie und breiter Wirkspektren ist die Monotherapie mit Cefepim (Biron et al. 1998; Wang et al. 1999), Imipenem-Cilastatin (Freifeld et al. 1995), oder Meropenem (Cometta et al. 1996) eine gleichwerte Alternative zu Zweifachkombinationen; beim Einsatz von Ceftazidim in der Monotherapie (de Pauw et al. 1994; Pizzo et al. 1986) ist die Existenz von Typ-1- und »Extended-spectrum«-β-Laktamasen Gram-negativer Erreger zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu Ceftazidim haben Cefepim, Imipenem und Meropenem gute Aktivität gegenüber Viridans-Streptokokken und Pneumokokken; allen hier erwähnten Substanzgruppen gemeinsam ist jedoch eine unzureichende Aktivität gegenüber Koagulase-negativen Staphylokokken, Oxacillinresistenten Staphylokokken und Vancomycin-resistenten Enterokokken (Hughes et al. 2002). Der therapeutische Nutzen von Chinolonen ist durch die häufige Verwendung von Ciprofloxacin als antibakterielle Prophylaxe limitiert; ein routinemäßiger Einsatz von Substanzen dieser Klasse als Monotherapie bei Granulozytopenie und Fieber wird derzeit nicht empfohlen (Hughes et al. 2002). Kombinationen von neueren Chinolonen (Levofloxacin, Gatifloxacin, Moxifloxacin) mit β-Laktamen werden derzeit in klinischen Studien bei Patienten ohne Chinolon-Prophylaxe evaluiert. Glykopeptide. Aufgrund der Gefahr der Selektion v. a. resis-
tenter Enterokokkenstämme [Pizzo 1993; de Pauw u. Donelly 1997) ist die routinemäßige Gabe von Glykopeptiden (Vancomycin, Teicoplanin) in der empirischen Initialtherapie (Menichetti et al. 1994) sehr kritisch zu bewerten. In mehreren Studien wurde gezeigt, dass ein gezielter Einsatz nach Erhalt mikrobiologischer Ergebnisse ausreichend ist (EORTC 1991; Ramphal et al. 1992; Rubin et al. 1988). Ausnahmen sind (Hughes et al. 2002): ▬ Institutionen und Patientenkollektive mit hoher Infektionsrate durch β-Laktam-resistente α-hämolysierende Streptokokken, wobei bei negativen Blutkulturen das Glykopeptid nach 48–72 h abgesetzt werden sollte; ▬ Verdacht auf schwere, Katheter-assoziierte Infektionen; ▬ eine bekannte Kolonisation mit Penicillin-resistenten Pneumokokken oder Oxacillin-resistenten S. aureus; ▬ Nachweis Gram-positiver Bakterien in Blutkulturen vor Identifizierung und Resistenztestung; ▬ Kreislaufinstabilität. In diesen Fällen sollte das Glykopeptid empirisch zusätzlich zu oben genannten Zweifach- oder Monotherapien verabreicht werden. Sepsissyndrom und septischer Schock. Für Patienten mit Sepsissyndrom bzw. septischem Schock stellen Kombinationen aus Imipenem-Cilastatin, Meropenem oder Cefepim plus einem Aminoglykosid und ggf. auch einem Glykopeptid maximal breite und bakterizide »rescue regimes« dar. Bei β-LaktamAllergie ist Aztreonam plus Vancomycin (bei Instabilität in Kombination mit einem Aminoglykosid) eine effektive, validierte Alternative ( Tabelle 79.2; Jones et al. 1986). Im Falle zwingender renaler Komplikationen kann das Aminoglykosid im individuellen Fall durch ein neueres Chinolon ersetzt werden.
Tagesdosis (mg/kg)
Anmerkungen
Mezlocillin Piperacillin
200–300 in 4–6 ED i.v. (maximal 24 g)
Breites Gram-negatives Spektrum (besonders P. aeruginosa), Anaerobier, Enterokokken, Streptokokken. Nur in Kombination mit Aminoglykosid/Cephalosporin der 3. Generation.
Ceftazidim
100 in 3 ED i.v. (maximal 6 g)
Breites Gram-negatives Spektrum einschl. P. aeruginosa. Limitiertes Gram-positives Spektrum. Keine Aktivität gegenüber Anaerobiern. Kombination mit Aminoglykosid bei Gram-negativer Bakteriämie empfohlen.
Cefepim
150 in 3 ED i.v. (maximal 6 g)
Pseudomonas-Aktivität ähnlich Ceftazidim. Bessere Aktivität gegenüber Streptokokken und Oxacillin-sensiblen Staphylokokken. Alternative zu Ceftazidim.
Ceftriaxon
75–100 in 1–2 ED i.v. (maximal 4 g)
Option in der empirischen Therapie nicht-granulozytopener Patienten mit zentralvenösem Katheter bzw. in der ambulanten Therapie. Unzureichende Aktivität gegenüber P. aeruginosa (ggf. Kombination mit Aminoglykosid). Aktiv gegenüber Oxacillin-sensiblen Staphylokokken.
Imipenem
50 in 4 ED i.v. (maximal 4 g) 60 in 3 ED i.v. (maximal 3 g)
Breites Gram-negatives und Gram-positives Spektrum einschließlich P. aeruginosa. Breite Anaerobier-Wirksamkeit. Eingeschränkte Aktivität gegenüber Oxacillin-resistenten Staphylokokken. Kombination mit Aminoglykosid empfohlen für Therapie von PseudomonasInfektionen.
Aztreonam
100–150 in 4 ED i.v. (maximal 8 g)
Ausschließlich Gram-negatives Spektrum einschließlich vieler P. aeruginosa-Isolate. Mit Vancomycin (ggf. plus Gentamicin) Alternative bei Betalaktam-Allergie.
Vancomycin Teicoplanin
40 in 2–4 ED i.v. (maximal 4 g) 10 in 1 ED i.v. (Tag 1: 20 in 2 ED)
Ausschließlich Gram-positives Spektrum. Monitoring der Plasmakonzentrationen empfohlen bzw. erforderlich bei eingeschränkter Nierenfunktion.
Gentamicin Tobramicin Amikacin
5 in 3 oder 1 ED i.v. 5 in 3 ED i.v. 15 in 2 ED i.v. (maximal 1,5 g)
Kombinationspartner in der empirischen Therapie und in der Therapie dokumentierter Gram-negativer Infektionen. Bestandteil der Rescue-Regimes bei Sepsissyndrom und septischem Schock. Monitoring der Plasmakonzentrationen empfohlen bzw. erforderlich bei eingeschränkter Nierenfunktion.
Metronidazol
30 in 4 ED i.v. (maximal 4 g)
Anaerobier-aktive Substanz (intraorale, abdominelle, perirektale Prozesse). Erste Wahl zur Therapie von Clostridium difficile (p.o.).
Erythromycin
30–50 in 4 ED i.v. (maximal 4 g)
Standardtherapie von vermuteten bzw. gesicherten Infektionen durch intrazelluläre Erreger (Chlamydien, Mykoplasmen und Legionellen).
Ciprofloxacin
30 in 2–3 ED p.o. (maximal 2 g)
Gute Aktivität gegenüber Gram-negativen Darmkeimen einschließlich P. aeruginosa und gegen Oxacillin-sensible Staphylokokken. Eingeschränkte Aktivität gegenüber Anaerobiern, Enterokokken und Viridans-Streptokokken. Kombinationspartner mit Amoxicillin/ Clavulansäure in der oralen ambulanten Therapie bei Fieber und Granulozytopenie.
Amoxicillin/Clavulansäure
40 in 2–3 ED p.o. (maximal 1,5 g)
Spektrum und Aktivität wie Ampicillin, breitere Aktivität im Gram-negativen Spektrum und gegenüber Anaerobiern. Kombinationspartner mit Ciprofloxacin in der oralen ambulanten Therapie bei Fieber und Granulozytopenie.
Cefixim
8–12 in 1–2 ED p.o. (maximal 400 mg)
Oralcephalosporin mit erweitertem Spektrum gegenüber Gram-negativen Stäbchen und guter Aktivität im Gram-positiven Bereich (Streptokokken und Penicillin-sensible Pneumokokken. Nicht aktiv gegenüber P. aeruginosa, Oxacillin-resistenten Staphylokokken und Enterokokken. Option in der oralen ambulanten Therapie bei Fieber und Granulozytopenie.
Meropenem
983
Substanz
79 · Infektionen
⊡ Tabelle 79.2. Häufig verwendete Substanzen in der Behandlung vermuteter bzw. gesicherter bakterieller Infektionen bei Kindern und Jugendlichen mit hämatologisch-onkologischen Erkrankungen
79
984
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Behandlungsdauer ! Ist der Patient nach 48–72 h fieberfrei, stabil und kein Erreger bzw. Infektionsherd nachgewiesen, sollte die antibakterielle Therapie bis zur hämatopoetischen Regeneration (>500 Granulozyten/µl und Abwesenheit von Fieber für 48 h) fortgeführt werden ( Abb. 79.3; Hughes et al. 2002).
V
Bei entfieberten, klinisch durchgehend stabilen Patienten mit niedrigem Risiko für schwere Infektionen (Remission der Grunderkrankung; erwartete Granulozytopeniedauer <7 Tage; negative Blutkulturen; negativer Thoraxröntgen; kein anderer Infektionsfokus; Abwesenheit von Leber- und Nierenfunktionsstörungen; Abwesenheit einer höhergradigen Mukositis) kann die Fortführung der Behandlung auf ambulanter Basis mit intravenösen (Martino et al. 1992; Petrilli et al. 2000) bzw. auch oralen (Ciprofloxacin plus Amoxicillin/Clavulansäure (Freifeld et al. 1999; Kern et al. 1999) bzw. Cefixim (Shenep et al. 2001; Paganini et al. 2000) antibakteriellen Substanzen individuell erwogen werden ( Tabelle 79.2; Hughes et al. 2002). Voraussetzung ist die rasche Erreichbarkeit der behandelnden Klinik, eine zuverlässige häusliche Überwachung bzw. ggf. tägliche ambulante Vorstellungen. Ein Absetzen der antibakteriellen Therapie vor der hämatopoetischen Regeneration bei dieser Patientengruppe ist nicht ausreichend untersucht und wird daher nicht empfohlen. Bei Nachweis eines Erregers in Blutkulturen beträgt die Behandlungsdauer 10–14 Tage. Bei Organinfektionen ist, abhängig von Erreger und Lokalisation, unter Umständen eine länger dauernde Therapie bis zur Resolution aller klinischen und radiologischen Befunde; ggf. sind auch chirurgische Interventionen erforderlich (Pizzo 1993). Orientiert am Resistogramm ist das antibakterielle Regime ggf. zu optimieren, bei persistierender Granulozytopenie bis zur hämatopoetischen Regeneration unter Beibehaltung des breiten Spektrums. Bei Nachweis virulenter Gram-negativer Erreger empfiehlt sich die Kombination mit einem Aminoglykosid (EORTC 1987; Freifeld et al. 1996); für Infektionen durch Glykopeptid-resistente Gram-positive Kokken stehen Oxazolidinone (Linezolid) und Streptogramine (Quinupristin/ Dalfopristin) zur Verfügung (Diekema u. Jones 2001; Bain u. Wittbrodt 2001). 79.2.3 Persistierendes Fieber unter empirischer
antibakterieller Therapie Beim persistierend fiebernden Patienten sollten täglich Blutkulturen entnommen werden; bei länger als 48–72 h persistierendem Fieber oder bei Wiederauftreten von Fieber unter antibakterieller Therapie ist eine Reevaluierung der Situation einschließlich der erneuten Anlage von Blutkulturen und – in Abwägung von klinischen Befunden und Infektionsrisiko – der Durchführung adäquater bildgebender Verfahren (hochauflösende Computertomographie der Lungen und ggf. der Nasennebenhöhlen bzw. Sonographie des Abdomens) angezeigt ( Abb. 79.3; Hughes et al. 2002). Stabiler klinischer Zustand. Ist der Patient in einem klinisch
stabilen Zustand und ergeben sich keine neuen klinischen,
radiologischen und mikrobiologischen Gesichtspunkte, so ist die Fortführung des initialen Regimes unter sorgfältiger Beobachtung gerechtfertigt, insbesondere, wenn ein baldiges Ende der Granulozytopenie abzusehen ist (Hughes et al. 1990; Pizzo 1993; Hughes et al. 2002). Verschlechterung des klinischen Zustandes. Hat sich der
klinische Zustand verschlechtert, sind Blutkulturen weiterhin positiv, zeigen Infektionsherde eine Progression oder sind neue Läsionen klinisch bzw. radiologisch nachweisbar, ist spätestens zu diesem Zeitpunkt eine Modifizierung der antimikrobiellen Therapie angezeigt. Bei unklaren Befunden und möglichen Konsequenzen für das weitere Vorgehen ist eine unter Umständen auch invasive Diagnostik erforderlich. Bestehen Hinweise auf eine Beteiligung Gram-positiver Erreger (Haut-, Weichteil- oder Katheter-assoziierte Läsionen), sollte Vancomycin oder Teicoplanin zu dem initialen Regime hinzugefügt werden. Enthielt das initiale Regime Penicillinderivate, kann auf Ceftazidim bzw. Imipenem in Kombination mit einem Aminoglykosid umgesetzt werden. Bei Vorliegen intraoraler, perirektaler oder intraabdomineller Befunde sind Anaerobier (wirksam: Metronidazol, Clindamycin, Meropenem, Imipenem) bzw. Enterokokken (wirksam: Glykopeptide) zu berücksichtigen (Hughes et al. 1990; Pizzo 1993). Bei diffusen interstitiellen pulmonalen Infiltraten ist in erster Linie an Pneumocystis jiroveci und Zytomegalievirus, und bei Nachweis neuer fokaler Infiltrate v. a. an Aspergillus spp. und andere Schimmelpilze zu denken. In zweiter Linie sind stets auch intrazelluläre Erreger sowie Infektionen durch Adeno-, RS-, Parainfluenza- und Influenzaviren zu berücksichtigen (⊡ Tabelle 79.3; Pizzo 1993; Groll et al. 1997). Invasive Pilzinfektionen. Aufgrund der v. a. bei prolongier-
ter Granulozytopenie (<500/µl, >10 Tage) bestehenden Bedrohung durch invasive Pilzinfektionen (Pizzo et al. 1982b; Gerson et al. 1984) ist die empirische antimykotische Therapie bei länger als 3–5 Tage anhaltendem Fieber wie auch bei erneutem Auffiebern unter antibakterieller Therapie auch ohne andere Hinweise auf eine invasive Pilzinfektion zu einem Standard der supportiven Behandlung geworden ( Abb. 79.3; Hughes et al. 2002; Groll u. Walsh 2002). Vom Konzept her stellt sie eine Prophylaxe bei Patienten mit höchstem Infektionsrisiko bzw. eine Frühtherapie noch okkulter Infektionen dar. Zur empirischen antimykotischen Therapie zugelassene Substanzen (⊡ Tabelle 79.4) sind konventionelles Amphotericin B Deoxycholat (Pizzo et al. 1982a; EORTC 1989) und liposomales Amphotericin B (Prentice et al. 1997; Walsh et al. 1999). Auch Caspofungin ist in dieser Indikation für Erwachsene zugelassen (Walsh et al. 2003). Äquivalente Effektivität im Vergleich zu konventionellem Amphotericin B wurde auch für Itraconazol intravenös (Boogaerts et al. 2001) und Fluconazol intravenös (Winston et al. 2000) bei nicht allogen transplantierten Patienten mit hämatologischen Neoplasien nachgewiesen. Wegen seiner fehlenden Aktivität gegenüber Schimmelpilzen ist jedoch der Einsatz von Fluconazol bei Patienten mit hohem Risiko für invasive Schimmelpilzinfektionen (z. B. Patienten mit AML bzw. nach allogener HSZT) zumindest umstritten (Groll u. Walsh 2002). Bei diesen Patienten
985 79 · Infektionen
⊡ Tabelle 79.3. Optionen der Modifikation der empirischen Initialtherapie fiebernder granulozytopener Kinder und Jugendlicher
Befunde/Klinik
Modifikationen des initialen Regimes
Initiale Blutkulturen Gram-positiver Erreger Gram-negativer Erreger Nachweis von Hefepilzen
Zusätzlich Glykopeptid Zusätzlich Aminoglykosid Zusätzlich antimykotische Therapie
Blutkulturen unter Therapie Gram-positiver Erreger Gram-negativer Erreger Nachweis von Hefepilzen
Zusätzlich Glykopeptid Imipenem bzw. Meropenem/Gentamicin Zusätzlich antimykotische Therapie
Mukositis/Gingivitis
Zusätzlich Metronidazol, Clindamycin (Anaerobier); Aciclovir (Herpes simplex)
Ösophageale Symptome
Zusätzlich Fluconazol, Voriconazol, Echinocandin (Hefen); wenn refraktär; ggf. Aciclovir
Abdominelle, perirektale und perianale Schmerzen
Zusätzlich Metronidazol, Clindamycin (Anaerobier); Vancomycin (Enterokokken)
Neue fokale pulmonale Infiltrate
Zusätzlich Schimmelpilz-wirksame antimykotischen Therapie, ggf. BAL bzw. Biopsie; ggf. auch Erythromycin (Mykoplasmen, Chlamydien, Legionellen)
Neue interstitielle Pneumonie
Sputuminduktion bzw. BAL (CMV, PCP u. a.); empirischer Start von TMP/SMZ
Sinusitis/intranasale Ulzera
Erregernachweis erstrebenswert wegen Indikation zur Amphotericin-B-Gabe (Aspergillus vs. Zygomyzeten)
Fokale ZNS-Symptome
Berücksichtigung von Schimmelpilzen, Nokardien, Toxoplasma, Herpesviren
Diffuse ZNS-Symptome
Berücksichtigung von Herpesviren, Toxoplasma, Schimmelpilzen
Sepsissyndrom, septischer Schock
Imipenem bzw. Meropenem/Gentamicin/Vancomycin
BAL bronchoalveoläre Lavage; CMV Zytomegalievirus; PCP Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie; TMP/SMX Trimethoprim/Sulfamethoxazol.
sollte in jedem Falle vor Beginn einer empirischen Therapie und ggf. seriell im Verlauf eine hochauflösende thorakale Computertomographie (Heussel et al. 1997; von Eiff et al. 1995) durchgeführt werden, um eine manifeste pulmonale Schimmelpilzinfektion mit Notwendigkeit einer maximal aggressiven Chemotherapie auszuschließen. Ist der Patient nach Überwindung der Granulozytopenie entfiebert und besteht kein klinischer und computertomographischer Anhalt für eine invasive Pilzinfektion, kann die antimykotische Therapie beendet werden (Walsh et al. 1996b; Hughes et al. 2002). Weiterhin persistierendes Fieber. Bei persistierendem Fie-
ber unter empirischer antibakterieller und antimykotischer Therapie und fehlendem Infektionsnachweis sind neben nicht-infektiösen Ursachen unverändert okkulte Pilzinfektionen sowie Erkrankungen durch Viren, Parasiten und intrazelluläre Erreger differenzialdiagnostisch im Auge zu behalten. Bei letztlich negativem Infektionsnachweis und klinisch stabiler Situation ist ein Absetzen der antimikrobiellen Therapie nach etwa 2 Wochen (<500 Granulozyten/µl) bzw. mit Knochenmarkserholung (>500 Granulozyten/µl) unter sorgfältiger Überwachung des Patienten gerechtfertigt (Hughes et al. 1990; Hughes et al. 2002). ! Persistierendes, hohes Fieber nach Überwindung der Granulozytopenie, insbesondere im Zusammenhang mit Druckschmerz im rechten oberen Quadranten
und pathologischen Leberfunktionswerten, ist ein Leitsymptom der chronisch-disseminierten Candidiasis (CDC) und sollte zu einer entsprechenden Herdsuche im Bereich der Oberbauchorgane, der Nieren und auch der Lungen veranlassen (Pizzo 1993; Walsh et al. 1996a).
79.2.4 Prognose bei Fieber
und Granulozytopenie Neben erregerbezogenen Faktoren (Virulenz, Resistenz) und der Bedeutung supportiver Maßnahmen ist die Prognose des fiebernden granulozytopenen Patienten im Wesentlichen vom sofortigen Beginn der empirischen Therapie und im weiteren von der Überwindung der Granulozytopenie abhängig. Die infektionsbedingte Mortalität liegt derzeit deutlich unter 10%, bei Gram-negativer Sepsis jedoch über 10% und ist wesentlich höher bei polymikrobieller Bakteriämie (de Pauw u. Donelly 1997). Die größte unmittelbare Gefahr besteht in der Ausbildung eines Sepsissyndroms bzw. eines septischen Schocks. Dieser ist mit einer Letalität von über 80% verbunden und kann bei grundsätzlich jedem Erreger auftreten. Das Sepsissyndrom äußert sich klinisch mit Hyperthermie bzw. Hypothermie, Tachykardie und Tachypnoe sowie zusätzlichen Befunden wie Hypoxämie, erhöhtem Plasmalaktat, vermin-
79
986
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 79.4. Substanzen zur Behandlung vermuteter bzw. gesicherter invasiver Pilzinfektionen bei Kindern und Jugendlichen mit hämatologisch-onkologischen Erkrankungen
V
Substanz
Tagesdosis (mg/kg)
Anmerkungen
Amphotericin B Deoxycholat
0,5–0,6 in 1 ED i.v.
Empirische antimykotische Therapie bei Fieber und Granulozytopenie
Liposomales Amphotericin B
Fluconazol
0,7–1,0 in 1 ED i.v.
Invasive Candida-Infektionen
0,7 in 1 ED i.v.
Kryptokokken-Meningoenzephalitis in Kombination mit 5-Flucytosin
1,0–1,5 in 1 ED i.v. (maximal 1,5 in 1 ED)
Infektionen durch Aspergillus und andere Fadenpilze (z. B. Fusarium spp. und andere hyaline Fadenpilze; Zygomyzeten; pigmentierte Fadenpilze)
1–3 in 1 ED i.v.
Empirische antimykotische Therapie bei Fieber und Granulozytopenie
3–5 in 1 ED i.v. (maximal 10 in 1 ED)
Therapie invasiver Pilzinfektionen bei Unverträglichkeit bzw. Versagen von Amphotericin-B-Deoxycholat: maximale Dosierung (5 mg/kg) bei invasiven Infektionen durch Aspergillus und andere Fadenpilze
8 in 1 ED i.v. (maximal 400)
Empirische antimykotische Therapie bei Patienten mit zu vernachlässigendem Risiko invasiver Schimmelpilzinfektionen; Konsolidierung und Erhaltungstherapie bei KryptokokkenMeningoenzephalitis
8–12 1 ED i.v. (maximal 800)
Therapie invasiver Candida Infektionen
1
Itraconazol
5 in 2 ED p.o. (Suspension)
Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie invasiver Infektionen durch Aspergillus spp. und andere Schimmelpilze. Aufrechterhaltung eines Itraconazol-Talspiegel >0,5 µg/ml empfohlen (HPLC)
Voriconazol
8 in 2 ED i.v. (Tag 1: 12 in 2 ED)
Primärtherapie invasiver Aspergillus-Infektionen Sekundärtherapie invasiver Infektionen durch Fusarium spp und Scedosporium prolificans
8 in 2 ED p.o./i.v. (Tag 1: 12 in 2 ED)
Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie invasiver Infektionen durch Aspergillus spp. und andere Schimmelpilze
Caspofungin
50 in 1 ED i.v. (Tag 1: 70 in 1 ED)2
Therapie invasiver Aspergillus-Infektionen bei Unverträglichkeit bzw. Versagen von Amphotericin B und Itraconazol Primärtherapie invasiver Candida-Infektionen nicht-granulozytopener Patienten
Flucytosin
100 in 3–4 ED i.v.
In Kombination mit Amphotericin B bei Kryptokokkose, CandidaMeningoenzephalitis, Endophthalmus sowie bei renaler, peritonealer und und disseminierter Candidiasis. Spiegelbestimmungen empfohlen (<100 µg/ml)
1
Untersuchungen zur Dosis der intravenösen Formulierung von Itraconazol bei pädiatrischen Patienten liegen nicht vor. Itraconazol ist für pädiatrische Alterstufen (<18 Jahre) nicht zugelassen; 2 Caspofungin ist bislang nicht für pädiatrische Patienten zugelassen. Vorläufige pharmakokinetische Untersuchungen legen eine Dosierung von 50 mg/m2 unter 12 Jahren und eine Dosierung von 50 mg (Tag 1: 70 mg) bei Patienten >12 Jahre nahe.
derter Urinausscheidung und zerebralen Funktionsstörungen. Bei insuffizientem systolischen Blutdruck liegt ein septischer Schock vor. Die kontinuierliche Beurteilung von Herz- und Atemfrequenz, peripherer Durchblutung, arteriellem Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Urinausscheidung und Bewusstseinslage des Patienten ist daher von größter Bedeutung. Die Behandlung des Sepsissyndroms und septischen Schocks besteht neben einer sofortigen, breiten und hochdosierten empirischen antibakteriellen Therapie (»rescue regime«) v. a. in allgemeinen, an vorliegenden Funktionsstörungen orientierten intensivmedizinischen Maßnahmen in spezialisierten intensivmedizinischen Einheiten ( Kap. 78).
79.2.5 Supportive immunmodulatorische
Verfahren Der therapeutische Nutzen von Granulozytentransfusionen zur Supportivtherapie vermuteter und auch gesicherter Infektionen bei Granulozytopenie ist bislang unklar. Die Vorbehandlung von Spendern mit G-CSF, verbesserte Phereseverfahren und die Inkubation separierter Granulozyten mit Zytokinen haben neue Perspektiven für dieses Verfahren eröffnet (Chanock u. Gorlin 1996). Aufgrund des ausstehenden Effektivitätsnachweises und der mit ihnen potenziell assoziierten Risiken (Respiratory Distress Syndrom, Übertragung von CMV-Infektionen, Alloimmunisierung) sind Granulozytentransfusionen bis zum Vorliegen adäquater
987 79 · Infektionen
klinischer Studien derzeit nur bei therapierefraktären progredienten Infektionen zu erwägen (Hughes et al. 2002). Rekombinante Kolonie-stimulierende Faktoren (G-CSF, GM-CSF) führen zu einer Verkürzung der Granulozytopeniephase nach zytotoxischer Chemotherapie und hämatopoetischer Stammzelltransplantation. Eine hierdurch bedingte Reduktion von Häufigkeit, Schwere und Mortalität Granulozytopenie-assoziierter Infektionen erscheint zwar plausibel, ist jedoch bislang nicht eindeutig belegt (Hughes et al. 2002). Ob Kolonie-stimulierende Faktoren eine Rolle in der Behandlung nachgewiesener Infektionen bei Patienten mit neoplastischen Erkrankungen haben, ist ebenfalls noch unklar; eine Anwendung ist jedoch bei absehbar langanhaltender Granulozytopenie und refraktären Infektionen gerechtfertigt (Hughes et al. 2002; Lehrnbecher 2001a; Lehrnbecher u. Welte 2002). Für den rationalen Einsatz Kolonie-stimulierender Faktoren liegen Leitlinien international anerkannter Fachgesellschaften vor ( Kap. 81; Lehrnbecher 2001a; Ozer et al. 2000; Schaison et al. 1998). Die Effektivität von hochdosierten Steroiden bei Sepsissyndrom und septischem Schock ist nicht belegt, jedoch hat bei Patienten mit nicht ausreichendem Anstieg des freien Kortisols nach Kortikotropinstimulation niedrig dosiertes Hydrokortison zu einer Senkung der 28-Tage Mortalität geführt (Annane et al. 2002; Cooper u. Stewart 2002). Nicht gesichert ist die Wirksamkeit von polyvalenten Immunglobulinpräparaten und von Antiseren bzw. monoklonalen Antikörpern gegen Endotoxinbestandteile der Zellmembran Gram-negativer Bakterien (»J-5«, »HA-1A«). Klinische Studien zur Modulation inflammatorischer Zytokine (TNF, IL-1 u. a.) sind bislang ohne positive Ergebnisse verlaufen (Warren 1997). In einer jüngeren Studie konnte gezeigt werden, dass aktiviertes Protein C zu einer Reduktion der Mortalität bei schwerer Sepsis führt (Bernard et al. 2001), allerdings auf Kosten eines erhöhten Risikos schwerer Hämorrhagien. Nutzen und Risiken von aktiviertem Protein C bei panzytopenen Patienten sind bislang jedoch nicht untersucht. 79.3
Systembezogene infektiologische Differenzialdiagnose
79.3.1 Zentralvenöse Katheter Gram-positive Bakterien, insbesondere Koagulase-negative Staphylokokken und S. aureus, sind die häufigsten Erreger Katheter-assoziierter Infektionen onkologischer Patienten, gefolgt von Corynebakterien, Bacillus spp., Gram-negativen Stäbchen (besonders Acinetobacter- und Pseudomonas spp.), Candida spp., und – sehr selten – atypischen Mykobakterien und Schimmelpilzen. Die Diagnose einer Katheter-assoziierten Infektion kann mikrobiologisch durch den Vergleich von Erregerdichte bzw. Zeit bis Nachweis des Erregerwachstums in zentralen und peripheren Blutkulturen gesichert werden (Hachem u. Raad 2002). Die meisten Katheter-assoziierten Bakteriämien können durch eine antibakterielle Therapie saniert werden. Bei persistierender Bakteriämie (positive Blutkulturen 48–72 h nach Beginn adäquater Therapie), bei Nachweis von Bacillus spp., resistenten Corynebakterien, P. aeruginosa, Stenotropho-
monas maltophilia, Glykopeptid-resistenten Enterokokken und Candida spp. oder einem Infektionsrezidiv ist eine Entfernung des Katheters angezeigt. Austrittsstelleninfektionen durch Gram-negative Keime, atypische Mykobakterien und Aspergillus spp. sind konservativ schwierig zu sanieren. Tunnel- und Reservoirinfektionen verlangen in aller Regel die Entfernung des Katheters (Pizzo 1993; Mermel et al. 2001; Hughes et al. 2002; Simon 2002). Die Verwendung imprägnierter Katheter, die Infusion der antimikrobiellen Therapie gleichzeitig bzw. rotierend über jedes einzelne Katheterlumen sowie das Blocken der Lumina mit antimikrobiellen Substanzen sind umstritten und daher nicht generell empfohlen (Hughes et al. 2002). Eine besondere Situation liegt beim nicht-granulozytopenen, fiebernden Patienten mit liegendem zentralvenösem Katheter vor, bei dem ein vielfach erhöhtes Bakteriämierisiko besteht (Hiemenz et al. 1986); das Risiko eines mit Gramnegativen Bakterien assoziierten septischen Schocks unterscheidet sich nicht von demjenigen bei granulozytopenen Patienten (Aledo et al. 1998). Neben einer sorgfältigen Untersuchung, einem Blutbild und der Abnahme von Blutkulturen ist eine empirische antibakterielle Therapie, z. B. mit Ceftriaxon, indiziert, bei stabilen Patienten unter Umständen auch auf ambulanter Basis mit täglichen Wiedervorstellungen. Bleiben Blutkulturen über 48–72 h negativ, bestehen keine anderen Infektionszeichen, ist Patient und Neutrophilenzahl stabil und ein Abfall der Granulozyten nicht zu erwarten, kann die antibakterielle Therapie unabhängig vom Fieberstatus abgesetzt werden. Bei positiven Kulturen und bei drohender Granulozytopenie ist eine ggf. modifizierte Fortführung der Behandlung nötig. 79.3.2 Respirationstrakt Infektionen des oberen Respirationstraktes Kinder und Jugendliche mit tumor- oder therapiebedingten anatomischen Veränderungen von Ohr, Mastoid, Tuben und Nasennebenhöhlen haben ein erhöhtes Risiko invasiver Infektionen nicht nur durch klassische Erreger wie S. pneumoniae, H. influenzae und Branhamella catarrhalis, sondern auch durch andere Gram-positive und Gram-negative Erreger. Die klinische Symptomatik kann mitigiert sein, und immer besteht die Gefahr der lokalen Ausbreitung in das ZNS. Aus diesen Gründen ist zumindest beim granulozytopenischen Patienten initial immer eine Bildgebung sowie eine breite antibakterielle Therapie erforderlich, die bei Sinusitis auch Anaerobier einschließen sollte. Der Behandlungsbeginn ist in der Regel empirisch; bei ausbleibendem Therapieerfolg innerhalb von 48–72 h sind invasive Verfahren zur Sicherung der Erregerätiologie angezeigt (Groll et al. 2001a). Patienten mit prolongierter Granulozytopenie haben eine Prädisposition für invasive Schimmelpilzinfektionen der Nasennebenhöhlen, die per continuitatem in Orbita, Sinus cavernosus und Hirnparenchym durchbrechen können (⊡ Abb. 79.4). Pathognomonisch sind Schmerzen, Schwellung von Orbita und Gesichtsweichteilen, sowie ein bräunlich-schwärzliches Nasensekret und Läsionen im Bereich von Nasengang und hartem Gaumen. CT bzw. MRT sind indiziert zur Beurteilung der anatomischen Ausbreitung der
79
988
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
V
⊡ Abb. 79.4. 12 Jahre altes Mädchen mit refraktärer aplastischer Anämie. Sinuorbitale Schimmelpilzinfektion durch Aspergillus spp. mit Übergreifen auf den Temporallappen
Infektion und zur gezielten Gewinnung von diagnostischem Material. Die Therapie besteht zumindest initial in der Gabe von maximalen Dosen von Amphotericin B. Chirurgische Maßnahmen bei anhaltender Granulozytopenie sollten minimal-invasiv sein; ein aggressives Debridement ist therapierefraktären Infektionen vorbehalten. Vorraussetzung für einen Therapieerfolg ist jedoch immer die Überwindung der zugrundeliegenden Abwehrstörung (Groll et al. 2001a). Heiserkeit und Stridor sind wegweisende Symptome einer Epiglottitis. Neben H. influenzae sind beim onkologisch-hämatologischen Patienten S. aureus und Candida spp. zu berücksichtigen. Die Diagnose erfolgt durch Laryngoskopie und Abstrich, die Therapie besteht in der Sicherung des Atemwegs und sofortiger Einleitung einer entsprechenden antimikrobiellen Therapie (Groll et al. 2001a). Infektionen des unteren Respirationstraktes In der Differenzialdiagnose pulmonaler Infiltrate ist ein weites Spektrum auch gleichzeitig nachweisbarer oder relativ seltener Infektionserreger zu berücksichtigen und eine spe-
zifische Erregerzuordnug ist anhand des radiologischen Befundes allein nicht möglich. Bei Vorliegen herd- und fleckförmiger Infiltrate ist in erster Linie an bakterielle Infektionen durch Gram-positive und -negative Erreger der endogenen Flora zu denken, bei prolongierter Granulozytopenie (<500/µl neutrophile Granulozyten über mehr als 10 Tage) an eine invasive Schimmelpilzinfektion. Bei diffusen und interstitiellen Infiltraten stehen Pneumonien durch Pneumocystis jiroveci, Zytomegalievirus und das Varizella-Zoster-Virus an erster Stelle der infektiösen Differenzialdiagnosen, daneben bei granulozytopenen Patienten zusätzlich Gram-positive und -negative Bakterien und Schimmelpilze. In zweiter Linie sind immer auch Infektionen durch intrazelluläre Erreger (Chlamydien, Legionellen, Mykoplasmen), eine pulmonale Tuberkulose sowie Infektionen durch Adeno-, »Respiratory-syncytial«-, Parainfluenza- und Influenzaviren zu berücksichtigen. Andere Erreger sind selten oder nur bei geographischer Exposition relevant. Nichtinfektiöse Differenzialdiagnosen sind verschiedene Stadien eines diffusen Alveolarschadens nichterregerbedingter Ätiologie wie z. B. bei GVHD, ein Lungenödem, diffuse neoplastische Infiltrate, Metastasen, Blutungen, Infarkte, Chemotherapie oder strahleninduzierte Pneumonitis (Groll et al. 1997). Eine spezifische Diagnose sollte grundsätzlich angestrebt werden, um dem Patienten durch eine spezifische Therapie optimale Überlebenschancen zu gewährleisten. In jedem Fall muss das Risiko des geeigneten diagnostischen Verfahrens gegen den erwarteten Informationsgewinn und seinen Einfluss auf Therapie und Prognose abgewogen werden (⊡ Abb. 79.5 und Tabelle 79.5). Bei herd- und fleckförmigen Infiltraten ist beim Patienten ohne antibakterielle Vorbehandlung unabhängig von der Zahl neutrophiler Granulozyten zunächst eine empirische antibakterielle Therapie ausreichend. Bei ausbleibendem Therapieerfolg nach 72 h bzw. klinischer Verschlechterung, bei einem Fieberrezidiv oder bei Fieber und neuen pulmonalen Infiltraten unter antibakterieller Therapie ist eine Modifizierung des antibakteriellen Regimes angezeigt. Bei Hochrisikopatienten mit prolongierter Granulozytopenie ist v. a. an eine invasive Schimmelpilzinfektion zu denken mit der Konsequenz einer hochauflösenden thorakale Computertomographie, dem sofortigen Beginn einer Schimmelpilz-wirksamen, präemptiven antimykotischen Therapie und
⊡ Tabelle 79.5. Mikrobiologisches Grundprogramm am Material der bronchoaleolären Lavage
Kulturelle Verfahren
Mikroskopische Verfahren
Routinekulturen auf Bakterien (anaerob/aerob) und Pilze Mykobakterienkultur Legionellenkultur
Ausstriche nach Zentrifugation, gefärbt nach Gram (Bakterien), Kaliumhydroxid bzw. Calcofluor-White (Pilze), Ziehl-Neelsen bzw. Rhodamin-Auramin (säurefeste Stäbchen)
»Shell-vial«-Kultur: Influenza A und B, Parainfluenza, Respiratorysyncytial- und Adenoviren
Ausstriche nach Zentrifugation, gefärbt nach Grocott bzw. Toluidinblau; Immunfluoreszenztest (Pneumocystis jiroveci)
»Shell-vial«-Kultur: Zytomegalie- und Herpes-simplex-Virus
Zytologie (Viruseinschlüsse, Entzündungszellen, atypische respiratorische Epithelien, maligne Zellen, Hämosiderin-beladene Makrophagen)
PCR-Verfahren sinnvoll und validiert für den Nachweis von Legionellen, M. tuberculosis, Pneumocystis jiroveci, Zytomegalievirus und von Ortho- und Paramyxoviren (nach Groll et al. 1997).
989 79 · Infektionen
⊡ Abb. 79.5. Diagnostisch-therapeutischer Algorithmus bei Fieber und pulmonalen Infiltraten. T-CT hochauflösende thorakale Computer-
tomographie; BAL fiberoptische Bronchoskopie mit bronchoalveolärer Lavage (nach Groll et al. 1997)
ggf. weiter invasiver Diagnostik (Bronchoskopie bei zentralen, perkutane Biopsie bei peripheren Läsionen) zur Erregeridentifikation (⊡ Abb. 79.6). Bei diffusen bzw. interstitiellen Infiltraten sollte möglichst rasch eine bronchoalveoläre Lavage durchgeführt werden. Sie erlaubt eine schnelle und zuverlässige Diagnose v. a. der Pneumocystis-Pneumonie (⊡ Abb. 79.7). Ist mit der Lavage und anderen nichtinvasiven Methoden (Kulturen sowie Antigen- und Nukleinsäurenachweise aus Blut, Urin und respiratorischen Sekreten) keine Diagnose zu stellen und tritt unter empirischer Therapie eine Verschlechterung auf, können bioptische Verfahren angezeigt sein. Sind Bronchoskopie und bioptische Verfahren nicht durchführbar, ist eine primär empirische Therapie gerechtfertigt ( Abb. 79.4 und Tabelle 79.5; Stokes et al. 1988; Browne et al. 1990; Groll et al. 1997).
In einer retrospektiven, monozentrischen Analyse von Meningitisfällen bei pädiatrisch-onkologischen Patienten hatten die Mehrzahl der Patienten (65%) neurochirurgische Eingriffe in der Vorgeschichte, einen ZNS-Shunt bzw. eine offene Ableitung oder ein Liquorleck (Sommers u. Hawkins 1999). Wegweisende klinische Befunde waren Fieber und Bewusstseinstörungen, die häufigsten Erreger S. aureus und S. pneumoniae. Nur 30% der Patienten hatten eine Granulozytopenie; letale Verläufe traten jedoch ausschließlich bei granulozytopenen Patienten auf. Weitere zu beachtende Erreger bei Meningitis und Meningoenzephalitis sind Cr. neoformans und L. monozytogenes ( Abschn. 79.4.5 und 79.4.2), v. a. bei Patienten mit Störung der spezifischen zellulären Immunität. Eine Enzephalitis ist selten, in erster Linie ist an HSV, VZV, CMV und Masern zu denken. Klinische Symptome sind Zeichen der meningealen Reizung, Bewusstseinsstörungen, fokale neurologische Ausfälle oder Krampfanfälle. Der Liquorbefund ist häufig unspezifisch pathologisch, und bildgebende Verfahren können negativ oder nicht von anderen ZNS-Störungen abgrenzbar sein. Obwohl eine Hirnbiopsie für die Diagnosesicherung erforderlich ist, wird sie in der klinischen Praxis selten durchgeführt. Therapeutisch werden maximale Dosen von Aciclovir für alle Patienten mit klinischen Zeichen der Enzephalitis empfohlen (Groll et al. 2001a). Bei Nachweis einer oder mehrerer ringförmiger Läsionen ist eine Toxoplasma-Enzephalitis differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen ( Abschn. 79.4.7). Andere Ursachen solcher Läsionen sind Absiedelungen durch Schimmelpilze, Nokardien bzw. Gram-positive bzw. -negative Bakterien (Khan u. Correa 1997). Eine Fokussuche im Bereich von Lungen und Nasennebenhöhlen ist angezeigt. Aufgrund des potenziell fulminanten Kurses kann eine empirische Therapie mit Pyrimethamin plus Sulfadiazine vor Diagnosestellung indiziert sein. Gleichwohl sollte, wann immer mög-
79.3.3 Zentralnervensystem Infektionen des Zentralnervensystemes sind vergleichsweise seltene Komplikationen in der pädiatrischen Krebsbehandlung. Sie umfassen Shunt-Infektionen, Meningitiden, Enzephalitiden und sekundäre Infektionen bei Sepsis, Pneumonie, Otitis und Sinusitis. Shunt- oder Reservoirinfektionen werden zumeist durch Hautkeime verursacht (Staphylokokken, Corynebakterien, Propionibacterium acnis), seltener durch Enterokokken, Gram-negative Darmkeime und Candida spp. Die klinische Symptomatik reicht von asymptomatischen Infektionen bis zum klinischen Vollbild der Meningitis. Die Mehrzahl der Shunt-Infektionen scheint konservativ durch systemische Gabe antibakterieller Substanzen mit oder ohne topische Instillation behandelt werden zu können (Browne et al. 1987); eine Ausnahme sind Candida-Infektionen (Chiou et al. 1994).
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a a
b b
c ⊡ Abb. 79.6a–c. Invasive Schimmelpilzinfektion der Lungen bei 16 Jahre alten Jungen mit ALL-Rezidiv. a Thoraxröntgenaufnahme mit mehreren vorwiegend peripheren Rundherden. b Nachweis von rudimentären Pilzelementen in der bronchoalveolären Lavage. c Dichotom verzweigte Hyphen in der Lungenbiopsie
c ⊡ Abb. 79.7a–c. Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie bei 13 Jahre altem Mädchen mit ALL in der Dauertherapie. a Thoraxröntgenaufnahme mit beginnenden schmetterlingsförmigen diffusen bilaterelen Infiltraten. b Nachweis der Zystenform des Erregers in der bronchoalveolären Lavage. c Typisches schaumiges intraalveoläres Infiltrat mit Verlegung der respiratorischen Oberfläche (Autopsiepräparat)
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lich, eine Hirnbiopsie zur Etablierung der Diagnose, insbesondere zum Ausschluss eines intrazerebralen Lymphombefalls, durchgeführt werden (Ruskin u. Remington 1976). 79.3.4 Alimentationstrakt Kinder und Jugendliche mit onkologischen Erkrankungen, insbesondere solche mit Leukämien und Lymphomen und Therapie mit Methotrexat und Anthrazyklinen, entwickeln häufig eine Mukositis. Die durch Chemotherapie bzw. therapeutische Bestrahlung ausgelöste Schleimhautschädigung kann zu einer Invasion durch Erreger der residenten Flora und zu lokalen Infektionen bzw. Bakteriämien führen. Infektionen von Mundhöhle und Ösophagus Die Schleimhautschädigung der Mundhöhle kann zu Superinfektionen mit Candida spp, HSV und v. a. Streptokokken führen, die jedoch nicht von der eigentlichen, Chemo- bzw. Strahlentherapie-induzierten Mukositis zu unterscheiden sind. In leichten Fällen sind standardisierte Mundspüllösungen geeignet, Schmerzen zu lindern und Superinfektionen zu kontrollieren. Bei ausgeprägter Mukositis kann eine mikrobiologische Diagnostik auf Hefepilze bzw. HSV per Abstrich indiziert sein. Therapeutische Optionen bestehen in der Gabe von topischen oder systemischen Antimykotika bzw. Aciclovir (Müller et al. 1999; Shepp et al. 1985). Eine marginale bzw. nekrotisierende Gingivitis, erkennbar an einem roten periapikalen Randsaum, kann durch Anaerobier ausgelöst und Indikation zur Gabe von Anaerobier-wirksamen Sustanzen sein (z. B. Clindamycin, Metronidazol; Groll et al. 2001a). Candida spp., HSV, insbesondere Gram-positive Bakterien, und, seltener, CMV, sind die wichtigsten Ursachen einer infektiösen Ösophagitis (McDonald et al. 1985). Diagnostisch wegweisend ist die Ösophagoskopie mit Abstrichen bzw. Biopsien zum Erregernachweis; eine Alternative bei Kontraindikationen für eine Biopsie besteht in einer empirischen Therapie mit systemischen Antimykotika bzw. Aciclovir (Groll et al. 2001a). Intraabdominelle und perirektale Infektionen Das Spektrum von Infektionen mit Clostridium difficile erstreckt sich von der asymptomatischen Kolonisation über unterschiedliche Grade einer Enteritis bis hin zur pseudomembranösen Enterokolitis mit Abwehrspannung und Perforationsgefahr. Wesentliche Prinzipien der Pathogenese sind die Störung der normalen Intestinalflora durch zytostatische und antimikrobielle Therapien sowie die nosokomiale Akquisition des Erregers im Krankenhaus. Die Diagnose besteht im Nachweis des für die Erkrankung verantwortlichen Toxins aus dem Stuhl, die Therapie in der Gabe von Metronidazol oral bzw. intravenös über 7–14 Tage. Vancomycin oral muss aufgrund der Gefahr der Selektion Vancomycin-resistenter Enterokokken Ausnahmesituationen vorbehalten sein. Auch bei erfolgreicher Therapie ist die Rezidivrate aufgrund der perpetuierten Risikosituation hoch (Kelly et al. 1994; Gorschluter et al. 2001). Ein separates Krankheitsbild ist die so genannte granulozytopene Enterokolitis (»neutropenic enterocolitis«), eine meist im Bereich des Zökum ablaufende nekrotisierende
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b ⊡ Abb. 79.8a, b. Chronisch-disseminierte Candidiasis bei 12 Jahre alter Patientin mit AML-Rezidiv. a Multiple Herdbefunde in Leber und Milz. b Zahlreiche kleinere hämatogene Lungenherde (mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Rodehüser, Kassel)
Darmwandentzündung multifaktorieller Pathogenese mit hoher Mortalität. Die Diagnose kann sonographisch bzw. computertomographisch gestellt und von einer Appendizitis abgegrenzt werden. Die Behandlung ist in aller Regel konservativ (antibakteriell/supportiv); eine konsiliarische Mitbehandlung durch den Chirurgen ist wie bei jeder bedrohlichen Abdominalsymptomatik jedoch obligat (Sloas et al. 1993; Gomez et al. 1998; Gorschluter et al. 2002). Die chronisch-disseminierte Candidiasis (CDC) ist eine seltene, allerdings potenziell lebensbedrohliche Infektion bei Patienten mit prolongierter Granulozytopenie, die jedoch in der Regel erst mit der Knochenmarksregeneration offenkundig wird. Bevorzugt sind Leber und Milz betroffen, daneben Lungen und Nieren. Die charakteristischen klinischen Befunde sind persistierendes Fieber trotz Granulozytenanstieg, häufig verbunden mit Druckschmerz im rechten oberen Quadranten und erhöhter alkalischer Phosphatase (Haron et al. 1987; Thaler et al. 1988). Bildgebende Verfahren (⊡ Abb. 79.8) zeigen multiple Läsionen in Leber und Milz,
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⊡ Abb. 79.9. Perianale und perirektale Weichteilinfektion mit Nachweis einer Gram-negativen Mischflora, entstanden unter prolongierter Granulozytopenie bei akuter myeloischer Leukämie
die großen Granulomen mit zentralen Nekrosen und einem unspezifischen Granulationsgewebe mit ausgeprägter Tendenz zur Fibrosierung und Verkalkung entsprechen (Thaler et al. 1988). Trotz dieser zunächst charakteristischen Befunde ist eine frühe Biopsie anzustreben, um andere infektiöse, neoplastische oder entzündliche Prozesse auszuschließen und die erforderliche langdauernde Therapie mit systemischen Antimykotika (Amphotericin B, Fluconazol, und, in Zukunft, Voriconazol bzw. Caspofungin) bis zur kompletten Resolution bzw. Verkalkung aller Befunde zu rechtfertigen (Walsh et al. 1996a). Eine anstehende antineoplastische Chemotherapie kann ohne Progression bzw. Durchbruchsinfektionen bei Stabilisierung bzw. Ansprechen der Infektionen fortgeführt werden (Walsh et al. 1995); gleiches gilt für die Durchführung einer HSZT (Bjerke et al. 1994). Perirektale Infektionen der Weichgewebe (⊡ Abb. 79.9), insbesondere durch Pseudomonas aeruginosa, sind weitere mögliche lebensbedrohliche Komplikationen bei Patienten mit prolongierter Granulozytopenie, besonders im Zusammenhang mit perirektaler Mukositis, Hämorrhoiden, Fissuren oder rektalen Manipulationen. Klinische Leitsymptome sind perianaler Spontan- und Druckschmerz, andere Entzündungszeichen können aufgrund der Granulozytopenie fehlen (Glenn et al. 1988; Lehrnbecher et al. 2002). Die Therapie besteht in einer frühen, Gram-negative Darmkeime, Anaerobier und Enterokokken berücksichtigenden antibakteriellen Therapie, Sitzbädern und Maßnahmen der Stuhlregulierung. Eine chirurgische Intervention mit Inzision und Drainage kann in der Regel vermieden werden. Sie ist jedoch angezeigt bei Einschmelzungen nach Granulozytenregeneration bzw. Nekrotisierung und progressiven Infektionen (Lehrnbecher et al. 2002). 79.3.5 Urogenitaltrakt Infektionen des Urogenitaltraktes sind selten bei krebskranken Kindern und Jugendlichen. Ausnahmen sind Situationen mit Tumorobstruktion, neurologischen Störungen, anatomischen Veränderungen infolge chirurgischer Eingriffe bzw. Bestrahlung und nach Einlage von Kathetern. Häufigste Erreger sind Gram-negative Darmkeime und Enterokokken
(Groll et al. 2001a). Diagnostisch fällt bei Granulozytopenie das Kriterium der Pyurie aus, bei entsprechender klinischer Symptomatik (Dysurie, Pollakisurie, Fieber) ist eine Keimzahl von >103 KBE/ml, bei fehlender Symptomatik eine Keimzahl von >105 KBE/ml für den Beginn einer antibakteriellen Therapie ausreichend. Die Situation ist schwieriger bei Nachweis von Candida spp., da bei liegendem Blasenkatheter und breiter antibakterieller Therapie eine Kolonisation ohne invasive Infektion häufig ist. Jedoch sind persistierend positive Urinkulturen (2 oder mehr positive Kulturen mit Nachweis von 103 und mehr KBE/ml im Abstand von 24 h) im Zusammenhang mit entsprechenden Symptomen infektionsverdächtig und sollten eine Untersuchung der oberen Harnwege und eine geeignete systemische antimykotische Therapie zur Folge haben. Gleiches gilt für nach Katheterentfernung weiterhin positive Urinkulturen, die hinweisend auf eine oberflächliche Zystitis bzw. eine Infektion der oberen Harnwege sein können (Walsh et al. 1996a; Groll et al. 2001a). 79.3.6 Integument Eine Prädisposition des krebskranken Patienten für primäre Infektionen der Haut besteht nicht nur aufgrund der Immunsuppression, sondern auch wegen therapiebedingter Unterbrechungen der Hautbarriere. Daneben kann die Haut in Form septischer Läsionen auch Manifestationsort systemischer Infektionen sein und eine spezifische mikrobiologische Diagnostik systemischer Prozesse durch Abstriche, Aspirate bzw. Biopsien erlauben (Kingston et al. 1986). Primäre bakterielle Hautinfektionen sind häufig durch Staphylococcus aureus bzw. Streptococcus pyogenes ausgelöst und entstehen in der Regel auf den vielfältigsten präexistenten Läsionen des Integumentes (Wunden, Kathetereinstichstellen, Furunkel etc.). Auch Gram-negative Bakterien, v. a. P. aeruginosa, können fulminate lokale Infektionen (z. B. Pyoderma gangraenosum) auslösen (⊡ Abb. 79.10). Sekundäre, embolisch oder vaskulitisch imponierende Läsionen können im Zusammenhang mit Bakteriämien durch Gram-positive wie auch -negative Bakterien auftreten (Groll et al. 2001a). Eine Fungämie kann sich durch embolische Hautläsionen manifestieren. Gerade beim granulozytopenen Patieneten unter breiter antibakterieller Therapie ist das Auftreten neuer embolischer Läsionen immer als hochgradig verdächtig auf eine invasive Pilzinfektion, insbesondere durch Candida spp., aber auch durch seltene Pilze wie Trichosporon asahii, Fusarium spp, Paecilomyces spp., Acremonium spp. und Cr. neoformans; Groll u. Walsh 2001). Primäre Pilzinfektionen der Haut durch Aspergillus spp. und Zygomyzeten sind im Zusammenhang mit verschiedenartigen Hautdefekten einschließlich den Insertionsstellen von peripheren und zentralen Venenkathetern beschrieben worden. Mit einer kombinierten chirurgischen und systemisch antimykotischen Therapie scheint die Prognose dieser invasiven Infektionen von Haut- und anhängenden Weichteilen im Vergleich zu anderen Formen invasiver Schimmelpilzinfektionen günstiger zu sein (Walsmley et al. 1993). Paronychien der Großzehen durch Fusarium spp. sind in den letzten Jahren als Ausgangspunkt hochletaler disseminierter Infektionen beschrieben worden (Groll u. Walsh 2001).
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Hirnabszesse werden in etwa 30% beobachtet. Daneben sind Infektionen der Haut bzw. der Weichteile bekannt. Die Konstellation von Fieber, Pneumonie und zentralnervösen Symptomen sollte immer an eine Nokardieninfektion denken lassen (Smego u. Gallis 1984; Berkey u. Bodey 1989). Diagnostik. Der Erregernachweis ist kulturell bzw. mikroskopisch in Gewebsbiopsien möglich. Therapie. Therapieoptionen bestehen in der Gabe von Sulfa-
diazin oder Trimethoprim-Sulfamethoxazol (Berkey u. Bodey 1989) bzw. der Kombination von Imipenem oder Amoxicillin/ Clavulansäure in Kombination mit Amikacin bei refraktären Infektionen und Intoleranz von Sulfonamiden (McNeill u. Brown 1998).
a
79.4.2 Listerien Listeria monocytogenes ist der häufigste Erreger der bakteriellen Meningitis krebskranker Erwachsener (Lorber 1997) und hat eine außerordentlich schlechte Prognose (Skogberg et al. 1992). Seine differenzialdiagnostische Berücksichtigung ist besonders wichtig, da die üblicherweise in der empirischen Therapie fiebernder krebskranker Patienten eingesetzten Substanzen keine Aktivität gegenüber diesem Erreger haben. Die klinischen Manifestationen der Listeriose umfassen Bakteriämien mit typischerweise schwerem septischen Krankheitsbild und/oder Meningitis und Enzephalitis mit charakteristischer Bevorzugung des Hirnstammes (Lorber 1997).
b ⊡ Abb. 79.10a, b. Ekthyma gangraenosum initial (a) und nach 48 h (b) bei einem 4 Jahre alten Patienten mit akuter lymphoblastischer Leukämie in der Intensivphase der Chemotherapie. Nachweis von Pseudomonas aeruginosa in der Blutkultur
Diagnostik. Die Diagnose erfolgt üblicherweise mit der Isolation des Erregers aus Blut- bzw. Liquorkulturen. Therapie. Die Standardbehandlung ist die Gabe von Ampi-
Herpes simplex und VZV sind die wichtigsten Ursachen virusbedingter Infektionen der Haut, und können mit charakteristischen Befunden, gelegentlich jedoch auch mitigiert verlaufen (Rogers et al. 1995; Rowland et al. 1995). Bei Patienten unter prolongierter Aciclovir-Prophylaxe werden bei Durchbruchsinfektionen zunehmend Aciclovir-resistente Isolate gefunden. Deshalb ist eine mikrobiologische Diagnose mit Virusanzucht und ggf. eine molekulare Resistenztestung zunehmend empfehlenswert. Spezielle Aspekte des Managements von HSV- und VZV-Infektionen finden sich bei der Erregerbeschreibung. 79.4
Klinik, Diagnose und Management spezifischer Infektionen
79.4.1 Nokardien Nokardien (Nocardia asteroides und Nocardia brasiliensis) sind selten, können aber beim krebskranken Patienten schwere Infektionen mit hoher Mortalität verursachen. Der Respirationstrakt ist die Haupteintrittspforte, dementsprechend sind Pneumonien (lobär, abszedierend und auch miliar) die klinisch häufigste Manifestation; metastatische
cillin mit oder ohne Gentamicin; hochdosiertes Trimethoprim-Sulfamethoxazol ist die erste Alternative (Jones u. McGowan 1995; Hof et al. 1997). Die bakterizide Aktivität von Trimethoprim-Sulfamethoxazol, seine ausgezeichnete intrazerebrale und intrazelluläre Verteilung (Hof et al. 1997), und beschränkte klinische Daten (Merle-Merlet et al. 1996; Wacker et al. 2000) legen nahe, dass die Kombination von Ampicillin mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol die möglicherweise beste Therapie der zerebralen Listeriose darstellen. 79.4.3 Mykobakterien Die Inzidenz der Tuberkulose ist zumindest bei erwachsenen onkologischen Patienten deutlich erhöht; miliare pulmonale Infiltrate sowie extrapulmonale Manifestationen sind häufig (Kaplan et al. 1974; Groll et al. 1992; Skogberg et al. 1993; De la Camara et al. 2000). Pulmonale Erkrankungen können leicht mit anderen Infektionen oder der Grunderkrankung verwechselt werden (Kaplan et al. 1974; Feld et al. 1976). Da es sich bei abwehrgeschwächten Kinden meist um eine Primärtuberkulose handelt und eine Dissemination vorliegen kann (Groll et al. 1992), ist die potenzielle Mortalität hoch und eine frühzeitige differenzialdiagnostische Berücksichtigung wichtig.
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Diagnostik. Diagnostisch sind Klinik, bildgebende Verfah-
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ren und Tuberkulintestung unzuverlässig. Direktpräparate (Ziehl-Neelsen bzw. Rhodamin-Auramin) von spontanem oder induzierten Sputum, Lavageflüssigkeit oder Magensaft sind wenig sensitiv. Bei positivem Nachweis ist lichtmikroskopisch keine Unterscheidung zwischen oropharyngealer Kontamination durch atypische Mykobakterien bzw. invasiven Infektionen durch M. tuberculosis bzw. atypische Mykobakterien möglich. Auf den Prinzipien der PCR basierende Kits haben hingegen eine hohe Sensitivität und Spezifität und ersetzen zunehmend den mikroskopischen Nachweis (Shinnick u. Good 1995). Goldstandard, auch für die Diagnostik an Biopsiematerial, ist nachwievor der kulturelle Erregernachweis mit Sensitivitätstestung. Neue Kultursysteme, die auf dem Nachweis von Stoffwechselaktivitäten des Erregers beruhen, sind in Verbindung mit kommerziell erhältlichen DNA-Proben in der Lage, die Zeit des kulturellen Nachweises von M. tuberculosis auf sieben bis 14 Tage zu reduzieren (Shinnick u. Good 1995). Therapie. Die Behandlung von Tuberkuloseinfektionen abwehrgeschwächter Patienten sollte initial immer mindestens 3 Substanzen (Isoniazid, Rifampicin, Ethambutol oder Pyrazinamid) in üblicher Dosierung umfassen und für mindestens 9 Monate erfolgen. Eine prolongierte Erhaltungstherapie kann bei Patienten mit anhaltender Abwehrschwäche indiziert sein. Atypische Mykobakterien. Sie sind extrem seltene Ursachen
respiratorischer oder disseminierter Infektionen krebskranker Patienten. Als sicherer Nachweis einer Infektion gilt lediglich die Isolation aus Blutkulturen, Knochenmarksaspiraten und steril gewonnenem Material. Bei potenziell kontaminierten Proben, wie z. B. Sputum und Lavagematerial, ist der wiederholte Nachweis der gleichen Spezies in ausreichender Menge und klinische Korrelation gefordert (CDC 1987). 79.4.4 Mykoplasmen, Chlamydien
und Legionellen ! Mykoplasmen, Chlamydien und Legionellen müssen immer in die Differenzialdiagnose refraktärer lokalisierter wie auch diffuser pulmonaler Infiltrate eingeschlossen werden.
Mykoplasmenpneumonien krebskranker Kinder und Jugendlicher sind entweder selten oder unterdiagnostiziert. Eine einzige Studie aus den frühen 70er-Jahren gibt Hinweise auf eine häufige Kolonisation und eine relativ hohe Inzidenz invasiver Infektionen (Weiner u. Vladimer 1974). Dagegen stehen negative kulturelle Befunde in umfangreicheren bronchoskopischen Untersuchungen (Stover et al. 1984; Stokes et al. 1989) und die auf Kasuistiken beschränkte Literatur (Buckingham et al. 2003). Die Bedeutung von Chlamydien als Pneumonieerreger abwehrgeschwächter Patienten ist ebenfalls unklar. Neben Berichten über Chl. trachomatis (Meyers et al. 1983) bestehen Hinweise auf eine relativ hohe Inzidenz von Infektionen durch Chl. pneumoniae (Gaydos et al. 1993). Legionellosen sind Multisystemerkrankungen mit Fieber und neurologischen Symptomen als häufigste Erschei-
nungen, die Lunge ist jedoch das Hauptzielorgan (Kirby et al. 1980). Tödliche Pneumonien durch Legionellen sind bei Patienten nach Knochenmarkstransplantation (Schwebke et al. 1990) und auch für Kinder mit Leukämien (Imoke et al. 1983) beschrieben. Untersuchungen an Autopsiematerial weisen auf ihre hohe Prävalenz bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien hin (Schurmann et al. 1988). Diagnostik. Der direkte Erregernachweis ist durch Spezialkulturen von Nasopharynx (Chlamydien, Mykoplasmen), Sputum (Legionellen, Mykoplasmen) und Lavageflüssigkeit (alle) sowie Antigennachweis in Sekreten des Nasopharynx (Chl. trachomatis), Sputum (L. pneumophila) und Lavagematerial (L. pneumophila, Chl. trachomatis) wie auch aus Biopsiematerial (kulturell, immunhistochemisch) möglich. Zum Nachweis einer Legionelleninfektion hat der für L. pneumophila Serotyp I spezifische Antigennachweis im Urin die höchste Sensitivität und Spezifität; allerdings werden Infektionen durch andere Species bzw. Serotypen, die etwa 20% aller Legionellenerkrankungen ausmachen, nicht mit erfasst. Auf der PCR fußende Nachweistechniken sind aufgrund der Persistenz von Chlamydien und Mykoplasmeninfektionen methodisch problematisch (Groll et al. 1997). Therapie. Standard der Therapie von Infektionen durch Mykoplasmen, Chlamydien und Legionellen ist Erythromycin ( Tabelle 79.2); die Kombination mit Rifampicin wird für bedrohlich kranke Patienten empfohlen. Tetrazykline, Azithromycin, Clarithromycin und Chinolone sind weitere, aber zum Teil weniger gut untersuchte Therapieoptionen.
79.4.5 Invasive Pilzinfektionen Invasive Pilzinfektionen durch Candida- und Aspergillus spp., aber auch durch zuvor seltene und besonders schwierig behandelbare Erreger wie Fusarium spp., Scedosporium spp., Zygomyzeten und pigmentierte Schimmelpilze (Groll u. Walsh 2001) sind bedeutende infektiöse Komplikationen bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien bzw. nach allogener hämatopoetischer Stammzelltransplantation. Die wesentlichsten spezifischen Risikofaktoren sind die ausgeprägte und prolongierte Granulozytopenie sowie die Gabe von Kortikosteroiden in pharmakologischen Dosierungen (Lehrnbecher et al. 1999; Groll u. Walsh 2002). Candida spp. gehören zur endogenen Flora des Menschen; der Orointestinaltrakt ist das Haupterregerreservoir und Ausgangspunkt endogener Infektionen. Quellen exogener Infektionen sind zentrale Venenkatheter. Die wichtigsten klinischen Manifestationen umfassen neben oberflächlichen Infektionen der Schleimhäute die isolierte, häufig Katheterassoziierte Kandidämie, akute disseminierte bzw. fokale invasive Infektionen mit oder ohne Kandidämie sowie die chronisch-disseminierte (»hepatolienale«) Candidiasis (Walsh et al. 1996a). Invasive Infektionen durch Aspergillus spp. und andere Schimmelpilze betreffen neben Haut- und Weichteilen (z. B. nach Katheterimplantation) und den Nasennebenhöhlen ganz überwiegend den tiefen Respirationstrakt und werden in aller Regel aerogen erworben. Spezifische Komplikationen sind die Streuung der Infektion in das ZNS und pulmonale Blutungen. Eine besondere Gefahr geht von
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Baumaßnahmen und defekten oder kontaminierten Klimaanlagen aus (Goll et al. 1999). Diagnostik. Aufgrund der Vielfalt möglicher Pilzerreger,
vorhandenen Verfahren der Resistenztestung und der Verfügbarkeit neuer Antimykotika sollte eine mikrobiologische Diagnose nach Möglichkeit immer angestrebt werden. Neue Blutkultursysteme haben zu einem verbesserten Nachweis von Candida spp. geführt (Walsh u. Chanock 1998). Nichtsdestotrotz ist die Kandidämie nur eine Manifestation invasiver Candida-Infektionen: Bei disseminierten und fokalen invasiven Infektionen ist eine Fungämie häufig nicht nachweisbar; invasive Verfahren können deshalb für den mikrobiologischen Erregernachweis angezeigt sein (Berenguer et al. 1993). An klinischen Befunden orientiert sind Ultraschall, Computertomographie und Magnetresonanztomographie wichtige Verfahren bei Diagnostik, Monitoring und Steuerung bioptischer Verfahren. Moderne bildgebende Verfahren, insbesondere die hochauflösende Computertomographie, erleichtern ein frühes Erkennen von mit einer invasiven Schimmelpilzinfektion vereinbaren pulmonalen Infiltraten (v. Eiff et al. 1995; Caillot et al. 1997). Obwohl periphere Infiltrate, das so genannte »halo-sign«, und Einschmelzungen charakteristisch für eine invasive Schimmelpilzinfektion sind, sind sie dennoch nicht vollständig diagnostisch: Gerade in Frühphasen sind unspezifische Verschattungen häufig (Caillot et al. 2001). Deshalb sollte auch hier eine mikrobiologische Diagnose mittels bronchoalveolärer Lavage oder bioptischen Verfahren angestrebt werden. Das serielle Monitoring von Galaktomannan-Antigen bzw. aspergillusspezifischen Nukleinsäuresequenzen in peripherem Blut (Maertens et al. 2002; Hebart et al. 2000) ist vielversprechend, aber als Basis für Therapieentscheidungen noch nicht ausreichend evaluiert. Therapie. Therapieoptionen bei oberflächlichen CandidaInfektionen umfassen topische Polyene und Azole (beschränkt auf oropharyngeale, vulvovaginale und kutane Infektionen), Amphotericin-B-Deoxycholat (0,5 mg/kg/Tag in 1 ED), Fluconazol (3–6 mg/kg/Tag in 1 ED; Flynn et al. 1995), Itraconazol-Suspension (5 mg/kg/Tag in 2 ED; Groll et al. 2002), sowie Voriconazol (Ally et al. 2002) und Caspofungin (Villanueva et al. 2002). Initiale Standardtherapie bei granulozytopenen Patienten mit Nachweis eine Hefepilzes in Blutkulturen ist konventionelles Amphotericin B (0,7–1,0 mg/kg; Groll et al. 1998c). Handelt es sich um Candida albicans, kann eine Therapie mit Fluconazol (8–12, maximal 16 mg/kg/Tag in 1 ED bzw. 800 mg/Tag) erwogen werden, wenn der Patient eine unkomplizierte Fungämie hat und keine Azole als antimykotische Prophylaxe erhalten hat (Anaissie et al. 1996). Wenn möglich, sollte ein liegender zentraler Venenkatheter entfernt werden (Lecciones et al. 1992). Bei akuter disseminierter Candidiasis mit hämodynamischer Instabilität, persistierend positiven Blutkulturen und Hinweise auf eine Invasion tiefer Gewebe (⊡ Abb. 79.11) kann nach wie vor die hochdosierte Gabe von Amphotericin B (1-0–1,5 mg/kg/Tag) plus Fluzytosin (Initialdosis: 100 mg/kg/Tag in 3–4 ED) empfohlen werden (Groll et al. 1998c). Der Einsatz von Fluconazol in dieser Situation ist umstritten. Alternativen in der Behandlung invasiver CandidaInfektionen sind liposomales Amphotericin B (3–5 mg/kg/
a
b ⊡ Abb. 79.11a, b. Endophthalmitis bei Candida-tropicalis-Fungämie. a Embolischer Gefäßverschluss mit Infiltrat und »Cottonwool«-Herd. b Infiltration des Glaskörpers
Tag),Voriconazol (12 mg/kg in 2 ED an Tag 1; danach 8 mg/kg/ Tag in 2 ED mit den für Fluconazol geltenden Einschränkungen; zugelassen ab dem 2. Lebensjahr), und Caspofungin: Daten einer randomisierten vergleichenden Doppelblindstudie bei vorwiegend nicht-granulozytopenen Patienten unterstellen eine gleiche therapeutische Wirksamkeit von Caspofungin im Vergleich zu konventionellem Amphotericin B in der Primärtherapie invasiver Candida-Infektionen bei besserer Verträglichkeit ( Tabelle 79.4; Mora-Duarte et al. 2002). Substanzen der ersten Wahl bei vermuteten bzw. nachgewiesenen invasiven Aspergillus-Infektionen sind Voriconazol (12 mg/kg in 2 ED an Tag 1; danach 8 mg/kg/Tag in 2 ED; zugelassen ab dem 2. Lebensjahr) und konventionelles Amphotericin B (1,0–1,5 mg/kg): Eine jüngst abgeschlossene vergleichende klinische Studie zur Primärtherapie invasiver Aspergillus-Infektionen zeigte eine bessere antimykotiche Wirksamkeit und eine niedrigere Mortalität bei initial mit Voriconazol im Vergleich zu initial mit Amphotericin-BDeoxycholat behandelten Patienten (Herbrecht et al. 2002), was im Wesentlichen auf die therapielimitierende Nephrotoxizität von Amphotericin B zurückzuführen war. Alternativen bei Patienten mit refraktären Infektionen bzw. Unverträglichkeit von konventionellem Amphotericin B sind liposomales Amphotericin B (5 mg/kg in 1 ED; Groll et al. 1998a), und – ohne pädiatrische Zulassung und Dosis – intravenöses Itraconazol (Caillot et al. 2001) und Caspofungin (Maertens et al. 2000). Bei lokalisierten Infektionen und auch
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
bei der invasiven pulmonalen Aspergillose können zusätzlich chirurgische Maßnahmen indiziert sein (Denning 1998). Für die Zukunft versprechen Kombinationstherapien von Amphotericin B und Echinocandinen bzw. von neuen Triazolen mit Echinocandinen Hoffnung auf Verbesserungen der Therapieergebnisse ( Tabelle 79.4; Groll u. Walsh 2002). Zygomyzeten (Rhizopus, Mucor, Absidia, Cunninghamella u. a.) sind bei Immunsupprimierten Ursache v. a. sinorbitaler und pulmonaler Infektionen mit häufiger ZNSBeteiligung. Sie gelten nach bisheriger Datenlage als resistent gegenüber Triazolen und Echinocandinen. Grundprinzipien der Therapie beinhalten das Debridement chirurgisch angehbarer Läsionen, die hochdosierte Gabe von konventionellem bzw. liposomalem Amphotericin B ( Tabelle 79.4), und, falls zutreffend, das Absetzen von Kortikosteroiden bzw. die Gabe von G-CSF oder GM-CSF bei granulozytopenen Patienten (Groll u. Walsh 2001). Kryptokokken können v. a. bei Defekten der zellvermittelten Immunität über Lunge und regionale Lymphknoten in potenziell jedes Organ, bevorzugt aber in das ZNS gelangen. Dementsprechend sind die klinisch häufigsten Manifestationen eine fokale oder diffuse Pneumonie bzw. eine initial meist symptomarme Meningoenzephalitis (Perfect 1989). Der Erreger kann im Direktpräparat mit der Tuschefärbung sowie kulturell und mittels eines diagnostisch beweisenden Antigennachweises aus Liquor, Serum, Urin und Lavagematerial nachgewiesen werden. Standardtherapie ist die Induktion mit Amphotericin B in Kombination mit Fluzytosin, gefolgt von Fluconazol oder Itraconazol ( Tabelle 79.4). Da Rezidive häufig sind, ist eine Erhaltungstherapie nach erfolgreicher Behandlung für die Dauer der Abwehrschwäche erforderlich (Bennet et al. 1979; Saag et al. 2000). Infektionen durch seltene hyaline und pigmentierte opportunistische Schimmelpilze sind aufgrund des meist aerogenen Infektionsweges klinisch und bildgebend nicht von invasiven Aspergillus-Infektionen unterscheidbar. Ihre Diagnose beruht auf dem kulturellen Erregernachweis. Einige hyaline Schimmelpilze (Fusarium, Paecilomyces, Acremonium) exprimieren adventitielle Konidien, die eine hämatogene Dissemination und Nachweis in Blutkulturen ermöglichen. Seltene Hefepilze (z. B. Trichosporon asahii) folgen in ihrem Muster von Fungämie und Dissemination invasiven Candida-Infektionen (Groll u. Walsh 2001). Alle seltenen Erreger invasiver Pilzinfektionen sind schwierig therapierbar; die Konsultation ausgewiesener Experten wird angeraten. 79.4.6 Pneumocystis jiroveci Mit der Intensivierung der Chemotherapie neoplastischer Erkrankungen Anfang der 70er-Jahre wurde das hohe Risiko krebskranker Kinder und Jugendlicher für die bei diesem Patientengut obligat letale Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie deutlich (Hughes et al. 1975). Besonders gefährdet sind Patienten mit hämatologischen Neoplasien, aber auch solche mit intensiv behandelten soliden Tumoren und nach allogener HSZT (Groll et al. 2001b). Extrapulmonale Manifestationen einer Pneumocystis-Infektion sind sehr selten (Raviglione 1990). Die Leitsymptome der Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie (Pneumocystis-Pneumonie) bei Patienten mit bös-
artigen Erkrankungen und nach allogener HSZT sind trockener Husten, Fieber, Tachypnoe und Hypoxie bei oft minimalem Auskultationsbefund und eine rasche Progression. Radiologisch besteht eine diffuse Zeichnungsvermehrung der Lungen bis hin zur völligen Verschattung. Vor allem unter inhalativer Pentamidin-Prophylaxe sind jedoch auch atypische Verläufe möglich (Groll et al. 1994). Diagnostik. Die Diagnose wird durch Bronchiallavage (BAL)
und mikroskopischen Nachweis des Erregers mit der Grocott-Färbung bzw. fluoreszenzmarkierten monoklonalen Antikörpern gestellt (Hopewell 1988; Kovacs et al. 1988). Die Wertigkeit der Sputuminduktion (Ognibene et al. 1989) ist bei onkologischen Patienten nicht untersucht; bei negativen Befunden kann eine nachfolgende BAL nötig sein. Quantitative Verfahren der Nukleinsäureamplifikation erlauben möglicherweise einen verbesserten Nachweis aus respiratorischen Sekreten und Mundspülwasser (Larsen et al. 2002), sind jedoch als Basis therapeutischer Entscheidungen noch nicht validiert. Bei diffusen pulmonalen Infiltraten und negativem bronchoskopischem Befund ist bei zuverlässig durchgeführter Prophylaxe mit Trimethoprim/Sulfamethoxazol eine Pneumocystis-Pneumonie nahezu ausgeschlossen; bei nicht durchgeführter Prophylaxe und nach inhalativer Pentamidin-Prophylaxe wird eine empirische Therapie empfohlen (Groll et al. 1997). Eine offene Lungenbiopsie ist nur in Ausnahmefällen indiziert. Therapie. Standardtherapie ist die intravenöse Gabe von Tri-
methoprim/Sulfamethoxazol (15–20 mg/kg/Tag in 3–4 ED) über 14–21 Tage; nachgeordnete Alternativen sind intravenöses Pentamidin, Atovaquone sowie die Kombination von Trimethoprim und Dapson. Bei deutlicher Hypoxämie (PaO2<70 mmHg) ist die Gabe von Prednison angezeigt (2× 1 mg/kg; ab Tag 6 2×0,5 mg/kg; ab Tag 11 2×0,25 mg/kg) (⊡ Tabelle 79.6; Bozette et al. 1990; Masur 1992; Kovacs et al. 2001). Die Prognose der behandelten Pneumocystis-Pneumonie ist im Wesentlichen von ihrer stattgehabten Progression zu Therapiebeginn abhängig; die Überlebensraten bei Krebskranken liegen global zwischen 42 und 85% (Groll et al. 2001b). 79.4.7 Toxoplasma gondii Hauptmanifestationen von Toxoplasmoseerkrankungen abwehrgeschwächter Patienten sind fokale und disseminierte Enzephalitiden, daneben sind auch diffuse Pneumonien und disseminierte Infektionen beschrieben. Meist handelt es sich um Reaktivierungen, seltener um Erst- bzw. Neuinfektionen durch orale Aufnahme von Oozyten und zystenhaltiger Fleisch- und Wurstwaren bzw. durch erregerhaltiger Blutprodukte bzw. transplantierte Organe (Ruskin u. Remington 1976; Mele et al. 2002). ! Bei Nachweis kontrastaufnehmender zerebraler Läsionen sollte immer an eine ZNS-Toxoplasmose gedacht werden. Diagnostik. Die Diagnostik besteht in der kulturellen Anzucht bzw. Nukleinsäurenachweis in Vollblut bzw. Liquor, dem mikroskopischen Nachweis in Ausstrichen bzw. Gewebeproben sowie in serologischen Verfahren, wobei nicht
997 79 · Infektionen
⊡ Tabelle 79.6. Substanzen zur Behandlung der Pneumocystis-Pneumonie
Substanz
Tagesdosis (mg/kg)
Anmerkungen
TMP/SMX
15–20 bzw.75–100 in 3–4 ED i.v.
Standardsubstanz der Therapie der Pneumocystis-Pneumonie1 Cave: Exanthem/Suppression der Hämatopoese
Pentamidin
4 in 1 ED i.v.
Alternativsubstanz der Therapie der Pneumocystis-Pneumonie1 Cave: Niereninsuffizienz, Hypoglykämie
Dapson/Trimethoprim
1 in 1 ED bzw. 5 in 3 ED p.o.
Alternative bei leichten Verlaufsformen (PaO2>70 mmHg)
Primaquin/Clindamycin
0,25 in 1 ED bzw. 30 in 4 ED p.o. 30 in 1 ED p.o.2
Alternative bei leichten Verlaufsformen (PaO2>70 mmHg)
Atovaquone
Alternative bei leichten Verlaufsformen (PaO2>70 mmHg)
1
bei deutlicher Hypoxämie (PaO2<70 mmHg) plus Prednison (2 mg/kg in 2 ED; ab Tag 6 1 mg/kg in 2 ED; ab Tag 11 0,5 mg/kg in 2 ED); 45 mg/kg bei Kindern zwischen 4 und 24 Monaten. TMP/SMX Trimethoprim/Sulfamethoxazol. 2
⊡ Tabelle 79.7. Substanzen zur Behandlung von Toxoplasma-gondii-Infektionen
Substanz
Tagesdosis (mg/kg)
Anmerkungen
Pyrimethamin/Sulfadiazin
0,5–1 in 2 ED bzw. 120–150 in 4 ED p.o.
Standardkombination der Therapie der Toxoplasma-Enzephalitis; cave: Substitution von Folinsäure (Leukovorin)1
TMP/SMX
10 bzw. 50 in 2 ED i.v. oder p.o.
Nachgeordnete Alternative bei Toxoplasma-Enzephalits1
1
Alternativen bei schwerer Sulfonamid-Unverträglichkeit: Pyrimethamin plus Clindamycin oder Clarithromycin oder Azithromycin oder Dapson. TMP/SMX Trimethoprim/Sulfamethoxazol.
diagnostische Antikörpertiter eine Infektion nicht ausschließen. Eine Hirnbiopsie kann zum Ausschluss anderer infektiöser Ätiologien und von ZNS-Lymphomen erforderlich sein (Khan u. Correa 1997). Therapie. Standardtherapie ist unverändert die Kombination
von Pyrimethamin plus Sulfadiazin (Ruskin u. Remington 1976); nachgeordnete alternative Verfahren stehen zur Verfügung, u. a. die Kombination von Trimethoprim plus Sulfamethoxazol (⊡ Tabelle 79.7; Torre et al. 1998). Aufgrund der potenziell fulminanten Klinik kann eine präemptive Therapie vor Diagnosesicherung angezeigt sein (Ruskin u. Remington 1976). 79.4.8 Viren der Herpesgruppe Herpes simplex und Varizella Zoster Herpes-simplex-Virus (HSV) Typ I und II können bei immunsupprimierten Patienten ausgedehnte bläschenförmige bzw. ulzerierende Läsionen von Haut- und Schleimhäuten einschließlich der Mundhöhle, des Ösophagus und des Anogenitalbereichs hervorrufen. Invasive Infektionen (Zielorgane: ZNS, Lungen, Leber) sind jedoch sehr selten (Pizzo et al. 1991b). Im Gegensatz dazu beträgt das natürliche Risiko systemischer Manifestationen (Pneumonitis, Meningoenzephalitis, Hepatitis) bei primären Infektionen mit VarizellaZoster-Virus (VZV) etwa 30% mit bis zu 20% assoziierter Mortalität. Reaktivierungen in Form eines Zoster sind bei bis zu 50% seropositiver Patienten zu erwarten; systemische Manifestationen bei sekundären VZV-Erkrankungen sind
selten (Feldman et al. 1973; Feldman u. Lott 1987). Häufige Komplikationen beider Erkrankungen sind bakterielle Superinfektionen. Diagnostik. Die Diagnose mukokutaner HSV-Infektionen, von Windpocken und Herpes zoster ist in der Regel leicht zu stellen, wenn auch atypische Manifestationen (dermatomüberschreitender bzw. multifokaler Herpes zoster; Zoster abdominalis (Rogers et al. 1995); disseminierte Varizelleninfektionen mit minimaler Hautbeteiligung (Rowland et al. 1995) vorkommen. Der Erregernachweis aus Bläscheninhalt, Abstrichen, Körperflüssigkeiten und Geweben ist mittels Zentrifugationskultur, direktem Antigennachweis bzw. PCR oder In-situ-Hybridisierung sowie elektronenmikroskopisch möglich (Schmidt et al. 1980; Nahass et al. 1995). Mit intravenösem Aciclovir steht ein effektives Virustatikum zur Primärtherapie schwerer Infektionen zur Verfügung; Alternative bei mikrobiologischer Resistenz ist Foscarnet bzw. Cidofovir (Balfour et al. 1994; Reusser 1996; Chakrabarty et al. 2000). Die für pädiatrische Patienten nicht zugelassenen oralen Substanzen Brivudin, Valaciclovir und Famciclovir sind individuell einzusetzende Alternativen bei leichten Verlaufsformen oberflächlicher Infektionen älterer Kinder und Jugendlicher (⊡ Tabelle 79.8; Heidl et al. 1991; Dekker u. Prober 2001; Nadal et al. 2002).
Zytomegalievirus Die häufigste und schwerwiegendste Manifestation einer Infektion durch das Zytomegalievirus (CMV) ist die interstitielle Pneumonie: Vor Einführung effektiver Strategien der Chemoprävention betrug ihre Inzidenz nach allogener
79
998
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 79.8. Substanzen zur Behandlung von Infektionen durch Herpesviren
Substanz
Tagesdosis (mg/kg)
Anmerkungen
Aciclovir
15 in 3 ED i.v.
Therapie von Herpes-simplex-Infektionen
30–45 in 3 ED i.v.
Therapie von Windpocken/Herpes zoster
10 in 2 ED i.v.
Induktionstherapie bei CMV-Reaktivierung (Tag 1–14)
Ganciclovir Foscarnet
5 in 1 ED i.v.
Erhaltungstherapie bei CMV-Reaktivierung (ab Tag 15)
180 in 3 ED i.v.
Alternative der Induktionstherapie bei CMV-Reaktivierung (Tag 1–14)
90–120 in 1 ED i.v.
Alternative der Erhaltungstherapie bei CMV-Reaktivierung (ab Tag 15)
120 in 2–3 ED i.v.
Therapie Aciclovir-resistenter Herpes-simplex-Infektionen Therapie des Aciclovir-resistenten Herpes zoster
V
Cidofovir
5 in 1 ED i.v. jeden 7. bzw. 14.Tag1
Therapie der CMV-Retinitis; Option der Therapie Ganciclovir- und Foscernetrefraktärer CMV-Reaktivierungen bzw. HSV- und VZV-Infektionen im Rahmen eines individuellen Heilversuchs
Brivudin
15 in 2–3 ED p.o. (maximal 500)
Option der oralen Therapie mukokutaner HSV-1-Infektionen und des Herpes zoster
Valaciclovir
1000 mg in 2 ED p.o. 1
Option der oralen Therapie von Herpes-simplex-Infektionen
3000 mg in 3 ED p.o.1
Option der oralen Therapie des Herpes zoster
Famciclovir
1
1
1000 mg in 2 ED p.o.
Option der oralen Therapie von Herpes-simplex-Infektionen
1500 mg in 3 ED p.o.1
Option der oralen Therapie des Herpes zoster
Erwachsenendosierung.
Knochenmarkstransplantation 10–40%, die assoziierte Mortalität lag bei bis zu 50% (Sable u. Donowitz 1994). Weitere Zielorgane invasiver Infektionen sind Ösophagus, Magen und Darm, Aderhaut sowie selten das ZNS und andere Organe (Leber, Myokard, Nieren u. a.). Wesentliche prädiktive Faktoren für eine CMV-Erkrankung im Transplantationssetting sind der Serostatus von Spender und Empfänger vor Transplantation, eine GVHD, eine Lebensalter von >20 Jahren und eine unzureichende lymphozytäre Rekonstitution nach Transplantation (Zaia 2002). Der Gipfel der Erkrankungswahrscheinlichkeit liegt innerhalb der ersten 3 Monate nach Transplantation; unter derzeitigen präventiven Strategien sind jedoch späte Erkrankungen nach Tag 100 häufiger geworden (Boeckh et al. 2002). Diagnostik. Diagnostisch sind Serologie und der Antigennachweis aus Urin kaum zu interpretieren. Der quantitative Nukleinsäure- bzw. pp65-Antigennachweis (PCR bzw. Immunfluoreszenzassay) aus peripherem Blut hat bei manifesten Organinfektionen eine hohe, wenn auch nicht absolute Sensitivität (Stamminger 1997). Bei klinisch/radiologischem Verdacht auf eine CMV-Pneumonie ist die bronchoalveoläre Lavage mit Antigennachweis in der Zentrifugationskultur bzw. Nukleinsäurenachweis mittels PCR ein guter Indikator für eine invasive pulmonale Infektion. Die Diagnose einer Enzephalitis kann mittels PCR aus Liquor, die einer Chorioretinitis via Fundoskopie gestellt werden; bei gastrointestinalen Manifestationen ist häufig nur die Biopsie mit histologischen bzw. geeigneten virologischen Verfahren erfolgreich (Zaia 2002). Therapie. Therapie der Wahl ist Ganciclovir, bei CMV-Pneumonie zusätzlich CMV-Hyperimmunglobulin. Die Behandlungsergebnisse v. a. der CMV-Pneumonie sind nach wie
vor unbefriedigend (Ljungman et al. 1992). Jedoch hat das Konzept einer präemptiven Frühtherapie bei positivem Antigen- bzw. Nukleinsäurenachweis aus peripherem Blut bei Patienten nach allogener hämatopoetischer Stammzelltransplantation und wöchentlichem Screening zu einer deutlichen Reduktion der Morbidität und Mortalität durch CMV-Erkrankungen geführt (Ljungman et al. 1998). Bei erfolgreicher Initialbehandlung ist in der Regel eine Erhaltungstherapie erforderlich. Eine weniger gut untersuchte Therapieoption ist Foscarnet (Reusser et al. 2002), und nachgeordnet, die Kombination von Ganciclovir plus Foscarnet, Cidofovir, und Ganciclovir beladene Implantate bei Chorioretinitis (Stamminger 1997; Zaia 2002). Die Rolle von Valganciclovir, einem oral verabreichbarer Monovalyl-Ester von Ganciclovir mit nahezu gleicher Plasmaexposition wie Ganciclovir, wird derzeit in klinischen Studien evaluiert ( Tabelle 79.8). EBV-Infektion. Abwehrgeschwächte Patienten mit ausgepräg-
ter Störung der T-Zellimmunität sind nicht in der Lage, die Proliferation von mit Epstein-Barr-Virus (EBV) infizierten B-Lymphozyten zu kontrollieren und können neben Symptomen der infektiösen Mononukleose schwere, häufig letale lymphoproliferative Krankheitsbilder bis hin zu malignen B-Zell-Lymphomen entwickeln (Cohen 2000). Gefährdet sind insbesondere Patienten nach T-Zell-depletierter bzw. HLA-diskordanter HSZT, nach Gabe von Anti-Lymphozytenantikörpern, mit CMV-Erkrankung und primärer EBVInfektion. Da lymphoproliferative Komplikationen mit einer Erhöhung der EBV-Viruslast im Blut assoziiert sind (Cohen 2000), kann in Hochrisikopopulationen ein serielles Monitoring mittels quantitativer PCR als Kriterium für eine präemptive Therapie eingesetzt werden (van Esser et al. 2002). Die ultimative Diagnose lymphoproliferativer Erkrankungen verlangt bioptische Verfahren mit histologischer Begutach-
999 79 · Infektionen
tung und Nachweis von EBV mit molekularen bzw. immunologischen Methoden im Gewebe. Therapeutische Optionen bestehen in der Reduktion der Immunsuppression, der Gabe monoklonaler Anti-B-Zellantikörper sowie, im experimentellen Stadium, der Gabe von Donor-Lymphozyten bzw. dem adoptiven Transfer EBV-spezifischer zytotoxischer T-Lymphozyten (Riddell u. Greenberg 1997; Cohen 2000; van Esser et al. 2002). Reaktivierungen bzw. Erstinfektionen durch HHV-6. Manifestationen einer Reaktivierung bzw. Erstinfektion durch den Erreger des Dreitagefiebers werden v. a. bei Patienten nach allogener HSZT beobachtet und umfassen fieberhafte Krankheitsbilder mit interstitieller Pneumonie, Hepatitis, Enzephalitis, Retinitis, Panzytopenie mit und ohne Exanthem (Yoshikawa et al. 2002). Wie bei CMV-Infektionen besteht eine Assoziation mit GVHD (Appleton et al. 1995). Die Diagnose kann mittels PCR aus Blut und Körperflüssigkeiten (Allen et al. 2001) sowie mittels molekularen bzw. immunologischen Methoden im Gewebe angestrebt werden. Ähnlich wie CMV ist HHV-6 gegenüber Ganciclovir und Foscarnet sensibel. Aussagekräftige klinische Studien existieren jedoch derzeit nicht. Zu Reaktivierungen bzw. Erstinfektionen durch HHV-7 und HHV-8 bei onkologischen Patienten liegen kaum Daten vor.
79.4.9 Ortho- und Paramyxoviren Über Maserninfektionen immuner krebskranker Kinder ist wenig bekannt. Bei Infektionen Nichtimmuner beträgt das Risiko einer Pneumonie über 60%, die Mortalität liegt zwischen 36 und 83%. Typische klinische Manifestationen (Exanthem, Enanthem) können gerade bei komplizierten Verläufen fehlen, und Expositionsanamnese und Serologie sind unzuverlässig (Gray et al. 1987; Kernahan et al. 1987). Kinder unter antineoplastischer Chemotherapie und nach HSZT haben ein beträchtliches Risiko für komplizierte Infektionen durch das »respiratory syncytial virus« (RSV). In einer prospektiven Studie an stationär aufgenommenen Patienten wurden pneumonische Verläufe auch bei älteren Kindern (>24 Monate) in 100% der Fälle registriert, die
Gesamtmortalität betrug 15%. Über die Hälfte der Infektionen waren nosokomial akquiriert (Hall et al. 1986). Auch Parainfluenzaviren können bei ausgeprägter Immunsuppression schwere Infektionen des unteren Respirationstraktes hervorrufen. Ihre Inzidenz liegt bei knochenmarktransplantierten Patienten zwischen 2 und 3%, Pneumonien werden in etwa 70% der Erkrankungen beobachtet mit einer assoziierten Mortalität von bis zu 50% (Wendt et al. 1992; Whimbey et al. 1993). Das Risiko einer Influenzaerkrankung ist bei krebskranken Kindern erhöht. Art und Ausmaß klinischer Symptome unterscheiden sich nicht von denen Immunkompetenter, der Krankheitsverlauf kann jedoch prolongiert sein. Häufige Komplikationen sind bakterielle Superinfektionen des Respirationstraktes; eine erhöhte Inzidenz für die primäre Influenzapneumonie ist nicht bekannt (Feldman et al. 1977; Kempe et al. 1989). Diagnostik. Da Ortho- und Paramyxoviren keine persistie-
renden Infektionen etablieren, ist ihr Nachweis bei Vorliegen respiratorischer Befunde immer für eine aktive Erkrankung beweisend. Der Erregernachweis ist mittels Zentrifugationskultur und Antigen-Assays aus Sekreten von Nasopharynx, tiefem Respirationstrakt sowie an Biopsiematerial möglich; auf der PCR basierende Nachweismethoden sind erhältlich (Groll et al. 1997). Therapie. Die therapeutischen Optionen sind beschränkt.
Sie umfassen Amantadin, Ribavirin, und, bei Influenza, Neuraminidase-Inhibitoren wie Oseltamivir und Zanamivir (⊡ Tabelle 79.9; Balfour 1999). 79.4.10 Adenoviren Adenoviren können bei ausgeprägter Immunsuppression invasive Infektionen von Gastrointestinaltrakt (Enterokolitis), Urogenitaltrakt (hämorrhagische Cystitis), innerer Organe (Pneumonie, Hepatitis, Enzephalitis) sowie disseminierte Infektionen bewirken (Flomenberg et al. 1994). Die Häufigkeit invasiver Infektionen bei unselektierten pädiatrischen Patienten nach allogener HSZT beträgt zwischen 5 und 10%.
⊡ Tabelle 79.9. Substanzen zur Behandlung von Infektionen durch Ortho- und Paramyxoviren
Substanz
Tagesdosis (mg/kg)
Anmerkungen
Amantadin
5–8 in 2 ED p.o. (maximal 200 mg TD)
Therapie von Influenza-A-Infektionen
Rimantadin
5 in 2 ED p.o. (maximal 150 mg TD)
Therapie von Influenza-A-Infektionen
Ribavirin
6000 mg über 12–18 h per inhalationem
Therapie schwerer Atemwegsinfektionen durch Masern, RSV, Influenza- und Parainfluenzaviren im Rahmen eines individuellen Heilversuchs (auch systemisch; Erwachsenendosis 20–35 mg/kg/Tag i.v./p.o.)
Oseltamivir
60–150 mg in 2 ED p.o.
Therapie von Influenza-A- und -B-Infektionen
Zanamivir
20 mg in 2 ED per inhalationem1
Therapie von Influenza-A- und -B-Infektionen
1
ab 12. Lebensjahr.
79
1000
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Risikofaktoren sind eine GVHD, Immunsuppression mit Steroiden sowie HLA-divergente bzw. T-Zell-depletierte Grafts. Die Prognose korrelliert mit der Anzahl betroffener Kompartimente (Baldwin et al. 2000) bzw. der Viruslast in peripherem Blut (Schilham et al. 2002). Speziell bei pulmonaler Beteiligung liegt die fallbezogene Mortalität bei über 70%.
V
Diagnostik. Der Erregernachweis ist aus respiratorischen Sekreten, Urin, Stuhl, Vollblut und Geweben mittels Zentrifugationskultur und direktem Antigennachweis sowie PCR-Verfahren möglich (Groll et al. 1997). Da Adenoviren als DNA-Viren zu lebenslang persistierenden Infektionen führen und auch von asymptomatischen Trägern ausgeschieden werden können, bedarf ihr Nachweis immer der besonderen Interpretation. Therapie. Behandlungskonzepte für die Zukunft sind die primäre Chemoprophylaxe bei Hochrisikopatienten sowie präemptive Therapieansätze wie bei CMV (Echavarria et al. 2001). Bislang ungeprüfte potenzielle Optionen der Chemotherapie sind Ribavirin und Cidofovir (Legrand et al. 2001; Bordigoni et al. 2001).
79.4.11 Parvovirus B19 Parvovirus B19, Erreger der Ringelröteln und Agens aplastischer Krisen bei Patienten mit angeborenen hämolytischen Anämien, kann v. a. bei Kindern mit hämatologischen Neoplasien Ursache chronischer lytischer Infektionen mit prolongierter Anämie, Thrombozytopenie und selten auch Panzytopenie sein (Kurtzmann et al. 1988). Obwohl immunologische Reaktionen wie Exanthem und Arthralgien typischerweise fehlen, sind auch persistierendes Fieber, Myalgien und Hautausschläge berichtet (Broliden et al. 1998; Heegaard u. Schmiegelow 2002). Diagnostik. Die Diagnose kann mittels PCR aus Serum, be-
vorzugt aber aus Knochenmarkaspiraten in Zusammenhang mit der Klinik gestellt werden (Broliden et al. 1998). Therapie. Die Gabe von Immunglobulinen bzw. Reduktion der Immunsuppression kann zu einer Reversibilität Parvovirus-B19-induzierter Anämien führen (Kurtzmann et al. 1988).
79.5
Infektionsprävention
79.5.1 Infektionskontrollprogramm Das Infektionskontrollprogramm besteht neben der Hygienekommission (»Legislative«) aus speziell weitergebildeten Ärzten und Pflegekräften (Hygienebeauftragte bzw. Hygienefachkräfte) und dem Betriebsingenieur (»Exekutive«). Eine wesentliche Aufgabe des Programms ist die kontinuierliche, prospektive Erfassung definierter nosokomialer Infektionen nach einheitlichem Standard (Surveillance), die Auswertung und Interpretation der Daten, die zeitnahe Rückmeldung und die Ausarbeitung und Überwachung von Maßnahmen zu
ihrer Verminderung. Die Surveillance nosokomialer Infektionen muss nach den Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes erfolgen (Infektionsschutzgesetz); spezielle Software-Programme erleichtern dies (Simon et al. 2000). Weitere Aufgaben des Infektionskontrollprogramms bestehen in der Implementierung von Protokollen für die Isolierung von Patienten, in der Schulung, Weiterbildung, Motivation und Beratung aller Mitarbeiter in Hygienefragen und v. a. in einer guten Zusammenarbeit mit den mikrobiologischen Laboratorien (Simon et al. 2000; Simon u. Fleischhack 2001). Grundvoraussetzung für die Effizienz des Infektionskontrollprogramms und die Prävention nosokomialer Infektionen ist eine ausreichende Personalausstattung (Fridkin et al. 1996). 79.5.2 Nicht-medikamentöse Infektionsprävention Onkologische Stationen und Ambulanzen sollten nach Möglichkeit vom übrigen Klinikbetrieb und den allgemeinpädiatrischen Notfallambulanzen räumlich getrennt sein. Besucher (insbesondere Kinder) müssen frei von Infekten bzw. einer Inkubation mit Varizellen, Masern oder einer Tuberkulose sein. Bei Bau- und Renovierungsarbeiten sind spezielle Abschirmungsmaßnahmen zur Vermeidung einer erhöhten Exposition von Hochrisikopatienten gegenüber Schimmelpilzsporen einzuleiten (CDC 2000; Simon u. Fleischhack 2001). Die Pflege infektionsfreier onkologischer Patienten erfolgt auf offenen, infektionsfreien Stationen. Eine Umkehrisolation (Einzelzimmer mit Verwendung von Mundnasenschutz, Handschuhen und Einmalkitteln seitens aller Kontaktpersonen) und Pflege in mit positivem Luftdruck und »High-efficiency-particulate-air« (HEPA)-Filtern ausgestatteten Räumen wird nur nach allogener HSZT bis zum Engraftment empfohlen (Simon u. Fleischhack 2001). Fiebernde Patienten sollten in einem Einzelzimmer, und solche mit direkt oder indirekt übertragbaren Infektionen bzw. einer Kolonisation durch hochresistente Erreger nach den gültigen Regeln der Infektionsprävention behandelt werden. Alle Richtlinien sollten in übersichtlicher und eindeutiger Form als Standardanweisungen vorliegen, leicht zugänglich sein und regelmäßig überprüft und ggf. weiterentwickelt werden. Die meisten bakteriellen Infektionen onkologischer Patienten sind auf Erreger der endogenen Flora zurückzuführen, von denen etwa die Hälfte nosokomial akquiriert wurden. Da der häufigste nosokomiale Übertragungsweg der von Mensch zu Mensch ist, ist die hygienische Händedesinfektion mit einem von der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM) zertifizierten alkoholischen Händedesinfektionsmittel vor und nach jedem Patientenkontakt nach wie vor eines der wichtigsten Elemente der allgemeinen Infektionsprävention im Krankenhaus (RKI 2000; CDC 2002). Beim granulozytopenen Patienten ist eine Beschränkung auf gekochte Nahrung und der Verzicht auf Rohmilchprodukte angezeigt (Sommerville 1986). Schnittblumen und Topfpflanzen sind obsolet. Leitungswasser (Legionellen) und raumlufttechnische Anlagen (Legionellen, Schimmelpilze) können Quellen nosokomialer Infektionen werden und unterliegen ebenso wie Hausreinigung, Wäschehygiene und Abfallbeseitigung der Überwachung durch das Infektionskontrollprogramm. Die routinemäßige Desinfektion pa-
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tientennaher Handkontaktflächen und die thermische oder chemische Desinfektion aller nicht sterilisierbaren, »nichtkritischen« Hilfsmittel, die bei mehreren Patienten zum Einsatz kommen (Stethoskope, Blutdruckmanschetten, Thermometer, Inhalationszubehör, Geschirr) ist ein wesentlicher Bestandteil des Multibarrierekonzeptes in der Vermeidung von Übertragungsketten im Krankenhaus und sollten eindeutig geregelt sein (Simon u. Fleischhack 2001). Eltern, Angehörige und die Patienten selbst müssen in die allgemeinen und stationsspezifischen Aspekte der Hygiene und Infektionsprävention eingewiesen werden. Die persönliche Hygiene des granulozytopenen Patienten umfasst vorsichtiges Zähneputzen mit weichen Zahnbürsten, das regelmäßige Spülen der Mundhöhle, die Pinselung von Schleimhaut- und Hautläsionen mit Antiseptika und ggf. Sitzbäder. Wegen der Verletzungsgefahr ist die rektale Messung der Körpertemperatur verboten. Die krankengymnastische Atem- und Bewegungstherapie sind feste Bestandteile der allgemeinen Infektionsprävention, ebenso auch die mittelund langfristig ausreichende Zufuhr von Kalorien und essenziellen Nahrungsbestandteilen. Für Anlage und Pflege von Gefäßzugängen, Kathetern und Drainagen, das Richten von Infusionen und die Pflege von Wunden sollten verbindliche Protokolle existieren. Schließlich ist die Indikation zur Gabe von Blutprodukten stets sehr sorgfältig zu stellen. 79.5.3 Medikamentöse Infektionsprävention Die prophylaktische Gabe von antibakteriellen Substanzen zumindest bei Patienten mit absehbar prolongierter Granulozytopenie erscheint zunächst grundsätzlich sinnvoll. Zahlreiche Studien mit nicht-resorbierbaren (Gentamicin, Paromomycin, Vancomycin, Polymyxin, Colistin) und vom Gastrointestinaltrakt resorbierten Antibiotika (TMP/SMZ, Norfloxacin, Ciprofloxacin) haben jedoch zu keinem universell effektiven und akzeptierten Verfahren geführt. Problematisch sind v. a. die Selektion polyresistenter Erreger, daneben unerwünschte Nebenwirkungen und Aspekte der Compliance (Simon et al. 2001a; Hughes et al. 2002). Chemoprophylaxe invasiver Candida-Infektionen. Populationen mit hohem Risiko invasiver Pilzinfektionen sind Patienten mit intensiv zytostatisch behandelten hämatologischen Neoplasien (AML, HR-ALL, B-Zell-Lymphome), aplastischer Anämie und Patienten nach allogener HSZT bis zum Engraftment bzw. Grad III/IV-GVHD. In diesen Populationen beträgt die Inzidenz invasiver Pilzinfektionen 10–25% bei einer unbereinigten Mortalität von 50–75%. Eine wirksame Chemoprophylaxe invasiver Candida-Infektionen mit signifikanter Reduktion der Langzeitüberlebenswahrscheinlichkeit wurde bei Patienten nach allogener HSZT und Prophylaxe mit Fluconazol bis Tag +75 nachgewiesen (Slavin et al. 1995; Marr et al. 2000). Bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien sind Fluconazol wie auch Itraconazol effektiv in der Reduktion invasiver Candida-Infektionen und Candidaassoziierten Mortalität (Rotstein et al. 1999; Menichetti et al. 1999). Pflege in »Laminar-air-flow«-Einheiten mit HEPAFiltern kann eine wirksame Maßnahme zur Prävention invasiver Aspergillus-Infektionen darstellen (Sheretz et al. 1987);
eine effektive Chemoprävention dieser Infektionen ist nicht durch kontrollierte Studien belegt. Eine jüngere sorgfältige Metaanalyse legt jedoch eine präventive Wirksamkeit der Itraconazol-Suspension nahe (Glasmacher et al. 2001). Aufgrund der Datenlage ist die Prophylaxe mit Fluconazol (8–12 mg/kg/Tag in 1 ED; maximal 400 mg/Tag) nach allogener HSZT bis mindestens Tag +75 ein Standard der Supportivtherapie. Eine Prophylaxe mit Fluconazol bzw. Itraconazol (5 mg/kg/Tag der Cyclodextrin-Suspension in 2 ED) ist indiziert bei Patienten mit AML, HR-ALL und B-Zell-Lymphomen sowie Patienten nach autologer HSZT ohne Support mit Kolonie-stimulierenden Faktoren während Phasen der Granulozytopenie. Als Ad-hoc-Maßnahme bei endemischer bzw. protokollbedingter Häufung invasiver Schimmelpilzinfektionen während Granulozytopenie bzw. höhergradiger GVHD wird derzeit Itraconazol empfohlen (Groll et al. 2001c). Ein partielles Ansprechen und die Fortführung der antimykotischen Chemotherapie mit wirksamen Substanzen in therapeutischen Dosierungen vorausgesetzt, sind invasive Pilzinfektionen wie eine chronischdisseminierte Candidiasis oder eine invasive pulmonale Schimmelpilzinfektion keine absolute Kontraindikation für weitere intensive antineoplastische Chemotherapie bzw. eine Transplantation (⊡ Tabelle 79.10; Groll et al. 2001c). Chemoprophylaxe der Pneumocystis-Pneumonie. Trimetho-
prim/Sulfamethoxazol (150/750 mg/m2/Tag in 2 ED und für Patienten >12 Jahre 160/800 mg in 1 ED an 7 oder 3 Tagen der Woche) ist eine nahezu 100% effektive Chemoprophylaxe der Pneumocystis-Pneumonie (Hughes et al. 1978, 1987). Sekundäre, nachgewiesen weniger wirksame und vorwiegend bei HIV-infizierten Patienten untersuchte Alternativen sind die Gabe von Dapson bzw. Atovaquone und die monatliche Inhalation mit Pentamidin-Isethionat. In adäquaten Studien gesicherte Indikationen liegen bei allogener HSZT und hämatologischen Neoplasien mit dosisintensiver Chemotherapie vor. Jedoch kann auch bei autolog transplantierten Patienten, Patienten mit soliden Tumoren und Patienten mit Hirntumoren und Kortikosteroidgabe aufgrund der ausgeprägten T-Zelldepletion von einem ähnlich hohen Infektionsrisiko ausgegangen werden (Groll et al. 2001b); aus diesem Grunde wird hier wie auch bei Patienten mit nicht neoplastischen hämatologischen Erkrankungen und schwerer Lymphozytopenie eine Prophylaxe bis 3 Monate nach Beendigung der onkologischen Behandlung (allogene HSCT: mindestens 6 Monate nach Engraftment) empfohlen. Patienten mit erfolgreiche behandelter Pneumocystis-Pneumonie bedürfen einer Sekundärprophylaxe (⊡ Tabelle 79.11; Groll et al. 2001b). Chemoprophylaxe von Herpes-simplex- und Herpes-zosterInfektionen. Zur Prophylaxe von Herpes simplex und Herpes
zoster nach Knochenmarktransplantation bzw. bei Rezidiven unter intensiver Chemotherapie kann Aciclovir eingesetzt werden (Graubner 2001a), bei älteren Kindern und Jugendlichen in individueller Abwägung das für pädiatrische Patienten nicht zugelassene Valaciclovir (Nadal et al. 2002). Aciclovir-refraktäre chronische HSV- und VZV-Infektionen sind nach HSZT beschrieben (Reusser 1996) und müssen bei Rezidiven berücksichtigt werden. Die primäre Prävention von Windpocken VZV-seronegativer Patienten besteht in der
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 79.10. Chemoprophylaxe oberflächlicher und invasiver Pilzinfektionen: Dosierungsempfehlungen
Prophylaxe
Dosierungsempfehlung
Primärprophylaxe invasiver CandidaInfektionen
Fluconazol Kinder (1 Monat bis 12 Jahre): 8–12 mg/kg/Tag in 1 ED i.v. oder p.o. Jugendliche ab 13. Lebensjahr und Erwachsene: 400 mg/Tag in 1 ED i.v. oder p.o. Itraconazol-Cyclodextrin-Suspension1 Kinder (ab 6 Monate), Jugendliche und Erwachsene: 5 mg/kg/Tag in 2 ED p.o.
Primärprophylaxe invasiver Aspergillus-Infektionen
Itraconazol-Cyclodextrin-Suspension1 Kinder (ab 6 Monate), Jugendliche und Erwachsene: 5 mg/kg/Tag in 2 ED p.o. Voriconazol Kinder (2 bis 12 Jahre): 12 mg/kg in 2 ED an Tag 1, danach 8 mg/kg/Tag in 2 ED i.v. oder p.o. Jugendliche ab 13. Lebensjahr und Erwachsene: 12 mg/kg in 2 ED an Tag 1, danach 8 mg/kg/Tag in 2 ED i.v.; 800 mg in 2 ED an Tag 1, danach 400 mg in 2 ED p.o. (>40 kg) bzw. 400 in 2 ED und 200 in 2 ED (<40 kg) p.o.
V Sekundärprophylaxe rezidiv. oberflächlicher Candida-Infektionen
Nicht-resorbierbare Polyene (Amphotericin B, Nystatin) Nicht resorbierbare Azole (Clotrimazol, Miconazol u.a.) Fluconazol Kinder (1 Monat bis 12 Jahre): 3–6 mg/kg/Tag in 1 ED p.o. Jugendliche ab 13. Lebensjahr und Erwachsene: 100–200 mg/Tag in 1 ED p.o. Itraconazol1 Kinder (6 Monate bis 12 Jahre): 5 mg/kg/Tag in 1 oder 2 ED (Suspension) Jugendliche ab 13. Lebensjahr und Erwachsene: 200 mg/Tag p.o. (Kps./Suspension)
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nicht zugelassen für Alterstufen <18 Jahre; vorliegende Daten unterstellen keine Unterschiede bezüglich Verträglichkeit und Wirksamkeit im Vergleich zu Erwachsenen. Bei oraler Gabe von Itraconazol zur Prophylaxe invasiver Pilzinfektionen wird die Aufrechterhaltung von Talspiegeln von Itraconazol von >0,5 µg/ml (Bioassay: >2 µg/ml) durch entsprechende Dosisanpassung empfohlen (nach Groll et al. 2001).
⊡ Tabelle 79.11. Chemoprophylaxe der Pneumocystis-Pneumonie: Dosisempfehlungen (nach Groll et al 2001)
Altersgruppe
Dosisempfehlungen
Verfahren der ersten Wahl Kinder 1 Monat bis 12 Jahre
150 mg TMP/m2/Tag + 750 mg SMX/m2/Tag p.o. in 2 ED an 3 aufeinanderfolgenden Tagen der Woche in 2 ED an 7 Tagen der Woche
Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene
160 mg TMP/Tag + 800 mg SMX/Tag p.o. in 1 ED an 7 Tagen der Woche in 1 ED an 3 aufeinanderfolgenden Tagen der Woche
Alternativen bei TMP/SMX-Intoleranz Kinder
Inhalation mit Pentamidin-Isethionat 300 mg monatlich mit Respirgard-II-Inhalator (ab 5. Lebensjahr möglich) Dapson (ab 1. Lebensmonat) 2 mg/kg p.o. (maximal 100 mg) täglich in 1 ED Atovaquone 30 mg/kg p.o. (1. bis 3. Lebensmonat und ab dem 25. Lebensmonat) bzw. 45 mg/kg p.o. (4. bis 24.Lebensmonat) täglich in 1 ED
Jugendliche und Erwachsene
Inhalation mit Pentamidin-Isethionat 300 mg monatlich mit Respirgard-II-Inhalator Dapson 100 mg p.o. täglich in 1 oder 2 ED Atovaquone 1500 mg p.o. täglich in 1 ED
TMP Trimethoprim, SMX Sulfamethoxazol.
Vermeidung einer Exposition. Hat eine Exposition stattgefunden, kann durch die Gabe von VZV-Hyperimmunglobulin ein sicherer Schutz erzielt werden, wenn innerhalb von 24 bis spätestens 96 h verabreicht und der Inkuband vom Erkrankten isoliert bleibt. Der Betroffene gilt danach als nicht inku-
biert. Bei einer Reexposition nach mehr als 14 Tagen muss erneut immunisiert werden (CDC 1984). Bei nicht zeitgerecht möglicher passiver Immunprophylaxe wird die Chemoprophylaxe mit hochdosiertem Aciclovir für 7 Tage ab dem 8. Inkubationstag empfohlen (Graubner 2001a).
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Chemoprophylaxe von CMV-Infektionen. Wichtigste Maßnahme zur Vermeidung von CMV-Infektionen ist die ausschließliche Gabe CMV-negativer Blutprodukte bzw. die Verwendung spezieller Leukozytenfilter (Bowden et al. 1995; Nichols u. Boeckh 2000). Nach allogener Knochenmarkstransplantation und Seropositivität von Empfänger bzw. Spender sind die Prophylaxe mit Ganciclovir (ab Engraftment bis Tag +100; Winston et al. 1993) bzw. die präemptive Therapie mit Ganciclovir (Goodrich et al. 1991) oder auch Foscarnet (Reusser et al. 2002) bei Nachweis von CMV-Antigen bzw. Genprodukten nachgewiesen wirksam in der Prävention manifester Erkrankungen (Graubner 2001a). Chemoprophylaxe weiterer Infektionen. Während Mumps
und Röteln keine besondere Bedrohung darstellen, ist bei einer Masernexposition die Gabe eines polyvalenten Immunglobulinpräparates zwingend und effektiv, wenn der Exponierte vom Erkrankten isoliert bleibt (Lehrnbecher 2001b). Zur Chemoprophylaxe der Influenza bei Kontakt bzw. Epidemien stehen Amantadin, Oseltamivir und, ab dem 12. Lebensjahr zugelassen, Zanamivir zur Verfügung. 79.5.4 Infektionsprävention nach Splenektomie Die Milz dient als effektiver Blutfilter für Bakterien und spielt eine wichtige Rolle in der Produktion früher Antikörper gegen im Kreislauf zirkulierende Antigene. ! Splenektomierte Patienten, insbesondere Kinder, haben ein lebenslang erhöhtes Risiko speziell für lebensbedrohliche Infektionen durch kapseltragende Bakterien wie Pneumokokken, Haemophilus influenzae und Meningokokken.
Darüber hinaus besteht eine erhöhtes Risiko schwerer Malaria- und Babesiose-Infektionen durch Parasiten und den Erreger Capnozytophaga canimorsus nach Hundebissen (Eber et al. 2001). Die Infektionsprävention bei Splenektomierten bzw. Patienten mit chronischer GVHG nach allogener HSZT stützt sich neben der Aufklärung über das besondere Infektionsrisiko und der präemptiven antibakteriellen Therapie bei unklaren Fieberzuständen auf eine Dauerprophylaxe mit derzeit Penicillin V und die aktive Immunisierung gegen Pneumokokken, Haemophilus influenzae und Meningokokken (Eber et al. 2001; Stiko unter www.rki.de). 79.5.5 Prävention mit polyvalenten
Immunglobulinen und Vakzinen Die regelmäßige Gabe polyvalenter Immunglobuline hat keine gesicherte Indikation in der Infektionsprophylaxe onkologischer Patienten; ein Einfluss auf die Häufigkeit infektiöser Komplikationen bzw. auf die infektionsassoziierte und allgemeine Mortalität ist nicht nachgewiesen (Lehrnbecher 2001b). Bei Patienten nach HSZT liegen Daten vor, die eine infektionspräventive Wirksamkeit polyvalenter Immunglobulingaben nahe legen (Graham-Pole et al. 1988; Sullivan et al. 1990); eine universelle Empfehlung aus infektionspräventiver Sicht wird jedoch kontrovers beurteilt (CDC 2000; Lehrnbecher 2001b).
Bei onkologischen Patienten sind mit der möglichen Ausnahme der Varizellenimpfung Impfungen mit Lebendvakzinen unter noch laufender antineoplastischer Therapie kontraindiziert (Graubner 2001b). Impfungen mit abgetöteten Erregern, ihren Bestandteilen oder Toxoiden sind unter Therapie zwar grundsätzlich erlaubt, ihre protektive Wirksamkeit ist jedoch fraglich. Gleichwohl können Indikationsimpfungen wie z. B. gegen Hepatitis B oder Influenza je nach expositioneller bzw. epidemiologischer Gefährdung indiziert sein. Auch bei vor der Krebserkrankung adäquat durchgeführten Impfungen ist nach Abschluss der Therapie von einem zumindest unvollständigen Impfschutz auszugehen (Graubner 2001b; Lehrnbecher et al. 1997; CDC 2000). Unter der Annahme, dass 3–6 Monate nach Beendigung einer Chemotherapie wieder mit einer normalen Impfantwort gerechnet werden kann, wird derzeit von der Qualitätssicherungsgruppe der GPOH unabhängig von der Art der erfolgten Therapie das Wieder-/Weiterimpfen mit Totimpfstoffen 3 Monate und mit Lebendimpfstoffen 6 Monate nach Beendigung der Chemotherapie empfohlen (Graubner 2001b). Wesentliche Einzelaspekte der aktiven Immunisierung nach Chemotherapie sind jedoch nach wie vor unklar und warten auf ihre Bearbeitung in kooperativen klinischen Studien. Für Patienten nach autologer oder allogener HSZT ohne GVHD und immunsuppressive Therapie werden derzeit eine Grundimmunisierung mit Totimpfstoffen ab 12 Monate und Impfungen mit Lebendimpfstoffen ab 24 Monate nach Transplantation empfohlen (Ljungmann et al. 1995; CDC 2000). Empfohlene Indikationsimpfungen sind die Pneumokokkenimpfung und jährliche Gaben der Influenzavakzine (CDC 2000). Eine wichtige Maßnahme der Infektionsprävention durch aktive Immunisierung besteht in einem ausreichenden Impfschutz von Familien- und Haushaltsmitgliedern bzw. medizinischem Personal unter Einschluss von Influenza, Masern und, kontrovers beurteilt (Graubner 2001b), Varizellen bei seronegativen Individuen (CDC 2000).
In den letzten Jahren wurden erhebliche Fortschritte in allen Bereichen der Infektiologie abwehrgeschwächter Patienten erzielt. Neben neuen Infektionserregern und der zum Teil bedrohlichen Resistenzentwicklung altbekannter Erreger sind weitere Verbesserungen in Prävention, Diagnostik und antimikrobieller Chemotherapie, die Evaluierung immunmodulatorischer Verfahren die Herausforderungen der näheren Zukunft. In erster Linie gilt es aber, onkologische Behandlungsmethoden zu entwickeln, die das Abwehrsystem des krebskranken Patienten möglichst wenig, nur kurzzeitig oder gar nicht in Mitleidenschaft ziehen.
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79
Blutungen und Thromboembolien V. Witt
V
80.1 80.2
Einleitung – 1010 Hämorrhagische Diathese
80.2.1 80.2.2
Diagnostik – 1011 Therapie und Prävention
80.3
Thrombosen
80.3.1 80.3.2
Diagnostik – 1014 Therapie und Prävention
80.4
Erworbene Inhibitoren der Gerinnung – 1019 Literatur – 1019
– 1010
– 1012
– 1014 – 1015
Neben hereditären Erkrankungen sind Blutungen und Thrombosen häufig Ausdruck, aber auch Folge der Behandlung von malignen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Das Risiko, dass ein Patient, der an einer grundsätzlich heilbaren Erkrankung leidet, an einer Blutung zu Schaden kommt oder gar verstirbt, macht die Prävention, Diagnostik und Therapie dieser bedrohlichen Komplikationen zu einem bedeutenden Teil der Alltagsarbeit auf einer onkologischen Station. Aber auch thromboembolische Komplikationen werden immer bedeutsamer, nicht zuletzt durch den Einsatz supportiver Maßnahmen wie z. B. zentralvenöse Verweilkatheter. Die wachsenden Kenntnisse über die hereditären Thrombophilien eröffnen neue Wege in der Diagnostik und möglicherweise auch Prophylaxe derartiger Komplikationen.
80.1
Einleitung
Die Hämostase ist ein fein abgestimmtes System, das vor hämorrhagischen Diathesen einerseits und thromboembolischen Ereignissen andererseits bewahren soll. Sie ist ein feinfühliger Indikator für verschiedenste Krankheitszustände. Störungen der Hämostase können für die Diagnose einer malignen Erkrankung wegweisend sein. Gleichzeitig geht die Therapie von Leukämien und soliden Tumoren mit zum Teil erheblicher Imbalance dieses empfindlichen Systems einher, weshalb Kenntnisse von supportiven Maßnahmen im Bereich der Hämostaseologie notwendig sind. In diesem Kapitel soll der Schwerpunkt auf die sekundären Hämostasestörungen im Rahmen der Therapie onkologischer Erkrankungen gelegt werden. Für das Studium der hereditären primären Hämostasestörungen sei auf Kap. 40 verwiesen. 80.2
Hämorrhagische Diathese
Eine hämorrhagische Diathese entsteht, wenn die Gerinnungskaskade nicht mehr in der Lage ist, die Integrität der
Gefäße aufrecht zu erhalten. Die Art und Weise, wie sich eine hämorrhagische Diathese präsentiert – ihre Leitsymptome – können Diagnostik und Therapie erleichtern. Anamnese und körperliche Untersuchung lassen meist schon den Schlüssel zu einer differenzierteren Diagnostik erkennen. Petechiale Blutungen sprechen für das Vorliegen einer Thrombozytopenie oder -pathie bzw. eine Beteiligung der Gefäße wie bei Vaskulitis. Sie sind aber auch Zeichen der Verdrängung der Hämato- bzw. Thrombopoese durch eine maligne Infiltration des Knochenmarkes, z. B. bei akuten Leukämien, Neuroblastomen und Rhabdomyosarkomen. Flächige Blutungen oder auch Organblutungen sind außer bei Traumen und Bindegewebserkrankungen hinweisend auf das Vorliegen einer Störung des plasmatischen Gerinnungssystems oder der Thrombozyten. Diffuse Blutungen, z. B. aus Kathetereintrittsstellen in Kombination mit einem entsprechenden klinischen Zustand, müssen unmittelbar an das Vorliegen einer disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) denken lassen, z. B. bei einer Sepsis oder der Promyelozytenleukämie. Eine Anämie bzw. ein hämorrhagischer Schock kann durch Einblutung in den Tumor oder eine traumatische Tumorruptur mit konsekutiver Blutung in die freie Bauchhöhle, wie z. B. beim Nephroblastom, entstanden sein. Während diese mechanisch-traumatisch bedingten Tumorrupturen ein deutliches Blutungsrisiko darstellen, gehen die seltenen paraneoplastisch bedingten laborchemischen Gerinnungsveränderungen, wie z. B. ein erworbenes vonWillebrand-Syndrom im Allgemeinen nicht mit einer erhöhten Blutungsneigung einher (Coppes 1992). Im Verlaufe der Therapie sind durch Chemotherapie induzierte Blutungen häufig Folge einer Aplasie-bedingten Thrombozytopenie, können aber auch ihre Ursache in einem sekundären Verbrauch von Thrombozyten und/oder plasmatischen Hämostasefaktoren im Rahmen schwerer Infektionen haben. Insbesondere das Zusammentreffen mehrerer Faktoren wie Thrombozytopenie bei Aplasie, Mukositis mit erosiven Schleimhautschäden und eine womöglich infektiös bedingte DIC können bei einem Patienten zu einer in der Summe erheblichen hämorrhagischen Diathese führen. Die Behandlung einer solchen oft lebensbedrohlichen Situation muss alle diese Aspekte mit berücksichtigen: die Substitution von Thrombozyten und plasmatischen Gerinnungsfaktoren, die Behandlung der zugrunde liegenden Infektion und gegebenenfalls auch die supportive Gabe von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren zur schnelleren hämatologischen Regeneration. ! Bei Gerinnungsstörungen onkologischer Patienten ist immer auch an eine iatrogene Ursache zu denken. Häufig werden Heparin und Heparin-haltige Spüllösungen, z. B. für zentralvenöse Katheter, verwendet. Bei kleinen Kindern kann es zu einer Heparin-
1011 80 · Blutungen und Thromboembolien
bedingten Störung der Hämostase allein durch »normales« Katheterspülen kommen.
80.2.1 Diagnostik Blutungen können äußerlich sichtbar an der Haut in Form von Petechien, Ekchymosen, Sugillationen und Hämorrhagien, aber auch okkult in Form von Einblutungen in Organe oder große Körperhöhlen auftreten. Okkulte Blutungen, insbesondere zerebrale Blutungen, müssen immer ausgeschlossen werden, wenn ein Patient einen Hämoglobinabfall ohne sichtbare Blutung erleidet und gleichzeitig organspezifische Symptome präsentiert, wie z. B. rasende Kopfschmerzen oder Krampfanfälle. Jede Diagnostik zur Klärung von Blutungen beginnt mit der Anamneseerhebung, einer genauen körperlichen Untersuchung und einer Beschreibung der Art der Blutung, bevor eine Labordiagnostik durchgeführt wird. Zur Anamnese gehören die Erfassung der Grunderkrankung und das Therapiestadium, Art und Zeitpunkt der letzten Chemotherapie, Fieber oder Infektionen, andere therapiebedingte Komplikationen, zurückliegende Blutungsereignisse und Thrombosen, sowie die Kenntnis des letzten Blutbilds. Die Frage nach hereditären Blutungsleiden sollte bei Erstkontakt nicht fehlen. Bei der körperlichen Untersuchung ist neben dem eingehenden körperlichen Befund besonders auf den neurologischen Status, Schmerzen, Schwellungen bzw. Umfangdifferenzen der Extremitäten, Petechien, Ekchymosen, Sugillationen, Mukositis und Menge, Art und Farbe von hämorrhagischem Material (u. a. Erbrochenes, Urin, Stuhl; hellrot = frischblutig, schwärzlich = altblutig) zu achten.
⊡ Abb. 80.1. Übersicht über die Differenzialdiagnosen, die sich aus dem Einsatz von Screening-Tests in der Gerinnungsanalyse ergeben. DIC disseminierte intravasale Gerinnung; TTP thrombotisch-
Als Laboruntersuchungen für eine rasche Abklärung werden einfache und überall verfügbare Labortests verwendet (⊡ Abb. 80.1): die Thrombozytenzahl mit rotem und vollständigem weißen Blutbild zur Erfassung der zellulären Komponente der Gerinnungskaskade und die Globaltests (aktivierte partielle Thromboplastinzeit, aPTT, und Prothrombinzeit, PT) sowie das Fibrinogen für die plasmatische Seite der Gerinnung. Eine weiterführende und zum Teil kostenintensive Diagnostik sollte erst in zweiter Linie erwogen und veranlasst werden. Bei Verdacht auf eine DIC können zusätzlich Fibrinspaltprodukte oder D-Dimere bestimmt werden. Zur Abklärung einer Hyperfibrinolyse ist die Bestimmung von Plasminogen sinnvoll, um das Ausmaß des Verbrauches zu erfassen, wie z. B. bei der initialen Behandlung der Promyelozytenleukämie. Viele Patienten haben zur Erleichterung der Therapie und der notwendigen Supportivmaßnahmen zentralvenöse Verweilkatheter. Die regelmäßige Spülung mit Heparin-haltigen Lösungen kann mit den funktionellen Gerinnungstests interagieren. Aus diesem Grunde sind frisch gestochene periphervenöse Blutentnahmen als »Goldstandard« zu empfehlen. Entnahme, Lagerung und Transport der Blutproben sollten einem internen Qualitätsmanagement unterworfen sein. Gerade im Kindesalter müssen bei der Beurteilung von Gerinnungstests und Einzelfaktoranalysen die altersabhängigen Normalwerte berücksichtigt werden (Ries 1999). Bei einer okkulten Blutung ist eine Bildgebung mittels Ultraschall, Computertomographie oder Magnetresonanztomographie indiziert. Angiographische oder szintigraphische Methoden zur Evaluierung einer umschriebenen Blutungsquelle sind bei gastrointestinalen Blutungen aufgrund von diffusen Schleimhautblutungen bei Mukositis wenig ergiebig.
thrombozytopenische Purpura; HUS hämolytisch urämisches Syndrom; ATIII Antithrombin III
80
1012
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
80.2.2 Therapie und Prävention
V
Blutungen sind meist für Behandler und Patienten gleichermaßen überraschende Ereignisse. Nur eine schnelle Diagnostik in Zusammenschau mit der Klinik und der Vorgeschichte machen ein rasches Handeln möglich. Zur Prophylaxe von Blutungsereignissen dienen die konsequente Aufklärung der Patienten und ihrer Bezugspersonen über Risiko und Symptome einer Blutung sowie während der Therapie regelmäßige Kontrollen des Blutbildes. Entsprechende Verhaltensmaßregeln, die altersentsprechend abzufassen sind, können Eltern und Patienten helfen, eine hämorrhagische Diathese rechtzeitig zu erkennen. Eltern und Patienten sollten sich jederzeit bei dem Betreuungsteam melden können, wenn vermehrt Petechien, Fieber oder plötzliche Bewusstseinsstörungen auftreten. Thrombozytopenie Thrombozytopenien sind bei onkologischen Patienten häufig und auch die häufigste Ursache hämorrhagischer Komplikationen. Einer Thrombozytopenie können eine verminderte Produktion (Chemotherapie) oder ein erhöhter Verbrauch (DIC, Fieber) der Thrombozyten sowie immunologische Phänomene (Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT), Antikörper-induzierte Refraktärität von Thrombozytentransfusionen) zugrunde liegen. Während Thrombozytopenien oft schon bei Beginn der Erkrankung bestehen, z. B. bei Leukämien und knochemarkinfiltrierenden Tumoren wie dem Neuroblastom, sind die immunologisch bedingten Hämostasestörungen meist erst im Verlauf der Therapie zu erwarten. Betrachtet man beim sonst hämostaseologisch stabilen Patienten das Thromozytopenie-bedingte spontane Blutungsrisiko, so steigt es bei Plättchenwerten unter 10 G/l deutlich an, so dass hier in der Regel eine prophylaktische Substitution indiziert ist. Knochenmarkpunktionen können bei Fehlen einer sichtbaren Blutungsneigung auch ohne Rücksicht auf die Thrombozytenzahl durchgeführt werden, während für Lumbal- und Epiduralpunktionen, chirurgische Eingriffe mit großen Wundflächen und Organbiopsien die Thrombozytenzahl auf Werte von mehr als 50 G/l angehoben werden sollte. Operationen an Augen und Knochen (z. B. endoprothetische Versorgung) sowie intrakranielle Eingriffe erfordern eine Substitution auf Werte über 80 G/l. Für Neugeborene und Patienten mit Risikofaktoren wie z. B. diffusen Schleimhautblutungen (z. B. bei Mukositis), Fieber und zusätzlich be-
stehender plasmatischer Gerinnungsstörung muss eine risikoadaptierte Abschätzung des Schwellenwerts für eine prophylaktische Substitution erfolgen. Die einmal gewählte therapeutische Maßnahme sollte bis zur Restitutio beibehalten werden (Klüter u. Salama 2001; Anhang). Zur Vermeidung von Blutungen werden nach einer Chemotherapie in mehrtägigem Rhythmus (z. B. 2–3 Tage) Blutbildkontrollen zur Erfassung eines kritisch niedrigen Thrombozytenwertes durchgeführt. Nach einer Transfusion von Thrombozyten sollte ein Thrombozytenwert 1 h nach Transfusion (so genannter 1 h-Wert) kontrolliert werden, um die Effektivität der Transfusion mit der Berechnung des »corrected counted increment« (CCI) zu beurteilen. Beim CCI wird der Anstieg (in Zellen/nl) mit der Körperoberfläche multipliziert und durch die Anzahl der transfundierten Thrombozyten (in 1011 Zellen) geteilt. Das CCI sollte >10 liegen, Werte <5 werden als Refraktärzustand bezeichnet. Bei Patienten ohne sichtbare Blutungsneigung sollte die Indikation zur Thrombozytentransfusion streng gestellt werden. Ist der Patient zunehmend refraktär, d. h. der Anstieg der Thrombozyten nach einer Gabe eines Thrombozytenkonzentrates nicht mehr adäquat, muss auf möglicherweise bestehende Antikörper (z. B. HLA-AK, plättchenspezifische AK) untersucht werden. Finden sich HLA-AK, so können Thrombozytenspender mit passenden HLA-Merkmalen ausgewählt werden. Zu beachten ist aber auch, dass Infektionen, DIC und eine Sequestration bei Hypersplenismus ursächlich für eine Refraktärität sein können. Bei AB0 inkompatibler Transfusion von Thrombozyten ist mit einem niedrigeren CCI (insbesondere bei A auf 0) zu rechnen (Lozano u. Cid 2003). ! Eine besondere Situation liegt bei der Entstehung von Antikörpern bei Heparin-induzierter Thrombozytopenie (HIT) vor ( Abschn. 80.3.2). Hier geht die Erniedrigung der Thrombozytenzahl nicht mit einer hämorrhagischen Diathese, sondern mit thromboembolischen Ereignissen (Typ II) einher.
Bei der allgemeinen Supportivtherapie sollten Medikamente vermieden werden, die zu sekundären Thrombozytenfunktionsstörungen führen. Dies gilt besonders, wenn eine urämische Situation zusätzlich zu einer entsprechenden Thrombozytenfunktionsstörung führt (⊡ Tabelle 80.1; Kap. 33). Bei Patienten mit einer Heparintherapie sollte diese bei Thrombozytenwerten unter 40–50 G/l ausgesetzt werden, um ein zusätzliches Blutungsrisiko zu vermeiden. Unter Umständen
⊡ Tabelle 80.1. Auswahl von Medikamenten, die die Thrombozytenfunktion beeinflussen können
Hemmung der Thrombozytenfunktion
Verbesserung der Hämostasefunktion
Thrombozytenaggregationshemmer (z. B. Acetylsalicylsäure, andere NSAR) Antibiotika (z. B. Penicillin G, Ampicillin, Cephalosporine, Amphotericin B) Künstliche Kolloide (Dextrane, Hydroxyethylstärke) Heparin und Heparinoide Thrombolytika Trizyklische Antidepressiva, Phenothiazine, Valproinsäure Lipidsenker (z. B. Clofibrat)
Antifibrinolytische Lysinanaloga (Tranexamsäure, ε-Aminocapronsäure) Aprotinin Desmopressinacetat (DDAVP)
1013 80 · Blutungen und Thromboembolien
können Substanzen, die die Hämostasefunktion der Thrombozyten verbessern, unterstützend eingesetzt werden (z. B. Desmopressin). Bei dem Auftreten einer Thrombozytopenie ist die Abgrenzung zu einer thrombotischen Mikroangiopathie, der thrombotischen thrombozytopenischen Purpura (TTP) und einem hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) wichtig ( Kap. 40 und 12). Die TTP ist charakterisiert durch die 5 Symptome: Thrombozytopenie, mikroangiopathische hämolytische Anämie (mit Auftreten von Fragmentozyten), Niereninsuffizienz, Fieber und Bewusstseinsstörungen. Das HUS unterschiedet sich klinisch von der TTP nur durch das Fehlen der letzten beiden Symptome. Im Gegensatz zur Purpura bei einer Thrombozytopenie mit Blutungsneigung anderer Ursache ist bei der TTP/HUS eine Substitution mit Thrombozyten kontraindiziert. Bei einem Mangel an von-Willebrand-Faktor ist ein Plasmaaustausch kurativ ( Kap. 40). Für erworbene Formen des HUS, z. B. durch Medikamente, Infektionen usw., konnte der therapeutische Nutzen eines Plasmaaustausches nicht sicher gezeigt werden. Disseminierte intravasale Gerinnung Die DIC (Verbrauchskoagulopathie) ist eine erworbene Gerinnungsstörung, bei der durch eine Noxe (z. B. Infektionen, Sepsis, Neoplasien, Gefäßläsionen usw.) Monozyten und Endothelzellen aktiviert werden. Diese Zellen aktivieren über die Expression von Gewebefaktor (tissue factor, TF) F VII zu F VIIa an der Zellmembran. Jetzt wird die Gerinnungskaskade systematisch angeheizt. Thrombenbildungen in der Mikrozirkulation, Verbrauch von Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren und Hyperfibrinolyse führen klinisch zu diffusen Blutungen an Haut, Schleimhäuten, Kathetereintrittsstellen und Organen. Es kommt zu Organdysfunktionen und schließlich zu einem multiplen Organversagen. Laborchemisch finden sich als Zeichen des Verbrauches von Gerinnungsfaktoren eine Verlängerung der aPTT, PT und Thrombinzeit (TZ), erhöhte Fibrinspaltprodukte und D-Dimere, sowie ein Abfall der Thrombozyten. Als Ausdruck einer Hyperfibrinolyse kommt es dabei unter anderem zum Abfall des Plasminogens ( Abb. 80.1, auch Kap. 37). Bei Patienten mit onkologischen Erkrankungen kann die Grunderkrankung per se eine DIC auslösen. Eine zum Teil ausgeprägte DIC ist bei Kindern mit Neuroblastom IVs, Teratomen und Lebertumoren beschrieben. Klinisch nicht relevant und nur laborchemisch erfassbar kann eine DIC auch bei anderen soliden Tumoren im Kindesalter auftreten (Moran et al. 1991; Murphy et al 1992; Nickerson 2000). Bei der AML FAB M3 wird auf den promyelozytären Blasten verstärkt TF und vermindert Thrombomodulin exprimiert. Weiterhin kommt es aufgrund einer Überexpression des »Tissue-plasminogen-activator«(tPA)-Rezeptors zu einer Aktivierung von Plasminogen, zur Bildung von Plasmin und Verbrauch der Fibrinolyseinhibitoren Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI-1) und α2-Antiplasmin. Dies führt bei einigen Patienten mit AML FAB M3 zur Ausbildung einer DIC mit Hyperfibrinolyse. Die Therapie mit all-transRetinolsäure (ATRA) führt nicht nur zu einer Ausdifferenzierung der promyelozytären Blasten, sondern auch zur Normalisierung der eskalierten Gerinnungssituation, so dass eine antikoagulatorische oder antifibrinolytische Be-
handlung nicht notwendig ist (Menell 2000; Lopez-Pedrera 2001; Kap. 60; auch Anhang, Tabelle 26). Therapie. Die Therapie der DIC besteht in erster Linie in der Behandlung der Ursache, da die DIC immer nur ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung darstellt. Die symptomatische Therapie ergibt sich aus der vorsichtigen Substitution des Verbrauches von Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren in Form von Thrombozytenkonzentraten und »fresh frozen plasma« (FFP) 20 ml/kg KG. In der PROWESS-Studie konnte bei erwachsenen Patienten mit schwerem Sepsissyndrom und begleitender DIC gezeigt werden, dass die Gabe von aktiviertem Protein C in einer Dosis von 24 µg/kg/h über 4 Tage per infusionem das Überleben am Tag 28 verbessern konnte, was einer Reduktion des relativen Risikos zu versterben um 19,4% entsprach (Bernard 2001). Der Wirkmechanismus von aktiviertem Protein C wird dabei nicht nur auf die Verminderung der Thrombinbildung, sondern auch auf einen antiinflammatorischen Effekt zurückgeführt (Matthay 2001). Obwohl eine vermehrte Blutungsneigung in der behandelten Therapiegruppe auftrat, muss diese Studie als eine der ersten seit langer Zeit gewertet werden, die mit einem hämostaseologischen Ansatz das Überleben bei Sepsis verbessern konnte, nachdem dies für das Antithrombin III in der KyberSept-Studie nicht gelungen ist (Warren 2001). Weitere Studien werden zeigen müssen, ob aktiviertes Protein C auch in der Lage ist, das Überleben bei pädiatrischen und onkologischen Patienten mit schwerer Sepsis positiv zu beeinflussen.
Vitamin-K-Mangel Ein Vitamin-K-Mangel führt zu einem Mangel der Faktoren II, VII, IX und X sowie der antikoagulatorischen Faktoren Protein C und S, die vor den prokoagulatorischen Faktoren abfallen. Blutungsereignisse mit normalen Thrombozytenwerten, einer mäßig verlängerten PTT, aber einer stark verlängerten PT sind hinweisend auf einen Vitamin-K-Mangel ( Abb. 80.1). Ein Vitamin-K-Mangel kann durch Mangelernährung, Malabsorption, primäre Lebererkrankungen, Cholestasen, Medikamenten-bedingte Bildungsstörungen (z. B. Cephalosporine mit N-Methylthiotetrazol-Seitenkette), aber auch durch eine Phencomouron-Intoxikation entstehen. Zur Substitution sollte Vitamin K p.o. oder bei Malabsorption i.v. appliziert werden. Neugeborene erhalten 1 mg/kg, Kinder und Jugendliche 5–10 mg. Nach p.o. Gabe sollte sich die PT innerhalb von 6–8 h, bei i.v. Gabe schon nach 2–6 h beginnen zu erholen, was auch als Bestätigungstest für die Diagnose Vitamin-K-Mangel herangezogen werden kann. Bei akuten, schweren und lebensbedrohlichen Blutungen erfolgt die Gabe von FFP (10–20 ml/kg) bzw. die Gabe von Prothrombinkomplex 30–50 IU/kg in Kombination mit der Vitamin-KGabe ( Kap. 37 und Tabelle 26 im Anhang). Cave Vitamin K wird über 10–20 min i.v. gegeben, da es bei schneller Bolusinjektion zu einem anaphylaktischen Schockgeschehen kommen kann. Auch Prothrombinkomplex sollte langsam appliziert werden, da das Risiko der Auslösung einer Thrombose und einer DIC besteht.
80
1014
V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Die Behandlung mit Vitamin K bei lebensbedrohlichen hämorrhagischen Komplikation unter oraler Antikoagulationstherapie mit Phenprocoumon entspricht der von Vitamin-KMangelblutungen. Zusätzlich wird die antikoagulative Therapie pausiert, was bei leichten, nicht bedrohlichen durch Antikoagulation bedingten Blutungen als alleinige Maßnahme ausreichen sollte (Monagle 2001).
zur Prophylaxe von TE bei Kindern und Jugendlichen (Monagle 2001). Immer noch wird in jedem Einzelfall eine ausreichende Nutzen-Risiko-Abwägung vom behandelnden Arzt verlangt ( Kap. 40).
Einsatz von aktiviertem Faktor VII Schwerste, therapieresistente Blutungskomplikationen (z. B. Lungenhämorrhagien, diffuse gastrointestinale Blutungen) erfordern ein möglichst rasches Durchbrechen des Circulus vitiosus aus Hämorrhagie und DIC. Von Blatt et al. (2001) ist der erfolgreiche Einsatz von aktiviertem Faktor VII in der Situation von schweren Blutungen, die auf die Standardtherapien refraktär blieben, im Rahmen der Stammzelltransplantation bei Kindern beschrieben worden. Die verabfolgten Dosen lagen mit 90 µg/kg im Rahmen der bei Hämophilie mit bestehendem Hemmkörper empfohlenen Dosis von 90–110 µg/kg (Hedner 2003). Bei Erwachsenen wurden bereits mit Dosen von 20–40 µg/kg deutliche Effekte erzielt (Friederich 2003). Auch bei schweren Blutungen im Zusammenhang mit einer Überdosierung mit Phenprocomouron wurde gezeigt, dass Faktor VIIa effektiv die Blutung beeinflussen konnte (Deveras 2002). Alle Berichte schildern keine Häufung von thrombembolischen Komplikationen, was sich durch den direkten Angriffspunkt des Faktor VIIa am Gewebefaktor und seine außerhalb von Gefäßläsionen sofortigen Bindung an Inhibitoren erklären lässt. So mag Faktor VIIa als ein ideales universelles Hämostyptikum erscheinen. Allerdings müssen – wie so oft – erst kontrollierte randomisierte Studien den Beweis erbringen. Im Einzelfall wird über den Einsatz von Faktor VIIa bei schwersten, therapieresistenten Blutungen zu entscheiden sein ( auch Kap. 37).
Die Eigen- aber auch gerade die Familienanamnese bezüglich thromboembolischer Ereignisse sollte bei der Erstaufnahme onkologischer Patienten erfasst werden. Bei einem thrombotischen Ereignis sind die rezente Vorgeschichte bezüglich letzter Chemotherapie, Antikoagulanzientherapie, Dehydratation durch rezidivierendes Erbrechen von Bedeutung. Schmerzen, livide Hautverfärbungen, verstärkte Venenzeichnung (Caput medusae), Schwellungen oder Umfangsdifferenzen von Extremitäten sprechen für venöse Thrombosen. Bei Kopfschmerzen und neurologischen Auffälligkeiten sollte an eine Sinusvenenthrombose gedacht werden. Arterielle Thrombosen zeigen sich eher durch Blässe, Kälte, Pulslosigkeit bzw. niedrigen Blutdruck an der betroffenen Extremität und entsprechende Symptome bei betroffenen parenchymatösen Organen (z. B. Dyspnoe, Hämaturie, Thoraxschmerz usw.) oder dem ZNS (z. B. Hemiparese). Multizentrische Studien zeigten, dass insbesondere Patienten mit einer homo- oder heterozygoten Thrombophilieneigung ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Thrombosen in bestimmten Situationen haben können. Das Vorliegen eines Malignoms und das gleichzeitige Vorliegen eines zentralvenösen Verweilkatheters (ZVK) stellt eine derartige Situation dar. Da hereditäre Thrombophilien in der Allgemeinbevölkerung mit einer Prävalenz von bis zu 5% zu erwarten sind und auch mehrfach Mutationen in einem Individuum auftreten können, sollte schon zu Beginn der Behandlung einer malignen Erkrankung ein entsprechendes Screening auf das Vorliegen einer hereditären oder erworbenen Thrombophilie durchgeführt werden. Die in Tabelle 80.2 aufgeführten Untersuchungen können bei Diagnosestellung einer Krebserkrankung sinnvoll sein. Bei pathologischen Befunden sollte die entsprechende Untersuchung in einem angemessenen zeitlichen Abstand (ca. 3 Monate) wiederholt werden, um eine Fehlinterpretation bei der Erstpräsentation auszuschließen. Sollte es trotz unauffälligem Thrombophilie-Screening zu einem thromboembolischen Ereignis kommen und/oder sollte die Familienanamnese eine hereditäre Thrombophilie dennoch sehr wahrscheinlich erscheinen lassen, so sind weiterführende Untersuchungen indiziert (⊡ Tabelle 80.2). Die Aussagekraft dieser Untersuchungen ist zum Teil noch nicht abschließend bewertet, so dass der Umfang solcher zum Teil kostenintensiven Untersuchungen immer kritisch zu bewerten und auch den klinischen Gegebenheiten anzupassen ist (Manco-Johnson 2002; Sutor 1999; Kap. 40). Eine Thrombose lässt sich allein laborchemisch nicht sichern. Erhöhte Fibrinspaltprodukte und/oder D-Dimere sind zwar hinweisend, können jedoch bei vielen anderen klinischen Situationen auch erhöht sein. Erst eine bildgebende Diagnostik in Form von Ultraschall, Doppler, Computertomographie, Kernspintomographie und angiographische Darstellung der Venen je nach Zielorgan kann die Lokalisation und das Ausmaß der Thrombose feststellen.
80.3
Thrombosen
Im Kindesalter ist die Inzidenz von thromboembolischen Ereignissen (TE) mit <1% deutlich geringer als im Erwachsenenalter (Monagle 2001). Die meisten Kinder mit TE haben zugrunde liegende Erkrankungen als Hauptrisiko. Maligne Erkrankungen stehen dabei an erster Stelle (Monagle u. Andrew 2003). Pädiatrische Patienten mit onkologischen Erkrankungen können paraneoplastisch, im Rahmen von infektiösen Komplikationen oder iatrogen, z. B. bei zentralem Venenkatheter, ein erhöhtes Risiko für die Aktivierung der Gerinnungskaskade haben. Angeborenen Zustände mit Thrombophilie erhöhen in Kombination mit iatrogenen Einflüssen das Risiko für die Entwicklung eines TE (Nowak-Göttl 1999). Die seltenen Ereignisse im Kindesalter machen prospektive Evaluationen von Therapie und Prophylaxe der TE schwieriger als im Erwachsenenalter. Zusätzlich finden sich bei Neugeborenen, Kindern und Jugendlichen Unterschiede in der prokoagulatorischen Kapazität des hämostaseologischen Systems. So ist die Generation von Thrombin bei Neugeborenen um bis zu 50% und bei Kindern noch um ca. 25% gegenüber dem Erwachsenenalter vermindert. Während klare Richtlinien über die Therapie von TE im Kindesalter erstellt wurden, gibt es nur wenig Evidenz für Maßnahmen
80.3.1 Diagnostik
1015 80 · Blutungen und Thromboembolien
⊡ Tabelle 80.2. Untersuchungen zur Abklärung einer Thrombophilie (Manco-Johnson 2002; Sutor 1999)
Erstuntersuchungen
Weiterführende Untersuchungen
Ausschluss einer verminderten Fibrinolyse (Euglobulinlysetest, Plasminogen, PAI1, tPA) Ausschluss einer Dysfibrinogenämie (Fibrinogenantigen und -aktivität, Reptilasezeit, Fibrinogenspaltprodukte) Heparinkofaktor II Ausschluss einer paroxysmalen nächtlichen Hämoglobulinurie Allgemeine Entzündungsparameter (Blutsenkungsgeschwindigkeit, C-reaktives Protein) Einzelfaktoren (z. B. TFPI usw.)
Komplettes Blutbild Antithrombin III Protein-C-Aktivität Protein S freies und totales Antigen Faktor V Leiden (G1691A) und/oder funktionelle aktivierte Protein-C-Resistenz (APCR) Prothrombin G20210A MTHFR C677T und/oder Nüchtern-Homozysteinspiegel im Plasma Lipoprotein A Lupus-Antikoagulans Anti-Cardiolipin-Antikörper Ausschluss einer Hämoglobinopathie, v. a. HbS
PAI1 Plasminogenaktivator-Inhibitor; tPA »tissue plasminogen activator«; TFPI »tissue factor plasminogen inhibitor«.
80.3.2 Therapie und Prävention Bei weniger schweren Thrombosen, bei denen die Durchblutung der Extremität aufrechterhalten ist, wird eine Therapie mit Heparin empfohlen. Dabei ist darauf zu verweisen, dass eine Heparintherapie normale Antithrombin-III-Spiegel voraussetzt, da das Heparin erst in Kombination mit Antithrombin III wirksam ist. Die Empfehlungen für die Therapie mit unfraktioniertem und niedermolekularem Heparin (z. B. Enoxaparin) sind in ⊡ Tabelle 80.3 aufgelistet ( Kap. 40). Schon während der ersten Tage der Heparintherapie kann eine orale Antikoagulation mit Phencomouron (Kumarin) begonnen werden. Unter der Antikoagulation mit Phencomouron wird initial ein rascher Abfall der antikoagulatorischen Faktoren Protein C und S beobachtet, bevor die prokoagulatorischen abfallen. Dies kann zu so genannten Kumarinnekrosen führen. Daher muss mindestens für die ersten 5 Tage eine überlappende Behandlung mit Heparin durchgeführt werden. Alternativ kann auch eine weitere Behandlung mit niedermolekularen Heparin erfolgen, was bei onkologi-
schen Patienten mit weiterbestehender Gerinnungsstörung, z. B. Thrombozytopenie, eine bessere Steuerbarkeit und Reduktion des iatrogenen Blutungsrisikos ermöglichen kann (Monagle 2001; Nowak-Göttl 2001, Sutor 1999). Die Thrombolyse mit rt-PA (rekombinanter »tissue plasminogen activator«) wird für die Therapie der schweren venösen Thrombosen empfohlen, um die Infarzierung von Organen zu verhindern (z. B. bei Nierenvenenthrombosen), oder den venösen Blutfluss aufrechtzuerhalten. Während Streptokinase aufgrund der hohen Prävalenz von neutralisierenden Antikörpern gegen Streptokinase obsolet ist, wird Urokinase wegen möglicher Sicherheitsbedenken von der FDA und einer im Vergleich zu rt-PA in vitro geringeren Lysekapazität in Nordamerika nicht mehr uneingeschränkt zur Lysetherapie empfohlen. Die zurzeit verfügbaren Daten werden für folgende Empfehlung für den Gebrauch von rt-PA zur Anwendung bei der Thrombolyse bei pädiatrischen Patienten unter Beachtung der entsprechenden Kontraindikationen als ausreichend angesehen (Monagle 2001).
⊡ Tabelle 80.3. Dosierungsschema von unfraktioniertem und niedermolekularem Heparin (Enoxaparin; Nowak-Göttl 2001) Systemische Therapie mit unfraktioniertem Heparin
Initial 75 (50–100) U/kg i.v. Bolus >10 min Initiale Erhaltungsdosis 20 (>1 Jahr) bis 28 (<1 Jahr) U/kg/h i.v. Anpassung der Dosis nach der aPTT (Richtwert 55–90 s) oder Anti-Xa (4-h-Richtwert 0,4–0,8 U/ml Bei Dosisänderung Kontrolle 4 h nach Dosisänderung durchführen
Systemische Therapie mit Enoxaparin s.c. (enthält 110 Anti-Xa-U/mg; maximal ED 2 mg/kg) <12 Monate
>12 Monate
Prophylaktisch
1×1,5 mg/kg/Tag
1×1 mg/kg/Tag
0,2–0,4 U/ml
Therapeutisch
2×1,5 mg/kg/Tag
2×1 mg/kg/Tag
0,5–1,0 U/ml
Orale Antikoagulation mit Phencomouron 1 Tag bei INR 1,0–1,3: 0,2 mg/kg/Tag Sättigung in 2–4 Tagen auf Erhaltungsdosis INR 2,0–3,0 Beginn immer unter Heparinschutz zur Prophylaxe von Kumarinnekrosen
4 h Anti-Xa-Spiegel
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Standardkontraindikationen zur Durchführung einer Thrombolyse (Manco-Johnson 2002): Innerhalb von 10 Tagen nach Hämorrhagie oder operativem Eingriff 7 Tagen nach schwerer Asphyxie 3 Tagen nach invasivem Eingriff
Weitere Kontraindikationen:
V
Innerhalb 48 h während der laufenden Therapie bei einem Anfallsgeschehen Bei Frühgeburtlichkeit <32. SSW Bei systemisch wirksamer Sepsis Bei aktiver Blutung zum Zeitpunkt der Therapie Bei Unmöglichkeit, die Thrombozyten auf Werte von 50-100 G/l und das Fibrinogen >100 mg/dl zu halten
! Die Anwendung von rt-PA zur Thrombolyse sollte nur innerhalb von Studienprotokollen erfolgen. Eine begleitende Therapie mit Heparin, sofern verwendet, sollte in prophylaktischer Dosis erfolgen. Standardkontraindikationen zur Durchführung einer Thrombolyse sollten strikt eingehalten werden, um hämorrhagische Komplikationen zu vermeiden.
Die Dosis von rt-PA wird für den Bolus mit 0,1–0,2 mg/kg über mehr als 10 min appliziert angegeben (nicht bei Neugeborenen und Säuglingen). Die Erhaltungstherapie erfolgt mit 0,8–2,4 mg/kg/24 h maximal über 6–7 Tage (Nowak-Göttl 2001). Gleichzeitig sollte Heparin »low dose« (5–10 U/kg/h) gegeben werden, nach Absetzen der rt-PA-Lyse eine volle Heparindosis ( Tabelle 80.3; Sutor 1999). Die Empfehlung zum Gebrauch der Urokinase ist entsprechend 4400 IE/kg als Bolus über 10 min, mit einer anschließenden Infusion von 4400 IE/kg/h für maximal 6–7 Tage ( Anhang). Insbesondere für jugendliche Patienten mit einem zentralen Venenkatheter und/oder einer onkologischen Erkrankung, die eine längere Ruhigstellung erforderlich macht (z. B. Osteosarkome), besteht ein erhöhtes Thromboserisiko. Hier ist eine Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin angezeigt. Für Patienten ohne einen zentralen Venenkatheter und ohne ein entsprechendes klinisches Risiko ist hingegen auch bei Vorliegen einer hereditären Form eines Thromboserisikos (z. B. Faktor-V-Leiden-Mutation) routinemäßig eine Prophylaxe mit Heparin nicht gefordert. Ob eine prophylaktische Antikoagulation bei Patienten mit einem zentralen Venenkatheter und Vorliegen eines hereditären Thromboserisikos Vorteile bringt, ist zur Zeit noch nicht geklärt. Da thromboembolische Komplikationen insgesamt selten sind, werden die meisten Empfehlungen für das Kindesalter von den Empfehlungen für Erwachsene abgeleitet. L-Asparaginase Unter der Therapie mit L-Asparaginase bei ALL kommt es zur Erniedrigung der Konzentration von Einzelfaktoren der Hämostase im Blut. L-Asparaginase interferiert mit der Proteinsynthese, in dem es Asparaginsäure zu Aspartat und Ammoniak hydrolysiert. Dieser Effekt gilt grundsätzlich für alle L-Asparaginasen (E. coli und Erwinia) und ist dosis-
abhängig. Die in den ALL-BFM-Protokollen durchgeführte gleichzeitige Gabe von Glukokortikoiden hat einen zusätzlichen negativen Effekt auf die Dysbalance der Gerinnung unter L-Asparaginase Therapie (Mall 1999). Die Patienten zeigen verlängerte Globaltests (TP und PTT), erniedrigte Konzentrationen von Fibrinogen und besonders ATIII, womit die endogene Generation von Thrombin gesteigert, während die Thrombininhibition vermindert ist. In mehreren Studien bei Kindern mit ALL wurde eine Häufung von thromboembolischen Komplikationen beobachtet (Inzidenz 1,1–14.3%). Thromboembolische Ereignisse sind häufig im ZNS, wo ca. 2/3 thrombotisch (z. B. Sinusvenenthrombosen) und 1/3 hämorrhagisch sind. Bisher beschriebene Interventionen umfassen FFP, Kryopräzipitate, Phencomouron, Vitamin K und andere. Es ist bislang unklar, ob es sinnvoll ist, auf kritisch niedrige Fibrinogenwerte mit FFP-Substitution (20 ml/kg KG) zu reagieren, um gleichzeitig eine entsprechende Zufuhr an Inhibitoren der Thrombingeneration zu gewährleisten (Monagle u. Andrew 2003). Die Gabe von ATIII lässt zwar die ATIII-Konzentration im Plasma ansteigen, hat jedoch noch in einer randomisierten Studie keinen Vorteil gezeigt (Nowak-Göttl 1996). Eine Evidenz über einen positiven Einfluss von Heparin auf das Thromboserisiko unter L-Asparaginase, insbesondere in der Kombination mit weiteren Risikofaktoren, wie zentralen Gefäßzugängen oder hereditären Risikofaktoren, gibt es bisher für das Kindesalter nicht ( auch Kap. 58). Venookklusive Erkrankung der Leber Das klinische Syndrom der venookklusiven Erkrankung (»veno occlusive disease«, VOD) der Leber tritt nach autologer oder allogener Stammzelltransplantation (SZT), besonders nach Busulfan-haltigen Konditionierungsregimes, auf. Die Inzidenz im Bereich der pädiatrischen SZT wird mit 4,6–40% angegeben (Carbacioglu 2002). Die VOD kann aber auch bei konventionellen Chemotherapien auftreten; es wird eine Inzidenz von 5% bei Nephroblastomen unter Kombinationsbehandlung mit Dactinomycin mit oder ohne Bestrahlung beobachtet (Czauderna 2000) ( Kap. 4). Die Klinik der VOD besteht in einem Ikterus (Bilirubin >2 mg/dl), schmerzhafter Hepatomegalie und Flüssigkeitsretention mit Gewichtszunahme (>2%) und Aszites (McDonald 1993). Pathologisch anatomisch handelt es sich um eine primär toxische Schädigung der Endothelzellen, mit fortschreitender Erkrankung werden die Hepatozyten nekrotisch. In den Lebervenen finden sich Verschlüsse und Fibrosierungen. Die VOD kann milde verlaufen und stellt dabei eine selbstlimitierende Erkrankung dar, die keinerlei Therapie bedarf. Sie kann moderat ohne sonstige Organdysfunktionen und bleibende Leberschädigung ausheilen, oder sie kann schwer verlaufen, wenn noch 100 Tage nach SZT eine Leberschädigung bzw. ein Multiorganversagen vorliegt. Letztere Form ist auch mit einer hohen Mortalität von 90% behaftet (Carbacioglu 2002). Eine retrospektive Aufarbeitung von 241 pädiatrischen Patienten ergab einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Anwendung fibrinolytischer Medikationen und einer Restitutio der VOD (Reiss et al. 2002). Daher verfolgen Therapieansätze Strategien mit fibrinolytischen Substanzen wie rt-PA, ATIII, Heparin und in neuer Zeit mit Defibrotide. Defibrotide hat in nicht randomisierten Studien
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⊡ Abb. 80.2a, b. a Therapeutische Lyse (Actilyse, 0,1 mg/kg/4 h p.i., + Heparin 200 IE/kg/Tag) bei Katheterokklusion. Man erkennt die Kontrastmittelfahne vorher, die außen entlang des Katheters hochsteigt als indirektes Zeichen eines Fibrinmantels. b Nach erfolgter Lyse freier Abfluss des Kontrastmittels nach distal
b
a
bei im Wesentlichen erwachsenen Patienten mit schwerer VOD ein gutes Ansprechen bei geringer Toxizität gezeigt (Vollremission in 36% und 55% der Fälle; Richardson et al. 2002; Chopra 2000). Die eingesetzte Dosis von Defibrotide lag bei 40 (5–60) mg/kg KG in 4 ED i.v. Eine retrospektive Studie bei 37 Kindern mit schwerer VOD zeigte unter Defibrotide eine vollständige Rückbildung in 58% der Fälle (Carbacioglu 2002). Die geringen Nebenwirkungen von Defibrotide machen dieses Medikament in einem multimorbiden Kollektiv attraktiv. Die bisherigen Daten rechtfertigen den Einsatz zur Behandlung der VOD der Leber, sollten aber bei der noch dünnen Datenlage speziell im Kindesalter in entsprechenden Therapieoptimierungsstudien dokumentiert werden. Strategien zur Prophylaxe der VOD beinhalten unter anderem die Therapie mit Heparin, Pentoxyphyllin, Prostaglandin E, Glutamin und Ursodesoxycholsäure. Hier ist die Evidenz nicht ausreichend, um eine Substanz als überlegen darzustellen (Carrera 2000; Pegram u. Kennedy 2001). Katheter-assoziierte Thrombosen Durch die häufig verwendeten zentralvenösen Verweilkatheter sind die Patienten mit onkologischen Erkrankungen einem erhöhten Thromboserisiko ausgesetzt. Dysfunktionen dieser Katheter durch Fibringerinnsel sind ein zusätzliches und häufiges Problem (bei bis zu 87% aller Katheter kann sich ein Fibrinmantel ausbilden; Hoshal et al. 1971). Die mit Erfolg weit verbreitete Praxis der prophylaktischen Spülung mit Heparin-haltigen Lösungen z. B. alle 7 Tage, um die Katheter offen zu halten, bleibt nicht ohne Risiko, da es gerade bei Kindern unter 10 kg zu iatrogenen Blutungskomplikationen kommen kann. Obwohl bei Erwachsenen in randomisierten Studien der positive Effekt einer oralen Antikoagulation oder der Gabe von niedermolekularem Heparin auf die Häufigkeit von mit zentralen Kathetern assoziierten Thrombosen gezeigt werden konnte, bleibt bei pädiatrischen Patienten mit wiederholten thromboembolischen Ereignissen
bei liegenden zentralvenösen Kathetern zurzeit nur die kritische Risiko-Nutzen-Abschätzung einer antithrombotischen Therapie (Monagle 2001). Die lokale Instillation von tPA zur Klärung der Durchgängigkeit eines obstruierten zentralvenösen Katheter ist sicher und effektiv bei Neugeborenen, Säuglingen und Kindern durchzuführen. Es sollte die geringst mögliche Dosis angewandt werden (0,25–0,5 mg/ml bei vollständiger Okklusion und 0,1 mg/kg/4 h bei partieller Okklusion mit Appositionsthromben und erhaltenem Restlumen (Manco-Johnson et al. 2002b). ⊡ Abbildung 80.2 zeigt ein Beispiel, wie eine Fibrinhülle mittels rt-PA Lyse beseitigt werden konnte. In vielen Kliniken hat sich Urokinase mit ähnlichem Erfolg bewährt. Die Dosierung von Urokinase beträgt 200–500 IE/kg/h bei partieller Okklusion und 3000 IE/ml bei vollständiger Okklusion je nach Kathetervolumen. Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ I und II Heparin ist in der Kinder- und Jugendheilkunde ein häufig eingesetztes Medikament. Dieses gilt nicht nur für die Behandlung thrombotischer Komplikationen, sondern auch für deren Prophylaxe. Die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) stellt eine im Kindesalter bislang selten beachtete und somit auch kaum beschriebene Komplikation dar. Im Erwachsenenalter ist die HIT die häufigste medikamenteninduzierte Thrombozytopenie. Bei der HIT wird ein Typ I und Typ II unterschieden. Die Differenzierung in Typ I und II ist wichtig, da das therapeutische Vorgehen unterschiedlich ist (⊡ Tabelle 80.4). Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ I. Bei der HIT
Typ I kommt es innerhalb der ersten Behandlungstage mit Heparin zu einem leichten Abfall der Thrombozytenzahl, meist nicht unter 100 G/l. Trotz weiterer Gabe von Heparin steigen die Thrombozyten im Verlauf wieder an. Die Inzidenz der HIT I wird bei Erwachsenen mit 10 bis 20% angegeben. Daten für das Kindesalter sind nicht bekannt. Das
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 80.4. Heparin-induzierte Thrombozytopenie; Differenzialdiagnose zwischen Typ I und Typ II
HIT Typ I
V
HIT Typ II
Ursache
Direkte Heparin-Thrombozyten-Bindung
Anti-Heparin-Protein-Komplex-Antikörper
Auftreten
Zu Beginn, nach wenigen Tagen
5–14 Tage nach Beginn der Heparintherapie, bei Reexposition schon nach wenigen Stunden
Heparindosis
Auftreten meist bei systemischer Antikoagulation i.v.
Unabhängig von der Dosierung
Thrombozytenabfall
Selten <100 G/l
<100 G/l bzw. um >50%
Komplikationen
Keine
Thromboembolische Komplikationen (arteriell und venös), entzündliche/nekrotische Hautläsionen, »White-clot«-Syndrom
Inzidenz
Bei Erwachsenen 10–20%
0,23% bei intensivmedizinisch betreuten pädiatrischen Patienten, Erwachsene 0,5–3%
Diagnose
Ausschlussdiagnose
HIPA-Test Nachweis von Anti-Heparin-Plättchenfaktor-4-Antikörpern (ELISA) Wichtige Differenzialdiagnosen: septische Ereignisse, andere Medikamente, Applikation von Zytostatika (Nadir), Blutungen, DIC, Antiphospholipidsyndrom, TTP
Heparinmolekül bindet dabei direkt an verschiedene Oberflächenproteine der Thrombozyten. Beschrieben ist unter anderem eine dadurch ausgelöste proaggregatorische Wirkung auf die Thrombozyten. Warum es in Folge zu einer Thrombozytopenie kommt, ist nicht ganz geklärt. Wichtig ist, dass die betroffenen Patienten keine weiteren oder gar schwer wiegenden Symptome – anders als bei der HIT Typ II – zeigen. Eine therapeutische Intervention ist aufgrund des spontan remittierenden Verlaufes nicht notwendig. Heparin-induzierte Thrombozytopenie Typ II. Bei der HIT
Typ II kommt es zwischen dem 5. bis 14. Behandlungstag mit Heparin – bei Reexposition auch nach wenigen Stunden – zu einem Thrombozytenabfall, der deutlich ausgeprägter als bei HIT I ist und Werte unter 100 G/l erreicht. Ursächlich ist, dass Heparin sich an Proteine (meist Plättchenfaktor 4), die aus Thrombozyten sezerniert werden, bindet. Nach der Interaktion des HIT-Antikörpers mit diesem Protein-HeparinKomplex kommt es zur Bindung des Protein-Heparin-Antikörpers an die Thrombozyten und damit zur Thrombozytenaktivierung und so zum Auftreten von Thrombosen. Zusätzlich kommt es zu einer Elimination dieses Komplexes durch dessen Aufnahme im retikuloendothelialen System und folgerichtig zu einer Thrombozytopenie. Für das Vorliegen eines immunologischen Prozesses sprechen auch die Latenz von 5–14 Tagen von Beginn der Heparintherapie bis zum Auftreten der Thrombozytopenie sowie das rasche Wiederauftreten nach einer Reexposition. Neben Fallberichten sind bezüglich der Inzidenz nur wenige Arbeiten präsent. Schmugge et al. (2002) beschreiben bei pädiatrischen Patienten einer Intensivstation eine ähnliche Inzidenz für HIT-assoziierte Thrombosen mit 2,3% wie für Erwachsene (0,5–3%). Newall et al. (2003) berichten bei einem pädiatrischen Krankengut eines tertiären pädiatrischen Zentrums von einer geringeren Inzidenz. Anscheinend verlaufen die HIT Typ II im Kindesalter seltener mit fatalen thromboembolischen Ereignissen als im Erwachsenenalter.
Diagnoseweisend sind neben dem Thrombozytenabfall ein schlechtes Ansprechen auf die Heparintherapie (Heparin- bzw. aPTT-Resistenz) und eine ausbleibende Besserung oder gar Verschlechterung der thromboembolischen Komplikationen. Es können sogar unter Heparintherapie und trotz Thrombozytopenie neue thromboembolische Komplikationen auftreten. Nicht alle Patienten, die eine Thrombozytopenie und HIT-Typ-II-Antikörper aufweisen, entwickeln thromboembolische Komplikationen. Bei Anwendung von »Low-molecular-weight« (LMW)-Heparinen ist ebenfalls, aber seltener eine HIT II beschrieben. Laborchemisch erfolgt der Nachweis durch Bestimmung von Antikörpern gegen Anti-Heparin-Plättchenfaktor-4 im Serum. Damit werden rund 90% der Fälle erfasst. Weiterhin steht der Test auf Heparin-induzierte Plättchenaktivierung (HIPA-Test) zur Verfügung, der zwar aufwändiger ist, dafür aber den Nachweis am sensitivsten führen kann. Der HIT-Aggregationstest ist zwar etwas weniger sensitiv als der HIPATest, aber einfacher durchführbar und damit eine Alternative. Falls der Verdacht auf eine HIT Typ II besteht, sollte die Heparintherapie umgehend beendet werden. Wichtig ist zu beachten, dass selbst geringe Heparindosen, die von Heparin-beschichteten Kathetern stammen, das Krankheitsbild gravierend verschlechtern können. Man beobachtet dann meist eine Normalisierung der Thrombozyten innerhalb von 3–10 Tagen. Für die weitere Antikoagulation kann ein Heparinoid (Danaparoid-Natrium) oder rekombinantes Hirudin eingesetzt werden. Die Überwachung der DanaparoidNatrium-Therapie erfolgt mittels Bestimmungen der AntiFaktor-Xa-Aktivität. Blutungskomplikationen im Rahmen von Überdosierungen von Danaparoid-Natrium sind gefürchtet, da es kein Antidot gibt. Bei etwa 10% der Patienten kommt es bei Danaparoid-Natrium-Therapie zu einer Thrombozytenaktivierung (Kreuzreaktion), die in Einzelfällen zur klinischen Verschlechterung führen kann (Severin 2002) ( Kap. 37, Anhang, Tabelle 26). Da unter Hirudintherapie keine Kreuzreaktionen berichtet wurden, wird häufig rekombinantes Hirudin (Lepi-
1019 80 · Blutungen und Thromboembolien
rudin; Dosierung: 0,4 mg/kg i.v. im Bolus, dann 0,15 mg/kg/h per infusionem) eingesetzt. Allerdings wurden bisher bei 8 Patienten, die neben anderen Medikamenten Hirudin erhalten haben, schwere anaphylaktische Reaktionen beobachtet. Ob diese anaphylaktischen Reaktionen durch Hirudin alleine verursacht wurden, ist bislang nicht geklärt. Auch für Hirudin steht kein Antidot zur Verfügung. Zum Monitoring der Hirudintherapie wird die aPTT und die »ecarin clotting time« (ECT) eingesetzt. Vorteil des Hirudins ist seine kurze Halbwertszeit (etwa 2 h) im Vergleich zu Danaparoid (über 24 h; Greinacher 2001). Bei Patienten mit HIT Typ II sollten keine LMW-Heparine verwendet werden, da sie ebenfalls mit den HIT-Antikörpern reagieren (Warkenstein 1995). 80.4
Erworbene Inhibitoren der Gerinnung
Die erworbenen Inhibitoren von Gerinnungsfaktoren geben ein uneinheitliches Bild ab. Man unterscheidet verschiedene Gruppen von Inhibitoren im Kindesalter: ▬ die unspezifischen Inhibitoren, ▬ die Lupus-Antikoagulanzien und ▬ die spezifischen Hemmkörper gegen einzelne Gerinnungsfaktoren. Diese treten aber nur selten im Rahmen der Therapie einer hämatologischen oder onkologischen Erkrankung auf. Es sei an dieser Stelle auf Kap. 40 verwiesen.
Die Therapie von hämorrhagischer Diathese und thromboembolischen Komplikationen im Kindesalter wird notwendigerweise durch randomisierte kontrollierte Studien abzusichern sein. Die bloße Herleitung von Richtlinien für Erwachsene wird der besonderen Situation der Kinder und Jugendlichen mit einem noch nicht »erwachsenen« hämostaseologischen System nicht gerecht. Die Aufforderung, entsprechende Studien zu entwickeln und zu unterstützen, geht insbesondere an alle, die hämatologische und onkologische pädiatrische Patienten betreuen.
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80
1020
V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Nowak-Göttl U, Wermes C, Junkers R et al (1999) Prospective evaluation of thrombotic risk in children with acute lymphoblastic leukemia carrying the MTHFR TT677 genotype, the prothrombin G20210A variant, and further prothrombotic risk factors. Blood 93:1595–1599 Nowak-Göttl U, Kosch A, Schlegel N (2001) Thromboembolism in newborns, infants and children. Thromb Haemost 86:464–474 Pegram AA, Kennedy LD (2001) Prevention and treatment of venoocclusive disease. Ann Pharmacother 35:935–42 Reiss U, Cowan M, McMillan A, Horn B (2002) Hepatic venoocclusive disease in blood and bone marrow transplantation in children and young adults: incidence, risk factors, and outcome in a cohort of 241 patients. J Pediatr Hematol Oncol 24:746–50 Richardson PG, Murakami C, Jin Z et al (2002) Multi-institutional use of defibrotide in 88 patients after stem cell transplantation with severe veno-occlusive disease and multisystem organ failure: response without significant toxicity in a high-risk population and factors predictive of outcome. Blood 100:4337–443 Ries M (1999) K7 Altersentsprechende Normalwerte der Hämostase. In: Reinhardt D, Böhles H, Creutzig U et al (Hrsg) Leitlinien Kinderheilkunde und Jugendmedizin, S 33–37. Urban & Fischer, München Schmugge M, Risch L, Huber AR et al (2002) Heparin-induced thrombocytopenia-associated thrombosis in pediatric intensive care patients. Pediatrics 109:E10 Severin T, Zieger B, Sutor AH (2002) Anticoagulation with recombinant hirudin and danaparoid sodium in pediatric patients. Semin Thromb Hemost 28:447–454 Sutor AH, Auberger K, Göbel U et al (1999) Thrombosen im Kindesalter. In: Reinhardt D, Böhles H, Creutzig U et al (Hrsg) Leitlinien Kinderheilkunde und Jugendmedizin, S 18–23. Urban & Fischer München Warkentin TE, Levine MN, Hirsh J et al (1995) Heparin-induced thrombocytopenia in patients treated with low-molecular-weight heparin or unfractionated heparin. N Engl J Med 332:1330–1335 Warren BL, Singer AE, Pillay SS et al (2001) High-Dose antithrombin III in severe sepsis. JAMA 286:1869–1878
1021
Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren T. Lehrnbecher
81.1 81.2 81.3 81.4 81.5 81.6 81.7
Einleitung – 1021 Einsatz von G-CSF und GM-CSF in der Prophylaxe – 1021 Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei Fieber und Granulozytopenie – 1025 Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei Knochenmarktransplantationen – 1026 Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei der Transplantation peripherer Stammzellen – 1026 Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei der Transplantation von Nabelschnurblut – 1026 Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei nichtonkologischen Patienten – 1029 Literatur – 1029
»Kampf gegen die Granulozytopenie«, ein Wahlspruch, mit dem die Hersteller der hämatopoetischen Wachstumsfaktoren für rekombinant hergestellte hämatopoetische Wachstumsfaktoren werben. Dass diese Präparate ganz oben auf der Liste der Arzneimittelkosten stehen, ist vielen Ärzten unbekannt. Ebenso die Tatsache, dass die tägliche subkutane Verabreichung eines hämatopoetischen Wachstumsfaktors für viele Kinder ein Schreckgespenst darstellt und so die Morbidität erhöht. Macht dieser »Kampf gegen die Granulozytopenie« wirklich in jeder klinischen Situation Sinn, oder ist eine differenziertere Indikation für die hämatopoetischen Wachstumsfaktoren angezeigt?
81.1
Einleitung
Infektiöse Komplikationen sind eine wichtige Ursache für Morbidität und Mortalität bei Kindern mit angeborener oder erworbener Granulozytopenie. Das Risiko für eine Infektion hängt v. a. von Dauer und Ausmaß der granulozytopenischen Phase ab ( auch Kapitel 79). Hämatopoetische Wachs-
tumsfaktoren wie G-CSF (»granulocyte colony stimulating factor«) oder GM-CSF (»granulocyte/macrophage colony stimulating factor«) stimulieren Proliferation und Reifung der myeloischen Vorläuferzellen und expandieren so die Zahl peripherer neutrophiler Granulozyten. GM-CSF akzeleriert zudem die Produktion von Monozyten im Knochenmark. Beide Wachstumsfaktoren erhöhen ex vivo verschiedene Phagozytenfunktionen, wie z. B. die Superoxidbildung, die Phagozytose oder fungizide Aktivitäten. Aus diesem Grunde versprachen die seit Mitte der 80er-Jahre gentechnologisch hergestellten hämatopoetischen Wachstumsfaktoren einen großen Fortschritt in der Supportivtherapie granulozytopenischer Patienten (⊡ Tabelle 81.1). Das folgende Kapitel beleuchtet kritisch die bisherigen, bei Kindern durchgeführten Studien zu G-CSF und GM-CSF. Auf andere Faktoren, wie z. B. IL-3, M-CSF, das Fusionsmolekül PIXY321 oder den Stammzellfaktor (SCF, »stem cell factor«) wird nicht eingegangen, da hier die Rate der Nebenwirkungen gegen eine klinische Anwendung spricht bzw. für Kinder noch zu wenig Daten vorliegen. 81.2
Einsatz von G-CSF und GM-CSF in der Prophylaxe
G-CSF und GM-CSF in der primären Prophylaxe. In vielen,
zum Teil randomisierten Studien konnte bei pädiatrischen Patienten gezeigt werden, dass hämatopoetische Wachstumsfaktoren im Rahmen einer zytotoxischen Therapie eine Granulozytopenie zwar nicht verhindern, jedoch deren Ausmaß und Dauer verringern kann (⊡ Tabelle 81.2 und 81.3; Burdach et al. 1995; Chen et al. 1998; Clarke et al. 1999; Housholder et al. 1994; Jones et al. 1995; Kalmanti et al. 1994; Laver et al. 1998; Luksch et al. 2001; Marina et al. 1994; McCowage et al. 1997; Michel et al. 2000; Michon et al. 1998; Patte et al. 2002; Pui et al. 1997; Riikonen et al. 1995; Saarinen et al. 1992; Saarinen-Pihkala et al. 2000; van Pelt et al. 1997; Welte et al. 1996; Wexler et al. 1996). Zudem wurde in vielen Arbeiten auch ein klinischer Nutzen der Wachstumsfaktoren beschrieben, während in lediglich drei Studien keinerlei positiver Effekt beobachtet werden konnte (Calderwood et al.
⊡ Tabelle 81.1. G-CSF und GM-CSF
Faktor
Genort
Molekulargewicht
Präparat
Herstellungsart
G-CSF
17q21–22
18–19 kDa
Filgrastim
Exprimiert in E. coli
Lenograstim
Produziert von »Chinese-hamster-ovary«-Zellen (CHO)
GM-CSF
5q31–31
14,5–35 kDa
Sargramostim
Exprimiert in Hefe
Molgramostim
Exprimiert in E. coli
81
V 1022
Verringerung von Fieber bei Granulozytopenie
Dosierung, Applikation, Präparat
Grunderkrankung
Altersgruppe
N
Verringerung des Ausmaß und/oder der Dauer der Granulozytopenie*
5 µg/kg/Tag, s.c. oder i.v. Filgrastim
AML, Induktion
7,6 Jahre (Median)
512
P=0,003 bzw. P<0,0001 nach 1. bzw. nach 2. Therapieblock 42 vs. 38 bzw. 51 vs. 44 Tage (Granulozytopenie mit <1000/µl definiert)
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
ALL, T-NHL
0–16 Jahre
46
NS
NS
5 µg/kg/Tag, s.c. Lenograstim**
NHL
<18 Jahre
148
P<0,001 6 vs. 3 Tage
NS
5 µg/kg/Tag, s.c. Lenograstim**
ALL (Hochrisikogruppe)
0–18 Jahre
55
P<0,001 9,7 vs. 4,1 Tage bzw. 7,6 vs. 4,7 Tage (abhängig von Art der Chemotherapie)
P=0,005 bzw. NS 2 vs. 1 Tag bzw. unverändert (abhängig von Art der Chemotherapieeinheit)
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
ALL, T-NHL
1–15 Jahre
17
P=0,003 10,4 vs. 6,5 Tage
NS
200 µg/m2/Tag, s.c. Filgrastim
ALL, AML
0–18 Jahre
17
P=0,0001 21 vs. 11 Tage
P=0,0023 10 vs. 5 Tage
10 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
T-Zell-Leukämie und -Lymphome (Stadium III–IV)
1–22 Jahre
88
Induktion: NS Erste beiden Zyklen der Dauertherapie: 7,5 und 11 vs. 4 und 6 Tage (P=0,017)
Verringerung von dokumentierten Infektionen
Verringerung von intravenösen Antibiotikagaben
NS
Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes
Verbesserung der Überlebensrate
P=0,003 bzw. P=0,008 nach 1. bzw. 2. Therapieblock (Verkürzung um 3 bzw. um 2,5 Tage)
NS
Kosten- Referenz einsparung
Alonzo et al. 2002
NS
NS
P=0,0386 74% vs. 91% Krankenhauseinweisung NS Dauer Aufenthalt
NS (außer nach 2. Zyklus: P<0,05, 8 vs. 7 Tage)
NS
NS
Patte et al. 2002
P=0,005 bzw. NS 4,6 vs. 2,7 Tage bzw. unverändert (abhängig von Art der Chemotherapie)
P=0,005 bzw. NS 7,3 vs. 4,5 Tage bzw. unverändert (abhängig von Art der Chemotherapie)
Nein
Michel et al. 2000
NS
NS
P=0,01 9 vs. 5,5 Tage
Clarke et al. 1999
NS
P=0,0006 17 vs. 8 Tage
P=0,0001 37 vs. 17 Tage
Chen et al. 1998
NS
NS
NS
Nein
Nein
Little et al. 2002
Laver et al. 1998
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 81.2. Zusammenfassung einiger Studien zur Prophylaxe infektiöser Komplikationen mit G-CSF
NHL
<17 Jahre
149
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
Metastasiertes Neuroblastom
1–13 Jahre
59
NS nach 1. Zyklus P=0,002, 0,008, 0,001 nach 2., 3. bzw. 4. Zyklus 1 vs. 7, 2 vs. 7 und 0 vs. 4 Tage
NS
10 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
ALL
0–17 Jahre
164
P=0,007 12,7 vs. 5.3 Tage
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
ALL (Hochrisikogruppe)
2–16 Jahre
34
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
ALL und Solide Tumore
0–15 Jahre
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim
Fortgeschrittene Solide Tumoren
10 µg/kg/Tag, s.c. G-CSF, nicht spezifiziert
NS
Nein
NS
NS
NS
P=0,04 20 vs. 12 Tage
NS
P=0,072 2.4 vs. 1.3 Jahre
NS
P=0,009 36% vs. 16%
NS
P=0,011 10 vs. 6 Tage
Nein
P=0,002 87% vs. 48% (Mittlere Inzidenz pro Zyklus)
P=0,007 40% vs. 17%
P=0,04 15% vs. 8%
P=0,02 32,2 vs. 18,2 Tage
16 (20 Zyklen)
P<0,0001 16,5 vs. 4.8 Tage
P=0,04 50% vs. 10%
2–15 Jahre
12
16 vs. 11 Tage P<0,0001
ALL
2–14 Jahre
32
NS für absolute Granulozytenzahlen <2000/µl
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
ALL/NHL Solide Tumore
6–16 Jahre
23 23
P<0,001 (7 vs. 3 Tage) P<0,001 (6 vs. 2 Tage) (Granulozytopenie mit <1000/µl definiert)
5–10 µg/kg/Tag, i.v. G-CSF, nicht spezifiziert
Neuroblastom (Hochrisiko)
NS
16 (85 Zyklen)
P<0,001 11,4 vs. 5,4 Tage
NS
NS
Nein
Nein
Pui et al. 1997
Welte et al. 1996
$1000 pro Zyklus
Riikonen et al. 1995
P=0,02 65 vs. 13 Tage
NS
NS
Jones et al. 1995
NS
Dibenedetto et al. 1995
P<0,05 (54 vs. 25%) P<0,05 (60 vs. 31%)
P<0,05 (10 vs. 6 Tg) P<0,05 (6 vs. 3 Tg)
Kalmanti et al. 1994
NS
NS
Housholder et al. 1994
1023
* Falls nicht anders angezeigt, ist Granulozytopenie definiert als 500 neutrophile Granulozyten/µl. ** Studiendesign beinhaltet Randomisierung mit Kontrollgruppe. NS nicht signifikant.
Michon et al. 1998
P=0,003 95 vs. 13 Tage
NS
NS
Rubino et al. 1998
81 · Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim**
81
V 1024
Dosierung, Applikation, Präparat
Grunderkrankung
Altersgruppe
N
Verringerung des Ausmaß und/oder der Dauer der Granulozytopenie*
Verringerung von Fieber bei Granulozytopenie
5 µg/kg/Tag, s.c. GM-CSF, nicht spezifiziert
EwingSarkom
1–18 Jahre
56
P<0,05 2,2/2,3 vs. 1,2/1,5 Tage nach Chemotherapie/ Halbkörperbestrahlung
P<0,05 39% vs. 22%
5 µg/kg/Tag, s.c. Molgramostim
ALL (Hochrisiko)
1–17 Jahre
119
5 µg/kg/Tag, s.c. Molgramostim**
Solide Tumoren
2–15 Jahre
13
5 bzw.10 µg/kg/Tag, s.c. Molgramostim
Solide Tumoren
1–19 Jahre
5–15 µg/kg/Tag, s.c. Molgramostim**
Sarkom
250 µg/m2/Tag, i.v. Molgramostim**
Verringerung von dokumentierten Infektionen
Verringerung von intravenösen Antibiotikagaben
NS
NS
P<0,001 48 vs. 39 Tage
P=0,003 Um 2,2 Tage
NS
NS
NS
29
P<0,0001 21 vs. 18 vs. 16 Tage
NS
1–24 Jahre
37
P<0,0001 9 vs. 7 Tage
NS
Solide Tumoren
3–20 Jahre
11 (82 Zyklen)
P=0,0001 5.7 vs. 1.9 Tage
5,5 µg/kg/Tag, s.c. Regramostim**
ALL
1–16 Jahre
40
NS
NS
NS
1000 µg/m2/Tag, s.c. Sargramostim
Solide Tumoren (Rezidive)
2–23 Jahre
20
P=0,005 16,8 vs. 10 Tage
NS
NS
5 µg/kg/Tag, s.c. Molgramostim
Solide Tumoren
1–15 Jahre
12
P<0,05 17 vs. 14 Tage
NS
Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes
Verbesserung der Überlebensrate
P<0,05 5,2/6,1 vs. 3,1/3,9 Tage nach Chemotherapie/ Halbkörperbestrahlung
Nein
Nein
Referenz
Luksch et al. 2001
$ 1000– 4500
SaarinenPihkala et al. 2000 van Pelt et al. 1997 McCowage et al. 1997
NS
NS
NS
Nein
NS
* Falls nicht anders angezeigt, ist Granulozytopenie definiert als 500 neutrophile Granulozyten/µl. ** Studiendesign beinhaltet Randomisierung mit Kontrollgruppe. NS nicht spezifiziert.
Kosteneinsparung
NS
NS
Nein
Wexler et al. 1996 Burdach et al. 1995
NS
Nein
Calderwood et al. 1994
NS
Marina et al. 1994
NS
Saarinen et al. 1992
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 81.3. Zusammenfassung einiger Studien zur Prophylaxe infektiöser Komplikationen mit GM-CSF
1025 81 · Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren
1994; Dibenedetto et al. 1995; Rubino et al. 1998). So führten die Wachstumsfaktoren, wenn sie kurz nach Beendigung der jeweiligen Chemotherapieeinheiten, aber noch vor Beginn der Granulozytopenie begonnen wurde (»primäre Prophylaxe«), zu signifikanten Verbesserungen klinischer Parameter, wie z. B. einer Verringerung der Inzidenz von Fieber bei Granulozytopenie, weniger intravenöse Antibiotikagaben und einer Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes (⊡ Tabelle 81.2 und 81.3). Insgesamt scheint der klinische Nutzen der Wachstumsfaktoren von der Intensität der verabreichten Chemotherapie abzuhängen, wobei v. a. Patienten mit langer und schwerer Granulozytopenie profitieren (Laver et al. 1998; Little et al. 2002). Obwohl die meisten leukämischen Blasten von Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) Rezeptoren für G-CSF und GM-CSF tragen (Lowenberg u.Touw 1993), wurde bei erwachsenen Patienten mit AML kein negativer Effekt durch die Behandlung mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren gesehen. In einer großen Studie bei Kindern mit AML konnte G-CSF die Infektionsrate nicht senken (Alonzo et al. 2002). In den meisten Studien wurde die Kosteneinsparung durch weniger Antibiotikagaben und Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes durch den teuren Preis der Wachstumsfaktoren wieder aufgehoben, so dass die Kosten der Gesamttherapie letztlich nicht beeinflusst wurden. G-CSF und GM-CSF zur Dosisintensivierung einer zytotoxischen Therapie. Einer Dosisintensivierung der Chemothe-
rapie mit Hilfe der Wachstumsfaktoren stehen Toxizitäten entgegen, die nicht durch G-CSF oder GM-CSF beeinflussbar sind, wie die Thrombozytopenie, die Kardiomyopathie, die Neuropathie oder die Suppression verschiedener Arme des Immunsystems (Lehrnbecher et al. 1997; Michel et al. 2000; Saarinen-Pihkala et al. 2000). Deshalb erscheint die Gabe von G-CSF oder GM-CSF zur Intensivierung einer zytotoxischen Therapie außerhalb von Studien nicht gerechtfertigt (Ozer et al. 2000). G-CSF und GM-CSF in der sekundären Prophylaxe. Bisher liegen keine ausreichende Daten vor, ob Wachstumsfaktoren das Risiko weiterer Episoden febriler Granulozytopenie verringern können, wenn bereits in einem vorangegangenen Zyklus der Chemotherapie Fieber bei Granulozytopenie aufgetreten war (»sekundäre Prophylaxe«). Dennoch wurde durch eine europäische Expertenkommission die sekundäre Prophylaxe unter anderem für Kinder empfohlen, die in der bisherigen Therapie mindestens eine Episode einer bakteriellen Infektion bzw. einer Pilzinfektion im Rahmen einer längerdauernden oder schweren Granulozytopenie erlitten haben (Schaison et al. 1998). G-CSF und GM-CSF bei bestrahlungsinduzierter Granulozytopenie. Auch zum Einsatz hämatopoetischer Wachstums-
faktoren bei einer durch Bestrahlung induzierten Granulozytopenie finden sich wenige Daten, insbesondere für Kinder. Entsprechend den Daten bei erwachsenen Patienten wird bei Kindern während einer Chemoradiotherapie von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren abgeraten (Ozer et al. 2000; Schaison et al. 1998). Im Gegensatz dazu wiesen kleine Studien bei erwachsenen Patienten darauf hin, dass hämatopoetische Wachstumsfaktoren einen positiven Effekt bei
Patienten mit ausgedehntem Bestrahlungsfeld haben könnten, die nicht gleichzeitig eine Chemotherapie erhalten (Mac Manus et al. 1995), weswegen dies auch bei Kindern mit prolongierter Granulozytopenie unter Bestrahlung erwogen werden kann (Ozer et al. 2000). Einsatz von G-CSF und GM-CSF in spezifischen Situationen.
Auch wenn Daten aus kontrollierten Studien fehlen, ist ein Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei bestimmten Patientenuntergruppen, wie z. B. bei Patienten mit einem Rezidiv oder einem Zweitmalignom zu erwägen, da deren hämatopoetische Vorläuferzellen durch eine vorausgegangene Chemotherapie geschädigt sind (Welte et al. 1996). Insgesamt muss jeweils individuell entschieden werden, ob die negativen Aspekte der Wachstumsfaktorgaben (z. B. subkutane Injektionen über mehrere Tage hinweg) einen möglichen Nutzen für den Patienten aufwiegen. Dosierung und Applikation von G-CSF und GM-CSF. Während für die Prophylaxe nach zytotoxischen Therapien bei erwachsenen Patienten die Gabe von G-CSF in der Dosierung von 5 µg/kg/Tag oder von GM-CSF in der Dosierung von 250 µg/m2/Tag empfohlen wird (Ozer et al. 2000), ist die optimale Dosierung bei pädiatrischen Patienten noch unklar. Die Effektivität unterschiedlicher Dosierungen wurde bislang in nur wenigen Studien mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen verglichen. Sowohl G-CSF als auch GM-CSF können subkutan oder intravenös verabreicht werden. Die subkutane Gabe ist möglicherweise effektiver und weniger toxisch, weswegen sie auch von Experten empfohlen wird (Ozer et al. 2000). Aufgrund der kurzen Halbwertszeit sollte die intravenöse Gabe über mindestens 60 min erfolgen (Welte et al. 1996). Der Beginn der prophylaktischen Gabe eines Wachstumsfaktors sollte im Allgemeinen zwischen 1 und 5 Tagen nach Ende der jeweiligen Chemotherapieeinheit liegen (Schaison et al. 1998). Die Gaben der Wachstumsfaktoren sollten mindestens bis zu einer absoluten Granulozytenzahl von 1000/µl fortgeführt werden (Michel et al. 2000; Pui et al. 1997). Vergleich von G-CSF und GM-CSF. Zum Vergleich von Effek-
tivität und Toxizität von G-CSF und GM-CSF finden sich wenig Daten. Möglicherweise hat GM-CSF aufgrund seiner zusätzlichen Effekte auf Monozyten und Makrophagen eine höhere Toxizität, wie z. B. Fieberreaktionen. Beim Vergleich der Wirkung von G-CSF-Präparaten mit unterschiedlichen Glykosylierungsformen (z. B. Filgrastim oder Lenograstim; Tabelle 81.1) fanden sich in den bisherigen Studien keine Nachteile einzelner Produkte. 81.3
Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei Fieber und Granulozytopenie
G-CSF und GM-CSF bei Patienten mit Fieber bei Granulozytopenie. Da durch die potente antibiotische Therapie das
Risiko relativ gering ist, an einer Infektion zu versterben, konnte man durch den adjuvanten Einsatz der hämatopoetischen Wachstumsfaktoren die Letalität bei Infektionen kaum verbessern (Mitchell et al. 1997; Riikonen et al. 1994; Kap. 79). Durch die Gabe der Wachstumsfaktoren bei Fieber bei
81
1026
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Granulozytopenie konnten lediglich eine marginale Verkürzung der Fieberepisoden und der Dauer des Krankenhausaufenthaltes erreicht werden. G-CSF und GM-CSF bei granulozytopenischen Patienten mit dokumentierten Infektionen. Der Einsatz der hämato-
poetischen Wachstumsfaktoren bei granulozytopenen Kindern mit dokumentierten Infektionen ist auf Fallberichte und kleinere Serien beschränkt, die keinen sicheren Nutzen der Wachstumsfaktoren belegen (Anaissie et al. 1996; Kap. 79). Prospektive, randomisierte Studien sind aufgrund der Inhomogenität der Patientenkollektive jedoch kaum durchführbar.
V 81.4
Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei Knochenmarktransplantationen
Durch den Einsatz der Wachstumsfaktoren G-CSF und GMCSF erwartete man auch eine schnellere hämatologische Erholung des Knochenmarks nach einer Knochenmarktransplantation (KMT; Kap. 79). G-CSF und GM-CSF bei autologer Knochenmarktransplantation. Bei Kindern sind die publizierten Daten zum Einsatz
hämatopoetischer Wachstumsfaktoren bei autologer KMT auf nicht randomisierte Studien limitiert (⊡ Tabelle 81.4; Calderwood et al. 1996; Dini et al. 1996; Gonzalez-Vicent et al. 2002; Gordon et al. 1994; Madero et al. 1995; Saarinen et al. 1992; Saarinen et al. 1996). Mit Ausnahme zweier Studien konnte in allen Arbeiten gezeigt werden, dass hämatopoetische Wachstumsfaktoren eine schwere Granulozytopenie signifikant verkürzten. Widersprüchliche Ergebnisse wurden hinsichtlich der Verkürzung der Dauer der Fieberepisoden und der antibiotischen Behandlung sowie der Verringerung der Inzidenz von dokumentierten Infektionen berichtet. Allerdings konnte in keiner Studie eine Verbesserung der Überlebensrate erreicht werden. Trotz der sehr begrenzten Datenlage bei Kindern wird von Experten entsprechend den Leitlinien bei erwachsenen Patienten die Gabe von G-CSF nach autologer KMT empfohlen (Schaison et al. 1998). G-CSF und GM-CSF bei allogener Knochenmarktransplantation. Auch zum Einsatz von hämatopoetischen Wachs-
tumsfaktoren bei allogener KMT bei Kindern finden sich nur wenige Studien mit kleinen Patientenkollektiven (⊡ Tabelle 81.5; Dini et al. 1996; Locatelli et al. 1996; Madero et al. 1999; Saarinen et al. 1996; Trigg et al. 2000). Zwar scheinen G-CSF oder GM-CSF signifikant Dauer und Schwere der Granulozytopenie zu verkürzen, jedoch wurden widersprüchliche Ergebnisse bezüglich anderer klinischer Endpunkte berichtet. Keine der Studien fand durch den Einsatz von G-CSF oder GM-CSF eine Verbesserung der Überlebensrate, umgekehrt wurde die Entwicklung einer »Graftversus-host«-Erkrankung (GVHD) nicht negativ beeinflusst. Entsprechend den Ergebnissen bei Erwachsenen erscheint jedoch ein Einsatz der Wachstumsfaktoren bei Kindern mit allogener KMT gerechtfertigt. G-CSF und GM-CSF bei fehlendem/verzögertem Engraftment. Obwohl sich in der Literatur keine für pädiatrische
Patienten spezifischen Daten hinsichtlich des Einsatzes von G-CSF oder GM-CSF bei fehlendem oder verzögertem Engraftment finden, kann jedoch aufgrund fehlender Therapieoptionen der Behandlungsversuch mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren empfohlen werden. 81.5
Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei der Transplantation peripherer Stammzellen
Durch die Verfügbarkeit einer großen Anzahl von Stammzellen wird bei der Transplantation von peripheren Stammzellen die Wahrscheinlichkeit für ein rasches Engraftment beim Empfänger erhöht, was das Infektionsrisiko senken könnte. G-CSF und GM-CSF bei autologer Stammzelltransplantation. Die Mobilisierung der Stammzellen für eine autologe
Transplantation kann durch einen hämatopoetischen Wachstumsfaktor alleine (»steady-State«-Mobilisierung) oder durch eine nicht ablative zytotoxische Therapie (»zytotoxische Mobilisierung«), die in Kombination mit einem hämatopoetischen Wachstumsfaktor durchgeführt werden kann, erfolgen. Dabei wird für G-CSF die Dosierung von zweimal 5 µg/kg/Tag bzw. einmal 10 µg/kg/Tag empfohlen. Der Zeitpunkt der Sammlung der Stammzellen wird durch die regelmäßige Bestimmung der CD34-positiven Zellen individuell ermittelt. Für eine ausreichende hämatologische Erholung beim Empfänger scheint die Transfusion von etwa 2–5×106/kg CD34-positiver Zellen ausreichend (Schaison et al. 1998). Der Nutzen von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren nach der Transplantation mobilisierter autologer Stammzellen ist umstritten und wird für Kinder nicht routinemäßig empfohlen (Schaison et al. 1998). G-CSF und GM-CSF bei allogener Stammzelltransplantation.
Prinzipiell ist der Einsatz hämatopoetischer Wachstumsfaktoren zur Mobilisierung peripherer Stammzellen zur allogenen Transplantation auch im Kindesalter möglich, wird jedoch aufgrund der unbekannten Langzeiteffekte von G-CSF oder GM-CSF nicht empfohlen. Zur Gabe hämatopoetischer Wachstumsfaktoren nach Transplantation finden sich bei Kindern keine Daten. So wird in manchen Zentren den Empfängern nach Transplantation aufgereinigter Stammzellen oder nach haploidentischer Stammzelltransplantation G-CSF verabreicht, während dies von anderen Experten aufgrund einer möglicherweise verzögerten Immunrekonstitution abgelehnt wird. 81.6
Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei der Transplantation von Nabelschnurblut
Die Transplantation von Nabelschnurblut könnte unter anderem durch die Erhöhung der Anzahl potenzieller Spender einen weiteren Fortschritt in der Therapie von Patienten mit hämatologisch/onkologischen Erkrankungen darstellen. Allerdings werden aufgrund der ungenügenden und auch widersprüchlichen Datenlage derzeit keine offiziellen Empfehlungen zum Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei der Transplantation von Nabelschnurblut gegeben.
Grunderkrankung
Altersgruppe
N
Verringerung des Ausmaß und/oder der Dauer der Granulozytopenie
10 µg/kg/Tag, i.v. G-CSF, nicht spezifiziert
Hämatologische Erkrankungen, solide Tumoren
1–18 Jahre
129
P<0,0007 11 vs. 9 Tage
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim
Solide Tumoren
1–17 Jahre
24
P<0,02 26 vs. 15 Tage
P<0,02 13 vs. 7 Tage
5 µg/kg/Tag, i.v. Filgrastim
ALL, AML, CML, Lymphome, solide Tumoren, nicht-maligne Erkrankungen
1–16 Jahre
26
NS
10 µg/kg/Tag, i.v. G-CSF, nicht spezifiziert
ALL, NHL, solide Tumoren
2–16 Jahre
79
5,5 µg/kg/Tag, s.c. GM-CSF, nicht spezifiziert
AML
1–12 Jahre
125 µg/m2/Tag, i.v. GM-CSF, nicht pezifiziert
Lymphome, solide Tumoren
5 µg /kg/Tag, s.c. oder i.v. Molgramostim
ALL, M. Hodgkin, solide Tumoren
Verbesserung der Überlebensrate
Kosteneinsparung
Referenz
P=0,0001 Verteuerung durch G-CSF pro Patient um $ 700 (Median)
GonzalesVicent et al. 2002
Verringerung von intravenösen Antibiotikagaben
Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes
NS
NS
NS
P<0,01 21 vs. 16 Tage
NS
P<0,05 10 vs. 6 Tage
NS *
NS *
NS *
Nein*
Dini et al. 1996
P<0,001 26 vs. 15 Tage
P<0,01 15 vs. 10 Tage
P<0,05 39% vs. 19%
P<0,005 21 vs. 16 Tage
NS
NS
Madero et al. 1995
22
NS
NS
NS
NS
NS
P=0,05 40 vs. 80% (negativer Einfluss)
Calderwood et al. 1996
3–18 Jahre
26
P<0,007 23 vs. 12 Tage
1–17 Jahre
16
P<0,05 30 vs. 20 Tage
Verringerung von Fieber bei Granulozytopenie
Verringerung von dokumentierten Infektionen
NS
NS
Saarinen et al. 1996
Gordon et al. 1994
NS
NS
Saarinen et al. 1992
1027
Dosierung, Applikation, Präparat
81 · Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren
⊡ Tabelle 81.4. Zusammenfassung einiger Studien zur Gabe von G-CSF und GM-CSF bei autologen Knochenmarktransplantationen
* Zahlen gemeinsam für autologe (N=26) und allogene KMT (N=36).
81
V 1028
Verkürzung des Krankenhausaufenthaltes
Verbesserung der Überlebensrate
Kosten- Referenz einsparung
Verringerung von dokumentierten Infektionen
Verringerung von intravenösen Antibiotikagaben
NS
NS
NS
NS
NS
P<0,005 45 vs. 31 Tage
Nein
Madero et al. 1999
NS
NS
NS*
NS*
NS *
Nein*
Dini et al. 1996
HLA-identische Geschwister
P<0,0001 15 vs. 9 Tage
P<0,0001 13 vs. 3 Tage
P<0,001 19 vs. 7 Tage
P<0,01 37 vs. 28 Tage
Nein
HLA-identische Geschwister (N=22) und Eltern (N=3) Nicht-HLAidentische Familie (N=3) und Fremde (N=7)
P<0,02 24 vs. 19 Tage
NS
NS
NS
NS
Dosierung, Applikation, Präparat
Grunderkrankung
Altersgruppe
N
Spender
Verringerung des Ausmaß und/oder der Dauer der Granulozytopenie
10 µg/kg/Tag, i.v. GM-CSF, nicht spezifiziert**
ALL, NHL, nicht-maligne Erkrankungen
0–18 Jahre
40
Nicht-HLAidentische Familie (N=23) und Fremde (N=17)
P=0,0036 15,9 vs. 12,3 Tage
10 µg/kg/Tag, i.v. GM-CSF, nicht spezifiziert**
ALL
1–16 Jahre
46
HLA-identische Geschwister
P<0,0001 18,5 vs. 14 Tage
5 µg/kg/Tag, i.v. Filgrastim
ALL, AML, CML, Lymphome, solide Tumoren
1–16 Jahre
36
HLA-identische Geschwister (N=13) Nicht verwandt (N=5)
5 µg/kg/Tag, i.v. Filgrastim
ALL, AML
1–18 Jahre
50
5 µg/kg/Tag, s.c. Filgrastim
ALL, CML, nicht-maligne Erkrankungen
1–17 Jahre
35
* Zahlen gemeinsam für autologe (N=26) und allogene KMT (N=36). ** Studiendesign beinhaltet Randomisierung mit Kontrollgruppe.
Verringerung von Fieber bei Granulozytopenie
NS
Trigg et al. 2000
Locatelli P<0,01 $ 55.500 et al. 1996 vs. $ 42.490 Saarinen et al. 1996
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 81.5. Zusammenfassung einiger Studien zur Gabe von G-CSF und GM-CSF bei allogenen Knochenmarktransplantationen
1029 81 · Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren
81.7
Einsatz von G-CSF und GM-CSF bei nicht-onkologischen Patienten
G-CSF und GM-CSF bei Patienten mit MDS oder AA. Granu-
lozytopenien werden oft im Rahmen von hämatologischen Erkrankungen gesehen, wie z. B. beim myelodysplastischen Syndrom (MDS) oder bei der aplastischen Anämie (AA). Beim MDS sollte entsprechend den Daten bei erwachsenen Patienten auch bei Kindern der Einsatz von G-CSF lediglich bei schweren Infektionen im Rahmen einer länger anhaltenden Granulozytopenie erwogen werden, wobei von einer längerfristigen Gabe abgeraten wird. Bei Kindern mit schwerer AA kann G-CSF die Anzahl neutrophiler Granulozyten erhöhen und möglicherweise die Überlebensrate verbessern, während G-CSF bei Patienten mit mittelschwerer AA keinen Einfluss auf die Inzidenz von Fieberepisoden, dokumentierten Infektionen und die Überlebensrate hat. Inwieweit G-CSF bei Patienten mit AA die Entwicklung eines MDS oder einer Leukämie fördert, ist unklar, jedoch sollte der Wachstumsfaktors nicht länger als 3 Monate gegeben werden. Einzelheiten zu den Erkrankungen finden sich in Kap. 3 und 61. G-CSF und GM-CSF bei Patienten mit schwerer chronischer Granulozytopenie. Auch bei schweren chronischen Granulo-
zytopenien, wie z. B. beim Kostmann-Syndrom, verschiedenen Stoffwechseldefekten wie dem Shwachman-DiamondSyndrom oder der Glykogenose Typ Ib, bei Immungranulozytopenien, bei der zyklischen sowie der idiopathischen Granulozytopenie kann die Gabe von G-CSF indiziert sein. Aufgrund der Seltenheit der einzelnen Erkrankungen wurden Patienten mit schwerer chronischer Granulozytopenie in einem internationalen Register zusammengefasst. Mehr als 95% dieser Patienten reagierten auf die Behandlung mit G-CSF mit einem Anstieg der absoluten Anzahl neutrophiler Granulozyten auf Werte um 1000/µl (Zeidler et al. 2000). Durch die G-CSF Therapie hatten die Patienten weniger Infekte, benötigten weniger Antibiotika und verbrachten weniger Tage im Krankenhaus. Die Daten des internationalen Registers zeigten aber auch, dass etwa 9% der Patienten mit schwerer kongenitaler Granulozytopenie ein MDS oder eine Leukämie entwickelten, wobei aus noch ungeklärten Gründen hiervon anscheinend Patienten mit zyklischer oder idiopathischer Granulozytopenie ausgenommen sind. Deswegen sollten die Patienten engmaschig auf zytogenetische Auffälligkeiten hin untersucht werden. Einzelheiten zur schweren chronischen Granulozytopenie finden sich in Kap. 17.
Gentechnologisch hergestellte hämatopoetische Wachstumsfaktoren wie G-CSF und GM-CSF haben ihren festen Platz in der Supportivtherapie granulozytopenischer Patienten. Basierend auf den Ergebnissen zahlreicher Studien wurden in den letzten Jahren Leitlinien für den rationalen Einsatz der Wachstumsfaktoren erstellt (Ozer et al. 2000; Schaison et al. 1998). Um das Risiko schwerer infektiöser Komplikationen bei Kindern mit hämatologisch/onkologischen Erkrankungen zu verringern, wird der Einsatz von G-CSF oder GM-CSF bei Patienten mit sehr intensiver
▼
Chemotherapie kurz nach Gabe der zytotoxischen Therapie oder bei Patienten nach KMT oder SZT empfohlen. Die Mobilisierung peripherer Stammzellen zur autologen oder allogenen Transplantation stellt ein vielversprechendes Einsatzgebiet der hämatopoetischen Wachstumsfaktoren dar. Studien zum Einsatz der Wachstumsfaktoren bei Kindern mit MDS oder AA fehlen weitgehend. Die Gabe von G-CSF ist bei Kindern mit schwerer chronischer Granulozytopenie indiziert, wobei die Kinder jedoch engmaschig auf zytogenetische Auffälligkeiten untersucht werden müssen. Zukünftige Studien müssen unter anderem klären, welche Untergruppen von Patienten signifikant von der Gabe der Wachstumsfaktoren profitieren, d. h. bei welchen Patienten G-CSF oder GM-CSF die Inzidenz von Infektionen oder die Dauer von intravenösen Antibiotikagaben deutlich verringert, die Krankenhauszeit wesentlich verkürzt oder zu einer Verbesserung der Überlebensrate führt. Zudem müssen für die einzelnen Patientengruppen die optimale Dosis und die geeignete Dauer der Wachstumsfaktorgabe herausgefunden werden und es muss geklärt werden, ob der Einsatz des kürzlich entwickelten pegylierten G-CSF (PEG-G-CSF) durch eine verbesserte Pharmakokinetik gerade bei Kindern Vorteile bietet. Für jede Indikationsstellung der teuren Wachstumsfaktoren muss der klinische und der ökonomische Nutzen mit der Einsparung der Gesamttherapiekosten gegeneinander abgewogen werden.
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
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1031 81 · Therapie mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren
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81
Transfusionsmedizin W. Ebell, A. Salama
V
82.1
Grundlagen
82.1.1 82.1.2 82.1.3 82.1.4
Historische Entwicklung und Prinzipien – 1032 Rechtliche Grundlagen – 1032 Blutgruppenantigene und Antikörper – 1033 Untersuchungen vor einer Bluttransfusion – 1034
82.2
Blutkomponenten – 1034
82.2.1 82.2.2 82.2.3
Herstellung – 1034 Leukozytendepletierte Erythrozytenkonzentrate – 1035 Leukozytendepletierte Thrombozytenkonzentrate – 1036 Granulozytenkonzentrate – 1037 Gefrorenes Frischplasma – 1038
82.2.4 82.2.5
– 1032
82.3
Spezielle Transfusionssituationen
82.3.1 82.3.2 82.3.3 82.3.4
Bestrahlung von Blutprodukten – 1038 Notfalltransfusionen – 1038 Autologe Blutprodukte – 1038 Gerichtete Blutprodukte – 1038
– 1038
82.4 82.5
Dokumentation – 1039 Nebenwirkungen – 1039 Literatur – 1041
Die Entdeckung der Blutgruppen zu Beginn des 20. Jahrhundert stellt eine der größten Entdeckungen in der Geschichte der Humanmedizin dar. Sie ist die Basis einer modernen Transfusionsmedizin, ohne die viele lebensrettende, intensivmedizinische Maßnahmen auch in der Kinderheilkunde heute nicht denkbar wären. In diesem Kapitel sollen die Prinzipien der Transfusionsmedizin unter besonderer Berücksichtigung nationaler und internationaler Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten in der Pädiatrie dargestellt werden. Bezüglich der Gabe gerinnungsaktiver Substanzen wird auf Kap. 80 verwiesen. Herstellung und Transplantation hämatopoetischer Stammzellen werden im Kap. 4 beschrieben.
82.1
Grundlagen
82.1.1 Historische Entwicklung und Prinzipien Blut galt bereits in der Antike als Sitz des Lebens und der Seele. Zeugnisse hierfür finden sich vom alten Testament bis zur griechischen Philosophie (Pythagoras). Erste Blutübertragungsversuche fanden vermutlich bereits im 15. bis 16. Jahrhundert statt. Oft zitiert wird die Blutübertragung dreier Knaben auf den sterbenden Papst Innozenz VIII im Jahr 1492, was weder der Papst noch die Knaben überlebten (Greenwalt 1997). Als eine der frühesten Veröffentlichungen
zur Möglichkeit der Blutübertragung darf das im Jahr 1604 erschienene Buch des Rostocker Professors Magnus Pegelius mit dem Titel »Thesaurus rerum selectarum magnarum, dignarum, utilium, suavium pro generis humani salute oblatus« gelten. Das 17. und das 18. Jahrhundert waren gekennzeichnet durch die Übertragung von Tierblut auf den Menschen bzw. durch die direkte Humanblutübertragung und die dadurch bedingten fatalen, hämolytischen Transfusionsreaktionen. Dieses änderte sich erst durch die so bedeutsame Beschreibung der Blutgruppen A, B und »C« bzw. 0 von Landsteiner im Jahr 1900, für die 1930 der Nobelpreis vergeben wurde (Landsteiner 1900). Damit begann nicht nur die Ära der modernen Transfusionsmedizin, sondern auch der Transplantations- und Intensivmedizin. Die Übertragung von Blutprodukten ist aber auch weiterhin mit einigen Risiken verbunden. Diese verpflichten zu einer strengen Indikationsstellung, Begrenzung auf das absolute Mindestmaß sowie die richtige Auswahl der benötigten Blutkomponenten. Das menschliche Blut steht nicht unbegrenzt zur Verfügung, und die Bereitstellung ist von der Blutspendebereitschaft der Bevölkerung abhängig. Nichts wäre fataler, als dieses biologische Gut zu verschleudern oder auf Kosten von Spendern und/oder Patienten zu kommerzialisieren. 82.1.2 Rechtliche Grundlagen Herstellung und Anwendung von Blut und Blutprodukten unterliegen zahlreichen nationalen und internationalen Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien, die zum Ziel haben, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern und den medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand der Transfusionsmedizin weiter zu entwickeln (Transfusionsgesetz 1998; Arzneimittelgesetz 1998; BÄK-Leitlinien 2003; EU-Richtlinie 2003). Blutspende und Transfusion stellen einen Eingriff in die körperliche Integrität dar und fordern sorgfältige Aufklärung und schriftliche Einwilligung betroffener Spender bzw. Patienten, um nicht den Tatbestand der Körperverletzung zu erfüllen. Bei bewusstlosen oder unmündigen Patienten kann im Notfall auf die ausdrückliche Einwilligung verzichtet werden, wenn die Transfusion im wohlverstandenen Interesse des Patienten erfolgt und angenommen werden darf, dass eine Einwilligung ggf. gegeben worden wäre. Eine solche mutmaßliche Einwilligung deckt aber nicht den Tatbestand einer Transfusion gegen eine zuvor geäußerte ausdrückliche Ablehnung einer solchen Maßnahme (z. B. bei der Transfusionsverweigerung aus Glaubensgründen). Auch ein minderjähriger Patient kann notfalls rechtswirksam einwilligen, wenn die nötige Reife gegeben ist. Generell ist aber das Einverständnis beider Elternteile bzw.
1033 82 · Transfusionsmedizin
des Sorgeberechtigten einzuholen. Verweigern Eltern eines minderjährigen Patienten eine Notfalltransfusion, kann den Eltern das Sorgerecht entzogen und durch die Einwilligung eines Vormundschaftsgerichts ersetzt werden. Ist hierzu keine Zeit, kann sich der Arzt über die Weigerung der Eltern hinwegsetzen, da nach deutscher Rechtsprechung diese einen Missbrauch des Personensorgerechts darstellt (Deutsch 1991). Auf das Risiko einer Hepatitis- oder HIV-Übertragung sowie die Möglichkeit der Eigenblutspende bei planbaren Operationen und einer ernsthaften Transfusionswahrscheinlichkeit ist auch dann hinzuweisen, wenn – etwa bei einer Operation – eine Transfusion nur potenziell nötig wird. Ein besonderes Augenmerk ist auf die Dokumentation der Aufklärung und Durchführung einer Transfusion zu richten, die auch eine schnelle und sichere Rückverfolgung eines Blutproduktes im Falle einer Infektiosität (sog. »Look-back«Verfahren) ermöglichen muss. Das gleiche gilt für die Rückmeldung von Transfusionszwischenfällen. Cave Aus einer Verletzung der Aufklärungspflicht oder einem fahrlässigen Fehlverhalten bei der Durchführung von Bluttransfusionen ergeben sich straf- wie zivilrechtliche Haftungsansprüche, wobei immer dann eine Fahrlässigkeit anzunehmen ist, wenn die gebotene, objektive Sorgfalt außer Acht gelassen wurde. Das Einleiten oder Wechseln einer Blutkonserve ist eine ärztliche Tätigkeit und kann nicht delegiert werden.
82.1.3 Blutgruppenantigene und Antikörper Zu unterscheiden ist zwischen den erythrozytären, leukozytären und thrombozytären Antigenen und Antikörpern (Überblick: Mueller-Eckhardt u. Kiefel 2004). Hinsichtlich der leukozytären und thrombozytären Antigene bzw. Antikörper wird auf Kap. 17 und 35 verwiesen. Erythrozytäre Antigene werden aufgrund ihrer Vererbung und Struktur in verschiedene Blutgruppensysteme unterteilt (⊡ Tabelle 82.1). Das bedeutsamste System ist das AB0-System (Clausen et al. 1994; Daniels et al. 2001). Bei diesen Merkmalen handelt
es sich um Kohlenhydrat-Protein-Komplexe, die auch im Plasma und anderen Körperflüssigkeiten vorkommen. Erythrozyten der Blutgruppe 0 tragen keine A- und keine B-Antigene. Personen mit dieser Blutgruppe bilden natürlicherweise Anti-A- und Anti-B-Isoagglutinine. Erythrozyten der Blutgruppe A tragen A, der Blutgruppe B tragen B und der Blutgruppe AB tragen sowohl A- als auch B-Antigene. Dementsprechend bilden Personen mit der Blutgruppe A Anti-B, mit der Blutgruppe B Anti-A und mit der Blutgruppe AB keine Isoagglutinine. Somit gelten Personen der Blutgruppe 0 als Universalspender für Erythrozytenkonzentrate und Personen mit der Blutgruppe AB als Universalspender für Plasma. Neugeborene bilden erst im Lauf der ersten Jahre Isoagglutinine und die zunächst noch schwach exprimierten AB-Antigene werden ebenfalls erst im Laufe der ersten Jahre voll exprimiert. Das Rhesus-System (Rh-Antigene) ist das zweitwichtigste Blutgruppensystem. Die Antigene sind an Membranproteine gebunden. Die wichtigsten Antigene sind D, C, c, E und e. Rh-positive Personen exprimieren bereits intrauterin das D-Antigen auf ihren Erythrozyten. Bei Rh-negativen Personen fehlt das D-Merkmal vollständig. Das D-Merkmal tritt gelegentlich als abgeschwächtes (Dweak, früher Du) und/oder als verändertes (D-Varianten) Antigen auf. Während Dweak als Rh-positiv gilt, gelten bestimmte Varianten als Rh-negativ, da diese Personen durch ein voll ausgeprägtes D-Merkmal (Expression aller immunogenen Epitope) immunisiert werden können, z. B. Personen mit der Kategorie VI (D VI). Das D-Antigen ist ein immunogenes Alloantigen und fehlt bei ca. 15% der kaukasischen Bevölkerung. Es stellt das bedeutsamste Antigen in der Schwangerschaft bzw. Neonatologie dar, da Anti-D-Antikörper die schwerste Form des Morbus haemolyticus neonatorum (Mhn) verursachen können. Bei Rh-negativen Mädchen und gebärfähigen Frauen muss deshalb alles getan werden, um eine Immunisierung gegen dieses Antigen zu vermeiden, z. B. durch eine rechtzeitige und sachgerechte Rh-Prophylaxe. Dies ist auch der Fall bei versehendlichen oder unvermeidbaren Transfusionen von Rh-positiven Erythrozyten. Zur Elimination der transfundierten Erythrozyten werden 300 µg Anti-D pro 15 ml Erythrozytenkonzentrat innerhalb von 72 h nach der Transfusion verabreicht (Mollison u. Engelfriet 1999). Seltener und milder können auch Anti-c-Antikörper einen Mhn verursachen. Alle
⊡ Tabelle 82.1. Klinisch relevante, erythrozytäre Blutgruppensysteme und Antikörper
Blutgruppensystem
Antigen
Alloantikörper
Klinische Relevanz
AB0 Rh (D, C/c, E/e)
Kohlenhydrate Proteine
IgM (IgG) IgG
Lewis (Lea, Leb) Kell (K/k) Duffy (Fya/Fyb) Kidd (Jka/Jkb) P I/i
Oligosaccharide Proteine Proteine Proteine Kohlenhydrate Kohlenhydrate
IgM (IgG) IgG IgG IgG IgM (IgG) IgM
HTR, selten Mhn (IgG) HTR, Mhn (Anti-D, selten Anti-c, sehr selten Anti-C, extrem selten Anti-E und Anti-e) sehr selten HTR HTR, sehr selten Mhn HTR, sehr selten Mhn HTR, sehr selten Mhn Sehr selten HTR und Mhn Kälteautoantikörper
MNSs
Proteine
IgM (IgG)
Sehr selten HTR, extrem selten Mhn (Anti-S und Anti-s)
Mhn Morbus haemolyticus neonatorum, HTR hämolytische Transfusionsreaktion.
82
1034
V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
anderen Antikörper kommen nur selten als Ursache eines Morbus haemolyticus neonatorum in Frage. Hier ist die Hämolyse meistens mild und die betroffenen Kinder brauchen nur in wenigen Ausnahmen eine Austauschtransfusion. Zu den klinisch relevanten Antikörpern zählen die Isoagglutinine Anti-A und Anti-B sowie die meisten Immunantikörper gegen Blutgruppenmerkmale, wie Anti-D, Anti-Kell und Anti-Duffy. Während die Isoagglutinine vorwiegend zur IgM-Klasse gehören, die Komplementkaskade vollständig aktivieren und dadurch intravasale Immunhämolysen verursachen, gehören Immunantikörper überwiegend zur IgG-Klasse, aktivieren in vitro nur selten Komplement und verursachen vorwiegend oder ausschließlich eine extravasale Immunhämolyse (Fc-vermittelte Immunphagozytose). Weitere Komplement-aktivierende Antikörper sind DonathLandsteiner-Autoantikörper, hochtitrige Kälteagglutinine und medikamentenabhängige Antikörper ( Kap. 11). 82.1.4 Untersuchungen vor einer Bluttransfusion Die Untersuchungen potenzieller Empfänger vor einer Bluttransfusion bestehen aus der Bestimmung der Blutgruppe und dem Antikörpersuchtest. Bei der Blutgruppenbestimmung werden die AB0- und Rh-Merkmale des Empfängers mit Hilfe von spezifischen Antiseren ermittelt. Durch die Serumgegenprobe werden die Isoagglutinine im Serum des Patienten zur Sicherung der Blutgruppe bestimmt. Die Spezifizierung der Antikörper erfolgt durch die Testung gegen verschiedene Antigen-positive und -negative Testerythrozyten. Die serologische Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) wird durchgeführt, wenn eine Transfusion von Erythrozytenkonzentraten erfahrungsgemäß notwendig wird. Das durch die Kreuzprobe ausgewählte Blut muss AB0-kompatibel sein und darf keine Antigene gegen klinisch relevante Alloantikörper des Patienten aufweisen. Durch diese Maßnahmen werden hämolytische Transfusionsreaktionen weitgehend ausgeschlossen.
Cave Um eine Alloimmunisierung gegen das D-Antigen zu vermeiden, sollten Rh-negative Patienten unbedingt mit Rh-negativen zellulären Blutkomponenten versorgt werden. Nur im Notfall darf einem Rh-negativen Patienten ohne Anti-D-Antikörper Rh-positives Blut übertragen werden (BÄK-Leitlinien 2003).
82.2
Blutkomponenten
82.2.1 Herstellung Die Gabe von Frisch- oder Vollblut ist heute obsolet. Sie wurde zur Reduzierung der Transfusionsrisiken, zur Optimierung des Transfusionserfolges und zur Verbesserung der Lagerungsfähigkeit durch eine Blutkomponententherapie ersetzt (Consensus Statement 1994). Die Gewinnung der Blutkomponenten ist über eine Vollblutspende oder durch eine maschinelle Apherese möglich (Bux 1996). Qualität und Zusammensetzung der resultierenden Blutpräparate sind in ⊡ Tabelle 82.2 zusammengefasst. Bei der Vollblutspende werden 450 oder 500 ml in ein geschlossenes Blutbeutelsystem entnommen, mit einem gebräuchlichen, Antikoagulanz-haltigen Stabilisator gemischt und innerhalb von 24 h durch Zentrifugation in zelluläre Bestandteile und Plasma aufgetrennt. Durch erneute Zentrifugation des »buffy-coats« (Leukozyten und Thrombozyten) werden die Thrombozyten angereichert und in einem Teil des autologen Plasmas oder einem Gemisch von Plasma und Additivlösung für Thrombozyten resuspendiert. Zur Herstellung einer therapeutischen Einheit werden 4–6 AB0-Blutgruppen-gleiche »buffy-coats« zu einem Pool-Thrombozytenkonzentrat zusammengeführt. Anschließend werden die Thrombozyten- und Erythrozytenkonzentrate in ge-
⊡ Tabelle 82.2. Qualitätskriterien verfügbarer Blutkomponenten
Komponente
Volumen (ml)
Inhalt
Lagerung
Klinische Wirksamkeit
EK
200–350
Erythrozyten (HK 50–70%) Leukozyten (<1×106) Plasma (<25 ml)
Bei 4±2°C, je nach Additivlösung bis zu 49 Tage
Adäquater Hämoglobin- und Hämatokritanstieg
AP-TK Pool-TK
200–300 200–350
Thrombozyten (>2×1011) Leukozyten (<1×106) Erythrozyten (<3×109) Plasma (200–300 ml)
Bei 22±2°C, bis zu 5 Tage
KI>10
GK
<500
Granulozyten (>1×109) Lymphozyten, Monozyten, Erythrozyten, Thrombozyten, Plasma
Bei 22±2°C, bis zu 24 h (besser 6 h)
Granulozytenanstieg >500×106/l, 4–8 h nach Transfusion
GFP
200–250
Plasmaproteine Gerinnungsfaktoren, Protein C und S, Antithrombin (je 1±0,4 E/ml)
–30 bis –40°C
Anstieg der Gerinnungsfaktoren bzw. Inaktivatoren
EK Erythrozytenkonzentrat (leukozytendepletiert), HK Hämatokrit, TK Thrombozytenkonzentrat (leukozytendepletiert), AP-TK Apherese-TK, KI korregiertes Inkrement, GK Granulozytenkonzentrat, GFP gefrorenes Frischplasma.
1035 82 · Transfusionsmedizin
schlossenen Systemen leukozytendepletiert (Inline-Filtration). Das Vollblut kann auch bereits vor der Zentrifugation filtriert und in ein Erythrozytenkonzentrat und eine Plasmaeinheit aufgetrennt werden. Apheresepräparate (Thrombozyten, Erythrozyten und Plasma) werden während der Blutgewinnung filtriert. Diese seit dem Jahr 2000 in Deutschland obligatorische Leukozytenfiltration von Erythrozyten- und Thrombozytenpräparaten verhindert weitgehend das Risiko der Immunisierung gegen Leukozytenantigene und die Übertragung zellständiger Viren (Eisenfeld 1991; Dzieczkowski et al. 1995; Bowden et al. 1995; PEI-Bekanntmachung 2000). Granulozytenkonzentrate sind gerichtete Spenden für besondere Indikationen und sollten nur im Rahmen von klinischen Studien verwendet werden, da letztlich der eindeutige Nutzen noch bewiesen werden muss und die erwähnten Risiken der Sensibilisierung und potenziellen Virusübertragung für den Patienten in Kauf genommen werden (Engelfriet et al. 2000). Granulozytenkonzentrate werden wie Thrombozytenkonzentrate mittels Apherese gewonnen. Zur Erzielung eines ausreichenden Granulozytengehalts wird der Spender mit Kortikoiden oder besser mit rekombinantem, humanen, Granulozytenkoloniestimulierenden Faktor (rhG-CSF) vorbehandelt. 82.2.2 Leukozytendepletierte
Erythrozytenkonzentrate ! Leukozytendepletierte Erythrozytenkonzentrate stellen das Standardpräparat für die Erythrozytentransfusion dar.
Für die Indikation lassen sich keine absoluten und allgemein gültigen, kritischen Hämoglobulin- oder Hämatokritgrenzwerte festlegen. Die unkritische Transfusion mit dem Ziel, den Hämoglobinwert zu normalisieren, ist zu vermeiden. Eine Transfusion ist nur angezeigt, wenn Patienten ohne Transfusion einen gesundheitlichen Schaden erleiden würden und eine andere, gleichwertige Therapie nicht möglich ist (Rossi 1994; Voak et al. 1994; Roseff et al. 2002; Strauss 2004). Bei akutem Blutverlust bei Kindern mit normalen Herz-Kreislauf-Funktionen kann, wie bei Erwachsenen, ein Abfall des Hämatokrits bis auf 20% (Hämoglobinwert 7,0–6,0 g/dl = 4,3–3,7 mmol/l) toleriert werden. Bei Kindern mit instabilem Kreislauf liegt der Grenzwert der Transfusionsbedürftigkeit bei einem Hämatokrit von 30%. Bei asympto-
matischen Kindern mit chronischer Anämie können Hämoglobinwerte bis zu 8–7 g/dl = 4,9–4,3 mmol/l (HK 20–21%) toleriert werden.
Indikationen zur Transfusion von Erythrozytenkonzentraten bei Kindern älter als 4 Monate:
Kinder mit präoperativer Anämie Blutverlust von ≥25% des Blutvolumens Symptomatische Anämie und HK von <24% Kinder mit Chemotherapie und/oder Radiotherapie und HK von <24% Kinder mit schweren kardialen oder pulmonalen Erkrankungen und HK <40% Symptomatische Kinder mit Sichelzellanämie oder anderen hereditären Anämien
Bei Früh- und Neugeborenen gilt die Gabe von Erythrozytenkonzentraten als Mittel der ersten Wahl bei Volumenmangel durch Blutverlust (Andrew u. Brooker 1995; Ringer et al. 1998; Niermeyer et al. 2000; Luban 2002). Ansonsten sind die Dauer und Schwere der Anämie, die Ursache, das biologische und Gestationsalter sowie der klinische Zustand bei der Indikation zur Erythrozytengabe zu berücksichtigen (⊡ Tabelle 82.3). Wegen der kleinen Volumina können die Transfusionen mittels Perfusor erfolgen, der mit dem Transfusions-Set zur eindeutigen Identifizierung verbunden bleiben sollte. Die Herstellung von Satellitenbeuteln eines Spenders (sog. »baby bags«) mit je 50–100 ml (Hume u. Bard 1995) wird empfohlen. Sie sollten ggf. für ein Baby reserviert werden. Gerade bei sehr unreifen Frühgeborenen führt die Trimenonreduktion zu einem häufigen Transfusionsbedarf. Die Gabe von rekombinantem Erythropoetin kann in Kombination mit Eisengaben den Transfusionsbedarf senken (Strauss 2001; Vamvakas u. Strauss 2001; Maier et al. 2002). Einige Zentren bevorzugen bei Neugeborenen Erythrozytenkonzentrate mit einem höheren Hämatokrit (70–90%). Die Konserven sollten möglichst frisch sein, um dem potenziell gefährdenden, steigenden Kaliumgehalt Rechnung zu tragen (Hall et al. 1993). Der Ersatz des noch hohen fetalen Hämoglobins des Kindes durch das transfundierte, adulte Hämoglobin führt zur Abnahme der O2-Bindungsfähigkeit und damit besseren Abgabe ans Gewebe.
⊡ Tabelle 82.3. Indikationen zur Transfusion von Erythrozytenkonzentraten (EK) bei Neugeborenen und Säuglingen bis zum 4. Lebensmonat
Alter (Tage)
Mittlerer HK-Normwert (%)
Transfusionsindikation: HK-Grenze und/oder Indikationsliste
1
56
<40
Beatmung, O2-Bedarf (FiO2) >40% oder
<15
50
<35
15–28
45
<30
Lebensbedrohliche Symptome durch Anämie und/oder Hypovolämie
>28
40
<25
Geplante Operation
82
1036
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Das übliche Transfusionsvolumen bei Früh- und Neugeborenen liegt bei 5–15 ml/kg Körpergewicht. Das Transfusionsvolumen lässt sich ansonsten wie folgt errechnen: (Ziel-HK – aktueller HK) Transfusions= 008 · Blutvolumen volumen (ml EK) Konserven-HK Blutvolumen: Neugeborene ≈90 ml/kgKG; sonstige Kinder ≈80 ml/kgKG
V
Eine besondere Situation stellen intrauterine Transfusionen und Austauschtransfusionen überwiegend beim Morbus haemolyticus neonatorum dar. Bei der intrauterinen Transfusion werden bestrahlte, leukozytendepletierte und CMVseronegative Erythrozytenkonzentrate gegeben, die nicht älter als 7 Tage sind und eine negative Kreuzprobe mit dem mütterlichen Serum aufweisen. Die Sonographie gesteuerte Applikation erfolgt entweder als intraperitoneale Transfusion oder besser als perkutane Punktion der Nabelschnur, der sog. Chordozentese, im Notfall auch durch Punktion des rechten Ventrikels als Kardiozentese (Ludomirski 1990). Bei der Austauschtransfusion wird je nach Schwere des Krankheitsbildes ein 2- bis 3-facher Austausch des kindlichen Blutvolumens (reifes Neugeborenes 80–100 ml/kg, Frühgeborenes 100–110 ml/kg) diskontinuierlich über eine zentrale Vene (z. B. Umbilikalvene) in Fraktionen von 5–20 ml, oder kontinuierlich über einen arteriell/venösen Doppelzugang vorgenommen. Beim Morbus haemolyticus neonatorum sind die maternalen Antikörper bei der Blutgruppe der Konserve zu berücksichtigen. Ansonsten entspricht die Konservenauswahl der oben genannten, intrauterinen Transfusion, wobei die Mischung von Erythrozytenkonzentraten und gefrorenen Frischplasmen ein individuelles Einstellen des gewünschten Hämatokrits erlaubt. Seltener ergibt sich eine Indikation zur Austauschtransfusion im Rahmen einer schweren Sepsis, Intoxikation oder metabolischen Erkrankung.
⊡ Tabelle 82.4. Auswahl der Spenderblutgruppe bei Transfusion von Erythrozytenkonzentraten
Patientenblutgruppe
Kompatible EK
A
A oder 0
B
B oder 0
AB
AB, A, B oder 0
0
0
lichkeiten auftreten, z. B. durch klinisch relevante Antikörper gegen IgA oder andere Plasmaproteine. Alternativ können die Produkte mit autologem Plasma kurz vor der Transfusion behandelt werden, um die Wirkung der ursächlichen Moleküle zu blockieren (Salama et al. 2004).
probe häufig durch freie Autoantikörper im Serum der betroffenen Patienten positiv. Dieser Befund darf jedoch kein Ausschlusskriterium für eine lebensnotwendige Transfusion sein. Vorausgesetzt, dass eine immunsuppressive Therapie bereits eingeleitet ist, können die betroffenen Patienten in der Regel ohne Probleme transfundiert werden (Salama et al. 1992). Während und nach der Transfusion ist für eine geeignete Überwachung des Patienten zu sorgen. Nach der Transfusion ist das Behältnis mit dem Restblut kontaminationssicher abzuklemmen und 24 h bei 4±2°C aufzubewahren. Die Transfusion erfolgt in der Regel über periphere Venen, möglichst über einen eigenen, venösen Zugang. Hierfür ist ein Transfusionsgerät mit Standardfilter (DIN 58360, Porengröße 170–230 µm) zu verwenden. So genannte Mikrofilter (Porengröße 10–40 µm) sollten nicht verwendet werden. Die Transfusionsgeschwindigkeit muss dem klinischen Zustand des Patienten angepasst werden. Bei Patienten mit Herz- und/ oder Niereninsuffizienz ohne Blutung ist das Transfusionsvolumen pro Zeiteinheit zu begrenzen, um eine Dekompensation zu vermeiden. Die Zugabe von Elektrolytlösungen ist bei Erythrozytenkonzentraten in Additivlösung nicht erforderlich. Eine Erwärmung der gekühlten Erythrozytenkonzentrate ist in der Regel nicht nötig. Ausnahmen sind Massivtransfusionen mit Zufuhr von mehr als 50 ml Erythrozytenkonzentrat pro Minute, bereits vor der Transfusion unterkühlte Patienten, Patienten mit einer Kälteagglutininkrankheit und hochtitrigen Kälteantikörpern, Patienten mit Vasospasmus auf den Kältereiz durch gekühltes Blut sowie Transfusionen und Austauschtransfusionen bei Früh- und Neugeborenen. Zur Bluterwärmung dürfen nur für diesen Zweck zugelassene Geräte eingesetzt werden (Iserson u. Huestis 1991). Die Entnahme von Blutproben aus verschlossenen Konserven ist nicht erlaubt. Eröffnete Konserven sind innerhalb von 6 h zu transfundieren.
Kryokonservierte leukozytendepletierte Erythrozytenkonzentrate. Sie sind indiziert bei Patienten mit komplexen
82.2.3 Leukozytendepletierte
Gewaschene leukozytendepletierte Erythrozytenkonzentrate. Sie sind bei Patienten indiziert, bei denen Unverträg-
Antikörpern gegen ubiquitäre Antigene und bei Fehlen kompatibler Erythrozytenkonzentrate, z. B. Vel- oder H-negativer Konserven (Valeri et al. 1989). Transfusions-Management. ⊡ Tabelle 82.4 fasst die Auswahl
der Spenderblutgruppe für die Gabe eines Erythrozytenkonzentrats zusammen. Bei Mädchen muss zudem das Rh-DMerkmal berücksichtigt werden. Rh-negative Mädchen dürfen grundsätzlich kein Rh-positives Blut bekommen. Weitere bei Mädchen zu berücksichtigende Merkmale sind die gesamte Rhesusformel und das Merkmal Kell. Bei Patienten mit autoimmunhämolytischer Anämie vom Wärmetyp ist die Kreuz-
Thrombozytenkonzentrate Die Indikation zur Transfusion von Thrombozytenkonzentraten richtet sich bei Thrombozytopenien und -pathien sowie Massentransfusionen nach der Blutungsneigung, dem Patientenalter, komplizierenden Faktoren wie z. B. Fieber oder Infektionen sowie der Grunderkrankung (Blanchette et al. 1995; Norfork et al. 1998; Friedberg u. Gaupp 1999; Callow et al. 2002; Roseff et al. 2002; Strauss 2004). Jede schwerwiegende Blutungsneigung durch eine Thrombozytopenie oder -pathie ist eine zwingende Indikation zur Thrombozytentransfusion.
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Indikationen zur Transfusion von Thrombozytenkonzentraten: Neugeborene und Säuglinge bis zum 4. Lebensmonat Thrombozyten <100×109/l und Blutung Thrombozyten <50×109/l und invasive Maßnahme Thrombozyten <20×109/l und stabiler klinischer Status Thrombozyten <100×109/l und instabiler klinischer Status Thrombozytenfunktionsstörung (unabhängig von Thrombozytenzahl) und Blutung oder invasive Maßnahme Sonstige Kinder und Adoleszenten Thrombozyten <50×109/l und Blutung Thrombozyten <50×109/l und invasive Maßnahme Thrombozyten <20×109/l und Knochenmarkinsuffizienz mit Blutungsneigung Thrombozyten <10×109/l und Knochenmarkinsuffizienz ohne Blutungsneigung Thrombozytenfunktionsstörung (unabhängig von Thrombozytenzahl) und Blutung oder invasive Maßnahme
Bei den seltenen angeborenen Thrombozytopathien (z. B. Thrombasthenia Glanzmann, Bernhard-Soulier-Syndrom) sind Thrombozytentransfusionen nur bei operativen Eingriffen oder bei schweren Blutungen indiziert, die ohne Thrombozytensubstitution nicht gestillt werden können. Da bei diesen Patienten spezifische Thrombozytenantigene fehlen, können sie durch Transfusionen immunisiert werden. Die Versorgung immunisierter Patienten ist extrem schwierig, da kaum kompatible Thrombozytenkonzentrate zur Verfügung stehen. Bei der Autoimmunthrombozytopenie sind Thrombozytentransfusionen nur bei lebensbedrohlichen Blutungen angezeigt. In diesem Fall müssen zur Blutstillung mehrere Thrombozytenkonzentrate transfundiert werden. Bei einer disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung ist die Gabe von Thrombozyten nur bei Blutungen angezeigt, die auf einem Thrombozytenmangel oder einer Thrombozytenfunktionsstörung beruhen. Die Überlebenszeit der transfundierten Thrombozyten beträgt ca. 5 Tage. Bei einer schweren Produktionsstörung sind somit mehrmalige Gaben pro Woche bis tägliche Gaben nötig. Die Dosis beträgt ca. 10–20 ml Thrombozytenkonzentrat (109 Thrombozyten) pro kg KG (Norol et al. 1998). Bei Kindern mit einem Körpergewicht unter 25 kg sollte eine Transfusion von AB0-inkompatiblen Thrombozytenkonzentraten vermieden werden. Das D-Merkmal muss bei Mädchen immer berücksichtigt werden. Ist die Gabe von Rhpositiven Thrombozyten bei Rh-D-negativen Mädchen nicht vermeidbar, wird in diesem Fall eine Anti-D-Prophylaxe dringend empfohlen (Lozano u. Cid 2003). Bei Nachweis von klinisch relevanten HLA- oder plättchenspezifischen Antikörpern müssen Antigen-kompatible (»gematchte«) Thrombozyten-Apheresekonzentrate transfundiert werden. Die Zufuhr erfolgt in der Regel über periphere Venen mittels Standardfilter (DIN 58360; Porengröße 170–230 µm). Nach der Transfusion ist das Behältnis mit den restlichen Thrombozyten und dem Transfusionsbesteck steril abzuklemmen
und 24 h bei 4±2°C aufzubewahren. Zur Beurteilung der Wirksamkeit der Thrombozytensubstitution wird das korrigierte Inkrement, wie folgt, berechnet: Inkrement (/nl) · Körperoberfläche (m2) Korrigiertes 009002 = Inkrement Anzahl transfundierter Thrombozyten (· 1011) Das korrigierte Inkrement wird 1 h und/oder 24 h nach der Transfusion gemessen und sollte über 10 liegen (Bishop et al. 1992). Unter einem refraktärem Zustand wird verstanden, dass wiederholte Transfusionen zu keinem adäquaten Erfolg führen (Inkrement unter 5). Hier werden immunologische und nicht-immunologische Ursachen unterschieden (Ishida et al. 1998). Die immunologischen Ursachen sind meistens durch HLA- und selten AB0- oder thrombozytäre Antikörper bedingt. Zu den nicht-immunologischen Ursachen zählen Fieber, Sepsis, antibiotische Therapie, Verbrauchskoagulopathie und Splenomegalie. 82.2.4 Granulozytenkonzentrate Der Nutzen von Granulozytenkonzentraten wurde lange Zeit wegen der geringen Zellzahl der gesammelten Granulozyten und der potenziellen Nebenwirkungen in Frage gestellt. Seit der Mobilisierung mit rekombinantem G-CSF (5–10 µg, 10–12 h vor Apherese s.c.) gelingt es nunmehr genügend Granulozyten zu isolieren. Die auf diesem Weg gewonnenen Granulozyten lösen offensichtlich keine schwerwiegenden Nebenwirkungen mehr bei den Empfängern aus und zeigen in Einzelbeschreibungen einen günstigen therapeutischen Effekt (Cairo 1990; Vamvakas u. Pineda 1996; Peters et al 1999; Engelfriet et al. 2000; Price et al. 2000; Price 2002; Roseff et al. 2002; Strauss 2004). ! Granulozytentransfusionen sollten nur bei Patienten erfolgen, die eine Granulozytopenie von unter 500 Granulozyten/µl oder eine schwere Granulozytenfunktionsstörung und gleichzeitig eine bestehende oder drohende lebensbedrohliche Infektion durch Bakterien oder Pilze aufweisen.
Um einen ausreichenden Effekt zu erzielen, sollten mindestens 1,5×108 Granulozyten/kg KG transfundiert werden. Da die Überlebenszeit der transfundierten Granulozyten bei 5–9 h liegt und bei entzündlichen Prozessen verkürzt ist, sollten die Gaben mindestens einmal täglich erfolgen. Aufgrund der stets vorhandenen Kontamination mit Spendererythrozyten ist neben der leukozytären Verträglichkeitsprobe (Lymphozyten-Crossmatch) eine erythrozytäre Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) erforderlich. Darüber hinaus sollten CMV-seronegative Patienten möglichst CMVseronegative Produkte erhalten. Die früher gefürchteten Lungenkomplikationen, v. a. in Kombination mit Amphotericin B, werden heute mit mobilisierten Granulozyten nicht mehr beobachtet. Dennoch sollte zwischen Granulozytentransfusion und Amphotericin-BApplikation ein Mindestabstand von 4–6 h eingehalten werden. Die Gabe von Granulozytenkonserven erfolgt wiederum mit einem Transfusions-Set und einem Standardfilter mit der Porengröße von 170–230 µm.
82
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
82.2.5 Gefrorenes Frischplasma Die Indikationen zum Einsatz von gefrorenem Frischplasma (GFP; Synonym: »fresh frozen plasma«, FFP) sind beschränkt (Barz et al. 2002; Roseff et al. 2002; Strauss 2004). Die Dosierung richtet sich nach dem klinischen Bild. Die Ergebnisse gerinnungsphysiologischer Untersuchungen können zusätzlich für die Berechnung der Substitutionsmenge herangezogen werden. Als Faustregel gilt, dass 1 ml/kg KG den Faktoren- und Inaktivatorengehalt bei den betroffenen Patienten um etwa 1–2% anhebt. Im Notfall werden initial 15–20 ml/ kg KG transfundiert und in Abhängigkeit vom klinischen Verlauf mehrfach wiederholt.
V Indikationen zur Transfusion von gefrorenem Frischplasma: Notfallbehandlung und klinisch manifeste Blutungsneigung Lebertransplantation Verbrauchskoagulopathie in Ergänzung zu Antithrombin Massivtransfusionen und Verdünnungskoagulopathie Schwerer Gerinnungsfaktormangel und Blutung Schwerer Gerinnungsfaktormangel und invasiver Eingriff AT-III-, Protein-C- und -S-Substitution Plasmaaustausch bei thrombotisch thrombozytopenischer Purpura Guillain-Barré-Syndrom Austauschtransfusion
Transfusion vor/bei autologer Stammzell-/Knochenmarkentnahme Transfusion bei schweren primären und sekundären Immundefektsyndromen Intrauterine Transfusion Austauschtransfusion Transfusion bei Radio-Chemotherapien von Leukämien, malignen Lymphomen und soliden Tumoren Transfusion bei Morbus Hodgkin Transfusion bei Frühgeborenen (weniger als 37 Schwangerschaftswochen) Transfusion von Neugeborenen mit Verdacht auf Immundefektsyndrom Gerichtete Blutspenden von Blutsverwandten Granulozytentransfusionen
82.3.2 Notfalltransfusionen Bei vitaler Indikation können ungekreuzte Erythrozyten der Blutgruppe 0 (ggf. Rhesus-negativ) bzw. Frischplasmen der Blutgruppe AB gegeben werden. Die Kreuzprobe erfolgt dann parallel zur Gabe (Cave: Verwechslungen in der Notfallsituation). Ein AB0-Identitätstest am Krankenbett ist in jedem Fall angezeigt. Bei Massentransfusionen oder Neugeborenen sind die Konserven warm über ein zugelassenes Wärmegerät (maximal 37°C) zu transfundieren (Kretschmer et al. 1997; Jones u. Engelfriet 1999). 82.3.3 Autologe Blutprodukte
82.3
Spezielle Transfusionssituationen
82.3.1 Bestrahlung von Blutprodukten Bei allen primär oder sekundär immunkompromittierten Patienten müssen Blutprodukte, die potenziell vermehrungsfähige Lymphozyten enthalten, mit wenigstens 30 Gy bestrahlt werden. Dies dient der Vermeidung einer letalen »Graft-versus-host«-Reaktion (GVHD). Bestrahlte Blutprodukte sind für die betroffenen Patienten gesondert anzufordern und möglichst bald zu transfundieren, da die Bestrahlung den Lagerungsschaden verstärkt. Weitere Indikationen zur Bestrahlung bestehen bei allen intrauterinen und Austauschtransfusionen, bei allen Früh- und Neugeborenen, bei denen ein primärer Immundefekt noch nicht sicher auszuschließen ist, bei allen gerichteten Transfusionen von Blutsverwandten (Cave: HLA-Kompatibilität) und praktisch bei allen Granulozytengaben (Ohto u. Anderson 1996; Moroff et al. 1999; Gelly 2000).
In Deutschland besteht die gesetzliche Verpflichtung, auf die Möglichkeit der Eigenblutspende hinzuweisen, wenn bei einem geplanten Eingriff ein signifikanter Blutverlust und somit eine ernsthafte Transfusionswahrscheinlichkeit erwartet werden können sowie keine Kontraindikation besteht (Brecher u. Goodnough 2001; Billote et al. 2002). Bei Kindern besteht prinzipiell die gleiche Verpflichtung, wiewohl am Ende die altersentsprechende Machbarkeit entscheidet. Die Regeneration der Erythropoese ist oft nicht ausreichend, um bei den infrage kommenden Operationen (meistens orthopädische Eingriffe) ausreichend viele Eigenblutkonserven in adäquater Zeit zu sammeln. Mit Hilfe des rekombinanten Erythropoetins kann die Regeneration nach Eigenblutspende, aber auch postoperativ beschleunigt und eine Fremdblutgabe verhindert werden (Sowade et al. 1997). Adaptationen an pädiatrische Belange sind beschrieben, inklusive der Nutzung von kindlichem, plazentarem Eigenblut bei Früh- und Neugeborenen (Brune et al. 1995). Das gleiche gilt für alternative Verfahren wie Hämodilution und intraoperative Blutrückgewinnung (Ahnefeld 1992).
Indikationen zur Bestrahlung von Blutprodukten: Transfusion bei Stammzell-/Knochenmarktransplantationen
82.3.4 Gerichtete Blutprodukte
▼
Bei Kindern wird nicht selten der Wunsch geäußert, Familienangehörige als Blutspender heranzuziehen. In Ländern mit
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guter Blutbankversorgung wird dies nicht unbedingt als vorteilhaft angesehen, da Verhaltensweisen mit kritischem Infektionsrisiko unter familiärem Druck verschwiegen werden, das Risiko einer Transfusions-GVHD durch vererbte HLA-Kompatibilitäten erhöht ist und intrafamiliäre Sensibilisierungen spätere Verwandtentransplantate behindern können. In jedem Fall muss eine gerichtete Blutkonserve aus besagten Gründen bestrahlt werden. 82.4
Dokumentation
Transport, Übergabe und Lagerung von Blutkonserven, die Transfusion selbst und schließlich die anwendungsbezogenen Wirkungen und Nebenwirkungen der Blutprodukte sind lückenlos zu dokumentieren. Das gleiche gilt für nicht-verwendete Blutprodukte und deren ordnungsgemäße Entsorgung. Die Einrichtung der Krankenversorgung hat sicherzustellen, dass die Daten der Dokumentation patienten- und produktbezogen genutzt werden können (§14 Abs. 2 TFG). Die Aufzeichnungen sind mindestens 30 Jahre aufzubewahren (§14 Abs. 3 TFG). Die Dokumentation bei jeder Transfusion von Blutprodukten in den Patientenakten umfasst: ▬ die Aufklärung des Patienten über die Transfusion, ▬ die in der Regel schriftliche Einwilligungserklärung des Patienten, ▬ das Ergebnis der Blutgruppenbestimmung und des Antikörpersuchtests, ▬ das Anforderungsformular, ▬ bei zellulären Blutprodukten die Produktbezeichnung/ Präparatenummer, den Hersteller (pharmazeutischen Unternehmer), die Blutgruppen-Zugehörigkeit und bei Erythrozyten- und Granulozytenpräparaten das Ergebnis der serologischen Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) sowie das Ergebnis des AB0-Identitätstests am Krankenbett, ▬ die anwendungsbezogenen Wirkungen durch geeignete Parameter (Hämoglobin- oder Hämatokritanstieg etc.), ▬ bei Plasma (z. B. GFP) die notwendigen Angaben über Blutgruppenzugehörigkeit, den Hersteller, die Produktbezeichnung/Präparatenummer, die Packungsgröße und Anzahl der verwendeten Packungen, ▬ bei Plasmaderivaten und gentechnisch hergestellten Plasmaproteinen zur Behandlung von Hämostasestörungen die notwendigen Angaben über Hersteller, Produktbezeichnung, Chargennummer, Packungsgröße und Anzahl der verwendeten Packungen, ▬ Datum und Uhrzeit der Verabreichung der Blutprodukte, ▬ unerwünschte Wirkungen mit Datum und Uhrzeit sowie die Meldung solcher Nebenwirkungen nach den geltenden Vorschriften.
Angst, Tachykardie, Fieber, Schüttelfrost, Hämoglobinämie, Hämoglobinurie, Brust- und/oder Flankenschmerzen, Blutungen und Schock manifestieren. Die klinische Überwachung der Patienten während und nach der Transfusion ist notwendig, um diese Reaktionen sofort zu erkennen. Bei Verdacht auf eine akute Hämolyse muss die Transfusion sofort abgebrochen, der venöse Zugang jedoch belassen werden. Eine korrekt gekennzeichnete, nach der Transfusion entnommene Blutprobe und das gesamte noch nicht transfundierte Blut müssen der Blutbank zur Abklärung zugeschickt werden. Zum Nachweis einer Hämolyse werden Haptoglobin, Laktat-Dehydrogenase (LDH), Bilirubin, freies Hämoglobin und die Retikulozyten im Empfängerblut bestimmt. Intravasale Immunhämolysen durch Komplementaktivierung können renale Funktionsstörungen, Nierenversagen und Schock verursachen. Die Diurese sollte durch Diuretikagabe und intravenöse Flüssigkeitszufuhr gesteigert werden. Bei Patienten mit massiven, hämolytischen Reaktionen sollten Gerinnungsparameter wie Prothrombinzeit (PT), aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT), Fibrinogen und Thrombozytenzahl kontrolliert werden, da eine disseminierte, intravasale Gerinnung auftreten kann. Für die Mehrzahl der genannten Reaktionen sind Verwechslungen verantwortlich, die am Krankenbett vorkommen. In diesem Zusammenhang werden die folgenden Nachuntersuchungen durchgeführt: Bestimmung der Hämolyseparameter, Wiederholung der Blutgruppe und der serologischen Verträglichkeitsprobe, den direkten Antiglobulintest (Coombs-Test) und die Prüfung der Dokumentation. Der direkte Coombs-Test dient dabei dem Nachweis von in vivo an Erythrozyten gebundenen Antikörpern und/oder Komplement. Verzögerte hämolytische und serologische Transfusionsreaktionen. Verzögerte hämolytische Transfusionsreaktio-
nen sind nicht immer vermeidbar. Diese Reaktionen treten bei Patienten auf, die bereits gegen Erythrozytenantigene sensibilisiert sind, aber wegen sehr niedriger Antikörperkonzentrationen keine auffällige serologische Verträglichkeitsprobe zeigen. Die Antikörper werden nach der Transfusion nachweisbar und die mit Antikörpern beladenen Zellen können von Makrophagen phagozytiert bzw. hämolysiert werden (Linden et al. 1997).
Akute hämolytische Transfusionsreaktionen. Die Mehrzahl
Febrile, nicht hämolytische Transfusionsreaktionen. Die häufigste mit der Transfusion zellulärer Blutkomponenten assoziierte Reaktion ist eine febrile, nicht hämolytische Transfusionsreaktion (FNHTR). Diese Reaktion ist durch Schüttelfrost und einen Anstieg der Körpertemperatur um mehr als 1°C gekennzeichnet. Die FNHTR ist primär eine Ausschlussdiagnose. Die Reaktionen können durch Antikörper gegen Spenderleukozyten und HLA-Antigene vermittelt werden (Heddle 1999). Durch den Einsatz leukozytendepletierter Blutkomponenten ist diese Nebenwirkung selten geworden. Zytokine in gelagerten, zellulären Blutprodukten können ebenfalls eine FNHTR verursachen.
dieser Reaktionen werden durch AB0-Isoagglutinine verursacht (Fehltransfusionen) und seltener durch Immunantikörper (Linden et al. 1997; Rouger et al. 2000). Akute hämolytische Transfusionsreaktionen können sich mit Blutdruckabfall, Übelkeit, Dyspnoe, Erbrechen, Hautrötung, Unruhe,
Allergische Reaktionen. Die Entwicklung einer Urtikaria wird durch Plasmaproteine mit allergischer Wirkung hervorgerufen (Dzieczkowski et al. 1995; Klüter et al. 1999). Milde Reaktionen können durch eine kurze Unterbrechung der
82.5
Nebenwirkungen
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V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Transfusion und die Gabe von Antihistaminika symptomatisch behandelt werden. Die Transfusion kann nach dem Verschwinden der Symptome fortgeführt werden. Andererseits kann eine schwerwiegende anaphylaktische Reaktion bereits nach Transfusion weniger Milliliter einer Blutkomponente auftreten. Zu den Symptomen gehören Atemnot, Hypotonie, Bronchospasmus, Arrhythmie, Urtikaria, Pruritus, Kribbeln, Übelkeit, Erbrechen, Darmkrämpfe und bei weiblichen Patienten Uteruskrämpfe sowie ödematöse Schwellungen der Schleimhäute im Gesichtsbereich. Die Transfusion muss sofort beendet werden unter Beibehaltung des venösen Zuganges. Zu den Therapiemaßnahmen gehört die intravenöse Flüssigkeitszufuhr (physiologische Kochsalzlösung, Plasmaexpander) und ggf. Epinephrin (1:10.000-Verdünnung). In schweren Fällen können Glukokortikoide notwendig werden. »Graft-versus-host«-Krankheit. Die GVHD ist eine extrem
seltene, dann in der Regel aber letale Komplikation einer allogenen Bluttransfusion (Ohto u. Anderson 1996; Moroff et al. 1999; Gelly 2000). Der klinische Phänotyp ist im Kap. 4.9.2 beschrieben. Eine GVHD kann durch die Bestrahlung von zellulären Blutkomponenten vor der Transfusion vermieden werden. Gefährdet sind die in Abschn. 82.3.1 aufgeführten Risikogruppen. Transfusions-assoziierte akute Lungeninsuffizienz. Die akute transfusions-assoziierte Lungeninsuffizienz (TRALI) wird meistens durch leukozytäre Antikörper im Spender- und nur selten im Empfängerplasma verursacht (Kopko u. Holland 1999). Die aktivierten Leukozyten treten in die Mikrozirkulation der Lunge aus und führen zur Ödembildung. Während oder unmittelbar nach der Transfusion entwickeln die betroffenen Patienten eine zunehmende Dyspnoe und müssen nicht selten beatmet werden. Posttransfusionelle Purpura. Diese Reaktion manifestiert sich als Thrombozytopenie, die 7–10 Tage nach einer Erythrozyten- oder Thrombozytentransfusion auftritt und vorwiegend weibliche Patienten betrifft. Es lassen sich thrombozytenspezifische Antikörper im Serum des Empfängers nachweisen. Der am häufigsten nachgewiesene Antikörper ist Anti-HPA-1A (PLA1), der sich auf dem Glykoprotein-IIIARezeptor der Thrombozyten befindet. Die verzögerte Thrombozytopenie ist auf die Bildung von Antikörpern zurückzuführen, die in der akuten Phase sowohl mit den Thrombozyten des Spenders als auch des Empfängers reagieren (Christie et al. 1991). Zusätzliche Thrombozytentransfusionen können die Thrombozytopenie verstärken und sollten somit vermieden werden. Die hochdosierte Gabe von Immunglobulinen gilt als Therapie der ersten Wahl und ist sehr wirksam. Die Plasmapherese gilt inzwischen als Therapie der zweiten Wahl. Nicht-immunologische Reaktionen. Hierzu gehören die
Volumenüberlastung, insbesondere bei herz- und nierenkranken Patienten, die Hypothermie bei Massivtransfusionen, die Hyperkaliämie, v. a. bei Früh- und Neugeborenen (Hall et al. 1993), die Citrat-Intoxikation bzw. Hypokalzämie z. B. bei rascher Transfusion von gefrorenem Frischplasma und selten eine vorübergehende Hypotension. Die Gabe gro-
ßer Mengen von Erythrozytenkonzentraten (1 Konzentrat enthält 200–250 mg Eisen) führt zudem zur Eisenüberladung und als Spätkomplikation zur Hämosiderose. Immunmodulation. Die Transfusion allogener, zellulärer Blutkomponenten kann vermutlich eine Immunsuppression bewirken (Vamvakas 1996). Obwohl die Datenlage nicht eindeutig ist, scheint die Leukodepletion ihre Auswirkungen zu reduzieren. Infektionsrisiken. Das Risiko einer kritischen Virusübertragung ist insgesamt äußerst gering und wird zur Zeit in Deutschland für HIV 1/2 mit <1:1.100.000 bzw. nach Einführung der Nukleinsäure-Amplifikationstechnik (NAT) mit <1:11.000.000, für HCV mit <1:330.000 bzw. nach NAT-Einführung mit <1:13.000.000 und für HBV mit 1:320.000 bzw. nach NAT-Einführung mit 1:500.000 angegeben (Debeir et al. 1999; Dodd et al. 2002; Stramer 2002; Biscoping u. Bein 2003; Orton et al. 2004). Durch die Leukozytendepletion werden ubiquitäre, zellständige Viren (z. B. CMV, EBV, HHV-8, HTLV I/II) weitgehend eliminiert. Nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand ist die Leukozytendepletion zur Prävention der Transfusions-assoziierten CMVInfektion der Testung bzw. Auswahl von CMV-seronegativen Blutspendern gleichwertig (Eisenfeld et al. 1991; Bowden et al. 1995; Nichols et al. 2003). Die Übertragung von Hepatitis-G-Viren ist meistens nicht mit nachweisbaren Nebenwirkungen verbunden. Das Parvovirus B19 kann durch Blutkomponenten, wahrscheinlich jedoch nicht durch virusinaktivierte Plasmaderivate, übertragen werden und dann durchaus Krankheitssymptome machen (Hino et al. 2000). Das Übertragungsrisiko weiterer Viren (z. B. des West-NileVirus) hängt sehr von der jeweiligen regionalen Epidemiologie ab (Schreiber et al. 1996; Glynn et al. 2000; Pealer et al. 2003). Bei den vorgeschriebenen Lagerungstemperaturen von gefrorenem Frischplasma und Erythrozytenkonzentraten sterben die meisten Bakterien ab oder vermehren sich kaum. Daher ist die Übertragung bakterieller Infektionen durch diese Blutkomponenten extrem selten. Einige gramnegative Bakterien, besonders Yersinien und Pseudomonas-Spezies, können jedoch bei 1–6°C wachsen. Nach der Gabe von Thrombozytenkonzentraten, die bei Zimmertemperatur gelagert werden, ist das Übertragungsrisiko von Bakterien eher gegeben (Dodd 2003). Bei Verdacht einer bakteriellen Kontamination müssen Kulturen aus dem restlichen Blutprodukt und vom Patienten angelegt werden. Anschließend ist umgehend mit einer entsprechenden Antibiotika-, notfalls Schocktherapie zu beginnen. Schließlich konnten auch Übertragungen durch Treponema pallidum, Borrelien, Plasmodien und Trypanosomen dokumentiert werden (Dodd 2000). Auch für Prionen besteht wenigstens ein theoretisches Risiko, obwohl bisher kein Fall einer Übertragung der neuen Variante der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung durch Blutprodukte nachgewiesen ist (Brown et al. 1998; Houston et al. 2000).
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Trotz aller Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Risikominimierung handelt es sich bei Blutprodukten um biologische Therapeutika, die Restrisiken tragen. Weitere technische Verbesserungen und Kontrollen sind denkbar, erhöhen aber auch Aufwand und Kosten. Deshalb gibt es seit Jahren den Versuch, Blutersatzstoffe zu entwickeln. Zum ausschließlichen Volumenersatz und zur Aufrechterhaltung des kolloid-osmotischen Drucks dienen erfolgreich elektrolythaltige und kolloidale Lösungen bzw. Plasmaersatzmittel (Gross et al. 1990). Die Entwicklung von artifiziellen Sauerstoffträgern, wie modifizierten Hämoglobinlösungen oder Perfluorkarbon-Emulsionen, macht hingegen weiterhin große Probleme, so dass ein Routineeinsatz beim Menschen nach wie vor nicht abzusehen ist (Biro 1993; Leese et al. 2000).
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
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1043
Ernährung S. Buderus, M.J. Lentze
83.1 83.2
Einleitung – 1043 Risikofaktoren der Mangelernährung – 1043
83.2.1 83.2.2 83.2.3
Tumor – 1043 Folgen der Tumortherapie – 1044 Patient – 1045
83.3
Beurteilung des Ernährungszustandes – 1045
83.3.1 83.3.2 83.3.3
Anthropometrie – 1046 Biochemische Parameter – 1046 Körperzusammensetzung – 1046
83.4
Formen der Ernährungstherapie – 1047
83.4.1 83.4.2 83.4.3 83.4.4 83.4.5
»Einfache« perorale Ernährungstherapie Ernährungssonden – 1048 Transpylorische Ernährung – 1049 Parenterale Ernährung – 1050 Substitution von Mikronährstoffen (Zink, Selen, Glutamin) – 1050
Literatur
– 1047
– 1051
Der 13-jährige Andreas erkrankte an einem Ewing-Tumor im Becken. Während einer intensiven präoperativen Polychemotherapie kam es zu einer Gewichtsabnahme von 8% sowie zum Auftreten depressiver Symptome. Unter einer gemeinsam mit einer Ernährungstherapeutin durchgeführten Sondenernährung und der Gabe von Antidepressiva konnten die intensive prä- und postoperative Chemotherapie sowie die Lokaltherapie, die aus einer inneren Hemipelvektomie und einer Radiotherapie bestand, nahezu zeitgerecht durchgeführt werden. Im Anschluss an die onkologische Therapie wurde Andreas wegen seiner anorektischen Reaktion 6 Wochen lang in einer psychosomatischen Klinik betreut. 10 Jahre nach Diagnosestellung befindet sich der Patient in anhaltender Erstremission seines Ewing-Tumors. Anorektische oder depressive Symptome sind bislang nicht wieder aufgetreten.
83.1
Einleitung
Eine Grundlage der normalen körperlichen Entwicklung ist eine altersentsprechend ausgewogene Ernährung. Das Essen und Genießen schmackhafter Kost ist in allen Altersstufen ein wesentlicher Bestandteil der Lebensqualität. Bei Kindern und Jugendlichen mit einer hämatologisch-onkologischen Grunderkrankung können hinsichtlich ihrer Ernährungsund Esssituation bereits vor der Diagnosestellung, während der intensiven, in der Regel multimodalen Therapie, aber auch nach Beendigung der Therapie Probleme bzw. Besonderhei-
ten auftreten. Diese können einerseits direkt tumor- bzw. therapiebedingt sein, andererseits auf den physischen und psychischen Reaktion der betroffenen Patienten beruhen. Nutritive Mangelzustände, die in ihrer Ausprägung von der Schwere der Erkrankung abhängen, werden mit einer Häufigkeit von 8–40% der Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose angegeben (Tyc et al. 1995; Smith et al. 1991; Mauer et al. 1990); ein besonderes Risiko tragen Patienten mit metastatischer Erkrankung. Mögliche Folgen der Malnutrition können eine verzögerte Durchführbarkeit der Therapie, eine erhöhte Therapietoxizität sowie eine gestörte Immunität mit der Folge einer größeren Inzidenz und Schweregrad von Infektionen sein (Mauer et al. 1990; den Broeder 2000a). Es konnte gezeigt werden, dass sowohl das Vorhandensein von Malnutrition als auch die Folgen und Komplikationen der Malnutrition die Prognose der onkologischen Erkrankung verschlechtern (Mauer et al. 1990; Andrassy u. Chwals 1998). Dass aber in der Langzeitbetreuung nicht nur Malnutrition von Bedeutung ist, belegt eine Studie (Didi et al. 1995) an erfolgreich behandelten ALL-Patienten, die im Erwachsenenalter zu etwa 50% adipös waren. Der Beurteilung der Ernährungssituation pädiatrisch-onkologischer Patienten sollte daher vom Zeitpunkt der Diagnose bis in die Nachsorgephase hinein die entsprechende Bedeutung zugemessen werden. ! Die Optimierung der Ernährung ist ein wesentlicher und kontinuierlicher Bestandteil des Therapieregimes und trägt zum Erfolg der Therapie und zur Lebensqualität der Patienten bei.
83.2
Risikofaktoren der Mangelernährung
Die spezielle Risikosituation hinsichtlich einer möglichen Malnutrition der pädiatrisch-onkologischen Patienten lässt sich prinzipiell auf 3 Bereiche und deren Wechselwirkungen zurückführen (⊡ Abb. 83.1): ▬ die Tumorerkrankung selbst, ▬ die Folgen der Antitumortherapie sowie ▬ metabolischer Bedarf bzw. Mehrbedarf des Patienten und psychophysische Reaktionen auf Erkrankung und Therapie. 83.2.1 Tumor Nutritives Risiko. Allein die Deckung des Substratbedarfes
und -verbrauchs des Tumorgewebes stellen eine große Anforderung an den Stoffwechsel des Patienten dar. In diesem Hinblick stellen schnellwachsende Tumoren bzw. metastasierte Erkrankungen ein erhöhtes Risiko dar (Andrassy u.
83
1044
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Abb. 83.1. Einfluss der Tumorerkrankung, der Therapie und der Patientenfaktoren auf den Ernährungsstatus
V
Chwals et al. 1998; Bechard 2000). Eine mögliche Klassifizierung ist in der ⊡ Tabelle 83.1 dargestellt. Diese Risikoeinteilung beruht jedoch nicht allein auf erkrankungsspezifischen Eigenschaften, sondern beinhaltet auch die für den Ernährungszustand negativen Folgen der Therapie. Diese speziellen Therapienebenwirkungen können, veranschaulicht an einem Patienten, der im Verlauf der Behandlung der Grunderkrankung schließlich eine Knochenmarktransplantation erhält, die »prätherapeutische« Mangelernährung in ihrer Bedeutung übersteigen. Zytokine. Ein weiterer Schlüsselfaktor für tumorbedingte
metabolische Veränderungen scheinen Zytokine, wie insbesondere IL-1, IL-6, IFN-γ und TNF-α zu sein (Argiles et al. 2003; Laviano et al. 2003). Direkte Effekte können eine vermehrte Lipolyse, ein erhöhter Proteinstoffwechsel mit der Konsequenz eines gesteigerten Proteinabbaus sowie eine hepatische Konversion von Aminosäuren aus dem Abbau des Muskelproteins zu Glukose sein. Die aus diesem Katabolismus metabolisierte Glukose ist Hauptsubstrat des Tumorwachstums, sowohl unter aeroben als auch unter anaeroben Bedingungen. Ein weiterer vermuteter Wirkmechanismus der Zytokine liegt in einer zentralen Steigerung der hypothalamischen serotoninergen Neurotransmission,
⊡ Tabelle 83.1. Malnutritionsrisiko verschiedener Tumoren (nach Bechard 2000; Andrassy 1998)
Niedriges Risiko
Hohes Risiko
»Low-risk«-ALL Nicht-metastasierte solide Tumoren Erkrankung in Remission/ Dauertherapie
»High-risk«-ALL AML Leukämierezidiv-Erkrankungen Wilms-Tumor, Stadium III–IV Neuroblastom, Stadium III–IV Ewing-Sarkom Rhabdomyosarkom Medulloblastom Tumoren im Kopf-Hals-Bereich
die wiederum zur Anorexie, also zur verminderten Nahrungsaufnahme, führt. Dienzephales Syndrom. Eine spezielle Form der Ernährungs-
problematik stellt das so genannte dienzephale Syndrom dar (Ertem et al. 2000): Es tritt typischerweise bei Kleinkindern oder auch Säuglingen mit Tumoren im Bereich des Hypothalamus bzw. des Chiasma opticus auf. Meist handelt es sich um niedrig-maligne Gliome. Die Patienten zeigen oft keine oder eine nur sehr diskrete neurologische Symptomatik (z. B. Nystagmus), sind meist lebhaft und motorisch sehr aktiv. Trotz einer scheinbar adäquaten Energieaufnahme können die Patienten aber eine Gedeihstörung entwickeln, die zur Einleitung der wegweisenden Diagnostik führt. Der Pathomechanismus, der zu dieser speziellen Problematik führt, ist noch nicht geklärt. Diskutiert werden eine Läsion des hypothalamischen Zentrums, das Appetit und Sättigung steuert, ein erhöhter Energiebedarf oder eine vermehrte Lipolyse durch erhöhte GH-Spiegel. 83.2.2 Folgen der Tumortherapie Die aktuellen multimodalen Therapieprotokolle beinhalten typischerweise mehrere Chemotherapeutika mit Nebenwirkungen auf den Gastrointestinaltrakt: Übelkeit und Erbrechen sind typische Komplikationen vieler Substanzen (Bechard 2000). Eine zum Teil schwere und schmerzhafte Mukositis kann z. B. durch Bleomycin, Busulfan, Cytarabin, Dactinomycin, Daunomycin, Doxorubicin, Etoposid, 5-FU, Idarubicin, Melphalan und MTX verursacht werden. Am schwersten betroffen sind Patienten mit Hochdosischemotherapie sowie nach autologer Stammzell- oder Knochenmarktransplantation (Pedron et al. 2000). Während eine schmerzhafte Stomatitis eine direkte Behinderung der oralen Nahrungsaufnahme bedeutet, können weitere relevante nutritive Verluste sowohl durch Erbrechen als auch durch Diarrhöen entstehen. Je nach Ausmaß und Lokalisation der Mukositis kann insbesondere die Schädigung der Dünndarmmukosa zu
1045 83 · Ernährung
einer Malabsorption führen. Durch die intestinale Mukosaschädigung steigt auch das Risiko einer bakteriellen Translokation bzw. Sepsis (Souba 1997; Papadopoulou 1998; den Broeder 2000a). Der Einsatz von Vincaalkaloiden kann intestinale Motilitätsstörungen verursachen, die bis zu einem Subileus bzw. Ileus führen können. Sowohl Erbrechen, Dysphagie als auch Mukositis können im Falle der Notwendigkeit einer Strahlentherapie abhängig vom Bestrahlungsfeld verstärkt werden. ! Nach chirurgischen Eingriffen ist es sinnvoll, zumindest eine minimale enterale Ernährung möglichst frühzeitig wieder aufzunehmen. Enterale Ernährung trägt zur Erhaltung der Integrität der Darmmukosa bei und kann daher ein Faktor zur Vermeidung postoperativer Komplikationen sein (Souba 1997).
Je nach Lokalisation und Ausmaß der Operation kann eine Kombination aus enteraler und parenteraler Ernährung in der postoperativen Phase zur Ernährung notwendig sein. Kommt es im Verlauf nach größeren darmchirurgischen Eingriffen zu Motilitätsstörungen (Erbrechen, Schmerzen, Subileus), muss an das mögliche Vorliegen von Briden gedacht werden und ggf. eine Adhäsiolyse erfolgen. 83.2.3 Patient Zentrale Ursachen der Tumoranorexie sind bereits oben beschrieben worden. Daneben tragen aber potenziell mehrere psychophysische Mechanismen zu einer geringeren Nahrungsaufnahme durch die Patienten bei (Mauer et al. 1990; Tyc 1995; Bechard et al. 2002). Durch die Verknüpfung von therapiebedingtem Erbrechen mit vorheriger Nahrungsaufnahme kann ein Prozess des »Lernens am Misserfolg« in Gang gesetzt werden, mit dem »Erfolg«, dass Nahrungsaufnahme vermieden wird. Es ist möglich, dass es durch die Behandlung zu Veränderungen des Geruchs- und Geschmacksempfindens kommt, so dass zuvor gern Gegessenes nicht mehr schmeckt. Als weiterer Faktor kann die Belastung (Stress) durch die schwere Erkrankung reaktiv zu einer geringeren Nahrungsaufnahme führen. Aus der Sicht der Eltern und anderer Betreuungspersonen ist eine möglichst normale oder sogar »bessere« Ernährung als vor der Erkrankung ein für die Gesundung des Patienten wichtiges und v. a. auch durch sie zu beeinflussendes Kriterium (im Gegensatz zu den medizinischen Maßnahmen). Hieraus kann auf der Interaktionsaktionsebene eine weitere relevante Belastungssituation entstehen: Das Kind soll essen, will aber nicht. Beispielhafte Empfehlungen zur Optimierung der enteralen Nahrungsaufnahme und Kalorienzufuhr (nach Bechard 2000): Inappetenz Wunschkost Häufige, kleine Mahlzeiten (6–8), auch hier Patientenwunsch berücksichtigen Speisen und auch Getränke kalorisch anreichern (Kohlenhydrate, Fett)
▼
Trinknahrungen (verschiedene Geschmacksrichtungen, gekühlt) anbieten In Gesellschaft essen Beim Essen »ablenken«: unterhalten, vorlesen, fernsehen Kalorienreiche Trinknahrung beim Spielen bzw. Fernsehen anbieten Übelkeit/Erbrechen Keine Mahlzeiten vor geplanter Chemotherapiegabe mit Erbrechen als typische Nebenwirkung Vermeiden »strenger« bzw. lang anhaltender Essensgerüche Langsames Essen empfehlen Getränke zwischen den Mahlzeiten Mukositis Weiche, »sehr mild« gewürzte Kost, nicht zu heiß Säurehaltige Säfte und Obstsorten meiden Rohkost meiden Zusatz von Butter, Sahne oder Soßen, um Mahlzeiten gleitfähig zu machen Kühle Getränke, Yoghurt, Eis anbieten Verändertes Geschmacksempfinden Neue Geschmacksrichtungen probeweise anbieten Eventuell nachwürzen
83.3
Beurteilung des Ernährungsstatus
Basis jeder ernährungsmedizinischen Diagnostik bzw. Therapie sind die Erhebung der Ernährungsanamnese und die klinische Untersuchung. Auch wenn typischerweise weder die Patienten noch deren Familien das Führen eines Ernährungsprotokolls »schätzen«, so gibt die Auswertung hinsichtlich Menge und qualitativer Zusammensetzung der Nahrung wichtige Hinweise auf das mögliche Vorliegen einer Mangelsituation. Darüber hinaus werden Änderungen im Essverhalten frühzeitig erkennbar und ermöglichen therapeutische Intervention (Tyc 1995). Beispiele für klinische Zeichen einer Mangelernährung sind Blässe (Anämie durch Eisen-, Folsäure- oder VitaminB12-Mangel), vermehrte Blutungsneigung (Vitamin K), Akrodermatitis enteropathica und gestörte Wundheilung (Zink). Cheilitis und Glossitis können auf einen Mangel an Vitamin B2 oder Vitamin B6 hindeuten. Zur weiteren Evaluation des Ernährungsstatus stehen zahlreiche Methoden zur Verfügung. Sie berücksichtigen unterschiedliche Aspekte wie die Anthropometrie, die Bestimmung verschiedener biochemischer Parameter sowie auch Untersuchungen der Körperzusammensetzung. Je nach Verfahren können Daten hinsichtlich des Fett- und Wassergehaltes, sowie der fett- und wasserfreien Masse und, mittels DEXA (»dual energy X-ray absorptiometry«), auch des Mineralgehalts erhoben werden. Die Kombination von Untersuchungsverfahren unterschiedlicher Kategorien erlauben die Erstellung eines differenzierten Befundes. Bestimmte Methoden (z. B. Hautfaltenmessung, Isotopenverdünnungsmethoden) sind jedoch im klinischen Alltag wenig gebräuchlich und werden üblicherweise nur im Rahmen von Studien eingesetzt.
83
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
83.3.1 Anthropometrie
83.3.2 Biochemische Parameter
Zur Untersuchung eines jeden pädiatrischen Patienten gehört die Messung von Länge und Gewicht und deren Eintragung in die entsprechenden Perzentilenkurven. Liegen auch frühere Werte vor, ist eine Verlaufsbeurteilung möglich – ein Absinken des Gewichts oder auch der Länge um einen oder gar zwei Perzentilen«kanäle« ist ein deutlicher Hinweis auf eine begleitende Malnutrition. Eine aus Gewichts- und Längenperzentilen abgeleitete Größe ist das so genannte Längensollgewicht (LSG): Die Bestimmung erfolgt durch Eintrag der aktuellen Länge in die Perzentile. Von diesem Wert aus wird eine horizontale Linie zur 50. Längenperzentile gezogen. Im nächsten Schritt wird das »Idealgewicht« als der Wert bestimmt, der für den so ermittelten Längenpunkt der 50. Gewichtsperzentile entspricht. Der Quotient aus aktuellem Gewicht zu »Idealgewicht« multipliziert mit 100 ergibt das LSG in Prozent. Ein vereinfachtes Verfahren besteht darin, das Idealgewicht als das Gewicht festzulegen, dass der Längenperzentile entspricht. Normal sind Werte zwischen 110% und 90%, leichtes Untergewicht besteht bei Werten bis 80%, mittelschwere Unternährung reicht bis zu 70%, Werte darunter finden sich bei hochgradiger Unterernährung. Das obere Ende der Skala sind Übergewicht, entsprechend 110–120% und Adipositas bei Werten über 120%. Aktuell findet als weitere abgeleitete Größe der BMI (»body mass index«) zunehmend Verwendung. Er berechnet sich aus dem Körpergewicht in kg dividiert durch das Quadrat der Länge in m. Auch für diesen Parameter existieren mittlerweile eigene pädiatrische Perzentilenkurven. Der besondere Stellenwert soll in der genaueren Korrelation zum Fettgewebe liegen (Dietz u. Bellizzi 1999), daher eignet sich der BMI insbesondere für die Erfassung von Übergewicht (BMI >90. Perzentile: Übergewicht bzw. >97. Perzentile: Adipositas, <5. Perzentile: Untergewicht). Auf die technischen Details der Messung der Hautfaltendicke mittels eines speziellen Messgerätes (Kaliper) und des Oberarmumfangs wird hier nicht näher eingegangen. Die Messwerte korrelieren gut zum Körperfettanteil (Hautfaltendicke) und zur Muskelmasse (Armumfang), altersentsprechende Normwerte sind vorhanden. Smith et al. (1991) konnten bei 100 neu diagnostizierten pädiatrisch-onkologischen Patienten zeigen, dass diese im Vergleich zu Kontrollen signifikant erniedrigte Werte der Trizepshautfaltendicke und des Oberarmumfangs aufwiesen. Im Gegensatz dazu fehlten Unterschiede hinsichtlich des Längensollgewichts. Schlussfolgernd wurde empfohlen, diese Parameter aufgrund ihrer größeren Empfindlichkeit und Genauigkeit vermehrt und bevorzugt zur Bestimmung des Ernährungsstatus einzusetzen.
Die Proteine Albumin, Präalbumin und Transferrin werden von der Leber synthetisiert, ihre Serumwerte lassen auf die Eiweißversorgung des Organismus schließen (Loughrey u. Duggan 2000). Generelles Problem dieser Parameter ist jedoch, dass sie nicht allein vom Ernährungsstatus abhängen: Im Rahmen der Therapie kann es zu vermehrten transkapillären Verlusten, aber auch zur Ausscheidung im Urin bei renaler Schädigung kommen. In Folge einer krankheitsbedingten Lebererkrankung kann die Syntheserate sinken. Auch bei Infektionen und Hyperhydrierung sind »fälschlich« niedrige Werte möglich. Der bekannteste und am häufigsten bestimmte Parameter ist Albumin (normal: 35–50 (–55) g/l). Da die Halbwertszeit dieses Proteins etwa 20 Tage beträgt, ist es relativ unsensibel hinsichtlich der Diagnose einer Proteinmalnutrition (El Hashid et al. 1999). Die Halbwertszeit von Transferrin (normal: 2,1–4 g/l) ist mit 8 Tagen kürzer als die des Albumins, das Protein reagiert ansonsten jedoch ganz ähnlich wie Albumin auf nahrungsunabhängige Einflüsse. Eisenüberladung und Kortisontherapie können gleichfalls zu niedrigen Werten führen, während eine chronische Anämie zu einem Anstieg führt. Präalbumin (normal: 150–400 mg/l) ist ein Transportprotein für Thyroxin, daher stammt auch die alternative Bezeichnung Transthyretin. Die Halbwertszeit beläuft sich auf lediglich 2 Tage und kann daher auch kurzfristige Änderungen widerspiegeln. Mehrere Studien (El Hashid et al. 1999; Yu et al. 1994) konnten zeigen, dass es in enger Beziehung zum viszeralen Proteinstatus steht und derzeit der geeignetste Marker zur Erkennung subklinischer Malnutritionszustände ist. Verluste bzw. Defizite der so genannten Mikronährstoffe wie Eisen, Vitamine und Spurenelemente können durch verminderte Aufnahme, vermehrte Verluste oder erhöhten Bedarf entstehen. Alle 3 Kategorien kommen, nicht selten auch in einem Patienten parallel, zum Tragen. Während ein Eisenmangel die wohl bekannteste Problematik ist, konnten Mangelzustände auch für Kalzium, Phosphor und Magnesium (Atkinsion et al. 1998) und Antioxidanzien wie Vitamin A und E (Malvy et al. 1997) nachgewiesen werden. Zink und Selen sollten insbesondere bei Patienten mit starken oder anhaltenden Diarrhöen, mit längerer parenteraler Ernährung oder vor und im Verlauf nach Knochenmarktransplantation bestimmt werden (Papadopoulou 1998).
Tipp für die Praxis Bei allen anthropometrischen Verfahren ist bei der Beurteilung zu bedenken, dass es im Verlauf der onkologischen Therapie zu Veränderungen im Flüssigkeitshaushalt kommen kann, die die Messungen verfälschen können (z. B. Ödeme).
83.3.3 Körperzusammensetzung Für bestimmte Fragestellungen im Rahmen von Studien kann es wichtig sein, möglichst genaue Angaben über die Körperzusammensetzung z. B. bei der Diagnose einer Erkrankung oder im Verlauf der Therapie zu erlangen. Ergänzend zu den oben beschriebenen anthropometrischen Verfahren können auch die Isotopenverdünnungsbestimmung sowie – als neuere Techniken – bioelektrische Impedanzbestimmung (BIA; Suprasongsin et al. 1995) und DEXA Verwendung finden. Die Datenlage ist bisher jedoch noch gering und muss insbesondere für kranke pädiatrische Patienten weiter validiert werden (Bechard et al. 2002; Papadopoulou 1998).
1047 83 · Ernährung
Methoden der Erfassung des Ernährungsstatus: Anamnese: Ernährungsprotokoll Untersuchungsbefund: klinische Zeichen der Malnutrition Anthropometrie: Körpergewicht und Länge (abgeleitet LSG, BMI), Hautfaltendicke (Trizeps, subskapulär), Oberarmumfang Biochemische Parameter: Albumin, Präalbumin, Transferrin, Ferritin/Transferrinsättigung, Ca, Mg, ggf. Parathormon/Vitamin D, Vitamin B2, Vitamin B12, Folsäure, Vitamin E, Vitamin K (Gerinnung) u. a., Spurenelemente (Zn, Se), Stickstoffbilanz Körperzusammensetzung: BIA, DEXA, Isotopenverdünnungsbestimmung
83.4
Formen der Ernährungstherapie
Sowohl prätherapeutisch als auch im Verlauf der onkologischen Therapie kann die Notwendigkeit einer Ernährungstherapie bestehen bzw. entstehen. Die Indikation zur Intervention (Mauer et al. 1990; Andrassy et al. 1998) wird anhand verschiedener Parameter bestimmt: Beim Gewicht können sowohl punktuelle Werte (Längensollgewicht <90%) als auch Verlaufswerte berücksichtigt werden (Gewichtsverlust >5%, Perzentilenknick). Auch abzusehende Phasen mit therapiebedingter schwieriger Ernährungssituation oder Laborparameter (Albumin) bzw. andere physiologische Parameter (Hautfaltendicke, reduzierter Körperfettanteil) können Indikationen darstellen. Indikationen zur Ernährungstherapie: Gewichtsverlust >5% seit Erkrankungsbeginn Längensollgewicht <90% Absinken von 2 Perzentilenkanälen hinsichtlich Gewicht bzw. Länge Perorale Kalorienaufnahme <70% des Bedarfs über einen Zeitraum von 5–7 Tagen Vor bzw. begleitend bei Therapien mit hoher Wahrscheinlichkeit von Ernährungsproblemen Knochenmarktransplantation Serumalbumin <32 g/l (Grenze ab 2. Lebensjahr) Unterhautfettgewebe stark reduziert (ggf. Hautfaltenmessung)
Die Ernährungstherapie beinhaltet ein breites Spektrum möglicher Maßnahmen: Abhängig vom Ausmaß der Unterernährung oder der Ernährungsproblematik kann eine intensive Ernährungsberatung ausreichen, ggf. ist der Einsatz von Nahrungssupplementen erforderlich. Weitere Stufen sind die Verwendung von Trink- oder Sondennahrungen, zu deren Verabreichung die Anlage von nasogastralen oder nasojejunalen bzw. auch PEG- (perkutane endoskopische Gastrostomie) oder PEG-J-Sonden erforderlich sein kann. Bei der PEG-J-Sonde handelt es sich um eine Jejunalsonde, die durch eine PEG-Sonde gelegt und mit dieser verschraubt bzw. zusammengesteckt wird (Sonde in Sonde).
Sie wird auch als JET-PEG bezeichnet (»jejunal extension tube via PEG«). Formen der Ernährungstherapie:
»Schmackhafte« Wunschkost Ernährungsberatung durch Diätassistentin Orale Nahrungssupplemente Enterale Ernährung per Sonde: − Nasogastral − Nasojejunal − PEG-Sonde bzw. PEG-J Teil- oder totalparenterale Ernährung
Ist eine enterale Ernährung nicht oder nicht ausreichend möglich, wird eine parenterale Ernährung erforderlich. Es wird unterschieden zwischen teilparenteraler Ernährung, die zusätzlich zur enteralen Ernährung verabreicht wird, und vollparenteraler Ernährung, sofern ausschließlich diese verwendet wird. In einer Studie aus dem Jahre 1995 (Tyc et al. 1995) erhielten alle KMT-Patienten, 84,7% aller Leukämie-/ Lymphompatienten und 56% der Patienten mit soliden Tumoren parenterale Ernährung. Bakish et al. (2003) berichten dagegen, dass bei 103 Patienten mit Medulloblastom bzw. primitivem neuroektodermem Tumor 36% lediglich eine Optimierung der oralen Zufuhr erhielten, 27% eine parenterale Ernährung und 37% eine enterale Ernährung. Letztere erwies sich im Vergleich zu den anderen Modalitäten in Hinblick auf den Parameter Gewichtszunahme am effektivsten. Grundsätzlich ist, wie gezeigt werden konnte, die enterale Ernährung gegenüber der parenteralen Ernährung zu bevorzugen (Copeman 1994; Aquino et al. 1995; Souba 1997; Andrassy u. Chwals et al. 1998; den Broeder et al. 2000a): Die enterale Ernährung ist ein wichtiger Faktor für die Erhaltung der mukosalen Integrität und Funktion, es treten bei enteraler Ernährung weniger metabolische Komplikationen und Infektionen auf als bei parenteraler Ernährung, und der Preis ist deutlich niedriger. Für diese günstigen Effekte ist nicht die absolute Menge an Nahrung entscheidend, sondern vielmehr die Nutzung des Darms auch durch geringe Substratzufuhr. In der Konsequenz bedeutet dies, dass jeder Patient ohne absolute Kontraindikation enteral ernährt werden sollte – selbst wenn es sich nur um Mengen wie 5–15 ml/h einer Sondennahrung handelt, und die Deckung des sonstigen Bedarfes durch parenterale Ernährung erfolgt. Diese Vorteile haben sich auch bei Patienten mit Knochenmarktransplantation als gültig erwiesen (Papadopoulou 1998). 83.4.1 »Einfache« perorale Ernährungstherapie Zur Standardbetreuung von Patienten auf pädiatrisch-onkologischen Stationen gehört die Möglichkeit, schmackhafte Wunschkost auch unabhängig von starren Küchenlieferzeiten anzubieten. Sowohl für die stationäre als auch für die Betreuung zu Hause kann eine Diätassistentin wichtige Hinweise zur Optimierung der enteralen Ernährung geben. Zur kalorischen Anreicherung der Speisen und Getränke stehen eine Anzahl von Produkten zur Verfügung, die zumeist sowohl kalt als auch warm zu verarbeiten sind (⊡ Tabelle 83.2).
83
1048
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 83.2. Möglichkeiten oraler Nahrungssupplementierung bzw. Ernährungstherapie (Beispiele). Basismaßnahmen für die kalorische Anreicherung bestehen im Zusatz von Sahne, Öl, Butter sowie in der Verwendung fettreicher Milch bzw. Milchprodukte
Produkt
Hersteller
kcal/100 g
Anmerkungen
Nahrungszusätze Kohlenhydrate
Kohlenhydrate plus Fett
V
MaltoCal
metaX
385
Maltodextrin
SHS
388
BiCal
metaX
514
Duocal
Pfrimmer-Nutricia/SHS
492 450
MCT-Fett-Emulsion
Liquigen
Pfrimmer-Nutricia/SHS
LCT-Fett-Emulsion
Solagen
SHS
432
Basis: Sojaöl
Calogen
SHS
450
Basis: Erdnussöl
Frebini
Fresenius
100
Frebini MiniMax
Fresenius
150
Bioni
Pfrimmer-Nutricia
150
Nutrini (1–6 Jahre)
Pfrimmer-Nutricia
75–150
Hypo-/Iso-/Hochkalorisch
Tentrini (7–12 Jahre)
Pfrimmer-Nutricia
75–150
±Ballaststoffe
Pediasure
Abbott
150
Neocate
SHS
67
Aminosäurenahrung 1. Lebensjahr
Neocate advance
SHS
100
Aminosäurenahrung nach dem ersten Lebensjahr
Peptamin junior
Nestlé
100
Peptidnahrung
Peptisorb
Pfrimmer-Nutricia
100
Peptidnahrung ab sechstem Lebensjahr
Vollständige Nahrungen Trink- und Sondennahrungen
Spezialnahrungen
MCT mittelkettige Triglyzeride; LCT langkettige Triglyzeride.
Sind die Kinder nicht in der Lage oder Willens, selbstständig normale Kost zu essen, können Trinknahrungen angeboten werden. Diese werden von verschiedenen Firmen angeboten und ermöglichen, sofern die Dosierung bedarfsgerecht erfolgen kann, eine komplette Versorgung mit Makro- und Mikronährstoffen (Tabelle 83.2). Es konnte gezeigt werden (den Broeder et al. 2000b), dass auch hochkalorische Sondennahrung (1,5 kcal/ml) im Vergleich zu einer Standardnahrung (1 kcal/ml) gut vertragen und zu einer besseren Gewichtszunahme führt. Um das Risiko einer durch die Nahrung bzw. Ernährung erworbenen Infektionserkrankung möglichst gering zu halten, gelten insbesondere für die Phasen mit starker Immunsuppression spezielle hygienische Richtlinien. Empfehlungen zur Nahrungsmittelhygiene bei immunsupprimierten Patienten (nach Bechard 2000): Händewaschen vor/nach der Nahrungsmittelzubereitung Händewaschen vor/nach der Mahlzeit Obst, Salat, Gemüse vor dem Verzehr sehr gut waschen und/oder schälen Arbeitsfläche/Spüle vor/nach Zubereitung reinigen (speziell bei Verwendung von Gehacktem, Geflügel, Eiern)
▼
Gehacktes Fleisch und Geflügel nur sehr gut durchgebraten essen Keine bzw. wenig gegarte Fleischprodukte (Tartar, Mett, Carpaccio, Steak Keine Rohmilchprodukte Keine ungekochten Eierspeisen (z. B. mit Eischnee, Tiramisu, Eier außer »hart« gekocht) Speisen nicht mit anderen teilen (d. h. keine gemeinsame Benutzung von Geschirr, Besteck, Gläsern etc.) Lagerung von Lebensmitteln: Kühlkette einhalten, Verwendung von abgepackten Einzelportionen Bei Restaurant- oder Imbissbesuchen problematische Speisen meiden (d. h. nicht sicher gut gesäubert, gegart, gekocht; oben)
83.4.2 Ernährungssonden Die nächste Stufe der Ernährungstherapie stellt die Verwendung von enteralen Ernährungssonden dar (Übersicht: Habib u. Kirby 1999; den Broeder et al. 2000b). Die Aufnahme der Nahrung per Sonde bedeutet für den Patienten keine geschmackliche Belastung, die Menge der Nahrung kann sich am Bedarf unabhängig vom Appetit des Patienten orientieren. Die gebräuchlichste Form stellen nasogastrale Sonden dar; in Fällen von heftigem Erbrechen können nasojejunale
1049 83 · Ernährung
Sonden eine enterale Ernährung ermöglichen. Die Sonden werden aus 3 verschiedenen Materialien hergestellt: PVC, PU (Polyurethan) und Silikon. Zwar sind PVC-Sonden am preisgünstigsten, aber die im Material enthaltenen Weichmacher werden nach 1–2 Tagen aus der Sonde freigesetzt. Somit entsteht einerseits eine unerwünschte Belastung der Patienten mit diesen Weichmachern, andererseits härten die Sonden aus. Die dann harten Sonden können sowohl in der Speiseröhre als auch im Magen zu Sondenulzera führen, was insbesondere bei Patienten mit Mukositis zu beachten ist. PU- und Silikonsonden sind für einen mehrwöchigen Einsatz geeignet. Besonders weich sind die Silikonsonden. Zur Anlage ist in der Regel ein Mandrin erforderlich. Ist es absehbar, dass eine Sondierung für einen Zeitraum von über 4–6 Wochen erforderlich ist, empfiehlt sich auch bei onkologischen Patienten die Anlage einer PEG-Sonde. Die Sonden werden im Rahmen einer Gastroskopie nach der Fadendurchzugsmethode angelegt. In Studien konnte gezeigt werden, dass PEG auch bei Kindern mit onkologischen Erkrankungen sicher und effektiv sind. Komplikationen sind selten und in der Regel wie bei anderen Patienten beherrschbar (Aquino et al. 1995; Skolin et al. 2002; Bakish 2003). Für die Patienten ergeben sich einerseits kosmetische Vorteile (keine Sonde mehr im Gesicht), die perorale Nahrungsaufnahme kann aufgrund des fehlenden Fremdkörpergefühls im Hals besser werden, und die Atmung wird erleichtert. Konventionelle PEG-Sonden können nach frühestens 6–8 Wochen gegen einen so genannten Button oder eine Knopfsonde ausgetauscht werden (⊡ Abb. 83.2 und Abb. 83.3). Der innere, also magenseitige Haltemechanismus wird durch einen flüssigkeitsgefüllten Ballon, ähnlich einem Blasenkatheter realisiert. Diese Sonden liegen flacher auf der Bauchdecke auf als die normalen Sonden und werden daher auf
a
b
⊡ Abb. 83.2a, b. Schematische Darstellung von Bauchwand, Magen und Sondentypen. a »Normale« PEG-Sonde: Sie wird im Rahmen der endoskopischen Gastrostomie mittels der Fadendurchzugsmethode peroral eingeführt und dann durch die Bauchwand herausgeführt. Innere Halteplatte und Sonde sind fest verbunden, die äußere Halteplatte ist je nach Dicke der Bauchwand zur Fixierung variabel verschieblich. b »Button«-Sonde: replatzierbares Sondensystem, wenn ein stabiles Gastrostoma vorhanden ist (z. B. ca. 4–8 Wochen nach Gastrostomie). Vorteile: insgesamt flacher als das klassische PEG-Sondensystem; aufgrund der Möglichkeit des Dekonnektierens des Nahrungsüberleitsystems bessere Mobilität des Patienten; geringere Stigmatisierung, da besser zu verbergen. Nachteile: Der »passende« Button muss der Länge des Stomas entsprechend individuell ausgewählt erden; der Ballon hält in der Regel ca. 3–4 Monate, dann muss die Sonde ersetzt werden; höhere Kosten
⊡ Abb. 83.3. »Button«-Sonde als Beispiel für Ernährungssystem via Gastrostoma (PEG): Links am Button ist das Zuspritzventil für den Ballon erkennbar. Die Nahrungszuleitung erfolgt durch die Mitte via eines leicht abnehmbaren Überleitsystems
englisch daher auch als »skin level devices« bezeichnet. Das Überleitsystem für die Nahrung kann mittels einer Art Bajonettverschluss bei Nichtgebrauch dekonnektiert werden. Hieraus ergeben sich für den Patienten eine weitere Verbesserung der Mobilität und der Kosmetik. 83.4.3 Transpylorische Ernährung Liegt therapiebedingt eine Motilitätsstörung des oberen Gastrointestinaltraktes mit dem Symptom Erbrechen vor, kann eine transpylorische Ernährung ein Weg sein, trotzdem eine enterale Ernährung zu ermöglichen. Die Sonden werden entweder transnasal oder via eine PEG-Sonde (die Hersteller bieten zu diesem Zweck passende so genannte PEG-J-Systeme an) transpylorisch platziert (⊡ Abb. 83.4). Idealerweise sollte die Sondenspitze in Höhe des Treitz-Bandes liegen, da bei einer Lage lediglich im Duodenum die Dislokalisationsrate höher ist. Die Anlage erfolgt entweder radiologisch assistiert oder endoskopisch. Eine jejunale Ernährung erfordert immer eine Nahrungsgabe mittels kontinuierlicher Pumpeninfusion (je nach Bedarf oder Toleranz 24–16 h oder beispielsweise nur während der Nacht), eine Bolusgabe ist nicht indiziert. Es kann sonst zu Bauchschmerzen, Durchfällen, und zu einem »Dumping-Syndrom« kommen. Der Nahrungsaufbau sollte langsam und stufenweise über einen Zeitraum von 5–7 Tagen erfolgen. Zwar tolerieren die meisten Patienten eine »normale« Ernährung auch bei jejunaler Gabe, es ist aber trotzdem sinnvoll, zumindest den Nahrungsaufbau mittels einer Peptid- oder auch Aminosäurennahrung zu beginnen und bei Säuglingen entsprechend eine Aminosäurennahrung bzw. extensives Hydrolysat zu verwenden. Für die häusliche Pflegesituation gibt es mittlerweile kleine Ernährungspumpen, die in speziellen Rucksäcken (»day-pack«) auch in der ambulanten Situation dem Patienten eine gute Mobilität und somit Lebensqualität ermöglichen.
83
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
83.4.5 Substitution von Mikronährstoffen
(Zink, Selen, Glutamin)
V
⊡ Abb. 83.4. Radiologische Darstellung einer jejunalen Ernährungssonde (PEG-J-Sondensystem). Die Sonde wird durch die PEG-Sonde eingeführt; sie verläuft durch Magen, Pylorus und Duodenum und liegt dann im Jejunum (siehe Kontrastmitteldarstellung)
83.4.4 Parenterale Ernährung Im Verlauf einer intensiven Antitumortherapie kann der Magen-Darm-Trakt der Patienten durch Mukositis und Motilitätsstörung so stark beeinträchtigt werden, dass eine vollenterale Ernährung nicht mehr möglich ist. Mittels parenteraler Ernährung (PE) über den in der Regel vorhandenen zentralen Venenzugang kann das Defizit ausgeglichen oder auch ein Mehrbedarf verabreicht werden (Mauer et al. 1990; Copeman 1995; Papadopoulou 1998; Andrassy et al. 1998). Die Infusionsmenge und -zusammensetzung orientiert sich am berechneten Bedarf des Patienten an Kohlenhydraten, Eiweiß, Fett, Elektrolyten, Spurenelementen, Vitaminen und Flüssigkeiten. Vor allem zu Beginn der PE ist ein engmaschiges Monitoring dieser Parameter erforderlich. Ist auch die teilenterale/teilparenterale Ernährung nicht möglich, erfolgt eine totalparenterale Ernährung (TPE). Durch eine bedarfsadaptierte TPE kann eine Malnutrition ausgeglichen bzw. ein guter Ernährungsstatus bei der Mehrzahl der Patienten gesichert werden. Ein rasches Fortschreiten der Grunderkrankung oder Probleme seitens des Flüssigkeitshaushaltes oder des Metabolismus können jedoch limitierend wirken. Infektionen stellen ein Hauptrisiko der PE dar, daher sind Standards für den Umgang mit dem ZVK und der Infusionslösung von besonderer Bedeutung. Durch das so genannte »Zyklisieren« der PE bei Patienten mit längerfristigem Bedarf, d. h. stufenweise Reduktion des Infusionszeitraums von 24 h auf z. B. 16–18 h können einerseits für die Patienten »Freiräume« geschaffen werden, andererseits kann auf diese Weise vermutlich der Entwicklung einer PE-assoziierten Hepatopathie vorgebeugt werden. Auch eine PE ist nach entsprechender Schulung der Eltern ambulant in häuslicher Umgebung möglich. Wie für die enterale Dauersondierung existieren kleine in Rucksäcken transportable Pumpen mit entsprechenden Infusionssystemen.
Zu den Mikronährstoffen werden Mineralien, Spurenelemente und Vitamine gezählt. Mangelzustände können im Verlauf der Erkrankung durch eine erniedrigte Zufuhr aber auch durch erhöhte Verluste (z. B. gastrointestinal im Rahmen einer Mukositis oder auch renal) und einen erhöhten Bedarf entstehen. Oft werden auch alle 3 Faktoren zum Entstehen der Unterversorgung beitragen. Während z. B. ein Eisen- oder Kalziummangel im Rahmen typischer klinischer Laborkontrollen relativ leicht diagnostiziert werden wird, ist dies bei anderen Parametern wie z. B. Vitaminen und Spurenelementen nicht der Fall. Neben der reinen Vermeidung bzw. dem Ausgleich eines Mangels wird bei bestimmten Stoffen diskutiert, ob sie möglicherweise additiv therapeutisch eingesetzt werden können. Eine weitere Frage ist, ob Mangelzustände der antioxidativen Mikronährstoffe möglicherweise einen Risikofaktor für die Tumorgenese darstellen, oder ob die zum Teil nachgewiesenen erniedrigten Werte im Vergleich zu gesunden Populationen eher Ausdruck von oxidativem Stress durch die Erkrankung sind (Malvy et al. 1993, 1997; Papadopoulou 1998). Beispielhaft werden in diesem Abschnitt Zink, Selen und Glutamin diskutiert. Zink Nach dem Eisen ist Zink das zweithäufigste Spurenelement mit einem Gesamtkörperbestand von etwa 1,5–2,5 g beim Erwachsenen (Aggett 1994). Nur der geringste Teil befindet sich im Blut, größere Mengen sind im Muskel, in Knochen, in Haut und Haaren und in der Leber vorhanden. Ein typisches »Speicherorgan« existiert nicht, so dass eine regelmäßige Zufuhr notwendig ist (Semrad 1999). Der normale Tagesbedarf von Kindern zwischen 1 und 10 Jahren beträgt 3–7 mg, Jugendliche und Erwachsene benötigen etwa 7–10 mg/Tag. Zink ist wichtiger Bestandteil vieler Enzyme und zum Teil selbst an der katalytischen Funktion beteiligt; in anderen Fällen für die Aufrechterhaltung der regelrechten Enzymstruktur oder die Regulation der Enzymaktivität von Bedeutung. Mögliche Symptome eines Zinkmangels sind Hautausschläge (wie z. B. bei der angeborenen Zinkresorptionsstöung Akrodermatitis enteropathica), Durchfälle, Gewichtsverlust, Geschmacksveränderungen, psychische Veränderungen, Haarausfall, gestörte Wundheilung und Infektionsneigung. Aufgrund der Verteilung vom Zink im Gewebe ist über eine Bestimmung der Zinkkonzentration im Serum oder Plasma nur eine näherungsweise Aussage möglich. Andere Messverfahren wie Bestimmung der Zinkausscheidung im Urin, Bestimmung der Konzentration in Leukozyten oder Erythrozyten, Zinkgehalt in Nägeln oder Haaren oder auch Verlaufskontrollen der alkalischen Phosphatase sind aber nicht genauer (Aggett 1994; Semrad 1999). Von daher ist verständlich, dass die Datenlage hinsichtlich onkologischer Patienten bisher nicht eindeutig ist (Malvy 1997; Papadopoulou 1998). Es gibt jedoch deutliche Hinweise auf das Vorhandensein von Mangelsituationen. Dies liegt auch aufgrund der Tatsache nahe, dass der Darm einerseits Hauptresorptions-, andererseits aber auch Hauptausscheidungsorgan von Zink ist. Durch Nebenwirkungen der Therapie (Mukositis) kann die Resorption vermindert werden und gleichzeitig aufgrund der Diarrhöen ein erhöhter Verlust auf-
1051 83 · Ernährung
treten. Studien an unterernährten Kindern aus Entwicklungsländern mit akuter Durchfallserkrankung zeigten einen positiven Effekt einer Zinksupplementation (Semrad 1999). Aus diesen Gründen sollte bei pädiatrisch-onkologischen Patienten, insbesondere jenen mit deutlicher Unterernährung oder deutlichen gastrointestinalen Therapienebenwirkungen, frühzeitig der Bestimmung des Zinkstatus besondere Bedeutung zugemessen werden, und abhängig von den Werten, aber auch der klinischen Situation, eine Substitution erfolgen. Selen Daten bei Erwachsenen (Übersicht: Rayman 2000) zeigen, dass niedrige Selenspiegel mit einem erhöhten Tumorrisiko und auch einer erhöhten Tumormortalität einhergehen können. Die vorhandenen Daten (Behne 1994; Malvy et al. 1997) bei Kindern mit Tumorerkrankungen ergeben in bezug auf das Vorhandensein eines Selenmangels bei Diagnose ein uneinheitliches Bild. Bei pädiatrischen KMT-Patienten (Kauf et al. 1997) konnte eine erhöhte Selenausscheidung, die zu einem Selenmangel führte, nachgewiesen werden. Selen, in der Verbindung als Selenocystein, ist wichtig für die Redoxaktivität der zahlreichen so genannten Selenoproteine wie z. B. Gluthationperoxidase. Selen hat auch eine Bedeutung für das zellvermittelte und für das humorale Immunsystem. Es konnte gezeigt werden, dass eine Selensubstitution selbst bei normalem Spiegel zu einer Stimulation von Immunfunktionen führt (Rayman 2000). Es sind 2 »klassische« Selenmangelkrankheiten beschrieben, die auf einer erniedrigten nutritiven Selenaufnahme beruhen: Die KeshanKrankheit, eine Kardiomyopathie, und die Kaschin-BeckKrankheit, eine Osteoarthropathie. Beide Erkrankungen sind in Gebieten mit niedrigem Bodenselengehalt endemisch, nämlich Nordchina, Nordkorea und Sibirien. Andere kausale Faktoren werden zusätzlich vermutet. Zeichen eines Selenmangels können jedoch auch bei unsupplementierter parenteraler Ernährung auftreten. Mögliche Symptome sind erythrozytäre Makrozytose, Pseudo-Albinismus, und Zeichen der Myopathie und Kardiomyopathie (Behne 1994). Normale Selenspiegel werden mit 1,0–1,9 µmol/l für Kinder ab dem Alter von 1 Jahr angegeben, die Zufuhr sollte zwischen 1 und 2 µg/kg/Tag liegen, bei Jugendlichen und Erwachsenen bis 70 (–100) µg/Tag. Glutamin Glutamin ist die Aminosäure mit der höchsten Serumkonzentration und somit eine der wichtigsten Stickstoffquellen. Sie gilt als nichtessenzielle Aminosäure: Normalerweise wird Glutamin aus Glutaminsäure durch das Enzym Glutaminsynthetase via Transamidierung synthetisiert, es gibt jedoch Hinweise, dass in bestimmten Situationen, wie z. B. Tumorerkrankungen, der Glutaminverbrauch die endogene Synthese übersteigt (Andrassy 1998; Buchmann 1999). Glutamin gilt als einer der wesentlichen trophischen Faktoren für die intestinale Mukosa. Vor allem in tierexperimentellen Studien wurde nachgewiesen, dass ein Mangel zu Mukosahypoplasie, Störung der intestinalen Permeabilität und der intestinalen Immunfunktionen sowie zur Zunahme von bakterieller Translokation aus dem Darm führt (Buchmann 1999). Die Ergebnisse klinischer Studien sind noch uneinheitlich. Positive Effekte einer oralen oder parenteralen Substitution
waren eine reduzierte Störung der intestinalen Absorption und Permeabilität, weniger Infektionen, eine Verbesserung der Stickstoffbilanz, eine kürzere Beatmungsdauer, ein verkürzter Krankenhausaufenthalt und geringere Behandlungskosten. Es existieren jedoch auch Studien, die diese ermutigenden Ergebnisse nicht reproduzieren konnten (Daniele et al. 2001; Übersicht: Souba 1997; Buchmann 1999; Bechard et al. 2002). Nach gegenwärtigem Kenntnisstand führt eine Supplementierung von Glutamin nicht zur Förderung des Tumorwachstums (Andrassy 1998; Buchman 1999). Zur sicheren Beurteilung eines möglichen positiven Effektes einer Glutaminsubstitution sind also weitere, insbesondere pädiatrische Studien erforderlich. Fragen, die es zu beantworten gilt sind: Dosis und Route der Anwendung (oral vs. parenteral), welche klinischen und anderen »Outcome«-Parameter lassen sich reproduzierbar beobachten, sowie die Kontrolle möglicher Nebenwirkungen.
Tumorerkrankungen können zu einer Mangelernährung führen. Andererseits kann eine Malnutrition auch eine Nebenwirkung der medizinischen Therapie sein. Ein unzureichender Ernährungsstatus verschlechtert die Prognose der Erkrankung. Eine in ihrer Intensität stufenweise eingesetzte Ernährungstherapie ist daher sowohl für die Lebensqualität der Patienten als auch für den möglichst optimalen Therapieerfolg sinnvoll.
Literatur Aggett PJ (1994) Zink. Annales Nestlé 52:103–117 Andrassy RJ, Chwals WJ (1998) Nutritional support of the pediatric oncology patient. Nutrition 14:124–129 Aquino VM, Smyrl CB, Hagg R et al (1995) Enteral nutritional support by gastrostomy tube in children with cancer. J Pediatr 127: 58–62 Argiles JM, Busquets S, Lopez-Soriano FJ (2003) Cytokines in the pathogenesis of cancer cachexia. Curr Opinion Clin Nutr Metab Care 6:401–406 Atkinsion SA, Halton JM, Bradley C et al (1998) Bone and mineral abnormalities in childhood acute lymphoblastic leucemia: influence of disease, drugs and nutrition. Int J Cancer (suppl) 11: 35–39 Bakish J, Hargrave D, Tariq N et al (2003) Evaluation of dietetic intervention in children with medulloblastoma or supratentorial primitive neuroectodermal tumors. Cancer 98:1014–1020 Bechard LJ (2000) Oncology and bone marrow transplantation. In: Hendricks KM, Duggan C, Walker WA (eds) Manual of pediatric nutrition, 3rd ed. Decker, New York Bechard LJ, Adiv OEA, Jaksic T, Duggan C (2002) Nutritional supportive care. In: Pizzo PA, Poplack DG(eds) Pediatric oncology, 4th ed. Lippincott, Philadelphia Behne D (1994) Selen Annales Nestlé 52:118–130 Buchman A (1999) Glutamine for the gut: Mystical properties or an ordinary amino acid? Curr Gastroenterol Reports 1:417– 423 Copeman MC (1994) Use of total parenteral nutrition in children with cancer: A review and some recommendations. Ped Hematol Oncol 11:463–470 Daniele B, Perrone F, Gallo C et al (2001) Oral glutamine in the prevention of fluorouracil induced intestinal toxicity: a double blind, placebo controlled, randomised trial. Gut 48:28–33
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V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
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1053
Behandlung von Übelkeit und Erbrechen L. Kager, C. Langebrake
84.1
Einleitung
84.1.1 84.1.2 84.1.3
Neurophysiologische Grundlagen – 1053 Emetogene Risikofaktoren – 1053 Phasen der Chemotherapie-induzierten Nausea/Emesis – 1053
84.2 84.3
Prinzipien der antiemetischen Therapie – 1053 Wichtige antiemetische Substanzen – 1055
84.3.1 84.3.2 84.3.3 84.3.4
Serotoninantagonisten – 1055 Kortikosteroide – 1055 Psychopharmaka/Neuroleptika – 1055 Sonstige Antiemetika – 1057
Literatur
– 1053
– 1057
I laughed with Eric Davis, the great baseball player, about trying to eat during chemo. »Caesar salad with chicken,« he said. »I ate two of them, every day, right before the chemo. Because when you take chemo, you throw up. And if you don‘t have anything in you, you can‘t throw up. And not being able to throw up is even worse than throwing up.« (Armstrong 2002) Diese Anekdote, erzählt vom Rennradfahrer Lance Armstrong, der nach erfolgreicher Krebsbehandlung bereits 6-mal die Tour de France gewonnen hat, weist auf die leider weit verbreitete Ansicht hin, dass Chemotherapie immer von Nausea und Emesis begleitet ist. Dieses Kapitel versucht einen Überblick zu geben, wie Übelkeit und Erbrechen im Rahmen der onkologischen Therapie effizient unterdrückt werden können.
84.1
Einleitung
Nausea und Emesis (NE) gehören zu jenen Faktoren, die die Lebensqualität von Patienten während der onkologischen Behandlung am stärksten beeinträchtigen (Osoba et al. 1997). 84.1.1 Neurophysiologische Grundlagen Der Befehl für das Erbrechen scheint vom Brechzentrum im Bereich der Medulla oblongata auszugehen, wo afferente Signale aus der Peripherie (vorwiegend aus dem Gastrointestinaltrakt) und aus der Chemorezeptorentriggerzone (Area postrema) integriert werden. Die Signalübertragung in diesem Netzwerk erfolgt durch Aktivierung von Rezeptoren via Neurotransmitter. Blockade relevanter Rezeptoren kann Erbrechen unterdrücken. Verschiedene Rezeptoren spielen eine Rolle, 3 davon sind genauer untersucht und
Angriffspunkte der meisten derzeit verwendeten Antiemetika ( Abschn. 84.3): ▬ Dopaminrezeptoren, ▬ Serotoninrezeptoren und ▬ Neurokininrezeptoren. Zusätzlich scheint das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System von Bedeutung zu sein (Andrews et al. 1988; Gralla 2002). 84.1.2 Emetogene Risikofaktoren NE sind letztlich Resultate des Zusammenwirkens verschiedener exogener (Chemo-, Strahlen-, Morphin-, Antiemetikatherapie, Familienkonflikte etc.) und endogener (Grunderkrankung, Metabolismus der Zytostatika und Antiemetika, Erwartungshaltung, Darmerkrankungen etc.) Faktoren. Der wichtigste emetogene Faktor ist die Chemotherapie, wobei Dosis, Applikation, Kombination und Art des Zytostatikums eine wichtige Rolle spielen. Das emetogene Potenzial häufig verwendeter Zytostatika findet sich in ⊡ Tabelle 84.1. Die Emetogenität der Strahlentherapie hängt v. a. von der Größe des Bestrahlungsfeldes (z. B. Ganzkörperbestrahlung 100%, Schädelbestrahlung 20%) und der verabfolgten Dosis ab (Feyer et al. 1998; Gralla et al. 1999). 84.1.3 Phasen der Chemotherapie-induzierten
Nausea/Emesis Chemotherapie-induzierte Nausea und Emesis (CINE) kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzen. Antizipatorische CINE (ACINE) tritt bei etwa 30% aller Patienten auf, zeigt Elemente der klassischen Konditionierung (Pawlov) und ist, wenn einmal etabliert, sehr therapierefraktär (Behandlungsoptionen: Verhaltenstherapie, evtl. Lorazepam). Die Bahnung der ACINE kann durch effektive Antiemese verhindert werden. Nach Behandlungsbeginn kann CINE akut (innerhalb von 24 h) oder verzögert (nach 24 h) auftreten. Dies ist eine wichtige Unterscheidung, da verzögert einsetzende CINE wesentlich schwerer zu kontrollieren ist als akute. Serotonin dürfte vorwiegend die akute, Substanz P die verzögerte CINE triggern (Hesketh et al. 2003). 84.2
Prinzipien der antiemetischen Therapie
Prinzipielle Strategie ist es, die behandlungsinduzierte NE a priori zu verhindern. Um dies zu erreichen, wird z. B. bereits bei Gabe von Zytostatika mit mehr als 10% emetogenen Potenzial generell eine antiemetische Prophylaxe empfohlen
84
1054
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 84.1. Emetogenes Potenzial einzelner Zytostatika (nach Fauser u. Kraut 2002; Hesketh et al. 1997)
Emetogenes Potenzial (% Inzidenz)
Substanz
Sehr hoch (>90%)
Hoch (60–90%)
V
Mäßig (30–60%)
Schwach (10–30%)
Sehr schwach (<10%)
Dosierung
Beginn und Dauer des Erbrechens (Tage)
Cisplatin
>50 mg/m2
Früh (5)
Cyclophosphamid
>1500 mg/m2
Spät (1–3)
Dacarbazin
Standarddosis
Früh (1)
Carmustin
>250 mg/m2
Früh (1)
Carboplatin
250–500 mg/m2
Spät (2)
Cisplatin
<50 mg/m2
Früh (5)
Carmustin
<250 mg/m2
Früh (1)
Cyclophosphamid
750–1500 mg/m2
Spät (1–3)
Cytarabin
>1000 mg/m2
Spät (1)
Dactinomycin
Standarddosis
Früh (1)
Doxorubicin
>60 mg/m2
Spät (1)
Epirubicin
>90 mg/m2
Spät (1)
Ifosfamid
>2000 mg/m2
Früh (1–2)
Irinotecan
Standarddosis
Früh (1–2)
Lomustin
Standarddosis
Früh (1)
Methotrexat
>1000 mg/m2
Spät (1)
Procarbacin
Standarddosis
Früh (1–2)
Topotecan
Standarddosis
Früh (1)
Busulphan
Hochdosischemotherapie
Spät (1–2)
Carboplatin
<250 mg/m2
Spät (1–2)
Cyclophosphamid
<750 mg/m2
Spät (1–3)
Daunorubicin
Standarddosis
Früh (1–2)
Doxorubicin
20–60 mg/m2
Spät (1)
Epirubicin
<90 mg/m2
Spät (1)
5-Fluoruracil
1000 mg/m2
Früh (1)
Idarubicin
Standarddosis
Früh (1)
Ifosfamid
<2000 mg/m2
Früh (1–2)
Melphalan
>150 mg/m2
Spät (1)
Methotrexat
250–1000 mg/m2
Spät (1)
Mitoxantron
<15 mg/m2
Früh (1)
Cytarabin
<1000 mg/m2
Spät (1)
Doxetaxel
Standarddosis
Früh (1)
Etoposid
Standarddosis
Früh (1)
Fludarabin
Standarddosis
Spät (1)
5-Floururacil
<1,000 mg/m2
Früh (1)
Gemcitabin
Standarddosis
Früh (1)
Melphalan
<150 mg/m2
Spät (1)
Methothrexat
50–250 mg/m2
Spät (1)
Mitomycin
Standarddosis
Früh (1–3)
Paclitaxel
Standarddosis
Früh (1)
Teniposid
Standarddosis
Früh (1)
Thiotepa
Standarddosis
Spät (1)
Asparaginase
Standarddosis
Spät (1)
Bleomycin
Standarddosis
Früh (1)
Busulfan
Standarddosis
Spät (1)
Chlorambucil
Standarddosis
Spät (1)
Mercaptopurin
Standarddosis
Spät (1)
Methotrexat
<50 mg/m2
Spät (1)
Thioguanin
Standarddosis
Spät (1)
Vinblastin
Standarddosis
Spät (1)
Vincristin
Standarddosis
Spät (1)
Vindesin
Standarddosis
Spät (1)
Vinorelbin
Standarddosis
Spät (1)
1055 84 · Behandlung von Übelkeit und Erbrechen
⊡ Tabelle 84.2. Algorithmus zur antiemetischen Therapie (nach Fauser u. Kraut 2002; Berde et al. 2001)
Behandlungsziel
Emetogenität der Behandlung
Vermeidung akuter Symptome
Hoch (>60%)
5-HT3-Antagonist + Steroid (+ NK1-Antagonist?)*
Mäßig (30–60%)
5-HT3-Antagonist
Gering (10–30%)
5-HT3-Antagonist
Rescue bei Durchbruch von akuten Symptomen
Unabhängig von der Emetogenität
Vermeidung verzögert einsetzender Symptome
Hoch (>60%)
Steroid + 5-HT3-Antagonist (und/oder NK1-Antagonist?), evtl. Metoclopramid
Mäßig (30–60%)
Ggf. Steroid (oder NK1-Antagonist?), 5-HT3-Antagonist oder Metoclopramid
Gering (10–30%)
Keine
Unabhängig von der Emetogenität
Rescue bei Durchbruch von verzögert einsetzenden Symptomen
Behandlung
5-HT3-Antagonist (oder NK1-Antagonist?) Steroid Lorazepam oder Levomepromazid Metoclopramid
Steroid (oder NK1-Antagonist?) Metoclopramid 5-HT3 Antagonist Lorazepam, Levomepromazin
* NK1-Antagonisten sind derzeit noch nicht zugelassen – initiale Studien weisen aber auf besondere Wirksamkeit beim verzögerten Erbrechen und auf einen additiven Effekt zu anderen Antiemetika hin ( Text).
(Gralla et al. 1999; Gralla 2002). Um das Auslösen von NE zu verhindern muss die Signalübertragung der emetogenen Stimuli vor deren Auftreten bis zum Abklingen blockiert werden. Angaben zu Stärke und Dauer der Emetogeniät verschiedener Zytostatika finden sich in Tabelle 84.1. Die Behandlung ist nach einem Stufenplan durchzuführen, detaillierte Empfehlungen finden sich in ⊡ Tabelle 84.2. Bei NE bedingt durch andere Pathologien (Entzündung oder Obstruktion im Gastrointestinaltrakt, Kapselspannung etc.) gelten ähnliche pharmakologische Behandlungsprinzipien, es muss aber vorher immer auch die Ursache geklärt werden. 84.3
Wichtige antiemetische Substanzen
84.3.1 Serotoninantagonisten Die selektiven Serotoninantagonisten (5-HT3-Rezeptorantagonisten, Setrone; Serotonin = 5-Hydroxytryptamin = 5-HT) sind der Goldstandard der antiemetischen Pharmakotherapie; Ondansetron, Granisetron und Tropisetron sind für Kinder (>2–4 Jahre) zugelassen (⊡ Tabelle 84.3). Zytostatika und ionisierende Strahlen führen zur Freisetzung von 5-HT im Gastrointestinaltrakt und Hirnstamm wodurch Erbrechen getriggert wird. 5-HT3-Antagonisten dämpfen selektiv u. a. vagale Afferenzen. Studien, die einen Vorteil einer Substanz oder einer Darreichungsform belegen, fehlen für Kinder (Hesketh 2000). Unterschiede in der Rezeptorbindung (Granisetron > Tropisetron > Ondansetron) erfordern Dosierungsanpassung (⊡ Tabelle 84.3). Wichtigste unerwünschte Wirkungen sind Kopfschmerz, Asthenie, Obstipation (Subileus), selten Schwindel, Sehstörungen und Kardiotoxizität (Goodin u. Cunningham 2002). Einzelne 5-HT3-Antagonisten werden unterschiedlich metabolisiert (u. a. über ver-
schiedene Zytochrom-P450 Isoenzyme); dies erklärt Unterschiede in Halbwertszeiten und Interaktionen mit anderen Arzneimittel. 84.3.2 Kortikosteroide Obwohl auch als Monotherapie wirksam, werden Kortikosteroide (meist Dexamethason, aber auch Prednisolon) vorwiegend in Kombination mit anderen Antiemetika sehr erfolgreich eingesetzt. Der Wirkmechanismus ist nicht geklärt, eine Reduktion des Serumkortisols unter Chemotherapie wird diskutiert. Dexamethason wird meist in einer Dosis von 8 mg/m2 i.v. als Bolus vor Therapiebeginn, danach 16 mg/m2 verteilt auf Einzeldosen gegeben (Alvarez et al. 1995). Über optimale Dauer der Steroidtherapie liegen keine Studien vor. Steroidbedingte unerwünschte Wirkungen sind zu bedenken. 84.3.3 Psychopharmaka/Neuroleptika Substanzen dieser Gruppe sind v. a. von Nutzen, wenn trotz Einsatz von 5-HT3 Antagonisten und Steroiden Erbrechen auftritt. Phenothiazine wie z. B. Levomepromazin sind stark dämpfende Neuroleptika (Dopamin antagonistisch im Brechzentrum). Unerwünschte Wirkungen sind Sedierung, psychische Distanzierung, orthostatische Dysregulation und extrapyramidale Symptome. Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) wirken indirekt durch Anxiolyse und Sedierung und können antizipatorisches Erbrechen beeinflussen.
84
V 1056
INN
Dosierung 2
Zulassung
Handelsname (D)*
Handelsname (A)*
Handelsname (CH)*
Ondansetron
Initial 5 mg/m , danach alle 12 h 4 mg oral
Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen bei Therapie mit Zytostatika und Strahlentherapie (Kinder ab 4 Jahren)
Zofran 4 mg/8 mg Filmtabletten, 4 mg/8 mg Ampullen., Lösung p.o., Zofran Zydis 4 mg/8 mg lingual
Zofran 4 mg/8 mg Filmtabletten, 4 mg/8 mg Ampullen., Lösung p.o., Zofran Zydis 4 mg/8 mg lingual
Zofran Filmtabletten und Zydis Lingualtabletten (je 4 mg und 8 mg), Sirup (4 mg/5 ml), Infusionskonzentrat (4 mg/8 mg)
Granisetron
<25 kg: 40 µg/kg i.v., >25 kg: 1 mg i.v. (kann auf 3 mg gesteigert werden)
Übelkeit und Erbrechen bei Therapie mit Zytostatika und Strahlentherapie (Kinder ab 2 Jahren)
Kevatril Filmtabletten 2 mg, Infusionslösungskonzentrat 1 mg/3 mg
Kytril 1 mg/2 mg Filmtabletten und 1 mg/3 mg i.v.
Kytril 1 mg/2 mg Filmtabletten und 1 mg/3 mg i.v.
Tropisetron
0,2 mg/kg (Maximaldosis: 5 mg)
Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen bei Therapie mit Zytostatika (Kinder ab 2 Jahren)
Navoban 5 mg Kapseln, 5 mg/ 5 ml Injektionslösung, 2 mg/2 ml zur Injektion und Infusion
Navoban 5 mg Kapseln, 2 mg/5 mg Ampullen, Tropisetron Novartis 5 mg Kapseln, 2 mg/5 mg Ampullen
Navoban 5 mg Kapseln, 2 mg/5 mg Ampullen
Dexamethason
Prophylaxe und Therapie von Zytostatika-induziertem Erbrechen im Rahmen antiemetischer Schemata (relative Kontraindikation: Kinder im Wachstumsalter)
Fortecortin 0,5 mg/2 mg/4 mg/ 8 mg Tabletten, 4 mg/8 mg/40 mg/ 100 mg Injektionslösung (Generika nicht für CINE zugelassen)
Fortecortin 0,5 mg/2 mg/4 mg/ 8 mg Tabletten, Injektionslösung 4 mg/8 mg/40 mg/100 mg (Generika nicht für CINE zugelassen)
Fortecortin 4 mg Tabl., 4 mg/8 mg/40 mg/100 mg Ampullen
Prednisolon
Prophylaxe und Therapie von Zytostatika induziertem Erbrechen
Decortin H Tabletten 1 mg/5 mg/ 20 mg/50 mg, Solu Decortin H Injektionslösung (Ampullen nicht für CINE zugelassen)
Aprednislon 1 mg/5 mg/25 mg Tabletten, Prednihexal 5 mg Tabletten 25 mg/ 50 mg Ampullen, Prednisolon Nycomed 5 mg/25 mg Tabletten, 25 mg Ampullen
Prednisolon Streuli 5 mg/ 20 mg/50 mg Tabletten, 10 mg/ml Tropfen, 25 mg Injektionssuspension
Levomepromazin
Keine Zulassung für CINE
Neurocil 25 mg/100 mg Filmtabletten, Tropfen, Ampullen
Nozinan 25 mg/100 mg Tabletten, Tropfen, Injektionslösung
Nozinan 25 mg/100 mg Tabletten, Tropfen, Injektionslösung
Lorazepam
Keine Zulassung für CINE
Tavor 0,5 mg/1 mg/2,5 mg Tabletten, Tavor pro injectione 2 mg, duralozam 1 mg/2,5 mg, Laubeel 1 mg/2,5 mg, Lorazepam-ratiopharm 1 mg/2,5 mg
Temesta 1 mg/2,5 mg Tabletten, 2 mg/4 mg Injektionslösung, Lorazepam Genericon 2,5 mg
Temesta 1 mg/2,5 mg Tabletten, 4 mg Injektionslösung, Sedazin 1 mg/2,5 mg Tabletten, Lorasifar 1 mg/2,5 mg Tabletten
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 84.3. Wichtige Substanzen der antiemetischen Therapie
1057 84 · Behandlung von Übelkeit und Erbrechen
Akineton 2 mg Tabletten, 4 mg Retardtbl, 5 mg/ml Injektionslösung Akineton 2 mg Tabletten, 4 mg Retardtabletten, 5 mg/ml Injektionslösung Akineton Tabletten, retard, Ampullen, biperiden 2 von ct Tabletten, Biperiden-ratiopharm 2 mg Tabletten Durch Neuroleptika und ähnlich wirkende Arzneimittel bedingte extrapyramidale Symptome wie Frühdyskinesien, Akathisie, Parkinsonoid (nur begrenzte Erfahrungen bei Kindern) Biperiden
* Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, für Einzelheiten hinsichtlich des Zulassungsstatus sowie der genauen Applikationsformen siehe Packungsbeilage, Rote Liste bzw. Fachinformationen (online: Deutschland: http://www.rote-liste.de, http://www.fachinfo.de, Schweiz: http://www.documed.ch, Österreich: http://www.pharmazie.com).
Paspertin 50 mg Ampullen (Gastrosil Tabletten, Tropfen und 10 mg i.v. nicht für CINE zugelassen) Paspertin 50 mg Ampullen (Gastrosil Tabletten, Tropfen und 10 mg i.v. nicht für CINE zugelassen) Gastrosil 50 mg Ampullen, Paspertin 50 mg/10 ml Infusionslösungskonzentrat (orale Arzneiformen und 10 mg Ampullen nicht für CINE zugelassen) Metoclopramid
2 mg/kg in zweistündigen Abständen (maximal 10 mg/kg); Alternative: Dauerinfusion
Hochdosierte MetoclopramidTherapie, bei Übelkeit und Erbrechen durch Zytostatika (Kinder ab 14 Jahren)
84.3.4 Sonstige Antiemetika Wegen der hohen Inzidenz an extrapyramidalen Nebenwirkungen (Dyskinesien, Akatisie etc.; Therapie: Biperiden) sollte Metoclopramid bei Kindern nur in Ausnahmesituationen verwendet werden. In Standarddosierung blockiert Metoclopramid D2-Rezeptoren, hochdosiert auch 5-HT3Rezeptoren. Die kurze Halbwertszeit erfordert frequente Gaben (etwa alle 4 h). Auch Cannabinoide wurden bei Kindern mit leichter und mittelschwerer CINE erfolgreich eingesetzt. Geringe Wirkung bei stark emetogener Therapie, hohe Rate unerwünschter Wirkungen (Schwindel, Halluzinationen) und fehlende Vergleichsstudien zu 5-HT3-Antagonisten limitieren den Einsatz im Rahmen eines individuellen Heilversuchs (Tramer et al. 2001).
Adäquate antiemetische Medikation nach den oben genannten Richtlinien kann Übelkeit und Erbrechen im Rahmen der onkologischen Therapie bei den meisten Patienten verhindern oder doch beträchtlich lindern. Eine weitere Verbesserung der Behandlungsergebnisse kann entweder durch Erweiterung des therapeutischen Armentariums oder verbesserte Anwendung der zurzeit verwendeten Medikamente erreicht werden. Tachykinine (Substanz P, Neurokinin A und B) dürften eine wichtige Rolle in der neuronalen Vermittlung von Brechreizen spielen. Neurokinin1-Rezeptorantagonisten (NK1-Rezeptorantagonisten, z. B. Aprepitant) wurden als Additiv bei akutem, aber auch besonders bei verzögert einsetzendem Erbrechen, ohne Auftreten von unerwünschten Wirkungen, erfolgreich geprüft; sie sind derzeit aber noch nicht zugelassen (Navari et al. 1999; Campos et al. 2001; De Wit 2003). Initiale Ergebnisse pharmakogenetischer Untersuchungen zur Dosisoptimierung von 5-HT3-Antagonisten (Polymorphismen im Zytochrom-P450-CYP2D6-Gen und im 5HT3BRezeptorgen) scheinen ebenfalls erfolgversprechend (Kaiser et al. 2002; Tremblay et al. 2003).
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84
1058
V
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
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1059
Schmerztherapie1 B. Zernikow
85.1 85.2
Schmerzanamnese – 1059 Schmerzmessung und -dokumentation – 1059
85.2.1 85.2.2
Schmerzmess-Skalen – 1059 Schmerztherapiedokumentation – 1059
85.3
Schmerztherapie bei therapie- und tumorassoziierten Schmerzen – 1061
85.3.1 85.3.2 85.3.3
Das WHO-Stufenschema – 1061 Nebenwirkungen der Analgetikatherapie – 1067 Adjuvanzien des WHO-Stufenschemas – 1067
85.4
Schmerztherapie bei chirurgischen Eingriffen – 1067 Literatur – 1069
Anfang der 90er-Jahre fand auf Betreiben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Konferenz zur Schmerztherapie in der Kinderonkologie stattfand, auf der Schmerztherapierichtlinien erarbeitet und Forschungsziele festgelegt wurden. Es dauerte noch fast 10 Jahre, bis die WHO-Publikation »Cancer Pain Relief and Palliative Care in Children« auf den Markt kam (World Health Organization 1998). Und erst 2002 erschien die deutsche Übersetzung »Schmerztherapie und palliative Versorgung krebskranker Kinder (Zernikow et al. 2002), an der sich die Inhalte dieses Kapitels orientieren. Unterstützend kann ein Eltern-Kind-Handbuch »Weniger Schmerzen bei Krebserkrankungen« (Henkel u. Zernikow 2002) eingesetzt werden, das über die Deutsche Kinderkrebsstiftung erhältlich ist.
85.1
Schmerzanamnese
Die häufigsten Schmerzursachen in der Kinderonkologie sind schmerzhafte Eingriffe und Mukositiden im Rahmen der zytostatischen Therapie. Diese Schmerzzustände sind rasch diagnostiziert und erfordern keine umfangreiche Schmerzanamnese. Tumorschmerzsyndrome wie Phantomschmerz nach Amputationen, neuropathische Schmerzen bei Infiltrationen von Knochen- und Nervengewebe oder als Nebenwirkung einer Ciclosporintherapie, verbrennungsähnliche Hautzerstörungen im Rahmen von Knochenmarktransplantationen, Leberkapselschmerzen bei venookklusiver Erkrankung (VOD) und Schmerzen im Rahmen einer GVHD bedürfen einer ausführlichen Schmerzanamnese.
1
Der Autor wird unterstützt durch die Peter und Ruth Wirts Stiftung und die Deutsche Kinderkrebsstiftung, Bonn.
Schmerzlokalisation, zeitlicher Schmerzcharakteristik, Schmerzgenese und -charakter sollten auf SchmerztherapieDokumentationsbögen der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie in der Tageskurve dokumentiert werden (⊡ Abb. 85.1; Zernikow et al. 1999). 85.2
Schmerzmessung und -dokumentation
! Einmal täglich sollte jedes Kind einer kinderonkologischen Station nach Schmerzen gefragt werden. Wenn Schmerzen bestehen, muss eine regelmäßige Schmerzmessung mindestens ebenso häufig wie die Vitalwertekontrolle erfolgen!
85.2.1 Schmerzmess-Skalen Es existieren keine validierten, praktikablen Instrumente der Schmerzfremdeinschätzung bei tumor- oder chemotherapieassoziierten Schmerzen im Säuglings- und Kleinkindalter. ⊡ Abb. 85.2 enthält ein einfaches Schema zur Fremdeinschätzung bei tumorassoziierten Schmerzen (Zernikow et al. 1999). Dieses Schema ist in Anlehnung an die Empfehlung der Konsensuskonferenz der American Academy of Paediatrics von 1992 erstellt, aber bis dato nicht evaluiert worden (McGrath et al. 1990; Schechter 1990). Cartoon-Schmerzgesichter können bei chronisch kranken Kindern, die in ihrer kognitiven Entwicklung häufig akzeleriert sind, ab einem Alter von ca. 3 Jahren gut für die Schmerzmessung eingesetzt werden (Denecke u. Hünseler 2003). 85.2.2 Schmerztherapiedokumentation Im Krankenhaus. Um Schmerzen als fünftes Vitalzeichen – neben Atemfrequenz, Puls, Blutdruck und Temperatur –in den Klinikalltag zu integrieren, sind unterschiedlich große Schmerzaufkleber entstanden, die in jedes gängige Krankenhaus-Dokumentationssystem eingeklebt werden können (Beispiel Abb. 85.1; Zernikow 2003). Zu Hause. Die ambulante Schmerztherapie findet regelmä-
ßig in palliativen Situationen statt. Tagebücher und die »Memorial Symptom Assessment Scale« (Collins et al. 2000) erleichtern die Steuerung der Schmerz- und Palliativtherapie (zu beziehen über die Deutsche Kinderkrebsstiftung, Bonn).
85
V
1060
⊡ Abb. 85.1. Schmerztherapie-Dokumentationsbogen
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Übersicht
1061 85 · Schmerztherapie
⊡ Abb. 85.2. Schmerzmesskarte. Die Cartoon-Gesichter wurden nach Pothmann u. Goepel (1985) modifiziert
85.3
Schmerztherapie bei therapieund tumorassoziierten Schmerzen
Die Prinzipien der medikamentösen Schmerztherapie sind sehr einfach. Nach neuesten Studien können sicherlich 90% aller Schmerzen in der Kinderonkologie erfolgreich behandelt werden, wenn folgende Regeln beachtet werden: ▬ Bei der Auswahl der Analgetika sollte das WHO-Stufenschema berücksichtigt werden. Akute, starke Schmerzen sind in der Kinderonkologie die Regel. Deswegen sollen frühzeitig Opioide zur Anwendung kommen. Keinesfalls soll das Kind von WHO-Stufe zu WHO-Stufe klettern müssen. ▬ Müssen Nebeneffekte der Nichtopioidanalgetika – hier insbesondere Fiebersuppression und Gerinnungshemmung – vermieden werden, sind frühzeitig und auch bei mäßigen Schmerzen Opioidanalgetika einzusetzen. ▬ Sind Nebeneffekte der Opioidanalgesie – hier insbesondere Subileus oder Sedierung – ein klinisch nicht zu beherrschendes Problem, können in Ausnahmefällen auch 2 Nichtopioidanalgetika (Paracetamol und Metamizol) kombiniert werden. ▬ Bei chronischen Schmerzen hat sich die Kombination aus Opioid und Nichtopioidanalgetikum bewährt. ▬ Mit Ausnahme der oralen Mukositis ist der orale Applikationsweg zu bevorzugen.
▬ Analgetika werden bei tumor- und therapieassoziiertem Schmerz sowie postoperativ zur Gabe nach der Uhr und zusätzlich für Schmerzspitzen nach Bedarf angeordnet. ▬ Die Obstipation als häufigste und regelmäßig auftretende Nebenwirkung einer Opioidanalgesie muss prophylaktisch behandelt werden. 85.3.1 Das WHO-Stufenschema Einige Besonderheiten der Kinderonkologie erfordern eine Modifikation des WHO-Stufenschema (⊡ Abb. 85.3): ▬ 60% der kinderonkologischen Patienten haben Schmerzen bei der Erstdiagnose. Der initiale Tumorschmerz lässt sich am besten durch eine schnelle Diagnosestellung und eine adäquate antineoplastische Therapie behandeln. Analgetika sollten konsequent eingesetzt werden, bis die antineoplastische Therapie ihre Wirkung zeigt. Dies dauert bei hämatologischen Malignomen 1–2 Wochen, kann jedoch bei Schmerzen durch solide Tumoren längere Zeit in Anspruch nehmen. ▬ Aggressive antineoplastische Therapieregime mit den Folgen Knochenmarkaplasie und Mukositis kommen in der Regel sofort nach Diagnosestellung zum Einsatz. Es verbieten sich nichtsteroidale Antirheumatika (wegen der von ihnen verursachten Thrombozytenaggregationshemmung) und invasive analgetische Maßnahmen, wie
85
1062
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Für die Kinderonkologie gilt: Anhand postoperativer Daten gewonnene neue Erkenntnisse zu höheren Paracetamoldosierungen dürfen keinesfalls kritiklos auf die Kinderonkologie übertragen werden. Wenn in der Kinderonkologie eine Langzeittherapie mit PCM für länger als 72 h vorgesehen ist, sollten regelmäßig S-GOT, S-GPT und Gerinnung sowie einmalig nach 3 Therapietagen der Paracetamolspitzenspiegel bestimmt werden. Unter Paracetamolgabe kommt es extrem selten zu Überempfindlichkeitsreaktionen und zur Störung der Blutbildung bis hin zur Panzytopenie. Acetylsalicylsäure. Acetylsalicylsäure (ASS) sollte in der Kinderonkologie bei thrombozytopenischen oder vor einer Thrombozytopenie stehenden Kindern gar nicht und in der übrigen Pädiatrie wegen der Gefahr eines Reye-Syndroms nur mit strenger Indikationsstellung eingesetzt werden.
V
⊡ Abb. 85.3. WHO-Stufenmodell
die rückenmarksnahe Analgesie (wegen möglicher Blutungen bei Thrombopenie). ▬ Auch Kinder in der Neugeborenen- und frühen Säuglingsperiode sind von malignen Erkrankungen betroffen. Bei ihnen besteht eine besondere Empfindlichkeit hinsichtlich der atemdepressiven Nebenwirkung von Opioiden. ▬ Die Dosisberechnung erfolgt bei Kindern mit einem Körpergewicht bis zu 50 kg immer auf einer mg/kg KG-Basis. WHO-Stufe 1: Nichtopioidanalgetikum (+/– Adjuvans) In der Kinderonkologie gebräuchliche Nichtopioidanalgetika sind Paracetamol, Metamizol, Ibuprofen, Indometacin und Naproxen (Dosierungen Tabelle 85.1). Paracetamol. Paracetamol (PCM) ist das gängigste Nichtopioidanalgetikum in der Kinderonkologie. Es beeinflusst weder die thrombozytäre Thromboxan-A2-Produktion noch die periphere Cyclooxygenase (COX). Daher fehlen sowohl der hemmende Effekt auf die Plättchenaggregation und eine antiinflammatorische Wirkung als auch die für nichtsteroidale Antirheumatika typischen Nebenwirkungen wie gastrointestinale Mukosaschäden. Der genaue Wirkmechanismus von Paracetamol – der aber sicher zentralnervös ist – ist bislang ungeklärt. Eine Hemmung der ZNS-Cyclooxygenase 3 (COX-3) und eine Störung der enzymatischen NO-Synthese wird diskutiert. In der Kinderonkologie kann die Entgiftungskapazitäten der Leber für Paracetamol durch wiederholte Einnahme, Fehlernährung im Rahmen einer toxischen Chemotherapie und antineoplastische Medikamente eingeschränkt sein. Es kann aber auch durch die gleichzeitige Gabe von P450-Induktoren wie Carbamazepin, Phenytoin u. a. zu einer vermehrten Produktion des potenziell toxischen Metaboliten N-Acetyl-p-Benzochinin-Amin (NABQUI) kommen. Unabhängig von der onkologischen Erkrankung existieren Polymorphismen der Zytochrom-P450-Expression (wie CYP2E1), die einzelne Kinder hinsichtlich hepatotoxischer Medikamente vulnerabler machen.
Ibuprofen, Indometacin und Naproxen. In der Kinderonkologie werden auch diese NSAR wegen der Störung der Plättchenaggregation nur dann eingesetzt, wenn weder eine Thrombozytopenie vorliegt noch eine aplasiogene Chemotherapie geplant ist. Indometacin und Naproxen besitzen eine hohe antiphlogistische Potenz, die man sich bei entzündlich bedingten Schmerzen zu Nutze macht. Knochenschmerzen sind eine weitere Indikation für NSAR. In der Langzeittherapie sollte hier Ibuprofen bevorzugt werden, da es mit dem geringsten Risiko gastrointestinaler Nebenwirkungen behaftet ist. Eine Dosisreduktion muss bei Nierenoder Leberinsuffizienz erfolgen. Bei gleichzeitiger Gabe von NSAR mit Digoxin oder Methotrexat kommt es zur Serumspiegelerhöhung dieser beiden Medikamente. Metamizol. Metamizol wird in der Kinderonkologie sehr
häufig in Kombination mit Tramadol oder Morphin in der Behandlung der chemotherapieassoziierten Mucositis eingesetzt, um die notwendige Opioidmenge und die damit verbundenen Nebenwirkungen (v. a. die Obstipation) zu minimieren. Seine antipyretische Wirkung birgt die Gefahr, dass Fieber als Zeichen einer Infektion bei granulozytopenischen Patienten suppremiert wird und sich dadurch der Beginn einer suffizienten antibiotischen Therapie verzögert. Spasmoly tische Eigenschaften von Metamizol sind willkommen bei abdominellen Schmerzen, wie sie häufig im Rahmen einer Mukositis auftreten. Knochenmarkschädigungen sind laut wissenschaftlicher Informationsbroschüre eine Kontraindikation für die Anwendung von Metamizol, obwohl die schwere Granulozytopenie eine seltene Nebenwirkung und beim Einsatz von Nichtopioiden keinesfalls spezifisch für Metamizol ist. In wie weit Metamizol zu einer verzögerten Rekonstitution des Knochenmarks nach aplasiogener Chemotherapie führt, ist unbekannt. Weitere wichtige Nebenwirkungen sind Überempfindlichkeitsreaktionen und Allergien. Diese können in Extremfällen und bei intravenöser Gabe zum Kreislaufschock führen. Insbesondere bei hohem Fieber sollte Metamizol nur kontinuierlich intravenös oder als Kurzinfusion und bei instabilen Kreislaufverhältnissen gar nicht verabreicht werden. Vorsicht ist geboten, bei Patienten mit Asthma- bzw. Allergieanamnese. Für die Kinderonkologie wichtige Arzneimittelinteraktionen weist Metamizol mit Ciclosporin auf: bei gleichzeitiger Anwendung kann der Ciclosporinspiegel absinken.
1063 85 · Schmerztherapie
⊡ Tabelle 85.1. Analgetika der WHO-Stufe 1 (Auswahl)
Medikament (alphabetisch)
Tageshöchstdosierung (mg/kg KG/Tag)
Diclofenac
1–3
Orale/rektale Tageshöchstdosierung bei Erwachsenen (mg) 150
Einzeldosierungen
Präparatebeispiele
In 2 Dosen In 1 Dosis (Retardtablette)
Voltaren Tabletten (25 mg, 50 mg), Retardtabletten (100 mg)
In 3 Dosen
Saft (Nurofen-Fiebersaft, Dolormin für Kinder 5 ml = 100 mg) Tabletten (Dolormin und Dolormin extra, 200 bzw. 400 mg) Suppositorien (Imbun 200 mg))
In 3 Dosen In 1 Dosis (Retardtablette)
(Brause-)Tablette (Indometacin AL 25, 50 mg) Retardtabletten (Indocotin 75 mg) Saft (Indo-Paed) Zäpfchen (Indometacin BC 50, 100 mg)
Suppositorien (50, 100 mg), Kindersuppositorien (25 mg), Kleinkindsuppositorien (12,5 mg), Injektionslösung (1 ml = 25 mg)
Ibuprofena
30–40
Indomethacin
2–3
Metamizolb
60–75
5000
In 4–6 Dosen
Tabletten (Novalgin 500 mg) Tropfen (Novalgin 1 Tropfen = 12,5 mg) Injektionslösung ( Novalgin 1 ml = 500 mg) Suppositorien (Novalgin 300, 1000 mg)
Naproxen
10–15
1000
In 2 Dosen
Tabletten (Proxen 250, 500, 1000 mg) Saft (Proxen) Suppositorien (Proxen 500 mg)
Paracetamolc, d
≤2 Jahren: 60 >2 Jahre: 90
4000
In 4–6 Dosen
Tabletten (Ben-u-ron 500 mg) Saft (Ben-u-ron 1 ml = 40 mg) Suppositorien (Ben-u-ron 125, 250, 500, 1000 mg)
a b c d
2400
150
Ibuprofen ist von allen NSAR mit dem geringsten Risiko gastrointestinaler Nebenwirkungen behaftet. Nicht in den ersten 3 Lebensmonaten. Die maximale Tagesdosis sollte ohne regelmäßige Kontrolle der Leberwerte nicht länger als 72 h verabreicht werden. Paracetamol kann auch i.v. verabreicht werden: 15 mg/kg KG pro Dosis als schnelle Kurzinfusion über 5–15 min, bis zu alle 6 h.
WHO-Stufe 2: schwaches Opioid (+/– Nichtopioidanalgetikum, +/– Adjuvans) Auf der WHO-Stufe II (⊡ Tabelle 85.2, 85.3 und 85.4) kommen schwache Opioide zum Einsatz. Das Opioid wird gemäß individuellem Schmerzverlauf ausgewählt: Bestehen mittelstarke Schmerzen ohne zu erwartende Progredienz, wird ein schwaches Opioid eingesetzt. Ist eine rasche Progredienz zu starken Schmerzen absehbar, startet die Therapie schon initial mit einem Opioid der WHO-Stufe 3. Tramadol. Tramadol ist ein reiner Opioidrezeptoragonist.
Seine analgetische Wirkung wird gesteigert durch eine Zunahme der Serotoninsekretion sowie durch die Blockade der synaptischen Wiederaufnahme von Noradrenalin im ZNS. Die unerwünschten Wirkungen Übelkeit, Erbrechen und Atemdepression werden beim Einsatz in der Pädiatrie selten beobachtet – auch weil bei Dosierungen von über 8 mg/kg in der Regel ein Wechsel auf Morphin vorgenommen wird. Dihydrocodein, Tilidin, Dextropropoxyphen. Alle 3 Analge-
tika werden in der Kinderonkologie in Deutschland nur sehr selten eingesetzt, wohl auch, weil nur oral zu verabreichende Präparate zur Verfügung stehen (Zernikow et al. 2001).
WHO-Stufe 3: starkes Opioid (+/– Nichtopioidanalgetikum, +/– Adjuvans) Der Einsatz starker Opioide am Beginn einer Schmerztherapie ist in der Kinderonkologie die Regel. In Deutschland eingesetzte starke Opioide: Morphin: Standardanalgetikum bei starken Schmerzen und bei Mukositis Hydromorphon: Ersatzopioid bei individueller Unverträglichkeit und bei Leber- oder Niereninsuffizienz Piritramid: postoperativ Oxycodon: bei zentralnervösen Nebenwirkungen anderer Opioide Levomethadon: bei extrem starken Schmerzen, insbesondere in der Palliativsituation Pethidin: bei schmerzhaften Prozeduren Fentanylpflaster: wenn die Einnahme von Tabletten unerwünscht ist und eine stabile Schmerzsituation vorliegt Buprenorphin: traditionell mit eher unklarer Indikation
85
V 1064
Äquianalgetische Dosisa
Übliche Startdosis i.v.b
i.v.
p.o.
<50 kg
Codeinc
130 mg
200 mg
Fentanyl
100 µg Einzeldosis
–
Hydromorphon
1,5 mg
Morphin
Opioid
Übliche Startdosis p.o.b
>50 kg
DosisVerhältnis i.v. zu p.o.
<50 kg
>50 kg
Biologische Halbwertszeit (h)
n.e.
n.e.
1:1,5
0,5–1 mg/kg KG alle 3–4 h
30 mg alle 3–4 h
2,5–3
0,5–2 µg/kg KG/h als DTI
25–75 µg stündlich
–
–
–
3
7,5 mg
0,015 mg/kg KG alle 2–4 h DTI: 0,005 mg/kg KG/h
1–1,5 mg alle 2–4 h
1:5
–
–
2–3
10 mg
30 mg
Bolus: 0,05–0,1 mg/kg KG alle 2–4 h DTI: 0,03 mg/kg KG/h
5–10 mg DTI: 1 mg/h
1:3
0,15–0,3 mg/kg KG alle 4 h
5–10 mg alle 4 h
2,5–3
75 mg
300 mg
0,75 mg/kg KG alle 2–4 h
50 –75 mg alle 2–4 h
1:4
1–1,5 mg/kg KG alle 3–4 h
75–100 mg alle 3–4 h
3
Piritramid
–
–
0,05–0,1 mg/kg KG alle 4–6 h
5–10 mg DTI: 1 mg/h
–
–
–
3–5
Tilidin/Naloxonf
–
–
–
–
–
2.–14. Lebensjahr: 1 Tropfen pro Lebensjahr, mindestens 3 Tropfen alle 6 h
Ab dem 14. Lebensjahr 20–40 Tropfen alle 4–6 h
3–6
Tramadol
100 mg
100 mg
1 mg/kg KG alle 2–4 h
50–100 mg
1:1
1 mg/kg KG alle 3–4 h
50–100 mg alle 3–4 h
2–4
Pethidind e
a
Äquianalgetische Dosen basieren auf Einmaldosisstudien bei Erwachsenen. Die übliche Startdosis ist die im allgemeinen verwendete Standarddosis und basiert nicht immer auf äquianalgetischen Prinzipien c Statt Codein wird in Deutschland überwiegend Tramadol eingesetzt. Codein ist in Deutschland als Antitussivum oder in Kombinationspräparaten mit Paracetamol verbreitet. Die Berücksichtigung von Codein im WHO-Stufenschema basiert nicht auf Aussagen wissenschaftlicher Studien, sondern mehr auf der Tradition, Codein zu verabreichen. Codein hat einige pharmakokinetische und -dynamische Besonderheiten, die seinen Einsatz bei Kindern eher ungünstig erscheinen lassen: Die Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe schwankt stark (15 bis über 80%). Codein wirkt über seinen Metaboliten Morphin analgetisch. Die Verstoffwechselung zu Morphin ist abhängig von der Aktivität des Zytochrom-P450-Enzyms CYP2D6. Die Aktivität dieses Enzyms schwankt stark – je nach genetischer Ausstattung des Patienten. Vereinfacht werden Menschen in schlechte und gute Verstoffwechsler eingeteilt, wobei in Deutschland der Anteil ersterer –bei denen Codein extrem schlecht analgetisch wirkt – ca. 10% beträgt. Zudem ist die Aktivität von CYP2D6 bei Kindern bis zum fünften Lebensjahr unvorhersehbar – sie kann die Aktivität des Erwachsenenalters erreichen, beträgt aber in dieser Altersgruppe meist nur bis zu 25% davon. Die CYP2D6-Aktivität und damit die Verstoffwechselung von Codein zu Morphin kann durch Medikamente, die ebenfalls von der WHO empfohlen werden (Metoclopramid, Neuroleptika, Antidepressiva), weiter reduziert werden. III) Bei Neugeborenen traten nach Gabe von Codein z. T. schwere Atemstörungen auf. d Pethidin wird aufgrund seiner langen Halbwertszeit und der möglichen Akkumulation toxischer Metabolite nicht für eine Therapiedauer von über 24 h empfohlen. e Piritramid ist mit vielen Infusionslösungen und Medikamenten nicht kompartibel. Die proklamierte bessere Kreislaufverträglichkeit von Piritramid im Vergleich zu Morphin ist noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Studien gewesen. Nach Studien an Erwachsenen verursacht Piritramid jedoch mehr Übelkeit, Erbrechen und Sedierung als Morphin. f Informationen laut Produktinformation. Dosierungen pro kg KG liegen nicht vor. Euphorisierende Wirkung der nicht-retardierten Form. »Ceiling«-Effekt: maximale Tagesdosis 400 mg. Tilidin ist eine Pro-Drug. Der aktive Metabolit Nortilidin entsteht nach hepatischer Demethylierung von Tlidin. Naloxon ist zum Schutz des Medikaments vor missbräuchlicher i.v. Applikation zugesetzt. Nach oraler Gabe wird Naloxon schnell hepatisch inaktiviert. n.e. nicht empfohlen; DTI Dauertropfinfusion. b
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 85.2. Opioide mit kurzer Halbwertszeit. Dosierungsrichtlinien zur Opioidanalgesie für opioidnaive Patienten modifiziert nach WHO (1998). Bei allen Medikamenten, bei denen eine Unterscheidung in Kinder <50 kg KG und >50 kg KG vorgesehen ist, sollten die Dosierungen für Kinder <50 kg KG in mg/kg KG und die »übliche Erwachsenendosis« für Kinder >50 kg KG verwendet werden. Wenn eine Umstellung auf ein Opioid mit kurzer Halbwertszeit bei einem schon opioidvorbehandelten Patienten vorgenommen wird, sollte das neue Medikament mit 50% der äquianalgetischen Dosis verabreicht werden (Grund: inkomplette Kreuztoleranz) und nach Wirkung titriert werden. Für Säuglinge unter 6 Monate beträgt die Startdosis ein Viertel bis ein Drittel der vorgeschlagenen Dosis und sollte nach Wirkung weiter titriert werden
1065
d
c
Äquianalgetische Dosen basieren auf Einmaldosisstudien bei Erwachsenen. Die übliche Startdosis ist die im Allgemeinen verwendete Standarddosis und basiert nicht immer auf äquianalgetischen Prinzipien. Gemischter Agonistantagonist. Cave. »Ceiling«-Effekt! Maximal 4 mg/Tag. Nicht mit anderen Opioiden kombinieren. Sublingualtabletten ab ca. 35 kg Körpergewicht einsetzbar. Äußerste Vorsicht ist bei der Verwendung von Levomethadon wegen dessen extrem langer biologischer Halbwertszeit angebracht sowohl bei Therapiebeginn als auch bei Dosissteigerung. Einstellung im Kindesalter unter stationären Bedingungen. b
12–50 10 mg alle 4–8 h 0,2 mg/kg KG alle 4–8 h 1:2 5 mg alle 4–8 h 0,1 mg/kg KG alle 4–8 h 20 mg 10 mg Levomethadond
a
6–8 0,2–0,4 mg alle 6–8 h 0,003–0,006 maximal 0,009 mg/kg KG alle 6–8 h (»Ceiling«-Effekt) 0,2–0,4 mg alle 6–8 h 0,003–0,006 maximal 0,009 mg/kg KG alle 6–8 h (»Ceiling«-Effekt) 0,16 mg Buprenorphinc
0,16 mg
>50 kg i.v.
p.o.
<50 kg
1:1
>50 kg <50 kg
Biologische Halbwertszeit (h) Übliche Startdosis p.o.b
DosisVerhältnis i.v. zu p.o. Übliche Startdosis i.v.b Äquianalgetische Dosisa Opioid
⊡ Tabelle 85.3. Opioide mit langer Halbwertszeit. Dosierungsrichtlinien zur Opioidanalgesie für opioidnaive Patienten modifiziert nach WHO (1998) (Anmerkungen Tabelle 85.2)
85 · Schmerztherapie
Dosierungen dieser starken Opioide finden sich in Tabelle 85.2, 85.3 und 85.4. Eine pulsoximetrische Überwachung ist in der Einstellungsphase bei Kindern unter 6 Monaten unverzichtbar und bei intravenöser Opioidtherapie auch für alle anderen Alterstufen zu empfehlen. Bei einer Anwendungsdauer über 5 Tagen wird die Opioidmenge bei Therapieende langsam über 3–4 Tage ausgeschlichen. Bei längerer Anwendungsdauer reduziert man die Dosis anfangs um 20–40%/24 h später um 10–20%/24 h. Die Entwöhnung kann bis zu 2 Wochen in Anspruch nehmen. Beim Wechsel von einem starken Opioid auf ein anderes wird die neue Therapie wird mit der Hälfte der äquianalgetischen Dosis des neuen Opioids begonnen. Morphin. Morphin ist ein reiner Opiatagonist. Es existiert
keine obere Dosisgrenze, die Morphindosis sollte generell am Effekt titriert werden. Hydromorphon. Hydromorphon kann primär eingesetzt
werden oder bei im Verlaufe einer Morphintherapie auftretenden nicht tolerablen oder nicht therapierbaren Nebenwirkungen. Hydromorphon hat keine aktiven Metabolite. Dies ist besonderes wichtig für die Therapie bei Niereninsuffizienz, da hier Medikamente ohne aktive Metaboliten – die in der Regel unterschiedliche Eliminationsraten haben – besser steuerbar sind. Wie Morphin ist Hydromorphon ein reiner Opioidagonist. Piritramid. Postoperativ wird in Deutschland traditionell Piritramid eingesetzt. Wegen seiner hohen Lipophilie tritt die Wirkung prompt ein, was die intravenöse Therapie gut steuerbar macht. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, durch zu schnelle i.v. Applikation eine Euphorie auszulösen und die Kinder »auf den Schuss« zu konditionieren. Ein entscheidender Nachteil: Piritramid lässt sich so gut wie gar nicht mit anderen Pharmaka oder Infusionslösungen mischen. Oxycodon. Oxycodon scheint unter allen Opioiden die wenigsten zentralnervösen Nebenwirkungen wie Halluzinationen, Verwirrtheit etc. auszulösen. Bestehen solche unerwünschten Wirkungen im Rahmen einer Opioidtherapie, empfiehlt sich der Wechsel auf Oxycodon. Levomethadon. Levomethadon ist ein synthetisches Opioid
und wie Morphin ein reiner µ-Agonist. Es ist wegen der extrem langen, terminalen β-Halbwertzeit von 13–50 h schlecht steuerbar. Die Einstellung auf Levomethadon sollte unter stationären Bedingungen erfolgen. Pethidin. Traditionell wird Pethidin in Deutschland bei schmerzhaften Eingriffen und auch international bei Sichelzellkrisen eingesetzt, obwohl Pethidin für beide Indikationen Nachteile und gegenüber anderen Opioiden keine die Nachteile aufwiegenden Vorteile bietet: Einerseits kommt es nach Pethidingabe bei schmerzhaften Eingriffen wegen der hohen Lipophilie rasch zur Analgesie, andererseits verhindert die altersabhängige Halbwertzeit von mindestens einigen Stunden eine schnelle Rekonvaleszenz des Kindes. Hohe Dosen von Pethidin wirken zudem direkt kardiodepressiv. Bei schmerzhaften Einriffen bietet sich der Einsatz von Fentanyl, Ketamin und Propofol (durch
85
1066
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 84.4. Retardierte Opioidzubereitungen. Dosierungsrichtlinien zur Opioidanalgesie für opioidnaive Patienten modifiziert nach WHO (1998) (Anmerkungen Tabelle 84.2)
Opioid
Übliche Startdosis p.o.a <50 kg
V
Biologische Halbwertszeit (h) >50 kg
Dihydrocodeinb retardiert
2 mg/kg KG alle (8–)12 h
60 mg alle 12 h
8–12
Hydromorphon retardiert
0,08 mg/kg KG alle 12 h
4 mg alle 12 h
8–12
Morphin retardiertc
0,5 mg/kg KG alle 12 h
30–60 mg alle 12 h
8–12
Oxycodond retardiert
0,2 mg/kg KG alle 12 h
10 mg alle 12 h
8–12
Tilidin/Naloxon retardiert
–
50–300 mg alle 8–12 h
8–12
Tramadol retardiertf
2 mg/kg KG alle 8–12 h
100–300 mg alle 8–12 h
8–12
a b
c d
e
Die übliche Startdosis ist die im allgemeinen verwendete Standarddosis und basiert nicht immer auf äquianalgetischen Prinzipien. Ob die Verstoffwechselung von Dihydrocodein von CYP2D6 abhängig ist, ist noch unklar. Keine Steigerung von Dihydrocodein über 4 mg/kg KG/Tag, da Zunahme der Nebenwirkungen ohne Zunahme der Wirkung. Bei kleineren Kindern ist Morphin als Retardgranulat sehr gut geeignet. Nach Studien an Erwachsenen scheinen Halluzinationen weniger häufig aufzutreten als unter Therapie mit Morphin. Der Wirkeintritt ist schnell (<1 h), die Wirkdauer dennoch 8–12 h. Tramundin retard ist teilbar, Tramal long nicht. Damit ist Tramundin retard ab einem Körpergewicht von 25 kg einsetzbar.
den Anästhesisten) oder die Durchführung einer Allgemeinnarkose an. Im Rahmen einer chronischen Erkrankung wie der Sichelzellananämie oder bei Tumorschmerzen ist die Anwendung von Pethidin bei Kindern (und Erwachsenen) nicht zu empfehlen, da der Metabolit Norpethidin im Körper kumulieren und zu zerebralen Krampfanfällen führen kann. Die Halbwertzeit von Norpethidin beträgt 20–85 h. Bei Einsatz zusammen mit MAO-Hemmern – z. B. Moclobemid und Tranylcypromin (Psychopharmaka) –kann es zu lebensgefährlichen Komplikationen wie Hyperpyrexie, arterieller Hypo- oder Hypertonie, Delirium und cerebralen Krampfanfällen kommen. Fentanyl. Fentanyl ist wie Morphin ein reiner Opioidagonist.
Es ist sehr viel lipophiler als Morphin, so dass sowohl Wirkungen als auch Nebenwirkungen – insbesondere Atemund Kreislaufdepression – bei intravenöser Applikation sehr schnell eintreten. Fentanylpflaster sind bei sachgerechter Indikationsstellung und Anwendung auch bei Kindern wirksam und nicht mit mehr Nebenwirkungen behaftet als alle anderen starken
Opioide. In der Literatur sind über 80 Fälle pädiatrischer Anwendungen dokumentiert (Zernikow 2003). Das Pflaster soll nur bei stabiler Schmerzsituation eingesetzt werden und keinesfalls am Beginn einer Schmerztherapie. Die Wirkung tritt mit einer Verzögerung von 12 h ein und hält dann 48–72 h an –eine Kinetik, die keine Titration auf Effekt erlaubt. Wichtig ist zudem, dass das Pflaster nicht zerschnitten werden darf. In einigen Studien, betrug die minimale orale Tagesmorphindosis bei Umstellung auf Fentanylpflaster 30 mg/kg KG/Tag (⊡ Tabelle 85.5). Umstellung von oralem Morphin auf Fentanyl-Pflaster: Das Fentanylpflaster sollte zeitgleich mit der letzten Gabe retardierten Morphins gegeben werden. Bestand die Schmerztherapie aus 4 stündlichen Gaben nicht-retardierten Morphins, sollte nach Aufbringen des Fentanylpflasters noch eine Gabe nichtretardierten Morphins verabreicht werden. Zusätzlich zum Fentanylpflaster müssen immer schnellwirkende Fentanyloder Morphinzubereitungen verordnet werden. Die Opioiddosis für Durchbruchschmerzen beträgt ca. 1/6 der Opioidtagesdosis und muss regelmäßig an einen steigenden Grundbedarf angepasst werden. Für Kinder ist ein Wechsel des Fentanylpflasters alle 48 h empfehlen.
⊡ Tabelle 85.5. Umstellung von oraler Morphintherapie auf TTS-Fentanyl bei Kindern (Zernikow 2003)
Tägliche orale Morphindosis
Fentanyldosis (µg/h)
Fentanyldosis (mg/Tag)
Pflastergröße (cm2)
30–135
25
0,6
10
135–224
50
1,2
20
225–314
75
1,8
30
315–404
100
2,4
40
405–494
125
3,0
50
495–584
150
3,6
60
Je weitere 60 mg/Tag
Weitere 25 µg/h
Weitere 0,6 mg/Tag
Weitere 10 cm2
1067 85 · Schmerztherapie
Buprenorphin. Buprenorphin – ein gemischter AgonistAntagonist – wird sublingual und i.v. appliziert. Die sehr starke Opioidrezeptorbindung erklärt die lange Wirkungsund ggf. Nebenwirkungsdauer sowie das Fehlen der Reversibilität der Nebenwirkungen nach Gabe des Morphinantagonisten Naloxon. Wegen des »Ceiling«-Effekts – durch weitere Dosissteigerung über das obere Dosislimit hinaus lässt sich keine Steigerung der Analgesie erzielen – sind die Einsatzmöglichkeiten von Buprenorphin begrenzt.
▬ Schmerz ist ein nützliches Warnsymptom für Komplikationen der Analgetika- oder Antitumortherapie bzw. der Tumorkrankheit an sich. Durch die Selbstapplikation von Opioiden verliert der Schmerz seine Warnfunktion. Auf Therapiekomplikationen wie Harnretention, Frühzeichen einer Pankreatitis und einen – durch den Krankheitsverlauf nicht zu erklärenden – steigenden Opioidverbrauch ist deshalb besonders zu achten. 85.4
85.3.2 Nebenwirkungen der Analgetikatherapie Das Nebenwirkungsprofil einzelner starker Opioide kann beim individuellen Patienten äußerst verschieden sein. Betrachtet man jedoch ein großes Kollektiv, unterscheiden sich die verschiedenen Opioide hinsichtlich Art und Ausmaß ihrer Nebenwirkungen kaum. Es existieren 4 Strategien zur Minimierung der Nebenwirkungen, die nach der »Versuch-und-Irrtum-Methode« ausprobiert werden müssen (Zernikow u. Lindena 2001): ▬ Dosisreduktion, ▬ symptomatische Therapie (⊡ Tabelle 85.6), ▬ Wechsel des Opioids und ▬ Wechsel des Applikationswegs. Selten und insbesondere bei intravenöser Applikation starker Opioide kann es zu arterieller Hypotonie, Urtikaria und bei Allergikern zu Asthmaanfällen kommen. Psychische Veränderungen (z. B. Euphorie) sowie Spasmen des Sphincter Oddi werden im klinischen Alltag selten gesehen. 85.3.3 Adjuvanzien des WHO-Stufenschemas Selten sind in der Kinderonkologie adjuvante Schmerzmittel indiziert. In der Palliativphase auftretende zusätzliche Symptome wie Schlaflosigkeit und Angst sowie spezielle Schmerzsyndrome (Knochenschmerzen, neurogene Schmerzen) können ihren Einsatz in Ausnahmefällen erforderlich machen. Mögliche Nebenwirkungen und das Vorliegen nur beschränkter Erfahrungen im Kindesalter sollten vorab mit Eltern und Kindern besprochen werden. Die patientenkontrollierte Analgesie (PCA) bei kinderonkologischen Patienten weist im Gegensatz zur postoperativen PCA einige Besonderheiten auf: ▬ Bis zu einem Gewicht von 50 kg wird Morphin zusätzlich kontinuierlich mit 4 µg/kg/h infundiert. Die Bolusgröße beträgt 0,02 mg/kg KG, das Sperrintervall 5–10 min. Ab einem Gewicht von 50 kg wird eine den Empfehlungen bei Erwachsenen entsprechende PCAAnfangseinstellung vorgenommen (keine kontinuierliche Infusion, Bolusgröße 1–2 mg Morphin, Sperrintervall 5–10 min). ▬ Auf Knochenmarktransplantationsstationen und während Phasen starker Mukositis wird eine PCA ohne kontinuierliche Infusion am Tage mit einer nächtlichen Morphindauertropfinfusion kombiniert, damit die Kinder nachts nicht wegen Schmerzen erwachen.
Schmerztherapie bei chirurgischen Eingriffen
In Deutschland sind 2/3 des Kinderkrankenpflegepersonals und der ärztlichen- sowie psychosozialen Mitarbeiter mit der Schmerztherapie bei schmerzhaften Eingriffen in der Kinderonkologie nicht zufrieden (Zernikow et al. 2001). Empfohlen wird für Knochenmarkpunktionen eine Allgemeinnarkose bzw. die Kombination von Analgetikum, Sedativum und Lokalanästhetikum (Zeltzer et al. 1990). Neueste Untersuchungen belegen die Wichtigkeit einer effektiven Analgesie beim ersten schmerzhaften Eingriff zum Zwecke der Diagnosestellung: Kinder, bei denen eine unzureichende Analgesie während des initialen Eingriffes erfolgte, benötigten bei Folgeeingriffen höhere Analgetikadosen. Sie erlebten trotzdem mehr Distress und Schmerzen (Weisman et al. 1998). Für eine ausführliche Darstellung der analgosedierenden Methoden sei auf Reinhold et al. (2003) verwiesen. Neben den »großen« schmerzhaften Eingriffen leiden Kinder fast ebenso stark unter »kleinen« Eingriffen wie venösen oder kapillären Blutabnahmen. Hier hat sich auch in der Kinderonkologie der Einsatz von EMLA-Pflaster – einer eutektischen Mischung der Lokalanästhetika Prilocain und Lidocain – bewährt. Die empfohlene Einwirkzeit beträgt 60 min. Belässt man EMLA aber 90–120 min, können Ausmaß und Tiefe der Analgesie noch verbessert werden.
Schmerzen begleiten das krebskranke Kind im gesamten Verlauf seiner Erkrankung. Sie führen zur Diagnose (z. B. Neuroblastom, Knochentumoren), entstehen durch diagnostische Eingriffe und therapeutische Maßnahmen und weisen auf einen progredienten Krankheitsverlauf oder ein Rezidiv hin. In der Lebensendphase schränken schwere Schmerzen nicht selten die Lebensqualität erheblich ein. In den allermeisten Fällen lassen sich auch schwere Schmerzen durch eine rationale Schmerztherapie beherrschen. Unabdingbare Voraussetzung dafür sind eine ausführliche Schmerzanamnese und die kontinuierliche Schmerzmessung und -dokumentation. Die medikamentöse Schmerzbehandlung erfolgt nach dem WHO-Stufenschema – meist mit starken Opioiden. Modifikationen können notwendig werden, wenn bestimmte Nebenwirkungen im Rahmen einer antineoplastischen Therapie vermieden werden sollen. Adjuvante Medikamente und nichtmedikamentöse Therapiemöglichkeiten sollten einen umfassenden Therapieansatz ergänzen.
85
1068
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
⊡ Tabelle 85.6. Supportiva bei der Schmerztherapie mit starken Opioiden ggf. in Kombination mit NSAR
Indikation
Medikament
Dosis
Applikationsmodus
Prophylaktisch gegen Obstipation
Lactulose (z. B. Bifiteral)
≤3 Jahre: Startdosis: 3×2 ml, mittlere Dosis: 3×5 ml >3 Jahre: Startdosis: 3×5 ml, mittlere Dosis: 3×10 ml
p.o.
Natriumpicosulfat (z. B. Laxoberal)
≥4 Jahre: 4–8 Tropfen/24 h ≥12 Jahre: 10–18 Tropfen/24 h
p.o. p.o.
Bisacodyl (z. B. Dulcolax)
2–10 Jahre: 5 mg/Tag >10 Jahre: 10 mg/Tag >10 Jahre: 10 mg/Tag
Supp. Supp. p.o. nicht mit Milch einnehmen
Domperidon (z. B. Motilium)
0,3 mg (=1 Tropfen)/kg Einzelhöchstdosis: 33 Tropfen=10 mg
p.o.
Dimenhydrinat (z. B. Vomex)
1–2 mg/kg alle 6–8 h 5 mg/kg alle 6–8 h Maximale Tagesdosis bei p.o./supp: 2–6 Jahre: 75 mg, 6–12 Jahre: 150 mg
i.v. p.o./supp.
Ondansetron (z. B. Zofran)
5 mg/qm KOF alle 12–24 h Höchstdosis: 8 mg
i.v./p.o.
Experimentell:
<30 kg: Dexpanthenol 500–1000 mg (z. B. 1/2 bis 1 Ampulle Bepanthen à 500 mg plus Neostigmin 20 µg/kg KG (Steigerung bis 50 µg/kg KG möglich)
1. Tag der morgendlichen i.v. Stimulation
Übelkeit
V
Therapeutisch bei Obstipation
>30 kg: Dexpanthenol 1000 mg (z. B. 2 Ampullen Bepanthen à 500 mg) plus Neostigmin 0,5 mg (z. B. 1 Ampulle Neostigmin 0,5 mg) als 2 h-Infusion <30 kg: Dexpanthenol 1000 mg (z. B. 2 Ampullen Bepanthen à 500 mg) plus Neostigmin 50 µg/kg KG
2. Tag bei ausbleibendem Erfolg
>30 kg: Dexpanthenol 2000 mg (z. B. 4 Ampullen Bepanthen à 500 mg) plus Neostigmin 1,0 mg (2 Ampullen Neostigmin 0,5 mg) als 3 h-Infusion >30 kg: Dexpanthenol 2000 mg (z. B. 4 Ampullen Bepanthen à 500 mg) plus Neostigmin 1,0 mg (z. B. 2 Ampullen Neostigmin 0,5 mg) als 2 h-Infusion) Weitere Steigerungen möglich bis zu einer Tageshöchstdosis für Neostigmin bei Erwachsenen 5 mg, bei Kindern <30 kg 2,5 mg; bzw. schnellere Infusion (gleiches Gemisch in 1 h) Juckreiz
Clemastin (z. B. Tavegil)
Bei weiter ausbleibendem Erfolg am 3. Tag
0,04 mg/kg alle 12–24 h
i.v.
1–3 Jahre: 0,25–0,5 mg alle 12 h
p.o.
4–6 Jahre: 0,5 mg alle 12 h
p.o.
7–12 Jahre: 0,5–1 mg alle 12 h
p.o.
>12 Jahre: 1 mg alle 12 h
p.o.
Harnverhalt
Carbachol (z. B. Doryl)
0,05–0,1 mg alle 12–24 h 0,5–1 mg alle 8–24 h
s.c. p.o.
Müdigkeit
Methylphenidat (z. B. Ritalin)
0,1 mg/kg 2×/Tag – morgens und mittags –, damit es zu keiner Störung des nächtlichen Schlafs kommt
p.o.
Atemdepression
Naloxon (z. B. Narcanti)
0,001–0,01 mg/kg
i.v.
Ulcusprophylaxe
Ranitidin (z. B.Sostril)
1–2 mg/kg alle 12 h bei Einmalgabe abends
p.o.
Misoprostol (z. B. Cytotec)
2×5 µg/kg Höchstdosis 2×200 µg/Tag
p.o.
1069 85 · Schmerztherapie
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85
Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen H. Labouvie, G. Bode
V
86.1 86.2
Einleitung – 1070 Psychosoziale Dimension der onkologischen Erkrankung – 1070
86.2.1 86.2.2
Diagnoseschock und familiäre Krise – 1070 Veränderung des kindlichen Lebenskontextes
86.3
Elterninitiativen
86.3.1 86.3.2
Historische Entwicklung – 1071 Bedeutung der Elternarbeit – 1071
86.4
Ganzheitliche Betreuung in der stationären Akutversorgung – 1072
86.4.1 86.4.2 86.4.3
Multiprofessionelles Behandlungsteam – 1072 Patienten- und Familienorientierung – 1072 Gestaltung des Klimas auf einer kinderonkologischen Station – 1073 Krankheitsbewältigung durch »Hilfe zur Selbsthilfe« – 1073
86.4.4
– 1071
– 1071
lichen vielfache psychische und soziale Belastungen für das betroffene Kind und seine Angehörigen einher. Wenn noch vor Jahren die Hoffnungslosigkeit der Diagnose und das rasche Fortschreiten der Erkrankung im Mittelpunkt standen, so sind heute – bei besserer Prognose – andere, nicht minder schwere Belastungen zu erwarten. Die Intensität der Behandlung erzeugt Situationen, die körperlich und psychisch schwer zu verkraften sind. Daher ist die psychosoziale Betreuung krebskranker Kinder und Jugendlicher sowie deren Familien ein bedeutsamer Bestandteil eines ganzheitlich orientierten Versorgungsansatzes. 86.2
Psychosoziale Dimension der onkologischen Erkrankung
86.5
Psychosoziale Unterstützung in den Krankheitsphasen – 1074
86.2.1 Diagnoseschock und familiäre Krise
86.5.1 86.5.2 86.5.3
Diagnosestellung – 1074 Intensivtherapie und Remission – 1074 Therapieende und Nachsorge – 1075
Die Diagnose Krebs versetzt die gesamte Familie in einen Schockzustand, der von den Betroffenen in körperlicher und psychischer Hinsicht als eine tiefgreifende Erschütterung empfunden wird. Der Begriff einer persönlichen oder familiären Krise ist angemessen vor dem Hintergrund, dass sich das betroffene Kind, die Eltern und Geschwister unerwartet einer lebensbedrohlichen Erkrankungssituation mit unbekanntem Ausgang gegenübersehen (Kusch et al. 1996). Nicht selten bringt die Diagnose Krebs nicht nur drastische Veränderungen der Alltagsroutine und Zukunftsplanung mit sich, sondern auch den totalen Zusammenbruch der bestehenden Sinn- und Glaubenssysteme sowie den Verlust des Gefühls von Kontrollierbarkeit und Voraussagbarkeit von Ereignissen (Noeker 2002). Diese Empfindung von Verunsicherung kann während der Zeit der intensiven Therapie und auch nach der überstandenen Erkrankung das persönliche Lebensgefühl nachhaltig dominieren und die Lebensqualität des betroffenen Kindes oder der Angehörigen erheblich beeinträchtigen.
Literatur
– 1075
»Wir treffen uns im großen Besprechungszimmer und sitzen an einer langen Reihe von Tischen unserem jüngsten Gericht gegenüber. Noch einmal müssen wir uns den Urteilsspruch »Neuroblastom« anhören und uns alle Konsequenzen ausmalen lassen. Wozu diese Folter? Warum ist es wichtig, über eine eventuelle Bestrahlung nach der Behandlung in ca. 8 oder 9 Monaten zu reden? Im Moment kann ich mir kaum vorstellen, auch nur einen Tag länger hier auszuhalten. …Muss ich das alles noch einmal anhören, wann ist es endlich genug? Ich wehre mich in der einzigen, mir in diesem Moment zur Verfügung stehenden Form. Ich heule, heule und lasse so diese ganze Flut über mich ergehen.« E. Busch, eine betroffene Mutter.
86.1
Einleitung
Dem Fortschritt der Medizin auf dem Gebiet der Hämatologie und Onkologie ist es zu verdanken, dass heute 2 von 3 an Krebs erkrankte Kinder geheilt werden können. Weniger neue Medikamente als deren Kombination und Dosisintensivierung, bessere Supportivmaßnahmen sowie der Aufbau regionaler Behandlungsabteilungen führten in den vergangenen 30 Jahren zu diesen beeindruckenden Therapieerfolgen. Mit einer Krebserkrankung gehen neben den körper-
! Für manche Familien wird die Krisensituation zu einer chronischen Krise, bei der nichts mehr so ist oder funktioniert, wie es einmal war.
Die Eltern stehen unter der Mehrfachbelastung, nicht nur mit der eigenen Betroffenheit fertig werden zu müssen, sondern sich um das lebensbedrohlich erkrankte Kind, die Anforderungen in der Behandlung und die Betreuung der Geschwisterkinder kümmern zu müssen (Schreiber-Gollwitzer et al. 2002). Die Partnerschaft der Eltern ist auf eine harte Belastungs- und Bewährungsprobe gestellt, zumal die Bewältigungsreaktionen von Müttern und Vätern sehr unterschiedlich sein können. Kommunikationsprobleme zwischen den Eltern und das Erleben mangelnder gegenseitiger Unterstützung können die Folge sein. Berufliche und existentielle
1071 86 · Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen
Erfordernisse des Alltags sind neben den vielfältigen Belastungen manchmal nur noch schwer zu meistern und können die Familie zudem in eine soziale Notlage bringen. 86.2.2 Veränderung des kindlichen
Lebenskontextes Die Krebserkrankung bedeutet für das Kind eine abrupte Umstellung des bisherigen Lebens an die Erfordernisse der medizinischen Behandlung. Diese sind gekennzeichnet durch viele, häufig langwierige Krankenhausaufenthalte, zahlreiche medizinisch-pflegerische Maßnahmen und Untersuchungen, die belastend und schmerzhaft sein können. Die Therapie erfordert von den Kindern ein hohes Maß an Einsicht, Verständnis, Geduld und aktiver Mitarbeit. Je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes sind die notwendigen kognitiv-emotionalen Voraussetzungen noch nicht vorhanden, um die unterschiedlichen Situationen im Krankenhausalltag gut bewältigen zu können (Hauck 1992). Dem gemäß sind sehr junge Kinder meist vulnerabler gegenüber den mit der Behandlung verbundenen Belastungen (Eiser et al. 1992). Ältere Kinder und Jugendliche leiden oftmals stärker unter dem Verlust der sozialen Beziehungen, der schulischen Integration, der Selbstständigkeit und der Unabhängigkeit. Sie setzen sich zum Teil gedanklich sehr intensiv mit ihrer Erkrankung und der Möglichkeit zu sterben auseinander, was zu massiven existenziellen Ängsten führen kann. Wissenschaftliche Studien belegen die Erfahrungen aus der klinischen Praxis und zeigen, wie nachhaltig die psychosozialen Konsequenzen der Krebserkrankung auch Jahre später noch auf das Leben der Kinder und Jugendlichen sowie deren Familien wirken können. Psychometrische Studien zu den psychosozialen Folgen von Krebs im Kindesund Jugendalter (Beck et al. 1997; Kusch et al. 1999; Langer et al. 2000) weisen auf Probleme im Bereich der Lebenszufriedenheit (im Hinblick auf Beruf, Freizeit, zwischenmenschlichen Beziehungen), im Bereich der Funktionalität (im Hinblick auf Selbstständigkeit, intellektuelle, motorische und sprachliche Fertigkeiten) oder im Bereich der Morbidität (Auftreten von Verhaltensstörungen, Depressionen, traumatischen Störungen) hin (Eiser u. Havermans 1994; Van Dongen-Melman 1995).
»Krebs im Kindesalter« wurde durch das Engagement der Eltern zum öffentlichen Thema in Presse und Politik. In Deutschland gründete sich 1980 als Zusammenschluss von 5 regionalen Elternvereinen der Dachverband der Elterngruppen krebskranker Kinder »Deutsche Leukämie-Forschungshilfe – Aktion für krebskranke Kinder e.V.«, der als überregionaler bundesdeutscher Verband heute vielfältige Koordinations- und Vernetzungsaufgaben hat. Er bildet das Dach von 66 der insgesamt 90 heute existierenden Elterngruppen in Deutschland. 1995 ist die Deutsche Kinderkrebsstiftung aus dem Dachverband heraus gegründet worden, um längerfristige Aufgaben im Rahmen der Forschungsförderung erfüllen zu können. Dachverband und Deutsche Kinderkrebsstiftung stehen in wechselseitigem Austausch mit Vertretern der »Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie« (GPOH) und der »Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie« (PSAPOH). Österreich. In Österreich kam es im Jahre 1988 zum Zusam-
menschluss von 6 inzwischen etablierten Elterngruppen in einzelnen Bundesländern mit der Bezeichnung »Dachverband der Österreichischen Kinderkrebshilfe Organisation e.V.«. Die Ziele der Elterninitiativgruppen waren vorwiegend ausgerichtet auf Verbesserung des sozialen Umfeldes krebskranker Kinder im Krankenhaus, d. h. der apparativen und personellen Ausstattung sowie des sozialen Umfeldes zu Hause. Darüber hinaus hat der Dachverband die Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit und der internationalen Kontakte als ein vordergründiges Anliegen angesehen. Natürlich war auch die Unterstützung gezielter Forschung in diesen Organisationsformen als grundsätzliches Anliegen verankert. Im gleichen Jahr wie die Gründung des Dachverbandes kam es in Österreich auch zur Gründung des »Forschungsinstituts für krebskranke Kinder e.V.« mit Sitz im St. Anna Kinderspital. Diese Institution entwickelte sich aus der »Elterninitiative krebskranker Kinder« am St. Anna Kinderspital und hat österreichweit zur diagnostischen Vernetzung und Qualitätssicherung der diversen Behandlungsstellen geführt. Neben Grundlagenforschung obliegt dieser Institution die Durchführung sämtlicher für die Diagnose- und Therapiestratifikation und -steuerung notwendigen Untersuchungen. Schweiz. In der Schweiz wurde die erste regionale Eltern-
86.3
Elterninitiativen
86.3.1 Historische Entwicklung Deutschland. Bereits Ende der 70er-Jahre gründeten Eltern krebskranker Kinder an einigen kinderonkologischen Zentren erste Selbsthilfegruppen. Die Pädiatrische Onkologie in dieser Zeit war geprägt von neuen Therapieversuchen mit intensiven Kombinationschemotherapien, die die Kinder zu einer neuen Gruppe von Intensivpatienten machte. Damals mussten Eltern zusehen, wie ihre Kinder auf beengtem Raum mit wenig Personal und kaum verfügbaren medizinischen Geräten die gefährlichen Therapien durchmachten. Nach der Gründung von Elterninitiativen konnten die Bedingungen in den Krankenhäusern zunächst durch materielle Hilfen verbessert werden. Das bis dato meist tabuisierte Thema
gruppe 1969 in Basel gegründet, weitere folgten in den 80erund Anfang der 90er-Jahren. Für den deutschsprachigen Bereich der Schweiz übernimmt die »Schweizerische Interessengemeinschaft für krebskranke Kinder«, heute auch unter »Kinderkrebshilfe Schweiz« bekannt, eine überregionale Funktion. Anders als die regionalen Elterngruppen steht die »Kinderkrebshilfe Schweiz« in Verbindung zur »Schweizerisch Pädiatrischen Onkologie Gruppe« (SPOG). 86.3.2 Bedeutung der Elternarbeit Die regionalen Elterninitiativen und ihre übergeordneten Zusammenschlüsse sind für die Patienten und Angehörigen zu wichtigen Institutionen geworden, die den Betroffenen neben der Lobbyarbeit und dem Sammeln von Spendengeldern in der Krankheitssituation konkrete Hilfestellun-
86
1072
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
gen bieten. Die gegenseitige Unterstützung der Betroffenen nimmt eine bedeutsame Funktion im Rahmen der Krankheitsbewältigung ein. Die Kompetenzen der Familien werden im Selbsthilfegedanken explizit aufgegriffen und erfahren eine Stärkung in der Solidarisierung und partnerschaftlichen Unterstützung Gleichbetroffener. Angebote von regionalen und überregionalen Elterngruppen:
V
Regional Finanzierung von medizinischer Ausstattung sowie von Personalsstellen in den Kliniken Elternbetreuung: Elternabende, Gesprächskreise, Trauerbegleitung, Familienwochenenden Organisation von Festlichkeiten, Ausflügen, Freizeiten für Patienten, Geschwister und Angehörige Einrichtung und Betreiben von Elternhäusern an kinderonkologischen Zentren Überregional Publikation von Ratgebern, Büchern, Broschüren und Zeitschriften für Patienten, Angehörige und Öffentlichkeit. Info-Telefon und Vermittlung von Hilfsangeboten Unterstützung finanzschwacher Eltern durch einen »Sozialfond« Förderung von klinischen Forschungsprojekten Informations- und Fortbildungsveranstaltungen für Patienten und Angehörige, Elterngruppenleiter und Elternhausbetreuer Aktuelle Informationen unter www.kinderkrebsstiftung.de (Deutschland), www.kinderkrebshilfe.at (Österreich), www.kinder-krebs.ch (Schweiz) Betreiben eines Camps (erlebnispädagogisches Nachsorgeprojekt für Patienten und Geschwister) »Junge-Leute-Seminar« für ehemals betroffene Jugendliche und junge Erwachsene Fahrradtour ehemals Betroffener (»Regenbogenfahrt«)
Der Initiative und dem Engagement der Elterngruppen ist es mit zu verdanken, dass in den 80er- und 90er-Jahren die psychosoziale Versorgung in die onkologische Therapie integriert wurde. Die Zusage zur Kostenübernahme von Planstellen für psychosoziale Mitarbeiter durch die Krankenkassenverbände führte zu einer nachhaltigen Verbesserung der Strukturqualität in der Gesundheitsversorgung krebskranker Kinder und Jugendlicher. Allerdings werden heute noch viele psychosoziale Fachkräfte durch Elterninitiativen finanziert. 86.4
Ganzheitliche Betreuung in der stationären Akutversorgung
Erzieher, Seelsorger und andere therapeutisch Tätige, wie z. B. Musik- oder Kunsttherapeuten, nicht mehr wegzudenken. Vor dem Hintergrund der gravierenden und vielschichtigen Auswirkungen der Krebserkrankung und -behandlung auf den gesamten Lebenskontext und die Lebensperspektive des Kindes ist die psychosoziale Unterstützung des Patienten und seiner Angehörigen Ausdruck unserer ethischen Verpflichtung. Deshalb muss die Verantwortlichkeit für die psychosoziale Betreuung trotz des enormen Kostendrucks im Gesundheitswesen auch zukünftig primäre Aufgabe der Kliniken bleiben. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit gestaltet sich in vielen Kliniken nach einem kollaborativen Modell (Roberts 1986; Johnson 1990), in dem Arzt, Krankenschwester und psychosoziale Mitarbeiter als gleichberechtigte Kollegen ihre eigene Perspektive einbringen können. Integrierendes Element einer ganzheitlichen Betreuung ist nicht nur die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Professionen, sondern das gemeinsame Interesse aller auf einer pädiatrischen Station arbeitenden Personen an einer familien- und patientengerechten Betreuung. Der Patient und die Familie sind aktiv in die Therapieprozesse und -entscheidungen mit einzubeziehen. Den Eltern des erkrankten Kindes kommt zudem eine entscheidende Aufgabe als Mittherapeuten zu, indem sie als wichtigste Bezugspersonen ihrem Kind in der Behandlung Hoffnung, Sicherheit, Halt und zuverlässige Nähe geben und so auf ihr Kind emotional regulierend und handlungsanleitend wirken (Blount et al. 1991). In einem integrierten multiprofessionellen Rahmen ermöglichen gegenseitige informelle Kommunikation und interdisziplinäre Teambesprechungen eine enge Abstimmung aller an der Behandlung Beteiligten. Plötzliche Krisen können durch eine prompte Unterstützung aufgefangen werden. Die behandlungsbegleitenden psychosozialen Maßnahmen helfen, ein Kumulieren von Belastungserlebnissen zu vermeiden. 86.4.2 Patienten- und Familienorientierung Die Notwendigkeit, sich in der medizinischen Behandlung an den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen zu orientieren, ist nicht nur wissenschaftlich begründbar (Manne et al. 1993) und eine gesundheitspolitische Forderung (Johnson 1990; Shelton et al. 1987), sondern v. a. auch eine notwendige ethische Einstellung zum Patienten (Stabler 1993). Die in der Gesundheitsversorgung Tätigen verfügen zwar über mehr Wissen und Können im Hinblick auf die Behandlung der onkologischen Erkrankung (kompetenzbedingte Autorität), die Betroffenen verfügen aber in der Entscheidung darüber, was richtig oder gut für sie selbst ist, über mindestens ebenso viele Kompetenzen wie die professionellen Helfer (moralische Autorität; Yeo 1994).
86.4.1 Multiprofessionelles Behandlungsteam
! Das Gefühl, als Patient die eigene Autonomie zu verlieren, ist für viele Betroffene eine der schlimmsten Befürchtungen.
In der pädiatrischen Onkologie ist die psychosoziale Betreuung der Patienten durch unterschiedliche Berufsgruppen wie Psychologen, Sozialarbeiter/-pädagogen, Pädagogen,
Aus verschiedenen Studien, die in der Zeit zwischen 1965 und 1988 von der »Association for the Care of Children’s Health (ACCH)« durchgeführt wurden (Shelton et al. 1987), wird deutlich, dass die gesamte Familie für eine effektive medizi-
1073 86 · Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen
nisch-pflegerische Versorgung körperlich erkrankter Kinder eine immense Bedeutung hat. Schwerkranke Kinder sind auf den besonderen Schutz naher Bezugspersonen angewiesen und bedürfen der familiären Unterstützung. Dabei sind die gesunden Familienmitglieder wie Eltern und Geschwister ebenfalls als Betroffene zu betrachten, die einer gewissen Mitbehandlung und Unterstützung bedürfen. Von der »Joint Commission on the Accreditation of Healthcare Organizations« (JCAHO 1990) wird eine familienorientierte Gesundheitsversorgung gefordert, die die Wünsche und Bedürfnisse der betroffenen Familien in den Mittelpunkt der Versorgung stellt. Familienorientierte Gesundheitsversorgung nach JCAHO: Effektive Koordination und Kommunikation in der Zusammenarbeit Beachtung der Rechte der Kinder unterschiedlichen Entwicklungsniveaus und ihrer Familien Normalisierung der Umwelt des Kindes im Krankenhaus unter Berücksichtigung von Reifung, Entwicklung und Wohlbefinden des Kindes Vollständige Realisierung des Anspruchs, die Familie in allen Fragen der Untersuchung, Therapie und Betreuung des Kindes mit einzubeziehen Einzelfallbezogene Untersuchung und Diagnostik unter Berücksichtigung der Reife, der Entwicklung und der psychosozialen Bedürfnisse des Kindes sowie der Familie Fortführung der Beschulung des Kindes
86.4.3 Gestaltung des Klimas auf einer kinder-
onkologischen Station Uneingeschränkte Besuchszeiten, die Möglichkeit der Mitaufnahme eines Elternteils auf der Station oder in einem nahegelegenen Elternhaus sowie eine freundliche und kindgerechte Ausstattung der Patientenzimmer sind heute zu einer Selbstverständlichkeit in den Kinderkliniken geworden; ebenso das Bemühen, die stationären Aufenthalte so kurz wie möglich zu halten (Hertl 1999). Für das kranke Kind und die Angehörigen ist das Krankenhaus über einen langen Zeitraum hinweg eine »zweite Heimat«, weshalb ein mitmenschlich stützender und vertrauensvoller Umgang in der überaus schwierigen Zeit der Verarbeitung der bedrohlichen Diagnose und der Bewältigung der Behandlung mit all ihren Nebenwirkungen, Komplikationen und Risiken sehr bedeutsam ist. In einem positiven Klima auf einer onkologischen Station liegt eine enorme psychologische Ressource für die betroffenen Familien, die darin Stabilität, Halt und Solidarität erfahren und ihrer existenziellen Verunsicherung durch aktive Mitarbeit, offene Kommunikation und Beteiligung am Behandlungsgeschehen entgegenwirken können. Jedes Mitglied des Behandlungsteams, sei es aus dem medizinischen, pflegerischen oder psychosozialen Fachbereich, ist für die Schaffung und Aufrechterhaltung eines positiven Klimas in gleicher Weise verantwortlich und wird hierfür gebraucht. Die
psychosozial Tätigen übernehmen zudem die Aufgabe, die für das Kind und seine Familie möglicherweise ungünstigen Bedingungen des Klinikalltags aufzuzeigen und gemeinsame Lösungsstrategien zur Verbesserung zu finden. Sie stehen dabei dem Behandlungsteam als Berater zur Verfügung. Diese Aufgaben setzen bei den psychosozialen Mitarbeitern eine hohe Kompetenz im Umgang mit interpersonellen Konflikten und in der Mediation von Bedürfnissen und Erwartungen von Patienten und Behandelnden voraus. 86.4.4 Krankheitsbewältigung durch
»Hilfe zur Selbsthilfe« In der pädiatrischen Onkologie gibt es vielfältige auf der klinischen Erfahrung basierende psychosoziale Betreuungskonzepte und mittlerweile immer mehr Ansätze, die sich um eine wissenschaftliche Fundierung und Standardisierung bemühen (Kusch et al. 1996; Topf et al. 1997; Schreiber-Gollwitzer et al. 2003). Es existiert allerdings noch kein einheitlicher psychosozialer Betreuungsstandard. Allen Betreuungskonzepten gemeinsam ist jedoch der Gedanke der »Hilfe zur Selbsthilfe«. Mit dem Selbsthilfekonzept geht die Annahme einher, dass Patient und Familie grundsätzlich über ausreichende persönliche und familiäre Kompetenzen verfügen, um die Erkrankung und Behandlung zu bewältigen. Unter Krankheitsbewältigung werden die kognitiven, emotionalen und handlungsbezogenen Bemühungen des einzelnen oder der Familie verstanden, die Gesamtheit der Belastungen der Krankheit zu ertragen und die Anforderung der Behandlung zu meistern (Heim 1988). Sie ist ein dauerhafter, behandlungsbegleitender Prozess, bei dem so genannte Schutzfaktoren wie z. B. eine gute intrafamiliäre Kommunikation, stabile Partnerschaft oder optimistische Grundeinstellung erleichternd wirken, zusätzliche Belastungen, so genannte Risikofaktoren wie familiäre Konflikte, Ehescheidung oder sprachliche Barrieren eine günstige Verarbeitung erschweren (Mulhern et al. 1993; Hockenberry et al. 1994). ! Ziel der psychosozialen Betreuung ist es, die Betroffenen so schnell und umfassend wie möglich zur eigenständigen Bewältigung der medizinischen Therapie und den verbundenen Belastungen zu befähigen, die in der Familie vorliegenden Ressourcen zu mobilisieren und bestehende Belastungen abzubauen bzw. neue Bewältigungsformen zu erarbeiten.
Die Betreuung muss sich an den individuellen Bedürfnissen des Patienten orientieren und bedarf deshalb eines sorgfältigen diagnostischen Prozesses, der stets die Grundlage für die Auswahl und Durchführung angemessener psychosozialer Interventionen sein sollte. Gemäß dem Konzept der therapieorientierten Diagnostik (Wittchen 1992) und der Praxiskontrolle (Petermann 1992) sollte eine kontinuierliche Prozess- und Ergebnisevaluation möglich sein und gegenüber der Patientenfamilie transparent gemacht werden.
86
1074
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
86.5
Psychosoziale Unterstützung in den Krankheitsphasen
86.5.1 Diagnosestellung
V
Hoffnung und Vertrauen in die medizinische Behandlung sind vor dem Hintergrund der lebensbedrohlichen Erkrankung die eigentliche Ressource der Familie (Noeker 2002). Umso bedeutsamer ist für die Betroffenen eine aussichtsreiche Behandlungsoption, in die eine realistische Hoffnung gesetzt werden kann. Das ärztliche Diagnosegespräch nimmt demnach für den Patienten und die Angehörigen eine Schlüsselstellung ein. Bei der Mitteilung der Diagnose werden die elterlichen Vorahnungen zu einer definitiven Wirklichkeit und erzeugen Gefühle der Fassungslosigkeit, Verwirrung, Angst, Wut und Trauer. Bei Diagnoseeröffnung befinden sich die Betroffenen in einer extremen Stresssituation, die oftmals eine Beeinträchtigung in der kognitiven und emotionalen Aufnahmeund Verarbeitungskapazität mit sich bringt. Verstandene Inhalte können kurze Zeit später wieder vergessen werden (Ruccione et al. 1991). Im Gespräch bedarf es deshalb neben einer ungestörten Umgebung mit ausreichend verfügbarer Zeit einer guten psychologischen Führung, Transparenz und Verständlichkeit in der Aussage. Es erfordert vom Arzt ein umfassendes Verständnis über das mit der Diagnose ausgelöste Bedrohungserleben und die von den meisten Betroffenen gedankliche Antizipation ihres möglichen Todes. Zugleich ist die ärztliche Kompetenz gefragt, in die verzweifelte Situation eine optimistische Wende mit positivem Ausblick zu bringen, ohne die medizinische Prognose zu verharmlosen und ohne die Sorgen und Nöte des Patienten dabei zu negieren. Die Rolle der psychosozial Tätigen kann beim oder nach dem ärztlichen Diagnosegespräch darin liegen, sich von der Familie die mitgeteilten Informationen aus ihrer Erinnerung und Wahrnehmung schildern zu lassen. Nicht verstandene Sachverhalte oder Missverständnisse können dabei identifiziert und korrigiert werden, wobei insbesondere auf das Verständnis der Behandlungsoptionen geachtet werden sollte (Noeker 2002). ! In der Aufarbeitung des Diagnosegesprächs und in der wahrheitsgemäßen Aufklärung des Kindes in Abstimmung mit den Eltern liegen bei Behandlungsbeginn die Kernaufgaben der psychosozialen Betreuung.
86.5.2 Intensivtherapie und Remission Die Einleitung der onkologischen Therapie führt in der Regel zu einem Rückgang im Erleben der überwältigenden Angst und fokussiert die Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf die Bewältigung der konkret anstehenden Therapieerfordernisse. Ist eine erste Remission der Erkrankung nachgewiesen, setzt bei den meisten Familien eine sichtbare Entspannung ein. Die Therapie wird mehr und mehr zum Alltag, in dem trotz ständiger Konfrontation mit der Bedrohung das Bemühen um »Normalität« des Lebens im Vordergrund steht. Schule und Wiederaufnahme der sozialen Beziehungen zu
Freunden und Spielkameraden spielen im Leben des Kindes wieder eine größere Rolle. Die Bewältigung im Zusammenhang einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung und langandauernden Therapie vollzieht sich phasenspezifisch, das heißt, sie ergibt sich aus dem »natürlichen« Verlauf der Krisen- oder Belastungsbewältigung (Lazarus 1991). Danach werden Anforderungen, Belastungen, Stress oder Lebenskrisen gewöhnlich bewältigt, indem eine Person zunächst Informationen sucht, um ihre aktuelle Lebenssituation zu verstehen, dann Handlungsalternativen auswählt, um diese Situation zu meistern, und rückblickend nachdenkt, um zu bewerten, wie sie ihre Lebenssituation meisterte, bzw. um sich zu entspannen oder sich auf eine kommende Belastung vorzubereiten. Vergleichbar der medizinisch-pflegerischen Versorgung sollte die tägliche psychosoziale Versorgung klaren Vorgaben entsprechen und sich in der behandlungsbegleitenden psychosozialen Betreuung diesen phasenspezifischen Bewältigungsaufgaben zuordnen. Die Interventionsansätze beruhen auf 3 Konzepten der Gesundheitspsychologie. Im Ansatz des »informed consent« (Bibace 1991), des »adherence« (Meichenbaum u. Turk 1987) und des »reappraisal/ recovery« (Lazarus 1991) stehen die Zustimmung zur medizinischen Therapie und jeder einzelnen medizinisch-pflegerischen Maßnahme durch den Patienten, die Übernahme von Mitverantwortung an der Behandlung sowie die kognitivemotionale Auseinandersetzung und Neubewertung im Zentrum der psychosozialen Bemühungen. In der Umsetzung der psychosozialen Aufgaben können primäre von sekundären Maßnahmen unterschieden werden (Kusch et al. 1996). Primäre Maßnahmen sollen das konkrete Gesundheitsverhalten des Patienten optimieren, mit dem Ziel, die Betroffenen in der zur Genesung notwendigen Umsetzung der medizinisch-pflegerischen Anforderungen und Belastungen zu unterstützen. Psychosoziale Maßnahmen der vertiefenden Aufklärung, Vorbereitung und Aufarbeitung von medizinisch-pflegerischen Maßnahmen, Einzel-, Familien- und Sozialberatung helfen dabei, die aktive Mitarbeit und Übernahme von Verantwortung in der Behandlung zu fördern. Sekundäre Maßnahmen werden herangezogen, wenn auf Seiten der Familie psychische und soziale Bedingungen vorliegen, die eine zufriedenstellende Behandlungsdurchführung erschweren oder behindern. In diesen Fällen werden persönliche, familiäre oder soziale Maßnahmen erforderlich, die in der psychosozialen Belastungsproblematik neu strukturierend wirken. Psychologische Krisenintervention, systemisch orientierte Familienberatung, flankierende soziale und andere therapeutische Maßnahmen dienen dazu, Ansatzpunkte zu erarbeiten, anhand derer die Familie ihr psychisches Gleichgewicht und Funktionsniveau wiedergewinnen kann. In den ersten Wochen und Monaten der Intensivtherapie ist die psychosoziale Unterstützung für die Familien oftmals bedeutsamer als im weiteren Verlauf der Therapie, wenn eine emotionale Gewöhnung und erfolgreiche Anpassung an die Erfordernisse der Erkrankung und Behandlung stattgefunden haben. Allerdings leiden die gesunden Geschwister meist dauerhaft unter der veränderten familiären Situation, da sie diejenigen sind, die während der Krankenhausaufenthalte des erkrankten Kindes durch andere Bezugspersonen betreut
1075 86 · Psychosoziale Unterstützung von Patienten und ihren Angehörigen
werden müssen. Oftmals zeigen die Geschwister erst am Ende oder nach der Therapie Anzeichen von Eifersucht, Wut, Trauer, Angst, selber zu erkranken, bis hin zu massiven Verhaltensauffälligkeiten z. B. im Sozialverhalten oder verbunden mit Schulproblemen (Van Dongen-Melman et al. 1995). ! Der behandlungsbegleitenden Geschwisterbetreuung sollte in der psychosozialen Betreuung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
86.5.3 Therapieende und Nachsorge Zum Ende der stationären Intensivtherapie nehmen die Ängste vor der Erkrankung und einem möglichen Rezidiv gewöhnlich wieder zu. Das nahe Therapieende mit dem Einstellen der intensiven Behandlung vermittelt eine neue Verunsicherung. Vor dem Hintergrund einer fehlenden Garantie für die Effektivität der medizinischen Behandlung ist das ärztliche Gespräch zum Therapieende wieder von besonderer Bedeutung für die Familie. Hierbei ist es für Patient und Eltern wichtig, nochmals eine Bestätigung darüber zu erhalten, dass eine auf dem höchsten wissenschaftlichen Stand verfügbare und bestmögliche Therapie verabreicht wurde und dass der gewünschte Erfolg mit den heutigen Methoden nachweislich eingetreten ist. Für einige Kinder kann es besonders wichtig sein, vom Arzt zu hören, dass sie nun wieder als gesund gelten. Das Ablegen der Krankenrolle kann genauso wie das Annehmen derselben ein schwieriger Prozess sein, der nun den schmerzvollen Verlust von vorübergehendem Krankheitsgewinn und erfahrenen Privilegien nach sich zieht. Eine sorgfältige Planung und umfassende Aufklärung über die medizinische Nachsorge vermitteln den Familien das Gefühl von einem Mindestmaß an Kontrolle über die zurück gewonnene Gesundheit des Kindes. Auch wenn die engmaschigen Nachsorgekontrollen für viele eine Beruhigung darstellen, leiden dabei oftmals die betroffenen Kinder, die Eltern und manchmal auch die Geschwister nachhaltig unter massiven Ängsten, die die Lebensqualität über viele Jahre hinweg beträchtlich einschränken kann (Lozowski 1993). Einen angemessenen Umgang mit der Angst zu finden, ist neben dem Wiedereinfinden in das soziale, schulische, berufliche und familiäre Alltagsleben eine der schwierigsten Aufgaben, die die Betroffenen nach einer überstandenen Krebserkrankung zu leisten haben. Die psychosoziale Betreuung der Kinder und ihrer Familien darf am Ende der Therapie ebenfalls nicht aufhören, sondern sollte wie in der stationären Behandlung integrierter Bestandteil einer übergreifenden ganzheitlichen Nachsorge sein. So kann es sinnvoll sein, dass beim ärztlichen Abschlussgespräch ein psychosozial Tätiger anwesend ist und mit den Betroffenen einen Rückblick über die gemeinsam bewältigten Belastungen und Krisen hält. Dabei können die familiären Kompetenzen und Ressourcen nochmals deutlich hervorgehoben, im Vorausblick von der Familie antizipierte Schwierigkeiten besprochen sowie die verfügbaren Hilfestellungen seitens des psychosozialen Teams im Rahmen der ambulanten Nachsorge explizit angeboten werden (Labouvie et al. 2003). In den meisten kinderonkologischen Zentren werden psychosoziale Hilfestellungen in der ambulanten
Nachsorge durch spezielle Beratungsangebote, Familien- und Jugendseminare, Elternabende und -gruppen oder Betreuung von Selbsthilfegruppen angeboten. Eine besondere Stellung kommt der psychosozialen Nachsorge im Rahmen der stationären familienorientierten Rehabilitation zu, deren Bedeutsamkeit und Effektivität mittlerweile in vielen wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte (Häberle et al. 1997).
Die Diagnose einer onkologischen Erkrankung hat neben den körperlichen immer auch einschneidende Konsequenzen in psychologischer und sozialer Hinsicht für das Leben des Kindes oder Jugendlichen. Ganzheitliche Versorgung von onkologischen Patienten bedarf deshalb einer behandlungsbegleitenden psychosozialen Betreuungsangebotes, das lokal in den Kliniken verankert ist. Dem zunehmenden Kostendruck und politischen Gesundheitsreformen sollte dieses Angebot nicht zum Opfer fallen. Die Elterninitiativen leisten bis heute wertvolle Beiträge zur Verbesserung der Strukturqualität in der Versorgung auf kinderonkologischen Stationen. Sie ergänzen in wirkungsvoller Weise die psychosoziale Arbeit der professionell Tätigen. Den psychosozialen Betreuungsansätzen gemeinsam ist der Selbsthilfegedanke, die Familienorientierung und die unmittelbare Ausrichtung der Indikationen und Interventionen an den Bedürfnissen der Patienten/-familien. Der Geschwisterbetreuung und der psychosozialen Nachsorge sollte zukünftig noch mehr Beachtung geschenkt werden. Aufgabe der kommenden Jahre ist die Weiterentwicklung und Etablierung eines überregionalen, einheitlichen psychosozialen Versorgungsstandards, der dabei auch Anforderungen der kontinuierlichen Qualitätsentwicklung berücksichtigt.
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1076
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
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1077
Komplementäre und alternative Therapieverfahren B. Krammer, A. Längler
87.1
Einleitung
87.1.1 87.1.2
Definitionen – 1077 Häufigkeit der Anwendung von komplementären und alternativen Therapien – 1078 Erwartungen der Eltern – 1078
87.1.3
– 1077
87.2
Ziele von komplementären Therapien – 1078
87.2.1 87.2.2
Häufig angewandte Therapieverfahren – 1079 Nebenwirkungen und Wechselwirkungen komplementärer Therapien mit Chemotherapeutika – 1079
87.3 87.4
Beratungsempfehlungen an Eltern – 1080 Komplementärmedizinische Forschung – 1080 Literatur – 1081
»Die existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu einem begrenzten Teil der Wirklichkeit.« (W. Heisenberg, Physik und Philosophie) Grundlage einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit alternativer und komplementärer Medizin ist die Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbegriff an sich, medizinspezifischen Grundbegriffen und dem Begriff des Beweises. Denn eine Medizin, die die Individualität des erkrankten Menschen in Diagnostik und Therapie berücksichtigt, verlangt eine differenzierte Begriffsbestimmung des individuellen Wirksamkeitsnachweises. Damit in der Vielzahl der verschiedenen Sichtweisen von Gesundheit, Krankheit und Heilung keine Willkür entsteht, und weil es nicht das Ziel ist, einer Meinung zu sein, ist eine rationale (im Sinne von sachgemäße) Begründung der verschiedenen Sichtweisen erforderlich. »Auch wenn alle einer Meinung sind, können doch alle unrecht haben« Bertrand A.W. Russel (1872–1970), Britischer Logiker, Philosoph, Schriftsteller und Nobelpreisträger
87.1
Einleitung
Unverzichtbare Basis in der Behandlung krebskranker Kinder ist die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zur Heilung führende etablierte onkologische Therapie. So gilt für die pädiatrische Onkologie, ganz im Gegensatz zu manchen Indikationen in der Erwachsenenonkologie und auch allgemeinen Pädiatrie (Soldner u. Stellmann 2001), dass die so genannten komplementären und/oder alternativen Therapiemethoden nicht alternativ, sondern allenfalls ergänzend zu den etablierten Therapieverfahren zur Anwendung kommen sollen. Ausgenommen sind Situationen, in denen alle individuell sinnvollen konventionellen Therapieverfahren ausgeschöpft sind und nicht zur Heilung geführt haben. Die Erfahrungen und Ergebnisse aus der Anwendung komple-
mentärer und alternativer Therapieverfahren in der Erwachsenenonkologie sind für Kinder zunächst nicht prinzipiell und unkritisch übertragbar. So sollen in diesem Kapitel Stellenwert und Anliegen von solchen Therapieverfahren in der pädiatrischen Onkologie erläutert werden; es folgen Empfehlungen für eine Beratung im Elterngespräch, und es werden Gesichtspunkte zu Forschungsansätzen diskutiert. 87.1.1 Definitionen Allen komplementären und alternativen Therapien gemeinsam ist, dass sie nicht primär Bestandteil der etablierten wissenschaftlichen Medizin sind und im universitär-akademischen Bereich nur selten in Forschung und Lehre miteinbezogen werden. Für diese Therapien werden oft die unterschiedlichsten, meist wenig trennscharfen Begriffe synonym gebraucht: Erfahrungsheilkunde, Naturheilkunde, Ganzheitsmedizin, integrative Medizin, unkonventionelle medizinische Richtungen, biologische Medizin. ▬ Alternative Medizin: ein zur konventionellen Medizin unterschiedliches und in Konkurrenz stehendes System. Gesundheit und Krankheit werden anders aufgefasst und die Methoden konventioneller Forschung, Diagnostik und Therapie werden in der Regel abgelehnt. ▬ Komplementäre Medizin: auf der Basis der konventionellen Medizin werden erweiterte und ergänzende wissenschaftliche, diagnostische und therapeutische Verfahren gesucht und zur Anwendung gebracht. ▬ »complementary and alternative medicine« (CAM): In der angloamerikanischen Literatur werden die Begriffe »alternative« und »complementary« meist gleichzeitig gebraucht und zu »CAM« zusammengefasst.
⊡ Tabelle 87.1. Ausschnitt einer Systematik der komplementären und alternativen Medizin (nach Matthiessen u. Rosslenbroich 1994) Medizinische Systeme
Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Phytotherapie
Diagnoseverfahren
Irisdiagnose, Kinesiologie, Mentaldiagnose
Therapieverfahren
Aromatherapie, Astromedizin, Bachblütentherapie, Magnetfeldtherapie, Farbtherapie, Spagyrik, spirituelle und meditative Verfahren
Therapieverfahren eigener Kulturkreise
Traditionelle chinesische Medizin, ayurvedische Medizin, tibetische Medizin, Unani-Medizin (Indien)
87
1078
Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
Neben der begrifflichen Unterscheidung ist zur besseren Orientierung insbesondere in der Beratung auch eine systematische Unterscheidung, ob es sich um medizinische Systeme, Diagnose- und Therapieverfahren oder Therapieverfahren eigener Kulturkreise handelt, sinnvoll (⊡ Tabelle 87.1). Praktisch-therapeutische Konsequenzen ergeben sich allerdings aus dieser Unterscheidung in der Regel nicht. 87.1.2 Häufigkeit der Anwendung
von komplementären und alternativen Therapien
V
Obwohl das Thema CAM auch in der pädiatrischen Onkologie seit Jahren teilweise sehr kontrovers diskutiert wird, liegen zur Anwendungshäufigkeit dieser Verfahren in der pädiatrischen Onkologie weltweit bislang nur wenige kleinere Studien (Fernandez et al. 1998; Kelly et al. 2000) vor; diese geben Hinweise, dass auch bei Kindern mit bösartigen Erkrankungen teilweise über 50% der Eltern CAM im Krankheitsverlauf einsetzen. Größere Untersuchungen an repräsentativen Bevölkerungsgruppen fehlen. Eigene Ergebnisse aus einer Pilotstudie (Längler et al. 2003) für eine repräsentative deutschlandweite Befragung zur Häufigkeit der Anwendung von CAM in der pädiatrischen Onkologie belegen, dass etwa ein Drittel aller Befragten CAM im Krankheitsverlauf bei ihren Kindern anwandten. Besonders häufig kamen CAM zum Einsatz, wenn ▬ die betroffenen Familien bereits vor der Krebserkrankung im Rahmen anderer Erkrankungen ihres Kindes CAM angewandt haben, ▬ die betroffenen Familien einen höheren Sozialstatus hatten oder ▬ es sich um längere und komplizierte Krankheitsverläufe handelte. Die am häufigsten angewandten Behandlungsmethoden waren dabei Homöopathie, anthroposophische Medizin inklusive Misteltherapie sowie im weitesten Sinne Phytotherapie. Auch Veränderungen in der Ernährung sowie die Gabe von Vitaminen und Spurenelementen spielten eine nennenswerte Rolle. Auffallend war, dass nur 9% der Eltern, die CAM anwandten, mit den behandelnden pädiatrischen Onkologen über den Einsatz dieser Behandlungsmethoden bei ihrem Kind gesprochen hatten. 87.1.3 Erwartungen der Eltern In der Analyse von Elternerwartungen an onkologische Therapien wird deutlich, dass sich diese Erwartungen auf verschiedene Bereiche des kindlichen Organismus beziehen lassen. Die konventionelle Therapie zielt primär auf die Zerstörung/Elimination des Tumors oder der Tumorzellen. Diese Therapiestrategien (Chemotherapie, Radiatio, Operation) sind international anerkannt und notwendige Voraussetzung für langfristiges Überleben. Auch verschiedene CAM-Therapieverfahren setzen ganz oder teilweise auf dieser materiellorganischen Ebene an.
! Nahezu einhelliger Wunsch aller Eltern, die Beratung zu CAM suchen, ist es, die Regeneration des durch die Krebserkrankung und ihre notwendige Therapie geschwächten kindlichen Organismus anzuregen und zu stärken.
Dieser Wunsch kann sich in verschiedenen Formulierungen ausdrücken: »Stärkung der Selbstheilungskräfte«, »Stärkung des Immunsystems«, »Wunsch nach Entgiftung/Ausleitung«. Zur Anregung und Stärkung der Regenerationskräfte kommen im komplementären Bereich nahezu ausschließlich Medikamenten-basierte Therapieverfahren (im Gegensatz zu z. B. künstlerischen Therapien oder psychologischen Verfahren) zur Anwendung. Ein weiterer, von vielen Eltern geäußerter Wunsch ist, die oft nur schwer konkret beschreibbaren seelischen Folgen der Erkrankung und ihrer Therapie zu klären und zu bearbeiten. Selten sind es primär psychologische Verfahren (wie z. B. Spieltherapie, Kinderpsychotherapie), die hier eine Rolle spielen, sondern meist kreativ-therapeutische Angebote aus dem Bereich der Künste (Musik, Plastik, Malerei und Bewegung). Schließlich stellt sich in nahezu jedem etwas tiefer gehenden und den Rahmen der täglichen Visite überschreitenden Elterngespräch die Frage nach »dem Sinn der Erkrankung«. Hinter dieser Frage verbirgt sich eine Vielfalt von Motiven und Ängsten, angefangen von der scheinbar einfachen Frage nach der eigentlichen Krankheitsursache bis hin zu mehr oder weniger bewusst erlebter vermeintlicher »Schuld«. Diesen Fragen kann nur im offenen und unvoreingenommenen Gespräch begegnet werden und erfordern professionell geschulte Menschenkenntnis. Im Bereich der Erwachsenenonkologie setzt hier auch z. B. die Biographiearbeit an. Mit Kindern, die kaum schon eine eigene Biographie haben, ist diese nur stellvertretend mit den Eltern möglich. 87.2
Ziele von komplementären Therapien
Prinzipiell kann unterschieden werden zwischen ▬ tumorspezifischer Therapie, ▬ die Verträglichkeit der Chemotherapie oder Radiatio verbessernden Therapie sowie ▬ Therapie zur Krankheitsbewältigung im weiteren Sinne. Für eine Vielzahl von komplementären Therapien ist diese strikte Trennung allerdings nicht möglich (z. B. Misteltherapie). ! Beweisende Therapiestudien nach den Kriterien der Evidenz-basierten Medizin (EBM) für zytostatisch oder zytoreduktiv wirksame komplementäre Therapien in der pädiatrischen Onkologie stehen aus.
In der pädiatrischen Onkologie ist die Verbesserung von Verträglichkeit und Wirksamkeit der konventionellen zytoreduktiven oder konsolidierenden Behandlung das vorrangige Ziel von komplementären Therapien mit zum Teil multimodalen Therapieansätzen . Durch den Einsatz von komplementärenVerfahren sollen therapiebedingte Nebenwirkungen minimiert werden (z. B. Reduktion der Infektionsrate). So soll nicht nur eine Maximierung des Behandlungseffektes
1079 87 · Komplementäre und alternative Therapieverfahren
mit zeitgerechtem Ablauf der konventionellen Therapieelemente ermöglicht werden, sondern auch eine verbesserte Befindlichkeit und Lebensqualität für das kranke Kind erreicht werden. Entsprechende pädiatrische Studien zum Nachweis dieser Wirksamkeit gibt es nur vereinzelt (Janßen et al. 2000; Oberbaum et al. 2001). Ziele und Anliegen der CAM in der pädiatrischen Onkologie: Maximierung des Behandlungseffekts mit zeitgerechter Einhaltung der Therapieprotokolle in der Intensivphase Minimierung der therapiebedingten Nebenwirkungen und Reduzierung der Spätfolgen
Positive (nicht wissenschaftlich abgesicherte) Erfahrungen bei Kindern insbesondere mit potenzierten homöopathischen und anthroposophischen Medikamenten sowie mit äußeren Anwendungen (Wickel, Einreibungen mit Salben und medizinischen Ölen, rhythmische Massage; Layer 2003) liegen für die Behandlung bzw. Minimierung der »klassischen« Nebenwirkungen der konventionellen Therapie vor: Übelkeit, Erbrechen,Appetitlosigkeit, Mukositis und Schleimhautdefekte, medikamenteninduzierte Obstipation, Infektionen (in Aplasie), Blutungsneigung bei Thrombozytopenie, Gewichtsabnahme, Schmerzen, Erschöpfung, und Begleitung in der Lebensendphase. 87.2.1 Häufig angewandte Therapieverfahren In publizierten Studien aus dem Bereich der Erwachsenenonkologie wird nachgewiesen, dass folgende komplementäre Methoden am häufigsten angewandt werden (Cassileth 1999): ▬ Akupunktur, ▬ anthroposophische Medizin inklusive Misteltherapie, ▬ Homöopathie, ▬ künstlerische Therapien, ▬ mikrobiologische Therapie, ▬ Phytotherapie, ▬ Thymuspeptide, ▬ Gabe von einzelnen Stoffen/Substanzen (Haifischknorpel, Megamin, Enzyme, Spurenelemente, Vitamine u. a.). Zu diesen und weiteren CAM-Methoden gibt es differenzierte Darstellungen und Beurteilungen (jedoch nur in Bezug zur Erwachsenenonkologie; Auerbach u. Hellan 2002; Beuth 2003). Misteltherapie. Obwohl die Misteltherapie von Gegnern oft
als Behandlungsmodalität mit unbewiesener Wirksamkeit klassifiziert wird, werden aus der Mistel (Viscum album L.) hergestellte Heilmittel von weit mehr als 50% aller Erwachsenen mit onkologischen Erkrankungen im Krankheitsverlauf angewandt. Von den zahlreichen Inhaltstoffen der Mistel (Becker 2000) sind die Mistellektine (Glykopeptide) und Viscotoxine (Peptide) am besten untersucht. Aber nicht alle Wirkungen der Mistel lassen sich aus der Analyse der Einzel-
substanz ableiten, so dass für eine Misteltherapie einerseits die Einzelsubstanz, andererseits auch der Gesamtextrakt der Pflanze (im Sinne von »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile«) zu berücksichtigen sind. Sowohl aus der präklinischen Grundlagenforschung als auch aus der Erwachsenenonkologie liegt eine Vielzahl von Untersuchungen zur Wirksamkeit sowie zu Neben- und Wechselwirkungen bei unterschiedlichen Tumorzelllinien und Tumor- und Leukämieerkrankungen vor (Übersicht: Kienle u. Kiene 2003). Zur Anwendung von Mistelpräparaten in der Kinderonkologie sind bislang lediglich Anwendungsbeobachtungen (Lenard et al. 1998), aber keine wissenschaftlichen Studien publiziert. Eigene und Erfahrungen anderer Kollegen an anthroposophischen Kliniken belegen eine Vergleichbarkeit mit den publizierten Erfahrungen aus der Erwachsenenonkologie. Beobachtete Nebenwirkungen einer in der Regel subkutanen Misteltherapie sind neben lokalallergischen Reaktionen, passagere Temperaturerhöhung, grippeähnliche Symptome und sehr selten systemisch-allergische Symptome. Die gleichzeitige Anwendung von Misteltherapie mit Chemo- oder Strahlentherapie zeigte in einzelnen präklinischen und klinischen (nicht-pädiatrischen) Studien einen synergistischen Effekt. Eine negative Interaktion zwischen Zytostatika und Mistelpräparaten wurde nicht beobachtet (Kienle u. Kiene 2003). 87.2.2 Nebenwirkungen und Wechselwirkungen
komplementärer Therapien mit Chemotherapeutika Prinzipiell gibt es bei potenzierten Medikamenten, in denen keine Substanz mehr nachweisbar ist – das sind Potenzen ab D23 – keine chemisch nachweisbaren Wechselwirkungen, sehr wohl jedoch bei Medikamenten in substanzieller Dosierung, auch wenn sie pflanzlichen Ursprungs sind. CAMTherapien werden sowohl in der Laienpresse als auch in Werbeaussagen einzelner Hersteller häufig als »natürlich« und damit vermeintlich auch als »ohne Nebenwirkungen« suggestiv angepriesen. Dies verführt zu der Annahme, dass jegliche CAM-Therapie »auf keinen Fall schaden« kann. Prinzipiell können auch so genannte »natürliche« Medikamente im Einzelfall zu schwerwiegenden Nebenwirkungen führen. Solche Nebenwirkungen (Ernst 2003) können insbesondere dann auftreten, wenn ▬ toxische Dosen durch unsachgemäße Applikation verabreicht werden, ▬ unreine bzw. kontaminierte Rohstoffe zu Heilmitteln verarbeitet werden, ▬ unzureichend untersuchte z. B. Pflanzenbestandteile zu Medikamenten verarbeitet werden oder ▬ eine falsche Anwendung stattfindet (z. B. systemische statt topische Anwendung). Nur wenige CAM-Medikamente und/oder -Verfahren sind zur Anwendung in der pädiatrischen Hämatoonkologie wissenschaftlich untersucht. Entsprechend wenig Datenmaterial gibt es zur Frage der Wechselwirkung mit konventioneller Therapie (insbesondere mit Zytostatika).
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Supportivtherapie in der pädiatrischen Hämatologie und Onkologie
87.3
Beratungsempfehlungen an Eltern
Nur ein geringer Prozentsatz derjenigen Eltern, die komplementäre Therapien bei ihren onkologisch erkrankten Kindern anwenden, können oder wollen offen mit ihrem behandelnden pädiatrischen Onkologen über dieses Thema sprechen. Hieraus können erhebliche Probleme für die gesamte Therapiesteuerung und Compliance entstehen. ! Unabhängig von der persönlichen Einstellung des pädiatrischen Onkologen zu CAM ist es wichtig, dass dieses Thema prinzipiell angesprochen wird und die Eltern ein »offenes Ohr« finden.
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▬ Ein Großteil der Eltern entwickelt spätestens im Behandlungsverlauf (oft auch im Kontakt mit anderen Eltern) den Wunsch, sich über CAM zu informieren und diese bei ihrem Kind einzusetzen. Da diese Eltern diesem Wunsch meist auch nachkommen, empfiehlt es sich aktiv von Seiten des pädiatrischen Onkologen, das Thema CAM anzusprechen. ▬ Eigene Erfahrungen belegen, dass ein offenes Gesprächsangebot über komplementäre und alternative Therapien selbst solchen Eltern, die primär eine notwendige schulmedizinische Behandlung aus dem Glauben heraus, eine »alternative« Therapie könne »sanfter« und sicherer zur Heilung führen, ablehnen, letztlich fast ausnahmslos eine Therapieeinwilligung in die konventionelle Therapie ermöglicht. ▬ Auch ohne sich eingehender mit CAM auseinander zu setzen, können folgende generelle Empfehlungen ausgesprochen werden: – die Eltern ermutigen, über ihre Wünsche und Motive mit den behandelnden Ärzten zu sprechen, – keine generelle emotionale Verunglimpfung dessen, was außerhalb der Schulmedizin liegt, – wenn gewünscht, den Eltern seriöse komplementäre Beratung vermitteln (z. B. über zu bildende regionale Netze). ▬ Verfahren, die damit werben, mit einer einzelnen Substanz/Zubereitung bei allen Krebsarten (und womöglich noch bei vielen anderen Erkrankungen auch) wirksam zu sein, sind bis zum Beweis des Gegenteils als unseriös einzustufen. ▬ Verfahren, die ohne erkennbaren Grund (z. B. sehr aufwendiges Herstellungsverfahren, notwendige aufwendige Apparaturen o. ä.) für den Anwender überproportional teuer sind, sind bis zum Beweis des Gegenteils als unseriös einzustufen. ▬ Eltern sollten darauf hingewiesen werden, dass sie bei der Wahl von komplementären Therapien dringend darauf achten sollten, dass Erfahrungen mit dieser Therapie bei pädiatrisch-onkologischen Erkrankungen vorliegen. ▬ Ärzte, die komplementäre Therapien für pädiatrischonkologische Patienten verordnen, sollten auch die gleichzeitig angewandten konventionellen Behandlungen kompetent beurteilen können. ▬ Vor der Anwendung außerhalb des legalen Apothekenhandels erworbener Medikamente muss wegen der Gefahren von Kontamination und nicht definierter Mengen an pharmakologisch wirksamen Substanzen dringend gewarnt bzw. von deren Anwendung abgeraten werden.
▬ Diätetische Produkte (z. B. Vitamine, Spurenelemente, Mineralien) sollten allenfalls in physiologischen Dosen angewandt werden, es sei denn, es liegen explizit nachgewiesene und dokumentierte Erfahrungen mit pharmakologisch wirksamen Dosierungen im Kindesalter vor. ▬ Gewarnt werden sollte vor einseitigen »Krebsdiäten«, welche die in der Folge der Tumorerkrankung und der Chemotherapie meist ohnehin oft bereits mangelernährten Kinder in extreme und ihre Gesundheit weiter bedrohende Mangelsituationen führen können. Dies betrifft selbstverständlich nicht Ratschläge zu einer gesunden, ausgewogenen und Nährstoff-optimierten Ernährung auch in der akuten Therapiephase ( Kap. 83). 87.4
Komplementärmedizinische Forschung
In der wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung mit CAM müssen wir uns nicht nur fragen »Was tun wir?« (Verständnis des Organismus, Systematik von CAM), sondern auch »Wie bewerten wir das, was wir tun?« (Erfahrungswerte zur indikationsbezogenen und individuellen Therapie) und »Wie beweisen wir es?« (Methoden der komplementärmedizinischen Forschung neben den klassischen Kriterien der EBM). Im Titel wird absichtlich der Begriff »komplementärmedizinische« Forschung verwendet, denn es geht nicht um ein Anzweifeln der etablierten analytischen Forschungsziele (wohl aber ihr Anspruch auf Allgemeingültigkeit), sondern Ziel sollte sein, Methoden zu entwickeln, mit denen ein Gesamtverständnis, ein »synthetisches« Verständnis des Organismus erreicht werden kann. Die Frage ist daher: Wie kommen wir von der Analyse von Teilvorgängen zu einem Gesamtverständnis, zu einer Synthese? Jeder humanmedizinischen Forschung und jedem ärztlich-therapeutischen Tun liegt ein mehr oder weniger bewusster Organismusbegriff zugrunde. Weitere Ausführungen zum Thema des Organismusverständnisses und seiner Bedeutung für Forschung und Interpretation von Therapiewirkungen, sowie die Kriterien einer »cognition based medicine«, die eine Wirksamkeitsbeurteilung am Einzelfall beschreiben, finden sich bei Matthiessen 2003, Kiene 2001 u. Walach 2001.
Die Einbeziehung von komplementären Therapien in die konventionelle Behandlung kindlicher Tumoren erfordert eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Weiterentwicklung von komplementären Ansätzen zur Vertiefung der Kenntnisse der organismuseigenen Reaktionsweisen. Der Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtungsweise berührt die Zentralbereiche der Biologie, wie Morphogenese und Regeneration, so auch Tumorentstehung und Tumorrückbildung und verlangt die Erkenntnis übergeordneter Bildeprinzipien. Eine Grundannahme für das Verständnis von biologisch komplexen Systemen ist, dass »das Ganze mehr ist als die Summe seiner Einzelteile«. Diese Annahme hat insbesondere auch für die Wirkung und Wirksamkeit von
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1081 87 · Komplementäre und alternative Therapieverfahren
Medikamenten aus Pflanzenextrakten, im Unterschied zu isolierten Pflanzeninhaltsstoffen (wie bei der Misteltherapie kurz erwähnt) seine Bedeutung. Auch hier handelt es sich sowohl in der reduktionistischen Sichtweise einerseits als auch in der ganzheitlichen Betrachtung andererseits um unterschiedliche Perspektiven, die sich aber ergänzen, also komplementär sein können (Matthiessen 1994).
Literatur Auerbach L, Hellan J (2002) Krebs und Komplementärmedizin. Maudrich, Wien Becker H (2000) European mistletoe: Taxonomy, host trees, parts used, physiology. In: Büssing A (ed) Mistletoe. The genus Viscum. Medicinal and aromatic plants – industrial profiles. Harwood Academic Publishers, Amsterdam Beuth J (2003) Grundlagen der Komplementäronkologie – Theorie und Praxis. Hippokrates, Stuttgart Cassileth BR (1999) Complementary and alternative cancer medicine (review). J Clin Oncol 17(suppl 11):44–52 Ernst E (2003) Serious adverse effects of unconventional therapies for children and adolescents: a systematic review of recent evidence. Eur J Pediatr 162:72–80 Fernandez CV, Stutzer CA, MacWilliam L, Fryer C (1998) Alternative and complementary therapy use in pediatric oncology patients in British Columbia: prevalence and reasons for use and nonuse. J Clin Oncol 16:1279–1286 Janßen G, Bode U, Breu H et al (2000) Boswellic acids in the palliative therapy of children with progressive or relapsed brain tumors. Klin Pädiatr 212:189–195 Kelly KM, Jacobson JS, Kennedy DD et al (2000) Use of unconventional therapies by children with cancer at an urban medical center. J Pediatr Hematol Oncol 22:412–416 Kiene H (2001) Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung. Cognition-based medicine. Springer, Berlin Heidelberg New York Kienle GS, Kiene H (2003) Die Mistel in der Onkologie. Fakten und konzeptionelle Grundlagen. Schattauer, Stuttgart Längler A, Kaatsch P, Spix C, Jung I (2003) Pilotstudie zur Häufigkeit der Anwendung alternativer und komplementärer Behandlungsmethoden in der pädiatrischen Onkologie in Deutschland, Abschlussbericht. GPOH Mitteilungen 25.8.2003 Layer M (2003) Praxishandbuch Rhythmische Einreibungen nach Wegman/Hauschka. Hans Huber, Bern Lenard HG, Engelbrecht V et al (1998) Complete remission of a diffuse pontine glioma. Neuropediatrics 29:328–330 Matthiessen PF (1994) Zum Paradigmenpluralismus in der Medizin. Hufeland J 9:61–71 Matthiessen PF (2003) Der diagnostisch-therapeutische Prozess als Problem der Einzelfallforschung. In: Ostermann T, Matthiessen PF (Hrsg): Einzelfallforschung in der Medizin. Verlag für akademische Schriften, Frankfurt Matthiessen PF, Rosslenbroich B (1994) UMR – Unkonventionelle medizinische Richtungen, Bestandsaufnahme zur Forschungssituation. Materialien zur Gesundheitsforschung. Herausgegeben vom Projektträger des BMFT, Band 21, Bonn Oberbaum M, Yaniv I, Ben-Gal Y et al (2001) A randomized, controlled clinical trial of the homeopathic medication Traumeel S in the treatment of chemotherapy-induced stomatitis in children undergoing stem cell transplantation. Cancer 92:684–690
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87
VI
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge 88
Spätfolgen der Erkrankung und Therapie
– 1085
T. Langer, H.-G. Dörr, J.-D. Beck
89
Zweitneoplasien
– 1094
C. Niemeyer, R. Ammann
90
Palliative Betreuung und Behandlung
– 1112
R. Topf, E. Bergsträßer
91
Ethische und juristische Aspekte
– 1123
D. Niethammer
92
Nachsorge und Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten – 1127 E. Frey
93
Rehabilitation und Lebensqualität R. Dopfer, R. Felder-Puig
– 1132
1085
Spätfolgen der Erkrankung und Therapie T. Langer, H.-G. Dörr, J.-D. Beck
88.1 88.2
Einleitung – 1085 Herz – 1086
88.2.1 88.2.2 88.2.3
Risikofaktoren – 1086 Anthrazykline – 1086 Diagnostik – 1086
88.3
Gehör
88.3.1 88.3.2
Cisplatin – 1087 Diagnostik – 1087
lief problemlos, die Patientin war wieder belastbar und zeigte eine normale Verkürzungsfraktion im Herz-Echo. Heute, 10 Jahre nach Herztransplantation, hat sie eine gute Lebensqualität und ist Mutter eines 4 Jahre alten Mädchens.
– 1086
88.4
Nieren
88.4.1 88.4.2 88.4.3
Ifosfamid – 1088 Cisplatin – 1088 Diagnostik – 1088
88.5 88.6 88.7 88.8 88.9
Gastrointestinaltrakt – 1088 Lunge – 1088 Zentralnervensystem – 1089 Binde- und Stützgewebe – 1089 Endokrines System – 1090
88.9.1 88.9.2 88.9.3 88.9.4
Wachstum – 1090 Störungen der Pubertätsentwicklung Fertilitätsstörungen – 1091 Thyreotoxizität – 1091
Literatur
88.1
– 1087
– 1090
– 1093
Ein 10½-jähriges Mädchen erkrankte 1989 an einem Osteosarkom der rechten proximalen Tibia. Die Behandlung umfasste eine Chemotherapie u. a. mit dem Anthrazyklin Adriamycin. Die kumulative Adriamycindosis betrug 415 mg/m2 Körperoberfläche. Außerdem musste eine Oberschenkelamputation rechts durchgeführt werden. Drei Monate nach Behandlungsende zeigte sie eine deutliche Belastungsdyspnoe. Der Untersuchungsbefund zeigte eine Herzfrequenz von 96/min, einen Blutdruck von 95/75 mmHg, ein basal abgeschwächtes Atemgeräusch rechts und eine Hepatomegalie von 3 cm unter dem Rippenbogen. Unter dem Verdacht einer Herzinsuffizienz erbrachte die Echokardiographie eine Verkürzungsfraktion von 14–21% (Norm ≥29%), einen Perikarderguss und das Langzeit-EKG polytope, ventrikuläre Extrasystolen Grad IVb nach Lown und Deanfield. Es wurde die Diagnose einer Anthrazyklin-induzierten dilatativen Kardiomyopathie gestellt und die Therapie mit einem ACE-Hemmer, Digoxin und Propafenon begonnen. Nachdem sich zunächst der klinische Zustand besserte, kam es ca. nach einem Jahr zu rezidivierenden bronchopulmonalen Infekten und einer sich verschlechternden Belastbarkeit mit Ruhedyspnoe und Lungenödem. Die Verkürzungsfraktion erreichte nur 7% im Herz-Echo. Als Ultima ratio wurde eine Herztransplantation ca. 3 Jahre nach Diagnose des Osteosarkoms durchgeführt. Der postoperative Verlauf ver-
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Einleitung
Die Therapie kindlicher Krebserkrankungen hat in den vergangenen 4 Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht: Lag die 5-Jahres-Überlebensrate in den 60er-Jahren durchschnittlich noch bei 10–20%, so stieg diese bis heute auf 70–80%. Von den in Deutschland jährlich ca. 1800 neu an Krebs erkrankten Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren können jedes Jahr ca. 1400 als geheilt betrachtet werden. Simulationen von amerikanischen Epidemiologen beschreiben, dass die Prävalenz langzeitüberlebender junger Erwachsener zwischen 15 und 45 Lebensjahren von 1 in 900 Personen im Jahr 2000 auf 1 in 250 Personen im Jahr 2010 ansteigen wird (Bleyer 1990). Dies unterstreicht die Notwendigkeit, eine strukturierte Nachsorge für die Überlebenden einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter durchzuführen, um Patienten mit (Spät-)Toxizitäten frühzeitig zu identifizieren und ggf. zu behandeln, zumal geschätzt wird, dass ca. 50% der Überlebenden Spätfolgen entwickeln werden, die deren Lebensqualität einschränken können (Beck et al. 1995). Die Bedeutung von Spätfolgen für die Langzeitmortalität wird durch eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung unterstrichen. Kinder und Jugendliche, die ihre Krebserkrankung mindestens 5 Jahre nach Diagnosestellung überlebten, wiesen im Vergleich zur Normalbevölkerung ein dreifach erhöhtes Risiko auf, in den nächsten 10 Jahren zu versterben (Moller et al. 2001). Die Mortalitätserhöhung durch Rezidive und Zweitmalignome ist dabei nicht berücksichtigt. Über die Art und den Umfang von Spätfolgen können heutzutage tendenzielle Vorhersagen gemacht werden, wenn man die antineoplastischen Therapiemodalitäten, das Alter und das Geschlecht des Patienten berücksichtigt. Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen zu den Spätfolgen spezifischer Zytostatika und der Radiotherapie sowie zum Spätfolgenspektrum der einzelnen Behandlungspläne der Therapieoptimierungsstudien (Langer et al. 2000). Nebenwirkungen einer Radiotherapie treten gewöhnlich nicht sofort, sondern erst nach einer Latenzzeit auf. Toxizitäten nach einer Chemotherapie sind meistens akut, vorübergehend, seltener permanent. Dies hat seine Ursache in der Tatsache, dass die meisten Chemotherapeutika Zellzyklus-abhängige Medikamente sind, und damit Gewebe bzw. Organe mit hohen Zellteilungsraten am deutlichsten beeinträchtigt werden. Werden jedoch Gewebe mit sehr geringen Zellteilungsraten geschädigt, so
88
1086
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
können längerfristige oder permanente Organschäden resultieren, z. B. an Herz, ZNS, Nieren und Gehör. ! Zu den bedeutsamen Spätfolgen der onkologischen Therapie gehören die anthrazyklininduzierte Kardiomyopathie, Hörverluste nach Cisplatin, Einschränkungen der Nierenfunktion nach Gabe von Ifosfamid, Störungen des endokrinen Systems (z. B. Störungen der Fertilität, Schilddrüse, Wachstum), neuropsychologische, kognitive Funktionsstörungen und Zweitmalignome.
88.2
VI
Herz
Einschränkungen der Herzfunktion nach Chemotherapie sind in den meisten Fällen auf die Gabe von Anthrazyklinen zurückzuführen. Die frühe subklinische Kardiomyopathie tritt in der Regel unter Therapie oder im ersten Jahr nach Therapieende auf. Die Angaben zu Prävalenz und Inzidenz variieren stark bis zu einer Inzidenz von 85% (Nysom et al. 1998). Die späte Form der manifesten Kardiomyopathie entwickelt sich charakteristischerweise erst einige Jahre nach Abschluss der Anthrazyklintherapie. Die Inzidenz lag 6–7 Jahre nach Therapie bei 4%. In einer Untersuchung zur Mortalität bei über 20.000 ehemaligen Patienten, die ihre Krebserkrankung im Kindesalter mindestens 5 Jahre überlebten, wurde ein im Vergleich zur Normalbevölkerung 8-fach erhöhtes Risiko festgestellt, an kardialen Erkrankungen zu versterben (Mertens et al. 2001). Insgesamt machten kardiale Todesfälle einen Anteil von 21% aller therapieinduzierten Todesfälle aus. ! Die Inzidenz der klinisch manifesten anthrazyklininduzierten Kardiomyopathie steigt mit der kumulativen Anthrazyklindosis. Eine Schwellendosis existiert nicht.
88.2.1 Risikofaktoren Inzidenz und Schwere der anthrazyklininduzierte Kardiomyopathie werden durch die Art des Anthrazyklins, die kumulative Dosis und die Applikationsart beeinflusst (Lipshultz et al. 1991). Anthrazyklingaben als Kurzinfusion führen zu hohen Plasmaspitzenspiegeln und damit zu einer höheren Kardiotoxizitätsrate. Dieser Effekt kann durch Dauerinfusion über z. B. 48 h verringert werden. Zusätzliche Zytostatika wie z. B. Cyclophosphamid, ein junges Lebensalter bei Therapie und weibliches Geschlecht sind weitere Risikofaktoren. Das Ausmaß einer (subklinischen) Kardiomyopathie nimmt mit Abstand zum Therapieende zu und kann sich noch viele Jahre nach Abschluss der Behandlung als symptomatisches Herzversagen äußern. Eine frühe subklinische anthrazyklininduzierte Kardiomyopathie scheint der wichtigste Risikofaktor für eine späte klinische Herzfunktionsstörung zu sein. Eine Bestrahlung im Bereich des Mediastinums kann eine anthrazyklininduzierte Kardiomyopathie verstärken, aber auch ohne Anthrazyklingabe zu Herzschäden führen (Mertens et al. 2001). Die Inzidenz pathologischer Befunde zeigt eine Relation zur mediastinalen Strahlendosis (Zinzani et al. 1996). Wenig
erforscht ist die klinische Relevanz dieser radiogenen Schädigungen angesichts neuer Bestrahlungstechniken. 88.2.2 Anthrazykline In der pädiatrischen Onkologie wird Adriamycin (Doxorubicin) am häufigsten eingesetzt. Die späte Form der manifesten Kardiomyopathie entwickelt sich charakteristischerweise erst einige Jahre nach Abschluss der Anthrazyklintherapie (Lipshultz et al. 1991). Zu ihrer Inzidenz gibt es nur wenige Untersuchungen mit größerem Patientenkollektiv. Lipshultz und Mitarbeiter beobachteten bei 4% (5/115) ihrer Patienten eine Herzinsuffizienz, wobei der mediane zeitliche Abstand zum Therapieende 6,4 Jahre und die mediane kumulative Doxorubicindosis 334 mg/m2 (12–550 mg/m2) betrug (Lipshultz et al. 1991). Zu den neueren Anthrazyklinen Epirubicin und Idarubicin existieren deutlich weniger Untersuchungen, wobei Langzeituntersuchungen fehlen. Epirubicin ruft erst in zweifacher Dosierung eine ähnlich hohe Kardiotoxizitätsrate wie Doxorubicin hervor. Als gefährdet werden Patienten mit kumulativen Dosen über 1000 mg/m2 angesehen. In einer Untersuchung bei AML/MDS-Patienten wurde bei einer kumulativen Dosis von 150–290 mg/m2 Idarubicin in 5% eine subklinische Kardiomyopathie festgestellt (Anderlini et al. 1995). 88.2.3 Diagnostik Es gibt bislang keinen diagnostischen Parameter, der eine späte Herzinsuffizienz zufriedenstellend vorhersagen kann. Die Echokardiographie stellt eine gut etablierte Methode zur Evaluation früher Anzeichen myokardialer Schäden dar (Hausdorf 2001); ihre Parameter linksventrikuläre Verkürzungsfraktion und enddiastolischer linksventrikulärer Durchmesser sind aussagekräftige Werte. Nachteile dieser Parameter sind ihre Nachlastabhängigkeit und die zu geringe Sensitivität, was auch auf die Ejektionsfraktion (Radionuklidventrikulographie) zutrifft. Die Identifizierung einer Kardiomyopathie in einem früheren Erkrankungsstadium ist ggf. auch mit einer unter Stress (medikamentös) durchgeführten Echokardiographie oder Radionuklidventrikulographie möglich (Lanzarini et al. 2000). Nachteil dieser sensitiveren Methoden ist jedoch der erheblich größere zeitliche und finanzielle Aufwand. Eine Myokardbiopsie verbessert die Risikoabschätzung einer Kardiomyopathie erheblich. 88.3
Gehör
Eine Beeinträchtigung des Gehörs tritt v. a. nach Gabe von Platinderivaten, insbesondere Cisplatin, auf und reicht vom reversiblen Tinnitus bis zu irreversibler Hörminderung bei Verlust von Haarzellen. Eine entsprechende Nachsorge ist gerade bei Kindern von essentieller Bedeutung, da unerkannte Hörschäden zu Störungen der sprachlichen, intellektuellen und psychosozialen Entwicklung führen können.
1087 88 · Spätfolgen der Erkrankung und Therapie
⊡ Abb. 88.1. 19 jähriger junger Mann 14 Monate nach Behandlung eines metastasierten Osteosarkoms des linken Femurs mit Chemotherapie (Cisplatin kumulativ 2×120 mg/m2 und Carboplatin 5×600 mg/m2, Adriamycin, Methotrexat, Ifosfamid, Etoposid) zeigt einen therapieinduzierte Innenohrschwerhörigkeit beidseits.
Beginnend im Hauptsprachbereich ab einer Frequenz von 2 kHz fällt auf beiden Seiten die Hörschwelle auf 50–80 dB ab. Vor der Therapie des Osteosarkoms bestand keine Einschränkung des Hörvermögens. Die für jede Seite eingezeichneten beiden Linien entsprechen der Knochen- und Luftleitung
88.3.1 Cisplatin
88.3.2 Diagnostik
Die Hörschäden nach Cisplatintherapie treten in der Regel beidseits auf und beginnen typischerweise im Hochtonbereich, können bei höherer Dosierung auf den Hauptsprachbereich übergreifen und im Extremfall zur vollständigen Taubheit führen (⊡ Abb. 88.1). Inzidenz und Schwere der cisplatininduzierten Schädigung des Gehöres steigen mit zunehmender kumulativer Dosis. Als weitere Risikofaktoren gelten ein niedriges Lebensalter bei Therapie, ein hoher Cisplatin-Spitzenspiegel, eine Schädelbestrahlung vor Cisplatintherapie, ein prätherapeutischer Hörschaden, gleichzeitige Behandlung mit Vincristin und Lärmbelastung vor oder während der Therapie. Kontrovers diskutiert wird ein verstärkender Effekt bei gleichzeitiger Gabe von Substanzen wie Aminoglykosiden oder Schleifendiuretika. Die in der Literatur berichtete Inzidenz cisplatininduzierter Gehörschädigung reicht von 11–97% (Schweitzer 1993). Diese Unterschiede beruhen zum Teil auf verschiedenen Definitionen von Ototoxizität oder unterschiedlichen Untersuchungsmethoden des Hörvermögens. Zur Prognose der cisplatininduzierten Gehörschädigung gibt es wenige Untersuchungen. Während Aguilar-Markulis und Mitarbeiter (1981) bei einem Viertel der Patienten eine Verbesserung des Hörvermögens, darunter auch Fälle mit kompletter Remission, feststellten, wurde in anderen Studien bei keinem oder nur einem geringen Teil der Patienten eine Verbesserung des Hörvermögens gefunden.
Audiogramme und otoakustische Emissionen werden empfohlen bei Patienten, die Platinderivate und/oder eine Schädelbestrahlung erhalten haben. 88.4
Nieren
Die Niere kann während oder nach einer antineoplastischen Therapie, akut und auch chronisch, geschädigt werden: durch den Tumor selbst oder durch seine Behandlung. Chronische Nierenfunktionsstörungen an den Glomerula und am Tubulusapparat können durch Gabe von Ifosfamid oder Platinderivaten, Ciclosporin A, durch eine Nephrektomie, Bestrahlung oder die Konditionierung vor Stammzelltransplantationen verursacht sein (Rossi et al. 1999). Glomeruläre Schäden werden v. a. durch Bestrahlung verursacht und sind damit v. a. für Lymphom-, Neuroblastom-, Weichteilsarkompatienten bzw. für entsprechend konditionierte Patienten nach einer Stammzelltransplantation von Bedeutung. Außerdem kann eine Bestrahlung der Nierenregion zu einer retroperitonealen Fibrose mit einer konsekutiven Ureterobstruktion führen (Chao et al. 1987). ! Nierenfunktionsstörungen nach der Therapie mit Ifosfamid betreffen vorwiegend die Tubuluszellen und können von leichten Tubulopathien bis zum Vollbild eines Fanconi-Syndroms (Glukosurie, Proteinurie, renaler Phosphat- und Bikarbonatverlust) reichen.
88
1088
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
88.4.1 Ifosfamid
VI
Als Folge der Tubulopathie kann ein Phosphat- und Bikarbonatverlust und damit eine hypophosphatämische Rachitis und Osteomalazie bzw. eine renal-tubuläre Azidose resultieren (Rossi et al. 1999). Zur Häufigkeit schwerer Nierenschädigungen bei Kindern nach Ifosfamidbehandlung gibt es wenige größere Untersuchungen: So wurde bei einer medianen kumulativen Ifosfamiddosis von 30–60 g/m2 eine Inzidenz des Fanconi-Syndroms zwischen 1,4% und 7% gefunden (Rossi et al. 1999). Zusätzlich kam es bei weiteren 15% der Patienten zu einer subklinischen Tubulopathie. Skinner und Mitarbeiter (1998) fanden in ihrer Untersuchung bei rund 50% ihrer Patienten eine Reduktion der glomerulären Filtrationsrate (GFR), vornehmlich im subklinischen Bereich. Über die Langzeitprognose gibt es wenig Informationen. Störungen der Phosphatreabsorption gehen bei diesen Patienten solche der Aminosäurenreabsorption voraus, so dass eine normale oder gering reduzierte Aminosäurereabsorption im ersten Jahr nach Therapieende einen hohen negativ prädiktiven Wert bezüglich der Entwicklung eines FanconiSyndroms bzw. einer generalisierten subklinischen Tubulopathie hat, eine Verminderung der tubulären Phosphatreabsorption zu diesem Zeitpunkt jedoch einen hohen positiv prädiktiven Wert (Rossi et al. 1999). 88.4.2 Cisplatin Schädigungen nach Cisplatintherapie bestehen v. a. in einer Reduktion der GFR und einem renalen Magnesiumverlust (Skinner et al. 1998). Das Absinken der GFR scheint dosisabhängig zu sein, allerdings sind die Ergebnisse nicht eindeutig. Weitere Risikofaktoren sind nicht beschrieben. Wenig untersucht ist der Langzeitverlauf von Patienten mit cisplatininduzierter Nierenschädigung. Brock und Mitarbeiter (1991) beobachteten bei 22/24 Kindern mit einer reduzierten GFR nach Therapieende 2,5 Jahre später eine deutlich verbesserte Funktion. Dagegen fanden andere Arbeitsgruppen nur bei einem weitaus geringeren Anteil bei Erwachsenen eine Erholung der GFR. Die renale Hypomagnesiämie nach Cisplatintherapie scheint unabhängig von einer Reduktion der GFR aufzutreten. Sie kann noch Jahre nach Therapieende fortbestehen und evtl. einer Substitution bedürfen. Über ihre Prognose ist wenig bekannt. Die klinische Relevanz der cisplatininduzierten chronischen Nierenschädigung nach antineoplastischer Therapie im Kindesalter ist noch ungeklärt. In den meisten Untersuchungen traten, allerdings bei eingeschränkter Fallzahl und kurzem posttherapeutischen Intervall, keine symptomatischen Nierenschädigungen auf. Systematische Langzeitbeobachtungen fehlen bisher. 88.4.3 Diagnostik Die Diagnostik orientiert sich an der unterschiedlichen Lokalisation der jeweils verursachten toxischen Schäden am Nephron. Die GFR als Marker der exkretorischen Nierenfunktion kann mit Hilfe der Schwartz-Formel aus der Serumkreatininkonzentration und der Körperlänge bestimmt werden (Schwartz et al. 1987). Nierenfunktionsstörungen
nach Therapie mit Ifosfamid betreffen vorwiegend die Tubuluszellen. Die tubuläre fraktionelle Phosphatreabsorption, die sich aus Kreatinin und Phosphat (Urin, Serum) errechnet, ist ein aussagekräftiger Parameter der Funktion des proximalen Tubulus. Ihre Verminderung stellt außerdem einen möglichen Risikofaktor für die spätere Entwicklung eines Fanconi-Syndroms dar (Rossi et al. 1999). Die weiteren Symptome werden durch Urinstatus bzw. Bikarbonatbestimmung im Blut erkannt. Darüber hinaus ist die Proteinurie nur ein unspezifisches Zeichen einer Nierenschädigung. 88.5
Gastrointestinaltrakt
Die häufigsten Symptome einer Funktionsstörung des Gastrointestinaltraktes sind Strikturen mit Transportstörungen bis hin zum Ileus aufgrund einer Fibrose und eine Enteritis aufgrund einer Malabsorption. Diese Spätfolgen können aus einer Bestrahlung des Abdomens resultieren. Die Inzidenz einer Fibrose beträgt nach einer Bestrahlung des Abdomens mit 40–50 Gy ca. 5% und steigt auf 36% nach einer Strahlendosis von 60 Gy an. Eine Fibrose kann auch die Leber betreffen. Eine Bestrahlung der Leber mit heute obsoleten Dosen führte bei Patienten mit einem Wilms-Tumor oder einem Neuroblastom zu einer chronischen Leberfibrose, das Ausmaß war von dem bestrahlten Lebervolumen, von der gleichzeitigen Therapie mit Actinomycin D und vom Alter des Patienten abhängig (Tefft et al. 1976). Chronische Infektionen, wie Hepatitis B oder C, durch die Gabe von Blut oder Blutprodukten sind im deutschsprachigen Raum selten geworden. Zur Zeit einer unzureichenden infektiologischen Überwachung der Blut- und Blutproduktpräparation lag die Inzidenz deutlich höher. Diagnostik. Die körperliche Untersuchung des Patienten sollte sich auf eine Hepatosplenomegalie, einen Ikterus und die Zeichen einer Malabsorption konzentrieren. Bei Indikation sollten laborchemisch die Transaminasen und das Bilirubin bestimmt, bei Verdacht auf eine Hepatitis muss eine virologische Abklärung und eventuell eine Biopsie durchgeführt werden.
88.6
Lunge
Lungenfunktionsstörungen können in Folge einer Bestrahlung, einer Therapie mit verschiedenen Chemotherapeutika oder tumorbedingter operativer Lungenresektionen auftreten. Bei jungen Kindern spielt ein Schaden durch eine Bestrahlung eine größere Rolle, da sich die Alveolen bis zum 8. Lebensjahr noch im Wachstum befinden und eine Bestrahlung die Entwicklung einer zu geringen Zahl an Alveolen auslösen kann. Lungenfunktionsstörungen werden jedoch im Gesamtspektrum wesentlicher Spätfolgen relativ selten beobachtet. Zur Risikogruppe gehören alle Patienten nach bilateraler Lungenbestrahlung und Patienten mit malignen Lymphomen nach Thoraxbestrahlung bzw. Mantelfeldbestrahlung (Nysom et al. 1998). Der akute Strahlenschaden in Form einer interstitiellen Pneumonitis tritt typischerweise 2 Wochen bis 3 Monate nach Therapie auf. Da hieraus 6– 12 Monate nach Therapie eine Lungenfibrose als Spätfolge
1089 88 · Spätfolgen der Erkrankung und Therapie
resultieren kann, müssen diese Patienten insbesondere bei zusätzlicher Chemotherapie über einen längeren Zeitraum kontrolliert werden. Neben Bleomycin, das allerdings weitgehend aus den pädiatrischen Therapieoptimierungsstudien entfernt wurde, werden auch BCNU, Busulfan, Methotrexat, Procarbazin und Cyclophosphamid mitverantwortlich für die seltenen Lungenfunktionsstörungen bei Langzeitüberlebenden gemacht. Diagnostik. Mit Ausnahme der oben genannten Risikopa-
tienten, die in regelmäßigen Abständen kontrolliert werden sollten, genügt es, Lungenfunktionsuntersuchungen durchzuführen, wenn klinische Auffälligkeiten bestehen. Als Untersuchungen stehen die Spirometrie, die Ganzkörperplethysmographie, die Blutgasanalyse und die Thoraxröntgenuntersuchung zur Verfügung. 88.7
Zentralnervensystem
Die Inzidenz von neuropsychologischen Störungen ist abhängig von der Art der Krebserkrankung, von der Lokalisation des Tumors, von der Therapie und vom Alter des Patienten. Leukämie- und Hirntumorpatienten haben diesbezüglich die größten Risiken und sind sehr ausführlich untersucht worden. Bei Kindern mit akuten Leukämien und Hirntumoren (ca. 50% aller krebskranken Kinder und Jugendliche) sind behandlungsbedürftige neuropsychologische und neurologische Beeinträchtigungen in 8–50% gefunden worden (Mostow et al. 1991). Das Gehirn junger Kinder wird besonders durch die für eine Hirntumorbehandlung notwendige Strahlendosis beeinträchtigt.Viele Untersuchungen bei Kindern, die im Alter unter 3 Jahren wegen eines Hirntumors behandelt wurden, zeigen, dass diese Kinder unter signifikanten neuropsychologischen Störungen und Entwicklungsverzögerungen litten.Lernschwierigkeiten bei diesen Patienten sind abhängig von der Schädelbestrahlung, die zum Teil dosisabhängig sind und progressiv sein können. Weitere Faktoren sind die häufig monatelang andauernde intrazerebrale Drucksteigerung durch den Hirntumor, die Tumorlokalisation, die operativen Behandlungsmaßnahmen und mögliche postoperative Komplikationen. Durch eine akute lymphoblastische Leukämie und die verschiedenen Formen der ZNS-Prophylaxe möglicherweise ausgelöste Veränderungen und Beeinträchtigungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sind für die Betroffenen, ihre Eltern und die Behandlungsteams eine bekannte Problematik. Inwieweit relevante neuropsychologische Veränderungen durch eine Schädelbestrahlung mit intrathekalen Methotrexatgaben oder eine ausschließliche Methotrexatprophylaxe entstehen, wird sehr unterschiedlich diskutiert. Jünger als 5 Jahre alte ALL-Patienten, die eine Kombination aus Schädelbestrahlung mit 18 Gy und Chemotherapie erhalten hatten, zeigten in einer Longitudinalstudie über 3– 5 Jahre nach Therapieende die deutlichsten Einbußen in nonverbalen Funktionen und in Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Verarbeitungskapazitäten (Anderson et al. 2000). Vergleichbare Ergebnisse erbrachte eine deutsch-österreichische Querschnittstudie (Langer et al. 2002). Zusätzlich zu den neuropsychologischen Beeinträchtigungen werden bei ALL-Patienten nach einer Schädelbe-
strahlung in Kombination mit einer Chemotherapie (Methotrexat) in einem höheren Prozentsatz (40–60%) Auffälligkeiten in CT- und Kernspinuntersuchungen des ZNS, einschließlich abnormaler zerebraler Blutflüsse gefunden als bei Patienten nach einer Chemotherapie ohne Bestrahlung. Neben der Schädelbestrahlung und der systemischen und intrathekalen Methotrexattherapie müssen auch die Glukokortikosteroide Prednison und Dexamethason als mögliche Mitverursacher der beschriebenen zentralen Veränderung berücksichtigt werden (Waber et al. 1995). Bisher publizierte Untersuchungen und die eigenen Studienergebnisse erlauben die Schlussfolgerung, dass die Grunderkrankung und die unterschiedlichen Formen der ZNS-Prophylaxe neuropsychologische Veränderungen auslösen können, die individuell unterschiedlich sind. Nach den heutigen ALL-Behandlungsplänen, in denen dieser Problematik Rechnung getragen wird und nur für ca. 20% der Patienten eine Schädelbestrahlung vorgesehen ist, sind deutlich weniger Nebenwirkungen im ZNS zu erwarten (Pui et al. 2003). Diagnostik. Nach einer Schädelbestrahlung sollten eine neuropsychologische Testung mit Hilfe altersgenormter Intelligenz-, Konzentrations- und Gedächtnistests und Tests zur Erfassung der visuomotorischen Integrationsfähigkeit durchgeführt werden. Bei Schulkindern sollte eine Schulanamnese erhoben werden. Dieses Vorgehen ermöglicht eine gezielte Beratung der Betroffenen und ihrer Familien. Neuroradiologische (z. B. Kernspinuntersuchung des ZNS) oder neurophysiologische (z. B. EEG, evozierte Potenziale) Untersuchungen sollten nur bei spezifischer Indikation durchgeführt werden.
88.8
Binde- und Stützgewebe
Die klinisch bedeutsamsten Diagnosen sind eine Skoliose (⊡ Abb. 88.2), eine Atrophie oder Hypoplasie des Binde- und Stützgewebes, avaskuläre Knochennekrosen und eine Osteoporose. Eine Skoliose kann eine Spätfolge nach einer asymmetrischen Bestrahlung der Wirbelsäule sein. Dies trat v. a. bei der Behandlung von Kindern mit soliden Tumoren (z. B. Wilms-Tumor) auf. Die Konkavität der Skoliose wird durch Beeinträchtigung des Wirbelkörpers in seinem Längenwachstum auf der Seite des ehemaligen Bestrahlungsfeldes hervorgerufen. Heutzutage werden modernere Strahlen therapiemethoden verwendet, außerdem wird – wenn notwendig – eine symmetrische Bestrahlung der Wirbelkörper durchgeführt. Zusätzlich zur Induktion einer Skoliose kann die Strahlentherapie z. B. eines abdominellen Tumors zu einer Atrophie des Os ileum, zu einer Atrophie und Verkürzung der Muskulatur und des Binde- und Stützgewebes im Strahlenfeld führen. Dies kann auf der Seite der Konkavität zu einer Verstärkung der Skoliose beitragen. Nach einer symmetrischen Bestrahlung der Wirbelsäule z. B. bei der Behandlung eines Medulloblastoms ist das Risiko für eine Skoliose geringer, jedoch kann ein vermindertes Längenwachstum des Oberkörpers mit entsprechenden Disproportionen induziert werden. Nach einer Strahlentherapie im Bereich der langen Röhrenknochen oder im Gesicht bei Kindern mit einem Weichteiloder Knochentumor kann eine Atrophie bzw. Hypoplasie
88
1090
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
VI
⊡ Abb. 88.2. 10-jähriges Mädchen 2 Jahre nach Behandlung eines Ewing-Sarkoms, ausgehend von der 3. Rippe rechts ventral mit großem extra- und intrathorakalem Anteil. Die Behandlung erfolgte mit Chemotherapie, perkutaner Strahlentherapie der rechten Thoraxhälfte bis 45 Gy, Tumorresektion (En-bloc-Resektion der Rippen 3 und 4 sowie angrenzendem Lungenparechym, Nachresektion mit Entfernung der 2. und 5. Rippe, Thorakoplastik) und intraoperativer Strahlentherapie mit 18 Gy. Rechtskonvexe Brustwirbelsäulenskoliose 6 Monate nach Ende der Therapie
der entsprechenden Extremitäten und Gesichtsknochen, einschließlich von schweren Zahnveränderungen, Fehlstellungen, Malokklusion und Karies resultieren (Larson et al. 1990). Aseptische Knochennekrosen und Osteoporose können nach einer Strahlentherapie z. B. nach der Behandlung eines EwingSarkoms oder nach hohen kumulativen Steroiddosen einer ALL-Behandlung auftreten (Mattano et al. 2000). Diagnostik. Insbesondere bei gelenknahen Schmerzen sollten
aseptische Knochennekrosen mit bildgebenden Verfahren (Röntgenübersicht, Computer- oder Kernspintomographie) ausgeschlossen werden. Durch Bestimmung der Knochendichte mittels DEXA-Scan (»dual energy x-ray absorptiometry«) können frühzeitig Risikogruppen für eine Osteoporose identifiziert werden. 88.9
Endokrines System
88.9.1 Wachstum ! Störungen des Längenwachstums und eine verminderte Endgröße im Erwachsenenalter gehören zu den häufigsten Spätfolgen nach intensiver Therapie eines malignen Hirntumors im Kindesalter.
So kommt es bei den Patienten nicht nur während der Therapie, sondern auch nach Beendigung der Hirntumortherapie
zu einem bleibenden Verlust an Körperhöhe, während es bei Patienten mit anderen schweren chronischen Erkrankungen in der Regel am Ende der Therapie zu einem Aufholwachstum kommt. In der Literatur wird die Inzidenz schwerer Wachstumsretardierungen mit bis zu 51% bei Patienten nach Hirntumorbehandlung und bis zu 15% bei Patienten nach Leukämiebehandlung angegeben (Leung et al. 2000). Wachstumsstörungen bei ehemaligen Krebspatienten werden v. a. durch eine Strahlentherapie verursacht. Zum einen treten sie nach direkter Strahlenwirkung auf die spinalen Wachstumsfugen auf, deren Folge eine zunehmende Disproportionierung durch relative Verminderung der Sitzhöhe gegenüber der subischialen Beinlänge ist. Zum anderen können Wachstumsstörungen Folge einer kranialen Bestrahlung sein, bei der es zu Schädigungen der hypothalamo-hypophysären Achse mit einem Wachstumshormonmangel kommen kann (Noorda et al. 2001). Nach kranialer Radiotherapie mit einer Strahlendosis von mehr als 30 Gy auf die hypothalamo-hypophysäre Region, wie sie bei der Behandlung von malignen Hirntumoren im Kindesalter üblicherweise erreicht werden, entwickeln 85–100% der bestrahlten Kinder innerhalb von 2–5 Jahren einen Wachstumshormonmangel (Clayton u. Shalet 1991). Im Gegensatz dazu treten Wachstumsstörungen nach einer Schädelbestrahlung mit 18–24 Gy bei ALL-Patienten wesentlich seltener auf. Jüngere Patienten sind stärker betroffen als ältere. Neben der Bestrahlung kann das Längenwachstum auch durch Zytostatika beeinflusst werden (Leung et al. 2000). Prednison und Methotrexat in hoher kumulativer Dosierung können einen direkten schädigenden Einfluss auf den Knochen haben. Diagnostik. Für Hirntumorpatienten und andere Patienten, die eine Strahlentherapie des Gehirns (parameningeale Tumore, akute Leukämien, Ganzkörperbestrahlung) erhielten, wurde folgendes Nachsorgeprogramm vorgeschlagen: ▬ halbjährliche Messung von Körperhöhe, -gewicht, Sitzhöhe, einmal jährlich eine Knochenalterbestimmung; ▬ zwei Jahre nach Therapieende komplette hormonelle Funktionsdiagnostik; ▬ bei Hinweisen auf eine endokrine Funktionsstörung sollte eine sofortige weitere Abklärung durch einen pädiatrischen Endokrinologen erfolgen.
88.9.2 Störungen der Pubertätsentwicklung Nach einer kranialen Radiatio im Kindesalter kann es zu Störungen der Pubertätsentwicklung kommen. ! Nach Strahlentherapie kann es aufgrund eines Gonadotropinmangels sowohl zu einer Pubertas tarda als auch paradoxerweise zu einer früh- oder vorzeitigen Pubertätsentwicklung kommen. Die frühe Pubertät scheint häufiger zu sein, wobei Mädchen stärker betroffen sind als Jungen.
Ursächlich wird für die frühe Pubertät eine strahleninduzierte Schädigung von Neuronen angenommen, die eine hemmende Wirkung auf den Gonadostaten ausüben. Für die Patienten mit Wachstumshormonmangel bedeutet eine früh-
1091 88 · Spätfolgen der Erkrankung und Therapie
normale bzw. vorzeitige Pubertät, dass die Zeit, die für die Wachstumshormontherapie zur Verfügung steht, durch die verfrüht einsetzende Pubertät limitiert wird. Aber nicht nur die frühe Pubertät, sondern auch das Tempo der Pubertätsentwicklung scheint dabei eine Rolle zu spielen. So kann das Tempo der Pubertät, z. B. die Zeit vom Stadium Tanner B2 bis zum Eintritt der Menarche, bei einzelnen Patienten nach Strahlentherapie gesteigert sein. Hier muss versucht werden, die frühe Pubertät durch eine entsprechende Therapie mit GnRH-Analoga (»Gonadotropin-releasing«-Hormon) zu unterbrechen (Adan et al. 2000). Zytostatika scheinen die Pubertätsentwicklung wenig zu beeinflussen. 88.9.3 Fertilitätsstörungen Männliches Geschlecht. Sowohl die Keimzellen als auch die endokrine Funktion der Hoden können bei Patienten nach einer Krebsbehandlung beeinträchtigt sein. Es können eine Oligo- oder Azoospermie, ein reduziertes Hodenvolumen und eine Sterilität resultieren (Howell u. Shalet 1998). Eine testikuläre Strahlentherapie führt dosisabhängig von einer reduzierten Spermienproduktion über eine transiente Azoospermie zu einer permanenten Azoospermie mit Infertilität. So kann schon eine Bestrahlung der Hoden mit 0,2 Gy in einer transienten Oligo- oder Azoospermie resultieren. Eine Strahlendosis von 1,4–3,0 Gy führte nach einer Beobachtungszeit von bis zu 40 Monaten zu einer permanenten Azoospermie, die sich in einigen Fällen nach vielen Jahren erholen kann. Ab einer Strahlendosis von 6 Gy kann von einem irreversiblen Schaden der Keimzellen mit einem konsekutiven Anstieg des follikelstimulierenden Hormons (FSH) ausgegangen werden. Präpubertäre Hoden scheinen auch radiosensibel zu sein. Auch kann es zu einer inadäquaten Testosteronproduktion der Leydig-Zellen nach testikulärer Bestrahlung kommen. Nach einer Hodenbestrahlung mit 24 Gy bei präpubertären ALL-Patienten mit Hodenbefall zeigten sich eine verzögerte Pubertätsentwicklung und postpubertär erniedrigte Testosteronwerte trotz erhöhten Werten des luteinisierenden Hormons (LH). Ebenfalls kann eine kraniale oder kraniospinale Bestrahlung bei Kindern mit einer akuten Leukämie oder einem Hirntumor zu einer Störung der hypothalamo-hypophysären Achse führen. Chemotherapeutika können ebenfalls zu einer Störung der Gonadenfunktion führen. So führt die Chemotherapie mit Alkylanzien und Procarbazin zu einer verminderten Spermatogenese mit Oligo- oder Azoospermie (Meistrich 1993). In der bislang größten Untersuchung zur Fertilität nach einer Krebserkrankung im Kindesalter mit über 2000 befragten Überlebenden, die aufgrund verschiedener Tumorerkrankungen behandelt wurden, wurde bei mit Alkylanzien behandelten Männern im Vergleich zu ihren Geschwistern ein Fertilitätsdefizit von ca. 60% ermittelt (Byrne et al. 1987). ! Bei postpubertär behandelten Tumorpatienten wird eine stärkere Gonadotoxizität beobachtet als bei präpubertär behandelten. Eine Erholung der Spermatogenese kann unter Umständen noch mehrere Jahre nach Therapieende eintreten. Weibliches Geschlecht. Mögliche Symptome bzw. laborchemische Hinweise einer Schädigung der Hypopyhsen-
Gonaden-Achse sind eine ausbleibende Pubertätsentwicklung bzw. eine primäre Amenorrhö, Zyklusstörungen, das Auftreten einer sekundären Amenorrhö sowie basal konstant erhöhte FSH- und LH-Spiegel mit niedrigen Östrogenkonzentrationen. Die Auswirkung der Strahlentherapie auf die Ovarien ist alters- und strahlendosisabhängig. Nach einer Beobachtungszeit von 10 Jahren zeigten die Mehrzahl der ehemaligen Leukämiepatienten, die präpubertär aufgrund einer Stammzelltransplantation eine Ganzkörperbestrahlung mit 10 Gy erhielten, eine primäre Amenorrhö und das Fehlen von sekundären Geschlechtsmerkmalen (Kolb u. Bender-Gotze 1990). Eine Schädigung der ovariellen Funktion durch eine Chemotherapie wird beschrieben. Obwohl die Morbidität beim weiblichen Geschlecht niedriger ist als beim männlichen, können insbesondere Alkylanzien auch zur Schädigung der weiblichen Gonaden führen. Je nach verabreichter Substanz und deren Dosis ist eine Amenorrhö reversibel (Howell u. Shalet 1998). Ihre Dauer lag in Langzeituntersuchungen zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren. Außerdem kann es durch eine Reduktion der weiblichen Eizellen durch eine Strahlen- oder Chemotherapie zu einer vorzeitigen Menopause kommen (Chiarelli et al. 1999). Schwangerschaft und Geburt. Da der Uterus durch eine abdominellen Strahlentherapie geschädigt werden kann, erhöht sich das Risiko für Aborte, für eine Frühgeburtlichkeit und für ein für die Schwangerschaftswoche zu niedriges Geburtsgewicht (SGA, »small for gestation age«). Die perinatale Sterblichkeit kann deshalb erhöht sein. Keine Hinweise gibt es bislang auf eine erhöhte Rate von angeborenen Anomalien oder Krebserkrankungen bei den Nachkommen ehemaliger Patienten (Chiarelli et al. 1999). Dies trifft nicht auf autosomal-dominant vererbte Prädispositionen zu (z. B. Retinoblastom, Li-Fraumeni-Syndrom, multiple endokrine Neoplasie). Diagnostik. Nach einer Strahlen- oder Chemotherapie muss bei Jungen und Mädchen die Pubertätsentwicklung engmaschig kontrolliert werden. Bei Ausbleiben der Pubertät (Mädchen >13 Jahre, Jungen >14 Jahre) erfolgt eine gezielte endokrinologische Abklärung, z. B. mit Messung von LH, des FSH basal und nach Stimulation mit GnRH sowie die Bestimmung von Testosteron/Östradiol und Prolaktin. Jungen Männern sollte im Alter von 18 Jahren die Erstellung eines Spermiogramms angeboten werden, da es möglicherweise einen psychologischen Vorteil haben könnte, die Problematik einer eingeschränkten Zeugungsfähigkeit frühzeitig zu klären. Mädchen sollten nach Eintreten der Menarche einen Zykluskalender führen. Bei den ambulanten Kontrollen sollte eine Zyklusanamnese erhoben werden.
88.9.4 Thyreotoxizität Nach Bestrahlung der Schilddrüse, z. B. im Rahmen der Behandlung von Tumoren des Kopf- und Halsbereichs, kann es zu einer Hypothyreose kommen. Diesbezügliche Inzidenzen 1,5–6 Jahre nach Therapieende liegen bei einer Bestrahlungsdosis von 15–70 Gy zwischen 40–90% (Abrahamsen et al. 1999). Hauptrisikofaktor für die Entwicklung einer Schilddrüsenfunktionsstörung ist die kumulative Strahlendosis.
88
1092
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Alter bei Bestrahlung, Geschlecht oder Dauer des Follow-up nach Therapie korrelieren nicht zur Schwere der Dysfunktion (Bhatia et al. 1996). Über den Beitrag der Zytostatika zur Entwicklung einer Hypothyreose gibt es nur wenige Untersuchungen. Bei Hodgkin- und ALL-Patienten konnte kein signifikantes Risiko einer Therapie ohne Bestrahlung nachgewiesen werden; dagegen wurde in einer Untersuchung von Hirntumorpatienten eine zusätzliche Chemotherapie zur Bestrahlung als Risikofaktor eingestuft. Bestrahlung der Schilddrüsenregion erhöht außerdem das Risiko, ein Sekundärmalignom der Thyroidea zu entwickeln (Crom et al. 1997). Diagnostik. In Abhängigkeit von Patientenalter und Gesamt-
VI
dosis der Strahlentherapie sollte in der Nachsorge regelmäßig eine Sonographie als Screening-Methode durchgeführt werden, da sie ein sensitives, nichtinvasives und preisgünstiges Mittel zur Erkennung von Parenchymschäden ist. Bei der Bewertung der Schilddrüsenparameter im Serum muss berücksichtigt werden, dass bei bis zu einem Drittel der Fälle eine latente Hypothyreose mit erhöhtem TSH-, aber normalen T3- und fT4-Werten vorliegen. Die Bestimmung der Schilddrüsenhormone in der Nachsorge ist daher bei bestrahlten Patienten von großer Wichtigkeit.
Nach einer Krebserkrankung und deren Behandlung können Spätfolgen ausgelöst werden. Zur Erfassung von Spätfolgen sollten zuerst die Basisuntersuchungen aus Tabelle 88.1 als Grobraster eingesetzt werden. Der behandelnde Arzt kann sie durch ein erweitertes Methodenspektrum (⊡ Tabelle 88.1) ergänzen. Darüber hinaus sollten weitere Informationen z. B. bezüglich der Medikamenteneinnahme, über das Ausbildungs- und Beschäftigungsverhältnisses erfragt werden. Über den zeitlichen Verlauf und die Abstände der Untersuchungen entscheidet unter Berücksichtigung der individuellen Krankengeschichte der behandelnde Arzt, ggf. nach Rücksprache mit Experten. In die Nachsorge sollten Ärzte der Fächer einbezogen werden, die die onkologische Primärbehandlung durchgeführt haben. Der behandelnde Arzt dokumentiert die individuellen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Patienten und bestimmt die nötigen somatischen und psychosozialen Rehabilitationsmaßnahmen. Im weiteren Verlauf muss bei Geheilten v. a. auf eine Kardiotoxizität, den Pubertätsverlauf und auf ein Zweitmalignom geachtet werden. Alle Empfehlungen zur Erfassung von Spätfolgen sind vorläufig und bedürfen einer ständigen Überprüfung und Überarbeitung.
⊡ Tabelle 88.1. Methodenspektrum zur Erfassung von Spätfolgen
Bereich
Methoden Basis
Erweiterung
Klinische Untersuchung mit Neurologie, Blutdruck, Gewicht, Körperhöhe
WHO-Score
ZNS
Neurologische Untersuchung, Schwerpunkt Feinmotorik, Koordination
Neuropsychologische Testverfahren, CT/NMR
Periphere Nerven
Neurologische Untersuchung
Nervenleitgeschwindigkeit
Endokrines System
Perzentilenkurve, Körpergewicht, -höhe, Sitzhöhe, Tanner-Stadien, Hodenvolumen
Kortisol, DHEAS, IGF1, IGFBP3, Wachstumshormondiagnostik
Schilddrüse
Sonographie
TSH, fT4
Hoden/Ovar
Tastbefund/Sonographie
Reifungsstörung/Fertilität: männlich: FSH, LH, Prolaktin, Testosteron (Spermiogramm) weiblich: FSH, LH, Prolaktin, Östradiol, Zyklusanamnese
Ohr
Audiometrie
Tonschwellenaudiometrie, otoakustische Emissionen
Herz
Echokardiogramm, EKG
Langzeit-EKG, Belastungs-EKG, Radionuklidventrikulographie
Lunge
Spirometrie
Ganzkörperplethysmographie, Thoraxaufnahme, Blutgasanalyse
Niere
Urinstatus, Serumelektrolyte inklusive Phosphor und Magnesium, Wachstumskurve, Kreatinin (-Clearance), tubuläre Phosphatreabsorption
Glukose-, Aminosäureausscheidung, Inulin-Clearance, Albumin im Urin, α2-Mikro-globulin im Urin, Sonographie
Chronische Infektionen
BSG, Bilirubin, Transaminasen
Hepatitis B, C, CMV, EBV, HSV, Immunstatus
1093 88 · Spätfolgen der Erkrankung und Therapie
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88
Zweitneoplasien C. Niemeyer, R. Ammann
VI
89.1 89.2 89.3
Einführung – 1094 Häufigkeit und Vorkommen – 1094 Familiäre Tumorprädispositionssyndrome
89.3.1 89.3.2 89.3.3 89.3.4
Li-Fraumeni-Syndrom – 1096 Multiple endokrine Neoplasie – 1096 Von-Hippel-Lindau-Erkrankung – 1097 Prädispositionssyndrom für maligne Rhabdoidtumoren – 1099 Familiäre Kolonkarzinome – 1099 Neurofibromatose Typ 1 – 1100 Tuberöse Sklerose – 1101
89.3.5 89.3.6 89.3.7
– 1096
89.4 89.5
Polymorphismen – 1101 Zweitneoplasien nach zytostatischer Behandlung oder Strahlentherapie – 1102
89.5.1 89.5.2 89.5.3 89.5.4 89.5.5
Alkylierende Substanzen – 1102 Topoisomerasehemmer – 1104 Weitere Risikofaktoren – 1104 Strahlentherapie – 1105 Perspektiven – 1105
89.6
Zweitneoplasien nach Behandlung spezifischer Krebserkrankungen – 1106
89.6.1
Zweitneoplasien nach akuter lymphatischer Leukämie – 1106 Zweitneoplasien nach Morbus Hodgkin – 1106 Zweitneoplasien nach anderen Krebserkrankungen – 1107 Konsequenzen für die Langzeitverlaufskontrolle – 1108
89.6.2 89.6.3 89.6.4
Literatur
– 1108
Montag, den 5. März 2004. Ein 11-jähriger Junge mit Panzytopenie wird auf der onkologischen Station aufgenommen. Eine prä-B-ALL wird diagnostiziert. Die Familienanamnese zeigt, dass bei der Mutter kürzlich ein Astrozytom teilreseziert wurde, eine Schwester der Mutter mit 30 Jahren an Brustkrebs erkrankte und ein Onkel väterlicherseits mit 25 Jahren an akuter lymphatischer Leukämie verstarb. Die Eltern werden über die Erkrankung ALL und heutige Heilungschancen aufgeklärt. Wie hoch aber ist die Wahrscheinlichkeit dieses Kindes im Laufe seines Lebens an einer anderen Neoplasie zu erkranken?
89.1
Einführung
In den letzten 30 Jahren haben sich die Heilungsaussichten für Kinder und Jugendliche mit Krebserkrankungen dramatisch verbessert. 5-Jahres Überlebensraten von unter 30% in den 1960er-Jahren konnten auf gegenwärtig 80% angehoben
werden. Nach Daten der Children‘s Cancer Survivor Study ist in den USA einer von 570 jungen Erwachsenen im Alter von 20–34 Jahren ein Überlebender einer Krebserkrankung im Kindesalter. Bei der anzunehmenden hohen Lebenserwartung dieser Überlebenden können Spätfolgen der Krankheit und/oder Therapie entscheidende individuelle und gesundheitspolitische Konsequenzen haben. Unter den möglichen späten Ereignissen hat das Auftreten einer zweiten Neoplasie einen besonderen Stellenwert. 89.2
Häufigkeit und Vorkommen
Die späte Mortalität von Überlebenden 5 Jahre nach der Diagnose einer Krebserkrankung im Kindes- und Adoleszentenalter ist im Vergleich zur erwarteten alters- und geschlechtsspezifischen Sterblichkeit 10,8-fach erhöht (Simone 2001). Zwei großen Studien aus den USA bzw. den nordischen Ländern mit insgesamt 33.938 »5-Jahres-Überlebenden« zeigen, dass die kumulative Mortalität für diese Patienten 15 Jahre nach Diagnosestellung bei 10% und 20 Jahre nach Diagnosestellung bei 14% liegt (Möller et al. 2001; Mertens et al. 2001). Ca. 2 Drittel dieser späten Todesfälle sind durch Rezidive bedingt, ein Fünftel ist Folge von Zweitneoplasien oder anderen therapiebedingten Komplikationen, und ein Zehntel hat keinen Bezug zur Krebserkrankung. Das erhöhte standardisierte Mortalitätsrisiko für Überlebende bleibt lebenslang bestehen (⊡ Abb. 89.1 und 89.2). Beide oben zitierte Langzeitstudien zeigten aber auch, dass 5 bis 35 Jahre nach Diagnosestellung 90% der »5-Jahres-Überlebenden« weiterhin am Leben sind. ! Das Risiko, an einer zweiten Neoplasie zu erkranken, und die Art dieser Erkrankung sind abhängig von Faktoren, die das Individuum mitbringt (genetische Prädisposition), von der Art der Ersterkrankung, von der durchgeführten Therapie und von dem Zeitintervall, das seit der Ersterkrankung und ihrer Behandlung verstrichen ist. Dementsprechend findet sich bei Patienten mit Zweittumoren eine außerordentlich große Heterogenität.
In einem Bericht der Childhood Cancer Survivor Study über 13.581 Patienten, die mindestens 5 Jahre nach Diagnosestellung ihrer Krebserkrankung im Alter unter 21 Jahren überlebt hatten, lag die die kumulative Inzidenz für Zweitneoplasien 20 Jahre nach Diagnosestellung bei 3,2% (Neglia et al. 2001). Bei einer medianen Beobachtungszeit von 15,4 Jahren seit Diagnosestellung waren 92% der Kohorte ohne Zweitneoplasie und 59% mit Zweitneoplasie am Leben. Die häufigsten Zweit- (n=298) bzw. Dritt- (n=16) Neoplasien waren Mammakarzinome (19% aller Sekundärneoplasien), Schilddrüsenkarzinome (14%) und Tumoren des zentralen Nerven-
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⊡ Abb. 89.1. Geschlechtsspezifisches Überleben für Patienten, die ihre Krebserkrankung im Kindes- oder Adoleszentenalter 5 Jahre
überlebt haben, im Vergleich zur US-amerikanischen Normalbevölkerung (Mertens et al. 2001)
⊡ Abb. 89.2. Kumulative Mortalität für Patienten, die ihre Krebserkrankung im Kindes- oder Adoleszentenalter 5 Jahre überlebt haben, aufgeschlüsselt nach Todesursache (Mertens et al. 2001)
systems (ZNS) (11%). Die beobachteten Mammakarzinome traten zu 65% bei Frauen nach Morbus Hodgkin auf, Schilddrüsenkarzinome besonders häufig nach Morbus Hodgkin (47% aller Schilddrüsenkarzinome) oder Leukämien (26%), und ZNS-Tumoren nach Leukämien (64% aller ZNS-Tumoren) und ZNS-Primärtumoren (17%). Die mediane Zeit von Diagnose der Erstneoplasie bis zum Auftreten einer Zweitneoplasie in der oben zitierten Kohorte der Childhood Cancer Survivor Study lag bei 11,7 Jahren (Neglia et al. 2001). Während sich das Risiko für eine
Zweitleukämie ab 9 Jahren nach Erstdiagnose verringerte, blieb die standardisierte Inzidenzrate (»standardized incidence ratio«, SIR) für solide Tumoren während des ganzenBeobachtungszeitraums bis 30 Jahre nach Erstdiagnose deutlich erhöht. Das höchste Risiko für Zweitneoplasien fand sich nach Morbus Hodgkin, das niedrigste nach NonHodgkin-Lymphomen. In einem multivariaten Regressionsmodell, das die Strahlenexposition mit berücksichtigte, waren Zweittumoren jeglicher Art mit weiblichem Geschlecht, jungem Alter bei Erstneoplasie, Morbus Hodgkin, Weich-
89
1096
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
teilsarkom und Exposition mit alkylierenden Substanzen assoziiert (Neglia et al. 2001). Das Spektrum von Zweitneoplasien wird entscheidend von dem Zeitintervall seit Diagnose der Ersterkrankung beeinflusst. Bei einem vergleichsweise kurzen Beobachtungszeitraum (Klein et al. 2003, mediane Beobachtungszeit 6 Jahre) ist in den Studien des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz die akute lymphatische Leukämie (ALL) die Ersterkrankung, die am häufigsten von einer Zweitneoplasie (46% aller Sekundärmalignome) begleitet ist. Mit längerer Nachbeobachtungszeit (und ohne Berücksichtigung von myeloischen Sekundärmalignomen innerhalb der ersten 5 Jahre nach Erstdiagnose) sind in den oben zitierten Studien der Childhood Cancer Survivor Study nur noch 22% der Zweitneoplasien nach vorausgegangener ALL zu beobachten (Neglia et al. 2001).
VI 89.3
Familiäre Tumorprädispositionssyndrome
Zu den genetischen Faktoren, die mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten multipler Malignome einhergehen, gehören die autosomal-dominant und seltener autosomal-rezessiv oder X-chromosomal vererbten Tumorprädispositionssyndrome ( Abschn. 42.5). Einige dieser Erkrankungen sind im Folgenden dargestellt. Prädispositionssyndrome mit erhöhter Chromosomenbrüchigkeit wie z. B. die Fanconi-Anämie ( Abschn. 3.5) sind an anderer Stelle besprochen. 89.3.1 Li-Fraumeni-Syndrom Li u. Fraumeni beschrieben das nach ihnen benannte Syndrom als familiäres Tumorprädispositionssyndrom bei dem ▬ der Proband im Alter unter 45 Jahren an einem Sarkom erkrankt, ▬ ein Verwandter ersten Grades vor dem 45 Lebensjahr an jeglicher Art von Krebs leidet und ▬ ein weiterer Verwandter ersten oder zweiten Grades ebenfalls vor dem 45. Lebensjahr ein Malignom oder unabhängig vom Alter ein Sarkom entwickelt (Li et al. 1988). Die mit dem Li-Fraumeni-Syndrom (LFS) assoziierten Malignome sind Sarkome, Hirntumoren, adrenokortikale Tumoren und Mammakarzinome. Diese Entitäten machen ca. 80% aller bei LFS-Patienten beobachteten Tumoren aus (Olivier et al. 2003). Andere Malignome wie Leukämien, Bronchialkarzinome, Hautmelanome, Magenkrebs, Pankreastumoren, Ovarialkarzinome werden ebenfalls überzufällig häufig beobachtet. In einigen Fällen wurde auch über Keimzelltumoren, Plexuspapillome und Nephroblastome berichtet. Bei ca. 70% der Familien mit LFS finden sich heterozygote Keimbahnmutationen im Tumorsuppressorgen TP53 (Malkin et al. 1990; Birch et al. 1994; Varley et al. 1997). Das p53-Protein ist ein Transkriptionsfaktor, der in den meisten Zellen konstitutiv exprimiert und bei einer Vielzahl von Stresssignalen aktiviert wird (Pluquet et al. 2001). Ein Funktionsverlust von p53 wird allgemein mit einer verringerten Fähigkeit der Zelle, genetische Alterationen aufzufangen,
assoziiert. Ähnlich wie bei den bei einer Vielzahl von Tumoren beobachteten sporadischen TP53-Mutationen sind TP53Keimbahnmutationen hauptsächlich Missense-Mutationen, die sich über das ganze Gen erstrecken und zu einer verringerten Transkriptionsaktivität führen. Es ist anzunehmen, dass gewebsspezifische Faktoren die mutagenen Eigenschaften der einzelnen p53-Mutanten beeinflussen. So findet sich eine gewisse Genotyp-Phänotyp-Korrelation (Olivier et al. 2003) und interessanterweise eine Mutante, die ausschließlich beim adrenokortikalen Syndrom zu beobachten ist (Ribeiro et al. 2001). Neben den vererbten TP53-Aberrationen sind De-novoKeimbahnmutationen beschrieben. Auch bei negativer Familienanamnese finden sich TP53-Mutationen bei ca. 10% der Patienten mit Osteosarkom (McIntyre et al. 1994) oder Rhabdomyosarkom (Diller et al. 1995; Moutou et al. 1996) und bei der Mehrzahl junger Patienten mit adrenokortikalem Karzinom (Wagner et al. 1994). Das Risiko eines Trägers einer TP53-Keimbahnmutation, an einem Malignom zu erkranken, wird für Männer mit 73% und für Frauen aufgrund des hohen Risikos für Mammakarzinom mit 100% angegeben (Chompret et al. 2000). Adrenokortikale Karzinome, Weichteilsarkome und Mammakarzinome treten im Vergleich zur Normalbevölkerung in jüngerem Alter auf (Olivier et al. 2003). Häufig ist auch das Auftreten mehrerer Malignome, wobei viele dieser Tumoren im Strahlenfeld des Primärtumors auftreten (Kony et al. 1997). Nicht bei allen Familien mit LFS ist eine TP53-Keimbahnmutation nachweisbar. Einige dieser Familien weisen Mutationen in anderen Genen, wie hCHK2, einer sog. CheckpointKinase, auf (Bell et al. 1999). Gleichzeitig werden TP53-Keimbahnmutationen auch in Familien beobachtet, die Tumoren außerhalb des typischen LFS-Spektrums aufweisen. Neben der oben aufgeführten klassischen Beschreibung des LFS wurden daher mehrere weiter gefasste Definitionen von LiFraumeni-ähnlichen Syndromen entwickelt (Birch et al. 1994; Eeles et al. 1993). Die Mehrzahl dieser als Li-Fraumeni-ähnlich beschriebenen Familien weist jedoch keine TP53-Keimbahnmutation auf. 89.3.2 Multiple endokrine Neoplasie Die multiplen endokrinen Neoplasien (MEN) Typ 1 und 2 sind unterschiedliche hereditäre Prädispositionssyndrome für endokrine Neoplasien. Multiple endokrine Neoplasie Typ 1 MEN Typ 1 kann mit einer Vielzahl von Tumoren einhergehen (⊡ Tabelle 89.1; Carling 2005). Die Mehrzahl der Tumoren ist hormonaktiv. Die klinische Diagnose MEN1 kann gestellt werden, wenn der Patient Tumoren in 2 der 3 Hauptorgane Parathyreoidea, enteropankreatisches System oder vordere Hypophyse hat. Die Diagnose »familiäre MEN1« setzt einen Verwandten ersten Grades mit einem Tumor in einem der genannten 3 Hauptorgane voraus (Skogseid 2003). Der Hyperparathyreoidismus ist das häufigste und meist das erste Zeichen der Erkrankung. Auch wenn die Behandlung von Hyperparathyreoidismus und Hypergastrinämie (ZollingerEllison-Syndrom) heute deutlich verbessert werden konnte, ist die Morbidität bei MEN1 im Allgemeinen durch die be-
1097 89 · Zweitneoplasien
⊡ Tabelle 89.1. Tumoren, die bei der Multiplen Endokrinen Neoplasie Typ 1 beobachtet werden und ihre Penetranz (modifiziert nach Carling 2005)
Endokrine Tumoren
Penetranz
Tumoren der Parathyreoidea
90%
Enteropankreatische Tumoren Gastrinome Insulinome Nicht-sezernierende Tumoren Andere (VIP sezernierende etc.)
40% 10% 20% 2%
Hypophysentumoren Prolaktinome Andere
20% 17%
Nebennierentumoren Nicht sezernierende Tumoren Phäochromozytome
20% <1%
Karzinoide des Vorderdarms Gastrische enterochromaffine Tumoren Karzinoide des Thymus Karzinoide des Bronchialsystems
10% 2% 2%
Nicht-endokrine Tumoren Angiofibrome des Gesichts
85%
Kollagenome
70%
Lipome
30%
Leiomyome
10%
Meningeome
5%
Ependymome
1%
nignen und weniger durch die malignen Tumoren geprägt. MEN1-assoziierte maligne Tumoren tragen zu ca. 20% der Todesfälle bei. 70–80% der Familien mit MEN1 haben Keimbahnmutationen in MEN1, einem Tumorsuppressorgen auf Chromosom 11q13, das für das 67-kD große Protein Menin kodiert (Agarwal et al. 2004). Menin wird in vielen Geweben und hauptsächlich im Zellkern exprimiert. Es interagiert mit einer Vielzahl von Partnern, ohne dass seine Rolle bisher gut beschrieben wäre. Auch sporadische Tumoren des MEN1Spektrums weisen häufig MEN1-Mutationen auf. Bei gleichem Muster führen somatische und Keimbahnmutationen in ca. 80% der Fälle zum Verlust oder zur Trunkierung der genetischen Information und so zum Ausfall oder zum Abbruch des Proteins. Multiple endokrine Neoplasie Typ 2 Die molekulare Ursache der MEN2-Varianten (⊡ Tabelle 89.2) sind Punktmutationen im Protoonkogen »rearranged during transfection« (RET), einer transmembranen Rezeptortyrosinkinase auf Chromosom 10q11.2. RET-Keimbahnmutationen betreffen im Wesentlichen 4 aus der Neuralleiste hervorgegangene Gewebe: C-Zellen der Schilddrüse, Zellen der Parathyreoidea, chromaffine Zellen des Nebennierenmarks und den autonomen enterischen Plexus. Unterschiedliche Aminosäuresubstitutionen führen zu unterschiedlichen onkogenen Mechanismen mit einer klaren Genotyp-Phänotyp-Korrelation (Santoro et al. 2004). Paradoxerweise kön-
⊡ Tabelle 89.2. Multiple endokrine Neoplasie Typ 2 und ihre klinischen Syndrome (nach Carling 2005)
Syndrom
Beschreibung
MEN2A
Medulläres Schilddrüsenkarzinom Phäochromozytom Tumoren der Parathyreoidea
Familiäre medulläre Schilddüsenkarzinome (FMSC)
Medulläres Schilddrüsenkarzinom
MEN2A oder FMSC mit Morbus Hirschsprung
Wie oben mit Morbus Hirschsprung
MEN2A mit kutaner Amyloidose
MEN2A mit juckenden Hautläsionen des Rückens
MEN2B
Medulläres Schilddrüsenkarzinom Phäochromozytom Ganglineurome intestinal, Mukosa Marfanoider Körperwuchs
nen Punktmutationen, die die extrazellulären RET-Kodons 609, 618 und 620 betreffen, einen dualen Effekt aufweisen, in dem sie sowohl einen Funktionsverlust (Morbus Hirschsprung) wie auch eine Funktionssteigerung (MEN2A, MEN2B, familiäre Schilddrüsenkarzinome) auslösen. Alle Varianten der MEN2 zeigen eine sehr hohe Penetranz für medulläre Schilddrüsenkarzinome (⊡ Tabelle 89.2). Altersabhängig kommt es zur Progression von einer C-ZellHyperplasie zum Karzinom und letztlich zur lymphogenen Metastasierung. Bei MEN2A, das 75% aller MEN2-Fälle ausmacht, weisen 90% der Erwachsenen ein medulläres Schilddrüsenkarzinom, 50% ein uni- oder bilaterales Phäochromozytom und 20–30% multiple Tumoren der Parathyreoidea auf. MEN2B ist ebenfalls durch medulläre Schilddrüsenkarzinome und Phäochromozytome gekennzeichnet, gleichzeitig finden sich eine intestinale Ganglioneuromatose und ein dem Marfan-Syndrom ähnlicher Körperbau. Der Zeitpunkt des Auftretens von Schilddrüsenkarzinomen und ihre Metastasierungstendenz sind von der MEN2Variante und von dem mutierten RET-Kodon abhängig. Einige Autoren empfehlen, Kinder mit dem höchsten Risiko (MEN2B und/oder Mutationen in RET-Kodon 883, 918, 922) schon in den ersten 6 Lebensmonaten prophylaktisch zu thyreoidektomieren (Carling 2005). Die Mehrzahl der Patienten mit RET-Keimbahnmutationen sollte bis zum Alter von 5 Jahre thyreoidektomiert sein, bei bestimmten Mutationen kann die prophylaktische Thyreoidektomie möglicherweise bis zum Alter von 10 Jahre hinausgeschoben werden (Brandi et al. 2001; Machens et al. 2003; Szinnai et al. 2003). 89.3.3 Von-Hippel-Lindau-Erkrankung DerVon-Hippel-Lindau-(VHL-)Erkrankung liegen Keimbahnmutationen im VHL-Gen zugrunde, die zur Entwicklung von verschiedenen malignen und benignen Tumoren prädisponieren (⊡ Tabelle 89.3). Mit einer Inzidenz von 1:36.000 Lebendgeborenen ist die Erkrankung nicht selten; die Pene-
89
1098
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
⊡ Tabelle 89.3. Tumoren die bei der Von-Hippel-Lindau-Erkrankung beobachtet werden (nach Lonser et al. 2003)
Medianes Alter (Schwankungsbreite) bei Diagnose (Jahre)
Häufigkeit (% aller Patienten)
Zentrales Nervensystem Retinale Hämangioblastome
25 (1–67)
25–60%
Tumoren des Saccus endolymphaticus (Innenohr)
22 (12–50)
10%
Kraniospinale Hämangioblastome Kleinhirn Hirnstamm Rückenmark Lumbosakrale Wurzeln Supratentoriell
33 (9–78) 32 (12–46) 33 (13–66) Unbekannt Unbekannt
44–72% 10–25% 13–50% <1% <1% 25–60%
Viszeral
VI
Nierenzellkarzinome/Zysten
39 (16–67)
Phäochromozytome
30 (5–58)
10–20%
Pankreastumoren/Zysten
36 (5–70)
35–70%
Zystadenome des Nebenhodens
Unbekannt
25–60%
Zystadenome des Ligamentum latum uteri
Unbekannt (16–46)
Unbekannt
tranz liegt im Alter von 65 Jahren bei über 90% (Lonser et al. 2003). Die Diagnose der VHL-Erkrankung wird zunächst klinisch gestellt. Bei einem Patienten mit einer entsprechenden Familienanamnese sind das Auftreten eines ZNS-Hämangioblastoms, eines Phäochromozytoms oder eines Klarzellsarkoms der Niere für die Diagnose ausreichend. Bei fehlender Familienanamnese werden 2 oder mehr ZNS Hämangioblastome oder ein Hämangioblastom und ein viszeraler Tumor (⊡ Tabelle 89.3, mit Ausnahme von Zysten der Niere oder des Nebenhodens) gefordert. Hämangioblastome des ZNS entstehen bei 60–80% der Patienten mit VHL-Erkrankung. Sie bestehen aus einem gefäßreichen Tumor mit neoplastischem Stroma (Vortmeyer et al. 1997) und weisen neben Zeichen des Tumorwachstums oft lange Zeiten des Wachstumsstillstands auf. Die Symptome von Hämangioblastomen sind im Allgemeinen abhängig von der Lokalisation und der Größe. Neben der chirurgischen Exstirpation wird die stereotaktische Strahlentherapie eingesetzt. Von einer präoperativen Embolisation wird in der Regel abgesehen (Wanebo et al. 2003). Hämangioblastome der Retina sind oft multifokal und bilateral. Sie sind in den frühen Stadien häufig asymptomatisch, obwohl ein deutlicher Sehverlust bestehen kann. Ca. 5% der Tumoren werden schon im Alter von unter 10 Jahren diagnostiziert, so dass ophthalmologische Kontrolluntersuchungen frühzeitig indiziert sind (⊡ Tabelle 89.4). Tumoren des Saccus endolymphaticus des Innenohrs treten nur bei der VHL Erkrankung auf. Sie können sich mit Hörverlust, Tinnitus, Gleichgewichtsstörungen und Fazialisparese präsentieren (Manski et al. 1997). Klarzellkarzinome der Niere und mit Klarzellen ausgekleidete Nierenzysten finden sich ebenfalls bei ca. 60% der Patienten. Bis zu 600 mikroskopische Tumoren und 1100 mikroskopische Zysten wurden in einigen Nieren von Erwachsenen mit VHL-Erkrankung angenommen (Walther et al. 1995). Die Behandlungsindikationen (»watch and wait«, nierenerhaltende Exzision, perkutane Radiofrequenz- oder Kryoablation) sind im Wesentlichen von der Tumorgröße abhängig (Lonser et al. 2003).
Genotyp-Phänotyp-Korrelationen sind insbesondere für die Beratung von VHL-Familien bezüglich des Auftretens von Phäochromozytomen hilfreich (Kim u. Kaelin 2004). In sog. Typ-1-Familien werden Phäochromozytome nicht gesehen, in Typ-2-Familien können Phäochromozytome mit geringem (Typ 2A) oder hohem Risiko (Typ 2B) für Nierenzellkarzinome auftreten oder das Phäochromozytom der einzige Tumor bleiben (Typ 2C). Während Typ-2-Familien VHL-«Missense«-Mutationen aufweisen, liegen Typ-1-Familien Deletionen und trunkierende Mutationen zugrunde (Kim u. Kaelin 2004). Phäochromozytome können schon vor dem 10. Lebensalter auftreten. Neben der Bestimmung von
⊡ Tabelle 89.4. Empfehlungen zum Tumorscreening bei asymptomatischen Patienten mit Von-Hippel-Lindau-Erkrankung (nach Lonser et al. 2003)
Untersuchung
Frequenz
Körperliche Untersuchung (Blutdruck, Neurologie)
Jährlich, ab Geburt
Ophthalmologische Untersuchung
Jährlich, ab 1. Geburtstag
Katecholamine in Plasma/ 24-h-Sammelurin, Metanephrine
Jährlich, ab 2. Geburtstag
MRT kraniospinal
Jährlich, ab 11. Geburtstag
CT/MRT Innenohr
Bei Symptomen
Hörtest
Bei Symptomen*
Sonographie Abdomen (MRT wenn indiziert)
Jährlich, ab 8. Geburtstag
CT Abdomen
Jährlich, ab 18. Geburtstag
* Andere Autoren empfehlen audiologische Untersuchung bei Kindern alle 2–3 Jahre, später alle 1–2 Jahre.
1099 89 · Zweitneoplasien
Katecholaminen im 24-h-Sammelurin (gelegentlich falschnegativ) ist die Bestimmung der Metanephrine im Plasma (Welse et al. 2002) sinnvoll; zur Lokalisation extraadrenaler Tumoren ist die Meta-Iodbenzylguanidin-(MIBG-) Szintigraphie hilfreich. Frühe, die Nebennierenrinde erhaltende chirurgische Interventionen sind indiziert. VHL-Mutationen sind sehr heterogen und über das ganze ubiquitär exprimierte Gen verstreut. Das VHL-Protein bildet mit anderen Proteinen wie Elongin B, Elongin C und Cullin 2 einen Komplex, der die Ubiquitin-abhängige Proteolyse großer Proteine bestimmt. Bei normalen Sauerstoffkonzentrationen bindet der Komplex auch an die α-Untereinheiten des Hypoxie-induzierbaren Faktors (HIF) 1 und 2. Eine fehlende oder veränderte VHL-Funktion führt daher zur vermehrten HIF-Stimulation mit konsekutiver verstärkter Expression angiogenetischer Wachstumsfaktoren wie »vascular endothelial growth factor« (VEGF), »platelet derived growth factor α polypeptide« (PDGFα), Erythropoetin und anderer. Dieses biologische Verhalten kann den Gefäßreichtum der Tumorläsionen oder die gelegentlich beobachtete Polyzythämie erklären, auch wenn andere, bisher nicht bekannte Folgen der abnormen VHL Expression ebenfalls eine Rolle spielen. 89.3.4 Prädispositionssyndrom für maligne
Rhabdoidtumoren Maligne Rhabdoidtumoren (MRT) sind hoch maligne Tumoren des frühen Kindesalters. Sie treten in unterschiedlichen Organen wie dem ZNS, der Niere und den Weichteilen auf. Ca. 75% der Tumoren zeigen Mutationen in dem auf Chromosom 22q11.2 gelegenen Gen hSNF5 (»integrase interactor 1«; Biegel et al. 2002). Das dazugehörige Protein, hSNF5, ist Teil eines Multiproteinkomplexes, der beim Umbau von Chromatinstrukturen eine Rolle spielt. Die Tatsache, dass die meisten Tumoren biallelische inaktivierende Mutationen aufweisen und haploinsuffiziente Mäuse MRT-ähnliche Tumoren entwickeln, weist hSNF5 als ein Tumorsuppressorgen aus. Tatsächlich konnten bei ca. der Hälfte der MRT Patienten mit sSNF5-Aberrationen Keimbahnmutationen nachgewiesen werden (Biegel et al. 2002). hSNF5-Mutationen finden sich auch bei den meisten Plexuskarzinomen und bei einigen jungen Kindern mit Medulloblastom und primitivem neuroektodermalen Tumor (PNET) des ZNS (Sévenet et al. 1999). Bei der hohen Penetranz im Kleinkindesalter und der ungünstigen Prognose wundert es nicht, dass es sich in nahezu allen Fällen um Neumutationen handelt. Lediglich 5 Familien mit Rhabdoidtumor-Prädispositionssyndrom (mindestens 2 Familienmitglieder mit hSNF5-Keimbahnmutation) wurden bisher beschrieben (Lee et al. 2002). Nur bei einer der 5 Familien fand sich eine heterozygote hSNF5-Mutation (»intronische splice site«) bei einem Elternteil (Taylor et al. 2000). Die anderen familiären Fälle könnten u. U. durch Mosaike innerhalb der Gametogenese erklärt werden. 89.3.5 Familiäre Kolonkarzinome Die Zuordnung von Kolonkarzinomen in familiäre und sporadische Formen ist nicht immer eindeutig. Eine hohe
Penetranz findet sich für die autosomal dominant vererbten Mutationen, die zu den unten beschriebenen Krankheitsbildern der familiären adenomatösen Polyposis (FAP), den hamartösen Polyposis-Syndromen und den hereditären nicht-polypösen Kolonkarzinomen (HNPCC, Lynch-Syndrom) führen. Daneben gibt es rezessiv vererbte Prädispositionssyndrome von hoher Penetranz und eine Vielzahl von Mutationen mit niedriger Penetranz, die im Kontext anderer Faktoren zur erhöhten Suszeptibilität für Kolonkarzinome führen und hier nicht beschrieben werden (Übersicht in de la Chapelle 2004). In den von Kolonkarzinomen betroffenen Familien finden sich auch eine Prädisposition für andere Malignome, z. B. Hirntumoren bei FAP und HNPCC (TurcotSyndrom). Familiäre adenomatöse Polyposis Die autosomal-dominant vererbte FAP hat eine Inzidenz von ca. 1:10.000 und umfasst ca. 1% aller kolorektalen Karzinome (de la Chapelle 2004). Sie ist durch das Auftreten von hunderten bis tausenden von Adenomen im Kolon und Rektum gekennzeichnet, die als obligate Präkanzerosen in Adenokarzinome übergehen. Die ersten Adenome finden sich bei älteren Kindern und Adoleszenten, Adenokarzinome in der Regel schon im jungen Erwachsenenalter. Adenome im oberen Gastrointestinaltrakt können auch hier zu Adenokarzinomen führen. Weitere Manifestationen außerhalb des Kolons sind benigne Drüsenkörperzysten des Magens, eine kongenitale Hypertrophie des retinalen Pigmentepithels (80%), Osteome (75–90%), Hautneoplasien wie Epidermoidzysten (50%), Desmoide (10–15%, auch intraabdominell im Mesenterium) und Zahn- und Kieferanomalien (Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe »Familiärer Darmkrebs«, http://bonn.humgen.de/fjp.htm). Selten finden sich auch Schilddrüsenkarzinome (1%; Cetta et al. 2000), Astrozytome, Medulloblastome und Hepatoblastome. Da 1 von 250 Kindern mit Hepatoblastom ein FAP hat, ist eine sorgfältige Familienanamnese angezeigt (Hughes u. Michels 1992). Ursächlich für die FAP sind Keimbahnmutationen in einem APC (»adenomatous polyposis coli«) genannten großen Gen. Über 95% der Mutationen sind trunkierende oder Nonsense-Mutationen, die zu Veränderungen im Leseraster führen. Es bestehen interessante Genotyp-Phänotyp-Korrelationen. Die »klassische« FAP (mit tausenden von Adenomen) wird in der Regel durch Mutationen in Kodon 169–1.600 verursacht, die zusätzliche Hypertrophie des retinalen Pigments durch Mutationen in Kodon 463–1.387 und das auch als Gardner-Syndrom bezeichnete gleichzeitige Auftreten von Osteomen, Desmoiden und Epidermoidzysten durch Mutationen in Kodon 1.403–1.578 (de la Chapelle 2004). Der sog. attenuierten Polyposis mit einer geringeren Anzahl von Adenomen (Dutzende bis hunderte, nicht tausende) liegen Mutationen in Spleiß-Donor/Akzeptor-Stellen zugrunde, die über Deletionen im Leseraster zu wenig trunkierten Proteinformen (hypomorphe Varianten) führen. In ca. 20% der FAPFamilien kann mit herkömmlichen molekulargenetischen Methoden keine APC-Mutation nachgewiesen werden. Zumindest bei einigen dieser Familien lag ohne erkennbare genomische Sequenzänderung eine deutlich verringerte RNAExpression (eines Allels) vor, so dass es durch einen »zweiten Hit« im Bereich des normalen Allels zu einer für das Entstehen der Adenome ursächlich verringerten Proteinmenge von APC
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
kommen kann. Für die Entwicklung eines Karzinoms sind eine Reihe weiterer genetischer Veränderungen notwendig. ! Für Träger von APC-Mutationen wird ab dem 8. bis 10. Lebensjahr einmal jährlich eine Rektosigmoidoskopie empfohlen, bei der Beobachtung von ersten Polypen stattdessen eine Koloskopie. Beim Auftreten von vielen Polypen oder spätestens bis zum 30. Lebensjahr (für alle Genträger) ist eine komplette Kolektomie mit Entfernung der Rektumschleimhaut kontinenzerhaltend durchzuführen. Ab dem Zeitpunkt der Kolektomie sollten auch regelmäßige Gastroduodenoskopien durchgeführt werden.
VI
Hamartöse Polyposis-Syndrome Hamartöse Polypen präsentieren sich im Kindesalter oft mit Bauchschmerzen und rektaler Blutung. Sie können einzeln oder multipel im Rahmen eines Peutz-Jeghers-Syndroms oder einer familiären Polyposis auftreten. Die familiäre Prädisposition für intestinale Polypen wird bei Peutz-JeghersPatienten zu 50% durch Mutationen in dem LKB1-Gen (Hemminki et al. 1998) verursacht. Die bei der familiären Polyposis mutierten Gene SMAD4 (auch bekannt als MADH4 – »mother against decapentaplegic«, Drosophila-Homolog 4; Howe et al. 2001) und BMPR1A (»bone morphogenic protein receptor type 1A«; Sayed et al. 2002) spielen eine Rolle im Signaltransduktionsweg des »transforming growth factor β« (TGFβ). Bei variabler Penetranz ist das Risiko der hamartösen Polyposis Syndrome für kolorektale Karzinome schwer abschätzbar. Für Patienten mit familiärer juveniler Polyposis wird es mit 20–60% bis zum 60. Lebensjahr angenommen (Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe »Familiärer Darmkrebs«, http://bonn.humgen.de/fjp.htm). Vor- und Nachsorgeprogramme können zurzeit nur risikoadaptiert anhand der in der Familie aufgetretenen Erkrankungen erarbeitet werden. Hereditäre nicht-polypöse Kolonkarzinome Den HNPCC liegen Keimbahnmutationen in den »Mismatch«Reparaturgenen MLH1, MSH2, MSH6 und PMS1, PMS2 und MLH3 zugrunde (de la Chapelle 2004). Sie stellen mit ca. 5% der Kolon- und Rektumkarzinome die häufigste Entität der autosomal vererbten Dickdarmkrebserkrankungen dar. Das mittlere Alter bei Diagnose ist mit 45 Jahren früh, und häufig finden sich synchrone/metachrone Zweitkarzinome in Kolon und Rektum. Der Begriff HNPCC ist irreführend, denn die zugrunde liegenden Gendefekte prädisponieren auch für Karzinome des Endometriums (60% Penetranz), des Magens, der Ovarien, des Dünndarms, der Gallengänge, der Harnwege und für Hirntumoren (http://bonn.humgen. de/fjp.htm). »Mismatch«-Reparaturgene agieren wie Tumorsuppressorgene ( Kap. 42). In der Zelle z. B. des Kolonepithels eines heterogenen Genträgers wird das Wildtypallel durch einen zweiten Hit (Deletion, Mutation; Methylierung von Promotorregionen) funktionslos. Der daraus folgende DNA-Reparaturdefekt spiegelt sich in einer Instabilität der DNA z. B. der Mikrosatelliten wider (Mikrosatelliteninstabilität, MSI). Da angenommen werden kann, dass eine in der »Mismatch«Reparatur defekte Zelle eine hohe Mutationsrate besitzt, wird auch von einem Mutatorphänotyp gesprochen.
Zur Identifizierung von Individuen mit Keimbahnmutationen in einem »Mismatch«-Reparaturgen stehen die Familienanamnese mit Amsterdam oder Bethesda Kriterien, Immunhistochemie zum Nachweis der einzelnen Proteine und die Testung auf Mikrosatelliten-Instabilität zur Verfügung (Kurzawski et al. 2004). Bei letzterer werden anhand eines Panels des National Cancer Institute (NCI, USA) mit 5 Mikrosatellitenmarkern die Tumoreigenschaften in MSIHigh (≥2/5 Mikrosatellitenmarker im Tumor verändert), MSI-Low (1/5 verändert) und MSI-Stable (0/5 verändert) unterteilt (Umar et al. 2004). Tumoren von MSH2- und MLH1Keimbahnmutanten sind ausnahmslos MSI-High, Mutanten von MSH6, das einen attenuierten Phänotyp auslösen kann, können MSI-Low oder MSI-Stable sein. Andere Autoren weisen daraufhin, dass in Anbetracht der Kosten für Vorsorgeuntersuchungen ein Screening-Verfahren mittels denaturierender High-Performance-Flüssigchromatographie (DHPLC) erfolgen sollte, um Anlageträger und Nicht-Betroffene sicher zu identifizieren. ! Für Anlageträger wird ab dem 25. Lebensjahr bzw. 5 Jahre vor dem frühesten Manifestationsalter eines betroffenen Familienmitglieds ein intensives Früherkennungsprogramm mit kompletter Koloskopie und gynäkologischen Untersuchungen empfohlen (Burke et al. 1997).
HNPCC-assoziierte Tumoren finden sich auch bei einigen Individuen unter 18 Jahren (Bhatia et al. 1999). Bei großer genetischer und allelischer Heterogenität finden sich einige konstante Genotyp-Phänotyp-Korrelationen (Lucci-Cordisco et al. 2003). Mutationen im MSH2-Gen gehen in der Regel mit einem höheren Risiko für intra- und extraintestinale Tumoren einher als Alterationen in MLH1. MSH2 ist auch bei der Mehrzahl der Fälle mit gleichzeitiger Anwesenheit von Hauttumoren betroffen (Muir-Torre-Syndrom). Die wenigen bekannten PMS2-Mutationen führen zum frühen Auftreten von Karzinomen und zeigen eine starke Assoziation mit Gliomen (Turcot-Syndrom). Homozygote für »Mismatch«Reparaturgene zeigen Stigmata der Neurofibromatose Typ 1 und sterben meist im Kindesalter an einer Vielzahl von Leukämien und Lymphomen (Whiteside et al. 2002). 89.3.6 Neurofibromatose Typ 1 Die Neurofibromatose Typ 1 (NF1) ist eine der häufigsten genetischen Erkrankungen und betrifft ca. 1 von 2500 Personen. Die Diagnose erfolgt auch heute in der Regel nach klinischen Kriterien (Gutmann 1997), da das NF1-Gen sehr groß ist und die »privaten« Mutationen über das ganze Gen zerstreut sind. NF1 kodiert für Neurofibromin, ein GTPase aktivierendes Protein, welches RAS inaktiviert. Das NF1-Gen ist ein Tumorsuppressorgen; in den neoplastischen Zellen ist es in dem von der Keimbahnmutation nicht betroffenen (»normalem«) Allel zu einem Verlust von genetischen Material gekommen (»loss of heterocygosity«). Patienten mit NF1 haben nicht nur ein erhöhtes Risiko für benigne und maligne Tumoren wie Optikusgliome, Neurofibrome, periphere maligne Nervenscheidentumoren, Rhabdomyosarkome und die juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML), sie zeigen auch eine erhöhte Inzidenz von Zweittumoren. In einem murinen Mo-
1101 89 · Zweitneoplasien
del hatten heterozygote NF1-«Knock-out«-Mäuse im Vergleich zu Mäusen mit Wildtyp ein deutlich erhöhtes Risiko für myeloische Neoplasien ohne Behandlung (17%), und nach Gabe von Etoposid (25%) oder Cyclophosphamid (52%; Mahgoub et al 1999). Trotz dieses bekannten deutlich erhöhten Risikos für Zweitneoplasien, insbesondere nach Behandlung mit alkylierenden Substanzen, sollten Kinder mit NF1 entsprechend den intensiven Therapien von Therapieoptimierungsstudien behandelt werden (Sung et al. 2004a). 89.3.7 Tuberöse Sklerose Der tuberösen Sklerose (TS) liegen Gendefekte in den Tumorsuppressorgenen TSC1 oder TSC2 zugrunde, die – ähnlich wie NF1- für Proteine (Hamartin und Tuberin) kodieren, die in der Regulation von RAS oder RAS-ähnlichen GTPase aktivierenden Proteinen eine Rolle spielen. Patienten mit TS zeigen ein erhöhtes Risiko für benigne Tumoren wie Rhabdomyome des Herzmuskels (Entwicklung in utero, postnatale Regression), Hamartome der Retina, Astrozytome und Angiomyolipome der Nieren (Erwachsene). Auch das Risiko, an einem Rhabdomyosarkom zu erkranken, ist leicht erhöht (Narod et al 1991). Spezielle Screening Programme zur Früherkennung von Tumoren werden zurzeit nicht empfohlen. 89.4
Polymorphismen
Während die faszinierenden, aber seltenen familiären Tumorprädispositionssyndrome nur für einen geringen Prozentsatz der Zweitneoplasien verantwortlich sind, kommt Sequenzvarianten wie Polymorphismen möglicherweise eine größere Bedeutung zu. Die meist nach Mendelschen Gesetzen vererbten Polymorphismen sind im Gegensatz zu Mutationen häufig (Prävalenz von mindestens 1% in der Bevölkerung), verursachen per se noch keine Erkrankung und führen zumindest im reproduktiven Lebensabschnitt nicht zu einer reduzierten Überlebenswahrscheinlichkeit (Davies 2004). Es ist jedoch bekannt, dass das individuelle Risiko an einer (ersten) Neoplasie zu erkranken, neben den oben erwähnten Mutationen im Bereich von DNA-Reparaturvorgängen und Zellzykluskontrolle, auch durch Polymorphismen in bestimmten Enzymen beeinflusst wird. Diese Gene sind involviert in (Perentesis 2001; Aplenc 2004; Davies 2004): ▬ der Folsäurehomöostase, ▬ der primären Metabolisierung toxischer Substanzen, ▬ der sekundären Detoxifizierung solcher Substanzen, ▬ der Antwort auf oxidativen Stress und ▬ der DNA-Reparatur. Von einzelnen Polymorphismen der zweiten und dritten Gruppe weiß man, dass sie auch für das Risiko von Zweitneoplasien nach Zytostatikatherapie bedeutsam sind. Offensichtlich beeinflussen sie die individuelle Fähigkeit, bei genotoxischem Stress ein intaktes Genom zu bewahren. Im Folgenden sind exemplarisch einige Studien aufgeführt, die sich mit der Frage der Häufigkeit bestimmter Polymorphismen bei Zweitneoplasien auseinandersetzen.
Das Zytochrom P450 3A4 (CYP3A4) wandelt Epipodophyllotoxine im Rahmen der primären Metabolisierung in Catecholmetaboliten um, die anschließend weiter zu den DNA-schädigenden Quinonmetaboliten oxidiert werden. Erwachsene mit therapieinduziertem myelodysplastischem Syndrom (tMDS) oder therapieinduzierter akuter myeloischer Leukämie (tAML) – im Folgenden gemeinsam als therapieinduzierte myeloische Neoplasien (tMN) bezeichnet – hatten überproportional häufiger den Wildtyp (CYP3A4wt) und nicht aktivitätsmindernde Polymorphismen (Felix et al. 1998; Felix 2001). Die Zytochrom-P450-Enzympolymorphismen CYP3A4*1B und CYP3A5*3 waren nicht gehäuft bei Kindern mit tMN beobachtet worden (Blanco et al. 2002). Das Enzym NAD(P)H:Quinon-Oxidoreduktase (NQO1) detoxifiziert Quinone, Quinono-Amine und Azostoffe durch Reduktion mit 2 Elektronen (Perentesis 2001). Ein inaktivierender Polymorphismus (NQO1 C609T) wurde vermehrt bei Erwachsenen mit tMN, insbesondere nach Therapie mit alkylierenden Substanzen, gefunden (Larson et al. 1999). Glutathion-S-Transferasen (GST) inaktivieren alkylierende Zytostatika und andere Substanzen durch Konjugation mit Glutathion. Ein homozygot inaktivierender Polymorphismus der GST τ (GSTT1 null) fand sich im Vergleich zur Kontrollpopulation häufiger bei Erwachsenen mit tMN (Sasai et al. 1999). Eine Studie bei Kindern mit tMN nach Epipodophyllotoxinbehandlung fand ein tendenziell vermehrtes Vorkommen des GSTT1-0- und GSTM1-0-Genotyps (Woo et al. 2000). Bei Kindern, die wegen ALL mit Etoposid und 6-Mercaptopurin oder Thioguanin behandelt wurden und später eine tAML entwickelten, war die Aktivität der Thiopurin-Methyltransferase (TPMT) geringer als bei Patienten ohne tMN (Relling et al. 1998; Pui u. Relling 2000). Ebenso waren sekundäre ZNS-Tumoren nach kranialer Strahlentherapie bei ALL gehäuft bei Patienten mit aktivitätsvermindernden TPMT-Polymorphismen (Relling et al. 1999). Über die Bedeutung von Polymorphismen bei der Entstehung von Sekundärneoplasien nach Strahlentherapie ist weniger bekannt. Mertens et al. (2004) berichten, dass der Genotyp GSTM1 null bei Patienten mit Sekundärneoplasien nach Strahlentherapie bei Morbus Hodgkin vermehrt beobachtet wurde. Dies gilt nicht für den Genotyp GSTT1 null und den Polymorphismus R399 des XRCC1-Gens, das ein Schlüsselenzym des DNA-«excision repair« kodiert. Kinder mit Hirntumoren nach ALL-Therapie, die eine prophylaktische Schädelbestrahlung und Antimetaboliten beinhaltete, hatten gehäuft aktivitätsvermindernde TPMT-Polymorphismen (Relling et al. 1999). Cave Aussagen zu Risikofaktoren für therapiebedingte Zweitneoplasien beruhen hauptsächlich auf Daten, die an erwachsenen Patienten mit sekundären Leukämien erhoben wurden. Entsprechende Untersuchungsergebnisse für Kinder und Jugendliche fehlen größtenteils. Obwohl die allgemeinen Prinzipien der Entstehung von Zweitneoplasien bei Kindern und Erwachsenen wahrscheinlich dieselben sind, kann hingegen nicht davon ausgegangen werden, dass die jeweils auslösenden Agenzien gleich sind.
89
1102
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
89.5
VI
Zweitneoplasien nach zytostatischer Behandlung oder Strahlentherapie
Vereinfachend lässt sich postulieren, dass bei der Genese von Neoplasien die individuelle Empfindlichkeit, der Einfluss von Umweltnoxen und auch der Zufall eine Rolle spielen (Davies 2004). Bei der Entstehung von zweiten Neoplasien nach zytostatischer oder Strahlentherapie machen die früher verabreichten Zytostatika bzw. die Strahlentherapie oder die Kombination von beiden Modalitäten den Hauptteil der Umweltnoxen aus. Vor mehr als 20 Jahren charakterisierten Rowley et al. (1981) erstmals Klinik und Zytogenetik sekundärer Leukämien nach Zytostatikatherapie von Lymphomen bei Erwachsenen. Nach den alkylierenden Substanzen wurden die Topoisomerasehemmer und später die Strahlentherapie als diejenigen Therapiemodalitäten identifiziert, die hauptsächlich für die Entwicklung von Zweitmalignomen verantwortlich sind (Übersicht in Davies 2001; Felix 2001; Gold et al. 2003). Die relevanten molekularen Wirkungsmechanismen der Zytostatika und der Strahlentherapie sind dabei dieselben wie die der ursprünglich angestrebten Wirkung auf die primäre Neoplasie. Neoplasien – seien diese primäre oder sekundäre nach zytostatischer Behandlung oder Strahlentherapie – entstehen, wenn (Pui u. Relling 2000; Davies 2004, Libura et al. 2005): ▬ das Genom einer Zelle relevant aber subletal geschädigt wird, ▬ diese Schäden nicht vor der Zellteilung repariert und somit an die Tochterzellen weitergegeben werden und ▬ diese Schäden direkt oder kombiniert mit einem zweiten Ereignis (»second hit«) der Zelle einen starken Überlebensvorteil verschaffen, so dass eine klonale Zellproliferation resultiert. ⊡ Tabelle 89.5 gibt einen Überblick über die wichtigsten
Charakteristika der Entstehung von Zweitneoplasien nach Zytostatikatherapie mit alkylierenden Substanzen oder Topoisomerasehemmern sowie nach Strahlentherapie.
Der wichtigste Reparaturmechanismus für die durch alkylierende Substanzen geschädigte DNA ist der sog. »excision repair«: Endonukleasen erkennen die geschädigten Basen und schneiden die DNA an der betroffenen Stelle heraus, Exonukleasen verdauen das ausgeschnittene DNAStück und Reparaturpolymerasen synthetisieren eine neues DNA-Segment, um die Lücke zu füllen. Eine besondere Bedeutung kommt der O6-Alkylguanin DNA-Alkyltransferase zu, die Alkylgruppen von O6-Guanin kovalent auf ihre eigenen Cytosinreste transferiert und sich dabei inaktiviert. Die zelluläre Konzentration des aktiven Enzyms korreliert mit der Fähigkeit der Zelle, mit Alkylierung fertig zu werden. Es ist bekannt, dass hämatopoetische Progenitorzellen eine niedrige zelluläre Konzentration dieses Enzyms aufweisen, und dass sie nach DNA Schädigung häufig rasch proliferieren. Diese beiden Faktoren können zur Zellproliferation vor DNA-Reparatur führen. Sie sind wohl mitverantwortlich dafür, dass hämatopoetische Neoplasien, meistens tMN, die häufigsten der durch alkylierende Zytostatika induzierten Zweiterkrankungen sind (Gerson et al. 1987; Davies, 2001). Diese zeichnen sich durch eine myelodysplastische Vorphase und häufig eine mehrjährige Latenz aus. Zytogenetisch sind sie durch den Verlust von genetischem Material gekennzeichnet. In vielen Fällen besteht eine Monosomie 7 oder 5, oder eine Deletion des langen Arms von Chromosom 7 (7q-) bzw. 5 (5q-). Dieser Verlust von chromosomalem Material kann als »first hit« bezeichnet werden, weil mögliche Tumorsuppressorgene auf dem verloren gegangenen Allel jetzt nur noch auf einem Allel vorhanden sind und damit vulnerabel werden für einen »second hit«. Die Anwesenheit solcher Tumorsuppressorgene ist besonders in den beiden Regionen 7q22 und 7q32–4 wahrscheinlich, während in der 5q31–33 Region eine Reihe von Genen lokalisiert ist, die in der normalen Hämatopoese eine wichtige Rolle spielen (Davies 2001). Bei Erwachsenen steigt das Risiko von therapieassoziierten Zweitneoplasien mit der kumulativen Dosis von alkylierenden Zytostatika (Übersicht in Davies 2001). Bei Kindern ist dies jedoch weniger eindeutig; insbesondere fand eine
89.5.1 Alkylierende Substanzen Alkylierende Substanzen wie Cyclophosphamid, Ifosfamid, Busulfan, Melphalan, Procarbazin, Thiotepa und andere gehören zu den am häufigsten eingesetzten Zytostatika. Sie stammen alle von der zuerst eingesetzten Muttersubstanz, dem Stickstofflost, ab und wirken zytotoxisch, indem sie Alkylgruppen (-CH2-CH3) oder substituierte Alkylgruppen (z. B. -CH2-CH2-Cl) auf andere Moleküle übertragen. Viele Moleküle, auch Proteine, werden alkyliert; die Interaktion mit DNA und insbesondere die Bildung einer kovalenten Bindung zwischen dem Medikament und der Stickstoffgruppe von Guanin ist aber die Hauptursache für den Zelltod. Da die meisten alkylierenden Substanzen 2 Alkylseitenketten haben, kann eine Brücke zwischen 2 Guanin-Basen gebildet werden (⊡ Abb. 89.3). Insbesondere die Quervernetzung zwischen 2 verschiedenen DNA-Strängen (»interstrand crosslinking«) korreliert direkt mit der Zytotoxizität, die wohl in erster Linie durch fehlerhafte Segregation der miteinander verbundenen Chromosomen in der Anaphase der Mitose zustande kommt (Davies 2001).
⊡ Abb. 89.3. Wirkmechanismus alkylierender Zytostatika: »Crosslinking« zweier DNA-Stränge (schwarz, blau) durch Bindung einer alkylierenden Substanz (rot; R = Rest, variabel je nach Substanz) an jeweils eine Guaninbase (blau)
Charakteristika
Alkylierende Substanzen
Topoisomerasehemmer
Strahlentherapie
Wichtigste Vertreter
Cyclophosphamid, Ifosfamid, Melphalan, Procarbazin, Busulfan, Thiotepa, Cisplatin
Etoposid, Teniposid, Gruppe der Anthrazykline, Actinomycin D, Topotecan
Photonenstrahlen, Elektronenstrahlen (Protonenstrahlen)
Risikofaktor Dosierung
Kumulative Dosis
Wöchentlich, 2-mal wöchentlich (kumulative Dosis?), Stammzell-Priming
Kumulative Dosis (kein Einfluss der hyperfraktionierten Applikation)
Zusätzliche Risikofaktoren
Strahlentherapie, Topoisomerase-II-Inhibitoren, 6-Mercaptopurin
Alkylierende Substanzen, L-Asparaginase, Methotrexat, 6-Mercaptopurin
Alkylierende Substanzen, Actinomycin D
Wichtigster Wirkungsmechanismus auf DNA-Niveau
Quervernetzung durch Alkylierung führt zu falscher Segregation während Anaphase der Mitose
Doppelstrangbrüche durch Stabilisierung der Topoisomerase-DNA-Bindung
Doppelstrangbrüche durch freie Radikale nach Ionisierung von intrazellulärem Wasser, direkte Ionisierung
Wichtigster DNA-Reparaturmechanismus
»excision repair«
Wiederverbindung zweier »sticky ends« (p53-abhängig)
Wiederverbindung zweier »sticky ends«
Zytogenetische Veränderungen
Meist unbalanciert: Verlust von Genen oder Genabschnitten Monosomie 7, 7q Monosomie 5, 5q- (selten bei Kindern)
Meist balancierte Translokationen oder Inversionen mit MLL-Gen (11q23) mit NUP98 Gen (11p15) t(8;21)(q22;q22) t(3;21)(q26;q22) inv(16)(p13q22)
Meist balancierte Translokationen oder Inversionen
Molekulargenetische Veränderungen
Verlust von Tumorsuppressorgenen, Dysbalance von Steuerungsgenen der Hämatopoese
Funktionelle Genfusionsprodukte
Funktionelle Genfusionsprodukte
Prädisponierende Mutationen
p53-Tumorsuppressorgen, »mismatch repair status«, Neurofibromatose Typ 1, Fanconi-Anämie
(Nicht TP53-Tumorsuppressorgen!)
Neurofibromatose Typ 1, Fanconi-Anämie, Xeroderma pigmentosum, hereditäres Retinoblastom
Prädisponierende Polymorphismen
Primäre Metabolisierung Sekundäre Detoxifizierung GSTT1 null NQO1 C609T TPMT-aktivitätsmindernd
Primäre Metabolisierung CYP3A4wt Sekundäre Detoxifizierung evtl. GSTT1 null evtl. GSTM1 null TPMT-aktivitätsmindernd
89 · Zweitneoplasien
⊡ Tabelle 89.5. Charakteristika der durch alkylierende Substanzen, Topoisomerasehemmer und Strahlentherapie induzierten Zweitneoplasien (ein großer Teil der hier zusammengefassten Sachverhalte stammt, mangels Daten bei Kindern, aus Untersuchungen an Erwachsenen)
Sekundäre Detoxifizierung GSTM1 null TPMT-aktivitätsmindernd
2–8 (Median ca. 5) Jahre
1–4 (Median ca. 2) Jahre
>10 (5) Jahre
Häufigste Sekundärmalignome
Hämatologisch (häufig tMDS vor tAML)
Hämatologisch (selten tMDS vor tAML)
Karzinome (Brust, Schilddrüse, Haut), Sarkome, ZNS-Tumoren
1103
Latenzzeit
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Fallkontrollstudie im Gegensatz zur kumulativen Dosis von Epipodophyllotoxinen und Anthrazyklinen – die beide als Topoisomerasehemmer wirken – keinen unabhängigen Effekt der kumulativen Dosis alkylierender Zytostatika (Le Deley et al. 2003). 89.5.2 Topoisomerasehemmer
VI
Die zweite große Gruppe von Zytostatika, die potenziell Zweitneoplasien, insbesondere tMN, induzieren, sind die Topoisomerasehemmer (Pui et al. 1991). Neben den Epipodophyllotoxinen Etoposid und Teniposid als klassische und klinisch bedeutsamste, nicht-interkalierende Topoisomerase-II-Inhibitoren umfasst diese Gruppe auch die interkalierenden Topoisomerase-II-Inhibitoren (Amsacrin, Mitoxantron, Actinomycin D, Gruppe der Anthrazykline) sowie die Topoisomerase I Inhibitoren (Topotecan, Actinomycin D). Die Topoisomerase II ist ein Enzym, das Doppelstrang-DNA vorübergehend zur Relaxation der Superhelixstruktur und zur Vorbereitung von Transkription und Replikation durchtrennen und sie nach diesen Vorgängen wieder verbinden kann. Die Topoisomerase I macht dasselbe mit EinzelstrangDNA. Inhibitoren der Topoisomerase II stabilisieren die intermediäre Verbindung von Enzym und durchtrennter DNA und führen so zu einer verringerten Wiederverbindung der beiden DNA-Stränge. Dies führt zu einer erhöhten Rate von DNA-Doppelstrang- bzw. Einzelstrangbrüchen. Über TP53abhängige Mechanismen der DNA-Reparatur (»recombinational repair«) können 2 freien DNA-Enden (»sticky ends«) wieder zusammengefügt werden. Dabei auftretende Fehler führen zu Inversionen und balancierten Translokationen (Felix 2001). Leukämien, die durch Topoisomerase II Inhibitoren induziert werden, sind meist myelomonozytäre oder Monoblastenleukämien (FAB M4 oder M5) und zeigen balancierte Translokationen. In 70% der Fälle dieser Topoisomerase-IIInhibitor induzierten Leukämien ist das MLL-Gen (»myeloid/ lymphoid leukemia« oder »mixed lineage leukemia«) auf Chromosom 11q23 beteiligt, das eine höhere Tendenz zu Rearrangements aufweist als andere Gene (Pui u. Relling 2000; Libura et al. 2005). Das MLL-Gen kodiert das MLL-Protein, das als Transkriptionsregulator eine wichtige Rolle in der Differenzierung hämatopoetischer Zellen spielt. Bisher sind viele Translokationspartner v. a. in der Entstehung von tMN bekannt geworden. MLL-Translokationen bewirken Fusionen von jeweils 2 normalerweise unabhängigen Genen, Genabschnitten oder Promotorregionen. Solche miteinander fusionierten Genabschnitte kodieren meistens NonsenseProteine, sie können jedoch selten auch funktionell aktive Proteine kodieren. Falls diese der Zelle einen Überlebensvorteil verschaffen, kann dies zur Bildung eines maligne transformierten Zellklons führen. Genfusionsprodukte bei MLL-Translokationen oder anderen MLL-Rearrangements verleihen u. a. Resistenz gegenüber stressinduziertem Zelltod und spezifische Zytostatikaresistenzen. Häufig sind nach Therapie mit Topoisomerasehemmern auch zytogenetische Veränderungen zu beobachten, welche das NUP98-Gen betreffen, das ein Docking-Protein des »nuclear pore complex« kodiert, das am nukleozytoplasmatischen Transport beteiligt
ist. Auch andere ebenfalls bei primären Leukämien beobachtete balancierte Translokationen sowie Inversionen können bei Topoisomerase-II-Inhibitor-assoziierten Leukämien beobachtet werden. Eine Übersicht über die in der Genese von tMN involvierten zytogenetischen Veränderungen findet sich bei Pui u. Relling (2000) und Felix (2001). Interessanterweise können die bei tMN beobachteten Translokationen schon sehr früh während der Therapie der Ersterkrankung auftreten. Bei einem Kind, das nach Neuroblastomtherapie eine tAML FAB M4 entwickelte, war retrospektiv der leukämische Klon mit der Genfusion MLL-GAS7 (Translokation t(11;17)(q23;p13)) schon 6 Wochen nach Beginn der Zytostatikatherapie nachweisbar. Zu diesem Zeitpunkt war erst eine niedrige Dosis von Doxorubicin als einzigem Topoisomerase-II-Inhibitor verabreicht worden (Megonigal et al. 2000). Bei einem weiteren Kind mit prä-BALL und tAML FAB M4 konnte ein sekundärer Klon mit Genfusion MLL-ENL (t(11;19)(q23;p13.3)) schon 6 Monate nach Beginn der ALL-Therapie nach einer Dosis Doxorubicin und 2 Dosen Etoposid nachgewiesen werden. Die tAML wurde klinisch nach 23 Monaten manifest (Blanco et al. 2001). Metzler et al. (2004) berichteten über 2 Kinder mit tAML nach ALLTherapie gemäß BFM-Protokoll, bei denen retrospektiv sekundäre Klone mit Genfusion AF9-MLL (t(9;11)(p22;q23) 13 bzw. 18 Monate nach Therapiebeginn nachweisbar waren, jeweils 6 bzw. 12 Monate vor der klinischen Diagnose der tAML. Klinisch bedeutsam ist, dass die Art der Applikation von Topoisomerasehemmern das Zweitneoplasierisiko beeinflusst. So erhöht eine ein- oder zweimal wöchentliche Gabe das Risiko von Zweitleukämien, nicht jedoch die tägliche Verabreichung über 4–5 Tage (Pui et al. 1991; Pui u. Relling 2000). Untersuchungen zur Bedeutung der kumulativen Dosis von Topoisomerasehemmern ergaben in pädiatrischen Kollektiven hingegen widersprüchliche Resultate (Pui u. Relling 2000; Klein et al. 2003; Le Deley et al. 2003). Für Erwachsene ist beschrieben, dass die Latenzzeit von Behandlungsbeginn der Erstneoplasie bis zur klinischen Diagnose der Zweitleukämie bei Topoisomerasehemmern kürzer ist als bei alkylierenden Substanzen. Auch wird bei Topoisomerasehemmern seltener ein vorhergehendes tMDS beobachtet (Pui u. Relling 2000). Bei Kindern hingegen sind diese Unterschiede zwischen den beiden Gruppen weniger eindeutig, und die Latenzzeiten tendenziell kürzer. Mit zunehmend detaillierteren Analysen verwischen sich die Grenzen zwischen den beiden beschriebenen »klassischen« Gruppen von Zweitmalignomen nach Therapie mit alkylierenden Substanzen bzw. Topoisomerahemmern zusehends auch bei Erwachsenen. Eine neuere Übersichtsarbeit unterscheidet bereits acht verschiedene Gruppen von zytogenetischen Wegen, die bei Erwachsenen wie Kindern zu tMN führen können (Pedersen-Bjergaard et al. 2002). 89.5.3 Weitere Risikofaktoren Das Risiko von Zweitneoplasien nach Therapie mit alkylierenden Zytostatika wird durch die zusätzliche Applikation von Strahlentherapie (Löning et al. 2000), platinhaltigen Zytostatika, Topoisomerase-II-Inhibitoren, und 6-Mercaptopurin-Therapie erhöht. Für Topoisomerasehemmer erhöhen eine vorhergehende Gabe von L-Asparaginase (Pui et al.
1105 89 · Zweitneoplasien
1995), vermutlich von Methotrexat oder 6-Mercaptopurin (Rivera et al. 1993) sowie fraglich von alkylierenden Substanzen oder Bestrahlung (Sandoval et al. 1993) das Risiko, eine maligne Zweiterkrankung zu entwickeln. Eine Fallkontrollstudie des Deutschen Kinderkrebsregisters zeigte eine signifikante Erhöhung des Risikos von therapieassoziierten Zweitneoplasien für hohe kumulative Dosen von Strahlentherapie (65 Gy), Cyclophosphamid (>8000 mg/m2), Cisplatin (>435 mg/m2), 6-Mercaptopurin (>5000 mg/m2) sowie Dexamethason (1200 mg/m2) kombiniert mit 6-Mercaptopurin (>5000 mg/m2; Klein et al. 2003).
Die häufigsten Zweitneoplasien nach Strahlentherapie sind Karzinome, v. a. von Brustdrüse, Schilddrüse und Haut, die mit einer Latenzzeit von meist mehr als 10 Jahren auftreten. Das entsprechende Risiko bleibt mindestens 30 Jahre, vermutlich aber lebenslang erhöht. Die Kurve der kumulativen Inzidenz flacht somit nicht ab (Shore 2001; Bhatia et al. 2003, Gold et al. 2003). Neben Karzinomen sind Sarkome, insbesondere Osteosarkome (Tucker et al. 1987; Bhatia et al. 2003), und gliale und meningeale ZNS-Tumoren (Relling et al. 1999; Gold et al. 2003) häufige Zweitneoplasien nach Strahlentherapie; sie können bereits ab 5 Jahren nach Therapie auftreten.
89.5.4 Strahlentherapie 89.5.5 Perspektiven Sowohl die traditionelle Strahlentherapie mittels Photonen (elektromagnetische Strahlung) oder Elektronen wie auch die seit wenigen Jahren klinisch angewandte Protonenbestrahlung wirken durch Ionisierung. Die DNA-schädigende Wirkung der Strahlentherapie durch direkte Ionisierung der DNA ist dabei bedeutend geringer als die indirekte Schädigung über freie Radikale, die durch Ionisierung von intrazellulärem Wasser gebildet werden. Die freien Radikale induzieren in erster Linie DNA-Doppelstrangbrüche, v. a. bei sich in der Mitose- und der frühen Synthesephase des Zellzyklus befindenden Zellen. Entsprechend einem vergleichbaren DNA-Schaden sind auch die notwendigen Reparaturmechanismen sowie die zu erwartenden zytogenetischen Veränderungen ähnlich denen bei Topoisomerasehemmern. Daten zu zytogenetischen Untersuchungen von Zweitneoplasien nach Strahlentherapie sind jedoch spärlich. Allerdings ist bekannt, dass bei den strahlenbedingten papillären Schilddrüsenkarzinomen im Einflussgebiet der Tschernobyl-Katastrophe meistens Rearrangements des RET-Gens auftraten. Die translokations- oder inversionsbedingten Fusionsgene kodieren dabei konstitutionell aktivierte RET-Tyrosinkinasen. Dies bedeutet, dass diese Kinasen auch ohne Kontakt zu ihren Liganden ständig aktiv sind, entsprechend sind Rückkopplungsmechanismen unwirksam (Rabes 2001). Nachgewiesene Risikofaktoren für die Entwicklung von Zweitneoplasien durch Strahlentherapie sind (Tucker et al. 1991; Boice 2001; Shore 2001): ▬ die kumulative Dosis, bei der bis zu einem Plateau auf hohem Niveau ein linearer Zusammenhang besteht; ▬ die Bestrahlung besonders empfindlicher Organe wie Brust und Schilddrüse im Bestrahlungsfeld; ▬ junges Alter zum Zeitpunkt der Strahlentherapie. So ist beispielsweise bei kleinen Kindern das Risiko, ein Schilddrüsenkarzinom nach Strahlentherapie zu entwickeln, bereits bei einer auf die Schilddrüse wirksamen Dosis von nur 2 Gy deutlich erhöht (Tucker et al. 1991). Eine hyperfraktionierte Strahlentherapie mit mindestens zweimal täglicher Applikation einer jeweils kleineren Einzeldosis zeigte bezüglich des Auftretens von Zweitneoplasien keinen Vorteil (Boice 2001). Mutationen sowie Polymorphismen wie aktivitätsmindernde TPMT-Polymorphismen (Relling et al. 1999) und GSTM1 null (Mertens et al. 2004), die zu Zweitneoplasien nach Strahlentherapie prädisponieren, sind zuvor im Abschn. 89.4 beschrieben.
Die bei der Erforschung von Zweitneoplasien entdeckten Mechanismen vermitteln auch Erkenntnisse zur Genese von primären Neoplasien und zum Zusammenspiel zwischen angeborenen genetischen Defekten und der Wirkung von exogenen oder endogenen Noxen. Auch im Alltag, d. h. ohne zytostatische Therapie, besteht ein erheblicher genotoxischer Stress auf jede Zelle. Beispielsweise wirken in Lebensmitteln, Pestiziden und Gummiprodukten vorhandene N-NitrosoVerbindungen alkylierend auf DNA und andere Moleküle (Davies 2001). Biologisch relevante Mengen an Bioflavonoiden, die u. a. auch eine Wirkung als Topoisomerase-II-Inhibitoren haben, kommen in verschiedenen Früchten und Gemüsen vor. Ebenso ist bekannt, dass auch ohne Zytostatikaexposition in jeder Körperzelle pro Tag durchschnittlich bis 55.000 DNA-Einzelstrangbrüche, 9 Doppelstrangbrüche und 8 Quervernetzungen auftreten (Kalb u. Höhn 2002). Ein weiterer möglicher Mechanismus für die Entstehung von Zweitneoplasien nach zytostatischer Behandlung ist die Unterdrückung der zellulären Immunität während und nach dieser Therapie. Dass eine abnorme zelluläre Immunabwehr mit dem vermehrten Auftreten von Neoplasien einhergehen kann, ist von Immundefektsyndromen, wie von sekundärer Immundefizienz, beispielsweise von den Organtransplantationen ( Kap. 65, »posttransplant lymphoproliferative disease«) oder vom Sezary-Syndrom her gut bekannt. Diese Beobachtungen stützen die Hypothese, dass die Mehrzahl von neu entstehenden Neoplasien noch im subklinischen Stadium durch das eigene Immunsystem – soweit intakt – erkannt und unterdrückt werden (»immunological surveillance«). Ob eine zytostatikainduzierte vorübergehende Immunsuppression nur ein theoretisch plausibler, oder aber ein praktisch relevanter Mechanismus für die Entstehung von Zweitmalignomen nach Chemotherapie ist, muss zurzeit offen bleiben. Um nach Abschluss einer Chemo- oder Strahlentherapie die individuelle Genotoxizität und damit das Risiko für die Entwicklung von Zweitmaligomen abschätzen zu können, wurden unterschiedliche Marker getestet, deren Bedeutung allerdings fraglich bleibt. Der Glykophorin-A-(GPA-)Assay basiert auf dem durchflusszytometrischen Immunnachweis von aberranten Erythrozytenantigenen. Die Epitope des GPA-Gens werden auf Erythrozyten kodominant als MNBlutgruppenantigene exprimiert. Der GPA-Locus ist sehr anfällig für Deletionen und Rekombinationen, die durch Zytostatika und Strahlentherapie induziert werden. Für
89
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
aberrante MN-Expression im GPA-Assay wurde bereits ein Zusammenhang mit tAML nach Therapie für Morbus Hodgkin oder ALL bei Kindern gezeigt (Mott et al. 1994; Boyse et al. 1996). Weiter kann die Entwicklung einer klonalen Hämatopoese mittels X-chromosomaler Inaktivierung z. B. des Gens des humanen Androgenrezeptors (HUMARA) nachgewiesen werden. Eine klonale Hämatopoese kann ebenfalls ein potenziell erhöhtes Risiko von Zweitneoplasien widerspiegeln (Legare et al. 1997; Mach-Pascual et al. 1998). Eine Übersicht zu diesem Thema findet sich bei Davies (2000) und Perentesis (2001).
VI
! Die Erfassung wichtiger Polymorphismen kann in der Zukunft dazu führen, dass die Therapie von Primärneoplasien nicht nur risikoadaptiert in Bezug auf die Neoplasie erfolgt – also angepasst an Art, Grad und Stadium der Erkrankung –, sondern auch in Bezug auf die genetische Ausstattung des Patienten selber – also patientenspezifisch durch Wahl und Dosierung der Zytostatika entsprechend seiner individuellen Empfindlichkeit. Möglicherweise kann dadurch die Balance zwischen verbesserter Heilungschancen der Neoplasie bei gleichzeitiger Verminderung der therapieinduzierten Spätfolgen weiter verbessert werden.
89.6
Zweitneoplasien nach Behandlung spezifischer Krebserkrankungen
Die kumulative Inzidenz sekundärer Leukämien nach konventioneller zytostatischer Therapie oder nach myeloablativer Therapie mit hämatopoetischer Stammzelltransplantation (HSCT) erreicht nach 10–15 Jahren ein Plateau. Vermutlich entspricht die Länge dieses Zeitintervalls in etwa der Überlebenszeit von proliferierenden pluripotenten Stammzellen, die – in diesem Fall - während der Zytostatika- oder Strahlentherapie einen »first hit« erlitten hatten. Nach 10– 15 Jahren werden sie durch Zellen aus dem Kompartiment der ruhenden Stammzellen ersetzt, die sich zur Zeit der Zytostatikatherapie in der G0-Phase befanden und somit vor den Einflüssen der Zytostatika weitgehend geschützt waren (Davies 2000). Die kumulative Inzidenz solider Tumoren, insbesondere von Karzinomen, erreicht jedoch kein Plateau und steigt während der bisherigen Beobachtungszeit von mindestens 30 Jahren stetig an (Bhatia et al. 1996; Davies 2000; Neglia et al. 2001; Baker et al. 2003; Bhatia et al. 2003; Jazbec et al. 2004). Diese Feststellungen gelten unabhängig von der primären Neoplasie bzw. der applizierten Therapie. Sie werden durch Daten insbesondere für die ALL (Bhatia et al. 2002), den Morbus Hodgkin (Bhatia et al. 1996; Metayer et al. 2000; Bhatia et al. 2003), die Tumoren der EwingSarkom-Familie (Fuchs et al. 2003) und die HSCT für die verschiedene Indikationen (Baker et al. 2003) gestützt. 89.6.1 Zweitneoplasien nach akuter lymphatischer
Leukämie Die ALL ist die häufigste primäre Neoplasie im Kindes- und Jugendalter. Bereits 1991 berichteten Pui et al. über ein subs-
tanziell erhöhtes Risiko, nach ALL-Therapie im Kindesalter eine sekundäre AML zu entwickeln (Pui et al. 1991). Betrachtet man Zweitneoplasien nach ALL-Therapie, so darf man zunächst nicht den Blick für die Erfolge der Erstbehandlung verlieren: In den ALL-Studien der Berlin-FrankfurtMünster-Gruppe ALL-BFM 79–90 wurden zwischen 1979 und 1995 5006 Kinder mit ALL behandelt, von denen 76% nach 10 Jahren überleben. Die Mehrzahl dieser Patienten ist geheilt. Von diesen 5006 Patienten haben nach einer medianen Beobachtungszeit von 5,7 Jahren 52 (1,0%) eine Zweitneoplasie erlitten, davon 16 tMN, 13 Tumoren des ZNS und 23 andere Neoplasien (Löning et al. 2000). Dies entspricht einem im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung 14-fach erhöhten Risiko (SIR), an einer (Zweit-)Neoplasie zu erkranken. Die kumulative Inzidenz von Zweitneoplasien 15 Jahre nach initialer Therapie lag bei 3,3%. Für Patienten mit Strahlentherapie als ZNS-Prophylaxe war sie 3,9%, für Patienten ohne Strahlentherapie 0,9%. Es ist zu erwarten, dass die kumulative Inzidenz von Zweittumoren in der Strahlentherapiegruppe weiter ansteigen wird. In einer ähnlichen Studie mit 8831 ALL Patienten, die zwischen 1983 und 1995 nach den Protokollen der Children’s Cancer Group (CCG) behandelt wurden, erlitten nach einer vergleichbaren medianen Beobachtungszeit von 5,5 Jahren 63 Kinder (0,7%) eine Zweitneoplasie, auch hier am häufigsten tMN und Tumoren des ZNS (Bhatia et al. 2002). Die SIR war 7,2, die kumulative Inzidenz von Zweitneoplasien 15 Jahre nach initialer Therapie lag bei 2,1%. Das geringere Auftreten von Zweitneoplasien in der amerikanischen Studie im Vergleich zu den oben aufgeführten BFM-Daten ist hauptsächlich auf einen geringeren Anteil von an Patienten mit ZNS Bestrahlung (und damit konsekutivem Hirntumorrisiko) in der CCG Studie (38% gegenüber 72%) zurückzuführen. Unabhängige Risikofaktoren für die Entwicklung einer Zweitneoplasie waren weibliches Geschlecht, kraniospinale Strahlentherapie und ein Rezidiv der ALL. Die geschätzte Überlebenswahrscheinlichkeit 10 Jahre nach Diagnose der Zweitneoplasie war 39%. Es ist bekannt, dass insbesondere tAML mit MLL-Rearrangements als Zweitneoplasie gut auf die Remissions-Induktionstherapie ansprechen (Remissionsrate rund 80%), jedoch sind schwierig zu behandelnde Rezidive häufig. Langzeitüberlebende gibt es nach konventioneller Zytostatikatherapie kaum. Die allogene HSCT verbessert die Prognose deutlich, wobei dem graft-versus-leukemia Effekt eine besondere Bedeutung zukommt (Übersicht bei Pui u. Relling 2000). 89.6.2 Zweitneoplasien nach Morbus Hodgkin Durch Strahlentherapie induzierte Spätfolgen wurden bisher am besten bei Patienten nach Morbus Hodgkin untersucht. In einer erstmals 1996 veröffentlichten (Bhatia et al. 1996) und 2003 erneut ausgewerteten (Bhatia et al. 2003) Studie der US amerikanischen Late Effects Study Group mit 1380 Patienten lag die kumulative Wahrscheinlichkeit an einer Zweitneoplasie zu erkranken 20 Jahre nach Diagnose eines Morbus Hodgkin bei 11% und 30 Jahre nach Diagnosestellung bei 26%. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 17 Jahren waren 212 Zweitneoplasien aufgetreten. Die Mehrzahl waren im Strahlenfeld lokalisierte solide Tumoren, v. a. Brustkrebs,
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Schilddrüsenkarzinome, kolorektale Karzinome, und Knochentumoren. Besonders hoch war die kumulative Wahrscheinlichkeit für Frauen nach Morbus Hodgkin an Brustkrebs zu erkranken, sie lag 30 Jahren nach Erstdiagnose bei 17%. Die entsprechenden SIR waren 18,5 für alle Zweitneoplasien insgesamt, 175 für Zweitleukämien, 12 für Non-Hodgkin Lymphome, 19 für solide Zweittumoren insgesamt, und 56 für Brustkrebs bei Frauen. Risikofaktoren für Zweittumoren waren jüngeres Alter bei Diagnose des Morbus Hodgkin und durchgeführte Strahlentherapie. Auch andere Studiengruppen berichteten ihre Daten zu Brustkrebs nach Morbus Hodgkin (Metayer et al. 2000; Swerdlow et al. 2000; Schellong u. Riepenhausen 2004; Behringer et al. 2004). Übereinstimmend wurde gezeigt, dass das Risiko, nach Strahlentherapie im Thoraxbereich Brustkrebs zu entwickeln, ▬ linear zur verabreichten Dosis ansteigt, ▬ eine kombinierte Behandlung mit Chemo- und Strahlentherapie das Risiko senkt, wobei der entsprechende Mechanismus nicht verstanden wird, ▬ Tumoren ab 10 Jahren nach Primärtherapie auftreten und ▬ das Risiko, soweit heute beurteilbar, lebenslang bestehen bleibt ( oben). Hingegen hat sich die früher geäußerte Vermutung, dass die Bestrahlung von Mädchen im Alter zwischen 10–17 Jahren mit dem höchsten Risiko von späterem Brustkrebs einhergeht (Bhatia et al. 1996), nicht bestätigt (Neglia et al. 2001; Yasui et al. 2003; Bhatia et al. 2003). Wegen der beiden letztgenannten Punkte sind diese Erkenntnisse nur durch Studien mit sehr langer Nachbeobachtungszeit erfassbar. Entsprechend der SIR ist auch die kumulative Inzidenz von Brustkrebs bei Frauen nach Therapie für Morbus Hodgkin im Vergleich zu Frauen ohne vorhergehenden Morbus Hodgkin im gesamten heute erfassbaren Beobachtungszeitraum bis zum Alter von 45 Jahren ungefähr 50fach erhöht (Bhatia et al. 2003; Yasui et al. 2003). 89.6.3
Zweitneoplasien nach anderen Krebserkrankungen
Sarkome. Die Therapie von Tumoren der Ewing-SarkomFamilie umfasst neben Zytostatikatherapie und Operation häufig eine lokale Strahlentherapie. Fuchs et al. (2003) beobachteten bei 397 Patienten innerhalb der ersten Jahre nach Therapieabschluss 8 hämatologische Zweitneoplasien, die wohl durch die Zytostatikatherapie bedingt waren. Erst später traten, meist im Bestrahlungsfeld, vermehrt Sarkome und Karzinome auf. Die kumulative Inzidenz von Zweitneoplasien nach einer medianen Beobachtungszeit von 7,7 Jahren betrug 6,5%. Paulussen et al. (2001) fanden bei 690 Patienten mit Ewing-Tumoren 4 hämatologische und 2 solide Zweitneoplasien, was einer kumulativen Inzidenz von nur 0,9% entspricht. Die mediane Beobachtungszeit betrug allerdings nur 4,7 Jahre. Auch das Risiko für Zweitneoplasien nach Behandlung anderer Sarkomentitäten sei exemplarisch an einigen Studien gezeigt. Aung et al. (2002) beschrieben bei 509 Patienten mit Osteosarkom, welche zytostatisch und operativ behandelt worden waren, eine geschätzte kumulative 10-Jahresinzidenz
an Zweitneoplasien von 3,1%, entsprechend einer SIR von 4,6. Nach einer medianen Beobachtungszeit von 5,2 Jahren waren 6 solide Tumoren, 4 ZNS-Tumoren, und 4 hämatologische Zweitneoplasien erfasst worden. Sung et al. (2004b) beobachteten in 1160 Patienten mit Rhabdomyosarkomen, die mehr als 5 Jahre ereignisfrei überlebt hatten, 17 Zweitneoplasien, davon 14 solide Tumoren, die häufig im früheren Bestrahlungsfeld aufgetreten waren. Daneben stellten Kenney et al. (2004) für Brustkrebs eine deutlich erhöhte SIR von 6,7 bzw. 7,6 nach Therapie von Knochen- bzw. Weichteilsarkomen fest, ohne dass eine Strahlentherapie im Bereich des Thorax stattgefunden hätte. Tumoren des ZNS. Nach Ausschluss von Patienten mit NF1
beträgt die kumulative Inzidenz von Zweitneoplasien 15– 20 Jahre nach Behandlung eines Hirntumors 2–4% (Neglia et al. 2001; Broniscer et al. 2004; Jazbec et al. 2004). Die meisten dieser an einer Zweitneoplasie erkrankten Patienten waren mit Strahlentherapie behandelt worden. Zweitneoplasien nach Therapie anderer bösartiger Tumoren. Bisherige Arbeiten haben gezeigt, dass die Inzidenz von
Zweitneoplasien nach allen Neoplasien des Kindes- und Jugendalters, die mit Zytostatikatherapie, Strahlentherapie oder beiden Therapiemodalitäten behandelt werden, erhöht ist, die SIR also signifikant höher als 1 ist. Die kumulative 20-Jahres-Inzidenz von Zweitneoplasien liegt nach Neuroblastom, Wilms Tumor, und Non-Hodgkin-Lymphomen jeweils knapp unter 2%, bei einem für die Gesamtbevölkerung erwarteten Wert von rund 1% (Neglia et al. 2001). Auch hier waren spezifische Einflüsse der stattgehabten Behandlung feststellbar: Bei Kindern nach Neuroblastomtherapie fanden Rubino et al. (2003) nur für die mit Strahlentherapie behandelten Patienten ein erhöhtes Risiko von Zweitneoplasien. Leung et al. (2001) stellten bei jungen Erwachsenen 20 Jahre nach Therapie für Non-Hodgkin Lymphom unterschiedliche kumulative Inzidenzen von Zweitneoplasien für die verschiedenen histologischen Gruppen fest (kleinzelliges »noncleaved« Lymphom 0,5%; großzelliges Lymphom 5,8%, lymphoblastisches Lymphom 10,9%). Diese Unterschiede reflektieren in erster Linie die unterschiedlichen histologiespezifischen Therapieprotokolle; beispielsweise wurden Epipodophyllotoxine nur bei der Behandlung von lymphoblastischen Lymphomen angewandt. Zweitneoplasien nach Hochdosistherapie und HSCT. Die kumulative 20-Jahres-Inzidenz für Zweitneoplasien nach Hochdosistherapie und autologer oder allogener HSCT betrug in einer Studie von Kindern und Erwachsenen 6,9%. Die SIR für tMN war mit 300 deutlich erhöht, ebenso die SIR für Non-Hodgkin Lymphome mit 54, während die SIR für Morbus Hodgkin 15 und für solide Tumoren 2,8 betrug. Die kumulative Inzidenz für tAML erreichte nach 10 Jahren ein Plateau bei 1,4%, diejenige für solide Tumoren zeigte in der Beobachtungszeit kein Plateau (Baker at al. 2003). Sehr ähnliche Zahlen fanden auch Curtis et al. (1997) mit einer SIR von 2,7 und einer kumulativen 15-Jahres-Inzidenz von 6,8% für solide Tumoren nach allogener HSCT, wobei das Risiko abhängig war von der Dosis der Ganzkörperbestrahlung und vom Alter zum Zeitpunkt der Transplantation: Kinder unter 10 Jahren hatten mit einer SIR von 37 ein deutlich höheres
89
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Risiko als Patienten in den Altersgruppen von 10–19 oder 20–29 Jahren (SIR je 4,6), und alle in einem späteren Alter transplantierten Patienten (SIR 1,2). Krishnan et al. (2000) zeigten darüber hinaus, dass die Verwendung von Etoposid zur Mobilisation autologer Stammzellen ein 8fach erhöhtes Risiko für tML mit sich bringt. Aufgrund der meist kleineren Fallzahlen und kürzeren Beobachtungszeiträume sind die Kenntnisse über Häufigkeit und Risikofaktoren für Zweitneoplasien nach Therapie anderer Neoplasien als ALL und Morbus Hodgkin deutlich eingeschränkt. Immerhin stellen die erwähnten Studien übereinstimmend fest, dass ▬ die SIR sowohl von soliden wie auch hämatologischen Zweitneoplasien signifikant erhöht ist, ▬ solide Tumoren, insbesondere Osteosarkome, im früheren Bestrahlungsfeld meist erst nach mehreren Jahren bis Jahrzehnten auftreten, und ▬ hämatologische Zweitneoplasien dagegen deutlich früher auftreten. Beispielsweise fanden Le Deley et al. (2003) eine mittlere Latenzzeit zwischen der Diagnose verschiedener solider Tumoren und dem Auftreten einer Zweitleukämie von nur 3,4 Jahren.
zur Planung der Nachkontrollen wurden beispielsweise in der Children’s Oncology Group erarbeitet und stehen allen Interessierten online zur Verfügung (Landier et al. 2004; www.survivorshipguidelines.org).
Bei steigenden Überlebensraten nach Erstneoplasie haben immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene ein nicht zu vernachlässigendes und über die Jahre soweit heute bekannt ständig zunehmendes Risiko, eine Zweitneoplasie zu entwickeln. Folglich sind Therapiekonzepte für Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter zu optimieren, um das Risiko von Zweitneoplasien zu gering wie möglich zu halten. Gleichzeitig muss die Früherkennung von Zweitmalignomen Bestandteil einer Langzeitbetreuung ehemaliger Krebspatienten sein. Da Zweitneoplasien quantitativ und qualitativ ein wachsendes Problem in der Kinderonkologie darstellen, sind die Erforschung ihrer Genese, Pathophysiologie und Therapie vorrangig. Schließlich kann die Untersuchung von familiären Tumorprädispositionssyndromen, von Polymorphismen sowie von zytogenetischen, molekulargenetischen und proteomischen Charakteristika von Zweitneoplasien wichtige Einblicke in die Mechanismen der Entstehung maligner Prozesse allgemein bieten.
89.6.4 Konsequenzen für die Langzeit-
verlaufskontrolle Aus den oben dargestellten Ergebnissen müssen sich auch Konsequenzen für die Verlaufskontrollen nach Beendigung der Therapie ergeben. Am wichtigsten ist es, die betroffenen, früheren Patientinnen und Patienten über möglichen Spätfolgen, inklusive Zweittumoren, aufzuklären. Eine exakte Dokumentation der durchgeführten Therapie mit kumulativen Dosen insbesondere von Anthrazyklinen aber auch allen anderen Medikamenten und der stattgehabten Strahlentherapie mit Auflistung der Belastung für die einzelnen Organe sollten dem Patienten für seine Unterlagen ausgehändigt werden. Anhand der Risiken sollte jeder Patient über mögliche Verlaufskontrollen – seien dies ärztliche Kontrollen oder Selbstkontrollen wie beispielsweise die regelmäßige Brustpalpation bei Frauen nach Bestrahlung im Thoraxbereich – informiert werden. In einzelnen Ländern wie den Niederlanden und den USA sind seit längerem Kliniken für die Langzeitkontrolle nach Krebserkrankungen im Kindesalter in Betrieb. Diese werden gemeinsam von Kinderonkologen, Strahlenmedizinern, Erwachsenenmedizinern verschiedener Disziplinen, spezialisierten Pflegenden, Sozialarbeitern und weiteren Spezialisten betrieben. Im deutschen Sprachraum wird beispielsweise am St. Anna-Kinderspital in Wien eine solche interdisziplinäre Sprechstunde in Form einer Beratungssprechstunde geführt (Kontakt über
[email protected]). Falls die Nachkontrollen, deren Häufigkeit und Umfang individuell und risikoangepasst festgelegt werden müssen, nicht in solchen spezialisierten Institutionen durchgeführt werden können, müssen die zukünftig involvierten (Haus-)Ärzte detaillierte Informationen zu Hintergrund, Häufigkeit und Dauer der geplanten Untersuchungen informiert werden (Stichwort vertikale Vernetzung). Hinweise und Richtlinien
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89
1110
VI
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
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89
Palliative Betreuung und Behandlung R. Topf, E. Bergsträßer
VI
90.1
90.1 90.2
Einleitung – 1112 Sterben und Tod – 1113
90.2.1 90.2.2
Entwicklungspsychologische Aspekte der Begriffe »Sterben« und »Tod« – 1113 Tod und Phantasie – 1114
90.3
Symptome und Behandlungsmöglichkeiten – 1115
90.3.1 90.3.2 90.3.3 90.3.4 90.3.5 90.3.6 90.3.7
Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme – 1115 Übelkeit und Erbrechen – 1115 Obstipation und Diarrhö – 1116 Blutung und Anämie – 1116 Fieber und Infektion – 1116 Respiratorische Symptome – 1116 Zentralnervöse Probleme und Schlafstörungen
90.4
Betreuungskonzepte
90.4.1 90.4.2
Palliatives Behandlungsteam – 1117 Betreuungsort – 1117
Definition »Palliative Care ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt.« (WHO 1990)
– 1116
– 1117
90.5
Kommunikation und Gesprächsführung
90.5.1 90.5.2
Grundlagen – 1118 Gesprächsführung und Gesprächsrahmen
90.6
Phasenspezifische Probleme in der Betreuung – 1119
90.6.1 90.6.2 90.6.3 90.6.4
Von der kurativen zur palliativen Therapie – 1119 Phase der palliativen Betreuung – 1119 Terminalphase: Sterbebegleitung – 1120 Die Zeit danach: die Eltern und Geschwister – 1120
Literatur
Einleitung
– 1118 – 1118
– 1121
Jakob erkrankte im Alter von 2,5 Monaten an einem parameningealen Rhabdomyosarkom. Nach 6-monatiger Chemotherapie bestand eine anhaltende Remission. Zwei Jahre nach Beendigung der Therapie fiel den Eltern eine behinderte Nasenatmung auf, so dass sie Jakob vorzeitig vorstellten. Klinisch und bildgebend fand sich ein ausgedehntes Lokalrezidiv. Eine erneute Chemotherapie wurde gut ertragen und ließ die Symptome rasch verschwinden. Vor der geplanten Strahlentherapie fuhr die Familie ans Meer – die vielleicht letzte gemeinsame Zeit? Leider ja, es kam zur Tumorprogression. Die Behandlung ganz aufzuhören, war für die Eltern unvorstellbar. Gleichzeitig wünschten sie sich, dass Jakob zu Hause sein könne und nicht leiden müsse. Eine ambulante, palliative Chemotherapie wurde begonnen und ein Betreuungsnetz mit ambulanter Kinderkrankenpflege, Kinderärztin, Psychologin, dem Pfarrer und der bisher betreuenden Onkologin aufgebaut.
Eine weiter gefasste Zielsetzung dieser WHO-Definition steht dem Leben bejahend gegenüber und betrachtet das Sterben als einen normalen Prozess, der weder beschleunigt noch hinausgezögert wird. Das Sterben bzw. die letzte Lebensphase wird als zum Leben gehörend verstanden, woraus klar hervorgeht, dass der Patient in seinen noch möglichen Lebensprozessen aktiv unterstützt werden soll. Dabei stehen die Wünsche des Sterbenden im Zentrum des Betreuungskonzepts. Das Ziel ist eine bestmögliche Lebensqualität für den Patienten. Die Familie und das Umfeld des erwachsenen wie pädiatrischen oder adoleszenten Patienten werden von dem betreuenden Team in der Bewältigung der Krankheits- und Sterbephase sowie in der Zeit der Trauer begleitet. Eine Trennung zwischen diesen Bereichen ist nicht möglich; d. h., die Lebensqualität des Kindes kann nicht unabhängig von seinem Umfeld beurteilt werden. Die SIOP (Societé Internationale d‘Oncologie Pédiatrique; Masera et al. 1999) beschäftigte sich genauso wie die ACT (Association for Children with Life-Threatening or Terminal Conditions and their Families; ACT Charter 1998) mit Empfehlungen über den professionellen Umgang mit dem sterbenden Kind und seiner Familie. Empfehlungen der ACT Charter: Jedes Kind soll mit Würde und Respekt behandelt werden. Unabhängig seiner körperlichen oder geistigen Fähigkeiten soll dem Kind eine Privatsphäre zugestanden werden. Eltern sollen als primäre Betreuungspersonen anerkannt und entsprechend partnerschaftlich in die Betreuung ihres Kindes und in Entscheidungen über ihr Kind einbezogen werden. Jedes Kind soll entsprechend seines Alters und Entwicklungsstandes die Möglichkeit bekommen, an Entscheidungsprozessen zu seiner Betreuung teilzuhaben.
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1113 90 · Palliative Betreuung und Behandlung
Jede Familie soll die Möglichkeit haben, einen Spezialisten mit besonderen Kenntnissen über die Erkrankung des Kindes zu konsultieren. Informationen sollen dem betroffenen Kind, seinen Eltern, Geschwistern und ev. anderen Angehörigen zur Verfügung gestellt werden. Gespräche sollen offen, ehrlich und einfühlsam geführt und bei Kindern auf Alter und Entwicklungsstand abgestimmt werden. Das häusliche Umfeld soll, wenn immer möglich, der Mittelpunkt der Betreuung bleiben. Alle weiteren Maßnahmen sollen von pädiatrischem Fachpersonal in einem kindgerechten Umfeld erfolgen. Jedes Kind soll eine Schulbildung erhalten und kindgerechten Aktivitäten nachgehen können. Jede Familie hat Anspruch auf eine primäre Ansprechperson (Key-Worker), die der Familie hilft, ein angemessenes Unterstützungssystem aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Häusliche oder stationäre Entlastungsangebote mit angemessener pädiatrischer Pflege und medizinischer Unterstützung sollen von betroffenen Familien flexibel genutzt werden können. Jede Familie muss eine häusliche pädiatrische Pflege in Anspruch nehmen können. Jede Familie soll Zugang zu fachkundiger Beratung bezüglich praktischen und finanziellen Hilfen haben. Jede Familie soll in extremen Belastungssituationen Zugang zu Haushaltshilfen haben. Jeder Familie soll eine Trauerbegleitung angeboten werden, die so lange nötig von der Familie beansprucht werden kann.
90.2
Sterben und Tod
90.2.1 Entwicklungspsychologische Aspekte
der Begriffe »Sterben« und »Tod« Das Wissen um die Entwicklungspsychologie von Sterben und Tod ist für die klinische Tätigkeit und die professionelle Betreuung des krebskranken Kindes von entscheidender Bedeutung. Die Bedeutung von Leben, Sterben und Tod ist wie viele andere menschliche Dimensionen kulturell bedingt, d. h. sie wird im Zuge der ontogenetischen Entwicklung in der Interaktion von engerer und weiterer soziokultureller Umgebung, den eigenen Auffassungen und Einstellungen entwickelt. Diese Vorstellungen unterliegen einem fortlaufenden Reifungsprozess und gehen mit der Entwicklung der intellektuellen Dimension parallel einher. Eine eindeutige Abgrenzung der Entwicklungsphasen nach Altersstufen ist dabei aber nur ungefähr möglich, da es beträchtliche interindividuelle Varianzen in der Entwicklung gibt. Im Wesentlichen beziehen sich die Untersuchungen auf verschiedene Merkmale, die die Begriffe »Leben« und »Sterben« ausmachen. Die meisten Untersuchungen greifen auf psychoanalytische Erkenntnisse (Freud 1915b; Bürgin 1981; Rimbault 1981) bzw. auf die umfangreichen entwicklungspsychologischen Untersuchungsreihen von
Piaget (1978) zurück. Zu diesen einzelnen Merkmalen zählen: Unterschied zwischen »belebt – unbelebt«. Einer der we-
sentlichsten Entwicklungsschritte im ersten Lebensjahr des Kindes ist getan, wenn es zwischen Selbst und Nicht-Selbst unterscheiden kann. In der engen Verknüpfung mit der Mutter und den wichtigsten Bezugspersonen entwickeln sich eine immer besser werdende Selbstwahrnehmung und eine zunehmende Differenzierung zwischen Selbst und Objekt. Dieses Unterscheidungslernen ist grundlegend für die weitere Entwicklung des Todeskonzeptes, da »unbelebt« später mit »tot sein« identifiziert werden wird. Am Anfang ist diese Grenze noch schwimmend und es bedarf unzähliger spielerischer »lebendiger« Interaktionen zu seiner Festigung (Winnicott 1993). Erst wenn ein gewisser Grad an Sicherheit erreicht wurde (ungefähr zwischen 9. und 12. Lebensmonat) kann die Welt der »unbelebten und belebten » Objekte kreativ genützt werden. Menschen, die in dieser Phase des Lebens gröbere Probleme hatten, entwickeln einen strukturellen seelischen Defekt und reagieren z. B. auf eine Todesbedrohung (wie sie die Diagnose »Krebs« darstellt) panischer, da sie drastischer von Fusionsängsten ihrer »Selbst-/Objektrepräsentanz« bedroht werden (Rimbault 1981) und schneller eine Auflösung ihrer Persönlichkeit fürchten müssen. Entwicklung von Objektkonstanz und Zeiterleben. Bedingt
durch die extreme Abhängigkeit des Säuglings in den ersten Lebensmonaten ist er auf eine kontinuierliche und ausreichend gute Versorgung durch die Mutter angewiesen (Winnicott 1993). Im ständigen Wechselspiel von Geben und Nehmen entwickelt das Kind eine Vorstellung von Sicherheit und Konstanz, die es ihm zunehmend ermöglicht, zeitweilig auch unabhängig von realen Personen zu existieren, ohne dass seine seelische Struktur zusammenbricht. Das Kind hat äußere Struktur verinnerlicht und ein Stück Unabhängigkeit von der äußeren Welt erlangt. Man spricht in diesem Zusammenhang von Objektkonstanz (Winnicott 1993). Demnach muss ein Kind erkannt haben, dass Personen weiter existieren, auch wenn sie nicht mehr sinnlich unmittelbar anwesend sind. Es wird angenommen, dass ein Kind innerhalb der ersten 18 Monate Tod als Abwesenheit der wichtigsten Bezugsperson erfährt. Es gilt die Gleichung »Tod = Trennung von der Mutter«. Je entwickelter die Objektkonstanz im Kinde ist, desto eher kann es die Trennung von der Mutter ertragen; übersteigt allerdings die Frustration eine gewisse Schwelle, zerreißt ein Stück der inneren Hülle, und es kommt zu einem Trauma mit einer narzisstischen Besetzung der Selbstrepräsentanzen. Mit diesem Bruch in der Konstanz bricht auch das Erleben der Zeit als Kontinuum. Je stabiler die Objektkonstanz ist, desto weniger archaisch werden Todesängste ausfallen. Eine vorläufige Ausreifung erfährt das Zeitkonzept allerdings erst zu Beginn der Pubertät, wenn die intellektuelle Entwicklung einen Höhepunkt erreicht (Piaget 1978). Reversibilität. Für das Kind unter 5 Jahren bedeutet der Tod
etwas Reversibles. Tod und Leben sind sehr leicht austauschbar. Kinder unter 5 Jahren empfinden den Tod noch als vorübergehendes Faktum und vergleichen ihn mit einer Reise bzw. mit dem Schlaf (Braun 1979; Bürgin 1981). Die Unterscheidung von »tot = leblos« ist in dieser Altersgruppe noch
90
1114
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
nicht ausgeprägt. So kann es vorkommen, dass ein 5-jähriges Kind zu einem aufgebahrten Toten geht und ihn anstupst, weil es annimmt, es könnte den Toten dadurch zum Leben erwecken. Weiterhin ist die Fähigkeit, über einen Verlust zu trauern, eingeschränkt, da die Kinder die Endgültigkeit des Todes noch nicht erfassen können. Die Endgültigkeit des Todes wird ungefähr ab dem 6. Lebensjahr anerkannt und geht mit einer Erweiterung der Realitätsprüfung einher (Bürgin 1981; Piaget 1978).
VI
Todesursachen und Universalität. Dass der Tod einen jeden Menschen treffen kann, ist erst etwa ab dem 5. bis 10. Lebensjahr für die Kinder nachvollziehbar. Bis dorthin wird der Tod, aber auch Krankheiten, als Folge von Gesetzesübertretungen (Lohaus 1990) angenommen und nach dem Lex Talionis (Prinzip der Wiedervergeltung) beurteilt: Man hat jemand zum Teufel gewünscht und als Folge davon ist man tot. Bis zum 5./6. Lebensjahr leben die Kinder noch in der egozentrischen-magischen Weltsicht. Die Einsicht in die naturwissenschaftliche Welt ist ihnen mehr oder weniger verborgen. Der Tod als übergeordnetes Prinzip des Lebens wird erst langsam erkannt. Trennung »Körper-Seele«. Beginnend mit der klareren Rea-
litätssicht (ab dem 6. Lebensjahr) durch den Eintritt in das Stadium der konkreten und formalen kognitiven Operationen (Piaget 1978) wird die Welt der biologischen Vorgänge transparenter. Mit dem Erkennen der Lebensfunktionen steigt auch der Wissensstand der Dysfunktionen. Sterben und Tod werden auf einer biologischen Ebene realisiert. Der Zerfall von organischen Substanzen wird im Zuge der Verwesung akzeptiert. Mit Eintritt in das Schulsystem greifen die Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele angstmildernd ein und helfen, die eigenen Ohnmachtsgefühle reduzieren. 90.2.2 Tod und Phantasie Es ist regelhaft zu beobachten, dass der Gedanke an eine Krebserkrankung als erste Assoziation den Tod impliziert. Empirischen Hintergrund hat diese Verkettung durch die hohe Häufigkeit von Todesfällen durch Krebs im Erwachsenenalter. Damit ist diese Erfahrung eine universelle, von der jede Familie irgendwann betroffen sein kann und die zuerst ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Überlebenschancen auf das krebskranke Kind übertragen wird. Die enge gedankliche Verbindung von Krebs und Tod ist insofern sehr bedeutsam, als das mögliche Sterben in der Phantasie und in den Gedanken beginnt und nicht erst dann, wenn die ersten körperlichen Anzeichen auftauchen. Diese Erkenntnis gilt auch bei den krebskranken Kindern und deren Angehörigen. Spätestens durch die Mitteilung der Diagnose durch den Arzt ist der Gedanke an den möglichen Tod ein unsichtbarer Begleiter beim Kind und seiner Familie. Dass ein Ereignis, das mit dem Tod verquickt ist, auf psychisch gesunde Menschen starke seelische Auswirkungen haben kann, geht seit den 90er-Jahren als eine eigenständige psychiatrische Diagnose in das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen« (APA 1998) ein. Es würdigt dadurch die Wucht, die durch die Konfrontation mit dem möglichen oder dro-
henden Tod entsteht kann. Mehrere Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der Frage der akuten und posttraumatischen Belastungsstörung bei krebskranken Menschen und deren Angehörigen (Kleinig u. Schumacher 2001; Stuber et al. 1994). Prinzip der Nachträglichkeit: die Vergangenheit Ausgelöst durch die Konfrontation mit dem möglichen Tod des Kindes wird in den Angehörigen ein in die Vergangenheit gerichteter Prozess ausgelöst, der als Ziel das Verständnis der Gegenwart hat. Es wird die Kette der Gedankenverbindungen, die mit dem Kind, der Krankheit »Krebs« und dem Bereich »Sterben und Tod« in Verbindung sind, rückwirkend überprüft und neu bewertet. Die Vergangenheit gewinnt somit nachträglich eine neue Bedeutung und wird neu strukturiert. Diesen Prozess des Begreifens kann man durchaus als Trauerprozess bezeichnen, da – innerlich und oft unbemerkt – von der Umgebung Abschied von wichtigen Teilen der Vergangenheit und eine Neustrukturierung der Gegenwart mit einer neuen Ausrichtung in die Zukunft vorgenommen wird. In dem von Sigmund Freud bereits am Ende des 19. Jahrhunderts (Laplanche u. Pontalis 1973) gefundenen seelischen »Prinzip der Nachträglichkeit« liegt der Versuch der Seele, die »Lücken« in den gedanklichen Verbindungen mit neuen Konstruktionen zu überbrücken und losgelöste Affekte, neu zu binden. ! Das »Prinzip der Nachträglichkeit« stellt einen umfassenden seelischen Heilungsvorgang dar.
Andererseits geht das »Prinzip der Nachträglichkeit« selektiv und nach dem Ähnlichkeitsprinzip vor. Es werden Ereignisse in Bezug auf das Kind in der Vergangenheit ausgesucht, die als kausal für die Diagnose »Krebs« gelten könnten. »Aug’ um Aug’«, »Zahn um Zahn« lautet das älteste Rechtsprinzip – das Talionsprinzip –, das hier zur Anwendung kommt. Aus ihrer inneren Verflochtenheit mit dem Kind werden Ereignisse um das Kind neu bewertet und nachträglich kausal für das Entstehen der malignen Krankheit verantwortlich gemacht. Die Folge sind schwere Schuldgefühle und Selbstvorwürfe der Eltern. In dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben liegt oft der Gedanke der Eltern an einen Suizid im Falle des Ablebens des Kindes, da sie sich so schuldhaft fühlen, dass ein Weiterleben nicht mehr denkbar und der eigene Tod als gerechte Strafe für ihr scheinbares Versagen erscheint. In der klinischen Praxis zeigt sich, dass offensichtlich Mütter aufgrund der biologischen und psychosozialen engeren Verbundenheit mit dem Kind stärker von den Folgen des »Prinzips der Nachträglichkeit« betroffen sind als Väter. Antizipatorische Trauer: die Zukunft Ein zentraler Begriff im Verständnis von psychologischen Vorgängen um das schwerkranke Kind ist der der »antizipatorischen (vorgreifenden) Trauer« von Lindemann (1944, 1985). Er wurde später von Bürgin (1981, 1991) aufgenommen und auf das Gebiet der pädiatrischen Onkologie übertragen. Er bedeutet, dass das kommende (mögliche oder sichere) Sterben bzw. der Tod sowohl vom Patienten als auch den Angehörigen vorweggenommen wird. Bedingt durch das mögliche Sterben wird selbst bei günstiger Prognose ein innerer Prozess der Auseinandersetzung eingeleitet, der psycholo-
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gisch gesehen nicht verhindert werden kann. Der mögliche reale Tod ist das Damokles-Schwert, unter dem sowohl die Patienten als auch die Eltern leben. ! Das Rezidiv der Krankheit bzw. die Entscheidung zum Übergang von der kurativen zur palliativen Behandlung stellen vor dem tatsächlichen Sterben des Patienten, die »kleinen«, vorweggenommenen »Tode« dar.
Der ärztlichen Gesprächsführung kommt aus psychologischer Sicht in diesem Sinne herausragende Stellung zu, da das ärztliche Gespräch die Trennung von äußerer und innerer, seelischer Realität vornimmt. Die medizinische Aufklärung klärt Inneres und Äußeres, trennt zwischen der Welt der Phantasie und der Welt der empirisch gewonnen Fakten. Es ist der Tod als »Phantasma« und der Tod als »reales Faktum« zu unterscheiden. An diesem Unterschied gruppiert sich die seelische Verarbeitung der Diagnose »Krebs«. Wie oben ausgeführt, stellt die Mitteilung »Krebs« einen assoziativen Kurzschluss mit allen dazu passenden inhaltlichen Bereichen her und aktiviert diese. Das so genannte »innere Wissen« bzw. die »Vorahnungen« (Braun 1979) der Krebspatienten und deren Angehörigen um den baldigen Tod ist eine unmittelbare Folge der antizipatorischen Trauerarbeit. Die Vorwegnahme des eigenen Todes und damit verbundene innere Umstrukturierung als betroffener Patient oder als Angehöriger bezeichnete Janis (1958) »work of worry (Besorgnisarbeit)«. Unter der Drohung der möglichen oder realen kommenden Ereignisse werden innere Reserven mobilisiert und Pläne des Überlebens und der Bewältigung entworfen. 90.3
Symptome und Behandlungsmöglichkeiten
Eine progressive Tumorerkrankung kann je nach Art der Erkrankung – Leukämien/Lymphome oder solide Tumoren – zu unterschiedlichen Symptomen in der letzten Lebensphase führen. Häufige Tumorlokalisationen und Metastasierungsmuster betreffen das Knochenmark, den Knochen, das lymphatische System, die Lungen, die Leber und das ZNS. Neben Schmerzen, die als Hauptsymptom des an einer Krebserkrankung versterbenden Kindes zu nennen sind (Wolfe et al. 2000), ist mit Symptomen der Knochenmarkinsuffizienz wie Anämie und Blutung, gastrointestinalen Problemen, Dyspnoe, neurologischen Ausfällen und Krampfanfällen zu rechnen (Goldman 1999). Die Behandlung von Symptomen in der letzten Lebensphase eines Kindes ist bisher nicht Bestandteil größer angelegter Studien, so dass es keine Evidenz-basierte Behandlungskonzepte gibt. In der Schmerztherapie ( Kap. 85) liegen hingegen Empfehlungen vor, die v. a. von der WHO weltweit verbreitet werden (WHO 1998). Wie bei kurativen Behandlungsansätzen ist auch in der palliativen Behandlung die genaue Anamnese und Untersuchung mit differenzialdiagnostischen Überlegungen Voraussetzung eines jeden Tuns. Gleichzeitig müssen diese Informationen in den Gesamtkontext des Kindes und seines Umfeldes eingeordnet werden, um Entscheidungen zur Behandlung treffen zu können. So gibt es Situationen, in denen eine Bluttransfusion oder antibiotische Therapie sinnvoll
sind und andere, in denen diese Maßnahmen zu einer unnötigen Belastung des Kindes und ev. seiner Familie führen. Therapeutische Maßnahmen können eine medikamentöse Therapie, pflegerische Verrichtungen oder psychologische Unterstützung, häufig eine Kombination dieser Elemente beinhalten. Vor allem für die Betreuung zu Hause ist das Vorhandensein eines Behandlungsplans für die zu erwartenden Symptome mit einem Stufenschema wertvoll. Die wichtigsten Medikamente sollten vor Ort sein, die Applikation möglichst einfach (oral oder rektal) und die Eltern sollten über deren Einsatz fortlaufend instruiert werden (Bergsträßer 2001; Davis et al. 2002; Husebø u. Klaschik 2000). Damit kann das Gefühl der Sicherheit und der Kompetenz für die Belange des Kindes gestärkt werden. ! Wichtig ist, dem kranken Kind und seinen Eltern zu versichern, dass Beschwerden immer ernst genommen und auch gelindert werden können.
90.3.1 Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme Dieser Bereich stellt für Eltern in der letzten Lebensphase ihres Kindes häufig ein besonders großes Problem dar. Es fällt ihnen schwer, diese Zeichen auch als Ausdruck der fortschreitenden Krankheit und des nahenden Todes zu verstehen und anzunehmen. Ein Leidensdruck entsteht auch bei Adoleszenten durch die Appetitlosigkeit und zunehmende Kachexie. Sie möchten nicht an Gewicht abnehmen, weil sie sich damit dem Leben entzogen fühlen. Sofern nicht ein langer Krankheitsprozess vorliegt, gibt es wenig rationale Gründe für eine parenterale oder via nasogastraler Sonde durchgeführte Ernährung. Für manche Kinder und Adoleszente kann es jedoch zu einer Verbesserung der Lebensqualität kommen, wenn dem Wunsch nach einer künstlichen Ernährung nachgegeben wird. Steroide zur Appetitsteigerung sollten bei pädiatrischen Patienten nicht eingesetzt werden, da sie zu Stimmungsschwankungen und damit eher zu einer Verschlechterung der Situation führen. Insgesamt sollte dem Essen in der letzten Lebensphase die Rolle der Verbesserung des Wohlbefindens und der Freude zugeschrieben werden. In einem weit fortgeschrittenen Sterbeprozess wird auch die Flüssigkeitsaufnahme zunehmend geringer. Damit kommt es in erster Linie zu einer trockenen Mundschleimhaut, die je nach Gerinnungssituation leicht bluten und für den Patienten unangenehm sein kann. Eine regelmäßige Mundpflege auch zur Verhinderung von Infektionen (v. a. Candida) und Mundbefeuchtung sollten, sofern vom Kind toleriert, durchgeführt werden. In der Erwachsenenliteratur finden sich Hinweise auf Dehydratations-assoziierte Symptome, wie Verwirrtheit und Unruhe, die eine vorsichtige Hydrierung teilweise sinnvoll erscheinen lassen (Bozzetti 1996). 90.3.2 Übelkeit und Erbrechen Dies sind häufige Symptome, die als Folge der Erkrankung oder der Schmerztherapie mit Opioiden, auftreten. Für eine geeignete Behandlung dieser beeinträchtigenden Symptome
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
sind differenzialdiagnostische Überlegungen zur Ursache, zur Pathophysiologie und den sich daraus ergebenden Behandlungsmöglichkeiten nötig. Antiemetika, v. a. Antihistaminika und bei sehr ausgeprägter und schlecht beherrschbarer Emesis 5-HT3-Antagonisten, führen meistens zu einer Besserung ( Kap. 84). In Ausnahmesituationen wird der zusätzliche Einsatz von Neuroleptika oder Psychopharmaka notwendig. Bei Erwachsenen werden auch Cannabinoide eingesetzt; hierzu liegen in der Pädiatrie keine Berichte vor. Zusätzlich hilfreich sind psychologische Techniken zur Entspannung, Akupunktur etc. Erbrechen als Folge eines erhöhten Hirndrucks kann mit Dexamethason oder auch einem H1-Antihistaminikum behandelt werden. 90.3.3 Obstipation und Diarrhö
VI
Obstipation ist in der Terminalphase bei Kindern wie bei Erwachsenen als Folge der verminderten Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme, der Immobilität, der Schwäche und Kachexie sowie der Medikamente, insbesondere Opioide, ein bekanntes Problem. Eine frühzeitige Antizipation dieser Problematik ist v. a. bei der Behandlung mit Opioiden wichtig. Bei den meisten Kindern reichen hierzu leichtere Laxanzien wie Lactulose aus. Die individuellen Bedürfnisse der Kinder sollten, so weit vertretbar, berücksichtigt werden; manche Kinder z. B. ziehen der täglichen Medikamenteneinnahme regelmäßige Einläufe vor. Diarrhö ist ein weit selteneres Problem. Als häufigste Ursachen sind die Überdosierung von Laxanzien, Nebenwirkungen anderer Medikament wie Antazida und Antibiotika oder einer abdominellen Bestrahlung zu nennen. Eine Diarrhö kann auch bei partieller Darmobstruktion oder Obstipation im Sinne eines Überlaufs auftreten. Selten kommt es in der Folge zu einer behandlungsbedürftigen Dehydratation. 90.3.4 Blutung und Anämie Blutungen, v. a. sichtbare Blutungen aus Mund oder Nase, beim Husten oder Erbrechen können für das Kind und seine Betreuungspersonen beängstigend und belastend sein. Auch unter der Vorstellung eines relativ sanften Todeseintritts durch eine Blutung sollte das Erleben dieser Symptome von den Betroffenen und Begleitenden maßgeblich in die Therapieentscheidungen einfließen. Je nach Ursache für eine Blutung sollten individuell angepasste Therapierichtlinien wie die Gabe von Thrombozyten, Fibrinolysehemmer (z. B. Tranexamsäure), Vitamin K u. a. festgelegt werden. Bei diffusen Blutungen aus dem Mund kann eine Mundspülung mit einer 5%igen Tranexamsäurelösung versucht werden. Auch die Behandlung einer Anämie in der letzten Lebensphase erfolgt individuell nach Symptomen und deren Auswirkung auf die bestehende Lebensqualität. Ein Kind mit einer guten Lebensqualität, das unter Anämie-assoziierten Symptomen wie Müdigkeit, Kopfschmerzen, Tachykardie zu leiden beginnt, kann von einer Bluttransfusion profitieren. Neben der Anhebung des Hämoglobins kann damit auch eine Blutungsneigung positiv beeinflusst werden.
90.3.5 Fieber und Infektion Anders als es die meisten Kinder und Familien aus der kurativen Behandlung kennen, werden Fieber und Zeichen einer Infektion individuell und situationsangepasst beurteilt und behandelt. Wie oben erwähnt, kann eine antibiotische Therapie in einer Situation angemessen, in einer anderen unangemessen sein. Fieber wird in der Regel symptomatisch gesenkt, um das Wohlbefinden des Kindes zu verbessern. 90.3.6 Respiratorische Symptome Respiratorische Symptome stehen bei krebskranken Kindern in der letzten Lebensphase meist nicht im Vordergrund (Goldman 1999). Welche Beeinträchtigung das Kind durch respiratorische Symptome, z. B. Dyspnoe, erfährt, wie stark Eltern dadurch verängstigt und belastet sind und welche Bedeutung Ärzten diesen Symptomen zumessen, kann sehr unterschiedlich sein (Wolfe et al. 2000). Hieraus wird nicht zuletzt die subjektive Seite der Symptomwahrnehmung ersichtlich. Für die Behandlung ist wichtig, die Ursache, z. B. Lungenmetastasen, Pleuraerguss, Pneumopathie, Pneumonie etc., zu erkennen und zu unterscheiden, ob es sich um ein behandelbares und ob es sich um ein reversibles oder irreversibles Symptom handelt. Ist eine kausale Behandlung möglich, z. B. durch die Drainage eines Pleuraergusses, muss erwogen werden, ob dies in der Situation des Kindes auch sinnvoll ist. Andernfalls ist eine Linderung der Symptome und dadurch hervorgerufener Ängste anzustreben. Hierzu gehört die Lagerung des Patienten, Frischluft und eventuell Sauerstoffzufuhr, Anxiolytika, Opioide und ggf. Entspannungsübungen. Die Inhalation von Morphin ist bei Kindern bisher nicht untersucht worden. Mit der systemischen Opioidgabe kann eine Atemnot deutlich gelindert werden. Gelegentlich führt auch das Absaugen von Sekret zu einer vorübergehenden Verbesserung. Sollten Sekretprobleme im Vordergrund der Symptomatik stehen, ist die Gabe von Anticholinergika zu erwägen. 90.3.7 Zentralnervöse Probleme
und Schlafstörungen Das wichtigste hier zu nennende Symptom ist der Krampfanfall. Für das Kind und für die Betreuungspersonen kann dies, v. a. bei einem unerwarteten Auftreten, äußerst bedrohlich sein. Die rechtzeitige Aufklärung über die Möglichkeit des Auftretens eines Krampfanfalls und die Behandlungsinstruktion für die Eltern haben deshalb höchste Bedeutung. Für die akute Krampfkontrolle hat sich rektal zu applizierendes Diazepam bewährt. Inzwischen wird auch Midazolam buccal oder nasal erfolgreich zur Krampfunterbrechung eingesetzt (Jeannet et al. 1999; Scott et al. 1999). Die Dosierung für Midazolam liegt bei 0,2 mg/kg der Infusionslösung (5 mg/ml), falls der Anfall nach 5–10 min nicht sistiert, wird wie bei rektal verabreichtem Diazepam eine zweite Dosis gegeben. Bei einer Häufung der Krampfanfälle muss an eine Dauermedikation gedacht werden. Neurologische Ausfälle wie Paresen, Seh-, Hör- und Sprechstörungen treten im Zusammenhang mit ZNS-Prozes-
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sen auf und werden, falls nötig, symptomatisch behandelt. Über manifeste oder zu erwartende Schluckstörungen müssen Betreuungspersonen, v. a. die Eltern, aufgeklärt werden, dies insbesondere im Hinblick auf die damit verbundenen Schwierigkeiten der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme. Eine intrakranielle Druckerhöhung und das Hirnödem werden symptomatisch mit Steroiden (v. a. Dexamethason) behandelt. Der Nutzen einer Steroidbehandlung zur Symptomkontrolle bei Kindern mit progredienten Hirntumoren ist jedoch umstritten (Watterson et al. 2002). Eine Kompression des Spinalkanals mit akut auftretenden Rückenschmerzen und Lähmungserscheinungen sollte erkannt, situationsgerecht abgeklärt und behandelt werden. In der Behandlung werden Steroide (Dexamethason) eingesetzt; ggf. muss der Nutzen einer Strahlentherapie evaluiert werden. Schlafstörungen treten bei kranken Kindern und Erwachsenen häufig auf. In der letzten Lebensphase kommt es bei vielen Kindern und Adoleszenten zu einer Störung des Schlaf-Wach- bzw. des Tag-Nacht-Rhythmus. Die Nächte werden zum Tag, worunter Kinder wie Eltern leiden. Ursächlich kommen psychische Störungen wie Depression und Ängste, Medikamentennebenwirkungen und körperliche Symptome wie Schmerzen, Übelkeit etc. in Betracht. Neben einer eventuell indizierten medikamentösen Behandlung z. B. mit Benzodiazepinen wie Lorazepam, ist es von großer Wichtigkeit, den möglicherweise bestehenden Ängsten vor der Nacht nachzugehen. Manche Kinder stellen sich z. B. vor, dass sie in der Nacht plötzlich sterben könnten, weil man beim Sterben ja einfach einschlafe, oder dass sie von einem himmlischen Wesen abgeholt werden könnten und sie dann alleine wären. Schon das Ernstnehmen, das Eingehen und Besprechen dieser Gedanken und eventuell eine Veränderung der nächtlichen Schlafsituation können zu einer deutlichen Verbesserung des Schlafverhaltens führen. Um den TagNacht-Rhythmus wiederherzustellen ist es auch sinnvoll, eine gewisse Tagesstruktur vorzugeben. Grundsätzliche Fragen für eine Therapiemaßnahme: Was will der Patient und seine Familie? Welche Prognose hat ein Symptom im Kontext des Krankheitsverlaufs? Was ist das Ziel der Behandlung? Welche Behandlung ist angemessen?
Klinik, ein Hospiz oder einen anderer Ort zusammengestellt werden. Bei größeren Teams sollte ein Key-Worker zur Koordination des Teams hinsichtlich Informationen, Terminen etc. bestimmt werden. Diese Person ist sehr eng an die Familie gebunden und kann deshalb auch von der Familie bestimmt werden. Die anderen Teammitglieder sollten für die Zeit der Betreuung eine Kontinuität gewährleisten und klar definierte Vertretungspersonen haben. Unabhängig vom Betreuungsort des Kindes sollten regelmäßige Treffen des Teams, zum Teil mit den Eltern und dem Kind, insbesondere Adoleszenten, stattfinden, um sich auszutauschen und Veränderungen und Probleme des Kindes, der Familie oder der Betreuungssituation zu besprechen und ggf. Änderungen im Betreuungskonzept vorzunehmen. Hierbei ist es von größter Wichtigkeit, die Eltern ( Abschn. 90.1, ACT Charter) als Bestandteil des Teams wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Unterstützung des Teams. Die Betreuung eines sterbenden Kindes und seiner Angehörigen stellt für jedes Team eine große Herausforderung dar und bedeutet eine extreme menschliche Belastung. Zu diesen Belastungen zählen ▬ die fließenden und schwierigen Übergänge von kurativer und palliativer Behandlung mit den damit verbundenen Hoch und Tiefs der Familie, die das Betreuungsteam austarieren muss; ▬ die bei sterbenden Kindern oft hohe Identifikation der Pflegenden mit dem Kind und die damit notwendige Trauerarbeit; ▬ die Gefühle des Versagens angesichts der Verzweiflung der Angehörigen; ▬ Fragen und Zweifel bezüglich der getroffenen Maßnahmen und des Verlaufs des Sterbeprozesses usw.
Um diese Tätigkeit in professioneller Qualität leisten zu können, brauchen die Mitglieder der Teams Unterstützung, da die Gefahr des seelischen Ausbrennens groß ist. Dazu gehören u. a. die Bereitstellung ausreichender Ressourcen an Personal und Sachmitteln, die gezielte Unterstützung der Vorgesetzten im Management des Ablaufs und Aufbaus der nötigen Netzwerke, die Möglichkeit zu Gruppen- und Einzelsupervision durch externe Psychotherapeuten und Berater sowie regelmäßige Ausbildung und Schulung. 90.4.2 Betreuungsort
90.4
Betreuungskonzepte
90.4.1 Palliatives Behandlungsteam Eine palliative Betreuung eines kranken Kindes und seiner Familie sowie seines weiteren Umfeldes kann nur in einem interdisziplinären Kontext erfolgen. In der minimalen Variante bedeutet dies zumindest die koordinierte Zusammenarbeit eines Arztes und einer Pflegeperson. Insbesondere in komplexen Situationen ist eine Ausweitung des Teams erforderlich. Hierzu gehören Fachpersonen aus den Bereichen Psychologie, Sozialarbeit, Physiotherapie, Seelsorge u. a. Möglicherweise müssen diese Personen angepasst an die flexibel zu handhabenden Lokalitäten wie das Zuhause, die
An welchem Ort ein sterbendes Kind oder Jugendlicher seine letzte Lebensphase verbringt, hängt von unterschiedlichen, v. a. individuellen Faktoren ab. Die Wünsche des Kindes und der Familie sollten ausschlaggebend sein. Meistens entwickeln die Angehörigen recht konkrete Vorstellungen über den Ort des Sterbens. Das Sterben des Kindes zu Hause ist oft das Ideal für die betreuenden Familienangehörigen, das aber nicht immer zu verwirklichen ist, da entweder der medizinische Verlauf oder die Rahmenbedingungen eine Aufnahme in die Klinik notwendig machen. Entlastende Gespräche mit den Angehörigen zu dieser Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit sind in diesen Fällen gezielt zu führen, da Schuldgefühle und Selbstvorwürfe in diesem Zusammenhang entstehen können.
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Betreuung zu Hause. Das Elternhaus bietet dem Kind in
der Regel die größte Geborgenheit und Sicherheit sowie die besten Voraussetzungen für eine gute Lebensqualität in der letzten Lebensphase. Dies gilt meist auch für die Familie und das weitere familiäre Umfeld, die sich leichter um das schwer kranke Kind im Elternhaus organisieren können. Die Betreuung wird trotzdem anstrengend sein, weshalb es wichtig ist, von Anfang an, ein gutes Betreuungsnetz aufzubauen, das je nach Situation flexibel erweitert und verändert werden kann. Checkliste für die Betreuung zu Hause (Verteiler: Familie und alle Betreuungspersonen):
VI
Ärztlicher Bericht über die Krankheit, Prognose und aktuelle Behandlung Ärztliche Angaben zu Reanimationsmaßnahmen Behandlungsplan: Verordnungen/Empfehlungen zu den wichtigsten Symptomen mit Stufenschema, v. a. Schmerzmedikation Pflegeplan: Was ist unter Berücksichtigung der Wünsche des Kindes notwendig? (Dekubitusbehandlung, Mundpflege, Wundversorgung, Katheterwechsel etc.) Was wird dokumentiert? (Medikamente, Stuhlgang etc.) Notfallplan: Was tun die Eltern, wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt? Betreuungsteam: Aufgaben und Zuständigkeiten klären, Telefonliste (Erreichbarkeit 24 h/Tag, 7 Tage/ Woche), regelmäßige Konsultationen, regelmäßiger telefonischer Kontakt Wer kann sonst Unterstützung leisten (Geschwisterbetreuung, Haushalt, Fahrdienste, Informationen an weitere Angehörige etc.) Wann ist eine Hospitalisation nötig? Was ist zu tun, wenn das Kind gestorben ist?
Betreuung in der Klinik. Die Betreuung in der letzten Lebens-
phase kann oder muss aus unterschiedlichen Gründen in der Klinik erfolgen. Ein temporärer Aufenthalt kann zur Entlastung der Eltern zu Hause oder zur Krisenintervention dienen. Ein langfristiger Aufenthalt kann aufgrund einer komplexen Pflegesituation oder schwieriger psychosozialer Verhältnisse notwendig sein. Bei akuter Verschlechterung innerhalb einer Behandlung mit kurativem Ansatz, z. B. Stammzelltransplantation, ist in der Klinik neben einer vertrauten, spezialisierten onkologischen Station, auch die Intensivstation ein Ort, an dem eine palliative Betreuung notwendig werden kann. Um den Kernpunkten von Palliative Care ( Abschn. 90.1, ACT Charter) gerecht zu werden, sollten v. a. die folgenden Aspekte – auch auf einer Intensivstation – Beachtung finden: ▬ interdisziplinäres Betreuungskonzept, ▬ regelmäßige Gesprächsrunden, ▬ klare Zuständigkeiten (Bezugspflegende, Bezugsarzt), ▬ Einbezug des Kindes und seiner Familie in Entscheidungen, ▬ fortlaufende Evaluation und Anpassung der Behandlungsmaßnahmen, ▬ Privatsphäre für das Kind, den Jugendlichen und die Familie, ▬ könnte das Kind – auch nur für einige Stunden – nach Hause?
90.5
Kommunikation und Gesprächsführung
90.5.1 Grundlagen In einer der wenigen empirischen Arbeiten zu diesem Thema (Ellis u. Leventhal 1993) konnte gezeigt werden, dass die Erwartungen der Kinder und Eltern an das medizinische Personal bezüglich der Offenheit des Informationsflusses sehr unterschiedlich sind. Kinder wollen in der Regel größtmöglichste Offenheit, selbst über die Aspekte des Todes; Eltern wollen hingegen größtmöglichste Schonung des Kindes. Der daraus resultierende Konflikt besteht nicht erst beim Übergang von kurativer zu palliativer Therapie, sondern beginnt schon mit der Diagnoseeröffnung (Di Gallo 2000; Topf 1997). Es folgert daraus, dass die Frage »Wie spreche ich mit einem sterbenden Kind?« zu kurz gegriffen ist. Vielmehr muss die Frage lauten: »Wie ermögliche ich von Beginn der Behandlung an einen offenen Dialog mit dem Kind und den Angehörigen auch über den gefährlichsten Aspekt der Erkrankung?« (Topf et al. 1997). Prinzipien der Kommunikation: Offener Dialog: Das Kind muss von Anfang an spüren, dass alle Fragen gestellt werden dürfen. Kontinuierlicher Gesprächsprozess: Der Dialog sollte regelmäßig und in Abhängigkeit der medizinischen Notwendigkeit gesucht werden. Selbstbestimmung: In der antizipatorischen Trauerarbeit beschäftigt sich das Kind immer wieder mit dem eigenen Sterben und wählt selbst die Person und den Zeitpunkt des Gesprächs aus. Gespräch mit dem Kind allein: Dem Kind Gelegenheit geben, unabhängig von den Eltern Fragen zu stellen, da Kinder versuchen, ihre Eltern zu schonen. Kinder »lesen« in den Gesichtern: Kinder sind sich über ihre Lage in der Regel bewusst, auch wenn es keinen aktiven Dialog gegeben hat. Es sollte deshalb bald das Gespräch mit dem Kind gesucht werden, wenn sich die medizinische Realität verändert. Über den Tod sprechen: Eltern trauen sich oft nicht, von selbst Aspekte um den Tod des Kindes anzusprechen. In der Sterbebegleitung des Kindes sollte den Eltern immer wieder Raum gegeben werden, Phantasien über das Kommende anzusprechen. Geschwisterkinder: Sie sollten punktuell zu den Gesprächen geladen werden, und ihnen psychologische Hilfestellungen angeboten werden. Trauerbegleitung: Über den Tod des Kindes hinaus sollte den Angehörigen eine psychosoziale Unterstützung angeboten werden.
90.5.2 Gesprächsführung und Gesprächsrahmen Das Gespräch mit einem schwerkranken bzw. sterbenden Kind ist eine Herausforderung und stellt höchste Ansprüche an die gesprächsführende Person. Das oberste Ziel jeder Gesprächsführung sollte sein, dass der Patient oder Angehörige Vertrauen gewinnt und Sicherheit darüber erlangt, dass
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Wissen nicht vorenthalten wird. Die folgenden Punkte sind als Anregungen zu verstehen, da jedes Gespräch individuell geführt werden muss und seine eigene Dynamik entwickelt. ▬ Aufklärungsgespräch mit dem Kind über die Aspekte der Krankheit schon bei der Diagnoseeröffnung und nicht erst beim Übergang von kurativer zu palliativer Therapie! ▬ Einfühlsame Mitteilung der Diagnose. ▬ Verständliche und einfache Mitteilungen machen. ▬ Bei kleineren Kindern: Anschaulichkeit mittels Zeichnungen, Videos usw. herstellen. ▬ Überprüfen, ob Informationen angekommen sind. Beachte: Eltern und Kinder stehen in der Regel unter Schock und sind deshalb in ihren Denkfähigkeiten angegriffen! ▬ Keine vorschnelle Beantwortung von schwerwiegenden Fragen des Kindes. Zuerst sollte nach der Bedeutung der Frage für das Kind Ausschau gehalten und dann erst geantwortet werden. ▬ Altersentsprechende und dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechende Aufklärung. ▬ Vor der Mitteilung einer entscheidenden Neuigkeit (z. B. einer schlechten Nachricht) sollte man das Kind bzw. die Eltern selbst über den bisherigen Stand der Informationen berichten lassen, um den jeweiligen Standort zu erfahren. ▬ Bei der Übermittlung von »schlechten Nachrichten« an das Kind sollte man die Eltern nicht allein lassen, sondern aktive Hilfestellungen geben. Am besten sollte das Gespräch mit dem Kind von ärztlicher Seite im Beisein von einem Elternteil geführt werden. 90.6
Phasenspezifische Probleme in der Betreuung
90.6.1 Von der kurativen zur palliativen Therapie Während die Kinder und die Eltern bis zu dieser Phase ein Team waren, welches gemeinsam ein Ziel hatte – nämlich das Überleben des Kindes – teilt sich in dieser Phase die Familie: Ein Teil des Teams – das Kind – wird sterben, der andere Teil des Teams – die Eltern, Geschwister usw. – wird weiterleben müssen. Häufig geht diese Übergangsphase für das Kind, den Jugendlichen und die Eltern mit einer großen Enttäuschung einher und kann zu einem Vertrauensverlust gegenüber den behandelnden Ärzten führen. Viele Familien haben das Gefühl, ihrem Kind würden wirksame Therapien vorenthalten, es sei noch nicht alles versucht worden. Dies kann auch von Geschwistern sehr stark so empfunden werden – und es ist wichtig, hierüber Kenntnis zu haben. Die Vorstellung, dass nach einer Behandlung mit einer realen Hoffnung auf Heilung keine Therapieoptionen mehr zur Verfügung stehen, scheint unfassbar. Zur Bewältigung dieser Situation sind ausführliche, interdisziplinäre Gespräche, eventuell Zweitmeinungen in anderen Kliniken und eine klare, verständnisvolle Führung der Familie, einschließlich der Geschwister, notwendig. Gelegentlich können auch mildere Behandlungen fortgeführt werden, um eine Stabilisierung des Zustandes des Kindes zu erreichen und zu vermitteln, dass die weitere Be-
treuung nicht aus »Nichtstun« besteht. Häufig gelingt damit der Übergang in die neue Betreuungsphase. 90.6.2 Phase der palliativen Betreuung Körperliche Beschwerden können in dieser Behandlungsphase für das Kind, den Jugendlichen, seine Geschwister, Eltern und Betreuungspersonen eine besondere Belastung darstellen. Im Vordergrund stehen hierbei schwer zu behandelnde Schmerzen, die auch unkonventionelle und v. a. interdisziplinäre, sehr individuell zu gestaltende Therapiekonzepte notwendig werden lassen. Psychologisch betrachtet steht die reale Trennungsangst des Kindes im Mittelpunkt. Das Sterben hämato-/onkologisch kranker Kinder hat viele Facetten und man muss darauf achten, dass man nicht in idealisierende Normen verfällt. Es ist nämlich ein Unterschied, ob ein Kind langsam und bei vollem Bewusstsein zu Hause im Schoß der Familie oder auf der Intensivstation im Koma stirbt. Generell sind Trennungsangst und Tod eng miteinander verbunden. Für Vorschulkinder ist Trennungsangst wahrscheinlich synonym mit Todesangst. Kinder, denen bewusst ist, dass sie sterben werden, entwickeln zeitweilig Angst, dass sie vergessen werden könnten (Niethammer 1999) und vergewissern sich bei ihren nächsten Familienangehörigen, dass dem nicht so ist. Manche Kinder machen Testamente und verteilen ihre wichtigsten Sachen auf ihre Geschwister und Freunde und hoffen so, dass sie in Erinnerung bleiben. Anderen Kindern ist die Religion ein Trost. Sie versprechen den Eltern, dass sie im Himmel auf sie warten werden und mildern auf diese Art, den schrecklichen Moment des endgültigen Abschiednehmens. Andere Kinder wiederum verspüren, dass eine Trennung nicht sein darf, obwohl sie selbst dazu bereit wären. Sie fürchten, dass sie durch ihren Tod mitverantwortlich für eine seelische Katastrophe der Eltern sein könnten. Eine diesbezügliche Aussprache mit den Eltern, z. B. mit dem Versprechen, dass die Eltern auch nach ihrem Tod weiterleben werden, kann diesen Kindern helfen, sich dem Prozess des Sterbens zu überlassen. Manche Kinder sind zwar bei Bewusstsein, sprechen aber nicht über ihren inneren Zustand und das kommende Sterben. Die psychologischen Gründe können dafür sehr verschieden sein und müssen sicherlich individuell betrachtet werden. Tatsache ist aber, dass man jedem Kind sein eigenes Sterben und das »Wie« lassen sollte. Der einzige Grund, doch das Gespräch mit dem Kind in vorsichtiger und einfühlsamer Art und Weise zu suchen, könnte darin liegen, dass es konkret Hinweise gibt, dass die übermächtige Todesangst mit konkreten und unrealistischen Phantasien über das Sterben verbunden sind und es eine Erleichterung für das Kind sein könnte, wenn diese aufgeklärt werden könnten. Es sollte weiter versucht werden, dem Kind angemessene Beschäftigung zu ermöglichen. Es wird manchmal übersehen, dass im Sterben befindliche Kinder noch immer sehr leistungswillig sind und weiterhin im schulischen Bereich integriert sein wollen. Oft brauchen sie die schulische Realität besonders, da sie dadurch vom Sterben abgelenkt sind. Eine individuelle Begleitung des Kindes durch alle Beteiligten ist in all den erwähnten Situationen notwendig. Es
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
ist wichtig, sich in der Begleitung des sterbenden Kindes im Team und mit den Angehörigen regelmäßig auszutauschen, damit man realitätsgerechte Vorstellungen über den inneren Zustand des Kindes entwickeln kann. Kinder generell – und sterbende Kinder insbesondere – suchen sich die Personen im Team und in der Familie in der Regel aus, mit denen sie über ihre Sorgen und Ängste sprechen wollen. Flexibilität und eine reife Teamkultur sind notwendig, damit das Kind im Mittelpunkt steht und nicht eigene Interessen der Betreuer. 90.6.3 Terminalphase: Sterbebegleitung
VI
Rückt der Tod unmittelbar heran, treten körperliche Beschwerden in den Hintergrund. Es werden zum Teil weniger Schmerzmittel benötigt, was jedoch nicht dazu verleiten sollte, dem Kind Medikamente vorzuenthalten. Die engsten Angehörigen sollten ermutigt werden, sich um das Kind zu versammeln, damit sie sich verabschieden können. Was in den letzten Stunden wirklich vor sich geht, ist individuell sehr verschieden. Manche Kinder verabschieden sich aktiv von den Eltern, manche nicht. Klinisch psychologisch ist die letzte Zeit geprägt von der Angst vor Desintegration. Unter der Annahme, dass das sterbende Kind bewusstseinsfähig ist und von seinem Alter und Reifegrad in der Lage ist, den kommenden Tod zu begreifen, zeigen sich bei manchen Kindern manifeste Ängste vor psychischem Zerfall. Mit dem Voranschreiten des Sterbens ziehen die Kinder sich immer mehr auf ihr Selbst zurück und geben die Objektwelt auf. Dadurch übernimmt die innere Welt die Führung. Die Abwehrorganisation zerfällt weitgehend (Bürgin 1981) und Phantasmen überschwemmen das Ich des Kindes. Als Vergleich kann der Schlaf und der Traum herangezogen werden. Am Ende des Sterbeprozesses erfolgt ein Versinken in die innere Welt. Eltern begleiten diese letzten Minuten oft mit den Worten: »Ich lasse Dich gehen!« und spüren, dass ihr Kind sich ihnen entzieht. Für Eltern, die aufgrund der medizinischen Situation mit ihrem Kind nicht über den nahenden Tod sprechen und sich nicht aktiv verabschieden konnten, entsteht dadurch in der Regel eine quälende Lücke. 90.6.4 Die Zeit danach: die Eltern und Geschwister Für das betreuende Team ist es wichtig, sich über Trauerprozesse bewusst zu sein, und die Betreuung der Familie nicht mit dem Tod des Kindes als abgeschlossen zu erachten. Trauer ist der Ausdruck eines realen oder möglichen Verlustes eines in der Regel geliebten Menschens und mit einer großen Breite an unterschiedlichen Gefühlen und Verhaltensweisen verbunden. Trauern ist krisenhaft; es ist ein Weg, den jeder selber gehen muss und den niemand für einen anderen gehen kann. Der Vorgang des Trauerns wird auch mit Trauerarbeit beschrieben (Freud 1915a) und meint den inneren seelischen Vorgang, der auf den Verlust eines Beziehungsobjekts folgt. Erst durch diese innere Arbeit kann es gelingen, dass sich der Trauernde von diesem löst und für neue Beziehungen bereit ist. Diese Ablösung bedeutet, dass die Erinnerungen und Hoffnungen an den ehemals geliebten Menschen durchgearbeitet und neu bewertet werden müssen. Dieser Vorgang ist sehr schmerzhaft, kann Monate bis
Jahre dauern und auch misslingen. Es ist von mehreren Autoren (Bowlby 1983; Kast 1982) der Versuch gemacht worden, den Verlauf von Trauerprozessen zu typisieren. Ähnlich ist allen Beschreibungen, dass der Bogen gespannt wird von einer Phase der Betäubung und des Schocks, der aufbrechenden Emotionen hin zu einem zunehmenden Grad der Strukturierung und Neuorganisation. Worden (1986) meint, dass der Trauerprozess vorläufig abgeschlossen ist, wenn nicht jede Erinnerung schmerzhafteste Gefühle auslöst und sich die betreffende Person wieder dem Leben zugewandt hat. Von den Berichten der »verwaisten« Eltern und Geschwister weiß man allerdings, dass der Verlust eines Kindes für die Eltern für immer eine Narbe im Seelischen hinterlässt (Schiff 1990; Holzschuh 2000). Einer der Gründe für das Misslingen der Trauerarbeit dürfte in der Intensität des Schmerzes der Trennung liegen; die seelische Kapazität und die Leidensfähigkeit der inneren Struktur kann dadurch leicht überfordert werden. Ein Vermeiden der Trauerarbeit (Lindemann 1985) ist die Folge, was zu besonderen psychischen Abwehrmanövern zwingt. Man unterscheidet deshalb zwischen normaler, neurotischer und psychotischer Trauer bzw. Trauerreaktionen, welche durch Abstufungen gekennzeichnet sind. Differenzialdiagnostisch lässt sich pathologische Trauer nicht allein an den unten beschriebenen Symptomen abgrenzen, sondern es müssen psychopathologische Vorbelastungen des Trauernden, das Ausmaß an Ambivalenz in der Beziehung zum Verstorbenen, das Bewältigen der antizipatorischen Trauerarbeit, die Unterstützung durch die Familie und professionelle Helfer nach dem Todesfall, die Art und Umstände des Todesfalles mitberücksichtigt werden. Faktoren für ein Gelingen der Trauerarbeit (Rimbault 1981): Die Liebe zum Kind muss stärker gewesen sein als die aggressiven Aspekte in der Beziehung. Dieses Verhältnis entscheidet über das Ausmaß und die Qualität der Schuldgefühle. Die trauernde Person muss selbst eine gewisse Reife in der inneren Entwicklung erreicht haben, damit der eigene Tod und der Tod eines anderen Menschen akzeptiert werden können ( Abschn. 90.2.1). Frühere Verlustsituationen sollten ausreichend bewältigt worden sein, damit es nicht zu einer dramatischen Reaktivierung dieser Trennungssituationen kommt.
Bei der normalen Trauer kommt es zu einer Fülle an Symptomen, die unterschiedlich lange und intensiv sein können, aber mit der Zeit abklingen. Dazu zählen: ▬ körperliche Symptome: Übelkeit, Überaktivität des autonomen Nervensystems, Herzklopfen, Schlafstörungen, Müdigkeit, Schwindelanfälle, Gewichtszu- oder -abnahme, Diarrhö usw., ▬ seelische Symptome: Schock, Rastlosigkeit, Weinen, Angstgefühle, Aggressionen, Wut, Desinteresse, Konzentrationsstörungen, Apathie, Verleugnung usw., ▬ soziale Symptome: Rückzug von Menschen, Aufgabe von Freundschaften und
1121 90 · Palliative Betreuung und Behandlung
▬ spirituelle Symptome: Zweifel an seinem Glauben, Sinnentleerung usw. Medikamentöse psychopharmakologische Unterstützung sollte in der Regel nicht erfolgen. Als sehr hilfreich haben sich Selbsthilfegruppen erwiesen, in denen die Trauer frei geäußert werden kann und die betroffenen Eltern Verständnis erwarten können. Bei der neurotischen Trauer wird die Loslösung aufgrund heftiger, zum Teil unbewusster ambivalenter Gefühle zum verlorenen Menschen erschwert und die Trauerarbeit misslingt. Die Folge sind meistens längerfristige Depressionen. Aggressionen und damit einhergehende, bewusste und unbewusste Schuldgefühle werden nicht gegen den verlorenen, geliebten Menschen gewandt, sondern werden aufgrund innerer Konflikte gegen das eigene Selbst gerichtet. Bei den psychotischen Trauerreaktionen ist eine Loslösung für den betreffenden Menschen aufgrund schwerster Ambivalenzen mit einhergehenden exzessiven unbewussten Schuldgefühlen nicht möglich. Durch Regression auf entwicklungsgeschichtlich frühe Abwehrmechanismen wie z. B. massive Spaltung, Verleugnung, Introjektion oder Projektion werden die schweren inneren Konflikte und die damit verbundenen unerträglichen seelischen Schmerzen abgewehrt. Reichen diese Abwehrmanöver nicht aus, um den inneren Schmerz zu reduzieren, wird als nächster Schritt der Unterschied zwischen Innen- und Außenwelt aufgehoben und es kommt zu einem partiellen Verschmelzen von Selbst- und Objektrepräsentanzen, die in Verbindung mit dem Verstorbenen stehen. Rimbault (1981) schreibt dazu: »Er (das tote Kind) ist ich, ich bin er. Ich bin der Tote!« Die Folge sind in der Regel schwerste Einbrüche in der Realitätsprüfung und manchmal auch agitierte Selbstmordversuche, die das Ziel haben, zum geliebten, aber toten Kind zu kommen. Psychotherapeutische und/oder medikamentöse Hilfestellungen sollten bei neurotischen und psychotischen Trauerreaktionen empfohlen werden.
Ausgehend von den entwicklungspsychologischen Aspekten der Themen »Sterben« und »Tod« wird auf das Verhältnis von realem und phantasiertem Tod in der Begleitung von krebskranken Kindern eingegangen. Die medizinischen Aspekte des Sterbens sowie die Möglichkeiten der Behandlung der entsprechenden Symptome werden im Mittelteil dargelegt. Von den möglichen Rahmenbedingungen der Sterbebegleitung, über Fragen zur Gesprächsführung und Kommunikation und phasentypischen Problemen in der Begleitung spannt sich der inhaltliche Bogen. Den Abschluss bildet die psychosoziale Situation der Angehörigen nach dem Tod des Kindes.
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90
1122
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
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VI
1123
Ethische und juristische Aspekte D. Niethammer
91.1 91.2 91.2.1 91.2.2 91.2.3 91.2.4
Einleitung – 1123 Ethische Fragen – 1123 Aufklärung – 1123 Autonomie des Patienten – 1124 Therapieabbruch – 1124 Sterbebegleitung – 1124
91.3
Juristische Fragen
91.3.1 91.3.2 91.3.3
Therapiestudien – 1124 Therapieverweigerung – 1125 Aktive Sterbehilfe – 1125
Literatur
– 1124
– 1126
sie ausgelösten Diskussion um die Hirntodkriterien, die Invitro-Fertilisation mit der dadurch möglich gewordenen Präimplantationsdiagnostik oder die verbrauchende Embryonenforschung genannt. Solche grundlegenden Fragen spielen aber in der pädiatrischen Onkologie im Alltag allenfalls am Rande eine Rolle, z. B. dann, wenn es um die Verwendung Minderjähriger als Knochenmarkspender oder wenn es um die aktive Sterbehilfe geht. Weit mehr muss es bei unserem ärztlichen Handeln um das medizinische Ethos gehen, auf dem unsere tägliche Arbeit basiert und auf das daher im ersten Abschnitt über ethische Fragen auch das Hauptaugenmerk gerichtet werden soll.
91.2 Der Themenbereich Sterbehilfe und Sterbebegleitung wird auf ethischer Ebene ebenso häufig wie kontrovers diskutiert. Dieses Kapitel soll vor dem historischen und kulturellen Hintergrund zeigen, wie sich in der Pädiatrie das einstige Tabuthema Sterben und Sterbebegleitung in den letzten Jahren verändert hat und heute unter dem Aspekt der Offenheit einen völlig anderen Platz einnimmt.
91.1
Einleitung
In diesem Kapitel werden 2 Bereiche zusammengefasst, die durchaus miteinander diskutiert werden können, v. a. dann, wenn es um Sterbehilfe und Sterbebegleitung geht. Trotzdem sollen im ersten Teil vorwiegend ethische Fragen diskutiert werden, während sich der zweite Teil mit den juristischen Problemen befasst. Es soll aber hier auch gleich vorausgeschickt sein, dass sich viele Fragen, die landläufig als ethisch apostrophiert werden, in Wirklichkeit mit dem eigentlichen ärztlichen Handeln befassen, also mit dem ärztlichen Berufsethos an sich. Das medizinische Ethos wendet nur allgemeingültige moralische Grundsätze auf die besonderen Aufgaben des Arztes an. So ist das medizinische Ethos seit Hippokrates v. a. ein Ethos des Helfens und Heilens, d. h. das Wohlergehen des Patienten ist das oberste Gesetz (salus aegroti suprema lex). Der zweite Grundsatz gebietet, keinesfalls zu schädigen (primum nil nocere). Und ein dritter (moderner) Grundsatz kommt hinzu, nämlich den Patienten niemals gegen seinen Willen und ohne entsprechende Aufklärung (Autonomie des Patienten im Gegensatz zum früher geübten Paternalismus des Arztes) zu behandeln. Mit einer derartigen Ethik ist die Medizin bis in die Neuzeit gut ausgekommen. Heute muss sie sich aber mit vielen Fragen auseinandersetzen, für deren Beantwortung das allgemeine medizinische Ethos nicht mehr ausreicht. Hier seien nur als Beispiel die Transplantationsmedizin mit der durch
Ethische Fragen
91.2.1 Aufklärung Während es sicher keinen Dissens bei der Tatsache gibt, dass die Eltern eines kranken Kindes über die Natur der Erkrankung, deren Konsequenzen für das Kind und die Behandlungsmöglichkeiten ausführlich aufgeklärt werden müssen und zu deren Behandlung grundsätzlich das Einverständnis der Eltern eingeholt werden muss, besteht noch immer keine Einigkeit darüber, wie umfassend die Kinder selbst aufgeklärt werden sollen. Zu Beginn der Entwicklung der Kinderonkologie in den 70er-Jahren war es allgemeiner Standard der Kinderheilkunde, Kinder und Jugendliche nicht über die Art oder den Ernst ihrer Erkrankung aufzuklären oder mit ihnen gar über die Möglichkeit des Sterbens oder den Tod zu reden. Man glaubte damals, dass Kinder über solche Dinge nicht nachdenken und übersah völlig, dass den Kindern allein schon die offensichtliche Angst der Eltern den Ernst der Lage deutlich machte. Die Konsequenz war, dass die Kinder und Jugendlichen mit niemandem über ihre Ängste reden konnten und dass sie weitgehend schweigend starben, ohne Möglichkeit, mit ihren Eltern zu reden oder sich gar von ihnen zu verabschieden. ! Heute sollte es das oberste Gesetz sein, niemals einen Patienten zu belügen, auch wenn es noch so schwer fällt.
Wenn die Kinder und Jugendlichen verstanden haben, dass sie sich auf das Einhalten dieses Grundsatzes verlassen können, wird es für sie möglich, die ganze Tragweite ihrer Erkrankung zu verstehen und sich konsequent damit auseinander zu setzen. In der Vergangenheit gab es lange Diskussionen darüber, in welchem Alter ein Kind beginnt, über den Tod nachzudenken. Wir sollten akzeptieren, dass das schon bei einem 4-Jährigen der Fall ist, wenn er mit einer entsprechenden Situation konfrontiert ist. Nicht immer spiegeln die kommunikativen Fähigkeiten genau das wider, womit sich
91
1124
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
ein Kind beschäftigt. Wir sollten aber davon ausgehen, dass sich Kinder über alles, was sie selbst betrifft, ganz intensiv Gedanken machen und häufig auch darüber reden wollen. Und nur dann, wenn wir einem Kind auch mitteilen, dass alle Behandlungsversuche erfolglos waren und es sterben muss, werden wir erleben können, wie sich die Kinder damit auseinandersetzen und wie sie Abschied nehmen können. 91.2.2 Autonomie des Patienten ! Die heute allgemein akzeptierte Autonomie des Patienten gilt auch für Kinder und Jugendliche.
VI
Heute geht man davon aus, dass schon ein 7- oder 8-jähriges Kind sehr wohl in der Lage ist, für es selbst wichtige Entscheidungen zu treffen und über deren Konsequenzen sachgerecht zu urteilen. Das setzt voraus, dass die Kinder entsprechend aufgeklärt sind. Allerdings gibt es keine scharfe Altersgrenze dafür und es muss dem jeweils betreuenden Arzt überlassen werden, zu entscheiden, ob und wie weit er ein Kind in grundsätzliche Entscheidungen (z. B. auch über einen Therapieabbruch) einbezieht. Jugendliche sollten auf jeden Fall auch dadurch beteiligt werden, dass sie zusammen mit den Sorgeberechtigten das jeweilige Formular unterschreiben. Das gilt ganz besonders auch für eine experimentelle Therapie.
benötigt werden, die jetzt zu diesem Zeitpunkt ebenso wichtig sind, wie es bisher die Therapieprotokolle waren. In der Regel wollen Kinder und Jugendliche zu Hause sterben. Im Einzelfall entscheiden sie sich aber auch dagegen, und man sollte sie dabei unterstützen. Entscheidet sich ein Kind dazu, in der Klinik zu sterben, braucht es ganz besonders die Unterstützung durch das behandelnde Team. In jedem Fall aber sind regelmäßige Einbestellungen zu Kontrollen notwendig, solange die Patienten das nicht ablehnen ( Kap. 86 und 90). Das Angebot, sich nur bei Bedarf wieder vorzustellen, vermittelt oft den Eindruck, dass die Klinik den Abbruch des Betreuungsverhältnisses wünscht. Regelmäßiger telefonischer Kontakt während der eigentlichen Sterbephase und das Angebot, dass die Eltern zu jeder Tages- und Nachtzeit bei Problemen anrufen können, sind ebenso fundamental notwendig, wie das Angebot, das Kind zu jeder Zeit wieder stationär aufzunehmen, wenn zu Hause Probleme auftreten, die dort nicht gelöst werden können. Schließlich muss man aktiv dazu beitragen, den Dialog zwischen dem sterbenden Kind und seinen Eltern zu stimulieren und aufrecht zu halten. Nur dann ist das Kind in der Lage, über seine Ängste zu reden und auch für es in dieser Situation wichtige Fragen zu stellen, z. B.: Tut Sterben weh? Werde ich beim Sterben allein sein? Was kommt danach? Wird man mich vergessen? 91.3
Juristische Fragen
91.3.1 Therapiestudien 91.2.3 Therapieabbruch Ist evident, dass keine weitere effektive Therapie denkbar ist, gibt es nur 2 Alternativen: Die Beendigung aller Therapieversuche oder aber eine (allerdings wissenschaftlich fundierte) experimentelle Therapie. Die Fortsetzung einer offensichtlich nicht wirksamen Therapie ist auf keinen Fall akzeptabel. Auch darüber muss mit den Eltern und dem Kind ein offenes Gespräch geführt werden. Verständlicherweise wollen Eltern ungern aufgeben, so dass sie in einer solchen Situation häufig eine Fortsetzung der Therapie fordern. Hier muss es jedoch in erster Linie darum gehen, den richtigen Weg im Interesse des Kindes zu finden. Offensichtlich nicht wirksame Therapien sollten unterbleiben, nur im Einzelfall kann es manchmal sinnvoll sein, mit dem Kind noch einen (letzten) Versuch zu machen. Zumeist dient dies aber viel eher dem Zweck, die Eltern von der Ausweglosigkeit zu überzeugen. 91.2.4 Sterbebegleitung ! Die Behandlung und Betreuung eines krebskranken Patienten hört nicht mit der Beendigung der therapeutischen Bemühungen auf, sondern erst mit dessen Tod. Die Betreuung der Angehörigen muss jedoch auch noch darüber hinaus fortgeführt werden.
Das heißt, dass auch für diesen letzten Abschnitt des Lebens Konzepte für die Betreuung der Kinder und ihrer Familien
Die deutsche Kinderonkologie hat ihre großen Erfolge durch die konsequente Erarbeitung und Durchführung von multizentrischen Studien erzielt, bei denen es sich überwiegend um Therapieoptimierungsstudien (TOS) und nicht um Zulassungsstudien (Phase I–III) im Sinne des Arzneimittelgesetzes handelt ( auch Kap. 56). Grundsätzlich sind Ärzte bei der Anwendung von Medikamenten nicht an deren Zulassung gebunden. Das ist in der Kinderonkologie für die überwiegende Zahl der verwendeten Chemotherapeutika der Fall. Über diese Tatsache müssen Patienten und Eltern jedoch (leider) aufgeklärt werden. Wird andererseits ein für Kinder nicht zugelassenes Medikament nicht eingesetzt, obgleich die Fachliteratur die Wirksamkeit belegt, kann die Unterlassung zu Schadenersatzforderungen führen. Bei der Entscheidung zur Behandlung von Kindern bedarf es ohne Zweifel der besonderen Sorgfalt und Prüfung durch den Kinderarzt. Auf keinen Fall aber darf die Tatsache, dass ein Medikament nicht zugelassen ist, zu einer Unterversorgung der kindlichen Patienten führen. Bei Heilversuchen handelt es sich um Einzelfallbehandlungen außerhalb gesicherter medizinischer Erkenntnisse. An die Dokumentation sind erhöhte Anforderungen zu stellen. Sie bedürfen nicht der Zustimmung einer Ethikkommission. Das gilt allerdings nicht mehr für eine kleine Serie gleichgearteter Heilversuche (Pilotstudien) oder gar für die TOS, bei denen sich die Untersucher von der für sie zuständigen Ethikkommission ethisch und juristisch beraten lassen müssen. Dies basiert auf Bestimmungen in den Berufsordnungen und nicht, wie bei den Zulassungsstudien, auf Vorschriften des Arzneimittelgesetzes.
1125 91 · Ethische und juristische Aspekte
Bei den in der Kinderonkologie durchgeführten Studien handelt es sich überwiegend um Therapieoptimierungsstudien. Sie werden mit bekannten Medikamenten, aber mit modifizierter Dosierung oder geänderter Applikationsart oder in Kombination mit anderen Medikamenten durchgeführt. Sie unterliegen nicht den Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes. Aber auch für deren Durchführung ist eine Beratung durch eine Ethikkommission unerlässlich. Leider schreiben die Berufsordnungen der Landesärztekammern immer noch vor, dass multizentrische Studien allen für die teilnehmenden Kliniken zuständigen Ethikkommissionen vorgelegt werden müssen, was bei unterschiedlichen Beurteilungen gelegentlich zu erheblichen Behinderungen führen kann. Das alleinige Votum der für die Studienzentrale zuständigen Ethikkommission reicht bislang in Deutschland nicht aus. Durch die Richtlinie 2001/20/EG des europäischen Parlamentes sollen die Regeln der guten klinischen Praxis (GCPGuidelines) in den Mitgliedsstaaten vereinheitlicht werden. Die qualitätssichernden Aspekte beziehen sich vor allem auf den Probandenschutz (Vorschreibung der Probandenversicherung) und schließen Regelungen zur Sicherung der Prozessqualität und der Ergebnisqualität mit ein (Definition der Verantwortlichkeit von Auftraggeber (Sponsor) und Prüfärzten zur Biometrie, zur Qualitätssicherung und zum Prüfplan). In der Bundesrepublik Deutschland wird und wurde im Rahmen des Kompetenznetzwerkes bereits an einer Anpassung gearbeitet ( www.kompetenznetz-paed-onkologie.de), ähnliches geschieht in Österreich (mail-adresse: agpho@ccri. univie.ac.at). Das angestrebte Ziel ist, dass nur mehr ein Votum, nämlich das der federführenden Ethikkommission (nach Einbezug der beteiligten Ethikkommissionen) an den Sponsor und an die Bundesoberbehörde ergeht. ! Die Teilnahme an einer TOS ist jedem Arzt freigestellt. Er darf aber nicht übersehen, dass in der deutschen Kinderonkologie die zahlreichen TOS längst Therapiestandard geworden sind, so dass es schwer fallen kann, die Nichtteilnahme an einer Studie oder die Nichteinhaltung der darin definierten diagnostischen und therapeutischen Richtlinien zu begründen. Das gilt v. a. dann, wenn über Abweichungen oder Nichtteilnahme nicht aufgeklärt wurde.
Bei dem großen Erfahrungsschatz der TOS ist es aber auch ethisch problematisch, wenn ein kinderonkologisch tätiger Arzt die generelle Teilnahme an einer oder gar allen Studien ablehnt. Das bedeutet nicht, dass im Einzelfall gute Gründe bestehen, von einem solchen Vorgehen abzuweichen. Darüber muss aber aufgeklärt werden. 91.3.2 Therapieverweigerung Während Erwachsene jede Therapie für sich ablehnen können, ist die Situation in der Kinderonkologie komplex. Handelt es sich um eine akut lebensrettende Maßnahme, wie eine Bluttransfusion, die z. B. von Mitgliedern der Zeugen Jehovas abgelehnt wird, so hat die Rettung des kindlichen Lebens Priorität vor dem Willen der Eltern. Ist der Arzt von der absoluten Notwendigkeit einer solchen Maßnahme überzeugt,
bedarf es grundsätzlich keiner vorherigen Zustimmung eine Vormundschaftsgerichts. Häufig bleibt in solchen Situationen für ein solches Vorgehen auch gar keine Zeit. Der Arzt sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass er die lebensrettende Notwendigkeit eventuell später vor Gericht belegen muss. Problematischer ist die Situation, wenn Eltern eine erfolgversprechende Krebstherapie für ihr Kind grundsätzlich ablehnen. Nicht immer geschieht dies aus purer Ignoranz. Die Ursachen können in schlechten Erfahrungen bei der ärztlichen Behandlung eines anderen Familienmitglieds oder in einer inkompetenten Beratung durch eine Vertrauensperson liegen. Hier muss zunächst alles versucht werden, die Eltern zum Umdenken zu bewegen, ohne sie unter Druck zu setzen. Die Beantragung auf Entziehung des Sorgerechts bei Gericht sollte die »ultima ratio« bleiben. Besonders schwierig ist die Situation dann, wenn die Heilungschancen auch mit der geplanten Behandlung nicht sehr gut sind, wie z. B. bei einem 2-jährigen Kind mit Neuroblastom Stadium IV; im Gegensatz zu Kindern mit Morbus Hodgkin oder einer ALL mit Standardrisiko, bei denen die Therapie als lebensrettende Maßnahme klassifiziert werden kann. Hier ist im Einzelfall die Einschaltung eines Gerichts angezeigt, wobei man sich aber vorher mit den Konsequenzen für die Familie sehr sorgfältig auseinandersetzen muss. Ältere Kindern und besonders Jugendliche müssen in die Gespräche und Entscheidungen unbedingt mit einbezogen werden. Verweigern die Eltern das, müsste dies eventuell ebenfalls auf dem Gerichtsweg erzwungen werden. ! Eine Verweigerung der Therapie für ihr Kind durch die Eltern ist stets ein schwieriges Problem. Dafür gibt es nur bei akuten Notfällen klare Regeln. In allen anderen Fällen bedarf es einer Einzelfallentscheidung, die mit viel Fingerspitzengefühl und ärztlicher Zuwendung, in der Regel unbedingt unter Hinzuziehung anderer kompetenter Kollegen, getroffen werden sollte.
91.3.3 Aktive Sterbehilfe Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland generell nicht erlaubt. Die Aufgabe des Arztes ist es, nicht zu töten, sondern zu heilen – und wenn das nicht mehr möglich ist – zu lindern. Dabei ist man unter Umständen gezwungen, die Morphiumdosis zur Schmerzlinderung derartig zu steigern, dass dadurch eine Verkürzung des Lebens um Stunden oder eventuell sogar Tage verursacht wird. Hierbei handelt es sich um eine ärztliche Entscheidung im Sinne des Patienten, bei der eine mögliche Nebenwirkung der notwendigen Therapie unter Berücksichtigung der gegebenen Situation in Kauf genommen wird. Es handelt sich also um eine »Hilfe beim Sterben«, was nicht mit einer aktiven Sterbehilfe durch vorsätzliches Verabreichen einer tödlichen Injektion verwechselt werden darf. Manchmal ist es für die Eltern schwer zu ertragen, wenn sich der Sterbeprozess bei ihrem Kind sehr lange hinzieht und sie eigentlich schon längst von ihm Abschied genommen haben. In solchen Fällen ist es Aufgabe des behandelnden Ärzten, den Eltern diese Zusammenhänge deutlich zu machen.
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Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Der Ruf nach einer aktiven Sterbehilfe durch Eltern oder sterbende große Kinder und Jugendliche ist eine extreme Ausnahme, sofern eine adäquate und umfassende Betreuung die Gewissheit gibt, in dieser schwierigsten Zeit eines Lebens nicht allein gelassen zu werden. Letzteres ist eine ärztliche Aufgabe mit dem gleichen hohen Anspruch, wie die optimale Durchführung einer Therapie.
VI
Bei vielen so genannten ethischen Fragen geht es eigentlich mehr um das »Wie« des ärztlichen Handelns. In diesem Sinne kann zusammengefasst werden, dass man Kinder niemals anlügen darf und dass man sie in vollem Umfang über ihre Erkrankung aufklärt. Die Autonomie des Patienten gilt also für Kinder und Jugendliche in gleichem Maß wie für Erwachsene. In Fällen, in denen alle bisher angewandten Therapieformen versagen, gibt es nur die Möglichkeit, entweder jegliche Therapieversuche zu beenden oder eine wissenschaftlich fundierte experimentelle Therapie anzubieten. Dagegen ist das Angebot einer offensichtlich nicht wirksamen Therapie abzulehnen. Es ist für uns Ärzte wichtig zu akzeptieren, dass die Behandlung und Betreuung eines krebskranken Patienten nicht mit dem Beenden der therapeutischen Maßnahmen aufhört, sondern erst mit seinem Tod. Therapiestudien gehören inzwischen seit vielen Jahren zum Standard der Kinderonkologie. Die Nichtteilnahme an einer Studie oder die Nichteinhaltung der diagnostischen und therapeutischen Richtlinien durch Ärzte ist vor diesem Hintergrund nicht akzeptabel. Zumindest müssen Eltern und Patienten über solche Entscheidungen aufgeklärt werden. Die Verweigerung einer Therapie für ein Kind durch die Eltern ist ein Einzelfallproblem, das eines multidisziplinären Ansatzes, eventuell in Zusammenarbeit mit Juristen bedarf.
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1127
Nachsorge und Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten E. Frey
92.1 92.2 92.3 92.4
Einleitung – 1127 Zusammenarbeit in der Frühnachsorge – 1127 Zusammenarbeit in der Spätnachsorge – 1128 Spätfolgen im frühen und späten Erwachsenenalter – 1128
92.4.1 92.4.2 92.4.3 92.4.4 92.4.5 92.4.6 92.4.7
Adipositas – 1128 Kardiovaskuläre Risikofaktoren – 1128 Osteoporose – 1129 Orthopädische Spätfolgen – 1129 Endokrine Spätfolgen – 1129 Psychische Spätfolgen – 1129 Zweitmalignome – 1130
92.5 92.6
Beeinflussung der Risikofaktoren – 1130 Beratung bezüglich Elternschaft – 1130 Literatur – 1131
Die zunehmende Anzahl der Langzeitüberlebenden und die Behandlung in speziellen Zentren in Distanz zum Wohnort sind Gründe, warum die Entwicklung neuer Kooperationsmodelle mit niedergelassenen Kinderärzten und Allgemeinpraktikern zunehmend notwendiger wird. Auch übersteigt die Behandlung der langfristigen Spätfolgen die pädiatrische Kompetenz.
92.1
Einleitung
Die zunehmenden Kenntnisse über krankheits- und therapiebedingte Spätfolgen führte in den letzten 15 Jahren zur Entwicklung eigener Einrichtungen zur Nachsorge von Kindern und Jugendlichen nach Abschluss der onkologischen Therapie, die je nach Erfordernis aus Chemotherapie, Strahlentherapie, chirurgischen Maßnahmen oder einer Stammzelltransplantation bestand. Die Spezialambulanz für die Nachsorge ist meist Teil eines onkologischen Behandlungszentrum oder arbeitet in enger Kooperation mit diesem; sie wird in der Regel von pädiatrischen Onkologen geführt. Diese Nachsorgesprechstunden haben eine deutlichen Verbesserung im Erkennen und Behandeln sowohl somatischer als auch psychosozialer Spätfolgen gebracht. Die Vorteile dieser Konzepte sind: ▬ die Information der betreuenden Ärzte über die Charakteristik der onkologischen Erkrankungen und der angewandten Therapiekonzepte und Protokolle, ▬ die Beobachtung von Wachstum und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen und ▬ die Koordination der Behandlung von Spätfolgen mit anderen Spezialdisziplinen der Kinderheilkunde.
Ein besonders wichtiger Aspekt der engen Anbindung der Nachsorgesprechstunde an ein onkologisches Zentrum ist die Erfassung der Spätfolgedaten in Kooperation mit den Therapiestudien sowie die Integrierung dieser Ergebnisse in die Planung zukünftiger Therapieprotokolle. 92.2
Zusammenarbeit in der Frühnachsorge
Die onkologische Betreuung der Patienten während der intensiven Initialtherapie sollte ausschließlich in einem onkologischen Zentrum oder zumindest in einer entsprechenden Klinik erfolgen. Der Kontakt zum niedergelassenen Hausarzt wird dadurch unterbrochen. Ein wichtiges Ziel ist die Wiederherstellung des Kontakts zum ursprünglich vertrauten Kinderarzt, um wieder einen einzigen persönlichen Ansprechpartner für die üblichen pädiatrischen Fragen und Vorsorgeuntersuchungen zu haben. Die Einbindung in die Nachsorgeuntersuchungen unterstützt diese Entwicklung. Die Kontrollen im onkologischen Zentrum können somit zahlenmäßig reduziert und auf Spezialuntersuchungen beschränkt werden. Die Angst vor dem Rezidiv und davor, ob es auch rechtzeitig erkannt wird, steht für die Familien in der ersten Zeit der Nachsorge im Vordergrund. Eine klärende Untersuchung beim Kinderarzt/Hausarzt kann rasch Gewissheit verschaffen. Die Nachsorge der Patienten nach Stammzelltransplantation ist in der Frühnachsorge komplex. Je nach Art der Stammzelltransplantation ist der Zeitpunkt der immunologischen Rekonstitution unterschiedlich, und die Infektanfälligkeit bei manchen ein langandauerndes Problem. Die Problematik der chronischen Graft-versus-Host-Erkrankung und deren Behandlung erfordert ebenfalls ein Spezialwissen, so dass in den meisten Fällen die Frühnachsorge in Händen der Transplantationsspezialisten liegt (Sanders 1994). Impfungen. Bezüglich Impfungen nach Chemotherapie lie-
gen bislang sehr wenige Daten vor. Es gibt länger zurückliegende Impfstudien, die zeigen, dass es bei Kindern mit adäquaten Impfungen vor Beginn der onkologischen Behandlung, anschließend zu einem geringen Verlust der Impfantikörper kommt, diese aber in der Regel im protektiven Bereich liegen. Diese Studien sind aber bei weit weniger intensiven Therapien durchgeführt worden, so dass es nicht klar ist, wie diese Daten auf die heutigen Therapieschemata zu übertragen sind. ! Unter der Annahme, dass 3–6 Monate nach Abschluss der Chemotherapie mit einer normalen Impfantwort zu rechnen ist und aus dem Mangel an rezenten Daten zur Impffrage hat die Qualitätssicherungsgruppe der
92
1128
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) folgende Empfehlung pragmatisch entschieden: Wieder-/Weiterimpfung mit Totimpfstoffen 3 Monate, mit Lebendimpfstoffen 6 Monate nach Beendigung der Chemotherapie (Graubner et al. 2001).
VI
Für Patienten nach allogener oder autologer KMT/SZT empfiehlt die European Group for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) folgende Regelung, die auch im Wesentlichen den CDC-Guidelines entsprechen: Patienten, die nicht an chronischer GVHD leiden und keine immunsupressive Therapie erhalten, können 12 Monate nach KMT/SZT mit Totimpfstoffen geimpft werden, mit Lebendimpfstoffen nach 24 Monaten. Eine Influenza-Impfung wird lebenslang empfohlen, frühestens 6 Monate nach KMT/SZT (Centers for Disease Control and Prevention 2000). 92.3
Zusammenarbeit in der Spätnachsorge
Wenn die Abstände der Kontrollen im onkologischen Zentrum größer werden, steigt die Wichtigkeit der Kontrollen beim Hausarzt. Das Auftreten von späten oder sehr späten Rezidiven wird daher oftmals vom Hausarzt entdeckt. Ein weiterer Aspekt der zunehmend wichtiger werdenden Kooperation mit Hausärzten ist das Auftreten von Spätschäden im Erwachsenenalter (Konsler et al. 1993; Oeffinger et al. 2000, 2001). Das Wissen um solche Spätschäden ist noch nicht sehr umfassend, die bisher publizierten Arbeiten zeigen, dass unsere Erkenntnisse darüber in den nächsten Jahren sprunghaft ansteigen werden. 92.4
Spätfolgen im frühen und späten Erwachsenenalter
Der Beschreibung der derzeit bekannten Spätfolgen werden in diesem Buch ausführliche Kapitel ( Kap. 88 u. 89) gewidmet. In den folgenden Ausführungen werden jene Spätfolgen nochmals herausgegriffen, die eventuell erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden, oder deren Auftreten prinzipiell und v. a. deren Ausprägung durch Faktoren der Lebensführung beeinflusst werden können. Dabei hat der Hausarzt eine entscheidende Aufgabe sowohl in der Diagnostik als auch in der Langzeitberatung zur Lebensführung. 92.4.1 Adipositas Die Bedeutung der Adipositas als Risikofaktor für kardiovaskuläre Risikofaktoren (Hypertonie, Hyperinsulinismus und Diabetes, Hyperlipidämie) sowie für orthopädische Probleme bringt mit sich, dass in den letzten Jahren dem Problem der Adipositas nach onkologischen Erkrankungen wie Hirntumoren oder akuter lymphoblastischer Leukämie mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde (Oeffinger et al. 2001). Der Hypothalamus spielt eine wichtige Rolle in der Appetitregulation. Intrakranielle Tumoren, die in der Nähe der hypothalamo-hypophysären Achse liegen, oder bei deren Therapie diese Achse im Strahlenfeld liegt, können nicht nur
zu endokrinen Ausfällen führen, sondern auch zu Störungen im Essverhalten. Eine Studie an Kraniopharyngeompatienten (Müller et al. 2001) zeigte, dass neben anderen Faktoren die Größe des Tumors und die Beeinträchtigung des Hypothalamus durch ihn ein wichtiger Faktor zur Ausbildung einer Adipositas waren. Bei Kindern, die an akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL) erkrankt waren, liegt der Anteil der Patienten, die 3 Jahre nach Therapieende eine Adipositas hatten bei 38% (Mayer et al. 2000). In einer Studie an schottischen Kindern konnte bei 16% die Entwicklung einer Adipositas ebenfalls 3 Jahre nach Therapieende beobachtet werden (Reilly et al. 2000). Der Anteil an adipösen Kindern bei Therapiebeginn lag in der Tübinger Studie bei 3%, bei den schottischen Kinder unter 2%. Sowohl in diesen beiden Studien als auch in anderen konnten keine präexistenten Risikofaktoren zur Ausbildung einer Adipositas gefunden werden. Im Vergleich zu anderen Nebenwirkungen, die mit der applizierten Strahlentherapiedosis korrelieren, ist für das Auftreten der Adipositas derzeit eher ein Zusammenhang mit den bestrahlten Arealen als der Dosis nachzuweisen. Die Rolle der kraniellen Strahlentherapie für die Ausbildung einer Adipositas ist zur Zeit Gegenstand kontroverser Diskussion. In mehreren Studien wird gezeigt, dass die Radiotherapie einen Einfluss hat. Mayer et al. (2000) fanden 48% adipöse Kinder in der bestrahlten Gruppe, jedoch auch in der unbestrahlten Gruppe fanden sich 21% adipöse ehemalige ALL-Patienten, so dass die Strahlentherapie nicht der alleinige Faktor sein kann. Diese Autoren fanden eine reduzierte metabolische Basisrate, dies konnten Reilly et al. (2000) allerdings nicht nachweisen. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass das Missverhältnis zwischen Energiezufuhr und Energieverbrauch bei Kinder nach ALL-Therapie einem eindeutig reduzierteren Gesamtenergieverbrauch zuzuschreiben ist. Dieser geringere Verbrauch ist durch signifikant geringere körperliche Aktivität bedingt. Die Energiezufuhr war nicht erhöht. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass diese Adipositas eher durch körperliche Aktivität als durch diätetische Maßnahmen zu beeinflussen wäre. Reilly et al. konnten auch zeigen, dass der Nadir der BMIKurve im Kindesalter bei Patienten nach ALL viel früher überschritten wird. Dieser Zeitpunkt ist bedeutend für die Regulation der Energiebalance und die Ausbildung von Adipositas im Erwachsenenalter. Der »adiposity rebound« (Reilly et al. 2001) trat bei den ALL-Patienten signifikant (P>0,001) früher auf (bei 43% der ALL-Patienten und bei 3% in der Kontrollgruppe). Aufgrund der Ergebnisse empfiehlt diese Studie, schon während der ALL-Therapie darauf zu achten, die Gewichtszunahme zu reduzieren und damit das Langzeitrisiko zu senken. ! Die Beratung und die Beeinflussung des Lebensstils dieser Patienten ist eine wichtige Aufgabe des Kinderarztes nach Therapieende, wenn die Kontrollen in der onkologischen Klinik in immer größeren Abständen erfolgen.
92.4.2 Kardiovaskuläre Risikofaktoren Neben der gehäuft auftretenden Adipositas und dem damit verbundenen kardialen Risiko ergeben sich aus weiteren
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Therapiemodalitäten andere kardiale Risikofaktoren. So wurde gezeigt, dass die Bestrahlung des Mediastinums, der Lungen oder knöcherner Thoraxanteile zu frühzeitigen Koronarsklerose führen kann. Die Mehrheit der Risikopatienten hatte vorher einen Morbus Hodgkin, gefolgt von den Patienten mit Thoraxwandtumoren und Patienten mit NonHodgkin-Lymphomen. Die meisten Daten, die ein höheres Risiko für Koronarsklerose und Herzinfarkt von thoraxbestrahlten Patienten belegen, wurden in den Jahren 1990–1993 publiziert (Gustavson et al. 1990; Hancock et al.1993; Orzan et al. 1993; Kap. 51). Jüngere Arbeiten zeigen, dass die neuen technischen Möglichkeiten in der Radiotherapie und das genauere Ausblocken des Herzens das Risiko stark reduziert haben (Glanzmann et al. 1998). Das Risiko ist allerdings nach wie vor deutlich erhöht, wenn es mit anderen Risikofaktoren der Therapie wie Anthrazyklinen oder Risiken der allgemeinen Lebensführung wie Rauchen oder Übergewicht kombiniert ist. Eine Spätfolge, die meist erst im Erwachsenenalter auftritt, ist die anthrazyklininduzierte Kardiomyopathie. Ab einer Gesamtdosis von 360 mg/m2 tritt sie mit großer Wahrscheinlichkeit, bei höheren Dosen regelhaft auf. Zwar tragen die neueren Protokolle diesem Faktum Rechnung; mit der deutlichen Reduktion der Kumulativdosis und der Verlängerung der Infusionsdauer wurde die Inzidenz gesenkt. Doch gibt es viele Erwachsene im 3. und 4. Lebensjahrzehnt, die noch hohe Dosen an Anthrazyklinen erhalten haben und eine entsprechende Betreuung und Beratung benötigen. Auswirkungen der niedrig dosierten Therapie im späten Erwachsenenalter in Kombination mit anderen kardialen Belastungen wie Hypertonie, Adipositas oder Koronarsklerose sind noch großteils unbekannt ( Kap. 88). 92.4.3 Osteoporose Das Erreichen einer ausreichenden maximalen Knochendichte im jungen Erwachsenenalter ist der wichtigste Parameter für das Auftreten von Osteoporose im späteren Erwachsenenalter. Es hat sich gezeigt, dass Osteoporose nicht nur ein Problem für Frauen im Klimakterium, sondern auch zunehmend für Männer ist. Das Maß der Knochendichte zu Beginn des Erwachsenenalters entscheidet darüber, in welchem Alter die Reduktion der Knochendichte klinisch relevant wird (Kaste et al. 2001; Van der Sluis et al. 2002). Vor allem jene Erwachsenen, die in der Adoleszenz an Krebs erkrankten, haben ein Risiko, eine zu geringe maximaler Knochendichte zu entwickeln. Sie können den Verlust an Knochendichte, der durch die Therapie und länger dauernde Immobilisierung bedingt ist, bis zum Erreichen des Alters der maximalen Knochendichte nicht aufholen. Bei spezieller Beachtung und Förderung ist es prinzipiell möglich, die Knochendichte auch über dieses Alter hinaus zu steigern. An erster Stelle stehen körperliche Aktivität sowie die gezielte Zufuhr von Kalzium und Vitamin D. In zweiter Linie kommen Kalzitonin und Bisphosphonate in Frage (Haddy et al. 2001).
92.4.4 Orthopädische Spätfolgen Es gibt 2 Patientengruppen, bei denen mit orthopädischen Problemen im Erwachsenenalter zu rechnen ist. Die Bestrahlung im Wachstumsalter bedingt ein reduziertes Wachstum der inkludierten Areale, was z. B. eine Beinlängendifferenz oder die Entwicklung einer Skoliose bedingen kann. Eine Skoliose kann auch durch Entwicklung einer Weichteilfibrose entstehen. Je jünger die Patienten bei der Strahlentherapie waren, desto ausgeprägter das Wachstumsdefizit. Ähnliches gilt auch für die zweite Gruppe der möglichen Problempatienten, für jene, die im Rahmen der Therapie eines Knochentumors extremitätenerhaltend operativ versorgt wurden (Nagarajan et al. 2002). Je jünger diese bei der Resektionsoperation waren, desto häufiger treten Probleme in den Folgejahren auf. Die Überschneidung von funktioneller Qualität, Lebensqualität und sozialer Akzeptanz zeigt sich hier sehr deutlich. 92.4.5 Endokrine Spätfolgen Viele endokrine Spätfolgen treten bereits während der Nachbeobachtungszeit in der onkologischen Nachsorge auf und werden dann auch entsprechend behandelt. Allerdings kann es auch erst später im Erwachsenenalter zu entsprechenden Störungen kommen (Darzy u. Shalet 2003). So zeigt sich, dass hypophysäre Ausfälle auch bei geringerer Schädelbestrahlung (18 Gy) auftreten können; je niedriger die Dosis, desto länger die Latenzzeit. Wie lange diese Latenzzeit bei 12 Gy Schädelbestrahlung sein kann, ist noch nicht untersucht. Somit müssen Hormonausfälle wie Wachstumshormonmangel auch im Erwachsenenalter in Betracht gezogen werden. Das Risiko einer frühzeitigen Menopause ist bei jenen Frauen, die nach dem 13. Lebensjahr behandelt wurden, besonders hoch und die Zeit der möglichen Fertilität verkürzt sich für diese Frauen enorm (Byrne 1999). Sie benötigen daher eine entsprechende Beratung und regelmäßige Hormonkontrollen, um den Beginn des Absinkens der Östrogenproduktion zu erkennen. Gleichzeitig mit dem frühzeitigen Einsetzen der Menopause steigen die Osteoporosegefahr und das kardiale Risiko. Die Hormonsubstitution dieser Frauen, die eventuell aufgrund einer Strahlentherapie ein erhöhtes Brustkrebsrisiko tragen, ist problematisch (Ganz 2001). 92.4.6 Psychische Spätfolgen 1994 fügte die American Psychiatric Association die »Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung« als weiteres Kriterium zur Auslösung eines posttraumatischen StressSyndroms (PTSS) in das Diagnoseregister »DSM-IV« ein. Dieses Kriterium lässt sich auch auf ehemalige onkologische Patienten anwenden (Meeske et al. 2001; Kazak et al. 1999). Aus einer Studie von Kazak et al. (1999) geht hervor, dass 4,5% der Betroffenen und 10% der Müttern die Kriterien eines PTSS erfüllen. Betrachtet man Teilaspekte aus diesem Symptomenkreis, so zeigen 50% der Betroffenen Symptome einer erhöhten, emotionalen Erregungsbereitschaft und v. a. des Wiedererlebens, wie wiederholtes, aufdringliches Erinnern an bestimmte Ereignisse, Albträume oder »Backslashs«,
92
1130
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
die sie plötzlich handeln oder fühlen lassen, als ob das traumatische Ereignis soeben zurückgekehrt wäre. ! Die Zeitspanne zwischen der Diagnose und dem Auftreten oder Persistieren von Symptomen aus diesem PTSS-Formenkreis ist zeitlich nicht begrenzt. Auch viele Jahre nach dem Therapieende und unabhängig davon, ob Spätfolgen aufgetreten sind, können solche psychischen Spätfolgen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auftreten.
Da es für das posttraumatische Stress-Syndrom heute bewährte therapeutische Möglichkeiten gibt, ist es wichtig, diese Diagnose im Auge zu behalten und die jungen Erwachsenen einer entsprechende Psychotherapie zuzuführen. Unerkannt können sich im Laufe der Jahre weiter psychische Probleme auf der Basis eines solchen PTSS entwickeln.
VI 92.4.7 Zweitmalignome Für die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Praktikern ist es von besonderer Bedeutung, dass diese über mögliche Zweitmalignome und deren zeitliches Auftreten Bescheid wissen und die entsprechenden regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen im Auge behalten ( Kap. 89). Hierzu gehören Blutbildkontrollen, Sonographie und Funktionsdiagnostik der Schilddrüse,Vorsorgeuntersuchungen der weibliche Brust sowie dermatologische Untersuchung bestrahlter Hautareale mit Auflichtmikroskop und Photodokumentation (Diller et al. 2002; Kash u. Dabney 2001). Ob das Risiko im späteren Erwachsenenalter für andere Karzinome wie des MagenDarm-Trakts oder der Lunge erhöht ist, entzieht sich derzeit noch unserer Kenntnis. 92.5
Beeinflussung der Risikofaktoren
Das Ausmaß der Spätfolgen einer Antitumortherapie ist maßgeblich von der Lebensführung im Erwachsenenalter abhängig und kann daher positiv beeinflusst werden. Die Häufigkeit kardiovaskulärer Spätfolgen wird bei Vorliegen der für die gesamte Bevölkerung geltenden Risikofaktoren noch um ein Vielfaches potenziert (Oeffinger et al. 2001). Das Einhaltung der allgemein anerkannten Empfehlungen zur Vermeidung von kardiovaskulären Risikofaktoren bezüglich Ernährung, Bewegung, Körpergewicht oder Rauchen ist für ehemalige onkologische Patienten daher besonders wichtig. Wie oben erwähnt, ist Adipositas eine der Spätfolgen bei ALL. Das erhöhte Körpergewicht hält die Kinder und Jugendliche von Sport und Bewegung ab. Der allgemeine Trend zu bewegungsarmen Freizeitaktivitäten wie z. B. die intensive Beschäftigung mit dem Computer, führt zur Verstärkung der Risikofaktoren. Die Beeinflussung der Lebensführung Jugendlicher ist äußerst schwierig (Haupt et al. 1992; Tyc et al. 2001). Das Zugehörigkeitsgefühl zu den Gleichaltrigen ist viel wichtiger, und die in so genannten »peer groups« und Cliquen herrschenden Tendenzen und Modeerscheinungen haben einen viel größeren Einfluss als die Gesundheitserziehung im Rahmen von onkologischen Nachsorgeeinrichtungen.
! Es ist eine wichtige Aufgabe des Allgemeinpraktikers, junge Erwachsenen, die dem Gruppendruck Jugendlicher entwachsen sind, dazu zu motivieren, ihrer eigenen Gesundheit und Lebensführung wieder vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken. Der Arzt sollte ihnen helfen, drohende Spätfolgen zu vermeiden, und regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen zu veranlassen (Kaste et al. 1998; Oeffinger et al. 1998).
92.6
Beratung bezüglich Elternschaft
Die Daten bezüglich Elternschaft Erwachsener nach Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter sind ermutigend (Blatt 1999; Green et al. 1997). Es muss prinzipiell nicht von einer geplanten Elternschaft abgeraten werden. Sehr wichtig ist die Evaluierung zu erwartender Komplikationen für Schwangerschaft und Geburt, um entsprechende Vorsorge zu treffen (z. B. anatomische Gegebenheiten nach Beckenbestrahlung, latente oder manifeste Kardiomyopathie durch Anthrazykline). Die Beratung bezüglich Fertilität ist wichtig, da einerseits bei Frauen, die nach dem 13. Lebensjahr behandelt wurden eine verkürzte Zeit der Fertilität besteht (Byrne 1999), andererseits moderne Reproduktionstechniken sowohl Männern als auch Frauen bei nicht völligem Fehlen der Fertilität Möglichkeiten zur Elternschaft verschaffen.
Damit niedergelassene Kinderärzte und Allgemeinpraktiker die vielfältigen Aufgaben in der Früh- und Spätnachsorge erfüllen können, benötigen sie entsprechendes Wissen sowie genaue Informationen durch die onkologischen Zentren über die zu erwartenden Spätfolgen (Konsler u. Jones 1993; Oeffinger et al. 1998, 2000). Da erwachsene Patienten ihren Hausarzt öfters wechseln, sollten sie selbst genau informiert und entsprechende Unterlagen erhalten (Blacklay et al. 1998). In einer Reihe von Kliniken wird jeder erwachsene Patient mit einem Ordner ausgestattet, der detaillierte Unterlagen bezüglich Krankheit und Therapiemodalitäten, eine allgemeine Aufklärung über Spätfolgen sowie eine Beschreibung seiner individuellen Situation und einen Vorschlag zur Nachsorge im Erwachsenenalter enthält. Die heutige generelle Ausstattung der Arztpraxen mit EDV ermöglicht es onkologischen Zentren, Informationen rasch auf elektronischem Wege zur Verfügung zu stellen. Mittels e-mail können Fragen der ehemaligen Patienten beantwortet werden sowie die niedergelassenen Kinderärzte und Allgemeinpraktiker rasch und kompetent bei der Betreuung der ehemaligen Patienten unterstützt werden. So profitieren auch jene Erwachsenen von den neuen Erkenntnissen in der Langzeitforschung, die keinen persönlichen Kontakt mehr zu ihrem ehemaligen Behandlungszentrum haben. Umgekehrt könnte das Behandlungszentrum bei diesen Patienten Daten über Spätfolgen im Erwachsenenalter gewinnen.
1131 92 · Nachsorge und Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten
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92
Rehabilitation und Lebensqualität R. Dopfer, R. Felder-Puig
93.1 93.2
VI
93.3
Einleitung – 1132 Grundlagen und Aufgaben der Rehabilitation – 1132 Gesetzliche Voraussetzungen – 1132
93.3.1 93.3.2 93.3.3
Gesetzliche Voraussetzungen in Deutschland – 1133 Gesetzliche Voraussetzungen in Österreich – 1133 Gesetzliche Voraussetzungen in der Schweiz – 1134
93.4 93.5 93.6
Medizinische Voraussetzungen – 1134 Konkrete Aufgaben der Rehabilitation – 1134 Infrastruktur in Rehabilitationseinrichtungen – 1135 Familienorientierte Rehabilitation – 1135 Rehabilitation von Jugendlichen – 1135 Lebensqualität – 1137 Literatur – 1138
93.7 93.8 93.9
Krebs Lass mich endlich los! Gib Dich geschlagen und lass mich leben! Habe ich noch nicht genug gelitten? Ich kann kaum beschreiben, wie sehr ich dich hasse! Simone H., 19 Jahre, Rhabdomyosarkom
93.1
Einleitung
Rehabilitation ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit hämatologischen und onkologischen Erkrankungen, da die Folgen der Erkrankung an sich oder aber die der Therapie langfristig negative Auswirkungen auf die Integration der Betroffenen im Alltag und eine spätere Erwerbsfähigkeit haben können. Durch die besonderen Anforderungen der Akuttherapie entstehen beim kranken Kind und in der Familienbeziehung zwischen dem kranken Kind und der übrigen Familie schwere psychische Reaktionen und Belastungen. Die zunehmende Verkürzung der stationären Aufenthalte bei gleichzeitig intensiver werdenden Behandlungsformen verlagert einen wichtigen Teil der Behandlung in die stationäre Rehabilitation. Für Kinder ist die Rehabilitation nur im Verband der Familie als so genannte familienorientierte Rehabilitation sinnvoll. Eine »Mutter-Kind-Kur« würde nur zu einer erneuten Trennung der Familie führen, die bereits im Rahmen der Intensivbehandlung die Regel ist. Für Jugendliche gelten andere entwicklungsspezifische Gesichtspunkte. Deshalb finden für diese Patienten in der Regel Rehabilitationsmaßnahmen in Kleingruppen von Betroffenen statt.
Am 23.11.2001 wurde die Fachgesellschaft »Rehabilitation in der Kinder- und Jugendmedizin« gegründet, mit dem Ziel, Leitlinien für die medizinische Rehabilitation ausgewählter Krankheitsbilder in der Kinder- und Jugendmedizin zu erarbeiten. Diese Leitlinien sind in Arbeit und werden in »Leitlinien der Kinder- und Jugendmedizin« veröffentlicht. 93.2
Grundlagen und Aufgaben der Rehabilitation
In der Charta der WHO ist festgelegt, dass jedes Kind ein Anrecht auf ungestörte körperliche, geistige und seelische Entwicklung hat. Die WHO hat mit der »International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps« (ICIDH) 1980 ein Modell der Folgeerscheinungen von Gesundheitsstörungen entwickelt, das bis heute die Grundlage für ein Verständnis des Rehabilitationsprozesses darstellt (WHO 1995). ▬ Impairment (Schädigung) ist der beliebige Verlust oder eine Normabweichung in der psychischen, physiologischen oder anatomischen Struktur oder Funktion (z. B. Amputation). ▬ Disability (Funktionsstörung) ist jede Einschränkung oder jeder Verlust der Fähigkeit Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, die für einen Menschen als normal angesehen werden (z. B. Bewegungsfähigkeit durch Amputation). ▬ Handicap (Beeinträchtigung) erfasst eine aus einer Schädigung oder Fähigkeitsstörung sich ergebende Benachteiligung des Betroffenen, die die Erfüllung einer Rolle einschränkt oder verhindert, die (abhängig vom Geschlecht, Lebensalter sowie sozialen und kulturellen Faktoren) für diesen Menschen normal ist (z. B. verhinderte Integration in den Alltag durch Amputation). ! Ziel der Rehabilitation muss es sein, Impairments, Disabilities und Handicaps zu minimieren, die Entwicklung von Sekundärerkrankungen zu verhindern und die aktive Teilnahme am normalen Leben in Schule, Ausbildung, Beruf, Familie und Gesellschaft zu ermöglichen. Dem Menschen soll trotz Impairment, Disabilitity und Handicap geholfen werden, durch die Entwicklung der noch vorhandenen Kräfte ein möglichst normales Leben zu führen.
93.3
Gesetzliche Voraussetzungen
Da die gesetzlichen Voraussetzungen für die Rehabilitation in Deutschland, Österreich und der Schweiz recht unterschiedlich sind, soll im Folgenden auf die länderspezifische Situation eingegangen werden.
1133 93 · Rehabilitation und Lebensqualität
93.3.1 Gesetzliche Voraussetzungen
in Deutschland Im Gegensatz zu vielen Ländern ist die Rehabilitation in Deutschland gesetzlich klar geregelt (Verband deutscher Rentenversicherungsträger 1998). Nach dem Wortlaut des Sozialgesetzbuch IX §26 zur Rehabilitation behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen werden Leistungen erbracht, um Behinderungen einschließlich chronischer Erkrankungen zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern (Sozialgesetzbuch 2003). Leistungen. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilita-
tion umfassen insbesondere: ▬ Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen unter ärztlicher Aufsicht oder auf ärztliche Anordnung ausgeführt werden, einschließlich der Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln, ▬ Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder; ▬ Arznei und Verbandsmittel, ▬ Heilmittel einschließlich physikalischer, Sprach- und Beschäftigungstherapie, ▬ Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung, ▬ Hilfsmittel und ▬ Belastungserprobung und Arbeitstherapie. Bestandteile der Leistungen sind auch medizinische, psychologische und pädagogische Hilfen, soweit diese Leistungen im Einzelfall erforderlich sind, um die genannten Ziele zu erreichen oder zu sichern und Krankheitsfolgen zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten. Hierzu gehören: ▬ Hilfen zur Unterstützung bei der Krankheits- und Behinderungsbearbeitung, ▬ Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen, ▬ mit Zustimmung der Leistungsberechtigten die Information von Partnern und Angehörigen sowie Vorgesetzten und Kollegen, ▬ Vermittlung von Kontakten zu örtlichen Selbsthilfe- und Beratungsmöglichkeiten und Hilfen zur seelischen Stabilisierung und zur Förderung der sozialen Kompetenz, unter anderem durch Training sozialer und kommunikativer Fähigkeiten und im Umgang mit Krisensituationen, ▬ Training lebenspraktischer Fähigkeiten, ▬ Anleitung und Motivation zur Inanspruchnahme von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Dauer der Leistungen. Nach § 40 wird die Dauer der Leistungen auf längstens 3 Wochen festgelegt, es sei denn eine Verlängerung ist aus gesundheitlichen Gründen unbedingt erforderlich. Diese Festlegung auf 3 Wochen gilt prinzipiell nur für Erwachsene. In den Empfehlungen des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger zur Rehabilitation von
⊡ Tabelle 93.1. Leistungsträger der Rehabilitation in Deutschland Krankenkassen
Für Krankenversicherte, Rentner Hausfrauen und Kinder, die selbst oder als Familienmitglied versichert sind
Rentenversicherung
Alle Rentenversicherte oder die es einmal waren (mindestens 60 Monatspflichtbeiträge)
Sozialamt
Für den Patienten, der weder krankenversichert noch rentenversichert ist und Sozialhilfe empfängt
Unfallversicherungsträger
Unter anderem nach einem Arbeitsunfall, Wegunfall, Schulund Kindergartenunfall
Versorgungsamt
Für alle Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten, Opfer von Gewalttaten, Impfschäden
Beihilfestelle
Für Angehörige des öffentlichen Dienstes
Hauptfürsorge/überörtlicher Rehabilitationsträger
Bei ungeklärter Zuständigkeit
Kindern und Jugendlichen wird für Patienten der Gruppe II mit onkologischen Erkrankungen (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger 1998) eine Rehabilitationsdauer von 4 Wochen festgelegt. Als Kinder im gesetzlichen Sinne gelten auch Jugendliche und Erwachsene bis zum 27. Jahr, wenn sie sich in Ausbildung befinden oder schwerbehindert sind. Eine Wiederholung einer Rehabilitationsmaßnahme vor Ablauf von 4 Jahren ist nur bei medizinischer Notwendigkeit möglich. Leistungsträger. Zu den Leistungsträgern der Rehabilitati-
onsmaßnahme gehören in Deutschland die gesetzlichen Krankenkassen, Rentenversicherungsträger, das Sozialamt, die Unfallversicherungsträger, das Versorgungsamt, die Beihilfestelle und die Hauptfürsorge (⊡ Tabelle 93.1). 93.3.2 Gesetzliche Voraussetzungen in Österreich In Österreich ist die Rehabilitation im §154a des allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes 2. Teil geregelt. Danach gewähren die Krankenversicherungsträger »nach Maßgabe des §133 Abs. 2 medizinische Rehabilitationsmaßnahmen mit dem Ziel den Gesundheitszustand der Versicherten und ihrer Angehörigen so weit wieder herzustellen, dass sie in der Lage sind, in der Gemeinschaft einen ihnen angemessenen Platz möglichst dauernd und ohne Betreuung und Hilfe einzunehmen.« Die Maßnahmen umfassen gemäß Abs. 1 die Unterbringung in Krankenanstalten, die der Rehabilitation dienen, die Gewährung von Körperersatzstücken, orthopädischen Behelfen und anderen Hilfsmitteln einschließlich der notwendigen Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung sowie die Ausbildung im Gebrauch und die Gewährung ärzt-
93
1134
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
licher Hilfe sowie die Verordnung von Heilmitteln und Heilbehelfen, wenn diese im Anschluss oder im Zusammenhang an eine Maßnahme der Ziffer 1 und 2 erforderlich ist. Die Maßnahmen sind bei einem Pensionsversicherungsträger oder einem Unfallversicherungsträger zu beantragen, die – wenn sie die Maßnahme nicht selbst zu gewähren haben – den Antrag unverzüglich an den zuständigen Krankenversicherungsträger weiterleiten. Der Leistungsträger der Rehabilitation ist der Krankenversicherungsträger.
werbsfähigkeit« ist für das Kindesalter problematisch, aber bisher in der deutschen Gesetzgebung nicht anders gelöst. Normalerweise gilt der Grundsatz einer ambulanten vor einer stationären Rehabilitation. Dies ist jedoch für Kinder problematisch, zumal, wenn es sich um eine familienorientierte Maßnahme handelt. 93.5
Konkrete Aufgaben der Rehabilitation
93.3.3 Gesetzliche Voraussetzungen in der Schweiz Aufgaben der Rehabilitation:
VI
In der Schweiz ist eine Rehabilitation für Familien mit einem krebskranken Kind bisher kein fester Bestandteil in der Behandlung. Im Artikel 25 des Bundesgesetzes der Krankenversicherung (KVG, 832.10) vom 18. März 1994 (Stand 28.1.2003) wird allerdings auf die Rehabilitation als solche eingegangen. Der Artikel 25 regelt die allgemeinen Leistungen bei Krankheit und hierzu gehören auch die ärztlich durchgeführten oder angeordneten Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation. (Bundesgesetz vom 18.3.1994). Daneben ist zu beachten, dass für einige Krebserkrankungen beim Kind (z. B. Hirntumoren) die Invalidenversicherung Leistungen übernimmt. Hier ist für 2004 eine ausgedehnte Revision vorgesehen, so dass keine näheren Angaben gemacht werden können. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen. Voraussetzungen und Umfang der Kostenübernahme werden in den Artikeln 32–34 festgelegt. Danach müssen die Leistungen wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein und wird regelmäßig überprüft. Für alle Leistungen gilt, dass sie primär ambulant erbracht werden sollen. Spitalbedürftigkeit ist nur gegeben, wenn Diagnostik und Therapie wegen der apparativen und personellen Anforderungen nur im Spital möglich sind, wenn die ambulanten Möglichkeiten ausgeschöpft sind und wenn in Einzelfällen aus persönlichen Lebensumständen eine medizinische Behandlung nicht anders als im Spital durchgeführt werden kann. Vor Antritt der Behandlung ist eine Kostengutsprache mit Bewilligung des Vertrauensarztes einzuholen. Zur Spitalversorgung und -planung sind die Kantone zuständig. Krankenversicherung und Kantone teilen sich je zur Hälfte die Kosten. Im Falle der Rehabilitation haben viele kleinen Kantone keine eigenen Kliniken, sondern Verträge mit anderen Kantonen. 93.4
Medizinische Voraussetzungen
Wesentlich für die Antragstellung der Rehabilitation ist eine detaillierte Darstellung aller physischen und psychischen Probleme, die zu einer Beeinträchtigung führen. Die Erwerbsfähigkeit muss durch Krankheit und/oder seelische Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert sein. Durch eine Rehabilitationsmaßnahme muss sich entweder eine weitere Minderung der Erwerbsfähigkeit abwenden, eine vorhandene Erwerbsminderung verbessern oder eine Erwerbsunfähigkeit verhindern lassen. Die starke Fixierung auf »Er-
Diagnostik der Erkrankung und von Schädigung, falls diese noch nicht ausreichend erfolgt ist oder dem aktuellen Stand nicht mehr entspricht Erstellung eines Rehabilitationsplans unter Berücksichtigung von Behandlungskonzepten der Vorbehandler Einleitung und Fortführung der therapeutischen Maßnahmen mit Anpassung an den Krankheitsverlauf Förderung einer angemessenen Krankheitsakzeptanz mit Motivation zur Krankheitsverarbeitung und Aufbau eines eigenverantwortlichen Krankheitsmanagements Verhaltensmodifikation mit dem Ziel des Aufbaus einer krankheitsadäquaten und gesundheitsfördernden Lebensweise Training von Restfunktionen und Ausbildung neuer Fähigkeiten zur Kompensation von Fähigkeitsstörungen Anleitung und Schulung zur Selbstkontrolle und zum eigenverantwortlichen Handeln Schulische Betreuung in Form eines Stützunterrichts Vermittlung von allgemeinen und medizinischen Informationen und Beratung des Rehabilitanden bzw. seiner Bezugspersonen hinsichtlich Alltagsleben und Berufswahl, Berufsberatung Sozialmedizinische Stellungsnahme zur Leistungsfähigkeit Beratung und Anleitung von Bezugspersonen zum adäquaten Umgang mit dem Rehabilitanden und den Folgen seiner Gesundheitsstörung. Planung und Anregung weiterer Maßnahmen, Kontaktaufnahme zu ambulanten Versorgungsstrukturen
Der eigentlichen Rehabilitation vorangestellt sind diagnostische Maßnahmen über deren Ergebnisse der Rehabilitand bzw. seine Bezugspersonen informiert werden müssen. Alters-, entwicklungs- und krankheitsspezifische Aspekte sind hierbei zu berücksichtigen. Bei den medizinischen Leistungen haben sport- und physiotherapeutische Maßnahmen einen hohen Stellenwert. Sie dienen zum einen der Verbesserung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit, zum anderen der Behandlung spezifischer Störungen. Als wesentliche Indikationen für Physiotherapie seien Paresen nach Vincristin-bedingter Polyneuropathie, motorische Funktionsverluste nach Tumorresektion an Extre-
1135 93 · Rehabilitation und Lebensqualität
mitäten (Muskelaufbautraining, Koordinationsübungen), Bewegungsstörungen bei Hirntumoren und Lungenfunktionsstörungen (Atemtherapie) nach Ganzkörperbestrahlung genannt. Bei feinmotorischen Störungen nach Hirntumorbehandlung kommt der Ergotherapie eine besondere Bedeutung zu. Neben diesen medizinischen Angeboten werden die Kinder und Jugendlichen bei der Verarbeitung chronischer Krankheiten durch geschultes Fachpersonal beraten und unterstützt. Grundlage hierfür sind komplexe verhaltenstherapeutische Konzepte. Aufgrund entwicklungsspezifischer Faktoren muss diese Hilfe sehr individuell und behutsam eingeleitet werden. Die Kindheit kann als optimale Entwicklungs- und Lernphase für Krankheitsbewältigungsstrategien und gesundheitsförderndes Verhalten betrachtet werden. Deshalb haben Strategien in dieser Phase eine große Chance langfristig beibehalten zu werden. 93.6
Infrastruktur in Rehabilitationseinrichtungen
Die Anforderungen an die Infrastruktur einer Rehabilitationseinrichtung ergeben sich aus dem unter gesetzliche Voraussetzungen erwähnten Leistungskatalog. Die personellen Voraussetzungen beinhalten, dass die Einrichtung über Kinderärzte mit onkologischer Qualifikation, klinische Psychologen, Sozialpädagogen, Kinderkrankenpflegekräfte, Diätassistenten, Physio-/Sporttherapeuten, Ergotherapeuten, Heilpädagogen, pädagogische Fachkräfte/Erzieher und Lehrer verfügen muss. Zu den strukturellen Voraussetzungen gehören zum einen die adäquaten Unterbringung und Versorgung der Patienten und ihrer Bezugspersonen (wenn notwendig Unterbringung in Einzelzimmern, behindertengerechte Ausstattung), zum anderen eine räumliche Gestaltung mit ausreichend Platz für alle Therapeuten besonders im sportrehabilitativen Bereich (Physiotherapie, Sporthalle, Schwimmbad, Fitnessraum). 93.7
Familienorientierte Rehabilitation
! Für Kinder bis zum vollendeten 15. Lebensjahr ist die familienorientierte Rehabilitation die Therapiemaßnahme der Wahl.
Wesentliche Indikation ist die Lebensbedrohung des an Krebs erkrankten Kindes sowie die durchgemachte eingreifende Therapie. Die Rehabilitationsbedürftigkeit der Eltern und Geschwister ergibt sich aus der auf das krebskranke Kind bezogenen familiären Belastungssituation (Kröger u. Hendrischke et al. 1997). Durch die Komplexität der somatischen und psychosomatischen Wechselwirkungen, insbesondere bei Behinderungen, gestörtem Sozialverhalten, Ängsten, Lernstörungen, ist die Integration der Familie in das medizinische Behandlungssetting unbedingt erforderlich. Nach den gemachten Erfahrungen ist die Mitaufnahme der Gesamtfamilie und ihre Einbindung in den stationären Rehabilitationsprozess des krebskranken Kindes ein ganz wesentlicher Inhalt der Familientherapie. Eine alleinige
Mutter-Kind-Kur ist in diesem Zusammenhang sehr ungünstig, da gerade diese Konstellation bei vielen therapiebedingten Trennungen der Familie mit all ihren Auswirkungen während der Akutbehandlung erlebt wird. Die Förderung der Akzeptanz therapeutischer Maßnahmen durch eine vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung ist für Langzeitbehandlungen unbestritten. Bis heute ist die familienorientierte Rehabilitation nicht in der Gesetzgebung verankert und deshalb in ihrer Finanzierung nicht abgesichert. In Deutschland wurde jedoch unter Mitarbeit der Kostenträger ein Positionspapier zur familienorientierten Rehabilitation erarbeitet, das die Finanzierung der Maßnahme erleichtert (Deutsche Leukämie Forschungshilfe 2001). Neben der Rehabilitationsindikation für das erkrankte Kind müssen die Belastungsfaktoren und -symptome der Familienmitglieder bei der Antragstellung definiert werden. Das Rehabilitationsziel ist primär die Therapie der physischen und psychischen Erkrankung des kranken Kindes. Zur Erreichung dieses Ziels ist auch die Behandlung der psychosozialen Familienproblematik und damit die therapeutische Arbeit mit den Individuen der Gesamtfamilie oder der Schlüsselbezugspersonen erforderlich. Eine Umfrage unter den Familienmitgliedern nach dem Krankheitsempfinden der einzelnen Familienmitglieder ergab, dass die Geschwisterkinder sich besonders krank fühlten. Das Ineinandergreifen der verschiedenen therapeutischen Interventionen bei einem Kind mit Leukämie, seinen Eltern und Geschwistern ist in ⊡ Tabelle 93.2 dargestellt. 93.8
Rehabilitation von Jugendlichen
Bei Jugendlichen ist eine kleingruppenorientierte Rehabilitation vorzuziehen, da aufgrund der entwicklungsspezifischen Situation das Konzept der familienorientierten Rehabilitation in dieser Altersgruppe erfahrungsgemäß oft nicht optimal ist. In wenigen für diese Altersgruppe speziell qualifizierten Rehabilitationskliniken wurden für die Durchführung dieser Maßnahmen altersspezifische Behandlungskonzepte entwickelt. In der Adoleszenz stehen Jugendliche und junge Erwachsene auch ohne Krankheit in Bezug auf ihre körperliche, psychische und soziale Entwicklung in einer besonders sensiblen Lebensphase. Dieser Lebensabschnitt ist gekennzeichnet durch Identitätsfindung, Ablösung von den primären Bezugspersonen, Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, Aufbau eines eigenen Wertsystems und ethischen Bewusstseins, Finden der geschlechtsspezifischen Rolle, Aufnahme einer ersten sexuellen Beziehung, Vorbereitung einer beruflichen Laufbahn, Partnerwahl und Gründung einer Familie, und Berufseinstieg und Etablierung im Beruf (Havighurst in Ferchhoff 1993). Chronisch kranke Jugendliche und junge Erwachsene befinden sich in einer doppelten Krisensituation. Sie müssen zusätzlich zu diesen Schwierigkeiten mit den Belastungen ihrer Krankheit und den damit verbundenen Auswirkungen auf ihr Leben zurecht kommen. Zu den wichtigsten Problemkreisen chronisch kranker Jugendlicher gehört die Nähe zu den primären Bezugspersonen. Eine schwere Erkrankung führt in der Regel dazu, dass der Patient im Stadium der Ablösung wieder auf das
93
1136
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
⊡ Tabelle 93.2. Rehabilitationsplan für eine familienorientierte Rehabilitation am Beispiel eines Kindes mit Leukämie Patient
VI
Erkrankungsdiagnose
Akute lymphoblastische Leukämie
Rehabilitationsdiagnosen
Starke körperliche Leistungseinschränkung Bewegungsstörung durch Vincristin-Polyneuropathie Angst vor bleibender Behinderung Angst vor Rezidiv Selbstwertproblematik Auffälliges Sozialverhalten Geschwisterrivalität
Rehabilitationsziele
Verbesserung der Beweglichkeit, des Gangbildes und der Ausdauer Hilfe bei der Krankheitsverarbeitung Veränderung des Sozialverhaltens in der Gruppe mit Stärkung des Selbstwertes Verbesserung der Beziehung zu den Eltern Beratung der Eltern Verbesserung der Beziehung zum Geschwister
Therapie
Krankengymnastik mit Muskelaufbautraining Heilpädagogische Diagnostik und Therapie Weitervermittlung der Therapie nach Rehabilitation Integration, Beobachtung und gezielte Betreuung in der Kleingruppe Kind-Eltern-Gespräche Familiengespräche
Eltern Rehabilitationsdiagnosen
Ängste und Depressionen Leistungsabfall Erschöpfungssyndrom Paarproblematik Erziehungsschwierigkeiten Stressverhalten mit Nikotinabusus Vernachlässigung der Gesundheit
Rehabilitationsziele
Professionelle Hilfe bei der Krankheitsverarbeitung Psychophysische Stärkung Analyse und Bearbeitung der Paarkonflikte Erziehungsberatung Veränderung des Gesundheitsverhaltens
Therapie
Gruppen-/Einzel-/Paargespräche Entlastung Verhaltenstherapie, Motivation Therapie somatischer Erkrankungen
Geschwister Rehabilitationsdiagnose
Sekundäre Enuresis Geschwisterrivalität
Rehabilitationsziel
Analyse und Verbesserung der Enuresis Verhaltensänderung
Therapie
Beratung/Aufklärung/Psychotherapie Heilpädagogische Diagnostik und Therapie Pädagogische Betreuung in der Kleingruppe Familiengespräch
familiäre Umfeld angewiesen ist. Darüber hinaus führt die chronische Krankheit häufig zum Kontaktverlust mit Gleichaltrigen (Peer group). Eine verminderte Leistungsfähigkeit und körperliche Behinderungen stellen sich ein. Die Akzeptanz des eigenen Körpers wird hierdurch noch erschwert. Begrenzte Möglichkeiten einer eigenen Lebensplanung müssen berücksichtigt werden. Nicht selten ist in der Berufswahl
eine Umorientierung nötig. Je nach Auswirkung und Verlauf der Erkrankung und ihrer Therapie kann die Beziehung zu einem Partner Probleme verursachen. Bei einigen Jugendlichen steht die unmittelbare Lebensbedrohung oder das Wissen um eine begrenzte Lebenserwartung stark im Vordergrund. Chronisch kranke Jugendliche werden sehr früh mit dem Thema Sterben und Tod konfrontiert.
1137 93 · Rehabilitation und Lebensqualität
Wichtige Problemkreise chronisch kranker Jugendlicher:
Nähe zu den primären Bezugspersonen Sozialer Rückzug und Isolation Verändertes Körper- und Selbstbild Verändertes Lebenskonzept Auswirkung auf Partnerschaft und Sexualität Auseinandersetzung mit Leben und Tod
Die medizinischen Rehabilitationsziele von krebserkrankten Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsprechen denen von Kindern mit entsprechender Berücksichtigung der besonderen Lebenssituation. Bei den psychosozialen Therapiezielen spielt der Kontakt mit gleichaltrigen ebenfalls Betroffenen eine wesentliche Rolle. Nach Yalom (1985) führt die Gruppe für den Einzelnen zu heilsamen Erfahrungen. Der Kontakt mit anderen Betroffenen weckt Hoffnung. Auch Andere tragen das gleiche Schicksal. Gegenseitige Unterstützung hilft bei der Bewältigung der Erkrankung. Ohne Herkunftsfamilie haben die Jugendlichen die Möglichkeit eigene Weg zu beschreiten. Selbstwertgefühle und Selbstvertrauen werden gestärkt. In der Schule wird der schulische Anschluss und die berufliche Orientierung gefördert. 93.9
Lebensqualität
Mit der Entwicklung von erfolgreichen Behandlungsmodalitäten für Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter und der Steigerung von Überlebensraten wird der Lebensqualität von Patienten als zusätzlichem Indikator des Behandlungserfolgs steigendes Interesse entgegen gebracht. Definition Lebensqualität wird als ein Konzept verstanden, das gleichermaßen durch subjektives Erleben als auch durch objektivierbare Faktoren determiniert wird und im Wesentlichen physische, psychische, soziale, mentale und funktionale Komponenten einschließt.
Diese Konzeptualisierung des Konstrukts Lebensqualität hat sich für sämtliche Patientengruppen aller Altersgruppen durchgesetzt und wird auch für gesunde Populationen herangezogen. Pionierarbeiten wurden vor ca. 3 Jahrzehnten zunächst in der Erwachsenenonkologie durchgeführt. Beim Versuch, die eingesetzten Methoden auf pädiatrische Onkologiepatienten zu übertragen, musste man jedoch einsehen, dass sie den spezifischen Problemen dieser Patienten vor dem Hintergrund der kindlichen Entwicklung nicht gerecht werden (Jenney et al. 1995; Bradlyn et al. 1996). So gibt es unterschiedliche Indikatoren der Lebensqualität in verschiedenen Altersgruppen. Während etwa eine gut funktionierende Familie und die Möglichkeit, zu spielen und sich zu bewegen, für jüngere Kinder wichtig ist, wird die Lebensqualität von Jugendlichen von ihren Beziehungen zu Gleichaltrigen und ihrer Leistungsfähigkeit in Schule oder Beruf bestimmt. Die gewählten Messmethoden können also entweder nur für bestimmte
Altersgruppen eingesetzt werden oder müssen so gestaltet sein, dass sie Bereiche der Lebensqualität abfragen, die in allen Entwicklungsphasen der ersten beiden Lebensdekaden wichtig sind. Zentraler Bestandteil von Untersuchungen zur Lebensqualität ist die subjektive Wirklichkeit des Patienten. Aus Gründen der Ökonomie und der besseren Quantifizierbarkeit hat sich die Befragung mit standardisierten Fragebögen durchgesetzt. Aber auch hier stieß man in der pädiatrischen Onkologie auf Grenzen, da Kinder unter 8–10 Jahren kognitiv nicht in der Lage sind, solche Fragebögen auszufüllen. So behalf man sich damit, einen Elternteil heranzuziehen, die Antworten sozusagen als Stellvertreter des Kindes (»proxy respondent«) zu geben. Ob Eltern dabei die »richtigen« Antworten geben, ist inzwischen Thema von zahlreichen Publikationen. Eiser und Morse fassen diese Arbeiten in ihrem Übersichtsartikel dahin gehend zusammen, dass Eltern von chronisch kranken Kindern die Lebensqualität zwar generell etwas schlechter einschätzen als die Kinder selbst, diese Eltern mit ihren Kindern aber in höherem Maße übereinstimmen, als dies Eltern und gesunde Kinder tun (Eiser u. Morse 2001a). Da Eltern maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob bzw. wann ihr Kind welche Angebote der Gesundheitsfürsorge in Anspruch nimmt, wird von Lebensqualitätsforschern in der Zwischenzeit empfohlen, wenn möglich, immer beide Einschätzungen der Lebensqualität, der des Kindes selbst und der eines Elternteils, einzuholen. Trotz aller methodischer und inhaltlicher Schwierigkeiten wurde von klinischen Lebensqualitätsforschern eine beachtliche Anzahl von Messinstrumenten für den Einsatz bei pädiatrischen Patienten aller Altersgruppen entwickelt, von denen einige krankheitsübergreifend (»generic«) und einige krankheitsspezifisch (»disease-specific«) sind. Welches Instrument das beste ist, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Einen guten Überblick über Lebensqualitätsinstrumente für pädiatrische Patienten bieten Eiser und Morse (2001b). Aktuelle Informationen über diese Instrumente gibt es großteils auf eigenen Homepages (z. B. www.pedsql.org, www. kindl.org), auf denen man sich einen Überblick darüber verschaffen kann, in welchen Bereichen und zu welchen Fragestellungen das jeweilige Instrument eingesetzt wurde und in welchen Sprachen validierte Versionen verfügbar sind. Onkologiepatienten gehören zu den hinsichtlich Lebensqualität am häufigsten untersuchten klinischen Gruppen in der Pädiatrie. Die meisten Studien basierten auf retrospektiven Designs und gingen der Frage nach, wie sich die Patienten nach Abschluss der Therapie wieder in das »normale« Leben integrieren konnten, ob und in welchem Ausmaß langfristige Behandlungsfolgen belastend wirkten und ob sie die Krankheit und Therapie psychisch gut verarbeiten konnten. Die Ergebnisse der Untersuchungen zur Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen nach Krebstherapie sind, so scheint es auf den ersten Blick, widersprüchlich. Obwohl eine nicht unbeträchtliche Zahl an Patienten an körperlichen Spätfolgen oder Behinderungen leidet – ein aktueller Bericht des US Institute of Medicine spricht gar von bis zu zwei Drittel (Marwick 2003) – beurteilen die ehemaligen Patienten selbst ihren Zustand und ihre Lebensqualität mindestens so gut, wenn nicht besser, als dies gesunde Gleichaltrige tun. Die meisten schaffen es, sich sozial und schulisch oder beruflich erfolgreich zu integrieren, und zeigen ein hohes Maß an
93
1138
VI
Spezielle Aspekte, Palliation und Nachsorge
Motivation, sich über ihre Leistungen in die Gesellschaft einzubringen. Ehemalige Patienten leiden auch nicht mehr an psychischen Problemen oder Störungen als vergleichbare Gleichaltrige. Dennoch scheinen sie sich in psychischer Hinsicht anders zu fühlen und auch anders zu erleben. Eine aktuelle Lebensqualitätsstudie an 176 überlebenden Krebspatienten im Alter von 16–28 Jahren bestätigt recht eindrücklich die Ergebnisse aus vergangenen Untersuchungen (Zebrack u. Chesler 2002): Demzufolge gaben der Großteil der ehemaligen Patienten an, eine gute allgemeine Lebensqualität und Lebenszufriedenheit zu haben, einigermaßen glücklich zu sein, sich nützlich zu fühlen und gut in der Lage zu sein, mit Schwierigkeiten und Problemen zurecht zu kommen. Gleichzeitig wurde ihre Lebensqualität immer wieder von Langzeiteffekten der Therapie, v. a. von Müdigkeit und Schmerzen, beeinträchtigt. Ihre grundsätzlich vorhandene Zuversicht war überschattet von der Unsicherheit in Bezug auf ihre Zukunft und der Angst vor einer neuerlichen Krebserkrankung. Angesichts der retrospektiven Ausrichtung der meisten Lebensqualitätsuntersuchungen ist es bis heute kaum möglich, zu sagen, ob der individuelle Schweregrad des Therapieverlaufs einen Einfluss auf die spätere Lebensqualität hat. Als gesichert gilt hingegen, dass bestimmte Krebsarten (Hirntumoren) bzw. bestimmte Behandlungsmodalitäten (Knochenmarks- bzw. Stammzelltransplantation) Patienten zu einer langfristig schlechteren Lebensqualität prädisponieren können (Eiser et al. 2003; Calaminus u. Kiebert 1999; Felder-Puig et al. 1999). Die Untersuchung der Lebensqualität in Abhängigkeit von verschiedenen Therapieoptionen wurde v. a. von Orthopäden bei Knochentumorpatienten vorangetrieben. Zahlreiche Arbeiten beschäftigten sich mit der Frage, ob eine extremitätenerhaltende Operation zu einer langfristig besseren Lebensqualität führt als eine Amputation (Nagarajan et al. 2002). Zwar zeigten erstgenannte Patienten eine durchwegs bessere Funktionsfähigkeit der betroffenen Extremität als Patienten mit Amputation, jedoch gab es zwischen den beiden Gruppen in anderen Lebensqualitätsbereichen keine Unterschiede. Wie die Gruppe um Lane zeigen konnte, dürfte dies allerdings durch die Heterogenität der Gruppe mit extremitätenerhaltenden Operationen in Bezug auf kurz- und langfristige Komplikationen der Tumortherapie bedingt sein (Lane et al. 2001). Einige Studien beschäftigten sich mit »objektivierbaren« Faktoren der Lebensqualität, gingen also der Frage nach, ob ehemalige Krebspatienten in der Lage sind, als junge Erwachsene bestimmte Entwicklungsziele zu erreichen. In einer Studie zeigten sich bei den Patienten im Vergleich zu einer gleichaltrigen Normpopulation eine geringere Heiratsrate, die Tendenz, länger bei den Eltern zu wohnen, sowie eine geringere Geburtenrate (Felder-Puig et al. 1998). Bezüglich Schulbildung und Einkommen gab es keine Unterschiede. Diese Ergebnisse wurden in anderen Untersuchungen bestätigt (Jenney u. Levitt. 2002). Während die meisten Studien auf die Lebensqualität nach abgeschlossener Therapie fokussieren, gibt es relativ wenige systematische Berichte darüber, wie krebskranke Kinder und Jugendliche kurzfristige unangenehme Nebenwirkungen erleben und wie diese ihre subjektive Lebensqualität während der Therapie beeinflussen. Hervorzuheben
sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten der amerikanischen Gruppe um Phipps (Phipps et al. 2002), die als Grundlage für die Entwicklung und den Einsatz von Interventionstechniken zur Entlastung der Patienten und Familien herangezogen werden können. Zusammenfassend ist zu sagen, dass es trotz einiger scheinbar widersprüchlicher Ergebnisse, die natürlich auch das Resultat verschiedener methodischer Denkrichtungen und Ansätze sind, allgemein kaum Unterschiede zwischen ehemaligen pädiatrischen Krebspatienten und Kontrollgruppen gibt. Manche Autoren interpretieren dies als Ergebnis bestimmter Abwehrmechanismen (»repressive coping«), die ehemalige Patienten einsetzen, um negative Gefühle und Probleme zu verdrängen bzw. zu verleugnen (Phipps u. Srivastava 1997). Wahrscheinlich sind die Antworten, die die Patienten in den Studien auf Fragen allgemeiner Natur gegeben haben, auch Ausdruck ihres (berechtigten) Wunsches, ein ganz normales Leben zu führen, nach all dem was sie mitgemacht haben. Probleme gibt es jedoch bei vielen Patienten in jenen Bereichen, die direkt mit den Folgen der Krankheit bzw. Therapie in Zusammenhang stehen. Deshalb ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Lebensqualität von Patienten ein wichtiger Aspekt qualitätsvoller medizinischer Versorgung.
Die Behandlung einer bösartigen Erkrankung ist mit der Akutbehandlung nicht abgeschlossen! Die Rehabilitation hämatologischer und onkologischer Erkrankungen ist in der Kinderheilkunde integraler Bestandteil des Gesamttherapiekonzeptes, da die Therapie bei den meisten Patienten mit einer Reihe von Nebenwirkungen vergesellschaftet ist, die eine unmittelbare Integration in einen normalen Alltag verhindert. Diese Integration ist jedoch nach den Kriterien der WHO für eine körperliche und seelische Gesundheit notwendig. Die Rehabilitation wird somit zum Bindeglied zwischen der Akutklinik und dem alltäglichen Leben. Da bei Kindern das soziale Umfeld eine entscheidendende Rolle spielt, sollte die Rehabilitation immer im Kreis der Familie stattfinden, als familienorientierte Rehabilitation. Auf diese Weise wird eine ganzheitliche Behandlung der Familie ermöglicht. Jugendliche brauchen aufgrund der besonderen Bedürfnisse dieser Altersgruppe eine Rehabilitation im Kreise Gleichaltriger.
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1139 93 · Rehabilitation und Lebensqualität
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93
Anhang Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8 Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20 Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23 Tabelle 24 Tabelle 25 Tabelle 26 Tabelle 27 Tabelle 28 Tabelle 29 Tabelle 30
Hämatologische Normalwerte des Neugeborenen – 1143 Schwankungsbreiten des normalen Myelogramms – 1144 Normalwerte der Leukozyten – 1145 Normalwerte phagozytierender Leukozyten – 1145 Reaktive Blutbildveränderungen – 1146 Alkalische Leukozytenphosphatase (Score) – 1151 Normalwerte der Serumproteine – 1152 Normwerte der Immunglobulinspiegel i. S. – 1153 Normwerte des roten Blutbildes – 1154 Normwerte des roten Blutbildes bei Frühgeburten – 1155 Hämoglobinkonzentration bei Frühgeborenen – 1155 Effekt des Gestationsalters auf die Parameter des roten Blutbildes – 1156 Geschätzte Blutvolumina im Kindesalter – 1156 Erythrozytenkinetik – 1157 Schätzwerte für Erythrozyten, Plasma und Gesamtvolumen – 1157 Normwerte für Eisenbindungskapazität und Transferrinsättigung bei Säuglingen – 1158 Normalwertbereiche für Cobalamin und Folsäure – 1159 Methämoglobinspiegel bei Gesunden – 1161 Aktivitäten der Erythrozytenenzyme – 1161 Hämostaseologische Normalwerte – 1162 Referenzwerte der Gerinnungsparameter für Neugeborene und Frühgeborene – 1163 Referenzwerte der Inhibitoren der Gerinnung für Neugeborene und Frühgeborene – 1164 Referenzwerte für das fibrinolytische System Neugeborener und Frühgeborener – 1165 Liste der wichtigsten an der Hämostase beteiligten Faktoren – 1166 Indikationen, Dosierung, Applikation und Therapiesteuerung bei der Behandlung von Störungen der Hämostase – 1167 Cluster der Differenzierungsantigene – 1170 Altersabhängige Absolutwerte der Lymphozyten – 1173 Altersabhängige Relativverteilung der Lymphozytensubpopulationen – 1173 Chemokine und ihre Rezeptoren – 1174 Wesentliche menschliche Zytokine – 1175
Wir danken dem Verlag Lippincott, Williams and Wilkins, Philadelphia, für die freundliche Genehmigung, die Tabellen 1–4 und 6–24 in deutscher Übersetzung aus dem Buch »Blood, Principles and Practice of Hematology«, 2nd edition, 2003, übernehmen zu dürfen.
1143 Anhang
⊡ Tabelle 1. Hämatologische Normalwerte des Neugeborenen (nach Oski u. Naiman 1972)
Wert
Nabelschnur
Tag 1
Tag 3
Tag 7
Tag 14
Hämoglobin (g/dl)
16,8
18,4
17,8
17,0
16,8
Hämatokrit (%)
53,0
58,0
55
54,0
52,0
Erythrozytenzahl (mm3)
5,25
5,8
5,6
5,2
5,1
Mittleres korpuskuläres Volumen MCV (fl)
107
108
99
98,0
96,0
Mittleres korpuskuläres Hämoglobin MCH (pg)
34
35
33
32,5
31,5
Mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration MCHC(g/dl)
31,7
32,5
33
33
33
Retikulozyten
3-7
3–7
1–3
0–1
0–1
Normoblasten/mm3
500
200
0–5
0
0
Thrombozyten (1000 s/mm3)
290
192
213
248
252
Wichtiger Hinweis: Während der ersten zwei Lebenswochen muss ein venös abgenommener Hämoglobinwert unter 13,0 g/dl oder ein kapillärer Wert unter 14,5 g/dl als Anämie gewertet werden.
1144 Anhang
⊡ Tabelle 2. Quantitative Daten (jeweils Anzahl und Prozentanteil) über Schwankungsbreiten des normalen Myelogramms bei Kindern verschiedenen Lebensalters im Vergleich zu Erwachsenen
Zellart
1. Lebenstag
Ende der Neugeborenenperiode
Säuglingsalter
Kleinkindesalter
Schulalter
Erwachsenenalter
Erythroblasten Basophile
0,5–10,0
5,0
0,0–3,0
1,0
0,5–5,0
2,5
1,0–6,0
2,5
1,0–8,0
3,0
0,5–7,5
3,5
Polychromatische
7,5–30,0
15,0
0,0–10,0
3,0
5,0–20,0
10,0
3,0–10,0
5,0
3,0–10,0
6,0
2,0–15,0
7,0
Oxyphile
7,5–30,0
15,0
2,0–20,0
6,0
5,0–12,5
7,5
5,0–20,0
10,0
5,0–20,0
11,0
5,0–25,0
Insgesamt
35,0
10,0
20,0
17,5
20,0
12,0 22,5
Granulopoese Myeloblasten
0,2–5,0
2,5
0,2–5,0
2,0
0,2–5,0
1,5
0,2–5,0
1,0
0,2–5,0
1,0
0,5–5,0
1,0
Promyelozyten
0,2–5,0
3,0
0,5–7,5
3,5
0,5–10,0
2,5
0,5–7,5
2,5
0,5–10,0
3,0
0–7,5
3,0
Myelozyten
2,0–20,0
6,0
5,0–20,0
10,0
5,0–15,0
10,0
5,0–20,0
12,5
5,0–25,0
15,0
5,0–25,0
15,0
Metamyelozyten
5,0–25,0
12,5
5,0–25,0
12,5
5,0–15,0
10,0
5,0–20,0
12,5
5,0–25,0
15,0
5,0–20,0
15,0
Stabkernige
5,0–25,0 bis 35,0
12,5
10,0–25,0 bis 35,0
15,0
5,0–15,0 bis 30,0
8,0
5,0–15,0 bis 25,0
10,0
5,0–20,0 bis 30,0
12,5
5,0–25,0 bis 35,0
15,0
Segmentkernige
10,0–30,0 (–45,0)
15,0
10,0–25,0 (–35,0)
15,0
1,0–15,0
7,0
1,0–15,0 (–20,0)
8,5
1,0–15,0 (–20,0)
8,0
0,5–15,0 (–25,0)
7,0
Eosinophile
0,0–5,0
1,0
0,5–7,5
2,5
1,0–7,5
4,0
2,5–7,5
5,0
1,0–7,0
4,0
1,5–7,5
4,0
Basophile
0,0–0,5
0,05
0,0–1,0
0,05
0–1,0
<0,05
0–7,5
<0,1
0–1,0
<0,2
0–1,0
<0,5
Monozyten
3,0–15,0
7,5
2,0–10,0
5,0
0,5–5,0
2,0
1,0–5,0
3,0
0,5–4,0
1,5
0,5–3,0
2,0
Lymphozyten Lymphoide Retikulumzellen
0,0–10,0
5,0
10,0–40,0
25,0
15,0–50,0
35,0
15,0–40,0
27,5
10,0–35,0
20,0
2,5–15,0 1,5–20,0
7,5 6,5
Plasmozyten
0,0–1,0
0,1
0,0–1,5
0,1
0–2,0
<0,5
0–2,5
<0,5
0,2–2,5
0,5
0,5–3,0
Insgesamt
Megakaryozyten
52,5
0,1
60,0
0,1
43,0
<0,5
52,0
<0,5
58,5
<0,5
60,5
1,0 <0,5
1145 Anhang
⊡ Tabelle 3. Normalwerte der Leukozyten (Dallmann 1977)
Alter
Gesamte Leukozyten
Neutrophile Granulozyten
Lymphozyten
Mittelwert
Mittelwert
Streuung
%
Mittel- Streuung wert
Streuung
Monozyten
Eosinophile
%
Mittelwert
%
Mittelwert
%
Geburt
18,1
9–30
11,0
6–26
61
5,5
2–11
31
1,1
6
0,4
2
12 h
22,8
13–38
15,5
6–28
68
5,5
2–11
24
1,2
5
0,5
2
24 h
18,9
9,4–34,0
11,5
5–21
61
5,8
2,0–11,5
31
1,1
6
0,5
2
1 Woche
12,2
5–21
1,5–10,0
45
5,0
2–17
41
1,1
9
0,5
4
5,5
2 Wochen
11,4
5–20
4,5
1,0–9,5
40
5,5
2–17
48
1,0
9
0,4
3
1 Monat
10,8
5,0–19,5
3,8
1–9
35
6,0
2,5–16,5
56
0,7
7
0,3
3
6 Monate
11,9
6,0–17,5
3,8
1,0–8,5
32
7,3
4,0–13,5
61
0,6
5
0,3
3
1 Jahr
11,4
6,0–17,5
3,5
1,5–8,5
31
7,0
4,0–10,5
61
0,6
5
0,3
3
2 Jahre
10,6
6–17
3,5
1,5–8,5
33
6,3
3,0–9,5
59
0,5
5
0,3
3
4 Jahre
9,1
5,5–15,5
3,8
1,5–8,5
42
4,5
2–8
50
0,5
5
0,3
3
6 Jahre
8,5
5,0–14,5
4,3
1,5–8,0
51
3,5
1,5–7,0
42
0,4
5
0,2
3
8 Jahre
8,3
4,5–13,5
4,4
1,5–8,0
53
3,3
1,5–6,8
39
0,4
4
0,2
2
10 Jahre
8,1
4,5–13,5
4,4
1,8–8,0
54
3,1
1,5–6,5
38
0,4
4
0,2
2
16 Jahre
7,8
4,5–13,0
4,4
1,8–8,0
57
2,8
1,2–5,2
35
0,4
5
0,2
3
21 Jahre
7,4
4,5–11,0
4,4
1,8–7,7
59
2,5
1,0–4,8
34
0,3
4
0,2
Anmerkung: Die Anzahl der Leukozyten ist in 1000 s/µl angegeben; die Streubreite umfasst das 95%-Konfidenzintervall; Prozentwerte beziehen sich auf die Angaben im Differenzialblutbild. Neutrophile schließen Stabkernige immer mit ein und ggf. in den ersten Lebenstagen eine kleine Anzahl von Metamyelozyten und Myelozyten.
⊡ Tabelle 4. Absolute Konzentrationen phagozytierender Leukozyten im peripheren Blut
Population
Konzentration (Zellen/µl, Mittelwerte) Stabkernige
Segmentkernige
Stab- und Segmentkernige
Monozyten
200–2150 (600)
1500–6050 (3000)
−
220–950 (460)
60–1650 (300)
1100–6700 (2700)
−
210–1050 (470)
−
3487–9206
221–843
Amerikanische Erwachsenea Weiße Schwarze Europäerb Weiße
−
Amerikanische Kinderc Geburt
−
−
6000–26,000 (11.000)
400–3100 (1050)
7 Tage
−
−
1500–10.000 (5500)
300–2700 (1100)
4 Jahre
−
−
1500–8500 (3800)
0–800 (450)
10 Jahre
−
−
1800–8000 (4400)
0–800 (350)
a
nach Orfanakis et al. 1970;
b
nach England u. Bain 1976;
c
nach Altman u. Katz 1977.
1146
Anhang
⊡ Tabelle 5. Reaktive Veränderungen
Erythrozyten
Leukozyten
Erythropoese
Erythrozytenzahl
Retikulozyten
Morphologie
Leukozyten
Granulozyten
Toxische Granulation
Infektionen viral
–
–
n/–
n
– /n/+
–/(+)
(+)
EBV
–
–
n/–
n
+/–
–
(+)
Zytomegalie
–
–
n/–
n
–/(+)
–
(+)
Hepatitis
–
–
n/–
n
–/(+)
–
(+)
HIV
–
–
n/–
n
–
–
(+)
Parvovirus B19
–
–
–, später +
Reifungsstopp
–
–
(+)
Varizellen
(–)
(–)
n/–
n
+
–
(+)
Röteln
(–)
(–)
n/–
n
+
Mumps
(–)
(–)
n/–
n
+
–
(+)
Pertussis
(–)
(–)
n/–
n
+
–
(+)
+/–
+, spät –
(+)
bakteriell
(+)
Mykoplasmen
–
–
n/–
n
n/–
–
(+)
Tuberkulose
–
–
n/–
n
–/+
–
(+)
Staphylokokken
n/–
n/–
n/–
n
+
+
(+)
+
+
(+)
Streptokokken
n/–
Salmonellen
n/–
n/–
n/–
n
+
–
(+)
Shigellen
n/–
n/–
n/–
n
+
–
(+)
Sepsis
–
–
n/–
n
+/–
+/–
(+)
neonatal
–
–
n/–
Normoblasten
–/(+)
–/+
(+)
Toxoplasmose
–
n
n
n
n
n
Malaria
+
Hämolyse
Leishmaniose
–
n/–
Parasitär
+ n
Trophozyten
n/–
n/–
Leishmanien intrazellulär
n/–/+
n
Wurmerkrankungen
–
–
n/–
n
Ecchinococcus (Cestoden)
n
–
n/–
n
n/–/+
n
+
Oxyguren
(–)
–
n/–
n
n/–/+
n
+
Askariasis (Nematoden)
(–)
(–)
n/–
n
n/–/+
n/+
+
–
n/–
n
n
n/+/(–)
n/(+)
–
n/(–)
(–)
–
n/(–)
(–)
–
+
+
Granulomatöse Erkrankungen Sarkoidose Mangelerkrankungen
mikrozytär (Eisenmangel)/ makrozytär (Vit. B12/ FolsäureMangel)
Anorexia nervosa
–
–
–
Eisenmangel
–
–
–
Verletzungen/körperliche Belastung
mikrozytär
1147 Anhang
Thrombozyten Eosinophilie
Basophilie
Lymphozyten
Monozyten
Morphologie
(+)
n
+
+
(+)
n
+
+
Reizformen Riesenzellen
Thrombopoese
Thrombozyten
Knochenmark Thrombozytenmorphologie
–
–
n
–
–
n n
(+)
n
+
+
–
n/–
(+)
n
+
+
–
–
n
(+)
n
–
+
–
–
n
(+)
n
+
+
n/–
n
n n
(+)
+
+
+
n/–
n/–
(+)
n
+
(+)
n/–
n/–
n
(+)
n
+
(+)
n/–
n/–
n
n/–
n/–
n
+
+
+
n
++
(+)
(–)/(+)
(+)
(–)
n
n
(–)
n
n
(–)/(+)
n/–
n
+
+
+
n
(–)/(+)
n/–
n n
(+) (+)
Reizformen, Zellschatten
Erythropoesestopp
n
(+)
(–)
n
n
+
+
+
n
–
n
n
n
n
n
n
(–)
n
n
+
+
n
n
n
(–)
n
n
+
+
n
n
n/–
(–)
n
n
–/+
n/–
n
n/–
+/(–)
n/–
n
–
–
Thrombozytenaggregate
n
n
n
Einschlusskörper (Makrophagen)
n
n
n
Einschlusskörper (Makrophagen)
(+)
n
(+)
n
n
–
–
n
Trophozyten
(+)
n
(+)
n
n
n/–
–
n
Leishmanien intrazellulär
+
++
n
(+)
n
n
n
n
++
n
(+)
n
n
n
n
n
++
n
(+)
n
n
n
n
n
++
n
(+)
n
n
n
n
n
+
+
n
n
n
n
+
n
n
n
(–)
n
n
n
+
n
n
n
n/+; - bei schwerem Verlauf
n/+
n
+
n
Granulome
Verringertes Speichereisen
1148
Anhang
⊡ Tabelle 5 (Fortsetzung)
Erythrozyten
Leukozyten
Erythropoese
Erythrozytenzahl
Retikulozyten
Morphologie
Leukozyten
Granulozyten
Toxische Granulation
Medikamente
–
–/Hämolyse
normozytär
–/+
–/+
+
Steroide/Sympathomimetika/Zytokine
(+)
(+)
(+)
+
+
+
Zytostatika
–
–
–
normozytär
–
–
+
–
–
n
basophile Tüpfelung
+
+
+
M. Still
–
–
(+)
n
+
+
HUS
–
+
Hämolyse
+
Fragmentozyten
+
n /(+)
++
Kawasaki-Syndrom
(–)
Idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP)
n
(–)
n
n
–
–
n/–
n
n
n
n
n
Vergiftung Blei Autoimmunerkrankungen
+
Allergien
n
n
n
n
n /(+)
n /(+)
+
Paraneoplastische Syndrome
–
Hämolyse
+/–
n
–/+
–/+
+
Niereninsuffizienz
–
–
–
mikrozytär, hypochrom
(–)
(–)
n
Darm (Malabsorption)
–
–
–
mikrozytär, hypochrom
(–)
(–)
n
Hypersplenie
+
–
+
(–)
(–)
n
Splenektomie
n/+
+
n
+
+
n
Knochenmarkinfiltrate bei soliden Tumoren
–
–
–
–
–
Stoffwechselerkrankungen
–
–
–
–
–
Organbedingte reaktive Veränderungen
JollyKörperchen
Cobalaminstoffwechsel: makrozytär
n
M. Paget
–
–
n
–
–
n
M. Gaucher
–
–
n
–
–
n
–
–
n
(+)
n
n
Osteopetrosis
–
–
–
Hyperthyreose
–
–
–
–
Hypothyreose
–
–
–
normozytär, mikrozytär
(–)
n
n
Hypophyseninsuffizienz
–
–
n
normozytär
(–)
n
n
M. Down (transitorisch myeloproliferatives Syndrom)
n/–
n/–
(+)
Normoblasten
+/(–)
(–)
n
Shwachman-Syndrom
n/–
–
–
n
n/–
–
n
Angeborene Syndrome
1149 Anhang
Thrombozyten Eosinophilie Basophilie
Lymphozyten
Monozyten
Thrombopoese
Thrombozyten
Thrombozytenmorphologie
(+)
(–)
(–)
n
+
n
n
–
–
Mikromegakaryozyten
n
n/–
n
(+)/(–)
(–)
–
–
–
+
–
–
–
–
Morphologie
Knochenmark
Dysplasie, Kernfragmente
Dyserythropoese/ Dysgranulo poese/ Aplasie
n + (–) (+)
(+)
(–)
(–)
n
–/(+)
n/–
n
(+)
(+)
(–)
n/+
n
–
–
n
n
(–)
n/+
n
n /+
n /+
n
(–)
n/+
n
+
–
Thrombozyten in Blut fehlen
+
+/–
(–)
(+)
n
+
n
n
+
+
(–)
+
(Hämophago-zytose)
–/(+)
–/(+)
n
Megakaryozyten vermehrt; Mikromegakaryozyten (Hämophagozytose)
n n/–
n
(+)
+
+
n
(+)
n n
n
(+)
(+)
(–)
+
–
n
(+)
(+)
n/+
++
n
–/(+)
(+)
n/+
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
–
n
n
+
+
n
n/+
+
–
n
n/+
n
n
n
n
n
–
(+)
n
n
n
+
Tumorzellen
n n
n
n
n
Tumorzellen
–
–
–
–
n
–
–/+
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
Myeloische/meg- – akaryoblastäre Blasten
–
n
Myeloische/ megakaryoblastäre Blasten
n/–
n
Reifungsstopp der Granulopoese
Speicherzellen
n/–
Speicherzellen
1150
Anhang
⊡ Tabelle 5 (Fortsetzung)
Erythrozyten Erythropoese
Erythrozytenzahl
Leukozyten Retikulozyten
Morphologie
Leukozyten
Granulozyten
Toxische Granulation
n
n/–
–
n
M. Kostmann
n/–
Fanconi-Anämie
–
–
–
makrozytär, Anisozytose
(–)
(–)
n
Diamond-Blackfan-Anämie –
–
–
makrozytär, Anisozytose
n/–
n/–
n
Hämoglobinopathien
–/+
Hämolyse
+
basophile Tüpfelung
(–)
n
n
Thalassämien
–
–/Hämolyse
+
Targetzellen
n/(–)
n
n
Sphärozytose
++
Hämolyse
+
Kugelzellen
n
n
Elliptozytose
+
Hämolyse
+
Elliptozyten
n
n
n
Glukose-6-Phosphatdehydrogenase-Mangel
++
Hämolyse
+
n
n
n
5’- Isomerasemangel
++
Hämolyse
+
n
n
n
Triosephosphatdehydrogenase- Mangel
++
Hämolyse
+
n
n
n
basophile Tüpfelung
1151 Anhang
Thrombozyten Eosinophilie Basophilie
Lymphozyten
(+)
n
n
n
n
n
Monozyten
Morphologie
Knochenmark
Thrombopoese
Thrombozyten
Thrombozytenmorphologie
+
n
n
n
Reifungsstopp der Granulo poese
n/–
n/–
-
-
n
Aplastische Panzytopenie
n
n/–
n/–
n/ -
-
n
Ausgeprägt verminderte Erythropoese
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
n
Mikrozytäre Anämie, Knochenmarkhyperplasie
n
(+)
n
n
n
n
n
Gesteigerte Erythropoese
n
(+)
n
n
n
n
n
Gesteigerte Erythropoese
n
(+)
n
n
n
n
n
n
(+)
n
n
n
n
n
Gesteigerte Erythropoese
n
(+)
n
n
n
n
n
Gesteigerte Erythropoese
⊡ Tabelle 6. Alkalische Leukozytenphosphatase (Punktwertung, sog. Score) (nach Cartwright 1968)
Gruppe
Anzahl
Mittelwert
Streuung
Männer
51
73
22–124
Frauen
50
92
33–149
101
82
25–139
Gesamtzahl
1152 Anhang
⊡ Tabelle 7. Spiegel der Serumproteine in Beziehung zum Lebensalter (nach Johnson 1978)
Gesamtprotein (g/dl)
Albumin (g/dl)
Alpha-1-Fraktio(g/dl)
Alpha-2-Fraktion (g/dl)
Beta-Fraktion (g/dl)
Gamma-Fraktion (g/dl)
Mittelwert
Mittelwert
Mittelwert
Mittelwert
Mittelwert
Mittelwert
Streuung
Streuung
Streuung
Streuung
Streuung
Streuung
Nabelschnur
6,22±1,21
4,78–8,04
3,23±0,82
2,17–4,04
0,41±0,10
0,25–0,66
0,68±0,14
0,44–0,94
0,74±0,30
0,42–1,56
1,28±0,23
0,81–1,16
1–3 Monate
5,64±1,04
3,64––7,38
3,41±0,72
2,05––4,46
0,24±0,09
0,08––0,43
0,74±0,24
0,40–1,13
0,59±0,20
0,39–1,14
0,66±0,24
0,25–1,05 0,24–0,90
4–6 Monate
5,43±0,84
4,29––6,10
3,46±0,36
3,17–3,88
0,17±0,04
0,12–0,25
0,67±0,11
0,52–0,84
0,61±0,14
0,44–0,76
0,61±0,26
7–12 Monate
6,54±0,76
5,10–7,31
3,62±0,60
3,22–4,31
0,35±0,15
0,15–0,55
0,99±0,30
0,78–1,46
0,79±0,16
0,63–0,91
0,84±0,36
0,32–1,18
13–24 Monate
6,66±0,93
3,69–7,50
3,63±0,80
1,89–5,03
0,31±0,15
0,09–0,58
0,88±0,42
0,41–1,36
0,77±0,31
0,36–1,41
1,09±0,32
0,36–1,62
25–36 Monate
6,98±0,66
6,38–8,06
4,11±0,78
3,57–5,50
0,23±0,09
0,19–0,26
0,89±0,14
0,68–1,09
0,67±0,14
0,47–0,91
1,08±0,28
0,73–1,46
3–5 Jahre
6,65±0,85
4,88–8,06
3,95±0,57
2,93–5,21
0,21±0,08
0,08–0,40
0,70±0,15
0,43–0,99
0,67±0,11
0,47–1,01
1,13±0,31
0,54–1,66
6–8 Jahre
6,95±0,55
5,97–7,94
4,03±0,45
3,26–4,95
0,22±0,09
0,09–0,45
0,67±0,10
0,50–0,83
0,72±0,11
0,45–0,93
1,21±0,32
0,70–1,95
9–11 Jahre
7,43±0,84
6,32–9,00
4,24±0,79
3,16–4,97
0,30±0,07
0,12–0,38
0,75±0,27
0,67–0,87
0,84±0,16
0,63–1,02
1,46±0,41
0,79–2,03
12–16 Jahre
7,25±0,85
6,25–8,75
4,26±0,64
3,19–5,13
0,19±0,07
0,09–0,32
0,71±0,15
0,50–0,97
0,68±0,15
0,48–0,88
1,40±0,31
1,08–1,96
Erwachsene
7,41±0,96
6,44–8,32
4,31±0,59
3,46–4,78
0,23±0,06
0,16–0,30
0,61±0,14
0,51–0,86
0,81±0,22
0,59–1,06
1,45±0,46
0,68–2,11
1153 Anhang
⊡ Tabelle 8. Normalwerte der Serumimmunglobulinspiegel
Alter
Anzahl
IgG mg/dl
IgA %E
mg/dl
IgM %E
mg/dl
%E
Neugeborenes
20
1004 (598–1672)
95
<5 (0–<5)
12
24 (11–51)
12
1–3 Monate
10
365 (218–610)
34
32 (20–53)
17
38 (25–60)
32
4–6 Monate
12
381 (228–636)
36
44 (27–72)
17
47 (18–124)
50
7–9 Monate
10
488 (292–816)
46
44 (27–73)
25
56 (28–113)
62
10–18 Monate
13
640 (383–1070)
60
67 (27–169)
33
65 (32–131)
74
2 Jahre
8
708 (423–1184)
67
89 (35–222)
38
57 (28–116)
86
3 Jahre
6
798 (477–1334)
75
100 (40–251)
45
41 (20–82)
75
4 Jahre
8
906 (542–1515)
85
120 (48–301)
50
52 (26–106)
54
5 Jahre
5
901 (539–1506)
85
134 (53–336)
49
57 (28–115)
68
6 Jahre
11
954 (571–1597)
90
131 (52–329)
84
48 (24–98)
75
7 Jahre
11
1066 (638–1783)
100
223 (89–559)
80
55 (27–112)
63
8 Jahre
8
976 (583–1631)
92
213 (85–535)
86
56 (28–113)
72
9Jahre
7
1006 (599–1673)
95
230 (92–578)
71
60 (29–120)
74
10 Jahre
7
991 (593–1657)
93
188 (75–472)
97
56 (28–113)
79
11 Jahre
7
989 (586–1637)
93
257 (102–644)
87
55 (27–111)
74
12 Jahre
7
855 (511–1430)
81
232 (92–581)
88
52 (26–105)
72
13 Jahre
13
961 (575–1607)
91
235 (94–588)
82
67 (33–135)
68
14 Jahre
8
940 (562–1571)
89
217 (86–544)
100
76 (37–154)
30
1066 (635–1770)
100
266 (106–668)
Erwachsen
E Erwachsenenwert (nach Buckley et al. 1968).
88 100
1154 Anhang
⊡ Tabelle 9. Werte des roten Blutbildes: Mittelwerte und untere Norm (–2 SD)
Alter
Hämoglobin (g/dl)
Hämatokrit (%)
Erythrozytenzahl (1012/l)
Mittelwert
Mittelwert
Mittelwert
–2 SD
–2 SD
–2 SD
MCH (pg)
MCV (fl) Mittelwert
–2 SD
Mittelwert
MCHC (g/dl) –2 SD
Mittelwert
–2 SD
Geburt
16,5
13,5
51
42
4,7
3,9
108
98
34
31
33
30
1–3 Tage (kapillär)
18,5
14,5
56
45
5,3
4,0
108
95
34
31
33
29
1 Woche
17,5
13,5
54
42
5,1
3,9
107
88
34
28
33
28
2 Woche
16,5
12,5
51
39
4,9
3,6
105
86
34
28
33
28
1 Monat
14
10
43
31
4,2
3,0
104
85
34
28
33
29
2 Monat
11,5
9
35
28
3,8
2,7
96
77
30
26
33
29
3–6 Monat
11,5
9,5
35
29
3,8
3,1
91
74
30
25
33
30
0,5–2,0 Jahr
12
10,5
36
33
4,5
3,7
78
70
27
23
33
30
2–6 Jahr
12,5
11,5
37
34
4,6
3,9
81
75
27
24
34
31
6–12 Jahr
13,5
11,5
40
35
4,6
4,0
86
77
29
25
34
31
Weiblich
14
12
41
36
4,6
4,1
90
78
30
25
34
31
Männlich
14,5
13
43
37
4,9
4,5
88
78
30
25
34
31
Weiblich
14
12
41
36
4,6
4,0
90
80
30
26
34
31
Männlich
15,5
13,5
47
41
5,2
4,5
90
80
30
26
34
31
12–18 Jahre
18–49 Jahre
SD Standardabweichung.
1155 Anhang
⊡ Tabelle 10. Parameter des »roten Blutbildes« bei extrem unreifen Frühgeborenen (VLBW) während der ersten 6 Lebenswochen (nach Obladen et al. 2000)
Lebenstage
Hämoglobin (g/dl)
Hämatokrit (%)
Erythrozytenzahl (1012/l)
Korrigierte Retikulozyten (%)
Perzentilen
n
3
5
10
25
Median
75
90
95
97
2
559
11
11,6
12,5
14,0
15,6
17,1
18,5
19,3
19,8
12–14
203
10,1
10,8
11,1
12,5
14,4
15,7
17,4
18,4
18,9
24–26
192
8,5
8,9
9,7
10,9
12,4
14,2
15,6
16,5
16,8
40–42
150
7,8
7,9
8,4
9,3
10,6
12,4
13,8
14,9
15,4
3
561
35
36
39
43
47
52
56
59
60
12–14
205
30
32
34
39
44
48
53
55
56
24–26
196
25
27
29
32
39
44
48
50
52
40–42
152
24
24
26
28
33
38
44
47
48
3
364
3,2
3,3
3,5
3,8
4,2
4,6
4,9
5,1
5,3
12–14
196
2,9
3,0
3,2
3,5
4,1
4,6
5,2
5,5
5,6
24–26
188
2,6
2,6
2,8
3,2
3,8
4,4
4,8
5,2
5,3
40–42
148
2,5
2,5
2,6
3,0
3,4
4,1
4,6
4,8
4,9
3
283
0,6
0,7
1,9
4,2
7,1
12,0
20,0
24,1
27,8
12–14
139
0,3
0,3
0,5
0,8
1,7
2,7
5,7
7,3
9,6
24–26
140
0,2
0,3
0,5
0,8
1,5
2,6
4,7
6,4
8,6
40–42
114
0,3
0,4
0,6
1,0
1,8
3,4
5,6
8,3
9,5
Bis Tag 3 sind alle Kinder eingeschlossen, unabhängig davon ob sie antenatale Steroidgaben oder Transfusionen erhalten haben. Danach wurden nur Kinder untersucht, die kein rekombinantes Erythropoetin erhielten, allerdings blieb die Gabe von Antibiotika und Steroiden unberücksichtigt.
⊡ Tabelle 11. Hämoglobinkonzentration (g/dl) bei Frühgeborenen ohne Eisenmangel (nach Lundstrom et al. 1978)
Geburtsgewicht Lebensalter
1000–1500 g
1501–2000 g
2 Wochen
16,3 (11,7–18,4)
14,8 (11,8–19,6)
1 Monat
10,5 (8,7–15,2)
11,5 (8,2–15,0)
2 Monate
8,8 (7,1–11,5)
9,4 (8,0–11,4)
3 Monate
9,8 (8,9–11,2)
10,2 (9,3–11,8)
4 Monate
11,3 (9,1–13,1)
11,3 (9,1–13,1)
5 Monate
11,6 (10,2–14,3)
11,8 (10,4–13,0)
6 Monate
12,0 (9,4–13,8)
11,8 (10,7–12,6)
Anmerkung: Serumferritin ≥10 ng/ml.
1156
Anhang
⊡ Tabelle 12. Effekt des Gestationsalters in utero und bei Neugeborenen auf Hämatokrit, Hämoglobin, mittleres Erythrozytenvolumen (MCV) und Retikulozyten
Gestationsalter (Wochen)
Hämatokrit (%)a
Hämoglobin (g/dl)
MCV (fl)
Retikulozyten (%)
b
18–20
36±3
11,5±0,8
134±9
ND
21–22b
38±3
12,3±0,9
130±6
ND
22–23b
38±1
12,4±0,9
125±1
ND
24–25
63±4
19,4±1,5
135±0
6,0±0,5
26–27
62±8
19,0±2,5
132±14
9,6±3,2
28–29
60±7
19,3±1,8
131±14
7,5±2,5
30–31
60±8
19,1±2,2
127±13
5,8±2,0
32–33
60±8
18,5±2,0
123±16
5,0±1,9
34–35
61±7
19,6±2,1
122±10
3,9±1,6
36–37
64±7
19,2±1,7
121±12
4,2±1,8
Termingeborene
61±7
19,3±2,2
119±9
3,2±1,4
a Feten in utero; b angegebene Werte ± Standardabweichung. ND nicht durchgeführt (nach Zaizov u. Matoth 1976, Forestier et al. 1986, McIntosh et al. 2000).
⊡ Tabelle 13. Geschätzte Blutvolumina (nach Price u. Ries 1975)
Alter
Plasmavolumen (ml/kg)
Erythrozytenmasse (ml/kg)
Gesamtblutvolumen (ml/kg) Gemessen am Plasmavolumen
Neugeborenes
Gemessen an der Erythrozytenmasse
41,3
43,1
82,1
86,1
46
–
–
84,7
–
78
–
1–7 Tage
51–54
–
82–86
–
37,9
–
77,8
1–12 Monate
46,1
–
78,1
–
25,5
–
72,8
1–3 Jahre
44,4
–
73,8
–
47,2
–
81,8
–
24,9
–
69,1
48,5
–
80,0
–
49,6
–
85,6
4–6 Jahre
25,5 7–9 Jahre
52,2
–
87,6
49,0
–
86,1
24,3 10–12 Jahre
– 67,5 – – 67,5
51,9
–
87,6
–
46,2
–
83,2
–
26,3
67,4
13–15 Jahre
51,2
–
88,3
–
16–18 Jahre
50,1
–
90,2
–
Erwachsene
39–44
25–30
68–88
55–75
1157 Anhang
⊡ Tabelle 14. Erythrozytenkinetik bei Gesunden
Parameter
Wert
Erythrozytenmasse Plasmagesamtvolumen 51
Cr-Halbwertszeit
Messeinheit
Männer: 28,7±3,8
ml/kg
Frauen: 25,3±2,6
–
Männer: 36,9±4,2
–
Frauen: 41,9±4,4
–
Messbereich: 28–35
Tage
Männer: 30,1±4,0
–
Frauen: 29,4±2,1
–
51
Messbereich: 0,68–1,31
% pro Tag
Plasmaeisen-Halbwertszeit
85±5
Minuten
Inkorporation von 59Fe in Erythrozyten
82±1 Messbereich: 79–89
– % in 14 Tag
Cr-Auswascheffekt
Plasmaeisen-Umsatz Erythroideisen-Umsatz
0,75±0,02
mg/100 ml Blut/Tag
121±17
µM/l Blut/Tag
0,56
mg/100 ml Blutvolumen/Tag
86±10
µmol/l Blutvolumen/Tag
⊡ Tabelle 15. Schätzwerte für Erythrozyten, Plasma und Gesamtblutvolumen bei Erwachsenen
Männer
Frauen
Volumen
a
b
SD (ml)
a
b
SD (ml)
Erythrozytenvolumen
490
21,4
200
409
18,3
139
Plasmavolumen
1050
19,6
260
455
28,.9
213
Gesamtblutvolumen
1530
41,0
400
864
47,.2
319
Für ein Individuum mit einem Gewicht (w, in kg) in einem durchschnittlichen Erythrozyten, Plasma, oder Gesamtblutvolumen (V, in ml) kann aus der folgenden Formel errechnet werden: V = a + bw. Beispiel: Bei einem 70 kg schweren Mann ist das durchschnittliche Erythrozytenvolumen 490 + (21,4×70) = 1988 ml ±2 SD; range = 1988±400; oder 1588–2388 ml. Die erwartete normale Schwankungsbreite kann mit der folgenden Formel errechnet werden: Schwankungsbereich = Durchschnitt ±2 SD. Berechnungen basieren auf Erythrozytenvolumen gemessen mit der 51Cr-Methode und mit den Plasma- und Blutvolumina berechnet aus dem Volumen der gepackten Erythrozyten ohne Korrektur auf gespeichertes Plasma oder »Körper-Hämatokrit«-Unterschiede. SD Standardabweichung (nach Brown et al. 1959; Wennesland et al. 1959).
1158
Anhang
⊡ Tabelle 16. Normwerte für die Eisenbindungskapazität und Transferrinsättigung bei Säuglingen (nach Saarinen u. Siimes 1977)
Alter in Monaten
Serumeisen
0,5
1
2
4
6
9
12 78
Median (µg/dl)
120
125
87
84
77
84
95%-Perzentile
63–201
58–172
15–159
18–164
28–135
34–135
35–155
Eisenbindungskapazität
Mittel ± Standardabweichung (µg/dl)
191±43
199±43
246±55
300±39
321±51
341±42
358±38
Transferrinsättigung
Median
68
63
34
27
23
25
23
95%-Perzentile
30–99
35–94
21–63
7–53
10–43
10–39
10–47
Die Daten stammen von gesunden term-eutrophen finnischen Säuglingen. Deren Formulanahrung und Beikost wurden während des ersten Lebensjahres mit Eisen angereichert. Säuglinge mit einem Hämoglobinwert <11 g/dl, MCV<71 fl oder einem Serumferritin <10/ng/ml wurden von der Studie ausgeschlossen.
⊡ Abb. 1. Serumeisen und Transferrinsättigung. Werte in verschieden Altersgruppen mit Hämoglobinwerten, MCV, freiem Erythrozytenprotoporphyrin und Serumferritin (nach Koerper u. Dallman 1977)
Cobalamin und Folsäure bzw. Test
Normbereich
Erythrozytenfolsäure
160-640 µg/l (363–1450 nmol/l [SI])
Serumfolsäure
2,5—20,0 µg/l (5.7-45.3 nmol/l [SI])
Nach den Ergebnissen von Stoffwechselstudien repräsentieren Serumfolsäurespiegel zwischen 2,5–4,0 µg/l einen grenzwertigen Folsäuremangel.
Serumcobalamin
200–900 ng/l (148–665 pmol/l [SI])
Referenzwerte unterscheiden sich in den verschiedenen Nachweismethoden, aber nähern sich insgesamt diesem Schwankungsbereich an. Werte unter 200 ng/l werden in allen Nachweismethoden als niedrig eingeschätzt. Aufgrund der Tatsache, dass gelegentlich Patienten Symptome eines Cobalaminmangels mit Werten über 200 ng/l aufweisen, empfehlen einige Autoren Werte bis 300 oder 350 ng/l als verdächtig zu betrachten, wenn das klinische Bild den Verdacht einer Mangelsymptomatik vermuten lässt.
Plasmagesamthomocysteina
Kinder: 3,5–10,5 µmol/l Erwachsene Frauen: 4,8–13,8 µmol/l Erwachsene Männer: 5,2–14,5 µmol/l
Normalwerte variieren, abhängig von den Messmethoden und den Definitionen der Normalwerte. Zu den vielfältigen Beeinflussungsmöglichkeiten des Homocysteinwertes gehören Geschlecht, Alter, genetische Polymorphismen und unterschiedliche Lebensführung. Eine Hauptkonstante ist die Höhe des Serumkreatinins. Je höher das Kreatinin ist, auch im normalen Schwankungsbereich, umso höher der Homocysteinwert. Des Weiteren hängen die Homocysteinwerte von der Art und Methode der Probensammlung ab: Serumspiegel weisen höhere Spitzenspiegel und eine größere Bandbreite auf als die im Plasma als der bevorzugten Messquelle. Verzögerungen bei der Aufbereitung der abgenommenen Blutprobe über 1 h nach Abnahme bedingen ebenfalls künstlich erhöhte Homocysteinspiegel, ausgelöst durch die Homocysteinfreisetzung aus Blutzellen in vitro.
Serummethylmalonylsäure
90–280 nmol/l
Bei Folsäuremangel-Patienten ist lediglich der Gesamtplasma-Homocysteinspiegel erhöht. Im Falle eines Cobalaminmangels sind sowohl der Plasma-Homocysteinspiegel und auch die Methylmalonylsäure erhöht.
Schillingtest für freie Cobalaminabsorption (im Urin)
>8% Ausscheidung von radioaktiv markiertem Cobalamin im 24-h-Sammelurin
Ein verwertbares Testergebnis benötigt einen kompletten 24h-Sammelurin, eine normale Nierenfunktion und ,vor der Gabe der Testdosis, den Stop der parenteralen Cobalaminzufuhr für mindestens 48–72 h. Wenn die Ausscheidung unter 8% liegt, kann die Ursache der mangelnden Aufnahme weiter eingegrenzt werden, indem der Test mit der Verabreichung von oralem IntrinsicFaktor zusammen mit radioaktiv markiertem Cobalamin wiederholt wird. Verschiebung in den Normalbereich zeigt einen Intrinsic-Faktor-Mangel an. Weiter bestehender Mangel deutet auf eine Störung im Bereich des Dünndarms oder eine Pankreasinsuffizienz als Ursache der Malabsorption hin. Der Schillingtest verwendet freies Cobalamin, kann also nicht zum Nachweis einer nahrungsmittelbedingten Cobalaminmalabsorption verwendet werden.
Intrinsic-factor-Antikörper
Nicht vorhanden
Patienten müssen vor Abnahme der Probe für mindesten drei Tage ohne parenterale Cobalaminzufuhr sein.
PlasmacobalaminBindungskapazität (Transcobalamine)
Ungesättigte CobalaminBindungskapazität: 800–1600 ng/l (590–1180 pmol/l [SI]) Ungesättigtes (apo)Transcobalamin I: 150–300 ng/l (110–221 pmol/l [SI]) Ungesättigtes (apo)Transcobalamin II: 600–1300 ng/l (443–960 pmol/l [SI])
Die Werte geben die Menge an Cobalamin an, die nach Zugabe desselben „in vitro“ von den Proteinen gebunden wird. Die Referenzwerte und die der Proben variieren erheblich von Methode zu Methode und von Labor zu Labor. Die Spiegel des ungesättigten Transcobalamin I (R-binder) und die Cobalamin-bindende Kapazität sind im Serum unzuverlässig aufgrund der „In vitro“-Freisetzung von Transcobalamin aus Leukozyten. Ethylendiamintetraessigsäure (EDTA) muss als Antikoagulans für die Plasmagewinnung verwendet werden. Wenn Cobalamin-Bindungsstudien angewandt werden, sind die Resultate dann unzuverlässig, wenn aufgrund einer intravenösen Therapie mit Cobalamin die Spiegel hoch sind.
Erläuterungen
einschließlich gemischter Disulfide, proteingebundenem und freiem Homocystein.
1159
a
Anhang
⊡ Tabelle 17. Normalwertbereiche für Cobalamin und Folsäure sowie die benötigten Tests (nach Carmel)
1160
Anhang
⊡ Abb. 2. Erythropoetintiter. Die Titer wurden mit einem Radioimmunoassay bei gesunden Individuen und Patienten mit chronischer und renal bedingter Anämie gemessen. EPO Erythropoetin, Kreise anämische und normale Individuen, Quadrate normal Gesunde, Dreiecke anämische Patienten (nach Ersler et al. 1987)
⊡ Abb. 3. Zeitlicher Verlauf der relativen Hämoglobin-F-Konzentration bei gesunden Säuglingen (nach Garby u. Sjolin 1962)
1161 Anhang
⊡ Tabelle 18. Methämoglobinspiegel (Normwerte bei Gesunden)
Fallzahlen
Frühgeborene Reifgeborene (1–10 Tage) Kleinkinder (1 Monat bis 1 Jahr) Schulkinder (1–14 Jahre) Adoleszente/Erwachsene (14–78 Jahre)
50 39 8 35 30
Methämoglobin (g/dl)
Methämoglobin in Prozent des Gesamthämoglobins
Mittelwert
Range
SD
Mittelwert
Range
SD
0,38 0,22 0,14 0,11 0,11
(0,02–0,83) (0,00–0,58) (0,02–0,29) (0,00–0,33) (0,00–0,28)
±0,1 ±0,17 ±0,09 ±0,09 ±0,09
2,2 1,5 1,2 0,79 0,82
(0,08–4,7) (0,00–2,8) (0,17–2,4) (0,00–2,4) (0,00–1,9)
±1,1 ±0,81 ±0,78 ±0,62 ±0,63
Gemessen an offensichtlich gesunden Individuen ohne Zyanose oder Atemwegserkrankungen. Nitratspiegel durch die Aufnahme von Milch und Wasser war kleiner 0,027 ppm bei den Kindern. Die Frühgeborenen Säuglinge wurden mit Vitamin C behandelt. SD Standardabweichung (nach Krawitz u. Elegant 1956).
⊡ Tabelle 19. Aktivitäten der Erythrozytenenzyme bei gesunden Erwachsenen
Enzyme
Aktivität bei 37°C (Durchschnitt ± Standardabweichung)
Azetylcholinesterase Adenosindesaminase Adenylatkinase Aldolase Bisphosphoglyceromutase (2,3-diphosphoglyceromutase) Katalase Enolase Epimerase Galaktokinase Galaktose-1-Phosphat-Uridyl-Transferase Glukosephosphat-Isomerase Glukose-6-Phosphatdehydrogenase WHO-Methodik γ-Glutamylcysteinsynthetase Glutathioneperoxidase Glutathionreduktase ohne FAD Glutathionreduktase mit FAD Glutathion-S-Transferase Glycerolaldehydphosphat-Dehydrogenase Glutamatoxalazetat-Transaminase ohne PLP Glutamatoxalacetat-Transaminase mit PLP Hexokinase Hypoxanthinphosphoribosyl-Transferase Laktatdehydrogenase Methämoglobinreduktase Monophosphatglyceromutase NADH-Methämoglobinreduktase NADPH-Diaphorase Phosphofruktokinase Phosphoglukomutase Phosphoglyceratkinase Phosphoglycolatphosphatase Pyrimidin-5‘-Nukleotidase Pyruvatekinase 6-Phosphoglukonatdehydrogenase Triosephosphat-Isomerase
36,93±3,83 1,11±0,23 258±29,3 3,19±0,86 4,78±0,65 15,3±2,4×104 5,39±0,83 0,23±0,06 0,029±0,004 28,4±6,94 60,8±11,0 8,34±1,59 12,1±2,09 0,43±0,04 30,82±4,65 7,18±1,09 10,4±1,50 6,66±1,81 226±41,9 3,02±0,67 5,04±0,90 1,78±0,38 1,72±0,30 200±26,5 2,60±0,71 37,71±5,56 19,2±3,85 (30°C) 2,26±0,16 11,01±2,33 5,50±0,62 320±36,1 1,23±0,10 0,11±0,03 15,0±1,99 8,78±0,78 2111±397
FAD Flavinadenindinukleotid; NADH Nikotinamidadenindinukleotid (reduzierte Form); NADPH Nikotinamidadenindinukleotidphosphat; PLP Pyridoxal-5’-Phosphat; WHO World Health Organization (nach Beutler u. Blum 1977; Beutler 1984).
1162
Anhang
⊡ Tabelle 20. Hämostaseologische Normalwerte
Test
Normalbereicha
Thrombozytenzahl
140–440 ×109/l
Blutungszeit Ivy
1–9 minb
Duke
1–4 min
Partielle Thromboplastinzeit PTT Aktivierte aPTT
32–46 sc
Prothrombinzeit PT
1–15 sd
Quick-Wert (% der Norm)
70–120%
Therapeutische Bereiche der Cumarintherapie Quick
15–25%
PR
2,0–3,0
INR
2,0–4,5
Plasmathrombinzeit (TZ)
13–17 s
Fibrinogenbestimmung
160–415 mg/dl
Fibrinogenspaltprodukte
8 mg/dlc
a definiert mit 2 Standardabweichungen; b Konfidenzintervalle; c exakte Technik vorausgesetzt; d standardisiertes Thromboplastin erforderlich, sonst erhebliche Variation.
Thromboplastinzeit, PT (s) Quick (%) Thromboplastinzeit, PT (s) International Normalized Ratio, INR Aktivierte partielle Thromboplastinzeit, aPTT (s) Thrombinzeit (s) Fibrinogen (g/l) Faktor II (U/ml) Faktor V (U/ml) Faktor VII (U/ml) Faktor VIII (U/ml) Von-Willebrand-Faktor, vWF (U/ml) Faktor IX (U/ml) Faktor X (U/ml) Faktor XI (U/ml) Faktor XII (U/ml) Präkallikrein (U/ml)
Faktor XIIIb (U/ml)
Tag 1
Tag 5
Tag 30
Tag 90
Tag 180
Erwachsene
NG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG NG FG
13,0 (10,1–15,9) 55–100 13,0 (10,6–16,2) 1,00 (0,53–1,62) 1,00 (0,61–1,7) 42,9 (3,13–54,5) 53,6 (27,5–79,4) 23,5 (19,0–28,3) 24,8 (19,2–30,4) 2,83 (1,67–3,99) 2,43 (1,50–3,73) 0,48 (0,26–0,70) 0,45 (0,20–0,77) 0,72 (0,34–1,08) 0,88 (0,41–1,44) 0,66 (0,28–1,04) 0,67 (0,22–1,13) 1,00 (0,50–1,78) 1,11 (0,50–2,13) 1,53 (0,50–2,87) 1,36 (0,78–2,10) 0,53 (0,15–0,91) 0,35 (0,19–0,65) 0,40 (0,12–0,68) 0,41 (0,11–0,71) 0,38 (0,10–0,66) 0,30 (0,08–0,52) 0,53 (0,13–0,93) 0,38 (0,10–0,66) 0,37 (0,18–0,69) 0,33 (0,09–0,57) 0,54 (0,06–1,02) 0,49 (0,09–0,89) 0,79 (0,27–1,31) 0,70 (0,32–1,08) 0,76 (0,30–1,22) 0,81 (0,35–1,27)
12,4 (10,0–15,3) 58–100 12,5 (10,0–15,3) 0,89 (0,53–1-48) 0,91 (0,53–1,48) 42,6 (25,4–59,8) 50,5 (26,9–74,1) 23,1 (18,0–29,2) 24,1 (18,8–29,4) 3,12 (1,62–4,62) 2,54 (1,50–3,52) 0,63 (0,33–0,93) 0,57 (0,29–0,85) 0,95 (0,45–1,45) 1,00 (0,46–1,54) 0,89 (0,35–1,43) 0,84 (0,30–1,38) 0,88 (0,50–1,54) 1,15 (0,53–2,05) 1,40 (0,50–2,54) 1,33 (0,72–2,19) 0,53 (0,15–0,91) 0,42 (0,14–0,74) 0,49 (0,19-0,79) 0,51 (0,19–0,83) 0,55 (0,23–0,87) 0,41 (0,13–0,69) 0,47 (0,11–0,83) 0,39 (0,09–0,69) 0,48 (0,20–0,76) 0,45 (0,25–0,75) 0,74 (0,16–1,32) 0,62 (0,24–1,00) 0,94 (0,44–1,44) 1,01 (0,57–1,45) 1,06 (0,32–1,90) 1,10 (0,68–1,58)
11,8 (10,0–14,3)
11,9 (10,0–14,2) 65–100 12,3 (10,0–14,6) 0,81 (0,53–1,26) 0,88 (0,53–1,32) 37,1 (29,0–50,1) 39,5 (28,3–50,7) 25,1 (20,5–29,7) 25,1 (19,4–30,8) 2,43 (1,50–3,79) 2,46 (1,50–3,52) 0,75 (0,45–1,05) 0,68 (0,30–1,06) 0,90 (0,48–1,32) 0,99 (0,59–1,39) 0,91 (0,39–1,43) 0,87 (0,31–1,43) 0,79 (0,50–1,25) 1,06 (0,58–1,88) 1,18 (0,50–2,06) 1,12 (0,75–1,84) 0,67 (0,21–1,13) 0,59 (0,25–0,93) 0,71 (0,35–1,07) 0,67 (0,35–0,99) 0,69 (0,41–0,97) 0,59 (0,25–0,93) 0,67 (0,25–1,09) 0,61 (0,15–1,07) 0,73 (0,41–1,05) 0,79 (0,37–1,21) 0,82 (0,30–1,46) 0,78 (0,32–1,24) 1,04 (0,36–1,72) 1,13 (0,71–1,55) 1,16 (0,48–1,84) 1,21 (0,75–1,67)
12,3 (10,7–13,9)
12,4 (10,8–13,9) 70–100
11,8 (10,0–13,6) 0,79 (0,53–1,26) 0,79 (0,53–1,11) 40,4 (32,0–55,2) 44,7 (26,9–62,5) 24,3 (19,4–29,2) 24,4 (18,8–29,9) 2,70 (1,62–3,78) 2,46 (1,50–3,52) 0,68 (0,34–1,02) 0,57 (0,36–0,95) 0,98 (0,62–1,34) 1,02 (0,48–1,56) 0,90 (0,42–1,38) 0,89 (0,21–1,45) 0,91 (0,50–1,57) 1,11 (0,50–1,99) 1,28 0,50–2,46) 1,36 (0,66–2,16) 0,51 (0,21–0,81) 0,44 (0,13–0,80) 0,59 (0,31–0,87) 0,56 (0,20–0,92) 0,53 (0,27–0,79) 0,43 (0,15–0,71) 0,49 (0,17–0,81) 0,43 (0,11–0,75) 0,57 (0,23–0,91) 0,59 (0,31–0,87) 0,77 (0,33–1,21) 0,64 (0,16–1,12) 0,93 (0,39–1,47) 0,99 (0,51–1,47) 1,11 (0,39–1,73) 1,07 (0,57–1,57)
Die Angaben in U/ml beziehen sich auf einen Plasmapool gesunder Probanden der 1 U/ml enthält. Die Werte ×100 genommen geben den Anteil in Prozent an.
12,5 (10,0–15,0) 0,88 (0,61–1,17) 0,91 (0,53–1,48) 35,5 (28,1–42,9) 37,5 (27,1–53,3) 25,5 (19,8–31,2) 25,2 (18,9–31,5) 2,51 (1,50–3,87) 2,28 (1,50–3,60) 0,88 (0,60–1,16) 0,87 (0,51–1,23) 0,91 (0,55–27) 1,02 (0,58–1,46) 0,87 (0,47–1,27) 0,99 (0,47–1,51) 0,73 (0,50–1,09) 0,99 (0,50–1,87) 1,07 (0,50–1,97) 0,98 (0,54–1,58) 0,86 (0,36–1,36) 0,81 (0,50–1,20) 0,78 (0,38–1,18) 0,77 (0,35–1,19) 0,86 (0,49–1,34) 0,78 (0,46–1,10) 0,77 (0,39–1,15) 0,82 (0,22–1,42) 0,86 (0,56–1,16) 0,78 (0,40–1,16) 0,82 (0,36–1,28) 0,83 (0,41–1,25) 1,04 (0,46–1,62) 1,13 (0,65–1,61) 1,10 (0,50–1,70) 1,15 (0,67–1,63)
0,89 (0,64–1,17) 33,5 (26,6–40,3) 25,0 (19,7–30,3) 2,78 (1,56–4,00) 1,08 (0,70–1,46) 1,06 (0,62–1,50) 1,05 (0,67–1,43) 0,99 (0,50–1,49) 0,92 (0,50–1,58) 1,09 (0,55–1,63) 1,06 (0,70–1,52) 0,97 (0,67–1,27) 1,08 (0,52–1,64) 1,12 (0,62–1,62) 0,92 (0,50–1,36) 1,05 (0,55–1,55) 0,97 (0,57–1,37)
1163
»high molecular weight kininogen«, HMWK (U/ml) Faktor XIIIa (U/ml)
NG/FG
Anhang
⊡ Tabelle 21. Refererenzwerte der Gerinnungsparameter für termingeborene, gesunde Kinder (NG) und »gesunde« Frühgeborene (FG) (Angaben als Mittelwert und 95%-Bereich)
1164 Anhang
⊡ Tabelle 22. Referenzwerte der Inhibitoren der Gerinnung für termingeborene gesunde Kinder (NG) und »gesunde« Frühgeborene (FG) innerhalb der ersten 6 Monate und für Erwachsene (Angaben als Mittelwert und 95%–Bereich)
NG/FG Antithrombin 3, AT-III (U/ml) α2-Makroglobulin (U/ml) C1-Esteraseinhibitor, C1-EINH (U/ml) α1-Antitrypsin, α1-AT (U/ml) Heparin-Kofaktor II, HCII (U/ml) Protein C (U/ml) Protein S (U/ml)
Tag 1
Tag 5
Tag 30
Tag 90
Tag 180
Erwachsene 1,05 (0,79–1,31)
NG
0,63 (0,39–0,87)
0,67(0,41–0,93)
0,78 (0,48–1,08)
0,97 (0,73–1,21)
1,04 (0,84–1,24)
FG
0,38 (0,14–0,62)
0,56 (0,30–0,82)
0,59 (0,37–0,81)
0,83 (0,45–1,21)
0,90 (0,52–1,28)
NG
1,39 (0,95–1,83)
1,48 (0,98–1,98)
1,50 (1,06–1,94)
1,76 (1,26–2,26)
1,91 (1,49–2,33)
FG
1,10 (0,56–1,82)
1,25 (0,71–1,77)
1,38 (0 72–2,04)
1,80 (1,20–2,66)
2,09 (1,10–3,21)
NG
0,72 (0,36–1,08)
0,90 (0,60–1,20)
0,89 (0,47–1,31)
1,15 (0,71–1,59)
1,41 (0,89–1,91)
FG
0,65 (0,31–0,99)
0,83 (0,45–1,21)
0,74 (0,40–1,24)
1,14 (0,60–1,68)
1,40 (0,96–2,04)
NG
0,93 (0,49–1,37)
0,89 (0,49–1,29)
0,62 (0,36–0,88)
0,72 (0,42–1,02)
0,77 (0,47–1,07)
FG
0,90 (0,36–1,44)
0,94 (0,42–1,46)
0,76 (0,38–1,12)
0,81 (0,49–1,13)
0,82 (0,48–1,16)
NG
0,43 (0,10–0,96)
0,48 (0,10–0,96)
0,47 (0,10–0,87)
0,72 (0,10—1,46)
1,20 (0,50–1,90)
FG
0,32 (0,10–0,60)
0,34 (0,10–0,69)
0,43 (0,15–0,71)
0,61 (0,20–1,11)
0,89 (0,45–1,40)
NG
0,35 (0,17–0,53)
0,42 (0,20–0,64)
43 (0,21–0,65)
54 (0,28–0,80)
0,59 (0,37–0,81)
FG
0,28 (0,12–0,44)
0,31 (0,11–0,51)
0,37 (0,15–0,59)
0,45 (0,23–0,67)
0,57 (0,31–0,83)
NG
0,36 (0,12–0,60)
0,50 (0,22–0,78)
0,63 (0,33–0,93)
0,86 (0,54–1,18)
0,87 (0,55–1,19)
FG
0,26 (0,14–0,38)
0,37 (0,13–0,61)
0,56 (0,22–0,90)
0,76 (0,40–1,12)
0,82 (0,44–1,20)
Angaben in U/ml beziehen sich auf einen Plasmapool gesunder Probanden, der 1 U/ml enthält. Die Werte ×100 genommen geben den Anteil in Prozent an.
0,86 (0,52–1,20) 1,01 (0,71–1,31) 0,93(0,55–1,31) 0,96 (0,66–1,26) 0,96 (0,64–1,28) 0,92 (0,60–1,24)
Anhang
⊡ Tabelle 23. Referenzwerte für die Parameter des fibrinolytischen Systems für termingeborene Neugeborene (NG) und „gesunde” Frühgeborene (FG) (Angaben als Mittelwert und 95%-Bereich)
NG/FG Plasminogen (U/ml)
»tissue plasminogen activator«, TPA (ng/ml) α2-Antiplasmin, α2-AP (U/ml)
Plasminogenaktivator-Inhibitor, PAI (U/ml)
Tag 1
Tag 5
Tag 30
Tag 90
Tag 180
Erwachsene
NG
1,95 (1,25–2,65)
2,17 (1,41–2,93)
1,98 (1,26–2,70)
2,48 (1,74–3,22)
3,01 (2,21–3,81)
3,36 (2,48–4,24)
FG
1,70 (1,12–2,48)
1,91 (1,21–2,61)
1,81 (1,09–2,53)
2,38 (1,58–3,18)
2,75 (1,91–3,59)
3,36 (2,48–4,24)
NG
9,6 (5,0–18,9)
5,6 (4,0–10,0)
4,1 (1,0–6,0)
2,1 (1,0–5,0)
2,8 (1,0–6,0)
4,9 (1,4–8,4)
FG
8,48 (3,00–16,70)
3,97 (2,00–6,93)
4,13 (2,00–7,79)
3,31 (2,00–5,07)
3,48 (2,00–5,85)
4,96 (1,46–8,46)
NG
0,85 (0,55–1,15)
1,00 (0,70–1,30)
1,00 (0,76–1,24)
1,08 (0,76–1,40)
1,11 (0,83–1,39)
1,02 (0,68–1,36)
FG
0,78 (0,40–1,16)
0,81 (0,49–1,13)
0,89 (0,55–1,23)
1,06 (0,64–1,48)
1,15 (0,77–1,53)
1,02 (0,68–1,36)
NG
6,4 (2,0—15,1)
2,3 (0,0–8,1)
3,4 (0,0–8,8)
7,2 (1,0–15,3)
8,1 (6,0–13,0)
3,6 (0,0–11,0)
FG
5,4 (0,0—12,2)
2,5 (0,0–7,1)
4,3 (0,0–10,9)
4,8 (1,0–11,9)
4,9 (1,0–10,2)
3,6 (0,0–11,0)
α2-Antiplasmin ist in U/ml angegeben. Die U/ml beziehen sich auf einen Plasmapool gesunder Probanden, der 1 U/ml enthält. Die Werte ×100 genommen geben den Anteil in Prozent an. Für den Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI) gilt folgendes: Eine Einheit PAI-Aktivität ist als die Menge definiert, die eine internationale Einheit humaner Einzelstrang-TPA inhibiert.
1165
1166
Anhang
⊡ Tabelle 24. Liste der wichtigsten an der Hämostase beteiligten Faktoren mit Molekulargewicht, Plasmakonzentration, chromosomaler Lokalisation, genomischer Größe des Gens, Größe der kodierenden Sequenz, Anzahl der Exons und Vererbungsmodus
Faktor
MG (KD)
Plasmakonzentration (mg/l)
Genort
Gen (Bp)
kodierende DNA (Bp)
Exons
Fibrinogen (I)
340
3.000
4q23-32
50.000
α-Kette
68
4q23-32
β-Kette
52
γ-Kette
49
Prothrombin (II)
72
V VII
Erbgang
5.177
1.875
5
4q23-32
7.606
1.383
8
4q23-32
8.525
1.440
10
100
11p11-q12
21.000
1.866
14
330
7
1q23-25
>80.000
6.672
25
AR
48
0,5
13q34
12.800
1.218
8
AR
AR/AD
AR
VIII
275
0,1
Xq28
186.000
7.053
26
XR
IX
57
5
Xq27
34.000
1.383
8
XR
X
59
10
13q34
27.000
1.475
8
AR
XI
143
4
4q35
23.000
1.875
15
AR
XII
80
35
5q33-qter
12.000
1.788
14
AR
XIII
320
XIII A
75
XIII B
80
»tissue factor«
44
VWF TM
15
6p24-p25
160.000
2.196
15
AR
1q31.2-31.3
28.000
1.983
12
AR
m
1p21-22
12.400
885
6
#
bis 20.000
10
12p13.2-13.3
187.500
2.850
52
AD, AR
60
m
20p11.2
1.725
1
Antithrombin
58
140
1q23-25
13.477
1.639
7
AD (AR)
Protein C
62
5
2q13-14
11.000
1.383
9
AD (AR)
Protein S
69
15
AD (AR)
TFP1
40
3p11.1-q11.2
>80.000
2.028
15
2q31-q32.1
85
912
9
Plasminogen
92
200
6q26-27
52.500
2.430
19
AR
t-PA
68
0,005
8p12
32.700
1.686
14
AD/AR
u-PA
54
0,002
10q24
6.400
1.233
11
PAI-1
52
0,01
7q21.3-22
12.200
1.137
9
AR
α2-Antiplasmin
70
70
17pter-p12
1.356
10
AR (AD)
MG Molekulargewicht; KD Kilodalton; Bp Basenpaare; AR autosomal-rezessiv; AD autosomal-dominant; m membranständig; # Fehlen mit dem Leben nicht vereinbar; VWF Von-Willebrand-Faktor; TM Thrombomodulin; TFPI Tissue-factor-pathway-Inhibitor; t-PA Tissue-Plasminogenaktivator; u-PA Urokinase.
Anhang
⊡ Tabelle 25 Indikationen, Dosierung, Applikation und Therapiesteuerung bei der Behandlung von Störungen der Hämostase (alle Applikationen i.v., wenn nicht anders angegeben)
Indikation
Präparat
Dosis
Frequenz und Dauer
Kleinere Blutung
FVIII-Konzentrat
15–20 IE/kg KG
Nach Bedarf
Gelenk-, Muskelblutung
FVIII-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
2- bis 1-mal/Tag, 7–10 Tage
Initial >50%
ZNS-Blutung
FVIII-Konzentrat
Prophylaxe
FVIII-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
3-mal/Woche
>2%
Kleine Operation
FVIII-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
1-mal präoperativ, 3–5 Tage 2-mal/Tag postoperativ
>30%
Große Operation
FVIII-Konzentrat
50 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20 IE/kg KG
Präoperativ 2-mal/Tag, postoperativ, Tag 1–3 2-mal/Tag, postoperativ, Tag 4–10 (14)
100% >50% >30%
Gelenkoperation, Endoprothese
FVIII-Konzentrat
50 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20 IE/kg KG
Präoperativ 2-mal/Tag, postoperativ, Tag 1–3 Postoperativ, Tag 4–42
>100% >50% >30%
Zielbereich
Hämophilie A
75 IE/kg KG 50 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20–30 IE/kg KG
Initial 2-mal/Tag, Tag 1–14 1-mal/Tag, Tag 15–21 Alle 2 Tage als Prophylaxe
Dauerinfusiona
FVIII-Konzentrat
4–3 IE/kg KG/h
Tagesdosis (initial Bolus 50 IE/kg KG)
Milde Hämophilie
DDAVP
0,3 µg/kg KG, p.i. (30 min)
Maximal 2-mal/Tag, maximal für 2 Tage
Nach Bedarf
>100% >100% >15% >2%
>30%
Hämophilie B Kleinere Blutung
FIX-Konzentrat
30 IE/kg KG
Gelenk-, Muskelblutung
FIX-Konzentrat
40–60 IE/kg KG
1-mal/Tag, 7–10 Tage
Initial >40%
ZNS-Blutung
FIX-Konzentrat
Prophylaxe
FIX-Konzentrat
20–30 IE/kg KG
2-mal/Woche
Kleine Operation
FIX-Konzentrat
30 IE/kg KG
1-mal/Tag, 3–5 Tage
>15%
Große Operation
FIX-Konzentrat
60 IE/kg KG 40 IE/kg KG 30 IE/kg KG
Präoperativ 1-mal/Tag, postoperativ, Tag 1–3 1-mal/Tag, postoperativ, Tag 4–10 (14)
60% 40% >20%
Gelenkoperation, Endoprothese
FIX-Konzentrat
60 IE/kg KG 40 IE/kg KG 30 IE/kg KG
Präoperativ 1-mal/Tag, postoperativ, Tag 1–3 1-mal/Tag, postoperativ, Tag 4–42
60% 40% >20%
Dauerinfusiona
FIX-Konzentrat
4–1 IE/kg KG · h
Tagesdosis (initial Bolus 50 IE/kg KG)
>50%
80 IE/kg KG 30 IE/kg KG 30 IE/kg KG 20 IE/kg KG
Initial 2-mal/Tag, Tag 1–15 1-mal/Tag, Tag 16–21 Alle 3 Tage als Prophylaxe
>80% 60% 30% >2%
>2%
1167
1168 Anhang
⊡ Tabelle 25 (Fortsetzung)
Indikation
Präparat
Dosis
Frequenz und Dauer
Zielbereich
FVII-Mangel
FVII-Konzentrat rFVII-Konzentrat
20–30 IE/kg KG 60–120 µg/kg KG
4-mal/Tag ( Hämophilie) 4-mal/Tag ( Hämophilie)
30–50%
Nach Bedarf
>1000 mg/l
Mangel an Gerinnungsfaktoren
FI-Mangel
FI-Konzentrat
40–70 mg/kg KG
FII-, FX-Mangel
Prothrombinkomplex FIX-Konzentratb
Defizit · IE/kg KG Faktor Defizit · IE/kg KG Faktor
FV-Mangel
FFPc
20 ml/kg KG
FXI-Mangel
FFP
10–20 ml/kg KG
Alle 24–48 h
>20%
FXIII-Mangel (schwer) Große Operation bei FXIII-Mangel
FXIII-Konzentrat FXIII-Konzentrat
10 IE/kg KG 35 IE/kg KG
Alle 4 Wochen zur Prophylaxe Präoperativ; postoperativ bis zu 1-mal/Tag (Spiegel)
Nach Effekt >30%
Von-Willebrand-Syndrom Typ 1d
DDAVP FVIII/VWF-Konzentrat
0,3 µg/kg KG, p.i. (30 min) 20–30 IE/kg KG
Maximal 2-mal/Tag, maximal für 2 Tage Nach Bedarf
RiCof >50% RiCof >50%
Von-Willebrand-Syndrom Typ 2d
DDAVP (nach Testung) FVIII/VWF-Konzentrat
0,3 µg/kg KG, p.i. (30 min) 20–30 IE/kg KG
Maximal 2-mal/Tag, maximal für 2 Tage Nach Bedarf
RiCof >50% RiCof >50%
Quick >60% Quick >60% Alle 12 h
Von-Willebrand-Syndrom Typ 1 und 2
Von-Willebrand-Syndrom Typ 3 Große Operation
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+TK)
2-mal/Tag, 10–14 (-21 Tage)
RiCof >80–50%
ZNS-, gastrointestinale Blutung
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG (+TK)
2-mal/Tag, 10–14 (-21 Tage)
RiCof >80–50%
Adenotomie, Tonsillektomie
FVIII/VWF-Konzentrat
40 IE/kg KG
1-mal/Tag, 5–10 Tage
RiCof >50–30%
Zahnextraktion
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
1-mal/Tag, 3–5 Tage
RiCof >30–50%
Gelenk-, Muskelblutungen
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
2- bis 1-mal/Tag, 5–10 Tage
RiCof >80–50%
Dauertherapie
FVIII/VWF-Konzentrat
30–40 IE/kg KG
2-mal/Woche
RiCof >5%
Schleimhautblutung, Operation
FVIII/VWF-Konzentrat, zusätzlich Tranexamsäure
10–20 mg/kg KG (auch p.o.)
Alle 6 h, max. 2 g/Tag
Dauerinfusiona
FVIII/VWF-Konzentrat
5–1 IE/kg KG · h
Tagesdosis (initial Bolus 50 IE/kg KG)
Antithrombinmangel Angeboren
AT-Konzentrat
Differenz zu 120% · IE/kg KG
Alle 3 Tage als Prophylaxe
Erworben
AT-Konzentrat
Defizit · IE/kg KG
Frequenz abhängig von Grundkrankheit
>80%
Protein-C-Mangel, schwer
Defizit · IE/kg KG 10–20 ml/kg KG
4-mal/Tag 4-mal/Tag
>70%
Protein-S-Mangel, schwer
PC-Konzentrat FFPc FFPc
10–20 ml/kg KG
2-bis 3-mal/Tag
Antifibrinolyse
Tranexamsäure
10–20 ml/kg KG (auch p.o.)
Alle 6 h, maximal 2 g/Tag, maximal 5–7 Tage
AT nicht <60%
Anhang
⊡ Tabelle 25 (Fortsetzung)
Indikation
Präparat
Dosis
Frequenz und Dauer
Prophylaxe
Heparin, unfraktioniert
100–200 IE/kg KG
24-h-Dauerinfusion
Therapie (initialer Bolus)
Heparin, unfraktioniert
10 IE/kg KG
Zielbereich
Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin
Dauerinfusion
Heparin, unfraktioniert
400–800 IE/kg KG
24-h-Dauerinfusion
Säuglinge
Heparin, unfraktioniert
ca. 28 IE/kg KG
“
“
Kinder >1 Jahr
Heparin, unfraktioniert
ca. 20 IE/kg KG
“
“
Prophylaxe (Neugeborene)
Heparin, niedermolekular Heparin, niedermolekular
1 mg/kg KG, s.c. 1,5 mg/kg KG, s.c.
1-mal/Tag 1-mal/Tag
Anti-FXa-E.: 0,1–0,2 Anti-FXa-E.: 0,1–0,2
Therapief (Neugeborene)
Heparin, niedermolekular Heparin, niedermolekular
1 mg/kg KG, s.c. 1,5 mg/kg KG, s.c.
2-mal/Tag 2-mal/Tag
4-h-Wert AntiFXa-E.: 0,4–0,9 4-h-Wert AntiFXa-E.: 0,4–0,9
Heparin-Antidot
Protaminsulfat
1 mg/100 IE unfraktioniertes Heparin
1/3 Dosis als Bolus, 2/3 p.i. (30 min)
Langfristige Antikoagulation
Phenprocoumon
6 mg/m 3 mg/m2 1–2 mg/m2
Tag 1 Tag 2 Tag 3–180
Arterielle Thrombosen
Acetylsalicylsäure
1–3 mg/kg KGg
1-mal/Tag (Wirkdauer 5–7 Tage)
Lysetherapieh
aPTT: 60–80 s
Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin
Urokinase Urokinase Urokinase rt-PA rt-PA
2
4400 IE/kg KG 4400 IE/kg KG⋅h 200–500 IE/kg KG/h 0,1–0,2 mg/kg KG 0,8–2,4 mg/kg KG/Tag
INR: 2–3,5 (nach Indikation)
Bolus p.i. (10–20 min) Dauerinfusion 12–24 h Lokale Lyse Bolus i.v. (10 min) Dauerinfusion bis zu 6 Tagen
a
Die Dauerinfusion ist sehr effektiv und spart Kosten. Nur wenige FIX-Konzentrate enthalten noch FII und FX, auf einen ausreichenden Gehalt an diesen Faktoren ist daher zu achten. c Bei wiederholter Applikation von gefrorenem Frischplasma (FFP) innerhalb kurzer Zeit ist auf das Problem der Volumenbelastung zu achten. Notfalls sind diuretische Maßnahmen indiziert. d Die Angaben gelten für mildere Formen dieser beiden Subtypen. Darüber hinaus können die gleichen Maßnahmen wie beim VWS Typ 3 bei Bedarf zum Einsatz kommen. e Niedermolekulares Heparin ist für den Einsatz in der Pädiatrie bisher nicht zugelassen, wird aber wegen der Nebenwirkungsarmut und der besseren Steuerbarkeit fast überall eingesetzt. f Zur Steuerung der Therapie sind Anti-FXa-Einheiten 4 h nach Gabe zu bestimmen. Bei niereninsuffizienten Patienten ist auch ein Talspiegel vor der nächsten Gabe zu messen, um Überdosierungen zu verhindern. g Die antiaggregatorische Wirkung von ASS ist individuell unterschiedlich. Es sollte daher die notwendige Dosis über die Messung der Plättchenaggregation ermittelt werden. h Eine zusätzliche Heparinisierung zur Reokklusionsprophylaxe ist erforderlich. p.o. per os; s.c. subkutan; p.i. per infusionem; (+TK) evtl. zusätzliche Gabe von Thrombozytenkonzentraten erforderlich. b
1169
1170
Anhang
⊡ Tabelle 26. Cluster der Differenzierungsantigene (Auswahl)
CD-Antigen
Struktur/Funktion (Auswahl)
Hauptsächliche Verteilung
CD1
Gp, Antigenpräsentation
Thy, LHC, DC
CD2
LFA-2, Ligand für CD58
T, NK, Thy
CD3
TCR-Komplex, Signal-TX
T, Thy-Subset
CD4
Ligand für HLA II, HIV-Rezeptor
T-Subset, Thy-Subset, Mono
CD5
Ligand für CD72, Signal-TX
T, B-Subset, Thy
CD6
Thymozytenadhäsion, Signal-TX
T, B-Subset, Thy
CD7
p41-Protein
T, NK, Thy, Progenitor
CD8
Ligand für HLA I
T-Subset, Thy-Subset, NK
CD10
CALLA, Enkephalinase
B-Vorläufer, verschiedene Epithelzellen, Tumorzelllinien
CD11a
αL-Integrinkette, LFA-1
Leuko
CD11b
αM-Integrin, Komplementrezeptor 3, C3bi-Rezeptor
Ly-Subset, Gran, Mo, NK
CD11c
αX-Integrin, Mac-1α
Ly-Subset, Gran, Mo, NK
CD13
gp150, Aminopeptidase
Myelomonozytäre Reihe, Fibroblasten, verschiedene Epithelzellen
CD14
LPS-Rezeptor
Mono, Gran, Makrophagen
CD15
Lewis X
Gran, Mono
CD16
Fc-γ-Rezeptor (niedrigaffin)
Mono, NK, Makrophagen
CD18
Integrin-β2-Kette, assoziiert mit CD11a, b, c
Leuko
CD19
Gp 95, Signal-TX
B, FDC
CD20
Gp 33–37, Signal-TX?
B
CD21
Komplementrezeptor 2, C3d-Rezeptor, EBV-Rezeptor
B, FDC, Thy-Subset
CD22
Gp130/140-Heterodimer, Adhäsion, Signal-TX
B
CD23
IgE-Rezeptor RII (niedrigaffin), Signal-TX
B-Subset, Mono, Eo, FDC
CD24
HSA, B-Zell-Signal-TX
B, Gran, Epithelzellen
CD25
IL-2-Rezeptor-α-Kette
Aktivierte T, NK, aktivierte Mono, aktivierte B
CD26
Dipeptidylpeptidase IV
Aktivierte T, B, NK, Makrophagen, Thy-Subset
CD27
Ligand für CD70
T-Subset, B-Subset
CD28
T-Zell-Kostimulation, Signal-TX, CD80/CD86-Ligand
T, Plasmazellen, Thy
CD29
GP IIa, Integrin β1 (Fibronektinrezeptor)
Leuko, Thrombo, Fibroblasten, Endothel
CD30
Ki-1, Signal-TX
Aktivierte T, aktivierte B, aktivierte NK, Mono, Reed-Sternberg-Zelle
CD31
PECAM, Adhäsion
Leuko, Endothel, Thrombo, T-Subset
CD32
Fc-γ-Rezeptor II (niedrig affin)
Leuko, Thrombo Myeloische Vorläufer, Gran, Mono
CD33
Gp67
CD34
Hämtopoetisches Vorläuferantigen
Lymphohämatopoetische Vorläuferzellen, Endothel
CD35
Komplementrezeptor I, C3b R, C4b R
Ery, Neutro, Mono
CD38
ADP-ribosyl-Cyclase, Signal-TX?
Plasmazellen, frühe Hämatopoese
CD40
Signal-TX, Aktivierung, Isotyp Switch
B, DC, Mono, Endothel
CD41
Integrin α-IIB
Thrombo, Mega
CD43
Leukosialin
T, Gran, Mono
CD44
Hyaluronidat-Rezeptor, Adhäsion, Signal-TX
Weithin
CD45
Panleukozyten-Marker, Phosphatase
Leuko (Isoformen unterschiedlich exprimiert)
CD49 a–f
Integrin-α-Ketten 1–6, Adhäsion
Weithin, aktivierte T
CD50
ICAM-3
Leuko, Endothel
CD51
Integrin-αV (Vitronektinrezeptor)
Thrombo, aktivierte T
CD52
Campath-Antigen
Thy, Ly, Mono, Makrophagen, DC
CD54
ICAM-1, Rezeptor für CD11a/CD18, CD11b/CD18, Rhinovirus
Aktivierte T, aktivierte B, aktivierte Endothel
CD55
DAF, Rezeptor für C3b, C4b, C3bBb, Echovirus, Coxsackie
Weithin
CD56
NKH1, N-CAM
NK, T-Ly-Subset, Hirn
CD57
HNK-1
NK, Ly-Subset, Mono-Subset
CD58
LFA-3, Rezeptor für CD2
Leuko, Ery, Endothel, Epithel
CD59
GPI-verankert, Komplementinhibitor
Weithin
CD61
Integrin β3, GPIIIa, Aggregation
Thrombo, Mono, Endothel
CD62E, L, P
E-, L-, P-Selektine, Adhäsion
Endothel, Leuko, Thrombo
1171 Anhang
⊡ Tabelle 26 (Fortsetzung)
CD-Antigen
Struktur/Funktion (Auswahl)
Hauptsächliche Verteilung
CD64
Fc-γ-Rezeptor I (hochaffin)
Mono, Makrophagen, DC
CD68
Macrosialin
Mono, Makrophagen, DC, B-Subset, aktivierte T, Gran
CD69
T-Zell-Aktivierungsantigen, AIM, Signal-TX
Aktivierte Ly, aktivierte Leuko, NK, Thy-Subset
CD70
CD27-Ligand
Aktivierte Ly, Reed-Sternberg-Zelle
CD71
Transferrinrezeptor
Ery-Vorläufer, Retikulozyten, proliferierende Zellen
CD79a, b
B-Zell-Antigenrezeptor-assoziiert, Signal-TX
B
CD80
B7, Ligand für CD28 und CD152
Aktivierte Ly, Makrophagen, DC
CD82
Signal-TX
Hämatopoetische Zellen außer Erythropoese
CD83
p43
DC, LHC
CD86
B7–2, Ligand für CD28 und CD152
DC, LHC, Mono, B-Subset
CD87
Urokinase-Plasminogen-Aktivator-Rezeptor
T, Gran, Mono, NK, Endothel
CD88
C5a-Rezeptor
Gran, Mono, DC
CD89
IgA-Fc-Rezeptor
Myeloische Zellen
CD94
NK-Rezeptor
NK, T-Subset
CD95
APO-1, Fas, Apoptose/CD178-Rezeptor
Aktivierte Ly, aktivierte NK
CD102
ICAM-2, LFA-1-L-Ligand
Endothel, Ly, Mono Intestinale intraepitheliale Ly
CD103
Integrin αE, HML-1, E-Catherin-Ligand
CD104
Integrin β4
Endothel, Epithel
CD106
VCAM-1, VLA-4-Rezeptor, Adhäsion
Aktivierte Endothel
CD110
Thrombopoetinrezeptor
KM-Vorläufer, Mega
CD114
G-CSF-Rezeptor
Myeloische Vorläuferzellen, Gran, Mono
CD115
M-CSF-Rezeptor
Mono, Makrophagen
CD116
GM-CSF-Rezeptor
Myeloische Zellen
CD117
Stammzellfaktorrezeptor, c-kit
KM-Vorläufer
CDw119
INF-γ-Rezeptor-α-Kette
Ly, Makrophagen, Mono, Neutro, Endothel
CD120
TNF-Rezeptor
Weithin
CD121
IL-1-Rezeptor
Weithin
CD122
IL-2-Rezeptor-β-Kette
Ly, NK, Mono
CD123
IL-3-Rezeptor-α-Kette
KM-Vorläufer, myeloische Zellen
CD124
IL-4-Rezeptor-α-Kette
Ly, KM-Vorläufer
CDw125
IL-5-Rezeptor-α-Kette
Eo, Baso, aktivierte B
CD126
IL-6-Rezeptor-α-Kette
T, Mono, B, Plasmazellen, Hepatozyten, Fibroblasten
CD127
IL-7-Rezeptor-α-Kette
T, B-Vorläufer
CD128
IL-8-Rezeptor
Myeloische Zellen, T
CD130
IL-6-Rezeptor-β-Kette
Weithin
CDw131
IL-3, -5, GM-CSF-Rezeptor-β-Kette
Mono, Granulo, B Vorläufer
CD132
Zytokinrezeptor (IL-2, 4, 7, 9, 15)-γ-Kette
T, B, NK, Mono, Gran
CD133
120 kd
Hämatopoetische Vorläufer-Subset
CDw137
T-Zell-Kostimulation
Aktivierte T-Subset
CD150
SLAM
Ly-Subset, Thy, DC
CD152
CTLA-4, CD80-Ligand, CD86-Ligand
Aktivierte T, aktivierte B
CD153
CD30-Ligand
Aktivierte T, B, Mono
CD154
CD40-Ligand
Aktivierte T
CD158
KIR (»killer inhibitory receptor«)
NK, T-Subset
CD162
P-Selektin, CD62P/L-Ligand
Mono, T, B-Subset, Granulo
CD165
Thymozytenadhäsion
Thy, T-Subset, Thrombo
CD178
Fas-Ligand
Aktivierte T, NK, Retina, neurale Zellen, Tumorzellen
CD179a,b
Immunglobulin Iota, Omega-Kette
B-Vorläufer
CD183
Chemokinrezeptor CXCR3, Chemotaxis
Aktivierte Memory-/Effektor-T-Ly
CD184
Chemokinrezeptor CXCR4
Weithin
CD195
Chemokinrezeptor CCR5
Mono, T-Subset, NK, DC
CD197
Chemokinrezeptor CCR7
T-Subset, DC-Subset
CD204
Makrophagen-Scavenger-Rezeptor, Endozytose
Makrophagen
CD206
Makrophagen-Mannose-Rezeptor, Endozytose
Makrophagen, DC-Subset
1172
Anhang
⊡ Tabelle 26 (Fortsetzung)
CD-Antigen
Struktur/Funktion (Auswahl)
Hauptsächliche Verteilung
CD207
Langerin, Endozytose
LHC, DC-Subset
CD208
DC-LAMP
DC
CD209
DC-SIGN, Ligand für ICAM-3, Virusrezeptor
DC-Subset
CDw210
IL-10-Rezeptor
T, B, NK, Mono
CD212
IL-12-Rezeptor
T, NK, Mono-Subset
CD213
IL-13 und IL-4-Rezeptor-Signal-TX
Weithin
CDw217
IL-17-Rezeptor
Ly, Thy
CD220
Insulinrezeptor
Weithin
CD221
IGF-I-Rezeptor
Weithin
CD222
IGF-II-Rezeptor
Weithin
CD223
MHC-II-Ligand
Aktivierte T, NK
CD235/6
Glykophorine
Ery
CD238
Kell-Antigen
Ery
CD242
ICAM-4
Ery
CD243
MDR-1, P-Glykoprotein, Membrantransporter
Tumorzellen, weithin
CD244
2B4, CD48-Rezeptor
NK, T-Subset, Mono
CD247
TCR-Zeta-Kette
T-Ly, NK
Nicht alle derzeit definierten CD-Antigene sind in der Tabelle angeführt, Informationen über fehlende CD-Antigene sowie weitere Detailinformationen zu den gelisteten Antigenen finden sich in bei Barclay et al. (1997) sowie unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/prow/ und http://ca.expasy.org/cgi-bin/lists?cdlist.txt B B-Zellen; Baso basophile Granulozyten; DC dendritische Zellen; Eo eosinophile Granulozyten; Ery Erythrozyten; FDC follikuläre dentritische Zellen; Gran Granulozyten; KM Knochenmark; LHC Langerhans-Zellen; Ly Lymphozyten; Mega Megakaryozyten; Mono Monozyten; NK NK-Zellen; Signal-TX Signaltransduktion; T T-Zellen; Thrombo Thrombozyten; Thy Thymozyten.
Anhang
⊡ Tabelle 27. Altersabhängige Absolutwerte der Lymphozyten und ihrer Subpopulationen
Lymphozyten
Neonaten
1–8 Wo
2–5 Mo
5–9 Mo
9–15 Mo
15–24 Mo
2–5 J
5–10 J
10–16 J
Erwachsene
(n=20)
(n=13)
(n=46)
(n=105)
(n=70)
(n=33)
(n=33)
(n=35)
(n=23)
(n=51)
4,8
6,7
5,9
6,0
5,5
5,6
3,3
2,8
2,2
1,8
(0,7–7,3)
(3,5–13,1)
(3,7–9,6)
(3,8–9,9)
(2,6–10,4)
(2,7–11,9)
(1,7–6,9)
(1,1–5,9)
(1,0–5,3)
(1,0–2,8)
CD3pos
2,8
4,6
3,6
3,8
3,4
3,5
2,3
1,9
1,5
1,2
T-Zellen
(0,6–5,0)
(2,3–7,0)
(2,3–6,5)
(2,4–6,9)
(1,6–6,7)
(1,4–8,0)
(0,9–4,5)
(0,7–4,2)
(0,8–3,5)
(0,7–2,1)
CD3posCD4pos
1,9
3,5
2,5
2,8
2,3
2,2
1,3
1,0
0,8
0,7
T-Helfer
(0,4–3,5)
(1,7–5,3)
(1,5–5,0)
(1,4–5,1)
(1,0–4,6)
(0,9–5,5)
(0,5–2,4)
(0,3–2,0)
(0,4–2,1)
(0,3–1,4)
CD3posCD8pos
1,1
1,0
1,0
1,1
1,1
1,2
0,8
0,8
0,4
0,4
T-Zytotoxizität
(0,2–1,9)
(0,4–1,7)
(0,5–1,6)
(0,6–2,2)
(0,4–2,1)
(0,4–2,3)
(0,3–1,6)
(0,3–1,8)
(0,2–1,2)
(0,2–0,9)
CD19pos
0,6
1,0
1,3
1,3
1,4
1,3
0,8
0,5
0,3
0,2 (0,1–0,5)
B-Zellen
(0,04–1,1)
(0,6–1,9)
(0,6–3,0)
(0,7–2,5)
(0,6–2,7)
(0,6–3,1)
(0,2–2,1)
(0,2–1,6)
(0,2–0,6)
CD3negCD56pos
1,0
0,5
0,3
0,3
0,4
0,4
0,4
0,3
0,3
0,3
NK-Zellen
(0,1–1,9)
(0,2–1,4)
(0,1–1,3)
(0,1–1,0)
(0,2–1,2)
(0,1–1,4)
(0,1–1,0)
(0,09–0,9)
(0,07–1,2)
(0,09–0,6)
Medianwerte (G/l), in Klammer Normalbereiche (5- bis 95er-Perzentilen).
⊡ Tabelle 28. Altersabhängige Relativverteilung der Lymphozytensubpopulationen (nach Comans-Bitter et al. 1997)
Neonaten
1–8 Wo
2–5 Mo
5–9 Mo
9–15 Mo
15–24 Mo
2–5 J
5–10 J
10–16 J
Erwachsene
(n=20)
(n=13)
(n=46)
(n=105)
(n=70)
(n=33)
(n=33)
(n=35)
(n=23)
(n=51) 72%
62%
72%
63%
66%
65%
64%
64%
69%
67%
T-Zellen
(28–76)
(60–85)
(48–75)
(50–77)
(54–76)
(39–73)
(43–76)
(55–78)
(52–78)
(55–83)
CD3posCD4pos
41%
55%
45%
45%
44%
41%
37%
35%
39%
44%
T-Helfer
(17–52)
(41–68)
(33–58)
(33–58)
(31–54)
(25–50)
(23–48)
(27–53)
(25–48)
(28–57)
CD3posCD8pos
24%
16%
17%
18%
18%
20%
24%
28%
23%
24%
T-Zytotoxizität
(10–41)
(9–23)
(11–25)
(13–26)
(12–28)
(11–32)
(14–33)
(19–34)
(9–35)
(10–39)
CD19pos
12%
15%
24%
21%
25%
28%
24%
18%
16%
12%
B-Zellen
(5–22)
(4–26)
(14–39)
(13–35)
(15–39)
(17–41)
(14–44)
(10–31)
(8–24)
(6–19)
CD3negCD56pos
20%
8%
6%
5%
7%
8%
10%
12%
15%
13%
NK-Zellen
(6–58)
(3–23)
(2–14)
(2–13)
(3–17)
(3–16)
(4–23)
(4–26)
(6–27)
(7–31)
Medianwerte (% der Lymphozyten), in Klammer Normalbereiche (5er- bis 95er-Perzentilen).
1173
CD3pos
1174
Anhang
⊡ Tabelle 29. Chemokine und ihre Rezeptoren (Auswahl)
Chemokin
Systematischer Name; Ligand (L)
Zielzelle
Rezeptor (R)
GROα
CXCL 1
Neutrophile
CXCRZ;1
GROβ
CXCL2
Neutrophile
CXCRZ
GROγ
CXCL3
Neutrophile
CXCRZ
PF4
CXCL4
Neutrophile
Unbekannt
ENA-78
CXCL5
Neutrophile
CXCRZ
GCP-2
CXCL6
Neutrophile
CXCRZ
IDGF-PBP
CXCLZ
Neutrophile
CXCRZ
IL-8
CXCL8
Neutrophile; T-Zellen
CXCR1;2
Mig
CXCL9
Aktivierte T-Zellen
CXCR3
IP-10
CXCL10
Aktivierte T-Zellen (8 TH >TH2)
CXCR3
I-TAL
CXCL11
Aktivierte T-Zellen
CXCR3
SDF-1
CXCL12
CD34+ Zellen; T- und B-Zellen
CXCR4
BLC
CXCL13
B-Zellen; aktivierte T-Zellen
CXCR5
I-308
CCL1b)
T-Zellen
CCR8
MCP-1
CCL2
Monozyten, T-Zellen
CCRZ
MIP-1α
CCL3
Monozyten
CCR1,5
MIP-1β
CCL4
Monozyten
CCR1,5
RANTES
CCL5
Monozyten
CCR1,3,5
MCP-3
CCL7
Monozyten, Eosinophile, Basophile, T-Zellen, dendritische Zellen
CCR2
MCP-2
CLL8
Monozyten, Eosinophile, Basophile, T-Zellen
CCR2
Eotaxin-1
CCL11
Eosinophile
CCR3
MCP-4
CCL13
Monozyten, Eosinophile, Basophile, T-Zellen, dendritische Zellen
CCR2,3
HCC-1
CCL14
Monozyten
CCR1
HCC-2
CCL15
Monozyten, T-Zellen, dendritische Zellen
CCR1,3
CXC – Chemokine weisen zwischen den 2 Cysteinen 1 Aminosäure X auf; ihre Gene befinden sich zumeist auf Chromosom 17; sie wirken insbesondere auf neutrophile Granulozyten (früherer Name: α-Chemokine). CC – Chemokine weisen 2 benachbarte Cysteine auf; ihre Gene befinden sich zumeist auf Chromosom 4; sie wirken insbesondere auf Monozyten, Eosinophile und Basophile. Professionelle Phagozyten exprimieren unterschiedliche Chemokinrezeptoren: Neutrophile: CXCR1,2,4; Monozyten CCR1,2,5, CXCR4; Eosinophile: CCR1,3; Basophile CCR1,2,3.
1175 Anhang
⊡ Tabelle 30. Wesentliche menschliche Zytokine (Auswahl)
Zytokine
Produzierende Zelle
Zielzelle
Funktionen (Auswahl)
IL-1
Mono, T, B; NK, Gran
T, B, Mono, Gran
Wesentliches proinflammatorisches Zytokin; Zellaktivierung und Induktion der Effektorfunktion
IL-2
T, B
T, B, NK, Mono, Gran
T-Zellaktivierung, klonale Expansion; Induktion von Apoptoseentwicklung von zytotoxischen T-Zellen; Aktivierung von NK, B, Mono und Gran
IL-3
Aktivierte T, Mast
HSC, Progenitor
Zusammen mit IL-5 und GM-CSF: Proliferation und Differenzierung myeloischer Zellen
IL-4
T
T, B, Mono, NK, Progenitor, Mast
B-Zellaktivierung, Expression von IgG1 und IgE, Entwicklung einer Th2-Response; Mastzellwachstumsfaktor
IL-5
T
Eo, Baso, B
Reguliert Proliferation, Differenzierung und Chemotaxis von eosinophilen Granulozyten
IL-6
T, B, Mono
T, B, NK, Thy
Wichtiges proinflammatorisches Zytokin; breite Effekte auf Zellwachstum, Differenzierung und Aktivierung
IL-7
KM, Thy-str
B, T, NK, Mono, Thy
Frühe T-Zellentwicklung, reguliert die periphere T-Zellhomöostase sowie Expansion und Überleben von Memory-Zellen
IL-8
T, Mono, Gran
Gran
Wird durch pro-inflammatorische Zytokine induziert, Mediator der akuten Entzündungsreaktion, Leukozytenaktivierung, Chemotaxis und Adhäsion
IL-9
T
T, B, Mast, Thy
Mastzellwachstum und Differenzierung, Produktion von T-ZellZytokinen; IgE-Produktion und Reifung der Eosinophilen
IL-10
T, Mast
T, B, Mono, Thy
Begrenzt die akute Entzündungsreaktion, inhibiert IL-12, reguliert Wachstum und Entwicklung von B, T, NK, Mastzellen und Gran
IL-11
Stroma
Progenitor
Stimuliert die Hämatopoese; reguliert Proliferation und Differenzierung der Mono
IL-12
B, Mono, Gran
DC, Mono, Gran
Entwickelt Th1-Antwort; proinflammatorisches Zytokin; induziert Produktion von IFN-γ und andere Zytokine durch NK und T; verbindet angeborene und adaptierte Immunantwort
IL-13
T
Mono, B, DC
B-Zellproliferation; steigert Adhäsionsmoleküle und Klasse-IIMHC-Expression auf Monos; Aktivieren von Eosinophilen Granulozyten und Mastzellen
IL-14
T, Maligne B
B
Induziert B-Zellproliferation, Inhibition von Ig-Sekretion; selektive Expansion von B-Zell-Subpopulationen
IL-15
Mono, Stroma
T, B, NK, Mono, Endothel, Mast, Gran
T-Zellproliferation; unterstützt Reifung und Überleben von Memory-T-Zellen, inhibiert T-Zellen-Apoptose, essenzielles Zytokin für die Entwicklung, das Überleben und die Funktion einschließlich die IF-γ-Produktion von NK-Zellen
IL-16
Th, Ts
Th, Mono
Reguliert CD4-T-Zell-Recruitment
IL-17
Th, Ts
T, Mono, Gran
Proinflammatorisches Zytokin, Chemotaxis für Neutrophile, Regulation der Hämatopoese
IL-18
Aktivierte Mono
T, NK
Verstärkt T- und NK-Reifung
IL-19
Aktivierte Mono, B
In vitro: Mono
Regulation der inflammatorischen Reaktion
IL-20
Keratinozyten
Keratinozyten
Moduliert die inflammatorische Antwort in der Haut
IL-21
Aktivierte T
T, B, NK
Stimuliert IF-γ-Produktion; Wachstum und Entwicklung von NK-Zellen
IL-22
Aktivierte T, NK
Hepatozyten
Induziert die Genexpression für akute Phaseproteine; Regulation der inflammatorischen Reaktion
IL-23
APC
Memory-Th
Induziert IF-γ-Produktion und Zellproliferation
IL-24
Th2, Mono
Tumorzellen
Mögliches Tumorsuppressor-Zytokin, induziert Tumorzellapoptose und Wachstumsinhibierung
IL-25
Th
Th2
Stimuliert die Produktion von IL-4, IL-5 und IL-13, induziert eine Th2-Antwort
IL-26
T
Unbekannt
Unbekannt
IL-27
Akt. APC
Th
Möglicherweise involviert in die frühe Th1-Antwort
IL-28
Aktivierte T, Mono
Virusinfizierte Zellen
Antivirale Funktion
IL-29
Aktivierte T, Mono
Virusinfizierte Zellen
Antivirale Funktion
1176
Anhang
⊡ Tabelle 30 (Fortsetzung)
Zytokine
Produzierende Zelle
Zielzelle
Funktionen (Auswahl)
IF-α, -β
Mono, B, NK
DC, Mono, NK
Antivirale Effekte, reguliert angeborenes und adaptives Immunsystem; Heraufregulation der MHC-Expression
IF-γ
Th1, NK
T, B, Mono, NK
Heraufregulation von MHC-Expression; verstärkt die Zytolyse
TNF-α, -β
Mono, T, NK
Endothel, Leukozyten
Wesentliches proinflammatorisches Zytokin, möglicherweise Antitumoreffekte
GM-CSF
Mono, T
Mono, Gran
Stimuliert die Myelomonopoese, Rekrutierung von hämatopoetischen Stammzellen, proinflammatorisches Zytokin
G-CSF
Mono, T
Gran
Stimuliert die Granulozytopoese, Rekrutierung von hämatopoetischen Stammzellen, proinflammatorisches Zytokin
M-CSF
Mono
Mono
Stimuliert die Reifung Funktion der Monozyten
TGF-β
Mono, Thrombo
T, B, NK, Mono, Thy
Suppression der zytotoxischen Funktion; Unterdrückt Proliferation und inflammatorische Reaktion
Internetseiten zu Zytokinen: http://www.weizmann.ac.il/cytkine/ (Cytokine society), http://www.copewithcytokines.de/cope.cgi APC antigenpräsentierende Zellen; B B-Lymphozyten; Baso basophile Granulozyten; DC dendritische Zellen; Endothel Endothelzellen; Eo eosinophile Granulozyten; Gran segmentkernige neutrophile Granulozyten; HSC hämatopoetische Stammzellen; KM Knochenmark; Mast Mastzellen; MHC »major histocompatibiliy complex«; Mono Monozyten; NK NK-Zellen; Progenitor Progenitor-Zellen; T T-Lymphozyten; Th T-Helferzellen (CD4); Thrombo Thrombozyten; Thy-str Thymusstroma; Thy Thymuszellen; Ts T-Suppressor-/zytotoxische Zellen (CD8)
Literatur Altman PL, Katz DD (1977) Human health and disease. In: FASEB biology handbooks II, p 161, Washington, DC Beutler E (1984) Red cell metabolism: a manual of biochemical methods, 3rd ed. Grune & Stratton, Orlando Beutler E, Blum KG (1977) In: Altman PL, Dittmer DS (eds) Human health and disease, p 156. Federation of American Societies for Experimental Biology, Bethesda Brown E et al (1959) Red cell, plasma and blood volume in healthy women measured by radiochromium cell labeling and hematocrit. J Clin Invest 41:2182 Buckley RH, Dees SC, O’Fallon WM (1968) Serum immunoglobulins. I. Levels in normal children and in uncomplicated childhood allergy. Pediatrics 41:600 Cartwright GE (1968) Diagnostic laboratory hematology, 4th ed. Grune & Stratton, New York Christensen RD (2000) Expected hematologic values for term and preterm neonates In: Christensen RD (ed) Hematologic problems of the neonate, p 120. Saunders, Philadelphia Comans-Bitter WM, de Groot R, van den Beemd R et al (1997) Immunophenotyping of blood lymphocytes in childhood. Reference values for lymphocyte subpopulations. J Pediatr 130:388–393 Dallman PR (1977) In: Rudolph AM (ed) Pediatrics, 16th ed, p 1178. Appleton-Century-Crofts, New York England JM, Bain BJ (1976) Total and differential leukocyte count. Br J Haematol 33:1 Ersler AJ, Wilson J, Caro J (1987) Erythropoietin titers in anemic, nonuremic patients. J Lab Clin Med 109:429 Forestier F, Daffos F, Galacteros F et al (1986) Hematological values of 163 normal fetuses between 18 and 30 weeks of gestation. Pediat Res 20:342 Garby I, Sjolin S (1962) Development of erythropoiesis. Acta Paediatr (Stockh) 51:245 Handin RI, Lux SE, Stossel TP (eds) Blood, principles and practice of hematology, 2nd ed. Lippincott, Williams & Wilkins, Philadelphia Johnson TR, Moore WM (eds) Children are different: developmental physiology, 2nd ed, p 188. Ross Laboratories, Columbus, OH
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1177
Glossar AATAA-Motiv: Sequenzmotiv am 3′-Ende von Genen, das als
Terminationssignal der Transkription und als Erkennungssignal für die Polyadenylierung fungiert.
im Thymus, und so zu einem schweren angeborenen kombinierten Immundefekt (→ SCID) führt. Adhäsionsmoleküle: Vermitteln die Bindung einer Zelle an
AAV (Adeno-assoziiertes Virus): DNA-Virus aus der Familie
der Parvoviridae. Die verschiedenen Serotypen (mindestens 6) werden als Vektoren für die Gentherapie beim Menschen erprobt. Abbauformen (von kernhaltigen Blutzellen): In vivo entstandenes morphologisches Korrelat der → Apoptose. Absolute Risikoreduktion (ARR): Bedeutet in einer Studie den
Unterschied zwischen dem absoluten Risiko in der Kontrollgruppe und der Interventionsgruppe, falls es zu einem günstigen Effekt durch die Intervention kommt. Beträgt z. B. unter Plazebo das absolute Risiko 0,6 und unter einem wirksamen Präparat (Verum) 0,5, so ist die absolute Risikoreduktion 0,1 (=10%).
andere Zellen oder an extrazelluläre Matrixproteine. Beispiele: → Integrine, → Selektine, CD44. Adjuvans: Stoff, der die Wirkung eines anderen verstärkt oder steigert. In der Immunologie: Substanz, die die Immunantwort auf ein bestimmtes Antigen steigert. Adoptive Immunität: Eine Immunität, die auf einen naiven oder einen bestrahlten Empfänger durch Transfer von lymphoiden Zellen eines aktiv immunisierten Spenders übertragen wird. Dieser Vorgang wird als adoptiver Transfer bezeichnet. Affinität: Bezeichnet die Stärke der Bindung von Molekülen
des Immunsystems, beispielsweise der Bindung eines Antikörpers mit dem entsprechenden Antigen ( Avidität).
Absolute Risikozunahme (ARI; »absolute risk increase«): Be-
deutet in einer Studie den Unterschied zwischen dem absoluten Risiko in der Interventionsgruppe und der Kontrollgruppe, falls es zu einem ungünstigen Effekt durch die Intervention kommt. Beträgt z. B. unter Plazebo das absolute Risiko 0,5 und unter einem wirksamen Präparat 0,6, so beträgt die absolute Risikozunahme 0,1 (=10%).
Agammaglobinämie: → X-chromosomale Agammaglobu-
linämie. Agranulozytose: Nicht mehr gebräuchlich für schwere Gra-
nulozytopenie. AIDS (erworbenes Immundefektsyndrom): Wird durch das
Absolutes Risiko (AR): Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens
eines Ereignisses bei einem einzelnen Menschen in einer bestimmten Zeit: Der Bereich liegt zwischen 0 (das Ereignis wird überhaupt nicht auftreten) und 1 (das Ereignis wird auf jeden Fall auftreten). Zum Beispiel bedeutet ein AR von 0,6, dass das absolute Risiko für das Auftreten eines Ereignisses 60% beträgt. Adaptive Immunantwort (adaptives Immunsystem; spezifisches Immunsystem): Die Immunantwort antigenspezifi-
scher Lymphozyten auf ein Antigen, einschließlich der Entwicklung eines immunologischen Gedächtnisses (»memory«). Die adaptive Immunantwort beruht auf einer klonalen Selektion von Lymphozyten. Adaptorproteine: Bilden die Verbindung zwischen Rezepto-
ren und den intrazellulären Proteinen der → Signaltransduktion. Sie sind funktionell heterogen, besitzen aber alle eine ähnliche Domäne (SH2). Adenin (A): Purinbase; Grundbaustein von DNA- und RNA-
Nukleotiden; das entsprechende Nukleotid wird Adenosin genannt. Adenosindeaminase(ADA)-Defekt: Angeborene Stoffwech-
selerkrankung, die mit einer Akkumulation toxischer Purinnukleoside und Nukleotide einhergeht und damit zum Absterben der sich entwickelnden Lymphozyten, insbesondere
humane Immundefektvirus (HIV-1) verursacht. Die Erkrankung wird klinisch manifest, wenn die T-Helferzellen (CD4) stark vermindert sind, da es dann zu opportunistischen Infektionen kommen kann. Akanthozyten (syn. Stachelzellen; Echinozyten; Burr-Zellen):
Erythrozyten mit stacheliger Oberfläche, z. B. bei hereditärer Abetalipoproteinämie oder als Lagerungsartefakt. AKT: Familie von Onkogenen (Säugetierhomolog des retroviralen Onkogens v-akt), die für Serin-Threonin-Kinasen kodieren. Loci: AKT-1 14q32, AKT2 19q13.1, AKT3 1q44. Aktive Immunisierung (Impfung): Eine Immunisierung mit
lebenden, abgeschwächten (attenuierten) oder toten Antigenen oder Toxinen, die dazu führen, dass das Immunsystem der geimpften Person eine humorale und/oder zelluläre Immunantwort bildet. Akzessorische Effektorzellen: Zellen des adaptiven Immunsystems, die bei der Immunantwort helfen, aber nicht an der Antigenerkennung beteiligt sind (professionelle Phagozyten, Mastzellen, NK-Zellen). Alder-Reilly-Anomalie: Dunkelrote bis violette Einschlüsse in neutrophilen Granulozyten, eosinophilen Granulozyten, basophilen Granulozyten, Lymphozyten und selten in Monozyten. Entsprechen Mukopolysacchariden und kommen
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bei verschiedenen Mukopolysaccharidosen wie Morbus Hunter, Morbus Sanfilippo, Morquio- und Scheie-Syndrom vor. Morphologische Ähnlichkeit mit der toxischen Granulation. Alkalische Leukozytenphosphatase (ALP; LAP; ANP): semi-
quantitative zytochemische Färbung der Granulozyten zur Unterscheidung zwischen reaktiven (ALP erhöht) und malignen (CML) Granulozytosen (ALP erniedrigt). Allel: Die Kopien eines Gens oder einer DNA-Sequenz am
selben Locus homologer Chromosomen. Die »normale« Form eines Allels wird auch als Wildtyp-Allel bezeichnet. Ein Individuum kann maximal 2 verschiedene Allele – eines auf dem mütterlichen und eines auf dem väterlichen Chromosom – am jeweiligen Locus aufweisen. Häufig gibt es in einer Bevölkerung verschiedene Varianten normaler Allele (multiple Allelie).
som 21 und des eto-Gens auf Chromosom 8 (t8;21) entsteht und das Repressormoleküle bindet und somit die Transkription wachtumshemmender Gene stört. Anaphase: Stadium der Mitose bzw. Meiose, das durch die Bewegung der homologen Chromosomen in Richtung auf die jeweils gegenüberliegenden Pole der Zellteilungsspindel charakterisiert ist. ANC (»absolute neutrophil count«): Absolute Anzahl von segmentkernigen plus stabkernigen neutrophilen Granulozyten im Blut. Anergie: Zustand einer fehlenden Immunantwort auf ein
Antigen. Aneuploidie: Aus Gewinn (Hyperdiploidie) oder Verlust (Hy-
podiploidie) ganzer Chromosomen resultierender numerisch anomaler Chromosomensatz.
Allel-spezifische Oligonukleotid-Hybridisierung (ASO): Me-
thode zum Nachweis spezifischer Punktmutationen mittels Hybridisierung mit spezifischen Oligonukleotiden. Allergene: Antigene, die eine Hypersensitivität bzw. eine
Anisochromie: Erhöhte Variabilität der Anfärbbarkeit von
Erythrozyten.
allergische Reaktion hervorrufen.
Anisozytose: Verstärkte Variabilität der Erythrozyten- oder Thrombozytengröße.
Allogene Stammzelltransplantation: Übertragung von hä-
Antigen: Molekül, das spezifisch an einen Antikörper bindet
matopoetischen Stammzellen von verwandten, HLA-identen Personen (»matched related donor«, MRD) oder HLA-identen, nicht verwandte Personen (»matched unrelated donor«, MUD) durch intravenöse Infusion.
(Antigene, die eine Antikörperproduktion induzieren, werden auch als Immunogen bezeichnet).
Allograft: Gewebe/Transplantat eines Spenders derselben
Spezies. Alloreaktivität: Stimulation von T-Zellen durch HLA-Mole-
küle.
Antigen-Antikörper-Komplex (syn. Immunkomplex): Nicht
kovalent gebundene Gruppen von Antigen- und Antikörpermolekülen, die bei einer bestimmten Größe präzipitieren können. Antigendeterminanten (syn. Epitope): Anteile des Antigenmoleküls, die sich spezifisch mit dem entsprechenden Antikörper bzw. Antigenrezeptor binden.
Alpha-Fehler (Fehler erster Art): Wahrscheinlichkeit, einen
nicht vorhandenen Effekt nur zufällig zu beobachten; es resultieren falsch positive Studienergebnisse. α-Naphthylazetatesterase (ANAE): Zytochemische Reaktion, die monozytäre Zellen diffus positiv anfärbt.
Antigenpräsentierende Zellen: Sind in der Lage, Antigene zu
prozessieren und die entsprechenden Peptidfragmente, gebunden an HLA-Moleküle, an ihrer Oberfläche zu präsentieren. Die wesentlichen antigenpräsentierenden Zellen (APC) für T-Zellen sind: Makrophagen, dendritische Zellen und B-Zellen.
Alternatives Spleißen: Beim alternativen Spleißen wird eine
aus mehreren Exons und Introns bestehende Prä-mRNA zu verschiedenen reifen mRNA-Formen weiterverarbeitet, die sich in der Zusammensetzung ihrer Exons oder in der Position des Start- bzw. Stoppsignals der Translation unterscheiden und deshalb in Proteine mit unterschiedlicher Funktion übersetzt werden. Alu-Sequenzen: Erhalten ihren Namen von der Erkennungssequenz des Alu-Restriktionsenzyms. Familie von kurzen (ca. 300 bp langen) mittelrepetitiven Nukleotidpaaren. Nehmen ca. 3–6% des menschlichen Genoms ein. AML/ETO: Abgeleitet von akute myeloische Leukämie und »eight-twenty-one«. Fusionstranskript das aus einer balancierten reziproken Translokation des AML-1-Gens auf Chromo-
Antigenprozessierung: Abbau von Proteinen in Peptide, die dann an HLA-Moleküle gebunden an der Zelloberfläche präsentiert werden. Anti-Kodon: Eine Sequenz von 3 Nukleotiden der tRNA,
die sich bei der Translation spezifisch an ein mRNA-Kodon bindet. Antikörper: Proteine, die sich spezifisch mit dem entspre-
chenden Antigen binden. Sie gehören zur Klasse der Immunglobuline (Gammaglobuline) und werden von Plasmazellen gebildet. Antilymphozytenglobulin: Antikörper, der in anderen Spe-
zies gegen menschliche T-Zellen gebildet wird. Wird zur
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T-Lymphozytendepletion vor Stammzelltransplantation eingesetzt.
Zellen bis zu den neutrophilen Granulozyten als Ausdruck der Zugehörigkeit zum malignen Klon auftreten.
Anti-Onkogen: → Tumorsuppressor-Gen.
Autograft: Gewebeverpflanzung von einer Stelle an eine andere Stelle desselben Individuums.
Antizipation: Die Tatsache, dass für eine Familie absehbar ist, dass eine Krankheit im Laufe der Generationen immer früher auftritt oder eine immer gravierendere Symptomatik zeigt. Das pathogenetische Prinzip der Antizipation beruht auf einer Trinukleotidexpansion. APC (Adenomatous polyposis coli): → Tumorsuppressor-
Autoimmunität: Immunreaktion gegen körpereigenes Ge-
webe. Autokrin: Fähigkeit eines Zytokins auf die Zelle einzuwirken, von der das Zytokin produziert wurde ( Parakrin)
Gen auf Chromosom 5q21. Mutationen finden sich u. a. bei der Präkanzerose FAP (familiäre adenomatöse Polyposis) und beim Turcot-Syndrom.
Autologe Stammzelltransplantation: Übertragung von pa-
Aplastische Krise: Vorübergehendes Sistieren der Erythro-
Autoradiographie: Methode zum lokalisierenden Nachweis radioaktiver Substanzen in Geweben oder auf Blots mit photographischen Verfahren. Das radioaktiv markierte Material wird für eine bestimmte Belichtungszeit mit einem Film in engen Kontakt gebracht und nach Entwicklung des Films als eine Schwärzung sichtbar.
poese bei hämolytischen Anämien, z. B. aufgrund einer Infektion mit humanem Parvovirus B19. Apoptose: Programmierter Zelltod, der während der normalen Entwicklung und Alterung von Organismen eine Rolle spielt. Ausgelöst durch zytotoxische Lymphozyten, UV-Strahlung, Zytostatika usw. wird eine Kaskade von molekularen Veränderungen eingeleitet, die zum Zelltod führen. Im Gegensatz zur Zellnekrose liegt der Apoptose ein organisiertes Absterben von Zellen mit charakteristischem morphologischem Erscheinungsbild zu Grunde. Der programmierte Zelltod spielt eine wichtige Rolle bei der normalen Embryonalentwicklung und Gewebedifferenzierung, wird aber auch zur gezielten Elimination geschädigter Zellen induziert. Die pro- und anti-apoptotischen Prozesse unterliegen einem komplexen Regelkreis intrazellulärer Signalvermittlung. Im Gegensatz zur Zellnekrose löst die Zellapoptose keine inflammatorische Reaktion aus.
tienteneigenen hämatopoetischen Stammzellen durch intravenöse Infusion.
Autosomen: Alle Chromosomen mit Ausnahme der Geschlechtschromosomen. Das diploide menschliche Genom besteht aus 46 Chromosomen, jeweils 23 von Vater und Mutter. 22 Paare sind Autosomen und ein Paar Geschlechtschromosomen (X und Y). Avidität: Die funktionelle Bindungsstärke eines Antikörpers
mit seinem Antigen. Azur-Granula: Violette bzw. purpurfarbene Granula; beispielsweise in bestimmten Lymphozyten (→ »large granular lymphocytes«). BAD: Pro-apoptotischer Faktor aus der Bcl-2-Familie. Ver-
Assoziation: Das gemeinsame Auftreten von 2 Größen. Wenn
2 Ereignisse miteinander verbunden sind, wie z. B. Ehe und Schwangerschaft oder Traurigkeit und Krankheit, ist man versucht die »logische« Schlussfolgerung zu ziehen, dass diese 2 Dinge kausal miteinander verknüpft sind. Dies ist aber keineswegs immer der Fall ( Kausalität und unkontrollierte Studien). Atopie: Klinische Manifestation einer Typ-1-Hypersensitivitätsreaktion, z. B. Ekzem, Asthma, Heuschnupfen, Nahrungsmittelallergie. AUC (»area under the curve«, Fläche unter der Kurve): Maß für die Wirkmöglichkeit eines Pharmakons; Bestimmung (Integration) der Konzentrationen eines Pharmakons über den gesamten Zeitraum seiner Anwesenheit im Körper. Es ist zu beachten, dass die AUC nur die Plasmaspiegel eines Arzneistoffs wiedergibt, und damit nur eine allenfalls lose Korrelation zwischen Wirkung und AUC besteht.
drängt Bcl-2 aus der Bindung zu Bax. BALT: Bronchial-assoziiertes lymphatisches Gewebe (»tissue«). Basenexzisionsreparatur: Form der Reparatur eines DNAEinzelstranges in einer Doppelhelix. Dabei kommt es nach Beschädigung einzelner Basen eines Nukleotids zuerst zur Entfernung dieser Basen und erst anschließend zur Herstellung reaktiver 5′–3′-Enden im Zuckerrückgrat des geschädigten DNA-Stranges. Die entstandene Lücke wird nach dem Prinzip der Basenpaarung ohne Informationsverlust wieder verschlossen. Basenpaar (bp): DNA und RNA enthalten die Purinbasen
Auer-Stäbchen: Finden sich in myeloischen Zellen bei mye-
Adenin (A) und Guanin (G) sowie die Pyrimidinbasen Cytosin (C), Thymin (T) bzw. Uracil (U). Jeweils 2 Basen (Adenin und Thymin bzw. Uracil oder Cytosin und Guanin) können eine Bindung (durch Wasserstoffbrücken) eingehen, um Basenpaare zu bilden. Die 2 Stränge der menschlichen DNA werden durch diese Bindungen der Basenpaare miteinander verbunden. Auf diese Weise entsteht doppelsträngige DNA.
loischen Neoplasien (AML und MDS). Sie entstehen durch Fusion von Primärgranula und können nicht nur in unreifen Myeloblasten, sondern auch in ausreifenden myeloischen
Basophil: Blaugefärbtes Zytoplasma; purpurgefärbte Granula; bedingt durch saure Inhaltsstoffe (RNA; DNA).
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Glossar
Basophile Tüpfelung: Basophile, RNA-haltige Einschlüsse in
Erythrozyten. Die basophile Tüpfelung kann ein Hinweis auf einen heriditären Pyrimidin-5-Nukleotidasemangel sein.
BRCA: Abgeleitet von »breast cancer gene«. Mutationen in BRCA1 und 2 prädisponieren zu Brust- und Ovarialkarzinomen. BRCA1 liegt auf 17q21, BRCA2 auf 13q12.
BAX: Pro-apoptotischer Faktor, der die Wirkung von Bcl-2
Buffy-Coat-Ausstrich: Mit dieser Technik können kernhaltige
antagonisiert.
Zellen in einem Blutausstrich angereichert werden. Dient der Suche nach selten vorkommenden Zellen oder nach intrazellulären Erregern.
BCL-2: Abgeleitet von »B-cell leukemia-2«-Gen. Familie von
ca. 18 Mitgliedern, die eine wichtige Rolle bei der → Apoptose spielen, aber weder Onkogene noch Tumorsuppressor-Gene darstellen. BCR-ABL: Ein Fusionsgen, das bei der Translokation von genomischen Sequenzen des BCR-Gens auf Chromosom 22 (»breakpoint cluster region«) und dem ABL1-Gen (Ableson Virus) auf Chromosom 9 entsteht t(9;22)(q34;q11). Die BCRABL-Mutation findet sich bei der chronischen myeloischen Leukämie und Unterformen der akuten lymphoblastischen Leukämie.
Burr-Zellen: Stachelzellen; → Akanthozyten; → Echinozyten;
→ Fragmentozyten.
Bursa Fabricii: Ein lymphoepitheliales Organ, das sich zwischen Enddarm und Kloake von Vögeln findet und in dem B-Zellen reifen. CAAT-Box: Regulative DNA-Sequenz im 5′-Bereich eines Gens, an das Transkriptionsfaktoren binden können. Cap: 5′-Ende der eukaryontischen mRNA.
B-DNA: Form der DNA, in der sich die beiden Stränge der
Doppelhelix rechtsdrehend umeinander winden. Die DNA des Zellkerns befindet sich hauptsächlich in der B-Form, die eine größere Stabilität als die Z-DNA besitzt.
Capping: Prozess, bei dem Zelloberflächenmoleküle aggregieren, meist in Folge einer Antigen-Antikörper-Reaktion an der Zelloberfläche.
Beta-Fehler (= Fehler zweiter Art): Wahrscheinlichkeit, einen
Caspasen: Gruppe von Enzymen, die eine besondere Funk-
vorhandenen Effekt wegen zu kleiner Stichprobengröße nicht zu beobachten; es resultieren falsch negative Studienergebnisse.
tion bei der Signaltransduktion und Exekution der → Apoptose haben.
bHLH (»basic helix loop helix«): Grundstruktur einer Trans-
kriptionsfaktor-Familie. Bias: Systematischer Fehler oder Verzerrung, wodurch die Studienergebnisse oder die Datenlage beeinflusst werden. Eine Bias resultiert in einer Abweichung des Ergebnisses in die Richtung, die die Bias vorgibt. Biotransformation: Beschreibt den enzymatischen Metabo-
lismus (Aktivierung einer unwirksamen Substanz = Anabolismus, Inaktivierung einer aktiven Substanz = Katabolismus) eines Pharmakons. Durch metabolische Reaktionen wird eine lipophile Substanz wasserlöslicher gemacht. Die dafür notwendigen Reaktionen werden in Phase-1- (Oxidation, Reduktion) und Phase-2-(Kopplungsreaktionen: z. B. Glukuronidierung) Reaktionen unterteilt. Bioverfügbarkeit: Ausmaß, in dem ein Pharmakon nach extravasaler Applikation (z. B. oral) freigesetzt und resorbiert wird und schließlich am Wirkort verfügbar ist. Blinde Studienbedingungen: Bei einem einfachblinden Stu-
diendesign wissen die Patienten/Probanden nicht, welche Therapie sie erhalten. Bei einem doppelblinden Studiendesign wissen weder die Patienten noch die Untersucher, wer welche Therapie erhält. Bei einem dreifachblinden Studiendesign erfolgt auch die Auswertung/Statistik verblindet. Bei nicht verblindeten Studien wird der Therapieeffekt durchschnittlich um 30% überschätzt. Bradykinin: Ein vasoaktives Nonapeptid.
CCR (»continuous complete remission«; anhaltende Vollremission): Kontinuierlicher Zustand der Abwesenheit von
Krankheitszeichen nach dem Erreichen der Kriterien der Vollremission. CD: »Cluster of differentiation« oder »cluster determinant«.
Gruppe von Antigenen, die den Immunphänotyp einer Zelle oder eines Gewebes definieren. CDA (congenitale dyserythropoetische Anämien): Seltene genetisch bedingte kongenitale Anämien, die durch charakteristische morphologische Veränderungen und eine Reifungsstörung der Erythropoese gekennzeichnet sind. CDK (»cyclin dependent kinase«): Motoren des Zellzyklus bestehend aus 2 Eiweißen, einem Cyclin und einer Cyclinabhängigen Kinase, die das Fortschreiten des Zellzyklus durch die verschiedenen Phasen garantieren. cDNA-Array: Zusammenstellung von cDNA-Sonden bis zu
mehrerer Tausend Genen auf einem Träger. Die Hybridisierung von zellulärer mRNA mit einer solchen Sondenpopulation kann automatisiert erfasst werden und erlaubt nach entsprechender Datenverarbeitung Aufschlüsse über das Genexpressionsprofil der untersuchten Zellen. cDNA: »complementary« oder »copy« DNA, die vom Enzym
reverse Transkriptase an einer mRNA-Matrize synthetisiert wurde und deshalb im Gegensatz zu genomischer DNA keine Introns enthält. Bei der reversen Transkirption entsteht zunächst ein mRNA/DNA-Hybrid. Durch Verdauung mit RNAspezifischen Nukleasen wird danach der RNA-Strang abge-
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baut und über eine DNA-Polymerase ein doppelsträngiges cDNA-Molekül synthetisiert. CAM: → Zelladhäsionsmoleküle. Centimorgan (cM): Maßeinheit für die Rekombinationsfre-
quenz eines Genortes durch genetische Rekombination. Ein Centimorgan bedeutet die 1%-ige Wahrscheinlichkeit, dass ein Marker eines bestimmten Locus von einem zweiten Marker an einem anderen Locus während der Überkreuzung homologer Chromosomen bei der Zellteilung in einer Generation getrennt wird. Ein Centimorgan entspricht ungefähr der Entfernung von einer Million bp auf einem menschlichen Chromosom. CGH-Analyse: Vergleichende (»comparative«) genomische
Hybridisierung. Eine Methode der molekularen Zytogenetik zum Nachweis von überzähligem oder deletiertem Chromosomenmaterial, insbesondere in der Tumorgenetik angewandt. Bei dieser Technik wird die DNA des zu untersuchenden Gewebes mit einer Kontroll-DNA verglichen, wobei die DNA-Proben nach Markierung mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarbstoffen auf ein Metaphase-Präparat eines gesunden Probanden hybridisiert weden. Die Auswertung der Fluoreszenzprofile erfolgt über eine Spezialkamera und eine spezielle CGH-Software. Checkpoints: Imaginäre Zeitpunkte im Zellzyklus, an denen Kontrollfunktionen wirken, die sicherstellen, dass laufende Zellzyklusabschnitte korrekt beendet werden, bevor nachfolgende beginnen können. Der bedeutendste Checkpoint menschlicher Zellen ist der G1-Checkpoint – auch Restriktionspunkt genannt. Die Kontrollfunktion am Restriktionspunkt ist in fast allen bisher untersuchten Tumoren außer Kraft gesetzt. Auf diese Weise können transformierte Zellen ihre Zellzyklen unkontrolliert und ungehindert durchlaufen. Chemokine: Kleine Moleküle, die die Migration und Aktivierung von professionellen Phagozyten und Lymphozyten bewirken. Sie besitzen eine zentrale Funktion bei der inflammatorischen Antwort.
Chromosom: Im Zellkern befindliche, während der Kerntei-
lung mikroskopisch abgrenzbare Einheit, die aus einem langen Faden von DNA und assoziierten Proteinen besteht. Jedes Chromosom ist aus 2 parallel angeordneten Teilen, den Chromatiden, zusammengesetzt, die am Zentromer miteinander verbunden sind. Das Zentromer trennt den kurzen (p, petit) und den langen Arm (q, auf p folgender Buchstabe im Alphabet) eines Chromosoms.Verschiedene Behandlungs- und Färbemethoden führen zu einer reproduzierbaren Darstellung horizontaler, heller oder dunkler Banden, die die Identifikation und Beurteilung jedes einzelnen Chromosoms zulassen (z. B. G-(Giemsa), Q (Quinakrin)-, R (Reverse)-Banden). Chromosome painting: Kennzeichnung von Chromosomen
bzw. deren Subregionen in der Metaphase oder Interphase durch In-situ Hybridisierung mit chromosomenspezifischen Sonden. Derartige Untersuchungen gestatten z. B. die Diagnose chromosomaler Aberrationen in Interphasepräparaten. Die Benutzung von mehreren, durch unterschiedliche Fluorochrome markierte Sonden erlaubt es, die relative Lage von verschiedenen Chromosomenregionen zueinander in Interphasekernen zu untersuchen (→ Fluoreszenz-in-situ-Hybridierung). Chromosome walking: Klonierung und Charakterisierung
von zusammenhängender genetischer Information eines chromosomalen Gebietes. Dabei werden »überlappende«, benachbarte genomische Sequenzen isoliert, die in jeweils unterschiedlichen Klonen einer Genbank enthalten sind. Als Ausgangspunkt wird eine Gensonde für die näher zu untersuchende Region benötigt. Das Ausmaß der Überlappung zwischen verschiedenen Rekombinanten lässt sich durch eine Restriktionskartierung der jeweiligen DNA-Fragmente ermitteln. Jeder »Schritt« dieses »Spazierganges auf einem Chromosom« kann abhängig vom Vektortyp maximal 40 kb betragen. Sehr viel größere Distanzen (200 kb) können durch sog. »chromosome jumping« überbrückt werden, wobei nur die Enden sehr langer DNA-Fragmente, nicht aber die dazwischen liegenden Abschnitte, kloniert werden, so dass eine bestimmte Strecke auf einem Chromosom gleichsam in »Sprüngen« charakterisiert wird, bevor eine nähere Analyse relevanter Subregionen über ein »chromosome walking« erfolgt.
Chemotaxis: Gesteigerte zielgerichtete Migration von Zellen
des Immunsystems, als Antwort auf ein Konzentrationsgefälle von verschiedenen chemotaktischen Faktoren.
Cis-acting element: Ein in cis wirkendes genetisches Element
wie z. B. ein Enhancer, beeinflusst die biologische Aktivität benachbarter Sequenzen auf demselben DNA-Molekül.
Chimärismus: Situation, in der Zellen von genetisch unter-
schiedlichen Individuen in einem Körper gemeinsam vorkommen.
c-Kit (CD117): Rezeptor für den Stammzellfaktor (SCF). Wird
von hämatopoetischen Stamm- und Vorläuferzellen exprimiert.
Chlorazetatesterase (CAE): Zytochemische Reaktion, die
myeloische Granula in neutrophilen Granulozyten anfärbt. Normale eosinophile und basophile Granulozyten sind negativ. Pathologische Eosinophile, die sich im Knochenmark bei der AML FAB M4eo finden, sind dagegen CAEpositiv.
Clearance: Maß für die Elimination eines Pharmakons. Die
Gesamt-Clearance ist die Summe aller Eliminationswege (z. B. renal, hepatisch etc.). Die meisten Arzneistoffe werden entsprechend einer Kinetik 1. Ordnung eliminiert, d. h. pro Zeiteinheit wird ein konstanter Anteil der Substanz eliminiert.
Chromatin: Protein-DNA-Komplex bestehend aus DNA, His-
tonen, Nicht-Histonproteinen und RNA. Konstituiert das Material aus dem Chromsomen bestehen.
Clinical evidence: Kompendium von Evidenz-basierten Reviews zu den Effekten klinischer Interventionen. Es wird von
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Glossar
der British Medical Journal (BMJ) Publishing Group herausgegeben und in sechsmonatigen Abständen ergänzt und aktualisiert (http://www.clinicalevidence.org). Cochrane Collaboration: Internationale Organisation mit
dem Ziel systematische Übersichtsarbeiten nach der Methode Evidenz basierter Medizin zu verfassen, um eine solide Wissensbasis für medizinische Entscheidungen zu schaffen (http://www.update-software.com/clibhome/clib.htm).
Crossing-Over: Austausch von Sequenzen homologer Chromosomen während der Meiose, der zur Rekombination der in den elterlichen Keimzellen verankerten genetischen Informationen führt. Neben dem meiotischen »crossing-over« gibt es eine entsprechende Rekombination zwischen homologen Chromosomen auch während der Mitose somatischer Zellen. CSF: Kolonie-simulierender Faktor; Wachstumsfaktoren der Hämatopoese: G-CSF; M-CSF; GM-CSF.
Codon: → Kodon. Compliance: Fähigkeit oder Bereitschaft eines Patienten, die
angeordnete Therapie gemäß den Einnahmevorschriften regelmäßig einzuhalten. Heute auch Adherence (Therapietreue) genannt.
Cytosin (C): Pyrimidinbase; Grundbaustein von DNA- und RNA-Nukleotiden; das entsprechende Nukleosid wird Cytidin genannt. Dakryozyten: Tränen- bzw. birnenförmige Erythrozyten, die
bei der Knochenmarkfibrose auftreten. Compound heterozygot: Das Vorhandensein von 2 verschie-
denen, vom Wildtyp abweichenden Allelen an entsprechenden Stellen homologer Chromosomen. Bei autosomal rezessiven Erbkrankheiten kann sowohl die Weitergabe einer bei Vater und Mutter (den heterozygoten Überträgern) identischen Mutation als auch die Vererbung unterschiedlicher Mutationen im selben Gen (»compound«: gemischte Heterozygotie) durch die Eltern zur klinischen Manifestation führen. Cosmid: Ein genetisch modifiziertes Plasmid, in das die cosStellen des Phagen Lambda eingesetzt wurden. Cosmide können ca. 40 kb große fremde DNA-Fragmente aufnehmen und dienen als Vektoren. Cos-Stellen: An den cos-Stellen (»cohesive«, zusammenge-
halten) sind die beiden aus komplementären Nukleotidsequenzen bestehenden Enden der linearen Lambda-PhagenDNA zu einem Ring verknüpft. Während des Infektionszyklus eines Phagen wird das Phagengenom in der Wirtszelle zunächst als ein zusammenhängendes, aus zahlreichen Genomkopien bestehendes Molekül (Konkatemer) repliziert und anschließend jeweils an den cos-Stellen gespalten; jedes Genom wird dann in Hüllproteine zu einem fertigen Bakteriophagen verpackt. Die cos-Stellen können in Plasmide eingebaut werden (Cosmide) und anstelle von Phagen-DNA ca. 40 kb fremde DNA zwischen sich aufnehmen. CpG-Insel: 200 bp bis mehrere Kilobasen lange DNAAbschnitte mit einem GC-Gehalt von über 40% und einem Verhältnis von >0,6 beobachtete/erwartete Frequenz von Cytosin gefolgt von Guanin (CpG, Cytosin phosphoryliert Guanin). CR (»complete remission«, komplette Remission): Als komplette Remission oder Vollremission wird ein Zustand bezeichnet, der eine Feststellung von Krankheitszeichen mit den üblichen Methoden nicht mehr ermöglicht. Cre/Lox-P-System: Rekombinase-System zur Herstellung
konditionaler Mausmutanten, bestehend aus der Rekombinase »Cre« (»causes recombination«) und den von Cre erkannten DNA-Zielsequenzen, den sog. Lox-P-Elementen (»locus of crossing over«).
Deletion: Verlust eines DNA- oder Chromosomenabschnit-
tes, dessen Größe von einem Nukleotid bis zu einem ganzen Chromosom reichen kann. Designer-Protein: In der Natur nicht vorkommendes Protein,
das durch die Expression gezielt veränderter, rekombinanter cDNA gewonnen wird. Entsprechende Veränderungen können die Stabilität, Spezifität oder Funktion eines natürlich vorkommenden Proteins so modifizieren, dass seine pharmakologischen Eigenschaften verbessert werden. DFS (»disease free survival«): → EFI. Dicker Ausstrich (Tropfen): Spezielle Blutausstrichtechnik, bei der mehrere Erythrozyten übereinander liegen. So können intraerythrozytäre Erreger wie Malaria und andere Parasiten schneller entdeckt werden. Dimer: Molekülpaar. Dimorphismus: Vorkommen von 2 verschiedenen Erythrozytenpopulationen. Diploid: Gesamter Satz der paarigen Chromsomen (beim
Menschen 22 Autosomen und 1 Geschlechtschromosomenpaar). Das diploide menschliche Genom umfasst 46 Chromosomen. DMBT1: »Deleted in malignant brain tumors«; Tumorsuppressor-Kandidat auf Chromosom 10q25. Dmin: »Double Minutes«; extrachromosomal gelegene Chromatinkörperchen, die als Ausdruck der Amplifikation eines Onkogens nachgewiesen werden können. DNA-Methylierung/-Demethylierung: Die DNA-Methylie-
rung erfolgt typischerweise am C5-Atom von Desoxycytosin in CpG-Dinukleotiden, die gehäuft im Promotorbereich von Genen vorkommen (CpG-Island). Hieraus resultiert eine Blockade des Zuganges von Transkriptionsfaktoren am Promotor. Die Demethylierung von CpG-Islands führt umgekehrt zu einer Transkriptionsaktivierung. DNA-Methylierung und Histon-Deazetylierung wirken gleichsinnig (nega-
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tiv) bei der epigenetischen Modifikation der Transkriptionsaktivität. DNA: Desoxyribonukleinsäure (»deosyribonucleic acid«); chemischer Träger der primären genetischen Information. DNA besteht aus einem Polymer von Purin- und Pyrimidinbasen, einem Zucker (Desoxyribose) und Phosphorsäure; sie besitzt die Struktur einer Doppelhelix, in der sich jeweils die Purinbase Adenin (A) und die Pyrimidinbase Thymin (T) oder die Purinbase Guanin (G) und die Pyrimidinbase (Cytosin (C) durch Wasserstoffbrücken verbunden gegenüber stehen. Die beiden komplementären Stränge der DNA verlaufen in Gegenrichtung.
(»slot« einer dafür entwickelten Apparatur auf Nitrozellulose- oder Nylonmembranen aufgetragen und anschließend mit Gensonden hybridisiert werden. Im Gegensatz zur Southern- oder Northern-Blot-Analyse wird die DNA bzw. RNA zuvor nicht elektrophoretisch aufgetrennt, so dass mit dieser Methode nur eine Aussage zur Quantität, nicht aber zur Qualität (Fragmentgröße) der nachgewiesenen Sequenzen möglich ist. Drepanozyten (Sichelzellen): In vitro oder in vivo auftreten-
de sichelförmige Veränderung der Erythrozyten aufgrund einer Hb-S-Polymerisation. D-Segment: DNA-Sequenz, die einen variablen Kettenanteil
DNA-Chip: Zusammenstellung einer Vielzahl von DNA-Son-
den auf einem Träger, der mit DNA oder RNA hybridisiert und automatisch ausgewertet werden kann. DNA-Chips werden entweder zur Expressionsanalyse (→ cDNA-Array) oder zur Analyse von DNA-Mutationen und -Polymorphismen (→ »single nucleotide polymorphism«) eingesetzt.
von Immunglobulinen oder T-Zellrezeptoren kodiert, der zwischen V- und J-Segmenten liegt und die Vielfalt (»diversity«) der spezifischen immunologischen Abwehrmoleküle erhöht. Duplikation: Verdoppelung eines Chromosomenabschnittes
oder Nukleotidpaares. DNA-Doppelstrangbruch-Reparatur: Es wird unterschieden
zwischen der Reparatur von Doppelstrangbrüchen unter Verwendung der homologen Rekombination, bei der es nicht zu einem Verlust von DNA-Information kommt, und der nicht-homologen Verknüpfung der DNA-Enden (»non-homologous end joining«), bei der die freien DNA-Enden ohne Ausgleich der möglicherweise verloren gegangenen Sequenzinformationen wieder fusioniert werden.
Dynamische Mutation: Zunahme von Oligonukleotiden (z. B. Trinukleotide) über eine kritische Grenze hinaus, wobei die Zahl der Module von Generation zu Generation ansteigt. Diese Expansion kann Mikrosatelliten betreffen, die intragenisch oder auch 5′ bzw. 3′ von einem Gen lokalisiert sind. Klinisches Korrelat der dynamischen Mutation ist die Antizipation. Eastern Blot: Wenig gebräuchlicher Name für das Blotten von
DNA-Sequenz: Lineare Anordnung der Basenpaare in der
Phospholipiden auf Membranen.
DNA. International wird die DNA-Sequenz vom 5′-C-Atom des Zuckerrestes eines Nukleotids zum 3′-C-Atom des nächsten definiert.
Echinozyten (Stechapfel-Erythrozyten): In vitro (Lagerung)
Döhle-Körper: Kleine blassblaue/blaugraue Einschlüsse im Zytoplasma von segmentkernigen Granulozyten, in der Regel in der Zellperiphere gelegen. Döhle-Körper bestehen aus Stapeln des endoplasmatischen Retikulums. Dominant: Ein Allel oder Gen gilt als dominant, wenn im heterozygoten Zustand die phänotypische Manifestation wesentlich von diesem, nicht aber vom anderen Allel geprägt wird, so dass Heterozygote den gleichen Phänotyp wie Homozygote aufweisen. Dominant-negativer Effekt: Das Produkt eines mutierten
Allels stört aktiv die Funktion oder Struktur des normalen Genproduktes, so dass die Gesamtfunktion beider Allele beeinträchtigt ist, obwohl das normale Allel für sich genommen eine ausreichende Funktion sicher stellen könnte. Doppelt-negative Thymozyten: Unreife T-Zellen, die weder
CD4, noch CD8 exprimieren. Doppelt-positive Thymozyten: T-Lymphozyten in einer intermediären Reifungsstufe im Thymus, die sowohl CD4- als auch CD8-Rezeptoren exprimieren. Dot Blot: Nachweisverfahren für RNA- oder DNA-Sequenzen,
die zunächst punktförmig (»dot«) oder durch die Schlitze
oder in vivo (Heparintherapie; Pyrovatkinase-Mangel) entstehende Ausstülpungen mit 10–30 stumpfen Fortsetzen der Erythrozytenmembran. ED50 (effektive Dosis): Diejenige Konzentration, bei der 50%
der Individuen eines Kollektives eine pharmakologische Wirkung zeigen. EFI (ereignisfreies Intervall, syn. DFS): Das ereignisfreie Intervall (»event free interval«) ist der Zeitraum vom Erreichen der CR bis zum ersten Ereignis (Rezidiv oder Tod ohne Rezidiv). EFS (ereignisfreies Überleben): Das ereignisfreie Überleben (»event free survival«) wird berechnet vom Zeitpunkt der Diagnose bis zum ersten Ereignis (Rezidiv oder Tod ohne Rezidiv) oder bis zum letzten Untersuchungsdatum. EGFR (»epidermal growth factor receptor«): Rezeptor des epidermalen Wachstumsfaktors. Das Gen liegt auf Chromosom 7p12. Weist u. a. Amplifikationen in Glioblastomen und Prostatakarzinomen auf. Elektrophorese: Trennung von DNA-, RNA- oder Polypeptid-
Molekülen verschiedener Ladung und Größe durch unterschiedliche Wanderungsgeschwindigkeit im elektrischen Feld. Als Träger werden Substanzen in Gelform wie Agarose oder Polyacrylamid verwendet.
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Glossar
Elliptozyten (Ovalozyten): Erythrozyten mit elliptischer bzw.
ovaler Form. Elongation: Verlängerung einer Nukleotid- oder Polypeptidkette im Rahmen der Transkription bzw. Translation.
Exon trapping: In-vitro-Methode zur Identifikation von gespleißten und damit wahrscheinlich proteinkodierenden Fragmenten genomischer DNA. Exon: Kodierende DNA-Abschnitte eines Gens. Die Exons
eines Gens sind meist durch Introns voneinander getrennt. 5‘-, 3‘-Ende: Die einzelnen Nukleotide der DNA und RNA
sind durch Phosphatbrücken zwischen dem 5-Kohlenstoffatom vom Zucker des einen und dem C3-Atom vom Zucker des benachbarten Nukleotids verknüpft (5′-3′-Phosphodiesterbindung). Nach einer Übereinkunft ordnet man eine Polynukleotidkette so, dass das Kopfnukleotid am 5′-Atom mit keinem Nachbarnukleotid verbunden ist (freies 5′-Ende), während das Schwanznukleotid eine freie OH-Gruppe am 3′-Atom des Zuckers aufweist (freies 3′-Ende).
Expressed sequence tag (EST): Ein EST entspricht einer spezifischen cDNA-Teilsequenz und wird häufig in Datenbanken gesammelt. EST sind den entsprechenden mRNAs eindeutig zuzuordnen. Eine Sammlung von EST aus einem bestimmten Gewebe oder Zelltyp gibt Auskunft über die dort exprimierten Gene. Expressionsvektor: Vektor, der die Expression und Trans-
»verstärkt«. Enhancer können in beide Richtungen eines DNA-Stranges über eine Distanz von mehreren kb wirken, sind also zu einem gewissen Grad positions- und orientierungsunabhängig; die Funktion eines Enhancers kann experimentell und in vivo auf andere Gene übertragen werden ( Silencer).
lation eukaryonter Gensequenzen in Wirtszellen (z. B. Bakterien, Hefen, Säugerzellen) ermöglicht. Die entsprechenden Sequenzen müssen zunächst mit geeigneten Promotoren verknüpft werden, um von den RNA-Polymerasen der Wirtszelle erkannt werden zu können. Da Prokaryonten nicht in der Lage sind, Primärtranskripte zu spleißen, kann in Bakterien nur eukaryonte cDNA exprimiert werden; Genbank.
Eosinophil (syn. azidophil): Anfärbbar mit dem sauren Farb-
Expressivität: Graduell unterschiedliche Ausprägung eines
stoff Eosin.
monogen vererbten Merkmals. Das Spektrum der Symptome oder der Schweregrad einer hereditären Krankheit.
Enhancer: Sequenzmotiv, das die Aktivität von Promotoren
Epigenetisch: Ein nicht in der primären DNA- bzw. Chromatinstruktur fixierter, von »außen« regulierter Aktivitätszustand der Erbinformation. Hierzu zählen auf DNA-Niveau die Methylierung (Inaktivierung) bzw. Demethylierung von CpG-Islands sowie die Deazetylierung (Kondensation) bzw. Azetylierung von Histonen des Chromatingerüstes. Epigenetische Prozesse liegen beispielsweise der X-Inaktivierung und dem Imprinting zu Grunde. Episom: Extrachromosomale DNA, z. B. ein Plasmid. Epitheloidzellen: Aktivierte mononukleäre Phagozyten (Mo-
nozyten/Makrophagen), die sich insbesondere in Granulomen finden. Ereignis: Ein Zustand, der bei einem Patienten in einer Zeit in einer Studie entweder auftritt oder nicht (=Dichotomie), z. B. Tod, Krankenhausaufnahme, schwere Unterzuckerung. Erythroblastose: Vermehrung von kernhaltigen roten Vor-
stufen im Blut, physiologisch im Neugeborenenalter, später insbesondere bei hämolytischen Anämien.
FAB-Klassifikation: Auf Morphologie und Zytochemie beruhendes französisch-amerikanisch-britisches Klassifikationsschema der akuten myeloischen Leukämien und der akuten lymphoblastischen Leukämien. Bei der AML werden derzeit M0-, M1-, M2-, M3-, M4-, M5-, M6-, M7-Formen unterschieden, bei der ALL L1-, L2- und L3-Formen. Fallkontrollstudie: Dieses Studiendesign untersucht Menschen, die ein bestimmtes Ereignis hatten und vergleicht sie mit Menschen, die dieses Ereignis nicht hatten hinsichtlich des Vorhandenseins von Expositionsfaktoren (Risiko- oder protektive Faktoren). Dieses Studiendesign wird meist bei seltenen Ereignissen verwendet. Der Zusammenhang zwischen Exposition und Zielerkrankung wird mit Hilfe der Odds Ratio quantifiziert. Fas: Mitglied der TNF-Rezeptorfamilie, die auf vielen Zellen
exprimiert werden und sie empfänglich für → Apoptose nach Bindung des Fas-Liganden machen.
Erythrophagozytose: → Hämophagozytose.
Febrile Neutropenie: Im Angloamerikanischen gebräuchlich für Fieber bei durch Chemotherapie verursachter Granulozytopenie.
ES-Zellen: Embryonale Stammzellen aus der inneren Zell-
Fingerabdruck: »DNA fingerprint«; Kombination von indivi-
masse von 3,5 Tage alten Mausembryonen. ES-Zellen sind undifferenziert und können sich am Aufbau aller Gewebe einschließlich der Keimzellen beteiligen.
dualspezifischen, polymorphen DNA-Markerallelen.
Eukaryont: Zu den Eukaryonten zählen alle Lebewesen außer
Bakterien, mithin Organismen, die einen Zellkern besitzen, der die DNA einschließt, und die über typische Zellorganellen wie Mitochondrien und Golgi-Apparat verfügen.
Fluoreszenz-in-situ Hybridisierung (FISH): Molekular-zyto-
genetische Methode zur farbigen Darstellung ausgewählter Chromosomen oder Chromosomenabschnitte im Fluoreszenzmikroskop. Hierbei erfolgt die Hybridisierung der einzelsträngigen DNA-Sonden in-situ direkt auf die Chromosomen- bzw. Zellpräparate. Die FISH-Analytik ermöglicht eine
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Chromosomendiagnostik auch in der Interphase. Eine Erweiterung findet die FISH-Technologie durch die Verwendung von 5 verschiedenen Fluorochromen in genau definierten Kombinationen sowie spezieller Computerprogramme, die eine Darstellung aller Chromosomen des Menschen in 24 verschiedenen Farben ermöglichen (Vielfarben-FISH, Multiplex(M)-FISH). Fluoreszenz-aktivierter Zellsorter (FACS): Gerät, das Zellen nach ihrer Größe, Granularität sowie Fluoreszenz aufgrund gebundener Antikörper detektieren und sortieren kann.
enthalten hingegen nur kodierende Sequenzen und werden aus mRNA eines Zelltyps, die zunächst zu cDNA umgeschrieben wurde, konstruiert; Genbanken können auch aus der DNA einzelner Chromosomen (»chromosomenspezifische« Bank) oder chromosomaler Subregionen erstellt werden. Will man nicht nur die Struktur klonierter DNA-Sequenzen analysieren, sondern auch deren Expression, so bietet eine Gruppe von Vektoren (Expressionsvektoren) die Möglichkeit, funktionelle Proteine eukaryonter Gene in Bakterien zu exprimieren. Das betreffende Protein kann z. B. über spezifische Antikörper in der »Expressionsbank« identifiziert werden.
Fokus-Assay: Assay zur Identifikation von Onkogenen. Er
basiert auf der Transfektion von Tumor-DNA in rezipiente Zellkulturen (z. B. NIH/3T3-Mausfibroblasten). Morphologische Veränderungen der Zellkulturen in Form von »Foci« bilden die Grundlage für die Klonierung der für die Fokusinduktion verantwortlichen Onkogensequenzen. Fragmentozyten (Schistozyten; Eierschalen-Erythrozyten):
Mechanisch fragmentierte Erythrozyten, z. B. bei hämolytisch urämischem Syndrom.
Gene targeting: Gezielte Insertion exogener DNA in einen definierten Locus des Genoms der Zielzelle. Genexpression: Vorgang der Übersetzung der genetischen
Information von DNA in RNA und Eiweiße. Exprimierte Gene werden zuerst in mRNA (messenger-RNA) umgeschrieben (Transkription) und dann in Eiweiße übersetzt. Hierzu verlässt die mRNA den Zellkern und wird im Zytosol durch rRNA (ribosomale RNA) und tRNA (Transfer-RNA) in ein Protein übersetzt (Translation).
Frameshift-Mutation: → Mutation. Genkonversion: Modifikation eines Allels durch das andere Funktionelle Klonierung: Strategie zur Identifikation von
Genen, die eine Kenntnis des biochemischen Defektes einer genetischen Krankheit voraussetzt.
Allel während des Crossing-Over in der Meiose oder Mitose. Dabei wird der Einzelstrang des einen Chromosoms als Matrize bei der Reparatur von DNA-Sequenzen in der CrossOver-Region des homologen Chromosoms benutzt.
GALT: Darm (»gut«)-assoziiertes lymphatisches Gewebe. GATA 1,2: Transkriptionsfaktoren der Hämatopoese.
Genlocus: Die sich entsprechende Position eines Gens auf homologen Chromosomen.
Geldrollen: In-vitro oder in vivo entstehende Erythrozytenstapel bei erhöhter Konzentration von hochmolekularen Plasmaproteinen.
Genom: Genetisches Material eines Individuums, das in den Chromosomen und Mitochondrien vorhanden ist. Bei Menschen bestehend aus ca. 3 Milliarden Basenpaaren.
Gen: DNA-Abschnitt, der für eine nachweisbare Funktion
Genotyp: Die genetische Information einer Zelle oder eines Individuums, die dem Erscheinungsbild (Phänotyp) zugrunde liegt.
oder Struktur kodiert, z B. die Polypeptidkette eines Protein. Neben den kodierenden Bereichen (Exons) umfassen Gene weitere Regionen wie z. B. Promotoren und Introns. Das menschliche Genom enthält etwa 30.000 Gene. Genbank: Population von Bakterienkolonien oder Bakterio-
phagenplaques, die klonierte DNA-Moleküle enthalten. Prinzipiell umfasst die Konstruktion einer Genbank (»library«, Bücherei, Bibliothek) die Isolation von DNA, ihr Zerschneiden in definierte Restriktionfragmente, Insertion dieser Fragmente in ein Vektorsystem und die anschließende Klonierung der rekombinanten DNA-Moleküle in Bakterien. Mit Gensonden kann das Vorhandensein bestimmter Sequenzen innerhalb einer Genbank überprüft werden. In den »Bibliotheken« sind die meisten Gene (»Bücher) wegen ihrer Größe nicht in einem Klon (einer »Seite«) repräsentiert, sondern auf mehrere Klone verteilt, die unterschiedliche Fragmente dieses Gens enthalten. Man unterscheidet Genbanken nach dem zu ihrer Herstellung benutzten Vektorsystem (Phage, Cosmid) oder ihrem Inhalt. »Genomische« Banken enthalten die vollständige Erbinformation aus Zellen z. B. eines Menschen, also sowohl kodierende als auch nichtkodierende DNA-Sequenzen; »cDNA«-Banken
Gentherapie: Korrektur eines krankheitsbedingten genetischen Defektes oder Veränderung der pharmakologischen Eigenschaften durch Anwendung rekombinanter DNA-Techniken. G:E-Ratio: Verhältnis von myelomonozytären und erythro-
zytären Vorstufen im Knochenmark. Normalwerte altersabhängig zwischen 2–4:1. Bei myeloproliferativen Syndromen Verschiebung zugunsten G, bei hämolytischen Anämien Verschiebung zugunsten E. Germline-Konfiguration: → Keimbahnkonfiguration. Geschlechtschromosom: Gonosom; die Chromosomen X und Y legen bei Säugetieren das Gonadengeschlecht fest, wobei weibliche Individuen 2 X-Chromosomen, männliche Individuen X- und Y-Chromosomen aufweisen. Umgekehrt haben z. B. bei Fischen die Weibchen 2 verschiedene Geschlechtschromosomen, Z und W genannt, während Männchen 2 Z-Chromosomen besitzen. Die Geschlechtschromo-
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somen, insbesondere das X-Chromosom, enthalten auch zahlreiche Gene, die nicht die Geschlechtsentwicklung determinieren, wie andererseits auch Autosomen Gene tragen, die bei der primären und sekundären Geschlechtsentwicklung eine große Rolle spielen.
Halbwertszeit (HWZ, t1/2): Die Zeit, nach der die Plasmakon-
G0/G1/G2-Phase: Lücke (»gap«) im Sinne von Pause im Zellzyklus vor G0; bezeichnet eine besondere Ruhephase von nicht proliferierenden Zellen, die in der frühesten G1-Phase den aktiven Zellzyklus verlassen haben.
Hämophagozytose: Phagozytose von Erythrozyten, Leuko-
G-Proteine: Intrazelluläre Proteine, die innerhalb von Prozessen der Signaltransduktion GTP binden und in GDP umwandeln. Man unterscheidet heterotrimäre von kleinen G-Proteinen. Graft-versus-host-Reaktion: Wenn reife T-Lymphozyten in nicht-identische immuninkompetente Empfänger transplantiert werden, können sie Gewebe des Empfängers attackieren und zu einer Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) führen. Diese manifestiert sich insbesondere an der Haut, im Bereich des Darmes, der Leber und des Bronchialsystems.
zentration einer Substanz auf die Hälfte abfällt. Ermöglicht eine grobe Abschätzung, wie schnell eine Substanz eliminiert wird. Die meisten Substanzen sind nach 5 Halbwertszeiten vollständig ausgeschieden.
zyten und Thrombozyten durch aktivierte Zellen des Monozyten-Makrophagen-Systems. Neben der genetischen Form (familiäre erythrophagozytotische Lymphohistiozytose) findet sich eine ausgeprägte Hämophagozytose im Knochenmark auch reaktiv nach schweren Virus-, Pilz- oder bakteriellen Infektionen bei immunsupprimierten Patienten in der Hämatologie/Onkologie sowie in der Rheumatologie (Makrophagen-aktivierendes Syndrom; MAS) und geht dann mit einer peripheren Panzytopenie einher. Haploid: Satz von 23 Chromosomen, der entweder vom Vater
oder der Mutter stammt oder dem geteilten Satz von 23 Chromosomen in den Keimzellen des Menschen entspricht. Haploinsuffizienz: Funktionsausfall eines Allels; kann durch die Aktivität des korrespondierenden Allels nicht kompensiert werden.
Granulom: Ort einer chronischen Inflammationsreaktion,
die durch persistierende, meist intrazelluläre infektiöse Erreger wie Mykobakterien oder Pilze, ausgelöst werden. Granulome bestehen in ihrem Zentrum aus Makrophagen, die häufig in multinukleäre Riesenzellen fusionieren und umgeben sind von B-Lymphozyten. Granulomer: Zentrales, granulahaltiges Zytoplasma der Thrombozyten.
Haplotyp: Eine 5′- nach 3′-Sequenz von Nukletiden an einer
oder mehreren polymorphen Stellen auf einem Chromosom bei einem Individuum (phasisch bedeutet im Gegensatz zu nicht-phasisch einem Chromosom zuzuordnen). Der Haplotyp eines Individuums beschreibt spezifische Allele, die durch die Abfolge mehrerer polymorpher Loci eines Chromosoms definiert sind. Ein Haplotyp kann für ein Gen, eine chromosomale Region, aber auch für jedes zusammenhängende DNA-Fragment definiert sein.
Granulozytensturz: Rasches Verschwinden der Granulozyten im peripheren Blut als Ausdruck eines massiven Verbrauchs, z. B. bei schwerer Sepsis und/oder einer plötzlich auftretenden Produktionsstörung im Sinne einer toxisch-allergischen Markschädigung.
Heinz-Körper: Große, peripher lokalisierte blaue Einschlüsse in Erythrozyten, die sich nur in Supravital-Färbungen (Methylviolett; Rhodanilblau) darstellen und bei verschiedenen Hämoglobinophathien und nach Splenektomie auftreten.
Granulozytopenie: Verminderung von neutrophilen Granu-
Helikase: Enzym, das die Auflösung doppelsträngiger Nuk-
lozyten im peripheren Blut.
leinsäuren in ihre Einzelstränge vermittelt. Man unterscheidet DNA- und RNA-Helikasen, die im Allgemeinen energieabhängig arbeiten.
Granzyme: Serinproteasen, die von zytotoxischen T-Zellen
und großen granulären Lymphozyten (LGL) produziert werden und → Apoptose in der Zielzelle auslösen. GU/AG-Regel: Im 5′-Exon-Intron-Übergang (Spleiß-Donor) bildet das Dinukleotid GU das 5′-Ende eines Introns, während sich am 3′-Intron-Exon-Übergang (Spleiß-Akzeptor) das Dinukleotid AG als 3′-Ende eines Introns findet. Guanin (G): Purinbase; Grundbaustein von DNA- und RNA-
Nukleotiden; das entsprechende Nukleosid wird Guanosin genannt. Gumbrecht-Kernschatten: Zerstörte Kerne von kernhaltigen Zellen mit einer erhöhten Fragilität. Typisch (jedoch nicht beweisend) für CLL. Gumbrecht-Kernschatten entstehen erst beim Ausstreichen, im Gegensatz zu Abbauformen der kernhaltigen Zellen.
Helix-Turn-Helix-Motiv: Strukturmotiv von einigen DNAbindenden Proteinen, bei dem 2 α-helikale Anteile durch ein kurzes Element so miteinander verbunden sind, dass sich zwischen beiden Helices ein Winkel bildet; diese Form ermöglicht eine enge Kontaktaufnahme des Proteins mit der DNA Doppelhelix. Hemizygotie: Vorkommen nur einer Kopie eines Gens oder einer DNA-Sequenz im diploiden Chromosomensatz. Männliche Individuen besitzen z. B. nur ein Allel eines X-chromosomalen Gens; sie sind hinsichtlich dieses Gens weder homonoch heterozygot. HER-2/neu (syn. ERBB2 und c-erb-B2): Abgeleitet von »human epidermal growth factor receptor« mit hoher Homologie zu EGFR. Gehört zu einer Familie von Wachstumsrezep-
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toren. Amplifikation von HER-2 findet sich in bis zu 35% aller Mammakarzinome.
Howell-Jolly-Körper: Mittelgroße runde DNA-haltige Ery-
throzyteneinschlüsse; Fragmente aus Kernmaterial. Vorkommen bei anatomischer und funktioneller Asplenie.
Heterogenität: Bei Metaanalysen dient sie zur Beschreibung
der Unähnlichkeit zwischen den Studien. Sie kann durch verschiedene Studienpopulationen, Interventionen, Erfassung der Ereignisse, oder statistische Methoden bedingt sein. Eine hohe Heterogenität kann die gemeinsame Auswertung von Studien in einer Metaanalyse unmöglich machen. Das Gegenteil der Heterogenität ist Homogenität.
HSR (»homogeneously staining region«): Region innnerhalb
eines Chromosoms, dem die typische Bänderung nach Giemsa-Färbung fehlt. Zeichen für die Amplifikation eines Gens (z. B. Onkogens). HTF-Island (»Hpa II-tiny-fragment-island«): Im 5′-Be-
drialer DNA in Einzelzellen oder in einem Individuum; Analogie zum Begriff der Heterozygotie bei nukleären Genen.
reich von Genen lokalisierte, demethylierte CpG-reiche DNA-Sequenzen, die durch Verdau mit einem methylierungssensitiven Enzym wie Hpa II identifiziert werden können.
Heterozygotie: Das Auftreten verschiedener Allele an einem
HUGO (»Human Genome Organization«): Aus öffentlichen
oder mehreren Loci von homologen Chromosomen.
Geldern gefördertes internationales Konsortium, das die Erforschung des menschlichen Genoms und die Bereitstellung der Information in öffentlich zugänglichen Datenbanken betreibt.
Heteroplasmie: Vorkommen unterschiedlicher mitochon-
Hiatus leukaemicus: Bezeichnung für eine im Differenzial-
blutbild auftretende Lücke zwischen unreifen myeloischen Blasten und reifen Granulozyten bei Fehlen der dazwischen liegenden Reifungsstufen. Typisch für akute myeloische Leukämien sowie für einen myeloischen Blastenschub bei chronischer myeloischer Leukämie.
Hyalomer: Peripherer, Granula-freier Saum von Thrombo-
zyten. Hybridisierung: Verbindung von 2 komplementären Strän-
Histon-Acetylierung/-Deacetylierung: Die Übertragung von
Acetylgruppen auf aminoterminale Lysinreste der Histone des Chromatingerüstes durch Histon-Acetyltransferasen. Hieraus resultieren eine Auflockerung der Nukleosomenstruktur und eine Zunahme der Transkriptionseffektivität. Die Histon-Deacetylierung führt zu einer Repression der Transkriptionsmaschinerie. Histonazetylierungen bzw. -deazetylierungen zählen zu den epigenetischen Modifikationen der Transkriptionsaktivität.
gen bestehend aus Nukleotiden (DNA oder RNA), um ein bestimmtes Gen zu identifizieren, indem ein doppelsträngiges Molekül gebildet wird. Hybridzelle: Zelle, die durch Fusion von 2 diploiden Zellen
(auch unterschiedlicher Tierspezies) entstanden ist sowie deren Nachkommen. Hyperchromasie: Verstärkte Anfärbbarkeit von Erythro-
zyten. Histone: Basische Proteine, die den Hauptbestandteil des
Chromatins eukaryonter Zellen ausmachen.
Hypergranulation (syn. toxische Granulation): Vorkommen
HLA (»human leukocyte antigen«): Genetische Bezeichnung
von segmentkernigen neutrophilen Granulozyten mit größeren und stark basophilen Granula. Kommt vor bei bakteriellen Infektionen vor sowie bei Gabe von G-CSF.
für den menschlichen major histocompability complex. Individuelle Genloci werden mit großen Buchstaben bezeichnet (HLA-A; B; C; D), während Allele mit Zahlen bezeichnet werden (z. B. HLA-A 0201). Homologe Rekombination: Austausch von allelen Sequen-
Hyperleukozytose-Leukostase-Syndrom: Lebensbedrohliche Vermehrung von myelomonozytären oder lymphatischen Leukämiezellen im Blut, die mit charakteristischen Funktionsstörungen im ZNS und in der Lunge einhergeht.
zen im zellulären Genom. Hypersplenismus: Überfunktion der Milz, die sich in einer Homologie: Ähnlichkeit in der DNA- oder Proteinsequenz
peripheren Panzytopenie äußert.
zwischen Individuen. Homoplasmie: Vorkommen identischer mitochondrialer
DNA in Einzelzellen oder in einem Individuum; Analogie zum Begriff der Homozygotie bei nukleären Genen. Homozygotie: Die Anwesenheit von identischen Allelen an
einem Genlocus auf beiden homologen Chromosomen.
Hypervariable Region (HVR): Abschnitt im Genom, der durch eine individuell stark variierende Anzahl kurzer, identischer, miteinander verknüpfter repetitiver DNA-Elemente charakterisiert ist. Eine andere Bezeichnung ist »variable number tandem repeats (VNTR)«. Viele HVR weisen mehrere hundert verschiedene Allele in einer Bevölkerung auf und können als polymorphe Marker in der genetischen Diagnostik benutzt werden.
Housekeeping Gene: Gene, deren Produkte in nahezu
allen Geweben für die Aufrechterhaltung des »Zellhaushaltes« benötigt und deshalb dauerhaft exprimiert werden.
Hypochromasie: Verminderte Anfärbung der Erythrozyten. Hyposegmentierung: → Pelger-Huet-Anomalie.
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Glossar
Hyposplenismus: Unterfunktion der Milz, die sich in einer
Interleukine (IL-1 bis IL-29): Gruppe von Molekülen, die von
vorübergehenden oder dauerhaften Thrombozytose sowie in charakteristischen morphologischen Veränderungen der Erythrozyten wie Auftreten von Jolly-Körperchen, Targetzellen sowie Heinz-Körperchen zeigt.
Leukozyten produziert werden und bei der Signalübertragung zwischen Zellen des Immunsystems beteiligt sind. Interleukine gehören zu den → Zytokinen. Interphase: Zeitabschnitt zwischen 2 Mitosen, also die ei-
Idiotyp: Antigene (Epitope), die sich in der variablen Region
der Immunglobulinmoleküle befinden. Imprinting: Prägung; ursprünglich ein Begriff aus der Verhal-
tensforschung, der die Beeinflussung des Verhaltensmusters in einer spezifischen Phase der Individualentwicklung beschreibt. Unter »genomic imprinting« versteht man einen epigenetischen Prozess, der dafür verantwortlich ist, dass ein Gen (Allel) nur dann exprimiert wird, wenn es von der Mutter oder in anderen Fällen vom Vater des jeweiligen Individuums ererbt wurde. Daher stellt das »genomische Imprinting« eine Ausnahme von den klassischen Mendelschen Erbregeln dar. Infektionsassoziiertes Hämophagozytose-Syndrom (IAHS):
gentliche Funktionsphase im Leben einer Zelle; sie wird unterteilt in G1 (»gap«, Lücke), d. h. die an die Telophase anschließende, unter Proteinsynthese und Wasseraufnahme erfolgende Massenzunahme einer Zelle, S (Synthesephase), die Phase der DNA-Replikation sowie G2, d. h. die Strukturierung der alten und neuen Chromatide und Vorbereitung zur Mitose. Zellen, die ihre Fähigkeit zur Zellteilung verloren haben, verbleiben bis zu ihrem Tode in einer als G0 bezeichneten Ruhephase. Interventionsgruppe: In einer kontrollierten Studie werden die Patienten entweder einer Interventionsgruppe oder einer Kontrollgruppe zugeordnet. Dies geschieht am besten randomisiert (zufällig). Die Interventionsgruppe erhält die zu untersuchende (experimentelle) Therapie.
→ Hämophagozytose. Intron: DNA-Sequenz zwischen den Abschnitten kodierender Initiierung: Vorgang der Assemblierung eines transkriptions-
oder translationskompetenten Proteinkomplexes bis hin zum Start der Transkription eines Gens oder der Translation einer mRNA. Die Häufigkeit der Reinitiierung pro Zeiteinheit ist im Wesentlichen für die Höhe der Expression eines Gens verantwortlich. Innate immunity (angeborene Immunität; unspezifisches Immunsystem): Angeborene Resistenzmechanismen, die pa-
DNA (Exons) eines Gens. Intronische Sequenzen werden zwar ebenfalls in RNA transkribiert, aber anschließend durch Splicing aus dem RNA-Molekül herausgeschnitten. Inversion: Strukturveränderung eines Chromosoms durch
Bruch an 2 Stellen mit Drehung des zwischen den Bruchstellen gelegenen Segmentes um 180° nach Wiedereinfügung.
thogene Keime erkennen und zu einer Immunreaktion führen (Inflammationsreaktion).
Inzidenz: Die Anzahl von neuen Fällen (z. B. einer Erkrankung), die in einer Population in einer bestimmten Zeit auftreten ( Prävalenz).
Insert: Ein in einem Vektor eingebautes fremdes DNA-Frag-
Janus-Kinasen (JAK): Gruppe von Enzymen mit 2 katalyti-
ment.
schen Domänen. JAK sind an der Signaltransduktion beteiligt ( STAT).
Insertion: Einfügen von Nukleotiden oder Chromosomen-
abschnitten ins Genom.
Jolly-Körper: → Howell-Jolly-Körper.
In-situ-Hybridisierung: Nachweis einer komplementä-
J-Segment: DNA-Sequenzen, die einen Abschnitt der Immunglobulin bzw. T-Zellrezeptoren kodieren, der den variablen mit dem konstanten Kettenteil »verbindet« (»join«).
ren Nukleotidsequenz durch Sonden in Zellen oder Gewebeschnitten ohne vorherige Isolation der Ziel-DNASequenz.
Kandidatengen: Ein bekanntes Gen, das aufgrund seiner Integrine: Heterodimäre Oberflächenproteine, die an der
Zell-Zell- und der Zell-Matrix-Interaktion beteiligt sind, z. B. bei der Interaktion zwischen Lymphozyten und antigenpräsentierenden Zellen sowie bei der Migration von Lymphozyten und Granulozyten ins Gewebe.
Funktion und/oder chromosomalen Lokalisation für die Entstehung eines Krankheitsbildes in Betracht kommt. Mutationsanalysen bei den jeweiligen Patienten müssen diesen Verdacht dann erhärten. Karyotyp: Anordnung der Chromosomen einer Zelle oder
werden die Patienten für die Analyse in der Gruppe belassen zu der sie ursprünglich zugeordnet wurden, unabhängig davon, welche Therapie sie später tatsächlich bekommen haben.
eines Individuums nach ihrer Größe und Lage der Zentromere. Ein normaler, diploider Karyotyp umfasst beim Menschen 46 Chromosomen: 2 Geschlechtschromosomen (XX bei Frauen, XY bei Männern) sowie 22 Paare (=44) homologer Autosomen, die eine Kennziffer von 1 bis 22 erhalten haben.
Interferone (IFN): Gruppe von Molekülen, die bei der Signalübertragung zwischen Zellen des Immunsystems sowie bei der Protektion gegen Viren beteiligt sind.
Kausalität: Die Feststellung, dass ein Ereignis ein anderes be-
Intention-to-treat-Analyse: Bei dieser Art der Auswertung
dingt.
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Kb: Kilo Basenpaare; 1 kb=1000 bp.
Knock-in: Durch homologe Rekombination in ES-Zellen wird
Kd: Dalton; nach J. Dalton benannte atomare Masseneinheit
ein neues Gen oder eine neue Genfunktion (»gain of function«) in einen Genlocus eingebracht.
der chemischen Atommassenskala. Knock-out: Durch homologe Rekombination in ES-Zellen Keimbahn: Die Zellfolge, die in der ontogenetischen Ent-
wicklung eines Individuums von der befruchteten Eizelle zum Gonadengewebe einschließlich der Keimzellen führt; meist verkürzt gebraucht als Bezeichnung für Geschlechtszellen, die die genetische Information von einer Generation auf die nächste übertragen. Keimbahnkonfiguration (»germline configuration«): Anordnung von Genen oder DNA-Sequenzen, wie sie sich in Geschlechtszellen findet. Abgrenzung z. B. zu physiologischen Rearrangements der Immunglobulin-Genloci in Lymphozyten oder der Rekombination von Onkogenen im Rahmen der Karzinogenese. Keimzellmosaik: Gonaden, die neben gesunden auch mutierte Keimzellen enthalten. Da diese genetischen Defekte während der Gonadenentwicklung auftreten, sind sie in den Körperzellen des betreffenden Individuums nicht nachweisbar. Keimzellmosaike sind z. B. dafür verantwortlich, dass bei einem autosomal dominant vererbten Krankheitsbild mit hoher Penetranz trotz unauffälligem Phänotyp der Eltern mehrere Kinder betroffen sein können. Killer inhibitory receptors (KIR): Zur Immunglobulin-Super-
familie gehörende Rezeptoren auf NK-Zellen. In Verbindung mit MHC-Molekülen können sie die Zytotoxizität dieser Zellen verhindern. Kleihauer-Betke-Färbung: HbF-haltige Erythrozyten werden mit dieser zytochemischen Färbung durch ihre Resistenz gegenüber sauren Bedingungen (Säureresistenz) erkannt. Dient zur Unterscheidung zwischen HbF-haltigen und HbA-haltigen Erythrozyten.
wird ein Gen inaktiviert (»loss of function«, oft Nullmutante). Kodominant: Zwei Allele, die sich im heterozygoten Zustand
nebeneinander phänotypisch manifestieren. Ein Beispiel ist die Blutgruppe »AB«; hingegen ist »A« bzw. »B« gegenüber »O« dominant. Kodon: Eine Sequenz von 3 Nukleotiden (Triplett) eines
mRNA-Moleküls, die den Einbau einer bestimmten Aminosäure in eine wachsende Polypeptidkette steuert; häufig wird der Begriff auch für die 3 entsprechenden DNA-Nukleotide benutzt. Die 64 möglichen Kodons repräsentieren den genetischen Kode, der mit Ausnahme der mitochonrialen DNA für alle Lebewesen (universell) gilt. Drei Tripletts fungieren als Stopsignale der Translation, während 61 Kodons (inkl. des Startkodons AUG) dem Einbau der 20 Aminosäuren dienen. Der genetische Kode ist somit degeneriert, d. h. für die meisten Aminosäuren kodiert nicht nur ein Triplett, sondern mehrere; z. B. stehen 6 Tripletts für die Aminosäure Leucin, und nur Tryptophan und Methionin sind durch ein einziges spezifisches Kodon charakterisiert. In besonderen Fällen kann das Stopkodon »UGA« auch für die Aminosäure Selenocystein kodieren. Kohortenstudie: In einem nicht-experimentellen Studien-
design wird eine Gruppe (Kohorte) von Patienten verfolgt. Die Evaluation bezieht sich auf das Auftreten eines Ereignisses und die Beziehung zwischen der Therapie/dem Risikomarker und dem Ergebnis. Komplementäre Basenpaarung: Ausbildung von Wasser-
Bedeutung haben (z. B. Tod; Rezidiv).
stoffbrücken zwischen der Purinbase Adenin und der Pyrimidinbase Thymin oder Uracil bzw. zwischen Guanin oder Cytosin; Grundlage der komplementären Bindung von DNAbzw. RNA-Einzelsträngen.
Klon: Genetisch identische Population von Zellen oder Or-
Komplementäre Sequenzen: Eine DNA wird dann als
ganismen, die von einer einzelnen Zelle oder einem einzelnen Vorfahren abstammen.
komplementär zu einem anderen DNA- oder RNA-Strang bezeichnet, wenn beide miteinander hybridisieren können, d. h. für jedes Guanin bzw. Thymin des einen Stranges ein gegenüberliegendes Cytosin oder Adenin des anderen Stranges für eine Wasserstoffbrückenverbindung zur Verfügung steht.
Klinische Endpunkte: Studienereignisse, die eine klinische
Klonalitätsanalysen: Techniken, mit deren Hilfe man untersuchen kann, ob sich eine Zellpopulation von einer, wenigen oder zahlreichen Stammzellen ableitet, d. h. mono-, oligo- oder polyklonalen Ursprungs ist. Als Marker können u. a. die Expression von Isoenzymen (Glukose-6-Phosphatdehydrogenase), chromosomale Aberrationen oder molekulargenetische Parameter (z. B. X-chromosomale RFLP) dienen. Klonieren: In der Molekulargenetik die Isolation und Herstellung von vielen Kopien eines DNA-Fragmentes. Dazu wird die entsprechende DNA-Sequenz in einen Vektor eingebaut, über ihn in Bakterien eingeschleust und dort vermehrt.
Konditionale Mutagenese: Regulierbare Veränderung von
Genen in transgenen Tieren. Durch den Einsatz von Rekombinase-Systemen wie dem Cre/Lox-P-System kann die Mutation zeitlich oder räumlich begrenzt werden. Konditionierung: Vorbehandlung des Patienten vor Stammzelltransplantation mit zytotoxisch wirksamen Medikamenten und Strahlentherapie. Die Behandlung zielt darauf, erstens das Immunsystem des Patienten zu unterdrücken, um die Abstoßung transplantierter Zellen zu verhindern, und zweitens durch Zerstörung der Blutbildung des Empfängers eine
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Glossar
bleibende Ansiedlung der Spenderzellen zu ermöglichen. Die Vorbehandlung dient außerdem der radikalen Zerstörung bösartiger Zellen bei zugrunde liegender Tumorerkrankung.
Lariat: »Lasso«-förmige Struktur von Introns während eines
Teilschritts des Spleißvorganges, bei dem das 5′-Ende eines Introns sich mit einem Verzweigungspunkt nahe seinem 3′-Ende verbunden hat.
Konfidenzintervall (CI): Vertrauensbereich. Das 95%-Konfi-
denzintervall bedeutet, dass 95% der Ergebnisse von Studien eines gleichen Designs und einer ähnlichen Größe in diesem Konfidenzintervall liegen würden. Dies bedeutet, dass der wahre Effekt der Intervention eine 95%-Chance hat in dem angegebenen Bereich zu liegen. Wenn die obere Grenze des 95%-Konfidenzintervalls des relativen Risikos über 1 liegt, ist der Effekt statistisch nicht-signifikant. Das Konfidenzintervall hängt zum einen von der Studiengröße ab – je größer die Patientenzahl desto kleiner das Konfidenzintervall – zum anderen von der Streuung des Parameters. Konstitutive Genexpression: Andauernde (unregulierte) Expression von Genen; physiologisches Prinzip bei sog. »Housekeeping«-Genen, pathologisch z. B. im Rahmen der Karzinogenese, bedingt durch Verlust von Regulation eines Gens etwa infolge chromosomaler Translokation. Kontrollgruppe: In einer kontrollierten Studie werden die
Patienten entweder einer Kontrollgruppe oder einer Interventionsgruppe zugeordnet. Dies geschieht am besten randomisiert (= zufällig). Eine Kontrollgruppe kann entweder keine Therapie, Plazebo oder die herkömmliche Therapie erhalten.
LD50 (letale Dosis): Konzentration eines Stoffes, die zum Tode von 50% der exponierten Versuchstiere führt. Leading strand: »Führender« Strang bei der DNA-Repli-
kation, der durch eine DNA-Polymerase kontinuierlich in 5′→3′-Richtung an der Einzelstrangmatrize synthetisiert wird. Leitlinien: Systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte Entscheidungshilfen über eine angemessene Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. Sie sind Orientierungshilfen im Sinne von »Handlungs- und Entscheidungskorridoren«, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. Leseraster (»open-reading frame«): Die Abfolge von Basentripletts einer mRNA zwischen Start- und Stopkodon bezeichnet man als (offenes) Leseraster. Letalität: Anzahl der an einer Erkrankung verstorbenen Pa-
tienten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Erkrankten. Leucin-Zipper: Strukturmotiv von einigen DNA-bindenden
Kopplung (»linkage«): Lokalisation von Allelen (Genen auf
demselben Chromosom und dadurch bedingte gemeinsame Vererbung als Kopplungsgruppe. Je weiter die beiden Genloci auf dem Chromosom voneinander entfernt liegen, desto eher können gekoppelte Gene durch eine Rekombination der homologen Chromosomen (Crossing-Over) während der Meiose getrennt werden. Die Häufigkeit meiotischer Rekombinationen ist somit ein Maßstab für die Entfernung verschiedener Genloci voneinander. Die Rekombinationsfraktion (-häufigkeit), d. h. die Zahl der Rekombinationen zwischen 2 Loci, ist 0 bei vollständiger Kopplung und kann maximal 0,5 (50%) bei unabhängiger Verteilung der betreffenden Loci betragen. Die Einheit für die Rekombinationsfraktion ist das Centimorgan (cM).
Proteinen, das eine charakteristische Folge von sich wiederholenden Leucinen enthält. Zwei Proteine können sich mit ihren Leucin-Zipper-Motiven axial aneinander lagern und quasi über einen »Reißverschluss« der Leucinreste interagieren. Leukämoide Reaktion: Starke Vermehrung von Lymphozy-
ten (lymphatische leukämoide Reaktion) bzw. Granulozyten und/oder Monozyten im peripheren Blut, ohne dass eine Leukämie zugrunde liegt. Eine lymphatische leukämoide Reaktion kann sich beispielsweise bei Pertussis finden, eine granulozytäre leukämoide Reaktion bei schweren bakteriellen Infektionen oder nach exogener Zufuhr von G-CSF. Leukocyte functional antigens (LFA): Gruppe von 3 Molekü-
LADME-Modell: Beschreibt in der klassischen Pharmako-
kinetik die Prozesse der Liberation (L), Adsorption (A), Distribution (D), des Metabolismus (M), und der Elimination (E) eines Pharmakons.
len, die die interzelluläre Adhäsion zwischen Leukozyten und anderen Zellen vermitteln. LFA-1 ist CD11a/CD18; LFA-2 ist CD2; LFA-3 ist CD58. Leukoerythroblastische Reaktion: Charakteristische Links-
kation, der wegen des Fehlens einer 3′→ 5′-DNA-Polymerase nicht kontinuierlich, sondern in kleinen Abschnitten (Okazaki-Fragmente) synthetisiert werden muss.
verschiebung der Granulozyten sowie Auftreten von kernhaltigen Erythroblasten im Blut als Folge einer Knochenmarkinfiltration durch Lymphome oder Karzinome oder einer myeloproliferativen Erkrankung
Langerhans-Zellen: Antigenpräsentierende Zellen der Haut,
Library: Bibliothek; → Genbank.
Lagging strand: »Nachfolgender« Strang bei der DNA-Repli-
die zur Gruppe der Monozyten-Makrophagen gehören; sie können Antigene zusammen mit HLA-Molekülen T-Lymphozyten präsentieren. Large granular lymphocytes (LGL): Aktivierte T-Lymphozyten oder natürliche Killerzellen ( NK-Zellen).
Likelihood ratio (LR, Wahrscheinlichkeitsverhältnis): Maß zur Beschreibung von Testeigenschaften. Die Testqualität hängt von der Sensitivität und Spezifität ab. Likelihood ratios fassen diese in einer Zahl zusammen und machen so unter anderem verschiedene Tests miteinander leichter vergleichbar.
1191 Glossar
Linkage: → Kopplung. Linker: Chemisch synthetisierter, kurzer DNA-Doppelstrang,
der die Erkennungsstelle für ein Restriktionsenzym trägt. Linker kann man an ein DNA-Fragment ligieren und zu dessen Insertion in einen Vektor nutzen. Viele der heute benutzten Vektoren besitzen synthetische »Polylinker« mit Erkennungssequenzen für verschiedene Restriktionsenzyme.
Matching: Ein vornehmlich in Fall-Kontroll-Studien einge-
setztes Verfahren, bei der den Personen einer Studiengruppe Kontrollpersonen zugeordnet werden, die diesen hinsichtlich bestimmter Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht, Rauchen) entsprechen. Die bei einem Matching berücksichtigten Variablen werden als potenzielle Confounder (Störgrößen) ausgeschaltet. May-Hegglin-Anomalie: Autosomal-dominante Erkrankung
Linksverschiebung: Vermehrung der stabkernigen Granulo-
zyten im Verhältnis zu den segmentkernigen Granulozyten. Physiologisch bei Schwangerschaft, pathologisch bei bakteriellen Infektionen. Lod score: »Logarithm of the odds«; statistischer Ausdruck
für die Wahrscheinlichkeit der Kopplung zweier Genloci bei bekannter Rekombinationsfrequenz. Der »lod score« wird angegeben als der dezimale Logarithmus der Wahrscheinlichkeit, beide Loci innerhalb einer bestimmten Population gekoppelt zu finden relativ zum dezimalen Logarithmus der Wahrscheinlichkeit ihrer unabhängigen Vererbung. Bei einem » lod score » von 3 ist die Kopplung von 2 Genloci 103-mal wahrscheinlicher als ihre unabhängige Vererbung. LTR (»Long terminal repeat«): Relativ lange (einige hundert
bp), sequenzidentische Abschnitte an beiden Enden proviraler DNA von Retroviren. Die LTR spielen sowohl bei der Integration als auch bei der Expression der proviralen DNA eine wesentliche Rolle und enthalten Promotor- und EnhancerElemente sowie Polyadenylierungssignale.
(der segmentkernigen Granulozyten) mit Döhle-Körperchen-ähnlichen intrazytoplasmatischen Inklusionen in Granulozyten; zusätzlich Thrombozytopenie sowie hypogranuläre Riesenthrombozyten. Der Genlocus liegt auf Chromosom 22q12.3-13.2; das betroffene Gen MYH9 kodiert für das Nicht-Muskel-Myosin-Schwerketten-H-Protein. Verwandte Krankheitsbilder mit Defekten im selben Gen sind Sebastian-Syndrom sowie Fechtner-Syndrom. Medline: Die US-amerikanische National Library of Medicine stellt kostenlos eine Literaturdatenbank mit Kurzfassungen von Artikeln aus biomedizinischen Zeitschriften (http://www.ncbi.nlm.nih.gov). Angloamerikanische Publikationen werden dabei bevorzugt berücksichtigt. Zur Suche nach europäischen Publikationen empfiehlt sich zusätzlich Embase. Megabase (mb): 1 Million Nukleotide oder Basenpaare. Megalozyten: Vergrößerte, ovale Erythrozyten. Meiose: Kernteilung von Keimzellen, die zur Reduktion des
Lymphatische Reizformen: Große, aktivierte Lymphozyten;
werden auch als Virozyten oder Pfeiffer-Zellen (wegen des Vorkommens bei infektiöser Mononukleose) bezeichnet.
diploiden auf den haploiden Chromosomensatz führt.
Lymphokin activated killer cells (LAK): Zytotoxische Zellen, die ex vivo durch IL-2 und andere Zytokine generiert werden und dann den Patienten reinfundiert werden.
Memory-Zellen: Langlebende Lymphozyten, die das immunologische Gedächtnis repräsentieren. Man kann MemoryB-Zellen und Memory-T-Zellen unterscheiden. Sie können wesentlich schneller auf das spezifische Antigen reagieren als naive Lymphozyten.
Lymphozytenvakuolen finden sich bei einer Vielzahl von
Metaanalyse: Ein statistisches Verfahren, das die Ergebnisse
hereditären Stoffwechselerkrankungen wie z. B. der I-ZellKrankheit, verschiedenen Mukopolysaccharidosen, Niemann-Pick-Erkrankung, Wolman-, Pompe- sowie Tay-SachsErkrankungen.
von mehreren randomisierten kontrollierten Studien zusammenfasst. Eine Metaanalyse ist eine systematische Übersicht über Studien. Sie fasst die einzelnen Ergebnisse der Studien zusammen und kann dadurch Aussagen machen, für die die einzelnen Studien zu klein sind.
Makrophagen-Aktivierungs-Syndrom (MAS): → Hämopha-
gozytose. Makrozyten: Vergrößerte Erythrozyten. Physiologisch bei Neugeborenen. MALT: Mukosa-assoziiertes lymphatisches Gewebe (»tissue«)
im Gastrointestinaltrakt, Bronchialtrakt sowie in anderen Schleimhäuten. MAP-Kinasen: Gruppe von intrazellulären Enzymen, die bei
der Signaltransduktion und bei der Aktivierung von Transkriptionfaktoren beteiligt sind. MAS (Makrophagen-aktivierendes Syndrom): → Hämopha-
gozytose.
Metaphase: Stadium der Mitose bzw. Meiose, in dem die Chromosomen kondensiert in der Mitte zwischen den Polen der Teilungsspindel liegen und zytogenetisch gut sichtbar gemacht werden können. Methylierung: Enzymatische Modifikation einer DNA oder RNA Base durch Einbau einer Methylgruppe. Bei der DNAMethylierung wird Cytosin, häufig als Bestandteil eines CG Dinukleotids am C5-Atom modifiziert. Einige DNA-bindende Proteine können an ein methyliertes Erkennungssignal nicht mehr binden, so dass eine Methylierung von DNA-Sequenzen z. B. Auswirkungen auf die Aktivierbarkeit von Genen haben kann. Eine RNA-Methylierung findet bei der MRNA Reifung im Rahmen des sog → »capping« am 7. Atom von Guanin statt.
1192
Glossar
MGG-Färbung (May-Grünwald-Giemsa, syn. PappenheimFärbung): Standardfärbung für Blut- und Knochenmarkaus-
striche; Weiterentwicklung der Romanowky-Färbung.
M1-, M2-, M3-Mark: Quantifizierte Einteilung der Blastenan-
zahl im Knochenmark: Im M1-Mark finden sich <5% Blasten, im M2-Mark zwischen 5 und 25%, im M3-Mark >25% Blasten im Knochenmark.
MHC (»major histocompatibility complex«): Genetische Re-
gion bei allen Säugetieren, die für die MHC-Moleküle kodiert. Beim Menschen auf Chromosom 6 lokalisiert. MHC-Moleküle: Glykoproteine, die vom MHC kodiert wer-
den. Man unterscheidet MHC-Klasse-I-, MHC-Klasse-II-Moleküle. Sie sind beteiligt an der Präsentation von Peptiden für T-Lymphozyten. MHC-Restriktion: Viele Immunreaktionen laufen am effek-
tivsten ab, wenn die beteiligten Zellen gemeinsame MHCHaplotypen besitzen. MIF (Migrationsinhibitionsfaktor): Peptide, die von lymphoiden Zellen produziert werden und die Fähigkeit besitzen, die Migration von Makrophagen zu inhibieren. Mikrosatellit (syn. »short tandem repeat«, STR): Sich in Gruppen wiederholende Sequenzen (1–4 bp lang), die etwa alle 6–10kbp im menschlichen Genom auftreten und unterschiedlich lange Wiederholungen aufweisen. Sie dienen als Marker für Kopplungsuntersuchungen in Familien. Im menschlichen Genom gelten 400–800 Mikrosatelliten als besonders geeignet. Mikrozyten: Kleine Erythrozyten. Minimal residual disease (MRD): Hinweise auf Krankheitszeichen unterhalb der Nachweisgrenze konventioneller Methoden. So erkennen etwa Standardverfahren der Leukämiediagnostik nur 1–5 maligne Zellen unter 100 normalen weißen Blutzellen. Hingegen gestatten → PCR-Verfahren eine 10.000-fache Sensitivitätssteigerung und damit den Nachweis sehr kleiner Mengen residueller Leukämiezellen bis zu einer Größenordnung von einer bösartigen Zelle unter 1 Mio. Normalzellen. Mismatch-Reparatur: Reparatur von einfachen Basenfehl-
paarungen oder Einzelstranginsertionen bis zu 4 zusätzlichen Basen nach abgeschlossener DNA-Replikation (Postreplikationsreparatur). Ein Ausfall von Einzelkomponenten dieses Reparatursystems führt zu Instabilität von Mikrosatelliten. Keimbahnmutationen von Genen, die an der Mismatch Reparatur beteiligt sind (z. B. MSH2, MLH1), disponieren für eine erbliche Form des Dickdarmkrebses (HNPCC). Mitogene: Substanzen, die die Zellteilung von lymphoiden
Zellen anregen. Mitose: Kernteilung von somatischen Zellen, unterteilt in Prophase, Metaphase, Anaphase und Telophase. MLL (syn. ALL1; HRX): Gen auf Chromosom 11q23, das mit
verschiedenen Partnern rearrangiert sein kann und somit eine Rolle bei verschiedenen Leukämien spielt.
Mock-Transfektion: Ausschluss eines unspezifischen Effekts
einer Transfektion durch Reagenzien anstelle von transfizierter DNA. Hierbei wird z. B. parallel zur Transfektion mit einem DNA-haltigen Plasmid ein Plasmid ohne DNA-Insert transfiziert. Modifier-Gen: Ein Gen, das zur phänotypischen Manifestation eines anderen Gens beiträgt. Modifier-Gene bedingen (neben Umweltfaktoren) auch bei sog. monogenen Erbkrankheiten die unterschiedliche Penetranz und variable Expressivität eines Gendefektes. Mononukleose: Vermehrung von großen lymphatischen (mononukleären) aktivierten Zellen. Bei der infektiösen Mononuklose (Pfeiffersches Drüsenfieber) entsprechen die im Blut auftretenden charakteristischen Mononukleosezellen aktivierten oligoklonalen T-Lymphozyten als Zeichen der zellvermittelten Immunantwort gegen mit Epstein-BarrVirus infizierte B-Lymphozyten. Morbidität: Krankheitsereignisse ohne Todesfälle. Mortalität: Anzahl der an einer Erkrankung verstorbenen
Patienten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung oder einer spezifischen Gruppe (z. B. Säuglinge). mRNA: Die »messenger« (Boten-RNA) entsteht durch Wei-
terverarbeitung eines primären Transkriptes (prä-mRNA) im Zellkern; die reife mRNA wird durch nukleozytoplasmatischen Transport zu den Ribosomen exportiert und dient dort als Matrize zu Proteinsysthese. mRNA-Editierung: Posttranskriptionale Veränderung der Nukleotidsequenz einer mRNA. mtDNA: Mitochondriale DNA; sie ist ringförmig strukturiert, sehr viel kleiner als das nukleäre Genom (16,5 kb), wird ausschließlich über Eizellen, nicht aber Spermien vererbt und folgt somit einem eigenständigen Erbgang. Multivariate Analysen: Sammelbegriff für statistische Verfahren, in denen gleichzeitig der Einfluss von mehreren Variablen auf eine bestimmte Zielgröße untersucht werden. Mutation: Bleibende Veränderung des genetischen Materials.
»Punktmutationen« basieren auf Austausch, Verlust oder Insertion von Basenpaaren, während »Chromosomenmutationen« mit Veränderungen der Chromosomenstruktur verbunden sind. Mutationen, die den proteinkodierenden Bereich von Genen betreffen, können zum Einbau einer falschen Aminosäure führen und dadurch den Sinngehalt einer Polypeptidkette verfälschen (»Missense-Mutation«), ein vorzeitiges Translationsterminationskodon entstehen lassen (»Nonsense-Mutation«) oder das Leseraster der nachfolgenden Nukleotide verschieben, was zum Einbau falscher Aminosäuren und meist zum vorzeitigen Abbruch der Translation führt
1193 Glossar
(»Frameshift-Mutation«). Außerdem können Mutationen auch Steuerelemente der Expression (z. B. Promotormutation) oder des korrekten Spleißens (Spleißmutationen) von Genen betreffen. MYC: Familie von Transkriptionsfaktoren der bHLH-Familie. Bekannteste Vertreter sind MYCN und MYC, die in Neuroblastomen und Medulloblastomen amplifiziert auftreten.
lerhafter (mutierter) mRNA, bei der das Leseraster verkürzt ist. Die medizinische Bedeutung liegt unter anderem darin, dass die Synthese von C-terminal verkürzten Proteinen verhindert wird, die bei Heterozygoten mit der Funktion des vom anderen Allel kodierten vollständigen Proteins interferieren könnten. Mithin handelt es sich um einen Schutzmechanismus für heterozygote Träger bestimmter Mutationen. Normoblast: Kernhaltige Vorstufe der Erythrozyten.
Myeloperoxidase (MPO): Zytochemisch anfärbbares Leiten-
zym der myeloischen Reihe.
Normozyten: Normalgroße Erythrozyten.
Negativer prädiktiver Wert: Die Wahrscheinlichkeit bei ei-
Northern Blot: Ein dem → Southern Blot analoges Verfahren zum Transfer von RNA-Molekülen auf Nitrozellulose oder Nylonmembranen. Nach der elektrophoretischen Auftrennung der RNA in einem Agarosegel entfällt der beim Southern Blot notwendige Denaturierungsschritt, da die RNA-Moleküle bereits einzelsträngig vorliegen.
nem negativen diagnostischen Testergebnis die Erkrankung nicht zu haben. Nekrose: Zelltod aufgrund chemischer und/oder physikali-
scher Schädigung. Führt stets zu einer inflammatorischen Reaktion des innate Immunsystems (im Gegensatz zur → Apoptose). N-Element: Sequenz von Nukleotiden, die während der so-
matischen Rekombination von Immunglobulin- oder T-Zellrezeptor-Genen de novo in die Nahtstelle der rekombinierenden DNA-Region eingefügt werden.
Nukleozytoplasmatischer Transport: Transport der reifen mRNA aus dem Zellkern ins Zytoplasma zur Translation an den Ribosomen. Nukleosid: Verbindung einer Purin- oder Pyrimidinbase mit
einem Zucker (Ribose oder Desoxyribose); z. B. Adenosin, Guanosin, Cytidin, Thymidin, Uridin.
Nested-PCR: Erhöhung der Spezifität einer → PCR-Reaktion
durch die Verwendung von 2 Primerpaaren. Hierbei liegen die Bindungsstellen des zweiten Primerpaares intern also »nested« zum ersten Primerpaar und amplifizieren ein Produkt, das kleiner ist als das aus dem ersten Primerpaar entstehende.
Nukleosom: Strukturelle Untereinheit des Chromatin, bestehend aus ca. 200 bp DNA und 9 Histonmolekülen. Nukleotid: Grundbaustein der Nukleinsäuren aus pyrimi-
din- oder Purinbase, Zucker (Pentose) und Phosphorsäure. Neutropenie: Im angloamerikanischen gebräuchlich für
Granulozytopenie. NFκB: Transkriptionsfaktor, der bei vielen verschiedenen
Leukozytenpopulationen die Signalaktivierung steuert (Master-Switchgen des Immunsystem). Nick-Translation: Herstellung einer radioaktiv markierten DNA-Sonde durch Behandlung mit DNAse. Hierbei entstehen Kerben in Einzelsträngiger DNA, die anschließend durch DNA-Polymerase mit radioaktiv markierten Nukleotiden gefüllt werden. NK-Zellen (»natural killer cells«): Gruppe von Lymphozyten
mit der intrinsischen Fähigkeit, Virus-infizierte Zellen und möglicherweise auch einige Tumorzellen zu erkennen und zu zerstören. Non-disjunction: Fehlverteilung einzelner Chromosomen
während der Meiose oder Mitose, so dass die Tochterzellen zu viele oder zu wenige Chromosomen enthalten. Non-homologous end joining: Form der DNA-Reparatur von Doppelstrangbrüchen. Dabei werden die freien DNA-Enden ohne Wiederherstellung möglicherweise verlorengegangener Sequenzinformationen lediglich fusioniert. Nonsense-mediated decay (NMD): Posttranskriptionaler Qualitätskontrollmechanismus zum spezifischen Abbau feh-
Nukleotidexzisionsreparatur: Form der Reparatur eines
DNA-Einzelstranges in einer Doppelhelix. Dabei kommt es zum Herausschneiden einzelner oder mehrerer Nukleotide und zu deren Ersatz nach Vorlage des komplementären Gegenstranges. Number-needed-to-treat (NNT): Anzahl der Patienten unter einer bestimmten Therapie, die erforderlich ist, um über eine bestimmte Zeit ein Ereignis zu verhindern. NNT errechnet sich aus dem Kehrwert der absoluten Risikoreduktion (ARR). Beispiel: Mortalität unter Plazebo 60% und unter Verum 50%: ARR=10%=0,1. Kehrwert von 0,1=1/0,1=10. NNT=10. Es müssen also 10 Patienten mit dem Verumpräparat behandelt werden um einen Todesfall zu verhindern. Odds (Chance): Das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt, zu der Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ereignis nicht eintritt. Odds Ratio (OR): Die Odds Ratio bezeichnet das Verhältnis (Ratio) von 2 Odds für ein bestimmtes Ereignis (Odds-exponierter Personen/Odds-nicht-exponierter Personen) Oligonukleotid: Natürliche oder chemisch synthetisierte Kette von Nukleotiden (Mononukleotide), die über Phosphodiesterbrücken miteinander verbunden sind. In der Molekularbiologie werden häufig Oligomere aus 20–40 Nukleotiden benutzt, z. B. als Sonden oder Primer für eine → PCR.
1194
Glossar
Onkogen: Gen, das normalerweise bei der Regulation von Zellproliferation und Gewebedifferenzierung eine wichtige Rolle spielt und in dieser physiologischen Form als »ProtoOnkogen« bezeichnet wird. Defekte in der Struktur oder Expression dieser Gene rufen Störungen im Zellmetabolismus hervor, die als Teilschritte einer Tumorentwicklung aufgefasst werden können. In dieser defekten Form werden die Gene als »Onkogen« bezeichnet. Man unterscheidet zwischen Onkogenen in Retroviren (v-onc) und Eukaryonten (zelluläre Onkogene, c-onc). Onkogene werden auch als »dominante Tumorgene« bezeichnet, da sich bereits der Defekt eines Allels phänotypisch manifestiert ( Tumorsuppressor-Gen). Outcomes: Outcomes sind die Endpunkte einer Studie, die untersucht werden. Man unterscheidet klinische (»harte«) Endpunkte von sog. Surrogatparametern.
auch Transkripte (mRNA) nach Synthese einer cDNA mittels reverser Transkriptase amplifiziert werden (RT-PCR). PDGF (»platelet derived growth factor«): Familie von Wachs-
tumsfaktoren mit mitogener Aktivität in verschiedensten Zelltypen. Peer review: Verfahren zur Beurteilung von Manuskripten
vor der Publikation, bei dem auf Aufforderung durch eine wissenschaftliche Zeitschrift mehrere unabhängige Wissenschaftler (Reviewer) unter anderem die Validität und Originalität eines Beitrags prüfen. Pelger-Huët-Anomalie: Verringerung der Anzahl an Kernsegmenten bei reifen Granulozyten auf 2, teilweise als Hantelform oder Erdnussform vorliegend. Autosomal-dominanter Erbgang.
P53: Der Name ist auf die Größe des Genproduktes (53 kD)
zurückzuführen. Gehört zu einer Familie von Tumorsuppressor-Genen. Mutationen des Gens finden sich in 40–45% aller sporadisch auftretenden Tumoren und in familiären Krebssyndromen (z. B. Li-Fraumeni-Syndrom).
Penetranz: Wahrscheinlichkeit, mit der ein Gen in Wechsel-
wirkung mit anderen Einflussgrößen (zumindest) ein krankheitsrelevantes Symptom zeigt. Per-protocol-Analyse: Analyse aller prüfplankonformen Pa-
PAC (»P1 bacteriophage artificial chromosome«): Als Klonie-
rungsvektor benutztes, vom Bakteriophagen P1 abgeleitetes künstliches Chromosom mit einer Aufnahmekapazität von etwa 150 kb großen DNA-Fragmenten.
tienten. Die Per-protocol-Analyse beschreibt den Effekt der Studie, der in der Fragestellung vor dem Beginn der Studie festgelegt worden war ( Intention-to-treat-Analyse).
quenz (z. B. 5′-GCATGC-3′).
Perforine: Proteine, die über Polymerisierung Membranporen in Zielzellen verursachen können und so zur Zerstörung der Zielzellen führen.
PAMP (pathogen assoziierte Molekülstrukturen): Diese Mo-
Periodsäure-Schiff-Reaktion (PAS): Zytochemische Reaktion,
leküle werden von Zellen des angeborenen Immunsystems über »pattern recognition receptors« (PRR) erkannt.
die intrazelluläres Glykogen anfärbt. Eine grob granulär bis schollig positive Reaktion findet sich bei den meisten ALL-Blasten. Eine feingranuläre positive Reaktion findet sich in Monoblasten (FAB M5), Megakaryoblasten (FAB M7) und in pathologischen roten Vorstufen (FAB M6; MDS; CDA).
Palindrom: Eine zu sich selbst komplementäre Nukleotidse-
Panmyelopathie: Verminderung der Erythropoese, Throm-
bopoese und Granulo-Monozytopoese im Knochenmark; heute als aplastische Anämie bezeichnet. Panzytopenie: Verminderung von Erythrozyten, Leukozyten und Thrombozyten im peripheren Blut. Pappenheim-Körper: Basophile Einschlüsse aus Ferritinaggregaten in Mitochondrien oder Phagosomen. Erythrozyten mit Pappenheim-Körper werden als → Siderozyten bezeichnet. Parakrin: Fähigkeit eines Zytokins, auf Zellen in der unmittelbaren Nachbarschaft der Zelle, von der das Zytokin produziert wurde, einzuwirken ( Autokrin).
Peyer-Plaques: Ansammlung von lymphoiden Zellen in der Darmwand. Gehören zu den sekundären lymphatischen Geweben. Phage: Bakteriophage; Virus, das Bakterien infiziert. Bestimmte Phagen können fremde DNA-Fragmente bis zu einer Größe von ca. 20 kb aufnehmen und somit als Vektor benutzt werden. Phänotyp: Das Erscheinungsbild einer Zelle oder eines Indi-
viduums, das durch den Genotyp sowie durch Umweltfaktoren zustande kommt.
Pathologische Linksverschiebung: Auftreten von unreifen
Vorstufen der Granulozyten im Blut. Eine pathologische Linksverschiebung ist typisch, aber nicht beweisend für eine chronische myeloische Leukämie (CML). PCR (Polymerasekettenreaktion): Multiplikationsprozess einer DNA-Sequenz durch hitzestabile DNA-Polymerasen (→ Taq-Polymerasen) sowie ein Primerpaar (= Startermoleküle). Sie dient der In-vitro-Vervielfältigung (Amplifikation) definierter DNA-Abschnitte. Mit der PCR können
Pharmakodynamik (PD): Lehre von den Einflüssen von Phar-
maka auf den Organismus (incl. Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Wirkungsmechanismus, unerwünschten Arzneimittelwirkungen, Toxikologie). Pharmakogenetik: Untersuchung des genetischen Hintergrundes für eine Therapieentscheidung. Ausdruck an sich nicht-pathologischer individueller Variation, die das Ansprechen auf Medikamente beeinflusst. Ziel ist die patienten- bzw.
1195 Glossar
krankheitsindividuelle Behandlung durch Analyse individueller Variationen zwischen einzelnen Patienten. Pharmakogenomik: Untersuchung des genetischen Hinter-
grundes von Erkrankungen für die Entwicklung neuartiger und spezifischer Therapieansätze. Beschäftigt sich mit folgenden Fragestellungen: Welche Gene, Genprodukte werden in ihrer Regulation von Wirkstoff beeinflusst? Welche Proteine werden in ihrer Regulation oder posttranslationaler Modifikation beeinflusst? Ziel ist es, einen einzigen Wirkstoff für viele Genome bzw. Patienten zu finden, indem strategisch Unterschiede zwischen verschiedenen Wirkstoffen untersucht werden. Pharmakokinetik (PK): Die Pharmakokinetik befasst sich unter Erstellung von Modellen mit der Kinetik der Resorption, Verteilung, Biotransformation und Elimination von Arzneistoffen. Pharmakologie: Lehre von den Wechselwirkungen zwischen
hung der Stabilität und translationalen Effektivität der mRNA. Für molekulargenetische Analysen kann man reife mRNA, sog. Poly(A)+-RNA, aus einer RNA-Fraktion (totale RNA) isolieren, indem man die Poly-A-Schwänze der mRNA an synthetische Poly-T-Moleküle von Trägersubstanzen binden lässt, die nach der Aufreinigung wieder abgelöst werden. Polyadenylierung: Teilschritt der posttranskriptionalen mRNA-Reifung, bei dem es zur Modifikation des 3′-Endes von Primärtranskripten kommt. Zunächst wird dabei ein Stück des 3′-Endes durch eine Endoribonuklease abgeschnitten und nachfolgend von einer Poly-A-Polymerase an das verkürzte 3′-Ende ein Poly-A-Schwanz angehängt, der für die Stabilität und translationale Effektivität der mRNA von Bedeutung ist. Polychromasie: Auftreten von polychromatischen, d. h. röt-
lich-blauen Erythrozyten, die sich sowohl mit Eosin (Hb-Färbung) als auch mit basischen Farbstoffen anfärben.
Arzneistoffen und dem Organismus. Polymerasen: Enzyme, die die Verbindung von Nukleotiden Philadelphia-Chromosom: Kleines akrozentrisches Chromo-
som der G-Gruppe, später als Chromosom 22 identifiziert. Es entsteht durch eine reziproke Translokation zwischen Chromosom 9 und Chromosom 22, dabei entsteht das neue Fusions-Onkogen bcr/abl. Phosphodiesterbindung: Phosphatbrücke zwischen den C5und C3-Atomen der Zucker benachbarter DNA- oder RNANukleotide. Phosphorylierung: Durch Kinasen vermittelte Anheftung von Phosphatresten primär an Serin-, Threonin- oder Tyrosinbestandteilen von Proteinen. Durch ihre rasche und reversible Durchführbarkeit besitzt die Phosphorylierung eine herausragende Bedeutung bei der Regulation von Proteinaktivitäten.
zu DNA- oder RNA-Ketten katalysieren. Polymorphismus: Häufige Variation in der DNA-Sequenz.
Definierte durch Mutationen wie z. B. Insertionen, Deletionen oder Mikrosatelliten. Polymorphismen können funktionell (Änderung des Eiweißes oder der Genfunktion) oder stumm sein. Positionsklonierung: Strategie zur Klonierung eines Gens auf Basis seiner präzisen Lokalisation auf einem Chromosom. Die Funktion des Gens spielt zunächst keine Rolle. Positiver prädikativer Wert: Die Wahrscheinlichkeit, bei ei-
nem positiven diagnostischen Testergebnis die Erkrankung tatsächlich zu haben ( Negativer prädiktiver Wert). Power: Die Fähigkeit einer Studie, einen klinisch bedeutsa-
und PD-Daten (Wirkung/Konzentration) im sog. »PK/PD Modeling« ermöglichen die Analyse von Wirkungs-Zeit-Profilen, um inhärente Limitationen im klassischen LADMEModell zu überwinden.
men Effekt der Intervention zu erkennen. Das Fehlen eines statistisch signifikanten Unterschieds zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe kann entweder dadurch bedingt sein, dass tatsächlich kein Unterschied besteht, dass eine zu geringe Anzahl an Patienten vorliegt oder dass das Ereignis zu selten auftritt.
Plazebo: Eine biologisch unwirksame Substanz, die meist die Patienten der Kontrollgruppe erhalten (Gegensatz zu »Verum«).
Prädiktive Diagnostik: Abklärung einer individuellen Dis-
PK/PD Modell: Die Integration von PK- (Konzentration/Zeit)
Plasmid: Zirkuläre, doppelsträngige DNA, die in Bakterien
position für eine spät-manifestierende Erbkrankheit noch vor Ausbruch erster Krankheitszeichen (präsymptomatisch).
autonom (extrachromosomal) repliziert wird; Plasmide können fremde DNA-Fragmente bis zu einer Größe von ca. 10 kb aufnehmen und als Vektor benutzt werden.
Prä-mRNA: Noch nicht gespleißtes Produkt einer Transkription (Primärtranskript).
Poikilozytose: Erhöhte Formvariabilität der Erythrozyten.
Prävalenz: Der Anteil von Menschen mit einem bestimmten
Poly-A-Schwanz: Eine RNA Sequenz aus 50–100 Adeninnuk-
Merkmal oder Erkrankung zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Population ( Inzidenz; Querschnittstudie).
leotiden, für die es keine komplementäre Poly-T-Region in Genen gibt. Der Poly-A-Schwanz wird während der Modifikation eines Primärtranskriptes enzymatisch am 3′-Ende einer mRNA synthetisiert (Polyadenylierung); er dient der Erhö-
Precursor-Zellen: Unreife Vorstufen einer hämatopoetischen
Zelllinie, die morphologisch charakterisiert werden kann (z. B. Proerythroblast; Progenitor-Zellen).
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Glossar
Primäre lymphatische Gewebe: Organe, in denen die Rei-
fungsschritte von lymphoiden Zellen stattfinden. Hierzu zählen die fetale Leber, das adulte blutbildende Knochenmark, der Thymus sowie die Bursa Fabricii bei Vögeln.
Gens initiieren (»promoten«). Promoter markieren den Anfang eines Gens. Prophase: Die erste Phase der Mitose bzw. Meiose, während
auftretenden Granula.
der die Chromosomen beginnen zu kondensieren und mikroskopisch sichtbar werden; die Kernmembran ist noch erhalten und der Spindelapparat nicht ausgebildet.
Primärliteratur: Originalartikel, z. B. in der Medline (http://
Prospektiv: Vorausschauend, z. B. eine prospektive Studie, die
www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi)
Patienten erfasst und diese über einen bestimmten Zeitraum beobachtet und bestimmte Verhaltensweisen oder Wirkungen von Medikamenten analysiert.
Primärgranula: Die primär in unreifen myeloischen Zellen
Primer: 15–25 bp lange synthetische Startermoleküle für die
→ PCR. Prion (»proteinaceous infectious particle«): Der Begriff dient
heute in der Regel als Synonym zur Bezeichnung des infektiösen BSE-Agens, des pathologischen Prionproteins und der molekularen Proteinstruktur, die das «Protein-only»-Modell als infektiöse Einheit ansieht. Prionenhypothese (syn. »Protein-only«-Modell): BSE-Erre-
ger sind nukleinsäurefreie Pathogene, die ausschließlich aus Protein bestehen. Die infektiöse Komponente dieser Prionen ist mit dem Prionprotein (PRPSC) identisch, das durch eine pathologische Konformationsänderung aus einem zellulären Vorläuferprotein (PRPC) entsteht. PRPSC vermag PRPC in seine eigene Konformation zu überführen und erzeugt auf diese Weise neue infektiöse Proteinpartikel. Prionprotein (PRP): Vom zellulären Priongen kodiertes Pro-
tein. PRPC: Zelluläre Isoform des PRP; glykosyliert, mit einem GPI-Anker in der Plasmamembran verankert, vorzugsweise an der Oberfläche von Neuronen lokalisiert, geringer β-Faltblattanteil. PRPSC: pathologische Isoform des PRP; tritt ausschließlich in infizierten Individuen auf und unterscheidet sich nur in der Konformation von PRPC, hoher β-Faltblattanteil. PRPSC besitzt einen Proteinase K-resistenten Kern, der aufgrund seiner Konformation vor enzymatischer Degradation geschützt ist. Professionelle Phagozyten: Segmentkernige neutrophile
Granulozyten (Mikrophagen) und Monozyten/Makrophagen. Progenitor-Zellen: Unreife Zellen der Hämatopoese, die sich im Gegensatz zu den hämatopoetischen Stammzellen nicht mehr in alle Zelllinien entwickeln können. Sie werden durch funtkionelle Tests bzw. durch Bestimmung ihrer CD-Antigene charakterisiert (z. B. CFUGEMM = »colony forming unit« für Granulozyten, Erythrozyten, Monozyten und Megakaryozyten; Precursor-Zellen). Prokaryont: Organismus ohne Zellkern und einige für Euka-
ryonten typische Zellorganellen wie Mitochondrien und endoplasmatisches Retikulum. Die Prokaryonten umfassen alle Bakterien einschließlich der blaugrünen Algen. Viren sind hingegen keine Lebewesen und werden deshalb nicht zu den Prokaryonten gezählt. Promoter: Erkennungssequenzen auf der DNA, die Trans-
kriptionsfaktoren binden und somit die Transkription eines
Prospektive Studie: In einer prospektiven Studie ist das interessierende Ereignis (z. B. eine bestimmte Krankheit) zum Zeitpunkt des Studienbeginns noch nicht eingetreten. Randomisierte kontrollierte Therapiestudien sind immer prospektiv, Kohortenstudien sind in der Regel prospektiv angelegt. Proteasom: Hochmolekularer, zytoplasmatischer Eiweißkomplex, in dem spezifisch markierte Proteine abgebaut werden können. Die Markierung ist der wesentliche regulative Faktor beim Proteasomen-vermittelten Proteinabbau. Sie erfolgt primär über die Anheftung von Polyubiquitinresten an Zielproteine und wird über feinregulierte Enzymkomplexe vermittelt. Proteindomäne: In sich abgeschlossener Teil eines Proteins
mit eigenständiger und oft auf andere Protein übertragbarer Funktion. Proteom: Ein an den Begriff »Genom« angelehnter Ausdruck,
der die Gesamtheit aller in einer Zelle oder einem Organismus exprimierten Proteine beschreibt. Provirus: Die in das Wirtsgenom integrierte Form (cDNA)
eines Retrovirus. Pseudoautosomal: Die Geschlechtschromosomen enthalten
Bereiche, die auf dem X- und Y-Chromosom identisch sind, mithin homologe Sequenzfolgen darstellen, die während der Meiose auch interagieren können (→ Crossing-Over). Die genetische Information dieser Bereiche unterliegt nicht dem Prozess der X-Chromosom Inaktivierung und segregiert nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie autosomale DNA. Pseudogen: Nicht-transkribierte DNA mit großer Sequenzhomologie zu einem funktionellen Gen. Pseudo-Pelger-Form: Erworbene → Pelger-Huet-Anomalie bei myelodysplastischen Syndromen und akuten myeloischen Leukämien, in Remission der Erkrankung nicht mehr nachweisbar. PTEN (syn. MMAC1 und TEP1): Abkürzung steht für »phos-
phatase and tensin homologue on chromosome 10«. Tumorsuppressor-Gen auf Chromosom 10q23 mit Phosphataseaktivität. Puls-Feld-Gelelektrophorese (PFGE): Elektrophoretische Auftrennung von DNA-Fragmenten der Größe nach in Aga-
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rosegelen. Während die konventionelle Gelelektrophorese je nach Agarosekonzentration eine Differenzierung zwischen etwa 0,05–20 kb großen Fragmenten erlaubt, können mit Hilfe der PFGE einige 1000 kb große Fragmente separiert werden. Besondere elektrophoretische Bedingungen, bei denen der Strom nach einem festen Schema pulsartig in verschiedene Richtungen fließt, dabei aber die Nettorichtung beibehält, führen zum dem erheblich besseren Auflösungsvermögen großer DNA-Fragmente. p-Wert: Beschreibt die Wahrscheinlichkeit (»probability«), dass ein beobachtetes Ereignis zufällig auftrat. Übereinkunftsgemäß wird eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 1:20 (p<5%; p<0,05) als statistisch signifikant angesehen. Querschnittstudie: Dieses Studiendesign untersucht eine Population zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Ergebnis ergibt eine Aussage über die Prävalenz eines Zustandes in der untersuchten Population. Randomisierung: In einer randomisierten kontrollierten
Studie werden die Patienten zufällig (randomisiert) entweder der Interventions- oder der Kontrollgruppe zugeordnet. RAS: Abgeleitet von »rat sarcoma«. Familie von Onkogenen. Relevant für menschliche Krebserkrankungen sind H-RAS (Harvey), K-RAS (Kirsten) und N-RAS (Neuroblastom).
Rekombination: Neue Zusammensetzung von Allelen (Genen), z. B. durch Crossing-Over während der Meiose oder somatisches Rearrangement von Sequenzen z. B. der Immunglobulin-Genloci in Lymphozyten. Bei der sog. rekombinaten DNA-Technologie handelt es sich um eine experimentelle Neuzusammensetzung von DNA-Molekülen. Rekombinationsfraktion: Rekombinationsfrequenz, -häufig-
keit; → Kopplung. Relative Risikoreduktion (»relative risk reduction«, RRR): Die
proportionale Reduktion des Risikos. RRR wird also auf das absolute Risiko bezogen, um eine Vergleichbarkeit zwischen den Studien mit unterschiedlichen absoluten Risiken zu ermöglichen. Relative Risikozunahme (»relative risk increase«, RRI): Die
proportionale Zunahme des Risikos. Relatives Risiko (RR): Die relative Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis häufiger (RR>1) oder seltener (RR<1) in einer Gruppe auftritt. Analog der → Odds Ratio. Repetitive Sequenzen: DNA-Sequenzen, die vielfach im Genom vorhanden sind und teilweise zu Familien sequenzverwandter Elemente zusammengefasst werden können (z. B. → Alu-Sequenzen). Einige repetitive Sequenzen besitzen Speziesspezifität. Replikation: Prozess der DNA-Verdopplung bei der Zell-
Real-time-PCR: Quantitative Echtzeitanalyse der → PCR über
die Messung von Fluoreszenzsignalen. Zum PCR-Ansatz wird neben den spezifischen Primern auch eine sequenzspezifische Sonde zugegeben. Die Sonde ist am 3′-Ende mit einem Quencherfarbstoff und am 5′-Ende mit einem fluoreszierenden Reporterfarbstoff markiert. Wenn die intakte Sonde durch Licht einer Wellenlänge von 488 nm angeregt wird, so wird die Fluoreszenzemission des Reporterfarbstoffs durch die räumliche Nähe zu dem Quencherfarbstoff unterdrückt. Eine Hydrolyse der Sonde durch die 5′-3′-Exonuklease-Aktivität kann nur dann erfolgen, wenn es zu einer sequenzspezifischen Hybridisierung zwischen Sonde und Zielsequenz kommt. Entsprechend der Amplifikation des spezifischen PCR-Fragmentes steigt das Fluoreszenzsignal an. Dabei ist die Fluoreszenzzunahme dem Zuwachs an PCRAmplifikat direkt proportional (Taqman-Technik). Es ist auch möglich, die Menge der amplifizierten DNA mit Hilfe des Farbstoffs SYBR-Green zu quantifizieren (Light Cycler System). Rechtsverschiebung (der neutrophilen Granulozyten): Ver-
mehrung von Neutrophilen mit 5 oder 6 Segmenten auf über 3%. Hinweis auf Vitamin-B12-Mangel, Eisenmangel, Infektionen oder Urämie. Rekombinante Pharmaka: Gentechnologisch gewonnene
Pharmaka. Das zugehörige Gen bzw. die entsprechende cDNA wird in Expressionsvektoren kloniert, anschließend in Wirtszellen eingebracht und dort exprimiert und translatiert; schließlich wird das rekombinante Protein aus der Zelle isoliert und gereinigt.
teilung. Restriktionsendonukleasen: Enzyme, die spezifische, kurze
DNA-Nukleotidsequenzen erkennen und einschneiden. Natürlicherweise kommen diese Enzyme in Bakterien vor, wo sie fremde DNA abbauen und dadurch beispielsweise die Effektivität eines Virus restringieren (einschränken), mit der es Bakterien infizieren kann. Die Abkürzungen für Restriktionsenzyme leiten sich von den Bakterien ab, aus denen sie isoliert wurden; z. B. EcoRI wurde aus Escherichia coli, Stamm RI, gewonnen. Restriktionsfragment: DNA-Fragment, das durch Verdau mit
einem Restriktionsenzym entsteht. Restriktionskarte: Relative Lage von Schnittstellen verschie-
dener Restriktionsendonukleasen in einem DNA-Fragment. Die Abstände der einzelnen Schnittstellen voneinander werden in Basenpaaren (bp) angegeben. Je mehr Enzyme zur Kartierung benutzt werden, desto besser lassen sich DNAFragmente untereinander vergleichen. Restriktionslängen-Fragment-Polymorphismus
(RFLP):
Variation in der Länge von DNA-Abschnitten, die durch ein spezifisches Restriktionsenzym gespalten werden und Folge einer Mutation in der Schnittstelle sind. Auf Grund von Sequenzunterschieden an den Schnittstellen sowie durch Rearrangierungen um hochrepetitive Sequenzen kann die Länge der entstehenden DNA-Fragmente variieren. Mit dieser Methode können genetische Variationen innerhalb einer Population aufgedeckt werden.
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Glossar
Retikulozyten: Junge Erythrozyten, die netzförmig ribosomale RNS enthalten (Substantia reticulogranulofilamentosa). Es handelt sich um junge Erythrozyten, die zuvor das Knochenmark verlassen haben. Der Retikulozyt benötigt zur Ausreifung zum Erythrozyten 48 bis maximal 72 Stunden.
Ringsideroblasten: Kernhaltige rote Vorstufen mit ringförmig, gelegentlich auch nur halbringförmig um den Kern angeordneten Eiseneinschlüssen. Charakteristischer Befund bei MDS-Typ-RARS (refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten).
Retikulumzelle: Sternförmig verzweigte Zelle des retikulären
Risikofaktor: Ein Merkmal, das kausal mit dem Auftreten einer Erkrankung assoziiert ist. Durch die Modifikation des Risikofaktors wird das Risiko des Ereignisses reduziert.
Bindegewebes in Milz, Lymphknoten, Tonsillen und Knochenmark. Die Retikulumzellen gehören zum MonozytenMakrophagen-System sowie zum retikulo-endothelialem (-histiozytären) System (RES bzw. RHS).
Risikomarker: Ein Merkmal, das mit dem Auftreten einer Erkrankung assoziiert ist. Der Risikomarker zeigt ein Risiko an, die Assoziation ist aber nicht kausal.
Retrospektive Studie: In einer retrospektiven Studie ist die
RNA: Ribonukleinsäure (»ribonucleic acid«); ein Polynukleo-
Erkrankung zu Beginn der Studie schon eingetreten und es wird rückblickend nach Risikofaktoren bzw. Expositionen für die Erkrankung gesucht. → Fall-Kontroll-Studien sind immer retrospektiv.
tid wie → DNA, wobei Ribose statt Desoxyribose den Zuckeranteil stellt und die Pyrimidinbase Uracil (U) anstelle von Thymin tritt. RNA ist oft einzelsträngig, während DNA meist doppelsträngig vorliegt.
Retrovirus: Einzelsträngiges RNA-Virus, das über ein doppelsträngiges DNA-Zwischenprodukt (cDNA) im Wirtsgenom repliziert und exprimiert wird.
rRNA: Ribosomale RNA, Struktur- und Funktionselemente
Reverse Transkriptase: In Retroviren natürlich vorkommen-
der Ribosomen, die ca. 75% der gesamten zellulären RNA ausmachen. Die RNA-Polymerase I transkribiert von rRNAGenen das gleiche 45 S große Vorläufermolekül, das anschließend in die reifen rRNA-Moleküe (28 S; 18 S; 5,8 S) gespalten wird.
des Enzym, das die Synthese komplementärer DNA (cDNA) von einer mRNA-Vorlage katalysiert, also den konventionellen Transkriptionsprozess umkehrt.
RT-PCR: → Polymerasekettenreaktion.
Rezessiv: Phänotypische Manifestation eines Allels nur im
Saure Phosphatase (SP): Zytochemische Färbung eines
homozygoten Zustand.
ubiquitären Enzyms, das sich in T-Lymphoblasten charakteristisch paranukleär fleckförmig darstellt. Bei der HaarzellLeukämie findet sich eine charakteristische durch Tartrat nicht zu hemmende positive Reaktion (Tartrat-resistente saure Phosphatasereaktion).
Rezidiv (Rückfall; Wiederauftreten einer Erkrankung): Ein solider Tumor oder eine Leukämie kann am gleichen Ort (Lokalrezidiv, Knochenmarkrezidiv) oder auch an anderer Stelle rezidivieren. Je nach dem, in welchem zeitlichen Abstand zur Diagnosestellung ein Rezidiv auftritt, spricht man von einem Früh- oder Spätrezidiv. RFLP: → Restriktionsfragment-Längen-Polymorphismus. Ribonukleoproteinpartikel (RNP): Sammelbegriff für eine Reihe von Komplexen aus RNA-Molekülen und Proteinen, die im Zellkern und im Zytoplasma vorkommen.
Scanning: Teilschritt der Translationsvorbereitung, bei dem
der ribosomale 43-S-Komplex die mRNA in 5′-3′-Richtung »abtastet«, bis er das AUG-Kodon identifiziert, von dem aus die Translation beginnt. Schießscheibenzellen: → Target-Zellen. SCID (schwerer kombinierter Immundefekt): Genetisch be-
Ribosomen: Hochmolekulare Komplexe, die die Proteinsyn-
dingte Erkrankung, die zu einem Defekt bzw. einem Fehlen von B- und/oder T-Lymphozyten führt.
these (Translation) durchführen; sie bestehen aus 2 Untereinheiten und enthalten rRNA sowie zahlreiche Proteine.
Segregation: Während der Meiose erfolgende Trennung der
Ribozyme: RNA-Moleküle, die etwa wie Proteine (Enzyme)
Allele, ihre Verteilung auf verschiedene Gameten und anschließende Vererbung gemäß den Mendelschen Gesetzen.
eine katalytische Funktion ausüben. Rieder-Zellen: Atypische Lymphozyten mit stark eingebuch-
Sekundärgranula: Granula der reifen neutrophilen, eosinophilen bzw. basophilen Granulozyten.
teten bzw. zweigeteilt erscheinenden Kernen. Rieder-Zellen finden sich bei einigen Patienten mit CLL.
Sekundärliteratur: Präsentation der Originalliteratur in
Riesenthrombozyten: Besitzen einen größeren Durchmesser
als Erythrozyten oder Lymphozyten. Ringförmige Kerne (der segmentkernigen Granuloyzten):
Vorkommen bei CML; AML; megaloblastärer Anämie. Physiologisch bei Labornagern.
gekürzter, zusammengefasster, strukturierter und benutzerfreundlicher Form z. B. in »clinical evidence« (http: www.clinicalevidence.org). Selektine: Adhäsionsmoleküle (Glykoproteine) von Leukozyten (L-Selektine), Thrombozyten (P-Selektine) und Endothelzellen (E-Selektine), die neben einer zytoplasmatischen
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und einer transmembranösen Domäne eine aus hort common repeats zusammengesetzte extrazelluläre Domäne besitzen. Mit ihrer Lektin-Domäne binden sie spezifisch z.B. an fukosylierte Strukturen wie die Blutgruppen-Substanz Lewis X.
Single nucleotide polymorphism (SNP): Neue Generation
Seneszenz: Alterung von Zellen im Sinne des Verlustes der Fähigkeit zur Zellteilung in der Abwesenheit eines Differenzierungsprogrammes. Parallel zur → Apoptose stellt der verfrühte Eintritt in die Seneszenz für gefährdete Zellen möglicherweise eine Schutzfunktion vor Zelltransformation dar.
Single-strand-conformation-polymorphisim(SSCP)-Analyse: Vielfach benutzte Screening Methode zur Identifikation
Sensitivität: Die Wahrscheinlichkeit, ein positives diagnostisches Testergebnis zu haben beim Vorliegen einer Erkrankung. Bei einem Test mit einer hohen Sensitivität lässt sich bei einem negativen Testergebnis eine gesuchte Zielerkrankung mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen ( Spezifität).
von genetischen Markern, bei denen Unterschiede einzelner Nukleotide genutzt werden. Dabei werden DNA-Chips eingesetzt, um mehrere Tausend SNP gleichzeitig zu erfassen.
von Punktmutationen mit einer Sensitivität zwischen 50 und 80%. Sie beruht auf der Fähigkeit von einzelsträngigen DNAFragmenten in Abhängigkeit von ihrer Primärsequenz bestimmt Konformationen anzunehmen, die in der nicht denaturierenden Gelelektrophorese zu einem unterschiedlichen Laufverhalten führen. siRNA (»small interfering RNA«): Kurze RNA-Moleküle, die mit mRNA hybridisieren und deren Abbau induzieren. Snurp (»small nuclear ribonucleo protein particle«, snRNP):
Sequence tagged side (STS): 200-500 bp lange DNA-Sequen-
zen, die im menschlichen Genom einmalig vorkommen und bei dessen Kartierung helfen. Sequenzhomologie: Verwandtschaft zwischen Polynukleotid- bzw. Polypeptidketten, häufig angegeben in Prozent identischer Nukleotide bzw. Aminosäuren.
eine Gruppe von Ribonukleoproteinpartikeln des Zellkerns, die Bestandteile des Spleißosoms sind. Sie bestehen aus mehreren nukleären Proteinen und relativ kurzen (60–215 Nukleotide) RNA-Molekülen, die Uridin-reich sind; aus diesem Grund werden die verschiedenen snRNP nach ihren RNA-Bestandteilen U1, U2 etc benannt. Sonde: Einzelstrang-DNA oder -RNA mit bewusst gewählter
Sequenzieren: Automatisierbare Analyse der Nukleotidfolge
einer DNA oder der Aminosäureabfolge eines Proteins.
Nukleotidsequenz, die entweder radioaktiv oder fluoreszierend markiert wird und dazu dient, komplementäre Sequenzen durch Hybridisierung nachzuweisen.
Sideroblasten: Einschlüsse von nicht-Hämoglobin-gebun-
denem Eisen in kernhaltigen roten Vorstufen ( Ringsideroblasten). Siderozyten: Einschlüsse von nicht-Hämoglobin-gebundenem Eisen in Erythrozyten. Signaltransduktion: Gerichteter Fluss der Signalübertragung
durch biochemische Prozesse. Zahlreiche verschiedene Signalformen und Prinzipien der Signalweitergabe sind bekannt. So können etwa nach Kontakt mit extrazellulären Signalträgern Stimuli über Signalempfänger (Rezeptoren) aufgenommen und über eine Kaskade spezifischer Signalmediatoren in den Zellkern weitergereicht werden. Am Ende der Signalkette steht häufig die von Transkriptionsfaktoren vermittelte Aktivierung spezifischer genetischer Programme. Signifikanz: Hier wird die statistische und die klinische Sig-
nifikanz unterschieden. Statistisch signifikant bedeutet, dass die Ergebnisse einer Studie wahrscheinlich (»probability«, p) nicht zufallsbedingt sind. Die Grenze für diese Wahrscheinlichkeit wird meist mit 5% angegeben (eine Wahrscheinlichkeit von p<0,05 gilt als statistisch signifikant).
Southern Blot: Von E. M. Southern entwickelte Methode, um DNA-Fragmente, die zuvor in einem Agarosegel elektrophoretisch aufgetrennt wurden, auf Nylon- oder Nitrozellulosefilter zu transferieren. Dabei wird die im Gel befindliche doppelsträngige DNA zunächst mittels alkalischer Lösungen in Einzelstränge zerlegt (denaturiert) und anschließend durch kapillare Wirkung von Löschpapier (»blotting paper«) in das auf dem Gel liegende Filter gesogen. Das Filter wird dann getrocknet und steht nach Fixierung der DNA durch Wärme oder UV-Behandlung für Hybridisierungen mit markierten Einzelstrangsequenzen (Sonden) zur Verfügung. Spacer: DNA-Sequenzen die als »Abstandshalter« zwischen den Gruppen von rRNA-Genen auf den akrozentrischen Chromosomen liegen. Auch in den Modulen der Rekombination-Signalsequenzen (Heptamer-Spacer-Nonamer) von Immunglobulin und T-Zellrezeptor-Loci kommen Spacer-Sequenzen vor. Spezifität: Die Wahrscheinlichkeit, ein negatives diagnos-
tisches Testergebnis zu haben bei Nichtvorliegen einer Erkrankung. Je höher die Spezifität, desto geringer der Anteil an falsch-positiven Befunden ( Sensititivät).
Silencer: Enhancer-ähnliches Sequenzmotiv, das jedoch die
transkriptionale Aktivität eines Promotors (Gens) »verstummen« lässt ( Enhancer).
Sphärozyten: Kugelförmige Erythrozyten. Spleißen: Die Verknüpfung von Sequenzen (Exons) eines Pri-
Single-copy-Sequenzen: Gene bzw. DNA-Sequenzen, die im
haploiden Genom nur einmal vertreten sind.
märtranskripts (prä-mRNA) im Zellkern unter Entfernung der Introns, so dass eine translatierbare mRNA entsteht.
1200
Glossar
Spleißosom: Komplex aus RNA und Proteinen, der im Zell-
kern den mehrstufigen Prozess des Spleißens durchführt. Start-Kodon (syn. Initiations-Kodon): Das Triplett AUG, das die erste Aminosäure einer Polypeptidkette, Methionin, kodiert. Dieses aminoterminale Methionin wird häufig posttranslational entfernt. In Bakterien ist das durch das Triplett AUG (und manchmal GUG) kodierte Methionin der Initiations-tRNA durch eine Formylgruppe modifiziert. STAT (»signal-transducer and activator of transcription«):
Gruppe von Proteinen, die an der Bildung von Transkriptionsfaktoren nach einer Aktivierung von Zellen durch Kinasen beteiligt sind. Stem-cell factor (SCF): Zytokin, das durch Bindung an c-kit
zur Reifung von Mastzellen und anderen hämatopoetischen Zellen führt.
Taq-Polymerase: Hitzestabile DNA-Polymerase aus dem Bakterium Thermus aquaticus, die zur → PCR benutzt wird. Target-Zellen (Schießscheibenzellen): Entstehen durch über-
schüssiges Membranmaterial d. h. einem hohen Membranvolumenverhältnis. Vorkommen bei Thalassämien und hereditärem LCAT-Mangel. Tartrat-hemmbare saure Phosphatase (TRAP): Zytochemi-
sche Hemmung der Saure-Phosphatase-Reaktion, die nahezu alle Isoenzyme der sauren Phosphatase hemmt mit Ausnahme des Isoenzyms, das in den Blasten bei Haarzell-Leukämie vorhanden ist, TATA-Box: Sequenzmuster (TATAA), das sich in der Promotorregion der meisten Gene findet. An der TATA-Box formiert sich der Transkriptionsinitiationskomplex.
und RNA, die über die Bindung trans-agierender Faktoren regulative Proteinkomplexe für die Genexpression rekrutieren.
TdT (terminale Desoxynukleotidyl-Transferase): Enzym, das die Anknüpfung von Nukleotiden an die 3′-Enden von DNAKetten katalysiert. Die Expression dieses Enzyms dient auch als Marker bei der immunologischen Phänotypisierung von Lymphozyten.
Stomatozyten: Erythrozyten mit einer schlitz- oder spaltför-
Teilremission: Unter einer partiellen Remission oder Teil-
migen Aufhellung. Kommen als Lagerungsartefakt vor sowie bei Lecithin-Cholesterin-Acyl-Transferase-Mangel.
remission versteht man eine deutliche Besserung der klinischen Befunde und des Allgemeinzustands des Patienten ohne vollständige Normalisierung.
Steuerelemente: cis-agierende Strukturelemente von DNA
Stop-Kodon (syn. Terminations-Kodon): → Kodon. Telomer: Das distale Ende eines Chromosomenarms. Stratifizierung: Methode zur Kontrolle von Confoundern
(Störgrößen) durch Bildung von Untergruppen, innerhalb derer sich die untersuchten Personen hinsichtlich bestimmter Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht) gleichen. Stringentes Waschen: Angabe zur Intensität, mit der nach Hybridisierung mit einer Sonde versucht wird, unspezifische oder teilkomplementäre Bindungen vom Filter (z. B. → Southern Blot) abzulösen. Je höher die Temperatur und je niedriger die Salzkonzentration einer Waschlösung, desto spezifischer ist das entstehende Signal.
Telomerase: Enzym, das dem Verlust terminaler DNASequenzen bei der DNA-Replikation entgegenwirkt, in dem es an das 3′-Ende des Elternstranges TTAGGG-Motive ankoppelt. Telophase: Endstadium der Mitose bzw. Meiose, in dem die Chromatidgruppen zu den Polen befördert werden und dekondensieren, und in dem sich eine Kernmembran ausbildet. Temperatur-Gradienten-Gelelektrophorese (TGGE): Auf-
Stromazellen: Die Reifung von lymphoiden Zellen geschieht
in enger Bindung mit dem aus Stromazellen bestehenden Grundgerüst der primären lymphatischen Organe (blutbildendes Knochenmark; Thymus). Sudan-Schwarz B (SSB): Zytochemische Reaktion, die bei allen Zellen der myeloischen Reihe positiv ausfällt.
wendige Screening-Methode zur Identifikation von Punktmutationen mit einer Sensitivität zwischen 70 und 90%. Sie beruht auf der Fähigkeit von doppelsträngiger DNA, in Abhängigkeit von ihrer Primärsequenz bei unterschiedlichen Temperaturen zu denaturieren, was in einem Temperaturgradientengel zu einem unterschiedlichem Laufverhalten führt.
Surrogatparameter: Ersatz-Messgröße, die mit dem Risiko für ein klinisch wichtiges Ereignis verbunden ist. Surrogatparameter werden in Studien benutzt, um die Laufzeit und die Größe der Studie zu reduzieren. Surrogatparameter erlauben keine sichere Aussage bezüglich der klinischen Endpunkte und können zu einem Trugschluss führen.
Termination: Beendigung des Transkriptions- bzw. Trans-
TGF (»transforming growth factor«): Multifunktionale Polypeptid-Wachstumsfaktoren, die Aufgaben haben in der Zellproliferation, Differenzierung und Immunität.
Synthenie: Begriff für Genloci, die sich auf demselben Chromosom befinden und zwar unabhängig davon, ob sie als Kopplungsgruppe vererbt werden oder nicht.
Thymin (T): Pyrimidinbase; Grundbaustein eines DNA-Nukleotid; das entsprechende Nukleosid wird Thymidin genannt.
lationsvorganges.
1201 Glossar
TH1-Zellen: Untergruppe der T-Helferzellen, die durch ihre spezifisches Zytokinproduktion (γ-IL; IL-2; TNF) charakterisiert sind. Sie sind an der Aktivierung von Makrophagen beteiligt und werden auch als inflammatorische T-Helferzyten bezeichnet. TH2-Zellen: Untergruppe der T-Helferzellen, die durch ihre
spezifische Zytokinproduktion (IL-4; IL-5; IL-13) charakterisiert sind. Sie sind beteiligt an der Stimulation von B-Zellen, die daraufhin Antikörper produzieren. Toleranz: Zustand des Immunsystems, auf ein spezifisches
Antigen immunologisch nicht zu antworten. Toll-Rezeptoren: Gruppe von Zelloberflächenmolekülen, die
bei der Signaltransduktion der inflammatorischen Reaktion beteiligt sind. Toxische Granulation: → Hypergranulation. Trans-acting factor: ein in »trans« wirkender Faktor, meist
ein Protein, beeinflusst die biologische Aktivität von DNASequenzen mit geeignetem Erkennungssignal (»cis-actingelements«), die auf unterschiedlichen DNA- oder RNA-Fragmenten lokalisiert sein können. Transduktion: Durch Viren vermittelter Transfer von DNA zwischen Zellen.
Transkriptionsfaktor: Protein, das die Transkription durch
direkte oder indirekte Interaktion mit Regulatorsequenzen (z. B. Promotoren und Enhancer) beeinflusst. Translation: Übersetzung der genetischen Information einer mRNA in eine Polypeptidkette an den Ribosomen. Die Translation beginnt am Initiations-/Start-Kodon der jeweiligen mRNA. Translokation: Chromosomale Strukturveränderung durch
Positionswechsel chromosomaler Segmente. Reziproke Translokationen sind durch einen Austausch ohne Materialverlust (balanciert) charakterisiert. Transmissible spongiforme Enzephalopathie (TSE): Gruppe infektiöser neurodegenerativer Krankheiten des zentralen Nervensystems, zu denen im Tierreich u. a. Scrapie und die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE), der sog. »Rinderwahnsinn« zählen. Analoge menschliche Erkrankungen sind Kuru, die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK), das Gerstmann-Sträussler-Scheinker Syndrom (GSS) und die fatale familäre Insomnie (FFI). Transmissible spongiforme Enzephalopathien verlaufen stets tödlich. Schutzimpfungen oder Therapien sind bisher nicht verfügbar. Als klinische Symptome treten beim Menschen Demenz und häufig auch Ataxie auf. Die Bezeichnung als »spongiforme Enzephalopathien« beruht auf dem markantesten histologischen Merkmal dieser Krankheiten, einer schwammartigen (»spongiformen«) Degeneration von Neuronen im Gehirn.
Transfektion: Einschleusen von fremder DNA in eukaryonte
Zellen durch Injektion mit Mikropipetten, Elektroporation, Endozytose von Kalziumphosphatpräzipitaten oder Virusinfektion. Bei der stabilen Transfektion wird die exogene DNA in das Genom integriert. Bei der transienten Transfektion verbleibt die exogene DNA vorübergehend im Zellkern der Zielzelle, ohne in das Genom inkorporiert zu werden. Abgrenzung zum Begriff der Transformation prokaryonter Zellen. Transformation: In der Genetik Einschleusung eukaryonter
DNA in Bakterien (in Abgrenzung zum Begriff der → Transfektion); in der Zellbiologie: Ereignisse, die zu einem malignen Phänotyp führen (maligne Transformation). Transgen: Gen- oder DNA-Konstrukt, das in eine fremde,
befruchtete Eizelle eingeschleust wurde, im Genom aller Keim- und Körperzellen des sich hieraus entwickelnden Tieres enthalten ist und auch an nachfolgende Generationen vererbt werden kann. Transgene Tiere: Tiere, in denen ein oder mehrere neue Gene inkorporiert wurden.
Trinukleotidexpansion: Die Zunahme von Trinukleotidfolgen im Umfeld eines Gens über eine kritische Grenze hinaus, verbunden mit einer pathologischen Funktion (gain of function) oder einem Funktionsverlust (»loss of function«) des betreffenden Gens. Trinukleotidexpansionen können präferenziell über die weiblichen (z. B. Fra-X-Syndrom) oder männlichen (z. B. Chorea Huntington) Keimzellen weitergegeben werden, im Laufe der Generationsfolge weiter an Länge zunehmen und somit die klinische Beobachtung der Antizipation bei monogenen Erbkrankheiten erklären. Triplett: Die 3 Basen (Nukleotide) eines Kodons bzw. Anti-
Kodons. tRNA (»Transfer-RNA): Von der RNA-Polymerase synthetisiertes RNA-Molekül mit einer aus 3 Schleifen und einem freien 3′-Ende bestehenden Sekundärstruktur (»Kleeblatt«). Die dem freien 3′-Ende (»Stiel«) gegenüberliegende Schleife enthält das Anti-Kodon, das sich spezifisch an ein Basentriplett (Kodon) der mRNA bindet. Das freie 3′-Ende dient als Bindungsstelle für die jeweils spezifische Aminosäure. Die tRNA spielt eine zentrale Rolle als Adapter bei der Translation von mRNA in eine Polypeptidkette.
Transkription: Im Zellkern erfolgende Umsetzung einer ge-
netischen Information von DNA in RNA. Die RNA-Polymerase I transkribiert rRNA; die RNA-Polymerase II mRNA und die RNA-Polymerase III tRNA. Das Primärtranskript (prämRNA) ist ein komplementäres Abbild der DNA-Matrize. Die Transkription erfolgt vom 5′- zum 3′-Ende der entstehenden RNA.
Trommelschlegel (»drum stick«): Trommelschlegelförmiges
Gebilde an einem der Segmente von segmentkernigen Leukozyten bei Individuen mit 2 X-Chromosomen (Normalwert bei Frauen: 3%). Die Trommelschlegel enthalten das inaktive X-Chromosom der Frau. Sie dienen der Bestimmung des Kerngeschlechts.
1202
Glossar
Tumorigenizitäts-Assay: In vivo Assay zum Nachweis von
Verteilungsvolumen: Flüssigkeitsvolumen, das erforderlich
Onkogenen. Er basiert auf der Transfektion von Tumor-DNA in Zellkulturen sowie anschließender Selektion und Injektion transfizierter Zellen in immundefekte Mäuse (»nude mice«). Eine Tumorentwicklung in diesen Tieren ist der Ausgangspunkt für die Klonierung der für die Tumorinduktion verantwortlichen Onkogensequenzen.
ist, um das im Organismus befindliche Pharmakon in der gleichen Konzentration zu lösen wie im Plasma; Substanzcharakteristikum. Verum: Eine biologisch wirksame Substanz, die die Patienten
der Interventionsgruppe erhalten (Gegensatz zu → Plazebo).
Tumorlysesyndrom: Durch Absterben (Nekrose; Apoptose)
von Tumorzellen werden intrazelluläres Kalium sowie Nukleinsäuren und weitere intrazelluläre Stoffe freigesetzt. Dies kann insbesondere zu einer Niereninsuffizienz (Uratnephropathie) führen.
V-Segment: DNA-Sequenz, die den variablen Teil von Im-
munglobulin- und T-Zellrezeptor-Ketten kodiert. Wachstumsfaktoren: Faktoren die in wachstumskompeten-
Zytokine.
ten Zellen ein Programm initiieren können, das diese Zellen aus der Ruhephase (G0) des Zellzyklus in die DNA-Synthesephase (S-Phase) überführt.
Tumorsuppressor-Gen: Gen, dessen Proteine bei der physio-
Waldeyer-Rachenring: Sekundäres lymphatisches Gewebe
logischen Regulation des Zellmetabolismus eine Rolle spielen. Der Ausfall dieser Regulatorproteine bedingt Störungen, die als Teilschritte einer Tumorentwicklung aufgefasst werden können. Tumorsuppressor-Gene werden auch als »rezessive Tumorgene« bezeichnet, da sich erst Defekte auf beiden Allelen phänotypisch manifestieren. Sie unterscheiden sich hierin von den »dominanten« Onkogenen und werden plakativ auch »Anti-Onkogene« genannt.
im Bereich des Nasopharynx und des Gaumens (Rachenmandel und Gaumenmandeln).
Tumornekrosefaktor (TNF): Gruppe proinflammatorischer
Western Blot: Ein dem → Southern (DNA) und → Northern
(RNA) Blot analoges Verfahren zum Transfer von Proteinen nach elektorphoretischer Auftrennung in einem denaturierenden SDS-Polyacrylamidgel (PAGE) auf eine Nitrozellulose- oder Nylonmembran. Der Nachweis der relevanten Polypeptidstruktur erfolgt durch markierte Antikörper.
Tyrosinkinase: Enzym, das spezifisch Tyrosin in Proteinen
phosphoryliert. Sofern es sich bei den Proteinen um membrangebundene Rezeptoren handelt, spricht man auch von Rezeptor-Tyrosinkinasen.
WHO-Klassifikation: Einteilung der Leukämien und malig-
Übersegmentierung: → Rechtsverschiebung.
Wobble: »Schwanken«, Mehrdeutigkeit der dritten Base des
Uniparentale Disomie: Beide Kopien eines Chromosomen-
abschnittes oder eines Gens stammen von einem Elternteil ab. Unterscheidet sich das Expressionsmuster von Genen aus der betroffenen Region je nach elterlicher Herkunft (→ Imprinting), kann es zur Entwicklung von Krankheiten kommen. Unkontrollierte Studie: Untersuchung eines Effekts ohne eine direkte Vergleichsgruppe. Hierzu gehören z. B. Querschnitts-, Fallkontroll- und Kohortenstudien. Uracil (U): Pyrimidinbase; Grundbaustein eines RNA-Nukleotids; das entsprechende Nukleosid wird Uridin genannt.
nen Lymphome entsprechend ihren immunologischen und genetischen Merkmalen.
Anti-Kodons der tRNA. Bei der Basenpaarung von Kodon (mRNA) und Anti-Kodon (tRNA) im Rahmen der Translation erfolgt die Paarung der beiden ersten Basen nach den gleichen Gesetzen wie bei der DNA-Replikation oder -Transkription. Die Paarung der letzten Base ist jedoch nicht eindeutig festgelegt; so kann z. B. Guanin (als dritte Base im AntiKodon) zwischen einer Paarung mit Uracil oder Cytosin (dritte Base im Kodon) schwanken, Uracil (Anti-Kodon) zwischen einer Verbindung mit Adenin oder Guanin. Wright-Färbung: In den USA übliche Färbung von Blut- und Knochenmarkausstrichen. Enthält die Kombination Methylenblau und Eosin. X-Inaktivierung: Epigenetischer Prozess zur Dosiskompen-
Vakuolisierung in myelomonozytären Zellen: Die Vakuolen-
bildung beruht auf einer Fusion der Granula mit phagozytären Einschlüssen und anschließender Exkretion des Inhalts dieser sekundären Lysosomen. Eine Vakuolisierung findet sich häufig bei bakteriellen und Pilzinfektionen. Vakuolen in unreifen myelomonozytären Zellen können ein morphologischer Hinweis auf ein Pearson-Syndrom sein. Vektor: DNA-Molekül, das zur selbstständigen Replikation in
Bakterien befähigt ist und sich für den Einbau fremder, je nach Vektortyp unterschiedlich großer DNA-Fragmente eignet. Man unterscheidet Phagen, Plasmide, Cosmide und sog. artifizielle Chromosomen (BAC, PAC, YAC).
sation X-chromosomaler Genprodukte bei Frau (XX) und Mann (XY). Während der frühen Embryonalentwicklung wird nach dem Zufallsprinzip in jeder Embryonalzelle entweder das väterliche oder mütterliche X-Chromosom inaktiviert (Lyon-Hypothese). Das jeweilige Inaktivierungsmuster bleibt dann in allen Tochterzellen stabil. Der Inaktivierungsprozess erfasst jedoch nicht alle Bereiche des betreffenden X-Chromosoms; eine Ausnahme bilden beispielsweise die pseudoautosomalen Regionen. X-chromosomale Agammaglobulinämie (»X-linked agammaglobulinemia«, XLA, syn: Morbus Bruton): Genetische Er-
krankung, bei der die B-Zellentwicklung auf einem frühen
1203 Glossar
Entwicklungsstand blockiert ist und infolgedessen keine reifen B-Zellen und keine Antikörper gebildet werden können. Der Krankheit liegt ein Defekt im Proteintyrosinkinasegen btk vor. X-chromosomales Hyper-IgM-Syndrom: Erkrankung, bei
der die Immunglobulinproduktion gestört ist. Im Serum finden sich erniedrigte Spiegel von IgG, IgE und IgA. Obwohl auch die IgM-Antwort gestört ist, finden sich im Serum normale bis erhöhte IgM-Werte. Die Erkrankung ist durch das Gen bedingt, das für CD40 bzw. CD154 kodiert. X-chromosomales lymphoproliferatives Syndrom (XLP, syn. Purtilo-Syndrom): Immundefekt, der auf einen Gendefekt im
»SH2-domain containing gene 1A« (SH2D1A) zurückzuführen ist. Jungen mit XLP können charakteristischerweise an einer foudroyanten EBV-Infektion versterben.
nes Chromosoms sich berühren, als wichtige Markierungshilfe, da es den kurzen (q) und langen (p) Chromosomenarm voneinander abgrenzt. Zentrozyten: Kleine B-Zellen in Keimzentren, die direkt von Zentroblasten abstammen. Sie können sich in Antikörpersezernierende Plasmazellen und in Memory-B-Zellen entwickeln oder sie gehen in → Apoptose, abhängig von der Reaktivität ihrer Rezeptoren mit Antigenen. Zink-Finger: Strukturmotiv von einigen DNA-bindenden Proteinen, das sich fingerförmig der DNA entgegenstreckt. Es setzt sich aus jeweils 2 charakteristisch angeordneten Cystein und Histidin Bausteinen zusammen, die gemeinsam ein Zink-Ion koordinieren. Zygote: Befruchtete Eizelle.
X-linked severe combined immunodeficiency: → SCID.
Zykline: Familie von Proteinen, die als regulative Unter-
Yeast-artifical-Chromosom (YAC): Bis zu einer Million Basen-
einheiten von Kinasekomplexen die Zellzyklusprogression steuern.
paare großes DNA-Fragment einer anderen Spezies, das in die DNA einer Hefezelle eingebracht wird.
Zytokine: Proteine, die von Zellen des Abwehrsystems produ-
Z-DNA: Form der DNA-Doppelhelix, bei der das Phosphat-
Zuckerband linksdrehend verläuft. Ein Übergang der DNA von der hauptsächlichen B-Form in die Z-Form findet sich gehäuft an Stellen mit Purin-Pyrimidin-Folgen. Zelladhäsionsmoleküle (CAM): Gruppe von Proteinen der
Immunglobulinsupergenfamilie, die sich an der Zelladhäsion beteiligen, z. B. ICAM; VCAM; PECAM; NCAM.
ziert werden und die das Verhalten anderer Zellen verändern. Zytokine, die von Lymphozyten produziert werden, werden auch als Lymphokine bzw. → Interleukine (IL) bezeichnet. Sie wirken über spezifische Zytokinrezeptoren der Zellen. Zytotoxische T-Lymphozyten: CD8-positive T-Lymphozyten, die in der Lage sind, andere Zellen abzutöten. Sie spielen sowohl bei der Abwehr von insbesondere Virusinfektionen, wie in der Transplantations- und Tumorimmunologie eine wichtige Rolle.
Zell-vermittelte Immunität: Immunreaktion, die durch Zel-
len und nicht durch Antikörper oder andere humorale Faktoren ausgelöst wird. Zellzyklus: Vorgang der sich vom Ende einer Zellteilung über
die Interphase bis hin zum Ende der folgenden Zellteilung erstreckt. Der Zellzyklus lässt sich in die Mitose und die Interphaseabschnitte G1, S und G2 einteilen. Nicht am Zellzyklus teilnehmende Zellen befinden sich definitionsgemäß in einer als G0 bezeichneten Ruhephase. Die Progression durch den Zellzyklus wird durch Zyklinkinasekomplexe gesteuert. Der ordnungsgemäße Ablauf des Zellzyklus wird vor dem Übergang von einer Phase in die folgende durch sog. → Checkpoints sichergestellt. Zentrale Toleranz: Immunologische Toleranz von B- und T-Zellen, die während der Entwicklung dieser Zellen im Knochenmark bzw. Thymus induziert wird. Zentroblast: Große, sich rasch teilende Zelle der B-Zelllinie, die sich in Keimzentren befindet. In ihr findet die somatische Hypermutation statt. Antikörper-sezernierende und Memory-B-Zellen stammen von diesen Zentroblasten ab. Zentromer: Chromosomenregion, an die während der Mei-
sose die Fasern des Spindelapparates ansetzen. In der Zytogenetik dient das Zentromer, an dem beide Chromatiden ei-
Zytozentrifuge: Spezielle Zellzentrifuge, mit der die Zellen in
einer Körperflüssigkeit (Liquor, Urin, Aszites, Pleuraerguss) schonend auf einer kleinen Stelle eines Objektträgers konzentriert werden.
1205
Sachverzeichnis A Aase-Syndrom 94 AB0-Erythroblastose 286, 288 AB0-Inkompatibilität 92, 288 AB0-System 1033 Abacavir 271 Abmagerungssyndrom, dienzephales 794 Abstoßungsreaktion 75 Acrodermatitis enteropathica 1045 Actinomycin D 570 Activin A 615 ADA-Mangel 80, 254 ADAMTS12-Defekt 409 ADAMTS13-Defekt 414 Adeninnukleotidstoffwechsel 144, 145 Adenokarzinom 955 Adenosindeaminase-Mangel 80, 254 Adenoviren 999, 1000 – onkolytische 631 – als Vektor für Gentherapie 626 Adhäsionsmoleküle 238 Adipositas, nach Strahlentherapie 816, 1128 ADP-Rezeptoren 346 Adrenalektomie 945 – totale 944 – transabdominelle 944 Adrenalin 975 Adrenoleukodystrophie 80, 622 Afibrinogenämie 376 Afterloading-Technik 580 Agammaglobulinämie (Morbus Bruton) 200, 256, 622 AGM-Region 6 Agranulozytose Granulozytopenie AIDS 268–273 – a. HIV-Infektion – Ätiologie 268 – opportunistische Infektionen 270 – Pathogenese 269 – Prognose 273 – Therapie 271–273 Akanthozyten 22 Aktindysfunktion 79 β-Aktindefekt 206, 208 aktivierte partielle Thromboplastinzeit 375, 1162, 1163 Akupunktur 1079 akutes Thoraxsyndrom 180 Alagille-Syndrom 913 Albinismus, okulokutaner 208 Albumin, Ernährungsstatus 1046 Alder-Reilly-Anomalie 24
Aβ-Lipoproteinämie 138 Alkylalkansulfonat 568 Alkylanzien 567, 568 – Nephrotoxizität 906 – Zweitneoplasie 1102, 1103 ALL Leukämien, akute lymphoblastische Alloimmunthrombozytopenie 291–295 – fetale 293, 294 – neonatale 294 ALL-Rezidiv 680–688 – Ätiologie 680, 681 – Diagnostik 682, 683 – Differenzialdiagnostik 682 – Klassifikation 683 – Klinik 682 – Komplikatinen 687 – Pathogenese 680, 681 – Prognose 686 – Spätfolgen 687 – Therapie 684, 685 All-trans-Retinolsäure (ATRA) 572, 614, 616, 617, 839, 842, 966 alpha-Fetoprotein 492, 912, 914, 919, 922, 925, 927 Alternativhypothese 635, 639 Alternativmedizin 1077–1081 – Definition 1077 – Nebenwirkungen 1079 – Ziele in der pädiatrischen Onkologie 1078 Alveolarproteinose, pulmonale 622 Ameloblastom 952, 953 – malignes 951 Amenorrhö, Chemotherapie 1091 AML-1 13 Amputation 886, 887, 891 Amsacrin 569 Analgesie, patientenkontrollierte 1067 Analgetika 1062–1067 – Nebenwirkungen 1067 Anämie – aplastische 40–60, 194, 718 – – angeborene 41 – – Definition 40, 41, 53 – – Diagnostik 41, 42, 54, 55 – – Differenzialdiagnose 42 – – Down-Syndrom 53 – – Epidemiologie 53 – – erworbene 41, 42, 53–59, 717 – – Gabe von Wachstumsfaktoren 49, 55, 1029 – – Immunsuppression 56, 57 – – Klassifikation 41 – – Klinik 54
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
– – – –
Neutropenie 311 Pathogenese 53 Prognose 59 Stammzelltransplantation 47, 48, 79 – Supportivtherapie 55 Ätiologie 87 autoimmunhämolytische 147–153 – Donath-Landsteiner-Typ 151 – Kältetyp 150, 151 – Klassifikation 148 – Therapie 150 – Wärmetyp 148–150 nach Blutverlust 91 chronische hämolytische 180 chronischer Erkrankungen 186–190 – Eisentherapie 189 – Transfusionsbehandlung 189 diagnostisches Vorgehen 88 Differenzialdiagnostik 89 Eisenmangel Eisenmangelanämie Frühgeborenes Frühgeborenenanämie hämolytische 157, 180, 280, 281, 322 – angiopathische 155–159 – Coombs-negative 324 – mit hohem Phosphatidylgehalt 138 – mechanische 155–159 – schistozytische 155 hepatoerythropoetische 323 hypoplastische 92–98, 281 – erworbene 92 – kongenitale ( a. DiamondBlackfan-Anämie) 92–96 – Parvovirus-B19-induzierte 97, 98 immunhämolytische 281 intrauterine 297 Klassifikation 86–91 Kompensationsmechanismen 88 kongenitale dyserythropoetische 79, 107, 118–120, 716 – Klinik 118, 119 – Therapie 120 – Typ I 119 – Typ II 119 – Typ III 120 makrozytäre 89, 90, 321, 322 – transfusionsbedingte 321 megaloblastäre 111–118, 320 – Ätiologie 111 – erhöhtes Homocystein 320 – Klinik 112 – thiaminabhängige 118 mikrozytäre 89 neonatale 278–282 – Diagnostik 279
A
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Sachverzeichnis
Anämie – normozytäre 89, 90 – perniziöse 114 – refraktäre – – mit Blastenexzess 717, 718 – – mit Ringsideroblasten 717 – sideroblastische 87, 89, 107, 109 – – Eisenelimination 109 – Symptomatik 88 Androgentherapie, Fanconi-Anämie 48 Angehörige, Unterstützung 1070 Angiofibrom, juveniles 953 Angiogenese 456, 464, 613, 615 – Hemmung 615, 617, 618, 710 – Makrophagen 219 Angiogeneseinhibitor 615, 617, 618 Angiographie 534 Angiomyolipom 1101 Angiosarkom 869, 918, 920, 954 Angst 1075 Aniridie 848, 850 Anisopoikilozytose 726 Anisozytose 22 Ankyrin 124, 128 Ann-Arbor-Klassifikation, maligne Lymphome 754, 756 Anorexia nervosa 309, 1146, 1147 Anthracendione 569 Anthrazykline 569, 1085 – Kardiotoxizität 906, 1085, 1129 Anthropometrie 1046 anthroposophische Medizin 1079 Antiangiogenese 613–619, 710 Antibiotika – Infektionstherapie 982, 983 – zytostatische 570 Anti-Duffy 1034 Antiemetika 1055–1057 Antifolate 565, 566 Antigenpräsentation 218, 237, 238 Antiidiotypantikörper 473, 481 Anti-Kell 1034 Antikoagulation 415, 1168, 1169 Antikörper – bispezifische 482 – chimäre 480 – Humanisierung 480 – modifizierte 482 – monoklonale 480, 481 – tumorspezifische 480 Antilymphozytenglobulin 56, 57, 75 Antimetabolite 565 Antiphospholipidantikörper 410 Antiphospholipidsyndrom 410, 412 – Diagnostik 413 – Therapie 415 Antisense-Oligonukleotide 467, 630 Antithrombin 375, 407, 1164 Antithrombinkonzentrat 305
Antithrombinmangel 306, 407, 413, 1168 Antithymozytenglobulin 56, 57, 75 APC-Resistenz 306, 377 Aphasie 780 Apherese 1035 Aplasie, erythropoetische 94 aplastische Krise, Parvovirus-B19induzierte 93, 98 Apoptose 456, 460–464, 580, 581 – Induktion 463 – Modulation 466 – Regulation 463 – Resistenz 464 – Signalweg 459, 461 – therapeutische Modulation 466 – Tumorerkrankungen 463 – verstärkte 44 Appendixkarzinoid 956 Aprothrombinämie 377 APUDom 946 APUD-System 946 Äquivalenztest 636, 637 ARDS 973, 974 Arthritis, rheumatoide 275, 311 Arthrodese 889 Arthropathie, hämophile 386 Arzneimittelgesetz 635, 640 Askariasis 1146, 1147 Askin-Tumor 507, 509, 894, 954 Asparaginase, Koagulopathie 574 Aspartylglukosaminurie 80 Aspergillus 994, 995 Asphyxie 292 – postnatale 297 – weiße 280 Asplenie – funktionelle 181 – kongenitale 246, 247 Astrozytom 1101 – anaplastisches 782, 812 – fibrilläres 782, 796, 812 – intraaxiales 811 – Inzidenz 426 – pilozytisches 779, 782, 796, 812 – Spinalkanal 812 – Therapie 812 Ataxia teleangiectatica 259, 770, 913 – Leukämierisiko 692 Ataxie 780 Atemnotsyndrom 297 Äthanolinjektion, Lebertumoren 918 Ätiologie 432–433 ATRA All-trans-Retinolsäure ATRA-Syndrom 966 Auer-Büschel 652 Auer-Stäbchen 311, 652 Aufklärung 1123 Augapfel, Enukleation 826 Austauschtransfusion 1036 – Thrombozytopenie 297
Autoantikörper, erythrozytäre 147, 148 Autofluoreszenz 323 Autoimmunhämolyse – Kältetyp 150, 151 – Wärmetyp 148–150 autoimmun-lymphoproliferatives Syndrom 259 Autoimmunneutropenie 193, 200 autoimmun-polyglanduläres Syndrom 261 Autoimmunthrombozytopenie Purpura, idiopathische thrombozytopenische Autonomie, Patient 1124 Autosplenektomie 181 Azathioprin, idiopathische thrombozytopenische Purpura 364 Azidose, metabolische 326
B Babesiose 316 Bakteriämie, Katheter-assoziierte 987 B-ALL 648, 652 Bare-Lymphocyte-Syndrom 80 Barrett-Ösophagus 955 Barr-Körperchen 24 Barth-Syndrom 193 Bartonellose, Blutbildveränderungen 316 Basophilie 312 Bauchschmerzen, Differenzialdiagnostik 489, 450 Bauchschwellung, Differenzialdiagnostik 489, 490 Beatmung, künstliche 973 Beckwith-Wiedemann-Syndrom 504, 848, 943 Beinlängendifferenz 1129 Belastung, psychische 1070 Belastungsstörung, posttraumatische 1113 Benzodiazepine, bei Erbrechen 1055 Bernard-Soulier-Syndrom 298, 345, 355 – Therapie 355 – Thrombozytentransfusion 1037 Betreuungskonzept, psychosoziales 1073 Bias 640 Bilirubinenzephalopathie 287 Bioinformatik 555 biological response modifier 585 Biolumineszenzverfahren 511 Biopsie 496, 599 Biotransformation, Definition 563 Bioverfügbarkeit, Definition 563 Blasenlähmung 780 Blasten, leukämische 647, 698
1207 Sachverzeichnis
Blastenkrise 727 Blastom, pleuropulmonales 954 Bleomycin 570 Bloom-Syndrom 260, 770, 848 – Leukämierisiko 692 – malignes Gliom 797 Blutausstrich 20, 21 – Aufbewahrung 21 – Färbung 20, 21 – mikroskopische Betrachtung 22, 88, 340, 341 – Rhesus-Erythroblastose 287 Blutbild 16–24 – rotes 309, 310 Blutbildung Hämatopoese Blutentnahme 16, 17 Bluteosinophilie 312 Blutgerinnung 373–384 Blutgerinnungsstörungen – a. Koagulopathien – erworbene 379–383 – hereditäre 375–379 – plasmatische 306 Blutgruppenantigene 1033 Blutgruppeninkompatibilität 296 Blutmonozytose 312, 313 Blutprodukte 1034 – autologe 1038 – Bestrahlung 1038 – gerichtete 1038, 1039 Blutstammzellen Stammzellen, hämatopoetische Blutstammzelltransplantation Stammzelltransplantation, hämatopoetische Blutung 279, 280, 1010–1019 – a. Diathese, hämorrhagische – fetomaternale 279, 280 – intraventrikuläre 294, 305 – perinatale 279, 280 – subgaleale 280 – Therapie 1116 Blutungsanämie 279 Blutungsneigung, Differenzialdiagnostik 490 Blutungszeit 340, 1162 Blutvolumen 1156, 1157 Body-Mass-Index 1046 Bohr-Effekt 86 Brachytherapie 580, 587, 588 – interstitielle 788 – Retinoblastom 826 Brechzentrum 1053 Brillenhämatom 833 Bronchialkarzinom 953, 954 Bronchuskarzinoid 946 Bruton-Tyrosinkinase 256 Bruzellose 313, 316 Bulky-Tumor 756 Burkitt-Lymphom 648, 734–737 – atypisches 737
– endemisches 736 – Epidemiologie 737 – HIV-assoziiertes 736 – Klinik 737 – Lokalisation 739 – sporadisches 736 – Therapie 744–746 Busulfan 568 B-Vorläuferzell-ALL 683 Bystander-Effekt 630 B-Zelldefekte 256–258 B-Zelldifferenzierung 735 B-Zellen 237, 241, 242 – Antigenerkennung 242 – Reifung 241 B-Zellhyperplasie, polymorphe 774 B-Zell-Leukämie 651 – akute 734 B-Zell-Lymphom 648, 734, 774 – a. Burkitt-Lymphom – follikuläres 734 – anaplastisches 738 – diffus großzelliges 737, 738 – histiozytenreiches 738 – immunoblastisches 738 – primär mediastinales 738 – Therapie 744–746 – T-zellreiches 738 – zentroblastisches 738 B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom, peripheres 736
C Cabot-Ringe 23,310 Camptothecine 571 Canale-Smith-Syndrom 259 Candidiasis 991, 992, 994, 995 – chronisch-disseminierte 991 – chronisch-mukokutane 261 – Prophylaxe 1001 Carboplatin 569 Caspase 461, 462 Castleman-Syndrom 488, 771 β-Catenin 913 Cathepsin G 204 CD-Antigene 237, 1170–1172 CDG-Syndrom IIc 325 C/EBPα 13 Chédiak-Higashi-Syndrom 24, 80, 193, 206, 208, 258, 311, 328, 348, 716 – Hämophagozytose 315 – Therapie 258 Chemoembolisierung 918 Chemokine 217, 238 – Rezeptoren 1174 – Übersicht 1174 Chemokonditionierung 73 Chemoprophylaxe 1001
Chemotaxine 204 Chemotaxis – Granulozyten 203, 204 – Makrophagen 216 – Störung 207 Chemotherapie 560–575, 664–667 – a. Zytostatika – Diarrhö 1045 – Dosierung 560 – Erbrechen 1045, 1053–1057 – Fertilitätsstörungen 1091 – Folgen für Gastrointestinaltrakt 1044, 1045 – Geruchssinn 1045 – Geschmacksempfinden 1045 – Infektionsgefährdung 978, 979 – intraarterielle 946 – Kardiotoxizität 574, 591, 906, 1085, 1129 – Kombination mit Hyperthermie 609 – Kombination mit Strahlentherapie 584, 585, 759, 760 – Mukositis 1044, 1045 – Nephrotoxizität 1087, 1088 – Ototoxizität 1085, 1086 – Spätfolgen 1085–1092 – Stomatitis 1044 – Übelkeit 1053–1057 – Zweitneoplasie 1102 Chiasmatumor 794 Chimäre 441 Chimärismus-Marker 74 chirurgische Therapie 595–603 – Lagerung 597 – Metastasen 601, 602 – Zugangsweg 597 Chlamydien 988, 994 Chlorambucil 568 Chlorodeoxyadenosin 709 Chlorom 699 Cholesterinesterspeichererkrankung 328 Cholezystektomie – Heinz-Körper-Anämie 166 – Sichelzellkrankheit 814 – Sphärozytose 131 Chondrosarkom – extraskelettales 869 – Inzidenz 428 Choriogonadotropin, humanes 922, 925, 927 Choriokarzinom 918, 923, 930 – disseminiertes 935, 936 – Immunreaktivität 497 – Pathologie 506 – Tumormarker 925 Chorionvenenthrombose 297 Choroidplexuspapillom 811 Choroidplexustumor 810 Chromogranin 900, 945, 946
A–C
1208
Sachverzeichnis
Chromosomenanomalien, konstitutionelle 446 chronisch-myeloproliferative Erkrankungen 724–729 Churg-Strauss-Syndrom 312 Ciclosporin A, idiopathische thrombozytopenische Purpura 365 Cisplatin 569 – Nephrotoxizität 1088 – Ototoxizität 592, 936, 1085, 1086 13-cis-Retinolsäure 616 Cladribin 567 Clearance, Definition 563 Clofarabin 709 Clostridium difficile 991 Cobalamin Vitamin B12 Codman-Dreieck 548, 885, 895 Cofilin 204 Colitis ulcerosa, Eosinophilie 312 Common-ALL 648 Computertomographie 534, 535 Coombs-Test 89 Corynebakterien 987 Cox-proportional-hazard-Modell 643 Coxsackie-Virus 295 Cross-over-Design 636 Cubilin 111, 114 Cyclophosphamid 567 – idiopathische thrombozytopenische Purpura 365 Cytosinarabinosid 567 C-Zellhyperplasie 940
D Dacarbazin 568 Dakrozyten 726 Danazol, idiopathische thrombozytopenische Purpura 365 Datenerhebung 641 Daunorubicin 569 – liposomales 709 DDAVP – Thrombozytenfunktionsstörungen 350 – Von-Willebrand-Syndrom 400 DDAVP-Test 400 Debulking 601 Deferipron 171–173 Deferoxamin 171–173 Defibrotide 573 – venookklusive Erkrankung 1016 De-novo-AML 719 Denys-Drash-Syndrom 848, 849 Dermatitis herpetiformis 312 Dermatofibrom 951 Dermatofibrosarcoma protuberans 869 Dermoidtumor 811
Dermoidzyste 925 Deutsches Kinderkrebsregister 422, 435 Dexamethason 571 Diagnoseschock 1070, 1074 Diagnostik 485–493 – bildgebende 531–551 – genetische 437, 450 – hämatologische 16–39, 41, 42 – histologische 492, 493 – molekulare 465, 556 – nuklearmedizinische 535–538 – prädiktive 450 – radiologische 492 – zytologische 492, 493 Diamond-Blackfan-Anämie 41, 79, 90, 92–96, 281, 309 – Fehlbildungen 93, 94 – Klinik 93–95 – Leukämierisiko 692 – Pathophysiologie 95 – Prognose 96 – reaktive Veränderungen 1150 – Therapie 95, 96 Diapedese 203, 204, 216 Diarrhö – Chemotherapie-bedingte 1045 – Therapie 1116 Diathese, hämorrhagische 1010, 1011 – Anamnese 396 – Diagnostik 1011 – Differenzialdiagnostik 490 – Therapie 1012 Didanosin 271 dienzephales Syndrom 1044 Differenzialdiagnostik 485–493 Differenzierungstherapie 613–619 diffuses neuroendokrines System 945 DiGeorge-Syndrom 261 Dimethylsulfoxid (DMSO) 72 disability 1132 DNA-Fragmentierung 461 DNA-Instabilitätssyndrom 259 DNA-Ligasedefekt 260 DNA-Polymerase 606 DNA-Reparatur 442, 460 DNA-Reparaturenzyme 442, 585 DNA-Schäden 442, 460, 465, 580 DNA-Strangbruch 460, 580, 606 DNA-Vakzination 629 Dobutamin 975 Döhle-Körperchen 24, 311, 346 Donath-Landsteiner-Autoantikörper 1034 Donath-Landsteiner-Hämolysetest 152 Dopamin 975 – Neuroblastom 833 Dosis-Überlebens-Kurve 581 Dottersacktumor 918, 923, 924, 930 – Immunreaktivität 497
– Pathologie 506 – Tumormarker 925 Down-Syndrom – aplastische Anämie 53 – Leukämien 670, 692, 699, 700 – myelodysplastisches Syndrom 717 Doxorubicin 569 Druck, intrakranieller, erhöhter 975, 1117 Dubowitz-Syndrom 41, 53 Dumping-Syndrom 1049 Durchleuchtungsuntersuchung 533 Dyserythropoese 716 Dysfibrinogenämie 376, 406 Dysgenesie, retikuläre 41, 193, 198 Dysgerminom 923 – a. Germinom – a. Seminom Dysgranulopoese 716 Dyskeratosis congenita 50–52, 299, 716 – Chromosomenbrüchigkeit 51 – Klinik 50 – Molekulargenetik 51 – Therapie 52 Dysmegakaryopoese 298, 716 Dysphagie, Chemotherapie-bedingte 1045 Dysplasie, bronchopulmonale 310 Dyspnoe, Differenzialdiagnostik 491
E Early-onset-Thrombozytopenie 299 Echinococcus 1146, 1147 Echinozyten 22 Echovirus 295 Effektorlymphozyten 735 Effektorzellen 237 EGF 457 EGIL-Klassifikation, Leukämien 658 EHEC 156 Ehrlichiose, Blutbildveränderungen 316 Eigenblutspende 1033, 1038 Einflussstauung – obere 966 – untere 966 Einverständnis, Eltern 1123 Einwilligungserklärung 640 Einzelnukleotidpolymorphismen 439 Eisenaufnahme 101 – gestörte 106 – Hemmstoffe 102 – Vitamin C 102 Eisenbedarf 103 Eisenbindungskapazität, Normalwerte 1158 Eiseneliminationstherapie 108, 109, 172
1209 Sachverzeichnis
Eisenhomöostase 102, 103 Eisenmangel 103 – Blutverlust 104 – Chemotherapie-bedingter 1046 – Diagnostik 105, 106 – ernährungsbedingter 104 – Gehirnentwicklung 105 – Immunsystem 105 – Klinik 105 – latenter 102, 105 – manifester 102 – prälatenter 102, 105 – reaktive Blutveränderungen 1146, 1147 – Therapie 106 – Zöliakie-bedingter 105 Eisenmangelanämie 104–106, 309 – Klinik 105 – Therapie 106 Eisenmetabolismus 101–109, 186, 187 Eisenregulation 186 Eisenspeicherkrankheit, erbliche Hämochromatose, hereditäre Eisenspeicherung 186, 187 Eisenüberladung 106–109 – primäre 106, 107 – sekundäre 107 Eisenversorgung, Ernährung 102 Eklampsie 298, 299 Ektazytometer 125 Elastase 204 Elektronenmikroskopie 496, 498 Elektronenstrahlung 579, 580 Elliptozytose 22, 125–127, 1150 – hereditäre 132–134 – Splenektomie 134 Eltern, Einverständnis 1123 Elternarbeit 1071, 1072 Elterninitiativen 1071, 1072 Embryogenese 613 Emesis Erbrechen Empfänger-gegen-Spender-Reaktion 67 Endodermalsinustumor ( a. Dottersacktumor) 925 Endoprothese 887, 888, 900 Endothel, hämogenes 7 Enneking-Klassifikation 901 Enolase, neuronenspezifische 492, 834, 836, 868, 898, 900, 914 Enterokolitis – granulozytopene 991 – nekrotisierende 297 Enzephalitis 989 Eosinophilen-Leukämie 312 Eosinophilie 312 Ependymoblastom 802 Ependymom 779–802, 811 – anaplastisches 802 – Chemotherapie 802
– Inzidenz 426 – Klinik 800 – Knochenmarkinfiltration 314 – myxopapilläres 802 – Neuroradiologie 782 – Prognose 802 – spinales 812, 813, 815 – Strahlentherapie 801 – Therapie 802, 803 Epidemiologie 421–431 Epidermoidtumor 811 Epigenetik 442 Epiglottitis 988 Epipodophyllotoxine 570 Epstein-Barr-Virus 295, 952, 998 – Infektion 771 – lymphoproliferative Syndrome 770 – Morbus Hodgkin 753 – Nasopharynxkarzinom 950 – Non-Hodgkin-Lymphome 733 Epstein-Syndrom 346, 349 Erbrechen 1053–1057 – antizipatorisches 1053 – Chemotherapie-bedingtes 1045 – Differenzialdiagnostik 488 – Neurophysiologie 1053 – Psychopharmaka 1055 – Risikofaktoren 1053 – Therapie 1053–1057, 1115, 1116 Ereignis, unerwünschtes 641 Ernährung – enterale 1047, 1049 – nasogastrale Sonde 1047 – nasojejunale Sonde 1047 – parenterale 1050 – PEG-J-Sonde 1047 – PEG-Sonde 1047, 1049 – teilparenterale 1047 – Terminalphase 1115 – transpylorische 1049 – vollparenterale 1047, 1050 Ernährungssonden 1047–1049 Ernährungsstatus 1045–1047 Ernährungstherapie 1043–1051 – perorale 1047, 1048 Erythroblasten – basophile 34, 1144 – oxyphile 1144 – polychromatische 34, 1144 Erythroblastopenie 89 – transitorische 93, 96, 97 Erythroblastophthise Erythroblastopenie, transitorische Erythrodontie 324 Erythroleukämie 648 Erythrophagozytose 188 Erythropoese 10 – hyporegeneratorische 309 – Normwerte 19, 1143 – perinatale Umstellung 278 – primäre Bildungsstörung 87
C–E
– reaktive Veränderungen 1146, 1148 – Stimulation 282 – verminderte 309, 310 – Zytokine 188 Erythropoetin 13, 189, 1160 – Regelkreis 87 – rekombinantes 189, 190, 282, 1038 Erythropoetinmangel 87, 310 Erythrozyten – Anfärbbarkeit 22 – basophile Tüpfelung 23, 145 – fetale 93, 278 – Größenverteilungskurve 20 – hypochrome 321 – mechanische Schädigungen 159 – morphologische Veränderungen 22 – reaktive Veränderungen 1146, 1148 – thermische Schädigungen 159 – Tränenform 22, 112, 157 – verkürzte Lebensdauer 88, 309, 310 Erythrozytendepletion 72 Erythrozytenenzymdefekte, angeborene 139–145, 322 – Diagnostik 140 – Genetik 139, 140 Erythrozytenenzyme 1161 Erythrozytenindex 17 Erythrozytenkonzentrat, leukozytendepletiertes 1035, 1036 Erythrozytenmasse 1157 Erythrozytenmembran – mechanische Schädigung 22 – Struktur 123, 124 – Untersuchung 125 Erythrozytenmembrandefekte, angeborene 123–136 – Diagnostik 125 – Pathogenese 125 – Therapie 130, 131, 134, 138 Erythrozytentransfusion – Indikationen 1035 – intrauterine 287 Erythrozytenvolumen, mittleres korpuskuläres 17, 18, 86, 1143, 1154 Erythrozytenzahl – Normalwerte 1154 – unreife Frühgeborene 1155 Erythrozyturie 157 Esterase, nicht-spezifische 36 Ethik, Tumortherapie 1123, 1124 Ethikkommission 1123, 1124 Ethyleniminderivate 568 Evolution, klonale 436 Ewing-Sarkom 894–907 – atypisches 507, 868 – Biopsie 897 – Chemotherapie 901–904 – Diagnostik 895–897 – – bildgebende 549–511 – – molekulare 509, 510 – Differenzialdiagnostik 899, 900
1210
Sachverzeichnis
Ewing-Sarkom – Epidemiologie 894, 895 – Expressionsanalyse 508, 509 – extraossäres 866, 868, 869 – extraskelettaler 899 – Genfusion 898 – Inzidenz 428, 429 – klassisches 894, 507, 868, 898 – Klinik 895 – Knochenmarkbeteiligung 897 – Knochenmarkinfiltration 314 – Komplikationen 906 – Metastasierung 904 – Molekularbiologie 507–509, 898 – operative Therapie 900 – Pathologie 507–510, 897, 898 – Prognosefaktoren 905 – Sekundärmalignom 906 – Stammzelltransplantation 79, 904 – Strahlentherapie 900, 901 – Therapie 900–904 – Überlebenswahrscheinlichkeit 430 – Verteilungsmuster 896 – ZNS-Metastasen 814 – Zweitneoplasie 1107 – Zytogenetik 507, 508 Ewing-Tumor Ewing-Sarkom Exon 438 Expressionsanalyse 554 Extrakompartmenttherapie 665 – B-Zell-Lymphom 745 – großzellig-anaplastisches Lymphom 747 – lymphoblastisches Lymphom 743 Extravasat 573, 574 Extremitätenperfusion, isolierte hypertherme 608
F FAB-Klassifikation – akute myeloische Leukämien 648, 694, 696, 697 – myelodysplastisches Syndrom 717 FAB-L3-Leukämie 737 Facies thalassaemica 169 Faktor-I-Mangel 376, 1168 Faktor II 1163 Faktor-II-Mangel 377, 1168 Faktor IV 386 Faktor V 407, 1163 – Leiden 377, 407 Faktor-V-Mangel 377 Faktor VI 1163 Faktor VII 1163 – aktivierter 1014 – rekombinanter 351 Faktor-VII-Mangel 378, 1168 Faktor VIII 386, 401, 407, 1163
Faktor-VIII/Faktor-V-Mangel 377, 378 Faktor IX 1163 Faktor X 1163 Faktor-X-Mangel 378, 1168 Faktor XI 1163 Faktor-XI-Mangel 378, 1168 Faktor XII 1163 Faktor-XII-Mangel 378 Faktor XIII 1163 Faktor-XIII-Mangel 379, 1168 Faktorenkonzentrat, rekombinantes 390 Familienorientierung – psychosoziale Betreuung 1072, 1073 – Rehabilitation 1135, 1136 Familienspender – HLA-differenter 66 – HLA-genotypisch identischer 66, 69 Fanconi-Anämie 42–50, 93, 281, 299, 309, 716, 913 – Androgentherapie 48 – Chromosomenbrüchigkeit 43 – Diagnostik 46 – Gabe von Wachstumsfaktoren 49 – Gentherapie 49, 622 – hämatopetischer Defekt 43 – Klinik 42, 43 – Komplementationsgruppen 44 – Leukämierisiko 692 – myeloische Neoplasien 46 – Pränataldiagnostik 50 – Prognose 50 – reaktive Veränderungen 1150 – Signaltransduktionsweg 45 – solide Tumoren 46, 47 – Stammzelltransplantation 47, 48, 79 – Zytokine 49 Farnesyltransferase-Inhibitor 710 Favismus Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel Fechtner-Syndrom 346 Feinnadelbiopsie 492, 496 Fenretinin 842 Ferritin 186, 187, 492 Ferrochelatasedefekt 324 Fertilitätsstörungen, strahleninduzierte 1091 α-Fetoprotein 492, 912, 914, 919, 922, 925, 927 Fibrinogen 373–375, 406, 1166 – Normalwerte 1162, 1163 – Mangel 376 Fibrinolyse 373, 383, 384, 409 – beim Neugeborenen 304, 305 – Physiologie 383 – Störungen 384 Fibrinthrombus 402 Fibromatose 957 – aggressive 951, 957
– desmoplastische 951 – Epidemiologie 951 – juvenile hyaline 957 – kongenitale generalisierte 957 Fibronektin 5, 626 Fibrosarkom 866, 868 – infantiles 869 – Inzidenz 430 – juveniles 868 – klassisches 868 – kongenitales 515, 868 Fieber – Differenzialdiagnostik 490 – Therapie 1116 Fingerprinting 74 Flexner-Winterstein-Rosette 811 Flow-Zytometrie 524, 525 Fludarabin 566, 709 Fluoreszenz-in-situ-Hybridierung 440, 443, 508 – minimale Resterkrankung 529 Fluoreszenzverfahren 511 5-Fluorouracil 567 Foamy-Viren 626, 627 Follow-up 642 Folsäure 117, 118 – Biochemie 117 – Diagnostik 118 – Homöostase 1101 – Normalwerte 1159 – Physiologie 117 – Stoffwechselstörungen 320 – Tagesbedarf 117 Folsäureanaloga 117 Folsäuremangel 89, 90, 117, 118 – Ätiologie 117 – Therapie 118 Formylpeptidrezeptordefekt 206, 207 Fossa-posterior-Syndrom 817 Fragmentozyten 22, 157 Frasier-Syndrom 849 Fremdantigene 475 Fremdspender 66, 69 Frischplasma, gefrorenes 1038 Früherkennung 435, 493 Frühgeborenenanämie 281, 282 Fuchs-Rosenthal-Kammer 37, 38 Fukosidose 80 Fungämie 992 Fusarium 992 Fusionstranskript 556
G Gallensteine, Sichelzellkrankheit 181 Ganciclovir 274 Gangliogliom, Neuroradiologie 782 Ganglioneuroblastom 832 – diffuses 503
1211 Sachverzeichnis
– gemischtes 503 – noduläres 503 Ganglioneurom 503, 832 Ganglioneuromatose, intestinale 940 Ganzhirnbestrahlung 787, 788 Ganzkörperbestrahlung 72 Ganzkörperhyperthermie 607 Ganzkörperphotonentherapie 587 Gastrointestinaltrakt, radiologische Darstellung 533 GATA-2 13 Gaucher-Zellen 327 G-CSF 12, 987, 1021–1029 – a. Wachstumsfaktoren, hämatopoetische Gedächtnis, immunologisches 472 Geldrollen-Phänomen 22 Gelenkschmerzen, Differenzialdiagnostik 488, 489 Gemtuzumab 710 gene enhancement 621, 623 Genetik 436–451 Genfusion 446 Genom 553 – Aufbau 438–443 Genomik, funktionelle 553–557, 631 Gen-Rearrangement 523, 525, 526 Genrepression 621, 622, 630 Gentherapie 585, 620–631 – additive 621 – Hämophilie 391 – Immundefekt 264 – Indikation 622, 628 – korrektive 621, 623 – Risiken 627, 628 – septische Granulomatose 212 – Vektoren 479, 624–627 – Zielzellen 623 Gentransfer 478, 479 – Vektoren 479, 624 – Zielzellen 623 – Zytokine 479 Gerinnung – disseminierte intravasale 381, 382, 966, 1013 – – Diagnostik 382 – – Klinik 382 – – Pathologie 382 – – Therapie 382, 1013 – plasmatische 373 – – a. Blutgerinnung – – immunologische Störungen 383 Gerinnungsfaktoren 373 – a. Faktor – Erhöhung 406 – Hemmkörper 383 – Mangel 413 Gerinnungsinhibitoren 407 – Antikörper 411 – Mangel 413, 414 Gerinnungskaskade 373
Gerinnungsstörungen – Blutgerinnungsstörungen – Koagulopathien Germinom 923, 935 – a. Dysgerminom – a. Seminom – Immunreaktivität 497 – Pathologie 506 – Tumormarker 925 Geschlechtsentwicklung, Störungen 1090, 1091 Geschmacksstörungen, Chemotherapiebedingte 1045 Geschwisterspender 66, 69 Gestationsdiabetes 297 Gestationsthrombozytopenie 292, 295 Gewebemosaik 439 Giant-Platelet-Syndrom Makrothrombozytopenie Giemsa-Färbung 21 Gigantoblasten 120 Glanzmann-Naegeli-Thrombasthenie 345, 359 Gliom 791–800 – Chemotherapie 791–796, 799 – chirurgische Therapie 798 – Epidemiologie 791 – gemischtes 811 – hoch-malignes 796–800 – malignes 779 – niedrig-malignes 791–796 – – disseminiertes 796 – – Therapie 792–796 – – zerebelläres 795 – Prognose 800 – Rückenmark 812 – Strahlentherapie 798, 814 – tektales 796 Gliomatosis peritonei 506 Globoidzellleukodystrophie 80 Glukokortikoide 571 – Nebenwirkungen 571 – Pharmakokinetik 571 – Wirkungsweise 571 Glukose-6-Phosphatdehydrogenasemangel 140, 212, 280, 281, 322, 1150 – Einteilung 322 – Genetik 140 – Klinik 140, 322 – Therapie 140 Glukose-6-Phosphatisomerasedefizienz 322 Glutaminmangel 1051 Glutathion-S-Transferase 564, 1101 Glycophorin C 124 Glykocalicin 354 Glykogenose Typ 1b 193, 199, 325 Glykokalzin 291 Glykolyse 143
E–G
Glykolysedefekt 322 Glykopeptide, Infektionstherapie 982 Glykosylierungsstörungen, angeborene 325 GM-CSF 12, 987, 1021–1029 – a. Wachstumsfaktoren, hämatopoetische Gorlin-Syndrom 797 Graft-versus-host-Reaktion Spendergegen-Empfänger-Reaktion Granula, azurophile 204 Granulation, toxische 311, 1146, 1148 Granulomatose, septische 79, 206, 209–212, 622 – Ätiologie 209 – Diagnostik 210 – Gentherapie 212 – Immunmodulation 211 – Klinik 209 – Prognose 212 – Stammzelltransplantation 211 – Therapie 210 Granulopoese 10, 1144 – Linskverschiebung 311 – Rechtsverschiebung 311 Granulosazelltumor, juveniler 931 Granulozyten – basophile 312 – – reaktive Veränderungen 1147, 1149 – Chemotaxis 203, 204 – – Störung 207 – Diapedese 203, 204 – eosinophile 10, 312, 1145 – – reaktive Veränderungen 1147, 1149 – neutrophile 11, 192, 203, 310, 311, 1145 – – Granulierung 24 – – Linksverschiebung 24 – – Rechtsverschiebung 24 – Phagozytose 203, 204 – reaktive Veränderungen 1146, 1148 – riesenstabkernige 311 – Rollen 203 – segmentkernige – – basophile 24, 1144 – – eosinophile 34, 1144 – – neutrophile 33, 1144 – stabkernige 311 – – neutrophile 33, 1144 – übersegmentierte 311 Granulozytenfunktionsstörungen 203–212 Granulozytenkolonie-stimulierender Faktor 193, 194 – Neutropenie 195, 198 – rekombinanter 195 Granulozytenkonzentrat 1037, Granulozyten-Monozyten-Vorläufer 214
1212
Sachverzeichnis
Granulozytentransfusion 986 – Indikationen 1037 Granulozytopenie 54, 97, 192–201, 325, 965, 979, 981 – a. Neutropenie – Ätiologie 311 – bestrahlungsinduzierte 1025 – Chemotherapie 1021 – medikamentös induzierte 1025 – Prophylaxe 1021 – schwere chronische 1029 Granulozytose 310 – Ätiologie 310 – Definition 310 Gray-Platelet-Syndrom 348 Griscelli-Syndrom 193, 232, 259, 328 – Therapie 259
H Haarzellenleukämie 734 Hadronentherapie 588 Halbwertszeit, Definition 563 Hämangioblastom, ZNS 1098 Hämangioendotheliom 869, 913, 914, 918 Hämangiom 297 – kavernöses 310, 913, 918 Hämangioperizytom 869 Hamartom, mesenchymales 913, 914, 918, 920 Hämatoglobinurie, paroxysmale nächtliche 42 Hämatokrit 17, 1143 – Normalwerte 1154 – unreife Frühgeborene 1155 Hämatopoese 5–13 – Antigenexpressionsmuster 652 – definitive 6 – embryonale 6 – extramedulläre 6, 285,286 – Induktionsmodell 8 – Regulation 7, 11 – stochastisches Modell 8 – Transkriptionsfaktoren 13, 14 Hämeisen 102 Hämochromatose – hereditäre 106, 107 – – Therapie 107 – idiopathische 249 – juvenile 107 – neonatale 107 Hämodialyse, Indikationen 964 Hämoglobin 161, 162 – adultes 163, 278 – Desoxyform 162 – embryonales 164 – fetales Hämoglobin F – Funktion 162, 163
– instabiles 90, 107, 165, 166 – mittleres korpuskuläres 17, 18, 1143, 1154 – Normalwerte 1154 – Oxyform 162 – Sauerstoffdissoziationskurve 87 – Struktur 161, 162, 169 – Synthese 169, 170 – unreife Frühgeborene 1155 – Varianten 163–167 Hämoglobin Bart’s 177 Hämoglobin E 166 Hämoglobin F 23, 24, 93, 163, 278, 1160 Hämoglobin Gower 164 Hämoglobin Lepore 166 Hämoglobin M 167, 168 Hämoglobin Monroe 166 Hämoglobin Portland 164 Hämoglobin S 179, 182 Hämoglobinanalyse 182 Hämoglobinkonzentration – Altersabhängigkeit 19 – Bestimmung 17 – mittlere korpuskuläres 17, 18, 1143, 1154 Hämoglobinopathie ( a. Sichelzellkrankheit) 310 Hämoglobinurie, paroxysmale nächtliche 59, 60, 89, 324, 716 – Leukämierisiko 692 hämolytisch-urämisches Syndrom 155–157, 314 – Ätiologie 155 – Diagnostik 157 – Dialyse 157 – Epidemiologie 156 – Klinik 157 – Pathogenese 156, 157 – Therapie 157 Hämophagozytose 231, 232, 315 – Ätiologie 315 – Symptomatik 315 – Therapie 315 Hämophilie 306, 386–391 – Diagnostik 387 – Differenzialdiagnostik 387 – Genetik 386 – Gentherapie 391 – Klinik 386 – Pathophysiologie 386 – Prophylaxe 389 – Substitutionstherapie 388 – Therapie 387–391, 1167 Hämophilie A 375, 386 – Therapie 1167 Hämophilie B 375, 386 – Therapie 1167 Hämophilie C 378 Hämorrhagie, intraventrikuläre 294, 305
hämorrhagische Diathese Diathese, hämorrhagische Hämosiderose 173 – Transfusionstherapie 189 Hämostase 1010 – beim Neugeborenen 303–307 – primäre 303, 338, 373, 395 – sekundäre 373, 395 – Störungen 305, 306 Hämoxygenase 101 Hämtasche 165 Händedesinfektion 1000 Hand-Fuß-Syndrom 180 Handicap 1132 Haptocorrin 114 Harnsäurenephropathie 667, 963 Hashimoto-Pritzker-Erkrankung 224 Hautfaltenmessung 1046 Hb Hämoglobin Hb-Köln-Krankheit 165 Heilversuch 1124 Heinz-Innenkörper 23, 246, 250 Heinz-Körper-Anämie, kongenitale hämolytische 165, 166 Helicobacter-pylori-Infektion, Magentumoren 955 HELLP-Syndrom 298, 299 Helmfeldtechnik 788 Hemihypertrophie-Syndrom 504, 913 Hemipelvektomie 889 Hemithyreoidektomie 941 Hemmkörper-Suppressionstherapie 390 Heparin, Thrombose 1015 hepatische venookklusive Erkrankung 573, 1016 – Prophylaxe 1017 Hepatoblastom – a. Lebertumor – Diagnostik 544, 914, 915 – epitheliales 504 – gemischt epithelial/mesenchymales 504 – Inzidenz 427, 504 – Klassifikation 504 – kleinzellig anaplastisches 504 – Klinik 919 – Molekularbiologie 913 – Pathogenese 911, 912 – Pathologie 504 – Therapie 915–917 Hepatosplenomegalie 286 Hepcidin 101, 107, 189 Herceptin 467 Herdsymptome, neurologische 780 Hermansky-Pudlak-Syndrom 328, 348 Herpes-simplex-Viren 309, 997, 1001 – onkolytische 631 Herpesviren – konnatale Infektion 295 – als Vektor für Gentherapie 625, 626
1213 Sachverzeichnis
Herpes-Zoster-Virus 1001 Herzfehler, zyanotischer, angeborener 297 Herztumor 954 Hexokinasedefekt 323 Hilfe beim Sterben 1124 Hiob-Syndrom 312 Hippel-Lindau-Syndrom Von-HippelLindau-Syndrom Hirndruckerhöhung, akute 968 Hirnnervenlähmung 780 Hirnstammgliom 795, 796, 798 Hirntumor – a. ZNS-Tumor – Ätiologie 433 – Intensivtherapie 975 – Inzidenz 426 – Überlebenswahrscheinlichkeit 426 – Umweltfaktoren 421 Hirschsprung-Krankheit 940 Hirudin, rekombinantes 414 Histiozyten, seeblaue 327 Histiozytom – angiomatöses fibröses 869 – atypisches fibröses 951 – fibröses 951 – malignes fibröses 866, 869 Histiozytose 221–229 – Klassifikation 221 Histokompatibilitätskomplex 67 HIV-Infektion 268–273 – a. AIDS – Diagnostik 270 – diaplazentare 269 – Epidemiologie 268 – Klassifikation 270 – lymphoproliferative Syndrome 770 – perinatale 295 – Prophylaxe der Mutter-KindTransmission 272 – Stillen 269 – Verlauf 269, 270 HLA-Restriktion 237 HLA-System 67, 68 – Typisierung 68 Hochdosistherapie, Zweitneoplasie 1107 Hodenrezidiv 682, 685 Hodentumor – Diagnostik 930, 931 – germinaler 930, 931 – Lugano-Klassifikation 932 – Resektion 931 – Therape 931 – TNM-Klassifikation 930 Hodgkin-Lymphom – a. Morbus Hodgkin – klassisches 753, 754 – noduläres 648 – – lymphozytenprädominantes 754, 761, 762
Hodgkin-Reed-Sternberg-Zellen 732 Homer-Wright-Rosette 811, 834 Homocystein, Normalwerte 1159 Homöopathie 1079 Homovanillinsäure 492 – Neuroblastom 833 Homozystinurie 114, 321, 410 Horner-Trias 833 Hörverlust – a. Ototoxizität – cisplatinbedingter 1085, 1086 Howell-Jolly-Körperchen 23, 112, 246, 310, 250 Hoyerall-Hreidarsson-Syndrom 51 Hufeisenniere 860 humanes Leukozytenantigensystem HLA-System Humanisierung, Antikörper 480 Hunter-Syndrom 622 Hurler-Syndrom 622 Husten, Differenzialdiagnostik 491 Hyaluronidase 574 Hybridchemotherapie 759 Hybridisierung – Fluoreszenz in situ Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung – komparative genomische 508 Hydrops fetalis 98, 177, 286 – Hb-Bart‘s 177 – nichtimmunologischer 297 Hyperbilirubinämie 281, 286, 287 Hypereosinophilie-Syndrom 312 Hypergastrinämie 1096 Hyper-IgE-Syndrom 312 Hyper-IgM-Syndrom 193, 200, 201 – autosomal-rezessives 257 – X-chromosomales 80, 255 Hyperkaliämie 963 – Therapie 964 Hyperleukozytose 205, 651, 706, 707, 726, 964, 965, 969 Hyperparathyreoidismus 1096 Hyperplasie – fokal-noduläre 918 – plasmazytische 774 Hyperspleniesyndrom 166, 314 Hypertension – intrakranielle 975 – maligne 158 Hyperthermie 604–611 – Hirndruckerhöhung 975 – Indikationen 609 – Keimzelltumoren 936 – Kombination mit Chemotherapie 609 – Kombination mit Pharmakotherapie 606 – Kombination mit Strahlentherapie 606, 608 – Komplikationen 610 – Kontraindikation 610
– lokoregionale 607, 609 – Nebenwirkungen 610 – Perfusionsverfahren 608 – Temperaturmonitoring 607 – zytotoxische Effekte 601, 602 Hyperthyreose 310 Hypertonie, portale 248 Hyperzytokinämie 231 Hypochromie 22 Hypofibrinogenämie 376 Hypogammaglobulinämie, transiente 258 Hypomethioninämie 114 Hypophysenadenom 947, 948 – Charakteristika 947 Hypophyseninsuffizienz 310 Hypoplasminogenämie, hereditäre 409 Hypoproteinämie 297 Hypoprothrombinämie 377 Hypothalamustumor 794 Hypothesentest 635 Hypothyreose 310
I ICCC-Klassifikation 435 ICF-Syndrom 260 Icterus praecox 286 Idarubicin 569 Idiotypantikörper 473 Ifosfamid 568 – Nephrotoxizität 1088 IgA-Defekt 257 IGF-1 456 IGF-2 456 IgG-Defekt 257 IgG-Rezeptoren 217 IgG-Subklassedefekt, selektiver 257 Imerslund-Gräsbeck-Syndrom 114, 117, 320 Immunantwort – antiidiotypische 47 – humorale 47 – zelluläre 471, 472 Immunaugmentation 629 Immundefekt – angeborener 253–264 – Diagnostik 262, 263 – erworbener 268–276 – Gentherapie 264 – kombinierter 255–257 – primärer 200 – schwerer kombinierter 67, 232, 253–255, 622 – – immunologische Typisierung 254, 255 – – Stammzelltransplantation 80 – nach Splenektomie 275, 276
G–I
1214
Sachverzeichnis
Immundefekt – Stammzelltransplantation 263 – Therapie 263, 264 immune escape 623 Immungenetik 67, 68 Immunglobuline 237, 456 Immunglobulin-Gene 735 Immunglobulin-G-Rezeptoren 217 Immunhämolyse, medikamentös induzierte 152 Immunhistochemie 496, 497 Immunität, zelluläre, Unterdrückung 1104 Immunmodulation, Granulomatose 211 Immunneutropenie 311 Immunogentherapie 629 Immunoliposomen 482 Immunregulation, gestörte 358 Immunsystem 237–244 – angeborene Störungen 253–264 – Bestandteile 237 – humorales 237 – zelluläres 237 Immuntherapie, akute myeloische Leukämien 709, 710 Immunthrombozytopenie Purpura, idiopathische thrombozytopenische Immuntoleranzinduktion 390, 391 Immuntoxine 482 Immunzytokine 482 Impairment 1132 Impedanzmessung, bioelektrische 1046 Impfungen, nach Antitumortherapie 1127 infektassoziiertes hämophagozytisches Syndrom 231 Infektion 978–1003 – intrauterine 297 – konnatale 295 – Diagnostik 981 – Haut 992 – Initialtherapie 982 – intraabdominelle 991 – Katheter-assoziierte 987 – Mundhöhle 991 – neonatale 296 – Ösophagus 991 – perirektale 992 – Respirationstrakt 987–989 – Urogenitaltrakt 992 – ZNS 989 Infektionsprävention 1000–1003 – medikamentöse 1001–1003 – nicht-medikamentöse 1000 informed consent 640 Innenohrschwerhörigkeit 322 INPC-Klassifikation 832 Insertionsmutagenese 627 INSS-Stadieneinteilung 833, 834
Integration, genomische 623 Integrine 203 Intensivtherapie 972–976 – neurologische 975, 976 – psychosoziale Betreuung 1074 Interferon, Erythropoese 188 Interferontherapie, Nasopharynxkarzinom 952 Interleukin 11 Intrinsic-Faktor 114, 320 – Antikörper 1159 – fehlender 114 – inaktiver 114 – Mangel 117, 320 Intron 438 In-vitro-Blutungszeit 340 IRS-Klassifikation, Weichteiltumoren 873 Isovalerianazidämie 299 Ivemark-Syndrom 246, 247
J Jacobsen-Syndrom 298, 348 Jolly-Körperchen 23, 112, 246, 310, 250
K Kälteagglutinine 1034 Kälteautoantikörper 148, 150 Kältehämoglobinurie, paroxysmale 151, 152 Kalziumphosphatnephropathie 963 Kandidiasis Candidiasis Kaplan-Meier-Methode 643 Kaposi-Sarkom 956 Kardiomyopathie, anthrazyklininduzierte 906, 1085, 1129 Kardiotoxizität 574, 591, 906, 1085, 1129 Kariorrhexis 119 Karyotypanomalien 6 Karzinoid 945, 946, 956 – Charakteristika 947 – Diagnostik 946 – Therapie 946 Karzinoidsyndrom 946 Karzinom – adrenokortikales 943, 944 – – Charakteristika 947 – – Diagnostik 943 – – Therapie 944 – embryonales 923 – – Immunreaktivität 497 – – Tumormarker 925 – fibrolamelläres 912
– hepatozelluläres – – Klinik 919, 920 – – Diagnostik 544, 914, 915 – – fibrozelluläres 912 – – Molekularbiologie 913 – – Pathogenese 912 – – Therapie 917, 918 – Inzidenz 431 – kolorektales 955, 956 – – Epidemiologie 951 – – Stadieneinteilung 956 – thyreoidales Schilddrüsenkarzinom – Überlebenswahrscheinlichkeit 431 Kasabach-Merrit-Syndrom 158, 159, 297, 918 Katecholamine 975 Katheter – getunnelter 602 – voll implantierter 602 – zentralvenöser 602, 603 Katheterlyse, lokale 416 Kawasaki-Syndrom 488, 1148, 1149 Keimbahnmutation 439 Keimstrang-Stromatumor 931 Keimzellmosaik 439 Keimzelltumor 504, 505, 811, 922–937 – Ätiologie 433 – Chemotherapie 928, 929 – Diagnostik 547, 927 – embryonaler 923 – Epidemiologie 923 – extragonadaler 923, 924, 935 – gemischter 505 – gonadaler 431, 924 – Histologie 923–925 – Hoden 930, 931 – intrakranialer 431 – Inzidenz 430, 431 – Klassifikation 505, 924, 925 – Knochenmarkinfiltration 314 – Labordiagnostik 922 – Leber 914, 918 – Lokalisation 505, 923 – Mediastimum 934 – Molekularbiologie 926 – Neuroradiologie 782 – ovarialer 931–933 – Pathologie 504, 505 – Rezidiv 936 – sezernierender 935 – Steißbeinregion 933, 934 – Strahlentherapie 928 – Therapie 928–937 – Tumormarker 925, 927 – Überlebenswahrscheinlichkeit 431 – ZNS 814, 934, 935 Keimzentrumszellen 735 Kephalhämatom 279, 280 Keratozyten 22 Kernikterus 285, 287 Kernpyknose 119
1215 Sachverzeichnis
Kernspintomographie Magnetresonanztomographie Kiel-Klassifikation 732 Kikuchi-Krankheit 488 Killerzellen, natürliche 237, 242, 477 – Defekte 258 Kinderkrebsregister 422, 435 Kinderwunsch 1130 Kinsbourne-Syndrom 833, 840 Klarzellkarzinom 1098 Klarzellsarkom 861, 869 – Pathologie 501 Kleihauer-Betke-Test 23 Kleinwuchs, Diamond-BlackfanAnämie 94 klinische Studien 634–643, 1124 – Auswertung 642 – Datenerhebung 641 – Durchführung 640 – Kontrollgruppe 638 – Patientenauswahl 638 – Statistik 639, 640 – Zwischenauswertung 637, 640 Klon 439 Klonalitätsmarker 440, 441 Knochenmark 5, 6, 25–36 – Anatomie 5 – bildgebende Diagnostik 540 – Durchblutung 5 – Fasergehalt 35 – bei Kindern 6 – microenvironment 7, 8 – reaktive Veränderungen 1147, 1149 – Strahlenschäden 590 – Zelldifferenzierung 32 – Zellgehalt 32 – Zellzählung 32 – Zytomorphologie 32, 33 Knochenmarkaspiration 28 – Aufarbeitung 29, 30 – Durchführung 28, 29 Knochenmarkausstrich 20, 21, 25 – Beurteilung 31 – Färbung 29 – Mikroskopie 25 Knochenmarkbiopsie 26, 28 – Aufarbeitung 34 – Beurteilung 34, 35 – Durchführung 28–30 Knochenmarkbröckel 31 Knochenmarkdysplasie 32, 33 Knochenmarkentnahme 70 Knochenmarkeosinophilie 312 Knochenmarkfibrose 726 Knochenmarkgerinnsel 31 Knochenmarkpunktion 26, 492 – Analgosedierung 28 – Lokalisation 27 – Vorbereitung 28 Knochenmarksstromazellen 5 Knochenmarktransplantation 66–81
– a. Stammzelltransplantation, hämatopoetische – Gabe von Wachstumsfaktoren 1026 – Spenderauswahl 69, 666 – Thrombozytopenie 354 – Indikationen 25 – Komplikationen 26 – Kontraindikationen 26 Knochenmarkversagen mit radioulnarer Synostose 41 Knochennekrose, strahleninduzierte 1089, 1090 Knochenschmerzen, Differenzialdiagnostik 488, 489 Knochentransplantation, allogene 889 Knochentumor – Ätiologie 433 – Inzidenz 428 – Überlebenswahrscheinlichkeit 429 Knorpel-Haar-Hypoplasie 261 Koagulopathien – erworbene 379–383 – hepatopathische 381 – hereditäre 375–379 – Vitamin-K-Mangel 379 Kollagenrezeptoren 346 Kolonie-bildende Einheiten 8, 10 Kolonkarzinom – familiäres 1099 – hereditäres nicht-polypöses 1100 Kommunikation, Sterbephase 1118, 1119 komparative genomische Hybridisierung 508 Komplementärmedizin 1077–1081 – Definition 1077 – Forschung 1080 – Nebenwirkungen 1079 – Ziele in der pädiatrischen Onkologie 1078 Komplementrezeptoren 217 Konditionierung – chemische 73 – hämatopoetische Stammzelltransplantation 72, 211 – myeloablative 211 – radiochemische 72 Konfidenzintervall 642 Konjunktivitis, lignöse 384 Kopfschmerzen, Differenzialdiagnostik 488 Koronarsklerose, strahlenbedingte 1129 Kortikosteroide, bei Erbrechen 1055 Kostmann-Syndrom 193, 194 – Leukämierisiko 692 Krampfanfall 780, 968, 1116 Kraniopharyngeom 808–810 – Diagnostik 808 – intraselläres 808
– Inzidenz 426 – Klinik 808 – Neuroradiologie 782 – retroselläres 809 – supraselläres 808 – Therapie 808–810 Krankheitsbewältigung 1073 Krise – aplastische 93, 98 – familiäre 1070 Kryokonservierung 72 Kryotherapie, Lebertumoren 918 Kryptokokken 996 Kugelzellanämie Sphärozytose, hereditäre Kulschitzky-Zelle 946
L Labordiagnostik 491, 492 Laktatazidose 321 Laktatdehydrogenase 492 Laktoferrin 101, 102 Lamivudin 271 Längensollgewicht 1046 Langerhans-Zell-Histiozytose 222–229 – Diagnostik 225, 226, 540 – Differenzialdiagnostik 223, 224 – Inzidenz 431 – Klassifikation 227 – Klinik 223, 224 – Pathologie 223 – Spätfolgen 229 – Therapie 227–229 – ZNS-Beteiligung 815 Larynxpapillomatose 953 L-Asparaginase 571, 572, 1016 Lebensführung 1130 Lebensqualität 639, 1137, 1138 – Definition 1137 – Einschätzung 1137, 1138 – nach Therapie 1138 Leberfunktionsstörung, Koagulopathie 381 Lebermetastasen, Diagnostik 543 Leberteratom 919, 920 Lebertransplantation 920 Lebertumor 911–920 – a. Hepatoblastom – a. Karzinom, hepatozelluläres – benigner 913, 920 – – Therapie 918 – Diagnostik, bildgebende 543 – Epidemiologie 912 – Inzidenz 428 – primärer 912 – Stadieneinteilung 914, 915 – vaskulärer 913
I–L
1216
Sachverzeichnis
Lecithin-Cholesterol-Acyltransferasemangel 138 Legionellen 988, 994 Leiomyosarkom 866, 868 Leishmaniose 311, 1146, 1147 – Blutbildveränderungen 316 Lentiviren 625, 626, 627 Lesch-Nyhan-Syndrom 80, 118 – megaloblastäre Anämie 111 Leukämien – akute lymphoblastische 648, 656–674 – – Adipositas 1128 – – Ätiologie 656, 657 – – Blutbild 662 – – Chemotherapie 664–667 – – Chromosomenaberrationen 659 – – Diagnostik 661–663 – – Differenzialdiagnostik 664 – – Extrakompartmenttherapie 665 – – Epidemiologie 656 – – Erhaltungstherapie 665 – – Immunphänotyp 658, 670 – – Induktionstherapie 664 – – Inzidenz 424 – – Klassifikation 648, 657 – – Klinik 660 – – Knochenmarkrezidiv 682 – – Komplikationen 667 – – Konsolidierungsphase 664 – – minimale Resterkrankung 522, 528 – – Molekulargenetik 658, 659 – – Pathogenese 656, 657 – – Prognose 668 – – Radiochemotherapie 78 – – Rezidiv ALL-Rezidiv – – Stammzelltransplantation 78 – – Supportivtherapie 667 – – Therapie 664 – – Translokation 654, 659 – – ZNS-Beteiligung 815 – – ZNS-Rezidiv 682 – – Zweitneoplasie 1106 – akute myeloische 648, 690–710 – – Ätiologie 691, 692 – – Chromosomenaberrationen 698 – – Dauertherapie 704 – – Diagnostik 693 – – Down-Syndrom 692, 699, 700 – – Epidemiologie 691 – – extramedulläre 699 – – Immunophänotypisierung 698, 699 – – Immuntherapie 709, 710 – – Induktionstherapie 701 – – Inzidenz 424, 691 – – Klassifikation 694 – – Klinik 693 – – MDS-assoziierte 719 – – minimale Resterkrankung 524, 528, 699
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Pathogenese 690 Remissionstherapie 701 Rezidiv 708 Stammzelltransplantation 78, 705 strahleninduzierte 692 Therapie 700–706 therapiebedingte 693 toxisch bedingte 692 Überlebenswahrscheinlichkeit 691 – – WHO-Klassifikation 649 – – ZNS-Beteiligung 815 – – Zytogenetik 698 – Diagnostik 649–651 – Ätiologie 421, 432 – B-lymphoblastische 648 – Chemotherapie 664–667, 684, 701–704, 710, 722 – chronische lymphatische 648 – chronische myeloische 648, 726–729 – – Diagnostik 726, 727 – – Charakteristika 724 – – Klinik 726, 727 – – minimale Resterkrankung 524 – – Therapie 728 – – Stammzelltransplantation 79 – Diagnostik, bildgebende 540 – erythroblastäre 694 – extramedulläre 699 – FAB-Klassifikation 648 – Inzidenz 424, 425 – juvenile myelomonozytäre 222, 717, 720 – – Monozytose 313 – – Pathophysiologie 721 – – Splenektomie 249 – – Therapie 722 – – Zweitneoplasie 1100 – Klassifikation 647–654 – megakaryozytäre 698 – mixed lineage 698 – monoblastäre 652, 694 – myeloische 652 – Radiotherapie 684, 685 – sekundäre 196, 763, 936 – Stammzelltransplantation 78, 666, 685, 705, 728 – therapieassoziierte 693, 936 – T-lymphoblastische 648 – Überlebenswahrscheinlichkeit 425 – WHO-Klassifikation 648 – ZNS-Prophylaxe 704, 1089 – Zweitneoplasie 1095, 1100 Leukapherese 707 Leukodystrophie, metachromatische 80 Leukoenzephalopathie 817 Leukokorie 825 Leukoplakie, orale 773 Leukostase 707
Leukozyten – Normalwerte 1145 – Differenzierung 20 – morphologische Veränderungen 24 – phagozytierende 1145 – reaktive Veränderungen 1146, 1148 Leukozytenadhäsionsdefekt 79 – Typ I 205 – Typ II 207, 325 – Typ III 207 Leukozytenphosphatase, alkalische 36, 1151 Leukozytenzählung 17 Leukozytose 325 Lhermitte-Syndrom 591 Li-Fraumeni-Syndrom 943, 947, 1096 Lipoblastom 515 Lipom 869 Lipoprotein (a) 410 Lipoproteinämie Bassen Kornzweig 138 Liposarkom 515, 868 – myxoides 515, 868, 869 Liposomen 478 Liquor – Eiweißgehalt 37 – Glukosegehalt 37 – makroskopische Beurteilung 37 – Rotfärbung 37 – Xanthochromie 37 – Zellzählung 37 – Zellzusammensetzung 38 – Zytozentrifugation 38 Liquordiagnostik 37 Liquordrainage, Hirndruckerhöhung 975 Liquorgewinnung 37 Liquoruntersuchung, chemische 37 Listerien 993 Livido reticularis 410 Log-rank-Test 643 Lugano-Klassifikation, Hodentumoren 932 Lukes-Collins-Klassifikation 732 Lungenfunktionsstörungen, therapiebedingte 1088 Lungenmalformation, zystischadenoide 297 Lungenversagen, akutes 972–974 Lupus erythematodes, systemischer – Hämophagozytose 315 – Immundefekt 275 Lymphadenektomie, zentrale 941 Lymphadenitis 770 Lymphadenopathie – Diagnostik 486–488 – Differenzialdiagnostik 486–488, 741, 742 – massive 222, 223 Lymphknotenbestrahlung 73 Lymphknotenbiopsie 596, 599
1217 Sachverzeichnis
Lymphknotenrezidiv 682 Lymphoblasten 35, 652 Lymphogranulomatose Morbus Hodgkin Lymphohämatopoese, nach Transplantation 74 Lymphohistiozytose, hämophagozytische 79, 231–235, 315 – Diagnostik 233 – Einteilung 231 – Hämophagozytose 315 – Klinik 232, 233 – Therapie 235 – ZNS-Beteiligung 815 Lymphome – Ätiologie 433 – großzellig-anaplastische 648, 737, 738 – – Therapie 747 – immunoblastische 648 – Inzidenz 425 – lymphoblastische 736 – – Rezidiv 748 – – Therapie 743 – lymphohistiozytäre 648 – lymphoplasmozytische 734 – maligne – – Klassifikation 647–654 – – Resterkrankung 529 – – Stammzelltransplantation 79 – – ZNS 812 – T-lymphoblastische 736 – Überlebenswahrscheinlichkeit 425 – Vorläufer-B-Zell-lymphoblastische 734, 736, 737 – Vorläufer-T-Zell-lymphoblastische 734, 736 – zentroblastische 648 – zentroblastisch-zentrozytische 648 Lymphopoese 735 lymphoproliferative Syndrome 770–775 – Diagnostik 773, 774 – Klinik 773 – Therapie 774 Lymphozyten 237, 313 – Normalwerte 1173 – Proliferation, unkontrollierte 770 – Vakuolisierung 24, 326, 328 Lymphozytopenie – Ätiologie 313 – Definition 313 Lymphozytose – Ätiologie 313 – Definition 313 Lynch-Syndrom 1099 Lysetherapie 1169 – Durchführung 416 – lokale 416 – systemische 416 – Thrombophilie 416
M Magenlymphom 955 Magentumor 955 – Epidemiologie 951 Magnetresonanzangiographie 539 Magnetresonanzspektroskopie 539 Magnetresonanztomographie 538, 539 – funktionelle 539 Majorhistokompatibilitätskomplex (MHC) 67 Makrohämaturie 181 Makroovalozyten 22 Makrophagen 214–219 – Aktivierung 215, 218 – Angiogenese 219 – Chemotaxis 216 – Differenzierung 214 – Eisennachweis 32 – Funktionen 216–218 – Heterogenität 214 – Phagozytose 217 – tumorassoziierte 477 – Tumorwachstum 219 Makrophagenaktivierungssyndrom 231, 315 Makrothrombozytopenie 298 – mediterrane 298 – X-chromosomale 298, 355 Makrozytose 22 Malabsorptionssyndrom 114 Malanom, epitheloidzelliges 951 Malaria 311, 312, 1146, 1147 – Blutbildveränderungen 316 – tropica, Sichelzellkrankheit 179 Malnutrition Mangelernährung Mammakarzinom, Zweitneoplasie 1094 Mangelernährung 1043–1045 – Immundefekt 275 – tumorbedingte 1043, 1044 Mannosidose 80 Mantelzell-Lymphom 734 MAP-Kinase 215 MAPK-Signalweg 456, 466 Marginalzonen-Lymphom 734 Marker, neoplasiespezifische 440 Marschhämoglobinurie 159 Masernvirus 274 Mastdarmlähmung 780 Mastozytose, systemische 312 Matrixmetalloprotease 617 May-Grünwald-Färbung 21 May-Hegglin-Anomalie 24, 298, 311, 349 McLeod-Syndrom 209 Mediastinaltumor 934 – Non-Hodgkin-Lymphome 739 Medulloblastom 802–806, 958
L–M
– Diagnostik 803 – Klassifikation 803 – Knochenmarkinfiltration 314 – Neuroradiologie 782 – Pathogenese 779 – Strahlentherapie 789 – Therapie 804–806 Megakaryoblasten 647, 652 Megakaryopoese 333, 334, 369 – Regulation 333 Megakaryozyten 5, 9, 31, 35, 334, 1144 Megakaryozyten-Kolonie-Assay 353 Megatherapie ( a. Hochdosistherapie) 837, 838 Mekoniumaspiration 292 Melanom – amelanotisches 951 – malignes 957 – – Epidemiologie 951 – – Inzidenz 431 – – Prävention 957 – noduläres 951 – superfiziell spreitendes 951 Melphalan 568 Membrandefekte, genetische Erythrozytenmembrandefekte, angeborene Membranlipide, Defekte 138, 346 Membranoxygenierung, extrakorporale 291, 297 Membranphospholipide, Defekte 346 Membranproteine 123, 124 Membranskelett 124 Membranstruktur 123, 124 Memory-Zellen 241 MEN-1-Syndrom 940, 943, 946–948, 1096, 1097 MEN-2A-Syndrom 940, 943, 947, 1097 MEN-2B-Syndrom 940, 943, 947, 1097 Meningeom 811, 812 Meningeosis 825 Menopause, vorzeitige 1129 Menzer-Index 89 6-Mercaptopurin 566 Mesenchymom, malignes Sarkom, undifferenziertes Mesenzephalongliom 797 Mesobilifuszinurie 165 Mesotheliom 954 – Epidemiologie 951 Metaanalyse 643 Meta-Jodbenzylguanidin-Szintigraphie 834 Meta-Jodbenzylguanidin-Therapie 839 Metamyelozyten 24, 33, 1144 Metastasen – Angiogenese 615 – bildgebende Diagnostik 539 – chirurgische Therapie 601, 602
1218
Sachverzeichnis
Methämoglobin 168 – Normalwerte 1161 Methämoglobindiaphorasemangel 145 Methotrexat 565, 566 – Interaktionen 565 – Intoxikation 572 – Nebenwirkungen 566, 572, 573 – Pharmakologie 565 – Schock 572 Methylmalonazidurie 114, 299, 321, 326 MHC-Antigene 471, 472, 477 MHC-Klasse-I-Defekt 256 MHC-Klasse-II-Defekt 256 Microarray-Technik 443, 444 microenvironment, Knochenmark 7, 8 Mikroangiopathien 155–159 – thrombotische, Stammzelltransplantation 158 Mikroarray-Technik 554, 556 Mikrodissektion 554 Mikromegakarzyozyten 33 Mikronährstoffe – Mangel 1046 – Substitution 1050 Mikrosatelliten 439 Mikrosphärozyten 22 Mikrozytose 22, 89 Miktions-Zysto-Urethrographie 534 Milz 246–251 – Anatomie 246, 247 – Autotransplantation 250 – Dermoidzysten 247 – Embolisation 250 – Funktion 246 – Hämangiome 247 – Lymphangiome 247 – Physiologie 246 Milzabszess 249 Milzerkrankungen – primäre 246, 247 – sekundäre 248 Milzresektion, partielle 249 Milzruptur 248 Milzsequestrationskrise 181 Milztumor, gutartiger 247 Milzzysten 247, 249 minimale Resterkrankung 521–530 – ALL 682 – AML 699 – Diagnostik 524–527 Misteltherapie 1079 Mitochondrien 462, 466 Mitose 458 Mitose-Karyorrhexis-Index 833 Mitotane 944 Mitoxantron 569 Mittelhirngliom 797 Mixed-lineaged-Leukämie 698 Molekularpathologie 498
Moloney-Leukemia-Virus 625 Monoblasten 11, 35, 652 Monoblasten-Leukämie, akute 313 Mononukleose, infektiöse 770 – Blutbildveränderungen 316 – Lymphozytose 313 Monopoese 10 Monosomie 7 698, 718 Monozyten 11, 35, 214–219, 1145 – Adhärenz 216 – Differenzierung 214 – Funktionen 216–218 – reaktive Veränderungen 1147, 1149 Monozyten-Makrophagen-System 312 Monozyten-Monoblasten-Leukämie 313 Monozytopoese 312 Monozytose – Ätiologie 313 – Definition 312 Montreal-Platelet-Syndrom 298, 346, 349 Morbus Alagille 913 Morbus Boeck 313 Morbus Bruton 200, 256, 622 Morbus Crohn 310 – Eosinophilie 312 Morbus Down 1148, 1149 Morbus Farber 80 Morbus Gaucher 42, 80, 249, 326, 622, 1148, 1149 Morbus Gilbert Meulengracht 130 Morbus Glanzmann 338 – Thrombozytenaggregation 342 Morbus haemolyticus neonatorum 285–288, 296, 380, 1034 – Ätiopathogenese 285 Morbus Hodgkin 752–766 – Ätiologie 753 – Chemotherapie 759 – Diagnostik 755 – Differenzialdiagnose 757 – Eosinophilie 312 – Epidemiologie 752 – Epstein-Barr-Virus 753 – Inzidenz 425 – Klassifikation 648, 754, 756 – Klinik 754, 755 – Lymphozytopenie 313 – Monozytose 313 – Nachsorge 765 – Pathogenese 753 – Rezidiv 762 – Spätfolgen 763 – Splenektomie 249 – Stammzelltransplantation 79, 763 – Strahlentherapie 757, 759 – Therapie 757–762 – Zweitneoplasie 1095, 1106 Morbus Hurler 80
Morbus Kostmann 79, 1150 Morbus Krabbe 80 Morbus Maroteaux-Lamy 80 Morbus Moschkowitz Purpura, thrombotisch-thrombozytopenische Morbus Niemann-Pick 42, 80, 327 Morbus Paget 1148, 1149 Morbus Sly 80 Morbus Still 1148, 1149 Morbus Werlhof 347 Morbus Wilson 249, 324 Mosaik – konstitutionelles 439 – somatisches 49, 439 Motilitätsstörungen, Chemotherapiebedingte 1045, 1088 Mukopolysaccharidose 80, 249 Mukositis, Chemotherapie-bedingte 1044, 1045 Multicenter-Studie 639 Mumps 1146, 1147 Mutation 438 – somatische 439 Mutatorgen 445, 446 Muttermilch, Eisengehalt 102 MYCN-Amplifikation 830 Myeloblasten 33, 647, 652, 1144 Myelodysplasie 311 myelodysplastisches Syndrom 715–722 – AML 719 – Down-Syndrom 717 – Epidemiologie 718 – familiäres 717, 718 – fortgeschrittenes 719 – Gabe von Wachstumsfaktoren 1029 – idiopathische thrombozytopenische Purpura 357 – Inzidenz 424 – Klassifikation 717 – niedriggradiges 718, 719 – Pathophysiologie 715 – primäres 717 – sekundäres 196, 717 – Stammzelltransplantation 78, 718 – strahleninduziertes 717 – Therapie 718–720 Myelofibrose 42 – a. Osteomyelofibrose – idiopathische 724, 726 Myelokathexis 193, 198, 716 Myelom, plasmozytisches 734 Myeloperoxidase 36, 652 Myeloperoxidase-Defekt 311 Myelopoese, transiente abnormale 700, 717 Myelose, funikuläre 112 Myelozyten 33 MYH9-assoziierte Erkrankungen 344, 346, 355 Mykobakterien 993, 994
1219 Sachverzeichnis
Mykoplasmen 988, 994, 1146, 1147 Myofibromatose 951 Myogenin 510
N Nabelschnurbluttransplantation 66, 71 – Gabe von Wachstumsfaktoren 1026 Nabelschnurblutzellen 626 Nachsorge 1127–1131 – frühe 1127, 1128 – psychosoziale Betreuung 1075 – späte 1128–1130 NADPH-Oxidasesystem 204, 205, 212 Nahrungsergänzung 1047, 1048, 1050 Nasopharynxangiofibrom 953 Nasopharynxkarzinom 950–953 – Inzidenz 431 natürliche Killerzellen Killerzellen, natürliche Nausea Übelkeit Nävuszellnävus, maligner blauer 951 Nebennierenkarzinom 535, 545 Nebennierenrindeninsuffizienz 310 Nebennierenrindenkarzinom, Inzidenz 431 Nebenschilddrüsenkarzinom 947, 948 Nekrose 466 Nelfinavir 271 Neoplasie, multiple endokrine MEN-Syndrome Nephroblastom 847–861 – a. Wilms-Tumor – Ätiologie 433 – bilateraler 848, 860 – Bildgebung 854 – blastemreiches 500 – mit diffuser Anaplasie 500 – epithelreiches 499 – extrarenales 860 – fetales rhabdomyomatöses 499 – mit fokaler Anaplasie 500 – gemischter Typ 499 – hoch-malignes 851, 859 – intermediär-malignes 851, 859 – Inzidenz 427, 428 – Klassifikation 498, 852 – komplett nekrotisches 499 – niedrig-malignes 851, 859 – Pathologie 498–500 – Prognose 852 – regressiver Typ 499, 500 – Ruptur 855 – SIOP-Klassifikation 852 – stromareiches 499 – unilateraler 848 – zystisches, partiell differenziertes 498
Nephroblastomatose 501, 848 – Bildgebung 854 – Diagnose 545, 854 – Therapie 860 nephrogene Reste 501, 848 Nephrom – kongenitales mesoblastisches 498, 851, 855, 862 – zystisches 851 nephrotisches Syndrom 411 Nephrotoxizität, Chemotherapiebedingte 906, 1087, 1088 Nervenscheidentumor, maligner peripherer 866, 868, 1100 Nervensystem, zentrales ZNS Nervus-opticus-Tumor 794 Neurinom 812 – multiples 940 Neuroblasten 652, 812, 829–843 Neuroblastom – Ätiologie 830 – Chemotherapie 837 – chirurgische Therapie 601, 837 – Diagnostik 833, 834 – Differenzialdiagnostik 545, 834 – differenziertes 503 – Epidemiologie 830 – fetales 297 – Früherkennung 435 – intraspinales 839 – Inzidenz 426, 427 – Klassifikation 502 – Klinik 833 – Knochenmarkinfiltration 314 – lokalisiertes 835 – Megatherapie 837, 838 – metastasiertes 836 – Molekularbiologie 830–832 – Molekulargenetik 503 – Pathologie 502, 503, 832–833 – Prognose 835, 836 – Rezidiv 842 – Screening 435, 830 – spontane Tumorausreifung 832 – spontane Tumorregression 832 – Stadieneinteilung 834 – Stammzelltransplantation 79 – Strahlentherapie 838, 839 – Telomeraseaktivität 503 – Therapie 836–842 – Tumormarker 833 – Überlebenswahrscheinlichkeit 428 – undifferenziertes 503 – ZNS-Metastasen 814 – Zweitneoplasie 1107 – Zytogenetik 503 Neurofibrom, Zweitneoplasie 1100 Neurofibromatose – Leukämierisiko 692 – Recklinghausen 848, 868 – Typ 1 1100, 1101
Neurofibromin 457 Neurofibrosarkom 866, 868 Neurokinin-Rezeptorantagonisten 1057 Neuroleptika, bei Erbrechen 1055 Neuronavigation, intraoperative 785 Neurotrophine 457 Neutropenie – a. Granulozytopenie – angeborene 41, 192, 310 – Ätiologie 310 – chronische 192, 193 – Definition 310 – Diagnostik 194, 195 – ernährungsbedingte 201 – erworbene 192, 194 – idiopathische 194, 201 – infektionsbedingte 201 – Klinik 193, 195 – kongenitale 41, 192, 310 – medikamentös induzierte 192, 201 – Pathophysiologie 194 – schwere chronische 192, 193 – schwere kongenitale 79, 194–197 – Schweregrad 193 – Stammzelltransplantation 197 – bei Stoffwechselstörungen 199 – strahleninduzierte 192 – Therapie 195–197 – transiente 192 – virusinduzierte 194, 192, 201 – zyklische 193, 194, 197, 198, 311 Neutrophile Granulozyten, neutrophile Neutrophilenzahl, absolute 193, 310 Neutrophilie Granulozytose Nevirapin 271 Nichtopioidanalgetika 1062 Nierenersatztherapie 975 Nierenfunktionsstörungen, Chemotherapie-bedingte 1087, 1088 Nierenklarzellkarzinom 1098 Nierentumor 847–862 – a. Wilms-Tumor – a. Nephroblastom – bildgebende Diagnostik 545 – Pathologie 498–502 – SIOP-Klassifikation 851 Nierenversagen, akutes 975, 976 Nierenzellkarzinom 861, 951, 958 Nijmegen-Breakage-Syndrom 46, 260, 770 Nitrosoharnstoffderivate 568 Nokardien 993 Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) 732–749 – Ätiologie 733 – Burkitt-like 737 – Chemotherapie 742–747 – Diagnostik 739, 740
M–N
1220
Sachverzeichnis
Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) – Differenzialdiagnostik 741 – Epidemiologie 733 – Genetik 735 – großzellig-anaplastische 737, 738 – immunoblastische 734 – Inzidenz 425, 733 – Klassifikation 648, 732, 736–738 – Klinik 739 – Komplikationen 748 – Lokaltherapie 743 – Mediastinaltumor 739 – Notfallsituationen 748 – Pathogenese 735 – periphere 736, 738 – Prognose 748, 749 – Resektion 740 – Rezidiv 748 – sekundäre 763 – Stadieneinteilung 740, 741 – Stammzelltransplantation 79 – Strahlentherapie 743, 744 – Therapie 742–747 – zentroblastische 734 – ZNS-Beteiligung 815 – Zweitneoplasie 1107 Noradrenalin 975 Notfälle, onkologische 963–970 – Häufigkeit 964 – zentralnervöse 968–970 Notfalltransfusion 1038 Nukleinsäure-Amplifikation 525 Nukleosidanaloga 566 Nullhypothese 635, 636, 639 Nystagmus 780
O Oberflächenosteosarkom 883 Objektkonstanz 1113 Obstipation, Therapie 1116 Onkogene Tumorgene Onkoretroviren 625 Operation chirurgische Therapie Opioide – Obstipation 1116 – Schmerztherapie 1062–1066 – schwache 1063 – starke 1063 Opsomyoklonus-Ataxie-Syndrom 833, 840 Opsonine 246 Opsonisation 204 Optikusgliom, Zweitneoplasie 1100 Orchiektomie, inguinale 931 Organoazidurie 3256 Orotazidurie 111, 118 – hereditäre 321 Orthomyxoviren 999
Osmodiuretika, Hirndruckerhöhung 975 Ösophagitis 991 Ösophaguskarzinom 955 Osteoidbildung 504 Osteomyelofibrose 42, 249, 716, 724, 726 Osteopenie 197 Osteopetrose 42, 309, 716, 1148, 1149 – maligne 79 – Thrombozytopenie 299 Osteoporose, strahleninduzierte 1089, 1129 Osteosarkom 882–891 – Amputation 886 – Ätiologie 882 – Bildgebung 547, 548, 885, 886 – Biopsie 886, 887 – Chemotherapie 899, 891 – chondroblastisches 883 – Diagnostik 547, 548, 885, 886 – Epidemiologie 882 – extremitätenerhaltende Verfahren 887 – fibroblastisches 883 – Inzidenz 428, 429, 515, 882 – Klassifikation 516, 883, 884 – kleinzelliges 510, 883 – Klinik 885 – kraniofaziales 884 – Metastasierung 891 – Molekulargenetik 882, 883 – osteoblastisches 883 – parosteales 883 – Palliativtherapie 891 – Pathologie 883, 884 – periosteales 883 – Rehabilitation 891 – Rezidiv 891 – sekundäres 883 – Stadieneinteilung 884, 885 – Strahlentherapie 891 – teleangiektatisches 883 – Therapie 886–891 – Überlebenswahrscheinlichkeit 429, 430 – Verteilungsmuster 883 – zentrales 883 – ZNS-Metastasen 814 – Zweitneoplasie 1107 Osteosklerose 726 Ototoxizität, Chemotherapie 592, 936, 1085, 1086 Ovalozyten 22, 112 Ovalozytose 90, 126 – südostasiatische 133, 134 Ovarialtumor 931–933 Oxazaphosphorine 567 Oxyhämoglobin 162 Oxyuren 1146, 1147 Oxyuriasis 312
P Palliativbetreuung 1112–1121 – zu Hause 1117, 1118 Palliativtherapie 1115–1117 Pankreasinsuffizienz, exokrine 321 Pankreatoblastom 951, 955 Panzytopenie 42, 52, 98, 299, 309, 327, 354 Pappenheim-Färbung 21 Pappenheim-Körperchen 23 Papulose, lymphomatoide 738 Paragangliom 945 Paragranulom, noduläres HodgkinLymphom, noduläres lymphozytenprädominantes Parahämophilie 377 Parainfluenzavirus 999 Parallelgruppenplan 636 Paramutation 442 Paramyxoviren 999 Paravasat 573, 574 Parese, motorische 780 Paris-Trousseau-Syndrom 298, 348, 716 Parvovirus-B19-Infektion 281, 309, 1000, 1146, 1147 – aplastische Krise 93, 98 – chronische 98 – Hydrops fetalis 98 – hypoplastische Anämie 97, 98 – konnatale 295 Pathogenerkennung 216 Pathologie 495–516 Patientenaufklärung 635 Patientenorientierung, Behandlung 1072, 1073 PDGF 457 Pearson-Syndrom 41, 53, 321, 716 PEEP-Beatmung 973 Pegaspargase 572 PEG-(J-)Sonde 1047, 1049 Pelger-Huet-Anomalie 24, 311, 716, 726 Pemphigus 312 Pentosephosphatstoffwechsel 141 Pepper-Syndrom 833 Perforin 232, 472 peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor Tumor, peripherer primitiver neuroektodermaler Peritonealmesotheliom 954 Perlman-Syndrom 848 Pertussis 1146, 1147 – Lymphozytose 313 PET 535, 537, 538 Phagozyten – Kalziumbindungskapazität 217 – mononukleäre 214 Phagozytose 203, 204, 217 – apoptotische Zellen 217
1221 Sachverzeichnis
– molekulare Mechanismen 217, 218 Phäochromozytom 1098 – bildgebende Diagnostik 545 – Charakteristika 947 – extraadrenales 944, 945 – hereditäres 944 – malignes 944, 945 Pharmakogenetik 563 Pharmakogenomik 563, 564, 575 Pharmakologie, klinische 561–565 Pharmakotherapie, Kombination mit Hyperthermie 606 Phase-I-Studien 634 Phase-II-Studien 634, 636 Phase-III-Studien 634 Phase-IV-Studien 634 Phenothiazine, bei Erbrechen 1055 Philadelphia-Chromosom 658, 724, 727, 728 Phlebographie 534 Phosphatase, saure 36 Phosphofruktokinase-Defizienz 322 Phosphoglyceratkinase-Defizienz 322 Photonenstrahlung 579 Photonentherapie 587 Phototherapie, Rhesus-Erythroblastose 287 Phytotherapie 1079 Pilzinfektionen, invasive 992, 994–996, 1001 Pinealistumor 811 Pineoblastom 811, 812 Pineozytom 811, 812 Plasmadepletion 72 Plasmathrombinzeit 1162 Plasmazellgranulom 954 Plasmide 478 Plasminogen 1166 – Normalwerte 1165 Plasminogenaktivator-Inhibitor 157, 383, 408, 1165 Plättchen-aktivierender Faktor 157 Plättchenvolumen, mittleres 20 Plattenepithelkarzinom 955 Plazentainsuffizienz, Thrombozytopenie 299 Plazentarestbluttransplantation 66, 71 – a. Nabelschnurbluttransplantation Pleuramesotheliom 954 Plexuspapillom, Neuroradiologie 782 Plexustumor 810, 811 PNET Tumor, primitiver neuroektodermaler Pneumoblastom 954 Pneumocystis jiroveci 988, 996, 1001 PNP-Defekt 255, 256 Poikilozytose 22, 125, 127 – hereditäre 133 – transiente infantile 133 Polyatresie, intestinale 261 Polychemotherapie 561
Polychromasie 23 Polycythaemia vera 312, 725 – Charakteristika 724 – Splenektomie 249 Polyglobulie 310 Polymorphismus 438 – Zweitneoplasie 1101 Polyomavirus JC 779 Polyp, hamartöser 1100 Polyphagie 682, 816 Polyposis (coli), familiäre adenomatöse 504, 913, 1099 – hamartöses 1100 Polyspleniesyndrom 247 Polyzythämie – primäre 725 – relative 725 – sekundäre 725 Ponsgliom 796–800 – intrinsisches 798, 797 – zerebellomedulläres 797 Porphyrie 323, 324 – hepatoerythropoetische 324 – kongenitale erythropoetische 323 Port(-Katheter) 602, 603 Positronenemissionstomographie 535, 537, 538 Postsplenektomieinfektionen 250, 251 postthrombotisches Syndrom 403 Posttransfusionspurpura 357 Präalbumin, Ernährungsstatus 1046 Prä-B-ALL 648 Prädisposition, genetische 446–450 Prädispositionssyndrome – autosomal-dominante 447–449 – autosomal-rezessive 448–450 Präkallikrein 1163 Prävention 433–435 – primäre 434 – sekundäre 435 – tertiäre 435 Prednisolon 571 Prednison 571 primitiver neuroektodermaler Tumor Tumor, primitiver neuroektodermaler Pro-B-ALL 648 Probandenversicherung 1124 Probebiopsie 599 Procarbazin 569 Proerythroblasten 10, 34 Profilin 204 Progenitorzellen 8, 9 Prolaktinom 948 Proliferationssyndrom, X-chromosomales 770 Promonozyten 11 Promyelozyten 33, 1144 Promyelozytenleukämie 651 – akute 694, 707
N–P
Propionazidämie 326 Proteaseinhibitor 617 Protein C 408, 409, 1015 – aktiviertes 408 – Normalwerte 1164 Protein-C-Mangel 306, 407, 413, 414, 1168 Protein S 1015 – Normalwerte 1164 Protein-S-Mangel 306, 408, 413, 414, 1168 Proteinurie 157 Proteom 554 Proteomanalyse 555 Proteomik 553–557 Prothesenversorgung 887, 891 Prothrombin 373, 406, 1166 Prothrombinkomplex, aktivierter 390 Prothrombinkomplexkonzentrat 305 Prothrombinzeit 304 Prothromboplastinzeit, partielle, aktivierte 304 Prothrombozyten 334 Protonentherapie 788 Proto-Onkogen 445, 627 Protoporphyrie, erythropoetische 324 Pseudo-Pelger-Anomalie 311 Pseudothrombozytopenie 313 Pseudotumor, inflammatorischer 954 Pseudo-von-Willebrand-Syndrom 345 Psoriasis 312 Psychopharmaka, bei Erbrechen 1055 psychosoziale Betreuung, onkologische Patienten 1070–1075 pTNM-Klassifikation, Weichteiltumoren 873 Pu.1 13 Pubertätsentwicklung, Störungen 1090, 1091 Punctio sicca 29 Purinantimetabolite 566 Purinnukleosidphosphorylase-Defekt 255, 256 Purinnukleosidphosphorylase-Mangel 80 Purpura – fulminans 413 – idiopathische thrombozytopenische 42, 249, 291, 357–365 – – Antikörpernachweis 359 – – Diagnostik 360, 361 – – Differenzialdiagnostik 360, 361 – – Klinik 360 – – Pathogenese 358 – – Pharmakotherapie 363, 364 – – reaktive Veränderungen 1148, 1149 – – Splenektomie 363 – – Stadieneinteilung 360 – – Therapie 362 – neonatale 357
1222
Sachverzeichnis
Purpura – posttransfusionelle 357, 1040 – thrombotisch-thrombozytopenische 158, 409 Purtilo-Syndrom 232, 258, 770 Pyelogramm, intravenöses 534 Pyrimidin-5-Nukleotidasemangel 144, 323 Pyrimidinstoffwechsel 144 Pyropoikilozytose 133 Pyruvatkinasemangel 107, 140, 141, 322
Q Qualitätssicherung 635, 641 Quebec-Platelet-Syndrom 346 Quetschpräparat 31 Quick-Wert 1162, 1163
R Rac2-GTPase-Defekt 207 Rachitis, sekundäre 906 Radiofrequenzhyperthermie 608, 609 Radiojodtherapie, perkutane 941–946 – Schilddrüsenkarzinom 941 Radiologie 531–551 – effektive Dosis 534 – interventionelle 535 Radiotherapie Strahlentherapie Randomisierung 640 Rappaport-Klassifikation 732 Ras-Signalweg 456, 457 REAL-Klassifikation 733 Rebound, lymphatischer 682 Reed-Sternberg-Zellen 648, 752, 753 Reese-Ellsworth-Klassifikation 825, 826 Refluxkrankheit 955 Rehabilitation 1132–1138 – Aufgaben 1134, 1135 – familienorientierte 1135, 1136 – gesetzliche Voraussetzungen 1132–1134 – Grundlagen 1132 – Jugendliche 1135 – Leistungsdauer 1133 – Leistungsträger 1133 – Leistungsumfang 1133 – medizinische Voraussetzungen 1134 Rekonstitution, lymphohämatopetische 74 Resistenztestung, Zytostatika 562 Resterkrankung, minimale 521–530 – ALL 682
– AML 699 – Diagnostik 524–527 retikulohistiozytäres System 246 Retikulozyten 9, 10, 23 – reaktive Veränderungen 1146, 1148 – unreife Frühgeborene 1155 Retikulozytenzahl 23, 1143 Retikulozytenzählung 19 Retikulozytopenie 88, 90, 92, 98 Retikulozytose 23, 88, 90, 157, 180 Retina-Anlage-Tumor 869 Retinahamartom 1101 Retinoblastom 823–827 – bilaterales 823 – bildgebende Diagnostik 540, 541 – Chemotherapie 826, 827 – Diagnostik 540, 541, 825 – Enukleation 826 – Epidemiologie 827 – Genetik 823 – hereditäres 823 – Inzidenz 427, 428 – Klassifikation 825, 826 – Klinik 824 – Komplikationen 827 – Kryotherapie 826 – Molekularbiologie 824 – Pathologie 824 – Prognose 827 – Rezidiv 827 – Strahlentherapie 826 – Therapie 826 – trilaterales 827 – unilaterales 823 Retinolsäure 572, 614, 616, 617, 839, 842, 966 – a. All-trans-Retinolsäure Retroviren, amphotrope 625 reverse Transkriptase 271 Reye-Syndrom 1062 Rhabdoidtumor 501, 806–808, 913, 918, 920, 957, 958 – maligner 1099 – der Niere 861 – ZNS-Metastasen 814 Rhabdomyoblasten 652 Rhabdomyom 954 Rhabdomyosarkom 510–514, 866, 867, 954 – alveoläres 511, 867, 869 – mit Anaplasie 511 – botryoides 510, 867 – bildgebende Diagnostik 511 – Differenzialdiagnostik 514 – embryonales 510, 511, 867, 912, 918, 920 – Inzidenz 430 – Knochenmarkinfiltration 314 – Molekulargenetik 512, 513 – Pathologie 510–514 – pleomorphes 511
– spindelzelliges 510, 867 – ZNS-Metastasen 814 – Zweitneoplasie 1100 – Zytogenetik 512, 513 Rhesus-Erythroblastose 286–288 – Diagnostik 286 – Klinik 286 – Phototherapie 287 – Prävention 287 – Therapie 286, 287 Rhesus-Inkompatibilität 285 – Ursachen 288 Rhesus-System 286, 1033 Ribozyme 630 Riesenthrombozyten 345, 353, 355 Rituximab 480 – idiopathische thrombozytopenische Purpura 365 RNA-Interferenz 630 Rogers-Syndrom 322 Rosai-Dorfman-Erkrankung 222, 488 Röteln 295, 1146, 1147 Rouleaux-Phänomen 22 rt-PA 1015, 1016 Rückenmark, Gliom 812 Rückenmarkkompression 969, 970 Rundzelltumor, desmoplastischer 957 Rye-Klassifikation, Hodgkin-Lymphome 648
S Salmonellen 1146, 1147 Sanduhrneuroblastom 839 Sarkoidose 42, 313 – reaktive Blutverändeurngen 1146, 1147 Sarkom – epitheloides 869 – undifferenziertes 868, 869, 912, 920 – – Therapie 918 – vaskuläres 869 Schaumzellen 327, 328 Schießscheibenzelle 22, 89, 157 Schilddrüsenkarzinom 939–943 – anaplastisches 940 – differenziertes 939, 940 – – Charakteristika 947 – – Diagnostik 941 – – Therapie 941, 942 – endokrine Substitution 942, 943 – follikuläres 939, 940 – Inzidenz 431 – medulläres 939, 940, 942, 943, 1097 – – Charakteristika 947 – – Diagnostik 942 – – Therapie 942, 943 – papilläres 939, 940
1223 Sachverzeichnis
– undifferenziertes 939 – Zweitneoplasie 1094 Schiller-Duval-Körperchen 506 Schilling-Test 115, 1159 Schimke-Dysplasie 261 Schimmelpilzinfektionen – hyaline 996 – invasive 987, 988 – opportunistische 996 Schistozyten 22 Schlafstörungen 1117 Schmerzanamnese 1059 Schmerzdokumentation 1059, 1060 Schmerzen – tumorassoziierte 1061 – WHO-Stufenschema 1061 Schmerzmessung 1059 Schmerzsyndrom, radikuläres 780 Schmerztherapie 1059–1069 – chirurgische Eingriffe 1067 – Supportiva 1067, 1068 Schnellschnittdiagnostik 496, 596 Schock, septischer 965, 966, 974, 975, 982, 983, 985, 986 Schuldgefühl, Eltern 1113 Schwannom 812 – malignes 866, 868 Schwann-Zellen 832 Scott-Syndrom 349 Sebastian-(Platelet-)Syndrom 298, 346, 349 Seckel-Syndrom 41, 52 SEER-Register 423, 435 Sehbahngliom 794 Sehstörung 780 Sekretionsdefekte, primäre 346 Sekundärmalignom 592 – AML 693 Selbstantigene 475 Selbstheilungskräfte 1077 Selbsthilfegruppe 1071 Selbsthilfekonzept 1073 Selektine 203 Selenmangel 1051 Seminom 923, 930 – Immunreaktivität 497 – Tumormarker 925 Senescence 460, 466 Sensibilitätsstörung 780 Sensitivitätstransfer 621, 630 Sepsis 974, 975 – reaktive Blutveränderungen 1146, 1147 Sepsissyndrom 982, 983, 985, 986 Serinprotease 373 Serotoninantagonisten, bei Erbrechen 1055 Serpin 384 Sertoli-Leydig-Tumor 931 Serumferritin 105, 173 Setrone 1055
Sézary-Snydrom 1105 Shigellen 1146, 1147 Shimada-Klassifikation 833 Shunt-Infektion 987, 989 Shwachman-Diamond-Syndrom 52, 193, 198, 199, 716, 1148, 1149 – Leukämierisiko 692 Sichelzellanämie Sichelzellkrankheit Sichelzellen 22 Sichelzellkrankheit 108, 179–184, 249 – Definition 179 – Diagnostik 182 – Epidemiologie 179 – Erythrozytentransfusion 183 – genetische Faktoren 182 – Gentherapie 622 – Infektionsprophylaxe 182 – Klinik 180 – Pathophysiologie 180 – Pränataldiagnostik 182 – Schmerzkrise 180, 181 – Schmerzbekämpfung 182, 183 – Schwangerschaft 181 – Sequestration 180 – Stammzelltransplantation 79, 184 – Therapie 182 – Vasookklusion 180, 181 – Wachstum 181 Signaltransduktion – gestörte 346, 454 – Wachstumsfaktorrezeptoren 456 Signaltransduktionsmoleküle 11 Signalübertragungswege 45, 580 – Modulation 467 Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom 848 Singlecenter-Studie 639 Single-Nukleotid-Polymorphismus 575 Single-Photon-Emissions-Computertomographie 535 Sinushistiozytose 222 Sinusoide 5 Sinustumor, endodermaler 506 Sinusvenenthrombose 969 SIOP-Klassifikation – Nephroblastome 852 – Nierentumoren 851 Sipple-Syndrom 940 Sklerose – noduläre 754 – tuberöse 1101 – strahleninduzierte 1089, 1129 Somatotropinom 948 Somnolenzsyndrom 591 Sonde – nasogastrale 1048, 1049 – nasojejunale 1048, 1049 – PEG 1047, 1049 Sondenernährung 1047 Sonographie 531
Sorgerechtentzug 1124 Sotos-Syndrom 848 Spätfolgen 1085–1092, 1128–1130 – neuropsychologische 1089 – psychische 1129 SPECT 535 Speichereisenmangel 105 Spektrin 124, 126, 128, 132 Spektrin-α-Lely 133 Spenderauswahl, Stammzelltransplantation 69, 666 Spender-gegen-Empfänger-Reaktion 67, 75, 685, 1040 – akute 76 – chronische 76 – Graduierung 76 – Prophylaxe 75 Spender-gegen-Leukämie-Reaktion 67, 685 Sphärozytose 22, 90, 249, 281, 1150 – hereditäre 107, 125–132, 716 – – Diagnostik 130 – – Gallensteine 130 – – Klinik 129 – – Pathogenese 128 – – Therapie 131 – – Transfusion 130 Spinalkanaltumor 812–814 Spinngewebsgerinnsel 37 Splenektomie 248–251 – – Elliptozytose 134 – – Folgen 250 – – Heinz-Körper-Anämie 166 – – idiopathische thrombozytopenische Purpura 363 – – Immunschwäche 275, 276 – – Indikationen 248, 249 – – Infektionsprophylaxe 1003 – – laparoskopische 249 – – partielle 249 – – Sichelzellkrankheit 814 – – Sphärozytose 131 – – Thalassämie 174 Splenomegalie 248 – sekundäre 324 – Thrombozytopenie 314 – Ursachen 248 Stammzellen – hämatopoetische 6, 7, 70, 71, 623 – lymphoide 9 – pluripotente 8, 9 Stammzellfaktor 12, 333 Stammzellgewinnung 71 Stammzellseparation 71, 72 Stammzelltransplantation, hämatopoetische 66–81 – a. Knochenmarktransplantation – a. Transplantation – AB0-Inkompatibilität 92 – allogene 58, 705, 722 – autologe 705, 718
P–S
1224
Sachverzeichnis
Stammzelltransplantation, hämatopoetische – Gabe von Wachstumsfaktoren 1026 – idiopathische thrombozytopenische Purpura 357 – Immundefekt 263 – Indikationen 47, 48, 58, 78–80, 96, 171, 184, 197, 211, 263, 666, 685, 705, 718, 722, 728, 904 – Infektionsgefährdung 979, 980 – Komplikationen 75 – lymphoproliferative Syndrome 771 – Spenderauswahl 69, 666 – supportive Maßnahmen 74 – thrombotische Mikroangiopathie 158 – Transplantatmodifikation 71, 72 – Zweitneoplasie 1107 Statistik 639, 640 Stavudin 271 Steißbeintumor 933, 934 Sterbebegleitung 1120, 1124 Sterbebegriff 1113 Sterbehilfe, aktive 1124 Sterben 1113–1115 Sternalpunktion 26, 27, 29 STI-571 616 Stickoxid, Thrombozytenfunktionsstörungen 348 Stickstofflostderivate 567, 568 Stiftgliom 812 Stoffwechselerkrankungen, angeborene 319–329 Stomatitis, Chemotherapie-bedingte 1044 Stomatozytose – dehydratisierte 138 – hereditäre 125–127, 137 – Therapie 138 Storage-Pool-Disease 348 Stormoken-Syndrom 349 Strabismus internus 325 Strahlendosis 582, 5833 Strahlenschutz 580 Strahlentherapie 578–592 – 3D-konformale 587 – Adipositas 816, 1128 – adjuvante 579 – akzelerierte 584, 875 – biologische Grundlagen 580 – computergestützte 579 – definitive 579 – Fertilitätsstörungen 1091 – fraktionierte 583, 787, 788 – hyperfraktionierte 583, 875 – hypofraktionierte 584 – Indikation 578 – intensitätsmodulierte 587 – interstitielle 580, 788 – intrakavitäre 580 – intraoperative 588
– Knochennekrose 1089, 1090 – Kombination mit Chemotherapie 584, 585, 759, 760 – Kombination mit Hyperthermie 606, 608 – Kombination mit Operation 585 – Koronarsklerose 1129 – Lebertumoren 918 – Motilitätsstörungen 1088 – Nebenwirkungen 588–592 – neurologische Spätfolgen 1089 – Ossifikation 589 – Osteoporose 1089, 1129 – palliative 579, 839 – Patientenlagerung 585 – physikalische Grundlagen 579 – Polyphagie 816 – Sedierung 586 – Skoliose 1089, 1129 – Spätfolgen 1085, 1089 – spinale 813 – stereotaktische 587, 787, 788 – Strahlendosis 582, 583 – Toleranzdosis 588 – Tumorreaktionen 581 – Zielvolumen 787 – ZNS-Tumoren 787–789 – Zweitneoplasie 1102, 1103, 1105 Stress, genotoxischer 1105 Stresserythropoese 41, 90, 93 Stresssignalweg 466 Stresssyndrom, posttraumatisches 1129, 1130 Stromatumor, metanephrischer 498 Studien, klinische klinische Studien Studiendesign 635 Studiendurchführung 640 Studienprotokoll 595, 635, 638 Subependymom 802 Substitutionstherapie – Hämophilie 388 – Inhibitorentstehung 390 – Von-Willebrand-Syndrom 401 Suizidgentherapie 630 Sunburst-Phänomen 885 Suppressorzellen 243 Suramin 467 Survivin 467, 474 Synaptophysin 900 Syndrom – autoimmun-lymphoproliferatives 259 – autoimmun-polyglanduläres 261 – dienzephales 1044 – hämolytisch-urämisches hämolytisch-urämisches Syndrom – infektassoziiertes hämophagozytisches 231 – myelodysplastisches myelodysplastisches Syndrom – nephrotisches 411
– postthrombotisches 403 Synovialsarkom 514, 866, 868, 869 – biphasisches 868 – Inzidenz 430 – Molekulargenetik 514 – monophasisches 868 – Pathologie 514 – Zytogenetik 514 systemischer Lupus erythrematodes – Hämophagozytose 315 – Immundefekt 275 Szintigraphie 535, 536
T TAL-1 13 T-ALL 648, 683 Tangier-Erkrankung 138 Target-Zellen 22 Taybi-Rubinstein-Syndrom 797 Teletherapie 580, 586, 587 Telomerase 441, 442, 460 Telomere 441, 442, 460 Teratom 505, 919, 920, 935 – Epidemiologie 923 – Histologie 923 – reifes 505 – therapierefraktäres 928 – Tumormarker 925 – unreifes 505 Terminalphase 1120 Testheorie 635 Tetrahydrofolat 117 Thalamustumor 794, 795 Thalassaemia intermedia 107, 108, 166, 167, 171 – Therapie 175 Thalassaemia major 107, 108, 171 – Therapie 171 Thalassämie 169–178, 281, 310 – Gentherapie 622 – reaktive Veränderungen 1150 α-Thalassämie 107, 108, 164, 176–178, 281 – Diagnostik 178 – Klinik 177 – Pathogenese 177 – Therapie 177 β-Thalassämie 79, 107, 108, 164, 166, 169–175, 281 – Bluttransfusion 171 – Diagnostik 108, 171 – Eisenelimination 108, 172 – heterozygote 170 – homozygote 170 – Klinik 170 – Komplikationen 174 – Pathogenese 169, 170 – Splenektomie 174, 249
1225 Sachverzeichnis
– Stammzelltransplantation 171, 174, 175 – Therapie 108, 171–174 T-Helferzellen 237 Therapie – antiangiogene Antiangiogenese – chemotherapeutische Chemotherapie – chirurgische chirurgische Therapie – ethische Aspekte 1123, 1124 – juristische Aspekte 1124–1126 – radiologische Strahlentherapie Therapieabbruch 1124 Therapieende, psychosoziale Betreuung 1075 Therapieoptimierungsstudien 635, 1124 Therapiestudien 1124 Therapieverweigerung 1124 Thiamin-Transporterdefekt 322 6-Thioguanin 566 Thiopurine 566 Thiopurin-Methyltransferase 1101 – Genpolymorphismus 564 Thiotepa 568 Thombotin-2 13 Thorakotomie 598, 599 Thoraxsyndrom, akutes 180 Thoraxübersichtsaufnahme 532 Thrombasthenia Glanzmann, Thrombozytentransfusion 1037 Thrombin 373, 375 Thrombingeneration, beim Neugeborenen 304 Thrombinzeit 376, 1163 Thromboembolien, Prophylaxe 413–416 Thrombolyse 1015 – Kontraindikationen 1016 Thrombophiliefaktoren 403, 406 Thrombophilien 402–416 – Definition 402 – Diagnostik 403–406, 412, 413, 1015 – erworbene 410, 411 – hereditäre 406–410 – immunologisch bedingte 410 – Klinik 403 – Therapie 413–416 Thromboplastinzeit 375, 1163 – aktivierte partielle 375, 1162, 1163 – partielle 1162 Thrombopoese 11, 334 – reaktive Veränderungen 1147, 1149 Thrombopoetin 13, 333, 369 – Plasmakonzentration 291, 353 Thrombopoetinrezeptor 291, 354 – Defekt 356 Thrombose 402, 1014–1019 – arterielle 402 – Diagnostik 1014 – Inzidenz 403
– Katheter-assoziierte 1017 – Prophylaxe 1016 – Therapie 1015 – venöse 402 Thrombospondin-1 615 Thrombozyten – Aktivierung 335, 338 – Funktionsstörungen Thrombozytenfunktionsstörungen – beim Neugeborenen 303, 1143 – Physiologie 333–338 – Produktion 334 – reaktive Veränderungen 1147, 1149 – Struktur 334, 335 – vergrößerte 325 – Zytoskelett 336 Thrombozytenaggregation nach Born 341 Thrombozytenantigen 291 – Klassifizierung 293 Thrombozytenantikörper 347, 349 – Plasmapherese 364 Thrombozytenfunktion 337, 338 Thrombozytenfunktionsstörungen 305, 340–350 – angeborene 342–347 – Diagnostik 340, 341 – erworbene 347–349 – medikamentös induzierte 348, 349 – Therapie 349, 350 – Urämie 347 Thrombozytengranula 337 – Defekte 346 Thrombozytenkonzentrat 351 – leukozytendepletiertes 1036, 1037 Thrombozytenmembran 335, 336 Thrombozytenrezeptoren 335, 336 Thrombozytentransfusion 300, 351, 1012 – Indikationen 1037 Thrombozytenvolumen, vermindertes 347 Thrombozytenzahl 353 – Normalwerte 1162 Thrombozytenzählung 17 Thrombozythämie 368–371 – essenzielle 724–726 Thrombozytokrit 20 Thrombozytopathie 314, 340 Thrombozytopenie 97, 325, 326, 1040 – amegakaryozytäre 13, 41, 52, 79, 299, 354 – Ätiologie 313 – Austauschtransfusion 297 – autosomal-dominante 354 – Definition 313 – Diagnostik 353, 354 – Differenzialdiagnostik 340, 353, 490 – fetale 291 – – Diagnostik 291 – – Klassifikation 291
– gesteigerter Thrombozytenverbrauch 291 – Heparin-induzierte 297, 313, 357, 411, 1017, 1018 – – Therapie 414 – intraventrikuläre Blutung 305 – kongenitale 352–356 – – amegakaryzytäre 13, 354 – medikamentös induzierte 357 – neonatale 290–299 – – Definition 290 – – Diagnostik 291 – – Häufigkeit 290 – – Klassifikation 291 – – Pathophysiologie 291 – – Therapie 299, 300 – Schweregrad 352 – sekundäre 305, – Therapie 299, 300, 1012 – – symptomatische 356 – bei Thrombosen 297 – durch verminderte Thrombozytenproduktion 298 – X-chromosomale 261, 354 Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom 41, 43, 79, 299, 314, 355, 356 – Leukämierisiko 692 – Therapie 356 Thrombozytose 313, 368–371 – Ätiologie 370 – Definition 368 – Differenzialdiagnostik 370 – Klassifikation 368 – Komplikationen 370 – primäre (essenzielle) 368, 369 – sekundäre (reaktive) 370, 371 – Therapie 369 Thymom 954 Thymus 735 Thymuspeptide 1079 Thyreoglobulin 941 Thyreoidektomie – prophylaktische 940, 942 – totale 941–943 Thyreotoxizität – Chemotherapie 1091, 1092 – Strahlentherapie 1091, 1092 Tibiapunktion 29 TNM-Klassifikation – Hodentumoren – Nasopharynxkarzinome 952 – Osteosarkome 884 – Weichteilsarkome 934 – Weichteiltumoren 873 Tod 1120 Todesbegriff 1113 Todeskonstanz 1113 Toleranz – immunologische 243, 244 – periphere 243, 244 – thymusinduzierte 243
S–T
1226
Sachverzeichnis
Toleranzdosis 582 Topoisomerasehemmer 842, 1103, 1104 Toxizitätskriterien 639 Toxokariasis – canis 312 – cati 312 Toxoplasma 989 – gondii 996, 997 Toxoplasmose 313 – konnatale 295 – Lymphozytose 313 – reaktive Blutveränderungen 1146, 1147 Trachealkompression 966 Transcobalamin 114, 320 Transcobalamin-II-Defekt 320 Transduktionseffizienz 623 Transferrin, Ernährungsstatus 1046 Transferrinsättigung 186 – Normalwerte 1158 Transfusion – allergische Reaktionen 1039, 1040 – Dokumentation 1039 – Frühgeborene 282 – Immunmodulation 1040 – Infektionsrisiken 1040 – intrauterine 1036 – Management 1036 – Nebenwirkungen 1039 – rechtliche Grundlagen 1032 Transfusionsmedizin 1032–1041 Transfusionsreaktion – akute hämolytische 1039 – febrile nicht-hämolytische 1039 – verzögerte hämolytische 1039 Transfusionssyndrom – fetales 279, 280 – fetofetales 279, 280 transiente myeloproliferative Erkrankung 700 Transkriptionsfaktoren, Hämatopoese 13, 14 Transkriptom 554 Transplantatgewinnung 71 Transplantation – a. Knochenmarktransplantation – a. Stammzelltransplantation – Abstoßung 75 – allogene 66, 67 – autologe 66, 67 – Empfängeruntersuchungen 70 – Infektionen 76, 77 – Konditionierung 72, 211 – Kryokonservierung 72 – Organtoxizität 77 – Spenderuntersuchungen 69, 666 Trauer 1120, 1121 – antizipatorische 1113 – Gesprächsführung 1115 – neurotische 1121
– normale 1120 – psychotische 1121 Trauerarbeit 1120 Trimenonenanämie 279 Trinknahrung 1048 Triosephosphatdehydrogenasemangel 1150 Triosephosphatisomerasemangel 144, 323 Triosephosphatasemangel 309 Trisomie 8 698 Trisomie 13 299 Trisomie 18 299 Trisomie 21 299 Trofosfamid 568 Tuberkulose 1146, 1147 Tuftsin-Peptid 246 Tumor – atypischer teratoider/rhabdoider ( a. Rhabdoidtumor) 806–808, 957 – biphasischer 514 – desmoplastischer klein- und rundzelliger 869 – embryonaler 614 – endokriner 939–948 – – Diagnostik 947 – inflammatorischer myofibroblastischer 869 – klein-rund-blauzelliger 497, 868, 894 – maligner peripherer neuroektodermaler 507, 868 – peripherer primitiver neuroektodermaler 866, 868, 869, 894, 898 – – Inzidenz 430 – pigmentierter neuroektodermaler 869 – primitiver neuroektodermaler 507, 779, 802–806 – – supratentorieller 802, 806 Tumorangiogenese ( a. Angiogenese) 615 Tumoranorexie 1045 Tumorantigene 471, 472, 475, 476 Tumorbiologie 556 Tumordiagnostik 485–493 – a. Diagnostik Tumorerkennung, spezifische 471–477 Tumorexstirpation, definitive 599 Tumorigenese 613, 614 Tumorimmunologie 471–482 Tumorinvasion 615 Tumorlysesyndrom 707, 748 – a. Zellzerfallssyndrom Tumormarker 490, 492 Tumornekrosefaktor-α 156 Tumorprädispositionssyndrom, familiäres 1096 Tumorprogression 614 Tumorsuppressorgen 445, 456, 458, 459
Tumortherapie Tumorzellkonglomerat 31 Tumorzellploidie 831 Tumorzellvakzine 479 Tupfpräparat 31 Turcout-Syndrom 797 Turner-Syndrom 297 Typhus, Lymphozytose 313 Tyrosinämie 913 Tyrosinkinase, zytoplasmatische 256 Tyrosinkinase-Inhibitor 616, 710 T-Zellaktivierungsdefekt 256 T-Zelldefekte 253–256 T-Zelldepletion 72 T-Zelldifferenzierung 735 T-Zellen 237, 239–241 – aktivierte 240 – Antigenerkennung 240 – CD4 472 – CD8 471, 472 – EBV-spezifische 774 – Interaktion mit antigenpräsentierenden Zellen 240, 241 – regulatorische 243 – Reifung 239, 240 – transgene 629 T-Zell-Lymphom 648, 774 – angioimmunoblastisches 734 – lymphoblastisches 735–737 – peripheres 738 – pleomorphes 734, 738 T-Zellrezeptoren 471, 475, 629
U Übelkeit 1053–1057 – a. Erbrechen – Therapie 1115, 1116 Überlebenswahrscheinlichkeit 423, 424 Überlebenszeit 639 – ereignisfreie 639 Überlegenheitstest 637 Ubiquitin 45 Ultraschall-Aspirator 785 Umbilikalvenenthrombose 297 Umdrehplastik 887, 891 Urämie, Thrombozytenfunktionsstörungen 347 Uratnephropathie 667, 963 Urokinase 383 – Katheterlyse 416
1227 Sachverzeichnis
V Vakzine – allogene 47 – autologe 478 Vanillinmandelsäure, Neuroblastom 833 Varizella-Zoster-Virus 988, 997 Varizellen 1146, 1147 Vaskulogenese 613 Vasookklusion, Sichelzellkrankheit 180, 181 VATER-Syndrom 43 Veganismus 114 VEGF 457, 617 Vektoren 479 – a. Gentherapie – klassische 624 – retrovirale 624–627 – virale 624–626 venookklusive Erkrankung 573, 590, 861, 1016 – Prophylaxe 1017 Verbrauchskoagulopathie 159 – a. Gerinnung, disseminierte intravasale Verschlusshydrozephalus 786 Verteilungsvolumen, Definition 563 Verweilkatheter 602 Vimentin 516, 898, 958 Vinblastin 570 Vincaalkaloide 570 – Motilitätsstörungen 1045 – Neurotoxizität 906 Vincristin 570 – intrathekale Injektion 573 – Neuropathie 574 Vindesin 570 Viren – neurotrope 779 – onkolytische 557, 630, 631 Virozyten 241 Vitamin B12 112–117 – Biochemie 112, 113 – Normalwerte 1159 – Physiologie 113, 114 – Resorptionsstörungen 114 – Stoffwechselstörungen 114, 320 – Transportstörungen 114 Vitamin-B12-Mangel – Diagnostik 115 – nutritiver 89, 90, 114, 116 – Therapie 115, 116 Vitamin K 379 Vitamin-K-Antagonisten 411, 412 Vitamin-K-Mangel 280, 379–381, 1013 – intraventrikuläre Blutung 305 – Koagulopathie 379 – beim Neugeborenen 305 Vitamin-K-Prophylaxe 305, 381
Vollblutspende 1034 Voluntärspender 66, 69 Von-Hippel-Lindau-Erkrankung 861, 944, 1097, 1098, 1099 Von-Willebrand-Faktor 157, 337, 394, 395, 403, 407 – Biosynthese 394 – Funktion 395 – Genetik 395 – Normalwerte 1163 Von-Willebrand-Syndrom 298, 393–401 – Definition 393 – Diagnostik 396 – Differenzialdiagnostik 398, 399 – erworbenes 399 – Genetik 395 – Genotypisierung 396 – Klassifikation 397, 398 – Klinik 393 – Phänotypisierung 396 – Substitutionstherapie 401 – Therapie 399, 400, 1168 Vorläufer-B-Zellen 735 Vorläufer-T-Zellen 735 Vorläuferzellen 8, 9 Vorläufer-Zell-Lymphome 736 Vorsorgeuntersuchung 435, 1130
W Wachstumsfaktoren 455, 456, 458 – epidermale 474 – hämatopoetische 11, 1021–1029 – – a. G-CSF – – a. GM-CSF – – bei aplastischer Anämie 1029 – – bei Chemotherapie 1021 – – bei Knochenmarktransplantation 1026 – – bei MDS 1029 – – bei Nabelschnurbluttransplantation 1026 – – bei Stammzelltransplantation 1026 – Modulation 467 Wachstumsstörungen, therapiebedingte 1090, 1129 WAGR-Syndrom 848, 849 Wärmeautoantikörper 148 Weichteilsarkom 865–879 – alveoläres 869 – Ätiologie 866 – Bildgebung 511 – Chemosensibilität 866 – Chemotherapie 876–879 – Diagnostik 511, 872, 873 – Differenzialdiagnostik 872 – Grading 869
T–W
– Häufigkeitsverteilung 866 – Histologie 866 – Initialdiagnostik 872 – Inzidenz 430, 865, 866 – Klassifikation 866, 867 – Klinik 870, 871 – Lokalisation 874 – Lymphknotenbiopsie 875 – Malignität 872 – Molekulargenetik 870 – Prognose 877 – Resektion 874, 875 – Rezidiv 877 – Risikofaktoren 874 – Spätfolgen 877 – spindelzelliges, Diagnostik 497 – Stadienteinteilung 873 – Stammzelltransplantation 79 – Strahlentherapie 79, 875, 876 – Therapie 874–879 – Überlebenswahrscheinlichkeit 430 – Zweittumor 877 Weichteiltumor – Ätiologie 433 – chromosomale Translokationen 870 Wermer-Syndrom 940, 943 WHIM-Syndrom 198 WHO-Klassifikation – chronische myeloproliferative Erkrankungen 724 – Keimzelltumoren 924, 925 – Leukämien 648, 649 – – akute myeloische 694 – maligne Lymphome 754 – maligne myeloische Erkrankungen 717 – Non-Hodgkin-Lymphome 733, 734 – Osteosarkome 883 – ZNS-Tumoren 778, 779 WHO-Stufenschema, Schmerzen 1061 Wiedemann-Beckwith-Syndrom 913, 947 Wilms-Tumor 847–861 – Ätiologie 848 – Chemotherapie 857–861 – chirurgische Therapie 599, 600 – Diagnostik 853, 854 – Differenzialdiagnostik 599, 853, 854 – Epidemiologie 847, 848 – familiärer 850 – Früherkennung 850 – Klassifikation 851, 852 – Klinik 853 – Molekularbiologie 848–850 – Nachsorge 861 – Pathologie 850, 851 – postoperative Therapie 857, 858 – Resektion 855 – Rezidiv 860
1228
Sachverzeichnis
Wilms-Tumor – Risikofaktoren 848 – Strahlentherapie 856 – Therapie 855–861 – Zweitneoplasie 1107 Wilms-Tumorsuppressorgen 849 Wiskott-Aldrich-Syndrom 67, 80, 260, 297, 298, 312, 326, 347, 348, 354, 622, 716, 770 – Therapie 261, 354 – Thrombozytopenie 347 Wiskott-Aldrich-Syndrom-Protein 217 Wolman-Erkrankung 80, 328
X Xanthochromie, Liquor 37 Xanthogranulom, juveniles 222 Xanthogranulomatose 222 Xanthoma disseminatum 222 Xerostomie, nach Strahlentherapie 592 Xerozytose 125 – hereditäre 138 – Therapie 138
Z Zählkammer 17, 18 Zalcitabin 271 Zeiterleben 1113 Zellbiologie 454–468 Zellen – antigenpräsentierende 218, 237, 238 – apoptotische, Phagozytose 217 – dendritische 215, 237, 478, 479 – – Funktionen 216–218 Zellseparation 71, 72 Zellsortierung, fluoreszenzaktivierte 71 Zelltherapie 478 – adoptive 479 Zelltod 461, 580, 581 Zellzählung – automatische 19 – manuelle 17 Zellzerfallssyndrom 963, 964 Zellzyklus 457–460 – Inhibitoren 458 – Progression 460 – Regulation 459, 460 Zellzyklusproteine, Modulation 467 Zeroidlipofuszinose 328 – neuronale 80 Zidovudin 271 Zinkmangel 1050
Zinsser-Engman-Cole-Syndrom 50 ZNS-Metastasen 814–818 ZNS-Prophylaxe – Leukämien 704, 1089 – Non-Hodgkin-Lymphome 743 ZNS-Rezidiv 682, 683 ZNS-Tumor 777–818 – a. Hirntumor – Anamnese 781 – Ätiologie 432, 779 – Biopsie 786 – Chemotherapie 789–791 – Diagnostik 781–784, 935 – Inzidenz 426 – Keimzelltumor 934, 935 – Klassifikation 778, 779 – Klinik 780, 781 – Lokalisation 781 – mikrochirurgische Operationstechniken 785 – Nachsorgeuntersuchung 816 – neuroradiologische Kennzeichen 781–784 – operative Therapie 784–787 – postoperative Therapie 786 – Prognose 786 – Rehabilitation 818 – Spätfolgen 815, 816 – Strahlentherapie 787–789 – Therapie 784–791, 935 – Überlebenswahrscheinlichkeit 426 – Zweitneoplasie 1094, 1107 Zöliakie, Eisenmangel 105 Zollinger-Ellison-Syndrom 1096 Zulassungsstudien 1124 Zweitneoplasie 1094–1108, 1130 – nach Chemotherapie 1102, 1103 – Epidemiologie 1094–1096 – nach Strahlentherapie 1102, 1103, 1105 Zygomyzeten 992, 994, 996 Zykline 458, 474 Zyklooxygenase-Defekt 349 Zymogene 373 Zytochrom P450 1101 Zytochrom-B-Reduktasemangel 145 Zytogenetik 443 Zytokeratin 504 Zytokine 156, 237, 238 – Einteilung 11 – Eisenregulation 187, 188 – Erythropoese 188 – Fanconi-Anämie 49 – Freisetzung 472 – früh wirksame 12 – Funktionen 1174, 1175 – Gentransfer 479 – hämatopoetische 5, 9, 11, 12 – Morbus Hodgkin 754 – proinflammatorische 234 – spät wirksame 12
– Stoffwechselveränderungen 1044 – Übersicht 1174, 1175 – Zielzellen 1174, 1175 Zytokinsturm 315 Zytomegalie(virus) 273, 274, 295, 988, 997, 998, 1003, 1146, 1147 – Lymphozytose 313 Zytopenie – refraktäre 717, 718 – Stammzelltransplantation 79, 80 Zytostatika 560–575 – a. Chemotherapie – Applikation 564 – emetogenes Potenzial 1054 – Interaktionen 564, 565 – intraarterielle Applikation 918 – Kardiotoxizität 574 – Nebenwirkungen 562, 563, 572– 575 – Nephrotoxizität 1087, 1088 – Ototoxizität 1085, 1088 – Pharmakokinetik 563 – reaktive Blutveränderungen 1148, 1149 – Resistenz 562 – Wirkungsweise 562 – Zielstrukturen 561, 562 Zytotoxizität, molekulare Mechanismen 465 Zytozentrifugation 38