KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HANS WILHELM SMOLIK
Tiere im Wint...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
HANS WILHELM SMOLIK
Tiere im Winterschlaf Die große Winterstille und das große Erwachen
VERLAG MURNAU
S E B A S T I AN. LUX
-MÜNCHEN
-INNSBRUCK-ÖLTEN
Der Vorhaag fällt
E
s schneit. Taumelnd sinken die großen Flocken und verzaubern in wenigen Stunden die wintergraue Welt. In einen glitzernden und gleißenden Mantel hüllen sich die entlaubten Büsche und Bäume, die ausgeplünderten Felder. Und in der feierlichen Stille, die mit dem Schnee gekommen ist und unsere Sinne wohltätig umschmeichelt, empfinden wir es stark: Der Vorhang fiel, das bunte Spiel ist aus! Abgetreten sind die vielgestaltigen Darsteller des großen Lebensreigens. In die Erde geschlüpft sind die Gräser und Kräuter, die leuchtenden und duftenden Blumen. Vorbei ist das lodernde Farbenspiel der Blüten und Blätter, der reifenden Beeren und Früchte. Verschwunden sind die samtenen und seidenen, die leichtbeschwingten Gaukler und Schaukler, die Schmetterlinge, verstummt die schrillen Geigen der Grillen und die Fidelmusik der Heuschrecken, die Lieder der Vögel. Ausgefunkelt haben die Laternen der Glühwürmchen, die erzschimmernden Rüstungen der Käfer, die Tautropfen in den Wundergespinsten der Spinnenj. Still ist es um die Bienenstöcke, die Hummelnester und die Ameisenburgen geworden. Und wir können es schon verstehen, wenn die Dichter des vorigen Jahrhunderts den Schnee mit einem kühlen Leichentuch verglichen und die Winterstille als das Sterben bezeichnet haben.
Dennoch ist das Naturgemälde, das diese empfindsamen Poeten entwarfen, ein falsches, ein irreführendes Bild. Denn wir wissen heute, daß der Schnee durchaus kein festgewebtes und kühles Leichentuch, sondern eine wundervoll lockere, von unzähligen Luftkämmerchen erfüllte und darum warme Decke ist. Eine Decke, die das Leben nicht unter einem Bartuch begräbt, sondern es schützt, erhält und vor vielen winterlichen Gefahren bewahrt. Wir wissen, das winterliche Sterben ist in Wirklichkeit eine große schöpferische Atempause. Wohl sind die meisten der Schauspieler abgetreten, aber sie kommen wieder, kehren zurück, werden wieder auferstehen und wunderbar verjüngt umherwandeln. Wie in kleinen Wunderschreinen ruhen die neuen Pflanzen in den Samenkörnern. Wie in Wunderküchen gären und wandeln sich
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die Werdekräfte in den Wurzelstöcken und Vorratszwiebeln. Wie in hürnenen Märchenmänteln schlummern die neuen Blüten und Blätter in den grauen und harten Knospenkapuzen. Die blitzenden Summer und Brummer aber, die leichten Flieger und Flatterer, die schnellen Kribbler und Krabbler, die sorglosen Hüpfer und Springer, deren Lebensring sich tatsächlich am Ende des Jahres' geschlossen hat, haben dafür gesorgt, daß ihre Arten erhalten bleiben. In winzigen Eiern, in abenteuerlichen Larven und bräunlichen Puppen wachsen die neuen Generationen dem Sonnenleben entgegen. Hinter allen lockeren Rinden, in allen morschen Baumstümpfen, knapp unter dem Fallaub, der Nadelstreu, den Steinen, den Moospolstern und im Schoß der mütterlichen Erde ruhen sie wohlgeborgen, ruhen friedlich neben eingerollten, gekrümmten und in sich gekuschelten, winzigen, roten Würmern und braunen Hundertfüßlern, grauen Asseln und schwarzen Kuglern, weißen Spinnen und bunten Käfern, glänzenden Holzameisen und scharlachroten Milben, bleichen Skolopendern und beschilderten Baumwanzen, zangenbewehrten Ohrwürmern und kleinen Hautflüglern, nackten und behausten Schnecken. Jedes noch so kleine Warmversteck, jeder windgeschützte Winkel, jeder Rindenriß und Felsenspalt ist bevölkert von stillen, kleinen Schläfern. Und wenn wir die Baumstümpfe unterwühlen, die Wurzeladern freilegen und noch tiefer in die Erde graben würden, wir schauten in immer neue Schläferreiche. Zuerst vielleicht ins Einzelzimmer einer dicken Erdkröte, warm mit Blättern ausgepolstert und fest mit Moos verstopft. Darunter dann in den Gemeinschaftsschlafraum von starren Zauneidechsen oder steifen Blindschleichen oder gläsernen Ringelnattern oder eng verknäuelten Kreuzottern, die so dicht beieinander liegen, als ob sie Wärme aneinander suchten. Schon unmittelbar daneben könnten wir in einer kleinen Felsenkammer ein Häuflein buntgefleckter Salamander oder fetter Teichmolche finden, könnten in einem alten Kaninchenbau fest zusammengerollte und mit den Schwänzen zugedeckte Haselmäuse oder Gartenschläfer oder Baumschläfer oder Siebenschläfer entdecken, könnten auf einen schlummernden Igel stoßen und in tiefen, kugeligen Erdkämmerchen ganzen Klumpen blaugefrorener Regenwürmer begegnen. 3
Es ist ein Blick wie in eine verzauberte, eine verwunschene Märchenwelt. Hypnotisch steif und klamm die meisten dieser Schläfer, selbst auf der warmen Menschenhand sich nicht ermunternd. Kaum spürt man noch, daß ihre Herzen schlagen, daß das Blut in ihren Adern pulst, daß noch Lebensodem in ihnen ist. Bis an die äußerste Grenze des Lebens haben sie sich geflüchtet. Bis an die Totenstarre sind sie zurückgewichen. Ihr Zustand läßt sich schwerlich nur in Worte fassen, schwerlich ganz verstehen und begreifen. Es ist ein Dasein zwischen Tod und Leben. Und wir stehen staunend vor der ebenso rätselhaften wie wunderbaren Erscheinung des tierischen Winterschlafes, einem der großartigsten Geschenke der Natur für die bedrohte Kreatur.
Der letzte Akt So seltsam es nun auch klingen mag: Viele Tiere scheinen um diese Chance, ihr Leben schlafend über die winterlichen Monate retten zu können, zutiefst zu „wissen". Denn wie sollen wir es uns sonst erklären, daß die Murmeltiere bereits Ende August, also im schönsten Bergsommer, die Hochkare verlassen und bis zum Saum der Hochwälder hinunterwandern, um sich hier vom guten Zustand ihrer Winterhöhlen zu. überzeugen? Sicherlich spüren sie es auf irgendeine Art, daß sie von sich aus dazu beitragen Blässen, diese Chance voll auszunützen. Bis zu zehn Meter tief treiben sie in unermüdlicher Wühlarbeit die Stollen in die Bergflanken, erweitern sie an ihrem Ende zu geräumigen Kammern und schaffen dazu noch blinde Gänge, in denen sie sich „lösen" können. Doch nicht genug damit! Sie beginnen nun regelrecht zu heuen, beißen die saftigen Gräser ab, legen sie in Schwaden nieder, wen^ den sie sachkundig und tragen sie als gut getrocknetes Heu in den Bau, um damit die Schlafhöhle zu polstern und außerdem noch einen kleinen Mummelvorrat anzulegen. In gleicher Weise sind im Flachland die Hamster und die Ziesel schon sommersüber unermüdlich an der Arbeit, sich einen besonders tiefgelegenen Winterbau zu wühlen und ihn mit etlichen weiträumigen Vorratskammern zu umgeben. In diese Kammern schleppen sie dann Hafer, Weizen, Erbsen und Bohnen, oft bis zu hun4
dcrt Pfund, und wissen die Feldfrüchte so zu behandeln und £u stapeln, daß sie weder keimen noch verderben können. Nicht minder emsig und zielstrebig tragen die Eichhörnchen im Walde eine Menge von ausgesucht besten Bucheckern, Eicheln, Haselnüssen und Kastanien in ihre vielen kleinen unterirdischen Vorratshöhlen, während ihre nördlichen Artgenossen außerdem noch Pilze auf Ästchen spießen und sie also für den Winter dörren. Die Buche oder Schlafmäuse wiederum, die Haselmäuse und Baumschläfer, die Garten- und Siebenschläfer, halten beizeiten Ausschau nach hohlen Bäumen, leeren Nistkästen, warmen Dachböden in Jagdhütten und Forsthäusern und verlassenen Kaninchenburgen; denn sie verschlafen den Winter nicht wie die Eichhörnchen in ihren luftigen Baumnestern. Und dorthin, in eben diese winterlichen Schlupfwinkel, tragen sie dann die Vorräte an Baum-* fruchten, vergessen aber auch nicht, sich sorglich ein warmes Bett aus welken Blättern, Heu und Stroh herzurichten und aufzuschichten. Um die Zeit aber, da uns die ersten Singvögel verlassen, da Mauersegler und Kuckuck, Wiedehopf und Nachtigall gen Süden ziehen, verlassen seltsamerweise auch die winterschlafenden Fledermäuse ihre sommerlichen Lebensräume. Mit den Schwalben fliegen sie südwestwärts, bleiben dann jedoch vor den Wällen der Gebirge
Die Murmeltiere sorgen schon im Hochsommer für ihre Winterquartiere
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hängen und suchen sich hier die ihnen als besonders geeignet erscheinenden Quartiere für den Winterschlaf. Die Hufeisennasen, Mopsfledermäuse und Mausohren versammeln sich in der Nähe leerer Bergwerksstollen, feuchter Grotten und Felshöhlen, großer Kellergewölbe, die Abendsegler und Zwergfledermäuse bei alten hohlen Bäumen, bei Heustadeln und Feldscheunen. Und wenn sie sich von ihren Sommerplätzen oft auch nur an die hundert Kilometer entfernen und im Höchstfalle eine Reise bis zu siebenhundertfünfzig Kilometer wagen, so verrät ihr Wandern doch ein rätselhaftes Wissen um den dunklen Schlafweg durch den Winterj und zwar noch lange, bevor der Mangel an Nahrung oder der Frost sie daran erinnern könnte. Dieses Wissen veranlaßt wohl auch den Igel, sich nun so langsam um ein recht warmes und gut gesichertes Winterquartier zu kümmern, das freie Feld zu verlassen, dem sommerlichen Revier den Rücken zu kehren und sich rechtzeitig nach Höhlen, Heustadeln, Gartenlauben, Kompost- und Reisighaufen umzusehen. Hier wühlt er dann beflissen nach, zeigt, daß er sich auf Erdarbeiten wohl versteht und polstert seine einen halben Meter tiefe Höhle dick und warm mit Blättern. Gar mancher junge, unerfahrene Igel, der das versäumt, muß seinen Leichtsinn mit dem Leben bezahlen. Vorräte trägt der Igel nicht zusammen, genau so wenig wie der Dachs oder Bär. Obwohl der Dachs recht gern ein wenig hamstert, vor allem Möhren reichlich heimträgt, frißt er sie doch, noch ehe der Winter seine Macht und Härte entfaltet. Dafür sind Igel, Dachs und Bär bemüht, sich einen Speckwanst anzufressen, solange das Füllhorn der Natur noch überfließt von guten Gaben. Gerade der Dachs versteht das so vorzüglich, ist ein so guter Kostverwerter, daß er im Spätherbst seinen Bauch schier auf der Erde nachschleift, daß er beim Traben asthmatisch pusten und schnaufen muß. Beim Braunen Bären ist es die treusorgende Bärin, die mitten im Winter wirft und sich noch vor dem Schneefall um eine warme W o chenstube kümmert. Eine Höhle in alten Bäumen, im baumbestandenen Gefels, unter hohen Wurzeltellern oder in chaotischen Windbrüchen ist ihr Warmversteck. Die Wände klopft sie mit den Pranken, drückt sie mit dem Buckel fest, sorgt für Tapeten aus i 6
Fledermäuse verbringen die harte Winterzeit in Felshöhlen, Bergwerksstol len, Kellergewölben oder anderen dunklen Verstecken
großen Rindenfetzen, schleppt Moos herbei und häuft es sorglich auf. In aller Ruhe und Gelassenheit baut sie an diesem Heim. Aber nicht nur die Nager, die Insektenfresser und die Raubtiere wissen um den nahenden Winter und die Not und Gefahren, die er mit sich bringt. Auch die Erdkröte und die Kreuzkröte kümmern sich im Frühherbst schon um eine warme Bleibe. Die Laubfrösche verlassen die Büsche und Bäume, die Grasfrösche die Wiesen und Moore und machen sich auf den Weg zu den Gewässern, in denen sie ihre Larvenjugend verbrachten. Sogar solch stumpfsinnige Gesellen wie die Molche und Salamander kommen aus ihren feuchten Verstecken, wenn der Winter naht.
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Wie auf ein gegebenes Kommando, ein nur für Salamander verständliches Signal, brechen sie auf und ziehen durch die Tobel, Schluchten und Täler. Wie von magnetischen Kräften angezogen, findet sich einer zum anderen, sie sind zuletzt ein stattlicher Verein von zehn bis zwanzig, ja, bis dreißig Stück. Wie selbstverständlich stoßen sie zueinander, watscheln mit geschwollenen Bäuchen und fetten Schwänzen einträchtig dahin und sind sich alle so einig über Weg und Steg und Richtung, als ob sie sich vorher bespro-> chen hätten. Ihr Ziel ist eine größere, von Nässe tropfende Höhle oder Felsenspalte, in die sie sich gemeinsam verkriechen.
Die Darsteller treten ab Damit sind wir unversehends schon zur letzten dramatischen Schlußszene des bunten sommerlichen Lebensspieles gekommen. Darsteller um Darsteller tritt ab. Und so manchen kleinen Mitwirkenden haben wir gar nicht verschwinden sehen, haben wir dabei ganz aus dem Auge verloren. Denn nicht alle warten bis zum großen Finale, sondern schminken sich schon ab, wenn ihre Kollegen noch munter auf der Naturbühne agieren. So schlüpfen die lichtgelben und schwarz gepunkteten Raupen der schwirrenden Steinbrechwidderchen wahrhaftig schon im August in die Erde, ziehen den Kopf in den ersten Körperring zurück, rollen sich fest zusammen und fallen allsogleich in einen kombi^ nierten Sommer-Winterschlaf, aus dem sie erst im nächsten Mai, also nach vollen neun Monaten, wieder erwachen. Ende August, spätestens Anfang September, verschwinden wie auf einen Schlag die Zitronenfalter, obwohl noch viele späte Blumen reichlich Blütenwein verschenken. Als müßten sie mit ihren schwachen Kräften haushalten, verstecken sie sich unter Laubhaufen, Moospolstern, den Blättern immergrüner Pflanzen, den Strohmatten im Garten, hinter lockeren Rinden und Brettern. Denn die befruchteten Weibchen der Zitronenfalter legen ihre Eier erst im nächsten Frühjahr ab. Und genau so halten es die Weibchen der Tagpfauenaugen, der Trauermäntel, der Füchse, der Distelfalter, der Taubenschwänze, der Zackeneulen und einiger winziger Federmotten und Blattdütenmotten. Die Füchse, Tagpfauenaugen und Trauermäntel kommen 8
im Herbst gern und viel in ungeheizte Zimmer, Veranden und Gartenlauben, sitzen dort mit zusammengelegten Flügeln regungslos an der Wand und lassen sich auch von der wärmsten Wintersonne nur selten einmal zum Flug verleiten. Diese Irregeführten sind dann sie sogenannten „Redaktionsschmetterlinge", die in den Tageszeitungen eine gewisse Berühmtheit als allererste Frühlingsboten erlangen. Etwa um die gleiche Zeit ziehen sich die Raupen des Baumweißlings in kleine zusammengedrehte Blattnester zurück, schlüpfen die Raupen des Goldafters in das gemeinschaftlich hergestellte Seidengespinst und fertigen sich die halbwüchsigen Raupen des Schwanes einen mit Haaren durchwobenen Kokon, in dem sie den Winter verschlafen. Die Raupe des Braunen Bären, dieses kleine, fuchsrote, behaarte und flott dahinwalzende Ungetüm, geht unter die Streu, um sich dort fest einzurollen. Aber wer achtet schon auf diese kleinen Mitspieler? Kein Hahn kräht ihnen nach. Höchstens die Weibchen der Stechmücken finden unsere Beachtung, weil sie jetzt, wenn sie sich in Häusern, Scheunen und Kellern bergen, leicht bekämpft werden können. Dieser und jener wundert sich vielleicht noch darüber, wieviele kleine, zierliche und durchweg unbekannte Fliegen auf einmal an den Fensterscheiben sitzen, oder begrüßt die plötzliche Invasion der Marienkäferchen an seinen geliebten Blumenstöcken, oder verweilt erstaunend vor der ätherischen Schönheit der goldäugigen Florfliegen in der Bodenkammer; aber er ahnt nicht, daß er Augenzeuge der großen und allgemeinen Flucht in die Winterquartiere ist, die jetzt fast die gesamte Insektenwelt durchs Land wirbelt. Denn außer den Mücken und Fliegen, Faltern und Käfern suchen sich nun im Laufe des Oktobers auch die jungen Königinnen der zerfallenden und aussterbenden Hummel- und Wespenstaaten ein Überwinterungswinkelchen in alten Käferbohrlöchern, Dachgestühlfugen, kleinen Erdhöhlen und morschen Baumstümpfen. Wie vom Entsetzen geschüttelt, verlassen sie die unterirdischen Totenstädte, in denen jetzt die wenigen noch überlebenden die sich vor Hunger windenden Larven aus den Zellen reißen und wie in einer großen Torschlußpanik zerfleischen. Sie beteiligen sich auch nicht an der fürchterlichen Henkersmahlzeit, am Eierschmaus dieser Ver-
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zweifelten, sondern wühlen sich tief in den Mulm ihrer einsamen Klausnerei und schlagen die Fühler und die Flügel unter den Leib. Ende Oktober räumen die Waldameisen die luftigen Gemächer im hochaufgestapelten Nadelhaufen und ziehen sich endgültig in die unterirdischen Räume zurück. Vorher vergessen sie nicht, die Tore zur Burg sorgfältigst mit schweren Harzstücken zu verschließen. Für die nächsten Wochen haben sie noch kleine Vorräte. Im Gegensatz zu den Wespenköniginnen, die sich wahrscheinlich immer noch nicht in den jahreszeitlichen Rhythmus finden können, haben ihre Stammütter die Eiablage rechtzeitig eingestellt. In die schützende Erde gehen nun auch die Wolfsspinnen, die fast durchweg mehrere Jahre alt werden und oft über einen geradezu umfänglichen Höhlenbau verfügen. Hinter lockeren Baumrinden bergen sich die Atlasspinnen. Die Wasserspinnen aber tapezieren sich ein leeres Schneckenhaus, verweben dessen Eingang und gebrauchen oft die weise Vorsicht, diese Wintervilla am Grund des Gewässers gut zu verankern. Jetzt wird es auch für die Schnecken höchste Zeit, den schärferen Nachtfrösten auszuweichen. Die großen Egel- und Wegschnekken wühlen sich in den Waldboden, am liebsten unter die- Holzstapel und Reisighaufen. Die kleinen, silbergrauen Ackerschnecken schlüpfen lediglich unter Scheunen, Lauben, Regentonnen und aufgelegte Bretter, wo sie in der Gesellschaft von Asseln überwintern. Sie sind durch nichts als eine dünne Schleimhaut geschützt. Fürsorglicher bereiten sich die Weinbergschnecken auf den langen Schlummer vor. Der große, starke Fuß wühlt eine Mulde in das angewehte Laub unter schützenden Sträuchern und dichten Hekken, gräbt sich noch ein wenig ins Erdreich selbst. Dann wird das Haus mit einem unwahrscheinlich dicken und stabilen Kalkdeckel verschlossen. Nun verschwinden auch die letzten Kreuzottern, Ringelnattern, Eidechsen und Blindschleichen, die sich ebenfalls, obwohl sie sommersüber genau so wie die Molche, Frösche und Kröten ausgesprochene Einzelgänger sind, jetzt in größeren Erdhöhlen zusammenfinden und gut miteinander vertragen. Die zu den Gewässern geflüchteten Frösche und Kröten aber kriechen tief in den Schlamm. Sie haben es gleichsam im Blut, wie hart der Winter werden wird 10
Fledermäuse (Mausoliren) im "Winterquartier werden zu Forschungszwecken untersucht und beringt, um ihre Wanderwege lestzustellen
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und bergen sich dementsprechend. Nur junge Frösche erfrieren oftmals während des Winterschlafes. Die nackthäutigen Lurche teilen ihre Schlammverstecke mit vielen Fischen, denen ebenfalls nichts anderes übrig bleibt, als die nahrungsarme Zeit zu verschlafen. Dicht an dicht, ja, wahrhaftig so eng geschichtet wie die Heringe in einem Pökelfaß, ruhen hier die Karpfen und Schleien, Schlammpeitzger und Grundein, Bitterlinge und Stichlinge, Moderlieschen und andere Weißfische. Nach mancherlei Raufereien und Beißereien, bei denen sich die Ohrenfledermäuse und die Hufeisennasen durch große Unverträglichkeit auszeichnen, finden die nun schon in den Winterquartieren versammelten Flattertiere zur Ruhe. Zu Hunderten hängen sie köpfunter an günstigen Örtlichkeiten friedlich nebeneinander, schlagen die Flughäute um den Leib, die Langohren klappen sogar noch die empfindlichen Ohren zurück. Mit den Fledermäusen verschwinden die Igel, die Murmeltiere, die Bilche, die Eichhörnchen, die Ziesel und die Hamster. Bei den Murmeltieren werden vor dem endgültigen Rückzug in die Winterhöhlen die Kümmerlinge schnell noch totgebissen. Die Einschlupfröhre, die kaum fauststark ist, bekommt jetzt einen fast meterlangen Verschlußpfropfen aus Erde, Steinen und Heu, der so festgerammt wird, daß man schier eine Spitzhacke benötigt, um ihn zu entfernen. Der Hamster und das Ziesel verschließen ihre Schlupf- und Fallöcher ebenfalls sehr sorgfältig, denn nicht nur die Kälte, sondern auch Iltis, Marder und Wiesel könnten die festen Schläfer sonst allzuleicht überraschen und überrumpeln. Die letzten Winterschläfer, die der nun schon recht unfreundlichen Welt gute Nacht sagen, sind die Wasserratte — die meist vergessen wird, wenn die einheimischen Winterschläfer aufgezählt werden — sowie der Dachs und der Bär. Sie vermeiden es tunlichst, daß die Fährte im Schnee ihren Schlupfwinkel verraten könnte.
Die Buhenden Dachs wie Bär gehören übrigens zu den Winterschläfern, die eigentlich nur ruhen und dösen, also nicht in einen tiefen und bewußtlosen Schlaf fallen. Ihre Körperwärme sinkt nicht ab; sie 12
sind wohl groß und stark genug, um diese lange Fastenzeit überstehen zu können. Plagt den Dachs der Hunger allzusehr, geht er auch mitten im Winter wurzeln und räubern. Eine Dachsfährte im Schnee ist also durchaus nichts Ungewöhnliches. Außerdem verläßt er den Bau in regelmäßigen Abständen, um sich zu lösen. Denn Herr Schmalzmann hält auf Sauberkeit und wird dieses Geschäft niemals in der Burg verrichten. Die Bärin dagegen läßt sich kaum einmal außerhalb ihres Lagers erblicken. Sie wirft im Januar ihre Jungen, hält sie zwischen ihren mächtigen Pranken wie in Pelzwiegen, säugt sie, und erst nach drei Wochen öffnen die rattenkleinen Kerlchen die Augen. Den Kot der Jungen schleckt sie einfach auf, und sie selbst leidet in dieser Zeit an einer Art chronischer Stuhlverstopfung. Ehe die kleinen Bären der Mutter folgen können, vergehen mindestens drei bis vier Monate. Der Streit, ob der Braune Bär ein echter Winterschläfer jist, dürfte bei der Bärin also recht müßig sein. Im übrigen aber haben es die Bären noch nicht geduldet, daß man sie während der Winterruhe in ihrem Lager aufsucht und ihnen ein Thermometer in den Rachen schiebt. Die Tatsache jedoch, daß der ruhende Bär oft nur schwer aufzustöbern ist, daß er manchmal lange gereizt werden muß, ehe er sein Winterlager verläßt, sollten wir mehr seiner Klugheit als seinem tiefen Schlaf zumessen. Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß er die spürenden und meldenden Hunde mit der Anwesenheit des Menschen in Verbindung bringt und also genau weiß, was die Stunde geschlagen hat. Deshalb wird er sich sagen: „Kommt doch herein, wenn ihr etwas von mir wollt! Hier bin ich sicher. Da draußen aber, da wird es bestimmt blitzen und knallen!" Und für dumm dürfen wir die Bären nicht verkaufen. Schwieriger ist die Sache schon bei unserem Eichhörnchen. Den Laien wird es wahrscheinlich überraschen, daß die zoologischen Fachleute sich noch nicht ganz einig sind, ob der rote Baumkobold zu den festen Winterschläfern gehört, also ob seine Körperwärme stark absinkt oder ob er ebenfalls nur obenhin schläft, ruht und träumt, bis ihn der Hunger nach seinen verborgenen Schätzen suchen läßt. Sehr einleuchtend ist in dieser Streitfrage die Meinung von Richard Gerlach: „Wahrscheinlich sind die Eichhörnchen echte 13
Winterschläfer, die nur durch ihren luftigen Aufenthalt zu vielen Unterbrechungen ihrer Lethargie gezwungen werden." Die Eichhörnchen würden halt klüger tun, wenn sie wie die Buche den Winter nicht in den Bäumen, sondern ebenfalls in Erdhöhlen, festen Nistkästen oder auf warmen Dachböden verschlafen würden. Denn gerade die Eichhörnchen sind sehr kälte- und nässeempfindlich. Schon eine schwarze Wolke am Sommerhimmel kann ihr Gemüt beschatten. Sie fürchten den Regen so sehr, daß sie häufig bereits im Herbst ihre Vorratslager plündern, um bei dem nassen und kalten Wetter nicht lange auf der Futtersuche sein zu müssen. So gehen sie schon schlecht versorgt in den Winter, werden vom strengen Frost gleichsam wachgebissen und immer wieder aus dem Schlaf geschreckt. Unter den Insekten aber sind es wohl nur die hochentwickelten Honigbienen, die in festen und warmen, von den sorgenden Imkern noch zusätzlich geschützten Körben und Stöcken nicht erstarren, nicht tief schlafen, sondern nur schlafbefangen dahindämmern. Es ist wirklich nur eine Art von Schlaftrunkenheit, die die Bienen befällt, die sich während des Winters zu einer großen Traube unmittelbar unter den Honigvorräten zusammenballen. Dicht drängen sie sich zusammen, halten die Flügel eng an den Körper geschmiegt und stecken den Kopf unter den Bauch der Nachbarin. Die kräftigsten und jüngsten Arbeitsbienen bilden den äußeren Mantel. Die Königin ruht wohlgeborgen im Zentrum der wimmelnden Traube. Sie hat ebenfalls das Eierlegen eingestellt, so daß sich das fleißige Volk getrost dem winterlichen Müßiggang hingeben kann. Leiden die äußeren Tierchen unter Kälte, so werden sie in die Mitte genommen, um sich wieder aufwärmen zu können. Die Verteilung des aufgespeicherten Honigs erfolgt von Zunge zu Zunge. Die an den Vorratszellen hängenden Bienen reichen ihn weiter und stillen ihren eigenen Hunger erst dann, wenn alle anderen gesättigt sind. Sinkt die Temperatur im Stock aber unter zwölf Grad, was bei langanhaltenden und sehr starken Frösten durchaus möglich ist, dann wird den Vorräten stärker zugesprochen, denn essen macht warm. Zugleich werden die fast ununterbrochen ausgeführten kleinen Bewegungen der Bienenleiber lebhafter. Die Bienen beginnen zu stampfen, die Flügel zu bewegen und auch wie14
der zu summen. Sie erhitzen damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Luft im Korb und haben auf diese Art und Weise — die an unsere Dampfheizung erinnert — schnell wieder die rechte Temperatur. Die Schlaftrunkenheit geht auch nicht so weit, daß die Bienen bei Gefahr, beim gelegentlichen Einbruch einer naschhaften Maus oder eines hungrigen Spechtes, nicht sofort hellwach und abwehrbereit wären. Und sie können ihre Emsigkeit so wenig verleugnen, daß sie, wenn die Wintersonne warm auf den Stock scheint, sich von der Traube lösen, ein wenig umherstelzen, ein wenig aufräumen und kurz in den Wintertag hinauslugen. Die Kühnsten wagen sogar einen kleinen Flug, während die anderen sich wenigstens auslüften, reinigen und putzen. Sehr selten nur verfallen Honigbienen einer so tiefen Schlafbetaubung, daß sie erstarren, allzusehr abkühlen und nicht mehr erwachen. Viel häufiger geschieht es, daß sie sich bei Störungen aller Art allzusehr ermuntern und erregen, dabei zu viel fressen und dann der tödlichen Ruhr anheimfallen.
Die Unverwüstlichen Im Gegensatz zu den nur traumbefangenen Honigbienen ertragen alle anderen winterschlafenden Insekten ohne Schaden die grimmigste Kälte. Der im Freien überwinternde Zitronenfalter übersteht alle kalten Regenschauer des Herbstes, alle wilden Schneegestöber des Winters, friert durch und durch, erstarrt so sehr, daß er zwischen unseren Fingern wie feines, sprödes Glas zersplittert. Sein Herz steht still, sein grünes Blut fließt nicht mehr durch seine Adern, der Strom des Lebensodems ist erstarrt, die Augen sehen nichts, die wundervollen Sinne in seinen Fühlern sind vom Frost gebannt, und dennoch wird er wieder auferstehen. Selbst dann, wenn ihn Tauwasser überrieseln und neue Fröste ihn mit einer dünnen Eiskruste überziehen, wenn er wie Schneewittchen in einem gläsernen Sarge ruht, brauchen wir nicht um sein Leben zu bangen. Forscher ließen Schmetterlinge wahrhaftig in Eisblöcke einfrieren, hielten sie wochenlang so gefangen, und diese zarten Geschöpfe erwachten doch wieder, sobald die Sonne das Eis zerschmolz. Als 13
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wäre nichts geschehen, breiteten sie gelassen ihre bunten Flügel aus und flogen davon. Es ist ein Wunder, das kein Mensch zu fassen und zu deuten vermag. Dabei ist dieses Durchfrieren nicht nur für viele Insekten, sondern auch für ihre Eier, .Larven und Puppen erforderlich, damit die Entwicklung ihren ordentlichen, Verlauf nehmen kann. Würden wir den erstarrten Zitronenfalter oder die vereiste Puppe eines Kohlweißlings oder die durchgefrorene Raupe eines Gluckenfalters in die warme Stube nehmen, sie würden alle zusammen den Winter nicht überleben, würden verhungern oder verjauchen oder zusammenschnurren. Die Raupen ertragen noch stärkere Kälte als die überwinternden Schmetterlinge. Die erst halberwachsenen Raupen des eben erwähnten Gluckenfalters suchen nicht einmal einen Schlupfwinkel auf, bergen sich nicht zwischen zusammengewehten Blättern oder unter dichten Gespinsten, gehen nicht in die Erde, sondern schmiegen sich nur sehr dicht an die Ästchen ihrer Futterpflanze. Sie frieren zu steifen und zerbrechlichen Stöckchen zusammen. Auf üben zwanzig Grad unter Null müßten ihre Leiber abkühlen, ehe ihnen der Frost gefährlich werden könnte. Der Winter muß also lange Zeit vor Kälte knacken, ehe er den Insekten an den Kragen kann. Eine durchschnittliche und gleichmäßige Kälte ist diesem leichtbeschwingten Kribbelkrabbelvolk im Gegensatz zur landesüblichen Meinung sogar recht dienlich. Genau so kältefest sind die überwinternden Mücken und Fliegen, Käfer und Ameisen, Blattwanzen und Blattläuse, von den wundervoll geschützten Schildläusen ganz abgesehen. Am besten von allen Unbilden des Winters sind außer ihnen noch die Waldameisen bewahrt, deren unterirdische Gemächer bis in eine Tiefe von zwei Meter reichen. Dort sitzen die Tierchen unbeweglich in ihren Kammern, werden starr und steif und vertragen eine Unterkühlung bis zu zehn Grad unter Null. Die mitten in der Frostzone des Bodens überwinternden Rasen- und Holzameisen überstehen sogar eine Kälte von neunzehn Grad. Wie wenig die Kälte den Insekten ausmacht, beweisen uns besonders anschaulich die Frostspanner, die vom November bis zum Januar umherkriechen und umherfliegen — die Weibchen sind unbeflügelt 1 — und sich ausgerechnet in dieser Zeit paaren. Und 16
noch widerstandsfähiger sind die hauchzarten, kleinen Eichengallwespen, die aus den Galläpfeln schlüpfen, wenn die Winterstürme durch die Wälder brausen und die Schneeflocken wirbeln; bei diesem Wetter, durchbohren sie in stundenlanger Arbeit die harten Winterknospen der Eichen, um ihre Eier in sie zu versenken. Geradezu unverwüstlich sind auch alle überwinternden Spinnen, Steinläufer, Erdläufer, Schnurfüßler, Kugler, Asseln, Skolopender, Holzböcke, Zecken und Milben. Und wenn die Spinnen auch zusammenschnurren, daß der sonst so pralle Leib nur noch ein plattes Blättchen ist, wenn sie gleichsam nur noch aus Kopf und Brustpanzer bestehen, sie kommen doch gesund durch den Winter. Das schreibt sich leicht hin und läßt sich noch leichter überlesen. Nur wenige aber wissen, daß die meisten Jungspinnen, die auf diese Weise den Winter verschlafen, so winzig klein sind, daß sechzig von ihnen auf dem Rücken einer Wolfsspinne bequem Platz finden. Da haben es die Jungspinnen der schwarz-weiß-gebänderten Zebraspinne noch recht gut, denn sie bleiben den Winter über in der von der Mutter mit großem Fleiß gewobenen und sehr dickwandigen Brutvase, die sie in einen dichten Busch hing. Ganze Wolken warmer Spinnseide hüllen diese Spinnenzwerge ein, und über der Vase Den Frostspannern macht die Kälte wenig aus. Ihre Paarungszeit sind die kalten, schneereichen Wintermonate November bis Januar 17
schwebt noch ein ... , _ ,, , . schützender üaldachin.
Gänzlich unantastbar selbst bei der allerstrengsten Kälte sind; die mikroskopischen Urgeschöpfe, von denen in jedem Fingerhut voll Erde viele Millionen wohnen. Diese Wurzelfüßer, Sporentierchen, Geißelträger und Wimpertierchen sind praktisch und faktisch von keinem Frost zu erwürgen. Man hat sie in künstlichen Kältekammern bis zu 250 Grad unter Null abgekühlt, also bis zu einem Kältepunkt, der in der Natur überhaupt nicht vorkommt, und sie waren schon eine Stunde darauf wieder so munter und rege wie eh und je. Je näher das Tier noch dem Ursprung des Lebens steht, um so unverwüstlicher, um so märchenhafter ist seine Zähigkeit.
Die Erstarrten Wie nahe das winterschlafende Tier an die Totenstarre herankommt, davon können wir uns leicht überzeugen, wenn wir die Höhlen, die Schlafkammern der Erdkröten, der Teichmolche, der: Feuersalamander, der Eidechsen, der Ringelnattern und Kreuzottern aufgraben. Kalt und fast knochenhart liegt uns die Kröte auf der Hand., Die Augen sind fest geschlossen. Nicht der geringste Atemzug bewegt die Gluckerkehle und die Flanken. Das feinste Ohr vermag ihren Herzschlag nicht zu erlauschen. Nur mit dem Scheintod ist ihr Zustand zu vergleichen. Und in den meisten Fällen wird {sie; auch nicht mehr erwachen, wenn wir sie mit heim in die warme Stube nehmen. Ihr Schicksal ist in dem Augenblick besiegelt gewesen, da wir sie aus dem Lager hoben und der Kältestrom breit in ihre Erdhöhle brach. Denn die Kröte lebt ja! Sie ist nicht gänzlich unempfindlich, so sehr es auch den Anschein hat. Sie atmet noch! Atmet durch die Haut. Und sie kann sehr wohl erfrieren, kann in den wirklichen Tod hinüberschlummern, wenn der Frost tief in den Boden dringt. Doch spüren es die lebenserfahrenen Kröten, die ja bequem bis zu dreißig Jahre alt werden können, schon im voraus, wenn ein besonders harter Winter droht und flüchten tief ins Erdreich. Erd- und Kreuzkröten wurden schon in zwei Meter tiefen Höhlen gefunden, die sie sehr wahrscheinlich aber nicht selbst gruben, sondern die sich ihnen durch Zufall boten. 18
Noch kältefester scheinen die Molche und Salamander zu sein. Denn so tief sind die Lager der Teichmolche längst nicht, und die Salamander können wir wahrhaftig in eisglitzernden Felsenspalten finden. Angestellte Untersuchungen haben ergeben, daß die Salzkouzentration des Molchblutes durch Verdunstung so erhöht wird, daß die Erstarrung der Körper erst nach etlichen Grad unter Null erfolgt. Die Natur hat also auch die „Salzpökelei" schon lange vor uns erfunden. Bei starkem Frost aber werden auch die Molche glashart und ziehen sich zu dunklen Stöcken zusammen. Allzulange scheint das angefressene Speckbäuchlein und der fettreiche Schwanz nicht vorzuhalten. Zuletzt steht auch ihre Lebensuhr so gut wie still. Wieviele aber überhaupt nicht mehr erwachen, darüber fehlen uns noch immer die Unterlagen. Dagegen wissen wir, daß die Zauneidechsen und die Blindschleichen in strengen Wintern ziemlich starke Ausfälle haben können. Rund fünf Monate schlafen sie ja alle, diese Lurche und Kriechtiere, schlafen ununterbrochen, sind also unwahrscheinlich lange Zeit fern dieser Welt. Und! es ist begreiflich, daß ihre Lebensuhr durch besonders ungünstige Witterungsverhältnisse gänzlich zum Stillstand kommen kann. Denn diese Tiere werden nicht — wie wir es von den meisten winterschlafenden Säugern wissen — durch eine eintretende Unterkühlung geweckt. Sie sind ja auch als wechselwarme Tiere gar nicht imstande, sich durch Bewegung oder durch Futteraufnahme zu erwärmen. Es wäre gleichsam sinnlos und im wahrsten Sinne witzlos, wenn sie vorher erwachen und vor dem drohenden Kältetod gewarnt würden. Ohne das Bewußtsein wieder zu erlangen, schlummern sie in die ewigen Jagdgründe hinüber. Schlangen dagegen, ganz gleich ob harmlose Nattern oder giftige Ottern, erweisen sich in dieser Hinsicht als zäher und widerstandsfähiger. Ob es ihre Größe ist, die sie mehr ertragen läßt, ob ihr Schuppenpanzer einen besseren Kälteschutz darstellt oder ob sie sich stärkere Fettschichten anfuttern — wir wissen es nicht genau. Auf jeden Fall überstehen sie auch die Störungen während des Winterschlafes besser, werden in der Wärme wieder munter, verschmähen zwar jegliche Nahrungsaufnahme und suchen sich sofort wieder zu verkriechen, nehmen aber sonst keinen Schaden. Die Zählebigkeit der Schlangen ist ja bekannt. 19
In dieser Hinsicht werden sie vielleicht nur noch von den Fischen übertroffen. Denn es sind verbürgte Fälle genug bekannt, daß winterschlafende Karpfen bei einer Temperatur von minus fünfzehn bis zwanzig Grad in große Eisblöcke einfroren und nach dem Auftauen quiekfidel davonschwänzelten. übrigens sinkt auch bei den winterschlafenden Fischen die Zahl der Herzschläge von etwa zwanzig bis dreißig Schlägen auf ein bis zwei Schläge in der Minute ab. Sie zehren in dieser Zeit nur von dem aufgespeicherten Körperfett und erleiden einen Gewichtsverlust von durchschnittlich fünf Prozent. Im allgemeinen aber sind die winterschlafenden Fische wie auch die im Schlamni der Gewässer ruhenden Frösche und Kröten, Unken und Krebse vor der Gefahr des Einfrierens durch die besondere Natur des Wassers bewahrt.
Den wechselwarmen, fest schlafenden Zauneidechsen wird ein allzu harter Winter selbst in ihrem sicheren Erdversteck gefährlich
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Wasser kühlt sich viel langsamer ab als die Luft. Die „rauchenden und dampfenden" Flüsse und Teiche im Winter zeigen uns das deutlich genug an. So kann das Thermometer am Fenster schon seit zwei Tagen auf dem Nullpunkt stehen, das Wasser im Teich aber noch immer sechs Grad Wärme haben. Dann aber wird allmählich die oberste Wasserschicht kühler, zieht sich wie abgekühlte Luft zusammen, wird dadurch schwerer und sinkt in die Tiefe. Nun aber erfolgt das Verwunderliche und überraschende: kühlt sich dieses abgesunkene schwere Wasser durch weitere Frostverschärfung bis unter vier Grad Wärme ab, so wird es auf einmal wieder leichter, steigt im Gewässer auf und bildet eine Art von Wasserhaut auf der Oberfläche. Und diese auf vier Grad abgekühlte Wasserhaut verhindert nunmehr, daß noch stärkere Abkühlungen in die Tiefe dringen können. Sie verhindert sogar das Gefrieren des Wassers. Erst durch Erschütterungen des Wasserspiegels bildet sich später eine Eisdecke. Dadurch erklärt sich auch, daß windgeschützte Teiche den ganzen Winter über eisfrei bleiben oder höchstens an den bewegten Zu- und Abflüssen eine Eiskruste tragen. Nur sehr flache Gewässer durchfrieren im Laufe einer strengen Frostperiode bis zum Grunde. Die Tiere in der kühlen Flut haben es also doch recht warm und
Manche Fischarten vertragen ein Einfrieren im Eis und Temperaturen von minus 15—20 Grad. Vorbedingung für ein solches Einfrieren ist ein allmähliches Sinken der Temperatur, damit der Fisch seinen Organismus auf die veränderten Verhältnisse einstellen kann
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verhältnismäßig gemütlich, wenn es draußen Stein und Bein gefriert, der Schnee knirscht und die Spatzen tot von der Dachrinne kippen.
Die Langschläfer So, und nun wollen wir uns endlich um die winterschlafenden Säuger, um die Murmeltiere, die Buche, die Hamster, die Ziesel, die Wasserratten, die Fledermäuse und die Igel kümmern. Bei ihnen, die eine Blutwänne von durchschnittlich 36 bis 38, höchstens aber 40 Grad Celsius haben, ist eine so lange Lebenspause nur dann möglich, wenn alle Körperfunktionen auf ein Mindestmaß herabgesetzt werden. Denn sonst wäre das aufgespeicherte Fett in wenigen Wochen verbraucht, oder es würden die zusammengetragenen Vorräte bestimmt nicht ausreichen. Und so geschieht es denn, daß sich bei diesen Langschläfern der Herzschlag unaufhaltsam verlangsamt, die Atemzüge immer seltener und flacher werden und die Körperwärme stark absinkt. Die Murmeltiere, die eine Bluttemperatur von 37,5 Grad haben, wenn sie sich in ihrer festverrammelten und tiefen Winterburg eng aneinanderkuscheln, kühlen sich bis zu fünf und bis zu viereinhalb Grad ab. Ihr Herz schlägt dann nur noch drei- bis viermal in der Minute, und ebensowenige Atemzüge heben und senken — allerdings kaum noch merklich — die Flanken. Der Magen und die Därme sind gänzlich geleert und zusammengeschrumpft. Die Temperatur in der Höhle aber kann getrost bis auf vier Grad Wärme heruntergehen. Damit haben die Murmeltiere dann freilich die tiefste Stufe ihres Schlafes erreicht. Vorher aber erwachen sie in regelmäßigen Abständen, etwa alle drei oder vier Wochen, taumeln ein wenig umher, lösen sich und legen sich wieder nieder, In Wirklichkeit schlafen sie also nicht sechs oder sieben Monate pausenlos durch, sondern erreichen erst allmählich den Zustand gänzlicher Bewußtlosigkeit und hypnotischer Schlaftiefe. Sie sind jedoch selbst in diesem letzten, scheintodhaften Zustand, selbst wenn ihre Glieder schon steif und klamm sind, nicht so unempfindlich wie die winterschlafenden Lurche und Kriechtiere. Alle Berührungen werden empfunden. Und sie erwachen sofort, wenn die 22
Kälte so tief in den Boden dringt, daß die Temperatur in der Höhle unter vier Grad sinkt. Dann schaffen sie sich ein wenig Bewegung, verstopfen die Schlupfröhre noch fester und mummeln von den Heuvorräten. Vier Grad Wärme scheinen für die Säuger die äußerste Lebensgrenze zu sein. Fällt die Temperatur unter diese Schwelle, so erreicht die Tiere trotz aller Schlafbefangenheit ein Warn- und Weckruf. Das trifft für die Murmeltiere wie auch für unseren Hamster, die drei größeren Buche und den Igel zu. Der Hamster, der aus seinem täglichen Schlummer in den Winterschlaf hinübergleitet, wenn seine Blutwärme weniger als 32 Grad beträgt, verträgt die Abkühlung meistens nur bis zu sechs Grad. Er schläft aber auch am unruhigsten, wacht anfangs alle vier, fünf Tage wieder auf und futtert von seinen Vorräten, feiert richtige kleine Freßorgien und legt sich danach wieder aufs Ohr, beziehungsweise lang ausgestreckt auf den Bauch. Bei der leisesten Störung ist er sofort hellwach und abwehrbereit, obwohl seine Glieder natürlich noch steif und unbeholfen sind. Erst ziemlich spät findet er in einen tieferen und längeren Dauerschlummer, gleichsam erst gegen den Morgen der dunklen Winternacht. Freund Schniefnase, der Igel, der sich keine Vorräte zusammenträgt, pennt fast pausenlos durch, ratzt glatt drei Monate und noch länger hintereinander herunter. Er fällt in diesen Dauerschlaf, wenn seine Blätterbude nur noch fünfzehn Grad Wärme aufweist. So fest schläft er, daß wir ihn, der sonst außerordentlich lärmempfindlich ist, nicht einmal durch in unmittelbarer Nähe abgefeuerte Schüsse wecken können. Zu einer festgeschlossenen Kugel zusammengerollt — sonst schläft der Igel auf dem Bauche — weiß er nichts mehr von dieser Welt. Sein Herz schlägt nur noch fünfmal in der Minute und kommt oft ins Stottern, so daß wir nur einen einzigen Schlag in diesem Zeitraum vermerken können. Auch die Atmung setzt oft für Minuten aus. Dennoch erwacht auch er, wenn sechs Grad unterschritten werden, erwärmt sich dann schnell bis zu 34 Grad, verläßt seine Höhle, wagt einen kleinen Dauerlauf, damit das Blut wieder in Schwung kommt, und sieht zu, daß er etliche Kalorien in den Bauch bekommt. Gelingt ihm das nicht, vermag er keinen Happen zu erwischen und hält 23
die strenge Kälte an, so muß er wieder hinaus und schwächt sich auf diese Weise so sehr, daß er endlich in den ewigen Schlaf fällt. Wer also einen Igel durch den Schnee trollen sieht — meist sind es junge Igel, die kein rechtes warmes Lager fanden —, der nehme ihn nicht mit, sondern verschaffe ihm etwas zu futtern. Es sei denn, man habe für den armen Kerl eine geeignete Oberwinterungsecke im Holz- oder Heuschuppen, in einer leeren Hundehütte oder in einer gepolsterten Kartoffelkiste. Nehmen wir ihn mit in unsere warmen Raums, bekommt er schnell den Durchfall und geht uns ein. Dauerschläfer sind auch die Siebenschläfer, Gartenschläfer, Baumschläfer und Haselmäuse, die deshalb mit Recht auch Schlafmäuse genannt werden. Sie fallen ziemlich rasch in eine große Schlaftiefe und erwachen höchstens alle acht Wochen, um ein wenig von den Vorräten zu knabbern. Die Schlafmäuse, die sich gleich den Murmeltieren aneinanderkuscheln, liegen alle auf dem Rücken, drücken die Schnauze fest auf den Bauch und decken sich mit dem Schwänze zu, bzw. umwickeln sich regelrecht mit ihm. Werden sie gestört oder belästigt, so reagieren sie lebhaft zuckend, muckend und quiekend, ermuntern sich aber dennoch nur schwer. Ihre Augen, Ohren und die Schnauze sind wie verklebt, verschrumpelt, vergreist, das ganze Gesicht richtig verkümmert, die weißen Pfötchen halten sie fest an die Backen gepreßt. Gewaltsam sind sie in diesem Zustand nicht aufzurollen. Und die kleine Haselmaus erwacht nicht einmal, wenn ihre Blutwärme unter sechs, fünf und vier Grad sinkt. Nein, das zarte Geschöpfchen würde das Erwachen auch wohl kaum überleben, vermöchte sich gar nicht zu erwärmen. Die Natur schenkte ihr einen märchenhaften Regulator, der selbsttätig ihren Herzschlag beschleunigt und ihre Atemzüge vertieft, bis die Gefahr des Erfrierens vorüber ist. Dieses wundervolle Geschenk wurde den ebenfalls sehr fest1 schlafenden Fledermäusen versagt. Sie erwachen nicht durch die. unter vier Grad sinkende Temperatur, sondern erfrieren und gleiten in den ewigen Schlaf hinüber. Dasselbe Schicksal erleiden die hamsterähnlichen Ziesel, die zur Zeit auf dem Vormarsch gen Westen sind. Sie vertragen zwar eine Körperabkühlung bis zu null 24
Grad und haben auch noch die Möglichkeit, sich fressend zu erwärmen, sind also zweifellos die kältefestesten Schläfer unter den Säugern; dennoch werden ihnen harte Winter gefährlich, weil sie der Weckruf und die Warnung der Natur nicht erreichen.
Das große Geheimnis Alle die kleinen und großen, die oberflächlichen und festen Schläfer haben wir nun an unserem Auge vorüberziehen lassen, haben in unzählige heimliche Kammern und Schlupfwinkel geschaut und dabei erkannt, daß die winterliche Welt eigentlich mit einer gewaltigen Schlafstube zu vergleichen ist. Es wurde uns auch klar, daß es nicht in erster Linie die Kälte ist, der die Tiere auszuweichen suchen. Wir wissen, daß die winzigen Urgeschöpfe, daß Würmer wie Schnecken, Krebse wie Molche, Frösche wie Fische, Schlangen wie Insekten, und nicht zuletzt auch die Säuger im Grunde doch sehr kältefest sind und erstaunliche Unterkühlungen überstehen.
Der Siebenschläfer hält einen festen, tiefen Winterschlaf, aus dem er nur alle 8 Wochen erwacht, um ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen
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Nein, \ o r dem Frost brauchen sich die Tiere im allgemeinen nicht zu fürchten. Nicht der Kältetod, sondern viel eher die Hungersnot bedroht sie während der kalten Jahreszeit. Wie denn auch die meisten Zugvögel die winterliche Kälte leichtlich ertragen könnten. Bleiben doch selbst Vogelzwerge wie der Zaunkönig und das Goldhähnchen im strengsten Winter bei uns. Warum aber können sie bleiben? — Weil sie auch noch im Winter ihr täglich Brot zu finden vermögen! Darüber also besteht wohl kein Zweifel: Durch das Geschenk des Winterschlafes werden die Tiere allen Peinigungen des Hungers, allen Sorgen um die Nahrung, allen gesteigerten Verfolgungen enthoben. Der Zauberschlaf trägt ihr Leben über eine lebensfeindliche und nahrungsarme Spanne hinweg. Zweck und Sinn dieser Erscheinung wären damit klar. Bleibt uns also „ n u r " zu erforschen, welche Kraft, welcher Einfluß, welcher Reiz und Anruf die Tiere dazu veranlaßt, sich erstens einmal rechtzeitig nach geeigneten Schlupfwinkeln umzusehen, zweitens diese Lager auszubauen und mit genügend Vorräten zu versehen, drittens aber sich in ihnen zur Ruhe zu begeben. Das sind drei Fragen, die uns bis1 heute noch kein Mensch, kein Forscher befriedigend beantworten konnte. Drei Fragen, die uns unmittelbar vor die Rätsel des tierischen Instinkts, der vererbten Verhaltensweisen, vor die Geheimnisse der Körperfunktionen und die Mysterien der Wirkstoffe und ihrer Ausschüttung stellen. Und eigentlich sind wir schon glücklich, daß wir überhaupt in der Lage sind, alle diese Fragen begrifflich zu umreißen und in Worte fassen zu können. Denn letzten Endes sind uns der tierische Instinkt wie die Körperfunktionen und die Wirkstoffe noch immer Bücher mit sieben Siegeln. Wir können also vorläufig nur sagen, daß das Aufsuchen, Ausbauen und Versorgen der Winterquartiere wahrscheinlich auf vererbte Verhaltensweisen, also auf tiefverwurzelte Instinkte zurückzuführen ist. Wir können weiterhin vermuten, daß der Anreiz zum Winterschlaf durch den Ausfall der Schilddrüsenfunktion und die Umstellung der Wirkstoffe erfolgt. Wer aber diesen Ausfall der einen Drüse und die erhöhte Produktion anderer Drüsen veranlaßt, das bleibt das große Geheimnis des Lebens. Selbstverständlich spielt auch das Absinken der Temperatur eine nicht un26
wesentliche Rolle als auslösender Faktor und darf — wenigstens als letzter mechanischer und physikalischer Anreiz — nicht unerwähnt bleiben. Immerhin hat uns das Studium dieses Lebensgeheimnisses nun schon dazu befähigt, daß wir schwer erkrankte Menschen, die sich einer sehr langen Operation unterziehen müssen, durch Injektionen geeigneter Chemikalien und Unterkühlungen durch Trockeneis in einen künstlichen Winterschlaf versetzen können. Auf diese Weise ist es zum Beispiel möglich, verkalkte Teile der großen Herzschlagader herauszuschneiden und durch gesunde Aderteile eines Toten zu ersetzen. Das ist eine Operation, die elf Stunden Eine kleine Tragödie in der winterlichen Natur
Die Tiere, denen die Natur nicht die Gabe des Winterschlafs geschenkt hat, sind während der Notzeit vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Hier hat ein gefiederter Räuber seine Beute im Schnee entdeckt und durch die Luft entführt
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währt und die nur möglich ist, weil das Herz des also behandelten und unterkühlten Menschen — seine Blutwärme wird bis auf 27 Grad und noch darunter gesenkt! — kaum noch schlägt und weil sein Blutkreislauf wahrhaftig stockt. Nach drei Tagen starker Benommenheit kommen diese Patienten, die im Durchschnitt volle fünfzehn Stunden scheintot waren und sich im Zustand eines winterschlafenden Säugetieres befanden, langsam wieder zu sich. Jetzt begreifen wir auch schon eher die bisher unfaßliche Tatsache, daß das Herz eines im Winterschlaf geköpften Murmeltieres noch volle drei Stunden weiterschlug. Denn jetzt wissen wir ja, daß die Unterkühlung des schlafenden Tieres sein Leben nicht etwa gefährdet, sondern es im gleichen Maße schützt und erhält, wie es die Körperfunktionen lähmt und bannt. Darum also war das winterschlafende Tier vor dem Angriff aller Bakterien wie durch einen Eispanzer geschützt! Darum schläft es sich im wahrsten Sinne des Wortes wieder gesund, wenn es matt und krank in die Höhle schlüpft. Es wird uns klar, welches Lebenswunder der Winterschlaf ist. Und vielleicht dauert es gar nicht mehr so lange, und wir behandeln alle gefährlichen Entzündungen und Infektionen am erfolgreichsten, wenn wir den Kranken in den Winterschlaf versenken! übrigens gibt es nicht wenige Tiere, die, um ebenfalls eine nahrungsarme und lebensfeindliche Zeitspanne zu überwinden, einen ganz ähnlichen Zauberschlaf im Sommer halten. Wir brauchen dabei gar nicht weit in die Ferne zu schweifen. Auch unser Schlammpeitzger vermag es genau so wie der afrikanische Lungenfisch, im Schlamm eines ausgetrockneten Gewässers zu übersommern. Unsere Zauneidechse aber hält in besonders heißen Sommermonaten einen erquickenden Abkühlungs-Dauerschlummer.
Der Vorhang hebt sich Und wir wollen natürlich auch dabei sein, wenn die verschwundenen und verwunschenen Darsteller aus der Versenkung auftauchen und der erste Akt des neuen Lebensspieles beginnt! Denn die Art des Erwachens wird uns noch einige wissenswerte und interessante Einblicke in das rätselvolle Geschehen vermitteln. 28
So wurde beim Hamster beobachtet, daß er gleichsam stückweise oder zonenweise die Totenstarre überwindet. Zwei Stunden nach dem nur langsamen Erwachen, bei dem er röchelt, faucht und quiekt, beträgt seine Körpertemperatur in der Brustgegend neunzehn Grad, zwischen den Hinterfüßen aber nur achteinhalb Grad. Nach einer weiteren halben Stunde hat sich die vordere Klimazone auf zweiunddreißig Grad erwärmt, während die hintere mit erst vierzehn Grad beträchtlich nachhinkt. Und erst nach vier Stunden ist er durchschnittlich in der Lage, richtig dahinzutappen. Die schnellere Erwärmung des Vorderkörpers konnte auch beim erwachenden Murmeltier festgestellt werden. Sonst aber geht bei ihm die Rückkehr zum vollen Leben fast sprungweise und schier stürmisch voran. Innerhalb einer knappen Minute erwärmt sich das bis auf vier Grad abgekühlte Tier um volle acht Grad. Noch rascher findet sich der Gartenschläfer aus der Schlafbefangenheit. Bei ihm mag das seinen ganz besonderen Grund haben. Denn bei Gartenschläfern sind kannibalische Gelüste unmittelbar nach dem Erwachen an der Tagesordnung. Wehe dem jungen und unerfahrenen Gartenschläfer, der den Wecker überhört und sich noch einmal aufs Ohr legt! Er wird von den lieben Schlaf genossen überfallen, zerrissen und aufgefressen. Und haben diese Gesellen dann erst einmal Blut geleckt, werden auch starke, aber noch schlaftrunkene Artgenossen überrumpelt. Wir können also hier gleichsam von einem fürchterlichen Erwachen sprechen.
Benommen vom langen Winterschlaf, blinzelt der Blich in die zum Leben erwachte Frühlingswelt. Die Zeit der Not ist vorüber
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Der Gartenschläfer durchmißt den weiten Weg von der Totenstarre bis zur vollen Wiederbeherrschung aller Glieder und bis zur gänzlichen Wachheit der Sinne in einer Viertelstunde. Dagegen kann sich der allein überwinternde und durch seinen Sta>chelpanzer trefflich geschützte Igel viel Zeit lassen und seine Sinne gemächlich versammeln. Er kommt wohl auch deshalb so langsam und zögernd zu sich, weil er ja einen Dauerschlaf von gut zwanzig Wochen hinter sich hat. Sein Gehirn ist fast blutleer. Das Herz und die Lungen ersticken fast in der aufgespeicherten Kohlensäure. Er muß gähnen, daß es ihm schier das Mäulchen zerreißt. Stundenlang döst er sich in das wiedergeschenkte Leben hinein. Immer wieder wirft ihn der Schwindel um, wenn er versucht, auf die Beine zu kommen. Ebenso schwer finden sich unsere Fledermäuse aus der Schlafbefangenheit. Sie müssen erst einmal von sich aus den Körpermotor anwerfen, müssen ihn zitternd und bebend, schaukelnd und schwingend auf höhere Touren bringen. Ehe sie sich fallen lassen und das Flattern versuchen können, kriechen sie erst lange umher und gleichen von heftigen Fiebern geschüttelten und gänzlich hilflosen, verdatterten Geschöpfen. Gelingt es ihnen, in die Sonne zu rutschen, geht die Wiedererweckung freilich schneller voran. Der Dachs und der Bär aber, die alle diese Auferstehungsmühen nicht kennen, weil sie nur ruhten und die normale Körper- und Blutwärme behielten, gehen jetzt klugerweise hin und sorgen durch reichliche Grünkost erst einmal für eine gründliche Darmreinigung, machen also ihre Frühjahrs-Kräuterkur. Sonnenbäder brauchen auch fast alle Lurche und Kriechtiere, um wieder flott zu werden. Allen anderen weit voran erwachen die Teichmolche und die Grasfrösche. Bereits Ende Februar, spätestens Anfang März, verlassen die Teichmolche ihre Erdlöcher und watscheln nicht selten über den Schnee zu den Gewässern. Vertrocknet, verschrumpelt und dunkelfarbig tappen sie dahin, wie angezogen vom glitzernden Eisrand der Bäche und Tümpel. Immer wieder müssen sie pausieren, ehe sie endlich die kühle und belebende Flut erreichen. Um die gleiche Zeit schweben die Grasfrösche aus der Tiefe der Gewässer aus ihren Schlammpackungen und fangen an, ihre leise 30
murrenden Liebeslieder zu singen. Sie paaren sich oft schon und laichen, ehe die Teichmolche eintreffen und wenn die anderen Frösche noch fest schlafen. Nicht viel später erwachen die samtenen Tagpfauenaugen, die feierlichen Trauermäntel, die bunten Füchse und die Distelfalter, die verblaßten Zitronenfalter. Ja, recht verwettert und verwittert sind ihre Flügel. Es ist ihnen deutlich anzusehen, daß sie ein großes und gefährliches und kräftezehrendes Abenteuer bestanden haben. Den Schmetterlingen folgen die glücklich durch den Winter gekommenen Hummel- und Wespenköniginnen fast unmittelbar. An den Ameisenburgen öffnen sich die Türen und Tore. An sonnigen Tagen liegt das ganze Volk auf dem Nadelhaufen, um die köstliche Wärme aufzusaugen. Die Königin ist mitten unter ihren Arbeitern. Es sind die einzigen Tage im Jahre, die sie verbummelt und an der frischen Luft verbringt. Kaum erwarten kann auch die haarige Raupe des Braunen Bären den Frühling. Nicht selten sehen wir sie über den harschen Schnee walzen. Sie sucht sich jetzt ein Winkelchen, wo sie sich verpuppen kann. Eine wundervolle Witterung für den nahenden Lenz hat auch der Regenwurm, obwohl er oft in zwei Meter Tiefe flüchtet. Immer wieder versucht er in die F'rostzone des Bodens vorzustoßen und in nahrhaftes Erdreich zu gelangen. Ende März und Anfang April ist das Erwachen und Auftauchen der Winterschläfer dann im vollen Gange, tanzen schon wieder] Mücken, schwirren Fliegen, krabbeln Käfer, summen Bienen, hasten Spinnen, kriechen Raupen; es ist ein großes Auferstehen aus Eiern und Puppen. Dann kehren auch die Zugvögel zurück, dann hat das Leben wieder seinen vollen und starken Herzschlag. Daß dieses Herz aber seine alte Kraft wiedergewann, verdankt es zu einem großen Teil dem rätselhaften, dem großen Geschenk der Natur, das wir Winterschlaf nennen. Unser Titelbild: Bildstudie von Siebenschläfern
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