Edith Kneifl
Pastete mit Hautgout GourmetCrime
s&c 07/2008
Der berühmte Kritiker Siegi ist heruntergekommen und Alkoh...
15 downloads
555 Views
362KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Edith Kneifl
Pastete mit Hautgout GourmetCrime
s&c 07/2008
Der berühmte Kritiker Siegi ist heruntergekommen und Alkoholiker; seine Frau lässt in seinem Lieblingsrestaurant eine ungewöhnliche Austern-Pastete kredenzen; der Wirt ist hoch verschuldet und doppelt sauer auf Siegi; »Herr Franz«, der Oberkellner, hat ein Verhältnis mit der Wirtin und mischt seine Karten selbst; und ein junges Ehepaar benimmt sich bei dem Festessen fürchterlich daneben. ISBN: 3-203-85201-2 Verlag: Europa Verlag Erscheinungsjahr: 2002 Umschlaggestaltung: +malsy. kommunikation und gestaltung, Bremen
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
GourmetCrime: Wien
Edith Kneifl Pastete mit Hautgout
Herausgegeben von Jürgen Alberts
Europa Verlag Hamburg • Wien
© Europa Verlag GmbH Hamburg, September 2002 Umschlaggestaltung: +malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen Satz: Hanseatisches Satzkontor, Hamburg Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö, Leipzig ISBN 3-203-85201-2
Informationen über unser Programm erhalten Sie beim Europa Verlag, Neuer Wall 10, 20354 Hamburg oder unter www.europaverlag.de
Die Stadt grau in grau. In den Ritzen des Kopfsteinpflasters sammelte sich das Wasser. Max lehnte am Arbeitstisch und starrte durch das Küchenfenster auf die menschenleere Gasse. Die schweren Tropfen trommelten auf das Vordach des benachbarten Geschäftslokals. Während sich der Löffel in seinem Kaffee drehte und Mink de Ville »Teardrops must fall« seufzte, beobachtete er, wie das Wasser an der Fensterscheibe hinunterrann. Er genoss es, ungestört die ersten Handgriffe erledigen zu können. Keiner, der ihn hetzte, keiner, der ihm reinredete, ihm sagte, was er zu tun habe. Seine Vorbereitungen für den Abend liefen beinahe ritualisiert ab. Zuerst genehmigte er sich immer einen doppelten Espresso, in dem der Löffel stecken blieb. Sophie pflegte in letzter Zeit zu schimpfen, wenn er so einen starken Kaffee trank. Sie bangte um sein Herz. Doch Max hielt sich für kerngesund. Kurz vor seinem Vierzigsten hatte er sich gründlich durchchecken lassen. Allerdings waren seither ein paar Jährchen vergangen. Er verdrängte den Gedanken an seine fürsorgliche Ehefrau sogleich wieder. Wahrscheinlich würde sie ohnehin in den nächsten Minuten zur Tür hereinschneien und seiner Mußestunde ein 5
abruptes Ende bereiten. Rasch trank er seinen Kaffee aus, nahm einige Töpfe und Pfannen aus den Regalen, legte Messer, Löffel und das andere Kochwerkzeug ordentlich zwischen Geschirr und Schneidbretter und holte einen Eimer geschälter Erdäpfel, ein Eimerchen mit Fischfond, in Papier eingewickelte Rindsknochen und eine große, verschlossene Kunststoffschüssel aus dem Kühlraum. Als Mink de Ville zu »You better move on …« ansetzte, hielt er den Moment für gekommen, mit den Vorbereitungen für die Suppe zu beginnen. Er füllte heißes Wasser in seinen besten Suppentopf und stellte ihn auf den Herd. Als Nächstes hackte er die Rindsknochen klein, wusch sie und gab sie ins kochende Wasser. Nach einigen Minuten seihte er sie ab und spülte sie unter kaltem Wasser. »Hallo, Mäxchen, hast du wieder einmal ohne mich angefangen?« Sophie riss die Küchentür auf und begrüßte ihren Mann fröhlich mit einem Kuss auf die Wange. Wo Sophie ist, kann der gute Ferenc auch nicht weit sein, dachte Max, verkniff es sich aber, diesen Gedanken laut auszusprechen. Kurze Zeit später betrat der ungarische Oberkellner, von den Gästen Herr Franz getauft, tatsächlich das kleine Restaurant am Fleischmarkt. Ferenc’ Eltern waren 1956, während des großen Aufstands in Ungarn, nach Österreich abge6
hauen. Ferenc hatte kurz danach in Wien das Licht der Welt erblickt, war österreichischer Staatsbürger, hatte österreichische Schulen besucht und sprach besser deutsch als die meisten Wiener. »Sollen wir draußen nicht lieber zusperren?«, schlug Herr Franz vor. »Sonst verirren sich womöglich noch ein paar hungrige Touristen zu uns. Sophie hat gesagt, ihr möchtet entre vous bleiben.« Wann hat sie dir das gesagt?, hätte Max ihn gern gefragt. Er unterließ auch diese Bemerkung. Er war auf Ferenc angewiesen, konnte sich momentan keinen Kellnerwechsel erlauben. Sein letzter Oberkellner hatte einmal zu oft in die Kasse gegriffen. Herr Franz hingegen wartete schon mal einen Monat lang auf seinen letzten Lohn. Anfangs hatte Max sogar geglaubt, einen echten Glücksgriff mit Ferenc gemacht zu haben. Sie hatten sich auf der Rennbahn kennen gelernt. Herr Franz hatte nur aus Spaß gewettet, während Max beim Spielen keinen Spaß verstand. Wenn Sophie nicht gewesen wäre, hätte sich vielleicht sogar eine richtige Männerfreundschaft entwickeln können. Allerdings war noch nicht bewiesen, dass der fesche Ungar tatsächlich seine Frau vögelte. In flagranti hatte Max die beiden jedenfalls bisher nie erwischt. 7
»Eine Fischpastete, die nach Trüffeln schmeckt? Will sie ihn umbringen?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Warum schreist du mich so an? Was kann ich denn dafür?« Sophie hatte die schlechte Laune ihres Mannes gründlich satt. »Austern möchte sie auch drin haben«, murmelte Max. »Ist er nicht allergisch auf Austern?« »Sie will seine Geschmacksnerven testen. Behauptet sie zumindest.« Verbissen hieb Sophie auf den Pastetenteig ein. »Rühren, Sophie. Rühren, mit viel Gefühl. Du haust ja drauf, als wär’s ein Germteig. Die Franzosen nennen diese Pastetchen vol-au-vent. Sie müssen so leicht sein, dass der Wind sie verwehen kann.« Seine Belehrungen gingen ihr auch auf die Nerven. Normalerweise waren beide sehr stolz auf ihre harmonische Zusammenarbeit in der Küche. Die beiden Hauben hatten sie sich gemeinsam erkocht. In letzter Zeit gerieten sie sich jedoch immer öfter in die Haare. Sophie war für die bodenständige österreichische Kost zuständig. Zu ihren Spezialitäten gehörten überbackene Schinkenfleckerl, Blunzengröstl und Grenadiermarsch. Bei ihren Stammgästen stand vor allem ihre Kaiserschöberlsuppe hoch im Kurs. Sie selbst hielt sich für die beste 8
Mehlspeisköchin nach ihrer böhmischen Großmutter. Ihr Kaiserschmarrn schmeckte tatsächlich exorbitant. Das hatte sie schwarz auf weiß von Wiens berühmtestem Gourmetkritiker Siegi Marlek bestätigt bekommen. Max hingegen galt als verwegener, sehr experimentierfreudiger Newcomer in der österreichischen Feinschmeckerszene. Bevor er dieses Lokal in der Wiener Innenstadt übernommen hatte, arbeitete er jahrelang als Chefkoch auf diversen Luxuslinern. Sie hatten das Restaurant »Zum lieben Augustin« genannt, da es sich in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Bierhauses »Zum roten Dachel« befand. In diesem Wirtshaus hatte der liebe Augustin, als die Pest in Wien wütete, die Gäste nächtelang mit seinen Possen und Liedern unterhalten. Sophie und Max hatten den Namen für ein gutes Omen gehalten. Bei der Eröffnung hatten sie sich gelobt, nicht nur für gutes Essen, sondern auch für fröhliche Stimmung zu sorgen. Was die Trinkfreudigkeit und Ausgelassenheit ihrer illustren Stammgäste betraf, wurde das Lokal dem Grundsatz seines Namensgebers gerecht. Lustig gelebt und lustig gestorben heißt dem Teufel die Rechnung verdorben. »Dreh endlich dieses schreckliche Gewimmer ab. Ich muss mich konzentrieren.« Sophie 9
schwärmte fur Austro-Pop und italienische Liebeslieder. Max tat, als hätte er sie nicht gehört. »Hast du daran gedacht, die Schrammel-CD und unser Arien-Potpourri mitzunehmen? Nach ein paar Achterln fährt doch der Siegi voll auf solche Schnulzen ab.« »Letztes Mal hat er bei ›E lucevan le stelle‹ sogar das Heulen angefangen«, kicherte Sophie. Doch dann begann sie plötzlich zu fluchen: »Scheiße! Verdammter Mist.« Schuldbewusst hielt sie Max ihren Zeigefinger zum Abschlecken hin. »Total versalzen!« »Hab ich dir nicht gesagt, dass du die Finger vom Teig lassen sollst. Ich hätte ihn schon gemacht. Aber du kannst ja nie warten. Warum bist du so nervös? Die haben sich eh erst für acht angesagt. Außerdem sind wir nur zu viert.« Max warf den misslungenen Pastetenteig in den Mistkübel und summte: »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.« »Was für eine Verschwendung! Ich hätte ihn bestimmt noch hingekriegt«, empörte sich Sophie. »Mit deinem geliebten Glutamat?«, spottete er. Plötzlich stand Herr Franz in der Küche, verdrehte die Augen und sagte leise: »Sie sind da.« »Oh, Gott! Was machen wir jetzt?« Sophie versuchte den Teig wieder aus dem Mistkübel zu kratzen. 10
»Bist du verrückt geworden? Geh sie begrüßen und kümmer dich dann um das Wurzelwerk und die Zwiebel.« Normalerweise war es den Gästen nicht erlaubt, Max’ Küche zu betreten. Doch darum scherten sich Siegi Marlek und seine Frau Gudrun einen Dreck. Marlek umarmte die Wirtin, drückte ihr einen Kuss auf den Mund und flüsterte ihr ins Ohr: »Du hast mir sehr gefehlt, mein Mädel.« Herr Franz starrte den honorigen Gast missbilligend an. Ohne Max oder Franz eines Blickes zu würdigen, beugte sich Marlek über den großen Suppentopf, nahm den Deckel ab und leckte sich die Lippen. »Lasst mich raten. Altwiener Siedefleisch?« Er hatte richtig geraten. Was keine große Kunst war. Der Tafelspitz lag in voller Pracht auf einem Brett neben dem Herd. Marleks magersüchtige Ehefrau begrüßte Max und Sophie mit einem herablassenden Lächeln und komplimentierte ihren Mann wieder aus der Küche. »Lass sie in Frieden, sonst werden sie nie fertig. Sie haben ja noch nicht einmal angefangen.« »Ich esse keine Suppe«, verkündete Marlek lautstark. 11
»Du bekommst als Vorspeise eine surprise a la cousin«, besänftigte ihn seine Frau. »Alte Häferlgucker«, sagte Max abfällig, als die beiden außer Hörweite waren. »Ich bring ihnen den Champagner. Sind die Gläser schon am Tisch?«, fragte Herr Franz. Sophie schüttelte den Kopf. »Wo ist mein Messer?«, fragte Max. »Am Messerblock«, murmelte Herr Franz. »Dort hat es nichts verloren.« Leicht belustigt sah Sophie ihrem Mann dabei zu, wie er die Messer neu ordnete. Sein Aufschrei ließ sie zusammenfahren. »Finger weg …!« Sie hatte gerade mit seinem handgefertigten 350-Euro-Messer eine Zwiebel halbiert. Dieses Messer war sein Allerheiligstes. Normalerweise rührte sie es nicht an. An diesem Sonntagnachmittag war sie jedoch nicht ganz bei der Sache. Herr Franz hatte sie mit seinem knallroten Mazda-Cabrio von zu Hause abgeholt. Wegen des strömenden Regens hatten sie die Fahrt leider nicht mit offenem Verdeck genießen können. Plötzlich war er in die Tiefgarage bei der Mariahilferstraße abgebogen, hatte in einer finsteren Ecke geparkt und im Schutz des schwarzen Fetzendachls seine Hände unter ihre Bluse geschoben. Sehr lange und sehr zärtlich hatte er ihre Brüste gestreichelt. Erst als sie es vor Erregung 12
kaum mehr ausgehalten hatte, waren seine Hände langsam zu ihrer Scham gewandert. Sie war schnell gekommen, viel zu schnell. Bei dem Gedanken an diese paar Minuten in der Tiefgarage lächelte sie versonnen. Als Max den Iglo-Blätterteig aus der Tiefkühltruhe nahm, stand plötzlich wieder Gudrun hinter ihm. »Bist du wahnsinnig? Was soll denn das werden? Seit wann serviert ihr Fertiggerichte?«, fauchte sie ihn empört an. »Du hast am Telefon gesagt, dass er eh nichts mehr schmecken kann.« »Er nicht, aber ich.« »Geht’s um den Inhalt oder um die Form«, fragte Max, scheinheilig grinsend. Sophie mischte sich nicht ein. Sie kümmerte sich inzwischen um den Tafelspitz. Hielt ihn unter lauwarmes Wasser, ließ das Fleisch abtropfen und legte es ins sprudelnde Salzwasser, damit sich die Poren sofort schließen konnten und der Tafelspitz schön saftig blieb. »Ihr seid wirklich ein bisschen spät dran«, lästerte Gudrun. »Habt ihr nicht gesagt, dass ihr um zwanzig Uhr essen wollt? Wir haben gerade erst sechs«, verteidigte sich Sophie trotzig und verließ demonstrativ die Küche. 13
Gudrun begann nun mit Max die Füllung der Pastete zu besprechen. Er zählte ihr die Zutaten auf: »Gehackte Kräuter, Petersilie, Kerbel, Estragon, ein bisschen Zitronensaft, ein Schuss Fischfond, zwei Flocken Butter und ein paar Austern. Hab sie gestern am Naschmarkt besorgt und gleich wieder auf Eis gelegt. Sie sind so gut wie frisch.« »Ich esse sie sowieso nicht. Ich werde eine Suppe nehmen. Sophie soll mir Frittaten machen. Statt Fischfond nimm lieber Kalbsfond, damit er die Austern wirklich nicht rausschmeckt. Auch die Kräuter kannst du weglassen.« »Dann schmeckt’s ja nach gar nichts.« »Na gut, von mir aus gib halt Kalbfleisch dazu. Außerdem hast du versprochen, Trüffel zu besorgen.« »Trüffel im September? Ich hab Champignons gekauft und ein Gläschen Trüffel-Jus.« Er deutete auf ein unscheinbares kleines Glas und ein braunes Papiersäckchen. »Was hast du dir eigentlich vorgestellt? Willst du eine Trüffel- oder eine Austernpastete?« »Keines von beiden. Mach Königinnenpastetchen.« »Ich hab kein Suppenhuhn. Soviel ich weiß, hat die Alte von Ludwig dem XV. gewürfeltes Hühnerfleisch mit feinen Trüffeln dafür vorgesehen.« 14
»Nimm Kalbfleisch statt Huhn, das machen heutzutage alle Spitzenköche. Königin Marie hat damals wahrscheinlich gerade kein Kalbfleisch im Haus gehabt. Und misch gefälligst ein paar Austern drunter. Wo bleibt deine Phantasie? Du bist doch sonst immer so stolz auf deine originellen Einfälle. Warum stellst du dich heute so an?« »Ein Ragout aus Kalbfleisch, Champignons und Austern? So was rührt Siegi sicher nicht an.« »Das lass nur meine Sorge sein. Ich garantiere dir, er wird die Pastetchen bis auf den letzten Krümel aufessen. Seine Austernallergie halte ich sowieso für eine Mär. Er ist ein alter Hypochonder. Ich möchte ihm an unserem zwanzigsten Hochzeitstag unbedingt einen kleinen Streich spielen.« Max tat nicht einmal so, als würde er ihren Worten Glauben schenken. Marleks Zusammenbruch vor gut einem Jahr, nach Austern mit Käse und Schinken überbacken, war ihm noch in bester Erinnerung. Er hatte damals den Notarzt rufen müssen. Siegi Marlek hatte keine Luft mehr bekommen, stand kurz vor einem Kollaps und musste danach drei Tage im Spital liegen. »Übrigens hab ich wegen eures Hochzeitstages nicht auf die Rennbahn gehen können. Und telefonisch habe ich leider aufs falsche Pferd gesetzt. Ein paar Tausender einfach in den Wind gesetzt, 15
oder besser gesagt, auf die schöne Marcella, eine dreijährige Stute, prachtvoller Arsch …« »Wie viel?«, unterbrach ihn Gudrun. »Fünf. Ich brauch die Scheinchen sehr dringend, praktisch sofort, sonst drehen sie mir den Hahn ab. Meine Schulden bei diesen Herren belaufen sich inzwischen auf fünfzigtausend Euro. Der Fünfer ist also nur ein Tropfen auf den heißen Stein.« »Ist das nicht ein bisschen viel für eine kleine Pastete?«, fragte Gudrun, versprach ihm aber, die fünftausend zu besorgen. »Und wenn alles gut geht, werde ich mich auch um eure restlichen Schulden kümmern, lieber Max.« Sie drückte seinen Arm und schaute ihm tief in die Augen. Sie war gleich groß wie er. Und sie hatte für kleine Männer nicht viel übrig. »Ich muss das Geld heute haben. Ich meine …«, stammelte er, »noch bevor ich die Pastete servier.« Die Röte stieg ihm ins Gesicht. Doch seine Augen glänzten vor Gier. Er kam sich ungeheuer couragiert vor. Und er glaubte wieder einmal an sein Glück. »Du überschätzt unsere finanzielle Potenz. Als Kritiker verdient man nicht halb so viel, wie du denkst.« »Auf eurem Profitkonto werden doch wohl ein paar Tausender herumliegen«, insistierte er. »Jetzt gleich?« 16
»Ja. Sonst gibt’s Frittatensuppe für alle.« »Weißt du, wie man das nennt, was du da gerade machst?« »Ja, ist mir bewusst.« Max war unerhört stolz auf sich. Er hätte niemals von sich gedacht, dass er es eines Tages schaffen würde, eine Frau wie Gudrun in die Knie zu zwingen. Ewig schade, dass er es seiner Sophie nicht erzählen konnte. Sie würde keinerlei Verständnis für seinen Erpressungsversuch aufbringen. Sophie war viel zu moralisch. Vielleicht würde ihr sein Verhalten trotzdem imponieren? Nein, lieber nicht. Max verwarf den Gedanken, seine Frau einzuweihen, sogleich wieder. Kurz danach verließ Gudrun das Lokal, ohne dass ihr Mann ihr Verschwinden überhaupt bemerkte. Er scherzte gerade mit Sophie, als sich Gudrun einen vergessenen Schirm schnappte, an ihm vorbeihuschte und die Tür leise hinter sich schloss.
17
Ich bin mir sicher, dass Siegi die Austern mit den Trüffeln verwechseln wird. Seine Geschmacksknospen sind vom vielen Saufen völlig degeneriert. Trotzdem werde ich dafür sorgen, dass er vorher einige Whiskys und ein paar Viertel Rotwein trinkt. Da er fast täglich eine halbe Flasche Whisky und mindestens zwei Flaschen Rotwein in sich hineinschüttet, kann ich mir nicht vorstellen, dass er überhaupt noch imstande ist, zwischen irgendwelchen Geschmacksrichtungen zu differenzieren. Neuerdings bildet er sich ein, auch unter einer Fischallergie zu leiden. Vermutlich schafft er es mit seinen zittrigen Händen einfach nicht mehr, die Gräten zu entfernen. Womöglich Parkinson im Frühstadium? Nein, wohl eher das übliche Alkoholikerproblem. Bei der Vorstellung, demnächst einen Pflegefall am Hals zu haben, steigen mir die Grausbirnen auf. Selbst der Anspruch auf ein hohes Pflegegeld, sollten sie ihn als Pflegestufe vier einstufen, könnte mich mit dieser Zukunftsperspektive nicht versöhnen. Die Cortisonspritze, die er seit seinem letzten Spitalaufenthalt wegen der Austernallergie ständig mit sich spazieren trägt, habe ich vorsichtshalber umgefüllt. Statt Cortison enthält die Spritze nun 18
reines, gutes Wiener Quellwasser. Das wird ihm allerdings nicht viel helfen, wenn er heute wieder einen Erstickungsanfall kriegt. Seit der in ganz Europa grassierenden BSEHysterie verweigert er den Genuss seiner ehemals geliebten Rindssuppen. Ich habe keine Angst vor gekochten Knochen, Außerdem steh ich auf Sophies Frittaten. Siegi wird sich an die Pastete halten und den Tafelspitz kaum anrühren. In letzter Zeit isst er nur mehr Vor- und Nachspeisen. Vielleicht wird er sich nachher einen »Mohr im Hemd« bestellen. Dazu wird es aber hoffentlich nicht mehr kommen. Max wird seine fünftausend kriegen. Die restlichen fünfundvierzigtausend kann sich dieser Schlauberger in die Haare schmieren. Er hat uns schon öfter um Geld angeschnorrt, uns als Sicherheit sogar sein Lokal angeboten. Letztens hat er vorgeschlagen, dass wir den »Lieben Augustin« übernehmen sollen. Als Ablöse hat er hundertfünfzigtausend Euro verlangt und versprochen, uns als Geschäftsführer und Koch erhalten zu bleiben. Seine vollbusige Provinzschönheit weiß sicher bis heute nichts von diesem Angebot. Ablöse wofür? Das rustikale Interieur des Lokals schreit förmlich nach Renovierung. Natürlich verfügen sie nicht über das nötige Kleingeld, 19
um die dringend notwendigen Investitionen vorzunehmen. Die gepolsterten Bänke sind zerschlissen und vollkommen glatzig. Die Federn ausgeleiert. An manchen Plätzen sinkt man zentimetertief ein. Die Stühle und Tische wackeln, obwohl Herr Franz hin und wieder zu Hammer und Nägeln greift. Max hat, außer was das Kochen betrifft, zwei linke Hände. Laut Aussage seiner Frau ist er nicht einmal imstande, ein Bild gerade aufzuhängen. Deswegen kleben überall diese alten, verblichenen Plakate. Von allen Wänden lächeln die vergilbten Porträts längst zurückgetretener Politiker. Auch viele Fotos von Prominenten aus Wirtschaft und Kultur zieren die dunkelbraune Holztäfelung. Viele von ihnen haben wir persönlich gekannt. Manche haben sich längst die Leber rausgesoffen. Mein Siegi kann leider trinken, soviel er will. Seine Leber ist weder stark vergrößert noch steinhart. Die Küche des »Lieben Augustin« ist jedoch ein kleines Juwel. Die Elektrogeräte und der Herd sind zwar hoffnungslos veraltet, besitzen aber einen gewissen nostalgischen Charme. Sophie ist eine kleine Schlampe. Wo sie herstammt, beginnt bereits der Balkan. Max achtet jedoch sehr auf Ordnung und Sauberkeit in seinem kleinen Reich. Nach der Sperrstunde putzt er oft selber stundenlang Herd und Arbeitsflä20
chen spiegelblank. Die Putzfrau kommt immer erst frühmorgens. Und in letzter Zeit nur mehr jeden zweiten Tag. Auch sie scheint inzwischen zu einem finanziellen Problem geworden zu sein.
21
Nach dem großen Erfolg seines Lokals im ersten Jahr hatte Max seine Liebe zu Pferden und zum Glücksspiel entdeckt. Obwohl er mittlerweile hoch verschuldet war, frönte er weiterhin seiner fatalen Leidenschaft. Seine freien Sonntage verbrachte er abwechselnd in der Krieau und in der Freudenau. An seinem zweiten freien Tag war er Dauergast im Casino in der Kärntnerstraße. Da auch Sophie auf ihrem freien Sonntag bestand – sie war sehr katholisch, verpasste keinen Gottesdienst und ging regelmäßig zur Beichte –, blieb das Gasthaus »Zum lieben Augustin« sonntags geschlossen. Sophie genoss die freien Nachmittage in den Armen des Oberkellners. Montags schafften sie und Herr Franz den Laden zu zweit. An Montagen war ohnehin nicht viel los. Sophie konnte sich auch montags meist ungestört ihrer Leidenschaft für den feschen Oberkellner hingeben. Oft sperrten sie vor dreiundzwanzig Uhr zu und trieben es bis lange nach Mitternacht auf den Bänken und Tischen des Lokals. Sowohl in physischer Hinsicht als auch charakterlich entsprach Herr Franz genau ihren Vorstellungen. Er war groß, schlank, dunkelhaarig, hatte ebenmäßige Züge und einen gepflegten schwarzen Schnurrbart. Neben ihm sah Max mit seinen knappen 1,74 Meter und seinen 75 Kilo 22
wie ein hässlicher Gnom aus. Außerdem war Herr Franz nicht nur ein sehr fürsorglicher, einfühlsamer und überaus korrekter Mann, sondern auch zärtlich und stürmisch zugleich. Eigenschaften, die Max ziemlich fremd waren. Dennoch liebte sie ihr »Mäxchen«, wie sie ihn in letzter Zeit seltener nannte. »Wo die Liebe eben hinfällt …«, hatte ihre böhmische Großmutter immer gesagt. An den anderen Tagen öffnete das Gasthaus »Zum lieben Augustin« erst spätnachmittags seine Tore. Während Max schon gegen fünfzehn Uhr in seiner geliebten Küche mit den Vorbereitungen begann, fand Sophie manchmal noch Zeit für ein Schäferstündchen mit Herrn Franz. Sein Dienst begann erst um achtzehn Uhr. An diesem trüben Sonntag im Herbst hatten die Marleks mit ihren Extrawünschen die lieb gewordenen Gewohnheiten der Wirtsleute über den Haufen geworfen. Mink de Ville trällerte »Help me to make it«. Gudrun steckte wieder den Kopf in die Küche und fragte: »Sind die Pastetchen endlich fertig?« Aus dieser Perspektive ist ihre Ähnlichkeit mit einem gierigen Habicht kaum zu übersehen, dachte Max. Sophie fühlte sich bei Gudrun eher an die böse Hexe aus ihren Kinderbüchern erinnert. Ihr kleiner Kopf thronte auf einem langen, dürren Hals. Das hagere, eingefallene Gesicht wurde von 23
einer langen, krummen Nase und eng beieinander stehenden schmalen Augen dominiert. »Unsere Gäste kommen in einer halben Stunde«, verkündete Gudrun. »Welche Gäste?«, fragten Sophie und Max im Chor und sahen sich betreten an. »Ein junger, sehr ambitionierter Kollege meines Mannes und seine Freundin.« Gudrun hatte vorgegeben, nicht nur ihren Hochzeitstag feiern zu wollen, sondern auch eine Art Versöhnungsmahlzeit. Sie hatte einen Tisch für vier Personen bestellt. Sophie hatte gedacht, sie würden miteinander essen, und Max überredet, den Marleks diesen Gefallen zu tun. Nun war Max sauer, weil er das Drei-Tage-Derby verpassen würde. »Das heißt, sie werden dieses Mal vielleicht sogar bezahlen«, versuchte Sophie sich selbst und ihren Mann zu trösten. Tränen standen in ihren Augen. Sie konnte sich nicht einmal aufs Zwiebelschneiden rausreden. »Du hast Illusionen!« Max gab ein paar Austern mehr in die Fülle. Nach Marleks letzter vernichtender Kritik waren die Wirtsleute sehr gekränkt gewesen. Außerdem hatten die Marleks das Lokal einen Monat lang gemieden. Länger hatte Siegi Marlek die Abstinenz jedoch nicht ausgehalten. Nirgendwo anders konnte er sich so ungestört betrinken wie 24
im »Lieben Augustin«. Zu später Stunde waren er und ein paar andere prominente Nachtvögel meistens die einzigen Gäste. Die Zecherei hinter verschlossenen Türen dauerte oft bis in die frühen Morgenstunden. Sophie vermutete, dass Marlek den Verriss geschrieben hatte, weil er böse auf sie war. Bei seinem letzten Besuch hatte sie ihm klar und deutlich gesagt, dass sie nicht im Traum daran denke, mit ihm zu schlafen. Sophie war keine, die gleich mit jedem ins Bett stieg. Max war ihre erste große Liebe gewesen. Und die ersten Jahre nach der Hochzeit hatte sie in bester Erinnerung. Aber seine Spielsucht machte sie krank. Nicht nur einmal hatte sie ihm vorgeworfen, leichtfertig und verantwortungslos zu sein. Als er dann begonnen hatte, sie im Bett zu vernachlässigen, und nach Mitternacht nur mehr seine Pferdewetten und sein Roulettesystem im Schädel hatte, war ihr endgültig der Kragen geplatzt. Herr Franz hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung in sie verliebt und diese Stelle nur ihretwegen angenommen. Er betete sie an, und er war in jeder Hinsicht ein echter Gentleman. Außer im Bett. Auch das gefiel ihr an ihm. Die gelegentlichen ehelichen Pflichtübungen – fünf Minuten in Missionarsstellung um zwei oder drei 25
Uhr morgens – befriedigten sie schon lange nicht mehr. Sie betrachtete den Oberkellner als ein Geschenk des Himmels, aber sie dachte nicht daran, ihren Mann seinetwegen zu verlassen. Obwohl Herr Franz sie mehrmals gebeten hatte, sich von Max scheiden zu lassen und mit ihm gemeinsam ein neues Lokal aufzumachen. Er hatte genug gespart, war fast in der Lage, die Hälfte der von Max gewünschten Ablöse in bar hinzulegen. Wenn Max so weitermachte, würde sie sich sein Angebot noch einmal überlegen. Außerdem war Herr Franz nicht abgeneigt, ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, im Gegenteil, er beteuerte oft, ihr gleich drei oder vier Kinderchen machen zu wollen. Max vertröstete sie nun schon seit sieben Jahren. Anfangs hatte es geheißen: »Wir haben noch Zeit, müssen uns erst finanziell sanieren, bevor wir überhaupt daran denken können, uns Nachwuchs zuzulegen.« Inzwischen ging Sophie auf die vierzig zu. Die biologische Uhr begann zu ticken. Und Max verkroch sich hinter seinem Schuldenberg. Sophie stammte aus einem kleinen Grenzdorf in Niederösterreich. Ihre freundliche, fast naive Art kam bei den Gästen gut an. Außerdem war sie immer noch eine Schönheit. Ein bisschen ländlich zwar, aber das wussten die Reichen und Berühmten, die ihr Lokal frequentierten, durch26
aus zu schätzen. Sie hatte viel Busen, viel Hintern, eine schlanke Taille und schöne, lange Beine. Ihr Haar war voll und strohblond. Sie trug es schulterlang. Beim Kochen hielt sie es mit einem Band im Zaum. Haare in der Suppe oder im Salat würde ihr hochrangiges Publikum nicht goutieren. Ihre blauen Augen, ihre rosigen Wangen, ihr großer, jederzeit zu einem Lächeln bereiter Mund und vor allem das neckische Grübchen auf ihrem Kinn hatten einen stadtbekannten Schriftsteller sogar zu einem Gedicht inspiriert. Kein Wunder, dass sie es vor nunmehr bereits acht Jahren geschafft hatte, den Weltenbummler Max, der es in keinem Job und bei keiner Frau länger als zwei Jahre ausgehalten hatte, zur Sesshaftigkeit zu bekehren. Max telefonierte schon seit zehn Minuten mit seinem Buchmacher. »Du bekommst dein Geld. Hast du es nicht immer gekriegt? … Ich kann unmöglich weg … Ja, morgen früh, hundertprozentig …« Er sprach so leise, dass Sophie, die gerade die halbierte Zwiebel auf der Herdplatte anröstete, nur ein paar Satzfetzen mitbekam. Sie zerteilte das Wurzelgemüse, stellte die Eieruhr auf 45 Minuten und verließ die Küche. Der Geruch von Knoblauch und Zwiebeln, der in der Luft hing, bereitete ihr eine leichte Übelkeit. 27
Womöglich hatte es beim letzten Mal mit Max doch geklappt? Sie wartete seit Tagen auf ihre Regel. Die Pille hatte sie längst abgesetzt. Wenn sie es mit Herrn Franz trieb, bestand sie an den gefährlichen Tagen auf Kondome. Allein der Gedanke, ihrem Mann ein Kind von einem anderen unterzujubeln, war ihr zutiefst zuwider. Mink de Ville säuselte inzwischen in erträglicher Lautstärke »Love me like you did before«. Herr Franz passte Sophie auf dem fensterlosen Gang zwischen Küche und Gastzimmer ab. »Dein lieber Mann wird dich ruinieren. Er verspielt auch dein Geld. Warum kapierst du das nicht endlich!« Er wurde selten heftig, doch jetzt packte er Sophie an den Armen und schüttelte sie. »Hast du nicht gehört, was er gerade seinem Buchmacher versprochen hat? Max hat heute dreitausend Euro auf irgendein lahmes Pferd gesetzt. Er ist nicht mehr ganz dicht. Hofft er, wenn er diesem versoffenen Idioten in den Arsch kriecht, dass er dann wieder auf den Damm kommen und ein volles Haus haben wird? Die Arschkriecherei ist vergeblich, das sag ich dir. Und passt nur auf mit der Pastete. Diese ausgezehrte Hutblume wird euch noch wegen Mordes vor Gericht bringen.« »Wovon sprichst du?«, sagte Sophie, ließ ihren Freund einfach stehen und leistete ihren Gästen Gesellschaft. 28
Siegi zog sie an sich, tätschelte ausgiebig ihren Po und flüsterte ihr kleine Schweinereien ins Ohr. Sie klopfte ihm auf die Finger, lächelte aber kokett. Herr Franz war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Seiner Meinung nach wehrte sie sich zu halbherzig gegen die plumpen Zärtlichkeiten dieses versoffenen Schweins. Wie fast alle ruhigen und sehr höflichen Menschen neigte er zu Jähzorn. Sein Gesicht war stark gerötet. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Um Siegi abzulenken, schenkte er Champagner nach. Die Flasche war nun leer. Gudrun bestellte eine zweite. Sophie schaute den Oberkellner Hilfe suchend an. Beide wussten, dass es die letzte Flasche dieser teuren Marke war. Herr Franz schlug vor, zu Weißwein überzugehen. Doch Gudrun bestand auf Champagner. Mit hochrotem Kopf verließ Sophie das Gastzimmer. Herr Franz schnappte die leere Flasche und folgte ihr hinaus. »Was sollen wir bloß tun?«, flüsterte Sophie. »Kein Problem, ich werde die hier« – er deutete auf die leere Champagnerflasche – »einfach mit Sekt füllen.« »Das merken sie sofort.« »Niemals. Der alte Busengrapscher hat bereits ein paar Whiskys intus. Und sie tut nur so, als 29
würde sie was von Wein und Champagner verstehen. Die hat keine Ahnung von Wein. Hast du nicht bemerkt, dass sie immer nur an ihrem Glas nippt und meistens mehr als die Hälfte stehen lässt? Außerdem sieht sie mir eher nach einer Schnapslerin aus.« »Weil sie jedes Mal drei, vier Verdauungsschnäpschen nach dem Essen braucht?« Herr Franz grinste. »Du kannst sie ja testen. Kredenz ihr diesen roten Sauerampfer aus deiner Heimat in einem Dekanter. Ich garantiere dir, sie wird ihn für einen ausgezeichneten italienischen Roten halten, wenn du eine leere Flasche Barolo daneben stellst.« »Und wie erklärst du ihr, dass die Champagnerflasche bereits offen ist?« »Lass mich nur machen.« »Du und deine verrückten Ideen!« »Sei nicht so negativ. Es wird schon klappen.« Er legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie auf den Mund. »Wenn uns jemand sieht.« Sophie stieß ihn weg. »Mein kleiner Angsthase.« Zärtlich streichelte er ihr Haar und drängte sie auf die Damentoilette. »Gib mir einen Kuss.« Die Toiletten befanden sich am selben Gang wie die Küche. Die absonderlichen Gerüche – ein Gemisch aus Fleischgestank, Zwiebel- und 30
Knoblauchgeruch, Urin und Scheiße – machten Sophie gehörig zu schaffen. »Hier stinkt’s erbärmlich! Klo und Küche liegen einfach zu eng beieinander. Wir brauchen dringend eine ordentliche Lüftung.« »Das predige ich doch seit Jahren. Aber dein geliebter Herr Gemahl investiert eben lieber in Pferdeäpfel …« »Hör auf. Das Thema hatten wir oft genug. Ich fürchte, dass wir wegen dieser sanitären Missstände demnächst die zweite Haube verlieren werden.« »Beruhig dich, mein Schatz.« Herr Franz schob seine Hände unter ihren Rock. »Nicht hier!« Er ließ sie reden. Ihr Sträuben nahm er nach all den Jahren nicht mehr ernst. Sie würde nächsten Sonntag beichten gehen. Und damit würde für sie die Welt wieder in Ordnung sein. Während er ihr mit einer Hand das Höschen auszog, verriegelte er mit der anderen die Klotür. Sophie lehnte sich über das Waschbecken, und Franz machte es ihr von hinten. Beide kamen nach wenigen Minuten. »Ich muss das Wurzelzeug reinhauen«, keuchte Sophie, befreite sich aus seinen Armen und blickte auf ihre Uhr. »Mein Gott, es ist schon sieben. Das Fleisch braucht sicher noch eine gute Stunde.« 31
»Immer mit der Ruhe. Ich kümmere mich um die Drinks. Solange sie was zu saufen haben, gibt es keine Beschwerden«, sagte er abfällig. Als der Oberkellner den Champagner, oder besser gesagt, den umgefüllten Sekt servierte, fauchte ihn Gudrun an: »Das hat eine Ewigkeit gedauert. Mein Mann ist am Verdursten.« »Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau, ich habe mir erlaubt, dem Chefkoch und der Dame des Hauses ein Gläschen einzuschenken. Ich nehme an, das war in Ihrem Sinne.« »Selbstverständlich, lieber Ferenc«, sagte Marlek. Auch Gudrun quälte sich ein gnädiges Lächeln ab. Sophie gesellte sich mit ihrem Glas zu den Gästen, stieß mit beiden an und verwickelte sie in ein Gespräch über den Nachtisch. Marlek bestand auf seinem geliebten »Mohr im Hemd«. Gudrun entschied sich für einen Topfenstrudel. »Und für unsere jungen Gäste machst du deine berühmten Pofesen«, sagte sie in ihrem Feldwebelton zu Sophie. »Ich glaube, meinem Kollegen wäre ein Kaiserschmarrn lieber«, warf Marlek ein. Während sie über Vor- und Nachteile von Pofesen und Kaiserschmarrn diskutierten und sogar Salzburger Nockerl und ordinären Schokoladen-Palatschinken in Erwägung zogen, ging 32
Herr Franz zurück in die Küche und fragte Max, ob er seine Hilfe brauche. »Ja, du könntest den Kren reiben und die Äpfel schälen. Meine Frau hat heute Abend anscheinend Besseres zu tun, als mir zur Hand zu gehen und ihre Arbeit zu erledigen.« Max schlug gerade Dekorzeug in Blätterteig ein und formte daraus kleine Kronen. Liebevoll betrachtete er seine minimalistischen Objekte und sagte stolz: »Mit diesen Krönchen werde ich die Königinnenpasteten garnieren.« »Was soll der ganze Firlefanz? Du bist und bleibst ein verspieltes Kind.« »Halt den Mund, Ferenc. Verschon mich mit deinem Frust. Kümmere dich lieber um den Apfelkren oder um unsere Gäste.« »Entschuldige, aber ich halte die Marleks nicht aus.« »Ich auch nicht, mein Freund.« Max Stimme kippte. Gleich wird er zu heulen anfangen, dachte Herr Franz angewidert. Aber da er doch Mitleid mit seinem Chef hatte, ließ er ihn in Ruhe. Mink de Ville schmetterte ihm ein »Just give me one good reason« nach, als er in die Gaststube zurückkehrte und die Marleks fragte, ob sie noch irgendwelche Wünsche hätten.
33
Ich bin keineswegs eifersüchtig auf dieses mollige Bauerntrampel. Im Gegenteil, Männern gegenüber betone ich oft, dass sie in den fünfziger Jahren bestimmt jeden Schönheitswettbewerb gewonnen hätte. Die Szene-Frauen beäugen sie mit scheelen Blicken, halten sie anscheinend für eine ernst zu nehmende Konkurrenz. Die Schlaueren von ihnen loben ihre Natürlichkeit. Fast bin ich erleichtert, dass Siegi wieder einmal ein neues Objekt der Begierde gefunden hat. Trotz seines übertriebenen Alkoholkonsums ist er leider noch nicht völlig impotent. Zwar kommt er nur mehr jedes dritte oder vierte Mal, wenn wir miteinander schlafen, aber leider kriegt er immer noch einen hoch. Mir graust vor seinem aufgeschwemmten, wabbeligen Körper. Und ich hasse es, wenn er mir seinen nach Alkohol stinkenden Atem ins Gesicht bläst. Wenn ich es mir recht überlege, so habe ich ohnehin nie in meinem Leben Spaß an Sex gehabt. Ich weiß nicht, was andere Frauen an dieser Rammelei schön finden. Womöglich geht es dieser Tussi ähnlich? Sie stellt sich ziemlich zickig an. Es wird langsam Zeit, dass sie endlich die Beine für Siegi breit macht. Den schlimmen Verriss habe ich geschrieben. Ich wollte ein bisschen Druck machen. Siegi hat 34
sogar Skrupel gehabt, die Besprechung in voller Härte abdrucken zu lassen, obwohl er sauer auf Sophie war. Im Grunde ist er ein gutmütiger Trottel. Deshalb hat er es auch in all den Jahren zu nichts gebracht. Ein Reihenhaus am Stadtrand, in einer noblen Villengegend in Neustift zwar, aber eben keine Villa mit riesigem Garten. Kostenlos saufen und fressen ist das Einzige, was meinen lieben Mann zu interessieren scheint. Außer Sex natürlich. Wahrscheinlich liegt es an seiner einfachen Herkunft. Auch meine proletarischen Schwiegereltern haben in den letzten Jahren ihres Lebens nur mehr Wert auf gutes Essen gelegt. Seit neuestem bevorzugt Siegi Liptauer- und Schmalzbrote, bestellt sie andauernd in den diversen Gourmetschuppen und freut sich wie ein Schneekönig, wenn er die Kellner und Köche damit in Verlegenheit bringt. Er wird schon langsam senil. Ich frage mich manchmal, warum er ausgerechnet mich geheiratet hat. Ich bin so gar nicht sein Typ. Vielleicht lag es an meiner Familie? Verarmtes Großbürgertum aus Hietzing? Sozialer Aufstieg, wichtige Beziehungen? Warum ich auf ihn reingefallen bin, weiß ich. Er war damals ein viel versprechender junger Kritiker und sah verdammt gut aus. Die exzellenten gesellschaftlichen Kontakte meiner Eltern haben ihm beruflich tatsächlich weitergeholfen. Anfangs verlief seine Karriere nach meinen Vor35
stellungen. Er entwickelte sich rasch zum gefürchteten Gourmetkritiker. Nicht nur in Wien, auch in den Hauben-Lokalen der Provinz war er wegen seiner gnadenlosen Verrisse berüchtigt. Ja, damals war er ein viel gehasster Mann. Dabei wollte er immer geliebt werden. Nach sechs, sieben Jahren zeichnete sich seine Alkoholikerkarriere ab. In letzter Zeit hat sein Biss gehörig nachgelassen. Ich bemühe mich nun halt wieder, dafür zu sorgen, dass er seinem früheren Ruf gerecht wird. Bei unserer Hochzeit vor zwanzig Jahren habe ich mir jedenfalls ein ganz anderes Leben mit ihm ausgemalt. Ein Leben in Luxus, umgeben von distinguierten Menschen, exklusive Garderobe, wertvoller Schmuck, interessante Fernreisen, Theater- und Opernbesuche … Wenn er so weitermacht, werden wir eines Tages in einem Altersheim des Wiener Kuratoriums landen. In einer 45 Quadratmeter großen Seniorenwohnung mit Blick auf den entlaubten Wienerwald. Kantinenessen, Kanasterpartien am Nachmittag und blöde Quizshows am Abend.
36
Heftiges Klopfen an der Tür. Der Schlüssel steckte im Schloss. Gudrun hatte, als sie von ihrem Ausflug zum Bankomaten zurückgekommen war, wieder abgeschlossen. »Unsere Gäste kommen«, rief sie. Natürlich fand sie es unter ihrer Würde, die Tür selbst zu öffnen. »Lass du sie rein«, bat Sophie, die gerade den Palatschinkenteig anrührte, Herrn Franz. Ein schlanker junger Mann in einem Anzug von Yamamoto und mit handgefertigten Schuhen betrat mit seiner hübschen Begleiterin das Lokal. Beide sahen aus wie getaufte Mäuse. Ihre Haare waren klitschnass, und die Kleider klebten an ihren Körpern. »Wir haben unsere Schirme vergessen. In dieser Gegend gibt es nicht einmal sonntags einen Parkplatz. Unser Audi A3 steht in der Bäckerstraße«, entschuldigte der junge Mann seinen aufgeweichten Zustand. »Wir sind mit einem Taxi gekommen«, sagte Gudrun. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn meine Kleider nach saurem Regen riechen.« Demonstrativ rümpfte sie die Nase, als die junge Frau neben ihr Platz nahm. »Sehr schlicht. Understatement? Lang oder Prada?« Gudrun zupfte mit ihren spitzen Fingern 37
am engen Rock der jungen Dame herum. Was die von jungen Leuten bevorzugten Designer betraf, war sie nicht ganz sattelfest. »Prada«, hauchte die Kleine. Siegi umarmte seine Gäste und sagte: »Seid willkommen, auch du, mein Sohn Brutus.« Herrn Franz missfielen die jungen Leute sofort. »Gelackter Affe und anorektische Tussi mit Wonderbra«, flüsterte er Sophie zu, als er in die Küche zurückkehrte. »Hört auf zu tuscheln und macht endlich weiter. Wir sind gehörig im Verzug«, murrte Max. Er war mit der Füllung seiner vol-au-vent überhaupt nicht zufrieden. Lieblos und unkonzentriert hatte er alle Zutaten zusammengemanscht. In Gedanken weilte er beim Derby in der Krieau. Gudrun hatte ihm die fünftausend gezeigt, wollte sie ihm aber erst nach dem Essen geben. Er hatte sich wieder einmal nicht durchsetzen können. Während Sophie die Palatschinken schupfte, meckerte er leise vor sich hin. »Es reicht. Diese zaundürre alte Schachtel frisst eh nichts.« »Aber die jungen Leute …«, widersprach Sophie, als sie die fünfte Palatschinke in die Luft warf. »Sind magersüchtig! Hat der Ferenc doch gerade gesagt.« 38
Max hatte gute Ohren. Sophie nahm sich vor, in Zukunft ein wenig vorsichtiger zu sein. Zum Glück wollten die neuen Gäste als Aperitif keinen Champagner, sondern trockene Martinis. Als Herr Franz die Drinks servierte, bekam er mit, wie der junge Kritiker und seine Freundin die Konterfeis der längst verblichenen oder sich zumindest im Ruhestand befindenden Ikonen der Wiener Szene an der Wand bewunderten. Bürgermeister, Minister, berühmte Schauspieler und Kabarettisten, darunter auch einige Kriminelle. Er knallte dem Pärchen die Martinigläser vor die Nase. Prominentengeilheit war ihm schon immer verhasst gewesen. »Alles, was in Wien Rang und Namen hat, war hier Stammgast. Und ich bin mit allen befreundet gewesen«, brüstete sich Marlek und verfiel ihn andächtiges Schweigen. Sehnsüchtig dachte er an die guten, alten Zeiten. Nächtelang hatte er sich im »Lieben Augustin« mit Politikern, egal welcher Partei sie angehörten, amüsiert und verbrüdert. Sogar mit den ganz Linken. Nach ein paar guten Flaschen Wein waren unterschiedliche politische Ansichten zum Nebenwiderspruch degradiert worden. »Hier hat wahrhaft Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geherrscht«, verkündete er. »Keiner hat versucht, den anderen auszutricksen oder ihm den Rang abzulaufen.« Er 39
schenkte seinem Kollegen einen scheelen Blick. Als er dann einen Toast auf seine ehemaligen Saufkumpane, die jämmerlich an Leberzirrhose zugrunde gegangen waren, aussprach, verdrückte er sogar ein paar Tränen.
40
Ich will nicht so enden wie all diese Idioten. Ich muss ihn ausschalten, bevor unser Niedergang nicht mehr aufzuhalten ist. Schon jetzt steigen uns die Chefredakteure kräftig auf die Zehen. In diesem Jahr hat er keinen einzigen Artikel mehr zeitgerecht abgeliefert. Wenn ich nicht immer in letzter Minute einspringen würde, hätten sie ihn längst gefeuert. Die geplante TV-Show – er soll ein Duell zwischen zwei Starköchen moderieren – wäre auch fast in die Hose gegangen, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Der Programmchef hat den jungen Mann, der heute unser Gast ist, eindeutig vorgezogen. Siegi verdankt es allein meinen guten Beziehungen zum Intendanten, dass er noch diese eine Chance erhält. Er wird natürlich wieder alles vermasseln. Mein Optimismus hält sich jedenfalls in Grenzen. Vor kurzem habe ich zum ersten Mal hinter seinem Rücken Vertragsverhandlungen geführt. Ich habe mich mit einem Verlagsleiter, einem alten Freund von uns, darauf geeinigt, dass der nächste Heurigenführer unter dem Namen Marlek erscheinen wird. Marlek heiße auch ich. Kein Siegbert P. mehr davor. Übrigens bedeutet P. nicht Peter oder Paul, sondern Pavliczek. So hieß Siegis Mutter mit Mädchennamen. Der Verlagschef weiß über Siegis Schreibhem41
mung Bescheid. Ich hoffe, einfach unter dem Namen Marlek weitermachen zu können, aber zuerst muss ich meinen Mann loswerden. An der Pastete wird er kaum verrecken, dennoch ist der Versuch es wert. Vielleicht krepiert er doch an einem Herzinfarkt? Brechen ist anstrengend, und sein Herz ist nicht das beste. Verfettet, sagte der Internist, bei dem wir vor ein paar Monaten waren. Außerdem schnarcht Siegi neuerdings schrecklich. Aber er weigert sich hartnäckig, im Wohnzimmer zu schlafen. Für getrennte Schlafzimmer ist unser Häuschen zu klein. Nicht nur einmal habe ich daran gedacht, diesem grässlichen Schnarchen mit Hilfe eines dicken Kissens ein Ende zu bereiten. Doch der Verdacht würde sicher sogleich auf mich fallen. Schlimmer als sein Schnarchen finde ich nur sein permanentes Gequatsche. Den ganzen lieben Tag lang ödet er mich mit den ewig gleichen Geschichten an, prahlt wie ein kleiner Junge, der seiner Mama imponieren will, und merkt überhaupt nicht, dass ich ihm gar nicht mehr zuhöre. Ich habe eine Fluchtmöglichkeit, und die heißt Computer. Aber selbst wenn ich an unserem PC sitze und seine Artikel schreibe, lässt er mich nicht wirklich in Ruhe. Meistens setzt er sich mit einer Flasche Rotwein zu mir und gibt seine blöden Kommentare zu meinen Besprechungen ab. 42
Allein weggehen darf ich nicht. Egal wohin ich gehe, und sei es zum Gynäkologen, er kommt immer mit. Er ist mein Schatten. Verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Siegi hält es mit sich allein zu Hause nicht aus. Fast kann ich ihn verstehen. Ich halte es mit ihm ja auch nicht aus.
43
Siegi Marlek wischte sich die Tränen aus den Augen und rief: »Gibt’s denn in diesem Saftladen keine anständige Musik?« Da weder die Wirtsleute noch Herr Franz in der Nähe waren, erhob er sich und verkündete: »Ich werde mich mal lieber selber drum kümmern.« Auf dem Gang stieß er fast mit Sophie zusammen. Sie hatte ein Tablett mit einem kleinen Gruß des Hauses in den Händen. Die Sülzchen sahen köstlich aus. Marlek hatte nur Augen für ihren halb entblößten Busen. Als er seine Arme um ihre Taillle schlang, steckte sie ihm neckisch ein Sülzchen in den Mund. Er legte seine Hand zwischen ihre Brüste. Die vernichtende Kritik aus seiner Feder hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. Als er sie mit vollem Mund abschmuste, ließ sie ihn, die Schulden ihres Mannes vor Augen, gewähren. Selbst Max hatte ihr nahe gelegt, in Zukunft ein bisschen netter zu Siegi Marlek zu sein. Verstohlen blickte sie sich um. Ein gekünsteltes Lächeln auf den Lippen, wandte Max sich ab. Nicht zum ersten Mal akzeptierte er stillschweigend, dass sich der alte Lustmolch an seiner Frau vergriff. Dieser Schlappschwanz würde nicht nur mich, sondern 44
auch seine Seele an den Teufel verkaufen, um eine gute Kritik zu bekommen, dachte Sophie und ließ sich von Marlek die Zunge in den Mund stecken. Herr Franz konnte die Schmuserei allerdings nicht länger mit ansehen. »Sind wir hier in einem Puff?«, fauchte er die beiden wütend an. Marlek ließ Sophie los und starrte den Oberkellner böse an. »Halten Sie sich da raus!«, brüllte er. Herr Franz tat, als würde er zu einer Ohrfeige ausholen. Allein die Geste wischte das überhebliche Grinsen von dem selbstzufriedenen Gesicht des Kritikers. Sophie drängte sich zwischen die beiden, schenkte ihrem Liebsten einen beschwichtigenden Blick, drückte ihm das Tablett mit den Sülzchen in die Hand und flüsterte Marlek ins Ohr: »Ich such dir die CD mit den Wiener Liedern.« »Lassen Sie in Zukunft gefälligst Ihre dreckigen Finger von ihr«, sagte Herr Franz und drohte dem Kritiker mit der Faust. Als der Oberkellner kurz danach die Sülzchen servierte, registrierte er mit Genugtuung, dass sich der geile alte Bock nun an die Freundin seines jungen Kollegen ranmachte. »Ja, Herr Marlek … Sie haben völlig Recht, 45
Herr Marlek … Wie sehen Sie das, Herr Marlek?«, säuselte die Kleine unentwegt. Marlek monologisierte und starrte die ganze Zeit fasziniert auf ihr Dekolleté. Als er mit seinen plumpen Fingern den goldenen Astro-Anhänger betatschte, der zwischen ihren kleinen Brüsten baumelte, und »Oh, ein Skorpion« murmelte, grinste ihr Freund blöde. Noch einer, der seine Frau verkauft, dachte Herr Franz und begab sich wieder in die Küche, um zu sehen, was der andere Held aus dem hoffentlich tödlichen Rezeptvorschlag machte. Marlek duldete normalerweise keine Zwiegespräche an seinem Tisch. Er musste immer und überall Wortführer sein, immer im Mittelpunkt stehen. Doch Gudrun wusste aus langjähriger Erfahrung, wann es ihr erlaubt war, sich einen anderen Gesprächspartner zu suchen. Sobald Marlek ein Auge auf eine andere Frau geworfen hatte, war es ihm recht, wenn sie sich mit jemandem – am besten natürlich mit dem jeweiligen Freund oder Ehemann – unterhielt. Deshalb hatte sie in der Vergangenheit auch meist dafür gesorgt, dass Siegi bei seinen Gelagen und Zechtouren reizende weibliche Gesellschaft vorfand. Wenigstens musste sie sich dann zu fortgeschrittener Stunde nicht mehr seine alten Geschichten zum hundertsten Mal anhören. Dieser Augenblick war nun gekommen. Und 46
sie tat, was sie am besten beherrschte, sie betrieb Small Talk mit dem Rivalen ihres Mannes, während Siegi weiterhin mit der Kleinen flirtete. »Kunstgeschichte studierst du, na, da kann ich dir ein bisschen Nachhilfe geben«, machte er sich gerade wichtig. »Ich kenne diese ganze Mischpoche persönlich. Wenn du Kontakte zu Galeristen brauchst oder ein paar Malerfürsten persönlich kennen lernen willst, musst du es mir nur sagen …« Vertieft in ein interessantes Gespräch mit dem jungen Kritiker über Auf- und Absteiger in der österreichischen Gastronomie, nahm Gudrun Siegis Prahlereien kaum mehr wahr. Marlek erzählte der Kleinen gerade die Geschichte vom lieben Augustin. Natürlich hatte sie die bereits als Achtjährige in einem Sagenbuch gelesen. Aber sie war zu eingeschüchtert und zu sehr von ihm beeindruckt, um ihm zu sagen, dass sie die Story kannte. »Er war auch ein Künstler. Ein echter Lebenskünstler. An einem Abend im September des Jahres 1679 ist der arme Augustin deprimiert im ›Roten Dachel‹ gesessen. Das sonst immer so überfüllte Lokal ist fast leer gewesen. Keiner, der ihm zugehört, ihm Beifall geklatscht oder über seine Späße gelacht hat. Still und leise hat er sich betrunken und ist spät in der Nacht über den Kohlmarkt zum Burgtor gewankt. Plötzlich ist er 47
gestolpert und in den Rinnstein gefallen. Er war zu betrunken, um wieder aufzustehen. Kurz danach ist ein Leichenwagen vorbeigekommen. Die Pestknechte haben ihn für ein weiteres Opfer der schrecklichen Seuche gehalten, haben ihn aufgeladen und ihn dann in eine Pestgrube geworfen. Als er am Morgen danach erwacht ist und festgestellt hat, dass er die Nacht in der Gesellschaft von Leichen verbracht hat, ist er fast durchgedreht. Mit viel Geschimpfe und Gefluche hat er es schließlich geschafft, dass ihm die Knechte, die ihn zuerst natürlich für ein Gespenst hielten, aus der tiefen Grube geholfen haben. Kaum war er befreit von all den stinkenden Kadavern, kehrte seine Fröhlichkeit zurück. Singend und pfeifend hat er sich aus dem Staub gemacht. Selbst die Yersinien haben sich in seinem alkoholgetränkten Blut nicht wohl gefühlt. Er ist erst viele Jahre später gestorben, als alter Mann und genauso vergnügt wie immer. Und was ist die Lehre aus dieser Geschichte? – Vergiss das Trinken nicht! – Prost!« Herr Franz servierte die Frittatensuppe und die hübschen Pastetchen für Marlek. »Siehst du nicht, dass du störst?«, fauchte ihn der Kritiker an. Er umarmte gerade die junge Frau und trank mit ihr Bruderschaft, obwohl er seinerseits ohne48
hin von Anfang an per du mit ihr gewesen war. Seine Lippen verweilten ziemlich lange auf ihrem stark geschminkten Mund. »Jackie, was für ein hübscher Name«, säuselte er. »Deine Alten waren wohl Fans von Jackie Kennedy?« Das Mädchen kicherte. Gudrun musterte den jungen Kritiker. Das arrogante Lächeln verabschiedete sich aus seinem Gesicht. Leicht pikiert blickte er auf seine halb volle Suppenschüssel. Der Regen prasselte an die Fensterscheiben. Es war feucht und kalt in dem kleinen Lokal. »Wir beide sind ja schon längst per du. Warum traust du dich nicht, einfach Siegi zu sagen«, wandte sich Marlek nun lallend an den jungen Mann. »Prost, Hannes, auf deine ungewisse Zukunft!« »Iss endlich deine Vorspeise. Oder schmecken dir die zarten vol-au-vent nicht? Sophie hat dieses Rezept extra für dich ersonnen«, sagte Gudrun, der die besoffenen Verbrüderungsversuche ihres Mannes auf die Nerven gingen. »Großartig. Einfach phantastisch.« Marlek verschlang die restlichen Pastetchen und wandte sich an Hannes. »Löffel du nur brav deine Suppe. Suppen sind genau das Richtige für zahnlose alte Weiber.« Dann fuhr er fort, seine scheinbar andächtige 49
Bewunderin mit Anekdoten aus seiner ruhmreichen Vergangenheit zu unterhalten. Jackie gähnte mehrmals hinter vorgehaltener Hand und schickte ihrem Freund Hilfe suchende Blicke. Er schien sie nicht zu bemerken, machte weiter höflich Konversation mit Gudrun, die die Blicke des Mädchens sehr wohl zu deuten wusste und sich daran delektierte. »Herr Franz«, rief sie plötzlich, »da sie in der Küche noch immer nicht fertig sind, bringen Sie uns doch inzwischen eine Flasche von Ihrem besten Weißen. Mein Mann hat unseren Gästen eine wichtige Mitteilung zu machen.« »Du wirst wahrscheinlich demnächst gefeuert werden«, sagte Marlek zu seinem Kollegen, noch bevor Herr Franz die zweite Flasche brachte. »Der Herausgeber unseres Magazins hat mir gestern mitgeteilt, dass er sich auf Dauer keine zwei Gourmetkritiker leisten kann. Und aus deiner Fernseh-Show wird wohl nun auch nichts werden. Sie wollen mich wiederhaben. Tut mir Leid, mein Junge.« Hannes erblasste, sagte nichts, schaute Marlek nur entgeistert an. »Hast du echt geglaubt, so einen alten Hasen wie mich ausschalten zu können? Wenn ja, bist du ein Idiot. Ich bin nicht nur mit dem Herausgeber, sondern auch mit dem Chefredakteur seit vielen Jahren befreundet. Du hast eine Chance 50
gehabt, solange ich dich in meinem Windschatten segeln ließ. Jetzt ist endgültig Schluss, mein Freund. Du kannst es ja noch bei einem dieser alternativen Stadtmagazine versuchen. Aber ich fürchte, auch die stehen eher auf meine Glossen. Prominenz ist immer und überall gefragt.« Hannes war anzusehen, dass er dem Heulen nahe war. Auch das liebliche Lächeln seiner Freundin hatte sich bei Marleks letzten Worten zu einer hässlichen Grimasse verzerrt. Marlek wechselte sogleich das Thema, erzählte von seinen Erfahrungen mit deutschen Verlagen und betonte, als eingefleischter Österreicher viel mehr Wert auf Präsenz in Wien als in Berlin zu legen. Als Max persönlich den Tafelspitz servierte, sprang Marlek auf und verließ etwas überhastet das Gastzimmer. »Wir warten nicht auf ihn. Wir fangen an«, forderte Gudrun ihre Gäste auf und bat Max, ihrem Mann das Essen später zu servieren. »Wie ich ihn kenne, wird er auf dem stillen Örtchen etwas länger verweilen.«
51
Seine Blase ist nicht mehr die beste. So wie achtzig Prozent aller Männer über fünfundfünfzig macht ihm die Prostata gehörig zu schaffen. Er hat andauernd das Gefühl, pinkeln zu müssen. Schon mehrmals habe ich ihm nahe gelegt, einen Urologen aufzusuchen. Ich habe es gründlich satt, seine angepissten Unterhosen zu waschen. Doch Siegi hält sich von Ärzten möglichst fern. Der arme Hannes wird wohl auch gleich einen Arzt brauchen. Seine gesunde Gesichtsfarbe ist nach den deutlichen Worten meines Mannes einer Leichenblässe gewichen. Kaum hat er sich wieder etwas gefangen, versucht er mich auszufragen. Seine Manieren sind nach wie vor tadellos. Er kommt bestimmt aus einem guten Stall. Egal, ich kann es mir nicht leisten, generös zu sein. Der Knabe bemüht sich hartnäckig, mich bei Laune zu halten. Wahrscheinlich hofft er, Siegi mit meiner Hilfe umstimmen zu können. Ob er sich mir gegenüber wohl ebenso nett benehmen würde, wenn er wüsste, dass seine bevorstehende Kündigung allein meine Idee war? Ich betone, dass ich mit Siegis geschäftlichen Angelegenheiten nichts zu tun hätte, und dass er warten müsse, bis mein Mann von der Toilette 52
zurückkomme. Nach einer Viertelstunde werden unsere jungen Gäste unruhig. »Mein Mann schaut gern in Kochtöpfe. Bestimmt nervt er gerade die arme Sophie«, beruhige ich sie. Sie lächeln gequält und stochern lustlos in dem köstlichen Tafelspitz herum. Warum ist unsere Jugend heutzutage bloß so gelangweilt, feige und uninteressiert? Scheinbar fasziniert hingen sie an den Lippen meines Mannes. Als es dann zum Showdown kam, spürte ich förmlich ihre Aggressionen. Am liebsten hätten sie ihm ins Gesicht geschlagen, ihn niedergeschlagen, wie diese jugendlichen Gangs in den USA es mit alten, reichen Männern machen. Doch ihre einzige Reaktion war betretenes Schweigen. Sie sind viel zu kultiviert, um aus dem Rahmen zu fallen. Und vor allem sind sie extrem leistungsorientiert, sehr ehrgeizig und total angepasst. Obwohl mir das eigentlich imponieren sollte, öden sie mich mit ihrer Bravheit an. Ich empfinde nicht die geringste Spur von Mitleid mit diesen jungen Leuten. Sadistische Spielchen waren früher Siegis Spezialität. Heute Abend ist er beinahe zu seiner alten Höchstform aufgelaufen. Ich kann ihm dieses Kompliment nicht verhehlen. Er hat sich hofieren lassen, mit der Kleinen geflirtet und zu guter Letzt seinen Rivalen mit einem Hieb vernichtet. 53
Aber ich kann mich nicht wirklich an seinem Triumph erfreuen. Es ist nur ein Aufschub. Trotz meiner tatkräftigen Unterstützung wird er sich nicht mehr lange halten können. Ein Jahr vielleicht oder zwei? Mir graut vor dem trostlosen Ende. Siegis Sechzigster ist nicht mehr allzu fern. Und er spricht jetzt schon andauernd von seinem wohlverdienten Ruhestand. Ich habe diesen Mann, der permanent Blödsinn vor sich hin brabbelt, so satt, ebenso satt wie all diese Leute, die ihm nach wie vor schöntun und in den Arsch kriechen. Ich kann nur hoffen, dass ihm nach dem Genuss der Pastetchen ordentlich schlecht geworden ist. Vielleicht kotzt er gerade und spuckt sich die Lunge aus dem Hals? Aber ich höre nichts. Keine verdächtigen Geräusche. Womöglich entleert er wirklich nur seine volle Blase? Als Sophie an der Herrentoilette vorbeiging, vernahm sie leises Stöhnen. Zögernd klopfte sie an die Tür. »Ist da jemand drin?« Sie erhielt keine Antwort. Das Stöhnen wurde jedoch lauter. Energisch rüttelte sie an der Türklinke. Die Tür war nicht verschlossen. Fahl, fast grau im Gesicht, lehnte Siegi Marlek an der Wand und nestelte an seinem Hosenschlitz. »Ist dir schlecht? Soll ich dir helfen?« Sophie quetschte sich zu ihm in die enge Toilette. 54
»Ich brauche Cortison. Schnell!« Sie schaute ihn verständnislos an. »Wegen meiner Allergie … In meiner rechten Jackentasche …«, röchelte Marlek. Mit spitzen Fingern nahm sie die Spritze aus seiner Tasche. »Hol Gudrun, die kennt sich damit aus.« Sophie musste unwillkürlich an die seltsame Geschichte mit den Austern und an die boshaften Anspielungen von Max und Ferenc denken. »Ich mach’s dir. Hab keine Angst, das werden wir schon hinkriegen«, beteuerte sie rasch. »Wohin soll ich dir die Spritze geben?« »In den Oberschenkel.« Er bebte am ganzen Körper und versuchte weiterhin vergeblich, den Reißverschluss seiner Hose aufzukriegen. »Intravenös?« »Neiiin«, stöhnte er hysterisch. »Also einfach unter die Haut. Kein Problem.« Am liebsten wäre sie abgehauen und hätte diesen bibbernden und flennenden Idioten seinem Schicksal überlassen. »Beruhige dich. Lass mich nur machen.« Er zappelte herum wie ein kleiner Junge, der dringend aufs Klo musste. Es kostete sie einige Mühe, ihm die Hose runterzuziehen. Als Herr Franz die halb vollen Suppentassen in die Küche bringen wollte, hörte er Stimmen auf dem Gang. Die Tür der Herrentoilette war ange55
lehnt. Er riskierte einen Blick durch den Spalt. Und was er sah, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Marlek stand vor der Klomuschel, stützte sich links und rechts mit den Händen an der Wand ab und streckte Sophie, die vor ihm hockte, seinen nackten Unterleib vor die Nase. In diesem Moment erschien Max in der Küchentür und schnauzte: »Was treibst du denn da? Muss ich heute wirklich alles allein machen?« Herr Franz zuckte zusammen und brachte rasch das schmutzige Geschirr in die Küche. Sophie gelang es schließlich, Marlek die Spritze in den Oberschenkel zu jagen. Er litt jedoch weiter unter schwerer Atemnot und hatte das Gefühl zu ersticken. Sein Herz drohte zu zerspringen. Erschöpft ging er vor dem Klo auf die Knie, klammerte sich an den Rand der Muschel und würgte. Sophie konnte dieses grauenhafte Würgen nicht länger mit anhören. Als die köstlichen volau-vent in die Klomuschel platschten, drehte sich auch ihr der Magen um. Sie wankte zur Tür. »Bleib bei mir«, stammelte Marlek. »Du kannst mich mal«, fauchte sie. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es auf die Damentoilette, setzte sich auf den Klodeckel und beschloss, so lange hier sitzen zu bleiben, bis der ganze Horror vorbei war. Zum Glück fand sie eine angebrochene Schachtel Marlboro hinter 56
den Klopapierrollen. Max hatte ihr nach ihrer letzten chronischen Bronchitis das Rauchen verboten. Seither versteckte sie ihre Tschiks an den unmöglichsten Plätzen und lutschte nach jeder heimlich gerauchten Zigarette ein Pfefferminzbonbon. Gudrun rief herrisch nach dem Oberkellner. Ihr lautes, schrilles Organ drang bis zu Max in die Küche. »Das Fleisch können Sie wegbringen, Herr Franz. Unsere Gäste haben anscheinend keinen Appetit!«, schrie sie. Dann wandte sie sich scheinheilig grinsend an das junge Pärchen. »Oder hat es Ihnen nicht geschmeckt?« »Nein, nein, natürlich …«, stammelte Jackie und blickte ihren Freund, der mit hängenden Schultern auf seinem Stuhl hockte, verzweifelt an. »Und bringen Sie uns noch einen guten Roten. Aber ja nicht den Tischwein! Ich weiß, dass Max den Schlüssel für seinen Weinkeller nicht gerne rausrückt. Sie können ja Sophie becircen«, sagte Gudrun scherzhaft und reichte dem Oberkellner, der Teller und Platten auf seinen Armen gestapelt hatte, die halb volle Weißweinflasche. Herr Franz brachte das schmutzige Geschirr in die Küche und knallte es auf den Arbeitstisch. »Vergebliche Liebesmüh. Die fressen sowieso 57
nichts. Saufen und ficken ist das Einzige, was sie im Schädel haben«, fauchte er seinen Chef an, der gerade die Schokolade für den »Mohr im Hemd« erhitzte. Max schaute ihn verwundert an. »Sie will einen von deinen kostbaren Franzosen kosten. Gib mir den Kellerschlüssel.« »Kommt überhaupt nicht in Frage. Mach einen Beaujolais auf. Die alte Kuh hat sowieso keine Ahnung von Wein, und er ist inzwischen bestimmt schon stockbesoffen. Weißt du übrigens, wo Sophie ist?« »Keine Ahnung. Vielleicht solltest du dich lieber mehr um deine Frau kümmern als um diese blöde Schokoladensauce.« »Scher dich um deinen eigenen Dreck«, schimpfte Max. Als Herr Franz wieder an der Herrentoilette vorbeikam, drangen keine verdächtigen Geräusche mehr zu ihm. Außerdem war die Tür zu. Erleichtert servierte er den Beaujolais. Gudrun saß weiterhin allein mit dem Pärchen am Tisch. Keine Spur von Marlek und Sophie. Etwas zu hastig versuchte er die Flasche zu öffnen. Der Korken bröselte. Ohne Gudruns spöttisches »Warum so nervös, Herr Franz?« zu beachten, machte er einen zweiten Versuch und versenkte den Korken endgültig in der Flasche. »Ich weiß eigentlich nicht, warum wir nach 58
wie vor hierher gehen«, bemerkte Gudrun zu dem jungen Kritiker. »Der Laden ist in den letzten Monaten ziemlich heruntergekommen. Sie haben ja sicher Siegis Kritik gelesen.« »Ich hol eine neue«, murmelte Herr Franz. Am liebsten hätte er dieser alten Schachtel die Weinflasche über den Schädel gezogen. Auf dem Gang vernahm Herr Franz nun wieder eindeutige Geräusche. Er riss die Tür der Herrentoilette auf und starrte entgeistert auf Marleks fetten, nackten Hintern. »Verzieh dich«, stöhnte Marlek. Der Oberkellner, die Flasche und den Korkenzieher in der Linken, starrte den Kritiker, der vor dem Klo auf den Knien lag und den Kopf in die Muschel steckte, fassungslos an. »Zisch ab, Scheiß-Gulaschfresser«, fauchte Marlek und versuchte sich aufzurappeln. Unsicher holte er aus, so als wollte er ihm eine schmieren. Die heruntergelassene Hose brachte ihn erneut zu Fall. Er kippte um und knallte mit dem Schädel auf den Rand der Klomuschel. Seine Augen verdrehten sich. Etwas blöde starrte er auf die abbröckelnde Decke. Als sein Kopf in die Muschel rutschte, vernahm Herr Franz seltsame grunzende Laute. Vor Schreck ließ er Flasche und Korkenzieher fallen. Die Flasche zerschellte auf den Fließen. Der blutrote Beaujolais bildete kleine Pfützen auf dem 59
unebenen Boden. Beherzt packte er Siegi Marlek an den Haaren und zog seinen Kopf aus der Klomuschel. Der Alte strampelte mit den Beinen und schlug mit den Armen um sich. Ein Schlag traf die linke Wange des Oberkellners. Herr Franz verlor die Beherrschung. Wütend drückte er Marleks Kopf, mit dem Gesicht voran, zurück in die volle Muschel und hielt ihn eine Weile dort fest. Reine Notwehr oder eine Art Reflexbewegung, sagte er sich nachher. Marlek gab ein paar gurgelnde Geräusche von sich, die bald in erstickende Laute übergingen. Sein Kopf steckte bis über beide Ohren in der bräunlichen Suppe. Als Herr Franz ihn wieder losließ, hörte er keinen Ton mehr. Er verließ die winzige Toilette, holte einen Aufnehmer und einen Müllsack und beseitigte hinter verschlossener Tür die kleine Schweinerei, die er angerichtet hatte. Seelenruhig machte er sich danach weiter ans Abservieren. »Heut kommen die Engerl auf Urlaub nach Wearn«, schallte es durch den Gang. Irgendjemand hatte die Wiener Lieder aufgelegt und den CD-Player lauter gedreht. Der Oberkellner brachte den Suppentopf in die Küche, warf das Fleisch hinein und stellte den Topf wieder auf den Herd. Max sah ihn fragend an. 60
»Ich hab Hunger. Ihr nicht?« »Ist Sophie heimgefahren? Ich hab sie seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie ist wirklich unmöglich. Wir haben wichtige Gäste, und dieses Bauerntrampel haut einfach ab.« Obwohl Herr Franz einen gewissen Verdacht hatte – auf dem Gang hatte es nach Zigarettenrauch gerochen –, zuckte er mit den Schultern.
61
»Wo bloß mein Mann bleibt?«, frage ich, als der passende Zeitpunkt gekommen scheint, mir ernsthaft Sorgen um ihn zu machen. »Könnten Sie bitte mal nach ihm sehen? Womöglich ist ihm übel geworden«, sage ich zu dem jungen Kritiker. Hannes springt sofort auf und verlässt die Gaststube. Als er nach ein paar Minuten wieder an den Tisch zurückkehrt, ist der letzte Rest von Farbe aus seinem Gesicht gewichen. »Was ist denn mit Ihnen los? Sie sehen ja aus, als wäre Ihnen ein Gespenst über den Weg gelaufen«, sage ich spöttisch. Er nimmt im Stehen einen Schluck aus dem Glas seiner Freundin und flüstert: »Ich fürchte, Ihrem Mann ist tatsächlich schlecht geworden.« Ich verkneife mir jede weitere Frage. Als er jedoch sagt: »Es ist spät geworden. Ich fürchte, wir müssen bald gehen«, bin ich etwas irritiert. Im nächsten Augenblick geht meine Phantasie mit mir durch: Womöglich hat er Siegi den Garaus gemacht? Bin ich etwa seit ein paar Minuten Witwe? Aber ich verwerfe diesen Gedanken sogleich wieder. Der ängstliche, wohl erzogene Hannes ist sicher kein Mörder. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Siegi ihn weiter verhöhnt und beleidigt hat. Freundlich lächelnd sage ich: »Sie haben ja die 62
köstliche Nachspeise noch gar nicht gekostet. Sein ›Mohr im Hemd‹ schmeckt wirklich exorbitant.« Hannes hat inzwischen auf der vorderen Kante seines Stuhls Platz genommen. Ich spüre sein Unbehagen beinahe körperlich. »Ich bedaure es sehr, aber wir müssen darauf verzichten. Wir sind noch verabredet«, murmelt er. Die kleine Jackie erweist sich als kongeniale Partnerin. Lächelnd sagt sie: »Ja, wir müssen uns leider verabschieden. Wir haben noch einen Termin mit dem Chefredakteur des neuen österreichischen Gastro-Journals. Vielen herzlichen Dank für die Einladung.« »Aber für einen kleinen Absacker wird wohl noch Zeit sein?«, sage ich und will den beiden rasch nachschenken. Hannes hält jedoch seine Handflächen schützend über die Gläser und steht auf. »Nein, danke. Wir müssen wirklich los.« Er fordert Jackie auf, sich ebenfalls zu erheben. Dann streckt er mir seine Hand hin und verlässt mit seiner Freundin im Schlepptau den »Lieben Augustin«. Die Kleine gibt mir zum Abschied nicht einmal mehr die Hand. Verärgert und gleichzeitig amüsiert über ihr unhöfliches Benehmen, sehe ich den beiden durchs Fenster nach, bis die Dunkelheit sie ein63
hüllt. Die Straßenbeleuchtung spendet nur dürftiges Licht. Der Regen hat kaum nachgelassen. Der Wind peitscht das Wasser über das Pflaster. Nur mit dem dünnen Prada-Jäckchen über ihrem trägerlosen Top wird sich die arme Jackie bestimmt erkälten. Der jugendlichen Gesellschaft beraubt, mache ich mich selbst auf die Suche nach meinem Mann. Ich will mich nicht zu früh freuen. Die Chancen, dass er inzwischen verreckt sein könnte, stehen nicht allzu gut. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Von den Wirtsleuten ist weit und breit nichts zu sehen. Auch Herr Franz scheint sich bereits zurückgezogen zu haben. Völlig ungeniert öffne ich die Tür der Herrentoilette. Mein Schrei beim Anblick meines Mannes, der halb nackt über der Klomuschel hängt, geht mir selbst durch Mark und Bein. Ich beuge mich über ihn, betrachte mit einer gewissen Befriedigung den großen, kahlen Fleck auf seinem Hinterkopf. Dann packe ich ihn an seinem neckischen Schwänzchen, das er seit kurzem mit einem Gummiringerl im Nacken zusammenbindet, zerre seinen Kopf aus der braunen Brühe und schau ihm ins Gesicht. Vorwurfsvoll, die Augen eines Toten. Auf den ersten Blick scheint er an seinem Erbrochenen erstickt zu sein. Vielleicht hat auch 64
jemand nachgeholfen? Der überstürzte Aufbruch des jungen Kritikers erscheint mir nach wie vor ziemlich verdächtig. Und die kleinen rötlichen Flecken auf dem Boden irritieren mich. Ist das womöglich sein Blut? Besser nichts anfassen, sage ich mir und gehe rasch in die Küche.
65
Die Damentoilette war frei. Herr Franz öffnete die Kellertür, die sich neben den Toiletten befand. Im Dunkeln tastete er sich die Stiege hinunter und flüsterte: »Sophie, mein Liebling, wo bist du?« Erst nach ein paar Sekunden machte sie Licht an. »Willst du dich vergiften?«, fragte er, da er vor lauter grauem Dunst ihr Gesicht kaum sehen konnte. Auch er missbilligte den Zigarettenkonsum seiner Liebsten, doch er hätte es niemals gewagt, ihr das Rauchen zu verbieten. Wie ein verängstigtes Kind hockte sie auf dem kalten Steinboden zwischen den hohen Regalen und den großen Weinfässern. Eine offene Flasche Rotwein stand neben ihr. Die Zigarettenstummel bildeten schon ein kleines Häufchen. Sophie sprang auf und umarmte ihn schluchzend. »Ich halte diese ganze Scheiße nicht mehr länger aus. Sind sie endlich weg?« »Einige, aber leider nicht alle«, murmelte Herr Franz und streichelte beruhigend ihren Nacken. »Mein Liebes, du verträgst doch nichts.« Er sah sich die Rotweinflasche genauer an. Mehr als zwei Viertel hatte sie anscheinend noch nicht intus. »Mir ist schlecht«, murmelte Sophie und 66
schmiegte sich an ihn. »Er hat fürchterlich gekotzt. Ich hab ihm helfen wollen, hab ihm sogar eine Cortisonspritze verpasst, aber ich muss mich immer selber übergeben, wenn ich jemandem beim Brechen zusehe. Außerdem hat er so schrecklich aus dem Mund gestunken. Und sein Röcheln hat mir solche Angst gemacht.« »Mein armer Schatz! Du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben. Ich muss dir was erzählen. Später. Jetzt komm erst mal hier raus.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Ich tauch erst wieder auf, wenn sie alle gegangen sind.« »Okay. Darf ich dir dann wenigstens Gesellschaft leisten?« Er setzte sich auf ein Weinfass, zog sie auf seinen Schoß und bedeckte ihr nasses Gesicht mit zärtlichen Küssen. Seine Versuche, sie zu trösten, zeigten bald Wirkung. Sie erwiderte seine Zärtlichkeiten. Als er ihre Lippen auf seinem Mund spürte, gelang es ihm sogar, die letzten und schlimmsten Minuten seines Lebens für ein paar Augenblicke zu vergessen.
67
Zum Glück treffe ich Max in der Küche allein an. »Du hast ihn umgebracht«, kreische ich bühnenreif und stürze mich auf ihn. Er greift nach seinem Messer. Mit oder ohne Messer, ich habe keine Angst vor diesem Feigling. »Spinnst du? An den paar Austern stirbt keiner«, brüllt er und fuchtelt mit seinem Messer vor meiner Nase herum. »Er ist tot, mausetot. Du kannst dich ja selbst davon überzeugen.« Melodramatisch deute ich Richtung Herrenklo. Max legt sein Messer weg, schaut mich an, als wäre ich eine kleine Irre, und kümmert sich wieder liebevoll um seine Mohren. Dann sagt er in ganz beiläufigem Ton: »Wenn er wirklich hinüber ist, solltest du mir jetzt endlich die fünftausend geben.« »Mörder!«, schreie ich erneut. »Ich werde die Polizei anrufen.« »Tu, was du nicht lassen kannst. Die Gerichtsmediziner werden kein Gift in seinem Körper finden. Dass er auf Austern allergisch war, hast nur du gewusst. Das werden sowohl Sophie als auch Ferenc bezeugen.« Ich glaub’s einfach nicht, dass dieser Wasch68
lappen, der sich von seinem Kellner Hörner aufsetzen lässt, es wagt, mich zu erpressen. »Und die restlichen fünfundvierzigtausend solltest du besser bald rüberschieben, sonst muss ich der Polizei leider erzählen, dass du mich dazu angestiftet hast, Austern in seine Pastete zu geben – dass du den Mord demnach sorgfältig geplant hast. Ich habe natürlich an einen kleinen Scherz gedacht. Vielleicht werde ich ein paar Jährchen wegen fahrlässiger Tötung kriegen. Du kannst mir glauben, mir sind drei Jahre Knast allemal lieber, als die Eintreiber meines Buchmachers im Genick zu haben.« Max kehrt mir den Rücken zu, beugt sich zum Backrohr hinunter und sieht nach den Mohren in den kleinen Blechformen. Auf der Herdplatte steht ein großer Topf. Ich zögere nicht lange und stülpe ihm den Topf mit der siedend heißen Suppe über den Kopf. Er verkrampft sich, geht zu Boden, schüttelt sich und bebt wie ein Epileptiker. Verzweifelt versucht er den Topf wieder loszuwerden. Ich schnappe mir zwei Geschirrtücher, wickle sie um meine Hände, bücke mich zu ihm hinunter und drücke fest und kräftig auf den Boden des Topfes. Die Hitze ist unerträglich. Trotz der Tücher werde ich mir die Handflächen verbrennen. Doch darauf kann ich momentan keine Rücksicht nehmen. 69
Max zappelt weiter hilflos mit Armen und Beinen. Auf einem Brett neben dem Herd liegen Fleischgabel und Messer. Während ich überlege, ob ich das Messer benutzen soll, hört er zu strampeln auf. Erschöpft lasse ich den Topf los. Plötzlich reißt er die Arme wieder in die Höhe. Ich schnappe mir die Fleischgabel und ramme ihm die Zacken in den Brustkorb. Steche ein zweites und drittes Mal zu, steche immer wieder auf ihn ein, bis sein Körper endlich zu zucken aufhört und er regungslos neben dem Herd liegen bleibt. Herr Franz stand in der Küchentür. Sein Blick fiel zuerst auf Max, der nach wie vor den Suppentopf als Kopfschmuck trug. Dann schaute er auf die Fleischgabel in Gudruns Hand, und zuletzt sah er sie eindringlich an. »Zwei Fliegen auf einen Streich?«, fragte er süffisant und schloss die Tür wieder hinter sich. Im nächsten Moment wurde die Küchentür jedoch erneut aufgerissen. Sophie stürzte herein, raufte sich das zerzauste Haar und beugte sich schluchzend über ihren Mann. Heulend befreite sie seinen Kopf vom Suppentopf und fing zu wimmern an wie ein kleines Kind. »Mäxchen, mein armes Mäxchen«, jammerte sie und betastete sein graues, in den paar Minuten um Jahre gealtertes Gesicht. 70
Die vielen Runzeln rund um die geschlossenen Augen und den grauen Mund ließen Herrn Franz unwillkürlich an einen Tafelspitz, der gerade in kochendes Wasser geworfen wurde, denken. »Sie wird sich wieder beruhigen. Lassen Sie das meine Sorge sein«, sagte er zu Gudrun, die kreidebleich neben Max am Boden hockte. »Ihr Mann ist an seinem eigenen Erbrochenen erstickt«, fuhr er fort, »vielleicht hat ihn auch Max umgebracht, oder Ihr junger Freund hat ein bisschen nachgeholfen. Wie auch immer. Aber Max hat seinen Kopf bestimmt nicht selber in den Suppentopf gesteckt.« Er hielt inne, schien erst jetzt die kleinen roten Flecken zwischen dem Suppengrün und den Frittaten auf dem Hemd seines Chefs zu bemerken. »Ich fürchte, wir werden die Polizei verständigen müssen.« Seine nonchalante Art machte Gudrun rasend. Doch sie bemühte sich, ebenfalls Contenance zu bewahren. »Herr Franz, ich bitte Sie, können wir das nicht unter uns regeln?«, flehte sie. Sie kniete nach wie vor neben dem toten Max. Und fing an, von Geld zu reden, von viel Geld. Als sie dem feschen Oberkellner tief in die Augen schaute, begriff sie, dass dieser Mensch nicht mit sich verhandeln lassen würde. 71
Rezept fur Tafelspitz
Zutaten für 4-5 Personen • 1,25 kg Tafelspitz • Rindsknochen (Blutknochen) • 1 Bund Wurzelwerk und Suppengrün • 1 Zwiebel • 2 Knoblauchzehen • 2 Paradeiser (Tomaten) • Lorbeerblatt Salz, Pfeffer Pfefferkörner Schnittlauch Zubereitung Rindsknochen (nur gut zerkleinerte bzw. gehackte Blutknochen verwenden. Rohrknochen mit Rindsmark machen die Suppe fett und trüb!) blanchieren, kalt zusetzen und etwa eine halbe Stunde kochen lassen. Den rohen Tafelspitz lauwarm abspülen, abtropfen lassen und in die kochende Suppe legen. Wurzelwerk, Suppengrün und Paradeiser nicht klein schneiden, sondern in große Stücke teilen. Die ungeschälte Zwiebel halbieren. Die Schnittflächen auf der Herdplatte anbräunen (mildert den Zwiebelgeschmack und verleiht der Suppe Farbe!). 72
Nach etwa einer Dreiviertelstunde Zwiebel, Wurzelgemüse, Tomaten und Gewürze zum Fleisch dazugeben und alles langsam garen lassen. Das Fleisch braucht noch ca. eine bis eineinhalb Stunden, bis es weich ist. Den fertigen Tafelspitz in Scheiben schneiden. Beim Tranchieren darauf achten, dass man vom »Spitz« aus, also von der schmalen Seite her, quer zur Faser schneidet. Die Fleischstücke auf eine Platte legen, mit etwas Rindssuppe übergießen und mit grobem Salz und Schnittlauch bestreuen. Beilagen geröstete Erdäpfel, Schnittlauchsauce und Apfeloder Semmelkren Außerdem zu empfehlen Dillrahmfisolen oder Cremespinat
73
Über die Reihe
GourmetCrime ist die einzige Buchreihe der Welt, zu der internationale Autoren original ihre Texte beitragen. GourmetCrime vereint drei Trends in einer Buchreihe:
Genuss gilt nicht mehr als Luxus, sondern ist mehrheitsfähig geworden, und so ist es geradezu schick, auch von gutem Essen und Wein etwas zu verstehen. Die Reiselust wächst unaufhaltsam, und es gibt keine größere Stadt auf der Welt, in der sich nicht auch deutsche Touristen heimisch fühlen. Krimis sind seit Chandler und Hammett anerkannte Literatur, und heute steht Kriminalliteratur in der gesamten westlichen Welt auf den Bestsellerlisten.
74
Über die Autorin
Edith Kneifl, Dr. phil., ¡st 1954 in Österreich geboren. Sie lebt, nach längeren Auslandsaufenthalten in Griechenland und in den USA, als Psychoanalytikerin und freie Schriftstellerin in Wien. Sie bekam mehrere Literaturstipendien und -preise, u. a. 1992 den "Glauser-Preis" für den besten deutschsprachigen Kriminalroman. Über den Herausgeber
Jürgen Alberts ¡st einer der bekanntesten deutschen Kriminalschriftsteller. Er hat eine Romanserie über seine Heimatstadt Bremen verfasst und organisiert internationale Krimi-Events. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. Er reist und kocht gerne.
75