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Roy Palmer 1.
Fong-Ch’ang beugte sich über die Lagerstatt seines zweijährigen Sohnes Tsao. Er streckte die Hände vor und berührte behutsam das Gesicht, die Arme und die Finger des Jungen. Schließlich legte er ihm die Linke auf den kleinen, fast kahlrasierten Kopf, auf dem nach chinesischer Tradition nur Haarbüschel stehen durften. Fong verhielt den Atem. Tsaos Körper gab schwache Wärme ab, aber er hatte keine Reflexe mehr. Seine Augen hatten sich wie in tiefem Frieden geschlossen – und würden sich nie wieder öffnen. Langsam, wie in Trance, drehte sich FongCh’ang zu seiner Frau Tao-t’ien um. Er blickte ihr in die dunklen Augen. „Du brauchst nicht zu sprechen“, flüsterte sie. „Ich begreife auch so.“ „Der ewige Fluch der Verdammnis scheint über diesem Haus, diesem Dorf zu schweben“, sagte Fong erstickt. Tao-t’ien tat zwei stockende Schritte auf das Bettchen des Kleinen zu, erst dann erfolgte in ihr die heftige, naturgegebene Reaktion. Die Beherrschung fiel von ihr ab wie ein dünnes Seidengewand. Sie stürzte auf die Knie, rutschte schluchzend auf das Lager des Kindes zu und warf sich über die kleine, reglose Gestalt. Fong-Ch’ang fuhr zu ihr herum, griff nach ihren Schultern und riß sie zurück. „Sei vernünftig“, herrschte er sie an. „Willst du, daß dich das gleiche Schicksal trifft?“ „Du hast Tsao auch berührt.“ „Ich habe größere Widerstandskräfte in mir.“ „Wer sagt dir das?“ „Die Ärzte!“ Er schrie sie fast an. „Die Ärzte — Könige der Medizin”, wimmerte sie. „Sie haben ihn nicht retten können, meinen armen, über alles geliebten Tsao. Jetzt will auch ich nicht mehr am Leben bleiben.“ Fong zog sie gewaltsam zu sich hoch. „Ich kann es verstehen, daß die seelische Not dich so verwerflich reden läßt“, stieß er
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hervor. Er selbst mußte sich hart zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen. „Aber du darfst nicht nur an dich denken. Mit deinem Tod wären all die furchtbaren Probleme nicht gelöst, es ist eigensüchtig von dir, so daherzureden.“ Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Ihre hochgesteckte Frisur löste sich auf, die Haare fielen über ihre schmalen Schultern. Sie schrie auf, dann sank sie wieder auf die Knie und umklammerte seine Beine. „Vergib mir, o geliebter Fong!“ rief sie. „Wir haben unseren Sohn verloren, und die bösen Geister sind in mich gefahren, um mich meiner Sinne zu berauben. Nie wieder werde ich etwas Derartiges sagen.“ „Und du darfst die neue Frucht nicht vergessen, die du in deinem Leib trägst“, erwiderte er. So sehr er sich auch bemühte, er konnte das Beben in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken. „Niemals“, hauchte Tao-t’ien. Ihr weiches Gesicht war vom Grauen und von der Verzweiflung gezeichnet. Fong befürchtete, sie könne das Kind, das gegen Ende der heißen Jahreszeit das Licht der Welt erblicken sollte, durch den Schock verlieren. „Geh jetzt und wasche dich gründlich“, sagte er sanft. „Benutze viel flüssige Seife, um deinen Körper zu reinigen. Auch ich werde mich säubern. Und ich werde auch Tsaos Bettstatt vernichten müssen, um den Fluch von unserem Hause zu nehmen.“ „Ja“, antwortete sie. Still begab sie sich in den Nebenraum. Er vergewisserte sich, daß sie ihn nicht beobachtete, und zog seine kostbarsten Gewänder an. Sie waren mit Drachensymbolen und anderen Sinnbildern bestickt. Er hob den Leichnam des Kindes aus dem Bett und trat aus seinem Steinhaus ins Freie. Viele Menschen befanden sich draußen; sie hatten ihre Hütten und Häuser verlassen, als bestünde die Aussicht, dem Unheil unter freiem Himmel besser zu begegnen. Ihre Köpfe ruckten herum, und sie schauten auf Fong-Ch’ang, den
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Vorsitzenden des Dorfrates, der seinen toten Sohn Tsao in stummer Anklage durch den Ort trug. * Cookie, der mit richtigem Namen Rod Bennet hieß, fuhr sich mit der Hand über die Stirnpartie und pappte sich die öligen Haare zum wiederholten Male fest. „Verflucht und zugenäht“, sagte er ärgerlich. „Ich könnte aus der Haut fahren und mich danebensetzen.“ Er versuchte schon den ganzen Morgen über, Ordnung in seine bemerkenswerte „Frisur“ zu bringen. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Immer wieder lösten sich Strähnen und hingen ihm wild ins Gesicht. Sie behinderten ihn bei der Arbeit an Kübeln und Holzkohlefeuern. Aber nicht nur das stimmte ihn nervös. Da war mehr. Muddy hatte sich beim Angriff der chinesischen Piraten mit ihm zusammen in die Kombüse verdrückt. Sie hatten sich eingeschlossen und waren so den Hieben entgangen, die diese verrückt gewordenen Kerle mit ihren Bambusstöcken ausgeteilt hatten - was dann zur Folge gehabt hatte, daß Thorfin Njal, der Wikinger, ausgerechnet Muddy gleich am nächsten Tag zum Kombüsendienst eingeteilt hatte. „Ihr paßt ja so gut zusammen“, hatte er gesagt. „Bei Odin, die Freundschaft wollen wir doch nicht kaputtmachen, oder?“ O ja, der Spott in Njals Worten war unüberhörbar gewesen. Obwohl Cookie und Muddy bei dem Kampf in der Felsenkaverne auch nicht mehr entscheidend hätten eingreifen können - so ganz hatte es ihnen noch keiner aus der Crew verziehen, wie sie sich verhalten hatten. So hatte eins das andere ergeben. „Das hab ich nun davon“, murmelte Cookie. „Immer auf die Kleinen.“ „Was hast du zu nörgeln?“ fragte Muddy. Wütend äugte Rod Bennet zu ihm hinüber. „Auspeitschen sollte man dich“, erwiderte er. „Das ist alles deine Schuld. Und nun sieh dir doch mal an, was für eine Schweinerei du angerichtet hast.“
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„Halt die Luft an, Dicker“, sagte Muddy warnend. Cookie war auch nicht gerade die Reinlichkeit in Person. Seine Pfannen galten nicht als die saubersten, und seine Töpfe klebten mitunter etwas. Siri-Tongs Männer hatten ihn auch schon mal mit dem Allerwertesten ins Kombüsenfeuer gesetzt, wenn das Essen mißlungen war. Aber Muddy übertraf den Koch noch, was die Reinlichkeit anging. Eigentlich hatte man ihn Robinson getauft, als er - was nach Meinung der Crew allein schon ein Fehler des Allmächtigen gewesen war das Licht der Welt erblickt hatte. Muddy nannten ihn jedoch alle an Bord, denn das bedeutete „Dreckiger“, und einen besseren Spitznamen hätte es für den Kerl nicht geben können. Die Mannschaft nannte ihn mal milde „Schmutzfink“, mal „die dreckigste Ratte, die an Bord ‘rumläuft“, mal „altes Dreckschwein“. Muddy schien alles Schmierige der Welt zu lieben und zu verehren, und fast hatte es den Anschein, als zöge er den Schmutz geradezu magisch an - oder umgekehrt. Aus diesen und anderen Gründen schlief er meistens allein auf Deck. Was noch zu seiner unglaublichen Schmuddelei hinzukam: er hatte fast immer schlechte Laune, klaute, soff ziemlich viel und hatte es auf der Lunge. „Du versaust mir noch den Ruf bei der Crew“, beklagte sich Cookie. „Aber wenn es Beschwerden gibt, bade ich das nicht allein aus, klar?“ Muddy schaute auf und betrachtete ihn aus schmalen Augen. „Habe ich diese Sauarbeit vielleicht freiwillig übernommen?“ „Nein. Aber alles, was du anpackst, geht sowieso schief.“ „Dicker, ich ...“ „Nenn mich nicht immer Dicker!“ schrie Cookie im plötzlichen Aufwallen seines Gemüts. Muddy sog zischend die Luft ein, hielt sie an und lief im Gesicht dunkel an. Er stand bis zu den Fußknöcheln in glitschigen
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Abfällen. Als er sich jetzt in Bewegung setzte, rutschte er fast darauf aus. Er hatte mit den Fischen herumhantiert, die Hilo am Vortag aus der See gezogen hatte. Anderthalb Tage hatten die Instandsetzungsarbeiten an dem ramponierten schwarzen Segler in Anspruch genommen, und während dieser Zeit hatte der hellhäutige Neger auch die Gelegenheit gefunden, die Mannschaft mit etwas Frischproviant zu versorgen. Cookie kam das sehr gelegen. Die Crew meckerte ja sowieso dauernd mit ihm herum, weil er keine Abwechslung in den Küchenzettel brachte. Aber jetzt das! Ein paar flache, seezungenähnliche Fische hatte Muddy bereits total verunstaltet. Er hatte sie zerfetzt und mit Flüchen auf den Lippen zu dem Unrat geräumt, der den Kombüsenboden bedeckte:Weiter: Cookie hatte ein kleines, handliches Gerät gebastelt, ein Hilfsmittel zum Entschuppen von Fisch, auf das er sehr stolz war. Das Ding bestand praktisch aus einem Holzgriff mit dazugehörigem Brettchen. In das Brettchen hatte Cookie dicht an dicht kleine Nägel getrieben, die mit den Spitzen nach unten ragten. Fuhr man mit dieser Nagelreibe flach vom Schwanz zum Kopf über die Fischleiber, spritzten die Schuppen weg, daß es eine Freude war. Muddy hatte das Gerät aber auch kaputtgekriegt. Der Griff war halb abgebrochen, das Brettchen angeknackst, die Nägel waren verbogen. Seit Muddy in der Kombüse Dienst schob, hatte es nichts als Ärger gegeben. Muddy rückte langsam und drohend auf Rod Bennet zu. Er hob die lädierte Schuppenreibe und sagte: „Du kannst deinen Scheiß allein machen, ich hab’s satt.“ „Nein! Du nimmst die Fische fertig aus, und dann klarst du hier auf, daß alles nur so blitzt und blinkt!“ „Soll ich dich abschuppen?“ fragte Muddy. „Leg das Ding weg!“ „Mich hat noch keiner ungestraft beleidigt, merk dir das.“
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„In der Kombüse befehle ich!“ schrie Cookie. „Ich habe hier das Sagen, und du parierst, sonst gibt es Ärger, und zwar knüppeldick!“ Muddy grinste. „Nun hör sich einer an, wie der Dicke sich aufbläst. Paß auf, wie ich dir den Speck abhoble, Freundchen ...“ Der Koch hatte blitzschnell eins der scharfen Messer gepackt. Er richtete die Spitze auf Muddy. „Vorsicht. Keinen Schritt weiter, oder ich vergesse mich. Hier ist mein Reich, Muddy, hier laß ich mir von keinem ‘reinpfuschen.“ Muddy wollte sich auf Cookie stürzen, aber er bremste sich doch im letzten Augenblick und stand geduckt und lauernd da. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Noch suchte er nach einer Möglichkeit, den beleibten Mann zu überlisten. Noch gab er sich nicht geschlagen. Da aber flog das Kombüsenschott auf, und Thorfin Njal steckte seinen mächtigen Schädel herein. „Bei Odin und allen Göttern“, sagte er. „Ihr Narrenbande, was gibt’s hier zu brüllen?“ Rasch hatte Cookie das scharfe Messer wieder weggelegt. Muddy hatte sich umgedreht und seinen Fischen zugewandt. Er latschte mit einem gesummten Lied auf den Lippen durch den Abfall und tat so, als hätte er nichts Dringenderes zu tun, als seine Arbeit zu Ende zu führen. „Nichts, wir unterhalten uns ganz normal“, sagte Cookie. „Erzähl das einem, der sich die Hosen mit der Kneifzange anzieht“, fuhr der Wikinger ihn grollend an. „Sir ...“ „Zum Teufel mit dem Sir! Es ist schon genug dicke Luft an Bord. Wollt ihr Stinte alles noch verschlimmern?“ Muddy hatte sich während dieses kurzen Dialoges schnell wieder einen Fisch geangelt. Er hackte mit der Nagelreibe darauf ein, hustete und verlor den glitschigen Fisch aus den Händen. Der Fisch rutschte von der Arbeitsplatte und landete auf dem Boden. Muddy drehte sich um, bückte sich, suchte ihn aus den Abfällen hervor und knallte ihn wieder auf
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die Holzplatte. Er hustete blechern und voll Protest. Thorfin Njals Augen weiteten sich. „Sag mal, du bist wohl nicht ganz echt, Muddy, was?“ Er stieg die Stufen des Niederganges hinunter, groß, wuchtig, drohend. „So bereitet man doch keinen Fisch zu. Mann, muß man euch Auerochsen denn alles zeigen?“ „Ich hab’s ihm erklärt, hundertmal“, verteidigte sich Cookie. „Du petzt wie ein altes Waschweib“, zischte Muddy. Dann hustete er wieder und traktierte den Fisch noch heftiger. „Hör auf“, befahl der Wikinger. „Und huste mir nicht dauernd ins Gesicht. Und nimm deine Schmierfinger von dem Fisch, den sollen wir schließlich noch essen ...“ Er brach abrupt ab. Ohne auf die Beschaffenheit des Kombüsenbodens zu achten, hatte er sich weiterbewegt. Jetzt glitt sein rechtes Bein plötzlich vor, als rutsche es über Schmierseife. Er kämpfte um sein Gleichgewicht, warf sich nach hinten und landete mit Wucht auf dem Achtersteven — und natürlich mitten in dem übelriechenden Unrat. Sein Kopf ruckte vor, und er verlor auch noch seinen Kupferhelm. * Cookie stand wie erstarrt da. Muddy kratzte mit der Nagelreibe noch ein paarmal über den verdammten Fisch, dann ließ er die Reibe sinken. Ziemlich ratlos und entsetzt blickten sie auf den Wikinger. Thorfin Njal holte zweimal tief Luft. „Geri und Freki, Odins Wölfe, sollen euch verschlingen“, knurrte er. Er griff nach seinem Helm. Beim Abenteuer in dem Teufelsfelsen war das Ding ziemlich verbeult worden. Jetzt drohte es schon wieder Schaden zu nehmen. Njal standen die Haare wild vom Haupt ab, darunter waren noch die Beulen zu erkennen, die er beim Angriff der chinesischen Piraten verpaßt gekriegt hatte. Besorgt griff er nach dem Helm. Rein äußerlich schien mit dem guten Stück aber alles in Ordnung zu sein. Njal stülpte ihn
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sich auf den Kopf —und nahm ihn gleich wieder ab. Es war ein seltenes Schauspiel, denn von dem Wikinger hieß es, daß er den Helm nie abnähme, auch bei größter Hitze und unter Wasser nicht. Wütend griff er in den Helm und zog etwas Schwabbliges daraus hervor. Es waren gleich zwei flache Fische, die in den Helm gerutscht waren, als er in dem Abfallhaufen gelandet war. Thorfin Njal holte aus und schleuderte sie Muddy gegen die Schulter. Danach stand er auf und stellte sich dicht vor den Mann hin. „Säubere meinen Helm“, sagte er dumpf. „Aber gründlich. Und ohne zu husten.“ „Aye, Sir.“ Muddy beeilte sich, die Aufforderung zu befolgen. Er bearbeitete den Helm mit Wasser, viel Wasser, einige Spritzer gingen auch auf die Planken der Kombüse nieder und reicherten den Unrat an. Cookie wieselte heran und versuchte, den Wikinger abzubürsten. Thorfin Njal scheuchte ihn mit einer einzigen Handbewegung fort. Muddy öffnete ein Schapp, fand ein sauberes Leinentuch und trocknete den Helm ab. Er wienerte auf dem Metall herum, bis es zu glänzen begann. Der Wikinger hatte sich die Küchenrelikte aus der rauchgrauen Fellkleidung gewischt. Er stapfte auf Muddy zu und stieß einen tiefen Laut aus, der wie ein verhaltenes Grunzen klang. Muddy dachte, seine letzte Stunde habe geschlagen. Der Wikinger war ein Klotz von einem Kerl, ein Berg aus Muskeln mit Fäusten, so groß wie Ankerklüsen. Es gab keinen Mann an Bord, der keinen Respekt vor ihm hatte - und das wollte bei einem so wild durcheinander gewürfelten Haufen wüster Burschen schon etwas heißen. „Gut“, brummte der Riese aber nur. „Wurde wirklich mal Zeit, daß einer meinen Helm tüchtig poliert.“ Er nahm Muddy das topfähnliche Gebilde ab und setzte es sich auf. Sein Blick war so durchdringend, daß Muddy glaubte, er müsse zusammenschrumpfen und wie eine
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Maus in irgendeinem Spundloch des großen Schiffes verschwinden. Njal hob die rechte Hand und ließ sie auf Muddys Schulter niedersausen. Der Seemann hielt dem Hieb stand, ächzte aber und verzog das Gesicht. Thorfin Njal sprach nicht sonderlich laut. „Du hast bewiesen, daß du auch Ordnung halten und alles funkelnagelneu kriegen kannst. Du brauchst nur zu wollen. Also, Muddy: du hast vier Glasen Zeit, danach kreuze ich wieder auf und sehe mir an, was aus dem Saustall hier geworden ist. Dann muß man von den Planken wie von einem Teller essen können, klar?“ „Aye, aye, Sir.“ Der Wikinger sah zu Rod Bennet. „Und daß mir keine Klagen kommen. Wenn ich noch mal Lärm in der Kombüse höre, dann raucht es, aber anständig.“ Cookie leckte sich über die spröde gewordenen Lippen und stammelte: „Aye, Sir.“ Der Wikinger marschierte wieder zum Niedergang und verließ die Kombüse. Ein Lächeln nistete in seinen Mundwinkeln, als er den beiden Männern den Rücken zuwandte. Er wußte, daß das, was er ihnen eben gesagt hatte, mehr Wirkung erzeugte als jedes Aufbrausen. Das Lächeln verschwand aus Thorfin Njals Gesicht, sobald er wieder am Oberdeck trat. Er überquerte die Kuhl von „Eiliger Drache über den Wassern“ und steuerte auf das Achterdeck zu. Oben stand Siri-Tong, die Rote Korsarin. Sie hatte beide Hände auf die vordere Querbalustrade gelegt und spähte angestrengt voraus. Sie war außer sich vor Wut. Hätte sie Cookie und Muddy beim Streiten ertappt, wäre die Sache für die beiden bei weitem nicht so glimpflich abgelaufen. Gereizt, wie sie war, hätte sie Muddy ein paar Hiebe mit der Neunschwänzigen überziehen lassen. Und Cookie vielleicht auch. 2.
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Thorfin Njal stieg auf das Achterdeck und gesellte sich zu Siri-Tong. Er war der einzige, den sie in ihrem aufgewühlten Zustand in ihrer Nähe duldete. Außer ihm wagte es keiner, sie auch nur anzusprechen. Die Männer gingen ihr aus dem Weg. Der Wikinger atmete tief durch. Wer hätte auch damit gerechnet, daß ausgerechnet eine Bande chinesischer Piraten ihnen zu einer schmählichen Niederlage verhelfen würde - daß sie ihnen in diesem August des Jahres 1584, so nahe vor der Küste des begehrten Zieles, die Mumie des Mandarins rauben und entführen würden? Siri-Tong ging der Verlust der Mumie näher als alles andere. Die Überlegenheit des Feindes, der Tod eines ihrer Männer, die Verletzungen, die .die anderen erlitten hatten, die Schäden am Schiff — das alles hätte sie sehr schnell verkraftet. Aber die Mumie war mehr als alle Schätze dieser Erde wert, jedenfalls für die Korsarin. Sie war von höchster symbolischer Bedeutung, und ihr Verschwinden schien gleichsam ein böses Omen zu sein. „Siri-Tong“, sagte der Wikinger. „Ich bin sicher, daß wir diese gemeinen Hunde stellen werden, und dann drehen wir ihnen die Hälse um.“ Sie antwortete, blickte aber unausgesetzt weiter voraus. „Das hast du mir jetzt schon mindestens zehnmal gesagt.“ „Ich bin wirklich überzeugt davon.“ Plötzlich wandte sie ihm das Gesicht zu. So rasch, daß ihre schwarzen, schulterlangen Haare wirbelten. „Ich auch, Thorfin, glaube es mir. Die Schlappe, die mir dieser Teufel von einem Piratenkapitän zugefügt hat, ist nur mit Blut abzuwaschen.“ „Wie hieß dieser Bastard doch gleich?“ „Khai Wang.“ „Lackierte schwarze Haare, ein langer Bart über der Oberlippe und dann diese Tätowierungen, die der. Hundesohn trägt — ich würde ihn unter Tausenden wiedererkennen“, versicherte Thorfin Njal. „Und dann schreie ich ihm in sein gelbes Gesicht, was für einen wüsten Fehler er begangen hat, uns zu überfallen.“
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Sie rang sich ein flüchtiges Lächeln ab. „Hör auf, er würde dich ja doch nicht verstehen. Nur eins ist für mich wichtig, Thorfin. Diese Kerle kannten sich auf dem schwarzen Schiff aus. Jemand muß ihnen gesagt haben, wo sich das Geheimversteck der Mumie befindet.“ „Die Männer des Drachenschiffes.“ „Ja, ich bin mehr denn je davon überzeugt, daß Li-Cheng und Hung-Wan diese ungeheuerliche Gemeinheit zusammen mit den Piraten ausgeheckt haben“, erwiderte sie. „Eine der Dschunken, die uns am Felsen in der Teufelssee auflauerten, war das Drachenschiff.“ Der Boston-Mann hatte ihnen aus einiger Entfernung zugehört, jetzt trat auch er näher. Durch Thorfin Njals Beispiel ermutigt, erlaubte er sich eine Zwischenbemerkung. „Das Drachenschiff, immer wieder das Drachenschiff. Wir müssen es vernichten. Wir hätten es schon damals, in der Amazonasmündung, tun sollen.“ „Das steht auf einem anderen Blatt, Boston-Mann“, sagte die Korsarin. Sie drehte sich ganz herum und lehnte sich gegen die Schmuckbalustrade. Der Blick, mit dem sie den hageren, dunkelhaarigen Engländer maß, war stechend. „Gehen wir ruhig von der Tatsache aus, daß die Mumienräuber allesamt vom Drachenschiff stammen. Wichtig ist für uns folgendes: sie segeln gewiß nicht in westlicher Richtung. Ihr Ziel ist Peking.“ „Peking, die ‚verbotene Stadt“‘, murmelte der Wikinger. „Die liegt doch viel weiter nördlich, wenn ich mich nicht täusche.“ „Richtig.“ Siri-Tong wandte sich wieder um, hob den Kopf und blickte zu den Segeln des Viermasters auf. Das Rigg stand hervorragend. „Eiliger Drache“ lief mit Westkurs unter vollen Segeln in Richtung Küste. Nur eine flache Dünung kräuselte die See, die Wetterbedingungen waren vorläufig noch gut, wenn sie sich auch schnell ändern konnten. Die Unberechenbarkeit der Natur war allgegenwärtig. Der Wind blies aus Südosten und schob das schwarze Schiff vor sich her, daß es
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wirklich wie ein dahineilender Drache wirkte. „Vorläufig segeln wir nicht nach Schanghai, wo ich meine Mutter besuchen wollte“, sagte sie. „Wir ändern unseren Kurs. Wir müssen nach Peking, wo Wan Li, der Kaiser und Große Chan, regiert. Wir müssen die Piraten eingeholt haben, bevor sie die Mumie in die ,verbotene Stadt’ transportiert haben.“ „Dann müssen wir Hasard und seiner Crew signalisieren“, erwiderte Njal. Er wies auf die „Isabella VIII.“, die weit hinter dem schwarzen Schiff im Osten segelte. Siri-Tong winkte ab. „Der Seewolf weiß auch so Bescheid, wenn er sieht, daß wir den Kurs ändern.“ Sie hob die Stimme. „Wir halsen, gehen auf Backbordbug und segeln nach Norden!“ Bill the Deadhead, der gerade den Platz des Rudergängers innehatte, drückte den Kolderstock hart herum. Unter Thorfin Njals Befehlen geriet die Decksmannschaft in Bewegung und eilte an die Schoten und Brassen. Zügig wurde das Manöver durchgeführt, „Eiliger Drache“ zog mit dem Heck durch den Wind. Siri-Tong umklammerte die Handleiste der Schmuckbalustrade. In Gedanken malte sie sich bereits aus, was sie mit dem Hundesohn von einem Piratenführer alles anstellen würde, sobald sie ihn hatte. * „Deck, ho!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. „Das schwarze Schiff läuft hart nach Norden ab!“ Die „Isabella“ rauschte mit raumem Wind auf Steuerbordbug liegend dahin, und Philip Hasard Killigrew konnte wegen der Segelstellung das schwarze Schiff vom Achterdeck aus nicht sehen. Er eilte den Niedergang zur Kuhl hinunter, zog im Laufen das Spektiv aus der Wamstasche und richtete es nach vorn, als er auf der Back angelangt war. In der Optik nahm sich Siri-Tongs Schiff als großer, gezackter Fleck aus, der hinter der Kimm verschwinden wollte.
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Ben Brighton, der dem Seewolf gefolgt war, traf ebenfalls auf dem Vordeck ein und sagte: „Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Was hat denn das zu bedeuten’?“ „Da fragst du mich im Moment zuviel“, erwiderte Hasard. „So ein plötzliches Manöver, das ist doch sonst nicht Siri-Tongs Art“, meinte nun auch Smoky, der Decksälteste. „Jedenfalls ändert sie nie den Kurs, ohne sich vorher mit uns zu verständigen.“ Begeistert war der Seewolf von dem Verhalten der Roten Korsarin auch nicht gerade, aber er gab sich Mühe, gelassen zu bleiben. „Sie ist voll Zorn gegen die fremden Piraten. Wahrscheinlich hat sie in der Zwischenzeit einiges zusammenkombiniert. Sie kennt sich in diesem Seegebiet ja auch sehr gut aus und weiß also, was sie tut.“ Das hoffe ich jedenfalls, dachte er. Er folgte der Fahrt des „Eiligen Drachens“ mit dem Kieker. Ja, der neue Kurs des Viermasters war klar nach Norden ausgerichtet. Jetzt war es an ihm, eine Entscheidung zu fällen. Entweder blieb er bei Siri-Tong - oder er ging seiner eigenen Wege. Nach einigem Zögern drehte er sich um und rief: „Abfallen! Wir folgen dem, schwarzen Schiff in seinem Kielwasser!“ „Abfallen!“ brüllte Carberry zurück. „Aye, Sir!“ Breitbeinig stand der Profos auf der Kuhl in der Nähe des Großmastes, als Old Donegal Daniel O’Flynn aus dem Achterkastell stiefelte. Ed Carberry bemerkte den Alten erst, als dieser dicht neben ihm stehenblieb. Fast hätte er ihm aus Versehen eine Ohrfeige verpaßt, denn er hob gerade schwunghaft die rechte Pranke und unternahm eine Gebärde zu Matt Davies hin. „Matt, du Riesenroß, schrick weg den verdammten Tampen, willst du wohl spuren? Du Stinkstiefel, hast du das immer noch nicht gelernt?“ Matt Davies ließ die Steuerbordschot des Großsegels durch seine Hände gleiten und zuckte dabei mit den Schultern.
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„Wann lernt dieser Hornochse endlich, daß er uns nicht mehr anzubrüllen braucht?“ murmelte er nur. „Nie“, erwiderte Gary Andrews, der links von ihm stand, grinsend. „Außerdem, wer brüllt, der ist gesund.“ Matt schnitt eine Grimasse. „Ja, und bellende Hunde beißen nicht. Alles bekannt. Aber allmählich kann ich das ewige Gemotze nicht mehr hören. Immer wieder die gleiche Litanei ...“ „Matt, du Rübenschwein, was hast du da zu quatschen?“ dröhnte die Stimme des Profos’ an seine Ohren. „Nichts“, erwiderte Matt mit ödem / Grinsen. „Ich meine nur — könnte sein, daß das Wetter bald umschlägt.“ „Zum Teufel mit dem Wetter“, knurrte Edwin Carberry. Er ließ die’ Hand wieder sinken und stellte überrascht fest, daß Dans Vater mit grimmiger Miene an seiner Seite stand. „Paß auf“, sagte der Alte. „Du bewegst deine Flossen wie Windmühlenflügel.“ „Was ist los, Donegal? Ist dir eine Laus über die Leber gekrochen?“ „Schon lange.“ „Fang nicht wieder mit der Spökenkiekerei an.“ „Ich sag, was mir paßt“, erklärte der Alte störrisch. „Und ich schwöre dir, in diesem beschissenen Teil der Welt ist der Hund erfroren und das Walroß ersoffen. Hier ist vorne hinten und hinten vorn, und links ist rechts und umgekehrt. Weißt du noch, wie der Kompaß plötzlich verrückt gespielt hat?“ „Ja“, erwiderte Carberry mit großer Beherrschung. „Ja, zum Henker, das weiß ich noch:’ „Nach Norden geht’s“, sagte O’Flynn. „Wer sagt dir, daß das wirklich Norden ist? Vielleicht segeln wir genau umgekehrt — nach Süden.“ „Du bringst mich durcheinander“, sagte der Profos drohend. „Hier ist schon alles durcheinander.“ Carberry fuhr zu dem alten Donegal herum. „Hör zu, und wenn wir dem Teufel geradewegs in seinen mickrigen Rachen segeln — wir reißen die Lady vorher hart
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nach Backbord und rasieren dem Gehörnten das rechte Ohr ab, klar? Was ist los, du alter Meckerbeutel? Sitzt dir der Kalk in den Knochen und im Hirn? Ist dein Holzbein angeknackst?“ „Ach Quatsch“, sagte der Alte rüde. „Du weißt ganz genau, daß ich wohlauf bin. Mir ist diese Gegend nur nicht geheuer. Denk mal an die Insel der Drachen zurück, wie du da die Hosen voll hattest wegen des verdammten Viehzeugs“ „Da hat sich schnell herausgestellt, daß die Drachen viel kleiner waren, als wir gedacht hatten — und überhaupt nicht blutrünstig waren.“ „Mag sein“, sagte Old O’Flynn. „Aber ich habe so eine Ahnung, daß wir diesmal nicht mit heiler Haut davonkommen. Irgendetwas ganz Gemeines wartet auf uns. Ich spür’s in meinem Beinstumpf, Ed, ich schwör’s dir.“ „Mann“, brummte der Profos. „Ganz so schwarz, wie du ihn malst, ist der Teufel nun doch wieder nicht.“ „Du mit deinem Teufel ...“ „Hasard!“ schrie O’Flynns Sohn in diesem Augenblick hoch über ihren Köpfen. „Wir kriegen Ärger mit dem Wetter!“ Die Männer blickten außenbords, und Batuti, der schwarze Goliath aus Gambia, rief: „Verdammich — große See und viel Wind aus Südost.“ Grollend türmten sich die Wogen auf, der Wind heulte in den Luvwanten und Pardunen. Ganz plötzlich erfolgte dieser Umschwung. Carberry blickte Old O’Flynn an. Der nickte wissend. Carberry schaute zu Matt Davies, und der grinste und sagte: „Hab ich nicht recht gehabt?“ „Wißt ihr, was ihr alle offen habt?“ brüllte der Profos. Sir John, der karmesinrote Aracanga, streckte den Kopf aus Carberrys Wamstasche hervor. Er wollte der Crew gerade Aufschluß darüber geben, was Carberry meinte, da meldete sich wieder Dan aus dem Großmars. „Der schwarze Segler ist hinter der Kimm verschwunden! Ich kann ihn nicht mehr sehen!“
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„Damit war zu rechnen“, sagte der Seewolf auf der Back. „Ben, wir halten den Kurs, segeln vor dem Südost her und versuchen, im spitzen Winkel wieder auf ,Eiliger Drache’ zu stoßen.“ „Aye, Sir. Hast du gesehen, wie er zuletzt dahingejagt ist?“ „Wie ein Rachegott, oder?“ „Und trotz des schlechten Wetters und schwerer Seen“, sagte Ben Brighton. „Siri-Tong ist wie besessen von dem Plan, die Piraten einzuholen und zu erledigen“, meinte der Seewolf. „Das kann ich verstehen, aber sie hätte uns wenigstens die Chance geben müssen, zu ihr zu stoßen.“ Eine knappe Stunde später hatte er die Fühlung zum schwarzen Schiff endgültig verloren. Noch zweimal waren die Mastspitzen von Siri-Tongs Segler für kurze Zeit vor ihnen an der nordwestlichen Kimm aufgetaucht, aber jetzt war „Eiliger Drache“ verschwunden, als hätte ihn die aufgewühlte See verschlungen. Hasards Ärger wuchs, aber er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Er sagte sich, daß er sich in Siri-Tongs Lage vielleicht nicht anders verhalten hätte. Immer wieder versuchte er, sich in ihren Gemütszustand, ihren unbändigen Zorn hineinzuversetzen. Nur langsam beruhigte sich die See wieder. Der Seewolf ging allmählich mit der „Isabella“ auf Nordkurs und segelte mit Steuerbordhalsen auf Backbordbug liegend dem Ungewissen entgegen. * Wie angewurzelt war Fong-Ch’ang am Hang der hügeligen, kargen Küste stehengeblieben. Er hielt Tsao. seinen toten Sohn, auf den Armen und blickte entrückt auf die See hinaus, zu den Inseln hinüber, die dem Festland vorgelagert waren. Mehr als eine Stunde lang stand er so da. Über dem unendlichen Wasser ballten sich unheilvoll schwarze Wolkengebilde zusammen und formierten sich zu einem massiven Ganzen. Der Wind aus Südosten nahm zu und peitschte die Fluten zu schaumgekrönten Wogen hoch. Der Wind raste auf das Land zu, fuhr in verstreut
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wachsende Büschel dürren Grases, brauste weiter, brandete gegen Fong-Ch’angs große, erhabene Gestalt an, rüttelte an ihr und zerrte an dem schwarzen Haarzopf. Fong wäre vielleicht bis zum Anbruch der Dunkelheit so stehengeblieben, wenn nicht die ältesten Männer des Dorfes langsam nähergetreten wären. Schweigend verharrten sie eine Weile hinter ihm. Der Wind nahm zu und heulte drohend über das Dorf weg. „Vielleicht trägt das Wetter den Fluch fort“, sagte einer der älteren Männer schließlich. „Wir trauern um den kleinen Tsao“, erwiderte ein anderer. „Aber wir dürfen noch hoffen, daß das Leben seine natürliche Fortsetzung findet.“ Ein dritter sagte: „Wir müssen hoffen und beten und Feuer anzünden, um alle Gräuel zu verjagen.“ Fong-Ch’ang wandte sich langsam zu ihnen um. Erst jetzt sahen sie, daß er sich etwas über das Gesicht gestreift hatte — eine Maske aus dunklem, gegerbtem Leder. Für die Nase befand sich eine Ausbuchtung in der Maske, und nur vor den Augen waren Schlitze aus dem Material gestanzt worden. Fongs Blick war starr auf die kleine Versammlung gerichtet. Sein verhülltes Antlitz erinnerte an die Fratze eines unheimlichen, aus der Finsternis kommenden Vogels. „Ihr irrt euch“, sagte er leise. „Alle. Wir dürfen nicht herumstehen und darauf warten, daß alles eine glückliche Wende nimmt. Wir müssen selbst etwas tun.“ „Die Ärzte, die Könige der Medizin, sind fortgegangen“, entgegnete der erste Sprecher. „Wen sollen wir um Rat fragen?“ „Niemanden. Unser Instinkt und der Mut der Verzweiflung geben uns ein, wie wir uns zu verhalten haben.“ „Was schlägst du vor, o Fong?“ fragte ein anderer Mann. Fong-Ch’ang wies auf den kleinen Hafen, der etwas nördlich versetzt zu seinen Füßen lag. Mehr als zwei Dutzend Sampans, kleine Boote, lagen dort an
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einfachen Anlegern vertäut, aber auch eine große, reich verzierte Dschunke, die dem ganzen Dorf gehörte und als Verkehrs- und Frachttransportmittel überall dorthin diente, wohin die kleinen Wasserfahrzeuge nicht gelangen konnten —zum Beispiel zu der im Südosten liegenden großen Insel hinüber, die Formosa genannt wurde. „Wir müssen die Dschunke ausrüsten und zum Auslaufen bereitmachen“, sagte Fong. „Nur wenn wir den Tod aus dem Ort tragen und weit draußen versenken, haben die Überlebenden die Aussicht, vom Schlimmsten verschont zu werden.“ Die älteren Männer verneigten sich. „Wir gehorchen dir, o Fong“, sagte der dritte Sprecher. „Wir haben dich zu unserem Anführer gewählt, weil du stets am meisten Umsicht und Klugheit gezeigt hast. Warum aber trägst du die Maske aus gegerbter Tierhaut?“ „Wegen des Hauchs der Verdammnis.“ „Der von Tsao ausgeht?“ „Ja.“ „Wir verstehen“, erklärte der erste Mann ernst und würdig. „Und wir weinen mit dir um den kleinen Tsao.“ „Ich weine nicht“, erwiderte Fong-Ch’ang mit stolz erhobenem Kopf. „Keiner wird das jemals von mir sehen, auch dann nicht, wenn ich auf eine noch härtere Probe gestellt werde.“ Alle blickten sich plötzlich um, denn eine Frau lief aus dem Dorf zu ihnen herüber. Sie gestikulierte und stieß hohe, erregte Laute aus. Als sie fast heran war, konnten alle verstehen, was sie rief. „Fong-Ch’ang, rasch! Tao-t’ien, deine Frau ...“ Fong rannte los. Er legte den toten Tsao nicht auf dem Erdboden ab, er ließ ihn nicht aus den Händen. Vor dem pfeifenden und wispernden Wind lief er auf sein Steinhaus zu, das Haus, das er vor fünf Jahren gemeinsam mit Tao-t’ien Block um Block errichtet hatte, bis es ihm als Heim für die künftige Familie hoch und groß genug erschienen war. Die Übermittlerin der Nachricht hastete neben ihm her.
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„Ihr ist plötzlich schlecht geworden!“ rief sie. „Das Kind in ihrem Leib ...“ „Wer ist bei ihr?“ „Zwei andere Frauen.“ „Großer Chan“, stieß Fong immer wieder hervor. „Gib, daß es nur das Kind war, Großer Chan, ich flehe dich an.“ Tao-t’ien trat aus dem Eingang des Steinhauses, als sie sich nur noch etwa fünfzehn Schritte davon entfernt befanden. Sie hob beide Hände, streckte sie nach ihrem Mann aus und stammelte ein paar Worte. Dann brach sie zusammen. Sie wälzte sich langsam auf den Rücken, ihre Arme fielen zur Seite. Reglos blieb sie liegen. „Tao!“ schrie Fong. Er stürzte zu ihr, kniete neben ihr nieder und legte nun auch den toten Jungen hin. Er fuhr mit den Händen über den Körper seiner Frau und las in ihren Zügen, daß es die gleichen Symptome waren, die gleichen Zeichen des inneren Verfalls, die er auch bei Tsao bemerkt hatte, bevor die Geißel des Todes zugeschlagen hatte. Die Frau, die ihn benachrichtigt hatte, wagte sich nicht mehr in das Steinhaus. Und auch die anderen beiden, die Tao-t’ien hatten beistehen sollen, waren geflüchtet. „Man hole einen Arzt!“ rief einer der älteren Männer, der vor Entsetzen bereits nicht mehr wußte, was er sagte. „Die Könige der Medizin sind aus dem Dorf gegangen“, murmelte sein Nachbar. „Aber auch sie hätten die junge Frau nicht mehr retten können. Noch lebt sie. Doch sie wird den Einbruch der Nacht nicht mehr erleben.“ Fong-Ch’ang streichelte das Gesicht seiner Frau. Er flüsterte ihr Worte zu, aber sie hörte ihn nicht, denn sie war bewußtlos. Sie war schön wie eine Blume im Frühling, und ihre Haut hatte die Zartheit eines Pfirsichs. Sie hatte alles Verheißungsvolle des Lebens noch vor sich gehabt, und jetzt gab es auch für sie keine Hoffnung mehr. Fong sah alles in Glut und wirbelnder Asche versinken. Keine Hoffnung mehr. Das, woraus er seinen Mut geschöpft hatte, wurde vernichtet: seine Liebe, seine Frau, seine Kinder, die für ihn die Zukunft
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bedeuteten. Das ungeborene Wesen im Schoß von Tao-t’ien mußte mit ihr sterben, die Zeit war noch nicht reif, um ihm eine Chance fürs Leben einzuräumen. Hier war sie, die härteste Probe in Fongs Dasein. Fast erschien es ihm, als habe er dieses neue, erschüttern-. de Drama durch seine Worte an der Küste selbst heraufbeschworen. Er erhob sich, trug Tao in das Steinhaus und bettete sie auf ihr Lager. Er kehrte zu den älteren Männern zurück, übergab ihnen den Leichnam Tsaos und sagte: „Bringt ihn zu den anderen und hüllt ihn in schwarze Gewänder. Schafft sie alle auf die große Dschunke.“ Sie erwiderten etwas, aber er nahm es nicht in sich auf. Stumm, mit beinahe marionettenhaften Bewegungen, trat er wieder in sein Haus. Er tat für Tao-t’ien, was in seinen Kräften stand. Er griff in seiner großen Verzweiflung sogar zu Kräutermixturen, die ihm einmal ein wandernder Zauberer überlassen hatte und auf die er eigentlich nie etwas gegeben hatte. Doch es nutzte alles nichts. Tao kam nicht wieder zu sich. Ihre Atemzüge wurden schwächer. Im Dahindämmern wechselte sie unaufhaltsam in die Sphäre des Jenseits über. „Die schwarze Krankheit“, stöhnte Fong. „Sie schlägt schnell und gnadenlos zu. Verflucht soll sie sein.“ Er ging ins Freie. Die Männer, die vor seinem Haus geblieben waren, sahen ihn erwartungsvoll an. Trotz allem hofften sie noch auf ein Wunder. Fong-Ch’ang schüttelte sein maskiertes Haupt. „Nach all den bitteren Erfahrungen der vergangenen Tage weiß ich, daß es für Tao keine Rettung mehr gibt.“ Er schwieg lange, dann sagte er: „Nun gibt es für mich nur noch eine Aufgabe – das Dorf zu schützen, soweit es noch zu schützen ist. Wie steht es mit den Vorbereitungen auf der Dschunke?“ „Sie sind fast abgeschlossen“, erwiderte der älteste Mann, ein greiser, gebeugter Weißhaariger. „Es fehlt uns nur noch der
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Rudergänger. Keiner mag sich freiwillig melden.“ „Ich selbst werde die Dschunke steuern“, sagte Fong-Ch’ang. 3. Seit Thorfin Njals Eingreifen war der Zwist zwischen Cookie und Muddy tatsächlich vergessen. In erster Linie lag es daran, daß Muddy die Fische fertig abgeschuppt und dann mit dem großen Aufklaren begonnen hatte. Kübel um Kübel schaffte er zunächst den Unrat aus der Kombüse und kippte das Zeug außenbords. Das war keine leichte Arbeit, denn der schwarze Segler rollte und schlingerte in den aufgewühlten Fluten. Muddy beförderte die Abfälle zwar in Lee übers Schanzkleid, aber es bestand jedesmal doch die Möglichkeit, daß zumindest ein Teil davon an Bord zurückkehrte. Zusätzlich riskierte Muddy bei jedem Kübelmanöver, selbst außenbords geschleudert zu werden. Er mußte wirklich höllisch aufpassen. Er überlegte, ob er sich festbinden sollte, unterließ es dann aber doch, weil die See wieder ruhiger wurde. Immer wieder blickte Muddy zu der Roten Korsarin. Sie hatte Bill the Deadhead am Kolderstock abgelöst, knüppelte den schweren Viermaster jetzt selbst durch das Chinesische Meer und schaute dabei immer wieder zu den Segeln auf, ob sie auch prall gefüllt waren. Muddy kehrte zu Rod Bennet in die Kombüse zurück. „Siri-Tong kann es nicht schnell genug gehen“, sagte er. Cookie hatte die Holzkohlenfeuer angeheizt und Töpfe aufgesetzt. Einen Teil der Fische kochte er, einen Teil briet er. Im Hin- und Herschwanken des Schiffes war das auch keine einfache Sache. Immer wieder mußte er aufpassen, daß ihm die Töpfe nicht wegrutschten. „Sie will den Piraten eine Lektion erteilen“, erklärte er. „Und wenn wir sie erst haben, heizen wir ihnen ein, daß ihnen Hören und Sehen vergeht, das kann ich dir sagen.“
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Muddy ließ sich auf den Planken nieder und begann sie kräftig einzuseifen und zu schrubben. „Diesmal langen wir kräftig mit zu. Diesmal überrumpeln die gelben Hunde uns nicht.“ „Lieber krepiere ich, als daß ich mich von denen noch mal besiegen lasse“, bekräftigte Cookie diese Worte. „Sag mal, ob es unter diesen Gelben auch richtige Menschen gibt?“ wollte Muddy plötzlich wissen und schaute auf. „Klar gibt es die. Schlechte und weniger schlechte.“ „Kanaillen, aber auch anständige Kerle wie bei uns, willst du sagen?“ „Na sicher. Denk doch mal an Siri-Tong.“ „Sie ist keine richtige Chinesin“, meinte Muddy. „Ihr Vater war ein Portugiese. Sie ist eine Eurasierin, oder?“ „Stimmt, aber sie hat das Blut ihrer chinesischen Vorfahren zu einem guten Quantum in den Adern“, beharrte der Koch. „Hör zu, dieses China muß ein ganz normales Land sein wie jedes andere, auch wenn die Männer dort Zöpfe tragen und eine merkwürdige Sprache sprechen. Die Gewohnheiten sind anders, das ist alles.“ So richtig überzeugt war Muddy nicht. „Dieses Reich der Mitte scheint voller Geheimnisse und Gefahren zu stecken“, murmelte er noch. „Nicht, daß ich davor bange bin. Aber diese Zopfkerle scheinen andere Kampfmethoden zu haben als wir, und sie bauen Fallen, von denen wir nichts ahnen. Teufel auch.“ Er hustete dreimal kräftig, dann schrubbte er weiter. Die Frist, die Thorfin Njal ihm gesetzt hatte, war halb um, und er hatte noch eine Menge zu erledigen, bis die Kombüse blitzblank war und man von ihren Planken essen konnte. Der Wikinger Eike, der den Ausguckposten im Hauptmars übernommen hatte, ließ plötzlich seine Stimme vernehmen. Sie hallte über Oberdeck und war auch in der Kombüse zu vernehmen. „Dschunke Backbord voraus!“ Cookie hatte die Position seiner Töpfe und Pfannen ausreichend gesichert. Er durfte sie loslassen, konnte sich die Hände reiben
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und sagen: „Jetzt geht’s los. Mach dich auf was gefaßt, Muddy.“ Siri-Tong stand hochaufgerichtet am Kolderstock und rief: „Wir halten darauf zu! Thorfin, wir setzen diesen Halunken einen Schuß vor den Bug und zwingen sie zum Stoppen!“ Der Wikinger eilte auf die Kuhl hinunter und ließ die Geschütze gefechtsklar machen. Juan, der Boston-Mann und ein paar andere Männer hielten sich in SiriTongs Nähe, richteten ihre Fernrohre auf die Dschunke und gaben laufend Meldungen an die Korsarin weiter. „Der Abstand beträgt noch etwa zwei Meilen, Madame!“ rief Juan. „Wir können die Luvposition halten“, sagte der Boston-Mann. „Das fremde Schiff segelt zur Küste hin versetzt.“ „Madame!“ schrie Eike aus dem Hauptmars. „Es ist eine Dschunke mit zwei Masten, und sie sieht verdammt flügellahm aus!“ Die Rote Korsarin konnte die Dschunke bald mit bloßem Auge erkennen. Wirklich, dieser Zweimaster lief kaum Fahrt und dümpelte fast in der abschwächenden Dünung. Es war ein Kinderspiel, sie zu überholen. „Die haben wir gleich“, sagte in diesem Moment auch Missjöh Buveur, der unweit von Thorfin Njal auf der Kuhl an einem der schweren 25-Pfünder hantierte. „Du merkst aber auch alles“, erwiderte der Wikinger. „Wartet, bis wir auf gleicher Höhe mit dem Kahn sind!“ rief die Rote Korsarin. „Dann zündet ihr das vordere Backbordgeschütz!“ „Aye, Madame“, sagte der Wikinger. Er stapfte über das schaukelnde Deck auf Arne und Oleg zu. Sie hatten das vordere Backbordgeschütz geladen und waren gerade dabei, es in Schußstellung zu justieren. Die Mündung des massiven Bronzerohres richtete sich durch die Stückpforte auf die fremde Dschunke, an der das schwarze Schiff jetzt mit straff geblähten Segeln vorbeizog. Oleg stellte das Becken mit dem Holzkohlenfeuer bereit. Arne stippte das Luntenende hinein und wartete, während
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sich die Glut knisternd durch die trockene Zündschnur fraß. Der Bug der zweimastigen Dschunke glitt in Zielrichtung des 25-Pfünders. Thorfin Njal zählte in Gedanken bis drei, dann sagte er: „Feuer!“ Arne senkte die glimmende Lunte auf das Bodenstück der Kanone. Das Zündkraut fing Feuer, die kleine Flamme raste durch den Kanal zur Pulverladung, und dann spie das Geschütz donnernd die Kugel aus. Die Wikinger waren etwas von dem 25Pfünder zurückgewichen. Jetzt, als die Brook den Rückstoß abfing, sprangen sie wieder vor und schoben das Geschütz von neuem in Ladestellung. Drüben, vor dem Bug der Dschunke, gischtete eine Fontäne hoch. Sie kräuselte oben auseinander und fiel wieder in sich zusammen. Rufe schallten von Bord des Zweimasters herüber. „Sie luven an und nehmen Fahrt aus dem Schiff“, meldete Eike aufgeregt. „Hölle, die haben schon genug! Das ging ja verdammt schnell!“ „Abfallen“, befahl Siri-Tong. Sie hatte sich mit dem Spektiv ans Backbordschanzkleid des Achterdecks begeben. Juan hatte den Kolderstock übernommen. Juan drückte den Kolderstock herum. Die Männer eilten an die Schoten und Brassen und korrigierten die Segelstellung. Platt vor dem Wind rauschte „Eiliger Drache“ auf die Dschunke zu. Thorfin Njal, Oleg, der Stör, Missjöh Buveur und Muddy, der wie der Blitz aus der Kombüse hervorgeschossen war, erklommen die Back und standen zum Entern bereit. Von achtern rückte der Boston-Mann mit einem kleinen Trupp Männer an. Siri-Tong gab die letzten Befehle, dann lief auch sie über die Kuhl, sprang auf das Vordeck und zückte den Degen. Der Rest der Crew blieb an den Geschützen oder hielt sich für die Segelmanöver bereit. „Ob sie uns in eine Falle laufen lassen wollen?“ fragte Thorfin Njal. „Es kommt darauf an, wie viele Geschütze sie führen.“ „Sehr kampfbereit sieht mir der Kahn nicht aus“, meinte Oleg.
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„Der Kahn nicht, aber wer weiß, mit was für Kerlen wir es da zu tun kriegen“, gab Missjöh Buveur zu bedenken. Siri-Tong äußerte sich nicht. Sie blickte unausgesetzt auf den Zweimaster. Keine Bewegung, kein Manöver drüben konnte ihrer Aufmerksamkeit entgehen. Ob sie es mit einer Piratendschunke zu tun hatten, blieb vorerst dahingestellt. Am Teufelsfelsen hatte sie das Schiff jedenfalls nicht gesehen. „Tufei, tufei!“ klang es von Bord der Dschunke herüber. „Was heißt das?“ erkundigte sich Thorfin Njal. „Ja, was heißt das?“ fragte auch der Stör, der die dumme Angewohnheit hatte, immer den letzten Satz Njals nachzuplappern. „Seeräuber“, übersetzte die Rote -Korsarin. „Die Kerle laufen ziemlich aufgeregt durcheinander“, meldete Eike aus dem Großmars. „Viel Mumm scheinen die nicht zu haben. Und ich sehe Gestalten auf Deck ‘rumliegen. Verwundete - oder Tote!“ „Da stimmt was nicht“, sagte Thorfin Njal. „Da stimmt was nicht“, murmelte auch der Stör. „Was denn wohl nicht?“ wollte Thorfin wissen, der seinen vorherigen Satz schon wieder vergessen hatte. „Was denn wohl nicht ...“ Das wäre so weitergegangen, wenn Oleg dem Stör nicht in die Seite geboxt hätte. Der Landsmann krümmte sich stöhnend, aber außer Oleg schenkte dem keiner Beachtung. Alle konzentrierten sich auf die zweimastige Dschunke, deren Besatzung immer noch keine Anstalten traf, sich zur Wehr zu setzen. Der Kapitän schien sich tatsächlich ohne Gegenwehr ergeben zu wollen. In der Tat mußte den Männern der Dschunke der große, wuchtige Viermaster wie eine drohende Festung erscheinen, zumal „Eiliger Drache“ auf sie zurauschte, als wolle er sie rammen und untermangeln. Aber sogar ein kleines Tier wehrt sich in Todesangst gegen ein größeres Tier, dachte Siri-Tong, nur ganz selten verhält es sich völlig apathisch, merkwürdig.
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Kurze Zeit später ließ auch die Korsarin anluven. Sie ging mit dem schwarzen Schiff fast in den Wind. Die Bremswirkung war groß. Erst in allerletzter Sekunde ließ sie die Segel aufgeien, und der Viermaster glitt schräg versetzt mit dem Heck zuerst an die Dschunke heran. Die Entermannschaft hetzte unter SiriTongs Führung auf die Steuerbordseite der Kuhl. Als Juan das Schiff etwas herummanövrierte und sie längsseits der Dschunke schoren, jumpten die schöne Frau und die verwegenen Männer auf den Zweimaster hinüber. Cookie hatte die Holzkohlenfeuer unter den Töpfen und Pfannen gelöscht. Jetzt stürmte auch er mit gezücktem Entermesser aus der. Kombüse. Er turnte mit einer Behändigkeit, die ihm Fremde wegen seiner Leibesfülle nicht zutrauten, von Bord zu Bord, hastete über die Kuhl der Dschunke, hörte die Kameraden. brüllen und die Chinesen immer wieder dieselben Worte rufen. „Yang kuei tzu! Yang kuei tzu!“ Thorfin Njal blieb zwischen drei, vier schwer verwundeten chinesischen Seeleuten stehen und packte sich einen kerngesunden Mann, der Reißaus vor ihm nehmen wollte. Er hielt ihn fest, und obwohl der Bursche zappelte und jammerte, gab der Wikinger ihn nicht wieder frei. „Jank-zwei-tschu, lang mal zu!“ brüllte Thorfin ihn an. „Was heißt das?“ Siri-Tong hatte sich inzwischen den Kapitän gegriffen. Sie hielt ihn von hinten fest, setzte ihm die Degenklinge wie ein Messer an die Kehle und dirigierte ihn zu ihren Männern, die den Rest der Besatzung im Handumdrehen gefangengenommen hatten. Es war kein Tropfen Blut vergossen worden. „Yang kuei tzu“, sagte die Korsarin. „Das bedeutet ‚fremde Teufel’. Sie haben damit gerechnet, von Landsleuten angegriffen zu werden, nicht aber damit, daß Weiße auf dem schwarzen Schiff fahren.“
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„Fremde Teufel“, wiederholte der BostonMann. „Das sind wir also für sie.“ „Dachtest du, sie halten uns für Götter?“ fragte Mike Kaibuk. „Nein. Aber so teuflisch sind wir nun auch wieder nicht.“ Das gab auch Siri-Tong jetzt dem Kapitän zu verstehen. „Wir wollen euch nicht töten“, sagte sie ihm immer wieder. „Wir tun euch nichts zuleide.“ Alles, was sie mit ihm sprach, übersetzte sie ihren Männern. „Bei uns gibt es nichts zu holen“, stammelte der Kapitän, ein mittelgroßer Mann mit stämmiger Statur und dünnem Oberlippenbart. „Wir sind schon einmal überfallen worden.“ „Wann war das?“ „Heute früh — am hellen Vormittag.“ „Sag mir deinen Namen“, forderte sie ihn auf. „Dschang Nai-tji.“ „Dschang Nai-tji, wer hat das hier angerichtet?“ Siri-Tong wies auf die Verwundeten. Tote waren nicht zu sehen, offenbar hatte die Mannschaft sie bereits der See übergeben. „Ein verdammter Pirat“, stieß der Kapitän hervor. Im nächsten Augenblick biß er sich auf die Unterlippe. Nur eine Sekunde hatte er vergessen, daß die „fremden Teufel“ ihrem Aussehen und ihrem Benehmen nach ja auch „Tufei“, Seeräuber, waren. „Sprich dich ruhig aus“, ermutigte sie ihn. „Wir fühlen uns nicht angesprochen: Für mich ist nur eins wichtig: zu erfahren, wer über euch hergefallen ist.“ Der Boston-Mann kehrte von einer kurzen Inspektion der Laderäume der Dschunke zurück. „Stimmt, das Schiff ist von den Masten bis zum Kielschwein ausgemistet worden“, sagte er. „Da müssen die Burschen hier ja wirklich restlos bedient sein“, meinte Thorfin Njal. „So erklärt sich, warum sie nicht auf uns gefeuert haben.“ Er stieß seinen Gefangenen auf den Stör zu. Der Stör fing den vor Furcht Schlotternden auf und sagte: „Darum habt ihr nicht auf uns gefeuert.“ „Ich habe ein neues Massaker befürchtet, als ich euch sah“,
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erklärte Dschang Nai-tji. „Jeder Widerstand war von vornherein sinnlos. Ich bitte euch, uns leben zu lassen.“ „Das habe ich dir doch schon zugesichert“, erwiderte Siri-Tong. Sie wurde ungeduldig. „Los, berichte über die Piraten.“ Dschang Nai-tji nickte eifrig. Sie ließ ihn sogar los. Er drehte sich um und zupfte seine ohnehin lädierte Kleidung in einer widersinnigen Verlegenheitshandlung zurecht. „Wüste Kerle“, sagte er. „Der schlimmste war ihr Anführer — Khai Wang, die Geißel des Meeres. An Grausamkeit übertrifft ihn keiner, deswegen ist er berüchtigt, und es ist sogar ein Kopfpreis auf ihn ausgesetzt worden.“ „Beschreibe ihn“, drängte die Rote Korsarin. „Lackschwarze Haare und ein Oberlippenbart, der weit übers Kinn hängt, das sind seine auffallenden Merkmale“, entgegnete der Dschunkenkapitän. „Und noch etwas: seine Tätowierungen in blaulila Farben. Auf der Brust zeigen sie einen wilden Drachen, auf dem Rücken von Khai Wang eine sich windende Schlange, die einen Vogel frißt.“ „Das ist er!“ schrie Thorfin Njal, als SiriTong ihm die Worte übersetzte. „Unser Todfeind!“ „Was sagt der große Fellmann?“ wollte Dschang wissen. Siri-Tong dolmetschte, und Dschang fragte überrascht: „Was? Seid ihr etwa auch von Khai Wang überfallen worden?“ Siri-Tong gab ihm keine Antwort darauf. „Khai Wang“, sagte sie nur leise, „warte, du Bastard.“ „Er hat uns Frischgemüse, Reis und allen anderen Proviant weggenommen“, beklagte sich Dschang Nai-tji. „Damit nicht genug. Er hat ein Blutbad angerichtet, weil er glaubte, wir halten Reichtümer auf der Dschunke versteckt. Als er nichts dergleichen fand, wurde er noch wütender und hieb mit seinem Messer um sich. Er raffte alles zusammen, was er an persönlichen Wertgegenständen wie Ringen, Ketten, Kleidern im Achterdeck und bei uns Männern fand.
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Dann beraubte er uns auch noch unserer Waffen und unserer Munition.“ Die Rote Korsarin fragte ihn nach dem Drachenschiff, und er erwiderte: „Ja, das war auch dabei. Es segelt mit Khai Wangs Schiff zusammen. Ich kann euch sagen, welchen Kurs sie genommen haben, als sie endlich von, uns abließen.“ Dschang-Naitji, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, wies nach Norden. „Dorthin sind sie gesegelt.“ „Wie ich mir gedacht habe“, sagte. SiriTong. Sie blickte zu den Männern. „Versteht ihr jetzt; warum ich heute früh so schnell den Kurs geändert habe?“ „Ja, selbstverständlich“, erwiderte Thorfin Njal. „Ihr sechster Sinn hat Madame nicht getrogen“, sagte Missjöh Buveur zum Boston-Mann. Siri-Tong, die es gehört hatte, entgegnete aber: „Mit sechstem Sinn hat das nicht viel zu tun, eher mit Kombinationsgabe. Man muß sich in die Lage des Gegners versetzen, um seine Handlungen in etwa vorherbestimmen zu können.“ Innerlich frohlockte sie fast. Ihre Gefühle, ihre Ahnungen hatten sie nicht getrogen. Etwas von der Schmach, die sie über die Niederlage in der Teufelssee empfand, war von ihr gewichen. Sie wertete es schon als Teilerfolg, zumindest zu wissen, wohin sich die Chinesen mit der Mumie des Mandarins gewandt hatten. „Er will also tatsächlich nach Peking, Khai Wang, dieser Hundesohn“, entfuhr es Thorfin Njal. Dschang Nai-tji horchte auf. „Peking — Beijing? Ist Khai Wang nach dorthin unterwegs?“ Genau verstehen konnte er ja nicht, was .die weißen Männer und die schöne schwarzhaarige Frau in dieser seltsamen Sprache des fernen Kontinents redeten, aber die wichtigsten Brocken hatte er doch aufgeschnappt. „Das geht dich nichts an“, sagte Siri-Tong barsch. Der Dschunkenkapitän begann sofort unterwürfig zu gestikulieren. „O bitte, nein – sicher nicht. Verzeiht mir. Ich habe mich da nicht einzumischen. Nie wieder werde ich es tun.“
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Siri-Tong gab ihren Männern einen Wink. „Wir gehen von Bord dieses Schiffes, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Los, beeilt euch.“ Dschang verstand diesmal wirklich kein Wort, aber als er sah, daß die „fremden Teufel“ das Oberdeck der Dschunke räumten und auf den schwarzen Segler zurückkehrten, begriff er. Er fiel vor Siri-Tong auf die Knie. „Königin der Wasser“, stieß er hervor. „Schöne, prachtvolle Blüte der See, laßt mich Eure Hand küssen.“ „Hör auf“, sagte sie schroff. Die kriecherische Art von Dschang Nai-tji ging ihr auf die Nerven. „Auf Nimmerwiedersehen, und damit Schluß.“ „Ihr habt mich vor dem Tod bewahrt“, fing er wieder an. Sie schritt davon. „Warum soll ich einen Wehrlosen töten? Außerdem hast du mir ja gar nichts getan.“ Er stand auf, eilte ihr nach, kniete sich wieder neben sie hin und hob wie beschwörend beide Hände. „Mein Segen begleitet euch auf all euren Wegen, Königin. Ich werde euch das nie vergessen. Lebt wohl.“ „Ja, danke“, antwortete sie ziemlich unwirsch. Wenig später lösten sich die beiden so unterschiedlichen Schiffe voneinander. Die zweimastige Dschunke segelte in Richtung Küste davon. Die Rote Korsarin ließ auf „Eiliger Drache über den Wassern“ jeden Fetzen Tuch setzen. Und wieder machte der große Viermaster seinem Namen alle Ehre. Mit zunehmender Fahrt huschte er vor dem immer noch handigen Südost, der raumschots einfiel, nach Norden. Nach Peking, dachte die Korsarin, als sie wieder auf dem Achterdeck stand. Der Wind zerzauste ihr langes schwarzes Haar. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte kühn voraus. Nach Peking, und dort willst du dir ein rotes Mäntelchen verdienen, wenn du die Mumie ablieferst, Khai Wang, aber du hast die Rechnung ohne den Wirt abgeschlossen. 4.
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Vor dem Eingang des Steinhauses standen die älteren Männer des Dorfes und. blickten zu Fong-Ch’ang herein. Wong war jetzt heilfroh darüber, daß er sich frühzeitig die Ledermaske aufgesetzt hatte, denn so konnten sie sein heftig zuckendes Mienenspiel nicht beobachten. An seinen Mundwinkeln schien etwas krampfhaft zu zerren, und in seinem Kopf pochte es dröhnend. Ein starkes Brennen setzte seinen Augen zu, er konnte die liegende Tao-t’ien nur noch wie durch einen Schleier erkennen. Gleichzeitig brannte es schmerzhaft in seiner Brust, als sollte sein Herz zerreißen. „Tot“, flüsterte er. Nicht viel Zeit war vergangen, und das schwarze Unheil hatte auch Taot’iens blühendes Dasein wie ein brüchiges Blatt dahingerafft. Erst jetzt traf der Schicksalshieb Fong mit unverminderter Wucht, und er drohte darunter zu zerbrechen. Minutenlang wünschte er sich nichts anderes, als seiner Frau und dem kleinen Tsao nachzufolgen in das Reich der Finsternis. Aber dann verwarf er den Gedanken und ging mit sich selbst zu Gericht, weil er es gewagt hatte, die Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen. Es blieb aber der Gedanke in ihm: warum werde ich verschont, warum hat es mich nicht auch getroffen? Er hatte das Gefühl, ein alter, gebrechlicher Mann geworden zu sein. Langsam, unendlich langsam beugte er sich über die Bettstatt von Tao, vor der er gekniet hatte. Er schob die Hände unter ihren zarten Leib, hob sie hoch und trug sie aus dem Haus. Die Wartenden wichen zurück. Einer warf ein schwarzes Tuch über den Leichnam von Tao-t’ien. Fong-Ch’ang schritt zum Hafen hinunter. Er brachte seine junge Frau wie vorher den kleinen Tsao zur Küste, nur verharrte er diesmal nicht, sondern ging direkt auf den Anleger zu, an dem die große, reich verzierte Dschunke vertäut lag.
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Die Männer des Dorfes folgten ihm wie in einer geisterhaften Prozession. Auf dem Anleger blieb Fong noch einmal stehen. „Wenn ich fort bin“, sagte er, „müßt ihr die Hütten und Häuser niederbrennen, in denen das Verderben genistet hat. Nur so könnt ihr alles andere von euch abwenden und auch verhindern, daß das Grauenhafte auf die Nachbarorte übergreift. Versprecht mir hoch und heilig, daß ihr es tun werdet.“ „Wir schwören es“, sagte der älteste Mann des Dorfes. „Zu unserem eigenen Besten. Leb wohl, Fong-Ch’ang. Der Rat wird dein selbstloses, aufopferndes Verhalten nicht vergessen. Der Geschichtsschreiber wird deine Taten mit schwarzer Tusche auf feinem Reispapier verewigen.“ „Vielleicht kehre ich nie zurück“, sagte Fong. „Aber ich trauere nicht um mich selbst. Es gibt nur diesen einen Weg, ich muß ihn beschreiten.“ Er schritt weiter, auf die große Dschunke zu, und er dachte dabei: vielleicht hätte ich dich, Tao-t’ien, doch noch retten können, wenn ich diese Entscheidung eher gefällt hätte. Doch ganz tief in seinem Inneren wußte er, daß er sich das nur einzureden versuchte. * Der Seewolf hatte Ben Brighton und Dan O’Flynn zu sich in die Kapitänskammer gerufen. Er ließ sich hinter seinem Pult nieder und bot ihnen mit einer Geste ebenfalls Platz an. Sie setzten sich auf Stühle. Dan hatte sich von Gary Andrews im Großmars ablösen lassen. Er rutschte ziemlich unruhig auf seinem Stuhl herum und sagte: „Was ist denn, Hasard? Verdruß in Sicht?“ „Ein bißchen mehr Respekt, wenn ich bitten darf“, forderte Ben Brighton ihn ärgerlich auf. Manchmal ging ihm die vorlaute Art des jungen O’Flynn erheblich auf die Nerven. Hasard hatte Karten auf seinem Pult ausgerollt und an den Ecken beschwert.
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„Rückt mal näher“, sagte er jetzt. „Es geht um folgendes: Siri-Tong haben wir endgültig aus den Augen verloren. Wir brauchen uns keinen Hoffnungen hinzugeben, sie so bald wieder zu treffen. Ich hatte damit gerechnet, auf unserem jetzigen Kurs rasch wieder auf das schwarze Schiff zu stoßen, habe mich aber getäuscht.“ „Das heißt, du weißt nicht, ob die Rote Korsarin den Nordkurs beibehalten hat“, erwiderte Ben Brighton. „Ja.“ Hasard wies auf die ziemlich angegilbten Pergamentrollen. „Diese alten Seekarten besagen, daß wir von der Küste nicht mehr weit entfernt sind. Wir könnten sie noch im Laufe des heutigen Tages erreichen.“ „Du willst sie also ansteuern?“ fragte Dan. „Ja. Von dem Moment an, in dem SiriTong sich so eigenwillig von uns abgesetzt hat, muß sie auch damit rechnen, daß wir etwas anderes unternehmen, als nur nach ihr zu suchen.“ Ben Brighton sagte: „Es reizt dich, Land und Leute kennenzulernen, nicht wahr?“ „Ich will mich auch informieren, und ich will wissen, ob diese alten Karten stimmen. Sie zwingen mich direkt zu dieser Aufgabe.“ Er fuhr mit der Kuppe des Zeigefingers über die Zeichnung, über Daten und schwer zu entziffernde Eintragungen. „Wir haben auch schon von der ,verbotenen Stadt’ reden hören, nur wissen wir nicht genau, wo sie liegt“, fuhr er fort. „Vielleicht finden wir die Spur der Roten Korsarin wieder, wenn wir uns wegen dieser Stadt Peking umtun. Ich könnte mir denken, daß die Entführer des toten Mandarins die Mumie dorthin befördern —dort, in Peking, befindet sich das Herrscherhaus des Großen Chan.“ Dan studierte aufmerksam die Karten. „Dieses China scheint ein kompliziertes Reich zu sein. Man weiß nicht, auf was man stößt. Ich gebe es ehrlich zu, ich fühle mich ein bißchen verloren.“ „Das geht nicht nur dir so, Dan“, sagte Ben Brighton. „Mir ist auch nicht gerade wohl in meiner Haut. Wir haben schon die tollsten Sachen erlebt, unter Entbehrungen
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und größten Bedrohungen Raids gegen die Spanier geführt. Aber das alles scheint nichts zu sein gegen das, was uns noch erwartet.“ „Ben.“ Hasard fixierte seinen Bootsmann. „Jetzt fehlt nur noch, daß du sagst: der Albatros, der uns neulich an Bord besuchte, war ein Orakel des Bösen.“ „Nein, das sage ich nicht. Mir setzt nur diese Ungewißheit zu.“ Der Seewolf lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Pultkante. „Ich will auch ganz offen sein. In die Mentalität der Leute hier kann ich mich genauso schlecht hineindenken wie ihr. Hier ist alles anders, wir haben eine völlig fremde Welt mit eigenen Gesetzen vor uns — geheimnisvoll, unergründlich, voller Fragen. Hinzu kommt, daß es mit der Verständigung nicht klappt. Weder mit unserer Muttersprache noch mit Spanisch oder Portugiesisch, Italienisch oder Französisch können wir uns behelfen. Von Deutsch ganz zu schweigen.“ Ben beugte sich ein wenig vor. „Vielleicht gibt es Chinesen, die die portugiesische Sprache verstehen und beherrschen. Schließlich sind die Portugiesen hier als erste Europäer gelandet.“ „Das stimmt nicht ganz“, wandte Dan ein. „Einige waren schon vorher im Reich der Mitte, hab ich mir sagen lassen. Sie sind allerdings auf dem Landweg hergereist.“ „Du meinst Marco Polo?“ fragte Brighton. „Ja, er soll so um das Jahr 1350 herum bis zum Großen Chan vorgedrungen sein.“ „Bei seiner zweiten Reise 1369 erreichte er über das Pamirplateau China“, erklärte der Seewolf lächelnd. „Er blieb mehrere Jahre in China und erfuhr seinerzeit— das nur nebenbei — auch von einem Land, das Zipangu heißt und aus vielen großen und kleinen Inseln besteht, Japan also. Vor Marco Polo hatten aber schon andere Leute Vorstöße in den Fernen Osten unternommen, die nur nicht so berühmt wie er geworden sind. Da wäre einmal Giovanni da Montecorvino, auch ein Italiener. Er war Anfang des 14. Jahrhunderts bereits in Indien und China. Seinem Landsmann Odorico da Pordenone
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gelang es wenig später, das vordere Indien, Ceylon, Sumatra, Java und Borneo zu bereisen. Er soll auch in Tibet und Persien gewesen sein.“ „Wie du das alles weißt“, staunte Dan O’Flynn. „Ich habe eben noch ein bißchen mehr aufgeschnappt als du.“ „Du hast es von Siri-Tong erfahren, oder?“ Hasard schüttelte den Kopf. Er wies hinter sich auf die großen, teilweise abgegriffenen Bücher, die in einem Holzregal der Kammer standen schlingerfest abgesichert. „Es ist hochinteressant, über das Schicksal solcher Abenteurer und Kauffahrer zu lesen. Ein Spanier namens Pascal de Vittoria kehrte 1339 nicht aus dem Reich der Mitte zurück, er starb als Märtyrer. Giovanni da Marignolli jedoch wurde beim Großkhan vorstellig und kehrte mit einem Antwortschreiben des allmächtigen chinesischen Kaisers zum Papst nach Avignon zurück.“ „Gibst du mir diese Bücher auch mal?“ fragte Dan. „Gern. Du mußt sie nur lesen.“ Dan kratzte sich am Hals. „Tja ...“ Ben Brighton richtete den Blick wieder auf die Karten. „Langer Rede kurzer Sinn, wir bewegen uns wie auf Krücken voran. Hier, an der Küste, ist doch ein Ort eingezeichnet.“ „Richtig“, sagte der Seewolf. „Xiapu.“ „Nach der Karte und unseren Positionsberechnungen können wir nicht mehr weit davon entfernt sein.“ „Gut.“ Hasard stand auf. „Dann laufen wir jetzt dieses Xiapu an und überlassen das Weitere einfach dem Zufall. Von den Chinesen heißt es unter anderem auch, sie seien ein hochkultiviertes, sensibles Volk und uns betrachten sie als Barbaren. Möglich, daß unser Einstand in diesem Kontinent doch friedlich vonstatten geht.“ Er verließ den Raum. Ben und Dan folgten ihm. Auf dem Oberdeck angelangt, klomm Dan wieder in seinen Posten, den Großmars, hinauf und löste Gary Andrews ab. Ben Brighton gab die entsprechende Order für den Kurswechsel weiter.
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„Wenn ihr mich fragt, es wäre besser, dieses verdammte Land gar nicht erst aufzusuchen“, sagte der alte O’Flynn. Keiner wollte aber richtig auf ihn hören. Insgeheim suchte Edwin Carberry aber doch immer wieder mit dem Blick den Himmel ab, ob irgendwo wieder ein Albatros, ein Unglücksbote, erschien. * „Land in Sicht!“ Dans Ruf schreckte die Seewölfe aus ihrer Tatenlosigkeit hoch. Sie hatten den „Schlabbertörn“, zu dem die Fahrt nach der Wetterberuhigung geworden war, schon hundertfach verflucht. Jetzt liefen sie alle ans Schanzkleid und hielten nach dem Land Ausschau, das - was immer sie auch erwartete - Neuigkeiten versprach. Hasard blickte vom Achterdeck aus mit dem Spektiv zur westlichen Kimm. Bald sah auch er die schwärzlichen Buckel, die aus der See aufragten, ein Stück emporwuchsen und sich nach und nach zu hügeligen Formationen entwickelten. Von einer Ortschaft war vorläufig nichts zu sehen. Hasard blieb gelassen. Auf die Exaktheit der Karten konnte er nicht bauen, er mußte alles über den Daumen peilen und sich nach Gutdünken vorantasten. „Ben, wir luven etwas nach Steuerbord an und runden den Küstenstrich, der vor uns liegt.“ „Aye, Sir. Scheint ein Kap zu sein.“ „Soweit ich erkennen kann, ja.“ \ Kurze Zeit darauf wetterten sie beide, denn es hatte sich herausgestellt, daß sie sich getäuscht hatten. „Das ist eine Insel!“ schrie Dan O’Flynn. Er hatte sich so weit über die Segeltuchverkleidung des Hauptmarses gebeugt, daß es aussah, als würde er jeden Moment auf Deck stürzen. Neben ihm schob Arwenack, der Schimpanse, seinen Kopf hoch und keckerte aufgeregt. Sir John, der Ara, flatterte von der Großrah auf Carberrys Schulter und ließ die schlimmsten Flüche vom Stapel. Der
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Profos pflückte sich den Vogel mit einem noch übleren Kraftwort von der Schulter, aber Sir John krächzte in seiner Faust weiter, wenn auch stark gedämpft. „Halt den Rand, du Zwerghahn“, sagte Carberry. „Sei bloß still, oder ich zerquetsch dich.“ Sir John dachte nicht daran, zu gehorchen. Carberry hatte ihm schon die übelsten Sachen angedroht, aber nie etwas davon wahrgemacht. Dazu hatte er den Papagei viel zu sehr ins Herz geschlossen. Die große Insel glitt an Backbord der „Isabella“ vorbei. Enttäuscht standen die Männer am Schanzkleid. Konsterniert blickten auch Hasard, Ben Brighton, Ferris Tucker, Old O’Flynn, Shane und die anderen auf dem Achterdeck drein. „Das ist es also auch nicht, das heißersehnte China“, sagte der alte O’Flynn. „Und die Karten stimmen alle nicht“, fügte Big Old Shane hinzu. Hasard schwieg. Sie rundeten die nördliche Spitze der Insel, danach dehnte sich wieder eine weite Wasserfläche vor ihnen aus. Tief in seine Gedanken verstrickt, spähte er darüber weg. Zum erstenmal seit langer Zeit wirkte der Seewolf etwas ratlos. Zorn erfüllte ihn wieder, gewaltiger Zorn über die verdammten Seekarten, die allesamt keinen Pfifferling zu taugen schienen. Und sein Ärger auf Siri-Tong, die racheschnaubend einfach weitergesegelt war, war auch noch nicht verraucht. Sie nahm an, er würde sich schon allein zurechtfinden. Schöner Kameradschaftsgeist, dachte er. „Kurs Nordwest!“ rief er nach einigem Nachsinnen. Die „Isabella“, die zuletzt in westlicher Richtung gesegelt war, legte sich nun wieder platt vor den Südostwind. „Das nimmt kein Ende“, sagte Matt Davies auf der Kuhl. „Vielleicht gibt’s dieses China gar nicht.“ * Endlich aber hatten sie wieder Land vor sich. Hasard suchte diesmal den
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schwarzgrauen Küstenstrich übertrieben sorgfältig mit dem Fernrohr ab, ehe er sich dazu äußerte. „Es ist keine Insel“, sagte er schließlich zu seinen Männern. „Oder es müßte schon eine sein, die so groß ist wie unser England.“ „Den Karten nach ist das schlecht möglich’’, meinte Ben Brighton. „Ach, hör doch mit diesen verfluchten Karten auf“, sagte Ferris Tucker. „Die haben uns bislang nichts eingebracht - nur Ärger.“ Hasard betrachtete die Küste beim Nähersegeln ununterbrochen. Da war es nun, das Reich des Großen Chan. Zum ersten Male sahen sie es vor sich liegen. Die Männer waren zum Teil auf die Back gelaufen, zum Teil in die Wanten aufgeentert, um einen besseren Ausblick zu haben. Aber sie wurden wieder enttäuscht. Alles das, was sie hier erwartet hatten, stellte sich nicht ein - vorläufig jedenfalls nicht. „Karges Land, hügelig, mit ein paar mickrigen Inseln davor, das ist alles“, sagte Al Conroy. „Keine Blumen in Hülle und Fülle“, stellte Jeff Bowie total ernüchtert fest. „Keine schönen Mädchen, die uns zuwinken ...“ „Ihr blinden Heringe!“ rief Carberry. „Was habt ihr denn erwartet?“ „Ja, was eigentlich?“ sagte Matt Davies ganz überrascht. Al Conroy, der über ihm in den Fockwanten der Backbordseite hing, blickte auf ihn hinunter. „Na, Wunder eben. Farbenprächtige Blumen, wundersame Tiere, einmalig hübsche Mädchen.“ Der Profos lachte auf. „Hast du ernsthaft daran gedacht?“ „Tja - eigentlich war’s wohl mehr ein Traum.“ „Und ihr anderen?“ fragte Carberry die Crew. Die Männer schauten sich untereinander an, keiner wußte so richtig, was er jetzt antworten sollte. Denn eine reale Vorstellung vom Reich des Großen Chan hatte sich während der Monate der
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Überfahrt doch keiner von ihnen schaffen können. „In Küstennähe segeln Bambusflöße und kleine Fischerboote“, verkündete Dan O’Flynn. Hasard fing den Punkt, an dem sich diese Wasserfahrzeuge zusammengefunden hatten, mit der Optik des Spektivs ein. „Sampans“, murmelte er. „Und am Ufer haben sich auf hölzernen Anlegern viele Menschen versammelt. Weiter oben liegt ein Dorf. Und dort ...“ Ben Brighton, der ebenfalls mit dem Fernrohr Ausschau hielt, stieß einen erstaunten Laut aus. „Ho, was löst sich denn da von der Pier? Eine große, reich verzierte Dschunke.“ „Die Boote scheinen sie begleiten zu wollen“, sagte der Seewolf. „Irgendetwas ist dort im Gang.“ „Einige Boote halten jetzt auf uns zu!“ rief Dan O’Flynn. „Ja“, meinte Hasard noch. Dann verschlug es ihm die Sprache. Von den Sampans pufften plötzlich Rauchwolken hoch. Weißlicher Qualm hüllte sie ein. Da wurde ohne jede Vorwarnung gefeuert, und es bestand auch kein Zweifel, an wen die Geschosse adressiert waren - an die „Isabella“. 5. „Sind die übergeschnappt?“ rief der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, empört. „Was ist denn das für eine Art?“ Aufgebracht wies er auf die Wassersäulen, die kerzengerade vor dem Dreimaster aufstiegen. Carberry fing an, seine längsten und derbsten Flüche herunterzurappeln, Sir John beteiligte sich auch wieder daran, die Männer riefen durcheinander. Im Nu herrschte größter Zorn an Bord, und der Crew juckte es regelrecht in den Fingern, den Menschen in den Sampans und auf den Flößen diese Salve zurückzuzahlen. „Ein wirklich freundlicher Empfang“, sagte der Seewolf. Die Wut drohte auch ihn zu übermannen. Was wurde hier gespielt?
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„Ich möchte wissen, was wir diesen Leuten getan haben - was, zum Teufel?“ sagte Big Old Shane, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. Luke Morgan schüttelte die Faust gegen das Land und schrie: „Seewölfe, wir müßten es diesen Zopfkerlen mal richtig zeigen, was es heißt, anständige Seeleute anzugreifen. Was ist, machen wir die Lady gefechtsklar?“ Carberry drehte sich um, trat dicht unter die Querbalustrade des Achterdecks und schaute zu Hasard auf. „Was ist, klar Schiff zum Gefecht?“ fragte auch er. Hasard hatte die Hände aufgestützt, das Spektiv hatte er weggesteckt. Vorläufig hatte er genug gesehen. „Nein“, erwiderte er. „Nein?“ Carberry konnte es nicht fassen. Etwas verdattert tat er einen Schritt zurück. „Sir, das kann doch nicht dein Ernst sein.“ „Ist es aber, mein voller sogar.“ „Wir sollen uns wehrlos vor diesen gelben Heinis zurückziehen?“ rief Luke Morgan aufgebracht. „Das wird ja immer schöner, wo kommen wir denn da hin?“ Hasards Stirn mit der Narbe war plötzlich drohend umwölkt. Etwas Unheilvolles braute sich zusammen. Carberry bemerkte es als erster. Er wollte zu Morgan herumfahren und ihn zurechtweisen, aber der Seewolf stoppte ihn. „Ruhe, Ed.“ Dann blickte er zu Luke Morgan. „Wiederhole doch mal, was du eben gesagt hast, Mister Morgan.“ Luke las es der Miene seines Kapitäns ab, daß er einen Schritt zu weit gegangen war. Er hatte durch sein Geschrei an der Autorität des Seewolfs gekratzt. Und das hatte ein Mann wie Philip Hasard Killigrew gar nicht so gern. Er konnte deswegen mächtig scharf werden. „Ich - sag’s lieber nicht noch mal“, erwiderte er. „Noch ein einziges Wort in dem Tonfall und in der Richtung, Luke, und ich lasse dich in die Vorpiek stecken“, sagte der Seewolf. Er sprach nicht sonderlich laut,
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das hatte viel mehr Gewicht, als wenn er gebrüllt hätte. „Folgendes“ fuhr er zur Crew gewandt fort. „Ich will mich nicht gleich mit Rauch, Feuer und Blei im Land des Großen Chan einführen. Das habe ich von Anfang an nicht vorgehabt. Das heißt jetzt keineswegs, daß ich mir auf die Füße treten lasse. Aber bevor ich etwas gegen diese Leute dort unternehme, muß ich genau wissen, was läuft. Vielleicht handelt es sich nur um ein Mißverständnis.“ „Es könnte auch sein, daß wir ein Tabu verletzt haben“, warf Ferris Tucker ein. „Denkbar wäre es.“ Der Seewolf drehte sich zu Pete Ballie, dem Rudergänger um. „Anluven nach Steuerbord, Pete, wir gehen hart an den Wind.“ Er schaute wieder zu den auf der Kuhl versammelten Männern und rief ihnen zu: „Wir kehren mit nordöstlichem Kurs auf die offene See zurück, fahren weiter nach Norden hinauf und sehen zu, ob wir dort freundlicher aufgenommen werden.“ „Aye, aye, Sir!“ rief der Profos mit dröhnendem Baß zurück. So richtig überzeugt war er auch nicht von dem, was sie hier taten, aber er hütete sich, gegen den Seewolf aufzumucken. Meutern, auch nur im Ansatz, das kam für den Profos als allerletzten Mann in Frage. Selbst wenn er tausendmal anderer Meinung war als sein Kapitän. Wäre es nach Ed Carberry gegangen, hätten sie nämlich mit den weittragenden Culverinen der „Isabella“ ganz schnell mal „zu den Zopfheinis ‘rübergelangt.“ Die „Isabella“ drehte ab, und die Sampans und Flöße folgten ihr nur noch für kurze Zeit. Ein paar Schüsse wurden erneut auf sie abgegeben. Die Chinesen waren Meister im Umgang mit Feuer und Pulver. Es war überhaupt erstaunlich, wie sie auf so kleinen Wasserfahrzeugen Geschütze montiert haben konnten. Dennoch, wieder lagen die Schüsse zu kurz, rissen nur Fontänen hinter der großen Galeone hoch und richteten keinen Schaden an. Damit hörte die Verfolgung auf. Doch die große Dschunke hatte sich ebenfalls mit nordöstlichem Kurs von der
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Pier aus in Bewegung gesetzt und lief jetzt fast auf gleicher Höhe mit der „Isabella“. „Nun seht euch diesen Burschen an!“ rief Dan O’Flynn. „Was will der bloß?“ „Lassen wir den auch ungestraft auf uns feuern?“ erkundigte sich Old O’Flynn bei Shane. Er konnte sich einiges herausnehmen, aber er wagte es auch nicht, den Seewolf direkt anzusprechen. Big Old Shane entblößte sein kräftiges Gebiß. „Frag Hasard doch mal selber.“ Old Donegal schnitt eine Grimasse und murmelte etwas von verfluchten Zuständen, bodenlosen Frechheiten und davon, daß früher auf einem Segelschiff sowieso alles anders gewesen sei. Hasard betrachtete die prächtige Dschunke durch sein Spektiv. Drachenköpfe und Schlangen, groteske Blumenmuster, eine Art Zerberusse, Chimären und andere Fabelgestalten zierten den Rumpf. Die Takelung des großen Schiffes waren Mattensegel, in ihrem Kielwasser zog sie ein Beiboot hinter sich her. Da die Dschunke genauso hart am Wind lag wie die „Isabella“ und etwas nach Backbord krängte, hatte der Seewolf keinen Einblick auf das Oberdeck des fremden Schiffes. Er verließ aber das Achterdeck, hastete auf die Kuhl, sprang in die Luvhauptwanten auf und enterte in den Webeleinen empor. Im Hauptmars fand er einen ziemlich blassen Dan O’Flynn vor. „Was ist denn mit dir los?“ fragte er. „So ein langes Gesicht, das ist doch sonst nicht deine Art.“ „Sieh dir erst mal die Kuhl und das Achterdeck von dem Kahn da drüben an“, erwiderte Dan O’Flynn. „Dann vergeht dir auch das Lachen.“ Es war, wie Hasard angenommen hatte. Von hier oben aus hatte man den richtigen Sichtwinkel. Das Schiff wirkte düster und gespenstisch, bei aller Ornament-Pracht, die es trug. Es schickte sich an, die „Isabella“ zu überholen und ihren Kurs zu kreuzen — ein unheimlicher Vorgang. Was die Szene aber erst so richtig makaber gestaltete, war die Tatsache, daß die Dschunke von nur
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einem Mann gesegelt wurde — und von was für einem Mann! Dieser Mann, hochgewachsen und schlank, stand auf dem Achterdeck und hielt den Kolderstock. Er wirkte wie ein großer, menschenähnlicher Vogel, denn vor seinem Gesicht trug er eine Maske. Sie war wahrscheinlich ganz aus Leder gearbeitet und hatte eine Ausbuchtung für die Nase. Von dem eigentlichen Gesicht waren nur die geschlitzten Augen zu sehen, die starr vorausblickten. „Da kann einem wirklich verdammt mulmig zumute werden“, gestand Hasard. Sein Blick durch die Optik wanderte weiter, von dem Unheimlichen fort, zur Kuhl. Plötzlich hockte er wie gelähmt zwischen Dan O’Flynn und dem Affen Arwenack, der inzwischen auch ganz kleinlaut geworden war. Am Schanzkleid der Dschunke lehnten menschliche Körper. Auf der Kuhl ruhten ebenfalls dicht an dicht Gestalten. Sie alle lagen völlig reglos da und waren von Kopf bis Fuß in schwarze Tücher gehüllt. „Das ist eine Geistercrew“, sagte Dan O’Flynn heiser. Diese erbärmliche Gestalten stapelten sich regelrecht auf dem fremden Schiff. „Das ist keine Mannschaft, Dan“, sagte der Seewolf leise. „Das ist Fracht. O, mein Gott.“ Große Gestalten konnte er durch sein Spektiv erkennen, aber auch kleinere, zierlichere — die von Frauen und Kindern. Ihm stockte fast der Atem, er spürte, wie sich ein häßliches Kratzen in seine Kehle hinaufschob. Das blanke Grauen ging von der Dschunke aus. Um den Hals einer jeden schwarzen Gestalt war ein dünnes Tau geschlungen, aber Hasard wußte nicht genau, ob man diese Männer, Frauen und Kinder tatsächlich stranguliert hatte oder ob die Taue eher symbolische Bedeutung hatten. Eins stand jedoch fest: es steckte kein Leben mehr in diesen jammervollen Gestalten. Entsetzen breitete sich auf der „Isabella“ aus. Ein paar Männer hingen nach wie vor
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neugierig in den Wanten, Luke Morgan, Al Conroy, Matt Davies und Batuti zum Beispiel, und sie hatten von ihren erhöhten Ausguckspunkten aus ebenfalls alle Details der Dschunke entdeckt. Die Nachricht über den Unheimlichen und seine schaurige Fracht wurde schnell auf der „Isabella“ bekannt. „Verdammt“, stieß der Profos aus. „Ist hier denn alles total verrückt?“ „Ich hab’s dir ja gesagt“, erklärte der alte O’Flynn grimmig. „Aber du hast mir nicht glauben wollen. Das alles hängt noch mit dem Fluch des Albatros’ zusammen.“ „Hör doch mit dem Scheiß -Albatros auf!“ Carberry blickte Old Donegal so drohend an, daß dieser es vorzog, lieber keinen Kommentar mehr abzugeben. Batuti rutschte aus den Fockwanten der Backbordseite. Er rollte mit den Augen und verdrehte sie so, daß nur noch das Weiße zu sehen war. „Böse Geister“, stammelte er. Inzwischen hatte die „Isabella“ wieder merklich aufgeholt, und beide Schiffe blieben auf gleicher Höhe. Da die Dschunke nicht genau auf Parallelkurs lief, sondern etwas mehr nach Steuerbord versetzt als die Galeone, schien ein Zusammentreffen unvermeidlich zu sein. „Allmächtiger“, stöhnte Ferris Tucker, als er das erkannte. „Es kann doch nicht Hasards Ernst sein, den Kurs zu halten.“ Der Seewolf stieg die Luvhauptwanten hinunter auf Achterdeck und streifte die Gesichter seiner Männer mit einem huschenden Blick. Etwas bleich war auch er geworden. „Wir sind gleich auf Rufweite heran“, sagte er. „Ich will wenigstens versuchen, mich mit dem seltsamen Rudergänger zu verständigen.“ „Aber wir können doch kein Chinesisch“, wandte Ben Brighton entsetzt ein. „Wenn er nur ein paar Brocken Englisch, Spanisch oder Portugiesisch beherrscht, ist uns schon geholfen“, erwiderte Hasard. „Ich möchte nur wissen, warum er eine Ledermaske vor dem Gesicht trägt.“
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„Das ist ein Symbol des Todes“, unkte Old O’Flynn, der inzwischen auch wieder auf dem Achterdeck erschienen war. „Seht euch die phantastische Kleidung an, die er trägt“, sagte Big Old Shane. Nachdenklich strich er sich mit der .Hand durch sein graues Bartgestrüpp. „Scheint ein Mandarin oder so was zu sein, der Bursche.“ „Nicht alle Höhergestellten in China sind gleich Mandarine“, erwiderte Hasard. „Vielleicht ist er ein Mann von Rang in dem Dorf, das wir drüben an der Küste sehen.“ Die „Isabella“ war auf Rufweite an die gespenstische Dschunke herangesegelt. Hasard enterte ein Stück in den Besanwanten der Backbordseite auf und schrie zu dem Mann am Kolderstock hinüber: „Wer bist du? Gib dich zu erkennen! Können wir dir helfen?“ Er versuchte es auf Englisch und auf Spanisch. Der Chinese schaute aber nur böse zu ihm herüber und stieß etwas in seiner hohen Singsangsprache aus, das keiner an Bord der „Isabella“ verstand. * Fong-Ch’ang war außer sich vor Zorn. Er hielt den Kolderstock der Dschunke nur noch mit einer Hand, mit der anderen unternahm er Gebärden zu der dreimastigen Galeone hin. Er bedeutete den Fremden, sich wegzuscheren. „Fort!“ rief er immer wieder. „Schert euch weg, ihr dürft euch nicht noch näher an mich heranwagen. Wer hat euch geschickt? Verlaßt diese Stätte der Verdammnis. Ich habe den schwarzen Tod an Bord!“ Seine gute Erziehung verbot ihm, sie auch noch als „Yang kuei tzu“, als fremde Teufel, zu bezeichnen. Wahrscheinlich verstanden sie ihn nicht, aber das konnte er nicht voraussetzen. Immerhin war es denkbar, daß sich zumindest einer oder zwei unter ihnen befanden, die der Sprache des Reichs der Mitte in Ansätzen mächtig waren. Und Teufel — nein, das schienen sie wirklich nicht zu sein. Sonst hätten sie
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zurückgeschossen, als die Bewohner des Dorfes das Feuer auf sie eröffnet hatten. Der große, schwarzhaarige Mann, der dort drüben in den Wanten hing und herüberschrie — er schien der Kapitän des Dreimasters zu sein. Fong-Ch’ang sah, daß der Mann jung war, sehr jung für seine Begriffe. Er mußte große Fähigkeiten besitzen, um in diesem Alter ein Schiff dieser Größe über die Ozeane lenken zu können. Insgeheim bewunderte Fong ihn, und er empfand auch eine Art Sympathie für ihn, nur durfte er keine Freundlichkeit zeigen. Wieder keimte die Wut in ihm auf. „Ihr Narren!“ rief er. „Warum wollt ihr euch in euer Unglück stürzen? Entfernt euch, rasch, solange ihr noch die Zeit dazu habt, sonst greift die Klaue des Todes auch auf’ euch über!“ Er hörte den schwarzhaarigen Kapitän wieder schreien. „Mein Name ist Philipp Hasard Killigrew, und ich fordere dich auf, dich zu erkennen zu geben!“ Philip Hasard Killigrew, war das ein Name? Fong versuchte, ihn nachzusprechen, aber er brachte nur Philip und Hasard zustande. Offenbar hieß der Kapitän Philip Hasard, und Fong war sicher, daß er diesen Namen nie vergessen würde, denn es war die bedeutungsvollste und gleichzeitig bedenklichste Begegnung, die er nach dem Tod von Tao-t’ien und dem kleinen Tsao und vor dem Beginn des endgültigen, großen Nichts noch hatte. „Philip Hasard!“ rief er. „Fort! Zurück! Ihr fahrt ins Verderben!“ Wild deutete er auf die Leichen in den schwarzen Tüchern, dann auf die fremden weißen Männer, danach wieder auf die Leichen. „O, ihr Elenden, warum wollt ihr mich denn nicht begreifen?“ stieß er verzweifelt aus. „Ich bin Fong-Ch’ang, der Vorsitzende des Dorfrates, Fong-Ch’ang, und ich befehle euch, dieses Gewässer zu verlassen!“ *
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„Fong-Ch’ang“, wiederholte der Seewolf. Er glitt aus den Wanten und ließ sich wieder auf die Planken des Achterdecks sinken. „So scheint der Mann zu heißen. Er zeigt immer wieder auf die Toten. Vielleicht will er uns sagen, daß es uns auch so ergehen könnte wie jenen armen Teufeln.“ „Dann hauen wir am besten ab“, sagte Ferris Tucker. „Wir können ja doch nichts mehr für die Leute tun.“ Hasard nickte. Sein Gesicht war immer noch bleich, fast kalkweiß, denn eine schreckliche Erkenntnis stieg in ihm auf. „Eine entsetzliche Krankheit hat die Männer, Frauen und Kinder dahingerafft. Das, was wir hier sehen, ist nichts anderes als eine Bestattung auf See. Vermutlich wird der Mann mit der Ledermaske weit draußen die Dschunke in Brand setzen. Er ist so etwas wie ein Totenwächter, ein Mutiger, der die Ansteckungsgefahr nicht fürchtet. Später wird er in dem Beiboot an Land zurückkehren. Zu seinem Schutz trägt er die Maske.“ „Schwarze Tücher“, murmelte Big Old Shane. „Vernichtung der Toten durch Feuer. Das muß was ganz Schlimmes sein.“ „Die Blattern“, sagte Old O’Flynn. „Die Pest“, flüsterte Ben Brighton. „Der schwarze Tod.“ „Kutscher“, sagte im selben Augenblick auf der Kuhl Carberry zum Koch und Feldscher. „Was hat deiner Meinung nach die armen Teufel drüben auf der Dschunke umgebracht? Los, spuck’s aus, das ist ein Befehl.“ „Die Pest“, sagte der Kutscher ganz ehrlich. Alle hatten es gehört, Und das Wort ging von Mund zu Mund. „Die haben die Pest an Bord!“ rief Luke Morgan. „O heiliger Vater, deshalb also das Ganze. Wir müssen schnell weg hier, sonst haben wir die Seuche auch noch am Hals!“ „Himmel, nein“, stöhnte Matt Davies. „Ich will im Kampf sterben oder im Sturm; aber niemals will ich auf diese Weise verrecken.“
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„Pest an Bord“, sagte auf dem Achterdeck Donegal Daniel O’Flynn. „Darum also haben uns die Chinesen beschossen. Wir sollten nicht zu dicht an das Dorf heransegeln.“ „Eine deutliche Warnung“, entgegnete Hasard. „Und wir hätten sie beinahe falsch ausgelegt.“ Die Männer schwiegen. Ihnen war gar nicht wohl in ihrer Haut. Der Seewolf ließ Segelfläche wegnehmen, die „Isabella“ blieb hinter der Dschunke zurück, aber alle glaubten schon zu spüren, wie ihnen der Pesthauch, der tödliche Griff, tief in die Knochen fuhr. „Diese elende Krankheit“, sagte der Kutscher. „Es ist kein Kraut dagegen gewachsen. Es gibt kein Heilmittel. Mein Gott, wie ohnmächtig die Medizin doch solchen Dingen gegenübersteht.“ Matt Davies war an ihn herangetreten und musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Kutscher, hör auf, so weise Sprüche zu klopfen. Wir müssen hier weg, auf der Stelle, das ist alles. Na, Hasard scheint ja eingesehen zu haben, daß unser Heil in der Flucht liegt.“ Der Seewolf ließ nur noch das Focksegel stehen. Die „Isabella“ glitt langsam voran. Hasard verfolgte durch das Spektiv, was sich weiter auf der Todesdschunke abspielte. Seine Männer hofften, er würde nun abdrehen. Aber er tat es nicht. Noch wollte er ausharren und sehen, was Fong-Ch’ang, der Mann mit der Ledermaske, tat. Er ahnte, daß er irgendwie doch noch eingreifen mußte. Und er konnte nicht einfach auf neuen Kurs gehen und FongCh’ang mit seinen furchtbaren Problemen allein lassen. Die Fairneß, dieses verdammte Gefühl der Anständigkeit, verbot es ihm. 6. Fong-Ch’ang blickte zurück und stellte fest, daß das fremde Schiff hinter der Dschunke zurückblieb. Er beruhigte sich ein wenig. Sie scheinen verstanden zu
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haben, dachte er, wenigstens die Gefahr habe ich ihnen erklären können. Das Gefühl, eine ganze Schiffsmannschaft vor der Seuche bewahrt zu haben, verlieh ihm für kurze Zeit inneren Auftrieb. Aber dann wurde sein Geist wieder von dem Gedanken an Tao-t’ien und an Tsao überschattet. Grenzenlose Schwermut befiel ihn von neuem, und er rang mit dem Gedanken, auch sich zu opfern, wenn er die vielen Toten aus dem Dorf dem Feuer und dem Wasser übergab. Es war ein furchtbarer innerer Kampf. Lohnte es sich denn noch, nach dem Untergang der Dschunke weiterzuleben? Was sollte er tun? Ins Dorf zurückkehren? Dort stand das Steinhaus, das er mit Taot’ien zusammen errichtet hatte, und alles, jeder Bau, jeder Winkel, jeder Mensch trug ihm die Erinnerung an seine kleine Familie zu. Er wußte, daß er daran zugrunde gehen würde, und das war schlimmer als ein schneller Tod hier, an Bord der Dschunke. Nein, nie wieder konnte er seinen Fuß in das Dorf setzen. Die Überlebenden der Epidemie mußten sich einen neuen Vorsitzenden wählen. Das würde ihnen keine großen Schwierigkeiten bereiten, denn es gab noch einige Männer, die bereit waren, Verantwortung auf sich zu nehmen. Sicher, sie würden ihren Angehörigen und auch ihm, Fong, lange nachtrauern. Aber die blühende Kraft einer neuen Generation würde alle tristen Erinnerungen auslöschen. Fong-Ch’ang prüfte den Stand der Segel, befand ihn für gut, stellte den Kolderstock fest, verließ das Achterdeck und stieg zur Kuhl hinunter. Er schritt zwischen den schwarzvermummten Leichen dahin, ein großer Vogelmensch mit langen Beinen — ein Marabu, der über Kadaver stelzt. Fong zwang sich dazu, nicht zu den Seinen zu blicken. Er öffnete das Schott und betrat die Hütte. Hier standen die Fässer mit dem Pulver in zwei Räumen bereit, hier lag Salpeter verstreut, der enorme Hitze erzeugte, wenn er gezündet wurde. Pulver- und Salpeterspuren führten durch den gesamten Schiffsraum bis nach vorn zum Bug. Alles
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wartete darauf, daß Fong-Ch’ang den Taktstock hob und die letzte, flammende Sinfonie einleitete. Fong bückte sich, öffnete ein, Faß und nahm Schwarzpulver mit beiden Händen heraus. Er verließ das Achterkastell und ließ dabei Pulver auf Deck rieseln. So kehrte er auf das Achterdeck zurück. Die Pulverspur endete beim Kolderstock, und hier hob Fong den Kopf und blickte über die See. Sie war eine matt glitzernde Silberfläche unter der Nachmittagssonne. Fong wandte den Kopf, schaute zurück und sah, daß die Küste weit hinter ihm zurückgeblieben war. Aber das Schiff der Fremden befand sich, wenn auch auf Distanz, immer noch hinter ihm. Mit nur einem kleinen Segel trieb es dahin. „Philip Hasard“, sagte Fong-Ch’ang verhalten. „Du bist doch ein wenig dümmer, als ich angenommen habe. Was hält dich hier noch? Nun gut, wenn du unbedingt das Schauspiel willst, dann wohne dem großen Ende bei.“ Er zog ein Stück Feuerstein und Feuerstahl aus den Taschen seines riech bestickten Gewandes, kniete sich hin und schlug sie aneinander. Ein paar winzige Funken zuckten auf das Pulver hinunter. Das Schwarzpulver fing sofort Feuer. Zischend fraß sich die Glut durch die Spur auf den Niedergang zu, größere Flammen leckten hoch und griffen nach dem Schanzkleid, den Balustraden, dem achteren Mast und dessen Takelung. Fong-Ch’ang! brüllte plötzlich eine Stimme im Inneren des verzweifelten Mannes, was hast du getan? Es ist zu früh, du solltest das Feuer erst legen, wenn du das Beiboot bereits aufgesucht hast, erst dann solltest du ein brennendes Reisigbüschel auf Deck schleudern. Dies war dein Vorhaben, doch du willst alles zerstören und Tao-t’ien und den kleinen Tsao mit dem ewigen Fluch deines eigenen Untergangs belegen! Fong taumelte über das Deck. „Narr“, klagte er sich plötzlich selbst an. „Es ist nicht gerecht, was du tust. Auf diese Weise findest du nie Frieden und
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machst nur alles noch schlimmer. Du hast noch eine Aufgabe vor dir, du wirst durch China wandern und den Menschen zeigen, wie sie sich gegen den schwarzen Tod schützen können. Du hast die schrecklichen Erfahrungen im Dorf gesammelt, du mußt sie auswerten.“ Er schrie auf und trat nach der dahinzuckenden Feuerspur. Es gelang ihm, sie tatsächlich zum Erlöschen zu bringen, aber der Brand hatte auf dem aus knochentrockenem Holz bestehenden Schiff bereits zu weit um sich gegriffen. Machtlos mußte Fong zusehen, wie das Feuer an den Masten hochleckte und die. Decks mit glutigen Teppichen belegte. Im Nu waren die Toten von Flammen eingehüllt. In einer Vision sah Fong Tao-t’ien aufstehen und die schwarzen Tücher abwerfen. Sie richtete den ausgestreckten Finger auf ihn. „Nein!“ schrie er. „Fong!“ rief sie. „Geliebter, trage diese meine Botschaft in die Dörfer, in die Städte: brennt eure Häuser nieder, macht alles dem Erdboden gleich, wenn auch nur die geringsten Anzeichen der bösen Krankheit drohen. Nur dadurch könnt ihr eure Familien retten. Baut eure Orte woanders wieder auf, bringt dieses Opfer, um das Entsetzliche zu vermeiden. Rette Männer und Frauen, Fong, aber vor allen Dingen die Kinder, die Kinder ...“ Fong-Ch’ang wankte zum Schanzkleid und stürzte. Seine Gewänder fingen Feuer. Er schlug es mit den Händen aus, raffte sich wieder auf und kletterte auf das Schanzkleid. Es dauerte nicht mehr lange, dann hatte das Feuer die unten in der Dschunke lagernden Pulverund Salpetervorräte erreicht. Dann flog alles in die Luft. Fong sprang ins Wasser. Aber er handelte überstürzt, zu hastig, von den Wirrnissen seiner Gedankenwelt getrieben. Er raste dicht an der Bordwand entlang, drehte sich, stieß sich den Kopf. Mit einem Stöhnen tauchte er in die Fluten. Alles schien sich zu drehen, die See, das Schiff, die Welt, und Fong schluckte
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Wasser,--viel Wasser. Hustend tauchte er wieder auf. Die Dschunke hatte noch Fahrt, obwohl ihre Segel himmelan loderten. Das Heck glitt an Fong vorbei, dann war das Beiboot in Sicht. Er schwamm darauf zu. Aber etwas in seinem Kopf raubte ihm fast die Sinne. Übelkeit überfiel ihn, er hustete wieder, spuckte und glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Er erreichte das Boot. Unter größten Anstrengungen konnte er sich an der Backbordseite hochziehen. Er ließ sich in das Boot, ein kleines Sampan, sinken, aber die Kraft, die Vorleine zum Schiff zu lösen, brachte er nicht mehr auf. Ohnmächtig brach er zwischen den Duchten zusammen. * Hasard hatte sprachlos zugesehen. Plötzlich war auf der Dschunke ein helles Feuer aufgezuckt, das sich rasch ausgebreitet hatte. Schlagartig stand die Dschunke in Brand. Die Flammen erfaßten auch die Segel und ließen sie lichterloh brennen. Der Mann mit der Ledermaske war in voller Kleidung ins Wasser gesprungen, und es war schon ein kleines Wunder, daß er mit der vollgesogenen Kleidung bis zum Boot schwimmen konnte. „Das Feuer hat ihn selbst überrascht!“ rief Ben Brighton. „Wie kommt das bloß?“ „Ich weiß nicht. Bei dem Sprung in die See hat er sich offenbar verletzt. Er ist im Boot, schafft es aber nicht mehr, die Vorleine zu kappen. Wir müssen ihm helfen.“ „Hölle“, sagte Big Old Shane. „Die Dschunke loht wie ein Scheit im Kamin, und die Flammen schlagen jetzt fast bis zum Beiboot hin.“ Hasard überlegte nicht lange. FongCh’ang, der Mann mit der Ledermaske, drohte jeden Augenblick vom Feuer erfaßt zu werden. „Backbrassen“, befahl er. „Und das Beiboot abfieren. Ich pulle selbst zur Dschunke hinüber. Wer mich begleiten will, soll sich melden.“
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In aller Eile führte die Crew das Kommando aus. Carberry ließ das Beiboot von Blacky und Batuti abfieren, sobald die „Isabella“ stoppte, fuhr herum und rief: „Ich – Sir! Ich bin mit dabei!“ „Ich auch!“ Dan O’Flynn kletterte die Hauptwanten hinunter, sprang auf die Kuhl und stellte sich zu Carberry. Weitere Männer meldeten sich freiwillig, aber der Seewolf winkte ab. „Nein, zwei Mann genügen. Los, nichts wie ‘runter.“ Matt Davies und Luke Morgan hatten eine Jakobsleiter oben am Backbordschanzkleid belegt, sie baumelte an der Bordwand herab. Hasard schwang sich übers Schanzkleid, war auf den Sprossen und hangelte in die Tiefe. Der Profos und der junge O’Flynn folgten ihm. Sie setzten sich auf die Bootsduchten, stießen sich von der Bordwand ab und pullten, so schnell sie konnten. „Wir können bei diesem Unternehmen draufgehen, alle drei“, sagte Hasard. „Noch könnt ihr es euch überlegen und zur ‚Isabella’ zurückschwimmen.“ Carberry lachte wild. „Du bist vielleicht gut, Sir. Hast du uns schon mal aufgeben sehen?“ „Das nicht. Aber denkt daran, daß die Dschunke uns um die Ohren fliegen könnte. Ich rechne damit, daß sie Pulver geladen hat.“ „Das wäre das wenigste“, meinte Dan. Hasard hob die Augenbrauen. „Ach, wirklich?“ „Vor Feuer und Explosionen habe ich weniger Angst als vor der verdammten Pest“, versicherte Dan O’Flynn. „Wenn ich mich anstecke, jage ich mir lieber selbst eine Kugel durch den Kopf, statt langsam vor die Hunde zu gehen.“ „Schwimm zum Schiff zurück“, rief ihm der Profos zu. „Nein, zum Teufel.“ „Das will mir nicht in den Kopf!“ brüllte Carberry. Brüllen war bei ihm lautes Sprechen. „Der Bursche hat Angst und will trotzdem die heißen Kastanien mit aus dem Feuer holen.“
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„Du hast doch auch Angst“, brüllte Dan fast genauso laut. „Sag das noch mal ...“ „Hört auf“, fuhr Hasard sie an. „Pullt!“ Auch er fürchtete die Krankheit, die die Dschunke mit sich führte. Aber in ihnen allen überwog die Hilfsbereitschaft, sie verdrängte den Egoismus völlig, denn in einem waren die Seewölfe sich einig: einem armen Teufel zu helfen, der sich aus eigener Kraft nicht aus einer Notlage befreien konnte, war Gesetz. So schob sich das Beiboot auf die brennende Dschunke zu, die wie ein Riesenfanal glutrot und tiefgelb über der Wasserfläche waberte. Es wurde heiß in der Jolle. Etwas löste sich aus den Fockwanten der „Isabella“ - Sir John. Im Tiefflug huschte er den drei Männern nach. Carberry sah es, hob den Kopf, wollte heftig abwinken, konnte es aber nicht, weil er ja die Riemen bedienen mußte. „Sir John, du Schrumpfgeier!“ brüllte er deshalb nur. „Hau ab, flieg zum Schiff zurück! Hab ich dich nicht extra dort gelassen, weil das hier für Papageien zu gefährlich ist?“ „Streich die Flagge, Bastard“, krakeelte der Ara. Er landete auf Carberrys Schulter, wich einer drohenden Profos-Ohrfeige aus und hüpfte ganz vorn auf die Bugducht, wo er nicht mehr wegzukriegen war. Carberry knurrte nur etwas, das wie „Möchte wissen, wer dir die ganzen Ausdrücke beibringt“ klang. Er legte sich dabei mächtig ins Zeug und zog ein wenig den Kopf ein, weil es glutigheiß über das Boot hinwegstrich. Es war kaum noch auszuhalten. Eine brodelnde, prasselnde Flammenmauer baute sich vor ihnen auf. Hasard, der diesmal mitpullte und nicht die Ruderpinne bediente, wie es sonst seine Gewohnheit war, drehte sich kurz um. Er blickte über die Schulter und gewahrte, wie sich von den Mattensegeln der großen Dschunke eingeflochtene Bambusstreifen lösten. Sie segelten herunter und landeten glühend im
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Beiboot, das nach wie vor fest vertäut mit der Dschunke war. Carberry beugte sich plötzlich übers Dollbord. Er steckte einfach seinen Kopf unter Wasser, zog ihn wieder heraus - und pullte mit triefendem Haupt weiter. Hasard und Dan folgten seinem Beispiel. So verhinderten sie alle drei, daß ihnen die Haare versengt wurden, denn die glimmenden Bambusstreifen landeten jetzt auch in ihrem Boot. Sie waren der Dschunke nahe, schätzungsweise zehn, zwölf Yards trennten sie noch von ihr. Sir John wurde es im Bug jetzt doch zu brenzlig, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Fluchend hob er ab und flatterte über die Köpfe der Männer weg. Einige Yards hinter dem Boot zog er seine aufgeregten Kreise. Es wurde noch heißer. Die Dschunke war ein einziges Flammenmeer auf ihrem Oberdeck. Knackend brach soeben der vordere Mast weg. Er stürzte in sich zusammen, brennende Teile flogen zu Hasards Jolle herüber. „Köpfe einziehen!“ rief der Seewolf. Sie taten es. Carberry kriegte ein sengendes Stück Spiere auf den Rücken geknallt, er fluchte wie ein Berserker und schüttelte es ab. Zischend landete es im Wasser. Ein ganzes Stück Mattensegel fiel in das Beiboot der Dschunke. Die Flammen stiegen von den Duchten und vorn Dollbord auf. „Verdammt, näher können wir nicht ran“, schrie Dan. „Wir verbrennen mit unserem Boot — bei lebendigem Leib!“ Hasard sprang auf, riß sich die Kleider bis auf eine kurze Hose vom Leib und hechtete kopfüber in die See. Er tauchte ein Stück, schoß wieder hoch und schwamm auf den Feuerorkan zu. Planken platzten von der Dschunke ab, immer weiter griff der Brand um sich — es war das Inferno. Hasard tauchte wieder unter. Dicht unter der Wasserfläche arbeitete er sich voran. Er erreichte das Beiboot, in dem FongCh’ang lag, und tastete sich am Rumpf entlang bis zum Bug vor. Hasard riß das Messer aus dem Hosengurt, schoß hoch
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und hackte nach der Vorleine, die das Boot mit der Dschunke verband. Ein brennendes Trümmerstück sauste auf seinen Kopf nieder. Er kappte die Vorleine, dann zog er sich sofort wieder unter Wasser zurück. Keine Sekunde zu früh: ein Stück der Dschunke klatschte in die Fluten und sank ihm nach. Er konnte das Zischen vernehmen, als die Flammen erstickten. Mit einem Ruck drehte er sich um und trat nach dem Teil. Es glitt von ihm fort und trudelte langsam den Tiefen des Meeres entgegen. Hasard schwamm unter Wasser auf das abtreibende Boot zu und klammerte sich daran fest. Er schob den Kopf über die Wasserfläche, griff mit beiden Händen nach dem Dollbord, stemmte sich hoch und landete zwischen den vorderen Duchten des Sampans. Sofort packte Hasard das brennende Stück Mattensegel und schleuderte es außenbords. Er steckte die Hände ins Wasser, um sich vor drohenden Brandblasen zu schützen. Mit ein paar raschen Bewegungen hatte der Seewolf schließlich auch die glühenden Bambusstreifen aus dem Sampan geräumt. Er trat die Stellen, an denen es noch glomm, mit den nassen Füßen aus — das Boot war heil und noch seetüchtig, der Mann mit der Ledermaske gerettet. Immer weiter trieb das Sampan von der Dschunke fort. Hasard blickte zu den Männern. Carberry und Dan hatten die Jolle vor dem Feuer bewahren können, jetzt pullten sie wie die Verrückten mit eingezogenen Köpfen von dem großen Schiff fort. Ja, sie hatten Angst, die Dschunke könnte ihnen wirklich jeden Augenblick um die Ohren fliegen, und diese Befürchtung war völlig berechtigt. Sir John flatterte kreischend und zeternd über der Jolle hin und her. Hasard wandte den Kopf. Er betrachtete Fong-Ch’ang. Aus der Nähe sah der Mann fast noch unheimlicher aus als auf Distanz. Hasard war für einen Moment versucht, ihm die Maske abzunehmen, aber Fong erlangte jetzt das Bewußtsein zurück.
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Verständnislos schaute er auf den Seewolf. „Ich bin Philip Hasard Killigrew“, sagte dieser. „Das ist mein Name. Mein Name, verstehst du? Nein, du begreifst mich nicht.“ „Philip Hasard“, murmelte der Chinese. Hasard wies mit der Hand auf ihn. „FongCh’ang, nicht wahr?“ Fong kroch vor ihm zurück bis zum Heck des Sampans. Er nestelte an seinem durchweichten Gewand herum, wies zur lodernden Dschunke, zupfte wieder an dem Stoff. „Der Fluch des schwarzen Todes haftet mir an“, erklärte er hastig in seiner hohen, singenden Sprache. „Vielleicht muß ich nicht sterben, weil ich große Widerstandkräfte habe, aber du, du bist in Gefahr.“ Hasard konnte den Wortlaut nicht im geringsten deuten, aber er verstand die Gesten. „Du fürchtest, ich könnte mich anstecken, oder?“ Fong redete wieder auf ihn ein, aber Hasard schüttelte nur den Kopf. Der Seewolf richtete sich im Sampan auf und winkte Carberry und Dan zu. Sie hielten auf das Boot zu und verdoppelten ihre Anstrengungen noch, Der Profos ließ die Riemen für eine Weile los und warf eine Leine. Hasard fing sie auf, steckte sie an die Vorleine, die er gekappt hatte, an, und Ed und Dan nahmen das Sampan in Schlepp. „Hey, Sir!“ rief Dan O’Flynn zu seinem Kapitän herüber. „Steig wieder über, dieser Leichenvogel verseucht dich sonst noch. Vielleicht hat er bereits die Pest, weil er mit den Toten in Berührung war.“ Hasard nickte, nahm aber nicht den Blick von Fong-Ch’ang. Dieser Mann schien ihm ganz und gar nicht der kalte, seelenlose Totengräber zu sein, für den viele Seewölfe ihn gehalten hatten. Nein, Hasard gelangte zu einer anderen Auffassung. Das ganz persönliche Schicksal Fongs mußte mit der Dschunke verhaftet sein, und das verschlimmerte noch das Drama. Er war ein gescheiter, tief empfindender Mann, der sich mit dem Schiff hatte opfern
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wollen, dann, in letzter Sekunde, aber doch eine andere Entscheidung getroffen hatte. Der Seewolf war felsenfest davon überzeugt. Immer wieder schaute der Maskenmann zur Dschunke und gab gedämpfte, klagende Laute von sich. „Kannst du allein pullen?“ fragte Hasard ihn. Fong-Ch’ang schien ihn überhaupt nicht zu hören. „Pullen!“ rief Hasard. „So!“ Er ahmte die typische Bewegung nach. Fong faßte mit beiden Händen an den Kopf. Er spürte noch den Schmerz, und es schien sich alles in ihm zu drehen. Aber die Übelkeit war gewichen. Besinnungslos drohte er nicht mehr zu werden. Er sah den schwarzhaarigen Kapitän mit den eisblauen Augen an und verstand, was der ihm sagen wollte. Fong nickte. „Gut, dann verlasse ich dich jetzt“, erklärte der Seewolf. „Good Bye —oder Adios, wie die Spanier sagen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, wer weiß.“ Er sprang ins Wasser. Genau im selben Moment stach ein Feuerblitz grell aus der Dschunke hoch. Das Feuer hatte die Schotten des Achterkastells niedergebrannt und sich einen Weg zu den Pulverfässern und den Salpeterhäufchen gebahnt. Hasard spürte unter Wasser, wie sich die Druckwelle näherte. Er tauchte auf, hörte das Grollen der Explosion und schwamm mit zwei, drei weit ausholenden Zügen auf die Jolle der „Isabella“ zu. Carberry streckte ihm hilfreich die Hände entgegen. * Die Dschunke flog auseinander, aber Fong-Ch’ang duckte sich nicht, um den wirbelnden Trümmern auszuweichen. Aufrecht saß er auf der Ducht des Sampans. Brennende Plankenreste landeten vor ihm im Wasser, aber er sah sie kaum. Er starrte nur entrückt auf die Stätte, an der es Tao-t’ien, den kleinen Tsao und alle die anderen zerrissen hatte.
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Wieder bohrte der Schmerz in ihm. Er grub sich noch einmal tief in seine Brust und nagte an seinem gequälten Herz, aber Fong wußte im selben Moment auch, daß er von jetzt an lernen würde, zu vergessen. Du mußt weise sein, sagte er sich, Tao und Tsao schweben auf Wolken davon, sie fühlen den Schmerz und die Grausamkeiten der Welt nicht mehr. Alles, was dich von jetzt an betrübt, kann nur Selbstmitleid sein. Er löste sich aus seiner starren Haltung. Langsam drehte er sich zu den Rettern hin – und winkte ihnen zu. „Philip Hasard!“ rief er. „Mein Dank ist dir gewiß. Du und deine Männer, ihr habt viel riskiert, um mich Narren vor dem Tod zu bewahren. Daran werde ich mich stets erinnern.“ Er gab ihnen durch eine Geste zu verstehen, sie sollten die Leine kappen, die beide Boote verband. Der schwarzhaarige Kapitän übernahm dies selbst. Fong erhob sich jetzt, griff zu dem einzigen Riemen des Sampans, legte ihn in die Gabel am Heck und wriggte los, auf die Küste zu. Von der Dschunke waren nur ein paar Planken übriggeblieben, die jetzt schwelend in der See trieben. Eine Strömung entführte sie weiter auf das offene Meer hinaus, die letzten Spuren des Gräßlichen wurden in alle Winde zerstreut. Fong beobachtete, wie die drei weißen Männer an Bord ihres schlanken Dreimasters zurückkehrten. Zum ersten Male betrachtete er dieses Schiff mit den Augen des Kenners und wunderte sich über die niedrigen Aufbauten und die sehr hohen Masten. „Ein wunderbares Schiff“, sagte er. „Glück soll es dir bringen, Philip Hasard. Und ich hoffe, daß du dieses Land als zufriedener Mann verläßt, was immer du auch vorhast. Du trägst Mut, Aufrichtigkeit und Opferbereitschaft im. Herzen. Viele könnten sich an dir ein Beispiel nehmen.“ Er wriggte nach Nordwesten und steuerte einen einsamen Punkt an der Küste an. Die Bewohner des Dorfes hatten selbstverständlich gesehen, wie die
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Dschunke explodiert war. Vielleicht bemerkten sie jetzt auch das Sampan. das von der Unglücksstätte davon glitt. Aber sie würden nicht versuchen, ihn, FongCh’ang, aufzuhalten. Sie wußten, daß er in das Dorf nicht zurückkehren konnte. Fong schaute noch einmal achteraus und gewahrte, wie der stolze Dreimaster der weißen Männer Fahrt aufnahm. Prall bauschten sich die Segel im Südostwind auf. „Vielleicht treffen wir uns eines Tages wieder, wenn ich bis dahin nicht dem schwarzen Tod erlegen bin“, sagte er unter seiner Ledermaske. 7. Hasard blickte noch ein paarmal mit dem Kieker zu dem Sampan hinüber. „Hoffentlich verschont dich die Pest, Fong-Ch’ang“, sagte er. „Ich wünsche es dir. Manchmal geschieht Erstaunliches auf dieser Welt, und warum sollst du nach dem Abklingen der Epidemie nicht auch ein besseres Los ziehen!“ Das Boot mit dem Chinesen verschwand hinter der südwestlichen Kimm. Die „Isabella“ hatte schon wieder eine Meile hinter sich gelegt. Ihr Kurs war nach wie vor Norden. Der Seewolf tastete sich an der Küste entlang. Die Abenddämmerung senkte sich über die See. Blaßrote Schleier im Westen waren die letzten Boten der untergegangenen Sonne. Der Kutscher ließ Carberry und den jungen O’Flynn in einer extra angerührten heißen Lauge baden. Auf der Kuhl hatte es ein Mordsgeschrei und Hallo gegeben, als die beiden nacheinander in den großen Holzbottich geklettert waren. „Kutscher, du Hundesohn!“ brüllte der Profos. „Was machst du denn mit meinen Klamotten, ich meine, mit meinen Kleidern, was, wie?“ „Ich werfe sie außenbords“, antwortete der Kutscher. „Untersteh dich ...“ „Ist es dir lieber, die Pest zu kriegen?“
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Carberry hockte wie ein großer Götze in dem Waschzuber und stierte den Koch und Feldscher an. Die dampfende Lauge hatte ihn rot anlaufen lassen, und er schwitzte aus allen Poren. Dan, der die Prozedur schon hinter sich hatte, stand bei der Kuhlgräting, trocknete sich ab und grinste sich eins. „Alles halb so wild, Ed“, sagte er. „Meine Sachen sind auch außenbords geflogen. Will Thorne hat mir neue besorgt, hier, sieh mal, was für feine Beinkleider er bringt!“ Carberry sah gar nicht hin. Er hörte nicht auf, den -Kutscher zu fixieren. „Hör zu, du Kakerlake, ich habe den Geiermann, diesen Leichenkerl, überhaupt nicht berührt. Bau bloß keinen Mist, Kutscher, sonst zieh ich dir die Haut ...“ „ ...von deinem Affenarsch“, vervollständigte der Kutscher grinsend. „Jawohl“, bekräftigte Carberry. „Finger weg von meiner Kleidung. Ich habe nur die paar Sachen, und ich hänge daran, kapiert? Die sind für dich tabu, Kutscher, und für alle anderen auch.“ „Es ist doch nur eine Vorsichtsmaßnahme“, versuchte der Kutscher ihn zu überzeugen. „Wenn du dich nicht so bockbeinig anstellst, Mister Carberry, haben wir wenigstens die Garantie, daß sich nicht der winzigste Seuchenerreger hier auf der ‚Isabella’ einschleicht. Die Pest wird wahrscheinlich durch Bakterien hervorgerufen, das sind ...“ „Geh mir weg mit deinem Quatsch“, unterbrach ihn der Profos. „Hasard hat sich auch nicht umgezogen, und dabei war er viel dichter an dem Ledermaskenheini dran.“ Der Kutscher grinste. „Unser Kapitän hat Hemd, Hose, Wams und Stiefel bereits in der See versenken lassen. Er steht immer noch in seiner kurzen Hose auf dem Achterdeck und wartet darauf, daß du den Zuber räumst.“ Carberrys Stirn war drohend gefurcht, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Frech werden, was? Aber soweit geht der Spaß mit eurem Profos nicht.“
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„Du lieber Gott“, seufzte der Kutscher. „Nein!“ Carberry brüllte es und schlug mit der Pranke in die heiße Lauge, daß es nur so spritzte. „Komm mir jetzt nicht mit der Tour und versuche, dich bei mir anzuschmeicheln, Kutscher! Ich laß mich nicht breitschlagen, kapiert?“ „Was habe ich denn gesagt?“ fragte der Kutscher verwirrt. Matt Davies schob sich neben ihn. „O Heiland, und das hat er gleich auf sich bezogen.“ „Herrjemine ...“ „Selig sind die geistig Armen“, sägte Dan, weil er diesen erstklassigen Spruch mal von Jean Ribault vernommen hatte, der jetzt mit Karl von Hutten auf der „Le Vengeur“ in der Karibik segelte. Der Profos hörte es nicht, das war ein Glück. Er rührte nur mit den klüsengroßen Pranken die Lauge um und schrie: „Und was ist das hier überhaupt für eine ScheißBrühe, Kutscher?“ „Eine desinfizierende Lösung. „Eine was?“ Dan hatte sich fertig angezogen und trat dicht neben den kochenden Profos hin. „Darf ich dir das mal erklären, Ed?“ „Meinetwegen.“ „Also, das ist so. Bakterien sind irgendwelche Viecher, noch kleiner als Flöhe und Läuse. Man kann sie nicht sehen, so winzig sind sie. Trotzdem, Sir Anthony Abraham Freemont, der Arzt in Plymouth, hat gesagt, es gibt sie.“ „Ach was ...“ „Sie hüpfen nur so durch die Gegend, und auch auf der Dschunke haben sie natürlich gesessen und auf uns gelauert. Kann sein, daß sie weit genug gehüpft sind, die elenden Biester - bis zu uns in die Jolle.“ Carberry verschluckte sich, hustete. „In die - Jolle?“ Dan klopfte ihm kameradschaftlich auf den Rücken. Keiner aus der Crew nahm sich beim Profos soviel heraus wie er, und es gab auch keinen, von dem Edwin Carberry sich gelegentlich mal auf den Arm nehmen ließ. „Sie könnten sich in unseren Kleidungsstücken und auf unserer Haut
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eingenistet haben, auch in unseren Haaren - sie könnten, sage ich“, fuhr Dan fort. „Es sind schon elende Saubiester, diese Erreger.“ „Wie kannst du darüber spotten“, flüsterte Carberry. Jawohl, er flüsterte wirklich, was für den Kutscher Anlaß war, besorgt herüberzuschauen. Nur wenn der Profos brüllte, war er gesund. „Ich hab gut lachen“, erklärte Dan. „Ich habe meine Klamotten ja bereits über Bord geworfen und mich in der keimtötenden Lösung richtig abgewaschen.“ Schweigen trat ein, nur das Knarren der Blöcke und Rahen war zu vernehmen, und manchmal das Rauschen des Seewassers an den Bordwänden der Galeone. Der Profos schaute in die Brühe, wie er sie nannte, sah dann zum Kutscher, streifte auch die anderen Umstehenden mit einen todunglücklichen Blick. Er saß für eine Weile richtig stocksteif in seinem Bottich. Aber dann kam Leben in ihn. Er rubbelte sich wie ein Besessener ab und schrie: „Kutscher, schnapp dir meine Lumpen und wirf sie außenbords! Auf was wartest du denn noch? Sag mal, hast du Kürbisse in den Ohren, du Rübenschwein, du Küchenschabe? Du hättest das schon längst erledigen müssen, ich hab’s dir doch hundertmal gesagt, weg mit dem Zeug.“ Er seifte sich die Haare ein, rieb sich das Gesicht und die Ohren ab und scheuerte seinen Hals, wie er’s seit dem letzten Bad vor Weihnachten nicht mehr getan hatte. „O, ihr Kanalratten!“ brüllte er. „Was steht ihr ‘rum und glotzt mich an? Tut was! Schnappt euch den Papagei, dieses elende Mistvieh! Ich will ihn auch in die Brühe tunken. Er war mit dabei, als wir den Maskenheini retteten.“ Sir John kreischte und schlug mit den Flügeln, als Matt Davies sich anschickte, ihn vom Schanzkleid zu angeln. Sir John flog zur Großrah hinauf, setzte sich hin, nickte dreimal mit dem Kopf und ließ einen ganzen Schwall von englischen und spanischen Flüchen auf die Mannschaft niedergehen.
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Hasard war an die Five-Rail getreten und schaute belustigt zu. „Tja, Ed“, sagte er leise. „So gelangt man ganz schnell und unverhofft zu neuen Kleidern.“ Ben Brighton war neben ihn getreten. „Und wir können froh sein, daß wir einen Mann wie den Kutscher haben. Der ist mehr als ein einfacher Feldscher.“ Hasard war plötzlich wieder ernst geworden. „Paß auf, Ben, ich könnte dich anstecken. Bevor ich nicht auch das keimtötende Bad genommen habe, besteht immerhin die Möglichkeit.“ Der Bootsmann wich zurück. „Mann, Hasard, jetzt hast du mir aber einen Schreck eingejagt. Sag mal, was meinst du, ob die Pest wohl auch noch weiter nördlich grassiert?“ „Ich hoffe nicht. Aber wenn es so ist, müssen wir auf eine Landung wohl endgültig verzichten“, erwiderte der Seewolf. * Zwei Tage lang segelte die „Isabella VIII.“ nur sehr langsam. Der Wind war fast eingeschlafen. Nur eine ganz schwache Brise wehte. Am dritten Tag nach der Begegnung mit Fong-Ch’ang und dessen Todesdschunke näherten sich die Seewölfe nach Hasards Berechnungen tatsächlich der Ortschaft Xiapu. Und diesmal gab es wieder eine Überraschung. „Deck, Deck!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. „Mastspitzen, ho Backbord voraus! Eine Dschunke!“ Wieder begann das übliche Vorausschauen durch die Spektive, das Abwägen, das Schätzen. Hasard, der mit dem Kieker auf das Vordeck gegangen war, gab sich keinen Illusionen hin. Mit Freunden durfte er nicht rechnen. Friedfertigkeit konnte er nicht voraussetzen, obwohl er nach wie vor bereit war, seinen Einzug im Reich der Mitte nicht mit Feuer, Rauch und Eisenkugeln zu halten.
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„Das schwarze Schiff ist es jedenfalls nicht“, sagte er nach einem ausgiebigen Blick durch die Optik. „Deck!“ rief Dan. „Die Dschunke entpuppt sich als Riesenschiff!“ Er war völlig aus dem Häuschen. Hasard beobachtete weiter und mußte ihm insofern recht geben, als die Dschunke tatsächlich riesige Ausmaße hatte. Ob sie das größte Schiff war, das es in China gab, blieb natürlich dahingestellt. Hasard hatte ein ungutes Gefühl beim Betrachten dieses Schiffes. Es schien aus der Kimm hervorzusteigen - das übliche optische Phänomen -, und bald konnte man auch mit bloßem Auge sehr gut erkennen, daß es fünf Masten führte. Sie waren schräg versetzt wie die Masten des Drachenschiffs. Unwillkürlich knüpfte Hasard gedankliche Verbindungen. Hatte die Dschunke etwas mit dem Dreimaster von Li-Cheng zu tun? „Da sind noch mehr Schiffe im Gefolge der Dschunke“, meldete Dan. „Jetzt haben wir den Salat“, meinte Smoky, der Decksälteste. „Die halten auf uns zu und haben es auf uns abgesehen.“ „Ich sehe große Kanonen“, sagte der Seewolf. „Aber auch eine Menge Gestelle, wahrscheinlich aus Bronze gegossen wie die im Vor- und Achterkastell des schwarzen Schiffes. Ich nehme an, von diesen Gestellen aus verschießen die Männer der Dschunke ,chinesische Pfeile`.“ „Genau“, stieß Al Conroy grimmig hervor. Er blickte ebenfalls durch einen Kieker. „Hast du auch die Schleudern entdeckt, die sie mitführen? Da stehen flache Töpfe drauf, zum Verfeuern von ,chinesischem Schnee’.“ „Du meinst diese explosive Salpetermischung?“ fragte Ferris Tucker beim Nähertreten. „Ja, die. Dagegen sind deine Höllenflaschen Kinderspielzeuge.“ „Abwarten“, meinte der rothaarige Riese. „Sicher“, sagte der Seewolf. „Aber das eine steht fest: die fünfmastige Dschunke ist schwer armiert. Besser als wir.“
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„Ich habe die Soldaten gezählt, die sie an Bord haben“, ließ Dan vernehmen. „Es müssen so an die hundert sein. Und die anderen Dschunken, die nach und nach an der Kimm auftauchen, sind auch Kriegsschiffe. Hölle und Teufel auch!“ Hasard drehte sich um und- trat an die Balustrade der Back, die zur Kuhl wies. „Ed, wir machen gefechtsklar. Und laß die englische Flagge setzen.“ „Aye, Sir.“ Hektische Tätigkeit setzte auf Oberdeck ein. Im Hin- und Herrennen der Männer und dem Rumpeln der Kanonen stieg der „White Ensign“ mit dem roten Georgskreuz auf weißem Grund am Mast hoch und flatterte im Großtopp. Hasard blickte wieder zu der großen Dschunke. Plötzlich verhärteten sich seine Züge. „Verdammt, die reagieren sauer“, sagte er. „Sie besetzen die Schleudern und richten die ,chinesischen Pfeile’ aus.“ „Wenn sie auch nur einen Brandsatz ‘rüberschleudern, schlagen wir zurück“, sagte Ben Brighton, der nun auch die Back betreten hatte. „Oder willst du auch diesmal nachgeben?“ „Wie soll ich das verstehen, Mister Brighton?“ fragte Hasard mit ungewohnter Schärfe zurück. „Ich meine, wir werden uns von den Burschen dort doch wohl nicht einschüchtern lassen.“ Ben ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Wir kommen mit friedlichen Absichten, aber wir wissen uns auch unserer Haut zu wehren, wenn wir angegriffen werden.“ „Zähl doch mal die Dschunken, Ben“, sagte der Seewolf. Seine Stimme klang gepreßt. Ben schaute durchs Spektiv. „Fünf, sechs, Himmel, das hört ja nicht auf. Acht — nein, neun Kriegsschiffe.“ „Ein ganzes Dutzend!“ rief Dan O’Flynn. „Wir wären ihnen unterlegen, in jedem Fall“, erklärte der Seewolf seinen Männern so ruhig wie möglich. „Das müßt ihr einsehen. Das hier ist ein zu harter Brocken für uns. Hier können wir keine Bravourleistung bringen wie im Kampf
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gegen gewisse spanische Schiffsverbände. Die Dinge liegen anders. Und ich will meine Tage nicht vor diesem Küstenstrich beenden.“ Ferris Tucker rieb sich verlegen den Hals. „Mit anderen Worten — die Zopfmänner würden uns nach allen Regeln der Kunst zusammenschießen. Und kein Kapitän dieser Welt würde ein von vornherein aussichtsloses Gefecht beginnen.“ Ben biß sich auf die Unterlippe. „Gut, du willst uns nicht verheizen, Hasard. Für nichts und wieder nichts. Dafür müssen wir dir dankbar sein. Aber was blüht uns, wenn wir uns ergeben? Erinnerst du dich an die Teufelsinsel?“ „Und ob. Trotzdem. Wir streichen die Flagge und lassen die Dinge auf uns zukommen.“ Hasards Gesicht war hart und verschlossen, er ließ sich nicht beirren. Ben Brighton tat gut daran, wenn er Bedenken anmeldete, aber eine Alternative wußte er auch nicht. Es gab keine. Wenig später wurden die Segel der „Isabella“ aufgegeit und der Anker geworfen — eine Geste, die den Verzicht auf einen Kampf bedeuten sollte. Die Chinesen nahmen ebenfalls Fahrt aus ihren Schiffen. Die riesige Dschunke, das Flaggschiff des Verbandes, luvte an. Kurze Zeit später wurden drüben Beiboote abgefiert. Hasard verfolgte es durch seinen Kieker und fragte sich, wie dies alles wohl gelaufen wäre, wenn Siri-Tong mit von der Partie gewesen wäre —besser oder schlechter? Mit ruhigem Schlag pullten die Chinesen ihre Boote auf die „Isabella“ zu. Wie gebannt spähten die Seewölfe zu den Booten hinüber. „Ledermasken tragen die Kerle jedenfalls nicht“, sagte der alte O’Flynn. „Und ich habe auch keine schwarzverhüllten Gestalten an Bord ihrer Schiffe gesehen.“ „Wegen der Pest scheinen sie sich uns also nicht entgegenzustellen“, meinte Ferris Tucker. „Sie kommen zu uns an Bord, um uns zu überprüfen“, sagte der Seewolf. „Seht euch den an, der im mittleren der drei Boote
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sitzt. Das scheint ein Würdenträger zu sein.“ Ben Brighton betrachtete diesen Chinesen unausgesetzt durch sein Fernrohr. „Stimmt, der trägt bunt bestickte Seidengewänder, die ihm bis an die Knöchel reichen. Er hat weiß lackierte Schuhe an, wenn mich nicht alles täuscht, und auf seinem Kopf sitzt eine Kappe mit Goldfäden, unter der der lange Zopf hervorschaut.“ „Was ist das, ein Mandarin?“ fragte Carberry, der inzwischen auf der Back erschienen war. Hasard verzog das Gesicht. „Ed, wie oft soll ich dir noch sagen, daß in China nicht alle Höhergestellten gleich Mandarine sind?“ „Kenn sich einer mit diesen Zopfmännern aus“, sagte der Profos. Auch ihm war die Spannung anzusehen - und die Nervosität, die das Auftauchen des starken Schiffsverbandes in ihnen allen hervorgerufen hatte. „Was tun wir, wenn sie heran sind?“ fragte er. „Begrüßen wir sie mit Musketenfeuer?“ „Auf keinen Fall“, erwiderte der Seewolf. „Und die Männer sollen sich von den Kanonen entfernen. Das ist-ein Befehl, Profos.“ „Aye, Sir.“ Shane schlug vor: „Wir könnten den Burschen aber hier an Bord wenigstens eine Falle stellen. Ich schätze, wenn wir den Seidenkittel als Faustpfand haben, unternehmen die Schiffsbesatzungen nichts gegen uns. Sie lassen uns reisen.“ „Möglich, aber ich halte trotzdem nichts davon“, erwiderte Hasard. „Warum nicht?“ „Weil Geiselnahme ein unlauteres Mittel ist, Shane.“ „Na, früher warst du aber nicht so zimperlich ...“ Der Seewolf fuhr zu dem ehemaligen Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle herum. „Shane, die Dinge liegen hier völlig anders. Das muß dir als Erklärung vorerst genügen. Punktum und basta. Oder hast du noch mehr herumzumäkeln?“
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Der Graubart schwieg. Sie schauten sich stumm an und verstanden sich auch so. Hasard ließ sich auf keine Diskussionen ein, er war der Kapitän und kam auf der „Isabella“ sozusagen gleich nach dem lieben Gott. Shane hatte das von jeher akzeptiert. Er fragte sich in diesem Augenblick nur, ob auch die anderen das Verhalten des Seewolfs billigten. Und warum - ja, warum hatte Hasard all diese Skrupel? Die Boote der großen Dschunke waren heran und schoren an Backbord der Galeone längsseits. Mann für Mann enterte an der mittlerweile ausgebrachten Jakobsleiter auf. Hasard begab sich mit Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Old O’Flynn und Smoky aufs Achterdeck, um sie zu empfangen. Der Mann mit den Seidengewändern und der Kappe auf dem Kopf kletterte auf die Kuhl, seine Gefolgschaft scharte sich um ihn. Er war etwas untersetzt und hatte ein fülliges Gesicht mit dünnen Lippen und einem lichten Bärtchen. Aufmerksam schaute er sich nach allen Seiten um, zog die Augenbrauen hoch und teilte seinen Untergebenen irgendetwas mit. „Yang kuei tzu“, tuschelten die Gefolgsleute. „Yang kuei tzu.“ „Wenn das eine Beleidigung ist“, knurrte Ed Carberry, „dann sprechen wir uns noch, Freunde.“ Hasard rührte sich nicht vom Achterdeck fort. Ruhig blickte er auf die Besucher. „Ich schätze, der Seidengekleidete ist ein hoher Staatsbeamter“, sagte er zu seinen Männern. „Die Angelegenheit hat offiziellen Charakter. Wir dürfen uns in diesem Fall als Botschafter Ihrer Majestät, Königin Elizabeth I., verstehen.“ Ben, Ferris, Shane, Smoky und Old Donegal blickten ziemlich verdutzt drein. Allmählich dämmerte es ihnen. Darauf wollte der Seewolf also hinaus - er- wollte sich mit Diplomatie im Reich der Mitte einführen. Ja, er hoffte auf das Verständnis und die große Kultur der Chinesen, die schließlich auch einem Marco Polo nach einigem Hin und Her gestattet hatten, bei
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ihnen zu bleiben und ihre Bräuche zu studieren. Der hohe Beamte zögerte und wartete offensichtlich darauf, daß der Seewolf zu ihm auf die Kuhl trat. Aber das tat Hasard nicht. So blieb dem Seidenmann nichts anderes übrig, als mit seinen Begleitern auf das Achterdeck zu steigen. Daß sich die Schiffsführung dort oben befand, war ihm von Anfang an klar. Das Achterdeck hatte auch auf den chinesischen Schiffen die gleiche Bedeutung wie auf den Seglern aller anderen Herren Länder. Der Beamte tat sehr wichtig. Er redete fast unaufhörlich auf Hasard ein, und sein Gefolge inspizierte mit neugierigen Blicken immer wieder das Schiff und die Crew. „Yang kuei tzu“, diese Worte fielen immer wieder. Hasard stoppte den Wortschwall des Mannes mit der Kappe durch eine Geste. „Ich kann euch nicht verstehen“, sagte er. „Dies ist ein englisches Schiff, und wir sind eurer Sprache nicht mächtig.“ Der Beamte hob wieder die Augenbrauen, beugte sich dann zu seinen Begleitern hinüber und wisperte ihnen etwas zu. Hasard wiederholte seine Sätze auf spanisch, und auch diesmal war die Reaktion der Chinesen ähnlich. „Ich werde langsam wütend“, sagte Old O’Flynn. „Gibt’s denn keinen Dolmetscher oder so was Ähnliches bei denen?“ „Die Dschunken pirschen sich näher heran!“ rief sein Sohn aus dem Hauptmars. Ruckartig hoben die Chinesen die Köpfe. Sie schauten zu dem jungen Mann hoch, und Dan legte zur jovialen Begrüßung zwei Finger an die Stirn. Das beachteten die Zopfmänner aber nicht. Sie zeigten nur immer wieder auf den Affen Arwenack, der neugierig über die Segeltuchverkleidung lugte. Dann hatten die Männer von der Dschunke auch den Papagei entdeckt. Sir John zog seine Kreise, und sie verfolgten mit ihren Blicken seine Flugbahn. „Yang kuei tzu“, stöhnte der eine.
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„Was heißt denn das bloß?“ fragte Ben Brighton. „Himmel, wenn wir doch bloß Siri-Tong dabeihätten.“ Hasard bedachte ihn mit einem Seitenblick. „Wem sagst du das? Aber lassen wir das. Fest steht, daß wir auf diese Art mit unseren Gästen nicht weiterkommen.“ Er trat dicht vor den hohen Beamten hin und sprach eine Weile auf ihn ein, aber auch das nutzte nichts. „Immer mehr Boote werden abgefiert“, meldete Dan O’Flynn ziemlich aufgebracht. Die riesige Übermacht hatte sie vollends eingekreist, und nun wurden die neuen Boote herübergepullt, und immer mehr Chinesen kletterten an Bord der „Isabella“, während Geschütze, Brandsätze und Schleudern drohend auf die Galeone gerichtet waren. Mancher von Hasards Männern hätte gern aufgemuckt, aber schließlich sahen sie doch alle ein, daß es keinen Zweck hatte. So standen sie da oder hockten auf den Stufen der Niedergänge und ließen die merkwürdige Prozedur über sich ergehen. Zwei schlanke Chinesen aus dem Gefolge des Staatsbeamten hatten sich auf eine spezielle Erkundungstour durch das ganze Schiff begeben. Sie betrachteten Carberry, aber als er eine grimmige Miene zog und das Gebiß entblößte, zogen sie sich sehr schnell wieder von ihm zurück. Sie versuchten, Sir John einzufangen und genauer anzuschauen, aber der Ara führte sie nur an der Nase herum. Sie stöberten sogar im Achterkastell herum, waren dann plötzlich wieder auf der Kuhl und hasteten auf die Back zu. „Jetzt wird’s feierlich“, sagte Stenmark. „Diese komischen Knaben gehen ins Logis. Die haben sie wohl nicht alle, was?“ Carberry stapfte heran, blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Laßt sie doch. Die erleben gleich ihr blaues, nein — ihr schwarzes Wunder.“ Die zwei Chinesen öffneten das Steuerbordschott des Vordecks, äugten ins dunkle Innere und schlüpften schließlich hinein.
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Hasard versuchte unterdessen, auf spanisch und auf portugiesisch mit dem hohen Beamten zu reden, aber dessen Miene verfinsterte sich nur, als er die südländischen Laute vernahm. Seine Soldaten nahmen auf seinen Wink hin eine drohende Haltung ein. „Auf Dons scheinen die nicht gut zu sprechen sein“, meinte Big Old Shane. „Ist ja kein Wunder. Wenn die Philipps hier so gewütet haben wie in der Neuen Welt, dann sieht’s böse aus.“ „Für uns?“ Old O’Flynn sah ihn mit verkniffener Miene an. „Hör mal, wir haben ihnen die englische Flagge doch nun lange genug gezeigt.“ „Vielleicht kennen sie die gar nicht.“ „Fehlt noch, daß du sagst, die wüßten nicht, was Engländer sind.“ „Ja, das könnte sein“, entgegnete Shane. Im Vordeck war jetzt Gepolter zu vernehmen. Jemand rief etwas Helles, für die Seewölfe Unverständliches. Es klang aber so wie ein überaus entsetztes „Yang kuei tzu.“ Der Beamte lief zur Five-Rail, seine Begleiter fuchtelten drohend mit ihren Waffen herum. Unversehens flog das Steuerbordschott der Back auf, und die beiden neugierigen Zopfmänner stolperten heraus. Sie rannten sich beinahe gegenseitig über den Haufen, so erschrocken waren sie. Plötzlich war die Stimmung zum Zerreißen gespannt. Die Rufe der „Isabella`“-Besatzer hallten bis zu den Dschunken hinüber. Auf den Dschunken nahmen viele gelbhäutige Soldaten unmißverständlich hinter den Bordgeschützen Aufstellung. Carberry grinste trotzdem. Die beiden allzu vorwitzigen Inspekteure taumelten auf ihn zu. Er klopfte ihnen ganz behutsam auf die Schultern und sagte: „Nun reißt euch doch zusammen, ihr Heringe, die Welt geht noch nicht unter, und man stirbt auch nicht so schnell, wie ihr Zopfkerle denkt.“ Alles blickte zu den beiden Entsetzten — und zum Vordecksschott. Eine Gestalt erschien in der rechteckigen Öffnung. Batuti. Mit breitem Grinsen trat
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der herkulesgroße Gambia-Neger auf Deck. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und blieb stehen. Die Sonne über dem Chinesischen Meer ließ seine dunkle Haut matt schimmern. Die Chinesen keuchten vor Staunen, auch die auf dem Achterdeck. „Wieso hat Batuti sich denn versteckt?“ fragte Ben Brighton. „Das war mir gar nicht aufgefallen.“ „Ich hatte es ihm befohlen“, erwiderte Hasard. „Ich hielt es für besser, daß die Chinesen unseren schwarzen Goliath vorläufig nicht sehen. Und du merkst ja an ihrer Reaktion, wie schaurig sie das alles finden. Weißt du was, Ben? Sie halten uns für Teufel. Fremde Teufel.“ „Aber sie haben doch schon Besuch von Weißen gehabt“, wandte der Bootsmann ein. „So unheimlich können wir ihnen nicht sein. Und falls sie wirklich so gebildet sind, wie du gesagt hast, müßten sie auch schon von dem Kontinent Afrika gehört haben, in dem nur schwarze Menschen leben.“ „Sie machen es eben sehr spannend“, sagte Hasard. „Lassen wir sie palavern. Scheinen etwas langatmig zu sein, die Kameraden. Wir werden ja noch sehen, was dabei herauskommt.“ Batuti hatte sich gegen das Steuerbordschanzkleid der Kuhl gelehnt. Vergnügt sah er auf die tuschelnden, schnatternden Chinesen. So gut wie heute hatte er sich schon lange nicht mehr amüsiert. Und es war auch schon lange her, daß man ihm derartige Beachtung geschenkt hatte. Jawohl, er war stolz auf seine schwarze Haut. Matt Davies zeigte einem der Dschunkensoldaten seine Eisenhakenprothese. „Damit kann ich dir glatt den Schädel spalten“, sagte er freundlich. „Soll ich’s mal versuchen?“ Als dann Jeff Bowie auch noch seine Hakenhand vorwies, sog der Soldat scharf die Luft ein und stieß sie pfeifend wieder aus: „S-s-s-s-a-a!“
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Hasard unternahm noch einen Versuch, sich mit dem Kappenmann zu verständigen. Er hatte sich einiger chinesischer Ausdrücke entsonnen, die Siri-Tong ihm einmal beigebracht hatte. Er sagte sie seinem Gegenüber auf, aber der blickte ihn nur verwundert und ohne Verständnis an. „Das kapier’ ich nicht“, meinte Ferris Tucker. „Ja, sind denn das gar keine Chinesen?“ Der Seewolf lächelte. „Doch, natürlich. Aber die Rote Korsarin hat mir erklärt, daß viele Wörter im Chinesischen je nach der Betonung - zwei, drei oder sogar vier verschiedene Bedeutungen haben. Ich kann die Akzente einfach nicht richtig setzen und kenne den Singsang nicht, mit dem man die Sätze vortragen muß.“ Ben Brighton sagte: „Das kann ja heiter werden.“ 8. Am späten Nachmittag erschien wieder ein Boot, und es saßen drei Männer darin. Hurtig enterten sie an der Jakobsleiter auf. Einer von ihnen trug hellgelbe, fast weiße Kleidung. Er brachte aus einer Tasche Instrumente zum Vorschein, deren Bedeutung sich außer dem Kutscher keiner zu. erklären wußte. Der Kutscher trat aufs Achterdeck und sagte zum Seewolf: „Ich glaube, das ist ein Arzt.“ „Ärzte sind hierzulande sehr geachtete, hochverehrte Leute”, entgegnete der Seewolf mit einem langen Blick auf den Hellgekleideten. „Siri-Tong hat mir gesagt, daß sie sogar als Medizinkönige bezeichnet werden.“ „Donnerwetter.“ Der Kutscher war beeindruckt: Er kehrte zu den Männern der Kuhl zurück und verfolgte, was der chinesische Arzt mit seinen Gerätschaften unternahm. Der Arzt schaute sich interessiert um, dann fixierte er Carberry und -schritt langsam auf ihn zu. „Immer ich“, brummte der Profos. „Was willst du von mir, du Rübenschwein? Tritt
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mir bloß nicht auf die Zehen, sonst huste ich dich über Bord.“ Der Chinese ließ sich nicht so leicht beeindrucken. Er blieb vor dem bärenstarken Profos stehen und schaute zu ihm auf. Genaugenommen war er im Vergleich zu dem Zuchtmeister der „Isabella“ nur eine halbe Portion. Geschickt klemmte sich der kleine Arzt ein zylinderförmiges Objekt zwischen die Augenwülste. Carberry stellte fest, daß es so was wie eine Linse war. Der „Medizinkönig“ guckte ihm dadurch in die Pupillen, wobei er das andere, freie Auge zukniff. Zornig starrte Carberry den Chinesen an. „Willst du wohl aufhören, mich wie ein seltenes Tier anzuglotzen, du Häufling ?“ „Vielleicht will er nur sehen, ob du die Pest hast“, meinte Old O’Flynn. Er war den Niedergang des Achterdecks hinuntergeturnt und bewegte sich auf seinen Krücken heran. „Sei still“, sagte der Profos barsch. „Ich hab meine Kleidung vernichtet und mich von Kopf bis Fuß in der Dings - na, in der verdammten Brühe gewaschen.“ Der Arzt hatte offenbar genug gesehen. Er wisperte ein paar Worte und zog dann die Augenbrauen hoch, so daß die Linse ihm aus dem Gesicht in die geöffnete Hand fiel. Ed Carberry nahm sie ihm weg, bevor er die Hand schließen konnte. Carberry schob sich das optische Gerät selbst vors Auge und schob sein furchterregendes Narbengesicht auf den Zopfmann zu. Er spähte in das linke Auge des ächzenden Mannes und sah es riesig groß vor sich wie eine bizarre Blume. „Donnerwetter“, brummte der Profos. „Na, dann laß mich mal auf den Grund deiner schwarzen Seele gucken.“ Er blickte lange in dieses weit auf gerissene Auge, aber endlich murmelte auch er ein paar Wörter, pflückte sich das Glasding aus dem Auge und händigte es dem „König der Medizin“ wieder aus. „Hier“, sagte er. „In Ordnung.“ Der Arzt sah erleichtert aus. Er nahm jetzt ein anderes Instrument zur Hand und
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tastete damit Carberrys Narbengesicht ab. Dabei rief er seinen Begleitern etwas zu. Die hatten sich inzwischen auf der Kuhlgräting niedergelassen. Sie hatten eine Art Staffelei aus dünnem, zerbrechlich wirkendem Holz aufgebaut, packten Reispapier, Tusche und Pinsel aus und begannen zu zeichnen. „Seht euch das an“, sagte der Kutscher. „Wenn Thomas Federmann jetzt hier wäre! Es würde ihn bestimmt interessieren, wie die Chinesen mit ihren Malgeräten umzugehen verstehen.“ Blacky war neben ihm. „Ich bin kein Künstler, Kutscher. Aber mich interessiert es auch brennend, was die Kerle da zu kritzeln haben. Das sieht mir schon fast nach einer Verschwörung gegen uns aus.“ „Kutscher, was macht dieser Scharlatan mit mir?“ rief der Profos. „Er untersucht deine Narben. Und er mißt dein Gesicht.“ „Er mißt?“ Die Zeichner hantierten mit ihren Utensilien, der eine brachte ein großes Oval zu Papier, seih Begleiter assistierte ihm. Plötzlich erschienen auch senkrechte und waagerechte Striche in dem Oval, der Künstler zauberte sie förmlich hin. Dan O’Flynn spähte vom Großmars aus mit dem Kieker auf das Reispapier. Da der Bogen sehr flach auf der hölzernen Staffelei angebracht war, hatte Dan einen ausgezeichneten Ausblick auf die Skizze. „He!“ rief er. „Das ist ja unser Profos.“ „Ja, wirklich“, sagte jetzt auch Stenmark, der den Zeichnern über die Schultern blickte. „Carberry, wie er leibt und lebt.“ „Ihr wollt mich auf den Arm nehmen“, versetzte der Profos drohend. Er rückte aber ein Stück nach rechts und konnte nun selbst sehen, daß die Chinesen ihn auf dem Reispapier verewigten. Der Arzt folgte ihm, tastete an seiner Nase herum, dann an den Ohren, und danach redete er wie beschwörend auf ihn ein. Carberry sah ihn in einer Mischung aus Verachtung und Mitleid an. „Also schön. Sag, was du willst, und dann hau ab, klar?“ Der „König der Medizin“ öffnete den Mund und streckte die Zunge heraus.
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Edwin wollte ihm wegen dieser Frechheit schon die Faust unters Kinn rammen, da hob der Kutscher die Hand und sagte: „Ed, er will, daß du ihm die Zunge zeigst.“ „Was? Oh, das kann er haben.“ Carberry sperrte seinen Rachen auf und rollte den großen Lappen aus, den die Crew als „Ochsenzunge“ zu bezeichnen pflegte und der ihr Anlaß gab, hin und wieder zu behaupten, der Profos habe ein „Maul wie ein Bulle“. „Aaaahhh“, machte Ed Carberry. Der kleine chinesische Arzt schreckte zurück, fand dabei aber doch Gelegenheit, einen Blick in den Profosrachen zu werfen. Er nickte und sagte etwas in seiner hohen, melodiösen Sprache. Carberry klappte seinen Mund wieder zu und biß sich dabei beinahe auf die Zunge, die er nicht schnell genug binnenbords holen konnte. Der Mann im hellgelben Gewand untersuchte noch seinen Oberkörper, dann war die Inspektion abgeschlossen. Der Chinese wandte sich jetzt Old Donegal Daniel O’Flynn zu. „Finger weg“, warnte der Alte. Er hob eine Krücke. „Noch einen Schritt weiter, und ich schnall mein Holzbein ab und laß es auf deinem Rücken tanzen, du krummer Hund.“ „Ha“, sagte Carberry. „Das hast du nun davon, alter Meckerbeutel. Was treibst du dich auch auf der Kuhl herum? Los, laß dich untersuchen, es bleibt dir ja doch nichts anderes übrig.“ Wutschnaubend drohte Dans Vater dem chinesischen Arzt mit der einen Krücke. Jetzt schaltete sich aber der Seewolf ein. „Donegal“, rief er. „Laß den Mann seine Pflicht tun. Er will nur herausfinden, ob wir angesteckt worden sind und die Epidemie nach Xiapu tragen. Das ist sein gutes Recht.“ „Also doch“, wetterte der Alte. „Der ganze Aufstand geschieht wegen der Pest. Hab ich’s doch geahnt.“ Der „König der Medizin“ arbeitete unverdrossen von einem Mitglied der Crew zum anderen, und der Tag ging seiner Neige entgegen. Auch Hasard und die
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anderen Männer vom Achterdeck wurden nicht verschont. Und die ganze Zeit über eilten fleißige Zeichnerhände mit Pinsel über Bogen um Bogen hauchdünnen Papiers und hielten die Gesichter der Mannschaft fest. Es waren Porträts von bestechender Ähnlichkeit. Die Crew versammelte sich um die Maler und konnte nicht genug darüber staunen, wie echt die in so kurzer Zeit angefertigten Illustrationen wurden. Jeder mußte sich der „Behandlung“ unterwerfen, ausgenommen wurde keiner. Selbst Arwenack, der Schimpanse, wurde auf die Gesten des hohen chinesischen Beamten -des „Seidenkittels“ - hin von Dan O’Flynn aus dem Großmars auf Deck heruntergetragen. Auch den Affen zeichneten die Zopfmänner ab. Und auch Sir John entging diesmal seinem Schicksal nicht. Carberry pfiff ihn heran. Bereitwillig segelte der karmesinrote Ara heran - und dann schloß sich plötzlich die mächtige Profosfaust um seinen kleinen Körper. Sir John fluchte ganz mörderisch über diesen Betrug, aber das nutzte ihm nichts. Zuerst untersuchte ihn der Arzt, dann machten sich die Tuschekünstler an ihn heran. Sir John bedachte sie mit den erlesensten Ausdrücken, doch zu seinem Erstaunen konnte sie das überhaupt nicht stören. „So, jetzt sind wir alle verewigt“, sagte Big Old Shane. „Wozu das wohl gut sein soll.“ „Ganz einfach, sie wollen uns die Zeichnungen als Andenken schenken“, erwiderte Ferris Tucker. Seinem schiefen Grinsen war zu entnehmen, wie das gemeint war. Und Old O’Flynn, als der größte Spökenkieker und Unkenrufer an Bord der „Isabella“, meinte düster: „Ich sage, die Kerle hecken irgendeine Teufelei aus.“ * Fong-Ch’ang hätte mit dem Sampan an der Küste entlangfahren können, in Richtung Norden. Aber nach reiflichem Überlegen
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hatte er doch lieber auf das Boot verzichtet. Er hatte es versenkt, um ein weiteres Risiko auszumerzen. Auch dem Sampan mochte der Pesthauch anhaften, darum mußte es für alle Zeiten verschwinden. Einen guten Steinwurf vor der Küste hatte Fong dem Boot ein Leck in den Rumpf geschlagen. Schwimmend hatte er das letzte Stück Wasserweg zurückgelegt. Am Ufer angelangt, hatte er sich umgedreht und das Sampan schon nicht mehr gesehen. In seinen nassen Gewändern war er landeinwärts gewandert. Das Tuch behinderte ihn, im Wasser wie zu Land, aber er konnte es nicht ablegen, bevor er keinen Ersatz gefunden hatte. Das verboten ihm die Erziehung und ein ungeschriebenes Gesetz, das jedem guten Chinesen auferlegte, sich außer Haus nicht zu entblößen. Drei Tage und drei Nächte lang war Fong nach Norden unterwegs. Auf dieser Reise ereignete sich für ihn allerlei. Am ersten Tag konnte er sich einem Bauern nähern, der dabei war, sein Sojabohnenfeld zu bestellen. Fong-Ch’ang hatte die Ledermaske längst abgenommen und in der Tasche seines mittlerweile getrockneten Gewandes versenkt. Die reich bestickten Kleider waren arg zerknittert. Mißtrauisch beäugte der Bauer ihn denn auch, als er auf ihn zutrat. Fong sagte: „Du mußt mir frische Kleidung beschaffen, mein Freund. Ich bin bei einem Sturm mit meinem Boot verunglückt und kehre nun zu Fuß nach Xiapu zurück.“ „Sei vorsichtig, in einigen Dörfern wütet der schwarze Tod.“ „Ich danke dir für den Hinweis.“ „Ich kann dir nur einfache Jutekleider geben“, sagte der Bauer. „Was sind die gegen deine prachtvollen Gewänder?“ Sein Argwohn hatte sich etwas gelegt. „Komm in mein Haus, meine Frau wird dir die Sachen waschen und glätten.“ „Ich schäme mich“, entgegnete Fong. „Tu mir den Gefallen und verkaufe mir die schlichte Bauernkluft.“
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Der Mann zuckte mit den Schultern. „Wie du willst. Aber Geld will ich nicht dafür.“ Fong schenkte ihm aber doch einen wertvollen Ring mit einem darin eingelassenen Jadestein. Der Bauer mußte ihn annehmen, ob er wollte oder nicht. In der zweiten Nacht nach der Vernichtung der Totendschunke verbrannte Fong in aller Einsamkeit seine reichbestickten Gewänder. Er wusch sich in einem nahen Bach. Das Wasser war kalt, aber völlig klar. Er hatte den Eindruck, den Fluch des Bösen wirklich von sich abzuwaschen. Am darauffolgenden Tag wanderte Fong in der groben Bauerntracht über Land. Er wartete darauf, daß sich auch bei ihm die Anzeichen der furchtbaren Krankheit zeigten, aber sie stellten sich nicht ein. Keine Schweißausbrüche, keine Übelkeit, Schwächeanfälle, Fieber und Ohnmacht. Er fühlte sich munter und stark. Wenn auch die Gedanken an seine Frau und den kleinen Tsao immer wiederkehrten, er spürte den neuen Lebenswillen in sich von Stunde zu Stunde stärker werden. Am Mittag dieses Tages gelangte FongCh’ang in ein Dorf, das völlig verlassen dalag. Bald hatte er die Toten in ihren Hütten, entdeckt — das Dorf war von der entsetzlichen Seuche befallen. Fong überzeugte sich, daß hier niemand mehr lebte. Dann zündete er das Dorf an. Die Überlebenden hatten die ¬Ortschaft verlassen. Sie waren längst auf und davon. Fong entdeckte in der Umgebung keinen Menschen, nur in einem Hain stieß er auf einen grasenden Zelter. Das Tier trug einen leichten Sattel und Zaumzeug. Sein Besitzer ließ sich nicht auffinden, offenbar war auch er überstürzt geflüchtet, und warum er den Vierbeiner dabei zurückgelassen hatte, ließ sich nicht feststellen. Fong bückte sich, rupfte ein Büschel Gras aus und trat damit langsam auf das Pferd zu. „Ich bin dein Freund“, sagte er. „Lauf nicht vor mir weg.“ Das Tier hob den Kopf, blickte ihn an und schnaubte. Es blieb stehen. Zutraulich fraß
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es ihm aus der Hand. Es schien froh zu sein, wieder Gesellschaft gefunden zu haben. Pferde mochten die Einsamkeit nicht. Fong-Ch’ang konnte in den Sattel steigen und mit dem Zelter losreiten. Bald stellte sich heraus, daß der Vierbeiner nicht ausschließlich auf Paßgang abgerichtet worden war, er konnte auch noch traben und galoppieren. Schnell trug er seinen neuen Herrn voran. Fong hoffte inständig, man würde ihn nicht des Diebstahls bezichtigen. Sich selbst gegenüber hatte er keine Bedenken, er war sicher, daß der Besitzer des Pferdes davongelaufen war. Vielleicht wäre das Tier sogar eingegangen, wenn Fong es nicht genommen hätte. In der nächsten Nacht lagerte er in einem verlassenen, halb verfallenen Haus des Hügellandes. Er schlief bis zum Morgen durch, gab dem Zelter zu fressen und aus einem Teich zu trinken, dann brach er wieder auf. Wieder spürte er nicht die geringsten Zeichen der gräßlichen Krankheit in sich. War er immun gegen den schwarzen Tod? Er erreichte Xiapu noch am Nachmittag und blickte sich aufmerksam in den Straßen und Gassen um. Bauern kamen vom Land in die kleine Stadt, um ihre Erzeugnisse abzuliefern und Einkäufe zu tätigen. Er hätte wirklich einer von ihnen sein können, ungewöhnlich war nur, daß er auf einem: Pferd ritt. Er fiel damit auf, denn gewöhnlich stand es einem Bauern nicht zu, auf einem so edlen Tier zu sitzen. Etwas irritiert band Fong-Ch’ang den Zelter auf einem Hof an einem Holm fest. Er schaute sich um, niemand hatte ihm zugesehen. Er war es noch gewohnt, als Fong, der allerseits geschätzte Vorsitzende des Dorfrates, aufzutreten. Aber in seinem jetzigen Aufzug brauchte er keinem Menschen einzureden, er sei Fong-Ch’ang. Keiner würde ihm glauben. Außerdem wollte er vorläufig nicht unter seinem Namen auftreten. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, anonym zu bleiben.
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Er schritt durch die Gassen, sah Schulkinder mit langen Zöpfen und dachte wieder an Tsao, der eines Tages auch so besorgt dahingeeilt wäre, um den pünktlichen Beginn der Unterrichtsstunde nicht zu verpassen. Mädchen trippelten auf ihren winzigen Füßen vorbei. Sie waren ihnen seit ihrer Kindheit so fest eingewickelt worden, daß sie nicht mehr wachsen konnten. Ein zweirädriger Karren rumpelte vorbei. Drei Männer saßen darin, von denen Fong den einen als Arzt identifizierte. Er trug hellgelbe Kleidung und hatte alle Instrumente seiner beruflichen Kunst bei sich. Seine Begleiter schienen Zeichner zu sein, denn sie hielten Rollen mit Reispapier und Pinsel in den Händen. Fong hielt einen Passanten an. „Wohin fährt der Karren?“ fragte er ihn. „Zum Hafen, aber ich würde dir nicht raten, ihm nachzulaufen.“ „Warum nicht?“ „Ein Schiff mit fremden Teufeln liegt draußen vor dem Hafen, unsere Dschunken haben es angehalten. Vielleicht sind Portugiesener darauf, die Hunde, die den schwarzen Tod in unser Land geschleppt haben.“ „Danke“, sagte Fong-Ch’ang. Er tat so, als interessiere ihn der Karren nicht weiter und lenkte seine Schritte in einen Seitengang. Wenig später aber hastete er zum Hafen hinunter und gelangte am Kai an, als der Arzt und die beiden Zeichner gerade vom Karren in ein Boot stiegen. Sie wurden direkt zu dem großen Schiff hinausgepullt, das draußen, noch außerhalb der Reede, ankerte und von einem imposanten Verband von Dschunken eingekreist war. Fong kniff die Augen zusammen. Die Sicht war klar, das Licht des ausklingenden Tages ließ einige Beobachtungen noch zu. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Das große Schiff der „fremden Teufel“ dort — er kannte es nur allzu gut! „Philip Hasard“, murmelte er. „Ich hätte nicht gedacht, daß wir uns so schnell wiedertreffen würden.“
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Er hatte vor der Übermacht der Kriegsdschunken kapituliert, der schwarzhaarige Kapitän. Fong-Ch’ang konnte sich lebhaft ausmalen, was seine Landsleute nun alles anstellten, wie sie die weißen Männer untersuchten, malten, verhörten, wie sie ihnen von allen Seiten zusetzten und vielleicht noch ihren Profit aus dem Ganzen schlugen. Dabei wußte er, Fong, ganz genau, daß sie die Pest nicht an Bord hatten. Sonst hätten sie sich niemals so freimütig seiner Dschunke genähert, als er sie auf die See hinaussteuerte. Er hatte in den Gesichtern dieser Fremden gelesen, daß sie Angst vor der Seuche hatten, nicht aber, daß sie selbst ihre Überbringer waren. Und Philip Hasard, der tollkühne Kapitän, hatte ihm das Leben gerettet. Jetzt bot sich die Gelegenheit, sich dafür zu revanchieren. Fong-Ch’ang konnte das Mißverständnis aufklären. „Ich brauche nur ein Boot“, sagte er im leisen Selbstgespräch. „Ich fahre zu dem Dreimaster hinüber und spreche mit den hohen Beamten, die sicherlich schon dort sind, um sich die Fremden anzuschauen.“ Er begann, nach einem Boot zu suchen. An den Piers lagen sehr wohl Sampans und große Flöße vertäut, aber Soldaten sperrten die Anleger ab. „Fort mit dir, Bauer!“ rief ihm der eine zu. Er richtete sogar seinen scharfen Speer auf Fong. „Wir haben den Befehl, keinen von euch Narren durchzulassen.“ Fong ballte vor Wut die Hände. Jetzt bereute er doch, nicht mehr die Kleidung zu tragen, die ihn als Mann von Würde und Bedeutung auszeichnete. Die Soldaten waren meist sture, primitive Kerle, zumeist auch noch zwielichtiger und verschlagener Natur — sie traten nur die, die unter ihnen standen, nicht aber die ihnen Überlegenen. Mit einem einfachen Bauern konnten sie so derb umspringen, nicht aber mit einem Dorfratsvorsitzenden. Fong-Ch’ang sah ein, daß er so nicht weiterkam. Wenn er erklären konnte, wer er wirklich war und was er vorzubringen hatte, würden ihn die Soldaten zweifellos passieren lassen.
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Aber wie sollte er das anstellen? Eine Zeitlang schritt er grübelnd im Hafen auf und ab. Die Dschunken ließen immer noch nicht von der Galeone der Fremden ab, die Dinge zogen sich in die Länge. Einmal lief ein Boot mit Soldaten ein. Die Männer hatten die Erlaubnis zum Landgang erhalten. Lachend gingen sie an Land, und einer von ihnen wußte zu berichten, daß die weißen Teufel ein „Hei Lien“, ein schwarzes Gesicht, bei sich hatten, außerdem einen ausgesprochen großen Affen, der fast wie ein Mensch dreinschaute, und einen sprechenden Vogel. „Die kommen so schnell nicht wieder davon“, meinte ein anderer. Viele Menschen waren jetzt an den Hafenanlagen zusammengelaufen. Sie überhäuften die lachenden und grölenden Soldaten mit Fragen. Die meisten wollten wissen, ob die „fremden Teufel“ tatsächlich die Pest an Bord hätten. Ein dritter Soldat warf sich in die Brust und gebärdete sich sehr wichtig. „Vielleicht nicht“, sagte er. „Aber sie sind anderer Vergehen schuldig.“ „Welcher denn?“ fragte Fong-Ch’ang. „Beispielsweise der Tatsache, unangemeldet hier aufzutauchen“, entgegnete der rüde Bursche. „Und jetzt geh mir aus dem Weg, du Wurm, oder ich zertrete dich.“ Fong zog es vor, keinen Streit vom Zaun zu brechen. Tat er es, landete er unzweifelhaft im Kerker und hatte überhaupt keine Chance mehr, Philip Hasard und seinen Leuten aus der Klemme zu helfen. Und wenn du in dein Dorf zurückreitest und dich neu einkleidest? fragte er sich. Nein, das dauert viel zu lange. Plötzlich entdeckte er unter den Neugierigen einen Mann, den er vor einiger Zeit bei sich im Dorf gesehen hatte. Dieser Mann war damals aus Xiapu herübergereist, um Reiswein und Jasmintee einzukaufen, die in Fongs Dorf besondere Qualität hatten und daher begehrt waren. Fong entsann sich des Namens. Bai Liang hieß dieser Mann.
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Er sprach ihn einfach an. „Bai Liang, ich bin Fong-Ch’ang“, sagte er zu ihm, dann nannte er auch den Namen seines Dorfes. Bai Liang blickte ihn lange an. Er war ein etwas vierschrötiger und nicht besonders sympathischer Mensch. Schließlich erwiderte er: „Tut mir leid, aber ich kann mich an dich nicht erinnern.“ „Du bist auch in meinem Haus gewesen, um Wein und Tee zu kaufen. In einem großen Steinhaus, weißt du das nicht mehr?“ Bai Liang legte die Stirn in grüblerische Falten. Endlich hellte sich seine Miene auf. „Stimmt, jetzt fällt’s mir wieder ein. Dein Gesicht, ja, ich erinnere mich jetzt wieder, wie ich bei dir eintrat und von dir und deiner schönen Frau empfangen wurde.“ „Schon gut, ich ...“ „Hattest du nicht auch einen kleinen Sohn?“ „Ja. Hör mir gut zu, Bai Liang.“ „Sag mal, ist in deinem Dorf nicht der schwarze Tod umgegangen?“ Der Mann trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er das sagte. „Das ist gewesen“, erwiderte Fong mit einer wegwerfenden Geste. „Wir haben es überstanden.“ „Und warum trägst du so billige, schlechte Kleidung?“ „Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Hör zu, Bai Liang, du mußt mich mit den Obrigkeiten von Xiapu zusammenbringen. Mit irgendeinem Mann, der einflußreich und kompetent ist. Mit dem Stadtvorsteher. Oder mit dem Hafenkapitän.“ „Kennst du denn keinen hier?“ „Ich habe eben nur dich gesehen. Und ich bin selten aus meinem Dorf fortgekommen, wenn, dann auch nur ein Stück nach Süden.“ Bai Liang rieb sich mit der rechten Hand das Kinn. „Schön, das läßt sich arrangieren. Aber ich verlange etwas für meine Dienste. Das mußt du verstehen. Ich bin ein armer Mann und habe mir nie solchen Luxus wie du leisten können. Von einem Steinhaus träume ich nur.“
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Fong hätte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht geschlagen, aber er beherrschte sich. „Meinetwegen“, sagte er. „Aber ich habe im Augenblick kein Geld bei mir.“ „Das ist schlecht.“ „Ich verspreche dir, dich bei nächster Gelegenheit für deine Hilfe reichlich zu entlohnen.“ „Da genügt mir nicht“, erklärte Bai Liang. „Wer sagt mir denn, daß du mich nicht anlügst?“ „Ich habe eine Idee“, sagte Fong mit mühsam bezwungener Wut. „Ich bin mit meinem Pferd hier, einem schönen Zelter. Den lasse ich dir als Pfand, solange ich dich nicht bezahlen kann.“ „Hört sich schon besser an. Und was willst du von den Obrigkeiten?“ „Laß das meine Sorge sein.“ „Gut“, meinte Bai Liang. „Sehen wir uns das Tier an.“ 9. Auf der „Isabella VIII.“ hatte noch immer keiner richtig begriffen, warum die Porträtmaler so eifrig am Werk waren. Aber bei Einbruch der Dunkelheit glitt ein kleines Sampan heran, in dem ein einzelner Mann stand und eifrig wriggte. Dieser Mann — er war jünger als der hohe chinesische Beamte und der hell gekleidete Arzt — suchte das Achterdeck auf und hörte eine Weile schweigend dem zu, was der Beamte ihm mitzuteilen hatte. Danach wandte er sich Hasard zu und sprach ihn auf Portugiesisch an. Portugiesisch beherrschte der Seewolf nicht so gut wie Spanisch, aber die Verwandtschaft zwischen den beiden Sprachen war doch groß, und er verstand fast jedes Wort. „Ich bin Dolmetscher“, erklärte der jüngere Chinese. „Ich wäre schon eher erschienen, aber ich hielt mich außerhalb der Stadt auf und mußte erst durch einen berittenen Boten gerufen werden. Ich bin der einzige in Xiapu, der die Worte der ,Yang kuei tzu` erlernt hat.“
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„Wir liegen also wirklich vor Xiapu“, erwiderte Hasard. „Und was bedeutet dieses, Yang kuei tzu?“ „Fremde Teufel.“ „Das habe ich mir gedacht. Ich denke, es gibt einige Mißverständnisse aufzuklären. Was hat diese Feindseligkeit zu bedeuten?“ Der Dolmetscher hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Ich wäre schon bereit, euch Glauben zu schenken. Sicherlich beteuert ihr eure Unschuld. Doch ich habe nicht so viel Einfluß, daß ich euch helfen kann. Ihr müßt schon allein zurechtkommen.“ „Was habt ihr gegen uns?“ fragte der Seewolf. Er lehnte sich gegen die Five-Rail und verschränkte die Arme vor der Brust. Den hohen Beamten, der samt Gefolge unruhig auf dem Achterdeck auf und abging, beachtete er nicht mehr. Ben, Ferris, Shane, Smoky und Old O’Flynn hielten sich ständig in seiner Nähe auf, Carberry verließ soeben auch die Kuhl und stieg den Backbordniedergang hoch. „An einigen Küstenstrichen ist die Pest ausgebrochen“, sagte der Übersetzer. „Das haben .wir schon bemerkt“, erwiderte Hasard. „Wir sind mit Schüssen von einem Dorf weggejagt worden, bei dem wir landen wollten.“ „Pech für euch ...“ „Übrigens, ich heiße Philip Hasard Killigrew. Meine Männer und ich segeln unter englischer Flagge.“ „Ich bin Feng-yu-sung“, erwiderte der Chinese. Er hatte ein feingeschnittenes, ehrliches Gesicht mit schmalen Lippen und großen, klugen Augen. „Wie weit liegt dieses England entfernt?“ „Noch weiter als das Land der Portugiesen.“ „So. Nun, es scheint so, als hätten ausgerechnet die Portugiesener den schwarzen Tod eingeschleppt. Und der Arzt, ein König der Medizin, hat euch untersucht, ob ihr den Hauch des Todes mit euch tragt.“ „Nein, wir sind gesund“, sagte Hasard. „Das scheint sich zu bestätigen. Die beiden amtlichen Porträtmaler haben die Aufgabe, jeden Fremden zu zeichnen, weil die ,Yang
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kuei tzu` im Reich der Mitte nicht erwünscht sind. Hat einer von euch etwas ausgefressen, dann werden Steckbriefe durch Reiter in alle Provinzen geschickt, wo man eingehend nach dem Betreffenden forscht. Und wer sich etwas zuschulden kommen läßt, der wird hingerichtet, egal, in welche Provinz er flieht — wir finden jeden.“ „Das glaube ich dir“, erwiderte der Seewolf so ruhig wie möglich. In seinem Inneren gärte jedoch die Wut. Ganz so hatte er sich den Empfang denn doch nicht vorgestellt. „Ein ,fremder Teufel’ fällt hier überall auf“, fuhr er fort. „Und wer weiß, was die sogenannten Portugiesener hier schon alles angerichtet haben, verdammt noch mal.“ „Viel Schlechtes“, sagte Feng-yusung. „Deswegen sind wir Weißen unerwünscht. Und wir Engländer müssen es ausbaden, obwohl wir euch nichts, aber auch gar nichts getan haben.“ Hasards Tonfall war jetzt doch leidenschaftlich geworden. Er konnte sich kaum noch im Zaum halten. Diese endlose Prozedur des Untersuchens und Abmalens hatte empfindlich an seinen Nerven gezehrt. Der Dolmetscher sprach mit dem hohen Staatsbeamten, dem „Seidenkittel“, wie Carberry ihn getauft hatte. Es war ein offenbar erregter Dialog, besonders der hohe Beamte benahm sich dreist und auftrumpfend. „Dieser eitle Ganter“, sagte der Profos. „Dem würde ich gern mal richtig meine Meinung sagen.“ Feng-yu-sung drehte sich wieder zu den Seewölfen um. „Lu Hsün sagt, ihr habt ein ,Hei Lien`, ein schwarzes Gesicht, an Bord. Dadurch seid ihr verdächtig.“ „Lu Hsün heißt der aufgeblasene Bursche also“, murmelte Ben Brighton. „Es ist immer gut zu wissen, mit wem man’s zu tun hat.“ „Verdächtig? Wieso das denn?“ fragte der Seewolf verblüfft. „Das wird Lu Hsün euch noch erklären.“ „Wann?“ „Geduld ist Geisteskraft und die erhabenste aller Tugenden“, entgegnete der
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Dolmetscher mit einer angedeuteten Verbeugung. „Jetzt müssen die Porträtmaler erst einmal die Zeichnungen mit den Originalenvergleichen.“ Er wies zu den Zeichnern, die auf der Kuhl damit begonnen hatten, die dünnen Blätter Reispapier zueinander zuordnen. Sie formten einen Stapel daraus. Der eine hob ihn auf die Arme, und dann ging sie herum und der zweite zog jeweils einen Bogen hoch. Über die Ähnlichkeit der Darstellungen herrschte allgemeine Verblüffung. „Die Bilder wirken lebensecht“, sagte der Kutscher. „Richtig plastisch — das ist ja toll.“ „Und meinen Eisenhaken habt ihr auch mitgezeichnet“, sagte Matt Davies zu den beiden Chinesen. „Fein habt ihr das gemacht. Kriege ich mein Bild nun?“ Er griff danach, aber der eine Zeichner steckte das Blatt rasch wieder weg. Inzwischen hatten Hasard, Ben und die anderen vom Achterdeck ihren erhöhten Standort verlassen und hatten sich ebenfalls auf der Kuhl eingefunden. Hasard erklärte, welche Bedeutung die Illustrationen hatten — und seine Männer zogen immer längere Gesichter. Carberry durfte auf sein tuschegemaltes Ebenbild blicken. „Stimmt alles haargenau“, stellte er fest. „Sogar die Narben. Die hättet ihr Kakerlaken ruhig weglassen können.“ „Eitel, Ed?“ fragte Dan O’Flynn. „Ach, Quatsch, mir ist doch langsam alles egal.“ Auch Hasards Narbe hatten die fleißigen Staatsdiener nicht vergessen. Deutlich hob sie sich auf dem Bildnis des ernsten Schwarzhaarigen ab, das ihm da von dem Reispapier entgegenblickte. Hasard gelangte zu der Einsicht, daß es für Siri-Tong doch besser war, bei diesem närrischen Spiel nicht zugegen zu sein. Denn sie wurde in China ja gesucht — wegen der Plünderung des alten Kaisergrabes im Jahre 1575, an der sie allerdings unschuldig war, und wegen des Todes von Fei-lin, den sie gegen ihren Willen auf den Wunsch ihrer Mutter hin
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hatte heiraten sollen, gegen den sie sich gewehrt hatte und der sich beim Sturz auf einen Bambustisch das Genick gebrochen hatte. Oder gab es bereits ein solches Porträt von der Roten Korsarin? Würde man ihr heute, nach neun Jahren Abwesenheit, die alten Geschichten noch anlasten? Sie hoffte, sich durch die Übergabe des toten Mandarins freikaufen zu können, aber jetzt war sie der Mumie beraubt worden. Verdammt, Siri-Tong, dachte der Seewolf, in deinem Heimatland scheinen die Menschen sehr nachtragend und grausam zu sein. Lassen die denn gar nichts durchgehen? * Die Dunkelheit war von der See her in das Städtchen Xiapu gekrochen. Im fahlen Licht des Mondes betraten Fong-Ch’ang und Bai Liang den Hof, auf dem Fong den Zelter zurückgelassen hatte. Das Tier war fort, der Holm schien Fong höhnisch anzugrinsen. „Das kann doch nicht sein“, sagte Fong entsetzt. „Warum bestiehlt man mich?“ „Du hättest das Pferd nicht allein lassen sollen“, erwiderte Bai Liang. „Hier muß man immer mit allem rechnen. Wir sind hier nicht bei dir im Dorf, wo es nur grundehrliche Seelen gibt.“ Der Hohn in seiner Stimme war nicht zu überhören. Fong preßte die Fäuste zusammen, daß das Weiße an den Knöcheln hervortrat. „Komm“, sagte er. „Wir müssen das Tier suchen.“ „Das hat doch keinen Zweck.“ „So hilf mir doch!“ Bai Liang zuckte mit den Schultern. Er ging mit Fong um den Block herum, sie liefen durch Gassen und Straßen, aber von dem Zelter gab es keine Spur. Schwer atmend blieb Fong-Ch’ang schließlich stehen. „Auf was habe ich mich nur eingelassen“, sagte er. „Und das alles, weil ich den armen Männern draußen auf dem Schiff
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helfen will. Es muß doch einen Weg geben ...“ „Sprichst du von den fremden Teufeln?“ „Ja, von denen.“ „Sag bloß, sie sind deine Freunde.“ „Das verstehst du nicht. Was weißt du schon“, sagte Fong unfreundlich. „So? Nun, ich will ehrlich zu dir sein, Fong-Ch’ang. Ihr habt guten Reiswein und Jasmintee bei euch im Dorf, aber wegen des Zelters hast du mich angeschwindelt.“ „Wie meinst du das?“ „So, wie ich es sage“, sagte Bai Liang seelenruhig. „Du hast gar kein Pferd. Nun sieh mich nicht so grimmig an. Ich verzeihe dir ja. Komm, ich führe dich auch so zu den Männern, die hier in Xiapu was zu sagen haben und dich entsprechend weiterleiten. Du willst auf das Schiff der weißen Männer? Nichts einfacher als das. Das hättest du auch gleich sagen können.“ Fong-Ch’ang war überrascht. „Ich – ich wußte nicht, ob ich dir vertrauen kann.“ „Du hast mich völlig falsch eingeschätzt, Komm jetzt, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“ Fong folgte ihm. Er war viel zu verwirrt, um den wahren Sachverhalt zu begreifen. Bai Liang führte ihn durch ein Gewirr von Gassen, so daß Fong jeden Richtungssinn verlor. Kleine Lichter waren in den Häusern angezündet worden, auf vielen Türschwellen hockten Männer. Der Weg, den Bai Liang eingeschlagen hatte, endete vor einem geduckten, langgestreckten Bau, dessen Eingang eine gähnende schwarze Öffnung ohne Tür war. Ein Treppe führte in die Tiefe. „Warte hier auf mich“, raunte Bai Liang. „Ich bin gleich wieder da.“ „Gut.“ Fong-Ch’ang sah erstaunt zu, wie der Mann die Treppe hinunterstieg und in der Tiefe verschwand. Vorläufig kehrte er nicht wieder zurück. Seltsame Gerüche stiegen aus der Finsternis des Gebäudes auf, schweflige Dämpfe — und plötzlich begriff Fong. „Narr“, beschimpfte er sich selbst. „Wie konntest du nur so einfältig sein?“ Bai Liang kehrte nicht zurück, er schien sich einen Dreck um seinen Begleiter zu
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scheren. Dies hier war eine der berüchtigten „Höhlen des Lasters“, in den die Menschen mit entrückten Mienen und glasigen Augen auf den kahlen Böden kauerten und Opium rauchten. Hier sollten die „einflußreichen Männer“ anzutreffen sein, die Fong weiterhalfen? Das war absurd. Alles erschien ihm als reiner Aberwitz, als eine Farce, auf die er sich niemals hätte einlassen dürfen, und in die er doch ahnungslos wie ein Kind hineingestolpert war. Er ging fort und wollte zum Hafen zurückkehren. Im Schutz der Nacht schaffe ich es vielleicht, ein Boot zu nehmen und heimlich zu dem Schiff von Philip Hasard zu rudern, dachte er. Aber es kam anders. Er hatte die nächste Quergasse noch nicht erreicht, da bemerkte er zwei Gestalten hinter sich. Er drehte sich um und vermutete Bai Liang in seinem Rücken, doch es handelte sich um zwei finster aussehende Männer, die er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Fong-Ch’ang schritt schneller voran. Sie beschleunigten ebenfalls ihre Schritte. Fong bog nach rechts in die Quergasse ab, entdeckte an ihrem Ende aber zwei andere Gestalten: Männer, die auf ihn lauerten. Sie standen einfach nur da und warteten, daß er ihnen in die Hände lief. Fong wollte umkehren, doch es war zu spät. Die beiden ersten Verfolger trieben ihn auf ihre Komplicen zu. Jetzt begriff Fong endgültig, was für ein abgekartetes Spiel dies war. Sie wollten ihn überwältigen, wegschleppen, vielleicht auf ein Schiff bringen. Er begann zu laufen. Noch hoffte er darauf, daß ihm der Durchbruch gelingen würde. Aber die Männer hinter ihm waren heran. Er vernahm das Tappen ihrer Schritte und warf sich herum. Sie rückten auf ihn los. Kurze Bambusknüppel ragten plötzlich aus ihren Händen auf. „Laßt mich in Ruhe“, fuhr Fong sie an. „Nicht schreien“, erwiderte der eine grinsend. „Du machst alles nur noch schlimmer.“
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Fong-Ch’ang wich an eine Hausmauer zurück und streckte seine Fäuste vor. „Kommt. Ich habe keine Angst vor euch. Glaubt ihr, daß ich mich kampflos ergebe? Ihr seid an den Falschen geraten.“ Die Kerle schnitten verblüffte Mienen. Dann fielen sie mit ihren Knüppeln über ihn her. Fong tauchte weg, wollte zur Seite ausweichen, aber dort waren jetzt die anderen beiden vom Ende der Gasse. Mit vier Mann drangen sie auf ihn ein.
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„Oben. Ihr braucht ihn nur einzukreisen.“ „Warte, wir holen ihn uns.“ Bai Liang hatte lächelnd die Hand ausgestreckt. „Erst will ich mein Geld, wie bei den anderen Malen, wenn ich euch jemanden zugespielt habe. Habe ich euch jemals betrogen? Ich weiß, daß ihr mich tötet, wenn ich euch hintergehe.“ Anstandslos hatte der Wortführer ihm die Scheine, eine schon vor Zeiten ausgehandelte Summe, in die Hand gedrückt.
* * In China gab es nicht nur das feine Reispapier, auch die Buchdruckerkunst war seit langer Zeit bekannt. So existierte eine Art von Zahlungsmittel, die die Zopfmänner Geldscheine nannten und für deren Erfindung und Herstellung die Barbaren auf dem Kontinent, der Europa hieß, noch einige Zeit benötigen würden. Bai Liang stieg die Stufen aus der „Höhle des Lasters“ hoch und blätterte die Geldscheine immer wieder durch. Er zählte sie und erfreute sich an dem feinen Knistern, das von dem Papier ausging. In der Opiumhöhle waren stets Männer anzutreffen, die sie nicht aufsuchten, um sich mit dem Gift zu betäuben, sondern um Geschäfte besonderer Art zu tätigen. Und es gab einen Ausgang zur anderen Seite hin, von dem Fong-Ch’ang selbstverständlich nichts gewußt hatte. „Das ist der Richtige für euch“, hatte Bai Liang zu den vier Seeleuten gesagt. „Er scheint aus seinem Dorf verstoßen worden zu sein, so wie er aussieht.“ Natürlich hatte er ihnen verschwiegen, daß Fong aus einer Ortschaft stammte, in der der schwarze Tod gewütet hatte. „Ich bin ganz sicher, daß sie ihn weggejagt haben. Kein Hahn kräht danach, wenn ihr ihn mitnehmt. Ich glaube, er wollte sowieso auf einem Schiff anheuern.“ In völliger Verdrehung der Tatsachen hatte er noch hinzugefügt: „Jedenfalls hat er ein auffallendes Interesse für den Dreimaster der fremden Teufel gezeigt.“ „Wo ist er?“ hatte der Wortführer der Seeleute gefragt.
„Es sieht ja nun wirklich so aus, als seien die ersten Formalitäten erledigt“, sagte der Seewolf. An Bord der „Isabella VIII.“ waren Laternen und Talglichter angezündet worden. Sie streuten warmes, leicht zuckendes Licht aus. Hasard trat im Schein der Lampen des Achterdecks auf den Dolmetscher Feng-yu-sung zu. „Ich bitte Lu Hsün untertänigst um die Erlaubnis, -weitersegeln zu dürfen.“ Feng-yu-sung übersetzte es, aber der dickliche Staatsbeamte begann sofort herumzufuchteln und in seiner singenden Sprache zu reden. Der Dolmetscher wartete geduldig ab, bis er mit seinem Lamento am Ende war. Dann sagte er zu Hasard: „Da sind noch eine Menge Fragen offen, behauptet er. Außerdem muß die Ladung eures Schiffes registriert werden.“ „Das kann doch nicht euer Ernst sein“, empörte sich Hasard. „Noch etwas. Wir müssen das schwarze Gesicht noch einmal ganz genau untersuchen.“ „Batuti?“ „Wenn so das Hei Lien heißt: ja.“ „Feng“, sagte Hasard mühsam beherrscht. „So könnt ihr mit uns nicht umspringen. Wir haben alles über uns ergehen lassen, aber jetzt habt ihr keinen Grund mehr, uns aufzuhalten. Was kann der Neger denn für seine schwarze Hautfarbe?“ „Vielleicht ist die Farbe nur aufgetragen. Er ist möglicherweise ein Spion, der sich
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bei uns unter einem Vorwand einschleichen will.“ Ben Brighton lachte auf. „Also, das haut doch jetzt wirklich dem Faß den Boden aus.“ Hasard wußte nicht mehr weiter. Er verfluchte im stillen sich selbst - und die ganze verdammte Reise. Lu Hsün sprach wieder. Feng-yusung übersetzte es den Seewölfen. „Euer Schiff wird in eine kleine Bucht nahe des Hafens verholt. Dort geht es vor Anker, dort wird es weiterhin scharf bewacht - von der großen Kriegsdschunke und von unseren Soldaten.“ Hasard blickte zu den Soldaten, die sich an Bord seiner Galeone befanden. Es waren jetzt gut zwei Dutzend; Kerle in grünlichen
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Gewändern, mit Ledergürteln, an denen Pfeilköcher befestigt waren. Ihre finsteren Mongolengesichter verhießen nichts Gutes, und ihre dünnen langen Speere mit den scharfen Spitzen vermittelten eine deutliche Sprache. Unterhalb der Speerspitzen waren scharfgeschliffene Krummdolche aufgesetzt. Hasard konnte sich nicht zur Wehr setzen. Ehe er und seine Männer die Waffen gepackt hatten, hatten diese Burschen sie zweimal überrannt und mit ihren Speeren und Dolchen durchbohrt. Er mußte sich also fügen. Niemand hatte eine Ahnung, was sie in den nächsten Tagen an Bedrohungen und Verdruß erwartete ...
ENDE