Friedhelm Werremeier
PLATZVERWEIS FÜR TRIMMEL
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE REIHE 02/2358 Herausgegeben ...
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Friedhelm Werremeier
PLATZVERWEIS FÜR TRIMMEL
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE BLAUE REIHE 02/2358 Herausgegeben von Bernhard Matt Neuausgabe der Heyne Taschenbücher 02/2150 und 02/2141 Für diese Ausgabe vom Autor durchgelesen und überarbeitet
Copyright © 1985 by Friedhelm Werremeier Printed in Germany 1992 Umschlagillustration: Foto-Design Johanna Fischer, Rechtmehring Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Kort Satz GmbH, München Druck und Bindung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-05450-4
FRIEDHELM WERREMEIER (Jahrgang 1930) studierte Publizistik in Aachen und war dann Gerichtsreporter bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen. Mit seinem Roman und der Fernsehfassung Taxi nach Leipzig (1970, die erste Folge der Serie ›Tatort‹ in der ARD) wurde er als Kriminalautor bekannt. Er schuf die Figur des bärbeißigen Hauptkommissars Paul Trimmel, der auch in allen Fernsehfilmen im Zentrum der Handlung steht. Friedhelm Werremeier lebt in Bad Bevensen und arbeitet inzwischen hauptsächlich als Drehbuchautor für verschiedene Fernsehserien. Nicht zufällig liegt die Leiche des Erschossenen im Fußballtor – die Leiche eines Mannes mit zwei Namen und einer, wie die Hamburger Mordkommission schnell herausfindet, äußerst zwielichtigen Vergangenheit.
Die Idee zu diesem Roman entstand vor jenem denkwürdigen Tag, an dem sich – vor über eineinhalb Jahrzehnten – der deutsche Fußballfunktionär Horst Gregorio Cannellas zum ›Auspacken‹ entschloß. Der berühmt-berüchtigte Bundesligaskandal, den er damit heraufbeschwor, überrollte die Bundesrepublik dann in den folgenden Monaten und Jahren mit einer solchen Vehemenz, daß den Leuten Hören und Sehen verging; von daher, meine ich, verbot es sich seinerzeit von selbst, bei der Darstellung der erfundenen Korruptionsaffäre die reale Entwicklung außer acht zu lassen. Auf diese Weise ist Platzverweis für Trimmel aus heutiger Perspektive zwar ein ›historischer‹ Roman geworden: fiktives und reales Geschehen der siebziger Jahre, das naturgemäß auch von realen Personen getragen wird, verzahnt sich bis ins Detail. Ungeachtet dessen aber hat die Geschichte sicher nichts von ihrer grundsätzlichen Aktualität verloren: erst in jüngerer Zeit war zu lesen, der Kapitän der belgischen Nationalelf sei unmittelbar vor einem bedeutenden Länderspiel unter Korruptionsverdacht von der Polizei abgeführt worden, und selbst in Staaten des Ostblocks war überraschend davon die Rede, renommierte Spitzenmannschaften hätten versucht, Spielausgänge durch Geld zu beeinflussen. Im übrigen sollte uns die allgemeine Lebenserfahrung, die unter anderem auch tröstliche Gewißheit vermitteln, daß es in dieser Hinsicht sicherlich auch in Zukunft niemals ›langweilig‹ werden wird. Clevere Ganoven spielen (und kassieren) bekanntlich seit eh und je überall dort mit, wo großes Geld umgesetzt wird – und dieses Gesetz des Ungesetzlichem dürfte seine Gültigkeit deshalb gerade im internationalen Profifußballgeschäft nie verlieren. F. W.
1
Montag abend wurde der Wind scharf, und Trimmel flüchtete vor der Kälte in seine Stammkneipe Old Farmsen Inn. Er blieb dort gleich an der Theke stehen – und da steht er nun und stampft heftig mit den Füßen auf, damit sie wärmer werden. »Korn und Bier?« fragt der Wirt. »Was sonst?« Neben ihm stehen ein paar, die reden ziemlich laut gegen die Musikbox an. Trimmel schnappt einen Satz auf: »Der deutsche Fußball ist tot!« »Wer ist tot?« fragt er gewohnheitsmäßig. »Der Fußball«, wiederholt der Mann. »Dieser Bundesligaskandal hat ihm doch den Rest gegeben! Sind Sie nicht auch der Meinung?« »Ich hab’ keine Meinung!« sagt Trimmel friedlich. Darauf der andere, mehr erstaunt als verärgert: »Das gibt’s doch nicht! Noch nie was von den ganzen Bestechungen gehört?« »Doch«, sagt Trimmel, »aber ob Sie’s glauben oder nicht, ich hab’ andere Sorgen!« Morde zum Beispiel, Gewaltverbrechen, Totschläge. Aber das behält er für sich. Wenig später zieht der Mann neben Trimmel Leine, offenbar doch ein bißchen beleidigt. Trimmel sieht auf die Uhr: halb zwölf vorbei. Und dann rückt der nächste näher. Er redet wenigstens deutlicher.
»Ich kann Sie ja verstehen«, sagt er zu Trimmel, »so wie Ihnen geht’s ja vielen. Alle glauben, der deutsche Fußball ist völlig verrottet…« »Stimmt ja auch«, erklärt Trimmel. »Wer am besten schiebt, wird Deutscher Meister!« »So – dann will ich Ihnen mal was sagen…« »Nein!« fleht Trimmel. »Bitte nicht!« Aber der Mann schüttelt den Kopf. »Wenn Sie derart blödsinnige Sachen von sich geben, müssen Sie sich das anhören!« Er winkt dem Wirt. »Zwei Korn!« Der Wirt grinst Trimmel an. »Nun sei mal nicht so… Bobby ist gar nicht so dumm…« »Ach, Scheiße!« sagt Trimmel. »Prost!« »Prost! Und jetzt passen Sie mal auf: die paar großen Vereine, die bei uns abwechselnd Meister werden, sind so reich, daß sie praktisch unbestechlich sind. Da müssen Sie sich bloß mal vorstellen, was die riskieren würden…« »Vielleicht die Vereinsexistenz?« rät Trimmel. »Eben! Und darum würden die bei jedem auch nur andeutungsweise schmutzigen Angebot sofort zum Deutschen Fußballbund laufen und sagen: Hey, wir sollen Spiele verlieren für Geld! Und damit wären sie auch in der Hinsicht die Größten, und die anderen wären am Arsch – kapiert?« Trimmel nickt. »Aber die kleineren Klubs?« »Da würd’ Bestechung im Prinzip funktionieren; hat ja auch ‘n paarmal funktioniert. Aber die meisten sind doch so knapp mit Kohlen, daß sie lieber absteigen, statt sich den Klassenerhalt zu erkaufen und pleite zu gehen!« »Trotzdem… irgendeiner von den Großen könnt’ ja doch mal von sich aus aktiv werden…« »Mann – Sie nerven mich!« sagt der andere erschöpft. »Ich hab’ nie behauptet, daß Korruption unmöglich ist, sondern nur,
daß sie selten vorkommt! Vor allem in Zukunft – und wenn, das haben wir ja gesehen, geht’s immer um einzelne Spieler!« An die Vierzig mag er sein, überlegt Trimmel. Klingt alles ganz logisch, was er da sagt, auch wenn er gerade leicht einen in der Krone hat. Seltsamerweise trägt er zum Bart einen Schlips. »Sind Sie selber Klubmanager?« fragt Trimmel. »Oder Werbemensch?« »Sportreporter beim Mittag. Und Sie?« Gott ja – warum nicht? »Ich bin Polizist!« »Aha!« Es muß tiefere Gründe haben, daß er plötzlich sein Glas abstellt und Trimmel die Hand schüttelt. »Mein Name ist Gerber… Bobby – ich meine, Robert Gerber…« »Trimmel«, sagt Trimmel, »Paul Trimmel…« »Was machen Sie denn so bei der Polizei?« »Außer Fußball fast alles«, sagt Trimmel. »Das heißt, mit der Reiterstaffel hab’ ich auch wenig zu tun…« »Ja, ja«, sagt Gerber zerstreut. »Fußball und Kriminalität gehören jedenfalls der Vergangenheit an!« »Hoffen wir’s!« sagt Trimmel, läßt sich dann aber endgültig nicht mehr lumpen und ordert zwei Korn im Gegengeschäft.
Als zwei Tage später der Schuß kracht, der Trimmel noch Ärger machen wird, köpft der Mönchengladbacher Nationalstürmer Jupp Heynckes gerade ein fürchterliches Ding an die Querlatte. Ein Mann namens Louis Spindel in Hamburg rutscht langsam vom Sessel, und im Berliner Olympiastadion johlt die Masse der verpaßten Gelegenheit nach… Zwei Ereignisse simultan, Hunderte von Kilometern voneinander entfernt: das Fernsehen macht’s möglich. Das Fernsehen überträgt das Fußballeuropapokalspiel Borussia Mönchengladbach gegen Inter Mailand für hundert Millionen Gerechte und Ungerechte, überträgt es in Kneipen
und Wohnzimmer, in die Schlupfwinkel von Mördern und die Stuben von Polizisten. »Was machen wir nun mit ihm?« Ratlos stehen zwei Menschen vor Spindels Leiche, während auf dem Bildschirm der nächste Gladbacher Angriff rollt. »Gut, daß die Glotze an ist – da hat wahrscheinlich keiner was gehört…« Sie sind noch taub von der Detonation des Schusses – taub und hilflos. »Wir können ihn hier ja nicht verfaulen lassen!« Man zeigt den Mönchengladbacher Coach Hennes Weisweiler nach dem Ende der neunzig Spielminuten: ein enttäuschtes, steinernes Gesicht. Ein gutgeschnittener Fußballkrimi. Außer Trimmel hat ihn vermutlich jeder zweite Deutsche gesehen. Gaby Montag, Trimmels Lebensgefährtin, schaltet den Fernseher aus und geht nach nebenan. Dort sitzt Trimmel, ein Bündel Papiere im Schoß. »Was liest du da?« Zu spät erkennt sie, daß er eingenickt war. »Eine… eine Akte!« sagt er, nachdem sie ihn hochgeschreckt hat. »Spannend?« »Mäßig. Wer hat gewonnen?« »Keiner«, sagt sie, »null zu null. Aber das war vielleicht ein Krimi…« »Ich interessiere mich nicht besonders für Krimis«, gähnt Trimmel, »ich meine, für Fußball. Ich geh’ mal schlafen…« »Schlaf gut, Paul! Ich komm’ etwas später…« Es hat sich eingespielt zwischen ihnen. Der Polizist und die Kronzeugin aus früheren Tagen, die aneinander hängengeblieben sind. Von Hochzeit reden sie später, wenn überhaupt. Die Zeiten ändern sich – und bestimmt irrt sich Trimmel, wenn er glaubt, er ändert sich nie. Manchmal denkt Gaby, es wäre nett, wenn er sich gründlich ändern würde. Doch wenn ihr dann einfällt, wie sehr sie noch vor ein paar
Monaten gebetet hat, Trimmel möge der alte bleiben, wird sie wieder ziemlich unsicher. Damals hatte er einen schweren Autounfall. Es stand auf des Messers Schneide, ob er je wieder er selbst werden würde. Er ist es dann geworden, soll sich allerdings nach wie vor schonen. Gaby lächelt, als sie später vorsichtig ins Schlafzimmer kommt und ihn schlafen sieht. Er schläft wie ein Bär. Louis Spindel, bei dessen Tötung das Fernsehen mit einer Fußballübertragung Lärmschutz gegeben hat, wird am nächsten Montag entdeckt. Sinnigerweise in den Maschen eines Fußballtors, auf einem Sportplatz im Stadtpark; jemand hatte sich da trotz des schlechten Wetters rumgetrieben. Das Berliner Tor wird verständigt; Trimmel selbst fährt mit Höffgen hin. Mit dem Scheibenwischer im Schnellgang kämpfen sie sich durch Niesel, Nebel und Nahverkehr, und Höffgen sagt fatalistisch: »Immer kurz vor Weihnachten!« Und da liegt er dann, steif wie ein nasses Brett. Irgend jemand gibt Trimmel den Paß auf den Namen Louis Spindel. »Wir haben nichts verändert!« sagt einer von der Funkstreife. »Da drüben steht der Mann, der ihn gefunden hat!« »Doch, doch – wir haben was verändert!« sagt einer vom Erkennungsdienst. »Beim Paßrausnehmen haben wir die Jacke aufgemacht und dann noch ‘n paar Hemdknöpfe…« Auf die Weise erkennt man links, neben der Brustwarze, die dunkel verkrustete Schußöffnung. »Kein Mantel?« fragt Trimmel. »Ich frier’ nicht!« sagt der Erkennungsdienstler. »Ob die Leiche keinen Mantel anhatte…«, fragt Trimmel geduldig noch einmal. »Die schon gar nicht!« antwortet der Mann und klappert komischerweise mit den Zähnen.
Trimmel winkt den Mann im blauen Trainingsanzug heran, der Spindels Leiche entdeckt hat. »Ich trainier’ hier für dreitausend Meter Hindernis«, sagt der Mensch, ein athletischer Endzwanziger namens Bley, »aber ich bin abgezischt wie ‘n Sprinter, als ich sah, was hier anliegt…« »Na schön«, sagt Trimmel. »Dann trainieren Sie mal schnell weiter…« Louis Spindel also, wenn der Paß stimmt. 46 Jahre alt, geboren in Maastricht in Holland als Sohn deutscher Eltern. Der Paß ist schmutzig, dabei erst zwei Jahre alt. Die toten Augen sind so gelb wie die schimmernden Zähne. Denn Louis Spindel grinst, mit halbgeöffnetem Mund, als ob es im Jenseits was zu lachen gäbe. Fundort und Leiche werden dann fotografiert, aus allen Lagen und farbig, wenn’s später auch noch so grau aussieht. Die Beamten fühlen den Toten und seine Taschen gründlich ab, finden aber weder Messer noch Pistole noch Kamm. Sie untersuchen den Torraum, Schritt für Schritt, und sie meinen, als sie gar nichts finden, daß sie, wegen möglicher Hülsen und Projektile, doch wohl noch den Kampfmittelbeseitigungstrupp und seine Spezialgeräte hinzuziehen sollten. Und bei alledem reden sie dauernd auf Tonband. »… der Kopf ruht mit dem Hinterhaupt auf einen Metallhering, mit dem das Tornetz im Erdreich verankert ist. Er neigt sich so stark zur rechten Seite, daß sich die linke Kinnseite und die Schulterkugel berühren…« Das Seltsame ist, denkt Trimmel, daß der Mann ausgerechnet an einem Ort liegt, wo normalerweise jede Menge Publikum rumsteht, wo aber heute effektiv kein einziger Neugieriger aufgekreuzt ist. Einsamer als auf einem Fußballplatz, auf dem in diesem Jahr sicher nicht mehr gespielt wird, kann ein Mensch gar nicht sein, nicht mal im Tod, und es gibt effektiv keinen Grund für sein sinnloses Grinsen…
Das Gemurmel neben ihm setzt wieder ein. »… wird der Tote, bei dem sich die Leichenstarre voll ausgebildet hat, neben dem linken Torpfosten niedergelegt… bei nochmaliger Ansicht in Rückenlage keine neuen Erkenntnisse… alsdann wird die Leiche gewendet…« Plötzlich aber, glaubt Trimmel, beleben sich die Züge: sekundenlang hat er die Vorstellung, daß Spindel nicht bloß im Tod das Gesicht verzieht, sondern auch zu Lebzeiten gern und oft gelacht hat. Sicher kein umwerfend schöner Bursche, aber einer, mit dem man wahrscheinlich ganz gut an der Theke stehen und ein Bierchen trinken könnte… hätte trinken können, genau gesagt… »Die Leiche wird von einem Beerdigungsinstitut, das in der Zwischenzeit benachrichtigt worden ist, ins Institut für Gerichtsmedizin überführt werden… weitergehende Feststellungen am Fundort müssen vorerst unterbleiben, da die Dunkelheit hereinbricht…« Trimmel schüttelt sich. Eine idiotische Vorstellung, denkt er, ausgerechnet mit einem Mordopfer an einer Theke zu stehen und womöglich noch über Fußball zu quasseln! Ist das wirklich dadurch zu erklären, daß die Leiche, erstens, nach wie vor in einem Torraum herumliegt und er selbst, zweitens, gerade noch tatsächlich an einer Theke gestanden und sich mehr oder weniger dummes Zeug über arme und reiche Klubs und Korruption angehört hat? Höffgen kommt aus dem Funkwagen. »Spindel hat in ‘ner Pension in der Paulinenstraße gewohnt. Da ist er allerdings seit gestern nachmittag nicht mehr gewesen – soll ich nicht gleich mal hinfahren?« Trimmel nickt. Höffgen ist lange genug dabei, um selbst zu entscheiden, ob er da die Spurensicherung braucht oder nicht; er, jedenfalls, fährt mit einem Streifenwagen zurück ins Präsidium.
Unterwegs trommelt er mit den Fingerspitzen gegen die Seitenscheibe: der Spindel, die Theke, der Fußball… immer und immer wieder. Unwillkürlich redet er schließlich halblaut vor sich hin. »Ich hab’ Sie nicht verstanden, Herr Trimmel!« sagt der Polizeimeister am Steuer. Und da, endlich, kann er wieder grinsen. »Momentan versteh’ ich mich selber nicht!« Die Mordaufklärungsmaschine läuft an, zunächst noch etwas zäh und lustlos, ist aber dann nicht mehr zu stoppen. Eine Laborantin bringt Fotos, die noch feucht sind – vervielfältigte Paßfotos von Louis Spindel. Laumen zapft alle Register an, wenngleich er vorerst nichts über den Toten findet. Und nur Petersen und ein paar fremde Kollegen spielen, halb unter dem Tisch, Siebzehn und Vier um Büroklammern; immerhin, auch sie warten darauf, daß der Tod eines wildfremden Menschen sie ereilt. Trimmel ruft die Gerichtsmedizin an. »Spindel, Spindel«, sagt der diensttuende Arzt, »warten Sie mal ‘n Moment… ja, hier sind die Papiere! Gibt’s da was Besonderes?« »Im Grunde nicht«, gibt Trimmel zu. »Wann ist denn die Obduktion?« »Also, normalerweise morgen vormittag…« »Okay«, sagt Trimmel. Was außer einem Projektil soll dabei schon herauskommen? Höffgen meldet sich. »Hier in der Pension ist der Mann bestimmt nicht umgelegt worden. Aber warum ich jetzt schon mal anrufe – erstens hat er über sechs Mille auf dem Konto, zweitens ‘ne Freundin…« Trimmel winkt Petersen: er soll mithören. »… angeblich heißt sie Gerda, und angeblich wohnt sie in ‘nem Eckhaus in den Kolonnaden…«
Petersen legt den Mithörer wieder weg, steht gelassen auf, verschenkt die gewonnenen Büroklammern und macht sich mit einem der Spindel-Fotos gleich auf die Socken. In den Kolonnaden gibt’s derartig wenige Eckhäuser, daß er die in den Seitenstraßen gleich mitnimmt. Es hat weiß Gott schon dünnere Hinweise gegeben, wenn jemand gesucht wurde; Petersen bedauert sich nicht mal selbst. Als er weg ist, fragt Laumen: »Sollten wir nicht schon mal Fotos an die Presse geben?« Trimmel überlegt: schaden kann’s eigentlich nicht. Und so können sich die örtlichen Zeitungen noch am selben Abend ein Bild von Louis Spindel machen, und die Pressestelle am Berliner Tor ärgert sich jetzt schon, daß sie den Reportern, falls die noch anrufen, so wenig sagen kann. Wer kennt diesen Mann? Wer hat ihn bis zum Mittwochabend – der mutmaßlichen, bereits im Stadtpark geschätzten Todeszeit – gesehen? Wer weiß, mit wem er verkehrt hat, außer mit einer Dame namens Gerda? Es ist ein für den Anfang fast schon zu ruhiger Fall. Eine Leiche namens Louis Spindel ist gefunden worden – das ist alles, und das ist dürftiger als eine schwarzgeränderte Anzeige im Abendblatt. Irgendwann sitzt Trimmel allein im Büro. Der Ermittlungsstand, denkt er seltsamerweise, ist momentan allenfalls eins zu null. Aber auch dann, wenn Höffgen tatsächlich schon einen Treffer erzielt hat, ist in dem Spiel noch alles möglich.
2
Genau gesagt hat der tote Spindel, wenn der letzte Bankauszug – der von vorgestern – stimmt, 6143,76 Mark auf dem Konto. »Hatten Sie noch Forderungen an ihn?« fragt Höffgen. Statt fünfzig Pfennig für das Telefonat hat er der Wirtin der billigen Paulinen-Pension ganze dreißig gegeben. »Er hat zwei Monate im voraus bezahlt«, sagt sie. Man soll ja nicht lügen. »So, so«, sagt Höffgen nachdenklich. »Was war der Mann eigentlich von Beruf?« »Im Grunde Penner!« sagt die Wirtin herzlos und sieht neidisch zu, wie Höffgen den Bankauszug einsteckt. Manchmal, ergänzt sie, pennte er noch am Nachmittag um vier. »Aber Nachtwächter kann er auch nicht gewesen sein, denn zweimal hab’ ich ihn abends in einer Kneipe gesehen…« »Mit Gerda?« »Einmal ja, einmal nein… zwei-, dreimal hat er sie übrigens mit hier oben gehabt – was geht’s mich an?« »Eben«, meint Höffgen. »Nichts!« Dann versinkt er in Schweigen. Louis Spindel, denkt er – ein Mann, der seit sechs Wochen hier ist. Zwischen seinem Geburtsort Maastricht vor 46 Jahren und diesen letzten sechs Wochen in Hamburg klafft ein riesiges Loch. Keine Korrespondenz im Zimmer außer den Bankauszügen – ein Kapitel für sich –, kein Foto von Gerda oder überhaupt einem weiblichen Wesen, kein Notizbuch, nichts Persönliches außer einem zweiten braunen Anzug mit leeren Taschen… »War außer Gerda nie jemand hier oben?«
»Also, ich will ja nicht unpäßlich werden« – sie sagt tatsächlich unpäßlich – »und auch nichts Falsches behaupten, aber wenn der wußte, was Bumsen heißt…« »Brrr!« sagt Höffgen. »Was ist denn?« fragt sie mitfühlend. Der Gedanke kommt ihr nicht, daß der Schauder ihr galt, ihrem blaßblauen Morgenrock, den nackten weißen Beinen und der orangefarbenen Perücke. »Ich hab’ manchmal so’n Kratzen im Hals!« sagt Höffgen. Und ohne jede Hoffnung fügt er hinzu: »Sie kennen also keinen, der Spindel näher kannte?« »Doch«, sagt sie überraschend, »einen schon. Der kam jede Woche, jeden Mittwochvormittag. Ich war schon ganz neidisch.« »Wieso das denn?« »Na, weil’s einer war, der gar nicht oft genug kommen kann, wenn Sie wissen, was ich meine…« »Der Pastor von Sankt Pauli?« rät Höffgen. »Falsch!« Da kichert die ausgediente Dirne. »Sie haben vielleicht Ideen!« Ihr macht es Spaß, Höffgen nicht. »Also, wer war’s?« »Sie kommen nicht drauf«, sagt sie; »geben Sie mir ‘ne Zigarette, und ich sag’s Ihnen…« Er gibt ihr sogar Feuer. »Der Geldbriefträger!« sagt sie und lacht sich halbtot. Als sie sich wieder beruhigt hat, fragt Höffgen: »Was ist heute?« »Donnerstag.« »Dann war er gestern hier?« »Natürlich! Sag’ ich ja – jeden Mittwoch…« »Und Spindel war zu Hause?« »Ja, sicher!« »Wieviel Geld hat er denn gebracht?«
»‘n Haufen, wie immer…« »Was heißt hier Haufen?« »Von hundert aufwärts.« Gierig glüht die Zigarette. »Und bestimmt immer ‘ne Mark Trinkgeld!« »Von hundert die Woche kann man aber nicht besonders leben…«, überlegt Höffgen. »Ich sagte doch: mindestens!« betont die Schlampe, die Louis Spindel in den letzten sechs Wochen seines Lebens beherbergt hat. »Ich hab’s nur immer blau schimmern sehen…« Da hättest du mal die nasse Leiche schimmern sehen sollen, denkt Höffgen. »Es war immer derselbe Geldbriefträger?« »Mann, sind Sie schwer von Kapee!« Viel mehr, erkennt er, ist hier nicht zu holen. Petersen auf der Suche nach Gerda. Er fängt in den Gaststätten an: Fehlanzeige – wenn sie trinkt, trinkt sie heimlich, das heißt zu Hause, wo immer das sein mag. Anschließend geht er in die Pensionen links von den Kolonnaden, und das Foto sieht da schon ganz abgegriffen aus. Er klingelt, steigt Treppen, betet sein Sprüchlein herunter, wartet ergeben auf das Kopfschütteln der jeweiligen Pensionswirtin, sagt ›Dankeschön‹ und steigt wieder nach unten. Elfmal schon. Die zwölfte Pension heißt Treuleben, und auf der Treppe zum zweiten Stock liegt ein roter Läufer. Agnes Treuleben öffnet persönlich, eine weißhaarige Dame um die Sechzig, angenehm anzuschauen, und sagt mit angenehmer, dunkler Stimme: »Guten Abend, mein Herr. Was kann ich für Sie tun?« Petersen, den sie wegen seiner leisen Manieren bei der Polizei den Leichenbestatter nennen, geht sofort auf den dunklen Tonfall ein. »Gnädige Frau, wenn ich einen winzigen Moment eintreten dürfte…?«
»Bitte, gern!« Sie öffnet weit die dunkel furnierte Tür. »Kommen Sie doch mit in mein Wohnzimmer!« Sie hat offenbar gleich begriffen, daß es sich nicht um einen Mann handelt, der ein Zimmer sucht. Aber was er auch suchen mag – Agnes Treuleben wird ihm helfen, wenn sie kann. Petersen hat plötzlich das Gefühl: Sie kann. »Gnädige Frau…« Er flüstert fast, denn auch die patentesten Damen sind in einem gewissen Alter leicht zu erschrecken. »Bitte wundern Sie sich nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich von der Polizei komme… eine winzige Frage habe ich nur…« »Stellen Sie sie!« sagt Agnes Treuleben gefaßt. »Ich heiße nämlich Petersen«, flüstert der Leichenbestatter; »ich bin im Moment beauftragt, einen Mann zu suchen, der sicher nichts Böses getan hat, aber von dem wir leider etwas wenig wissen. Wir wissen eigentlich nur, daß er mit einer Dame bekannt oder gar befreundet gewesen sein soll, die angeblich in diesem Teil Hamburgs gewohnt hat…« »Wie hieß die Dame?« Agnes Treuleben begreift rasch. »Gerda«, sagt Petersen. Sie schüttelt den Kopf. »Also, soweit ich mich zurückzuerinnern vermag… bei mir hat keine Dame mit dem Vornamen Gerda…« Sie unterbricht sich. »Aber nehmen Sie doch bitte erst mal Platz, Herr Petersen… darf ich Ihnen einen Kirschlikör anbieten?« »Danke, nein! Das heißt…« Das heißt, er nimmt Platz, und er trinkt sogar mit ziemlich gequältem Vergnügen den süßesten Kirschlikör seines Lebens. Die Wanduhr tickt. Sie tickt langsam – langsamer als andere Uhren. Ältere Damen – Damen im Alter von Agnes Treuleben – haben es nicht mehr so eilig. »Wissen Sie denn nicht, wie der Herr, den Sie suchen, aussieht?« fragt die ältere Dame.
»Doch, doch«, sagt Petersen. »Ich habe ein Bild dabei, ich wollte es Ihnen sowieso gerade…« Dabei holt er das Foto von Louis Spindel aus der Brieftasche und versucht, einen bereits eingetrockneten Biertropfen aus der letzten Kneipe vorsichtig wegzuwischen. Aber da sagt sie schon: »Den Herrn kenne ich!« »Ach!« sagt Petersen, greift vor Überraschung zur Kirschlikörflasche und kann sich gerade noch bremsen. »Entschuldigen Sie…« »Ich bitte Sie!« sagt Agnes Treuleben sanft und schenkt ihm ein. »Wie heißt er denn?« »Zum Wohl!« sagt sie artig. »Tja – das weiß ich nun leider nicht. Aber der Herr hat in den vergangenen Wochen mindestens dreimal eine meiner Mieterinnen besucht. Die Dame hieß allerdings nicht Gerda…« »Sondern?« »Irene… Warten Sie, ich hab’s gleich!« Sie erhebt sich, geht zum reich mit Intarsien verzierten Sekretär und entnimmt ihm ein großes Buch. Einen wahren Folianten von Kladde – ein geradezu vorbildliches Meldebuch, in dem sie methodisch blättert. »Hier…« Irene Senfft. Geb. 21. April 1936. Beruf: Sekretärin. 5600 Wuppertal-Vohwinkel, Am Krähenberg 26. Er schreibt’s hastig ab. »Es sind nicht alle Beherbergungsbetriebe in Hamburg so kooperativ wie Sie, gnädige Frau«, sagt er ernst, »von den Damen in diesem Zusammenhang nicht erst zu reden!« Dabei weiß er nicht mal selbst, ob er ihr ein Kompliment macht oder nicht. Prompt errötet sie ein bißchen. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Es ist nur so – als ich mich seinerzeit unter dem Druck sich plötzlich ändernder Verhältnisse zur Eröffnung
dieser… eh, Pension, entschließen mußte, war es für mich natürlich selbstverständlich…« Petersen nickt. Petersen begreift auch das. Er deutet nochmals auf das befleckte Foto. »Und Sie sind sich wirklich ganz sicher, daß es sich bei dem Besucher von Frau Senfft um diesen Herrn handelte?« »Absolut, Herr Petersen!« »Blieb er auch… über Nacht?« »Nein«, sagt sie, »über Nacht blieb er nie. Er verließ die Pension immer ordnungsgemäß vor Mitternacht!« »Hatten Sie denn den Eindruck, daß zwischen ihm und Frau Senfft nähere Beziehungen bestanden?« »Das ist in diesem Fall eine schwierige Frage«, antwortet Agnes zögernd. »Man könnte ja und nein dazu sagen… Sie duzten sich, das habe ich einmal deutlich gehört, aber ein sogenanntes Verhältnis bestand wohl nicht zwischen den beiden – nein, ganz gewiß nicht…« »Stritten sie sich?« »Ich glaube, ja«, bestätigt die Dame des Hauses überraschend. »Es hat zwar nie Lärm gegeben, aber wenn der Herr bei Frau Senfft gewesen war, dann war sie anschließend immer sehr traurig. Ich glaube, sie hat in ihrem Zimmer geweint…« »Wann ist Irene Senfft ausgezogen?« »Letzten Montag. Sie hatte es mir am Samstag gesagt.« »Wirkte sie… wohlhabend?« »Sie trug einen Mantel aus ausgelassenem Nerzbisam; er war sicher nicht billig…« »Schmuck?« »Wenig. Aber gut. Gold und kleine gute Steine…« »Sie sind eine gute Beobachterin, gnädige Frau!« sagt Petersen anerkennend. »Ich glaube, ich sollte Ihnen die
Wahrheit sagen. Der Mann, der Irene Senfft besucht hat, ist leider verstorben…« »Sie hat es nicht getan!« sagt Agnes Treuleben mit Entschiedenheit. »Was getan?« »Ihn getötet. Was sonst?« »Woher wissen Sie denn« – Petersens Stimme ist plötzlich wie eingefroren –, »daß der Mann ermordet worden ist?« »Weil ich einen sechsten Sinn habe«, sagt Frau Agnes Treuleben bescheiden, »überrascht Sie das?« »Offen gestanden, ja…« Die Wanduhr tickt. »Deswegen bin ich aber noch längst keine Hexe!« sagt Agnes Treuleben und nimmt die Katze, die wie auf ein Stichwort hin aus einer Ecke stelzt, auf den Schoß. »Sagen Sie mir doch die Wahrheit!« bettelt Petersen. »Die Wahrheit…« Sie schüttelt den Kopf. »Herr Petersen, eigentlich kränken Sie mich. Ich haben Ihnen alles gesagt, was ich wußte… Ein Likör auf den Heimweg?« »Wie kommen Sie auf Mord?« »Weil sie ihn liebte, und weil er sie nicht liebte. Unglückliche Liebe, das führt immer ins Unglück. Ich war dreimal unglücklich verliebt, und die Männer sind sämtlich tot.« »Tot…?« »Der erste wollte mich gegen ein Ritterkreuz eintauschen«, sagt Agnes Treuleben sehr sachlich. »Aber der Panzer, der ihm dabei im Weg stand, war stärker. Der zweite verunglückte tödlich mit dem Auto, als er mich besuchen wollte, obgleich ich es ihm verboten hatte. Der dritte…« »Hieß Spindel?« fragt Petersen erstickt. »Nein, Schierling«, sagt sie erstaunt. »Wie kommen Sie auf Spindel?« »Nur so. Wegen Irene Senfft. Es hätte ja sein können…«
»Schierling«, sagt die methodische, dreimal unglücklich verliebte Agnes, »ist an Krebs gestorben. Ihn hätte ich sonst geheiratet!«
Nach Frau Treuleben, die auf solche Weise um ein Haar selbst Petersen geschafft hätte, und der ziemlich grellen Chefin der Paulinen-Pension bekommt Trimmels Truppe es an diesem Abend, kurz nach 21 Uhr, noch mit einer dritten Sorte Wirtin zu tun. Höffgen meldet sich zunächst noch ein zweitesmal, und von da an ist es pure Routine: auch lange nach Feierabend läßt sich, wenn man bei der Kripo ist, ohne weiteres ermitteln, wer derzeit in der Gegend Paulinenstraße als Geldbriefträger zuständig ist. »Der Mann heißt Johannes Feldmann und wohnt im Großen Burstah«, sagt der Oberbeamte von der Post, den Laumen nach kurzem Hin und Her an der Strippe hat. »Sie sollten allerdings nach Jonny fragen – alle Welt kennt ihn unter Jonny, hat man mir gesagt…« »Okay, ich geh’ dann mal hin…« »Ja, Moment noch… was ist denn mit Jonny – eh, mit Herrn Feldmann los?« »Ooch… wir brauchen ihn nur mal als Zeugen…« »He, hören Sie doch – um welche Abteilung handelt es sich, sagten Sie?« Da sagt sich Laumen: soll der Mensch sich doch denken, was er will! Und sagt, bevor er auflegt, fast genüßlich: »Es handelt sich um die Ständige Mordkommission!«
Als er im Großen Burstah klingelt, fällt drinnen polternd ein Stuhl um. Dann geht die Tür auf, und ein Mädchen in Gelb, etwa um Dreißig, guckt ihn erwartungsvoll an.
»Ja, bitte?« »Mein Name ist Laumen – ich möchte gern mal Herrn Feldmann sprechen.« »Der schläft«, sagt sie. »Aber kommen Sie doch rein… ich heiße Tilly!« »Freut mich!« Was soll er sonst sagen? Als sie ihn in die helle Wohnküche führt, wundert er sich überhaupt nicht mehr, daß sie ihm sofort ihren Vornamen mitgeteilt hat: sie hat eine Fahne, als erwarte sie heute noch Staatsbesuch. Außerdem wirkt sie angemalt wie ein Zirkusclown und prall wie eine orientalische Bauchtänzerin, und abgesehen von dem gelben Hauskleid hat sie bestimmt auch kaum sehr viel mehr an. Auf einen BH zumindest hat sie, ungeachtet ihrer in der Tat sensationellen Oberweite, offensichtlich verzichtet. »Na, was seh’ ich denn da?« sagt sie grinsend, als sie Laumens Blick aufschnappt. »Da gucken Sie – was?« Und beugt sich kokett und ungeniert nach vorn. Die Lady ist nicht etwa mittelprächtig hinüber, sagt sich Laumen – die ist total voll! Allerdings hält sie sich kerzengerade und redet wie jemand, der alle Tage trinkt. »Sind Sie Frau Feldmann?« »Aber klar!« sagt sie. »Ganz ohne Standesamt! Ich bin Jonnys Wirtin, ich mach’ ihm die Wäsche, ich bums’ mit ihm… prima, nich…?« »Doch, doch…«, sagt Laumen lahm. »Und damit Sie das nicht falsch verstehen: ich arbeite unheimlich gern für Jonny! Der verdient sich dumm und dusselig, und Trinkgeld is zusätzlich…« Nie wieder, schwört sich Laumen an dieser Stelle, wird er dem Geldbriefträger auch nur eine Mark Trinkgeld geben – das heißt, wenn er ihn überhaupt mal sieht. Wenn das Wort Trinkgeld nämlich je angebracht war…
»Allerdings heißt das nicht, daß ich blind bin!« verkündet Tilly in diesem Augenblick. »Was halten Sie davon – haben Sie auch ‘ne feste Frau?« Vorsichtshalber ignoriert er die Frage. »Wann, meinen Sie, steht Herr Feldmann auf?« »Morgen früh, Mann – der schläft doch dauernd…« »Aber es ist doch erst…« »Ja, na sicher! Weil er so früh raus muß, geht er am Abend mit den Hühnern ins Bett! Aber warum haben Sie es denn so eilig? Wir könnten doch ruhig mal…« »…miteinander reden, meinen Sie?« sagt Laumen rasch. Er erstarrt zum Beamten. »Naaa… na ja – oder einen trinken. Oder… ach, ich zeig’ Ihnen mal was!« Sie trinkt Gin pur, und wenn die Buddel, die auf dem Tisch steht, früher am Abend voll gewesen ist, dann erklärt das einiges. Dann erklärt das auch, daß die unverheiratete Dame des Hauses, sobald sie ihr Glas mit erstaunlich sicherer Hand zum Mund geführt und in einem Zug ausgetrunken hat, plötzlich und unerwartet den Gürtel des gelben Fummels löst. »Gott, ist das warm hier!« Laumen schnappt nach Luft. Und starrt auf ein schneeweißes Alabastergebirge: unter dem dünnen Stoff ist diese Tilly tatsächlich nackt! Kein Hahn würde danach krähen, denkt er nahezu zwanghaft, wenn ich mal eben… »Na…?« sagt sie lockend. Er schafft’s mit letzter Kraft, dienstlich zu werden. »Machen Sie das Kleid sofort wieder zu!« »Wieso denn?« fragt sie strahlend, nach wie vor in schöner Offenheit. »Sie…«, sagt Laumen verzweifelt. »Sie sind betrunken, und ich bin von der Polizei…«
»Ja, und?« sagt sie. »Dürfen Bullen nicht auch mal ‘ne anständige Nummer machen?« »Ich… ich kann nicht!« behauptet Laumen und kommt unversehens ins Stottern. »Klar kannste!« sagt sie. »Nein!« sagt er zähneknirschend. Sekundenlang starren sie sich an – aber dann, wider Erwarten, gibt sie’s auf. Sie schlingt den gelben Gürtel wieder um die Hüfte; einer der beiden schneeweißen Berggipfel, immerhin, bleibt sichtbar. »Sie kennen doch bestimmt einen Herrn Spindel?« fragt Laumen, immer noch mit Herzklopfen. »Nie gehört…« »Wirklich nicht?« »Nee… aber wenn ich ihn kennen würde…« »Was dann?« »Dann«, sagt sie, »würd ich’s Ihnen auch nicht sagen -Sie blöder Frosch!« »Na schön!« meint Laumen. Mittlerweile schwitzt er wie der Teufel und schaut vorsichtshalber immer in eine andere Richtung… aber trotzdem, denkt er, im Grunde ist es ja doch erstaunlich leicht, wenn man sich erst mal wieder an der Kandare hat. »Wecken Sie bitte sofort Herrn Feldmann! Ich muß ihn ganz dringend sprechen!« Der Herr Feldmann aber schläft gar nicht mehr. »Hab’ ich’s mir doch gedacht!« sagt er unvermittelt. Laumen fährt erschrocken herum. Jonny Feldmann steht in Hemd, Hose und Pantoffeln im Türrahmen – ein gestandenes Mannsbild, lauter Muskeln und Zuverlässigkeit. Was hat er gesehen, als er reingekommen ist – was hat er sich gedacht?
»Dacht’ ich’s mir doch«, wiederholt Jonny, »daß mir die Polizei wegen Spindel noch mal Ärger macht! Dieser Arsch – dieses verdammte Großmaul…« Laumen ist wie gelähmt; er bringt nicht mal die Frage heraus, warum Jonny damit gerechnet hat, Ärger zu kriegen. Wenn er den Namen Spindel aufgeschnappt hat, muß er bereits länger wach sein! Mindestens seit ein, zwei Minuten muß er zugehört haben… aber dann muß ihm doch auch klar sein, daß Tilly ihren Strip freiwillig abgezogen hat! »Warum läufst du schon wieder halbnackt rum?« fragt Jonny, eigentlich eher bekümmert als wütend. Tilly zuckt die Achseln. »Ich hab’ den Mann doch bloß reingelassen…« »Aha. Dann laß dich jetzt mal raus…« Der Mensch hat ein wahnsinnig breites Kreuz, und wer immer sich auf die Ausraubung von Geldbriefträgern spezialisieren würde – mit dem hier hätte er seine Last. Laumen rechnet immer noch damit, daß er sich auf ihn stürzen wird, denkt über seine Karatekenntnisse nach, denkt an die Dienstwaffe, die er wie üblich nicht dabei hat… Tilly geht stumm aus dem Raum. Jonny schaut Laumen nachdenklich an. »So, so… sie wollte also mit Ihnen pennen…« »Quatsch!« meint Laumen. »Sie halten ja wohl ‘ne Menge von Ihrer Freundin…« »Ooch, soviel nicht…«, sagt Jonny. Jedenfalls, er ist und bleibt friedlich. »Setzen Sie sich!« kommandiert er. Und dann fährt er fort, als sei er Laumen eine Erklärung schuldig: »Im Grunde kann Tilly nichts dafür – die meint immer, sie muß sofort vernascht werden…« »Ach so – aber warum leben Sie dann immer noch mit ihr zusammen?«
»Tja, wissen Sie«, sagt Jonny fast beiläufig. »Das ist ‘ne Geschichte für sich…« Er nimmt sich einen mehrstöckigen Gin und eine Camel Filter. »Wollen Sie auch eine?« »Danke, ich rauch’ nicht!« »Na, dann eben nicht… Prost! Also: ich hab’ die Tilly mal unheimlich geliebt, auch noch, als ich ihre, eh… ihre Nymphodings…« »Nymphomanie!« »… ja, als ich erkannt hatte, wie verrückt sie nach Männern war. Am Ende hab’ ich sie verprügelt und weggejagt, aber sie ist dann immer heulend zurückgekommen und hat gesagt, ohne mich geht sie ganz vor die Hunde. Na, und da hab’ ich dann gesagt, bleib da, aber mäßige dich in meiner Gegenwart… ja, das ist es wohl. Reicht’s?« »Ja, es reicht…«, sagt Laumen. Er hat einen bitteren Geschmack im Mund. »Eigentlich sind Sie ja…« – das Wort will ihm kaum über die Lippen – »… ein richtiger Menschenfreund, Herr Feldmann…« Jonny lacht, aber es klingt unfroh. »Quatsch! Was hätt’ ich denn tun sollen?« Er trinkt sein Glas in einem Zug aus. »Menschenfreundlich bin ich außerdem von Berufs wegen… wenn einer wie ich vor der Tür steht…« »Richtig!« sagt Laumen. »So wie bei Spindel. Wegen dem bin ich doch hier, wissen Sie ja – haben Sie den eigentlich näher gekannt?« »Er hat mir immer gut Trinkgeld gegeben, da sagt man schon mal ‘n Wort mehr als danke…« »Was denn für eins?« »Gott – übers Wetter. Oder die Politik – er war mir da ‘n bißchen zu links…« »Ach so… und woher kriegte er das Geld?« »Immer aus dem Westen. Mal aus Köln, das weiß ich noch genau, mal aus Düsseldorf, mal aus Aachen…«
»Und wer hat’s geschickt?« »Mensch, woher soll ich das noch wissen?« sagt Jonny kopfschüttelnd. »Meinen Sie, als Geldbriefträger guckt man da so genau hin?« »Na, also – in dem Fall…«, sagt Laumen. »Nee, ehrlich… ich weiß nur, daß es keine Firma war. Immer ‘n privater Absender…« »Aha. Und wieviel hat er gekriegt?« Jonny starrt ihn an. »Das ist Postgeheimnis!« »Mir müssen Sie’s aber trotzdem sagen!« behauptet Laumen. »Müssen tu ich gar nichts!« »Herr des Himmels, nein… aber dann sagen Sie’s mir eben freiwillig!« Jonny überlegt. Und macht dann tatsächlich eine formlose Aussage. »Zwischen drei- und fünfhundert wöchentlich. Wenn er nicht schon so alt gewesen wär, hätt’ ich gedacht, er wär’ Student und kriegt von zu Hause regelmäßig ‘n Wechsel…« »Wieso Wechsel?« »Ich mein’, ‘ne Postanweisung – jetzt sind Sie aber pingelig!« Dann ganz korrekt, eben wie ein Geldbriefträger: »Ich meinte das lediglich als Beispiel für die Regelmäßigkeit dieser Zahlungen!« Just in dieser Sekunde kommt Tilly wieder zur Tür herein, bekleidet oder vielmehr unbekleidet wie zuvor. »Kann ich noch einen Kleinen haben?« Jonny gießt ihr einen gar nicht so Kleinen ein. Er ist immer noch erstaunlich friedlich. »Spindel«, sagt sie dann, mit dem Glas schon am Mund, »ist das nicht dieser Mann, mit dem du hin und wieder zum HSV gegangen bist?« »Paß mal auf«, sagt Jonny, und dabei hat seine Stimme nun doch einen gefährlichen Unterton. »Entweder, du zischst jetzt tatsächlich ab, oder…«
»Ja, ja!« sagt Tilly hastig, und dann macht sie wahrhaftig einen Knicks: eine Debütantin, der man das Ballkleid samt Unterwäsche geklaut hat. Stockbetrunken, aber mit Haltung: »Auf Wiedersehen, die Herren!« sagt sie und macht die Tür endgültig von außen zu. Jonny sagt, immer noch zornig: »Ich wollt’s gerade erzählen… natürlich bin ich mit Herrn Spindel nie ins Volksparkstadion gegangen! Allerdings haben wir uns mehrfach ausführlich über Fußball unterhalten, auch über den Hamburger Sportverein… das ist sozusagen mein Verein, und er war nicht immer so ganz zufrieden mit dem, was der da so bot in den letzten Monaten…« »Bei denen gab’s ja auch lange Zeit schrecklich viele Verletzte«, sagt Laumen, als Jonny stockt. Irgendwas in der Hinsicht hat kürzlich in der Zeitung gestanden. »Na eben!« sagt Jonny. »Das hat Herr Spindel auch durchaus berücksichtigt!« Dann, endlich, fragt Laumen: »Wie kamen Sie eigentlich auf den Gedanken, Sie würden wegen Spindel noch mal Ärger mit uns kriegen?« »Also, das ist doch wohl klar!« sagt Jonny Feldmann, spontan, als habe er darauf gewartet. »Man kennt doch seine Pappenheimer, gerade in meinem Beruf! Wenn da einer in ‘ner miesen Absteige wohnt und regelmäßig die dicken Postanweisungen kriegt – also, da kann man sich’s doch an den zehn Fingern abzählen, daß da irgendwann was hochkocht!« »Louis Spindel ist tot!« sagt Laumen – inzwischen ohne jede Hoffnung, daß Jonny von sich aus fragt, weshalb er hier ist. Morgen wissen’s sowieso alle, sagt er sich fatalistisch. »Er ist ermordet worden! Erschossen…« »Um Gottes willen…« »Ja – und wissen Sie, wo er lag?«
Natürlich weiß er es nicht. Aber er ist annähernd so weiß, wie die Wand hinter ihm mal war. »Er lag in einem Fußballtor«, sagt Laumen, »das müssen Sie sich mal vorstellen! Und wenn Sie dann noch sagen, daß er Experte war…« »Unglaublich…«, murmelt Jonny. »In ‘nem Tor! Louis tot in ‘nem Tor… darf doch alles nicht wahr sein…« »Ist aber wahr!« sagt Laumen. »Seine Sprüche…«, flüstert Jonny. »Ich riech ‘n Tor, wenn der Ball noch an der Mittellinie ist…« Er sieht Laumen verstört an. »Sie – das kann doch kein Zufall sein!« Laumen zuckt die Achseln. »Sagen Sie mir mal, wie Sie reagiert hätten, falls Sie morgen in der Zeitung darüber gestolpert wären…?« »Ja, dann hätt’ ich mich natürlich sofort gemeldet!« Er hat sich rasch wieder gefangen. »Louis war ja ‘n völliger Einzelgänger, und vielleicht bin ich einer von den wenigen, die ihn hier überhaupt gekannt haben…« »Wann haben Sie Spindel zuletzt gesehen?« »Mittwoch«, sagt Jonny. »Da hab’ ich ihm wie immer die Mäuse gebracht; mittwochs hatte er seinen Zahltag. Hat sich kaum mal verschoben…« Soweit stimmt’s tatsächlich, denkt Laumen. »Kannte er Tilly auch?« »Wieso das denn?« fragt Jonny erstaunt. »Er hat sich seine Kohlen doch nicht hier abgeholt… ich hab’ sie ihm gebracht, wie oft soll ich das noch sagen?« »Und Sie sind sich tatsächlich sicher, daß Sie nie mit ihm unterwegs waren?« »Mann, hören Sie auf!« sagt Jonny. »Die Tilly spinnt wirklich! Sie hat ihn nicht gekannt, er hat sie nicht gekannt, er weiß nicht mal von mir was über sie! Mit Weibern hatte er sowieso nichts im Sinn, außer…«
»Außer?« »… außer daß er mal was gemurmelt hat, er wär’ verheiratet. Oder wenigstens gewesen…«
»Na ja«, sagt Trimmel, als seine Truppe später wieder zu Hause ist, zu Haus im Präsidium, im Büro mit den abgewetzten Möbeln und den roten Akten, »für den Anfang ist das doch schon einiges!« Laumen, als letzter reingekommen, schüttelt immer noch den Kopf. »Am Ende frag’ ich Jonny anstandshalber, ob er die nächste Zeit hier ist, und wißt ihr, was er sagt?« »Nee!« sagt Petersen. »Eben!« sagt Laumen. »Nee, sagt er! Und als ich frag’, wieso er denn nicht hier ist, sagt er, daß er am Samstag mit dem HSV zum Punktspiel nach Köln fährt. Gerade in dem Moment ist Tilly noch mal reingekommen und sagt: Ach, wie schön, daß sie das auch mal erfährt! Er dann wieder, jetzt echt kalt wie ‘ne Hundeschnauze: da wirst du dich ja schon nicht langweilen, du alte Nutte!« »Komm – mach Schluß!« sagt Trimmel gähnend. Und hat plötzlich eine Vision: eine seltsame Lawine rollt auf ihn zu – ein riesiger, schmutzigweißer Fußball… »Was ist denn?« fragt Höffgen verdutzt. Trimmel, normalerweise wirklich kein Spinner, hat immerhin instinktiv die Hände hochgenommen. »Ach, nichts!« Trimmel steht auf. »Ist doch ‘ne regelrechte Schmierenkomödie. Weiber und Geld und ‘ne erschossene Leiche im Fußballtor…« Höffgen sperrt Mund und Nase auf. »Glauben Sie, daß da der Hund begraben liegt?«
»Möglich ist alles«, sagt Trimmel sibyllinisch. »Soll mich echt nicht mehr wundern, wenn die nächsten Leichen im Basketballkorb liegen!«
3
Wider Erwarten sind die Berichte in den Freitagszeitungen allenfalls mittelgroß, und das Foto von Louis Spindel ist geradezu enttäuschend klein. Auf die Fragen nach seinem Vorleben und eventuellen Beobachtungen über seine letzten Tage ist sicher kein großes Echo zu erwarten. Manchmal jedoch kommt’s dann ganz anders. Kaum ist Trimmel in seinem Büro, als das Telefon klingelt. Eine heisere, fast schon versoffene Stimme: »Mann, da warte ich bald bis zwei Uhr im Old Farmsen Inn, und wer dann nicht kommt, sind Sie…« »Wer sind Sie denn?« »Gerber vom Mittag«, sagt die Stimme und hustet sich langsam frei. »Der Mensch, der Ihnen neulich was über den Bundesligaskandal erzählt hat…« »Ach so, ja… was liegt denn an?« »Folgendes. Ich geh’ gestern abend so gegen zehn noch mal in die Setzerei, bloß einfach mal so, und mit einemmal, was seh’ ich da?« »Ich bin kein Hellseher!« sagt Trimmel, um diese Tageszeit nicht immer der Freundlichste. »Da seh’ ich auf ‘nem Seitenabzug Ihr Fahndungsfoto, diesen Toten vom Fußballplatz. Diesen angeblichen Spindel… ja, und dann bin ich keine fünf Minuten später schon unterwegs in Ihre Kneipe…« »Kannten Sie Spindel denn?«
»Ja und nein«, sagt Gerber, »das ist es ja gerade! Irgendwas war da mal in puncto Fußball… bloß, Louis Spindel hieß der Mann beim besten Willen nicht!« »Sondern?« »Mausbach«, sagt Gerber. »Paul Mausbach, so weit ich mich erinnere. Ich mein’, er war’ im Vorstand bei ‘nem Regionalligaklub im Westen gewesen, momentan die zweithöchste Spielklasse. Und Sie können mich totschlagen: da war was im Busch, das war nicht hasenrein…« Trimmels Puls kommt plötzlich auf Touren. »Könnten Sie das nicht genauer feststellen?« »Oh, Mann!« sagt Gerber. »Ich muß um zwölf Uhr fünfzig mit dem HSV nach Köln fahren – das ist doch bestimmt nicht so eilig, oder?« »Doch!« behauptet Trimmel. »Ich hab’ hier von Anfang an das Gefühl, daß da wieder mal irgendein finanzieller Hintergrund die Hauptrolle spielt!« »‘ne Schiebung, meinen Sie?« »Ja. Und bestimmt keine ganz kleine!« »Trotzdem, Herr Trimmel…« »Bitte, Herr Gerber… ich geh’ Ihnen die Sache hundertprozentig exklusiv, wenn Sie mir helfen!« »Ehrenwort?« fragt der Reporter sofort. »Ehrenwort!« »Okay«, seufzt Gerber. »Rufen Sie mich später wieder an!« Höffgen läßt sich zur gleichen Zeit bei der Bank zwar bestätigen, daß die über sechs Mille auf dem Konto von Louis Spindel noch vorhanden sind. Für einen großen Schieber allerdings ist das kein sehr üppiger Betrag, denkt er – Trimmel sieht da wohl Gespenster. Dann jedoch fragt er routinemäßig: »Hat Herr Spindel noch weitere Konten bei Ihnen?« »Konten nicht…«, sagt der Beamte zögernd. »Aber da müßten wir schon mal…«
Da müssen sie den Direktor bemühen – ganz so schnell geben selbst deutsche Banken keine Auskünfte über die intimen Werte der Kunden. Anders aber sieht’s aus, wenn der Kunde ermordet worden ist, meint der Direktor. »Also…?« fragt Höffgen lauernd. »Na ja… wir hoffen sehr, daß Herr Spindel ein vernünftiges Testament hinterlassen hat. Er hat bei uns ein Depot über Aktien und Pfandbriefe im Nominalwert von über hunderttausend Mark…« Höffgen starrt ihn an, halbwegs fassungslos. »Woher kommen denn die Papiere?« »Die sind uns von einer Kölner Privatbank übermittelt worden… hinzugekommen ist dann nichts mehr.« »Wann übermittelt worden?« »Vor etwa sechs Wochen«, meint der Direktor. »Er wohne von jetzt an in Hamburg, sagte Herr Spindel…« »So, so…«, murmelt Höffgen. »So reich sah er gestern eigentlich gar nicht aus…« Womit er gar nicht mal nur den Tod meint, den großen Gleichmacher.
In der Gerichtsmedizin schaut Petersen als sogenannter Erkennungszeuge zu, wie der mögliche Fußballschieber Spindel alias Mausbach aufgeschlitzt und zum Teil auseinandergenommen wird. Sein Interesse daran ist mäßig, und viel Neues kommt tatsächlich nicht heraus: die Leiche eines Mannes in mittleren Jahren, ohne erkennbare organische Schäden, unmittelbare Todesursache ein Herzschuß. Nach der Obduktion fährt Petersen ins Präsidium. Er findet ein Fernschreiben der Kriminalpolizei Wuppertal vor und wundert sich kaum noch: Irene Senfft ist weder unter der Adresse Am Krähenberg 26 noch sonstwo in Wuppertal
gemeldet. Die bergischen Kollegen fragen netterweise an, ob in der Angelegenheit weiteres unternommen werden soll. Ja sicher, denkt Petersen – die Sache stinkt mittlerweile tatsächlich gen Himmel! Aber was soll unternommen werden, von wem, und vor allem: wo? Immerhin hat Wuppertal in einem Nachsatz bereits von sich aus hinzugefügt, daß eine Irene Senfft bei ihnen auch früher niemals registriert gewesen ist.
Trotz und alledem, sobald eine Idee – hier die mit der großen Schiebung – erst in der Welt ist, paßt dem Anschein nach plötzlich alles. Trimmel, von Anfang an wirklich ungewöhnlich an diesem Geldbriefträger interessiert, erfährt bei der Post, daß Jonny Feldmann sich abends zuvor zumindest nicht so ganz präzise erinnert hat: der Mann, der sich Spindel nannte, hat pro Woche nicht bloß zwischen drei- und fünfhundert, sondern immer sechshundert Mark gekriegt! Auch hier ist jemand aus einer oberen Etage bemüht worden, ein Oberrat, wenn schon kein Direktor: die Postanweisungen an Spindel, teilt er mit, kamen keineswegs aus unterschiedlichen Städten, sondern allesamt aus Köln. Absender war ein gewisser Gustav Prack, dessen Name hier erstmalig auftaucht. Wohnhaft, angeblich, Elsa-BrandströmStraße 44 – praktisch im Schatten der Zoobrücke. Trimmel gibt den Namen telefonisch an Höffgen weiter. »Um welche Zeit«, fragt er dann, »erwarten Sie Herrn Feldmann von seiner Tour zurück?« Der Postoberrat bedauert: »Er hat heute gar keinen Dienst, wie man mir sagte. Er möchte, als begeisterter HSV-Anhänger, mit seinem Verein nach Köln fahren, wo morgen ein Bundesligaspiel stattfindet.«
»Ach nee…«, sagt Trimmel, der von Laumen schon weiß, daß Jonny Feldmann nach Köln fahren will. »Etwa auch mit diesem Zug zwölf Uhr fünfzig?« »Das weiß ich nicht«, sagt der Oberrat. »Jedenfalls, wenn es sich einrichten läßt, entscheiden wir bei derartigen Gesuchen nicht kleinlich…« »Macht er das denn öfter?« »Nicht daß ich wüßte… bei ihm ist es das erstemal, daß er sich darum bemüht hat – nur deshalb hat man ihn vermutlich gefragt, was er vorhat…« »So, so«, meint Trimmel, »das erstemal…« Er sieht nachdenklich aus dem Fenster. Schmutzig-grau ist der Dezemberhimmel, die bunten Neonreklamen wirken schmierig und verwaschen, Dächer und Türme schimmern stumpf wie verrottetes Blei… ein Hundewetter, seit Tagen und Wochen. Aber nicht nur der Reporter Gerber und der HSV, die’s von Berufs wegen müssen, fahren trotzdem nach Köln, sondern auch Jonny Feldmann, der’s nun in der Tat nicht muß… also, irgendwie, denkt Trimmel, ist das schlicht absonderlich! Der Postoberrat wartet und wundert sich. »Kann ich mal telefonieren?« fragt Trimmel plötzlich. »Immer«, meint er scherzend; »das können Sie bei uns sogar umsonst!« Zunächst ruft Trimmel Gaby an. »Bring bitte gleich mal meine Reisetasche ins Büro!« Dann Gerber beim Mittag. »Sie können mir…« »Sie, ich schaff’s hinten und vorn nicht!« unterbricht der anscheinend total überlastete Reporter, geradezu mit Panik in der Stimme. »Ich hab’ tatsächlich einiges für Sie ausgegraben, aber ich…« »Aber ich fahr’ doch auch nach Köln!« sagt Trimmel. »Wollte ich Ihnen nur auf die schnelle sagen – verpassen Sie bloß unseren Zug nicht!«
Als er aufgelegt hat, sagt der unvermittelt gar nicht mehr so heitere Postoberrat: »Ich hoffe, daß Ihre Aktivität nicht unbedingt Herrn Feldmann persönlich gilt…« »Ach wo!« sagt Trimmel. »Aber da ich mal hier bin: Sie haben doch bestimmt ein Foto von ihm?« »Weshalb denn, wenn er nur Zeuge ist?« »Weil ich ihn vielleicht doch mal was fragen möchte, wenn wir schon im selben Zug sitzen!« sagt Trimmel geduldig. »Oder soll ich ihn ausrufen lassen?« »Ach so – gut, ich laß mal nachsehen…« Fünf Minuten später kann sich Trimmel anhand des Paßfotos aus der Personalakte seinen Zeugen einprägen: eine hohe, bereits stark gelichtete Stirn – in Kürze hat der Mann wahrscheinlich eine Totalglatze. Der ironisch hochgezogene rechte Mundwinkel macht ihn irgendwie durchaus sympathisch. Unverwechselbar indessen wird er durch die ungewöhnlich weit auseinanderstehenden Augen. »Außerdem ist Herr Feldmann etwa an die einsneunzig!« sagt der Postoberrat und erhebt sich zu seiner ganzen nicht minder eindrucksvollen Größe. Er ist offensichtlich heilfroh, daß er diesen sprunghaften Menschen jetzt los wird.
Am Berliner Tor fällt zwar niemand aus allen Wolken, als Gaby die dunkelgraue Reisetasche ins Büro bringt, aber große Augen machen auch hier alle. Trimmel kommt fünf Minuten später, eigentlich bloß, um das Nötigste zusammenzupacken, und wenn Petersen ihn nicht fragen würde, wohin’s denn, bitteschön, heute gehen solle, würden sie es vermutlich erst aus seiner Spesenrechnung erfahren. »Da ist übrigens vorhin noch ‘n komischer Anruf gekommen«, sagt Höffgen zwischen Tür und Angel. »Ein Gastwirt vom Hansaplatz meint, daß er Spindel kennt. Zwar
bloß vom Sehen, aber dafür kennt er einen Mann mit Namen, der öfter mit ihm zusammengesessen hat…« »Und?« »Der heißt Tuffinger… Hermann Tuffinger. Und was den betrifft: nicht bloß, daß er sich Privatdetektiv nennt, sondern ‘n Kollege oben beim Diebstahl hält den auch für ‘n reichlich schrägen Fürsten…« »So, so…«, sagt Trimmel, momentan nur mäßig interessiert. Zehn, zwölf Minuten, immerhin, hat er noch. »Was gibt’s sonst Neues?« »Dieser Gustav Prack ist in Köln ebensowenig zu ermitteln, wie Irene Senfft in Wuppertal«, sagt Laumen. »Who’s who – wirklich ‘ne feine Gesellschaft…« »Ja und?« fragt Trimmel. »Wundert euch das?« Höffgen zuckt die Achseln. Er nimmt sich die vorab telefonisch übermittelten Obduktions- und KTU-Berichte vor. »Draußen im Stadtpark ist weder eine Patronenhülse noch sonst was gefunden worden – Fund- und Tatort sind effektiv nicht identisch. Außerdem war der Schuß zwar kein Nahschuß…« »Sondern?« »…na ja – abgefeuert worden ist er aus höchstens einem Meter Distanz. Kaliber sechsfünfunddreißig… wobei ich mich frag’, ob Sie sich nicht auch vorsichtshalber bewaffnen sollten, wenn Sie jetzt auf die Strecke gehen?« Er bringt es dabei, wider eigenes Erwarten, fertig, todernst zu bleiben und keine Miene zu verziehen. »Na schön…«, sagt Trimmel schließlich. Macht die unterste Schreibtischlade auf, holt seine FN heraus, ebenfalls Kaliber 6,35, kaum größer als ein Handteller, und packt sie zwischen die Klamotten in seine Reisetasche. Seit dem Mordfall Beerenberg, in dem gleich zwei 6,35er eine Rolle spielten, hat er eine merkwürdige Vorliebe für das handliche Kaliber. Wenn
es denn schon angebracht ist, zieht er sie der 7,65er PPK unbedingt vor. Höffgen greift nach einem anderen Bericht. »Es spricht einiges dafür, daß Spindel in ‘ner Wohnung umgelegt worden ist. Am Anzug waren mehrere rote Teppichflusen – Flusen von einer Art Läufer…« »Und?« fragt Trimmel. »In der Paulinen-Pension gibt’s weit und breit keinen Läufer. Schon gar keine roten Teppiche!« »Aber in dem anderen Laden? In dem die… die falsche Irene gewohnt hat?« »Wenn Sie die Pension Treuleben meinen«, sagt Petersen pikiert, als sei es seine Aufgabe, den Geschmack von Frau Agnes zu verteidigen, »da liegen zwar teure Kelims, aber Flusenfänger bestimmt nicht!« »Na gut«, sagt Trimmel. »Dann bleibt mal am Ball!« Es entgeht ihm völlig, daß sich daraufhin nicht nur Höffgen und Petersen, sondern auch Laumen nahezu verstört anschauen.
Zumindest Petersen, der ihn dann zum Bahnhof fährt, nimmt die ungewohnte Aufforderung so wörtlich wie möglich: fummelt sich durch das Gedränge im Mittelfeld der Hamburger City, umkurvt gekonnt die Hindernisse auf dem Weg zwischen dem Berliner und dem Kölner Tor und findet um 12 Uhr 41 haargenau die Lücke in der Mauer der parkenden Autos auf der Kirchenalleeseite. Dann hechtet er nach links und öffnet die Tür. »Ich wünsche Ihnen einen doppelten Punktgewinn, Chef…« Trimmel giftet ihn an. »Was soll der…« Da jedoch ist Petersen, am Ende ebenso unverhohlen wie unverschämt grinsend, schon wieder weg. Das rechte
Verständnis für Trimmels überraschende Rheinreise entwickelt anscheinend niemand. Auf die Weise spart er immerhin die Gebühr fürs Nachlösen im Zug. Unter dem fernen Lärm von Pauken und Trompeten kann er sich seine Fahrkarte nämlich gerade noch am momentan leeren Schalter kaufen.
4
Als auf Gleis 14 der Trans-Europ-Expreß Parsifal einläuft, geben die Lärminstrumente der Fans zumindest vorübergehend Ruhe. Nachdem Uwe Seeler und seine Kameraden die letzten Autogramme gegeben haben, nehmen sie und ihre Betreuer in den reservierten Abteilen vor dem Speisewagen Platz – in einer bestimmten mannschaftlichen Sitzordnung, die dadurch festgelegt wird, wer am liebsten mit wem pokert oder Doppelkopf und Skat spielt oder sich am besten unterhält. Bis Köln, immerhin, ist der Zug nämlich genau vier Stunden unterwegs, die es sinnvoll totzuschlagen gilt. Trainer Klaus Ochs sitzt mit Uwe Seeler, Charly Dörfel und Franz ›Bubi‹ Hönig zusammen – die gewohnte Gruppe der Nicht-Kartenspieler. Ochs erkundigt sich nach der Abfahrt zunächst, ob genügend Plätze fürs Mittagessen reserviert sind; im Grunde, wie er selbst weiß, eine überflüssige Maßnahme. Denn wie immer hat die Geschäftsführung des HSV die Bundesliga-Expedition ihrer Mannschaft perfekt durchorganisiert. Also geht die Truppe zunächst zum Essen und vergißt nicht, auf dem Wege dorthin allen entgegenkommenden Damen ein kesses Wörtchen zuzuwerfen. In der Hinsicht macht außer den älteren wie Uwe Seeler, Willi Schulz, dem mitreisenden Vorstand oder Trainer Klaus Ochs kaum jemand eine Ausnahme.
Trimmel hat den Riesenmenschen, der Jonny Feldmann sein muß, kurz gesehen, sich dann aber erst mal einen Platz in
einem Abteil dicht neben den Fußballern organisiert; dadurch kriegt er von Anfang an einiges an Atmosphäre mit. Die Reise ist für Außenstehende eigentlich ganz komisch, denkt er – und wenn’s ihm mehr und mehr Spaß macht, erkämpft er sich die Nähe der Stars auch im Speisewagen. Robert Gerber, sieht er, gehört als angesehener Hamburger Sportjournalist sowieso zum Verein. Er sitzt mittendrin, hat ihm bislang gerade eben mal zugewinkt, löffelt zwischen Hamburg und Bremen seine Suppe neben dem Trainer und stellt dabei seine Fragen zur Lage. Das Problem vor dem Spiel gegen den 1. FC Köln heißt Klaus Zaczyk, hört Trimmel. Kann der schnelle, schußgewaltige HSV-Stürmer, der dieser Tage bei einem Pokalspiel verletzt worden ist, morgen auflaufen? Zaczyk hat einen Tritt neben die Wirbelsäule bekommen, und dabei ist ein Nerv getroffen worden, der verdammt weh tut. Im Grunde soll er deshalb nicht spielen – nur, ohne ihn sind die Chancen der Hamburger in diesem schweren Spiel von vornherein gleich Null. Trainer Ochs trifft eine Vorentscheidung: wenn’s eben geht und Sportarzt Dr. Fischer es zuläßt, wird Klaus Zaczyk wenigstens anfangen und dann so lange wie möglich spielen. Wenn dann gar nichts mehr läuft, kann man den Bedauernswerten immer noch gegen Charly Dörfel oder den Spieler Memering auswechseln. Ochs zahlt die Rechnung für alle; der eine oder andere genehmigt sich noch einen Steinhäger, ganz wenige leisten sich eine Zigarette. Und einer nach dem anderen verzieht sich ins Abteil, wo die Karten gemischt und Partien aufgelegt werden, bei denen das Geld in Silbermünzen und kleineren Scheinen von Spiel zu Spiel gleich über den Tisch geschoben wird.
Trimmel wartet im Speisewagen, bis Robert Gerber zurück ist und sich zu ihm setzt. Der Reporter trägt ein weißblaues HSVAbzeichen am Revers; das hat er bisher nicht getragen – das gehört hier offenbar doch zum guten Ton. »Na?« fragt Gerber grinsend. »Langweilen Sie sich schon zu Tode?« Trimmel schüttelt den Kopf. Überraschend nicht nur für den Reporter meint er: »Diese Verletzung von Zaczyk – hoffentlich geht das gut!« Gerber staunt: »Schon HSV-Fan geworden?« Da allerdings kommt er aus seiner Fußballwelt zurück. »Was soll’s… sind doch ganz nette Jungen. Und wenn man schon mal damit zu tun hat…« Korn gibt es nicht im Speisewagen, deshalb trinken sie den hier gewöhnlich nicht gerade eiskalten Bommerlunder, dazu ein Fläschchen Bier. »Also«, sagt der Reporter irgendwo zwischen Bremen und Osnabrück, »Ihr Spindel ist tatsächlich Mausbach, da gibt’s absolut kein Vertun! Paulchen Mausbach, wie gesagt; ich hab’ ihn zufällig gerade erst vor ein paar Wochen im Volksparkstadion gesehen, mit einem Riesenkerl übrigens. Deshalb erinnere ich mich so genau – der Name Mausbach war mir da erst wieder eingefallen…« »Und?« »Mausbach war zweiter Vorsitzender und vor allem Kassierer beim VfL Bonsdorf – das ist irgendein Kaff im Bergischen. Und nun kommt’s – seinerzeit war das ‘n reines Wunder, daß ausgerechnet Bonsdorf in die Regionalliga kam; war fast noch spannender als in den letzten Jahren diese Geschichte mit TuS Alsenborn. Die kennen Sie doch, oder?« »Nee«, sagt Trimmel. »Muß ich?« »Also ehrlich«, sagt Gerber vorwurfsvoll, »etwas mehr über Fußball sollten Sie schon wissen, wenn Sie eine Leiche
namens Mausbach haben! Alsenborn ist auch son’ Nest, in dem Fall in der Pfalz – die kamen sogar fast in die Bundesliga, weil sie von Fritz Walter trainiert wurden…« »Ach – der alte Fritz!« sagt Trimmel aufatmend. »Also, den hab’ ich selbst noch gesehen…« »Na, wenigstens was! Jedenfalls ist im Fall Alsenborn niemals einer auf die Idee gekommen, daß da am Aufstieg gedreht worden wäre. Im Fall Bonsdorf dagegen hieß es, Mausbach – also der Kassierer – hätte ‘n paar Vereine im Westen ganz schön geschmiert…« »Ach nee! Von dem Skandal hab’ ich noch nie gehört!« staunt Trimmel. »Können Sie auch nicht!« sagt Gerber. »Es gab da zwar ‘ne Untersuchung durch den Westdeutschen Fußballverband, aber dabei kam so gut wie gar nichts heraus. Bloß Paulchen Mausbach verschwand von der Bildfläche, anscheinend nicht nur als Kassierer…« »…und jetzt taucht er tot wieder auf?« Trimmel sieht nachdenklich vor sich hin. Der Bonsdorfer Fast-Skandal, der geheimnisvolle tote Skandalerfinder, sein geheimes Vermögen – es paßt zwar noch nichts zusammen, denkt er, aber einiges liegt immerhin schon auf einer Linie. »Träumen Sie?« fragt Gerber. Er schreckt zusammen. »Ach wo – aber sagen Sie mal, dieser Mann, der im Volksparkstadion mit… mit Mausbach zusammengesessen hat…« »Der sitzt von hier aus zwei Wagen hinter uns!« sagt Gerber. »Wollt’ ich gerade sagen…« Trimmel nickt. Also doch, sagt er sich – einiges paßt inzwischen ja sogar schon ganz gut! Warum, bitte sehr, hat Jonny so heftig bestritten, je mit Spindel zum HSV gegangen zu sein, wenn er’s doch getan hat?
Sie trinken aus und zahlen, jeder für sich, und dann sehen sie sich den Mann, den Gerber meinte und der tatsächlich Jonny Feldmann ist, aus der Nähe an. Geschüttelt durch eine Kurve des Zuges gehen sie an seiner offenen Tür vorbei, und noch drei Meter weiter hören sie, wie Jonny eifrig mit den anderen im Abteil diskutiert. Worüber? Natürlich über den Rücken von Klaus Zaczyk. Aber wenn sie wüßten, was Jonny Feldmann wirklich denkt! Redet und redet vom Spiel und denkt ununterbrochen an den blutigen Ernst. Sein Problem ist eingesperrt in Hamburg, heißt Tilly, ist mit Konserven versorgt und sogar ausreichend mit Gin. Und er, Jonny, denkt das Problem Tilly, ist in Geschäften unterwegs… Er steht auf und rennt zum Tüll, wie’s im deutschen Westen heißt – zum Klo, weil er denkt, er muß jeden Augenblick kotzen. Dann allerdings muß er doch nicht spucken und geht wieder zurück. Ein Mann kann ziemlich aus der Bahn geworfen werden, sogar im Zug. Als er in sein Abteil zurückkehrt, sind die Burschen es zu allem Unheil leid geworden, über Fußball zu sprechen, und reden statt dessen über Thema eins. »Also, ich hab’ da neulich in Amsterdam ‘ne Mulattin aufgetan – also, was die mit dir angestellt hat, kannst du dir gar nicht vorstellen…« Jonny doch – Jonny kann sich alles vorstellen. Allerdings ist es das schiere Gift für ihn.
Köln Hauptbahnhof. Der Zug hält drei Minuten, der HSV steigt in Ruhe aus. Die Pauken und Trompeten setzen ein, und dazwischen die Rufe auf dem Bahnsteig: »Uwe, Uwe!« Der oftmalige Fußballer des Jahres, wenn auch nicht dieses Jahres,
winkt dem Publikum lässig zu. Ein rheinischer Bahnbeamter macht ihn begeistert an: »Dat ich Sie hier treff, Herr Seeler! Ich hann minge Jong ‘ne Foto mit Autojramm von Ihnen versprochen – zu Weihnachten, verstonn Se dat?« Uwe versteht auf Anhieb. Es ist Freitag, der 10. Dezember 1971. Aber Uwe schleppt selten Fotos mit sich herum, und der Vater wird seinem Sohn nur ein Autogramm schenken können, auf einem Notizbuchblatt. Trimmel macht derweil einen Fehler. Er läßt Feldmann einen winzigen Moment aus den Augen – und weg ist er! Aber ich kann schließlich nicht die halbe Kölner Polizei hinter ihm herjagen, denkt Trimmel wütend, bloß weil er einem, der tot ist, immer Geld gebracht hat! Er schaut zu, wie der Mannschaftsbetreuer das Verladen des HSV-Gepäcks in den vorher gecharterten Bus beaufsichtigt. Der steht auf dem hinteren Bahnhofsvorplatz gegenüber dem Baseler Hof und Trimmel sieht, wie mit den Spielern auch Gerber einsteigt. Er selbst heuert ein Taxi an. »Fahren Sie hinter dem Bus her!« Der HSV zuckelt gemächlich zum Esso Motor Hotel an der Dürener Straße; das Taxi hält mit. Trimmel steigt aus, und aus der Distanz guckt er interessiert zu, wie Trainer Ochs seine Schäfchen verteilt. Einige haben Einzelzimmer, andere – Uwe Seeler und Bubi Hönig zum Beispiel – bevorzugen seit Jahr und Tag ein gemeinsames Doppelzimmer. »Ich hab’ leider nicht reserviert«, sagt Trimmel, als er zu Wort kommt, »wenn Sie vielleicht noch…« Immerhin, er hat Glück. Er kriegt die 609, ein Einzel mit Dusche, und als er auf der Zimmerkarte den Preis liest, wird ihm klar, warum ein an Geld gewohnter Mensch wie Jonny Feldmann eine andere Herberge vorzieht. Wenig später, als sich die roten Trainingsanzüge der Hamburger zwanglos unter die langen Kleider und Smokings
normaler Hotelgäste mischen, sitzt Gerber in der Halle neben einem Betreuer, dem er halblaut gute Ratschläge für die rechte Reizung gibt; er gilt auch hier sichtlich als Autorität. Irgendwann steht er auf und kommt zu Trimmel. »Wo ist eigentlich unser Jonny?« »Wahrscheinlich säuft er«, meint Trimmel. »Ich glaube, der vertilgt ‘ne Menge…« Gerber grinst. »Fußball und Malz, Gott erhalt’s – kommse, wir heben auch einen!«
Daß sich Jonny zur selben Zeit weiter nördlich in einer Kneipe in Weidenpesch tatsächlich die Hucke vollaufen läßt, hilft ihm allerdings auch nicht weiter: er zergrübelt sich das Hirn über einen noch nicht begangenen Mord. Er sieht ihn dauernd vor sich – in allen Einzelheiten. Bis auf eine allerletzte: er weiß noch nicht, wer das Opfer ist. »Zahlen!« ruft er schließlich. Wenig später schnarcht Jonny Feldmann in einem mehr als preiswerten Hotel vor sich hin und träumt nicht mal von Tilly, von der er sonst immer träumt – Tag und Nacht. Es ist die reinste Erholung.
Am Morgen erscheinen die HSV-Spieler – außer ihrem türkischen Torwart Öczan, der immer mit den Hühnern aufsteht – abermals im Trainingsanzug zum Frühstück. Sie greifen reichlich zu, denn von nun an wird’s ernst: von der Mannschaftsbesprechung bis zum Spielende gibt es allerhöchstens noch ein kleines Steak. Klaus Zaczyk, ebenfalls am Frühstückstisch, macht ein äußerst bekümmertes Gesicht. Ein Pokerface allerdings macht er eigentlich immer.
Gegen Mittag wird er in seinem Zimmer nochmals von dem inzwischen eingetroffenen Mannschaftsarzt untersucht und behandelt. Dr. Fischer erklärt anschließend nur: »Er kann erst mal anfangen!« Kurz vor 13 Uhr fährt der Bus vor. Der 1. FC Köln muß seine Heimspiele derzeit wegen des Umbaus der Müngersdorfer Arena in der notdürftig zum Fußballstadion umfunktionierten Radrennbahn austragen, und sogar für den örtlichen Busfahrer ist es gar nicht so einfach, den Zugang zu den Mannschaftskabinen zu finden. Die Zeitung Express läßt Flugblätter verteilen, in riesigen Buchstaben: Kölner, wie lange laßt ihr euch das Provisorium noch gefallen? Die Hamburger Mannschaft prüft den Rasen: der ist soweit okay, aber es gibt ein paar Bedenken, weil man auf den weißen Kunststofflinien sehr leicht ausrutscht. Anschließend ziehen sich Uwe und Co. in den Kabinen, die so komfortabel sind wie ein Luftschutzkeller, gemächlich um, während draußen der Bus mit dem 1. FC Köln eintrifft. An Bord ist natürlich auch das Kölner Maskottchen – der Geißbock, der die Luft schauerlich verpestet. Trimmel strolcht nervös auf den Tribünen herum – und dann, endlich, sieht er Jonny Feldmann wieder. Ein Herkules im dunkelbraunen Dufflecoat, mehr noch als am Abend zuvor: er kauft sich gerade ein Bier gegen die Kälte, die über Nacht noch unangenehmer geworden ist. Von jetzt an läßt Trimmel ihn nicht mehr aus den Augen.
Sie laufen auf: Uwe, Willi Schulz, Hönig, der ehemalige Nürnberger Schorsch Volkert… der HSV – außer Torwart Öczan, der Schwarz bevorzugt – vorwiegend in Rot. Wolfgang Overath, Flohe, Rupp, Simmet… die Kölner fast ganz in Weiß. Sie tändeln mit Bällen herum, und nachdem der Lautsprecher
die Mannschaften bekanntgegeben hat (Zaczyk ist dabei), verkündet er dröhnend: Leise rieselt der Schnee. Der Pfeifenmann, dem HSV-Geschäftsführer Schiefelbein noch in der Kabine einen Vereinswimpel verehrt hat, ruft die Spieler zusammen und macht Seitenwahl. Der 1. FC Köln spielt, von der Trainerbank aus gesehen, in der ersten Halbzeit von links nach rechts. Die ersten Kölner Angriffe wirken viel druckvoller als die Konter der Hamburger; die Weißen stürmen deutlich gefährlicher. Die Hamburger können jedoch, wie ein Sachverständiger zwischen Trimmel und Jonny Feldmann lauthals verkündet, das Spiel durchaus offen gestalten. In der dritten oder vierten Spielminute geht der HSV-Spieler Ripp – ein schlanker Junge, dessen rechter Oberschenkel wie bei vielen Fußballern dicker wirkt als der linke – nach einem Zusammenprall mit einem Kölner zu Boden. Der Schiedsrichter unterbricht das Spiel, die Hamburger Betreuer rennen auf den Platz, Ripp wird behandelt. Trainer Ochs brüllt den neben ihm sitzenden Auswechselspieler Memering an: »Los, mach dich fertig!« Aber noch während sich Memering Anorak und Trainingsanzug auszieht und an der Außenlinie einige Sprints zum Warmlaufen macht, geht das Spiel weiter: Ripp, ein junger, cleverer Mann aus der HSV-Hintermannschaft, ist wieder aufgestanden und spielt humpelnd weiter. Zaczyk spielt immer noch und hat zwei Gewaltschüsse an die Querlatte des Kölner Tors gesetzt, die der Torwart wohl kaum gehalten hätte. Nächste Phase, immer noch in den ersten Minuten: Spieler Ripp macht seinem Trainer Zeichen – er kann doch nicht mehr! Er wird endgültig gegen Memering ausgewechselt; der Lautsprecher verkündet es ohne Schadenfreude, und der Sachverständige in Trimmels Nähe ergänzt, daß die
Hamburger jetzt praktisch mit neun Stürmern spielen. Der einzige Mann mit einem Stammplatz in der Hintermannschaft sei nunmehr der Spieler Sandmann. Ausgerechnet dieser Sandmann wird, kaum daß Memering auf dem Platz ist, vom Kölner Mannschaftskapitän Wolfgang Overath unglücklich mit dem Schuhstollen unter dem Knie getroffen; die Fleischwunde ist zwölf Zentimeter lang. Sie wird noch an Ort und Stelle, direkt hinter dem Tor des HSV, von Dr. Fischer geklammert. Sandmann ist vorübergehend halb ohnmächtig vor Schmerz; er kann auf gar keinen Fall weiterspielen. Trainer Ochs springt auf. »Charly – los!« Und Charly, der außer seinem Anorak und dem Trainingsanzug auch noch sein schickes Toupet ablegen und mit frühzeitig gelichtetem Haupthaar auf den Platz laufen muß – dieser Charly Dörfel, einst eine der großen Hoffnungen unter den Außenstürmern des deutschen Fußballs, hat nicht mal Zeit, sich warmzulaufen! Grau vor Schmerz wird Sandmann auf einer Trage an der Bank vorbei in die Kabine getragen. Trimmels Sachverständiger: »Jetzt spielt der HSV glücklich mit einem Torwart und zehn Stürmern!« Aber ob er darüber, den weiteren Verlauf des vor 15000 Zuschauern ausgetragenen Spieles betreffend, wirklich so glücklich ist? Der HSV hat bereits in der ersten Viertelstunde der Partie zwei Leute auswechseln müssen, und mehr Feldspieler darf er nicht auswechseln. Das bedeutet, daß der angeschlagene Klaus Zaczyk das ganze Spiel durchhalten muß, so oft er sein Pokerface auch vor Schmerz verzieht. Immerhin, er und alle anderen tun ihr Möglichstes. Und bis zur Halbzeit steht es denn auch noch null zu null. In der Pause begibt sich Jonny Feldmann zögernd auf die höher gelegene
Betonplattform, auf der sie den Bierausschank aufgebaut haben; Trimmel geht ihm vorsichtig nach. Jonny geht direkt auf eine Frau in den Dreißigern zu – eine etwas verhärmte, aber noch recht attraktive Blonde in einem dunklen Pelzmantel. Einiges kann Trimmel wie bei einer Pantomime erraten: die beiden, die sich bislang nicht kennen, haben sich zwar verabredet, sind aber so wenig miteinander vertraut, daß sie sich nicht die Hand geben. Dann reden sie und reden und reden, vor allem Jonny; die Frau hört meist nur zu. Da sucht sich Trimmel den nächsten Polizisten. »Hören Sie, ich bin von der Kripo Hamburg…« »Was sind Sie?« fragt der Mann verdutzt. »Kriminalhauptkommissar!« sagt Trimmel. Er zeigt ihm seine Dienstmarke und deutet mit den Augen auf die Frau in dem fast schwarzen Pelz. »Stellen Sie doch bitte gleich mal deren Personalien fest!« »Meinen Sie die da mit diesem großen Mann?« fragt der Uniformierte. Wenn er Kölner ist, hat’s ihm glatt seinen Dialekt verschlagen. Trimmel nickt, halbwegs verzweifelt. Der große Mann – Jonny Feldmann – macht bereits Anstalten, sich zu verabschieden. »Beeilen Sie sich doch! Behaupten Sie einfach, sie hätte verkehrt überholt!« Tatsächlich geht der Beamte daraufhin entschlossen auf die Blondine zu und spricht sie überraschend bühnenreif an. »Kann ich bitte mal Ihren Führerschein sehen?« »Warum das denn?« fragt die Frau erstaunt. »Man hat was gegen Sie vorgebracht…« »Also, ich wüßte wirklich nicht…« »Bitte – Sie fahren doch einen Wagen?« »Ja, schon, aber…« »Was für einen?«
»Einen blauen Käfer…« »Sehen Sie!« lügt der Polizist triumphierend. »Genau davon war die Rede: Sie hätten vorhin auf der Aachener Straße einen dunkelgrünen Ford gefährlich geschnitten! Und jetzt geben Sie mir einfach mal Ihre Papiere – deswegen reißt Ihnen doch keiner den Kopf ab!« Die Frau schüttelt den Kopf. »Es ist Unsinn… aber bitte, wie Sie meinen…« Zu Trimmels Entsetzen geht sie mit dem Polizisten weg: sie hat die Papiere offenbar im Auto. Gleich darauf aber beruhigt er sich wieder: sie kommt todsicher zurück, denn Jonny wartet hier auf sie wie der getreue Ekkehard.
Es fragt sich dann, wer von allen Beteiligten in den nächsten Minuten am meisten enttäuscht ist. Erstens, unmittelbar nach dem Wiederanstoß gibt ausgerechnet der kaltblütige, ausgekochte Hamburger Willi Schulz eine derart riskante Rückgabe an Torwart Öczan, daß ein Weißer dazwischensprinten und fast – aber eben nur fast! – das eins zu null für Köln erzielen kann. Zweitens, im Gegenzug erzielt Uwe Seeler das erste Tor des Spiels – ein zauberhaftes Kopfballtor, das der Schiedsrichter aber zum großen Ärger der Hamburger Kolonie wegen angeblicher Abseitsstellung nicht anerkennt. Drittens, der Polizist kommt zurück und geht als erstes zu Jonny Feldmann, der das Spielgeschehen zuletzt kaum noch verfolgt hat. Sie reden kurz miteinander, und dann stampft Jonny mit dem Fuß auf, zerknüllt sein Programm und rennt weg wie ein angestochener Eber. Der Polizist kommt zu Trimmel. »Wo ist die Frau?« fragt Trimmel, wenngleich er es sich längst zusammenreimt.
»Die mußte plötzlich weg. Ich sollte dem Mann Bescheid sagen – Mann, war der sauer…« »Und Sie haben… Sie haben sie…« Er bringt den Satz vor Zorn nicht zu Ende. »Was wollen Sie denn eigentlich?« fragt der Kölner Beamte. »Ich sollte doch bloß ihre Personalien feststellen, und genau das hab’ ich…« »Sie haben sie laufenlassen!« sagt Trimmel endlich, grollend und puterrot. »Hören Sie mal«, sagt daraufhin der Beamte, »wenn Sie tausendmal Hauptkommissar sind – ich hab’ Ihnen hier ‘n Gefallen getan, ohne groß zu fragen. Aber wenn Sie meinen, wir sollten da lieber offiziell einen auf Amtshilfe machen… also, eines sag’ ich Ihnen, Sie können sich Ihren Scheiß jederzeit auch im Präsidium…« »Unsinn!« sagt Trimmel sofort. Er bringt immerhin ein wenn auch reichlich schiefes Grinsen zustande. »Ich hab doch bloß gemeint… ach, kommen Sie, vergessen Sie’s – lassen Sie doch mal sehen…« Zögernd, immer noch stocksauer schlägt der Beamte sein Notizbuch auf. Trimmel liest die letzte beschriebene Seite, und im selben Moment glaubt er, daß er verrückt wird. »Wo ist denn… geben Sie mir mal Ihren Stift…« Olga Mausbach, notiert Trimmel. Bonsdorf, Bergischer Kreis… Bardenberger Straße 9… geboren am… Führerschein Klasse III, Nummer… Wahr und wahrhaftig – Olga Mausbach persönlich! Verrückt geht’s auch auf dem Spielfeld zu: je länger die Partie läuft, desto deutlicher wird es, daß der sogenannte Unparteiische eine Art zwölfter Mann für Köln ist. Dem Hamburger Willi Schulz zeigt er die gelbe Karte; das mag noch angehen, weil der einem Kölner wirklich mehr als heftig
zwischen die Beine gegangen ist. Aber als zwei Spieler des 1. FC zusammenprallen, ohne daß ein Hamburger in der Nähe ist, gibt dieser wahrhaftig unglaubliche Schiedsrichter Freistoß für die Platzherren; über eine derartige Ungerechtigkeit johlen sogar die Kölner Zuschauer. Charly Dörfel, immerhin, leistet sich, von dem Schwarzkittel unbemerkt und insofern ungestraft, eine herrliche Einlage. Er schreit einem Kölner, der in aussichtsreicher Position vor dem Hamburger Tor steht, zu: »Jib her, ich donn em rin!« Und der Kölner, der auf den Tonfall reinfällt, gibt ihm den Ball… Das Publikum lacht sich tot. Dann aber geht der HSV in diesem schnellen Spiel mit fliegenden Fahnen unter: drei sogenannte Abstaubertore gegen die Hamburger innerhalb von nur zwanzig Minuten, drei zu null für Köln. Dreimal fand, aus dem Gewühl heraus, Rupp die Lücke und traf ins Netz – ausgerechnet Rupp, Kölns bis dahin schlechtester Stürmer. Zaczyk kann nicht mehr, macht aber dennoch weiter, und der für Hamburg spielende Däne Ole Björnmose geht in einem Anfall von blinder Wut plötzlich nach vorn, obgleich er Deckungsaufgaben erfüllen soll. Trainer Ochs springt auf und brüllt ihm zu: »Geh nach hinten – bist du wahnsinnig!« Björnmose brüllt zurück: »Ist doch scheißegal, wie hoch wir verlieren!« Endlich der Schlußpfiff. Es ist ziemlich finster; die ganze zweite Halbzeit war das Flutlicht an. Aber mal ehrlich: am Ende, denkt Trimmel, war’s kaum noch mit anzusehen. Gemeinsam mit Gerber besteigt er dann zwar noch den Intercity Toller Bomberg, mit dem der HSV nach Hause fährt, geht in den Speisewagen und bestellt ein Bier. Unmittelbar vor dem ersten Halt – Wuppertal-Elberfeld – aber wirft er, zum Erstaunen des Reporters, fünf Mark auf den Tisch, nimmt die Tasche und geht zum Ausgang.
Robert Gerber ist ihm auf dem Fuß gefolgt. »Weshalb steigen Sie denn hier aus?« »Ach – ich hab’ da was Privates vor…«, sagt Trimmel unbestimmt. »Bei Nacht und Nebel?« »Ja…« »Hat das was mit dem… mit dem Fall zu tun?« »Vielleicht…« Der Intercity hält ohne Ruck, und er klettert auf den Bahnsteig. »Rufen Sie mich aber sofort an, wenn Sie wieder in Hamburg sind!« sagt Gerber drängend. »Denken Sie daran, was Sie gesagt haben – das ist meine Story!« »Mach’ ich!« verspricht Trimmel. Aber da hat sich die automatische Tür schon geschlossen. Spät in der Nacht, nach zweimaligem Umsteigen, erreicht er Bonsdorf. Mit ihm steigen nur noch zwei sportliche junge Männer aus dem Nahverkehrszug, und er erinnert sich, daß er sie mindestens in Wuppertal, wenn nicht sogar in Köln schon gesehen hat. Dann lösen sich zwei vielleicht zehnjährige Jungen, die längst ins Bett gehören, aus dem Dunkel und stürmen auf die beiden zu. »Autogramm, Herr Lowinski!« bettelt der eine und hält dem blonderen der beiden Typen einen Block und einen Kugelschreiber hin. »Hau ab!« sagt Lowinski ungnädig. »Mensch, hab’ dich doch nicht so!« sagt der andere. »Komm, Knabe!« Er, wenigstens, bleibt stehen, holt seinen eigenen Stift aus der Windjacke und malt dem glückstrahlenden Jungen sein Autogramm auf den Block. »Danke, Herr Hecker…« »Alles klar!« Er und Lowinski steigen in einen am düsteren Bahnhof geparkten Mercedes und fahren davon. »Wer war das?« fragt Trimmel den Jungen.
»Hecker und Lowinski«, sagt er unsicher, »die sollen unseren Verein verstärken…« Dann läuft er wie ein angestochenes Kalb hinter seinem Spezi her, der bereits in einem Fußgängertunnel verschwunden ist. Und Trimmel marschiert los – einfach dahin, wo die meisten von insgesamt nur wenigen Lichtern leuchten. Schließlich erreicht er einen Gasthof mit dem Namen Kickers Eck; im Parterre befindet sich offenbar die wichtigste Disco im ganzen Bergischen Land, und es kommt Trimmel fast wie ein Wunder vor, daß sich in ihrem Flackerlicht und bei all dem Lärm eine Wirtin findet. »Haben Sie ein Zimmer?« schreit Trimmel. »Einzel?« schreit sie zurück. Er nickt, und daraufhin nickt sie ebenfalls. Er bringt die Tasche auf das kleine, muffige Zimmer, erkennt auf den ersten Blick, daß er hier ohne Stimulans keine Minute schläft, macht daher auf dem Absatz kehrt und trinkt ein letztes Bierchen am Tresen – wie die Fußballfans, obgleich er sich’s gerade wieder abgewöhnen wollte. Falls ihn einer von den zahllosen Halbstarken ringsum Opa nennt, kann er’s so und so nicht verstehen. Das Schlimmste in dem Laden allerdings, sagt er sich und hat das idiotische Gefühl, selbst beim Denken schreien zu müssen, ist diese Wahnsinnsflackerbeleuchtung. Wer sich hier öfter rumtreibt, gerät automatisch ins Zwielicht. Zufall, daß Louis Spindel alias Paul Mausbach hier lebte?
5
Morgens nimmt er ein Taxi. Die Bardenberger Straße zieht sich halb um Bonsdorf herum, die Nummer 9 ist ein kleines, eigentlich aber recht einfallsreiches Einfamilienhaus. Vor der Tür, tatsächlich, steht ein blauer VW Käfer. Ist das der Standard großer Schieber im nationalen Fußballgeschäft? Beziehungsweise ihrer Witwen? Zehn nach neun: reichlich früh für einen Beileidsbesuch am Sonntag. Trotzdem, er läutet, und nur Sekunden später öffnet die Frau von gestern die Tür. »Trimmel«, sagt er. »Frau Mausbach…?« Sie nickt. »Bitte – kommen Sie rein!« Es sieht so aus, als habe sie mit seinem Besuch gerechnet. Olga Mausbach trägt heute ein schlichtes, graues Wollkleid und wirkt sehr perfekt, aber auch sehr viel jünger. Sie kommen in eine schmale Diele mit einer ausgesparten Garderobennische; an einer Querstange hängt ihr Pelz. Zur Rechten dann der Wohnraum, mit modernen Sesseln und einem fast schon wieder modernen Nierentisch. Ein Gummibaum, der im deutschen Westen bekanntlich besser wächst als in den Tropen. Zwei recht gute impressionistische Drucke, einige Fotos, aber nirgendwo ein Pokal oder eine Urkunde – nirgends ein Gegenstand, der an Fußball erinnert. »Ich möchte Ihnen in aller Form meine Anteilnahme zum Tode Ihres Mannes zum Ausdruck bringen!« sagt Trimmel – fast, aber eben nur fast so gekonnt wie Petersen. »Danke, Herr…« »Trimmel!« wiederholt er.
»Danke, Herr Trimmel!« Dann, immerhin, läßt sie wenigstens einen Hauch von Argwohn erkennen: »Sie sind doch von der Polizei, oder…?« »Ja, natürlich… Kripo Hamburg. Aber wenn ich dazu gleich mal fragen darf – weshalb haben Sie sich eigentlich nicht bei uns gemeldet?« »Ich?« Ihr Erstaunen wirkt echt. »Herr Feldmann stand doch schon mit Ihnen in Verbindung…« »Ach nee!« sagt er, seinerseits verblüfft. »Der Geldbriefträger Feldmann? Der hat Sie also auch schon – na ja, benachrichtigt…?« »Er hat mich angerufen«, sagt sie und setzt sich. »Ich war hinterher wie… ja, wie gelähmt…« »Wann denn?« »Freitag vormittag, ungefähr gegen zehn. Er sagte mir, daß er sich mit mir in Köln treffen müsse… es gebe nach dem Tod meines Mannes einiges zu bereden. Vor allem in geschäftlicher Hinsicht.« Dann sieht Olga Mausbach Trimmels düsteres Gesicht und fragt erschreckt: »Was ist denn? Hätte ich nicht mit ihm reden sollen – stimmt da was nicht?« »Doch, doch…«, lügt Trimmel. »Was wollte er denn im einzelnen?« »Er sagte, er habe meinen Mann kennengelernt, indem er ihm regelmäßig Geld brachte. Und Louis hätte ihm gesagt, wenn ihm mal was passiere, solle er – Herr Feldmann – das Geld an mich auszahlen, für den Fall, daß es weiter käme. Ich habe das gestern natürlich abgelehnt…« »…natürlich!« nickt Trimmel, inzwischen doch so gekonnt wie der Leichenbestatter. »Jedenfalls haben Sie sich also mit ihm getroffen?« »Ja… auf seinen Wunsch hin im Kölner Fußballstadion. Es war alles ein bißchen hektisch…«
Da hat sie recht, denkt er; außerdem sagt sie, zumindest bis dahin, die Wahrheit. »Wie wär’s, wenn Sie mir das alles mal der Reihe nach erzählen?« »O Gott«, sagt sie erschrocken. »Alles…?« »Versuchen Sie’s…«, schlägt er vor. Da schaut sie auf die Uhr, seufzt, greift nach einer Zigarette, läßt sich von Trimmel Feuer geben und erzählt ihm, anfangs noch etwas stockend, dann aber immer flüssiger tatsächlich eine der seltsamsten Geschichten, die er je gehört hat. »Wie Sie sicher wissen, lebten mein Mann und ich seit einiger Zeit getrennt…« »Na ja«, sagt er, »es kommt immer wieder mal vor, daß man sich… eh, auseinanderlebt…« Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Nein, nein, das war’s sicherlich nicht! Jedenfalls war ich der Überzeugung, daß wir nach annähernd dreizehn Jahren noch überraschend gut verheiratet waren – trotzdem sagte er mir vor zwei Monaten aus heiterem Himmel, er sei fürchterlich überarbeitet und müsse unbedingt mal andere Luft schnuppern. Er hatte unbefristeten und unbezahlten Urlaub genommen und versprach, sich zu melden, sobald er etwas Abstand gewonnen hätte…« »Und Sie nahmen das einfach hin?« »Nein, nein – ich hatte ihm schon gesagt, daß ich die Idee für verrückt hielt. Außerdem hatte ich von Anfang an ziemlich böse Ahnungen, und auch das sagte ich ihm. Aber wenn er – ich meine, wenn Louis sich was in den Kopf gesetzt hatte, war effektiv nichts zu machen. Er fuhr also an einem Morgen in aller Herrgottsfrühe weg…« »Mit dem Zug?« fragt Trimmel. »Ja – und mir fiel dann praktisch noch am gleichen Tag die Decke auf den Kopf. Ich wurde fast verrückt, bis diese Karte
aus Hamburg kam…« Sie holt eine farbige Elb- und St.-PauliAnsicht aus dem Sekretär. Liebe Olga, liest Trimmel, ich habe mich entschlossen, eine Zeitlang hier zu leben – es bekommt mir ausgezeichnet. Ich hoffe, daß es auch Dir gut geht. Bis zum nächstenmal! – Keine Unterschrift, keine Adresse. »Ich bin noch am gleichen Tag losgefahren und zum Hamburger Einwohnermeldeamt gegangen – ich wußte ja, wie penibel er in Behördensachen war. Und dann stand ich vor ihm – ich glaube zwar, daß er sich freute, aber er hätt’s bestimmt am liebsten gehabt, wenn ich mit dem nächsten Zug wieder weggefahren wäre. Außerdem…« »Moment, Moment…«, unterbricht Trimmel. »Sie wußten also, daß Ihr Mann sich nicht als Mausbach, sondern als Spindel anmelden würde?« Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe mich von vornherein nach beiden Namen erkundigt. Es gab dann zwar viele Paul Mausbach, aber nur einen Louis Spindel…« »Aha…« Er sieht sie nachdenklich an. »Sie selbst nannten ihn ja wohl immer nur Louis?« »Ja. Ich mochte Louis lieber als Paul…« »Und wie nannte er Sie?« fragt Paul Trimmel mit ausdruckslosem Gesicht. »Wieso?« fragt sie. Aber dann begreift sie. »Ach so – wegen Irene Senfft! Frau Senfft ist eine Freundin von mir aus Berlin. Ich habe mir ihren Namen ausgeliehen, als Louis darauf bestand, daß ich in Hamburg nicht nur in eine andere Pension zog, sondern selbst da nicht als Olga Mausbach wohnte…« Sie greift abermals nach einer Zigarette. »Er hatte in der Hinsicht schon immer einen Tick; am Ende konnte er offenbar kaum noch anders, als sich dauernd zu verstecken und unter anderem Namen zu leben…«
Trimmel muß plötzlich heftig gähnen – die Disco-Nacht war arg unruhig. »Entschuldigung…« »Können Sie mir denn überhaupt noch folgen?« argwöhnt Olga Mausbach. »Ich geb’ mir die größte Mühe«, sagt Trimmel ehrlich. »Aber sehr leicht macht Louis es einem tatsächlich nicht.« Sie besteht darauf, Kaffee zu kochen; er begleitet sie in die Küche. »Hatte Ihr Mann eigentlich eine Schußwaffe?« erkundigt er sich beiläufig. »Ja. Seit einigen Jahren…« »Was für eine?« »Eine ziemlich kleine. Eine Pistole, glaube ich… eigentlich eine sehr kleine…« »Ach!« Sein Interesse wird sofort größer. »Vielleicht eine Sechsfünfunddreißiger?« »Keine Ahnung«, behauptet sie und sieht anscheinend fasziniert zu, wie die braune Brühe durch den Filter läuft. »Davon versteh’ ich nichts…« »Schade…«, meint Trimmel. Immerhin, überlegt er, wenn die Waffe tatsächlich sehr klein war, kann es im Grunde kein größeres Kaliber gewesen sein. Und unter dem gibt es eigentlich nur noch die .22er beziehungsweise 5,6 Millimeter. »Was wollte Ihr Mann denn mit der Waffe?« »Also, auch da fragen Sie mich zu viel. Er hat sie einfach mal mitgebracht und dann wohl auch mitgenommen – ich habe sie jedenfalls nicht mehr gesehen, nachdem er Bonsdorf den Rücken kehrte…« Sie gehen zurück in den Wohnraum. Der Kaffee ist stark und glutheiß. Trimmel zündet sich eine schwarze Zigarette an. »Wieso wohnte Ihr Mann in Hamburg überhaupt als Spindel?« »Weil er Spindel hieß, genaugenommen!« sagt Olga Mausbach überraschend.
»Ach nee«, sagt Trimmel. »Vielleicht erklären Sie mir das doch mal näher…« »Louis Spindel«, erklärt sie bereitwillig, »war sein richtiger Name. Nach Kriegsende mußte er aus Maastricht flüchten, weil er in Holland als Kollaborateur gesucht wurde. Was insofern wohl Unsinn war, als seine Eltern praktisch aus Deutschland eingewandert und wirklich erst kurz zuvor naturalisiert worden waren…« »Dann also umgekehrt gefragt: wie kam er denn nun auf Paul Mausbach?« »Seine Mutter war eine geborene Mausbach. Er nahm eine Geburtsurkunde von ihr mit und gab sich in Deutschland als uneheliches Kind aus. Irgend jemand hat ihm dann in der damaligen verrückten Zeit einen Paß auf den Namen Mausbach gegeben, in Jülich oder in Düren…« Etwas zwielichtig war er offenbar doch schon immer, denkt Trimmel, auch bevor er nach Bonsdorf kam. Momentan allerdings behält er’s für sich. »Zwei Jahre später«, sagt Olga, »kam er auf die Idee, sich einen zusätzlichen Paß als Louis Spindel zu besorgen. Das hat er dann mit seinen richtigen Papieren bewerkstelligt, hat er mir eines Tages erzählt…« So viel zur Bevölkerungsstatistik. »Es gibt also… es gab eine Person mit zwei Namen?« Sie nickt, und diesmal wirkt es fast schuldbewußt. »Definitiv – warum?« »Ich weiß es nicht«, behauptet sie trotz und alledem abermals. »Ich weiß nur, wie er es gemacht hat. Er war ja extrem ordentlich, auch mit seinen zweierlei Papieren. Hier in Bonsdorf war er als Mausbach gemeldet, und die paarmal, als der Spindelpaß verlängert werden mußte, meldete er sich vorübergehend rechtzeitig in Köln an und ging dann jeweils
ein paar Wochen später zum Kölner Paßamt… dort ging anscheinend immer alles sehr glatt…« »Aber das ist doch teuer!« sagt Trimmel. »Wieso? Das bißchen Paßgebühr?« »Das Zimmer, mein’ ich! Damit er in Köln eine Adresse nachweisen konnte, mußte er sich doch zeitweise ein Zimmer mieten – das kostet Geld!« Olga Mausbach schaut ihn groß an. »Also, Geld hatte Louis eigentlich immer!« meint sie dazu, als sei’s das Natürlichste von der Welt. Auf Verlangen holt sie ein paar Akten herbei: Angestellt war Louis Spindel – natürlich unter dem Namen Paul Mausbach – als Hauptbuchhalter bei der örtlichen Tuchweberei Scheuer & Sohn. Er hat das auf gut eine halbe Million geschätzte Anwesen bis auf die letzte Mark abbezahlt, eine Lebensversicherung zu Olgas Gunsten über immerhin achtzig Mille abgeschlossen, und an Pension hat Olga gut zweieinhalbtausend im Monat zu erwarten; Not also steht nicht ins Einfamilienhaus. »Sagt Ihnen der Name Prack was?« fragt Trimmel betont beiläufig. »Nie gehört…« »Auch gestern nicht?« »Wieso gestern?« »Von Herrn Feldmann vielleicht…?« Da fällt bei ihr der Groschen. »Ist das der Herr, von dem Louis angeblich Geld bekommen hat?« Trimmel nickt. »So, so – aber den Namen…« »Prack!« wiederholt er. »…also, den Namen hat mir Herr Feldmann wirklich nicht genannt!«
Mehr ist hier momentan nicht zu holen. »Haben Sie eigentlich Kinder oder nahe Verwandte?« Sie schüttelt den Kopf. »Kinder wollte Louis nicht, und in seiner wie in meiner Familie ist, soweit ich weiß, längst alles verstorben…« »Dann kriegen Sie wohl noch weitere Hunderttausend«, sagt Trimmel. »Wertpapiere von Louis in Hamburg… die Bank sucht noch den richtigen Erben…« »Aha!« sagt sie, zuckt aber nur die Achseln, als interessiere es sie kaum. Da startet er eine erste echte Attacke. »Genaugenommen hat Louis ja ziemlich viel auf die Beine gestellt…« Sie begreift sofort. Und sie nickt. »Inzwischen frage ich mich ja auch, ob er nicht ein paar… na ja, Nebengeschäfte machte…« »Und?« fragt er. »Ist Ihnen was eingefallen?« »Leider noch nicht…« »Frau Mausbach«, sagt er, unvermittelt aggressiv, »irgendwas muß da gelaufen sein! Und wenn wir schon mal davon ausgehen, daß bei Louis nicht alles ganz koscher war, kommen wir sehr schnell auf den nächsten Punkt. Daß nämlich alle krummen Geschäfte, die er gemacht hat, mit Fußball zu tun gehabt haben müssen – mit diesen ganzen verdammten Skandalen, diesen Bestechungen!« »Also, davon weiß ich nur vom Hörensagen. Ich glaub’s einfach nicht, daß Louis…« »Meine Güte – lügen Sie sich doch nicht selbst in die Tasche!« sagt Trimmel laut. »Das nimmt Ihnen doch zumindest in Westdeutschland keiner ab! Nach allem, was hier damals gelaufen ist, im Zusammenhang mit diesem Bonsdorf er Aufstiegsskandal…« »Da sollte Louis nur was angehängt werden!« behauptet sie. »Dahinter steckten vereinsinterne Querelen und Ärger mit dem
Verband. Louis war seinerzeit Schatzmeister beim hiesigen VfL… Fußball war schon immer sein Hobby. Aber zurückgetreten – zurückgetreten ist er von sich aus, einfach, weil es ihm am Ende zu läppisch war…« »Trotzdem, Frau Mausbach – in dieser ganzen Geschichte ist so viel von Fußball die Rede, daß ich da nicht mehr an Zufälle glaube! Ein äußerst korrekter Beamter wie der Geldbriefträger Feldmann, ein fanatischer Fußballfan offenbar, findet es anscheinend völlig normal, serienweise Urkundenfälschungen ins Auge zu fassen – zu Ihren Gunsten, zugunsten der Witwe eines ehemaligen Fußballfunktionärs! Er bestellt Sie zu einem Bundesligaspiel in ein Fußballstadion, um Ihnen dieses krumme Geschäft vorzuschlagen, bei dem er bestimmt auch noch Prozente kassieren will…« »Das stimmt nicht!« sagt sie. »Lassen Sie mich ausreden – das geht doch geradezu uferlos weiter! Ihr Mann, der gerade umge… ich meine, ermordet worden ist, hat zu Lebzeiten zwei Namen und sogar zwei Pässe gehabt – ja, und dann frag’ ich Sie: ob Louis nun zu Recht oder nicht in diese angebliche Korruption verwickelt war – so ganz zufällig kommt man eigentlich selten ins Gerede! Und ganz ohne Gegenleistung hat Ihr Mann die Postanweisungen aus offenbar dubiosen Quellen wohl auch nicht dauernd gekriegt – und wenn ich dann noch daran denke, daß seine Leiche in ‘nem Fußballtor lag, dann ist das doch…« »Was sagen Sie da?« fällt Olga Mausbach ihm plötzlich heftig ins Wort. »In ‘nem Fußballtor!« wiederholt er. »Wußten Sie das vielleicht nicht?« »Nein«, sagt sie, fast tonlos. »Aber das… das ist ja ungeheuerlich…« Trimmel, sofort hellwach, lehnt sich im Sessel zurück. Die große Rede bricht mittendrin ab, und er wartet – zum dritten- oder viertenmal…
»Lassen Sie mich mal überlegen«, sagt sie schließlich leise. »Einmal, als Louis betrunken war, hat er tatsächlich was von einer etwas… eh, zwielichtigen Idee erzählt, die mit Fußball zu tun hatte… wenn er angetrunken war, prahlte er sehr gern, müssen Sie wissen…« Er nickt, scheinbar wieder voller Verständnis. Inzwischen eindeutig besser als Petersen. »Das, was er sagte, hat er bestimmt nie realisiert. Aber bitte – meist müsse man ja nur ein einziges Spiel verschaukeln, meinte er sinngemäß. Und dann sei’s ja schwachsinnig, die ganze Mannschaft, also elf Mann hoch zu bestechen…« Da sperrt er Mund und Nase auf. »Aber da kommt doch sonst überhaupt keiner in Frage!« »Doch, doch«, sagt sie. »Einer schon. Der Schiedsrichter!« Schiedsrichter sind in aller Regel schwarz gekleidet, stören durch schlechtes Stellungsspiel häufig den Spielfluß, kriegen gelegentlich Wadenkrämpfe und pfeifen auf einiges. In erster Linie, dachten bis zu diesem Augenblick Trimmel sowie sicherlich der allergrößte Teil der deutschen Fußballwelt, pfeifen sie auf Geld. Vom Gasthof Kickers Eck aus versucht er, die Redaktion des Mittag beziehungsweise Gerber zu erreichen – vielleicht kann der ihm ein paar Takte mehr über Pfeifenmänner erzählen. Dann aber, als sich niemand meldet, fällt ihm ein, daß heute Sonntag ist, und er legt auf und wählt neu. »Hallo…?« schreit Höffgen durch die wie immer wahnsinnig laute Musik im Hintergrund. »Mach das Ding doch mal leiser!« »Ach, Sie sind’s«, schreit er. »Moment…« Sekunden später fragt er normal laut: »Wo sind Sie denn?« »In Bonsdorf«, sagt Trimmel. »Gibt’s was Neues?«
»Also, das ist ja ‘n Ding…«, sagt Höffgen. »Ich hab’ Ihnen doch von diesem Tuffinger erzählt, diesem komischen Privatdetektiv… den sollten wir ja beschatten…« »Wer wir?« Höffgen sagt immer wir, wenn er es nicht selbst gewesen ist. »Laumen«, meint er leichthin. »Jedenfalls geht dieser Tuffinger heute morgen zum Hauptbahnhof und kauft sich ‘ne Fahrkarte… Raten Sie mal, wohin!« »Nach Bonsdorf!« sagt Trimmel. »Erraten!« sagt Höffgen glücklich. Dann beschreibt er den Mann: mittelgroß, Stirnglatze, trägt heute einen braunen Mohairanzug und einen verschlissenen Kamelhaarmantel… richtig unauffällig, wie Sherlock Holmes persönlich. »Falls Sie ihn zufällig sehen…« »Okay – ich versuch’s!« Gleich nach dem Gespräch geht Trimmel zum Bahnhof. Der als einzige Anschlußmöglichkeit für einen Schnellzug aus Hamburg in Frage kommende Nahverkehrszug trifft um 15 Uhr 03 in Bonsdorf ein. Im Moment ist es 14 Uhr 48. Trimmel steigt in die dritte von drei vor dem Bahnhof stehenden Taxen. »Wir werden gleich einen Mann verfolgen…« »Nicht mit mir!« sagt der Fahrer von oben herab. Aber dann sieht er nach rechts und hat Trimmels Hundemarke direkt vor Augen: Kriminalpolizei Hamburg. »Wenn Sie sich weigern«, hört er, »behindern Sie eine Amtshandlung!« »Ich doch nicht!« sagt der Mann, plötzlich strahlend. Dann grinsen sie sich an wie zwei Schuljungen, die soeben beschlossen haben, ihren Lehrer zu vergiften. Gleich darauf kommt der Zug. Und mit ihm tatsächlich: Tuffinger! Der Mann mit der Stirnglatze in dem wirklich recht schäbigen Kamelhaarmantel trägt nur eine Aktentasche unter dem Arm, dazu noch eine wenig zum Mantel passende
schwarze. Er sieht nicht nach rechts oder links und nimmt sich das erste Taxi. Das zweite wird auch gleich belegt. »Los!« sagt Trimmel. »Hinter dem ersten her!« Zunächst ist es einfach. Der Sonntagsverkehr ist normal; man kann einem anderen Wagen mit einigem Abstand leicht folgen, ohne daß jemand aufmerksam werden könnte. Aber dann, als es in Richtung Ortsrand geht, wird der Verkehr dünner und das Risiko größer. »Ist das die Richtung Bardenberger Straße?« fragt Trimmel. »Haargenau!« sagt der Fahrer. Trimmel überlegt. »Kennen Sie Ihren Kollegen in dem Taxi da vorn?« Er kennt ihn gut, sagt er, und der Mann fährt auch bestimmt zum Bahnhof zurück, wenn es nicht eine Fahrt nach auswärts wird. »Es wird keine Fahrt nach auswärts!« sagt Trimmel. »Biegen Sie gleich rechts ab, lassen Sie ihn sausen, fahren Sie zurück zum Bahnhof!« Denn erstens, denkt Trimmel rechtens, warum soll dieser Tuffinger ausgerechnet nach Bonsdorf fahren, um von dort aus eine Fahrt nach auswärts zu unternehmen? Und zweitens, wen anders sollte er hier besuchen als Olga Mausbach? Die bedauernswerte Witwe, die plötzlich innerhalb von zwei Tagen schon den dritten Mann kennenlernt? Während sie am Bahnhof auf die Rückkehr des Fahrers warten, der Tuffinger gefahren hat, sagt Trimmels Fahrer mahnend: »Die Uhr steht schon auf sechzehn Mark, Chef!« »Na und?« sagt Trimmel. »Wollen Sie ‘ne Anzahlung?« »Ach wo! Ich dachte nur…« »Was denn?« Der Fahrer nimmt sich ein Herz. »Sie sind doch wegen – wegen Fußball hier, oder?«
Trimmel sieht ihn an und sagt nichts. »Wegen Lowinski«, erklärt der Mann unsicher, »Lowinski und Hecker…« »Ach so – diese beiden Spieler?« »Ja, ja…« Pause. »Sollen ja Geld genommen haben, in der Bundesliga. Deshalb wollen sie unbedingt hier ‘n Vertrag haben. Als ob sie hier sicher wären…« »Na schön«, lügt Trimmel, »ich bin wegen Lowinski und Hecker hier!« Wieder eine Mark mehr auf dem Taxameter. »Gibt’s hier in Bonsdorf ‘ne Funktaxizentrale?« »‘ne halbe«, sagt der Fahrer. »Wenn hier jemand telefonisch ein Taxi bestellt, ruft die Zentrale einen von unseren Standplätzen an. Davon gibt’s drei.« Diesmal aber muß die halbe Zentrale gar nicht erst ein geschaltet werden. Gerade jetzt kommt Tuffingers Fahrer zurück, und Trimmel geht mit seinem Fahrer zu ihm. »Hör mal zu, der Herr hier ist von der Kripo – wohin hast du den Mann vorhin gefahren?« »Bardenberger neun«, sagt der andere prompt. »Um fünf soll ich ihn wieder abholen – aber was soll das, wollt ihr mir die Tour vermasseln?« »Nee, nee«, sagt Trimmel. »Muß ich bloß wissen. Hat er unterwegs was erzählt?« »Kein Wort!« beteuert der Fahrer. »Dann holen Sie ihn um fünf ab… aber wehe, wenn Sie ihm sagen, daß einer nach ihm gefragt hat!« Im Grunde könnte er ganz zufrieden sein, denkt Trimmel müde. Spindel-Mausbach ist tot, aber der Fall lebt wie kaum ein zweiter in der letzten Zeit. Jonny, Olga, Tuffinger, Gerber – Stichwort Bonsdorf, Stichwort Fußball, Stichwort Schiedsrichter. Möglichkeiten,
Ansatzpunkte und Hilfstruppen die Menge – wenn er den Fall nicht löst, sollte er wirklich vorzeitig in Pension gehen. Um 17 Uhr will Tuffinger bei Olga abgeholt werden. Um 17 Uhr 46 geht der Anschlußzug zum Intercity nach Hamburg – dem gleichen IC, den Trimmel gestern verlassen hat. Er kann also seinen Fahrer entlassen. Er läßt sich die Rechnung über 19,80 DM geben und gibt eine Mark Trinkgeld aus eigener Tasche. Dann geht er ins Bahnhofsrestaurant und überlegt sich, ob er sich den Vogel greifen soll oder nicht, wenn er gleich, gegen zwanzig nach fünf, angeflattert kommt. Ein Bier, aber kein Entschluß. Zehn nach fünf. »Zahlen!« Die Kellnerin kommt nicht. »Zahlen, bitte!« Da kommt sie sofort. Sieh an – manchmal hilft’s! Aber einen Entschluß hat er immer noch nicht gefaßt. Ziemlich genau um zwanzig nach kommt das Taxi mit Tuffinger auf dem Bahnhofsvorplatz an. Trimmel läßt ihn aussteigen und sieht zu, wie er im Bahnhofsvorraum herumschlendert und alte Plakate liest. Dann geht er auf ihn zu. Von hinten. »Hören Sie…« Tuffinger dreht sich blitzschnell um, als erwarte er einen Angriff. »…ich hätt’ gern mal mit Ihnen gesprochen!« »Worüber?« fragt Tuffinger mit ziemlich hoher Stimme. »Na ja… wollen wir nicht ‘n Bier trinken?« »Ich wüßte nicht… außerdem geht mein Zug gleich…« »Vielleicht über Fußball?« lockt Trimmel. Instinktiv vermeidet er den Namen Mausbach. »Wieso wollen Sie denn mit mir über Fußball reden?« fragt Tuffinger argwöhnisch. »Sind Sie betrunken?« Er will ihn einfach stehenlassen. Da faßt Trimmel ihn am Arm. Der Vorraum ist leer. Und mit einemmal schlägt Tuffinger mit der rechten Handkante so
heftig auf Trimmels Unterarm, daß ihm der Muskel herausspringt und ihm vor Schmerz die Tränen kommen. »Lassen Sie mich in Ruhe!« schreit Tuffinger. Rennt hinaus, springt ins nächste Taxi und ist verschwunden. Ihn verfolgen? Kein Entschluß. Trimmel massiert seinen Arm und denkt, daß Tuffinger nach Wuppertal fährt; dort kann er direkt in den IC steigen. Und dann doch ein Entschluß: Laß ihn einsteigen! Denn das Wort Polizei war noch gar nicht gefallen, als der Detektiv flüchtete. Könnte es sein, daß er vor dem Fußball mehr Angst als vor der Polizei hat?
Diese Frage beantwortet Olga Mausbach eine halbe Stunde später, wenngleich etwas umständlich. »Sie erinnern sich vielleicht, daß ich Ihnen schon am heutigen Vormittag gesagt habe, ich hätte von diesen ganzen Fußballskandalen so gut wie keine Ahnung. Sie haben es mir dann geglaubt – das jedenfalls war mein Eindruck. Aber dieser Herr Schulz vorhin hat mir bis zuletzt nicht geglaubt, daß ich von irgendwelchen Machenschaften in bezug auf Louis und Fußball nichts weiß!« »Wieso Herr Schulz?« fragte Trimmel überrascht. »Schulz aus Hamburg – so hat er sich vorgestellt. Er müsse mich zum Stillschweigen verpflichten, sagte er; er arbeite in einer höchst geheimen Sache für den DFB, die vielleicht auch mit dem Tod von Louis zu tun haben könnte…« »Und?« fragt er kopfschüttelnd. »Ich sollte ihm den Namen des Mannes sagen, der Louis seinen letzten Auftrag gegeben hat. Dafür wollte er mir zehntausend Mark zahlen…« »Verrückt!« Er überlegt sekundenlang. »Der Mann heißt Hermann Tuffinger und ist Privatdetektiv!«
»Tatsächlich?« Dann nickt sie. »Im Grunde hatte ich ja von Anfang an ein dummes Gefühl. Einmal weiß ich gar nicht, von welchem Auftrag oder Auftraggeber er redete, zweitens zahlt der DFB ja wohl sicher keine Schmiergelder, wenn er rauskriegen will, wer welche gezahlt hat…« »Ach!« sagt Trimmel, und ein erster, leiser Argwohn keimt mit einemmal in ihm auf. »So weit sind Sie mittlerweile doch schon im Bilde…?« Sie überhört es. »Zum Schluß war der Mann regelrecht wütend und fuhr mich an, ich möge mich nicht dumm stellen. Er kenne doch Louis, beziehungsweise, er habe ihn gekannt – der hätte nie die Klappe halten können und seiner Ehefrau mit Sicherheit was erzählt…« Sie zündet sich eine Zigarette an. »Wenn das noch lange so weitergeht, fange ich noch echt an zu rauchen! Ich kann das Wort Fußball langsam nicht mehr hören… Schließlich ist Louis ja nicht von einem Fußball erschossen worden!« Mehr ist nicht aus ihr rauszuholen, erkennt Trimmel wenig später – und unter dem Strich, sagt er sich, ist es erheblich weniger als erwartet. »Ich hoffe, daß wir bald mehr wissen!« sagt er dennoch, wenn auch nur ziemlich halbherzig. »Ich halte Sie auf dem laufenden…« »Auf Wiedersehen, Herr Trimmel!« nickt Olga Mausbach. »Ihnen wenigstens kann man ja wohl vertrauen…« Ihnen nicht! hätte er fast gesagt – nicht mehr, gnä’ Frau! Aber er verkneift sich’s gerade noch. Er steht dann abermals in der kühlen Bonsdorfer Nachtluft und wartet auf das Taxi, das sie ihm bestellt hat. Heute käme er allenfalls noch mit einem Sonderflugzeug nach Hause, überlegt er – und wo, bitte, sollte das starten? Nachdem er nochmals vergeblich versucht hat, Gerber zu erreichen, stört er Laumen den Abend und gibt die voraussichtliche Ankunftszeit von Tuffinger durch. Einer mehr
mit einem Aliasnamen, denkt er und stellt sich vor, wie der angebliche Herr Schulz im IC nach Hamburg sitzt und sich dauernd fragt, wen er da wohl am Bonsdorfer Bahnhof auf den Arm gehauen hat. Und ob hier, ansonsten, nicht er auf den Arm genommen wird.
6
»Bleiben Sie noch?« fragt die Wirtin vom Kickers Eck, montags gegen zehn. »Wahrscheinlich«, sagt Trimmel. »Leider!« Aber auf die Gefahr hin, daß er sich ein neues Hemd kaufen muß, wenn er noch länger in Bonsdorf rumlungert: er will endlich wissen, was in dem Kaff – außer Fußball – gespielt worden ist. »Wo ist hier eigentlich der Fußballplatz?« »Sie meinen das Bonsdorfer Stadion?« fragt die Wirtin halb stolz, halb pikiert. »Von mir aus das Stadion…« Er kann zu Fuß hingehen, sie beschreibt es ihm. Es gibt Orte, da ist der Fußball heute noch König. Bonsdorf zum Beispiel… Bonsdorf ist nicht groß, und das Stadion schon gar nicht: allenfalls fünfzehntausend Zuschauer. Aber alles piekfein: Tribüne, Aschenbahn, ein satter, grüner Rasen. Und einen Trainer haben sie auch: der scheucht seine Mannen kreuz und quer über den Platz, und der arme Mann im Tor soll immer drei Bälle auf einmal halten. Der VfL Bonsdorf hat einen guten vorderen Platz in der Regionalliga und rechnet sich eine Chance für die Aufstiegsrunde zur Bundesliga aus. Das bringt Geld, auch wenn es mit dem Aufstieg nicht auf Anhieb klappt – und deshalb wird hier hart trainiert. Man hört die rauhen Kommandos, das dumpfe Klatschen der Schüsse schon von weitem. Trimmel öffnet unverschlossene Tore, geht durch Gänge und über Aschenbahnen und schaut zur Tribüne hoch: zwanzig oder dreißig Leute sitzen in Grüppchen herum und sehen
stumm, aber fachmännisch zu, wie der Ball läuft. Trimmel ahnt nicht, daß er von der Tribüne aus beobachtet wird – und daß sich jemand über seine nächste Amtshandlung nicht nur wundern, sondern halbtot lachen wird. Denn er hat keine Ahnung, was sich auf einem Trainingsplatz gehört. Er denkt sich, daß das hier noch lange dauern kann, und daß er seine Zeit nicht gestohlen hat. Also marschiert er unverfroren direkt auf den Platz, und die Aufmerksamkeit der Zuschauer konzentriert sich in diesem Moment ganz auf ihn. Typisch Trimmel. Wenn er nicht weiß, wo’s entlanggeht, marschiert er geradeaus. Er marschiert auf den Spieler zu, der ihm zufällig am nächsten steht. »Sind Sie schon lange hier in Bonsdorf?« fragt er ihn ohne Umschweife. »Drei Jahre!« sagt der Mann. Dann rennt er Trimmel glatt über den Haufen, weil ihm gerade ein Ball zugespielt wird, mit dem er flugs in Richtung Tor sprintet. Die Mannschaft trainiert in Grün. Trimmel rappelt sich wieder hoch und fragt den nächsten Jungen im grünen Bonsdorfer Dreß, Rückennummer 14: »Kannten Sie eigentlich noch den Herrn Mausbach?« Nummer 14 sieht ihn an wie einen Affen. »Nä«, sagt er, »wer ist ‘n das?« Und dann rast auch er los, diesmal zum Glück an Trimmel vorbei. Übung 239 aus dem Lehrbuch für Fußballtraining. Der LL (linke Läufer) flankt an der Mittellinie zum RL (rechten Läufer), der sich auf der anderen Spielfeldseite anbietet. Während der RL (rechter Läufer) den Ball unter Kontrolle bringt, sprintet von hinten der RV (rechte Verteidiger) nach vorn. Der RL (rechte Läufer) spielt ihm den Ball genau in den Lauf. Der Ball wird direkt auf das Tor geschossen. Moderner Fußball. Das kann man gar nicht oft genug üben: für den V (Verteidiger) ist es gleichzeitig eine Schulung der
Schnelligkeitsdauer, und wird der LV (linke Verteidiger) noch zu dieser Übung hinzugezogen, so kann abwechselnd von der rechten und linken Seite angegriffen werden. Die beiden L (Läufer) vertauschen dann nur abwechselnd ihre Aufgaben, nicht ihre Positionen. Hierzu sind aber mehrere Bälle notwendig… So wie hier, im Stadion zu Bonsdorf. Der TR (Trainer) wird langsam unruhig, weil da ein fremder Mann auf dem Platz herumschleicht und Spieler fragt, die nur auf ihn hören sollen. Der Trainer ist ein Mann etwa Mitte Fünfzig mit einem hübschen Kugelbauch unter dem schwarzen Trainingsanzug – Respekt, Respekt. »Was wollen Sie?« schreit er über fünfzig Meter hinweg. Aber Trimmel hört es nicht, oder er will es nicht hören. Der HR (Halbrechte) führt den Ball auf einen G (Gegner) zu und setzt an, ihn zu umspielen. In diesem Augenblick sprintet ihm der LA (Linksaußen) entgegen und bietet sich an. Sofort erfolgt ein scharfes, verdecktes Zuspiel (Übung 250). Der LA (Linksaußen) läßt den Ball in den Lauf des sich inzwischen im Sprint nach vorn anbietenden MST (Mittelstürmers) prallen, der auf das Tor schießt… Das heißt, er hätte schießen sollen. Er ist jedoch plötzlich verblüfft stehengeblieben, als ihn Trimmel anrief: »He, Sie!« »Was ist denn los?« fragt er zögernd. »Sind Sie schon lange hier in Bonsdorf? Haben Sie den Kassierer Mausbach gekannt?« »Ja, flüchtig…«, sagt der MST (Mittelstürmer). Aber weiter kommt er nicht, denn inzwischen ist der TR (Trainer) mit dem Kugelbäuchlein an Ort und Stelle und herrscht Trimmel an: »Hier wird trainiert – sehen Sie das nicht? Was haben Sie hier verloren?« Der Trainer ist auf dem Fußballplatz eine ähnliche Respektsperson wie der Regisseur beim Film oder der Kapitän im Flugzeug.
»War das ‘n Doppelpaß?« fragte Trimmel harmlos. »Das war erstens kein Doppelpaß, und zweitens, wenn Sie nicht sofort verschwinden…« »Schreien Sie doch nicht so!« »Ich schreie, wie es mir paßt! Ich verweise Sie hier in aller Form des Platzes!« So kommt Trimmel zum ersten und vermutlich einzigen Platzverweis seines Lebens. Was soll er tun? Die Amtsperson aus der Tasche ziehen? Den grünen Jungs hier auf dem Platz mal zeigen, daß auch ein Trainer sich gewissen Anordnungen der Polizei zu fügen hat? Es ist wie gestern bei Tuffinger. Kein Entschluß. Die Sache kocht, ist aber noch nicht gar. »Okay, ich gehe«, sagt Trimmel. »Aber nur unter einer Bedingung – wie lange sind Sie schon in Bonsdorf?« »Seit ewig«, sagt der Trainer. »Ich war hier früher selbst aktiv!« Er ist leicht verblüfft: »Aber wieso ist das eine Bedingung?« »Ich gehe unter der Bedingung, daß ich heute abend in Ruhe mit Ihnen reden kann!« »Sagen Sie mal«, sagt der Trainer perplex, »was meinen Sie eigentlich, wer Sie sind?« »Der künftige Ehrenpräsident des Deutschen Fußballbundes«, behauptet Trimmel. »Also um sechs im Kickers Eck!« Damit verläßt er endgültig den Platz – und sieht im Abdrehen zwei Gesichter, die ihm bekannt vorkommen… Lowinski und Hecker! denkt er gerade noch. Der Bonsdorfer Trainer Erich Franz sieht ihm nach – einen so komischen Vogel, denkt er, hat er lange nicht gesehen. »So ein Arsch!« sagt er seinen Spielern, die den Ball liegengelassen und sich die Ereignisse aus der Nähe angeguckt haben. »Los jetzt! Geh auf Position, Wilfried!«
Übung 227 – der TR (Trainer) begibt sich mit mehreren Bällen hinter eines der Tore. Der V (Verteidiger) Wilfried deckt den Strafraum, und dann… Dann rennen sie wieder – wenn schon nicht um ihr Leben, so doch um ihr Geld.
In Hamburg passiert zur selben Zeit ein Mord, von dem der Polizei vorerst gar nichts zu Ohren kommt. Er wird mit den Händen verübt, sehr leise und das bemitleidenswerte Opfer denkt nicht daran, zu schreien. So kommt es, daß Trimmels Kerntruppe vollzählig versammelt ist, als er am frühen Nachmittag anruft. Laumens Pech, daß er an den Apparat geht. »Wieso bist du nicht hinter Tuffinger her?« Laumen verteidigt sich. »Tuffinger ist gestern abend planmäßig ausgestiegen. Ich bin hinter ihm her zu seiner Wohnung am Hansaplatz – da hat er die Nacht gepennt. Um vier Uhr früh hat mich Petersen abgelöst…« »Dann gib mir den mal!« knurrt Trimmel. Petersen ähnlich ungerührt: »Der Mann ist gegen elf draußen gewesen und hat sich zwei Flaschen Whisky gekauft. Um zwölf Uhr ist einer zu ihm hoch, und er hat bloß auf- und wieder zugemacht und gelallt – also, vor morgen wird der nie wieder wach!« »Na, hoffentlich!« Gestern am Bahnhof, als der Detektiv es ablehnte, ein Bierchen mitzutrinken, wirkte er noch nicht wie ein Quartalssäufer. »Was wollte denn dieser – dieser Besucher von ihm?« »O Gott, war der sauer!« sagt Petersen. »Er hatte im Branchenverzeichnis ‘nen Detektiv gesucht und war ganz zufällig auf Tuffinger gekommen; nun wollt’ er sich mit dessen Hilfe scheiden lassen. Und dann trifft er diesen
Sturzbesoffenen…« Petersen könnte sich, was so gut wie nie bei ihm vorkommt, halbtot lachen. »Laßt mir den Kerl trotzdem nicht aus den Augen!« befiehlt Trimmel in Bonsdorf, nur halbwegs versöhnt. Trimmel in Bonsdorf versucht es, da er nun schon mal am Telefon hängt, noch mal beim Mittag in Hamburg. Aber Gerber ist immer noch nicht da; er ist auf Dienstreise, wie seine Sekretärin sagt. »Wann kommt er zurück?« »Morgen abend wahrscheinlich«, sagt das Mädchen. »Soll ich was ausrichten, falls er sich zwischendurch mal von unterwegs meldet?« »Ich heiße Trimmel, und er soll morgen abend dringend nach Farmsen kommen. Dann weiß er Bescheid!« »Mach’ ich, Herr Trimmel! Ihren Namen hat er übrigens schon mal genannt…« »Das soll er lieber lassen!« knurrt Trimmel. »Tschüs!« Eigentlich sollte er sich schonen, hat ihm noch vor wenigen Wochen der Arzt gesagt – eigentlich hätte er nach dem Essen ein Nickerchen machen sollen. Aber nun lohnt sich’s nicht mehr, und insofern, was macht er? Er macht in Fußball! Das Lokal Kickers Eck macht seinem Namen immerhin dadurch Ehre, daß in der durch eine riesige, meist offene Tür von der Disco abgetrennten Gaststube stets die aktuellen Sportzeitungen ausliegen. Die Fußballwoche, der Kicker. Theorie und Praxis steht über dem Spielbericht Köln gegen Hamburg. Rupp erst ausgepfiffen – dann umjubelt. Sowie: Flohe übertraf Overath. Dabei hat Overath dem guten Hamburger Sandmann doch gleich zu Anfang das halbe Schienbein weggeputzt, denkt Trimmel, inzwischen fast schon so pragmatisch wie die Mehrzahl aller Fanatiker. Und wie ein Fanatiker lernt er die
Spielberichte nahezu auswendig, ohne jedoch – das ist der tiefere Sinn seiner Aktion – den geringsten Hinweis darauf zu finden, daß irgendwo irgendeiner irgendwas verschoben hat. Es schiebt sich offenbar doch nicht mehr so leicht im Bundesligafußball, wenngleich die Beteiligten seinerzeit sicherlich auch in der akuten Korruptionsphase wenig Interesse daran hatten, in die Gazetten zu kommen. An diesem Wochenende jedenfalls ist allem Anschein nach auch in keinem Bundesligastadion versucht worden, einen schwarzen Mann, einen Pfeifenmann, mit barem Geld noch schwärzer zu machen. Einer von den Schwarzkitteln dieses letzten Spieltages vor der Winterpause soll zwar einen Elfmeter gepfiffen haben, der nicht berechtigt war; aber wer, bitte, ist unfehlbar? Aus den übrigen Stadien wird erst gar kein kritisches Wort über miese Schiedsrichter laut. In Köln war der Unparteiische, nach Trimmels Ansicht, zwar reichlich parteiisch, Trimmel selbst jedoch war es möglicherweise auch. Bei Schalke gegen Bayern München schließlich, eins zu null zur Überraschung selbst der Einheimischen, vollbrachte Ferdinand Biwersi aus Bliesransbach vor 35000 wachsamen Zuschauern eine besonders eindrucksvolle Schiedsrichterleistung. Und Biwersi – so steht’s geschrieben, zu Trimmels Freude – ist im Zivilberuf ausgerechnet Kriminalbeamter!
Als Trainer Erich Franz mit offenem Hemd gegen sechs im Kickers Eck aufkreuzt, sieht man, daß er einen Bauch vor sich her trägt, als sei ihm ein Fußball zwischen Jacke und Hose gerutscht. »So«, erklärt er grimmig, als sie in der tagsüber zur Kneipe umfunktionierten rappelvollen Disco sitzen, »nun
sagen Sie mal, was der Zirkus soll! Das heißt, ich weiß es ja sowieso…« »Woher denn?« fragt Trimmel verblüfft. »Mann Gottes, ich kann ja wohl noch zwei und zwei zusammenzählen!« Dabei streckt er dem alten Kellner, der sich hier die Hacken abläuft, zwei Finger entgegen: zwei Bier, bitte! »Ehrenpräsident vom DFB – ich lach’ mich tot! Sie sehen doch schon von weitem aus wie’n Mini-Ratz!« »Was heißt das?« »Jetzt spielt er auch noch ‘n Doofen!« sagt Franz mit gespielter Verzweiflung. »Ratz ist Spielervermittler, und wenn Sie nicht genauso Spielervermittler sind und wegen Lowinski und Hecker hier sind…« »Ach so!« sagt Trimmel und entschließt sich, erst mal mitzuspielen. »Ich heiß’ zwar Trimmel, aber… ich mein’, irgendwie sind die beiden ja ‘ne Nummer zu groß für euch!« »Sicher. Vor allem Lowinski.« »Aber er hat Dreck am Stecken?« »Ja, sicher – müssen Sie doch wissen! Hat hundertprozentig mal Geld genommen. Sein Freund Hecker wohl auch – der Libero, sag ich Ihnen! Es ist und bleibt ‘ne Schande; die sollen doch nicht denken, der DFB läßt sie laufen, bloß weil sie freiwillig in die Regionalliga gehen!« Er beugt sich vertraulich zu Trimmel. »Wollen Sie die beiden vielleicht ins Ausland verkaufen?« »Mal sehen…«, sagt Trimmel unbestimmt. Ein paar Typen an den Nebentischen, sieht er, verrenken sich fast den Hals und haben ganz lange Ohren. »Klar, wollen Sie! Und damit Sie noch klarer sehen: mir ist es egal! Ich hab’ sie beide in die Wüste geschickt; zum Training brauchen die gar nicht mehr zu kommen. Von daher ist es sogar gut, daß Sie aufgekreuzt sind, wo sie beide noch keinen Vertrag hatten…«
Der Kellner bringt das Bier; wenigstens die letzten Sätze hat er mitgekriegt. Auf dem Rückweg, sieht Trimmel, tuschelt er mit einigen Gästen drei Tische weiter. »Also – was läuft?« sagt Franz. Aber dann wird’s spannend. Ein ziemlicher Kleiderschrank, gefolgt von zwei nicht sehr viel kleineren Typen, nähert sich von links. »Was ist hier mit Lowinski los?« »Und mit Hecker?« fragt der zweite. »Nichts!« sagt Trainer Franz scheinbar erstaunt. »Was soll damit los sein…?« »Spielen die demnächst hier oder nicht?« will der Kleiderschrank wissen. Franz, in einem Anflug von verzweifelter Tapferkeit: »Aber das ist doch nicht euer Bier!« »Oh, da schneid’ dich aber mal nicht in ‘n Finger!« pöbelt der dritte. »Schließlich sind wir hier diejenigen, die bezahlen!« »Was denn?« fragt Trimmel, plötzlich wütend. »Eintritt! Jeden Sonntag! ‘ne ganze Stange…!« »Für krumme Dinger?« fragt Trimmel, offensichtlich am Ende mit seiner Geduld. »Das hast du gerade zu entscheiden, Männeken…!« Sekundenlang hat es tatsächlich den Anschein, als käme es gleich zu einer Schlägerei. Aber dann steht Franz hastig auf und tritt mutig zwischen Trimmel und die drei Männer. »Setzt euch doch hin – der Herr ist doch extra gekommen, um die Sache auszubügeln!« Das irritiert sie. »Ich sag’ nur, wenn uns hier einer den Lowinski kaputtmachen will, dann…« Er macht die unmißverständliche Geste eines gewaltigen Uppercuts. Aber er zieht sich, seine Vasallen im Schlepptau, langsam zurück.
Der Kellner, der die Szene im Grunde angezettelt hat, wieselt heran. »Die Kegelbahn ist gerade frei«, zischt er, »gehen Sie doch in die Kegelbahn…« »Sehr gute Idee«, sagt Franz rasch, »kommen Sie…« Sie nehmen ihr Bier mit, und noch auf dem Weg dorthin sagt Trimmel: »Also, nun mal Schluß mit dem Quatsch – ich kenn’ weder Lowinski noch Hecker noch sonst einen von den Jungs! Ich heiß’ wirklich nicht Ratz, und ich bin nicht Ratz, und ich hab’ noch nie ‘n Spiel von Ihnen gesehen!« Er setzt sich breitbeinig auf einen Hocker. »Das einzige, was ich bis heute vom VfL Bonsdorf gesehen hab’, ist Ihr Exkassierer…« »Sie meinen – Mausbach?« fragt Franz, plötzlich sehr wachsam. Er bleibt stehen. »Ja. Ich möcht’ endlich wissen, welche Rolle Paul Mausbach hier gespielt hat!« »In welcher Eigenschaft wollen Sie das wissen?« Und da, endlich, sagt er’s ihm. »In meiner Eigenschaft als Polizist!« »Sie…«, sagt der Trainer drohend. »Wenn das ‘n Witz sein soll, könnt’ er von Mausbach selber stammen – der lachte dauernd. Aber wenn Sie…« »Als ich Mausbach zum ersten und letzten Mal gesehen habe«, sagt Trimmel, »da grinste er zwar noch vor sich hin, war aber ziemlich tot…« »Tot?« fragt der Trainer erschrocken. »Ja – ermordet. Sie lesen selten Zeitung?« »Nicht mal den Sportteil!« sagt Franz, jetzt zutiefst betroffen. »Aber daß er gleich…« Jetzt erst scheint er’s zu begreifen; jedenfalls schüttelt er lange den Kopf. Der Fall Mausbach hat immerhin nur unter dem Namen Spindel in der Zeitung gestanden, erinnert sich Trimmel, man kommt da allmählich selbst durcheinander. Er nimmt ein Foto
von Spindel-Mausbach aus der Tasche. »Hier – der Mann ist erschossen worden!« »O je, o je…«, sagt Erich Franz beklommen. »Ja, ja – das ist er…« Eine weitere Legitimation, ob Trimmel Polizist ist oder nicht, will er gar nicht mehr sehen. »Ja, das ist er!« wiederholt Trimmel. »Und wie war das nun wirklich mit Mausbach und seiner Affäre?« Erich Franz denkt lange nach – so lange, daß oben im Lokal der Diskjockey eintrifft und die Stereoanlage für den weiteren Fortgang des Abends ausprobiert. Dann versteigt sich der Trainer zu einer für ihn sicherlich ungewöhnlichen Formulierung. »Paulchen war ein… ein Gambler. Ein eiskalter Gambler; der letzte Abenteurer. Führte, sozusagen, immer ein größeres Leben, als er im Grunde führen sollte, wenn Sie kapieren, was ich meine. Lachte schallend, wenn ihm einer vors Schienbein trat…« »Wieso Schienbein?« »Na ja… ich hab’ noch ‘n paar Jahre mit ihm in der Mannschaft gespielt; damals waren wir noch in der Bezirksklasse, hier in Bonsdorf. Er war Rechtsaußen, genau wie Lowinski… und wenn ihn da ‘n gegnerischer Verteidiger flach legte, sagte er zu dem anderen: weißte eigentlich, mit wem deine Frau gerade im Bett liegt? – und dann war er schon wieder auf den Beinen und mit dem Ball auf und davon! Heute machen das manche, aber er fing damals damit an, und dabei lachte er, daß man das Grausen kriegte…« »Waren Sie mit ihm befreundet?« »Also, direkt befreundet würde ich nicht sagen. Vielleicht wär’ ich’s sogar ganz gern gewesen, aber da gab’s irgendeine Sperre – irgendwie hab’ ich ihm nie so recht getraut. Als ich später meine Trainerlizenz machte und er Kassierer wurde, haben wir uns zwar geduzt, natürlich. Aber wir waren eigentlich immer auf Distanz.«
Punkt neunzehn Uhr. Die ersten Jungen und Mädchen trudeln ein, sieht man durch ein Souterrainfenster; in Bonsdorfs einziger Diskothek reitet der langhaarige Jockey die erste laute Platte. Amarillo. Es gibt noch lautere, aber für den Anfang reicht’s. Ab sofort können Trimmel und Franz sich selbst hier unten nur noch schreiend unterhalten. Aber der Lärm schirmt ihre Unterhaltung zugleich gegen die Umwelt ab; weiß der Henker, wer da wieder auf der Lauer liegt! »Die Affäre Mausbach dann – komische Geschichte. Trotzdem, sie gehört zu Mausbach…« Nachdenklich schreit Franz vor sich hin. »Vor drei Jahren. Wir sind im Jahr davor in die Regionalliga aufgestiegen, und die Leute hatten sich schrecklich gewundert. Sie wunderten sich noch mehr, als wir nacheinander Bayer Leverkusen, den Wuppertaler SV und Alemannia Aachen putzten und dazu noch ein paar andere. Um ein Haar wären wir in diesem Jahr gleich Meister oder Zweiter geworden. Und da kommen dann plötzlich Gerüchte auf, ein paar von diesen Spielern seien gekauft gewesen… war natürlich Unfug, aber es gab ‘n Mordsstunk – nur nicht ganz so öffentlich wie später in der Bundesliga… damals lief so was noch sehr viel diskreter ab…« »Was heißt diskreter?« »Na ja, wir haben die Flucht nach vorn angetreten und beim Deutschen Fußballbund selber eine Untersuchung beantragt; die verlief dann ergebnislos. Die Journalisten, die von der Sache Wind gekriegt hatten, haben Gott sei Dank die Klappe gehalten und nichts geschrieben. Als es vorbei war, haben wir zusätzlich eine vereinsinterne Untersuchung gestartet… dabei kam was unheimlich Komisches raus« »Nämlich?«
Trainer Franz fühlt sich unbehaglich. »Kommt das alles in Ihr Protokoll?« »Wieso?« »Naja – die Welt ist klein…« »Also, versprechen kann ich nichts«, sagt Trimmel. »Sagen müssen Sie’s in jedem Fall.« »Also gut… es kam dabei heraus, daß Paul Mausbach offenbar selbst die Gerüchte von den gekauften Spielen in die Welt gesetzt hatte. Es gab sogar einen plausiblen Grund dafür: er hatte ein ziemliches Loch in der Vereinskasse! Das war natürlich ‘n doppeltes vereinsschädigendes Verhalten; deshalb wurde er gegangen…« Dieser Louis alias Paul hatte offenbar wirklich Phantasie, denkt Trimmel – erfindet den ersten deutschen Fußballkorruptionsskandal, um eine miese Unterschlagung zu kaschieren. Wird dann gefeuert, fällt aber wieder auf die Beine und macht – wo auch immer, wie auch immer – ein Vermögen oberhalb von hundert Mille… bis dann irgend jemand kommt und ihn nicht nur feuert, sondern gleich richtig abschießt… »Weshalb hatte die Sache keine strafrechtlichen Konsequenzen?« fragt er. »Warum wir ihn nicht angezeigt haben? Na ja, das ist auch wieder so’ne Sache…« Er stockt. »Weiter!« drängt Trimmel. »Na ja… auf der Bettkante gesessen hab’ ich nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber es wäre mir wirklich lieb, wenn Sie mich in dem Punkt zumindest nicht als Zeugen benennen, falls Sie’s auswerten…« »Einverstanden!« »Also gut. Nicht angezeigt haben wir ihn wegen Olga, wegen seiner Frau. Die hatte nämlich ‘n Verhältnis mit unserem damaligen ersten Vorsitzenden, und auf den waren wir
angewiesen… Der ist auch für den Schaden in der Vereinskasse aufgekommen…« »Ach nee!« Die schöne, vornehme Olga, die von allem nichts gewußt hat – sieh einer an! Eine Weile sagt niemand was. Dann sagt Erich Franz nachdenklich: »Mir fällt dabei gerade ein, daß ich Paulchen seit bestimmt zwei oder drei Monaten nicht gesehen habe. Dabei ist dieses Bonsdorf wirklich ‘n Kaff, und er hatte ja schließlich kein Platzverbot…« »Haben Sie seine Frau denn gesehen?« »Doch, doch, schon mal eher. Zuletzt am… warten Sie – am letzten Donnerstag am Bahnhof!« »Am Donnerstag?« fragt Trimmel erstaunt. »Wann?« »Nachmittags um drei. Da kam sie mit dem Zug an, mit ‘ner großen Reisetasche…« »Mit dem Zug um drei nach drei?« »Ja, muß wohl – meiner geht nämlich um elf nach drei. Ich fahr’ Donnerstag nachmittags immer mit meiner Frau nach Wuppertal zum Einkaufen…« 15 Uhr 03 – haargenau der Zug, der als Anschluß für einen der Intercitys aus Hamburg in Frage kommt – der Zug, mit dem ein paar Tage später auch Hermann Tuffinger Bonsdorf erreicht hat…? Es fällt ein schräger Schatten in die Tür – der des Kellners, der nach dem Rechten schauen will. »Trinken die Herren noch einen?« »Nee«, sagt Trimmel kurzentschlossen, »keinen mehr…« Es fällt, so denkt er, auch ein schräger Schatten auf Olga Mausbach. Plötzlich hat er es eilig; immerhin geht es auf neun. »Ich hab’ noch zu tun«, sagt er unvermittelt. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden…«
»Klar!« sagt Franz. »Und wie gesagt, auf der Bettkante gesessen hab’ ich nicht…« So dumm ist er wirklich nicht.
Eine Stunde lang sitzt Trimmel anschließend auf seiner Bettkante, direkt über der irre lauten Musik, und er ärgert sich, daß Olga Mausbach nicht zu Hause ist. Er ärgert sich, daß er jetzt schon die dritte Nacht in Bonsdorf verbringt, obgleich er aus diesem Ort – einem Ort aus Fußball, ein paar Fabriken und einer einzigen sogenannten Geschäftsstraße – eigentlich schon eine Menge zutage gefördert hat. Morgen früh hau’ ich endgültig ab, beschließt er. Und dann hat er eine Idee. Er holt seine FN Baby aus der Reisetasche, Kaliber 6,35, die kleine Westentaschenpistole der Fabrique Nationale des armes; mit einer Waffe dieses Typs dürfte Louis Spindel alias Mausbach erschossen worden sein. Ein hübsches, kleines Spielzeug für Männer. Man kommt so selten dazu, damit zu spielen. Aber diesmal ist die Gelegenheit günstig. Es ist elf Uhr vorbei, als Trimmel das handliche, längst nicht mehr ganz neue Schießeisen präpariert. Er lädt es nicht etwa; im Gegenteil: er nimmt das Magazin heraus und vergewissert sich zudem, daß keine Patrone im Lauf ist. Den Schlitten der Waffe zieht er zurück und stellte ihn mit dem Sicherungshebel fest. Dann dreht er den Lauf im Uhrzeigersinn bis zum Anschlag, als wolle er die Waffe zerlegen, und im Grunde will er’s ja auch, allerdings auf keinen Fall auf die übliche Weise. Er läßt sie fallen. Die Waffe schlägt auf dem Holzfußboden auf und zerspringt wie Glas – beziehungsweise, sie zerfällt in ihre Teile. Das Griffstück, der Schlitten – in dem der Lauf ist – sowie die
Führungsstange mit der Schließfeder liegen getrennt auf dem Boden. Klasse! denkt Trimmel, von seinem Spielzeug ehrlich begeistert. Er setzt die Pistole so wieder zusammen, daß sie jederzeit genauso so wieder zerfallen kann, und wickelt sie dann in das sauberste Taschentuch, das er noch besitzt. Das kleine Bündel steckt er vorsichtig in die Hosentasche. Er schließt das Zimmer ab, geht auf die Straße und fängt sich kurz vor dem Bahnhof ein Taxi.
Olga Mausbach hat Licht; sie ist mittlerweile wieder zu Hause. »Wer ist da?« fragt sie durch die geschlossene Tür. »Trimmel!« »Ach, Sie… Warten Sie, ich mach’ gleich auf!« Es dauert mindestens drei Minuten. Eine Frau wie sie zieht sich bei Besuchen fremder Herren gegen Mitternacht nicht etwa nur ein Neglige an, sondern steigt wieder ins Tageskleid und macht im Zweifelsfall auch noch einen Strich Lidschatten über die Augen. »Kommen Sie rein… Ist was passiert?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Ich muß morgen ziemlich früh abfahren… ich bitte um Nachsicht, aber ich wollte Sie schon früher erreichen…« Die Höflichkeit und Liebenswürdigkeit in einer Person. »Ich war bei einer Freundin«, sagt sie schnell. »Manchmal fällt einem die Decke auf den Kopf…« »Kann ich verstehen«, sagt Trimmel. »Wenn ich trotzdem einen Moment Platz nehmen dürfte…« Geschickt richtet er es so ein, daß er ihr direkt gegenüber sitzt, ohne den in diesem Fall störenden Tisch dazwischen. Er führt ein paar harmlose Reden, schnieft dann leicht und zieht
sein Taschentuch heraus. Dabei fällt prompt, wie zuvor einstudiert, die FN auf den Boden und zerfällt. »Pardon!« sagt Trimmel. Und weil er das Taschentuch in der Hand hat, schneuzt er sich zunächst. Und Olga Mausbach hat sich automatisch gebückt und sammelt die Teile der Waffe ein! Der Schlagbolzen mit der kleinen Feder ist zum Glück steckengeblieben – kleine Federn sucht man oft tagelang und dann auch noch vergebens. Und Olga nimmt das Griffstück, dazu die Führungsstange mit der Schließfeder, und schiebt alle Teile fachgerecht zusammen… Trimmel gibt ihr den Schlitten. »Wollen Sie den nicht auch noch montieren?« fragt er hinterhältig. »Sie verstehen ja offenbar doch was von Waffen!« Sie hat sich verraten, und sie hat’s schon begriffen. »Machen Sie’s doch selbst!« sagt sie wütend, gar nicht mehr so vornehm wie bisher. »Aber natürlich!« lächelt Trimmel und setzt die Waffe wieder zusammen. Und dann muß er eindeutig grinsen… mit Phantasie, denkt er, erzielt man hin und wieder Treffer, ohne zu schießen. »So ein Mißgeschick…« Sie starrt ihn an und weiß sichtlich nicht, was sie davon halten soll. Gleich darauf geht er aufs Ganze. Nutzt die Situation, die er herbeigeführt hat, schamlos aus und fragt: »Haben Sie mir nicht einiges über sich und Ihren Mann verschwiegen?« »Was zum Beispiel?« »Haben Sie etwa nicht gewußt, daß Ihr Mann nicht nur – na, sagen wir, skandalträchtig war, sondern auch verdächtigt wurde, zu Lasten der Bonsdorfer Vereinskasse eine Unterschlagung begangen zu haben?« Ihre Augen werden zu Schlitzen. »Er ist niemals angezeigt worden!«
»Eben!« nickt Trimmel. »Weil Sie zufällig mit dem damaligen Bonsdorfer ersten Vorsitzenden außerordentlich gut bekannt waren – stimmt’s?« Das sitzt. Sie wird bleich wie die Wand. »Sie haben… Sie haben anscheinend hervorragende Quellen. Aber muß eine Ehefrau, deren Mann ermordet worden ist, der Polizei gleich den einzigen Fehltritt ihres Lebens beichten? Automatisch, sozusagen?« »Natürlich nicht«, sagt Trimmel begütigend. »Nur könnte es in diesem Fall ja durchaus einen Zusammenhang geben. Und wenn wir uns schon mal einig waren, daß der Tod von Louis was mit Fußball zu tun hat – erste Vorsitzende haben ja weiß Gott auch was mit Fußball zu tun…« »Ich gebe hiermit zu«, sagt Olga Mausbach, wieder sehr beherrscht, »daß ich meinen Ehemann ein einziges Mal betrogen habe. Aber das war sicher weder der Grund für seinen Weggang noch für seinen Tod – es liegen Jahre dazwischen!« »Hat Louis es gewußt?« »Ja, er hat es gewußt! Und ob Sie’s glauben oder nicht: er hatte mir verziehen!« »Vielleicht, weil er dadurch einem Verfahren wegen Unterschlagung entging…?« Daraufhin sagt sie, erstaunlich sachlich: »Ich habe mich in Ihnen geirrt. Sie sind leider doch ein reichlich ekelhafter Mensch!« »Das liegt an meinem Beruf«, behauptet Trimmel. »Wann waren Sie eigentlich zuletzt in Hamburg?« »Am letzten Mittwoch!« antwortet sie rasch. Und ob sie ihn haßt oder nicht – sie hat jetzt doch deutlich Respekt vor ihm bekommen. »Ich bin am Donnerstag zurückgefahren.« »So, so… Sie wissen ja, daß Louis am Mittwoch getötet worden ist…?«
Sie nickt. »Auch das gebe ich zu: ich war an seinem Todestag in Hamburg. Und ich weiß auch, von Louis, wie man Pistolen zusammensetzt… aber wirklich, Herr Trimmel, ich bin mehr erstaunt über die Kombinationsgabe der Polizei, die mich ausschließlich aufgrund dieser wenigen Tatsachen als Gattenmörderin be…« »Das ist Unfug!« Trimmel schneidet ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Bleiben Sie doch sachlich!« »Ich bin sachlich! Ich habe es hier in Bonsdorf nicht mehr aushalten können – nur deshalb bin ich am Mittwochfrüh nochmals nach Hamburg gefahren! Ohne Pistole, nebenbei – ich habe wirklich keine! Ich habe Louis an diesem Tag nicht mehr gesehen – er war nicht in der Pension, und er kam auch nicht in die Pension, und deshalb bin ich morgens heulend und zähneklappernd wieder zurückgefahren!« »Und Sie waren an dem Abend weder bei Jonny Feldmann und noch bei Tuffinger?« »Sie glauben mir also nach wie vor nicht! Warum glauben Sie nicht, daß ich den einen erst gestern kennengelernt habe und den anderen, diesen…« »Tuffinger.« »… diesen Tuffinger erst heute?« »Ich glaube Ihnen ja!« lügt er. »Nur, Sie machen es einem ebenso schwer wie…« »Wie Louis?« unterbricht sie. »Meine Güte, ich habe Ihnen einen Fehltritt gebeichtet – der Mann ist übrigens im letzten Jahr gestorben –, und daraufhin stellen Sie nicht nur meine Moral in Frage, sondern setzen mich eben doch allen Ernstes auf die Liste der Verdächtigen…« »Das stimmt nicht!« sagt er. »Doch, doch – wie bei Vera Brühne!« Sie ist immer lauter geworden, und jetzt schreit sie fast. »Wenn erst mal die Unmoral zur Sprache gekommen ist…«
»Hören Sie auf!« Trimmel faßt sie bei der Schulter. »Nur, wenn Sie auf der Stelle gehen und mich in Ruhe lassen!« erklärt sie, immer noch hysterisch, und reißt sich heftig von ihm los. Daraufhin geht er tatsächlich. Er geht fast stumm, aber so formvollendet wie selten, und er läuft fast eine Stunde lang zu Fuß; die Hoffnung auf ein Taxi ist in Bonsdorf um die Zeit effektiv sinnlos. Im übrigen dreht er sich ununterbrochen im Kreise: es ist sicher kein Heldenstück, denkt er, eine trauernde Witwe aus der Fassung zu bringen, aber etwas liegt’s ja wohl auch an der Witwe selbst. Olga Mausbach hat sich mit ihren falschen oder zumindest unvollständigen Angaben immerhin selbst ins Bonsdorfer Zwielicht gebracht, wenn nicht sogar in die Schußlinie. Aber trotz und alledem – am Ende seines Marsches ist Trimmel so klug wie zuvor. Hunderttausend in Papieren, achtzig in Versicherungen, zweieinhalb monatlich. Dazu ein Halbmillionenhäuschen im Grünen und der verstorbene Liebhaber neben dem toten Gatten… Er liegt schon im Bett, als er sich, unter dem Discolärm, doch noch zu einer Erkenntnis durchringt. So nützlich der erste Vorsitzende früher gewesen sein mag: beim Wegschaffen einer Leiche kann er Olga nie und nimmer geholfen haben! Es sei denn, sein einst so starker Arm reiche über das Grab hinaus.
7
Der Patrizier bremst. Der Zug mit der Nummer IC 135 fährt stockend, ruckend wie alle Züge zwischen Harburg und Hamburg über die Elbbrücken, über Veddel und Wilhelmsburg, in Richtung Hauptbahnhof. Meine Damen und Herren, sagt die Lautsprecherstimme zu Trimmel, dessen Kopf immer wieder in das Kissen geschleudert wird, in wenigen Minuten erreichen wir Hamburg Hauptbahnhof. Ladys and Gentlemen… »Na fein!« sagt Trimmel halblaut. Es ist Dienstag, der 14. Dezember 1971. Ein nieseliger Tag – Schnee gab’s so gut wie gar nicht auf der ganzen Strecke. Aber dafür gibt es die Menge Spuren, alte und neue. »Sie sollen mal gleich zum Alten kommen«, sagt Höffgen wenig später, kaum daß Trimmel seine Tasche abgestellt hat, »ich konnt’s Ihnen leider nicht ersparen…« »Na, wenn schon…« Kripochef Marshall (ohne den Buchstaben C, die feine englische Hamburger Art) sagt etwas vorwurfsvoll: »Unter vier Tagen Abwesenheit glänzen Sie selten, was?« »Fahren Sie doch mal drei Tage nach Bonsdorf!« sagt Trimmel ohne jede Gehässigkeit. »Haben Sie denn wenigstens was rausgekriegt?« »Ich krieg’ immer was raus.« »Das müssen Sie mir nicht erzählen. Nur…« »Nur was?« »Allmählich werde ich immer öfter gefragt, was der Mordfall Spindel macht, und ich gewinne nicht an Glaubwürdigkeit, wenn ich immer wieder sage, der Fall macht Fortschritte…«
»Der Fall macht Fortschritte!« sagt Trimmel störrisch. »Und wie sehen die aus?« Es hilft nichts – er muß letztlich doch in die Einzelheiten gehen. »Es gibt bis jetzt drei Verdächtige, von den Randfiguren mal abgesehen. Der erste heißt Feldmann, der ist Geldbriefträger in Spindels letztem Revier, ich glaub’ allerdings, der ist im Moment am meisten aus dem Schneider, auch wenn er vorher am dicksten drinhing. Jedenfalls hat er Spindel jede Woche Geld gebracht, und das hat offenbar mit irgendeinem obskuren Bundesligaskandal zu tun, Schweigegeld oder so – ein Fußballskandal, von dem man noch nie was gehört hat…« »Ach du Scheiße!« sagt Marshall, ganz unenglisch. »Ja; nun langsam. Der zweite, den wir im Visier haben, heißt Tuffinger und nennt sich Privatdetektiv. Was der im Endeffekt mit Spindel zu tun hatte, weiß der Henker… jedenfalls war er bei Spindels Frau und hat versucht, sie kurz und heftig aufs Kreuz zu legen…« »Wörtlich?« »Nee, das nicht; er wollte nur von ihr was rauskriegen, was sie entweder selbst nicht weiß oder nicht sagen will. Irgendwas über diesen Skandal. Vom Typ her ist dieser Tuffinger eher Erpresser als Mörder. Aber wenn solche Burschen in die Enge getrieben werden…« »Wen könnte er denn erpreßt haben?« »In erster Linie Spindel selbst. Oder aber einen, den wir noch gar nicht kennen. Sozusagen den Drahtzieher bei der Fußballschiebung, den wir auch noch nicht kennen. Mit dem wären es übrigens vier Verdächtige…« »Aha – der große Unbekannte. Wenn wir den Mord an Spindel aufklären, soll er von mir aus unbekannt bleiben. Wer ist Ihr dritter Verdächtiger?«
»Eine Sie – Spindels Ehefrau. Die hat demnächst allerhand finanzielle Vorteile. Sie heißt übrigens Mausbach, Olga Mausbach…« »Wieso das denn?« Er erklärt’s ihm – Spindels Spiel mit den beiden Namen und Pässen. Marshall schüttelt den Kopf. »Blödsinnig!« Aber er ist immerhin so beeindruckt, daß er die Vier-Augen-Konferenz abrupt beendet. Trimmel geht zurück in sein Büro. Noch vor dem Mittagessen gießt er sich, ganz gegen die Spielregel, die er selbst aufgestellt hat, den ersten Korn ein. Er gießt sich sogar zweimal ein, und so gerät er in eine Larifari-Stimmung, die ihn bis zum Feierabend nicht mehr verläßt. Hinterher wird’s zunächst auch nicht besser. »Ich soll dir von Bobby Gerber ausrichten, er schafft’s heute nicht!« sagt der Wirt im Old Farmsen Inn. »Du sollst morgen zum Pokalspiel gegen den Freiburger FC ins Volksparkstadion kommen – bis dahin kann er dir was Neues erzählen!« »Der hat sie doch wohl nicht alle!« sagt Trimmel. »Weshalb sagt er mir das nicht rechtzeitig?« »Gefällt’s dir hier etwa nicht mehr?« fragt der Wirt ziemlich säuerlich. »Na ja, immer noch besser als im Kickers Eck!« Dennoch, er geht bereits nach dem zweiten Bier. »Kannst du dir vorstellen«, fragt er später Gaby, nachdem er ihr von Bonsdorf und den Bonsdorfern erzählt hat, »daß ich dich einfach sitzenlassen würde, nur weil du mal fremdgegangen wärst?« »Ich geh’ nicht fremd!« sagt Gaby. »Außerdem, wir sind ja gar nicht verheiratet…« »Aber so gut wie!«
Sie freut sich. »Trotzdem… die Frage mußt du dir ja wohl selbst beantworten…« Trimmel nickt. »Eigentlich kann ich’s mir überhaupt nicht vorstellen. In dem Punkt bin ich sogar einer Meinung mit Olga Mausbach: wegen so was haut keiner ab, schon gar nicht, wenn die Frau alles andere als häßlich ist. Wenn’s aber keine ehelichen Schwierigkeiten waren, müßte Spindel oder Mausbach triftige andere Gründe gehabt haben, wenn er trotzdem verschwindet…« »Außer Fremdgehen gibt es allerdings noch andere eheliche Schwierigkeiten…« »Sicher – darauf will ich ja hinaus! Sieh das doch mal umgekehrt: angenommen, eine Frau erfährt, daß ihr Mann ein echt massives krummes Ding gedreht hat – wäre das etwa eine eheliche Schwierigkeit?« Da muß sie nachdenken. »Wenn’s ein Mord wäre«, sagt sie am Ende, »also, ich weiß nicht, ob ich mit einem Mörder zusammenleben könnte. Aber wenn’s um Diebstahl oder Steuerhinterziehung gehen würde… doch, ich glaube schon, daß ich das verkraften könnte!« Trimmel grinst. »Ich kann dann ja mal was klauen!« Gleich darauf aber wird er wieder ernst. »Herrgott – sag mir, warum der Kerl abgehauen ist, und ich sag’ dir sofort, wer ihn umgelegt hat, verdammt noch mal!« Gaby sagt plötzlich: »Also, nach allem, was du mir erzählt hast… ich find’s ziemlich merkwürdig, wie sich dieser Geldbriefträger um Frau Mausbach kümmert. Das ist doch nicht mal um sechs Ecken korrekt… könnte dahinter nicht ein ganz massiver Schuldkomplex stecken?« Trimmel schüttelt den Kopf. »Diesen Jonny Feldmann hat Louis ja erst nach seiner Flucht kennengelernt – den können wir momentan außen vor lassen. Dann schon eher Tuffinger, dieser Privatdetektiv, obgleich ihm der wahrscheinlich auch
erst in Hamburg über den Weg gelaufen ist – oder Prack aus Köln oder nicht aus Köln, der regelmäßig Geld geschickt hat und es irgendwann leid war… oder…« »Oder?« wiederholt sie. »Ach nichts…«, sagt er. Der Gedanke jedoch geht ihm dann nicht mehr aus dem Kopf: kann’s nicht sogar sein, daß hier ausgerechnet der hilfsbereite Journalist Gerber eine äußerst dubiose Rolle spielt? Ganz so absurd ist die Idee gar nicht. Die Kneipeinbekanntschaft am Anfang, das Gespräch an der Theke – das kann, aber das muß kein Zufall gewesen sein. Immerhin stammt Robert Gerber aus der Bonsdorfer oder wenigstens der Bergischen Kante, und er könnte durchaus zu jener Handvoll Journalisten gehört haben, die damals, beim sogenannten Bonsdorfer Skandal, ihre Klappe gehalten haben und dafür vielleicht ganz gut abgefunden worden sind. Im Grunde will er’s nicht glauben. Trotzdem beschließt er, seinem Informanten Gerber morgen abend ein paar äußerst delikate Fragen zu stellen. Und dann doch wieder Olga – die Katze beißt sich nach wie vor in den Schwanz. »Ich glaub’, die Frau ist noch schräger, als ich bis jetzt geglaubt habe!« sagt Trimmel unvermittelt. »Sie paßt zu ihrem Mann – sie lügt so überzeugend, daß sie’s schließlich selber glaubt. Was hat sie am Todestag ihres Mannes in Hamburg tatsächlich gemacht?« »Hast du sie denn nicht gefragt?« »Natürlich, aber genau da wurde sie hysterisch! Sie sei am nächsten Morgen von Hamburg weggefahren, ohne ihren Louis gesehen zu haben…« Gaby sieht ihn nachdenklich an. »Du gehst doch davon aus, daß sie ihn noch geliebt hat?«
»Allerdings. Aber es passiert nicht so selten, daß man einen Menschen umbringt, den man liebt…« »Mag ja sein, aber davon geh’ ich hier gar nicht aus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß eine verlassene, liebende Ehefrau extra nach Hamburg fährt und gleich wieder abreist, nachdem der Mann auch noch die ganze Nacht über nicht erschienen ist…« »Da ist was dran…«, muß er zugeben. »Normalerweise würde sie’s doch am nächsten Tag immer wieder versuchen, und genauso am übernächsten. Und dann vielleicht in ihrer Panik sogar zur Polizei laufen, trotz der beiden Namen und so…« Da ist er bereits am Telefon. Und noch in derselben Nacht geht dann, von ihm veranlaßt, ein Fernschreiben über das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen an die Kriminalaußenstelle Bonsdorf. Ein dortiger Beamter soll Olga Mausbach ganz präzise fragen, wo in Hamburg sie die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag verbracht hat. Anschließend erkundigt sich Trimmel – beim MittagNachtdienst – auch noch nach Robert Gerbers Ressortchef, nachdem er nun schon mal am Apparat ist. Am Ende stöbert er ihn in einer Kneipe hinter Rabolsen auf, in der, dem Lärm aus dem Hörer nach zu schließen, allerlei Journalisten ein spätes Bierchen zu sich nehmen. »Sind Sie der Leiter der Sportredaktion?« »Ja. Und?« »Ich bin mit dem Reporter Gerber befreundet und würde gern wissen, wo er momentan steckt. Irgendeine Dienstreise, hat er mir erzählt, aber ich hab’s…« »Also – das ist doch wohl der hinterletzte Trick!« unterbricht der offenbar nicht mehr ganz nüchterne Ressortchef für Sport. »Sind Sie von der Konkurrenz, oder was wollen Sie eigentlich?«
»Gerber sprechen…« »Dann warten Sie gefälligst bis morgen, und damit hab’ ich Ihnen schon viel zu viel gesagt!« Klick! Er hat einfach aufgelegt. »Und nun?« fragt Gaby. »Gehst du jetzt hin?« Er überlegt nur kurz. »Nein!« sagt er dann. »Komm, gib uns noch einen…« Zumindest das kleinere Übel, denkt sie. Manchmal fällt’s ihm offensichtlich doch noch ein, daß Alkohol für ihn weniger schädlich sein soll als zu wenig Schlaf.
8
Am Mittwochmorgen um 7.30 Uhr beginnt der Ernst des Lebens abermals mit dem Telefon. »Spreche ich mit Herrn Kriminalhauptkommissar Trimmel?« fragt eine unbekannte Stimme mittleren Alters. »Ja. Wer sind Sie?« »Mein Name ist Prack«, sagt die Stimme überraschend. »Sie sind doch der Sachbearbeiter für den Fall eines gewissen Herrn Spindel, der heute vor einer Woche erschossen worden ist?« Sein Name ist Prack! Allein das ist schon eine Frechheit! Soll er ihm sagen, daß er ihn schon seit längerem auf der Liste hat, auf der Liste der Verdächtigen? Er tut’s nicht. »Kannten Sie Spindel?« »Ach ja«, sagt Prack, »ich war ganz gut mit ihm befreundet, und deshalb…« »Deshalb rufen Sie mich an?« »Ja… ich wollte eigentlich nur fragen, wie weit die Ermittlungen fortgeschritten sind.« »Kann ich Sie mal zurückrufen?« fragt Trimmel so höflich wie möglich, mit leichtem Herzklopfen. Aber er wird enttäuscht – Prack gibt sein Versteck nicht preis. »Ach«, sagt er, ebenso höflich, »ich rufe von auswärts an; ich will keine unnötigen Kosten verursachen. Wollte eigentlich nur wissen, ob Aussichten bestehen, daß Spindels Mörder seiner gerechten Strafe…« »Aussichten bestehen immer«, sagt Trimmel. »Aber könnte es nicht sein, daß Sie als Zeuge in Frage kommen, wenn Sie mit Spindel befreundet waren? Daß Sie uns helfen können?« »Nein, das glaube ich nicht, Herr Trimmel…«
»Es ist nur, Herr Prack«, sagt Trimmel, »wir kennen so wenige Leute, die uns überhaupt was über Herrn Spindel sagen können…« Pause am anderen Ende der Leitung. Wenn er das nur geahnt hätte, denkt Trimmel, wenn er doch nur gestern abend eine Fangschaltung bei der Post beantragt hätte, eine sogenannte Fangvorrichtung, mit der man den Anrufer ermitteln könnte! »Sind Sie noch dran, Herr Prack?« »Ja, natürlich, Herr Trimmel. Ich überlege gerade, ob Herr Tuffinger Ihnen nicht Auskünfte geben könnte…« »Wer ist Herr Tuffinger?« fragt Trimmel. Das reinste Indianerspiel von Ohr zu Ohr. »Ach«, sagt Prack. »Ich dachte, Sie kennen ihn?« »Nie gehört!« lügt Trimmel. »Dann ist es ja gut. Schönen Dank auch, Herr Trimmel!« Er hängt überraschend ein. Die letzten Worte klangen richtig erleichtert, registriert Trimmel. Kann einer so naiv sein, auf diese Weise herauskriegen zu wollen, ob die Polizei sich im Fall Spindel mit Herrn Tuffinger beschäftigt? Den Tag über wird das Indianerspiel fortgesetzt. Tuffinger wird rund um die Uhr beschattet; Laumen und Petersen wechseln sich ab. Olga Mausbach, berichtet ein Bonsdorf er Hauptmeister fernmündlich, befindet sich nicht in ihrer Wohnung. Nachbarn wollen interessante Beobachtungen gemacht haben: Sie habe mehrere Männer zu Besuch gehabt (einer davon war sicher Trimmel selbst), und außerdem sei sie am frühen Dienstagnachmittag mit einem unbekannten Mann im Taxi davongefahren. Wohin? »Keine Ahnung«, sagt der Bonsdorfer, »wir hatten nicht den Auftrag…« Und Jonny Feldmann hat Urlaub – seine Mutter ist plötzlich krank geworden. Und Gerber meldet sich auch nicht – er ist weder zu Hause noch in seinem Büro. Trimmel muß tatsächlich warten, bis der Schiedsrichter heute abend im
Hamburger Volksparkstadion das Spiel HSV gegen den Freiburger FC anpfeift. »Höffgen!« ruft er. Die Idee ist weder neu noch erfolgversprechend. »Nimm dir ‘ne Liste aller Personen mit Tuffinger obenan und überprüf die Waffengeschäfte!« Das sind in Hamburg gut zwanzig, und ob der Mörder seine Waffe ausgerechnet auf diese Weise bezogen hat…? »Vergleichsstücke für die Tatmunition gibt’s in Wiesbaden nicht!« sagt Höffgen lustlos. Das heißt mit einiger Sicherheit – die Zentrale Tatmunitionssammlung beim Bundeskriminalamt ist ziemlich genau –, daß mit der verschwundenen Mordwaffe vor dem Mord an Spindel keine nennenswerten Straftaten begangen worden sind. »Soll ich vielleicht selber gehen?« fragt Trimmel. »Sie haben ja schon was vor!« sagt Höffgen neidisch. Der HSV muß auch das Pokalspiel gegen Freiburg im teuren Volksparkstadion durchziehen, weil es auf dem Stammplatz am Rothenbaum derzeit noch keine den Regeln gerechte Flutlichtanlage gibt; die Scheinwerfer dort reichen gerade fürs Trainieren. Heute ist das bitter, denn zum Freiburger Spiel werden bestimmt nicht viele Zuschauer kommen; allzu oft hat man schon über das launische Hamburger Publikum geklagt, das seine Mannschaft nicht immer ausreichend unterstützt. Tatsächlich kommen dann auch gerade knapp fünftausend, und einer von ihnen ist Trimmel. Man rechnet mit einem mäßigen Spiel und einem glatten Hamburger Sieg. Trimmel fragt sich zur Pressetribüne hoch, der letzten Sitzreihe der Obertribüne. Dort gibt es Telefone für die akkreditierten Zeitungen und eine angenehme Heizschlange. Gerber sitzt mit zwei anderen Typen zusammen; insgesamt sind vielleicht ein Dutzend Reporter gekommen, einer davon aus Freiburg. »Hallo!« ruft Trimmel.
Gerber kommt sofort. »Daß wir uns noch mal wiedersehen…« »Wo haben Sie denn gesteckt?« fragt Trimmel. »Ooch«, sagt Gerber unbestimmt, »hier und da; mehrere Geschichten in einem Aufwasch. Bin froh, daß ich’s hinter mir hab’, war ziemlich strapaziös.« Irgend etwas verschweigt er. Aber Trimmel schätzt ihn gut genug ein, um zu ahnen, daß es sinnlos wäre, ihn im Moment danach zu fragen. Als das Spiel läuft, schlägt Gerber vor: »Wir könnten ‘n bißchen Spazierengehen, tut gut, die Luft… Am Ende schnappt hier einer von den Kollegen was auf.« Platz zum Gehen ist jedenfalls reichlich vorhanden. Und als die Freiburger in der dritten Spielminute überraschend zu einer klaren Torchance kommen, geht das Aufstöhnen des Publikums im Vergleich zu sonst nur wie ein Raunen durch das Stadion. Trimmel fragt aus heiterem Himmel: »Wie gut kennen Sie eigentlich Bonsdorf?« Gerber zuckt die Achseln. »Nicht sehr gut, ich war vielleicht zweimal da…« »Hatten Sie damals in irgendeiner Form mit dem Bonsdorfer Skandal zu tun?« »Quatsch!« sagt Gerber. »Überlegen Sie doch mal – ich war doch derjenige, der Sie auf die Idee gebracht hat, daß es da überhaupt einen gegeben hat!« »Ich war ja inzwischen in Bonsdorf…« »Ich weiß!« Und dann lügt Trimmel faustdick: »… und da hab’ ich gehört, daß damals ein paar Journalisten ganz schön abkassiert hätten…« »Wofür denn?«
»Na, dafür, daß die Sache nicht allzu groß in die Zeitungen kam! Und nun frag’ ich mich, ob Sie nicht zufällig auch dabei waren…?« Gerber bleibt ruhig. »Ehrenwort, nein! Ich hätte gar nicht schreiben können; ich hab’ seinerzeit bloß was munkeln hören, nicht mehr und nicht weniger…« »Aber Sie kannten Spindel?« »Mausbach, meinen Sie?« »Herrgott – als wenn’s darauf ankäme!« »Damals kam’s darauf an«, sagt Gerber bedächtig. »Der Name Spindel wurde damals mit keiner Silbe erwähnt! Aber bitte… Mausbach hab’ ich damals höchstens zweimal von weitem gesehen. Da hieß es, das ist der Mann, der…« Er stockt, als er Trimmels Gesicht sieht. »Zweimal von weitem?« fragt Trimmel. »Trotzdem konnten Sie mir dieser Tage sofort mit Sicherheit sagen, daß Louis Spindel mit Mausbach identisch ist?« »In meiner Branche kommt es genauso auf ein gutes Personengedächtnis an wie in Ihrer«, sagt Robert Gerber gelassen. »Sagen Sie mal – hab’ ich etwa die Ehre, in Verdacht geraten zu sein?« Bevor Trimmel antworten kann, erzielt – in der 19. Spielminute – unten auf dem grünen Rasen der Freiburger Spieler Mießner das eins zu null für die Süddeutschen aus der Regionalliga; eine Sensation deutet sich an. Mießner macht vor Freude zwei Klimmzüge an der Querlatte des Hamburger Tores und vier Minuten später prompt das zwei zu null, diesmal mit einem Hackentrick. »Da scheint ja einiges schiefzulaufen!« sagt Gerber argwöhnisch. Endlich, in der 35. Minute, läßt sich der Hamburger Bubi Hönig im Freiburger Strafraum so dramatisch fallen, daß der Schiedsrichter sofort auf den Elfmeterpunkt zeigt. Der
Hamburger Winkler legt sich umständlich den Ball zurecht, läuft an und schießt so unplaziert, daß der Freiburger Torwart den Ball erwischen kann. »Mein lieber Mann!« sagt sogar Trimmel. Zur Halbzeit steht es immer noch zwei zu null für den Außenseiter Freiburger Sportclub.
»Sie, ehrlich… mir wird jetzt erst klar, was Sie mir da unterstellen«, sagt Gerber in der Pause. »Da lach’ ich mich doch halbtot – ich soll ‘n Mörder sein…« »Das behauptet kein Mensch!« sagt Trimmel. »Doch!« behauptet Gerber. »Ist doch wahr! Haargenau dieser alte Schnack… trau keinem Bullen über Dreißig! Sie zwingen einen ja gerade zur Aggression!« »Lassen Sie endlich den Unfug!« Trimmel lenkt ab. »Was ich immer schon mal fragen wollte – wie war das diesen Sommer eigentlich mit dem Bundesligaskandal?« »Meinen Sie etwa, mit Namen und Daten?« fragt Gerber. »Ich bin kein Lexikon…« »Strukturell reicht«, sagt Trimmel. »Wer hat da eigentlich wen reingeritten?« »Strukturell müssen Sie vor allem streng zwischen Vereinen und Spielern unterscheiden – Vereine haben bestochen, Spieler haben kassiert. Aktive Korruption, passive Korruption, so gesehen…« »Aha.« Und dann, endlich, kommt er, wenn auch auf Umwegen, wieder auf die Gegenwart zu sprechen – auf die Frage, die Olga Mausbach aufgeworfen hat und die ihn seit Bonsdorf plagt. »Die Sache mit dem Elfmeter vorhin: mußte der Schiedsrichter den geben?« »Mußte nicht«, meint Gerber. »War eine reine Ermessensfrage…«
»Aha…« Pause. »Wieviel verdienen Schiedsrichter in der Bundesliga eigentlich?« »Nichts, natürlich«, sagt Gerber erstaunt. »Wie kommen Sie auf die Idee?« »Ach, nur so. Aber die Leute kriegen doch bestimmt anständig Spesen?« »Bahnfahrt Erster Klasse oder Flugkarte, glaub’ ich – gutbürgerliches Hotel, Spesensatz unter dreißig Mark… aber was soll das?« »Denken Sie doch mal nach…« Gerber starrt ihn plötzlich an. »Meinen Sie im Ernst, daß einer auf den glorreichen Einfall kommen könnte, den Schiedsrichter zu bestechen?« »Ja, und…?« »Mein lieber Mann«, sagt Gerber. »So leicht ist das allerdings nicht!« Er erklärt Trimmel, daß jeweils vor Beginn einer Bundesligasaison rechtzeitig eine Liste der in Frage kommenden Schiedsrichter aufgestellt wird; das sind im Zweifelsfall einige Dutzend. Dafür zuständig ist der Schiedsrichterausschuß des Deutschen Fußballbundes, und im übrigen steigen Schiedsrichter genau wie Vereine sowohl in die Bundesliga auf als auch aus der Bundesliga ab. Denn bei vielen Spielen sitzen unerkannt zwei Kollegen auf der Tribüne und verteilen Noten – von Sehr gut bis Ungenügend. Es ist grundsätzlich eine große Ehre, eine sogenannte Spitzenbegegnung in der Bundesliga pfeifen zu dürfen. »Trotzdem«, sagt Trimmel. »Nachdem wir gerade selber gesehen haben, daß es bei Schiedsrichterentscheidungen Ermessensfragen gibt…« »Schminken Sie sich das doch endlich ab!« »… kann ich doch eigentlich davon ausgehen«, fährt Trimmel unbeirrt fort, »daß Spindel oder Mausbach in dieser
Hinsicht womöglich doch die eine oder andere Lücke gefunden hat, bei der er ansetzen konnte…« Gerber schüttelt den Kopf. »Selbst wenn wir da was unterstellen würden: auf jeden Fall wär’s verdammt teuer: Schiedsrichter sind unheimlich ehrpusselig. Und von wem sollte Mausbach das Geld gehabt haben?« »Von einem Herrn Prack vielleicht?« fragt Trimmel.
Die Partie läuft inzwischen weiter – und genau in dieser Sekunde, in der 57. Spielminute, erzielt der Däne Ole Björnmose endlich das eins zu zwei für die Hamburger. Die fünftausend Zuschauer brüllen, wie fünftausend Zuschauer nur eben brüllen können. »Wer ist Prack?« fragt Gerber, als der Lärm abebbt, allerdings nicht mehr erstirbt. Denn der HSV-Angriff kommt nun offenbar doch auf Touren. »Prack ist derjenige, der Mausbach bis zuletzt immer Geld geschickt hat…« »Ich kenne keinen Spieler und keinen Funktionär, der Prack heißt«, sagt Gerber. »Auch keinen Spielervermittler oder dergleichen, und ich kenne viele Leute…« Seltsamerweise klingt es nicht sehr überzeugend. Und während dem Freiburger SC jetzt langsam die Puste ausgeht, wie ein aktueller Mann von der Reporterbank aus seiner Redaktion telefonisch übermittelt, während der HSV überlegen wird – währenddessen formt sich in Trimmels Hirn ein abenteuerlicher Gedanke. »In dieser Minute fällt das erlösende Tor zum zwei zu zwei«, kommentiert der aktuelle Mann begeistert, »Winkler ist der Torschütze, der damit den verschossenen Elfmeter wiedergutmacht – im Anschluß an einen Freistoß von Charly Dörfel, dessen fußballerische Zukunft in Hamburg nicht mehr
die sicherste ist – das Spiel ist zu Ende, die letzte Chance des HSV bringt nichts mehr ein…« Zwei zu zwei: ein gerechtes Ergebnis. Nach dem mit zwei zu eins gewonnenen Hinspiel in Freiburg ist der HSV im Pokal eine Runde weiter. »Wie sieht’s aus?« fragt Trimmel. »Wollen wir noch ‘n Bier trinken?« »Nein!« sagt Gerber rundheraus. »Ich bin verdammt müde von der Reise – ich möchte nach Hause…« »Dann eben nicht!« sagt Trimmel. Fast widerwillig nimmt er die Hand, die ihm Gerber hinstreckt.
Gerber wohnt Rodigallee 87 – das weiß Trimmel längst. Laß ihm ruhig einen Vorsprung, denkt er. Und fährt gemächlich wie nie quer durch Hamburg. Ein großes, rotes Mietshaus zwischen anderen großen, roten Mietshäusern. Die Zahl 87 ist erleuchtet, der Name Gerber und ein Dutzend andere lassen sich per Knopfdruck erleuchten. Trimmel läutet. Der Summer surrt: Gerber ist zu Hause. In der dritten Etage steht er am Treppengeländer und macht nicht den Eindruck, als käme ihm der Besuch sehr gelegen. »Sie…?« fragt er gedehnt. »Darf man eintreten?« fragt Trimmel. »Es ist nicht aufgeräumt…« »Aber ich bitte Sie…« »Außerdem hab’ ich Besuch…« »Na, wenn schon!« sagt Trimmel heiter. Wortlos geht Gerber voran. Die Wohnung ist nicht nur aufgeräumt, sondern tadellos aufgeräumt – der Besuch muß hinter der Tür sitzen, die von der Diele rechts abgeht. Die Tür ist geschlossen. »Also, was liegt an?«
»Moment«, sagt Trimmel schnaufend, »ich bin Treppensteigen noch nicht wieder gewöhnt…« Auf dem Tisch im Wohnraum steht ein Tonbandgerät, und er unterdrückt den Impuls, das Band ein Stück zurücklaufen zu lassen und die Wiedergabetaste zu drücken. »Mir ist da noch eine Frage eingefallen«, sagt er statt dessen, »wann weiß man eigentlich, welche Schiedsrichter welche Spiele leiten werden?« »Das wird jeweils Anfang der Woche bestimmt. Steht wahrscheinlich montags fest und geht dienstags über Fernschreiber an dpa und den Sportinformationsdienst. War’s das?« Er ist wirklich nervös – sonst gar nicht seine Art. »So daß jemand«, sagt Trimmel bedächtig, »der einen Schiedsrichter bestechen wollte, praktisch vier Tage Zeit hätte.« »O Gott«, sagt Gerber, »haben Sie’s immer noch nicht aufgegeben?« »So schnell geb’ ich nie auf!« antwortet Trimmel. Und dann, als alles nichts hilft, wird er ziemlich massiv und unverschämt. »Wollen Sie mir nicht mal Ihren Besuch vorstellen?« »Es ist eine Dame…«, sagt Gerber verlegen. »Um so lieber!« »Ich möchte aber nicht…« »Ich weiß, daß es eine Dame ist!« sagt Trimmel freundlich. Drei Sekunden lang hält Gerber den blauen Augen stand. Dann geht er in die Diele, öffnet die Tür zum Wohnzimmer oder zum zweiten Schlafzimmer oder was für ein Raum das sein mag, und sagt leise: »Komm rüber ins Wohnzimmer. Er geht doch nicht…« Er duzt das Mädchen. Das Mädchen ist eine Frau. Frau Olga Mausbach aus Bonsdorf. »Das ist aber eine Überraschung, gnädige Frau!« sagt Trimmel herzlich. »Sie kennen Herrn Gerber? Also, daran hätte ich nicht im Traum gedacht!«
»Wir kennen uns seit vorgestern abend«, sagt Gerber, »kurz nachdem Sie weg waren. Nur damit Sie keine falschen Schlüsse ziehen…« »Um ehrlich zu sein, heute abend habe ich offenbar den richtigen Schluß gezogen!« antwortet Trimmel. »Also, ich fürchte, das alles müssen Sie beide mir noch näher erklären…« Er hätte Robert Gerber und Olga Mausbach sicherlich zur Vernehmung mit ins Präsidium nehmen können. Aber als Olga Mausbach dann sagt, es sei ja wohl schon ziemlich spät – es geht inzwischen auf Mitternacht –, und sie sei fürchterlich müde, läßt er sich merkwürdigerweise darauf ein. Vielleicht ist er selber müde. Vielleicht traut er den beiden, Gerber vor allem, immer noch keine hundertprozentigen Schlechtigkeiten zu. »Ich habe Frau Mausbach in meiner Eigenschaft als Reporter gebeten, mit nach Hamburg zu kommen!« sagt Gerber. »Um hier Brüderschaft zu trinken?« fragt Trimmel. »Auch das«, sagt Gerber. »Es gibt eben Leute, die sind sich von Anfang an sympathisch…« »Ja, ja…« Trimmel denkt an sein erstes Gespräch mit Gerber. »Dann will ich mal gehen!« Um zehn Uhr vormittags, das versprechen sie hoch und heilig, werden sie sich bei ihm im Präsidium am Berliner Tor einfinden.
9
Um neun Uhr vormittags an diesem Donnerstag erfährt Höffgen zufällig bei einem besonders pingeligen Waffenhändler hinter dem Rathaus, daß ein gewisser Robert Gerber im vergangenen Jahr eine nicht waffenscheinpflichtige Kleinkaliberwaffe gekauft hat. Es ist der achte oder neunte Händler, den er besucht, und die Augen tränen ihm – soviel Seiten Waffenbücher hat er schon lesen müssen. »Was das für ‘ne Waffe war, wissen Sie nicht mehr?« fragt Höffgen. Der Händler schüttelt den Kopf. »Vermutlich eine Luftpistole, vier komma fünf Millimeter Kaliber, aber so genau…« So genau ist nicht mal er, meint er. Höffgen sagt’s trotzdem durch ins Präsidium, daß Robert Gerber offenbar doch schon mal einen Abzug betätigt hat, bei welcher Waffe auch immer – und Trimmel ist ihm ungewöhnlich dankbar. »Mach man so weiter, du bringst es noch zu was!« Höffgen kennt die Zusammenhänge noch nicht. Er schüttelt verständnislos den Kopf.
Pünktlich um zehn erscheinen einträchtig Robert Gerber und Olga Mausbach. »Gut geschlafen?« fragt Trimmel scheinheilig. »Danke«, sagt Gerber, »was mich betrifft…« Olga Mausbach antwortet erst gar nicht. »Sie wissen, daß Sie nicht aussagen müssen?« sagt Trimmel widerwillig.
Aber Gerber sagt schon: »Ich will!« Und Olga will auch. »Wir können’s ja formlos machen«, schlägt Trimmel vor. »Schießen Sie eigentlich gern?« »Meinen Sie mich?« fragt Gerber. »Also, Frau Mausbach hatte ich schon in Bonsdorf gefragt…«, sagt Trimmel. »Ich hab’ ‘ne Luftpistole Marke Falke«, sagt Gerber; »soviel ich weiß, ist Herr Mausbach mit einer anderen Waffe getötet worden…« »Nun sind Sie man nicht so frostig«, sagt Trimmel. »Möchte vielleicht jemand Bier?« Niemand möchte Bier. »Aber so geht’s doch nicht!« sagt Trimmel. »Schließlich sind Sie ja nicht ohne Grund hier… Ich meine Sie, Gerber: Sie gehen einfach her und schleppen mir eine meiner wichtigsten Zeuginnen ab!« »Also, ich verbitte mir…« »… ja, ja, ist ja gut! Aber wer hat Ihnen eigentlich diese glorreiche Idee eingeblasen?« »Sie selbst!« sagt Gerber überraschend. »Als Sie in Wuppertal aus dem Zug sprangen, hab’ ich sofort zwei und zwei zusammengezählt…« »Das heißt also«, kombiniert Trimmel, »Sie sind bis Hagen gefahren und von dort nach Bonsdorf?« »Hhhmm…« »Wann waren Sie denn in Bonsdorf?« »Montag morgen. Sie wohnten im Kickers Eck und wurden kurz darauf des Platzes verwiesen…« Ein bißchen grinst er jetzt doch. »Hat richtig Spaß gemacht, Sie bei der Arbeit zu beobachten…« »Sehr komisch…«, sagt Trimmel. »Und was haben Sie am Sonntag gemacht?«
»Da war ich bei einem alten Freund, bei der Westfälischen Rundschau, und hab’ mich mal gründlicher über diesen Bonsdorfer Skandal erkundigt…« »Und?« Er zuckt die Achseln. »Sieht so aus, als ob Mausbach doch ‘ne ziemlich dubiose Rolle gespielt hat…« Olga sitzt neben ihm und verzieht keine Miene. Sie weiß am besten, daß er Trimmel da nichts Neues sagt. Trotzdem… als Witwe muß man oft doch wohl ziemlich starke Nerven haben. »Was hat Sie denn bewogen«, fragt Trimmel, »plötzlich derart massiv in den Fall einzusteigen?« »Gott, was schon?« sagt Gerber. »Das Übliche. Ich hab’ Frau Mausbach klargemacht, daß sie und vor allem Herr Mausbach in der nächsten Zeit so oder so durch die Medien geschleift werden – und daß sie dann für die angekratzte Ehre ihres Mannes eine Menge tun kann, wenn sie den Fall aus ihrer Sicht schildert. Beispielsweise im Mittag… sie sah das auch ein, und ich hab’ sie unter Vertrag genommen…« »Exklusiv?« »Ja!« Gerber grinst plötzlich wieder, wenn auch nur schwach. »Daß Frau Mausbach und ich uns mittlerweile duzen, was Sie, Trimmel, gestern so gestört hat, also das geht in meiner Branche meistens ziemlich schnell…« »Früher«, sagt Trimmel, »hieß das Eingriff in ein schwebendes Verfahren…« »Nee, nee«, protestiert Gerber, »in der Hinsicht kann ich Sie beruhigen! Ich werd’ nichts veröffentlichen, bevor Sie mir grünes Licht gegeben haben! Ich wär’ bestimmt in den nächsten Tagen zu Ihnen gekommen…« »Ja, sicher – sobald Frau Mausbach alles komplett auf Tonband gesprochen hätte…« »Allerdings – aber das ist völlig legitim! Jede Geschichte lebt von der Farbe, und die hätte in diesem Fall selbst dann gefehlt,
wenn ich hundertprozentig alle Fakten von Ihnen gekriegt hätte! Die Farbe konnte mir wirklich nur Frau Mausbach liefern – entschuldige, Olga, aber wir haben ja bereits darüber geredet…« Olga nickt. »Haben Sie denn wenigstens mehr rausgekriegt als ich?« erkundigt sich Trimmel. »Über was?« »Na ja – vielleicht über Prack…?« An Gerbers Stelle sagt Olga Mausbach: »Von Herrn Prack hat Louis mehrfach gesprochen – in den letzten Monaten, bevor er nach Hamburg zog!« Sie blickt Trimmel fest in die Augen. »Es ist mir leider erst wieder eingefallen, nachdem Sie Bonsdorf verlassen hatten – Louis nannte den Namen im Zusammenhang mit dieser… dieser Schiedsrichterproblematik. Einmal sagte er, Prack hieße gar nicht Prack…« »Sondern?« fragt Trimmel gespannt. »Das hat er zwar nicht gesagt«, sagt sie, »aber er behauptet, der Herr sei Präsident eines Bundesligaklubs, und er – Louis – würde ihn ganz schön melken. Es war übrigens eine von den Situationen, die ich erwähnte: er hatte ziemlich viel getrunken…« Trimmel denkt nach; eine Weile sagt niemand was. »Wieviel könnte ein Schiedsrichter kosten?« Gerber schüttelt den Kopf. »So simpel können Sie die Frage nicht stellen, Herr Trimmel! Erinnern Sie sich mal an unser allererstes Gespräch… wir waren uns einig, daß der Ansatzpunkt für eine spielbeeinflussende Bestechung immer der einzelne Spieler ist…« Er gerät in einen annähernd dozierenden Ton, und die Sache ist, aus seiner Sicht, inzwischen ja wohl auch tatsächlich zu einer Art Wissenschaft geworden. »Vor allem ältere Spieler sind da anfällig, wie die Soziologen festgestellt haben und die Praxis zeigt – sind immer die schwächsten Glieder in der gesamten bisher
aufgedeckten Korruptionskette und im Zweifelsfall paradoxerweise sogar ziemlich… na ja, preiswert…« »Preiswert?« wiederholt Trimmel, geradezu pikiert. Die Bestechungssummen im ›großen‹, noch immer nicht ganz ausgestandenen Bundesligaskandal – Beträge bis zu zweihundertfünfzigtausend Mark im Einzelfall – fallen bei ihm nicht automatisch unter die Kategorie preiswert. »Doch, doch – im Vergleich zu dem, was die Jungs verdient haben, als sie ihre besten Jahre noch in den Schuhen hatten, sind das Trinkgelder! Inzwischen hat sie dann ‘ne Art Panik ergriffen, daß das große Geldverdienen bald vorbei ist, weil die Knochen nicht mehr wollen – und jetzt komm’ ich auf Ihre Frage zurück: genau die Angst gibt’s bei ‘nem Schiedsrichter nicht! Denn der macht seinen Job, im Gegensatz zu ‘nem Spieler, nie hauptberuflich, sondern weil er Spaß an der Freude hat – und deshalb, meine ich, wär’s unverhältnismäßig teuer, ihn einzukaufen. Auf der anderen Seite…« Diesmal läßt Trimmel ihm Zeit. »…ich hab’ zwar noch nie von ‘nem korrupten Schiedsrichter gehört. Aber vom Ansatz her ist es nicht so abwegig, daß sich mal ‘n einzelner sagt, weshalb soll ich mich nicht mal ‘n Jahr gesundstoßen? Und falls er’s geschickt anfängt: warum soll’s nicht gutgehen?« Trimmel hat immer noch die großen Summen im Ohr. Wenn man die als Maßstab nimmt, denkt er, fallen Spindels hunderttausend Mark in Wertpapieren sicherlich kaum aus dem Rahmen; sie könnten tatsächlich eine einmalige Abfindung für treue Dienste gewesen sein, begangen an Schiedsrichtern. Interessanter wäre dann schon die wöchentliche ›Rente‹, aufs Jahr umgerechnet etwa dreißigtausend Mark – die fällt zumindest dann ins Gewicht, wenn man bedenkt, daß Louis nach dem Autopsiebericht organisch völlig gesund war und von daher hundert Jahre alt
hätte werden können. Und nun mal unterstellt, daß Abfindung und Rente von Prack stammen… »Im Endeffekt hätten Sie da wirklich ein astreines Mordmotiv!« sagt in diesem Moment der kriminalistische Außenseiter Gerber, als könne er Gedanken lesen. Gleich darauf fällt ihm zum Glück noch ein, daß sich seine Fröhlichkeit ausgerechnet in Gegenwart der Witwe des Ermordeten Bahn bricht, und er macht eine Geste, als wolle er nach ihrer Hand greifen. »Entschuldige, Olga…« Sie nickt – und tatsächlich, sie lächelt ihn an! In diesen paar Tagen sind sich Olga Mausbach und Robert Gerber offenbar doch schon recht nahe gekommen. Trimmel räuspert sich. »Weiter!« »Weiter geht’s nicht!« sagt Gerber. »Wir wissen nicht, wer Prack ist – leider! Wir haben uns die ganze letzte Nacht noch das Gehirn zermartert, Olga und ich… aber da ist nicht mehr drin, und ich weiß nicht mal, ob überhaupt was dran ist!« Er sieht Olga an, und sie sieht ihn an, als wollten sie sich gegenseitig zur Wahrheit ermahnen. Am Ende trägt die Sache dann wenigstens moralisch Früchte. Olga sagt unvermittelt: »Aus meiner heutigen Sicht würde ich es Louis ohne weiteres zutrauen, daß er Schiedsrichter zu bestechen versucht hat!« Das ist wahrscheinlich der ehrlichste Satz, den Trimmel bis jetzt von ihr gehört hat – effektiv derart ehrlich, daß er bis zuletzt seine gestern noch wichtigste Frage vergißt: Wo sich Olga in jener Nacht von Mittwoch auf Donnerstag in Hamburg rumgetrieben hat. Am Bahnhof, in den Vier Jahreszeiten, bei der Heilsarmee… aber was soll’s noch, denkt er, als er wieder allein ist. Und diesmal, wenigstens, hat er recht.
Dieser Donnerstag, der 16. Dezember, an dem aus dem Verdächtigen Robert Gerber letztlich dann doch wieder der fach- und sachkundige Fußballberater wird, ist ansonsten noch zäher als der Mittwoch. Er ist überhaupt der zäheste Tag in der gesamten Mordermittlung Spindel-Mausbach, die inzwischen schon in die zweite Woche geht, von der Auffindung der Leiche an gerechnet, und es gibt eigentlich gar keine logische Begründung für Trimmels Gefühl: bald kracht’s! Denn bei Höffgen kracht leider gar nichts. Er hat bis zum Abend sechzehn Waffengeschäfte durchforstet und außer jener Luftpistole nichts gefunden. Bei Petersen und Laumen bleibt schier die Uhr stehen, wenn sie da abwechselnd vor Tuffingers Wohnung warten. Von der mittelalten Stimme schließlich, die sich als Prack gemeldet hat, hört man überhaupt nichts mehr. Warum hat sich diese Stimme so sehr über die falsche Auskunft gefreut, ein Mann namens Tuffinger sei im Mordfall Spindel noch nicht in Erscheinung getreten? Weil Prack der Auftraggeber von Spindel im Fußballgeschäft war und sich heute, nachdem Spindel tot ist, aus irgendeinem Grund vor Tuffinger fürchtet. Das ist die einzig vorstellbare Antwort, zu der sich Trimmel nach einer schlaflosen Nacht im Morgengrauen durchringt. Auf diese Weise fließen der Donnerstag und der Freitag ineinander, und das ist, für den lahmen Donnerstag, die einzige Ehrenrettung. Acht Uhr früh: Besprechung bei Trimmel. »Was ist eigentlich aus Feldmann geworden?« fragt Trimmel und sieht Höffgen an. »Ich hab’ zu tun!« sagt Höffgen hastig. »Ich muß Petersen bei Tuffinger ablösen!« sagt Laumen. »Wann denn?« knurrt Trimmel. »Na, gleich… Gegen elf.«
»Du hast doch wohl nicht alle Tassen im Schrank!« donnert Trimmel. »Bis um elf kannste dich weiß Gott noch um zehn Jonnys kümmern… hoffentlich siehste das ein!« Was bleibt ihm anderes übrig? Zum Glück gibt’s nicht jede Woche einen so strapaziösen Mordfall wie diesen. Höffgen sagt vorsichtig: »Ich hab’ noch drei oder vier Geschäfte auf der Liste… gegen Mittag bin ich wahrscheinlich wieder hier…« »Könnt’ nicht schaden!« sagt der völlig unausgeschlafene Trimmel. Höffgen zieht eilig ab, und Laumen begibt sich an ein ruhiges Telefon.
Höffgen kehrt an den Ursprung des Geschehens zurück, in die Bannmeile Reeperbahn, in die Marxstraße. Hinrichsen & Sohn steht außen an dem Geschäft, dessen Auslagen vor Waffen starren. Innen kommt ein kleines, schmales, offensichtlich jüdisches Männchen auf Höffgen zu. »Was kann ich für Sie tun, mein Herr?« »Unter Umständen ‘ne Menge!« sagt Höffgen. Überflüssigerweise fragt er noch: »Sind Sie Herr Hinrichsen senior oder junior?« »Ich habe das Geschäft vor drei Jahren von Herrn Hinrichsen senior übernommen«, sagt der kleine Mann mit Würde. »Mein Name ist Rosenfeld.« »Höffgen…« Er zeigt ihm die Dienstmarke. »Ich würde gern mal Ihr Waffenbuch einsehen – unter Umständen ein paar Jahre zurück…« »Was ist denn passiert?« fragt Rosenfeld erschrocken. »Reine Routinesache – wir wollen wissen, ob die folgenden Kunden bei Ihnen eine Pistole gekauft haben… eine ganz
bestimmte Pistole…« Das Wort Kunden steht seltsam zwielichtig in diesem Raum am Rand von St. Pauli. Und auf der Liste, die Höffgen vorzeigt, stehen die Namen, die jeder im Umkreis von Trimmel kennt: Hermann Tuffinger, Louis Spindel, Paul(chen) Mausbach, Olga Mausbach, Gustav Prack, Robert Gerber. »Auf Anhieb sagt mir das nichts«, sagt Rosenfeld. »Sie gehen im übrigen gewiß davon aus, daß ich grundsätzlich nur auf ordnungsgemäß ausgestellte Waffenscheine Waffen verkaufe und dieselben dann auch eintrage?« »Natürlich!« sagt Höffgen. Ob’s stimmt oder nicht, kann er sowieso nicht kontrollieren. Er sitzt dann im Büro von Herrn Rosenfeld und nimmt sich zuerst das Waffenbuch des laufenden Jahres vor. Heute ist Freitag, 17. Dezember. Die letzte Eintragung stammt vom letzten Mittwoch. Zumindest in diesem Buch gibt es die auf der Liste stehenden Namen nicht. 1970. Eine Stunde Arbeit für nichts und wieder nichts. In dem Jahr sind die Geschäfte von Herrn Rosenfeld ersichtlich recht gut gelaufen. 1969 – das Jahr der Geschäftsübernahme. Januar, Februar, März, April, Mai – alles Fehlanzeige. Juni, Juli… und dann fangen Höffgens Augen, die vom vielen Zeilenlesen rot sind, über dem Datum vom 17. August 1969 plötzlich zu flimmern an. Stimmt das, fragen die Augen – am 17. August 1969 eine FN Baby 6,35 Millimeter? Vor allem stimmt der Name – der heißeste Name auf der Liste, auf den Höffgen immer schon getippt hat? Und gibt es das überhaupt, gibt’s das heutzutage wirklich, daß mutmaßliche Mörder die Instrumente auf Waffenschein kaufen?
Offenbar ja. Hier steht es schwarz auf weiß im Waffenbuch von Herrn Rosenfeld aus dem Jahre 1969.
Laumen hat zunächst Jonnys Vorgesetzten angerufen, den sie ja schon kennen. »Tut mir leid, Herr Laumen – Herr Feldmann hat ordnungsgemäß Urlaub eingereicht, weil seine Mutter erkrankt ist, und ist noch nicht zurückgekehrt…« Laumen ruft dann Jonny Feldmanns Nummer direkt an, in seiner Wohnung am Großen Burstah. Niemand meldet sich. Weshalb sollte sich auch jemand melden? Selbst ein Mädchen wie Tilly kann man bei der Pflege einer kranken Mutter sicherlich gut gebrauchen. Das wär’s dann eigentlich. Aber weil Trimmel heute morgen ein Ekelpaket war wie lange nicht, ruft Laumen noch das Standesamt Hamburg-Mitte an. »Ein gewisser Jonny, wahrscheinlich Johannes Feldmann«, sagt er, nachdem er sich vorgestellt hat. »Ich möchte gern was über die Eltern wissen…« »Geboren am?« fragt der Standesamtsmensch. »Woher soll ich wissen, wann ein Mensch geboren ist, den ich erst einmal gesehen habe?« fragt Laumen spitz. »Wo wohnt er denn?« »Großer Burstah, unten am Rödingsmarkt.« »Moment…« Wie auch immer – es klappt. »Was wollen Sie denn über die Eltern wissen?« »Vor allem, wie’s seiner Mutter geht!« sagt Laumen. »Also, da müßten Sie ganz präzise mal beim lieben Gott anrufen. Elfriede Feldmann, geborene Bauermeister, ist am sechsten April vierundsechzig im Krankenhaus Sankt Georg verstorben. Sankt Georg – da würde ich schätzen, daß sie
vorher einen Unfall gehabt hat. War damals immerhin schon dreiundsiebzig…« »Danke herzlich!« sagt Laumen und wirft den Hörer auf die Gabel. Wenn das kein Knüller ist… Aber er wird ihn nicht los. Als er zu Trimmel ins Zimmer kommt, platzt er zwar sofort damit heraus: »Feldmanns Mutter ist gar nicht krank, die ist seit sieben Jahren tot!« Trimmel jedoch hat den Hörer am Ohr, nimmt ihn nur für eine Sekunde weg und fährt Laumen an: »Setz dich hin und halt die Klappe!« Dann telefoniert er weiter, »…siebzehnter Neunter neunundsechzig… ja, hab’ ich. Hermann Tuffinger – bist du dir ganz sicher? Prima! Nimm das Buch untern Arm und komm sofort zurück!« Er legt auf mit einer Sanftheit, die ihm Laumen niemals zugetraut hätte. »Tuffinger!« sagt er satt und zufrieden, im Vergleich zu heute früh… Das ist ja erst eine Stunde her! denkt Laumen – ein völlig anderer Mensch! »War das Höffgen?« »Ja, das war Höffgen!« sagt Trimmel. »Tuffinger hat an dem Tag eine FN Baby sechsfünfunddreißig gekauft… Weißt du, was das heißt?« »Allerdings…«, sagt Laumen. Was ist jetzt noch wichtig an Jonnys toter Mutter? »Fahr sofort zu Tuffinger! Greif dir Petersen – bringt ihn sofort her!« Trimmel wirkt regelrecht rachsüchtig. Und dafür hat Laumen volles Verständnis, wenn er an die Stunden und Nächte denkt, die er vor Tuffingers Tür verbracht hat. Sekunden später ist er bereits unterwegs, einmal mehr mit Tempo neunzig. Weit ist es nicht, man könnte fast zu Fuß gehen, wenn man Zeit hätte. Aber die Zeit hat er nicht: Trimmel will Tuffinger…
Der Mordfall Spindel-Mausbach, so sieht’s aus, nähert sich seinem krönenden Abschluß. Nur, Tuffinger haben und Tuffinger finden – das sind zweierlei Hüte.
10
Also, dieser Anruf gestern abend… Tuffinger konnte sich vor Freude kaum einkriegen. Da stochert er nun eine Woche vor sich hin, brütet mit und ohne Whisky über dem Problem, wie er Prack aufstöbern kann, macht eine teure Reise, gerät fast in eine Schlägerei – und dann klingelt’s plötzlich, und Prack ist am Apparat. Prack persönlich. »Herr Schulz…?« fragt er vorsichtig. »Ja, hier Schulz. Tag, Herr Prack…« »Sie haben meine Stimme erkannt?« »Wer würde die nicht erkennen, Herr Prack…« »Haben Sie mit… eh, mit den Ereignissen der vergangenen Woche zu tun? Sie wissen, was ich meine.« Das ist der Punkt. »Aber wie ich damit zu tun habe! Ich hätte Sie schon viel früher angerufen, bloß, Sie können sich denken, daß ich einiges zu tun hatte, um… gewisse Leute nicht auf eine gewisse Spur kommen zu lassen…« »Meinen Sie damit die Polizei?« »Sie müssen wahnsinnig sein, Prack!« sagte Tuffinger mit der seit Tagen einstudierten Lässigkeit. »Solche Worte nimmt man doch nicht in den Mund!« Angstvoll: »Ist Ihr Telefon denn angezapft?« Tuffinger vermied zum zweitenmal die Anrede ›Herr‹. »Vermutlich nicht, mein lieber Prack. Aber in unserer« – unserer! – »Situation kann man gar nicht vorsichtig genug sein!« »Na schön«, sagt Prack, »seh’ ich ja ein. Außerdem ist unsere Geschäftsbeziehung damit ja wohl erloschen…«
»Bis auf eine Kleinigkeit«, sagte Tuffinger hinterhältig. »Bis auf die kleine Prämie. Die wollten Sie mir doch sicher morgen früh persönlich nach Hamburg bringen, oder?« Prack zögert. »Warum eigentlich?« »Weil ich sonst das gesamte Material zu Geld machen würde, Herr Prack. Ich sollte es eigentlich wirklich tun, denn da kann ich bestimmt viel mehr verdienen…« »Ist das nicht gefährlich für Sie?« Wieder Tuffinger, diesmal auf den Punkt: »Ich bin in dieser Geschichte kein Risiko eingegangen. Ich habe dafür gesorgt, daß ein bestimmter Mann Ihnen künftig keine Schwierigkeiten mehr machen wird. Und Sie kommen mit dem Frühzug hier in Hamburg an – mit dem Kies! Ich erwarte Sie ab elf im Wartesaal Erster Klasse!« Das war das von Tuffinger dramatisch hochgespielte Ende des Gesprächs: Er hat den Hörer einfach auf die Gabel geknallt. So schmierig dieser Tuffinger auch sein mag, auf Menschen versteht er sich. Gerade auch auf die Pracks dieser Welt… Gestern abend hätte er jede, aber auch jede Wette gehalten, daß Prack anderntags mit den Kohlen, Mäusen oder Piepen überkommt.
Morgens um sieben hat es ihn nicht mehr gehalten. Er ist aufgestanden, hat sein letztes Geld zusammengekratzt, etwas über zweihundert Mark von der letzten Löhnung plus die winzigen Ersparnisse von den Löhnungen davor, und hat das Haus verlassen… Genau zu dem Zeitpunkt, zu dem Trimmels zuverlässigster Mann, der Leichenbestatter Petersen, beschlossen hatte, sich an dem Automaten hundert Meter weiter neue Zigaretten zu holen. Und natürlich ging Tuffinger genau in der entgegengesetzten Richtung davon.
Petersen, melancholisch wie nie zu dieser frühen kalten Stunde im Dezemberdunkel, ahnt bis jetzt noch nicht, daß der Vogel ausgeflogen ist. Halb acht – noch dreieinhalb Stunden, dann kommt Laumen zur Ablösung. Lange Unterhosen und ein dicker Mantel helfen überhaupt nicht gegen die kalte Unlust. Aber es geht dann schneller, als Petersen erwarten konnte. Es geht allerdings auch dramatischer vonstatten, als er es sich gewünscht hätte. Tuffinger hat sich beim Bahnhofsfriseur rasieren und kämmen lassen, ist mit der Taxe nach St. Pauli gefahren und hat einen Massagesalon mit Frühbetrieb aufgesucht. Solche Adressen kennt Tuffinger aus dem Hut, da ist er ein sehr guter Detektiv. Auf jeden Fall soll man einen so wichtigen Tag wie den heutigen entspannt verbringen. Die Frühschicht, die flink zu Werke geht, gähnt noch etwas. Aber arbeiten, denkt der Kunde, müssen wir alle.
Und dann ist es halb zehn, und bei Petersen trifft jetzt schon sein Kollege Laumen ein. »Wir sollen ihn sofort mitbringen!« sagt Laumen. »Er ist reif…« Also stürmen sie die Festung Tuffinger mit lautem Klingeln und Klopfen – so laut, daß nach einiger Zeit aus der Nachbarwohnung ein verschlafener Mann in einem gestreiften Schlafanzug herausschaut. »Was machen Sie denn hier für’n Lärm?« fragt er. »Wir wollen zu Herrn Tuffinger!« sagt Petersen. »Aber der ist doch schon um halb acht Uhr weg – gerade als ich nach Hause kam!« sagt der Mann.
»Danke!« sagt Petersen belämmert und verbittert. Der Mann macht die Tür wieder zu. »Da war ich gerade mal Zigaretten holen. Wülste eine?« Aber Laumen raucht nicht. Laumen ist voller Mitgefühl; so was kann jedem passieren. »Dann wolln wir mal beten…« Gemeinsam gehen sie auf Gefechtsstation in den Hauseingang gegenüber.
Gegen halb elf erreicht Hermann Tuffinger – wieder mit dem Taxi, heute ist er König – den Hauptbahnhof und geht in den Wartesaal Erster Klasse. Der ist gar nicht so weit von seiner Wohnung am Hansaplatz entfernt, aber wer soll wissen, daß er hier ist? Seit über drei Stunden denkt Tuffinger nun schon darüber nach, daß er in ein paar Minuten das größte Geschäft seines Lebens machen wird, das größte und das krummste. Er sieht Herrn Prack seit über drei Stunden fast körperlich und greifbar vor sich – Prack und das Geld: ein Kamelhaarmantel, kompakte blaue Hunderterbündel in einem aufschnappenden, hocheleganten Aktenköfferchen… Hunderterbündel lassen sich am besten zählen, und sie lassen sich am einfachsten ausgeben. Tuffinger trinkt Apfelsaft. Als zwei hübsche Mädchen kommen und ihn fragen, ob die anderen Stühle am Tisch noch frei sind, sagt er ungnädig, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit bei hübschen Mädchen: »Nein!« Und dann kommt Prack. Prack im teuren Kamelhaar; Tuffinger hat recht behalten, und allein das ist schon ein erhebendes Gefühl. Tuffinger bleibt sitzen und winkt ihm nur zu. »Tag, Herr Schulz!« sagt Prack. Tuffinger hebt seinen Hintern gerade zehn Zentimeter hoch. Händeschütteln fällt aus. Prack stellt sein Aktenköfferchen
vorsichtig zwischen die Beine, als er sich hinsetzt – so vorsichtig, als transportiere er Schlangen, Dynamit oder Geld. »Alles klar?« fragt Tuffinger munter. »Überhaupt nichts ist klar!« sagt Prack viel zu laut. Deshalb fragt Tuffinger ironisch: »Wollen wir hierbleiben, oder wollen wir auf den Rathausmarkt gehen? Da gibt’s vielleicht noch mehr Menschen als hier…« »Wie Sie meinen. Viel Zeit hab’ ich nicht für Sie!« »Von mir aus können wir in ‘ner halben Stunde fertig sein«, sagt Tuffinger gönnerhaft. »Ich würde trotzdem vorschlagen, daß wir kurz die Tapete wechseln. Hier gibt’s ‘ne Kneipe kaum hundert Meter weg, da ist um diese Zeit kein Mensch!« Er legt zwei Mark hin, zieht seinen Kamelhaarmantel an, der viel schäbiger ist als der Mantel von Prack, und sagt: »Also…« Sie gehen die kaum hundert Meter stumm und feindselig nebeneinander her. Elf Uhr vormittags. Außer dem Wirt ist tatsächlich niemand in der Kneipe, und selbst der muß erst noch gerufen werden. »Zwei große Bier auf meine Rechnung!« bestellt Tuffinger. »Hamburger Gastfreundschaft, was?« »Ich bitte Sie«, sagt Tuffinger, »solche Lappalien…« Dann endlich nimmt Prack seinen Anlauf. »Da wir gerade von Lappalien reden, Herr Schulz – ich bin nicht etwa gekommen, um Ihnen Geld zu geben, sondern um Ihnen zu sagen, daß ich Ihnen kein Geld gebe!« »Das hätten Sie mir ja gestern am Telefon sagen können!« sagt Tuffinger fröhlich. »Im übrigen wäre ich da nicht so sicher…« »Sie hatten den Auftrag, Louis Spindel zu beschatten«, sagt Prack tapfer. »Wenn Sie ihn dann umgelegt haben, will ich mal eins klarstellen. Mit diesem… eh, Ereignis haben wir auch nicht das geringste zu tun! Und deshalb werden wir auch nicht zahlen!«
»Dann lassen Sie’s bleiben!« Tuffinger alias Schulz spielt den Ärgerlichen. »Dann geh’ ich hin und verkauf’ das Material an die Zeitung!« »Ja, aber das können Sie doch gar nicht – dann kommen Sie doch wegen Mordes dran!« »Denkste«, sagt Tuffinger. »Ich will auch mal was klarstellen. Der Mord an Spindel und der Fußballskandal sind zwei Paar Stiefel – kapiert? Wenn ich den Skandal verkaufe, gehen zuerst Sie hoch. Und wenn Sie dann in Ihrer Verzweiflung sagen, ich hätte Spindel umgelegt – na schön, dann drehen die mich durch den Wolf, okay. Aber dabei bleibt’s. Mir kann keiner was nachweisen – nichts, gar nichts! Ich bin doch kein Anfänger! Außer Ihrer Behauptung würde überhaupt nichts gegen mich sprechen. Kapiert?« Das muß er kapieren, wohl oder übel. Vor allem, da er in seiner Naivität blind an die falsche Auskunft von Trimmel glaubt, der Name Tuffinger sei der Polizei überhaupt noch nicht aufgestoßen. Trotzdem, ein letzter Versuch. »Angenommen, ich gebe Ihnen dreißig Mille…« »Fünfzig!« »… wer garantiert mir denn, daß Sie nicht in drei Wochen wiederkommen und noch mehr kassieren wollen?« »Ich«, sagt Tuffinger, »nur ich. Ich in meiner Eigenschaft als Realist. Denn eins will ich Ihnen sagen, gegen meine eigenen Interessen: Ich mach’ das Geschäft mit Ihnen nicht nur aus Menschenfreundlichkeit, sondern ich hab’ ernsthaft kein Interesse an einer polizeilichen Überprüfung. Das ist nämlich ziemlich lästig. Sonst würde ich die Sache tatsächlich an die Zeitung verkaufen!« »Glauben Sie, Herr Schulz, daß wir gar nichts über Sie wissen? Soll ich Sie der Einfachheit halber mit Tuffinger anreden, Herr Privatdetektiv?«
»Also, bald bin ich’s wirklich leid«, sagt Tuffinger gelangweilt. »Was sind Sie doch für ein Kleinigkeitskrämer! Glauben Sie, ich wüßte nicht, wie ich Sie anreden könnte? Und was für ein krummes Ding Sie mit Spindel gedreht haben? Daß Ihr Verein von rechts und links wegen achtkantig aus der Bundesliga fliegen müßte – achtkantiger als Arminia Bielefeld?« Bluff und Tatsache, etwa halb und halb. »Halten Sie die Schnauze!« sagt Prack erschrocken. Und dann zahlt er fünfzig Mille aus seinem Aktenkoffer unter dem Tisch in Tuffingers schwarze Tasche und geht davon – ein geschlagener Vorstand, ein geprellter Fußballschieber; ein Mann, der beim Pokern verloren hat, weil er nicht bluffen konnte. Bis zur Abfahrt seines Zuges sitzt er frierend im überheizten Wartesaal Erster Klasse. So entgeht ihm die Szene, die sich ein paar hundert Meter von ihm entfernt am Hansaplatz ereignet – eine Szene, die, wenn er sie beobachtet hätte, sein angegriffenes, gut fünfzigjähriges Herz leicht hätte stillstehen lassen können.
Petersen und Laumen, die dort seit geraumer Zeit mißgelaunt in Hauseingängen herumlungern, sehen sich erst entgeistert, dann grinsend an. »Gott sei gelobt!« sagt Laumen, als Tuffinger urplötzlich auftaucht. »Weiß Gott!« antwortet Petersen wenig logisch. Aber was heißt hier Logik, wenn man bedenkt, daß Trimmel so gut wie gar kein Verständnis dafür hat, wenn seinen Leuten einer durch die Lappen geht, mit dem er dringend reden möchte? Der freiwillig wieder aufgetauchte Tuffinger hat mit seiner dicken Aktentasche den Hauseingang noch nicht erreicht, als Laumen und Petersen rechts und links neben ihm auftauchen. Sie zeigen ihm ihre Ausweise, lassen sich seinen Ausweis zeigen und nehmen ihn fest, das heißt zwischen sich. Dann
gehen sie zu dritt zu ihrem in der Nähe geparkten Wagen und fahren zum Polizeipräsidium. Da hilft Tuffinger alles Protestieren nichts, um so weniger, als Laumen einfach, ohne weitere Formalitäten, mal kurz in seine Aktentasche geguckt hat. »Soviel Geld…!« sagt er andächtig. Richtig glücklich. Und weder er noch Petersen ahnen, daß sie gerade in diesen Minuten einen neuen Fehler machen. Aber wie hätten sie auf die Idee kommen sollen, daß der Geldlieferant noch im Wartesaal sitzt und schwitzend auf den Zug wartet, mit dem er dann endgültig untertauchen wird?
Trimmel wartet schon. Eine dicke Spinne mit der Aussicht auf Beute. »Darf ich bekannt machen?« sagt Petersen höflich; »Herr Trimmel – Herr Tuffinger…« »… oder Schulz«, sagt Trimmel. »Nehmen Sie Platz!« »Ich sage gar nichts!« sagt Tuffinger. »Macht nichts. Ich kann ja reden. Freiwillig…« »Da bin ich aber sehr gespannt!« »Ich nicht«, sagt Trimmel, »ich war’s mal. Nur ‘ne kleine Formalität: wie soll ich Sie denn eigentlich ansprechen, Herr…?« »Ich heiße Tuffinger!« sagt er frostig. »Also, Herr Tuffinger – Sie kannten doch den Herrn Spindel, der manchmal mit Herr Mausbach angesprochen wurde und inzwischen ja leider verstorben ist…« Wenn er den Erfolg scheinbar so dicht vor Augen hat, direkt auf der anderen Seite des Schreibtischs, kann Trimmel unheimlich jovial sein. »Wie erklären Sie sich die Tatsache, daß Sie am Abend vor Spindels Ermordung mit ihm in derselben Gaststätte gesessen haben?« »Ich sagte schon, ich sage nichts!«
»Richtig, ich erinnere mich! Ist ja auch nicht so wichtig. Jedenfalls, Sie haben sich mit ihm unterhalten. Nach einer Weile hat er sich verabschiedet – und dann passierte was Seltsames. Zwanzig Sekunden später verlassen Sie ebenfalls das Lokal und gehen hinter ihm her. So eilig, daß Sie zehn Mark auf den Tisch legen und nicht mal das Wechselgeld abwarten…« »Ich bin eben ein großzügiger Mensch!« Und dann redet er doch – wie die allermeisten. Gewöhnlich lügen sie, aber sie reden. Sie lügen Stückwerk, versuchen, sich zu verteidigen, schreien oft nicht mal nach dem Rechtsanwalt, weil sie glauben, sie könnten sich viel besser selbst verteidigen. »Überlegen Sie doch mal, Herr Hauptkommissar…« Als Privatdetektiv kennt er sich mit Titeln und Dienstgraden aus. »Ich hab’ mein Büro und meine Wohnung am Hansaplatz. Ich trink’ schon mal ganz gern einen, wenn ich gerade nichts zu tun hab’. Ich hab’ da sogar ‘ne Art Stammkneipe, Zum Mann im Mond heißt die – das ist doch bestimmt die Kneipe, die Sie meinen?« »Richtig!« sagt Trimmel heiter. »Na schön. Da hab’ ich Louis Spindel vor vier oder fünf Wochen zum erstenmal gesehen. Wir haben uns unterhalten – so ganz allgemein. Dann hab’ ich ihn noch drei- oder viermal zufällig getroffen; mal hat er einen ausgegeben, mal ich – kommt’s auf ‘ne Mark an, wenn man schon mal einen hebt?« »Auf eine Mark bestimmt nicht. Aber auf fünfzig Mille im Zweifelsfall doch!« sagt Laumen aus dem Hintergrund. Er und Petersen haben das Geld inzwischen sorgfältig gezählt. Es stimmt. Tuffinger hat noch keine Zeit gehabt, auch nur einen Schein zu wechseln. »Ja, aber das Geld hat doch nichts mit Louis Spindel zu tun!« sagt Tuffinger entrüstet.
»Ach nee! Also, da bin ich anderer Ansicht…« »Ja, wieso denn?« »Ich sag’ ja, ich erzähl’s Ihnen… Sie haben die Mäuse gekriegt, weil Sie Spindel umgelegt haben! Spindel, der in Wirklichkeit Mausbach hieß… Kopfgeld, Meister. Sie saßen in der Klemme und haben sich als Killer verkauft. Stimmt’s?« »Wahnsinn!« brüllt Tuffinger. »Wie kommen Sie auf einen so hirnverbrannten Wahnsinn!« »Ich kann’s beweisen!« sagt Trimmel friedlich. »Sollen wir uns die Zeit nehmen?« »Sie verplempern Ihre Zeit!« Aber er ist verdammt angeschlagen. Er hat das Geld kassiert, weil er behauptet hat, er habe Spindel-Mausbach umgelegt. Und jetzt sitzt er vor einem Polizisten, der im Ernst behauptet, er habe SpindelMausbach umgelegt… Was tun, um aus der Falle zu entwischen und das Geld trotzdem zu behalten? Während der Fahrt vom Präsidium zum Hansaplatz fällt es Tuffinger wie Schuppen von den Augen: Dieser Trimmel ist doch derselbe scheinbar betrunkene Kerl, der ihn neulich im Bahnhof von Bonsdorf schräg von der Seite angequatscht hat – derselbe Kerl, vor dem er getürmt ist, weil er ihn für einen von Pracks Leuten hielt! Während der Fahrt vom Präsidium zum Hansaplatz denkt aber auch Paul Trimmel vor sich hin. Im Zweifelsfall, denkt er, sind die Beweise gegen Tuffinger doch etwas dürftig. »Wenn Sie mich hier schon zu Unrecht verdächtigen«, sagt Tuffinger plötzlich, »warum haben Sie nicht neulich in Bonsdorf schon den starken Mann markiert?« »Da waren Sie noch nicht reif!« sagt Trimmel. »Und jetzt bin ich’s?« Er lacht meckernd. »Allerdings. Damals wollte ich nämlich erst mal wissen, was Sie bei Olga Mausbach zu tun hatten.«
»Hat Sie’s Ihnen denn erzählt?« »Natürlich… Ich find’s übrigens ganz vernünftig, daß Sie Ihren Besuch in Bonsdorf nicht abstreiten.« Hansaplatz, vierter Stock. In der Diele der ziemlich schmutzigen, unaufgeräumten, stockig riechenden Wohnung stehen ein paar vergammelte Stahlschränke. Trimmel zieht eine Schublade auf. »Das dürfen Sie gar nicht!« sagt Tuffinger. »Na gut – dann lassen wir’s eben!« Trimmel schiebt die Lade mit den vergilbten Papieren und Karteikarten angewidert wieder zu. »Da sind doch sowieso höchstens richtige Mäuse drin!« In der Diele liegt ein nachgemachter, billiger Perserteppich, der unter anderem die Farbe Rot enthält. »Haben Sie Spindel hier umgelegt?« »Ach, hören Sie doch auf!« »Er hatte Teppichflusen am Anzug, als wir ihn fanden. Rote Flusen.« »Und?« sagt Tuffinger. »Jetzt bringen Sie bestimmt ‘n Sachverständigen auf die Beine, von wegen, daß die Flusen von meinem Teppich stammen… So was haben Sie doch vor, oder?« »Vielleicht«, sagt Trimmel geduldig. »Aber zeigen Sie mir erst mal Ihre Pistole!« »Ich hab’ keine!« »Da sieh an! Haben Sie nicht vor drei Jahren ‘ne FN sechsfünfunddreißig gekauft? So was kann man überprüfen, und wir haben’s überprüft…« »Ich hab’ seit zwei Jahren keine Pistole mehr!« sagt Tuffinger, allmählich verzweifelt. »Ich hab’ sie verkauft!« »An wen?« »Ich hab’ ‘n Waffenschein!« sagt Tuffinger anstelle einer Antwort.
»Zeigen Sie her…« Diesmal stimmt’s. Ein gültiger Waffenschein, ordnungsgemäß vom Bezirksamt HamburgMitte ausgestellt. »Da möcht’ ich doch mal wissen«, sagt Trimmel, »was für einen speziellen Freund Sie da haben!« »Ich bin Privatdetektiv!« sagt Tuffinger mit Betonung. »Na und?« Privatdetektive kriegen allenfalls ›nach Bewährungsprobe‹ einen Waffenschein, und dieser Tuffinger hat bestimmt noch keine solche Probe absolviert. Immerhin, der Schein ist echt – etwa zur selben Zeit ausgestellt, in der er in der Marxstraße die FN 6,35 gekauft hat, etwa vor drei Jahren. »Wo ist die Waffe?« Tuffinger sieht ein, daß er sich vorhin verplappert hat. Man darf keine Waffen verkaufen, die man selbst nur mit Lizenz erworben hat. Er versucht, mit der einzig möglichen, wenn auch reichlich dummen Ausrede aus der Klemme zu kommen. »Mir fällt’s jetzt ein«, sagt er, »ich hab’ sie natürlich nicht verkauft, sondern nur verliehen. Ein Kumpel von mir wollte mal auf dem Schießstand ein bißchen üben, das ist ja wohl noch nicht verboten…« »Wie hieß der Kumpel?« »Ob Sie’s mir glauben oder nicht… ich hab’s vergessen!« sagt Tuffinger kläglich. »Is’ ja schon ‘ne Weile her. Ich könnt’ Ihnen den Mann beschreiben, aber den Namen, den Namen…« »Reden Sie keinen Stuß«, sagt Trimmel, leicht verärgert. »Im Zweifelsfall haben Sie das Ding an einen Ganoven verkauft, und das kann ganz schön peinlich für Sie werden…« »Hab’ ich nicht!« »Dann überlegen Sie mal«, regt Trimmel an, »ob Sie den kleinen Ballermann nach der Ermordung von Louis Spindel nicht doch in die Elbe geworfen haben…«
»Nein, in die Alster!« sagt Tuffinger erschöpft. »Bitte, Herr Hauptkommissar, geben Sie’s auf, Sie können mir den Mord nicht anhängen, und diese Kleinigkeit mit der Pistole, also, bitte…« Fast kommen ihm die Tränen, so sehr fühlt er sich in seiner eigenen Höhle in die Enge getrieben. Immerhin – er war’s wirklich nicht. Er weiß lediglich, wer’s gewesen sein könnte. Nur, wenn er das sagt, wird die Sache für ihn verdammt heikel, die Sache mit dem ersten großen Geld seines armseligen Lebens. Man muß zumindest nach der Waffe suchen, denkt Trimmel. »Müssen wir uns wirklich die Mühe mit dem Durchsuchungsbefehl machen?« fragt er Tuffinger. »Also gut – suchen Sie…« »Sagen Sie mal«, fragt Trimmel, während er planlos herumstöbert und erstaunlicherweise letztlich doch weder eine Waffe noch richtige Mäuse findet, »fühlen Sie sich eigentlich unter Druck gesetzt? Da spricht doch einiges gegen Sie?« Tuffinger zuckt immer noch die Achseln. Stur wie ein Panzer, denkt Trimmel und wühlt weiter in alten Korrespondenzen, in staubigen Briefschaften mit dem Aufdruck Hermann Tuffinger, Privatdetektiv, Spez. Scheidungsermittlungen. Tuffinger nimmt dann doch noch einen Anlauf. »Angenommen, der Mann wär’ wirklich hier umgekommen. Soviel ich weiß, ist er im Stadtpark gefunden worden – stand ja in der Zeitung… Wie soll ich ihn wohl dahingekriegt haben, hier vom Hansaplatz aus, wo Tag und Nacht was los ist?« »Hier gibt’s soviel Besoffene«, sagt Trimmel, »da kann man leicht mal ‘ne Leiche abschleppen!« »Ihre Phantasie möcht’ ich haben!« sagt Tuffinger.
Der nächste Schauplatz ist die Gaststätte Zum Mann im Mond. Der Gastwirt, der Tuffinger im Grunde nicht leiden kann, hat sich bekanntlich freiwillig bei der Polizei gemeldet und die Mitteilung gemacht, Tuffinger und der abgebildete tote Spindel hätten sich in seiner Kneipe mehrfach getroffen. Der Gastwirt hat einer Konfrontierung mit Tuffinger ausdrücklich zugestimmt. »Also…?« fragt Trimmel. »Ja, sicher; am Abend vor dem Europacup-Spiel mit Inter Mailand hat Herr Tuffinger mit dem anderen Herrn hier gesessen. Vorher mindestens acht- bis zehnmal.« »Aber das wissen wir doch alles!« sagt Tuffinger. »Bloß, es hat Ihnen noch nie jemand ins Gesicht gesagt!« sagt Trimmel. Der Gastwirt schlägt immerhin die Augen nieder; allmählich ist es ihm doch peinlich – sein Stammgast Tuffinger… »Haben Sie gehört, worüber die beiden gesprochen haben?« Der Wirt schüttelt den Kopf. »Bruchstücke. Über Fußball meistens. Der eine, dieser… dieser…« »Spindel!« sagt Trimmel. »… dieser Spindel hat mal gesagt, wenn der Ball noch an der Mittellinie ist, kann er schon riechen, ob es ein Tor wird oder nicht…« Tuffinger sagt: »Soll ich Ihnen Zeugen dafür bringen, Herr Hauptkommissar, daß ich von Fußball nicht viel mehr weiß als die Tatsache, daß zweiundzwanzig Leute auf zwei Tore spielen?« »Ein Schiedsrichter ist auch dabei!« sagt Trimmel versonnen. Anschließend hüllt er sich erst mal in Schweigen. Tuffinger wartet. Dann, als es ihm zu dumm wird: »Können wir nicht zurück in Ihr Büro fahren?« Vielleicht, weil dort immer noch das große Geld liegt. Fünfzigtausend in einer schäbigen Tasche.
»Also, eigentlich wollte ich noch in den Stadtpark…«, sagt Trimmel. »Ich will aber nicht in den Stadtpark!« »Warum denn nicht?« fragt Trimmel harmlos. »Ich kann Stadtparks nicht leiden, schon gar nicht im Winter. Sie können mich nicht zwingen!« Der Gastwirt geht dazwischen. »Wollen die Herren vielleicht ‘n kühles Blondes?« »Gern«, sagt Trimmel. »Nein!« sagt Tuffinger. Aber dann trinkt er doch eins, und Trimmel, einer Eingebung aus dem Hinterkopf folgend, sagt plötzlich: »Geben Sie Herrn Tuffinger ‘n Whisky dazu, auf meine Rechnung, pur, ohne Eis!« Ein bißchen unfair, zugegeben. Vor allem, weil Petersen beobachtet hat, daß Hermann Tuffinger den Whisky gelegentlich flaschenweise trinkt. Heute trinkt er ihn nicht, heute kippt er ihn. Sein Gehirn entspannt sich sofort. Man sieht alles sofort rosiger, sogar einen Mord, der einem angehängt werden soll. »Noch einen!« sagt Trimmel. Noch einen. »Ich will wirklich nicht in den Stadtpark, Herr Hauptkommissar! Wozu auch? Erwarten Sie, daß ich zusammenbreche oder so, der Mörder am Tatort? Ich brech’ bestimmt nicht zusammen, denn ich bin nicht der Mörder!« »Wofür haben Sie das Geld denn sonst gekriegt?« Da, endlich, sieht Tuffinger ein, daß es keinen Zweck mehr hat, mit der ganzen Wahrheit hinter dem Berg zu halten. »Ich sollte Louis Spindel beschatten. Ob er sich mit Presseleuten trifft, mit Fußballfritzen, mit wem sonst…« »Für fünfzig Mille?« »Ja…«
»Und wer war dieser… dieser Krösus?« »Ein Herr Prack!« sagt Tuffinger. »Haben Sie sicher schon mal gehört. Aber wie der wirklich heißt, weiß ich wahrscheinlich ebensowenig wie Sie!« Und das ist tatsächlich die Wahrheit, auch wenn’s Trimmel nicht glaubt.
Trimmel besteht darauf, die beiden Whisky zu bezahlen. Dabei fragt er plötzlich den Wirt: »Haben Sie auch Mittagstisch?« »Ja, klar«, sagt der Wirt, »kann ich empfehlen – meine Frau kocht selbst!« Trimmel zu Tuffinger: »Haben Sie was dagegen, mir Ihre Geschichte hier zu erzählen?« »Wenn’s sein muß… na schön!« Also setzen sie sich zu zweit in ein stilles Eckchen. Auf dem Weg dorthin steckt Trimmel ein paar Groschen in einen Spielautomaten namens Goldene 7. Und die Geschichte, die ihm Tuffinger jetzt fast sprudelnd erzählt, die Geschichte ist so verrückt, daß er nicht mal merkt, wie der Hauptgewinn von zwei Mark aus dem Kasten klappert. »Sie haben gewonnen!« sagt der Wirt fast vorwurfsvoll und bringt ihm das Geld. »Haben die Herren schon was gefunden?« »Zweimal Labskaus!« sagt Trimmel, ohne Tuffinger zu fragen. Der kriegt’s kaum mit, nickt nicht mal. »… war wirklich so: Ich sitz’ hier rum, und da kommt einer rein, der sich später als Louis Spindel herausstellt, und setzt sich einfach zu mir an den Tisch, obgleich noch ‘ne Menge anderer Tische frei sind. ›Was dagegen?‹ fragt er. ›Warum?‹ sag’ ich. ›Na, dann ist ja gut!‹ grinst er. Wir kommen ins Gespräch, und irgendwann fragt er mich, was ich denn so mache. Na ja, warum soll ich’s ihm nicht sagen – ich bin Privatdetektiv. ›Das find’ ich ja Klasse!‹ sagt er; ›hamse viel zu tun?‹ Es geht, mein’ ich, es könnte
besser sein. Na, meint er, über den Fall muß er mal nachdenken, ob wir uns nicht am nächsten Abend wiedersehen können? Als ich zögere, sagt er, er gibt auch einen aus. Na schön…« Der Wirt kommt, legt die Bestecke auf und stört. »Am nächsten Abend sagt er dann, wenn er mich anheuern würde, wär’ ich doch verpflichtet, die Klappe zu halten? Das würd’ ich schon tun, sag’ ich. Und dann legt er los. Ich soll nach Köln zu diesem Prack gehen und ihm sagen, ich hätte ihn – Louis Spindel – in Hamburg kennengelernt und könnte ihn beschatten. Versteh’ ich nicht, sag’ ich erst mal zu Spindel. Dann will er’s mir näher erklären! meint er…« Schon wird das Labskaus serviert; das gilt in Hamburg offenbar als eine Art Fertiggericht. Unaufgefordert zwei Bier dazu. »Nun lassen Sie uns mal in Ruhe essen!« sagt Trimmel ungnädig zum Wirt. Und reden, meint er. »… und dann kommt er auf den Fußball. Dieser Prack, spricht er, ist ‘n dicker reicher Mann im Bundesligageschäft, wobei es mich nichts angeht, bei welchem Verein, und ich soll keine falschen Schlüsse ziehen, daß er in Köln wohnt, ich soll am besten überhaupt keine Schlüsse ziehen. Jedenfalls hat er, Spindel, mit diesem Prack ‘n ganz krummes Dings gedreht, Spiele verschoben, daß es nur so rauscht – da ist der ganze Bundesligaskandal ‘n Klacks dagegen. Und deshalb hat ihm der Prack ‘n Vermögen gezahlt und außerdem ‘ne wöchentliche Abfindung in alle Ewigkeit. Bloß, sagt Spindel, er traut dem Prack nicht und hat Angst, er kann ihm an den Kragen gehen…« »Essen Sie mal ‘n Happen!« sagt Trimmel. Ihm selbst schmeckt’s wie seit längerem nicht. »Ach, mir schmeckt’s heute nicht so besonders…« »Wegen Ihrer fünfzig Mille?«
Tuffinger lächelt gequält. »Die müssen Sie mir bestimmt wieder rausgeben…« »Erzählen Sie weiter!« »Da kommt noch ‘n komisches Ding dazwischen. Spindel fragt mich, ob Detektive einen Ausweis haben. Ja, sicher, sag’ ich und zeig’ ihm meinen. Er steckt ihn einfach ein und sagt, er läßt mir ‘n neuen machen bis morgen abend, und übermorgen hab’ ich ihn wieder. Übermorgen hab’ ich aber nicht nur meinen wieder, sondern gleich zwei. Meinen auf Tuffinger, und den zweiten auf Schulz, ‘ne perfekte Fälschung… Also, der Junge war tatsächlich schräg, ich hätt’ mich doch nicht mit ihm einlassen sollen!« »Mit dem falschen Ausweis sind Sie dann zu Prack gefahren?« »Genau. Und ich schwör’s Ihnen, Herr Hauptkommissar – ich hab’ bei dieser einzigen Gelegenheit den falschen Ausweis Schulz gebraucht, im Interesse meines Klienten, und dann nie wieder!« »Wo wohnt Herr Prack?« »Weiß ich nicht«, sagt Tuffinger, »da war eins so merkwürdig wie’s andere. Spindel ging an dem Abend hier in dieser Kneipe ans Telefon. Er hat mich vorher instruiert, wählt ‘ne Kölner Nummer, die ich nicht erkennen kann, und gibt mir den Hörer und sagt: ›So, jetzt frag nach Prack, und sag’ dein Sprüchlein auf!‹ Tatsächlich, Prack war dran, und ich sag’ folgendes: ›Herr Prack, mein Name ist Schulz, ich bin Privatdetektiv. Ich biete ungern meine Dienste an, aber in diesem Fall könnte es ganz gut für Sie sein!‹ ›In welchem Fall?‹ sagt Prack. Darauf ich: ›Es geht um Louis Spindel, der hat mir im Suff Dinge erzählt – wenn er die anderen Leuten erzählt, die nicht so rechtschaffen sind wie ich, dann amen! Wenn ich Sie wäre, Herr Prack, ich würde ihn Tag und Nacht beschatten lassen…‹ Und ob Sie’s glauben oder nicht, Herr
Hauptkommissar, der Prack bestellt mich doch, gegen Spesen, für den nächsten Tag zum Kölner Hauptbahnhof!« Allmählich ist Trimmel geneigt, dem Mann zu glauben. Eine so verrückte Geschichte kann man nicht erfinden. Außerdem paßt sie haargenau in das Bild von Louis Spindel alias Paul Mausbach, dem Mann mit den zwei Namen, dem Mann mit der irrwitzigen, im Zweifelsfall aber gewinnträchtigen Phantasie – dem Mann, der noch als Leiche gegrinst hat. »Prack sitzt im Kölner Bahnhof im Restaurant, links vor dem Ausgang die Treppe hoch, hat ‘n Kamelhaarmantel an und ‘n Kölner Stadtanzeiger vor sich, ganz wie verabredet. Ich zeig’ ihm den Ausweis mit Schulz drauf, und er sagt: ›Was wissen Sie von Louis?‹ Meine Antwort hab’ ich mit Louis abgesprochen: ›Ich weiß noch nichts Bestimmtes, Herr Prack, er hat nur gesagt, er weiß ein ganz krummes Ding von Ihnen in Sachen Bundesliga, und eines Tages geht er damit an die Öffentlichkeit und kassiert noch mehr Geld, als er schon von Ihnen kassiert hat…‹ Also, Herr Hauptkommissar, der ist so was von blaß geworden, das können Sie sich überhaupt nicht vorstellen!« Allmählich möchte Trimmel wirklich wissen, was das für ein haarsträubendes krummes Ding gewesen ist. »Haben Sie’s jemals rausgekriegt? War’s was mit Schiedsrichtern?« »Das Stichwort war mal gefallen«, gibt Tuffinger zu, »aber Louis hat mir nichts Näheres gesagt, und mir war’s ja auch völlig egal. Ich könnt’ mir denken, daß da von Prack über Spindel als Mittelsmann ‘ne dicke Schiedsrichterbestechung gelaufen ist – warum sonst so viel Geld? Und die ganze Geheimniskrämerei sogar mir gegenüber? Jedenfalls gibt mir Prack spontan den Auftrag, Spindel zu beschatten, gleich bei diesem ersten Treff in Köln – da hatte Louis schon richtig kalkuliert…«
Trimmel überlegt. »Was wollten Sie denn neulich bei Olga Mausbach in Bonsdorf, wenn Ihnen diese ganzen Bundesligaund Schiedsrichtergeschichten völlig egal sind?« »Na ja…« Er druckst herum. »Darauf können Sie eigentlich selbst kommen…« »Nämlich?« fragt Trimmel. »Meine Güte, ist doch völlig klar – ich wollte wissen, wer Prack wirklich ist!« »Und? Wissen Sie’s jetzt?« »Leider nicht…« »Mann«, sagt Trimmel, »wenn Sie einen beschatten, müssen Sie doch ‘ne Telefonnummer haben! Wie wollen Sie dem Auftraggeber denn sonst Bericht erstatten?« »Also, eins stimmt«, antwortet Tuffinger, »ich mußte Prack jeden Freitag um elf anrufen, und das hab’ ich auch getan. Da gibt’s aber ‘ne Vorgeschichte, und die war genau so mit Louis abgesprochen wie alles andere. In Köln am Bahnhof sagt Prack: ›Meine Nummer haben Sie ja‹ – und ich sag’: ›Ja, sicher.‹ Aber in Wirklichkeit hatt’ ich sie natürlich nicht… Louis ist freitags immer gegen elf bei mir aufgekreuzt, hat die Prack-Nummer gewählt und mir dann den Hörer rübergegeben – genau wie beim erstenmal…« »Aha. Und wie haben Sie Prack jetzt erreicht?« »Ich hab’ versucht wie ein Wahnsinniger, ihn zu finden, und hab’s nicht geschafft. Da meldet er sich gestern von sich aus und sagt, er bringt mir das Geld…« »Die fünfzigtausend Kopfprämie also…« »Kopfprämie?« »Ja. Für den Mord an Spindel…« Tuffinger schüttelt den Kopf. »Eben nicht! Weshalb erzähl’ ich Ihnen denn diese ganze Geschichte?« »Was weiß ich! Momentan spricht jedenfalls nichts dagegen, daß Sie Louis…«
»Doch!« behauptet der Detektiv. »Eins spricht massiv dagegen. Daß Sie nämlich ‘ne Menge von meiner Geschichte ganz leicht nachprüfen lassen können!«
Der Wirt vom Mann im Mond bestätigt, daß Spindel und Tuffinger sein Telefon vor längerem tatsächlich gemeinsam für ein Ferngespräch benutzt haben und Spindel hinterher eine Rechnung von annähernd zwanzig Mark bezahlt hat. »Meine damalige Rückfahrkarte nach Köln kann ich Ihnen in meinem Büro raussuchen!« bietet Tuffinger an. Außerdem, sagt er, ist seine Telefonrechnung in den letzten beiden Monaten sprunghaft in die Höhe gegangen – wegen der langen Gespräche mit Prack, wie er behauptet. Trimmel nickt. »Sie haben jedenfalls zwei Herren gedient – ist das nicht Parteiverrat?« »Streng genommen, ja«, gibt Tuffinger zu. »Aber ich konnte ja schon deshalb keine Staatsgeheimnisse verpfeifen, weil ich keine kannte!« »Auch ‘ne Moral… Was haben Sie übrigens von Prack kassiert?« »Sechzig Mark am Tag – plus zwanzig Mark Spesen. Und bevor Sie weiterfragen: er hatte mir in Köln fünf Mille in bar gegeben, damit war der bisherige Betrag abgedeckt. Demnächst wär’ jetzt also wieder mal ‘ne Zahlung fällig gewesen – so oder so…« »Und die fünfzigtausend?« »Also das, Herr Hauptkommissar«, sagt Tuffinger bedrückt, »das müssen Sie mir einfach glauben. Wenn ich’s schaffte, daß Louis zwei Jahre lang tatsächlich die Klappe hielt, wurde für mich ‘ne Prämie in dieser Höhe fällig. Und nachdem er seine Klappe nun für immer hält…« Trimmel starrt ihn an wie eine Spinne.
»…na ja – nachdem er nun so oder so nichts mehr sagen kann, hatte ich die Prämie eben gekriegt! Das ist das Geld in meiner Aktentasche. Prack hat es mir heute bezahlt – zehn Minuten, bevor Ihre Leute mich festnahmen!« »Haben Sie ihn nach Hamburg bestellt?« »Nein – ich kenn’ seine Nummer wirklich nicht!« Irgendwo sitzt da ein Haken. »Ist Prack der Meinung, daß Sie Spindel doch umgelegt haben?« »Ja…«, sagt Tuffinger zögernd. »Haben Sie ihn umgelegt?« »Nein! Fangen Sie doch nicht schon wieder an!« »Aber Sie haben Prack in dem Glauben bestärkt…?« »Herrgott, ja!« sagt Tuffinger. Und dabei zittert er derartig heftig, daß er sein Bier umstößt, als er danach greifen will, und es Trimmel über die Hose kippt. Er entschuldigt sich nicht mal, und Trimmel nimmt’s nicht tragisch, sondern nur ein Taschentuch zu Hilfe. »Jedenfalls hab’ ich mir die Prämie ehrlich verdient, Herr Hauptkommissar!« »Wir werden sehen«, sagt Trimmel. »Für mich stehen Sie immer noch unter Mordverdacht!« Was nämlich, denkt er, spricht tatsächlich dagegen, daß der schräge Hermann Tuffinger der Mörder des noch schrägeren Louis Spindel ist? So logisch Tuffingers phantasievolle Geschichte auch sein mag: Kann’s nicht sein, daß Louis ihm aus einer seiner vielen Launen heraus den zwielichtigen Job gekündigt hat? Daß er von daher seinem geheimnisvollen Auftraggeber Prack nichts mehr berichten konnte – und daß er dadurch mehr oder weniger vor der totalen Pleite stand?
Trimmel hat gezahlt; sie haben den Mann im Mond verlassen und sind ins Präsidium zurückgefahren. Da hält Höffgen die
Stellung – die anderen sind in anderen Dingen unterwegs. »Wie war es im Stadtpark?« fragt Höffgen. »Er wollte nicht hin«, sagt Trimmel. »Er behauptet, er war es nicht…« »So ein Quatsch!« sagt Höffgen naserümpfend und läßt die beiden in Trimmels Zimmer allein. Dieser Kunde kriegt nichts zu trinken angeboten, denn Leute seines Schlages mag Trimmel überhaupt nicht leiden. Hermann Tuffinger, der Mann, der den einen Kunden bespitzelt und den anderen auch und dafür doppeltes Geld kassiert… irgendwo geht die Geldgier zu weit. »Wieviel hat Ihnen eigentlich Louis gezahlt?« »Wie’s so kam. Hier ein Schein und da mal einer… nichts Regelmäßiges…« »Von den fünfzig Mille Kopfgeld haben Sie ihm ja bestimmt nichts erzählt?« »Es war kein Kopfgeld – und wenn Sie’s noch tausendmal sagen…« Dann eben andersherum. »Was haben Sie Louis Spindel denn überhaupt erzählt?« »Zwangsläufig alles«, sagt Tuffinger. »Er saß ja immer neben mir, wenn ich mit Prack telefonierte.« »Wie oft haben Sie Prack getroffen?« »Echt bloß zweimal. Das letztemal heute…« »Und was haben Sie mit dem bisherigen Geld gemacht?« »Hauptsächlich Schulden bezahlt. Hier und da mal ein Fläschchen. Oder ein Mädchen…« »Wie lange wollten Sie die beiden Kühe noch melken?« »So lange wie möglich. Bloß…« Bloß, den Rest kann sich Trimmel wirklich selbst zusammenreimen: Spindel hat Tuffinger aus drei Gründen bei Prack eingesetzt. Erstens wurde er – Spindel – dadurch auf niederträchtige Weise bei Prack aufgewertet. Zweitens wollte
er vermutlich seinen Anteil an dem Geld, das Prack an Tuffinger zahlte – bestimmt einen Anteil an den Fünfzigtausend. Drittens mußte Spindel ja damit rechnen, daß Prack ihn beschatten lassen würde – und da wollte er sich seinen Beschatter, nämlich Tuffinger, lieber selbst aussuchen… »Das Groteske ist, daß Sie Spindel hier in Hamburg dann tatsächlich beschattet haben, ohne sein Wissen«, sagt Trimmel zu Tuffinger. »Sie wollten nämlich über ihn an den noch größeren Fisch heran – an den eigentlichen ominösen Fußballskandal, von dem Spindel immer faselte und von dem kein Mensch außer ihm und Prack was wußte. Stimmt’s?« Ja, es stimmt. »Ein Schwein!« murmelt Tuffinger. »Ein Teufel…« Vermutlich meint er Spindel, aber Trimmel bezieht’s auf sich und unternimmt trotzdem nichts. »Ich hab’ Spindel nicht erschossen«, sagt Tuffinger tonlos, »aber ich sag’s noch mal: als er tot war, hab’ ich mich bei Prack als Mörder ausgegeben und meine fünfzigtausend kassiert…« »Also doch. Fünfzig Mille Kopfgeld, wenigstens aus der Sicht von Prack…« Tuffinger sieht Trimmel an. Ganz ruhig plötzlich. »Okay. Ich will Ihnen mal was sagen… ich kann mir denken, wer Louis tatsächlich umgelegt hat. Inzwischen muß ich es ja auch nicht mehr für mich behalten…« »Wer denn?« sagt Trimmel perplex. »Wie er heißt, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wo er wohnt, und daß er ‘ne Freundin hat. Die hat ihm nämlich dabei geholfen…« »Im Großen Burstah?« fragt Trimmel atemlos. »Ja, genau! Da ist Louis am Abend, nachdem ich ihn zuletzt im Mann im Mond gesehen hatte, verschwunden. Ich hab’ drei
Stunden gelauert draußen. Und dann ist so ‘n Riesenkerl mit ‘nem Opel gekommen, raufgegangen und nach ‘ner Weile mit einem Teppichbündel wieder runtergekommen. Das Mädchen hat ihm tragen geholfen. Ich möcht’ wetten, daß der alte Louis da drin war!« »Höffgen!« schreit Trimmel. Höffgen erscheint. »Sofort los! Nimm die Knarre mit. Irgendeiner soll auf diesen Tuffinger aufpassen, der soll hier warten…« Wie die Rocker rasen sie durch die Stadt zum Großen Burstah, zur Wohnung von Jonny Feldmann. »Wenn der die Tilly inzwischen man nicht auch umgelegt hat und in den Stadtpark befördert hat!« sagt Trimmel voller Angst und Ahnung. »So als einzige Mitwisserin…«
11
Aber sie liegt nicht im Stadtpark. Sie liegt immer noch in Jonny Feldmanns Wohnung am Großen Burstah, ihrem Zuhause für die letzten Jahre, und fault vor sich hin. Jonny Feldmann sitzt geistesabwesend neben der Leiche, neben den Überresten seiner toten Tilly, und trinkt ihren Gin, ihr Lieblingsgetränk – außer Männern ihr ein und alles. Und er versucht immer wieder, mit ihr ein Gespräch anzufangen. »Soweit hätt’s wirklich nicht kommen müssen, Mädchen!« sagt er. »Und wenn du jetzt hundertmal muksch bist und keine Antwort gibst… Du mußt doch zugeben, ich hab’ dir von Anfang an gesagt, das nimmt kein gutes Ende… Das kann gar kein gutes Ende nehmen…« Was sollte sie dazu sagen, selbst wenn sie es noch könnte? Jonny ist ständig betrunken, aber niemals sinnlos; immer so um die zwei Promille, und das seit Tagen. Man gewöhnt sich an alles. Und sicher hat Jonny recht, auch wenn er nicht so ganz klar ist, durch den Alkohol und überhaupt – sicher hat Jonny recht, wenn er sagt: »Du hast mich doch um den Verstand gebracht, Mädchen, siehst du das wenigstens ein?« Merkwürdigerweise war sie bekleidet, als er sie umbrachte, so wenig bekleidet sie sonst meist war – als hätte sie noch eingesehen, daß Kleider nicht nur zum Ausziehen da sind… allerdings erst dann, als es zu spät war. »Und da liegst du nun und stinkst vor dich hin«, klagt Jonny. »Wie soll das bloß weitergehen? Was mach’ ich denn bloß mit dir? Dich nimmt doch nicht mal ‘n Beerdigungsunternehmer mehr an…«
In der Diele vor der Wohnküche kratzt und scharrt was, und selbst Jonny hört es. Er steht auf und geht leicht schwankend an den Küchenschrank, öffnet eine Schublade, sieht das böse Ding, das Schießeisen – und ekelt sich plötzlich mehr davor als vor Tilly. Vor der, so sehr sie auch immer stinken mag, ekelt er sich nämlich überhaupt nicht. Er schiebt die Schublade wieder zu, schwankt zurück zu seinem Stuhl und setzt sich wieder hin. Außerdem ist das Scharren verschwunden. Er greift zur Ginflasche, schenkt sich ein neues Glas ein, ein Wasserglas, dreiviertel voll. Und er merkt gar nicht, daß sich die Tür zur Wohnküche lautlos und langsam öffnet – und daß erst eine Pistole, eine andere, größere Pistole, zur Tür hereinkommt. Und dann die Polizei… »Hände hoch!« sagt Höffgen. »Ach, Scheiß!« sagt Jonny. Er hat die Flasche noch in der Hand, als er sich umdreht. Blitzschnell wirft er sie plötzlich nach der Pistole, die auf ihn gerichtet ist. Zum Glück trifft er nicht. »Nicht schießen!« schreit Trimmel. Aber Höffgen sieht auch so, was hier los ist. Er hat den Finger nicht mal am Abzug. Trimmel geht würgend zum Fenster; Höffgen gibt ihm Feuerschutz, den er nicht braucht. Trimmel geht mitten durch den Gestank, der ihnen schon gleich hinter der nicht verschlossenen Tür entgegengekommen ist; er steigt über Tillys Leiche, kümmert sich nicht um Jonny Feldmann, reißt das Fenster auf. Höffgen hat sich gebückt, die Flasche ist hinter ihm in der Diele zerschellt; jetzt hält er mit der einen Hand die Pistole und drückt sich mit der anderen ein Taschentuch vor die Nase. Jonny steht langsam auf, er hat nichts mehr zum Werfen.
»Komm, Junge«, sagt Trimmel hastig, »wir wollen dir doch nur helfen!« »Mir helfen?« Jonny dreht sich um. »Und wer hilft ihr?« Niemand mehr. Sie ist nicht nur tot, sie ist schon seit mindestens einer Woche tot. »Ich find’ das gut, daß du bei ihr geblieben bist!« sagt Trimmel. »Bist eben doch ‘n anständiger Kerl…« »Meinen Sie?« sagt er unsicher. »Klar. Dafür kriegst du bestimmt mildernde Umstände. Ein bißchen muß ich dich aber jetzt verhaften, nicht?« Jonny nickt – das sieht er ein. Als Trimmel ihm eine Doppelacht zeigt, streckt er willig die Hände hin. Klick! sagt es. Der Mörder ist gefaßt, und Höffgen steckt erleichtert die Pistole weg. Jonny läßt sich auf einen bunten Kunstledersessel fallen und starrt ins Leere. »Ruf an«, sagt Trimmel, »das Telefon steht in der Diele!« Er beugt sich über Tillys Leiche. »Anscheinend erdrosselt…« Er ruft an Jonny vorbei: »Sie sollen mal gleich was zum Desinfizieren mitbringen!« Früher gab es Mörder, die legten ihren Opfern wenigstens Rosen auf die Brust, damit die Polizei sich nicht so ekeln mußte. Aber Jonny… Was kann man schon von einem Mann verlangen, der offenbar seit längerem den Verstand verloren hat? Jonny steht schwerfällig auf; der Sessel fällt um. Jonny schwankt ein bißchen. Zaghaft lächelt er Tilly zu. »Wo hast du denn Louis Spindel erschossen?« fragt Trimmel väterlich. »Hier…«, sagt Jonny zögernd. »Hier auf dem Stuhl saß er… Bloß, ich war’s gar nicht!« »Wer denn?« fragt Trimmel verblüfft. »Sag’ ich nicht!« sagt Jonny Feldmann trotzig.
Daran hält er sich bis in Trimmels Büro. Trimmel ist sauer, weil er glaubt, er kriegt den Leichengestank heute bestimmt nicht mehr aus den Kleidern. Zwei Korn. Das hilft meist allen Beteiligten – da soll der Bund Deutscher Kriminalbeamter sich hundertmal aufregen, das sei keine reelle Vernehmungsmethode. »Prost, Jonny!« Duzen wird er ihn auch, so lange er mit ihm zu tun hat. »Prost, Chef!« sagt Jonny. Er stinkt, natürlich, noch mehr als Trimmel. Verrückte sagen meist die Wahrheit, wenn sie reden. Und ob Jonny nun einen Mord zugibt oder zwei – das ist selbst bei Verrückten ziemlich egal. »Aber ich hab’s wirklich nicht getan, Chef!« »Wer denn?« »Sagen Sie’s auch bestimmt nicht weiter?« »Das kann ich dir nicht versprechen!« sagt Trimmel, ebenso ehrlich wie traurig. »Aber ich kann dir ganz bestimmt helfen, wenn du’s mir sagst…« »Und wenn ich’s nicht sag’…?« »Dann werden wir uns noch lange unterhalten müssen, und am Ende sagst du’s doch. Wirklich – sag’s doch gleich…« »Ich unterhalte mich aber gern mit Ihnen!« Da mach einer was! »Ich ja auch!« sagt Trimmel. »Aber versteh doch… ich hab’ ja auch noch was anderes zu tun außer dir und Louis Spindel…« »Ja, ja«, sagt Jonny, »aber jeder ist sich doch selber der Nächste, nicht?« Plötzlich weiß er es. Es gibt nur einen einzigen Menschen, denkt Trimmel, den Jonny in seiner Verwirrung nicht verraten würde – einen einzigen Menschen, der, auf andere Art, ebenfalls schon nicht mehr von dieser Welt ist. Den Menschen, den Jonny mit eigenen Händen getötet hat!
Und er sagt’s ihm: »Woher hatte Tilly denn diese Pistole, Jonny? Ich weiß es doch…« Der stinkende Jonny sieht ihn mit entsetzten, riesengroßen Augen an und antwortet vorerst nur mit einem Weinkrampf. Es dauert eine ganze Weile. Aber dann fängt er an zu erzählen, ganz von selbst; stockend zuerst, dann immer flüssiger. Und ganz ruhig… »Ich hatte Spindel immer sein Geld gebracht, und ich hatte mich von Anfang an gewundert und gedacht, da muß doch irgendwas dahinterstecken. Also, diesen Louis, Chef, den hätten Sie kennen müssen – so ‘ne Type gibt’s wirklich nur einmal! Beim drittenmal sagt er plötzlich, Junge, du gefällst mir, heute kriegste kein Trinkgeld, heute trinken wir Brüderschaft! Ich heiße Louis, und wie heißt du? Ich hab’ gesagt, ich heiß’ Jonny… was soll ich sonst sagen? Kam ja auch ‘n bißchen plötzlich…« »Woher kam das Geld?« »Von Gustav Prack aus Köln-Weidenpesch, ElsaBrandström-Straße. Aber den gibt’s da gar nicht, das heißt, diese ganze Straße liegt woanders. Als ich neulich in Köln war, bin ich nämlich extra nach Weidenpesch raus und hab’ nachgeguckt…« »Die Mühe hättest du dir sparen können!« brummt Trimmel. »Wieso denn?« »So schlau waren wir auch schon…« Noch zwei Korn. »Sag mir lieber, wofür er das Geld gekriegt hat?« »Da hat mir Louis gesagt, das ist Schweigegeld für das krummste Ding, das jemals in der Bundesliga gelaufen ist, wovon nie einer was gehört hat. Da hat einer ‘n paar Dinger verschoben, ‘n paar Spiele, mein’ ich, da wußte außer dem falschen Prack und Louis Spindel niemand was von… Aber wer der falsche Prack war, Chef – ich schwör’s, ich hab’s von Spindel nie rausgekriegt!«
»Hhm…« Sechshundert die Woche, und Wertpapiere über hunderttausend. »Dieser Spindel muß sich doch wie ‘n König vorgekommen sein. Warum wohnte er in der schäbigen Pension?« »Er hatte Angst!« sagt Jonny. »Vor Prack?« »Vor wem auch immer, er hatte Angst. Und deshalb hatte er auch seine Pistole immer dabei… Das können Sie sich nicht vorstellen, Chef, wie verrückt das war: Wenn Louis einen in der Krone hatte, legte er das Ding schußbereit vor sich auf den Tisch, ob das nun bei ihm war oder bei mir oder in ‘ner Kneipe. ›So, und nun sollen sie kommen!‹ sagt er… So is’ es nachher ja auch passiert…« »Wie denn?« fragt Trimmel mit Samtpfoten. Aber jetzt redet er weiter – jetzt läßt er sich nicht mehr stoppen. »Er war ‘n paarmal bei mir, und ich glaub’, er hat jedesmal mit Tilly ‘ne Nummer gemacht – Sie kennen sie ja, sie is’ ja nun mal ‘n bißchen verrückt…« Sie war. Na ja. »Er hat’s immer so eingerichtet, daß er was früher kam als ich, und einmal, so ‘ne Woche vor… Na, bevor er tot ging, da hab’ ich die beiden erwischt. Ich bin erst ganz ruhig geblieben; ich bin mit Louis zum HSV gegangen und hab’ gar nicht mit ihm drüber gesprochen. Aber abends, als ich mit Tilly allein war, da hab’ ich sie fürchterlich verprügelt und hab’ gesagt, wenn ich sie noch einmal erwisch’, dann bring’ ich sie um, mit bloßen Händen…« Mit den großen, bloßen Händen, die er jetzt vorzeigt. »Aber an dem Mädchen ist Hopfen und Malz verloren; sie kann, glaub’ ich, nichts dafür… An dem Abend, als das Gladbach-Spiel gegen Inter Mailand, lief, hab’ ich sie auf die Probe gestellt. Louis wollte bei uns fernsehen, und ich hab’ gesagt, er soll mal schon früher kommen, ich hab’ noch in der
Stadt zu tun. Und er soll die Tilly in Ruhe lassen, hab’ ich ihm noch gesagt. Dann bin ich doch früher nach Hause gekommen, als ich angegeben hatte, und was sah ich?« Nun, was schon? »Die beiden liegen auf dem Fußboden und sind fleißig dabei. ›So‹, sag’ ich, ›jetzt ist Sense!‹ Und als ich auf Louis losgehe, um ihm aufs Maul zu hauen, da hat er plötzlich seine Pistole in der Hand und sagt: ›Keinen Schritt weiter, oder ich leg’ dich um!…‹ Was sollt’ ich machen?« »Stehenbleiben«, sagt Trimmel. »Bin ich ja auch. Ich hab’ mich sogar hingesetzt und hab’ gesagt, Louis, er soll die Pistole weglegen; er soll sich auch hinsetzen und wir wollen vernünftig drüber reden. Auf Tilly haben wir dabei gar nicht geachtet. Louis legt seine Pistole so auf den Tisch, daß ich nicht dran kann, er aber schon, wenn’s ernst wird…« »War das Ding schußbereit?« fragt Trimmel. »Natürlich hat er den Schlitten zurückgezogen!« sagt Jonny vorwurfsvoll. »Und dann?« »Dann… dann… Ach, lassen Sie mich endlich in Ruhe!« Er kriegt seinen zweiten Weinkrampf. Trimmel läßt ihm Zeit. Die Geschichte hat ein Loch, denkt er. Größer als das Loch in der Herzgegend von Louis Spindel. »Sag mal, Jonny…« Er sieht mit verquollenen Augen kurz hoch. »Du bist doch ‘n großer Fußballfan, oder?« »Es geht«, murmelt Jonny. »Aber Louis war auf jeden Fall ‘n großer Fan?« Jonny, kaum hörbar: »Der bestimmt…« »Und da soll er als Fußballfan ausgerechnet vor dem InterMailand-Spiel nichts anderes im Kopf gehabt haben als bumsen?«
Jonny druckst herum. »Nun ja… ich bin ja ‘ne ganze Weile vor dem Spiel zurückgekommen; ‘ne halbe Stunde…« »Und?« »Sie wollen’s aber genau wissen. Muß das sein?« »Allerdings.« »Sie waren gerade fertig«, sagt Jonny, plötzlich richtig sauer. »Ich komm’ zur Wohnungstür rein und hör’ noch, wie sie das halbe Haus zusammenschreit… Sie war immer so laut.« »Das hat dich geärgert?« »Das ärgert mich heute noch. Als wir uns an dem Abend gesetzt haben, sag’ ich zuerst: ›Also, Louis, endgültig, was soll der Quatsch mit meinem Mädchen?‹ Und dann macht er einen Fehler: Er fängt an, Tilly zu reizen, und die war nach dem… nachher immer so heikel, so empfindlich. ›Hab dich doch nicht so‹, sagt er, ›wer ist schon Tilly? – Die alte Schlampe, die tut’s doch mit jedem!‹ – ›Das mag ja sein, Louis‹, sag’ ich ruhig, ›aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, in meinem Hause…‹ Er fällt mir ins Wort: ›Ehrlich, Jonny, wenn’s deine Frau wär’, ich hätt’s bestimmt nicht gemacht, aber guck dir doch diese ausgeleierte Tilly an!…‹ Da hab’ ich gemerkt, er hat schwer einen sitzen. Nur, Tilly hat’s nicht gemerkt…« Trimmel spürt es am eigenen Leib, wie die Wut in Tilly hochgekrochen ist, sieht es förmlich, wie sie Zentimeter um Zentimeter aufsteht, wie eine Katze um den Tisch schleicht… »Außerdem, meint Louis, ich soll endlich das Fernsehen anmachen, das Spiel läuft ja schon! Ich geh’ zum Fernseher, Louis sagt noch hinter meinem Rücken: ›Wegen so ‘ner Schnepfe werden wir uns noch den Spaß verderben lassen!‹ Dann, als ich den Knopf gedrückt hab’ und mich umdreh’…« Er muß schlucken. »Die Tilly steht vor Louis, mit seiner eigenen Pistole und als im Fernsehen der Ton kommt, ballert sie einfach los! Genau in die Brust! Louis kann keinen Ton mehr sagen, kippt einfach vom Sessel… Ich sag’ völlig
entgeistert zu Tilly: ›Hoffentlich hat’s keiner gehört! Was machen wir jetzt mit ihm?‹ – ›Wegschaffen!‹ sagt sie eiskalt. ›Nun brauchst du mich nicht mehr zu verprügeln…‹« Weinkrampf Nummer drei setzt ein. Trimmel läßt Jonny abermals in Ruhe. Diese Tilly muß leicht- bis mittelgradig schwachsinnig gewesen sein, beschließt er; anders ist diese absurde Geschichte überhaupt nicht zu erklären. Und dieser Jonny muß schizophren sein, ahnt er, ohne die weiteren Ereignisse zu kennen; äußere Ereignisse wie die Tötung von Louis Spindel haben die bis dahin verborgene Krankheit sichtbar gemacht, haben sie möglicherweise in schauerlicher Form wirksam werden lassen. Denn wie ist Tilly gestorben? Jonny ist wieder so weit. Er schnieft noch ein paarmal, dann macht er brav weiter. »Um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen, Chef… Von dem Augenblick an, wo Louis tot war, da interessierte ich mich auch als Fußballfan nicht mehr besonders für das Spiel…« »Kann ich verstehen!« »Ich wußte nicht mehr, was ich im Moment machen sollte. Hätten Sie’s gewußt?« »Schwer zu sagen…«, sagt Trimmel. »Ich dachte, ich muß mich erst mal um die Leiche kümmern und dann erst um Tilly – ist doch logisch, oder?« »Natürlich!« sagt Trimmel. »Wie habt ihr ihn dann in den Stadtpark transportiert?« »Im Grunde ganz einfach«, meint Jonny. »Ich hab ‘n Kumpel angerufen, der hat ‘n Opel Rekord, und hab’ ihn gefragt, ob er mir die Karre mal für’n paar Stunden leiht. Zuerst hat er gesagt, ich bin ja wohl wahnsinnig, ihn mitten während des Inter-Mailand-Spiels anzurufen, ich soll gefälligst noch mal
anrufen. Später sagt er, na ja, wenn’s unbedingt sein muß, aber ich muß den Wagen abends noch zurückbringen…« Sie haben Spindel, so, wie er war, in den roten Läufer in der Diele eingewickelt; ein bißchen schräg lag er da schon, sogar noch als Leiche. Sie haben ihn zu zweit, Jonny und Tilly, in den Kofferraum des Opel Rekord gepackt und sind mit ihm rausgefahren in den Stadtpark, rein ins Gebüsch; zum Glück war kein Peterwagen in der Nähe. Dann abgeladen und so schnell wie möglich wieder weg. »Tilly war bis zuletzt dabei?« »Die war stabiler als ich«, sagt Jonny Feldmann. »Die hat entschieden die besseren Nerven gehabt, auch als wir Louis aus dem Teppich ausgewickelt haben…« Anschließend haben sie den Wagen zurückgebracht und sind zu Fuß nach Hause gegangen, in den Großen Burstah. »Hast du sie an dem Abend noch verprügelt?« fragt Trimmel. »Ich hab’ mit ihr geschlafen!« sagt Jonny in einem so lässigen Ton, als erinnere er sich an den Kauf von zwei Würstchen. »Es war das letzte Mal, daß ich mit ihr geschlafen hab’. Allerdings muß ich, ehrlich gesagt, eins sagen: es war ungeheuer gut!«
Trimmel zählt es sich an den Fingern ab: Am Mittwoch, dem 8. Dezember, ist Louis Spindel alias Paul Mausbach mit seiner eigenen Pistole von Mädchenhand erschossen worden. Dann haben sie ihn am selben Abend in den Stadtpark befördert. Am Freitag, dem 10. Dezember, hat Jonny Feldmann bei Olga Mausbach angerufen und sich für den nächsten Tag in Köln verabredet. Warum? Die Antwort darauf hat ihm Gaby schon am vergangenen Dienstagabend gegeben: Jonny fühlte sich auf seine verbogene Weise mitschuldig am Tod seines Freundes Louis; Jonny hatte
einen soliden Schuldkomplex, Jonny machte der Frau von Louis ein regelrecht verrücktes Angebot, um sein Gewissen zu beruhigen. Aber ist ein solcher Schuldkomplex dadurch auszuräumen, vor allem, wenn die Frau von Louis das Angebot ablehnt? Kann sich ein solcher Schuldkomplex nicht noch auf andere, verrücktere, im Zweifelsfall grauenhaftere Weise äußern? »Am elften Dezember warst du doch spätabends wieder in Hamburg…?« fragt Trimmel vorsichtig. »Nach dem Kölner HSV-Spiel?« »Ja… War ‘n gutes Spiel im Grunde, auch wenn wir verloren haben. Aber davon abgesehen… Hast du Tilly dann sofort umgebracht?« »Erstens hab’ ich sie nicht sofort umgebracht«, sagt Jonny vorwurfsvoll, »zweitens hab’ ich sie bloß verurteilt und bestraft!« »Bestraft…« Trimmels Stimme ist plötzlich tonlos. »Meinst du – hingerichtet?« »Jawohl«, sagt der mutmaßlich schizophrene Geldbriefträger Jonny Feldmann, »das ist der richtige Ausdruck! Ich mußte allerdings vorher noch meine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Frau Mausbach wollte kein Geld – da hatte ich also keine Verpflichtung mehr, obgleich es besser gewesen wär, man hätt’ alles mit Geld klarmachen können; dann hätt’ vielleicht keiner… na ja. Und noch Samstag abends hab’ ich meinen Boß angerufen…« »Um Mitternacht?« fragt Trimmel ungläubig. »Och, den kenn’ ich ganz gut, der geht samstags nie vor ein Uhr ins Bett! Er hat sich zwar ‘n bißchen gewundert, aber ich hab’ gesagt, meine Mutter ist plötzlich sehr krank, was Blöderes fiel mir momentan nicht ein, und ich kann ab Montag nicht zum Dienst kommen, muß Urlaub nehmen und mich um sie kümmern. ›Na schön‹, sagt er, ›hätten Sie mir zwar auch
Montag sagen können, aber alles klar, alles Gute für die Mama!‹ – ›Danke‹, sag’ ich noch. Und dann wandte ich mich Tilly zu…« »Also so gegen Morgen?« »Quatsch! Wie oft soll ich das noch sagen? Man bestraft ja keinen Menschen ohne Gerichtsverhandlung!« »Du hast über sie zu Gericht…?« Trimmel kann’s nach wie vor nicht fassen. »Ja, natürlich! Wir haben die Nacht auf Sonntag noch ziemlich einen gezwitschert und dabei geredet, und sie hat sich gar nicht schlecht verteidigt…« »Und wenn sie nun freigesprochen worden wäre?« »Unterbrechen Sie mich doch nicht immer!« sagt Jonny heftig. »Das ist ja nun nicht der Fall, und außerdem wär’s ja klar gewesen: einer ist schuldig – und wenn’s Tilly nicht gewesen wäre, dann hätte eben ich…« »… sterben müssen?« »Sterben müssen, jawohl! Haargenau! Aber jetzt weiter, das andere ist doch unwichtig! Gegen Morgen haben wir geschlafen, aber getrennt, und sonntags tagsüber wurden wir ziemlich spät wieder munter. ›Mach uns was zu essen!‹ hab’ ich ihr gesagt, aber da war nicht mehr viel im Haus – sie hat Freitag und Samstag ziemlich viel gefuttert. Deshalb ist sie zum Bahnhof gegangen und hat was geholt… ›Bring vorsichtshalber noch ‘ne neue Stange Konserven mit, Fertiggerichte und so‹, hab’ ich noch gesagt. Macht sie, sagt sie und tut’s dann auch…« »Sie ist am Sonntagmittag aus dem Haus gegangen und zurückgekommen?« »Ja, warum denn nicht?« Möglicherweise eine dumme Frage an einen Geisteskranken, warum ein Mensch freiwillig zu seinem Mörder zurückkehrt – zu dem Mann, der sich als Richter und Henker zugleich
aufspielt… Trimmel fühlt sich immer elender; er hat selten eine so aberwitzige Vernehmung durchführen müssen, ein so irrwitziges Geschehen aufgerollt. »Sie ist sogar sehr pünktlich zurückgekommen«, sagt Jonny. »Sie hat was zu essen gemacht, und wir haben dann weiter geredet. Diesmal nicht sehr viel getrunken dabei, man muß ja seinen klaren Kopf behalten. Ununterbrochen geredet, bis zum nächsten Morgen. Dann stand das Urteil fest, Tilly nahm es an, und es wurde sofort vollstreckt!« Es wurde vollstreckt zur selben Zeit, als Trimmel in Bonsdorf des Platzes verwiesen wurde. Vollstreckt mit den bloßen großen Händen. »Hat sie nicht versucht, dir davonzulaufen?« Wieder eine von diesen verzweifelten Fragen, die aus der Sicht des Kranken schwachsinnig sind. »Ach was!« sagt Jonny traurig. »Sie war ein so einsichtiges Mädchen – sie wußte doch, warum sie sterben mußte! Und wenn da diese ganzen Geschichten von ihr nicht gewesen wären, diese Geschichten, für die sie nicht mal was konnte…« »Warum hast du sie wirklich getötet?« Trimmel ist selten am Ende seiner Nerven, aber im Augenblick ist es fast so weit. »Ich sagte es schon dreimal«, sagt Jonny Feldmann mit kranker, eisiger Würde. »Ich habe Tilly angeklagt, verurteilt und hingerichtet wegen der Tötung meines Freundes Louis Spindel!« »Nicht wegen ihrer Männergeschichten?« »Ganz bestimmt nicht wegen ihrer Männergeschichten! Obwohl, die haben natürlich bei unserer Verhandlung insofern im Mittelpunkt gestanden, als es ohne diese Geschichten nicht zur Tötung von Louis gekommen wäre!« Trimmel glaubt es nicht. Trimmel weiß, daß es so nicht sein kann. Und Trimmel kann nicht mehr. Würgend sagt er: »Warte mal…« Er rennt durch das Vorzimmer, gibt Höffgen gerade
noch ein Zeichen, er soll auf Jonny aufpassen, rennt zur Toilette und übergibt sich heftig.
Als er zurückkommt, sagt Höffgen: »Hier, Chef – die Pistole. Ist gerade angekommen.« Sie lag so gut wie öffentlich in einer Schublade im Küchenschrank von Jonny Feldmanns Wohnung, eine auf den ersten Blick sehr gut erhaltene FN 6,35 Millimeter, ganz wie vermutet. »Allerdings ein tschechischer Nachbau«, ergänzt Höffgen. »War seinerzeit für unter hundert Mark zu kriegen. Wenn wir sie beschießen… Ich wette jetzt schon, daß der gute Louis damit tatsächlich umgelegt worden ist!« »Ich wette nicht dagegen!« sagt Trimmel hustend und macht die Tür seines Zimmers, in dem Jonny Feldmann nach wie vor penetrant vor sich hin stinkt, hinter sich zu. Nur einen Moment ein anderes Thema, sagt er sich, einen Moment weg von der Geschichte über die verwesende Leiche namens Tilly. »Du warst doch der beste Freund von Louis in Hamburg. Louis muß doch mal ‘ne Andeutung gemacht haben, für welche krummen Dinger im Fußball er das Geld kriegte?« Merkwürdig, daß Jonny gerade an dieser vergleichsweise für ihn unwichtigen Stelle besonders bockig ist. »‘ne Andeutung schon«, sagt er, »aber mehr war’s nicht. Und ich kann’s Ihnen auch schlecht erzählen…« »Hat er nie ‘n Namen genannt? Schulz oder Müller oder Meyer? Abgesehen von Prack?« Jonnys Augen flattern. »Kein Name, Chef…« »Aber von Schiedsrichtern war die Rede?« »War mal die Rede, ja. Hatte aber nichts zu sagen. Louis redete viel, wenn der Tag lang war.«
Eine Wand aus Gummi. Noch ein Versuch von der anderen Seite: »Wie war’s denn bei Olga Mausbach in Köln?« »Eigentlich traurig!« sagt Jonny spontan. »Ihr habt doch über Geschäfte gesprochen?« »Über die Geschäfte von Louis.« »Geschäfte mit Schiedsrichtern?« »Ach, Quatsch! Nur über die paar hundert Mark, die er immer von einem Menschen bekam, der sich Prack nannte… So, und das ist jetzt wirklich alles zu diesem Thema!« Er sagt das so entschieden – es hat keinen Zweck mehr, wenigstens nicht hier und heute. Also zurück zu Tilly – es hilft nichts. »Was hast du die ganze Woche gemacht?« »Ich bin neben ihr sitzen geblieben und hab’ versucht, mit ihr zu reden, aber das geht natürlich nicht mit ‘ner Leiche. Bloß nachts bin ich ins andere Zimmer gegangen, zum Schlafen…« »Hast du denn genug zu essen gehabt?« »Zum Schluß war’s ‘n bißchen knapp, aber die Tage über gab’s ja noch die Konserven, die Tilly geholt hatte. Und jede Menge Gin. Irgendwann kommt schon einer, dachte ich… Kam ja dann auch. Sie kamen.« »Hast du Hunger?« »Ja, sehr…«, sagt Jonny kläglich. »Bist du müde?« »Sehr müde…« Man könnte Brötchen kommen lassen, belegte Brötchen und ein Bier dazu. Aber Trimmel beginnt wieder zu würgen, als er an Brötchen auf dem Schreibtisch nur denkt… »Höffgen!« ruft er. Und dann gehen sie zu dritt in eine fast leere Kneipe zwischen Präsidium und Hauptbahnhof, vermutlich die letzte Kneipe, die Jonny Feldmann für die nächste Zeit oder auch für immer von innen sehen wird. Jonny schlingt auf Kosten der
Polizei eine Gulaschsuppe und ein zähes Rumpsteak in sich hinein. »Danke, Chef!« sagt er und wischt sich artig den Mund mit der Papierserviette. »Geht’s besser?« fragt Trimmel. »Kannste dich inzwischen an die Schiedsrichter erinnern?« »Ich kann mich nicht erinnern«, murmelt Jonny. »Ich bin so was von müde…« »Wülste noch ‘n Korn?« »Ja, einen noch. Aber ich kann mich trotzdem nicht erinnern…« Trotzdem, er kriegt seinen Korn. Anschließend fahren sie zurück. Und als Jonny endlich in seine Zelle gebracht wird, schläft er schon, bevor er noch ganz auf der Matratze liegt.
12
Tuffinger, den Ganoven, der Trimmel möglicherweise als Teufel oder Schwein bezeichnet hat, müssen sie noch am selben Abend auf freien Fuß setzen. Er erklärt sich zwar damit einverstanden, daß die fünfzig Mille vorerst im Gewahrsam der Polizei bleiben. »Aber ich krieg’ sie ja doch raus!« sagt er beim Abschied voll gehässiger Zuversicht. Tuffinger, der Schmierfink, beschuldigt dann in den Vernehmungen noch vor Weihnachten die Präsidenten und Manager fast sämtlicher Vereine der Bundesliga einer besonderen Ab- oder Spielart der Korruption. Großzügig bezieht er auch noch neun namhafte Regionalligaklubs in seine Beschuldigungen ein, und immer wieder – in kurzen zeitlichen Abständen – behauptet er, die Identität jenes geheimnisvollen Gustav Prack doch zu kennen. Im einzelnen sieht das so aus. Jedesmal, wenn Hermann Tuffinger wieder einen neuen Vereinsnamen ins Gespräch bringt, behauptet Tuffinger: »Ich weiß es ja doch – ich hab’s Trimmel damals nur nicht gesagt. Gustav Prack ist der Präsident von…« Und dann folgt der Name des betreffenden Klubs. Dann sagt er: »Louis Spindel hat die Idee gehabt, und Prack hat ihm das Geld gegeben und die Sache finanziert. Das wißt ihr ja schon lange: Louis hat gesagt, wenn man ein Spiel verschieben will, kann man so gut wie nie die ganze Mannschaft bestechen, daß sie schlecht spielt. Das ist viel zu gefährlich… da ist es viel narrensicherer, wenn sich einer von den eigenen Leuten im gegnerischen Strafraum fallen läßt, und der Schiedsrichter gibt ‘n umstrittenen Elfmeter. Einmal pro Spiel geht das bestimmt,
manchmal auch zweimal – und das ist im Zweifelsfall verdammt spielentscheidend!« »Sehr schön, Herr Tuffinger«, sagt Höffgen in solchen Fällen voller Langmut. Er ist derzeit Sachbearbeiter, weil Trimmel den Privatdetektiv noch nie leiden konnte und ihn inzwischen nicht mal mehr sehen will. »Louis hat im Auftrag von Prack den einen oder anderen Schiedsrichter gekauft, und der hat dann die Sache gefingert…« »Ja, genau!« sagt Tuffinger eifrig. »Kann ich nun endlich mein Geld haben?« »Noch nicht!« sagt Höffgen und klappt die Akten zu. Dabei stützt er sich auf einen richterlichen Beschluß, ihm das Geld frühestens dann auszuhändigen, wenn die ganze Affäre restlos geklärt ist. »Morgen liefern Sie uns sowieso wieder ‘n neuen Namen…« Schluß für heute. Anschließend, in Trimmels Büro, sagt Höffgen regelmäßig zu seinen Kollegen: »Der läuft doch Amok!« Und ebenso regelmäßig sagt er inzwischen, penetrant wie jener alte Senator in den römischen Kabinettssitzungen nach der Niederwerfung von Karthago: »Im übrigen bin ich der Ansicht, daß Tuffinger gar nicht weiß, wer Prack ist!« »Aber derart schamlos«, hält Trimmel eines Abends dagegen, »kann Tuffinger eigentlich nicht geblufft haben, als er sich zuletzt mit Prack traf und von ihm das Geld kassierte!« »Wer sagt denn, daß das stimmt? Daß es diesen gottverdammten Prack überhaupt gibt?« »Das Geld an sich«, sagt Trimmel. »Oder hast du schon mal fünfzigtausend Piepen auf der Straße gefunden?« Trimmel trifft sich, noch im alten Jahr, zwischen einem ziemlich ruhigen Weihnachten und Silvester, mit dem Journalisten Gerber. Er hat das ganze Material bei sich, und
Robert Gerber darf die Akte drei Stunden lang ungestört einsehen. »Sie werden schwören, daß Sie das Ding nie gesehen haben!« sagt Trimmel. »Klar«, sagt Gerber. »Olga kommt übrigens erst Silvesterabend zurück…« Später am Nachmittag, als die rote Akte wieder in Trimmels Aktentasche steckt, meint Gerber: »Erinnern Sie sich noch an das HSV-Spiel gegen Freiburg?« »Ja. Und?« »Da haben Sie diesen ominösen Prack ja zum erstenmal erwähnt; wahrscheinlich waren Sie gerade besonders intensiv mit ihm beschäftigt. Ich hatte den Eindruck, daß Sie meinten, das könnte so ‘ne Type sein wie einer von den Präsidenten dieser Klubs, die damals echt Dreck am Stecken hatten – erinnern Sie sich?« »Hhmm…« »Ich hab’ mir das überlegt«, sagt Gerber eifrig, »so einer muß das tatsächlich gewesen sein! Naiv bis hinter die Löffel, und dabei glaubt er, er wär’ der gerissenste Mensch auf der Welt, bloß weil er Geld zu verteilen hat! Ich will Ihnen was sagen, Herr Trimmel: dieser ganze Unfug ist echt nur möglich auf dem Hintergrund dieser Fußballpsychose seit letzten Sommer. Seitdem jeder jeden verdächtigt…« Psychose ist vielleicht nicht haargenau das richtige Wort, aber recht hat er. »Im Fußball gibt’s doch nichts mehr, was es nicht gibt. Da kann man buchstäblich alles behaupten…« »Es ändert trotzdem nichts daran, daß unter anderem SpindelMausbach ein schräger Fürst war!« »Sicher«, sagt Gerber. »Bloß, wie schräg er war – das kann ich nicht beurteilen, und Sie können’s wahrscheinlich ebensowenig!«
Aber schreiben kann er’s. Zum erstenmal ist Gerber nicht nur als Sportreporter, sondern auch als Krimischreiber tätig. Er veröffentlicht im Mittag eine riesig aufgemachte Serie, und so kommt Anfang Januar alles auch an den Deutschen Fußballbund; was in der Zeitung gestanden hat, kann der DFB nicht totschweigen. Der DFB hat es diesmal sogar sehr eilig. Schon am 22. Januar – am selben Tag, an dem von ernsthaften Differenzen zwischen dem HSV und seinem Spieler Charly Dörfel die Rede ist – wird verkündet, das DFB-Sportgericht sehe keinen Anlaß zum Einschreiten. Entweder sind die ins Zwielicht geratenen Persönlichkeiten über jeden Zweifel erhaben, oder sie sind, zumindest in diesem Zusammenhang, unantastbar. Eine Korruption zur Veränderung des Tabellenstandes in der Bundesliga ist ihnen im Rahmen der von Tuffinger aufgestellten Verdächtigungen niemals nachzuweisen. Der DFB gibt eine besondere Ehrenerklärung für den 1. FC Köln ab. Gerber hat geschrieben, der Funktionär des Teufels, Gustav Prack, stamme möglicherweise aus Köln, und ebenso seien die wöchentlichen Zahlungen an Spindel-Mausbach aus Köln gekommen. Gleichwohl, sagt der DFB in einer Presseerklärung, gebe es keinerlei Anlaß zu der Vermutung, Vorstand oder Mannschaft des 1. FC Köln könnten in irgendeiner Form in die mehr als dubiose Affäre verwickelt sein. Die Erklärung ist übrigens vom höchsten deutschen Schiedsrichter-Obmann ausdrücklich mitunterzeichnet worden: Die pauschalen Verdächtigungen gegen aktive deutsche Schiedsrichter seien nach eingehenden Untersuchungen schärfstens zurückzuweisen. Von diesem Zeitpunkt an geht’s nicht mehr anders: Tuffinger kriegt, mit Hilfe eines Rechtsanwalts, sein Geld ausbezahlt. Denn – so hat der Anwalt argumentiert – wer will Hermann
Tuffinger widerlegen, daß es sich um ein fest vereinbartes und regulär ausgezahltes Honorar handelt? Wer hätte ihn zwingen können – und wer könnte überhaupt einen Menschen zwingen –, sich bei einem Geschäftsabschluß nach der wahren Identität seines Partners zu erkundigen? Trimmel sieht der Übergabe zähneknirschend von weitem zu. Ihm bleibt nur eine Hoffnung: das Finanzamt. Schwarzes Geld nämlich ist weiß geworden, wenn es erst mal auf einem amtlichen Schreibtisch gelegen hat. Und daß es auf seinem, Trimmels, amtlichem Schreibtisch gelegen hat – das hat schließlich groß genug in der Zeitung gestanden! Die Mordakte Spindel-Mausbach wird in diesen Tagen endgültig geschlossen und der Staatsanwaltschaft übersandt. Die Akte Tilly ist schon dort; die mußte kaum angelegt werden, beziehungsweise gerade der Form halber. Denn die ›Mörderin‹ ist tot, und der ›Mörder‹ der ›Mörderin‹ kommt vermutlich in die Klapsmühle. Das gibt möglicherweise nicht mal eine Schwurgerichtsverhandlung, sondern nur ein schlichtes Einweisungsverfahren; deutlicher als Jonny Feldmann war selten ein Mensch verrückt. Und Gustav Prack hat sich nach wie vor nicht gemeldet, obgleich er in der ganzen deutschen Presse als wichtiger Zeuge für Mord und Fußball gesucht worden ist. Aber das ist nicht mehr Trimmels Bier – längst nicht mehr. »Würden Sie sich melden, Chef, wenn Sie Prack wären?« fragt Höffgen. »Nee«, sagt Trimmel, »das kann ich dir schwören!« Aber dann folgt überraschend doch noch eine Lösung. Kompliment, von Gauner zu Gauner, an den toten Louis-Paul Spindel-Mausbach!
Dienstag, 25. Januar 1972. »Jonny Feldmann möchte Sie dringend sprechen, Chef!« sagt Laumen frühmorgens. »Wo ist er denn?« fragt Trimmel. »In Ochsenzoll, in der Anstalt. Die haben auch angerufen, ob Sie kommen könnten.« »Lust hab’ ich keine!« brummt Trimmel. Am Nachmittag fährt er raus. »Was gibt’s denn Neues, Jonny?« »Ach, nichts Besonderes«, sagt Jonny Feldmann, »nur, ich weiß ja nicht, an wen ich mich hier wenden soll, ich kenn’ außerdem ja kaum noch einen außer Ihnen…« Er macht einen sehr viel ruhigeren, fast vernünftigen Eindruck. Ein bißchen auf Sparflamme gestellt, aber nur ein bißchen. »Und was soll ich für dich tun?« »Ich möcht’ so gern am Samstag mal zum HSV gehen!« sagt Jonny unbefangen. »Die spielen doch gar nicht in Hamburg«, sagt Trimmel wahrheitsgetreu; solche Termine kennt er inzwischen. »Die spielen am Samstag in Dortmund gegen Borussia…« »Bestimmt?« sagt Jonny zweifelnd. »Ehrenwort!« »Na, Ihnen glaub’ ich’s. Dann kann man wohl nichts machen…« »Nee, leider… Und sonst? Alles klar?« »So klar, wie’s geht«, sagt Jonny versonnen. »Ob ich denn vielleicht später mal zum HSV darf?« Wahrscheinlich nicht. Geisteskranke Mörder haben bei der Fußball-Bundesliga nichts zu suchen. Ob man den Besuch von Fußballspielen später mal als Therapie oder auch nur zur Erleichterung einbaut oder gestattet – das steht 1972 noch in den Sternen. Es gab mal einen Irren, der durfte sonntags schon
mal zu einem Dorfverein gehen, und eines Sonntags brachte er anschließend an das Spiel ein Kind um; und seitdem… »Sie meinen, später auch nicht?« fragt Jonny. »Wahrscheinlich nicht. Aber ich kann’s versuchen…« Erstaunlicherweise wird Jonny Feldmann daraufhin nicht wieder traurig, sondern direkt munter, fast spitzbübisch. »Und wenn ich nun sozusagen als Belohnung mal zum HSV gehen darf…?« »Belohnung wofür?« fragt Trimmel. »Na ja – wenn ich Ihnen alles erzähle über Louis und die Schiedsrichter-Bestechungen? Alles, was ich weiß?« Eine glatte Erpressung. Ausgeklügelt von einem Schizophrenen. »Warum hast du’s mir denn damals nicht gesagt, Jonny?« »Damals ging’s noch nicht«, sagt Jonny. »Inzwischen hab’ ich mir aber was überlegt. Kann ein toter Mensch eine Ehre haben?« »Es kommt drauf an…« »Also, ich behaupte nein! Und Louis ist ja nun tot – dem kann’s doch eigentlich egal sein, ob es ihm an die Ehre geht oder nicht. Stimmt’s?« Es wäre zu schade, wenn man sich diese zweifelhafte Erkenntnis nicht zunutze machen würde.
Der HSV trainiert an diesem Abend unter starken Scheinwerfern am Rothenbaum. Trimmel und Jonny haben sich zunächst darauf geeinigt, daß es als Belohnung für Jonny auch genügen würde, mal beim Training zuzuschauen. Und daraufhin haben sich Trimmel, der Oberarzt, der Staatsanwalt und ein Mitglied der HSV-Geschäftsführung darauf geeinigt, daß es kein Risiko sein würde, Jonny unter guter Bewachung auf den Platz zu lassen.
Trimmel hat Jonny selbst an der Kette; darüber hängt ein Mantel, so daß es niemand sieht. Zwei stabile Pfleger, dazu Höffgen und Laumen und ein uniformierter Polizist passen zusätzlich auf. »Mensch, macht das Spaß!« sagt Jonny. Peter Nogly flankt zu Bubi Hönig, der gibt weiter nach außen zu Schorsch Volkert. Volkert rennt mit dem Ball an der Außenlinie entlang, gibt zurück an den mitgelaufenen Hönig, und der donnert aufs Tor – da gibt’s für Torwart Öczan nichts zu halten. Ein herrliches Tor. »Tooor!« brüllt Jonny. Für jeden, der’s sieht, das ›Tor des Monats‹. Und dann brüllt Jonny noch oft, vor allem beim Elfmeterschießen. Tore am laufenden Band, von Uwe und Bubi, von Volkert und Nogly, von Zaczyk und Björnmose. »Training ist ja viel schöner als Spielen!« sagt Jonny begeistert. »Find’ ich auch«, sagt Trimmel. »Und wie war das jetzt mit den Schiedsrichtern und den Elfmetern?« »Ach, Chef«, meint Jonny, unaufmerksam und dadurch um so gesprächiger, »das war ja so ‘n Witz… Das gibt’s gar nicht, was Louis da für’n Ding gedreht hat…!« »Hat er’s dir erzählt oder nicht?« »Ja, klar. Bis auf eins: Wer Prack ist, das hat er für sich behalten. Aber das ist überhaupt nicht wichtig…« Sie rennen, flanken, schießen, halten Bälle, hechten ins Eck, werfen ein – und schießen, schießen, schießen. Und Trimmel fragt und fragt und fragt, und wer viel fragt, kriegt am Ende so viele Antworten, daß er sich endlich ein klares Bild machen kann… Louis war ein Genie, wenn auch ein negatives. Louis hat ein System erfunden wie fürs Roulette. Louis hat seit Bestehen der Bundesliga Buch geführt über sämtliche Spiele, sämtliche
Schiedsrichter, sämtliche Elfmeter. Dadurch wußte Louis, daß es tatsächlich so was wie elfmeterfreundliche Schiedsrichter gibt. Daraus hat er sein Kapital geschlagen, und aus nichts anderem. »Louis ist zu Gustav Prack gegangen und hat gesagt, für jedes Spiel, in dem er den Schiedsrichter besticht und den Sieg kauft, will er lumpige zwanzigtausend Mark einschließlich der Bestechungssumme. Dann hat er nur noch gewartet, bis dienstags die Schiedsrichterliste raus war. Wenn für Pracks Verein ‘n elfmeterfreundlicher Schiedsrichter angesetzt war – dann ist er zu Prack gelaufen und hat gesagt: ›Paß auf, ich hab’ den Schiri gekauft, erzähl deinem Trainer, eure Leute sollen sich möglichst oft im gegnerischen Strafraum fallen lassen. Das weitere siehste dann schon…‹ Und das Ding hat in drei Spielzeiten bestimmt an die dreißigmal geklappt!« »Spindel soll dreißigmal den Schiri gekauft haben?« Trimmel ist ungläubig bis dorthinaus, außerdem noch begriffsstutzig. »Mensch, Chef – begreifen Sie denn nicht? Louis hat nicht einen einzigen Schiedsrichter gekauft oder ihn auch nur angequatscht! Der ist tatsächlich nur dann am Sonntag zu Prack gegangen und hat seine Kohlen kassiert, wenn der Pfeifenmann einen oder zwei Elfer gegeben hatte und das Spiel gewonnen war! Und wenn’s mal nicht geklappt hatte, dann eben nicht – so was hat’s ja im letzten Bundesligaskandal auch gegeben, daß ‘ne Schiebung mal nicht funktionierte! Dann war Louis sogar so ehrlich und bescheiden, daß er von Prack keinen Pfennig kassiert hat!« Uwe Seeler kriegt in diesem Moment den Ball direkt auf den Kopf und zirkelt ihn ins obere Eck. »Toooor!« schreit Jonny, lauter als je zuvor. Es war abermals ein Klassetor, abgesehen davon, daß es normalerweise abseits gewesen wäre. Aber es wird Zeit, daß man den Irren vom Platz bringt.
Im Old Farmsen Inn ist die Musikbox kaputt, und ein Tonband läuft, ein hochbetagtes Stück. Auf diese Weise kommt tatsächlich der gute alte Schlager Tom Dooley noch mal zu Ehren. Die traurige Geschichte des Mannes, der seinen letzten Whisky trinkt und morgen gehängt wird, ist aber heute abend Gift für Trimmel nach seinen jüngsten deprimierenden Erlebnissen mit Jonny Feldmann. »Kannste nicht mal das alte Ding abstellen?« »Wenn du meinst…«, sagt der Wirt gleichgültig, nimmt das Band mit Tom Dooley vorzeitig ab und spielt statt dessen ein neues, das mit Amarillo beginnt. Ausgerechnet mit Amarillo – wie im tristen Bonsdorf vor Weihnachten! Muß es diese Fälle geben, an die man ständig durch ein Geräusch, ein Lied, eine Wolke am Nachthimmel erinnert wird? »Ich hau’ ab…«, sagt Trimmel. »Kannste noch fahren?« Heute ja, und er tut’s auch. Spät genug ist es. Aber er fährt schlecht wie lange nicht, unkonzentriert, mit sich und der Welt zerfallen. Er hat zwei Morde aufgeklärt; es ist eine Geschichte mit vielen Schlagzeilen geworden, und er ist trotzdem unzufrieden. Fühlt sich an der Nase herumgeführt und an den Hammelbeinen gezogen. Fühlt sich des Platzes verwiesen – nicht etwa läppisch wie in Bonsdorf, sondern bei einem wirklich großen Spiel. Oder besser: Er fühlt sich wie einer, der tagelang am Kartenschalter Schlange gestanden und dann einen Platz bekommen hat, von dem aus er die wichtigsten Ereignisse des Spiels überhaupt nicht sehen konnte. Denn dem kleinen Mann, diesem Jonny, hängt man alles an, wenn man ihn schon nicht aufhängt, und die Großen wie Gustav Prack läßt man laufen. Strafrechtlich hat Gustav Prack
ja möglicherweise nicht mal was verbrochen, und ein öffentliches Interesse an einer weiteren Suche nach seiner Identität ist nicht gegeben. Der Ball ist rund (Altbundestrainer Sepp Herberger), und die Welt ist aalglatt. »Scheißspiel!« sagt Trimmel und zieht vor seiner Wohnung die Handbremse an. Und spätestens von diesem Zeitpunkt an hat der deutsche Fußball auch Paul Trimmel überlebt.