Geister-
Krimi � Nr. 17 � 17
Andrew Hathaway �
Todesschreie auf � Herford Castle �
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Noch nie hatte George Lomo...
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Geister-
Krimi � Nr. 17 � 17
Andrew Hathaway �
Todesschreie auf � Herford Castle �
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Noch nie hatte George Lomont solch grauenhafte Angst verspürt. Das Entsetzen hatte seine Krallen nach ihm ausgestreckt und ließ ihn nicht mehr los. Mit weit aufgerissenem Mund schnappte Lomont nach Atem. Die feuchtkalte Nachtluft stach in seiner Lunge wie Tausende glühender Nadeln. Ein schmerzliches Ächzen entrang sich seinen blutleeren Lippen. George Lomont rannte um sein Leben! * Sie jagten ihn seit einer halben Stunde durch den gespenstischen Wald, in dem man kaum die Hand vor den Augen sah. Der Mond war aufgegangen, aber die bleiche Sichel verschwand immer wieder hinter drohend aufgetürmten Wolken. Wenn sich das kalte Licht auf die schweigende Erde ergoß, verwandelte es jeden Baum in ein Ungeheuer, jeden Strauch in einen zusammengesunkenen Körper, jeden Stein in einen aufgesperrten Rachen, der bereit war, den Fliehenden zu verschlingen. George Lomont glaubte, irrsinnig zu werden. Sie jagten ihn gnadenlos. Sie kannten kein Mitleid. Wer immer sie auch waren, sie mußten die gräßlichsten Wesen sein, die es auf dieser verzweifelten Welt gab. Lomont stolperte, stürzte, fiel mit dem Gesicht in den weichen, morastigen Boden. Blut strömte aus seiner Nase, lief über seinen Mund. Süßlicher Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus. Lomont war am Ende. Er konnte nicht mehr weiter. Doch dann waren sie wieder da, sie, seine Folterknechte. Sie stachen ihn, schnitten tief in sein Fleisch, versengten seine Haut 3 �
mit glühenden Eisen. Seit einer halben Stunde trieben sie den gepeinigten Menschen auf diese grausame Weise vor sich her, in einer ganz bestimmten Richtung. Und was beinahe das schrecklichste an der Tortur war: George Lomont konnte seine Verfolger nicht sehen. Sie waren unsichtbar. »Gnade!« winselte der auf dem Boden liegende Mann. »Erbarmen!« Aber er fand weder Gnade noch Erbarmen bei den Teufeln von Herford Castle. Die Finger des Mannes bohrten sich vor Schmerzen tief in die weiche Erde. Volle Hände Lehm riß er los, schleuderte sie um sich, wälzte sich herum, schreiend und jammernd. Weit drangen seine Hilferufe durch die Nacht, doch niemand hörte sie. Das Dorf Aldermor lag vier Meilen entfernt, und er hatte es verlassen, um einen kleinen Spaziergang vor dem Schlafengehen zu unternehmen. Und Herford Castle, das man in wenigen Minuten erreichen konnte, war in grauen Vorzeiten massig erbaut worden, um Feinde abzuhalten. In dieser verhängnisvollen Nacht, der Schreckensnacht von Herford Castle, hallten die gellenden Schreie von den dicken grauen Mauern zurück. George Lomont hob den Kopf. Vor seinen Augen wallten rote Schleier, durch seinen Kopf zuckten die Schmerzen wie grelle Lichtblitze. Als hätte sich ein Dutzend mittelalterlicher Folterknechte auf ihn gestürzt, so wurde er zerfleischt und gemartert. Es gab kaum mehr eine Stelle an seinem Körper, aus der nicht ein dünner Blutfaden quoll, an der nicht die fürchterlichsten Qualen ihn erbeben ließen. Sie wollten ihn antreiben, wollten ihn ganz in ihren Bann bekommen. Wimmernd raffte sich George Lomont auf. So hatte er sich sei4 �
nen Urlaub in Wales bestimmt nicht vorgestellt. Die unsichtbaren Folterknechte waren vorsichtig an ihr grausiges Werk herangegangen. Sie hatten keine wichtigen Körperteile ihres Opfers verletzt. Mit ihren ebenfalls unsichtbaren Folterwerkzeugen hinterließen sie sehr sichtbare Wunden. Aber sie hatten Größeres mit ihrer Beute vor. Der Mensch sollte nicht hier auf der morastigen Erde verbluten. Er sollte sterben, aber erst dann, wenn es seine Verfolger wollten. Und sie wollten nicht – noch nicht. Jeder Schritt erschien George Lomont wie ein Schritt weiter in die Hölle. Aber wenigstens hatten die Quälereien aufgehört, seit er sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Er wußte bereits, daß er gehen mußte, wohin ihn die Unsichtbaren führen, aber er ahnte auch, daß ihm Grauenhaftes bevorstand. Innerlich wehrte er sich mit aller Macht dagegen. Eine Stimme warnte ihn davor, weiterzugehen und der eigenen Willen aufzugeben, weil ihm dann noch größere Leiden bevorstanden. Aber der reine Instinkt veranlaßte ihn, diese Überlegungen zu unterdrücken. Nur flüchtig zuckte ein Bild durch seine vom Entsetzen getrübte Vorstellung. Eine blonde, liebevoll blickende Frau mit zwei kleinen Jungen, sechs und sieben Jahre alt. Seine Familie. Ob er sie jemals wiedersehen würde? Doch dann verblaßte das Bild sofort wieder. George Lomont war stehengeblieben, um sich gegen einen Baumstamm zu lehnen. Die Müdigkeit drohte ihn zu überwältigen. Kaum hatte er den Baum berührt, als er auch schon mit Aufbrüllen zurückzuckte. Es war, als lehnte er sich gegen eine glühende Eisenplatte. Ein Licht! Da vorne schimmerte doch ein Licht! George Lomont schöpfte neue Hoffnung. Menschen, die ihm helfen konnten, nein, die ihm helfen mußten. Jetzt war er gerettet. 5 �
Während er hastig durchs Buschwerk stolperte, erinnerte er sich an die Erzählungen der Leute im Dorf. Das mußte Herford Castle sein, das einstmals prachtvolle Schloß, auf dem rauschende Feste gefeiert worden waren. Jetzt hatten seine Besitzer abgewirtschaftet und fristeten ein kümmerliches Dasein von einigen Pachten, die ihnen verblieben waren. Herford Castle – die Rettung! Das Licht wurde stärker, als der zerschundene George Lomont näher kam. Warm schien es in die Dunkelheit hinaus. Lomont war zumute wie einem Schiffbrüchigen, der nach endlosen Tagen auf dunkler, stürmischer See Land vor sich sieht. Mit letzter Kraft wankte der Mann auf das Schloß zu. Für ihn hatten die hohen Mauern, die trotzigen Türme der Burg nichts Furchterregendes an sich. Im Gegenteil. Breite Steinstufen führten zu einer riesigen, mit Eisenbändern beschlagenen Holztür hinauf. Ein häßlicher bronzener Löwenkopf hielt einen schweren Klopfring im Maul. Zitternde Finger reckten sich nach dem Ring. Dumpf hallten drei Schläge durch das Schloß. Als die Tür zurückschwang, brach George Lomont auf der obersten Steinstufe zusammen. * Weich schwang der Reisebus durch die weiten Kurven der Straße, die durch Wales führten. Im Passagierteil brannte kein Licht, die Leute waren müde. Nur die blauen Notleuchten waren eingeschaltet. Das schwache Licht des Armaturenbretts beleuchtete das besorgte Gesicht des Fahrers. Er war etwa fünfzig Jahre alt und fuhr seit seinem zwanzigsten Lebensjahr zuerst Lastwagen, 6 �
dann Autobusse. Er war auf der Straße zu Hause, und der Autobus stellte einen Teil seines Lebens dar. Daher war es nicht weiter erstaunlich, daß er bereits vor einer Stunde zu dem neben ihm auf einem Klappsitz mitfahrenden Reiseleiter bemerkt hatte: »Mit der Mühle stimmt doch was nicht. Der Motor hat ein eigenartiges Krachen im normalen Geräusch.« Und der Reiseleiter, dreißig, schlank, schwarzhaarig, gut aussehend, hatte geantwortet: »Murphy, Sie spinnen. Ich höre nichts. Also machen Sie schon, damit wir bald in die Betten kommen. Unsere Schäfchen haben sich heute bei der Besichtigung ein wenig übernommen.« Jetzt standen die Zeiger der Uhr im Armaturenbrett auf 22.00 Uhr. Die Scheinwerfer wanderten durch die dichte Dunkelheit, die sich auf das Land gesenkt hatte. »Was macht der Motor?« fragte Larry Harper, der Reiseleiter. »Ist das Geräusch schon weg?« Harold Murphy, der Busfahrer, schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil«, brummte er mißmutig. »Es ist stärker geworden. Weiß nicht, ob wir es noch schaffen. Es hört sich genauso an wie vor einem Monat, als die Einspritzpumpe für den Diesel. platzte.« »Malen Sie nicht den Teufel an die Wand, Murphy!« rief Harper unterdrückt. Er drehte sich um und warf einen Blick über seine »Schäfchen«, wie er die amerikanischen Touristen nannte, die er durch Europa führte. »Eine Panne kann mich meinen Job kosten.« »So schlimm wird es auch nicht sein«, meinte der Fahrer. Murphy war schon müde, aber wenn er am Steuer saß, hielt er eisern durch. »Und wenn alle Stricke reißen, haben wir immer noch das hier.« Er klopfte stolz auf das leistungsstarke Funkgerät, mit dem er jederzeit das Büro seiner Reiseagentur erreichten konnte. Ein 7 �
Luxus, den die Touristen bezahlen mußten. »Entschuldigen Sie, Mr. Murphy«, sagte in diesem Augenblick ein junger Mann mit widerspenstigen blonden Haaren. Unter dem rechten Auge hatte er eine weißliche, tiefe Narbe. »Ach, Mr. Masters«, sagte der Fahrer mit einem breiten Lächeln. »Habe geglaubt, daß Sie auch schlafen wie die anderen.« »Nein.« Masters schüttelte den Kopf. Er streifte den Reiseleiter nur mit einem flüchtigen Blick. »Ich habe mir Gedanken gemacht, ob wir hier auf der richtigen Straße sind. Wir müßten eigentlich längst angekommen sein.« »Allerdings«, knurrte Murphy wütend. »Die alte Mühle arbeitet nicht mehr richtig. Deshalb habe ich ein wenig Tempo weggenommen. Ich will nichts riskieren.« »Wir haben kein Schild gesehen, daß wir abbiegen müssen«, erklärte Larry Harper arrogant. »Wir beide sind nicht zum ersten Mal auf einer Reise, Mr. Masters, was man von den Passagieren nicht ausnahmslos behaupten kann.« »Keine Sorge, Mr. Masters«, sagte Harold Murphy schnell, um die unverschämte Bemerkung des Reiseleiters zu überspielen. »Wir schaffen es schon.« Masters bedankte sich und ging auf seinen Platz zurück. »Hoffentlich«, murmelte er. * Warmes gelbliches Licht fiel auf den reglosen Körper, der zusammengekrümmt auf den Steinstufen lag. In der geöffneten Tür stand ein stattlicher Mann. Das silbergraue Haar lag in drahtigen Strähnen um sein markantes, feines Gesicht, in das sich tiefe Spuren von Gram eingegraben hatten. In der nervigen Faust hielt der Mann einen Leuchter mit fünf 8 �
brennenden Kerzen. Er hatte ihn hoch erhoben, um den späten Besucher vor der Tür ansehen zu können, doch sein Blick ging hinaus in die schwarze Nacht. Erst als er den Kopf senkte und seine Augen auf den Boden richtete, sah er den zerschundenen Körper. Hart preßten sich seine Lippen aufeinander, bis nur mehr ein dünner weißer Strich zu sehen war. »Was ist, Vincent?« fragte eine kleine, zerbrechlich aussehende Frau, die hinter den Mann getreten war. »Wer hat denn geklopft?« Lord Vincent Sutton zuckte beim Klang der Stimme seiner Frau zusammen. »Bitte, Clara, geh wieder hinein!« sagte er mit fester Stimme. »Es ist niemand…« Doch es war zu spät. Clara Sutton hatte, bereits den Mann auf den Stufen gesehen. »Paul!« gellte ihr Aufschrei durch die Halle des Schlosses. * Als sich die Tür öffnete, war George Lomont in Ohnmacht gefallen. Doch die Besinnungslosigkeit dauerte, nicht lange an. Lichtschein drang in sein Bewußtsein, dann horte er die Stimme einer Frau eine Frage stellen, deren Bedeutung er nicht verstand. Eisiges Erschrecken durchzuckte ihn, als ein Mann behauptete, es wäre niemand da, und gleich darauf hörte er die Frau einen Namen rufen. Lomont fand die Kraft, sich mit den Armen vom Steinboden hochzustemmen und zu sprechen. »Ich bin nicht Paul«, krächzte er. Die aufgesprungenen Lippen ließen die Worte nur zischend und undeutlich aus seinem Mund kommen. »Ich heiße George Lomont und bin überfallen worden. 9 �
Helfen Sie mir, ich flehe Sie an, helfen Sie mir!« »Paul«, wimmerte die Frau vor sich hin. Tränen quollen aus ihren glänzenden Augen. »Wer hat Sie überfallen?« fragte Lord Sutton widerstrebend. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen, und er fürchtete sie. »Bitte, ich bin nicht Paul«, wiederholte Lomont beharrlich. »Sie müssen mir helfen. Ich bin überfallen worden.« »Das haben Sie schon gesagt.« Die Stimme des Lords klang kalt. »Wer hat Sie überfallen? Wenn Sie mir das nicht verraten, kann ich Ihnen nicht helfen.« Lomont versuchte, den Kopf zu schütteln. Doch der heftige Schmerz, der durch seinen wunden Hals zuckte, preßte einen Aufschrei aus seiner Kehle. Er konnte es nicht fassen, daß jemand Fragen stellte, wenn ein blutender, verletzter Mensch vor seinen Füßen lag. »Sie werden es nicht glauben«, stieß er undeutlich hervor. »Ich konnte niemanden sehen. Sie waren unsichtbar. Aber sie hatten Folterwerkzeuge. Es war schrecklich.« »Paul!« Hemmungslos schluchzend, jammerte die Frau immer wieder diesen Namen vor sich hin. Lomont packte irrsinnige Wut. Statt ihm zu helfen, nach einem Arzt und nach der Polizei zu telefonieren, stand dieser Kerl da vor ihm, hielt sich an seinem Kerzenleuchter fest und stellte idiotische Fragen, die völlig bedeutungslos waren. Und die hysterische Alte hörte nicht auf, von ihrem Paul zu faseln. Wäre Lomont nicht so schwach gewesen, hätte er sich auf die beiden gestürzt und wild auf sie eingeschlagen. Aus seinem Mund kam ein heiseres Fauchen, ein Laut der ohnmächtigen Wut. »Die Unsichtbaren.« Die Hand, die den Kerzenleuchter hielt, begann zu zittern. Eine der Kerzen verlöschte. Schweißtropfen liefen trotz der kühlen Nacht über das Gesicht Lord Suttons. Es 10 �
wirkte wie aus Stein gemeißelt. Und dann hörte George Lomont die Worte, die er nicht fassen konnte. »Es tut mir leid, Sir, aber wir können Ihnen nicht helfen.« »Aber Vincent«, wandte die Frau ein. »Willst du den Ärmsten vor der Tür liegen lassen? Das geht doch nicht. Wir könnten ihn…« »Auf keinen Fall«, schnitt Lord Sutton seiner Frau das Wort ab. »Er darf nicht ins Schloß.« Die schwere Eichentür fiel krachend zu. Das Licht war verschwunden. Hätten ihn nicht diese grauenhaften Schmerzen geschüttelt, hätte George Lomont geglaubt, in diesem Augenblick die Schwelle des Todes überschritten zu haben. Aber er lebte. Und wenn er vielleicht auch nur mehr wenige Minuten Zeit hatte, bis seine unsichtbaren Peiniger wieder über ihn herfielen, ein Gedanke trieb George Lomont an: Dieser gefühllose, grausame Mann sollte büßen! * »Haben Sie soeben ›hoffentlich‹ gesagt, Mr. Masters?« fragte das junge Mädchen, das den Fensterplatz neben Rick Masters im Bus hatte. »Wieso hoffentlich?« Rick Masters mochte Patsy Burton, die junge Amerikanerin Anfang Zwanzig. Er mochte ihre kastanienbraune, freche Ponyfrisur, die klaren blauen Augen, die kleine Nase und den immer lächelnden Mund. »Ich glaube, daß sich der Fahrer verirrt hat«, antwortete Rick Masters. »Und außerdem stimmt etwas mit dem Motor nicht.« »Eine Panne?« Die Augen der jungen Amerikanerin leuchteten. »Das wäre endlich eine Abwechslung in diesem langweiligen Reiseprogramm.« 11 �
»Gefällt Ihnen die Fahrt nicht, Miss Burton?« fragte Masters. »Sagen Sie doch endlich Patsy zu mir«, schlug sie vor. »Schließlich fahren wir schon lange genug in diesem Bus.« »Gern, Patsy.« Masters nickte. »Und ich heiße Rick.« »Wissen Sie, Rick, ich habe einen besonderen Grund, weshalb ich diesen Europatrip mache«, erzählte Patsy Burton. »Ich bin eine geborene Sutton. Und die Suttons haben jahrhundertelang in dieser Gegend von Wales ein Schloß gehabt. Herford Castle heißt es.« »Und dieses Schloß ihrer Ahnen wollen Sie jetzt sehen?« fragte Masters. »Das Schloß und die Heimat meiner Ahnen. Für morgen ist, ein Ruhetag geplant. Ich werde mich nach Herford Castle fahren lassen. Wollen Sie mich begleiten?« fragte Patsy Burton, einer plötzlichen Idee folgend. Masters zuckte die Schultern. »Sehr gern, Miss Burton – ich meine, Patsy. Aber ich weiß noch nicht, ob sich das machen läßt.« »Das hört sich sehr geheimnisvoll an«, neckte ihn das Mädchen. Auch sie mochte den jungen Mann mit den widerspenstigen blonden Haaren und der interessanten Narbe unter dem rechten Auge. »Sagen Sie, Rick, Sie sind doch Engländer. Das hört man an Ihrer Aussprache. Wie kommen Sie in eine amerikanische Reisegruppe?« Masters hatte schon lange mit einer ähnlichen Frage gerechnet und sich eine Antwort zurechtgelegt. »Es war noch ein Platz frei«, schwindelte er. »Ich habe gebucht, um meine Heimat kennenzulernen. Sonst fährt man im Urlaub ja doch nur irgendwo in der Weltgeschichte herum, aber von dem, was man vor der Haustür hat, sieht man nichts.« Patsy lachte. »Ein vernünftiger Standpunkt. Ich kann es kaum erwarten, 12 �
morgen endlich Herford Castle zu sehen. Ich bin aufgeregt wie ein kleines Kind.« »Wie ein kleines Kind sehen Sie aber gar nicht aus«, meinte Masters grinsend. Patsy gefiel ihm, und ganz sicher fühlte auch sie sich zu ihm hingezogen. Trotzdem hatte er sich bisher ziemlich zurückhaltend gegeben. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Hätte Patsy Burton jedoch gewußt, weshalb Mr. Rick Masters neben ihr in dem luxuriösen Autobus saß, hätte sie ihn bestimmt noch viel aufregender gefunden. * Im normalen, alltäglichen Leben war George Lomont ein durchaus friedlicher und nicht im geringsten kämpferischer Mann. Er war ein guter Familienvater, der nichts mehr als seine Ruhe schätzte. Und gerade dieser Wunsch nach Ruhe hatte ihn veranlaßt, fünf Urlaubstage fern von seiner Familie in Wales in dem kleinen, fast völlig unbekannten Dorf Aldermor zu verbringen. Wie hätte er auch vorher ahnen können, daß er hier in einen Hexenkessel des Schreckens geraten würde? Von Lomonts Sanftmut und Freundlichkeit war nichts mehr übriggeblieben. Sein verbindliches Auftreten, das er sich als durch das ganze Land reisender Vertreter für Maschinen der Papierindustrie angewöhnt hatte, war da draußen in dem unheimlichen Wald zurückgeblieben. Lomont stand am Rande des Wahnsinns. Die Schmerzen marterten sein Gehirn, und die kalte Verweigerung von Hilfe durch diesen Mann hatte sein klares Denkvermögen völlig weggefegt. Rache! Bevor er hier elend verreckte, wollte er Rache nehmen, blutige Rache. Plötzlich spürte George Lomont die Schwäche in seinem 13 �
geschundenen Körper nicht mehr. Er stemmte sich hoch, kam auf Hände und Knie zu liegen. Das Körpergewicht verlagernd, stand er schwankend auf. Seine blutigen Hände tappten an der grauen Steinmauer entlang. Blutige Abdrücke blieben zurück. Zuerst einmal mußte er in das Schloß gelangen, dann würde er den Mann schon finden, mochte er sich auch im hintersten Winkel dieses verdammten Steinkastens verstecken. Zu Lomonts Glück hatten die Erbauer von Herford Castle es nicht für nötig gehalten, ihre Festung durch einen Graben oder einen See zu schützen. Sie hatten sich auf die starken Mauern verlassen, und die Geschichte hatte ihnen recht gegeben. Daher konnte George Lomont ohne Schwierigkeiten rund um das Castle gehen, bis er an ein Fenster kam, das nur angelehnt war. Das Schloß hatte nur wenige Fenster in den beiden unteren Geschossen. Ursprünglich waren erst in der Höhe des dritten Stockwerkes Fenster angebracht gewesen, um eine bessere Verteidigung zu ermöglichen, aber später, in ruhigeren Zeiten, hatten die Besitzer die Mauern durchbrechen lassen, um mehr Licht in die düsteren Säle und Hallen des Schlosses zu bringen. Das Fenster, das George Lomont fand, gehörte zu einem der Wirtschaftsräume. Es war nur klein, doch ein Mann konnte sich hindurchzwängen. Lomont drückte den Rahmen auf, dann zog er sich mit unerwarteter Stärke durch die Öffnung. Zu seiner eigenen Überraschung schmerzten seine Wunden gar nicht, als sie über die Mauerkante schrammten. Unter normalen Umständen hätte er jetzt qualvoll brüllen müssen. Eine Gänsehaut lief über den Rücken des Mannes. Daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, hatte er schon im Wald begriffen. Unsichtbare Folterknechte – das überstieg sein Vorstellungsvermögen, auch wenn er sie deutlich gespürt hatte. Doch eine Wunde, die er sehen und fühlen konnte und die nicht 14 �
schmerzte, wenn rauher Stein mit ihr in Berührung kam, das brachte ihn beinahe um den Rest seiner Fassung. Trotzdem hielt er sich nicht lange damit auf. Ein Fieber hatte ihn gepackt, ein Blutrausch, den er nur dadurch stillen konnte, daß er seinen gehaßten Feind, den er in Lord Sutton sah, tötete. In dem kleinen Raum war es stockdunkel. Lomont sah die Hand nicht vor den Augen. Er tastete um sich, und bald erkannte er am Geruch und an den Gegenständen, die er erfühlte, daß er sich in einer Vorratskammer befand. Endlich entdeckte er auch einen Lichtschalter, legte ihn um und schloß geblendet die Augen. Zwar brannte nur eine trübe Glühbirne, doch nach der Dunkelheit der Nacht erschien sie ihm wie ein Scheinwerfer in einem Aufnahmestudio. Das elektrische Licht hatte eine seltsame Wirkung auf den Mann. Bisher war alles so unwirklich, so gespenstisch gewesen, doch der vertraute Anblick einer so technischen Sache bewies Lomont, daß er sich noch immer im zwanzigsten Jahrhundert befand, dem Zeitalter der Jumbo-Jets, und nicht etwa durch eine Zeitmaschine in das finsterste Mittelalter zurückversetzt worden war. Und noch etwas rief seine Gedanken in die Wirklichkeit zurück: seine Wunden begannen wieder zu bluten und zu schmerzen. Also war es der Wille der Wesen, die ihn hierher getrieben hatten, daß er litt. Aus irgendeinem ihm unbekannten Grund wollten sie jedoch, daß er dieses Schloß betrat, ganz gleich auf welche Art. Wenn es durch die grausame Haltung von Lord Sutton nicht durch die Vordertür möglich war, dann eben durch das Fenster einer Vorratskammer. Damit Lomont das schaffen konnte, hatten ihm die Wesen für kurze Zeit die Schmerzen genommen. Doch jetzt hatten sie erreicht, was sie beabsichtigten. Ihr Opfer befand sich in Herford Castle. Zusammengekrümmt wankte 15 �
Lomont zur Tür, stieß sie auf und trat auf den finsteren Korridor hinaus. Seine Schritte hallten von den Wänden zurück. Kraft hatte dieser zerfleischte Körper schon längst nicht mehr. Nur nackte Mordgier trieb ihn vorwärts. Dort vorne war Licht. Es brannte in einer kleinen Vorhalle. Und durch eine geschlossene Flügeltür drangen Stimmen. Ein Mann und eine Frau stritten miteinander. Die Frau weinte und stieß Beschuldigungen wegen Grausamkeit und Gefühllosigkeit gegen den Mann aus. Die zweite Stimme hatte sich unauslöschlich in George Lomonts Gedächtnis eingegraben. Sie gehörte dem Mann mit den silbergrauen Haaren, der ihn wie einen Kadaver vor der Tür hatte liegenlassen. Sein Opfer! Lomonts Blick fiel auf einen Bronzeengel, der auf einer Konsole stand, die kunstvoll mit echtem Gold verziert war. Doch nicht der künstlerische Wert der Statue interessierte Lomont, sondern ihre Eignung als Instrument zum Töten. Die vom eigenen Blut überströmte Hand Lomonts krampfte sich um den Bronzeengel. Mit einem Ruck hob er ihn vom Podest hoch und stemmte ihn über seinen Kopf. Geduckt schlich er auf die Flügeltür zu. Er wollte sie aufreißen, in den darunterliegenden Raum stürmen und seinen Feind mit der schweren Statue niederschlagen. Noch zehn Schritte bis zur Tür… Lomont konnte jetzt die Worte der beiden Menschen verstehen, die sich hinter der Tür stritten. »Du warst schon immer ein grausamer Mensch, Vincent«, schluchzte die Frau. »Nicht zuletzt deine Grausamkeit ist schuld an allem.« »Ich habe dir befohlen zu schweigen!« brüllte der Mann. »Ich schweige schon viel zu lange.« Nun nahm auch die 16 �
Stimme der Frau einen entschlosseneren Ton an. »Du bist grausam und hart. Das ist das Blut deiner Ahnen. Ich war eine Närrin, daß ich dich geheiratet habe. Aber mein Vater wollte es so, und ich hatte nicht die Kraft, mich seinem Willen zu widersetzen.« »Und du wolltest das herrliche Leben der Schloßherrin von Herford Castle genießen«, entgegnete der Mann höhnisch. »Du konntest damals ja nicht ahnen, daß ich eines Tages durch einen Börsenkrach verarmen würde. Nein, das hast du damals nicht gewußt, sonst hättest du mich nicht geheiratet. Du nicht!« »Du weißt, daß du lügst«, sagte die Frau mit eisiger Kälte. »Aber darauf kommt es nicht mehr an. Die Familienchronik der Sutton hätte mich bewahren sollen, aber ich las sie nicht. Als ich sie in die Hände bekam, war es schon zu spät. Damals war Paul schon…« Sie brach ab. Durch die Flügeltür drang nur mehr das Schluchzen der Frau. Harte Schritte. Das mußte der Mann sein, der wütend auf und ab lief. Noch fünf Schritte bis zur Tür… Der Bronzeengel drohte aus Lomonts Hand zu gleiten. Die Innenfläche war klebrig von Blut, und er schwitzte in der Begierde, diesen Menschen zu töten. Lomont packte die Statue auch mit der zweiten Hand. Noch drei Schritte bis zum Mord… Eisige Kälte traf George Lomont. Er erstarrte, als wäre er plötzlich zu Eis gefroren. Wie eine Marionette drehte er sich herum, den Bronzeengel noch immer hoch über seinen Kopf erhoben. Und dann sah er ihn – den Tod. Hochaufgerichtet stand eine schwarze Gestalt nur wenige Schritte von Lomont entfernt. Die Erscheinung überragte den Mann um fast zwei Köpfe. Der schwarze Umhang, der sich um den hageren Körper schlang, strömte diese alles Leben erfrie17 �
rende Kälte aus. Fauliger Modergeruch schlug Lomont entgegen. Die schwarze Erscheinung streckte die knochige Hand aus und winkte. Lomont wußte, daß er einen Weg ohne Wiederkehr antreten mußte. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Sein Mund öffnete sich, und sein Todesschrei hallte durch Herford Castle. Als Lord Vincent Sutton wenige Sekunden später die Flügeltür aufriß, sah er nur mehr die leere Halle vor sich. Der Geruch von Moder und Fäulnis schlug ihm entgegen. »Gott sei uns gnädig!« hauchte er schreckensbleich. * Harold Murphy, der Fahrer des Autobusses, hatte durch seine langjährige Erfahrung das kommende Unheil bereits vorausgesehen, seinen Fahrgästen aber nichts gesagt, weil er sie nicht beunruhigen wollte und außerdem gehofft hatte, es noch bis zu dem Hotel zu schaffen, in dem für die Nacht Zimmer reserviert waren. Jetzt konnte er jedoch den Schaden an der Maschine nicht länger verheimlichen. Aus dem Auspuff quollen dicke schwarze Rauchschwaden, und es wurden bereits ängstliche Rufe laut, der Motor würde brennen. Harold Murphy griff zu dem Mikrofon der Lautsprecheranlage und schaltete den Verstärker ein. »Ladies und Gentlemen«, sagte er beruhigend, »kein Grund zur Angst! Der Wagen brennt nicht. Allerdings haben wir eine Panne. Einstweilen läuft der Motor noch und es kann uns nichts geschehen, aber ich kann nicht versprechen, daß wir das Hotel erreichen. Bewahren Sie auf jeden Fall Ruhe. Es besteht keine Gefahr.« Der Reiseleiter Larry Harper nahm ihm das Mikrofon aus der 18 �
Hand, und in seiner gewandten Art begann er, Witze über die Panne zu machen. Larry Harper hatte diesen Job seit zwei Jahren erfolgreich ausgeführt. Erfolgreich deshalb, weil es ihm stets gelang, sich auf die Eigenheiten seiner »Schäfchen« einzustellen und sie immer bei guter Laune zu halten. So auch diesmal. Innerhalb weniger Sekunden freuten sich alle Fahrgäste, daß eine Panne aufgetreten war. Wie Larry Harper das schaffte, war sein persönliches Geheimnis. Eine Einschränkung galt für die Fahrgäste. Einer von ihnen war nicht froh über die Panne, und das war Rick Masters. Er entschuldigte sich bei Patsy Burton, mit der er sich während der letzten halben Stunde unterhalten hatte, und ging nach vorne zum Fahrer. »Was ist denn geschehen?« erkundigte er sich. »Sie haben mir doch versichert, daß der Wagen generalüberholt sei.« »Ich verstehe es auch nicht«, sagte Harold Murphy mißmutig. »Vor einem Monat war die Einspritzpumpe des Dieselmotors kaputt. Sie wurde durch eine fabrikneue Pumpe ersetzt. Ich bin überzeugt, daß sie jetzt ein Loch in der Wand hat.« »Wie lange halten wir noch durch?« fragte Masters. Um seinen Mund waren zwei scharfe Falten erschienen. Eine Panne mitten in Wales in stockdunkler Nacht auf offener Landstraße – das hatte ihm gerade gefehlt. »Kann sich nur mehr um Minuten handeln«, sagte der Fahrer leise. »Und noch etwas, Mr. Masters: Sie hatten recht, wir haben uns verirrt. Vorhin sah ich ein Schild, Herford Castle, zwei Meilen. Vielleicht kommen wir noch dorthin.« »Hoffen wir es«, sagte Masters gepreßt. Das würde wunderbar passen, dachte er grimmig. Aber nicht für mich. Ein Sabotageakt am Autobus, absichtlich eine falsche Strecke oder entfernte Hinweisschilder, damit die Touristen auf einem einsamen Schloß landeten. Die ideale Falle für Juwelen19 �
diebe. Juwelen trugen die weiblichen Fahrgäste – sie waren in der Überzahl – mehr als genug bei und an sich. Kostbare, echte Juwelen. Und Rick Masters, Privatdetektiv aus London, war von der Reiseagentur und von den Versicherungsgesellschaften, die für die Glitzersteine hafteten, engagiert worden, um einen tiefen Griff in die Geldtasche zu verhindern. Und jetzt das hier! Das roch doch meilenweit nach einer Falle. Die Reisegruppe sollte nach Herford Castle gelockt werden. Rick Masters beschloß, die Augen noch offener zu halten als sonst. Stotternd, röhrend und immer langsamer werdend, bog der Autobus um eine Kurve. Die Mauern und Türme von Herford Castle tauchten vor ihnen im bleichen Mondlicht auf. Einige der Amerikaner stießen entzückt Rufe aus. Ein echtes altes Schloß. How wonderful! How nice! Rick Masters fand es weniger wonderful und nice. Unwillkürlich erinnerte er sich an ein ähnliches Schloß in Schottland, in dem er einen Kampf auf Leben und Tod mit Vampiren hatte führen müssen. Von diesem Kampf stammte auch die »interessante« Narbe auf seiner rechten Wange. Und seine Unterarme waren ebenfalls von Narben bedeckt. Bei dem Anblick des im blassen Licht geisterhaft wirkenden Schlosses lief es dem Detektiv eiskalt über den Rücken. Plötzlich hatte er eine Ahnung, daß Juwelendiebe für ihn in dieser Nacht vielleicht das kleinste Problem darstellen würden. Mit einem letzten ersterbenden Fauchen kam der riesige silberne Bus vor dem Schloß zum Stehen. »Geschafft!« seufzte Harold Murphy erleichtert. Larry Harper, der Reiseleiter, stieß die Tür auf und sprang 20 �
federnd aus dem Wagen. »Alles aussteigen, meine Herrschaften!« rief er unbekümmert. »Gespensterschloß im Mondschein, im Fahrpreis inbegriffen.« Rick Masters stieg als erster aus, die Amerikaner drängten lachend hinter ihm her. Zögernd trat Masters näher an das Schloß heran. Seinem scharfen Blick entgingen die dunklen Flecke auf der Treppe nicht. Blut? Als er die Hand nach dem Türklopfer ausstreckte, durchlief ihn eine eisige Kälte. Am liebsten wäre er umgekehrt aber ein Blick auf die Touristen überzeugte ihn, daß sie niemals bereit gewesen wären, in dieser Nacht noch einen Fußmarsch ins Ungewisse auf sich zu nehmen. Rick Masters hob den Metallring und ließ ihn fallen. Der Schlag dröhnte durch das stille Schloß, das wie ein riesiges Grabmal gegen den Nachthimmel ragte. Der Mond schob sich hinter eine schwarze Wolke. * Der Streit zwischen Lord Sutton und seiner Frau war jäh durch einen gellenden Todesschrei unterbrochen worden. Lady Suttons Hand fuhr an ihr Herz, das sich in eisigem Schrecken zusammenkrampfte. Lord Sutton war mit drei langen Schritten an der Flügeltür. Einen Augenblick zögerte er, dann stieß er die Tür auf. Die Halle war leer. Nichts hatte sich verändert. Doch! Auf dem Boden lag ein Bronzeengel, der für gewöhnlich auf der kleinen Konsole im Korridor stand. Lord Sutton bückte sich, um die Statue zu betrachten. Blut klebte dran. 21 �
Blut! Da wußte Lord Sutton, was geschehen war. Er zog sein blütenweißes Taschentuch hervor und wischte die Statue ab. Angewidert starrte er auf die roten Flecken in dem weißen Stoff. In diesem Moment schallte der dumpfe Schlag an der Tür durch das Schloß. Lord Sutton zuckte zusammen, dann straffte er sich. Schlimmer konnte es in dieser Nacht nicht mehr kommen. Rasch steckte er das Taschentuch in die Brusttasche seines Anzugs, stellte den Bronzeengel auf die Konsole zurück und ging zum Tor. * Rick Masters sah sich einem stattlichen Mann von etwa siebzig Jahren gegenüber. Das silbergraue Haar verlieh ihm ein würdiges Aussehen. »Sie wünschen, Sir?« fragte der Mann höflich, wenn auch mit einem kühlen Ton in der Stimme. Dann fiel sein Blick auf den silbrigen Autobus und auf die kleine Menschengruppe, die bei seinem Erscheinen verstummt war. Die Persönlichkeit Lord Suttons verfehlte nicht ihren Eindruck auf die Leute. Masters hatte erwartet, daß ein Diener öffnen würde, aber dieser Gentleman war bestimmt kein Angestellter. Auch der vornehmste englische Butler sah nicht so aus. Das mußte der Hausherr persönlich sein. »Mein Name ist Rick Masters«, stellte sich der Detektiv vor. »Wir sind eine Reisegruppe, haben uns verirrt, und außerdem hat unser Bus einen Defekt und kann nicht mehr weiterfahren. Wir wären Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie uns den kürzesten Weg zur nächsten Unterkunft zeigen könnten.« Ein seltsames Lächeln erschien um den fein geschnittenen 22 �
Mund Lord Suttons. »Ich bin Lord Sutton, der Besitzer von Herford Castle.« Seine kühlen grauen Augen musterten die Amerikaner und prüften besonders die Frauen. »Das nächste Gasthaus befindet sich in Aldermor und ist bestimmt nicht in der Lage, so vielen Gästen Unterkunft zu bieten. Außerdem ist es ein Fußmarsch von mehr als vier Meilen.« »Verdammt, so was Dummes!« rief Larry Harper, der neben Masters getreten war. »Was machen wir jetzt?« »Wenn ich Ihnen meine Hilfe anbieten darf?« sagte Lord Sutton. »Wie Sie sehen, verfüge ich über ein ziemlich großes Haus. An Zimmern und Bettwäsche besteht kein Mangel, allerdings an Hauspersonal. Die Herrschaften müßten sich selbst…« »Kein Problem!« griff Larry Harper sofort nach der rettenden Möglichkeit. »Die Amis sollen ruhig einmal selbst arbeiten. Vorwärts, Leute, wir haben ein Hotel!« Lord Sutton trat einen Schritt zur Seite und begrüßte jeder seiner unerwarteten Gäste kühl-höflich. Alle freuten sich, in dieser Situation eine so gute Unterbringungsmöglichkeit gefunden zu haben. Alle – außer Rick Masters. Er hatte nämlich die blutigen Abdrücke von Händen an der grauen Steinmauer von Herford Castle entdeckt. * Lord und Lady Sutton halfen ihren amerikanischen Gästen, so gut sie konnten. Während die Verteilung der Touristen auf die einzelnen Zimmer erfolgte, ging Rick Masters wieder hinaus zu dem Autobus. Von Harold Murphy waren nur die Beine zu sehen. Er lag unter dem Wagen, hatte ein starke Lampe an die Autobatterie angeschlossen und versuchte, die Größe des Scha23 �
dens festzustellen. »Na, Mr. Murphy, wie siehst aus?« rief der Detektiv und ging in die Hocke. Murphy kam mit ölverschmiertem Gesicht unter dem Bus hervor. »Scheiße, wenn Sie mich fragen«, schimpfte er. »Die Einspritzpumpe ist im Eimer. Da kann man wahrscheinlich nichts machen. Wir müssen eine neue kommen lassen.« »Was machen wir bis dahin?« Masters wartete nicht auf eine Antwort. Ihm war eine andere Idee gekommen. »Haben Sie oder Mr. Harper schon die Agentur verständigt, daß wir hier festsitzen?« Murphy schüttelte den Kopf. »Rätselhaft«, meinte er. »Unser Funkgerät hat heute nachmittag noch funktioniert, aber vorhin war es tot. Kein Ton herauszubekommen. Ich konnte aber keinen Fehler finden. Na, Harper wird vom Schloß aus um Hilfe telefonieren.« »Wird er wohl.« Rick Masters stand auf. »Kommen Sie, Murphy, ich gehe hinein! Für Sie ist auch ein Zimmer vorhanden.« »Danke«, brummte der Fahrer. »Ich baue erst noch die Pumpe aus, damit wir morgen früh gleich die neue montieren können, wenn sie kommt. Dann gehe auch ich ins Schloß.« »Ist gut. Bis später, Mr. Murphy.« Der Detektiv drehte sich zu dem Schloß um und zog gleich darauf die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Auf dem Söller des höchsten Turms glaubte er eine Gestalt zu erkennen. Es war ein überdurchschnittlich großer Mann, ganz in einen schwarzen Umhang gehüllt. Der Mond verschwand für wenige Sekunden hinter einer Wolke, und als er wieder zum Vorschein kam, war die Gestalt verschwunden. Unter den Reisenden gab es niemanden, der so groß war, das wußte Rick Masters. Und auch Lord Suttons Gestalt paßte nicht. 24 �
Andererseits hatte Lord Sutton doch gesagt, er hätte kein Personal. Wer war da oben auf dem Turm gewesen? In der Halle lief Masters der schwarzhaarige Reiseleiter über den Weg. »Haben Sie schon mit der Agentur telefoniert?« fragte der Detektiv. Harper schüttelte wütend den Kopf. »Wie kann ich, wenn in diesem verdammten Steinkasten das Telefon nicht funktioniert?« Der Detektiv horchte auf. »Seit wann ist es kaputt?« Der Reiseleiter zuckte die Schultern. »Seltsame Sache. Als ich abhob, war das Freizeichen zu hören, aber gleich darauf war die Leitung tot. Möchte wissen, wieso wir heute so viel Pech haben.« Rick Masters glaubte den Grund dafür zu kennen. Sie waren in eine Falle gelockt worden. * Die amerikanischen Touristen waren gut untergebracht worden. Alter Gewohnheit folgend, hatte Lord Sutton die Vorratskammern reichhaltig ausgestattet, so daß es auch keine großen Schwierigkeiten gab, ein Abendessen für die hungrigen Touristen zuzubereiten. Lord Sutton und seine Frau scheuten sich nicht, selbst zuzupacken. Clara Sutton übernahm die Küche, unterstützt von einigen weiblichen Reiseteilnehmern, während Lord Sutton die Vorräte herbeischaffte. In dem Schloß gab es mehrere Vorratskammern. Sie waren von den früheren Besitzern angelegt worden, um nicht in einem Teil von Herford Castle ausgehungert zu werden, falls der andere Teil bereits von einem Feind eingenommen worden war. Auch diese Tradition hatte Lord Sutton beibehalten. Die eine Speisekammer im östlichen Flügel von Herford Castle 25 �
hatte er schon geleert, und er wollte gerade Nachschub holen, als sein Fuß stockte. Die Tür des Wirtschaftsraumes stand einen Spaltbreit offen, Licht fiel heraus. Zögernd trat der Lord näher. Knarrend schwang die Tür zurück und gab den Blick in das Innere des Raumes frei. Lord Sutton atmete auf. Die Vorratskammer war leer. Doch gleich darauf zogen sich seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Das Fenster war von außen aufgedrückt worden, und auf der steinernen Brüstung sah er deutlich eingetrocknete Blutspuren. Hier also war der Fremde eingedrungen. Lord Sutton glaubte zu wissen, weshalb der sich gewaltsam Eintritt in Herford Castle verschafft hatte. Und er wußte mit Sicherheit, wo sich der Fremde jetzt befand. »Kann ich Ihnen helfen, Lord Sutton?« fragte eine Stimme hinter ihm. Rasch drehte sich der Schloßbesitzer um und sah einen jungen Mann vor sich, der sich ihm als Rick Masters vorgestellt hatte. »Nicht nötig, vielen Dank«, lehnte er kühl ab. Es war ihm unangenehm, daß einer der Fremden ausgerechnet in diesen Raum schaute. Rick Masters hatte den Lord seit einer halben Stunde nicht mehr aus den Augen gelassen. Es gab einige Punkte, die sein Mißtrauen geweckt hatten. Zum Beispiel diese Blutspuren neben dem Eingang von Herford Castle. Ricks Blick schweifte kurz und unauffällig durch die Vorratskammer. Scheinbar völlig unbeeindruckt, lächelte er Lord Sutton zu und zog sich wieder zurück, ohne auf seinem Wunsch, dem Hausherrn zu helfen, zu bestehen. Die Blutspuren auf der Fensterbank waren seinem geschulten Auge nicht entgangen. Offensichtlich war ein Schwerverletzter um das Schloß gegangen und hatte sich gewaltsam Einlaß verschafft. 26 �
Aber wer? Ein Fremder? Oder vielleicht der eigentliche Eigentümer von Herford Castle? Konnte es sein, daß Lord Sutton und seine Frau in Wirklichkeit zu einer Bande von Juwelendieben gehörten, die hier nur Schloßherren spielten, um die Amerikaner leichter um ihre Wertsachen bringen zu können? Rick Masters roch förmlich die Gefahr, in der sich seine Schützlinge befanden, ohne auch nur annähernd Gewißheit zu haben. Außerdem wuchs Ricks Mißtrauen gegen jedermann. Gegen den Fahrer, der es vielleicht mit Absicht so eingerichtet hatte, daß der Autobus eine Panne haben mußte. Gegen den Reisebegleiter, der vielleicht mit voller Absicht eine falsche Straße gewählt hatte, damit sie in diesem gottverlassenen Schloß landen mußten. Und noch etwas machte Rick Masters stutzig. Hatte man schon einmal von einem richtigen Lord gehört, der ohne jede Dienerschaft auf dem Schloß seiner Väter wohnte? Wenigstens ein Mann mußte doch hier sein, um die gröbsten Arbeiten zu übernehmen. Nein, entschied Rick Masters, Herford Castle war nicht nur äußerlich ein Spukschloß, wie es im Buch stand. Hier war auch einiges faul. Und zwar ganz gewaltig. * Obwohl das Abendessen nur aus wenigen einfachen Speisen bestand, bekam es doch einen feierlichen Anstrich durch die Tafel, an der die fünfundzwanzig Touristen – Rick Masters mitgezählt – der Reiseleiter und die Gastgeber saßen. Lord Sutton hatte darauf bestanden, daß sie den großen Festsaal des Schlosses benutzten, und Lady Sutton hatte ihn mit Blumen in kostbaren Kristallvasen und Kerzenleuchtern wunderschön dekoriert. Im Kamin prasselte ein munteres Feuer. 27 �
Ein Mann fehlte: Harald Murphy, der Busfahrer. Rick Masters war zu ihm hinausgegangen. Murphy hatte noch immer unter seinem Bus gelegen, mit dem ihn beinahe so etwas wie Haßliebe verband. »Das Essen ist fertig«, hatte der Detektiv gesagt. »Wollen Sie nicht auch hineinkommen? Murphy hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, unter dem Wagen hervorzukriechen. »Heben Sie mir was auf, Mr. Masters. Ich möchte erst die Pumpe ausbauen, dann esse ich etwas. Ich muß einfach den Fehler finden, vorher habe ich keine Ruhe.« »Wie Sie wollen«, hatte Masters gemeint und sich wieder zu den anderen im Speisesaal gesellt. Patsy Burton saß neben ihm, gegenüber hatte sich Larry Harper, der Reiseleiter, gesetzt. Masters hatte den jungen Mann schon zu Beginn der Fahrt richtig eingeschätzt. Dank seines guten Aussehens hatte er großen Erfolg bei Frauen. Außerdem war er charmant. Bei seiner Tätigkeit als Reiseleiter verband er sicherlich das Angenehme mit dem Nützlichen, das heißt, er verdiente Geld und bediente sich der hübschen jungen Frauen als Gespielinnen. Und jetzt hatte er es offensichtlich auf Patsy Burton abgesehen. Rick mochte das Mädchen zwar sehr gut leiden, aber letztlich ging es ihn nichts an, was Patsy tat. Er würde sich auf keinen Fall einmischen. Am Ende der Fahrt, wenn er nicht mehr für die Juwelen der Amerikaner verantwortlich war, dann konnte man noch immer sehen, ob Patsy und er sich mehr zu sagen hatten als nur oberflächliches Geplauder. Aber nun war Rick »im Dienst«. Die Unterhaltung stockte. Die Amerikaner fühlten sich in Gegenwart eines echten Lords und einer Lady doch etwas gehemmt. Wenn es ein echter Lord war, setzte Rick Masters in Gedanken hinzu. 28 �
Und plötzlich geschah etwas Grausiges. Eine eisige Kälte legte sich über den Tisch. Alles Leben erstarrte. Auch die Kerzenflammen, die gerade noch geflackert hatten, wirkten wie aus Stein gemeißelt. Manche der im Raum Anwesenden hatten soeben einen Bissen zum Mund geführt. Jetzt hingen ihre Hände in der Luft wie auf einem Schnappschuß. Auch Rick Masters konnte sich nicht bewegen, seine Augen ausgenommen. Lord Sutton und seiner Frau erging es ebenso, das konnte er deutlich sehen. Ihre Blicke schweiften durch den Saal, aber ihre Körper waren wie zu Eis erstarrt. Was hatte das zu bedeuten? Masters überlegte fieberhaft. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu. Wieso bildeten der Lord und seine Frau eine Ausnahme? Und wieso er selbst? Die Flügeltüren des Festsaals flogen weit auf. Eine unheimliche Prozession zog durch den Saal. Voran schritt eine hohe Gestalt, dieselbe, die Rick auf dem Söller von Herford Castle für einen flüchtigen Moment gesehen hatte. Der Mann war von Kopf bis Fuß in einen weiten schwarzen Umhang gehüllt. Das Gesicht war nicht deutlich zu sehen, doch Rick glaubte, für eine Sekunde einen bleichen Totenschädel erblickt zu haben. Lautlaut schwebte die Gestalt an der Tafel entlang. Dahinter schleppten zwei mittelalterliche Folterknechte – derbe, muskulöse Gestalten mit behaarter Brust und ledernem Lendenschurz, über den Kopf schwarze Kapuzen gezogen – einen Menschen, der die Kleidung des zwanzigsten Jahrhunderts trug. Der Mann war ohnmächtig. Die Kleider hingen in Fetzen an seinem zerschundenen Körper. Blut sickerte aus zahllosen Wunden. Aus seinem Mund quoll ein Brei aus geronnenem und frischem Blut. 29 �
Die geisterhaften Erscheinungen verließen den Festsaal auf der anderen Seite. Wie von unsichtbaren Händen in Bewegung gesetzt, fielen die Türen zu. Im gleichen Augenblick wich die Kälte aus dem Raum. Gabeln erreichten den Mund, die Kerzenflammen flackerten, das Kaminfeuer prasselte. Die Unterhaltung wurde an dem Punkt aufgenommen, an dem sie unterbrochen worden war. Doch gleich darauf erstarb sie wieder. Lady Sutton war zitternd aufgestanden. Krampfhaft hielt sie sich am Tisch fest. »Paul!« schrie sie mit gellender Stimme. Dann brach sie ohnmächtig zusammen. Klirrend zerbarst ihr Weinglas auf dem Steinboden. * Rick Masters hatte Lord Sutton geholfen, seine ohnmächtige Frau aus dem Festsaal zu tragen. Sie brachten die Frau in einen kleinen Salon im ersten Stock des Schlosses und legten sie dort auf ein Ruhebett. »Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung, Mr. Masters«, sagte der Lord. »Meine Frau leidet unter schwachen Herzen. Kein Grund zur Sorge. Wenn Sie jetzt wieder hinuntergehen wollen? Unsere Gäste sollen sich nicht stören lassen. Essen Sie ruhig weiter, als wäre nichts gesehen. Bitte!« Es klang weniger wie eine Bitte. Das war ein Befehl. Masters richtete die Botschaft des Lords aus. Anfänglich hatte niemand mehr Lust, noch länger im Festsaal zu bleiben, doch die üblichen Scherze Larry Harpers heiterten die Touristen schließlich wieder auf. Das Mahl wurde fortgesetzt. Unauffällig bückte sich Rick und fuhr mit seinem Finger über 30 �
die Stellen des Bodens, über die jene unheimliche Prozession gegangen war. Er zog seinen Finger zurück. Blut klebte daran. Blut! Genauso wie an dem Taschentuch, das Lord Sutton in der Außentasche seines Sakkos trug. Rick hatte die roten Flecken gesehen, als der Lord seine Frau hochgehoben hatte. Hier in diesem Schloß hatte sich ein scheußliches Verbrechen ereignet. Das hatte der junge Detektiv aus London bereits vermutet, als er sich erst fünf Minuten auf Herford Castle befunden hatte, aber nun war es zur Gewißheit geworden. Und noch etwas war Rick Masters restlos klargeworden: nicht menschliche Unholde waren am Werk. Sein Feind kam aus der anderen Welt! * Nur die Blicke von Patsy Burton folgen dem jungen Privatdetektiv, als er unauffällig den Festsaal verließ. Sie blieb jedoch sitzen. In der Zeit seit ihrer Ankunft auf Herford Castle hatte Patsy begonnen, sich ein anderes Bild von dem sympathischen jungen Mann zu machen. Drüben in den Staaten hatte sie nach ihrer Scheidung längere Zeit für einen Strafverteidiger gearbeitet und war oft mit Privatdetektiven zusammengekommen. Sie glaubte, Angehörige dieses Berufszweiges an ihrem wachsamen Blick und an ihrer Art zu erkennen. Und sie war überzeugt, in Rick Masters einen Privatdetektiv vor sich zu haben, den sie nicht bei der Arbeit stören durfte. Zwar ahnte sie nicht, worum es ging, aber daß Masters etwas entdeckt haben mußte, war ihr bereits klar. Larry Harper, der schwarzhaarige Reiseleiter, lächelte zu ihr herüber, und sie lächelte zurück. Schürzenjäger, dachte Patsy. Aber warum nicht? Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die nur im Urlaub einmal etwas erleben wollen. Ihre Ehe, die sie in zu 31 �
jungen Jahren eingegangen war, hatte nicht lange bestanden, und sie erwartete viel von ihrem Leben. Dazu gehörte auch ein flüchtiger Flirt, der ihrer Meinung nach ruhig weitergehen durfte. Aber immer nur soweit, wie sie selbst wollte. Warum also nicht Larry Harper? Oder Rick Masters? Sie überließ die Entscheidung der Situation. Hätte sie gewußt, wie nahe ihr der Tod war, hätten sich ihre Gedanken nicht mit einem erotischen Abenteuer beschäftigt. * Leise schloß Rick Masters die Flügeltüren des Festsaals hinter sich und lief die geschwungene Steintreppe in den ersten Stock hinauf. Seine Theorie, die amerikanischen Touristen wären in eine Falle gegangen, die von raffinierten Juwelendieben errichtet worden war, konnte zwar nicht länger aufrechterhalten werden, aber Gefahr drohte. Wem sie drohte, wußte Rick zwar nicht, aber die Szene im Festsaal, dieser schaurige Henkerszug, hatte eine tiefere Bedeutung. Irgendwie mußten die unheimlichen Vorgänge mit Lord und Lady Sutton in Zusammenhang stehen. Schließlich waren die beiden die einzigen, die außer ihm während der eisigen Kälte bei klarem Verstand geblieben waren. Ein Gentleman lauscht nicht an Türen. Dieser Grundsatz galt für Rick Masters nur, wenn er privat an einer Tür vorbeikam, nicht aber, wenn er sich »im Dienst« befand. Und diesmal war er beruflich gezwungen, sein Ohr an die dicke Holztür zu legen, hinter der sich der Lord mit seiner Frau unterhielt. »Aber es hat nicht geholfen«, sagte Clara Sutton gerade laut genug, daß man es durch die Tür hindurch verstehen konnte. »Die vielen Menschen – es hat nichts genützt.« Lord Sutton mußte dicht neben der Tür stehen, weil Rick des32 �
sen Stimme so deutlich hörte, daß er erschrocken zusammenzuckte. Schon glaubte er sich entdeckt. »Wir haben es wenigstens versucht«, sagte der Lord. »Mehr können wir auch nicht tun.« »Hat es denn nie ein Ende?« Lady Sutton weinte. Eine kurze Stille trat ein. Dann Lord Sutton: »Dieser Masters ist mir unheimlich. Er ist zu neugierig. Ich fürchte, daß ihm bald etwas zustoßen wird.« »Vincent!« rief die Frau entsetzt. »Du wirst doch nicht…« »Für heute hast du genug Verwirrung gestiftet«, unterbrach der Lord schroff. »Komm jetzt!« Rasch zog sich Rick Masters zurück. Was er gehört hatte, half ihm zwar nicht weiter, es war aber doch sehr interessant gewesen. * Als die Amerikaner zu Bett gehen wollten, stand Rick Masters vor einer unangenehmen Aufgabe. Bisher hatte niemand etwas davon gewußt, daß sich ein Privatdetektiv unter der Gruppe befand, der die Juwelen bewachen sollte. Nacht für Nacht waren die wertvollen Stücke in den Hoteltresor gelegt worden. Das entfiel diesmal. Selbst wenn Lord Sutton einen Tresor hatte, würde Rick es niemals zulassen, daß die Wertsachen darin eingeschlossen wurden. War nämlich Herford Castle doch eine Falle von Juwelendieben, gehörte der Lord zu ihnen, und dann hieß es, den Bock zum Gärtner zu bestellen. Also blieb Rick Masters nichts anderes übrig, als sich den Amerikanern gegenüber auszuweisen. Er konnte auch die nötigen Schreiben der Reiseagentur und der Versicherungsgesellschaften vorlegen. »Das ist vielleicht ein Ding«, rief Larry Harper in seiner lauten 33 �
Art. Sie waren alle noch im Festsaal versammelt. »Sherlock Holmes persönlich weilt unter uns.« Zuerst wollte ihm der Detektiv eine scharfe Antwort erteilen, doch dann stellte er fest, daß die dumme Bemerkung des Reiseleiters das anfängliche Zögern der Damen zerstreute. Sie waren bereit, ihm die Juwelen zu übergeben. Mrs. Hobson, eine beleibte Fünfzigerin, überreichte Masters das kostbarste Stück der ganzen Sammlung, ein Diamantkreuz, fast so groß wie ihre gut gepolsterte Hand. »Sie haften mir persönlich dafür«, sagte sie mit dröhnender Stimme. »Wenn es verlorengeht, dann…« Sie ließ die Folgen offen, aber nach einem Blick auf ihre mächtige Figur überkamen Rick eiskalte Schauder, die diesmal von einem sehr irdischen Wesen ausgingen. »Es wird nichts geschehen«, versicherte der Detektiv freundlich, obwohl der sich seiner Sache gar nicht so sicher war. Alle weiblichen Reisenden lieferten etwas bei Rick ab, Patsy Burton ausgenommen. »Ich mache mir nichts aus kostbaren Steinen«, erklärte sie, als sie mit leeren Händen an Rick vorbeiging. »Man sagt, daß sie eine Frau schöner machen, aber ich ziehe es vor, durch mich selbst zu wirken. Wirke ich auf Sie, Mr. Masters, ich meine, Rick?« Sie brachte ihre Frage so humorvoll, daß sie offensichtlich nicht auf Komplimentjagd ausging. Masters mußte in ihr fröhliches Lachen einstimmen, doch nachdem sie den Raum verlassen hatte, war das Lächeln von dem Gesicht des Detektivs wie weggewischt. Lord Sutton stand in der Tür. Seine Augen waren mit einem merkwürdigen Glanz auf die Juwelen gerichtet. Masters schloß den Koffer und trug ihn in sein Zimmer. Er wußte nicht, auf wie vielen Millionen er in dieser Nacht schlafen 34 �
würde, aber es waren genug, um ihn nicht allzu ruhig träumen zu lassen. * Vorläufig kam der junge und erfolgreiche Londoner Privatdetektiv nicht zum Schlafen. Es klopfte leise an seiner Tür, als er sich gerade Gedanken darüber machte, wie alles zusammenpaßte: die Panne, der Ausfall des Funkgeräts, das Versagen des Telefons im Schloß. Masters ging zur Tür, sperrte auf und öffnete eine Handbreit. Auf dem Korridor stand Patsy Burton, noch vollständig angezogen. Als Rick sie erkannte, öffnete er die Tür ganz und ließ sie eintreten. »Verstehen Sie meinen Besuch nicht falsch«, sagte Patsy ein wenig verlegen. Sie wurde rot, aber nicht, weil sie mit einem jungen Mann allein in einem Zimmer war, sondern weil sie selbst am besten wußte, daß sie log. Sie war mit der Absicht gekommen, den Rest der Nacht in seinem Zimmer und speziell in seinem Bett zu verbringen. Und dabei sollte er es sich nicht auf dem Sofa unbequem machen. »Ich bin nicht umsonst Privatdetektiv, Patsy«, antwortete Rick grinsend. »Meine erste Pflicht ist es, nach Möglichkeit die Gedanken meiner Mitmenschen zu erraten.« Patsy lachte erleichtert auf. »Dann lesen Sie also in mir wie in einem aufgeschlagenen Buch. Was sehen Sie?« Sie setzte sich auf die Bettkante. Rick schaute auf das Mädchen hinunter, auf die kastanienbraunen Haare, die klaren blauen Augen, die freche Nase und den weichen Mund. Patsys Kleid hatte einen tiefen Ausschnitt, der deutlich zeigte, daß ihre Brust keine künstliche Stütze brauchte, um eine so perfekte, straffe 35 �
Form anzunehmen. Der hauchdünne Büstenhalter ließ es zu, daß sich ihre Brustwarzen durch das dünne Kleid abzeichneten. »Ich sehe ein wunderschönes, begehrenswertes Mädchen, das mit gewissen Wünschen in das Zimmer eines Mannes kommt. Doch dieser Mann kann die Wünsche nicht erfüllen – im Moment zumindest nicht.« Patsy zog einen enttäuschten Schmollmund. »Und warum nicht?« fragte sie. Rick deutete auf den unter seinem Bett liegenden Koffer. »Weil dieses wunderschöne, begehrenswerte Mädchen auf einer Zeitzünderbombe sitzt, die jeden Moment losgehen kann.« Die junge Amerikanerin kaute nachdenklich an der Unterlippe. »Sie glauben also auch, daß wir in eine Falle gegangen sind?« Rick war überrascht. »Sie haben ebenfalls diesen Gedanken gehabt?« fragte er. Patsy zuckte die nackten Schultern. »Sie vielleicht nicht? Das hier sieht alles zu gewollt aus. Wenn es von jemandem inszeniert wurde, dann hat es dieser Jemand doch auf etwas abgesehen, das für ihn sehr wertvoll ist. Was, außer den Juwelen, ist sonst noch wertvoll?« »Klingt logisch«, mußte Rick Masters zugeben, obwohl er nicht überzeugt davon war. Vielleicht hatte es einen anderen Grund gegeben, weshalb sich die Amerikaner jetzt auf Herford Castle befanden. Er würde ihn bald herausfinden. »Jedenfalls sehen Sie das Schloß Ihrer Ahnen früher, als Sie dachten.« Patsy nickte und fröstelte leicht. »Ich habe es mir anders vorgestellt«, sagte sie zögernd. »Vor allem hätte ich es vorgezogen, das Schloß bei Tageslicht zu sehen.« »Warum bei Tageslicht?« Rick lachte. Es war ein erzwungenes Lachen. »Haben Sie Angst vor Gespenstern? Bei uns in England soll es ja davon wimmeln.« 36 �
»Wir sind in Wales, Mr. Masters«, korrigierte ihn das Mädchen. Doch auch Patsys Ton klang verkrampft. »Würden Sie die Geschichte meiner Familie kennen, dächten Sie anders, Rick. Es ist eine einzige Blutoper.« »Haben Sie sich deshalb Lord Sutton nicht als Verwandte vorgestellt?« fragte der Detektiv. Patsy hatte vor dem Schloßbesitzer nur ihren jetzigen Namen – Burton – genannt. Das Mädchen nickte. »Herford Castle war noch nie ein Ort des Friedens«, erzählte sie. »Schon während des Mittelalters ereigneten sich hier schauerliche Verbrechen: Intrigen, Machtkämpfe, Duelle, Giftmorde. Es ist eine Liste der Scheußlichkeiten, die Sie beliebig lange fortsetzen könnten. Im achtzehnten Jahrhundert teilte sich der Stamm der Familie. Die rechtmäßigen Erben wurden ermordet, und von da an geschahen immer merkwürdigere Dinge auf Herford Castle. Haben Sie etwas zu trinken hier?« unterbrach Patsy ihre Schilderung. Der Detektiv nickte, holte aus seinem Reisegepäck eine Flasche Scotch und schenkte in zwei Gläser ein. Sie prosteten einander zu. »Sie wollten mir noch ein wenig von Ihrer Familie erzählen, Patsy«, erinnerte Rick das junge Mädchen, das geistesabwesend vor sich auf den Boden starrte. »Wie? Ach so, ja. Angehörige der Familie Sutton verschwanden, wurden nie gefunden oder ihre Leichen lagen im Wald, gräßlich gemartert und zerfleischt.« Sofort dachte Rick an den Mann, der von den beiden Henkersknechten durch den Festsaal geschleift worden war. Aber er hütete sich, Patsy gegenüber eine Bemerkung über den Zwischenfall zu machen. Offensichtlich hatte sie, genauso wie die anderen, keine Ahnung davon, daß sie für etwa zwei Minuten erstarrt gewesen war. 37 �
»Schließlich wurde es meinem Vater zu unheimlich hier auf Herford Castle«, erzählte sie weiter. »Er wanderte in die Staaten aus, nachdem er sich vorher sein Erbteil hatte ausbezahlen lassen. Er war ein Vetter des jetzigen Lord Sutton, der also mein Onkel ist.« Sie kicherte ein wenig beschwipst. »Komische Situation, nicht wahr? Da sitzt seine Nichte in seinem eigenen Schloß, ist eine richtige Amerikanerin, und er hat keine Ahnung davon.« »Hoffentlich nicht«, murmelte Rick. »Woher wissen Sie so genau über Ihre Familie Bescheid?« fragte er schnell, um sie von seiner Zwischenbemerkung abzulenken. »Hat Ihr Vater Ihnen das erzählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Vater sprach nie über seine Familie. Er scheute sich davor. Aber nach seinem Tod fand ich ein Buch, die Geschichte der Suttons. Wollen Sie es sehen? Ich habe es mitgebracht. Es liegt in meinem Zimmer.« »Das würde mich wirklich interessieren«, erklärte Rick sofort. Dann würde er aufbleiben, die Juwelen bewachen und gleichzeitig mehr über dieses geheimnisvolle Schloß erfahren. Patsy ging, kam nach ein paar Minuten zurück, gab Rick Masters das Buch und wünschte ihm eine gute Nacht. In ihrem Blick stand deutlich zu lesen, daß sie sich Ricks Nacht anders vorgestellt hatte. Und ihre eigene auch. * Die hohe Gestalt Lord Suttons warf lange Schatten durch die von wenigen Kerzen erleuchteten Korridore. Der Lord schritt rastlos durch das Schloß, kletterte Treppen hinauf, durchquerte Galerien, stieg enge Wendeltreppen hinunter. Seine Augen hatten ein beinahe irres Flackern angenommen. 38 �
In seiner Hand hielt er einen schweren Kerzenleuchter, der ihm den Weg durch das Schloß wies, das er hassen gelernt hatte, wie er sonst kaum etwas auf der Welt haßte. Doch, etwas haßte er noch mehr. Aber daran wagte Lord Sutton gar nicht zu denken. Es war zu schrecklich, nahm ihm die Luft, krampfte sich wie eine eisige Faust um sein Herz. Er kam an einem offenen Fenster vorbei. Sein Fuß stockte wie festgenagelt. Die schwarz gähnende Öffnung zog ihn magisch an. Lord Sutton trat dicht an die steinerne Fensterbank heran. Sein Blick fiel auf das Pflaster des Hofes, tief unter ihm. Ein Sprung, und alles wäre vorbei gewesen, sein Leben und sein Leiden. Sein Leiden? War es wirklich vorbei, wenn er sich in die Tiefe stürzte? Mit einem ächzenden Stöhnen taumelte Lord Sutton zurück. Das war es, wovor er so grauenhafte Angst hatte: daß nach dem Tod nicht Schluß war, sondern daß es noch fürchterlicher wurde. Er schlug beide Hände vor das Gesicht. Der Kerzenleuchter rollte scheppernd über den Steinboden. »Nein!« schluchzte der Lord. »Bitte, ich kann nicht mehr! Gnade! Erbarmen!« Doch auch er wußte, daß er weder Gnade noch Erbarmen finden würde. Trockenes Weinen schüttelte seinen sonst so würdevoll aufgerichteten Körper. Schritte auf der Treppe! Es kam jemand. Rasch bückte sich Lord Sutton, tastete nach dem Kerzenleuchter, fand ihn, riß ein Streichholz an und steckte die Kerzen wieder in Brand. Kaum verbreitete sich Helligkeit auf dem Korridor, als seine Frau auf der Treppe erschien. »Vincent?« fragte sie erschrocken. »Was tust du hier oben? Fühlst du dich nicht gut?« »Es ist nichts«, wehrte Lord Sutton ab. »Der Kerzenleuchter fiel 39 �
mir aus der Hand. Sonst ist nichts…« Er stockte. Dumpf hallten die Schläge des Türklopfers durch das nächtliche Herford Castle. * Auch Rick Masters hörte die Schläge. Er hatte sich bereits in das Buch vertieft, das ihm Patsy Burton gebracht hatte. Unwillig über die Störung, legte er das Buch beiseite. Es war von der ersten Seite an ein Schauerroman, der den Leser packte und nicht mehr losließ, bis er auf der letzten Seite angelangt war. Der Unterschied bestand allerdings darin, daß Rick keinen Roman vor sich hatte; sondern eine geschichtliche Familienchronik, in der es an Verbrechen und Scheußlichkeiten aller Arten nicht mangelte. Patsy hatte nicht übertrieben, als sie ihm einiges von den Suttons erzählt hatte, eher das Gegenteil. Harold Murphy, der Busfahrer, arbeitete noch draußen am Motor, aber Rick konnte sich nicht vorstellen, daß Murphy klopfen würde. Der Lord hatte dem Fahrer einen Schlüssel für die kleine Nebenpforte gegeben, damit Murphy jederzeit in das Schloß gelangen konnte, ohne alle aufzuwecken. Also Murphy war es nicht. Wer sonst? Rick warf einen Blick auf seine präzise funktionierende Armbanduhr. Die Zeiger standen auf ein Uhr nachts. Die Geisterstunde war angeblich vorbei, aber Rick war nicht so sicher, daß die Geister von Herford Castle sich an einen Stundenplan hielten. Er schwang die Beine vom Bett, auf das er sich angezogen gelegt hatte, und holte den Koffer mit den Juwelen hervor. Da er ihn nirgendwo einschließen konnte, war er gezwungen, das Gepäckstück mitzunehmen. Als besondere Vorsichtsmaßnahme hatte Rick in dieser Nacht sein Schulterhalfter nicht abgelegt. Er 40 �
schlüpfte nur rasch in sein Sakko, damit man die Waffe nicht meilenweit sehen konnte, klemmte sich den kleinen Koffer unter den linken Arm und betrat den Korridor. Vielleicht hatte niemand im Schloß die Schläge gehört. Rick wollte auf jeden Fall jedes Risiko ausschließen. Er mußte wissen, wer vor der Tür stand und um diese Zeit Einlaß begehrte. Auf halber Höhe der Treppe konnte Rick die Tür sehen und auch Lord und Lady Sutton. Die beiden standen in der Mitte der Halle und schienen sich nicht entschließen zu können. »Wollen Sie nicht nachsehen, wer draußen ist?« fragte Masters. Beim Klang seiner Stimme drehten sie sich erschrocken um, machten aber noch immer keine Anstalten, die Tür zu öffnen. Rick ging die Treppe hinunter und an den beiden Menschen vorbei. »Nein«, rief Lady Sutton leise, doch der junge Detektiv hatte bereits den schweren Riegel zurückgezogen. Ein Mann stand vor dem Portal, einfach gekleidet. Die weißen Haare standen in krassem Gegensatz zu seinem jugendlichen Gesicht. Er konnte nicht älter als dreißig sein. Ein Blick in seine Augen überzeugte Rick, daß er ein Albino war. »Hullers!« rief Lord Sutton, der sich aus seiner Erstarrung löste und überrascht auf den Mann zutrat. »Was machen Sie hier?« Der Mann drehte verlegen seinen Hut in den Händen. »Entschuldigen Sie, Lord Sutton, Mylady«, sagte er stockend. »Seien Sie nicht böse, aber ich bin zu Fuß hierher…« »Kommen Sie herein!« unterbrach ihn der Lord. »Und machen Sie die Tür zu!« Hullers betrat die Schloßhalle, und Rick Masters, der den kleinen Diplomatenkoffer mit den Juwelen nicht einen Augenblick lang aus der Hand gab, schloß hinter ihm ab. »Die Wirtin vom ›Goldenen Lamm‹ schickt mich, Lord Sutton«, erklärte der Mann. 41 �
»Das ist der einzige Gasthof in Aldermor«, sagte Lord Sutton zu Masters. »Hullers arbeitet für die Wirtin. Was ist mit Mrs. Butt? Ist sie vielleicht krank?« »Nein, nein«, wehrte der Mann ab. »Mit Mrs. Butt ist nichts, aber mit einem ihrer Gäste, einem Mr. Lomont, George Lomont. Er ist heute spät abends noch einmal fortgegangen, er wollte sich die Beine vertreten. Ach ja, er ist Vertreter. Und er ist nicht mehr zurückgekommen.« Rick Masters irrte sich nicht. Lady Sutton war erschrocken zusammengezuckt. Ihr Mann legte ihr den Arm um die Schultern. Sie drückte sich an ihn, als suchte sie Schutz. »Und was haben wir mit diesem Mann zu tun, diesem Vertreter?« fragte Lord Sutton. Er sprach arrogant, herablassend, aber Rick war überzeugt, daß der Schloßbesitzer damit seine Unsicherheit überspielen wollte. Hullers wurde unruhig. »Ich – ich wollte ja nicht stören«, stammelte er, »aber ich habe noch Licht gesehen, und da dachte ich, ich frage einmal nach, ob Mr. Lomont vielleicht hier am Schloß vorbeigekommen ist und ob Sie ihn gesehen haben.« »Wir haben niemanden gesehen«, entgegnete Lord Sutton spontan, eine Spur zu spontan für Ricks Geschmack. Sein Mißtrauen war erwacht. Er hatte die Blutspuren an den Außenmauern von Herford Castle und auf dem Fensterbrett der Vorratskammer noch nicht vergessen. Ganz zu schweigen von der unheimlichen Prozession in dem Festsaal. »Wie gesagt, wir haben niemanden gesehen«, fuhr Lord Sutton hart fort. »Und jetzt sind wir müde.« Hullers verstand den mehr als deutlichen Hinweis sofort. Er verabschiedete sich unterwürfig von Lord und Lady Sutton und ging. »Ich sehe mal nach, wie weit Mr. Murphy mit seiner Reparatur 42 �
gekommen ist«, sagte der junge Detektiv. Er wartete nicht auf eine Antwort des Hausherrn und ging schnell hinaus. Lord Sutton trat an das große Fenster der Halle und schaute in die Dunkelheit hinaus. »Was macht er?« fragte Lady Sutton ängstlich. Lord Sutton zog die Stirn in Falten. »Er spricht mit Hullers.« Und sich zu seiner Frau umwendend, sagte er düster: »Armer Hullers, das ist schlecht für ihn. Sehr schlecht sogar. Und für Mr. Masters auch.« * »Mr. Hullers!« Detektiv Masters war dem Mann aus dem Dorf nachgelaufen. »Warten Sie doch einen Augenblick! Ich möchte Sie etwas fragen.« Hullers blieb stehen. Er war erschrocken, als er plötzlich angerufen wurde. Auch während seines Gesprächs mit Lord Sutton war Masters aufgefallen, daß der Mann äußerst nervös war. Er wollte den Grund dafür kennenlernen. »Haben Sie keine Angst, so allein vier Meilen weit durch den Wald zu gehen?« fragte der Detektiv. Und dann klopfte er auf den Busch: »Wenn ich an die Geschichten denke, die man sich über Herford Castle erzählt…« Er überließ es der Vorstellungskraft des Mannes, was man sich über das Schloß erzählte. Rick lag mit seiner Vermutung, im Dorf gäbe es Gerede über das Schloß, genau richtig. Der Mann wurde noch einen Schein blasser, falls das bei seiner weißen Haut überhaupt möglich war. Masters glaubte, sogar seine Zähne klappern zu hören. »Angst habe ich schon«, gestand Hullers ein. »Aber ich habe ein geweihtes Kreuz auf der Brust hängen, das wird mich schon…« 43 �
Während des Sprechens hatte sich Hullers an die Brust gegriffen, und plötzlich schwieg er entsetzt. »Ich habe es verloren, Sir, ich habe es verloren!« Es klang, als ginge es um sein Leben. Masters überlegte nur einen Augenblick, dann nestelte er sein eigenes Goldkreuz, das er an einer Kette um den Hals trug, los und reichte es dem Mann. »Nehmen Sie dieses hier«, sagte er beruhigend. »Es wird Sie beschützen. Es ist zwar nicht geweiht, aber… Ich kann es mir ja wieder von Ihnen aus Aldermor holen.« Erleichtert griff Hullers nach dem Kreuz und hängte es sich um. »So ist mir schon bedeutend wohler«, behauptete er. »In dem Wald geschehen unheimliche Dinge. Wir Leute aus dem Dorf wagen »es kaum bei Tageslicht, da durchzugehen, aber bei Nacht ist es lebensgefährlich. Es sind schon viele Menschen im Wald verschwunden und nie wieder aufgetaucht.« »Lord und Lady Sutton leben doch auch hier«, wandte Rick ein, doch der Mann schien es mit einemmal sehr eilig zu haben. »Ich muß zurück nach Aldermor, Sir. Man sucht überall nach dem Verschwundenen, da will ich nicht fehlen. Vielen Dank für das Kreuz. Ich hebe es gut für Sie auf.« Hullers wollte schnell gehen, doch ein Ruf hielt ihn zurück. Murphy war unter seinem Autobus hervorgekrochen, der in der Nähe stand. Er hatte die Unterhaltung zwischen Masters und dem Mann aus dem Dorf mit angehört. Der Detektiv hatte gar nicht mehr an den Fahrer gedacht. »Hören Sie«, sprach Murphy Hullers an. »Wenn Sie ins Dorf zurückkommen, dann rufen Sie doch unsere Reiseagentur an und melden, daß wir hier mit einer defekten Einspritzpumpe festsitzen. Sie sollen schnellstens eine neue schicken. Hm, haben Sie etwas zum Schreiben da?« Masters notierte die Telefonnummer der Reiseagentur und gab 44 �
Hullers den Zettel. Der Mann versprach, sofort nach seiner Ankunft im Dorf zu telefonieren. Als er den Zettel in die Brusttasche seines Sakkos steckte, ahnte er nicht, daß es sein Todesurteil war. * »Jetzt habe ich es bald geschafft«, sagte Harold Murphy. »Die Pumpe ist ausgebaut. Aber ich kann noch immer nicht verstehen, wie das geschehen konnte.« »Sabotage?« fragte der Detektiv. »Halten Sie einen Anschlag für ausgeschlossen?« Obwohl er niemandem vertraute, also auch nicht dem Fahrer des Busses, der natürlich mit Juwelendieben unter einer Decke stecken konnte, war Rick auf Murphys Antwort gespannt. »Es sieht fast nach Sabotage aus«, erklärte der Fahrer. »Eine neue Einspritzpumpe, die bisher vollkommen einwandfrei funktioniert hat und die von einer Sekunde auf die andere ihren Geist aufgibt, da geht es nicht mit rechten Dingen zu. Aber, sehen Sie her, man kann gar nicht in das Innere der Pumpe gelangen, ohne den halben Motor zu zerlegen. Und ich kann Ihnen versichern, daß niemand an dem Ding herumgewerkt hat. Das würde ich sehen.« »Ein technisches Gebrechen also?« Murphy zuckte ratlos die Schultern. »Ich bin überfragt. In meinen dreißig Jahren, die ich jetzt Diesel fahre, ist mir so etwas noch nicht untergekommen. So, als hätte ein Geist das Ding kaputtgemacht.« Vielleicht bist du näher an der Wahrheit, als du glaubst, dachte Rick Masters. Er verabschiedete sich von Murphy, ging ins Schloß zurück und verriegelte das Hauptportal. Auf beruflichem Gebiet war der junge Detektiv noch immer kein Gentleman geworden. Und auch diesmal fand er Lord und Lady Sutton in dem kleinen Salon, in dem sie sich nach Lady 45 �
Suttons Ohnmacht unterhalten hatten. Diesmal fiel es Rick aber nicht so leicht zu lauschen. Das Ehepaar sprach nur mit normaler Lautstärke, und die dicke Tür hielt viel ab. Er bekam nur Bruchstücke des Gesprächs mit. Trotzdem konnte er sich zusammenreimen, daß es um den Mann ging, der aus dem Dorfgasthaus verschwunden war. Lady Sutton machte ihrem Mann Vorhaltungen, er hätte nicht die Wahrheit über den Mann gesagt, und Lord Sutton wehrte ab, er wäre nicht wahnsinnig, seinen Kopf selbst in die Schlinge zu stecken. »Es ist schon schlimm genug, was wir durchmachen müssen«, hörte Rick Masters endlich klar und deutlich. Offensichtlich hatte sich der Lord der Tür genähert. Außerdem war er in Erregung geraten und sprach lauter. »Vincent, die alte Schuld…« »… rächt sich noch immer. Wir hätten es niemals tun dürfen.« »Wir haben Paul doch geliebt!« Auch Lady Sutton hatte die Stimme erhoben. »Wir konnten nichts dafür.« »Doch, meine Liebe, doch. Es war unsere Schuld. Wir allein haben ihn getötet – wir, niemand sonst. Und das rächt sich an uns. Wir haben es verdient.« Eine Weile herrschte Schweigen. Schon wollte sich Rick von der Tür zurückziehen, um nicht überrascht zu werden, doch dann sagte Lady Sutton etwas sehr Interessantes. »Wir haben es verdient, du hast recht, Vincent. Aber Paul – hat er es auch verdient?« »Er war ein Sutton.« Der Lord sprach mit scharfer Bitterkeit in der Stimme. »Er hatte mein Blut in den Adern. Das war sein Verhängnis.« Stühle wurden gerückt. Schnell huschte Rick Masters die Treppe hinauf. Etwas interessierte ihn brennend: Wer war Paul, den die Besit46 �
zer von Herford Castle getötet hatten? * Hullers, der Mann aus Aldermor, hatte Rick Masters gegenüber nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er war nicht freiwillig den weiten Weg vom Dorf nach Herford Castle durch den gespenstischen Wald gegangen, sondern dazu gezwungen worden. Der »Erpresser« war niemand anderer als der Dorfpolizist. ›Eddie‹, hatte der Konstabler gesagt, ›du weißt, daß dieser Mr. Lomont, der Vertreter, verschwunden ist. Es ist unsere Pflicht, ihn zu suchen und zu finden. Aber du weißt auch verdammt genau, daß wir im Dorf nur einen einzigen Polizisten haben.‹ Er hatte mit einer großen Geste an seine Brust geschlagen. ›Mich! Alle Männer in Aldermor helfen bei der Suche.‹ ›Ich will ja auch helfen‹, hatte Hullers geantwortet. ›Was soll ich tun?‹ ›Du gehst nach Herford Castle und erkundigst dich bei Lord Sutton, ob er Mr. Lomont gesehen hat.‹ ›Nein!‹ hatte Hullers gerufen. ›Alles, nur das nicht.‹ ›Du hast wohl Angst vor den Geistern?‹ hatte ihn der Konstabler aufgezogen. ›Ich brauche einen Mann, der den Weg nach Herford Castle macht, und du wirst dieser Mann sein. Oder möchtest du, daß ich deinen Schuppen genauer untersuche? ‹ Hullers war ein passionierter Jäger. Sein Pech war nur, daß er keinen Jagdschein hatte, was seine Leidenschaft jedoch nicht im geringsten beeinträchtigte. Alle im Dorf wußten, daß Eddie Hullers auf die Jagd ging, und so mancher Dorfbewohner hatte ihn dabei auch schon gesehen. Unter diesen Dorfbewohnern war auch der Konstabler. Diese Unvorsichtigkeit hatte Hullers seine Gefängnisstrafe eingetragen, wenn auch nur auf Bewährung. Er wußte, daß er diese 47 �
Strafe und eine neue absitzen mußte, wenn der Konstabler seinen Schuppen untersuchte. Die Beute aus seinen heimlichen Jagdzügen, die er nach der Verurteilung nicht eingestellt hatte, war dort versteckt. ›Ist gut, ist ja schon gut, ich gehe‹, hatte er hervorgewürgt. Verdammt, morgen muß ich sofort ein neues Versteck suchen. Zitternd hatte er sich auf den Weg gemacht. Der Umstand, daß ihm auf dem Hinweg nichts zugestoßen war, hatte seine Zuversicht gehoben, aber jetzt zitterte er wieder. Das Kreuz, das ihm vor Jahren seine Mutter geschenkt hatte, war verschwunden. Zwar hatte er das von diesem Unbekannten mit dem Koffer bei sich, aber es war nicht geweiht. Ziemlich knieweich drang Hullers immer tiefer in den Wald vor. Er kannte den Weg genau, weil er als Kind oft hierher gegangen war und Herford Castle von Ferne angestarrt hatte. Damals war es ihm wie das wahre Märchenschloß vorgekommen. In dieser Nacht jedoch wirkte es auf ihn eher wie ein Spukschloß. Hullers drehte sich um und warf einen letzten Blick auf die Türme von Herford Castle. Dann verschwand der Mond wieder hinter einer Wolke, und es wurde stockdunkel. Hullers störte es nicht. Er verlor auch in völliger Finsternis nicht die Orientierung. Nicht zuletzt, weil sich die anderen Dorfleute nicht in diesen Wald wagten, hatte er meistens hier gewildert. Er hatte also keine Angst vor dem Verirren, wohl aber vor den anderen Gefahren des Waldes. Schon war der Mann zehn Minuten lang gegangen, ohne daß sich etwas ereignet hätte, schon glaubte er, aufatmen zu dürfen, als ihm das Blut in den Adern zu stocken drohte. Neben sich sah er durch das Unterholz zwei glühende Augen funkeln. Unsinn, ging es Hullers durch den Kopf, meine Angst spielt mir einen Streich. Das wird ein Tier sein. Wäre es Tag und 48 �
hätte ich meine Flinte bei mir, würde ich es erlegen – Konstabler hin und Konstabler her. Nur weil es Nacht ist, lasse ich mich nicht erschrecken. Er raffte all seinen Mut zusammen und ging weiter. Doch bald darauf wurde ihm wieder unheimlicher. Das Augenpaar schwebte viel zu hoch für ein Tier. Es befand sich fast auf gleicher Höhe mit seinem Kopf. Und ein Hochwild hätte doch irgendein Geräusch verursachen müssen. Dazu war das Unterholz viel zu dicht. Die einzigen Laute, die man in der Dunkelheit hören konnte, waren sein eigenes Keuchen und das Hämmern seines Herzens. Sonst hatte sich Totenstille über den Wald gesenkt. Eddie Hullers wurde von panischer Angst ergriffen. Waren das die Augen eines Geistes, von denen es angeblich auf Herford Castle wimmeln sollte? Er erreichte eine kleine Lichtung, die auf halbem Weg zwischen dem Schloß und Aldermor lag. Am Waldrand zögerte er. Dann kam der Mond hinter der Wolke hervor. Silbriges Licht ergoß sich über die Lichtung. Es war so hell, daß man eine Zeitung hätte lesen können. Entschlossen ging Hullers weiter. Doch schon nach zehn Schritten stockte er erneut. Eine riesige, in einen schwarzen Umhang gekleidete Gestalt stand, wie aus dem Boden gewachsen, in der Mitte der Lichtung. Der Mann streckte seine Hand gegen den Menschen aus. Hullers fühlte, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Laut klappernd schlugen seine Zähne aufeinander. Seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er fiel auf die Knie, als hätte ihm jemand einen Holzprügel von hinten in die Kniekehlen geschlagen. »Nein«, hauchte er. »Bitte, verschone mich!« Der Schwarze winkte – einmal, zweimal. Beim dritten Zeichen 49 �
erhob sich Hullers wie eine Marionette, die an einem unsichtbaren Faden hochgezogen wurde. Steifbeinig setzte er einen Fuß vor den anderen. Er konnte noch immer klar denken, aber er hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Er stand ganz im Bann der Erscheinung, die ihn näher heranwinkte. Zwei, drei, vier Schritte. Bald mußte er den schwarzen Mann erreicht haben. Und plötzlich wußte Eddie Hullers: Das ist der Tod! Es gibt kein Entrinnen mehr. Ich bin verloren. Ein letzter, herrischer Wink der knochigen Hand. Der Mensch stand schlotternd vor der mächtigen Erscheinung, die ihn um zwei Köpfe überragte. Die Hand fuhr an die Kapuze des Umhangs. Mit einem Ruck wurde die Kapuze zurückgerissen. Hullers stieß einen gellenden Schreckensschrei aus. Der hohe, kreischende Ton wurde von der dunklen Mauer des Waldes zurückgeworfen. Der Mann brach zu Füßen der Erscheinung zusammen. Aus den Bäumen lösten sich zwei Gestalten, massige Männer mit Lendenschurz und schwarzen Henkerskapuzen. Sie verneigten sich vor der hohen Gestalt, dann bückten sie sich und packten Hullers unter den Achseln. Als hätte er überhaupt kein Gewicht, hoben sie ihn hoch und schleppten ihn mit sich, zurück nach Herford Castle. * Das ölverschmierte Gesicht von Harold Murphy strahlte zufrieden. Dreißig Jahre auf der Achse, dreißig Jahre Schwerarbeit und Erfahrung hatten sich gelohnt. Er hatte den Fehler an der Einspritzpumpe gefunden. 50 �
»Nicht zu glauben«, murmelte er kopfschüttelnd. »Das geht wirklich nicht mit rechten Dingen zu.« Ein winziges Teil war beschädigt, aber in einer Art, daß ein technischer Defekt nicht in Frage kam. Und ein Sabotageakt schied auch aus. Murphy stand vor einem Rätsel. Jedenfalls hatte er es geschafft. Der Fehler war behoben, die Pumpe wieder einsatzbereit, und am nächsten Morgen würden sie weiterfahren können. Der Fahrer baute die Pumpe ein, dann wischte er sich die Hände mit einem breiten Grinsen an einem Lappen ab. »Wäre doch gelacht, du alte Mühle«, brummte er und versetzte dem silbrigen Autobus einen freundschaftlichen Schlag auf die Karosserie. Der Abdruck seiner öligen Hand blieb zurück. Sorgfältig wischte er den Lack sauber, dann stieg er in das Fahrerhaus und startete. Die Leitungen waren entlüftet. Nun mußte der Motor gleich kommen. Der Anlasser röhrte mit einem scharfen Geräusch, dann mischte sich das Brummen des Diesels hinzu. Murphy schlug begeistert auf das Lenkrad. Zwar spuckte der Motor noch ein wenig, aber das würde sich nach ein paar Meilen Fahrt schon geben. Um nicht alle im Schloß aufzuwecken, stellte Murphy den Motor ab. Jetzt mußte er nur noch kontrollieren, ob alle Leitungen wirklich dicht angeschlossen waren. Der Fahrer war müde. Er rieb sich die brennenden Augen und nahm einen Schluck Bier aus der Flasche. Das hatte er sich verdient. Genüßlich trank er die Flasche leer. Er freute sich schon auf ein Bad und auf ein sauberes Bett, in dem er wenigstens ein paar Stunden Schlaf bekommen konnte. Lange würde es nicht sein. Die Zeiger der Uhr im Armaturenbrett seines Autobusses standen bereits auf 2.30 Uhr. 51 �
Gähnend stieg Harold Murphy aus, streckte sich, dann gab er sich einen Ruck. Je schneller er arbeitete, desto eher konnte er sich aufs Ohr hauen. Harold Murphy legte sich auf die Erde und schob sich unter den Bus. Er sah die Gestalt nicht, die am Waldrand stand und zu dem Autobus herüberschaute, der vor Herford Castle parkte. Er sah auch nicht, wie die Gestalt, in einen weiten schwarzen Umhang gehüllt, den Arm ausstreckte. Die Finger der knochigen Hand beschrieben magische Kreise, zeichneten Bilder und Runen in die Luft, verkrampften sich. Aber Harold Murphy hörte das Knacken. Er kannte es, verdammt, er kannte es sehr gut. Er würde dieses Knacken sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Er hatte es vor zehn Jahren gehört, als einer seiner Kollegen vor seinen Augen auf diese grauenhafte Weise ums Leben gekommen war. Die Hinterachse brach. Genau über seinem Kopf bildete sich ein Sprung in der Metallkonstruktion. Raus hier, schrie es durch seinen Kopf! Raus! Er schaffte es nicht mehr. Der schwere Bus knickte hinten ein. Der eine Teil der Hinterachse löste sich und zermalmte ihm den Schädel. * Langsam dämmerte es Rick Masters, daß die Nacht alles andere als ruhig werden würde. Das heißt, der Rest der Nacht. Immerhin war ein Großteil schon vergangen, als der junge Detektiv um drei Uhr ein scharfes Krachen und gleich darauf ein dumpfes Poltern hörte. Masters hatte sich nach der Störung durch Hullers, den Mann 52 �
aus dem Dorf, wieder dem Buch über Herford Castle gewidmet, daß ihm Patsy Burton gebracht hatte. Unter normalen Umständen hätte er die Familienchronik bereits nach den ersten Seiten wieder weggelegt, weil sie sogar für seinen Geschmack viel zu blutig war, aber Rick erhoffte sich einen Hinweis, eine Erklärung für die schauerlichen Vorgänge auf dem Schloß. Und auch einen Anhaltspunkt, wie er sich und andere gegen die unbekannten Kräfte schützen konnte. Um drei Uhr wurde er also wieder unterbrochen. Rick setzte sich auf seinem Bett auf und lauschte angestrengt in die gleich wieder eingetretene Totenstille. Er kannte dieses Geräusch nicht. Zuerst hatte es geklungen, als würde eine Eisentür aufgesprengt, und das anschließende Poltern war so stark gewesen, daß sogar die Erde leicht gebebt hatte. Was immer es gewesen war, Rick Masters mußte nachsehen. Da er sich nicht ausgezogen hatte, brauchte er nur den Juwelenkoffer unter dem Bett hervorholen. Auch seine 38er Automatik steckte noch in seinem Schulterhalfter, das er nicht abgeschnallt hatte, so unangenehm es ihm inzwischen auch schon geworden war. Entweder hatten die amerikanischen Touristen einen guten Schlaf, oder die unheimliche Atmosphäre auf dem Schloß hatte sie ängstlich gemacht, so daß sie sich nicht aus ihren Zimmern wagten. Jedenfalls begegnete Rick auf seinem Weg durch den Korridor und über die Treppe hinunter keiner Menschenseele. Um so besser, dann brauchte er keine Fragen zu beantworten. Manche Leute meinten ja immer, ein Privatdetektiv wäre allwissend. In der Halle brannten nur zwei Kerzen, deren Licht nicht ausreichte, die Schatten aus den hintersten Ecken des riesigen, hohen Raumes zu vertreiben. Unbehaglich schaute sich der 53 �
Detektiv um. Hatte er nicht dort hinten eine Bewegung gesehen? Traf nicht ein kühler Lufthauch seine Wange? Zeichnete sich nicht die große dunkle Gestalt hinter dem Vorhang ab? Oder spielte ihm seine überreizte Phantasie einen Streich? Rick Masters riß sich zusammen. Kraftvoll schob er die schweren Eisenriegel zurück. Metallisch klirrend, glitten sie durch die handgeschmiedeten Führungsösen. Knarrend schwang das Tor auf. Der Detektiv starrte in die schwarze Nacht hinaus. Ein rötlicher Schimmer lag über dem Platz vor dem Schloß. Als er einen Schritt vor die Tür machte, sah er, woher dieser Schein stammte. Murphy hatte die Standbeleuchtung des Autobusses eingeschaltet. Aber der Fahrer war nicht zu sehen. Wahrscheinlich arbeitete er auf der anderen Seite des Wagens. Dann stutzte Rick Masters. Zuerst dachte er, Murphy hätte mit einem Wagenheber den schweren Bus vorne hochgekurbelt, um besser arbeiten zu können. Da stimmte etwas nicht. Der Bus stand schräg nach hinten geneigt. Und dann traf Rick die volle Erkenntnis wie ein Schlag. Der Bus war hinten eingebrochen. Die Hinterachse mußte geborsten und aus ihrer Verankerung gerissen sein. Wo ist Murphy? durchzuckte es Rick siedend heiß. Und dann sah er ihn. Unter dem Heck des Busses ragten zwei Beine in einer seltsam verkrampften Haltung hervor. Murphy war zerquetscht worden. Zögernd ging Rick Masters näher. Zögernd deshalb, weil er bereits ahnte, daß der Tod des Fahrers keine technische Ursache haben konnte. Er erinnerte sich noch deutlich daran, daß Murphy behauptet hatte, der Bus wäre vor wenigen Wochen generalüberholt worden. Seit es die neuen Sicherheitsbestimmungen 54 �
im Straßenverkehr gab, waren die Behörden extrem streng, besonders bei Fahrzeugen, mit denen zahlreiche Personen befördert wurden. Rick Masters erreichte den Autobus und bückte sich. Die Handlampe, in deren Schein Harold Murphy gearbeitet hatte, brannte noch. Ihr Strahl fiel auf den Rumpf des Mannes. Der Kopf war völlig deformiert. Masters mußte mehrmals schlucken, um sich nicht zu übergeben. Hätte er in einen Spiegel schauen können, hätte er sein grünlich verfärbtes Gesicht gesehen. Doch der Detektiv erholte sich rasch. Eines war klar: die Amerikaner durften den Toten hier nicht sehen. Zwar war Rick nicht für das Wohlergehen der Passagiere verantwortlich, sondern nur für die Sicherheit ihrer Juwelen, aber die Bezahlung war großzügig ausgefallen, weshalb er der Reiseagentur weitere Schwierigkeiten ersparen wollte. Mit der Polizei, die auf jeden Fall dieses Unglück untersuchen würde, kam er schon klar, auch wenn der Tote nicht mehr auf seinem Platz lag. Nicht umsonst hatte der erfolgreiche Privatdetektiv gute Beziehungen zu den höchsten Polizeikreisen und sogar zum Secret Service. Eines wußte Rick allerdings auch schon: diesmal würde er sogar seinem alten Freund, Chefinspektor Kenneth Hempshaw von Scotland Yard, die Wahrheit verschweigen. Schließlich gab es keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, daß übernatürliche Kräfte im Spiel waren, und Rick sah schon das spöttische Gesicht des Chefinspektors vor sich und hörte ihn sagen: Lieber Masters, Ihre Phantasie geht mit Ihnen durch. Nein, das wollte er nicht auf sich nehmen. Murphy! Zuerst mußte der Autobus gehoben werden. Das würde kein besonderes Problem sein. Rick schaute sich um, dann holte er ein paar Steinquadern, die aus der alten Schloßmauer gebrochen worden waren, als man die Fenster vergrö55 �
ßerte, und die man einfach liegengelassen hatte. Er blockierte damit die Vorderräder, damit der Bus nicht wegrollen konnte. Dann öffnete er das Servicefach, das in diesem Luxusbus eigens dazu diente, Spezialgeräte aufzunehmen, mit denen man auch unterwegs Reparaturen an dem Fahrzeug ausführen konnte. Alles für den Kunden. Die Reisenden sollten nie länger als nötig warten. Der Wagenheber funktionierte mit Ölhydraulik und war so konstruiert, daß man das Heck des Busses in der Mitte hochheben konnte, ohne daß das Fahrzeug kippte. Rick arbeitete im Schweiße seines Angesichts und bemühte sich, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Es war schon schlimm genug, wenn die Amerikaner am Morgen vom Tod des Fahrers erfuhren. Sie sollten nicht auch noch Augenzeugen seiner Bergung werden. Endlich hatte Rick es geschafft. Die gebrochene Hinterachse schwebte wenige Zoll über dem zermalmten Kopf Murphys. Rick richtete sich auf und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Jetzt kam der schlimmste Teil des Unternehmens — er mußte die Leichte unter dem Wagen hervorziehen. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« fragte eine klangvolle Stimme hinter Rick. Der Detektiv wirbelte herum. Wenige Schritte hinter ihm stand Lord Sutton, vollständig angekleidet, korrekt wie beim Dinner. »Ich hörte ebenfalls den Lärm«, fügte er erklärend hinzu, »aber ich war schon zu Bett gegangen. Kann ich Ihnen helfen?« Das Mißtrauen fraß in Rick Masters. Der Lord sah nicht so aus, als hätte er bereits geschlafen. Nicht eine Haarsträhne war verwirrt, die breite Seidenkrawatte mit der Perle saß tadellos. Aber im Moment mußte Rick sich um den Toten kümmern. »Haben Sie einen Platz, an dem wir Murphy vor den Blicken der Amerikaner verstecken können?« fragte er. »Ich meine, einen 56 �
würdigen Platz.« »Den würdigsten, den es für einen solchen Zweck geben kann.« Irrte sich Rick, oder schwang in der Stimme des Lords leichter Spott mit. »Die Kapelle von Herford Castle. Wenn Sie mir folgen wollen?« So einfach war das nun doch nicht. Rick wollte niemanden wecken, der ihm helfen konnte, die Leiche zu tragen. Andererseits wollte er weder seine Kleider noch die Korridore des Schlosses mit Blut besudeln. Schließlich schüttete er das Werkzeug auf den Boden und zog die Plastiktasche, in der es sich befunden hatte, über den Kopf des Toten, oder besser über das, was noch übriggeblieben war. Diesmal wurde Rick tatsächlich schlecht. Er wankte in die Büsche, mußte sich übergeben, kam mit weichen Knien zurück. »Sie scheint das nicht zu berühren, wie?« fragte er keuchend Lord Sutton, der wie eine Statue danebenstand, als läge nicht eine grauenhaft zugerichtete Leiche, sondern ein rassiger Jagdhund vor ihm. »Ich bin alt, mein Freund«, sagte der Lord. »Ich habe viel gesehen im Leben. Kommen Sie, ich führe Sie!« Lords hatten offensichtlich einen besseren Magen als Privatdetektive, dachte Rick Masters, hob die Leiche des Busfahrers auf seine Schulter und folgte Lord Sutton in die Kapelle von Herford Castle, vor dessen Mauern ein Mensch auf schreckliche Weise ums Leben gekommen war. * Noch nie war Rick Masters ein Weg so lang erschienen wie der Gang zur Schloßkapelle, die übel zugerichtete Leiche Harold Murphys auf der Schulter. Der Lord führte den jungen Detektiv durch finstere Hallen, 57 �
Treppen hinauf und wieder andere hinunter. Bald hatte Rick Masters die Orientierung verloren. »Wollen Sie meine Kondition prüfen?« fragte er bissig. »Das ist ein Hindernislauf, sonst nichts.« Lord Sutton drehte sich nicht um, als er antwortete: »Die Erbauer von Herford Castle hatten die Schloßkapelle als letzte Zufluchtsstätte bei einem Angriff gedacht«, erklärte er. In der erhobenen Hand hielt er einen Kerzenleuchter. Die Flammen warfen seinen Schatten makaber verzerrt auf die feuchten Steinwände. »Daher ist es so schwierig, die Kapelle zu erreichen. Überall auf diesem Weg konnten sich die Verteidiger einige Zeit halten.« »Aber ich halte mich nicht mehr lange«, sagte Rick erschöpft. »Laufen Sie mal mit einer Leiche…« »Wir sind gleich da«, beruhigte ihn der Lord. Er blieb stehen, und Sekunden darauf hörte Rick einen Metallriegel zurückgleiten. Die Tür schwang auf. Sie war so niedrig, daß Rick die Leiche niederlegen und sie in geduckter Haltung durch die Öffnung ziehen mußte. Lord Sutton folgte ihm und stellte den Kerzenleuchter auf einen der Chorstühle. Die Kapelle war während einem der letzten Kriege geplündert worden. Der Altaraufbau fehlte, ebenso alle anderen Wertgegenstände und alles, was auf eine religiöse Verwendung des Raumes hinwies. Einen Gegenstand ausgenommen. Ein mit schwarzem Stoff verkleideter Katafalk, Kerzen zu beiden Seiten. »Sieht so aus, als hätten Sie erwartet, daß bald eine Leiche hier landet«, bemerkte Rick Masters trocken. Lord Sutton war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Hier werden die Toten unserer Familie aufgebahrt, Mr. Masters. Hier findet auch dieser Mann seine Ruhe.« »Wie Sie meinen.« Rick hob den Toten auf den Katafalk und 58 �
bedeckte ihn mit einem schwarzen Tuch. »Ich möchte mir den Raum noch ein wenig ansehen, wenn Sie gestatten.« »Bitte, habe nichts dagegen.« Lord Sutton nickte kurz. »Ich gehe wieder zu Bett. Den Kerzenleuchter können Sie behalten, ich finde meinen Weg auch in der Dunkelheit.« Masters hatte einen anderen Grund für sein Zurückbleiben. Die Kapelle interessierte ihn überhaupt nicht, aber auf dem Herweg war ihm etwas eingefallen, das ihm den kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Er hatte den Juwelenkoffer neben dem Autobus stehenlassen. Als ihm übel geworden war, hatte er die Wertsachen vollkommen vergessen. Und dann war er so damit beschäftigt gewesen, die Leiche wegzuschaffen, daß er nicht mehr an den Koffer gedacht hatte. Wenn er inzwischen gestohlen worden war, konnte Rick nichts mehr dagegen unternehmen. Lag er aber noch neben dem Bus war jetzt die beste Gelegenheit dafür, festzustellen, ob Lord Sutton es auf die Juwelen abgesehen hatte. Rick wollte dem Lord nachschleichen, der ihn in der Kapelle glaubte, und ihn heimlich überwachen. Schon stand er an der Tür, schon streckte er die Hand nach der Klinke aus. Aus schreckgeweiteten Augen starrte Rick Masters auf die mit dem schwarzen Tuch bedeckte Leiche Murphys. Ging seine Phantasie mit ihm durch, oder hatte hier wirklich jemand gestöhnt? Da war es wieder – ein langgezogenes, schmerzliches Jammern. Rick lief eine Gänsehaut über den Rücken. Vergessen war Lord Sutton, vergessen waren die Juwelen. Nicht einen einzigen Gedanken verschwendete er mehr an die Kostbarkeiten. Mit angehaltenem Atem lauschte Rick in das düstere Halbdun59 �
kel der Kapelle. Das Stöhnen kam nicht aus der Richtung der Leiche, sondern von einem massiven Beichtstuhl aus Eichenholz. Ricks schweißige Hand umklammerte den Kerzenleuchter, der nicht nur als Lichtspender, sondern auch als Waffe dienen konnte, weil er aus schwerem Metall gearbeitet war. Schritt für Schritt näherte er sich dem Beichtstuhl. Vor dem Mittelteil war ein schwarzer Vorhang gezogen. Mit zitternden Fingern griff Rick nach dem Vorhang und riß ihn mit einem Ruck zur Seite. Er starrte in das blutüberströmte Gesicht eines Sterbenden. * »Nicht!« wimmerte der Fremde. »Quält mich nicht schon wieder!« Seine dick geschwollene Zunge hing zwischen zerschundenen Lippen. »Nicht quälen!« »Ich tue Ihnen nichts«, sagte Rick Masters rasch. »Wer sind Sie? Was ist geschehen?« »Nicht quälen!« wiederholte der Mann wimmernd. Masters war inzwischen näher an den Beichtstuhl herangetreten, so daß er den ganzen Körper des Mannes sehen konnte. Der Anblick ließ ihn erstarren. Er erinnerte an Abbildungen von mittelalterlichen Folterungen. Und dann erkannte er auch den Fremden. Er hatte ihn schon gesehen, und zwar, als die unheimliche Prozession durch den Speisesaal des Schlosses gezogen war. Die Henkersknechte hatten ihn mit sich geschleppt. Aber wie sah er jetzt aus! An seinen Armen und Beinen fehlten ganze Fleischstücke. Brandwunden entstellten Gesicht und Brust. Jeden Finger hatte man ihm gebrochen. »Wer hat das getan?« fragte Rick drängend. »Warum? Und wer sind Sie?« 60 �
Langsam öffnete der Mann die Augen. Sein Blick ging ins Leere. Er sah den Detektiv nicht. Doch dann klärten sich seine Augen für einen Moment. »Wer ich bin? George Lomont. Sie haben mich im Wald entführt und hier im Schloß gefoltert. Es war grauenhaft.« Er begann wieder zu wimmern. »Ich helfe Ihnen«, sagte Rick. »Ich bringe Sie sofort zu einem Arzt.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Niemand kann mir mehr helfen. Grüßen Sie meine Frau.« Dann setzten die Schmerzen wieder mit voller Wucht ein. Lomont schrie auf, brüllte, schlug um sich. Er war wahnsinnig geworden. Fünf Minuten lang blieb Rick Masters bei dem Tobenden. Er war ratlos, wußte nicht, was er tun sollte. Hilfe konnte er keine herbeiholen, weil alle Verbindungen zur Außenwelt abgeschnitten waren. Es war für Rick beinahe eine Erleichterung, zu sehen, wie der Tod den Gefolterten von seinen Qualen erlöste. * In seinen letzten Minuten hatte sich Lomont wild hin und her geworfen. Das war also der Mann, der aus dem Dorf Aldermor verschwunden war. Rick wußte nicht, warum ihm diese Schmerzen zugefügt worden waren und von wem. Hatte er von Lord und Lady Sutton gesprochen? Sicher nicht, auch wenn die beiden irgendwie in die Vorgänge auf Herford Castle verwickelt waren. Wer war die schwarze Gestalt, die den Henkerszug angeführt hatte? Zu viele Fragen auf einmal, auf die es keine Antwort gab, 61 �
zumindest jetzt noch nicht. Als George Lomont ausgelitten hatte, erinnerte sich Rick Masters auch wieder an die Juwelen, die er neben dem Autobus zurückgelassen hatte. Es war längst zu spät, Lord Sutton zu überwachen. Rick hätte sich jedoch um die Juwelen gekümmert, wäre er nicht durch einen Umstand stutzig geworden. Als sich George Lomont im Todeskampf gegen die Hinterwand des Beichtstuhls geworfen hatte, war ein Teil der Holzverkleidung verschoben worden. Zwar konnte das einfach daher kommen, daß der Beichtstuhl alt und nicht mehr im besten Zustand war, aber auf Rick wirkte er massig genug, um einen Stoß auszuhalten. War nur ein Brett locker, oder steckte mehr dahinter? Die angeborene Neugierde, die durch seinen Beruf zu einem ständigen Mißtrauen ausgebaut worden war, ließ ihn nicht ruhen. Der Detektiv hob den Toten aus dem Beichtstuhl und trug ihn zu Murphys Leiche hinüber. Dann nahm er den Kerzenleuchter und hielt ihn dicht an die Rückwand des Beichtstuhls. Er hatte sich nicht getäuscht. Ein dünner Spalt klaffte zwischen zwei Holzplatten, und ein feiner Luftzug bewies, daß sich dahinter eine Öffnung befand. Es roch modrig, faulig, nach Verwesung. Stand Rick Masters endlich vor der Lösung des Rätsels von Herford Castle? Tastend fuhren Ricks Finger über die Holzverkleidung, fanden eine Stelle, an der sie einhaken konnten, und drückten. Lautlos schob sich ein Teil des Holzes zurück. Ein dunkles Loch klaffte. Mit einem Fauchen, das wie von einem wilden Tier klang, fuhr Rick ein Windstoß entgegen, der augenblicklich alle Kerzen verlöschte. In der tiefen Finsternis, an die sich seine Augen rasch gewöhnten, glaubte Rick vor sich einen Lichtschimmer zu sehen, aber es konnte eine Täuschung seiner übermüdeten Augen sein. 62 �
Und wenn dort unten wirklich Licht brannte, dann war es so weit entfernt, daß es Rick nie gewagt hätte, ohne Lampe den Weg bis zu der Lichtquelle zurückzulegen. Zu viele Fallen konnten auf ihn lauern, Abgründe, Mordwaffen und andere Vorrichtungen, die verhindern sollten, daß ein Unbekannter in den Geheimgang eindrang. Rick hatte genug Erfahrung mit alten Schlössern, um nicht leichtsinnig zu werden. Er brauchte eine elektrische Taschenlampe, und er glaubte, unter dem Werkzeug im Autobus eine gesehen zu haben. Er trat von der Öffnung des Geheimganges zurück, bis die Stärke des Luftstroms abgenommen hatte. Dann ließ er sein Feuerzeug aufschnappen, zündete die Kerzen wieder an und verließ die Kapelle, die jetzt zwei statt einen Toten barg. Würden noch weitere Leichen folgen? * Kaum war er der bedrückenden Atmosphäre der Kapelle entronnen, erinnerte sich der junge Detektiv sofort wieder an seine Aufgabe, die er vor Antritt dieser Reise übernommen hatte: die Juwelen! Rick lief die Treppen hinunter, durch die Korridore, jagte andere Treppen hoch und gelangte endlich in die Halle des Schlosses. Trotz der schweren Last, die er getragen hatte, war ihm der Weg im Gedächtnis haftengeblieben. Atemlos riß Rick das Eingangsportal auf. Dort lag der Koffer, noch immer friedlich angestrahlt von den brennenden Rücklichtern des Busses. Rick lief hinüber, ging in die Hocke und öffnete den Diplomatenkoffer mit dem Spezialschlüssel, den er in der Tasche trug. Er atmete erleichtert auf. Die Juwelen lagen unangetastet auf ihrem Platz. 63 �
»Das ist ja noch mal gutgegangen«, seufzte der Detektiv. »Rick, du wirst leichtsinnig.« Ein zweites Mal wollte er diesen Fehler nicht begehen. Die Juwelen durften nicht unbewacht herumliegen. Andererseits wollte er bei seinem anschließenden Erkundungsgang durch den geheimen Stollen in der Kapelle den Koffer nicht mitnehmen. Prüfend blickte sich Rick um, dann kam ihm eine Idee. Er holte Draht aus dem Werkzeugvorrat und band damit den Koffer an der Unterseite des Busses fest. Dabei war er so vorsichtig, nicht einen Augenblick lang mit dem Kopf unter das Fahrzeug zu rutschen. Er wollte nicht, daß ihn das gleiche Schicksal ereilte wie Murphy. Zufrieden richtete er sich auf. Niemand hatte, soweit er das feststellen konnte, seine Tätigkeit beobachtet. Niemand, außer vielleicht Lord Sutton, der scheinbar nie schlief. Aber der Lord hatte bereits die beste Gelegenheit, die Juwelen an sich zu bringen, verstreichen lassen, ohne sie auszunutzen. Also stellte er in dieser Hinsicht auch jetzt keine Gefahr dar. Als nächstes steckte Rick Masters die elektrische Taschenlampe ein. Die Batterien waren tadellos und würden für einige Stunden reichen. Also zurück ins Schloß. Rick hatte die unterste Stufe erreicht, als ihn eine Stimme festnagelte. »Tun Sie es nicht, Mr. Masters!« Lord Sutton stand in der Tür der Bibliothek. Sein weißes Haar schimmerte. Sein Gesicht lag im Dunkel. Rick zog seinen Fuß von der Treppe zurück und ging auf den Schloßbesitzer zu. »Was soll ich lassen?« fragte er scharf. Lord Sutton lächelte. Es war ein fröhliches Lächeln. Seine Augen blieben kalt. Er zuckte die Schultern. »Nichts, Mr. Masters, nichts.« Die Tür schlug vor Ricks Nase zu. 64 �
Mehr denn je war der Detektiv überzeugt, daß der Lord mit den übernatürlichen Vorgängen auf Herford Castle in einem bisher undurchschaubaren Zusammenhang stand. In Gedanken versunken, betrat Rick die Kapelle durch die Wehrpforte. Auf den ersten Blick fiel ihm keine Veränderung auf, doch als er sah, daß der Vorhang vor die mittlere Abteilung des Beichtstuhls gezogen worden war, stutzte er. Ganz deutlich erinnerte er sich, daß er den Vorhang nicht geschlossen hatte. Auch die Platte der Rückwand war in die alte Stellung zurückgeschoben worden. So sehr sich Rick auch anstrengte, es gelang ihm nicht mehr, sie zu verschieben. Achselzuckend drehte sich der Detektiv um. Hier kam er nicht weiter. Er beschloß, sein Zimmer aufzusuchen und sich weiter mit der Familienchronik der Suttons zu beschäftigen. Möglicherweise erhielt er endlich den Hinweis, den er so dringend benötigte, um weitere Bluttaten auf dem Spukschloß zu verhindern. * Der vierzehnte Lord Herford Castle war auf unrechtmäßige Weise an das Erbe gekommen. Das war zwar in der Familie Sutton keine Ausnahme, aber dieser Mann ging mit einer Grausamkeit gegen die rechtmäßigen Erben vor, die jeder Beschreibung spottet. Drei Familienangehörige waren noch vor ihm erbberechtigt. Sein Vetter Morris, dessen Sohn Jonathan und sein eigener Bruder, Norman. Seinen Vetter Morris ließ er von gedungenen Mördern hinterrücks erstechen. Jonathan starb an einem heimtückischen Gift, und Norman war für einen besonders grausamen Tod ausersehen. Schon immer hatte der spätere Lord Lester Sutton seinen älte65 �
ren Bruder gehaßt und mit den größten Gemeinheiten verfolgt. Aber der Tod des Rivalen wurde sozusagen die Krönung. Von zwei bis in den Tod getreuen Dienern unterstützt, lockte Lester seinen Bruder in den Keller von Herford Castle, ließ ihn überwältigen und in Eisen legen. Dann entfachten die Diener, die sich auf Anweisung des halb wahnsinnigen Lesters als Henker verkleiden mußten, ein riesiges Feuer in der alten Esse der Folterkammer. Mit glühenden Marterwerkzeugen wurde Norman, der ältere Bruder, vor den Augen seines nächsten Blutsverwandten buchstäblich in Stücke gerissen. Doch Lord Lester Sutton konnte sich nicht lange an seinem Erbe erfreuen. Sein Geist umnachtete sich zusehends. Bald mied ihn die Gesellschaft, der Landadel wollte nichts mehr von ihm wissen. Er zeigte sich nur mehr in einem bodenlangen schwarzen Umhang, versteckte sein Gesicht hinter einer Kapuze und ließ sich von seinen »Henkersdienern« begleiten. Unvorsichtige, die sich in die morastigen Wälder rund um Herford Castle wagten, wurden von den Dienern gefangen und von dem Lord mit eigener Hand gefoltert und getötet. Lord Lester Sutton starb im Wahnsinn. Rick Masters schlug das Buch, das er von Patsy Burton bekommen hatte, zu und warf es auf den Teppich in seinem Zimmer. Tiefe Falten hatten sich auf seiner Stirn eingegraben. Vermutlich hatte er gerade die Erklärung für den Ursprung des Schreckens auf Herford Castle gelesen. Lord Lester Sutton, der Teufel von Herford Castle, hatte im Grab keine Ruhe gefunden. Seihe sadistische Grausamkeit trieb ihn auch nach dem Tode immer wieder dazu, Menschen zu ermorden und zu foltern. Wahrscheinlich steckte er in dem schwarzen Umhang. Und für die beiden Henkersknechte gab es ebenfalls einen historischen Ursprung. 66 �
Im Laufe seiner Tätigkeit hatte Rick Masters bereits oft genug mit übernatürlichen Erscheinungen zu tun gehabt, um nicht allzu überrascht von diesem Spuk auf Herford Castle zu sein. Was ihm vielmehr Kopfzerbrechen bereitete, war die Frage, weshalb die amerikanische Reisegruppe hierhergeführt worden war. Für Rick stand es fest, daß eine übernatürliche Macht den Bus zum Schloß gebracht hatte. Und dann schlug er sich an die Stirn. Wie hatte er so dumm sein können, nicht sofort darauf zu kommen! Patsy Burton! Sie war eine geborene Sutton. Ihr Vater war ein Verwandter des jetzigen Lords gewesen. Er hatte Herford Castle aus unbekannten Gründen verlassen und seiner Tochter nur erzählt, die Verhältnisse auf dem Schloß wären für ihn unerträglich geworden. Der Detektiv konnte den bereits Verstorbenen gut verstehen. Auch er wäre keine Minute länger auf Herford Castle geblieben, als unbedingt nötig war. Tauchte eine andere Frage auf: warum lebten Lord und Lady Sutton noch hier? Taten ihnen die Geister nichts zuleide? Oder standen sie sogar im Bund mit den überirdischen Wesen? Führten sie ihnen die Opfer zu? Oder hatten sie Vorteile von den Greueltaten, die sich hinter den Schloßmauern abspielten? Was auch immer richtig sein mochte, eines stand fest: die Amerikaner waren auf Herford Castle, weil sich Patsy Burton unter ihnen befand, die geborene Sutton. Und nicht, weil Diebe die Juwelen entwenden wollten, wie Rick Masters ursprünglich angenommen hatte. Patsy! Der Gedanke ließ den jungen Detektiv nicht mehr los. Er mochte das Mädchen, und auch wenn er keine persönlichen Gefühle für die Bedrohte empfunden hätte, wäre es seine Pflicht 67 �
gewesen, sie vor jedem Schaden zu bewahren. Er hielt es nicht länger in seinem Zimmer aus. Leise schlich er den Korridor entlang, bis er vor Patsys Zimmertür angelangt war. Schon hatte er die Hand erhoben, um anzuklopfen, als er sie wieder sinken ließ. Aus dem Zimmer hörte er die gleichmäßigen Atemzüge einer friedlich Schlafenden. Warum sollte er sie stören? Es hatte auch keinen Sinn, Patsy die ganze Wahrheit zu berichten. Selbst für den Fall, daß sie ihm geglaubt hätte, wäre sie in Gefahr gewesen. Sie hätte sich nur zusätzlich noch geängstigt. Rick Masters beschloß, sie für den Rest der Nacht gut zu bewachen. Viel konnte seiner Meinung nach nicht mehr geschehen. Es war bereits halb vier. Bald würde der Tag grauen. Dann war jede Gefahr gebannt. Das glaubte Rick Masters wenigstens. * Die letzte Erinnerung, die sich in sein Gedächtnis eingegraben hatte, war eine grauenhafte Fratze mit blutunterlaufenen Augen und einem blutigen Mund. Eddie Hullers wußte, daß er nur einen Alptraum gehabt hatte. So etwas konnte es in Wirklichkeit doch gar nicht geben. Dann kamen bruchstückweise die einzelnen Eindrücke zurück. Er war von dem Konstabler im Dorf losgeschickt worden, um auf Herford Castle nach einem verschwundenen Mann zu fragen. Wie hieß er doch gleich? George Lomont, richtig. Und Lord Sutton hatte behauptet, er hätte diesen Mann nie gesehen. Dann war er zurückgegangen, aber er hatte Aldermor nie erreicht. Auf einer Waldwiese hatte plötzlich diese Erscheinung vor ihm gestanden, der Mann in dem schwarzen Umhang. Eine unwiderstehliche Gewalt hatte ihn näher an die Erscheinung 68 �
herangezwungen, und dann hatte der Unbekannte die Kapuze seines Umhanges zurückgeschlagen. Das Gesicht! Mein Gott, dieses Gesicht! Blinzelnd öffnete Eddie Hullers die Augen. Der Schreck fuhr ihm durch Mark und Bein. Er hatte nicht geträumt, oder dieser Traum war noch immer nicht zu Ende. Da stand er, die schwarze Gestalt, keine drei Schritte von ihm entfernt. Und aus dem schmalen Schlitz in der Kapuze funkelten ihn zwei tückische, blutunterlaufene Augen an. Hullers schüttelte entsetzt den Kopf. Dabei fiel sein Blick auf zwei Männer in Lendenschurz und in der Tracht der mittelalterlichen Henker. Schweigend standen sie da, als warteten sie auf die Befehle ihres Meisters. Da erst merkte Hullers, daß er sich nicht frei bewegen konnte. Seine Arme waren zur Seite gestreckt, seine Hände befanden sich in Augenhöhe. Seine Handgelenke steckten in eisernen Ringen. Kalt lief es über seinen Rücken. Wasser, das an der Steinwand heruntersickerte. In einer Ecke des Raumes, eines Kellergewölbes, flackerte ein brüllendes Feuer in einer alten Esse. Ringsum an den Wänden hingen verschiedene Gegenstände, deren Bedeutung Hullers nicht sofort erkannte. Doch als er es begriff, glaubte er, verrückt geworden zu sein. Er befand sich in einer Folterkammer. * In sein Zimmer zurückgekehrt, hatte Rick Masters die Familienchronik der Suttons wieder vom Boden aufgehoben und weitergelesen. Nachdenklich nagte er an seiner Unterlippe. Im Schloß gab es Geheimgänge. Der Eingang zu einem von ihnen lag hinter dem Beichtstuhl in der Kapelle. Er konnte ihn 69 �
natürlich aufbrechen. Beim Autobus gab es genug Werkzeuge dafür. Aber er wollte nach Möglichkeit jeden Lärm vermeiden, der den scheinbar allgegenwärtigen Lord Sutton anlocken konnte. Derartige Geheimgänge verfügten doch meistens über mehrere Ein- und Ausgänge. Von den Erbauern der Schlösser fast immer in der gleichen Art angelegt, führten sie stets auch in die Familiengruft. Die Familiengruft! Warum hatte er nicht gleich daran gedacht. Rick stand auf, prüfte seine 38er Automatik und verließ geräuschlos sein Zimmer. Er fühlte sich zwar bereits müde und zerschlagen, aber er wollte und mußte dem Geheimnis von Herford Castle auf die Spur kommen. Und er mußte dem Spuk ein Ende bereiten, wenn das überhaupt möglich war. Es war nicht leicht, die Gruft zu finden. Lange irrte Rick durch die verzweigten und verschachtelten Gänge des Schlosses, bis er endlich vor einer Tür stand, die zu der Gruft gehören konnte. Es war eine alte Flügeltür, und durch den Mittelspalt schlug eisige Luft in das Gesicht des Detektivs. Das Tor war abgesperrt, doch dem raffinierten Einbruchswerkzeug Rick Masters konnte es nicht lange widerstehen. Zu Ricks Überraschung ließ sich der Sperrhaken sehr leicht drehen, als wenn dieses Schloß oft benutzt wurde. Es war interessant festzustellen, wessen Sarg Lord und Lady Sutton so häufig einen Besuch abstatteten. Rick Masters stieß die Flügeltür auf. Durch ein hochgelegenes, schießschartenartiges Fenster fiel geisterhaft bleiches Mondlicht. Es beschien eine Gestalt, die vor einem der Särge stand. Lord Vincent Sutton! * 70 �
Eddie Hullers schrie seine ganze Angst und sein Entsetzen aus sich hinaus. Der langgezogene Schrei verhallte ungehört an den Wänden der Folterkammer. Die drei Gestalten vor Hullers beobachteten ihr Opfer regungslos. Nichts deutete darauf hin, daß sie lebten. Ihre Ebenbilder aus Stein hätten nicht ruhiger dastehen können. Und dann, wie auf ein geheimes Zeichen, setzten sich die drei in Bewegung. Der Mann in dem schwarzen Umhang, der über Menschen eine unerklärliche Macht ausüben konnte und dessen Anblick Hullers auf der Waldlichtung in namenloses Entsetzen versetzt hatte, trat zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Mauer stieß. Die beiden Folterknechte wählten von den Wänden verschiedene Werkzeuge, prüften ihre Schärfe, legten sie beiseite und schoben schließlich zwei riesige Zangen in das Feuer der Esse. Einer von ihnen betätigte einen Blasebalg. Die Flammen flackerten grell, Funken stoben durch den offene Kamin. Mit wachsender Angst sah Eddie Hullers, wie die Zangen an den Enden zu glühen begannen, zuerst dunkelrot, dann hellrot, schließlich gelblich. Die Henkersknechte zogen dicke Handschuhe an, um sich gegen die Hitze des Metalls zu schützen, dann packten sie mit festem Griff die Zangen. Als sie sich wendeten, stand in ihren Augen die blanke Wahnsinn. Die Lust am Quälen. * Rasch gewann Rick Masters seine Fassung wieder, die er für � einen Moment beim Anblick des Schloßbesitzers verloren hatte. � Er hatte nicht damit gerechnet, hier in der Gruft jemanden zu � 71 �
begegnen, vor allem nicht, weil die Tür verschlossen war. Doch gleich darauf hatte er begriffen, daß Lord Sutton mit voller Absicht die Grabkammer hinter sich versperrt hatte. Masters sollte nicht durch eine offene Tür verscheucht werden. Wollte der Lord ihn hier unten den finsteren Mächten dieses Schlosses übergeben? Wenn ja, dann war Rick ihnen wehrlos ausgeliefert. »Sie schlafen wohl nie, Lord Sutton«, sagte Rick, um nur irgend etwas zu sagen. Außerdem wollte er sich nicht seine Unsicherheit anmerken lassen. »Ich schlafe selten«, erwiderte Lord Sutton. An seinem höflichen Ton hatte sich nichts verändert. Sein Gesicht war nicht zu sehen. »Ich überlegte bereits, wie lange Sie benötigen würden, um auf diese Gruft zustoßen.« »Ich bin hier, wie Sie sehen«, antwortete Rick im leichten Tonfall. »Allerdings.« Lord Sutton kam auf den Detektiv zu. »Vielleicht sollte ich jetzt doch schlafen gehen«, sagte er und verließ die Gruft. Rick Masters blickte ihm verwirrt nach. * Die Folterknechte ließen sich Zeit. Ihr Opfer war ihnen sicher, es konnte seinem Schicksal nicht mehr entkommen. Und der Meister hatte es so befohlen. Die Enden der Zangen wurden zwar dunkler, aber sie blieben noch lange heiß genug, um dem Menschen in Ketten die fürchterlichsten Qualen zuzufügen. Hullers traten vor Angst beinahe die Augen aus den Höhlen. Die Augäpfel quollen hervor. Er glaubte ersticken zu müssen. Die Adern an seinem Hals schwollen an. Es war ihm, als würge ihn eine riesige Faust. 72 �
Die erste Zange berührte den Stoff seiner Jacke, der zischend versengte. Noch spürte Hullers keinen Schmerz, aber das leise Geräusch löste die Erstarrung, in die er verfallen war. Seine Lungen barsten zu einem scheinbar endlosen Schrei. Dann brannten sich die Zangen tief in sein Fleisch. Der einzelne Schrei ging in langes, pausenloses Brüllen über, Hullers bäumte sich in seinen Fesseln auf, er riß an den Handschellen, daß die Ketten klirrten, stemmte sich von der Mauer ab, soweit es seine Fesseln zuließen. Noch einmal packten die glühenden Zangen zu. Noch einmal schrie der Gefolterte seinen ganzen Schmerz gegen die tauben Mauern. Der große schwarze Mann zog die Kapuze von seinem Kopf. In seinen Augen funkelte es unheimlich. Der blutige Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln sadistischer Befriedigung. Er genoß die schauerliche Szene. Einer der Folterknechte holte weit aus und schlug mit der schweren Zange auf den Gemarterten ein. Hullers schrie verzweifelt. Doch wer sollte ihm helfen? * Das ständige unerwartete Auftauchen von Lord Vincent Sutton mußte einen Grund haben, den Rick Masters noch nicht kannte. Vielleicht konnte ihm die Gruft Aufschluß darüber geben. Vielleicht konnte er hier auch entdecken, wer dieser Paul war, der durch die Schuld von Lord und Lady Sutton hatte sterben müssen. Der Detektiv ließ den Strahl seiner Taschenlampe kreisen. Er riß die mit Patina bedeckten, staubüberzogenen Metallsärge aus dem Dunkel. Für einen verrückten Augenblick hatte Rick Mas73 �
ters das Gefühl, einen Frevel zu begehen, indem er die mehr oder weniger ehrwürdige Vergangenheit der Sutton mit einem so modernen technischen Hilfsmittel wie der Elektrizität aus ihrem jahrhundertelangen Schlummer riß. Aber dann schüttelte er über sich selbst den Kopf. Methodisch vorgehend, untersuchte Rick einen Sarg nach dem anderen. Viele Namen, die er auf den Gedenktafeln las, kannte er bereits aus der Ahnenchronik, die oben in seinem Zimmer lag. Auch der Sarg von Lord Lester Sutton, der durch eine Reihe von Untaten widerrechtlich das Erbe an sich gerissen hatte, war darunter. Rick konnte nicht die leisesten Spuren erkennen, daß der Sarg in der letzten Zeit geöffnet worden war. Auch sonst fand er nichts Außergewöhnliches. Dann fiel Ricks Blick auf einen einfachen Holzsarg, der sich kraß von den metallenen Prunksärgen der Familiengruft unterschied. Er glänzte, als würde er jeden Tag neu poliert. Das völlige Fehlen von Anzeichen eines Verfalls und die schlichte, glatte Form wiesen darauf hin, daß er höchstens einige Jahrzehnte alt sein konnte. Hier lag also ein Mitglied der Familie Sutton, das erst im zwanzigsten Jahrhundert verstorben war. Die Verarmung des Adelsgeschlechts konnte nicht der einzige Grund dafür sein, daß der Sarg so schlicht war. Rick trat näher. Vor dem Sarg standen in zwei Vasen frische Blumen. Eine abgebrannte Kerze fühlte sich warm an, als hätte erst Lord Sutton sie kurz vor Ricks Eintreffen verlöscht. Die Lichtstrahlen der Taschenlampe wurden von einer glänzenden Metalltafel zurückgeworfen. Paul Sutton geb. 1921, gest. 1941 Die Erinnerung bleibt. Die Schuld schmerzt. 74 �
Auch hier war von Schuld die Rede. Um ein Verbrechen handelte es sich kaum, sonst hätten Lord und Lady Sutton ihre Schuld nicht so offen bekannt, daß es als Beweis gegen sie verwendet werden konnte. Eine Vernachlässigung ihrer Pflicht? Ein Unfall? Der junge Detektiv beschloß, wieder hinauf in das Schloß zu gehen, Lord Sutton zu suchen und ihn direkt zu fragen. Der Lord hatte auf ihn den Eindruck gemacht, als hätte er den Wunsch, mit ihm über etwas zu sprechen. Was sonst konnte es anders sein als dieser Paul Sutton und die unheimlichen Vorgänge auf Herford Castle. Schon wendete sich Rick Masters zu der Tür um, als er, gedämpft und wie aus weiter Ferne, einen fürchterlichen Schrei hörte. Den Todesschrei eines Menschen. * Angestrengt lauschend, blieb der Detektiv stehen. Ein zweiter Schrei folgte, dann noch einer und noch einer. Ein langgezogenes Wimmern. Rick ging dem Schall nach. Am stärksten war er in der Gruft zu hören, wenn er vor dem Sarg Paul Suttons stand. Es klang so, als wenn die Schreie aus dem Sarg gekommen wären. Rick Masters hatte vor der Ruhe der Toten die höchste Achtung, aber wenn es darum ging, Unheil zu verhindern, das von übernatürlichen Erscheinungen ausging, gab es für ihn kein Zögern. Schnell untersuchte er den Sarg von allen Seiten. Das gedämpfte Wimmern eines Menschen in Todespein trieb ihn zu immer größerer Eile an. Zu Ricks Überraschung war der Sarg überhaupt nicht ver75 �
schlossen. An der einen Seite waren Scharniere befestigt, die es ermöglichten, den Deckel mühelos hochzuheben, eine Vorrichtung, die absolut unüblich war. Es deutete darauf hin, daß dieser Sarg oft geöffnet wurde. Warum? Verbarg er vielleicht einen geheimen Zugang zu den unterirdischen Gewölben? Die Taschenlampe auf einen Steinsockel legend, damit er beide Hände frei hatte, trat Rick an den Sarg heran und hob den Deckel mit einem Ruck hoch. Er warf einen Blick in das Innere des Sarges. Der Detektiv hatte schon viel erlebt und auch schon viele Tote gesehen, aber dieser Anblick war sogar für ihn zuviel. Mit einem lauten Schrei ließ er den Deckel los. * Der Deckel krachte auf den Unterteil des Sarges. In der Gruft klang es, als wäre eine Kanone abgefeuert worden. Trotz der dicken Steinwände glaubte Rick, man müßte den Knall im ganzen Schloß gehört haben. Jeden Moment erwartete er, daß sich die Tür öffnete und Lord Sutton eintrat. Nichts geschah. Alles blieb still, dieses herzzerreißende Stöhnen ausgenommen. Rick lehnte an der kalten Steinmauer. Seine Brust hob und senkte sich krampfhaft. Keuchend holte er Atem. Eisige Schauer liefen immer wieder über seinen Rücken. Dann gab er sich einen Ruck. Es half nichts, er mußte das Entsetzliche auf sich nehmen und den Sarg noch einmal öffnen. Er mußte sich Klarheit verschaffen. Seine Scheu und seinen Ekel unterdrückend, trat er wieder an den Sarg heran. Mit bebenden Fingern griff er nach dem Deckel und hob ihn sehr zögernd hoch, bis er in eine Verriegelung einrastete. 76 �
Der Detektiv schüttelte sich vor Grauen. Innen war der Sarg mit schwarzem Stoff ausgeschlagen. Ebenfalls schwarz bezogene Kissen bedeckten den Boden. Auf den Kissen ruhte ein Mann. Es konnte gut sein, daß er zum Zeitpunkt seines Todes erst zwanzig Jahre alt gewesen war wie die Inschrift der Gedenktafel auswies. Inzwischen war er vollständig mumifiziert. Nicht die leiseste Spur von Fäulnis und Zerfall. Es bestand kein Zweifel, daß dieser Mann tot war: Paul Sutton. Er war tot. Durchscheinend wie Pergament spannte sich die Haut über die hervortretenden Backenknochen. Die leblosen Augen waren verblaßt. Das Fleisch an Armen und Beinen war zusammengeschrumpft. Paul Sutton war tot. Und doch wälzte er sich im Sarg herum, verzog schmerzlich das Gesicht und zerriß sein Totengewand mit den knochigen Fingern. * Ein derartiges Phänomen hatte es bisher noch nicht gegeben. Zumindest hatte Rick Masters nichts davon gehört, und das war gleichbedeutend damit, daß es sich nicht ereignet hatte. Seit nämlich der junge Londoner Privatdetektiv während eines rein kriminalistischen Auftrags in Schottland auf sehr blutige Weise von der Existenz von Vampiren überzeugt worden war, hatte er sich immer wieder mit Fällen beschäftigt, in denen übernatürliche Kräfte eingesetzt wurden, um Menschen Böses zuzufügen. Er war im Laufe der Zeit zu einem Spezialisten auf diesem Gebiet geworden, dem einzigen in Großbritannien. Kein Wunder, daß Scotland Yard, Secret Service und die höchsten Kreise ihn immer wieder um Hilfe baten, wenn Gefahr drohte, die nicht mit normalen Mitteln abgewehrt werden konnte. 77 �
Galt es bei der Bekämpfung gewöhnlicher Verbrecher, stets mißtrauisch, wachsam und durchtrainiert zu sein, so war die erste Voraussetzung bei der Vernichtung magischer Kräfte, über alle Vorgänge in dieser Richtung informiert zu sein. Außerdem mußte Rick Masters historische Berichte studieren, die Erscheinungen und die Gegenmittel, um sich das Wissen anzueignen, das ihm eine Chance zum Überleben gab. Daher hatte sich in kurzer Zeit in dem kleinen Wohnbüro des Detektivs in der Londoner City eine stattliche Bibliothek angesammelt, in der alles zu finden war, von blitzartig wirkenden Pflanzengiften bis zu den Beschwörungsformeln verschiedener Geister. Aber auch in dieser umfangreichen Bibliothek hatte Rick Masters niemals davon gelesen, daß einer Leiche, die bereits mumifiziert war, Schmerzen zugefügt werden konnten. Zuerst hatte er gedacht, die unterdrückten Schreie und das Stöhnen wären von der Leiche Paul Suttons ausgestoßen worden, aber jetzt überzeugte er sich, daß die Mumie schweigend litt. Nunmehr mußte er feststellen, woher diese Schmerzen kamen. Körperlicher Natur konnten sie nicht sein, sonst hätte der Tote sie nicht verspüren können. Außerdem war an dem Sarg überhaupt nichts Außergewöhnliches festzustellen. Es mußte sich um eine Art von Telepathie handeln, die auf eine Leiche wirkte. Das klang absurd, und hätte Masters es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er es seinem besten Freund nicht geglaubt. Wieder ein Grund mehr, später, wenn alles vorüber und er noch am Leben war, auch Scotland Yard und dem Secret Service gegenüber zu schweigen, um nicht für verrückt erklärt zu werden. Der grauenvoll gemarterte George Lomont fiel dem Detektiv ein. Er hatte ihn sterbend in dem Beichtstuhl der Hauskapelle gefunden. Das war nach Ricks Ansicht ein sicheres Zeichen 78 �
dafür, daß die Folterungen im Schloß durchgeführt wurden. Aber wo? Wahrscheinlich in einem unterirdischen Gewölbe, aus dem kein Laut nach draußen dringen konnte. Und der Geheimgang, der hinter dem Beichtstuhl seinen Anfang nahm, führte sicherlich zu diesen Gewölben. In der Gruft hörte er Schreie. Wahrscheinlich wurde wieder ein Unglücklicher gefoltert. Unwillkürlich mußte Rick Masters an den Mann denken, der es gewagt hatte, von dem Dorf Aldermor nach Herford Castle zu gehen. Oder war es gar einer der Amerikaner, dessen Verschwinden bisher noch nicht bemerkt worden war? Wenn die Schreie hierher dringen konnten, mußte es zwangsläufig auch einen Zugang von der Gruft aus geben. Wieder bückte sich Rick Masters, diesmal untersuchte er aber nicht den Sarg Paul Suttons, sondern den Sockel, auf dem er ruhte. Zuerst klopfte er ihn mit den Knöcheln seiner Hand ab, dann holte er die 38er Automatik aus dem Schulterhalfter und pochte mit dem Kolben gegen den scheinbar massiven Stein. Es klang hohl. Triumphierend richtete sich Rick Masters auf. Diesmal wollte er sich durch nichts zurückhalten lassen, dem Geheimnis von Herford Castle auf die Spur zu kommen. Er schloß den Sarg, dann schob er ihn seitlich von dem Podest, setzte ihn zuerst mit dem Fuß-, dann mit dem Kopfende auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtete, sah er im Schein der mit unverminderter Stärke brennenden Taschenlampe dort ein schwarzes viereckiges Loch gähnen, wo zuvor der Sarg geruht hatte. Rick nahm die Taschenlampe an sich und leuchtete in das Loch. Eine Steintreppe, alt und ausgetreten, führte in die Tiefe, in die scheinbar bodenlose Tiefe. Jetzt hörte er die Schreie, das 79 �
Stöhnen und das Wimmern viel deutlicher. Prüfend sog er die Luft ein. Es stank nach Rauch, nach brennendem Harz von Fackeln, nach verbranntem Fleisch und nach Blut. Nach frischem Blut. Ohne zu zögern schwang sich Rick Masters über den Rand des Sockels und stieg die Steintreppe hinunter in die Tiefe. Kaum war sein Kopf in der Öffnung verschwunden, als sich die Tür der Gruft öffnete. Lord Sutton trat lautlos ein. Er sah den von seinem Platz gerückten Sarg auf dem Boden stehen, sah die schwarze Öffnung. Der Detektiv war nirgendwo mehr zu entdecken. Geräuschlos, wie er gekommen war, zog sich Lord Vincent Sutton wieder zurück. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. * Er war jung, wollte sein Leben genießen, solange er es konnte, und er wollte sich keine Gelegenheit entgehen lassen. Und diese Nacht war eine solche Gelegenheit. Larry Harper, Reiseleiter der amerikanischen Touristengruppe, hatte bereits während der Fahrt bemerkt, daß ihn diese junge Amerikanerin Patsy Burton mit einem ganz gewissen Blick gemustert hatte. Offensichtlich gefiel er ihr. Und sie gefiel ihm, das hatte er ihr deutlich gezeigt, wenn auch nicht so deutlich, daß die anderen weiblichen Reiseteilnehmer hätten eifersüchtig werden können. Die meisten von ihnen waren bereits in einem Alter, in dem sie den lebenslustigen jungen Mann nicht mehr interessierten. Aber diese Patsy Burton, ja, die war schon seine Kragenweite. Die Tour war für sechs Wochen angesetzt, nicht eine von diesen Touren, auf denen Amerikaner ganz Europa in drei Wochen kennenlernen. Oder das tun, was sie für Kennenlernen halten. Sie waren erst seit sechs Tagen unterwegs, und Larry Harper 80 �
hätte noch viel Zeit gehabt, sich Patsy zu widmen, aber das Mädchen reizte ihn, und er – nun, er ließ sich eben keine Gelegenheit entgehen. Es war dem Reiseleiter aber auch nicht entgangen, daß Patsy dem Detektiv schöne Augen machte. Verdammt, es hatte ihm gerade noch gefehlt, daß ihm seine sichere »Beute« wegen dieses komischen Lackaffen aus London durch die Finger glitt. Außerdem mußte sogar Harper zugeben, daß Masters sehr gut aussah und bestimmt auf Frauen wirkte. Larry Harper ließ nicht locker, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, Und in dieser Nacht hatte er sich Patsy Burton in den Kopf gesetzt. Er kochte innerlich bereits vor Wut. Zuerst war dieser Masters dauernd durch die Gänge des Schlosses geschlichen, dann Lord Sutton, und dann wieder dieser Masters. Es war zum Verzweifeln. Und jetzt war es bereits vier Uhr morgens. Was sollte er machen? Er konnte nicht einfach an Patsys Tür klopfen, sie aufwecken und dem schlaftrunkenen Mädchen sagen: Kleine, ich möchte dich gerne… Nein, das ging nun wirklich nicht. Endlich war die Luft rein. Larry Harper sagte sich, daß er nichts zu verlieren hatte. Leise schlich er zu Patsys Zimmer und legte das Ohr an die Tür. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Unter der Tür fiel Licht durch, und er hörte ganz deutlich, daß Patsy ruhelos auf und ab ging. Kurz entschlossen klopfte er. Die Schritte verstummten. »Wer ist da?« Das klang ziemlich verschreckt. Um so besser, dachte Harper. Im Beruhigen verschreckter Mädchen war er ganz große Klasse. »Ich bin es, Miss Burton, Larry Harper«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich sah noch Licht in Ihrem Zimmer, da dachte ich….« 81 �
Die Tür ging auf. Patsy stand vor ihm, einen Morgenmantel um ihren Körper geschlungen. »Da dachten Sie was?« Der Ton in ihrer Stimme ließ ihn stutzen. Das klang ja ganz so, als wüßte sie, weshalb er gekommen war. Er versuchte ein harmloses und charmantes Lächeln. »Ich dachte, Sie würden sich vielleicht in diesem schauerlichen Schloß fürchten.« »Und Sie wollten mir das Händchen halten, ich weiß.« Das wurde sehr spöttisch gesagt, aber gleich darauf lächelte ihn das Mädchen verführerisch an und lud ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten ein. »Ehrlich gesagt, Larry, ich habe schon seit dem ersten Tag unserer gemeinsamen Reise darauf gewartet, daß Sie einmal mit einer fadenscheinigen Ausrede bei mir aufkreuzen. Doch bisher…« »Aber, Miss Burton«, stammelte Harper verlegen. »Sagen Sie ruhig Patsy. Ich bin froh, daß Sie hier sind. Ja, Sie haben ganz recht, ich fürchte mich in diesem Schloß. Aber Sie kennen die wahren Gründe…« Patsy Burton kam nicht mehr dazu, ihrem späten – oder frühen – Besucher die Gründe für ihre Angst zu erklären. Während des kurzen Gesprächs hatte sie wieder ihre ruhelose Wanderung durch das Zimmer aufgenommen. Dabei hatte sich, ohne daß sie es merkte, ihr Morgenmantel vorne geöffnet. Sie trug nichts als nackte Haut darunter. Larry Harper sah die vollen Rundungen ihrer Brüste, ihren flachen Bauch, den Ansatz ihrer geschwungenen, sehr fraulichen Schenkel. Und bei Larry Harper brannte eine Sicherung durch. Als sie dann vor ihm stand, packte er sie, zog sie zu sich auf den Schoß, schlang seine Arme ganz fest um ihren leicht bebenden Körper und küßte sie leidenschaftlich wild, verlangend. Patsy wehrte sich ein wenig gegen den überraschenden 82 �
Angriff, gab ihren Widerstand aber sehr schnell auf. Eines mußte man ihm lassen, dachte sie. Er mag ein eingebildeter Hohlkopf sein, aber über die Wünsche einer Frau weiß er Bescheid. Larry Harper hob Patsy hoch, trug sie hinüber zu ihrem breiten Himmelbett und legte sie auf die Decke. Harper sah seinen Traum erfüllt. * Die Treppe führte in die unbekannte Tiefe. Rick Masters hatte keine Ahnung, was dort unten auf ihn wartete. Und außer seiner 38er Automatik trug er keine Waffen bei sich. Eine Pistole war aber gegen die Geister der Ahnen der Familie Sutton eine schlechte Waffe. Genausogut hätte er sie oben in der Gruft zurücklassen können. Nach der zehnten Stufe hatte Rick Masters das Gefühl, ein Geräusch in der Gruft gehört zu haben, so, als hätte jemand eine Tür geschlossen. Sofort dachte er an Lord Sutton. Mochte der alte Lord ihn ruhig beobachten. Vor einem Menschen hatte Rick keine Angst. Irgendwie hatte er sich bisher noch immer wehren können. Viel mehr Grauen empfand er vor dem Unbekannten. Stufe für Stufe stieg Rick hinunter. Er hatte gerade bis fünfzig gezählt, als er ebenen Boden erreichte. Er leuchtete um sich. Der Strahl der Taschenlampe geisterte in einer kleinen unterirdischen Kammer herum, deren Wände aus den gleichen Steinquadern bestanden wie die Gruft. Vier Gänge zweigten von der Kammer ab, jeder in eine andere Himmelsrichtung. Die Erbauer von Herford Castle hatten also ein richtiges Labyrinth angelegt. Eine gefährliche Sache. Rick wußte nicht, wie weit sich die Gänge erstreckten und wie oft sie sich verzweigten. Er konnte sich rettungslos verirren und nie mehr zurückfinden, wenn er sich nicht den Weg einprägte. Doch 83 �
das genügte nicht. Seine Taschenlampe mußte irgendwann einmal ausgebrannt sein. Reservebatterien hatte er keine. Rick erinnerte sich an das geschichtliche Vorbild des Bindfadens, und er mußte unwillkürlich grinsen. Er trug diese nützliche Erfindung nicht bei sich. Schließlich rechnete er nicht damit, bei Nacht ein Labyrinth unter einem Schloß erforschen zu müssen, wenn er die Juwelen reicher Amerikanerinnen bewachen sollte. Doch Rick hatte eine andere Idee. Er zog seine 38er Automatik, und während er weiterging, kratzte er alle zehn Schritte eine deutlich sichtbare Markierung in die weiche Wand ein. Das war nur dadurch möglich, daß der Stollen, für den er sich entschieden hatte, nicht mehr aus künstlich behauenen Steinblöcken bestand, sondern aus gewachsenem Fels, der relativ weich war. Den Geräuschen nachgehend, hatte Rick den rechten Gang gewählt. Er hatte sich nicht geirrt. Je weiter er vordrang, desto deutlicher hörte er die Schreie des Gefolterten. Der Detektiv schüttelte sich. Wie lange mußte der Ärmste schon leiden? Bestimmt eine halbe Stunde, denn so viel Zeit war schon verstrichen, seit er die Gruft betreten hatte. Zuerst hatte er sich mit Paul Suttons Leiche aufgehalten, und nach der Entdeckung des Geheimganges war er auch nur langsam vorwärts gekommen, weil er bei jedem Schritt mit einer Falle rechnete, die eingebaut worden war, um Fremden den Zugang zu den unterirdischen Gewölben zu versperren. Bisher war jedoch nichts geschehen, trotzdem blieb Rick auf der Hut. Ein unachtsamer Schritt konnte ihm den Tod bringen. Trotz der Kälte lief Schweiß über die Stirn des jungen Detektivs. Er mußte sich selbst eingestehen, daß er Angst hatte. Der dunkle Stollen, die stärker werdenden Gerüche nach Rauch, verbranntem Fleisch und Blut, die stickige, feuchte Luft das alles zerrte an seinen Nerven, daß er am liebsten umgekehrt und 84 �
davongelaufen wäre. Er hätte in seinem Zimmer den Tag abwarten, sich zu Fuß durchschlagen und Hilfe holen können, ohne selbst dabei etwas zu riskieren. Aber das kam nicht in Frage. Dort vorne war ein Mensch in Lebensgefahr, und wenn Rick auch befürchtete, ihm nicht helfen zu können, so mußte er es wenigstens versuchen. Sonst hätte er nie mehr in den Spiegel schauen können, ohne sich selbst zu verachten. Der Stollen machte einen scharfen Knick. Die Schreie waren so laut, daß sie jedes andere Geräusch übertönten, ein eigentümliches Zischen ausgenommen. In einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten sah Rick vor sich eine weitere Biegung des Ganges. Allen Anzeichen nach mußte dort vorne die Folterkammer liegen. Noch einmal stieg in dem jungen Detektiv der Wunsch auf, den praktisch aussichtslosen Kampf erst gar nicht zu riskieren und sofort umzukehren, doch dann siegten sein Pflichtbewußtsein und seine Neugierde. Vorsichtig schob er sich, dicht an die Wand des Stollens gepreßt, vorwärts. Die Taschenlampe schaltete er aus, teils, um die Batterien zu schonen, teils, um sich nicht vorzeitig zu verraten. Hier gab es genug Licht, um jede Bodenerhebung zu sehen. Das Gesicht Zoll für Zoll vorwärtsschiebend, spähte Rick Masters um die Kante des Stollens, wobei ihm ein herausgebrochener Stein half. Sein Gesicht geriet nicht in den Lichtkreis. Was er vor sich sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln. Bei Besichtigung alter Schlösser und Burgen in ganz Europa hatte er schon viele Folterkammern gesehen, aber noch keine so reichhaltig ausgestattete. Die meisten waren im Laufe der Geschichte von Eroberern geplündert worden. Diese hier enthielt alles an grausamen Instrumenten, mit denen man Menschen die ausgesuchtesten Schmerzen zufügen konnte. Jedes Museum hätte sich um die Geräte gerissen. 85 �
Was aber kein Museum der Welt zu bieten hatte, war eine mittelalterliche Folterkammer in Betrieb. Auch darin stellte Herford Castle eine unrühmliche Ausnahme dar. Die beiden Folterknechte, die Rick schon im Festsaal des Schlosses gesehen hatte, hantierten mit den Marterwerkzeugen so geschickt und erfahren, daß sie ihr Opfer noch stundenlang hätten quälen können, ohne es zu töten. Der eine Scherge schürte das Feuer der Esse, legte Holzscheite nach und betätigte den Blasebalg. Die Funken stoben wie bösartige Insekten durchs Gewölbe. Einige fielen auch vor Ricks Füßen auf den Boden und verzischten in der Feuchtigkeit. Diese Kleinigkeit, gemessen an den anderen Ereignissen, ließ ihn fast die Nerven verlieren. Diese wenigen glühenden Punkte erschienen ihm wie Boten kommenden Unheils, so, als wollten sie ihn hinein in die Folterkammer holen. Masters biß die Zähne zusammen, seine Finger verkrallten sich an der Steinwand. Am liebsten hätte er sich auf die Folterknechte und ihren Herrn und Meister gestürzt. Der Mann in dem langen schwarzen Umhang stand reglos, mit funkelnden Augen mitten im Raum und beobachtete jede Handbewegung seiner Schergen. Ohne einen Beweis dafür zu haben, vermutete Rick in ihm den längst verstorbenen Lord Lester Sutton, die Bestie von Herford Castle. Kaum ein Zweifel bestand an der Identität des Unglücklichen, der sich in seinen Ketten wand. Es war Hullers, der Mann aus Aldermor, der auf der Rückkehr in das Dorf den Henkersknechten in die Hände gefallen war. Rick erkannte ihn nicht am Gesicht, das keine Ähnlichkeit mehr mit menschlichen Zügen hatte, sondern an den Kleidern und an den weißen Haaren. Der Detektiv mußte gegen den Wunsch ankämpfen, seine 38er Automatik zu ziehen und damit den Ärmsten von seinen Qualen zu erlösen. Er überwand sich. Nein, er hatte kein Recht, ein 86 �
Menschenleben auszulöschen, nicht mal unter diesen Umständen. Aber er konnte etwas anderes versuchen. Ein schweres Eisengitter versperrte ihm den Zugang zu der Folterkammer. Sosehr er auch mit seinen Augen die umliegende Steinwand absuchte, er konnte keinen Auslösemechanismus entdecken. Ein Schloß gab es nicht. Persönlich konnte er also nicht eingreifen, aber er wollte doch den Versuch wagen, die Folter zu stören. Der Gefahr für seine Person voll bewußt, zog er die 38er, entsicherte sie und schlich sich an das Gitter heran. Masters schob den Lauf durch die Stäbe, zielte und drückte ab. Dreimal in rascher Folge. Wären sie Menschen gewesen, hätten der Schwarze und die beiden Folterknechte tot zu Boden stürzen müssen. Die Kugeln waren ihnen durchs Herz gedrungen. Aber die unheimlichen Gestalten reagierten überhaupt nicht. Das hatte Rick befürchtet. In seiner ohnmächtigen Wut leerte er das ganze Magazin seiner Waffe in die drei Erscheinungen. Und dann geschah es. Rick Masters feuerte den letzten Schuß ab. Es klirrte, als eine der an der Wand hängenden Eisenzangen getroffen wurde. Masters hörte das Jaulen des Querschlägers. Im gleichen Augenblick ging ein Ruck durch den Körper des Angeketteten. Hullers bäumte sich auf. Dann sank er schlaff in sich zusammen. Nur die Schellen an seinen Handgelenken hielten ihn aufrecht. Die Beine knickten unter ihm ein. Wie gekreuzigt hing er an der Wand. Er war tot. Der Querschläger hatte ihn von seinem Leiden erlöst. Lord Lester Sutton, der Mann in dem schwarzen Umhang, und 87 �
seine beiden Henkersknechte erstarrten. Keiner von ihnen drehte sich zu Rick Masters um. Es war, als hätten sie die Schüsse nicht wahrgenommen. Ihre Körper wurden blasser und blasser, die Konturen verschwommen, und innerhalb weniger Sekunden befand sich der Detektiv allein mit dem Toten in den unterirdischen Gewölben. Nur das Feuer in der Esse prasselte, und die tanzenden Flammen warfen huschend Lichtblitze auf die funkelnden Marterwerkzeuge, an denen Blut klebte. So hatte Rick, ohne es zu beabsichtigen, den Unglücklichen doch von seinen Schmerzen erlöst. Er war erschüttert. Langsam ließ er sich zu Boden sinken. Ekel und Wut schüttelten seinen Körper. Die leergeschossene Pistole fiel scheppernd zu Boden. Die nervliche und seelische Krise dauerte jedoch nur wenigen Minuten. Dann richtete der Detektiv sich auf, nahm die Pistole an sich, schob das Reservemagazin ein und schaltete die Taschenlampe an. Rick hatte eine Idee. Er sah eine hauchdünne Chance, dem Spuk auf Herford Castle ein Ende zu bereiten. * »Larry?« »Hm«, brummte der junge Mann als Antwort auf die zärtliche Anrede des Mädchens. Das Mädchen! Er war müde, er hatte seinen Spaß gehabt, jetzt wollte er allein sein. Und wenn er schon zu faul war, um aufzustehen und zurück in sein eigenes Zimmer, zu gehen, dann sollte sie ihn doch wenigstens in Ruhe lassen. »Larry!« drängte Patsy Burton. Sie streichelte über seinen Arm und drückte sich fest an ihn. »Larry, es war sehr schön.« 88 �
Verflucht, hielt sie denn noch immer nicht den Mund? Aber so war das eben mit den Mädchen, dachte der Reiseleiter. Kaum reichte man ihnen den kleinen Finger, bildeten sie sich sonst was ein. Wie schäbig sein Benehmen im Grunde war, kam ihm gar nicht in den Sinn. Er kannte nur sich selbst, sich und seine Wünsche. »Larry, bevor du kamst, hatte ich schreckliche Angst«, sprach Patsy weiter. Sie drückte sich noch enger an den jungen Mann. »Weißt du, ich bin eine Verwandte von Lord Sutton, aber er weiß es nicht. Dieses Schloß ist so unheimlich und…« »Verdammt, was soll das?« Larry Harper warf sich herum und setzte sich im Bett auf. »Was soll dieses unsinnige Gerede? Ich bin müde und will schlafen.« Damit legte er sich wieder hin und schloß die Augen. Jetzt wird sie wohl Ruhe geben, dachte er. Patsy Burton saß wie versteinert neben ihm. Sie erwartete nicht die große Liebe, wenn sie mal mit einem Mann zusammen war. Besonders dann nicht, wenn beide Teile schon vorher wußten, daß es nur eine Episode bleiben würde. Aber das ging doch etwas zu weit. Das ging sogar ein gewaltiges Stück zu weit. Patsy stieg aus dem Bett. Auf nackten Sohlen lief sie über den dicken Teppich in das angrenzende Badezimmer, zog sich ihren Morgenmantel über und kam zurück. »Raus hier!« sagte sie mit kalter Stimme. Larry Harper blinzelte verschlafen. Das gibt es doch nicht, nein, mich wirft keine hinaus, dachte er. »Ich habe gesagt, raus hier!« Patsys Stimme hatte einen eisigen Klang angenommen. Ihr vorher so weiches, frauliches Gesicht war hart. Das Blut der Suttons brach in ihr durch, der Eigensinn, die Herrschsucht. »Ich gebe Ihnen zwei Minuten Zeit, mein Zimmer zu verlassen.« »Und wenn ich es nicht tue?« Der Reiseleiter grinste. »Was ist 89 �
dann? Willst du mich eigenhändig hinauswerfen?« Sein Stolz, sein falscher Stolz, ließ es nicht zu, sich von einer Frau herumkommandieren zu lassen. Er legte das als Schwäche aus. Wie sehr er im Unrecht war, daran dachte er überhaupt nicht. »Ich sollte Sie noch einmal anfassen?« Patsys Lachen verletzte ihn. »Nein, Mr. Harper, an Ihnen mache ich mich nicht schmutzig.« Als hätte sie sich die Hände bereits besudelt, wischte sie sie an ihrem Morgenmantel ab. Es war eine instinktive, aber ungemein wirkungsvolle Geste. Larry Harper erbleichte. »Wenn Sie nicht mein Zimmer verlassen, schreie ich die übrigen Reisenden zusammen. Ich kann mir denken, daß Sie nach dem anschließenden Skandal aus Ihrer Agentur gefeuert werden und niemals wieder einen Job als Reiseleiter bekommen.« »Und nach diesem Skandal wirst du unmöglich bei den anderen sein«, versuchte er zu kontern, aber seine Zuversicht zerbrach wie Glas. »Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf, Mr. Harper. Und legen Sie diesen vertraulichen Ton wieder ab, sonst klebe ich Ihnen eine.« Diese Sprache verstand Larry Harper. Er sah ein, daß er verspielt hatte. Verdammt, hatte er sich so gehenlassen müssen? Warum mußte er es sich mit dieser Puppe jetzt schon verderben. Während der langen Fahrt hätte er noch viel Spaß mit ihr haben können. Und keine Probleme, weil sie ja hinterher wieder in die Staaten flog. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. »Hör mal, Patsy«, lenkte er ein. »So habe ich das nicht gemeint. Ich bin müde von dem Tag, und die vielen Aufregungen…« »Raus!« Sie blickte auf die Uhr auf dem Kaminsims. »Sie haben noch eine Minute.« Harper sah ein, daß nichts mehr zu holen war. Bei der Kleinen brachte er kein Bein mehr auf den Boden. Trotzdem stieg er aus 90 �
dem Bett und begann, sich anzuziehen. Patsy drehte ihm den Rücken zu, als widerte sein Anblick sie an. Als Harper fertig war, trat er dicht hinter sie. Die Kerze, die auf dem Nachttisch als einzige Lichtquelle im Raum brannte, warf einen Schatten riesengroß auf die Wand, der Patsy ihr Gesicht zugedreht hatte. Sie hörte ihn kommen. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. Er sollte sie nur anrühren, dann würde sie ihm einen Teil seiner Gemeinheiten zurückzahlen. »Patsy, sei ein liebes Mädchen.« Larry legte ihr die Hand auf die Schulter. Wie der Blitz fuhr das Mädchen herum. Ihre Hand klatschte in sein Gesicht. Der Schlag brannte wie Feuer auf seiner Wange. Harper hob seine starke braune Hand, um zurückzuschlagen, ließ sie aber mit einem Schulterzucken sinken. Er hatte sich einen kleinen Rest von Gentleman bewahrt, der ihm sagte, daß man eine Frau nicht schlug, besonders dann nicht, wenn man selbst im Unrecht war. »Dann eben nicht«, seufzte er und ging zur Tür. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, legte sich Patsy auf ihr Bett und griff zu einem illustrierten Magazin. Sie wollte ihm ihre ganze Verachtung zeigen. Mit einer übertriebenen Geste verabschiedete sich Harper von ihr. »Ich wünsche eine angenehme Ruhe, Mylady, Miss Burton«, sagte er spöttisch. Geh zum Teufel! dachte Patsy. Dann ließ sie wütend das Magazin sinken. »Sie sind ja immer noch da, Harper«, fauchte sie wie eine wildgewordene Raubkatze. »Sie wollen, daß ich schreie?« »Unsinn!« Auch Harper wurde nun wütend. »Ich habe die Nase voll, aber diese verdammte Tür läßt sich nicht öffnen.« »Natürlich nicht«, sagte Patsy. »Ich habe sie schließlich abge91 �
sperrt.« »Nein«, wehrte der Reiseleiter ab, der zu schwitzen begonnen hatte. »Aufgesperrt habe ich bereits. Sie rührt sich trotzdem nicht.« »Lassen Sie mich mal.« Patsy sprang aus dem Bett. In ihrem dringenden Wunsch, den widerlichen Kerl so schnell wie möglich loszuwerden, achtete sie gar nicht darauf, daß ihr Morgenmantel vorne auseinanderklaffte. Aber auch Harper ließ sich, ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten, nicht ablenken. Eine seltsame Nervosität hatte von ihm Besitz ergriffen. Das hing nicht etwa mit Patsys Drohung zusammen, das Haus zusammenzuschreien. Auch nicht direkt damit, daß er mit einem hübschen jungen Mädchen in einem Zimmer eingesperrt war. Er hätte schon gewußt, wie er sich mit der Venustochter die Zeit vertreiben konnte, auch wenn sie im Moment wütend auf ihn war. Es steckte etwas anderes dahinter. Larry Harper hätte nicht aussprechen können, was es war, aber er fühlte, daß ihm Gefahr drohte. Und diese Tür, die wie festgemauert war, stellte ein Anzeichen dieser Gefahr dar. Patsy rüttelte an der Klinke. Nichts! Sie drehte verzweifelt mehrmals den Schlüssel im Schloß nach beiden Richtungen. Nichts! Schließlich schob Larry Harper sie schroff zur Seite. Er warf sich mit der Schulter gegen die Holztür. Entsetzt starrten die beiden jungen Menschen sich an. Das konnte es doch nicht geben. Larrys kräftiger Stoß hatte keine Wirkung gezeigt. Er hatte das Gefühl, gegen eine Betonwand gerannt zu sein. Was aber das Unheimlichste daran war – als der Körper des 92 �
Mannes gegen die Tür prallte, war kein Geräusch zu hören. Nichts. So, als wäre er in einen Berg Watte gerannt. »Versuche es noch einmal«, hauchte Patsy ängstlich. Sie wich bis an ihr Bett zurück und ließ sich darauf sinken. Harper nahm Anlauf. Ungeachtet der Schmerzen in seiner Schulter warf er sich ein zweites Mal gegen die Tür. Das gleiche Ergebnis. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu!« keuchte Harper. Er starrte entgeistert die verhexte Tür an. »Da stimmt etwas nicht.« Dann verstummte er. Über den Raum senkte sich eine eisige Kälte – Grabeskälte! Patsy verkroch sich unter ihrer Decke. Harper stand zitternd neben der Tür. Der Schweiß lief in Bächen über sein Gesicht und in seine Augen, aber er wagte nicht, die Tropfen wegzuwischen. Ein unnatürliches Leuchten breitete sich in der Mitte des Zimmers aus. Grünliche Lichtblitze zuckten, tanzten, verdichteten sich, bis sie völlig verschwanden. Eine hohe Gestalt in einem schwarzen Umhang stand im Raum. Der Geisterhafte streckte seine Hand nach Larry Harper aus. Der Reiseleiter brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Dann drehte sich der Schwarze um und tat einen Schritt auf das Bett zu. Patsys Mund öffnete sich zu einem grauenerfüllten Schrei. * Trotz der Müdigkeit, die ihm seine Glieder bleiern schwer werden ließ, lief Rick Masters, so schnell er konnte, zurück durch die unterirdischen Gänge. Allerdings nahm er sich dabei so viel Zeit, daß er sich stets vergewissern konnte, seinen Markierungen zu folgen, die er mit seiner Pistole in die Mauern geritzt hatte. Er 93 �
wollte nicht hier unten in diesem Labyrinth elend verhungern und verdursten, weil er die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen außer acht gelassen hatte. Er erreichte den Fuß der Steintreppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend, jagte er nach oben. Und dann erhielt er einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf. Blitze zuckten hinter seinen Augen. Der Schmerz jagte durch seinen Kopf und explodierte in seinem Gehirn. Mit einem Aufseufzen ging Rick Masters in die Knie. Benommen suchte er nach einem Halt. Seine Finger krallten sich an den Steinstufen fest. Es dauerte einige Minuten, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte. Er war mit dem Kopf gegen ein Hindernis gerannt, ein Hindernis, das bei seinem Abstieg noch nicht vorhanden war. Der Sarg! Vorsichtig stemmte sich Rick hoch. Er hob die Taschenlampe auf, die ihm bei dem Aufprall aus der Hand gefallen war, und richtete ihren Strahl nach oben. Er hatte sich nicht geirrt. Das Licht fiel auf die schwarze Unterseite des polierten Holzsarges. Innerlich gratulierte sich Rick dazu, daß die Suttons keinen Metall- oder Steinsarg gekauft hatten. Trotzdem war seine Lage, wie sich schnell herausstellte, sehr unangenehm. Der Sarg war so schwer, daß er ihn nicht einen Zoll verrücken konnte. Das war seltsam, weil Rick doch ganz allein den Sarg von seinem Podest heruntergeschoben hatte. Sollte ihn jemand zurückgestellt und befestigt haben? So schnell gab der junge Detektiv jedoch nicht auf. Er behielt die Ruhe. Wenn er hier nicht hinauskam, dann mußte er eben die anderen Gänge des Labyrinths untersuchen. Einer von ihnen führte sicher zu der alten Schloßkapelle. Es mußte einen zweiten Ausgang geben, vielleicht sogar 94 �
mehrere. Da Rick aber nicht wußte, welche Schwierigkeiten er dort unten antreffen würde, und da er es nicht riskieren sollte, die Batterien seiner Taschenlampe allzu lange zu beanspruchen, versuchte er es noch einmal mit dem Sarg. Er stemmte sich dagegen, indem er sich auf die vierte Stufe von oben stellte. Dabei mußte er sich tief bücken, so daß er mit der ganzen Kraft seines Rückens drücken konnte. Der Sarg bewegte sich nicht. Dann eben nicht. Rick knipste die Taschenlampe wieder an und wollte die Treppe hinuntersteigen, als etwa zehn Stufen vor ihm ein ähnliches Eisengitter, wie er es unten in der Folterkammer gesehen hatte, heruntersauste. Klirrend prallten die Eisenstäbe auf den Stein. Gefangen! Er saß in der Falle. * Patsy Burton saß zitternd auf ihrem Bett. Sie schlotterte am ganzen Körper vor Angst. Kein Laut drang aus ihrem aufgerissenen Mund. Nicht umsonst hatte sie die Familienchronik der Suttons gelesen. Und obwohl sie ein modernes amerikanisches Mädchen war und nicht an Spuk und Geister und solchen Blödsinn – wie sie sich immer ausgedrückt hatte – glaubte, sah sie nun vor sich, wovor sich so viele fürchteten. Dieser Mann in dem schwarzen Umhang, das mußte ein übernatürliches Wesen sein. Ein Mensch hätte nicht in dieses Zimmer gelangen können, nicht auf diese Art. Ihr Blick huschte ängstlich zwischen dem Schwarzen und Larry hin und her, der wie tot am Boden lag. Sie glaubte auch wirklich für einen Augenblick, er wäre tot, aber dann sah sie, wie sich seine Brust unter den Atemzügen hob und senkte, zwar 95 �
nur schwach, aber er lebte. Das konnte die Angst des Mädchens jedoch nicht verringern. Im Gegenteil, an Harper hatte der Unheimliche seine Macht über Menschen bewiesen. Und dann kam er näher, Schritt für Schritt. Patsy spürte die Grabeskälte, die von dieser Gestalt ausging. Sie roch den Moder, das Blut, und sie glaubte, verrückt zu werden oder es bereits geworden zu sein. Er hatte das Fußende des Bettes erreicht. Das Mädchen kauerte auf den Kopfkissen. Es konnte nicht weiter zurückweichen. An Flucht war nicht zu denken. Der Unheimliche streckte seine Hand nach Patsy aus. Sie wollte aufschreien, aber noch immer brachte sie keinen Ton aus ihrer Kehle. Sie wollte seitlich weggleiten und fortlaufen, doch sie war wie gelähmt. Eine unbegreifliche Macht durchströmte sie, durchdrang ihre Gedanken und ihren Willen. Die knochige Hand winkte. Patsy Burton stand im Bett auf, stieg herunter auf den Boden. Trotz ihrer grauenhaften Angst ging sie auf den Schwarzen zu, bis sie dicht vor ihm stand. Da winkte er mit der anderen Hand. Der bis dahin bewußtlose Larry Harper erhob sich wie ein Schlafwandler. Ruckartig drehte sich der Unheimliche um. Mit seitlich ausgebreiteten Armen ging er auf die solide Steinmauer zu, die vor ihm zurückwich. Ein breites Tor tat sich auf. Ein schwarzes Loch gähnte ihnen entgegen. Der Unheimliche ging hindurch. Die beiden Menschen folgten ihm wie Marionetten. Der Geheimgang nahm säe auf. Hinter ihnen schloß sich die Steinwand. Lord Lester Sutton hatte zwei neue Opfer gefunden.
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Rick Masters rüttelte an den Eisenstäben, aber sie saßen wie festgemauert auf den Stufen. Er versuchte, das ganze Gitter hochzuheben, aber scheinbar lasteten Tonnen darauf. Es verrückte sich nicht um einen einzigen Zoll. Keuchend lehnte er sich gegen das Eisen. Nur die Ruhe bewahren, sagte er sich, nicht die Nerven verlieren. Es muß einen Ausweg geben. Ich will, daß es einen gibt. Vor allen Dingen wollte er die Batterien der Taschenlampe schonen, weshalb er sie ausknipste. Dann setzte er sich auf die Treppe, um nachzudenken, zu verschnaufen und wieder zu Kräften zu kommen. Wenn die Geister Lord Lester Suttons und seiner Henkersknechte dahintersteckten, denen er ihren »Spaß« in der Folterkammer verdorben hatte, als er unabsichtlich den Mann tötete, dann war er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verloren. Es konnte aber auch sein, daß Menschen hinter dieser Falle steckten. Dann war der gegenwärtige Lord von Herford Castle, Lord Vincent Sutton, der Hauptverdächtige. Zuerst hatte er den Sarg blockiert. Dann brauchte er nur zu warten, bis Masters versuchte, den Sarg von seinem Platz zu verschieben. Wenn er das Gitter von der Gruft auslöste, sobald er unter sich die Geräusche hörte, saß der Detektiv gefangen. Wenn Menschen am Werk waren, dann hatte Rick noch Chancen. Selten gibt es etwas von Menschenhand, das perfekt ist. Das redete er sich zumindest ein, um nicht gleich zu Beginn den Mut zu verlieren. Rick wußte nicht, wie lange er vor sich hingebrütet hatte, als er plötzlich ein Geräusch über sich hörte. Ein Scharren. Und dann fiel Licht in sein Gefängnis, frische Luft drang herein, und er sah 97 �
über sich das Gesicht von Lord Vincent Sutton auftauchen. »Mr. Masters.« Der Lord sprach unpersönlich kühl wie immer. »Ich machte mir schon Sorgen um Sie, als Sie so lange nicht aus der Gruft zurückkamen.« Mißtrauisch betrachtete ihn Masters. Er stand auf, stieg vorsichtig die restlichen Stufen hinauf und schwang sich über den Steinsockel in die Gruft. Nach dem stickigen Stollen und dem Gestank in der Folterkammer erschien ihm die feuchtkalte Luft der Gruft wie Ozon in einem Tannenwald. Jeden Augenblick mit einem Angriff von Lord Sutton rechnend, wich Rick ein paar Schritte zurück, aber der Lord machte keine Anstalten, sich feindselig zu verhalten. »Der Sarg meines Sohnes klemmte«, sagte er ausdruckslos. »Ich vermutete, Sie wären in dem alten Gang, daher löste ich den Sarg von seiner Unterlage.« Dabei deutete er auf ein schweres Brecheisen, das an einem der Gedenksteine lehnte. »Ihr Sohn?« Rick hatte sich schon etwas in dieser Richtung gedacht. »Paul Sutton war also Ihr Sohn? Wie ist er ums Leben gekommen?« Lord Sutton sah ihn aus erloschenen Augen an. »Sie haben sicher die Gedenktafel für Paul gelesen.« Dann drehte er sich um und verließ die Gruft. Komischer Kauz, dachte der Detektiv. Er mußte herausbekommen, was es mit Paul Sutton und seinen Eltern auf sich hatte. Nur so konnte er dem Spuk von Herford Castle einen Riegel vorschieben. Und er mußte sich schützen gegen diese Teufel, die in der Folterkammer Menschen anscheinend sinnlos zu Tode quälten. Masters lief hinaus vor das Schloß. Ohne auf seine Kleider zu achten, schob er sich auf der Erde an den Bus heran und löste mit fliegenden Fingern die Verschnürung, die den Koffer mit den Juwelen an seinem Platz hielt. Es schien Stunden zu dauern, 98 �
bis er den Knoten gelöst hatte. Dann öffnete er den Diplomatenkoffer mit seinem Spezialschlüssel und entnahm ihm das Diamantkreuz, das Mrs. Hobson gehörte. Achtlos steckte er es in die Tasche, befestigte den Koffer wieder in seinem Versteck und hetzte ins Schloß. Mrs. Hobson schlief wie ein Walroß. Rick hörte ihr Schnarchen durch die geschlossene Tür, während er verzweifelt dagegenhämmerte. Endlich öffnete ihm die dicke Frau. Rick drängte sich an ihr vorbei. »Aber, Mr. Masters, das geht doch nicht!« rief sie entzückt. »Ich bin eine anständige Frau!« Sie mußte ihren verhängnisvollen Irrtum einsehen, als der Detektiv ihr Diamantkreuz aus der Tasche zog. »Fragen Sie jetzt nichts, Mrs. Hobson«, sagte Rick hastig. »Ich will das Schmuckstück nicht stehlen, sonst wäre ich nicht zu Ihnen gekommen. Ich brauche es, um Ihr Leben zu retten.« Rick machte sich kein Gewissen aus dieser Lüge. Er konnte sich nicht erst auf lange Diskussionen einlassen. »Sie sind doch sehr religiös und haben stets Weihwasser bei sich, das habe ich schon beobachtet. Geben Sie es mir, rasch!« Die Androhung einer Gefahr für ihr Leben vertrieb schnell die Enttäuschung über den rein beruflichen Besuch des jungen Mannes. Mrs. Hobson kramte in ihrem Koffer und reichte Rick endlich das Gewünschte. Der Detektiv öffnete das Fläschchen und goß einen Teil des Inhalts über das Diamantkreuz, das er sich daraufhin um den Hals hängte. Das Fläschchen steckte er ein. »Möge der Himmel die Blume von Texas beschützen!« rief Rick, dann stürmte er auch schon aus ihrem Zimmer. »Texas?« murmelte Mrs. Hobson und begann zu strahlen. »Ich komme aus Texas. Ach, ihr Engländer, was seid ihr doch romantisch!« 99 �
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Wenn Rick wieder den Geheimgang wählte, der unter dem Sarg des Sohnes von Lord Sutton begann, mußte er erst das Gitter überwinden, falls es sich noch an seinem Platz befand. Und unten bei der Folterkammer stand er dann neuerlich vor einem Hindernis gleicher Art. Das kostete zu viel Zeit. Dieser Weg schied also aus. Masters beschloß, durch die Schloßkapelle in das Labyrinth einzudringen, und diesmal würde er nicht zimperlich in der Wahl seiner Mittel sein. Das geweihte Diamantkreuz an seiner Brust würde ihn hoffentlich vor großem Schaden bewahren. Diamanten – die reinsten Steine, die es gab. Der Detektiv hatte trotz der turbulenten Ereignisse nicht versäumt, beim Autobus die Batterien zu wechseln, und so leuchtete ihm die Taschenlampe mit voller Stärke den Weg zu der Kapelle und zu dem massigen Beichtstuhl aus. Rick ahnte bereits das Kommende, als er den zugezogenen Vorhang vor der mittleren Abteilung sah. Er hatte sich nicht getäuscht. Der gemarterte und durch den Querschläger getötete Hullers saß zusammengesunken auf der Holzbank. Rick schüttelte den Kopf, dann legte er den Toten zu den beiden anderen Leichen. Die Holzrückwand widerstand nicht lange den kräftigen Stößen seiner Schulter. Krachend barsten die Bretter und gaben den Eingang frei. Die Öffnung in der Mauer war groß genug, um einen Mann gebückt durchzulassen. Rick verschwand in dem feuchten Stollen. Lord und Lady Sutton waren dem jungen Detektiv in einigem Abstand auf seinem Weg zu der Schloßkapelle gefolgt. Jetzt standen sie in der Dunkelheit und lauschten auf die Schläge, mit 100 �
denen er die Rückwand des Beichtstuhls zertrümmerte. »Er geht hinunter«, wisperte der Lord. Lady Sutton zitterte. »Was wird wohl aus ihm werden?« fragte sie ängstlich. »Glaubst du, daß er uns helfen kann, Vincent?« Der hochgewachsene weißhaarige Mann schüttelte den Kopf. Resigniert ließ er die Schultern hängen. »Er wird nicht zurückkommen«, sagte er seufzend. »Es wird ihm genauso ergehen wie den anderen, die sich vor ihm in das Labyrinth gewagt haben.« »Vincent!« Ein durch Schluchzen erstickter Aufschrei. »Gibt es für uns denn keine Rettung auf dieser Welt?« Lord Vincent Sutton richtete sich hoch auf. »Nein, Clara«, antwortete er dumpf. »Keine Rettung. Mr. Masters wird sterben.« * Patsy Burton erlebte alles wie in einem Traum. Sie wußte zwar, was vor sich ging, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Jeder kennt das grauenhafte Gefühl, wenn man sich im Traum in einer gefährlichen Situation befindet. Man möchte davonlaufen, aber die Beine versagen den Dienst. Oder man läuft, ohne von der Stelle zu kommen. Oder man greift nach etwas, kann es aber nie erreichen. Oder man will schreien, man schreit auch, aber kein Ton ist zu hören. So erging es Patsy Burton. Sie wußte nicht warum, aber sie begriff, daß sie zu ihrer Hinrichtung geführt wurde. Ihr wurde klar, daß sie sich durch Flucht retten mußte, aber sie konnte nicht. Sie folgte der schwarzen Gestalt, als ketteten sie eiserne Bande an ihren Henker. Larry Harper erging es genauso. Er schritt neben dem Mädchen her, ohne es zu wollen. Ihn hatte der Schicksalsschlag 101 �
ebenso unvorbereitet getroffen wie Patsy, aber im Gegensatz zu ihr verstand er die Ursprünge dieses Schreckens nicht. Er hatte die Familienchronik der Suttons nicht gelesen. Patsy hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Sie ahnte nur, daß sie immer tiefer kamen. Die Luft wurde stickiger, das Atmen fiel ihr schwer. Einmal passierten sie einen Seitenstollen, und Patsy glaubte, ein kurzes Aufblitzen gesehen zu haben, einen winzigen Lichtblitz. Aber dann war sie überzeugt, daß sie einer Täuschung erlegen war. Hier gab es nichts Helles, nichts Reines und Klares. Nur die fürchterlichen Steinwände, an denen in großen Abständen rußende Pechfackeln in eisernen Haltern befestigt waren. Das Licht einer solchen Fackel, die an der Kreuzung der Gänge brannte, hatte dieses kurze Funkeln ausgelöst. Konnte sie noch auf Rettung hoffen? Wohl kaum. Wer diesen Ort betrat, der kam nicht mehr zurück. Wie wollte sie auch den übernatürlichen Kräften dieses unheimlichen Wesens entkommen, das ihnen voranschritt und sie wie Tiere hinter sich herzog, die zur Schlachtbank geführt wurden? Der Schwarze blieb stehen. In der Dunkelheit konnte Patsy nicht sehen, was sich vor ihr abspielte, aber sie hörte Metall auf Metall klirren, dann knarrten ungeölte, verrostete Türangeln. Das Wesen in dem bodenlangen Umhang trat zur Seite und machte eine herrische Geste. Patsy und Larry betraten wie unter magischem Zwang das Verlies, einen kleinen Raum, der aus dem Stein herausgehauen war. Hinter ihnen fiel die Bohlentür krachend zu. Die Riegel schoben sich vor. Gefangen! Sie waren in der Todeszelle von Herford Castle. * 102 �
Es kümmerte den jungen Detektiv aus London nicht mehr, ob er beobachtet wurde oder nicht. Lord und Lady Sutton hatten geglaubt, er hätte sie nicht entdeckt, aber er wußte ganz genau, daß sie ihm zu der alten Schloßkapelle gefolgt waren. Es machte Rick nichts aus. Er glaubte nunmehr fest, daß ihm von den beiden Schloßbesitzern keine Gefahr drohte. Natürlich hatten sie einen Anteil an den Geschehnissen auf Herford Castle, aber Rick neigte zu der Ansicht, daß dieser Anteil eher in der Rolle von Opfern bestand, die aus irgendeinem Grund noch nicht getötet worden waren. Sollten sie ihn doch beobachten. Rick drang in den Geheimgang ein. Wieder mußte er seine ganze Aufmerksamkeit auf möglicherweise eingebaute Fallen richten. Das Fallgitter in dem Stollen unter Paul Suttons Grab hatte ihm bewiesen, daß es gefährliche Stellen gab, die ihn vorzeitig das Leben kosten konnten. Dieser Gang hier senkte sich steil in die Tiefe, ohne daß Stufen in den Felsen geschlagen worden waren. Der Boden des Stollens war abschüssig und durch die ewige Feuchtigkeit so glitschig geworden, daß Rick mehrmals ausglitt und stürzte, bevor er den tiefsten Punkt erreicht hatte. Sein Anzug war durch und durch mit Wasser getränkt, aber das kümmerte ihn nicht. Auch nicht, daß seine Zähne vor Kälte aufeinanderschlugen. Das Jagdfieber hatte den Detektiv gepackt. Er fühlte, daß er nicht mehr weit von seinem Ziel entfernt war, und deshalb ließ er sich nicht aufhalten – zumindest nicht von Unannehmlichkeiten, die sich ihm in den Weg stellten. Aus diesem Gang mußte es mindestens noch einen Ausgang geben, der direkt ins Freie führte. An der Decke hingen nämlich Hunderte von Fledermäusen, die von ihm aufgestört wurden und ihm um den Kopf flatterten. Andere dieser Tiere kamen 103 �
hinzu, und bald herrschte um Rick ein Gewimmel von Fledermäusen, daß er kaum noch vorwärtskam. Keines der Tiere berührte ihn. Sie wichen ihm im letzten Augenblick mit unglaublicher Geschicklichkeit aus, aber es war so, als wäre der Gang vor ihm von einer schwarzen Betonmauer versperrt. Endlich erreichte er einen Luftschacht, der schräg nach oben führte. Er war nicht groß genug für einen Menschen, aber er diente den Fledermäusen offensichtlich zum Verlassen ihrer Heimstätte. Hinter diesem Schacht, durch den kühle Luft hereindrang und der irgendwo am Fuß der Schloßmauern im Freien endete, wurde es leichter für den Detektiv. Die Zahl der Fledermäuse nahm schnell ab, und endlich konnte er sich wieder aufrichten und normal weitergehen. Soweit er dieses Gehen durch den Stollen unter den Grundfesten von Herford Castle als normal bezeichnen konnte. Mit einemmal blieb Rick Masters stehen. Ein neuer Geruch mischte sich in die Moderluft des Ganges. Das war Rauch, der von Pechfackeln stammte. Rick konnte ihn ganz deutlich unterscheiden von dem Rauch des Feuers, das in der Folterkammer gebrannt hatte. Das stimmte mit seinen Schätzungen überein, nach denen sich dieses Gewölbe des Schreckens noch ein ziemliches Stück von seinem gegenwärtigen Standort entfernt befinden mußte. Rick Masters verdoppelte seine Vorsicht, als er weiterging. Gleich darauf sah er vor sich den Lichtschein. Ein helles Viereck, das andeutete, daß dort vorn ein Stollen kreuzte. Rick arbeitete sich bis auf kurze Distanz heran, als er ein Geräusch hörte. Schritte! Sie näherten sich von links in dem breiten Hauptstollen, der von den Pechfackeln erleuchtet wurde. Deutlich konnte er unterscheiden, daß dort zwei Menschen gingen. Es mußten Menschen 104 �
sein, da die geisterhaften Erscheinungen kein Geräusch verursachten, wenn sie sich bewegten. Die hohe, in den schwarzen Umhang gehüllte Gestalt Lester Suttons glitt an der Öffnung vorbei. Masters wurde von den eisigen Wellen erreicht, die von seiner Persönlichkeit ausgingen. Obwohl Lester Sutton den Kopf nicht zu ihm wendete, hatte der Detektiv das schreckliche Gefühl, der Geist müßte Bescheid wissen, daß er ganz in der Nähe war. Und dann krampfte sich sein Herz zusammen. Die beiden Menschen, die Opfer des Henkers von Herford Castle, wankten traumwandlerisch in sein Blickfeld: Patsy Burton und Larry Harper. Rick wollte vorstürmen, ihnen zu Hilfe kommen, doch im letzten Moment konnte er sich zurückhalten. Solange Lester Sutton hier war, konnte er nichts ausrichten. Rick wußte nicht, daß bei seiner Bewegung das Diamantkreuz an seiner Brust im Schein der Pechfackel aufgeblitzt und daß Patsy das kurze Funkeln gesehen hatte. Offensichtlich stand sie im Bann des Teufels, der sie zur Hinrichtung schleppte. Masters folgte dem kleinen Zug. Er wurde Augenzeuge, wie Patsy und Harper in das Verlies gesperrt wurden. Lester Sutton löste sich in Nichts auf, ohne sich um den Detektiv gekümmert zu haben. Rick Masters lief zu dem engen Gefängnis. Er hämmerte gegen die Tür, zerrte an den Riegeln, aber sie rührten sich nicht. »Patsy!« schrie er. »Patsy, ich bin es, Rick! Ich helfe Ihnen!« Und ganz leise hörte er von drinnen die Antwort. »Rick!« schluchzte das Mädchen. »Bitte, helfen Sie mir, sonst bin ich verloren! Ich muß sterben, ich fühle es.« *
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Nachdem Rick Masters in dem Geheimgang der Kapelle verschwunden war, begaben sich Lord und Lady Sutton in den kleinen Salon, in dem sie der Detektiv bereits belauscht hatte. In dieser Nacht konnten sie kein Auge schließen. Die Vergangenheit war wieder auferstanden, gräßlicher als jemals zuvor. Während Lady Sutton sich auf ein mit roter Seide bespanntes Sofa sinken ließ und ihr Gesicht in beiden Händen begrub, trat der Lord an das Fenster und schaute düster hinaus in den dunklen Schloßpark. Im Osten zeichnete sich ein erster grauer Streifen am Horizont ab. Vorbote des Sonnenaufgangs. »Vincent.« Lord Sutton drehte sich beim Klang der Stimme seiner Frau nicht um. Vielleicht hatte er sie auch nicht gehört. Seine Gedanken weilten in der Gruft. »Vincent«, wiederholte Lady Sutton diesmal lauter. »Vincent, wir können so nicht weitermachen. Es muß etwas geschehen.« Lord Sutton zuckte unwillig die müden Schultern. »Wir haben schon so oft darüber gesprochen, Clara«, sagte er mürrisch. »Es hat keinen Sinn, und du weißt es. Wir haben versucht wegzugehen, und es hat nichts geholfen.« »Wir könnten es noch einmal versuchen.« In Clara Suttons Stimme schwang Hoffnung mit. »Bitte, Vincent, einmal noch! Die Amerikaner könnten uns mitnehmen. Wir machen eine Reise durch Europa, und dann fliegen wir hinüber in die Staaten und verbringen noch ein paar ruhige Jahre.« »Und Paul?« Lord Sutton lachte auf. »Sollen wir den vielleicht auch mitnehmen?« Lady Sutton schwieg eine Weile, dann richtete sie sich auf und setzte an, etwas zu sagen, aber sie verstummte und sank mit einem leisen Aufschrei zurück auf das Sofa. Auch Lord Sutton hatte es bereits gefühlt. Der eisige Hauch verbreitete sich im Raum, der das Kommen ihres Peinigers ankündigte. Es dauerte auch nur wenige Minuten, bis sich Lester 106 �
Sutton vor ihren Augen materialisierte. Aus seinem Mund drang ein wütendes Knurren. Seine blutigen Augen funkelten wild. »Ihr habt versucht, mich zu hintergehen«, sagte er mit hohler Stimme, hinter der keine Kraft steckte. Beim Sprechen bewegte er die Lippen nicht. Die Stimme war einfach da, strömte von ihm aus wie die Kälte und der Modergeruch. »Ihr habt diesem Menschen geholfen, den ich verderben wollte. Das werdet ihr büßen!« »Masters ist unser Gast«, wagte Lord Sutton einzuwenden, obwohl er genau wußte, daß es keinen Sinn hatte, mit Lester zu sprechen. Der Vorfahre blickte ihn durchdringend an. Höhnisches Lachen jagte den beiden Menschen kalte Schauder über den Rücken. »Dieser Mensch muß sterben«, hallte es dumpf. »Aber er hat sich geschützt. Er trägt ein Zeichen; das mich machtlos macht. Trotzdem wird er sterben.« Der knochige Finger zeigte auf Lord Vincent Sutton. »Durch deine Hand, Elender, wird er umkommen!« »Nein!« schrie der Lord auf. »Das werde ich niemals tun. Dazu kannst du mich nicht zwingen. Du kannst uns peinigen und quälen, wie du es seit Jahren tust, aber das erreichst du nicht. Ich werde Rick Masters nicht töten.« »Du wirst es tun!« donnerte ihm die schwarze Erscheinung den Befehl entgegen. Gleichzeitig hob Lester beide Hände und streckte sie dem Lord entgegen. Lady Sutton war gleich zu Beginn der Erscheinung in einen tranceähnlichen Zustand verfallen. Unbeweglich wie eine Statue saß sie auf dem Sofa. Sie schien sich um die Vorgänge im Salon nicht zu kümmern. Da ergriff auch Lord Sutton die Macht des Unheimlichen. Sein 107 �
Blick verschleierte sich, und seine Arme sackten kraftlos herunter. Lester bemächtigte sich seines Geistes und seines Willens. Er verwandelte den Lord in ein Mordwerkzeug. Dieses Mordwerkzeug sollte Rick Masters treffen. * Der junge, tatendurstige Detektiv war wütend auf sich. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Tür aufbrechen zu müssen, und als Waffe war das Brecheisen nicht zu gebrauchen, mit dem ihn Lord Sutton aus dem unterirdischen Gang befreit hatte. Das Werkzeug lag noch immer in der Gruft von Herford Castle, neben dem Sarg von Paul Sutton, falls es niemand weggenommen hatte. Patsy befand sich in höchster Lebensgefahr. In seinem Eifer, den Ursprung der Gefahr auszuschalten, hatte Rick sich zu wenig um das Mädchen gekümmert. Gleich nachdem er in der Familienchronik der Suttons auf das Kapitel über Lesters Foltermethoden und sein Schicksal gestoßen war, hatte sich in Rick der Verdacht festgesetzt, daß die amerikanischen Touristen in eine Falle gegangen waren, die nicht auf die Juwelen abzielte, sondern auf einen Menschen. Auf Patsy Burton, geborene Sutton. Rick hatte geglaubt, Patsy dadurch retten zu können, daß er Lester ausschaltete, den Urheber der Greueltaten. Mittlerweile mußte er einsehen, daß es dazu wahrscheinlich zu spät war. Es blieb ihm nur die Möglichkeit, das Mädchen und den Reiseleiter so schnell wie möglich aus ihrem Gefängnis zu befreien und dann irgendwo in Sicherheit zu bringen. Der Tag war nicht mehr fern, und bei hellem Licht konnte man wagen, durch den Wald nach Aldermor zu gehen. Dort gab es 108 �
Autos, Telefon und Menschen, die Patsy Burton aus dieser schrecklichen Gegend wegbringen konnten. Aber zunächst brauchte Rick das nötige Werkzeug, um die Tür des Verlieses aufzubrechen, bevor der Unhold zurückkam. Das Brecheisen! Er mußte das verdammte Brecheisen holen. Und zwar sofort. Rick hetzte den Gang zurück, durch den er gekommen war. Wieder hielten ihn die Fledermäuse auf, deren Zahl sich noch vergrößert hatte. Das Tageslicht war nicht mehr fern, und sie suchten ihre Zufluchtsstätte in dem alten Stollen auf. Schreiend und um sich schlagend kämpfte sich Rick Masters weiter. Eine unbändige Wut gegen die unschuldigen Tiere erfüllte ihn, daß er sie am liebsten mit bloßen Händen zermalmt hätte. Dann hatte er auch dieses Hindernis hinter sich gebracht. Mit fliegendem Atem kletterte er durch den Beichtstuhl in die Schloßkapelle, lief zur Tür und hetzte durch das Schloß. Auf seinem Weg zu der Gruft mußte er durch die Halle. Ansonsten bildete sich Rick Masters etwas auf seinen sechsten Sinn ein. Seine Freunde und Bekannten behaupteten, er würde Gefahr förmlich riechen. Was immer es auch war, selten noch war er so ahnungslos in eine tödliche Falle gelaufen wie diesmal. Daran waren zu gleichen Teilen seine Müdigkeit und seine Eile schuld. Er mußte Patsy herausholen, und es mußte schnell gehen. Die lange und hohe Halle wurde von zwei Kerzen erleuchtet. Diesmal beachtete Rick nicht die Schatten an den Wänden, die dunklen Nischen in den Wänden, die Rüstungen, die Jagdtrophäen. Er lief über die Steinplatten der Halle, bis ihm etwas die Beine unter dem Körper wegschlug. Schwer stürzte Rick zu Boden. Instinktiv riß er die Hände vor das Gesicht, um es zu schützen. Der Schwung war so groß, daß er weit durch die Halle rollte. 109 �
Auf dem Bauch liegend, konnte er endlich seinen Sturz abfangen. Rick drehte sich um. Er wußte, was ihn zu Fall gebracht hatte. Schon einmal war er auf diese Art hereingelegt worden, bei der Verfolgung eines Mörders in London. Damals hatte der Verbrecher einen Draht quer über den Korridor gespannt, durch den Rick kommen mußte. Und ein Draht war es auch diesmal gewesen. Einfach, aber unerhört wirkungsvoll. Rick hob den Kopf und starrte direkt in die irre glühenden Augen Lord Vincent Sutton. Der alte, ehrwürdige Lord sah nicht mehr wie das Musterbeispiel eines britischen Gentleman aus. Die silbrigen Haare hingen ihm wirr in das gerötete Gesicht. Schweiß glänzte auf seiner Haut. Speichel troff aus seinen Mundwinkeln. Er wirkte, als hätte er schwer getrunken. Aber das war es nicht. Entweder war der Lord verrückt geworden, ober der stand unter dem Einfluß einer unheimlichen Macht. Lord Sutton hielt einen Bihänder, ein rasiermesserscharfes Schwert, das mit beiden Händen geschwungen wurde, über seinen Kopf erhoben. Der Schlag war so berechnet, daß er Rick Masters in zwei Teile spalten mußte. Lord Sutton stieß einen grauenvollen Schrei aus. Dann schlug er mit aller Kraft zu. Das Schwert sauste nieder. Rick sah den Angriff im Ansatz. Das Zucken in Suttons Augen verriet ihn. Sich blitzschnell zur Seite rollend, entging Rick dem Schlag. Das Schwert klirrte auf den Boden. Die Steinplatte zersprang. Das Schwert wies nicht die kleinste Beschädigung auf. Es mußte ein Prunkstück der Waffensammlung von Herford Castle sein. Die Ellbogen und die Knie, mit denen er auf dem Boden aufgeschlagen war, schmerzten Rick, doch jetzt durfte er sich nicht gehenlassen. Die eine Rolle, mit der er sich gerettet hatte, nutzte 110 �
der Detektiv aus. Er holte Schwung, rollte weiter und weiter, dann kam er mit einem Schwung auf die Beine. Lord Sutton war ihm gefolgt und griff ihn sofort wieder an. Diesmal sauste das Schwert waagerecht durch die Luft. Nur durch einen Sprung rückwärts entging Rick der Enthauptung. Er hörte die Klinge vor seinem Gesicht pfeifen und glaubte fast, die Spitze würde seinen Hals berühren. Verzweifelt sah er sich nach einer Waffe um, mit der er den Kampf gegen diesen Irren aufnehmen konnte. Sein trainiertes Erinnerungsvermögen kam ihm zu Hilfe. Bei seinem Eintreffen auf Herford Castle hatte er die wertvolle Einrichtung der Halle bewundert. Dabei waren ihm auch die beiden gekreuzten Schwerter aufgefallen, die neben einem Gemälde an der Wand hingen. Als nun sein Blick auf die Stelle fiel, fehlte ein Schwert. Lord Sutton hatte es an sich genommen. Rick tat so, als wollte er den Lord anspringen. Siegesgewiß holte Sutton zum nächsten Streich aus, aber Rick duckte sich, unterlief das Schwert und hetzte zu der Wand. In Sekundenschnelle hatte er das zweite Schwert heruntergerissen. Dann entspann sich ein Kampf, wie er in den finstersten Tagen der Geschichte von Herford Castle nicht erbitterter geführt worden war. Lord Sutton griff mit der Wut eines wilden Tieres an, gebrauchte dabei aber die mittelalterliche Waffe wie ein echter Ritter. Und Rick Masters kämpfte um sein nacktes Leben. Die Todesangst ersetzte die mangelnde Kampftechnik. Die Schwerter klirrten aufeinander, daß die Funken stoben. Hell klirrte Stahl auf Stahl. Die Klingen blitzten im Kerzenschein. Innerhalb kürzester Zeit lief der Schweiß in breiten Bächen über Ricks Körper. Die Kleider klebten ihm am Leib. Er wußte, wenn er auch nur eine einzige Wunde davontrug, war sein 111 �
Schicksal besiegelt. Dann geriet er noch mehr in Nachteil, und der Lord würde ihn buchstäblich in Stücke hacken. Rick mußte auf eine günstige Gelegenheit warten, um den Mann entwaffnen zu können. Er wollte Sutton nicht töten. Schließlich hatte er keinen gemeinen Mörder vor sich, der es aus eigenem Antrieb auf sein Leben abgesehen hatte, sondern ein Werkzeug Lesters, einen unglücklichen Menschen, der den Tod nicht verdiente. Keuchend umkreisten die beiden einander wie bei einem Duell des vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhunderts. Die Zeit schien in dem alten Schloß zurückgedreht zu sein. Masters war nur froh, daß die Amerikaner nichts von dem Kampf hören konnten. Ihre Zimmer lagen in einem entfernten Flügel des Schlosses. Vielleicht wären sonst Unschuldige verletzt oder gar getötet worden. Dann war die Gelegenheit, auf die er gehofft hatte, da. Lord Sutton stieß ein teuflisches Fauchen aus. Er hob das Schwert mit beiden Händen hoch, um Rick den Kopf zu spalten. Masters blieb scheinbar ruhig stehen. Im letzten Bruchteil einer Sekunde warf er sich nach hinten, sprang aber sofort wieder vor. Als das Schwert auf den Boden krachte und der Lord ohnedies durch den unverbrauchten Schwung seines Schlages aus dem Gleichgewicht gebracht war, hieb Rick gegen das Schwert. Die Klingen prallten nahe am Griff von Lord Suttons Schwert zusammen. Die Waffe wurde dem Wahnsinnigen aus der Hand geprellt. Masters versetzte dem Schwert einen Fußtritt, daß es über den Boden der Halle glitt und scheppernd gegen die Wand stieß. Der Lord wollte hinterher, um das Mordinstrument wieder an sich zu bringen. Rick hob sein Schwert, Spitze zur Decke gerichtet, den Griff nach unten. Mit halber Kraft nur, um den Lord nicht ernstlich zu verletzen, 112 �
ließ er den Griff in den Nacken des Wahnsinnigen krachen. Mit einem schmerzlichen Stöhnen brach Lord Sutton zusammen. Eine Bewegung oben auf der Treppe ließ Rick Masters herumfahren. Lady Sutton stand hochaufgerichtet auf der obersten Stufe. Ihre geweiteten Augen waren starr auf ihren reglosen Mann gerichtet. Wie lange sie schon dort oben stand, konnte Rick nicht sagen. Sie griff sich ans Herz. »Vincent!« gellte ihr Schrei durch die dunkle Halle. * »Er lebt«, sagte Rick Masters keuchend, um die Frau zu beruhigen. »Kommen Sie herunter und helfen Sie mir! Ich habe ihn nur bewußtlos geschlagen.« Lady Sutton schaute mit einem bitteren Zug um den Mund auf ihren Mann hinunter. »Es wäre besser für ihn, er wäre tot«, sagte sie leise, und noch leiser fügte sie hinzu: »Und für mich auch.« Rick zuckte die Schultern, bückte sich, hob Lord Sutton hoch und folgte seiner Frau in den kleinen Salon. Dort legte er den Ohnmächtigen auf das Sofa. Unter ihren gemeinsamen Anstrengungen kam der Lord bald wieder zu sich. Er schlug die Augen auf und blickte verwirrt um sich. Dann kehrte die Erinnerung an das Vorgefallene zurück. Er seufzte tief auf. »Gott sei Dank, ich habe Ihnen nichts getan.« Masters steckte sich eine Zigarette an. Ein paar Minuten mußte er sich Ruhe gönnen, sonst hielt er nicht durch und konnte Patsy überhaupt nicht helfen. Und außerdem hoffte er, etwas Wichtiges zu erfahren, das ihn auf den richtigen Weg führte. Er beugte sich so weit vor, bis sein Gesicht nur eine Handbreit 113 �
von Lord Suttons Gesicht entfernt war. »Jetzt werden Sie reden, Lord, Sir, Mr. Sutton, jetzt werden Sie die Wahrheit sagen, bevor noch mehr Unheil geschieht!« knurrte er drohend. Vincent Sutton nickte matt. »Ich werde sprechen«, sagte er müde. * Auf den ersten Blick erkannte der Detektiv, daß der Lord wirklich die Wahrheit sagen würde. Sutton war nur mehr ein Wrack. Der Schlag in sein Genick hatte ihn von der Besessenheit befreit, hatte ihn aus seinem Trancezustand aufgeweckt, in dem er zu morden bereit gewesen war. Nunmehr erkannte er die ganze Tragweite seiner Handlungsweise, und brach sein Schweigen. »Meine Ahnen«, begann er, »hatten stets eine wilde, gewalttätige Geschichte. Morde, Brandstiftungen…« »Sparen Sie sich die Einzelheiten, der Vergangenheit«, unterbrach Masters ihn. »Ich bin informiert. Ich habe die Familienchronik der Sutton gelesen.« »Das erleichtert es mir.« Lord Sutton hatte sich wieder in der Gewalt. »Lester Sutton war die Schlüsselfigur. Er war der Schrecklichste und Grausamste von allen. Im Alter verfiel er mehr und mehr dem Wahnsinn, und sein Ende liegt im Dunkel. Obwohl sein Körper unten in der Gruft liegt, fand sein Geist niemals Ruhe. Er quälte und peinigte seine Nachkommen. Viele von ihnen verließen Herford Castle, weil seine Macht auf das Schloß und dessen unmittelbare Umgebung begrenzt ist. Aber viele blieben auch, und sie suchten nach einem Mittel, Lester zu bannen. Einem von ihnen gelang es auch. Dann kam das unglückliche Jahr 1941. Wir hatten einen Sohn, Paul, der damals seinen zwanzigsten Geburtstag feierte. Paul 114 �
hatte sich in ein einfaches Mädchen aus dem Dorf verliebt und wollte es um jeden Preis heiraten. Meine Frau und ich… Nun, Sie verstehen, wir konnten nicht zustimmen. Wir mußten auf unseren Namen achten. Also verboten wir Paul die Heirat.« Lady Sutton begann leise zu weinen. »Was geschah im Jahre 1941, Lord Sutton?« fragte Rick Masters. »Paul beging Selbstmord.« Die Stimme des Mannes war zu einem dumpfen Flüstern geworden. »Er erhängte sich in meinem Schlafzimmer.« * »Das ist also die Schuld, von der die Grabinschrift spricht.« Masters zerdrückte seine Zigarette in einem Aschenbecher und starrte nachdenklich in die zerstiebende Glut. »In welchem Zusammenhang steht nun der Selbstmord Ihres Sohnes mit Lesters Untaten?« »Paul nahm sich das Leben, weil er unsere Unnachgiebigkeit nicht ertrug«, erklärte Lord Sutton. »Wir hatten Schuld auf uns geladen. Wenn Sie so wollen, dann ist wieder einmal nach langer Zeit ein Sutton durch die Hand seiner eigenen Eltern gestorben. Das gab Lester die bereits verlorene Macht wieder. Er wütete grausamer, als je zuvor – gegen uns und gegen andere.« »Als ich die Gruft durchsuchte, Lord Sutton«, sagte Rick Masters, »mußte ich den Sarg Ihres Sohnes öffnen.« »Ich kann mir schon denken, was Sie gesehen haben. Lester bringt Menschen in seine Gewalt, die sich in den Sperrbezirk rund um Herford Castle wagen. Er foltert und quält sie, und unser Sohn Paul verspürt diese Schmerzen, als würden sie seinem lebenden Körper zugefügt. Ich weiß«, setzte Lord Sutton schnell hinzu, »daß das sehr phantastisch und verrückt klingt, 115 �
aber seit mehr als dreißig Jahren sind wir Augenzeugen dieser Tortur.« Enttäuscht erhob sich Rick Masters. Er hatte gehofft, von Lord Sutton mehr zu erfahren, als er ohnehin schon wußte. Statt dessen hatte ihm der Lord nur erklären können, wieso der Geist seiner Vorfahren Macht über ihn bekommen hatte. Mittel zu der Vernichtung dieser Macht kannte er auch keine. Rick war also weiterhin auf sich allein gestellt. »Miss Burton, ein Mitglied der Reisegesellschaft, ist die Tochter Ihres Vetters, Lord Sutton«, unterrichtete er schnell den Schloßbesitzer. »Sie wurde von Lester in ein unterirdisches Verlies gesperrt. Ich muß sie herausholen.« »Unmöglich!« Der Lord schüttelte den Kopf. Nicht das geringste Anzeichen von Überraschung über das unerwartete Auftauchen seiner Nichte war ihm anzumerken. »Sie schaffen es nicht, Mr. Masters. Gegen Lester kann niemand etwas ausrichten.« »Einer Ihrer Ahnen hat es geschafft!« rief der Detektiv ungeduldig. »Und ich habe die verdammte Pflicht, es wenigstens zu versuchen. Halten Sie mir alle Störungen vom Leib, sonst haben Sie nichts zu tun!« Damit stürmte er aus dem kleinen Salon und lief hinunter in die Familiengruft. Das Brecheisen lag noch an derselben Stelle. Rick hob es auf, dann rannte er zurück. Trotz aller Eile meldete sich diesmal Ricks Instinkt, als er die Halle durchquerte. Er witterte die Gefahr, noch bevor der riesige Schatten eines Mannes auf ihn fiel, der ihn ansprang. * Lester konnte Rick Masters nicht selbst vernichten, und der � Detektiv war überzeugt, daß es von dem geweihten Diamant116 �
kreuz kam, das er um den Hals trug. Also hatte Lester Lord Sutton zu dem Mordversuch gezwungen, und als dieser fehlschlug, hatte er ein neues Werkzeug ausgeschickt. Larry Harper, den Reiseleiter. Der Reiseleiter warf sich auf den Detektiv. Der Angriff kam so schnell, daß Rick nicht mehr ausweichen konnte. Der Anprall des Körpers riß Rick zu Boden. Rick bekam keine Luft. Er rang nach Atem, sein Gesicht lief rot, dann blau an. Das Blut brauste in seinen Schläfen. Vor seinen Augen wallten rote Schleier, ließen das Gesicht verschwimmen, das sich in irrem Triumph verzerrte. Der heiße Atem aus Harpers Mund traf Rick wie das Fauchen einer wilden Bestie. Wenn er sich nicht schnellstens befreite, war es aus mit ihm. Der Druck an seiner Kehle ließ für einen Augenblick nach. Rick nützte die Gelegenheit. Beide Arme wie ein Gekreuzigter weit von sich streckend, versteifte er seine Finger. Dann riß er die Arme ruckartig in einem kleinen Bogen an sich, daß seine handkanten gegen die Halsschlagader seines Gegners trafen. Harper würgte. Er bekam keine Luft und kämpfte gegen eine Ohnmacht. Rick krümmte seinen Körper zusammen, zog die Beine an und schleuderte Harper von sich. Der Reiseleiter flog durch die Luft und stürzte einige Schritte entfernt auf die Steinfliesen. Und dann sah Rick Masters auch, wodurch er gerettet worden war. Lady Sutton stand vor ihm. Sie hielt noch immer den Teil einer zersplitterten Kristallvase in der Hand, die sie auf Larry Harpers Hinterkopf zerschlagen hatte. Die gezackte Bruchlinie des Glases sprühte Lichtblitze in allen Regenbogenfarben aus. Benommen rieb sich Masters den Hals. Mühsam holte er Atem. Das Schlucken verursachte ihm Schmerzen, und Sprechen 117 �
konnte er nicht. Larry Harper lag wie tot auf dem Steinboden. Ein normaler Mensch wäre einige Stunden bewußtlos gewesen, nicht aber der von Lester besessene Harper. Masters erkannte, daß der Reiseleiter wieder zu sich kam. Er wollte einen Warnruf ausstoßen, aber aus seiner Kehle kam nur ein heiseres, kaum hörbares Krächzen. Harper schnellte hoch. Masters hob die Füße, um den Reiseleiter mit einem gewaltigen Tritt zu empfangen, aber er hatte sich geirrt. Der Angriff galt nicht ihm, sondern Lady Sutton. Die Wut der menschlichen Bestie richtete sich gegen die Frau, die ihn um den Sieg über seinen Feind gebracht hatte. Mit einem tigerähnlichen Satz sprang Harper die wie erstarrt dastehende alte Frau an. Er entwand ihr den Glasscherben, holte aus und stieß einmal zu. Mit einem erstickten gurgelnden Laut brach Lady Sutton zusammen. Blut schoß aus ihrer Kehle. Rick Masters hatte seinen Irrtum erkannt. Seine Hand krampfte sich um das Brecheisen, das ihm bei dem Zusammenprall entfallen war. Er richtete sich auf, noch immer schwankend von dem fürchterlichen Würgegriff, und wollte sich auf Larry Harper werfen, aber der Besessene drehte sich um, lief zum Hauptportal, riß die Tür auf und verschwand in der Morgendämmerung. »Clara!« Lord Sutton kam die Treppe heruntergelaufen. »Clara, um Himmels willen!« Rick Masters beugte sich über die Frau. Übelkeit stieg in seinem Hals hoch. Die scharfen Kanten der Glasvase hatten Lady Sutton den Hals bis auf den Wirbel durchtrennt. Lady Clara Sutton – war tot. *
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»Clara«, stöhnte Lord Sutton. »Clara, jetzt bist du doch von mir gegangen.« Ehe Rick ihn zurückhalten konnte, lief der Lord, unglaublich schnell für sein Alter, hinaus in den Schloßpark. Gleich darauf hörte Rick einen fürchterlichen Schrei. Er rannte zum Fenster und sah eine Szene, die sein Blut gefrieren ließ. Das fahle Licht der noch unter dem Horizont stehenden Sonne verwischte alle Farben. Grau in grau lag der Schloßpark von Herford Castle. Lord Sutton war direkt auf seinen Todfeind getroffen. Er stand aufrecht vor Harper, der mit einem langen rostigen Messer, wie es für Gartenarbeiten verwendet wurde, auf ihn einstach, wieder und immer wieder. Blutüberströmt sank der Lord tot zu Boden. Rick Masters hatte ihm nicht mehr helfen können. Aber dann riß er seine 38er Automatik aus dem Schulterhalfter. Er jagte Schuß um Schuß, sorgfältig gezielt, aus dem Lauf. Masters sah, wie Larrys Körper durch die Kugeln herumgewirbelt wurde, wie er stolperte und beinahe zu Fall kam. Aber kein Blut floß, obwohl lebenswichtige Teile von den Geschossen durchbohrt worden waren. Mit einem Hohnlachen verschwand Larry Harper zwischen den Büschen, die sich hinter ihm schlossen. * Rick Masters hatte kaum mehr Hoffnung, Patsy Burton lebend aus dem unterirdischen Verlies herausholen zu können. Zuviel Zeit war verstrichen, seit Lester sie gefangen und eingesperrt hatte. Wahrscheinlich hatte sie bereits auf der Folter ausgelitten. Dennoch wollte Rick nichts unversucht lassen. Er tastete an 119 �
seine Tasche, ob das Fläschchen mit dem Weihwasser unversehrt war. Wie ein Wunder – es war bei den beiden Kämpfen nicht in Scherben gegangen. Auch das Diamantkreuz hing noch an Ricks Brust. Während Rick durch die Gänge zur Schloßkapelle lief, öffneten sich überall Türen. Die Amerikaner steckten ihre Köpfe aus ihren Zimmern. Aufgeregte Rufe fragten nach dem Grund der Schießerei. Masters sollte erklären, aber dazu nahm er sich nicht die Zeit. Er jagte an den Leuten vorbei. Sollten sie sich ängstigen. Hier ging es um mehr. Er schrie nur allen zu, sich wieder in ihren Zimmern einzusperren, im Park wäre eine wilde Bestie. Das wirkte. Die Türen klappten zu, Schlüssel wurden herumgedreht. Ungehindert erreichte der Detektiv die Kapelle, drang in den Geheimgang ein und hastete hinunter in die Tiefe. Es war mehr ein Gleiten über den schlüpfrigen Boden als ein Laufen. Das Brecheisen benutzte er wie einen Spazierstock. Mehr als einen Sturz konnte er abfangen. Dann hatte er die Fledermäuse erreicht. Sie hingen in so dichten Trauben von der Decke herunter, daß er sich auf Hände und Knie niederlassen mußte, um unter ihnen durchzukriechen. Es ekelte ihn, aber er drang stetig weiter vor, ein Ziel klar vor Augen: er mußte Patsy Burton retten. Endlich konnte er wieder aufrecht gehen. Er erreichte den Hauptgang, bog nach rechts ab und kam an das Verlies in dem Patsy und Harper eingeschlossen waren. Die Bohlentür stand offen, das schwarze Loch gähnte ihm höhnisch entgegen. Rick leuchtete das Gefängnis aus. Nichts deutete darauf hin, daß Patsy hier gewesen war. Rick lief zurück in den Hauptgang und folgte ihm im Schein der rußenden Pechfackeln. Ein neuer Geruch kam hinzu. Rick 120 �
kannte ihn bereits. Es war das Gemisch aus Holzfeuer und Blut – die Folterkammer. Lester hatte Patsy in die Folterkammer gebracht! Rick glaubte auch, Stöhnen zu hören. Mit Schaudern dachte er daran, was der Unheimliche mit seinen anderen Opfern gemacht hatte. Er zwang sich zu noch größerer Eile. Der Gang machte einen Knick, noch einen, und dann stand Rick in der Folterkammer. Kein Gitter versperrte den Zugang. Der Detektiv konnte seinen Lauf nicht mehr rechtzeitig abbremsen, aber das war sowieso überflüssig. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, hätte er keine Sekunde gezögert. Patsy Burton hing nackt in den eisernen Ringen, in denen vor ihr der Mann aus dem Dorf gelitten hatte. Die beiden Henkersknechte brachten in der brüllenden Esse die Zangen zum Glühen. Außerdem hatten sie Sorgensterne, spitze Lanzen und mit Nadeln besetzte Arm- und Fußreifen bereitgelegt, um ihr Opfer mit besonders ausgesuchten Foltermethoden zu quälen. Lester stand nur zwei Schritte vor Patsy, deren Blick wie der eines hypnotisierten Kaninchens an seinen Augen hing. Die Schlange und ihre Beute. Unwillkürlich fuhr Rick Masters einen Schritt zurück. Lester Sutton hatte die Kapuze seines Umhangs zurückgeschlagen. Er lachte heiser und rasselnd. »Patsy Sutton, ich werde aus dir ein Scheusal machen, damit du endlich des Namens Sutton würdig bist. Schreiend werden die Menschen vor dir davonrennen. Sie werden mit den Fingern auf dich zeigen und dich…« Die Stimme erstarb krächzend. Rick Masters war vorgetreten. Diesmal beachteten ihn die Erscheinungen, auch die beiden Folterknechte an der Esse. Sie legten die glühenden Zangen beiseite und griffen nach den Morgensternen. Drohend bauten sie sich 121 �
neben ihrem Meister auf. Lester Sutton drehte Rick das Gesicht zu. Der Detektiv konnte diesem fürchterlichen Blick kaum standhalten. Krampfhaft kämpfte er gegen den Wunsch an, sich einfach umzudrehen und wegzulaufen. Seine Hand tauchte in die Tasche seines Sakkos und kam mit dem Fläschchen wieder zum Vorschein, das er von Mrs. Hobson bekommen hatte. Er riß den Korken heraus. Mit einer weiten halbkreisförmigen Handbewegung versprühte Rick das Weihwasser über alle Gegenstände und Personen in der Folterkammer. Es war, als erschütterte ein schweres Erdbeben Herford Castle. Die Wände wankten, Steine brachen heraus. Folterwerkzeuge fielen klirrend zu Boden. Das Feuer in der Esse verlöschte mit einem ohrenbetäubenden Zischen. Schnell knipste Rick wieder seine Taschenlampe an. In ihrem Schein sah er, wie Lester Sutton und seine beiden Henkersknechte bewegungslos standen. Grünlicher Schein breitete sich um die drei Gestalten aus. Dann lösten sie sich vor Ricks Augen auf. Patsy Burton war gerettet. * Weinend klammerte sie sich an ihren Retter. »Oh, Rick, es war furchtbar!« schluchzte sie. »Ich werde nie darüber hinwegkommen.« »Ruhig, Mädchen, ruhig«, tröstete er sie. »Ich bringe dich jetzt zu Mrs. Hobson. Sie wird sich um dich kümmern. Dann komme ich gleich wieder.« Er mußte Larry Harper finden, ehe der Besessene weiteres Unheil anrichten konnte. 122 �
Er brauchte nicht lange zu suchen. Larry Harper hatte sich in der Nähe des Eingangs versteckt gehalten, als Rick Lesters Macht brach. Larry Harper war tot. Er war an den Schußwunden gestorben, die ihm der Detektiv zugefügt hatte. Mit Lesters Macht war auch Harpers Unverletzbarkeit geschwunden. »Armer Junge«, murmelte Rick erschüttert. »Das wollte ich nicht, glaube es mir. Tut mir leid.« Mit hängenden Schultern ging Rick Masters in das Schloß zurück. Er führte ein Telefongespräch mit einer Londoner Nummer. Während er in Stichworten durchgab, was sich auf Herford Castle ereignet hatte, stellte er sich das Gesicht seines Gesprächspartners vor, des rothaarigen Kontaktmannes vom Secret Service, dem Geheimdienst. Er versprach, schnellstens alles zu regeln. ENDE
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