Putins autoritäres Reich fürchtet die Wahrheit, die Anna Politkovskajas Buch Tschetschenien – Die Wahrheit über den Kr...
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Putins autoritäres Reich fürchtet die Wahrheit, die Anna Politkovskajas Buch Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg enthüllt. Dieses Buch berichtet vom Schicksal der Menschen in Tschetschenien, von den Opfern des Krieges. Es ist ein einziges ›J’accuse‹. Anna Politkovskaja klärt auf über das kaum beschreibbare Leid der tschetschenischen Bevölkerung. Erst die Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater machte wieder aufs Neue diese von der Weltöffentlichkeit verdrängte tschetschenische Tragödie sichtbar. In drei Teilen beschreibt dieses Buch den Krieg: Anna Politkovskaja berichtet vom Leben der Tschetschenen im Krieg, den Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, von einem Alltag, in dem Folter, Hinrichtungen, Plünderungen und Entführungen an der Tagesordnung sind. Anna Politkovskaja analysiert, welche Auswirkungen dieser Krieg auf das Leben in Russland selbst hat, wie ein Rassismus gegen alles Nicht-Russische zunimmt. Und schließlich beschreibt sie die Interessen der neuen ›Generalsoligarchen‹, die an der Fortführung dieses Krieges, dem illegalen Handel mit Erdöl und Waffen verdienen. Anna Politkovskajas Prognosen für Tschetschenien sind düster: Seit Russland sich nach dem 11. September der Antiterror-Koaiition angeschlossen hat, schweigt der Rest der Welt noch beharrlicher als zuvor. Tschetschenien – Die Wahrheit über den Krieg fügt Bilder von einem Land im Krieg zusammen; ein Mosaik aus den Schicksalen der Leidenden und eine akribische Analyse der Akteure und ihrer Motive.
ANNA POLITKOVSKAJA
TSCHETSCHENIEN Die Wahrheit über den Krieg Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Ulrike Zemme
DUMONT
Den Auszug aus Tolstoi, Teil 1, Teil 2, Teil 4 und den ›Historischen Abriss‹ hat Hannelore Umbreit übersetzt, Teil 3 und die Anmerkungen Ulrike Zemme; Katharina Narbutoviè dankt der Verlag für die Unterstützung. Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Wtoraja Tschetschenskaja bei Sacharow, Moskau © 2002 Anna Politkovskaja Erste Auflage 2003 © 2003 für die deutsche Ausgabe: DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Ausstattung und Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg) Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
ISBN 3-8321-7832-5
Inhalt Vorwort von Dirk Sager . . . . . . . . . . . . . .
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VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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LONDON IM MAI 2002. WIE ALLES BEGANN . . . . . 25 TEIL 1 LEBEN IM KRIEG - Tschetschenischer Alltag . . . . . 33 »WIE GUT, WENN MAN TAUB IST« . . . . . . . . . . 35 MACHKETY. EIN KONZENTRATIONSLAGER MIT KOMMERZIELLEM EINSCHLAG . . . . . . . .
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WEDENO – EIN KREIS OHNE RECHT UND GESETZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . BLOCKADE IN GROSNY. DIE EINHUNDERTSTE . . .
77 93
VIKTORIA UND ALEXANDER – DIE JUNGVERHEIRATETEN VON GROSNY . . . . EINE ENKLAVE ZIVILER RECHTLOSIGKEIT . . . . . .
117 137
DAS NIEMANDSKIND AUS DEM NIRGENDWO . . . . 149 TEIL 2 LEBEN VOR DEM HINTERGRUND DES KRIEGES Realität in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 RUSLAN AUSCHEW: »NIEMAND GARANTIERT HEUTE IN TSCHETSCHENIEN FÜR IHR LEBEN« . . . . . . . . . . . . . . . .
207
DER TSCHETSCHENISCHE ISLAM UND SEINE EIGENHEITEN . . . . . . . . . . . .
243
TEIL 3 WER BRAUCHT DIESEN KRIEG? . . . . . . . . . . .
287
EIN LUKRATIVER KRIEG . . . . . . . . . . . . . . . 289 GELB AUF SCHWARZEM GRUND . . . . . . . . . .
385
TSCHETSCHENIEN. DIE TSCHETSCHENEN. DIE RUSSISCH-TSCHETSCHENISCHEN KRIEGE . . . . 401 ANMERKUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
… Die Natur atmete versöhnliche Schönheit und Kraft. Sollte es den Menschen wahrhaftig zu eng sein auf dieser herrlichen Welt, unter diesem unermesslichen Sternenhimmel? Könnte inmitten dieser zauberhaften Natur tatsächlich noch eine Seele Wut hegen oder Rachedurst oder die Leidenschaft, ihresgleichen zu vernichten? Alles Ungute im Herzen eines Menschen muss, so will es scheinen, bei der Berührung mit der Natur, diesem unmittelbarsten Ausdruck von Schönheit und Güte, entschwinden. Krieg? Was für eine unbegreifliche Erscheinung! Wenn der Verstand sich fragt: ›Ist er gerecht? Ist er unvermeidlich?‹, wird die innere Stimme stets erwidern: ›Nein.‹ Allein die Dauer dieser widernatürlichen Erscheinung macht sie natürlich, und die Regung des Selbsterhalts – gerecht. Wer wollte bezweifeln, dass im Kriege der Russen gegen die Bergbewohner die Gerechtigkeit, geboren aus dem Drang der Selbsterhaltung, auf unserer Seite ist? Gäbe es diesen Krieg nicht, wer würde dann all die reichen und kultivierten russischen Besitzungen an den Rändern des Reiches vor Plünderung, Mord und Heimsuchung durch wilde, kriegerische Völker feien? 7
Doch nehmen wir zwei einzelne Menschen. Auf wessen Seite ist die Regung des Selbsterhalts und folglich die Gerechtigkeit? Auf Seiten des zerlumpten Kerls, irgendeines dieser Dshemmis, der, als er die näher kommenden Russen gewahr wird, mit einem Fluch die alte Flinte von der Wand reißt, zwei, drei Ladungen einsteckt und den Ungläubigen entgegenläuft, um dann, wenn er die Kugeln nicht umsonst vertan hat und mit ansehen muss, wie die Russen dennoch vorwärts marschieren, hin zu seinem bestellten Feld, das sie zertreten, zu seinem runden Steinhaus, das sie niederbrennen, zu jener Schlucht, in der sich, vor Angst zitternd seine Mutter, seine Frau und seine Kinder verbergen, um in diesem Augenblick also zu denken, dass sie ihm alles, was sein Glück ausmacht, nehmen werden, und sich in hilfloser Wut, mit einem Schrei der Verzweiflung, den zerschlissenen Rock von den Schultern reißt, das Gewehr fallen lässt, die kaukasische Zottelmütze tief ins Gesicht schiebt, sein Totenlied anstimmt und nur mit dem Dolch in der Hand den Leib in die Bajonette der Russen wirft? Ist die Gerechtigkeit auf seiner Seite oder auf Seiten jenes Offiziers aus der Suite des Generals, der so schön französische Liedchen singt, wenn er an uns vorüberreitet? Er hat eine Familie in Russland, Verwandte, Freunde und Bauern, er hat Verpflichtungen ihnen gegenüber, doch er hat keinen Grund, nicht den geringsten Wunsch, den Bergbewohnern Feind zu sein, sondern ist in den Kaukasus gekommen … einzig, um seine Tapferkeit zu zeigen. Oder kann sie auf Seiten jenes Adjutanten liegen, 8
der nur alsbald den Dienstrang eines Hauptmanns zu erlangen trachtet und ein warmes Plätzchen dazu, und deshalb zum Feind der Bergbewohner wurde? Auszug aus der Erzählung: »Der Überfall. Bericht eines Volontärs« Geschrieben 1852, also vor genau 150 Jahren, von einem vierundzwanzigjährigen russischen Truppenoffizier namens Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi
Vorwort von Dirk Sager
Es war an einem Tag im Dezember 1994. Dunkle Wolken hingen tief über der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Vor dem Eingang des Präsidentenpalastes stand ein gebeugter, zerbrechlich wirkender Mann. Wie der Seher in der griechischen Tragödie hob er seine leise Stimme: »Dieser Krieg bringt ein großes Unglück über Tschetschenien«, sagte er und fuhr fort:»Der Krieg wird auch großes Unglück über Russland bringen.« So sprach Sergej Kowaljow, den man üblicherweise einen Menschenrechtler nennt, weil er seinen Mut zur Wahrheit schon in Sowjetzeiten unter Beweis gestellt hat und deswegen mit acht Jahren Zwangsarbeit im Lager bestraft wurde. Die Wolken am Himmel über Grosny brachten den Schnee. Und der Schnee brachte den Tod. Zu Tausenden starben die russischen Soldaten im Sturm auf Grosny. Der damalige Verteidigungsminister Gratschow fand die trostreichen Worte: Es mache ihn stolz, wenn er sehe, dass seine achtzehnjährigen Wehrpflichtigen mit einem Lächeln auf den Lippen für Russland sterben. Da konnte man ahnen, dass Sergej Kowaljow Recht behalten würde. Doch war das ganze Ausmaß des Unheils in jenen Tages des Winterkrieges noch nicht zu erfassen. Das ist erst in den letzten Jahren deutlich geworden. Die 11
Chronistin dieses Unglücks – für Tschetschenien und für Russland – ist Anna Politkovskaja. Die Lüge in Zeiten des Krieges – das vergangene Jahrhundert hat zu einem großen Kompendium an Beispielen verholfen, auch an solchen für Ruchlosigkeiten am Rande dessen, was als glorreicher Kriegszug proklamiert wurde. Und wenn Krieg zwangsläufig die Gesetze menschlichen Zusammenlebens außer Kraft setzt, dann folgt – auch das lehrt die Geschichte – der Absturz in die völlige Gesetzlosigkeit. Das gilt umso mehr in Kolonialkriegen oder Kriegszügen, in denen der Gegner als minderwertiges Wesen dargestellt wird. Das will verborgen werden, verlangt ein System der Zensur, der Einschränkung der Pressefreiheit. Und dort, wo Tod und Verbrechen nicht verborgen werden können, müssen sie ideologische Legitimation erfahren. Keine demokratische Gesellschaft kann einen solchen Krieg führen, ohne Schaden zu nehmen an ihrer Substanz. Deshalb schreibt die Journalistin Anna Politkovskaja nicht nur über das Leid im Kaukasus, sondern auch über einen verhängnisvollen Irrweg der jungen russischen Demokratie. Er beginnt mit der Verdrängung der Vorgeschichte. Als ich zum ersten Mal nach Tschetschenien kam, hatte sich das Land gerade auf den Weg in die Unabhängigkeit begeben. Damals war Grosny noch eine unzerstörte Stadt. Heimat für mehr als eine halbe Million Menschen mit Krankenhäusern, Schulen, einer Universität, Restaurants und Märkten, auf denen Waren aus aller Welt angeboten wurden. Im Dezember 1991 war 12
Grosny eine lebendige Stadt, und keiner hätte für möglich gehalten, in welche Schrecken die folgenden Jahre führen würden. Die Gunst der Stunde schien damals die Chance zur Selbstbefreiung zu bieten. In Moskau waren der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und sein Rivale Boris Jelzin in einen Kampf um die Macht verstrickt. Weil die Auflösungstendenzen dem Präsidenten zum Schaden gereichen mussten, reiste Jelzin landauf, landab und predigte den Völkern der Sowjetunion, sie sollten sich so viel Freiheit nehmen, wie sie greifen könnten. Die Tschetschenen ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie wählten einen Mann zum Präsidenten, der schon in einem anderen Teil der Sowjetunion den Rausch der Freiheit erlebt hatte. Dshochar Dudajew war als General bei der strategischen Luftwaffe in Estland stationiert gewesen. Dort hatte er erlebt, dass die Entschlossenheit der Esten, das Moskauer Joch abzuwerfen, sich als stärker erwiesen hatte als die mit brutaler Gewalt eingesetzten Unterdrückungsmechanismen. Warum sollten für Estland andere Gesetze gelten als für das Volk der Tschetschenen? Welche Regeln des Völkerrechts konnten dem entgegenstehen? Es war eine Zeit voller Widersprüche. Nach der Unabhängigkeitserklärung in Grosny zogen die sowjetischen Streitkräfte ab. Ihre Waffen ließen sie zurück. Damit schien das Ende eines unglücklichen Kapitels der Geschichte gekommen zu sein. Viele Jahrzehnte hatte im 19. Jahrhundert das zaristische Russland gebraucht, um das Volk der Tschetschenen zu unterwer13
fen, schon damals ein unbarmherzig geführter Krieg, den die russische Literatur mystifizierte. Die Revolutionäre in St. Petersburg verhießen 1917 den unterdrückten Natio nalitäten Befreiung aus dem russischen Völkergefängnis. Aber mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, den Enteignungen von Grund und Boden fügten sie den Instrumenten der Kolonialisierung nur neue Waffen hinzu – die völlige Zerstörung der angestammten Lebensweise. Was russische Oberherrschaft bedeuten kann, demonstrierte Stalin. Im Februar 1944 ließ er das gesamte tsche tschenische Volk, weil es ihm als politisch unzuverlässig galt, in die kasachische Steppe deportieren. Unzugängliche Bergdörfer, deren Bewohner nur schwer abtransportiert werden konnten, wurden mit den Menschen und dem Vieh verbrannt. Insgesamt ist nach Schätzungen ein Drittel der tschetschenischen Bevölkerung bei dieser Aktion im eisigen Winter umgekommen. Erst Ende der fünfziger Jahre durften die Überlebenden in ihre Heimat zurückkehren. Traumatisch sind die Erinnerungen der Älteren, die alle in den Lagern in Kasachstan geboren wurden, noch heute. Dshochar Dudajew nahm, nachdem er seine strate gischen Bomber in Estland verlassen hatte, um sein Präsidentenamt in Grosny anzutreten, Quartier in der Shakespearestraße in einem ganz normalen Haus. Was den Blick eines in der Sowjetunion viel gereisten Korrespondenten bestechen konnte, war die Gepflegtheit der Dörfer und Häuser, deren gediegenes Aussehen von einer 14
tief verwurzelten Lebenskultur sprach. Solche Häuser, solche Höfe meinte man nie zuvor gesehen zu haben. Auch entsprach die Gastfreundschaft, die herzliche Aufnahme ganz und gar nicht den Geschichten, die in Moskau über die Tschetschenen verbreitet wurden. Dort sprach man gern von einem wilden, zur Kriminalität neigenden Kaukasusvolk. Weil damals noch nicht viele Korrespondenten nach Grosny kamen, ließ der Präsident von seiner russischen Frau Tee zubereiten. Auch tschetschenischer Kognak, im ganzen Kaukasus berühmt, gehörte zum gastlichen Angebot. Dudajew war ein gebildeter, umsichtiger Offizier. Sonst hätten ihn die sowjetischen Streitkräfte kaum zum Kommandeur eines Flugzeuggeschwaders mit atomaren Waffen aufsteigen lassen. Es war reiner Zufall, dass ich wieder in Grosny war, als der erste Krieg begann. In Moskau erlebte Präsident Jelzin ein politisches Zwischentief, weshalb im Kreis zwielichtiger Berater beschlossen wurde, den Tschetsche nen wieder die Daumenschrauben anzulegen, um damit den Ruhm Russlands zu mehren. Eine Kolonne von Panzern rollte nach Grosny. Es seien Tschetschenen, die sich gegen die Herrschaft Dudajews auflehnten, wurde gesagt. Die Panzer verfuhren sich im Labyrinth der Straßen Grosnys. Sie wurden ein rasches Opfer der tschetschenischen Soldaten, und es erwies sich, dass die Besatzung der Panzer bei Armeeeinheiten rund um Moskau angeworben worden war. Sie würden vom Jubel der Bevölkerung in Grosny empfangen werden, hatte man den russischen Soldaten und Offizieren gesagt. Sie wurden 15
die ersten Opfer eines finsteren Täuschungsmanövers des russischen Geheimdienstes. Nach dieser nicht zu verheimlichenden Niederlage rollte die Kriegsmaschine an. Alle Verhandlungsversuche Dudajews wurden von Moskauer Seite brüsk zurückgewiesen. Die folgenden Monate boten ein grausiges Bild. Ein friedliches Land wurde mit Krieg überzogen. Die ersten Toten waren wieder Russen, die als Bauern in tschetschenischen Dörfern lebten und deren Häuser im Schussfeld der Artillerie lagen. Dorf um Dorf wurde in Schutt und Asche gelegt. Sechs Wochen währte der Straßenkampf in Grosny, der nächtliche Winterhimmel über der Stadt war von den brennenden Häusern blutrot gefärbt. Doch der Widerstand der Tschetschenen blieb ungebrochen. Und selbst die von den Russen besetzte Hauptstadt eroberten die Tschetschenen in einem Handstreich wieder zurück. In dieser Zeit der Kämpfe kamen auch Wahhabiten in das Kaukasusland. Sie waren die Einzigen, die Hilfe versprachen. Sie hatten Geld und gewannen damit an Einfluss. Als Präsident Jelzin sich 1996 angesichts der anstehenden Wahlen zu Waffenstillstand und Friedensgesprächen gezwungen sah, wurde auf tschetschenischer Seite schon um die Macht gerungen. Moskau hatte Dudajew mit einem gezielten Raketeneinsatz töten lassen. Sein Generalsstabschef Aslan Maschadow, früher Oberst in der sowjetischen Armee, wurde der Oberbefehlshaber. Doch im Hintergrund standen bereits Männer, die im Gegensatz zum besonnenen und gemäßigten Maschadow 16
radikale Vorstellungen von einem streng ausgerichteten islamischen Staat entwickelten. Der Friedensvertrag vertagte die Entscheidung über den Status des Landes für die Zeit von fünf Jahren. Russland versprach Reparatio nen für die Schäden des Krieges zu zahlen. Im Januar 1997 fanden die Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien statt. Selten wohl ist es bei Wahlen glücklicher, stolzer und auch sauberer zugegangen. An nahezu jeder Urne standen Wahlbeobachter der OSZE . Die gemäßigte Linie siegte. Maschadow wurde Präsident. Doch nach den Tagen der Freude begann der Verfall. Der erste Krieg wurde »Kampf gegen das Banditentum« genannt. Erst später wurde das Feindbild um die Dimension »Kampf gegen den Terrorismus« erweitert. Angesichts des ungeheuerlichen Attentats vom 11. September 2001 in den USA entstand die weltweite Allianz im Krieg gegen den Terrorismus. Russland reihte sich ein und gab sich wegen des Konflikts im Kaukasus sogleich die Rolle eines Vorkämpfers. Aber nicht alle in dieser Allianz haben, wenn sie von Terroristen sprechen, die gleiche Tätergruppe im Auge. Und mancher verbindet mit diesem scheinbar unstrittigen Auftrag Ziele, die so unstrittig nicht sind. Schließlich stellt sich die Frage, welches denn die Umstände sind, die eine Radikalisierung von Bevölkerungsgruppen forcieren, sodass aus Unheil immer weiteres Unheil erwächst. Russland hatte nach der Wahl Maschadows mit sich und seinem kranken Präsidenten zu tun. Es nutzte die Chance nicht, mit diesem umgänglichen Mann, dem 17
ehemaligen sowjetischen Offizier, im Gespräch zu bleiben. Die russischen Militärs wollten die Schmach der Niederlage nicht vergessen. Die Hilfe für den Wiederaufbau blieb Russland schuldig. Der Präsident des armen und zerstörten Landes im Kaukasus verlor an Autorität, weil jene an Einfluss gewannen, die über arabisches Geld verfügten. Nur einer in Moskau erkannte die Gefahr. Der General außer Dienst Alexander Lebed flog im Sommer 1998 demonstrativ nach Grosny, um Maschadow den Rücken zu stärken. Aber er war selbst in Moskau zum Außenseiter geworden. Dort schien der Prozess des staatlichen Verfalls in Tschetschenien den Strategen entgegenzukommen, weil sie auf die Stunde der Rache warteten. Im Sommer 1999 war es wieder so weit. Zwei Bombenattentate in Moskau veränderten das Klima in der russischen Öffentlichkeit. Die hatte den ersten Tschetschenien-Krieg keineswegs als patriotischen Siegeszug feiern wollen. Aber angesichts der dreihundert Todesopfer in zwei gesprengten Wohnhäusern konnte die Regierung unwidersprochen die Bestrafung der Schuldigen verlangen. Schnell fand sich eine Spur zu tschetschenischen Verdächtigen. Doch nicht einmal die russische Staatsanwaltschaft mochte an ihrer Schuld festhalten. Bis heute sind die wahren Schuldigen nicht gefunden worden. Dennoch galt aus Sicht der russischen Regierung die tschetschenische Urheberschaft als gesichert. Schon zuvor war ein tschetschenisches Kommando in die Nachbarrepublik Dagestan eingefallen. Russlands Herrschaft im nördlichen Kaukasus schien in Gefahr. 18
Krieg schien die einzige Antwort zu sein. Und es fand sich auch der Mann, der bereit war, ihn zu führen und mit dem Krieg seinen politischen Aufstieg zu verbinden – Wladimir Putin. Im August 1999, in der Zeit der Gefechte an der tschetschenisch-dagestanischen Grenze und der Moskauer Bombenattentate, wurde der in der Öffentlichkeit völlig unbekannte Geheimdienstchef von Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten und kurz darauf auch zum späteren Nachfolger ernannt. Der Vorgänger hatte resigniert, weil er, wie er sibyllinisch sagte, nicht in der Lage sei, die an ihn gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Putin und seine Generäle hatten Lehren aus dem misslichen Ausgang des ersten Krieges gezogen. Die wichtigste war wohl, dass der zweite Krieg unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollte. Die russische Bevölkerung und das Ausland sollten nur die Bilder sehen, die dem Ansehen des Unterfangens nicht schaden würden. Anders als beim ersten Krieg wurde von Anfang an die lästige Berichterstattung unterbunden. Zunächst konnten Journalisten noch auf Schleichwegen über die Berge ins Land gelangen. Sie berichteten von Raketen, die auf den friedlichen Markt von Grosny gelenkt worden waren und dort ein schreckliches Blutbad angerichtet hatten. Sie wurden Zeugen, wie vier Wochen hindurch Grosny von Artillerie- und Bombenbeschuss zerstört wurde, obwohl nur ein kleiner Teil der Bevölkerung die Gelegenheit hatte, die Stadt vorher zu verlassen. Sie konnten Bilder des Grauens aus der Stadt zeigen, Bilder, 19
die die Namen anderer Städte in Erinnerung rufen, die im vergangenen Jahrhundert in Schutt und Asche gelegt worden waren. Das strenge Besatzungsregime machte später jede freie Berichterstattung unmöglich. Die russische Öffentlichkeit folgte dem Treiben eher widerspruchslos. Die Berichterstattung im Fernsehen wurde zensiert. Die meisten Zeitungen fügten sich den Vorgaben der Regierung und der Stimmung im Land. Der Krieg, der offiziell »Antiterror-Operation« genannt wird, dauert an. Und die Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater zeigte, dass das verdrängte Geschehen im Kaukasus sich nur noch mit erschreckenden Folgen ins Bewusstsein rücken kann. Was aber wirklich dort geschieht, schildert Anna Politkovskaja. Die Zeitung »Nowaja Gaseta«, für die sie arbeitet, ist klein. Und weil die Mitarbeiter mutig sind, steht sie unter dem Druck der Behörden in Moskau. Der jugendliche Chefredakteur sagt: »Unsere Arbeit hier in Moskau ist bedrohlich für unsere Karriere. Aber sie ist keine Bedrohung für unser Leben. Was Anna Politkovskaja macht, gefährdet ihr Leben. Vor zwei Jahren ist sie von russischen Soldaten fast erschossen worden.« Immer wieder fährt die Journalistin in das besetzte Tschetschenien und überführt die offizielle Darstellung der Lüge. Bei den russischen Truppen ist sie deswegen verhasst. In Moskau wurde sie mit Morddrohungen verfolgt. Indem Anna Politkovskaja das Unrecht und die Lage der Opfer beschreibt, erklärt sie auch die Prinzipien, nach denen Russland regiert wird. Es ist ein Russland 20
jenseits der romantischen Verklärung, das, einer unheiligen Tradition treu bleibend, über alle Regierungsformen hinweg der Devise folgt, Ruhm und Größe des Landes rechtfertigten jedes staatliche Handeln. Der im Westen zu Unrecht wenig bekannte russische Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin hat im 19. Jahrhundert diese Schule des Herrschens auf eine prägnante Formel gebracht: »Die Repräsentanten dieser Schule predigen allen Ernstes, je mehr Bürger man vernichte, desto glücklicher würden sie sein, und desto glänzender würde vor allen Dingen die Geschichte selbst.« Russland, so unglücklich in seiner Geschichte – zu allen Zeiten hatte es die Schriftsteller und Journalisten, die das Unglück beschrieben. Anna Politkovskaja steht nicht allein in Russland. Der Menschenrechtler Kowaljow sieht in Trauer die Erfüllung seiner Prophezeiung aus dem Jahr 1994. Politiker wie Grigori Jawlinski, Vorsitzender der Partei »Jabloko«, empfinden das Unrecht. Doch anders als in der Zeit des ersten Tschetschenien-Krieges – sie sind heute eine kleine Minderheit. Das staatliche Fernsehen gibt den Ton an. Und Politiker aus dem Westen, die Präsident Putin leichtfertig ihren Segen geben für den Krieg im Kaukasus, machen sie einsamer. Moskau, den 6. Dezember 2002
Grosny. September 2001. Blick aus dem Fenster des Rathauses. Bis heute hat sich an dieser Aussicht kaum etwas geändert.
VORWORT Wer bin ich eigentlich? Und warum schreibe ich über den zweiten Tschetschenien-Krieg? Ich bin Journalistin. Arbeite als Sonderkorresponden tin für die Moskauer »Nowaja Gaseta«, und das ist der einzige Grund, warum ich den Krieg gesehen habe: Ich wurde losgeschickt, um darüber zu berichten. Aber nicht, weil ich Kriegsberichterstatterin wäre und mich gut auskennen würde in diesem Metier, sondern weil ich ein ganz und gar ziviles Wesen bin. Das Kalkül des Chefredakteurs war denkbar einfach: Gerade ich als zutiefst ziviler Mensch könnte sie viel besser verstehen, die Leiden anderer zutiefst ziviler Menschen: der vom Krieg überrollten Bewohner der tschetschenischen Dörfer und Städte. Das ist alles. Deshalb fahre ich jeden Monat nach Tschetschenien, seit Juli 1999. Damals begann der so genannte »Vorstoß Bassajews nach Dagestan«, der ganze Flüchtlingsströme aus den Gebirgsdörfern in Bewegung setzte und den gesamten nachfolgenden Krieg provozierte. Natürlich habe ich Tschetschenien in alle Richtungen erkundet. Und dabei unsägliches Leid gesehen. Das Schmerzlichste 23
aber ist, dass viele meiner Helden, über die ich in diesen zweieinhalb Jahren schrieb, jetzt bereits tot sind. So sieht er aus, dieser furchtbare Krieg. Der mittelalterliche. Auch wenn er sich am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert und hier in Europa abspielt.
LONDON IM MAI 2002. WIE ALLES BEGANN Der Sommer 2002 steht vor der Tür, und es ist der 33. Monat des zweiten Tschetschenien-Krieges. Schwärzeste Trostlosigkeit und keinerlei Lichtblick, was sein Ende angeht. Die »Säuberungen« hören nicht auf und gleichen massenhaften Autodafés. Folterungen sind an der Tagesordnung, Exekutionen ohne Gerichtsverhandlung Routine, Marodeursunwesen und Plünderungen eine Banalität. Die Entführung von Zivilisten durch Angehörige der Föderationstruppen *, verübt in der Absicht, mit den Geiseln Sklavenhandel zu treiben, wenn sie noch leben, oder Leichenschacher, wenn sie tot sind, ist trivialer tschetschenischer Alltag. Ein Ritual à la 1937: »Menschenmaterial«, das in den Nächten spurlos verschwindet. Am Morgen dann – verstümmelte, entstellte Leiber in den Randbezirken der Ortschaften, dort abgeworfen während der Ausgangssperre. Und zum verfluchten einhundertsten, ja eintausendsten Mal höre ich Kinder auf den Dorfstraßen gewohnheitsmäßig darüber diskutieren, welchen Nachbarn man Die mit * gekennzeichneten Namen und Begriffe werden im Anhang erläutert
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gefunden hat und in was für einem Zustand. Heute … gestern. Mit abgeschnittenen Ohren, skalpiert, Gliedmaßen abgehackt … »Die Hände ohne Finger?« fragt ein Halbwüchsiger ungerührt. »Nein, bei Alaudin fehlen die Zehen«, antwortet ein anderer apathisch. Staatsterror, der einen nichtstaatlichen Terror bekämpfen will. Wahhabitische Banden *, die in die Ortschaften einfallen und Geld für den Dschihad * fordern. Die völlige Demoralisierung des fast einhunderttausend Mann starken Kontingents aus Armee- und Polizeikräften, die in Tschetschenien nach Gutdünken schalten und walten. Und eine Gegenreaktion, die nicht überrascht, weil sie zu erwarten war: Reproduktion des Terrors und Rekrutierung neuer Kämpfer für den Widerstand. Wer ist schuld? Präsident Aslan Maschadow *? Der vom Volk gewählt wurde und deshalb die Verantwortung für dessen Schicksal trägt? Maschadow ist in den Bergen, nur virtuell vorhanden für dieses Volk, und er hüllt sich gewöhnlich in Schweigen, ganz gleich, worum es geht. Maschadows Mitstreiter? Die haben sich in alle Welt zerstreut. Schamil Bassajew *? Ruslan Gelajew *? Omar Ibn al-Chattab *? Und Putin? Putin residiert im Kreml, nimmt die Honneurs der Weltgemeinschaft entgegen für seine Rolle als aktives Mitglied der ehrenwerten »Antiterror-Koalition«, will heißen – der »Koalition des Krieges gegen den Terror«. 26
Mai 2002. George W. Bush ist in Moskau. Der Schulterschluss wird geprobt, von einer »historischen Visite« gesprochen … Über Tschetschenien fast kein Wort, so als gäbe es diesen Krieg nicht. Auf meiner Suche nach Unterstützung ziehen sie an meinen Augen vorüber, die Hauptstädte der Welt. Im Frühjahr war ich in Amsterdam, Paris, Genf, Manila, Bonn, Hamburg … Überall die Bitte, »eine Rede zu halten über die Situation in Tschetschenien« – und das Resultat gleich Null. Nur höflicher »westlicher« Beifall als Reaktion auf die Mahnung: »Vergessen Sie nicht, dass in Tschetschenien weiterhin jeden Tag Menschen umkommen. Auch heute.« Ein unglaublicher und doch offenkundiger globaler Verrat an den unteilbaren menschlichen Werten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die sich etwas mehr als ein halbes Jahrhundert halten konnte, fiel im zweiten Tschetschenien-Krieg. Aus Genf, von den lustlosen Sitzungen der offiziellen Verteidiger der Menschenrechte, der UN-Menschenrechtskommission, reise ich weiter nach Urus-Martan, eine tschetschenische Kreisstadt. Dort herrscht blutige Stagnation: Alles ist wie vor einem Jahr, keinerlei Veränderungen. Durch das Kreisgebiet jagen »Todesschwadrone« – Rollkommandos der Föderationstruppen mit unklarer ministerieller Unterstellung und einem einzigen Ziel: der Vernichtung der »Feinde Russlands«. All derer, die für Dshochar Dudajew * und Aslan Mascha27
dow gekämpft, mit ihnen sympathisiert haben oder aber einfach nur zufällig in das Schussfeld geraten. Mai 2002. Ein fader Geruch von Sackgasse.
*** Und dann England. Ein respektables Hotel in einer teuren Gegend. Der alte Portier würdevoll-aristokratisch in seiner prachtvollen weinroten Livree. Als ich eintrete, erhebt sich ein grauhaariger Mann mit erstarrten Augen. Der etwas zu weite hellgraue Anzug unterstreicht nur seine tragische Müdigkeit. Die kraftlosen Schultern hängen herab. Der Mann ist Tschetschene, stammt aus UrusMartan, wo er bereits zwei Jahre lang nicht mehr war. Nicht sein konnte. Wegen dieses furchtbaren Kriegs. Der Mann sieht sich allzu oft um, wie ein Obdachloser. Er fühlt sich unbehaust in diesem Leben, trotz des Portiers, des teuren Hotels und des kosmopolitischen Landes um ihn herum. Ich suche seine früheren Züge. Die Welt kennt den »Grauen« ganz anders – von den Fotos, die über alle Bildschirme flimmerten und durch sämtliche Zeitungen und Agenturen gingen: furchtlos, rührig, voller missio narischem Eifer, mit einem khakifarbenen Kopftuch, nach Seeräuberart hinten gebunden, immer an der Seite Maschadows. Ein Mann, um den sich Legenden ranken. Achmed Sakajew *, Brigadegeneral der Kräfte des tschetschenischen Widerstands, Kampfgefährte Dudajews und Maschadows, aktiv beteiligt am Friedensprozess 28
von Chassawjurt * zu Ausgang des ersten TschetschenienKrieges, im zweiten dann Befehlshaber einer Sonderbrigade, im März 2002 verwundet, aus der Kampfzone herausgetragen, über die Berge, ins Exil, und seither nicht mehr zurückgekehrt in die Heimat. Heute ist Achmed Sakajew Sonderbevollmächtigter Aslan Maschadows im Ausland. Unser Treffen wurde aus konspirativen Gründen mehrmals verschoben – von einem Land ins andere. Russland hat Sakajew an Interpol »geliefert«, und er lebt unter falschem Namen. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagt er nach der Begrüßung und zeigt mir ein kleines Buch und eine Videokassette. »Danke.« Doch Sakajew lässt mich mit meiner ausgestreckten Hand stehen. Langsam dreht er das Buch um, kehrt die Seiten nach unten und schüttelt sie kräftig. »Sehen Sie, nichts drin«, sagt er gewohnheitsmäßig, so als gehöre sich das. »Keinerlei weißes Pulver. Sie brauchen keine Angst zu haben.« Ich habe keine Angst und ertappe mich doch dabei, dass ich seine Handbewegungen verfolge. Der letzte Krieg hat uns beide heillos verdorben. Selbst wenn wir in England sind, benehmen wir uns wie in Russland, wo alle Angst haben vor dem tschetschenischen Terrorismus und den Tschetschenen, und die wiederum geben sich Mühe, die Dinge gleich klarzustellen, bevor man sie darum bittet. Deshalb schüttelt Sakajew das Buch. 29
Und lässt es dabei nicht bewenden. Sondern holt noch ein Schlüsselbund aus der Hosentasche und schlitzt damit die Folie auf, in die die Videokassette eingeschweißt ist. »Hier – auch nichts.« »Achmed, ich bitte Sie …« »Was sein muss, muss sein.« Er sagt es ohne Lächeln und ohne Bitterkeit. Eine lastende Pause entsteht. »Wann waren Sie in Urus-Martan?«, fragt Sakajew, und in den halb geschlossenen Augen eines gehetzten Menschen, der sich daran gewöhnt hat, unablässig zu verfolgen, ob er nicht selbst verfolgt wird, schimmert jene Feuchte, die Tränen vorausgeht. Noch führen wir kein Interview, wir wechseln einfach ein paar Worte. Urus-Martan ist das Dorf, aus dem Sakajew stammt, nach tschetschenischer Tradition für ihn das teuerste Fleckchen Erde. »Vor ungefähr zehn Tagen. Ende April.« Sakajews Augen sind leer wie vordem, doch eine Träne rinnt langsam daraus hervor. Ich muss etwas sagen … »Man hat mir die Straße gezeigt, in der Ihr Haus …« »Und?« »Wissen Sie, es ist zerstört …« »Aber nicht ganz …« Sakajew will sich eine Chance lassen. 30
Obwohl wir beide wissen, dass sein Haus bis auf die Grundmauern zerstört ist. »Natürlich. Nicht ganz.« Es wird Zeit für das Interview. Über den Krieg, der uns auf den Fersen ist. Ein Interview, so lang wie dieser Krieg. Vielleicht auch – wie das Leben. Auf jeden Fall aber so lang wie unser Schicksal. Worüber wir sprechen, ist nicht so einfach zu verstehen angesichts der massiven Hirnwäsche in unserem Staat mit der Kriegspropaganda und der Anti-Tschetschenien-Hysterie. Begreifen lässt es sich nur unter einer Voraussetzung: dass man weiß, was in diesem Krieg und in seinem Dunstkreis geschah und geschieht.
TEIL 1
LEBEN IM KRIEG Tschetschenischer Alltag
»WIE GUT, WENN MAN TAUB IST« Der Krieg begann ganz trivial: mit der Bombardierung von Dörfern und Städten. Also begann dieser Krieg auch mit Strömen von Flüchtlingen. Tausende Menschen, die, Kinder und betagte Verwandte an der Hand, blindlings losstürzten, ganz gleich wohin, nur fort … Sie waren überall, kamen von überall her. Auf der wichtigsten Straße Tschetscheniens, der so genannten »Föderationstraße Rostow – Baku«, bildete sich eine viele Kilometer lange Menschenschlange. Doch auch sie wurde bombardiert.
September 1999. Wir liegen im verblichenen Herbstgras. Genauer gesagt – wir würden gern darin liegen, doch den meisten bleibt nur die staubige tschetschenische Erde. Weil wir zu viele sind, Aberhunderte, und das Gute reicht nicht für alle. Über uns ist ein Bombenhagel hereingebrochen. Obwohl wir nichts Schlimmes getan haben, nur in Richtung Inguschetien gelaufen sind auf der ehemaligen Trasse, die jetzt zerpflügt und ausgewalzt ist von Panzerfahrzeugen.
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Die Steinwüste von Grosny Anfang 2001. Im Hintergrund die Ruine des Erdöl-Instituts.
Hinter uns liegt Grosny. Zu einer Herde zusammengedrängt, fliehen wir vor Krieg und Kämpfen. Und in dem Augenblick, wo es losgeht, wenn du dich vornüber auf den Boden fallen lassen und zusammenkrümmen musst wie ein Embryo, Kopf, Knie und sogar die Ellenbogen unter den Körper gezogen, dann kriecht sie heran, die verlogene, klebrige Einsamkeit, und du fängst an zu denken: Weshalb mache ich mich bloß so klein? Was rette ich hier eigentlich? Dieses bisschen Leben, das außer mir sowieso keiner braucht? Wieso verlogen? Weil du genau weißt, dass das alles nicht stimmt. Die ganze Verwandtschaft zu Hause, die wartet und für dich betet. Und das Klebrige ist einfach ein physischer Zustand, der Schweiß. Wenn man sehr leben möchte, schwitzt man nun einmal übermäßig. 36
Obwohl einige Glück haben: Wenn sie die Anwesenheit des Todes fühlen, stehen ihnen nur die Haare zu Berge wie Stacheldraht. Aber Einsamkeit bleibt es doch … Wo auch immer, doch in der Nachbarschaft des Todes findet man keine Gefährten. Sobald dort oben, über deinem gekrümmten Rücken, die Hubschrauber zum Angriff übergehen, gleicht die Erde hier unten einem Totenlager. Wieder die Hubschrauber. Der nächste Anflug. Sie kommen so tief herunter, dass die Hände und sogar die Gesichter der Maschinengewehrschützen zu erkennen sind. Manche behaupten, sogar die Augen. Aber das ist eine Übertreibung, die die Angst hervorgebracht hat. Das Schlimmste sind ihre Beine, die aus den offenen Luken baumeln. Als wären die Schützen nicht hergekommen zum Töten, sondern um die müden Füße im frischen Luftstrom zu kühlen. Diese Beine sind riesengroß und furchterregend, die Schuhsohlen berühren uns beinahe. Fest halten die Schenkel die Maschinengewehrmündungen umschlossen. Auch wenn es geradezu ungeheuerlich anmutet: Jeder Mensch will sehen, wer sein Mörder ist. Wahrscheinlich lachen sie über uns, amüsieren sich, wie urkomisch wir hier unten kriechen, dicke alte Weiber, junge Mädchen, Kinder. Wir hören es sogar, ihr Wiehern, obwohl das sicher wieder eine Übertreibung ist – der Lärm ringsum übertönt alles. Maschinengewehrgarben füllen die Luft um unsere Körper mit Pfeiftönen, und 37
im Takt dieser Pfiffe beginnt unweigerlich jemand zu schreien. Tödlich getroffen? Verwundet? »Rühr dich nicht. Und lass den Kopf unten. Das kann ich dir nur raten«, sagt ein Mann neben mir. So, wie er da gestanden hatte, lag er nun auf der Erde – in schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Mein Nebenmann wird redselig. Wofür ich ihm dankbar bin, denn jetzt sind Worte allemal besser als Schweigen. Der Mann heißt Wacha, ist Staatsdiener, angestellt bei einer Behörde zur Neuordnung des Landes, und kommt aus Atschchoi-Martan, einem großen Dorf nahe der Grenze zu Inguschetien. Im Tschetschenien der Kriegstage haben alle Angst vor allem und jedem, und so hat Wacha, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, heute Morgen das Haus verlassen wie gewöhnlich, als ginge er zur Arbeit – im Anzug, eine Aktenmappe unter dem Arm. In Wirklichkeit wollte er fliehen. »Jedes Mal«, flüstert Wacha, weil man nur flüstern kann, denn unsere Lippen sind gegen den Boden gepresst, »jedes Mal, wenn die Hubschrauber angeflogen kommen, nehme ich meine Aktenmappe, hole ein Blatt Papier heraus und tue so, als würde ich etwas aufschreiben. Ich glaube, das hilft wirklich.« Die Leute, die neben uns liegen, beginnen leise zu kichern. »Wie kann Papier helfen? Was redest du denn da?«, 38
lispelt laut von links ein kleines, spindeldürres Männchen und spuckt Staub aus. »Die Piloten sehen, dass ich arbeite und kein Terrorist bin«, gibt der Landverweser Kontra. »Und wenn sie genau das Gegenteil denken? Dass du ihr Nummernkennzeichen aufschreibst?«, reagiert ein weiblicher Körper ein Stück weiter vorn und verändert vorsichtig, nur um eine Winzigkeit, seine Lage. »Meine Glieder sind wie abgestorben … Wann hat das bloß ein Ende?« »Wenn die zu Verstand kommen.« Der, der das sagt, ist nicht zu sehen. Er muss hinter uns sein. Und das ist gut so, denn die Worte klingen unnachgiebig und scharf wie ein Beil, ohne jedes Mitleid. »Lass gut sein. Jeder hat sein Päckchen zu tragen«, unterbricht eine Greisenstimme den Hartherzigen. Und wendet sich an Wacha: »Zeig doch mal deine Mappe, bitte. Ich erzähle es dann weiter.« Die Leiber, die bei den Worten des Forschen verstummt waren, greifen wieder nach dem Strohhalm, dem kleinen Stückchen Spaß, das für manchen von ihnen das letzte sein wird. »Zeig mal, nun zeig schon …« »Wir legen uns auch welche zu …« »Dann werden die Aktenmappen knapp bei den Russen …« »Und der Putin denkt, was laufen die Tschetschenen bloß alle mit Aktenmappen im Krieg rum? Wo sie doch angeblich Maschinengewehre schleppen …« »Dann verteilt der am Ende auch welche an seine 39
Föderalen. Und ganz Tschetschenien besteht nur noch aus Aktenmappenträgern.« »Wacha, mein Bester, was für eine Farbe muss denn die Mappe haben?« Die Hubschrauber aber wollen und wollen nicht einlenken, beschreiben Runde um Runde, Kinderweinen zerreißt die Erde, die übersät ist mit Menschenleibern, immer wieder Maschinengewehrsalven – wenn sie doch wenigstens für einen Augenblick still sein würden! –, und das unablässige Quäken der aufschlagenden Minen, das einen Anflug von niederträchtiger Gemeinheit über unser Todeslager weht. Gerade das hat uns noch gefehlt! Und trotzdem machen die Leute ihren Spaß. »Alles liegt in Allahs Hand«, wehrt Wacha ergeben ab, als ihm die anderen zusetzen. »Aber! Ihr könnt sagen, was ihr wollt, mit der Aktenmappe bin ich kein einziges Mal verwundet worden. Nicht im ersten Krieg, und in diesem auch nicht. Es hat immer geholfen.« »Sag bloß, im ersten warst du auch … mit der Mappe …?«, will sich einer ausschütten vor Lachen, doch es klingt abgehackt, deshalb allzu nervös. »Warum liegst du dann hier rum? Los! Steh schon auf!« Wacha wurde es zu bunt. »Alle liegen doch. Was soll ich da als Einziger aufstehen? Und mich zur Zielscheibe machen?!« »Aber du hast ja deine Mappe.« Das ist wieder der Alte, der dem »Hartherzigen« so in die Parade gefah40
ren ist, dass dieser seitdem kein Wort mehr gesagt hat. Der Alte lacht irgendwo hinter uns. Wenn man es überhaupt als Lachen bezeichnen kann, was da von unseren Ohren als Regung seines Körpers im Takt mit dem heiseren Aushusten von Luft in den Boden wahrgenommen wird. »Kcha, kcha, mein lieber Junge! Du weißt gar nicht, was du für ein Schwein hast: Die da könnten meinen, du zählst uns. Bist also auf ihrer Seite.« Darauf sagt Wacha nichts mehr – das ist wirklich eine denkbar ungünstige Gelegenheit für Witze, und außerdem sollte man nichts übertreiben. Mit heftigen Atemstößen von irgendwo unter seinem Körper beginnt er, sich den Staub von den schmutzigen schwarzen Anzugärmeln zu blasen. Weil es das Einzige ist, was er tun kann, in dieser Pose eines Embryos, in die man uns gezwungen hat. Wacha und seine Wundermappe werden einen Tag später umkommen, zerrissen von einer Mine, anderthalb Kilometer entfernt von der Stelle, an der wir jetzt liegen. Wacha wird ein paar Meter vom Weg abgehen, auf eines der verwilderten, nicht abgeernteten Felder des ersten Kriegsherbstes. Damals lagen ja schon überall unzählige Minen, doch alle miteinander, russische Soldaten und Rebellen eingeschlossen, liefen ohne Karten von diesen Minenfeldern in Tschetschenien herum. Russisches Roulette. Wacha geht also vom Weg ab, ohne Notwendigkeit, einfach so, weil das Warten an den Nerven zerrt: Zu lang 41
ist die Schlange vor der Postenstelle, wo die Ausweise kontrolliert werden, und sie besteht fast ausnahmslos aus »Verwandten« – denjenigen, mit denen er gestern dem Tod ins Auge geblickt hat, aus uns, den Lachlustigen. Der tote Wacha wird wieder auf dem Boden liegen, jetzt aber ohne Furcht, das verstümmelte Gesicht nach oben gekehrt, die Arme so weit ausgebreitet, wie es im wirklichen Leben nicht vorkommt. Der linke an die zehn Meter weit von seinem zerfetzten schwarzen Jackett, der rechte etwas näher, vielleicht fünf Schritte entfernt. Und mit seinen Beinen wird überhaupt etwas Furchtbares geschehen: Sie werden verschwunden sein, gewiss zu Staub verwandelt während der Detonation und vom Winde davongetragen. Das gleiche Schicksal widerfährt auch der Aktenmappe mit den leeren weißen Blättern Papier. Die vor Hubschraubern schützen konnte, nicht aber, wie sich zeigen sollte, vor Minen. Dann gehen zwei Soldaten zu Wacha, von der Postenstelle, vor der die lange Schlange wartet. Der eine winzig klein und kindlich, wie ein Fünfzehnjähriger, mit einem Helm, der ihm viel zu weit ist, und Stiefeln in einer ganz falschen Größe. Der andere etwas älter und gesetzter, ordentlicher anzusehen, die Hände in den Taschen der Tarnhose. Der Erste fängt leise an zu weinen, schmiert den Schmutz auf seinem Gesicht breit und wendet sich ab, unfähig, den Anblick zu ertragen. Der Zweite versetzt ihm einen Schlag ins Genick, worauf der Junge 42
verstummt wie ein Wecker, dem eine flache Hand das Läutewerk unsanft niederdrückt, damit es nicht beim Weiterschlafen stört. Tschetschenen aus der Schlange kaufen dem Leutnant dieser beiden Soldaten einen großen schwarzen Plastiksack ab, die »eiserne Reserve« für den Fall einer »Fracht 200« *, tragen Wachas sterbliche Überreste zusammen und beratschlagen lange, wohin sie sie bringen sollen. Zu seiner Mutter, seiner Frau und den Kindern in das Lager hinter der Grenze? Oder nach Atschchoi-Martan, in Wachas leeres Haus? Schließlich siegt der gesunde Menschenverstand: nach Atschchoi-Martan natürlich. Begraben werden muss er sowieso dort, auf dem Friedhof, wo seine Sippe liegt. Wozu also Geld ausgeben und die Last nach Inguschetien schleppen? Dorthin passieren zu können, kostet gepfefferte Bestechungsgelder. Am Kontrollpunkt »Kawkas«, der Scheidelinie zwischen diesem Krieg und der übrigen Welt, muss man doppelt bezahlen, auf dem Hin- und auf dem Rückweg, und für Leichen noch dazu das Zweioder Dreifache, je nach Laune des »Ranghöchsten«. … Doch jetzt hat Wacha noch einen ganzen Tag zu leben, ist gesund und munter. Und wir, die wir noch immer bei Gechi auf dem Boden liegen, hoffen nicht nur, den Hubschraubern zu entgehen, sondern wollen auch ein klein wenig an unsere baldige glückliche Zukunft glauben. Der Krieg hat gerade erst angefangen, es sind die ersten Tage im Oktober 1999, und uns will scheinen, dass die Kämpfe gar nicht mehr so lange dauern werden, dass die Flüchtlinge bald in ihre Häuser zurückkehren 43
können und wir nur diesen einen Tag überleben müssen, danach kommt schon alles irgendwie ins Lot. Und irgendwann, in einem Anfall von Mut – wenn die Gefahr zu lange anhält, verliert sie ihre Schärfe und wird lästig –, pfeift Wacha auf die Hubschrauber und dreht sich plötzlich auf die Seite. Und beginnt so, ganz normal, ganz manierlich, ohne Erde im Mund, von seiner Familie zu erzählen. Von den sechs Kindern, die sich vor einer Woche zusammen mit seiner Mutter, seiner Frau und den zwei unverheirateten Schwestern von Atschchoi aus aufgemacht haben nach Inguschetien. Zu ihnen will er sich durchschlagen. Seitwärts von uns wird Gechi bombardiert. Unermüdlich, mit heiligem Eifer, wie vielleicht Königsberg im Zweiten Weltkrieg. Und Wacha krümmt sich wieder zusammen. »Dort sind die Flüchtlinge aus Grosny, grauenhaft …«, sagt er und vergisst ganz das Familienthema, gefesselt vom Rhythmus dieses immer lauter dröhnenden irratio nalen Bombardements der »eigenen Leute« durch die »eigenen Leute«. »Bestimmt Tausende. Beim letzten Bombenangriff, vergangene Woche, haben sie das Krankenhaus zerstört, und die Verwundeten und Kranken wurden fortgeschafft. Wo sollen jetzt die neuen Verwundeten untergebracht werden?« Die Frauen weinen leise, zischen aber die Kinder an, 44
sie sollten aufhören zu greinen – als ob die Kinder nicht auch Menschen wären wie sie. Das Geheul der Vernichtungswaffen umgibt uns von allen Seiten, gönnt dem Hirn keine Atempause. Und obwohl seit Beginn der Hubschrauberattacken kaum eine halbe Stunde vergangen ist, erscheint es uns längst wie ein halber Tag – Zeit genug, um dich an einen Großteil deines Lebens zu erinnern. Langsam verlieren die Menschen die Selbstbeherrschung, Schreie des Wahnsinns sind zu hören, Männer weinen. Aber nicht alle. Unter uns sind auch ein paar Jugendliche von dreizehn oder vierzehn Jahren. Aufgekratzt und freudig diskutieren sie, was für eine Waffe gerade zum Einsatz kommt. Und legen dabei profunde Sachkenntnis an den Tag. Wie sollte es auch anders sein? Sie haben ihr gesamtes bewusstes Leben mit dem Studium des modernen militärtechnischen Vokabulars zugebracht – schließlich ist schon fast zehn Jahre Krieg in Tschetschenien. Zwischen uns und den Halbwüchsigen kriecht ein kleiner Junge, vielleicht sechs Jahre alt. Er ist dünn und traurig. Der Junge weint nicht, schreit nicht, klammert sich nicht an seine Mutter, sondern sieht sich nur nachdenklich um und sagt: »Wie gut, wenn man taub ist …« Ganz sachlich, ruhig, ja alltäglich. So als würde er sagen: »Wie gut, wenn man Ball spielen kann …« Jetzt prasselt auf uns alle »Hagel« herab – das Furchtbarste, womit man in diesem Krieg das Gehör der Menschen peinigt und ihnen das Leben zur Hölle macht. 45
»Hagel« – das sind Granatwerfer, die reaktiven »Katjuschas« * des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Ihre Salven pfeifen und zischen lange. Aber wenn du sie hörst, heißt das, sie sind vorbeigeflogen, und der Tod, auch wenn er nahe war, hat einen anderen gewählt. Und du freust dich darüber … Dieser »Hagel« verwandelt auch dich in eine entmenschte Kreatur, die gelernt hat, sich über fremdes Leid zu freuen. Auf den Punkt bringt es der kleine Junge, der – allen Umständen zum Trotz – den Kopf bequem auf ein Grasbüschel bettet wie auf ein Kopfkissen und sagt: »Die Tauben hören von alldem gar nichts. Deshalb haben sie auch keine Angst.« Wacha zieht den Kleinen zu sich heran, nimmt ihn in den Arm und fingert ein Bonbon aus der Tasche seines schwarzen Jacketts. »Wie heißt du denn?« Wacha weint lautlos. »Scharpuddin«, antwortet der Junge und betrachtet verwundert die Tränen eines erwachsenen Mannes. »Noch besser wäre es jetzt, Scharpuddin, wenn man gleichzeitig blind, taub und dumm sein könnte.« Unter dem Blick des Jungen werden Wachas Augen trocken. »Aber wir sind es nun einmal nicht. Und trotzdem müssen wir überleben.« Fünf Minuten später drehen die Hubschrauber ab. Der »Hagel« hört auf. Der Angriff ist zu Ende. Die am Boden Liegenden springen alle zugleich auf, schütteln und klop46
fen die Erde ab, einige preisen Allah. Das Feld regt sich. Frauen laufen los, um Autos für die Verwundeten aufzutreiben. Die Männer tragen die Toten an einer Stelle zusammen. … Eine Nacht und ein Tag werden vergehen, und der kleine Scharpuddin wird zu den erwachsenen Männern trotten, die Wacha in einem schwarzen Plastiksack verstauen, und wortlos beginnen, ihnen zu helfen. Grob zischen sie ihn an, wollen den Jungen – um seiner selbst willen – verscheuchen wie einen Hund, doch da tritt seine Mutter für ihn ein. Sie erklärt, dass ihr Sohn das letzte Kind war, das der sechsfache Vater Wacha in seinem Leben im Arm hielt. Da lassen sie ihn gewähren.
DAS BEHELFSLAGER TSCHIRI-JURT Tschiri-Jurt ist ein ausgedehntes tschetschenisches Dorf, zu Sowjetzeiten ein Industriestandort, mit einem großen Zementwerk, vielen tausend Einwohnern, die in diesem Zementwerk arbeiteten, mit Kultur- und Krankenhäusern, Schulen, Bibliotheken, einer entwickelten Infrastruktur sowie einem beeindruckenden Prozentsatz an Gebildeten. Gerade die für eine industrielle Entwicklung so förderliche geographische Lage von Tschiri-Jurt sollte dem Dorf mit Anbruch der Epoche der »strategischen Höhen« und »Kommandopunkte« zum Verhängnis werden, seine Tragödie im 47
zweiten Tschetschenien-Krieg heraufbeschwören: Von dem Zementwerk steht nichts mehr, die Dorfbewohner haben keine Arbeit, die Infrastruktur ist in höchst desolatem Zustand, die Gebildeten sind längst fort. Dafür hat sich die Einwohnerzahl von Tschiri-Jurt vervielfacht. Denn Tschiri-Jurt liegt am Ausgang der Argun-Schlucht oder des »Wolfstors«, wie die russischen Militärs die Gegend nennen. Bis zur Argun-Schlucht und bis Tschiri-Jurt erstreckt sich, wenn man aus dem 22 Kilometer entfernten Grosny kommt, eine Ebene, wo Erdöl gewonnen und in Raffinerien verarbeitet wird. Die hätten natürlich Föderale wie Rebellen gleichermaßen gern unter ihrer Kontrolle. Hinter TschiriJurt beginnen die Gebirgskreise Noshai-Jurt, Wedeno und Schatoi – die Stammgebiete von Bassajews und Chatabs Kämpfern. Von hier aus begannen im Sommer 1999 die Rebelleneinheiten ihren Vorstoß nach Dagestan, der im eigentlichen Sinne zum Auslöser des zweiten Tschetschenien-Krieges wurde. Hierher kehrten sie anschließend auch zurück, was der hiesigen Bevölkerung den zweifelhaften Vorzug bescherte, das moderne Politgeschäft nicht im Fernsehen verfolgen zu müssen, sondern es am eigenen Leib zu erfahren. Damals, im Jahre 1999, wurden die Menschen hier Zeugen einer Provokation mit verheerenden Folgen und eines ungeheuerlichen Verrats: Bassajews und Chattabs Einheiten konnten aus Dagestan zurückkehren, ohne dass die Fliegerkräfte der russischen Armee, die den Marsch verfolgten, auch nur im Mindesten eingriffen. 48
Kaum waren die Kämpfer jedoch in den Gebirgswäldern verschwunden, begannen intensive Bombardements der Dörfer, durch die die Rebellen auf ihrem Rückweg gekommen waren. Dabei wurde Duba-Jurt, ein weiteres Dorf mit mehreren tausend Einwohnern in der Nähe von Tschiri-Jurt, jedoch tiefer in den Gebirgsausläufern gelegen, zu 98 Prozent zerstört. Worauf ein Großteil der obdachlos gewordenen Bewohner in das »verwandte« Tschiri-Jurt floh. Und es ist ganz und gar kein Zufall, dass sich gerade hier, auf dem kleinen Fleckchen Erde zwischen Tschiri-Jurt und Duba-Jurt, Ereignisse abspielten, die zum Ursprung einer ganzen Reihe tragischer Kollisionen mit prinzipiellen Konsequenzen für ganz Russland werden sollten. Im Februar des Jahres 2000 tobten heftige Kämpfe um das »Wolfstor«, an denen auf Seiten der föderalen Armee auch ein Panzerregiment beteiligt war, das als eine der besten Einheiten innerhalb der russischen Streitkräfte galt. Es stand unter dem Befehl von Juri Budanow, einem Oberst, ausgezeichnet mit zwei Tapferkeitsorden. Das weitere Geschehen, das sich mit ebendiesem Oberst Budanow verbindet, offenbart in mehr als exemplarischer Weise das »neue Gesicht Russlands«, das Gesicht eines pro-militaristischen und neo-sowjetischen russischen Staates unter Wladimir Putin, in dem der Zweck wieder einmal die Mittel heiligt. Im Kampfgebiet zwischen Tschiri-Jurt und Duba-Jurt fielen im Februar 2000 mehrere von Budanows Offizieren, darunter auch sein bester Freund Major Rasmachin. Hier 49
schwor sich Budanow, um jeden Preis Rache zu nehmen an den Heckenschützen, die seine Kameraden getötet hatten. Ende Februar wurde Budanows Regiment aus dem Kampfgebiet abgezogen und 80 Kilometer tiefer hinein nach Tschetschenien verlegt, an den Rand der Ortschaft Tangi-Tschu, die allenthalben Bekanntheit erlangen sollte im Zusammenhang mit den so genannten »Kriegsverbrechen durch Angehörige der Föderationsstreitkräfte in Tschetschenien«. Am 26. März 2000, in der Nacht nach Putins Wahl zum Präsidenten der Russischen Föderation, trank Oberst Budanow viel und hielt den Zeitpunkt der Rache für die Verluste am »Wolfstor« für gekommen: Er entführte, vergewaltigte und erwürgte die achtzehnjährige Tschetschenin Elsa Kungajewa, in der er jene Heckenschützin zu erkennen glaubte, die die Schuld am Tod seiner Kameraden trug. Gerade der letztgenannte Umstand führte dazu, dass ihn in der Folge sowohl die russische Öffentlichkeit als auch die Militärstaatsanwaltschaft Russlands mit der Begründung freisprachen, der Mord sei »sozial motiviert« und damit »rechtmäßig« gewesen. Aber das ist bereits ein späteres Kapitel jenes Krieges, der unser gesamtes Leben zutiefst verändern sollte … Kehren wir zunächst zurück nach Tschiri-Jurt, in den fast 50 Grad heißen, quälenden Sommer des ersten Jahres im zweiten Tschetschenien-Krieg. Mitten unter die Menschen, die Budanows Regiment aus ihrem angestamm50
ten Dorf vertrieb und zu Ausgestoßenen machte. Ohne Rechte, gedemütigt, hungrig und schmutzig.
Chasimat Zum ersten Mal sehe ich in der Realität, nicht im Kino, eine vor Hunger aufgedunsene alte Frau – und dieser Anblick wird für lange Zeit in meinem Gedächtnis bleiben. Es war fast ein Jahr nach Kriegsbeginn, direkt im Zentrum von Tschiri-Jurt, in der hoffnungslos überfüllten ehemaligen Schule Nr. 3, die vor acht Monaten, als die Bombardements immer näher rückten, den Lehrbetrieb einstellte und zu einem von fünf Flüchtlingslagern umfunktioniert wurde. Eine Gravur ist ja bekanntlich in einer einzigen Farbe gehalten. Und genauso sah auch Chasimat Gambijewa aus. Knochendürr, mit geschwollenen Gelenken und aufgetriebenem Leib, schien die alte Flüchtlingsfrau wie mit schwarzem Strich auf Papier gebannt ohne Zwischentöne. Das schwarze Muster der Falten auf einer Haut von unnatürlicher Farbe. Die eingefallene Nase – eine einzige schwarze Linie. Dunkle, spitz hervorspringende Jochbeine. Die Blockade Leningrads im Millennium. Und wieder in Europa, das jetzt viel zu sehr mit den rauschenden Festen zu Ehren des anbrechenden neuen Jahrtausends befasst ist, um an Tschetschenien – auch ein europäisches Territorium – zu denken. 51
Chasimat ist schwer krank. Und eigentlich gar keine Greisin. Ihre jüngste Tochter ist erst 13, sie selbst 51. Die Krankheit, die Chasimat zu einer wandelnden Gravur gemacht hat, heißt ganz einfach Dystrophie. Chronischer Hunger. Alles, was die elfköpfige Familie Gambijew ergattern kann, gibt Chasimat, die selbstlose Mutter und Großmutter, den Kindern und Enkeln. Jeden Apfel bekommen die kleinsten Enkel, weil bei ihnen vor Hunger und Kälte Tuberkulose ausgebrochen ist. Das Mehl für Fladenbrot – die heiratsfähigen Töchter. Anfangs, als sie gerade in Tschiri-Jurt angekommen waren, hatten die Gambijews noch Geld: Die Mädchen trugen der Reihe nach ihre Ohrringe auf den Basar. Eine Zeit lang lebten sie davon, dass der älteste Sohn den kleinen Fernseher verkaufte, das Einzige, was sie aus ihrem abgebrannten Haus retten konnten. Danach hatten sie kein Geld mehr. »Worauf hoffen Sie für die Zukunft?«, frage ich. »Ich hoffe auf gar nichts. Wenn wir einen Tag überlebt haben, danke ich Allah«, antwortet Chasimat, die rechte Hand an den Hals gelegt, als helfe ihr das beim Atmen. »Es gibt nichts, keine Hilfe von nirgendwoher. Wir verrecken ganz langsam. Mein Ältester kann kaum noch gehen, weil er nichts zu essen kriegt. Meine Jüngste ist gestern ohnmächtig geworden vor Hunger. Und die Nach52
barn hier im Lager tun so, als wüssten sie nicht, warum. Obwohl sie Brot und Tee hatten, ich habe es genau gerochen … Die Menschen sind wie die Tiere geworden.« Am Ende der ersten zwölf Monate dieses Krieges lässt sich eine seiner verheerendsten Folgen nicht mehr verbergen. Unter dem unbarmherzigen Druck des Hungers und einer allenthalben grassierenden Tuberkulose, wie sie nicht einmal im vergangenen Winter in den riesigen Flüchtlingsenklaven Inguschetiens wütete, verlieren die Tschetschenen zunehmend die geistige Identität ihres Volkes. Noch im Winter schleuderte dir die Mehrzahl der Flüchtlinge unbeirrbar und böse ins Gesicht: »Wir werden auch DAS überleben! Da könnt ihr Druck ausüben, soviel ihr wollt! Weil wir zusammen sind, und zusammen sind wir stark.« Jetzt musst du immer damit rechnen, dass dich in irgendeinem Winkel des Lagers jemand am Arm fasst und dir leise bedrückt zuflüstert: »DAS halten wir nicht mehr aus. Wir sind Wölfe geworden. Auch füreinander.«
Das G-4-Syndrom Auf dem Hof hinter der ehemaligen Geflügelfarm von Schali, einer Kreisstadt, 30 Kilometer von Tschiri-Jurt entfernt, prügeln sich Hunderte von Menschen gnadenlos, unter hysterischem Keifen und Fluchen. Sie sind seit dem frühen Morgen hier, um ihre »G-4« – eine spezi53
elle Eintragung in den Dokumenten, die ihren Status als obdachlos gewordene Flüchtlinge im eigenen Land bestätigt – abzuholen: drei Büchsen Kondensmilch und eine Fleischkonserve pro Person. G-4, so nennt man hier offiziell die Hilfslieferungen der russischen Regierung für die Opfer der »AntiterrorOperation«. Wenn jetzt die G-4 verteilt wird, heißt das, es gab während des gesamten Kriegsjahres vier derartige Verpflegungspakete. Rationen für jeweils drei Tage, veranschlagt mit 15 Rubeln pro Tag und Person. Die Ausgabe der G-3 liegt mehrere Monate zurück. Die gleichen Lebensmittelrationen werden in den nächsten Tagen auch die Flüchtlinge in Tschiri-Jurt und unter ihnen die Gambijews erhalten. Ich stehe im Hof der Geflügelfarm von Schali, umringt von halb verhungerten Menschen, die zu den Überleben verheißenden Lastwagen drängen, und denke an die gepflegte Erscheinung Sergej Jastrshembskis, des persönlichen Tschetschenien-Beauftragten Präsident Putins, der erklärt hatte, es gebe keine »humanitäre Katastrophe«. Aischat Dshunaidowa, als Leiterin des Flüchtlingsdienstes im Kreis Schali immerhin für 60 000 registrierte Flüchtlinge zuständig, formuliert es so: »Setzen Sie Moskau davon in Kenntnis, dass man mit diesem staatlichen Almosen nicht überleben kann. Viele unserer Flüchtlinge sind faktisch zum Hungertod verurteilt.« 54
Natürlich verspreche ich, »Moskau in Kenntnis zu setzen«. Aber sehr leise. Verspreche eigentlich gar nichts, sondern nicke nur, murmele irgendetwas. Ohne eine Erklärung. Wie soll man auch einem zum Hungertod Verurteilten erklären, dass erstens Moskau auf mein »In-Kenntnis-Setzen« pfeift, dass zweitens die Situation in Moskau im Hinblick auf den Kaukasus-Krieg völlig verworren ist und kaum einer richtig Bescheid weiß oder auch nur wissen möchte, dass drittens selbst meine engsten Freunde dem, was ich nach meinen Reisen über Tschetschenien berichte, keinen Glauben schenken, ich also aufgehört habe, irgendetwas erklären zu wollen, und lieber dasitze und schweige, wenn ich eingeladen bin, und dass viertens schließlich in meiner Zeitung, die in Opposition steht zu der gegenwärtigen »Linie von Partei und Regierung«, meine Tschetschenien-Reportagen beileibe nicht immer sehnlichst erwartet und umgehend gedruckt werden, dass ich vorher oft die »härtesten Brocken« herausnehmen muss, weil die Leserschaft nicht schockiert werden soll, dass sich innerhalb der Redaktion die Polemik um dieses Thema zugespitzt hat wie nie zuvor und ich oft einen schweren Stand habe … Aber davon sage ich nichts. Aus dem einen einfachen Grunde: Für die Menschen hier, die so viel durchgemacht haben und noch durchmachen werden, bin ich das erste zivile Wesen VON DORT, aus der anderen, der NichtKriegs-Welt. Hierher kommen keine Journalisten, also kann keiner berichten, was wirklich geschieht.
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Um von dem drohenden Hungertod zu erzählen, muss Aischat Dshunaidowa die heulenden, kreischenden Frauen überschreien, die vor Hunger von Sinnen sind und sich, Beschimpfungen keifend, gegenseitig die Dreitagesration aus den Händen reißen. Ich sehe, wie einige in der Menge andere anspucken. Das sind die Tuberkulosekranken. In ihrer grenzenlosen Verbitterung, ihrem Hass auf die Welt wollen sie diejenigen anstecken, die noch kein Blut husten, oder sie hoffen, die Gesunden würden ängstlich zurückweichen und sie vorlassen zu den Kisten mit den Konserven. Um die Lastwagen mit den G-4-Rationen sind Soldaten postiert. Die Maschinengewehre im Anschlag, versuchen sie irgendwie Ordnung zu schaffen unter den gepeinigten Menschen. Auf ihren Gesichtern liegt ein eigentümlicher Ausdruck: Kein Mitleid, aber auch keine stumpfe Grausamkeit, eher der Schock darüber, an was für einem »Krieg« sie teilnehmen müssen. Einem Krieg gegen hungernde Menschenmassen. Später, Monat für Monat, wird mir dieser Ausdruck noch viele Male begegnen: Die meisten Soldatengesichter im zweiten TschetschenienKrieg sehen so aus. Währenddessen stürmt eine andere Menge Hungernder das verschlossene Eingangstor der Geflügelfarm. Das Eisengitter hält stand, und da kehrt sich die ganze Wut der Menschen nach innen. Sie brüllen einander ins Gesicht, was sie dem anderen antun werden, wie sie ihn 56
abschlachten, aufknüpfen, was sie ihm alles abschneiden und wem zum Fraße vorwerfen werden … Doch wofür? Nur dafür, dass der andere ein paar Schritte weiter vorn steht und sein Büchsenfleisch eine halbe Stunde früher isst … Der völlige Verlust aller menschlichen Gefühle, das Fehlen jeglichen Gemeinschaftssinns. Es ist nicht mehr zu übersehen, wie weit die eigentliche tschetschenische Mentalität bereits zerstört ist, wie das Menschliche in den Menschen zertreten und pervertiert ist durch Krieg und Hunger. Sieht man diese unglückseligen Entwurzelten, spricht man mit ihnen, ist sie nicht wiederzufinden, die legendäre Unbeugsamkeit dieses Volkes, die ihm eine ganz besondere Überlebenskraft verlieh auf den weiß Gott nicht ebenen Pfaden seiner Geschichte. Und keine wohlhabenden tschetschenischen Geschäftsleute sind in Sicht, die ihren Not leidenden Landsleuten einen geringen Teil des eigenen Reichtums abgeben wollen. So sind die armen Tschetschenen – und gerade sie befinden sich ja in den Flüchtlingslagern – allein mit ihrer Armut und Trostlosigkeit, mit ihren G-1-, G-2-, G-3und G-4-Rationen … Von einer monolithischen Nation, die das »Ureigene« mit Klauen und Zähnen verteidigt, ist nichts als ein Mythos geblieben? Wie konnte das geschehen? Vor aller Augen. Unter Aufsicht der internationalen Beobachter. Des Roten Kreuzes. Der Ärzte ohne Grenzen. Der Ärzte der Welt. Der Heilsarmee. Der Menschenrechtsschützer im In- und Ausland. Ja sogar in Anwesenheit eines Putin’schen Son57
derbeauftragten für die Einhaltung der Menschenrechte im Gebiet der »Antiterror-Operation«. Betritt man das ehemalige Wohnheim des zerstörten Zementwerks von Tschiri-Jurt, in dem sich jetzt ein behelfsmäßiges Flüchtlingslager befindet, erhebt sich sofort Geschrei. Ein halb tierisches, lang gezogen monotones Heulen, wie es nur extreme Verzweiflung hervorbringt. Erfahren diese Menschen, dass du Journalist bist, klammern sie sich an deine Kleidung, deine Arme und Beine, als seist du ein Zauberer, als könntest du etwas so Prinzipielles vollbringen wie das Herbeibeordern eines Lastwagens mit vielen Tonnen Mehl – einmal wirklich genug für alle, die überleben wollen. Wer ist schuld an dieser nationalen Schande? Diese Frage drängt sich dir hartnäckig auf, denn du bist auch ein Mensch und dein Bewusstsein will sich ebenfalls festhalten an einem Schuldigen. Natürlich trifft die Schuld Nummer eins den Präsidenten und die Regierung, die diesen Krieg führen und keinen Gedanken daran verschwenden, dass die Konsequenz unausweichlich Massen hungernder, kranker und obdachloser Menschen sind. Und Schuld Nummer zwei? Hier haben wir es mit einem fast konträren Phänomen zu tun: Im Herbst 1999 und im darauf folgenden Winter fand sich, ungeachtet der erbitterten Kämpfe, neben den Ärmsten, von allen Vergessenen stets noch ein guter Nachbar. Im Sommer 2000 aber ist das anders geworden: Die Menschen, die 58
einander zu Beginn des Krieges noch unbeirrt geholfen haben zu überleben, haben ihre Prinzipien verloren. Chasimat Gambijewa erzählt, wie abends im Flüchtlingslager die weggeworfenen Spritzen der Rauschgiftsüchtigen unter den Füßen knacken, welches Ausmaß Diebstahl und Plünderungen erreichen, wie beispielsweise Küchengerät – ohnehin meist auf Müllkippen zusammen geklaubt – immer wieder verschwindet; sie erzählt, dass es mehr und mehr tschetschenische Prostituierte gibt, die die Militäreinheiten »bedienen«, dass tschetschenische Familien ihre halbwüchsigen Kinder als Sklaven verkaufen, um zu überleben. Diejenigen in Tschiri-Jurt, die noch im Winter Kinder aus dem Lager bei sich zu Hause durchgefüttert haben, weisen jetzt sogar Müttern mit Säuglingen, Schwangeren und Wöchnerinnen die Tür. So hat sich Tschiri-Jurt, bis zum Krieg ein schönes, wohnliches Dorf im Vorgebirge des Kaukasus, in einen kalten, lebensunfreundlichen Sammelpunkt verwandelt. Einen Ort, in dem Schüsse in der Luft hängen und in dem das Schlüsselwort tatsächlich PUNKT lautet: Schlafpunkt und Verpflegungspunkt für Tausende von Unbehausten, Punkt unablässigen Leidens. Alles, nur kein Ort zum Leben. »Wir können nicht alle aufnehmen, die hierher kommen, obwohl das unsere Gesetze vorschreiben. Wir sind nicht in der Lage dazu«, sagt Adam Schachgirijew, der Leiter des Flüchtlingsdienstes von Tschiri-Jurt. »Wir ersticken ohnehin schon. Wenn auf fünftausend Einwohner elf59
tausend Flüchtlinge kommen, muss das natürlich eine Tragödie für unser Dorf bedeuten. Ganz Duba-Jurt ist jetzt hier oben bei uns, sechstausend Personen! Und alle in einem kritischen moralischen Zustand. Wir halten das kaum noch aus. Diese Leute sind alle wahnsinnig.«
Ein Dorf stirbt vor aller Augen Zwischen den Nachbardörfern Tschiri-Jurt und DubaJurt liegen drei Kilometer. Steht man am Rande von Tschiri-Jurt, kann man ganz Duba-Jurt überblicken. Und das geschieht dann auch an den Abenden: Hinter den letzten Häusern von Tschiri-Jurt versammeln sich fast immer die Frauen, so als würden sie ihre Männer erwarten, die aus einem fernen, langen Krieg zurückkehren, und sie schauen hinunter, auf das, was von DubaJurt und seinen Häusern übrig geblieben ist. Die meisten jammern und klagen laut wie um einen Toten. Wenn sich Chasimat Gambijewa nicht ganz so schwach fühlt, steht sie auch dort. Duba-Jurt gleicht einer riesigen Vogelscheuche. Leblos, abgerissen, von »Hagel« durchlöchert, übersät mit rußschwarzen Artillerieeinschüssen. Selbst die Berge über Duba-Jurt sehen gerupft aus, grindbedeckt wie räudige Straßenköter. Und wie Kahlfraß darin die tiefen, bis auf die »Knochen«, die mesozoischen Kreideskelette hinabreichenden Krater der Bombeneinschläge. 60
Und ein wenig sind auch die ehemaligen Bewohner des Dorfes so: Eine verlorene Gemeinde, die nicht weiß, wie sie das wieder aufbauen soll, was zu 98 Prozent zerbombt und niedergebrannt wurde. Sie denken beständig an den qualvollen Untergang ihres Dorfes, durch das abwechselnd »Weiße« und »Rote« zogen: Russische Truppen, die mehrere Monate lang versuchten, die ArgunSchlucht einzunehmen, und Rebelleneinheiten, die aus den Ebenen zurückwichen, wiederkamen und erneut verschwanden … Der Albtraum des totalen Artilleriebeschusses vom 31. Dezember 1999. Als die ganze Welt in überschäumender Freude das neue Millennium begrüßte. Und die nachfolgenden zwei Monate mit den unablässigen Artillerieangriffen. Zuerst flohen nur kleine Grüppchen von Dorfbewohnern aus Duba-Jurt nach Tschiri-Jurt. Doch als sich am südlichen Ortsrand Rebellen verschanzten, als die sinnlosen (weil sie danebengingen) Luftangriffe auf ihre Stellungen zum Dauerzustand wurden, da verließen am 27. Januar 2000 in einer ersten großen Gruppe und am 5. und 6. Februar mit den Letzten, Standhaftesten alle Einwohner Duba-Jurt. Bomben fielen, »Hagel« prasselte, aber sie zogen ohne »Korridor« in einer langen Menschenkette nach Tschiri-Jurt hinauf. Manche wurden tödlich getroffen, stürzten, andere hoben sie auf und trugen sie weiter, um die Toten in Tschiri-Jurt zu begraben. Und der Zug ging immer weiter.
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Die Bewohner von Duba-Jurt wollten in der Nähe ausharren, bis die Kämpfe vorüber waren, und sofort zurückkehren. Doch sie erwartete die qualvollste aller Foltern: tagtäglich den Ort vor Augen zu haben, wo das eigene Schicksal begraben liegt. Ab dem 6. Februar war Duba-Jurt völlig entvölkert. Trotzdem begannen die Föderationstruppen, alle Häuser niederzubrennen, die die Bomben verschont hatten. Warum? Aus einem unbändigen Gefühl der Rache. Aus Verbitterung über die eigenen Verluste. Und die Menschen aus Duba-Jurt standen am Ortsrand von Tschiri-Jurt und sahen alles mit an … »Ich auch«, sagt Raissa Amtajewa, Mutter zweier halbwüchsiger Kinder, Islam und Larissa, die während der Flucht im Bombenhagel ertaubt sind. »Das war das Ende. Von unserer Vergangenheit ist mir nicht einmal ein Foto geblieben.« Die Vernichtung von Duba-Jurt schockierte selbst die Soldaten, die nach dem Brandpogrom dort stationiert wurden. Oberstleutnant S. Laritschew, stellvertretender Kommandeur des Truppenteils 69771, unternahm nach der Besichtigung des neuen Standorts und in der Erkenntnis, dass er es war, der jetzt »Auge in Auge« einer vor Schmerz irrsinnigen Bevölkerung gegenüberstand, einen Schritt, der durchaus nicht alltäglich ist für einen Offizier der russischen Streitkräfte: Zusammen mit dem Leiter der Ortsverwaltung W. Jachajew und dem Vertreter des russischen Katastrophenschutzministeriums Oberst J. Woitschenko setzte Laritschew ein »Protokoll 62
der Inspizierung des Dorfes Duba-Jurt« auf. Darin heißt es, »die zu den durch das Dorf ziehenden Kolonnen von Panzerwagen gehörenden Mannschaften plündern systematisch die Häuser der Zivilbevölkerung und setzen sie in Brand …« Das Dokument, das in diesem Krieg seinesgleichen sucht, ist mit dem Stempel des Truppenteils 69771 versehen. Doch es half nichts. Keiner der Militärstaatsanwälte, die »zur Prüfung der dargelegten Fakten« nach Duba-Jurt kamen, verlor ein Wort über die Hauptsache: die Kompensation der Schäden, die die marodierende Armee angerichtet hatte. Keiner forderte, die Marodeure vor Gericht zu stellen. Denn die russischen »Helden« in Tschetschenien sind über jeden Verdacht erhaben. Es ist schwer, Mensch zu bleiben, wenn ringsum alles, auch das eigene Schicksal, in Schutt und Asche fällt, wenn man weiß, dass die Rebellen, die die Tragödie ausgelöst haben, längst wieder in den Bergen sind. Der Soldat aber, der in seiner Wut auf das ganze tschetschenische Volk das Haus von Chasimat Gambijewa, zwanzig Jahre lang Krankenpflegerin in einer Kinderpoliklinik, mit Dieselöl übergießt, hat die Kämpfer einfach entwischen lassen.
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Nachwort zwei Jahre später Duba-Jurt heute, das sind noch dieselben Ruinen, nur mit Treibhausfolie überspannt. Darunter leben die Bewohner, die aus Tschiri-Jurt hierher zurückgekommen sind. Der andere, größere Teil aber ist oben geblieben, in der Flüchtlingssiedlung auf dem Gelände des ehemaligen Zementwerks. Die Geschichte von Tschiri-Jurt, das notgedrungen ganz Duba-Jurt aufnahm, ist typisch für das heutige Tschetschenien. Und je länger die Situation andauert, desto schlimmer werden die Folgen. Kriegsmonat für Kriegsmonat unterwegs in tschetschenischen Dörfern und Kleinstädten, treffe ich immer mehr Menschen, die wie die Flüchtlinge in Tschiri-Jurt nur noch einem Gesetz gehorchen: dem biologischen Gesetz des Überlebens. Der Krieg hat nicht nur Tschetschenien verwüstet, sondern auch die Seelen der Tschetschenen. Er hat Tausende aus ihren Häusern vertrieben – in Lager, unter freien Himmel, wer weiß, wohin noch, und ihnen neue Lebensregeln aufgezwungen: die von Lagerinsassen, von Inhaftierten. Tödliche Isolation unter der Oberfläche scheinbaren Zusammenhalts. Denunziation auf Schritt und Tritt. Mit dem einzigen Ziel: Ich will überleben, egal, ob andere draufgehen. Wenn das um sich greift, kann ein Volk für sich selbst die Totenglocken läuten.
MACHKETY. EIN KONZENTRATIONSLAGER MIT KOMMERZIELLEM EINSCHLAG Mir wurde ein Brief übergeben, geschrieben von 90 Familien aus mehreren Siedlungen des Kreises Wedeno – aus Machkety, Towseni, Selmentausen, Chottuni. In dem Schreiben bitten mehrere hundert Menschen inständig, ich möge mich dafür einsetzen, dass sie schnellstmöglich aus Tschetschenien herausgebracht werden. Weil sie das alles nicht mehr ertragen können: den ständigen Hunger, die entsetzliche Kälte, das Fehlen medizinischer Versorgung, jedweder Verbindung zur Welt und die brutalen Strafaktionen der russischen Soldaten, die am Rande des Dorfes Chottuni stationiert sind. Die in dem Brief geschilderten Fakten schienen unglaublich. Also begann ich am 18. Februar 2001 meine Reise dorthin. Dutzende Geschichten, eine furchtbarer als die andere, die gequälten Gesichter der Menschen, die gefoltert wurden, perfideste Erniedrigungen über sich ergehen lassen mussten. Grauen über das, was du aufschreiben musst, lähmt dir die Hand, die alles in einem Notizblock festhält … Und plötzlich – die gleiche Geschichte, nur dass sie diesmal dir selbst passiert. Dass man dir zubrüllt: »Stehenbleiben! Vorwärts!« Dass du es bist, dem die Rotznase von Geheimdienstler 65
im Range eines Oberleutnants mit dem widerwärtigen Mundwerk seiner Vorgänger aus dem Jahre 1937 ins Gesicht zischt: »Eine Rebellin, ganz klar … von Bassajew … Erschießen ist noch zu wenig für dich … Du zwinkerst mir zu viel, also lügst du …«
Erstes Bild. Der Elektroschock Rosita aus der Siedlung Towseni bewegt kaum die Lippen. Die Augen scheinen ihre natürliche Bestimmung verloren zu haben, sie sind starr, nach innen gekehrt. Das Laufen fällt Rosita noch schwer, Beine und Nieren schmerzen. Vor einem Monat landete sie im Filtrationslager *. Weil sie in ihrem Haus »Rebellen Unterschlupf geboten« haben soll. Wie ihr die Soldaten ins Gesicht brüllten. Rosita ist nicht mehr die Jüngste, sie hat viele Kinder und mehrere Enkel. Die kleinste Enkelin konnte vorher kein Russisch, jetzt, nachdem sie mit ansehen musste, wie die Großmutter über den Boden geschleift wurde, schreit sie in einem fort: »Runter! Auf den Fußboden!« Sie holten Rosita im Morgengrauen, als alle schliefen, umzingelten das Haus und ließen ihr kaum Zeit, sich richtig anzuziehen. Und warfen sie dann auf dem Truppengelände in eine Grube. »Sind Sie geschlagen worden? Mit Füßen getreten?« »Ja, das ist normal bei uns.«
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Mit angezogenen Beinen kauerte Rosita zwölf Tage und Nächte in der Grube auf der bloßen Erde. Eines Nachts erbarmte sich der Posten und warf ihr einen Fetzen Teppich hinunter. »Den habe ich mir untergelegt. Dieser Soldat, der war ein Mensch«, flüstert sie. »Ihre« Grube war nicht tief. Einen Meter zwanzig, kaum mehr. Ohne Dach, trotzdem konnte Rosita nicht aufrecht stehen – oben lagen Balken darüber. Zwölf Tage und Nächte in der Hocke oder auf dem Stückchen Teppich. Und das im Winter! Während der gesamten Zeit sagte man ihr nicht, weshalb sie hier war, obwohl sie dreimal zum Verhör geführt wurde. Junge Offiziere, die ihre Söhne hätten sein können und die sich als Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB * vorstellten, zogen Rosita »Kinderfäustlinge« an: Um die Finger der linken Hand wickelten sie nackte Drähte, befestigten das andere Ende an den Fingern von Rositas rechter Hand und führten die Drähte hinter ihrem Hals entlang. »Ich musste laut schreien, als der Strom angestellt wurde, aber alles andere habe ich stumm ertragen. Ich hatte Angst, sie noch mehr zu reizen.« »Was wollten sie denn?« »Mich hat keiner etwas gefragt.« Währenddessen erhielt Rositas Familie über Mittelsmänner einen Auftrag von den Offizieren: Die Verwandten sollten Geld beschaffen, um Rosita freizukaufen. Und 67
das möglichst schnell, denn Rosita vertrüge die Grube schlecht, vielleicht würde sie es nicht überleben. Zuerst forderten sie eine Summe, die die Dorfbewohner (die Lösegelder werden jetzt immer von allen gemeinsam aufgebracht) nur veranlasste zu sagen: Selbst wenn wir ganz Towseni verkaufen, bringen wir das nicht zusammen. Doch erstaunlicherweise ließen die Offiziere mit sich handeln und wollten nur noch den zehnten Teil. Sie erhielten das Geld, und Rosita kam frei. Schmutzverschmiert taumelte sie zum Kontrollpunkte des Regiments, ihre Kinder konnten die Ohnmächtige gerade noch auffangen. Auf dem Militärgelände am Rande der Ortschaft Chottuni, Kreis Wedeno, wo das 45. Luftlanderegiment und das 119. Fallschirmjägerregiment des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation sowie Einheiten des russischen Innenministeriums, des Justizministeriums und des FSB stationiert sind, existiert ein Konzentrationslager. Mit kommerziellem Einschlag.
Zweites Bild. Chefsache Alexej Romanow, Kommandeur des 45. Regiments, ist ein interessanter, willensstarker Mann. Er hat den Krieg in Afghanistan mitgemacht und den ersten in Tschetschenien, und wie die meisten Offiziere, die nun im zweiten kämpfen, schimpft er auf den Krieg, denkt gern laut an seine Kinder, die ewig ohne Vater aufwachsen müssen, 68
und würde den zweiten Tschetschenien-Krieg lieber heute als morgen beenden, denn er hängt ihm zum Halse heraus. Jetzt aber, Ende Februar 2001, spazieren wir über das Regimentsgelände. Der Kommandeur zeigt mir die Kantine – recht sympathisch für feldmäßige Bedingungen. Zeigt mir das Vorratslager, voll gestopft mit Fleischkonserven und allen möglichen anderen Delikatessen, was, wie er sagt, seine Untergebenen gar nicht erst in Versuchung kommen lässt, bei den Dorfbewohnern Vieh zu stehlen. Und ganz langsam nähern wir uns der Hauptsache: Kommandeur Romanow zeigt mir eine Grube, in die die Tschetschenen nach den »Säuberungen« verfrachtet werden. Der Oberst ist dabei sehr aufmerksam, hält mich fürsorglich am Ellenbogen, damit ich nicht sechs Meter tief stürze. Die Grube sieht so aus, wie sie viele beschrieben haben, die darin saßen: Drei mal drei Meter, ein Strick baumelt hinab in die für das Auge undurchdringliche Unterwelt, wer zum Verhör geführt wird, klettert daran hoch. Trotz des kalten Frostwetters dringt typischer Kloakengeruch aus der Grube. So ist das hier: Die Tschetschenen müssen ihre Notdurft gleich dort unten verrichten. Der Oberst weiß Erstaunliches zu berichten: Wie einmal der Befehlshaber des Truppenteils, General Baranow, höchstpersönlich zu einer Kontrolle eingeflogen kam, die unter freiem Himmel stehenden Tschetschenen sah und Befehl gab, sie in die Gruben zu stecken, die eigentlich als Abfalllöcher dienen sollten. Und bei dieser Praxis blieb es dann. Oberst Romanow ist das alles sehr unangenehm. 69
»Aber wir setzen ja nur tschetschenische Kämpfer dort fest.« »Warum lassen Sie sie dann wieder frei? Wenn es doch Rebellen sind?« »Du verstehst schon …« Ich für meinen Teil verstehe gar nichts.
Drittes Bild. Warten auf die Verhaftung Wacha, ein stämmiger Fünfzigjähriger aus dem Bergdorf Towseni, hat früher bei den Staatssicherheitsorganen und als Lehrer an der hiesigen Schule gearbeitet. Jetzt sammelt er aus eigenem Antrieb Beweise für die Gräueltaten der russischen Truppen und erwartet deshalb allnächtlich die Verhaftung und den Weg in »seine« Grube. Wacha weiß die Antwort auf meine Frage, die mir der Oberst schuldig blieb. Er erzählt hochinteressante Geschichten darüber, wie Schamil Bassajew mit seinen Rebellen für kurze Zeit nach Towseni kam. Wie alle Dorfbewohner damals hofften, er würde nun endlich festgenommen. Bassajew war erschöpft, die Kämpfer auch, man brauchte nur zu wollen … Doch die russischen Truppen, die vorher einen dichten Belagerungsring um die Siedlung gebildet hatten, wurden plötzlich abgezogen – genauso lange, wie Bassajew da war. Und der konnte unbehelligt aus dem Dorf spazieren. Ob man es glaubt oder nicht … Hinterher aber, als die Banditen weiter oben in den Bergen verschwunden waren, kamen 70
die Soldaten, verhafteten und drangsalierten Dorfbewohner, die überhaupt nichts mit den Rebellenbanden zu tun hatten, während diejenigen, die sie tatsächlich unterstützten bei ihrem blutigen Handwerk, auf freiem Fuß blieben. In einem Dorf kennt schließlich jeder jeden.
Viertes Bild. Knackige Hintern Issa kommt aus Selmentausen. Anfang Februar geriet auch er in das Konzentrationslager am Rande von Chottuni. Sie drückten ihre Zigaretten auf seinem Körper aus, rissen ihm die Nägel von den Fingern, ließen wassergefüllte Pepsi-Cola-Flaschen auf seine Nieren klatschen. Stießen ihn dann in die mit Wasser gefüllte »Badegrube« (mitten im Winter) und warfen Rauchgranaten hinterher. Sie waren zu sechst dort unten. Nicht alle überlebten. Offiziere niedriger Dienstgrade, die die kollektiven Verhöre durchführten, lachten den Tschetschenen ins Gesicht, sie hätten knackige Hintern, und vergewaltigten sie. Mit den Worten: »Weil uns eure Weiber nicht ranlassen.« Tschetschenen, die diese Tortur überlebt haben, sagen heute, Rache zu nehmen für die »knackigen Hintern« sei das Ziel ihres gesamten restlichen Lebens. Issa hat sich nicht von dem Schock erholt, das sieht man. Wie Rosita ließ man ihn schließlich laufen gegen ein Lösegeld, das ganz Selmentausen sammelte. Doch nicht, 71
ohne dass die Soldaten vorher auch noch an den Verwandten, die vor der Regimentswache warteten in der Hoffnung, etwas über das Schicksal der Verschleppten zu erfahren, ihr Mütchen gekühlt hätten. Das Zusammenspiel aus Marodiererei und Erpressung, genannt »Aufspürung von Banditen«, läuft in Tschetsche nien pausenlos. Der zweite Tschetschenien-Krieg hat lediglich die Ausführenden der Verbrechen vertauscht. All das, wogegen sich die »Antiterror-Operation« erklärtermaßen richten sollte – zügellose Geiselnahmen, Menschenraub und Lösegelderpressung –, wird nun von den neuen Herren der Lage, den Militärs, verübt. Wir sitzen in Issas einzigem winzigen Zimmer, in dem nur Pritschen und ein Ofen stehen, denn die Familie ist sehr arm. Die vierjährige Tochter starrt mich aus schreckgeweiteten Augen an. Issas Frau erklärt: »Die Kleine sieht, dass Sie keine von uns sind, nicht wie wir aussehen, sondern wie die, die ihren Papa geschlagen und mitgenommen haben.« Fünftes Bild. Geprüft am eigenen Leib Zwei Minuten, nachdem ich mich vom Kommandeur des 45. Luftlanderegiments verabschiedet hatte, wurde ich verhaftet. Zuerst musste ich eine Stunde mitten auf dem von Fahrzeugreifen zerwühlten Feld stehen. Dann kam ein Panzerfahrzeug mit bewaffneten Soldaten und einem Oberleutnant unbekannter Truppenzugehörigkeit. Sie 72
packten mich, schubsten mich mit ihren Gewehrkolben vorwärts und führten mich ab. »Deine Papiere sind gefälscht, dein Jastrshembski ist ein Arschkriecher Bassajews und du gehörst zu den Rebellen«, wurde mir erklärt. Dann folgten stundenlange Verhöre. Die jungen Offiziere, die sich dabei abwechselten, stellten sich nicht vor, ließen nur nebenbei fallen, sie seien vom FSB und ihnen hätte nur Putin etwas zu sagen. Sie drehten die Sache so, dass mir jede Handlungsfreiheit genommen war: keine Telefonate, keinen Schritt nirgendwo hin, alle Sachen auf den Tisch. Die widerwärtigsten Details der Verhöre überspringe ich lieber, sie sind zu obszön. Obwohl gerade diese Details die Bestätigung dafür lieferten, dass alles, was man mir berichtet hatte über Tortur und Folter im 45. Luftlanderegiment, keine Lüge war. In regelmäßigen Abständen gesellte sich zu den eifrigen jungen Männern ein Vorgesetzter. Der Oberstleutnant mit dunkler Gesichtsfarbe und dümmlichen dunklen Glotzaugen schickte den Nachwuchs aus dem Zelt, schaltete Musik ein, die er wohl für romantisch hielt, und erging sich in Anspielungen auf einen »glücklichen Ausgang« der Sache, wenn ich mich kooperativ zeigen würde. In den Phasen ohne den Oberstleutnant zogen die »jungen Spunde« alle Register, wobei sie gekonnt auf die schmerzhaftesten Punkte drückten: Sie betrachteten die Fotos meiner Kinder und vergaßen dabei nicht zu erwähnen, was man mit denen alles anstellen könnte … So ging das drei Stunden lang. 73
Irgendwann sagte der Oberstleutnant dann – nachdem er sich immer wieder einmal das Hemd vor der Brust aufgerissen hatte: Hier, ich vergieße mein Blut! –: »Los. Jetzt erschieße ich dich.« Er führte mich aus dem Zelt, es war bereits stockdunkel. Zu der Stunde sieht man in dieser Gegend die Hand vor den Augen nicht. Wir gingen ein paar Schritte. Plötzlich sagte der Oberstleutnant: »Wer nicht in Deckung geht, ist selber schuld.« Und mit einem Schlag flackerte alles ringsum in grellem Licht auf, begann ein furchtbares Knattern, Dröhnen und Hallen. Dem Oberstleutnant gefiel sehr, dass ich mich vor Schreck hinhockte. Wie sich erwies, hatte er mich direkt unter einen Granatwerfer geführt, genau in dem Moment, als dieser seinen »Hagel« ausspuckte. »Los, weiter.« Bald tauchten vor uns in der Dunkelheit Stufen auf, die nach unten führten. »Das ist das Badehaus. Zieh dich aus.« Als ich keinerlei Reaktion zeigte, geriet er in tierische Wut und brüllte: »Da tut dir ein richtiger Oberstleutnant bloß Gutes, und du Kämpferschlampe willst auch noch …« Das Badehaus betrat ein zweiter Offizier, vom FSB, wie er sich selbst vorstellte. Der Oberstleutnant sagte knapp: »Die will sich nicht waschen.« Da knallte der Sicherheitsdienstler die mitgebrachten Flaschen auf den Tisch und sagte: »Na, dann will ich mal mit ihr los.« Erneut wurde ich lange durch das stockdunkle Gelände geführt. 74
Dann musste ich eine Leiter hinuntersteigen – in den Bunker, der mir bis zu meiner Freilassung am 22. Februar Obdach bieten sollte. An der Wand des Bunkers hing ein Plakat: »Das 119. Fallschirmjägerregiment«. Eine Schautafel vermeldete, 18 Angehörigen des Regiments sei der Ehrentitel »Held Russlands« verliehen worden. Jemand brachte von irgendwoher Tee. Ich nahm einen Schluck – und sofort verschwamm alles vor meinen Augen, meine Beine knickten ein, ich musste an die frische Luft, mir war speiübel. Auf die Toilette? Ja, aber nur in Begleitung. »Du willst bloß die Wanzen loswerden auf dem Klo«, lautete die Erklärung. Ich bestand darauf, dass ich endlich erfuhr, was man mir vorwarf, dass ein Protokoll aufgesetzt und ich in ein ordentliches Gefängnis überführt wurde, damit meine Verwandten mir wenigstens eine Zahnbürste bringen konnten … »Nichts da! Eine von den Rebellen! Wolltest dir die Gruben ansehen? Schlampe! Dreckstück! Bassajew hat Jastrshembski für dich was zugesteckt, und der hat wieder deinen Chefredakteur geschmiert, damit er dich herschickt …« Am Morgen des 22. Februar betrat ein Offizier den Bunker und teilte mir mit, er solle mich nach Chankala begleiten, habe alle meine Papiere und Sachen bei sich und werde sie »dem FSB übergeben«. Am Hubschrauber stand der bereits sattsam bekannte Oberstleutnant, der 75
sich mit den Worten verabschiedete: »Wäre es nach mir gegangen, hätte ich dich erschossen.« Als der Hubschrauber in Chankala landete, tauchten sofort an der Ausstiegsluke mehrere Militärs auf und trennten mich von meinem Begleiter. Wie sich herausstellte, waren sie Mitarbeiter der Militärstaatsanwaltschaft in Grosny. Ich bin ihnen zutiefst dankbar, denn anderenfalls wäre ich erneut unter die Fuchtel irgendeines Sicherheitsdienstlers geraten, dem die »Antiterror-Operation« in Tschetschenien das Nervenkostüm ruiniert hat. Bei der Staatsanwaltschaft machte ich meine Aussagen, mein Begleiter wurde ebenfalls verhört, wobei herauskam, dass mir beim 45. Luftlanderegiment alle Sachen außer dem Akkreditierungsausweis Nr. 1258 gestohlen worden waren. Der »Begleiter« hatte überhaupt nichts bei sich. Weder meine Sachen noch die Audiokassetten oder die Filme.
WEDENO – EIN KREIS OHNE RECHT UND GESETZ Dshochar Ein winziger Säugling, eingehüllt in schmutzige Lumpen. Er beruhigt sich nur, wenn sein Mund – stupsend und stoßend wie ein Kälbchen, das das Euter der Kuh sucht – die mütterliche Brust gefunden hat. Die übrige Zeit schüttelt krampfhaftes Zucken den dünnen kleinen Körper. Weint das Kind? Zittert es? »Wie heißt denn Ihr …?« Ich weiß nicht, wie ich fragen soll, ob es ein Junge oder Mädchen ist, ohne dass es kränkend klingt. Toita, die Mutter, an deren Brust sich der Säugling immer wieder drängt, schweigt wie bei einem Verhör. »Versteht sie vielleicht kein Russisch?« »Wieso? Sie versteht schon …«, sagen die Frauen und verbergen ihre Augen. Eine Pause entsteht. Was für Gründe könnte es geben, nicht zu sagen, wie der winzige, kranke Säugling heißt? »Dshochar heißt er«, stößt Toita schließlich entschlossen und böse hervor. »Ich habe mir einfach abgewöhnt, seinen Namen laut zu sagen. Auf einmal hören es die Soldaten und bringen uns um. Entweder ihn, weil er Dshochar heißt. Wie Dudajew. Oder mich, weil ich ihn so genannt habe. Zwei Jahre wird er bald.« »Und warum ist er … so?« 77
»Ja, er entwickelt sich überhaupt nicht. Er wurde geboren, als dieser Krieg losging.« Toita und Dshochar wohnen in einem Luftschloss. Vor einem Jahr, im Februar 2000, hat eine Granate das Dach zerschlagen, es gibt keinen, der es flicken könnte, und so weht der Wind kleine weiße Schneewehen zusammen. Toita ist Witwe, ihr Mann verschollen, als sie noch schwanger war. Und jetzt lebt Toita mit dem Säugling an einem furchtbaren Ort, dort, wo sich kaum jemand freiwillig niederlassen würde: in einer von aller Welt vergessenen Gebirgssiedlung im Kreis Wedeno, die den für diese Gegend seltsam klingenden deutschen Namen Selmentausen trägt. Hier gibt es weder Wasser noch Licht, weder Gas noch Wärme, noch eine Telefonverbindung oder einen Arzt. Hier gibt es nur Krieg. Schon achtzehn Monate lang. Toita ist eine von denen, die es nicht mehr aushielten und den Brief der 90 Familien mit der Bitte unterschrieben, sie fortzubringen – ganz gleich wohin, nur möglichst weit weg aus dem heimatlichen Tschetschenien. Etwas Derartiges hat es in der Geschichte dieses Krieges noch nicht gegeben: Die Tschetschenen sind zu heimatverbunden, als dass sie um Aussiedlung bitten würden.
Eine Zone in der Zone Selbst in der militärischen Sonderzone namens Tschetschenien hat der Kreis Wedeno einen besonderen Status. Dieser Kreis erinnert zunehmend an ein amerikanisches 78
Indianerreservat zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, seine Entwicklung verläuft in Richtung einer wachsenden Isolation von der Außenwelt. Hierher kommen keine Kontrollkommissionen aus der tschetschenischen Hauptstadt, entsandt von der Regierung oder dem Chef der Zivilverwaltung. Politgrößen aus Moskau sucht man vergebens – sie haben zu viel Angst. Auch Wladimir Kalamanow, Putins Sonderbeauftragter für die Einhaltung der Menschenrechte, lässt sich hier nicht blicken. Und an Konvois mit Hilfsgütern kann sich hier ebenfalls keiner erinnern. Für die Bewohner des Kreises Wedeno ist die Außenwelt zusammengeschrumpft auf die geheimnisvollen Männer mit den Gesichtsmasken und den weißen Tarnumhängen für den Aufenthalt im winterlich verschneiten Gebirge, ohne Erkennungszeichen, dafür aber mit Maschinengewehren. Hungrig, böse und brutal. Die russischen Militärs hassen den Kreis Wedeno wie die Pest, weil es dort Berge gibt, wo sich, so meinen sie, Rebellen tummeln, weshalb man jeden Tag mit Kämpfen und Verlusten rechnen muss. Der Hass wird noch verstärkt durch den Umstand, dass Wedeno die Heimat Schamil Bassajews ist, den sie bekanntlich nicht zu fassen kriegen. Deshalb gaukelt ihnen vor, er müsste jeden Moment im nächstbesten Dorf auftauchen, um sich aufzuwärmen, doch er kommt und kommt nicht – und das bringt sie zur Weißglut. Auch der Verwaltungschef der Republik, Achmad-Hadshi Kadyrow *, hat Gründe, weshalb er einen großen Bogen um den Kreis macht: Aus dieser Gegend stammt sein Erzfeind, ebenjener Bassajew. 79
Aber das Reservat ist nicht homogen. Es gibt dort Menschen und Dörfer, um die es ganz und gar hoffnungslos steht. Eine Zone in der Zone. Bestehend aus den Orten Machkety, Towseni, Selmentausen, Chottuni. Sie liegen nahe beieinander, drängen sich um die größte Ortschaft Machkety mit annähernd siebentausend Einwohnern. Die Machketiner sind Verfemte, selbst im verfemten Kreis Wedeno. In Wedeno mag man sie nicht, weil sie – im Zug des Krieges – gegen das Kreiszentrum opponieren; die Machketiner haben Bassajew nie unterstützt, ja mehr noch, in ihren Siedlungen eine Volkswehr gegen ihn auf die Beine gestellt. Deshalb gelangen selbst jene kümmerlichen Hilfslieferungen, die den Weg bis nach Wedeno finden, niemals hierher. Ein einziges Mal in den achtzehn Kriegsmonaten hat die Hilfsorganisation »Echo des Krieges«, die von Nasrani in Inguschetien aus operiert, Reis, Zucker und Butter gebracht, doch auch das nur für Kriegswaisen. Von hier kann man nur fliehen. Möglichst weit weg! Einen anderen Ausweg gibt es nicht. Aber so einfach lässt man sie nicht hinter sich, die Zone Machkety im Reservat Wedeno. Aina Makajewa ist im Dorf verantwortlich für das Pass- und Meldewesen, sie berichtet, dass die Ausfertigung von Personaldokumenten »bis auf weiteres« eingestellt worden ist, wie man ihr in Wedeno erklärte. Warum und wieso, darauf wurde nicht eingegangen. Ainas Aufgabe besteht darin, die für die Anfertigung eines Ausweises erforderlichen Unterlagen zusammenzustellen und aufzubereiten, nach 80
Wedeno zu bringen und die fertigen Dokument dort wieder in Empfang zu nehmen. Vor einigen Monaten nun wollte ihr der Leiter der Pass- und Visastelle in Wedeno plötzlich keine Anträge mehr abnehmen. Besonders, wenn es sich bei den Antragstellern um Jugendliche handelte. Jetzt liegen bei Aina Makajewa 250 Anträge, zumeist von jungen Männern im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren. Empört schildert sie ihre fruchtlosen Gespräche mit dem Leiter der Pass- und Visastelle, einem Offizier des Innenministeriums: »Ich sage zu ihm, unsere jungen Männer haben genug von den ewigen Säuberungen, dass sie einfach gepackt und in die Gruben am Ortsrand von Chottuni geworfen werden – und die Verwandten müssen sie dann freikaufen. Ein paar von ihnen sind dort schon zu Tode gekommen! Unter unseren Bedingungen bedeutet ein Ausweis Leben und keinen Ausweis zu haben den Tod. Aber der Meldestellenleiter antwortet mir: ›Das ist nicht mein Problem. Ich habe heute Saunatag.‹ Und so geht das jeden Freitag. Sie nehmen ja nur freitags Anträge entgegen.« Für die Menschen hier gibt es keinen Zweifel mehr: Dieses künstliche System aus Zwang und Repressalien soll sie in ihren Dörfern festhalten, wo sie nach und nach vernichtet werden können.
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Holzbeschaffung Wenn man gar nichts mehr hat, wird man fähig zu irrationalen Handlungen. Hier wissen alle: Auch wenn der Wald die einzige Rettung ist, darf man ihn nicht betreten. Nicht um Brennholz zu schlagen, nicht um Bärlauch – die wichtigste hiesige Vitaminquelle – zu sammeln. Aber die Leute gehen trotzdem, auch wenn auf dem Friedhof schon einige Dörfler begraben liegen, die beim Holzsammeln erschossen wurden. Wacha aus Selmentausen erzählt: »Zwei Tage lang gab es starken Beschuss. Dann hat es aufgehört. Ich bin in aller Frühe raus, habe gelauscht, hin und her überlegt und beschlossen, zum Waldrand zu gehen. Meine Frau hat furchtbar geheult, aber wir hatten schon mehrere Tage kein Holz mehr, deshalb musste es sein. Wie man stirbt, ist letztlich egal – du kannst zu Hause mit den Kindern erfrieren, als ob du kein Mann wärst, oder eine Kugel abkriegen. Also habe ich gebetet und bin los. Diesmal ist alles gut gegangen. Fünfmal hin und her, jetzt haben wir Brennholz für ungefähr drei Tage. Sehen Sie nur, wie warm die Stube ist.« »Aber nach ein paar Tagen müssen Sie die Todesnummer doch wiederholen!« »Ich bin bereit«, versetzt Wacha kurz und entschlossen wie ein Offizier im Dienst. Bereit zu sein für den Tod, so lautet eine Grundregel des hiesigen Lebens, das jede Minute zwischen Sein und Nichtsein schwankt. Und die Schreckensgeschichten, welcher Nachbar wie, 82
unter welchen Umständen und durch wie viele Splitter umgekommen ist, bilden das hauptsächliche abendliche Unterhaltungsprogramm, mit dem die Kinder schlafen gehen. »Wisst ihr noch, wie am 5. Januar 2001 das Flugzeug die Bombe abgeworfen hat?«, fragt Macka Dshabrailowa aus Machkety die anderen. An dem Tag kamen Mackas Vater und ihr Bruder ums Leben – Gasihadshi und Gasali Achmadow, ihre Hoffnung, ihre Stütze. Am 12. Januar wurde Mackas Haus von fünf Granaten zerstört. Am gleichen Tag starben ihre Nachbarn – die ganze Familie Tagirow, elf Personen. Und zwar so, dass es nicht einmal mehr etwas zu beerdigen gab. In das Grab legten die Dorfbewohner einfach Erde von dort, wo die menschengemachten Meteoriten eingeschlagen waren … Macka weint, doch die Frauen hält es nun nicht mehr. »Am 16. Februar fingen sie einfach an, vom Militärgelände aus die Schule zu beschießen – am helllichten Tag, ungefähr mittags um zwei.« Unglücklicherweise liegt die Dorfschule von Machkety direkt im Blickfeld, nur durch eine Ödfläche von den Zelten des Militärgeländes getrennt. Die Eltern liefen zum Stützpunkt, wo sie zu hören bekamen: »Keine Ahnung, wer da geschossen hat, wir jedenfalls nicht, das müssen verirrte Granaten gewesen sein …« Der Verwaltungsleiter des Großdorfes Machkety, Ab dulla Elbusdukajew, macht den Eindruck eines ewig verschreckten, gebrochenen Mannes. Obwohl er einmal Volksrichter im Kreis Wedeno war. Abdulla gibt zu, dass 83
er nichts für seine Machketiner tun kann. Absolut nichts. Und panische Angst hat vor den russischen Militärs, die ihn für einen Handlanger der Rebellen halten und ihn erschießen können, wann immer es ihnen passt. Nach dem Beschuss der Schule beschlossen die Eltern, ihre Kinder nicht mehr dorthin zu lassen, umso mehr, als von dieser Schule ohnehin nur noch der Name geblieben war: Die Kinder trafen sich nur zum Schwatzen, Unterricht gab es keinen mehr.
»Ruf doch Putin an« Malika Junussowa ist noch jung, doch bereits ergraut. Ihre Geschichte erschütterte vor kurzem ganz Machkety, obwohl die Machketiner auch so schon genug mitgemacht haben. Malika arbeitet als Krankenschwester im Dorf. Sie versucht stets, Verwundeten und Kranken zu helfen, auch wenn das Krankenhaus schon seit einigen Jahren keinen Lohn mehr zahlt. In der Nacht vom 10. zum 11. Februar 2000 wurde ihr Haus von einer Bombe völlig zerstört. Das ganze Vieh kam um, und wenn man hier von etwas lebt, dann von seinen Kühen. Die Wirtschaftsgebäude verbrannten. Der Familie blieben nur Gummigaloschen und das, was sie auf dem Leib trugen. Im darauf folgenden Sommer bauten die Junussows einen Stall und bekamen von der Dorfgemeinschaft eine 84
Kuh geschenkt. Doch am 15. Dezember gegen acht Uhr abends gab es wieder Beschuss. Die Junussows flüchteten sich zu ihren Nachbarn in den Keller, aber eine Granate traf den neuen Stall, der in Flammen aufging. Said-Ali, Malikas Mann, rannte aus dem Keller, um die Kuh zu retten, und wurde von glühenden Splittern am Kopf getroffen. Die ganze Nacht lag er bewusstlos bei den Nachbarn auf dem Fußboden – der Beschuss wollte und wollte nicht aufhören. Frühmorgens lief Malika zum Militärgelände: »Gibt es einen Hubschrauber, könnt ihr meinen Mann ins Krankenhaus fliegen? Schließlich seid ihr schuld!« Sie wurde lange hingehalten und schließlich abgewimmelt, immerhin aber versprach man, das Krankenhaus in Chankala anzurufen. Bloß hinbringen sollte sie Said-Ali selbst. Die Nachbarn trieben ein Auto auf, fuhren los. Aber in Chankala bekamen sie zu hören, die Verletzungen seien zu schwer, sie müssten in das Militärhospital in Mosdok. Also ging es weiter nach Mosdok. Dort sagte der Neurochirurg: »Wäre Ihr Mann Rebell oder Armeeangehöriger, würde ich ihn behandeln – als Vertreter einer kriegführenden Seite. Wenn er einfach Zivilist ist, darf ich das nicht, dann geht es nur gegen Geld. 40 000 Rubel bar auf die Hand, und ich fange sofort an zu operieren.« So viel Geld hatten sie nicht, und Malika musste mit ansehen, wie der schwerverletzte Said-Ali aus dem Operationssaal wieder in den Korridor getragen wurde. Man schickte sie zum Telefon: Sie solle jemanden bitten, das Geld herzubringen. »Ich habe niemanden …«, weinte Malika. 85
Worauf der Neurochirurg versetzte: »Dann ruf doch Putin an.« Malika fragte: »Wenn ich jetzt nicht dabei wäre, von wem hättest du dann Geld verlangt?« Der Arzt antwortete: »Ich hätte gar kein Geld verlangt, sondern ihn einfach ins Leichenschauhaus bringen lassen.« Malika rannte los und suchte ein Auto. Zum Glück war der Fahrer bereit, sie und Said-Ali kostenlos bis nach Argun zu bringen. Dort vermittelte er sie an Leute, die den Weitertransport nach Grosny übernahmen, in das Krankenhaus Nr. 9. Und das alles mit Kontrollstellen und Stopps in der Dunkelheit. Im Krankenhaus Nr. 9 wurde Said-Ali endlich operiert. Drei Tage, nachdem er eine penetrierende Schädelverletzung erlitten hatte. Malikas Mann lebte noch einen Monat. Die Blutvergiftung war nicht mehr aufzuhalten. Die Ärzte erklärten, die Operation sei viel zu spät erfolgt. Nach der Beerdigung ging Malika nach Wedeno zum Militärstaatsanwalt, aber der weigerte sich, ihre Anzeige aufzunehmen. Kurz danach kamen Offiziere vom Truppengelände zu ihr ins Dorf – der Staatsanwalt hatte sie also doch über die Beschwerde informiert – und beteuerten, die ersten Granaten, die auf den Stall, stammten nicht von ihnen, es sei unklar, wer das gewesen sein könnte. Später hätten sie tatsächlich geschossen, weil mitten in der Nacht ein großes Lagerfeuer zu sehen gewesen wäre, und ein herumhastender Mann. Was sollte Malika dazu sagen? Freilich hatte es ein 86
Feuer gegeben, der Stall brannte ja, und Said-Ali lief herum, weil er die brennende Kuh retten wollte. Als die Armeeleute gegangen waren, dachte Malika: Gut, dass sie ihn wenigstens nicht erschossen haben … Männer mit Schulterstücken haben hier nichts zu befürchten, müssen sich vor niemandem rechtfertigen. Im Kreis Wedeno gibt es bis heute kein Gerichtsverfahren, keine Ermittlungen – in dieser Zone ist das nicht nötig. Hier gibt es nur zügellose Willkür, und Schuld trägt stets der, der zufällig ins Schussfeld gerät. Wie Malikas Mann, der die Kuh retten wollte. Heute hat Malika weder Mann noch Haus, mit ihren drei Kindern haust sie, wo sich gerade eine Bleibe findet. Ohne Essen, ohne Kleidung. Malika kann nur noch flehen: Helfen Sie mir, von hier fortzukommen – ganz egal, wohin. »Die Leute erzählen, in Inguschetien gebe es ein neues Flüchtlingslager. Ich bitte Sie, bringen Sie mich dort unter. Schlimmer kann es nicht werden. Mir ist völlig egal, was da für Gesetze gelten, russische, koreanische, meinetwegen japanische, Hauptsache, es gibt überhaupt Gesetze. Und ein bisschen was zu essen …« »Ich kann hier nicht länger bleiben«, wimmert Toita, die Mutter, die den Namen des eigenen Kindes nicht auszusprechen wagt und bereut, dem Sohn diesen Namen gegeben zu haben. Sie stopft dem greinenden Dshochar mit ihrer schlaffen Brust den Mund. Wie ein Echo wiederholen auch die anderen Witwen und Frauen aus Selmentausen, Machkety, Towseni, Chottuni immer wieder: 87
»Hier hat sich schon mehrere Jahre kein Arzt mehr blicken lassen. Wir kommen um. Es gibt nichts zu essen. Kein Brennholz. Wir können die Bombardierungen nicht mehr ertragen. Die Soldaten nehmen uns das Letzte, machen uns das Leben zur Hölle.«
Die Liquidierung einer Nation Juli 2001. Aina und ich treffen uns, als wäre sie eine geheime Kundschafterin und ich die Verbindungsfrau aus der Zentrale. Mit Vorsichtsmaßnahmen wie aus einem Spionagethriller. Auf geheimen Pfaden ist sie zum verabredeten Ort gekommen, hat mehrmals die Richtung gewechselt und niemandem, nicht einmal den Nachbarn, gesagt, wohin sie will und wozu. Doch leider sind Aina und ich eben keine Untergrundkämpfer, und überhaupt ist sie uns zuwider, diese ganze Geheimnistuerei, die uns die herrschende Lage aufzwingt. Aina ist eine Witwe aus Machkety, und ich bin Journalistin, will herausfinden, warum Machkety bereits mehrere Monate lang umzingelt und von der Außenwelt isoliert ist. »Wissen Sie, gerade haben sie den Fahrer umgebracht, den, der sich damals im Februar nach Schali gewagt hat, um die Nachricht von Ihrer Verhaftung über Tschetschenien hinaus weiter zuleiten. Die anderen wollten ihn davon abhalten, aber er sagte nur: ›Man muss sie doch retten.‹« »Wie – umgebracht?« 88
»Uniformierte sind mit einem Auto angekommen, haben die Personalien festgestellt und ihn aus nächster Nähe erschossen. Das war am 30. Juni. Er hieß Imran.« Ich lebe also um den Preis von Imrans Leben? »Aber dass er es war, der damals nach Schali gefahren ist, wusste doch nur das Dorf. Eure Leute. Also hat ihn jemand von euch denunziert?« »Wer sonst? Es gibt jetzt so viele Zuträger, dass wir uns gar nicht retten können. Die Föderalen verderben unsere Leute, bezahlen sie – für den Tod von Nachbarn. Als ich hierher gekommen bin, hatte ich die meiste Angst vor den Zuträgern, nicht vor der Armee. Die Zuträger zeigen den Soldaten, wo sie wen finden im Dorf. Einige Zeit später sind sie dann allerdings selber dran … Erinnern Sie sich an das alte Haus in Selmentausen? Wo wir uns mit den fünf Männern getroffen haben, die gerade freigekauft worden waren aus den Gruben auf dem Gelände des 45. Regiments?« »Natürlich.« Es war ein ärmliches Haus, die ganze Familie hockte in einem schmalen Zimmer mit einem primitiven Ofen, den sie nur mit Reisig vom Waldrand heizen konnten. Der Hausherr aber erwies sich als fröhlich und geistreich, im selben Jahr geboren wie ich. Er beklagte sich mit keinem Wort über die russischen Militärs, die ihn gefoltert hatten, was mich verwunderte. Er lachte über sie. Sich die mit Kombizangen malträtierten Finger reibend, erklärte er: »Die Unglücklichen. Man muss doch für alles vor Gott geradestehen. Und es macht keinen Unterschied, dass dieser Gott bei uns Allah heißt.« 89
»Den haben sie auch umgebracht«, versetzte Aina leise. »Abgeholt, irgendwo erschossen und die Leiche auf die Straße geworfen. Alle im Dorf sind sich sicher, warum: Weil er Ihnen von den Foltern erzählt hat. Wir wollten Sie bitten, auch jetzt seinen Namen nicht zu erwähnen. Nirgends. Damit seine Familie überlebt. Und der schwarzhaarige Bursche, der damals neben dem Hausherrn auf der selbst gezimmerten Pritsche saß. Erinnern Sie sich an den?« »Der auch so gern lachte? Und mich noch beruhigen wollte? Natürlich.« »Ja, der. Er hat immer zu Ihnen gesagt: ›Seien Sie doch nicht so entsetzt! Wir Tschetschenen sind zäh. Mich zum Beispiel bringt nichts um.‹« Ja, das war seine Antwort auf meine Frage, ob er nachts manchmal von den Foltern träumt, die er durchgemacht hat. »Er ist auch tot. Umgebracht. Auf die gleiche Weise: Sie kommen, fragen nach dem Namen und nehmen ihn mit. Nur dass die Leiche diesmal nicht auf der Straße lag – die Verwandten mussten sie freikaufen. Von den fünf Männern, mit denen wir damals in Selmentausen geredet haben, leben drei schon nicht mehr … Und erinnern Sie sich an den Traktoristen? Er reparierte gerade neben dem letzten Haus in Selmentausen einen Traktor, Sie haben vielleicht eine Viertelstunde mit ihm geredet. Er hat Ihnen von den Überfällen der Föderalen erzählt, und Sie haben noch gefragt, wann er das letzte Mal Rebellen gesehen hat.« 90
»Ja, natürlich. Er antwortete: ›Vor einem Jahr. Sie sind ins Dorf gekommen und einen Tag und eine Nacht hier geblieben, während dieser Zeit hat die Armee ihren Beschuss eingestellt. Die Kämpfer haben sich aufgewärmt, gewaschen und sind weiter – und sofort fingen die Razzien bei uns an …‹ Das waren seine Worte, ich habe sie in meinem Notizblock festgehalten.« »Der Traktorist ist auch erschossen worden … Und die Leute, mit denen wir nachts in Machkety zusammengesessen und geredet haben? Zwanzig bis fünfundzwanzig waren es, dicht gedrängt in einem Zimmer. Von denen lebt schon die Hälfte nicht mehr. Erinnern Sie sich an Taus Tagirowa? Sie hat Ihnen viel erzählt und geweint. Zwei von ihren Söhnen sind zu Hause verhaftet und ins 45. Regiment gebracht worden, schon zwei Monate weiß sie nicht, was mit ihnen passiert ist – sie sind einfach verschollen … Und die Magomedchadshijews? Charon und seine Frau? Charon haben sie verhaftet, vor den Augen seiner sechs Kinder verprügelt und dann mitgenommen, von ihm gibt es auch seit fast zwei Monaten keine Nachricht … Die Leute wissen nicht mehr, was sie tun sollen … Jeden Tag wird jemand beerdigt.« Das sagt Aina, und ihre Augen sind trocken. Ich schaue sie an, wie sie in einen Winkel gedrückt da sitzt und alle fünf Minuten an ihre eigenen Kinder denkt, die jetzt in Machkety sind. Es schüttelt sie bei dem Gedanken, was ihnen in ihrer Abwesenheit alles passieren könnte. Wenn sie nun jemand denunziert?
BLOCKADE IN GROSNY. DIE EINHUNDERTSTE Rette sich, wer kann Grosnys Leben zerfällt in zwei Kategorien – in die der offenen Stadt und in die des Blockadezustands. Offen ist Grosny, wenn man frei herein- und herauskommt. Zwar nur relativ frei, denn man muss sowieso durch ein »Sieb« aus Dutzenden innerstädtischer Kontrollstellen, wo jeder um 10 bis 20 Rubel erleichtert wird, der zu Fuß oder erst recht mit dem Auto passieren will. Trotzdem besteht die Chance, zu Verwandten in ein Dorf zu fahren, das vielleicht nur ein paar Kilometer von Grosny entfernt liegt, doch während des Lebens in der Blockade unerreichbar ist. Man kann auf den Markt nach Gudermes fahren oder sogar, wenn man Glück hat und an allen Straßensperren durchgelassen wird, bis in das nahe Inguschetien in der einen und das benachbarte Dagestan in der anderen Richtung. Freiheit! Wenn auch nur in den engen Grenzen des Krieges. Die Studenten strömen aus den Dörfern zum Unterricht in die halb geöffneten Institute und die Universität. Die Straßen sind voller Menschen. Das Leben brodelt in Grosny – zwischen Ruinen. Die zweite Kategorie ist das Leben in der Blockade. »Räder stopp!«, so nennen die Militärs den Zustand, wenn sie die Stadt dichtmachen für Fahrzeuge und Fußgän93
ger, um darin ihre »Sondermaßnahmen« durchzuführen: Kontrollen und Razzien, deren Sinn einem oft nur schwer oder überhaupt nicht verständlich wird. Dann erstarrt Grosny, die Märkte sind wie leer gefegt, die Verkäufer in den Kiosken packen ihre Waren zusammen, mit der Geschwindigkeit eines Orkans rasen Schützenpanzerwagen durch die Straßen, schleudern alles beiseite, was ihnen in die Quere kommt, und seien es auch zufällige Passanten. Schüsse und Maschinengewehrsalven sind zu hören. Eltern holen ihre kranken Kinder nach Hause, manchmal direkt vom Operationstisch. Auch die Ruinen der zerstörten Stadt können manchmal fröhlich sein. Wenn auf einmal seit dem frühen Morgen helles Sonnenlicht strahlt und der Nachtwind den Ruß der Feuersbrünste verweht hat. So begann der 17. September 2001 in Grosny. Die Menschen, die sich zwischen den Trümmern ihren Weg bahnten, trugen ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie lächelten einander zu, der Sonne und dem Glücksmoment, dass alles »wie früher« war. Auf ein anderes, länger als einen Augenblick dauerndes Glück hofft hier niemand. Doch bereits gegen neun Uhr morgens verdüsterten sich die Ruinen. Auch die Sonne schien verschwunden. Das Kinn gegen die Brust gedrückt, versuchten die Menschen, möglichst unbemerkt vorbeizukommen an den Kontrollstellen, vor denen die Posten gerade »Nagelschlangen« auslegten: Fahrzeugsperren – bewegliche Metallbänder, 94
aus denen lange Eisennägel aufragen. Hier weiß jeder: Siehst du, wie sich eine solche Schlange entrollt, dann rette sich wer kann in den erstbesten Unterschlupf, und zwar schleunigst, denn die Stadt wird für den Verkehr gesperrt, und das wiederum ist das sicherste Zeichen für eine bevorstehende »Säuberung«. Bald darauf erstarrt Grosny, und die Menschen werden in die Häuser getrieben, wenn sie denn noch eine Behausung haben, die diese Bezeichnung verdient. Um elf Uhr tritt eine tödliche Pause im Leben der Stadt ein. Jetzt kommt man nicht einmal mehr zwischen den Kontrollstellen vorwärts. Nach endlosem Herumirren von einer abgesperrten Straße zur anderen vergeht der Humor selbst jenen unverzagten Frohnaturen, die noch vor einer Stunde verschwörerisch zwinkernd verkündet hatten, sie kämen schon dahin, wohin sie wollten, schließlich gebe es Schleichwege durch die verminten Ruinen, da brauchte einem vor den Posten nicht bange zu sein. Die Soldaten, die die Kontrollstellen bewachen, wundern sich zusammen mit uns, den Festgesetzten, über den seltsamen Befehl, der gerade gekommen ist: Niemanden durchlassen, nicht einmal Armeeangehörige und Milizionäre! Tatsächlich, neben uns stehen auch durch die Blockade festgehaltene Offiziere aus irgendeinem anderen der »Militärministerien«, nicht dem, das den Blockadebefehl gab.
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Ebenso Polizisten der so genannten tschetschenischen Miliz, neu aufgestellten Einheiten aus Vertretern der hiesigen Bevölkerung. Nicht einmal ein paar Schulmädchen von neun oder zehn Jahren werden durchgelassen zu Die 41. Schule in Grosny. Andernorts findet der Unterricht in Zelten statt, wenn die Schulgebäude völlig zerstört sind.
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ihrer einhundert Meter entfernt liegenden zerstörten 41. Schule, wo trotz allem der Unterricht weitergeht.
Der Abschuss der Generäle Im Amtssitz der tschetschenischen Regierung – einem renovierten Gebäudekomplex hinter einem hohen, unansehnlich schmutziggrau-gelben Zaun mitten im Zentrum von Grosny – durchmisst zu dieser Zeit Premier Stanislaw Iljassow * mit energischen Schritten sein Arbeitszimmer. Die Regierungskabinette ringsum sind leer, 80 Prozent der Mitarbeiter sind wegen der Straßensperrungen nicht zum Dienst erschienen. Iljassow packt eines der unzähligen Telefone, liefert sich ein heftiges Wortgefecht mit irgendeinem hochrangigen Militär. Neben ihm steht ein junger Generalleutnant. Auf den unbeteiligten Betrachter muss dieses Bild seltsam wirken: Ein General und ein Premierminister – Personen von Rang und Namen – sind machtlos gegenüber der Anarchie der Armee. Durch die menschenleeren Straßen rasen noch immer mit irrsinniger Geschwindigkeit die außer Rand und Band geratenen Schützenpanzerwagen, die eigentlichen Herren des Stücks Universum, das Grosny heißt. Kein Mensch auf der Welt interessiert sich im Moment für einen Stanislaw Iljassow, der selbst noch nicht weiß, dass er so, fast allein, noch mehrere Tage in seinem Regierungssitz ausharren muss. Die Blockade wird lange dauern. 97
Gegen Mittag gleicht die Stadt einer Festung, die sich auf eine groß angelegte, besonders wichtige Operation vorbereitet. Die Frauen flüstern: »Vielleicht haben die Rebellen irgendwo zugeschlagen?« Das Leben erstirbt, die Menschen möchten am liebsten unsichtbar werden. Nur das Rollen der Schützenpanzerwagen, einmal näher, einmal weiter entfernt, ein vereinzelter Schrei – eine Frauenstimme, die in Weinen verfällt: »Lasst mich durch, mein Kind ist dort …« Der junge Generalleutnant will sich von Premier Iljassow verabschieden, aber der bittet ihn zu bleiben. Der General antwortet, das könne er unter gar keinen Umständen, er müsse umgehend nach Moskau, dem Präsidenten Bericht erstatten, und zwar morgen früh. Die Anwesenden schauen voller Hochachtung, ja Begeisterung auf den General. Nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten weiß, dass ihn der Präsident mit einer Mission betraut hat, die beispiellos ist im Rahmen der gegenwärtigen Ereignisse in Tschetschenien: Er soll Fakten über die Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte sammeln, Schlüsse ziehen und dem Staatsoberhaupt persönlich rapportieren. Der Hubschrauberlandeplatz liegt unmittelbar auf dem Gelände des Regierungssitzes, direkt unter dem Arbeitszimmer des Premiers. Iljassow begleitet den General und sein Gefolge bis zum Einstieg. Der Hubschrauber steigt steil auf, bleibt noch für eine Weile sichtbar. Diejenigen, 98
die zu dieser Zeit an den Kontrollstellen, besonders im Zentrum von Grosny, festgehalten werden, sehen ihn ebenfalls. Doch ihre Blicke können ihm nur wenige Minuten folgen, dann stürzt er ab – mitten auf die Innenstadt. In dem Hubschrauber sterben der junge Generalleutnant Anatoli Posdnjakow, der es so eilig hatte, dem Präsidenten Bericht zu erstatten, ein weiterer General des Generalstabs, der ihm bei seiner Mission behilflich war, sowie sechs Oberste, ebenfalls Generalstabsoffiziere. Und die Besatzung. Und alle Materialien, die die vom Präsidenten eingesetzte Kommission über Kriegsverbrechen in der Zone der »Antiterror-Operation« zusammengetragen hatte, sind verloren. Abends verbreiten alle Fernsehkanäle, alle Presseagenturen marktschreierisch die Nachricht von der »großen Tragödie für alle Streitkräfte«, von einem »neuen Anschlag der Terroristen«, verübt durch einen einzelnen Banditen »mit einer Flugzeugabwehrrakete ausländischen Fabrikats« in der Hand, »weißen Hosen und einem Viertagebart«, der aus den Ruinen hervorgesprungen und in die Gegend um den Minutka-Platz gelaufen sei. Aber da habe ich doch selbst gestanden … Dort waren so viele Kontrollstellen wie nirgendwo sonst in Grosny, und wenn jemand »aus den Ruinen hervorgesprungen« wäre, umso mehr mit einer »Stinger«, dann hätten das 99
sofort mehrere der bis an die Zähne bewaffneten Posten bemerkt. Außerdem ist das auch schon lange kein Platz mehr, sondern einfach ein Stück Erde, zerwühlt von Bomben und Granaten. Ruinen, Kontrollstellen, wieder Ruinen, wieder Kontrollstellen … Die Soldaten sehen einander und das umliegende Gelände mit bloßem Auge, und niemandem, der auf dem Minutka-Platz steht, käme es in den Sinn, auch nur eine unbedachte Handbewegung zu machen – so gut haben die Posten alles im Blick. Selbst den Fotoapparat herauszuholen ohne Erlaubnis ist außerordentlich riskant und kann mit einer Maschinengewehrsalve ohne jede Vorwarnung enden. Und da soll ein »Terrorist in weißen Hosen mit einer Flugzeugabwehrrakete« …? »Zufällig« hatte es, wie sich herausstellte, für den Hubschrauber diesmal auch keinerlei Gefechtssicherung gegeben, obwohl er Generalstabsoffiziere beförderte. Und umgekommen ist darin gerade jener Mann, der das Blatt in Richtung Frieden wenden wollte. Zu viele Details, die Zweifel wecken. Hier liegt eines der Hauptprobleme in Sachen Tschetschenien: Es geht nicht um die Verschlagenheit, die militärische Ausrüstung der Terroristen, um die »ausländische Herkunft« ihrer Waffen, sondern um den Verrat eigener Leute durch eigene Leute. Verübt von denjenigen, die den Krieg fortsetzen wollen und denen dazu jedes Mittel recht ist. Wie beispielsweise die Blockade der Stadt Grosny am 17. September 2001, die alle Vor100
aussetzungen dafür schuf, mit einer Flugzeugabwehrrakete auf das »richtige« Ziel schießen zu können. Ohne lästige Zeugen.
»Schwatzen auch noch, die Schlampen!« Der Abschuss des Hubschraubers war sowohl Grund für die Blockade als auch Vorwand für ihre Verlängerung auf unbestimmte Zeit. Wobei es keine Rolle spielt, wer diesen Abschuss inszeniert hat, wichtig ist, wer die Folgen zu tragen hatte. In der Nacht vom 17. zum 18. September erschütterten »Säuberungen« beispiellosen Ausmaßes die Stadt. Die Männer wurden aus den Häusern gezerrt, und das Heulen der Frauen, die ihren Söhnen, Ehemännern, Brüdern und Nachbarn nachweinten, hing über der Stadt, vermischte sich mit Maschinengewehrgarben und dem Krachen der Granatwerfer. Am 18. September gegen sechs Uhr morgens verdrängte der Blockadetag eine Blockadenacht, die angefüllt gewesen war mit Schüssen. Schützenpanzerwagen, auf denen frierende, wütende, übernächtigte Männer in schwarzen Masken hockten, erwarteten diejenigen Bewohner der Stadt, die nicht in den Häusern bleiben konnten. Aus dem einen einfachen Grunde, weil sie zur Arbeit mussten. Ärzte zum Beispiel. Schließlich waren da die Kranken … 101
Ich ziehe den Vorhang einen winzigen Spaltbreit auseinander – und sofort flüstert mir die Vermieterin flehend zu, mich ja nicht zu zeigen. »Wenn das die ›Masken‹ sehen, schießen sie …« Durch den Spalt betrachte ich die leere Straße. Es ist die Staropromyslowskoje-Chaussee. Fünf Meter entfernt steht ein Schützenpanzerwagen, in zehn Meter Entfernung der nächste. Soweit das Auge reicht. Die schmutzbeschmierten Soldaten, die auf dem Panzerwagen lümmeln, fluchen ohne erkennbaren Grund. Einige sind ganz offensichtlich nicht nüchtern. Andere trinken gierig Wasser aus großen Plastikflaschen – das typische Katersyndrom. Da kommt mit vorsichtigen Trippelschritten, sich ängstlich umschauend und immer wieder stehen bleibend, eine junge Krankenschwester die Straße entlang. Sie trägt ihren weißen Kittel, hat ihn absichtlich angezogen, damit die Soldaten sehen, dass sie zum medizinischen Personal gehört, und sie passieren lassen. Die junge Frau geht zur Arbeit, ganz in der Nähe befindet sich das Städtische Krankenhaus Nr. 9. Alle in Grosny, die Militärs wie die Zivilisten, wissen, dass es das einzige ist, das bisher selbst unter schwierigsten Umständen seinen Dienst aufrechterhielt. Es sind nur noch wenige Meter bis dorthin. Die Krankenschwester schiebt zuerst einen Fuß vor und wartet – schießen sie nicht? Dann zieht sie das zweite, vor Angst watteweiche Bein nach. Das sieht aus wie im Ballett, ist aber das wirkliche Leben … So, mehr kriechend als gehend, bewegt sich die Kran102
kenschwester vorwärts. Die Soldaten amüsiert das ganz offenkundig. Sie fluchen noch wilder. Die Krankenschwester ist ganz allein auf der Straße, außer denen da vorn, auf dem Schützenpanzerwagen, die schon auf sie warten, sie bereits ins Visier genommen haben, und denen hinter ihr, die ebenfalls den Finger am Abzug halten. Schließlich wird es ihnen zu langweilig. Lauthals brüllen sie zu der Krankenschwester hinüber: »Stehen bleiben!« Es sind die von hinten. Und plötzlich, von diesem Geschrei, wird die junge Frau mutig. Sie streckt die Knie, biegt schnell und entschlossen seitwärts ein und verschwindet, von einer Maschinengewehrsalve begleitet. Auf der Staropromyslowskoje-Chaussee herrscht wieder Stille. Dann kommt eine Gruppe Frauen, etwa zehn Personen. Langsam und ebenfalls gleichsam tastend wie die Krankenschwester schieben sie sich vorwärts auf das Gebäude der Militärkommandantur des Leninski-Stadtbezirks zu, dessen Eingang genau gegenüber von meinem »Ausguck« liegt. Es sind Mütter, Frauen und Schwestern von Männern, die während der nächtlichen Razzia verhaftet wurden. Sie gehen zur Kommandantur, um in Erfahrung zu bringen, welche Lösegeldsumme für ihre Männer festgesetzt ist. Die Frauen müssen da sein, bevor es hell wird und die Verhafteten aus der Kommandantur weggebracht werden, weil sie dann vielleicht überhaupt nicht mehr zu finden sind.
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»Weg da!« Vom Schützenpanzerwagen fliegt den Müttern, Frauen und Schwestern eine saftige Portion Spucke entgegen. »Aber die da«, beginnen die Frauen alle durcheinander zu erklären und zeigen auf den hinter ihnen liegenden Schützenpanzerwagen, »die haben uns doch gesagt, wir sollen hierhin …« »Zu-u-u-rück!« Die Maskierten fletschen die Zähne wie hungrige Wölfe, zischen verächtlich ihre Befehle. »Habt ihr nicht gehört?! Haut ab!« Und wieder Fluchen. Unter den Frauen flammt Hysterie auf. »Lasst uns doch leben … Ihr verhaftet unsere Leute … stehlt … Denkt doch an eure Mütter!« »Schwatzen auch noch, die Schlampen!«, bringen sich die Maskierten auf dem Schützenpanzerwagen mit unflätigem Brüllen immer mehr in Fahrt. »Wie oft sollen wir es noch sagen: Schert euch sonst wohin! Was kraucht ihr überhaupt noch hier rum! Das alles gehört uns!« Schluchzend weichen die Frauen zurück. Man hört: »Wohin sollen wir denn bloß?« »Wer wartet schon auf uns?« Ein Uniformierter, allem Anschein nach ein Offizier, folgt der Gruppe. Ihm ist die Rolle des »guten Beschwichtigers« zugedacht, der nach den »Bösen« seinen Auftritt hat. Flüsternd bespricht er etwas mit den Frauen (offenbar das Lösegeld), die schöpfen wieder Hoffnung, gehen schnell und gefasst auseinander. Nur eine von 104
ihnen streitet noch mit dem Mann, doch nach wenigen Minuten scheint ein Kompromiss gefunden und auch sie verschwindet. Dieser Offizier ist sozusagen ein Finanzmakler. Davon gibt es jetzt viele, in jedem Truppenteil, jeder Einheit, jeder Kommandantur. Der Sklavenhandel mit Verhafteten wird flächendeckend betrieben, faktisch überall, und jeder Beteiligte dieser Finanztransaktion kann auf seinen Anteil rechnen. Der Offizier hat den Frauen gesagt, wie viel Lösegeld jede von ihnen in die Kommandantur bringen muss, damit ihr Mann am Abend freikommt. Eine alltägliche Geschichte. Die »Säuberungen« mit dem Ziel, Rebellen dingfest zu machen, münden in einen ganz primitiven Schacher: Ware – Geld – Ware. Doch nicht alle können das Geld auftreiben, Tschetschenien ist bettelarm geworden. Nicht alle schaffen es in der Frist, die ihnen der Offizier gesetzt hat. Dann verlieren sich die Spuren der Verschleppten. Oder der »Makler« erklärt, nun ginge es bereits um den Freikauf einer Leiche … Die aber kostet mehr als ein Lebender, das haben die Militärs so ausgeheckt, denn sie wissen, dass es für einen Tschetschenen keine schlimmere Pein gibt als die Verletzung des Begräbnisrituals. So geht der zweite Blockademorgen zu Ende.
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Der einzige Patient Der zweite Blockadetag ist angebrochen in Grosny. Er bringt keine besondere Abwechslung in das Leben der Menschen – sie sind noch immer eingeschlossen, nicht nur in der Stadt, sondern auch in den einzelnen Bezirken. Die militärische Mausefalle verbietet es, sich von einem Stadtteil in einen anderen zu bewegen, selbst zu Fuß. Und so irrt man endlos wie in einem Labyrinth auf geheimen Schleichwegen, durch Ruinen, und landet schließlich doch wieder an der gleichen Kontrollstelle, wo sich der fröhliche Soldat die Sonne auf den Pelz scheinen lässt und, weil er das Ganze auch schon einigermaßen langweilig findet, anbietet, einen Witz zu erzählen, sozusagen als Kompensation dafür, dass wir an seiner Hundehütte aus Beton nicht weiterkommen. Wir, die wir auf der anderen Seite des Stacheldrahts stehen, lachen nicht, sondern grinsen nur schief. »Ist wohl nicht lustig?«, fragt der fröhliche Soldat, vergisst plötzlich den Befehl, den er auszuführen hat, und lässt den Großteil der Wartenden durch. Solche glücklichen Gelegenheiten sind in Tschetschenien ein Unterpfand des Überlebens. Ich muss in das Städtische Kinderkrankenhaus Nr. 2, gegenwärtig das einzige Unfallkrankenhaus in ganz Tschetschenien mit einer Intensivstation für Kinder. Die Straße des 8. März ist menschenleer wie eine Wüste. Das Krankenhausgebäude wirkt darin wie eine 106
halb zerstörte Oase: Im ersten Stock gähnen Löcher anstelle der Fenster, im Erdgeschoss irritiert die Menschenleere und das völlige Fehlen all jener Laute und Geräusche, wie sie jedem aus einem Kinderkrankenhaus vertraut sind. Hinter dem Tisch in einem armseligen Zimmerchen hockt ein großer, dunkelhäutiger Mann mit einer Brille auf der Nasenspitze und versucht, ein Buch zu lesen. Chefarzt Ruslan Ganajew ist sehr nervös: »Ich sitze wie auf Kohlen. Unser Arzt bringt gerade einen schwer kranken kleinen Jungen nach Argun, nach Hause – die Eltern wollen es so. Sie haben gesagt: ›Wenn er schon stirbt, dann wenigstens bei uns und nicht in Grosny. Oft sind von Häusern nicht mehr als Gerippe geblieben. Die ganz normale Stadtlandschaft der letzten Jahre.
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Grosny …‹ Der Kleine ist gerade mal einen Monat alt, er hat Kehlkopfdiphterie, kriegt keine Luft, und jetzt pumpt ihm der Arzt Luft zu, mit dem manuellen Beatmungsgerät bis sie in Argun sind, dann kommt er zurück … Vielleicht aber auch nicht.« »Und wo sind die Kinder? Das Wachpersonal? In der Zentralen Verwaltung hat man mir versichert, alle Krankenhäuser würden bewacht.« »Wachen haben wir hier noch nicht gesehen. Und Patienten sind auch keine da. Gleich, als die Blockade losging, haben die Eltern ihre Kinder abgeholt und versucht, sich mit ihnen in die Dörfer durchzuschlagen, aus Angst vor den Schüssen und Säuberungen. Sogar von der Intensivstation haben sie sie geholt – einfach die Schläuche rausgezogen und die Kinder weggetragen. Ein kleines Mädchen mit Kinderlähmung lag im Streckbett, sogar daraus haben sie die Kleine mitgenommen. Jetzt ist nur noch ein einziger Patient da, der drei Monate alte Salawat Chakimow aus Alchan-Kala.« Neben dem straff gewickelten, schlafenden Salawat sitzen zwei junge Frauen, seine Mutter und eine Tante. Sie erklären, warum sie ihr Kind hier gelassen haben: Der Kleine muss dringend operiert werden, sonst überlebt er nicht. Salawat hat eine Zyste am Hüftgelenk, ausgelöst durch eine Spritze im Entbindungsheim (weder dieses Entbindungsheim noch das Krankenhaus haben momentan fließendes Wasser, sie sind heute im Grunde Feldlazarette mit einem entsprechenden Hygienestandard, oder 108
besser: mit keinem). Bei Salawat ist bereits der Knochen vereitert und eine Blutvergiftung eingetreten, der Junge hat hohes Fieber, kann jeden Moment sterben. Kurz nachdem Salawat zur Welt kam, begann in AlchanKala eine Razzia, bei der ein Anführer der Rebelleneinheiten gesucht wurde. Wie jetzt in Grosny riegelten Armeekräfte das Dorf hermetisch ab, niemand durfte hinein oder heraus. Die Blockade erstreckte sich auch auf Schwangere, Kranke und Säuglinge – alle wurden mit Helfershelfern der Terroristen gleichgesetzt. Zuerst veranstalteten die Föderalen im Dorf mehrere Wochen lang eine Hetzjagd auf den Banditen, als sie ihn schließlich außer Gefecht gesetzt hatten, gingen sie zu ebenso ausgedehnten Säuberungen unter der Dorfbevölkerung über. Der kranke Salawat konnte nicht zur Behandlung nach Grosny gebracht werden. Dreimal operierte ihn der Arzthelfer von Alchan-Kala – zu Hause, ohne jede Narkose und Desinfektion. Salawat ist im wortwörtlichen Sinne ein Opfer der »Antiterror-Operation«, obwohl er erst drei Monate zählt und allein schon deshalb kein Terrorist sein kann. »Morgen ist die Operation«, sagt seine Mutter. »Wir können es nicht länger aufschieben. Danke, dass ihn die Ärzte trotz der Blockade operieren.« Der Junge liegt quer in einem Erwachsenenbett, Kinderbettchen gibt es nicht. Wir wollen uns neben den Kleinen setzen, sinken aber sofort tief ein. Wie sich 109
zeigt, sind die Drahtroste unter allen Betten beschädigt, und wenn man nicht findig ist und eine alte Holztür aus irgendeiner Ruine in der Nachbarschaft unter die Matratze legt, kann man weder liegen noch sitzen. Befremdlich sehen auch die medizinischen Geräte aus, die die Ärzte benutzen. Hinge über dem Eingang nicht das Schild »Städtisches Kinderkrankenhaus Nr. 2«, könnte man hier ein Lager für ausgemustertes Inventar vermuten, das nur noch nicht auf den Sperrmüll gebracht werden konnte. Doch auch dieses – für die Ärzte unersetzliche – Sammelsurium hat seine Kriegsgeschichte. Vor dem Sturm auf Grosny zu Beginn des Krieges, im Winter 1999/2000, versteckten die Ärzte alles, was sie für ihre Arbeit brauchten, in verschiedenen nahe gelegenen Kellern: Würde einer von Bomben getroffen, blieben vielleicht die anderen heil. Das Versteck, wo die Operationsausrüstung deponiert war, spürten die Armeekräfte auf, nahmen alle Geräte mit und zerstörten sie, nicht ohne vorher im Fernsehen gemeldet zu haben, es sei eine »geheime Operationsstation« ausgehoben worden, die verwundete Rebellen wieder kampftauglich gemacht hat. Das, was wie durch ein Wunder in den anderen Kellern erhalten blieb, dient jetzt in der Straße des 8. März, in Dr. Ganajews Kinderkrankenhaus, den kleinen Patienten. In Moskau wird währenddessen darüber geredet, wie in Grosny »allmählich das friedliche Leben in Gang kommt«, über Güterzüge mit medizinischen Ausrüstungen vom 110
Gesundheitsministerium Russlands, ganze Lastwagen voller Medikamente. In der tschetschenischen Hauptstadt aber wechseln ständig die Bürgermeister, jeder redet eifrig »das neue Leben in Tschetschenien« herbei, ohne dass etwas geschieht. Der jetzige Amtsinhaber heißt Oleg Shidkow, er ist Oberst des FSB. Ein unangenehmer Typ mit gläsernen Augen und dem für den ganzen »Dienst« typischen Hass auf jede Form von Öffentlichkeit. Er sitzt in seinem Amt und lässt sich draußen nicht blicken. Bei seiner Ernennung sprachen Generäle im Fernsehen über die Hoffnung auf ein Wiedererstehen der Stadt. Doch Grosny liegt noch immer in Schutt und Asche, und in Ruslan Ganajews Städtischem Kinderkrankenhaus Nr. 2 war Bürgermeister Shidkow kein einziges Mal. In den anderen Krankenhäusern übrigens auch nicht. Doch außer Shidkow beziehen in Tschetschenien schließlich noch andere für den Zustand der medizinischen Einrichtungen verantwortliche Herren ein auskömmliches Moskauer Gehalt: der Vizepremier »für Soziales« und der Minister für Gesundheitswesen mitsamt ihrem ganzen Rattenschwanz an Bürokraten. Der Chefarzt des Städtischen Kinderkrankenhauses Nr. 2 nimmt seine Brille ab, hinter der die ewigen Augen eines Dr. Anton Tschechow zum Vorschein kommen. Ruslan Ganajew will sich nicht auf eine politische Diskussion einlassen. »Wir haben … unsere PFLICHT«, sagt er leise, ohne Pathos. »Was auch immer geschieht …« Plötzlich, als er im abendlichen Dämmerlicht des 111
öden, verwüsteten Krankenhausflurs die Umrisse einer Gestalt sieht, erhebt er sich und geht ihr schnell entgegen, umarmt den Ankömmling fest, wie nach langer Trennung. Es ist der Kinderarzt, der unter Einsatz seines Lebens den Jungen mit der Kehlkopfdiphterie aus dem blockierten Grosny nach Argun gebracht hat und nun glücklich zurück ist. Eine Weile stehen beide Arm in Arm, als sei der Ankömmling ein Kundschafter, der sich aus einer verloren geglaubten Aufklärungsmission herausgekämpft hat. »Sie sollten jetzt lieber gehen, es wird bald dunkel. Die setzen Sie fest«, bekomme ich zu hören. »Wer setzt mich fest?« »Die einen wie die anderen. Unsere können wir irgendwie abwimmeln, eure nicht.« Wir gehen zum Ausgang, verabschieden uns – und wieder, als sei es das letzte Mal. Das ist ein Grundzug des heutigen Lebens in Grosny: Keiner kann hoffen, dass er den nächsten Morgen erlebt. Deshalb spart niemand an menschlicher Wärme: Vielleicht gibt es kein Morgen mehr – wenn nicht für dich, dann für den anderen …
Küchengespräche Wieder ein Blockadeabend, auf den eine Blockadenacht folgen wird. Niemals seit der Erstürmung der Stadt im Winter 2000 war es in Grosny so unruhig wie bei dieser 112
Blockade im September. Doch im abendlichen Dunkel sehnt man sich nach Gesellschaft, nach Gesprächen. Um den Tisch sitzen fünf Frauen, eher zufällig hierher geraten, von der Rentnerin bis zur Jungverheirateten. Alle wollen einmal abschalten, Abstand gewinnen, über das Gute reden und über die Liebe, bedächtig ihre Frauengeschichten ausbreiten – eigene und fremde. Doch am Ende läuft es wieder auf das eine hinaus, auf den Krieg, der sich hinter den Fenstern breit macht und uns, kaum dass wir ihn ein wenig vergessen haben, an den wundesten Punkten packt. Larissa Petrowna ist in Grosny geboren und aufgewachsen, hat ihr ganzes Leben hier verbracht. Nach dem Einzug der Russen kann sie, die Russin, sich nur noch im engen Geviert ihres Häuserblocks aufhalten. Und das schon mehrere Monate lang. Larissa Petrowna hat Schlimmes durchgemacht: Gleich zu Anfang des Krieges wurde sie von tschetschenischen Banditen als Geisel genommen, sollte ihre Wohnung auf einen Namen überschreiben, den sie ihr vorgaben. Als sie sich hartnäckig weigerte, ließ man sie schließlich laufen: verängstigt, ungewaschen seit Monaten, die Finger- und Fußnägel so lang wie Krallen. »Ach, was soll’s«, unterbricht sich Larissa Petrowna, »ich habe alles vergessen, will nicht mehr daran denken. Ich lebe noch, und fertig.« Aus Tschetschenien fortfahren konnte sie nicht, sie hätte nicht gewusst, wohin, und jetzt, wo viele russische 113
Militärs zu ebensolchen Banditen geworden sind oder mit ihnen gemeinsame Sache machen, verlässt sie – nun freiwillig – die Bleibe nicht mehr, in der ihr ehemalige tschetschenische Arbeitskollegen Zuflucht boten. Larissa Petrowna war Ingenieurin. »Aber das ist doch auch kein Leben.« »Wo soll ich denn hin?« Das Gleiche habe ich auch von der Mutter des kleinen Salawat mit der Zyste am Hüftgelenk gehört. In dieser Stadt wohnen die Leute heute nicht, weil es ein normales Leben wäre oder sie mit einer Wende zum Guten rechneten, sondern weil sie nicht wissen, wohin. Ich begreife nicht, wie es so weit kommen konnte. Sie hatten erwartet, dass es nach dem Einzug der russischen Truppen leichter würde, hatten auf ein besseres Leben gehofft, und nun sind sie erst recht Sklaven. Die zweite Frau, eine Tschetschenin namens Fatima, ist schon lange Witwe. Vor kurzem musste sie ihren Sohn bei der Bezirksverwaltung der Miliz freikaufen. Er war um fünf Uhr früh verhaftet worden, im Schlaf, die Soldaten haben ihn halb tot geschlagen, er sollte Kontakte zu den Wahhabiten * gestehen. Doch wie hätte er die eingestehen können, wo er doch aus einer Familie kam, die selbst viel geopfert hatte für den Kampf gegen die »Langbärte« und von ihnen verfolgt wurde? Um sechs Uhr stand Fatima bereits zusammen mit anderen Frauen am Milizschlagbaum. Bald darauf kam ein 114
Offizier, er sagte: »500 Dollar nicht später als drei Uhr nachmittags, oder du siehst deinen Sohn nicht wieder.« »Und, hast du die 500 Dollar aufgetrieben?« »Stell dir vor, ja. So schnell bin ich noch nie von Haus zu Haus gelaufen.« Fatimas Sohn kam frei und muss jetzt ärztlich behandelt werden, sie haben ihm einen Nierenabriss beigebracht. Der tschetschenische Milizionär aber, der ihr half, die verfluchten 500 Dollar aufzutreiben – ein Freund der Familie, der vor Dudajew und den heutigen Kriegen lange Jahre bei der Miliz gearbeitet hatte und letztes Jahr dorthin zurückgekehrt war, ein hochrangiger Milizionär in wichtiger Funktion, dem das, was er tagtäglich mit ansehen musste, sehr nahe ging – dieser Mann also erlitt am Abend desselben Tages, an dem sie ihren Sohn freikaufte, einen tödlichen Herzinfarkt. Bevor er starb, wiederholte er immer wieder: »Wie konnte das nur geschehen?« Und alle verstanden, dass er damit nicht nur Fatimas Sohn meinte. Die Frauen am Tisch weinen nicht, auch wenn ihnen danach zumute ist. In Grosny hört man selten Schluchzen – es hat keiner Tränen mehr, und deshalb lässt sich daran, ob eine Frau weint oder nicht, mit Sicherheit erkennen, ob sie schon seit längerem wieder aus dem Flüchtlingslager nach Grosny zurückkam oder erst vor kurzem.
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Draußen herrscht Dunkelheit und Stille, selbst die Hunde bellen schon lange nicht mehr. Irgendwo der lautlose Aufschein sporadischer Bombeneinschläge, die ein wenig fernem Wetterleuchten gleichen. Nach Mitternacht beginnt erneut die Zeit der rollenden Schützenpanzerwagen. Alle ducken sich, kriechen in sich zusammen, machen sich klein. Kommen sie hierher? Fünf Minuten später dann Erleichterung: Nein, nicht zu uns. Die »Gepanzerten« sind vorübergerattert. »So weit ist es schon gekommen: Wir freuen uns, wenn es einen anderen trifft«, resümiert Fatima. Bis zum nächsten Blockademorgen sind es noch fünf Stunden, die man irgendwie überstehen muss, und das ist eine absolut intime Angelegenheit. Man überlebt, wie man geboren wird, jeder für sich allein. Also gehen wir auseinander, und du legst dich hin, um die Augen zu schließen und ganz allein zu bleiben mit einer Welt, die dich nicht will.
VIKTORIA UND ALEXANDER – DIE JUNGVERHEIRATETEN VON GROSNY »Also nein, Sascha, du bist ein Landstreicher, ein richtiger Landstreicher!«, gurrt Vika liebevoll schimpfend und versucht, mit dem ellenlang ausgestreckten Arm irgendetwas zu ertasten in einem dunklen Loch, das wie ein offener Kühlschrank aussieht. Endlich hat sie gefunden, was sie sucht, und reckt sich zu Saschka hinüber: »Hier, nimm den Kamm. Wir wollen schließlich wie Menschen aussehen … Kämm dir die Locken …« Wir hatten uns gestern Abend getroffen. Über Nacht sind in ihrem Fenster noch zwei Einschüsse dazugekommen. Aber die beiden beachten die verräterischen Löcher überhaupt nicht. Wir sind schließlich in Grosny. »Sie haben geschossen«, werfen sie gleichgültig hin. Und lachen gleich wieder albern verliebt herum wie alle Jungverheirateten, beseelt von der gerade zu Ende gegangenen Nacht und ohne Erinnerung an ein Gestern, wie auch immer es beschaffen gewesen sein mag. Die Kunst, dem Glück des Augenblicks zu leben, beherrscht dieses Paar virtuos. Noch ist es ja weit – an die drei Stunden –, bis in Grosny der Tag beginnt mit seinen allgegenwär117
Viktoria und Alexander Dshura, die Jungverheirateten von Grosny, in ihrer Küche.
tigen Problemen: was essen, wo Wasser hernehmen … Dann kommen Wut und Verletzung, dann werden sie sie wahrnehmen, die Zelle, in der sie das Schicksal gefangen hält, und dann wird sich schließlich, noch später, gegen drei, der chronische Ausfall des Mittagessens bemerkbar machen. Doch jetzt ist Frühstückszeit. Ein Kriegsfrühstück in Grosny. »Am besten, du tust so, als wäre bei uns alles wie bei allen anderen Leuten im Land«, sagt Vika und schlürft die heiße Flüssigkeit namens »Frühstückstee«. »Sonst wirst du verrückt.« 118
»Und denkst gar nicht daran, dass du außer Tee nicht das Geringste im Haus hast?«, ergänzt Sascha halb fragend, halb bestätigend. »Was willst du damit andeuten?« Kokett wirft ihm Vika einen schrägen Blick zu. »Doch nicht etwa, dass ich eine schlechte Hausfrau bin?« Vika und Sascha – die Jungvermählten von Grosny. Aus der Vorstadt Iwanowa, einer Gegend, wo es keine Straßen gibt, sondern nur Hausnummern. Offiziell heißen sie Alexander Georgijewitsch und Viktoria Alexandrowna Dshura und haben am 6. April 2001, also vor wenigen Monaten, geheiratet. »Vika, hör auf mit dem Quatsch! Lies lieber!«, kommandiert »Landstreicher« Sascha, als er seinen Tee ausgetrunken und sich gekämmt hat. Vika ziert sich noch ein bisschen, blinzelt zu ihrem Mann hinüber, der jetzt ein strenges Gesicht aufsetzt, dann langt sie wieder in die Öffnung und holt ein Heft hervor, das sie den ganzen Krieg über begleitet hat. Verstehen kann man ihn, doch niemals nachempfinden, fremden Schmerz, den trägt das Herz nicht mit. Bis zur Selbstzerfleischung, bis zum völligen Erblinden treibt dich das Wissen: du bist invalid … Nun sitzt du da, die Grille ohne Flügel, zehn Schritte machst du, kommst dir kraftlos vor. 119
Nur ein Windhauch legt dir um die Schultern Zügel, und deine Seele strebt trotz alledem empor. Wie schmerzt dich der Natur gemeines Lachen, zu welcher Prüfung wird dir dein Geschick, siehst du dich deine Humpelschritte machen, und ringsum folgt dir eines jeden Blick.
»Das ist ja was ganz Schwermütiges«, unterbricht Sascha seine Frau. »Hast du nichts Lustigeres?« Obwohl man ihm ansieht, dass ihm gerade dieses Gedicht besonders gefällt. Er will nur vor dem Besuch keine Schwäche zeigen. Sascha und Vika sind Invaliden ersten Grades. Von Kindheit an. Vika wurde, als sie zehn war, von einem Motorrad überfahren, ihr jetziger Zustand ist die Folge des damaligen schweren Hirn-Schädel-Traumas. Und Sascha kam einfach so auf die Welt. Bei beiden streikt der Fortbewegungsapparat. Natürlich gibt es auch gute Tage, besonders für Vika, die noch halbwegs laufen kann. Doch die meiste Zeit verbringen beide auf zweieinhalb Quadratmetern, in der winzigen Küche im heil gebliebenen Erdgeschoss ihres vierstöckigen Hauses, an einem Tisch in der Nähe des Fensters, durch das Kugeln fliegen. Über sich nur noch zerbombte und ausgebrannte Wohnungen. Vika ist Lyrikerin. Ihre Gedichte schreibt sie in alte Schulhefte, arbeitet viel daran, ändert sie oft. Und kann deshalb nachts schlecht schlafen. 120
»Wie sich das für eine Dichterin gehört«, ergänzt Sascha. »Stellen Sie sich vor«, greift Vika den Faden auf, »als sie gestern ins Fenster geschossen haben, war ich gerade einmal fest eingeschlafen. Abends ist mir nämlich eine Zeile gelungen, deshalb konnte mich nichts wecken, obwohl ich sonst schrecklich feige bin.« »Vika kann ja einfach noch ein bisschen lesen. Sie hat gute Gedichte über den Krieg geschrieben.« Es geschieht – was? Was geschieht? Könnt ihr schlafen, Herren der Befehle? Wenn ihr alle, die und die, uns hier Lebenden für nichts und wieder nichts zerfetzt die Seele. Sind’s die einen, die die Freiheit brauchen, woll’n die anderen, dass Ordnung herrscht. Und so bombardiert ihr …
Vika wird traurig. Sie verstummt, streicht mit der Hand über die nächtlichen Einschüsse in der Fensterscheibe. Aber ein Ehemann ist schließlich dazu da, die Schwermut seiner Frau zu vertreiben. Das ist Saschas eherner Standpunkt. Also beginnt er, seine geliebte Dichterin »zu kurieren«. »Glauben Sie bloß nicht, Vika wäre immer so! Kein bisschen! Ein richtiger Frechdachs ist sie. Lies mal das mit der Leber, Vika!« 121
»Nein, Sascha, unser Gast kommt doch aus Moskau, braucht etwas über den Krieg, etwas Ernstes.« »Zierst du dich schon wieder?« »Na gut. Damit du mir nicht noch den letzten Nerv raubst«, und das »Nerven rauben« sagt sie wieder mit viel Liebe. Hat ’ne LEBER mal erklärt: Huch, ihr seid mir nichts mehr wert! Solltet mir die Chance geben, einmal ganz allein zu leben! Kommt doch gleich die FERSE an, hängt sich an die Leber dran: Ich bin ebenfalls bereit für die Unabhängigkeit! Immer nur gelaufen werden, kann’s ja wohl nicht sein auf Erden. Und die DRÜSEN, wie’s so geht, woll’n auch Souveränität! Dieses Chaos, weh und ach, macht den Organismus schwach. Wie das die MIKROBEN freut: Heißa, was für eine Zeit! Wir sind jetzt ganz obenauf! Konfusion, nimm deinen Lauf!
Vika ist zufrieden mit dem Eindruck, den sie auf Sascha gemacht hat: Er will sich ausschütten vor Lachen.
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Ich kann sie nur schwer verarbeiten und zusammensetzen zu einem Ganzen, diese Splitter – den gnadenlosen Krieg, die Flitterwochen, ausgedehnt auf den fünften Ehemonat, die augenfällige Behinderung der beiden, die Gedichte. Alles strebt auseinander, lässt sich so schwer vereinbaren mit der Realität. »Vika hat nicht einmal bei den schlimmsten Bombenangriffen geweint, sondern nur geschrien: ›Ich halte das nicht aus!‹ Aber solange sie schrie, wusste ich, sie hält es aus«, sagt Sascha. Auf dem Weg, der uns beschieden ist, strebt ein jeder vom Nichtigen zum wahren Leben. Da ist es, hinter der Biegung, dort wird es sein. Ach nein, wieder nicht das wahre Leben, nur eine Täuschung der Sinne. Und du begreifst: Du musst INNEN, IN DIR suchen, um es zu finden … Doch die eitle Geschäftigkeit fordert das ihre, und abermals hetzt du im Kreis, immer neuen, noch aufwühlenderen Empfindungen und Eindrücken nach. Um ein weiteres Mal zu scheitern. Hier, im zerbombten, bei lebendigem Leibe verfaulenden Grosny, wo das Auge AUSSEN nichts mehr findet, an dem es sich festhalten könnte, außer Leid, eigenem und fremdem, gerade hier kann das Leben wahrhaftig sein. Auch wenn es aussieht wie in einer Höhle. Sich abspielt auf einem winzigen Fleckchen von einem Meter mal einem Meter, in einer Küche, die mehr einer Dekora123
tion gleicht. Wo aus dem Kühlschrank unerfindlicherweise ein Kamm zutage gefördert wird … Die Vorstadt Iwanowa hat schon seit Jahren keinen Strom mehr, der Kühlschrank – quer gelegt als Schrank, in dem es höchstens einen Kamm aufzubewahren gibt. Ein Herd? Ist auch vorhanden in der Familie. Bloß dass es kein Gas gibt. Deshalb spielen die darauf postierten Töpfe die Rolle von Symbolen des Kampfes für eine bessere Zukunft: Gibt es Gas, wird das Essen vom Herd serviert und nicht vom offenen Feuer auf der Straße. Ein Spülbecken? Freilich! Eine Küche muss doch ein Spülbecken haben. Leider findet sich nicht ein einziger Tropfen Wasser in den Leitungen. Und eine Deckenleuchte über dem Kopf gibt es auch, nur kein Licht. Ich schäme mich, in ihrer Gegenwart zu weinen. Also weine ich nicht. Und bin ohnmächtig, meine Empfindungen auszudrücken: Alles wird klein und bedeutungslos im Vergleich zu ihrem Leben. Alles in dieser Küche in Grosny ist Dekoration – der Herd, der Kühlschrank, die Wasserhähne, alles –, nur nicht die Gefühle. Während in den Moskauer Küchen heute alles real da ist: Herd, Gas, Wasser aus den Wasserhähnen, warm und kalt, alles. Außer den Gefühlen. Die sind wie Dekorationen. Wir essen zu gut und reichlich für ein Land, in dem so lange Krieg herrscht.
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»Also wirklich, Sascha, du bist und bleibst ein Landstreicher!«, wird Vika ein bisschen böse. »Es ist doch erst Morgen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht auf nüchternen Magen rauchen. Das schadet der Gesundheit!« »Ich kann es nicht lassen, Vikalein, ich rauche, seit ich sieben bin.« »Seit du sieben bist? Haben Sie das gehört? Das sollte ich vor der Hochzeit gewusst haben …« Dann ihr Lachen. Melodisch zwitschernd, morgendlich frisch. Noch von keiner Tageslast verdorben. Dazu Saschas ewig spöttelnder, weicher Bass. Beim Verlassen eines Hauses fühlt man stets, ob man noch einmal dorthin geraten möchte oder nicht. Ja, ich will. Dasitzen in der herzlichen Gemeinschaft dieser beiden Menschen. Und das Leben spüren, das von ihnen ausgeht, ungeachtet jener besonderen Apathie des Krieges, die jeden fassungslos macht, der einmal hier war: so viel Tod, so viele Tote ringsum, dass die Leichen immer noch unbegraben liegen, vielleicht zwei oder drei Schritte von dir entfernt. Das ist das Faszinierende an dieser Überwindung, die nur wenige Menschen erlangen können. Oder das wahre Leben in den Dekorationen des Krieges. Wenn deine eigenen Nöte und Sorgen vor ihrem glücklichen Lächeln zu Quark mit Sauce schrumpfen. Zu einem eingebildeten geschäftigen Nichts.
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KOMSOMOLSKOJE – EIN DORF, DAS ES NICHT MEHR GIBT Kein Mensch könnte wagen zu behaupten, das Leid von Chatyn sei größer als das Grauen von Guernica. Schmerz wird nicht gewogen und gemessen. Jeder hat seinen eigenen, und für die, die ihn erleiden, ist er stets der größte. Der zweite Tschetschenien-Krieg hat der neueren Geschichte Seiten hinzugefügt, die sowohl mit Guernica als auch mit Chatyn vergleichbar sind. Was das Ausmaß der Opfer, der Zerstörungen, des Blutvergießens, der Folgen für die Umwelt anbelangt. Und es spielt keine Rolle, dass das bislang niemand wahrhaben will: Die Zeit wird kommen, wo man darüber redet. Eine dieser Seiten trägt den Namen Komsomolskoje. Komsomolskoje war ein großes Dorf im Kreis UrusMartan, sieben Kilometer vom Kreiszentrum entfernt. Heimat für Tausende Menschen, mit einem Krankenhaus, einem Klub und Läden, mit schönen gewundenen Straßen, die hügelan führten, und einem wunderbaren »schweizerischen« Blick auf die Berge. Hier in Komsomolskoje wuchs ein Mann auf, sein Name – Gelajew, Vorname – Ruslan. Dieser Umstand sollte das weitere Schicksal des Dorfes und Tausender Menschen bestimmen. Anfang Februar 2000 zerstörten russische Truppen Komsomolskoje vollständig, nachdem eine Rebelleneinheit unter Gelajews Kommando dort aufgetaucht war. Die Belagerung dauerte einen Monat, dann, im März, 126
zogen sich Freischärler und Föderale in ihre Quartiere zurück, das Dorf aber war zu einer phantasmagorischen Konstruktion aus Brandstätten, Trümmern und frischen Gräbern auf dem Friedhof geworden.
Anderthalb Jahre später Geht man die ehemalige Zentralnaja-Straße entlang, werden alle übrigen Empfindungen verdrängt von einem Gefühl der Irrealität der Wahrnehmung. Einerseits eine menschenleere Wüste, in der nicht einmal Vögel singen und die übliche Geräuschkulisse der Natur fehlt. Andererseits das Gefühl, sich in den Kulissen eines Horrorfilms zu befinden: Dann und wann dringen Stimmen von irgendwoher … Die Annäherung an das Lebendige, an diese Stimmen zwingt einen, bergauf zu kraxeln. In guten Zeiten war hier offenbar auch eine Straße, jetzt recken sich nur unordentlich ausgewucherte Büsche nach allen Seiten und verdecken schamhaft die Ruinen im Hintergrund. Auf dem Trampelpfad kommt ein Mann in zerschlissener Kleidung, ausgemergelt wie ein KZ -Häftling. Bei ihm hat offenbar die Tuberkulose ganze Arbeit geleistet, sie grassiert jetzt überall in Tschetschenien. »Wohnen Sie hier?« »Ja. Das war einmal die Retschnaja-Straße.« Er weist mit der Hand zu dem Gebüsch hinüber, aus dem er gekommen ist. »Und wen suchen Sie?« 127
Eine Familie aus Komsomolskoje, die die Belagerung und Zerstörung des Dorfs überlebt hat. Die Kinder waren während des Sturms auf das Dorf Geiseln der Föderationstruppen, man wollte mit ihnen die Rebellen erpressen.
»Jemanden, der hier wohnt.« »Das bin nur ich. In unserer Straße gibt es sonst nie128
manden. Obwohl erzählt wird, es wären 150 Familien zurückgekommen. Aber ein Haus hat keiner.« »Gibt es hier denn einen Verwaltungsleiter? Einen Dorfsowjet?« »Nein, wir sind ganz alleine.« »Wieso?« »Weil keiner da ist, und fertig. Sicher meinen die da oben, diese Ortschaft gibt es nicht mehr, Komsomols koje wäre wegradiert von der Karte. Sonst würden sie ja wohl einmal an uns denken, sich erkundigen, wie es uns geht.« »Zeigen Sie mir Ihr Haus?« »Ich sage doch, es gibt keine Häuser.« »Wo wohnen Sie dann? Wir haben doch Herbst.« »Im Stall.« Der Mann heißt Magomed Duduschew. Wie sich herausstellt, sind wir im selben Jahr geboren, obwohl Magomed wie ein Greis aussieht. Magomed hat eine große Familie, außer ihm gehören dazu noch seine Frau Lisa, sechs Kinder und die Mutter. Lebensmittelpunkt der Duduschews ist jetzt eine winzige Hütte aus ungebrannten Lehmziegeln, der Stall, den sie in diesem Sommer gebaut haben. Daneben liegt das Haus, zerstört von einem Volltreffer. Die Trümmer sind sorgsam abgedeckt mit fester dunkelblauer Folie, die irgendwann einmal in Komsomolskoje als UN-Spende verteilt wurde. »Natürlich wären wir froh, wenn sie uns mit Baumaterial helfen würden. Allein schaffen wir das Bauen nicht, weder heute noch in den nächsten Jahren. Im Dorf sind 129
bloß noch die Ärmsten und Kinderreichsten, die es nicht einmal bis Inguschetien schaffen. Deshalb habe ich den ganzen Bauschutt abgedeckt vor dem Regen. Bis bessere Zeiten kommen. Kann ja sein, dass sich doch noch alles ändert«, sagt Magomed unter Hustenanfällen. Natürlich ist das Tuberkulose. »Was haben Sie mittags gegessen?« »Wir hatten kein Mittagessen.« »Und zum Frühstück?« »Maisfladen und Tee.« Die Kinder der Duduschews darf man nicht aus der Nähe betrachten. Die gleichen ausgemergelten Körper wie der Vater, und alle furchtbar schmutzig. Wasser und Wärme sind in den Ruinen Mangelware, Stromleitungen baumeln abenteuerlich herab. Ein Alltagsdasein, das diesen Namen nicht verdient. Wie die meisten Tschetschenen, die versuchen, inner halb Tschetscheniens zu überleben, sind auch die Duduschews bedrückt und unfroh. Sie können nur auf eine Zukunft hoffen, in der die Maisernte die Hauptrolle spielt: Das Maisfeld beginnt direkt hinter dem Stall aus Lehmziegeln. Nur diese Ernte kann ihn wenigstens irgendwie bewegen, den Gang ihres völlig vom Krieg zerstörten Lebens. »Einen Teil heben wir auf, zum essen im Winter«, sagt Lisa. »Den Rest wollen wir verkaufen und dafür eine Kuh anschaffen. Damit wir nicht hungern müssen. Zwei Kühe haben wir damals verloren, bei der Erstürmung. Seitdem kriegen wir die Kinder nicht satt. Manchmal wird 130
Mehl gebracht, von einer dänischen Hilfsorganisation für Flüchtlinge, als ob wir in Dänemark wären. Sonst nichts. Keine andere Unterstützung, von niemandem. Von dem Geld, das wir für den Mais kriegen, müssen wir auch noch Schuhe kaufen für die Kinder, Sie sehen ja, sie laufen barfuß herum.« Wobei Lisas Kleid ebenfalls mindestens ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat. »Alle meine Sachen sind verbrannt«, fängt sie meinen Blick auf. Lisa muss noch jung sein und hübsch, doch das ist jetzt kaum zu erkennen. Natürlich gab es für die Duduschews keinerlei Kompensation für das verbrannte Hab und Gut, für ihr Haus, das bei militärischen Kampfhandlungen zerstört wurde. Das Gesetz des Überlebens im heutigen Tschetschenien könnte lakonischer nicht sein: Sieh selbst zu, wie du überlebst, und wenn nicht – auch gut. Dabei scheinen die Duduschews doch gerade zu der Kategorie von Menschen zu zählen, über die von den hohen Tribünen in Grosny und Moskau herab so ergriffen geredet wird. Für die Bürokraten sind sie beispielhafte Tschetschenen: Haben sich nicht nach Inguschetien davongemacht, keinen Platz in Flüchtlingslagern beansprucht, keine Hilfsgüter gefordert, leben auf ihrem eigenen Grund und Boden. Eigentlich bräuchte man doch nur den Duduschews und ihresgleichen unter die Arme zu greifen, dann würden auch die anderen, nicht so »beispielhaften« Bewohner der Zeltlager von allein in ihre Republik zurückkehren. 131
Die Kinder Als Issa, Magomeds ältester Sohn, mich, die Russin, sieht, hört er auf, Russisch zu sprechen und zu verstehen. Obwohl er es sehr wohl kann, wie seine freundlicheren Eltern bestätigen. Zornig wirft er den Kopf hin und her, um seine grenzenlose Abneigung zu zeigen, murmelt etwas und rennt schließlich so schnell davon, dass die nackten Fersen fliegen. »Auch die Großen haben keine Schuhe. Gar keine«, spinnt Lisa ihren Faden weiter. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt beim Anblick dieser verächtlich fliegenden Fersen: »Jetzt rennt er los und holt das Maschinengewehr, das er irgendwo versteckt hat.« So viel Hass lag in Issas Blick, seinen Gebärden. Selbst in seinem eigensinnigen Nacken, darin, wie er dahockte, demonstrativ abgewandt. Dabei trifft Issa keine Schuld. Die Welt der tschetschenischen Jugendlichen von heute ist eine endlose Folge von Grauen, das ständige, jahrelange Erleben, wie man Verwandte und Nachbarn zu Grabe trägt, die keines natürlichen Todes gestorben sind. Und natürlich die tagtäglichen Gespräche der Erwachsenen darüber, wer noch lebt, wessen Leichnam man gefunden hat, wie die letzte Säuberung ausgegangen ist, wer für wie viel freigekauft werden musste. Issa kommt zurück, Lisa übersetzt. Er will wissen, warum Putin eine Schweigeminute angeordnet hat für die Opfer der amerikanischen Terror-Tragödie, aber kein 132
Wort verliert über die schuldlos getöteten Tschetschenen. Weshalb so viel Aufhebens gemacht wird um das vom Hochwasser zerstörte jakutische Lensk, für dessen Wiederaufbau sich der Minister für Katastrophenschutz Sergej Schoigu persönlich bei Präsident Putin mit seinem Ehrenwort verbürgte, während in Tschetschenien alles in Schutt und Asche liegt und sich niemand auch nur zu irgendeinem Kommentar verpflichtet fühlt. Warum das ganze Land so aufgewühlt war, als die Seeleute der »Kursk« starben, es jedoch keine Regung zeigte, als mehrere Tage lang alle, die aus Komsomolskoje flüchten wollten, auf freiem Feld niedergeschossen wurden. »Auf mich haben die geschossen! Kapieren Sie das!«, schreit er, nun bereits auf Russisch. Und wieder blitzen seine Fersen beim Weglaufen. Wenn die meisten der Erwachsenen das Grauen, das da über sie gekommen ist, noch selbständig verarbeiten können und mit der Zeit vielleicht sogar für sich selbst Erklärungen finden, die die eigene Verbitterung nicht ausufern lassen, so sind die Halbwüchsigen, die jungen Männer Tschetscheniens, deren ganzes bewusstes Leben begleitet war von den Tränen ihrer Mütter und Schwestern, dazu offenbar nicht mehr bereit. Die junge Generation der Tschetschenen, die heute die letzten Schuljahre absolviert oder die Schule gerade abgeschlossen hat, ist die schwierigste, die es hier jemals gab. Unabhängigkeit à la Dudajew? Haben sie erlebt. Den ersten Krieg? Zu spüren bekommen. Den zweiten? Sattsam vor Augen. Leichen? Jede Menge. Das Wichtigste im Leben? Sich rechtzeitig in Sicherheit zu 133
bringen, wenn ein Mann mit einer Kalaschnikow auftaucht. Der Preis eines Menschenlebens? Gerade in ihrer Zeit sank er auf null. Issas jüngere Schwester, die vierzehnjährige Sarema, blickt wie ein gehetztes Tier, das von seiner Umwelt nur Schlechtes zu gewärtigen hat. Sie war vier, als Dudajew erklärte, Mädchen bräuchten keine Schulbildung, sieben, als der erste Krieg begann, zwölf, als Komsomolskoje vernichtet wurde. Sie hat alles mit angesehen. Die Zersetzung der tschetschenischen Nation, die im dritten Jahr des zweiten Krieges grassiert, ist nicht mehr zu verbergen. Die Frage lautet nur: Was kann man dagegensetzen? Wie den Kindern den Glauben zurückgeben, dass das Morgen trotz alledem besser sein wird als das Gestern? Und selbst auch wieder daran glauben? Lisa versucht zu vermitteln. Sie ist erzogen worden in der sowjetischen Schule, der Sowjetzeit, und steht damit für ein typisches Phänomen im heutigen Tschetschenien: Die mittlere Generation verhält sich gegenüber den Russen weitaus loyaler als die der Heranwachsenden und Jungen. Doch die mütterliche Diplomatie misslingt, die Kinder bleiben ablehnend. Nur die Großmutter lächelt noch immer. Sie hat die Stalin’schen Jahre der Repressionen, der Deportation überlebt, hat viele Male gehungert und sich daran gewöhnt, zurückzukehren aus dem Sterben und dem Tod aufs Neue zu begegnen.
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Blumen Es wird Zeit, sich zu verabschieden. Issa ist noch immer nicht wieder da, weder mit Maschinengewehr noch ohne. Der bettelarme Magomed – noch ein vom Leben in die Knie gezwungener tschetschenischer Familienvater, der nichts mehr für die Seinen tun kann – macht einen Vorschlag: »Vielleicht wollen Sie noch bei den Nachbarn vorbeischauen? Es ist nicht weit, gleich nebenan, in der Nagornaja-Straße. Bei Oma Sawnapi. Sie hat nichts, nur ihre Blumen. Aber die sind wunderschön.« Sawnapi Dalajewa ist keine Greisin, sondern eine Frau Jahrgang 1944 mit fein geschnittenen Gesichtszügen und tiefgrauen Augen. Doch im Mund hat sie keinen einzigen Zahn mehr, und ihre Haut durchfurchen Narben. Der Zaun um ihr Haus ist von Einschüssen durchsiebt, und während Magomed wenigstens noch Bauschutt sein Eigen nennen kann, gähnen bei Sawnapi die Überreste des bloßen Fundaments. Innerhalb dieses Gevierts und darum herum hat sie einen herrlichen Steingarten angelegt. »Nach der Erstürmung bin ich durch das leere Komsomolskoje gelaufen. Hole hier ein Blümchen aus der Asche, grabe dort ein Pflänzchen aus … und schon habe ich einen Garten … Ich liebe Schönheit.« Nach und nach gesellen sich noch andere Leute zu uns. Eine derartige Auszehrung, die die Körper fast durchsichtig erscheinen lässt, ist mir außer in Komsomolskoje 135
noch nirgendwo begegnet. Wir kommen ins Gespräch: In dieser Familie gibt es zwei Invaliden, der eine psychisch krank, der andere Asthmatiker, in jener ist das Kind behindert, in der dritten wurden alle Männer getötet … »Hilft euch Gelajew jetzt? Unterstützt er sein Dorf?« Sie lachen. »Der hat uns schön geholfen. Sie sehen ja, wie seine Unterstützung aussieht.« Und als das Lachen verebbt ist, sagen die Frauen noch: »Verflucht soll er sein.« Die Geschichte des zweiten Tschetschenien-Krieges wird nichts vergessen. Weder Bettelarmut und Hunger noch Krankheit und Unbehaustsein. Nicht General Gennadi Troschew * und nicht Präsident Putin. Keinen von denen, die einen lebendigen Organismus zerstückelten und dann nicht das Geringste dafür taten, ihren Fehler wieder gutzumachen. Und auch das Unwesen eines Ruslan Gelajew wird Teil dieser Geschichte bleiben. Gelajew hat sein Volk im Stich gelassen, steht nicht mehr zu den Tschetschenen – aber die tschetschenische Bevölkerung auch nicht mehr zu ihm.
EINE ENKLAVE ZIVILER RECHTLOSIGKEIT Der junge, hinkende Arzt Sultan Chadshijew, der die Station für Wundinfektionen des Städtischen Krankenhauses Nr. 9 in Grosny leitet, verlagert das ganze Gewicht seines Versehrten Körpers auf den Stock und schlägt die Decke über der Patientin auf der knarrenden Pritsche am Fenster des Krankensaals Nr. 1 zurück. Diese Patientin ist Aischat Suleimanowa, 62 Jahre alt, aus der Chankala-Straße in Grosny. Aischats Augen verraten völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Welt, doch ihren entblößten Leib zu betrachten übersteigt alle Kraft: Aischat gleicht einem ausgeweideten Tier. Die Chirurgen haben sie vom Hals bis zum Schambein aufgeschnitten. Die Nähte verlaufen nicht gerade, sondern verzweigen sich wie ein Stammbaum, an manchen Stellen sind sie aufgegangen, nicht richtig zusammengewachsen, und man kann das hervorquellende Wundfleisch sehen. Die Krankenschwester drückt Mullstreifen hinein, so als wären dort tiefe, leere Löcher. Aischat weint nicht einmal. »Ich fühle nichts«, ihre fahlen Lippen regen sich, doch Mundbewegungen und Worte laufen auseinander wie in einem schlecht synchronisierten Film. Zwei Wochen vor unserem Gespräch hat ein blutjunger 137
Aischat Suleimanowa im Städtischen Krankenhaus Nr. 9 von Grosny, September 2001.
Bursche in russischer Armeeuniform Aischat in ihrem eigenen Haus aus nächster Nähe fünf Kugeln in den Leib gejagt. 5,45-mm-Geschosse, deren Einsatz alle möglichen internationalen Konventionen als unmenschlich verbieten, handelt es sich doch um so genannte Vollmantelpatronen mit verlagertem Zentrum, die bei ihrem Eindringen in den Körper »wandern« und alle inneren Organe zerstören. Neben Aischat sitzt ihr Sohn, ein Mann mit langen Bartstoppeln, was bedeutet, im Haus gibt es einen Todesfall. Er betrachtet mich kalt, mit unverhohlenem Hass, will etwas sagen, verbeißt es sich dann aber beim ersten Wort. Es sollte wohl heißen: Von Ihnen brauchen wir am allerwenigsten Mitleid … Dafür möchte Aischat reden, ihre Leiden mit jemandem teilen, ein wenig von dem 138
loswerden, was sie unverdient traf und deshalb umso unerträglicher ist. »Wir hatten uns schon schlafen gelegt an dem Abend … Auf einmal, es wird gegen zwei Uhr nachts gewesen sein, höre ich lautes Klopfen. Um diese Zeit – wir haben ja Ausgangssperre – ist das ein schlimmes Zeichen. Wir machen auf. Da stehen zwei Soldaten und sagen: ›Wir brauchen Bier.‹ Darauf ich: ›Wir haben kein Bier!‹ Und sie: ›Bier her!‹ Und ich: ›Wir dulden überhaupt kein Bier im Hause!‹ Und sie: ›Dann eben nicht, Oma!‹ – und gehen.« Aischat fasst sich an den Hals. Es ist kein Erstickungsanfall, sondern eine Woge aus Schmerz und Tränen. Sie greift nach der Schulter ihres immer finsterer blickenden Sohnes, als solle er ihr Halt geben, und fährt fort: »Wieder aufgewacht bin ich dann vielleicht eine Stunde später. Da laufen die beiden Soldaten schon in unseren Zimmern herum, suchen alles ab. Und sagen: ›Jetzt machen wir hier eine Säuberung.‹ Mir war klar, sie wollten uns dafür bestrafen, dass wir ihnen kein Bier gegeben haben. Sie durchwühlen alle Medikamente, mein Mann hat ja Asthma. Dann ist einer in das Zimmer gegangen, wo unsere Enkel schlafen, sie sind fünf Jahre, anderthalb Jahre und vier Monate alt. Ich hatte Angst, sie würden meine Schwiegertochter vergewaltigen. Die Kinder fangen an zu weinen. Der andere hat meinen Mann in die Küche gebracht – Abas ist 86. Ich höre, wie er ihnen Geld anbietet. Und dann schreit er so furchtbar! Der Soldat hat Abas mit dem Messer abgestochen. Danach kommt 139
er aus der Küche, bringt mich ins Schlafzimmer – mir wurde eiskalt. Dort zeigt er aufs Bett, sagt ganz sanft zu mir: ›Omachen, komm doch mal hierher. Wir wollen miteinander reden.‹ Und setzt sich mir gegenüber. ›Wir sind keine Unmenschen, wir sind vom OMON *, das ist unsere Arbeit.‹ Ich höre, wie hinter der Wand die Kinder weinen … Also sage ich: ›Erschreckt die Kleinen nicht.‹ ›Ach wo, machen wir nicht‹, sagt er wieder so sanft. Und wie er noch spricht, im Sitzen, schießt er mit seinem Maschinengewehr los. Die Schwiegertochter hat mir vor kurzem erzählt, danach hätten sie einfach die Tür hinter sich zugemacht und seien fortgegangen.« Aischat konnte erst am nächsten Morgen ins Krankenhaus gebracht werden, obwohl es ganz in der Nähe lag. Für alle, die keine Banditen sind, herrscht nachts in Grosny strengstes Ausgehverbot. Losziehen und einen Tschetschenen mit dem Messer abstechen – bitte schön, doch an den Kontrollstellen durchgelassen werden wollen, um einen Kranken ins Krankenhaus zu bringen, das ist so, als würde man um die eigene Hinrichtung bitten. »Sie wäre fast verblutet, wurde immer schwächer, eine Bauchfellentzündung setzte schon ein«, sagen die Ärzte. »Dass sie überhaupt überlebt hat, gleicht einem Wunder. Aber kommen Sie mit in die Aufnahme, gerade ist eine Frau gebracht worden, genau die gleichen Umstände – auch sie ein Opfer des nächtlichen Terrors. Vielleicht können Sie mit ihr reden, bevor die Armeeleute auftauchen, und wenn die Uniformierten kommen, brau140
chen Sie keine Angst zu haben, wir bringen Sie schon raus.« Die vierundvierzigjährige Malika Elmursajewa stöhnt, ihre Haare sind wirr über das Wachstuch der Krankenhauspritsche gebreitet. Der Arzt versucht, den Kopf der Frau anzuheben, doch sie verliert das Bewusstsein vor Schmerz. Man sieht, dass ganze Büschel ihrer dichten, dunkelroten Haarpracht nicht mehr dort sitzen, wo sie natürlicherweise hingehören, sondern sich abgelöst haben und nur noch an dünnen Hautfäden hängen. Malika kommt aus dem 1. Stadtbezirk von Grosny, aus der Kirow-Straße. Sie wohnt in einem fünfstöckigen Haus, und in ihrem Aufgang gibt es nur Frauen. Es war gegen zwei Uhr nachts, als an die Türen gedonnert wurde: »Aufmachen, Kanaillen, Razzia!« Natürlich öffneten die Frauen, was hätten sie tun sollen, Hauptsache, die Soldaten sprengten die Tür nicht. Eine Gruppe junger Männer in Uniform und Masken – Tschetschenen und Slawen, wie an der Aussprache zu hören war – drängte herein. Um den Aufgang zu plündern, der ohnehin schon mehrfach ausgeplündert worden war. In Malikas Wohnung schliefen noch drei Frauen, Verwandte, eine von ihnen fünfzehn Jahre alt. Die Bande tat so, als wolle sie das junge Mädchen vergewaltigen, und brüllte den anderen zu: »Wenn ihr nicht gehorcht, treiben wir es so mit ihr, dass sie nicht überlebt«. Malika packten sie an den Haaren und schleiften sie treppauf, sie sollte an den anderen Wohnungen klopfen, damit die 141
Nachbarinnen aufmachten. Dann endete alles mit Plünderungen und Schlägen. Die Frauen, die in jener Nacht in den Wohnungen waren, wurden brutal in die Nieren getreten, gegen die Waden, auf den Kopf geschlagen. »Haben sie euch vergewaltigt?« Malika schweigt. Auch diejenigen, die sie hergebracht haben – die Nachbarinnen, die auf Malikas Klopfen hin öffneten und verprügelt wurden –, schweigen. Schweigen zu hartnäckig. Das Bacchanal der Banditen in der Kirow-Straße dauerte bis fünf Uhr morgens. In Grosny hat man sich daran gewöhnt, dass die Marodeure den Ort ihrer »Feste« vor sechs verlassen, bevor die nächtliche Ausgangssperre zu Ende geht. »Sehen Sie sich die Zahlen an«, bitten die Ärzte. »Zwischen 1. Juni und 18. September 2001 haben wir hier mehr als 1219 Patienten aufgenommen, die ambulanten Fälle mit eingeschlossen. 267 von ihnen mit Schuss- und Minenverletzungen. Der Großteil eine Folge der nächtlichen Übergriffe.« Um zu erfahren, was in einer Stadt geschieht, muss man ins Krankenhaus gehen. Hier spielt sich das Finale ihrer Tragödien und Dramen ab. Während die Mächtigen, die ihr Gehalt für »den Aufbau des Friedens« in Tschetschenien beziehen, unaufhörlich von einem FRIEDLICHEN Grosny schwafeln, werden in das Krankenhaus der MILITÄR- und BANDITENSTADT Grosny tagtäglich neue Schussverletzte eingeliefert. Der Krieg hat alle pervertiert, die schwach waren und 142
sich pervertieren ließen. Die Ruinen, in denen die ohnedies unglücklichen Menschen hausen, versinken in einem Morast nächtlicher Kriminalität, zum einen angestiftet und geleitet von »Föderalen«, ohne deren Einverständnis und Unterstützung heute kein einziger Bandit während der Ausgangssperre auf der Straße herumlaufen und schon gar nicht schießen, rauben und vergewaltigen könnte. Zum anderen aber unter aktiver Beteiligung von Tschetschenen. Zu Beginn des dritten Kriegsjahres ist unübersehbar, dass die Banditengruppen, die Nacht für Nacht die Ruinen durchkämmen, eine unheilige Allianz krimineller Interessen gebildet haben. Verbrecher aus den Reihen der Tschetschenen im Verbund mit ihresgleichen aus den Reihen der Armeeangehörigen, die hier im »Kampfeinsatz« sind. Ideologische und nationale Abgrenzung, die Zugehörigkeit zu verfeindeten kriegführenden Seiten – das ist ihnen mehr als egal. Ich bin überzeugt, selbst wenn morgen das Ende des Krieges, der Abzug der Truppen und die Einstellung aller Kampfhandlungen ausgerufen würden, bliebe Grosny doch unter dem kriminellen Knüttel, und Gott weiß, wann es je gelingt, ihn zu zerbrechen. Ein Krieg lässt sich sehr leicht beginnen, unvergleichlich schwerer ist es, danach all der Ungeheuer Herr zu werden, die er hervorgebracht hat. Grjasny Grosny, schmutziges Grosny, nennen die Bewohner heute die Stadt, die ihnen einmal lieb und teuer war. In diesen zwei Worten schwingt nicht nur der Schmerz über den Verlust der zu Steinwüsten gewordenen Straßen und Plätze. Darin liegt auch Grauen vor der 143
Zukunft, wo doch bereits die Gegenwart in der Finsternis eines zügellosen mittelalterlichen Banditentums – dem schlimmsten Ergebnis des Krieges – versunken ist. Ich erlaube mir eine kleine Bemerkung am Rande, die ich für sehr wichtig halte. Was hatten die Ärzte gesagt? »… und wenn die Uniformierten kommen, brauchen Sie keine Angst zu haben, wir bringen Sie schon raus.« Das ist keine Spitzelmanie, wie sie in einem Krieg mehr oder weniger alle befällt, in Grosny ist auch das Realität. Die Militärs, die Herren des hiesigen Lebens, haben eine perverse Ordnung installiert, bei der jeder, der Informationen verbreiten könnte über die wirkliche Lage der Zivilbevölkerung, einem feindlichen Kundschafter gleichgesetzt wird, einem Spion, mit dem man nach Kriegsgesetzen verfährt. Bedenkt man dann noch, dass es in Tschetschenien heute ganze Heerscharen freiwilliger Helfer der »Organe« aus den Reihen der eigenen Bevölkerung gibt, ist es ein Leichtes, in die Fänge der Militärs zu geraten und nicht ungeschoren davonzukommen. Deshalb hört man von Freunden immer wieder dieses »wir bringen Sie raus«, »wir verstecken Sie«. Großer Gott, vor wem denn eigentlich? Vor denjenigen, die ihre Kriegsspiele spielen mit meinem Geld? Dem Geld der Steuerzahler? Um mit Oma Aischat sprechen, für ein paar Minuten neben der geschundenen Malika stehen zu können, muss ich mich aufführen wie der Kundschafter einer dritten Seite, der sich im Lager zweier vormaliger Feinde wiederfindet, die plötzlich gemeinsame Sache machen. Die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Ver144
brechen an Aischat und ihrer Familie wurden von der Verwaltung für Inneres des Stadtteils Oktjabrski geführt, einer »militärisch-banditischen« Instanz, die selbst in Grosny ihresgleichen sucht. Hier sollen die »Tatbestände« untersucht werden, die man vorher selbst geschaffen hat. Auch Malikas Fall ist hier gelandet … Deshalb führen mich die Ärzte unauffällig beiseite, geleiten mich vorsichtig wie Späher durch leere, verborgene Mauerhöhlen des Krankenhauses, damit mir die Begegnung erspart bleibt mit der Gruppe bewaffneter Männer, die sich nicht vorstellen, niemandem, nicht einmal dem Chefarzt, ihre Ausweise zeigen, doch plötzlich das unglückliche Opfer des nächtlichen Raubzuges sehen wollen. »Wir sind eine Nation von Verfemten. Und wer uns zur Seite steht, ist auch verfemt«, sagt Dr. Chadshijew zum Abschied. »Und was ist Ihnen passiert? Warum hinken Sie?« Der Arzt teilt das Schicksal seiner Patienten, die mehr unter der Willkür und Gesetzlosigkeit der Militärs leiden als unter Krankheiten. Am Mittag des – übrigens in der gesamten Russischen Föderation begangenen – Tages der Unabhängigkeit wurde Chadshijews Auto an der Kreuzung Perwomaiskaja-Gribojedow-Straße von einem Schützenpanzerwagen aus der Militärkommandantur des Stadtteils Leninski überrollt. »Weshalb?« »Einfach so. Der kam mit hoher Geschwindigkeit angerast. Es ging derart schnell, dass ich gar nicht mehr 145
reagieren konnte. Er hat mich und das Auto einfach zusammengeschoben. Mein ›Shiguli‹ ist hin. Ich lebe noch.« »Und weiter? Weiß man, welcher Schützenpanzerwagen es war? Wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet?« »Die Fahrzeugnummer ist bekannt. Und Ermittlungen sind auch eingeleitet worden. Aber das war’s dann auch.« »Wieso?« »Weil Tschetschenien quasi ein Zuchthaus ist, eine Zone, in der die einen alles dürfen, während die anderen sich fügen müssen.« Russland etabliert auf seinem Territorium eine Enklave der zivilen Rechtlosigkeit – und das ist ein höchst gefährliches Unterfangen. Die Öffentlichkeit sollte sie sehen, die Augen von Aischat Suleimanowas Sohn! Den hasserfüllten Blick eines Verfemten, dessen Vater nur deshalb umgebracht, dessen Mutter nur aus dem Grund verstümmelt wurde, weil sie auch Verfemte sind. Zu Beginn des Krieges hatte dieser neue Status die meisten Tschetschenen noch befremdet und zu lautstarkem Widerspruch herausgefordert: »Wir sind nicht anders als ihr! Wir fordern Achtung!« Jetzt schreit niemand mehr, haben alle resigniert: Ja, wir sind eine Nation von Verfemten. Aber können auch alle gleichermaßen damit leben? Aischat Suleimanowa schon. Ihr Sohn wohl kaum. In diesem Zusammenhang ein kleiner Exkurs in die russische Geschichte. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts grassierte in Russland ein staatlicher Antise146
mitismus, der sich nur wenig unterschied von der heute allenthalben anzutreffenden antitschetschenischen Stimmung im Lande. Damals gab es so genannte »Zuzugsgrenzen« für Juden, jüdische Kinder wuchsen auf in dem Wissen, sich nicht frei bewegen, nur mit polizeilicher Genehmigung den Wohnort wechseln zu dürfen, bei weitem nicht an allen Hochschulen zugelassen zu werden. Der daraus resultierende nationale Minderwertigkeitskomplex sollte in der Folge vielen Vertretern der jüdischen Jugend eine Märtyrerkrone aufdrücken. Sie waren bereit zurückzuschlagen – für die Demütigungen ihrer Kindheit, damit ihnen Erwachsenenleben und Alter nicht die gleichen Entwürdigungen bescherten wie ihren Eltern und Großeltern. Das Ende vom Lied kennt die ganze Welt: Die radikalen Bolschewiki mit den bekannten Namen, die dem Umsturz namens Oktoberrevolution zum Erfolg verhalfen, kamen mehrheitlich aus diesen Kreisen, aus den Reihen der »Stetl«-Juden, die nicht einfach nur keine Verfemten mehr sein, sondern auch Rache nehmen wollten für die Herabsetzung. Und sie haben sich gerächt … Merkwürdig, dass in unserem Land wieder einmal vergessen wurde, was man unter gar keinen Umständen vergessen darf. Dr. Sultan Chadshijew stimmt mir zu: Im dritten Jahr des zweiten Tschetschenien-Krieges gibt es schon zu viele junge Tschetschenen mit diesem unguten Funkeln in den Augen und dem einen Wunsch – Vergeltung zu üben an ihren Beleidigern.
DAS NIEMANDSKIND AUS DEM NIRGENDWO In Zimmer Nr. 45 im ersten Stock des Altersheims von Grosny lebt unter dreiundfünfzig alten Männern und Frauen ein kleines, schweigsames Kind – ein Mädchen, vielleicht vier, vielleicht aber auch sieben Jahre alt, mit wachsamem, misstrauischem Blick und dem Gebaren einer verwilderten Katze, die sich bei jeder Gefahr im hintersten Winkel verkriecht. Den Umständen der Kriegszeit entsprechend ist das Zimmer kärglich und leer, die Fenster sind – wiederum eine Tradition dieses Krieges – mit Plastikfolie bespannt, denn nach wie vor gilt Fensterglas als größte Mangelware in Grosny. Auf dem eisernen Bettgestell liegt eine gestreifte Matratze, sonst nichts. Und das Mädchen gleicht nur durch seine Winzigkeit einem Kind. Die alten Leute rufen die Kleine Anshela und sagen, sie wäre vier. Doch ob das stimmt, weiß keiner. In das Altersheim von Katajama, einem Stadtviertel Grosnys, kam Anshela im zeitigen Frühjahr 2001. Unbekannte Leute brachten sie mit der Erklärung, sie seien weder Verwandte noch würden sie die Kleine kennen, das obdachlose, herumstreunende Kind habe ihnen einfach leid getan: Weil sie wussten, dass das Altersheim wieder geheizt und verpflegt wurde, nahmen sie die Kleine bei der Hand und führten sie dorthin. 149
Das Kind war schmutzig und verwahrlost, voller Trichome, verlaust und ausgehungert, in zerlumpten Kleidern und barfuß, denn die zerrissenen Sandalen an den dürren Füßen gingen nicht einmal im Kriegsfrühling von Grosny als Schuhwerk durch. Nach seinem Namen befragt, antwortete das Kind »Anshela« – und das war alles, was es sprach. Die ältere Frau in Anshelas Gesellschaft hatte sich offenbar zusammen mit der Kleinen auf Grosnys Straßen durchgeschlagen, doch wer dabei wen beschützte und bemutterte, ließ sich schwer sagen. Die Frau – sie nannte sich Raissa – war offenkundig geistesgestört, schmutzverkrustet und ausgezehrt, von unbestimmbarem Alter. Ob sie tatsächlich Raissa hieß, durfte angesichts ihres seltsamen Verhaltens bezweifelt werden – sie redete zu viel wirres Zeug. Sinaida Tawgirejewa, die Krankenschwester des Altersheims, drehte alle Taschen um, bevor sie die Lumpen der beiden verbrannte: Es fanden sich aber keinerlei Papiere, weder von Raissa noch von Anshela. Raissa behauptete, sie sei mit Anshela verwandt und ihr Familienname laute Saizewa, also mussten sie Russen sein. Tatsächlich kam, als das Mädchen gewaschen war, unter den dicken Schichten Straßenschmutz ein durchaus slawisches Gesichtchen und ein blonder Haarschopf zum Vorschein. Doch es gab einige Ungereimtheiten: Raissa hatte erklärt, Anshela sei die Tochter der zweiten Frau ihres Mannes, und der sei gestorben, wie bald darauf auch ebenjene zweite Frau, und daraufhin habe sie sich als Stiefmutter der Kleinen angenommen, wie das in tschetschenischen Familien 150
üblich ist. Also war der Vater des Kindes Tschetschene? Wie konnte er sonst zwei Frauen haben? Auf diese Fragen wusste Raissa keine Antwort mehr. Kurzum, im zivilisierten Europa des 21. Jahrhunderts, das für alles ein Regelwerk hat, tauchte aus dem Nirgendwo ein Niemandskind auf. Der Krieg, dem wir keinen Einhalt gebieten, raubte diesem Mädchen selbst das, was jede Waise besitzt: Namen, Geburtsjahr und Geburtsort. Ein Monat verging. Anshela nahm zu, bekam eine gesündere Gesichtsfarbe, ließ sich von einem Arzt untersuchen, begann allmählich zu sprechen, hüpfte durch die Korridore des Altersheims – sehr zur Freude der einsamen alten Leute. Nur dass sie jedes Mal, wenn in der Küche ein großer eiserner Schöpflöffel auf den Fußboden polterte, in panischer Angst unter das Bett kroch und dass sie sich augenblicklich hinwarf, die Arme schützend um den Kopf geschlungen, wenn Schüsse zu hören waren. Diese reflexartigen Bewegungen ersetzten ihr die Biographie. Journalist zu sein ist eine glückliche Profession. Man kommt mit vielen Menschen zusammen, und unter denen wiederum finden sich nicht wenige, die bereit sind zu helfen, wenn man für jemanden bittet. So war es auch in diesem Fall. Etwa ein halbes Jahr verging noch mit der Abwicklung langwieriger Formalitäten und hartnä151
ckiger Überzeugungsarbeit in diversen Amtszimmern. Dann konnte ein Ehepaar im nordossetischen Mosdok Anshela adoptieren. Die neuen Eltern des Mädchens waren nicht mehr jung, Tschetschenen, die während des zweiten Krieges aus Grosny fliehen mussten und nicht mehr zurückkommen wollten. Sie hatten in diesem Krieg ihren einzigen Sohn verloren, noch ehe er heiraten und ihnen Enkel hinterlassen konnte. Ich habe ein Foto von Anshela mit ihrer neuen Familie. Darauf sieht mich ein völlig anderes Gesicht an: flinke, helle Augen, ein offenes Lächeln, das hübsche Köpfchen stolz erhoben. Nichts erinnert mehr an die verwahrloste Streunerin. Ich werde die drei nicht in Mosdok besuchen, auch wenn es mich reizen würde, denn wer sieht nicht gerne den glücklichen Ausgang eines Unglücks. Ich verzichte auf die Reise, weil ich keine Erinnerungen wecken will, weder bei Anshela noch bei ihren Eltern. Sie müssen alles vergessen, nur so können sie zu sich finden.
DAS KREUZ IM SCHNEE VON ZOZAN-JURT Die Machthaber in Moskau ließen »den unbezweifelbaren Erfolg« der von Dezember 2001 bis Januar 2002 in Tschetschenien ausgeführten Sonderoperation vermelden, und zwar nicht durch irgendjemanden, sondern durch Sergej Jastrshembski, als TschetschenienSonderbeauftragter Präsident Putins und Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zuständig für »die Her152
stellung des richtigen Images des Krieges«. Er erklärte den Millionen Bürgern Russlands, in Tschetschenien sei eine Taktik der Verdrängung der Rebellen aus den Bergen sowie einigen Siedlungen der Ortschaft ZozanJurt »über Monate« verfolgt und ein Aufgebot von nicht weniger als einhundert Terroristen zu Neujahr dort eingeschlossen worden, es habe heftige Kämpfe gegeben »mit starkem Beschuss aus den festungsartig verschanzten Häusern« und der letztendlichen Vernichtung einer großen Anzahl von Terroristen …
»Gesunde neue Jagd!« In Zozan-Jurt begann alles am 30. Dezember, einer Zeit, wo man sich andernorts beinahe schon an den Festtagstisch setzte. »›Gesundes Neues Jahr!‹ habe ich zu dem Soldaten gesagt, der als Erster auf den Hof gekommen ist«, erzählt eine gebrechliche, offenbar steinalte Frau, und die Luft fährt murmelnd und pfeifend durch die beiden letzten Zähne in ihrem Mund. »Darauf antwortet er: ›Gesunde neue Jagd, Oma!‹« Die Kamera schwenkt nervös durch das Haus. Die Greisin erklärt irgendetwas, verworren und nuschelnd, kaum zu verstehen. Doch eigentlich sind ihre Worte überflüssig. Der Wäscheschrank ist umgeworfen, innen zerbrochen. 153
»Wo sind Ihre Sachen?« »Weg. Sie haben gesagt, bei mir würden sich Banditen verstecken, und gleich angefangen, alles mitzunehmen.« Das Geschirr? Zerschlagen und auf den Fußboden geworfen. Kopfkissen und Matratzen? Aufgeschlitzt. Die Säcke mit Mehl – ebenfalls. Das Mehl liegt auf der Erde verstreut, damit niemand jemals daraus etwas zubereiten kann. »In der Scheune hatte ich zweihundert Bündel Heu«, erzählt die Nachbarin der Alten. »Die Soldaten haben einen jungen Burschen vom anderen Ende des Dorfes in meine Scheune geschleppt, zwischen die Heubündel geworfen und alles angesteckt.« Ein langbärtiger Greis mit einer hohen, weißen Pelzmütze hängt förmlich auf seinem Stock, kann kaum noch stehen vor Alter und Gram. »Sie kommen ins Haus und fragen: ›Wo sind die Kaufunterlagen für das Tonband?‹ Was für Unterlagen, wo es doch schon dreißig Jahre auf dem Buckel hat. Aber wenn du keine Unterlagen vorzeigen kannst, nehmen sie alles mit. Oder du musst bezahlen. Meine Kartoffeln haben sie bis auf die letzte mitgenommen. Den ganzen Wintervorrat. Und wenn sie einen Sack Mehl nicht gebrauchen können, reißen sie ihn auf und schütten das Mehl aus. Auch den Futtermais für das Vieh haben sie verbrannt. Ich hatte drei Hosen, alle weg, und meine Socken obendrein. Dort, wo die Leute Lösegeld geben konnten, fünf- oder 154
sechstausend Rubel pro Hof, haben sie nichts angerührt. Für einen Menschen haben sie weniger verlangt, 500 Rubel, damit er nicht mitgenommen wird. Aber die es im Dorf mit den Rebellen gehalten haben, denen haben sie nichts getan … Dann haben sie einen Bus geholt und die Leute eingeladen, auch die Kinder. Denen haben sie eine Granate in die Hand gedrückt und den Eltern zugeschrien, sie würden sie in die Luft jagen, wenn das Geld nicht rechtzeitig käme. Bei den Soltalatows haben die Soldaten eine junge Frau mit ihrem einjährigen Säugling so lange auf der Straße festgehalten, bis die Mutter das Lösegeld bei den Nachbarn zusammengeborgt hatte. Sogar Wäsche für Neugeborene konnten die Uniformierten gebrauchen. Meine Schwiegertochter haben sie bedroht und gezwungen, ein Schriftstück aufzusetzen, dass sie ihnen dankbar ist für ihre Taten und zu Neujahr zwei Hammel schenkt … Wenn sie das Schreiben widerruft, haben sie gedroht, kommen sie zurück und stecken das Haus an … Drei Tage und drei Nächte ging diese Marter: Sie tauchen auf, hauen ab, tauchen wieder auf … Schafft man so vielleicht Ordnung?« Natürlich ist die Moschee das am besten hergerichtete Gebäude im Dorf – die Mauern neu verputzt, eine schöne Umzäunung, frisch gestrichen. Soldaten, möglicherweise waren es aber auch Offiziere, drangen in die Moschee ein und schändeten sie: Die Uniformierten schleppten Teppiche, Gerätschaften und Bücher, natürlich vor allem den Koran, zusammen und setzten ihre »Haufen« darauf. 155
»Und das wollen Menschen von Kultur sein? Gegen die wir bloß Mittelalter sind? Russische Mütter! Eure Söhne führen sich bei uns auf wie die Schweine! Und es findet sich keiner weit und breit, der ihnen in den Arm fällt!«, schreien die Frauen mit den verrutschten Kopftüchern. Es sind dieselben Frauen, die später, sechs Tage nach dem Neujahrspogrom von Zozan-Jurt, in der Moschee die menschlichen Exkremente abkratzen werden. Und weiter schreien sie: »Verflucht sollt ihr sein, ihr Russen! Das vergessen wir euch nicht! Was sind das nur für Mütter, die solche Ungeheuer geboren haben!« Um uns drängen sich kleine Jungen. Sie hören zu und schweigen. Doch einer hält es nicht aus, dreht sich abrupt um und geht: Ihn haben die Uniformierten zusammen mit den erwachsenen Männern »aufs Feld« verschleppt, in den operativen Filtrationspunkt, wo er verhört und geschlagen wurde. Einen anderen Jungen, vielleicht neun Jahre alt, fordern die Erwachsenen auf zu erzählen, was er gesehen hat. »Ich bin vor Angst in einen Keller gekrochen. Die Soldaten haben die Leute geschlagen, haben Jagd auf alle gemacht … Deshalb wollte ich mich verstecken, aber da unten lag ein Toter, ich kriegte einen Schreck, musste gleich wieder raus …« »Ich bin, wie du siehst, schon Oma.« Die ältere Frau, die das sagt, ist noch rüstig, spricht mit fester Stimme und hält sich aufrecht, kämpferisch. Trotzdem könnte sie die Großmutter der Soldaten sein. 156
»Und die schreien mich an: ›Schlampe! Hure!‹« »Uns auch«, nicken bekümmert die anderen alten Frauen mit den Stöcken, den krummen, gichtknotigen Beinen ewiger, rastloser Arbeitsbienen. »Ich soll eine Schlampe sein?«, fragt eine, die bisher nichts gesagt hat. »Vierzig Jahre lang war ich Melkerin, habe Rekorde geschafft beim Milchertrag. Und mir schreit ein Soldat zu: ›Wir bringen euch schon noch dazu, dass ihr von allein nach Sibirien wollt.‹ Aber in Sibirien bin ich schon gewesen, da war es besser.« »Ich sage zu denen: ›Jungs, schämt ihr euch denn gar nicht?!‹«, fährt die erste alte Frau fort. »›Wenn nun jemand eure Oma Schlampe nennt?! Was würdet ihr da machen?‹ Darauf antwortet einer: ›Die nennt keiner Schlampe, die ist nämlich Russin.‹« Bis zum 3. Januar dauerten die nun in diesem Krieg bereits üblich gewordenen Strafaktionen in Zozan-Jurt: Pogrome, Brandstiftungen, Raub und Plünderungen, Verhaftungen, Mord.
Das Kreuz im Schnee Dieses Kreuz ist tief eingebrannt in den Schnee, bis hin ab zur Erde. Es kennzeichnet die Stelle, wo russische Soldaten Buwaissar, einen jungen Mann aus Zozan-Jurt, erschossen und verbrannten. Der alte Mann mit der weißen Pelzmütze klagt: 157
»Wir durften nicht einmal das Gebet für ihn sprechen nach der Erschießung, sie haben ihn gleich verbrannt.« Von Buwaissar ist nichts geblieben außer diesem Kreuz. Nach Informationen des Menschenrechtszentrums »Memorial« wurden während der Säuberungen in der Ortschaft Zozan-Jurt vom 30. Dezember 2001 bis zum 3. Januar 2002 mehrere Dorfbewohner von Angehörigen der föderalen Truppen geschlagen, gefoltert und ermordet: Idris Sakrijew, geboren 1965 (am 30. Dezember 2001 um 7.45 Uhr aus seinem Haus in der Stepnaja-Straße verschleppt im Schützenpanzerwagen Nr. A-611) und Mussa Ismailow, geboren 1964 (Vater von fünf Kindern, das älteste 14 Jahre alt; ebenfalls aus seinem Haus verschleppt). Außerdem fanden die Einwohner von ZozanJurt nach dem Ende der Säuberung und der Aufhebung der Blockade am 7. Januar 2002 in unmittelbarer Nähe des Dorfes die Überreste von mindestens drei Männern, deren Leichen von Sprengstoff zerfetzt waren. Unter ihnen konnte Alchasur Saidselimow, Jahrgang 1978, identifiziert werden. Und der verbrannte Buwaissar? Von ihm blieben nicht einmal Leichenteile, die eine behördliche Identifizierung ermöglicht hätten. »Wir wissen, dass unsere Liste der Opfer unvollständig ist«, bestätigt man mir bei »Memorial«. »Sie enthält nur Fälle, die amtlich bescheinigt sind.« »Die Soldaten haben Dutzende Leute mitgenommen. 158
Diejenigen, deren Familien kein Lösegeld zahlen konnten«, bezeugen die Einwohner von Zozan-Jurt. »Aber wir sagen nichts, solange noch eine Chance besteht, dass sie lebend zurückkommen. Wenn wir Namen nennen, werden sie garantiert umgebracht und irgendwo verscharrt.«
Die Macht Offiziellen Informationen zufolge waren an der Sonder operation beteiligt: Kämpfer der Spezialeinheiten des Innenministeriums (MWD) der Russischen Föderation und des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB mit ständiger Stationierung in Chankala, dem Hauptquartier der Föderationskräfte in Tschetschenien; Angehörige mobiler Sondereinheiten der Hauptabteilung Aufklärung (GRU) des Verteidigungsministeriums (MO) der Russischen Föderation, »fliegende Kommandos« oder »Todesschwadrone« genannt; Mitarbeiter der Militärkommandantur des Kreises Kurtschaloi und der dort zeitweilig eingerichteten Abteilungen für Inneres; und Generalleutnant Wladimir Moltenski, der Befehlshaber der Vereinten Gruppierung der Truppen und Kräfte, also des gesamten föderalen Kontingents in Tschetschenien, höchstpersönlich. Interessant ist, dass sich nachweislich auch Vertreter der Staatsanwaltschaft in Zozan-Jurt aufhielten, ordnungsgemäß ausgestattet mit einer entsprechenden An159
weisung des Oberstaatsanwalts der Russischen Föderation. Doch wie Militärgeistliche gaben sie dem blutigen kriegerischen Wahnsinn und den Pogromen nur ihren Segen, stellten sich ihnen nicht in den Weg. Aber es gibt noch einen zweiten Teil der Macht in Tschetschenien. Vor allem gegen ihn richteten sich die Vorwürfe der alten Frauen und Männer von Zozan-Jurt. Wo war er denn, »dieser Kadyrow«, der Verwaltungschef der Republik? Wo war Taramow, der Verwaltungschef des Kreises Kurtschaloi? Während des GESAMTEN Jahreswechsels hatten ALLE , die mit der zivilen Macht in Tschetschenien betraut sind, die Republik verlassen und waren in die Ferien gefahren. Die Bevölkerung blieb ohne ihre oberste Vertretung zurück, der Herrschaft der Militärs ausgeliefert. Ich glaube nicht, dass die zivilen Verwalter keine Kenntnis hatten von den Vorbereitungen für die »Sondermaßnahmen zum Jahreswechsel« oder nicht zumindest noch am 30. Dezember davon erfuhren. Doch sie kamen nicht zurück, um sich vor die im Stich Gelassenen zu stellen. Erst später, als die Feiertage vorbei waren, präsentierte sich Kadyrow seinem Volke – im Fernsehen, aus dem Moskauer Kreml, wo er Präsident Putin herzlich die Hand drückt. Zum Schluss noch einige Details. Zunächst zu den Löhnen und Renten, die unmittelbar vor den Feiertagen ausgezahlt worden waren. Während der Säuberungen in Zozan-Jurt vernichteten die russischen Einheiten in den Häusern sämtliches Getreide, das 160
die Beschäftigten des staatlichen Landwirtschaftsbetriebes als Lohnersatz erhalten hatten. Auch die Pensionen der alten Leute einschließlich der Invalidenrenten wurden »gesäubert«. Ebenso die Geräte und Maschinen der erst kurz zuvor eingerichteten Möbelwerkstatt. Und ein weiterer Umstand, der anzeigt, dass die Ereignisse in Zozan-Jurt kein Einzelfall sind, sondern systematischen Charakter tragen und auf einer entsprechenden ideologischen Grundlage fußen: Eine analoge Praxis wie in Zozan-Jurt kam bekanntlich auch in Argun zur Anwendung, wohin die »Säuberer« weiterzogen, um vom 3. bis zum 9. Januar eine »Sonderoperation« durchzuführen. Dort überfielen Militäreinheiten beispielsweise die ebenfalls neu entstandene Zuckerfabrik. Sie musste danach die Produktion einstellen, weil die Soldaten die gesamte Ausrüstung mitgenommen hatten. Der bei dieser Gelegenheit natürlich auch gleich »gesäuberte« Zucker wurde später in den Nachbardörfern verkauft, für 180 Rubel pro Sack – bei einem Marktpreis, der in Tschetschenien um das Dreifache höher liegt. Und kein Staatsanwalt ließ sich dazu bewegen, die Verkäufer auf frischer Tat festzunehmen.
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STARYE ATACI. SÄUBERUNG NR. 20 Was ist das nun eigentlich, eine »satschistka«, eine »Säuberung«? Diesen Begriff hat der zweite Tschetschenien-Krieg wieder in unser Alltagsvokabular eingeführt, genauer gesagt: der Sprachgebrauch der Generäle der Vereinten Gruppierung der Truppen und Kräfte im Nordkaukasus. Aus Chankala, dem Hauptquartier der Verbände in der Nähe von Grosny, werden regelmäßig Fernsehberichte zum Verlauf der so genannten Antiterror-Operation übertragen. Dabei wollen die Militärs den Durchschnittsbürgern weismachen, eine Säuberung sei nichts anderes als die »Überprüfung der Einhaltung der Meldevorschriften«. Aber was ist sie wirklich? Der Jahreswechsel 2001/2002 gestaltete sich zur brutalsten Periode dieses Krieges. Tschetschenien wurde von Säuberungen überzogen, die alles »hinwegfegten«, was sich dabei fand: Menschen, Vieh, Kleidung, Möbel, Gold, Hausrat … Schali, Kurtschaloi, Zozan-Jurt, Batschi-Jurt, Urus-Martan, Grosny, ein weiteres Mal Schali, erneut Kurtschaloi, wieder und wieder Argun, Tschiri-Jurt. Mehrtägige Blockaden, weinende Frauen, Familien, die um jeden Preis ihre halbwüchsigen Söhne in Sicherheit bringen, ganz gleich wohin, nur fort aus Tschetschenien. General Wladimir Moltenski, der Befehlshaber der Vereinten Truppenverbände, im Glanze seiner Orden und Ehrenzeichen, und stets im Hintergrund ein paar Leichen von »Widerständlern«, 162
die sich angeblich bei den Säuberungen zur Wehr setzten. Als Held Nummer eins der gegenwärtigen Etappe der Unterwerfung Tschetscheniens posiert Moltenski im Fernsehen, vermeldet in schöner Regelmäßigkeit nach jeder »Sonderoperation« bedeutende Erfolge beim Aufspüren von Terroristen. Vom 28. Januar bis zum 5. Februar 2002 rollte über die Ortschaft Starye Atagi, 20 Kilometer von Grosny und 10 Kilometer vom Zugang zur Argun-Schlucht, dem so genannten »Wolfstor«, entfernt, eine solche Säuberung hinweg. Für das Dorf war es die zwanzigste seit Beginn des jetzigen Krieges und die zweite in diesem Jahr. 15 000 Menschen – Starye Atagi ist einer der größten Dorfverbände in Tschetschenien – waren tagelang eingeschlossen durch mehrere Ringe aus Panzerfahrzeugen, nicht nur um den Ort herum, sondern auch um einzelne Siedlungen, Straßen, ja sogar Häuser … Was geschah innerhalb dieser Belagerungsringe?
Die Angst der Väter um die Söhne »Ich war froh, als sie uns zur Erschießung geführt haben.« Magomed Idigow, sechzehn Jahre alt und Schüler der 10. Klasse einer Schule in Starye Atagi, hat die Augen eines Erwachsenen. Was in seltsamem Kontrast steht zu dem schlaksigen, eckigen Körper, den Jungen seines Alters üblicherweise haben. Befremdlich wirkt auch, wie ruhig Magomed über das spricht, was er durchlebte. Während 163
der zwanzigsten Säuberung in Starye Atagi musste er zusammen mit den erwachsenen Männern, die verhaftet worden waren, in einem operativen Filtrationspunkt am Rande des Dorfes Elektroschocks über sich ergehen lassen. Am 1. Februar, dem folgenreichsten Tag der Säuberung, wurde er zu Hause in der Nagornaja-Straße verhaftet, wie ein Stück Holz auf einen Militärlastwagen geworfen und später gefoltert – vor den Augen der Generäle, die die Aktion leiteten. Magomed glaubt, sogar General Moltenski in der Nähe gesehen zu haben. »Du warst froh, erschossen zu werden? Und deine Eltern? Hast du gar nicht an sie gedacht?« Magomeds Augenbrauen ziehen sich kindlich zusammen: Jetzt wollen ihm doch die Tränen kommen. »Andere verlieren doch auch Söhne.« Eine Pause tritt ein. Neben uns steht Magomeds Vater, vormals Offizier der Sowjetarmee. Er hebt nur jeden Moment hilflos die Arme und wiederholt immer wieder: »Wieso denn … ich bin doch auch … ich war doch selbst … bei der Armee … Wofür das jetzt?« »Es war kalt«, spricht Magomed weiter. »Wir mussten mehrere Stunden mit dem Gesicht zur Wand stehen, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Sie haben mir die Jacke aufgeknöpft, den Pullover hochgeschoben, dann auch noch die Sachen von hinten mit einem Messer aufgeschlitzt. Bis zur bloßen Haut.« »Wozu?« 164
»Damit man noch mehr friert. Und immerzu Schläge. Jeder, der vorbeigeht, schlägt zu, mit allem, was er gerade in der Hand hat. Dann haben sie mich von den anderen getrennt, auf die Erde geworfen und am Hals durch den Dreck geschleift.« »Warum?« »Einfach so. Schäferhunde hatten sie auch, die wollten sie auf mich loslassen.« »Weshalb?« »Ich glaube, um mich noch mehr zu erniedrigen. Danach bin ich verhört worden, von drei Leuten. Sie haben sich nicht vorgestellt, mir nur eine Liste hingehalten und gefragt: ›Welche davon sind Rebellen? Weißt du das? Wo werden die Verwundeten versorgt? Von welchem Arzt? Bei wem übernachten sie?‹« »Und du?« »Ich habe geantwortet, dass ich nichts weiß.« »Und sie?« »Haben gefragt, ob sie mir helfen sollen, und mich dann mit Strom gefoltert – das heißt bei ihnen ›Hilfe‹. Sie legen dir Kabel an, drehen eine Kurbel an einem Kasten, den sie aus einem Telefonapparat gemacht haben. Und je schneller sie kurbeln, umso mehr Strom fließt. Bei der Folter wollten sie wissen, wo mein ältester Bruder ist, ›der Wahhabit‹, wie sie gesagt haben.« »Ist er denn Wahhabit?« »Nein. Er ist einfach der Älteste von uns, schon achtzehn, und mein Vater hat ihn weggebracht, damit sie ihn nicht umbringen wie so viele junge Männer im Dorf.« 165
»Und?« »Ich habe nichts gesagt.« »Und sie?« »Sind wieder mit ihrem Strom gekommen.« »Hat es weh getan?« Der Kopf auf dem dünnen Hals sinkt nach unten, zwischen die Schultern, auf die spitzen Knie. Magomed will nicht antworten. Doch ich brauche seine Antwort, deshalb frage ich noch einmal: »Hat es sehr weh getan?« »Ja, sehr.« Magomed hebt den Kopf nicht und spricht ganz leise, fast flüsternd. Sein Vater steht neben ihm, und er will nicht als Schwächling erscheinen. »Warst du deshalb froh, als sie euch zur Erschießung geführt haben?« Es schüttelt Magomed, als habe er einen Fieberkrampf. Hinter ihm sieht man eine ganze Batterie Glasflaschen mit Infusionslösungen, Spritzen, Watte und Schläuche. »Wer braucht das?« »Ich. Sie haben mir die Nieren abgerissen. Und die Lunge.« Issa, Magomeds Vater, ein hagerer Mann mit faltenzerfurchtem Gesicht, greift in unser Gespräch ein: »Bei der letzten Säuberung haben sie meinen Ältesten mitgenommen und verprügelt, aber dann wieder laufen lassen, danach habe ich beschlossen, ihn weit wegzubringen, zu Bekannten. Diesmal war der Mittlere dran. Mein Jüngster ist elf. Kommen sie den auch bald holen? 166
Eine Großmutter mit ihren Enkeln nach einer »Säuberung«. Fünf Stunden mussten alle vier wie gefasste Rebellen an der Wand stehen, die Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt.
Keiner von meinen Söhnen schießt, keiner raucht oder trinkt. Wie sollen wir bloß weiterleben?« 167
Ich weiß es nicht. Wie ich auch nicht weiß, warum Russland – und mit ihm ganz Europa und Amerika – zu Beginn des 21. Jahrhunderts zulässt, dass Kinder gefoltert werden, in einem europäischen Ghetto der Jetztzeit, das sich völlig unzutreffend »Zone der Antiterror-Operation« nennt. Die Kinder dieses Ghettos werden die Qual nie vergessen.
»Alle Wertsachen her, los!« Am Abend des 28. Januar 2002 wurde die Ortschaft Starye Atagi von mehreren Kordons aus Soldaten und Panzerfahrzeugen umstellt. Am Morgen waren bereits alle Straßen durch Schützenpanzerwagen abgesperrt, die Nummern mit Schmutz überschmiert. Unter Androhung einer standrechtlichen Erschießung durften die Bewohner ihre Häuser nicht mehr verlassen. Hubschrauber kreisten so niedrig über dem Dorf, dass die Schieferschindeln von den Dächern flogen wie Herbstlaub. Nun kann man sich naiv stellen und das immer noch »Säuberung« nennen, doch ist offensichtlich, dass in Starye Atagi eine echte Kampfhandlung stattfand. »Ich war zu Hause. Die Pforte stand offen, weil ich wusste, sie würden sie sonst mit einem Panzer oder Schützenpanzerwagen einfahren«, erzählt der siebzigjährige Imran Dagajew. »Morgens um halb sieben kamen Uniformierte auf unseren Hof gestürzt und richteten ein Maschinengewehr auf mich. Ich habe gleich meinen Aus168
weis gezeigt, aber den wollten sie gar nicht sehen, auch von keinem anderen Mitglied der Familie. Das Erste, was einer, offenbar der Chef, verlangt hat, war: ›Geld und Gold her!‹ Und dann noch: ›Rück alle Wertsachen raus!‹ Ich habe ihm geantwortet, wir hätten kein Geld und kein Gold, ich bekäme nur meine Rente und davon müssten wir leben – elf Personen. Darauf er: ›Ist mir doch egal, wie du lebst! Her mit dem Zeug!‹ Sie haben sich in den Zimmern verteilt, alles durchwühlt. Keiner von uns durfte sich von der Stelle rühren. Den Wäscheschrank haben sie umgekippt, er ist gleich zerbrochen. Dann kam das Geschirr dran. In einer Glasschale lagen ein goldener Ring und eine Kette, die meiner ältesten Schwiegertochter gehörten. Einer der Uniformierten hat den Schmuck genommen. Die anderen haben sich Geschirr ausgesucht, sie hatten extra Plastikbeutel mit, in die ist das ganze Service gewandert. Einer hat sich meine neuen Schuhe links und rechts in die Jackentasche geschoben. Das Büfett mit dem restlichen Geschirr haben sie umgestoßen, alles ist zu Bruch gegangen. Weil sie dachten, wir hätten Geld versteckt, haben sie die Sessel und Sofas umgedreht und aufgeschlitzt, aber nichts Wertvolles mehr gefunden. Nebenbei haben sie mich noch gefragt: ›Wo sind deine Söhne?‹ Ich konnte nur sagen, dass mein einziger Sohn umgekommen ist.« Tatsächlich musste der alte Imran Dagajew gerade seinen dreißigjährigen Sohn Alchasur begraben. Die Dorfverwaltung hatte Alchasur und einige andere Männer 169
beauftragt, nach Chankala zu fahren, in das Hauptquartier der Föderationstruppen, um dort die Leiche eines Nachbarn abzuholen, der bei der letzten Säuberung verhaftet und dann in Chankala umgebracht worden war. Die Vermittlungsdienste beim Freikauf der Leiche übernahm ein Uniformierter, der sich als FSB -Mitarbeiter Sergej Koschelew vorstellte. Dieser Koschelew forderte für den Körper des Toten einen Hammel, eine Video kamera und einen »Shiguli«. Doch als er alles bekommen hatte, gab er die Leiche trotzdem nicht heraus. Und die Überbringer des »Lösegeldes« verschwanden spurlos. Das war am 22. Dezember 2001. Vierzehn Tage später fand man die Vermissten in der Nähe von Chankala in einem Straßengraben. Alchasur Dagajew war ein Auge ausgestochen worden, sein Körper war schwarz vor Schlägen, und getötet hatte ihn ein aus nächster Nähe abgefeuerter Pistolenschuss in die linke Schläfe. »Du hast also keinen Sohn mehr?«, lachten die Uniformierten und zogen weiter in das Haus von Tatjana Mazijewa, die nebenan in der Maiskaja-Straße wohnt. Dort kontrollierten sie ebenfalls keinen einzigen Ausweis, stahlen dafür aber: »1. eine Ehrenmedaille ›Für herausragende Arbeitsleistungen‹, 2. Fernseher und Videorekorder, 3. Kopfkissen mit weicher Füllung und Möbel aus der DDR , 4. einen ungarischen Trumeau, 5. 4 Wandteppiche, 6. 35 Videokassetten, 7.1 Sack Kartoffeln, 8. 1 Sack Zucker, 50 kg, 9. Männerschuhe (2 Paar Stiefel, 1 Paar Turnschuhe), 10. …« 170
Die Stimmung im hermetisch abgeriegelten Starye Atagi wurde immer explosiver. Mit jedem Tag nahm die Drangsalierung der Bevölkerung durch die Armeeeinheiten, die am Rande der Ortschaft ihr Feldlager aufgeschlagen hatten, irrationalere Formen an. Am Morgen des 29. Januar 2002 setzten bei der hochschwangeren Lisa Juschajewa die Wehen ein. Ein Geschehen, das sich zeitlich oft nicht genau vorhersagen lässt und schon gar keine Rücksicht darauf nimmt, dass ein General Moltenski gerade Säuberungen befohlen hat. Lisas Verwandte baten die Soldaten am Kordon, die Schwangere ins Krankenhaus bringen zu dürfen, was ihnen jedoch lange verwehrt wurde. Als die Frauen lautstark an das Gewissen der Uniformierten appellierten, sie daran erinnerten, schließlich auch Mütter, Frauen und Schwestern zu haben, lautete die Antwort nur, hier wären alle »ohne Anhang«, aus dem Kinderheim. Und schließlich sei man hergekommen, die Lebendigen zu dezimieren, und nicht, um noch weiteren Rebellen auf die Welt zu verhelfen. Als die Belagerer endlich ein Einsehen hatten, konnte Lisa Juschajewa die 300 Meter bis zum Krankenhaus nicht mehr laufen. Wieder mussten die Verwandten mit den Militärs verhandeln, diesmal, damit die Schwangere ins Krankenhaus gefahren werden durfte. Doch dort war ein neuer Kordon, mit ganz anderen Soldaten, die, ohne auch nur auf irgendeine Erklärung zu hören, den Fah171
rer und Lisa an die Wand stellten wie gefasste Rebellen: Arme über dem Kopf, die Beine gespreizt. Eine Zeit lang hielt Lisa »die Wand« aus, dann sackte sie zusammen, kurz darauf wurde das Kind geboren – tot. Man kann vieles verstehen, doch nachzuvollziehen, was die Soldaten empfunden haben mögen beim Anblick der Gebärenden mit ihrem riesigen, bis auf die Knie herabgezogenen Bauch, halb bewusstlos, mit gespreizten Beinen, übersteigt jedes Vorstellungsvermögen. Am 1. Februar starb plötzlich der alte Turlujew. Er war hochbetagt, seine Lebensuhr einfach abgelaufen. Das Dorf musste ihn begraben: ein paar Männer zusammenrufen, den Toten waschen, die Gebete sprechen und den Leichnam auf den Friedhof tragen. Die Militärs untersagten, Turlujew auf dem muslimischen Friedhof zu bestatten. Warum? Weil gerade die Säuberung lief und, wie sie erklärten, »laut Instruktion« in dieser Zeit jeder Aufenthalt außerhalb der Häuser – selbst zum Zwecke einer Beerdigung – verboten sei. Und das, obwohl diese ganze »Säuberung« mitsamt ihren »Instruktionen« absolut ungesetzlich war. Dafür fanden sich just am selben Tag, dem 1. Februar 2002, Angehörige der föderalen Truppen dort ein, auf dem muslimischen Friedhof, von dem jeder weiß, dass es für einen Tschetschenen keinen heiligeren Ort gibt. Was ließ sich da schon mitnehmen? Zwischen den Gräbern stand lediglich ein kleines Gebetshaus, in dem die 172
Bestattungsutensilien aufbewahrt und das letzte Gebet für den Toten gesprochen wurde. Doch selbst hier bedienten sich die Uniformierten. Sie nahmen eine hölzerne Wanne für die Totenwäsche mit, verbrannten die Leichenbahren, stahlen die Spaten zum Ausheben der Gruben und ließen obendrein noch Fensterrahmen, Türen, Teppiche und Koranschriften mitgehen. Wozu? Als Brennmaterial für ein Feuerchen zum Aufwärmen – auch den Koran. Das nächste Ziel war ein Haus in der Nähe des Friedhofs. Seine Bewohnerin, die alte Malkan, schickten die Soldaten in den Keller »Gurken holen« und sperrten sie dort ein, bis ihre Verwandten 500 Rubel Lösegeld brachten. Am Morgen des 1. Februar lag der Milizionär Ramsan Sagipow, Unteroffizier des Patrouillendienstes, krank in seiner Wohnung in der Nagornaja-Straße. Er war Ende Dezember verwundet worden, in Grosny, als er vor der Neujahrstanne im Stadtzentrum Posten stand, und kurierte sich jetzt zu Hause in Starye Atagi aus. Sein Arm steckte im Gipsverband, die Stümpfe der abgerissenen Finger bluteten noch immer. Als Ramsan auf der Straße Schüsse hörte, lief er hinaus. Schließlich konnte ein Milizionär, selbst ein verwundeter, nicht einfach zu Hause sitzen, sondern musste den Leuten helfen. Er wurde sofort von Armeeangehörigen verhaftet. Sie nahmen ihm seine Dienstwaffe ab und verprügelten ihn, wobei sie sich größte Mühe 173
gaben, genau den verbundenen Arm und die Finger zu treffen. »Haben Sie denen denn nicht gesagt, dass Sie Milizionär sind?« »Doch, natürlich.« »Und?« »Sie brüllten bloß: ›Alles eine Bande! Gehören allesamt erschossen!‹ Dann haben sie mich auf die Ladefläche des Lasters geworfen. Wenn ich den Kopf heben wollte, gab es wieder Schläge mit den Gewehrkolben oder Fußtritte gegen den Kopf.« Auf den Lärm und das Geschrei hin kamen der Leiter der Dorfverwaltung Wacha Gadajew und acht der elf Milizionäre von Starye Atagi herbeigelaufen. Die Soldaten schrien ihnen zu: ›Ihr deckt Rebellen!‹ Gadajew erhielt einen Schlag mit dem Gewehrkolben, die Milizionäre wurden entwaffnet, gefesselt und zu den anderen Männern auf den Lastwagen geworfen. Damit war die gesamte tschetschenische Ordnungsmacht des Dorfes außer Gefecht gesetzt.
Der »Hühnerstall« Man brachte die Festgenommenen in eine alte, halb verfallene Geflügelfarm am Dorfrand, wo die föderalen Truppen ihren Einsatzstab und ein behelfsmäßiges Filtrationslager eingerichtet hatten. Weil dies bereits die zwan174
zigste Säuberung war, gab es dafür in Starye Atagi schon lange eine eigene Terminologie. »In den Hühnerstall« hieß bestenfalls zur Folter, schlimmstenfalls in den Tod. Die offizielle Bezeichnung für einen solchen »Hühnerstall« lautet »operativer Filtrationspunkt« oder OFP. Die OFPs zählen zu den perfidesten Erfindungen im Tschetschenien unserer Tage, dem im Zuge der anhaltenden Säuberungen ohnehin kaum eine Perfidität erspart blieb. Das russische Militär errichtet derartige Filtrationspunkte an den Rändern der Ortschaften, die »gesäubert« werden – in verlassenen Stallungen, einzeln stehenden Gehöften oder auch einfach unter freiem Himmel. Sie dienen de facto als Ort der zeitweiligen Inhaftierung, ohne dass die Verschleppung de jure den Status einer Untersuchungshaft besitzt. Landet einmal eine Beschwerde beim Staatsanwalt, winkt der nur ab: Die »Säuberung« ist zu Ende, und dort, wo die Verschleppten in den operativen Filtrationspunkten verhört und gefoltert wurden, liegt wieder nur freies Feld oder ein Haufen Ruinen. Eine Anklage wegen Freiheitsberaubung kommt nicht zustande, leere Luft hat schließlich keinen Beweiswert. Doch diejenigen, die diese ungesetzlichen »Hühnerställe« durchleiden mussten, sind noch da. Und sie werden niemals verzeihen. »Zuerst mussten wir ›Spießruten laufen‹«, berichtet Ramsan Sagipow, der Milizionär, weiter. »Die Soldaten standen in zwei Reihen vor dem Lastwagen einander gegenüber, sie haben uns von der Ladefläche des Lasters 175
zu ihnen hinuntergeworfen und jeder konnte zuschlagen, wie er wollte. Danach kamen wir alle an die Wand. Ich stand da mit meinem verbundenen Arm. Ein Soldat kam vorbei, hat mich zu sich umgedreht und gesagt ›Der hier ist krank‹ – und mir sofort einen Schlag auf den Kopf versetzt. Später haben andere die Binden von meinen Händen gerissen und mir die Finger zerquetscht.« »Womit?« »Mit den Füßen. Ich lag auf der Erde, das Blut ist nur so nach allen Seiten gespritzt. Dann haben sie mich zu einem Auto geschleppt, hineingestoßen und weggebracht. Ich dachte, zum Erschießen. Aber nach einer Weile sind sie wieder zurückgefahren.« »Hat man Sie verhört?« »Ja, aber nur fünf Minuten, höchstens. Abends haben sie mich dann laufen lassen.« »Das war alles?« »Ja, nur dass meine Hände jetzt operiert werden müssen.« »Verstehen Sie, warum Sie verhaftet und festgehalten wurden?« »Natürlich, sie wollten ihr Mütchen an uns kühlen.« »Sie sind doch einer von ihnen, offiziell eingestellt als Angehöriger des Innenministeriums, mit Schulterstücken, stehen im Dienst des gleichen Staates?!« »Natürlich dienen wir demselben Staat. Aber bei einer Säuberung bin ich für die einfach nur ein Tschetschene. Und überhaupt kein Milizionär.«
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Said-Emin Apajew aus der Nagornaja-Straße in Starye Atagi ist ein junger Familienvater, hoch gewachsen und kräftig. Während Ramsan Sagipow noch immer unter dem Erlebten leidet, macht Said-Emin keinen Hehl aus seiner tiefen Verachtung für die russischen Truppen. Jedes Mal, wenn er von der Säuberung spricht, liegt der Anflug eines verächtlichen Lächelns auf seinen Lippen. Said-Emin ist der Nachbar der Idigows. Am 1. Februar gegen elf Uhr morgens ging er zu ihnen, um die Fernsehnachrichten zu sehen. Und gerade da stürmten »Masken« in das Haus, zwangen ihn und den sechzehnjährigen Magomed, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Fußboden zu legen, warfen beide auf einen Lastwagen und brachten sie in den »Hühnerstall«. »Wir haben immerzu gebeten, sie sollten dem Jungen nichts tun«, sagt Said-Emin, »wirklich sehr gebeten. Und zu hören bekommen: ›Schüler geben gute Sprengstoffspezialisten ab.‹ Im Hühnerstall mussten wir dann mit erhobenen Händen, gespreizten Beinen und gesenktem Kopf an einer Mauer stehen. Wir durften uns nicht rühren, nicht miteinander sprechen. Wer es doch tat, bekam sofort Schläge von hinten. Sie traten uns, benutzten ihre Fäuste, Gewehrkolben oder was sie sonst gerade hatten. So standen wir sechs bis acht Stunden. Nachts haben sie uns in einen Armeelaster gesperrt, und am nächsten Morgen, dem 2. Februar, wieder an die Mauer gestellt, bis abends. In der Dämmerung kamen wir dann zum Verhör, der Ermittler wollte wissen, zu welchen Zeiten 177
und auf welchen Routen sich Rebellen bewegen, wo ihre geheimen Sammelpunkte sind, aus welchen Häusern sie stammen. Am 3. Februar mussten wir morgens wieder an die Mauer, dann haben die Uniformierten drei von uns weggebracht nach Nowye Atagi, wo auch gerade eine Säuberung lief: Abends sind sie zurückgekommen, wir mussten in einer Kladde unterschreiben, sie haben uns die Ausweise zurückgegeben und laufen lassen … Weshalb wir ›filtriert‹ wurden, weiß ich bis heute nicht. Was sollte das bloß?« In diesen Tagen konnte das ganze Land auf allen Fernsehkanälen Said-Emin aus Starye Atagi sehen. General Wladimir Moltenski gab ein Interview, direkt aus dem »Hühnerstall«, mit den Gefangenen, darunter auch SaidEmin, im Hintergrund. Der Befehlshaber der Vereinten Truppenverbände erklärte, man habe bewaffnete Banditen dingfest gemacht, wobei sich die örtliche Miliz vor die Verbrecher gestellt hätte. »Eine Lüge«, sagt Said-Emin. »Wir hatten überhaupt keine Waffen. Wir waren ja zu Hause. Und die Milizionäre mussten sie auch laufen lassen, die wollten ja nur alles klären.« »Und die Wahhabiten? Eure Banditen in Starye Atagi?« Die wirklichen Banditen blieben wie immer unbehelligt.
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Dollars und Rubel Wir leben in finsteren Zeiten. Unsere Luft ist vergiftet von den Lügen der Militärs »ganz oben« und riecht scharf nach den Geldscheinen, mit denen sich die Militärs »ganz unten« ungestraft Ausgleich verschaffen für die Verlogenheit ihrer »Entscheidungsträger«. So funktioniert sie, die tschetschenische Kriegsmaschine. »Ungefähr zwanzig Armeeleute kamen in unser Haus gestürmt, haben meinem Sohn den Ausweis weggenommen und gedroht, ihn in den ›Hühnerstall‹ zu bringen«, erzählt Raissa Arsamersajewa aus der Schkolnaja-Straße. »Ich habe ihnen 100 Dollar gegeben, dann musste ich unterschreiben, ich hätte keinerlei Ansprüche oder Beschwerden. Beim Weggehen haben die Uniformierten auch noch den Stromgenerator und Wäsche meiner Töchter mitgehen lassen.« Diesmal kam in Starye Atagi das kommerzielle Prinzip in großem Stile zur Anwendung. Im Filtrationspunkt fanden sich vor allem diejenigen wieder, die kein Lösegeld zahlen konnten. Kamen die Soldaten in ein Haus, forderten sie unmissverständlich: »Geld für die Männer!« Wer sich freikaufte, bei dem sahen die Soldaten keine Veranlassung zur Filtration und für den Verdacht einer Verbindung zu den Rebelleneinheiten. Wer nicht zahlte, bot Anlass für das eine wie das andere. Der Preis für die lebende Ware schwankte zwischen 500 und 3000–4000 Rubeln, je nach Alter – je jünger, umso teurer – und 179
visuellem Eindruck der Soldaten von der Ausstattung des Hauses. Neben der Preisliste für die Männer gab es bei der letzten Säuberung in Starye Atagi auch Tarife für Frauen, die jedoch – den hiesigen Verhältnissen entsprechend – erheblich niedriger ausfielen. Wobei auch die Sanktionen im Falle einer Weigerung andere waren: Man zahlte, damit die weiblichen Familienmitglieder nicht geschändet wurden. In einem Haus nahmen die Soldaten 300 Rubel für die »Nichtanwendung von Gewalt« gegenüber einem jungen Mädchen, in einem anderen 500 Rubel. Auch Ohrringe und Ketten galten als Währung. Zu unguter Letzt verließen die Bewohner von Starye Atagi ihre Häuser, zündeten auf den Straßen Feuer an und verbrachten die Nächte im Freien, weil sie glaubten, vor aller Augen würden die Soldaten nicht wagen, zu morden und zu vergewaltigen. Ihre Hoffnung sollte sich nicht in jedem Fall erfüllen.
Einige abschließende Details Am 4. Februar 2002 bot ganz Starye Atagi ein einziges Bild der Verwüstung und der Plünderung, verübt von Angehörigen legaler Bandenformationen im Zuge von »Maßnahmen zur Aufspürung illegaler Bandenformationen«. 180
Am letzten Tag der Säuberungen sprengten Armeekräfte das leere Haus Machmud Essambajews. Der berühmte Tänzer stammte aus diesem Dorf und hatte, der tschetschenischen Tradition gemäß, in Starye Atagi ein wunderbares Domizil für seine Familie errichtet. Das gleiche Schicksal ereilte noch ein weiteres prächtiges Haus, nämlich das der Kadyrows. Nachdem die Soldaten alles daraus fortgeschleppt hatten, was nicht niet- und nagelfest war, wurde es in die Luft gejagt. Der Besitzer lebt seit langem in Deutschland. Was noch? Auch in Starye Atagi absolvierten die föderalen Truppen das ganze Pflichtprogramm aller Säuberungen der letzten Zeit und schändeten die Moschee mit ihren Exkrementen. »Am 5. Februar sind sie von hier abgezogen«, berichtet Imadi Demelchanow. »In großer Eile. Zu uns auf den Hof kamen noch zwei Maskierte gestürmt, sie wollten 1000 Rubel für meinen Lastwagen. Das war nun schon das vierte Mal während der Säuberungen, immer haben sie Geld gefordert und gedroht, sie würden ihn sonst in die Luft sprengen.« Zweimal hatte ihnen Imadi jeweils 500 Rubel gegeben, dann besaß er kein Geld mehr und bezahlte mit zwei Hühnern. Am 5. Februar bot er den Männern wieder Hühner an. Oder ein Kalb … Aber sie forderten stur: »Geld her!« Imadi weigerte sich, zu den Nachbarn zu gehen und die Summe zu borgen, weil er sich schämte. Da stellten ihn die Soldaten an die Wand, 181
durchschossen seine Rechte und sagten: »Jetzt kannst du schön borgen.« Dann verschwanden sie. Am Morgen des 5. Februar regnete es heftig. Mit metallischem Scheppern rasselten die Schützenpanzer aus Starye Atagi, und das Regenwasser eröffnete den Dorfbewohnern ein – wenn auch nur winziges – Stück Wahrheit über diejenigen, die sie acht Tage und Nächte lang drangsaliert hatten. »Nr. E 403« konnten sie am Heck des letzten Schützenpanzers lesen. Dieser E 403 fuhr an das gesprengte Haus der Kadyrows heran, maskierte Soldaten sprangen herunter und gaben den Leuten in der Nähe den guten Rat, vorsichtig zu sein: »Da könnten Minen drin sein!« »Unter denen gibt es also auch Normale«, meinten die so Gewarnten. Um gleich darauf mit ansehen zu müssen, wie die Besatzung des Schützenpanzers E 403 ein Stück weiter noch einmal in die leeren Häuser eindrang und mit vollen Händen herauskam. Wenn die Methoden, mit denen dieser Krieg geführt wird, zu irgendetwas taugen, dann dazu, dem Terrorismus weitere Kräfte zuzuführen, neuen Widerstand zu entfachen, Hass zu schüren und den Wunsch nach blutiger Vergeltung zu wecken. Und die Wahhabiten? Die sitzen in Starye Atagi wie eh und je – auch nach den Säuberungen. Ja mehr noch, dank der Straßenpatrouillen, die sie eingeführt haben, kann das Dorf ohne nächtliche Ausgangssperre leben, 182
was geradezu surreal anmutet, wenn man beispielsweise aus Grosny oder aus den Bergen nach Starye Atagi kommt. Die Ordnung, deren Herstellung die föderalen Generäle in einem fort beschwören – hier existiert sie also. Nur dass es die gleiche Ordnung ist wie am Vorabend des Krieges. Als hätte es den Fleischwolf der letzten Jahre mit seinen Tausenden Opfern auf allen Seiten, den Verletzten, Verstümmelten, bis aufs Blut Gepeinigten nicht gegeben. Alles wie vor dem Krieg. Nur dass noch mehr in Trümmern liegt und andere Personen an der Macht sind. Die Häuser wie leer gefegt wirken. Eine halbe Million Menschen förmlich vertierte. Und das Land um noch einen furchtbaren Krieg älter ist.
*** Die Militärs in Tschetschenien haben eine heftige Abneigung gegen Staatsanwälte, behindern sie nach Kräften, versuchen sie einzuschüchtern und verbieten ihnen den Zutritt zu ihrem Gelände. In Starye Atagi aber waren die Rechtshüter, und sie verkündeten danach voller Stolz im Fernsehen, es seien einige Strafprozesse angestrengt worden, rapportierten vor laufenden Kameras mehrfach über deren Fortgang. Und dann dieses Dokument, das der Klassiker der russi schen Satire, Michail Saltykow-Schtschedrin, nicht besser hätte ersinnen können: »… die Fakten waren Gegenstand einer staatsanwaltschaftlichen Überprüfung unmittelbar in der Periode der Durchführung der Sonderoperation …« 183
Will heißen, die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft befanden sich direkt am Tatort, als die Militärs ihre menschenverachtenden Verbrechen begingen. Beobachteten deren Fortgang. Und griffen nicht ein. Das also muss man sich unter einer »staatsanwaltschaftlichen Überprüfung unmittelbar in der Periode der Durchführung der Sonderoperation« vorstellen.
DER TAG DES SIEGES Der alte Mann sitzt auf einem verschlissenen Hocker voller Einschussspuren, kann den Körper, der ihm nicht mehr gehorchen will, kaum gerade halten. Abgemagert, das blasse Gesicht grau überschattet, fast blind, mit schlaff herabhängenden Falten, die chronische Unterernährung verraten. Seine Beine »wärmen« fadenscheinige Schlafanzughosen im verschossenen Streifenmuster staatlicher Anstalten. Die dicken Gläser mit dem grotesk rosafarbenen Frauen-Brillengestell sind mit Bindfäden hinter den Ohren befestigt und auf der Nasenwurzel mit Tesafilm festgeklebt. Eine Frauenstrickjacke, ebenfalls rosa, an der riesige Knöpfe leuchten, vervollständigt das Erscheinungsbild eines Menschen, dessen Leben in einem Fiasko mündete. »So-o erge-eht es der Fa-mi-li-e eines He-e-lden …« In meinem Kopf taucht – völlig deplatziert im heutigen Grosny – ein altes sowjetisches Lied wieder auf.»… eines He-el-den«, die Melodie klirrt, als wolle sie in Stü184
cke zerspringen, die Stimme aber hält hartnäckig den Takt, »dessen Bru-ust die Hei-ei-mat schü-ütz-te …« Es ist der alte Mann, der zu singen versucht: Pjotr Grigorjewitsch Baturinzew, Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, Hauptmann der Grenztruppen außer Dienst. Hier, in den Ruinen von Grosny, in der Ugolnaja-Straße Nr. 142, hat er beide TschetschenienKriege überlebt und sieht jetzt, auf dem möglichst nahe an die erwachende Natur herangerückten Hocker, dem 86. Frühling seines Lebens entgegen – und zugleich dem 57. nach jenem Sieg, den alle lange Zeit für den endgültigen Sieg der Welt über den Faschismus hielten. »Wie lebt es sich, Pjotr Grigorjewitsch?« Eine dumme Frage im heutigen Grosny, sie ist mir einfach so herausgerutscht. Der alte Mann löst mühsam den Blick von seinem in den Boden gebohrten Stock und beginnt zu weinen. »Onkel Petja besitzt fast gar nichts Eigenes. Alles aus den Ruinen. Auch die Brille und die Strickjacke«, sagt jemand von hinten, während der Greis versucht, das krampfhafte, stumme Schluchzen zu überwinden. »Bestimmt von Leuten, die umgekommen sind …« »Ich lebe nicht … Ich habe gelebt … irgendwann einmal …«, stößt der alte Mann schließlich gepresst hervor. Pjotr Baturinzew war drei Jahre im Krieg, von 1942 bis 1945, seine Einheit gehörte zur Heeresgruppe Nord des Transkaukasischen Militärbezirks, die unter anderem 185
auch Grosny befreite. Nach dem Krieg gestaltete sich Baturinzews Leben geradlinig und überschaubar: Er kam in die Stadt zurück, heiratete bald darauf und begann im Werk »Elektropribor« zu arbeiten – bis zur Rente. Der ehemalige Offizier wurde von Pioniergruppen eingeladen, legte zu Feiertagen seine Orden an. »Ich habe gelebt … gelebt«, beteuert der alte Mann hartnäckig. Er zittert am ganzen Leib, versucht sich die Tränen abzuwischen, doch seine Hand findet nicht die Stelle, wo sie ihm über das Gesicht fließen. Geräuschvoll nähert sich eine Frau in Männersandalen und einem zerrissenen dunkelblauen Pullover, mustert die Fremden mit irrem Blick, misstrauisch, aber nicht böse. »Ich bin Pjotrs Frau, Nadeshda Iljinitschna Baturinzewa, zehn Jahre jünger als er, erst 76. Deshalb kann ich noch gehen, wie Sie sehen.« Die Frau bittet uns in ihre Behausung. »Hier drin haben wir beide Kriege ausgesessen, sind nicht auf die Straße gegangen, bloß in Keller, nur so konnten wir die Wohnung erhalten. Sie ist übrigens privatisiert, unser Eigentum!« Nadeshda Iljinitschna sieht richtig stolz aus, als sie uns ihr Ruinenreich zeigt. Am Tag zuvor hatte es lange geregnet, und die »Wohnung« ist gründlich durchnässt. In der Decke klafft ein großes Loch, es ist mit Gewächshausfolie abgedichtet. »Manchmal denke ich, wir sind im Paradies.« Doch Nadeshda Iljinitschnas Stimme will so gar nicht zu die186
sem »Paradies« passen, verrät, dass sie sehr wohl begreift, wo sie ist – in der Hölle. »Uns geht es gut. Andere haben nicht einmal mehr Wände«, fährt die Frau fort, und man erkennt, weshalb ihre Stimme so metallisch-nachdrücklich klingt: Sie bemüht sich mit aller Kraft, die einmal gewählte Maxime – sei zufrieden mit dem wenigen, das du hast, egal, was kommt – aufrechtzuerhalten. »Die Alten werden bei uns überall geachtet …«, flicht leise und gedehnt der Nachbar ein, ein junger Tsche tschene. Er ist der Einzige, der sich jetzt um »Onkel Petja«, den Kriegsveteranen, kümmert. Ihn zur Toilette bringt, wäscht, von irgendwoher Wasser auftreibt, die Baturinzews nicht verhungern lässt. »Kommt denn keiner von der Armee? Aus der Militärkommandantur zum Beispiel? Schließlich liegt sie ja nur 200 Meter entfernt.« Es ist die erste Frage, die ein Lächeln auf das leidvolle Gesicht Pjotr Baturinzews zaubert. Wie kann jemand nur so naiv sein und nicht wissen, dass »die von der Armee« hier nur in die Häuser kommen, wenn es etwas »zu säubern« gibt. Nadeshda Iljinitschna streichelt ein kleines Mädchen, das zu ihr gelaufen kam, und man sieht, wie sehr ihr eine Familie fehlt, wie gern sie Kinder und Verwandte um sich hätte. 187
»Die Kleine heißt Aischat, ist die Tochter von unseren Nachbarn, den Elmursajews. Ich mag sie sehr, wir sind richtige Freundinnen. Pjotr Grigorjewitsch und ich haben ja auch Enkel. Larissa ist 25, Olga 23, prächtige Mädels.« »Und wo sind sie jetzt, Ihre prächtigen Enkelinnen?«, rutscht es mir vorschnell heraus, man hätte die verfängliche Frage durchaus korrekter formulieren können. »Sie sind sehr beschäftigt«, lautet die knappe Antwort und setzt einen gängigen Schlusspunkt unter ein Thema, das ganz sicher eine Tragödie birgt. Doch jetzt will Pjotr Grigorjewitsch reden. Er versucht, seine »prächtigen Mädels« dort irgendwo in Russland zu rechtfertigen: »Sie wohnen im Wohnheim ihres Instituts, in Pjatigorsk. Larissa sucht gerade Arbeit, Olga studiert noch Medizin. Sie können uns nicht zu sich nehmen, das müssen Sie verstehen, und auch nicht herkommen.« Vor Aufregung will der alte Mann sogar aufstehen von seinem Hocker, doch es misslingt, die Knie zittern zu sehr. »Aber Larissa und Olga haben doch sicher Eltern?« Jetzt spricht Nadeshda Iljinitschna nicht mehr, sondern zischt verärgert: »Unser Sohn wohnt in Blagodarny, im Gebiet Stawropol. Er hat selbst genug Probleme. Lassen wir das Thema lieber in Pjotr Grigorjewitschs Gegenwart.«
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Wir gehen ein Stück beiseite, wollen den alten Mann schonen. »Vielleicht soll ich Ihren Sohn anrufen oder ihm schreiben? Ich könnte ihm erzählen, wie es Ihnen hier geht …« »Auf gar keinen Fall.« Pjotr Grigorjewitsch hat uns also doch gehört. Er weint nicht mehr, nur das krankhafte Zittern der Hände wird merklich stärker. Jetzt ist der alte Mann gefasst, streng und kategorisch wie seine Frau. Alles deutet darauf hin, dass hier ein uralter, schwieriger Familienkonflikt schwelt, den wohl bereits nichts mehr – weder Krieg noch Armut, Hunger und Krankheit, das unvermeidliche Geschick der Baturinzews in Grosny – zu heilen vermag. Wie viele solcher menschlichen Tragödien um verlassene russische Greise und Greisinnen in Grosny habe ich in diesem Krieg erlebt! Die Verwandten »drüben in Russland« (wie es hier in Tschetschenien heißt) haben keine Lust, sie zu sich zu nehmen, in Sicherheit zu bringen vor dem Krieg. Und deshalb gleicht eine Fahrt durch diese furchtbare Stadt oft einer Reise vorbei an vergessenen Leben: Hier, so weißt du, wohnt noch eine alte Russin, die die Verwandten in Tjumen nicht herausholen, und in der Straße dort, in den Ruinen, hat ein alter Russe gehaust, vergessen von seinen zwei Söhnen und drei Töchtern, die über verschiedene Regionen und verschiedene Städte Russlands verstreut sind. Vor drei Monaten ist der alte Mann an Entkräftung gestorben. 189
Und da drüben, wo die Staropromyslowskoje-Chaussee zum Stadtviertel Berjoska abbiegt, steht gleich hinter der Kurve ein Altersheim. Vergangene Ostern ist dort Maria Sergejewna Lewtschenko gestorben. Sie war erst kurz vorher in das Spital gekommen, zusammen mit ihrer Schwester Tamara Sergejewna, beide völlig ausgezehrt. Nach der Zerstörung ihres Hauses hausten Maria und Tamara in verschiedenen Kellern, wo sie sich monatelang nicht waschen konnten, wochenlang nicht einmal Aussicht auf Brot hatten. Vor Kummer und Entkräftung verlor Tamara Sergejewna im Herbst 2000 den Verstand. Da beschloss Maria Sergejewna, den Keller zu verlassen – schlimmer konnte es schließlich nicht werden. Sie lud ihre ältere Schwester auf einen Karren und zog los. Entsetzt von dem grauenvollen Anblick, zeigten ihr gutherzige Menschen den Weg zum Altersheim. Als sie ihre Mission erfüllt hatte und die Schwester versorgt wusste, starb Maria kurz danach an einem aggressiven Tumor. Wäre diese Tragödie vermeidbar gewesen, wenn der Bruder von Maria und Tamara oder einer ihrer Neffen – sie alle wohnen in einer südrussischen Stadt nicht weit entfernt von Tschetschenien – die beiden gleich am Anfang des Krieges zu sich genommen hätte? Ganz bestimmt. Aber der Bruder tat es nicht. Obwohl das Altersheim die Verwandten über das tragische Geschehen informierte, kamen weder Bruder noch Neffen zu Maria Sergejewnas Begräbnis, und es ist mehr als unwahrscheinlich, dass sie nun die allein zurückgebliebene Tamara holen 190
werden … Die gesunden russischen Verwandten können ihre kranken russischen Verwandten nicht gebrauchen, und das Drama der Lewtschenkos und Baturinzews ist bei aller Individualität der Familienschicksale auch ein nationales Desaster. Eine moderne gesamtrussische Tragödie, bloßgelegt vom Krieg. Dort, wo Unmenschlichkeit das Leben bestimmt, kann keiner auf Gnade und Barmherzigkeit hoffen, nicht einmal die Schwächsten. Das ist Faschismus in Reinkultur: Die berüchtigte Hitler’sche Idee, Schwerkranke und Krüppel – Ballast auf dem Weg in eine lichte Zukunft – aus der Gemeinschaft auszugrenzen, zu vernichten. Ein Staatsfaschismus, der bis in die Familienbeziehungen hineingewuchert ist. Genau der Faschismus, für dessen Bezwingung Pjotr Baturinzew seine Jugend und seine Gesundheit geopfert hat. Ich bin oft von Tschetschenen gefragt worden, warum ich meine »eigenen Leute«, die Russen, so kritisch sehe. Die Tschetschenen aus der Ugolnaja-Straße in Grosny stellten die Frage unter einem umfassenderen Blickwinkel: »Wie sollen wir glauben, dass die neue Macht hierher gekommen ist, um uns zu helfen, wenn sogar ein hochbetagter russischer Greis und ehemaliger Offizier unter der wiederhergestellten russischen Macht noch schlechter lebt als unter Dudajew und Maschadow?« Auf tschetschenische Verhältnisse übertragen, wäre das Schicksal Pjotr Grigorjewitschs undenkbar: Keine einzige tschetschenische 191
Familie außer den Parias, die von allen nur gemieden und verachtet werden, würde einen derartigen Umgang mit einem alten Menschen dulden. Ganz in der Nähe der Baturinzews, in der Kljutschewaja-Straße Nr. 259, wohnt der 82-jährige Großvater Umar. Wie Pjotr Baturinzew hat Umar Achmatchanow im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft, ist Kriegsinvalide zweiten Grades, die Beine wollen nicht mehr, er sieht kaum noch etwas. Umars Haus kann zwar auch die Spuren der heutigen Kämpfe nicht leugnen, doch es ist ordentlich und aufgeräumt, der Fußboden blitzblank, Umar trägt saubere Kleidung, und auf das erste Wort hin bringen ihm seine Enkelinnen, was er möchte, die Söhne (alle mit Hochschulabschluss) und Schwiegertöchter sind stets für ihn da. Das Leben der Familie dreht sich um ihn, den Ältesten, so war es immer bei den Tschetschenen. Bist du alt, haben alle Jüngeren eine Pflicht an dir zu erfüllen, sie werden dich umsorgen, dir zu essen geben, und wenn sie selbst hungern müssen. Man kann sich kaum Umstände vorstellen, die eine tschetschenische Familie veranlassen könnten, ihre Alten »zu vergessen«. Es findet sich immer ein wenn auch noch so entfernter Verwandter, der es übernimmt, für die Hochbetagten zu sorgen. Wenn nicht, wäre das eine Schande für den ganzen Clan. »Der Große Vaterländische, das war ein guter Krieg«, meint Nadeshda Baturinzewa zum Abschied, und du 192
begreifst, bis zu welchem Grad von Verzweiflung man einen Menschen treiben muss, damit er einen Krieg, der Millionen Opfer gefordert hat, »gut« findet. »Der, den wir jetzt haben, der ist schlecht«, zieht sie ihre Schlüsse. »Ein Krieg, bei dem keiner versteht, wozu er ist, für wen und gegen wen. Für wen auch immer, nur nicht für uns.«
VOM REGEN IN DIE TRAUFE: ERST »TEPPICH«, DANN »FLIESSBAND« In den drei Jahren des zweiten Tschetschenien-Krieges wurde von offizieller russischer Seite immer wieder angedeutet: Sobald Chattab und Bassajew nicht mehr da sind, ist der Krieg namens »Antiterror-Operation« zu Ende. Dann kann das riesige, durch keinerlei gesunden Menschenverstand zu rechtfertigende, fast 100 000 Mann starke föderale Truppenkontingent, das einer 600 000 Personen zählenden Bevölkerung Tschetscheniens und (nach offiziellen Angaben) »2000 Rebellen« gegenübersteht, die Republik verlassen. Damit werden Mord, Folter, Vergewaltigung und Menschenraub, verübt von den Untergebenen der Herren mit den Schulterstücken, ebenso ein Ende haben wie eine unvermeidliche Begleiterscheinung jeder Besatzung – das grassierende Marodeursunwesen unter den Streitkräften. Inzwischen wurde das Ableben Chattabs und wahrscheinlich auch Bassajews – »infolge längerer schwerer Krankheit« – feierlich konstatiert, doch die föderalen 193
Verbände sind immer noch da und die Methoden der Kriegsführung unverändert: Die Säuberungen gehen weiter, der Menschenhandel mit lebender und toter Ware ist zur wichtigsten »Kampfmaßnahme« der Armeeangehörigen in Tschetschenien geworden, Tausende Familien suchen nach verschleppten Angehörigen, können bestenfalls deren Leichen freikaufen bei den »Verteidigern der Heimat gegen den Terrorismus«. Die Taktik der Bombenteppiche aus der Anfangszeit des Krieges wurde abgelöst durch eine Strategie der Vernichtung von Menschen wie am Fließband.
»Hoch gew.« Imran Dshanbekow aus dem Großdorf Goity im Kreis Urus-Martan war hoch gewachsen. Und gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt. Diese beiden Umstände besiegelten sein Schicksal. Nach den Gepflogenheiten, die sich heute in Tschetschenien eingespielt haben, wurde er nachts geholt – und seitdem fehlt von ihm jede Spur. Wie von vielen anderen jungen Tschetschenen. »Ich stehe jeden Morgen auf und gehe meinen Sohn suchen«, sagt Sainap, Imrans Mutter, und tiefer Gram überschattet die Spuren ihrer Schönheit. Sie hält den Kopf gesenkt, sodass nur die hohe Stirn und das Haar zu sehen sind, malt mit leblosen Fingern auf dem Tischtuch endlose Kreise der Hoffnungslosigkeit. »Wo suchen Sie ihn?« »Überall. In der Militärkommandantur in Urus-Martan, beim Innenministerium in Grosny, in der Republikszentrale des FSB… Ich nehme sein Foto mit, frage, ob nicht irgendwer … Vor kurzem haben sie mir bei einer dieser Stellen das Verhaftungsprotokoll eines anderen jungen Mannes gezeigt. Da war als Grund der Verhaftung eingetragen: ›Hoch gew.‹, also ›hoch gewachsen‹.« »Das kann nicht sein!« »Das dachte ich zuerst auch, aber … wenn es doch so ist? Ich habe das Protokoll mit eigenen Augen gesehen. Bei meinem Imram gab es ja überhaupt keinen anderen Grund zur Verhaftung, außer diesem ›hoch gew.‹.« 195
In den letzten Jahren war Imran auf Bitten seiner Eltern fast nicht mehr aus dem Haus gegangen. »Warum?«, frage ich. »Wir wollten ihn schützen.« Sainap weint. »Er ist doch ›hoch gew.‹, einen Meter zweiundneunzig groß. Als sich herumzusprechen begann, dass die Föderalen vor allem körperlich gut entwickelte, kräftige junge Burschen mitnehmen, wollten wir ihn nicht einmal mehr ins Institut lassen, weil es unterwegs jedes Mal Schwierigkeiten an den Postenstellen gab. Aber dann haben wir überlegt und beschlossen: Er muss doch studieren. Also sind wir abwechselnd – einmal ich, einmal sein Vater – mit ihm zum Unterricht nach Grosny gefahren und hinterher wieder zurück.« Einen Zweiundzwanzigjährigen begleiten wie ein Kindergartenkind? Auch das ein Phänomen des leidvollen tschetschenischen Lebens von heute. »Wir haben unseren Ältesten nicht schützen können.« Sainap schaut vor sich hin wie bei einem Begräbnis. »Am Tage waren wir bei ihm, aber sie sind nachts gekommen. Genau fünf Minuten nach zwölf. Alle maskiert, auf der Straße standen zwei Schützenpanzerwagen und ein Militärjeep. Sie haben ihn in einen dieser Schützenpanzerwagen gestoßen. Ich bin hinter den Fahrzeugen hergelaufen, habe immer seinen Namen geschrien, bis zur Straßensperre am Ortsausgang, wo es weiter nach Grosny geht. Die Posten rufen: ›Stehen bleiben oder wir schießen!‹ Und ich: ›Schießt doch! Mörder! Sie haben 196
meinen Sohn entführt! Da, in dem Schützenpanzerwagen, der gerade ohne Kontrolle durchfahren konnte, ist er eingesperrt!‹« Die Soldaten an der Postenstelle ließen die Maschinengewehre sinken. Das Einzige, was Imrans Mutter erkennen konnte, war die Ziffer 02 auf dem Heck des Schützenpanzerwagens. In Tschetschenien weiß jeder, was das bedeutet: Das Fahrzeug gehört zu den Einheiten des russischen Innenministeriums MWD. Niemand weiß, wo sich der verschleppte ›hoch gew.‹ Imran jetzt befindet; die gesamte Führungsstruktur der Armee und der bewaffneten Kräfte der anderen »Militärministerien« im Kreis Urus-Martan sowie in sämtlichen Nachbarkreisen, aber auch die entsprechenden Kommandozentralen auf Republiksebene erklärten ausnahmslos, auf ihr Konto ginge die Verhaftung nicht. Die Dshanbekows erstatteten Anzeige bei allen Staatsanwaltschaften, allen Verwaltungsleitern – bis hin zu Achmad Kadyrow, dem Verwaltungschef Tschetscheniens. Sogar an Präsident Putin schrieben sie. Briefe, Beschwerden, Petitionen, ohne jedes Ergebnis. Überall auf der Welt leben die Mütter von Hoffnung. In diesem ihrem Lebenscredo liegt die Zukunft unseres Planeten. Ist ein Kind krank, hofft die Mutter darauf, dass es unbedingt gesund wird, ist es gestrauchelt, dass es sich wieder fängt. Ist es verschwunden – dass es zurückkommt. So hört auch Sainap nicht auf zu hoffen. 197
»Die Leute sagen, wenn nach fünf bis sieben Tagen noch keine Leiche irgendwo liegt, ist das gut«, gibt Imrans Mutter einen modernen tschetschenischen Mythos wieder. »Dann hat er die Foltern der ersten Tage überstanden, und sie haben ihn nach Chankala gebracht. Imran ist kräftig, er hält alles aus. Ich träume nur immerzu, dass er nicht mehr stehen kann, weil sie ihn so geschlagen haben …« Das Herz der Mutter möchte an diesen Mythos glauben. Aber es gibt eine tschetschenische Realität, und die besagt genau das Gegenteil: Gelingt es nicht binnen fünf bis sieben Tagen, einen Menschen aus den Fängen der Föderalen zu reißen, braucht man nur noch nach seiner Leiche zu suchen. »Solche wie uns gibt es heute viele in Tschetschenien«, fährt Sainap fort. »Hunderte, Tausende … Wir stehen jetzt oft bis zur Ausgangssperre an der Kurve nach Chankala, wo es direkt zum Militärstützpunkt geht.« »Weshalb stehen Sie dort? Worauf warten Sie?« »Auf irgendeine Information über die Verschwundenen. Manchmal kommen von dort, von den Offizieren, Unterhändler angefahren und nennen den Preis für die, die sie noch im Stützpunkt festhalten … oder für ihre Leichen.« So vergehen die Tage von Sainap und Adlan Dshanbekow. In den Nächten aber zerbrechen sich Imrans El198
tern – wie in Tausenden anderen schlaflosen tschetschenischen Häusern – den Kopf, was sie vielleicht »nicht richtig gemacht«, wodurch sie möglicherweise den Föderalen missfallen haben könnten, was diese ihrem Sohn wohl vorwerfen. Die Dshanbekows kommen nur auf einen einzigen Punkt: Imran spricht gut Türkisch, er hat zwei Jahre lang ein College in Istanbul besucht. Denkbar, dass er deswegen denunziert wurde. »Aber es ist doch positiv, wenn jemand eine Fremdsprache beherrscht«, sage ich. »Bei Ihnen ja, bei uns nicht. Die Föderalen könnten denken, er hätte dort etwas Schlechtes mitbekommen«, setzen mir die Eltern auseinander, wie sie das Leben ringsum verstehen. »Seitdem mir das mit dem Türkisch eingefallen ist, erkläre ich bei meiner Suche nach Imran überall, dass unsere Kinder seinerzeit ja auf Beschluss der russischen Regierung zum Lernen in die Türkei geschickt worden sind! Vizepremier Lobow persönlich hatte die Schirmherrschaft. Außerdem war Imran damals fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, das kann man ihm heute doch nicht mehr vorwerfen. Aber ich stoße auf taube Ohren, niemand hört mir zu. Sooft ich auch das Leben unseres Sohnes durchgehe, ich finde nichts Anstößiges. Ich bin mir ganz sicher, er war ja immer bei uns.«
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Nach welchen Regeln funktioniert das Spiel? Es wird Abend in einem anderen Haus von Goity. Seine Bewohner bekamen vor kurzem die Leiche eines vom Militär entführten Familienmitglieds »ausgehändigt«. Jetzt spreche ich mit Salambek, dem Neffen des Getöteten, darüber, wie es weitergehen soll, welcher Sinn hinter dem steht, was geschieht, was die jungen Tschetschenen dazu meinen. Das Leben hat Salambek gelehrt zu schweigen. Immer und unter allen Umständen. Er ist wortkarg wie der langjährige Insasse eines Konzentrationslagers. »Was kann denn die Jugend heute in Goity überhaupt noch machen, ich meine, außer sich vor den Föderalen zu verstecken? Schließlich können doch junge Männer zwischen 18 und 25 nicht drei Jahre lang tagtäglich zu Hause sitzen, bloß damit alle sehen, dass sie keine Kämpfer sind«, sage ich. »Was wir machen können? Abkratzen«, versetzt Salambek. Ich hoffe noch, Salambek könnte das nicht so ernst meinen, mich provozieren wollen. Doch weit gefehlt. Den jungen Leuten hier ist die Lust auf Späße vergangen. Sie brauchen sich nur die vielen frischen Gräber auf dem Friedhof anzusehen. Salambek meint es absolut ernst: Auf seinem teilnahmslosen, unbeweglichen Gesicht liegt eine Grimasse gequälter Ausweglosigkeit, die großen Au200
gen über den breiten, reglosen Jochbeinen blicken hart und vorwurfsvoll. Die Mehrzahl derjenigen, die heute in Tschetschenien überlebt haben, steckt in tiefer Resignation, verharrt in einer Verzweiflung, die so undurchdringlich ist wie eine wolkenverhangene, sternlose Nacht. Eine schlimmere Folge konnten die Methoden totaler Entrechtung, die der zweite Tschetschenien-Krieg gegenüber der Bevölkerung praktiziert, nicht haben. Das Dorf zu verlassen bedeutet Lebensgefahr, die Uniformierten könnten einen mitnehmen. Sich auf der Straße sehen zu lassen – ebenfalls riskant, auch hier ist man nicht sicher vor Verhaftung. Tagtäglich kehrt der eiserne militärische Besen junge Männer aus den Ortschaften. Von Goity nach Urus-Martan zu fahren bedeutet erst recht ein Wagnis, denn an der Straße gibt es zahlreiche Postenstellen, und jede kann die letzte sein in deinem Leben. Was unzählige Fälle belegen. Vor dem zweiten Krieg hatte Goity ungefähr 40 000 Einwohner, heute sind es nicht mehr als 15 000. Wer irgend konnte, hat den Ort verlassen, um seine Kinder in Sicherheit zu bringen. Für die Dagebliebenen reduziert sich die Existenz auf das bekannte tschetschenische »Unterhaltungsangebot«: Übergriffe der Militärs, nächtliche Säuberungen, Plünderungen durch Marodeure in Uniform und die allmorgendlichen Gespräche, wen sie denn in der letzten Nacht mitgenommen und was sie bei dieser 201
Gelegenheit geraubt haben, wer überlebt hat und wessen Leiche »ausgehändigt« wurde. Es gibt keine Bibliothek, kein Kino, obwohl die Gebäude noch stehen. »Wann haben sie bei euch das letzte Mal einen Film gezeigt?« »Als ich noch klein war. Vor dem ersten Krieg.« Mit dem letzten Rest Willenskraft, der ihr hilft, trotz des lähmenden Schmerzes einen gewissen Lebensrhythmus aufrechtzuerhalten, stößt Imran Dshanbekows Mutter Sainap hervor: »Russland macht uns zu Vieh. Es treibt die tschetschenische Jugend dem Erstbesten in die Arme, der kommt und sagt: ›Schließ dich uns an.‹ Heute bin ich sogar schon so weit, dass ich denke: Bei den ›Bärtigen‹, den Wahhabiten, gab es Schläge mit dem Stock für diejenigen, die Wodka getrunken haben. Aber ein Knüppel ist immer noch besser als ein Sprenggeschoss. Stockschläge überlebt man. Was wir jetzt vor allem wissen wollen, ist, nach welchen Regeln das Spiel funktioniert. Wir wollen verstehen: Wer von uns macht sich bei den Föderalen missliebig und wodurch? Wofür darf man uns foltern? Wann unsere Entführung befehlen? Oder die Ermordung? Jetzt ist nichts durchschaubar, sie bringen ja wahllos alle um: diejenigen, die auf Seiten der Wahhabiten stehen, wie die, die gegen sie sind. Am meisten aber die in der Mitte, die zu keiner Seite gehören. Wie unseren Imran.« 202
Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Denn Russland unter Putin, das sind nun bereits Jahre, in denen das Hauptsächliche verschwiegen wird.
TEIL 2
LEBEN VOR DEM HINTERGRUND DES KRIEGES Realität in Russland
RUSLAN AUSCHEW: »NIEMAND GARANTIERT HEUTE IN TSCHETSCHENIEN FÜR IHR LEBEN« Zu Sowjetzeiten bildete der kleinere Nachbar Inguschetien mit Tschetschenien zusammen die Autonome Sow jetrepublik Tschetscheno-Inguschetien, deren Hauptstadt Grosny war. Die nunmehr selbständige Teilrepublik Inguschetien nimmt bereits seit Beginn des TschetschenienKrieges eine Sonderstellung ein im Hinblick auf die Bewertung der »Antiterror-Operation« des föderalen Zentrums. Als im September 1999 die Bombardements auf Grosny und zahlreiche andere Ortschaften einsetzten, öffnete Inguschetien seine Grenze für den endlosen Strom der Flüchtlinge, und bald waren es fast 200 000 Menschen, die bestenfalls in eilends eingerichteten Lagern und Zeltstädten, schlimmstenfalls in Transformatorenstationen, auf Busbahnhöfen, in Garagen, nicht mehr genutzten landwirtschaftlichen Gebäuden und sogar in Friedhofsschuppen Obdach fanden. Und das bei einer Einwohnerzahl der Republik Inguschetien von etwas mehr als 300 000 und entsprechend begrenzten Kapazitäten bei der Wasser-, Strom- sowie Lebensmittelversorgung. Mit dieser Haltung stand Inguschetien nicht nur allein im Kreis der anderen tschetschenischen Nachbarrepubliken, sondern sogar im Gegensatz zu ihnen. Am augenfälligsten wird das im Vergleich mit der prorussischen 207
Position der ebenfalls an Tschetschenien angrenzenden Teilrepublik Kabardino-Balkarien. Auf Anordnung seines Moskau-hörigen Präsidenten Valeri Kokow wurden im September 1999 an der Grenze zu Tschetschenien Absperrkordons errichtet, an denen Posten die aus dem Lebensgleichgewicht geratenen, müden, hungrigen und kranken Flüchtlinge – darunter viele Kinder und Alte – aufhielten und zurückschickten. Doch wohin zurück? Aus Tschetschenien waren sie ja gerade geflohen. Also konnte sich der Menschenstrom nur in eine einzige Richtung ergießen – nach Inguschetien, das damit die Hauptlast des tschetschenischen Exodus auf sich nehmen musste. Und diese schwere Bürde auch weiterhin trug, so gut es ging. Fast drei Jahre lang versorgte die kleine Republik die Flüchtlingsscharen, ungeachtet aller Hetzkampagnen der von Moskau gesteuerten Massenmedien, des beispiellosen Drucks und der Erpressungsversuche seitens des Kreml, denen sich Präsident Ruslan Auschew während dieser Zeit ausgesetzt sah und die schließlich im Januar 2002 nicht nur zu seinem Rücktritt führen, sondern Inguschetien eine Reihe schwerster Prüfungen auferlegen und zu guter Letzt einen General des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB als Präsidenten bescheren sollten: Murat Sjasikow – Protege des Kreml und Wladimir Putins persönlich. Mit Sjasikow war auch in Inguschetien für den Geheimdienst, der sich nach sowjetischem Muster bereits allenthalben wieder in den Ritzen der Macht eingenistet hatte, der Weg zu den Kommandohöhen frei …
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Doch jetzt schreiben wir den Februar des Jahres 2000. Bis zur Absetzung Auschews ist es noch weit, und er empfängt mich im Präsidentenpalast von Magas, der gerade erst baulich vollendeten Hauptstadt Inguschetiens. Den Hintergrund für unser Gespräch bildet das über die Massenmedien verbreitete Gefasel der Kreml-Oberen, dass nun, nach der Erstürmung Grosnys und der Verdrängung von Maschadows und Bassajews Rebelleneinheiten aus der Stadt, das Ende des Krieges greifbar nahe sei. Bekanntlich dauert er bis heute. Aber das wussten wir damals noch nicht.
»Bedeutet das nun das Ende des Krieges oder nicht?« »Das Ende auf gar keinen Fall, vielmehr fängt alles erst an. Die Kampfhandlungen gehen weiter, wohin man auch schaut. In Grosny sind Rebellen, in den Dörfern ebenfalls … Doch wo sind die Terroristen? Nach meinem Koordinatensystem kann die ›Antiterror-Operation‹ nur damit enden, dass alle Geiseln freikommen, die Terroristen verhaftet, bestraft oder vernichtet werden.« »Ist denn nicht ein Teil der Geiseln bereits befreit? Die Militärs zeigen sie ja im Fernsehen.« »Das sind diejenigen, die man auch ohne groß angelegte Kampfhandlungen hätte befreien können. Mehr noch, ich bin überzeugt, sie wären ohne den Krieg schneller auf freien Fuß gekommen.« »Wie würden Sie die gegenwärtige Phase des Krieges bezeichnen?« 209
»Das weiß ich nicht, weil ich überhaupt keine Phase sehe. Die Stützpunkte der Terroristen sind nicht zerstört, sondern bestehen nach wie vor in ganz Tschetschenien. Der Partisanenkrieg geht weiter.« »Aber das friedliche Leben, das der Kreml beschwört, muss doch irgendwo in Tschetschenien in Gang kommen?« »Wo denn? Zeigen Sie es mir! Wir haben immer noch mehr als 200 000 Flüchtlinge! Die ganzen südtschetschenischen Kreise sind bei uns, Grosny ebenso. Warum fliehen nach wie vor Menschen aus Tschetschenien hierher? Warum erleben wir statt der Rückkehr der Tschetschenen in ihre Heimatorte neue Flüchtlingsströme? Ich persönlich sehe darin das wichtigste Indiz dafür, dass die Lage instabil ist. Sie brauchen sich nur an den ersten Krieg zu erinnern. Als die intensiven Bombenangriffe auf Samaschki, Atschchoi-Martan und Grosny geflogen wurden, kamen auch Tausende. Aber nur für kurze Zeit, wir haben nicht einmal Zelte für sie aufgestellt. Sobald die Gefechte vorüber waren, sind die Flüchtlinge nach Hause zurückgekehrt. Keiner von uns hat sie vertrieben, sie taten es aus eigenem Antrieb, denn damals war noch eine gewisse Stabilität spürbar. Die Menschen glaubten, man könne – wenn auch mehr schlecht als recht – in Tschetschenien leben. Das war einmal, heute hofft niemand mehr auf Besserung, und deshalb bleiben die Flüchtlinge in Inguschetien. Wobei einige ja durchaus versucht haben zurückzukehren, aber in Bombenhagel und Säuberungen geraten sind und sich ein weiteres Mal zu uns flüchteten. 210
Grosny. September 2001. Der Geruch von Leichen hängt in der Luft, sie sind unter den Ruinenbergen begraben.
Der zweite Grund, warum die Flüchtlinge nicht wieder nach Tschetschenien wollen, liegt im Fehlen jeder realen Ordnungsmacht. Wer kann dort jetzt für ihr Leben garantieren? Gerade das ist doch aber die wichtigste verfassungsrechtlich verbriefte Forderung, die der Bürger an den Staat hat. Niemand garantiert für ihr Leben! Wer übernimmt die Verantwortung, wenn ein Freischärler kommt und Sie umbringt? Keiner. Und wenn einer dieser Kontraktniks *, den die russischen Streitkräfte für Geld angeworben haben, bei ihnen auftaucht und sie ausraubt? Wer ist dann zuständig? Wieder keiner. Deshalb wollen die Leute um jeden Preis in Inguschetien bleiben, wo sie Stabilität und ebendiese Ordnungsmacht finden. Kommt es zu Ausfälligkeiten oder Übergriffen, werden die zuständigen staatlichen Instanzen – Miliz, Staatsanwaltschaft und Gerichte – sofort aktiv.« »Tatsache ist doch aber, dass in den Flüchtlingslagern auf inguschetischem Gebiet die Ausgabe einer warmen Mahlzeit und kostenloser Brotrationen eingestellt wurde.« »Wir sind in einer schwierigen Lage, das stimmt. Obwohl sich die Mehrzahl der Flüchtlinge weiterhin in Inguschetien aufhält, stellt der Staat aus dem föderalen Haushalt keine Mittel mehr für ihren Unterhalt bereit. Dabei weiß Moskau genau: Die Versorgung der Flüchtlinge hat unserer Republik einen Schuldenberg von 450 Millionen Rubeln beschert! Wie kam es dazu? Um die ausgehungerten Flüchtlinge zu versorgen, mussten wir – was blieb uns übrig? – auf Kredit Lebensmittel 212
kaufen, Essen zubereiten lassen und so weiter, und jetzt haben wir bei unseren Lieferanten, den Brotfabriken, den Lagerköchen Schulden. Das konnte auf gar keinen Fall so weitergehen. Gäbe es nicht die Unterstützung der Hilfsorganisationen, wüsste ich nicht, was wir jetzt tun sollen. Und noch etwas: Ich bin überzeugt, dass die meisten Inguschen, die vor dem Krieg in Tschetschenien gelebt haben, nicht wieder dorthin zurückkehren. Ebenso bleiben viele Tschetschenen und Russen hier. Für sie müssen wir Wohnraum schaffen, sie mit allem versorgen, was ein dauerhafter Aufenthalt erfordert! Aber woher sollen die Mittel dafür kommen?« »Moskau sieht bislang bekanntlich nur einen Ausweg aus dem Flüchtlingsdilemma: die Menschen zur Rückkehr zu zwingen.« »Wenn jemand zurück will, sollte man ihm entsprechende Bedingungen schaffen, und er wird fahren. Der Akzent liegt dabei auf den ›entsprechenden Bedingungen‹. Die Mehrzahl der staatlichen Entscheidungsträger aber will von einem derartigen Herangehen nichts wissen, und mit Gewalt erreicht man gar nichts. Ich habe die inguschetische Regierung beauftragt, sich ein reales Bild von der Lage zu verschaffen, klären zu lassen, wer von den Flüchtlingen wohin möchte, und mir darüber Bericht zu erstatten. Sollte sich beispielsweise zeigen, dass 40 000 Personen dauerhaft in Inguschetien bleiben wollen, müssen wir neue Städte und Dörfer bauen – finanziert aus Mitteln für den Wiederaufbau Tschetscheniens 213
nach der Beendigung der ›Antiterror-Operation‹. Oder es stellt sich meinetwegen heraus, dass 20 000 Personen vorhaben, in anderen Regionen Russlands ansässig zu werden. Dementsprechend müssen diese Regionen dann Geld bekommen, damit sie Wohnungen für die Neuankömmlinge bauen können. Das wäre gerecht.« »Was meinen Sie, wann wird der Krieg zu Ende sein?« »Militärische Lösungen für das Tschetschenien-Problem gibt es nicht und wird es nicht geben. Man muss einen politischen Ausweg suchen, der aber kann nur der Gleiche sein wie gehabt: ein Konsens mit Aslan Maschadow. Was hören wir stattdessen? Maschadow sei nicht der legitime Vertreter des tschetschenischen Volkes. Sogar einen Prozess haben sie gegen ihn angestrengt, Maschadow zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Das bedeutet das Ende des politischen Lösungsansatzes, und dann bleibt nur noch der Kampf bis zum Letzten, der Verlust von Soldaten und Offizieren, der Tod von Zivilisten. Die Folge ist, dass wir für den Krieg einen unvergleichlich höheren Preis zahlen.« »Gut, nehmen wir an, es käme zu Verhandlungen. Aber worüber?« »Zuerst einmal über die Einstellung des Feuers. Danach über die Stützpunkte der Terroristen, die illegalen Formationen und vieles mehr.« »Doch selbst dazu dürfte Maschadow kaum bereit sein.« 214
»Wieso? Wie kommen Sie darauf? Maschadow hat diese Position von Anfang an vertreten.« »Wie immer sich die Verhandlungen gestalten, eines ist von vornherein klar: Maschadow wird nicht der Präsident von Tschetschenien sein. Die Bevölkerung lehnt ihn ab.« »Sie haben Recht. Aber auch das ist eine Frage des politischen Dialogs, die allerdings erst an zweiter Stelle – nach der militärischen – rangiert. Wenn das tschetschenische Volk Maschadow nicht will, soll es einen anderen wählen, und mit diesem anderen, neuen Präsidenten kann Moskau dann sprechen. Bis dahin aber gilt, dass Maschodow der gewählte Präsident der Tschetschenen ist und man sich mit ihm an einen Tisch setzen muss … Möglicherweise wird Maschadow nach allem, was sich zwischenzeitlich abgespielt hat, auch selbst eine Entscheidung treffen. Doch man muss ihm dabei die Chance lassen, sein Gesicht zu wahren.« »Mit wem außer Aslan Maschadow wären heute Friedensverhandlungen denkbar?« »Nein, so darf man die Frage nicht stellen. Noch ist er der Präsident der Republik.« »Einer Republik, die es faktisch nicht gibt?« »Ob es sie gibt oder nicht, Maschadow ist Präsident, eine juristische Person. Maschadow mag gut sein oder schlecht oder schwach, der erste Ansprechpartner für Verhandlungen ist und bleibt er. Und wir sollten unser russisches Irrenhaus mit seiner Missachtung von Recht 215
und Gesetz nicht noch hierher verpflanzen. Sie brauchen sich doch nur vorzustellen, Sie kämen in einen Betrieb, der völlig am Boden liegt. Lohn gibt es keinen, ringsum nur Diebe. Mit wem würden Sie dort sprechen?« »Mit dem Direktor.« »Also, was fragen Sie mich dann! Maschadow hat ein Siegel, eine Flagge und alle anderen Insignien. Welche Kraft wollen Sie noch finden in Tschetschenien? Freilich, man kann auch einen Moskauer Tschetschenen herholen und in einen großen Sessel setzen, aber dieser Mann wird nicht legitimiert sein.« »Man hört oft, mit dem 26. März 2000, dem Tag, an dem der Präsident der Russischen Föderation gewählt wird, bräche eine neue Zeitrechnung an. Was bedeutet diese Zäsur für Tschetschenien?« »Nichts. Absolut gar nichts. Nach dem 26. März kommt der 27., danach der 28. und schließlich der 1. April. Die Sonne scheint, es wird warm, also nimmt auch die Intensität der Feuergefechte um das Doppelte oder Dreifache zu.« »Ist das Ihre Theorie?« »Nein, die Praxis des Jahres 1996. Damals gab es in ganz Tschetschenien nicht mehr als 3000 Rebellen. 800 Soldaten sind in Grosny einmarschiert und haben das Problem gelöst. Schenkt man den Militärs Glauben, dann bestanden die Bandenformationen vor dem heutigen Krieg aus 25 000 bis 26 000 Kämpfern. Wenn bis jetzt 5000 vernichtet wurden (obwohl meine Zahlen von weni216
ger Getöteten ausgehen), wohin sind dann die restlichen 20 000 verschwunden?« »Die haben sich aufgelöst …« »Richtig, aber nicht in Luft. Sie warten auf ihre Stunde.« »Mit leeren Händen kann man nicht kämpfen. Woher haben die Rebellen ihre Munition?« »Sie bekommen Hilfe …« »Von wem? Es ist doch alles hermetisch abgeriegelt, heißt es im Fernsehen.« »Lassen Sie das Fernsehen nur ruhig weiterreden, die Realität sieht jedoch so aus, dass es keine hermetische Abriegelung gibt. Sie bekommen alles, was sie brauchen, haben Waffen und Munition.« »Wie stehen Sie zu den Informationen über die beispiellose Brutalität der föderalen Streitkräfte gegenüber der Zivilbevölkerung?« »In diesem Krieg ist der Hass auf beiden Seiten einfach irrsinnig, niederschmetternd. Die Föderalen hassen die Tschetschenen wie die Pest und lassen bei der erstbesten Gelegenheit ihre Wut an ihnen aus. Umgekehrt werden sie dafür von den Tschetschenen gehasst. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie jemals wieder miteinander reden werden.« »Aber sie müssen ja weiter miteinander leben. Und das auch noch Seite an Seite!« 217
»Darum geht es heute nicht, davon bin ich überzeugt. Doch solange gekämpft wird, wächst der Hass nur noch. Diese Woge kann man nur auf eine Art brechen: indem das gegenseitige Morden ein Ende findet und die Verteufelung aller Tschetschenen als Banditen im Fernsehen aufhört. Da ist ein ganzes Volk lange genug diffamiert worden! Und noch etwas: Man darf auch die eigene Bevölkerung nicht länger belügen. Bringt eine AntiterrorOperation innerhalb eines Monats keinen Erfolg, sind die Kampfaufgaben während dieser Zeit nicht erfüllt worden, dann reicht das! Es glaubt doch keiner an AntiterrorOperationen, die sieben Monate dauern.« »Sie sind Teil des politischen Establishments des Landes. Kennen Sie irgendeinen Vertreter der politischen Elite Russlands, der in der Tschetschenien-Frage gesunden Menschenverstand an den Tag legt?« »Vernünftiges bekommt man nur von Grigori Jawlinski * zu hören. Alle anderen sind in einem nationalistischen Rausch, wie im Übrigen auch die Bevölkerung, die nach Bombardements schreit. Was Inguschetien angeht, so lassen wir keinen im Stich in der Not. Doch höchste Priorität hat für mich nach wie vor, die Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass es keine militärische Lösung für das Tschetschenien-Problem gibt.«
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Alles, was Ruslan Auschew damals sagte, sollte sich erfüllen. Mit einer Ausnahme: Er selbst sitzt nicht mehr im Präsidentensessel. Es war Auschew nicht vergönnt, das Problem der tschetschenischen Flüchtlinge in Inguschetien zu lösen, und im Mai 2002, als mit der Inthronisierung des FSB -Generals Murat Sjasikow aller Widerstand ausgeräumt war, setzte Moskau ganz einfach deren zwangsweise Rückführung nach Tschetschenien in Gang.
Tschetschenophobie »Sie haben uns halb nackt über den Fußboden kriechen lassen, von einem Zimmer in das andere …« »Sie sind mit ihren Stiefeln über unsere Betten getrampelt …« »Sie haben uns als ›Affen‹ und ›schwarze Läuse‹ beschimpft …« »Sie haben uns angespuckt …« »Sie haben uns mit dem Buch ›Das Schicksal des tschetscheno-inguschetischen Volkes‹ auf den Kopf geschlagen …« »Sie haben uns die Haare ausgerissen …« »Und Sie?« »Mich meinen Sie? Ich bin Truffaldino. Der aus Bergamo. Das ist gerade meine Rolle. Sonst heiße ich Beslan Gaitukajew, komme aus Grosny und bin der Gruppensprecher.« 219
»Sind Sie auch über den Fußboden gerobbt?« »Ja. Sie haben mich angebrüllt: ›Rückwärtsgang einlegen! Zurück ins Zimmer!‹ Also bin ich dorthin gekrochen. Und dann: ›Das reicht! Jetzt wieder raus auf den Flur!‹ Auch das musste ich tun.« Unter dem Dach der Moskauer Staatlichen Universität für Kultur und Kunst besteht die tschetschenische nationale Schauspielschule »Nachi«. Sie wurde gegründet, um Nachwuchsdarsteller für die Wiedereröffnung des Theaters von Grosny auszubilden. Am 28. März 2001 blieben die Studenten erstmals geschlossen dem Unterricht fern: 6 Mädchen, 19 junge Männer, dazu der künstlerische Leiter der Schule, Professor Mimalt Solzajew, und der Kurator, Dozent Alichan Didigow, beide namhafte Persönlichkeiten des künstlerischen Lebens. Der Grund für das Fehlen war nicht etwa ein Streik der Studenten. Nein. Vielmehr hatte sich morgens um halb sechs eine Gruppe Maskierter Zugang verschafft zum 4. Stock ihres Wohnheims im Moskauer Vorort Chimki, ohne zu klingeln oder zu klopfen, mit Vorschlaghämmern. Die Männer waren bewaffnet, führten Hunde an der Leine. Wie nach einem Szenario für die Stürmung eines von Terroristen entführten Flugzeugs verteilten sich die Bulligen blitzschnell über alle Zimmer, und einen Augenblick später spürten die schlafenden Bewohner bereits den Lauf eines Maschinengewehrs oder einer Pistole an der Schläfe. Der nächste Akt folgte ohne Pause: Ehe die Studenten 220
begriffen, wie ihnen geschah, wurden sie an den Haaren aus dem Bett gezerrt, verprügelt, mit Fußtritten traktiert und unflätig beschimpft. Beslan-Truffaldino kam als Erster zu sich, was ihm die besondere Wut der Eindringlinge eintragen sollte. Halb nackt, unsanft auf dem Fußboden gelandet, wagte er lediglich zu fragen, ob er sich anziehen dürfe. Die Antwort war zunächst ein geübter Kinnhaken, dann eine Sturzflut von Kraftworten, die in der Frage gipfelte: »Tee willst du wohl auch noch?« Dann riss der Schlägertyp die Balkontür sperrangelweit auf. Mehr als drei Stunden durften die unbekleideten Studenten so auf dem Fußboden »frische Luft schnappen«. Bis das »Tschetschenenaufklatschen« zu Ende war. »Sie haben gebrüllt, wir seien Mujaheddin, die man abschlachten müsse. Die Tschetschenen hätten ihr ganzes Leben lang Hammel gehütet, und in dieses Hirtenleben würden sie uns zurückbefördern. Wir Tschetschenen seien sowieso an allem schuld«, berichtet Schuddi Sairajew, ein junger Mann mit der Eleganz und den Manieren des typischen Liebhabers. Er spielt im »Diener zweier Herren« die Rolle des Silvio. Mich schockiert, dass in seiner Schilderung keinerlei Befremden zu spüren ist, er konstatiert nur Fakten. Ihre Emotionen haben die Studenten in Tschetschenien mehr als verausgabt. Für diese Schauspielschule wurden sie ausgesucht in diversen Flüchtlingslagern und in der Stadt 221
Grosny – für die Spezies Mensch aber, die heute dort lebt, ist der Genozid normaler als das Frühstück. Der Benjamin der »Nachi«-Schule, Timur Lalajew, ein freundlicher, schmächtiger Junge, flink und lachlustig, hat gerade seinen siebzehnten Geburtstag gefeiert. Am 28. März hetzten die Eindringlinge Hunde auf ihn. Aber Timur lässt sich nicht darüber aus, spricht lieber über die anderen: »Schuddi hat das meiste abgekriegt. Sie wollten wissen: ›Kommt jemand aus dem Staropromyslowski-Stadtbezirk?‹ Und als sich Schuddi gemeldet hat, ging es erst richtig los! ›Da waren wir, in Staropromyslowski, damals 1995, jede Menge von unseren Jungs hat es dort erwischt.‹« Schuddi-Silvio, in dessen Ausweis tatsächlich als Wohnanschrift eine Straße dieses Stadtteils von Grosny eingetragen ist, wurde von den Maskierten nicht nur nach Strich und Faden verprügelt, sondern bekam lautstark angedroht, sie würden ihn in den Wald bringen, erschießen und in einer Grube verscharren. »Was haben Sie gedacht? Dass die bloß bluffen?« »Nein, ich dachte, es wäre mein Ende … aus. Bei den anderen war es ja auch kein Spaß: Timur Batajew und Orze Suchairajew haben sie ganze Büschel Haare ausgerissen …« Die Männer, die sich am 28. März in Chimki austobten, gehörten zum 9. Kommando der Regionalverwaltung zur 222
Bekämpfung des organisierten Verbrechens (RUBOP *), einer militärischen Struktur innerhalb des Innenministeriums. Insbesondere dieses Kommando hatte sich bereits vor dem Übergriff auf das Wohnheim im Moskauer Umland mehrfach durch ähnliche »Heldentaten« hervorgetan, diesmal jedoch noch Verstärkung bekommen durch Angehörige der Mobilen Sondereinheiten (SOBR *) des Innenministeriums. Den Vorwand für die Aktion lieferte ein bei der Miliz eingegangener anonymer Anruf, in dem von einem möglichen Sprengstofflager im 4. Stock des Wohnheims die Rede war. In Wirklichkeit ging es jedoch darum, »Dampf abzulassen« gegenüber den verhassten Tschetschenen. Den eigentlichen Anlass bildete die Nationalität der Studenten. »Haben Sie verstanden, was man konkret von Ihnen wollte?« »Nein, absolut nicht. Prügeln und alles kurz und klein schlagen, das war alles.« Während der Razzia stellte sich heraus, dass die meisten der maskierten Männer gerade von einem Kampfeinsatz in Tschetschenien zurückgekehrt waren. Ohne jedes anschließende Reintegrationssprogramm, versteht sich. Und das Ende vom Lied: juckende Fäuste, der Verstand wie im Nebel, Frustration, die Entladung sucht, Rachedurst, der nach »Säuberungen« verlangt wie die Venen eines Junkies nach der Spritze. »Uns war klar, dass sie sich einfach austoben wollten«, sagt Ansor Chadaschew aus Grosny. »In Tschetschenien 223
sind sie die Herren, und wenn sie zurückkommen, wollen sie sich auch hier wieder wie die Herren aufspielen. Da kamen wir ihnen gerade recht. Aber im Ernst, ich glaube, die sind einfach verrückt. Warum mussten sie meine Familienfotos mitnehmen? Wozu können sie die schon gebrauchen? Oder bei einem anderen Studenten die Telefonkarte? Und dann haben sie auch noch unsere Verpflegungskasse mitgehen lassen, wie die meisten Studenten legen wir ja für das Essen zusammen. Die fürchten alles und jeden. Als sie uns vom Fußboden hochgezerrt und zum Verhör gefahren haben, ist mir das aufgefallen: Sobald du ihnen in die Augen siehst, brüllen sie los: ›Glotz nicht! Willst dir wohl alles merken?! Kopf zur Seite!‹ Sogar wenn sie maskiert sind, haben sie Angst. Und das soll normal sein, wenn man bei sich zu Hause ist?!« Tamerlan Didigow ist der Sohn Alichan Didigows, der die tschetschenische Schauspielschule als Kurator betreut. Tamerlan studiert an der Moskauer Staatlichen Akademie für Rechtswissenschaft, im Wohnheim teilt er sich mit seinem Vater das Zimmer Nr. 37. Vater und Sohn Didigow hatten bei dem Pogrom am 28. März das meiste auszuhalten. Vielleicht, weil Tamerlan zu der Zeit, als die Männer in den Tarnanzügen das Wohnheim stürmten, bereits aufgestanden war: Er wollte ohne Hast in die Hochschule fahren, wo ihm an diesem Morgen die Staatsexamensprüfung im Fach Bürgerliches Recht bevorstand. Als ihn die Maskierten zwingen wollten, sich auf den 224
Fußboden zu legen, rechtfertigte er sich: »Da liegen doch meine Bücher! Wie kann ich ein Terrorist sein? Ich habe jetzt Prüfung in bürgerlichem Recht!« Wie hätte er ahnen können, dass gerade das die Eindringlinge in blinde Wut versetzen würde. »Was, du Affe studierst auch noch Bürgerrecht?! In die Berge gehörst du! Da scher dich hin!« Dann verprügelten sie Tamerlans Vater, den 55-jährigen Hochschuldozenten, bis zur Bewusstlosigkeit mit ihren Gewehrkolben. Traten auf ihn ein, spuckten ihm ins Gesicht, trampelten auf seinem Rücken herum. Zerfetzten ihm die Kleidung und renkten ihm die Finger aus. Als der Sohn um Schonung für den Vater bitten wollte, drehten sie Tamerlan die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an, schoben ein Maschinengewehr dazwischen und fingen an, es hin und her zu drehen … »In unserem Zimmer lag ein Stapel Zeitungen. Mein Vater ist mit dem Duma-Abgeordneten Aslanbek Aslachanow * befreundet, und der wiederum unterstützt die Herausgabe der ›Dershawnye Wedomosti‹, ebenso wie der Föderationsrat und die Staatsduma. Das Blatt verbreitet die Ideologie der Partei ›Jedinstwo‹ und ihrer DumaFraktion, vertritt eine Pro-Putin-Position. Manchmal gibt uns Aslachanow ein paar Exemplare, die verteilen wir dann unter unseren Bekannten. Als die ›Masken‹ die Zeitungsstapel gesehen haben, sind sie wild geworden: ›Was?! Verbreitet hier Propaganda gegen den russischen Staat?!‹ Die waren völlig ungebildet, hatten überhaupt keine Ahnung und wohl auch nie etwas gelesen.« 225
Als Dozent Alichan Didigow von den Schlägen ohnmächtig wurde, schoben ihm die Maskierten vor Tamerlans Augen eine Pistole unter das Kopfkissen, fragten dann, wo der Mantel seines Vaters sei, und steckten einen passenden Schalldämpfer in die Manteltasche. Sie warfen Schuhe vom Balkon, zerrissen sämtliche Plakate mit dem Porträt des Duma-Abgeordneten Aslachanow, nahmen alle Unterlagen der Schauspielschule mit, ebenso 900 Rubel, auch das Parfüm von Didigows Ehefrau, steckten überhaupt alles ein, was ihnen in die Finger geriet: Socken, Kugelschreiber, Münzen, die auf dem Kühlschrank lagen, einen Rest Pulverkaffee, Boxhandschuhe … Das war tschetschenische Schule: in die Häuser eindringen und mitgehen lassen, was einem gefällt. So ging es bis zum Mittag, dann sammelten sich die Männer zum Abmarsch: Sie hießen alle tschetschenischen Studenten hintereinander anzutreten und brachten sie zimmerweise hinunter zu bereitstehenden Autos. Dort reichte der Platz nicht für alle – und wieder hagelte es Schläge und Beschimpfungen. Die Verhöre in der RUBOP-Verwaltung zogen sich bis zum Abend hin, wobei die Studenten den Eindruck gewannen, dass diejenigen, die ihnen dort gegenübersaßen, eigentlich wenig Konkretes zu fragen wussten. Ob die Eltern bei den Rebellen kämpften, wo das Hexogen versteckt sei, ob sich hier Terroristen blicken ließen, wie man zur Armee stünde … 226
Vertreter von Rechtsschutzorganen – dem Status nach Staatsdiener, die im Namen von Gesetz und Verfassung zu handeln haben – verübten in Chimki ein echtes natio nales Pogrom. Und niemand gebot ihnen Einhalt, kein Staatsanwalt eilte herbei, um der Gesetzlichkeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Herren mit den Schulterstücken können also nicht nur völlig ungestraft Zwietracht zwischen Völkern säen – was ja gemeinhin strafrechtlich geahndet wird –, sondern auch die Initialzündung liefern für eine monoethnische Politik, die wiederum die Divergenzen zwischen den einzelnen Ethnien im Lande verschärft, ihr weiteres Auseinanderdriften beschleunigt und nichts anderes ist als Separatismus. Jener Separatismus, den Präsident Wladimir Putin – immerhin oberster Dienstherr der RUBOP-Einheiten – ja angeblich bekämpft. Noch ein Wort zur künstlerischen Intelligenz. Die ist bei uns sehr fügsam, und das nicht nur in diesem Falle. Der Verband der Bühnenschaffenden reagierte auf das Pogrom von Chimki so schwachbrüstig, als gäbe es in Moskau nicht ein ganzes Heer einflussreicher Schauspieler und Regisseure, die gern liberale Werte beschwören. Unterstützung bekamen die Studenten lediglich von ihren Lehrern. »Ich arbeite seit 25 Jahren hier an der Hochschule. Mein Fach ist Russisch, und ich unterrichte die jungen Leute aus der tschetschenischen Schauspielklasse. Sie sind sehr fleißig, außerordentlich engagiert. 227
Das, was ihnen passiert ist, hat mich einfach krank gemacht«, die Stimme von Swetlana Dymowaja, Dozentin an der Moskauer Staatlichen Universität für Kultur und Kunst, zittert. »Als Erstes habe ich zu meinen Studenten gesagt: ›Wisst ihr, das sind Banditen, die können auch zu mir kommen. Resigniert nicht! Wir, die Lehrer, möchten, dass ihr bei uns studiert!« Auch wenn ich weiß, sie werden keinen der Schuldigen finden, niemanden zur Rechenschaft ziehen. Das Schlimmste war, dass diese Banditen den tschetschenischen Studenten zugeschrien haben: »Euch lassen wir nicht in Russland studieren!‹« Das Ende der Aktion gestaltete sich ganz im Stile des Pogroms selbst: Abends konnten alle zu den Verhören geschleppten Studenten der Schauspielschule einfach nach Hause gehen, ohne dass irgendeine Anklage gegen sie erhoben worden wäre. Einige RUBOP-Angehörige versuchten sogar, erzählen die Studenten, sich bei ihnen zu entschuldigen, die SOBR-Kräfte für alles verantwortlich zu machen: »Die sind wie Torpedos, prügeln erst und denken hinterher.« »Wir haben ihnen verziehen«, sagt Timur Lalajew. »Sie sind ja krank.« Ein halbes Jahr später. Andron Kontschalowski * kommt zu den Abschlussprüfungen, bietet den Schauspielstudenten Rollen in seinem neuen Film an. Sie haben ihr Leinwanddebüt, man wird auf sie aufmerksam. Anders gestaltete sich das Geschick des Ermittlers aus 228
der zuständigen RUBOP-Verwaltung, der den tschetschenischen Studenten am 28. März 2001 ganz besonders brutal zugesetzt hatte: Er wurde wegen notorischer Trunksucht aus den »Organen« entlassen und arbeitet jetzt als Lagerarbeiter in einem Kaufhaus von Chimki. Sieht er, betrunken wie immer, die tschetschenischen Studenten, brüllt er: »Tag auch! Erinnert ihr euch noch an mich?«, – und erzählt seinen Saufkumpanen, wie er sie damals verprügelt hat, nicht ohne abschließend hinzuzufügen: »Ha, sind was geworden …« Die Tschetschenen gehen wortlos vorüber.
»Sonderoperation Tschetschenien« – ein Krebsgeschwür im Körper Russlands Am 14. Juni 2001 versammelten sich in der inguschetischen Ortschaft Ordshonikidsewskaja an der Grenze zwischen Tschetschenien und Inguschetien etwa 2000 Menschen zu einem Meeting: tschetschenische Flüchtlinge, die in der Nachbarrepublik Zuflucht gefunden haben, aber auch Bürger unseres Landes, deren Personal dokumente einfach der heute so verhängnisvolle Eintrag »ziert«, man habe seinen Wohnsitz im Krieg führenden Tschetschenien. Eine tschetschenische Adresse im Ausweis wirkt wie ein rotes Tuch auf jeden Milizionär in Russland, versperrt dem Ausweisinhaber den Zugang zu legaler Arbeit, Krankenversicherung und schulischer Ausbildung für seine Kinder. 229
Die aufgeregte Menge verabschiedete einen Appell an die Weltöffentlichkeit mit der Forderung, »… die Situation in der Republik Tschetschenien auf der Grundlage des Völkerrechts zu prüfen und zu analysieren unter Festschreibung der Rechte ihrer Bürger auf Selbstverteidigung gegen illegale Handlungen von Angehörigen der Streitkräfte in Anbetracht fehlenden Rechtsschutzes von Seiten der Führung der Russischen Föderation«. Weiterhin beschlossen die Versammelten, eine Botschaft an George W. Bush zu richten, »als Oberhaupt des Staates, der eine Schlüsselrolle in der Weltpolitik spielt«, und den US -Präsidenten aufzufordern, er möge die russische Führung veranlassen, »die Situation in der Republik Tschetschenien …« – und weiter entsprechend dem obigen Text. Einen gleich lautenden Aufruf sollten auch die Regierungschefs der G-7-Staaten erhalten. Im Klartext bedeutet der geschraubte Wortlaut der Appelle: Helft uns zu überleben! Bringt die Armee und Putin zur Räson! Setzt euch als Vermittler, als Schiedsrichter ein! Wir wissen nicht mehr, was wir der Willkür der Militärs entgegensetzen könnten! Erklärt, ob uns auch nur die geringsten Rechte geblieben sind oder wir uns damit abfinden müssen, vogelfrei zu sein … In der russischen Öffentlichkeit jedoch riefen diese Botschaften verzweifelter Menschen, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, eine Welle der Antipathie hervor. In gewohnter Manier bezichtigte man die Tschetschenen 230
der Stimmungsmache gegen Russland, separatistischer Bestrebungen, der Diskreditierung Präsident Putins in den Augen der Weltgemeinschaft. Warum sind wir nur so taub? So blind vor Wut? Vielleicht deshalb, weil dieser Krieg heute absolut entpersonifiziert ist, verwandelt in ein paar Generalsköpfe, die auf dem Fernsehbildschirm Sprechblasen absondern? In der Menschenmenge sehe ich bekannte Gesichter. Die Frau dort drüben mit dem strengen Gesicht und den kalten Augen – eine typische Tschetschenin der Kriegszeit. Sie kommt aus dem Gebirgsdorf Machkety im Kreis Wedeno und hat eine Tragödie hinter sich. Ihr vierzehnjähriger Sohn musste ins Gras beißen, im wortwörtlichen Sinne: Er wurde auf dem Abort in einem entfernten Winkel des Gemüsegartens von einem Geschoss getroffen. Das Haus der Frau steht fast am Rande des Dorfes, die Soldaten konnten von ihren Postenständen aus genau sehen, wer sich im Hof bewegt und wohin, und feuerten trotzdem. Einerseits zu ihrem eigenen Vergnügen, andererseits aber auch in unmittelbarer Erfüllung des Willens ihres Präsidenten.
Und dort an der Seite – der Vater, dessen unverheiratete erwachsene Tochter im Filtrationslager in Urus-Martan war, wo sie … In diesem Falle sollte man besser schweigen. Nur ein Detail ihres Martyriums: Die junge Frau 231
musste auf allen vieren eine Treppe hinauf- und herunterkriechen wie ein Hund, zwischen den Zähnen einen Eimer mit menschlichen Exkrementen. Weder jener Mutter aus Machkety noch diesem Vater ist nach politischen Spielen zumute, Separatismus hin oder her – er kann ihnen gestohlen bleiben. Sie stehen nur für sich, einsam in ihrem Schmerz, und Maschadow wie Putin werden ihnen gleichermaßen verhasst sein bis zum Grabe. Wenn diese beiden auf dem Meeting die Weltmächte bitten »Helft uns!«, dann kann man ihnen glauben. Am 5. Juni 2001 auf dem Theaterplatz von Grosny. Ja, einen solchen Platz gibt es noch, schließlich gab es ja auch hier einmal Theater. Menschen versammeln sich zu einer Protestkundgebung. Kinder, deren Mütter bei Säuberungen verhaftet wurden und seitdem spurlos verschwunden sind, tragen Schilder »Gebt mir meine Mama zurück!«, »Wir wollen die Leichen unserer Kinder!«, fordern Mütter, die ihre Söhne oder Töchter nach Säuberungen nie wiedersahen. Schwerfällig rollen zwei Schützenpanzerwagen auf der Straße an den Protestierenden vorbei. Uniformierte hocken darauf, Kerle mittleren Alters, sicher Kontraktniks, also freiwillig länger Dienende und angeworbene Söldlinge, keine Wehrpflichtigen. Sie sind gut gelaunt, kehren die Kriegshelden heraus, wollen Biss zeigen. Maskiert, das obligate Seeräuberkopftuch umgebunden, mit Maschinengewehren und Granatwerfern, die 232
auf die Menge gerichtet sind. Sie wiehern, werfen sich vor Lachen zurück, deshalb sieht man durch die Schlitze in den Masken ihre Pferdezähne. Die Finger mit den vorn abgeschnittenen Handschuhen zeigen auf die Schilder, am meisten auf die mit den Worten »Gebt mir meine Mama zurück!«, machen unanständige Gesten, die verdeutlichen sollen, wie sie sie zurückzugeben gedenken, die fremden Mütter und die Leichen der fremden Söhne. Auf dem Schützenpanzerwagen sitzt auch ein Offizier, offenbar der Vorgesetzte. Er führt sich nicht besser auf als seine Untergebenen. Natürlich sind das alles nur Details – die unanständigen Gesten, der Junge, den ein Geschoss auf dem Abort tötete. Doch gerade anhand solcher Einzelheiten erkennen wir das Leben. Schlimm genug, dass den Kindern die Mütter und den Müttern die Kinder genommen werden, doch die Betroffenen in ihrem Schmerz auch noch so lästerlich zu verhöhnen, übersteigt jedes Maß. Wer könnte dem Einhalt gebieten? Präsident Putin, der Verteidigungsminister, der Generalstaatsanwalt? Nein, diese Herren sind es nicht gewöhnt, sich mit derartigen Kleinigkeiten abzugeben. Aber der Westen schmückt sich gern mit der Gesellschaft der neuen Verbündeten, und deshalb richteten die Demonstranten von Ordshonikidsewskaja ihren Hilferuf speziell an die Staatsoberhäupter der führenden westlichen Länder. Wir kennen uns bereits mehrere Wochen, und ich schäme mich, wenn ich dem Tschetschenen Schomsu in die 233
Umar Aslachadshijew (l.) und Turpal-Ali Naibow (r), die zusammen mit Nur-Magomed Bambatgirijew seit dem 8. Januar 2001 spurlos verschwunden sind.
Augen sehen muss. Ich kann ihm kaum helfen. Seit dem 8. Januar 2001 sucht Schomsu seinen Neffen Umar Aslachadshijew und dessen Freunde Nur-Magomed Bambatgirijew und Turpal-Ali Naibow. Die drei waren mit dem Auto in der Ortschaft Kurtschaloi unterwegs, als dort am frühen Morgen eine Säuberung begann. Gegen zehn Uhr wurden auch die jungen Männer »gesäubert« – und seitdem fehlt von ihnen jede Spur. Ebenso von ihrem dunkelgrünen »Shiguli«. In den vergangenen sechs Monaten hat Schomsu ganz Tschetschenien durchkämmt, wieder und wieder. Was kann er jetzt noch tun? Ich weiß keinen Rat, verstehe nicht einmal das Elementarste: Wo ist beispielsweise das Fahrzeug geblieben? Es konnte doch nicht einfach mit »gesäubert« werden, selbst wenn irgendjemand irgendein Verdachtsmoment bei den Insassen zu erkennen glaubte. Und wer konkret hat den »Shiguli« beschlagnahmt? Warum zieht niemand den 234
Dieb zur Verantwortung? Weshalb wurde bis heute keinerlei Verfahren gegen die Verschleppten eingeleitet? Wie viel Zeit braucht der Staat, um eine Anklageschrift aufzusetzen? Fünfzig Jahre? Wie er schon einmal ein halbes Jahrhundert brauchte, um die in der Sowjetära rechtswidrig Verfolgten zu rehabilitieren? Unsere Generäle haben eine Diskussion über die Wiedereinführung öffentlicher Hinrichtungen für die Rädelsführer von Terrorakten angezettelt. Doch welchen Sinn haben diese lautstarken Worttiraden unter Beteiligung vieler ernsthafter Herren, wenn Exekutionen ohne jedes Gerichtsurteil für die einfachen Tschetschenen bereits unumstößliche Tatsache sind? Fragen über Fragen. Und keine einzige Antwort. Und wenn man doch einmal eine bekommt, dann scheint sie für Vollidioten gedacht. In Tschetschenien funktioniert das nämlich gemeinhin so: Die Verwandten von Verschwundenen kommen zur Dienststelle eines hohen Militärs, von dem einiges abhängt. Die Offiziere dort weisen ihnen beflissen den Weg: »Ja, bitte sehr, an den da drüben müsst ihr euch wenden.« Worauf der Genannte erklärt: »Ich bin Sascha.« »Wie? Einfach Sascha?« »Klar, einfach Sascha.« Und dieser Sascha ohne Familiennamen, Dienstrang und Funktion speist die Verwandten monatelang mit Versprechungen ab: »Den finden wir schon … morgen … 235
übermorgen … und wenn nicht ihn, dann die Leiche.« Natürlich vergisst Sascha keinesfalls anzudeuten, die Sache könne dauern, und er habe da auf dem Markt in Chassawjurt einen Anzug für 200 Dollar gesehen … »Einen Anzug, so, so«, verstehen die Verwandten den Wink, »freilich, einen Anzug … Gleich am Sonnabend fahren wir nach Chassawjurt.« Am Sonntag ist Sascha bereits neu eingekleidet. Aber nun gelüstet es ihn nach einem guten Schwitzbad für Leib und Seele, natürlich mit allem Drum und Dran … Auch das bekommt er – und lässt die Verwandten aus Dankbarkeit wissen, dass sich die drei Verschleppten und das Auto auf dem Militärgelände der 33. Brigade des Innenministeriums befinden. Das entpuppt sich zwar bald als kompletter Schwindel, doch nun ist auch »Sascha« verschwunden, er hat ja erreicht, was er wollte: vor dem Ende seines »Kampfeinsatzes« noch einmal einen richtigen Reibach machen. Wer legt diesen Saschas das Handwerk? Ihr Oberster Befehlshaber namens Putin? Der lässt bisher keine derartige Absicht erkennen und verteilt lieber Auszeichnungen. Was bleibt dann noch? Wieder den Westen anzuflehen? Wahrscheinlich ja. Schomsu aber sucht weiter nach den drei Vermissten. Er zeigt mir die vorgeblich offiziellen Antworten auf seine Anfragen bei diversen Dienststellen. Das ist nämlich noch eine Spielart im Umgang der Militärs mit Fäl236
len von Verschleppung und Entführung im Rahmen ihrer Säuberungen: Antwortschreiben, die anonym sind, auch wenn sich darunter scheinbar konkrete Signaturen scheinbar konkreter Funktionsträger finden. Wie verdeckte Ermittler oder V-Männer haben die Offiziere in Tschetschenien zwei oder drei Garnituren Personaldokumente, die auf verschiedene Namen ausgestellt sind. Da begreife einer, wer wer ist. Das Recht auf Geheimhaltung ihres Namens wurde den Angehörigen der Streitkräfte ursprünglich zugestanden, um die Familien vor Racheakten der Rebellen zu schützen. Allmählich entartete dieses Recht jedoch zu einer der Hauptursachen für die Untaten der Militärs in Tschetschenien. Wie können sich Schomsu und seinesgleichen in diesem Gestrüpp aus Lüge und Täuschung zurechtfinden? Wie ihr Anliegen rechtlich durchsetzen? Überhaupt nicht. Schomsu hat Schreiben, unterzeichnet von einem Oberst der Miliz Oleg Melnik (der sicherlich ganz anders heißt), einem (gewiss ebenso virtuellen) Oberstleutnant Juri Solowej sowie einem Oberst Smoljaninow. Wobei Letzterer eigentlich mit Vor- und Vatersnamen Nikolai Alexandrowitsch heißen soll, aber viel eher auf die Anrede Nikolai Michailowitsch reagiert … Außer diesem Dreigespann gibt es da noch einen »Juritsch«, angeblich stellvertretender Leiter der FSB -Abteilung des Kreises Kurtschaloi. Seine Aktivitäten bei der Suche nach Aslachadshijew, Bambatgirijew und Naibow bestanden gleichfalls darin, 237
die Familien der Verschleppten wochenlang bewusst zu nasführen, und gipfelten schließlich in der Aufforderung, »keinen Wind mehr zu machen« und sich abzufinden, denn in diese Sache sei der militärische Geheimdienst GRU involviert. Aber was hat die Hauptabteilung Aufklärung damit zu tun, wenn Schomsus Neffe einfacher Landarbeiter war? Nach diesem guten Rat setzte sich Juritsch ab in sein heimatliches Belgorod. Möglicherweise aber auch ganz woanders hin. Denkbar, dass er auch gar nicht Juritsch hieß. Und vielleicht hatte er die von Schomsu gesuchten jungen Männer gar selbst ins Jenseits befördert und versuchte nun, die Spuren zu verwischen. Die Männer, die sich Offiziere nennen und diesen Sumpf aus allgegenwärtiger Lüge und moralischer Verkommen heit etabliert haben, nehmen die Erfahrung völliger Ungestraftheit ihres verwerflichen Tuns mit zurück in alle Regionen des Landes. »Tschetschenien« als Denk-, Empfindungs- und Handlungsmuster breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür, infiziert alle Schichten der Gesellschaft und verursacht eine Tragödie von gesamtnationalem Ausmaß. Noch ein Beispiel. Zwei Jahre nach Beginn des zweiten Tschetschenien-Kriegs, der neben vielem anderen massenhaft Plünderer und Marodeure in Uniform hervorbrachte, sind die Tschetschenen landauf, landab »gesäubert«, und diejenigen, denen dieses Geschäft zur Gewohnheit wurde, halten sich nun an den eigenen Leuten schadlos. 238
Der Soldat Shenja Shurawljow diente bei den Streitkräften des Innenministeriums, in einer Schützenkompanie der 3. Brigade zur besonderen Verwendung (Truppenteil 3724), die in der Siedlung Datschnoje bei Wladikawkas stationiert war. Von hier aus kam Shenja nach Tschetschenien, wo er mit seinen Kameraden acht Monate auf einem Berg zubrachte, ohne mehr von Land und Leuten zu sehen. Feldpost wurde dort nicht befördert, und Shenjas verwitwete Mutter Valentina, Erzieherin im Kindergarten eines Dorfes im Bezirk Swerdlowsk, wartete vergeblich auf eine Nachricht von ihm, eine Antwort auf ihre Einschreiben. Endlich kam ein Brief. Shenja, dessen Wehrpflicht bereits im April abgelaufen war, flehte seine Mutter an, ihn aus Wladikawkas herauszuholen. Das ganze Dorf sammelte, und Valentina machte sich in Begleitung von Shenjas Tante Wassa Subarewa, einer ehemaligen Eisenbahnerin, auf den Weg nach Datschnoje. Anfangs bekamen die beiden Frauen Shenja überhaupt nicht zu sehen, die Offiziere speisten sie mit Ausflüchten ab. Dann flüsterten ihnen Soldaten zu, Shenja sei erst gestern aus Tschetschenien zurückgekommen – und gleich ins Lazarett gesteckt worden. Soldaten waren es auch, die sie heimlich in den Krankensaal schleusten: Dort lag Shenja, beide Beine bis zu den Knien vereitert. Er erzählte, sie hätten sich mehrere Monate lang nicht waschen können auf dem Berg, und immer in Stiefeln … Valentina Shurawljowa ging zu Shenjas Vorgesetzten, bat inständig darum, ihren Sohn mitnehmen zu dür239
fen, im Dorf würde sie ihn schon irgendwie wieder auf die Beine bringen. Die Offiziere erklärten, sie solle die Hälfte von Shenjas Sold für den Einsatz bei der »Antiterror-Operation« herausrücken, dann könne sie ihren Sohn haben. Shenja verbot seiner Mutter kategorisch, sich auf den Deal einzulassen. Mit dem Ergebnis, dass er nicht nach Hause durfte, noch lange in Datschnoje festgehalten wurde. Mutter Valentina blieb in seiner Nähe, wie auch die Mütter anderer Soldaten, für deren Demobilisierung die Offiziere Geld erpressen wollten. Die verzweifelten Frauen schickten Wassa Subarewa nach Moskau, wo sie von einer Instanz zur anderen wanderte. Erst das half. Nun durften die Söhne zwar nach Hause, aber den Offizieren wurde kein Haar gekrümmt. Und hier noch die Schilderung eines jungen Moskauers, der namentlich nicht genannt werden möchte – aus Furcht vor Rache. Am Wochenende fuhr er gegen Mitternacht mit Freunden in eine Diskothek. Milizionäre – die Ärmel hochgekrempelt, Tücher nach Seeräuberart gebunden – hielten das Auto an und drohten: »Die Kleine nehmen wir mit!« »Die Kleine« war mit einem der Männer im Auto verheiratet, wollte nach der Geburt ihres Kindes zum ersten Mal wieder tanzen gehen. »Wir nehmen sie mit … und ihr könnt zusehen«, brüllten die Ordnungshüter. Die Freunde mussten den jungen Vater festhalten, versuchten, die Milizionäre umzustimmen: »Sie muss 240
doch bald stillen.« »Uns doch egal«, lautete die Antwort. Dabei bestand die einzige Schuld der jungen Mutter darin, dass sie ihren Ausweis zu Hause vergessen hatte und damit keinen ständigen Wohnsitz in Moskau nachweisen konnte. Man einigte sich schließlich auf 500 Rubel, die der Ehemann für seine Frau bezahlte, damit die Fahrt weitergehen konnte. Wie sich herausstellte, war die Milizstreife gerade aus Tschetschenien zurück. Nach der »Zone« absolvierten sie nun ihren Kampfeinsatz im friedlichen Leben.»Gut, dass sie sie nicht erschossen haben, diese ›Tschetschenen‹ bringen alles fertig«, kommentierten diejenigen, denen ich die Geschichte erzählte. Vollkommen ernst, ohne Verwunderung. Die »Sonderoperation Tschetschenien« hat das ganze Land verrohen lassen, und diese Verrohung, gepaart mit Abstumpfung, hält an. Der Preis für ein Menschenleben war in Russland noch nie sehr hoch, jetzt aber ist er auf ein Tausendstel gefallen. Wir alle sind – wie die nicht gerettete »Kursk« – in tödliche Tiefe gesunken. Und keiner gibt den Befehl zu unserer Rettung.
DER TSCHETSCHENISCHE ISLAM UND SEINE EIGENHEITEN Mullahs ohne Gläubige Hält man sich lange in Tschetschenien auf und hört die Leidensberichte der Menschen, registriert man erstaunt, dass Mullahs darin fast nicht vorkommen. Nur selten eine Bemerkung wie »Da bin ich in die Moschee gegangen, der Mullah hat mir geholfen, das Lösegeld aufzutreiben.« Oder ein Sonderfall, wie er mir in den drei Kriegsjahren nur ein einziges Mal begegnete: Im Februar schrieben die Geistlichen des abgelegenen Gebirgskreises Schatoi gemeinsam einen Protestbrief nach Grosny, an einen Mann, der auch einmal Mullah in Schatoi gewesen, jetzt aber zu Amt und Würden gekommen und Großmufti von Tschetschenien geworden war. Er hatte ein Arbeitszimmer direkt neben dem prorussischen Verwaltungschef Achmad-Hadshi Kadyrow (auch ein ehemaliger Mullah) bezogen und die Leiden seines Volkes in dieser Nachbarschaft offenbar vergessen. Das Schreiben nahm Bezug auf eine selbst für tschetschenische Verhältnisse extreme Gräueltat – die Ermordung und anschließende Verbrennung von sechs Bewohnern eines Dorfes, darunter eine schwangere Frau und der allseits verehrte alte Schuldirektor, durch zehn Angehörige einer Eliteeinheit des russischen Generalstabs im Januar 2002 – und die schlechterdings teilnahmslose Reaktion der Muftis dar243
auf. Die Mullahs schrieben, sie würden sich für diese Gleichgültigkeit des Muftiats schämen. Nun etwas gänzlich anderes. In der Nähe von Gudermes liegt das winzige, säuberliche Dörfchen Isti-Su. Hierher kommen, wenn es die Kriegssituation erlaubt, viele Gläubige, zum Mullah von Isti-Su, einem sehr alten und ebenso weisen Mann. Um Rat zu suchen oder einfach zum Reden. Und welches Staunen, wenn sich herausstellt, dass der beliebte Mullah Deutscher ist. Genauer gesagt, ein ehemaliger deutscher Wehrmachtsangehöriger, der in Gefangenschaft geriet, Zwangsarbeit beim Wiederaufbau von Grosny leistete, später eine Tschetschenin heiratete und den Glauben seiner Frau annahm. Die Kinder, die das Paar großzog, übersiedelten zu Beginn der Gorbatschow’schen Perestroika in die angestammte Heimat des Vaters. Der jedoch war damals bereits das inoffizielle geistliche Oberhaupt eines Teils der tschetschenischen Bevölkerung, und die sehr wohl wahrgenommene Tatsache, dass er nicht aus ihren Reihen stammte, tat der allgemeinen Verehrung keinen Abbruch. Der deutsche Mullah konnte und kann seine tschetschenischen Gläubigen nicht im Stich lassen, er lebt sein verschlungenes, widersprüchliches Schicksal in Tschetschenien zu Ende, einem Tschetschenien, das nach dem Sturz Gorbatschows nicht aus den blutigen Kriegen herauskommt. Neben ihm aber sitzen Dutzende Mullahs reinster tschetschenischer Herkunft – die nicht gefragt sind, unnütz, ohne Gemeinde. 244
Alles, was heute in Tschetschenien mit dem Islam geschieht, ist gleichermaßen Folge der tschetschenischen Geschichte wie Konsequenz der politischen Experimente, in die das Land in unserer Zeit gestürzt wurde. Doch zunächst ein kurzer historischer Exkurs: Der tschetschenische Islam ist zum einen sehr jung. Die Meinungen der Wissenschaftler bezüglich des genauen Zeitraums der Islamisierung der Wainachen *-Stämme gehen auseinander, doch wahrscheinlich wurde der Islam in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hier zur offiziellen Religion. Zum anderen blieb er bis heute ein eigentümliches Konglomerat aus moslemischen Traditionen und den uralten Gewohnheitsrechten, der Ada, die das Leben der Tschetschenen über die gesamte präislamische Periode hinweg bestimmte und primär um Familie, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft als existentielle Pfeiler zentriert ist. Die Tschetschenen sind Sufiten, zusammengeschlossen in mehreren sufitischen Wirden (Bruderschaften; die wörtliche Übersetzung des arabischen Wortes bedeutet ›Andachtsübung, kurzes Gebet‹). Ein Wird bildet in Tschetschenien eine Art Versammlung, eine Gemeinschaft der Muriden (Schüler) eines bestimmten Scheichs (als Ustas oder Glaubenslehrer). Dieser gibt sein gesamtes geistliches Wissen, das er ebenfalls wieder einem Ustas verdankt, an die Muriden weiter. In der sufitischen Auslegung ist das Ich nichtig, muss sich dem vom Ustas vorgegebenen Gemeinsamen unterordnen. Sikren – rituelle Beschwörungsgebete, bei denen die Gläubigen 245
gemeinsam im Kreis laufen – sollen das Ich von Angst und unguten Wünschen befreien. Die typisch sufitische Pose – eine Hockstellung mit gekreuzten Beinen, wobei die Linke das rechte Handgelenk umfasst – zielt ebenfalls auf Körperkontrolle ab. Tschetschenien hat seine eigenen Wirden. Ihre Stärke liegt vor allem in den engen Clan-Beziehungen innerhalb einer Wird-Bruderschaft. Zu den einflussreichsten tschetschenischen Wirden zählt der Kunta-Hadshi-Wird. Die außerordentliche moralische Geschlossenheit der KuntaHadshi-Bruderschaft spielte beispielsweise eine erhebliche Rolle bei den im April 2002 abgehaltenen Präsidentschaftswahlen in Inguschetien, wo tschetschenische Kunta-Hadshisten während der Amtszeit Aslan Maschadows zwischen den Kriegen Schutz gesucht hatten vor den Gewalttätigkeiten wahhabitischer Fundamentalisten saudischen Einschlags. Die Kunta-Hadshisten stellten in Inguschetien sogar einen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf. Der Begründer des Wird, Kunta-Hadshi, ist einer der 356 islamischen Heiligen, seine Anhänger glauben, dass er bis heute lebt, seinem Volk beisteht und den Menschen in Augenblicken höchster Not erscheint. So erzählen beispielsweise viele Gläubige, Kunta-Hadshi sei ihnen in diesem Krieg in Gestalt eines weißbärtigen Alten erschienen und habe sie auf wundersame Weise vor dem unausweichlichen Tod gerettet. Ebenso mächtig ist der Tschin-Mirsa-Wird. Sein Gründungsvater Tschin-Mirsa scharte nach dem Kaukasischen 246
Krieg im 19. Jahrhundert die ärmsten Bauernfamilien Osttschetscheniens um sich, predigte die Ideale bäuerlicher Arbeit und eines asketischen Alltagslebens, verdammte Wegelagerei und Diebstahl. Der Wis-Hadshi-Wird entstand in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges unter den nach Kasachstan deportierten Tschetschenen. Der Begründer Wis-Hadshi kümmerte sich vor allem um Frauen, die mit ihren Kindern vollkommen allein zurückblieben, wenn die Männer und Väter umkamen. Hohes Ansehen in Tschetschenien genießt der DeniArsanow-Wird. Die Angehörigen dieser in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Deni Arsanow formierten Bruderschaft gelten als Hüter der heiligen Geheimnisse und Propheten des Volksschicksals, eine ganze Reihe der gebildeten Tschetschenen, die in der Sowjetzeit Führungspositionen innehatten, entstammten ihren Reihen. Heute ist der Deni-Arsanow-Wird in eine anhaltende Blutrache-Fehde mit dem einflussreichen Feldkommandeur Ruslan Gelajew verstrickt, nachdem eine von Gelajews Rebelleneinheiten im Jahr 2000 in der Kreisstadt Kurtschaloi zwanzig Wird-Mitglieder hinterrücks ermordete. Dieser Konflikt bindet die Aktivitäten des Wird, er beteiligt sich gegenwärtig kaum noch am politischen Leben. Die Wirden sind in Tschetschenien weitaus einflussreicher als die Mullahs und das offizielle Muftiat. Die Tschetschenen empfinden ihre religiösen Bruderschaften 247
als durchschaubarer, sie stehen ihnen näher, da diese Gemeinschaften nach Clan-Prinzipien strukturiert sind und, verglichen mit der Dschamaa, dem religiös-dogmatischen Gruppenbild des Islam, auf die tschetschenischen Gläubigen historisch vertrauter wirken. Das wäre möglicherweise anders, hätten die Kommunisten nicht ›nachgeholfen‹. Die Sowjetmacht trieb den jungen tschetschenischen Islam in den Untergrund. Nach der Rückkehr aus der von 1944 bis 1957 dauernden Deportation durften die Tschetschenen im Unterschied zu den anderen nordkaukasischen Völkern überhaupt keine Moscheen errichten, was dazu führte, dass zum einen keine vom Geheimdienst KGB durchsetzte und kontrollierte Geistlichkeit entstehen konnte (was nur als Vorzug zu werten ist), sich zum anderen aber die freien islamischen Religionsgemeinschaften festigten. Wenn es in vielen Dörfern auch Mullahs gab, so entstammten sie doch ausnahmslos der eigenen Bruderschaft, unterstanden somit der Dorfgemeinschaft, die sie hervorgebracht hatte. Fand sich einmal kein Mullah, brach das Leben auch nicht zusammen, denn der Ältestenrat genoss ohnehin weitaus größeres Ansehen, und außerdem einte die Bruderschaft des Wird. Deshalb wurde die spätere Einführung des Muftiats von den Tschetschenen entweder gleichgültig (»wir leben trotzdem weiter wie bisher«) oder ablehnend (»der KGB hat seine Hand im Spiel«) aufgenommen. Tatsache ist, dass zu Ausgang der Sowjetepoche der Islam in Tschetschenien eine ganz eigene, unverwechsel248
bare Ausprägung besaß. Es war ein freier, ja aufsässiger Islam, mit einer Vielzahl konkurrierender sufitischer Wirden und einer hausgemachten Auslegung der Lehren, bei der selbst in der Religion der eigene Gusto waltete. Als die Perestroika begann, wurde erstmals ein Tschetschene – Doku Sawgajew – zum Ersten Sekretär des Parteikomitees der Republik Tschetscheno-Inguschetiens bestellt, vorher war diese Funktion stets mit Russen besetzt. Nicht von ungefähr entstand gerade jetzt auch die Geistliche Verwaltung der Muslime TschetschenoInguschetiens – das Muftiat oder der Rat der Uleme, der Glaubenslehrer –, Ende der achtziger Jahre wurden Hunderte Moscheen gebaut und zwei Islam-Institute – im tschetschenischen Kurtschaloi sowie im inguschetischen Nasrani – eröffnet. Tausende Tschetschenen und Inguschen unternahmen zum ersten Mal einen Hadsch, die Pilgerreise zu den heiligen Stätten. Doch im tagtäglichen Leben blieben die Tschetschenen ihren Gewohnheiten und Lebensprinzipien treu. Dann begannen die Kriege. Einerseits erhöhte sich dadurch die Anzahl der gläubigen Moslems, der Zulauf unter der Jugend wuchs, nicht wenige Tschetschenen begannen, die Salaat, das rituelle islamische Gebetszeremoniell, zu vollziehen. Andererseits erfuhren die Probleme des tschetschenischen Islams eine Verschärfung. Vor allem im Zusammenhang mit der von Großmufti Achmad-Hadshi Kadyrow diktierten Ordnung, die Uneinigkeit in die Reihen der Gläubigen trug. Ebenso aber auch durch das Einsickern des saudischen Wahhabis249
mus nach Tschetschenien. Diese religiöse Strömung des sunnitischen Islam reklamiert für sich die »reine Lehre«, die sie allen anderen islamischen Zweigen, darunter dem Sufismus, abspricht. Die von den wahhabitischen Extremisten ausgelöste religiöse Spaltung verläuft bis hinein in die Familien. Väter verfluchen ihre Söhne, weil sie sich den Wahhabiten angeschlossen haben, und Söhne sagen sich von ihren Vätern los, weil diese einen nach wahhabitischem Heilsverständnis »unsauberen« Islam leben. So etwas wäre früher in tschetschenischen Familien undenkbar gewesen.
Kadyrow und kein Ende Die Lebenswege des Achmad-Hadshi Kadyrow * sind verschlungen. Heute hat er eine durchaus weltliche Karriere gemacht und ist im Juli 2000 zum Chef der Zivilverwaltung der Republik Tschetschenien aufgestiegen. Ernannt von Präsident Putin, der ihm zugleich den Dienstgrad eines Obersts der russischen Streitkräfte verlieh. Davor war Kadyrow ein Mullah mit nicht ganz tadelloser finanzieller Vergangenheit: Als Organisator des ersten tschetschenischen Hadsch nach Mekka eignete er sich das Geld seiner Landsleute an. Obwohl die Kosten dieser Pilgerreise komplett vom saudischen Königshaus übernommen wurden, gab Kadyrow keinem einzigen der Wallfahrer die bereits eingezahlten Mittel zurück, was man ihm in Tschetschenien bis heute nicht vergessen hat. Danach, im 250
ersten Krieg, begegnen wir dem Feldkommandeur Achmad-Hadshi Kadyrow als engstem Vertrauten Dshochar Dudajews und ab 1995 als Großmufti des Landes, allerdings mit dem Zusatz »Feldgeistlicher«, denn die Wahl erfolgte nicht durch die tschetschenische Geistlichkeit, sondern durch die Versammlung der tschetschenischen Feldkommandeure des ersten Krieges, die zu dieser Zeit einen religiösen Diener brauchten, der Russland den Gasawat, den heiligen Krieg, erklären würde. Kadyrow kam ihnen gerade recht, denn alle anderen Geistlichen hatten sich geweigert. Die Tschetschenen wissen, dass Kadyrow auch heute seine finanziellen Interessen verfolgt und in das illegale Erdölgeschäft verwickelt ist. Ich habe in Tschetschenien keinen einzigen Menschen getroffen, der mit Achtung von Kadyrow spricht. Das schockiert und lässt Ungutes ahnen. An der Spitze der Republik – eine Person mit negativer Autorität. Man hört immer wieder: »Mit dem nimmt es ein schlechtes Ende, der ist ein Verräter.« Letzteres, weil Kadyrow, als der zweite TschetschenienKrieg begann, von Maschadow zu Putin überlief. Am meisten erstaunt dabei, dass diese Wertung sowohl von prorussisch eingestellten Tschetschenen – den Gegnern Dudajews, einer tschetschenischen Republik Itschkerien und Präsident Maschadows – als auch von Antagonisten des Kreml geteilt wird. In den Jahren 2001 und 2002 tat Kadyrow wiederum nichts, um die Achtung seiner Landsleute zu gewinnen, sondern vergrößerte nur seinen traurigen Ruhm, indem er den brutalen Säuberungen, der 251
massenhaften Verschleppung von Zivilisten durch Angehörige der russischen Streitkräfte keinerlei Widerstand entgegensetzte. Jetzt hält ihn die Mehrheit für einen Verräter des eigenen Volkes, was noch unvergleichlich schwerer wiegt als der Verrat an Maschadow und der Idee einer unabhängigen Republik Itschkerien. Schockierend war meine Begegnung mit AchmadHadshi Kadyrow im April 2002 in seinem Arbeitszimmer in Grosny. Er schaute nur misstrauisch und feindselig, sprach viel von sich selbst, darüber, dass er der geistige Lehrer Aslan Maschadows gewesen sei und dessen persönlichen Werdegang als Herr über das Schicksal des Volkes, als Oberhaupt der Nation faktisch geprägt habe, dass er jegliche Friedensverhandlungen mit seinen ehemaligen Kampfgefährten kategorisch ablehne und sich in Tschetschenien die »nächtlichen Methoden« des NKWD zur Vernichtung von Menschen zurückwünsche. Hier Auszüge aus unserem Gespräch: »Das Hauptproblem in der gegenwärtigen Phase des Krieges sind die Säuberungen, die Akte unangemessener und ungerechtfertigter Gewalt gegen Zivilisten, die Plünderungen durch Marodeure, die Fälle von Folterungen und der Gefangenen- oder Leichenhandel.« »Wenn Menschen verschwinden und niemand sagt, wohin, und dann finden die Verwandten ihre Leichen, dann bringt das jedes Mal mindestens zehn neue Kämpfer hervor. Deshalb nimmt auch die Zahl der Rebellen 252
nicht ab: Früher war von 1500 die Rede, und heute sprechen wir immer noch von 1500. In dieser Sache hat sich Präsident Putin entschieden auf meine Seite gestellt.« Was gedenken Sie zu tun gegen die Säuberungen, die neue Kämpfer rekrutieren?« »Ich hoffe auf eine harte Haltung Putins. Ich habe ihm gesagt: ›Warum ist kein einziger General zur Verantwortung gezogen worden für das, was sich während der Säuberungen abspielt?‹ Putin hat gefordert, das müsse ein Ende haben. Aber schließlich wäre es nicht die erste Anordnung des Präsidenten in Bezug auf Tschetschenien, die nicht befolgt wird …« »Wie können Sie, das Oberhaupt der Republik, den Menschen helfen?« »Ich berichte dem Präsidenten über alles … Die Bevölkerung nimmt die Dinge hin, kann sich nicht wehren. Wir brauchen ehrliche Leute, aber die sind schwer zu finden. Ich meine die Mitarbeiter der Ortsverwaltungen, die Angst haben, sich gegen die Banditen zu stellen, weil ihnen keiner Schutz gibt. Ich habe diese Frage bei General Moltenski angesprochen und beim Präsidenten. Wir bemühen uns, aber es ist nicht so einfach. Anders bei Ihnen: Sie stellen nur Fragen …« »Trotzdem, welchen Handlungsspielraum haben Sie? Was können Sie der Willkür der Militärs in Tschetschenien entgegenstellen?« 253
»Mir sind keinerlei Rechte gegen die Militärs gegeben. Ich habe den Präsidenten darum gebeten, mir diese Rechte einzuräumen …« »Nehmen wir an, Sie wären hier Diktator – und in Argun gäbe es eine Säuberung. Was würden Sie tun?« »Hätte ich in Tschetschenien das Sagen, würde ich keine Säuberungen vornehmen. Wäre einer Bandit, würde ich still und heimlich Informationen über ihn sammeln, dann eines Nachts, so gegen zwei, drei Uhr, zu ihm gehen, ihm fest die Hand schütteln: ›Salam aleikum!‹ – und nach einer solchen Visite taucht dieser Bandit nie wieder auf. Das Ganze drei bis fünf Mal, dann hätten es alle kapiert. Genauso ist es doch gewesen, als der NKWD gearbeitet hat: poch-pochpoch – und ab auf Nimmerwiedersehen … Die Leute wussten das und hatten Angst. Die Zeit war so, anders hätte es keine Ordnung gegeben.« Insbesondere mit der Person und dem Wirken Achmad Kadyrows verbindet sich in Tschetschenien der neuerliche Niedergang der Autorität des Muftiats, das ohnehin noch keine wirkliche Ausstrahlung erlangt hat, erlangen konnte. Ausgesprochen distanziert ist auch das Verhältnis der Tschetschenen zu Mufti Schamajew, den Kadyrow jetzt auf den Posten des Großmuftis hievte. Die tschetschenischen Gläubigen bringen es meist so auf den Punkt: »Der verkauft sich genauso, schützt sein Volk ebenso wenig vor der Generalität und vor Putin.« 254
Die Tschetschenen schätzen die Weisen und Mutigen. Ist ein solcher weiser, mutiger Mann obendrein Mullah – umso besser, wenn nicht – auch gut. Eher kommt es auf die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Wird an. Den religiösen Extremismus in den eigenen Reihen – die Wahhabiten, hier »Bärtige« genannt – bekämpfen die Tschetschenen ebenfalls mit der Kraft ihrer Tejps oder Wirden. Die »Bärtigen« sind sehr unbeliebt, es wäre verfehlt, ihnen ein ernsthaftes Gewicht oder Mitspracherecht in Tschetschenien zuzuschreiben. Der Einfluss der Wahhabiten beruht vornehmlich auf einer einzigen Waffe: Die Leute haben Angst vor ihnen wie vor den russischen Streitkräften, die gleichfalls allein auf Gewalt setzen. Will heißen: auf Unterwerfung. Was im Grunde unmöglich ist, wie die Geschichte zeigt.
Todesstrafe für Journalisten Mussa Muradow gehört zur geistigen Elite Tschetscheniens, ist Chefredakteur der einzigen unabhängigen tschetschenischen Zeitung namens »Grosnenski rabotschi«, ein gebildeter, furchtloser Mann, der beide Kriege mitgemacht hat. Ginge es nach den Verdiensten um das tschetschenische Volk, müsste ihm bereits zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt werden. Doch statt des Denkmals bekam Mussa im Frühherbst 2001 ein anonymes Schreiben, aus dem hervorging, dass er und alle männlichen Redakteure (Abujesid Kuschalijew, Alchasur Muzurajew, Lema 255
Turpalow) auf Beschluss des »Obersten Schariatsgerichts und der Gemeinsamen Führung der WWMSchM« öffentlich Abbitte leisten müssten für ihre »Zusammenarbeit mit den Okkupationskräften« sowie »die Entgegennahme von Geldgeschenken von dem Juden Soros«, anderenfalls drohe ihnen die Hinrichtung. Das Urteil sei von »den Amiren und Richtern des Kreises« zu vollstrecken. Wobei hinter der ominösen Abkürzung »WWMSchM« offenbar die Schura stand, das höchste religiös-militärische Organ der Rebellen, von dem es in Tschetschenien heißt: »Das ist Bassajew, ganz allein Bassajew, und niemand sonst.« Damit war Mussa vogelfrei. Er ließ alles stehen und liegen, um seine Familie in Moskau in Sicherheit zu bringen. Als wir uns dort trafen, fragte er: »Was meinst du, wie soll es weitergehen?« Wir wussten beide: Die Drohung war kein Bluff. Die Zeitung »Grosnenski rabotschi« hat ihr Erscheinen nie für lange unterbrochen, weder zu Maschadows Zeiten noch im Krieg. Ebenso stellte sie sich niemals unter fremden Einfluss, obwohl ihr alle Seiten des tschetschenischen Konflikts mehrfach eine so genannte Sponsorschaft antrugen. Mussa lehnte die Patronage jedes Mal ab, fand einen besseren Weg, der Zeitung unter den gegebenen schwierigen Umständen zum Überleben zu verhelfen: Er nahm von keiner der Kriegsparteien Geld, auch wenn das am einfachsten gewesen wäre, sondern stellte einen Förderantrag bei der Soros-Stiftung, durchlief ein kompliziertes Auswahlverfahren und bekam Mittel zugesprochen – ohne politische Auflagen. 256
Ich gehöre weder zu den Bewunderern der Person eines George Soros noch bin ich seine politische Sympathisantin, doch wenn die Soros-Stiftung einem Journalisten dazu verhilft, in Kriegszeiten unabhängig zu bleiben, dann kann ich dem nur Positives abgewinnen. Seit dem Sommer 2001 ist der Stab der Rebellen – bei aller Vorliebe der Kämpfer für Posen und Kraftmeierei – ein virtuelles System, real wird der »Widerstand« nur dann, wenn es die Sache der Fortführung des Krieges erfordert. »Sprechen« kann man mit diesem »Widerstand« via »Kavkas-Zentr«, einer speziellen Seite im Internet. Vermittels Kavkas-Zentr erfährt die Welt gemeinhin, was Aslan Maschadow über die Geschehnisse in seiner Heimat denkt. Häufig wirkt die Darstellung dabei so wenig argumentativ und rein propagandistisch, dass sich mit einiger Berechtigung behaupten lässt: Kavkas-Zentr – das ist Sergej Jastrshembski und seine PR-Abteilung, nur umgekehrt. Ich wandte mich also an Kavkas-Zentr, um Aufklärung in Sachen Mordkomplott gegen Mussa Muradow zu erlangen. Die Seite reagierte prompt, in Person eines Jussuf Ibragimow, der sich als Chefredakteur vorstellte und erklärte: »Bis jetzt haben wir keinerlei Informationen, obwohl uns die Entscheidungen des Schariatsgerichts in derartigen Fällen sehr schnell übermittelt werden, was uns der Annahme zuneigen lässt, dass der Sicherheitsdienst diese falsche Fährte gelegt hat und das Leben Mussa Muradows tatsächlich in Gefahr ist. Die russischen Geheimdienste könnten ihn umbringen, um 257
dann in die Welt hinauszuposaunen, die Mujaheddin brächten Journalisten um …« Nichts zur Aufklärung beitragen konnte auch Mowladi Udugow *, der »Vater« von Kavkas-Zentr. Er ist zwar schon lange aus Tschetschenien geflohen, gibt sich jedoch gern den Anschein, noch ständigen Kontakt zur Schura und ihren Kommandeuren zu pflegen. Ich bombardierte Kavkas-Zentr mit Fragen: Wer genau steht jetzt dem Obersten Schariatsgericht vor und könnte damit bestätigen, ob ein Urteil gegen Mussa Muradow gefällt wurde oder nicht? Wie heißt der Amir des Kreises, der dieses Todesurteil, wenn es denn wirklich existiert, vollstrecken soll? Mussa kommt aus dem Landkreis Grosny, in dem früher der Feldkommandeur Arbi Barajew als Amir fungierte. Die Antwort war langes, hartnäckiges Schweigen, was mich nicht sehr überraschte: weil es gar keinen Vorsitzenden des Obersten Schariatsgerichts gab, ebenso wenig wie einen Kreisamir, außer Barajew, aber der war tot. Auch Maschadow äußerte sich nicht zu dem »Urteil«, obwohl Mussa Muradow und ich immer wieder versuchten, ihn zu finden. Dabei hatte Aslan Muschadow dem Journalisten einiges zu verdanken, denn viele Monate lang, vor der Existenz der Web-Seite, konnte er die Welt nur dank Muradows Bemühungen wissen lassen, was er über dieses oder jenes Ereignis dachte. Nun wandte ich mich an die Gegenseite, den russischen Inlandsgeheimdienst FSB. Schließlich ist er mit der 258
Durchführung der so genannten »Antiterror-Operation« in Tschetschenien betraut. Ganz abgesehen davon, dass Geheimdienste schließlich in erster Linie dazu da sein sollten, die in der Verfassung festgeschriebenen Rechte der Bürger zu schützen, und das wichtigste ist nun einmal das Recht auf Leben. Ich wurde jedoch mit einem wenig aussagekräftigen »Das sind die Terroristen!« abgespeist. Auch hier im Grunde dasselbe Schweigen zum Fall Mussa Muradows und seiner Redaktionskollegen wie bei Kavkas-Zentr und dem virtuellen Präsidenten Maschadow. Absolute Funkstille. Das verhieß nichts Gutes, wie mich der jetzige Krieg gelehrt hatte. Muradow und der »Grosnenski rabotschi« waren allen Konfliktparteien ein Dorn im Auge; weil er niemandem diente, betrachtete ihn jeder als Feind. Und das Schreiben? Es sollte als Warnschuss dienen: Du überlebst nur, wenn du dich jemandem unterstellst. So lautete in Wirklichkeit das Urteil gegen Muradow und seine drei Kollegen in einem Land, wo immer mehr eine Art von »Demokratie« Fuß fasst, bei der absolut niemand unabhängige Journalisten braucht und es viel leichter ist, sie umzubringen und die Schuld auf den konkurrierenden Geheimdienst zu schieben, als sich mit ihrer Existenz abzufinden. Wer wollte Mussa und seine Kollegen aus dem Weg räumen? Die Antwort liegt auf der Hand: Diejenigen, die von einer Fortsetzung des Krieges träumen. Wobei es 259
keine Rolle spielt, wie diese Herren heißen – Iwan Petrow vom FSB oder Schamil Bassajew von der Schura, viel wichtiger ist, dass sie an ein und derselben »Sondermaßnahme« arbeiten. Ein doppelter Verrat. Ganz im Stile jenes Genres, das in Zusammenhang mit der früheren Profession unseres Landesvaters in der russischen Gesellschaft immer beliebter wird: Lebten wir unter Jelzin von einer Krankheit des Präsidenten zur anderen, existieren wir heute von einer Sondermaßnahme zur nächsten. Die »Sonderoperation Viktor Popkow« ist vollendet: Der unabhängige Journalist und Menschenrechtler wurde in Tschetschenien schwer verwundet und starb bald darauf. Zeit für eine »Sonderoperation Mussa Muradow«, bei der keine Partei des Tschetschenien-Konflikts alleine handeln kann, sondern des Mittuns der anderen, angeblich feindlichen Seite bedarf. Noch ein Wort zur Zivilgesellschaft Tschetscheniens. Wo sind sie, die normalen Tschetschenen, in deren ureigenstem Interesse es liegen müsste, dass Mussa Muradow und seine Kollegen – herausragende Vertreter dieser Gesellschaft – am Leben bleiben und weiter arbeiten? Haben sie vielleicht sämtliche Moskauer Zeitungen, Putins Präsidialverwaltung, den FSB, das Innenministerium und die Generalstaatsanwaltschaft, Schamil Bassajew, Aslan Maschadow und Kavkas-Zentr mit Protestbriefen überschüttet? Keineswegs. Und es ist nicht das erste Mal, dass die 260
Tschetschenen in schweigender Apathie verharren. Auch diejenigen, die sich mehrfach der Hilfe des »Grosnenski rabotschi« und seines Chefredakteurs bedienten. Für die Muradow arbeitete. Der Coup der Geheimdienste gelang. Ein halbes Jahr nach den geschilderten Ereignissen blieb von der Zeitung »Grosnenski rabotschi« nur ein Mythos. Mussa ist immer noch in Moskau, obwohl er nicht warm wird mit der Stadt. Die Drohungen nehmen kein Ende, und es gibt niemanden, der ihn schützen könnte. Seine Redaktionskollegen haben sich in alle Winde zerstreut, um das eigene Leben und das ihrer Familien zu retten. Sporadisch erscheint noch eine Ausgabe, dank der heldenhaften Bemühungen tschetschenischer Journalistinnen, die diesen Krieg auf ihren Schultern tragen müssen. Haben die Tschetscheninnen denn vor nichts Angst? Das fragen viele, darunter auch die Männer in Uniform, die diese Frauen ausrauben, demütigen und vergewaltigen. Ja, die tschetschenischen Frauen haben vor nichts Angst. Weil sie vor allem Angst haben.
HELDEN »NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH« Das Wesen des herrschenden Regimes in Russland lässt sich daran ablesen, wen es mit höchsten Ehrenzeichen dekoriert. Wer sind sie, die Helden des Tschetschenien-Krieges, und was haben sie dort zu suchen? 261
Für welche Taten werden sie ausgezeichnet – und damit als Vorbilder zur Nachahmung empfohlen?
Ein Held in Tschetschenien Der Tee, den wir im Imbissraum des inguschetischen Flughafens Magas trinken, ist längst kalt. Ich schäme mich, Magomed Jandijew, Oberst und Mitarbeiter des Innenministeriums Inguschetiens, in die Augen zu sehen. Und das nun schon seit drei Jahren. Im Dezember 1999, während des infernalischen Sturms auf Grosny, wurden durch die sträfliche Gleichgültigkeit der Moskauer Bürokraten 89 alte Leute in einem Altersheim von Grosny einfach im Bombenhagel »vergessen«, und unter den Hunderten russischen Obersten und Generälen in und um Grosny fand sich kein Einziger, der Lust gehabt hätte, die schützende Deckung zu verlassen, um sie zu retten. Außer Jandijew. Zusammen mit sechs von seinen Offizieren, die er persönlich darum gebeten hatte, kroch er – die einzig mögliche Form der Fortbewegung – drei Tage und drei Nächte lang durch Grosnys Straßen bis zum Stadtteil Katajama, in die Borodin-Straße, wo die von allen verlassenen, ausgehungerten Insassen langsam vor sich hin starben. Jandijew brachte sie aus Grosny heraus, unter geringsten Verlusten. Nur eine alte Frau starb unterwegs an Herzversagen. Dafür rettete er alle anderen vor den Kugeln und Granaten, die beide Seiten in ihrer aberwitzigen Verblendung auf die Stadt herabhageln ließen. 262
»Sie schreiben mir bis heute zu Feiertagen. Dabei weiß ich ihre Namen gar nicht mehr, aber sie haben meinen nicht vergessen. Und schreiben immer noch«, sagt Magomed ganz leise. Ich muss ihm die Worte regelrecht aus der Nase ziehen, von allein würde er überhaupt nichts sagen. »Das ist mein Dankeschön, das allerschönste«, fügt er nachdrücklich hinzu und rührt weiter in seinem Teeglas, obwohl sich der Zucker längst aufgelöst hat. »Ich brauche kein anderes.« Aber ich schon. Ich bin Bürgerin dieses Landes und will deshalb wissen: Warum wurde Oberst Magomed Jandijew für die Großtat, für seinen wahren Mut bei der Rettung von 89 anderen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes aus akuter Lebensgefahr bis heute nicht der Ehrentitel »Held Russlands« verliehen? Obwohl ein entsprechendes Gesuch bereits seit Anfang 2000 vorliegt. Was muss man in dem Russland, das wir alle heute vor uns haben, noch leisten, um nicht nur ein Held zu sein, sondern auch offiziell als solcher anerkannt zu werden?
Die »Helden« von Moskau Der Weg zu den Antworten sollte durch manche Widerwärtigkeit führen. Das Wortgeklingel der hochrangigen Militärs, die in Moskau dafür zuständig sind, solche Auszeichnungsgesuche höher und höher zu leiten, bis auf den Tisch des Präsidenten, gipfelte in zwei Argumenten, weshalb Oberst Jandijew nicht zum offiziellen Helden taugte. 263
Erstens ist er »einer von denen da«, was meint, er ist Ingusche, und denen traut man genauso wenig wie den Tschetschenen. Ja, eigentlich sei er, wurde mir bedeutet, »fast wie ein Tschetschene«, also »wer weiß, was damals in Grosny wirklich passiert ist, vielleicht hat er mit den Rebellen gekungelt?« Und wenn er gekungelt hat? Sind das die 89 Leben nicht wert? Aber es gab noch ein zweites Argument, und das gilt nicht nur für »die da«. Zweitens nämlich steht einem der Heldentitel nur dann zu, wenn man »einen von den Banditen umgebracht« hat. »Und wenn man jemanden rettet?« »Das ist nicht ganz das Gleiche.« »Also kann man dafür nun Held werden oder nicht?« »Wer würde je sagen, dass man es nicht kann?« Leider habe ich mein Wort gegeben, die Namen derjenigen, die bereit waren, mir die »Sachzwänge« dieses Geschäfts zu erklären, nicht zu erwähnen. Zwar tragen sie alle Sterne auf den Schulterstücken und Orden an der Brust, sind aber streng genommen auch nur Befehlsempfänger, Ausführende eines fremden Willens. Sie wissen, welche Dokumente der Präsident NICHT unterschreibt. Ein Auszeichnungsgesuch für eine Rettung beispielsweise. Eine Kleinigkeit, meinen Sie? O nein. Wir alle beobachten, wie der Begriff »Mitgefühl« aus dem staatlichen Vokabular verdrängt wird. Die Führung favorisiert bei ihren Bürgern Härte. Vernichtung genießt Ansehen. Die Logik des Mordens, das ist die Logik, die die Mächtigen verstehen und propagieren. Man muss morden, um zum Helden gekürt zu werden. 264
Ideologie im Stile der Putin-Moderne. Mit den »Herren« hat es nicht so recht geklappt, also sind die »Genossen« zurückgekommen. Die, wie wir ja wissen, gern an sich selbst denken. Und das Ergebnis? Nach sieben Jahren Krieg und im dritten Jahr des zweiten Waffengangs ist Tschetschenien eine echte Futterkrippe geworden. Hier werden militärische Blitzkarrieren geschmiedet, lange Listen mit Auszeichnungsgesuchen erstellt, Titel und Dienstgrade außer der Reihe verteilt. Man braucht nur rechtzeitig einen von »denen da« umzubringen und die Leiche zu präsentieren. Vor mir aber sitzt Magomed Jandijew. Ein normaler Held eines nicht normalen Landes. Der nichts geraubt hat, niemanden vergewaltigt, keine Frauenunterwäsche als Kriegsbeute in seinem Tarnanzug verstaut. Er hat gerettet. Und deshalb ist er kein General, aus diesem Grund schmort sein Auszeichnungsgesuch unbeachtet in Moskauer Safes.
Nachwort einer Begriffsstutzigen Ich rufe in der Presseabteilung des Präsidialamtes an. Sie wird geleitet von Igor Porschnew, ist aber besser bekannt als Abteilung Sergej Jastrshembskis, der als Putin-Sprecher auch für die »Informative Abdeckung der Antiterror-Operation« verantwortlich zeichnet. Ich habe zwei ganz einfache Fragen. Erstens, wie viele Angehörige 265
der Streitkräfte für die Teilnahme am zweiten Tschetschenien-Krieg staatliche Auszeichnungen erhielten, und zweitens, wie oft dabei der Ehrentitel »Held Russlands« verliehen wurde. Die Presseabteilung verweist mich weiter an die – ebenfalls zur Administration des Präsidenten gehörende – Abteilung für staatliche Auszeichnungen, der Nina Siwowa vorsteht. »Diese Zahlen sind Staatsgeheimnis«, machen mir die Referenten weis und unterbinden jeden Versuch, direkt mit den Abteilungsleitern zu sprechen. »Sie dürfen nicht veröffentlicht werden.« »Aber das ist doch absurd!«, wende ich ein. Endlich erbarmt man sich in Jastrshemskis Abteilung »zur Propagierung des richtigen Images vom Krieg« und will wenigstens »eine offizielle Anfrage zu diesem Thema« entgegennehmen, freilich ohne jede Festlegung, bis wann und ob überhaupt eine Beantwortung (zwei Zahlen!) erfolgt. Eine Antwort ist denn auch nie gekommen. Bald darauf konnte ich mit Nina Siwowa, der Leiterin der Auszeichnungsabteilung, sprechen. Sie bestätigte, dass diese Zahlen tatsächlich als DSP gelten. DSP bedeutet »nur für den Dienstgebrauch« und ist manchem vielleicht noch aus Sowjetzeiten in Erinnerung. Da konnte man hinsehen, wo man wollte: überall DSP. »Warum zählen Verleihungen des Heldentitels und anderer Auszeichnungen zu den vertraulichen Dienstsachen?«, lasse ich nicht locker. »Zum Schutz der Personen, die diese Auszeichnungen 266
erhalten«, lautet die Antwort wieder einmal am Punkt vorbei. »Aber die Namen will ich ja gar nicht wissen.« »Rufen Sie an …« »Morgen?« »Ja, morgen, vielleicht kann man …« Nein, man konnte nicht. Ein Land, in dem die Zahl seiner Helden allein den Bürokraten zugänglich ist, die diese Auszeichnungen verteilen, und die wirklichen Helden keine »Helden Russlands« werden, ein solches Land kann immer nur das Falsche tun.
Erschossen – aber nicht von Tschetschenen »Durchschuss an Kopf und Hals«, trägt der Gutachter des Gerichtsmedizinischen Labors Nr. 632 des Nordkaukasischen Militärbezirks Major Igor Matjuchow nach der Autopsie der Leiche eines Soldaten als Befund ein. Und nennt die medizinischen Gründe, die nach der Schussverletzung am 5. Februar 2001 den Tod von Danila Wypow bewirkten: »Massiver Blutverlust. Linke Halsschlagader zerrissen.« Major Matjuchow gibt sogar den Ort an, wo der tödliche Durchschuss erfolgte: »Standort der selbständigen Einheit, Truppenteil 20004« in Chankala. Chankala ist das Allerheiligste der Generalität im Nordkaukasus, ihre wichtigste Militärbasis, Stabsquartier der Vereinten Gruppierung der Truppen und Kräfte. Dieses Chankala ist nicht nur von mehreren Sperrgür267
teln umgeben, Stacheldrahtbarrieren durchziehen auch sämtliche Teile der Stadt, es gibt ein ganzes Netz von Postenstellen, dazu verminte Flächen und vieles andere mehr. Fragt sich, wo hier, hinter so vielen Schutzwällen, Tretminen herkommen sollen. Die Familie von Danila Wypow, der im Truppenteil 20004 des Verteidigungsministeriums (Regiment Kamyschin) diente und nicht einmal zwanzig Jahre alt wurde, erhielt nämlich ganz andere Informationen, als sie der Obduktionsbefund auswies. Soldat Wypow sei auf eine Mine getreten, sein Körper so zerfetzt, dass er in einem verschweißten Zinksarg beigesetzt werden müsse. Als Danilas ältere Brüder Aufklärung verlangten und einer von ihnen in das Militärleichenschauhaus in Rostow am Don fuhr, sah er eindeutig unterhalb der Lippe eine Einschussöffnung, die auf gar keinen Fall von einem Minensplitter stammen konnte. Und der »zerfetzte Körper« war ebenfalls frei erfunden. Am 20. Februar erstatteten die Brüder, die in St. Petersburg wohnen, Anzeige bei der Obersten Militärstaatsanwaltschaft, der Militärstaatsanwaltschaft der Petersburger Garnison, der Führung des Leningrader Militärbezirks sowie der Militärstaatsanwaltschaft Tschetscheniens in Chankala und verständigten außerdem die Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation »Soldatenmütter von St. Petersburg«. Und was geschah? Nichts, absolutes Schweigen. Danilas sterbliche Überreste wurden nach St. Petersburg überführt. Die Generäle untersagten eine unabhängige 268
gerichtsmedizinische Untersuchung, von der sich die Familie Aufschluss über die Umstände von Danilas Tod erhofft hatte. Niemand sollte erfahren, dass Danila von den eigenen Leuten erschossen worden war. Am 22. Februar, dem Tag, als Danilas Körper in das Armeeleichenschauhaus von St. Petersburg überführt wurde, flog ich mit einem Hubschrauber des 119. Fallschirmjägerregiments aus dem tschetschenischen Kreis Wedeno zur Basis Chankala. Auf dem Boden des Passagierraums lag, in Schutzfolie gehüllt, die Leiche eines weiteren in Tschetschenien umgekommenen Soldaten. Er hatte am gleichen Morgen im Regiment eine schwere Verletzung erlitten und war wenige Minuten vor dem Start des Hubschraubers gestorben. Es handelte sich um einen Jungen aus Tscheljabinsk, Jahrgang 1982, unsere Wege kreuzten sich ganz zufällig. Und ebenso zufällig sah ich mit eigenen Augen, wie ein Offizier des FSB zusammen mit dem Stabschef des 119. Regiments unter unsäglichem Gebrüll den Soldaten, die das Schussopfer trugen, den Befehl erteilte, alle Kugeln aus ihren Maschinenpistolen »auszuspucken« für eine Untersuchung. Die aber wird immer dann angestrengt, wenn der Verdacht besteht, der tödliche Schuss könne von eigenen Leuten abgegeben worden sein. Diese Prozedur erschütterte nur mich, die neben mir stehenden zwei Dutzend Offiziere erlebten etwas Derartiges offenbar nicht zum ersten Mal und blieben völlig ungerührt. 269
Auch bei den Amerikanern, die wir Russen ja gern aller Sünden der Welt bezichtigen, kann es vorkommen, dass ein Flugzeug während eines Manövers eine Rakete verliert und diese direkt auf das Gelände der eigenen Militärbasis fällt. Doch da schreit gleich die ganze Welt auf, Generäle zeigen Trauer, der Präsident wird informiert, gedenkt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit öffentlich der getöteten Soldaten und Offiziere mit einer Schweigeminute und fordert eine Untersuchung. Bei uns ist alles anders. Soldaten kommen um, und ihren Leichnamen entnimmt man die Kugeln, die aus den Gewehrläufen ihrer Kameraden stammen. Weshalb? Damit diese Kugeln keiner mehr zu Gesicht bekommt. Und dann tun die Kommandeure alles, um außer den Kugeln auch die Körper der Opfer verschwinden zu lassen, indem sie sie heimlich begraben, ehe die Verwandten Ärger machen können. Gelangen tatsächlich einmal Einzelheiten ans Licht, so rein zufällig. Und selbst wenn irgendeine Wahrheit irgendwohin durchsickert, folgt nichts daraus. Keine Schlagzeilen in Presse und Fernsehen, kein Ermittlungsverfahren. Die betroffenen Familien umgibt ein totales Informationsvakuum. Die Öffentlichkeit reagiert mit Gleichgültigkeit. Der Präsident – es ist ja unserer, nicht der amerikanische! – fährt ungerührt Ski in einer zauberhaften sibirischen Winterlandschaft. Die Duma-Abgeordneten denken nicht einmal daran, ihre wohlgenährten Hinterteile aus den weichen Parlamentssesseln zu erheben, bloß weil wieder einmal ein Soldat in Tschetschenien durch Verschulden 270
der eigenen Leute umgekommen ist. Keine entblößten Häupter bei den Mitgliedern der Regierung, die viel zu sehr damit beschäftigt sind, das Staatsbudget unter sich aufzuteilen, und keinen Gedanken daran verschwenden, dass eine einzige Rate von dem, was monatlich für die »Durchführung von Kampfmaßnahmen im Rahmen der Antiterror-Operation« nach Tschetschenien fließt, ausreichen würde, um das ganze zerstörte Land wieder aufzubauen. Der Generalstab frisiert wie gewohnt seine täglichen Rapporte über die Verluste im Nordkaukasus. Sergej Jastrshembski fährt in den Westen und schildert eindrucksvoll die Gräueltaten der Rebellen … Eine Sackgasse. Russland hat endgültig verlernt, Scham oder Schuld zu empfinden vor den Müttern, deren Söhne in Zinksärgen aus Tschetschenien heimkehren. Und vergessen, dass man ein solches Land sehr leicht besiegen kann. Was bleibt noch hinzuzufügen? Als Danila klein war, ersetzte ihm seine Mutter die Heimat, denn der Junge wurde in Usbekistan geboren, wuchs dort auf. Erst als die Verhältnisse ein weiteres Verbleiben der russischen Bevölkerung in der Kleinstadt Schirin im Bezirk SyrDarja unmöglich machten, zogen die Wypows nach Russland. In Wolgograd kam Danila in das wehrpflichtige Alter und wurde einberufen, um das neue Vaterland zu verteidigen.
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Patronenmangel in Moshaisk Aljoscha Klenin, Wehrpflichtiger im Truppenteil 63354, kam im Herbst 1999 zur Armee und gehörte zu denjenigen, die bereits im Oktober ohne jede militärische Erfahrung direkt in den Kampf geschickt wurden – nach Dagestan und Tschetschenien. Er konnte seiner Familie von dort nur wenige Zeilen schreiben, dann wurde er mitsamt seinem liegen gebliebenen Panzerfahrzeug auf einem abgelegenen Gebirgsweg von den Offizieren einfach »vergessen«, einem höchst ungewissen Schicksal überlassen. Seit Februar 2000 hat ihn niemand mehr gesehen. Vor mir liegt die Sterbeurkunde Nr. 1151 auf den Namen Alexej Wladimirowitsch Klenin, ausgestellt am 10. September 2001, 19 Monate, nachdem Aljoschas Großvater Wladimir Schurupow aus Moshaisk bei Moskau seinen dornenreichen Weg durch die Hölle der russischen Bürokratie antrat, um nur eines herauszufinden: Wo hielt sich sein Enkel auf, was war mit ihm geschehen in jenem System namens Armee, dem er Aljoscha lebend und gesund anvertraut hatte? Diese neunzehn Monate umfassen alles, was man sich in Russland nur vorstellen kann: Tonnenweise Briefe, Anzeigen und Beschwerden, an alle militärischen und zivilen Staatsanwaltschaften bis hin zu deren höchsten Instanzen, an diverse staatliche Organisationen einschließlich der Präsidialverwaltung. Die Antworten waren ein272
fach ein Hohn: Niemand in diesem Riesenreich – außer dem Großvater – schien den verschollenen Soldaten zu vermissen. Noch mehrere Monate lang hatte der Truppenteil regelmäßig Verpflegung, Ausrüstung und Munition für ihn bezogen, Aljoscha in den Mannschaftslisten geführt, als stünde er jeden Morgen und jeden Abend leibhaftig beim Appell. Erst nach den Bemühungen Wladimir Schurupows und entsprechenden Überprüfungen durch die Oberste Militärstaatsanwaltschaft und die Präsidialverwaltung kam die militärisch-bürokratische Maschinerie in Gang, wenn auch knirschend und widerstrebend. Die Beisetzung der sterblichen Überreste, die man Wladimir Schurupow geschickt hatte, erfolgte am 11. September, dem Tag der Terroranschläge in Amerika. Die Leiche war nicht die, die Aljoschas Großvater seinerzeit im Gerichtsmedizinischen Labor Nr. 124 der Streitkräfte in Rostow am Don bei der Identifizierung zu sehen bekam, denn damals wies der Schädel des Toten nur ein Einschussloch auf, jetzt waren es zwei. »Was haben Sie unternommen? Eine weitere Untersuchung verlangt?« »Nein«, versetzt Schurupow, »es hätte sowieso nichts gebracht … Ich konnte es nicht … wollte auch nicht mehr. Ich habe ihn als meinen Enkel begraben.« Und Aljoschas Großvater weint, leise, stumm, hoffnungslos. Ich komme sehr oft mit Menschen zusammen, die im gegenwärtigen Tschetschenien-Krieg Angehörige verloren haben – Tschetschenen, Russen, Ukrainer, Solda273
ten, Offiziere, Kinder und Erwachsene. Ein ganzes Heer von Verwaisten. Sie haben alle die gleichen Augen, wie jetzt Wladimir Schurupow. Diese Augen widerspiegeln nicht nur die Ausweglosigkeit, die schmerzliche Unabänderlichkeit des Verlusts, darin ist auch zu lesen, dass den Menschen jeglicher Glaube abhanden gekommen ist, irgendetwas, das ihr Staat in Bezug auf seine Bürger tut, könne auch nur im Mindesten gut sein. Aljoschas Großvater fährt fort: »Ich dachte, es würde alles mit militärischen Ehren zugehen, richtig feierlich. Mit einem Orchester aus dem Wehrkreiskommando, einer Ehrenkompanie und Salutschüssen über dem frischen Grab … Gar nichts davon war da. Sie haben mir erklärt, Patronen stünden bloß gefallenen Offizieren zu, das Orchester auch. Für Soldaten gibt es nichts.«
BANDITEN IN UNIFORM – DER FALL JURI BUDANOW Alle Länder, die Kriege anzettelten, sahen sich früher oder später mit einem gravierenden Problem konfrontiert: dem der Kriegsgräuel, begangen von Angehörigen ihrer Streitkräfte, und der Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen. Als was sind sie denn nun zu sehen, diese Männer, die in ein anderes Land geschickt wurden zum Töten und dort ihre Vollmachten überschritten, zu weit gingen? Als Kriminelle oder als Helden? Rechtfertigt ein Krieg ALLES? Nehmen wir den Fall Budanow. Oberst Juri Buda 274
now ist Kommandeur des 160. Panzerregiments des Verteidigungsministeriums, mehrfach ausgezeichnet, Vertreter der militärischen Elite Russlands. Die Mehrheit in unserem Land bedauert ihn, sieht in ihm einen Kämpfer, der für seinen »patriotischen Glauben« verfolgt wird. Eine Minderheit hingegen – einen Mörder, Marodeur, Entführer und Vergewaltiger. Der Prozess gegen Budanow hat Russland erschüttert und die schlimmsten Seiten unseres heutigen Lebens hervorgekehrt: die totale Spaltung der Gesellschaft in der Frage des zweiten Tschetschenien-Krieges, den unglaublichen Zynismus und die Verlogenheit der höchsten Chargen des Putin’schen Bürokratenapparats, die völlige Abhängigkeit des Justizsystems vom Kreml. Und das Wichtigste – die offenkundige neo-sowjetische Renaissance. Oberst Budanow war seit September 1999 im zweiten Tschetschenien-Krieg, also fast von Anfang an. Sein Regiment wurde in die schwersten Kämpfe geworfen: in den Sturm auf Grosny, die Gefechte um das Dorf Komsomolzkoje. Bei der hartnäckigen Belagerung der Ortschaft Duba-Jurt am Eingang zur Argun-Schlucht verlor Budanow mehrere seiner Offiziere, und als das Regiment im Februar 2000 aus der Kampfzone herausgenommen und »zur Erholung« an den Rand des Dorfes Tangi-Tschu im Kreis Urus-Martan verlegt wurde, schickte man den angeschlagenen Kommandeur auf Heimaturlaub, zu seiner Familie hinter den Baikal-See. Dort hielt es Budanow 275
jedoch nicht lange. Seine Frau fand ihn innerlich sehr verändert, unleidlich, ja sogar gefährlich. Er wollte seinen ältesten Sohn vom Balkon werfen, weil er glaubte, dieser habe der kleinen Schwester eine blutende Schramme auf der Hand verpasst, und hätte sich Budanows Frau nicht von hinten an ihren Mann geklammert, hätte der Vorfall sicher schlimm geendet. Budanow brach seinen Urlaub ab und fuhr zurück nach Tschetschenien, wobei er seinen Kameraden erklärte, zu Hause gebe es »Zoff«. Am 26. März 2000 wählte Russland nicht nur Wladimir Putin zum Präsidenten, an diesem Tag hatte auch Budanows Töchterchen Geburtstag, wurde zwei Jahre alt. Aus diesem Anlass lud der Oberst seine Offiziere zu einer kleinen Feier. Gegen Abend waren alle betrunken und wild auf Heldentaten. Zuerst wollten sie TangiTschu mit schweren Geschützen »kirre machen«, doch der diensthabende Offizier des Regiments Oberleutnant Roman Bagrejew, Kommandeur der Aufklärungskompanie, weigerte sich, den verbrecherischen Befehl auszuführen. Dafür wurde er gnadenlos verprügelt von Budanow, der sogar noch dem bereits am Boden Liegenden Stiefeltritte ins Gesicht versetzte, und von Regimentsstabschef Oberstleutnant Iwan Fjodorow, anschließend auf Budanows Befehl mit gefesselten Händen und Füßen in eine Grube geworfen, die auf dem Militärgelände für verhaftete Tschetschenen ausgehoben worden war. Dann wurde Bagrejew von oben mit Kalk bestreut und schließlich urinierte Fjodorow noch auf den Offizier. Gegen Mitternacht beschloss Budanow, nach Tangi276
Tschu zu fahren. »Zur Überprüfung vorliegender Informationen über den möglichen Aufenthalt von Mitgliedern illegaler bewaffneter Formationen«, wie er später im Untersuchungsverfahren erklärte, nicht ohne zynisch die Geschichte von seinem treuen Freund Major Rasmachin einzuflechten, der angeblich durch die Kugel einer »Heckenschützin« starb, deren Foto er, Budanow, stets in der Brusttasche bei sich trage. Das Foto zeigte, so behauptete Budanow, Elsa Kungajewa aus Tangi-Tschu. Deshalb sei er losgefahren, um sie »zu fassen« und später »den Rechtsschutzorganen zu übergeben«. Allerdings bekam niemand dieses Foto je zu Gesicht, weder die Ermittler noch die Richter. Es findet sich auch nicht in den Akten. Was also suchte der betrunkene Budanow nachts im Dorf? »Weiber«, schlichtweg gesagt. Er holte den Schützenpanzerwagen Nr. 391 und nahm seine Meldegänger, die Soldaten Grigorjew, Jegorow und Li-en-schou, mit. Zu viert fuhren sie direkt zu den Kungajews. Am Tag zuvor hatte ein Informant – der jetzt eine Strafe wegen Entführung und Lösegelderpressung verbüßt – dem Oberst dieses Haus gezeigt mit dem Hinweis, dort wohne ein hübsches junges Mädchen. Die Soldaten packten die 18-jährige Elsa Kungajewa, die älteste Tochter der Familie, vor den Augen der vier jüngeren Geschwister, und wickelten sie in eine Decke, die sie von Elsas Bett gerissen hatten. Elsa schrie, doch die Uniformierten verfrachteten sie in den Heckraum des Schützenpanzers und fuhren zum Regiment. Dort luden sie »die Decke« aus – 277
Elsas lange Haare schleiften über den Boden –, trugen sie in Budanows Wohncontainer und legten sie auf den Boden. Budanow befahl, niemanden hereinzulassen, bis er anders lautenden Befehl erteilen würde … Aus den Fensteröffnungen der benachbarten Zelte schauten Soldaten. Einer von ihnen, Viktor Kolzow, gab später im Untersuchungsverfahren zu Protokoll: »Am 26. 03. 2000 stand ich nachts Wache. Nach der Ablösung ging ich in mein Zelt und traf dort den Heizer des Stabschefs, Makarschanow. Der sagte: ›Der Kommandeur hat wieder ein Weib angeschleppt.‹« Es war also nicht der erste Vorfall dieser Art? Dann folgte die Hinrichtung. In der dürren Sprache der Militärstaatsanwälte, die die Anklageschrift verfassten, liest sich die Schilderung so: »Das Mädchen begann zu schreien und zu beißen, wollte sich losreißen … Budanow schlug auf Kungajewa ein, versetzte ihr wiederholt Faustschläge und Fußtritte ins Gesicht und gegen andere Körperteile … Er schleppte sie in den hintersten Winkel des Containers, warf sie auf die hölzerne Pritsche und begann, ihr mit der rechten Hand die Kehle zuzudrücken. Kungajewa leistete Widerstand, und als Folge des Kampfes zerriss er ihr die Oberbekleidung. Diese vorsätzlichen Handlungen Budanows verursachten bei Kungajewa den Bruch des rechten großen Zungenbeinhorns … Nach ungefähr zehn Minuten wurde sie ruhig, er kontrollierte den Puls, fühlte aber keinen Pulsschlag mehr … Budanow rief nach Grigorjew, Jegorow und Lien-schou. Sie betraten den Container und sahen im hin278
tersten Winkel des Raums die Frau, die sie hergebracht hatten, sie war nackt, das Gesicht blau angelaufen. Auf dem Fußboden war die Überdecke ausgebreitet, in die das Mädchen eingewickelt war, als sie es aus dem Haus holten. Darauf lag die Kleidung in einem Haufen. Budanow befahl, den Körper in eine Schonung im Bereich des Panzerbataillons zu fahren und dort heimlich zu begraben …« Als Hauptzeugen im Prozess gegen Budanow fungierten die Soldaten des 160. Regiments Igor Grigorjew, Artjom Li-en-schou und Alexander Jegorow. Sie waren Budanows Ordonnanzen und Laufburschen, bedienten den Kommandeur, räumten seinen Container auf, begleiteten ihn. Im Morgengrauen des 27. März führten sie auch diesen Befehl des Obersts aus: Sie verscharrten den geschundenen Körper Elsa Kungajewas und deckten die Stelle sorgfältig mit Grassoden ab. Im Sommer 2000 entschied die Militärstaatsanwaltschaft, die drei Soldaten als Mittäter des Entführungs- und Mordfalls zu amnestieren im Austausch gegen die »richtigen« Aussagen, die sie selbst belasten und Budanow entlasten sollten – vor allem in der entscheidenden Frage, ob es eine Vergewaltigung gegeben hatte oder nicht. Hier nun begegnen wir einem widersprüchlichen und teilweise irrationalen Phänomen: Die Offiziere, die in Tschetschenien dienten, von den niedrigsten bis zu den höchsten Rängen, unterstützten in ihrer Mehrheit Budanow, allerdings mit einer Einschränkung, die ich viele 279
Male in Tschetschenien zu hören bekam: »Dass er sie umgebracht hat, na gut … eine Tschetschenin, also eine von den Rebellen. Aber warum sich so gemein machen und vergewaltigen?« Budanow kannte diese Stimmungen ausgezeichnet und bestritt deshalb zur Wahrung des Gesichts während des gesamten Untersuchungsverfahrens kategorisch, Elsa vor ihrer Ermordung geschändet zu haben. Allerdings existierte für diese Version ein fast unüberwindliches Problem: Die erste nach der Exhumierung durchgeführte gerichtsmedizinische Untersuchung hatte ergeben, dass die Leiche alle Merkmale einer Vergewaltigung aufwies, die entweder kurz vor oder unmittelbar nach Eintritt des Todes erfolgt sein musste. Und es fragte sich, ob es für ein Offiziersimage besser war, als Vergewaltiger dazustehen oder als Nekrophiler. Budanow und die Ermittlungsbehörden brauchten Aussagen, die eine Quadratur des Kreises ermöglichten, also erklärte der Soldat Alexander Jegorow, er habe die Tschetschenin vor dem Verscharren vergewaltigt, und zwar »mit dem Stiel des Pionierspatens«, der dann zum Ausheben der Grube diente. Jegorow wurde begnadigt. So ging es fast zwei Jahre weiter. Doch im Mai 2002 gab es eine Wende. Sie stand zum einen im Zusammenhang mit bestimmten Nuancen des politischen Kalküls: Putins Freunde in der internationalen Anti-Terror-Koalition bedrängten den Präsidenten, seine ob der völligen Straflosigkeit außer Rand und Band geratenen Offiziere in Tschetschenien an die Kandare zu nehmen. Zum anderen wurden grobe Ermittlungsfehler publik, began280
gen in der Absicht, Budanow reinzuwaschen. Ihre Aufdeckung verbindet sich vor allem mit dem Namen eines jungen, begabten Anwalts, des 28-jährigen Moskauers Stanislaw Markelow, der vor seinem Eintritt in den Fall Budanow bereits dadurch bekannt geworden war, dass er erstmals in Russland Verfahren wegen Terrorismus und politischem Extremismus führte. Als das Militärgericht des Nordkaukasischen Militärbezirks unter dem Vorsitzenden Richter Viktor Kostin nun doch bestimmten Details nachgehen musste, nahm der Prozess eine völlig andere Richtung. Alexander Jegorow, inzwischen längst demobilisiert und wieder zu Hause im Gebiet Irkutsk, widerrief im Juli 2002 seine Aussage und erklärte, sie sei unter Druck zustande gekommen. Damit konnte nur noch der hoch dekorierte Eliteoffizier Juri Budanow der Vergewaltiger gewesen sein. Doch kehren wir zunächst zurück zum 27. März 2000. Das Erstaunlichste war damals, dass Budanow überhaupt verhaftet wurde. Im zweiten Tschetschenien-Krieg ist das nun einmal so: Es gibt viele ähnliche Vorfälle, aber nur selten erfolgte die Verhaftung eines Offiziers. Und auch Budanow wäre ungeschoren davongekommen, hätte es da nicht einen Zufall gegeben. Am 27. März war Budanows unmittelbarer Vorgesetzter Wladimir Schamanow nicht in Tschetschenien. General Schamanow, Befehlshaber der Truppengruppierung West, gilt als einer der brutalsten Kriegsherren, als Bestie des zweiten Tschetschenien-Krieges. Nach der Armeeordnung kann nur der 281
militärische Vorgesetzte die Erlaubnis zur Verhaftung eines Offiziers erteilen (oder eben nicht) und der Militärstaatsanwaltschaft die Aufnahme von Ermittlungen in dem betreffenden Truppenteil gestatten. Am 27. März nun war Budanows Freund und Gesinnungsgenosse Wladimir Schamanow in Urlaub, wurde vertreten von General Valeri Gerassimow, einem Mann, der sich selbst unter den Bedingungen des zweiten Tschetschenien-Krieges seine Offiziersehre bewahrt hatte. Als General Gerassimow am Morgen des 27. März von dem Vorfall Meldung bekam, fuhr er sofort selbst in das Regiment, zog auch Vertreter der Militärstaatsanwaltschaft hinzu und ließ Budanow verhaften. Der versuchte, sich mit Waffengewalt zur Wehr zu setzen, brachte sich eine Schussverletzung am Fuß bei, gab aber letztendlich auf. Ein Ermittler der Staatsanwaltschaft, Hauptmann der Justiz Alexej Sumuchin, der den verhafteten Budanow im Flugzeug zum Hauptquartier nach Chankala begleitete, berichtete später, Oberst Budanow habe ihn während des gesamten Fluges auszufragen versucht, was er am besten tun und sagen solle. Als die Leiche Elsa Kungajewas am 28. März ihrer Familie übergeben wurde, saß Budanow bereits hinter Gittern. Ein psychologisch-psychiatrisches Gutachten befand ihn für zurechnungsfähig und damit für strafrechtlich voll verantwortlich. Und dann? Dann begann die große Reinwaschung des Oberst Budanow. So wollte es der Kreml, der begriff, 282
dass die Beteiligten in diesem konkreten Falle die Forderung nach »Durchsetzung der Diktatur des Gesetzes« etwas zu wörtlich genommen hatten und nunmehr Einhalt geboten war, sollte nicht die ganze Welt die Wahrheit über den Krieg erfahren. Man beschloss, einen alten, bewährten Weg aus Sowjetzeiten zu beschreiten. Im Serbski-Institut für forensische Psychiatrie in Moskau – unrühmlich bekannt durch seine »Gefälligkeitsgutachten« für den KGB, um Dissidenten mundtot zu machen – wurde ein zweites psychologisch-psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben. Vorsitzende der Untersuchungskommission war Tamara Pawlowna Petschernikowa, Professorin für Psychiatrie, seit 52 Jahren als Gutachterin tätig. Jene Tamara Petschernikowa, deren Name unter den Schizophrenie-Urteilen gegen bekannte sowjetische Dissidenten der sechziger bis achtziger Jahre steht. Etwa gegen Natalja Gorbanewskaja, die Gründerin und erste Redakteurin des Samisdat-Bulletins »Chronika tekuschtschich sobytii« (Chronik der laufenden Ereignisse), die aufgrund eines von Petschernikowa verfassten Gutachtens von 1969 bis 1972 in einer psychiatrischen Haftanstalt zwangsbehandelt wurde und 1975 emigrierte. Oder gegen Wjatscheslaw Igrunow, den Petschernikowa im Jahre 1976 wegen der Verbreitung von Alexander Solshenizyns »Archipel GULAG« für unzurechnungsfähig erklärte und zu einer mehrjährigen psychiatrischen Zwangsbehandlung verdammte. Heute gehört Igrunow bereits zum wiederholten Male der Duma an, ist langjähriger Aktivist und Mitstreiter der »Jabloko«283
Partei Grigori Jawlinskis, Direktor des Internationalen Instituts für geisteswissenschaftlich-politische Forschungen. Bestens an Tamara Petschernikowa erinnern kann sich auch Wladimir Bukowski, einer der namhaftesten sowjetischen Dissidenten und politisch Inhaftierten, Journalist, Schriftsteller, habilitierter Biologe, der – mit kurzen Unterbrechungen – die Jahre zwischen 1963 und 1976 abwechselnd in Gefängnissen, Arbeitslagern und speziellen psychiatrischen Anstalten zubrachte, weil er im Westen Dokumente über die Tätigkeit Petschernikowas und den Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke veröffentlicht hatte. 1976 wurde Bukowski gegen den Führer der chilenischen Kommunisten Luis Corvalán ausgetauscht und lebt heute in Großbritannien. Als Zeugin der Anklage – des KGB – trat Tamara Petschernikowa im Prozess gegen Alexander Ginsburg auf. Ginsburg, Journalist, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe, Herausgeber der im Samisdat erschienenen Zeitschrift »Sintaksis«, erster Geschäftsführer des von Solshenizyn aus Honoraren für die Veröffentlichung des »Archipel GULAG« gestifteten Fonds zur Unterstützung der politischen Häftlinge in der UdSSR und ihrer Familien, wurde viermal als Dissident zu Haftstrafen verurteilt. 1979 konnte Ginsburg – im Austausch gegen sowjetische Spione – das Land verlassen, er starb im Juli 2002 in Frankreich. Nun bereits in unseren Tagen, gelangt die Kommission unter Leitung Tamara Petschernikowas zu dem Schluss, Oberst Juri Budanow sei nicht zurechnungs- und folglich 284
auch nicht schuldfähig. Will dies jedoch nur auf den Zeitpunkt des Verbrechens beschränkt wissen. Vorher und nachher könne man ihm sehr wohl Zurechnungsfähigkeit attestieren und damit das Recht, in den militärischen Dienst zurückzukehren. Das war die einzige Chance, Budanow reinzuwaschen, und die Machthaber – der Präsident, seine Verwaltung und das Verteidigungsministerium als »Kuratoren« des Prozesses – nutzten sie natürlich. Allerdings erhob sich jetzt eine Welle der Empörung in der Öffentlichkeit, zumindest in Moskau und den europäischen Hauptstädten. Es war zu offensichtlich, dass die repressive KGB -Psychiatrie überdauert hatte und sich nun genauso willfährig dem neuen »demokratischen« Geheimdienst andiente. Wie konnte das sein? Putin musste sich unangenehme Fragen gefallen lassen, besonders aus Deutschland, wo sich sogar der Bundestag einschaltete, und aus Frankreich. Das Gericht in Rostow am Don schien bereits kurz vor einem Freispruch für Budanow zu stehen, als der Prozess auf Geheiß des Kreml am 3. Juli 2002 eine überraschende Wende nahm. Die Urteilsverkündung wurde vertagt, die Stichhaltigkeit des Petschernikowa-Gutachtens in Zweifel gezogen, eine neue Expertise in Auftrag gegeben und Budanows Haft verlängert. Dass Oberst Juri Budanow noch nicht wieder auf freiem Fuß ist, muss als ein Ereignis grundsätzlicher Bedeutung gewertet werden. Zum einen für die Streitkräfte selbst, die zweifelsohne in Tschetschenien den Charakter einer repressiven politi285
schen Struktur angenommen haben. Die Armee wartete ab, wie der Präzedenzfall in Rostow am Don ausgehen würde. Hing davon doch ab, ob man auch »durfte« wie Budanow. Ende Mai 2002, als das Gutachten zugunsten Budanows auftauchte, gab es in der »Zone der Antiterror-Operation« eine neuerliche Serie der Entführung und Ermordung junger Frauen. Am 22. Mai beispielsweise wurde in Argun, in der Schali-Straße Nr. 125, die hübsche 26-jährige Grundschullehrerin Swetlana Mudarowa frühmorgens von Armeeangehörigen aus dem Bett geholt und – wie Elsa Kungajewa nur im Nachthemd und in Hausschuhen – in einem Schützenpanzerwagen verschleppt. Zwei Tage lang taten die Militärs alles, um die Spuren zu verwischen. Am 31. Mai fand man die verstümmelte Leiche Swetlana Mudarowas in den Trümmern eines Hauses in Argun. Zum anderen verfolgten und verfolgen die Menschen in Tschetschenien den Verlauf des Budanow-Prozesses. Siegt der Oberst und nicht die Rechtsstaatlichkeit, gibt es auch weiterhin keine Hoffnung, dass Recht und Gesetz Russlands hier jemals Gültigkeit erlangen. Dann bleibt dieses Tschetschenien unter dem Stiefelabsatz der Banditen. P. S.: Laut AP-Bericht vom 2. Januar 2003 ist Juri Budanow am 31. Dezember 2002 vom Gericht in Rostow am Don für unzurechnungsfähig erklärt worden. Damit endete der Prozess ohne Schuldspruch. Die Richter ordneten seine Einweisung in eine psychiatrische Klinik an.
TEIL 3
WER BRAUCHT DIESEN KRIEG?
EIN LUKRATIVER KRIEG Es mag einem seltsam vorkommen, aber dieser Krieg war im Endeffekt für alle Beteiligten lukrativ. Jeder bekam seinen Anteil. Für die Kontraktniks an den Postenstellen waren es zehn bis zwanzig Rubel Schmiergeld bei jeder Kontrolle, und das rund um die Uhr. Für die Generäle in Moskau und Chankala war es »das Absahnen« von Geldern aus dem »Militärbudget«. Für die Offiziere mittleren Ranges war es die Erpressung von Lösegeld für »zeitweilige Geiseln«. Und für die Leichen. Für die Offiziere niedriger Dienstgrade waren es die Plünderungen während der »Säuberungen«. Und für alle zusammen (russische Militärs plus ein Teil der Rebellen) war es die Beteiligung am illegalen Öl- und Waffengeschäft. Dazu kamen noch Beförderungen, Auszeichnungen, Karrieren …
Generäle – Oligarchien Bei uns weiß jeder, dass die Generäle ab und zu stehlen und die Oligarchien sich am Staatsbudget bereichern. Das Besondere am zweiten Tschetschenien-Krieg ist, dass 289
ein und dieselbe Person den Rang eines Generals und die Stellung eines Oligarchen innehaben kann. Was geschieht mit einem Unternehmen, dessen Verluste in Milliardenhöhe liegen? Die Antwort ist einfach: Das Unternehmen geht pleite. Was geschieht im Verteidigungsministerium, wenn eine seiner Abteilungen dem Budget Verluste in Milliardenhöhe zufügt? Die Antwort ist verblüffend: gar nichts. Im Gegenteil, die Arbeit dieser Abteilung wird von den Vorgesetzten für den Erfahrungsaustausch empfohlen. Als Beweis habe ich ein Dokument. Es tauchte auf, als im Verteidigungsministerium (MO) die Bilanz für das Jahr 2001 vorgelegt wurde. »DER BESCHLUSS DES WIRTSCHAFTSRATS, DER DEM LEITER DER VERWALTUNG FÜR BAUWESEN UND UNTERBRINGUNG VON TRUPPEN, DEM STELLVERTRETENDEN VERTEIDIGUNGSMINISTER DER RF ZUR SEITE STEHT, ÜBER DIE ENDERGEBNISSE DER PRÜFUNGS-KOMMISSION:
Über die Ergebnisse der finanzwirtschaftlichen Aktivitäten von Unternehmen und Organisationen der GUSS des MO der RF für das Jahr 2000.« Hier nun Zitate aus diesem Dokument: »Aufgrund des Berichts über die abgeschlossene Prüfung der Rechnungsführung, vorgelegt vom Leiter der Hauptverwaltung für Sonderbauarbeiten des MO der RF Generalleutnant Anatoli W. Grebenjuk, hat der Wirt290
schaftsrat Folgendes zu vermerken … Die Effektivität der finanzwirtschaftlichen Aktivitäten liegt unter den minimal zulässigen Kriterien. Die Bilanz der Unternehmen und Organisationen bleibt unbefriedigend, wobei sich ihre Finanzkraft noch verschlechtert hat. Für den Berichtszeitraum wird ein Verlust von 1116 Millionen Rubeln festgestellt … Der Wirtschaftsrat hat beschlossen: 1. Die finanzwirtschaftlichen Aktivitäten der staatlichen Monopolbetriebe (Trusts) der GUSS des MO der RF für das Jahr 2000 werden als befriedigend anerkannt. 2. Dem Vorstand der GUSS des MO der RF wird empfohlen, auf Grundlage von 766 UPTK spezielle Lehrgänge durchzuführen, um die positive Erfahrung bezüglich der Gestaltung der finanzwirtschaftlichen Aktivitäten zu verbreiten …« Wenn die finanzwirtschaftliche Effektivität »unter den minimal zulässigen Kriterien« liegt, werden also Lehrgänge zur »Verbreitung der positiven Erfahrung« geplant? Hier sind ein paar Erklärungen notwendig. Wie wir wissen, gibt es in der Armee Bauspezialisten. Früher hat man sie Bau-Truppen genannt, heute sind das einfach Truppenteile. Das ist das Ergebnis der Heeresreform von 1997. Damals wurden im Verteidigungsministerium vier mächtige Hauptverwaltungen für das Bauwesen aufgelöst, übrig geblieben ist nur der Baukomplex der Armee (WSK) von Russland. Dem steht Alexander Dawydowitsch Kossowan vor. Dem militärischen Rang 291
nach ist er Generaloberst. Seiner bisherigen Tätigkeit nach ist er ein erfahrener Angehöriger der rückwärtigen Dienste, sein ganzes Leben hat er als Offizier in diesen Einheiten gedient. Sein Posten ist der des stellvertretenden Verteidigungsministers, und gleichzeitig ist er jener Leiter der Verwaltung für Bauwesen und Unterbringung von Truppen, dem auch jener Wirtschaftsrat zur Seite steht, dessen seltsamer Beschluss den Wunsch hervorruft zu erfahren, was im WSK eigentlich los ist. Was ist nun diese GUSS, die so fantastische Verluste hat? Das ist die Hauptverwaltung für Sonderbauvorhaben. In der Struktur, die dem Generaloberst Kossowan untersteht, ist die GUSS die Abteilung Nummer eins und überhaupt die berühmteste unter den Baumeistern der Armee. Der Aufgabenbereich der GUSS umfasst Kosmodrome, Raketenschächte, Geheimobjekte. Übrigens noch vieles mehr. An der Spitze der GUSS steht Generalleutnant Anatoli Grebenjuk, nach Kossowan der zweite Mann in der Leitung des Baukomplexes der Armee. Die Machtvertikale im WSK ist so aufgebaut, dass in allen Geschäften von Alexander Kossowan ausgerechnet die GUSS die erste Geige spielt, wobei die GUSS unter der Leitung von Anatoli Grebenjuk wiederum zur Gänze dem General oberst Kossowan untersteht. Das bedeutet, dass die Unterschrift eines einzigen Menschen, nämlich die von Generaloberst Kossowan, über alle Gelder, die in die Hauptverwaltung für das Bauwesen hinein- und wieder herausfließen, entschei292
det. Und der erste Empfänger der Finanzströme ist die GUSS. Das Tandem Kossowan-Grebenjuk kontrolliert grundsätzlich den Bezug von Geldern aus dem Budget. Neben der GUSS gibt es in Kossowans Apparat auch die Wohnungshauptverwaltung (GLAWKEU). Sie spielt eine nebensächliche Rolle, aber im Rahmen des gesamten Schemas ist auch sie sehr wichtig. Wir wollen uns das am Beispiel eines der fettesten Brocken der staatlichen Aufträge, die das Amt von Kossowan verwaltet, ansehen. Das sind Bautätigkeiten in Tschetschenien, die unter der Kontrolle der höchsten Regierungsbeamten des Staates stehen, dementsprechend bezahlt werden und daher äußerst lukrativ sind. Es handelt sich um den Bau von Garnisonen und Truppenunterkünften im Militärstützpunkt von Chankala, um die Unterbringung der 42. Motorisierten Schützen-Division, um die Errichtung von mobilen Kasernen und so weiter. Die GLAWKEU wird von Kossowan als Auftraggeber für die in Tschetschenien durchzuführenden Bauarbeiten benannt und erhält dafür natürlich Mittel aus dem staatlichen Verteidigungsbudget für Tschetschenien. Und als Auftragnehmer wird die GUSS benannt. Das Geld wandert also von der GLAWKEU zur GUSS. Beide Verwaltungen sind eigenständige juristische Personen, sie sind so genannte Trusts mit einem Monopol für die Abwicklung von Staatsaufträgen (CGPU), was sich als ernsthafte Krankheit, sogar als Abnormität unserer Übergangswirtschaft erweist. Die zahlreichen GUPs kleben 293
an verschiedenen staatlichen Behörden und offiziellen Strukturen, wirtschaften heutzutage wie kommerzielle Betriebe, verwenden aber staatliche Mittel, um Gewinne zu erzielen. In dem oben beschriebenen Fall sind es Mittel des Verteidigungsministeriums (MO). Von der GUSS wird das Geld weitertransferiert. Laut Anordnung von Generaloberst Kossowan, der, wie wir uns erinnern, den gesamten Fluss der Gelder im Baukomplex der Armee (WSK) verwaltet, geht der größte Teil der »tschetschenischen« Mittel von der GUSS an eine andere Abteilung. Sie heißt »GUSP«, und diese Abkürzung wird – für das Russische völlig ungewöhnlich – aber tatsächlich mit Anführungszeichen verwendet. »GUSP« bedeutet »Hauptverwaltung der Bauindustrie« und ist eine Privatfirma, organisiert in Form einer Aktiengesellschaft, die als Holding fungiert. Vor der Heeresreform 1997 war sie einfach eine der Hauptverwaltungen des Verteidigungsministeriums für das Bauwesen. Nach der Umstrukturierung im Jahr 1997 wurde sie zu einer Privatfirma, hat sich aber trotzdem nicht weit von ihrer »Mutter«, dem Verteidigungsministerium, entfernt – sie weidet auf der alten Wiese. Wie wir wissen, hängt ein geschäftlicher Erfolg auf russische Art von der Möglichkeit ab, ob man sich an Budgetgeldern festsaugen kann. Was derzeit bei der »GUSP« der Fall ist. Sie ist deswegen erfolgreich, weil sie in Übereinstimmung mit den Plänen des offiziellen Mittelempfängers erfolgreich funktioniert, indem sie als Triebwerk des Kreislaufs von Budgetgeldern die wich294
tigste Funktion erfüllt. Erfolgreich ist sie selbstverständlich nur für sich selbst. Die gigantischen, fantastischen Verluste aber, die am Anfang dieser Kette standen, werden von der »GUSP« auf folgende Weise verursacht: Auf Anordnung des Generalobersts Kossowan kauft die »GUSP« Baumaterial, Ausrüstungen und andere Waren für die »tschetschenischen« militärischen Bauvorhaben. Wie die Wirtschaftsspezialisten der Wohnungshauptverwaltung (GLAWKEU) bezeugen, die sich über Kossowans Vorgehensweise ärgern und sich benachteiligt fühlen, wird das gesamte Baumaterial von der »GUSP« zu überhöhten Preisen und nur bei bestimmten Lieferanten eingekauft. Zum Beispiel kommt der Sand für den Bau nicht aus der benachbarten Region Stawropol, sondern wird aus dem Gebiet von Moskau herbeigeschafft, was die Preise in die Höhe treibt. Auch der Beton wird aus Regionen geliefert, die ziemlich weit vom Kaukasus entfernt sind, zum Beispiel aus Perm im Ural. Die Toiletten sind angeblich aus Italien, die Fliesen aus Spanien. Man soll aber nicht etwa glauben, dass im tschetschenischen Dorf Kalinowskaja, wo sich jetzt das von Kossowan-Leuten errichtete Hauptquartier der 42. Division befindet, auch lauter italienische Toiletten »untergebracht« wurden. Nein, die Toiletten sind nach wie vor aus einheimischer Produktion. Sie kosten nur genauso viel wie die italienischen. Das Gleiche geschieht mit den Fliesen, dem Sand, dem Zement … Und selbst eine minimale Erhöhung 295
der Preise von Baumaterial um 10 Prozent ergibt im Endeffekt verrückte Verluste von mehr als 25 Prozent. Die Gewinne gehen an die »GUSP«, die Verluste hat die heiß geliebte Heimat zu tragen. Heute führen alle Wege im Baukomplex der Armee (WIK) zum stellvertretenden Verteidigungsminister Kossowan. »Im Interesse der Kontrolle über die Ausgabe von Budgetgeldern« unterschreibt er alle Finanzdokumente. Und sogar die Kontrollkommission, die das Dreieck »GUSP«, GUSS und GLAW-KEU überprüfen sollte, leitet derselbe Generaloberst Kossowan. Er trifft die Entscheidungen, er gibt das Geld aus, er schreibt sich selbst den Prüfungsbericht. Daher das Fazit: Einerseits gibt es Verluste in Milliardenhöhe, andererseits ist die Arbeit »befriedigend« … Die GUSS und die »GUSP« haben mit ihren ziemlich teuren Dienstleistungen nicht nur das Verteidigungsministerium überschwemmt. Sie bauen heute in Tschetschenien Kasernen und Hauptquartiere für Einheiten des Innenministeriums (MWD) und für die Grenztruppen. Das heißt: Generaloberst Kossowan und mit ihm kooperierende »juristische Personen« halten das Monopol auf dem Markt der »tschetschenischen« Militär-Bauindustrie, sie können die für das Verteidigungsministerium (MO), das Innenministerium (MWD) und den Föderalen Grenzdienst (FSP) freigegebenen Budgetgelder direkt in die kommerziellen Strukturen und in die Taschen von irgendwelchen Leuten transferieren. 296
Schon wieder wird da ein »eigener« Oligarch aufgepäppelt. Und das Resultat: Sowohl für diesen Oligarchen als auch für die ranghöchsten Generäle der Militär-Bauindustrie sind die nicht enden wollenden Kampfhandlungen in Tschetschenien und das »In-die-Luft-Jagen« der erst vor kurzem errichteten Objekte durch die Rebellen außerordentlich lukrativ. Mit solchen Gewinnen kann man den Krieg in Tschetschenien ewig weiterführen – bis das staatliche Finanzsystem zusammenbricht. Aber höchste Zeit, dass wir vom Allgemeinen zu konkreten Details zurückkehren. Wie hoch ist beim Gesamtverlust der Anteil jener Verluste, die durch künstliche Preiserhöhung hervorgerufen wurden, und wie hoch ist der Anteil der tatsächlichen Verluste? Die Position des Baukomplexes der Armee (WSK), so wie sie von Oberst Fjodor Koroban, Stellvertreter des Generaloberst Kossowan in ökonomischen Fragen, vertreten wird, ist eindeutig. Die Verluste haben mit seiner Behörde nichts zu tun, sie sind die Strafe für die nicht erfolgten Einzahlungen ins Budget. Und diese Einzahlungen sind deswegen nicht erfolgt, weil das Budget selbst Schulden bei der GUSS hat, denn der Staat hat die geleisteten Arbeiten nicht bezahlt. Was sollte der Oberst sonst sagen? Aber die Wirtschaftsspezialisten der Armee, die in der Wohnungshauptverwaltung GLAWKEU arbeiten und sich übergangen fühlen (das Geld für Tschetschenien »fließt nur über sie weiter« zur halb kommerziellen GUSS 297
und zur rein kommerziellen »GUSP«), sind überzeugt, dass die Verluste durch gezieltes Vorgehen unter Leitung des stellvertretenden Verteidigungsministers Kossowan künstlich hervorgerufen werden. Wenn man die Chance bekommt, zum General aufzusteigen, prächtige Schulterstücke zu tragen, Frontgeld und Sonderzulagen zu erhalten, Dienstjahre für die frühzeitige Pensionierung zu sammeln und gleichzeitig Geschäfte zu betreiben … Und das nicht in der Freizeit, sondern gleich am Arbeitsplatz! Ein Geschäftsmann dient den Interessen des Geschäfts, für ihn ist das Wichtigste, Profit zu erzielen. Als erfolgreicher Geschäftsmann gilt einer, der sich nicht allzu zimperlich gebärdet. Aber ein Offizier dient dem Interesse seiner Heimat. Wenn du aber Offizier und gleichzeitig Geschäftsmann bist? Wem dienst du dann? Die Interessen des privaten Geschäfts und die der Heimat decken sich nicht immer. Der Staat hat seinen Angestellten, noch schlimmer, den ranghöchsten Offizieren, erlaubt, zwei Gesichter zu haben, von denen eins ein rein kommerzielles ist – und damit hat er das Todesurteil für sein Budget unterschrieben. DIE STAATLICHEN GELDER WERDEN IN DIESEM FALL SO VERWENDET, DASS VERLUSTE UNVERMEIDLICH SIND. DIE GEWINNE LANDEN IN PRIVATEN TASCHEN. DER ÜBELSTAND DES WIRTSCHAFTLICHEN SCHEMAS IST OFFENSICHTLICH.
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Die Wunderfelder Wenn in einem Gespräch die Frage aufkommt, was ei gentlich der Grund für den Tschetschenien-Krieg ist, meinen die meisten – das Öl. Wie Könige regieren die »tsche tschenische Pipeline« und die »tschetschenischen Bohrstellen« seit 10 Jahren willkürlich das Leben von Hunderttausenden Menschen. Wer in Tschetschenien eine Bohrstelle hat, der ist auch im Recht. Wer für Dshochar Dudajew kämpfte, bekam als Belohnung Bohrstellen von ihm geschenkt. Wer ein Anhänger von Aslan Maschadow war, bekam die Bohrstellen von Maschadow. Diese Tradition lässt sich auch jetzt beobachten. Die Aufteilung des schmackhaftesten tschetschenischen »Kuchens« ist in vollem Gang. Unter Aufsicht des Siegers – der Föde rationstruppen. In einem weit entfernten Randbezirk von Argun, ungefähr fünf Kilometer von der Hauptstraße Richtung Grosny entfernt, befindet sich die bescheidene Einfahrt zu einer Kolchose. Ein unauffälliger Weg, der zu den Feldern führt. In einiger Entfernung ein Traktor, der neugierige Blicke ablenkt. Irgendjemand sammelt etwas auf. Weit und breit kein einziger Soldat, keine Postenstelle. Dieser Mann da könnte der Wächter der Kolchose sein. Er hebt und senkt ein Seil mit roten Fähnchen. Neben dem erbärmlichen Wächterhäuschen steht ein ramponierter roter »Shiguli«. Sonst gibt es nichts Besonderes zu 299
sehen, außer dass unser Auto von den vier Paar aufmerksamen Augen der »Shiguli«-Insassen beobachtet wird. Aber auch wir wissen, dass wir nicht zu einem Picknick unterwegs sind. Die ehemalige Kolchos-Straße führt zwischen alten Birnbäumen direkt zu den hiesigen »Goldgruben«. Nach einigen Kilometern auf der mühsam befahrbaren Straße sehen wir die Wunderfelder von Argun. Im Klartext: die ausgegrabene Pipeline, einfach »das Rohr« genannt, die über und über mit illegalen Zapfstellen versehen ist. Aus den Löchern verschiedener Größe – ein Teil ist ganz klein, anscheinend durch Schüsse aufgerissen, andere sind breiter – fließt rund um die Uhr das tschetschenische Öl. Es kommt in natürliche Klärbecken, in Gruben von unterschiedlicher Breite und nicht zu bestimmender Tiefe. Im lokalen Slang heißen sie »Speicher«. Hier wird das gestohlene Rohöl erstmalig entgast und raffiniert. Auf dem Wunderfeld der Kolchose kann man den ganzen Prozess des Öldiebstahls beobachten. Da sind die alten »Speicher«, die sind im Augenblick trocken und »erholen sich«. Etwas weiter die frisch ausgegrabenen, die auch noch leer sind. Anscheinend wurde hier in der letzten Nacht gegraben, und es müssen erst einige Tage vergehen, damit die Erde sich setzt. Dann werden auch die neuen »Speicher« an die Kette angeschlossen. Und da sind auch die wichtigsten Gruben – voll gefüllt mit Öl. Es schimmert grellgrün. Das heißt, es ist schon »gar«, und der Tankwagen wird bald kommen, um es abzupumpen. Das können wir leider nicht mehr beobachten. 300
Der »Kolchos-Wächter« gewährte uns nur circa zehn Minuten für die Exkursion über die Felder. Die Stille der Einöde, die das Geheimnis der Klärbecken umgibt, wird von Hubschraubern zerrissen. Sie kreisen über der freigelegten Pipeline, und unsere Begleiter, die Bescheid wissen, empfehlen uns abzufahren. Die im Hubschrauber werden nicht lange fragen, warum wir uns die Anlagen ansehen. Sie werden einfach schießen. Zu viel Geld ist im Spiel, keine Zeit für überflüssige Fragen, einfacher ist es, sofort zu töten. Ein paar hundert Meter weiter begegnen wir den hiesigen »Spähern«. Das sind so genannte tschetschenische Polizisten im weißen Jeep ohne Kennzeichen, selbstverständlich mit Maschinengewehren bewaffnet. Die Türen des Autos stehen schon offen – sie sind bereit, auf uns zu schießen. Kein Zweifel, der »Wächter« hat die Maschinengewehrschützen gerufen, und auch die Leute im roten »Shiguli« haben sie verständigt. Gott sei Dank geschieht ein Wunder. Die »Polizisten« geben uns frei, und wir rasen in hohem Tempo am »Wächter« vorbei, der uns verblüfft nachsieht, weil wir noch am Leben sind … Solche Wunderfelder findet man in Tschetschenien überall wo Öl vorkommt. Das ist ungefähr die Hälfte des Territoriums. Die neuere Geschichte des tschetschenischen Öls ist vor allem eine Geschichte des Diebstahls. Man kann stehlen, soviel man will, soviel man transportieren kann. Die illegale Ölförderung und -verarbeitung läuft wie am Schnürchen. 301
Aber die wichtigsten Schlachten werden nicht um die »Wunderfelder«, sondern um die Bohrlöcher geschlagen. Vielleicht wurden wir wegen unserer Exkursion zur Kolchose von Argun nur deswegen nicht umgebracht, weil es sich im Grunde um Lappalien, um das Eigentum der »niederen Klasse« handelte. Offiziell, den Dokumenten nach, gibt es im BrennstoffEnergie-Komplex (TEK) der Republik neun Industriezweige, und alle sind staatliches Eigentum: Erdöl- und Erdgasförderung Erdölverarbeitung und Petrochemie Herstellung von Erdölprodukten Erdölleitungen (Trans-Öl) Erdgasindustrie (Gasversorgung, Trans-Gas, Nutzbarmachung) Energiewirtschaft Ökologische Technologien Topprom (fester Brennstoff) Erdöl- und Erdgas-Forschungsinstitut (NII) Das Wichtigste an dieser Liste ist, dass der TEK praktisch stillsteht und das Ölgeschäft, das dem Budget der Republik zugute käme, nicht funktioniert. Und gleichzeitig ist ALLES IN BETRIEB. Das heißt: Der ganze TEK arbeitet schwarz. Die Pipelines von Trans-Öl wurden unter den zahlreichen kriminellen Gruppen aufgeteilt, die von der tschetschenischen Polizei und den föderalen Streitkräften beschützt werden. 302
Wer den Auftrag hat, nicht in Betrieb stehende Objekte des TEK zu bewachen, bereichert sich stillschweigend und stiehlt in einem rekordverdächtigen Tempo. Obwohl in Tschetschenien alle Erdölraffinerien halb zerstört sind, gibt es dort trotzdem noch einiges zu holen. Die willkürliche Demontage der Einrichtung wird massenhaft betrieben. Hauptsächlich geht das so vor sich: In der Nacht, wenn eigentlich Ausgangssperre ist und die Kontrollposten ohne Vorwarnung auf alles, was sich bewegt, schießen müssten, fahren zivile Lastwagen mit tschetschenischen Kennzeichen voll beladen mit Maschinenteilen etc. Richtung Ossetien und in die Richtung der Region Stawropol. Normalerweise werden die Transporte mit dem gestohlenen Staatseigentum von Kontraktniks der russischen Truppen, denen es egal ist, womit sie ihr Geschäft machen, eskortiert. Dieses Tandem ist perfekt eingespielt: Russische Militärs haben sich mit tschetschenischen Dieben zu effizienten kriminellen Banden zusammengeschlossen. Weder die Chefs der tschetschenischen Zivilverwaltung, die für den TEK verantwortlich sind, noch Angehörige anderer russischer Einheiten wagen es, diese neuen Banden anzutasten. Zum Beispiel die zur Kommandantur in Grosny gehörenden Einheiten, die dafür verantwortlich sind, dass die Betriebe auf einem ihnen zugeteilten Gebiet unbeschädigt bleiben. Sie fürchten sich, zufällig erschossen zu werden, was schon etliche Male passiert ist. Natürlich haben sich die offiziellen tschetschenischen Behörden bemüht, die Wirtschaft anzukurbeln und sie 303
im Rahmen des Gesetzes zum Laufen zu bringen. Aber das entpuppte sich als so schwierig, dass die Regierung rasch resignierte und die Sache auf bessere Zeiten verschob, zum Kriegsende hin – aber der Krieg will nicht enden …
Die Flamme von Zozan-Jurt Heute haben alle Bohrstellen in Tschetschenien einen Besitzer, obwohl sie auf dem Papier alle dem Staat gehören. Und je nach realem Besitzer gibt es zwei Arten von Bohrlöchern: brennende und normale. Die einen gehen plötzlich in Flammen auf, andere verlöschen, aber die dritten sind immer gleichbleibend. Wenn einer Bohrstelle nichts passiert, bedeutet das, dass ihr Eigentümer ein angesehener reicher Mann ist, der seine eigene »Garde« hat, und sein Eigentum daher unumstritten ist. Um die übrigen Bohrlöcher tobt tagtäglich der unerbittliche Kampf unter Einsatz von Feuerwaffen. Fährt man von Gudermes nach Osten ins Kreisgebiet Kurtschaloi, in die kleine Heimat des derzeitigen Leiters der tschetschenischen Zivilverwaltung Achmad-Hadshi Kadyrow, begreift man sofort, wo sich die wirkliche Hauptstadt des lokalen illegalen Ölmarkts befindet. Im Grunde existiert in Tschetschenien keine einzige Straße, auf der man nicht selbst hergestelltes Benzin kaufen 304
kann, aber der Ölhandel in Kurtschaloi findet einfach vor jedem Haus und an jeder Ecke statt. Fast vor jedem Hof steht ein Tankwagen. Auf der leeren Betonstraße fahre ich auf eine wild tobende Fackel zu. Das ist die so genannte Bohrstelle Nummer sieben (so die offizielle Bezeichnung) nahe der Ortschaft Zozan-Jurt. Je näher ich an die »Nummer sieben« herankomme, desto mehr Ölhändler sehe ich am Straßenrand. Das gleiche Bild auch in der Kreisstadt Kurtschaloi. Und im Dorf Nowaja Shizn am Rand des Vorgebirges. Es ist klar, der Markt ist gesättigt mit fertiger Produktion, und das Angebot übersteigt um ein Vielfaches die Nachfrage. Ein Getöse, vergleichbar nur mit dem Geheul eines Düsenantriebs, wird immer lauter. Jeder vernünftige Mensch begreift sofort, dass man hier nicht leben kann. Aber in den umliegenden Häusern sieht man Kinder und Erwachsene. Arme Familien, die nicht fortgehen können, keinen Ort haben, an dem sie wenigstens vorübergehend hausen könnten. Die brennenden Bohrlöcher – sie gehören jenen Banden, die ihre Bohrstelle nicht vollständig kontrollieren können. Wenn sich zeigt, dass ein Besitzer der Sache nicht gewachsen ist (in der Regel wegen des Mangels an Bewachungspersonal), zündet er die Bohrstelle selbst an (selbstverständlich nicht eigenhändig), damit keiner ein Auge auf sie wirft. Das Argument, dass nebenan Menschen leben, es ihrer Gesundheit schadet und in einer 305
Entfernung von 100 Metern Kinder spielen, interessiert niemanden. Normalerweise jagen russische Soldaten die Bohrstellen in die Luft. Der Besitzer bezahlt sie dafür. Das ist auch deswegen bequem, weil sie sich selbst nicht verfolgen werden. Die neben den brennenden Fackeln lebenden Dorfbewohner sehen, wie das vor sich geht: Die russische Armee, hierher gekommen, um die tschetschenischen Kriminellen auszurotten, arbeitet in deren Auftrag. Wenn die Sache erledigt ist, legt »der Auftraggeber« 100 Meter von der Fackel entfernt ein neues »Wunderfeld« an, in der Art von dem in Argun. Falls aber so etwas wie offizielle Feuerwehrleute auftauchen und anfangen, die Flamme zu löschen, dann ist das für die Anrainer auch ein Zeichen. Das heißt, es gibt einen neuen Eigentümer, einen neuen Banditen, der den früheren Besitzer umgebracht oder ihm die Bohrstelle abgekauft hat und der sich sogar einen Feuerwehreinsatz leisten kann. Was hier viel teurer ist als eine Sprengung. Die Statistik zeigt, dass während der schweren Kämpfe im Oktober und November 1999 in Tschetschenien nur drei Bohrlöcher brannten. Als sich die Front aber ins Gebirge verschob und die Zeit reif war, das Eigentum aufzuteilen, waren es schon elf. Kurz darauf achtzehn. Im Sommer 2000 kletterte die Zahl auf vierunddreißig. Dann sank sie ein bisschen und blieb stabil zwischen zweiundzwanzig und fünfundzwanzig. Das beweist, dass 306
die Kontrahenten auf dem illegalen Markt sich miteinander arrangiert haben. Täglich schleudern die brennenden Bohrstellen rund um die Uhr bis zu 6000 Tonnen Öl im Wert von einer Million Dollar in die Luft. Man kann sich lebhaft vorstellen, welche Unsumme, ja vielleicht sogar Hunderte von Millionen in kriminellen Geldbörsen landen, wenn es ihnen um eine Million pro Tag nicht leid tut! Dass der tschetschenische illegale Ölmarkt Supergewinne abwirft, erhärtet auch die Tatsache, dass rings um alle Bohrlöcher und so genannte »Samoware« (MiniFabriken, die das Rohöl auf primitive Weise verarbeiten) die Felder voll mit verbranntem Masut sind. Nach dem Abfüllen von Benzin bleibt in den Behältern, wie wir wissen, Masut zurück, ein Stoff, der bei der Destillation von Erdöl entsteht und als Schmiermittel oder zur Beheizung industrieller Anlagen verwendet wird. Eine Tonne kostet 3000 Rubel. Aber für Masut interessiert sich in Tschetschenien überhaupt niemand. Es wird entweder ohne Bedauern (für die Erde) weggeschüttet oder verbrannt. Die Diebe zerbrechen sich natürlich über ökologische Probleme nicht den Kopf, das ist nicht ihr Stil. Die Straße zur »Nummer sieben« ist von Mini-Fabriken mit großen Apparaten zur Schwarzdestillation gesäumt, die aus zwei Tanks, einem Brenner und einigen großen Rohren bestehen. Ab und zu führen die Militärs Razzien in den krumm und schief gebauten Schwarzbrennereien durch, die gleich neben den Dorfhäusern liegen. Sie sprengen sie, beschießen sie, schlagen alles kurz 307
und klein. Wenn der Besitzer zahlt, fahren sie weg. Das »Lösegeld« beträgt fünftausend bis zehntausend Rubel. Und nach oben, zum Generalstab in Moskau, gehen unterdessen schöne Rapporte über weitere Operationen im Kampf gegen das illegale Ölgeschäft in Tschetschenien. Die Chefs der zuständigen Ministerien berichten der Öffentlichkeit vom nächsten Erfolg im Kampf gegen den »internationalen Terrorismus«. Aber was geschieht in Wirklichkeit? Sogar wenn die Föderalen die so genannten »Samoware« vernichten, lassen sie die Bohrstellen, die Quelle für das Wüten der Banditen, unbeschädigt. Sie bekämpfen die Folgen, aber nicht die Ursache. Vielleicht deswegen, weil sie daran interessiert sind? Und jemand seinen Anteil daran hat? Wenn die russischen Militärs den kategorischen Befehl erhalten hätten, neben jedem Bohrloch Kontrollposten aufzustellen und nur die Mitarbeiter von »Grosny-Öl« durchzulassen, würden sie es auch tun. Auch die Tatsache, dass es in Dörfern mit Bohrstellen nie Kämpfe gegeben hat, beweist das besondere Interesse von Personen mit Schulterstücken am Öl. Hier wird nichts zerstört. Diese Ortschaften schützen beide kämpfende Seiten – die tschetschenischen Rebellen und die Föderalen. Die Armee führt hier erst Säuberungen durch, wenn sich die Volksmassen gegen die Barbarei der kriminellen Ölbanden empören. Ali Abujew, ehemaliger Chef der Zivilverwaltung, galt zum Beispiel eine Zeit lang als Anführer der antikriminellen Bewegung von Zozan-Jurt. Und ausgerechnet er 308
wurde bei der letzten Säuberung festgenommen. Kurz vor seiner Verhaftung hatten Männer aus dem Dorf unter seiner Führung die verdammte »Nummer sieben« mit einem in zwei Hälften zersägten Öltank dicht verschlossen. Ali Abujew ist kein Wahhabit, kein Rebell, weder für Russland noch für Achmad-Hadshi Kadyrow. Er steht für sich allein – als Verteidiger des Rechts der Dorfbewohner auf ein menschliches Leben. Ein anständiger mutiger Mann. Aber dann muss man sich die Militärs anhören. Sie werden einem erzählen, dass Ali Abujew ein Freund von Omar Ibn al-Chattab und ein Feind Moskaus ist. Darum wird er so lange sitzen müssen, wie der Krieg in Tschetschenien dauert. Wenn man um Beweise seiner Schuld bittet, lautet die Antwort: »Wir haben spezielle Berichte unserer Agenten.« Beziehungsweise Denunziationen von Schuften, die Ali Abujews Bemühungen zunichte machen wollen. Ali Abujew wurde verhaftet, die Bohrstelle wieder angezündet, am »Rohr« entstanden neue Anschlüsse, ringsum wurden Gruben für die Kläranlagen ausgehoben, und die »Samoware« waren auch wieder da. Das Leben in Zozaj-Jurt geht wieder seinen gewohnten kriminellen Gang.
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»Komm her, sei nicht geizig« Das letzte Glied in der Kette des illegalen tschetschenischen TEK ist die Börse. Am Ortsanfang von ZozanJurt befindet sich wie zu Maschadowschen Vorkriegszeiten neben dem »Café Islam« die berühmte Ölbörse. Das ist der Umschlagplatz. Hierher werden Erdöl und Erdölprodukte gebracht und an die Großhändler verkauft. Vor der Nase des nur hundert Meter entfernten Kontrollpostens. Die Existenz der Börse ist natürlich ein Zeichen für die Entwicklung von marktwirtschaftlicher Zivilisation. Aber in der heutigen tschetschenischen Variante ist sie eher ein Symptom für die Entstehung eines illegalen Basars. Das »Ein-Mann-Orchester« – also derjenige, der früher das Öl abpumpte, verarbeitete und verkaufte – gehört der Vergangenheit an. Heute ist es in Tschetschenien üblich, dass die einen für die Anschlüsse am »Rohr« zuständig sind, das Öl klären und es so lange bewachen, bis es aus den Speichern abgepumpt werden kann. Die anderen bringen es zum Handelsplatz – zur Börse. Die Dritten holen es ab zur Weiterverarbeitung. Die Vierten beschäftigen sich nur mit dem Transport. Und schließlich gibt es noch die Großhändler für das Endprodukt. Ein Teil von denen bevorzugt die Börse unter den wachsamen Augen der nahe liegenden Postenstelle, die anderen liefern die Ware an die Kleinhändler. Was als lukratives, aber gefährliches Geschäft gilt, denn jedes Dorf hat seine eigenen Schutzgelderpresser, die noch dazu ver310
schiedenen Banden angehören. Das bedeutet, man muss mehrere Leute gleichzeitig bezahlen. Normalerweise werden mindestens drei Taschen aufgehalten. Die erste Instanz ist der Kontrollposten am Orts eingang. Die zweite sind die örtlichen Kriminellen, die bei den Großhändlern schmarotzen. Die dritte Instanz ist der Kontrollposten am Ortsausgang. Die Höhe der »Zollgebühren« hängt von verschiedenen Faktoren ab: wie weit die Siedlung vom Ort der andauernden Kampfhandlungen entfernt liegt, wie groß sie ist – das heißt, wie hoch die Anzahl der potentiellen Kleinhändler ist.
Wer bereichert sich? Einer der frisch ernannten tschetschenischen Beamten, der von mir verlangte, seinen Namen unter keinen Umständen zu erwähnen oder besser noch in alle Ewigkeit zu vergessen, sagte: »Jede Nacht werden Tausende Tonnen von Erdöl und Erdölprodukten illegal aus Tschetschenien ausgeführt. Und wir können uns nicht einmal Büromaterial leisten …« Tschetschenien heute, das ist eine endlose blutige Fehde um Bohrlöcher und »Wunderfelder«, doch davon wird die Republik kein bisschen reicher. Weder gibt es Geld für den Wiederaufbau der Industrie noch für den Bau von Häusern für die Obdachlosen. Jeder bereichert sich an Tschetscheniens Öl, nur das Land selbst hat nichts davon. Die Krise verschärft sich auch deswegen, weil 311
das wirtschaftliche Chaos in Tschetschenien, abgesehen davon, dass es künstlich provoziert wurde, auch noch fleißig von Moskau unterstützt wird. Bisher gibt es keine einzige funktionierende Bank, keine einzige legale Finanzquelle. Das ganze Geld aus dem Ölgeschäft befindet sich in Sparstrümpfen oder im Ausland. Jeder Versuch, ein legales Finanzsystem zu installieren, scheitert an der offenen Sabotage durch ranghohe Beamte der Föderation. Moskau ist daran interessiert, dass Tschetschenien möglichst lange keine Banken, keine Finanzämter, keine funktionierende Justiz und keine zivile Staatsanwaltschaft hat, damit die unfassbaren Gewinne aus dem Ölgeschäft in die »richtige« Richtung fließen. Und daran, dass es keine staatlichen Organe gibt, die den Fluss der Gelder in die Kasse der Republik umlenken könnten. Es ist völlig klar, dass alles oben Ausgeführte nur unter zwei Bedingungen existieren kann. Erstens braucht man ein »Schutzdach«. (Das ist die russische Armee.) Zweitens darf man es nicht zulassen, dass die offizielle Verwaltung des tschetschenischen Erdöl-Komplexes funktioniert. (Das hat man geschafft.) Wenn behauptet wird, die absolute Gesetzlosigkeit im Ölgeschäft habe mit dem Machtwechsel und der Konsolidierung der neuen tschetschenischen Macht zu tun, so braucht man das nicht zu glauben. Das Problem ist ja gerade die Sabotage, die hartnäckige Weigerung von Seiten Moskaus – der Regierung, der höheren Beamten und des Generalstabs –, Ordnung in die Wirtschaft zu bringen. 312
Moskau will von Tschetschenien nur eins – Chaos. Das organisierte Chaos ist am lukrativsten. Deswegen rollen die Tankwagen Tag und Nacht. Die Kontrollposten salutieren. Das ist die ganze Geschichte mit diesem Krieg. Tausende Menschenleben wurden schon geopfert, damit die Bohrstellen und »das Rohr« neue Besitzer bekommen können. Und viele werden noch im Kampf für die Öl-Revolution in Tschetschenien geopfert werden. Denn es geht um Millionen von Dollar.
Waisenkinder Rein äußerlich betrachtet ist alles gar nicht so übel. Es gibt jetzt eine Zugverbindung von Gudermes nach Moskau. Im Eisenbahnkrankenhaus wurde zum ersten Mal seit Kriegsbeginn eine komplett ausgerüstete chirurgische Station eröffnet. Neue Mähdrescher für die Ernte wurden angeschafft. Hat es so etwas seit 1994 gegeben? Tschetschenien bekam wie die anderen russischen Regionen sein eigenes Budget. Auch das zum ersten Mal in den letzten zehn Jahren. Die erste Bank wurde amtlich registriert – sie funktioniert zwar nicht, aber Hauptsache es gibt sie. Aus Moskau kam Geld für die ausstehenden Löhne der Staatsbediensteten für die Jahre 2000 und 2001. Die neue tschetschenische Macht kann eine ganze Liste von Erfolgen vorweisen, durch die das Leben des vom Krieg gebeutelten Volkes normalisiert wurde. Aber diese Erfolge kamen nicht dank, sondern wider 313
etwas zustande. Und sehr oft ist es ausgerechnet die vielköpfige Armee des neuen tschetschenischen Beamtenapparats in den Stadt- und Kreisverwaltungen, die das friedliche Leben zuerst sabotiert. Leute, die ihre Posten der Vetternwirtschaft verdanken, offensichtlich überhaupt nicht arbeiten wollen und zutiefst daran interessiert sind, dass die Wirren des Krieges möglichst lange anhalten. Der Lebensinhalt dieser Leute ist Fälschung, Betrug, Spekulation mit allem, was sich anbietet, inklusive dem, womit man nicht spekulieren darf. Laut Unterlagen ist das Waisenheim in Kurtschaloi seit dem 15. April 2001 »in Betrieb«. Hier wohnen also schon Waisenkinder? Am 20. April 2001 waren die Türen des ehemaligen Kindergartens in der Lenin-Straße im Kreiszentrum Kurtschaloi, wo sich jetzt laut offiziellen Unterlagen das Heim befindet, fest verrammelt. Auf den Lärm hin kommen Leute, die den Direktor des Waisenheims holen lassen, Ibragim Jachjajew, laut Unterlagen ein sehr erfahrener Mann, seit dreiundzwanzig Jahren im pädagogischen Dienst. Wir werden einander vorgestellt. Und es beginnt ein seltsames Gespräch, ungefähr wie zwischen einem Tauben und einem Stummen. »Wo sind die Kinder?« »Zu Hause …« »Wozu brauchen Kinder, die ein Zuhause haben, ein Waisenheim?« Der Direktor glotzt mich stumm an, als hätte er keine Ahnung, wovon ich rede. 314
»Zeigen Sie mir bitte die Liste der Waisenkinder, die seit dem 15. April hier wohnen.« »Hier.« »Aber da stehen keine Adressen, wo die Kinder sich im Augenblick aufhalten.« »Wozu brauchen Sie Adressen?« »Weil ich die Kinder kennen lernen möchte, die im Heim vom Staat versorgt werden.« Der Direktor glotzt zuerst mich, dann die Decke an. Wie ein schlechter Schüler, der sich nach dem Ende der Stunde sehnt und nur die Zeit totschlägt. Dann wirft er seinen Stellvertretern Blicke zu, worauf die das alte Lied anstimmen: »Sie müssen sofort wegfahren, hier ist es gefährlich. Lauter Banditen. Auch die Armee kann jederzeit einfallen. Die werden Sie umbringen.« »Bitte, holen Sie doch jetzt irgendein Kind von dieser Liste.« »Wozu?« »Weil ich es will!« Wir warten. Endlich werden drei winzige Mädchen gebracht. Zuerst betont der Direktor, dass sie kein Wort Russisch verstehen. Aber die Mädchen sind klein und naiv, noch nicht so schlau wie die Erwachsenen, und so stellt sich bald heraus, dass sie doch Russisch können. Ich weiß nicht, wie ich taktvoll fragen soll, was ihren Eltern zugestoßen ist. Ich will keine Wunden aufreißen. Aber die Mädchen lachen mich auf meine Frage fröhlich an. Ihre Mütter sind gesund und munter. »Und wo wohnt ihr?« 315
»Zu Hause. Bei Opa und Oma.« Direktor Jachjajew zuckt mit keiner Wimper, als ob alles in Ordnung wäre. »Kommt Ihnen das nicht komisch vor?« Er schweigt, zuckt die Achseln. »Wo ist die staatlich subventionierte Einrichtung für das Waisenheim, die Sie laut Lieferscheinen schon am 10. und 13. Februar bekommen haben?« »Im Lager.« »Gehen wir zum Lager. Zeigen Sie es mir.« »Das ist bei mir zu Hause.« »Das Lager?« »Bei mir ist es sicherer.« »Gut, dann gehen wir zu Ihnen.« In diesem Augenblick erscheint auf dem Gesicht des Direktors, absolut fehl am Platz, ein zufriedenes Lächeln. »Das geht nicht«, sagt der Direktor fröhlich, er spürt, dass er gesiegt hat und die lästigen Leute jetzt unverrichteter Dinge wegfahren müssen. Aber ich gebe nicht auf. Ich fordere weiter. Dann stellt sich heraus, dass sein Haus im Dorf Geldeken liegt, wo im Augenblick eine Säuberung im Gange ist, was das Haus des »Waisenheimdirektors« mit der tollen pädagogischen Laufbahn vor der Besichtigung rettet. Das Haus muss das Ausmaß einer Flugzeughalle haben, weil dort, geschützt vor neugierigen Blicken, laut Lieferscheinen 15 Betten (dem Preis nach Doppelbetten), 26 Esstische, 40 Nachttische, 48 Polstersessel, 40 Steppdecken, 40 Decken, 316
Matratzen, 100 Garnituren Bettwäsche, 40 Kopfkissen, 150 Handtücher und viele andere Sachen untergebracht sind. Der Direktor lächelt ruhig und erleichtert. Die russische Spezialeingreiftruppe OMON aus Smolensk hat ihn gerettet. Sie bewachen die Postenstelle am Ortseingang des Dorfes Geldeken, lassen keinen Fremden herein und fallen dem Direktor, der ihnen etwas zuflüstert, wie einem Bruder um den Hals. Solche Geschichten kann man in Tschetschenien überall erleben. Das Interesse der Beamten am Krieg ist einer der stärksten Anreize für dessen Fortsetzung. Genauso daran interessiert ist die Generalität in Chankala (Stützpunkt der russischen Armee im Nordkaukasus) sowie der Generalstab in Moskau. Die Offiziere der mittleren Ränge, die am Rand der tschetschenischen Ortschaften stationiert sind, unterhalten freundschaftliche Beziehungen zu den örtlichen kleinen Angestellten. Beide Seiten wollen nicht, dass jemand die Nase in ihren winzigen, aber fruchtbaren Zirkel steckt. Dafür gibt es eine ausgezeichnete Methode – gewisse unkontrollierbare »Sondermaßnahmen« oder »Säuberungen«, die man durchführt, wenn es notwendig erscheint, irgendeine Ortschaft »abzuriegeln«. Keiner hat einen blassen Schimmer, wo die Doppelbetten und die Tische für die Waisenkinder sind. Ich fürchte, wir werden es auch nie erfahren. In der Geschichte mit dem Waisenheim von Kurtschaloi gibt es noch ein für das Leben in Tschetschenien typisches 317
Detail. Direktor Jachjajew sitzt nur deswegen auf seinem Posten, noch dazu so sattelfest, weil er ein Protege von Achmad-Hadshi Kadyrow, dem Verwaltungsleiter der Republik, ist. Sie sind entweder gute Bekannte oder entfernte Verwandte. Auf diese Weise werden heute in Tschetschenien fast alle Posten besetzt. Aber wenn einem zu einem Job verholfen wurde, muss man dafür alles teilen, was einem in die Hände fällt. Zum Beispiel Tische, Betten, Decken. Die Methode »50:50« gilt selbst für die Auszahlung des Kindergeldes, einer erbärmlichen Summe von 58 Rubeln und ein paar Kopeken. Man muss der »verantwortlichen Person«, die am staatlichen Futtertrog sitzt, die Hälfte geben und vom Rest leben. Gott schütze einen, falls man das nicht möchte. Das Geschäft mit dem Codewort »50:50« hat sich unglaublich gut entwickelt. Jedem Beamten, der mit staatlichen Geldern zu tun hat, wird angeboten, mit einem der einflussreichen Tschetschenen zu teilen. Dieses zynische »50:50« erstreckt sich auf das Kindergeld, auf die Prothesen für Invaliden, auf die Weitergabe von Arzneimitteln an die Krankenhäuser. Eine Hälfte kriegt das Krankenhaus, die andere wird auf dem Schwarzmarkt verkauft. Die überwältigende Mehrheit der neuen tschetschenischen Staatsdiener, die sich im Umfeld der militärischen Machthaber eingenistet haben, träumt davon, dass der Zustand »weder Krieg noch Frieden« möglichst lange anhält. Im Schatten des Kugelhagels ist alles möglich: das illegale Ölgeschäft, das berüchtigte »50:50«, Hilfsgüter auf 318
dem Schwarzmarkt, Arzneimittel, gratis in die Republik geschickt, die jetzt in Mitarbeitern des Gesundheitsministeriums und ihren Verwandten gehörenden privaten Apotheken verkauft werden … Schlicht und einfach heißt das Sabotage. Der freche Diebstahl, das Fertigmachen von Widerspenstigen oder Erbsenzählern ist ganz einfach. Wieder ein Resultat des Kriegszustands. Man muss nur zum FSB laufen und jemanden denunzieren. Man braucht nur in ein Dorf zu gehen, und jeder sagt einem, wer der Informant ist und warum. Sowohl die Militärs als auch die Zivilbevölkerung sind durch den Krieg bis ins Mark demoralisiert. Das Ergebnis ist eine explosive Mischung. Das militärische Tschetschenien, wo die Faust, Gefangenengruben und die Maschinenpistole regieren, hat sich wie eine Schicht über das angeblich friedliche Tschetschenien gelegt, wo Betrug, Vetternwirtschaft und Chaos das Sagen haben.
DIE »WESTLER« UND DIE »ORIENTALISTEN« Der russischen Armee steht mittlerweile der dritte Winter im Schützengraben bevor. Warum dauert der Krieg so lange? Wer leistet der Armee in Tschetschenien Widerstand? Was geht in dem Lager vor sich, das gegen die russischen Streitkräfte kämpft? Was wollen die so genannten Feldkommandeure? Und wer kämpft noch hier – wenn die meisten von denen ins Ausland 319
abgehauen sind, »um sich durch Flucht für den zukünftigen Kampf zu retten«, und dadurch jenen Teil der Bevölkerung, der sich keine Flucht leisten kann, zynisch der Vernichtung preisgegeben haben? Und für welche Interessen wird noch gekämpft?
»Die alte Garde« Von einer Gruppe der tschetschenischen Feldkommandeure kann man heute nur noch mit Vorbehalt sprechen. Viele, die noch vor kurzem klingende Namen und den Rang eines »Brigadegenerals« hatten, wurden zu gewichtigen »Soundsos«, Bosse, die von Leibwächtern geschützt werden, aber nicht an der Front kämpfen. »Die Einheiten« dieser Feldkommandeure sind kaum imstande, echte Kampfhandlungen durchzuführen. Andererseits darf man sie auch nicht unterschätzen. Ja, einige der ehemals mächtigen großen Truppenteile sind bis auf ein Minimum reduziert, aber das heißt nicht, dass sie sich nicht wieder vergrößern könnten, falls es nötig wäre. Die Brigadegeneräle haben im Augenblick kein Heer, aber schon morgen könnten sie wieder an der Spitze eigener kleiner Trupps stehen. Auf den Mechanismus dieser Verwandlungen komme ich später noch zu sprechen, zunächst zu den Feldkommandeuren aus der Zeit des ersten Krieges, als Dshochar Dudajew den Kampf um eine unabhängige Republik Itschkerija ausgerufen hatte. Dies sind vor allem Aslan 320
Maschadow, Ruslan Gelajew, Wacha Arsanow *, Schamil Bassajew sowie ihr Mitstreiter Omar Ibn al-Chattab. Im Herbst 1999 zogen Flüchtlingsströme über die Straßen der Republik, Grosny bereitete sich auf den Angriff vor. Einheiten, die sich als »Widerstandskämpfer« bezeichneten, marschierten durch die Dörfer. Die Dorfbevölkerung wurde anschließend bombardiert und mit Raketen beschossen. Damals formulierte Maschadow seine Meinung zu den Geschehnissen wenigstens noch deutlich. Heute zieht er es vor zu schweigen – immer, egal in welcher Angelegenheit, und das Volk ist ratlos … Hat Maschadow sein leidendes Volk vergessen? Hat er es verraten? Oder hat er einfach nichts mehr zu sagen? Für dieses auf den ersten Blick seltsame Verhalten gibt es schwerwiegende Gründe. Im vierten Kriegsjahr ist Maschadow zwar immer noch der legitime Präsident, aber für keinen mehr der Oberbefehlshaber. Und das weiß er sehr gut. Was also soll er sagen? Alle ehemaligen Feldkommandeure ziehen heute an verschiedenen Strängen, sind untereinander zerstritten. Diese Meinungsverschiedenheiten waren auch zu Beginn des jetzigen Krieges spürbar. Man denke zum Beispiel an Maschadows berühmten Schwall von Flüchen, als er Bassajew wegen des Vorstoßes nach Dagestan beschimpfte, und an Bassajews mehr als geringschätzige Antwort. Jetzt haben sich die Fronten noch mehr verhärtet. Die Kluft, die den Großteil der Feldkommandeure, die überlebt haben, trennt, ist derart tief, dass sie sich 321
nicht mehr gemeinsam an einen Tisch setzen können. Weder Maschadow und Bassajew noch Maschadow und Gelajew, noch Arsanow und Bassajew. Egal, in welcher Konstellation, jeder empfindet einen grausamen Hass gegen den anderen, hat eigene Ambitionen und einen ewigen Verdacht wegen irgendwelcher Kontakte zum FSB. Eine Art »Freundschaft« verband vielleicht nur Chattab und Bassajew, aber die Basis ihrer herzlichen Mesalliance waren Geld und »Legitimität«. Bassajew brauchte Chattabs Geld, wie jetzt das Geld jedes anderen, der ihn ersetzt, Chattab war auf die Präsenz und die Rolle von Bassajew in der tschetschenischen Realität angewiesen. Mit einem Wort – jenseits der Barrikaden herrscht Spaltung. Die periodisch in den Medien auftauchenden »Enten«, die Feldkommandeure würden sich angeblich treffen, um eine gemeinsame Strategie und Taktik auszuarbeiten, sind Falschmeldungen. Zum einen gehen diese Fehlinformationen von den Sicherheitsdiensten der Russischen Föderation aus, die ihre Existenz rechtfertigen wollen, zum anderen von den Feldkommandeuren, die sich damit selbst aufwerten und ihr Image polieren wollen. Aber das ist ein nebensächliches, wenn auch hochinteressantes Thema. Seltsam, wie sich die Interessen der Sicherheitsdienste mit den Interessen des »anderen Ufers« decken. Wichtiger aber ist der Aspekt, entlang welcher Linien diese Spaltung verläuft und was sie für die eigene Gesellschaft und die ganze Welt bedeutet. 322
Bassajew gegen Maschadow Man sollte nicht glauben, dass sich die Feldkommandeure nur aufgrund ihres schlechten Charakters und des mühsamen Lebens in den Bergen zerstritten haben. Die Spaltung zwischen ihnen ist wesentlich ernster, weil sie prinzipieller Natur ist. Sie hängt mit den Vorstellungen vom zukünftigen Tschetschenien zusammen. Und selbstverständlich mit Vorstellungen über Geld, der Frage, woher man das Geld nehmen soll. Einen Teil der Feldkommandeure könnte man als »Westler« bezeichnen. Die anderen als »Orientalisten« oder »Araber«. Die »Westler« schauen mit Hoffnung nach Europa und auf die übrige westliche Welt. Sie möchten erreichen, dass in Tschetschenien die gesamteuropäischen Regeln des Zusammenlebens, die auf die Menschenrechte im traditionellen westlichen Verständnis ausgerichtet sind, eingeführt werden, sie appellieren an den Europarat und an die internationalen Menschenrechtsorganisationen. Das bestimmt auch ihre strategischen Ziele: ein internationales Kriegsverbrechertribunal, das Sammeln von Beweismaterial für künftige Gerichtsverfahren, analog zu dem, in dessen Mangel der ehemalige jugoslawische Staatspräsident Slobodan Milošević geraten ist. Der führende Vertreter dieser Position ist Aslan Maschadow. Zum Teil ziehen Ruslan Gelajew und Wacha Arsanow am selben Strang (was den gegenseitigen Hass nicht mildert). Arsanow ist übrigens ein »Westler« aus negativen Gründen. Nicht weil er mit der Orientierung 323
auf Europa konform geht, sondern weil er den Wahhabismus und Chattabs arabische Linie nicht akzeptiert. Arsanow ist für die Weiterentwicklung der ureigenen tschetschenischen Tradition, und das heißt, dass ihm die fremden islamischen Extremisten, die sich an diesen Traditionen vergriffen haben, nicht nahe stehen können. Die andere Gruppe der tschetschenischen militärischpolitischen Führung, nach der in der Russischen Föderation überall und bisher erfolglos »gefahndet« wird, sind die »Araber«. Jene Leute, die ihre Pläne vor allem mit dem Nahen Osten verbinden. Sie sind felsenfest davon überzeugt, dass eine weitere Islamisierung Tschetscheniens nach arabischem Muster, die das Volk »umerzieht« und viel Geld aus dem Nahen Osten und dem arabischen Afrika in die zerstörte Republik bringt, ein Segen ist, und dazu ist es unausweichlich, sich von den alten tschetschenischen Bräuchen abzuwenden. Die bekanntesten und eifrigsten Vertreter dieses Clans sind Bassajew und Chattab. Mit Chattab ist alles klar, er ist einfach ein Barbar, aber Bassajew gehört zu jenem Typus von Mensch, der für Geld zu allem fähig ist. Dieser Charakterzug von Bassajew ist längst kein Geheimnis mehr – weder für seine engste Umgebung noch für alle anderen. Mowladi Udugow komplettiert den »arabischen« Flügel, vor allem er bedient diese Ideologie. Er ist ebenjener zynische Udugow, der den ersten tschetschenischen Informationskrieg gewonnen hat, schon lange aus Tschetschenien abgehauen ist, in Katar eine Aufenthaltsgeneh324
migung bekommen hat und von dort aus die bekannte Internet-Seite »kavkaz.org« betreut. Auf die kann man einen kurzen Blick werfen, wenn man herzlich über den schon in Vergessenheit geratenen sowjetischen Propagandastil lachen möchte. Übrigens ist das ein interessantes Detail, das zu begreifen hilft, wie groß der Unterschied zwischen »Westlern« und »Arabern« ist. Aus der Biographie von Bassajew, die auf dieser Internet-Seite erscheint, wurden alle Hinweise auf die Rolle von Maschadow in der tschetschenischen Geschichte der letzten zehn Jahre gestrichen, hier tritt Bassajew allein als unumstrittener Führer des tschetschenischen Volkes auf. Während die Elite der Feldkommandeure in Konfrontationen verstrickt ist, sorgt eine »dritte Macht« für das »Kriegsklima«. Sie kämpft wirklich, vermint, sprengt und ist für die endlose Flut von Todesanzeigen verantwortlich.
Die Blutrache Die »dritte Macht« in der heutigen tschetschenischen militärisch-politischen Patience ist eine große Anzahl von kleinen Trupps und Gruppierungen, die sich einen persönlichen und in der Regel sehr konkreten Plan auf die Fahnen geschrieben haben: die Rache für ermordete und verschwundene Verwandte. Je mehr Erniedrigte und Beleidigte es gibt, desto mehr solcher Trupps entstehen. Ihre Art Krieg zu führen lässt sich am besten mit 325
der modernen Terminologie aus Chankala beschreiben: »Punktuelle Angriffe« und »konkret adressierte Säuberungen«. Mit dieser Taktik werden jene umgebracht, die die nächsten Angehörigen getötet haben. Die Mitglieder dieser kleinen Trupps sind nicht untereinander koordiniert, sie brauchen keinen Anführer. Sie existieren für sich allein. Sie führen ihren eigenen Krieg gegen ihre eigenen Feinde und nach ihren eigenen Regeln, die nur schwer einzuschätzen und zu kontrollieren sind – im Unterschied etwa zu Bassajew, Chattab, ja sogar Maschadow, Arsanow und Gelajew, deren Aktionen relativ vorhersehbar sind. Die »dritte Macht« hat natürlich auch Kommandeure. Aber erstens sagen die Namen niemandem etwas, denn diese Trupps sind »Kinder des Krieges«. Ihnen gehören Männer an, die anfangs gar nicht kämpfen wollten, vielmehr auf die russische Armee warteten, damit sie vom wahhabitischen Joch befreit würden. Erst die Methoden der so genannten »Antiterror-Operation« zwangen sie, einen anderen Weg zu gehen. Und zweitens hören die meisten dieser Trupps sofort auf zu kämpfen, wenn ihr persönlicher Racheplan ausgeführt ist. Aber eigentlich gibt es schon nicht mehr so viele Trupps. Andererseits werden sie gleich wieder aktiv, wenn wieder jemand erfährt, wer seinen Sohn, Bruder oder Vater umgebracht hat. Woher hat die »dritte Macht« Waffen und Geld? Wahrscheinlich bekommt sie es nicht wie die Truppen von Bassajew und Chattab aus dem Ausland. Die kleinen Trupps leben hauptsächlich von den rus326
sischen Militärs in Tschetschenien, indem sie ihnen verschiedene Dienste erweisen und an ihren geschäftlichen Projekten mitwirken. Zum Beispiel helfen sie den Föderalen, die Erdöltransporter und die Lastwagen mit den Buntmetallen durch die Nacht zu schleusen. Manchmal übernehmen sie auch streng vertrauliche Aufträge, wenn die Interessen übereinstimmen. Zum Beispiel formierte sich ein Trupp aus Mitgliedern einer der einflussreichsten tschetschenischen Familien. Sie planten einen Schlag gegen Gelajew und seine Leute, die einige ihrer Männer perfide verraten und in Kurtschaloi erschossen hatten. Diesen Trupp hat jetzt eine Abteilung der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU), stationiert im Bezirk Staropromyslowski in Grosny, unter ihre Fittiche genommen. Die Kämpfer wohnen in ihren Kasernen, bekommen Verpflegung und Waffen. Der Grund für die Fusion war eine der Aufgaben dieser Abteilung der GRU – die Liquidierung von Gelajew und seinen Anhängern. Eine bessere Motivation für Mitarbeiter als die Blutrache ist kaum denkbar. Nun darf man nicht behaupten, dass dieser Trupp im Dienst der GRU stünde, das wäre eine Lüge. Doch es lässt sich sagen, dass im heutigen Tschetschenien Inter essengemeinschaften (ähnlich wie im heutigen Afghanistan) entstanden sind. Ein Konglomerat von bis an die Zähne bewaffneten Männern, das aus Rebellen (Kategorie »Volksrächer«) und russischen Militärs besteht, die aneinander interessiert sind und einander materiell unterstützen, obwohl sie eigentlich auf verschiedenen Seiten der unsichtbaren Front stehen. 327
Man kann das Ganze auch anders nennen: heimliches Sponsoring des innertschetschenischen Bürgerkriegs in Kombination mit notwendigen antiterroristischen Maßnahmen. Jeder Geheimdienst der Welt würde den Grundsatz bestätigen, dass es viel besser ist, den Feind mit fremden Händen umzubringen als mit den eigenen. Dieser Fall von »Idylle« ist in Tschetschenien selbstverständlich eine Ausnahme. So etwas passiert selten. Die meisten Gruppen der »dritten Macht« suchen ihre persönlichen Feinde unter den russischen Militärs. Und finden sie auch. Und dann kommt es abends zu Anschlägen auf der Straße, zu Explosionen und Selbstmordattentaten. Offiziell werden diese Aktionen den Kämpfern von Bassajew, Gelajew und so weiter zugeschrieben. Aber in Wirklichkeit war es die »dritte Macht«, die man nicht unterschätzen darf. Sie ist sehr präsent und wird sich noch auf eine der Seiten schlagen. Man sollte darüber nachdenken, wem sie sich zuletzt anschließen wird. Wenn ich von meiner eigenen Erfahrung ausgehe, halte ich die meisten dieser kleinen Trupps eher für prowestlich als für proarabisch. Sie akzeptieren Bassajew und Chattab nicht und leben sozusagen auf »tschetschenische Art«. Das bedeutet ganz einfach: Wenn Maschadow endlich aufwacht und seine persönliche Entschlossenheit zeigt, wird er Unterstützung von der »dritten Macht« bekommen, und das wird dann nicht mehr mit einem Anschlag in Gudermes abgetan sein, sondern zu ernsthafteren Kampfhandlungen führen. 328
Russisches Roulette Wie reagieren unsere russischen Sondereinheiten und Sicherheitsdienste, die in Tschetschenien arbeiten, auf diese Spaltung innerhalb des tschetschenischen Lagers, all die geheimen Einheiten, hoch gebildeten Offiziere, der Inlandsgeheimdienst FSB, die Hauptabteilung Aufklärung GRU etc.? Folgende Antwort wäre natürlich: Erstens, wenn wir ernsthaft vorhaben, Bassajew und Chattab (oder denjenigen, der seine Stelle eingenommen hat) als internationale Terroristen anzusehen und mit ihnen fertig zu werden, sollten wir die innertschetschenische Spaltung nach Strich und Faden ausnutzen. Umso mehr, als dafür alle notwendigen natürlichen Bedingungen gegeben sind. Zweitens sollten wir auf Seiten der »Westler« mitspielen. So würden wahrscheinlich die Sicherheitsdienste auf der ganzen Welt agieren, um Sicherheit für ihr eigenes Volk zu erreichen. Aber unsere Sicherheitsdienste in Tschetschenien demonstrieren »Liebe« zu den »Arabern«. Verhandlungen mit Maschadow werden kategorisch abgelehnt, dafür wird das Duo Bassajew-Chattab unterstützt. Weil man weiß, dass Bassajew Hilfe ganz besonders braucht. Seine Position in Tschetschenien ist äußerst schlecht. Die tschetschenischen »Westler« versuchten, als ihnen die Notwendigkeit irgendeines Schulterschlusses gegen die »Araber« zur Rettung der Nation bewusst geworden war, eine, wenn auch nur vorübergehende Koalition in Form einer »Freundschaft gegenüber einem gemeinsamen Geg329
ner« zu bilden. Sie schafften es sogar, einige kategorische Forderungen an Bassajew zu stellen. Die Hauptforderung war, dass Bassajew Chattab eigenhändig erledigt (was geschah, aber nicht durch ihn), damit die finanzielle Nabelschnur zur arabischen Welt durchtrennt wird (was nicht geschah). Der Tod von Chattab sollte für Bassajew der einzig mögliche »Weg« sein, in den Schoß der tschetschenischen Tradition zurückzukehren und eine relativ gleichgestellte Rolle im militärisch-politischen Leben zu spielen (was nicht geschah). Eine Absage an die »Westler« hätte für Bassajew den Tod bedeutet. Selbstverständlich gemeinsam mit Chattab. Als das an Bassajew gerichtete Ultimatum bekannt wurde, stürzten die Sicherheitsdienste nicht herbei, um Maschadow bei der Liquidierung von Bassajew zu helfen, sondern sie unterstützten Bassajew. So wurde ihm zum Beispiel die Information zugespielt, wann eine hohe Summe von »Föderationsgeldern« in Gudermes eintreffen sollte (was auch den Sturm auf Gudermes am 16. September 2001 auslöste). Für Bassajews Leute wurden Korridore für die »Reise« nach Gudermes und retour geöffnet. Einigen Angaben zufolge wurde auch mit Waffengewalt nachgeholfen. Was heißt das? Nur eins: Die Drahtzieher des Krieges in Tschetschenien können hier keinen Frieden gebrauchen. Der Kreml hält weiter an seinem Kurs eines kontrolliert schwelenden Konflikts im Nordkaukasus als wichtigster politischer Machtreserve fest. Einen besseren 330
Mitstreiter als Bassajew kann man in dieser Sache wirklich nicht finden. Er, wie auch Chattab, ist der Garant für das Entstehen von Kriegsherden in Tschetschenien. Will man die amerikanische Tragödie mit den Ereignissen von Gudermes, bei denen Rebellen die zweitgrößte Stadt Tschetscheniens angriffen und zeitweise einnahmen, noch ausbauen? Kein Problem … Ein paar Dutzend sind tot? Macht nichts … Ist doch russisches Roulette! März 2002. In Tschetschenien ging das Gerücht um, dass Chattab von denen aus dem Weg geräumt wurde, die ihn ins Spiel gebracht hatten – von den Sicherheitsdiensten. Kurz darauf teilte der FSB mit, dass »Chattab eher tot als lebendig ist«. Später wurde dasselbe über Bassajew berichtet. Und? Nichts. Der Frieden in Tschetschenien, den die Militärs versprochen haben, sobald es ihnen gelungen sein würde, die »Kultfiguren« zu eliminieren, lässt immer noch auf sich warten. Der Partisanenkrieg der Rächer geht weiter. Auch die Säuberungen. Jeden Tag Leichen, Leichen, Leichen.
Tschetschenien ist der Preis für den Sessel des UNO-Generalsekretärs Der Mai 2001 hat uns von neuem bewiesen, wie begeistert wir in der Ära Putin die Restauration der BreshnewÄra vorantreiben. Als die einflussreiche internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kurz vor dem Besuch von UNO -Generalsekre331
tär Kofi Annan in Moskau ihren Bericht über nur eins von Hunderten Massengräbern tschetschenischer Zivilisten veröffentlichte und die Weltgemeinschaft, insbesondere die Vereinten Nationen, aufforderte, sich für eine vollständige Aufklärung der Vorgänge einzusetzen, erhob sich im Kreml sofort eine Welle von Dementis, zornigen Reaktionen und scharfen Rügen. Hochrangige Beamte, die normalerweise vor den Fernsehkameras flüchten, hatten plötzlich Zeit mitzuteilen, dass es »nichts dergleichen« gebe. Warum fing die Staatsmacht eigentlich an, so nervös auf dem Sessel herumzurutschen, als hätte man ihr einen Reißnagel untergeschoben? Kann man einen Besuch von Kofi Annan überhaupt als »Reißnagel« betrachten? Und warum hat der höchste UNO -Diplomat in einer Situation, in der es in Anbetracht seines Posten unanständig ist zu schweigen, trotzdem geschwiegen? Obwohl hier menschliches Mitleid und ein paar Worte, wenn auch nur für das Protokoll, über die notwendige Beendigung der Kriegsverbrechen in Tschetschenien angebracht gewesen wären? Kein Zweifel, wir haben dem Abschluss eines Deals über menschliche Knochen beigewohnt. Das war ein lukratives Geschäft für beide »hohe Seiten« – für den Kreml und für den ersten Mann der UNO. Aber woher dann diese Nervosität? Das Herumgeschwirre der Lügner »bei Hofe« mit ihren Kommentaren? Alles ist völlig logisch. 332
Die russische Seite vertraute »Seiner Exzellenz« nicht hundertprozentig und hatte Angst, der Deal könnte im letzten Moment, nach dem Bericht von Human Rights Watch, platzen. Aber besser alles der Reihe nach. Zunächst die wesentlichen Punkte aus dem Bericht der Menschenrechtler, der eine sehr detaillierte und fast staatsanwaltschaftliche Beschreibung der Massengräber enthält, die im JanuarFebruar 2001 in der Nähe von Grosny in Datschnoje entdeckt wurden, unmittelbar gegenüber von Chankala, dem wichtigsten russischen Militärstützpunkt in Tschetschenien. 51 Leichen wurden dort gefunden. Wie wurden diese Massengräber entdeckt? Ein Geldgeschäft war der Grund dafür, dass die Familie von Adam Tschimajew (verschwunden am 3. Dezember 2000) als Erste Informationen über seinen Tod erhielt. Die Verwandten zahlten einem Offizier, der über die Bewachung von Adam Tschimajew auf dem Gebiet des Militärstützpunktes Bescheid wusste, 3000 Dollar (in Rubeln), damit er ihnen sagte, wo sich das Grab befand. Ihnen wurde gestattet, die Leiche mitzunehmen. In ganz Tschetschenien war davon zu hören, woraufhin die Verwandten anderer spurlos verschwundener Tschetschenen nach Datschnoje strömten. Insgesamt 19 Leichen wurden identifiziert. Die 32 nicht identifizierten Leichen wurden am 10. März 2001 von Soldaten beerdigt, ohne dass Bioproben entnommen worden waren, wie es in solchen Fällen vorgeschrieben ist. Human Rights Watch führt in dem Bericht zahlreiche 333
Beispiele des, wie es genannt wird, inadäquaten Verhaltens der Staatsanwaltschaft, der russischen Regierung und der Administration des Präsidenten an. Die russischen Machthaber wünschten keine Ermittlungen über die Massengräber, sie dementierten, dass die Militärs so etwas getan hätten. Aber auch die Weltgemeinschaft blieb taub für die Tragödie von Datschnoje. Die USA, die EU, das Europäische Parlament und die OSZE haben praktisch alles getan, um diese Geschichte zu vertuschen, und Alvaro Gil-Robles, der europäische Menschenrechtskommissar beim Europarat, hat während seiner Inspektion in Tschetschenien kurz nach der Entdeckung des Massengrabes (27. bis 29. Februar) weder Datschnoje besucht noch sich mit den Verwandten der identifizierten Toten getroffen. Außerdem legt Human Rights Watch dar, gegen welche grundlegenden UNO-Dokumente Russland verstoßen hat und mit welch diplomatischem Geschick die UNO diesen Affront ignoriert hat. Das Fazit des Berichts: Die Ermittlungen zum Massengrab in Datschnoje müssen wieder aufgenommen werden. Dazu muss eine eigene internationale Kommission berufen werden, deren wichtigste Aufgabe es ist, mit Kräften des Internationalen Roten Kreuzes, des Europarats, der OSZE und der UN-Menschenrechtskommission die 32 eilig begrabenen und nicht identifizierten Leichen zu exhumieren. Human Rights Watch vertritt faktisch die Position, dass für die weitere Untersuchung der Tragödie von Datschnoje ein internationales Protektorat notwendig ist. 334
Um die Reaktion des Kreml und des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan auf diese Eskapaden zu verstehen, muss man aufmerksamer betrachten, was im Frühjahr 2001 in der UNO vor sich geht. Ist in Tschetschenien überhaupt ein solches internationales Protektorat unter dem Schutz der UNO möglich? Und was kann der Generalsekretär ausrichten? Hier sei erwähnt, dass die Zeitung »Nowaja Gaseta« noch vor dem Bericht von Human Rights Watch und dem darauf folgenden Skandal versucht hat, eine Antwort auf die gleichen Fragen in New York, direkt im Sekretariat der UNO, zu bekommen. Noch dazu in einer geheimen diplomatischen Nische, im Zimmer, wo sich die Mitglieder des Sicherheitsrats in den Sitzungspausen erholen und wo die internationale Menschenrechtspolitik gemacht wird. Ich wurde in dieses vor fremden Augen geschützte Zimmer geschmuggelt und den »zuständigen Personen« vorgestellt. Dem, der das getan hat, bin ich unglaublich dankbar, und er hat das alles riskiert, weil er Bescheid wusste über meine Fragen und über den wahren Grund des illegalen Eindringens in die geheimen Nischen des Sicherheitsrats. Und zwar: Was kann die UNO zur Lösung dieser unglaublich schwierigen tschetschenischen Krise tun? Wie kann man die nicht enden wollenden Leiden der Zivilbevölkerung in Tschetschenien stoppen? Wie ist die reale Stimmung im Sicherheitsrat? Ist ein internationales Protektorat möglich? Diese Fragen sind nicht zufällig entstanden, sondern aufgrund der großen Menge an Informationen über die 335
wirkliche Lage in Tschetschenien, die anders ist als die ausgetüftelten Berichte der Berater, die dem Präsidenten vorgelegt werden, und auch anders als die rosarot gefärbten Nachrichten im Fernsehen. Der einzige Beweggrund für diese Fragen ist: Wie kann man den Krieg und die massenhafte Verletzung der Menschenrechte in Tschetschenien beenden und die Demoralisierung der Armee aufhalten, die rapid jeden menschlichen Zug verliert? Nachdem ich mit Hunderten von Tschetschenen – einfachen Leuten und solchen, die einen Posten bekleiden, Menschen in Grosny und in den Dörfern – über Dutzende von Varianten einer friedlichen Lösung des Problems gesprochen habe, ist meine Position heute, dass ohne ein internationales Protektorat gar nichts geht. Und obwohl so eine Lösung für das offizielle Moskau derzeit nicht in Frage kommt, ist dieses Finale unvermeidlich. Eine dritte Seite ist so notwendig wie die Luft zum Atmen. Ihre Aufgabe wäre, die Gegner (und das sind heute nicht die Rebellen und die Föderalen, wie das die offizielle Kreml-Propaganda behauptet, sondern die Föderalen und die Zivilbevölkerung) vorübergehend zu trennen, die erhitzten Gemüter, soweit es geht, zu beruhigen und eine Milderung der Positionen anzusteuern. Aber kehren wir nach New York, nach Manhattan zurück. Die meisten der befragten Diplomaten, die im Sicherheitsrat der UNO arbeiten, wo entschieden wird, in welchen Regionen der Welt Friedenstruppen eingesetzt werden, waren der Meinung, dass es praktisch unmöglich ist, die Frage »durchzuziehen«. Um Friedenstruppen mit 336
einem Mandat des UN-Sicherheitsrats zu entsenden, bedarf es des Einverständnisses der beiden Konfliktparteien. Laut UNO -Dokumenten kann die Zivilbevölkerung, die täglich mit der Verletzung der Menschenrechte konfrontiert ist, nicht als »eine der Konfliktparteien« anerkannt werden. Und von einer »Zustimmung« der russischen Regierung kann selbstverständlich keine Rede sein. Es gibt aber eine andere Möglichkeit, ein UNO -Mandat für ein solches Protektorat zu erhalten: die Anwendung von Gewalt zur Wiederherstellung des Friedens, die in Kapitel 7 der UN-Charta erwähnt ist. (Die denkwürdigen Ereignisse im Irak und in Jugoslawien verliefen nach diesem Szenario, was mit großen Unannehmlichkeiten für die USA endete, die ihren Platz in der UN-Menschenrechtskommission verloren haben.) Wenn man es schaffen würde, versicherten die Diplomaten vom Sicherheitsrat, Kapitel 7 auf die Tschetschenien-Krise anzuwenden, wäre die Zustimmung der »Konfliktparteien« nicht nötig. Aber der Irak und Jugoslawien sind etwas anderes als Russland. Irak und Jugoslawien sind einfache Mitglieder der UNO, während Russland ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist und ein Veto-Recht hat. Die Entscheidungen über Kapitel 7 trifft der Sicherheitsrat. Das heißt, entsprechende Vorschläge kann jeder dem Sicherheitsrat unterbreiten, sooft er will, aber die Beratungen werden ewig dauern. Und das Ergebnis hängt vom Standpunkt der russischen Regierung ab. Wenn Russland nicht will, kann der Sicherheitsrat nichts tun. 337
Die meisten im Sicherheitsrat arbeitenden Diplomaten sind sich einig, dass die Variante mit der UN-Friedensmission in Tschetschenien ausgeschlossen ist und man sich keinen Illusionen hingeben sollte. Der Einzige, der die Situation beeinflussen und die Angelegenheit aus der Sackgasse führen könnte, ist der Generalsekretär der Vereinten Nationen höchstpersönlich. Nun zu Kofi Annan. Kann man irgendwelche Hoffnungen auf ihn setzen? Diese Frage wurde den Diplomaten des Sicherheitsrats gestellt. Und schon damals, Ende April, sprachen sie von dem Szenario, das sich in diesen Tagen in Moskau abspielte: Kofi Annan ist absolut taub, was die Problematik der Menschenrechte in Tschetschenien betrifft (und auch den Bericht von Human Rights Watch). Übrigens waren meine Gesprächspartner keine einfachen Diplomaten aus der dritten Reihe, sondern Menschen, die direkt unter Kofi Annan arbeiten, und sie versicherten, es wäre ihm egal, wer und auf welche Weise auf einem winzigen Fleck unseres Planeten leidet, wenn dieser Fleck auf dem Territorium der Russischen Föderation liegt. Viel wichtiger sei ihm etwas anderes: die Wiederwahl zum UN-Generalsekretär. Um jeden Preis. In unserem Fall ist der Preis Tschetschenien. Und der Generalsekretär wird den Krieg im Nordkaukasus so lange schweigend segnen, solange Russland ihm hilft, seinen Sessel zu behalten. Niemand wird vermutlich bezweifeln, wie bequem ein »in seinen Sessel verliebter« Kofi Annan für Russland ist. Die ganze sowjetische Politik (und jetzt beobachten wir 338
ihre eindeutige Renaissance) basierte darauf, dass die kommunistischen Führer auf irgendeine Art gewichtigen westlichen und internationalen Personen nützlich waren, die daraufhin beide Augen zudrückten bezüglich des Alptraums, der das Leben in der UdSSR war, und das Regime mit Subventionen und Krediten fütterten, damit es nicht mit sozialen Kataklysmen drohte. Also verlief in Moskau alles wie in besten sowjetischen Zeiten. Der Deal auf höchster Ebene wurde erfolgreich vollzogen – genauso wie früher. Für Wladimir Putin ist Kofi Annan auf dem Posten des UNO -Generalsekretärs bequem, weil er kooperativ ist und man wegen Tschetschenien keinen Druck auf Russland befürchten muss. Kofin Annan braucht Putins Stimme bei der Wahl. Wenn man bedenkt, dass solche Momente auch die Beziehungen zwischen Russland und der EU, dem Europäischen Parlament, der OSZE und so weiter bestimmen, dann haben wir nichts Positives zu erwarten. Die Welt, der Westen, die internationale Gemeinschaft haben sich zurückgezogen, erlauben unserer Regierung, in Tschetschenien alles zu tun, was sie will, und tolerieren gleichzeitig die offizielle Lüge und Demagogie. Damit wird der tschetschenische Knoten immer enger zugezogen. Wenn wir uns erinnern, war das alles schon einmal da. Die internationale Gemeinschaft akzeptierte schweigend das »vorbildliche Tschernokosowo«, eines der grausamsten Filtrationslager in Tschetschenien, das 339
nach und nach für den Empfang hoher Gäste aus dem Ausland in ein Potjemkinsches Dorf verwandelt worden war, und beschwörte damit die nächste Zügellosigkeit herauf: Erst landeten Dutzende, dann Hunderte von Menschen schon nicht mehr in Gefängnissen, sondern verschwanden einfach spurlos, und später wurden zufällig ihre Leichen gefunden. Und das heißt: Selbst wenn Moskau unter dem Druck von Human Rights Watch einer Fortsetzung der Untersuchungen zu den Vorfällen in Datschnoje zustimmt, wird Datschnoje kurze Zeit später das gleiche Schicksal wie Tschernokosowo ereilen. Das mag blasphemisch klingen, aber Datschnoje steht ein vorbildliches Begräbnis bevor. Und bald wird man ausländische Journalisten und Parlamentarier in kleinen Grüppchen nach Datschnoje bringen. Das wird auch das Ergebnis des Berichts sein, den Human Rights Watch geschrieben hat, um auf den UNOGeneralsekretär Druck auszuüben. Und was ist inzwischen in Tschetschenien los, das Kofi Annan gegen seinen Sessel eingetauscht hat? Das Gleiche wie immer – Grauen, Lüge, Terror. Am 14. Mai 2001 fuhr ein Schützenpanzerwagen ohne Kennzeichen zum Haus der Familie Bardukajew im Kreiszentrum Urus-Martan. Im Januar waren aus diesem Haus bei einer »Säuberung« sechs Männer verschleppt worden, drei wurden bald freigelassen, über das Schicksal der anderen wusste die Familie fast ein halbes Jahr 340
lang nichts. Ein Offizier stieg aus dem Fahrzeug und bediente sich haargenau der Methode des Feldkommandeurs Arbi Barajew. (Erinnern Sie sich an die abgeschnittenen Köpfe der westlichen Ingenieure im Schnee?) Er zeigte den Verwandten Fotos mit den Leichen von Bardukajews Brüdern (sie konnten sie identifizieren) und verlangte 1500 Dollar dafür, dass er ihnen den Ort der Bestattung zeigte. Wie es in Datschnoje mit der Leiche von Adam Tschimajew gemacht worden war.
SONDEROPERATION SJASIKOW Ein Krieg, an dem so viele interessiert sind, verwandelt sich in einen lebendigen Organismus. Das heißt, er entwächst den Kinderschuhen. Tschetschenien zog das benachbarte Inguschetien mit in den Sog, wo der Kreml demjenigen zur Macht verhalf, der eine Ausweitung des Krieges zulassen wird. Zehn Jahre lang schon ist Inguschetien ein Frontstreifen – doch langsam verwandelt sich der Streifen in eine echte Front. In einem Land der »lenkbaren Demokratie« nennt man den Prozess der Verwandlung von Bürgerfrieden in einen Bürgerkrieg »Präsidentenwahlen«. Der Kampf um den Posten von Ruslan Auschew, der zu Beginn des Jahres 2002 sein Amt als Oberhaupt der Republik »auf eigenen Wunsch« niedergelegt hat, ist in vollem Gang. Der zweite Urnengang, für den seit dem 7. April der Duma-Abgeordnete 341
Alichan Amirchanow und Murat Sjasikow, General des FSB und erster Stellvertreter des bevollmächtigten Vertreters des Präsidenten im Südlichen Föderationsbezirk (JUFO), zur Wahl standen, fand am 28. April statt. Sjasikow wurde gewählt.
Das vergewaltigte Gericht Hassan Jandijew, Richter beim Obersten Gericht von Inguschetien, hat ein allseits geachtetes Leben geführt: zehn Jahre als Richter und zwei Jahre als Justizminister der Republik. Aber jetzt ist er ein Häuflein Elend. Leere Augen, als ob er seine Familie begraben hätte. Und er musste wirklich etwas zu Grabe tragen: die Prinzipien und Illusionen, was den Stellenwert der Legislative im Land betrifft. Hassan Jandijew wird zweifellos in die neuste Geschichte Russlands als derjenige Richter eingehen, über den im April 2002 die Exekutive herfiel und die Umwandlung der Prozessordnung in ein politisches Instrument verlangte. »Ich habe meinen eigenen Ohren nicht getraut, als ich das hörte«, sagte später Henrich Pawda im Vertrauen, als er auf den Fluren des Obersten Gerichts stand. Immerhin unser berühmtester Rechtsanwalt, der in seiner fast ein halbes Jahrhundert währenden Praxis schon einiges gesehen hat. Angefangen hat er übrigens 1953.
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Ende März bekam Hassan Jandijew die Akten für den Ausschluss eines der aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Präsidenten von Inguschetien, Chamsat Guzerijew, vom Rennen um die bevorstehenden Wahlen auf den Tisch. Und obwohl die gesamte Verhandlung in diesem Verfahren unter dem erbitterten Druck von Beamten des Südlichen Förderationsbezirks stand, die offen und unverschämt eine Entscheidung zugunsten eines anderen Kandidaten, des FSB -Generals Sjasikow, durchbringen wollten und die bekannten Herren mit den typisch unauffälligen Gesichtern sich auf den Fluren des Gerichts herumtrieben, den Richter auch nach Hause »begleiteten« und ihn in der Früh wieder vor der Haustür in Empfang nahmen, nahm Hassan Jandijew das Ganze philosophisch gelassen hin. Weil er eben in seinem Leben schon einiges gesehen hat. Am 1. April, gegen Abend, begab sich der Richter mit zwei Schöffen ins Beratungszimmer – das Allerheiligste, das kein anderer betreten darf –, um eine Entscheidung zu treffen. Am Morgen des 3. April wollten sie diese verlautbaren. Gegen 11 Uhr kamen die »Sjasikow-Anhänger«, lauter Mitarbeiter der Verwaltung des Südlichen Förderationsbezirks, INS BERATUNGSZIMMER DES RICHTERS, wodurch sie den geheimen Ort entweihten und gleichzeitig die Verfassung des Landes sowie jede Menge anderer Gesetze verletzten. (Was übrigens eine strafrechtliche Verfolgung nach sich gezogen hat.) Sie übergaben Jandijew ein von Nina Sergejewa, der stellvertretenden 343
Vorsitzenden des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, unterschriebenes Telegramm. Hassan Jandijew wurde vorgeschrieben, die Akten einem Eilboten zu übergeben, der sie nach Moskau bringen sollte. Daraufhin sammelte der Vorsitzende des Obersten Gerichts von Inguschetien, Dauthassan Albakow, der in Begleitung seines Stellvertreters Asamat-Girej Tschinijew war, die Unterlagen auf dem Tisch ein und nahm sie mit. Kurze Zeit später veröffentlichte die Nachrichtenagentur ITARTASS folgende Meldung: Das Oberste Gericht der Russischen Föderation hat sich mit dem Verfahren beschäftigt und die Aufstellung von Chamsat Guzerijew als Präsidentschaftskandidat für null und nichtig erklärt. Für mich ist Chamsat Guzerijew kein besonders wichtiger Mensch. Er übt nur eine Funktion aus, ist der Innenminister von Inguschetien in der wildesten Zeit der »Antiterror-Operation im Nördlichen Kaukasus«. Seine Handlungen als Innenminister einer an Tschetschenien angrenzenden Republik haben mich im Lauf von etwas mehr als zwei Jahren oft sehr geärgert. Aber ob man jemanden mag oder nicht, Gesetz ist Gesetz. Für Putin ist Guzerijew aber sehr wichtig. Er ist der Bruder eines verfeindeten Oligarchen. Und das ist im heutigen Russland sowohl ein Grund für die Anwendung von Gewalt einem Gericht gegenüber, als auch für die moralische Erniedrigung von Richtern, die die Regeln eines verfassungswidrigen Spiels nicht akzeptieren wollen.
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Über allem steht die Angst »Welche Bedeutung hat so ein Verstoß gegen das Gesetz für die Wahlen?« frage ich Mussa Jewlojew, den Juristen der Wahlkommission der Republik. »Solche Wahlen können für ungültig erklärt werden«, lautet die Antwort. »Können? Oder müssen?« Mussa schlägt die Augen nieder und schweigt – er will leben und arbeiten. Die beste Methode dafür ist im heutigen Inguschetien zu schweigen und so zu tun, als ob du der auf dich zurasenden Walze des Südlichen Föderationsbezirks, die den vom Kreml gewünschten Kandidaten Sjasikow unterstützt, nachgeben würdest. Genau mit diesen Worten erklärten Dutzende und Aberdutzende von Menschen die Situation in der Republik. Wir schreiben den 19. April. Auf den Fluren des Obersten Gerichts von Inguschetien treiben sich die gleichen Herren, die Kollegen von Putin und Sjasikow, herum, sie lauschen, wer was redet, wer was fragt und was Mussa Jewlojew antwortet, dann gehen sie ein paar Stufen die Treppe hinunter und erstatten irgendjemand per Handy Bericht. Ein wilder, frecher FSB -Zirkus, was einige Leute in Moskau noch vor kurzem für Hirngespinste der durch die leidenschaftliche Wahlkampagne erhitzten Gemüter hielten. Dies ist die Atmosphäre, in der wir auf die nächste Verhandlung warten. In ihr soll festgestellt werden, dass 345
die Registrierung einer Reihe von Kandidaten wegen Bestechung von Wählern ungültig ist. Und jetzt ist es an Richter Mahomed Mahomedowitsch Dourbekow, den »Stab« von Jandijew zu übernehmen. Er ist ziemlich nervös, weil er weiß, dass Hassan Jandijew nach der ganzen Geschichte auf der Intensivstation gelandet ist und sich jetzt nur langsam erholt, obwohl er trotzdem zur Arbeit geht. Er weiß, dass Jandijew beim Generalstaatsanwalt Russlands eine Eingabe gemacht hat mit der Forderung, das Gesetz zu schützen, und dass diese Eingabe, nachdem sie die Runde in Moskau gemacht hat, nach Inguschetien zurückgekehrt und in die Hände jener geraten ist, die sich für ihre Taten vor dem Gesetz verantworten müssten. Dourbekow weiß auch, dass das einzige Ergebnis von Jandijewes Wahrheitssuche ein Schreiben ist, in dem Präsident Putin ersucht wird, das zeitlich unbegrenzte Mandat des Richters Jandijew vorzeitig aufzuheben. An diesem Tag blieb der Richter Dourbekow standhaft, trotz des enormen Drucks, der teils ungeheuerlichen Förderungen und der Beleidigungen der Sjasikow-Anhänger. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs wurde nicht für ungültig erklärt. Aber wer kann garantieren, dass auch morgen noch alles in Ordnung ist? »Wieso wollen die uns das Genick brechen?«, fragen die Leute. »Wir machen das sowieso nicht mit. Egal, was passiert.« Und sofort wird hinzugefügt: »Aber nennen Sie meinen Namen nicht.« Der nächste Gesprächspartner hat die 346
gleiche Bitte: »Nur keine Namen … Ich habe Kinder … Ich werde meinen Job verlieren.« Alle baten mich darum, ohne Ausnahme: Abgeordnete des inguschetischen Parlaments, Regierungsmitglieder, stramme Militärs, Rechtsanwälte, Lehrer, Journalisten, die erzählten, wie in Inguschetien heute Kollegen augenblicklich (keine Übertreibung!) entlassen werden, nur weil sie zufällig im Bild ganz kurz neben einem anderen Präsidentschaftskandidaten, nicht neben Sjasikow, auftauchten. »Aber wer hat sie entlassen?« »Pjotr Semzow.« Die öffentliche Vergewaltigung der Legislative in Inguschetien ist natürlich die zynischste unter den Sonderoperationen für die »Berufung von Sjasikow zum Präsidenten von Inguschetien«, wie sich einer meiner Gesprächspartner treffend ausdrückte. Aber sie war nicht die einzige. Die andere Sonderoperation wurde gegen die Redefreiheit, die per Verfassung garantiert ist, durchgeführt. Kurz vor dem turbulenten Wahlkampf »ersetzte Moskau«, wie man hier zu sagen pflegt, den Intendanten der Fernsehgesellschaft »Inguschetija« durch den oben erwähnten Semzow, der aus Moskau geschickt wurde, um einen Sonderauftrag zu erledigen. Und Semzow schläft nicht. Er verbietet sogar, Videomaterial über einen anderen Kandidaten als Sjasikow von Nasran aus weiterzuleiten. Man muss extra nach Wladikawkas in Nordossetien fahren, damit in den Nachrich347
ten von NTV ein Beitrag über einen anderen Kandidaten gezeigt wird. Aber nach Wladikawkas zu fahren und in der Dunkelheit zurückzukehren ist nicht so einfach. Man muss durch die ziemlich leeren Straßen jenes Gebiets fahren, wo sich von früh bis spät die Leute von Mussa Keligow, dem so genannten »Hauptinspektor des Südlichen Föderationsbezirks«, herumtreiben. Diese Gefolgsleute sind in Wirklichkeit ein Schlägertrupp, der auf der Straße Leuten auflauert, die man noch nicht ganz im Griff hat, deren Wille noch nicht gebrochen ist. Mussa Keligow ist nicht irgendein Chattab mit seinen Kämpfern, er ist der wichtigste Wahlhelfer für Sjasikow, ein Offizieller, ein Mann, der die Macht des Präsidenten Putin verkörpert, was er, gestützt auf seine Kalaschnikow, auch überall herumschreit. Er ist ein Kollege des Kandidaten Sjasikow im Südlichen Föderationsbezirk, Mitstreiter und Stellvertreter von General Kasanzew, dem bevollmächtigten Vorstand des Südlichen Föderationsbezirks. Außerdem ist er ehemaliger Vizepräsident des Ölkonzerns »Lukoil« und im Augenblick damit beschäftigt, sich den staatlichen Ölkonzern »Inguschneftegasprom« unter den Nagel zu reißen, dessen Hauptquartier ausgerechnet in Malgobek liegt, dem Geburtsort von Mussa Keligow, wo sich die wichtigsten inguschetischen Bohrstellen befinden.
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Die Landung der Abgeordneten Am 20. April flog eine Delegation bestehend aus zwanzig Duma-Abgeordneten, Vertretern verschiedener Parlamentsfraktionen, nach Inguschetien, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Sie teilten sich in Gruppen auf und reisten durch die Republik. Auf vier Routen, um verschiedene Leute zu treffen. Aber im Kreiszentrum Malgobek, das sich rasch in eine »Domäne« von Keligow verwandelt hatte, wurden die Abgeordneten zum Beispiel einfach nicht in das Kulturzentrum gelassen, wo ein Treffen mit den Einwohnern stattfinden sollte. Der Grund ist simpel: Keligow war sich nicht sicher, dass die Abgeordneten für Sjasikow eintreten würden, und so wurde auf Anordnung von Muchashir Jewlojew, dem Chef der Kreispolizei und Keligows Schwiegersohn, diese Veranstaltung verboten. Jewlojew pflegt die Leute mit dem Satz »Wir werden es euch zeigen!« einzuschüchtern, falls Sjasikow die Wahl nicht gewinnen würde. Aber die Abgeordneten (die Vertreter der Partei »Union der rechten Kräfte« (SPS) Wera Lekarewa, Andrej Wulf, Wladimir Semjonow, Wladimir Koptew-Dwornikow, Alexander Barannikow) verloren angesichts des höchst schwierigen Pflasters Malgobek nicht die Geistesgegenwart und sprachen bei strömendem Regen mit Hunderten Menschen. »Wir hätten ins Kulturzentrum hineingehen und einen Skandal veranstalten können«, erzählt Wera Lekarewa. »Aber wir haben sofort gespürt: Da riecht es nach Provo349
kation. Sie haben darauf spekuliert, dass wir die Nerven verlieren … Um uns herum gingen seltsame Leute mit unangenehmen Gesichtern. Und dann trafen wir die Entscheidung, die Anwesenden einfach zu beruhigen … Ehrlich gesagt, ich persönlich würde nie jemanden wählen, der einem so aufgedrängt wird.« Von dem gleichen Gefühl – dass etwas in der Luft liegt – redet heute die Mehrheit in Inguschetien und denkt dabei an Provokation, einen gezielt hervorgerufenen Ausbruch von Empörung, ein Blutbad. Und am 19. April gibt es ein schlimmes Signal. Aus dem Moskauer Innenministerium kommt, als wollte man die in Inguschetien vorherrschenden Ängste bestätigen, ein geheimes Sondertelegramm. Da heißt es: »An Pogorow. Nasran. Innenministerium. Zehn Tage Dienstreise zum Innenministerium Russlands wg. dienstlicher Fragen für Oberst Tamaschanow IA, Oberst Iljassow MS , Oberst Girejew ICH, Oberst Jaryshew IS. Ankunft 22. April d. J. Gryslow« Im Klartext: Vier Milizoberste und der Stellvertreter des Innenministers der Republik Achmed Pogorow werden vom Innenminister Russlands Boris Gryslow ausgerechnet an diesen für Inguschetien sehr schwierigen zehn Tagen nach Moskau zitiert. Es ist die letzte Woche vor dem zweiten Urnengang, dem Tag der Wahl und der Auszählung der Stimmen. So etwas ist noch nie passiert. Im Gegenteil, normalerweise hat die Chefetage der Polizei während der Wahlen, egal in welcher Region, 350
im Interesse der Ordnung Urlaubssperre, man hat sie sogar schon gebeten, Krankenstände zu unterbrechen. In der kleinen Republik, wo jeder alles über jeden weiß und es auch kein Geheimnis ist, zu wessen Gunsten die oben erwähnten Milizobersten ihre Mitarbeiter beeinflussen würden, reagierten die Menschen düster auf dieses Telegramm. Also stimmt es doch: Diese Hunderte von überall her plötzlich aufgetauchten FSBler, die aus irgendeinem Grund alle in den gleichen »Tawria«-Wagen auf den inguschetischen Straßen herumfahren, werden irgendetwas anrichten – es gibt doch so viele verzweifelte Flüchtlinge. Im Innenministerium wird nur der SjasikowAnhänger Pogorow übrig bleiben, es werden Unruhen vom Zaun gebrochen werden, und Pogorow wird die Krawalle »nicht in den Griff kriegen können«. Wozu das Ganze? Niemand zweifelt daran: Wenn es keine Chance für einen Sieg des FSB -Generals Sjasikow mehr gibt, braucht man etwas, um offiziell »die Unmöglichkeit der Durchführung von Wahlen« und die Notwendigkeit einer »Ernennung« des Präsidenten der Republik deklarieren zu können. So wird die Sonderoperation für die Inthronisierung von Sjasikow aussehen. Die Beamten des Südlichen Föderation haben schon vor zwei Monaten den Leuten offen gesagt: »Egal, was ihr tut, Sjasikow wird gewinnen. Moskau hat es so entschieden. Es gibt keine Alternative. Wenn nicht durch die Wahlen – dann von oben.«
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Sjasikow und das System Sjasikow Wer ist eigentlich dieser Mensch, mit dem man die inguschetischen Kinder erschreckt? Alexej Ljubiwoj, sein wichtigster Mitstreiter, sagt: »Ich verbiete ihm, mit der Presse zu verkehren.« Auch eine Position. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Der Stab der Aktivisten und Wahlkampfhelfer von Sjasikow besteht aus zwei Teilen. Zum einen aus den oben erwähnten FSB -Mitarbeitern, die aus vielen Regionen Russlands für die Zeit der Wahlen nach Inguschetien geschickt wurden. Ohne das besonders zu verbergen, behaupten sie aus irgendeinem Grund in Gesprächen mit den Leuten, dass »Sjasikows Niederlage gleichzeitig eine Beleidigung der gesamten russischen Spionageabwehr« bedeuten würde. Zum anderen aus Inguschen, die sich beleidigt fühlen und während der Präsidentschaft von Ruslan Auschew nicht zum Zuge kamen. Der Großteil von ihnen lebt längst in Moskau, weil sie seinerzeit mit Auschew keine gemeinsame Sprache finden konnten. Sie sitzen in Sjasikows Wahlkampfstab in der Oskanow-Straße. Ich frage Salman Naurbekow, den Chef des Stabes, und seinen Stellvertreter Charon Dsejtow: »Warum ist Ihr Kandidat so gut? Erklären Sie mir das.« »Hauptsache ist, dass er im Unterschied zu allen anderen ein kristallklarer Mensch ist.« »Warum?« 352
»Weil er aus einer kristallklaren Organisation kommt.« Herzlichen Dank, alles klar. Im Mai legte Sjasikow seinen Amtseid ab. Eine Woche später marschierte die Armee in Inguschetien ein. Einen Monat später begann die gewaltsame Rückführung der Flüchtlinge nach Tschetschenien. Der Kreml will, dass der Krieg weitergeht. Das heißt, er wird weitergehen.
»Wir haben wieder überlebt!« Kleine Chronik des Glücks von Oberst Mironow Dezember. Wir flogen mit einem Militärhubschrauber von Punkt A nach Punkt B. Unter uns glitt langsam und unsichtbar das nächtliche, schmutzige, schneefreie Tschetschenien vorüber. Nur die brennenden Bohrlöcher waren zu sehen und »die Milchstraßen« aus Leuchtkugeln – das war eigentlich alles. Der Rest war Finsternis. Dorthin starrte der Begleitoffizier mittleren Alters routinemäßig durch sein Nachtsichtgerät, ließ seine Beine durch die offene Luke hinunterhängen und hielt das Maschinengewehr im Anschlag. Im Hubschrauber kann man nicht reden, es ist zu laut, es dröhnt in den Ohren. Aber mein Nachbar und ich wechselten trotzdem ein paar Worte, ohne einander zu sehen – bei Nachtflügen wird keine Innenbeleuchtung eingeschaltet. Dem zu erahnenden Ohr des anderen zugeneigt, schrien wir uns an. 353
»Wo kommen Sie her?« »Aus Moskau.« »Ich auch.« »Und woher in Moskau?« »Vom Gartenring.« »Dort arbeite ich. Ich wohne in Marjino.« »So weit weg.« »Ich bin zufrieden, ich habe eine große Wohnung.« »Was sind Sie?« »Offizier. Und Sie? Sie riechen nicht nach einem Tarnanzug.« »Ich bin Journalistin. Warum fliegen wir so lange? Wir sollten doch in 20 Minuten in Gudermes sein.« Aus dem Cockpit kam der Kommandeur. Er schaute in den dunklen Bauch des Hubschraubers, wo wir alle in diesen zwei Stunden seine Geiseln waren, und schrie dem begleitenden Offizier etwas ins Ohr. Der machte sofort die Luke zu, lehnte sich zurück und fing den Geräuschen nach an, seine Waffe auseinander zu nehmen. Wir alle mussten dringend nach Gudermes, wo auf uns die vereinbarten Nachtlager und die Sauna warteten – sehr wichtige Dinge für hiesige Verhältnisse. Aber hier war etwas Unverständliches im Gange. Warum legt er sein Maschinengewehr weg? Nach Gudermes wird doch nur mit Begleitschutz geflogen? Und je weiter wir fliegen, desto mehr Lichter sieht man unten. 20 Minuten später war es ganz klar, dass wir nicht in Gudermes landen – eine einfache Wiese dient dort als Militärflughafen. Aber hier taucht unter uns ein echtes 354
Rollfeld auf. Wir sehen einen Tower – grell beleuchtet, was im Krieg einfach unmöglich ist. »Das ist nicht Tschetschenien!«, erklärt mein Nachbar fröhlich und klappert sogar ein bisschen mit den Absätzen. Er ist wie ausgetauscht. Vorher sprach er, als ob er Steine schleppen müsste, und jetzt singt er vor sich hin. »Was freuen Sie sich so? Hier erwartet uns niemand. Kein Essen, kein Bett … Und was ist mit der Sauna?« Aber mein Nachbar wollte nichts mehr hören, er rannte zu den Piloten. Und sprang nach einer Minute wieder aus dem Cockpit und schrie ein einziges Wort: »Wladikawkas!« Wie damals diejenigen »Sieg!« schrien, die Berlin erobert hatten. Und dann legte er noch einen kleinen Step in der Mitte des Hubschraubers hin. Wahrscheinlich ist in Gudermes irgendetwas Unangenehmes passiert, vielleicht steht es unter Beschuss oder so etwas Ähnliches, die Landung ist gefährlich, und die Piloten haben anders entschieden. Selbstverständlich, ohne die Passagiere zu fragen. Im Krieg ist es immer so: Um deine Pläne schert sich keiner, sie werden durchkreuzt, indem du vor vollendete Tatsachen gestellt wirst. Aber mein Nachbar lachte laut, übertönte den lärmenden Motor, tänzelte und rieb sich die Hände: »Darf ich mich vorstellen? Oberst Mironow!« Er stand im Gang, hielt locker das Gleichgewicht, wäh355
rend er sich mit nur einer Hand an der Decke festhielt. Ein Wunder – woher kam plötzlich eine solche Kraft? Vor einer Viertelstunde war er genauso niedergeschlagen wie alle anderen, sein Körper wurde im Takt der Ausweichmanöver des Hubschraubers hin und her geworfen. Und jetzt – na so was! – setzt die Maschine zur Landung an, das heißt, sie zittert wie im Malariafieber, und der Oberst steht da wie ein flotter Offiziersschüler im Urlaub: »Rechtes Bein ein wenig nach vorn, linkes Bein als Stütze.« Wir stiegen die Bordtreppe hinunter. Alle krochen nur müde dahin, aber der Oberst flog geradezu, zog auf dem Rollfeld Kreise, lachte, hüpfte und wiegte seinen Kopf mit der schwarzen Locke in der Stirn, die von frühen, tiefen Falten durchfurcht war. Es regnete leicht und warm, und Mironow, ein stämmiger, kräftiger, mit seinen durchtrainierten Muskeln fast runder Mann, warf seine Arme in die Höhe und fing mit dem Mund das Wasser eines Himmels auf, der nicht mehr gefährlich war. Mironows Freude war ansteckend. Die Offiziere stiegen aus dem Hubschrauber und befreiten sich langsam von der für Tschetschenien typischen »Vereisung«, wenn der Mensch sich vor allem fürchtet, was links, rechts, vorne ist, und von dem, was hinten ist, in Panik gerät. Die Offiziere berieten, wo sie übernachten könnten. Es wurden Witze erzählt, Späße gemacht, es wurde laut und gar nicht »tschetschenisch« gelacht. Mironow brüllte: »Alle ins Restaurant!« 356
»Was feiern wir?« »Begreifst du nicht? Du bist sicher selten in Tschetschenien!« Er schüttelte mich heftig am Arm als Aufforderung, schneller zu begreifen. »Wir feiern, dass wir leben! Immer noch leben! Wieder überlebt haben! Dass wir heute nicht im Krieg sind! Dass ich le-e-ebe! Dass du le-e-ebst!« Die letzten Worte schrie er schon im Laufen. Der Oberst rannte los, um alles zu erforschen und zu organisieren. Wo gibt es ein gutes Restaurant, wie kommt man dorthin. Das Nachtpersonal des Flughafens sah verunsichert aus den Fenstern des Towers auf die seltsame Gruppe, die überraschend vom kaukasischen Himmel herabgeflogen war. Ob da nicht gleich eine unangenehme Sauferei beginnt und ob man nicht lieber sofort die Polizei ruft? Mironow war bald wieder zurück. Er packte mühelos Taschen und Rucksäcke, fühlte sich wie ein den Weg weisender Stern in der Nacht, schleppte uns hinter sich her. »Wir le-e-e-ben!«, lachte er schallend und ging sehr schnell, aber wir konnten, bereits von der Energie des Obersts angesteckt, mithalten. Auch wir waren verändert, genauso schwerelos, jung und glücklich wie dieser Oberst, sein Funke sprang auf uns über, die berauschende Freude des wiedergeschenkten Lebens. Im Hubschrauber hing das Leben doch wie an einem Faden, und wir mussten uns auf die Übernachtung in Gudermes wie auf einen Abwehrkampf vorbereiten. Und jetzt haben wir den Anblick von Wladikawkas. Dichte, schlummernde Akazien, 357
kleine, stille, saubere Gassen, zart leuchtende Laternen und Menschen, die langsam spazieren gehen, obwohl es so spät ist. Keine Ausgangssperre, keine zur Gewohnheit gewordene Notwendigkeit, sich zu verstecken – das alles wirkte berauschend, obwohl keiner von uns Wein oder Wodka getrunken hatte. Gegen neun begann ein ausgelassenes Fest, obwohl die Flaschen nach wie vor fast unberührt waren. Wir berauschten uns aneinander, weil wir unversehrt in diesem nordossetischen Restaurant saßen. Wir erzählten einander betrunkenes, dummes Zeug, wir waren eine Familie, ohne zu wissen, wie der andere heißt. Wir wurden gemeinsam verrückt, verstanden uns ausgezeichnet und wollten kein Morgen mehr. Aber Mironow führte die Gruppe immer noch an. Nachdem er jede Menge ossetische Spezialitäten mit Appetit verschlungen hatte, ging er tanzen. Er tanzte mit allen im Restaurant anwesenden Frauen, schwor jeder ewige Liebe und Freundschaft, alle konnten es hören, aber das war ihm egal – er lebte von diesem Augenblick, und alle Frauen schienen ihm wunderschön, keine durfte er ohne die schönsten Worte, die der Menschheit je eingefallen waren, gehen lassen. Jeder Tanz von Mironow endete temperamentvoll. Er nahm die Partnerin auf die Arme und kreiste mit ihr, während sie sich an ihn schmiegte, wild auf dem Spiegelboden des teuren Restaurants. Sogar noch nach dem Ende der Musik. Er kreiste, auch wenn seine Partnerin nicht gerade schwerelos aussah. 358
»Wir leben! Begreifst du das?«, flüsterte er mir ins Ohr, als ich an der Reihe war. Er flüsterte es so, wie andere Männer früher »Ich liebe dich« sagten. Es erwies sich, dass er schon mehr als ein Jahr nicht aus Tschetschenien herausgekommen war. »Wie oft bist du schon lebendig zurückgekehrt?« »Heute zum sechsten Mal.« Er ließ mich auf den Fußboden nieder. »Was glaubst du, darf man das Schicksal ein siebtes Mal herausfordern?« Und ohne auf die Antwort zu warten, weil er wusste, dass man es nicht darf, rief er laut: »Blumen für alle Frauen!« Er lief zu der winzigen Bühne und riss mit einer schnellen, geübten Bewegung, so wie die Offiziere im Augenblick von Gefahr eine Pistole ziehen, das Mikrofon aus den Händen des verblüfften Sängers. Der Oberst wollte singen. Und sang eine gute Stunde. Für sich allein. Es kümmerte ihn nicht, dass die Leute keine Lust mehr hatten, ihm zuzuhören, und er selten im Rhythmus blieb. In dieser Nacht hatte er seinen eigenen Rhythmus und seine eigene Melodie. Das letzte Lied war logischerweise ein Wiegenlied. Dann verlangte er Cognac und fragte: »Wohin fliegst du morgen?« »Ich habe mich entschlossen, nach Moskau.« »Wann kommst zurück?« »Etwa in zwei Wochen.« »Lass dir Zeit, es ist im Augenblick schlimm.« »Ich weiß. Und wohin fliegst du?« 359
»Nach Tschetschenien. Die Hubschrauberpiloten haben gesagt, dass gutes Flugwetter wird.« »Viel Glück.« Wir kannten uns erst seit fünf oder sechs Stunden und redeten miteinander wie die engsten Vertrauten. Wie nach 30 Jahren glücklicher Ehe. In kurzen Sätzen, man musste nichts erklären, jeder begriff bei der kleinsten Andeutung. »Weißt du, es macht mir nichts aus, wenn ich kein Geld habe.« »Mir auch nicht. Oder dass mich mein Mann verlassen hat.« »Dein Mann hat dich verlassen?« »Ja.« »Macht nichts.« »Ja, macht nichts.« Es war späte Nacht, wir waren nicht mehr im Restaurant. Wir unterhielten uns in der Halle eines Hotels in Wladikawkas, wo es für das wenige Geld, das uns noch geblieben war, kein Zimmer mehr gab. »Und wann ist er dir davongelaufen?« »Zu Kriegsbeginn. Er hat getrunken, war viel unterwegs, verjubelte das Geld, und dann war er weg. Aber das sind Kleinigkeiten im Vergleich …« »Im Vergleich wozu?«, fragte er nach. »Das weißt du doch selbst.« »Ja. Im Vergleich zu Leben und Tod.« »Ich bin dem Krieg dankbar, in den ich zufällig geraten bin und in dem ich genauso zufällig stecken geblieben 360
bin, weil ich gelernt habe, über den Dingen zu stehen. Der Krieg ist eine schreckliche Sache, aber er hat mich von allem Überflüssigen befreit und alles Unnötige abgehackt. Wie kann ich meinem Schicksal also nicht dankbar sein?« Mironow schweigt. Er stimmt mir zu. Aber von sich selbst will er nicht viel erzählen. Das ist auch nicht nötig. Alles ist ohne Worte klar. In unseren Adern fließt das gleiche Blut, eine Transfusion vom Krieg, es gärt in uns wie Hormone und bringt uns viel zu oft in ein Niemandsland, in ein dunkles Zimmer ohne Türen. Aber wenn es uns im letzten Augenblick doch freilässt, begreifen wir, wie einsam wir sind und dazu verurteilt, auf der Welt Menschen zu suchen, die uns gleichen, Menschen, die vom Leben etwas wissen, was die meisten nie spüren werden. Vielleicht würden wir unser Geheimnis sogar mit anderen teilen wollen, aber keiner will es wissen, keiner interessiert sich dafür. Früh am Morgen begleitet Mironow jene bis zur Gangway, die nach Moskau fliegen wollen. Und nichts an ihm erinnert mehr an den schwarzhaarigen, kraftstrotzenden Mann mit den roten Wangen, der am Abend zuvor im Restaurant von Wladikawkas herumgealbert hat. Jetzt ist er ein Mann mit teilweise stark grau meliertem Haar, einem grauen Gesicht, traurig, er gibt unkonzentrierte Antworten und denkt wahrscheinlich an unangenehme Dinge. »Beruhige dich, ich rufe bei dir zu Hause an. Ich werde sagen, dass alles gut läuft.« 361
Was soll ich sonst sagen außer den üblichen »tschetschenischen« Phrasen, die jeder, der wegfliegt, jedem sagt, der hier bleibt? »Ja, ruf an … Alles ist gut …« wiederholte er wie ein Tonbandgerät. »Mein älterer Sohn besucht die SuworowMilitärschule. Der Kleine ist drei Jahre alt. Meine Frau ist jung, schön. Und was nun?« »Die Hoffnung nicht verlieren. Ohne Hoffnung sind wir nichts.« Er schwieg. Wahrscheinlich war er anderer Meinung: Er wollte so sehr nach Moskau. Ich wollte ihm etwas zum Andenken schenken, aber ich hatte nichts. Ich nahm meinen Schal ab und gab ihn dem Oberst. Er lächelte nicht einmal. Das nächste Mal begegneten wir uns in einem Spital in der Nähe von Moskau. Mironow rief mich an und sagte, er sei verwundet. »Schwer verwundet?«, fragte ich dumm, denn jeder weiß, dass in solche Spitäler nur die Schwerverwundeten aus Tschetschenien eingeliefert werden. »Nicht so schlimm«, log er mich sinnlos an. Ich war erschrocken: Sind wir nicht mehr Menschen vom gleichen Schlag? Müssen wir überflüssiges Zeug reden? Aber Mironow winkte mir zur Begrüßung von seinem klapperigen Spitalbett aus zu und beruhigte mich sofort: »In diesem Krieg habe ich das Wort ›niemals‹ zu has362
sen begonnen. Denn dieses ›Niemals‹ kann jede Sekunde sein.« Das war genau das, was ich dachte, als ich auf dem Weg zu seinem Krankenzimmer war. Das heißt, wir sind die Alten geblieben. Er weiß, dass es mich gibt, und ich weiß, dass es ihn gibt. Ist das zu viel für Menschen, die sich zu wenig kennen? Nein, es ist normal sogar für die, die sich überhaupt nicht kennen, aber dort waren, wo wir waren. Und dann plauderten wir vergnügt, und seine wirklich schöne Frau, die ihn pflegte und im Moment mit der Tropfflasche beschäftigt war, konnte uns überhaupt nicht verstehen. Zum Beispiel, dass Mironow ein Riesenglück gehabt hatte – er war nur verwundet und nicht tot. »Verstehst du? Auch diesmal habe ich überlebt!« Der Oberst war offensichtlich auf dem Weg der Besserung. Er dachte nicht mehr an seine Schmerzen und schaukelte auf dem Bett hin und her, bereit zu singen und zu tanzen. »Wunderbar!«, sagte ich, und Mironows Frau schaute mich böse an. »Stell dir vor, du hast jetzt einen langen Urlaub. Du bekommst die Sonderzulagen für viele Monate ausbezahlt, dazu deine Versicherung … Du wirst leben wie ein König. Und während du dich erholst, ist vielleicht der Krieg zu Ende. Ich verspreche dir, ich schreibe haufenweise Artikel, nur damit der verdammte Krieg zu Ende geht und du nie wieder dorthin musst!« Selbstverständlich habe ich Unsinn geredet. Aber warum nicht, wenn er darauf wartet. Und so redete ich weiter. 363
»Und du wirst deine Söhne erziehen, und mit deiner Frau (dabei lächelte ich seine Frau, die inbrünstig auf meinen Abgang wartete, möglichst zärtlich an) ins Theater gehen und deine Mutter besuchen fahren. Du kannst noch viel mehr unternehmen, wenn du schon hier bist!« »Langsam, langsam«, unterbrach mich der Oberst. Das war seine Lieblingsformel. Wenn er »langsam, langsam« sagte, hieß das, dass jetzt etwas für ihn sehr Wichtiges kam. »Verstehe ich dich richtig? Damit ich lebe, willst du schreiben, aber dann musst du doch dorthin fahren, und dann kannst du sterben. Du willst also, dass ich hier liege und auf dieses ›Niemals‹ warte?« Gott war uns gnädig. Wir hatten Glück – wir sind am Leben geblieben. Wieder einmal. Nur eins war schlecht: Während der Rekonvaleszenz von Mironow schrieb ich nicht besonders fleißig. Während er in dieser Zeit alles schaffte. Er kam wieder auf die Beine, wurde wieder kräftig, nützte seinen »militärischen« Urlaub aus, ging zur Kur, spielte und redete mit seinen Söhnen, war mit seiner Frau »Dutzende Male« (seine Worte) im Theater … Und ich? Das Ende des Krieges, das ich Mironow versprochen habe, ist immer noch nicht eingetreten. Und er musste wieder dorthin zurück, wo sogar die reifsten Menschen lernen, den wahren Sinn des Wortes »Niemals« zu begreifen. Und wir warteten mit Schauern darauf, wann dieses »Niemals« für uns kommt, und befürchteten nur eins: Dass eines Tages keiner mehr über den 364
ganzen Flughafen von Wladikawkas schreit: »Wir leben, verstehst du! Auch diesmal!« Und so geschah es auch. Im Dezember 2001 ist Oberst Mironow an Wunden, die mit dem Leben unvereinbar sind, gestorben.
London. Mai 2002. Ein Ende ohne Ende Ich muss zurück nach London, zum Interview mit Achmed Sakajew, dem Sonderbevollmächtigten von Aslan Maschadow. »Es wurde viel gesprochen über die so genannten Friedensverhandlungen zwischen Ihnen und dem bevollmächtigten Vertreter Präsident Putins im Südlichen Föderationsbezirk, General Viktor Kasanzew. Alle, die ganze Welt, haben geschrieben, dass die Frage eines Friedens für Tschetschenien über den toten Punkt hinausgekommen ist. Aber das Ende der Verhandlungen war irgendwie unklar. Was gab es eigentlich für Resultate?« »Keine. Das Treffen fand am 18. November 2001 infolge von Putins Erklärung vom 24. September über die Ablieferung der Waffen statt. Sowohl die Erklärung als auch das Treffen waren in erster Linie eine PropagandaAktion für Europa und Bush – das war doch nach dem 11. September. Wir haben von vornherein nichts Besonderes erwartet. Aber sich zu treffen und zu versuchen, 365
miteinander zu reden, das war für uns von grundlegender Bedeutung. Aus dem Dialog ist nichts geworden. Weil Viktor Kasanzew kein Politiker ist, der selbständig Entscheidungen treffen kann. Ich glaube, er hat es nicht einmal geschafft, Putin unsere Vorschläge zu unterbreiten. Von seiner Seite kamen überhaupt keine Vorschläge. Außer: ›Ergebt euch, schließt euch uns an, dann werden wir in Freundschaft zusammenleben.‹« »Heißt das, er hat eine Amnestie für die Rebellen vorgeschlagen?« »Nein. Davon war nicht die Rede. Er meinte nur: ›Es reicht. Wir haben genug gekämpft. Es ist Zeit, sich zu vereinigen.‹« »Womit hat Kasanzew das am 18. November 2001 begründet?« »Mit der These von dem einen und unteilbaren Russland. Mit sonst nichts. Wir redeten drei Stunden, aber es gab keine Vorschläge, obwohl wir damit gerechnet haben. Kein einziger Vorschlag, wie der Konflikt beendet werden könnte. Wir dagegen hatten Vorschläge, die dazu beitragen könnten, den Krieg in Tschetschenien zu beenden und die Lage zu normalisieren.« »Wäre es jetzt noch möglich, Ihre Vorschläge zu realisieren? Ist es nicht zu spät dafür?« »Natürlich nicht.« »Was sind das genau für Vorschläge?« »Erstens: Sofortige Einstellung der Kampfhandlungen auf allen Seiten. Zweitens: Die Gründung einer bilateralen 366
Arbeitsgruppe für die Durchführung der Verhandlungen. Das können staatliche oder Regierungskommissionen sein, ganz wie ›die‹ es wollen. Drittens: Das sofortige Ende der Säuberungen, die zu nichts anderem als einer weiteren beiderseitigen Entfremdung führen. Viertens: Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Maschadow.« »In welcher Funktion?« »Als Subjekt der Verhandlungen. Er ist für sie der erste Ansprechpartner. Ich sagte damals zu Kasanzew, wir hätten eine Formulierung, die es Russland ermöglichen würde, von Unteilbarkeit zu reden …« »Ohne Tschetschenien? Was wäre das für eine Formulierung?« »Na ja, das wäre auch ein Gegenstand der Verhandlungen. Aber wir haben sie wirklich.« »Haben Sie Kasanzew Ihre Vorschläge schriftlich oder nur mündlich unterbreitet?« »Schriftlich natürlich. Er sagte zu mir: ›Ich werde den Präsidenten informieren.‹ Ich fragte ihn: ›Sie wissen jetzt, was für uns akzeptabel ist. Wird das auch für Putin akzeptabel sein? Was meinen Sie?‹ Seine Antwort war: ›Ich bin zu 99 Prozent sicher – ja, das Treffen hat eine Perspektive. Aber die hundertprozentige Entscheidung trifft selbstverständlich der Präsident.‹« »Und weiter?« »Nichts weiter. Das war alles. Dann gab es Kontakte auf der Ebene unserer Mitarbeiter, unserer Stellvertreter. Telefonisch. Aber wir haben nicht mehr miteinander gesprochen, auch nicht per Telefon.« 367
»Warum?« »Weil die Situation sich so entwickelte, dass es von uns aus gesehen unmoralisch gewesen wäre, den Dialog fortzuführen. Die Säuberungen hörten nicht auf, sondern wurden im Gegenteil noch viel brutaler. Weder wir noch sie bemühten uns um ein weiteres Treffen … Obwohl, rein formal betrachtet, einer Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen nichts im Wege steht.« »Sprachen Sie mit Kasanzew damals unter vier Augen?« »Ja. Wir haben uns im internationalen Bereich des Flughafens ›Scheremetjewo‹ getroffen. Ich bin natürlich nicht allein nach Moskau geflogen, sondern zusammen mit dem Führer der ›Türkischen Liberal-Demokratischen Partei‹ in einem Privatflugzeug. Er sollte meine Sicherheit garantieren. Die türkische Botschaft in Moskau wurde über unsere Mission offiziell informiert.« »Wie ist der aktuelle Stand im Friedensprozess?« »Es gibt keinen aktuellen Stand. Auch keinen Dialog über Frieden. Der Krieg geht weiter. Ich bin der Meinung, dass es in der russischen Führung heute keine Person gibt, die die Verantwortung übernehmen und den Krieg beenden könnte. Weder Putin noch der Premierminister … Keiner.« »Aber warum?« »Ich bin überzeugt, sie kontrollieren die Situation in Tschetschenien überhaupt nicht. Die Militärs diktieren heute in Russland die Vorgehensweise. Der wesentliche Unterschied zwischen Jelzin und Putin besteht darin, 368
dass Jelzin, bei all seinen Problemen, sehr schlechte Umfragewerte, aber eine große Autorität hatte, während Putin angeblich gute Umfragewerte hat, aber keine Autorität besitzt. Die Entscheidung über die Beendigung des Krieges erfordert aber Autorität, weil nur Autorität das Recht auf die Durchsetzung politischen Willens verleiht.« »Im April fanden in Inguschetien, das an Tschetschenien grenzt und alle Kriegsjahre hindurch ein Frontstreifen war, Präsidentschaftswahlen statt. Wie wir wissen, ist der frühere Präsident Ruslan Auschew, der mit Maschadow sympathisiert, freiwillig zurückgetreten, weil er keine Kraft mehr hatte, dem Druck des Kreml zu widerstehen. Am Ende stand der Wahlsieg des FSB-Generals Murat Sjasikow, der ein Favorit der Administration von Präsident Putin ist. Was glauben Sie, welche Auswirkung kann der Sieg von Sjasikow auf den weiteren Verlauf des zweiten Tschetschenien-Krieges haben?« »Unsere Angelegenheit wird er nicht beeinflussen. Wichtig ist, was das Ganze für Inguschetien selbst bedeutet, wenn ein FSB -Mann faktisch von Putin selbst zum Präsidenten ernannt wird. Ich glaube, in Inguschetien wird ein ›zweites Tschetschenien‹ vorbereitet. Die Militärs brauchen eine Ausweitung des Kriegsgebiets, weil sie alles, was sie von Tschetschenien kriegen konnten, schon gekriegt haben, alles, was dort zu holen war, haben sie geholt. Der Krieg in Tschetschenien selbst, wenn wir die heutige Situation mit der der Jahre 1999–2000 vergleichen, ist in Militärkreisen sehr unbeliebt geworden. Sich 369
weiter dort aufzuhalten geht nicht, es muss eine Entwicklung geben, weil die Militärs ihre führende Position im Land nicht verlieren wollen. Sie können diese aber nur aufrechterhalten, wenn neue lokale Kriege und Konfliktherde entstehen. Ein Staat wie Russland, der sich noch nicht von seiner imperialistischen Tradition – vielleicht sollte man auch lieber sagen seinen imperialistischen Ambitionen – verabschiedet hat und noch kein Rechtsstaat ist, braucht einen Feind. Für einen äußeren Feind hat Russland nicht genug Kraft, aber einen Feind im Inneren kann man jederzeit finden. Zuerst waren es die Tschetschenen, jetzt sind die Inguschen dran, die sich angeblich den Tschetschenen gegenüber loyal verhalten.« »Wann muss man mit einem Krieg in Inguschetien rechnen?« »Ich denke, bald. Der Anschlag in der dagestanischen Stadt Kaspijsk ist kein Zufall, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass weder Tschetschenen noch Sympathisanten von uns etwas damit zu tun haben.« »Trotzdem setzte sofort nach dem Anschlag die Fahndung der Polizei nach dem Feldkommandeur Rabbani Chalilow ein, alle Medien haben ausführlich darüber berichtet. Warum sind Sie so sicher, dass Chalilow nichts mit dem Anschlag zu tun hat?« »Ich kann nicht sagen, ob er damit etwas zu tun hat oder nicht. Ich weiß nur, dass er keine Verbindung zu den Tschetschenen hat. Wir haben von diesem Namen genauso wie alle anderen erst nach dem Attentat vom 9. Mai erfahren. Aus dem Fernsehen.« 370
»Sie kennen diesen Feldkommandeur also nicht?« »Nein. Keiner mit diesem Namen kämpfte im ersten und im zweiten Krieg in unseren Reihen. In keinem Trupp tauchte so jemand auf. Obwohl wir genügend Männer aus Dagestan hatten … Ich bin nur sicher, dass die russischen Sicherheitsdienste in ihrem Arsenal noch viele solche Namen haben, die mir nichts sagen werden, weil ich sie einfach nicht kenne. Sie werden der Öffentlichkeit präsentiert, um Ermittlungen, Untersuchungsmaßnahmen, Suchaktionen vorzutäuschen …« »Und Maschadow? Kennt er Chalilow?« »Hundertprozentig nicht. Ich bin sicher, die Mehrheit der Tschetschenen kennt ihn nicht.« »Was können Sie zum Tod von Chattab und Bassajew sagen? Können Sie diese Fakten bestätigen oder dementieren?« »Bassajew lebt. Chattab ist tot. Aber die russischen Sicherheitsdienste haben mit dem Tod von Chattab nichts zu tun, sie haben nur das Video, das seine Leiche zeigt, bekommen. Ihnen kommt sein Tod nicht gelegen, jetzt brauchen sie sehr viel Zeit, um sich für die russische Öffentlichkeit einen neuen Chattab auszudenken. Das Video haben sie lange vor der öffentlichen Ausstrahlung bekommen, sie wollten es überhaupt nicht zeigen. Aber die Amerikaner haben Druck gemacht, weil sie Chattab der Verbindung zur Al Qaida verdächtigten und vom russischen Geheimdienst konkrete Berichte über Chattab im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus verlangten. Deswegen wäre es irgendwie 371
dumm gewesen, die Sache weiter zu verschweigen … So hat man die Geschichte mit der ›höchst geheimen Operation‹ erfunden. Doch das stimmt nicht. Chattab ist eines natürlichen Todes gestorben.« »Woran denn?« »Er ist einfach eines morgens nicht mehr aufgewacht.« »Unsere Informanten, Offiziere der Sicherheitsdienste, behaupten, die höchst geheime Operation habe darin bestanden, dass ein eingeschleuster Agent Chattab vergiftet hat. Ist Ihnen bekannt, ob eine Obduktion durchgeführt wurde? Ob ein Gerichtsarzt dabei war? Gibt es einen offiziellen Totenschein? Wo wurde Chattab begraben? Sonst geschieht mit Chattab das Gleiche wie mit Dudajew. Alles wurde vernebelt, keine Unterlagen, kein Grab, und die Mehrheit der Tschetschenen glaubt, dass er noch lebt …« »Ein Gerichtsarzt war nicht da, und der Tod von Chattab wurde auch nicht offiziell registriert. Begraben ist er in Tschetschenien. In der Region Noshaj-Jurt-Wedeno, im gebirgigen Teil. Unsinn, was sein Bruder erzählt, dass seine Leiche angeblich nach Saudi-Arabien überführt wurde. Es gab keine Möglichkeit für einen geheimen Transport der Leiche von Tschetschenien nach Saudi-Arabien.« »Welche tschetschenischen Feldkommandeure waren beim Begräbnis von Chattab?« »Keine. Nur Angehörige und Freunde.« »Was halten Sie davon, dass viele Medien den Vertretern des FSB und der Präsidentenadministration gefolgt 372
sind und Chattab in den Berichten über seinen Tod als ›Kultfigur‹ bezeichnet haben?« »Chattab hat viel geleistet. Aber er war ein ganz normaler Kämpfer des tschetschenischen Widerstands. Ich wäre nie damit einverstanden, irgendjemanden, egal ob Dshochar Dudajew, Schamil Bassajew oder Aslan Maschadow, als ›Kultfigur‹ zu bezeichnen. Die Reduzierung des tschetschenischen Problems auf Personen war von Anfang an reine Propaganda. Zunächst war es Dudajew, sie sagten, wenn es Dudajew nicht mehr gibt, ist alles zu Ende. Dann machten sie Radujew zur ›Kultfigur‹ und sagten: Wenn es Radujew nicht mehr gibt, ist alles zu Ende … Ich bin sicher, auch wenn es Radujew, Maschadow, Sakajew, Bassajew, Chattab nicht mehr gibt, wird sich nichts ändern, weil das tschetschenische Problem ein politisches ist. Solange diese Frage nicht gelöst ist, ist alles zur Fortsetzung verurteilt.« »Sie haben gesagt: Bassajew lebt. Wie will man das beweisen? Glaubt Maschadow auch, dass Bassajew noch lebt?« »Ja, ich habe vorgestern mit Maschadow telefoniert, er glaube das. Ich wiederhole: Sogar wenn wir alle, angefangen mit Maschadow, tot sind, werden Jastrshembskij und Putin nicht weniger Probleme haben. In dem Sinn, was sie unter Problemen verstehen. Das politische Problem zwischen Russland und Tschetschenien lässt sich nicht auf eine Person reduzieren. Das wird nur versucht, um diesen andauernden Wahnsinn in Tschetschenien noch weiter fortzuführen.« 373
»Spielt Beresowski jetzt im Friedensprozess, vielleicht im Geheimen, irgendeine Rolle?« »Für uns ist Beresowski ein konkreter Mensch, der in Opposition zu Putins Regime steht. Er kann heute überhaupt keine Rolle spielen. Das können nur jene, die Einfluss auf Putin haben. Und die sind vorläufig an der Fortsetzung des Krieges interessiert. In seiner Umgebung gibt es keine anderen Leute.« »Eins der größten Probleme von Tschetschenien ist, dass niemand genaue Zahlen kennt. Wie viele Menschen sind umgekommen? Wie viele leben dort? Wie viele Rebellen gibt es? Jastrshembskij ›schwimmt‹, was Zahlen betrifft, sogar offiziell …« »Wir versuchen, Zahlen festzulegen, aber das ist sehr kompliziert. Wir glauben, dass ungefähr 300 000 in beiden Kriegen ums Leben gekommen sind. Davon 120 000 im ersten Krieg, die anderen im zweiten.« »Und wie viele Kämpfer gibt es jetzt?« »Es hat keinen Sinn, Zahlen zu nennen. Das ist ein Partisanenkrieg, der im Gange ist, und der wird so lange dauern, wie es nötig ist, fünf Jahre, zehn Jahre. So lange, bis …« »Bis was? Was bedeutet für Sie das Ende des Krieges? In welcher Form könnten Sie ein Ende des Tschetschenien-Krieges akzeptieren?« »Zunächst Einstellung der Kampfhandlungen. Maschadow verlässt den Untergrund, das ist die Hauptbedingung. Garantie für seine Sicherheit … Es wird natürlich kein zweites Chassawjurt * geben. Auch keine pompösen Verhandlungen. Aber die russische Armee wird nicht 374
in Tschetschenien bleiben. Davon bin ich absolut überzeugt.« »Ich aber nicht.« »Noch ein paar Jahre, dann ist sie weg.« »Was macht Sie so sicher?« »Es ist schwierig, der Logik zuwiderzuhandeln. In der Lage, in der sich heute die Streitkräfte in Tsche tschenien befinden, mit dem Stand als Strafkommando, den sie dort für sich selbst festgelegt haben, sind sie zum Abzug verurteilt. Man kann ein, zwei, drei Jahre Zeit schinden, aber man kann das Volk nicht besiegen. Das Schwierigste haben die Tschetschenen hinter sich. Das war die Periode, als der Krieg für Putin Popularität einbrachte. Jetzt ist der Krieg höchst unbeliebt. Deswegen werden wir auch nicht aufgeben. Die Menschen, sogar diejenigen, die jetzt emigriert sind, werden nie vergessen, was passiert ist, und es nie verzeihen. Sogar wenn der Krieg heute zu Ende ginge und Tschetschenien ein Teil von Russland bliebe, würde in fünf Jahren unvermeidlich ein neuer Krieg beginnen. Weil ein neuer Dshochar Dudajew kommt, ein neuer Bassajew, ein neuer Maschadow, der das Volk zum Widerstand aufruft, es daran erinnert, was gewesen ist … Sehen Sie, jedes Mal erleben wir eine noch grausamere Form von Strafaktionen seitens Russlands. Und wenn wir heute den Widerstand aufgeben, ohne das Hauptproblem gelöst zu haben, hieße das, dass wir uns selbst zu noch schrecklicheren Strafaktionen in fünf Jahren verurteilen. Heute ist das allen bewusst. Sogar jenen, die am 375
Anfang des Krieges Putin unterstützt haben. Zum Beispiel Ruslan Chasbulatow.*« »Wer kann heute im Namen des tschetschenischen Volkes mit dem Kreml verhandeln?« »Nur Maschadow, er muss verhandeln.« »Sind Sie überzeugt, dass Sie selbst und Maschadow heute das tschetschenische Volk vertreten können?« »Mit dieser Frage habe ich gerechnet. Ja, ich bin jetzt im Ausland. Ja, es ist mir unangenehm, dass ich nicht in Tschetschenien bin … Aber gleichzeitig beruhigt es mich, dass Maschadow dort ist. Und ich vertrete ihn. Das tschetschenische Volk hat Maschadow gewählt, also vertritt Maschadow das tschetschenische Volk. Und ich bin Maschadows Sonderbevollmächtigter, und in diesem Sinn vertrete auch ich das tschetschenische Volk. Die Tschetschenen werden nie einen von Moskau eingesetzten Mann anerkennen. Das wird seit 1991 immer wieder versucht, bis heute mit Kadyrow, und es hat nie geklappt.« »Wie ist Ihr Verhältnis zu Kadyrow, dem aktuellen Verwaltungschef von Tschetschenien?« »Sowohl bei uns als auch bei Ihnen soll man nicht schlecht über Tote reden. Und etwas Positives kann ich nicht sagen.« »Wie sieht Ihrer Meinung nach die politische Zukunft von Kadyrow aus?« »Er hat keine Zukunft in Tschetschenien.« »Aber Kadyrow sagt, dass Sie keine Zukunft in Tschetschenien haben. Und Maschadow auch nicht …« 376
»Ich bin sicher, dass ihn die Gleichen umbringen werden, die ihn an die Macht gebracht haben. Noch vor dem Abzug der Truppen. Übrigens kann ich auch eine spontane Lösung nicht ausschließen. Kadyrow ist überhaupt kein tschetschenisches Problem. Er ist das Problem jener, die ihn aufgepäppelt und an die Macht gebracht haben. Kadyrow provoziert heute das Volk und ruft zum inner tschetschenischen Bürgerkrieg auf. Gegen die Feinde von Kadyrow und seinen Leuten. Der Bürgerkrieg würde ihm helfen, der Verantwortung für die schrecklichen Verbrechen, die in Tschetschenien begangen wurden, zu entgehen.« »Er ist nicht der Einzige, der vor der Verantwortung wegrennt …« »Wir, Maschadow und ich, sind bereit, uns einem internationalen Gericht zu stellen und die Verantwortung für unseren Teil der Schuld an dem, was in Tschetschenien passiert ist, zu übernehmen. Aber die Kriegsverbrecher müssen sich auch verantworten. Ich bin sicher, ein solcher Prozess wird auf jeden Fall stattfinden, egal wie der Krieg ausgeht. Falls die Tschetschenen das nicht erreichen, wird der Krieg zwischen Tschetschenien und Russland nie enden. Bisher haben die russischen Generäle mit tschetschenischem Blut nur Karriere gemacht, Orden, Beförderungen bekommen, sie haben sich bereichert, wurden zu Politikern … Und kein Einziger von ihnen hat je die Verantwortung dafür getragen. Wenn dies wieder nicht eintritt, sind wir zur Wiederholung verurteilt. Die russischen Generäle haben es sich angewöhnt, 377
vom tschetschenischen Blut zu profitieren, und von selbst werden sie auf diese Tradition nicht verzichten.« »Aber auf Ihrer Seite ist auch nicht alles so einfach. Kann man etwa von Eintracht in Ihren Reihen reden?« »Gab es je einen Moment, zum Beispiel einen Tag Waffenstillstand, an dem sich hätte zeigen können, dass irgendeine Abteilung Maschadows Befehlen nicht folgt? Hatte Maschadow einmal die Möglichkeit, allen Trupps zu befehlen, nicht zu schießen? Und jemand antwortete ihm: ›Nein, Aslan.‹? So etwas hat es nie gegeben. Es gab auch keinen Waffenstillstand, den einer seiner Unterstellten hätte brechen können. Was jedem ermöglichen würde zu behaupten, Maschadow habe die Kräfte des Widerstands nicht unter seiner Kontrolle. Seit 1991 wird den Tschetschenen eingetrichtert, dass sie untereinander verfeindet sind … Wir haben unsere eigene Mentalität. Im Unterschied zu anderen Völkern, zu anderen Menschen des Orients, hat vergossenes Blut auf uns eine ernüchternde Wirkung, und nicht umgekehrt. Weil jeder weiß: Man wird sich für dieses Blut verantworten müssen.« »Trotzdem wurden 18 tschetschenische Mitglieder einer Sondereinheit des russischen Innenministeriums Ende April in Grosny in die Luft gejagt, und der Kommandeur dieser Einheit, Mussa Gasimagomadow, muss jetzt die Mörder finden und beseitigen. Er trägt doch Verantwortung gegenüber den Familien jener Leute, die er für seine Abteilung engagiert hat und die jetzt tot sind … Ist das kein Beispiel für innertschetschenischen Bürgerkrieg?« 378
»Ich habe keinen Zweifel, dass das die russischen Geheimdienste getan haben.« »Warum eigentlich? Alle sagen das … Aber wo sind die Beweise?« »Wir haben eine bestimmte Mentalität. Man kann in den tschetschenischen Einheiten nichts verbergen. Die Information würde auf irgendeine Weise durchsickern. Derjenige, der das getan hätte, würde es jemandem erzählen, und der, der das weiß, würde wieder einem anderen sagen, dass er weiß, wer das getan hat … Aber wir wissen nichts.« »Heute gibt es auf allen Ebenen, auch unter den Tschetschenen, viele Gespräche über die Suche nach einer Kompromissfigur für den Posten des Oberhaupts von Tschetschenien, die sowohl der Mehrheit der Tschetschenen als auch dem Kreml passen würde. Was meinen Sie dazu?« »Es wird keine Kompromissfigur geben. Es gibt einen Präsidenten, den das Volk gewählt hat …« »Er kann auch plötzlich zurücktreten … Viele Tschetschenen reden davon.« »Er wird nicht zurücktreten.« »Wieso sind Sie so sicher?« »Er ist nicht Schamil Bassajew. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen einem von oben eingesetzten Beamten und einem gewählten Präsidenten. Dudajew wurde gewählt, er trat nicht zurück, er wurde ermordet. Maschadow wird nie verschwinden, nie aufgeben, nie zurücktreten. Aber Leben und Tod sind in Gottes Hand.« 379
»Es gibt trotzdem ein Szenario, und das entwerfen die Tschetschenen selbst – wozu die Heuchelei? Demnach tritt Maschadow am ersten Tag nach Kriegsende zurück und übergibt seine Machtbefugnis jener allen Seiten passenden Kompromissfigur, nach der jetzt alle suchen. Ihre Meinung dazu?« »Aslan wird auf diese Art nicht abtreten. Es handelt sich nicht um ein Erbgut von Maschadow, sondern um den Willen des Volkes. Den kann man nicht einfach übergeben. Niemand wird das zulassen.« »Aber es gibt Menschen, den Abgeordneten Aslanbek Aslachanow oder zum Beispiel Ruslan Chasbulatow, die bereit wären, die Rolle der Kompromissfigur in der Übergangszeit zu spielen, und vom Kreml bereits entsprechende Angebote bekommen haben.« »Das wird nicht der Kreml entscheiden. Die Tschetschenen werden das entscheiden.« »Auf welche Art und Weise?« »Durch die neuen Wahlen. Wenn Aslachanow vom Volk zum Präsidenten gewählt werden wird, dann wird er es auch sein.« »Was glauben Sie, war der größte Fehler von Maschadow?« »Das war nicht nur sein Fehler, das war unser gemeinsamer Fehler. Wir, seine Kampfgefährten, die mit ihm den ersten Krieg durchgemacht haben, haben nach Chassawjurt den Propagandatrick des Kreml für bare Münze genommen. Dass wir im ersten Krieg gesiegt hätten. Das war unser tragischer Fehler, für den wir 380
jetzt bezahlen müssen. Und nicht nur wir, sondern unser ganzes Volk. In Wirklichkeit hat es keinen Sieg gegeben. 120 000 Menschen sind ums Leben gekommen … Die ganze Infrastruktur wurde zerstört, Städte und Dörfer wurden weggefegt … Und wir haben den Sieg gefeiert. Orden und Ränge verliehen. Wenn wir schon damals als Opfer eines volksfeindlichen Krieges die Rechnung präsentiert hätten, wäre es vielleicht zum zweiten Krieg gar nicht gekommen.« »Souveränität für Tschetschenien ist nach wie vor Ihre Position?« »Wenn es eine andere Variante gibt, die dem tschetschenischen Volk Sicherheit garantieren würde, wären wir bereit, sie anzunehmen. Aber darüber kann man mit dieser Regierung, mit Putin, nicht reden.« »Wie es aussieht, wird ein solches Gespräch nicht so bald stattfinden können. Putin rechnet mit einer zweiten Amtszeit.« »Das ist das Problem von Russland.« »Das Problem von Russland ist auch ein Problem von Tschetschenien …« »Das stimmt. Aber es ist so, dass von den Tschetschenen im Augenblick nicht viel abhängt. Was uns übrig geblieben ist, ist die Fortsetzung des Widerstands. Sonst nichts. Ich möchte, dass Sie mich richtig verstehen. Es ist mir unangenehm und entspricht nicht meinem Charakter, hier, in der Hotelhalle und weit entfernt von Tschetschenien, über den Widerstand zu reden. Ich war früher immer inmitten der Ereignisse. Und jetzt, so wollte es 381
das Schicksal, bin ich hier. Aber sehr viele Tschetschenen haben schon begriffen, dass sie keine andere Wahl haben. Ganz unabhängig von mir, Maschadow, Bassajew. Vor allem der jüngeren Generation ist das bewusst.« »Aber stellen wir uns vor, dass Putin Maschadow zu Verhandlungen in den Kreml einlädt. Wird er Nein sagen?« »Er wird nicht hinfahren. Nicht aus Angst. Maschadow darf einfach keinen Fehler machen.« »Gut, Kasanzew ruft Sie an und sagt: ›Wollen wir uns wieder treffen?‹« »Ich werde auch Nein sagen. Wieder bei irgendeiner politischen Konjunktur mitspielen? Wenn gerade Bush auf Besuch kommt … Oder sonst irgendetwas los ist? … Nein.« »Haben Sie selbst den Krieg nicht satt?« »Habe ich eine Alternative?« »Wie stellen Sie sich Ihre Rückkehr nach Tschetschenien vor?« »Das ist eine sehr private Frage. Ich kann es nicht erklären … Auf einem weißen Ross.« »Wo möchte Maschadow nach dem Krieg leben?« »In Tschetschenien. Ich zweifle keine Sekunde daran. Ich bin auch nur deswegen nicht in Tschetschenien, weil ich den Auftrag habe, Maschadow in Europa und bei den internationalen Organisationen zu vertreten. Ich habe Tschetschenien nicht auf eigenen Beinen verlassen, ich wurde nach einer Verwundung herausgetragen. Und ich werde zurückkehren. Dafür lebe ich.« 382
»Für wen, glauben Sie, werden in Tschetschenien nach dem zweiten Krieg Denkmäler errichtet werden?« »Für niemanden. Helden gibt es in diesem Krieg nicht mehr. Und auch keine Sieger. Die Nation ist total erniedrigt, gekränkt. Und auch Helden tun ihrem eigenen Volk so etwas nicht an.«
NACHWORT Viele Menschen rufen in der Redaktion an, viele schreiben Briefe und stellen oft die gleiche Frage: »Wozu schreiben Sie das? Wieso erschrecken Sie uns? Wozu brauchen wir das?« Ich bin überzeugt, es muss sein. Aus einem einfachen Grund: Wir sind die Zeitgenossen dieses Krieges, und wir werden uns für diesen Krieg verantworten müssen … Und dann werden die klassischen sowjetischen Ausreden nicht mehr helfen: Ich war nicht dabei, ich habe mich nicht beteiligt … Merken Sie sich das. Irgendwann werden auch Sie frei von Zynismus sein. Und von Rassismus, in dessen tiefen Sumpf unsere Gesellschaft immer mehr hineinrutscht. Und von den unüberlegten, schrecklich persönlichen Entscheidungen darüber, wer wer ist im Kaukasus und ob es dort heute überhaupt Helden gibt …
GELB AUF SCHWARZEM GRUND Leben nach »Nord-Ost« Mein Glaube an die übliche Zeitrechnung schwindet. Immer mehr scheint mir, dass jeder von uns seinen eigenen Kalender besitzt, dass er seine ganz persönliche Zeitrechnung – und nicht das gewöhnliche »Januar, Februar, März …« – durchlebt. Entsprechend den Umständen, in die einer gerät. Oder die einer vielleicht sogar selbst wählt? Ich habe so einen Kalender für das rasch zu Ende gehende Jahr 2002, das Jahr des »Nord-Ost«-Dramas. In meinem Kalender gibt es keinerlei Chronologie und keine äußere Ordnung. Nur Bilder aus dem Fluss der Zeit und die Logik der Gefühle, die uns alle zu dieser Katastrophe geführt haben. »Gefühle? Mehr nicht?«, wird mancher enttäuscht fragen. »Und wo bleibt die Analyse? Das pragmatische Herangehen? Die kühle Prognose?« Die Putin-Zeit – das sind eisige Jahre, in denen abermals Tausende Menschenleben geopfert werden dürfen im Namen einer »lichten antiterroristischen Zukunft«. Analysieren wollen und können viele, mitfühlen und nachempfinden nur wenige. Deshalb stehen diese defizitären Gefühle für mich obenan. In dem, was ich meine Zeitrechnung nenne …
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Anfang Dezember. Das 40-Tage-Todesgedenken für die Geiseln von »Nord-Ost« ist vorüber und die Zeit gekommen, so möchte man meinen, wenigstens versuchsweise zur Normalität überzugehen … Aber es will nicht gelingen. Ganz und gar nicht. Ob es am Wetter liegt? Moskau mit seinen klirrenden, schneelosen Dezemberfrösten, die einem das Innerste ausbrennen. Wie unwirtlich er sich anfühlt, dieser Winter des Jahres 2002 … Einige derjenigen, die das Anti-Musical überlebten, kommen manchmal zu mir in die Redaktion. Ira Fadejewa zum Beispiel. Die 37-Jährige steht im Türrahmen: schwarze Baskenmütze, schwarzer Mantel und schwarzer Pullover, in ihrer Hand züngeln gelbe Flammen. Ira bringt einen großen Strauß langstieliger gelber Rosen, zur Erinnerung an ihren Sohn, den 15-jährigen Jaroslaw, Schüler einer Moskauer zehnten Klasse. Beide waren am 23. Oktober beinahe zufällig in das Musical geraten. Sie hatten ins Theater gewollt, aber das falsche Datum erwischt, und »Nord-Ost« lief gleich nebenan, was also lag näher, als dorthin zu gehen, wenn sie schon ausgehfein angezogen waren. Ira überlebte, Jaroslaw nicht. Ira floh aus dem Krankenhaus, suchte nach ihrem Sohn, fand ihn im Leichenschauhaus, entdeckte Spuren eines Durchschusses an seinem Körper. Doch auf dem Totenschein, den man ihr aushändigte, war in der Spalte »Todesursache« nur ein Strich, weil es laut offizieller Version »nur vier Erschossene, allesamt von den Terroristen« gegeben hatte. Jaroslaw wäre der fünfte gewesen, und daran konnte den Offiziellen nicht gelegen sein. Deshalb keine Todes386
ursache und keine Chance auf Ermittlung. Überhaupt keinerlei Chancen. Ira taumelte aus dem Leichenschauhaus, stürzte sich von der nächstbesten Brücke in die Moskwa, doch sie wurde aus dem Wasser gefischt, und nun leidet sie so, dass es keine Worte gibt, die ihr Trost spenden könnten, zumindest kenne ich keine … Und, wie könnte es anders sein, nicht die geringste Hilfe von diesem Staat, der Iras Sohn zum Tode verurteilte, denn Ira ist kein Opfer der Terroristen, deshalb sind Rehabilitationszentren, Psychologen und Psychiater nicht für sie da … Selbstmorde unter den ehemaligen Geiseln, das ist die Realität, mit der wir leben im Dezember … Gelb auf schwarzem Grund. 23. November. Frühmorgens, gegen sechs. Bleierne Müdigkeit nach einer schlaflosen Nacht. Plötzlich ein Anruf: »Anna Stepanowna, holen Sie mich hier raus … bei der Miliz … Ich habe wieder was verkehrt gemacht.« Ich stürze zum Auto. Mein Gott, diese Kälte, sie geht durch Mark und Bein, schüttelt mich … Die satten Ordnungshüter auf dem Milizrevier in der Nowo-Alexejewskaja-Straße bedenken mich mit Gemeinheiten. In einem Winkel ihrer stinkenden, voll gespuckten Wachstube hockt Ilja – verängstigt, schmutzig und unrasiert, mit einem Gesicht, als habe er gerade seine Mutter begraben. Ilja ist ein alter Freund meiner Kinder, ich kenne ihn von klein auf, weiß noch, wie er als kräftiges, rotwangiges Kerlchen mit dem Cello unter dem Arm zur Musikschule in der Mersljakow-Gasse lief. Vor einem Jahr hatte der 387
24-Jährige als Musiker im »Nord-Ost«-Orchester angefangen, war also auch an jenem verfluchten Abend dabei. »Mama, Ilja ist DORT!«, schrie mein Sohn am 23. Oktober in den Telefonhörer. »Mama, was machen wir bloß? Kannst du ihm nicht irgendwie helfen? Sprich mit den Tschetschenen! Mama, bitte!« Doch ich konnte nichts tun. Weil es sich DORT verbot, persönliche Beziehungen geltend zu machen, für einen Einzelnen zu bitten – und damit möglicherweise die Übrigen einem ungewissen Schicksal zu überantworten. DORT durfte man nur für alle bitten. Ilja erlebte die drei Tage und Nächte des Geiseldramas, bemerkte, wie das Gas kam, verlor das Bewusstsein … und hatte Glück. Einer der ersten Rettungswagen brachte ihn in die toxikologische Abteilung des Sklifassowski-Krankenhauses. Er kam durch, aber heute, einen Monat später, ist er nicht mehr der Alte. Seine Nerven liegen blank, wieder und wieder durchforscht er sein bisheriges Leben, sieht auf Schritt und Tritt Anlass zum Kampf. »Anna Stepanowna, was ist los mit mir? Als ob ich in meine Halbwüchsigenzeit zurückgefallen wäre!« »Du musst dich einfach auskurieren …« »Ich kann keine Ungerechtigkeit mit ansehen … Wie soll mir da ein Krankenhaus helfen? Was ist das bloß, Anna Stepanowna?« Und jetzt sitzt Ilja auf dem Milizrevier, weil er mit einem Toaster nach jemandem geworfen und dieser Jemand sich beschwert hat. Davor wollte er einen aserbaidschanischen Gemüsehändler Mores lehren, der am Sucharew-Platz an eine Kirchenmauer pinkelte. Ein anderes Mal wieder ging er in einen Nachtklub, in dem 388
intelligentes Publikum verkehrt und Lyriker gern ihre Gedichte vortragen, und fing dort eine Schlägerei an wegen irgendeiner »falschen« Bemerkung … »Was ist los mit mir, Anna Stepanowna? Holen Sie mich hier raus … Die haben mich in den ›Affenkäfig‹ gesteckt, ich musste immerzu stehen …« Ein Einziger unter den Milizionären zeigt Verständnis, ist bereit, sich hineinzuversetzen in die Katastrophe, die Iljas fragile Welt erschütterte. Er fragt mich: »Können Sie auf ihn einwirken? Versprechen Sie es mir, und ich lasse den Burschen laufen.« Aber wie kann ich das versprechen? Ich bin kein Psychiater. Trotzdem gebe ich mein Wort. Und der Milizionär fährt fort: »Lassen Sie ihn nicht weg. Wenigstens für eine gewisse Zeit, bis er sich beruhigt hat. Sonst landet er wieder hier.« Ehe alle Formalitäten erledigt sind, ist es neun Uhr. Ich setzte Ilja ins Auto, wo er sofort einschläft: Er hat die ganze Nacht gegen Windmühlen gekämpft. Um halb zehn beginnt die Jahreskonferenz »Der KGB: gestern, heute, morgen«. Dort soll ich darüber sprechen, wie sich unsere russischen Geheimdienste in den drei Tagen und Nächten des Geiseldramas verhalten haben. Ich nehme Ilja mit, drücke ihn auf einen Stuhl ganz hinten im Konferenzsaal. Wieder schläft er ein, und ich halte meinen Vortrag, ohne Ilja aus den Augen zu lassen, weil ich fürchte, den Moment zu verpassen, in dem er plötzlich aufwacht und meint, auch hier von Feinden umringt zu sein … »Was ist los mit mir, Anna Stepanowna?«
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25. Oktober. Jener Freitag, auf den der 26. Oktober folgte, und der Gasangriff … Mit gezogener Maschinenpistole führen die Terroristen männliche Geiseln vor sich her, im Gänsemarsch, die Treppe vom ersten Stock in das Erdgeschoss hinunter. Um Wasser und Getränke zu holen, die für die Geiseln gebracht werden, sie hinaufzutragen und im Saal zu verteilen. Und außerdem, weil ich sie darum gebeten habe. Denn meine Vorbedingung für ein Treffen mit den Terroristen lautete: Nur, wenn ich mit den Geiseln sprechen darf. Und so kommen sie mir jetzt entgegen, einer hinter dem anderen, schicksalsergeben: Männer, kleine Jungen. Einer schreit: »Ihr da! Bringt Desinfektionsmittel! Ich habe schon heute morgen darum gebeten!« Ein junger Mann im schwarzen Anzug eines Orchestermusikers flüstert: »Sie sagen, ab zehn Uhr fangen sie mit dem Erschießen an … schon ab zehn … mit dem Erschießen … Geben Sie das weiter dort … bitte …« Und Abubakar, der Terrorist Nummer zwei im »Nord-Ost«, hat das Bedürfnis, sich vor dem Tod auszusprechen. Abubakar, ein junger Bursche mit dem Aussehen eines Greises. Er erzählt, was ihn an diesen Ort brachte. »Wie ihr hier lebt! Gut habt ihr es! Während wir in den Wäldern hausen. Aber wir wollen auch wie Menschen leben! … Wol-len … wol-len … wie Men-schen … Hört ihr? Wir zwingen euch, uns zu hören! …« Einem Echo gleich, hallt es von allen Seiten, von irgendwo oben, wo die Posten der Terroristen im ganzen Gebäude verteilt sind. Die Geiseln müssen zurück, wieder im Gänsemarsch. »Ich habe alles ausgerichtet.« 390
»Verstanden«, gibt mir der junge Orchestermusiker zu verstehen, nur mit den Lippen, aus denen jede Farbe gewichen ist. Der Mann, der die Desinfektionsmittel verlangte, war Wassiljew, der Produzent des Musicals. Ich erkenne ihn später im Fernsehen, als er bei einem Treffen im Kreml Präsident Putin Dank sagt »für alles«. Den jungen Musiker mit den bleichen Lippen sehe ich nicht wieder, nirgendwo … Der unbeschwerte 23. Oktober in Amerika. Leichtfüßig betrete ich mein Hotel in Santa Monica, einem wunderschönen Teil von Los Angeles. Ich habe gerade eine Vorlesung gehalten, für Journalistik-Studenten der hiesigen Universität und ihre Dozenten. Habe über unser Leben gesprochen, und natürlich über den endlosen Bürgerkrieg in meinem Staat, dem zweiten Tschetschenien-Krieg, der geradezu manisch den Terrorismus zur »inneren Anwendung« wieder und wieder reproduziert, nun bereits das vierte Jahr in Folge, ohne jede Feuerpause. Die Studenten können nicht begreifen: Warum? Wieso? Und ich spreche über die wachsende Radikalisierung der Kräfte des tschetschenischen Widerstands, über die Verstärkung ihrer Reihen durch Männer und Frauen, die Rache nehmen wollen für den Tod von entführten, gefolterten, ermordeten Angehörigen, über die Tatsache, dass den jungen Rebellen der gemäßigte Maschadow bereits nicht mehr genügt und der radikale Bassajew die Oberhand gewinnt … Als ich ins Hotel komme, richtet mir der Portier aus, 391
meine Redaktion in Moskau habe angerufen, dort sei etwas passiert … Ich rufe zurück und höre: »Eine Geiselnahme. Das ›Nord-Ost‹ ist besetzt. Keiner weiß, was wird.« »Und Putin?« »Der schweigt.« Nachts dann ein Anruf von Lena Milaschina, einer Korrespondentin unserer Zeitung: »Die Terroristen wollen, dass Sie zu ihnen kommen. Gerade haben sie diese Forderung durchgegeben. Sie sollen ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagen in einer Live-Schaltung des Fernsehsenders REN-TV. Die melden sich gleich bei Ihnen.« Als das Telefon läutet, sage ich »Ja«. Mein Sohn durchbricht den Kordon der unablässig schrillenden Telefone: »Das darfst du nicht tun! Auf gar keinen Fall! Wir halten das nicht aus! Du hast ja keine Ahnung, was sich hier abspielt!« Mein Sohn ist die immer währende Sorge um mich leid, und als ich ihm nicht klipp und klar verspreche: »Natürlich gehe ich da nicht hin!«, verliert er vollends die Nerven. Doch später wird gerade er es sein, der den Telefonkontakt mit den Terroristen hält, bis ich aus Los Angeles eintreffe, wofür sich ihm später, nach der Erstürmung des »Nord-Ost«, Geheimdienstleute vom FSB an die Fersen heften und seine Telefonate abhören werden … Zwischen meinen Gängen in das Musical-Theater sitze ich im Stab … Ja, was für einem Stab eigentlich? Wozu eingerichtet? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich mehr für die gewaltsame Eroberung als für die Befreiung der Geiseln, wie sich noch herausstellen soll. Am 25. Oktober hocke ich also spätabends in diesem Stab, mit einem Offizier namens Shenja, und ich zittere wie im Fieber, 392
denn zu allem Unglück regnet es plötzlich auch noch und ich kann meinen nassen Mantel nirgendwo trocknen … Wieder ruft mein Sohn an und sagt, er habe nachgedacht, es sei in dieser Situation sicher das Beste, wenn er und kein anderer mit mir in das Gebäude gehen und die Getränke für die Geiseln tragen würde. Er sei ja nicht vom Geheimdienst, sondern einfach mein Sohn – »da können die Terroristen nichts dran finden, oder?« –, das stünde schließlich nicht nur im Ausweis, man könne es mit bloßem Auge sehen, und »das wird die Geiselnehmer beruhigen«. Ich gebe Offizier Shenja das Angebot weiter. Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste für alle? Doch in diesem Moment kreisen sämtliche Gedanken in sämtlichen Köpfen nur um die eine, einzige gottverdammte Frage: WIE? Erst als mich dieser Shenja allzu aufmerksam ansieht und fragt: »DAS wollen Sie wirklich?«, begreife ich den Hintersinn und versetze: »Nur über meine Leiche.« Am nächsten Morgen aber, als man die Toten hastig auf die Leichenschauhäuser der Stadt verteilt und die Angehörigen versuchen, die verschlossenen Tore der Krankenhäuser zu stürmen, werden wir alle im Fegefeuer der eigenen Hilflosigkeit brennen, weil wir nicht das Geringste für sie tun können, und ich fahre in die Redaktion und erzähle unserem Chefredakteur Dima von meinem Sohn. Dima bringt unter Tränen hervor: »Was wir für Kinder haben!«, und plötzlich wird mir bewusst, dass ich um ein Haar das Leben meines Soh393
nes riskiert hätte und dass ich nicht einmal mehr Tränen habe … nach allem, was dieses zu Ende gehende Jahr 2002 mit sich brachte. Nach den unaufhörlichen Säuberungen in Tschetschenien, der endlosen Reihe der Leichen, die ich sah, nach einem Jahr Arbeit, bei der ich mir vorkam wie in einem Bestattungskommando … 2. Dezember, wieder frühmorgens. Ein Anruf von einem Moskauer Sender. »Geben Sie bitte einen Kommentar zu der Tatsache, dass heute Nacht Malika Umashewa, die Verwaltungschefin der tschetschenischen Siedlung Alchan-Kala, ermordet wurde.« »Malika ermordet? Wie konnte das geschehen?« Den ganzen Abend donnerten Schützenpanzer durch den Ort, und während der Ausgangssperre, gegen Mitternacht, drangen Unbekannte in Tarnanzügen und Gesichtsmasken in das Haus ein, zerrten Malika in die Scheune und erschossen sie dort. Nicht einmal das Weinen und Flehen der minderjährigen Nichten, die Malika nach dem Tod ihres Bruders aufzog, konnte sie erweichen, diese Monster, die im Krieg gelernt hatten, sogar 54-jährige Frauen mit zu hohem Blutdruck, einem kranken Herzen und ewig geschwollenen Beinen kaltblütig abzuknallen. Nun ist noch eine meiner »Heldinnen« tot: Malika. Sie leitete die Ortsverwaltung in einer der schwierigsten tschetschenischen Siedlungen, galt Alchan-Kala doch bei den Föderationskräften als Barajew-Hochburg, und das wiederum bedeutete: unzählige Säuberungen, Erschießungen, verstümmelte Leichen … 394
Malikas Amtsvorgänger war umgebracht worden, und ihr Verstand hätte ihr eigentlich eingeben müssen: »Sitz still, sei vorsichtig«, doch Malika tat das Gegenteil. Sie, eine Frau, war die Mutigste, Rückhaltloseste unter den Verwaltungsleitern in dieser für jeden tödlichen Zone militärischer Anarchie. Allein und unbewaffnet stellte sie sich den Panzern entgegen, die in das Dorf einrollten. Als die Staatsanwälte vor den Generälen kuschten, nichts gegen Willkür und Gesetzlosigkeit unternahmen, sondern nur die Morde und Folterungen »schriftlich fixierten«, war es Malika, die ihnen ins Gesicht schrie: »Ihr seid Geschmeiß!« Und die Generäle, die entgegen ihrem Versprechen doch die Zivilbevölkerung von Alchan-Kala für Barajews Rebellenaktionen büßen ließen, bedachte sie mit noch deutlicheren Worten. Das hatte im heutigen Tschetschenien noch keiner gewagt. Nicht einmal ein Mann. Und es trug dieser kleinen, bescheidenen, von der Dorfversammlung gewählten Frau den Hass des großen russischen Generalstabschefs General Kwaschnin ein. Der hasste Malika so glühend, dass er sogar die Moskauer Fernsehkameras bemühte, um seine niederträchtigen Verleumdungen über sie zu verbreiten. Und was tat Malika? Sie erstattete Anzeige gegen den allmächtigen Lügner mit den Generalsbiesen, vor dem fast jeder zitterte, sogar im Kreml. Aber auch die andere Seite machte Malika das Leben schwer. Achmad-Hadshi Kadyrow, der Verwaltungschef von ganz Tschetschenien, schlug ihr in Grosny die Tür vor der Nase zu, aus panischer Angst vor einem Gespräch mit dieser Frau, die sich 395
von keiner »Macht« den Mund verbieten ließ. Er verjagte sie aus seinem »Amtssitz«, weil er wusste, sie hatte für ihn keine andere Bezeichnung übrig als »Volksverkäufer« oder »Moskauer Höfling« und würde alles in ihren Kräften Stehende tun, um seinen Aufstieg zum »volkserwählten« Präsidenten Tschetscheniens zu verhindern. Und von Malika hingen immerhin 20 000 Stimmen ab, denn die Bewohner von Alchan-Kala schworen auf ihre Ortsverwalterin. Ich habe noch Malikas Worte im Ohr: »Anna, was ist das nur für ein unredlicher Krieg?! Wen ich mehr fürchte? Natürlich die Föderalen. Denen ist nichts heilig. Unseren auch nicht, aber die sind Banditen. Während die anderen im Namen der Verfassung handeln.« An jenem Tag regnete es in Alchan-Kala in Strömen. Malika saß in ihrem so genannten »Dienstzimmer« in der Ortsverwaltung und stempelte pausenlos irgendwelche Papiere ab, mit denen die Dorfbewohner kamen. Und da war dieses Frösteln – vielleicht von der Nässe, vielleicht aus dem Wissen, dass hier, direkt an diesem Schreibtisch, Malikas Vorgänger ermordet wurde und auch sie ständig Drohungen erhielt. Jeden Moment konnte ein Mann mit einer Maschinenpistole hereinstürzen … Als wir genug über das Furchtbare geredet hatten, gingen wir zur Abschlussfeier der Schule Nr. 2. Malika hielt eine Geleitrede für die 12 Schulabgänger – 3 Jungen und 9 Mädchen. Sie alle hatten zusammen mit dem ganzen Dorf vor kurzem die Trümmer eines Gebäudes geräumt, unter denen die von Armee-Sprengladungen 396
zerfetzten Leiber mehrerer Dorfbewohner lagen, hatten abgerissene Hände, Füße, Reste von Kleidungsstücken geborgen. Und die Jungen waren bei der Bestattung der Opfer dabei gewesen. Malika sprach von der Wahl des richtigen Lebensweges, und hier, in Alchan-Kala, erhielten diese Worte, die man so oft bei derartigen Anlässen hört, einen tieferen Sinn. Von dieser Wahl, sagte Malika, hängen Leben oder Tod ab, da darf man keinen Fehler machen, nicht einmal einen Kompromiss … Am 25. Oktober musste ich an Malikas Worte denken: Mowsar Barajew, der Anführer der Geiselnehmer von »Nord-Ost«, kam aus Alchan-Kala.
Noch ein Postskriptum. Das allerletzte – bis auf weiteres 5. Dezember. Ein graues, ewig dämmriges Kopenhagen. Das städtische Polizeigefängnis ist düster, eine riesige Steintreppe führt nach irgendwo, tief hinein in diesen gewaltigen Bauch, der die menschlichen Laster verdaut. Ich stehe da und friere. Warte auf Achmed Sakajew. Vor einer halben Stunde verbreiteten die Ticker der Presseagenturen eine offizielle Mitteilung des dänischen Justizministeriums über seine Freilassung. Auf Forderung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation war Sakajew am 30. Oktober 2002 verhaftet worden, gegen ihn lag ein Antrag auf Auslieferung vor. Wegen Verbrechen, für die Russland den Beweis schuldig blieb. 397
Sakajew kommt und kommt nicht. Ich werde unruhig: Ob etwas passiert ist? Könnten sie ihn freigelassen und gleich wieder verhaftet haben? Eine ältliche Frau taucht auf, fast könnte man sie für eine Greisin halten. Sie trägt eine altmodische Windjacke und in der Hand eine Tasche, mit der man in Moskau Kefir einkaufen würde. Die Frau erklärt mir, ich solle ihr folgen. Warum gerade ich? Ringsum stehen viele Journalisten. Ich verstehe das mit englischen Brocken vermischte Dänisch schlecht. Doch ich gehe los … Ungefähr zehn Minuten laufen wir durch die verwinkelte Altstadt. Längst schon habe ich die Orientierung verloren. Ob die Frau unsere Spuren verwischen will? Aber wer sollte uns verfolgen? … Den lichterglänzenden Weihnachtsbäumen ist meine aus fernen Urgründen gespeiste Besorgnis gleichgültig. Überall sind kleine Rentierfiguren aufgestellt. Die Frau neben mir schwärmt von dem festlichen Gepränge um uns herum, doch ich habe im Augenblick keinen Nerv dafür. Endlich bedeutet sie mir: Wir sind am Ziel. Es geht noch eine Treppe hinauf, durch eine Tür, dahinter – lauter unbekannte Leute. Sie lächeln und zeigen in eine Richtung: Da vorn. Ich gehe weiter: Sakajew erhebt sich von einem Sofa. Wir sind beide sprachlos. Sakajews Anwalt hat ihn, wie sich herausstellt, direkt aus dem Gefängnis zu sich nach Hause gebracht, weil er befürchtete, die russischen Geheimdienste könnten seinen Mandanten entführen. Und nun sitzt Achmed bereits eine Stunde in dieser Wohnung mit dem gedämpften Licht und versteht nicht viel von 398
dem, was um ihn herum geredet wird … Als ich ihn sehe, schießt mir als Erstes durch den Kopf: »Mein Versprechen!« »Achmed, ehe ich es vergesse, muss ich ein Versprechen einlösen, das ich im Sommer gegeben habe. Erinnerst du dich an unser Interview damals in London, im Frühjahr? Kurz nachdem es in der Zeitung erschien, war ich in Tschetschenien, und dort hat mich eine ehemalige Mitarbeiterin von dir angesprochen, aus dem Kulturministerium oder vom Fernsehen, und mich gebeten, dich zu grüßen, ganz gleich, wo und wann ich dir begegne. Ich solle den Gruß aber unbedingt persönlich ausrichten. Das tue ich jetzt also.« »Wer könnte das gewesen sein? Toissa bestimmt.« »Ja, Toissa.« Wir müssen lachen. Ein Gruß von Toissa, persönlich, in Kopenhagen, nach dem Gefängnis! Wir lachen über uns: Dass wir das erleben! Sakajew und ich wissen, was es bedeutet, doch die Dänen um uns herum mühen sich vergeblich, hinter den Grund unserer Heiterkeit zu kommen. In diesem widerwärtigen Krieg, in den wir alle hineingerissen wurden, kann niemand, der mit ihm zu tun hat, sicher sein, wo und wann er wen jemals wiedersieht. Und ob überhaupt. Hast du also einen Gruß zu bestellen, dann tu es gleich, morgen kann es bereits zu spät sein. Das Jahr 2002 geht zu Ende. Iras gelbe Rosen welken nicht, sie stehen da wie gefroren. In Moskau ist es bit399
terkalt und schneelos. Wie ein Winter in der Wüste: Wind, steinharte Erde und nicht einmal ein Anflug von weichem, weißem Flaum. Dezember 2002
TSCHETSCHENIEN. DIE TSCHETSCHENEN. DIE RUSSISCH-TSCHETSCHENISCHEN KRIEGE. Ein kurzer historischer Abriss Tschetschenien (russisch Tschetschnja) ist ein vergleichsweise kleines Gebiet – etwa von der Größe Thüringens – und liegt an den Nordosthängen des Großen Kaukasus-Gebirgsrückens. Die tschetschenische Sprache zählt zum ostkaukasischen (nachisch-dagestanischen) Sprachzweig. Die Tschetschenen selbst nennen sich Nochtscho oder Nachtschi, die Bezeichnung »Tschetschenen« wurde – wahrscheinlich im 17. Jahrhundert – von den Russen geprägt. Bis heute leben die Tschetschenen in enger Nachbarschaft mit den Inguschen, einem Volk, das dem tschetschenischen sowohl von der Sprache (Inguschisch und Tschetschenisch stehen sich näher als Russisch und Ukrainisch) als auch von der Kultur her stark verwandt ist. Inguschen und Tschetschenen zusammen heißen Wainachen, was so viel bedeutet wie »unser Volk«. Die Tschetschenen bilden die größte autochthone Ethnie des Nordkaukasus. Der Kenntnisstand über die frühe Geschichte Tschetscheniens ist relativ vage, da nur wenig objektive Zeugnisse erhalten blieben. Im Mittelalter siedelten die Wainachen wie alle anderen Bewohner dieser Region an den Wanderrouten riesiger turk- und iranischsprachiger Noma401
denstämme. Vom Mongolenherrscher Dschingis Khan und seinem Enkel Batu Khan unternommene Versuche, die Tschetschenen zu unterwerfen, blieben erfolglos, im Unterschied zu vielen anderen nordkaukasischen Völkern konnten sich die Tschetschenen allen Eroberern widersetzen und ihre Freiheit bis zum Untergang des mongolisch-tatarischen Reichs der Goldenen Horde bewahren. Im Jahre 1588 begab sich die erste wainachische Gesandtschaft nach Moskau, in dieser Zeit, der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, entstanden auf tschetschenischem Boden auch die ersten Kosakensiedlungen. Im 18. Jahrhundert stellte Russland in Tschetschenien ein eigenständiges Kosakenheer auf, das zu einer wichtigen Stütze bei der Durchsetzung der kolonialen Ambitionen des Zaren im Kaukasus werden sollte. Hier sind die Ursprünge der bis heute andauernden russisch-tschetschenischen Kriege zu suchen. Der erste Abschnitt der Kriegsgeschichte fällt auf das ausgehende 18. Jahrhundert. Sieben Jahre lang, von 1785 bis 1791, führte die Streitmacht der verbündeten nordkaukasischen Völker unter Führung des tschetschenischen Scheichs Mansur zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer einen Befreiungskampf gegen das russische Imperium, dem es in dieser Region nicht nur um Landnahme, sondern ebenso um handfeste ökonomische Interessen ging. 1785 hatte Russland im Kaukasus ein ganzes System von Grenzbefestigungen – die so genannte »Kaukasus linie« vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer – errichtet und begann nun, sich die fruchtbaren Ländereien der 402
Gebirgsregion anzueignen und Zölle auf die über tschetschenisches Gebiet transportierten Waren zu erheben. Die Situation im heutigen Tschetschenien lässt sich nicht verstehen ohne einen Exkurs zu Scheich Mansur. Mit ihm verbindet sich eine besonders exponierte Seite der tschetschenischen Geschichte, Mansur ist einer der beiden Nationalhelden der Tschetschenen. Seinen Namen, sein geistiges Vermächtnis nutzte General Dshochar Dudajew 1991 zur Durchsetzung der »tschetschenischen Revolution«, die ihn an die Macht führte und in der Ausrufung eines von Moskau unabhängigen Tschetschenien gipfelte. Was wiederum die blutigen, von mittelalterlicher Grausamkeit geprägten russisch-tschetschenischen Kriege unserer Tage heraufbeschwor. Nach Berichten von Zeitgenossen sah Scheich Mansur seinen Lebensinhalt im Kampf gegen die Ungläubigen und der Vereinigung der nordkaukasischen Bergvölker gegen das Zarenreich. Er verfolgte dieses Ziel mit unbeirrbarer Leidenschaft bis zu seiner Gefangennahme im Jahre 1791 und der anschließenden Verbannung in ein Kloster auf den Solowezki-Inseln, wo er später auch starb. Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts machte in der aufgewühlten, aus dem gewohnten Lebensrhythmus gerissenen tschetschenischen Bevölkerung ein Ausspruch Scheich Mansurs die Runde, ging bei zahllosen Meetings und Versammlungen von Mund zu Mund: »Zum Ruhme Gottes erscheine ich abermals in der Welt, wenn der Rechtgläubigkeit Gefahr und Unheil drohen. Wer mir folgt, wird gerettet werden, wer mir nicht folgt, 403
gegen den kehre ich die Waffe, mit der mich der Prophet rüstet.« In den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts »rüstete der Prophet« General Dudajew. Der zweite tschetschenische Nationalheld, dessen Namen sich die »tschetschenische Revolution« des Jahres 1991 auf die Fahnen schrieb, war Imam Schamil (1797–1871), der Führer der nächsten, nunmehr bereits im 19. Jahrhundert liegenden Abschnitts der Kaukasus-Kriege. Imam Schamil betrachtete Scheich Mansur als seinen Lehrer, General Dudajew reklamierte großzügig für sich, in der geistigen Nachfolge beider Nationalhelden zu stehen. Ein treffsicheres Kalkül, wusste er doch, dass Mansur wie Schamil gerade deshalb unanfechtbare Autorität bei den Tschetschenen genießen, weil sie für die Freiheit und Unabhängigkeit des Kaukasus von Russland einstanden. Dieses Faktum ist von prinzipieller Bedeutung für das Verständnis der tschetschenischen Nationalpsychologie, die – Generation um Generation – Heimsuchungen und Nöte immer wieder mit Russland in Verbindung bringt. Dabei sind Scheich Mansur und Imam Schamil beileibe keine dekorativen Figuren aus der Mottenkiste der Geschichte, sondern werden bis heute selbst von tschetschenischen Jugendlichen als nationale Helden verehrt, in Liedern besungen. Das allerneueste dieser Lieder hörte ich in Tschetschenien und Inguschetien im April 2002, wo es aus allen Autos, aus jedem Verkaufskiosk schallte. Warum hinterließ Imam Schamil eine so bleibende Spur im Gedächtnis der Tschetschenen? 404
1813 hatte das Zarenreich endgültig in Transkaukasien Fuß gefasst und den Nordkaukasus zum Hinterland des Russischen Imperiums gemacht. 1816 ernannte der Zar mit General Alexej Jermolow einen Mann zum kaukasischen Statthalter, der in den Jahren seiner Amtszeit eine gnadenlose Kolonisierungspolitik verfolgte und sich dazu unter anderem der Etablierung des Kosakentums bediente. Allein im Jahr 1829 wurden mehr als 16 000 Bauern aus den Gouvernements Tschernigow und Poltawa nach Tschetschenien umgesiedelt. Jermolows Kriege vernichteten die tschetschenischen Aule mitsamt ihren Bewohnern, zerstörten Wälder und Saaten, zwangen die Überlebenden, in die Berge zu fliehen. Jede Widersetzlichkeit der angestammten Bevölkerung löste Strafaktionen aus. Eindrucksvolle literarische Zeugnisse dieser Zeit liefern die Werke Michail Lermontows und Lew Tolstois, die beide als Offiziere der Zarenarmee im Nordkaukasus kämpften. 1818 entstand als Bollwerk der Abschreckung die Festung Grosnaja, die Bedrohliche, aus der die heutige Stadt Grosny hervorging. Jermolows Repressionen beantworteten die Tschetschenen mit Aufständen. Um sie niederzuwerfen, begann 1818 der erste Kaukasische Krieg, der – mit einigen Unterbrechungen – vierzig Jahre dauerte. 1834 wurde Schamil zum Imam ausgerufen. Unter seiner Führung begann ein Partisanenkrieg, in dem die Tschetschenen aufopferungsvoll kämpften. Der Militärhistoriker Rostislaw Fadejew schrieb Ende des 19. Jahrhunderts: »Die Gebirgsarmee, 405
die das russische Militärwesen um viele neue Aspekte bereicherte, war ein Phänomen von ganz und gar außergewöhnlicher Schlagkraft. Es handelte sich dabei um die stärkste Volksarmee, mit der sich der Zarismus je konfrontiert sah. Weder die Schweizer Eidgenossen, noch die Algerier noch die Sikhs in Indien erreichten eine derartige Vollendung in der Militärkunst wie die Tschetschenen und Dagestaner.« 1840 brach ein allgemeiner tschetschenischer Volksaufstand aus. Beflügelt von seinem Erfolg, versuchten die Tschetschenen erstmals, einen eigenen Staat zu gründen: das theokratische Schamil-Imamat. Doch Russland setzte seine Unterwerfungsversuche mit wachsender Brutalität fort. »Unser Vorgehen im Kaukasus erinnert mich an alles Unheil der Ersteroberung Amerikas durch die Spanier«, schrieb 1841 General Nikolai Rajewski der Ältere. »Möge Gott verhüten, dass die Eroberung des Kaukasus in der russischen Geschichte die Blutspur der spanischen hinterlässt.« 1859 unterlagen die Gebirgskrieger, Imam Schamil geriet in Gefangenschaft. Tschetschenien wurde ausgeplündert und zerstört, widersetzte sich jedoch noch zwei Jahre lang erbittert dem Anschluss an Russland. 1861 erklärte die Zarenregierung den Kaukasus für endgültig befriedet. Mit dem Vollzug der territorialen Ausweitung verlor die »Kaukasus-Linie« zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer ihre Funktion als Vorposten des russischen Expansionsbestrebens und wurde aufgegeben. Der Kaukasus-Krieg des 19. Jahrhunderts forderte auf beiden Seiten mehrere hunderttausend Opfer, 406
in Tschetschenien geht man heute davon aus, dass ein Drittel des tschetschenischen Volkes ausgelöscht wurde. Nach Kriegsende zwang das Zarenreich die übrig gebliebenen Tschetschenen, die fruchtbaren Nordkaukasus-Regionen zu verlassen, und siedelte dort stattdessen massiv Kosaken, Soldaten und Bauern aus den zentralrussischen Gouvernements an. Die Regierung veranlasste die Bildung einer speziellen Kommission, die aussiedlungswilligen Tschetschenen finanzielle Zuwendungen zahlte und für ihren Abtransport sorgte. Zwischen 1861 und 1865 gelangten so nach Angaben tschetschenischer Historiker annähernd 50 000 Tschetschenen in die Türkei, offizielle Statistiken sprechen von 23 000 Übersiedlern. Gleichzeitig entstanden innerhalb von nur drei Jahren, zwischen 1861 und 1863, in den angeschlossenen tschetschenischen Gebieten 113 Kosakensiedlungen, so genannte Stanizen, für 13 850 Kosakenfamilien. Seit 1893 wurde in Grosny in großem Stil Erdöl gefördert. Das brachte ausländische Banken und Geldgeber nach Tschetschenien, ließ große Firmen entstehen. Industrie und Handel nahmen eine stürmische Entwicklung, die alten Wunden zwischen Russen und Tschetschenen begannen zu heilen. Um die Jahrhundertwende waren die Tschetschenen bereits Teilnehmer neuer Kriege – nunmehr auf Seiten des vormaligen Eroberers Russland. Eine Vielzahl historischer Quellen belegt den Mut, die Opferbereitschaft und Todesverachtung der tschetschenischen Soldaten, ihre Fähigkeit, Schmerz und Entbehrun407
gen zu ertragen. Berühmtheit erlangte im Ersten Weltkrieg die aus einem tschetschenischen und einem dagestanischen Regiment bestehende »Wilde Division«. »Sie ziehen in den Kampf wie zu einem Fest, und feierlich sterben sie auch …«, schrieb ein Zeitgenosse. Während des russischen Bürgerkrieges unterstützte die Mehrheit der Tschetschenen dennoch nicht die Weiße Garde, sondern die roten Bolschewiki, aus der Überzeugung heraus, dies sei ein Kampf gegen das Imperium. Heute, nach einem Jahrzehnt neuerlicher russisch-tschetschenischer Kriege, haben selbst diejenigen die Liebe zu Russland verloren, die sie einmal besaßen. Und trotzdem bietet sich in Tschetschenien vielerorts das gleiche Bild, wie ich es im März 2002 in der Siedlung Zozan-Jurt sah: Allent halben zerstörte Häuser, Spuren der Verwüstung und des Leids, aber das Denkmal für die mehreren hundert Männer des Ortes, die 1919 im Kampf gegen die weißgardistische Armee General Denikins fielen, ist – nach mehrfachem Beschuss – instand gesetzt und vorbildlich gepflegt. Im Januar 1921 erfolgte die Gründung einer Sowjetischen Bergrepublik (russisch: Gorskaja Sowjetskaja Res publika), der auch Tschetschenien beitrat, unter der Bedingung, dass die vom Zarenreich annektierten Gebiete wieder den Tschetschenen zufallen, das Schariat und die Adaten – die uralten Regeln des tschetschenischen Gemeinschaftslebens – offiziell anerkannt werden sollten. Doch die Sowjetische Bergrepublik existierte nur drei Jahre, nach ihrer Auflösung wurde das Gebiet Tschet408
schenien im November 1922 in eine eigenständige administrative Einheit überführt und 1936 mit Inguschetien zur Tschetscheno-Inguschetischen Autonomen Sowjetrepublik zusammengeschlossen. Hauptstadt war das Erdölzentrum Grosny. In den zwanziger Jahren setzte in Tschetschenien eine spürbare Entwicklung ein. 1925 erschien die erste tschetschenische Zeitung, 1928 ging die erste Rundfunkstation auf Sendung; nach und nach wurde das Analphabetentum beseitigt, in Grosny entstanden zwei pädagogische Fachschulen und zwei Erdöl-Fachschulen, 1931 gab es in der Hauptstadt bereits ein eigenes nationales Theater. In dieser Zeit begann aber auch ein neuer, roter Staatsterror. Die erste Welle forderte 35 000 Opfer, vor allem aus den angesehenen Bevölkerungsschichten der Mullahs und wohlhabenden Bauern. Eine zweite Terrorwelle verschlang 3000 Vertreter der gerade entstandenen tschetschenischen Intelligenzija. In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1937 erfolgte die Verhaftung von weiteren 14 000 Tschetschenen, die sich durch Bildung oder soziale Aktivität von der Masse abhoben. Ein Teil von ihnen wurde sofort erschossen, die anderen kamen in Lagern um. Die Verhaftungen hielten bis zum November 1938 an. In Tschetschenien geht man davon aus, dass das Jahrzehnt der Repressionen zwischen 1928 und 1938 mehr als 250 000 Menschen das Leben kostete. Im Großen Vaterländischen Krieg kämpften 29 000 Tschetschenen, darunter viele, die sich freiwillig an die Front gemeldet hatten. Für 130 tschetschenische Soldaten 409
und Offiziere lagen Gesuche auf Auszeichnung als »Held der Sowjetunion« vor, jedoch bekamen nur ganze acht von ihnen den Orden auch tatsächlich, den obersten »Ordensverleihern« in Moskau passte wohl die Nationalität nicht. An einem einzigen Tag, dem 23. Februar 1944, wurden mehr als 300 000 Tschetschenen und 93 000 Inguschen in Viehwaggons nach Mittelasien deportiert, wo 180 000 von ihnen starben. Dreizehn Jahre lang war die tschetschenische Sprache verboten. Erst 1957, nach dem Ende des Stalin-Kults, durften die Überlebenden zurückkehren, erlebte die Tschetscheno-Inguschetische Autonome Sowjetrepublik eine Neuauflage. Jeder dritte heute lebende Tschetschene hat die Zwangsaussiedlung erlebt. Das schwere Trauma der Deportation ist auch jetzt noch spürbar in der panischen Furcht der tschetschenischen Bevölkerung vor einer Wiederholung, ihrer Neigung, hinter allem »die Hand des KGB« aufspüren und Anzeichen für eine neuerliche Vertreibung erkennen zu wollen. Heute hört man von vielen Tschetschenen, die beste Zeit seien die sechziger und siebziger Jahre gewesen, auch wenn sie damals weiterhin als Nation von »Unzuverlässigen« galten und einer gewaltsamen, aggressiven Russifizierung ausgesetzt waren. Überall wurde gebaut, Tschetschenien entwickelte sich wieder zu einem Industriezentrum, Tausende erhielten eine solide Ausbildung. Grosny war die schönste Stadt des Nordkaukasus mit mehreren Theatern, einer Philharmonie, einer Universität, dem in 410
der gesamten Sowjetunion bekannten Erdölinstitut und … kosmopolitischer Prägung. Hier lebten Vertreter unterschiedlichster Nationalitäten konfliktfrei nebeneinander. Diese starke multikulturelle Tradition widerstand selbst den Belastungen des ersten Tschetschenien-Krieges und konnte sich bis heute erhalten. So nahmen die meisten Bewohner von Grosny beispielsweise den Exodus der russischsprachigen Bevölkerung nach der »tschetschenischen Revolution« des Jahres 1991 als Verlust auf. Gorbatschows Perestroika und mehr noch der Zerfall des Sowjetreiches ließen Tschetschenien aufs Neue zu einer Arena politischer Auseinandersetzungen und Provokationen werden. Im November 1990 rief der Volkskongress der Tschetschenen die Unabhängigkeit der Republik aus und verabschiedete eine Erklärung über ihre staatliche Souveränität, wobei sicher die Überzeugung eine Rolle spielte, dass eine Republik, die jährlich vier Millionen Tonnen Erdöl fördert, sehr wohl ohne das Moskauer Zentrum überleben kann. Auf der politischen Bühne erschien ein nationaler Führer radikalen Einschlags: Generalmajor der Luftstreitkräfte der UdSSR Dshochar Dudajew, der sich auf dem Höhepunkt der allgemeinen Unabhängigkeitsbestrebungen im ehemaligen Herrschaftsbereich der Sowjetunion an die Spitze der neuen nationalen Befreiungsbewegung in Tschetschenien und der »tschetschenischen Revolution« stellte. Nach einem Putsch der alten tschetschenischen kommunistischen Nomenklatura wurde im August-September 1991 der Oberste Sowjet der Republik aufgelöst, die Macht 411
ging auf außerkonstitutionelle Organe über, die Neuwahlen ansetzten und einer Loslösung Tschetscheniens von der Russischen Föderation das Wort redeten. Es begann eine aktive »Tschetschenisierung« sämtlicher Lebensbereiche, die die massenhafte Flucht der russischsprachigen Bevölkerungsteile nach sich zog. Am 27. Oktober 1991 wurde Dshochar Dudajew zum ersten Präsidenten der Republik gewählt. Sein erklärtes Ziel war nunmehr die völlige Abspaltung Tschetscheniens von der Föderation und die tschetschenische Eigenstaatlichkeit als einzige Garantie dafür, dass sich die Republik vor neuerlichen kolonialen Ambitionen des Russischen Reiches sicher wissen konnte. Die Revolution von 1991 verdrängte in Grosny praktisch die dünne Schicht der tschetschenischen Intelligenzija, an ihre Stelle traten bisherige gesellschaftliche Randfiguren, die eine härtere Gangart, radikalere Positionen und durchgreifenderes Handeln in die Politik einbrachten. Die ökonomische Führung fiel an Menschen, die nicht wussten, wie man eine Wirtschaft leitet. Die Republik war wie im Fieber, übte sich in endlosen Meetings und Demonstrationen, während das tschetschenische Erdöl still und heimlich in unbekannte Richtung abfloss. Als Folge dieser Ereignisse begann im November-Dezember 1994 der erste Tschetschenien-Krieg. In blutigen Gefechten leisteten tschetschenische bewaffnete Formationen erbitterten Widerstand. Der Sturm auf Grosny dauerte vier Monate, Luftstreitkräfte und Artillerieeinheiten leg412
ten ein Stadtviertel nach dem anderen in Schutt und Asche, töteten die Zivilbevölkerung. Der Krieg weitete sich auf ganz Tschetschenien aus. 1996 betrug die Zahl der Opfer auf beiden Seiten bereits mehr als 200 000. Der Irrtum des Kreml sollte sich als tragisch erweisen: Moskau hatte versucht, die Interessen der verschiedenen Clane und Tejps gegeneinander auszuspielen, produzierte aber stattdessen eine Konsolidierung der tschetschenischen Gesellschaft und einen beispiellosen Aufschwung des nationalen Bewusstseins. Im Sommer 1996 führten die Bemühungen des (2002 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen) damaligen Sekretärs des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, General Alexander Lebed, zur Beendigung des sinnlosen Blutvergießens. Im August des gleichen Jahres wurde der Friedensvertrag von Chassawjurt geschlossen. Er umfasste eine politische Deklaration, die so genannte »Chassawjurter Erklärung«, und ein Dokument über die »Prinzipien für die Bestimmung der Grundlagen der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Tschetschenischen Republik«, das für die nächsten fünf Jahre einen Zustand des Nicht-Krieges festschrieb. Der Friedensvertrag von Chassawjurt trug die Unterschriften von General Lebed und Aslan Maschadow, Stabschef der Kräfte des tschetschenischen Widerstands. Präsident Dshochar Dudajew war zur Zeit des Vertragsabschlusses bereits tot, eine Zielsuchrakete traf ihn, als er gerade über Satellitenfunk telefonierte.
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Der Chassawjurter Vertrag setzte einen Schlusspunkt unter den ersten Tschetschenien-Krieg, schuf zugleich aber auch Konfliktstoff für den zweiten. Die Föderationsstreitkräfte fühlten sich »von Chassawjurt« beleidigt und gedemütigt, hatten ihnen die Politiker damit doch die Möglichkeit genommen, »die Sache zu Ende zu führen«. Hieraus erklärt sich unter anderem die in ihrer Brutalität beispiellose Revanche der russischen Militärs während des zweiten tschetschenischen Waffengangs, ihre geradezu mittelalterliche Grausamkeit nicht nur gegenüber den Rebellen, sondern auch im Umgang mit der Zivilbevölkerung. Am 27. Januar 1997 fanden unter Aufsicht internationaler Beobachter in Tschetschenien zum zweiten Mal Präsidentschaftswahlen statt, aus denen der ehemalige Oberst der Sowjetarmee und Mitstreiter Dshochar Dudajews im ersten tschetschenischen Krieg, Aslan Maschadow, als Sieger hervorgeht. Am 12. Mai 1997 unterzeichneten die Präsidenten der Russischen Föderation und der nunmehr proklamierten Republik Itschkerija, Boris Jelzin und Aslan Maschadow, einen »Vertrag über Frieden und die Prinzipien friedlicher bilateraler Beziehungen«, der heute vollständig in Vergessenheit geraten ist. Die Herrschaft in Tschetschenien mit seinem – wie es der Vertrag von Chasssawjurt nennt – »aufgeschobenen politischen Status« übernahmen jetzt die während des ersten tschetschenischen Krieges in Führungspositionen aufgerückten Feldkommandeure, denen es gewiss nicht an Mut, wohl aber zumeist an Bildung und Kultur mangelte. 414
Die Zeit zeigte, dass sich diese militärischen Führer nicht zu einer politischen und ökonomischen Elite qualifizieren konnten. Im Dunstkreis der Macht begann ein beispielloses Hauen und Stechen, das Tschetschenien im Sommer 1998 an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Die Widersprüche zwischen Aslan Maschadow und seinen Gegnern spitzten sich zu, am 23. Juni 1998 wurde ein Attentat auf Maschadow verübt, im September des gleichen Jahres forderten die Feldkommandeure unter Leitung von Schamil Bassajew – damals Premierminister Itschkerijas – den Rücktritt des Präsidenten. Der führte im Januar 1999 die Schariats-Rechtsprechung ein und praktizierte öffentliche Hinrichtungen, doch auch damit ließen sich die unbotmäßigen Feldkommandeure nicht mehr disziplinieren, die Spaltungstendenzen nicht überwinden. Tschetschenien verarmte zusehends, es wurden keine Löhne und Renten mehr gezahlt, der Schulunterricht fand, wenn überhaupt, nur noch unregelmäßig statt, vielerorts konnten die »Bärtigen« – radikalislamistische Wahhabiten – zügellos ihre Lebensregeln diktieren, Geiselnahmen entwickelten sich zu einem lukrativen Geschäft, die Republik wurde Tummelplatz der russischen Unterwelt – und Präsident Maschadow war machtlos dagegen. Im Sommer 1999 unternahmen Einheiten der Feldkommandeure Schamil Bassajew und Ibn al-Chattab einen Vorstoß auf Dagestan. Bassajew hatte sich zuvor bereits hervorgetan als Anführer des Terrorakts von Budjonowsk, 415
bei dem ein Krankenhaus und ein Entbindungsheim besetzt wurden; Chattab war ein Araber aus Saudi-Arabien, der später, im März 2002, in seinem Feldlager in den tschetschenischen Bergen starb. Diese beiden Kommandeure marschierten im Juli 1999 mit ihren Kämpfern in die dagestanischen Gebirgssiedlungen Botlich, Rachata, Ansalta und Sondak sowie die in einer Talebene gelegenen Ortschaften Tschabanmachi und Karamachi ein. Russland musste etwas unternehmen, doch im Kreml herrschte Uneinigkeit. Folge des Vorstoßes der tschetschenischen Freischärler nach Dagestan war ein Führungswechsel an der Spitze der russischen Machtstrukturen; FSB -Chef Wladimir Putin wurde zum Nachfolger des immer handlungsunfähiger werdenden Präsidenten Boris Jelzin gekürt und zum Premierminister ernannt, was vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen ist, dass er im September, nach blutigen Sprengstoffanschlägen auf Wohnblocks in Moskau, Buinaksk und Wolgodonsk, den Befehl zu einer »Antiterror-Operation im Nordkaukasus« gab und damit den zweiten Tschetschenien-Krieg absegnete. Putin benutzte den Krieg, um für sich das Image der »eisernen Faust« im Kampf gegen die Feinde Russlands zu kreieren. Das verhalf ihm am 26. März 2000 zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Nach seinem Amtsantritt als Präsident der Russischen Föderation ließ er den Feldzug allerdings weitergehen, obwohl er mehrfach reale Chancen zu seiner Beendigung gehabt hätte. Mit der Folge, dass erneut – auch wenn wir nunmehr 416
das 21. Jahrhundert schreiben – ein Krieg Russlands im Kaukasus chronischen Charakter annimmt, weil er zu vielen Vorteile bringt: Erstens den oberen Chargen der bewaffneten Kräfte, die im Kaukasus glänzende Karrieren machen, Orden, Ehrentitel und Ränge einheimsen können und ergo kein Interesse daran haben, diesen »Futtertrog« zu verlieren. Zweitens den mittleren und unteren militärischen Dienstgraden, denen der Krieg mit seinem »von oben erlaubten« flächendeckenden Marodeursunwesen und der massenhaften Ausplünderung der Zivilbevölkerung verlässliche Einkünfte beschert. Drittens beiden zusammengenommen, weil ihnen der Krieg Zugang verschafft zum illegalen Erdölgeschäft in Tschetschenien, das mit der Zeit unter gemeinschaftliche tschetschenisch-russische Kontrolle geraten, im Grunde zu staatlich sanktioniertem – von den Föderationskräften gedecktem und gesichertem – Banditentum geworden ist. Viertens der so genannten »neuen tschetschenischen Macht«, den Verwaltern von Moskaus Gnaden, die sich dreist aus den Budgetmitteln für den Wiederaufbau Tschetscheniens und die Entwicklung seiner Wirtschaft bedienen. Und fünftens schließlich dem Kreml. Seinerzeit als reines PR-Mittel für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen begonnen, liefert dieser Krieg nun ein probates Mittel, um die Realität außerhalb des Kriegsgebiets zu übertünchen oder die Öffentlichkeit vom Nachdenken über die ungünstige wirtschaftliche und politische Entwicklung abzulenken. Heute hat der Kreml die rettende Idee, Russland gegen 417
den »internationalen Terrorismus« in Gestalt der tschetschenischen Terroristen verteidigen zu müssen, auf seine Staatsflagge geschrieben und präsentiert sie unablässig, wenn es darum geht, die öffentliche Meinung nach Gutdünken zu manipulieren. »Anschläge tschetschenischer Separatisten« im Nordkaukasus erfolgen in schöner Regelmäßigkeit genau dann, wenn sich in Moskau wieder einmal ein politischer Skandal anbahnt oder eine Korruptionsaffäre publik zu werden droht. Bliebe noch hinzuzufügen, dass drei Jahre nach Beginn des zweiten tschetschenischen Krieges, der erneut auf beiden Seiten Abertausende Menschenleben forderte, niemand exakt sagen kann, wie viel Tschetschenen heute in Tschetschenien und außerhalb seiner Grenzen leben. Die Zahlen, mit denen verschiedene Historiker operieren, differieren in einer Größenordnung von mehreren hunderttausend. Die russische Seite untertreibt die Verluste und das Ausmaß des Exodus, die tschetschenische Seite übertreibt sie. Deshalb bleibt als einzige objektive Quelle die letzte Volkszählung der UdSSR aus dem Jahr 1989. Damals wurden ungefähr eine Million Tschetschenen registriert. Daneben existieren Diasporas in der Türkei, in Jordanien, Syrien sowie einigen europäischen Ländern. Diese Exiltschetschenen sind vornehmlich Nachkommen von Migranten aus der Zeit des zaristischen KaukasusFeldzugs im 19. Jahrhundert und des russischen Bürgerkriegs zwischen 1917 und 1920. Somit ergab sich eine Gesamtzahl von wenig mehr als einer Million. Im ers418
ten Tschetschenien-Krieg 1994–1996 kamen ungefähr 120 000 Tschetschenen ums Leben. Wie viel Menschen in dem von 1999 bis heute andauernden zweiten tschetschenischen Krieg starben, ist nicht bekannt. Der durch beide Kriege verursachte Exodus muss zu einem deutlichen Wachstum der Auslandsdiasporas geführt haben, jedoch liegen auch hier – vor allem aufgrund der Versprengtheit dieser Gemeinden – keine genauen Zahlen vor. Meine eigenen Berechnungen gründen auf ständigen Kontakten, die ich seit Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges mit den Verwaltungschefs verschiedenster Kreise und Siedlungen unterhalte, und gehen davon aus, dass Tschetschenien heute noch 500 000 bis 600 000 Einwohner hat. Zahlreiche Ortschaften leben, sprich: überleben autonom, hoffen nicht mehr auf eine Unterstützung von außen, weder aus Grosny, von der »neuen tschetschenischen Macht«, noch aus den Bergen, von Maschadows Gefolgsleuten. Dafür erlangen die traditionellen Grundfesten des tschetschenischen Gemeinschaftslebens – die Tejps – wieder größeres Gewicht. Diese Tejps als Sippenverbände oder »große Familien« orientieren sich nicht in jedem Fall allein an der Blutsverwandtschaft, sondern können auch nach dem Merkmal der Nachbarschaftlichkeit, also der Herkunft aus dem gleichen Ort, der gleichen Gegend organisiert sein. Ursprünglich lag der Sinn dieser sozialen Kernzellen in der gemeinsamen Verteidigung des Lebensraums, heute sichern sie das physische Überleben. Die Tschetschenen selbst gehen von gegenwärtig 419
mehr als 150 Tejps aus, die sehr groß sein können, wie etwa der Benoi-Tejp, zu dem annähernd 100 000 Tschetschenen (darunter der bekannte tschetschenische Unternehmer Malik Saidulajew, aber auch Baisangur, ein Held des bewaffneten Widerstands gegen das Zarenreich) gehören. Beträchtliche Ausdehnung besitzen ebenfalls der Belgatoi-Tejp und der Gendagenoi-Tejp, dem zahlreiche Parteifunktionäre Sowjet-Tschetscheniens entstammten. Kleiner sind hingegen vornehmlich Bergsiedlungen umfassende Tejps wie der Turkchoi-, der Mulkoi- oder der Sadoi-Tejp. Einige dieser Formationen spielen heute auch eine politische Rolle, viele bewiesen ihre gesellschaftliche Überlebens- und Handlungsfähigkeit nicht nur in den Kriegen des letzten Jahrzehnts, sondern ebenso in der kurzen Zwischenkriegszeit, als die Republik Itschkerija existierte und das nunmehr geltende Schariat gemeinschaftlichen Strukturen wie den Tejps die Daseinsberechtigung absprach. Wem die Zukunft gehört, bleibt abzuwarten.
ANMERKUNGEN Abkommen von Chassawjurt – der Friedensvertrag, der von Russland und Tschetschenien im Jahre 1996 unterschrieben wurde und als Synonym für die Beendigung des ersten Tschetschenien-Krieges gilt. Chassawjurt ist jene Ortschaft in Dagestan, in der dieser Vertrag unterschrieben wurde. Arsanow – Wacha Arsanow, stellvertretender Premierminister der tschetschenischen Republik Itschkerija zur Zeit von Maschadow (1997–1999). Aslachanow – Aslambek Aslachanow, aus Tschetschenien entsandter Duma-Abgeordneter im Unterhaus des russischen Parlaments, der im August 2000 trotz massiven Drucks für diesen Posten gewählt wurde, Generalmajor des Innenministeriums (MWD) a. D., Forscher sowie Autor von Büchern über die Mafia und die Korruption in Russland, zu Beginn des ersten Tschetschenien-Krieges (1994) bekleidete er den Posten des Vorsitzenden des Komitees für Fragen der Gesetzlichkeit, der Rechtsordnung und der Bekämpfung der Kriminalität im Obersten Sowjet der Russischen Föderation.
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Bassajew – Schamil Bassajew, geboren 1965, früher Gelegenheitsarbeiter. Bekannt wurde er 1991 als Entführer eines russischen Flugzeugs in die Türkei. Kampfgefährte des ersten tschetschenischen Präsidenten Dshochar Dudajew, Feldkommandeur der Kräfte des tschetschenischen Widerstands der tschetschenischen Republik Itschkerija, Brigadegeneral, Terrorist. Er organisierte Entführungen von Menschen, wurde in speziellen Übungszentren der Hauptverwaltung Aufklärung (GRU) des Generalstabs der Russischen Föderation ausgebildet; hat sich als Söldner am Georgisch-Abchasischen Krieg (1992–1993) beteiligt, auf der Seite der Abchasen, die vom Kreml unterstützt wurden. Im Jahre 1995 organisierte er einen blutigen Streifzug seiner Kämpfer nach Budjonnowsk (Region Stawropol), wo das Personal und die Patienten des Gebietskrankenhauses und eines Entbindungsheims als Geiseln genommen wurden. Chasbulatow – Ruslan Chasbulatow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, bedeutender sowjetischer Wirtschaftsfachmann. Der einzige Tschetschene, der das Amt eines Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation (zur Zeit von Jelzin) bekleidet hat. Einer der Organisatoren des Anti-Jelzin-Putsches im Oktober 1993. Später amnestiert. Einflussreiche, prorussische Figur in Tschetschenien. Seit 2001 Annäherung an Maschadow. Im Augenblick propagiert er die Idee eines unabhängigen Tschetschenien als einzige Möglichkeit für das Überleben seines Volkes. 422
Chattab – Omar Ibn al-Chattab, Feldkommandeur der Kräfte des tschetschenischen Widerstands, Söldner, Jordanier, kämpfte in Afghanistan, eine der am meisten mit Blut befleckten Figuren im zweiten Tschetschenien-Krieg. Im März 2002 haben Chattabs Kampfgefährten seinen Tod in den tschetschenischen Bergen bekannt gegeben. Dort wurde er auch begraben. Dschihad – im Islam der Krieg gegen die Ungläubigen. Ursprünglich bedeutete dieses Wort »Kampf mit dem Unglauben in der eigenen Seele«. Aber in Tschetschenien bezeichnet es den Krieg gegen Russland bis zum endgültigen Sieg. Dudajew – Dshochar Dudajew, geboren 1944, erster Präsident der tschetschenischen Republik Itschkerija (1992– 1996), im April 1996 wurde er getötet, eine Zielsuchrakete traf ihn, als er gerade über Satellitenfunk telefonierte. Offizier der sowjetischen Luftwaffe, Pilot, Teilnehmer an der sowjetischen Invasion in Afghanistan, Generalmajor (sein letzter Dienstgrad), Kommandeur einer Division von Langstreckenbombern der sowjetischen Luftwaffe, beendete seine Karriere im Jahre 1991, um sich an die Spitze der tschetschenischen nationalen Befreiungsbewegung zu stellen. Filtrationspunkt – er gehört zu den »Säuberungsaktionen« und ist die Bezeichnung für einen Ort, an dem Menschen gesetzeswidrig eingesperrt sind. Die Verhaf423
teten werden zum Filtrationspunkt gebracht (normalerweise wird er dort eingerichtet, wo es halb zerstörte, verlassene Gebäude am Rand der »gesäuberten« Dörfer gibt), wo sie verhört und gefoltert werden (in der Sprache der Militärs heißt es »durchfiltern«), damit sie Informationen über den Aufenthaltsort von tschetschenischen Rebellen preisgeben. Eigentlich ist so ein Filtrationspunkt ein mobiles KZ . Föderale – so nennt man die Angehörigen der föderalen Streitkräfte und ihrer Verwaltungseinrichtungen. So bezeichnen sie sich selbst, so nennt sie auch die Bevölkerung. In Tschetschenien ist »Föderale« ein Synonym für »Russen«. Fracht 200 – Bezeichnung der Militärs für eine Leiche. Der Satz »Wir haben ›Fracht 200‹« bedeutet, dass es Gefallene gibt. FSB – Föderaler Sicherheitsdienst von Russland. Neuer Name für den KGB, Symbol für das repressive sowjetische Regime, in Zeiten der Demokratie. Der heutige russische Präsident Wladimir Putin leitete den Inlandsgeheimdienst FSB in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Tschetschenien-Krieg, in einer Phase, in der sich in Tschetschenien Bandenkriminalität und Menschenentführung am besten entwickeln konnten und sich auf tschetschenischem Territorium spezielle Lager für die Vorbereitung von Terroristen befanden. 424
Gasawat – die Erklärung des Krieges gegen die Ungläubigen bis zum endgültigen Sieg. Ist der Gasawat einmal ausgerufen, kann er durch nichts mehr gestoppt werden. Die meisten Feldkommandeure der Kräfte des Widerstands der tschetschenischen Republik Itschkerija haben Russland den Gasawat erklärt. Gelajew – Ruslan Gelajew, ehemaliger Traktorist, Feldkommandeur der Kräfte des tschetschenischen Widerstands der tschetschenischen Republik Itschkerija, Brigadegeneral, später Kommandeur einer tschetschenischen Sondereinheit. Im Winter 2000, auf dem Rückzug aus Grosny und unterwegs ins Gebirge, brachte er seine Truppen in sein Heimatdorf Komsomolskoje im Kreis Urus-Martan, womit er es der totalen Vernichtung preisgab. Was die Zahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung betrifft, so steht im zweiten Tschetschenien-Krieg der Sturm auf das Dorf Komsomolskoje nach dem Sturm auf Grosny (Winter 1999/2000) an zweiter Stelle. Auf tschetschenischer Seite starben mehr als 1000 Menschen, Gelajew selbst verließ heimlich das Dorf und lebt jetzt in Georgien. Iljassow – Stanislaw Valentinowitsch Iljassow, Vorsitz ender der Regierung der Tschetschenischen Republik, ernannt im Jahre 2001 von Präsident Putin. Er hat den Ruf eines harten Managers und Führers. Sein persönlicher Verdienst ist die Organisation des einfachsten Alltags für die Menschen, die in Tschetschenien inmitten von Krieg und Zerstörung leben. 425
Jawlinski – Grigori Jawlinski, geboren 1952, russischer Reformpolitiker, Vorsitzender der demokratischen »Jabloko«-Partei und deren Fraktionsvorsitzender in der Staatsduma. Einer der wenigen erklärten Gegner des Tschetschenien-Krieges unter den namhaften Politikern Russlands. Er schaltete sich am 25. Oktober 2002 in die Verhandlungen mit den Geiselnehmern von »Nord-Ost« ein. Kadyrow – Achmad-Hadshi Kadyrow, das aktuelle Oberhaupt der Tschetschenischen Republik, wurde im Juli 2000 von Präsident Putin eingesetzt. Eine der am meisten mit Blut befleckten Figuren im heutigen Tschetschenien. Ehemaliger Mufti (d. h. ein gewählter Religionsführer), einer der Organisatoren und Anstifter des »Gasawat«, des heiligen Krieges, der Russland im ersten Tschetschenien-Krieg erklärt wurde. Zuerst enger Kampfgefährte von Dudajew und Maschadow, dann ihr Verräter. Kämpfer (Bojewik) – gebräuchliche Bezeichnung für ein Mitglied der Kräfte des tschetschenischen Widerstands der tschetschenischen Republik Itschkerija. Diese Bezeichnung wird von der russischen Armee, den Maschadow-Leuten und der Bevölkerung verwendet. Katastrophenschutzministerium (MTschS) – Minister für Katastrophenschutz ist seit der Gründung der Behörde im Jahre 1991 Sergej Schoigu, ein Jelzin-Mann, der auch unter Putin eine der einflussreichsten politischen 426
Figuren ist. Vater und Begründer der »Jedinstwo«-Partei, die Putin zur Macht verholfen hat. »Katjuscha« – ein Raketenartilleriegeschütz mit einem großen Wirkungsradius. Es fand im zweiten Tschetschenien-Krieg unter der Bezeichnung »Hagel« seinen Einsatz. Kontraktniks – allgemein gebräuchliche Benennung für denjenigen Teil der Armeeangehörigen, die keine Wehrpflichtigen sind – freiwillig Längerdienende, Zeit- und Berufssoldaten oder auf Vertragsbasis bei den Streitkräften Beschäftigte. Sie müssen oft wenig lukrative Aufgaben übernehmen und sind deshalb besonders daran interessiert, ihren Sold nebenbei »aufzubessern«, nehmen sich andererseits aber auch gegenüber den Wehrpflichtigen Vorrechte und Privilegien heraus. Kontschalowski – Andron Kontschalowski oder Andrej Kontschalowski, geboren 1937, bekannter russischer Regisseur, der 1979 emigrierte, nach Hollywood ging und auch dort erfolgreich war (u. a. »Sibiriade«, »Runaway Train«, »Maria’s Lovers«). Kontschalowskis Vater ist der namhafte Lyriker Sergej Michalkow, von dem unter anderem der Text der sowjetischen Nationalhymne stammt; sein Bruder Nikita Michalkow genießt gleichfalls hohes Ansehen als Spielfilm-Regisseur. Maschadow – Aslan Maschadow, zweiter Präsident der tschetschenischen Republik Itschkerija (gewählt 1997), 427
Brigadegeneral, ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee (Artillerie). Er ist Oberbefehlshaber der Kräfte des tschetschenischen Widerstands im ersten Tschetschenien-Krieg und steht bisher an der Spitze dieser Kräfte. Säuberung – spezielle Operation, die russische Truppen auf dem tschetschenischen Territorium durchführen und die der Passkontrolle und dem Aufspüren von Banditen dient. Aber die Vertreter der föderalen Streitkräfte haben sich von den ursprünglichen Aufgaben und Zielen der Säuberungen längst entfernt – der Begriff »Säuberung« ist zum Synonym für das Töten, das Entführen von Menschen und das Marodeursunwesen geworden. Sakajew – Achmed Sakajew, Brigadegeneral der Kräfte des tschetschenischen Widerstands der tschetschenischen Republik Itschkerija, Teilnehmer des ersten und zweiten Tschetschenien-Krieges. Schauspieler, Regisseur, Kulturminister unter Dshochar Dudajew und stellvertretender Premierminister unter Aslan Maschadow. Jetzt ist er Sonderbevollmächtigter Maschadows in Europa. Sondereinheiten und Spezialtruppen – Zu ihnen zählen: OMON – Spezialeingreiftruppe der Miliz, Kampftrupps des russischen Innenministeriums, die an beiden Tschetschenien-Kriegen aktiv teilgenommen haben; SPEZNAS der GRU – Sondereinheiten der Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs in Russland. Staatliche Killer. Sie haben besonders aktiv am zweiten Tschet428
schenien-Krieg teilgenommen. Die Tschetschenen nennen sie »Todesschwadrone«; RUBOP-Abteilungen des russischen Innenministeriums, regionale Kommandos für den Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Zu ihren Aufgaben gehören Ermittlungen und die Suche nach entführten Menschen. Sie agierten auf tschetschenischem Territorium nicht nur während, sondern auch zwischen den beiden Kriegen und unterhielten Kontakt zu Feldkommandeuren und Führern der terroristischen Trupps; SOBR – Abteilungen des russischen Innenministeriums, schnelle Eingreiftruppen. Ihre Hauptaufgabe ist die Befreiung von Geiseln. Haben an beiden Tschetschenien-Kriegen teilgenommen, sind den regulären Einheiten der Armee gleichgestellt. Troschew – Gennadi Troschew, geboren 1947. General oberst, Befehlshaber der russischen Streitkräfte in Tschetschenien. Wurde im Dezember 2002 von Präsident Putin entlassen, der den bisherigen Kommandeur des Sibirischen Militärbezirks, Generaloberst Wladimir Boldyrew, zu Troschews Nachfolger ernannte. Udugow – Mowladi Udugow, ein aalglatter Mann in den Regierungen von Dudajew und Maschadow. Als Minister für Informationswesen war er in Itschkerija für Fragen der Ideologie zuständig. Ein Lügner und politischer Ränkeschmied. Als der zweite Tschetschenien-Krieg begann, flüchtete er und lebt heute in Katar, wo er die pro Bassajew und gegen Maschadow gerichtete Internet-Seite »kavkas.org« leitet.
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Wahhabiten – religiöse islamische Sekte, die in SaudiArabien seit dem 18. Jahrhundert existiert. Die wahhabitischen Emissäre tauchten im russischen Nordkaukasus zwischen den beiden Tschetschenien-Kriegen auf und behaupteten, den reinen Islam zu predigen – im Unterschied zum traditionellen tschetschenischen Islam. Besonders aktiv waren die Wahhabiten in Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Tschetschenien. Heutzutage hat der Begriff »Wahhabiten« eine etwas andere Bedeutung angenommen: Terroristen. Die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung hat zu den Wahhabiten oder »den Bärtigen«, wie sie sie nennt, ein höchst negatives Verhältnis. Ihnen, den Fremden, wird vorgeworfen, das Land in den zweiten blutigen Krieg hineingezogen zu haben. Wainachen – Bezeichnung für Vertreter der ethnisch einander sehr nahe stehenden Tschetschenen und Inguschen. Das Wort Wainachen bedeutet so viel wie »unser Volk«.
Anna Politkovskaja arbeitet für die Moskauer Tageszeitung ›Nowaja Gaseta‹ und verbringt als Korrespondentin seit dem Anfang des zweiten Tschetschenien-Krieges im September 1999 jeden Monat mehrere Tage in der vom Krieg verwüsteten Kaukasus-Republik. Kein anderer Journalist ist so oft wie sie, an den russischen Militärs vorbei, in Tschetschenien gewesen. Sie kennt jeden Winkel dieses Landes aus eigener Anschauung, vom Kinderkrankenhaus in Grosny bis hin zu den völlig zerstörten Dörfern, von angezapften Ölleitungen und brennenden Bohrlöchern bis hin zu den »Filtrationslagern«. Von Putins Regime wird ihre Berichterstattung mit Argwohn betrachtet, von der Armee wurde sie inhaftiert, und sie musste sich eine Zeit lang im Ausland verstecken. »Gegen mich sind etliche Strafverfahren angestrengt worden, Morddrohungen sind an der Tagesordnung. Aber ich scheue das Risiko nicht, das gehört zum Beruf.« Unerschrocken sammelt Anna Politkovskaja Material für ihre Reportagen – die einzigen, die ein realistisches Bild vom verdrängten Krieg in Tschetschenien zeichnen.
Anna Politkovskaja, geboren 1958, erhielt 2001 den Preis der russischen Journalisten union. 2002 wurde sie in New York mit einem Preis für mutigen Journalismus ausgezeichnet.
»Der Krieg, der offiziell eine ›antiterroristische Maßnahme‹ genannt wird, dauert an. Und die Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater zeigte, dass das verdrängte Geschehen im Kaukasus sich noch mit erschreckenden Folgen ins Bewusstsein rücken kann. Die Chronistin dieses Unglücks – für Tschetschenien und für Russland – ist Anna Politkovskaja.« Aus dem Vorwort von Dirk Sager, Moskauer ZDF-Korrespondent
»Und niemand soll wagen zu behaupten, ich hätte das alles nicht gesehen, gehört und gespürt. Denn ich habe es am eigenen Leib erlebt.«
»Der Preis für ein Menschenleben war in Russland noch nie sehr hoch, jetzt aber ist er auf ein Tausendstel gefallen. Wir alle sind – wie die nicht gerettete ›Kursk‹ – in tödliche Tiefe gesunken. Und keiner gibt den Befehl zu unserer Rettung.«