KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HIE T E
OTTO MIELKE
SOS VON D E N F E U...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HIE T E
OTTO MIELKE
SOS VON D E N F E U E R S C H I F F E N UND DEM
SEENOTRETTUNGSDIENST
VERLAG SEBASTIAN
LUX
M U R N A U - M Ü N C H E N - I N N S B RUCK
-BASEL
Lied der Kameradschaft jjjin mächtiger Ozeanriese zieht durch den Nordatlantik seines Weges. Die weißschäumende Bugwelle, die haushoch aus dem Meer aufragenden Bordwände, gekrönt von wuchtig breiten langgestreckten Aufbauten und himmelstrebenden Masten — das alles vereint sich zu einem Bild kraftvoller Schönheit. Dieser massige Schiffskörper, der eine von Tausenden bevölkerte Luxusstadt umschließt, folgt aufs Wort; ein Befehl seines Kapitäns, ein Knopfdruck des Rudergängers, und schon wendet er willig, stoppt seine Fahrt oder zieht mit äußerster Kraft davon. Der Mensch hat sich die Technik zum Diener gemacht, sein Geist triumphiert über die Materie. . . Eines Nachts taucht der Ozeanriese inmitten der unendlich scheinenden Wasserfläche in dichte Nebelschwaden. Auch für diesen Fall hat der Mensch vorgesorgt; jetzt, da er selbst wie blind umhertastet, sieht das elektromagnetische Radarauge für ihn. Es ortet und meldet ein anderes, entgegenkommendes Schiff. Auch dieses Schiff fährt mit Radaraugen durch Nacht und Nebel. Beide beobachten sich, ändern den Kurs, um einander ungefährdet zu passieren — und drehen doch in Wirklichkeit ahnungslos aufeinander zu! Sekunden später kracht der Bug des anderen Schiffes in die Flanke des Riesen und reißt ihm eine tödliche Wunde . .. Etwas Unheimliches, Unbegreifliches liegt über diesen großen Schiffskatastrophen, ob sie nun durch Überheblichkeit und Unzulänglichkeit verursacht werden, oder ob sie die ganze Ohnmacht des Menschen gegenüber der im Sturm entfesselten See enthüllen. Die Geschichte der Katastrophen, die sich auf See ereignet haben, ist zugleich die Geschichte und das hohe Lied der Kameradschaft. Schiffsuntergänge, Kollisionen und Strandungen bilden nur den dramatisch-sensationellen Vordergrund für ein oft wahrhaft erschütterndes Schauspiel menschlicher Größe, für eine beispielhafte Bewährung von Opferbereitschaft, von echtem Heldentum und Menschlichkeit: Begriffe, die lebendig sind in dem schlichten Wort „Kameradschaft auf See". Von solcher Kameradschaft auf See, von erfolgreichen Hilfeleistungen oder ergebnislosen Rettungsversuchen berichtet dieser Lesebogen.
Feuerschiff Elbe 1 im Todeskampf Überall auf der Welt liegen die rot angestrichenen Feuerschiffe an gefährlichen Stellen der Schiffahrtswege in Küstennähe. Im Grunde sind sie nichts anderes als schwimmende Leuchttürme, deren 2
Licht den Seeleuten den Weg weist, Spaßvögel nennen sie die Portiers der Matrosen, die jeden, der kommt oder geht, herein- oder hinauskomplimentieren, freundlich und vertraulich, wie es so einem roten Türhüter zukommt. Besonders vor der Eibmündung wird der Großschiffahrtsweg durch Untiefen stark eingeengt. Die gefährlichsten sind das Scharhörnriff auf der einen und der Große Vogelsand auf der anderen Seite des Fahrwassers. Zwischen beiden liegt eine nur knapp 2000 Meter breite Rinne die von allen ein- und auslaufenden Schiffen passiert werden muß. Um diesen Weg schon von weitem kenntlich zu machen, sind dort drei Feuerschiffe im Abstand von einigen Seemeilen hintereinander in der Mitte des Fahrwassers stationiert. Das am weitesten draußen liegende trägt die Bezeichnung ,Elbe 1', die beiden anderen heißen ,Elbe 2' und ,Elbe 3'. Vor dem letzten Weltkrieg gab es dort noch ein viertes Feuerschiff; Verbesserungen des Fahrwassers machten es inzwischen überflüssig, und es ist eingezogen worden Das Feuerschiff ,Elbe V liegt ganze achtzehn Seemeilen vor der Eibmündung. Natürlich ist es den Unbilden des Wetters und den Tücken der Nordsee am stärksten ausgesetzt. Besonders die bei Nordweststurm auftretenden Grundseen machen dem vor Anker liegenden Schiff immer wieder erheblich zu schaffen. Bei der geringen Tiefe von knapp zwanzig Metern in der Fahrrinne und nur zwei bis vier Metern über den Sänden wird bei hochgehender See das Wasser bis zum Meeresboden hinab aufgewühlt. Gerät ein Schiff in solche Grundseen, kann es geschehen, daß es in einem Wellental mit dem Boden auf Grund stößt. Kommt endlich noch hinzu, daß die See dwars läuft, also von der Seite kommt, so ist in solchen Momenten die Gefahr des Kenterns sehr groß. Der nächste Wellenberg rollt heran, bricht über dem Schiff zusammen und kann es durchaus völlig auf die Seite werfen. Ein Schiff, das in solch eine Situation gerät, ist meist hoffnungslos verloren. Doch man kennt diese Gefahren der Küstengewässer. Und deshalb gehören Feuerschiffe zu den seetüchtigsten Fahrzeugen, die je gebaut worden sind. Mitte Oktober 1936 war der erste schwere Herbststurm über die Deutsche Bucht in die Eibmündung hineingefegt, hatte getobt und geheult, daß man meinte, er würde alles umreißen, was sich ihm in den Weg stellte. 3
Die Leute an der Küste kennen das Donnern und Brausen, wenn die hochgehenden Seen das Vorland unter Wasser setzen und gegen die Deiche rennen. Auch in diesen Oktobertagen alarmierte die Springflutgefahr die Bewohner. Anhaltender Nordweststurm drückte ungeheure Wassermassen in die Eibmündung und gegen die Deiche vor Cuxhaven. Die Gefahr ging jedoch vorüber, ehe der „blanke Hans" die Deichkronen zu zerfetzen begann. Der Sturm flaute ab. Er briste in den darauffolgenden Tagen nur noch mit Stärke 5—6, so daß die Schifffahrt wieder in Gang kam. Die Reede von Cuxhaven, auf der sich etliche kleinere Schiffe eingefunden hatten, um besseres Wetter abzuwarten, lag wieder verlassen da. Auch der kleine Dampfer des Wasser- und Schiffahrtsamtes in Cuxhaven, dessen Aufgabe es war, für die regelmäßige Ablösung der Feuerschiffbesatzungen zu sorgen, verließ mit zwanzig Seeleuten an Bord den Hafen und machte seine Runde. Für jedes der vier Feuerschiffe — damals gab es noch ,Elbe 4' — nahm er fünf Mann mit. Fünfzehn Köpfe waren an Bord jedes Feuerschiffs, von denen jeweils fünf Mann alle fünf Tage abgelöst wurden. Jeder einzelne tat also 15 Tage Dienst an Bord, ehe er für eine kurze Ruhezeit in den Hafen zurückgebracht wurde. Diesmal waren es Kapitän Lösekann, der Funker Sewatzki und drei Seeleute, die nach ihrer Freizeit wieder zum Dienst auf ,Elbe 1" antraten. Den bisherigen Führer des Feuerschiffes und vier weitere Mann nahm der Dampfer mit nach Cuxhaven zurück. Daß sie die letzten waren, die ,Elbe V verließen, kam keinem der fünf zu dieser Stunde in den Sinn. Bis zum 26. Oktober verlief das Leben an Bord in den gewohn• ten Bahnen. Dienst auf einem Feuerschiff zu tun,, ist etwas anderes, als Fahrensmann auf einem frei beweglichen Handelsdampfer zu sein. Der Frachter kann sich einem Schlechtwetter anpassen, kann gegen schwere Seen andampfen oder sich treiben lassen, kann zur Not in einem Hafen Schutz suchen. Ein Feuerschiff, Warner der Schiffe, muß jedoch, solange es vertretbar ist, auf Posten bleiben. Verließe ,Elbe 1' seine Position — das ist bisher nur in wenigen Fällen äußerster Not eingetreten —, so würden alle Schiffe, die die Eibmündung ansteuern, in Gefahr geraten. Das Feuerschiff bleibt daher liegen, solange die Anker halten. Gerade dieses Ankern auf freier See birgt ganz besondere Gefahren für die Feuerschiffe. Sie sind fest mit dem Grund verbunden und daher vielen Stürmen wehrlos ausgesetzt. Wohl haben sie eine Maschinenanlage an Bord, um durch geschicktes Gegenanfahren 4
Treuer Wächter der Schiffahrt vor der Küste: Das Feuerschiff. die Ankerkette zu entlasten, wenn der Seegang das Schiff allzu hart arbeiten läßt. Ihre Bewegungsmöglichkeiten sind aber nur die eines Wachhundes an der Kette, und der Drehkreis ist von der Länge der ausgestreckten Kette abhängig. An Sturmtagen gibt es an Bord eines Feuerschiffes keinen ruhigen Augenblick. Alles ist immerfort in Bewegung. Stampfend und schlingernd zerrt das Schiff an seiner Fessel, während Strom, Seegang und Wind dem Schiffskörper hart zusetzen. Diese üble Situation trat am 26. Oktober auch für ,Elbe 1' ein. Bis zum Mittag benahm sich die Nordsee noch einigermaßen erträglich. Die Großfunkstelle Nauen hatte bereits eine Sturmwarnung an alle gegeben. Das schien für die See das Startzeichen zu sein, um wieder einmal ordentlich loszulegen. Mit Geschwindigkeiten von 60 bis 70 Kilometern in der Stunde fegte der Sturm vom Englischen Kanal herüber, überquerte die Deutsche Bucht und erreichte gegen 20 Uhr abends die Eibmündung. Die See schob er in gewaltigen Wellenbergen vor sich her. 5
In der Nacht zum 27. Oktober erreichte er zeitweilig Orkanstärke und tobte den ganzen nächsten Tag hindurch. Wer nicht unbedingt fahren mußte, blieb — vom roten Licht am Signalmast des Leuchtturms der „Alten Liebe" in Cuxhaven gewarnt — auf Reede liegen, und wer sich noch draußen befand, beeilte sich, „vor dem Winde segelnd", so rasch wie möglich die Elbe zu erreichen. Aber nicht alle Kapitäne waren so vernünftig. Die einen meinten, mit ihrem Schiff jedem Sturm trotzen zu können, anderen saß ein Geschäftsauftrag im Nacken, so daß sie keine Gefahr scheuten, pünktlich im Zielhafen einzutreffen. So lief am späten Abend dieses Tages, als die Gewalt des Orkans eher noch zunahm, das holländische Motorschiff ,PoeIau Bras' ungeachtet aller Warnungen elbabwärts, um nach Amsterdam zu gelangen. Der deutsche Lotse, der bei ,Elbe 3' auf den dort liegenden Lotsendampfer ,Ditmar Koel' hätte abgesetzt werden sollen, mußte wohl oder übel an Bord des Holländers bleiben, weil das Lotsenschiff wegen des Sturmes seine Position verlassen hatte und eingelaufen war. So dick war es also schon in der Eibmündung — wie mußte es erst draußen aussehen! Dem Holländer kam der kleine englische Frachter ,The President' entgegen, der sich sputete, noch vor dem schieren Weltuntergang in die Elbe zu gelangen. Mit seinen 926 BRT die zweite Sturmnacht draußen zu verbringen, war alles andere als ratsam. Die letzten 24 Stunden hatten ihm schon genug zu schaffen gemacht. ' Beide Schiffe näherten sich aus entgegengesetzter Richtung dem Feuerschiff ,Elbe 1', und beide hatten etwa gleichen Abstand von
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ihm. Der dicke, fast 10 000 BRT große Holländer schlingerte noch nicht allzu heftig in der schweren See; dagegen stand der nur ein Zehntel so große Engländer fast Kopf. Von der ,Poelau Bras' war das Feuer der JElbe V an Backbord voraus noch gut auszumachen; ,The President' aber hatte seine liebe Not damit. Nur wenn der kleine Frachter im fürchterlichen Auf und Ab von einem anrollenden Wellengebirge emporgehoben wurde, sah man auf der Brücke für Sekun, den an Steuerbord voraus das Leuchtfeuer und konnte sich danach j richten. Der Engländer war heilfroh, daß jetzt mit jeder Seemeile, die er zurücklegte, die Gewalt der Seen schwächer wurde. In längstens einer halben Stunde würde er ,Elbe 1' passieren. Dann war das 1 Ärgste überstanden, denn dann war er in der offenen See.
Unwillkürlich dachte der Kapitän des kleinen Frachters ein paar Augenblicke lang an die Männer auf dem Feuerschiff. Diese armen Teufel konnten nicht hoffen, in wenigen Stunden ruhiges Wasser unterm Kiel zu haben; sie mußten bleiben, wo sie waren, so lange der Sturm tobte, und wenn es Tage dauerte.. . Für fünf Mann der Besatzung von ,Elbe 1' war übrigens die Ablösung fällig. An diesem Abend sollten sie daheim sein. Bei dem Wetter war es dem Zubringer aber nicht möglich gewesen, bis ,Elbe 1' zu kommen. Die Männer auf ,4', ,3' und ,2' waren noch abgelöst worden, dann aber hatte das Fahrzeug kehrtmachen müssen. Die fünf für ,Elbe 1', deren Ruhezeit um war, wurden wieder nach Cuxhaven gefahren und freuten sich insgeheim, daß sie nicht bei diesem Sauwetter auf Wache zu ziehen brauchten. ,Poelau Bras' und ,The President' waren nun die einzigen Schiffe, die sich in der Eibmündung befanden. Beide standen in der pechschwarzen Sturmnacht noch etwa eine Seemeile von dem Feuerschiff ,Elbe 1' entfernt. Plötzlich jagte von Nordwest her eine besonders heftige Orkanbö heran. Mit unbändiger Kraft trieb sie drei gewaltig hohe Wellenberge vor sich her. Als diese kilometerlangen, viele tausend Tonnen schweren Wasserwälle den kleinen englischen Frachter einholten, glaubte die Brückenwache, daß dies das Ende ihres Schiffes wäre. Den Engländern saß weiß Gott nicht das Herz in der Hose; die Wucht jedoch, mit der ihre Nußschale in die Höhe gestoßen und dann in das nächste Wellental hinabgerissen wurde, überstieg alles bisher Erlebte. Ein abgrundtiefes Tal — von zwei himmelhohen Wellenbergen eingerahmt... Kurz danach erreichte dieser mörderische Brecher auch das Feuerschiff ,Elbe 1', das mit dem Steven nach Norden, also fast quer zur See lag. Mit unvorstellbarer Wucht packte er den Schiffskörper, der durch seine Verankerung fest am Platz gehalten wurde und nicht zurückweichen konnte, und warf ihn nach Steuerbord über, wobei er sich donnernd über ihn ergoß und ihn fast unter sich begrub. Es gibt kein Zeugnis darüber, was in diesem Augenblick an Bord der ,Elbe 1' vor sich ging. Niemand hat die fünfzehn tapferen Seeleute mehr sprechen können. Nicht einmal aus der Hand des Funkers erhielt die Welt noch eine Nachricht über die letzten Minuten des Feuerschiffs. Aber noch war es nicht verloren! Dank seiner außerordentlichen Seetüchtigkeit überstand es den ersten der drei gewaltigen Wellenberge. Es durchbrach den Wellenkamm und richtete sich wieder auf. 7
Dann aber muß das Schiff so rasch und heftig in den Abgrund des Wellentals hinabgerissen worden sein, daß es vermutlich mit dem Kiel auf den Meeresboden aufgestoßen ist. Was sich daraufhin in Sekundenschnelle abgespielt hat, kann nur vermutet werden. Die Männer, die aus einiger Entfernung Zeuge des grausamen Schaupiels wurden, vermochten später keine Einzelheiten anzugeben, teils, weil sie selbst mit sich genug zu tun hatten, teils auch, weil die Dunkelheit eine genaue Beobachtung nicht zuließ. Soviel ist jedoch sicher: Das zweite der drei rollenden Wassergcbirge, das gleich darauf über das nahezu am Grunde liegende Feuerschiff herstürzte, wurde ihm zum Verderben. Eben noch hatte der Lotse auf dem holländischen Frachter und die Brückenwache des Engländers das Leuchtfeuer über den ersten Wellenkamm schwingen sehen. Dann legte es sich weitausholend auf die Seite. Einen Augenblick lang war die rote Backbordseitenlaterne klar zu erkennen . . . dann verloschen alle Lichter der ,Elbe 1*. Ob es die zweite oder erst die dritte der gewaltigen Grundseen war, die das Feuerschiff vollends kentern ließ und unter sich begrub, wußte niemand zu sagen. Im ersten Augenblick wurde keinem dieser Menschen bewußt, welche Katastrophe geschehen war. Ein schwerer Regenschauer, der die Sturmbö begleitete, ergoß sich über die Eibmündung und hüllte alles in einen dichten Schleier. Als die Bö vorüber war, die Sicht etwas besser wurde und die Blicke wieder zum Feuerschiff hinüberschweiften — gab doch sein Licht bisher den einzigen Anhalt für den eigenen Standort — suchten sie vergebens. Die Seeleute auf dem britischen Frachter, die ganz mit ihrer eigenen Notlage beschäftigt waren, erstarrten sekundenlang vor Schreck. Wo war das Feuerschiff geblieben? Daß ein Dampfer von der wilden See verschlungen werden konnte, hatten sie alle schon einmal gehört. Daß aber ein Feuerschiff, dieser nimmermüde Wächter und Helfer in der Gefahr, plötzlich von der Oberfläche verschwand, dazu noch vor ihren eigenen Augen, das war einfach unfaßbar! ,Elbe 1' aber, jedem Seemann auf der Welt ein guter Bekannter, blieb verschwunden, die mörderische Nordsee hatte es einfach zerschmettert. In solchen Situationen ist es jedes Seemanns heilige Pflicht, zu retten, was an Menschenleben noch zu retten ist. Auf ,The President' waren die Männer sofort bereit, alles zu tun, was in ihren 8
Kräften stand. Das aber war in diesem Fall so gut wie nichts. Der kleine Frachter, der mehr unter als über Wasser fuhr und selbst jede der für ihn von achtern kommenden Seen zu fürchten hatte, war auch beim allerbesten Willen nicht in der Lage, das geringste zu unternehmen. Die Fahrt zu stoppen und ein Boot zu Wasser zu lassen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ob wenigstens der große Holländer da drüben das Unglück beobachtet hatte? Durch Signale versuchte der Engländer, das andere Schiff auf die Katastrophe aufmerksam zu machen. Doch der Holländer verstand die hastigen, unklaren Blinkzeichen nicht. Zu oft schoben sich hohe Wellenberge zwischen die Schiffe. Die Sicht wurde immer wieder unterbrochen. Inzwischen suchte der Lotse auf der ,Poelau Bras' schon selbst mit dem Glas nach ,Elbe 1' und stutzte, weil nicht das geringste von dem Feuerschiff zu sehen war. Dennoch dachte der Lotse nicht gleich an das Schlimmste. Er fand die Sache nur sehr merkwürdig und ließ das Feuerschiff zunächst einmal durch Funk anrufen. Nach einiger Zeit kam der Funker achselzuckend auf die Brücke: ,Elbe 1" gab keine Antwort.
Die ,South-Goodwin' vor dem Ende 9
jetzt packte auch den Lotsen der Schreck. Er ließ die Funkstelle Elbe-Weser-Radio benachrichtigen, die ihrerseits sofort das Feuerschiff anrief. Doch zu dieser Zeit gab es keine Rettung mehr. „ ,Elbe V antwortet, nicht mehr!" morste schließlich der Funker von Elbe-Weser-Radio an das holländische Motorschiff zurück, das jetzt genau querab von der Untergangsstelle lag und die Fahrt stoppte. Sofort alarmierte die Funkstation bei Cuxhaven die Dienststellen und Bergungsschlepper des Hafens. Inzwischen manövrierte sich die ,Poelau Bras' dicht an den Positionsort des Feuerschiffs heran und suchte nach Trümmern und Überlebenden, wobei ihr Scheinwerfer unermüdlich die See abtastete. Endlich sichtete man einige Holzstücke, und ein rotes Rettungsboot trieb kieloben vorbei. Da wurde zur furchtbaren Gewißheit, was man weder dort noch in Cuxhaven wahrhaben wollte ,Elbe 1' war untergegangen. Von den 15 Seeleuten konnte bei dem blitzschnell hereingebrochenen Unglück nicht einer mit dem Leben davongekommen sein. Schweren Herzens morste der Funker der ,Paelau Bras' diese Nachricht in die Welt. Überall löste sie tiefes Erschrecken und ebenso tiefes Mitgefühl mit den braven Männern aus, die ihr Leben in treuer Pflichterfüllung für die Sicherheit der Schiffahrt und der seefahrenden Kameraden gelassen hatten. In dieser Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1936 wütete der Orkan in der Eibmündung so heftig, daß selbst der Hochseeschlepper .Hermes', der sofort ausgelaufen war, bei ,Elbe 2' das Unternehmen aufgeben und kehrtmachen mußte, weil er in Gefahr geriet, gleichfalls Opfer der entfesselten See zu werden. Erst zwei Tage später hatte sich das Wetter so weit gebessert, daß jHermes' wieder hinausfahren konnte. An der Stelle, wo ,Elbe 1' gelegen hatte, ging der Bergungsschlepper vor Anker. Ein Taucher stieg hinab zum Meeresgrund. In einer Tiefe von 21 Metern sah er das Feuerschiff auf seiner Steuerbordseite liegen. Die Ankerkette hielt es auch jetzt noch fest. Wäre doch diese Kette im Augenblick höchster Gefahr gebrochen! Es hätte wahrscheinlich die Rettung für Schiff und Besatzung bedeutet.
Tapfere „South Goodwin" Ebenso bekannt wie ,Elbe 1' ist allen Seefahrern das britische Feuerschiff ,South Goodwin'. Seine Position liegt am Ostausgang des Englischen Kanals vor den gefürchteten Goodwin-Sänden. Jahr10
ein, jahraus hatte dieses Schiff davor gewarnt, den Untiefen zu nahe zu kommen. Es hatte im Sommer wie im Winter, bei Hitze und Kälte, bei Sturm und Nebel, Schneetreiben und Eisgang vor dem gefährlichen Grund vor der Küste von Kein gelegen und einer Unzahl von Schiffen aller Nationen den Weg durch die Straße von Dover gewiesen. Die Goodwin-Sände, deren Namen es trug, wurden ihm schließlich selbst zum Verhängnis. Es war Ende November 1954. Bis ins letzte Drittel dieses Monats hinein war das Wetter, von einem Hochdruckgebiet gelenkt, recht gut gewesen. Um den 25. herum aber brach das Hoch mit überraschender Schnelligkeit zusammen und machte einer Tiefdruckfamilie Platz, die sich vom Atlantik her über ganz Europa ausbreitete. Mit elementarer Wucht zogen die Stürme von Portugal über Spanien und Frankreich nordwärts, wo sie sich auf der freien See erst richtig austobten. Zwei volle Tage orgelte der Sturm. Ihm folgte eine Wetterberuhigung, die nach alter Erfahrung aber nur von kurzer Dauer sein konnte. Am Montag, dem 28. November, begann der Tanz von neuem. Der Wind erreichte in den frühen Abendstunden Sturmesstärke und entwickelte sich schließlich in der Nacht zum ausgewachsenen Orkan, dessen Geschwindigkeit zeitweilig 145 Stunden-Kilometer betrug. Am Morgen dieses Tages hatten die Zeitungen von einem schwarzen Wochenende' und den gewaltigsten Stürmen seit dreißig Jahren berichtet. .Schwarz' deshalb, weil besonders in der Nordsee zahlreiche Schiffe in Seenot geraten waren, SOS-Rufe nur so durch die Luft schwirrten und sämtliche Rettungsstationen an allen Küsten der Nordseeiänder Alarm hatten. Der Orkan, der nun wütete, stand an Kraft und Gefährlichkeit seinem Vorgänger nicht nach, ja, er war noch unheimlicher, noch gewalttätiger. In dieser Nacht zum 29. November funkten nicht weniger als sechzehn Schiffe aus der Nordsee SOS-Rufe. Mehrere Hundert Seeleute kämpften auf havarierten Schiffen verzweifelt um ihr Leben. Und wieder waren es die Männer von den Seenot-Rettungsstationen, die ihr Leben für diese Schiffbrüchigen einsetzten. Mit ihnen kämpften auch die Feuerschiffe an den sturmumbrandeten Untiefen für das Wohl der Schiffahrt. Auf ,South Goodwin' waien es acht: ein Kaptän sechs Besatzungsmitgli :der und ein zu Gast weilender Wissenschaitler, die auf dem fürchterlich arbeitenden Feuerschiff ausharren mußten. Dieses Schiff, das keine eigene 11
Maschinenanlage besaß, war mit vier Ankern am Grund gesichert. Dadurch war es fast völlig bewegungsunfähig. Ständig donnerten die Brecher über das Deck. Dreißig Minuten nach Mitternacht wagte der Kapitän dennoch einen Rundgang um das Schiff, obwohl dieser Weg lebensgefährlich geworden war. Er hielt es aber für seine Pflicht, gerade in solcher Orkannacht nach dem Rechten zu sehen. Dann kehrte er zu den anderen Männern unter Deck zurück. Zwei Mann standen als Wache oben auf der Brücke. Die Nacht ringsumher war schwarz, der Orkan heulte, und die Brecher wuchteten mit aller Gewalt gegen das vor Anker liegende Feuerschiff, das als einziges im Umkreis von einigen Seemeilen sein Licht durch die Finsternis sandte. Ohne daß es die beiden Wachhabenden merkten, begann dieses Licht auszuwandern. Mit anderen Worten: ,South Goodwin' trieb, vom Sturm gepeitscht, auf die Untiefen zu! Die Ursache? Wahrscheinlich sind, ohne daß man es im Heulen des Sturms und Donnern der Brecher merkte, nacheinander zwei oder gar drei Ankerketten gebrochen. Der letzte Anker hielt das Schiff nicht mehr am Grunde fest, sondern wurde mitgeschleift. Von der Brücke des Feuerschiffes aus ließ sich die folgenschwere Veränderung mitten in diesem brüllenden Chaos gar nicht feststellen. So verging mehr als eine volle, gefährliche Stunde. Plötzlich, gegen 2 Uhr morgens, sichtete einer der beiden Wachmänner voraus ein Feuer, das dort nicht hingehörte. Der eigentlichen Position des Feuerschiffes nach mußte es sich um ein Fahrzeug handeln, das auf die Goodwin-Sände getrieben war und dort festlag. Es war aber gar nicht das Topplicht eines Dampfers, sondern ein Feuer, das in regelmäßigen Zeitabschnitten ruhig und vom Orkan offenbar unberührt, seine Lichtzeichen aussandte. Dieses Kennzeichen war den beiden Wachposten nur zu gut bekannt. Es stammte von einem Leuchtturm, der einige Seemeilen nordöstlich von ,South Goodwin' an der Küste stand. Da dieser Leuchtturm nicht plötzlich zu ihnen gekommen sein konnte, mußten sie auf ihn zugetrieben worden sein! Durch das Sprachrohr verständigten sie sofort den Kapitän, der ihnen befahl, Notsignale zu geben. Dazu kam es aber nicht mehr. Ein gewaltiger Brecher rollte heran, packte das bis an die Sandbank herangetriebene Feuerschiff in voller Breitseite, hob es empor und warf es mit aller Gewalt auf die Untiefe. Krachend stieß der Boden auf den Grund, hart legte 12
sich das Schiff über, und der Brecher deckte es mit seinem Gewicht von mehreren Hundert Tonnen zu. Er schlug dabei die Brücke halb weg und riß die beiden Wachleute mit sich fort. Unter Deck stürzten die sechs Männer durcheinander. Der junge Forscher Ronald Murton wurde auf den Ofen geworfen und blieb halb bewußtlos liegen. Diesem einzigen Nichtseemann unter den sechs im Innern des gekenterten Feuerschiffes gelang es dann, durch ein Oberlicht an Deck zu kriechen. Dort klammerte er sich an eine Relingstütze und verharrte so die ganze restliche Nacht hindurch. Unaufhörlich wuschen die Brecher über das auf der Seite liegende Schiff und stießen es, solange der Flutstrom anhielt, immer weiter auf den Sand hinauf. Im gleichen Maße wurde der 22jährige von der See überwaschen. Die Kälte ließ seine Glieder erstarren. Alles Gefühl wich aus ihm, und doch hielt sich der Mann unbeugsam fest. Er hatte den eisernen Willen, am Leben zu bleiben, solange diese Seite des Feuerschiffes noch aus dem Wasser ragte, und solange der Rumpf den anrennenden Seen standhielt. Hin und wieder hörte er von drinnen, wo der Kapitän und die vier Seeleute eingeschlossen waren, erregtes Klopfen. Ronald Murton hatte jedoch weder die Kraft noch die Möglichkeit, ihnen zu helfen, hing er doch selbst in jeder Sekunde zwischen Leben und Tod. Eine unbedachte Bewegung oder ein kurzes Nachlassen seiner Kräfte konnte ihn über diese Grenze werfen. Von dort gab es kein Zurück mehr. Die Gewalt des Sturmes blieb, die der Brecher ließ jedoch langsam nach, als der Ebbestrom einsetzte und der Wasserspiegel fiel. Die Befürchtung, daß mit dem Feuerschiff ,South Goodwin' etwas passiert sein mußte, wurde schon in der ersten Stunde laut. Der Wächter des Leuchtturms, auf den das Feuerschiff zugetrieben war, hatte das Auswandern des Feuers bemerkt und seine Beobachtung sofort telefonisch der nächsten Funkstation mitgeteilt. Er war es auch, der am plötzlichen Erlöschen des Feuers erkannte, daß das Schiff gekentert sein mußte. Die Küste wurde alarmiert. Die britische Seenot-Rettungsgesellschaft schickte sofort ein mit fünf erfahrenen Männern besetztes Rettungsboot aus. • Das Boot kehrte jedoch unverrichtetersache zurück. Bei der fürchterlichen Grundsee, die auf den Goodwin-Sänden stand, war es unmöglich, an das gekenterte Feuerschiff heranzukommen. Solange der Sturm mit dieser Macht tobte, war jeder Versuch, die Besatzung von ,South Goodwin' zu bergen, zum Scheitern verurteilt. 13
Es waren qualvolle Stunden für die sechs Männer auf dem Wrack. Niemand weiß, was in dieser Zeit unter Deck geschah. Der einzige, der später von dem Hergang des Unglücks berichten konnte, war der junge Wissenschaftler. Seine einzige Hoffnung hatte darin bestanden, daß man nach Tagesanbruch das Fehlen des Feuerschiffes entdecken und sofort alles tun würde, um der Besatzung zu Hilfe zu kommen. So harrte der junge Mensch mit bewundernswerter Zähigkeit aus. Er war naß bis auf die Haut und erstarrt wie ein Eisblock. Endlich sah er, schon fast am Ende seiner Kräfte, das erste Grau des neuen Morgens im Osten aufdämmern, faßte wieder Mut und erlebte in langen, langen Minuten den beginnenden Tag. Sonst sah er nichts anderes als Himmel und Wasser — von Rettern keine Spur. Erst gegen neun Uhr morgens — seit der Stundung waren bereits sieben Stunden vergangen — hörte er über seinem Kopf ein merkwürdiges Brummen. Ein Hubschrauber des Seenot-Dienstes kreiste über dem gekenterten Feuerschiff! Bei dem noch immer herrschenden Sturm war das, was der Pilot jetzt vorhatte, eine gewagte fliegerische Leistung. Sie bewies seinen hervorragenden Mut und seine Bereitschaft, sein Leben für die Rettung anderer einzusetzen. Langsam manövrierte sich der Hubschrauber, nachdem er das Wrack in niedriger Höhe umflogen und dabei den einsamen Mann entdeckt hatte, an den Schiffbrüchigen heran und ließ einen Strick zu ihm hinab. Diese Leine, kaum zwei Finger dick, war für den jungen Wissenschaftler die Brücke zum Leben. Der Pilot führte das Tau geschickt an den Mann heran und versuchte dann, mit seiner Maschine minutenlang still über ihm in der Luft stehenzubleiben. Murton konnte jedenfalls das Ende ergreifen und es sich um den Leib schlingen. Keineswegs aber besaß er noch die Kraft, bis zum Flugzeug emporzuklettern. Der Pilot holte Hand über Hand die Leine mit der schweren Last herauf, bis er den Geretteten an Bord hatte. Der Hubschrauber hatte es geschafft: Einer wenigstens war dem Tod entrissen. Zurück blieb ein gekentertes Feuerschiff, blieben fünf eingeschlossene Männer, die in der letzten Stunde kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatten. Im Krankenhaus gab der junge Wissenschaftler seinen ersten Bericht. Unverzüglich wurden Froschmänner alarmiert. Mit Schweißbrennern ausgerüstet, kämpften sie sich in Schlauchbooten bis zum Wrack heran. Dort klopften sie die Bordwand des Schiffes ab und horchten auf Zeichen von innen. Aber es kam keine Antwort. Da 14
begannen sie, ein Loch in den noch freiliegenden Schirtsboden zu brennen. Oberdeck und Aufbauten des Feuerschiffs lagen schon unter Wasser. Stündlich wurde der Schiffskörper von den mahlenden Sänden weiter herabgezogen. Die Arbeit der Froschmänner war äußerst beschwerlich. Sie kam nur langsam voran und mußte schließlich abgebrochen werden, weil der Flutstrom wieder einsetzte und der noch immer heftige Sturm das Wasser rascher als sonst zu Berg trieb. Das ging so schnell, daß die Helfer selbst in Gefahr gerieten. Das Beiboot, das die Ausrüstung an Bord hatte, kam wegen seines Tiefgangs nicht an die Männer heran, über denen schon die Wellen zusammenschlugen. Da sprang einer mit einer langen Leine über Bord und schwamm den Kameraden entgegen. Auf diese Weise holte er die Froschmänner einzeln zum Fahrzeug zurück. Bis zur nächsten Ebbe mußte die Arbeit am Wrack eingestellt werden. Die Hoffnung, die Besatzung des Feuerschiffs noch lebend bergen zu können, hatte man bereits aufgegeben. Schon beim ersten Versuch war ja kein einziges Lebenszeichen mehr gehört worden. Zwölf Stunden später unternahm man trotzdem noch einen zweiten Versuch. Das Unwetter hatte inzwischen nachgelassen, so daß die Froschmänner jetzt ohne große Mühe an das Wrack gelangen konnten. Endlich drangen sie ins Innere ein — doch von der Besatzung fanden sie keine Spur! Nicht einmal die Schwimmwesten der Männer waren vorhanden. Der Kapitän und vier Seeleute waren spurlos verschwunden — und sind es bis heute geblieben. Entweder hat die See, die das Oberdeck schon eingeschlagen hatte, die leblosen Körper herausgespült, oder die Männer haben auf irgendeine Weise versucht, sich in Sicherheit zu bringen und sind dabei fortgespült worden. Die mörderische Nordsee hat ihre Opfer nicht wieder hergegeben.
Seenotrettungsboote fahren aus Selbstlos haben gerade die zahlreichen Helfer der Gesellschaften zur Rettung Schiffbrüchiger immer und immer wieder ihr Leben und ihre Gesundheit für die in Seenot geratenen Menschen eingesetzt. Selbstverständlich können das nur Freiwillige tun. Selbst die festangestellten Vormänner und Motorenwärter, die abwechselnd Wache auf den einsatzbereiten Rettungsbooten gehen, sind nur zur Wartung und Instandhaltung der Fahrzeuge und Geräte im Hafen verpflichtet. Jeden Einsatz, sei es, um die Insassen einer gekenterten 15
Segeljacht oder einen im Wattenmeer verirrten Wanderer vor dem nassen Tod zu retten, oder sei es, um einen in Seenot geratenen Schiff beizustehen, leisten sie stets freiwillig. Niemand kann diesen Männern befehlen hinauszufahren, ihr Leben für andere zu riskieren und damit auch die Existenz ihrer Familie aufs Spiel zu setzen. Trotzdem wird es immer genug Freiwillige geben, die tagsüber an Land ihrem Beruf nachgehen und doch zu jeder Stunde bereit sind, sofort ihre Arbeit und ihre Familie im Stich zu lassen, um mit dem Rettungsboot hinauszufahren. Mehr als der Verdienstausfall wird nicht ersetzt, und nur bei besonders schweren und gefahrvollen Einsätzen wird eine geringe Prämie ausgeworfen. Für eine Bergung von Schiff und Ladung hat jeder Beteiligte einen gesetzlich festgelegten Anspruch auf Bergelohn, je nach dem Wert der geborgenen Gegenstände. Für die Rettung von Menschenleben aber gibt es keinen Pfennig; denn ein gesetzlicher Anspruch auf Entschädigung würde hier zu einer Schuldverpflichtung der Geretteten führen. Nicht klingender Lohn, sondern selbstverständliche Menschenpflicht ist die Triebfeder dieser Männer. Um so höher muß man die Taten und Erfolge bewerten, die die große Zahl der Rettungsmänner schon vollbracht haben. Daß die Schiffahrt freiwillig einen beträchtlichen Anteil beisteuert, um die hohen Unkosten — insbesondere für Neubauten und die Modernisierung älterer Rettungsfahrzeuge — abzudecken, versteht sich von selbst; denn sie ist unmittelbar interessiert, daß ein gut arbeitender, allzeit bereiter Seenotrettungsdienst besteht, auf den sich die Besatzungen ihrer Schiffe in Stunden der. Not verlassen können. Wie sehr das der Fall ist, dafür nur zwei Beispiele aus vergangenen Jahren. Der 1371 BRT große schwedische Frachtdampfer ,Petra' war am 15. Dezember von Kemi in Finnland mit einer Ladung Holz nach Hüll in England- ausgelaufen. Wie üblich hatte er nicht nur die Laderäume voll Holz gepackt, sondern auch eine beträchtliche Menge als Dcckslast übernommen, die seefest gezurrt und verstaut worden war. Am 18. Dezember passierte das Schiff den Nordostseekanal, blieb jedoch bis zum 20. Dezember morgens auf der Reede von Brunsbüttelkoog liegen, weil draußen schwere See herrschte. Nach der Wetterbesserung verließ der Frachter die Elbe und stand abends gegen 20 Uhr in der Nähe des holländischen ,Terschelling'-Feuerschiffs. In dieser Nacht kam erneut Unwetter mit steifen westlichen Win16
Ein dem Tode geweihtes Schiff. den auf, die beim Morgengrauen des 21. Dezember auf Orkanstärke anschwollen. Mächtig arbeitete.die ,Petra' in der schweren See. Sie knackte und knarrte in allen Verbänden. Mit jedem Brecher, der gegen
Das allein wäre noch kein sonderliches Unglück gewesen. Schon mancher Holzfrachter hat im Sturm seine Decksladung eingebüßt, ohne daß ihm selbst weiterer Schaden zugefügt wurde. Auf der ,Petra' löste die Decksladung jedoch eine Kettenreaktion unglücklicher Umstände aus, wodurch das Schiff in größte Gefahr geriet. Das erste, was der Schiffsführung erhebliche Sorgen bereitete, war die Ruderanlage. Durch die achtern übergehende Decksladung wurde das Rudergestänge so beschädigt, daß sich das Schiff bald überhaupt nicht mehr steuern ließ. Steuerlos im Sturm zu treiben, war für ein Schiff mit nur einer Schraube schon ein großes Unglück. Sofort versuchten die Seeleute, ein Notruder anzubringen. Noch während dieser waghalsigen Arbeit schlug eine zweite Hiobsmeldung auf der Brücke ein: In der altersschwachen Kesselanlage — das Schiff war vor 48 Jahren in Dienst gestellt worden — war ein Schaden aufgetreten, der mit Bordmitteln nicht zu beheben war. Das Feuer mußte gelöscht, die Maschine stillgelegt werden . . So begann die ,Petra' aus einer Position etwa 30 Seemeilen nördlich der Insel Terschelling vor dem heftigen Orkan herzutreiben — mit Schlagseite, unbrauchbarem Ruder und ohne Maschinenkraft! Es fehlte jetzt nur noch, daß die Luken von der See eingeschlagen wurden und die Laderäume volliefen. Dann war eigentlich alles beisammen, was einem Schiff auf See überhaupt zustoßen konnte. In dieser Situation war die Holzladung nun erstmals von Vorteil: sie hielt das Schiff über Wasser! Es konnte auch dann kaum untergehen, wenn es leckgeschlagen wurde und die Laderäume vollliefen. Die ,Petra' sandte SOS-Rufe aus. Da auch die Lichtmaschine nicht mehr lief, konnte der Funker den Strom nur noch aus einer schwachen Notbatterie entnehmen. Immerhin erreichte er, daß sich der englische Dampfer ,Ardglen' meldete und versprach, zu Hilfe zu kommen. Ehe er eintraf, ging auf ,Petra' krachend der vordere Mast über Bord Mit ihm zerriß die Antenne, so daß auch die Funkanlage ausfiel, und die Verbindung zur Außenwelt abgebrochen war. Bald darauf lösten sich die letzten Haltetaue der Decksladung, so daß die See jetzt mit jedem Brecher die Holzstapel auseinanderfledderte und Stück für Stück über Bord riß, wobei natürlich die Reling zerfetzt wurde und an Deck ein wüstes Durcheinander entstand. Es war keinem der 21 Männer mehr möglich, nach vorn oder nach achtern zu gelangen. 18
Endlich kam der Engländer in Sicht. Bei diesem Wetter war es aber ganz ausgeschlossen, dem Schweden irgendwelchen Beistand zu leisten. Die ,Ardglen' konnte nur in seiner Nähe bleiben, was sie dann auch mit zäher Verbissenheit 44 Stunden hindurch getan hat. Inzwischen waren sowohl durch die aufgefangenen SOS-Rufe der ,Petra' als auch durch weitere Funkmeldungen des britischen Frachters alle Seenotrettungsstationen an der deutschen Nordseeküste benachrichtigt worden. Sämtliche .Motorrettungsboote hielten sich klar, um auf Befehl der in Bremen sitzenden Seenotleitung sofort hinausfahren zu können. Vorläufig wußte man aber weder an der Küste noch anderswo, auf welcher Position sich die ,Petra' befand. Ihre Standortangabe war infolge der schwachen Lautstärke ihres Senders nicht richtig durchgekommen, und gleich anschließend war die Funkanlage ja völlig ausgefallen. Ausgeschlossen, bei diesem Wetter die ganze Nordsee durch Seenotrettungsboote nach dem Schwedendampfer absuchen zu lassen! Eine einzige Möglichkeit gab es, ihn zu finden: Flugzeuge. Auf Ersuchen der Seenotleitung stiegen zwei Maschinen auf und fanden die ,Petra' am 22. Dezember auch tatsächlich. Zu dieser Zeit hielt sich bereits der Engländer in ihrer Nähe, verlor jedoch in der Nacht darauf den Schweden aus den Augen. Das graugestrichene Schiff war in der schäumenden See bei diesiger Luft schon am Tage kaum zu erkennen. Der Engländer suchte die ganze Nacht hindurch vergebens nach dem Havaristen. Die ,Petra' wurde durch Sturm und Seegang viel schneller nach Osten abgetrieben, als man angenommen hatte. Am 24. Dezember erbat die Seenotleitung abermals Flugzeughilfe von der britischen Besatzungsmacht. Obwohl mehrere Maschinen starteten, wurde die ,Petra' nicht mehr gefunden. Auf dem schwedischen Schiff war inzwischen der Teufel los. Ununterbrochen trieb der Frachter vor dem Weststurm quer über die Nordsee. Durch überkommende Brecher und leckgeschlagene Luken war nach und nach viel Wasser in das Schiff eingedrungen. Im Masdunenraum stand es schon einen Meter hoch, so daß jeder Aufenthalt dort unmöglich war. Ein Versuch, die Kesselanlage doch noch wieder in Gang zu bringen, um wenigstens Strom und Wärme zu bekommen, war aussichtslos. Im Schiff herrschte überall Nässe und grimmige Kälte. Selbst die Kombüse blieb kalt, weil ein Brecher den ganzen Kohlenvorrat für den Küchenherd über Bord gerissen hatte. Außerdem waren sämt19
liehe Lcbensmittelvorräte durch eingedrungenes Seewasser ungenießbar geworden. Nicht einmal ein heißes Getränk konnte bereitet werden. Trotzdem mußten die Männer Tag und Nacht auf den Beinen bleiben. An Schlaf war so gut wie nicht zu denken, denn immer mehr ging das Schiff in Trümmer. Der achtere Mast war ebenfalls über Bord gegangen, Kommandobrücke, Ruderhaus und sonstige Aufbauten durch Brecher und herumschlagende Hölzer sehr mitgenommen. Ein Aufenthalt in den Logisräumen unter Deck war weder ratsam noch möglich, weil durch die Ladungstriimmer jeder Weg nach vorn und achtern bockiert war. -Alle Mann hielten sich daher mittschiffs in den Räumen der Aufbauten auf, wo sie jederzeit zur Hand waren, wenn das Letzte von ihnen gefordert wurde. Wohl sahen sie am Heiligen Abend mehrmals die unter tiefhängenden Wolken kreisenden Flugzeuge; doch alle ihre Seenotzeichen waren aufgebraucht. Sie konnten sich den Fliegern nicht bemerkbar machen. Und von oben war das graue Schiff im aufgewühlten Meer einfach nicht zu finden. Diese 21 Männer hatten ein Weihnachten vor sich, wie es noch keiner von ihnen erlebt hatte. Das schlimmste war, daß niemand wußte, wie es in der kommenden Nacht und am darauffolgenden Tag weitergehen sollte. Solange der Orkan tobte — dessen war sich jeder bewußt —, war es keinem Schiff möglich, ihnen zu helfen. Man konnte bei diesem Seegang weder ein Boot zu Wasser lassen noch eine Leine ausbringen, um das Schiff abzuschleppen. Es war Kapitän Sven Nilsson nur zu klar, daß niemand den Standort der ,Petra' kennen konnte. Nicht einmal er selbst wußte mehr, wohin die tobende See ihn und das Wrack seines Schiffes geworfen hatte. Sie trieben irgendwo auf der Nordsee, aber wo und wohin, das wußten nur die Götter. Einer gab die Hoffnung nicht auf: der Funker. Sein Gerät war die einzige Brücke zur Umwelt. Ohne irgendeinen Anhalt über ihre Position würde man die ,Petra' niemals finden. Daß nach ihr gesucht wurde, hatten die Männer an Bord längst gemerkt. Stundenlang versuchte der Funker, eine Notantenne anzubringen. Am Morgen des 25. Dezembers, im fahlen Licht des ersten Weihnachtstages, gelang es ihm endlich. Nun konnte er wieder SOSRufe in die Welt hinausschicken. Freilich waren diese Zeichen nur schwach zu hören. Aber es gab einige Funkstationen, die sie auffingen. Sie peilten sofort den Sender ein, so daß der Standort der ,Petra' endlich ermittelt wurde. Es war fast nicht zu glauben: Sie stand etwa 30 Seemeilen nörd20
lich Helgoland . . . So weit war das Schiff als Spielball der Wellen also schon nach Osten abgetrieben! Jetzt hatte man den ungefähren Standort; nun sollte nichts unversucht gelassen werden, den schon aufgegebenen Frachter, vor allen Dingen aber seine stark erschöpfte Besatzung zu retten. Die. Seenotleitung beorderte die Rettungsboote der Stationen Büsum, Hörnum und List in See. Gleichzeitig mit ihnen liefen Bergungsschlepper aus. Retter waren unterwegs! Ob sie wirklich Hilfe bringen konnten? Inzwischen beobachteten alle Küstenfunkstellen aufmerksam die Seenotfunkwellen und fahndeten nach weiteren SOS-Rufen der ,Petra', um sie noch einmal einpeilen zu können. Nach einigen Stunden gelang das auch. Die festgestellten Peilrichtungen gingen telegraphisch an die Seenotleitung. Der neue Schnittpunkt lag noch weiter östlich, etwa in der Mitte zwischen der letzten Position und der Küste von Schleswig-Holstein. Danach trieb die ,Petra' direkt auf den bekannten Badeort St. Peter-Ording zu. Der weit vorgelagerte Strand und das Wattenmeer bedeuteten neue Gefahr für die Schiffbrüchigen. Die beiden aus List und Hörnum stammenden Seenotrettungsboote wurden in ihre Häfen zurückbeordert. Dagegen erhielt das in Büsum beheimatete Motorrettungsboot ,Carl Laeisz' durch Sprechfunk die Anweisung, nach St. Peter zu laufen. Die beiden Hochsee-Bergungsschlepper ,Wotan' und ,Danzig', die sich auch auf der Suche nach dem Schwedenfrachter befanden und die Order mit abhörten, folgten gleichfalls dieser Anweisung. Wenn jetzt nichts Außergewöhnliches geschah, mußte man das in Not befindliche Schiff bald finden. Es war am Nachmittag des ersten Feiertages gegen 16 Uhr, als man auf ,Carl Laeisz' voraus in Landnähe ein havariertes Schiff ohne Masten ausmachte. Beim Näherkommen entpuppte es sich als die langgesuchte ,Petra', die genau dort an die Küste getrieben worden war, wo es die Seenotleitung vermutet hatte. Glücklicherweise war der Frachter nicht gestrandet, weil er rechtzeitig Anker geworden hatte. Gleich darauf hatten die Schweden allen Gefahren zum Trotz ein Boot zu Wasser gebracht, mit dem fünf Mann der Besatzung, darunter der Erste und Zweite Offizier, an den Strand geschickt worden waren, um von dort Hilfe zu holen. Zur selben Zeit, als ,Carl Laeisz' den Dampfer sichtete, erreichten die fünf Schiffbrüchigen nach geglückter Fahrt durch die hochgehende Brandung wohlbehalten das Land. 21
Die an Bord zurückgebliebene Besatzung war völlig erscnöpft. Kapitän Sven Nilsson war über einhundert Stunden ununterbrochen auf der Brücke gewesen, und auch von der Besatzung hatte während dieser Zeit keiner mehr als vier Stunden geschlafen. Alle waren total durchnäßt, ausgehungert, gänzlich von Kräften und froren entsetzlich. Da ein Bergen der Besatzung nicht mehr notwendig war, weil sich zwei Schlepper im Anmarsch befanden, stieg von ,Carl Laeisz' ein Rettungsmann an Bord der ,Petra', der den kraftlosen Männern bei den notwendigen Arbeiten zur Hand ging. Eine Stunde später war der Bergungsschlepper ,Wotan' zur Stelle. Auf Ersuchen von Kapitän Schaper übernahm das Seenotrettungsboot die schwierige Aufgabe, die Schleppverbindung mit dem Schweden herzustellen, weil ,Wotan' wegen zu geringer Wassertiefe nicht nahe genug an den Frachter herankommen konnte. ,Carl Laeisz' mußte also die unhandliche Trosse zur ,Petra' hinüberschaffen. Nach einer weiteren Stunde war auch das gelungen, und das Abschleppen konnte beginnen. Da die ,Petra' seit Tagen keinen Dampf mehr in den Kesseln
Todeskampf des Ozeanriesen „Andrea Doria" 22
hatte, konnte der Anker nicht wieder aus dem Grund geholt werden. Man mußte ihn schlippen und liegenlassen. Das Seenotrettungsboot fuhr voraus, um in dem flachen Wasser eine Fahrrinne auszuloten. Dann brachte der Schlepper die ,Petra' über den Achtersteven in Bewegung. Das Wetter hatte sich inzwischen etwas gebessert. Die Schleppfahrt ging daher in einem Zuge glatt bis Cuxhaven durch, wo man am zweiten Weihnachtstag um 3 Uhr morgens eintraf. Kaum an Land, sanken die Männer des schwedischen Holzfrachters in einen bleiernen Schlaf. Ihr Schiff sah zwar aus, als hätte ein Riese mutwillig darauf herumgetrampelt, aber es war gerettet. Dieses Weihnachtsfest werden sie wohl nie im Leben vergessen. Alle Beteiligten waren heilfroh, daß sie es glücklich überstanden hatten. Am glücklichsten war Kapitän Sven Nilsson, als er seiner Reederei telefonisch berichten konnte, daß seine ganze Mannschaft am Leben geblieben war. Dank der todesmutigen Hilfe der Männer vom Seenotrettungsdienst.
Schiffbruch vor der Mole Der Seenotrettungsdienst, in seinen Anfängen vor mehr als hundert Jahren in England entstanden, ist in den Niederlanden in gleichem Maße wie in Deutschland zu einer die ganze Küste umfassenden, gut ausgebauten Organisation geworden. Dort bildet die ,Koninkljke Noord- en Zuid-Hollandsche Redding Maatschappij' das Gegenstück zur Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Namen, Flagge und Sprache sind der einzige Unterschied. Hier wie dort stehen Selbstlosigkeit, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft symbolisch am Bug aller Seenotrettungsboote, die bei jedem Wind und Wetter hinausfahren, um denen zu helfen, die in Todesnot geraten sind. Der Beispiele gibt es viele. Oft geht es dabei nicht so gut ab, wie in dem beschriebenen Fall. Zweifellos hat der schwedische Frachter ,Petra' viel Glück geha,bt. Er hätte ebensogut an einer anderen Stelle der Küste stranden und dort zerbrechen können, ehe Hilfe zur Stelle war. Oft ist sogar eine Rettung in unmittelbarer Küstennähe viel schwieriger als auf hoher See. An der Nordseeküste hat sich einmal ein schwerer Seeunfall zugetragen, bei dem eine tausendköpfige 'Zuschauermenge vom Strand aus Zeuge eines dramatischen Geschehens wurde. 23
Es war im Februar 1907. Zwischen Rotterdam undHarwich verkehrten damals die Dampfer der britischen ,Great Eastern Railway Company', 1775 BRT große, durchaus seetüchtige ZweischraubenPassagierschiffe. Die beiden Schwesterschiffe ,Berlin' und ,Wien' fuhren schon seit einem Jahrzehnt im regelmäßigen Liniendienst zwischen Großbritannien und dem Kontinent. Besonders in den Wintermonaten war eine solche Überfahrt alles andere als ein Vergnügen. Auf dieser kurzen Seereise hat schon mancher Fahrgast die Seekrankheit in ihrer übelsten Form kennengelernt. Die Dampfer waren in diesen Monaten oft nur schwach besetzt. Daß Kapitän und Besatzung dieser Schiffe die Route wie ihre Westentasche kannten, daß ihnen auch das schlechteste Wetter und der widrigste Sturm zur Gewohnheit geworden waren, versteht sich von selbst. Zu den gefährlichsten Ecken gehörte für die von England kommenden Schiffe die Einfahrt in den Neuen Kanal bei Hoek van Holland. Zum Schutz der Einfahrt hatte man dort zwei steinerne Molen gebaut, die wie zwei Finger weit in die See hinausragten. Bei normalem Hochwasser erhoben sie sich etwa zwei Meter über den Meeresspiegel. Herrschte aber Sturm — und das war damals wie heute in den Wintermonaten keine Seltenheit —, dann wurden die aus Quadersteinen und Pfählen zusammengefügten Molen von hohen Brechern überspült, so daß kein Mensch zu Fuß bis zum äußersten Ende marschieren konnte. Dort standen die Feuertürme, die die Einfahrt kennzeichneten. In der Nacht vom 20. zum 21. Februar 1907 tobte ein Orkan, der die See heftig aufwühlte und mächtige Schneeböen vor sich hertrieb. Auf dem am Abend vorher aus Harwich ausgelaufenen Passagierschiff ,Berlin', das planmäßig um fünf Uhr morgens in Rotterdam eintreffen sollte, befanden sich neben 53 Mann Besatzung 91 Fahrgäste, unter ihnen Frauen und Kinder und ein deutsches Opernensemble, das in London ein Gastspiel gegeben hatte und nun nach Hause wollte. Durch das Unwetter verspätete sich das Schiff etwas, so daß es erst gegen 5 Uhr 30 vor Hoek van Holland eintraf. Der größte Teil der Passagiere war die ganze Nacht hindurch auf den Beinen geblieben. Die einen hatten wegen der tollen Schaukelei keine Ruhe finden können, die anderen waren von der Seekrankheit gequält worden. Man mußte schon einen Magen wie ein Pferd und eiserne Nerven haben, um bei diesem wahnsinnigen Schlingern des Dampfers unter Deck zu liegen und genauso gut zu 24
Nur 200 Meter vom Strand entfernt liegt ein auf ein Riff aufgelaufenes Schiff; dennoch ist das Rettungswerk wegen der Brandung äußerst schwierig. schlafen wie daheim. Das waren die paar Alterfahrenen, denen die Seefahrt nichts Neues mehr bot, und die sich anscheinend auch nicht vorstellen konnten, daß dem Schiff etwas zustoßen könnte. Einen „Beweis" für die außergewöhnliche Stärke des Orkans gab der englische Kapitän Parkinson, der als Passagier die Überfahrt mitmachte, um in Amsterdam ein Schiff seiner Reederei zu übernehmen. Dieser erfahrene Seemann zog es vor, nicht zu Bett zu gehen, sondern sich für alle Fälle bereit zu halten. Als nach fünf Uhr früh endlich die Lichter von Hoek van Holland in Sicht kamen, atmeten die Fahrgäste der .Berlin' auf. Noch eine halbe Stunde, dann hatte man den Neuen Kanal erreicht, und die Qual der Überfahrt war zu Ende. Seit über zehn Jahren fuhr die ,Berlin' diese Strecke. Rund eintausendmal war sie schon zwischen den beiden Feuern in die Maas 25
eingelaufen, Kapitän Precious hätte den Weg fast mit geschlossenen Augen finden können. Dennoch geschah an diesem stürmischen Februarmorgen das Unwahrscheinliche. Im Augenblick des Zudrehens auf die Einfahrt brauste eine gewaltige Orkanbö heran. Ein Mammutbrecher packte das Schiff, hob es in die Höhe, drückte es zusammen mit der starken Strömung aus dem Kurs und warf es mit aller Gewalt auf den nördlichen Molenkopf. Nach einem entsetzlichen Krachen und Bersten lag die .Berlin' plötzlich wie angenagelt fest. Das Achterschiff war auf die schräg ablaufenden Gesteinsmassen des Molenkopfes geworfen worden. Im nächsten Augenblick ging der Brecher, der die ,Berlin' dort hinaufgeworfen hatte, über sie hinweg. Diese gewaltige Sturzsee schleuderte etliche Menschen über Bord, unter ihnen den Kapitän und den Lotsen des Dampfers. Auch Kapitän Parkinson, der im Moment der Strandung auf die Brücke rennen wollte, um der Schiffsführung beizustehen, wurde von dem Brecher fortgerissen. Ihm allein gelang es, im eiskalten Wasser einen mit über Bord gespülten Balken zu erfassen und sich daran festzuklammern. Die anderen, die blitzschnell in die kochende See geschleudert worden waren, hatten keine Chance, zu überleben. Der nächste Brecher schlug mit der gleichen Wucht auf das gestrandete Schiff ein. Er hob es hoch, warf es auf die Mole zurück und überschüttete es völlig mit seinem Wasser. Die See war wie ein Riese, der ein Spielzeug zwischen seine Pranken nimmt, um es am Boden zu zerschmettern. Im Nu wurden alle Rettungsboote zerschlagen. Von den etwa zwanzig Menschen, die nach dem ersten Grundstoß an Deck gehastet waren, befand sich nicht einer mehr an Bord. Die See hatte sie mit einem einzigen Hieb über die Reling geworfen. DNann kam die dritte Welle von gleicher Größe und Wucht. Sie vollendete, was ihre Vorgänger begonnen hatten: zum zweiten Mal wurde die ,Berlin' in die Höhe gehoben und wieder mit aller Kraft auf die Steinquadern des Molenkopfes zurückgestoßen. Dieser gewaltigen Beanspruchung waren die Schiffsverbände nicht gewachsen. Mit ohrenbetäubendem Bersten und Krachen brach der Dampfer in der Mitte auseinander. Das Vorschiff, auf dem sich zufällig der größte Teil der Passagiere befand, rutschte weg, kenterte und versank wenige Augenblicke danach, wobei es alle Menschen mit in die Tiefe riß. An Land wurde ein Mann Zeuge dieses Dramas, das sich mit un26
glaublicher Schnelligkeit abwickelte: der Signalposten auf dem kleinen Leuchtturm am südlichen Molenkopf. Dieser Mann war so entsetzt, daß er Sekunden brauchte, um sich zu fassen. Erst dann hastete er an seinen Telegraphen und gab die Unglücksmeldung nach Rotterdam. Das Vorschiff war in diesem Augenblick schon verschwunden, und für die Unglücklichen auf ihm kam alle Hilfe zu spät. Aber da lag noch das Achterschiff. Die See schlug donnernd darauf ein. Jeden Augenblick drohte es ebenfalls in Trümmer zu gehen. Und es war noch Leben an Bord — Menschen, die mit weißen Tüchern schwenkten, um auf sich aufmerksam zu machen. Um diese Schiffbrüchigen ging es jetzt. Kapitän Jansen vom ersten niederländischen Dampfrettungsboot ,President van Heel' alarmierte seine Helfer, warf bald darauf vom Liegeplatz los und fuhr mit äußerster Kraft den Neuen Kanal hinab auf die beiden Molen zu. Inzwischen war die Morgendämmerung angebrochen. So konnten die Rettungsmänner das hoch auf den Steinen liegende Achterschiff der ,Berlin' sehen, noch ehe sie das Ende der Nordmole erreicht hatten. Die Brecher schlugen jedesmal über dem Wrack zusammen. Sogar der noch stehengebliebene Mast wurde zeitweilig von der Gischt eingedeckt. Sie sahen aber auch, wie die Seen über die beiden Dämme hinwegwuschen, als wollten sie alles, was von Menschenhand errichtet war, zertrümmern. Solange der Flutstrom noch andauerte — und er währte noch einige Stunden —, war es niemandem möglich, auf den Molen Fuß zu fassen. Der nächste Brecher hätte ihn mit sich gerissen. Vom Molenkopf aus konnte den Schiffbrüchigen also vorläufig keine Hilfe gebracht werden. Die kleine, wendige Seenotdampfer mußte deshalb versuchen, direkt an das geborstene Schiff heranzukommen. Das erwies sich freilich schon beim ersten Versuch als völlig unmöglich. Das Schiff lag so hoch, daß selbst bei ruhigem Wasser kein Fahrzeug herankommen konnte. Bei diesem Seegang wäre jeder Versuch Selbstmord gewesen. Unweigerlich hätte die nächste See das Boot erfaßt und ihm das gleiche Ende wie der ,Berlin' bereitet. Die Menschen auf dem Wrack winkten und schrien. Greifbar nahe sahen sie die Retter vor sich, und doch war ihnen im Augenblick nicht zu helfen. Sie mußten dort ausharren, bis die Flut vorüber war und das Abebben des Wassers ein Herankommen von Land her ermöglichte. 27
Die ,President van Heel' begann daher, nach all denen zu suchen, die mit dem Vorschiff in die See gestürzt waren. Unter größter Gefahr kreuzte das Boot vor den Molenköpfen. Die Rettungsmänner verrichteten dabei eine grauenvolle Arbeit. Sie sahen menschliche Körper im Wasser treiben, die sie nacheinander herauszogen. Alle waren tot — ertrunken, von Trümmern erschlagen oder mit tödlicher Wucht gegen die Mole geworfen . . . Voller Hoffnung sahen die Menschen auf dem Schiffstorso immer wieder das Rettungsboot kommen, und Verzweiflung packte sie, wenn es erneut ohne sie davondampfte. Ohne die Hilfe dieser Männer waren die vierzehn Überlebenden, die nichts zu essen und zu trinken hatten, entsetzlich froren und einer zweiten Nacht des Grauens entgegengingen, rettungslos verloren. Knapp zwanzig Meter lagen zwischen der Reling ihres Schiffes und dem Leuchtfeuer der Mole, ein Katzensprung, würde man sagen. Aber auf diesen zwanzig Metern brandete die See mit unheimlicher Gewalt. Sie würde jeden augenblicklich zerschmettern, der es wagte, über die Bordwand hinab die eigene Rettung zu versuchen. Nein, ohne fremde Hilfe kam niemand von Bord, schon gar nicht die drei deutschen Frauen, die sich noch unter den überlebenden Passagieren befanden. Zwei davon waren Sängerinnen des Opernensembles, die dritte das Hausmädchen der einen. Natürlich hatte man versucht, vom Rettungsboot aus eine Leine zum Wrack hinüberzuschießen, an der die Schiffbrüchigen hätten von Bord gleiten können. Der Sturm ließ aber nicht einmal dieses waghalsige Unternehmen zu. Mehrere Versuche schlugen fehl — das Leinengeschoß wurde unzählige Male abgetrieben —, bis es endlich doch gelang. Die letzten fünf Besatzungsmitglieder holten an der Wurfleine ein stärkeres Tau, die eigentliche Rettungsleine, herüber. Mitten in dieser Arbeit wurde die ,President van Heel' von einem Brecher erfaßt und weggerissen. Die Leine brach, und alles war umsonst gewesen. Die Vierzehn ließen den Mut sinken, als sie sahen, wie das Rettungsfahrzeug abgetrieben wurde, einen Bogen um das Wrack fuhr und der Moleneinfahrt zusteuerte. Schon kündigte sich die neue Flut an. Bei anhaltendem Nordweststurm mußten die Rettungsversuche in der einbrechenden Dunkelheit für diesen Tag abgebrochen werden. Jedes weitere Beginnen wäre ein unverantwortliches Spiel mit dem Leben der Rettungsmänner gewesen. Sie konnten nur hoffen, daß das Wrack der ,Berlin' dem neuen Ansturm der See standhalten und daß man es am nächsten Tag schaffen würde, die Oberlebenden herunterzuholen. 28
Grausam war die Nacht, die die Schiffbrüchigen auf dem Wrack zubringen mußten. Da war die eisige Kälte, gegen die sie sich zu schützen suchten, indem sie ganz eng zusammenkrochen. Da war der quälende Durst; allzuviel Salzwasser war ihnen im Laufe der Stunden ins Gesicht geschlagen. Und da war diese bleierne Müdigkeit in den Gliedern; aber die schweren Bewegungen des Wracks und die völlige Ungewißheit, ob der nächste Tag die Rettung oder das Ende bringen würde, ließen sie keinen Schlaf finden. Der Zufall hatte diese elf Männer und drei Frauen zusammengewürfelt. Sie waren eine enge Gemeinschaft von Leidensgefährten geworden, die Not des- Augenblicks hatte alle Unterschiede von Stand und Stellung hinweggefegt. Etwa 70 Tote waren inzwischen geborgen. Der Besatzungs- und Passagierliste nach hatten sich aber insgesamt 144 Menschen an Bord befunden. Die Angehörigen von über 70 Menschen bangten also um das Leben derer, über die sie bisher keine Nachricht erhalten hatten. Wer irgendwie konnte, fuhr noch in dieser Nacht nach Hock van Holland. So wurde der kleine Bahnhof, die Endstation der kontinentalen Expreßzüge, am nächsten Morgen zum Schauplatz schmerzerfüllten Wiedersehens, als die Angehörigen die Reihen der aufgebahrten Toten abschritten. Zugleich setzte trotz anhaltenden Schlechtwetters eine wahre Völkerwanderung von Rotterdam zum Strand der Nordsee ein. Tausende wollten Zeugen einer heroischen Rettungstat sein, wenn die Männer der ,President van Heel' erneut hinausfuhren, um die Überlebenden abzubergen. Der Prinzgemahl Herzog Heinrich von Mecklenburg, Gatte der Königin Wilhelmine hatte symbolisch die Leitung des Rettungswerkes übernommen. Der hohe Gast schiffte sich auf einem Lotsendampfer ein, der gleichzeitig mit dem Rettungsboot ablegte und den Neuen Kanal hinabfuhr. Seite an Seite steuerten beide Fahrzeuge dem Wrack entgegen, das gottlob noch immer auf den Steinen lag. Den Rettungsmännern mußte es gelingen, die Verbindung mit dem Wrack herzustellen! Stunde um Stunde kämpften sie verzweifelt mit dem Wellen. Was sie auch taten, immer wieder schlug die See mit wütender Gebärde dazwischen und riß die Männer vom Wrack zurück. Der Sturm orgelte sein höhnisches Lied dazu. Schließlich mußten sie einsehen, daß es wirklich ausgeschlossen war, von der Wasserseite her heranzukommen. Vielleicht war der Weg über die Mole doch der bessere, auch wenn er noch so unmöglich schien? Dem Rettungsdampfer gelang es, an Leeseite ein kleines Beiboot zu Wasser zu lassen. Vier Männer legten sich in die Riemen. Wild 29
tanzte die Nußschale in der aufgepeitschten Grundsee, aber die vier Insassen ließen nicht locker. Sie schafften es schließlich, an die Steinmauer heranzukommen. Der erste sprang hinüber, rutschte auf den glitschigen Quadersteinen ab und drohte in die See zurückzufallen. Aber im letzten Augenblich fand er doch noch Halt und war mit einem Satz oben. Er zog das Boot heran und half den Kameraden auf die Mole. Nun mußten sie sich durch die heftig über den Damm brandende See zum Molenkopf durchkämpfen. Außer Atem und völlig durchnäßt erreichten sie tatsächlich das Ziel. Dort standen sie endlich auf Rufweite dem Wrack gegenüber. Die meisten Schiffbrüchigen klammerten sich an der Reling fest. Eine Leine hing zufällig an der Bordwand herab. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es den Rettungsmännern, sich diese Leine zu angeln und sie durch ein mitgebrachtes Tau zu verlängern. Damit war nach 36stündigem Bemühen die erste Verbindung mit den Schiffbrüchigen hergestellt. Es kam jetzt auf deren Mut an. Sie mußten sich über Bord schwingen und an dieser Leine herunterhangeln. Es dauerte geraume Zeit, ehe der erste den Sprung ins Nichts wagte. Der Grundsatz ,Frauen zuerst' kam diesmal nicht in Frage. Die drei erschöpften Frauen konnten den, anderen unmöglich solch ein halsbrecherisches Abrutschen in die Tiefe vormachen. Schließlich ging der erste der Männer mit gutem Beispiel voran. Er ergriff die Leine, schwang sich über Bord und rutschte langsam nach unten. Dort tauchte er zwar für Sekunden in einem gerade anrollenden Brecher unter, wurde aber von den Rettungsmännern sofort aufgefangen und auf die Mole gehoben. So verließ ein Mann nach dem anderen das Wrack, bis auch der elfte auf diesem gefährlichen, aber einzig möglichen Weg sicheren Boden unter die Fuße bekam. Nur die drei weiblichen Passagiere fühlten sich zu schwach, es den Männern nachzumachen. Ihretwegen konnten und durften die Rettungsmänner freilich nicht länger auf dem Molenkopf bleiben. Die Nacht brach erneut herein, die Flut stieg und brachte neue Gefahr für alle, die schon halbwegs gerettet schienen. So mußten sie den Rückweg antreten und die drei Frauen ihrem Schicksal überlassen . . . Der Marsch entlang der Mole war unmöglich. Die Schiffbrüchigen mußten an Bord des Lotsendampfers gebracht werden. Aber wie? Sie in dem kleinen Boot hinüberzupullen, war viel zu riskant und zeitraubend. 30
Es gab nur einen Weg, der zwar etwas gewaltsam war, aber am schnellsten durchstanden wurde. Zwei der Rettungsmänner schoren mit dem Boot eine lange Leine von der Mole zum Lotsendampfer hinüber. An diese Leine wurde jeweils einer der Geretteten angebunden. Er mußte von der Mole ins Wasser springen, wurde von drüben Hand über Hand eingeholt und an Bord gezogen. Dabei gab es noch einmal viel Wasser zu schlucken, aber dann war wirklich alles überstanden. Die Geretteten wurden sofort unter Deck gebracht, entkleidet und in warme Decken gehüllt. Heiße Getränke riefen dann ihre Lebensgeister wieder wach. Auf diese Weise kamen alle elf Schiffbrüchigen in Sicherheit, ohne daß dabei einem ein Leid geschah. Dann ruderten auch die Rettungsmänner mit letzter Kraft zu ihrem Dampfer zurück. Drei Frauen auf dem Wrack aber sahen mit Grauen der Nacht entgegen. Keine glaubte, den anderen Tag noch erleben zu können. Der Sturm tobte unvermindert, und wütend schlugen die Seen auf das Wrack ein, das den Naturgewalten so lange trotzte. Jeder, der am Tage dieses Bild gesehen hatte, zweifelte daran, daß das Wrack die kommende Nacht überdauern würde. Dieser Meinung war nicht der Schiffer Sperling, der ein kleines Bergungsunternehmen betrieb. Als er erfuhr, daß sich noch drei Frauen auf der ,Berlin' befanden, die nicht den Mut aufbrachten, über Bord zu klettern, beschloß er, die Rettung diese» drei Unglücklichen zu versuchen. Zusammen mit seinen beiden Neffen und einem Mitarbeiter bestieg er nachts um drei Uhr sein Bergungsboot, ließ sich vom Schlepper ,Wotan' begleiten und fuhr bei Niedrigwasser an die Unglücksstelle. Da es auch jetzt noch nicht möglich war, mit dem Boot anzulegen, sprangen alle vier Männer kurzentschlossen in die eiskalten Fluten und schwammen zum Damm hinüber, kletterten hinauf und liefen zum Molenkopf. Bis dahin hatten beide Fahrzeuge keinerlei Lichter gezeigt, um die Frauen auf dem Wrack nicht erneut zu beunruhigen, falls das Vorhaben mißlang. Nun aber blendete die ,Wotan' ihren Scheinwerfer auf und tauchte die Szene dieses waghalsigen Rettungsversuchs in gleißendes Licht. Zum Glück war die Leine, an der die männlichen Schiffbrüchigen heruntergeglitten waren, noch vorhanden. Martin Sperling löste sie von einem Pfahl und befestigte sie an dem kleinen Leuchtturm, so daß sie nicht mehr so steil stand. 31
Dann unternahm er das schwierigste Stück Arbeit: er hangelte sich an dieser Leine zum Wrack hinauf — bei der Schwere seines Körpers und seiner voll Wasser gesogenen, dicken Kleidung eine wahrhaft akrobatische Leistung! Als er sich oben über die Reling schwang, stürzten die drei Frauen verzweifelt auf ihn zu und klammerten sich an ihn. Der brave Seemann vermochte sich ihrer kaum zu erwehren. Ohne zu fragen, ob sie wollten oder nicht, band er der ersten eine Leine in zwei Schlaufen um den Leib und befestigte sie so an das nach unten führende Tau, daß die Frau wie in einem Stuhl saß. Dann ließ er sie mit einer zweiten Leine vorsichtig nach unten gleiten, wo die drei Helfer sie auffingen. Auf diese fast ungefährliche Weise verließen alle drei Frauen wohlbehalten die ,Berlin'. Endlich hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen! Aber wie sollten sie zum Schlepper hinüberkommen? Ehe- sie wußten, was mit ihnen geschah, hatte jeder der Retter eine der Frauen gepackt und sprang mit ihr kurzerhand ins Wasser. Mit kräftigen Zügen schwammen sie zum Schlepper hinüber, wo sich ihnen hilfreiche Hände entgegenstreckten. In Minutenschnelle war alles vorüber, und alle sieben befanden sich in den warmen Räumen unter Deck. Genau 48 Stunden nach der Strandung der ,Berlin' waren die letzten drei der insgesamt 15 Überlebenden des Dampfers in Sicherheit gebracht. 129 Menschen hatten die Reise nach dem Kontinent mit dem Leben bezahlen müssen. Die Leichen, die die See zurückgab, sind in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof zu s'Gravenzande beigesetzt worden, wo ein Mahnmal noch heute an die Toten der ,Berlin' erinnert. Die Erinnerung an die Männer vom Seenotrettungsdienst möchte dieser Lesebogen wachhalten.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky. Bild auf der 2. Umschlagseite: Boot des Deutschen Seenotrettungsdienstes. Lux-Lesebogen364 (Geschichte) Heftpreis30Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte . — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und .jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger. Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.
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33 Auf d e m M i s s i s s i p p i
134 Die a l t e E r d e
37 Der g u t e M o n d
140 Die K a r a w a n e
39 W ü s t e o d e r P a r a d i e s 41 Der b r e n n e n d e Stein
Nordens 245 A d m i r a l Byrd 247 Die n e u n P l a n e t e n 251 G h a n a — S t a a t an der Goldküste
. 1 4 1 Die H ö h l e v o n Pierre Saint Martin
256 Die E n t d e c k u n g der Erde
43 Der sechste Erdteil
145 O r k a n e u n d Taifune
262 Kräfte d e r N a t u r
46 H e l i u m
149 Im e w i g e n Eis
265 K a p i t ä n e
60 M e t e o r e
150 K a n a d a
272 M e x i k o
65 Eisbrecher e r k ä m p fen N . O . - P a s s a g e
156 B r a u n k o h l e
274 Der V u l k a n
157 M o u n t P a l o m a r 172 A l a s k a — Z u k u n f t s land am Polarkreis 177 K o n g o zwischen
275 Der Nil
67 Im Reich d e r H ö h l e n 69 J a p a n 73 Roald A m u n d s e n
gestern und morgen
278 W e l t u m s e g i e r 280 S t a t i o n am Südpol 282 M a l t a
75 U r w a l d
179 A r a b i e n
287 N e w Y o r k
76 Die S o n n e
180 Das M o o r 185 C h i n c h o n , d e r Wunderbaum
291 N a u t i l u s (Nord-
83 Die g r o ß e n K a n ä l e 84 R ä t s e l des M a r s
186 Zucker
292 J a m e s C o o k
190 S a l z g i t t e r
85 P y g m ä e n
293 V a t e r d e r S t r ö m e
191 Der g r o ß e S t r o m St. L o r e n z
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94 Schätze, die d a s Meer verschenkt 96 G r ü n e Hölle am Amazonas 97 M a g e l l a n s e g e l t um die E r d e 99 I s l a n d , Insel zwischen Eis u n d F e u e r 100 W e l t e n i n s e l n 105 Erdöl
polunterquerung)
(Mississippi)
203 Luftkreuz N o r d p o l
294 P e r l e n
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300 S p i t z b e r g e n 305 Gold in Südafrika 309 W a l d l ä u f e r u n d Forscher
209 Die W e l t u h r — die Erde lebt 211 Die k l e i n e n V i e r (Besuch in d e n Zwergstaaten Europas) 224 Die Sdiildkröt« inseln
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313 E s k i m o s 314 In d e r W ü s t e G o b i 317 I r l a n d
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