P A U
L
M AA S
TEXTKRITIK
2., VERBESSERTE
UND VERMEHRTE AUFLAGE
B.G.TEUBNER VERLAGSGESELLSCHAFT . LEIPZIG 1950
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P A U
L
M AA S
TEXTKRITIK
2., VERBESSERTE
UND VERMEHRTE AUFLAGE
B.G.TEUBNER VERLAGSGESELLSCHAFT . LEIPZIG 1950
Die erste Auflage erschien im gleichen Verlag
1927
als Teil
7
von
Gercke-Norden. Einleitung in die Altertumswissenschaft Bd.
I. 3.
Aufl.
Printed in Germany
Satz
und Druck: B. G. Teubner,
Leipzig
C
I. PostUr.
3
-
T
3507
Vorrede
zur zweiten
Auflage
Die erste Auflage dieses Abrisses (erschienen 1927) wurde 1929 von GPasquali sehr eingehend und freundlich besprochen (Gnomon 5 , 417fI.). Die anschließenden selbständigen Forschungen Pasqualis (Gnomon 5, 498fI. und Storia della tradizione e critica deI testo,1934) bewegen sich vorwiegend auf nahverwandten, aber von meiner Dar stellung ausgeschlossenen Gebieten, dem der speziellen überliefe rungsgeschichte und dem der kontaminierten. also nicht methodisch entwirrbaren überlieferung. Ich selbst habe 1937 eine kurze Grund legung der' Stemmatik' veröffentlicht ('Leitfehler und stemmatische Typen', ByzZ. 37, 289ff.) und 1936--38 bei der Vorbereitung von
W Quandts kritischer Ausgabe der Hymni Orphici (1941) mitgewirkt. Eine knappe übersicht gebe ich im Oxford Classical Dictionary (1949) s.
v.
Textual Criticism; dort auch ein Hinweis auf verwandte Probleme
im Text von Shakespeare. In der vorliegenden zweiten Auflage ist der Text der ersten mit meh reren Änderungen wiederholt. Einige Zusätze sind durch [- 1949} kenntlich gemacht. Der erwähnte Aufsatz über die Leitfehler ,der sehr wenig Beachtung gefunden hat, ist als Anhang beigefügt. Stofflich berührt er sich in vielem mit dem Kapitel 'Recensio'. aber die Be trachtungsweise ist so verschieden, daß es sich nicht empfahl, die Darstellungen ineinanderzuarbeiten. Oxford, Juli 1949 P.MAAS
1*
LITER AT UR
1. Theoretisches und Beispielsammlungen : ABoeckh, Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1877) 179-209
( postum ) .
FrBlaß in IvMüllers Handbuch I' (1892) 249-289. RJebb in LWhibley, Companion to Greek Studies (1906) 610-623. J PPost gate in JESandys, Co mpanion to Latin Studies (1910) 791-805. LHavet, Manuel de critique verbale appliquee aux textes latins (1911), 481 5., 40 (Hauptwerk, aber die wertvollen theoretischen Teile verschwinden in der Masse belan gloser oder ungeeig neter Beispiele ).
FWHall, Companion to Classical Texts (1913) 108-19B (hübsch g ewä hlte Beispiele, das ganze Werk, 3635., reich an nützlichen einschl ä gigen Zusammenstellungen; Havet nicht verwertet). HKantorowicz, E inf ührun g in die Textkritik. Systematische Darstell un g der textkritischen Grundsätze für Philologen und Juristen (1921), 60 S. (einzige zusammenhängende theoreti sche Darstellung, mehreres treffend formuliert; die Beispiele freilich, vorwiegend aus spätmit telalterlichen Juristentexten, sagen dem klassischen Philologen nichts; die Konjekturalkritik wird nur gestreift). GPasquali: s. oben (Vorrede).
2. Papyri: ELobel, Aus gabe n von Sappho, Alkaios, Kallimachos etc . (seit 1925). 3. Anla g e von kriti schen Au sgaben : OStählin, Editionstechnik, 2. Aufl. 1914 (vi el beherzigens werte praktische Winke); ADelatte et ASeveryns, Emploi des signes critiques, 1938, dazu UKnoche, GGA 202 (1940), 615-531. 4. Einzelne Autoren und Literaturgattungen betreffend: Grundlegend für das ganze Wissens
gebiet UvWilamowitz, Heralcles 11 (1889) = Einleitung in die griechische Tragödie (letzter Abdruck 1921) 121-258; f erner Wilamowitzens übrige Ausgaben und textgeschichtliche Unter suchun gen , z. B. Ai schylos , Euripides (außer Herakles noch Hippolytos und Ion), Platon, Menandros, Bukol iker, Kallimachos. - Von anderen neueren Ausgaben seien hervorgehoben: OSchroeders Pindaros (1900), AEHousmans Lucanus (1926) und RPfeiffers Kallimachos (vol. I, 1949).
A. GRUNDBEGRIFFE Ei g en h änd ige Niederschriften ( Au t o graph a ) der griechischen und lateinischen Klassiker besitzen wir nicht, auch keine Abschriften, die mit d em Origin al ver glichen sind , sondern nur solche Abschriften, die durch Vermittlung einer un beka nn ten Zahl von Zwischen abschriften aus dem Origiual a bgel e it et , also von fragwürdiger Zuverlässigkeit sind. Aufg a b e der Textkritik ist Herstellung eines dem Autograph (Original) mög lich st nahekommenden Textes ( c o n s t itu t i o text us) . 1.
Ein vom Verfa.sser revidiertes Diktat ist einer eigenhändigen Niederschrift gleichzusetzen.
Der originale Text ist im Ei n z e lfal l en tweder überliefert oder nicht überliefert. Zunächst ist also festzustellen, was als ü berl iefert gelten muß oder darf (r e c e n s i o) , und d an n ist diese überlieferung zu prü fen , ob sie als original gelten darf (e x a m i n a t i 0) ; erweist sie sich nicht als o rigi n al , 50 muß versucht werden , d urch Ver mutung (d i v i n a t i o) d as Origin ale herzustellen oder doch wenigstens die Ver. derbnis (c o rr up t el a ) zu lokalisieren. 2.
Bei der üblichen Einteilung der Textkritik in recensio und emenda�io bleiben sowohl die Fälle unberücksichtigt, in denen die Prüfung zu dem E rgebni s führt. daß die überlieferung heil oder daß sie unheilbar ist. wie die Fälle. in denen das Originale erst durch Wahl (sel ectio) zwischen verschiedenen vom Sta.ndpunkt der recensio aus gleichwertigen überlieferungen fest gestellt werden kann.
B. RECENSIO 3. Die überlie f er ung beruht entweder auf ein e m Zeugen (codex u n icu s ) oder auf mehreren. Im ersteren F all besteht die recensio in der möglichst genauen Beschreibung und Entzifferung des einzigen Zeugen; im letzteren ist die. re c en si o eine oft sehr verwickelte , Ar be i t .
Jeder Zeuge hängt entweder von einer erhaltenen oder einer verlorenen Vor und im letzteren Fall ist die Vor l age entweder rekonstruierbar oder nicht rekonstruierbar. Wenn sie rekonstruierbar ist. so ist sie es entweder ohne Hilfe jenes Zeuge n oder nur mit dessen Hilfe. Es wird nun einleuchten, daß ein Zeu ge wertlos ist (d . h. als Z e u g e wertlos) , wenn er auss chli eß lic h von einer erhaltenen oder einer ohne seine Hilfe re kons tr u ier baren Vorl a ge a bh ä n g t . Gelingt es hinsichtlich eines Zeugen dies n ach zuweisen (vgl. § 8), 50 muß der Zeuge aus g e s c h alt e t werden (e l i m ina t i o codicu m d e scriptorum). 4.
lage ab;
6
Recensio
Bleiben nach Ausschaltung der eliminandi (§ 4) noch mehrere Zeugen übrig , so liegt eine S palt u n g der überlieferung vor. Diese kann nur so entstanden sein, daß von e i n e r Vorlage zwei oder mehrere Abschriften gemacht wurden; die so entstandenen ' Arme ' ('Äste ') der Überlieferung kommen in den erhaltenen Zeu gen zum Vorschein, sei es ohne weitere Spaltungen (Z wis c h ens p a l t u n g e n) , sei es mit solchen. Die Vorlage, bei der die erste Spaltung begann , nennen wir den A r c h e t y p u s. Der Text dieses Archetypus ist frei von allen nach der Spaltung entstandenen Fehlern , steht also dem Original näher als der Text aller Zeugen. Gelingt es also, diesen Text sicherzustellen , so ist damit die constitutio bedeutend gefördert. 5.
Die besondere Bedeutung derjenigen Vorlage, die wir als Archetypus bezeichnet haben, ist un bestritten, und ein anderer Name dafür steht nicht zur Verfü gu n g. Man sollte daher nicht a nd e re Zwischenglieder zwischen Original und erhaltenen Zeugen, so wichtig sie unter Um ständen sein kÖI!Oen, als Archetypus bezeichnen.
Voraussetzung des Folgenden ist, daß die seit der Hauptspaltung geschehenen Abschriften immer nur je eine Vorlage wiedergeben (d. h. daß kein Schreiber meh rere Vorlagen ineinanderarbeitet, ' kontaminiert ' ). daß dagegen j eder Schreiber bewußt oder unbewußt Von seiner Vorlage abweicht ( S o n d e r f e h l e r begeht) .
6.
über die Folgen geänderter Voraussetzungen s. § 9, 10, 11.
Unter dies en Voraussetzungen läßt sich im allgemeinen a) das Abhängigkeits verhältnis aller erhaltenen Zeugen und die Zahl und Lage aller Zwisch enspaltungen einwandfrei aufzeigen,
7.
b) falls die Hauptspaltung mindestens d r e ifa c h ist , der Text des Archetypus an allen Textstellen (mit einigen besonders zu begründenden Ausnahmen) sicher re konstruieren , c) falls die HauptspaItung zw e i f a c h ist , der Text des Archetypus soweit her stellen, daß (wieder mit besonders zu begründenden Ausnahmen) an keiner Stelle mehr als zwei Lesungen (Va r i a n t e n) zur Wahl stehen. T y p i sch e r F a ll (s. Schema). Gegeben sind die Zeugen A bis J (nicht K ) , alle verschiedenen Alters und verschiedener Art (Handschriften, Drucke, Exzerpte, Paraphrasen, Zitate, Nachahmungen, übersetzungen usw.). Kein Zeuge gibt aus drücklich Auskunft über seine Vorlage.
8.
a) Zeigt ein Zeuge, J, alle Fehler eines anderen erhaltenen, F, und noch mindestens einen eigen4n, so muß J von F abstammen . Manchmal läßt sich die Abhängigkeit eines Zeugen von einem anderen erhaltenen schon auf Grund einer einzigen Textstelle beweisen, wenn nämlich die äußere Beschaffenheit des Textes in der erhaltenen Vorlage offenkundig Ursache des Sonderfehlers bei dem Nachkommen ge worden ist; z. B. wenn mechanische Beschädigung des Textes in der Vorlage zum Ausfall von Buchstaben o der Buchstabengruppen geführt hat, die dann beim Nachkommen ohne ersicht liche äußere Ursache fehlen, oder wenn ZUSätze, zu deren Verfasserschaft sich der Schreiber der Vorlage bekennt, beim Nachkommen ohne Unterscheidung im Text auftreten oder wem, bei der AbSchrift einer prosaischen Vorlage eine Zeile übersprungen wurde, die keine logische Einheit bildet usw. Da alle A bs chriften jünger sein müssen als die Vorlage, gibt oft die Altersbestimmung der Schrift eine n Hinweis, welcher Zeuge als Vorlage in Betracht kommt, welcher nicht.
b) Zeigen zwei Zeu gen G und H gemeinsame Sonderfehler gegenüber allen übri· gen Zeugen, außerdem aber noch jeder von beiden mindestens einen eigenen
Recensio
7
Sonderfehler. so müssen beide von einer gemeinsamen Vorlage Il abstammen. von der die ü brigen Zeugen nicht abstammen . Der Text von Il ist herstellbar 1. durch die übereinstimmung von G und H. 2. durch die übereinstimmung von G oder von H mit einem der übrigen Zeugen (also Sonderfehler von G und.von H können im allgemeinen die H erstellung von Il nicht zweifelhaft machen). Nur wenn G und H weder untereinander noch mit einem der übrigen Zeugen übereinstimmen oder wenn sie unabhängig voneinander in denselben Fehler ver fallen sein können. ist der Text von Il zweifelhaft. Schema (über die kleinen Querstriche s.
§ Si)
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6
J
In der gleichen Weise und mit der gleichen Sicherheit wird auf Grund von F und hergestellt der Text von 6. auf Grund von E und 6 der Text von )'. c) Zeigen drei (oder mehr) Zeugen A BC (D) gemeinsame Sonder fehler gegenüber allen übrigen. außerdem j eder der drei (oder mehr) noch eigene Sonderfehler. niemals aber zwei von den drei (oder mehr) gemeinsame Sonderfehler gegenü ber dem dritten (oder den übrigen). so müssen A BC (D) unabhängig voneinander von einer gemeinsamen Quelle p abhängen . Der Text von p ist herstellbar 1. durch die Übereinstimmung zweier beliebiger der Zeugen A BC (D). 2. durch die übereinstimmung eines beliebigen dieser Zeugen mit )'. Nur wenn A BC (D) alle untereinander und mit)' variieren. ist der Text von ß zweifelhaft. Also alle Sonderlesungen von A BC (D) E 6 (natürlich auch die von F G H) sind für die Herstellung von p und )' im allgemeinen wertlos; sie sind aus zuschalten (elim i n a t i o l ee t i o num s i n g u l a r i u m) . d) E s wird einleuchten. daß auch. wenn nach p und )' noch eine beliebige Zahl von weiteren Spaltungen stattgefunden hätte. das AbhängigkeitsverhäItnis der Zeugen und der Text von p und )' mit der gleichen Sicherheit hergestellt werden könnten. B
1
8
Recensio
e) Anders liegt es mit der Herstellung von �. Wenn sich dessen überlieferung nur in ß und 'Y gespalten hat und ß und r übereinstimmen, so ist dies der Text von �. Stimmen sie aber nicht überein , so kann jede der beiden Lesungen die von IX sein: es ergeben sich Va r i a n te n, zwischen denen auf Grund des bisherigen Ver fahrens nicht zu entscheiden ist. Die rekonstruierten Träger der Varianten könnte man Hyp arc h e typi nennen . f) M it ähnlicher Sicherheit ließe sich 0; herstellen, wenn von den Armen fJ und r nur je ein Zeuge, etwa A und J, erhalten wäre; A und J wären dann die Varianten träger. Eine wesentliche Verschlechterung würde jedoch dann eintreten, wenn an einer bereits in ß und r verderbten TextsteIle im späteren Verlauf der überliefe rung weitere Schäden entstanden wären oder wenn an einer in ß verdorbenen, in r noch heilen TextsteIle in J eine spätere Verderbnis zutage träte. g) Das gleiche würde gelten, wenn z. B. nur AE und J erhalten wären. Bei über einstimmung von EJ gegen A wären dann A und r (= EJ) Variantenträger. Stimmen AJ gegen E oder AE gegen J überein , so sind die isolierten Lesungen wertlos (s. oben) . Nur wenn AJ und E alle variieren, ist weder r noch (\ mit den bis herigen Mitteln herstellbar. Es muß dann versucht werden, aus den ' S u'b v a r i a n t e n' E und J die Lesung von r zu erschließen (s, u.), so daß d ann diese als - vom Standpunkt der recensio aus gesehen - gleichwertige Variante neben A tritt. h) Wären d agegen nur z. B. A B oder E G oder G H erhalten, so ließen sich nur die Vorlagen ß oder r oder e herstellen, und für j ede dieser Vorlagen wäre jeder der je zwei erhaltenen Zeugen Variantenträger. i) Wieviele überlieferungsstufen zwischen den verschiedenen Spaltungsstellen und wieviele zwischen den letzten Spaltun gsstellen und den erhaltenen Zeugen liegen, d afür ergab sich bisher kein Anhaltspunkt ; es war aber auch in der Haupt sache gleichgültig (doch s. o. unter f). 9. Ist IX außer in ß und l' noch in K (oder in noch weitere Arme) gespalten, so wird der Text von � durch die übereinstimmung von zweien dieser Arme gewährleistet. Nur wenn alle drei (oder mehr) variieren oder wenn die Übereinstimmung zweier die Folge davon sein kann, daß sie unabhängig voneinander in denselben Fehler verfallen sind , ist der Text von IX zweifelhaft. Entsprechendei" gilt für die Herstellung von ß. wenn weder r noch K erhalten ist. 10. Wenn die erste der in § 6 genannten Voraussetzungen nicht zutriff t , wenn also einzelne Schreiber mehrere Vorlagen kontaminiert haben , so ist in dem Bereich dieser Kontaininationen die eliminatio stark behindert, wenn nicht unmöglicb. Die Kontamination verrät sich daran , daß der kontaminierte Zeuge einerseits Sonderfehler seiner eigenen Vorlage nicht zeigt, weil er aus einer anderen das Richtige en tnommen hat, andererseits Sonderfehler solcher Vorlagen zeigt , von denen er in der Hauptsache nicht abhängt. Wenn z. B. von drei erhaltenen Ab schriften ßrK manchmal ßr gegen K, manchmal Kß gegen r, manchmal Ky gegen fJ einen Fehler gemeinsam haben, so sind p, y und K untereinander konta miniert, und ihre isolierten Lesungen, die unter normalen Verhältnissen we\"tlos sind (s. o. ) , werden alle für die Herstellung von oe zu 'Pr ä s u m p t i v-Va r i a n t e n '. Die Kontamination brauchen wir uns nicht so entstanden zu denken , daß ein Schreiber zwei Vorlagen vor sich hat und bald den Text der einen, bald den Text der anderen wiedergibt; denn dies ist ein sehr mühseliges Verfahren . Vielmehr ist
Recensio
Exa.minatio
9
der Gang wohl meist so: In einer Handschrift , sagen wir F, werden die abweichen den Lesungen der anderen, die nicht deren Vorlage ist , sagen wir A, am Rand oder zwischen den Zeilen notiert; J folgt dann bald der ersten Lesung von F, bald der sekundären. Gehen dann A und F verloren , so werden die Abhängigkeits verhältnisse von J unklar, weil J dann sowohl Sonderfehler von cIJ (aber nicht alle) wie solche von {J (aber nicht alle) zeigen wird . Eine gewisse Gewähr gegen Kontamination ist gegeben, wenn ein Werk in ein zelnen überlieferungszweigen unter verändertem Namen weitergeführt wird, so daß den einzelnen Zweigen der sekundären Form die Zweige der primären nich t mehr zugänglich werden. Ferner werden offensichtliche Verderbnisse, besonders Lücken, zwar wohl geradlinig weiter überliefert, aber doch kaum je dureh Kon tamina tion übertragen; an solchen Sonderfehlern wird sich also das primäre Ab hängigkeitsverhältnis oft wahrscheinlich machen lassen. 1 1. Trifft die zweite in § 6 gemachte Voraussetzung nicht zu, weicht also ein Zeuge von seiner Vorlage nicht ab, so ist das Verhältnis dieses Zeugen zu seiner Vorlage und deren übrigen Abkömmlingen oft nicht festzustellen. Hat z. B. F bei der Ab schrift aus cIJ keinen Sonderfehler gemacht , so können wir nicht entscheiden, ob J über F oder unabhängig von F auf cIJ zurückgeht. Sind dann nur F und J er halten, so wird J zum präsumptiven Variantenträger, während wir ihn , wenn wir den Tatbestand durchschauten, ganz eliminieren müßten; es müssen also alle seine Sonderlesungen der examinatio unterworfen werden , mögen es auch in Wahrheit lauter Sonderfehler sein . Daraus ergibt sich , wie wichtig es sein kann, positive Beweise für die Abhängigkeit pines Zeugen von einem anderen erhaltenen zu finden (§ 8 a, Anmerkung) . Weitere untypische Fälle: Verbessert ein Schreiber einen Fehler seiner Vorlage richtig durch divinatio, ohne dies ausdrücklich zu bekennen, so kann dadurch der Anschein erweckt werden, daß er von einer anderen Vorlage abhänge oder aus einer solchen seinen Text kontaminiert habe. Richtige Lesungen , die durch divi natio gefunden sein können, dürfen also nicht gegen eine durch andere Argu mente geforderte elirninatio ins Feld geführt werden. Die Feststellung dessen , was ein Zeuge durch divinatio finden konnte, was nicht , gehört zur examinatio der Präsumptiv-Varianten (§ 19 Ende). 12. Die Abhängigkeitsverhältnisse der Klassikerhandschriften sind großenteils noch nicht abschließend untersucht, auch abgesehen von den häufigen Fällen, wo Kontamination ein sauberes Ergebnis nicht erhoffen läßt.
C. EXAM I N ATIO
13. Die recensio führt also in der Regel entweder zu einem erhaltenen codex uni cus oder zu einem durchweg sicher rekonstruierbareu Archetypus oder zu zwei Variantenträgern, die entweder erhalteu oder rekonstruierbar sind und die nur, wenn sie ühereinstimmen, den Text des Archetypus gewährleisten, nicht aber wenn sie variieren. Sehen wir zunächst von dem letzten Fall ab (darüber s. §19), so muß die einheitliche überlieferung der übrigen Fälle geprüft werden, ob sie original ist .
10
Examinatio
14. Bei dieser Prüfung erweist sich die überlieferung entweder als die beste aus denkbare oder als gleic h wertig mit anderen ausdenkbaren oder als schlechter als eine andere ausdenkbare, aber doch erträglich oder als uuerträglich. Im ersten dieser vier Fälle ist die überlieferung als original anzusehen, im letzten als verdorben, in den bei den mittleren mag oder muß man zweifeln. Der Maßstab für gut oder schlecht im Sinne dieser Prüfung ist natürlich kein ab soluter; für die Beurteilung des Formalen ist der Stil des Schriftwerkes, für die des Inhaltlichen die vermutliche Sachkenntnis (oder Anschau ung) des Autors maß gebend. Für das Sachliche ist der Philologe sehr oft auf die Hilfe anderer Wissens zweige (Fachwissenschaften usw.) angewiesen; für das Stilistische ist er allein ver a ntwortlich und sein Gefühl hierfür zu vervollkommnen, wird zeitlebens sein eifrigstes Streben bleiben müssen, auch wenn er einsieht, daß ein Menschenleben nicht ausreicht, um eine wirkliche Meisterschaft auf diesem Gebiete reifen zu lassen (vgl. Wilamowitz, Geschichte der Philologie, in G ercke Norden Einleitung in die Altertumswissenschaft 13 1, 49). ,
-
,
Erweist sich der Archetypus eines ganzen Werkes als völlig frei von Verderbnissen, so kann er das Original sein, d. h. die Spaltung kann dann beim Ori gi nal selber begonnen haben. Ich kenne kein größeres \Verk eines Klassikers. bei dem mit dieser M ögl i chkeit zu rechnen wäre, und bei kürzeren Stücken ist mi t dieser Möglichkeit nichts gewonnen.
15. Erweist sich die überlieferung als verdorben, so muß versucht werden, sie durch d i v i n a t i 0 zu h eilen. Dieser Versuch führt entweder zu einer evidenten Emendation oder zu mehreren etwa gleichmäßig befriedigenden Konjekturen oder zu der Erkenntnis, daß eine Heilung durch d ivinatio nicht zu erhoffen ist (crux). Die typische Konjektur besteht in der Beseitigung einer A n o m a l i e. Nun gibt es Anomalien, die der Schriftsteller beabsichtigt oder zugelassen hat , uud solche, die durch Verderbnis en ts t an den sind. Voraussetzung der Konjektur ist also, daß eine Anomalie als vom Schriftsteller unmöglich beabsichtigt oder zugelassen er k annt ist. Dies wird der Fall sein, wenn eine sehr starke oder wenn gehäufte s chwächere Anomalien erscheinen. Wie aber ist bei geringfügigen Abweichungen zu verfahren? Da muß natürlich viel zweifelhaft bleiben ; aber in vielen Fällen wird der Zweifel eben durch die Konjektur beseitigt werden (die dann also zur Voraussetzung ihrer selbst wird), und zwar aus folgender Erwägung heraus. Kein Schriftsteller wird eine Anomalie um ihrer selbst willen erstreben; sondern die Anomalie wird eine Folge davon sein, daß er Besonderes sagen will, wofür ihm die Norm nicht ausreichte. L äß t sich nun zeigen, daß er das, was die Überliefe rung anom
Streng zu scheiden ist zwischen Anomalie und Singularität. Da� Vereinzelte ist an und für sich ganz unverdächtig.
Examinatio
11
Unheilbar oder (was vom Standpunkt der Methode aus fast das gleiche bedeutet) nur mit Hilfe eines glücklichen Zufalls heilbar ist ein Text nicht nur, wenn er stark zerstört ist, sondern oft schon, wenn eine vom Verfasser beabsichtigte Ano malie oder irgend etwas Seltenes oder Fernliegendes auch nur leicht getrübt ist. Da nun gerade Anomalien , Singularitäten usw. naturgemäß der Verderbnis be sonders ausgesetzt sind und sich selten ausschließen läßt, daß etwas Derartiges zu grunde lag, wird man einsehen , daß die Unmöglichkeit einer evidenten Konjek tur nicht gegen die Annahme einer Verderbnis entscheiden darf. 16. Zwischen mehreren sich darbietenden Konj ekturen ist zu wählen in erster Linie die stilistisch und s<j.chlich bessere , in zweiter diejenige, durch die die Ent stehung der Verderbnis am leichtesten begreiflich wird .
Zur Entscheidung in dem letzteren Sinne muß berücksichtigt werden: a) welche Fehler auf Grund allgemeiner psychologischer Erwägungen am ehesten zu erwarten sind (z. B. Trivialisierung; daher wird die 'lectio difficilior' mit Recht in der Regel bevorzugt) , b) welche Gattung von Verderbnissen in derselben überlieferung am häufigsten nachweisbar ist, c) welche Verderbnisse auf Grund anderer Erwägungen in der Zeit zwischen Ori ginal und Archetypus am wahrscheinlichsten zu vermu ten sind (überlieferungs geschichte des betL Au tors, allgemeine ü berlieferuugsgeschichte, G eschichte von Sprache, Schrift, Orthographie , Philologie, Editionstechnik, Kultur usw.). Die Begründ ung der durch divina tio (oder selectio s. § 19) vorausgesetzten Fehler spielt in der Textkritik eine beträchtliche Rolle, aber immer eine s e k u n d är e . Gelegenheit zu solcher Begründung ist nämlich erst dann gegeben, wenn mehrere stilistisch und sachlich etwa gleichwertige Konjekturen (oder Varianten) zur Wahl steheu oder \Veun es sich darum handelt, zwischen Konj ektur und Kreuz zu entscheiden. Die Hauptsache. festzustellen, was in stilistischer oder sachlicher Beziehung erträglich oder gefordert ist . wird d urch die Einsicht in die Fehlerwahr scheinlichkeit nicht nennenswert gefördert. Ferner ist aber eine Lesung deshalb noch lange nicht falsch. weil sich eine einleuchtende Erklärung des durch sie vor ausgesetzten Fehlers der ü berlieferung nicht finden läßt. Denn die Fehler sind ihrer Natur nach nur im Durchschnitt, nicht im Einzelfall berechenbar ; man be denke die Neigung des Fehlers, sich zu potenzieren. Kein Fehler ist so unmöglich. wie ein Text notwendig sein kann, selbst ein durch divinatio gefundener. Allerdings lehrt die Erfahrung, daß verschiedene Fehlergattungen verschiedene H äufigkeit . also im Zweifelsfall verschiedene Wahrscheinlichkeit haben. Welche Fehler aber im Einzelfall als die leichteren zu betrachten sind, dafür besitzen wir noch keinen Maßstab. Denn die bisherigen Beispielsammlungen (s. Lit. S. IV) begnügen sich damit. Belege für einzelne Fehlergattungen vorzuführen, an deren Möglichkeit niemand gezweifelt hatte; sie geben kein Bild von der verschiedenen Häufigkeit und verraten vor allem eines nicht: welche Fehlergattungen nic h t vorkommen. Um auf diesem G ebiet festere G rundlagen zu gewinnen, müßte man für die ein zelnen Zeitabschnitte. Literaturgattungen, Schreibprovinzen an Hand solcher Zeugen , deren Vorlage erhalten ist (deren Sonderlesungen in den kritischen Aus gaben also im allgemeinen verschwiegen werden) , eine Aufstellung a l l e r Sonder fehler, nach G attungen geordnet. anfertigen ; dann müßte man fortschreiten zu
12
Examinatio
den Sonderfehlern solcher Zeugen, deren Vorlage dnrch recensio sicher rekon stmierbar ist; erst in letzter Linie wären solche Zeugen heranzuziehen, deren Vor lage nur durch selectio oder gar nur durch divinatio·rekonstruierbar ist. Besonders erwünscht wäre eine solche Untersuchung für die In t e r p o l a ti o n e n, d.h. jene Gattung von Ändernngen (meist Einfügungen), die nicht auf Ver�ehen beruht, sondern durch bewußten, aber nicht eingestandenen Eingriff in die Über lieferung das Originale herzustellen oder gar Gefälschtes als Original hinzustellen versucht. Solche Änderungen sind besonders gefährlich, weil ein auf ihn en be ruhender Text sich oft nur sehr schwer als entstellt erweisen .läßt (während Schreiberversehen normalerweise zu offenkundigem Unsinn führen), andererseits in den Texten, in denen eine solche Interpolation erwiesen ist, vieles schon des halb verdächtig wird, weil es entbehrlich scheint. Und das Streichen (' Athetieren ') ist so bequem (Methode des Vogels Stranß)! Entbehrliches aber (oder wenigstens nicht als unentbehrlich Nachweisbares) findet sich zweifellos auch in jedem Ori ginal. So entstehen die dornigsten Probleme. Die Geschichte der Interpolationen ist eng verknüpft mit der der Fäl s c h u n g e n gan z e r Werk e , die auch noch zu schreiben wäre. Wenn ein Archetypus (oder codex unicus) durch Zeugen, die einer älteren Spal tung entstammen, streckenweise zum Variantenträger oder gar zum codex de scriptus degradiert wird, so sind die in diesen Strecken nachweisbaren Gattungen seiner Fehler auch in den Strecken zu vermuten, wo wir ihn nicht kontrollieren können. Hierin liegt der große Wert der Zitate, soweit diese einer älteren Spaltung entstammen. Andererseits kann es notwendig werden, alle Sonderfehler eines codex descriptus zu sammeln und zu gruppieren, um für die Fälle, wo derselbe Zeuge Varianten träger oder codex unicus ist, ein Urteil über seine zu vermutenden Sonderfehler zu gewinnen. Freilich wird hierdurch nur die jüngste Fehlerschicht kenntlich.
17. Von Wichtigkeit wird also unter Umständen, das Alter des rekonstruierten
Archetypus zu bestimmen, damit man nicht mit Verderbnissen rechne, die ihrem Charakter nach erst in der Zeit nach dem Archetypus wahrscheinlich ·werden. Der Archetypus muß älter sein als die Zeit der ältesten datierbaren Variante (nicht nur als die des ältesten Variantenträgers), jünger als die Zeit der jüngsten datier baren Verderbnis.
18. Welchen Grad vou Sicherheit kann die examinatio, insbesondere die divinatio, zu erreichen �rhoffen? Eine Konjektur kann bestätigt oder wenigstens gestützt werden entwMer durch die übereinstimmung aller Urteilsfähigen (freilich ein schwer Zl;l umgrenzender Begriff) oder durch neue vom Urheber übersehene Argu mente oder durch späteres Auftreten eines in der Zeit vor dem Archetypus ab gespalteten Zeugen (wenn dessen Lesung nicht ebenfalls Konjektur sein kann); sie kann widerlegt werden entweder durch den Nachweis, daß die überlieferung heil ist, oder durch eine bessere Lesung, die ihrerseits wieder entweder durch divi natio oder durch neuauftauchende Zeugen einer älteren überlieferung gewonnen werden kann. Solche Bestätigungen und Widerlegungen haben die letzten Jahr zehnte überreichlich gebracht, aber es fehlt noch an einer Darstellung, die den methodischen Gewinn aufzeigte. Eine solche könnte sehr nützlich werden. Denn so glänzend der Scharfsinn vieler Herausgeber durch die fortschreitende Forschung bestätigt worden ist, die überraschungen, die fast jeder Papyrusfund bringt, mehr
Examinatio
13
noch die tiefgreifenden Diskrepanzen der maßgebenden Textausgaben bei gleich bleibender überlieferung, zeugen nicht eben von einem hohen Sicherheitsgrad der examinatio als Gesamtleistung. Zn oft hatten selbst die Urteilsfähigsten auch in den meistgelesenen Klassikertexten eine Verderbnis übersehen, eine heile über lieferung zu Unrecht verdächtigt, eine falsche Konjektur als sichere Herstellung des Originals angenommen, eine richtige Emendation verworfen. Die Frage ist, ob die Ursache dieser Fehler nur mangelhafte Konzentration auf den Einzelfall war (die durch die unendliche Ausdehnung des Stoffes entschuldigt werden könp.te) oder ob Fehler der Methode vorliegen. Im allgemeinen glaube ich zu erkennen, daß man einerseits zu häufig solche Konjekturen annimmt, die eine starke (also eigent lich unheilbare) Entstellung des Textes voraussetzen, andererseits zu leicht ge neigt ist, Schäden der überlieferung oder der Vulgata deshalb zu übersehen, weil sie sich noch nicht einleuchtend haben beseitigen lassen. Beides entspringt einer verwerflichen Furcht vor dem Eingeständnis, daß man voll Befriedigendes nicht erreicht hat. Aber wer Zweifelhaftes als sicher vorträgt, entfernt sich vom Ziel weiter, als wer seine Zweifel eingesteht. Jener braucht freilich weniger Worte, aber seine Kürze ist trügerisch; sie verführt leicht dazu, das Gegenteil mit der gleichen Kürze zu behaupten, und 50 wird erst eine dritte Darstellung dem Tat bestand, nämlich dem Zweifel, gerecht werden. Gewiß geht es 50 auf allen For schungsgebieten, und allzu skrupulöses Abwägen der Wahrscheinlichkeiten kann schließliCh den Keim des Fortschritts ersticken. Aber die Texte als die Grundlage jeder philologischen Forschung sollten so behandelt werden, daß über dEm Grad der Sicherheit, der ihnen zukommt, möglichste Klarheit herrscht. Daß die Konjekturalkritik
eine Zeitlang grundsätzlich bekämpft wurde, sei als vorübergehende
Veri rrung der Forschung nur eben erwähnt. Natürlich ist es viel schädlicher, wenn eine Ver derbnis unerkannt bleibt, als wenn ein heiler Text zu Unrecht angegriffen wird. Denn jede Konjektur reizt zur Widerlegung, durch die das Verständnis der Stelle jedenfalls gefördert wird, und nur die besten werden sich durchsetzen; dagegen die nicht bezeichnete Verderbnis schädigt den stilistischen Gesamteindruck, und wer eine richtige Konjektur verkannte, setzt sich zu allem andern dem Vorwurf der Undankbarkeit, wenn nicht gar des Neides aus. Wer sich fürchtet, einen unsicheren TeA-t zu geben, v.'ird besser tun, sich nur mit Autographa zu
beschäftigen.
19. Bei zwe i g e s p a l te n e r überlieferung führt die recensio oft (0. § 13) auf zwei Varianten. Die examinatio hat also festzustellen, ob eine der beiden oder ob keine der beiden original ist. Typi s c h e r F a l l. Eine der beiden Varianten läßt sich als Fehler verstehen, der die andere Variante als die Lesung des Archetypus voraussetzt. Dann ist diese durch s e l e c t i o gefundene Lesung des Archetypus Grundlage der weiteren ex. aminatio. Die Entscheidung, welche Gattung von Fehlern in einem Variantenträger am ehesten zu ver muten sei, geschieht nach den in § 16 aufgeführten Gesichtspunkten, nur tritt an Stelle der Zeit zwischen Original und Archetypus die zwischen Archetypus und Variantenträger.
Un ty p i s c h e Fäl l e. a) Beide Varianten lassen sich als Fehler verstehen, die durch dieselbe Lesung des Archetypus hervorgerufen wurden. Dann ist diese durch divinatio (combinatio) zu findende Lesung des Archetypus Grundlage der weiteren examinatio. Dieser Fall ist untypisch, weil er nur eintreten kann, wenn eine Textstelle, die bis zum Arche typus heil geblieben war (sonst könnte die Lesung des Archetypus nicht durch divinatio ge funden werden), in beiden Armen verschieden entstellt wurde.
14
Examinatio
b) Es läßt sich keine Lesung finden, durch die beide Varianten erklärt werden. Dann bleibt die Herstellung des Originals zweifelhaft, selbst wenn dessen durch selectio oder divinatio gewonnener Text inhaltlich und stilistisch voll befriedigt und die Entstehung der einen Variante erklärt. Denn die Variante, deren Ent stehun g unklar bleibt, kann auf eine bessere Lesung des Originals zurückgehen, die noch nicht durch divinatio gefunden wurde. Auch mit Doppelfassung des Originals ist zu rechnen: es müßten dann freilich die zwei Fassungen im Arche typus kontaminiert worden sein . c) Neben eine Variante treten zwei Subvarianten ( § 8 g) . Dann stehen zunächst nicht drei Lesungen zur Wahl, sondern neben der des erhaltenen Variantenträgers nur noch die Lesung des aus den beiden Subvarianten zu rekonstruierenden zwei ten Variantenträgers. Die durch selectio oder divinatio zu findende originale Lesung muß dann so beschaffen sein, daß die Entstehung der drei bezeugten Lesungen in ihrem durch die recensio festgelegten Abhängigkeitsverhältnis be greiflich wird. So verschiedenwertig die beiden Variantenträger auch sein mögen, die selectio muß von Fall zu Fall geschehen, keine Variant e darf ungeprüft verworfen werden, Die Voraussetzung der Anerkennung eines Zeugen als Varian tenträger ist ja, daß er mindestens einen Sonderfehler des anderen Variantenträgers nicht teilt: hat er aber an einer Stelle als einziger das U rsprüng li che bewahrt, so muß man bei allen sein�n Sonderlesungen mit der gleichen Möglichkeit rechnen, In der gleichen Weise wie die Varianten sind die Präsumptiv-Varianten zu prüfen, die bei ungeklärten überlieferungsverhäItnissen (§ 10, 11) erscheinen, ebenso die Varianten einer drei-{oder mehr-) gespaltenen überlieferung in den Fällen, wo alle Zeu gen variieren (§ 9), 20. Diese Methoden der Varianten prüfung sind jetzt gru nds ät zlich ziemlich allgemein aller· kannt, freilich erst seit kurzer Zeit. Früher folgte man entweder der Vulgata (dem 'textus
receptus ' ) , ohne sich um die Qualität der Bezeug ung zu k ü m mern ; oder man folgte den mei
sten Zeu gen , während doch 100 Handschriften, die auf e i n e zurückgehen, weniger Gewicht haben als diese eine und nicht mehr Gewicht haben als eine, die nicht auf jene eine zurück geht; oder man folgte der ältesten, der vollsUndigsten, der besten, als ob ni cht jeder Schreiber
irren könnte. All dies war völlig willkürlich , und eine methodische Rechtfertigung wurde nie versucht. Der Fehler, den codex optimus zu behandeln , als ob er der codex unicus wäre, ist noch heute nicht völlig überwunden; er wird öfters dadurch korrigiert , daß sich der codex optimus doch schließlich als der codex unicus entp uppt .
21. Das Schema, durch das wir das Abhängigkeitsverhältnis der Zeugen darstellen, nennen wir Stemma. I;)as Bild ist der Genealogie entnommen: die Zeugen verhalten si ch zum Original etwa wie die *achkommen eines Mannes zu diesem. Man könnte sich so auch die Vererbung der Fehler klarmachen, etwa indem man alle Frauen als Fehlerquellen betrachtete. Aber das Wesentliche, das Ziel der Rekonstruktion des Originals, ist unvergleichbar. - Eher könnte die Verästelung eines an verschiedenen Stellen verschieden okulierten Baumes ein Bild von den Aufgaben der recensio und dem Wesen des Archetypus geben. Genauere Entsprechung ver sucht folgendes Gleichnis.
Ein Str om entspringt unterirdisch unter dem Gipfel eines unzugänglichen Berges. Er spaltet sich unterirdisch, seine Arme spalten sich weiter, und einige dieser Arme treten dann am Ber g
hang in Sprudeln an die Erdoberfläche; das Wasser dieser Sprudel versinkt sofort wieder und kann noch mehrmals an tiefergelegenen Stellen an die Oberfläche treten und schließlich dort sichtbar weiterftießen. Das Wasser hat von Ursprung an stets wechselnde, aber edle und reine Farben; es fließt unter
irdisch an mehreren Stellen vorbei, an denen von Zeit zu Zeit verfärbende Stoffe in das Wasser einströmen; dasselbe geschieht bei jeder Spaltung und bei jedem Aufsprudeln . Jeder Zllfiuß ändert die Farbe des Stroms ein Stück weit, und dieses Stück behält diese Farbe dauernd;
Examinatio. Folgerungen für die Anlage einer kritischen Ausgabe
15
nur ganz geringfügige Verfä.rbungen verschwinden durch Selbstreinigung. Für das Auge unter scheidet sich das durch Zufl.üsse verfärbte Wasser von dem ursprünglichen stets, aber nur manchmal So, daß das Auge sofort erkennt, daß eine Farbe durch Zufl.üsse entstellt ist; oft nur so, daß allein eine Verschiedenheit der Farbe verschiedener Sprudel kenntlich ist. Dagegen kann die chemische Analyse meistens die unechten Element,e feststellen und oft die ursprüng liche Farbe zurückgewinnen, manchmal kann auch sie es nicht. Aufgabe der Forschung ist es, auf Grund der Sprudel die Echtheit der Farben zu prüfen.
Nächstverwandt sind die Methoden der h i st o r i s c h e n Que lle n k r i t i k. Aber' während die literarische ü berlieferung auf ein Original zurückgeht, das allen Zeugen wesensgleich ist, insofern es auch eine Handschrift ist, steht zu Beginn der historischen überlieferung das Geschehnis, das sich der schriftlichen Formung seiner Natur nach widersetzt und schon von dem ersten Zeugen verfärbt oder ge fälscht wird, meist sogar gerade von diesem bewußt . Während der geschlossene und in jedem Element als notwendig fühlbare Organismus des literarischen Kunst werkes ohne schwerere Schäden Jahrtausende überstehen kann, besonders inner halb einer Kultur, die unter der Wirkung dieses K unstwerkes steht. bleibt von dem historischen Geschehnis meist nur das Gröbste dem Zweifel entzogen, oft nicht einmal dieses. Fru chtbar ist es auch, die Methoden der Archäologie zu vergleichen. die aus Kopien ein verlorenes Kunstwerk rekonstruiert, oder die der Literatur- oder Sagenforschung . die nach der ursprünglichen Fassung eines Motivs sucht. Aber nirgends wird der Weg so klar, das Ziel so sicher erreichbar sein wie in der Text kritik d er Klassiker.
22.
D, F O L G E R U NGEN FUR D I E A N L A G E EIN ER KRIT I SCHEN A U SGA B E
D i e Vo r r e d e m u ß 1. alle Zeugen beschreiben, auch die auszuschaltenden. auch die nur für einzelne Stellen in Betracht kommenden , am ausführlichsten na türlich die Hauptzeugen (codices unici, Variantenträger). 2. das Verhältnis der Zeugen, wenn irgend möglich , in einem Stemma veranschaulichen und jede Be ziehung durch Aufführung einiger charakteristischer Sonderfehler beweisen . 3. die Qualität des Archetypus und der Variantenträger an H and einer Zusammen stellung der Korruptelen nach ihren Gattungen charakterisieren , 4. alles Ortho graphische und Dialektische erledigen. I m T e x t sind zu kennzeichnen: Konjekturale Zusätze durch O. konjekturale Streichungen (' Athetesen ') durch [] oder {), Ergänzungen bei mechanischer Beschädigung durch []. unheilbare lokalisierbare Verderbnisse durch t.
23.
Auf konjekturale Änderung von Wörtern oder Wortteilen kanIl in lateinischen Texten durch Kursivdruck hingewiesen werden.
Die Unterscheidung von 0 und [] ist wesentlich. <> deutet an. daß schon die Ansetzung der Lücke auf Vermutung beruht, []. daß eine bezeugte Lücke ihrem Umfang entsprechend ausgefüllt wurde. [] ist auch dann zu verwenden. wenn die überlieferung ausdrücklich vermerkt. daß in ihrer Vorlage eine Lücke war. beschädigte Handschriften nicht in Frage tesen verwendet werden. Wo mechanisch
kommen,
kann [J
auch für
Athe
16
Folgerungen für d i e Anlage einer kritischen Ausgabe
U n t e r d e m T e x t sind in der Reihenfolge des Textes zu verzeichnen :
1. Die Abweichungen vom Archetypus sämtlich, soweit diese nicht schon im Text gekennzeichnet wurden. 2.
Die verworfenen Varianten sämtlich (auch die Schreibfehler ; nicht , als ob diese für die Textgestaltung in Betracht kämen, sondern um den Leser darauf hinzu weisen, daß an dieser Stelle der Text nicht auf dem Archetypus beruht , sondern auf einer tieferen Stufe der ü berlieferung) . 3.
Die Subvarianten. sowei t. sie nich t zu eliminieren sind .
4. übereinstimmende Lesungen mehrerer Variantenträger. falls sie zugunsten der Lesung eines drit ten Variauteuträgers verworfen werden. Ist die aufgenommene Lesung als Konj ektur des Variantenträgers anzusehen. so ist sie als solche zu kennzeichnen . 5.
Zweifel an der Richtigkeit des Textes.
Daß der kritische
Apparat u n t e r den TeJ\.-t gesetzt wird, geschieht aus Rü cksicht auf die Ver
hältnisse des Bu chdrucks, besonders auf das Format unserer Bücher . Viel a n schaulicher ist die Praxis der Hand schriften in Altertum u nd Mittelalter, die den äußeren Rand dazu ver wenden. Man könnte das vielleicht in besonders geeigneten Fällen, z. B. bei der griechischen Tra gödie , auch im Druck versuchen, nat ürlich nur für die wichtigeren Bemerkungen.
24. Bei wechselnder Bezeugung (zeitweiligem Hinzu t reten oder Wegfallen wich tiger überlieferungszweige) ist zwischen Text und A pp ara t über j eden Wechsel Rechenschaft zu geben. Verschiebt sich durch den Wechsel der Archetypus nach oben, so wird für diese P a rtie der frühere Archetypus zum Variantenträger oder noch geringeren R anges und ist danach im Apparat zu behandeln (Elimination der Subvarianten usw . ) . Verschiebt sich der Archetypus nach unten (durch Weg fall eines Variantenträgers) , so sind den Umständen entsprechend die Lesungen der bis dahin eliminierten Zeugen einzusetzen. Sicher el imini e rb ar e Lesungen gehören nicht unter den Text . Präsumptivvarianten stellt man am besten in einem Anhaug zusammen. Sind verworfene Varianten, Kombinationen , Konjekturen der aufgenommenen etwa gleichwertig. so sind sie herv orzuhe be n ( Sperrdruck, ' fortasse recte ' ) . Es ist Sitt e , Konj ekturen mit dem Namen ihrer Urheber zu versehen. Aber Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit verl an gen, d aß i n gleicher 'Veise derer gedacht wird. die als erste den über
li eferten Text verständlich gemacht o d er die Verderbnis aufgezeigt haben . Man sollte beidES nur mit Auswahl tun, andererseits aber u nter U mständen eine kurze Begründung hinzufügen,
z . B . Änderungen, die nur um des Metrums willen geschehen, als solche ken n zeichnen. Es h errscht zu wenig Leben in unseren kritischen Apparaten. Die V e r d e u t l i c h u n g des auf Grund von recensio und examinatio konstituierten Textes durch Worttrennung. Absätze, Kolometrie, Lesezeichen. groß e Anfangsbuchstaben usw. ge
hört zwar auch zu den Aufgaben der kritischen Ausgabe, bildet aber einen Teil der i n t e r p r e t a t i o , deren Ziele dem \Vechsel d er Zeiten unterworfen, j edenfalls nicht i n der gleichen Weise zu normieren sind wie die der Textkritik.
E. B E I S P I EL E *
25. U r k u n d l i c h k e i t . Die codices unici der Klassiker (und die wichtigsten Vari antenträger, s. § 19) sind im al lgeme i ne n ausreichend beschrieben und verglichen (' kollationiert ' ) . Viele sind sogar durch Lichtdruck-Faksimilia zugä n glich ge macht , die sich unter U mständen leichter entziffern lassen als die O riginale. Doch ist zur Beurteilung der Heftun g , der Rasurel?- , der V erschied e nheit von Tinte , Papier usw. Einblick in die Handschrift selbst oft noch immer unumgänglich . K leinigkeiten wird m a n auch in den meistgelesenen Texten noch hier u n d d a nachtr a gen können ; z . B . steht Aisc h ylos Sep t . 915 im Scholion d e s Mediceus ngonop.not, nich t n[!o1'&op.nd , was auch für den Dichtertext nicht gleic h gültig ist. Platon Menon 9g e steht hinter OU , f ilet lp.o tye so g ar in allen Handschriften ein in den Ausgaben nicht erwähntes Zeichen für Personenwechsel, wod urch sich Wilamowitz' Vermutung bestätigt, daß diese Worte nicht Sokrates spricht . In den Medicei d es Tacitus hat vieles erst GAndresen entziffert. Zu The okritos 15, 72 hat ChrZiegler in seiner Ausg abe (1879) S . 190 die Lesung des Variantenträgers K faksimiliert ; es ist nicht äirg ( e ) o)(;, sondern d l1iw(; , und dies wird durch den Pap y rus Oxyrh. 1618 b e st ä tigt , der das Rich tige , tlAa8-iw;, b ring t . Eur. I ph . T. 494 steht im Lauren tianus Ei -n von erster, nicht von zweiter Hand (Mitteilung von GPa s q uali und ERostagno) . [Von vielen Papyri, die testes unici für wicht i g e Klassikertexte sind , ist noch immer keine Ph o t o graphi e zugänglic h . - 1 949 J Erstausgaben, die auf einem n i c ht leicht lesbaren codex unicus beruhen , bieten selten eine abschließe n de Entzifferung. Oft konnte man schon auf Grund der vom Herausgeber beigegebenen Schriftproben weiterkommen, oft sogar du rch divi natio o hne K enntn i s d er Schri f tz ei ch en (Cairensis des Menandros) . Anderer seits wird durch unbewu ßte divinatio die Objektivität der Kollation leicht gefährdet. Am zuverlässigsten wird der kollationiereu, der einerseits den Text am be s ten versteht , andererseits seine Kennerschaft zugunsten rein visuellen Arbeitens aus zuschalten vermag. Die verkohlten Reste der herkulanen sischen Papyri verlangen ei11€n Philologen, der zugl eich ein geschulter Ze i chner ist. [ Ü berhau pt wird bei E rs t ausgahen verstümmelter Texte von Zeichnung viel zu wenig G ebra u ch ge macb t . -1949] Über die Behandlung von Palimpsesten vgl. me i ne Griech. Paläo graphie ( G ercke-Norden J3 9 ) § 9. Daß modern e Fälschungen auf paläographischem Wege nachgewiesen werden müssen, ist Ausnahme (vgl. E N orden , Die röm . Lite ratur [Gercke-Norden J 3 4 ] 100 und S.-Ber. Berl. Akad. 1924 , 163) .
2 6 . Z w i s c h e n s p a l t u n g e n m i t T i t e l w e c h s e l (§ 10) : Ü b�rlieferung des Codex Theodosianus, die überhaupt wegen der Datierbarkeit mehrerer Spaltungen von paradigmatischer Bedeutung ist ( Stemma G GA 1906, 643) . Ü berlieferung ein iger Briefe des Gre g orios von Nyssa ( ed . Pas q uali 1925. Zu p. 82 , 1 5 vgl. p. LXI I I ; wie soll eine ein z elne H andschrift der gef älschten Libaniosbriefe eine Variante der Gregorios-Überlieferung erhalten haben , wenn diese nicht im Archetypu s der Libaniosbriefe stand ?) . �, Der Abschnitt E war in der I . Aufl a ge in Petit gesetzt, womit die untergeordnete Bedeutung dieses Kapitels und 'das Willkü rliche in Auswahl und Anordnung' (vgl. § 4C ) gekennzeichnet werden sollten. Nur um der besseren Lesbarkeit willen hat der Verlag j etzt die gleiche Schrift größe gewählt wie für die übrigen Abschnitte.
2
M a a s , Textkritik. 2. Aufl.
18
Beispiele
P r ä s u m p t i v v a r i a n t e n (§ 1 1 ) . In den neun nichtkommentierten Stücken des Euripides (HeL EL Held . Herc . SuppL Iph. A. und T. Ion CycL ) hat von den beiden einzigen Handschriften L (s. X I II/XIV) und P (s. XIV lXV) die erstere ganz wenige , die letztere zahlreiche Sonderfehler. Das führt zu der Vermutung, daß P aus L stammt. Dann muß in den Fällen, wo P die bessere Lesung hat , diese auf Konj ektur des 14. J ahrh. beruhen . Die wichtigsten drei Stellen sind folgende aus der Iph. T . :
27 .
1005
.
.
.
oV yde dA),' dv�e pF:v he 60pwv
IJrl1lwv
nofh:wor;, Ta t5e yvva",d, dClI'}EVii .
So P, """at�Wv L, mit einem für Euripides unmöglichen Verstoß gegen das Porson sche Gesetz. Von einer Kenntnis dieses Gesetzes ist zwischen Seneca und Porson keine Spur. Aber nichts hindert anzunehmen, daß ein Byzantiner um der Kon zinnität willen den Singular richtig hergestellt b at ; eine bewußte Änderung in P findet sich z. B . 839. 1441 a 1441 b
ayaApd {J' leeov E lr; lp� l1�wv xl}6va T Wv II'ÜII ncleollTwV nTJf.ldTWV dllmpvx�.
Der zweite Vers fehlt in P ; aber er ist auf den ersten Blick so störend und über flüssig, daß ihn wohl j eder denkende Leser streichen konnte. J edenfalls paßt die Athetese eber zu den Sonderfehlern vo'n P als die Interpolation zu den Sonder fehlern von L. übrigens d ürfte der Vers ech t sein (vgl . 92 und Ion 1 604, ebenfalls Rede der Athena ex machina, das Drama etwa gleichzeitig ; Hipp. 600 ; [ Sopb. l fr. 1025, 5 nTJJ.lchwv naempvx� I}EWv dycUpaTa) . 692
.
.
.
l�YEtv ßlov.
So L, aus Ä�C1etv korrigiert ; ÄVC1BlV P. Man hat Ävelv oder Ä'Üaal für das Originale gehalten, aber übersehen, daß transitives Ä�yew Ion 1404 wiederkehrt und als die lectio difficilior den Vorzug verdient. Somit ist in P noch keine Lesung aufgezeigt, die nich t auf L zurückgehen kann . D amit ist freilich noch nicht erwiesen , daß P wirklich aus L stammt. L könnte ja beim Abschreiben aus einer gemeinsamen Vorlage nur eben jene wenigen Fehler begangen haben. Aber erstens ist das bei einem so umfangreichen Text sehr un wahrscheinlich, und zweitens finden sich mehrere Fehler in P , die sich nur aus Ver lesung undeu tlicher Stellen von L erklären lassen (Nachweis von NWecklein, vgL d arüber zuletzt Gnomon 2 , 1926 , 156 ) . Somit kann man wirklich P eliminieren , wie ys in dem Euripides der Sammlung Bude geschieht. 28. L ü c k e n u n s e r e r H a n d s c h r i f t e n k e n n t n i s (§ 12 ) . Grundsätzlich wäre zu fordern , daß kein Zeuge eliminiert wird , ehe feststeht, daß er a usschließlich von erhaltenen oder ohne ihn rekonstruierbaren Vorlagen abhängt, d. h . ehe alle seine Sonderlesungen geprüft sind. Aber bei u mfangreichen Texten mit reichlicher ü berliefernng würde Befolgung dieses Grundsatzes eine ungeheure Arbeit mit sicb bripgen, deren Ertrag für den Text unter U mständen äußerst gering wäre und für deren Veröffentlichung die Kosten kaum anfzubringen wären. M an wird da her oft zufrieden sein müssen , wenn zunächst einmal die Abhängigkeitsverhält nisse nur im Groben festgestellt werden , die eliminatio auf Grund von Stich proben geschieht ( Sonderfehlergemeinschaft mit erhaltenen oder rekonstruier baren Zeugen) und nur d ie Variantenträger ganz zu Wort kommen. Auch da
Beispiele
19
j ed o c h fehl t no c h viel an der zu fordernden Vo llstä ndigkeit . Von d er zweiges pal tenen überl ieferu n g der Bibliothek des P hotios ist n ur ein Arm ausreicbend be kannt. In der überliefe ru u g des Theogni s , Sophokles, Aristophanes, Platon , A pollonios Rh o dio s , Catullus, Lucretius, Lucanus , sind die Abh ä ngigkeitsve r h äl t n isse w i c h ti ger Arme noch nicht erforscht , so d a ß deren So nde r les u n ge n alle zu P räsumptivvarianten werd en . Eine noch nicht verwertete Strabonhandschrift des 13. J ahrh . l ieg t auf dem A t hos (Vatopedi) . Zitate, die einer dem Arc he typus der Ha n ds c h riften vor au sl iege n de n Sp alt ung entstammen , sind wohl mei st dar au f untersucht, ob sie Verbesserungen lie fe rn , werden aber noch nich t , wie sie verdienen, du r ch w eg als Variantenträger f ü r die Re k on stru k tio n des mit i hrer Hilfe erreic h b aren älteren Archetypus behan de l t .
B e s e i t i g u n g e i n e r s c h w e r e n A n o m a l i e (§ 15 ) . Bei S a p p ho 98 , 8 Diehl 1'-IpJD. üb er liefert, wo das Met r um fordert ; das Entscheidende ist, daß d as synonyme aEÄaJIVa dem Metrum Genüge l e i st e t . W e r für m ö glic h hält , d a ß Sap pb o t ro t zdem I'�va ge sc h riebe n hat, m üßte einem modernen Dichter zutrauen , in einem sonst du rch we g reimenden Gedicht auf ' Brust ' nicht ' Lu s t ' folge n zu lassen, s ond ern ' W on ne ' . 29 .
ist
u _
_
30. B e s e i t i g u n g g e h ä n f t e r s c h w ä c h e r e r. A n s t ö ß e 226 f . Iris muß te der Hera melden , daß sie die Asteria (=
( § 15) . Kallim. hymn . 4 , De l os) nicht hat hind ern können , der Leto eine Stätte zur Niederkunft zu ge w ä h ren . Schluß ihrer Rede : dll d
rpiJ.TJ O'V!:
vSln:4! ot!:, 02 UEio
Im Text steht d i e
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1'60 ov!: Ycfel dl'VV61V notVIa c5ooÄo!!: tSl-IpJ nic50v naTtovau' erptTl'fi.
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ü b erl i e fe r u ng , der alle
He rausg eb e r folge n , darüber d i e Kon
A n s t ö ße d e r ü b e r l i e f e r u n g
Der
verbes sert e
Text
I ri s sucht den Grol l der Hera von 217 rp6Pcp) , indem sie sie auffordert, die Asteria zu be strafen ; Hera lehnt diese St r afe groß mütig ab (244). Alles vor z üglich .
Bitte der Iris um Hil f e ist u npa s send ; es ist zu spät z u r Hilfe, sie setzt sich denn a uc h nieder, da ihr Dienst erl ed i gt ist . Von einer H i nderung d er E n tbindung ist auc h weiter n i ch t die Rede .
1.
denn
s i c h a b z ul en k en ( v gl .
Der imperativische Infin it iv ist hin ter dem paren t he tis chen c5Vvaaat eine k a um erträgliche H ärte.
2.
3 . dl'VvEtv verletzt die bukolische Brücke (s. u. § 3 1 ) ; daß die IIias u nter m ehre
3.
1.
2.
Die N ach ahm u ngen A ga t h . Antb. Pa!. 6 , 7 6 dÄÄd {hd (c5Vvaaal yde} . . . Troxt und Pau l . Silent. E c p hr. 224 dlld pd"ae (c5V
vaaal "de . . . ndaatlJl ) . . . n(!oTlTCll.V e sp r e c hen
für den I mp er at i v .
re n h u ndert d a gegen verstoßenden Ver sen a uch eini ge mit dl'Vvttv h at , beweist nichts für K allimachos. 2*
dSlVvtO i st metrisch tadellos. Die Ver derbnis war erleichtert du rch das vor
her g ehen d e
c5Vvauat .
Beispiele
20
4. ' Den Boden tre ten ' bezeichnet schlecht den Dienst der geflügelten Götterbotin.
' Die deinen Befehl (die Leto nicht aufzunehmen, vgl . 203) zu Boden t re ten ' bezeichnet vorzüglich die Schuld der Asteria.
im Sinne von "aiay na (Theokr. 18 , 20) ist sonst nicht be zeugt [ 'aber vgl. Gregor. Naz. carm. II 1 , 1 3 , 122 in PG 37 , 1237 . ' RP feiffer brief lich . 1 949] .
5.
5.
ni60v naTEtv
Teil'
-
4.
ni60v nauiv im Sinne von }'a"nauiv hat Aischyl . Agam. 1357 Choeph. 643 (was man jetzt nicht mehr ändern wird ) . na TEil' in ähnlichem Sinn bei Kallimachos wenige Verse später (248).
Die Sicherheit dieses vierfachen Eingriffs beruht darauf, daß bei dem Versuch, den passenden Sinn wiederzugeben , der metrische, der syntaktische und der lexi kalische Anstoß von selbst wegfallen und daß eine altertümliche Phrase (ni6rw 1lan:iv n) herausspringt , deren naheliegende Verkennung zu der Korru ptel ge wissermaßen zwangsläufig führen mußte : wer ni6ol' als Akkusativ-Objekt von na T€OWIV faßte, mußte lqJeTIl�1' (das wahrscheinlich t.q;E:T/'� geschrieben war, vgl. 195 , 298 usw . ) in tqJEtll1i ändern , dann die 6oV},ot auf I ris beziehen und dann das ' Strafen ' zum ' H elfen ' umdichten, wozu die M ehrdeutigkeit des Stammes dll'lll' - zufällig eine sehr bequeme H andhabe bot . [Die U mdichtung könnte im Kreis des Michael Choniatas (12. J ahrh . ) entstanden sein ; vgl. Pfeiffers Ausgabe des Kallimachos 1 (1 949) , zu fr. 25l f . , 264 und p . 499 zu fr. 1 , 1. 7 , 30. Über die Konj ekturalkritik der Byzantiner vgl. ByzZ. 36 (1936 ) 27 ff. 1 949J Ein Rückblick auf die Etappen der Forschung dürfte lehrreich sein. Von den fünf Anstößen der überlieferung ist der zwei te von ADacier (um 1700) , der dritte vou Wordsworth (1844) empfunden worden ; darin liegt der Wert ihrer (von O Schneider verzeichneten) Konjekturen , deren Wortlaut j etzt verschwiegen wer den darf. d/lVveo (das übrige wie überliefert ) habe ich 1 92 1 pu bliziert (Neue Re sponsionsfreiheiten I I 182) , aber Wilamowiti wandte mir mit Recht ein, daß das Medium nicht ' helfen ' heißt . Also versuchte ich's mit dem Begriff ' strafen ' . konnte aber nun den Relativsatz nicht einordnen. Bei einer Besprechung mit W Crönert schlug dieser das entscheidende e.rpETllfrv vor (1922, veröffentlicht 1 923 in meiner Griech. Metrik [ Gercke-Norden P 7] § 92) , und nun erst stellte sich heraus, daß die ü berlieferung noch drei weitere Anstöße bot (1 , 4 und 5) , die wir beseitigt hatten , ohne sie empfunden zu haben. Eine schöne Parallele. Diphilos bei Plaut . Rud. 697 illos seelestos qui tuum fecerunt fanum parvi fac ut ulciscare , wies mir f d Fraenkel 1925 nach. -
3 1 . B e s e i t i g u n g e i n e r s i c h w i e d e r h o l e n d e n A n o m a l i e.
Im Anschlu ß an das vorige Beispiel seien noch einige Fälle aufgeführt, in denen die Beobacht ung der bukolischen Brücke zu einer Verbesserun g des Textes führt.
Kallim. hymn. 6 , 1 2 9
nOTi
TaJl
()eüv äxet. opaeTf;il'.
Kallimachos verwendet /JeU. einmal am Versschluß (6, 57) , wo es mit diesen Mono syllaba eine besondere Bewand tnis hat (s. meine G riech. Metrik , Nachtrag zu § 96) , sonst stets die offenen Formen. Das gleiche ist also auch hier zu fordern , und so wird {)eav (wie schon eine Renaissance-Abschrift herstellte) seit M eineke in d en Text gesetzt. Die Verderbnis beruht auf Erinnerung an v. 57 , wie in hyum. 5 , 1 3 8 TWeYOJl wegen 5 4 in TWerO' verderbt wurde. Wir müssen hier. wie oft in ge-
Beispiele
21
lehrt er ü berlie ferung, die ( sons t meist z u bevo r zugend e ) lectio difficilior preis g eben. Uber �allim. fr. 106, 3 Sc hn . = 4 3 , 14 Pf. (wo zu der durch Interpunktion ver schärften metrischen Anomalie die stilistische kommt) s. m eine Griech. Metrik § 139. naeaxeiiJ.'a ist alte Erlä u teru n g ( ' Glossem ' ) zu dem richtigen naed xeio. (Naeke [i n zwi schen durch OxPap. 2080 b est ä t igt. - 1 949] ) . Kallim. fr. 202 S e h n . (618 Pf.) 'P�y,ov datv }.I3EWJI ']oledaTov A lo).t6ao . Hätten so wirklich, wie O Schneider meinte, alle Handschriften , so stünden wir dieser Ausnahme ziemlich wehrlos gegenüber, obwohl der anomale Hiat hinzutritt. Tatsächlich schreibt so nur Tzetzes und ein von ihm abhängiges Odyssee- Scholion. Die Scholien zu Dion y s . Perieg . 461. 476 , von denen Tzetzes a bh äng t . bieten ']Oledauw (so der Laur. 28, 25 nach freundlicher M itte i l ung von GPasquali) oder ']oledam.l1" - TEO' (nach Be m h a r dy ) . Offenbar hat also Tzetzes die Endung vul gari s iert , wie er auch Kallim. hymn. 3 . 234 �xaLCiiv statt �la,t6E' schr e ibt mit dem selben metrischen Fehler. ']O-Xr1.a-r:IlW, was schon Nauck vermutet hatte (Philol. V 590 Anm. ) . wird d u rch die Genetive gleichzeitiger Alexan dri n er L1 aaX1iMw und X'J.'v}.IlW (Anth . Pal. 7 , 709 ; 6. 34) gedeckt ; jenes L1 aa,w).Ew h a t freilich aus historischen Gründen Anstoß erregt. aber keinen schwerwiegenden. und die v orzü gliche ü ber lieferung (Plutarch + M eleagros , also wohl ale x a ndrini s che Bibliothek des 2. J ahrh. v. Chr . ) gestattet keinen t i e feren Eingriff ohne z w inge nde Gründe . Es ergi bt sich also, daß Kallimachos die bu k ol ische Brücke ausna hmslos be obachtet hat , wie d ie s für die meisten in formaler Hinsicht a nspruc h svollen Dich ter seit Archilochos feststeht (vgl. meine Griech. M e trik, Nachträge) . Und diese Ausnahmslosigkeit best ä tigt gewis ser ma ß en die um der Regel wille n vorgenomme nen Eingriffe, weil sie ohne Vergewaltigung der Ü berlie f erung erreicht wurde. Besonders glücklich trifft sich. daß kein Eingriff allein um dieser R egel willen nötig war ; sie wäre ü brigens stark genug , um auch einen solchen Eingriff zu rechtfe r tigen, und dies selbst dann. wenn sich die A u snahmslosigkei t nicht er reichen ließe. ü b erhaupt darf man eine solche Ausnahmslosigkeit schon deshalb nicht ü berschätzen . weil d as M aterial. in dem wir sie feststellen. nur einen Bruch te i l des ursprünglich vorhandenen ausmacht. So wird denn oft ein leiser Zweifel ü brigbleiben . aber schließlich hat auch dieser seinen Reiz. ( G rundsätzliches zur Behandlu n g metrischer Anomalien : PMaas. Neue R esponsionsfreiheiten I . 1914 . § 2-5 ; AEHousman . CI Quart. 192 7 . 1 . ) Von ä hnliche m textkritischem Werte wie das Streben nach metrischer Konstanz ist das nach s p r a c hl icher . besonders wenn eine in umfangreichen homogenen Text massen bezeugte Sprachnorm einerseits durch das Metrum. andererseits durch gleichzeitige Inschriften gesichert ist wie b eim Dialog des attischen Dramas im 5. J ahrh. Ein Ü berblick über Umfang und Grenzen dieser Konstanz, anschließend an die Sammlungen von OLautensach . w ä re wertvoll. ü be r s chät z ung dieser Kon stanz hat z. B. zu dem Versuche geführt. die Imperat ive auf - Twaav und die Opta tive auf -7JJ.'1lJI (Eur. Ion 1 130 . Iph . T. 1480 ; Ion 943 . Hel. 1010. Cycl . 1 32 . Soph . Euryp. fr. 94. vgl . trag. anon . Pap. Fiorent. 136, 4) zu verdächtigen. 32. S i n g u l a r i t ä t e n d u r c h Ve r d e r b n i s g e t r ü b t (§ 15) . Kallim. Ir. 86 Schn . (191. 10 Pf . ) überl . Xd).HIl(')OV statt lla yxa'iov (corr. RBentley auf Grund der Tra dition über Euhemeros. durch deu Papyrus bestätigt) . Kerkidas fr. 1 . 30 Diehl ü b erl . in dem Papyru s "a,ayaOaJ.'IlTat6w. (mit dem Sch o -
22
Beispiele
lion brei öW, dyaD�, Hesiod. op. 356) statt )/lai MeTat5OJ, (corr. Wilamowitz in der Erst ausgabe ; a'YaDa ist aus dem Scholion, das schon in der Vorlage stand, in den Text eingedrungen) . Plaut. Most. 1 149 überI. dephilo aut philomontes statt Diphilo aut Philemo ni es (corr. FrLeo und FrB ücheler, Herrn. 1883 , 560) , Varro Atac. fr. 35 Baehrens über!. expedita statt experdita (corr. FrBücheler, Jahrb. f. Phil . 1 866. 610 ; das abundierende ex als Soloezismus von dem zitierenden . Grammatiker bezeugt) . Cicero in Pison. 85 überI. Io vis velsuri statt Svelsurdi (corr. JHMordtmann . Rev. Arch. 1878 II auf Grund thrakischer Inschriften) . [xaT(lit5a TT}V aietT�v (aemp' cod d. : corr. KHude, 1 912) 7jYTjaapElloL, sagt der Wahl athener Lysias (Epitaph. § 66) von den für die Freiheit Athens gefallenen Metöken. 1 949] überall hängt die Möglichkeit der Heilung an einem glücklichen Zufall ; aber nur der Gerüstete ergreift ihn beim Schopf. Man lese R Bentleys ErstIingsschrift, die Epistula ad Millium (169 1 ) , die Inkunabel der divinatorischen Kritik . Methodisch lehrbar ist da freilich nichts. -
33. I n t e r p o l a t i o n e u (§ 1 6 ) . Es genügt, an den Homertext, an die Juristen in J ustinians Digesten und an Horaz Carm. 4, 8 , 14-1 7 und 3 , 1 1 , 17-20 zu er innern. Durchschlagend dagegen scheint die Athetese der geographischen Exkurse in Caesars Bell. Gall. (z. B . gleich 1, 1 , 5-7) , obwohl man die Menge des Anstößi gen merkwürdi g spät empfunden hat (HMeusel und AKlotz. 1 9 10 ; vgl. ENorden, Die röm. Literatur [ Gercke-Norden 13 4] 107 ) . Eine besonders tückische Interpo lation, Lucan. 7 , 388, hat AEHousman mit Hilfe der Präsumptivvariante �ex plicat 387 und der dnrch J uvenal . 1 3 , 28 ermöglichten Emendation non(a) aetas (cl. Tac . Ann . 1 1 . 1 1 ) höchst scharfsinnig entlarvt. [Das A ufspüren von Interpola tionen steht im Mittelpunkt von G Jachmanns Tätigkeit seit 1935 ; vgI . H Fuchs. M usHelv. 4 ( 1 948) , 1 90 f. , auch 164 f. Zum Herodottext vgl. J EPowell im Anhang zu seiner englischen Übersetzung. 1 949 . ] [F ä l s c h u n g g a n z e r We r k e (§ 1 6 ) . Bentleys Entlarvung der Phalarisbriefe (1 696) machte Epoche. Aber die le tzten 50 J ahre brachten R echtfertigung für manche, lange Zeit hindurch verworfene, überlieferuug : mehrere Briefe Platons, der Epitaphios des Lysias und der des Demosthenes, der Brief des Speusippos an P hilipp werden allmählich als echt anerkannt. Um Euripides' Rhesos und Senecas Octayia wird noch gestritten. HFuchs, M usHelv. 4 (1948 ) , 1SS f. scheint mir der . überlieferung gegenüber zu skeptisch. 1949] -
34. D a t i er u n g d e s Ar c h e t y p n s ( § 1 7 ) . Ein sicherer terminus pos t für den Arche
typus sind Z. B. solche Verderbnisse. die sich nnr aus Verlesung einer M inuskel vorlage erklären lassen . also Verwechslung von ß '] )/I I-l ; ein solcher Archetypns muß also jünger sein als das 8 . J ahrh. (z. B. )/IQeVt5LXO, statt ßae{Jt5'1/.0" Aisch. Choeph . 936 ; IIt1l:eOI' statt lIEßeOll Eum. 246 ) . Termin us ant e sind z. B. Varianten, die nur aus verlesener Majuskelschrift ( A ..1 A , E O el:) entstanden sein können: so EXE Ta' 8. statt axid,a die Hs. F bei Platon Gorg. 467 b 10 ; der Archetypus von B T F ist also älter als das 9. Jahrh. Dagegen beweisen Majuskelkorruptelen im Archetypus und Minuskel korruptelen bei Varian tenträgern nichts für das Alter des Archetypus.
Bei spiele
23
3 5 . A l t e K o r r u p t e l e n . Selbstverständlich spricht das Alter der verdächtigten Lesart nich t an und für sich gegen die Annahme der Verderbnis. Platon Symp. 208 b d8-d.Jlu�ov die Byzantiner und der Papyrus : dc5VJlUTOI' Creuzer evident .
Timotheos Pers. 2 3 4 nOIKLÄo/L01IClOClO(}LVUVJl d e r Papyrus (4. J ahrh. v. Chr.) : nO'leüo /LotJC1OV Oerpevr; xEAvv Wilamowitz in ct'er Erstausgabe . Der Vers Bakchyl. 17, 63 fehlt in dem einem Pap yrus (0) und steht in dem andern (A) an falscher Stelle. Er war also im Archetypus am R and nachgetragen ohne deutlichen Verweis (Blaß hatte das auf Grund von A erkannt , noch ehe 0 zum Vorschein kam, und hatte gleichzeitig einen Silben ausfall in A v. 62 festgestellt und geheil t, was dann 0 ebenfalls bestätigte : J ebb hatte sich von Blaß über zeugen lassen , andere nicht). J ener Archetypus ist wohl in Alexandreia um 100 n. Chr. anzuse.t zen. 36. Ve r d e r b n i s d u r c h d i e Q u a l i t ä t d e s Z e u g e n a u s g e s c h l o s s e n . Vergil Ec1 . 4, 62 , wo die Handschriften Folgendes bieten eui non risere parentes , nee de�js hunc m ensa , dea nec dignata cubili est,
las Quintilian 9, 3, 8 qui n on risere und wunderte sich, daß darauf hunc im Sin gu lar folgt. Das hätte er wohl nicht getan, wenn es damals eine Varian te cui non risere gegeben hätte. Diese kommt also für die recensio nicht in Betrach t . Nach qui ist aber parentes unsinnig, einleuchtend J Schraders Konj ektur parenti (= pa rentei LHavet) . Daß die Quintilianhandschriften ebenfalls cui und parentes schreiben, beruht vermutlich auf Kontamination aus der verdorbenen Vergil überlieferung. Warum Vergil dann nicht hos schrieb , wird man nachfühlen , wenn man an das Lager der Göttin denkt ; die Konstruktion , im Lateinischen anomal, graezisiert (v gl. Eur. Herc. 195 ÖClOt lX01lClL , eveTUt) , wie denn die ganze Schluß wendung an Theokr. 9 erinnern soll (der von Kirke nicht Verzauberte hat Tisch und Bett mit ihr geteilt) . - ' Zuletzt und am entschiedensten ist für d iese Lesung eingetreten ENorden, Geburt des Kindes (1924) 6 1 ff. •
•
Umgekehrt muß man aus der verdorbenen Form , in der Aristoph . Pax 603 ff. von Diodor. 1 2 , 40, 6 nnd Aristodemos F GrHist . 104 F 16 zitiert wird , schließen, daß die beiden d as Zitat nicht aus Ephoros (F GrHist. 70 F 196) übernommen haben : auch setzt d ie Kontamination mit Archilochos (v. 603 ) einen gelehrten K ommen tar vora us. Die Korruptel in v. 605 kehrt in unseren Handschriften wieder, ist also vorschristl ich : sie harrt noch der iiberzeugenden Heilung (zuletzt fje�E Avn77' ThReinach) . 37. T r ii g e r i s c h e B e s t ä t i g u n g. Pla ton Phaedr. 245 c det"[II'7�ov Hss. Cicero (de re pub!. 6, 27 quod semper movetur) Hermogenes (25 1 , 16 R . ) H ermeias Simplikios (Comm. Arist. XI 32, 10) Stobaios : UV7O"[Vl)1:0V (wie von mehreren vermutet war) Oxyrh . pap. 1017 (erschien 1910) s. II p. Chr. (mit d er Variante dw,lv77�oV) , was dann mehrere aufnahmen. Man wird die Notwendigkeit von döl"{V11TGV erkennen , wenn man , im Gegensat z zu den Ausgaben, hinter 245 c 5 d�aV(ITOV einen Pnnk t , hinter c 7 CwTjr; e i n Semikolon setzt : d e r Begriff, wenn nicht d a s Wort, scheint übrigens schon in Pla tons pythagoreischer Quelle gestand en zu haben (Vorsokr. 14A 12 : · vgl . 32 B 2 1 Diels, Okkelos fr. 1 Harder) . Die falsche Satzverbind ung. zu der Platons lässige Anknüpfung �O {J' äiJ.o 'XLvoiiv (statt etwa TO Jl f:., oW . . . )
24
Beispiele
verführte , wird an der Verderbms aV To"lV1/U/li schuld sein. Übrigens ist das neue Zeugnis bedeutend j ünger als der vorher erreichbare Archetypus ; und da kein Grund besteht , es aus einer älteren Spaltung abzuleiten, war es als vermutliche lectio singularis (9 8 c) zu eliminieren . Aber es bleibt ein Verdienst der Konjektur, auf einen Mangel der examinatio hin gewiesen zu haben . 38. B e s t ä t i g u n g d e s'A n s t o ß e s , a b e r n i c h t d e r H e i l u n g. PJaton Symp. 204 b
wurde das unkonstruierbare clV in av oder 6i} geändert. äv Ei71 der Papyrus, und eigentlich ist Wortausfall der nächstliegende Schreibfehler. - 209 d hatten Ast und Badham die Konstruktion beanstande t, der Papyrus bringt sie durch die Einfügun g von El� vor 'H(Jlo6ov in Ordnung (hinter 'H(J. ist mit Rückert p.in Komma zu setzen , was auf das zweite EU; hätte führen können) . - 213 b w� /!"Eivov "a{}{CE"" hatte B adham beanstandet, der Papyrus brachte mit "an6 [EiJl ) das Wahre ; in dem byzantinischen Archetypus hatte wohl "alME/v gestanden , eine häufige Schreib weise. Die Athetese der drei Worte war ein methodischer Fehler gewesen, da solche Interpolationen den erzählenden Partien im Plato fremd sind. - 219 c "al3tE(! �"Eivo )lE IPI1'YJv TL E11'at war von Hug als grammatisch unmöglich erkannt. Auf das sin gu läre "al nEei i"E iJlo des Papyrus konnte die divinatio nicht wohl führen . aber man hät te es beim Kreuze bewenden lassen sollen. Xenoph. Symp. 8 , 8 überl. eewpJ:vov statt ' Liebhaber ' , daher iea(JToV M osche. Der Papyrus IAegyptus 1923 . 4 1 ) brachte leW (V) TO�, was m an als gleichwertige Konjektur hätte in Betrach t ziehen können. Catull. 64 , 324 (Anrede der Parzen an Peleus bei seiner Hochzeit) Emathiae tutamen opis. c(l)arissime nato (Renaissancekonjektur) .
Damit sollte auf den noch unerzeugten Achill angespiel t sein ! H ätte man stat t dessen d a s Kreuz gesetzt. s o wäre gewiß schon vor AEHousman ( C l Quart. 1915. 229 ) das Wahre gefunden worden . das freilich nicht nahe lag. obwohl es ü ber liefert ist : Opis carissinu nato .tJ tlrpw. =
39 . Ü b e r s e h e n e Ver d e r b n i s. Platon Sy mp. 201 d W rptJ.oVjJEVE � )ldßowv. Der Papyrus Oxyrh . 843 saec. II p. Chr. (erschien 1907) brachte die Lesung rpfk.
Niemand hatte beachtet. daß rpt).oVJ.lEVO� rplAOI,; singulär ist. Freilich bedarf die' Korruptel noch der Erklärung. - 203 b ElaEJ.ßoWv. Der Papyrus richtig i�E). Selbstbeherrschung ; der Papyrus brachte den passen {}wv . - 2 19 d "aeuelav den Au sdruck. 6rxedTEtaV (vgl. Aristot. Eth. Nic. 1 150 a 37 ) . - 223 b Elt; TO !J.vn xqu� . Wie unverständlich das war, lehrte erst der Papyrus durch d(JW {in. Der P apyrus verbessert den Text noch an mehreren anderen Stellen , die aber vorher nicht wohl Anlaß zu einem Eingriff geben konnten, so 204 c elvat vor (statt hin ter) wEew Tll . 210 a "ai (IV vor mE(J{}al . =
=
4.0 . B e s t ä t i g u n g s c h e i n b a r a u s s i c h t s l o s e r K o n j e k t u r e n. M enandros (Epitrep. 3 88) bei Stob. 73, 40 fr. 564 Kock =
•
.
•
6 "axOOll{pmv ne0(J6oxwv
xdetv naed yvva t"O� "o� teiaßoat ' �i} �OvOIl
"a"D"
Tt
neoaAd-POt/lt.
Bothe und Cobet hatten unabhängig voneinander umgestellt "o�Ei(J{}at naed ",., wodurch das M etrum etwas geglättet wird (normalere Zäsur und nor-
l'a L�O.,
Beispiele
25
malere Auflösung naea statt .(la )IV.). Es war ihnen niemand gefolgt, und ich fürchte, auch heute w ürde ihnen niemand folgen, wenn nicht der Papyrus ihre Konjektur bestätigt hätte. Und doch mußte man so lange an der ü berlieferung zweifeln, als nich t begreiflich ist, warum M enandros ohne Not die härteren Rhyth men gewählt hat. Nonnos Dion. 1 5 , 112 in der Handschrift s. XII d"e 0,,6JWU CPOtIlI.'XO� ij t:UWl'JtIlO� � "'�II7j� etnlCClJII dvip.otau) iM.; lm:uVewtll öen7j;. iJ.at1J� statt �D1)"7J; vermutete Koechly , ohne sich selbst zu überzeugen ; und dies
brachte der Papyrus. Die Nonnosüberlieferung ist reich an solchen Wortver tauschungen (die Verderbnis stammt aus der Erinnerung an t:UriJl'Jtlltc; :A�at 47 , 4 . 372) .
[Eine ebenso überraschende wie überzeugende Verbesserung von E v . M atth. 6, 2 8 . �a{II(j'IJatll ov6i vrjf)ovow, ergibt sich a u s d e r 1938 entdeckten Lesung der ersten Hand des cod . Sinaiticus . Vgl. TCSkea t , Zeitschr. f. Neutest. Wiss . 3 7 , 2 1 1 und ELobel , Oxyrh . Pap . Part 19 (1948) 60 , Anm . 1. - 1 949] Ich breche ab, ohne mir über das Willkürliche in Auswahl und Anordnung der Beispiele im unklaren zu sein . Den Kern fast jedes textkritischen Problems bildet eben ein s t i l i s t i s c h e s , und die Kategorien der Stilistik sind noch viel ungeklär ter als die der Textkritik. Es besteht zudem die Gefahr, daß stilistische Verant wortung durch eine gewisse Routine in der recensio verdrängt wird . Da mag es zum Schlu ß ges tattet sein , an ein Wort RBentleys zu erinnern, dessen Wahrheit der Mißbrauch nicht verdun keln kann , zu dem es im Au genblick , als es zum erstenmal ausgesprochen wurde (zu Hor. Carm. 3, 27 , 15) , und dann immer wieder . verführt hat und stets verführen wird : 1!obis et ratio et res ipsa centum codicilnts potiores sunt. M); o v
ANHANG
L E I T F E H L E R U N D S T E M M AT I S C H E T Y P E N ( 1 9 3 7)
In der Lehre von den Abhängigkeitsverhältnissen der Handschriften - es sei ge stattet, von ' Stemma tik' zu reden - haben die Fehler, die beim Abschreiben entstehen, entscheidende Bedeutung. Die ,bisherigen Untersuchungen über diese Fehler betreffen hauptsächlich die Art ihrer Entstehung und die M ittel zu ihrer Beseitigung. Im folgenden soll lediglich gefragt werden, wie ein Fehler beschaffen sein muß, um stemmatisch verwendbar zu sein , und wieviel solcher Fehler zum N achweis der stemmatischen Haupttypen erforderlich sind . Wie die Geologen durch den Kunstausdruck ' Leitfossilien ' die für bestimmte Altersschichten der Erde kennzeichnenden Versteinerungen hervorheben , 5 0 habe ich (Gnomon 6 , 1 9 30 , 5 6 1 ) die zu stemma tischen Folgerungen verwendbaren Fehler ' Leitfehler' genannt (errores significativi ) . Die Abhängigkeit eines Zeugen von einem anderen läßt sich i n d e r Regel nicht unmittelbar., sond ern nur durch Ausschluß der Unabhängigkeit nachweisen . Un mittelbar nachweisen läßt sich in der Regel nur 1 . die Unabhängigkeit eines Zeu gen von einem anderen und 2. die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen gegen über einem drit ten. Die Unabhängigkeit eines Zeu gen (B) von einem anderen (A) wird erwiesen d urch einen Fehler von A gegen B, der so beschaffen ist, daß er, nach unserem Wissen über den Stand der Konjekturalkritik in der Zeit zwischen A und B , in dieser Zeit nicht durch Konjektur entfernt worden sein kann. Solche Fehler mögen ' Trennfehler' heißen (errores separativi) . Zur Konjekturalkritik d er Byzantiner vgl. ByzZ. 3 6 , 2 7 ff ; entsprechende Untersuchungen
ü ber das lateinische Mittelalter fehlen noch i m m er. Der berühmteste Trennfehler in der griechischen Klassikerüberlieferung ist wohl der Ausfall des Verses Soph. OT 800 im Laur. 32. 9 s . X/XI (L) gegenüber d en Hss. des 1 3 . J ahrh . ( Ar) . Mit Recht herrscht heute Eini gkeit d arüber, daß kein Byzantiner in j enen drei J ahrh under ten, j a , daß überhaupt kei n Philologe irgendeiner Zeit d i esen Vers erfinden konnte. ü brigens hat sich i n z wis chen die Unabhängigkeit m ehrerer byz antinischer Sophokles-Handschriften von L durch andere Trennfehler von L bestätigt, freilich fast nur im Schol ientext ( vgl. Byz Z . 36, 455 über V. d e Marco ) . Den Dichtertext. d er gemeinsamen Vorlage hat L offenbar unge wöhnlich sorgfältig abgeschri eben.
Die Zusammengehörigkeit zweier Zeugen (B und C) gegenü ber einem dritten (A) wird erwiesen durch einen den Zeugen B und C gemeinsamen Fehler, der so be schaffen ist. daß aller Wahrscheinlichkeit nach B und C nicht unabhängig von einander in diesen Fehler verfallen sein können . Solche Fehler mögen ' Binde fehler' heißen (errores coniunctivi) .
Aller Wahrscheinlichkeit nach ' , weil sich die Mö glichkeit, daß mehrere Zeu gen unabhängig voneinander denselben Fehler begehen, theoretisch oft ni cht ausschließen läßt. Die Wahr· •
28
Anhang
5cheinlichkeit der Zusammengehörigkeit ist um so größer , je seltener der gle i che Fehler oder ein ähnlicher im ü bri ge n Text von B od e r von C o der von beiden Ze u ge n auftritt . Wimmeln z. B. beide Ze u g en von itazistischen Fehlern, so hat ih r vereinzeltes Zusam mentreffen in einem s o l che n Fehler keine st e m m ati sche Beweiskraft ; si nd dagegen beide Ze u g en du rchweg ortho
,
grapl>i s c h so wird durch e in e n gemeinsamen itazistischen Fe hl er ihre Zusammengehörigkeit n a h e g el eg t .
Diese beiden Arten von Leitfehlern pflegen sich in längeren Texten zahlreich ein zustellen ; daher sind auch die beiden genannten Beziehungen in der Regel ein wandfrei nachweisbar. Es gibt auch eine Art von Leitfehlern, aus denen die Abhängigkeit eines Zeugen von einem anderen unmittelbar hervorgeht. Solche Fehler geschehen jedoch so selten oder sind doch j edenfalls nur so selten nachweisbar, daß man nicht darauf rechnen kann , zur Feststellung jedes Abhängigkeitsverhältnisses einen Fehler dieser Art anfzufinden . I m folgenden bleiben daher diese Fehler au ßer Betracht. Untersuchen wir nunmehr die Verwendbarkeit der Trennfehler und der Binde fehler bei der Feststellung der stemm Jtischen Haupttypen. Stehen z w e i Zeugen zur Verfü gung, A und B . so muß einer der drei folgenden Typen vorlie gen : A
(1I 1b)
I
B
B
I A
C( (verlorener Archetypus)
A
( I P)
A
B
Findet sich ein Trennfehler von A gegen B , so ist d amit Typ I p a ausgeschlossen. Findet sich ein Trennfehler von B gegen A, so ist damit Typ lIl b ausgeschlossen . Findet sich sowohl ein Trennfehler von A . gegen B wie ein Trennfehler von B gegen A, so sind damit die Typen I F beide ausgeschlossen , ist also der Typ 1 1 2 erwiesen . I Ist B offenkundig jiinger als A, so bedarf es natürlich keines Trennfehlers von B gegen A , um den Typ IIlb auszuschließen. Findet sich zwar ein Trennfehler von B gegen A, dagegen keiner von A gegen B, so spricht bei längeren Texten die Vermutung für das Vorliegen von Typ lIla . A u f diesem Schluß b er u ht die h errschend e Anschauung, d aß d ie älteste Handschrift d er Arche typus aller übrigen sei , bei einer großen Zahl von Klassikertexten, z. B. d er Synt ax des Apol l onius Dyskolos (Wo c h klass. Ph i!. 1 9 1 1 , 25 ff. ) . bei den nichtkommentierten Drame n des Euri pides (oben § 2 7 ) . bei Buch 3-1 5 d es Athenaios (ByzZ. 35, 299 ff. ) . Die scheinbaren Lei tfe hl er
.
der ält er en übe rl i efe ru n g gegen die j üngere sind Folge der byzantinischen Konj ekturalkritik, die ihr ers ei t s durch die Be ob a c h tu n g dieser Verhältnisse neues Licht e rhalt e n h a t
.
Bei kür! eren Texten besteht daneben eine etwas geringere W ahrscheinlichkeit fü r Typ I J 2, wobei dann zwischen cx. und A zufällig kein Trennfehler gegen B ent standen wäre. Stehen d r e i Zeugen zur Verfügung, so beträgt die Zahl der möglichen Typen 22. Zunächst ist dann nach dem soeben geschilderten Verfahren zu untersu ch e n , ob einer der Zeugen die Vorlage eines der beiden übrigen oder beider ist. I m letztgenannten Fall muß einer der beiden folgenden Typen vorliegen : A
/"
B
C
A
I
A
B
C
Anhang
29
D i e E n t sc h eid u ng h ängt davon a b , ob sich ein Bindefehler von B + C (p) gegen A findet oder n ich t Erweist sich keiner der drei Zeugen als V o rl ag e eines anderen, so fallen von jenen 22 T y pen 18 weg (nämlich 6, bei denen ein Zeuge V o rl a ge eines der übr i g en ist , u nd 12, bei denen ein Ze u ge Vorlage beider übrigen ist ) . u nd es bleiben folgende 4 Möglichkeiten übrig : .
(X
(X
A
A
A
(Typ m h)
B
(Typ
l I l ie)
/"-
C
A
cx
(X
/1"-
p
(Typ
C
HP)
B
C
A
A
A
ß
ß
A
A B C
B
Die Entscheidung hängt davon ab, ob sich ein Bindefehler von zweien dieser Ze u g en gegen den dritten findet (Typen IIJ2a-c) oder nicht findet (Typ IIP) . Dieser Bindefehler muß aber glei c h zeitig auch Trennfehler sein ; denn wenn er so beschaffen wäre, daß er durch Konjektur beseitigt werden kann , so wäre der Typ IIP nicht a u sgesc hl o s se n .
meisten Bindefehler haben ke i n e trennende Kraft, während die meisten Trennfehler zu gleich als Bindefehler ve rwendbar sind . Trennfehler ohIle bindende Kraft sind viele der so g . Homoioteleuta, weil sie einerseits oft so nahe liegen, d aß mehrere Abschreiber fast zwa.ngslll.ufi g in sie verfallen mu ßten, andererseits ihre konjekturale Beseitigu n g über die Kräfte der mittel alterlic h en Textkritiker ging.
Die
Es empfiehlt sich , die TextsteIlen ( ' Leitstellen ' ) , an denen die Leitfehler sich befinden , in das Stemma ei nz u tragen . Liegt z. B. Typ I I J2a vor, so ergibt s i c h fol gendes Bild : C<
:Y�
A
{1
�
B
1
=
Trennfehler von C gegen B ,
C
C um
1 auszuschließen.
B 2
=
Trennfehler von B gegen C, u m
B
I auszuschließen . C A
3
=
Trennfehler von A gegen P ( B + C) ,
/
um
I
p
A
B
4
=
auszuschließen .
C
Bind efe h ler , der z u gl eic h Trennfehler ist, von ß (B + C) g egen A, a us z uschlie ß e n .
(X
um
/1"-
A B C
30
Anhang
Rein erhalten ist dieser Typ z. B. in d er byzantinischen überlieferung des Herodotos. wie sie sich seit d er Einbe ziehung d es cod . Vat . 2369 (D) d urch KHude (ed . Oxon. 1 9 26) darstellt. Hier die Konkordanz des oben gegebenen schematischen Stemmas zu Hudes Siglen : 0< = L. A = a (ABC) . ß = d. B = D. C = RSV. Variantenträger sind also ein zi g die verlorenen. aber sicher herstellbaren Handschriften a und d.
Tritt dann zu diesen drei Zeugen nachträglich ein vierter. D, so hängt seine stemmatische Einordnung davon a b. o b D einen jener vier Leitfehler teilt oder nich t . Teilt er z . B. den Trennfehler von A gegen ß. so bl eibt nur noch das Ver häl tnis von D zu A nach d em o ben geschilderten Verfahren näher festzulegen . Te i l t D kein eu jener vier Leitfehler, so muß das Verhältnis von D zu 0< untersuch t werden. D k an n dann 1 . Vorlage von D' sein . 2 . g le ich 0< s e i n . 3 . unabhängig von A u n d ß aus (X stammen : cx
CI:
/1"
/"-..
A ß D /'"
entweder
B
y
oder
A
C
fJ
A
B
Ist D
offenkundig
Möglichkeiten
jü nger als A. B und C.
D
/"-..
so
C
sind damit die ersten beiden
dieser
(1 . un d 2 . ) ausgeschlossen . Die Entscheidung zwischen den letzten beiden hängt davon ab. o b sich ein Biudefehler (mit trennender Kraft) von A+ ß gegen D findet oder nicht.
[ Stehen 4 Zeugen zur Verfügun g . so beträgt die Zahl der möglichen Typen 250 ; 5 Zeugen beträgt sie etwa 4000. und so weiter in gleichsam geometrischer Progression. 1949] Der Romanist J Bedier (La tradition manuscrite d u Lai d e l'Ombre . Romania 54 . 1 928. 161 ff . . 321 ff.) hat die auf den ersten Blick verblüffende Beobachtung gemacht, daß in den Stemmata der modernen kritischen Ausga ben der dreibei
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IX
(oder
mehr)spaltige Typ /1 "'- fast völlig fehlt. und zwar sowohl beim Archetypus A B C
wie bei den Hyparchetypi. so daß im gan zen Stemma Zweispaltigkeit herrscht. Die griechische überlieferung hat Bedier nicht herangezogen . aber seine Beob achtung trifft auch hier zu. Nun ist aber gerade der dreispaltige Typ derjenige , an dem iich der Nu tzen der Stemmatik am augenfälligsten bewähren müßte : da hier j ede Sonderlesung eines Zeugen d u rch die übereinstimmun g der übrigen beiden ausgeschaltet wird, d ü rfte bei diesem Typ der kritische Apparat eigen t lich keine einzige Variante verzeichnen . Da nun solche Apparate fehlen , ist der Verdacht laut geworden , die K ritiker hätten , um nicht auf die freie Wahl zwischen den ü berlieferten Lesun gen verzichten zu müssen , en t weder den drit ten Ast (uud etwaige weitere) des Stemmas abgeschnitten oder dem Tatbesta n d z u m Trotz zwei Äste zusammenwachsen la ssen . Die Erschein ung erklärt sich harmloser. Zunächst ist iu erinnern , daß von den 22 stemma tischen Typen, die bei drei Zeugen möglich sin d , nur einer dreispaltig ist (s. o . ) . Fern er liegt es im Wesen der mittelalterlichen . ü berlieferun g . daß bei wenig gelesenen Texten n ur selten von demselben Archetypus drei Abschriften genommen wu rden und daß sich noch seltener alle diese Abschriften, oder Ab-
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kömmlinge von jeder, bis heute erhalten haben ; bei vielgelesenen Texten dagegen pflegt Kontamination einzutreten, und im Bereich einer Kontamination versagt die s trenge Stemmatik. Bei den jüngsten Unterspaltungen waren zwar die Vor aussetzungen für Entstehung und Erhaltung von drei Abschriften aus demselben Hyparchetypus leichter gegeben ; aber hier konnten die Herausgeber wohl oft ohne Schaden auf die Heranziehung von mehr als zweien dieser Abschriften zur Wiederherstellung eines stemma tisch unbedeu tenden Hyparchety pus verzichten. Hier mag noch ein Wort über den Begriff ' Handschrifteuklasse' (oder ' Familie') anschließen. In der strengen Stemmatik ist für diesen Begriff kein Platz ; dort gibt es nur Individuen wie den Archetypus und seine einzeluen Abkömmlinge, wobei gleichgültig ist, ob sie erhalten oder nur erschlossen sind. Bei unkontami nierter ü berlieferung kann überhaupt über eine Mehrzahl von Zeugen nicht das gleiche ausgesagt werden : entweder sie entstammen einer gemeinsamen Vorlage , dann darf nur von dieser geredet werden, oder einer stammt vom andereu ab, dan n hat er zu verschwinden . Bei un geklärten Abhängigkeitsverhältnissen da g egen kann der Begriff ' KlaSse ' ( ' Familie ' ) Nu tzen bringen . Man versteht dar unter eine solche Zeugengruppe, die sich durch Bindefehler als anderen Zeugen gegenüber zusammengehörig erweist, deren innerer Aufbau j edoch als vorläufig belan glos unerörtert bleiben darf. Man kann daun als 'Vertreter' der Klasse ihreu ältesten Angehörigen auswählen und neuhinzutretende Zeugen , die sich durch einen Bindefehler als zu gehörig erweisen , ohne weiteres a usschalten. Schließlich sei noch an das schöne Gleichnis erinnert , mit dem Otto Immisch den B egriff ' Stemma' veranschaulichte, indem er von der ' Rezensionsformel ' sprach ( ' Wie stu diert man klassische Philologie ? ' , 2 . Aufl. 1920, 106) . Wie in der c hemischeu Formel die Anordn ung der Atome für j edes Molekül einer Ver bindung eindeutig und unveränderlich festgelegt ist, so im Stemma das Ab hän gigkeitsverhältnis der Zeugen für jede Stelle des Textes - wenn jungfräu liche ü berlieferung vorliegt. Gegen die Kontamin ation ist noch kein Kraut ge wachsen .