Aus dem Amerikanischen von Janka Panskus
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Aus dem Amerikanischen von Janka Panskus
OMNIBUS
Der OMNIBUS Verlag gehört zu den Kinder- & Jugendbuch-Verlagen in der Verlagsgruppe Random House München Berlin Frankfurt Wien Zürich www.omnibus-verlag.de
Mit besonderem Dank an Mr. George Sheanshang
Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform l. Auflage 2001 © 2000 für die Originalausgabe Parachute Publishing, L. L. C. © 2001 für die deutschsprachige Ausgabe OMNIBUS / C. Berteismann Jugendbuch Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, Garbsen. Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »The Nightmare Room 3: My Name is Evil« bei HarperCollins Children's Books, a division of HarperCollins Publishers, Inc. Übersetzung: Janka Panskus Lektorat: Birgit Gehring Umschlaggestaltung: Helmut Sigerist Ht • Herstellung; Peter Papenbrok Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Pressedruck, Augsburg ISBN 3-570-12607-2 Printed in Germany
»Maggie, du böses Mädchen, du!«, sagte Jackie Mullen mit einem Lachen. Überrascht klappte ich den Mund auf. »Was? Ich und böse?« Jackie deutete über den Tisch hinweg auf die kleinen, runden Kuchen auf meinem Teller. »Du hast dir drei Kuchen genommen, aber nur die Glasur gegessen.« Ihre Schwester Judy betrachtete mich stirnrunzelnd. »Schmecken sie dir etwa nicht? Ich habe sie selbst gebacken - extra für dich zum Geburtstag.« Ich leckte mir genüsslich die Schokoglasur von den Fingern. »Doch, doch, sie schmecken gut«, erwiderte ich. »Die Kuchen sind megacool. Ich mag nur die Glasur so gern.« Jackie lachte wieder. »Wirst du schon langsam ein bißchen schrullig? Du sagst doch sonst nie megacool.« Ich grinste sie an. »Ich bin jetzt dreizehn und darf sagen, was ich will. Außerdem brauche ich ein neues Image.« »So was wie eine Überarbeitung«, sagte Judy. »Wie eine neue Präsentation der Persönlichkeit«, ergänzte Jilly, die dritte Schwester. »Maggie möchte jetzt älter und reifer wirken.« Damit hatte Jilly voll ins Schwarze getroffen. Ich bin immer die Jüngste in meiner Klasse gewesen, weil ich die zweite Jahrgangsstufe übersprungen habe. Aber jetzt war ich dreizehn geworden und alt genug, mich in einen reifen, selbstsicheren Menschen zu verwandeln. Und dann würde mich keiner mehr wie »das Baby« behandeln. »Ich bin bereits älter und reifer«, meinte ich. »Jetzt bin ich dreizehn und es gibt kein Zurück mehr!« »Na, das fängt ja gut an«, sagte Jackie und zeigte auf mich. »Da klebt Glasur in deinem Haar.« Stöhnend langte ich nach oben und fühlte die klebrige Pampe. Aus irgendeinem Grund fanden die drei Schwestern das irrsinnig komisch. Jilly lachte so sehr, dass sie sich fast an ihrem Kuchen verschluckte. Jackie, Judy und Jilly Mullen sind Drillinge und das bedeutet, dass ich drei beste Freundinnen habe. Alle auf unserer Schule - der Cedar-BayMiddle-School - nennen sie die drei J's. 5
Und sie stehen sich sehr nahe, obwohl sie wirklich total bemüht sind, sich voneinander abzusetzen. Jackie und Judy sehen sich fast zum Verwechseln ähnlich. Sie haben beide glattes, schwarzes Haar und große, runde, braune Augen. Und ihre Haut wirkt immer wie sonnengebräunt. Aber die beiden sind so scharf darauf, auseinander gehalten zu werden, dass sie einen total verschiedenen Stil entwickelt haben. Jackies Haar ist lang und reicht ihr halb über den Rücken. Sie trägt abgefahrene, alte Kleidung, ausgebeulte Jeans, Schlaghosen aus den Siebzigern und übergroße, grellbunte Oberteile, die sie auf Flohmärkten aufstöbert. Sie liebt verrückten Schmuck, schwere Perlengehänge und herabbaumelnde Plastikohrringe. Judy ist viel popperhafter. Sie hat einen Kurzhaarschnitt und trägt kurze Röcke über schwarzen Strumpfhosen und dazu nette kleine Westen. Judy macht immer den Eindruck, als hätte sie sich gerade das Gesicht gewaschen. Jilly wurde als Letzte geboren und sie schaut überhaupt nicht so aus, als gehöre sie zur selben Familie. Sie hat lange goldblonde Haare, eine zarte, helle Haut und große, grüne Augen. Sie sieht wie ein Engel aus und sie redet mit sanfter, leiser Stimme. Jackie ist lustig, laut und ein echter Scherzkeks. Sie nimmt die Dinge nicht allzu ernst und ich würde mir von ihr gerne eine Scheibe abschneiden. Ich selbst habe kupferfarbenes Haar und ein schmales, ernstes Gesicht. Schon immer bin ich eher ruhig und ziemlich schüchtern und ernst gewesen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Jackies Art vielleicht irgendwann auf mich abfärbt. Judy ist die Intelligente in unserer Clique, die Musterschülerin. Ich schaffe es gerade mit Ach und Krach, in der Schule mitzukommen. Aber Judy schreibt dauernd Aufsätze für zusätzliche Wahlfächer und beteiligt sich an irgendwelchen Sonderprojekten. Judy organisiert gerne. Ständig tritt sie Clubs und Vereinen an der Schule bei und zurzeit stellt sie eine große Haustierschau auf die Beine, um Geld für den Tierschutz zu sammeln. Und Jilly? Na ja... meine Mutter würde sagen, Jilly lebt in ihrer eigenen Welt. Oder anders ausgedrückt: Sie spinnt ein bisschen. 6
Sie interessiert sich stark für Jungs und Musik und ich weiß nicht, was noch. Jilly ist ziemlich verträumt, als würde sie ein paar Meter über dem Boden schweben. Das Einzige, was Jilly meiner Beobachtung nach ernst nimmt, ist das Tanzen. Fünfmal in der Woche nimmt sie nach der Schule Ballettunterricht und sie ist echt talentiert. Ich tanze auch, war aber immer zu schüchtern, mein Können ernsthaft unter Beweis zu stellen. Aber das wird nun anders. In ein paar Tagen werden mein »neues« Ich und Jilly für die Aufnahme in eine Balletttruppe vortanzen. Mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, mal in einer richtigen Truppe zu tanzen, aber ich freue mich gar nicht auf das Vortanzen - denn da muss ich ja gegen Jilly antreten! Das also sind meine besten Freundinnen, die drei J's. Und natürlich wollte ich meinen dreizehnten Geburtstag gern bei ihnen feiern. Als wir die Geburtstagskuchen verputzt hatten und ich mir die Schokoglasur aus den Haaren gewischt hatte, sprang Jackie auf, klatschte in die Hände und rief: »Lasst uns gehen!« »Wohin denn?«, fragte ich. »Das wirst du schon sehen«, sagte Judy und zog mich vom Tisch weg. »Folge uns einfach unauffällig.« »Zum Rummel«, ergänzte Jilly, die sich das blonde Haar mit einem blauen Haargummi zurückband. Ich zögerte. »Was? Zum Rummel auf dem Pier?« Die drei Mädchen nickten und grinsten breit. Offenbar hatten sie sich vorher abgesprochen. Also gab ich keine Widerrede und folgte ihnen zum Rummel. Und damit fing der Schrecken an.
Wenig später stiegen wir lachend und aneinander Halt suchend aus der Achterbahn. Ich blinzelte mehrmals, um das Gefühl loszuwerden, der Boden würde sich neigen und schwanken. Grelles Rummelplatzlicht fiel mir in die Augen.
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»Das war sagenhaft!«, erklärte Jilly und strich sich mit den Händen die blonden Locken zurück. Ich hielt mir den Bauch. »Oje, ich bin ja so froh, dass ich die vielen Kuchen gegessen habe!« »Warum heißt die Achterbahn eigentlich das Blaue Biest?«, fragte Judy. »Die Wagen sind doch hellgelb!« Gute Frage. Judy ging immer den Dingen auf den Grund. »Na, wer würde schon mit dem Gelben Biest fahren wollen?«, meinte Jackie. Das fanden wir alle ziemlich witzig und wir lachten uns halb tot, während wir den Pier entlanggingen. Es war ein warmer, bewölkter Abend. Die Luft fühlte sich schwer und feucht an, eher sommerlich als herbstlich. Ich blickte auf und suchte nach dem Mond, aber der war hinter tief hängenden Wolken verborgen. »Na, war das keine grandiose Idee?«, fragte Jackie und hakte sich bei mir unter. Judy eilte uns voraus, um noch mehr Tickets zu kaufen. »Ist das nicht eine tolle Art zu feiern?« »Megacool«, erwiderte ich grinsend. Jackie drohte mir mit der Faust. »Nur zu, Maggie. Sag das noch mal. Na los!« »Ich glaube, ein paar Jungs aus der Schule sind hier«, verkündete Jilly. Sie besitzt echt den verblüffendsten Radar für Jungen! »Vielleicht stoße ich später wieder zu euch.« Sie wollte davonstapfen, aber Judy hielt sie zurück. »Lass uns noch eine Weile zusammenbleiben, Jilly. Schließlich feiern wir Maggies Geburtstag, schon vergessen?« Der Rummel findet jeden Sommer auf dem Pier statt. Er ist zwar eher schäbig, trotzdem sind wir an den Wochenenden manchmal abends dort unterwegs. In Cedar Bay ist sonst nicht viel los. Der Herbst hatte begonnen. In ein oder zwei Wochen würden sie den Rummel schließen und zusammenpacken. Einige der Fahrgeschäfte hatten jetzt schon zu. Und das große Labyrinthschild lag auf dem Boden, die Farbe abgeblättert und verblasst. Wir schlenderten durch einen langen Korridor mit Spielbuden. »Versucht euer Glück, Mädchen«, rief ein Mann und hielt drei Bälle 8
hoch. »Ihr könnt nicht verlieren! Wirklich!« An einer hell erleuchteten Bude blieb ich stehen. Eine junge Frau stand vor einer Wand voller Luftballons. »He, Wurfpfeile! Wollt ihr ein paar Pfeile werfen? Darin bin ich ziemlich gut.« Jackie schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Lasst uns was Abenteuerliches tun.« Ich sah sie schief an. »Was Abenteuerliches?« »Ja, was echt Verrücktes«, schaltete sich Jilly mit funkelnden grünen Augen ein. »Irgendwas, was wir normalerweise nie machen würden. Weil heute dein Geburtstag ist.« »Aber Pfeilwerfen macht Spaß«, hielt Judy dagegen. »Wenn Maggie Pfeile werfen möchte...« Das ist der Grund, warum ich Judy so mag. Sie ist immer auf meiner Seite. »Ach, vergiss die Pfeile«, sagte Jackie und zog mich an den Buden vorbei. »Da hinten sehe ich schon die perfekte Sache für uns. Voll krass!« Sie zerrte mich zur Tür eines niedrigen, rechteckigen Gebäudes. Ich erschrak, als ich das handgeschriebene rot-schwarze Schild neben der Tür las: TATTOOS. »Au weia! Ohne mich!«, rief ich und versuchte zurückzuweichen. Aber Jackie war stärker als ich und zerrte mich durch den Eingang. In dem kleinen Innenraum war es dunkel und heiß, es roch nach Weihrauch und Tabak. Rote und blaue Tattoovorlagen auf Papierfetzen hingen überall an den Wänden. Jackie hielt mich noch immer am Arm fest. »Schau sie dir an. Ich schenke dir eines zum Geburtstag!«, verkündete sie. Ich starrte sie an. »Das ist nur ein Spaß, ja?« »Oh, sieh mal das hier!«, schwärmte Jilly Sie zeigte auf einen blauen Halbmond, der von roten Sternchen umgeben war. »Das ist das allerschönste. Oder wie wäre es mit dieser roten Blume?« »Ist es nicht schmerzhaft, tätowiert zu werden?«, fragte Judy ihre Schwester Jackie. Jackie nahm eine lange Nadel von der Werkbank an der Wand und drückte die Spitze gegen meinen Handrücken. »Zip, zip, zip und schon ist es vorbei«, sagte sie. »Kannst du dir vorstellen, was für ein Gesicht deine Mutter machen wird, wenn du mit einer Tätowierung heimkommst?« 9
»Kommt überhaupt nicht in die Tüte!«, schrie ich. »Komm schon ich will kein Tattoo!« Ich versuchte, mich aus Jackies Griff zu befreien. Gerade als es mir gelungen war, sprang mir ein großes Tattoo neben der Tür ins Auge. Es war abgrundtief hässlich. Ein Drachenkopf war zu sehen. Ein zähnefletschender, grüner Drache mit aufgerissenem Maul und roten Flammen, die aus seinen geblähten Nüstern schossen. Und darunter standen, mit blauen Schatten unterlegt, Worte in Rot. Fett gedruckte, blutrote Worte: Ich bin das BÖSE! Während ich das hässliche Tattoo anstarrte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Das Tattoo schien mich zu hypnotisieren. Ich konnte mich jedenfalls nicht von ihm abwenden, konnte meinen Blick nicht davon losreißen. Schließlich brach Jackies Stimme den Bann. »Such dir eins aus. Schnell.« »N-nein«, flüsterte ich. »Lasst uns von hier abhauen!« Ich steuerte auf die Tür zu, aber Jackie fasste mich von hinten am Arm. »Haltet sie fest!«, befahl sie den anderen. »Lasst sie nicht entkommen!«
Sie hielten mich fest und starrten mich eisig schweigend an. Jackie brach als Erste die Stille. »Wow! Ich habe das Gefühl, du hast uns wirklich geglaubt!« Jilly lachte ebenfalls. »Ja! Du hast gedacht, wir würden es ernst meinen.« Judy runzelte die Stirn. »Maggie, ich hab ihnen gesagt, es ist ein gemeiner Streich. Aber sie wollten partout nicht auf mich hören.« Wütend fixierte ich Jackie. »Du - du Biest! Du hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt«, gab ich zu. »Wie konntet ihr mir das nur antun?« Jackie lachte. »War nicht schwer!« »Jackie hat einen echt kranken Humor«, meinte Judy, die noch immer die Stirn runzelte. 10
»Haha«, sagte ich und verdrehte die Augen. Jackie zuckte die Achseln und legte mir den Arm um die Schultern. »Tut mir Leid, Maggie. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass du uns glauben würdest.« Ich seufzte. »Ich falle immer auf dumme Scherze herein. Das ist wohl nicht besonders erwachsen und reif, hm?« »Vergiss es«, sagte Jilly. »Jetzt bist du dreizehn, oder? Zeit für eine Veränderung?« Ich seufzte wieder. Ich kam mir wirklich bescheuert vor. Warum hatte ich gedacht, dass meine allerbesten Freundinnen mich zu etwas zwingen würden, was ich nicht wollte? Warum war ich so in Panik geraten? Wir stolperten in die laue Nacht hinaus. Gegenüber warf ein großes Mädchen Bälle auf ein Ziel, um einen jungen Mann in ein Wasserbecken zu tauchen. Eine Mutter eilte vorbei und zog zwei kleine Jungen hinter sich her, die jeder eine große Portion rosa Zuckerwatte in der Hand hatten. Das Zeug klebte ihnen überall auf Wangen und Nase. »He, lasst uns Spaß haben!«, rief Jackie, den Arm noch immer um meine Schulter. Wir gingen alle vier in einer geschlossenen Reihe nebeneinanderher. Jackie blieb stehen, als sie Glen Martin erblickte. Ich hatte ihn ebenfalls gesehen. Er war mit zwei anderen Jungen aus der Schule unterwegs. Sie sangen zusammen irgendein Lied, schnippten dazu mit den Fingern und machten beim Gehen Tanzbewegungen. »Oh wow«, murmelte Jackie. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Was meinte sie damit? Alle in der Schule wissen, dass ich auf Glen stehe. Besser gesagt, alle außer Glen. Ich beobachtete, wie er näher kam. Glen ist groß und schlaksig und unheimlich süß mit seinen ungekämmten, wilden, braunen Locken und den ernsten, dunklen Augen. Glen ist immer locker und zu Witzen aufgelegt. In der Schule hat er ständig Ärger, weil er die Klasse zum Lachen bringt. Er selbst hat ein tolles Lachen. Und wenn er lächelt, erscheinen zwei süße Grübchen auf seinen Wangen. 11
Glen wohnt nicht in meiner Nachbarschaft. Er lebt in einem winzigen Häuschen in der Altstadt. Und die Jungs, mit denen er rumhängt, sind von der härteren Sorte. Manchmal überlege ich, Glen zu mir einzuladen. Aber ich traue mich dann doch nie. Das wird sich ebenfalls ändern. Jetzt ist schließlich die Zeit für eine neue Maggie, hielt ich mir vor Augen. Und ich werde Glen schon sehr bald zu mir einladen. »He - da sind ja die drei J's«, rief einer von Glens Freunden. »Ja. Jux, Jodel und Jammerlappen«, spottete Glen. Jackie warf mit einer Kopfbewegung ihr Haar zurück und bedachte ihn mit einem höhnischen Lächeln. »Aus deinem Mund ist es ein Kompliment - Tarzan!« Wie gemein, dachte ich bei mir. Ich konnte es einfach nicht fassen, dass Jackie ihn noch immer Tarzan nannte! Der Name brachte Glen zum Erröten. »He, Jungs. Was ist denn so geboten?« Jilly ging zu den beiden Freunden von Glen hinüber und begann, mit ihnen zu flirten. Judy seufzte ungeduldig. »Sollen wir hier noch länger herumstehen? Wollen wir nicht lieber noch ein bisschen Spaß haben?« Glen grinste Jackie an. »Du solltest dich besser beeilen. Da drüben hat nämlich gerade der Hässliche-Hunde-Wettbewerb begonnen.« Er deutete auf ein Zelt am Ende des Piers. »Du könntest einen Hundeknochen gewinnen!« Jackie sah ihn mit finsterer Miene an. »Halt die Klappe, Glen.« Seine dunklen Augen blitzten auf. »Halt du die Klappe.« Er griff nach der Perlenkette, die Jackie immer um den Hals trägt, und riss daran. »Lass los!«, schrie sie. Ich stellte mich zwischen die beiden. »Kommt schon – seid nett zueinander«, bat ich. »Schließlich ist heute mein Geburtstag.« Glen drehte sich zu mir und seine Augen leuchteten auf, als würde er mich zum ersten Mal bewusst wahrnehmen. »Maggie - he. Hast du wirklich heute Geburtstag?« Ich nickte. »Ja. Wir sind hergekommen, um hier zu feiern, und...« »Wow! Ich hatte gestern Geburtstag!«, erklärte Glen. 12
Bevor ich etwas erwidern konnte, nahm er meine Hand und schüttelte sie. »Herzlichen Glückwunsch uns beiden!«, rief er. Und dann, ob du's glaubst oder nicht, hob er meine Hand an den Mund - und pflanzte einen schmatzenden, nassen, schlabberigen KUSS darauf. Seine Freunde lachten, Judy und Jilly ebenfalls. Ich stand nur verblüfft da. Glen trat den Rückzug an. Da schubste mich Jackie von hinten, schubste mich gegen Glen. »Los - küss deinen Freund!«, rief sie. Glen und ich rempelten gegeneinander und stürzten fast zu Boden. Alle lachten. Sie fanden das wohl zum Brüllen komisch. »Jackie, hör auf!«, schrie ich verärgert. Wie konnte sie mich bloß so in Verlegenheit bringen? Glen wich zurück. Er war wieder rot angelaufen. »Noch mal herzlichen Glückwunsch. Bis später.« Er zeigte mir den aufgerichteten Daumen und zog mit seinen Freunden ab. Wenige Sekunden später eilten die drei J's und ich am Kettenkarussell und dem Autoscooter vorbei. Schrille Schreie waren ringsherum zu hören. Judy und Jilly kicherten über irgendetwas. Jackie hakte sich wieder bei mir unter und zog mich weiter. »Er ist so ein Trottel!«, rief sie. »Was findest du bloß an dem?« »Er kann uns auf den Tod nicht leiden!«, erklärte Jilly. »Vor allem Jackie«, fügte Judy hinzu. »Und ich kann ihm das nicht verdenken«, sagte ich. »Jackie hat ihm vor der gesamten Schule die Hosen runtergelassen!« Jackie lachte. »War das ein toller Moment!« »Es wäre beinahe zu Randalen gekommen!«, sagte Jilly. »Der arme Glen war bis auf die Knochen blamiert!« Judy seufzte. »Wieder einer von Jackies tollen Scherzen.« »Ich fass es einfach nicht, dass du ihn noch immer Tarzan nennst«, sagte ich. »Das ist nun schon ein ganzes Jahr her.« Letztes Jahr war Jackie bei der Talentshow in der Schule für die Kostüme verantwortlich gewesen. Glen entschloss sich, eine verrückte Comedynummer in einem Tarzankostüm aufzuführen. Na, und da hatte Jackie diese geisteskranke Idee. Sie hat an Glens Kostüm 13
herumgedoktert und heimlich den größten Teil des Gummibands entfernt. Und dann stand der arme Glen vor der versammelten Schule auf der Bühne. Und Jackies Plan ging auf. Die Hosen rutschten ihm vor aller Augen bis zu den Knöcheln herunter! »Ich werde nie diesen schwarzen Tangaslip vergessen, den er trug!«, rief Jackie. Alle drei Schwestern prusteten los. »Er hat wie ein Volltrottel ausgesehen!«, japste Jilly. »Als er da auf der Bühne stand, in der blöden, schwarzen Unterhose, und versuchte, sich selbst zu bedecken.« »Er stand einfach nur da und fror«, erinnerte sich Jackie. »Und das ganze Publikum ist ausgeflippt.« »Ja, seitdem heißt er bei uns nur noch Tarzan«, sagte Jilly. »Das lässt ihn jedes Mal rot werden.« »Das war vor einem Jahr. Ihr solltet die Sache langsam begraben. Lasst ihn in Ruhe«, meinte ich. »Wieso? Weil er dein Freund ist?«, neckte mich Jackie. »Die Kostümnummer war so gemein! Warum hast du das überhaupt gemacht?«, fragte ich sie. Sie fummelte an den winzigen Glasperlen ihrer Kette herum und grinste. »Ich weiß nicht. Ich dachte einfach, es wäre lustig.« »He, guckt mal. Eine Wahrsagerin!« Jilly zeigte auf ein kleines, schwarzes Zelt, das neben einem Eiskremwagen stand. »Können wir da nicht reingehen? Ich liebe Wahrsager!« »Ohne mich«, sagte ich. »Mich machen die nervös. Ich schaue ihnen nicht mal in Filmen gerne zu.« »Ach, komm schon, Maggie. Heute ist dein Geburtstag«, drängte Jackie und zog mich zum Zelt. »An seinem Geburtstag muss man sich wahrsagen lassen.« »Wollen doch mal sehen, was die Wahrsagerin über dich und Glen erzählt«, zog Jilly mich auf. »Lieber nicht«, lehnte ich ab. Aber wie immer ließen sie mir keine andere Wahl. Wenige Sekunden später standen wir am Eingang zu dem dunklen Zelt. »Wir lassen uns alle wahrsagen«, sagte Jackie. »Das geht auf meine Rechnung.« 14
»Ist das cool!«, flüsterte Jilly. »Meinst du, sie hat wirklich übernatürliche Kräfte? Glaubst du, sie kann tatsächlich die Zukunft vorhersagen?« Die drei Schwestern betraten hintereinander das Zelt. Ich blieb kurz zurück und starrte auf das handgeschriebene, rotschwarze Schild. MISS ELIZABETH. WAHRSAGERIN. EIN DOLLAR. Plötzlich merkte ich, dass mein Herz raste. Warum fühle ich mich so seltsam?, fragte ich mich. Warum habe ich so ein schlechtes Gefühl bei der Sache?
Langsam und zögernd folgte ich meinen Freundinnen. Im Zelt war es heiß und dunstig. Zwei elektrische Laternen an der Rückwand warfen nur wenig Licht über den kleinen Tisch der Wahrsagerin. Miss Elizabeth saß mit krummem Rücken an ihrem Arbeitsplatz, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf in den Händen und starrte in eine rote Glaskugel. Sie blickte nicht auf, als wir eintraten. Ich konnte nicht sagen, ob sie sich so sehr auf die rote Glaskugel konzentrierte oder ob sie schlief. Das Zelt war völlig leer, abgesehen von dem Tisch und zwei Holzstühlen und einem großen Schwarzweißposter einer menschlichen Hand. Die Hand war in verschiedene Zonen unterteilt. Das Poster war überall beschrieben, aber die Schrift war zu klein, als dass ich die Worte im rauchig grauen Licht hätte lesen können. Den Blick noch immer auf die rote Glaskugel gerichtet, sprach die Wahrsagerin leise zu sich selbst. Sie war mittleren Alters, schlank, mit knochigen Armen, die aus den Ärmeln ihres roten Kleides hervorschauten, und sehr großen, bleichen, weißen Händen. Ins Licht blinzelnd sah ich, dass der rote Nagellack auf den langen Fingernägeln farblich zum Kleid passte. »Hal-lo?«, rief Jackie und durchbrach die Stille. Endlich sah Miss Elizabeth auf. Auf gewisse Weise war sie hübsch. 15
Sie hatte große, runde, schwarze Augen und dramatisch rot bemalte Lippen. Ihr Haar war lang, wellig und bis auf eine breite weiße Strähne im Scheitel ganz schwarz. Sie ließ ihren Blick über uns wandern, von einer zur Nächsten, ohne zu lächeln. »Walter, wir haben Besuch«, verkündete sie mit einer heiseren, kratzigen Stimme. Ich schaute mich nach Walter um. »Walter ist mein verstorbener Mann«, erklärte die Wahrsagerin. »Er hilft mir, die Informationen der Geister zu kanalisieren.« Jackie und ich wechselten einen Blick. »Wir hätten gerne, dass sie uns die Zukunft vorhersagen«, sagte Jilly. Miss Elizabeth nickte feierlich. »Ein Dollar pro Person.« Sie hielt uns die lange blasse Hand hin. »Vier Dollar, bitte.« Jackie wühlte in ihrer Tasche, zog vier verknitterte Dollarscheine heraus und reichte sie der Wahrsagerin, die das Geld in eine Tasche ihres roten Kleides steckte. »Wer möchte den Anfang machen?« Erneut ließ sie ihren Blick reihum über unsere Gesichter wandern. »Ich«, meldete sich Jilly. Sie ließ sich gegenüber von Miss Elizabeth auf den Stuhl fallen. Die Wahrsagerin senkte wieder den Kopf und starrte in die rote Kugel. »Walter, bring mir aus der Geisterwelt Kunde über diese junge Frau.« Plötzlich fühlte ich einen kalten Hauch im Nacken. Ich wusste, dass ich keine Angst haben sollte. Die Frau musste eine Schwindlerin sein richtig? Sonst würde sie wohl nicht auf einem so schäbigen Rummel arbeiten. Aber sie war so ernsthaft bei der Sache, so feierlich. Sie schien uns nichts vorzuspielen. Dann nahm sie Jillys Hand, hielt sie sich dicht vors Gesicht und betrachtete die Handinnenfläche. Leise vor sich hin murmelnd, fuhr sie mit ihrem langen Finger hin und her, folgte den Linien auf Jillys Hand und zeichnete sie mit dem hellroten Fingernagel nach. 16
Jackie beugte sich zu mir. »Total cool«, flüsterte sie. Judy seufzte. »Das kann ja noch eine Ewigkeit dauern.« Jackie hob einen Finger an die Lippen und bedeutete Judy zu schweigen. Lange musterte die Frau Jillys Handfläche, drückte beim Betrachten ihre Hand und sprach leise mit Walter in der roten Glaskugel. Schließlich hob sie den Blick und sah Jilly an. »Du bist künstlerisch veranlagt«, sagte sie mit ihrer kratzigen Stimme. »Ja!«, stieß Jilly erstaunt hervor. »Du bist eine... Tänzerin«, fuhr Elizabeth fort. »Du nimmst Tanzunterricht und strengst dich auf diesem Gebiet sehr an.« »Wow. Das glaube ich nicht!«, sprudelte es aus Jilly heraus. »Woher wissen Sie ...?« »Du hast großes Talent«, murmelte die Wahrsagerin, ohne auf Jillys Frage einzugehen. »Großes Talent. Aber manchmal... ich sehe..., dass deine künstlerische Ader manchmal deiner praktischen Seite im Weg steht. Du bist... du bist...« Sie schloss die Augen. »Hilf mir, Walter«, flüsterte sie. Dann öffnete sie die Augen wieder und blickte auf Jillys Hand. »Du bist gerne mit Freunden zusammen. Deine Freunde bedeuten dir sehr viel. Vor allem ... Jungen.« Jackie und Judy wieherten los und Jilly warf ihnen einen finsteren Blick zu. »Ich - ich glaube das einfach nicht«, sagte sie zu der Wahrsagerin. »Sie haben mit allem Recht!« »Das ist meine Gabe«, antwortete Miss Elizabeth sanft. »Werde ich es schaffen, in die neue Tanztruppe aufgenommen zu werden?«, fragte Jilly. »Nächste Woche ist das Vortanzen. Werde ich aufgenommen?« Miss Elizabeth starrte in die Kugel. »Walter?«, flüsterte sie. Mit angehaltenem Atem wartete ich auf die Antwort. Jilly und ich wollten uns beide für die Tanztruppe bewerben. Und ich wusste, es gab nur Platz für eine von uns beiden. »Walter kann keine Antwort finden«, sagte die Wahrsagerin zu Jilly. »Er stöhnt nur.« Sie ließ Jillys Hand los. »Er hat - gestöhnt?«, fragte Jilly. »Aber wieso?« »Deine Zeit ist um«, sagte Miss Elizabeth und winkte uns zu. 17
»Wer will als Nächste?« Jackie schob Judy nach vom. Judy ließ sich auf den Stuhl fallen und streckte Miss Elizabeth die Hand hin. Im Laufschritt kam Jilly zu Jackie und mir an den Zeltrand. »Ist sie nicht verblüffend?«, raunte sie. »Ja, das ist sie«, musste ich zugeben. Woher wusste sie so viele Dinge über Jilly? Allmählich begann ich zu glauben, dass Miss Elizabeth tatsächlich übernatürliche Kräfte besaß. Und jetzt war ich auch nicht mehr ängstlich oder nervös. Ich brannte darauf zu erfahren, was diese Frau über mich sagen würde. Die Wahrsagerin drückte Judys Hand und blickte ihr tief in die dunklen Augen. »Du trägst große Liebe in dir«, begann sie. »Große Liebe für... Tiere.« Judy stieß ein Keuchen aus. »J-ja!« »Du kümmerst dich um sie. Du arbeitest...« »Ja«, sagte Judy. »Ich arbeite nach der Schule in einem Tierheim. Das ist ja unglaublich!« Miss Elizabeth strich mit ihrem roten Fingernagel über Judys Handfläche. »Du hast auch ein eigenes Tier, an dem du sehr hängst. Einen Hund ... Nein, eine Katze.« »Ja, meinen Kater. Plumper.« Judy drehte sich zu uns um. Erstaunen spiegelte sich in ihrer Miene. »Ist das zu fassen? Sie trifft voll ins Schwarze!« »Ich weiß! Das ist so cool!«, rief Jilly. Sie warf mit einer Kopfbewegung ihr blondes Haar zurück und hüpfte auf und ab, anscheinend zu aufgeregt, um still zu stehen. Die Wahrsagerin widmete sich noch ein paar Minuten Judy und sagte ihr ein langes, erfolgreiches Leben voraus. Und dass Judy später einmal eine große Familie haben würde. »Mit vielen Kindern? Oder vielen Tieren?«, wollte Judy wissen. Miss Elizabeth antwortete nicht. Dann kam Jackie an die Reihe. Wieder traf Miss Elizabeth ins Schwarze mit allem, was sie sagte. »Wow«, murmelte Jackie ein ums andere Mal. »Wow.« Endlich saß ich der Wahrsagerin gegenüber. Plötzlich befiel mich wieder Nervosität. Mein Mund war trocken und mir zitterten die 18
Beine. Aus der Nähe sah Miss Elizabeth älter aus. Als sie mich anlächelte, bekam die dicke Schminke auf ihrem Gesicht Risse. Winzige Schweißtropfen glänzten an ihrem Haaransatz. »Wie heißt du?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Maggie«, erzählte ich ihr. Sie nickte ernst und nahm meine Hand. Sie hob sie dicht an ihr Gesicht und blinzelte im grauen Licht hinunter auf die Handfläche. Ich hielt gespannt den Atem an und wartete. Was würde sie sehen? Sie drückte meine Hand und zog sie noch näher ans Gesicht. Und dann ... dann... traten ihr die Augen weit hervor und sie stieß ein lautes Keuchen aus. Grob schleuderte sie meine Hand von sich weg und sprang auf die Füße. Hinter ihr fiel der Stuhl um und landete klappernd auf dem Zeltboden. Sie starrte mich an - starrte mich mit offenem Mund und voller Entsetzen an. Und dann schrie sie: »RAUS! Mach, dass du FORTKOMMST!« »Was? Moment mal...«, brachte ich mit erstickter Stimme heraus. »RAUS hier! Du bringst BÖSES! Du bringst BÖSES mit dir. RAUS mit dir!«
Mit klopfendem Herzen stolperte ich aus dem Zelt. Die Luft war angenehm kühl auf meinem Gesicht. Ich atmete ein paar Mal tief durch. Meine drei Freundinnen kamen hinter mir ins Freie. Jackie war die Einzige, die lachte. Judy und Jilly schüttelten die Köpfe. Ich begann, den Weg zwischen den Fahrgeschäften entlangzujoggen. Ich wollte so weit wie möglich weg von dieser verrückten Frau! Schreie aus der Achterbahn dröhnten mir in den Ohren. Und über diese Geräuschkulisse hinweg konnte ich noch immer das fassungslose Kreischen der Wahrsagerin hören: »RAUS hier! Du bringst BÖSES! Du bringst BÖSES mit dir! RAUS mit dir!« 19
Ich blieb stehen und drückte mich mit dem Rücken gegen einen hohen Holzzaun am Rande des Piers. Die drei J's eilten zu mir. »Wwarum hat sie das gesagt?«, keuchte ich. Judy und Jilly zuckten mit den Schultern. »Es war... verrückt!«, flüsterte Judy. »Aber warum hat sie das über mich gesagt?«, wiederholte ich atemlos. Jackie lachte und gab mir einen spielerischen Schubs. »Weil du eine Hexe bist!«, rief sie. »Aber - aber...«, stammelte ich. Jackie imitierte die kratzige Stimme der Wahrsagerin: »Du bist böse, Maggie. Raus mit dir! Du bist so böse, du machst Walter Angst!« Jackie ahmte Miss Elizabeth so täuschend echt nach, dass ich lachen musste. »Lass mich deine Hand sehen.« Jackie griff nach meiner Hand und hob sie sich mit der Handfläche nach oben ans Gesicht. »Igitt! Du bist böse!«, rief sie. »Das ist die böseste Hand, die ich jemals gesehen habe!« Die Schwestern prusteten wieder los, aber diesmal lachte ich nicht mit. »Sie hat so ernst gewirkt«, sagte ich, während ich die ganze Szene noch einmal vor meinem inneren Auge ablaufen ließ. »Und als sie meine Hand betrachtete, sah sie wirklich verängstigt aus. Als ob...« »Das war nur gespielt«, meinte Jackie. »Ich bin sicher, so was macht sie andauernd. Damit die Leute darüber sprechen und es ihren Freunden weitererzählen.« »Vielleicht wollte sie mehr Geld«, überlegte Judy. »Du weißt schon - damit sie uns mehr über das Böse verrät.« »Aber warum hat sie sich ausgerechnet mich ausgesucht?«, rief ich. »Wieso hat sie nicht Jilly gesagt, sie sei böse? Oder Judy?« »Weil du heute Geburtstag hast«, neckte mich Jackie. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. »Ihr habt euch das ausgedacht, stimmt's?«, rief ich. »Ihr seid vorher zur Wahrsagerin gegangen und habt ihr gesagt, sie soll mir diesen Unfug erzählen!« 20
»Nein...«, setzte Jackie an. »Wirklich...« »Doch! Ihr wisst, dass ich immer auf solche Sachen reinfalle!«, beharrte ich. »Das ist nur wieder einer von euren Tricks. Aber ich bin die neue Maggie. Ich falle nicht auf euren kleinen Scherz rein.« »Wir haben nichts damit zu tun! Ehrenwort!«, sagte Jilly und hob die rechte Hand wie zum Schwur. »Ich habe diese Frau noch nie zuvor gesehen!«, versicherte Jackie. »Kommt schon. Lasst uns das Ganze einfach vergessen und zum Riesenrad gehen«, sagte Judy. »Wenn wir ganz nach oben gefahren sind, können wir uns hinausbeugen und auf Miss Elizabeths Zelt spucken!«, schlug Jackie vor. »Nein. Ich möchte wirklich fort von hier.« Ich schauderte. »Ehrlich. Lasst uns gehen. Ich weiß nicht, was ich von dieser verrückten Frau halten soll. Ich will einfach nur weg vom Rummelplatz.« Jackie legte mir die Hände auf die Schultern. »Du zitterst ja!«, stellte sie fest. »Du hast das doch nicht ernst genommen, oder, Maggie? Die Frau ist völlig durchgedreht!« »Ich weiß, ich weiß«, murmelte ich. Doch als wir zurück zum Haus der Mullens gingen, musterte ich dauernd prüfend meine Handfläche. Mir wollten diese Frau, ihr schockiertes Gesicht und ihre entsetzten Schreie einfach nicht aus dem Kopf. Sobald wir im Haus waren, bestellten wir uns Pizza. Dann zog ich den Zauberkasten hervor, den meine Mutter mir zum Geburtstag geschenkt hatte, und führte ein paar Tricks vor. »Passt gut auf: In welcher Hand habe ich die Münze?«, fragte ich und hielt den Schwestern meine geschlossenen Fäuste hin. Jackie verdrehte die Augen. »Hat dir deine Mutter das geschenkt?« Ich nickte. »Los, welche Hand?« »Ich hatte den gleichen Zauberkasten, als ich sieben war«, schaltete sich Judy ein. »Aber ihr wisst doch, dass ich total auf so was stehe!«, wandte ich ein. »Ihr wisst, ich liebe Zauberei. Guckt euch das an.« Ich schob 21
ihnen den Zauberkasten hin. »Der Trick vom verschwindenden Dollarschein. Oder erinnert ihr euch noch an den mit den Bechern und den drei roten Bällen?« »Du bist eindeutig schrullig«, sagte Jilly. »Nein, bin ich nicht«, entgegnete ich scharf. Die Wahrsagerin kam mir wieder in den Sinn. »Mir gefällt nur der Gedanke, Dinge verschwinden und wieder erscheinen zu lassen. Ich finde das cool.« »Dann lass die Pizza erscheinen«, sagte Jilly. »Ich verhungere nämlich gleich!« »Also gut«, stimmte ich zu und winkte mit der Hand dreimal in Richtung Haustür. »Pizza - erscheine!«, befahl ich mit tiefer Stimme. In diesem Moment klingelte es an der Tür. Alle lachten überrascht auf. »He! Es hat geklappt!«, rief Jilly und rannte zur Haustür, um aufzumachen. »Was hat dir eigentlich dein Vater zum Geburtstag geschickt?«, erkundigte sich Jackie. Ich seufzte. »Er hat ihn wohl wieder vergessen. Er hat auch nicht angerufen.« Meine Eltern wurden geschieden, als ich vier war. Mein Dad lebt in Seattle und er ruft nicht sehr oft an. Ich nahm eine silberfarbene Schachtel aus dem Zauberkasten. »Hier. Ich zeige euch einen tollen Trick, bevor wir essen. Jackie, leih mir mal kurz deine Kette.« Jackies Lächeln verschwand. »Meine Kette?« Sie langte an die winzigen, leuchtend bunten Glasperlen. »Ja, nur für eine Minute«, sagte ich und hielt ihr auffordernd die Hand hin. »Das ist ein wirklich cooler Trick. Ihr werdet Augen machen, ehrlich.« Jackie runzelte die Stirn. »Aber pass auf, okay, Maggie?« Sie beugte den Nacken und zog die Kette über den Kopf. »Du weißt, wie viel mir diese Kette bedeutet. Meine Urgroßmutter hat sie mir gegeben. Ich nehme sie nie ab.« »Mir hat sie nichts geschenkt«, meckerte Judy. »Dich hat sie auch nicht gemocht«, fuhr Jackie ihre Schwester an. Die Perlen verfingen sich in ihrem langen, schwarzen Haar. Sie löste sie vorsichtig und reichte mir die Kette. 22
»Wow, ist die leicht und fein«, bemerkte ich. »So, und jetzt gut aufgepasst!« Ich schob den Deckel der silbernen Schachtel auf und legte die Kette behutsam hinein. Dann drehte und wendete ich die Schachtel in den Händen. »Schaut ihr auch gut zu?«, fragte ich. »Ja, klar«, antwortete Jackie. Judy starrte, ohne zu blinzeln, auf die Schachtel. Jilly setzte die Pizza auf dem Couchtisch ab und beobachtete, wie ich die Zauberschachtel in den Händen drehte. »Diese Schachtel führt in die vierte Dimension«, verkündete ich. »Wenn ich sie aufmache, wird deine Kette nicht mehr darin sein. Sie wird sich in der vierten Dimension befinden.« »Jilly lebt in der vierten Dimension!«, sagte Jackie und Judy lachte. Jilly streckte Jackie die Zunge heraus. »Die Kette ist verschwunden!«, erklärte ich, öffnete die Schachtel und zeigte ihnen, dass sie leer war. »Cool!«, meinte Jilly. »Guter Trick«, sagte Jackie. »Sehr gut.« Ich machte die Schachtel wieder zu. Dann drehte ich sie um. »Kette - kehre aus der vierten Dimension zurück!«, befahl ich. Ich zog die Schachtel auf und spähte hinein. »He ...!« »Sie ist nicht drin«, sagte Jackie. »Oje, Moment mal.« Ich drehte die Schachtel wieder um und schob den Deckel auf. »Nein, hier ist sie nicht. Wartet.« Ich blickte zu Jackie, die mich ungeduldig anfunkelte. »Maggie...?« Mein Kinn zitterte. »Sie ist da drin. Das weiß ich ganz bestimmt!« Ich drehte die Schachtel um und öffnete sie erneut. Nichts. Ich öffnete beide Seiten und schob das Geheimfach auf. Fehlanzeige. »Oje!«, rief ich. »Oje, Jackie... es - es tut mir so Leid! Ich weiß nicht, wo sie hin ist!«
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Mit einem wütenden Aufschrei sprang Jackie von der Couch, nahm mir die Schachtel weg und untersuchte sie gründlich. »Maggie, soll das ein Scherz sein?« Ich konnte mich nicht länger verstellen und prustete los. »Natürlich!«, rief ich. »Es ist schließlich ein Zaubertrick-richtig? Schau mal in deiner Tasche nach.« Jackie sah mich misstrauisch an. »Was?« Ich zeigte auf ihr T-Shirt. »Guck in deiner Tasche nach.« Sie langte in die Tasche ihres T-Shirts und zog die Kette heraus. »Wow!« Judy klatschte. »Das ist total abgefahren!«, erklärte Jilly. »Du bist gut, Maggie. Echt gut!« Ich machte eine schnelle Verbeugung. Doch dann sah ich, dass Jackie mich noch immer zornig anfunkelte. »Ich finde, das war gemein«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne und hängte sich behutsam die Kette wieder um. »Es war doch nur ein Zaubertrick!«, protestierte ich. »Außerdem war es nicht so gemein, wie jemandem die Hosen herunterzulassen!« »Aber du weißt, wie viel mir diese Kette bedeutet«, entgegnete Jackie. »Sie ist das Schönste, was ich besitze.« »Ja, sie ist sehr schön«, stimmte ich ihr zu und seufzte. »Ich wünschte, ich hätte so eine Kette. Ich würde sie auch nie abnehmen.« Jackie beäugte mich argwöhnisch. Schließlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Na, sollte sie jemals wirklich verschwinden, weiß ich ja, wer sie sich unter den Nagel gerissen hat!« Darüber lachte ich, gemeinsam mit Judy und Jilly. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Jackies Kette nur wenige Tage später tatsächlich verschwinden sollte. Jilly brachte Pappteller und mehrere Dosen Cola light aus der Küche. Wir nahmen uns jeder ein Stück Pizza, um sie im Wohnzimmer zu 24
essen. »Maggie, führ uns noch einen Zaubertrick vor«, drängte mich Jilly. »Nein, stell den Fernseher an«, sagte Judy. »Vielleicht läuft ja gerade ein guter Film.« Jackie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. »Es ist schon ziemlich spät«, sagte sie zu mir. »Solltest du nicht besser deine Mom anrufen und ihr sagen, dass du noch bei uns bist?« »Nein, sie hat heute Abend Dienst«, entgegnete ich. Meine Mutter arbeitet als Krankenschwester im Cedar-Bay-Krankenhaus und hat jede Woche andere Schichten. Ich hob gerade mein Pizzastück an den Mund, als ich einen harten Stoß spürte - als würde ein schwerer Ziegelstein auf meinem Schoß landen. »Plumper!«, rief ich. Das Pizzastück rutschte mir aus der Hand und ich griff hektisch danach. Judys riesiger orange-weißer Kater drückte mir seinen fetten Körper in die Seite. »Plumper, geh runter!«, befahl Judy. »Geh runter von Maggie!« Natürlich schenkte ihr der Kater keine Beachtung. Er grub mir seinen dicken Kopf in den Schoß. »Ich fass es nicht!«, rief ich Judy zu. »Warum sucht er sich immer mich aus?« »Plumper weiß, dass du ihn nicht magst«, entgegnete Judy. »Er ist so groß und schwer und er springt immer auf mich und und...« Ich nieste heftig. Und dann gleich noch einmal. »Du brauchst nicht so zu niesen. Wir wissen, dass du allergisch gegen Katzen bist!«, sagte Jackie. »Oh, igittigitt!«, rief ich und hielt mein Pizzastück hoch, auf dem überall orangefarbene Haarbüschel klebten. Der Kater streckte wohlig die Pfoten auf meinem Schoß aus. »Plumper, was hast du da gemacht?«, schimpfte Judy. »Schieb ihn einfach runter, Maggie. Du musst bestimmt auftreten. Schieb ihn weg.« Ich zögerte. Ich hatte das Gefühl, gleich wieder niesen zu müssen. Der Kater war so schwer auf meinem Schoß. Schließlich gab ich ihm einen sanften Schubs. »Geh weg. Plumper. Geh schon.« 25
Zu meiner Überraschung warf er den Kopf zurück, entblößte die Zähne und stieß ein langes, Furcht einflößendes Fauchen aus. Bevor ich mich rühren konnte, kratzte mir der große Kater mit den Krallen über den Arm. »Auuuuu!«, schrie ich auf. Das Pizzastück fiel zu Boden. Der Kater fauchte wieder, diesmal lauter. Er senkte den Kopf und versuchte, mich in den Arm zu beißen. Mit einem Schrei sprang ich auf und wich zurück, stolperte aber über den Couchtisch. Wild fauchend stürzte sich der Kater auf mich, kratzte mir mit den Vorderpfoten über die Jeans und schnappte nach mir. Ich fiel hart auf den Rücken. Und bevor ich mich wegrollen oder herumwirbeln konnte, war der Kater schon auf mir. Er fauchte laut, wie rasend, fast wie eine wütende Schlange. Und er schlug ein um das andere Mal nach meinem Gesicht. Stieg auf mir herum, kratzte und biss. »Hilfe!«, kreischte ich. »Helft mir doch! Er bringt mich noch um!« »Plumper!«, hörte ich Judy schreien. Ihre Stimme klang weit entfernt. »Plumper, was ist in dich gefahren?« Ich hob beide Arme, um mein Gesicht zu schützen. Der Kater schlug mit den Krallen weiterhin wie toll nach meinen Ärmeln, schnappte, schrie und fauchte mit voller Wut. Judy packte das Tier, warf es sich über die Schulter und stürmte, es wie einen großen Wäschesack festhaltend, aus dem Zimmer. »Ohhhh«, stöhnte ich. Mühsam kam ich auf die Füße. Ich zitterte am ganzen Körper. »So habe ich Plumper ja noch nie gesehen!«, sagte Jilly und fasste mich am Arm. Jackie eilte zu mir. »Alles in Ordnung, Maggie? Bist du verletzt?« Prüfend sah ich an mir herab. An den Klamotten hingen überall orangefarbene Katzenhaare. »Ich - ich glaube, ich bin okay«, sagte ich schwach. »Du hast einen Kratzer an der Hand«, berichtete Jackie, die mich ebenfalls begutachtete. »Aber es blutet nicht.« »Blöder, verrückter Kater«, murmelte Jilly und zupfte die Fellflusen 26
von mir ab. Judy kehrte kopfschüttelnd zurück und zupfte sich ebenfalls Katzenhaare vom Pulli. »Ich musste Plumper hinten einsperren. War das seltsam!« »So hat er sich noch nie aufgeführt«, sagte Jilly. »Er ist sonst immer nur fett, faul und zufrieden.« »Warum hat er durchgedreht und Maggie angefallen?«, fragte Judy mit zitternder Stimme. Jackies dunkle Augen leuchteten auf. »Weil Maggie böse ist!«, erklärte sie. »BÖSE!«
Ihre beiden Schwestern lachten. Aber ich konnte das nicht komisch finden. »Ich bin nicht böse!«, widersprach ich heftig. »Der Kater ist böse!« »Ich werde ihn in Zukunft nicht mehr in deine Nähe lassen«, versprach Judy und biss sich auf die Unterlippe. »Ich - ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Er ist einfach ... durchgedreht. Das ist so seltsam. So seltsam ...« Ich wandte mich um und bemerkte, dass Jackie mich anstarrte, mich durchdringend musterte. »Was denkst du gerade?«, wollte ich wissen. Sie blinzelte. »Ach nichts«, sagte sie. »Gar nichts.« Ein paar Minuten später verließ ich ihr Haus. Mir war nicht mehr nach Pizza zu Mute. Ständig hatte ich das Stück mit den orangefarbenen Katzenhaaren vor Augen. Draußen hatte es abgekühlt, aber die Nachtluft war noch immer schwer und feucht. Gelb-graue Wolken zogen über den Himmel und verdeckten den Mond und die Sterne. Ich fühlte mich zittrig, als ich mich auf den Weg nach Hause machte. Das Schaben meiner Schuhe über den Bürgersteig bildete das einzige Geräusch, abgesehen vom leisen Rascheln der Bäume. 27
Das war so schrecklich!, dachte ich bei mir. Der Kater hat doch früher schon auf meinem Schoß gesessen. Warum hat er heute Abend plötzlich beschlossen, mich anzugreifen? »Weil du BÖSE bist!«, hatte Jackie gesagt. Das war nicht komisch. Das war total verrückt. Ich bin nicht böse. Ich habe noch nie etwas Böses getan. Im Gegenteil, von allen Menschen, die ich kenne, bin ich der am wenigsten böse! Jackie ist viel böser als ich. Ja, das ist sie. Sie hat ganz eindeutig einen fiesen Humor. Glens Tarzankostüm so zu manipulieren. Ihn vor der gesamten Schule bloßzustellen. Heute Abend so zu tun, als würde sie mich zu einem Tattoo zwingen wollen. Das ist wirklich böse. Na ja... nein. Wenn ich genau darüber nachdenke, ist es eigentlich nicht Bösartigkeit, sondern ... Spitzbübigkeit, mehr nicht. War das heute Abend nur wieder einer von Jackies »spitzbübischen« Scherzen?, fragte ich mich. Hat sie Miss Elizabeth dafür bezahlt, diese Dinge über mich zu sagen? Aber Jackie hat geschworen, sie hätte nichts damit zu tun. Ich dachte an die Wahrsagerin und rief mir ihr ernstes Gesicht in Erinnerung, als sie sich über den rot glühenden Lichtschein der Kristallkugel beugte. Warum hat sie gesagt, ich sei böse? Warum hat sie das von mir behauptet? Warum hat sie sich gerade mich ausgesucht? Frag sie, dachte ich. Frag sie einfach, Maggie. Soll sie es dir erklären. Dann weißt du es und musst keinen weiteren Gedanken daran verschwenden. An der Straßenecke blieb ich stehen. Ein Auto fuhr vorbei, Musik dröhnte aus dem offenen Fenster. Ich wartete, bis es vorbeigefahren war, dann lief ich ein paar Schritte - und hielt mitten auf der Straße inne. Mein Zuhause war noch einen Block entfernt, der Rummel auf dem Pier befand sich vier Straßen in die andere Richtung. 28
Nun geh schon, drängte ich mich. Geh zum Rummel. Klär es ein für alle Mal, damit die liebe Seele ihre Ruhe hat. »Okay, ich gehe«, sagte ich leise, drehte mich um und schlug den Weg zum Pier ein. Ich werde Miss Elizabeth erzählen, wie grausam sie war, beschloss ich. Ich werde ihr sagen, dass sie mir den Geburtstag verdorben hat mit ihrem lahmen Streich. Ein anderes Auto fuhr vorbei, diesmal voll besetzt mit Jugendlichen. Ein Junge brüllte mir irgendetwas aus dem Fenster zu. Ohne ihn zu beachten, ging ich weiter. Unter einer Straßenlampe blieb ich stehen, um einen Blick auf meine Uhr zu werfen. Kurz vor Mittemacht. Meine Mutter würde mich wahrscheinlich umbringen, wenn sie wüsste, dass ich so spät alleine draußen unterwegs war. »He, ich bin jetzt dreizehn«, sagte ich laut. »Ich bin kein Kind mehr.« Der Rummel machte wahrscheinlich gerade zu. Ich hoffte, Miss Elizabeth wäre noch da. Ich wurde immer wütender. »Schließlich geht man zum Rummel, um sich zu amüsieren - und nicht, um erschreckt oder beleidigt zu werden. Ein starker Wind kam auf und blies mir entgegen, drückte mich zurück. Ich stemmte mich gegen ihn und ging weiter. Endlich erreichte ich den Pier. Er war fast menschenleer. Ein paar Pärchen verließen gerade den Rummel, die Arme voll gewonnener Stofftiere. Der Ticketstand lag verlassen da, aber das Eingangstor stand noch offen. Als ich hindurchtrat, erloschen die ersten Lichter. Ich blinzelte in die plötzliche Dunkelheit. Eine leere Pepsidose kullerte, von einer Windböe erfasst, scheppernd über den Boden. Sie rollte mir vor die Füße und ich sprang darüber. Die Rummelmusik war abgestellt worden, aber die Lautsprecher rauschten noch. Und über das Rauschen hinweg konnte ich das Wasser gleichmäßig gegen den Pier schlagen hören. Arbeiter verriegelten die Spielbuden. Die meisten Stände waren 29
bereits dunkel und verlassen. Ein junger Mann zog ein Holzgatter über die Vorderseite seiner Bude. Er blickte auf, als ich vorbeiging. »He wir haben schon geschlossen«, rief er mir zu. »Ich weiß«, rief ich zurück. »Ich ... äh ... suche jemanden.« Das Rauschen in den Lautsprechern wurde lauter, als ich zum Ende des Piers lief. In der Nähe erklang ein tiefes Heulen. Von einem Tier? Vom Wind, der durch die Planken des Piers blies? Weitere Lichter erloschen. Dunkelheit umgab mich. In der Ferne lachte jemand ein hohes, kaltes Lachen. Ich schauderte. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, herzukommen. Da hörte ich ein schabendes Geräusch hinter mir. Ich drehte mich blitzschnell um. Aber es war nur braunes Laub, das auf dem Pier im Wind herumgewirbelt wurde. Die leeren Wagen auf der Achterbahnschiene schimmerten matt im trüben Licht. Ich hörte ein Quietschen. Die Schienen klapperten, als würde jemand sie schütteln. Endlich kam das Zelt der Wahrsagerin am Pierende in Sicht. Ich schluckte schwer. Mein Herz begann zu rasen. Vor dem Eingang blieb ich stehen. Die Zeltklappe war geschlossen. War Miss Elizabeth noch drinnen? Auf dem Weg hatte ich mir zurechtgelegt, was ich zu ihr sagen wollte, aber jetzt waren alle Worte wie weggeblasen. Ich werde sie einfach fragen, warum sie das über mich gesagt hat, entschied ich. Das ist alles. Ich frage sie unumwunden, warum. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, griff ich mit den Händen nach der Zeltklappe und zog sie auf. »Hallo?«, rief ich. Meine Stimme klang dünn. »Ist da jemand? Miss Elizabeth? Sind Sie da?« Keine Antwort. Ich trat in das Zelt - und stieß ein schockiertes Keuchen aus. Eine der beiden Laternen hing noch an der Zeltwand und spendete das einzige Licht. Die andere Laterne entdeckte ich am Boden. Sie lag auf der Seite, das Glas gesprungen. Der Holztisch war umgekippt, ein Bein abgebrochen. Daneben lag zerrissen und zusammengeknüllt ein langer 30
Seidenschal der Wahrsagerin. Die Stühle - die beiden Holzstühle waren gesplittert und zerbrochen. Das Plakat mit der Hand hatte man entzweigerissen. Und die rote Glaskugel - sie war zerschmettert – Scherben bedeckten den Zeltboden. Die Kugel - die Kristallkugel - zerschlagen in tausend Stücke.
Am nächsten Tag in der Schule versuchte ich, jede Erinnerung an die Wahrsagerin zu verdrängen. Nach der Schule war keine Zeit, an sie zu denken. Ich hatte Ballettunterricht. Jilly war ebenfalls da und ich beobachtete sie voller Bewunderung. Sie ist so eine anmutige Tänzerin. Sie scheint über den Boden zu schweben. Neben ihr kam ich mir wie ein Zirkuselefant vor. Gegen Jilly habe ich überhaupt keine Chance. Aber ich werde trotzdem zum Vortanzen gehen, beschloss ich. Es ist mein Traum, in diese Truppe aufgenommen zu werden, und ich werde nicht aufgeben, ohne es nicht wenigstens probiert zu haben. Nach dem Ballettunterricht eilte ich nach Hause. Ich hatte jede Menge Hausaufgaben zu erledigen. Es war ein kühler Herbsttag. Die Luft roch lieblich und frisch, als ich zu meinem Häuserblock joggte. Ich winkte einigen Kindern zu, die in den Hauseinfahrten Laub zusammenrechten. Ich blieb abrupt stehen, als ich unseren Vorgarten erreichte. Der Rucksack schlug schwer gegen meinen Rücken. Sah ich Gespenster? Oder war das wirklich Glen, der den Rasenmäher durch unseren Vorgarten schob? »He!«, rief ich ihm zu und winkte. Er fuhr herum. Der Rasenmäher röhrte und Glen stellte den Motor ab. »Maggie, na, alles klar?«, rief er zurück. Ich rannte zu ihm. »Was treibst du denn da?«, wollte ich wissen. Dumme Frage. Ich fühlte, wie mein Gesicht heiß wurde, und mir 31
war klar, dass ich rot geworden war. Er wischte sich mit dem grauen Jackenärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich mähe alle Rasen in der Straße«, sagte er. »Hast du mich noch nie dabei gesehen?« Ich schüttelte den Kopf. »Deine Mutter hat mich gebeten, euren noch vor Wintereinbruch zu mähen.« Er wischte sich die Hände an den Jeansbeinen ab. »Aber der Rasenmäher macht dauernd Mätzchen. Ich weiß nicht, woran das liegt.« Er trat mit dem Schuh nach ihm. Obwohl es draußen kühl war, schwitzte er stark. Sein lockiges Haar - wild und ungekämmt wie immer - glänzte schweißfeucht. Ich streckte die Hand aus und zupfte ihm einen Grashalm von der Wange. »Schönes Haus.« Er deutete darauf. »Da würde mein Zuhause bestimmt zehnmal reinpassen!« »Willst du nicht kurz reinkommen?«, brach es aus mir heraus. »Ich meine - wenn du Durst hast oder so. Komm einfach rein und trink eine Cola oder ein Gatorade. Vielleicht, wenn du mit dem Mähen fertig bist?« Er nickte. »Ja, vielleicht. Danke. Ich muss noch einen anderen Rasen mähen, bevor es dunkel wird.« Er bückte sich, um den Rasenmäher wieder anzuwerfen. »Bis später dann.« Ich stürmte ins Haus. »Er ist wirklich cool«, murmelte ich. Beim Eintreten rief ich: »Mom - bist du zu Hause?« Stille. Ich kann mir nie merken, wann sie Dienst hat. Ich nahm mir eine Dose Eistee aus dem Kühlschrank und ging auf mein Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Chirpy, mein Kanarienvogel, begann zu zwitschern, als ich ins Zimmer kam. Ich lief hinüber zum Käfig vor dem Fenster und strich dem Vogel mit dem Finger über das gelbe Gefieder. Ich spähte zu Glen hinunter. Über die Griffe des Rasenmähers gebeugt, bewegte er sich schnell über den Rasen und zog Streifen ins Gras. »Er ist ja so süß«, flüsterte ich Chirpy zu. »Findest du nicht auch?« Der Kanarienvogel legte den Kopf auf die Seite, als versuchte er, mich zu verstehen. 32
Ich trottete zum Spiegel und bürstete mir die Haare. Dann legte ich etwas Lippgloss und Lidschatten auf. Ich beschloss, mich umzuziehen, nahm mir eine frisch gewaschene, gerade geschnittene Jeans und schlüpfte in meinen neuen, weißen Pulli. Von draußen konnte ich das Brummen und Dröhnen des Rasenmähers hören. Ich wünschte mir, Glen würde sich beeilen und fertig werden. Ich wusste, dass ich mich eigentlich an meine Hausaufgaben setzen sollte, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich ging zurück ans Fenster und beobachtete Glen eine Weile. Dann holte ich mir ein Kartenspiel und begann, ein paar neue Tricks einzuüben. Aber auch dafür fehlte mir die Konzentration. Draußen hörte ich Stimmen. Mädchenstimmen. »He, Tarzan«, rief jemand laut. Ich stürzte ans Fenster und sah Jackie und Judy die Einfahrt hochkommen. Sie waren stehen geblieben, um Glen zu ärgern. Aber der mähte ungerührt weiter. Ich konnte sehen, dass er knallrot angelaufen war und nur so tat, als würde er die Schwestern nicht bemerken. »Lasst ihn in Ruhe!«, sagte ich laut und eilte nach unten, um Judy und Jackie reinzulassen. »He, der reine Wahnsinn, Maggie. Du hast deinen Freund dazu gebracht, den Rasen zu mähen!«, zog Jackie mich auf. »Mom hat ihn engagiert«, gab ich zurück. »Ich wusste nicht mal ...« »Warst du im Chemielabor, als Kenny Fields das Glas fallen gelassen hat?«, unterbrach Judy mich. »Nein, ich habe montags kein Chemie«, sagte ich. »Es war eine Katastrophe!«, rief sie. »Im Glas war Ammoniak oder eine stinkende Säure - jedenfalls irgendetwas echt Ekliges. Es roch so schrecklich, dass ein paar Schüler anfingen, alles voll zu kotzen.« »Einer machte den Anfang und dann haben sich alle übergeben«, erzählte Jackie. »Es war irre! Wie eine Epidemie!« »Sie mussten die halbe Schule evakuieren«, fügte Judy hinzu. »Wie kommt es, dass du davon gar nichts mitbekommen hast?« »Ich war nicht da. Wir haben so einen blöden Ausflug gemacht«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Ins Kunstmuseum.« 33
»Warum bittest du denn deinen Freund nicht herein?«, fragte Jackie. »Habe ich schon«, erklärte ich. Noch immer konnte ich das Brummen des Rasenmähers hören, aber es war schwächer geworden. Glen war anscheinend fast am Ende des Gartens angelangt. Jackie drängte sich an mir vorbei zur Treppe. »Ich würde gern die neuen Schminksachen ausprobieren, die du im Einkaufszentrum gekauft hast.« Judy und ich folgten ihr. »Wo ist Jilly?«, wollte ich wissen. »Beim Tanzen«, sagte Judy. »Sie hat heute eine zusätzliche Stunde genommen. Sie will beim Vortanzen absolut perfekt sein.« Ich seufzte. »Jilly ist doch schon perfekt.« Jackie ging schnurstracks auf meine Kommode zu. »Das ist ja hier wie im Kosmetikladen!«, tönte sie und begann, Gläschen und Tuben hochzuheben und zu begutachten. »Voll cool!« »Wenn du meine Schminksachen ausprobieren willst, musst du mir dafür aber auch was geben«, sagte ich. Jackie lachte. »Na gut. Ich gebe dir Jilly!« »Haha!« Ich streckte die Hand aus. »Lass mich deine Perlenkette mal anprobieren.« Jackie zögerte. »Nur ganz kurz«, bat ich. »Ich durfte sie noch nie umhängen. Ich will nur sehen, wie sie mir steht.« Jackie zuckte mit den Achseln und nahm vorsichtig die Kette mit den winzig kleinen Glasperlen ab. »Keine Zaubertricks?« »Keine Zaubertricks«, versprach ich. Sie reichte mir die Kette und widmete sich wieder meinen neuen Schminkutensilien. »Die Kette ist so schön«, sagte ich, während ich in den Spiegel blickte und die feinen, glänzenden Perlen an meinem Hals zurechtrückte. »Ich würde alles dafür geben, auch so eine zu besitzen.« Im Spiegel fing ich Jackies Lächeln auf. »Alles?« »Na ja...« »Vielleicht vermache ich sie dir in meinem Testament«, sagte Jackie. 34
»Hast du viele Hausaufgaben auf?«, fragte Judy. »Tonnenweise«, antwortete ich seufzend. »Ich wollte mich gleich dransetzen, als ich nach Hause kam. Aber mir schwirrte der Kopf und ich konnte mich nicht konzentrieren.« Judy stand vor dem Vogelkäfig und streichelte Chirpy. Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Dir geht aber nicht mehr im Kopf herum, was die Wahrsagerin gesagt hat, oder?« Ich lachte. »Besten Dank auch, Judy. Danke, dass du mich wieder an diese Sache erinnert hat. Ich habe den ganzen Tag nicht mehr dran gedacht!« »Du bist böse«, murmelte Jackie und trug sich dicke, schwarze Wimperntusche auf. »Du bist so böse, Maggie.« »Hör auf«, herrschte ich sie an. »Das war totaler Unfug und das weißt du. Ich weiß nicht, warum es mich überhaupt so aufregt.« Judy öffnete den Käfig und hob Chirpy behutsam heraus. Sie ließ den Kanarienvogel auf ihrem Finger sitzen. »Plumper würde dich lieben«, erzählte Judy dem Vogel. »Zum Mittagessen!« »Erwähn in meiner Gegenwart bitte nicht diese Katze!«, rief ich. »Das war so schrecklich! Dein Kater ist total verrückt!« Judy runzelte die Stirn. »Die Sache tut mir wirklich Leid. Ich bin übrigens hergekommen, um dich zu fragen, ob du mir bei der Haustierschau helfen würdest.« »Nicht, wenn ich in die Nähe dieses Katers kommen muss!«, erwiderte ich. »Ich werde Plumper von dir fern halten«, versprach Judy. »Also, hilfst du mir?« »Na gut, ich schätze schon«, antwortete ich. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Warum braucht Glen denn so lange?, fragte ich mich. Warum wird er nicht fertig? Während ich ihn dabei beobachtete, wie er den Rasenmäher hinund her- und vor- und zurückschob, wünschte ich mir insgeheim, es gäbe eine Möglichkeit, das Gerät zu beschleunigen. »He!« Judys überraschter Schrei riss mich aus den Gedanken. Ich wirbelte herum und sah Chirpy in der Luft herumflattern. Judy versuchte, den Kanarienvogel mit beiden Händen einzufangen. 35
»Komm zurück! Komm wieder her, Vögelchen!« Laut tschilpend flog der Kanarienvogel zur Decke hoch, stieß gegen den Deckenfluter, prallte ab und flatterte zum Schrank hinüber. Judy und ich jagten hinter ihm her. »Komm her!«, rief ich. »Was hast du denn nur?« Wir bemühten uns zu dritt, den flatternden Vogel einzufangen. Jedes Mal, wenn wir ihn beinahe hatten, schoss Chirpy wieder aus unserer Reichweite. Zuerst war das ja ganz lustig, aber nach zehn Minuten Jagd auf den Vogel war es frustrierend. »Ich glaub's nicht!«, japste ich. Wieder langte ich nach dem Vogel und verfehlte ihn abermals! »Chirpy, hör auf! Das hast du ja noch nie gemacht! Komm zurück! Ich könnte dich dafür umbringen!« »He, sag so was nicht!«, bremste mich Jackie. »Würdest du dich nicht schrecklich fühlen, wenn du das sagst und kurz darauf stirbt Chirpy tatsächlich?« »Ich hab's doch nicht so gemeint. Das ist nur eine blöde Redensart«, erklärte ich und blieb stehen, um zu verschnaufen. Da flog Chirpy in den Käfig. Judy knallte schnell die Käfigtür zu. »Hab dich!« Ich rang nach Atem. Plötzlich bemerkte ich, dass ich noch immer Jackies Halskette trug. Ich nahm sie ab und gab Jackie den Schmuck zurück. »Warum gehen wir nicht in die Küche ...«, setzte ich an, aber weiter kam ich nicht. Denn von draußen hörten wir einen erschrockenen Schrei. Ich stürzte ans Fenster, gefolgt von Judy und Jackie. Als ich hinausspähte, sah ich, wie Glen hinter dem Rasenmäher herjagte. Der Rasenmäher zog wilde Zickzacklinien und ratterte Glen davon. Der rannte im Affenzahn hinter dem Gerät her und schrie sich die Seele aus dem Leib. Mit klopfendem Herzen öffnete ich das Fenster. »Glen!«, rief ich. »Was ist los?« Ich glaube nicht, dass er mich über den Lärm des Rasenmähers hören konnte. Er machte einen Satz nach vom und erwischte den Griff des Mähers. Doch ein Ruck und das Gerät holperte wieder davon. 36
»He - Hilfe!«, schrie er. Jackie und Judy kicherten neben mir. Aber ich konnte sehen, dass Glen in echten Schwierigkeiten steckte und sehr aufgebracht war. Er bekam abermals den Griff zu fassen und klammerte sich wie ein Ertrinkender daran fest. Der Rasenmäher jedoch donnerte vorwärts und grub tiefe Löcher in den Rasen. Glen versuchte verzweifelt, ihn zum Halten zu bringen, aber der Rasenmäher raste weiter im Zickzack durch den Garten. Er war völlig außer Kontrolle geraten und zog Glen mit sich. Ich hielt mir die Ohren zu, als das Gerät mit lautem Krachen in einen Baum fuhr. Es rammte so heftig dagegen, dass der ganze Baum erzitterte. Ich sah, wie Glen zu Boden ging und auf dem Rücken landete. Und dann hörte ich über das Röhren des Rasenmähers hinweg Glens entsetztes Kreischen: »Mein Fuß! ER HAT MIR DEN FUSS ABGESCHNITTEN!«
»Neeeeiinn!« Ich stieß einen Schrei aus und schob mich vom Fenster weg. Zu dritt sausten wir die Treppe hinunter und in den Vorgarten hinaus. »Glen, alles in Ordnung?«, kreischte ich. Glen saß zusammengekauert im Gras. Er hatte den Schuh ausgezogen und rieb sich mit beiden Händen den linken Fuß. Während wir zu ihm rannten, warf sich der Rasenmäher ein letztes Mal gegen den Baum, der Motor stotterte und erstarb. »Dein Fuß ...?«, keuchte ich. »Tut mir Leid. Ich bin in Panik geraten«, sagte er sanft. »Es ist nur ein kleiner Schnitt. Doch es hat so wehgetan, dass ich erst dachte...« »Falscher Alarm«, bemerkte Jackie. »Du hast uns zu Tode erschreckt!« »Aber was ist denn passiert?«, erkundigte sich Judy. 37
»Das ist mir ein Rätsel«, erwiderte Glen. »Ich kapier das nicht.« »Hast du die Geschwindigkeit höher gedreht oder so was?«, fragte Judy. Glen schüttelte den Kopf. »Der Rasenmäher ist ganz plötzlich davongeprescht. Es war so... unheimlich! Es ... es ist ganz unmöglich! Rasenmäher sind nicht dafür gebaut, so schnell zu fahren!« Vorsichtig zog er sich den Schuh wieder an und rappelte sich auf. Dann machte er ein paar prüfende Schritte. »Alles in Ordnung.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann blickte er auf den Rasenmäher. Der war so hart gegen den Baum geprallt, dass er eine tiefe Kerbe im Baumstamm hinterlassen hatte. »Wow«, murmelte Glen. »Wie merkwürdig.« Er ging zum Rasenmäher, packte den Griff und zog das Gerät langsam vom Baum weg. Dann wandte er sich an mich. »Sag deiner Mutter bitte, dass es mir Leid tut, ja? Der Rasenmäher hat hier eine echte Sauerei gemacht.« »Klar, werde ich ihr ausrichten«, sagte ich. »Aber...« »Sag ihr, dass ich den Rasenmäher repariere und wiederkomme.« Er schob ihn Richtung Einfahrt. »Willst du nicht kurz reinkommen?«, fragte ich. »Was trinken?« Glen schob sich das buschige Haar zurück. »Nein, ich sehe besser zu, dass ich das Ding hier nach Hause schaffe, damit mein Dad es sich anschauen kann. Vielleicht kriegt er ja raus, warum es durchgedreht ist. Bis später.« Ich sah zu, wie Glen den Rasenmäher die Einfahrt hinunter zum Bürgersteig schob. Dann drehte ich mich um und folgte Jackie und Judy zurück ins Haus. Beim Eintreten kicherte Jackie. »Das war gruselig!«, sagte ich. »Was ist daran so lustig?« Jackies Augen leuchteten auf. »Ich dachte, du magst Glen, Maggie. Hast du deine bösen Kräfte etwa bei seinem Rasenmäher eingesetzt?« Sie gluckste. »Hör auf damit!«, schrie ich wütend. »Ich meine es ernst, Jackie. Hör auf, so was zu sagen! Du weißt, dass ich keine bösen Kräfte habe! Also lass es! Das ist nicht lustig!« Sie bekam große Augen. Ich konnte sehen, dass sie von der 38
Heftigkeit meines Wutausbruchs überrascht war. »Tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ich hab's nicht so gemeint. Es war nur ein Scherz. Wirklich. Ich wollte dich nur etwas aufheitern ...« »Nun, dann lass es!«, unterbrach ich sie. Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich werde es nie wieder erwähnen. Versprochen.« Wir gingen wieder nach oben. Das Fenster stand noch offen und ein kalter Wind wehte ins Zimmer. Die Vorhänge flatterten und blähten sich auf. Ich lief zum Fenster, um es zu schließen, blieb aber mitten im Raum wie angewurzelt stehen. Eine winzige gelbe Feder schwebte vor mir in der Luft. Ich drehte mich um und sah zum Vogelkäfig. Ich starrte auf Chirpy, blickte angestrengt auf meinen Kanarienvogel, der im Käfig lag... ganz still. Er lag tot auf dem Käfigboden.
Als ich den ersten Schock überwunden hatte, half mir Judy, den armen, kleinen Vogel in Papiertücher einzuwickeln. Ich trug ihn hinter die Garage. Jackie grub ein flaches Loch in die weiche Erde. Und wir begruben Chirpy. Stumm standen wir da und schauten auf das kleine Grab hinunter. Wir fühlten uns alle drei seltsam. Vor allem Judy, die Tiere so sehr liebt. Jackie hielt ihr Versprechen und sagte kein Wort mehr über böse Kräfte. Ich glaube, wir dachten alle das Gleiche. Als ich Chirpy im Raum nachgejagt war, hatte ich gerufen: »Ich könnte dich dafür umbringen.« Und ein paar Minuten später lag der kleine Kanarienvogel steif und tot da. Doch keiner hielt mich wirklich dafür verantwortlich. Und ausnahmsweise einmal machte Jackie darüber keine Witze. Die Nachmittagssonne ging langsam hinter den Bäumen unter. Ich fröstelte, als die Luft sich abkühlte. Dicke, braune Blätter fielen von 39
den Bäumen und bedeckten den frisch gemähten Rasen. Ich kehrte mit meinen Freundinnen gerade ins Haus zurück, als ich Moms braunen Taurus in die Einfahrt biegen sah. Jackie und Judy blieben zurück, aber ich rannte auf das Auto zu. »Was macht ihr drei denn ohne Jacken hier draußen?«, fragte Mom. Sie stieg aus dem Wagen und strich sich den Rock ihrer weißen Krankenschwesterntracht glatt. »Und was ist mit dem Vorgarten passiert? Wieso ist die Erde so aufgerissen?« »Das ist eine lange Geschichte«, seufzte ich. Auf dem Weg ins Haus erzählte ich ihr von Chirpy und Glen und dem Rasenmäher, der sich selbstständig gemacht hatte. Mom machte nur ts-ts. Sie ließ ihre Handtasche auf den Küchentisch fallen und sah mich an. »Das mit Chirpy ist sehr seltsam«, sagte sie. »Der Vogel war doch erst ein Jahr alt.« Jackie hob ihre Schultasche vom Boden auf. »Judy und ich müssen allmählich gehen. Es ist schon spät.« »Ich habe auch massenweise Hausaufgaben«, sagte Judy zu mir. »Es scheint fast so, als hätten sich die Lehrer alle Hausaufgaben für heute aufgespart.« »Ich nehme an, es war zu viel für den Vogel, als er so in deinem Zimmer herumgesaust ist«, meinte Mom. Sie warf ihren Mantel auf den Küchenstuhl. »Wahrscheinlich hat da sein Herz nicht mehr mitgespielt.« Sie trug den Wasserkessel zur Spüle und füllte ihn mit Wasser. »Seid ihr sicher, dass ihr nicht doch noch bleiben und etwas Heißes trinken wollt?« »Nein, danke. Wir müssen wirklich gehen«, sagte Jackie. Ich folgte ihnen zur Haustür. Als wir an den Bücherregalen im Flur vorbeikamen, blieb Jackie abrupt stehen. Sie bückte sich und musterte prüfend das untere Fach des Bücherregals. »He, Maggie - was ist das?« »Was denn?« Ich kniete mich neben sie, um zu sehen, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. In dem Fach standen lauter alte Bücher mit verschlissenen und ausgeblichenen Einbänden. »Was ist damit...?«, begann ich. Doch dann las ich ein paar der Titel. Und ich begriff, wovon die 40
alten Bücher handelten. Hexerei... die dunklen Künste... Magie und das Okkulte. »Ich - ich habe die Bücher hier unten noch nie bemerkt«, sagte ich. Jackie sah mich durchdringend an. »Na und, was ist schon dabei?«, sagte ich mit scharfer Stimme. »Es ist doch nur ein Haufen alter Bücher. Warum schaust du mich so an?« Jackie zuckte die Achseln. Dann richtete sie sich schnell auf und schubste Judy zur Haustür. »Ich ruf dich nach dem Abendessen an«, meinte sie. »Tschüss«, sagte Judy. »Tut mir Leid wegen deinem Kanarienvogel. Er war echt putzig.« Als ich die Haustür hinter ihnen zumachte und mich umdrehte, sah ich Mom im Flur stehen. »Mom, kann ich dich mal was fragen?« Ich wusste, es war verrückt und doof. Aber die Frage schlüpfte mir einfach aus dem Mund. »Mom, bin ich irgendwie seltsam? Habe ich irgendwelche bösen Kräfte?« Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und holte Luft. »Nun... ja«, sagte sie schließlich. »Ja, hast du.«
»Wie bitte?«, keuchte ich auf. Ich konnte fühlen, wie mein Herz einen Schlag lang aussetzte. »Ja«, meinte Mom. »Und jede Nacht, wenn du im Bett liegst, hole ich meinen Besen heraus und fliege nach Cleveland!« Sie lachte. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Mom griff mir zärtlich mit der Hand in den Nacken, so, wie sie es immer getan hatte, als ich noch klein war. »Maggie, warum um alles in der Welt fragst du so verrückte Sachen?« Ich schluckte schwer. »Na ja ...«Ich zögerte. Dann überlegte ich, dass ich mir genauso gut einen Ruck geben und es ihr erklären konnte. Also berichtete ich ihr von der Wahrsagerin auf dem Rummel, davon, wie Jackie mich seither die ganze Zeit auf zog und wie Judys 41
Kater mich plötzlich ohne jeden Grund angegriffen hatte. »Du bist wirklich ganz normal, Maggie«, sagte Mom. »Du weißt, dass du keine Hexe bist.« »Ja, das weiß ich, Mom, aber...« »Und außerdem, wenn du wirklich über böse Kräfte verfügen würdest, warum hast du sie dann nicht schon viel früher eingesetzt?«, fragte Mom. »Warum solltest du erst vor zwei Nächten damit angefangen haben? Dreizehn Jahre lang war nichts und nun sollst du urplötzlich böse sein?« »Du hast ja Recht«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, warum die Begegnung mit dieser Frau vom Rummelplatz mich so aufgewühlt hat.« »Sie hat sich einfach einen kleinen Scherz erlaubt«, meinte Mom. »Was ist nur mit deinem Humor? Du bist in letzter Zeit sehr ernst. Du solltest ein wenig fröhlicher sein.« Ich wollte ihr abermals zustimmen, aber da blieb mein Blick an dem Bücherregal hängen. »Mom«, ich deutete darauf. »Diese Bücher...« Mom seufzte. Wieder drückte sie meinen Nacken. »Ich habe eine Seminararbeit über das Thema Aberglauben geschrieben. Erinnerst du dich nicht mehr? Diese alten Bücher habe ich noch aus Collegezeiten.« »Ach ja.« Jetzt kam ich mir völlig dämlich vor. »Entschuldige, Mom. Ich werde die Sache nie wieder erwähnen. Ich wusste, es war doof von mir. Aber...« In diesem Moment klingelte das Telefon in meinem Zimmer. »Ich gehe besser ran. Ruf mich, wenn das Abendessen fertig ist«, sagte ich und sauste die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Nach dem dritten Läuten hob ich ab und meldete mich keuchend: »Hallo?« Jackie war am anderen Ende der Leitung und sie klang außer sich. »Meine Kette«, würgte sie hervor. »Du hast vergessen, sie zurückzugeben.« »Was? Aber nein«, widersprach ich. »Die habe ich dir wiedergegeben. Kannst du dich nicht daran erinnern?« 42
»Das ist ganz und gar unmöglich!«, kreischte sie. »Ich hab sie nicht!« »Beruhige dich, Jackie«, sagte ich sanft. »Ich weiß ganz sicher, dass ich sie dir gegeben habe. Lass uns mal überlegen...« »Ich hab sie aber nicht!«, wiederholte Jackie mit schriller Stimme. »Sie ist weder in meinem Mantel noch in meiner Schultasche. Sie muss irgendwo in deinem Zimmer sein, Maggie. Bitte such sie, ja? Such sie.« »Ja, klar, mach ich.« Ich drehte mich um und blickte mich rasch im Raum um. Keine Kette auf der Kommode ... auf dem Bett... auf dem Schreibtisch... Ich hatte Jackie vor Augen, wie sie aus dem Haus ging. Da hatte sie die Halskette getragen. Ich war mir sicher, dass sie die Kette um den Hals gehabt hatte. »Ich - ich kann sie nirgends entdecken«, erklärte ich ihr. »Du hast sie getragen. Da bin ich mir ganz sicher.« »Finde sie!«, kreischte Jackie. »Du musst sie finden! Finde sie, Maggie - bitte!« Am nächsten Vormittag traf ich zwischen zwei Unterrichtsstunden Glen auf dem Schulkorridor. »Wo musst du hin?«, fragte ich ihn. »In die Turnhalle«, antwortete er. »Und du?« »Zur Spanischstunde.« Ich gähnte. »Wie geht's deinem Fuß?« »Ganz gut.« Er grinste. »Ich hatte Glück. Es sind noch alle sechs Zehen dran!« Wir schoben uns durch die Menge. Die Cedar-Bay-Middle-School ist zu klein für die vielen Schüler. Zwischen den Unterrichtsstunden geht es auf den Fluren zu, als wären Rinderherden auf der Flucht. Ich gähnte wieder, »'tschuldigung. Ich war bis nach Mitternacht wach und habe Hausaufgaben gemacht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin wirklich in Topform für das Vortanzen heute Abend. Wahrscheinlich werde ich den Juroren ins Gesicht gähnen.« Glen rückte seine Schultasche auf dem Rücken zurecht. »Bist du schon aufgeregt?« »Ja«, gab ich zu. »Auch wenn ich weiß, dass ich sowieso keine
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große Chance habe. Jilly ist viel besser als ich. Sie ist eine tolle Tänzerin.« Glen nickte nachdenklich. Dann schüttelte er mir feierlich die Hand. »Viel Glück«, sagte er. »Hals- und Beinbruch.« Ich lachte. »Ich glaube, das sagt man zu Schauspielern, aber es ist sicher nicht der passende Spruch für Tänzer.« Er bog um die Ecke und winkte mir noch mal kurz zu. »Bis später.« Ich trottete hinter der Schülerschar her, in Gedanken ganz beim Vortanzen. Warum zerbreche ich mir darüber überhaupt den Kopf?, fragte ich mich. Weil ich jetzt ein neuer und mutiger Mensch bin, gab ich mir zur Antwort. Ich habe mir an meinem Geburtstag geschworen, mich zu ändern. Nicht mehr so schüchtern und ängstlich zu sein. Mich um das zu bemühen, was ich wirklich will. Und deshalb hatte ich keine Wahl. Ich musste nach dem Abendessen zu diesem Vortanzen gehen. Ich bog um eine Ecke und steuerte auf die Treppe zu. Ich war im zweiten Stock. Der Spanischunterricht fand im Sprachlabor im ersten Stock statt. Ich griff nach dem Geländer und ging die steile, geflieste Treppe hinunter. Ich hatte erst einen oder zwei Schritte gemacht, als ich Jilly auf der Mitte der Treppe erspähte. Plötzlich überkam mich ein äußerst merkwürdiges Gefühl. Meine Arme fingen an zu kribbeln und meine Hände prickelten, als wären sie eingeschlafen. Und dann begannen sie richtiggehend zu brennen, heiß zu brennen. Ich versuchte, es zu ignorieren. »He, Jilly!«, rief ich. Aber sie hörte mich nicht. Ich drängelte mich an den Schülern vorbei. »Jilly.« Ich tippte ihr leicht auf die Schulter - und sah, wie ihre Hände nach oben flogen. Dann sah ich ihre Schuhe von der Stufe abrutschen. Ihre Augen weiteten sich, der Mund klappte auf. Ihr schriller Schrei hallte durch das ganze Treppenhaus. Und dann fiel sie. Fiel vornüber. Das Haar wehte hinter ihr her. Jilly stürzte geradewegs die Treppe hinunter. Tiefer... und tiefer... 44
über die harten Stufen, auf den Fliesen polternd. Und auf dem ganzen Weg schrie sie. Sie landete hart und gab ein letztes Ächzen von sich. Dann regte sie sich nicht mehr.
Mir drohten die Knie einzuknicken. Ich musste mich ans Geländer klammem, um nicht umzukippen. »Neeeeiin!«, heulte ich erschrocken auf. »Jilly? Jilly...?« Sie lag bäuchlings am Fuße der Treppe, einen Arm unter dem Körper, den anderen von sich gestreckt. Ihre Frisur hatte sich gelöst und das Haar sich über den ganzen Kopf gebreitet. Es bedeckte ihr Gesicht wie eine gelbe Felldecke. »Jilly...? Jilly...?« Ich rief ihren Namen, während ich die Stufen hinunterlief. Sie hob den Kopf vom Boden. »Warum ... warum hast du mich geschubst?«, stieß sie mühsam hervor. »Was? Ich hab dich nicht geschubst!«, rief ich. »Ich hab dich nur angetippt!« Jilly setzte sich auf. An der Schulter hatte sie eine Schnittwunde, die durch ihr weißes Oberteil blutete. Sie wandte die Augen nicht von mir. »Doch, du hast mich wohl geschubst, Maggie.« »Nein...!«, rief ich. Einige Schüler waren stehen geblieben, um Jilly zu helfen. Nun starrten mich alle an. »Nein, ich hab dich nicht angerührt. Du weißt, dass ich dich nie schubsen würde. Ich - ich habe dich gerufen und dann ...« Sie rieb sich über das Oberteil und bemerkte das Blut. »Du - du lügst. Ich habe deine Hand auf meinem Rücken gespürt. Du hast mich geschubst. Ich hab's genau gemerkt, Maggie.« »N-nein«, protestierte ich. »Ich schwöre es dir. Ich hab dich nicht angerührt. Du bist gefallen.« Jetzt fixierten mich alle durchdringend. Ich konnte ihre vorwurfsvollen Blicke auf mir spüren. 45
Warum gingen sie nicht einfach weg? Warum verschwanden sie nicht alle in ihre Klassen? Ich wandte mich um und sah, dass auch Jillys Bein verletzt war. »He!«, rief ich. »Dein Schnürsenkel. Jilly - schau mal. Dein Schnürsenkel ist offen.« Sie stöhnte und rieb sich die Seite. »Was?« Sie blinzelte auf den Schuh. »Siehst du?«, sagte ich. »Das muss die Ursache gewesen sein. So ist es passiert. Du bist über deinen Schnürsenkel gestolpert.« »Du hast mich gestoßen«, beharrte sie. »Ich habe genau gefühlt, wie du mich geschubst hast. Du hättest mich töten können, Maggie. Bedeutet dir das Vortanzen etwa so viel? Du hättest mich umbringen können!« »Nein«, wiederholte ich kopfschüttelnd. »Nein, nein, nein.« Wir waren so gute Freundinnen. Warum machte sie mir solche Vorwürfe? Ich hatte sie nicht gestoßen. Das wusste ich ganz genau. Nach der Schule eilte ich zum Haus der Mullens, um zu sehen, wie es Jilly ging. Judy machte mir die Tür auf. »Oh, du bist's.« Sie schien überrascht, mich zu sehen. »Ist Jilly da?«, fragte ich und folgte ihr ins Wohnzimmer. »Ist alles in Ordnung mit ihr?« Der Fernseher lief - über den Bildschirm flimmerte irgendeine Talkshow, in der sich alle Gäste gegenseitig anschrien. Judy schaltete aus. »Jilly ist noch beim Arzt«, sagte Judy und ließ sich auf die grüne Ledercouch plumpsen. »Ihr wird der Knöchel verbunden.« »Sie - sie hat ihn sich aber nicht gebrochen, oder?«, wollte ich wissen. Judy schüttelte den Kopf. »Nur verstaucht. Sie wird heute Abend wahrscheinlich sogar vortanzen können.« Ich stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus und ließ mich gegenüber von Judy in einen Sessel fallen. »Ich bin so froh, dass es ihr gut geht«, meinte ich. Und dann bebte meine Stimme. »Sie - sie hat 46
mich beschuldigt, ich hätte sie die Treppe hinuntergestoßen! Aber das ist total verrückt!« Judy strich sich das kurze Haar zurück. Ihre Augen bohrten sich in meine und musterten mich aufmerksam. »Ich habe sie nicht gestoßen«, sagte ich. »Ich bin auch nicht gegen sie geprallt oder so etwas.« Mit angehaltenem Atem wartete ich, was Judy erwidern würde. Endlich sagte sie: »Selbst wenn du gegen sie geprallt wärst, muss es ein Unfall gewesen sein.« Sie zog die schlanken Beine zu sich heran. »Ich weiß, dass du ihr nie mit Absicht wehtun würdest.« »Natürlich nicht«, versicherte ich. »Ich bin ja so froh, dass du mir glaubst. Wenn nur...« Ich hielt inne, als ich die Haustür zufallen hörte. Gleich darauf kam Jackie in den Raum gestürmt. Ihr Mund klappte auf, als sie mich sah. »Du bist hier!« Ich drehte mich im Sessel zu ihr um. »Ja, ich ...« »Hast du sie gefunden?«, fragte Jackie atemlos. »Ich habe den ganzen Tag nach dir Ausschau gehalten. Hast du meine Kette gefunden?« »Nein«, antwortete ich. »Ich habe überall danach gesucht. Ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt.« »Aber - aber...«, stotterte Jackie aufgeregt. Ihr langes Haar war zerzaust und ungekämmt. Auf einer Seite stand es nach oben ab. In ihrer Miene spiegelte sich Verzweiflung. »Wo aber ist sie dann?«, rief sie und rieb sich mit der Hand über den Hals, als hoffte sie, die Kette dort zu finden. »Ich habe sogar hinter der Garage nachgesehen«, erzählte ich ihr. »Wo wir den Kanarienvogel beerdigt haben. Aber nirgends eine Spur von ihr.« »Ohne sie bin ich ganz unglücklich«, sagte Jackie. »Todunglücklich.« »Es tut mir wahnsinnig Leid«, sagte ich und senkte den Blick. »Ich werde weiter nach ihr suchen. Ich verspreche es dir.« Sie schloss die Augen und seufzte. »Es ist nur so seltsam.« Dann tat sie etwas Verblüffendes. Sie rannte quer durch das Wohnzimmer, schlang die Arme um mich und drückte mich fest. »Ich 47
wollte dich nicht beschuldigen, Maggie«, flüsterte sie. Ihre Wange brannte heiß an meiner. »Das weißt du doch, oder? Du bist meine Freundin. Meine beste Freundin.« Ohne eine Antwort abzuwarten, wirbelte sie herum und eilte aus dem Zimmer. Judy musste gemerkt haben, wie erstaunt ich war. »Jackie ist ein wenig emotional«, sagte sie. »Seit ihre Kette verschwunden ist.« Ich lehnte mich wieder im Sessel zurück, aber mir blieb keine Zeit zu entspannen. Denn da hörte ich das schnelle Trippeln leiser Sohlen auf dem Teppich. Und dann stieß ich einen erschrockenen Schrei aus, als Judys riesiger Kater Plumper mir auf den Schoß sprang. »Tu doch was!«, kreischte ich. »Mach, dass er von mir runtergeht!« Judy sprang auf. »Plumper, komm her!«, rief sie. Aber zu meiner Überraschung schmiegte der große, orangefarbene Kater sein Gesicht an meine Brust und schnurrte. »Judy«, keuchte ich. »He - he...« Plumper machte es sich auf meinem Schoß bequem und schnurrte sanft. »Das versteh ich nicht«, murmelte ich, noch immer zitternd. »An einem Abend versucht er mich in Stücke zu reißen ...« Judy lächelte. »Er will es wieder gutmachen«, sagte sie. Ihr Lächeln wurde breiter. »Ist das nicht süß?« Der Kater rieb, jetzt lauter schnurrend, seinen Kopf an meinem TShirt. »Los, streichle ihn«, wies mich Judy an. »Siehst du? Er will, dass du lieb zu ihm bist.« Ich schluckte. Der Kater war so unberechenbar. Was, wenn ich versuchte, ihn zu streicheln, und er wieder mit den Tatzen nach mir schlug? »Streichle ihn«, drängte Judy. »Er wartet darauf, dass du ihm über das Fell streichelst.« »Ich - ich will das aber eigentlich nicht«, sagte ich und schaute hinunter auf das fette, orangefarbene Tier. »Er möchte es so gern«, entgegnete Judy. »Er will, dass ihr euch 48
versöhnt.« »Na ja...« Ich holte tief Luft und hob langsam und vorsichtig die Hand. Und...
Die Hand begann wieder zu kribbeln, beide Arme kribbelten. Es fühlte sich an wie eine Million Nadelstiche. Erneut spürte ich, wie meine Hand brannte. Warum passiert das schon wieder?, wunderte ich mich. Der Kater schnurrte. Ich senkte die Hand und strich sanft über Plumpers Rücken. Würde er mich angreifen? Würde er wieder durchdrehen? Nein. Er schnurrte lauter. Ich strich ihm über den Rücken und er schmiegte den Kopf an mich. »Jetzt seid ihr beide wieder Freunde«, freute sich Judy. Ich warf einen Blick auf die Standuhr an der Wand. »Ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Wegen des Vortanzens heute Abend.« Ich streichelte den Kater ein letztes Mal. »Ich hoffe, Jilly und ich können auch wieder Freunde sein«, sagte ich mit einem Seufzen. Doch Jilly behandelte mich beim Vortanzen an jenem Abend wie Luft. Als sie mich im Gang des Zuschauerraums stehen sah, wandte sie sofort den Kopf ab und ging weiter. Und als ich ihr hinterherlief und sie bat, mir zuzuhören, tat sie, als wäre ich gar nicht vorhanden. Ich fühlte mich schrecklich und kämpfte gegen die Tränen an. Das war so ungerecht. Eine meiner besten Freundinnen hasste mich jetzt. Und ich trug keinerlei Schuld daran. Ich merkte, dass Jilly leicht humpelte, als sie auf die leere Bühne kletterte und mit dem Aufwärmen begann. Ihr rechter Spitzenschuh beulte sich aus und ich konnte sehen, dass der Fuß unter der Strumpfhose bandagiert war. Mrs. Masters, die Tanzlehrerin, winkte 49
mich auf die Bühne. Dann ging sie zu einem CD-Player auf dem Boden vor dem Vorhang und legte etwas Aufwärmmusik auf. Ich setzte mich an den Bühnenrand, um mir die Ballettschuhe zu binden. Ich fühlte mich absolut hilflos. Immer wieder sah ich zu Jilly hinüber. Aber sie wandte sich jedes Mal mit Absicht ab, wenn ich in ihre Richtung blickte. Nur vier Mädchen bewarben sich auf die eine freie Stelle in der Tanztruppe. Nicht so viele also. Bloß Mrs. Masters und vier Mädchen auf der Bühne. Für Jilly und mich würde es also ziemlich schwer werden, einander völlig zu ignorieren. Ich fummelte mit den Bändern der Schuhe herum. Ich bin zu aufgeregt, um jetzt etwas vorzutanzen, dachte ich. Am besten gehe ich gleich wieder. Ich warf erneut einen Blick auf Jilly, die sich probehalber auf ihrem verletzten Fuß drehte. »He, Jilly - das sieht gut aus!«, rief ich ihr zu. Sie hob die Nase in die Luft und beachtete mich nicht. Das ist so was von lächerlich! Sie hat kein Recht, mich so zu behandeln. Ich werde vortanzen. Ich werde mich von Jilly nicht vertreiben lassen. Und ich werde so gut tanzen wie noch nie! Ich band meine Spitzenschuhe und eilte auf die Bühne, um mich warm zu machen. Nun... ich tanzte nicht wirklich so gut wie nie zuvor. Aber mein Auftritt war mir auch nicht peinlich. Ich war froh, als Mrs. Masters mich bat, als Erste vorzutanzen. Auf diese Weise blieb es mir erspart, herumzustehen und immer aufgeregter zu werden, während die anderen Tänzerinnen ihr Können zeigten. Jilly und die beiden anderen Mädchen - Marci und Deena - mussten mir zugucken. Und während ich eine kurze Stelle aus Schwanensee vortanzte, wusste ich, dass sie an der Bühnenseite standen, die Arme vor der Brust verschränkt, und jede meiner Bewegungen mit Argusaugen beobachteten. Aber ich konzentrierte mich auf die Schritte und die Musik und versuchte, meine Zuschauer zu vergessen. 50
Hinterher klatschte Mrs. Masters und lächelte. »Das war sehr schön, Maggie«, sagte sie. »Ich bin beeindruckt.« Nach Atem ringend, dankte ich ihr und trippelte davon. Ich fühlte mich leicht wie eine Feder und versuchte, meinen Abgang anmutig zu gestalten. Ja, mir war durchaus bewusst, dass ich ein- oder zweimal gepatzt hatte. Und einige Male hatte ich hinter der Musik hergetanzt. Ich schätze, ich hatte mich zu sehr auf die Schrittfolge konzentriert und darauf, nichts zu vermasseln. Aber insgesamt hatte ich ein ziemlich gutes Gefühl. Es ist nämlich gar nicht so einfach, Mrs. Masters ein Kompliment zu entlocken. Dann lehnte ich mich gegen die Bühnenwand und sah zu, wie Jilly vortrat. Ihre Spitzenschuhe berührten den Boden so leicht wie die Füße eines zarten Vögelchens. Normalerweise hätten wir einander Glück gewünscht. Normalerweise hätte sie mir auch gratuliert, dass ich meine Sache so gut gemacht hatte. So wäre es vor diesem Tag gewesen. Bevor... Mrs. Masters stellte die Musik an und Jilly hob die Arme, setzte ein Lächeln auf und begann zu tanzen. Sie ist eine wunderbare, anmutige Tänzerin. Mit ihren leichten, mühelosen Bewegungen, dem zurückgesteckten blonden Haar und den fließenden, zauberhaften Armbewegungen gleicht sie auf der Bühne wirklich einem Engel. Mein Herz klopfte noch immer schnell vom Tanzen. Ich wischte mir den Schweiß von der Oberlippe und beobachtete Jilly. Solche perfekten Sprünge. Solche schnellen Füße. In mir stieg Neid auf. Ich konnte es nicht verhindern. Ich wollte so wahnsinnig gern in dieser Tanzgruppe sein. Jilly war Mitglied in allen möglichen Clubs und Sportgruppen an der Schule und nahm an den verschiedensten Aktivitäten teil. Aber dies hier war das Einzige, was ich wollte. Meine Hände begannen zu kribbeln und zu brennen. Ich faltete sie fest zusammen. Warum passierte das nur immer wieder? Marci, eine der anderen Tänzerinnen, beugte sich zu mir. »Wow«, flüsterte sie, die Augen auf Jilly gerichtet. »Wow.« 51
Ich nickte und spielte nervös mit meinen brennenden Händen. »Wir können genauso gut gleich nach Hause gehen«, wisperte Deena. Jilly macht den Eindruck, als fühle sie sich auf der Bühne pudelwohl, dachte ich. Sie wirkt so natürlich... So glücklich. Doch dann sah ich, wie sich ihre Miene plötzlich veränderte. Ihr Lächeln verschwand. Sie wirkte überrascht. Verwirrt. Wir keuchten alle drei erschrocken auf, als Jilly sich zu drehen begann. Sie hatte ihren Part fast beendet und die Hände hoch über dem Kopf erhoben. Während sie die Arme langsam sinken ließ, stellte sie sich auf die Zehenspitzen - und fing an, sich auf dem rechten Bein zu drehen. »Das gehört nicht zum Tanz«, flüsterte Marci. »Will sie etwa angeben?«, fragte Deena. Mir prickelten die Arme. Ich schlang sie fest um mich, während ich Jilly erstaunt zusah. Sie wirbelte im Kreis herum. Und mit jeder Umdrehung hob sie ihr linkes Bein, um neuen Schwung zu holen. Sie wurde schneller und schneller... »Unglaublich«, sagte Deena kopfschüttelnd. »Was für eine Angeberin.« »Wow«, wiederholte Marci. Jilly drehte sich jetzt noch schneller im Kreis, die Arme flogen wild durch die Luft. Ihr rechtes Bein blieb steif und gestreckt, während sie umherwirbelte, aber mit dem linken Bein nahm sie bei jeder Runde Schwung. Schneller... stärker... Der blonde Pony wehte hinter ihr her. Ich schrie auf, als ich ihren Gesichtsausdruck sah. Jillys Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, während sie weiter herumwirbelte... immer heftiger und schneller... Voller Angst bebte ich am ganzen Körper. Jilly gab nicht an. »Sie - sie kann nicht mehr aufhören!«, kreischte ich. »Sie hat die Kontrolle über sich verloren!« Meine Hände brannten wie Feuer, sie pochten vor Hitze. Ich ballte sie fest zu Fäusten, als könnte ich sie so davon abhalten zu explodieren! Schmerzen schössen mir in Wellen die Arme hoch und runter. 52
Voller Entsetzen riss ich Mund und Augen auf, während Jilly weiter herumwirbelte. Schwung, Drehung. Schwung, Drehung. Mrs. Masters schaltete die Musik aus. Aber Jilly kam nicht zum Stehen. Schwung, Drehung, Schwung, Drehung. Sie wirbelte im Kreis herum, wild mit den Händen fuchtelnd. Nun herrschte Stille. Eine schwere Stille, in der wir alle voller Entsetzen Jilly zusahen. »Hilfe!«, ertönte Jillys schriller Schrei. »Ohhhhh, helft mir doch!« Und noch immer drehte sie sich. Wirbelte immer heftiger herum ... Ihr Haar flog wild umher... Die Hände droschen verzweifelt in die Luft. »Helft mir! Biiiiiiitteeee!« Und dann, noch immer schreiend, noch immer vor Qualen stöhnend, noch immer herumwirbelnd, segelte Jilly über die Bühne, geradewegs auf die Wand zu. Dumpf prallte sie dagegen. Und dann sank sie, sich drehend, sich weiterhin drehend, zu Boden.
»Was ist passiert?« »Warum hat sie das gemacht?« »Wieso konnte sie nicht aufhören?« »Hat sie sich was gebrochen? Sie ist mit solcher Wucht gegen die Wand geflogen!« Unsere erschrockenen Stimmen hallten durch den Raum. Wir eilten zu Jilly hinüber. Wie hilflos sie da auf dem Bühnenboden lag, mit geschlossenen Augen, offenem Mund und seltsam abgewinkelten Beinen. »Zurück mit euch«, befahl Mrs. Masters mit schriller Stimme. »Zurück. Ich möchte sie mir ansehen.« »Warum hat sie so geschrien? Warum konnte sie nicht aufhören?«, rief Marci. Tränen glitzerten in ihren Augen.
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»Ob sie aus dem Gleichgewicht gekommen ist?«, fragte Deena kopfschüttelnd. »Hat sie sich so sehr gedreht, dass sie die Kontrolle verlor?« Eine Hand auf dem Mund, starrte ich stumm auf meine Freundin hinunter. Ein bedrückendes Gefühl großer Angst stieg in mir auf. Mein Magen hob sich. »Atmet sie noch...?« Die Frage kam mir über die Lippen, ohne dass ich es überhaupt merkte. Mrs. Masters kniete am Boden und beugte sich über Jilly. »Ja, sie atmet noch«, antwortete sie. »Mach die Augen auf, Jilly. Kannst du die Augen öffnen?« Mein Blick wanderte zu Jillys Füßen. Ihr rechter Fuß schwoll an wie ein Ballon. Mein Magen hob sich wieder. Mir war speiübel. Ich schluckte mehrmals und zwang das Abendessen wieder hinunter. »Ruft einen Krankenwagen«, wies Mrs. Masters uns an. »Ich hab ein Handy«, rief Marci und lief zu ihrer Tasche. »Jilly, kannst du mich hören?«, fragte Mrs. Masters sanft. »Kannst du die Augen öffnen?« Endlich regte sich Jilly. Ein trockener, hustenartiger Laut drang über ihre Lippen. Speichel lief ihr aus dem Mund und über die Wange. »Jilly?«, rief Mrs. Masters. »Jilly? Hörst du mich?« Jilly stöhnte und blinzelte mehrmals. »Es... tut so weh«, flüsterte sie. Sie griff sich mit der Hand an den Brustkorb – und zog sie rasch wieder weg. »Ohhhh.« »Bleib still liegen«, sagte Mrs. Masters. »Du hast dir vielleicht eine Rippe gebrochen, als du gegen die Wand geprallt bist.« »Wand?«, hauchte Jilly. »Du hast dich so stark gedreht«, erklärte Mrs. Masters. »Du hast die Kontrolle verloren und ...« Jilly stöhnte wieder. »Mein Fuß. Ich... ich kann ihn nicht bewegen.« »Halt ganz still«, sagte die Lehrerin. »Wir bringen dich ins Krankenhaus. Alles kommt wieder in Ordnung.« »Was ... ist passiert?«, fragte Jilly schwach. Und dann veränderte 54
sich schlagartig ihre Miene. Sie gab ein scharfes Keuchen von sich, als ihr Blick auf mich fiel, als sie mich angespannt dastehen sah, die Hand noch immer auf dem Mund. »Maggie!«, rief sie heiser. Ich wollte auf sie zugehen, aber ihre kalten, wütenden Augen ließen mich innehalten. »Maggie.« Beim Wiederholen meines Namens verzerrte sich ihr Gesicht vor Empörung. »Du hast das getan!« »N-nein«, stammelte ich. Jilly zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger auf mich. »Ich weiß zwar nicht, wie, aber du bist schuld daran.« Marci und Deena starrten mich an. »Jilly, bleib still liegen.« Mrs. Masters tätschelte Jilly die Hand. »Ich glaube, du hast eine Gehirnerschütterung. Du bist verwirrt. Niemand hat dir etwas getan. Liebes.« »Genau wie bei Glen und dem Rasenmäher«, flüsterte Jilly, die Finger zitternd erhoben. »Jackie hat mir erzählt, was mit Glens Rasenmäher passiert ist. Die Wahrsagerin hatte Recht! Du bist böse! Du bist BÖSE!« »Sag das nicht!«, schrie ich. »Jilly - bitte nicht! Das ist nicht wahr! Du weißt, das ist nicht wahr! Es kann nicht sein! Sag so was nicht!« Jilly schloss die Augen und stöhnte vor Schmerzen. »Du hast mir das angetan! Du warst das, Maggie!«, flüsterte sie. Bei ihren Worten sahen alle zu mir her und starrten mich an. Sie fixierten mich, als hätte Jilly die Wahrheit gesagt. Als hätte ich wirklich schreckliche Dinge verursacht. Als wäre ich tatsächlich böse. Und dann konnte ich mich nicht länger beherrschen. Ich konnte meine Gekränktheit, meinen Zorn nicht länger zurückhalten. Aus vollem Hals begann ich zu schreien, zu kreischen wie eine Verrückte. Ich schrie sie alle an: »Ich bin nicht böse! Bin ich nicht! Nein! Nein!«
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Wenige Minuten später trafen die Sanitäter ein, um Jilly ins Krankenhaus zu bringen. Mrs. Masters eilte hinaus in den Korridor, um die Mullens anzurufen. Marci und Deena zogen sich schnell um, aufgeregt miteinander tuschelnd. Sie würden zu einem anderen Termin vortanzen. Die ganze Zeit über warfen sie mir verstohlene Blicke zu, sprachen aber nicht mit mir. Ich schlüpfte in meine Straßenschuhe und zog eine Jacke über Trikot und Strumpfhose. Ich wollte so schnell wie möglich fort von hier. Fort von dem Getuschel und den argwöhnischen Blicken. Wie konnte Jilly so etwas von mir behaupten? Wie konnte sie mir so etwas vorwerfen? Wir sind seit der vierten Klasse Freunde. Sie kennt mich in- und auswendig. Sie weiß, dass ich ihr nie wehtun würde. Ich starrte auf meine Hände. Sie brannten nicht mehr. Warum ist das wieder passiert?, fragte ich mich. Jedes Mal, wenn meine Hände zu brennen anfangen, geschieht irgendwas Schreckliches. Jedes Mal. Aber das heißt nicht, dass ich diese Dinge verursache, oder? Ich schob die Hände in die Taschen. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Dann sprang ich von der Bühne und rannte durch den Gang zwischen den Zuschauerreihen zum Ausgang. Ich konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen, in die Sicherheit meines Zimmers. Aber im Korridor draußen hielt mich Mrs. Masters auf. Sie legte mir die Hand auf die Schulter. »Jilly war einfach völlig außer sich«, sagte sie sanft. »Sie hat die verrückten Dinge nicht so gemeint, die sie gesagt hat.« »Ich... ich weiß«, sagte ich leise. »Sie muss unter Schock gestanden haben«, sagte Mrs. Masters. »Das ist die einzige Erklärung.« Ich nickte. »Versuch, nicht mehr daran zu denken, Maggie. Jilly wird sich später wahrscheinlich nicht mal mehr an ihre Worte erinnern.« 56
»Ja, wahrscheinlich«, wiederholte ich und fasste Mrs. Masters am Arm. »Aber was ist da nur geschehen, Mrs. Masters? Warum hat sich Jilly so sehr gedreht, als hätte sie keine Kontrolle mehr über sich?« Meine Stimme bebte. »Es ... es war so schlimm... so Furcht erregend. Es sah wirklich so aus, als würde... als würde irgendeine fremde Macht sie beherrschen!« Mrs. Masters schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, Maggie. Ich glaube, ich stehe auch immer noch unter Schock.« Sie tätschelte mir die Schulter. »Ich schätze, du bist in der Tanzgruppe. Deena und Marci werden auch noch vortanzen, aber sie sind nicht auf deinem Niveau. Dann darf ich dir wohl gratulieren, auch wenn ich weiß, dass du noch bestürzt bist wegen deiner Freundin.« »Ja.« Wieder nickte ich. Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht der Lehrerin. »Nun, trotzdem herzlichen Glückwunsch. Wir werden es ein andermal feiern, ja?« »Danke, Mrs. Masters.« Ich drehte mich um und lief weg. »Versuch, nicht daran zu denken, was Jilly gesagt hat«, rief die Tanzlehrerin noch hinter mir her. »Sie stand unter Schock. Bestimmt wird sie sich bei dir entschuldigen, wenn es ihr wieder besser geht.« »Ja, bestimmt«, murmelte ich. Und damit war ich aus dem Gebäude und draußen in der kalten, frischen Abendluft. Der Mond tauchte das Schulgelände in helles, silbriges Licht. Welkes Laub flog raschelnd über das Gras. Am liebsten hätte ich den Kopf zurückgeworfen und laut geschrien. Mir war nach Weinen zu Mute. Stattdessen senkte ich den Kopf Wegen des Windes und rannte los, aber ich kam nicht weit. Ich war beinahe an der Ecke angelangt, als ich in jemanden hineinrannte. »He!« Er stieß einen überraschten Schrei aus und sprang zur Seite. »Langsam, langsam.« »Glen!«, rief ich. »Was machst du denn hier?« Er schob sich die wilde Mähne zurück und lächelte mich an. »Wow. Du solltest bei Wettrennen mitmachen, Maggie.« »Tut mir Leid, ich hab dich nicht gesehen. Ich - ich hab nicht 57
aufgepasst. Ich meine... Was machst du hier?«, wiederholte ich atemlos. »Dir folgen«, sagte er. Ich glotzte ihn mit offenem Mund an. »Was?« Er lachte. »Nein, ich mach bloß Spaß. Ich war weiter unten in der Straße und habe mein Geld eingesammelt. Für das Rasenmähen. Und da ist mir eingefallen, dass du ja heute Abend dieses Vortanzen hattest. Deshalb dachte ich mir...« »Frag mich lieber nicht danach«, sagte ich schaudernd. »Es war schrecklich.« Ich ging weiter, in Richtung Zuhause. Er musste sich beeilen, um mit mir Schritt zu halten. »Du bist nicht aufgenommen worden?« »Doch«, erwiderte ich. »Aber - aber...« Und dann platzte es aus mir heraus: »Jilly wurde verletzt und gibt mir die Schuld.« Er sprang vor, um mir den Weg zu verstellen. »He, he. Was ist denn passiert? Hast du sie stolpern lassen oder so was?« »Nein, ich hab nichts getan«, sagte ich. Mir zitterte die Stimme. Am liebsten hätte ich losgeheult. »Ich hab sie nicht angerührt. Aber sie hat sich am Knöchel verletzt und mich dafür verantwortlich gemacht. Genau wie heute Morgen in der Schule. Da ist sie die Treppe runtergefallen und hat mir die Schuld gegeben. Aber ich hab sie nicht gestoßen. Wirklich!« Glen verzog nachdenklich das Gesicht, als grüble er über den Sinn meiner Worte. »Zweimal an einem Tag?«, fragte er. »Sie ist zweimal an ein und demselben Tag verletzt worden? Zweimal? Und du warst beide Male in der Nähe?« »J-ja«, sagte ich. »Aber ich hab sie nie angerührt. Das ist die Wahrheit.« Er blickte mich durchdringend an. »Du glaubst mir doch - oder nicht?«, wollte ich wissen. »Oder nicht?« Er senkte den Blick. »Natürlich«, sagte er. »Ich glaube dir.« Aber etwas im Tonfall seiner Stimme hatte sich verändert. Er sah mich nicht an. Er schien plötzlich nervös. Glen glaubt mir nicht, wurde mir klar. Er hält es für einen zu großen Zufall, dass Jilly zweimal an einem einzigen Tag verletzt 58
wurde. Aber es war Zufall. Das wusste ich ganz sicher. Ein eisiger Windstoß ließ die Bäume schwanken und knarren. Ein Blätterregen ging auf uns nieder. Ich schauderte. Mir war plötzlich ganz kalt, ich fror bis auf die Knochen. »Jilly ist eine sehr gute Freundin von mir«, sagte ich. »Ich würde ihr nie wehtun. Unter keinen Umständen.« »Natürlich nicht«, sagte Glen. Aber er vermied noch immer den Blickkontakt. »Ich - ich muss nach Hause«, meinte ich und rannte schnell davon. »Bis dann.« »Bis dann«, rief er hinter mir her. Nach ungefähr hundert Metern blieb ich an der Kreuzung stehen. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Glen sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Er stand noch immer vor der Schule, die Hände in den Taschen, und beobachtete mich, sah durchdringend zu mir herüber. Und selbst aus der Entfernung konnte ich den unglücklichen, besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht erkennen. Am Ende lief ich doch nicht nach Hause, sondern zu Jilly. Ich wusste, dass Jillys Eltern wahrscheinlich auf dem Weg ins Krankenhaus waren. Aber ich wollte Jackie und Judy berichten, was geschehen war. Judy machte die Tür auf. Ihre Augen waren rot umlaufen. Sie sah aus, als hätte sie geweint. »Was für ein entsetzlicher Abend. Mom, Dad und Jackie sind unterwegs zum Krankenhaus«, sprudelte es aus ihr heraus. »Maggie - was ist passiert? Wird mit Jilly alles wieder gut?« »Ja«, sagte ich und trat hinter ihr ins Haus. Drinnen roch es nach geschmorten Zwiebeln. Ich hörte den Geschirrspüler in der Küche vor sich hin brummen. Judy hatte auf dem ganzen Wohnzimmerboden ihre Hausaufgaben ausgebreitet. »Jillys Knöchel war richtig dick angeschwollen. Wahrscheinlich ist er gebrochen. Doch das sollte wohl wieder in Ordnung kommen.« Judy begann, angespannt im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. »Aber was ist passiert? Ist sie ausgerutscht oder wie kam es?« Ich seufzte. Mir war noch immer kalt und ich beschloss, den Mantel anzubehalten. »Das ist schwer zu erklären. Es war total seltsam, Judy. 59
Sie hat einfach begonnen, sich zu drehen. Dabei gehörte das gar nicht zum Tanz. Sie drehte sich und ... ich nehme an, dabei hat sie irgendwie die Kontrolle verloren.« Judy schüttelte den Kopf. »Arme Jilly. Sie hat sich so hart auf das Vortanzen vorbereitet.« Ich ließ mich schwer in einen Sessel fallen. »Sie hat sich vielleicht auch ein paar Rippen gebrochen«, fügte ich hinzu. Judy fasste sich an die Seite, so, als würde sie Jillys Schmerzen spüren. »Oh Gott. Ich - ich hätte doch mit ins Krankenhaus fahren sollen. Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm ist.« Ich nickte. Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Sollte ich Judy erzählen, dass ihre Schwester mich für die ganze Sache verantwortlich machte? Dass sie mich beschuldigt hatte, ich hätte böse Kräfte gebraucht? Nein, entschied ich. Mrs. Masters hatte Recht. Jilly stand unter Schock. Sie wusste nicht, was sie sagte. Judy blieb plötzlich stehen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie durchquerte den Raum und setzte sich auf die Armlehne meines Sessels. »Kann ich dich mal was fragen?« »Ja, klar«, erwiderte ich. Judys dunkle Augen bohrten sich in meine. »Erinnerst du dich, als du heute Nachmittag hier warst und Plumper gestreichelt hast?« »Natürlich«, antwortete ich. »Wie könnte ich das vergessen? Ich war ganz durcheinander. Erst dreht der Kater durch. Und dann beschließt er plötzlich, dass er mich doch mag.« Judy schluckte und sah mich weiter unverwandt an. »Nun, hast du eine merkwürdige Lotion oder Creme oder irgendwas an deinen Händen gehabt?« Ich blinzelte. »Bitte?« »Du weißt schon, du probierst doch immer neue Kosmetika aus, richtig? Also, hattest du dir die Hände mit irgendwas eingerieben? Irgendeine Art Handcreme?« »Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte ich. Verwundert blickte ich zu Judy auf. »Wieso?« Judy runzelte die Stirn. »Ich zeig's dir«, sagte sie, rutschte von der Armlehne und verschwand aus dem Wohnzimmer. 60
Wenige Sekunden später kehrte sie mit Plumper in den Armen zurück, sie trug ihn wie ein Baby. Der große Kater lag schlaff in ihren Armen. Ich stand auf. Sofort sah ich, dass etwas nicht stimmte. Der Kater ließ sich sonst nie von Judy herumtragen. »Hast du dir die Hände mit einer neuen Seife gewaschen?«, fragte Judy. »Denk scharf nach. Oder hast du gestern im Chemielabor etwas Seltsames angefasst?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich. Worum geht's denn eigentlich?« »Guck ihn dir an«, erwiderte Judy und setzte Plumper auf den Boden. Ich keuchte erschrocken auf, als mein Blick auf den Rücken des Tiers fiel. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass der breite Streifen vor meinen Augen gelb-rosa gefleckte Haut war. Nackte Katzenhaut. Haut, wo vorher dickes, orangefarbenes Fell gewesen war. »Sieh dir das an«, sagte Judy traurig. »Das ganze Fell auf seinem Rücken - es ist alles ausgefallen, nachdem du gegangen warst, Maggie. Und zwar büschelweise. Es ist einfach so ausgefallen. Und nur dort, wo du ihn angefasst hast...«
Ich eilte heim. Abgesehen vom vorderen Flurlicht war es dunkel im Haus. Ich fand einen Zettel von Mom am Kühlschrank. Darauf stand, dass sie Notfalldienst in der Klinik hatte und über Nacht dort bleiben müsste. Am Schluss hatte sie geschrieben: »Ich hoffe, du hast wie ein wahrer Wirbelwind getanzt! Alles Liebe, deine Mom.« Nun... es hat tatsächlich einen Wirbelwind gegeben!, dachte ich bitter. Da fiel mir etwas ein: Wenn Mom Notfalldienst hatte, würde sie wahrscheinlich mitbekommen, wie Jill eingeliefert wurde. Und sie würde die ganze schreckliche Geschichte von Jilly erfahren. Wird mich Jilly vor meiner eigenen Mutter beschuldigen? 61
Mit einem müden Stöhnen warf ich die Tasche mit den Ballettschuhen auf die Küchenablage. Plötzlich bemerkte ich, dass ich noch immer Strumpfhose und Trikot trug. Ich öffnete den Kühlschrank, nahm eine Cola light heraus und stürmte hinauf in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Ich schlüpfte in ein wollenes Nachthemd und zog dicke, weiße Socken an. Dann stellte ich mich vor die Kommode, bürstete mir geistesabwesend das Haar und dachte nach... Was geht hier vor? So viele seltsame, schreckliche Dinge waren in den letzten Tagen geschehen. Seit meinem Geburtstag... seit die Wahrsagerin mir aus der Hand gelesen hatte. Glens Rasenmäher war außer Kontrolle geraten. Der arme Chirpy war gestorben. Judys Kater hatte mich angegriffen und dann sein Fell verloren. Und Jilly... in der Schule war sie die Treppe heruntergefallen... auf der Bühne war sie herumgewirbelt, als hätte sie die Kontrolle über sich verloren... und sie schob das mir in die Schuhe... sie beschuldigte mich! Was für ein hässliches Durcheinander von Bildern in meinem Kopf. War es tatsächlich möglich, dass ich diese Dinge verursachte? War es möglich, dass die Frau auf dem Rummel die Wahrheit über mich gesagt hatte? Nein ... nein ... nein... So etwas wie böse Kräfte gab es einfach nicht. Ich starrte noch immer in den Spiegel, als das Telefon klingelte. Das muss Jackie oder Judy sein, sie wollen mir erzählen, wie es Jilly geht, überlegte ich. Mein Herz begann zu klopfen. Angst stieg plötzlich in mir auf. Was, wenn es Jilly nicht gut ging? Was, wenn sie schlimmer verletzt war, als alle annahmen? Ich nahm das Telefon, hielt mir den Hörer ans Ohr und sagte angespannt: »Hallo?« »Hallo, Schätzchen?« Das war nicht die Stimme, die ich erwartet hatte. Durch das starke Rauschen in der Leitung erkannte ich die Stimme meines Vaters. »Schätzchen? Ich bin's.« 62
Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, dass er immer Schätzchen zu mir sagt oder mir andere Kosenamen gibt. Er nennt mich nie bei meinem richtigen Namen. Manchmal glaube ich, es liegt daran, dass er sich gar nicht an den erinnert! »Hi, Dad.« »Rufe ich zu spät an?« »Nein, es ist erst elf«, sagte ich mit einem Blick auf den Wecker am Bett. »Wo bist du?« »Im Auto«, rief er laut, um das Rauschen zu übertönen. »Auf der Autobahn. Die Verbindung ist leider nicht sehr gut.« Er sagte noch etwas, aber es wurde von einem lauten Summen übertönt. »Wie geht's deiner Mutter?«, fragte er, als das Summen verstummt war. »Gut«, antwortete ich, »sie ist auf der Arbeit.« »Tut mir Leid, dass ich deinen Geburtstag verpasst habe, Süße«, sagte er. Es ist ja erst der zehnte Geburtstag in Folge, den du vergessen hast!, dachte ich. Aber laut sagte ich: »Ist schon okay.« »Hast du ...« Wieder übertönte das Rauschen seine Frage. »Was hast du gesagt, Dad?«, rief ich und presste den Hörer fester ans Ohr. »Diese schreckliche Verbindung...« »Hast du mein Geschenk bekommen?«, wiederholte er. »Nein«, sagte ich. »Noch nicht.« Doch ich wusste, er hatte mir gar kein Geschenk geschickt. Das war ganz und gar unmöglich. Er hatte ja sogar vergessen anzurufen! »Dann darfst du gespannt sein«, sagte er. Seine Worte wurden von weiterem Rauschen begleitet. »Was gibt's Neues von der Schule, Schätzchen? Erzähl mir ein paar Neuigkeiten.« Ich kauerte mich auf die Bettkante. »Na ja... heute Abend war ich bei einem Vortanzen und es sieht ganz danach aus, als sei ich in die neue städtische Tanzgruppe aufgenommen worden.« Eine lange Pause folgte. »Tanzgruppe? Wirklich?«, fragte er. »Ich wusste ja gar nicht, dass du dich für Tanz interessierst.« Ja, tue ich ja auch erst mein ganzes Leben lang! »Doch, ich interessiere mich sehr dafür«, sagte ich. »Tut mir Leid, das ist so eine schlechte Verbindung, Süße. 63
Ich mache jetzt besser Schluss.« »Ich - ich freue mich, dass du angerufen hast«, rief ich über das Rauschen hinweg. Und dann ... musste ich einfach fragen. Ich weiß nicht, was über mich kam. Ich wusste, es war total verrückt. Dad würde mich nur für sonderbar halten. Aber ich musste es tun. Ich musste ihn fragen, wenn ich ihn schon mal an der Strippe hatte. Ich stand auf. »Kann ich dich was fragen und du versprichst mir, nicht zu lachen?«, rief ich. »Was? Oh, ja. Gut. Schieß los.« »Dad ... ist irgendwas sonderbar an mir? Besitze ich irgendwelche seltsamen Kräfte?« Am anderen Ende der Leitung rauschte es wieder laut. Ich drückte den Hörer fester ans Ohr. Was hatte er gesagt? Wie lautete seine Antwort? »Ich kann darüber nicht reden.« War es das, was er gesagt hatte? Das konnte doch nicht sein - oder doch? Nein, ich hatte ihn nicht richtig verstanden. »Dad? Dad?«, rief ich. »Bist du noch dran? Was hast du gesagt?« Stille. »Dad? Dad?« Stille. Die Verbindung war abgerissen. Ich starrte auf das Telefon. Ich wusste, ich hatte meinen Vater falsch verstanden. Ich wusste, ich hatte mich verhört. »Ich kann darüber nicht reden.« Nein, völlig ausgeschlossen. Was für eine Antwort sollte das sein?
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Am nächsten Morgen vor Schulbeginn traf ich Glen an seinem Spind. »Wie geht's?«, fragte ich. »Eigentlich ganz gut.« Er warf mit einem Knall die Spindtür zu. Ich rückte mir die Schultasche auf der Schulter zurecht. »Wo gehst du jetzt hin? Welches Fach hast du in der ersten Stunde?« Er warf nervöse Blicke nach beiden Seiten, als würde er nach jemand anders Ausschau halten, mit dem er reden konnte. »Musik«, sagte er. »He, ich muss los.« Er hob seinen Rucksack an den Riemen hoch und eilte davon. Glen war auf einmal so unfreundlich. Er scheint Angst vor mir zu haben, wurde mir klar. Vom anderen Ende des Flurs sah ich Deena und Marci zu mir herstarren. Sie schauten beide weg, als ich ihnen zuwinkte. Doch ich ging trotzdem zu ihnen hinüber. »He -hallo!« Mir ging noch immer im Kopf herum, wie unfreundlich Glen gewesen war. Aber ich versuchte trotzdem, fröhlich zu klingen. »Deine Weste gefällt mir«, sagte ich zu Marci. »Coole Farbe.« Marci sagte keinen Ton und warf Deena nur einen Blick zu. »Hast du schon was von Jilly gehört?«, erkundigte sich Deena. »Noch nicht«, sagte ich und starrte den Flur entlang. »Ich werde eine ihrer Schwestern fragen, wenn sie hier sind.« Die beiden nickten eisig. Dann wandten sie sich ab und gingen weg. »Das war ein schrecklicher Abend gestern«, rief ich hinter ihnen her. Marci wirbelte zu mir herum. Ihre blassen Wangen liefen rot an und ihre Augen bohrten sich in meine. »Warum hat Jilly gestern Abend diese Sachen über dich gesagt, Maggie?« Ich schluckte. »Wie bitte?« »Warum hat Jilly dir die Schuld an dem gegeben, was passiert ist? Warum hat sie gesagt, du seist böse?«
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»Ich weiß es nicht!«, rief ich mit schriller Stimme. »Ich habe keine Ahnung, warum sie das gesagt hat! Wirklich nicht! Ihr müsst mir glauben!« Sie sahen mich beide stumm an. Als wäre ich irgendein komischer Kauz oder ein seltsames Wesen von einem anderen Planeten. Ohne ein weiteres Wort drehten sie sich um und eilten davon. Schwer atmend und mit pochendem Herzen stand ich in der Mitte des Flurs. Ich fühlte mich hundeelend. Heiße Tränen liefen mir über die Wangen. Glaubten Marci und Deena, was Jilly sagte? Glaubte Glen, ich hätte Jilly etwas angetan, um selbst in die Tanzgruppe aufgenommen zu werden? Wie konnten sie nur so etwas Abwegiges und Schreckliches denken? Als ich Jackie auf dem Flur erspähte, war ich so glücklich, ein freundliches Gesicht zu sehen, dass ich ihr am liebsten um den Hals gefallen wäre. Die Tränen mit den Händen wegwischend, rannte ich auf sie zu. »Jackie - hi! Wie geht es Jilly?«, rief ich. Sie zuckte die Achseln. »Ich schätze, ganz gut«, sagte sie. »Ich meine, es hätte noch schlimmer kommen können.« »Was haben die Ärzte gesagt?«, erkundigte ich mich atemlos. Jackie seufzte. »Na ja... sie hat einen übel verstauchten Knöchel und zwei gequetschte Rippen.« »Oje. Ist sie ... ist sie wieder zu Hause?«, fragte ich. Jackie schüttelte den Kopf und das lange, schwarze Haar quoll unter ihrem violetten Daunenmantel hervor. »Noch nicht. Die Ärzte wollen sie lieber noch eine Weile im Auge behalten. Sie meinten, Jilly würde vielleicht heute Nachmittag entlassen.« Sie zog den Reißverschluss ihres Mantels auf und ging quer durch den Flur zu ihrem Spind. »Das ist alles so seltsam«, sagte sie. »Wie konnte sie bei den Drehungen derart außer Kontrolle geraten? Es ist total verrückt!« »Ich - ich würde sie gern sehen«, stammelte ich. Jackie hatte den Spind geöffnet und sich hingekniet, um einige Bücher herauszuholen. Aber jetzt wandte sie sich um und blickte angestrengt zu mir hoch. »Keine gute Idee«, meinte sie stirnrunzelnd. 66
Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. »Sie gibt dir die Schuld«, erklärte Jackie und stand auf. »Sie glaubt, du hättest sie verhext oder so etwas. Damit sie außer Kontrolle gerät.« »Das ist doch völlig verrückt!«, schrie ich. Eine Gruppe Schüler drehte sich nach mir um und starrte mich an. »Natürlich ist es das«, sagte Jackie und seufzte wieder. »Aber Jilly redet dauernd von der Wahrsagerin auf dem Rummel. Sie will nicht davon abweichen, dass die Wahrsagerin keinen Spaß gemacht hat, sondern die Wahrheit gesagt hat. Jilly meint, was ihr gestern Abend zugestoßen ist, würde das beweisen.« »Aber - aber...«, stammelte ich. »Die Ärzte haben versucht, Jilly zu erklären, was passiert ist«, fuhr Jackie fort. »Sie sagten ihr, dass sie gestern Abend wahrscheinlich von der Aufregung beim Vortanzen mitgerissen wurde. Sie wollte allen zeigen, wie toll sie tanzen kann, und hat dann schlichtweg die Kontrolle verloren.« »Ja, das erklärt die Sache«, meinte ich im Flüsterton. Mein Hals war plötzlich wie zugeschnürt und ausgetrocknet. »Aber Jilly glaubt es einfach nicht«, erzählte Jackie. »Sie behauptet, eine fremde Macht gefühlt zu haben - eine wirklich starke Macht -, die sie zwang, sich zu drehen. Sie meint, sie habe verzweifelt versucht, stehen zu bleiben. Aber sie konnte nicht. Sie konnte nicht aufhören, egal, was sie auch tat! Etwas hat sie gezwungen, sich zu drehen!« Ich packte Jackie an der Schulter. »Das glaubst du doch nicht, oder?« Jackie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, murmelte sie. Sie sah mich traurig an. »Vermutlich sollte ich es dir besser erzählen. Da ist noch mehr.« »Was? Noch mehr?« Ich hielt den Atem an. »Judy ist nicht in der Schule«, sagte Jackie sanft. »Sie und Mom mussten Plumper heute Morgen in die Tierklinik bringen.« »O nein«, hauchte ich. »Der Kater hat sein Fell verloren, auf dem Rücken. Da, wo du ihn laut Judy gestreichelt hast. Und jetzt bekommt er am ganzen Rücken große, rote und violette wunde Stellen.« 67
»Nein...«, wiederholte ich. Ich packte Jackie am Arm. »Du denkst doch nicht, dass ich auch daran schuld bin - oder? Ich meine, Judy gibt mir nicht die Schuld. Das kann sie nicht! Das kann sie einfach nicht tun!« Jackie wollte etwas entgegnen, aber die Schulklingel ertönte. Sie hing direkt über unseren Köpfen und das schauerliche, elektronische Surren ließ mich vor Schreck hochspringen. Jackie schloss den Spind und ließ das Schloss einschnappen. »Ich muss los«, sagte sie. »Das tut mir alles sehr Leid, Maggie. Aber...« »Kann ich nach der Schule bei dir vorbeikommen?«, fragte ich verzweifelt. »Wir beide könnten doch zusammen lernen. Oder uns einfach nur unterhalten. Oder...« »Das ist im Moment keine gute Idee«, erwiderte sie. »Vielleicht sollte ich stattdessen besser zu dir kommen.« Und so gingen Jackie und ich nach der Schule zu mir. Wir redeten über den Unterricht. Und über die Lehrer. Und über einen Film, den Jackie gesehen hatte. Und über die Jungs in unserer Klasse. Wir sprachen über alles Mögliche - außer über Judy und Jilly. Ich glaube, wir beide wollten so tun, als wäre nichts von den schlimmen, Furcht einflößenden Sachen der letzten Woche geschehen. In der Küche schnappte ich mir eine Tüte Salzbrezeln, ein paar Äpfel und zwei Dosen Sprite. Dann gingen Jackie und ich hoch in mein Zimmer. »Ich muss mir mal deine Politikmitschrift ansehen«, sagte ich zu Jackie. »Ich weiß, wir sollen alles aufschreiben, was Mr. McCally sagt. Aber ich kann ihm einfach nicht zuhören. Ich schlafe bei ihm immer sofort ein.« »Ich glaube, ich habe die Aufzeichnungen dabei«, sagte Jackie. »Aber - zuerst zu den wichtigen Dingen.« Ihre Augen leuchteten auf, als sie durch den Raum zu meiner Kommode ging und sich daran machte, die Kosmetiksammlung zu durchforsten. »Du bist so ein Glückspilz, Maggie«, meinte sie. »Meine Mutter würde uns nie erlauben, so was zu kaufen.« Ich riss die Tüte mit den Brezeln auf und nahm mir eine Hand voll. 68
»Die neuen Sachen sind in der obersten Schublade«, erzählte ich ihr. »Jaaa!«, schrie Jackie glücklich. Sie zog die oberste Kommodenschublade heraus und begann, darin herumzuwühlen. Und dann sah ich, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Ihr Lächeln verschwand und die Augen traten ihr hervor. Mit beiden Händen hielt sie sich an den Seiten der Schublade fest. Dann öffnete sie den Mund zu einem entsetzten Schrei. »Jackie ...! Was ist denn? Was ist los?«, kreischte ich.
Jackie stieß einen weiteren spitzen Schrei aus. Ihr Gesicht verzerrte sich - vor Schreck und Schock - und sie langte in die Schublade der Kommode. »Jackie?«, rief ich. Ich hörte ein leises Klirren. Sie nahm etwas aus der Kommode und fuhr herum, um es mir zu zeigen. Mit zornig verzerrtem Gesicht hielt sie es mir entgegen und fuchtelte damit herum. Die Perlenkette! »Du hast sie doch genommen!«, kreischte Jackie. »Du bist eine Lügnerin, Maggie! Du bist böse!« Ich starrte auf die schimmernden Perlen, die in ihrer erhobenen Hand glitzerten und zitterten. Übelkeit stieg in mir auf. Mir war elend. Hundeelend. »Jackie, hör mir zu!«, schrie ich. »Ich weiß nicht, wie die Kette dahin gekommen ist. Du musst mir zuhören!« Ich machte einen Hechtsprung durchs Zimmer. Aber Jackie wich mir seitlich aus und rannte wütend weg von mir. Die Kette fest in der einen Hand, hob sie die andere und deutete auf mich. »Böse«, murmelte sie. »Böse.« Meine Hände brannten wieder. Und meine Arme kribbelten. Entsetzt starrte ich auf Jackies Zeigefinger, der in der Luft zuckte und anklagend auf mich deutete. 69
Und während ich noch hinsah, bog sich Jackies Finger plötzlich nach oben. Nach oben - und dann nach hinten. »He...!« Jackie stieß einen überraschten Schrei aus, als sich der Finger zurückbog... weiter ... und immer weiter zurück... »Lass das, Maggie!«, bat sie. »Das tut weh! Hör auf!« Der Finger bog sich zurück... immer weiter zurück... Und dann war ein Übelkeit erregendes Knacken zu hören, das Knacken eines Knochens. Mit vortretenden Augen und weit geöffnetem Mund stieß Jacky einen Schrei nach dem anderen aus. Ich schrie ebenfalls und drückte meine brennenden Hände seitlich ans Gesicht. Das Knacken ihres Fingers hallte mir in den Ohren wider, immer und immer wieder. Und dann, die Hand in die Höhe gestreckt, taumelte Jackie auf den Flur hinaus. Sie stürzte die Treppe hinunter und nahm immer zwei Stufen auf einmal. »Bitte! Hör mir zu!«, flehte ich. Aber sie riss die Haustür auf und sprang, ohne sich noch einmal umzusehen, die Eingangsstufen hinunter und rannte volles Tempo über unsere Kieseinfahrt zur Straße. Steinchen spritzten unter ihren Schritten auf. »Jackie, bleib stehen!«, rief ich. Sie kreischte auf, als sie stürzte. Sie rutschte auf den Kieselsteinen aus und fiel mit dem Gesicht nach unten der Länge nach hin. Unsanft landete sie auf Knien und Ellbogen. Ihr Rucksack wurde weggeschleudert. »Jackie ...!« Ich lief zu ihr. Aber sie war schon wieder auf den Beinen. Das Haar flog ihr wild um das flammend rote Gesicht. »Jackie, komm zurück!«, bettelte ich. Doch sie hob mit der gesunden Hand den Schulranzen auf und wandte sich dann, vor Wut zitternd, an mich. »Lass uns in Ruhe, Maggie!«, kreischte sie. »Lass meine Familie in Ruhe! Du hast uns schon genug angetan! Lass uns gefälligst in Frieden!« Ich sank zu Boden und schlug die- Hände vors Gesicht, am ganzen Körper zitternd. 70
Ich holte tief Luft und bemühte mich, das heftige Zittern zu unterdrücken. Als ich die Hände vom Gesicht nahm, war Jackie verschwunden. Einen Augenblick lang dachte ich, das Ganze sei vielleicht nur ein schlimmer Traum gewesen. Irgendein furchtbarer Albtraum. Gleich werde ich im Bett aufwachen, ging es mir durch den Kopf, und nichts von alledem wird geschehen sein. Aber nein. Hier hockte ich auf den Eingangsstufen. Die Haustür hinter mir stand sperrangelweit offen. Und ich war wach. Hellwach. Ich rappelte mich auf und schleppte mich in mein Zimmer. Die oberste Kommodenschublade stand offen. Mit einem zornigen Schrei stieß ich sie zu. Dann warf ich mich aufs Bett und verbarg den Kopf im Kissen. Wie ist die Kette in die Kommode gekommen?, fragte ich mich. Wie? Und wie konnte sich Jackies Finger so weit nach hinten biegen? Warum passieren all diese Dinge? Jilly kam am Freitag wieder in die Schule. Sie ging auf Krücken, ihr Fuß war eingegipst. Mit mir redete sie kein Wort. Auch Jackie sprach nicht mehr mit mir. Sie und Jilly kehrten mir den Rücken zu, wann immer ich in ihre Nähe kam. Ich war so bestürzt, dass ich kaum sprechen konnte. »Lass ihnen Zeit«, riet Judy mir. »Sie sind im Moment völlig aufgebracht. Aber sie kommen wieder zur Vernunft, Maggie. Irgendwann werden sie schon einsehen, dass es keine bösen Kräfte gibt.« Sie drückte meinen Arm. »Ich bin noch immer deine Freundin. Und ich weiß, dass du nie etwas tun würdest, was uns schadet.« Das heiterte mich etwas auf. Aber die Kunde von meinen so genannten bösen Kräften verbreitete sich an der Schule wie ein Lauffeuer. Mittags in der Schulkantine starrten mich viele Schüler an. Ich kam an einem Tisch lachender Mädchen vorbei, die sofort verstummten. Mit dem Tablett in den Händen suchte ich nach einem leeren Platz. Im ganzen Raum wurde es still, unnatürlich still. Alle glotzten mich 71
an und hofften, ich würde mich nicht neben sie setzen. Ich versuchte, mit ein paar Jungs zu quatschen, mit denen ich immer herumgealbert hatte. Aber sie taten so, als wäre ich Luft, und beugten sich über den Tisch, um miteinander zu reden. Sie schließen mich alle aus, wurde mir entsetzt bewusst. Sie haben Angst vor mir, sie glauben den Gerüchten, dass ich merkwürdig bin, dass ich irgendwelche Kräfte besitze, dass ich böse bin. Über Nacht war ich zur Außenseiterin geworden. Zur Ausgestoßenen, die nicht dazugehörte. Ich setzte mich allein in eine Ecke und stellte das Essenstablett ab. Ständig warfen mir andere Kinder verstohlene Blicke zu und schauten dann schnell wieder weg. In der Nähe des Eingangs sah ich die drei J's an einem Tisch mit ein paar Jungen. Jillys Krücken lehnten an der Seite des Tisches. Sie saß am Rand, damit sie ihr eingegipstes Bein ausstrecken konnte. Jackie sagte etwas und alle am Tisch lachten. Dann begannen Jackie und Judy scherzhaft über irgendwas zu streiten. Wieder erklang Gelächter. Keiner von ihnen sah zu mir her. Ich bekam keinen Bissen herunter. Mein Magen fühlte sich an wie ein harter, fester Klumpen, wie ein Stein. Es kostete mich alle Kraft, nicht zusammenzubrechen und mir die Augen auszuweinen. Ich kann hier nicht den Rest des Schuljahres allein herumsitzen, sagte ich mir. Ich kann nicht zulassen, dass alle in der Schule denken, ich sei eine Art böse Irre. Ich weiß, dass ich nicht böse bin. Ich weiß, dass ich keine seltsamen Kräfte besitze. Oder überhaupt irgendwelche Kräfte. Aber das muss ich meinen Freundinnen beweisen. Ich muss ihnen beweisen, dass ich ich bin, genau dieselbe normale Maggie, die sie seit Ewigkeiten kennen. Aber wie? Wie kann ich ihnen das beweisen? Ich blickte angestrengt zu den drei Schwestern, die lachten und ihr Mittagessen genossen. Ich sah sie unverwandt an und dachte nach... grübelte... Und plötzlich hatte ich eine Idee.
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Ich ließ mein Essen an Ort und Stelle stehen, holte tief Luft und lief, die Arme fest vor der Brust verschränkt, zum Tisch der drei Schwestern. »Ich möchte mit euch sprechen«, sagte ich. Meine Stimme klang streng und angespannt, beinahe wie ein Knurren. Jackie schluckte einen Bissen ihres Sandwiches runter, dann schaute sie hinab auf den Gips um ihre Hand. »Maggie, bitte geh weg«, sagte sie leise. »Nein«, beharrte ich. »Ich will euch etwas zeigen.« Jilly starrte auf ihren Fuß, Jackie blickte mich mit finsterer Miene an. »Ich habe dich freundlich gebeten zu gehen«, wiederholte Jackie. »Bitte belästige uns nicht.« »Ich - ich werde euch beweisen, dass ihr mir Unrecht tut«, sagte ich und schlang die Arme fest um den Oberkörper, um mein Zittern zu unterdrücken. »Wir sind seit langem befreundet. Diese Chance seid ihr mir schuldig. Gebt mir nur zwei Minuten, damit ich euch zeigen kann, dass ihr euch irrt.« Jackie fixierte mich noch immer finster und lief rot an, aber ich hielt ihrem Blick stand, bis sie schließlich wegguckte. »Zwei Minuten?«, fragte sie schließlich. Ich nickte. »Ja, zwei Minuten. Ich werde euch allen beweisen, dass ich keinerlei Kräfte habe. Diese Wahrsagerin ist verrückt. Ich bin völlig normal und ich werde den Beweis liefern, dass ich keine Hexe bin.« »Gebt ihr eine Chance«, sagte Judy. »Kommt schon, nur eine Chance.« »Kann ich mich setzen?«, fragte ich. Jackie nickte. »Nur zu. Zwei Minuten. Wir geben dir zwei Minuten. Wirst du dann versprechen, mir und meiner Schwester keine schrecklichen Dinge mehr anzutun?« Ich zog den Stuhl zu mir und ließ mich darauf gleiten. »Ich habe euch nichts angetan«, sagte ich. 73
»Wie willst du das beweisen?«, wollte Judy wissen. Ich drehte mich zur Warteschlange an der Essensausgabe um und sah, wie Marci ihr Essenstablett nahm und damit zur Kasse ging. »Seht ihr Marci da drüben?«, fragte ich und zeigte auf das Mädchen. Die drei Schwestern wandten die Köpfe. »Ich werde mich so sehr ich kann auf Marci konzentrieren«, erklärte ich. »Dabei werde ich versuchen, sie stolpern zu lassen, sodass ihr das Tablett aus den Händen fällt. Ich werde all meine Kräfte darauf konzentrieren. Und ihr werdet sehen: Es wird nichts passieren.« Jilly lachte spöttisch. »Das ist total bescheuert!« Jackie schüttelte den Kopf. »Für wie blöd hältst du uns eigentlich, Maggie? Es ist doch sonnenklar, was du vorhast. Du wirst nur so tun, als würdest du dich konzentrieren. Du kannst Marci stolpern lassen, wenn du willst - aber du wirst es nicht tun. Du wirst vor uns eine Show abziehen und die ganze Sache nur vortäuschen.« »Jeder kann behaupten, dass er sich konzentriert, auch wenn er es tatsächlich nicht tut«, fügte Jilly hinzu. »Was du uns vorführen willst, beweist überhaupt nichts.« »Aber ich gebe euch mein Versprechen!«, sagte ich und legte die Hand aufs Herz. »Ich schwöre! Ich schwöre, ich konzentriere mich so sehr ich kann darauf, Marci stolpern zu lassen. Glaubt mir. Bitte - glaubt mir doch. Da vorne läuft Marci. Guckt her. Sie wird nicht stolpern. Sie wird nicht hinfallen - weil ich nämlich gar keine Kräfte habe!« Das Tablett in beiden Händen balancierend, marschierte Marci von der Kasse weg und blickte sich im überfüllten Raum nach einer Freundin um, zu der sie sich setzen konnte. Ich kniff die Augen zusammen und sah sie an. Konzentrierte mich... sammelte meine ganze Energie. Und meine Hände begannen zu brennen. Ich fühlte ein Kribbeln in den Armen. Und die Hände... meine Hände fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Es passierte wieder, wurde mir klar. Ist das eine Art Kraft? Irgendeine Kraft, die durch mich fließt - eine Kraft, die so stark ist, dass es brennt? 74
Meine Hände glühten, als würde ich sie auf eine Herdplatte halten. Der Schmerz schoss mir pochend durch die Arme. Ich wandte mich von Marci ab. Guck sie nicht an, dachte ich. Wenn du sie nicht anschaust, wird auch nichts Schlimmes geschehen. Ich schnappte mir eine kalte Dose Cola vom Tisch und schlang die brennenden Hände fest um sie, um mich abzukühlen. Aber die Hände wurden immer heißer. Angestrengt fixierte ich die Dose und richtete alle Gedanken darauf, meine Hände abkühlen zu lassen. Ich starrte auf die Dose, um nicht Marci anzuschauen. Doch meine Augen gehorchten mir nicht und hefteten sich auf das Mädchen. Nein! Nein!, dachte ich. Guck sie nicht an! Ich versuchte mich abzuwenden, konnte es aber nicht. Ich wollte die Augen schließen, aber auch das ging nicht. Marci machte drei Schritte auf die Tische zu - und stolperte über ihre eigenen Füße. Sie stieß einen erstaunten Schrei aus, während gleichzeitig ihr Tablett durch die Luft segelte. Marci fiel hin und landete unsanft auf dem Bauch. Das Tablett schlug neben ihr auf, die Teller hüpften, das Essen schwappte über, der Apfelsaft kippte um und floss über den Boden. Ich schrie entsetzt auf. Als ich mich umwandte, sah ich, wie Jilly und Jackie mich zornig anfunkelten, die Gesichter verzerrt vor Angst und Schock. Bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich einen weiteren lauten Schrei aus dem hinteren Bereich des Speisesaals. Ich sah gerade noch, wie ein Junge den Raum mit einem Tablett durchquerte. Seine Hände flogen in die Höhe und er stürzte hin. Das Tablett prallte gegen eine Tischkante und landete krachend auf dem Boden. Vereinzelt lachten ein paar Schüler und johlten, aber ansonsten herrschte jetzt Totenstille im Speisesaal. Bin ich das?, fragte ich mich und starrte auf meine brennenden, heißen Hände. Wenn ja, muss ich unbedingt damit aufhören. Ich muss mich darauf konzentrieren, diesen furchtbaren Dingen ein Ende zu setzen. Aufhören!, befahl ich mir in Gedanken. Hör auf! Ich konzentrierte mich und wiederholte die Worte immer und immer wieder. Hör auf! 75
Hör auf! Vor der Kasse stolperte jetzt Cindy, ein Mädchen aus meiner Klasse. Sie stürzte und das Essenstablett rutschte ihr aus den Händen, flog hoch und rauschte dann auf Cindy herunter. Zwei Mädchen fielen von ihren Stühlen. Die Stühle kippten auf sie drauf. Wieder erklang vereinzeltes Gelächter. Doch ich hörte auch erschrockenes Aufkeuchen und ein paar Kinder schrien. Aufhören!, dachte ich und konzentrierte mich mit aller Kraft. Hör damit auf - jetzt sofort! Ich ließ die Coladose fallen und hielt mir die Ohren zu, als ein weiteres Tablett auf den Boden schlug. Ein Mädchen in der Schlange vor der Essensausgabe fiel in einen Teller Spagetti. Ein lautes Stöhnen war zu hören. Ein Junge sprang vom Stuhl auf, beugte sich über den Tisch, stieß ein weiteres heiseres Stöhnen aus, öffnete den Mund und erbrach sein Mittagessen. Überall ringsum ertönten jetzt Schreie und Gekreische. Ich drehte mich um und hörte Jilly brüllen: »Maggie, hör auf damit! Hör auf!« »Bitte hör auf!« Jackie kreischte ebenfalls. Tabletts schepperten, Essen spritzte über die Tische und den Boden. Ein Mädchen fuchtelte wild mit den Händen über dem Kopf, dann sprang sie auf und begann, sich ebenfalls stöhnend und keuchend zu übergeben. Zwei weitere Schüler erbrachen sich. Noch ein Tablett schlitterte über den Boden. Große Teller mit Essen rutschten von der Theke, erhoben sich in die Luft, donnerten gegen die Wand und verspritzten das Essen über den ganzen Speisesaal. Ich sah ein Mädchen, das von oben bis unten mit Tomatensoße bekleckert war. Überall fielen Kinder hin oder rannten schreiend zur Tür. Ein Junge beugte sich über unseren Tisch. Seine Augen rollten in den Höhlen und er erbrach sein Mittagessen in Jillys Schoß. »Neeeeiiin«, stöhnte ich. »Das darf nicht wahr sein. Es ist ...« »Das war Maggie!«, rief Jackie anklagend. Sie sprang auf den Tisch, legte die Hände wie einen Trichter um den Mund und schrie aus Leibeskräften: »Maggie hat das getan! Das 76
war Maggie!« Viele Kinder flohen zum Ausgang, andere drehten sich um und starrten mich an. »Sie ist böse!«, schrie Jackie, auf dem Tisch stehend und wie rasend nach unten auf mich deutend. »Maggie ist böse! Das hat Maggie getan!«
Ich hielt mir die Ohren zu, um das Gekreische und Gestöhne und die Entsetzensschreie nicht hören zu müssen. Dann rannte ich los, rannte hinaus aus dem Speisesaal und stürmte durch den menschenleeren Flur. »Maggie! Bleib stehen!«, rief da eine Stimme hinter mir. Ich wirbelte herum. »Glen...!«, stieß ich hervor. Er blickte mir fest in die Augen. »Lass uns von hier verschwinden«, sagte er sanft. »Ein paar Kinder und Lehrer kommen hinter dir her.« Ich keuchte auf. »Du - du hilfst mir?« Ohne eine Antwort stieß er die Tür auf und führte mich nach draußen ... »Los, lauf«, wisperte er. Hinter uns hörte ich schnelle Schritte im Flur. Aber ich schaute nicht zurück, um zu sehen, wer da kam. Mit gesenktem Kopf lief ich los und folgte Glen über den Schulhof. Es war ein grauer, windiger Nachmittag. Schwere, tief hängende Wolken verdunkelten den Himmel. Fast hatte man den Eindruck, es wäre bereits Nacht. Das Laub am Boden raschelte unter unseren Schritten. Hinter uns hörte ich Rufe aus der Schule. Glen und ich überquerten die Straße und jagten weiter. Wir blieben erst stehen, als wir zwei Straßen weit gelaufen waren und das Schulgebäude außer Sichtweite war. Ich ließ mich ins Gras eines Vorgartens fallen, schnappte nach Luft und wartete, dass das Seitenstechen nachließ. Glen setzte sich neben mich. Sein Gesicht war knallrot angelaufen. Das Haar stand ihm so wild vom Kopf ab, als wäre er mitten in einen 77
Orkan geraten! »Ich war im Speisesaal«, sagte er und schluckte. »Was passiert ist... war so seltsam.« Ich nickte, noch immer nach Atem ringend. »Die Schüler erzählten, du wärst schuld«, fuhr Glen fort und suchte meinen Blick. »Sie meinten, du würdest böse Kräfte oder so etwas besitzen.« Ich lachte bitter. »Glaubst du ihnen? Hast du keine Angst vor mir?« Er schluckte wieder und strich sich mit der Hand das Haar zurück. »Doch, ich denke schon. Ein bisschen.« Er schaute nach unten. »Aber ich merke, dass du Hilfe brauchst. Und da...« Ich drückte ihm die Hand. »Danke, dass du zu mir hältst«, flüsterte ich. Mit verlegener Miene zog er schnell seine Hand weg. »Was war denn da nun los, Maggie?« Ich schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich - ich weiß es nicht genau. Ich habe keine Ahnung, ob ich dafür verantwortlich bin oder nicht. Eigentlich wollte ich Jilly und Jackie zeigen, dass sie mir Unrecht tun. Aber dann...« Mir blieb die Stimme weg. Meine Gedanken machten Flickflacks. Mir war schwindelig und ich war furchtbar durcheinander. Glen musterte mich noch immer eingehend. »Besitzt du denn wirklich Kräfte?« »Ich - ich weiß es nicht!«, schrie ich, obwohl ich gar nicht schreien wollte. Es platzte einfach aus mir heraus. Ich sprang auf die Füße. »Ich weiß es nicht! Hör auf, mir solche Fragen zu stellen!« Mein Kopf fühlte sich an, als würde er gleich zerplatzen. Mit einer raschen Drehung wandte ich mich von Glen ab und lief davon. Mir entging nicht der erschrockene Ausdruck auf seinem Gesicht, aber es kümmerte mich nicht. Ich konnte ihm nicht erklären, was gerade im Speisesaal geschehen war. Ich konnte es mir ja selbst nicht erklären! Ich musste von ihm weg. Ich musste irgendwohin und in Ruhe nachdenken. In die Schule konnte ich nicht zurück. Zumindest nicht, bis sich alles wieder beruhigt hatte. Nach Hause konnte ich ebenfalls nicht. Da war wahrscheinlich Mom - und wie konnte ich ihr erklären, was ich 78
mitten am Schultag zu Hause suchte? Also lief ich weiter - lief benommen vor mich hin. Ignorierte das Seitenstechen vom schnellen Rennen. Ignorierte die Schreckensbilder vom Speiseraum, die mir immer und immer wieder durch den Kopf gingen. Das laute Aufjaulen einer Autohupe riss mich aus der Benommenheit. Ich hörte Bremsen quietschen und sah einen roten Wagen ausweichen - und mir wurde klar, dass ich anscheinend blindlings auf die Straße gelaufen war. »Bist du verrückt?« Der junge Mann auf dem Fahrersitz reckte mir drohend die Faust aus dem Fenster entgegen. »Willst du dich umbringen?« »Tut mir Leid«, rief ich, als er davonbrauste. Ich schloss die Augen. Das war knapp, dachte ich. Seltsamerweise hatte dieser Beinaheunfall eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich hatte aufgehört zu zittern. Das Herz klopfte mir nicht länger gegen den Brustkorb. Wo bin ich?, wunderte ich mich. Die schweren Wolken schienen sich auf mich hinabzusenken. In das dunkler werdende Licht blinzelnd, erkannte ich, dass ich nur eine Straße vom Cedar-Bay-Einkaufszentrum entfernt war. Mitten am Nachmittag wäre das Einkaufszentrum ein sicherer Ort, sich hinzusetzen und nachzudenken, sagte ich mir. Alle, die ich kannte, waren in der Schule. Ich brauchte mir also keine Sorgen machen, dort irgendjemandem zu begegnen. Ich werde mir ein ruhiges Plätzchen suchen, wo ich mich hinsetzen kann, und versuchen, das alles zu begreifen, entschied ich. Ich werde mir überlegen, wie ich mit Mom über das reden kann, was passiert ist, und ich werde sie zwingen, mir die Wahrheit über mich zu erzählen. Denn bisher, so viel war mir klar, hat sie mich angelogen. Ich kann mir nichts mehr vormachen. Ich muss mir eingestehen, doch über Kräfte zu verfügen. Die ganze Zeit habe ich es nicht wahrhaben wollen und es mit aller Macht geleugnet. Doch die Szene im Speisesaal hatte mich eines Besseren belehrt. Ich hatte diese Kinder zum Stolpern gebracht und die Tabletts zum 79
Fliegen. Ich steckte dahinter, dass diesen Kindern übel geworden war. Meine bösen Gedanken hatten all das verursacht. Ich konnte es nicht länger leugnen. Was soll ich tun?, fragte ich mich und fühlte, wie wieder Panik in mir aufstieg. Ich hatte keine Gewalt über das gehabt, was geschehen war. Ich hatte es zu stoppen versucht - aber es entzog sich jeglicher Kontrolle. Wie soll ich ein normales Leben führen? Wie soll ich jemals wieder Freunde finden? Ich wartete, bis kein Auto kam, dann überquerte ich die Straße und ging über den Parkplatz zum Eingang des Einkaufszentrums. Drinnen blickte ich prüfend den langen Gang hinunter. Das Einkaufszentrum war praktisch leer. Eine Mutter schob ihr schlummerndes Baby in einem Kinderwagen an mir vorbei. Ein älteres Ehepaar, beide auf hellblaue Spazierstöcke gestützt, spähten in das Schaufenster eines Schuhgeschäfts. Ich kam an einem H&M vorbei, einem Benetton, einem CD-Laden und einer Buchhandlung. Irgendwie wirkten die ineinander verschwimmenden, hellen Lichter und Farben und die fröhliche, blecherne Musik aus den Lautsprechern beruhigend auf mich. Das normale Leben. Alles war so sauber und hell... und normal. Im Geiste sah ich plötzlich Glen vor mir, wie er mich erschrocken angeschaut hatte, als ich loslief und von ihm wegrannte. Ich werde mich später bei ihm entschuldigen, entschied ich. Das war nicht nett von mir gewesen. Er hatte nur versucht, mir zu helfen. Er war der Einzige, der mir helfen wollte. Ich fuhr mit der Rolltreppe eine Etage tiefer. Mein Magen knurrte und mir fiel ein, dass ich ja gar nichts zu Mittag gegessen hatte. Ich werde mir an einer der Imbisstheken eine Kleinigkeit zu essen kaufen, überlegte ich. Dann suche ich mir ein Plätzchen in einer Ecke, wo ich in Ruhe sitzen und nachdenken kann. Ich fuhr ins Untergeschoss, bog in den Gang, der zu den Imbissständen führte - und blieb abrupt stehen. »Oh.« Ich blickte forschend auf die Frau in dem bunt geblümten Kleid, die mir entgegenkam. Ich erkannte sie sofort - und zu meinem Erschrecken erkannte sie mich auch. 80
Miss Elizabeth. Die Wahrsagerin. Ihre dunklen Augen traten hervor und ihr rutschten die Einkaufstaschen aus der Hand. Rasch hob sie die Taschen auf, drehte sich um und stürzte davon. Das lange, schwarze Haar wehte wippend hinter ihr her. »Nein, warten Sie! Bitte!«, rief ich und rannte ihr nach. »Bitte - so warten Sie doch!«
Miss Elizabeth fiel wieder eine Einkaufstasche zu Boden. Als sie stehen blieb, um sich danach zu bücken, holte ich sie ein. »Bitte...«, sagte ich. »Ich erinnere mich an dich«, sagte die Wahrsagerin und ihre Augen musterten mich kalt. Ich stellte mich vor die Frau, damit sie nicht wegrennen konnte. »Sagen Sie mir die Wahrheit«, bat ich. »An diesem Abend... auf dem Rummel...« »Ich habe das Böse gespürt«, antwortete sie. »Ich habe es gesehen.« »Aber wie kann das sein?«, fragte ich. »Mein ganzes Leben lang bin ich...« »Ich spüre es auch jetzt«, unterbrach mich Miss Elizabeth. »Das Böse, das du trägst. Es ist sehr stark.« »Ich - ich verstehe das nicht!«, rief ich. »Ich war früher nie böse. Bis zu meinem Geburtstag besaß ich nie irgendwelche Kräfte!« Die Frau starrte mich kühl an. Ich sah die Angst in ihren Augen. Ihre Unterlippe zitterte. »Lass mich jetzt gehen«, sagte sie. »Nein, warten Sie. Bitte.« Ich versperrte ihr den Weg und hob die Hand. »Sehen Sie sich meine Hand noch mal an. Werfen Sie nur einen Blick darauf. Vielleicht... vielleicht haben Sie sich ja geirrt.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich muss gehen.« Sie hob die Taschen auf. »Ich war lange einkaufen. Meine Familie wartet auf mich.« Ich hielt ihr meine Hand unter die Nase. »Es dauert nur eine Sekunde«, entgegnete ich. »Bitte - schauen Sie sich meine Hand an. 81
Sie haben sich das erste Mal geirrt. Das weiß ich.« Miss Elizabeth seufzte und setzte die Taschen wieder ab. Sie langte nach meiner Hand, drehte sie, hob die Handfläche an ihr Gesicht und blinzelte ein oder zwei Sekunden darauf. Dann öffnete sie den Mund zu einem schrillen Schrei – und schleuderte meine Hand weg, als wäre sie brennend heiß! »Das Böse!«, rief sie. »Es ist da auf deiner Hand! Ich habe mich nicht geirrt. Es kam mit deinem Geburtstag! Die Dreizehn ist eine mächtige Zahl!« Sie machte einen Schritt zurück, die Augen weit aufgerissen und ängstlich auf mich gerichtet. »Warten Sie«, bat ich. »Sind Sie sich auch ganz sicher...?« Ich streckte ihr wieder die Hand entgegen. »Bitte - tu mir nichts!«, flehte die Frau. »Tu mir nichts! Ich habe eine Familie, die auf mich wartet.« »Ich... ich werde Ihnen nichts tun«, flüsterte ich. »Entschuldigen Sie bitte.« Ich ließ die Hand - meine böse Hand - sinken und wandte mich von der armen, zitternden Frau ab. Sie packte ihre Taschen und hastete davon. Ich sah ihr nach, als sie die Rolltreppe hochfuhr. Sie starrte mich an, die Taschen an die Brust gepresst, als wären sie ein Schutzschild gegen meine böse Magie. Zu Hause schloss ich mich in meinem Zimmer ein und kam nicht einmal zum Abendessen heraus. Mom klopfte immer wieder an die Tür und fragte mich, was los sei. »Bist du krank? Ich bin Krankenschwester. Lass mich einen Blick auf dich werfen.« »Nein. Ich möchte nur allein sein«, rief ich nach draußen. Ich war erleichtert, als sie zur Nachtschicht ins Krankenhaus aufbrach. Ich setzte mich an den Schreibtisch und griff nach dem Telefon. Viele Stunden hatte ich angestrengt nachgedacht. Zuerst waren meine Gedanken voller Ärger gewesen. Ärger und Verzweiflung. Mein Leben ist vorbei, hatte ich gedacht. Ich bin verdammt verdammt zu einem entsetzlichen, einsamen Leben. Einem Leben ohne Freunde. Einem Leben, wo mich alle hassen und Angst vor mir haben. 82
Doch dann hatte ich begonnen, über meine Kräfte nachzudenken. Ich besaß Kräfte, wie ich nun wusste. Das stand zweifelsfrei fest. Aber mussten sie wirklich böse sein? Ich dachte an diese alten Fernsehserien, die nachts über den Äther flimmerten. Die eine mit dem dienstbaren Geist, der mit einem Puff auftaucht und wieder verschwindet und gute Magie betreibt. Und die andere Show - Verhext - mit der süßen, blonden Hexe. Diese zwei Figuren finden alle lustig, sagte ich mir. Keiner hasst sie. Alle finden die beiden großartig! Mir war klar, das waren nur Sitcoms, ohne jeden Realitätsbezug. Aber sie lenkten meine Gedanken plötzlich in eine ganz neue Richtung. Sie gaben mir ein klein wenig Hoffnung. Also setzte ich mich an den Tisch und rief Jackie an. Zuerst wollte sie nicht mit mir reden. »Hast du nicht schon für genug Ärger gesorgt?«, fragte sie wütend. »Was willst du noch, Maggie?« »Ich will meine Freundinnen wiederhaben«, erwiderte ich. »Du und deine Schwestern, ihr sollt mich nicht hassen. Und ich will nicht, dass alle in der Schule mich wie ein absonderliches Wesen anstarren und sich vor mir verstecken und denken, ich sei böse.« »Aber - aber du bist böse!«, ereiferte sich Jackie. »Du hast es doch bewiesen - im Speisesaal. Sogar Judy musste es einsehen.« »Nein!«, widersprach ich. »Hör mir zu, Jackie. Bitte leg nicht auf. Gib mir eine Chance.« »Ich muss lernen«, gab sie zurück. »Ich hab keine Zeit zu telefonieren. Gleich morgen früh schreibe ich diesen Algebratest und du weißt, das ist mein schlechtestes Fach.« »Ich schreibe den Test auch«, sagte ich. »Hör zu, ich habe nachgedacht...« »Ich muss Schluss machen, Maggie. Ehrlich...« »Vielleicht besitze ich ja wirklich Kräfte«, fuhr ich fort. »Na schön, also ja. Ja - ich habe Kräfte. Ich weiß nicht, woher. Und ich weiß nicht, warum. Aber ich scheine wirklich über Kräfte zu verfügen.« »Maggie, du hast meiner Familie bereits so großen Schaden zugefügt!«, erklärte Jackie. »Nun - was ist, wenn ich meine Kräfte für etwas Gutes einsetze?«, 83
fragte ich. »Wenn ich böse Dinge bewirken kann, dann kann ich auch Gutes tun, richtig?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Jackie ungeduldig. »Die ganze Sache ist zu unheimlich, zu widerwärtig. Alle haben jetzt Angst vor dir, Maggie, und - und ich auch.« »Aber was ist, wenn ich morgen etwas Gutes tue? Was, wenn ich meine Kräfte dazu benutze, dir in Algebra zu einer Eins zu verhelfen?« Jackie stieß einen überraschten Schrei aus. »Wie bitte?« »Ich werde dir morgen zu einer Eins verhelfen«, wiederholte ich. »Ich werde meine ganzen Kräfte darauf konzentrieren. Das verspreche ich dir. Ich werde alle ...« »Kräfte konzentrieren? So wie im Speisesaal?«, fiel sie mir ins Wort. »Ich werde alle meine Kräfte konzentrieren und dir beim Test eine Eins beschaffen«, sagte ich. »Na ja...« »Ich möchte, dass du meine Freundin bleibst«, erklärte ich ihr. »Ich werde es für dich tun. Wirklich. Du wirst schon sehen. Und wenn es klappt, musst du versprechen, mich nicht mehr zu hassen.« Wieder zögerte sie. »Na ja ... wir werden sehen, Maggie. Bis morgen.« Und damit legte sie auf. Ich saß am Tisch, das Telefon in der Hand, und starrte aus dem Fenster in den schwarzen Nachthimmel, Ich hatte gerade ein großes Versprechen abgegeben. Kann ich es einlösen?, fragte ich mich. Kann ich das schaffen?
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Am nächsten Tag traf ich Jackie vor dem Klassenzimmer. Ich ignorierte die Kinder, die mich im Flur anstarrten und miteinander tuschelten, als ich vorüberging. Ich sah auch, dass mehrere Schüler vor mir zurückwichen, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. »Alles klar?«, fragte ich Jackie. Sie musterte mich eingehend, als hätte sie mich noch nie gesehen. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich - ich weiß nicht, was ich denken soll. Du hast uns so viel Schlimmes angetan. Die arme Jilly musste heute zu Hause bleiben, weil sie starke Schmerzen in den Rippen hat. Sie kam kaum aus dem Bett.« Ich senkte den Blick. »Das tut mir wirklich Leid«, murmelte ich. »Ich wollte Jilly oder dir nicht wehtun. Du musst mir glauben. Das war, bevor ich gemerkt habe...« »Lass uns reingehen«, erwiderte Jackie in scharfem Ton. »Es sehen schon alle zu uns her.« Sie betrat das Klassenzimmer. »Ich werde tun, was ich versprochen habe«, raunte ich ihr zu, als ich ihr folgte. »Ich werde meine ganzen Kräfte darauf konzentrieren. Du wirst sehen. Ich kann auch Gutes tun.« Wir nahmen Platz. Jackie saß in derselben Reihe wie ich, nur zwei Stühle weiter. Als ich mich hinsetzte, rückte Cory Hassell hastig seinen Tisch so weit wie möglich von mir weg. Dann beugte er sich zu mir herüber und flüsterte: »Wirst du heute alle zum Kotzen bringen?« Ich verdrehte die Augen. »Lass mich in Ruhe, Cory. Die Sache gestern war nicht meine Schuld. Ich weiß nicht, wie diese blöden Gerüchte zu Stande kommen - du etwa?« Er gab mir keine Antwort, setzte sich wieder aufrecht hin und tat so, als würde er etwas in seinem Algebrabuch lesen. Es läutete. Mrs. Rodgers sorgte für Ruhe, dann ging sie durch die Reihen und verteilte die Prüfungsbögen. Als sie zu meinem Pult kam, blieb sie stehen und sah zu mir herunter: »Wie fühlst du dich heute, Maggie?«, fragte sie. 85
»Gut«, antwortete ich und nahm die Testaufgaben entgegen. Sie starrte mich ein paar weitere Sekunden lang an und machte den Eindruck, als wollte sie noch etwas fragen. Aber sie tat es nicht, sondern ging weiter die Reihe entlang. »Ihr könnt anfangen«, wies sie uns an, als sie an ihr Pult zurückgekehrt war. »Es ist ein schwieriger Test. Aber ihr müsstet mit der Zeit zurechtkommen.« Eine schwere Stille legte sich über den Raum. Ich warf einen Blick auf die tief über die Testfragen gebeugten Köpfe. Stifte kratzten übers Papier. Ein Mädchen radierte bereits heftig aus. Hat sie etwa ihren Namen falsch hingeschrieben?, fragte ich mich. Ich schloss die Augen und begann, mich innerlich zu sammeln. Ich konzentrierte mich auf Jackie. In Gedanken stellte ich mir vor, wie sie den Testbogen ausfüllte und alles richtig beantwortete. Jackie wird die volle Punktzahl erreichen, sagte ich mir. Allmählich bekam ich den Bogen raus, wie diese Kräfte funktionierten. Ich musste mich nur auf etwas konzentrieren - und es wurde wahr. Also senkte ich den Kopf, schloss die Augen und wünschte mir für Jackie die volle Punktzahl im Algebratest. Ich dachte nur daran... konzentrierte mich.... Und ja. Wieder begann die Haut auf meinen Armen zu kribbeln. Meine Hände brannten ... brannten ganz heiß ... Als ich einen spitzen Schrei hörte, schlug ich rasch die Augen auf. Die Stimme kannte ich - es war Jackie! Ich drehte den Kopf zur Seite und sah gerade noch, wie Jackie vom Stuhl aufsprang. »Oh! Oh neeeiiin!!«, heulte sie. Hellrotes Blut schoss ihr aus der Nase. Das Blut tropfte auf Jackies Aufgabenblatt und lief ihr vorne über das gelbe T-Shirt. Mrs. Rodgers blickte vom Pult auf. »Oh, was für schlimmes Nasenbluten!« Das Blut floss aus beiden Nasenlöchern. Zwei Ströme glänzenden, scharlachroten Blutes. Jackie hielt sich die Hand über die Nase. Aber damit ließ sich das Nasenbluten nicht eindämmen. In kürzester Zeit floss das Blut zwischen den Fingern hindurch. 86
Mrs. Rodgers rannte zu Jackie und packte sie am Ellbogen. »Schnell - geh zur Schulschwester! Sie weiß bestimmt, wie man die Blutung stoppt. Beeil dich, Jackie! Oh, mein Gott. Ich hab noch nie so viel Blut gesehen!« Jackie schwankte zur Tür, die Hand über der Nase. Eine helle Blutspur blieb auf dem Boden zurück. »Ich komme besser mit«, entschied Mrs. Rodgers. »Ihr arbeitet weiter an den Aufgaben. Und dass mir ja keiner redet!« Sie eilte Jackie hinterher. In der Tür blieb Jackie kurz stehen, drehte sich um und zeigte auf mich. »Böse!«, schrie sie. Ein Wort. Das war alles. Böse. Dann verschwanden sie und die Lehrerin durch die Tür. »He, das war ja vielleicht schrecklich«, sagte jemand. »Arme Jackie.« Schließlich kehrte Ruhe im Klassenzimmer ein. Ich senkte den Kopf und schloss wieder die Augen. Ich zitterte so sehr, dass ich mich am Stuhl festhalten musste. Ich bekam kaum Luft und mir schmerzte die Brust. Böses. Ich kann nur Böses tun, wurde mir klar. Ich wollte Jackie helfen. Ich habe es versucht. Aber meine Kräfte können ausschließlich für Böses verwendet werden. Und ich kann sie nicht kontrollieren. Ich tue meinen Freundinnen diese schrecklichen, gemeinen Sachen an, weil ich keine Kontrolle über meine Kräfte habe! Dann meinte ich, hinter mir einen Jungen rhythmisch sprechen zu hören - erst leise, dann lauter. Nach einer Weile fielen einige Mädchen ein. Immer mehr Stimmen kamen dazu. Immer mehr Stimmen, die im Chor sprachen. Und wie ich da zitternd, schwach und angsterfüllt saß, klang es so, als würde die gesamte Klasse im Chor sprechen, in einem langsamen, gleichmäßigen Rhythmus, sanft, ganz sanft, wie weit entfernter Donner. Alle meine Mitschüler. 87
Sie alle sprachen im Chor, über die Prüfungsaufgaben gebeugt: »BÖSE... BÖSE... BÖSE... BÖSE... BÖSE... BÖSE... BÖSE...«
An diesem Abend fuhr ich nach dem Abendessen mit dem Fahrrad zu Glen. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Mit wem konnte ich überhaupt noch reden? Er schien sehr überrascht, mich zu sehen, und führte mich in ein winziges Fernsehzimmer neben dem Wohnzimmer. In dem Raum sah es aus wie in einer Art Jagdhütte aus einem alten Film. Riesige Plakate mit Tigern und Elefanten bedeckten die Wände. Sessel und Couch waren aus abgenutztem, rissigem, dunkelbraunem Leder. Ein langes Jagdgewehr hing über der Tür. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagte ich. »Ich dachte, vielleicht könntest du ...« Ja, was hatte ich eigentlich gedacht? Warum war ich überhaupt hergekommen? Plötzlich war ich ganz durcheinander. Glen bedeutete mir mit einer Geste, mich in einen der abgenutzten Ledersessel zu setzen. »Das mit Jackie habe ich schon gehört«, sagte er und ließ sich in den Sessel gegenüber fallen. »Und hast du auch gehört...«, begann ich und stockte. Es war schwer, die Worte herauszubringen. »Hast du gehört, dass alle mir die Schuld daran geben?« Er nickte. »Es ist verrückt«, murmelte er und blickte zu Boden. »Ich höre dauernd Gerüchte über dich, Maggie. In der Schule reden alle von dir. Du weißt schon, nach diesem Vorfall im Speisesaal...« Ich sprang vom Sessel auf. »Was soll ich denn jetzt bloß tun?«, heulte ich. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist so ... unheimlich.« Er musterte mich mit zusammengekniffenen 88
Augen. »Du wirst mir doch nichts antun, oder?« Ich stieß einen Seufzer aus. »Natürlich nicht. Aber... das ist ja das Unheimlichste daran. Verstehst du denn nicht, Glen? Ich weiß nicht, warum diese bösen Sachen überhaupt geschehen. Und ich kann sie nicht kontrollieren, wenn sie passieren!« Er sah mich weiter forschend an. »Ich wollte keiner Menschenseele jemals wehtun!«, rief ich. »Wie kann ich das bloß beweisen? Wie kann ich alle in der Schule davon abbringen, mich für eine böse Hexe zu halten?« Glen zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht... vielleicht wenn du ihnen zeigen würdest, dass du ganz normal bist... Wenn du ihnen klar machen würdest, dass nicht immer schlimme Dinge passieren, wenn du dabei bist... Nach einer Weile würden sie dann die Gerüchte vergessen.« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ja, das stimmt. Doch...« »Ich hab's!« Er sprang auf. »Wie wäre es morgen früh bei der Haustierschau?« »Wieso? Was ist damit?« »Die Veranstaltung findet im Gemeindezentrum statt. Fast alle aus der Schule werden da sein, Maggie. Wenn du da auftauchst und hilfst...« »Ich sollte sowieso helfen«, unterbrach ich ihn. »Judy wollte, dass ich ihr zur Hand gehe, aber...« »Na großartig!«, rief Glen aufgeregt. »Wenn du bei der Haustierschau hilfst und nichts Schlimmes passiert, werden alle begreifen, dass du nicht böse bist, sondern ein ganz normaler Mensch.« Ich zögerte. »Na ja ...« »Na los!«, drängte mich Glen. Er griff nach meiner Hand und drückte sie. »Tu's, Maggie. Einen Versuch ist es wert! Mach's. Was hast du schon zu verlieren?«
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Das Gemeindezentrum ist ein lang gestreckter, roter Ziegelbau neben dem städtischen Schwimmbad, mit einer Turnhalle und einem Zuhörersaal. Hauptsächlich wird das Zentrum für Stadtempfänge und -feste genutzt. Kinder nutzen den Ort nicht als Treffpunkt, aber manchmal erkunden meine Freundinnen und ich die dichten Wälder, die sich kilometerweit hinter dem Gebäude erstrecken. Am Samstagmorgen wachte ich früh auf. Ich zog eine saubere Khakihose und ein Sweatshirt an, frühstückte schnell ein Glas Orangensaft und eine ungetoastete Toastscheibe und radelte durch den kühlen Morgennebel quer durch die Stadt zur Haustierschau. Mein Plan war es, so früh dorthin zu kommen, dass ich Judy noch beim Aufbau und den Vorbereitungen helfen konnte. Doch als ich das Fahrrad in den Ständer an der Gebäudeseite stellte, hörte ich drinnen bereits Katzenmiauen und Hundegebell. Beim Eintreten sah ich, dass die große, hell erleuchtete Turnhalle bereits gerammelt voll war mit Kindern und Tieren. Während sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnten, machte ich Katzen in Käfigen und Kisten, Hamster, Frettchen und Hunde in allen Größen und Farben aus. Ein Junge aus meiner Klasse trug eine fette, grün-gelbe Schlange um das Handgelenk. Die meisten Tiere schienen nicht allzu glücklich über die Haustierschau. Sie heulten und jaulten. Die Kinder schrien und lachten und führten stolz ihre Tiere vor. Vorne in der Turnhalle stellten einige Stadtarbeiter ein Podest mitsamt Mikrofon auf. Ich suchte nach Judy und entdeckte sie schließlich auf der anderen Seite des Raums. Sie huschte von einer Gruppe Kinder zur nächsten. »Alle Katzen an diese Wand!«, schrie sie und deutete auf die Vorderwand. »Bitte - lasst eure Tiere nicht aus den Augen!« »Wann findet die Bewertung statt?«, rief ein Mädchen Judy zu. Judys Antwort wurde von zwei Hunden übertönt, die einander grimmig anknurrten. 90
»Bitte! Haltet eure Tiere ruhig!«, rief Judy. »Alle Katzen hierher! Hunde an die Wand da drüben!« Vorne begann ein Mann das Mikro zu testen. Ein ohrenbetäubender, schriller Pfiff ertönte. Davon drehten alle Hunde durch - sie heulten, bellten und versuchten, sich von ihren Leinen loszureißen. Judy braucht eindeutig meine Hilfe!, sagte ich mir. Ich bahnte mir durch die Tiere und Käfige einen Weg zu ihr, blieb aber stehen, als ich plötzlich eine Katze erblickte, die ich kannte. Plumper! Irgendwie musste Plumper aus seinem Katzenkorb gekommen sein. Der Kater schlich sich leise durch die Turnhalle. Seine gelben Augen waren unverwandt auf einen Käfig am Boden gerichtet - einen Käfig voller weißer Mäuse! Ich sah, wie Plumper einen Buckel machte und sich zum Angriff auf die Mäuse vorbereitete. »Plumper, nicht!«, rief ich, stürzte mich auf ihn und hob ihn hoch. Plumper miaute unglücklich. Er schlug mit der Pfote nach mir, aber ich hielt ihn mit ausgestreckten Armen von meinem Körper weg und er kam nicht an mich heran. »Judy...!«, rief ich und rannte zu ihr, den zappelnden Kater in den Armen. »Plumper hat sich befreit! Er...« Beim Klang meiner Stimme wirbelte Judy herum. »Hier. Hier ist dein Kater«, japste ich atemlos und hielt ihr Plumper entgegen. »Ich - ich bin gekommen, um dir zu helfen.« Zu meiner Überraschung stieß Judy einen wütenden Schrei aus und riss mir Plumper aus den Armen. »Gib mir den Kater!«, brüllte sie. »Wage es ja nicht, meinen Kater anzufassen! Verschwinde von hier! Geh weg! Wir wollen dich hier nicht!« Zitternd wich ich zurück. Ich bemerkte, dass mich einige Kinder ansahen. In der Turnhalle wurde es still. »Verschwinde! Geh weg!«, kreischte Judy aus Leibeskräften. »Du bist böse! Geh weg!« »N-nein...!«, rief ich. »Bitte, tu mir das nicht an!« Alle starrten mich jetzt schweigend an. Sogar die Tiere waren ruhig 91
geworden. »Du bist böse, Maggie!«, schrie Judy. Sie hielt Plumper in meine Richtung, als wollte sie, dass der Kater mich angreift. »Wir wollen dich hier nicht! Hau ab! Fort mit dir!« Mir zitterten die Beine so stark, dass ich mich kaum rühren konnte. Irgendwie erreichte ich die Turnhallentür. Ich schluchzte laut. So viele Augen glotzten mich an. All die Kinder... alle Kinder, die ich kannte... sie starrten mich so kalt an... voller Furcht... voller Angst vor mir. Sie hassen mich!, wurde mir klar. Alle ... alle, die ich kenne. Das war zu viel für mich. Zu viel, um es ertragen zu können. Ich wollte rückwärts aus der Tür gehen. Doch dann hielt ich inne und deutete auf Judy. »Judy!«, schrie ich ihren Namen, »Judy! Das hättest du lieber nicht tun sollen!« Meine Arme kribbelten und Hitze fuhr durch meine Hände. Ich keuchte auf, als eine leuchtend rote Flamme aus meinem Finger schoss. Mit einem elektrischen Knistern sprühten Funken aus meinen Händen. Schockiert riss ich beide Hände hoch - und lange, zornige Flammen schössen mir aus allen Fingerspitzen. Angstschreie schallten durch den Raum. Und dann wurden die Schreie übertönt... übertönt vom Gejaule und Geheule der Tiere. Hunde jaulten und zerrten an ihren Leinen. Katzen begannen zu fauchen. Ganz laut und schrill... wütend ... Es war der Furcht erregendste Laut, den ich jemals gehört hatte ... wie das Rauschen von Wasser... wie das Entweichen von Luft... Das Geräusch des Bösen, das Geräusch drohender Gefahr. Und dann stolperte ich zurück, als die fauchenden Katzen wie rasend die Pfoten durch die Stäbe ihrer Käfige und Tragekisten sausen ließen. Schräg gegenüber glühten die Augen einer schwarzen Katze hellgelb auf. Mit einem fast menschenähnlichen Schrei schlug sie nach ihrer Besitzerin. Dann biss sie in deren Beine. Panisch schreiend versuchte die Frau, die Katze abzuschütteln. Als ich mich umwandte, sah ich einen Dalmatinerwelpen, vor 92
dessen Schnauze sich Schaum bildete. Seine Augen drehten sich wild in den Höhlen. Er warf den Kopf in den Nacken und heulte grimmig auf. »Nein«, flüsterte ich. »Neeeiiiin.« Eine Schlange wickelte sich um die Taille eines Mädchens, fester und fester. Das Mädchen kreischte und zerrte hilflos mit beiden Händen an dem Reptil, rot im Gesicht und nach Atem ringend. Weiße Mäuse flohen quiekend, ihre dicken, pinken Schwänze schlugen wie Peitschen über den Boden. Zwei wilde, zähnefletschende Hunde griffen einander an. Katzen kratzten ihre Besitzer, Hunde heulten mit Schaum vor der Schnauze. Überall rutschten Kinder über den Boden, kämpfend, ringend und sich verzweifelt bemühend, ihren heulenden, tobenden Haustieren zu entkommen. Meine Hände brannten noch immer. Flammen schossen knisternd aus den Fingerspitzen. Ich entdeckte Judy an der Rückwand der Halle. Sie hatte die Hände erhoben, als wolle sie sich ergeben. Ihr Mund war zu einem endlosen Entsetzensschrei geöffnet. Ich zeigte auf sie und rief: »Judy...! Judy...!« Zu meinem Schock drehten sich daraufhin alle Tiere um. Ließen von ihren Rangeleien ab, rissen sich von ihren entsetzten Besitzern los. Und dann bewegten sie sich vorwärts, als hätten sie einen geheimen Befehl erhalten. Sie umringten Judy. Ein enger Kreis von knurrenden Tieren. Sie begannen, ihr auf den Leib zu rücken. Sie senkten die Köpfe. Machten Buckel. Schnappten. Sabberten. Kamen näher. Der Kreis wurde enger... und enger. Judy kauerte hilflos in der Mitte. Sie zitterte und bebte am ganzen Körper. Sie werden sie angreifen, wurde mir klar. Und das ist alles meine Schuld. Was kann ich nur tun? Was? Plötzlich wusste ich es. Ich musste gehen. Wenn ich die Halle verließ, würden die Tiere wahrscheinlich... wahrscheinlich ... wieder 93
normal werden. Sie würden Judy in Ruhe lassen. Also fuhr ich herum und stolperte zittrig, schwindelig aus der Tür und rannte dann los. Ich rannte aus dem Gebäude, zurück in den kalten Morgen, der noch immer neblig und grau war. Jagte am Parkplatz und dem Fahrradständer vorbei, um das Gebäude herum. In den Wald. In den klar und würzig riechenden Wald. In die Dunkelheit, die sichere Dunkelheit unter den herbstlich entlaubten Bäumen. Zweige und Laub raschelten und knackten unter meinen Schuhen. Ich folgte einem gewundenen, dornenüberwucherten Pfad, durch niedriges Gestrüpp, vorbei an alten Bäumen. Ich rannte... rannte blindlings... rannte, bis ich die Schreie aus dem Gebäude nicht mehr hören konnte. Dann blieb ich hinter einer Hecke immergrüner Büsche stehen. Blieb stehen, um zu verschnaufen. Und da hörte ich schnelle Schritte näher kommen. Die Kinder aus der Turnhalle - sie verfolgten mich!, wurde mir klar. Sie kommen, um mich zu holen!
Mit einem scharfen Keuchen duckte ich mich tief hinter einen immergrünen Busch. Dornenzweige hingen an meinen Ärmeln und feuchte Blätter klebten mir an den Schuhen. Mein Atem ging pfeifend, aber ich konnte das Geräusch nicht unterdrücken. Angestrengt lauschte ich auf die Schritte. Hatte mich jemand gesehen? Was würden sie mit mir machen, wenn sie mich erwischten? Ich hatte Seitenstechen und das Gefühl, die Brust würde mir gleich explodieren. 94
Vorsichtig spähte ich über den Busch hinweg. »Glen!« Mein Schrei kam als heiseres Flüstern heraus. »Glen - du bist es nur!« Ich war so froh, ihn zu sehen. Mit hämmerndem Herzen sprang ich hervor. Mit flatternder Jeansjacke rannte er auf mich zu. »Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich und musterte mich forschend. »Ich habe gehört ...« »Es war so schrecklich!«, rief ich. »Ich - ich bin böse. Ich - ich habe gerade etwas ganz Schlimmes getan. Ich kann nie wieder zurückgehen. Ich - ich habe jetzt keine Freunde mehr. Ich habe kein Leben mehr!« Er legte einen Finger an die Lippen. »Psssst. Versuch dich zu beruhigen, Maggie.« »Wie denn?«, kreischte ich. »Ich werde mich nicht beruhigen. Nie! Verstehst du denn nicht, Glen? Ich bin jetzt ganz allein. Eine Ausgestoßene! Eine schreckliche, böse Ausgestoßene!« Er hatte noch immer den Finger an den Lippen. »Maggie, ich bin weiterhin dein Freund.« »Aber - aber...«, protestierte ich. »Jetzt gibt es nur noch dich und mich«, sagte er sanft. »Du und ich gegen alle anderen.« »Aber meine Freundinnen«, flüsterte ich. »Meine Freundinnen ... Jackie und Judy und Jilly...« Glens Miene veränderte sich. Seine Augen wurden kalt, sein Gesicht spannte sich an. »Sie haben es verdient«, krächzte er. »Sie haben alles verdient, was ihnen zugestoßen ist.« Ich schluckte, überrascht von der Veränderung in seinem Tonfall und der eiskalten Miene. »Aber, Glen...« »Sie sind Angeberinnen durch und durch«, sagte er mit einem höhnischen Lächeln. »Du kannst von Glück sagen, dass du die los bist, Maggie. So solltest du denken. Was für ein Glück, dass ich die los bin.« »Nein, da hast du Unrecht«, widersprach ich. »Diese Mädchen waren lange, lange Jahre meine Freundinnen. Und ...« »Alle drei sind so grausam, so kalt«, fuhr Glen fort und überging 95
meinen Einwurf. »Und was sind sie neidisch auf dich. Hast du denn nie gemerkt, wie neidisch sie sind?« »Nein«, entgegnete ich scharf. »Das ist nicht wahr. Sie ...« »Sie waren immer neidisch auf dich«, beharrte Glen. »Nicht zu fassen, dass du ihnen gegenüber so blind bist. Sie waren nie echte Freundinnen. Nie.« Er schloss einen Moment die wütenden Augen. Ich sah, dass er mit den Zähnen knirschte, sein Kiefer schob sich angespannt vor und zurück. Als er die Augen wieder öffnete, wirkte er sogar noch wütender als vorher. »Du hättest den dreien nicht vertrauen sollen«, sagte er kopfschüttelnd. »Niemals. Glaub mir, denen kann man nicht trauen. Weißt du was, Maggie? Ich wette, Jackie selbst hat die Kette in deine Kommodenschublade gelegt, damit du schlecht dastehst.« »Was?« Ich keuchte auf und torkelte rückwärts, weg von ihm. Angst stieg in mir auf. Ich zitterte am ganzen Körper. »Glen!«, rief ich. »Woher... woher weißt du das mit Jackies Kette? Das habe ich dir nie erzählt!«
Glen starrte mich unverwandt an, ohne zu blinzeln. »Was macht das schon für einen Unterschied?«, meinte er schließlich. »Es gibt jetzt nur noch dich und mich. Wir gegen sie.« »Aber... woher wusstest du davon?«, wiederholte ich. Schwindel erregende Gedanken schössen mir durch den Kopf. Glen wusste von der Kette in der Kommodenschublade. Und er war immer in der Nähe gewesen... immer in meiner Nähe, nachdem etwas Schreckliches geschehen war. Ich keuchte und die Worte sprudelten aus mir heraus. »Du warst das die ganze Zeit, stimmt's?«, flüsterte ich. »Du – du bist böse!« Zu meiner Überraschung warf Glen den Kopf zurück und lachte, ein kaltes, grausames Lachen. »Natürlich war ich es!«, sagte er. »Hast 96
du wirklich geglaubt, du verfügst über Kräfte?« »J-ja«, antwortete ich. »Ich - ich hatte jedes Mal so ein komisches Gefühl. Meine Hände brannten und Flammen schossen heraus. Ich habe tatsächlich gedacht, ich besäße Kräfte.« »Quatsch«, meinte Glen mit einem bösen, hässlichen Grinsen. »Das war immer ich. Ich habe meine Kräfte nur ein wenig mit dir geteilt. Du hast keine eigenen Kräfte, Maggie.« Und dann - während sein Grinsen verschwand - fügte er bitter hinzu: »Du bist nur ein ganz normales Mädchen. Ein normales, durchschnittliches Mädchen. Du bist nicht wie ich.« Ich blickte ihn angestrengt an, starrte ihn so lange an, bis seine Gestalt mit den dunklen Sträuchern und Bäumen verschwamm. Mit einem Mal fiel es mir wieder ein. Ich erinnerte mich an meinen Geburtstag, den Rummel. Bevor ich zur Wahrsagerin gegangen war, hatte Glen meine Hand gehalten. Er hatte herumgealbert und mir die Hand geküsst. Die Hand, aus der die Wahrsagerin gelesen hatte. Miss Elizabeth - sie hatte Glens Bösartigkeit auf meiner Hand gesehen! Sie hatte seine Boshaftigkeit gespürt. Weil er meine Hand gehalten und damit das Böse auf mich übertragen hatte. Und dann im Einkaufszentrum. Als ich im Einkaufszentrum der Wahrsagerin über den Weg gelaufen war... da hatte ich Glens Hand gedrückt, kurz bevor ich Miss Elizabeth begegnet war. Miss Elizabeth hatte nie meine Bösartigkeit gesehen, sondern beide Male Glens böse Kräfte! Der Himmel verdunkelte sich und die Schatten der Bäume um uns herum wurden länger. Glens Augen funkelten im schwindenden Tageslicht. »Bei dir fällt der Groschen - nicht?«, sagte er sanft. »Du begreifst, wie ich alles geschehen ließ. Und du verstehst es, richtig? Du verstehst, warum ich es den Schwestern heimzahlen musste.« »Wegen dem, was Jackie dir angetan hat, als du vor der ganzen Schule auf der Bühne standest?«, fragte ich. »Wegen der Sache mit dem Tarzankostüm? Und weil keine von ihnen aufhören wollte, dich damit aufzuziehen?« Er nickte. 97
»Aber - aber - was ist mit dem Rasenmäher?«, wollte ich wissen. »Dein Rasenmäher ist außer Kontrolle geraten und in einen Baum gekracht. Du hättest dich beinahe schlimm verletzt.« Glen kicherte. »Das war gut, nicht? Ich habe das nur vorgetäuscht, weil ich wollte, dass man dich für die Schuldige hält. Ich wollte, dass alle glauben, du seist böse. Auf diese Weise konnte ich mich in aller Seelenruhe an den Schwestern rächen - und alle würden es dir in die Schuhe schieben!« Er schien jetzt ganz aus dem Häuschen und sehr zufrieden mit sich. »Du bist so hilflos, Maggie. Ohne jede Kraft. Aber ich kann dir Kräfte geben. Ich kann meine Kräfte mit dir teilen. Dazu reicht eine kleine Berührung.« Er streckte die Hand nach mir aus. »Nein!«, rief ich. »Ich will sie nicht! Ich will keine Kräfte, Glen. Ich möchte nur...« Aber er schien meinen Protest nicht zu hören. »Jetzt gibt es nur noch dich und mich«, sagte er und seine Augen glühten im düsteren Licht. »Nur du und ich gegen den Rest der Welt.« Er hielt mir die Hand hin. »Komm. Teile die Kraft. Schüttle mir die Hand. Schüttle mir wieder die Hand, Maggie. Jetzt gibt es nur noch uns zwei. Wir werden es diesen Schwestern zeigen.« »Nein!«, rief ich wieder. »Ich - ich will nicht!« Mit wild glühenden Augen griff er nach meiner Hand. Aber ich wich fix aus, stolperte über einen umgefallenen Baumstamm, gewann das Gleichgewicht wieder und lief los. »Du kannst davor nicht wegrennen!«, rief er mir nach. Ich erschrak, als ich eine mächtige Kraft fühlte, die mich festhielt, die sich mir entgegenstellte, mich zurückhielt. »Neeeiiiin!«, heulte ich und hämmerte mit den Fäusten gegen die unsichtbare Mauer vor mir. Ich grub die Schuhe in die Erde, senkte die Schulter und stemmte mich mit aller Kraft gegen die Wand, die ich nicht sehen konnte. Aber Glen hielt mich an Ort und Stelle, er verwendete seine seltsame Kraft, um mich gefangen zu halten. Ich duckte mich und drehte mich im Kreis, um in andere Richtungen davonzurennen. Aber die unsichtbare Mauer umgab mich ohne die kleinste Lücke. 98
»Ich habe dich gewarnt, Maggie!«, rief Glen. »Du kannst nicht entkommen! Es wird dir nicht gelingen!« Und dann wirbelten abgestorbene Blätter vom Boden auf. Klumpen nasser, welker Blätter flogen in die Luft, wirbelten im Kreis wie ein Tornado - und schlössen mich ein. Unkraut klatschte mir ins Gesicht, Zweige schnalzten mir gegen Taille und Beine. »Stopp!«, heulte ich. »Bitte hör auf!« Zweige, Unkraut und nasse Blätter kamen zur Ruhe, sanken wieder zu Boden und legten sich um meine Schuhe. Da hörte ich Schritte auf dem gewundenen Pfad. Drei grimmig dreinblickende Gestalten marschierten in einer geschlossenen Front nebeneinanderher. Die drei Mullen-Schwestern kamen Fäuste schüttelnd in unsere Richtung. Sie waren fuchsteufelswild, wie ich an ihren Gesichtern und dem steifbeinigen, drohenden Gang sehen konnte. Ich sitze in der Falle, wurde mir klar. Hinter mir Glen, der seine bösen Kräfte benutzt, um mich hier festzuhalten. Und vor mir die Drillinge, die mit solchem Zorn auf mich zu kommen. In der Falle. In der Falle... Was soll ich nur tun?
Voller Entsetzen starrte ich auf die Geschwister, die sich einen Weg zu uns bahnten. Jackie mit dem langen Haar, das hinter ihr herflog, und der Perlenkette, die an ihrem Hals auf und ab hüpfte. Judy in der Mitte mit fleckigen Kleidern - aber unverletzt, unverletzt! -, die Augen zornig zusammengekniffen. Jilly mit einer Krücke, angestrengt bemüht, mit den anderen Schritt zu halten. Sie schüttelte den Kopf, ein finsteres Stirnrunzeln auf dem blassen Gesicht.
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Sie waren meine besten Freundinnen, dachte ich bitter. Und jetzt... Sie glauben, ich zerstöre ihr Leben. Alle drei von ihnen - sie alle glauben, dass ich sie zu Grunde richten will. Deshalb sind sie hinter mir her. Und in wenigen Sekunden ... werden sie mich kriegen. Ich holte tief Luft und drehte mich zu Glen um. »Gut!«, sagte ich in gedämpftem Flüsterton. Ich warf einen Blick über die Schulter, sah die Schwestern näher rücken. »Gut, Glen. Nur du und ich«, wisperte ich. Ich streckte ihm die Hand hin. »Ich werde deine Kraft teilen. Lass mich an deiner Kraft teilhaben.« Ich konnte spüren, wie die unsichtbare Mauer schwand, und machte einen Schritt auf Glen zu. Dann noch einen. Ich konnte mich wieder normal bewegen. Seine Augen bohrten sich in meine. »Meinst du es ernst? Wirst du mir helfen, die Schwestern zu bestrafen?« »Ja«, flüsterte ich und hielt ihm die Hand hin. »Ja. Beeil dich. Ich will wieder die Kraft haben. Sie sind schon fast da! Schnell!« Er trat vor, streckte mir die Hand entgegen, nahm meine und drückte sie fest. »Danke!«, rief ich. »Ja! Vielen Dank!«
»Da sind sie!«, kreischte Jackie und deutete auf uns. »Maggie ...«, rief Jilly. Sie atmete schwer vom anstrengenden Marsch mit der Krücke durch den Wald. »Bleibt, wo ihr seid!«, warnte ich sie. Ich hob die Hand, dieselbe Hand, die Glen gerade gedrückt hatte. »Ich warne euch! Bleibt stehen!« »Das muss ein Ende haben!«, schrie Judy. »Diese Tiere - sie waren drauf und dran mich anzugreifen!« »Ja, das muss aufhören«, echote Jackie. »Sofort!« 100
Als ich mich zu Glen umdrehte, sah ich, wie sich ein grausames Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. »Das Böse hat noch nicht begonnen!«, verkündete er. »Es war Glen!«, rief ich, wieder an die Schwestern gewandt. »Die ganze Zeit über ist es Glen gewesen! Er besitzt die Kräfte! Er - er hat mich nur benutzt!« »Ja!«, schrie Glen, vor Stolz strahlend. »Ja, ich war das die ganze Zeit! Meine Kräfte! Meine Magie! Aber ich habe euch glauben lassen, eure Freundin sei böse. Ich ließ euch den Schwindel glauben!« Ich sah den Schock in den Gesichtern der Schwestern. Aber ich wartete nicht erst ihre Reaktion ab. Ich wusste, dass ich schnell handeln musste. Ich schnellte herum, hob die Hand und fuchtelte vor Glen herum. Ich sammelte meine Gedanken ... konzentrierte mich ... konzentrierte mich... Meine Arme kribbelten und wieder begannen meine Hände zu brennen... Glen öffnete den Mund zu einem überraschten Schrei. Er war so überrumpelt, dass er keine Zeit zu einem Gegenschlag hatte. Und dann begann er herumzuwirbeln. Er drehte sich wie ein Kreisel, wirbelte auf einem Fuß im Kreis herum. Er versuchte mich mit seinen Kräften zu stoppen. Doch ich ließ ihn schneller rotieren ... immer schneller. So schnell, dass Staubwolken und Blätter aufwirbelten. »Danke, dass du deine Kräfte mit mir geteilt hast, Glen!«, rief ich. »Vielen Dank dafür!« Und dann konzentrierte ich mich noch stärker - und ließ ihn vom Boden abheben. Höher... über die Bäume hinaus ... Rotierend, mit den Armen durch die Luft rudernd, schneller und schneller drehend, in einem Wirbelsturm aus Blättern, Zweigen und Erde. Dann änderte ich meine Gedanken und ließ Glen zu Boden. Er landete hart auf dem Bauch. Bevor er sich rühren konnte, änderte ich meine Gedanken erneut und deutete mit dem Finger auf ihn hinunter. Ich konnte zusehen, wie sein Körper schrumpfte... und schrumpfte... Bis er ein winziges, braun-weiß gestreiftes Backenhörnchen war. Er blickte mit schwarzen Knopfaugen zu mir 101
hoch. Und dann trippelte er um einen umgefallenen Baumstamm herum und verschwand unter einer Laubdecke. Endlich ließ ich die Hände sinken und begann wieder zu atmen. Jackie eilte zu mir und umarmte mich. »Du hast ihn reingelegt?« Ich nickte. »Dann ist jetzt alles vorbei? Der Horror ist vorüber?«, fragte Judy. »Es war die ganze Zeit Glen? Glens böse Kräfte?« »Ja«, wisperte ich. »Er - er hat mich nur benutzt.« Und dann fielen wir vier einander in die Arme. Wir umarmten uns, gleichzeitig lachend und weinend. Schließlich stieß ich einen langen Seufzer aus. »Ich kann fühlen, wie die Macht schwindet. Ich fange an, mich wieder normal zu fühlen.« »Nein, warte!«, schrie Jackie. »Bevor die Kräfte endgültig verschwunden sind - tu mir einen Gefallen!« »Hm? Was für einen Gefallen?«, fragte ich. »Kannst du unsere Mathenoten ändern?« Ich lachte. Dann schloss ich die Augen und sammelte mich... konzentrierte mich... »Na, wer sagt's denn!«, erklärte ich. »Wir sind gerade alle vier die Klassenbesten geworden!«
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