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Dr. Christian Fazekas Medizinische Universität Graz, Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie, Österreich Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
© 2007 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria Springer-Verlag Wien New York ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlags aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Satz: PTP-Berlin Protago-TEX-Production GmbH, 10781 Berlin, Deutschland www.ptp-berlin.eu Druck: Holzhausen Druck und Medien GmbH, 1140 Wien, Österreich Umschlagbild: Getty Images/Close-up of footprint in sand/Steve Mason Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12028054 Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-72055-4 SpringerWienNewYork
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Inhaltsverzeichnis
Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... durch den Tag 1 4 8 11 16 21 24 29 31 35
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Behandeln Sie sich gut? Im Getriebe des Alltags Signale des Körpers Bodenkontakt Spüren und Denken Morgenrituale Keine freie Minute Vergnügliche Vorlieben Schöne neue Welt Intelligente Lösungen
39 44 47 52 56 61
11. 12. 13. 14. 15. 16.
In der Krise Wenn es schmerzt Alarmierter Organismus Wie wir uns langsam erschöpfen können Krank ohne Befund Echte Anliegen
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I NHALTSVERZEICHNIS
Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... durch schwierige Zeiten
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Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... miteinander leben 67 73 75 79
17. 18. 19. 20.
Ökosystem Beziehung Im Reich der Sinne Ewige Probleme Geheimnisvolles Du
Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... Kompliziertes vereinfachen 85 90 94 97
21. 22. 23. 24.
Entscheidungen Wenn wir uns Gesundheit wünschen Sich einlassen – sich loslassen Mir und uns zuliebe
Danksagung
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Weiterführende Literatur
I NHALTSVERZEICHNIS
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Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... durch den Tag „Wir alle wissen mehr als das, wovon wir wissen, dass wir es wissen.“ Thornton Wilder
1. BEHANDELN SIE SICH GUT?
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SICH GUT ?
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s gibt wohl niemanden, der diese Frage besser beantworten könnte als Sie selbst. Doch stellen Sie sich diese Frage jemals? Oder zumindest gelegentlich? Und wenn ja, wie fällt dann Ihre Antwort aus? Gibt es vielleicht einzelne Bereiche, in denen Sie sehr gut mit sich umgehen, und andere, bei denen das weniger der Fall ist? Die meisten von uns wissen wahrscheinlich recht genau, wie sie gerne von anderen behandelt werden möchten: etwa mit Respekt und Wertschätzung, verständnisvoll und großzügig. In der Partnerschaft suchen wir Liebe, Intimität, Geborgenheit. Vielleicht möchten wir, dass Menschen, die uns wichtig sind, einfach auch nur unsere guten Absichten erkennen und uns ernst nehmen. Manchmal wünschen wir uns im Umgang miteinander Humor und Gelassenheit, manchmal verlangt es uns nach Nähe, dann wieder nach Freiraum. Ich nehme an, Ihnen fallen spontan noch weitere und vielleicht ganz andere Qualitäten ein, die Sie in der Begegnung mit anderen für wichtig erachten. Doch nun wieder zurück zur eingangs gestellten Frage: Wie gehen wir mit uns selbst um? Leider bleiben wir uns die Antwort darauf oft zur Gänze schuldig. Eine solche Antwort müsste wohl
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von Überlegungen geleitet sein, denen wir dann auch gerne und selbstverständlich folgen wollen. Wer aber, wenn nicht Sie selbst, kann diese Antwort geben? Und übrigens, wer, wenn nicht wiederum Sie selbst, soll darauf achten, dass Sie Ihre ureigensten Anliegen erkennen und ernst nehmen, und ebenso darauf, welche Fähigkeiten Sie eigentlich besitzen? Und schließlich, wer, wenn nicht Sie selbst, leitet Sie dazu an, dass Sie Ihr Leben im Rahmen Ihrer konkreten Möglichkeiten so zu nützen versuchen, wie es Ihnen am besten entspricht? Um aber an dieser Stelle kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Dieses Buch soll keine Aufforderung zu bedingungslosem Egoismus sein. Genau das Gegenteil ist der Fall, wie in den Kapiteln zum Thema Miteinander leben ausführlich beschrieben wird. Dieses Buch möchte Sie nämlich vielmehr dazu anregen, mit sich selbst und mit anderen gut umzugehen. Im Trubel des Alltags treten wichtige eigene Bedürfnisse schnell in den Hintergrund oder sie kommen erst gar nicht zum Vorschein. Außerdem ist es keineswegs einfach, echte eigene Bedürfnisse von solchen zu unterscheiden, die uns vielleicht nur suggeriert werden. Es bedarf eines feinen Gespürs und eines kritischen Denkvermögens, um bedeutsame eigene Bedürfnisse zu erfassen und in der Folge Wege zu finden, sie zu erfüllen. Mit unserem Spüren und Denken verfügen wir über zwei besondere menschliche Fähigkeiten, die jeweils einen eigenständigen Bereich unseres Erlebens ausmachen und einen eigenständigen Zugang zur Welt repräsentieren. Spüren und Denken können wir wie zwei Instrumente einsetzen, die, wenn sie zusammenwirken, auch die Grundlage für die ursprünglich von mir als Psychosomatische Intelligenz bezeichnete Fähigkeit bilden. Mit Hilfe dieses besonderen Teilbereichs der menschlichen Intelligenz können wir Spüren und Denken als zwei einander ergänzende Informationsquellen nützen und im eigenen Interesse sinnvoll miteinander in Verbindung bringen. Ich möchte an dieser Stelle gerne anmerken, dass der Begriff Psychosomatische Intelligenz an jene bahnbrechende Entwick2
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lung anknüpft, die unter dem Begriff Emotionale Intelligenz weltweit bekannt wurde1. Diese Entwicklung wird nunmehr auch in eine neue Richtung weitergeführt. Im Mittelpunkt des Begriffs Emotionale Intelligenz steht unser Umgang mit starken Emotionen wie Glück, Wut, Angst oder Erleichterung. Im Alltag sind es allerdings nicht vorrangig diese großen Emotionen, die uns leiten. Auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers und eine Vielzahl von weniger eindeutigen Gefühlen bestimmen, wie wir uns selbst und unsere Umwelt erleben. Wie wir mit diesen vielfältigen Informationen aus der eigenen Welt des Spürens umgehen und welche Schlüsse wir jeweils daraus ziehen, damit nun befasst sich Psychosomatische Intelligenz.
1 Eng verbunden mit der Erforschung Emotionaler Intelligenz sind die Namen Peter Salovey und Jack Mayer. Daniel Goleman wiederum hat 1995 mit seinem Bestseller Emotionale Intelligenz eine breite Diskussion zu diesem Thema ausgelöst und dadurch wesentlich zu einem neuen, erweiterten Verständnis menschlicher Intelligenz beigetragen. 3
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Das bedeutet, dass körperliche Signale beziehungsweise unser gesamtes Gefühlsleben und unser Verstand eigentlich zusammen gehören. Denn erst gemeinsam können sie ihre volle Funktion für den Organismus entfalten und uns helfen, gut mit uns selbst zurechtzukommen. Leider ist es aber häufig der Fall, dass Menschen entweder nur ihrem Gefühl oder nur ihrem Verstand vertrauen. Dadurch verzichten sie auf einen bedeutsamen Teil ihrer Fähigkeiten und auf eine wichtige Informationsquelle. Das ist bedauerlich! Ähnlich bedauerlich ist es, dass sich viele Menschen ihren körperlichen Empfindungen oft völlig ausgeliefert fühlen. Es ist ihnen leider nicht bewusst, dass sie sich auch im Umgang mit ihrem körperlichen Erleben geistig zu Hilfe kommen könnten.
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K Kurz gesagt ist Psychosomatische Intelligenz unser Vermögen, auf eigene körperliche Signale geistig so zu reagieren, dass wir deren aktuelle Bedeutung erfassen und für unser konkretes Handeln nützen können.
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Gelingt es uns aber, Spüren und Denken, Gefühl und Verstand gemeinsam zu nützen, dann können wir wesentlich gezielter zu unserem eigenen Wohlbefinden beitragen. Wir können verschiedenste körperliche Zustände besser regulieren und außerdem mehr über uns selbst und unsere Umwelt in Erfahrung bringen. Auch die vielen kleineren und größeren Entscheidungen, die wir tagtäglich zu treffen haben, werden uns und unserer aktuellen Situation eher angemessen sein, wenn wir Spüren und Denken zu verbinden wissen. Statt eines Entweder – oder von Spüren und Denken, von Gefühl und Verstand, geht es demnach um ein Sowohl – als auch, zumindest dann, wenn sowohl unser Spüren als auch unser Denken eine wichtige Botschaft für uns bereithalten. Das ist nicht immer, aber doch häufig der Fall. Dann sollten wir eben auf unsere Psychosomatische Intelligenz zurückgreifen können, die uns Spüren und Denken gemeinsam und persönlich sinnvoll nützen lässt. Was damit konkret gemeint ist und wie das geht? Genau davon handelt dieses Buch. Viel Vergnügen!
2. IM GETRIEBE DES ALLTAGS2
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ndreas ist ein äußerst erfolgreicher Manager. Er ist es gewohnt, sich für den Erfolg seiner gesamten Abteilung mit großem persönlichem Engagement einzusetzen. Am Ende jeder Arbeitswoche erledigt er noch alles, was im Lauf der Woche nicht unterzubringen war und noch dringend abzuschließen ist. Dann arbeitet er freitags bis spät in den Abend und manchmal auch in die Nacht hinein. Erst danach geht er ins Wochenende. Für seine Mit2 Wenn ich von Gesprächen und Begegnungen mit bestimmten Menschen aus meinem beruflichen und privaten Umfeld erzähle, dann tue ich das mit der Erlaubnis der jeweiligen Person, aber auch unter Abänderung der Namen und weiterer persönlicher Details. Ich möchte mich für diese Erlaubnis bei jenen, von denen in diesem Buch zu lesen ist, sehr herzlich bedanken! 4
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arbeiterinnen und Mitarbeiter hat er immer ein offenes Ohr und er ist immer bemüht, sie mit Aufträgen nicht zu überfordern. Wie er mir stolz erzählt, ist ihm ein gutes Arbeitsklima äußerst wichtig. Doch in den letzten Monaten sind seine Wochenenden fast nur mehr dazu da, sich von der zurückliegenden Woche zu erholen. Während der Arbeitszeit ist er zunehmend unkonzentriert. Außerdem ist es für ihn zermürbend, dass ihm die Eigentümer des Unternehmens umso mehr aufzubürden scheinen, je erfolgreicher und effizienter er und sein Team arbeiten. Schließlich ist es seine Freundin, die ihn dazu ermutigt, meine professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen, da sie sich schon seit einiger Zeit große Sorgen um ihn macht. Nicht nur, dass sie von ihren gemeinsamen Wochenenden wenig haben, seit mehreren Wochen ist Andreas selbst beim Autofahren gefährlich unkonzentriert. Doch erst als er sich bei einer sportlichen Aktivität verletzt und deswegen in Krankenstand gehen muss, nützt er diese Auszeit, um zu mir zu kommen. In unserer ersten Begegnung schildert mir Andreas, wie beunruhigt er eigentlich selbst schon seit längerem sei: „Wenn ich jetzt nichts unternehme und Beratung oder Therapie oder was auch immer in Anspruch nehme, weiß ich, dass ich das nicht mehr lange schaffen werde. Ich bin schon jetzt im Job weniger effizient als früher.“
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„Und dann?“ „Dann würde meine Arbeitsleistung weiter absacken. Vielleicht würde ich nachts bald noch schlechter schlafen und mich gar nicht mehr regenerieren können. Dann müsste ich mich wahrscheinlich sowieso gleich für längere Zeit krank schreiben lassen.“ Und nach einer kurzen Pause setzt er fort: „Alleine schaffe ich es offenbar nicht, wirklich etwas zu verändern.“
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„Wie lange, glauben Sie, könnten Sie noch durchhalten, wenn Sie so weitermachen wie bisher?“ Ein wenig irritiert von meiner Frage meint er nachdenklich: „Ungefähr zwei, drei Monate, schätze ich.“
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Am Ende unseres Gesprächs erzählt mir Andreas noch beiläufig, wie gerne er am Wochenende mit dem Hund der Familie seiner Freundin spazieren geht: „Für diesen Hund zählen nur die ganz einfachen Dinge. Es mag für Sie jetzt komisch klingen, aber ein wenig von dieser Einfachheit färbt jedes Mal, wenn wir spazieren gehen, auch auf mich ab und irgendwie genieße ich das.“ Andreas ist sicherlich kein Einzelfall. Wahrscheinlich fühlen sich viele Menschen, ähnlich wie Andreas, dem Getriebe ihres Alltags ausgeliefert. Den meisten von uns verlangt die Bewältigung der alltäglichen Verpflichtungen ja auch einiges ab. Dies mag wohl damit etwas zu tun haben, dass die Ansprüche, die wir an uns selbst, an unsere Mitmenschen und an das Leben generell stellen, langsam, aber stetig zunehmen. In vielen Berufen steigt die Komplexität der Aufgaben und damit auch das jeweilige Anforderungsprofil – Stichwort lebenslanges Lernen. Ein ähnlicher Trend zeichnet sich auch im Privatleben ab, etwa in Bezug auf unsere hoch gesteckten Erwartungen an Partnerschaften. Die allseits bekannte Entwicklung der Scheidungsstatistik und der Zuwachs an Single-Haushalten lässt sich durchaus auch in diesem Sinn interpretieren. Nicht zuletzt sind auch unsere Konsumbedürfnisse gestiegen. Sie werden jedenfalls, ob dies für den Einzelnen nun gut oder schlecht ist, im Interesse unseres Wirtschaftssystems erfolgreich angekurbelt. Unsere Ansprüche ans Leben sind also im allgemeinen wenig bescheiden und daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Anforderungen, vor denen wir selbst tagtäglich stehen, eher zu- als abnehmen. Doch eigentlich warf meine Begegnung mit Andreas für mich noch Überlegungen ganz anderer Art auf. Viele Menschen können, ähnlich wie Andreas, das Ausmaß ihrer aktuellen Belastung prinzipiell gut oder sehr gut wahrnehmen. Andreas erkennt offenbar sehr genau, dass er mit seinen Kräften an ein Limit kommt und eine Veränderung eigentlich unumgänglich ist. Er selbst kann sogar ziemlich genau einschätzen, wie lange er noch so wie bisher weitermachen könnte, bevor er wahrschein6
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A LLTAGS DES
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lich psychisch zusammenbrechen würde. Andererseits fällt es Andreas sehr schwer, auf seine Wahrnehmungen entsprechend zu reagieren. Aber immerhin ist ihm ebenso wie seiner Freundin bewusst geworden, dass er ernstlich Gefahr läuft, sich im Getriebe des beruflichen Alltags aufzureiben. Doch warum ist es für Andreas und für viele andere so schwierig, eine notwendige Kurskorrektur zu schaffen, selbst wenn ihnen bereits deutlich klar geworden ist, dass diese dringend erforderlich wäre? Sicherlich können ganz unterschiedliche Gründe dafür ausschlaggebend sein, dass die Signale des Körpers lange Zeit ungehört – oder unerhört – bleiben. Ich war neugierig geworden, was es denn für Andreas so schwer machte, selbst eine Veränderung seiner belastenden Situation herbeizuführen. Nach unserem ersten Gespräch hatte sich Andreas dazu entschlossen, meine psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen zu wollen. In einem unserer weiteren Gespräche schilderte er mir dann, dass er es unter allen Umständen vermeiden wolle, von seinem beruflichen Erfolgskurs abzukommen. Vor diesem Hintergrund hatte es sich Andreas anscheinend zur Gewohnheit gemacht, sich auch über seine Grenzen hinaus zu belasten. Doch gerade dadurch lief er Gefahr, das zu gefährden, was ihm so wichtig war: seinen beruflichen Erfolg. Sein unermüdlicher Arbeitseinsatz hatte mittlerweile offenbar eine Eigendynamik entwickelt, in der er so sehr gefangen war, dass er die Grenzen seiner Belastbarkeit nicht mehr respektieren und auf die deutlichen Anzeichen seines zunehmenden Erschöpfungszustandes nicht reagieren konnte. Im Zuge unserer weiteren Gespräche wurden für Andreas diese Zusammenhänge immer klarer erkennbar und es gelang ihm schließlich, sich durch kleine und nach außen hin wenig spektakuläre Veränderungen wieder einigermaßen zu erholen und so seine Gesamtsituation nachhaltig zu verbessern. So achtete er beispielsweise wieder konsequenter auf die Signale seines Körpers und fühlte sich nicht mehr verpflichtet, jede auch noch so überzogene Erwartung an seinen beruflichen Einsatz zu erfüllen.
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Vielleicht tappen mehr Menschen, als wir glauben, in eine solche Erfolgsfalle. Anscheinend kann uns nicht nur der Misserfolg, sondern auch der Erfolg einen Lebensstil aufzwingen, der manchen von uns im Getriebe des Alltags auf Dauer schlecht bekommt und den Körper Alarm schlagen lässt. Nur gut, wenn wir das dann auch rechtzeitig bemerken und entsprechend reagieren!
3. SIGNALE DES KÖRPERS
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TAG
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adine ist Psychologie-Studentin. Sie arbeitet zurzeit in unserem Forschungsteam zur Psychosomatischen Intelligenz. Sie ist ganz zentral an der Entwicklung eines ersten Fragebogens zur Erfassung von Psychosomatischer Intelligenz beteiligt. Im Rahmen dieser Arbeit unterhielten wir uns auch über alltägliche körperliche Empfindungen. In der Regel wissen wir ja eher wenig von den tagtäglichen körperlichen Empfindungen anderer Menschen. Noch weniger wissen wir darüber, wie andere Menschen mit dem, was sie spüren beziehungsweise mit dem, was sie körperlich bei sich wahrnehmen, umgehen: Ob sie etwa solche körperlichen Wahrnehmungen überhaupt beachten, wann und wie sehr sie ihnen Aufmerksamkeit schenken und ob sie ihr Spüren im Alltag in irgendeiner Weise nützen und damit auch auf Signale ihres Körpers reagieren. Kürzlich hielt Nadine einen wichtigen Vortrag, auf den sie sich lange und intensiv vorbereitet hatte. Wir saßen direkt danach bei einer Tasse Kaffee zusammen. Es war früher Nachmittag. Freudig erzählte sie mir, dass sie ziemlich zufrieden damit sei, wie ihr der Vortrag gelungen war, und wie sie während des Vortragens zunehmend an innerer Ruhe gewonnen hatte. Schließlich schilderte sie auch, welche körperlichen Empfindungen sie jetzt gerade, nach der vollbrachten Leistung, bei sich registrierte: „Vor allem spüre ich meine Augenlider. Die sind ganz schwer. Das ist bei mir immer das erste 8
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Anzeichen, wenn ich müde werde. Aber auch insgesamt fühle ich mich nun ziemlich schwer, die Arme zum Beispiel, auch die Schultern. Die ganze Anspannung der letzten Tage scheint jetzt nachzulassen. Sonst ist im Moment gar nicht viel da, eher nur ein dumpfes Gefühl im Kopf. Und leichte Kopfschmerzen. Auch das kenne ich, wenn die Anspannung nachlässt. Am liebsten würde ich mich jetzt gleich hinlegen. Insgesamt fühle ich mich im Moment aber echt erleichtert, fast glücklich. Ich bin wahrscheinlich einfach froh, dass dieser Vortrag vorbei ist.“ Danach fügte sie noch vergnügt grinsend hinzu: „Und außerdem freue ich mich schon riesig auf das Wochenende. Mein Freund und ich, wir gehen Schi fahren.“ Auch mit Gerd, einem anderen Mitarbeiter an unserer Klinik, kam ich vor kurzem darüber ins Gespräch, welche Signale seines Körpers ihm gelegentlich wichtige Informationen vermitteln. Ich war erstaunt, Folgendes von ihm zu hören: „Es klingt für dich vielleicht seltsam, aber wenn mich eine Situation zu ärgern beginnt, verspannt sich meine Rückenmuskulatur, besonders im Bereich zwischen den Schulterblättern. Ich bemerke das manchmal, noch bevor mir bewusst wird, wie gereizt ich schon bin. Etwas anderes kenne ich auch von mir. Manchmal, wenn mir die Energie auszugehen beginnt, spüre ich als erstes Zeichen ein Kältegefühl im Kreuz und in der Nierengegend. Dann weiß ich, dass ich langsam, aber sicher Erholung brauche.“ Während mir die körperlichen Empfindungen aus Nadines Schilderungen weitgehend vertraut und daher auch gut nachvollziehbar waren, verwunderte mich das, was Gerd über seine Körperwahrnehmungen erzählt hatte, da mir diese Empfindungen fremd und unvertraut waren. Ich hatte selbst erst vor kurzem herausgefunden, dass es möglich ist, die Rückenmuskulatur zwischen den Schulterblättern bewusst locker zu lassen und sich auf diese Weise zu entspannen, eine angenehme Entdeckung übrigens. Bei Gerd erstaunte mich vor allem, dass er bezüglich seiner Rückenmuskulatur offenbar über eine sehr differenzierte Wahrnehmung verfügt. Es drängte sich mir der
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Gedanke auf, ob nicht mehrere oder vielleicht sogar viele Menschen, ähnlich wie Gerd, in gewissen Situationen ganz bestimmte Körpersignale dazu nützen, sich mehr Klarheit über ihr aktuelles Befinden zu verschaffen. Nadines und Gerds kurze persönliche Schilderungen zur Wahrnehmung von einzelnen Körpersignalen führen aber auch zu einer Reihe von grundsätzlichen Fragen: In welchen Situationen nehmen wir den eigenen Körper überhaupt wahr? Welche Informationen gewinnen wir daraus? Wie nützen wir sie? Und sind verschiedene Menschen unterschiedlich dafür begabt, mit den Signalen ihres Körpers gut umzugehen? An dieser Stelle könnte man einwenden, dass sich durch solche Fragestellungen überhaupt nichts Neues oder Interessantes herausfinden lässt, wenn wir nur einmal an die Bedeutung des Spürens denken: Wenn uns kalt ist, ziehen wir uns warm an, wenn wir hungrig sind, möchten wir essen, und wenn wir das Bedürfnis nach Geborgenheit verspüren, suchen wir nach Möglichkeit die Nähe eines uns vertrauten Menschen – das ist eigentlich jedem klar. Dieser mögliche Einwand, dass sich manche Signale unseres Körpers ohnehin leicht und eindeutig interpretieren lassen, ist durchaus berechtigt. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass die Wahrnehmung körperlicher Signale keineswegs immer so klare Handlungsanleitungen vermittelt, wie es die Beispiele Kälte, Hunger und Sehnsucht nach Geborgenheit nahe legen. Und dann, wenn die Signale des Körpers weniger eindeutig sind, kommt sehr schnell unser kritisches Denkvermögen ins Spiel. Denn prinzipiell befähigt uns ja gerade die menschliche Intelligenz dazu, dass wir uns auch in komplexen Situationen rasch zurechtfinden, sie richtig interpretieren und damit verbundene Problemstellungen auch lösen können. So ist es uns beispielsweise möglich, mathematische Aufgaben zu lösen oder uns in einer fremden Stadt einigermaßen orientieren zu können. Im Fall der Signale des Körpers besteht die komplexe Aufgabenstellung allerdings darin, uns auf das, was wir spüren, einen möglichst richtigen Reim zu machen. Gleichzeitig bedeutet 10
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dies, bei mehrdeutigen Signalen des eigenen Körpers nicht vorschnell und unkritisch falsche Schlüsse zu ziehen. Um uns nun nochmals an den Ozean körperlicher Empfindungsfähigkeit und unseren Umgang mit ihm heranzuwagen: Einige Antworten auf die Frage, wann wir unserem Körper besondere Aufmerksamkeit schenken und was wir dabei erleben, können erfreulicherweise schon gegeben werden. Genau darüber berichtet das nächste Kapitel.
4. BODENKONTAKT
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nne ist 27 Jahre alt. Morgens, bevor sie aufsteht, bewegt sie ihre Füße und Zehen in alle Richtungen. Manchmal streckt sie sich nach dem Aufstehen von Kopf bis Fuß genüsslich durch. Im Sommer liebt sie es, barfuß im Gras oder im Urlaub am Strand spazieren zu gehen. Dabei erlebt sie gelegentlich ganz bewusst, wie stark sie am Boden auftritt, spürt also den Druck ihres eigenen Gewichts. Verspielt kostet sie dann auch die ganze Kontaktfläche aus, mit der ihre Füße den Boden berühren, und erkundet mit ihren Sohlen die Beschaffenheit des Untergrundes. Anne geht auch gerne tanzen. Wenn sie alleine tanzt, schließt sie manchmal halb die Augen und taucht in das Erleben ihrer eigenen Körperbewegungen ein, die sie, ohne Verwendung irgendwelcher Drogen, ebenso abheben wie landen lassen. „Ich weiß immer, dass ich Boden unter den Füßen habe. Eigentlich können wir den Bodenkontakt gar nicht verlieren“, meinte sie einmal, „denn selbst, wenn wir sitzen oder liegen, liegen oder sitzen wir ja auf einer Unterfläche, die uns trägt. Manchmal hilft es mir, mir das bewusst zu machen, indem ich konzentriert genau dorthin fühle, wo diese Kontaktfläche zum Boden gerade ist. Es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit. Bodenkontakt bedeutet für mich aber nicht nur, dass ich den Boden unter mei-
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nen Füßen spüre und genieße, Bodenkontakt ist für mich auch ein Symbol. Es bedeutet für mich, zu wissen, was wirklich wichtig ist, egal, was sonst gerade rund um mich herum an Tollem oder an Schlimmem passiert. Ich bleibe in Kontakt mit mir und den Menschen und Lebensbereichen, die mir wirklich wichtig sind und die mich auch dann durchs Leben tragen, wenn sich plötzlich vieles verändert.“ Annes Schilderungen beziehen sich auf eine Ebene des körperlichen Erlebens, zu dem jede und jeder jeweils nur selbst Zugang hat. Niemand außer Anne selbst kann wissen, wie es sich anfühlt, Anne zu sein. Und niemand kann wissen, wie es sich gerade anfühlt, in Ihrer oder meiner Haut zu stecken, außer eben Sie und ich selbst. Es ist genau dieses Erleben aus der sogenannten Ich-Perspektive, von dem in diesem Buch noch vielfach die Rede sein wird. Doch kehren wir zurück zu Anne. Sie beschreibt in wenigen Worten, wie sie über bestimmte Körperteile – im konkreten Fall die Füße – sich selbst und die sie umgebende Welt erlebt. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie ihre Füße aussehen oder welche Schuhgröße sie hat. Es geht bei dieser Schilderung eben nicht darum, dass sie einen Körper hat, sondern wie sie sich körperlich in bestimmten Momenten erlebt. In unserem Alltag ist wohl beides wichtig, das Körper-Haben wie auch das Körper-Sein. Doch während dem Körper-Haben oft sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, etwa in Bezug auf Aussehen und Kleidung, dürften sich viele Menschen mit ihrem Körper-Sein vergleichsweise wenig befassen. Ausnahmen bestätigen aber sicherlich auch diese Regel. Und vielleicht gehören gerade auch Sie zu jenen Personen, die besonders aus ihrer körperlichen Selbstwahrnehmung heraus leben. Jedenfalls möchte ich Sie schon jetzt dazu einladen, die Frage am Ende dieses Kapitels zu beantworten, inwieweit Sie nämlich im Laufe eines Tages eher ihrem Körper-Sein oder ihrem Körper-Haben Aufmerksamkeit und Bedeutung zukommen lassen. Vor wenigen Jahren hat eine amerikanische Forschergruppe eine große Zahl an Menschen unterschiedlichster Herkunft, un12
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Wenn wir körperlich aktiv sind, wie etwa beim Spazierengehen, Radfahren oder Schwimmen.
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Wenn sich angenehme oder unerfreuliche Körperempfindungen einstellen, etwa wenn sich etwas besonders gut anfühlt oder wenn etwas weh tut und schmerzt.
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Wenn wir bemerken, dass andere uns und unsere Erscheinung, unsere Körperhaltung und unsere Bekleidung betrachten, etwa bei einem Vorstellungsgespräch oder wenn wir abends zu einer Veranstaltung oder einem Fest gehen.
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Wenn wir starke Gefühle empfinden, angefangen von Glück und Freude, Angst oder Wut, ...
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Wenn wir sexuell aktiv sind und all jene Gefühle erleben, die dabei mit im Spiel sind, wie Entspannung, Intimität, sexuelle Erregung, …
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Wenn wir körperliche Veränderungen bei uns registrieren, etwa im Zusammenhang mit dem Älterwerden, und wir uns dann mit früher vergleichen.
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Wenn es darum geht, wer wir sind und was uns als Person ausmacht, mit anderen Worten, wenn es um unsere Identität und Individualität geht.
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Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Menschen richten. Auch dann kann uns der eigene Körper, den Erkenntnissen dieser Forschergruppe nach, deutlicher als sonst be-
3 Howard R. Pollio, Tracey B. Henley, Craig J. Thompson. 13
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terschiedlichen Alters und natürlich auch beiderlei Geschlechts danach gefragt, bei welchen alltäglichen Gelegenheiten sie ihren Körper besonders wahrnehmen und was sie dabei jeweils erleben.3 Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung sind es die folgenden acht Situationen, in denen uns der eigene Körper besonders deutlich bewusst werden kann:
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wusst werden. Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn wir mit jemandem kommunizieren oder auch wenn wir nur an jemanden denken, den wir vermissen. Außerdem versuchte diese Forschergruppe herauszufinden, unter welchen Gesichtspunkten und mit welchen Qualitäten wir den eigenen Körper in den genannten Situationen erleben. Wiederum auf Basis von vielen Interviews kamen die Forscher zusammenfassend zu folgenden Schlüssen: Zum einen ist demnach den meisten von uns der eigene Körper als Erscheinungsbild für andere sehr präsent. Alles, was mit Mode zu tun hat, oder die Bemühungen, einem Schönheitsideal zu entsprechen, fallen besonders in diesen Bereich.
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Den eigenen Körper erleben wir aber gleichzeitig auch als Ausdruck der eigenen Person. So senden wir etwa mit Mimik, Gestik und Körperhaltung Signale an andere und empfangen umgekehrt natürlich solche Signale.
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Der Körper als Mittel zum Zweck ist uns besonders dann präsent, wenn wir beispielsweise eine neue Sportart oder einzelne Tanzschritte erlernen.
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Insgesamt können körperliche Aktivitäten auch als Vermittler einer speziellen Qualität von Lebensfreude und Lebendigkeit erlebt werden. Gerade bei Kindern ist eine solche Verbindung von Bewegung, Spiel und Lebensfreude häufig besonders offensichtlich.
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Der Körper als eigenes Leben und der eigene Körper als Objekt rücken wiederum dann stärker ins Bewusstsein, wenn ich befürchten muss, dass etwas mit mir beziehungsweise mit ihm nicht stimmt. Vielleicht steckt dann in mir oder in ihm gerade eine Krankheit. Oder er kann auf irgendeine sonstige Weise meine ursprünglichen Erwartungen an ihn nicht erfüllen.
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Beides, Körper-Sein und Körper-Haben, existiert prinzipiell gleichzeitig. Der Fokus unserer Aufmerksamkeit kann aber einmal diese und einmal jene Seite des körperlichen Erlebens in den Mittelpunkt rücken. In unserem Kulturkreis scheinen wir uns gegenwärtig besonders intensiv mit verschiedenen Aspekten des Erlebens des eigenen Körpers als Objekt zu befassen, etwa was den eigenen Körper als Erscheinungsbild betrifft. Sicherlich würden die meisten von uns der Aussage zustimmen, dass ein gutes Aussehen dazu beitragen kann, sich auch innerlich wohl zu fühlen. Andererseits ist äußere Schönheit weder ein Garant für Wohlbefinden noch ein Ersatz für innere Zufriedenheit. Und darin, in einer Überbewertung des eigenen Körpers als Objekt, könnte für die Einzelne oder den Einzelnen eine gewisse Gefahr liegen. Denn wenn mir der eigene Körper hauptsächlich als Objekt wichtig ist, ohne dass ich mich wirklich spüre, wahrnehme, genieße, dann fehlen mir wahrscheinlich auch jene tagtäglichen körperlichen Erfahrungen, die Anne beschrieben hat und die ihr anscheinend das angenehm intensive Gefühl vermitteln, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Es gibt aber sicherlich auch Menschen, die zum anderen Extrem neigen, indem sie sich ganz ihrem körperlichen Erleben und ihrer Empfindungswelt überlassen. Auch eine solche Haltung sollte meiner Ansicht nach selbstkritisch beleuchtet werden, vor allem, wenn sie dazu führt, dass der eigene analytische Verstand kein Wörtchen mehr mitzureden hat. Wie aber ist es nun mit Ihnen? Würden Sie sagen, dass Sie sich im Laufe eines Tages hauptsächlich in Ihrem Körper-Sein oder eher in Ihrem KörperHaben erleben? Und sind Sie mit diesem Verhältnis zwischen Ihrem Körper-Sein und Ihrem Körper-Haben zufrieden?
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5. SPÜREN UND DENKEN
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ine Woche Urlaub und welch überraschende Auswirkungen! Nina, Joe und ich sind seit langem gut befreundet und so verbrachten wir vor zirka einem Jahr eine gemeinsame Urlaubswoche auf der Insel Gran Canaria. Wir genossen es, für kurze Zeit dem Alltagstrott entrissen zu sein und die Seele am Strand, im Meer und bei unseren Ausflügen in die Bergwelt baumeln lassen zu können. Außerdem bewohnten wir ein wunderschönes Apartment. Allabendlich kochten wir abwechselnd füreinander auf und bei einer guten Flaschen Rioja und mit Blick aufs Meer unterhielten wir uns zwar über Gott und die Welt, doch ohne dabei große Probleme zu wälzen. Gegen Ende dieses Urlaubs machte mich Joe auf etwas aufmerksam, das mir völlig entgangen war. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hatte er die ganze Woche über nicht geraucht. Joe war davon selbst überrascht. „Und es geht mir nicht einmal ab“, fügte er hinzu. „Ich überlege mir jetzt sogar, ob ich nicht überhaupt mit dem Rauchen aufhöre. Eigentlich will ich das ja schon lange.“ Eine kurze Nachdenkpause später setzte er fort: „Aber zu Hause rauche ich ziemlich sicher wieder mit Silvie auf unserem Balkon, und im Büro rauche ich ganz automatisch in den Arbeitspausen – zur Entspannung. Ich will mir mit dem Gedanken ans Aufhören jetzt auch keinen Druck machen. Wahrscheinlich rauche ich zu Hause ja wieder wie gewohnt weiter.“ „Du wirst ja sehen“, meinte ich, „jedenfalls ist es schon etwas Besonderes, dass dir das Rauchen hier nicht wirklich gefehlt hat. Ich finde, das spricht für unsere Urlaubswoche.“ Vor einigen Tagen und ungefähr ein Jahr nach unserem Aufenthalt auf Gran Canaria kamen Joe und ich wieder auf diesen Kurzurlaub zu sprechen. Tatsächlich hatte Joe seit dieser gemeinsamen Woche – mit einer Ausnahme – nicht mehr geraucht und ich fragte ihn, wie ihm das gelungen sei, nachdem ich ihn ja 16
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D ENKEN UND
S PÜREN
seit vielen Jahren als mittelstarken Raucher gekannt hatte. „Am ersten Abend nach unserem Rückflug zündete ich mir zu Hause gemeinsam mit Silvie eine Zigarette an. Auf diese Zigarette hatte ich mich schon während des Rückflugs gefreut. Doch nach ein paar Zügen habe ich die Zigarette wieder ausgedämpft. Es war meine letzte Zigarette. Sie hat mir einfach nicht geschmeckt. Das hat mich völlig überrascht, und ich habe erneut überlegt, ob ich nicht wirklich gleich ganz mit dem Rauchen aufhören sollte. Du kannst dir vorstellen, wie erstaunt Silvie darüber war. Die darauf folgende Zeit ist es mir schwer gefallen durchzuhalten. Ich wusste, ich würde in den Arbeitspausen wieder wie gewohnt zur Zigarette greifen, wenn ich mir diesbezüglich nichts einfallen lassen würde. Doch ich fand eine Lösung. Bereits am ersten Arbeitstag nahm ich mir einen ganzen Sack Äpfel mit. Und jedes Mal, wenn ich in den Pausen zu einer Zigarette greifen wollte, griff ich stattdessen zu einem Apfel. Und es hat funktioniert. Bald waren es drei, vier Wochen, in denen ich nicht geraucht hatte, und nun ist schon ein Jahr seit dieser letzten Zigarette am Balkon vergangen.“ Auch diese Geschichte meines Freundes ist nicht erfunden. Meines Erachtens veranschaulicht sie gut, wie Spüren und Denken ineinandergreifen und wie wir diese beiden Fähigkeiten verbinden und nützen können. Den ganzen lieben langen Tag verbringen wir ja in einem Strom von Gefühlen und Gedanken. So ähnlich wie unsere Gedanken davon beeinflusst sind, was wir gerade vorhaben oder erleben, so ist auch unser körperlicher Zustand davon abhängig, was um uns herum gerade geschieht. Wir reagieren also nicht nur geistig, sondern auch körperlich auf unsere Umwelt. Wenn wir etwa einen Raum mit Menschen betreten, in dem uns freundliche und offene Gesichter entgegenblicken, verhält sich auch unser Organismus eher entspannt und gelöst. Betreten wir hingegen einen Raum, in dem uns eine bedrückende oder eine feindliche Atmosphäre entgegenschlägt, dann wird auch unsere Atmung, die Körperhaltung und letztlich das Körpergefühl insgesamt entsprechend reagieren. Oder den-
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ken Sie nur daran, wie sich das körperliche Wohlbefinden und die innere Anspannung verändern können, je nachdem, ob man gerade im Begriff ist, sich in einem netten Café oder aber auf einem Zahnarztstuhl niederzulassen. Der bekannte Gehirnforscher Antonio Damasio hat aufgrund seiner Forschungsarbeit dafür den Begriff Körper-Marker geprägt. Er will damit zum Ausdruck bringen, dass unser Organismus, unser Körper das, was wir gerade erleben, mit einem bestimmten körperlichen Zustand beantwortet beziehungsweise markiert. Ein weiteres Beispiel gefällig? Vielleicht kennen Sie das: Denken Sie an eine Person, die Ihnen besonders wichtig ist oder die Ihnen einmal besonders wichtig war, und achten Sie darauf, was der bloße intensive Gedanke an diese Person bei Ihnen auszulösen vermag. Vielleicht tauchen vor Ihrem geistigen Auge bestimmte Bilder oder Szenen auf, die Sie mit dieser Person verbinden. Und vielleicht geraten Sie dabei auch in einen etwas veränderten körperlichen Zustand. Vielleicht wird Ihre Atmung tiefer und langsamer und Sie entspannen sich, oder umgekehrt, Sie fühlen sich aufgewühlter als noch gerade zuvor, oder vielleicht löst der Gedanke an diese Person auch noch ganz andere körperlichen Empfindungen in Ihnen aus. Erinnerungen aus der Kindheit sind natürlich ebenso mit solchen Körper-Markern in unserem Gedächtnis verankert. Antonio Damasio geht jedenfalls davon aus, dass wir prinzipiell in jedem Augenblick unseres Lebens ein bestimmtes Körpergefühl wahrnehmen können, das allerdings nicht nur etwas mit der jeweils aktuellen Situation, sondern auch mit unseren Vorerfahrungen zu tun hat. Denn gerade wichtige Lebensereignisse prägen sich uns nicht nur geistig, sondern eben auch körperlich ein. Diese Fähigkeit, uns an körperliche Zustände in einer Weise zurückzuerinnern, dass wir sie bei entsprechenden Gedanken oder in entsprechenden Situationen qualitativ ähnlich erneut erleben können, wird als Körpergedächtnis bezeichnet. Bestimmte Gerüche aus der Kindheit beispielsweise oder andere mit dem eigenen sinnlich-leiblichen Erleben verbundene Wahrnehmungen und 18
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Empfindungen bleiben ebenso wie bildhafte Erinnerungen abgespeichert und sind aus dem Körpergedächtnis prinzipiell wieder abrufbar. An wirklich bedeutsame Szenen und Situationen können wir uns daher nicht nur gedanklich zurückerinnern, sondern wir können uns auch wieder in sie zurückfühlen. Sie können im positiven wie im negativen Sinn speziell dann wieder auftauchen, wenn die aktuelle Situation Ähnlichkeiten mit damals hat. Somit haben wir mit unserem Denken und unserem Spüren zwei weitgehend unterschiedliche Informationsquellen zur Verfügung, die uns auf der geistigen und der körperlichen Ebene jeweils etwas darüber mitteilen, was sich gerade in uns und außerhalb von uns abspielt. Mit dem Denken und unserem Verstand können wir einen kühlen Kopf bewahren, unsere Wahrnehmungen ordnen und die Situation analysieren. Mit unserem Spüren erfassen wir hingegen jene Reaktionen unseres Körpers, die durch die aktuelle Situation in uns wachgerufen werden. Wie schon weiter oben angesprochen, bringen wir Spüren und Denken leider allzu oft nicht miteinander in Verbindung und lassen damit wichtiges Potential brachliegen. Und doch gibt es genügend Beispiele, die uns zeigen, wie Spüren und Denken einander sinnvoll und intelligent ergänzen können. Die Geschichte von der gemeinsamen Urlaubswoche auf Gran Canaria mit ihren unerwarteten und eigentlich unbeabsichtigten Auswirkungen ist für mich so ein Beispiel. Joe ist es in dieser Woche offenbar so gut gegangen, dass es ihm ungewöhnlich leicht gefallen ist, einmal ein paar Tage nicht zu rauchen. Es stimmte ihn nachdenklich, als er zu seinem eigenen Erstaunen bemerkte, dass er nicht unbedingt eine Zigarette braucht, um sich wohl zu fühlen. Diese überraschende Erkenntnis wollte er nun einerseits als Chance nützen, mit dem Rauchen gänzlich aufzuhören, andererseits war er sich seiner Sache doch nicht so sicher. Zu stark wollte er sich selbst auch nicht unter Druck setzen. Würde also zu Hause die Macht der Gewohnheit wieder über seinen Wunsch nach Veränderung siegen? Aber die Serie an Überra-
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schungen setzte sich fort: Die erste Zigarette nach der Urlaubswoche schmeckte ihm nicht. Joe spürte, dass er jetzt eigentlich gar nicht rauchen wollte, und er reagierte auf diese Empfindung, indem er die Zigarette vorzeitig ausdämpfte. Joe musste allerdings noch weitere Entscheidungen treffen, die sowohl von seinem Spüren als auch von seinem Denkvermögen beeinflusst waren. Letzteres ließ ihn auf die Idee kommen, in der Phase der Umgewöhnung einen Sack Äpfel an seinen Arbeitsplatz mitzunehmen und in den Arbeitspausen statt zu einer Zigarette zu einem Apfel zu greifen. Äpfel schmecken ihm eben. So fand Joe, ohne dabei großen Druck auf sich auszuüben, zu einem für ihn gut geeigneten Zeitpunkt einen persönlich gangbaren Weg zu einer Verhaltensänderung, die ihm wichtig geworden war. Bei dieser Geschichte geht es mir nicht um das Rauchen! Ich habe sie vielmehr deswegen erzählt, weil sie zeigt, wie Joe spürend und denkend seinen ganz persönlichen Weg gefunden hat, eine für ihn wichtige Änderung einzuleiten und als neues Verhalten zu etablieren. Niemand anderer als Joe selbst war bei der Umsetzung dieser Veränderung der für ihn bestmögliche Berater! Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder hat einmal gemeint: „Wir alle wissen mehr als das, wovon wir wissen, dass wir es wissen.“ Ich würde sagen, Joe hat in den beschriebenen Situationen jeweils etwas von diesem oft geheimen, aber prinzipiell doch zugänglichen Wissen über sich selbst nützen können. So ist der Griff zum Apfel oberflächlich betrachtet eine banale Handlung, aber für Joe war das ein wichtiger Teil der Lösung. Und so, wie sich Joe selbst zu Hilfe kommen konnte, können auch wir uns als Expertinnen und Experten für unser eigenes Leben begreifen und anerkennen. In diesem Sinne wissen wir nämlich tatsächlich mehr von uns selbst als das, wovon wir offiziell wissen, dass wir es wissen. Zusammenfassend kann man sagen, dass Joe seine Psychosomatische Intelligenz, seine Fähigkeit, Spüren und Denken im eigenen Interesse zu verbinden, gut genützt hat – finden Sie nicht auch? 20
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6. MORGENRITUALE
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ie Zeit nach dem Aufwachen und die Zeit vor dem Schlafengehen markieren den persönlichen Übergang zwischen Tag und Nacht. Es sind jene Stunden, die bei vielen Menschen nach ganz bestimmten Gewohnheiten und Ritualen ablaufen. Auch dabei können Spüren und Denken mehr oder weniger gut miteinander in Verbindung stehen. Ein Beispiel dafür ist Philipp. Er ist 45, verheiratet, hat eine Tochter und einen Sohn, die ihm sehr wichtig sind, und er arbeitet in einer Bank. Und noch etwas: Die Wohnung, die er mit seiner Frau und seinen Kindern teilt, ist relativ klein. Wenn er nach Hause kommt, ist immer etwas los, und manchmal hätte er den Wunsch, sich einfach einmal in ein eigenes Zimmer zurückzuziehen. Doch dafür ist die Wohnung einfach nicht groß genug. Philipp und seine Familie möchten zwar irgendwann eine größere Wohnung beziehen, doch was soll er bis dahin tun? Philipp ist ein Individualist, der die Berge und die Natur liebt und einfach einen gewissen Freiraum benötigt. Er hat aber auch eine Gewohnheit, die er in der beschriebenen Situation für sich zu nützen gelernt hat: Philipp ist Frühaufsteher. Seine Frau hingegen genießt es, länger schlafen zu können. So hat er für sich eine Lösung gefunden, die darin besteht, den Tag einfach eineinhalb Stunden vor seiner Familie zu beginnen. Zufrieden erzählte er mir: „Da habe ich die ganze Wohnung für mich. Ich mache mir einen Tee und lese in aller Ruhe die Zeitung. Alles ist ruhig und still. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich das genieße! Dann richte ich für alle das Frühstück und wecke die Kinder. Danach erst meine Frau. Sie wiederum ist froh darüber, ein bisschen länger schlafen zu können.“ Auch Karin, eine meiner Arbeitskolleginnen, erzählte mir von ihren Morgenritualen. Ihre familiäre Situation ist der von Philipp ähnlich. Auch sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern. Ich kenne sie schon lange und jedenfalls so gut, dass es mir schwer fallen würde, ihr zu widersprechen, wenn sie von ihrer chao-
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tischen Seite berichtet. Auch für sie ist die Art und Weise, wie sie den Tag beginnt, von großer Bedeutung. Aber ihre morgendlichen Gewohnheiten und Bedürfnisse sind ganz andere als die von Philipp. „Am Morgen muss bei mir alles schnell gehen. Ich wecke die Kinder, richte uns das Frühstück, und um halb acht verlassen wir gemeinsam das Haus. Das läuft immer wie am Schnürchen. Ich bin jeden Morgen mit mir zufrieden, weil es mir gelingt, alle so gut und zeitgerecht in den Tag zu bringen. Danach kann ich ganz ruhig und gelassen mit meinem Rad zur Arbeit fahren. Das gibt mir das schöne Gefühl, alles im Griff zu haben. Wenn der Morgen so funktioniert, dann stört es mich auch nicht, wenn es tagsüber etwas chaotischer zugeht.“ Gewohnheiten und Rituale können dabei helfen, uns das Leben einfacher zu machen. Wir brauchen am Morgen normalerweise nicht lange darüber nachdenken, was als Nächstes zu tun ist – wir tun es einfach. Die Abfolge unserer Handlungen ist gleichsam vorprogrammiert und läuft weitgehend konstant ab. Vielleicht gehen wir vor die Tür, heben die Zeitung auf, gehen dann ins Bad: Duschen, Zähneputzen, Rasieren, Anziehen, dann in die Küche, Kaffee, Radio und so weiter und so fort – alles im mehr oder weniger munteren Zustand und mehr oder minder automatisch. Philipp und Karin haben für sich offenbar gute und intelligente Wege entwickelt, täglich ihren Nutzen aus den Vorteilen solcher Abläufe zu ziehen, die ihnen und ihren Familien Freiraum, Effizienz, Klarheit und Sicherheit bieten können. Es ist also nicht verwunderlich, dass Philipp und Karin die Morgenstunden zu schätzen wissen. Philipp erlebt vor allem jene Ruhe und Stille, nach denen er sich im Verlauf des übrigen Tages sonst vergeblich sehnen würde. Und Karin und ihre Familie wissen es zu schätzen, dass sie den Tag gemeinsam beginnen, und es ist Karins liebevoller morgendlicher Fürsorge zu verdanken, dass alle mit großer Selbstverständlichkeit und einer gewissen Gelassenheit auf das zusteuern können, was der Tag noch bringen wird. Grundsätzlich können wir ähnlich wie Philipp und Karin Gewohnheiten und Rituale entwickeln, die zu uns und zu jenen 22
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passen, mit denen wir zusammenleben. Entsprechend unseren aktuellen Lebensumständen sind manchmal sicherlich Spüren und Denken erforderlich, um solche möglichst gut geeigneten Verhaltensgewohnheiten zu finden und zu etablieren. Gerade in neuen Partnerschaften und Zusammenlebensgemeinschaften kann es eine gewisse Zeit und Offenheit brauchen, bis eine für alle zufriedenstellende Abstimmung der eigenen Bedürfnisse und Gewohnheiten mit jenen der Partnerin oder des Partners gelingt. Aber Achtung! Gewohnheiten, die vielleicht einstmals hilfreich waren, können unter bestimmten Umständen auch ein so starkes Eigenleben entfalten, dass sie die Person, die sie ursprünglich entwickelt hat, im wahrsten Sinn des Wortes zu versklaven beginnen. Wichtige aktuelle Bedürfnisse, die eine Abänderung von Denk- und Verhaltensmustern erfordern würden, werden dann vielleicht nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen, geschweige denn lustvoll gelebt, sondern alles, wirklich alles – und übrigens auch alle Beteiligten – sollen sich dann diesen dominanten Gewohnheiten unterordnen. In solchen Fällen bestimmen dann nicht mehr wir über unsere Gewohnheiten, sondern unsere Gewohnheiten bestimmen über uns. Denk- und Verhaltensmuster, die ursprünglich durchaus wertvoll und effizient gewesen sein mögen, werden so eventuell zur Zwangsjacke. Statt uns das Leben zu erleichtern, werden sie zur Bedrohung für Spontaneität und Lebensfreude. So etwas kommt keineswegs selten vor, jedenfalls häufiger, als wir vielleicht glauben würden. Immerhin begeben sich über eine Million deutsche Bundesbürgerinnen und -bürger mindestens einmal in ihrem Leben wegen einer solchen Einengung, einer sogenannten Zwangsstörung, in ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung. So eine Störung kann sich beispielsweise darin äußern, dass die Betroffenen sich gezwungen fühlen, ihre Hände unnötig lange und intensiv waschen zu müssen, etwa aus der Sorge heraus, sie könnten sich oder andere sonst beschmutzen oder mit einer gefährlichen Krankheit anstecken. Ein derartiges zwanghaftes Verhalten beruht oft auf solchen beängstigenden Gedanken, die sich stän-
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dig aufdrängen. Mit Hilfe einer entsprechenden Behandlung können diese Personen aber wieder einen anderen Zugang zu diesen Ängsten und den sich aufdrängenden Gedanken entwickeln. Die Betroffenen lernen dabei, den lebensgeschichtlichen Hintergrund ihrer Ängste besser zu verstehen und anders mit ihnen umzugehen. Häufig nehmen die Ängste und die daraus resultierenden zwanghaften Handlungen in der Folge wieder ab und der eigene Verhaltensspielraum wird wieder größer. So können sich betroffene Personen ihren persönlichen Freiraum wieder weitgehend oder sogar vollständig zurückerobern. Morgenrituale, wie Rituale generell, können also zu wertvollen und sinnvollen Verhaltensmustern werden, die unser Leben vereinfachen und unserem Wohlbefinden zugute kommen. Spürend und denkend kann es uns wie Philipp und Karin gelingen, solche uns beglückende Gewohnheiten zu etablieren. Bei manchen Menschen können fixe Rituale aber auch Ausdruck einer seelischen Dynamik sein, die sie dazu zwingt, sich ganz von der Macht der eigenen Ängste und der daraus entstandenen Rituale dominieren zu lassen. Dann ist es zweifelsohne sinnvoll, professionelle Hilfsangebote anzunehmen, nicht nur sich selbst, sondern auch dem familiären und sozialen Umfeld zuliebe.
7. KEINE FREIE MINUTE
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ennen Sie auch das Gefühl, keine freie Minute zu haben? Dabei ist es doch eigentlich verblüffend: In der Geschichte der Menschheit war die durchschnittliche Lebenserwartung – jedenfalls auf unseren Kulturraum bezogen – noch nie so hoch wie heute. Noch nie zuvor war es möglich, den Alltag so unkompliziert, so bequem und so zeitsparend zu gestalten. Eigentlich sollte all das dazu angetan sein, in uns das beruhigende und entspannende Gefühl zu erwecken, ausreichend Zeit zur Verfügung 24
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zu haben. Doch paradoxerweise scheint genau das Gegenteil der Fall zu sein. Viele Erwachsene im berufstätigen Alter, ob mit oder ohne Familie, leiden unter dem Gefühl, nicht genügend Zeit, vielleicht sogar keine freie Minute zu haben. Entspricht eine solche Einschätzung wirklich der jeweiligen Situation dieser unserer Mitmenschen, zu denen ja vielleicht auch Sie sich zählen, oder muss eine solche Einschätzung auf einem grundlegenden Irrtum beruhen? Und wie könnte es gerade jenen Vielbeschäftigten unter uns, die dieser Zustand ernstlich belastet, vielleicht doch gelingen, zu mehr frei verfügbarer Zeit zu kommen? Doch ist das tatsächlich möglich? Vielleicht kennen Sie aber auch Personen, die höchst aktiv und erfolgreich sind und die dennoch nicht von sich behaupten, unter chronischem Zeitmangel zu leiden. Isabella und Thomas sind dafür ein gutes Beispiel. Sie sind nun schon seit vielen Jahren ein Paar, waren beide zuvor schon einmal verheiratet und nehmen sich beide gerne und ausgiebig Zeit für ihre schon fast großjährigen Kinder. Isabella und Thomas sind beruflich erfolgreich, sie gehen regelmäßig miteinander tanzen und sind zusätzlich mehrmals pro Woche sportlich aktiv. Noch nie habe ich gehört, dass sich Isabella oder Thomas darüber beklagt hätten, keine Zeit zu haben. Wie aber gelingt es den beiden, über so viel Zeit zu verfügen beziehungsweise sich trotz all ihrer Aktivitäten nicht als hoffnungslos unter Zeitdruck stehend zu erleben? Es gibt zwei Hauptgründe und ein paar weitere einfache Erklärungen, warum Isabella und Thomas das Erleben von Zeitmangel weitgehend erspart zu bleiben scheint. Einerseits vermeiden die beiden bestimmte Zeitfresser, auf die ich ein wenig später noch zu sprechen komme. Andererseits sind beide auf ihre Art und Weise sehr unkompliziert. Sie sind wirklich erstaunlich gut darin, sich das Leben nicht unnötig schwer zu machen. Dazu ein erstes kleines Beispiel: Wenn es etwas Besonderes zu feiern gibt – und Anlässe dafür finden die beiden häufig – kleiden sie sich durchaus gerne entsprechend festlich. Ansonsten
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allerdings bevorzugen sie ein legeres Outfit, ohne viel Aufwand und ohne sich darüber groß den Kopf zu zerbrechen. Zweites Beispiel: Isabella und Thomas betreiben alles, was sie beginnen, mit einer beachtlichen Konsequenz. Und das erweist sich als eine höchst zeitsparende Eigenschaft. Denn überall dort, wo wir uns Routine aneignen, können wir relativ schnell auf bewährte Strategien zugreifen. Das trifft auf das Berufsleben ebenso zu wie etwa auf das Vorbereiten eines Abendessens für den Freundeskreis. Mit anderen Worten, Isabella und Thomas nützen ihre Erfahrungen, um ihre Vorhaben effizient umzusetzen. Sie sind aber nicht nur konsequent, sondern setzen sich auch mit Freude und voller Energie für das ein, was ihnen wichtig ist, im Ernst des beruflichen Alltags wie im privaten Vergnügen. Daher erleben sie es auch nicht als Zeitverlust, wenn sie arbeiten müssen. Ihre berufliche Tätigkeit ist ein durch und durch akzeptierter und wichtiger Teil ihrer individuellen Lebensgestaltung. Mit der gleichen Grundhaltung genießen sie aber auch ihre Urlaube – unbeschwert, ausgelassen, ausgiebig. Drittes Beispiel: Die beiden sind außerdem immer offen für unkonventionelle Lösungen. Wenn es sein muss, nehmen sie – frei nach dem Motto: Wo gehobelt wird, da fallen Späne – auch ein Scheitern ihrer Pläne in Kauf. Auch wenn einmal etwas nicht so optimal läuft, reagieren Isabella und Thomas keineswegs wehleidig. Die bisherigen Erklärungen dafür, wie es Isabella und Thomas gelingt, im luxuriösen Gefühl zu leben, ausreichend Zeit zu haben, wären allerdings nicht komplett, würde ich sie nicht um folgende wichtige Details ergänzen. Im Unterschied zu Millionen von Menschen, die allabendlich fernsehen, nehmen sich Isabella und Thomas dafür nur äußerst selten Zeit. Sie haben einfach Wichtigeres zu tun. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine für manche wohl provokant klingende Frage stellen: Wie viele an Zeitmangel leidende Menschen könnten plötzlich Zeit für diverse, ihnen wichtige Aktivitäten gewinnen, wenn es ihnen gelänge, ihren Fernsehkon26
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4 Aus dem Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 2006.
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sum einzuschränken? Beispielsweise verbringt jede/r Deutsche durchschnittlich eine Stunde 53 Minuten pro Tag vor dem Fernseher oder schaut sich Videos an4. Österreichische Schulkinder im Alter zwischen 10 und 13 Jahren sitzen übrigens ebenfalls schon eine beachtliche Zeit vor dem Fernsehgerät, und zwar pro Tag eine Stunde 48 Minuten. Das alles hört sich im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, wo der Fernsehapparat im Durchschnitt 7 Stunden pro Tag läuft, zwar noch immer relativ harmlos an, aber so wenig Zeit ist es dann auch wieder nicht, die wir auf diese Weise Tag für Tag passiv verstreichen lassen. Nochmals zurück zu Isabella und Thomas: Im Unterschied zu vielen anderen führen die beiden nur sehr selten lange Telefongespräche. Sie sind meist eher kurz angebunden und verwenden das Telefon in erster Linie zu einem knappen und gezielten Informationsaustausch. Die Tageszeitung liest Thomas nur nach Lust und Laune, die für ihn relevanten Informationen entgehen ihm dadurch dennoch kaum. Ihre Einkäufe erledigen Isabella und Thomas ebenfalls ohne großen Zeitaufwand. Den Laufsport betreiben sie, indem sie sich rasch umziehen und einfach loslaufen. Die Kombination all dieser Verhaltensweisen erweist sich in Summe als äußerst zeitsparend. Von diesem gut gefüllten Zeitkonto nehmen sich Isabella und Thomas dann beim Abendessen oder am Wochenende für Freunde, Familie und füreinander mit großer Ruhe und Gelassenheit alle Zeit der Welt. Wer hat, der hat! Die Schilderung, wie Isabella und Thomas mit ihrer Zeit umgehen, ist ebenso wie andere Beispiele in diesem Buch nicht als eins zu eins umzusetzende Empfehlung, sondern lediglich als Denkanstoß gedacht. Ein Verhaltensmuster, das sich für Isabella und Thomas bewährt hat, muss deswegen noch lange nicht für jemand anderen passen! Solche Beispiele können eine Anregung sein, ersparen uns aber sicherlich nicht die Mühe, uns
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selbst zu fragen, wie wir es wohl mit dem eigenen Zeitmanagement halten und halten wollen. Schließlich kann ja nur jede und jeder selbst wirklich wissen, welche Form von Zeitgestaltung der eigenen Person und Lebenssituation am besten entspricht. Da wir uns ja alle in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen bewegen, muss letztendlich jeder Mensch die für ihn individuell stimmigen Lösungen zu finden versuchen. Der zeitliche Gestaltungsspielraum wird etwa für eine allein erziehende Mutter, die voll berufstätig ist und finanziell um den Erhalt eines Mindestlebensstandards kämpfen muss, höchstwahrscheinlich wesentlich enger sein als für eine finanziell gut abgesicherte Person ohne besondere familiäre oder sonstige Verantwortlichkeiten. Das Beispiel von Isabella und Thomas soll also keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass unsere Ausgangsbedingungen für persönlich gutes Zeitmanagement – wie ganz generell für alle wichtigen Lebensfragen – unterschiedlich schwierig sind. Vielleicht kann diese Geschichte aber dennoch ein wenig dazu ermutigen und inspirieren, im Rahmen der persönlichen Ausgangslage nach gewissen Freiräumen zu suchen, in diesem Fall nach Freiräumen im Umgang mit der eigenen Zeit. Lassen sich solche finden, dann sollten wir sie auch entsprechend ernst nehmen und nützen. Immerhin geht es um nicht weniger als die eigene Lebenszeit! Wofür wir unsere Zeit verwenden, sollte im Sinne Psychosomatischer Intelligenz auch damit zu tun haben, was uns persönlich wirklich wichtig ist. Und hier schließt sich der Kreis. Denn der Verstand allein vermittelt uns noch lange nicht, was das sein könnte. Wieder einmal benötigen wir auch das, was wir spüren und empfinden, als wichtige – weil zutiefst persönliche – Orientierungshilfe.
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or zwei Jahren hat Hilde ihren 80. Geburtstag gefeiert. Wie eh und je liebt sie ihre Gartenarbeit, doch noch mehr Vergnügen bereitet es ihr, einer leidenschaftlichen Sonnenanbeterin, wenn sie sich in aller Ruhe sonnen kann. Wenn es draußen sommerlich heiß wird und die Sonne tagsüber ihrem Höchststand zusteuert, wartet sie erst einmal zu, bis der Teil des Gartens, den sie bearbeiten will, wieder im Schatten liegt. Statt also ihrer geliebten Gartenarbeit nachzugehen, trägt sie ihre Sonnencreme auf und legt sich in der Zwischenzeit mit ihrem Liegestuhl gemütlich in die pralle Sonne. Ihrer Ansicht nach entstünde nämlich gleich ein doppelter Schaden, wenn sie jetzt mit ihrer Arbeit einfach fortfahren würde: „Erstens würde ich mich darüber ärgern, dass mir die Hitze die Arbeit erschwert. Und zweitens wäre es eine Vergeudung von Sonnenstunden, wenn ich mich da nicht hinlegen und entspannt genießen würde. Das wäre doch doppelt blöd, oder?“ Wenn sie mich dabei aus ihrem Liegestuhl heraus mit ihren blitzenden Augen schelmisch anlächelt, kann ich nicht anders, als zurückzulächeln und ihr zuzustimmen. Ich selbst bin kein großer Freund vom Sonnenbaden. Dennoch, während ich dies schreibe, genieße auch ich an einem kleinen See das erste sommerlich anmutende Hoch dieses Frühlings. Der gute Akku meines Laptops und die günstigen Lichtverhältnisse machen es möglich im Freien zu schreiben. Gleichzeitig ist mir diese vorübergehende Verlegung meines Schreibtisches sehr willkommen. Gelegentlich suche ich solche vergnüglichen und inspirierenden Abwechslungen. Für Franz ist, was seine Arbeit betrifft, Abwechslung überhaupt das Zauberwort. „In gewisser Weise ist es zwar anstrengender, einer Arbeit nachzugehen, die einen immer wieder zwingt, sich mit ganz neuen Themen zu beschäftigen, um am Laufenden zu bleiben. Andererseits liebe ich die Herausforderung.“ Für Bernhard zählen wiederum ganz andere Kriterien. „Mir ist es
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recht, im Außendienst zu arbeiten, weil ich einen Job brauche, der es mir ermöglicht, mit anderen in Kontakt zu sein. Ein klassischer Bürojob wäre nichts für mich.“ Wieder anders ist es bei Anita: „Ich mag die Routine und arbeite am liebsten in einem Team, das sich gut kennt und wo es auch ein gewisses zwischenmenschliches Interesse aneinander gibt.“ Im privaten wie im beruflichen Alltag ist es nicht unwichtig, darüber Bescheid zu wissen, was wir gerne tun und mit wem wir etwas gerne tun. Auch im Umgang mit anderen Menschen spüren wir schnell, welche Begegnungen uns erfreuen, bewegen, stärken oder sogar beglücken, und umgekehrt, wie wir in der Nähe bestimmter Menschen vielleicht irritiert, verunsichert oder bedrückt werden. Es wäre ebenso einseitig, diesen atmosphärischen Einfluss, den andere auf uns ausüben mögen, auszublenden, wie ihn zum alles bestimmenden Kriterium in unseren zwischenmenschlichen Kontakten werden zu lassen. Doch falls sich die Nähe bestimmter Personen so auswirkt, dass wir uns selbst plötzlich ein wenig anders erleben, so ist es sicherlich vorteilhaft, ein solches Phänomen auch bewusst zu registrieren. Dann kann man kritisch und selbstkritisch zu analysieren versuchen, was diese Wahrnehmung zu bedeuten hat und wie wir damit umgehen wollen. Denn nur so, indem wir solche Signale bemerken und indem wir nicht zuletzt auch unsere vergnüglichen Vorlieben und unser Bedürfnis nach Wohlbefinden, wie dies etwa Hilde tut, ernst nehmen, können wir den eigenen realen Gestaltungsspielraum bewusst und gezielt nützen. Dabei ist es ähnlich wichtig, ebenfalls zu registrieren, was wir gerade nicht wollen, was uns also in einen Zustand des Unbehagens versetzen würde. Eine zentrale Funktion des Spürens liegt ja genau darin, das zu bewerten, was wir gerade tun oder erleben, und daraus dann unsere persönlichen Schlüsse zu ziehen. Was aber, wenn wir gar nicht wissen, was wir gerne tun und was unsere vergnüglichen Vorlieben sein könnten? Eine diesbezüglich erfolgreiche Lösungsstrategie zeigen uns bereits kleine Kinder eindrucks- und meistens ebenso ausdrucksvoll vor: Neu30
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gierig und staunend, manchmal vorsichtig, manchmal wagemutig erkunden sie die Welt, probieren Verschiedenes aus und finden so relativ bald heraus, was ihnen gut und was ihnen weniger gut gefällt. Gelingt es uns auch als Erwachsene, ein wenig von dieser Neugier und dieser Freude am Erkunden und Entdecken beizubehalten oder wieder zuzulassen, können wir spürend und denkend Lernende bleiben. Die Frage, was wir nun eigentlich gerne tun, sollte sich so früher oder später beantworten lassen, allerdings nicht ohne persönlichen Aufwand und wahrscheinlich auch nicht ganz ohne gewisse Ent-Täuschungen.
9. SCHÖNE NEUE WELT
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ast täglich findet sich in meinem Briefkasten ein Stapel an Werbeprospekten mit den jeweils aktuellsten und günstigsten Angeboten. Tag für Tag komme ich, wahrscheinlich ähnlich wie Sie, mit der schönen Welt der Werbung in Kontakt. Eine Flut an ästhetischen, erotischen und humorigen Bildern, die uns auf die Attraktivität von Marken und Artikeln aufmerksam machen sollen, lädt dazu ein, in eine schillernde Welt einzutauchen, und suggeriert gleichzeitig, auch unser vielleicht wenig aufregendes Leben könne durch ein paar einfache Kaufentscheidungen ein besseres und attraktiveres werden. Petra ist Designerin, EDV-Fachfrau und Miteigentümerin einer kleinen Werbeagentur. In ihrem Arbeitsbereich ist sie weitgehend auf sich allein gestellt. Der Erfolg oder Misserfolg des gesamten Unternehmens hängt jedoch wesentlich von Petras Arbeitserfolg ab. Seit kurzem bewohnt sie ein von ihr und ihrem Partner geplantes und eben fertig gestelltes Haus in guter Lage am Stadtrand. Auf diesen Einzug ins neue Heim hatten sich beide schon lange gefreut. Doch als Petra zu mir zur Beratung und schließlich zur Behandlung kommt, wirkt sie ganz geknickt. Sie
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zweifelt an fast allem, worauf ihr Selbstvertrauen bislang aufbaute, und sieht sich dem Leben nicht mehr gewachsen. Im letzten Jahr und speziell in den letzten Monaten verliefen ihre beruflichen Aktivitäten trotz eines besonders hohen persönlichen Einsatzes weitgehend erfolglos. Das Unternehmen ist, ihrer Meinung nach nicht zuletzt durch ihr eigenes Versagen, sogar in eine Krise geschlittert. Petra schildert, wie sie sich bei ihrer Tätigkeit abmüht und dennoch schon seit längerem fast nichts mehr weiterbringt. Vor allem ihre Kreativität scheint sie völlig im Stich zu lassen. Das mit hohen Schulden errichtete Haus ist plötzlich zu einem Damoklesschwert geworden, das sie zu zerstören droht. Finanziell ist es längst nicht mehr tragbar. Petra ist tief deprimiert, ohne Energie, und sie befürchtet, dass aufgrund der prekären Gesamtsituation auch noch ihre Partnerschaft in die Brüche gehen könnte. Sie ist zu alledem noch davon überzeugt, an ihrer derzeitigen schwierigen Situation ohnedies nichts verändern zu können. Dabei verkörpert sie eigentlich den Typ der modernen, erfolgreichen Geschäftsfrau, die sich in jeder Situation zurechtfinden kann und sich zu präsentieren weiß. „Ich habe inzwischen so viele Probleme, dass ich nicht mehr weiß, wo ich anfangen soll. Ich bin wie gelähmt. Wenn ich denke, mach das oder das, dann fallen mir sofort Gründe ein, warum es sowieso keinen Sinn hat, diesen oder jenen Schritt zu setzen. Ich kann nicht mehr einschätzen, ob da überhaupt noch etwas Sinn macht.“ Im Laufe unserer therapeutischen Gespräche wird deutlich, dass Petra und ihr Lebenspartner schon lange von einem Leben in einem luxuriösen Heim geträumt hatten und sich diesen Wunsch um jeden Preis erfüllen wollten. Doch der Erwerb des Grundstücks und der anschließende Hausbau überstiegen bei weitem ihre gemeinsamen finanziellen Möglichkeiten. Petra war zwar durchaus bereit gewesen, mit großem Einsatz für ihre Werbeagentur und damit auch für ihr neues gemeinsames Heim zu arbeiten, aber die Rechnung war leider nicht aufgegangen. Ihre beruflichen Bemühungen schlugen sich finanziell nicht nieder. Ganz im Gegenteil, sie musste einen Rückschlag nach dem anderen einstecken. 32
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Petra kam ein gutes Dutzend Mal zu mir, bis es ihr wieder einigermaßen gelang, seelisch und in der Folge auch beruflich Tritt zu fassen. Sie musste dafür allerdings ihre gesamte Lebenssituation neu ausrichten. Um den nicht zu bewältigenden Schuldenberg zu reduzieren, mussten die beiden ihr Haus schließlich verkaufen und damit beginnen, sich wieder auf ein Leben in wesentlich bescheideneren Verhältnissen einzustellen. Als ich sie abschließend fragte, was sie für sich aus dieser Erfahrung des Scheiterns mitnehmen würde können, sagte mir Petra Folgendes: „In unser Büro kommen gelegentlich Leute, die einfach zu viel wollen. Diese Kunden werde ich zukünftig sicher mit mehr Klarheit und vielleicht auch mit mehr Verständnis als bisher auf den Boden der Realität zurückholen. Wahrscheinlich kann ich sie diesbezüglich jetzt besser beraten als früher. Ich hätte mir nicht gedacht, dass ich auch einmal zu jenen gehören würde, die zu viel wollen, denn eigentlich habe ich mich immer für einen vorsichtigen Menschen gehalten. Allerdings glaube ich auch nicht, dass ich mich noch einmal in die gleiche Situation bringen werde.“ Petra hatte sich mit der Entscheidung, auf einem teuren Grundstück ein teures Haus zu bauen, und ihrem Bemühen, dafür mehr und mehr zu leisten beziehungsweise mehr und mehr Geld zu verdienen, letzten Endes offensichtlich übernommen. Vielleicht hatte sie zusätzlich auch noch eine Portion Pech. Insgesamt werfen sich aber wahrscheinlich wesentlich mehr Menschen durch ihr tagtägliches Kauf- und Konsumverhalten selbst aus der Bahn als durch eine finanzielle Entscheidung, die nur ein einzelnes Projekt betrifft. Im Fall von Petra und ihrem Freund war dieses Einzelprojekt eben die Erfüllung des Lebenstraumes Luxushaus gewesen. Das Ergebnis ist allerdings häufig dasselbe: Die handelnden Personen sprengen den Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten und bringen sich so in eine äußerst unangenehme, möglicherweise Existenz bedrohende Lage. Vor dem Hintergrund eines Wirtschaftssystems, das auf stetes Wachstum ausgerichtet ist, und als Adressaten der psycho-
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logisch ausgeklügelten Strategien der Werbeindustrie, die uns ständig und allgegenwärtig dazu auffordern, doch noch dies und das zu kaufen, können wir uns verständlicherweise dem Konsumzwang nur schwer entziehen und erliegen nur allzu gerne den Verlockungen der Glück verheißenden Angebote. Leider funktionieren diese Werbestrategien so erfolgreich, dass etwa in Österreich mindestens jede und jeder Vierte in der Altersgruppe der unter 44-Jährigen gefährdet ist, der Kaufsucht zum Opfer zu fallen.5 Bei den weiblichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zu einem Alter von 24 Jahren erreicht dieser Prozentsatz sogar die 50%-Marke. Es wird also sehr häufig weit über die eigenen finanziellen Möglichkeiten hinausgehend konsumiert. Längst schon rangiert Einkaufen auch bei der Rangliste der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen auf den vordersten Rängen. Die Auswirkungen dieses Trends sind allerdings oft ernüchternd: Statt dass die Konsumierenden das in Aussicht gestellte bessere Leben erreichen, stürzt die Kaufsucht die Betroffenen von einer Belastung und Krise in die nächste. Denn ähnlich, wie dies bei Petra der Fall war, geraten kaufsüchtige Menschen in eine Spirale, in der sich alles nur mehr um Geld – zuerst ausgeben, dann verdienen – dreht. Und daraus entsteht dann oft eine berufliche Überlastungssituation, die sich auch in gesundheitlichen Problemen niederschlagen kann. Darüber hinaus neigt gerade dieser Personenkreis häufig zu einer generell hohen Anspruchshaltung, etwa nach dem Motto: Nur das Beste ist gut genug für mich. Die hohen Ansprüche beziehen sich dann nicht nur auf Konsumprodukte, sondern sie machen oft auch vor übertrieben ehrgeizigen Erwartungen an die eigene Person und vor unrealistisch hohen Erwartungen an die Partnerschaft nicht halt. Emotionale und soziale Krisen können so bereits vorprogrammiert sein. Unsere Zeit und unsere Kultur sind wohl auch dadurch geprägt, dass viele von uns dazu neigen, mehr und mehr von außen 5 Diese Ergebnisse stammen aus der Studie „Kaufsucht in Österreich 2004“. 34
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zu wollen und zu erwarten und sich vielleicht selbst vornehmlich mit dem Blick von außen zu sehen. Die Aufmerksamkeit nach innen droht dabei ganz in den Hintergrund zu rücken. Unsere unmittelbaren, echten Bedürfnisse und die diesbezüglichen Signale des eigenen Organismus können in der Folge über lange Zeit ungehört, unverstanden und damit auch unberücksichtigt bleiben. Wenn es uns hingegen gelingt, Spüren und Denken miteinander in Verbindung zu bringen, können wir uns der eigenen Bedürfnisse zuerst einmal besser bewusst werden und in der Folge realistische Wege für ihre Erfüllung suchen. Es wäre zumindest zu wünschen, dass wir uns auf diese Weise gegebenenfalls auch dem Sog unrealistischer und überzogener Ansprüche wieder besser entziehen können, um letztendlich all das zu genießen, was uns mit dem Leben an sich ohnedies in Hülle und Fülle geschenkt wurde – einfach so! Was das ist? Was Sie mit diesen Worten verbinden, kann ich natürlich nicht wissen. Und was ich alles darunter verstehe – ich bitte um Ihr Verständnis –, das möchte ich gerne für mich behalten.
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anchmal kann eine intelligente Lösung darin bestehen, zu erkennen, dass es zurzeit keinen Sinn macht, eine Lösung erzwingen zu wollen. Dann geht es vielleicht darum, gezielt zuzuwarten, bis eine Lösung überhaupt möglich wird. Oder es geht darum, zu begreifen, dass es für ein bestimmtes Problem einfach keine wirklich gute Lösung gibt und es daher klüger sein mag, sich mit einer unveränderbaren Gegebenheit zu arrangieren. Manchmal hingegen ist es sinnvoll und zielführend, eine vielleicht beträchtliche geistige Anstrengung an den Tag zu legen, um zu einer kreativen und zufriedenstellenden Lösung zu kommen und diese dann entsprechend umzusetzen. Gelegent-
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lich verblüffen intelligente Lösungen aber auch durch ihre Einfachheit. Sabine ist Geschäftsführerin einer großen Buchhandlung. Sie ist eine äußerst charmante, gebildete und ebenso eloquente Zeitgenossin, die nicht müde wird, ihre Kundinnen und Kunden ausführlich über spannende Neuerscheinungen zu informieren. Gleichzeitig organisiert sie diverse Veranstaltungen sowie Lesungen und absolviert zusätzlich tagtäglich eine Reihe geschäftlicher Termine. Ihr selbst war schon seit längerem bewusst, dass sie, ihrem Temperament und ihrem Verantwortungsbewusstsein entsprechend, dazu neigt, sich zu übernehmen. Sie kennt einen guten Teil der Ratgeberliteratur zum Thema Stress, ohne dass ihr diese bisher wesentlich dabei geholfen hätte, eine Veränderung herbeizuführen. Kürzlich erzählte sie mir, dass sich manche ihrer Kunden schon besorgt über ihr Wohlergehen geäußert hätten, so schnell und so gehetzt sei sie manchmal unterwegs. Im Zuge eines dieser Gespräche mit einem Kunden, der sie ebenfalls dabei beobachtet hatte, wie sie von Stockwerk zu Stockwerk hetzte, als wäre es von größter Bedeutung, keine Minute zu verschenken, entwickelten die beiden gemeinsam die Idee, Sabine könnte einmal versuchen, ihre Geschwindigkeit einfach um die Hälfte zu reduzieren. Sabine gefiel dieser Gedanke und sie probierte es tatsächlich aus. Zu ihrer eigenen Verblüffung stellten sich in ihrem Geschäftsleben keine negativen Konsequenzen ein, ganz im Gegenteil. Sie fühlt sich seither entspannter und gelassener und das Geschäft floriert. „Falls ich jetzt wieder einmal übermäßig schnell unterwegs bin, fallen mir fast schon automatisch dieser Kunde und unser Gespräch ein und dann schalte ich gleich wieder zwei Gänge zurück. Es ist erstaunlich! Es ist so einfach und so wirkungsvoll! Und die nötige Konsequenz, etwas Wichtiges auch umzusetzen, hat mir ja noch nie gefehlt. “ So einfach ist es natürlich nicht immer. Doch selbst wenn eine intelligente und vielleicht auch kreative Lösung nicht gleich in Sicht ist, kann es sich lohnen, sich auf die Suche nach einer 36
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solchen zu begeben. Gerhard, ein ungefähr 35-jähriger, sehr kompetenter und freundlicher Leiter einer Versicherungsfiliale, weihte mich vor einiger Zeit in ein persönliches Problem ein, nachdem er meinen beruflichen Hintergrund kannte. Er eröffnete unser Gespräch mit folgenden Worten: „Ich würde Sie einfach sehr gerne um Ihre Meinung fragen.“ Schmunzelnd setzte er fort: „Während ich früher immer oben bei den Schultern breiter war als unten, befürchte ich nun, dass es langsam umgekehrt werden könnte. Deswegen wollte ich jetzt mit dem Laufen beginnen. Die einzige Tageszeit, wo das für mich geht, ist in der Früh. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, möchte ich bei meiner Frau und meinen Kindern sein. Also geht es nach der Arbeit einfach nicht wirklich gut. Auch im Buch von einem Lauf-Guru habe ich gelesen, dass es das Beste wäre, gleich in aller Früh zu laufen. Ich habe es probiert, einmal, zweimal, aber auf die Dauer schaffe ich das nicht!“ Mit einem betroffenen Gesichtsausdruck setzte er fort: „Ich habe das Gefühl, dass ich gerade in der Früh so dringend meinen Schlaf brauche. Ich weiß jetzt nicht, was ich tun soll. Müsste ich mich mehr überwinden? Was meinen Sie? Das würde mich wirklich interessieren.“ Gerhards Problem war so nachvollziehbar für mich, dass ich ihm nur antworten konnte: „Also mich haben Sie überzeugt. Wahrscheinlich brauchen Sie den Morgenschlaf wirklich! Ich nehme an, Ihr Gefühl täuscht Sie diesbezüglich nicht. Auch was Gurus sagen, stimmt erstens nicht immer und zweitens nicht für jeden. Vielleicht kommen Sie ja in einem Gespräch mit Ihrer Frau auf eine kreative Lösung, die sich für alle als gut erweist und die mit ihrem Schlafrhythmus vereinbar ist.“ Einige Wochen später erzählte mir Gerhard, dass er gemeinsam mit seiner Frau tatsächlich eine solche kreative Lösung gefunden hatte: „Wir haben uns ein Trampolin gekauft. Es ist vier mal fünf Meter groß und steht im Garten. Nach der Arbeit gehe ich nun regelmäßig für eine gute halbe Stunde auf das Trampolin. Wenn man die richtige Technik verwendet, kann man damit auch gut trainieren. Und meine Kinder sind in meiner Nähe und
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haben ihren Spaß dabei. Sie spielen in meiner Nähe, während ich trainiere. Es geht mir viel besser damit.“ Das alles ist nun über zwei Jahre her. Als ich Gerhard kürzlich wieder einmal traf, reichte ein Blick auf seine Figur, um zu erahnen, wie es ihm mit seinen Trainingsplänen weiter ergangen war. Zufrieden erzählte er mir, dass er seine sportlichen Aktivitäten noch um abendliche Besuche in einem Fitnesscenter erweitert habe. Wie gesagt, er hätte mir das eigentlich gar nicht zu erzählen brauchen, denn Gerhard war wieder oben breiter als unten. Auch ihm war es anscheinend gelungen, eine intelligente Lösung für sein Problem zu finden – vermutlich zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Der erste Teil dieses Buches neigt sich dem Ende zu. Sie mögen sich fragen, ob es so etwas wie eine verbindende Botschaft gibt, die diesen so unterschiedlichen Überlegungen zum Alltag gemeinsam ist. Tatsächlich gibt es wohl so etwas wie eine Grundidee, die mich vom ersten Kapitel an geleitet hat. Sie lautet: Behandeln Sie sich gut! Tun Sie das aber nicht nur während eines Urlaubs oder bei einem Wellness-Wochenende, sondern auch sonst – in Ihrem Alltagsleben. Das möchte ich Ihnen eindringlich ans Herz legen. Niemand kann Sie daran hindern, sich die Zeit zu nehmen, die es beispielsweise braucht, sich für Momente genüsslich nach oben zu strecken, dabei den Boden unter den Füßen zu spüren und vielleicht tief und laut durchzuatmen. Wir wissen es. Das fühlt sich gut an. Und seien wir ehrlich: Wer, außer Sie selbst, könnte Sie daran hindern, es sich auch im Alltag auf diese oder eine andere Weise, zumindest in kleinen oder kleinsten Bereichen, gut gehen zu lassen?
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Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... durch schwierige Zeiten „Wie wenig ist am Ende der Lebensbahn daran gelegen, was wir erlebten, und wie unendlich viel, was wir daraus machten.“ Wilhelm von Humboldt
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iemand ist gänzlich davor sicher, dass nicht früher oder später einmal etwas im eigenen Leben anders und unerfreulicher verläuft, als ursprünglich erhofft und angenommen. Der gewohnte Lauf der Dinge ist dann unterbrochen und vermeintliche Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten sind in Frage gestellt oder lösen sich überhaupt auf. Oft sind solche Phasen Krisenzeiten, die dazu zwingen, umzudenken und etwas zu verändern. Sie können plötzlich einsetzen oder sich schleichend entwickeln, sie können eine vorübergehende Phase oder aber von langer Dauer sein. Valerie war mit sich schon lange unzufrieden. Bereits bei unserer ersten Begegnung fand die 30-jährige Zahnarzthelferin dafür sehr klare Worte: „Ich glaube, es ist bei mir bisher so ziemlich alles schief gelaufen, was nur schief laufen kann. Jetzt bin ich schon 30 und ich fühle mich die meiste Zeit unwohl. Oft ist mir schwindlig. Manchmal denke ich, ich bin schwer krank. Mit meinem Aussehen bin ich sowieso unzufrieden. Ich finde, ich bin zu schwer, aber mein Gewicht werde ich nicht und nicht los. Ich habe eine acht Jahre alte Tochter, die lieber bei meiner Mutter als bei mir ist. Sie ist auch mehr bei ihr als
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bei mir aufgewachsen. Manchmal habe ich Angst. Manchmal habe ich sogar Angst, verrückt zu werden. Vielleicht bin ich es ja schon. Ich möchte endlich wissen, was mit mir los ist. Ich kenne mich nicht mehr aus. Ich sehe mich nicht hinaus. Dabei habe ich schon so vieles versucht. Zwei Jahre war ich in Psychotherapie.“ „Und?“ „Das war nicht so schlecht. Mit der Therapeutin habe ich mich nämlich gut verstanden, aber geändert hat sich dadurch nicht wirklich etwas.“ „Und sonst?“ „Ich war sogar bei einem Heiler. Daran mag ich gar nicht mehr denken. Er hat damals gemeint, irgendwer hängt an mir und beeinflusst mich negativ. Das hat mir erst recht Angst gemacht. Ich hatte nämlich schon als Kind Angst vor Dingen, die ich nicht sehen kann. Stellen Sie sich vor, ich habe sogar vor dem Christkind Angst gehabt. Das ist doch nicht normal, oder?“
„Sie haben mir erzählt, dass sie als Zahnarzthelferin arbeiten.“ „Ja. Das funktioniert noch halbwegs. Aber Freude macht mir die Arbeit nicht.“ „Und privat? Wie ist Ihre private Situation?“ „Der Vater meiner Tochter hat sich vor 5 Jahren von mir getrennt. Damals habe ich mich völlig überfordert gefühlt. Ich be-
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„Anscheinend waren Sie schon als Kind auf der ängstlichen Seite. Aber das ist eigentlich noch lange kein Grund, zu befürchten, verrückt zu werden, wie Sie das angesprochen haben. Gibt es derzeit auch Bereiche in ihrem Leben, von denen sie sagen würden, dass sie recht gut laufen?“ Valerie zögerte: „Nein. Nicht wirklich.“
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kam Panikattacken6. Meine Mutter hat mir damals auch noch die Schuld am Scheitern meiner Ehe gegeben. Das war schlimm.“ „Wie ist sie dazu gekommen?“ „Ich war sehr eifersüchtig in der Ehe. Deswegen. Nach der Scheidung konnte ich auch mit niemandem darüber reden.“ „Und jetzt? Wie ist Ihre Situation jetzt?“ „Jetzt habe ich wieder einen Freund. Das läuft recht gut. Ich weiß aber nicht, wie lange es halten wird. Meine Tochter und mein Freund tun sich schwer miteinander. Es ist jedenfalls alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte.“
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6 Bei einer sogenannten Panikattacke erlebt die betroffene Person plötzlich intensive Angstzustände, ohne dass dafür ein unmittelbarer äußerer Anlass gegeben wäre. Eine solche Panik ist meist von starkem Herzklopfen und anderen körperlichen Symptomen wie Atemnot begleitet. Dabei kann sogar Todesangst auftreten, andererseits aber gehen diese Attacken auch wieder von selbst zurück.
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Valerie befand sich ganz offensichtlich in einer schwierigen Lage. Erst auf Anraten einer mit ihr befreundeten Arbeitskollegin konnte sie sich nochmals dazu durchringen, professionelle Unterstützung zu suchen. Das war keineswegs selbstverständlich, weil sie ja bereits einmal über längere Zeit psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen hatte, ohne dass sich dadurch ihr Zustand dauerhaft gebessert hätte. Andererseits hatte sie ihre psychotherapeutischen Erfahrungen offenbar in ausreichend guter Erinnerung, um sich auf eine erneute Inanspruchnahme einer solchen Hilfe einlassen zu können. Insgesamt erschien Valerie wie hypnotisiert von all ihren Problemen. Es passiert gar nicht selten, dass Menschen in Krisensituationen in einen solchen Zustand geraten, der sehr treffend auch als Problemhypnose bezeichnet wird. Wie eine Maus vor der Schlange kann der oder die Betroffene dann erstarren und sich unfähig fühlen zu handeln. Diese Menschen wissen dann auch nicht mehr, wie sie es anstellen könnten, überhaupt etwas
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an ihrer Situation zu verändern. Im wahrsten Sinn des Wortes wissen sie nicht ein noch aus. Das Phänomen der Problemhypnose zeigt auch, wie sich Gefühl und Verstand gegenseitig negativ beeinflussen können. So führen Angst und Trauer oft zu entsprechend negativen Gedanken und ebenso zu einer negativen Einschätzung der eigenen Situation. Sind diese Gefühle besonders stark ausgeprägt, dann können sie sogar das Denkvermögen beeinträchtigen. Andererseits wirken sich negative Gedanken auch auf das Gefühlsleben aus. Wir fühlen uns im Zusammenhang mit belastenden Gedanken auf die eine oder andere Weise unwohl in unserer Haut. So kann ein Teufelskreis entstehen, indem unangenehme Gefühle unerfreuliche Gedanken hervorrufen, die wiederum die negativen Gefühle verstärken. Und so weiter und so fort. Wie gesagt kann das Ergebnis eines solchen Teufelskreises sein, dass sich Menschen oft überhaupt nicht mehr in der Lage sehen, ihren Problemen etwas entgegenzusetzen. Und das ist nicht weiter verwunderlich. Spüren und Denken stehen dabei ja unter dem gleichen negativen Vorzeichen und so können sich diese beiden Fähigkeiten nicht mehr wie sonst gegenseitig in Frage stellen und als Korrektiv wirken. Stattdessen tragen sie nur noch weiter zum beschriebenen Teufelskreis bei. Wie aber kann ein solcher Teufelskreis wieder durchbrochen werden? Gelegentlich kann schon eine Aussprache mit einer guten Freundin oder einem guten Freund dazu beitragen, wieder aus der Krise herauszufinden. Manchmal, wenn die Situation komplexer ist, braucht es aber auch eine geeignete professionelle Unterstützung und Begleitung, um wieder auf andere, konstruktivere Gedanken und in eine andere Stimmungslage zu kommen und diesen Teufelskreis zu entzaubern. Auch Valerie ist dies gelungen. Nach einiger Zeit hat sie sich von ihrer lange andauernden Krise wieder erholt. Wodurch wurde das möglich? Im Rahmen der psychotherapeutischen Beziehung wirkt nicht nur das, was gesprochen wird, sondern auch 42
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die Qualität der Klienten-Therapeuten-Beziehung selbst. Wenn sich Menschen wie Valerie in diesem Rahmen akzeptiert und wertgeschätzt erleben, kann ihnen in der Folge wieder einiges leichter fallen: etwa die eigene aktuelle Situation zu verstehen und anzunehmen und auch sich selbst so zu akzeptieren, wie sie durch ihre Lebensgeschichte geworden sind. Valerie konnte jedenfalls im Laufe von insgesamt zwei Jahren von ihren hohen Ansprüchen an sich selbst einen gewissen Abstand gewinnen. Dies wiederum erleichterte es ihr, auch in ihren Beziehungen, etwa jener zu ihren Eltern, einiges neu zu ordnen und zu gestalten. Auch die Konflikte mit Freund und Tochter haben sich zumindest vorläufig beruhigt, Valerie lebt nach wie vor mit beiden zusammen. Beruflich gelang ihr ebenfalls eine positive Veränderung. Vor allem aber ist sie mit sich selbst zufriedener geworden. Bei einem abschließenden Gespräch meinte sie: „Ich sehe mich bei weitem nicht mehr so kritisch wie früher. Auch meine Beziehung zu meiner Tochter sehe ich inzwischen positiver und gelassener. Immerhin habe ich ihr das Leben geschenkt und immerhin mögen wir uns sehr. Und Schwierigkeiten in Beziehungen, ob in Mutter-Kind- oder in Paarbeziehungen, gibt es ja überall. Hohe Ansprüche habe ich aber noch immer. Es wäre mir nach wie vor am liebsten, wenn alles perfekt funktionieren würde. Auch meine Neigung, schnell einmal eifersüchtig zu werden, ist prinzipiell noch vorhanden, nur gehe ich jetzt anders damit um. Wenn ich die Eifersucht in mir hochkommen spüre, denke ich mir, dass jetzt schon wieder der gleiche Film bei mir abläuft, und dann wehre ich mich ganz bewusst gegen dieses Gefühl. Wahrscheinlich ist das aber ein lebenslanger Kampf. Eine gewisse Ängstlichkeit wird mir wohl auch immer bleiben. Aber zum Glück kann ich mich jetzt auch schon wohl fühlen, wenn nicht alles total perfekt läuft. Das allein macht schon vieles leichter. Für mich ist das sicher der wichtigste Schritt gewesen.“
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12. WENN ES SCHMERZT
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s könnte so etwas wie eine Midlife-Crisis gewesen sein, als Birgit, die langsam, aber sicher auf die 45 zuging, sich plötzlich dazu entschloss, mehr für ihre Fitness und ihr Aussehen zu tun. Sie wollte sich ihre nach wie vor jugendliche Ausstrahlung gerne möglichst lange erhalten. Ihr sitzender Beruf und die Bildschirmarbeit mögen ebenfalls dazu beigetragen haben, dass sie den Wunsch verspürte, körperlich wieder aktiver zu werden. Kurz entschlossen, wenn auch nicht ganz ohne innere Zweifel, meldete sie sich in einem Fitness-Studio an. Zusätzlich begann sie mit dem Laufsport. Doch bereits wenige Wochen später, es war nach einem intensiven Lauftraining, traten bei ihr starke Kreuzschmerzen auf, die bis in die linke Hüfte hinein ausstrahlten. Birgit musste ihre körperlichen Aktivitäten, die sie mit so großem Eifer begonnen hatte, wieder einstellen. Die Schmerzen blieben aber leider weiterhin bestehen, wenn auch ihre Intensität abnahm. Birgit war ernstlich beunruhigt. Sie wollte daher unbedingt in Erfahrung bringen, wodurch diese dauerhaften Schmerzen eigentlich verursacht wurden und was sie dagegen unternehmen könnte. In der Folge konsultierte sie mehrere Ärztinnen und Ärzte, Physio- und Manualtherapeuten und eine kleine Odyssee begann. Die zu Rate gezogenen Fachleute waren zwar nicht in allem einer Meinung, aber sie waren sich doch dahingehend einig, dass bei Birgits Wirbelsäule keine besonderen Auffälligkeiten festzustellen seien. Letzte Klarheit aber bekam sie nicht. Eventuell, so erfuhr sie, könne das Problem in der Rückenmuskulatur liegen. Mit Hilfe der empfohlenen Übungen versuchte sie daher ihre Rückenmuskulatur zu stärken. Vorerst ohne Erfolg. Zwei Botschaften, die sie im Zuge der Abklärung ihrer Schmerzen erhalten hatte, gingen ihr allerdings nicht mehr aus dem Kopf: Das war zum einen die Information, dass ihre Knochen und Gelenke keine großen Auffälligkeiten aufweisen würden, und zum anderen die Aufforderung eines Manualthera44
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peuten, der gemeint hatte: „Bewegen Sie sich einfach, was auch immer Sie dann konkret machen! Bewegen Sie sich! Und das möglichst regelmäßig!“ So begann Birgit schließlich wieder körperlich aktiv zu werden, diesmal aber nicht mit der Absicht, ihren Körper zu trainieren. Sie erlaubte es sich, all jenen körperlichen Aktivitäten nachzugehen, die ihr gerade reizvoll erschienen: Schwimmen, Rad fahren, Spazieren gehen, Nordic Walken. Auch das Ausmaß der jeweiligen Aktivitäten orientierte sie nun nicht mehr am Leistungs-, sondern am Lustprinzip. Trotz anfänglichen Weiterbestehens der Kreuzschmerzen blieb Birgit konsequent bei ihrer Entscheidung, sich regelmäßig zu bewegen. Es dauerte keine zwei Monate und die Beschwerden gingen langsam zurück, bis sie schließlich vollständig verschwunden waren. „Ich glaube, ich habe durch meine neue Art, Bewegung zu betreiben, auch ein anderes Körpergefühl entwickelt. Ich fühle mich nun körperlich wesentlich wohler als früher. Ich schaue, dass ich etwa dreimal pro Woche zu Bewegung komme. Nichts Großartiges, wie gesagt, aber es tut mir gut. Ich glaube, das passt einfach auch besser zu mir als das Fitness-Center.“ Birgits Schilderung ist keine spektakuläre Geschichte, doch sie zeigt, wie wir auf körperliche Beschwerden selbst erfolgreich Einfluss nehmen können, auch wenn es manchmal dauern mag, bis wir den individuell richtigen Weg gefunden haben. Außerdem sind Erfahrungen, die denen von Birgit ähneln, keineswegs selten. In Deutschland etwa sind Rückenschmerzen der zweithäufigste Anlass für Arztbesuche, wobei zumeist wie bei Birgit keine eindeutige Ursache für die Beschwerden gefunden werden kann. Man spricht dann von sogenannten unspezifischen Schmerzen. Psychische Einflüsse, die gelegentlich zu starken Muskelverspannungen führen, Fehlhaltungen, aber auch Fehlund Überbelastungen der Muskulatur können dabei eine Rolle spielen. Während solche unspezifischen Schmerzen leicht dazu verleiten können, sich dauerhaft zu schonen, wäre gerade regelmäßige Bewegung oft besonders wichtig. Auch Birgit dürf-
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te es anfangs sicher nicht ganz leicht gefallen sein, trotz ihrer Schmerzen wieder körperliche Aktivitäten zu setzen. Aber sie konnte sich, vielleicht sogar gegen ihre Intuition, dazu entschließen, in gut dosierter Form Bewegung zu betreiben, ohne dabei zu übertreiben. Mit dieser Entscheidung ist sie sich im Umgang mit ihren körperlichen Beschwerden eigentlich geistig zu Hilfe gekommen. Ihre Befunde und die medizinischen Empfehlungen reflektierend, hat sie offenbar einen guten Weg gewählt, zu ihrem körperlichen Wohlbefinden beizutragen und die Rückenbeschwerden wieder loszuwerden. Dass sie durch die regelmäßige Bewegung auch noch einer Reihe anderer Erkrankungen vorbeugt, ist ein erfreulicher Nebeneffekt7. Gerade durch Begegnungen mit Menschen, die ich während ihres Krankenhausaufenthaltes betreut habe und die ihr gesamtes Befinden sogar in schwierigen und zum Teil auch extremen körperlichen Situationen, etwa nach einem Verkehrsunfall oder bei einer Tumorerkrankung, sehr gut steuern und regulieren konnten, kam mir erstmals der Gedanke, dass es eigentlich so etwas wie Psychosomatische Intelligenz geben muss. Ich meinte damals und meine auch heute damit jene Fähigkeit, die es uns ermöglicht, uns auch körperlich zu regulieren und auf das eigene Wohlbefinden sogar unter schwierigen inneren und äußeren Bedingungen gezielt Einfluss zu nehmen. Manchen Menschen gelingt es nämlich auf ihre Art und Weise, zusätzlich zu allen Behandlungsmaßnahmen, zu einer Verbesserung ihrer Gesamtsituation beizutragen: Einige versuchen etwa, sich bewusst zu entspannen, vielleicht eine gute Lage ihres Körpers zu finden, die Tiefe ihrer Atmung zu verändern oder sich im Bedarfsfall irgendwie abzulenken, indem sie beispielsweise in Fantasie- oder Gedankenwelten abgleiten. Manche greifen auf gewisse positive Erfahrungen aus ihrem bisherigen Leben zurück, um die aktuelle körperliche Krisensituation bes7 Regelmäßige Bewegung senkt beispielsweise das Risiko für Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes, aber auch für Brust- und Darmkrebs. 46
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ser bewältigen zu können, oder nützen die Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld. Andere behalten auch ganz bewusst jenes Maß an körperlicher Aktivität bei, das ihnen eben gerade möglich ist. Es gibt aber auch Personen, die vielleicht schon länger an Schmerzen leiden und die sich ihrem Körper und ihrer Körperwahrnehmung gegenüber gänzlich ausgeliefert fühlen und auch ausgeliefert sein lassen. Wahrscheinlich gehen diese Personen häufig zu Unrecht davon aus, sich bezüglich ihrer körperlichen Situation in keinerlei Weise selbst zu Hilfe kommen zu können. Ihre körperlichen Beschwerden erleben sie dann eventuell so schicksalhaft, als hätten ihre psychische Verfassung, ihr soziales Leben und ihr Körper miteinander absolut nichts zu tun. Aus der Stressforschung wissen wir allerdings, wie wichtig es gerade in schwierigen Zeiten ist, zumindest ein gewisses Maß an Kontrolle über unsere aktuelle Situation behalten zu können. Wohl in diesem Sinn meinte ein Patient, der nach einem schweren Verkehrsunfall immer wieder mit Schmerzen zu kämpfen hatte: „Es gibt Momente oder Zeiten, wo es mir körperlich besser geht, und solche, in denen es mir körperlich schlechter geht. Aber ich weiß, dass das auch damit etwas zu tun hat, wie es mir insgesamt gerade geht. Und darauf zumindest habe ich ja doch einen gewissen Einfluss.“
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s war im September, als mich Horst verzweifelt anrief und um einen Termin für ein Beratungsgespräch bat. Er teilte mir mit, dass er an einer Magen-Darm-Erkrankung, dem sogenannten Reizdarmsyndrom, leide. Bei dieser Erkrankung haben die Betroffenen einen besonders empfindlichen Darmtrakt und die damit verbundenen Beschwerden zwingen sie dazu, sich den Alltag 47
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13. ALARMIERTER ORGANISMUS
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stets auch unter Berücksichtigung dieser Verdauungsprobleme einzurichten. Bereits am Telefon erzählte mir Horst, dass er schon seit vielen Jahren an einem Dolmetsch-Institut tätig sei. „Im Sommer war ich auf Urlaub. Da ist es mir noch weitgehend gut gegangen. Ich hatte kaum Verdauungsprobleme. Doch je näher jetzt nach der Sommerpause der Arbeitsbeginn rückt, desto mehr nehmen die Darmbeschwerden wieder zu. Ehrlich gesagt fürchte ich mich inzwischen schon so vor der Arbeit, dass ich nicht weiß, ob ich die wenigen Jahre bis zu meiner Pensionierung überhaupt noch schaffe. Ich habe gehört, dass Sie sich mit solchen Zusammenhängen beschäftigen – ich brauche dringend Hilfe. Bitte geben Sie mir möglichst bald einen Termin!“ Zwei Wochen später unterhielten wir uns in einem Zimmer unserer psychotherapeutischen Ambulanz. Horst war ein gut aussehender, elegant gekleideter, sehr selbstbewusst auftretender Mann um die sechzig. Seine leidvolle Schilderung am Telefon zwei Wochen zuvor war ihm in keiner Weise anzusehen. „Bitte, was kann ich für Sie tun?“ Horst begann zu erzählen. Eigentlich liebte er seinen Beruf. Als Dolmetscher war er wie eh und je gefragt und im Rahmen von internationalen Tagungen aktiv. „Das macht mir auch keine Probleme. Was mich wirklich belastet, ist die Lehrtätigkeit. Ich unterrichte seit fast dreißig Jahren mit großem Engagement. Früher ist mir das alles leicht gefallen. Und ich glaube, das Unterrichten ist mir auch meistens gut gelungen. Jedenfalls bekam ich immer viele positive Rückmeldungen. Seit drei, vier Jahren wird aber gerade dieser Teil meiner Tätigkeit immer mehr zur Belastung. Am Sonntagabend kann ich schon nicht mehr einschlafen, weil ich mich insgeheim davor fürchte, montags wieder in die Klasse zu gehen. Und jetzt noch diese Darmbeschwerden. Bauchschmerzen, Durchfall – es ist eine Qual. Während ich unterrichte, überlege ich nebenher die ganze Zeit, ob ich es wohl noch zur nächsten Toilette schaffen werde. Niemand weiß davon. Es wäre mir zu peinlich, mit jemandem darüber zu reden. Meine Kolleginnen und Kollegen würden überhaupt nicht glau48
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ben, dass ich irgendwelche Probleme habe. Bei mir gehen immer alle davon aus, dass alles funktioniert. Ansonsten, ich meine privat, geht es mir ja auch gut. Und beruflich habe ich bisher durchgehalten. Jetzt aber geht es nicht mehr. Ich habe sogar schon überlegt zu kündigen, obwohl mir nur mehr vier Jahre zur Pension fehlen. Jedenfalls weiß ich im Moment nicht, wie ich diese verbleibenden Jahre noch schaffen soll. Ich hoffe, Sie können mir da irgendwie helfen.“
So wie es bei Horst zu einer Verschlechterung seines Reizdarmsyndroms kommt, wenn er unter Stress gerät, schlägt bei vielen anderen Menschen in solchen Situationen der Organismus ebenfalls Alarm. Meist geschieht dies auf individuell typische und somit jeweils unterschiedliche Art und Weise. Eine Vielzahl von Symptomen und Krankheiten, die zeitweilig auftauchen und dann wieder verschwinden, sind daher ähnlich wie bei Horst zu interpretieren. Viele Menschen lernen sogar sehr gut, solche Symptome für sich zu nützen. Indem sie darauf achten, wie stark ausgeprägt diese Symptome jeweils auftreten, wissen sie jederzeit, ob sich, symbolisch gesprochen, ihr Organismus noch im grünen oder schon im roten Bereich befindet. So gibt es Personen, die an einem Rauschen im Ohr leiden, dessen Intensität je nach subjektivem Befinden einmal zu- und dann wieder abnimmt. Andere beobachten bei sich Hautveränderungen, die plötzlich auftauchen und dann ebenso plötzlich wieder verschwinden. Auch wenn hierbei andere Einflüsse, etwa der Hormonhaushalt oder Veränderungen in der Immunabwehr, sicherlich ebenfalls eine Rolle spielen können, so sind solche in ihrer Ausprägung stark wechselnde Beschwerden doch oft ein Hinweis auf bestimmte Veränderungen in der eigenen Ge49
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„Ich glaube schon, dass es Möglichkeiten gibt, wie Sie ihre Situation wieder verbessern können. Es ist jedenfalls schon einmal gut, dass Sie offensichtlich bereit sind, etwas für sich zu unternehmen.“ „Ehrlich gesagt habe ich derzeit gar keine andere Wahl.“
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samtsituation. Es kann durchaus auch vorkommen, dass sich die Beschwerden erst dann einstellen, wenn die Belastung bereits einige Zeit vorüber ist. Prinzipiell jedenfalls sollte man gerade bei solchen Beschwerden, deren Intensität immer wieder deutlichen Schwankungen unterliegt, auch einmal in Erwägung ziehen, ob diese Schwankungen nicht vielleicht etwas mit dem eigenen Lebensstil zu tun haben könnten. Denn, wie schon öfters erwähnt, wir reagieren auf das, was sich in uns und um uns herum tut, immer als gesamte Person. Das heißt, seelische, soziale, aber auch körperliche Auswirkungen sind ständig im Spiel. Denken Sie nur daran, wie sich alles ändert, wenn Sie über längere Zeit unter ausgeprägtem Schlafmangel leiden! Früher oder später schlägt der Organismus Alarm: Sie werden sich ab einem gewissen Zeitpunkt sowohl körperlich wie auch seelisch und sozial als in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt erleben. Eine Diskrepanz zwischen dem, was der Gesamtorganismus braucht und will, und dem, was sich zu einem gegebenen Zeitpunkt real abspielt, ist auch in anderen Bereichen keine Seltenheit. Bei manchen von uns äußert sich eine solche Diskrepanz eher psychisch und bei anderen eher körperlich. Die meisten von uns haben jedenfalls so etwas wie ein individuelles Warnsystem zur Verfügung, das ihnen signalisieren kann: Achtung! Alarmierter Organismus! Bedauerlicherweise werden solche Warnsymptome oft bloß leidvoll hingenommen, anstatt sie als Anstoß zu nehmen, einmal ernsthaft und konsequent nach Möglichkeiten zu suchen, die eigene Gesamtsituation entsprechend umzugestalten und den Problembereich zu entschärfen. Horst hätte es wohl auch vermieden, dies zu tun, hätte er sich nicht aufgrund seiner Beschwerden letztendlich dazu gezwungen gesehen. Nach einem ersten Schritt war er dann allerdings dazu bereit, sogar grundsätzliche eigene Überzeugungen in Frage zu stellen. Im Rahmen unserer Gespräche wurden Horst seine hohen Ansprüche an sich selbst und seine stark selbstkritische Haltung schon allein aufgrund seiner eigenen Erzählungen noch deutlicher bewusst als zuvor. Schließlich konnte er sich in 50
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der Folge aber auch dazu durchringen, seine Studentinnen und Studenten – immerhin junge Erwachsene – stärker als früher in die Mitverantwortung für das Gelingen seiner Lehrtätigkeit einzubeziehen. Zusätzlich hat Horst mit der Einnahme eines Medikamentes begonnen, das seine Beschwerden lindern hilft. Was immer letztendlich für den Heilungsverlauf ausschlaggebend gewesen sein mag, aus meiner Sicht ist es vor allem entscheidend, dass sich Horst wieder eine Situation schaffen konnte, in der die körperlichen Beschwerden weitgehend abgeklungen sind und mit der er persönlich wieder einigermaßen zurechtkommt. Er selbst hat mich aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass er vermutlich weder therapeutische Gespräche noch ein Medikament gebraucht hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre, schon vorzeitig aus dem für ihn so belastenden Berufsleben auszusteigen und in Pension zu gehen: „Da ich aber vor dem 65. Lebensjahr nicht in Pension gehen darf, muss ich irgendwie durchhalten, notfalls auch mit Medikamenten. Ich glaube, dass viele Menschen höheren Alters sich in einer ähnlichen Situation befinden. In der Jugend hat man ja noch die Option, den Beruf zu wechseln. Mit über 60 bleibt nur mehr die Frühpension aus gesundheitlichen Gründen, und dazu müsste man von Arzt zu Arzt pilgern, um sich alle Beschwerden bestätigen zu lassen. Das ist aber für mich inakzeptabel und wahrscheinlich für viele andere auch. Es erklärt aber, warum so viele aus gesundheitlichen Gründen Frühpensionierte schon sehr bald danach wieder „pumperlg’sund“ ihr Leben genießen! Für mich hingegen lautet die Devise: durchhalten!“ Wie bei Horst können uns also auch schwer veränderbare äußere Umstände letztendlich dazu zwingen, nach jenem Spielraum zu suchen, der uns auch dann noch bleibt, wenn der eigene Organismus uns die Grenzen unserer Belastbarkeit aufzuzeigen beginnt.
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14. WIE WIR UNS LANGSAM ERSCHÖPFEN KÖNNEN
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oritz arbeitet im Bereich Elektronik in einer großen, auch international tätigen Firma. Ich schätze ihn als offenen, toleranten und herzlichen Menschen, in dessen Nähe ich mich wohl fühle und mit dem man ebenso gut oberflächlich scherzen wie tiefsinnig philosophieren kann. Er führt ein konventionelles, durchaus zufriedenes Familienleben. Mit seinen knapp 50 Jahren ist er körperlich topfit. Wenn wir gelegentlich miteinander Rad fahren oder laufen, könnte er mich, den etwas Jüngeren, wohl jederzeit hinter sich lassen. Das tut er aber nicht. Plötzlich war Moritz für einige Zeit nicht erreichbar. Sein Sohn teilte mir mit, dass sein Vater für ein paar Wochen unterwegs sei, eine Information, die mich angesichts seines internationalen Betätigungsfeldes nicht weiter überraschte. Umso erstaunter war ich, als Moritz mir einige Zeit später beim Laufen mitteilte, dass er gerade eine sechs Wochen dauernde Kur hinter sich habe.
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„Wie bitte?“, fragte ich, „du bist doch topfit., wie kommst du zu einer Kur?“ „Du willst den Grund für diesen Aufenthalt wissen? Ich bin in ein volles Burn-Out geschlittert.“ Wieder war ich überrascht. „Du und ein Burn-Out? Das passt doch nicht zusammen. Du meditierst seit Jahren, betreibst Sport, bist ausgeglichen – das erklär’ mir bitte einmal!“ „Deswegen hat es bei mir wahrscheinlich auch so lange gedauert, bis ich ganz zusammengebrochen bin. Die Meditation und meine körperliche Fitness haben es mir ermöglicht, lange durchzuhalten. Ich bin ein zäher Mensch. Das ist nicht immer von Vorteil.“ „Was hat dich so erschöpft?“ „Ich habe in unserer Firma einiges an Neuerungen in der Zusammenarbeit eingeführt, speziell in meiner Arbeitsgruppe, 52
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Nun verstand ich den Hintergrund für den Kuraufenthalt von Moritz schon um Einiges besser. Denn es ist allgemein bekannt, dass der als Burn-Out bezeichnete Erschöpfungszustand sich besonders häufig dann entwickelt, wenn Menschen vermeintlich oder tatsächlich drohende berufliche Schwierigkeiten durch übermäßigen, oft übermenschlichen Einsatz abzuwenden versuchen. Während also einerseits hohe berufliche Anforderungen oder hohe eigene Ansprüche zu großem persönlichen Engagement führen, wird den Betroffenen andererseits dafür oft sehr wenig soziale Anerkennung und Wertschätzung zuteil. Bei Moritz dürfte eine ähnliche Konstellation vorgelegen sein. Vielleicht aber hatte sich Moritz aufgrund seines Erfolges und seiner Persönlichkeit in seinem beruflichen Umfeld mehr Neider geschaffen, als er für möglich gehalten hätte. Wir liefen noch immer durch den Wald und wechselten dabei von einem Gesprächsthema zum anderen. Im Stillen ließ mir dabei eine Frage keine Ruhe: Wie konnte es sein, dass ein so of-
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und ich war auch erfolgreich damit. Anfangs. Zu erfolgreich. Das hat Gegner auf den Plan gerufen, die insgeheim alles daran gesetzt haben, meine Erfolge und damit auch die unserer Arbeitsgruppe wieder zunichte zu machen. Das habe ich lange nicht kapiert. Man hat mir beruflich das Leben zunehmend schwer gemacht. Als Reaktion darauf habe ich mich dann noch mehr für unser Team eingesetzt. Doch gerade mein Vorgesetzter, der für mich immer ein großes Vorbild war, hat mir schließlich ebenfalls Steine in den Weg gelegt. Aus irgendeinem Grund war er mir gegenüber plötzlich misstrauisch. Lange Zeit konnte und wollte ich das gar nicht wahrhaben. Ich konnte es einfach nicht glauben. Irgendwann war es dann so weit, dass ich in der Nacht nur mehr zwei oder drei Stunden schlief. Ich konnte nicht mehr abschalten. Und gleichzeitig vernachlässigte ich immer mehr meine sonstigen Interessen. Sogar meine Familie. Es wurde mir fast alles egal. Ich lief wie ein Hamster im Laufrad. Bis es einfach nicht mehr ging.“
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fener, verantwortungsvoller und kluger Mensch wie Moritz, der darüber hinaus durch seine jahrelange Meditationserfahrung besonders sensibilisiert sein müsste, nicht schon die ersten Anzeichen von Burn-Out erkennt und darauf reagiert? Ich fragte ihn schließlich, wie er es sich eigentlich erklären könne, dass er diese massive Überlastungssituation nicht schon frühzeitig erkannt und etwas dagegen unternommen habe.
„Das heißt, dein Verantwortungsgefühl, deine hohen Ansprüche, aber auch dein Ehrgeiz und deine Zähigkeit haben dich motiviert, etwas erreichen zu wollen, was andere zu verhindern wussten? „Ja, wahrscheinlich kann man das so sagen. Ich habe die Widerstände unterschätzt und meine Möglichkeiten überschätzt – bis ich halt zusammengebrochen bin.“
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DURCH SCHWIERIGE
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„Genau mit dieser Frage habe ich mich auch während meines Kuraufenthaltes beschäftigt. Wenn ich nicht die ganze Zeit über meditiert hätte und körperlich nicht so fit gewesen wäre, hätte ich mich sicher viel rascher erschöpft. So konnte ich den eingeschlagenen Weg – leider, muss ich sagen – lange, viel zu lange weiter gehen. Ich hatte mich einfach in die Idee verbissen, dass ich meine Ziele für die Firma auf alle Fälle erreichen können würde. Ich habe geglaubt, ich könne das alles durchstehen, und habe trotz des zunehmend stärker werdenden Gegenwindes, den ich schließlich ja auch offen zu spüren bekam, einfach mit meinen Reformideen weitergemacht, nur eben mit noch mehr Einsatz. Ich habe mich persönlich dafür verantwortlich gefühlt, die bereits erfolgreich erprobten Wege weiterzugehen und in der Firma flächendeckend zu etablieren. Ich wollte das auch für die Firma und für die Kollegen schaffen. Ich habe geglaubt, meine Zähigkeit würde mir dabei helfen. Doch sie hat mich nur dazu verleitet, mich noch mehr in meine allzu ehrgeizigen Ziele zu verbeißen. Insofern hat mir meine Zähigkeit in der damaligen Situation keineswegs genützt, sondern vielmehr geschadet.“
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WIR UNS LANGSAM ERSCHÖPFEN KÖNNEN
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Moritz und ich gehen nach wie vor miteinander laufen oder Rad fahren. Wenn es sich ausgeht, trinken wir danach bei ihm oder bei mir eine Tasse Tee oder Kaffee. Moritz hat sich inzwischen längst wieder gut erholt und einen neuen und realistischeren Umgang mit seiner beruflichen Situation gefunden. Ich bin ihm für seine Erzählung dankbar. Denn sie hat mir sehr klar vor Augen geführt, wie sich selbst so positive Eigenschaften wie Ausdauer und Zähigkeit, körperliche Fitness und bestimmte berufliche Talente unter gewissen Umständen nachteilig auswirken können. Dies dürfte etwa wie bei Moritz in Verbindung mit einem vielleicht zu hohem Ehrgeiz und einer Fehleinschätzung einer bestimmten Lebenssituation der Fall gewesen sein. Wenn auch Sie zu jenen Menschen gehören, die über solch prinzipiell wertvolle Eigenschaften verfügen, könnte es sich durchaus lohnen, gelegentlich darüber nachzudenken, ob die Ziele, für die Sie sich eventuell mit großem Engagement, mit Ausdauer und mit Zähigkeit einsetzen, auch wirklich zu erreichen sind. Unser Verstand kann uns prinzipiell jederzeit helfen, eine möglichst realistische Einschätzung der aktuellen Situation vorzunehmen. Eine kritische Prüfung der Möglichkeit der Realisierung unserer Vorhaben ist von hohem Wert. Sie kann uns davor bewahren, uns mit viel Einsatz in hoffnungslos schwierige Situationen zu verstricken, die zumindest momentan nicht zu lösen oder konstruktiv zu verändern sind. Eine meiner Kolleginnen unterstreicht die Bedeutung eines soliden Bezugs zur Realität gerne mit folgenden Worten: „Ganz einfach: Wenn die Latte im Beruf oder privat so hoch liegt, dass ich sie auch durch noch so großen Einsatz ohnedies nicht erreichen werde, dann kann ich mir das anstrengende Hinaufhüpfen gleich von vornherein sparen.“ Ich finde diese Schlussfolgerung sehr überzeugend. Viele Menschen hüpfen tatsächlich immer wieder in Richtung einer viel zu hoch liegenden Latte, auch wenn sie bereits ahnen, dass ihre Bemühungen keinen Erfolg haben werden. Und es gibt viele Verlockungen, sich auf Situationen einzulassen, die dazu
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verleiten können oder vielleicht sogar sollen, sich vergeblich mit unerreichbar hohen Zielen abzuquälen. Manchmal sind es unsere eigenen Ansprüche, denen wir nacheifern, manchmal sind es auch unsere Mitmenschen, die von uns wollen, dass wir ihren Erwartungen genau so entsprechen, wie sie sich das eben ausmalen. Beide Varianten sind dazu angetan, dass wir Gefahr laufen, uns ähnlich wie Moritz langsam in einem Kampf gegen Windmühlen zu erschöpfen. Wie diese Geschichte zeigt, können uns gerade unsere persönlichen Stärken dazu verführen, die eigenen Möglichkeiten zu überschätzen und dadurch eine gewisse Realitätsverweigerung zu betreiben. Es ist dann wohl besonders schmerzlich, sich die damit verbundene Fehleinschätzung der eigenen Situation einzugestehen. Gerade in solchen Fällen kann aber unser analytisches Denkvermögen zu einer wichtigen kritischen und selbstkritischen Instanz werden. Denn es ermöglicht es uns, vorbeugend und vorausschauend zu überprüfen, inwieweit unsere Vorhaben auch wirklich realisierbar sind.
15. KRANK OHNE BEFUND
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ennen Sie das? Das Zucken der Augenlider? In einer privaten Runde von Leuten, die sich einmal pro Woche trifft, um gemeinsam eine asiatische Kampfsportart zu trainieren, kamen wir einmal beim geselligen Ausklang des Abends auf das Zucken der Augenlider zu sprechen. Unsere Trainerin berichtete nämlich, dass dieses Zucken bei ihr gerade aufgetreten sei und sie im Moment auch beunruhige und verunsichere. Es wurde schnell zum allgemeinen Gesprächsthema und plötzlich tauschten alle in der Runde ihre diesbezüglichen Erfahrungen aus. Überraschenderweise hatten nicht nur alle ein solches Augenlidzucken schon einmal bei anderen registriert, nein, ein jeder hatte dieses feine Zucken auch schon bei sich selbst wahrge56
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nommen. In der Regel war dieses Phänomen ebenso plötzlich aufgetaucht, wie es dann auch wieder verschwunden war. Natürlich können auch fehlende Mineralstoffe, etwa Magnesium, eine solche Neigung begünstigen, ein Mangel, der in diesem Fall durch entsprechende Tabletten ausgeglichen werden sollte. Meistens allerdings, so waren wir uns rasch einig, reicht es aber, den Dingen ihren Lauf zu lassen und es gegebenenfalls mit ein wenig mehr an Erholung zu probieren. In aller Regel verschwinden solche Phänomene dann ebenso rasch wieder, wie sie gekommen sind. Doch ungewohnte oder ungewöhnliche Körperempfindungen lassen uns nun einmal aufhorchen. Vier von fünf Personen registrieren pro Woche mindestens ein solches unangenehmes Körpersymptom, das sie als beunruhigend erleben. Demnach ist es also ganz normal, dass wir den eigenen Körper hin und wieder auch unangenehm oder sogar schmerzlich wahrnehmen. Dabei kann es sich um Schwindel, Kopfweh oder Ohrgeräusche handeln. Es können Nacken- oder Rückenprobleme sein, Brust- oder Bauchschmerzen, Hautveränderungen, Schlafstörungen, Erschöpfung und vieles mehr. Bei den meisten von uns lösen solche gelegentlich auftretenden Symptome keine große Beunruhigung aus. Viele von uns können derartige Symptome mehrheitlich auch gut zuordnen und interpretieren, etwa nach dem Motto: „Das kenne ich schon von mir: Gelegentlich, wenn ich irgendwie unter Druck bin, bekomme ich Kopfweh.“ Wodurch diese Symptome letztendlich tatsächlich ausgelöst werden, lässt sich aber nicht so einfach erklären, und das selbst dann nicht, wenn mit großem medizinisch-diagnostischen Aufwand versucht wird, eine entsprechende Ursache zu eruieren. Jedenfalls sind solche Symptome untrügliche Zeichen dafür, dass wir nicht nur einen Körper haben, sondern auch körperliche Wesen sind, die sich mehr oder weniger ständig spüren und wahrnehmen. Wir spüren unsere Lebendigkeit – ob angenehm oder unangenehm – im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leib. Und nicht zufällig leitet sich ja das Wort Leib ursprünglich vom Wort Leben ab.
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Die geschilderten Körpersymptome können zwar, müssen aber nicht unbedingt viel zu bedeuten haben. Wenn wir uns die Häufigkeit dieser Körperphänomene noch einmal vor Augen führen – vier von fünf Personen registrieren mindestens ein solches unangenehmes Körpersymptom pro Woche –, dann lässt sich wohl schon allein aus dieser Häufigkeit schließen, dass die allermeisten dieser Symptome keinen Anlass zu ernster gesundheitlicher Sorge bieten. Wenn bei uns selbst solche Symptome auftauchen, dann ist dennoch Psychosomatische Intelligenz gefragt, und zwar insofern, als es eben darum geht, spürend und denkend die Bedeutung dieser leiblichen Wahrnehmungen möglichst richtig zu erfassen. Das setzt ein gewisses Maß an Selbstaufmerksamkeit und eine Kenntnis der eigenen Person voraus. Dabei geht es dann konkret um die folgenden Fragen: Kann und darf ich dieses Symptom, das ich gerade bemerke, einfach ignorieren und meine Aufmerksamkeit wieder auf etwas anderes lenken? Oder muss ich diese Auffälligkeit als einen Hinweis verstehen, dass etwas mit mir nicht stimmt und ich darauf reagieren sollte, etwa indem ich mir Erholung oder eine bestimmte Form von Aktivierung gönne? Oder sollte ich vielleicht sogar ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, um abzuklären, was dieses Symptom zu bedeuten hat? So etwas kenne ich schließlich nicht von mir, das beunruhigt mich. Viele Menschen beschäftigen sich im Stillen Tag für Tag mit genau solchen Überlegungen. Manche werden dabei von den folgenden Überzeugungen geleitet: „Nur wenn ich meinen Körper nicht spüre, ist mit mir alles in Ordnung. Wenn sich hingegen mein Körper irgendwie ungewöhnlich bemerkbar macht, dann kann das nur Unerfreuliches bedeuten. Und zwar zweierlei: entweder, dass ich eine körperliche Erkrankung habe oder dass ich psychisch nicht fit bin und mein Körper deshalb verrückt spielt.“ Wenn man dazu neigt, jedes Signal des Körpers prinzipiell negativ zu interpretieren, dann entsteht daraus natürlich leicht der Wunsch, dass diese Körpersignale nur möglichst rasch wieder verschwinden sollen. Manchmal werden ungewöhnliche Körper58
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symptome gleich wieder verdrängt und somit ausgeblendet. Manchmal wird sehr rasch und in der Folge eventuell auch viel zu oft zu Medikamenten gegriffen, um von diesen unangenehmen Empfindungen nichts mehr zu spüren. Aber wie wir aus vielen anderen Beispielen wissen, ist es keineswegs immer klug, aus Sorge vor möglichen unerfreulichen Entwicklungen oder Erkenntnissen den Kopf in den Sand zu stecken. Schließlich ist es das eigene leibliche Leben, das sich bei uns in Form von Signalen meldet. Leider nehmen anscheinend viele solche Anrufe, die aus dem eigenen Körper kommen, einfach gar nicht oder erst nach langer Zeit entgegen. Diese Form von Kommunikationsverweigerung nach innen hat natürlich zur Folge, dass oftmals wichtige Informationen, die uns über gewöhnliche und vertraute, aber eben auch über ungewöhnliche Körperempfindungen bewusst werden können und sollen, nicht in unsere Überlegungen mit einfließen. Gleichzeitig zählt die Angst vor einer schweren Krankheit zu den häufigsten Ängsten überhaupt, wie auch aktuelle Umfragen zeigen. In Österreich etwa ist sie derzeit häufiger als die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Demnach machen sich ungefähr zehn Prozent der österreichischen Bevölkerung ernsthaft darüber Sorgen, krank zu sein, obwohl sie es nicht sind. Diese Menschen neigen also dazu, sich bezüglich ihrer Gesundheit besonders zu sorgen. Offenbar interpretieren sie die oben beschriebenen häufig auftretenden und in aller Regel harmlosen Körpersymptome irrtümlicherweise als Hinweis auf eine bereits eingetretene oder beginnende ernste Erkrankung. Diese Fehlinterpretation beeinträchtigt in Folge nicht nur die Lebensqualität dieser Menschen. Sie führt oft auch dazu, dass diese Personen immer wieder medizinische Untersuchungen wünschen und einfordern. Sie möchten, dass ihre vermeintliche Erkrankung, die sie ja im Sinne der geschilderten Symptome auch tatsächlich wahrnehmen, endlich auch medizinisch diagnostiziert wird. Auf diese Weise möchten sie letzten Endes auch sicherstellen, dass ihnen geglaubt wird und sie sich somit nicht unterstellen lassen
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müssen, dass alles bloß Einbildung sei. Erst wenn ein objektiver medizinischer Befund vorliegt, der bestätigt, dass es ein medizinisches Problem gibt, so meinen sie, würden sie endlich jene Behandlung erhalten, die zum Verschwinden der Symptome führt. Manche dieser Personen laufen dafür wirklich von Arzt zu Arzt, ein Verhalten, das auch als doctor shopping bezeichnet wird. Dieses Verhalten ist zwar nicht zu begrüßen und für die Betroffenen meist nur mit weiteren Enttäuschungen verbunden, andererseits ist dieses unbeirrbare Festhalten an einer möglichen Krankheit aber auch nicht ganz unverständlich, wenn man bedenkt, dass die Lebensqualität dieser Menschen, bei denen trotz aller Bemühungen nichts gefunden wird, durchschnittlich tatsächlich schlechter ist als bei jenen, bei denen ein objektiver Befund auf eine Krankheit hinweist. Liegt nämlich eine diagnostizierte körperliche Erkrankung vor, wird in der Folge auch eine gezielte medizinische Behandlung eingeleitet. Die zuerst genannte Gruppe hingegen, die so verzweifelt auf eine adäquate Behandlung hofft, bei der jedoch mit den derzeitigen Möglichkeiten kein organisches Problem festzustellen ist, bleibt auf der körperlichen Ebene meist – und das wohl zu Recht – unbehandelt. Diese Menschen gehen daher deshalb, also aufgrund der Tatsache, dass sie sich als krank ohne Befund erleben, ebenfalls durch schwierige Zeiten. Doch ist es wirklich verwunderlich, dass sich so viele Menschen große und letztendlich zumeist unnötige Sorgen um ihre Gesundheit machen? Werden wir nicht fast ständig auf Gesundheitsrisiken hingewiesen? Schließlich erfahren wir unentwegt, dass viele unserer Ernährungsgewohnheiten, der moderne Lebensstil, die Umweltverschmutzung, die Sonnenstrahlen, drohende Epidemien oder auch die Gentechnologie unsere Gesundheit bedrohen. Während solche Informationen für viele interessant und motivierend sein mögen, um besser auf ihre Gesundheit zu achten und diese zu schützen oder zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, dürften andere, die bezüglich ihrer Gesundheit ohnedies sehr besorgt sind, auf solche Informationen mit noch mehr 60
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Sorge reagieren. Bei ihnen führen die angesprochenen Informationskampagnen wahrscheinlich zu noch größerer Angst vor Krankheit. Leider wird in den Medien viel zu selten auch darüber berichtet, wovor man sich eigentlich nicht oder nicht mehr zu fürchten braucht. Es wird also selten Entwarnung gegeben. Doch gerade das wäre für die Gesundheit und die Lebensqualität ebenfalls förderlich. Warum also sollte medial nicht auch einmal dieser unnötigen und übertriebenen Ängstlichkeit entgegengewirkt werden? Daher ist es mir auch ein besonderes Anliegen, darauf hinzuweisen, dass körperliche Symptome noch keineswegs Krankheit bedeuten. Wie gesagt: Vier von fünf Personen erleben pro Woche mindestens ein solches, meist harmloses Symptom. Und wie gesagt: Leib kommt von Leben. Zwar ist es im Allgemeinen so, dass sich der eigene Organismus selbst vortrefflich reguliert, aber sich in einem sinnvollen Ausmaß Selbstaufmerksamkeit zu schenken, ist dennoch wichtig. Wer sich diesbezüglich gut kennen gelernt hat, kann aus der achtsamen Wahrnehmung körperlicher Signale eventuell schon frühzeitig erfassen, wann ein körperlicher Zustand Anlass zur Besorgnis gibt und wann nicht. Wir können dann wohl auch besser beurteilen, ab wann wir ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Doch auch im Zweifelsfall bleibt es sicherlich empfehlenswert, vorsichtshalber ärztlichen Rat einzuholen.
16. ECHTE ANLIEGEN
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uch Menschen mit einer Behinderung haben einen Alltag. Auch sie durchleben Krisen und natürlich kann auch ihr Organismus in einen Alarmzustand geraten. Als Evelyn mich das erste Mal anrief, teilte sie mir mit, dass sie bereits seit einigen Wochen an einer schweren Schlafstörung leide, die sie sich nicht erklären könne. Gleichzeitig erzählte sie mir, dass sie bereits vor über
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10 Jahren aufgrund einer erblichen Erkrankung fast völlig erblindet sei. Wir vereinbarten einen Gesprächstermin. Evelyn kam schließlich in Begleitung ihres Mannes zu mir und wir führten dieses erste Gespräch zu dritt. Evelyn ist Ende zwanzig, sportlich und attraktiv. Sie steht voll im Berufsleben. Ich war beeindruckt, wie gut sie und ihr Partner offenbar gelernt hatten, mit ihrer Sehbehinderung umzugehen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass Evelyn schon seit einiger Zeit sehr darunter litt, nicht einschlafen zu können. Evelyn fühlte sich enorm erschöpft. Beide machten sich deshalb schon große Sorgen. Auf ein Schlafmittel wollte sie dennoch nicht zurückgreifen. Viel wichtiger erschien es ihr herauszufinden, warum sie im Unterschied zu früher in der letzten Zeit abends keine Ruhe mehr fand. Bekanntlich gibt es viele Gründe, die dazu führen können, dass wir nicht einschlafen oder nicht durchschlafen können oder auch beides. Ebenso wie Evelyn fragte auch ich mich, wie diese für sie so belastende Situation zu verstehen sein könnte. Und wie würde es ihr möglichst bald wieder gelingen können, sich in den dringend benötigten nächtlichen Schlaf sinken zu lassen und sich so auch wieder zu erholen? Sollte ich ihr vielleicht doch dazu raten, wenigstens vorübergehend ein den Schlaf förderndes Medikament einzunehmen? Anfangs kam Evelyn in Begleitung ihres Mannes zu mir, später kam sie meistens alleine. Immer noch war ich davon beeindruckt und bewegt, was Evelyn mit ihrer Sehbehinderung alles geschafft hatte. Sie hatte eine Berufsausbildung abgeschlossen und übte diesen Beruf auch aus. Anscheinend war es ihr bisher erstaunlich gut gelungen, jeden Tag ihres Lebens bewusst zu nützen und jenen Aktivitäten nachzugehen, die ihr wirklich wichtig waren. Ihren Alltag gestaltete sie dabei weitestgehend selbständig und ihr Freundeskreis war beachtlich groß. Langsam erfuhr ich aber auch mehr darüber, was sie schmerzlich bewegte und belastete. Evelyn beschrieb auch, wie verärgert sie eigentlich darüber war, sich nicht in den Schlaf fallen lassen zu können. Und genau dadurch geriet sie allabendlich offenbar 62
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auch in einen Teufelskreis: Je mehr sie sich darüber ärgerte, nicht einschlafen zu können, umso munterer wurde sie wieder und umso sicherer blieb ihr das Einschlafen verwehrt, was ihren Zorn nur weiter verstärkte. Das ging nun schon seit über zwei Monaten so. Trotz ihrer Erschöpfung war es Evelyn bislang irgendwie gelungen, ihren beruflichen und privaten Verpflichtungen weiterhin nachzukommen Bei näherer Nachfrage, wie sie das denn alles schaffe, erfuhr ich, dass sie sich seit Beginn ihrer Erblindung einen sehr disziplinierten Lebensstil auferlegt hatte. Meine Frage, ob es nicht vielleicht auch Zeiten gegeben hätte, in denen sie nicht so diszipliniert gewesen war, stimmte sie nachdenklich. „Nein. Eigentlich fast nie. Außer vor einem halben Jahr. Ich ging zu einer Routineuntersuchung, ohne Beschwerden. Danach habe ich erfahren, dass es einen neuen Befund gibt, der vielleicht bedeutet, dass meine Erkrankung, die außer zur Erblindung ja auch noch zu anderen schweren gesundheitlichen Folgen führen kann, weiter fortschreitet.“ Evelyn wirkte traurig. Sie war verstummt. „Sie wirken traurig auf mich.“ „Ich habe immer geglaubt, wenn ich schon diese genetische Erkrankung habe und das Erblinden nicht zu verhindern ist, dass ich dann wenigstens ein weiteres Fortschreiten dieser Erkrankung verhindern kann, wenn ich nur ganz diszipliniert lebe. Und am liebsten würde ich das auch noch weiterhin glauben können.“ Evelyn erzählte mir schließlich, wie sehr sie dieser neue medizinische Befund anfangs belastet und verunsichert hatte. Dennoch war es ihr in der Folge gelungen, ihre vertrauten Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Nach dieser psychotherapeutischen Stunde war Evelyn merkbar deprimiert. Bei unserem nächsten Treffen kam plötzlich auch noch die ganz Wucht der ursprünglichen Erschütterung, die vor über 10 Jahren mit der drohenden Erblindung ausgelöst worden war, zum Vorschein. Evelyn erinnerte sich voller Schmerz daran, was es damals für sie bedeutet hatte, zu realisieren, dass sie ihr Augenlicht vermutlich für immer verlieren würde.
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Auch in den nächsten Wochen unserer psychotherapeutischen Zusammenarbeit ging es Evelyn eher schlechter als besser. Sie war innerlich aufgewühlt. Dennoch begann sich gerade in dieser Zeit ihre Einschlafstörung langsam zurückzubilden. Einige weitere Gesprächstermine später fand Evelyn auch innerlich wieder halbwegs zur Ruhe. Sie erlangte so etwas wie ein neues inneres Gleichgewicht. Ihre Einschlafprobleme tauchten zwar noch gelegentlich auf, allerdings in abgeschwächter Form. Evelyn fand jedenfalls wieder ausreichend Schlaf und konnte sich langsam wieder erholen. Schließlich kehrten auch ihre Energie, ihre Lebensfreude und ihr Mut wieder zurück. Was war geschehen? Oft lassen sich, genau genommen, nur Vermutungen darüber anstellen, wie die „Dinge“ zusammenhängen. Es ist dabei durchaus angebracht, den eigenen diesbezüglichen Vermutungen gegenüber kritisch zu bleiben. Trotzdem zeigten sich Evelyn und mir einige Zusammenhänge, die wir beide in Hinblick auf die Schlafstörung für bedeutsam hielten. Evelyn hatte anscheinend schon vor langer Zeit so etwas wie einen Deal mit ihrem Schicksal abgeschlossen. Wenn sie nur alles tun würde, um zu ihrer Gesundheit beizutragen, dann würde sie ein Fortschreiten ihrer Erkrankung verhindern können. Und sie war mit dieser Strategie sehr erfolgreich gewesen. Geleitet von jenen Anliegen, die ihr wirklich wichtig waren, gelang es ihr tatsächlich, trotz und mit ihrer Erblindung weitgehend jenes Leben zu führen, das sie führen wollte. Mit der Routineuntersuchung vor einem halben Jahr und dem dabei entdeckten neuen und beunruhigenden Befund war ihre Strategie, ihr Deal mit dem Schicksal, plötzlich in Frage gestellt worden. Anfangs schien es Evelyn zwar zu gelingen, ihre gewohnten Verhaltensweisen wieder aufzunehmen. Doch einige Zeit danach stellten sich eben jene Schlafstörungen ein, die sie schließlich zu mir führten. Wahrscheinlich hatte sie den neuen Befund zwar aus ihrem Bewusstsein verdrängen können, sie wollte sich damit wohl auch gar nicht weiter befassen, ihr Unterbewusstsein und ihr Organismus blieben aber dennoch alarmiert. Wenn sich der Tag nun 64
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dem Ende zuneigte und sie sich eigentlich zur Ruhe begeben wollte, gelang ihr dies plötzlich nicht mehr. Erst nachdem sie sich im Rahmen unserer Gespräche der neuen, möglicherweise bedrohlichen Entwicklung bewusst gestellt hatte und diese schmerzliche Erfahrung zulassen und voll zur Kenntnis nehmen konnte, konnte sie sich auf die neue Situation einstellen und so wieder innerlich Ruhe finden. Langsam verspürte sie auch wieder ein wenig von jener Gelassenheit, die wir wohl alle benötigen, wenn uns deutlicher als sonst bewusst wird, dass wir im Grunde genommen dem Leben auch immer ein Stück ausgeliefert bleiben. Evelyn wurde mit dieser Tatsache erneut und sicherlich auf besonders schmerzliche Weise konfrontiert. Dennoch ist es ihr schließlich gelungen, sich wichtige eigene Anliegen dadurch nicht rauben zu lassen, im Gegenteil. Sie konnte mit dieser Erkenntnis wieder damit beginnen, ihr Leben so zu leben, wie sie es auch früher zu schätzen und zu genießen wusste. Wenn man schwere Zeiten durchlebt, dominiert häufig ein Gefühl der Resignation und Verzweiflung. Verdrängt man jedoch schwierige Situationen und die sie begleitenden Konflikte, dann können körperliche Signale, wie etwa Evelyns Schlafstörung, die anfangs völlig unverständlich erscheinen mögen, wegweisend dafür werden, sich spürend und denkend auf die Suche nach einem tieferen Verständnis der eigenen Person und der eigenen Situation zu begeben. Auch zum Abschluss dieses zweiten Teils des Buches möchte ich einen Gedanken formulieren, der mir wichtig erscheint und der sich gleichsam wie ein roter Faden durch die Erzählungen von Valerie, Birgit, Horst, Moritz und Evelyn zieht: Selbst wenn Ihnen in schwierigen Zeiten Ihre konstruktiven ureigensten Anliegen und damit auch Ihre guten Absichten zeitweilig abhanden kommen sollten, bleiben Sie diesen auf der Spur! Vielleicht müssen Sie die eine oder andere ursprüngliche Idee und Vorstellung tatsächlich korrigieren und abändern. Vielleicht führen Krisen dazu, eigene Positionen ernsthaft zu überprüfen. Da und dort mag es dann tatsächlich erforderlich sein, etwas dazuzulernen
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und sich neu zu orientieren. Vielleicht bedeutet dies auch, sich in einem schmerzlichen Prozess von überholten Vorstellungen zu lösen. Und dennoch: Gerade in Krisenzeiten sollten wir uns unserer Stärken besinnen – und damit auch unserer guten Intentionen. Oder, um ein Dichterwort abzuwandeln: Echte eigene Anliegen lass dir nicht rauben!
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Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... miteinander leben „Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen.“ Pablo Picasso
17. ÖKOSYSTEM BEZIEHUNG
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anche partnerschaftlichen Beziehungen, ob sie nun erst kurz oder bereits lange andauern, stehen, aus welchen Gründen auch immer, unter schwierigen Vorzeichen. Obwohl dies nun schon viele Jahre zurückliegt, kann ich mich noch sehr genau an die Begegnung mit Paula und Helmut erinnern, deren Paarbeziehung eine ganz spezielle Dynamik angenommen hatte. Paula und Helmut lebten schon seit über dreißig Jahren zusammen. Sie waren kinderlos und ohne großen Freundeskreis. Beide waren bereits weit über 60 und in Pension. Paula begleitete Helmut zur Abklärung einer möglichen psychischen Störung in unsere Klinikambulanz. Sie hatte diesen Termin für ihn organisiert. Sie war es auch, die schließlich an meine Tür klopfte und mir, nach der Frage, ob sie kurz eintreten dürfe, Folgendes aufgeregt mitteilte: „Herr Doktor, stellen Sie sich vor, Helmut, mein Mann, redet schon seit drei Wochen nichts mehr. Kein einziges Wort. Ich weiß nicht, was ihm fehlt. Der Hausarzt sagt, körperlich fehlt ihm nichts. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich werde selbst verrückt dabei. Wenigstens ist es mir jetzt gelungen, hier einen Termin für ihn auszumachen. Vielleicht können Sie etwas herausfinden und etwas tun. Ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. Er sagt ja nichts.“
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MITEINANDER LEBEN
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„Ich werde dennoch einmal versuchen, mich mit Ihrem Mann zu unterhalten und mir ein Bild davon zu machen, was dieses Verhalten Ihres Mannes zu bedeuten haben könnte. Danach können wir uns ja vielleicht zu dritt zusammensetzen.“ Paula verließ mein Zimmer in der Ambulanz und Helmut kam grußlos herein. Ich bot ihm einen Platz an. Schweigend und in sich zusammengesunken saß er mir nun gegenüber. Ich stellte mich ihm vor und versuchte mit meinen Worten zu schildern, was ich bisher von der Situation, die zu diesem Termin geführt hatte, wusste. Er schien aufmerksam zuzuhören. Ich schloss mit den Worten: „Ihre Frau ist anscheinend sehr besorgt. Könnten Sie mir etwas dazu sagen?“ Schweigend blickte er mich an. Ich wartete. Insgesamt wirkte er traurig und nachdenklich. Nach einiger Zeit des Schweigens, in der wir uns gegenseitig musterten, wendete ich mich nochmals an ihn. Es war halb eine Feststellung, halb eine Frage: „Nun, bisher habe ich nur ein wenig aus der Sichtweise Ihrer Frau erfahren. Vielleicht ist Ihre Sicht auf die Dinge ja ganz anders?“ Neugierig wartete ich. Er nickte. Dann entrang sich ihm ein tiefer, schwerer Seufzer. Kurz danach begann er mit mir zu sprechen, als hätte es diese Zeit des Schweigens nie gegeben: „Ich kann einfach nicht mehr mit ihr reden. Ich halte sie einfach nicht mehr aus. Ich weiß aber auch nicht, was ich tun soll. Wir sind schon eine Ewigkeit zusammen. Seit ich in Pension bin, ist alles schlimmer geworden. Sie möchte ständig mit mir reden. Sie meint es sicher nicht schlecht, aber sie lässt mir einfach keine Ruhe. Und ich kann nicht mehr. Dabei weiß ich, dass wir uns gegenseitig brauchen. Aber ich habe keine Idee, was ich sonst tun könnte. Wenn ich mit ihr rede, redet sie mich an die Wand. Ohne Ende kann sie dann auf mich einreden. Mir selbst geht es jedenfalls noch besser, wenn ich gar nichts sage. Ich weiß, das ist nicht in Ordnung. Ich weiß das. Ich weiß auch, dass sie sich Sorgen macht. Reden Sie doch bitte mit ihr. Ich würde einfach öfters meine Ruhe brauchen. Es geht mir 68
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sonst gar nicht schlecht. Ich bin auch nicht depressiv, falls Sie das glauben. Aber ihr ist es einfach nicht möglich, mich in Ruhe zu lassen, wenn ich das brauche. Selbst wenn ich sie darum bitte.“
„Und wären Sie damit einverstanden, dass wir uns anschließend auch zu dritt unterhalten?“ Wiederum stimmte Helmut zu, diesmal allerdings wieder mit einem tiefen Seufzen. Ich unterhielt mich noch eine Zeit lang mit Helmut, um mir ein besseres Bild von seiner Gesamtsituation machen zu können. Danach sprach ich mit Paula und versuchte ihr zu vermitteln, dass sie und ihr Mann sich anscheinend in einer schwierigen Paarsituation befanden. Zumindest würde Helmut dies offenbar so wahrnehmen. Paula wirkte betroffen und erleichtert zugleich. Im Verlauf der weiteren Begegnung, wir unterhielten uns schließlich auch wie geplant zu dritt, schenkten sich Helmut und Paula auf recht behutsame Art und Weise gegenseitig reinen Wein ein. Durch dieses und ein folgendes Gespräch entspannte sich ihre Paarsituation schon allein deshalb, weil sie wieder miteinander reden konnten. Offenbar war beiden sehr rasch bewusst geworden, dass Helmuts Schweigen als Notlösung gedient hatte und letztlich wohl auch als ein Hilferuf zu verstehen war, der sich aus der aktuellen Paardynamik ergeben hatte. Und beide konnten es akzeptieren, dass Helmut zum damaligen Zeitpunkt zu einer konstruktiveren Lösung ihrer Paarproblematik einfach nicht in der Lage gewesen war. Das Beispiel von Paula und Helmut veranschaulicht vielleicht recht gut, was mit dem Begriff Ökosystem Beziehung gemeint ist. Denn beide, Paula und Helmut, waren darum bemüht, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten, mussten aber gleichzeitig versuchen, mit sich selbst klarzukommen. Und vor einer solch doppelten Herausforderung stehen prinzipiell wohl alle Menschen, 69
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„Sie möchten, dass ich mit Ihrer Frau vorerst alleine spreche?“ „Ja. Das wäre mir recht.“
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Glückliche Paare vermitteln sich ein Gefühl der Magie. Sie signalisieren sich gegenseitig, etwas ganz Besonderes füreinander zu sein.
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Sie schenken sich außerdem Respekt. Sie respektieren die Partnerin oder den Partner als einen ganz besonderen Menschen, die oder der sich daher auch durch besondere Eigenschaften, Anliegen und Bedürfnisse auszeichnet. Entsprechend werden ihr oder ihm diese individuellen Bedürfnisse auch zugestanden.
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Nicht verwunderlich ist es daher, dass sich solche Paare auch um einen taktvollen Umgang miteinander bemühen. Sie berücksichtigen einfühlend und achtsam, wie die Partnerin
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MITEINANDER LEBEN
die in dauerhaften Partnerschaften leben. Daher benötigt in einer Paarbeziehung jede und jeder ausreichend Raum, um sich selbst regulieren zu können oder – anders formuliert – mit sich selbst im Einklang zu sein, und ebenso braucht es ausreichend Möglichkeit, Zeit und Spielraum, um die Paarbeziehung positiv gestalten und leben zu können. Spürend und denkend können beide dazu beitragen, die eigenen wie auch die Bedürfnisse der Partnerin oder des Partners wahrzunehmen, zu respektieren und ihre Erfüllung nach Möglichkeit auch zu realisieren. Zwar ist auch das sicherlich kein Garant dafür, dass die Beziehung zur Zufriedenheit beider Partner verläuft, und ebenso nicht, dass sie auf Dauer hält, aber es dürfte sich dabei doch um günstige Grundlagen für eine gelingende Beziehung handeln. In diese Richtung deuten jedenfalls auch die spannenden Forschungsergebnisse der amerikanischen Psychologin Judith Wallerstein. Sie befragte Paare, die nach eigenen Angaben schon lange glücklich zusammenleben, nach ihrem Erfolgsrezept. Demnach zeichnen sich glückliche Paare jedenfalls dadurch aus, dass sie einen besonderen Umgang miteinander pflegen. Dieser lässt sich in folgenden Punkten zusammenfassen:
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Dabei ist aber auch Timing gefragt. Die sorgfältige Beachtung des richtigen Zeitpunkts, der richtigen Geschwindigkeit und der richtigen Abstimmung mit den jeweiligen Gegebenheiten ist offenbar ebenfalls etwas, das diese Paare im Umgang miteinander sehr zu schätzen wissen und kultivieren. Auch in diesem Zusammenhang werden die jeweiligen Bedürfnisse also wahrgenommen, respektiert und unterstützt. Den jeweiligen Partnerinnen und Partnern fällt es dadurch wohl ebenfalls leichter, sich auch selbst entsprechend gelassen, sicher und stabil zu erleben.
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Auch Schweigen ist in Ordnung. Schweigen kann nach Ansicht vieler glücklicher Paare oft sogar mehr wert sein, als alles zu besprechen.
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Anscheinend können glückliche Paare ihre insgesamt durchaus hohen Erwartungen aneinander auch mit einer realistischen Einschätzung der aktuellen Situation verbinden. Die beiden Partner berücksichtigen also sehr genau, was derzeit möglich ist und was nicht. Entsprechend können sie ihre hohe Erwartungen dann auch nach unten schrauben, ohne sich deswegen aufregen zu müssen.
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Schließlich gelingt es diesen nach eigenen Angaben glücklichen Paaren, im Falle von Konflikten aus drohenden Eskalationen rechtzeitig auszusteigen. Sie haben nämlich Strategien entwickelt, Eskalationen abzubrechen. „Wir lassen es dann trotz unserer Meinungsverschiedenheiten auch wieder gut sein.“ Ein solcher Umgang ermöglicht es diesen Paaren etwa, nicht aufeinander wütend einschlafen zu müssen.
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oder der Partner die aktuelle Situation bewerten würde oder konkret erlebt und schützen sie oder ihn gegebenenfalls auch vor einem möglichen Gesichtsverlust. Mit anderen Worten, sie tragen durch ihren Umgang miteinander zum inneren Gleichgewicht der geliebten Person bei.
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MITEINANDER LEBEN
An diesem letzten Punkt schließt auch eine Erkenntnis an, die der bekannte Paarforscher John Gottman besonders hervorhebt: In dauerhaften Partnerschaften werden immer wieder dieselben Themen und Konflikte abgehandelt und nicht gelöst. Auch zufriedene und glückliche Paare haben also solche Dauerbrenner. Sich einen dauerhaften Partner oder eine dauerhafte Partnerin auszusuchen bedeutet demnach auch, sich ein paar dauerhafte Probleme auszusuchen. Die Lösung eines bestimmten Problems, das in einer Paarbeziehungen mehr oder minder ständig präsent ist, ist häufig einfach deswegen nicht oder nur begrenzt möglich, weil die beteiligten Personen eben so sind, wie sie sind. Daher ist für das Miteinander weniger das Finden einer Lösung entscheidend, entscheidend ist vielmehr, welche Grundstimmung in der Partnerschaft entsteht, während die beiden ihre Dauerprobleme vermutlich nicht oder nicht völlig lösen können. Gehen die beiden dabei früher oder später verletzend, niedergeschlagen, zornig oder sogar verächtlich miteinander um? Oder bleiben sie bei all ihren Unterschieden und Schwierigkeiten miteinander respektvoll, einander zugeneigt und mit jenem Quäntchen Humor gesegnet, das ihrem Zwist wieder einmal die Schärfe nehmen kann? Im Ökosystem Beziehung geht es also wohl zu einem guten Teil darum, es sich gegenseitig zu ermöglichen, miteinander und mit sich selbst in ausreichend erfreulicher und beglückender Weise zurechtzukommen. Dazu gehört auch, mit den unvermeidlichen Ungereimtheiten eines Lebens zu zweit so umzugehen, dass die gegenseitige Zuneigung und Wertschätzung trotzdem erhalten bleiben kann.8
8 Mehr zum Umgang mit Konflikten in Paarbeziehungen findet sich im Kapitel Ewige Probleme. 72
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18. IM REICH DER SINNE
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lötzlich war alles anders. Zwar kannten sie sich noch kaum, dennoch war da von Anfang an eine Verbundenheit zwischen Mira und Daniel, mit der weder sie noch er je gerechnet hätten. Jede Berührung war entweder zart oder leidenschaftlich, entspannt oder erregt. Sie tauchten ein in eine Welt der gegenseitigen Entdeckung und gegenseitigen Akzeptanz. Was immer auch ihr oder sein Körper an Signalen setzte: Es war, wie es war, alles gut und okay. Sie konnte seine Hingabe spüren und seine Freude daran, ihr unendlich Vergnügen zu bereiten. Und er spürte, wie unendlich gut sie es mit ihm meinte. Ob stark oder schwach, das war nicht von Bedeutung. Beides war wunderschön und unverzichtbar, so wie ihre Begegnung. Sie waren im Reich der Sinne. Ein solch erotischer Taumel der Verliebtheit, wie er in der kurzen Schilderung von Miras und Daniels Begegnung anklingt, ist früher oder später wohl unvermeidlich einem gewissen Wandel unterworfen. Während anfangs die Unterschiede zwischen der eigenen und der geliebten Person ausschließlich als kostbare Ergänzung erscheinen mögen, können sie in einer späteren Phase der Beziehung als begrenzende, manchmal sogar bedrohliche Andersartigkeit erlebt werden. Einmal an einem solchen Punkt in der Partnerschaftsgeschichte angelangt, ziehen sich viele Paare in ihrem Umgang miteinander auf jene Gemeinsamkeiten zurück, die sie rasch und ohne große Konflikte miteinander teilen können. Dies gilt wahrscheinlich auch für den Bereich der Sexualität. Der Sexualtherapeut Ulrich Clement meint jedenfalls, dass viele Paare auch in ihrer Sexualität vor ihrer Verschiedenartigkeit zurückschrecken, um sich dann auch aus Rücksicht aufeinander auf so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. Dabei, so Clement, sind es gerade die Unterschiede zwischen den Partnern und der offene und achtsame Umgang mit dieser Unterschiedlichkeit, die auch
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MITEINANDER LEBEN
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in lange andauernden Beziehungen das gemeinsame erotische Erleben im Reich der Sinne beflügeln oder beflügeln könnten. Doch was alles umfasst eigentlich das Reich der Sinne? Erotische Bilder und Botschaften aus Film, Fernsehen und Werbung sind fast ständig präsent. Mit großem Nachdruck vermitteln sie uns bestimmte Vorstellungen zu Sinnlichkeit und Sexualität. Was unsere Sinnlichkeit und unsere Sinne allgemein betrifft, laufen wir dabei vielleicht Gefahr, uns selbst vorwiegend als „Augentiere“ zu begreifen? Könnte dies vielleicht sogar zur Folge haben, dass wir uns im Reich der Sinne vorrangig auf visuelle Reize konzentrieren und uns dadurch entsprechend einengen? Und ist gelebte Sinnlichkeit und Sexualität tatsächlich nicht etwas völlig anderes als ein hauptsächlich visuell vermitteltes Erleben? Die Macht der Bilder ist dennoch nicht zu unterschätzen. Wir alle wissen das. Doch was ist mit den anderen Sinneseindrücken, die uns nicht nur im Zusammenhang mit Sexualität und Erotik, sondern auch sonst im täglichen Leben zutiefst bereichern können? Sind sie uns im persönlichen Erleben in ähnlicher Weise präsent und vertraut, wie dies auf die optische Wahrnehmung zutrifft? Oder können sie uns in der Flut an Bildern, mit der wir konfrontiert sind, leicht entgleiten und sich so unserer Aufmerksamkeit weitgehend entziehen? Duft, Musik, feinste Geräusche in der Stille, die unendlichen Nuancen von Berührung und Berührtwerden, all diese sinnlichen Eindrücke sind zwar oft nur einem sehr privaten Raum des Erlebens vorbehalten. Doch sollten wir uns an ihnen deswegen weniger erfreuen als an visuellen Eindrücken? Oder anders gefragt: Macht es für uns Sinn, unser sinnliches Wahrnehmungsvermögen umfassend auszukosten und zu verfeinern? Leider ist es gerade im Alltag keineswegs selbstverständlich, unseren fünf Sinnen ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade wenn wir uns ständig mit Problemen herumschlagen, kann sich unser sinnliches Wahrnehmungsvermögen zunehmend einschränken und vielleicht vertreiben wir uns auf 74
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diese Weise sogar manchmal selbst aus dem Reich der Sinne, ohne dies zu bemerken.
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chon lange wissen wir, wie ansteckend Emotionen sein können. Jemand, der uns nahe steht, freut sich herzlich – wir freuen uns mit. Oder vielleicht erleben wir die Trauer und den Schmerz einer Freundin oder eines Freundes und leiden offen oder insgeheim ebenfalls mit. Ein solches Mitempfinden, auch als Empathie bezeichnet, ist die Voraussetzung dafür, sich in die Lage eines anderen Menschen bewusst einfühlen zu können, eine Fähigkeit, die in der Psychotherapie gezielt genützt wird. Doch nicht nur Gefühle, sondern auch Handlungen, die wir beobachten, können ansteckend auf uns wirken. Ein typisches Beispiel dafür ist das Gähnen: Eine Person beobachtet eine andere beim Gähnen und Momente später gähnt sie schon selbst. Wenn Menschen in Gruppen zusammen sind, können so ganze Kettenreaktionen des Gähnens ausgelöst werden. Besonders intensiv zeigt sich die ansteckende Wirkung bestimmter Verhaltensweisen aber bei Verliebten. Sie empfinden nicht nur ähnlich, sie sitzen sich oft auch mit ähnlicher Kopf- und Körperhaltung gegenüber und können manchmal bis in die kleinsten Gesten hinein unbewusst für einander zu Spiegelbildern werden. Die Nervenzellen, die diese Phänomene des Einfühlens und des unbewussten Imitierens ermöglichen, werden daher auch als Spiegel-Nervenzellen oder als Spiegelneurone bezeichnet. Dank dieser spezialisierten Gehirnzellen lernen wir besonders intensiv auf Basis unserer zwischenmenschlichen Beziehungen und aus der Beobachtung uns wichtiger Personen und ihrer Verhaltensweisen. Dieses Lernen am Modell beginnt in frü-
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hester Kindheit und hört auch im hohen Alter nicht auf. Allein schon durch das Beobachten einer Handlung, die ein anderes Individuum ausführt, wird nämlich im eigenen Gehirn jenes neurologische Programm aktiviert, das der beobachteten Handlung entspricht. Die beteiligten Nervenzellen mit ihrer Fähigkeit zu imitierender Aktivität befinden sich in vielen unterschiedlichen Gehirnarealen. So ermöglichen sie es uns auch zu fühlen, was andere fühlen, beziehungsweise zu spüren, was andere spüren. Denn auch unsere Körperempfindungen können auf diese Weise von anderen mitempfunden beziehungsweise nachempfunden werden. Wir können also spürend miterleben, wie gut es sich etwa anfühlt, sich genüsslich durchzustrecken. Und ebenso wird jeweils etwas anderes in uns anklingen, je nachdem, ob uns einund dieselbe Person mit hängenden Schultern und hängendem Kopf oder aber in aufrechter Haltung entgegenkommt. Eine Vielzahl an experimentellen Untersuchungen bei Paaren hat diese und ähnliche Erkenntnisse in den letzten Jahren bestätigt. Wird etwa einem Menschen ein bestimmter Schmerzreiz vor den Augen des Partners oder der Partnerin zugefügt, so zeigen sich bei beiden Personen im jeweils gleichen Gehirnareal messbare Gehirnaktivitäten, und zwar eben an jenen Stellen, welche die Schmerzwahrnehmung vermitteln. Die Spiegel-Nervenzellen machen es also möglich, gezielt mitzuempfinden. Die Entdeckung dieser spezialisierten Nervenzellen zeigt folglich auch, wie sehr wir eigentlich von Geburt an als soziale Wesen angelegt sind. Zwischenmenschliche Alltagserfahrungen lassen daran aber manchmal wiederum zweifeln. Wie ist dieser scheinbare Widerspruch erklärbar? Vielleicht kehren wir in diesem Zusammenhang noch einmal zum Paartherapeuten John Gottman und zu seinem erfrischend pragmatischen Zugang zu Paarproblemen zurück.9 Unser Einfühlungsvermögen kann dabei ja bekanntlich auch an seine 9 Siehe dazu auch das Kapitel Ökosystem Beziehung. 76
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Grenzen stoßen. Denn Gottman trifft die meiner Ansicht nach zwar sicherlich vereinfachende, aber dennoch interessante Unterscheidung zwischen lösbaren und ewigen Paarkonflikten. Ebenso einfach ist seine Schlussfolgerung aus dieser Unterscheidung: Lösbare Probleme sollte man lösen. Bei ewigen Problemen ist es klüger, sich zu arrangieren und mit ihnen leben zu lernen, um sich nicht sinnlos zu ärgern und nutzlos Energie zu verschwenden. Gottman verrät natürlich auch, wie sich lösbare und ewige Probleme voneinander unterscheiden lassen. Lösbare Probleme beziehen sich nur auf ein bestimmtes Verhalten des Partners oder der Partnerin, das sich aus ganz bestimmten Umständen heraus ergeben hat. Ein ewiges Problem liegt hingegen dann vor, wenn das konkrete Problem nur als die Spitze eines Eisbergs erscheint. Das sogenannte ewige Problem wird in diesem Fall nämlich nur als ein Hinweis auf die zugrundeliegende, „ewig gleiche“ Paarproblematik gewertet. Gottman bringt folgendes Beispiel, um zu veranschaulichen, wie ein und dasselbe Konfliktthema einmal als lösbares und einmal als ewiges Problem verstanden werden kann: Sowohl Paar A als auch Paar B streiten darüber, dass die Frau nach dem Empfinden des Mannes zu schnell mit dem Auto fährt. Paar A: Sie wirft ihm auf seine Kritik hin vor, dass er vor dem Wegfahren getrödelt habe und sie nun schneller fahren müsse, um die verlorene Zeit wieder wettzumachen. Er entgegnet in der Folge, dass sie zu Hause ja alles liegen und stehen gelassen habe und er erst alles wieder wegräumen musste, bevor sie losfahren konnten. Paar B: Sie wirft ihm als Reaktion auf seine Kritik an ihrem Fahrtempo vor, dass er wieder einmal übertrieben reagiere und ihr zu Unrecht nicht vertraue. Er entgegnet in der Folge, dass sie eben nie auf seine Anliegen, in diesem Fall, nicht so schnell zu fahren, Rücksicht nähme, weil sie eben egozentrisch sei. Ich hoffe, es wurde schon einigermaßen deutlich, dass für Paar A und Paar B ein und dasselbe Konfliktthema mit einer unterschiedlichen Problematik verbunden sein dürfte.
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Paar A könnte sich beispielsweise rasch darauf einigen, das nächste Mal von vornherein mehr zeitlichen Spielraum für die Fahrt oder die Zeit vor dem Wegfahren einzuplanen: Und das Problem wäre gelöst. Eindeutig komplizierter stellt sich die Situation hingegen für Paar B dar. Um dieses Problem zu lösen, müsste er ihrer Ansicht nach erst einmal lernen, nicht so heftig zu reagieren und mehr Vertrauen zu ihr zu entwickeln. Seiner Ansicht nach wiederum müsste sie erst einmal lernen, rücksichtsvoller beziehungsweise weniger egozentrisch zu sein, bevor sich das Problem wirklich lösen lässt. Es liegen also wohl beste Voraussetzungen für ein ewiges Problem vor! Wie aber lässt sich nun mit Psychosomatischer Intelligenz an die geschilderte Konfliktlage herangehen? Wieder einmal können wir Spüren und Denken nützen. Gedanklich lässt sich vorerst einmal einschätzen oder auch klären, welche Art von Problem – lösbar oder ewig – im gegebenen Fall vorliegen dürfte. Handelt es sich um ein lösbares Problem und sind beide Beteiligten an einer Lösung auch tatsächlich interessiert, dann wird sich vermutlich auch ein Erfolg versprechender Lösungsweg finden lassen. Spricht hingegen alles dafür, dass es sich um ein sogenanntes ewiges Problem handeln könnte, dann zählt in erster Linie die Erkenntnis, dass dauerhafte Partnerschaften eben auch mit dauerhaften Persönlichkeitszügen der Partnerin beziehungsweise des Partners konfrontieren. Diese Persönlichkeitszüge haben wiederum etwas mit den jeweiligen lebensgeschichtlichen Hintergründen zu tun und sind daher auch nicht so ohne weiteres veränderbar. Spürend kann ich aber erfassen, wie viel mir eigentlich an meiner Partnerschaft liegt und wie sehr ich auch bereit bin, mich mit den besonderen Eigenschaften der Partnerin oder des Partners zu arrangieren. Denkend kann ich mir dann wiederum überlegen, wie es gelingen kann, mich persönlich klug auf die Tatsache einzustellen, dass gewaltige Veränderungen seiner oder ihrer Persönlichkeit wohl eher nicht zu erwarten sind. Gelingt es Paaren zwischen lösbaren und ewigen 78
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Problemen zu unterscheiden, können sie sich eventuell viele leere Kilometer an belastenden Auseinandersetzungen ersparen und vielleicht sogar lernen, ihre vermutlich unveränderliche Unterschiedlichkeit mit einem gewissen Verständnis füreinander und einer Prise Humor zu quittieren.
20. GEHEIMNISVOLLES DU
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ine unvorstellbar große Anzahl von Nervenzellen im Gehirn, es sind zirka 100 Milliarden, sind bei jeder und jedem von uns in ganz bestimmter Weise miteinander vernetzt. Damit bringen wir für all das, was unser bewusstes menschliches Leben ausmacht, enorm komplexe und gleichzeitig jeweils einzigartige biologische – im speziellen neurobiologische – Voraussetzungen mit. Nicht nur deswegen verläuft auch unsere individuelle Lebensgeschichte einzigartig. Somit ist auch der Erfahrungshintergrund, vor dem wir die Welt erleben, in mancher Hinsicht deutlich anders als bei anderen Menschen. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, wenn Pablo Picasso meinte: „Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen“. Gerade was den Bereich des subjektiven Erlebens betrifft, hat er damit wohl eher unter- als übertrieben. Denn aufgrund der jeweils einzigartigen Voraussetzungen, die wir für das Erleben unserer Wirklichkeit mitbringen, leben wir in unterschiedlichen subjektiven Wirklichkeiten. Demnach ließen sich also wohl fast unendlich viele verschiedene Bilder über ein und dasselbe Thema malen. Natürlich leben wir andererseits aufgrund des gemeinsamen kulturellen Raumes auch in einer gemeinsamen Wirklichkeit, wie sie etwa auch durch Erziehung und Sprache vermittelt wird. Gerade in Bezug auf jene Menschen unserer Umgebung, die uns wichtig sind, möchten wir uns aber trotz aller Einmaligkeit
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jeder Person natürlich doch einigermaßen auskennen, „wie eine bestimmte Person tickt“, und somit auch „wissen, woran wir bei ihr sind“. Dazu gehört auch, dass wir Vorstellungen zum Wesen und zur Persönlichkeit anderer Menschen entwickeln, die es uns dann wieder ermöglichen, begründete Vermutungen darüber anzustellen, wie sich eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation wahrscheinlich verhalten würde oder wird. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Persönlichkeitsforscher Lawrence Pervin mit den folgenden Überlegungen auch auf unseren Alltag: „Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Persönlichkeitspsychologen. Das heißt, wir alle entwickeln Vorstellungen über Menschen im Allgemeinen und finden Begriffe, um Menschen zu beschreiben und voneinander zu unterscheiden, sowie Regeln, um das Verhalten anderer verstehen und vorhersagen zu können. Selten werden wir uns dieser Vorstellungen und Regeln bewusst, aber sie gehen in unser Denken ein und beeinflussen unser Verhalten. Menschen, denen wir begegnen, beschreiben wir in Bezug auf ihre Persönlichkeit. Und auf der Grundlage unseres Eindrucks von ihnen urteilen wir schnell darüber, ob sie uns sympathisch sind oder nicht. Unser Umgang mit anderen Menschen wird, zumindest teilweise, davon bestimmt, was wir meinen auf der Grundlage der Einschätzung ihrer Persönlichkeit von ihnen erwarten zu können. Dies gilt für kleine Entscheidungen ebenso wie noch viel mehr, wenn es sich darum handelt, bedeutsame Lebensentscheidungen im Verhältnis zu anderen Menschen zu treffen. Den Rahmen, in dem wir uns dabei bewegen, machen wir uns weder bewusst noch öffnen wir ihn für eine ernstere Überprüfung. Im Alltag werden unsere Persönlichkeitstheorien gelebt, aber nicht wissenschaftlich überprüft.“ Wenn Lawrence Pervin davon spricht, dass wir andere Menschen auf der Grundlage unseres Eindrucks von ihnen beurteilen, dann spricht er damit auch das an, was sonst oft mit den Begriffen Intuition oder Gespür bezeichnet wird. Manche Menschen sprechen in diesem Zusammenhang auch von ihrem Bauchgefühl. 80
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10 Siehe dazu auch das Kapitel 5, Spüren und Denken, in dem die Begriffe Körpergedächtnis und Körper-Marker näher beschrieben sind. 81
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Intuition lässt sich als ein Ergebnis von Lernprozessen verstehen. Dieser Erfahrungsschatz ermöglicht uns das spontane Einordnen einer neuen Situation aufgrund bestimmter Ähnlichkeiten mit bereits Erlebtem. Solche Ähnlichkeiten gehen auch mit dem Auftauchen bestimmter körperlicher Zustände einher, die wir dann in die Beurteilung der neuen Situation einbeziehen. Denn in unserem Körpergedächtnis sind viele frühere Situationen eben auch mit bestimmten leiblichen Zuständen assoziiert und abgespeichert, oder man könnte auch sagen, markiert.10 So erhalten wir in der Folge auch leibliche Hinweise darauf, wie eine Situation vermutlich zu interpretieren ist. Diese Vorgänge müssen uns nicht einmal unbedingt bewusst werden. Wenn Menschen von ihren Bauchgefühlen sprechen, dann können sie also solche körperlichen Hinweise meinen, die sie spontan, etwa in Bezug auf die Einschätzung von anderen Personen, in die eine oder andere Richtung denken lassen. Auch diese intuitiven Fähigkeiten lassen sich übrigens trainieren, sodass wir uns, wenn wir uns etwa in einem bestimmten Bereich eine gewisse Expertise erworben haben, auch besser auf unser Gespür verlassen können. Ebenso allerdings können wir durch unsere intuitiven Fähigkeiten in die Irre geführt werden. Auch wenn wir also spüren, was Sache ist, können unsere daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen dennoch falsch sein. Dies ist aber keineswegs ein persönliches Versagen, das wir als Schande empfinden sollten, denn irren ist bekanntlich menschlich, aber es sollte uns im wahrsten Sinn des Wortes zu denken geben. Bestimmte Erfahrungen und bestimmte Vorannahmen führen häufig zu Vorurteilen gegenüber anderen Menschen, die uns möglicherweise auch aufgrund unseres Gespürs und unserer Intuition als gerechtfertigt erscheinen. Im Allgemeinen funktionieren Vorurteile ja in beide Richtungen: Wir können das geheimnisvolle Du schön oder schlecht färben. Dazu drei Bei-
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spiele, die so bekannt sind, dass sie wohl keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Häufig statten Verliebte die Person ihres Begehrens mit den besten Eigenschaften aus. Im Laufe einer längeren Partnerschaft erfolgt eine solche Einschätzung dann oftmals differenzierter und mit mehr Realitätsbezug. Doch während eine gewisse verklärte Wahrnehmung der Wirklichkeit den Verliebten gleichsam passiert und sie dabei auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen ihren beiden Persönlichkeiten fantasieren können, die es so vielleicht gar nicht gibt, gehört andererseits wohl auch bewusstes Tarnen und Täuschen zum menschlichen Verhaltensrepertoire. So legen es manche Menschen ganz gezielt darauf an, sich selbst in den Augen des Gegenübers schön zu färben, um dadurch entsprechend wahrgenommen zu werden – eine Taktik, die oft nicht nur das Erscheinungsbild betrifft. Negative Vorurteile sind allerdings mindestens ebenso bedeutungsvoll. Menschen, denen wir mit solchen Vorurteilen begegnen, erhalten oft gar keine Chance, dass wir unsere Ansichten über sie korrigieren könnten. Denn wenn wir etwa von vornherein jeden Kontakt zu Menschen aus anderen Kulturkreisen meiden, wie sollten wir dann überhaupt Erfahrungen mit ihnen sammeln, die unsere Vorurteile potentiell korrigieren könnten und so vielleicht die Möglichkeit eröffnen würden, über den Schatten der eigenen Intuition und des eigenen Gespürs zu springen? Auf seine Lebenszeit bezogen hat Albert Einstein – leider verständlicherweise – gemeint: „Welch triste Epoche, in der es leichter ist, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil!“ Wir verfügen zwar über ein analytisches und daher prinzipiell auch kritisches Denkvermögen, aber das bedeutet noch keineswegs, dass wir es auch dann zu nützen wissen, wenn wir geneigt sind, unserer Intuition beziehungsweise unserem Bauchgefühl in Bezug auf andere Menschen vielleicht blind zu vertrauen, egal, ob wir sie dadurch nun schön oder schlecht färben. Unser intuitives Wahrnehmen und Bewerten kann uns also wie gesagt wertvolle Orientierung bieten und lässt uns im Alltag 82
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als private Persönlichkeitspsychologen mehr oder weniger reüssieren. Unser Bauchgefühl kann aber auch dazu führen, dass wir unsere Sicht der Welt einzig auf unsere aktuellen Gefühle oder bestimmte Glaubenssätze und Vorannahmen stützen, ohne diese kritisch und wohl auch selbstkritisch zu hinterfragen. Was also ist zu tun? Wie wäre es mit Spüren und Denken? Gerade wenn viel auf dem Spiel steht, könnten wir unsere intuitiven Impulse, selbst wenn wir klare Signale aus dem Bauch bekommen, einer kritischen gedanklichen Überprüfung unterziehen. Die Geschichte der Menschheit ist leider voll von Beispielen, in denen das kritische Denkvermögen – möglicherweise aber auch der Handlungsspielraum – offenbar nicht dazu gereicht haben, um etwa zu verhindern, dass Menschen mit diktatorischen Zügen immer wieder in Machtpositionen gelangen und über unzählige Menschen Unglück bringen konnten. Nach diesen durchaus ernsten Gedanken im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Du möchte ich nun gerne auch den dritten Teil dieses Buches mit einer zusammenfassenden Überlegung beschließen. Wenn uns das Leben miteinander schwer fällt, so liegt dies häufig an jenen Unterschieden, die uns jeweils als einzigartige Wesen auszeichnen. Die Qualität des Umgangs mit diesen individuellen Unterschieden zieht sich daher auch als ein verbindendes Element durch diesen Teil des Buches, der dem miteinander Leben gewidmet ist. Wir können gar nicht anders, als die individuelle Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und auch in irgendeiner Weise zu bewerten. Dies schon allein deswegen, weil wir immer als ganze Person auf unsere Umgebung und damit auch auf andere Menschen reagieren. Wie gesagt reagieren wir nicht nur psychisch und sozial, sondern auch körperlich aufeinander. Beachten Sie doch gelegentlich auch die Qualität Ihres Umgangs mit diesen individuellen Unterschiedlichkeiten! Wenn Sie Ähnlichkeiten oder Unterschiedlichkeiten bei anderen wahrnehmen, wie wirkt sich das auf Ihren Umgang mit der jeweiligen Person aus?
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Nützen wir Spüren und Denken doch auch in Bezug auf unser soziales Leben als einander kritisch prüfende Instrumente der Beurteilung und Selbstbeurteilung! Dies könnte für uns selbst wie auch für die uns wichtigen Anderen von Vorteil sein. Denn das, was der Philosoph Martin Buber mit wenigen Worten so treffend zum Ausdruck bringt, gilt sicherlich schon von frühester Kindheit an, zieht sich durch das Erwachsenenleben und hört auch im hohen Alter keineswegs auf: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
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Mit Psychosomatischer Intelligenz ... ... Kompliziertes vereinfachen „Man kann nicht zwei Pferde mit einem Hintern reiten.“ Woody Allen
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n so gut wie jedes Thema können wir entweder sehr umfassend und differenziert herangehen oder wir können versuchen, im Umgang mit diesem Thema Kompliziertes zu vereinfachen. Im vorhergehenden Kapitel habe ich dazu angeregt, möglicherweise falsche Vorurteile kritisch zu beleuchten und zu reflektieren, scheinbar klare Zusammenhänge und einfache Schlussfolgerungen also gelegentlich genau zu hinterfragen. Im Hinblick auf die Fallstricke privater Persönlichkeitspsychologie kann es sich als ausgesprochen sinnvoll erweisen, der Komplexität dieses Bereiches Rechnung zu tragen und die eigenen spontanen Annahmen kritisch und selbstkritisch zu beleuchten. Um also zu verhindern, dass wir uns in einer anderen Person oder auch in Bezug auf uns selbst allzu sehr täuschen, zahlt es sich gelegentlich wohl aus, bestimmte Vermutungen und Vorannahmen in Frage zu stellen, auch wenn wir uns dadurch selbst etwas mehr an geistiger Anstrengung aufbürden. In diesem letzten Teil des Buches wird nun der umgekehrte Weg eingeschlagen. Es geht nämlich darum, beispielhaft ein paar wenige, durchaus auch komplizierte Themenbereiche so zu vereinfachen, dass es möglicherweise leichter fällt, aus einer verwirrenden Flut an vorhandenen Informationen einfache und persönlich geeignete Schlüsse zu ziehen.
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Ganz generell lässt sich die Komplexität eines jeden Themas ja sowohl erhöhen als auch reduzieren. Beides kann prinzipiell seine Berechtigung haben. Die verbleibenden Kapitel stehen also unter dem Motto Kompliziertes vereinfachen. Konkret geht es dabei um die folgenden drei Themen, mit denen mittels Psychosomatischer Intelligenz wohl etwas einfacher und zielführender als sonst oft üblich umgegangen werden kann: •
Wie kann es gelingen, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, gute Entscheidungen zu treffen?
•
Wie können wir neben allen bekannten Empfehlungen auch auf einfachem Weg zu unserer Gesundheit beitragen?
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Und schließlich, wie lässt sich die Botschaft dieses Buches für die Umsetzung im Alltag auf den Punkt bringen?
Komplizierte Themenbereiche? Wie gesagt, ja und nein. Wenden wir uns zuerst der Frage zu, wie es gelingen kann, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, gute Entscheidungen zu treffen. Dabei soll das Ziel verfolgt werden, das Zustandekommen von sowohl realistischen als auch persönlich passenden Entscheidungen zu begünstigen. Sicherlich wird es Sie nicht überraschen, wenn ich auch in diesem Zusammenhang auf das bewusste Einbeziehen von Spüren und Denken in den Entscheidungsprozess zu sprechen komme. Doch eine Einschränkung vorweg: Natürlich gibt es auch unter Nutzung Psychosomatischer Intelligenz keineswegs eine Garantie für richtige Entscheidungen. Wir können lediglich versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten und dank der eigenen Psychosomatischen Intelligenz die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, gute Entscheidungen zu treffen. In bestimmten Situationen vorauszudenken ist wahrscheinlich für alle von uns ein vertrauter Vorgang. Wenn am Armaturenbrett des Autos die Tankanzeige signalisiert, dass wir auf Reserve fahren, stellt sich meist ganz automatisch der Gedanke ein, 86
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wann und wo wir demnächst auftanken werden. Es ist eine ganz banale und dennoch nicht unbedeutende Entscheidungssituation, die in diesem Zusammenhang auf uns zukommt. Auch wenn wir einkaufen gehen, denken viele im Voraus darüber nach, was sie tatsächlich brauchen könnten. Ähnlich, vermutlich allerdings noch intensiver, befassen wir uns mit dieser Frage, wenn wir etwa die Koffer für den Urlaub packen. Wir haben also beim Treffen von Entscheidungen sicherlich schon oft vorausgedacht. Ist Ihnen aber ebenso bewusst, dass Sie höchstwahrscheinlich auch schon oft vorausgespürt haben, bevor Sie Ihre Entscheidungen treffen? Wenn wir mehr oder weniger wichtige Überlegungen und Fragen, die unsere Zukunft betreffen, anstellen, dann entwickeln wir häufig Vorstellungen und Fantasien darüber, wie es wäre, wenn wir dies oder jenes täten oder wenn diese oder jene Situation eintreten würde. Auch dazu ein allgemein geläufiges Beispiel: Wie schaut es etwa mit der Wahl der nächsten Urlaubsdestination aus? Angenommen, Sie würden sich überlegen, ob Sie Ihren nächsten Urlaub in der Türkei oder in Griechenland verbringen wollen, und Sie hätten eines oder beide dieser Länder auch schon bereist. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden Ihre früheren Erfahrungen mit diesem Reiseziel wieder wach werden. Dabei würde auch Ihr sogenanntes Körpergedächtnis, von dem ich schon erzählt habe, beteiligt sein, nachdem sich diese Vorerfahrungen ja auch als körperliche Erinnerungen abgespeichert haben. Möglicherweise würden Sie sogar bewusst „hinspüren“, wie es vermutlich wäre, bald wieder in Griechenland zu sein. Dasselbe könnten Sie dann in Bezug auf die Türkei „erleben“. Wahrscheinlich entsteht in der Folge sehr spontan, nämlich intuitiv, eine gewisse Präferenz für dieses oder jenes Urlaubsland. Natürlich hat auch unser Verstand bei der Wahl des nächsten Urlaubsziels ein gewichtiges Wort mitzureden, angefangen etwa bei der Kalkulation der jeweiligen Reisekosten. Die meisten Entscheidungen fällt letztendlich aber wohl nicht der Verstand allein.
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Das beschriebene „Hinspüren“ zu möglichen zukünftigen Szenarien steht uns prinzipiell für so gut wie alle Entscheidungen zur Verfügung und kann uns mit wichtigen Informationen ausstatten. Ich möchte es nochmals betonen: Natürlich bringt auch das bewusste Einbeziehen des Spürens in den Entscheidungsprozess keineswegs eine Garantie mit sich, dass wir schließlich zur bestmöglichen Entscheidung finden. Aber die Wahrscheinlichkeit, eine sowohl persönlich passende als auch eine realistische Entscheidung zu treffen, dürfte sich um einiges erhöhen, wenn wir sowohl bewusst vorausspüren als auch, die Situation analysierend, vorausdenken. Sollten wir uns schließlich dennoch getäuscht haben, dann wird sich diese ent-täuschende Erfahrung zusätzlich zu den früheren Erfahrungen ebenfalls in uns abspeichern, unsere Fehleinschätzung korrigieren helfen und uns so für eine nächste ähnliche Entscheidungssituation möglicherweise in eine etwas verbesserte Ausgangsposition bringen. Wer würde schon gerne auf die Fähigkeit verzichten wollen, gezielt vorausdenken zu können? Warum also sollten wir es bezüglich des bewussten Vorausspürens anders halten? Allerdings können sich aus der bewussten Einbeziehung des Spürens in den Entscheidungsprozess auch neue Probleme ergeben. Denn Spüren und Denken werden möglicherweise gegensätzliche Entscheidungen nahe legen. Auch Herz und Verstand müssen nicht immer in die gleiche Richtung weisen. Es ist natürlich nicht möglich, ein auf die unterschiedlichsten Situationen anwendbares Patentrezept für gute Entscheidungsprozesse zu liefern, aber ich möchte doch einige Überlegungen anstellen, die Sie im Bedarfsfall vielleicht als Anregungen nützen können. Wenn Sie sich in uneindeutigen Entscheidungssituationen befinden: •
Lassen Sie die Dinge doch einfach einmal auf sich wirken!
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Welche Gefühle und Gedanken tauchen dabei auf, wenn Sie sich mit der einen und wenn Sie sich mit einer anderen Entscheidungsvariante befassen? Erkunden Sie die jeweilige 88
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Kernbotschaft, die Ihnen Ihre Empfindungswelt nahe legt, und jene, die Ihnen Ihr analytisches Denkvermögen vermittelt! Ergeben sich daraus für Sie Prioritäten, die in die eine oder in die andere Richtung weisen? Erscheint Ihnen also im konkreten Fall die Kernbotschaft Ihres Spürens oder jene Ihres Denkens wichtiger? Überlegen Sie auch, wie es im Falle dieser oder jener Entscheidung vielleicht in einem Monat oder in einem Jahr aussehen könnte!
Natürlich können wir nicht wissen, was die Zukunft tatsächlich für uns bereithält und wie sich eine bestimmte Entscheidung längerfristig auswirken wird. Aber die soeben beschriebene Fähigkeit zur sogenannten Antizipation ist vermutlich die bestmögliche Annäherung daran, wie sich die Konsequenzen des einen und des anderen Entscheidungsweges auf uns persönlich auswirken könnten. Vielleicht gibt es aber auch ganz andere, kreative Lösungsvarianten, an die Sie bisher noch gar nicht gedacht haben, und vielleicht sogar solche, die es ermöglichen, die Vorteile verschiedener Optionen miteinander zu verbinden. Manchmal mag es bei unklaren Situationen aber auch überlegenswert sein, eine Entscheidung überhaupt aufzuschieben und einfach zur Kenntnis zu nehmen, dass es derzeit wohl noch zu früh dafür ist, sich mit klarem Verstand und voller Überzeugung für dies oder jenes zu entscheiden. Manchmal wiederum ist es einfach nicht vertretbar, keine Entscheidung zu treffen oder eine solche zu lange hinauszuzögern. Dann ist es vielleicht erforderlich, auch ein gewisses Risiko für eine Fehlentscheidung in Kauf zu nehmen. Wenn sich die getroffene Entscheidung rückblickend tatsächlich als Fehler herausstellt, sollten wir uns natürlich auch zu einer solchen Fehleinschätzung bekennen. Sie wiegt vielleicht weniger schwer, wenn wir uns vorher ernsthaft um eine richtige Entscheidung bemüht haben, und vielleicht können wir auch aus ihr etwas ler89
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nen. Genau dazu hat jedenfalls einst Sir Winston Churchill ermutigt, als er meinte: „Es ist von großem Vorteil, die Fehler, aus denen man lernen kann, recht frühzeitig zu machen.“
22. WENN WIR UNS GESUNDHEIT WÜNSCHEN
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ir kennen das: Jemand niest und wir wünschen dieser Person: „Gesundheit!“ Dieser Wunsch ist nur eine symbolische Geste und gleichzeitig doch mehr als ein bloßer Akt der Höflichkeit, weil die Qualität unseres Umgangs miteinander wesentlichen Einfluss auf unsere Gesundheit hat. Menschen, die sich in einem für sie guten sozialen Netz befinden, ob Freundeskreis, Familie oder beides, erfahren soziale Unterstützung und sozialen Rückhalt. Dies sind besonders wichtige Schutzfaktoren für die Gesundheit. Auch das Erleben von sozialer Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Dennoch steht hinsichtlich der Frage, wie wir uns gesund erhalten können, die Qualität unseres sozialen Lebens und der Beitrag, den diese zu unserem Wohlbefinden leistet, kaum jemals im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Stattdessen wird das Thema Gesundheit im Allgemeinen mit Anregungen zu gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung abgehandelt, ergänzt durch eine Reihe weiterer spezifischer Empfehlungen, zu denen unter anderem die folgenden zählen: Rauchen Sie nicht! Schützen Sie sich vor starkem Sonnenlicht! Gehen Sie zu Krebsvorsorgeuntersuchungen! Solche Tipps zu beherzigen ist zwar durchaus empfehlenswert, allerdings sind sie für manche Menschen ungleich schwieriger zu befolgen als für andere. Beispielsweise spielen Wohlstand und Armut dabei eine gewichtige Rolle, weil sie unsere gesamten Lebensumstände und damit auch das individuelle Gesund90
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heitsverhalten beeinflussen. Es hängt also auch von unseren persönlichen Rahmenbedingungen ab, ob gut gemeinte Ratschläge zur Erhaltung der Gesundheit im Einzelfall auch wirklich gut umsetzbar sind. In solchen Zusammenhängen ist daher auch die Politik gefordert, für möglichst faire Ausgangsbedingungen zu sorgen. Es gibt aber noch weitere Faktoren, die sich ebenfalls nachweislich auf unsere Gesundheit auswirken, etwa die sogenannte Selbstaufmerksamkeit. Fehlt nämlich ein gewisses Maß an Selbstaufmerksamkeit dem eigenen Organismus gegenüber, wird eine eventuell vorhandene Stresssituation nicht ausreichend wahrgenommen und bestimmte Alarmreaktionen des Körpers werden nicht registriert. Dadurch kann auf diese Signale auch nicht adäquat reagiert werden und die vielleicht bereits allzu großen persönlichen Belastungen können sich entsprechend schädlich auf die Gesundheit auswirken. Im Unterschied dazu werden Personen mit mehr Selbstaufmerksamkeit ihren Stress eher wahrnehmen und frühzeitig gegensteuern können. Wie schon einmal ausgeführt, kann es aber natürlich auch ein Zuviel an Selbstaufmerksamkeit geben, sodass in diesem Fall auch ganz gewöhnliche körperliche Signale unnötig viel Aufmerksamkeit erhalten, oft aus der Sorge heraus, sie könnten auf eine bedrohliche Erkrankung hinweisen. Um nun Kompliziertes zu vereinfachen: Was also ist unter Berücksichtigung aller genannten Faktoren zu tun, wenn wir uns für uns selbst Gesundheit wünschen? Leider können wir ja Gesundheit nicht direkt spüren, jedenfalls nicht so, wie man es etwa spürt, wenn man sich an einer heißen Herdplatte die Finger verbrennt. Allerdings können wir spüren, ob „alles in Ordnung ist.“ Von dieser Ansicht, der ich mich gerne anschließe, geht jedenfalls der Anthropologe Gregory Bateson aus, wenn er schreibt:
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K „Im Kern unseres Erlebens gibt es ein Gefühl für die Qualität „heil“, „ganz“, „integriert“. Dieses Gefühl überwacht vom ersten Augenblick unseres Daseins die Einheit des Überlebens aus Organismus und Umwelt.“ Falls dem so ist, wie Gregory Bateson dies vermutet, dann können wir prinzipiell jederzeit gerade auch durch das, was wir spüren, wertvolle Informationen über uns selbst und unsere Umwelt erhalten. Diese Informationen sollten uns dann dabei behilflich sein zu verstehen, warum wir uns einmal stimmig und ganz fühlen und dann wieder nicht. Dann erfordert es zusätzlich eine gewisse Denkleistung, um aus solchen Informationen die geeigneten Schlüsse zu ziehen. Wenn wir etwa registrieren, welche unserer Aktivitäten zu einem Gefühl des Ganz- und Integriertseins beitragen, dann werden uns diese Aktivitäten vermutlich nicht bloß Freude und Lust bereiten, sondern können auch zu unserer Gesundheit beitragen, zumindest sofern wir ihnen relativ regelmäßig nachkommen. Denn durch Aktivitäten, die unseren Interessen und Fähigkeiten entsprechen, seien sie nun eher auf der geistigen oder mehr auf der körperlichen Ebene angesiedelt, trainieren wir genau diese Körpersysteme, die dabei konkret zum Einsatz kommen. So fördern wir unsere diesbezügliche Fitness und damit wohl auch unsere Gesundheit. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Fähigkeiten, die der eigene Organismus uns zur Verfügung stellt, ob körperlicher, psychischer oder sozialer Natur, prinzipiell allesamt genützt werden wollen. Je intensiver wir sie nützen, desto kompetenter und leistungsfähiger werden wir schließlich in diesen einzelnen Bereichen. Bei Kleinkindern mit ihrem natürlichen Bewegungsdrang und ihrer Neugier auf die Welt ist dieses Bedürfnis nach Einsatz, Erprobung und Weiterentwicklung aller Fähigkeiten ohnedies ganz augenscheinlich. Gerade in Bezug auf unser Bewegungsbedürfnis habe ich in meiner beruflichen Tätigkeit aber auch von bettlägerigen Erwachsenen oft genug geschildert bekom92
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men, wie sehr sie sich danach sehnen, wieder aufstehen, sich bewegen und gehen zu können. Ebenso wird bei Menschen, die etwa nach einer Operation für eine gewisse Zeit das Bett nicht verlassen dürfen, genau dieser Umstand häufig zur größten Belastung. Daher bin ich trotz der nicht selten geäußerten Aussage, dass Bewegung ja nur mühsam sei, eigentlich auch davon überzeugt, dass wir in jedem Alter ein gewisses Maß an Bewegung prinzipiell positiv erleben. Wenn wir uns von einem Gefühl des Ganz- und Integriertseins leiten lassen können und so vielleicht auch im Alltag der uns gemäßen Freude an Bewegung, an geistigen Anregungen und an der innigen Begegnung mit anderen Zeit und Raum geben, dann stärken wir ganz nebenbei auch noch unsere Gesundheit. Diese Betrachtungsweise mag als ein allzu einfacher Zugang zu einem gesunden Lebensstil erscheinen. Vielleicht stellt sie dennoch eine berechtigte Ergänzung zu all den anderen Empfehlungen zum Thema Gesundheit dar. Denn sie könnte es erleichtern, den Alltag gleichzeitig persönlich angenehm und für die Gesundheit förderlich zu gestalten, ohne deswegen das Thema Gesundheit krampfhaft in den Mittelpunkt rücken zu müssen. So können wir Gesundheit als ein Thema auffassen, um das wir uns neben all den Anforderungen des Alltags auch noch zu kümmern haben, wir können Gesundheit aber ebenso als einen erfreulichen Nebeneffekt eines persönlich passenden beziehungsweise verträglichen Lebensstils verstehen. Leider wird auch ein solcher Lebensstil nicht generell verhindern können, irgendwann, früher oder später, auch mit dem Auftreten von Krankheit konfrontiert zu sein. Bleiben wir also auch diesbezüglich realistisch!
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23. SICH EINLASSEN – SICH LOSLASSEN
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erstin ist 24. Sie hat den Abschluss ihrer Diplomarbeit in Biologie vor sich und soll darüber in einigen Monaten eine Prüfung ablegen. Als ihr von ihrem Professor, der sie bei dieser Diplomarbeit betreut, angeboten wird, bereits in drei Monaten zu dieser Prüfung anzutreten, teilt sie ihm mit, dass sie sich eventuell einer Operation unterziehen müsse und in diesem Fall einen so frühen Termin wohl nicht würde wahrnehmen können. Eigentlich ist Kerstin ein Energiebündel und sie betreibt normalerweise alles, was sie angeht, mit großem Nachdruck. Seit zirka einem Jahr bekommt sie allerdings in gewissen Abständen immer wieder bakterielle Halsentzündungen und ihre Mandeln sind dann eitrig belegt. Abgesehen von ein wenig Halsweh verspürt sie dabei aber keinerlei gröbere Beschwerden. Dennoch wird ihr nunmehr von ärztlicher Seite angeraten, sich ihre stark zerklüfteten Mandeln möglichst bald entfernen zu lassen. „Die Ärzte meinen, sonst würde ich wahrscheinlich immer wieder solche Infektionen bekommen und das kann dann sogar auf das Herz gehen. Und außerdem muss ich jedes Mal Antibiotika einnehmen. Jetzt warte ich einmal ab, ob ich noch einmal so eine Entzündung bekomme. Wenn das der Fall ist, dann werde ich mich wahrscheinlich wirklich gleich operieren lassen.“ Als mir Kerstin dies erzählt, erkundige ich mich, ob sie abgesehen davon, dass ihre Mandeln stark zerklüftet sind, zusätzlich eine Idee habe, wieso diese wiederholten Infektionen seit einem Jahr bei ihr auftreten. „Das weiß ich nicht genau. Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass es auch etwas damit zu tun hat, dass es mir nicht leicht fällt, richtig abzuschalten.“ „Wie ist das genau, wenn Sie nicht abschalten können?“ „Nun, ich komme nie ganz zur Ruhe. Auch wenn ich einmal nichts zu tun habe, drehen sich meine Gedanken ständig wei94
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Ob Kerstins derzeitige Neigung zu infektiösen Rachenentzündungen auch etwas damit zu tun hat, dass sie schlecht zur Ruhe kommt, muss zwar genau genommen offen bleiben, ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. So wertvoll und wünschenswert es einerseits ist, eigene Anliegen und Intentionen auch aktiv zu verfolgen und das eigene Leben entsprechend aktiv zu gestalten, so wichtig ist es andererseits, die eigenen Aktivitäten gelegentlich auch wieder einzustellen und sich Erholung zu gönnen. In solchen Erholungsphasen kann sich der Organismus wieder regenerieren. Tatsächlich brauchen wir beides: Sich einlassen können und wieder loslassen können. Ähnlich wie sich Ein- und Ausatmen ergänzen und ebenso der Schlaf-Wachrhythmus, so sollten auch Phasen der Aktivität mit Phasen der Entspannung abwechseln. Für manche Menschen ist es sicherlich wichtig, dass sie lernen, ihr Leben aktiver und offensiver zu gestalten und ihre eigenen Anliegen endlich auch mit dem entsprechenden Nachdruck und mit Kreativität und Konsequenz zu verfolgen. Für viele andere geht es hingegen darum, von der Vielzahl ihrer Aktivitäten gelegentlich auch wieder einmal loszukommen. Menschen, denen es immer wieder gelingt, sich von ihren Aktivitäten auch gut zu erholen, sind, wie aus der Stressforschung bekannt ist, widerstandsfähiger gegen verschiedenste Belastungen wie gegen verschiedenste Krankheitserreger. Der Organismus ist dann insgesamt in einer besseren Ausgangssituation und psychisch und körperlich entsprechend stabil. Natürlich ist auch das subjektive Wohlbefinden höher, die Konzentrations- und Merkfähigkeit sind besser und ebenso ist das
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ter. Das ist sehr anstrengend. Die Gedanken kreisen dann um alle möglichen Themen. Und ich weiß nicht, wie ich das stoppen könnte. Aber von Gesprächen mit Freundinnen und Freunden weiß ich, dass ich bei weitem nicht die einzige bin, der es so geht. Ich denke mir halt, das könnte mein Immunsystem auch belasten, wenn ich nie zur Ruhe komme.“
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Immunsystem leistungsfähiger als bei Menschen, die nie zur Ruhe kommen. Wie aber kann es jenen, die sich so schwer damit tun zu entspannen, gelingen, wenigstens gelegentlich möglichst ganz abzuschalten? Auch hierbei bedarf es sicherlich wieder individueller Lösungen. Einige der Antworten, die ich von einzelnen Personen auf die Frage erhalten habe, wie es ihnen auch dann möglich ist, ganz abzuschalten, wenn sie unter Druck stehen, seien hier als Anregungen beispielhaft angeführt. Einer meiner Freunde etwa meinte auf diese Frage: „Ich muss dann einfach an die frische Luft. Etwas unternehmen. Manchmal habe ich dann ein besonderes Bedürfnis nach Bewegung und den Wunsch, mich körperlich zu verausgaben. Fußballspielen wirkt bei mir diesbezüglich Wunder!“ Eine Arbeitskollegin wiederum betonte: „Wenn ich nicht mehr abschalten kann, ist es am besten, wenn ich mit jemandem darüber spreche. Dabei wird mir meist selbst besser klar, warum ich so unter Druck stehe. Und so gewinne ich dann relativ rasch wieder einen gewissen inneren Abstand zu meiner Situation.“ Eine gute Bekannte schließlich meinte auf die gleiche Frage: „Wenn ich vor lauter Druck nicht mehr zur Ruhe komme, will ich am liebsten für mich allein sein. Und weißt du, was ich dann gerne mache? Ich schaue in den Himmel. Am liebsten liege ich dabei auf einer Wiese und schaue den Wolken zu. Wie früher als Kind. Und ich genieße es nach wie vor.“
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inmal noch möchte ich etwas, das durchaus kompliziert gesehen werden kann, so gut es geht vereinfachen. Es geht um die Frage, wie sich der Inhalt dieses Buches für die Umsetzung im Alltag auf den Punkt bringen lässt. Auch wenn das Konzept der Psychosomatischen Intelligenz eigentlich erst am Anfang seiner Erforschung steht, so habe ich mich mit dem Schreiben dieses Buches doch dazu entschlossen, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine konkrete Vorstellung davon zu vermitteln, wie wir gerade im Alltag Spüren und Denken als einander ergänzende Fähigkeiten nützen können. Anhand beispielhafter Erzählungen wollte ich verdeutlichen, dass wir aus den Signalen des Organismus und aus dem Zusammenspiel von Spüren und Denken persönlich wichtige Informationen ableiten können.
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Vielleicht geht es nicht von heute auf morgen, sich selbst eine gewisse Expertise für das eigene Leben zuzugestehen. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass wir wohl alle über einen erheblichen Reichtum an Erfahrungen mit uns selbst und unserem Umfeld verfügen. Auf Basis dieser persönlichen Erfahrungen, die wir ja tagtäglich mit neuen ergänzen, sollte es jedenfalls prinzipiell möglich sein, sich selbst ausreichend gut kennen zu lernen und so über kurz oder lang von einer gewissen Expertenrolle für das eigene Leben ausgehen zu dürfen. Bitte beachten Sie dabei aber, dass eine solche Haltung sich selbst gegenüber nicht zur Belastung werden sollte, ganz im Gegenteil: Entscheiden Sie daher auch nach eigenem Ermessen,
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K Um es nun also auf den Punkt zu bringen: Es war und ist mir ein Anliegen, Sie mit diesem Buch dazu anzuregen, sich selbst auch als Expertin beziehungsweise als Experte für das eigene Leben zu verstehen und damit auch die eigenen Möglichkeiten und Grenzen ernst zu nehmen.
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wann Sie es für angebracht und vorteilhaft erachten, eine Situation spürend und denkend zu beurteilen! Nachdem wir es uns ja gestatten sollten, manchmal keine bestimmte Absicht zu verfolgen und uns stattdessen möglichst zur Ruhe kommen zu lassen, wäre ein ständiges bewusstes Spüren und Denken meiner Ansicht nach eher kontraproduktiv, äußerst anstrengend und daher auch nicht zu empfehlen. Das sogenannte moderne Leben fordert unsere Aufmerksamkeit ohnedies in einem bislang noch nie dagewesenen Ausmaß. Dieser Trend wird sich vermutlich fortsetzen. Während wir es uns also einerseits gönnen sollten, auch einmal ganz abzuschalten, sollten wir uns andererseits doch auch ein gewisses Maß an Selbstaufmerksamkeit erhalten, um wichtige Signale des eigenen Organismus registrieren zu können. Wer etwa mit sich selbst soweit klar kommt, dass er oder sie ein Mehr oder Weniger an Stimmigkeit und Ganz-Sein empfinden und als persönliche Orientierung nützen kann, wird sich vermutlich auch in den eigenen sozialen Rollen leichter tun als jemand, der die Lösungen immer nur draußen sucht und daher auch die eigene Aufmerksamkeit nur nach außen lenkt. Umgekehrt sollten wir allerdings auch nicht zögern, Hilfe von außen anzunehmen, wenn uns dies angebracht erscheint. Bekanntlich lautet die wissenschaftliche Bezeichnung für den modernen Menschen homo sapiens. Sie leitet sich aus dem Lateinischen von homo für Mensch und von sapiens für weise oder vernunftbegabt ab. Wofür dieses sapiens allerdings wirklich steht, ist nach wie vor umstritten. Dies ist nicht weiter verwunderlich, ist doch auch insgesamt das Selbstverständnis des Menschen einem stetigen Wandel unterworfen. Auch in der Diskussion um Emotionale Intelligenz verdeutlicht sich dieser Wandel und aktualisiert gleichzeitig die Frage nach dem Inhalt dieses sapiens. Sollte damit ausschließlich die Vernunft des Menschen gemeint sein, und wenn dem so ist, wären dann unsere anderen menschlichen Fähigkeiten nur untergeordnet bedeutsam? Oder könnte uns die 98
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Bezeichnung sapiens auch dazu ermutigen, unsere vielen Fähigkeiten mit ihren jeweils wichtigen Funktionen für den Organismus möglichst umfassend zu verstehen, zu fördern und gezielt zu nützen? Auf einem solch ganzheitlichen Verständnis von sapiens jedenfalls beruht Psychosomatische Intelligenz. Diese spezielle Begabung könnte und sollte es uns ein wenig erleichtern, den Alltag persönlich intelligent und damit auch mitmenschlich intelligent zu gestalten: uns, unserem Umfeld, unseren Nachkommen zuliebe.
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DANKSAGUNG
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D ANKSAGUNG
iele Menschen aus meinem privaten und beruflichen Umfeld haben ganz wesentlich zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Ohne hier alle namentlich nennen zu wollen, möchte ich mich doch bei ihnen allen an dieser Stelle sehr, sehr herzlich für ihre Unterstützung, Ermutigung, Kritik und Inspiration bedanken! Zwei Personen haben an diesem Buch in besonderer Funktion mitgewirkt. Das feine Gespür für Sprache von Sigrid WeißLutz kenne ich seit unserer gemeinsamen Mittelschulzeit. Ihr verdanke ich die wertvolle abschließende Durchsicht des Textes. Mein spezieller Dank richtet sich auch an Renate Eichhorn von SpringerWienNewYork für ihre erneut ebenso persönliche wie unkomplizierte Unterstützung!
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WEITERFÜHRENDE LITERATUR Bateson G (2001) Ökologie des Geistes. 8. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt/Main Bauer J (2005) Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hoffmann & Campe, Hamburg Bauer J (2007) Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. 9. Aufl. Piper, München Zürich Clement U (2006) Systemische Sexualtherapie. 3. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Damasio AR (2001) Descartes‘ Irrtum. 6. Aufl. dtv, München Fazekas C (2006) Psychosomatische Intelligenz. Spüren und Denken – ein Doppelleben. Springer, Wien New York Gladwell M (2005) Blink! Die Macht des Moments. Campus, Frankfurt/Main Goleman D (1998) Emotionale Intelligenz. 6. Aufl. dtv, München Gottman JM (2002) Die 7 Geheimnisse der glücklichen Ehe. Ullstein, München
Kandel ER (2006) Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt/Main Neubauer A, Stern E (2007) Lernen macht intelligent. Warum Begabung gefördert werden muss. Deutsche Verlags-Anstalt, München Pervin LA (1993) Persönlichkeitstheorien. Ernst Reinhardt, München
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WEITER FÜHRENDE L ITERATUR
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WEITER FÜHRENDE L ITERATUR
Wallerstein J, Blakeslee S (1997) Gute Ehen. Wie und warum die Liebe dauert. Beltz, Weinheim
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