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Von Arthur W. Upfield sind erschienen: Bony und der Bumerang Ein glücklicher Zufall Das rote Flugzeug Mr. Jellys Geheimnis Bony stellt eine Falle Todeszauber Der Kopf im Netz Bony und die Todesotter Bony wird verhaftet Der Pfad des Teufels Die Leute von nebenan Die Witwen von Broome Tödlicher Kult Der neue Schuh Die Giftvilla Viermal bei Neumond Der sterbende See Der schwarze Brunnen Der streitbare Prophet Höhle des Schweigens Bony kauft eine Frau Die Junggesellen von Broken Hill Bony und die schwarze Jungfrau Bony und die Maus Fremde sind unerwünscht Die weiße Wilde Wer war der Zweite Mann? Bony übernimmt den Fall Gefahr für Bony
Arthur W. Upfield
Viermal bei Neumond Murder must wait Kriminalroman
Wilhelm Goldmann Verlag
Die Hauptpersonen des Romans sind : Inspektor Napoleon Bonaparte Alice McGorr Pearl Rockcliff Henry Marlo-Jones Elisabeth Marlo-Jones John Bulford Olga Bulford Paul Ecks Helen Ecks Vera Coutts Dr. Delph Dr. Nonning Cyril Martin sr. Cyril Martin jr. Sergeant Yoti Oberwachtmeister Essen
wird von seinen Freunden »Bony« genannt seine Assistentin eine junge Frau Professor seine Frau Bankdirektor seine Frau Großhändler seine Frau Schriftstellerin Ärzte Makler sein Sohn Kriminalbeamter Polizeibeamter
Der Roman spielt in Südaustralien.
1. Auflage Dezember 1960 • 1.-30. Tsd. 2. Auflage September 1974 • 31.-42. Tsd. 3. Auflage September 1978 • 43.-50. Tsd. 4. Auflage Dezember 1978 • 51.-58. Tsd. Made in Germany 1978 © der Originalausgabe 1953 by Arthur W. Upfield © der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Goldmann Verlag, München Aus dem Englischen übertragen von Dr. Arno Dohm Umschlagentwurf : Creativ Shop, A. + A. Bachmann, München Umschlagfoto : Heinz Flossmann, München Druck : Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh Krimi 4756 • Berens/Klesener ISBN 3-442-04756-0
1
E
s geschah in Mitford, in der Nacht vom Montag zum Dienstag. Durch das weit auseinandergezogene, am Nordufer des Murray gelegene australische Städtchen Mitford fegen die kalten Südstürme des Winters ebenso ungehemmt wie die heißen Nordwinde im Sommer. Eine breite Allee zieht sich am Fluß entlang, die Hauptstraße ist flankiert von niedrigen Läden, in denen feilgeboten wird, was die Besitzer der umliegenden Weinberge und die Leute, die jedes Jahr zehn Wochen in der Konservenfabrik arbeiten, brauchen und nicht brauchen. Es war nicht Sergeant Yotis erster Mordfall, aber dieser sollte ihn um eine neue und nicht gerade angenehme Erfahrung bereichern. Äußerlich – das heißt in Zivil – sah Yoti nicht sehr imposant aus. Mit seiner untersetzten Figur und dem ergrauten Haar wurde er von manchen Leuten für weich und schwächlich gehalten. Nicht selten hatten ihn Betrunkene, wenn sie in höchster ›Form‹ waren und glaubten, sich alles erlauben zu dürfen, als einen freundlichen Onkel betrachtet, aber später erinnerten sie sich, wenn auch schwach, unangenehm daran, daß Sergeant Yoti wie ein Wirbelwind dreinfahren konnte. Dieser Mittwoch begann wie jeder andere im Februar : Draußen um das Polizeigebäude wirbelte ein heißer Wind viel Staub auf, drinnen war es nicht minder heiß und obendrein langweilig. Vormittags gab es nur die übliche trockene Schreibarbeit, und am Nachmittag mußte Sergeant Yoti die Akten der von ihm behandelten Fälle zur Vorlage beim Richter am nächsten Tag ordnen. Kurz nach drei Uhr kam die Post. Yoti studierte einen Brief vom Chef der Kriminalpolizei in Sydney. ›Lieber Yoti‹, schrieb Oberinspektor Canno, ›ich habe die Gelegenheit ergriffen, mir den Napoleon Bonaparte zu klauen, der die Babyfälle in Ihrem Bezirk mal ins Visier nehmen soll. Weiß nicht, ob Sie den Mann kennen, aber gehört haben Sie bestimmt schon von ihm. Doch davon 5
abgesehen : Geben Sie ihm in jeder Hinsicht freie Hand, es wird sich lohnen. Sie werden merken, daß er Ihnen ganz hübsch auf die Nerven fallen kann, aber er ist ein aufrechter Mensch ohne Falsch. Wie sieht’s sonst bei Ihnen aus? Schreiben Sie mir gelegentlich ein paar Zeilen, und grüßen Sie Joan von mir. Euer George macht sich gut bei der Verkehrspolizei, wie ich höre …‹ Yoti erlaubte sich ein Lächeln. Canno hatte es weit gebracht, während er selbst kaum befördert worden war. Und wie weit lag der Tag schon zurück, an dem sie zusammen bei der Kriminalpolizei eingetreten waren ! Napoleon Bonaparte – was für ein Name ! Und – was für ein Mann? Sergeant Yoti grübelte, den Brief seines Freundes in seiner Faust von respektabler Größe. Viele Geschichten hatte er schon über Napoleon Bonaparte gehört, den Inspektor der Kriminalpolizei von Queensland. Den Gerüchten zufolge mußte der Mann halb Ritter und halb Bandit sein. Na, über den gestohlenen Babys wird auch Mr. Bonaparte die Luft ausgehen, die Fälle werden von ihm Gehirnschmalz verlangen, dachte Yoti. Der Mann rühmte sich doch, noch bei keiner. Fahndung versagt zu haben. Sah es aber jetzt nicht so aus, als wollte Papa Canno dem Mr. Bonaparte eine zu schwere Last aufbürden? Und dabei lachte er sich wahrscheinlich ins Fäustchen, während er schilderte, wie reizvoll es sein mußte, das spurlose Verschwinden der vier Säuglinge aufzuklären. Sie waren verschwunden aus Kinderwagen oder Wiege, aus einer Wohnung, von einer Veranda und sogar von der Hauptstraße an einem verkehrsreichen Nachmittag ! Yoti dachte nicht gern an diese Geschehnisse, obwohl er eigentlich über einen Lichtstrahl in der Finsternis froh sein konnte : daß auch Cannos großstädtische Kriminalisten bei der Aufklärung nicht weitergekommen waren als er, das heißt praktisch überhaupt nichts erreicht hatten. Beim ersten Baby wurde nur oberflächlich geforscht, beim zweiten gab’s große Aufregung, beim dritten erschien Cannos wichtiger Stab : die Fotografen und die Experten für Fingerabdrücke. Und nach dem Verschwinden des letzten Babys war in ganz Mitford der Teufel los. Sogar seine Frau musterte ihn jetzt immer so merkwürdig enttäuscht. Napoleon Bonaparte ! Der kam also jetzt, um sein Glück zu versuchen, Wochen nachdem Baby Nummer vier, verschwunden war wie 6
eine Münze, die in einen Strom fällt. Kein Wunder, daß selbst die Katze lachte … Sergeant Yoti liebte Katzen. Er streichelte eben das riesige schwarze Exemplar dieser Gattung, das auf seinem Schreibtisch saß, als im Vorzimmer das Telefon erschreckend laut schrillte. Er lächelte die Katze an und achtete kaum auf die Stimme, die nebenan das Gespräch abnahm. Aber schon hörte er mit schnellen, schweren Schritten einen Wachtmeister kommen, der bei ihm eintrat und sich steif vor dem Schreibtisch aufbaute. »Polizeiwachtmeister Essen ruft eben an, Sergeant«, berichtete ihm der Uniformierte, der noch nicht lange genug im Dienst war, um bei aufregenden Vorfällen ein unbewegtes Gesicht zu zeigen oder seine Stimme ganz zu beherrschen. »Sein Schwager hat ihn angerufen : Er macht sich Gedanken um eine Nachbarin, eine gewisse Mrs. Rockcliff. Essen fuhr hin. Die Frau war zwei Tage nicht zum Vorschein gekommen, Milch und Post waren von der Gartentür nicht abgeholt. Er stellte fest, daß die Wohnungstür unverschlossen war, und ging hinein. Die Frau liegt tot in einem Schlafzimmer. Essen meint, es handle sich um Mord.« Kein Erdbeben erschütterte die Polizeiwache in Mitford, keine Sirene heulte durch die Hauptstraße. Der von einem Wachtmeister gesteuerte Dienstwagen nahm die belebte Kreuzung im Zentrum mit der üblichen Vorsicht, während Yoti neben ihm seine Pfeife rauchte und den Gruß eines Bekannten erwiderte, der ihm zugewinkt hatte. Die Elgin Street bestand aus einzeln stehenden Villen mit kleinen Vorgärten. Am Tor von Nr. 5 warteten zwei Männer. Der eine vermutlich ein Kriminalbeamter, der zweite, ein älterer Mann, sichtlich nervös. Oberwachtmeister Essen kam zum Wagen. »Die Frau scheint Opfer eines Mordes zu sein«, sagte er. »Die Leiche liegt im Schlafzimmer vorn. Dies ist mein Schwager, der die Frau am Montag zum letztenmal lebend gesehen hat. Rief mich an, weil ihm da etwas spanisch vorkam.« Yoti nickte. »Ich wohne im Nachbarhaus«, erklärte der ältere Mann selbst. »Mein Name ist Thring. Wir hatten Mrs. Rockcliff seit Montag nicht mehr gesehen, und weil die Milchflaschen und die Post von zwei Tagen noch an der Gartentür lagen, da dachte ich …« 7
»Sie haben richtig gehandelt, Mr. Thring. Bleiben Sie bitte mit dem Wachtmeister hier. Wir gehen hinein, Essen.« Essen riegelte die Tür auf, und Yoti bemerkte, daß das Sicherheitsschloß aufgesperrt war. Der Vorraum war klein ; man sah ihm an, daß hier jemand geradezu leidenschaftlich sauberzumachen pflegte. An einer Wand war ein Ständer für Hüte und Schirme, an der anderen ein kleiner Tisch unter einem ovalen Spiegel, der das Bild der offenen Haustür zurückwarf, und eine Vase mit welkenden Rosen. Dunkelgrünes Linoleum bedeckte den Boden im Vorraum und den nach hinten führenden Korridor. »Das Zimmer rechts, Sergeant«, sagte Essen kurz. »Die Tür war abgeschlossen, aber ich habe sie aufmachen können, ohne etwaige Fingerabdrücke zu verwischen. Die Frau liegt auf dem Boden, am Fußende des Bettes. Das Bettchen des Säuglings ist leer.« Yoti schloß die Korridortür. Jetzt verschärfte das durchs halbrunde Oberlichtfenster an der Tür einfallende Licht die Linien, die sich plötzlich um seinen breiten Mund gebildet hatten. Energisch schritt er zum Schlafzimmer und blieb dicht hinter der Schwelle stehen. Die Szene prägte sich ihm wie ein Bild ein : das sehr sorgfältig gemachte Bett, dann die durch Jalousien geschützten Fenster, und schließlich das leere Kinderbettchen hinter dem großen, am Fußende. »Thring sagt, er und seine Frau wüßten genau, daß Mrs. Rockcliff das Kind allein im Haus gelassen hat«, bemerkte Essen. »Seit dem letzten Montag hat keiner von den Nachbarn es gesehen. Sieht mir aus, als hätte die Frau beim Heimkommen den Kinderdieb in flagranti überrascht, der sie dann umbrachte, weil sie ihn erkannt hatte.« Es war ein hübsches Zimmer, in dem die herabgelassenen Jalousien den Eindruck angenehmer Kühle schufen und ein an der Seite durchblitzender Sonnenstrahl wie ein goldener Finger die auf dem blauen Teppich liegende Hand der Toten zu streicheln schien. Im Raum war es hell genug, den Spitzenbehang am Kinderbettchen, die Saugflasche auf dem kleinen Tisch und die Bilder an den Wänden zu erkennen. Erst jetzt spürte Yoti die umherschwirrenden Fliegen, die Schalheit der Luft, die Stille im Raum und die Geräusche draußen. Auf Fußspitzen ging er von der Türschwelle ins Zimmer und trat über die Tote hinweg auf das Kinderbett zu. Er konnte die Vertiefung auf dem winzigen Kissen sehen, wo das Köpfchen des Kindes gelegen hatte. Seine Gedanken 8
beschäftigten sich so sehr mit diesem leeren Bettchen und den Folgen des Kinderraubs, daß ihm im Augenblick die tote Mutter nicht so wichtig schien. Er ging zurück, wie er hereingekommen war – über die Tote schreitend –, blieb im Türrahmen stehen und blickte wieder erst auf das Kinderbett, bevor er den Blick auf die tote Frau richtete, die halb auf dem Rücken lag, einen Arm über dem Kopf, den andern lang ausgestreckt. »Sie haben das Haus natürlich durchsucht?« fragte er Essen. »Ja. Hintertür war verschlossen, alle Fenster ebenfalls. Nichts in Unordnung gefunden.« »Lassen Sie uns gleich richtig beginnen – wir wollen erst Ihren Schwager befragen.« Als sie durch den Windfang in den strahlenden Sonnenschein hinaustraten, wandte Yoti sich an Thring. »Sie wohnen also nebenan, Mr. Thring. Wann haben Sie Mrs. Rockcliff zuletzt gesehen?« »Genau gesagt, vor einigen Tagen«, antwortete der Nachbar. »Meine Frau hat sie am Montagabend etwa um acht zum letztenmal gesehen, und zwar als Mrs. Rockcliff ausging.« »Ohne das Baby?« »Das hat sie abends nie mitgenommen.« »Sie ließ es einfach im Hause – ganz allein?« »Ja. Darüber haben wir uns ja den Kopf zerbrochen. Gestern morgen holte Mrs. Rockcliff ihre Milch und die Zeitung nicht herein und nahm ihre Post nicht aus dem Kasten. Als auch heute früh die Milch und weitere Zeitungen kamen und noch mehr Post, waren wir besorgt um das Baby, da Mrs. Rockcliff vielleicht am Montagabend nicht nach Hause gekommen war. Heute morgen habe ich ein paarmal vergeblich an die Wohnungstür geklopft und nachher auch an die Hintertür, habe aber gar nicht daran gedacht, zu probieren, ob die Vordertür unverschlossen war.« »Hat Mrs. Rockcliff nie jemand zur Aufsicht bei dem Kind gehabt, wenn sie ihre Wohnung verließ?« »Soviel wir wissen, nie, und meine Frau beobachtet ziemlich genau. Sie hat mir tatsächlich mehr als einmal gesagt, es sei eine Schande, so ein kleines Kind nachts allein im Hause zu lassen.« Ein Auto bremste knirschend dicht hinter dem Haufen Neugieriger, die sich am Tor versammelt hatten. 9
»Wie alt war das Baby?« »Elf Wochen.« »Sie haben mit der Mutter hin und wieder gesprochen, ja?« »Ja, als oberflächliche Bekannte, aber mehr auch nicht«, antwortete Thring und setzte hinzu : »Allerdings habe ich ihr verschiedentlich den Garten in Ordnung gebracht. Das Alter des Kindes kennen wir, weil wir wußten, wann Mrs. Rockcliff in die Klinik ging und wann sie wiederkam.« Am Klang der Schritte, die jetzt auf dem zementierten Fußweg näher kamen, hätte sogar ein Blinder gemerkt, daß es ein Arzt sein mußte. Dr. Nott war groß, schlank und dunkel. Er trug keinen Hut, seine Ledertasche sah aus wie von Ratten angenagt. »Na, gibt’s Ärger, Sergeant?« fragte er leichthin, als handle es sich ums Wetter. »Mrs. Rockcliff scheint tot zu sein, Herr Doktor.« »Hm. – Und ihr Baby?« »Kein Baby hier. Bettchen ist leer. Sache scheint mir recht übel.« »Ist sie auch, falls das Baby entführt sein sollte. Das wievielte wäre es? Das fünfte?« Yoti ging, vom Arzt gefolgt, ins Haus. Essen stellte sich in die Haustür, der Wachtmeister beobachtete stur Mr. Thring und schwieg weiter wie bisher. Vor dem Schlafzimmer trat Yoti beiseite, um Nott zuerst einzulassen. Er sah zu, wie der Arzt die durch Federdruck, betätigten Jalousien hochschnellen ließ und das Kinderbett betrachtete. Anscheinend hielt auch Dr. Nott das Kind für wichtiger als die Mutter, denn er ging ein zweites Mal an das Kinderbett, blickte aufmerksam hinein, betrachtete die Saugflasche auf dem niedrigen Tischchen, ohne zunächst Interesse an der toten Frau zu zeigen. Er gewann Yotis stille Anerkennung, weil er nichts anfaßte – bis er die Tote untersuchte. Das ging schnell. Dann sagte er : »Jalousien ’runterlassen.« Yoti nickte, wartete, bis durch die Jalousien die nackte Maske des Todes gemildert war, dann schritt er, dem Doktor voraus, durch den Korridor in den Vorraum. Der Arzt stellte seine Tasche hart auf den polierten Tisch, setzte sich auf die Kante und holte Zigarettenetui und Feuerzeug aus der Tasche. 10
»Nach meiner Schätzung ist sie seit sechsunddreißig Stunden tot«, stellte er fest. »Das wäre also seit Montagabend. Todesursache : Schlag mit einem stumpfen, schweren Gegenstand. Kann ein Hammer gewesen sein oder eine Spazierstockkrücke.« »Bekam vermutlich den. Schlag, als sie ins Schlafzimmer trat?« »Sieht so aus. Einer hat schon genügt.« »Kannten Sie sie näher?« »Ein bißchen. Anfang Dezember war sie bei mir, um sich in die Klinik einweisen zu lassen. Die Geburt verlief glatt, wenn sie auch ’ne ganze Weile festlag. Mir hat sie erzählt, sie sei von Melbourne hierher gezogen, nachdem ihr Mann bei einem Verkehrsunglück getötet wurde.« »Und warum gerade nach Mitford? Wissen Sie das vielleicht?« »Ja. Sie meinte, die trockene Luft hier sei für ihre Lungen gesünder. Ich gab ihr recht, als ich feststellte, daß eine Lunge angeknackst war.« »Wo hat sie in Melbourne gewohnt?« »Das weiß ich nicht, Yoti. Sie erwähnte nur ihren früheren Arzt, der in Glen Iris wohnte : Dr. Allan Browner.« »Haben Sie sich bei ihm nach ihr erkundigt?« »Lag keine Veranlassung vor. Können Sie nichts über ihre Vergangenheit feststellen?« »Hab’ ich noch nicht versucht. Bei den Nachbarn war kaum etwas zu erfahren.« Die beiden Männer musterten sich scharf. »Wenn das Baby nicht gefunden wird, kriegen wir was auf den Buckel.« »So kann es ja nicht weitergehen«, meinte Nott betrübt, und Yoti glaubte, Unmutsfalten auf seinem langen blassen Gesicht zu bemerken. »Aus welchem Grunde werden nach Ihrer Ansicht die Säuglinge gestohlen?« »Habe ich mich auch schon vergeblich gefragt. Ich verstehe wohl, wenn eine kinderlose Frau sich ein kleines Kind stiehlt, aber keine Frau, die sich eins wünscht, würde gleich fünf rauben und noch obendrein einen Mord begehen. Sitzen Sie nur nicht so überlegen da : Sie sollten doch wissen, weshalb verrückte Leute kleine Kinder rauben, denn Verrückte gehören in Ihr Ressort, nicht in meins.« Der Tisch zitterte, als Nott sich mit einem Ruck erhob. »Ich könnte vier Möglichkeiten aufzählen, für jedes Kind eine«, sagte er. Seine dunklen Augen weiteten sich, der Blick war hart. »Bei jeder würden Sie erschauern, so abgehärtet Sie als Polizeimensch auch sein müssen. Ver11
mutlich werden Sie die ganze Kriminalpolizei für diesen Fall heranziehen, wie?« »Vielleicht. Kommt darauf an.« Nott sah, daß Yoti ein Stein vom Herzen fiel. »Es wird ein Kriminal-Inspektor hergeschickt, speziell zur Aufklärung dieser Kindsentführungen. Ein Mann, der sich rühmt, bisher jeden Fall gelöst zu haben. Diesen will ich ihm gern überlassen ! Ich habe genug davon.« »Kann Sie gut verstehen, Yoti. Na schön, auf Wiedersehen. Die Obduktion werde ich heute abend vornehmen, so um neun, genügt das?« »Ja.« Der Arzt nahm seine schäbige Tasche zur Hand. Gerade als er gehen wollte, erklangen Schritte im Vorraum. Er sah, daß Yoti ebenso gespannt aufhorchte wie er selbst, weil die Schritte nicht den Oberwachtmeister Essen und auch keinen seiner Wachtmeister ankündigten. Sonnenlicht fiel schimmernd über den Tisch, floß über das grüne Linoleum und umrahmte in der Tür wie ein Gemälde einen Herrn in grauem Anzug, der einen Velourshut in der Hand hielt. Sie konnten die feinen Streifen in den scharfgebügelten hellgrauen Hosen und dem faltenlos eleganten doppelreihigen Jackett, den seidigen Schimmer der braunen Krawatte im tadellosen Kragen genau erkennen, sahen das glatte schwarze Haar mit dem Scheitel an der linken Seite, die dunkle Gesichtshaut, die weißen Zähne und das eigenartige Lächeln. Sie waren gebannt von den seeblauen Augen und konnten sich des Gefühls nicht erwehren, daß diesen Augen keine Einzelheit an ihnen entging und der Blick bis in ihr Inneres drang. Zum Donnerwetter, was will der ! dachte Dr. Nott. Und Sergeant Yoti spürte, obwohl er diesen Mann noch nie gesehen hatte, sofort neue Zuversicht.
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S
ergeant Yoti? – Ich bin Inspektor Bonaparte.« Dr. Nott als geübter Beobachter konnte die große körperliche und geistige Stärke dieses Mannes einschätzen, er sah sie auch an dem schwarzen Haar, das wie frisch gebrochene Steinkohle glänzte. Yoti, der militärisch stramm dastand, sagte : »Freut mich, Sie kennenzulernen. Darf ich Ihnen Dr. Nott vorstellen?« Nott nickte zur Begrüßung, immer, noch fasziniert von dem Namen. »Auf der Wache hat man mir den Weg hierher gewiesen – Mord?« fragte Bony. »Ja, Sir.« »Oh, dann geht mich das wenig an, es sei denn« – sein Blick bekam etwas Verschlossenes –, »es sei denn, daß das Verschwinden eines Säuglings eine Rolle dabei spielt.« »Das Baby wird tatsächlich vermißt«, erklärte Yoti. »Es könnte somit das fünfte sein.« »Ah !« Der graue Velourshut wurde auf den Tisch gelegt, und Dr. Nott beobachtete interessiert, wie schlanke Finger die schlechteste Zigarette drehten, die er je gesehen hatte. »Läßt sich annehmen, daß dieser Mord im Zusammenhang mit dem Diebstahl eines fünften kleinen Kindes steht?« fragte Bony. »Annehmen wohl«, erwiderte Yoti. »Dann liegt die Behandlung des Mordfalls innerhalb des mir erteilten Auftrags : den Dieb oder die Diebe mehrerer Kinder ausfindig zu machen. Stimmen Sie mir darin zu?« Yoti zögerte eine Weile, ehe er zustimmend nickte, denn es lag in seiner ganzen Erziehung als Beamter, dem Schreckgespenst, das Verantwortung hieß, möglichst auszuweichen. 13
»Freut mich, daß Sie mir so weite Funktionen einräumen«, fuhr Bony fort, indem er sein Streichholz ausblies. »Vier Kindsentführungen, und noch nicht die kleinste Spur durch die Kriminalpolizei entdeckt, und jetzt die fünfte Entführung, vermutlich noch mit einem Mord verbunden, der – so nehmen wir vorläufig an – nicht im Plan gelegen hat und daher eine Reihe von Spuren ergeben dürfte. Eine habe ich in der Hand, aber ich brauche mehr als eine. Sie wollen gehen, Herr Doktor? Bitte bleiben Sie noch einen Augenblick, bis ich die spärlichen Einzelheiten von Sergeant Yoti gehört habe.« Als erster verließ dann Bony das Zimmer und schritt vor Dr. Nott und Yoti zur Haustür, wo Essen mit dem zweiten Wachtmeister und Thring wartete. »Eins will ich gleich erwähnen, das ganz klar zu sein scheint«, sagte Bony zu ihnen. »Mr. Thring, soweit Sie sich erinnern können, sind also die einzigen Personen, die hier im Hause waren, seitdem Mrs. Rockcliff zuletzt lebend gesehen wurde, wir fünf Männer?« »Ganz recht, Inspektor.« »Danke Ihnen, Mr. Thring.« Der Angesprochene begriff gar nicht, weshalb Bonys blaue Augen hierbei so strahlten. »Jetzt gehen Sie bitte nach Hause. Ich werde bald zu Ihnen kommen. Tun Sie mir aber den Gefallen und gehen Sie bis zum Gartentor nicht über den Beton weg, sondern über die Beete am Rand.« Der Streifen gepflegten Gartenlandes zwischen dem festen Weg und dem dürren Rasen, gut ein Meter breit, war jetzt trocken und sandig. Mr. Thring tat, wie ihm geheißen. Bony ging halb bis zum Tor auf dem Betonweg, dann drehte er sich um und rief Dr. Nott zu, er möge über die Beete gehen, ebenso Essen. Grund zum Ärger meinte nur Yoti zu haben, als der Inspektor ihn bat, recht deutliche Fußabdrücke zu machen. Ausgerechnet Bony, der jede Fußspur im Gedächtnis behielt ! Die Neugierigen am Gartentor waren entzückt von dem Schauspiel. »Jetzt, Sergeant, werden wir zwei wieder ins Haus gehen, um zu sehen, was es da zu sehen gibt und was der Spürsinn uns noch einbringt. Ich wünsche, daß sonst niemand das Haus betritt, bis wir fertig sind.« Sie standen im Flur, nachdem Yoti die Tür geschlossen und die Sperre des Sicherheitsschlosses gelöst hatte. Bony schaltete das Licht ein. »Ich kann durchgehende Teppiche nicht leiden«, sagte er. »Verbergen alles mögliche Geziefer und – halten keine Fußspuren fest. Mrs. 14
Rockcliff war klug, sich für Linoleum zu entscheiden, und scheint es als gute Hausfrau mindestens einmal wöchentlich gebohnert zu haben. Sie können hier stehenbleiben, während ich mir den Tatort betrachte. Wo ist die Leiche?« Yoti wies nach dem Schlafzimmer und bekam nun Gelegenheit, Bonys Vorgehen zu verfolgen. Er beobachtete gespannt, wie er bis zum Schlafzimmer ganz dicht an den Wänden entlangglitt, wobei er fast die Fußleisten streifte und sich ganz dicht am Türrahmen seitwärts ins Schlafzimmer schob. Als er die Tür schloß, bedauerte Yoti, diesen Mann, der bisher jedes Verbrechen aufgeklärt hatte, nicht weiter beobachten zu können. Es schien ihm, als halte der Inspektor sich sehr lange in dem Schlafzimmer auf, aber als er wieder herauskam, fand Yoti die vorsichtig seitliche Gangart weniger interessant als die Frauenschuhe, die Bony in der Hand trug. »Diese werden wir aufbewahren müssen«, sagte Bony, indem er die Sohlen und Hacken der Schuhe betrachtete. »War mir scheußlich, sie der Toten abzuziehen.« Die dunkelbraune Haut in seinen Mundwinkeln war merkwürdig bleich geworden, und Sergeant Yoti, der in seiner Ausbildungszeit die Schrecken der Leichenhäuser kennengelernt hatte und den Anblick von Tod und Gewalt ruhig aushielt, spürte ein wenig Verachtung für diesen Mann, der eine gewisse Furcht vor Toten merken ließ. »Ich muß wie eine Ameise nach einer Spur umherrennen, aber dabei will ich mir nicht meinen besten Anzug ruinieren«, erklärte Bony. Er zog das faltenlos elegante Jackett aus und überreichte es feierlich dem Sergeanten, der sichtlich bestürzt verfolgte, wie Bony auch die Hose auszog, die Bügelfalten säuberlich aufeinanderlegte und sie ihm sorgsam auf das Jackett packte, das er im Arm hielt. Er war so verdutzt, daß er nur stumm auf die himmelblaue Unterhose und die Sockenhalter von gleicher Farbe starren konnte. »Bitte die Tür öffnen, ich brauche mehr Licht.« In der Hoffnung, daß die Neugierigen am Tor von diesem Schauspiel nichts gewahr wurden, gehorchte Yoti. Als er sich wieder umdrehte, sah er Bony auf Händen und Knien, mit dem Gesicht so dicht am Fußboden, als müsse er eine ganz dünne Nadel finden. Die blaubehoste Gestalt machte die merkwürdigsten Bewegungen : hier als erschrecke sie, dort als müsse sie angreifen, fast wie in einem 15
geheimen Ritus, dem freilich alles Furchterregende durch die elegante blaue Wäsche und das beigefarbene Oberhemd genommen wurde. Plötzlich verschwand die Gestalt mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit im vorderen Schlafzimmer. Yoti hörte, wie die Springrollos hochschnellten. Die Fliegen wurden ihm lästig, die Luft war schwer und muffig vom Geruch des Todes. Die schwachen Geräusche draußen schienen Angst zu haben, hereinzudringen, und das Schwirren der Fliegen im Raum klang, als hätten sie ihre Flügel mit Krepp umwickelt. Er wußte, daß Essen und der Wachtmeister vorne im Hauseingang standen, und fragte sich, ob sie ihn wohl spöttisch belächelten, weil er wie ein gut geschulter Kammerdiener mit dem Anzug des Herrn über dem Arm dastand. Er war froh, als Bony wiederkam ; auf allen vieren kroch er aus dem Schlafzimmer durch den Flur heran, machte vor dem Garderobenständer in der kleinen Diele halt und neigte immer wieder die Stirn bis auf das Linoleum. Als er dann endgültig aus den hinteren Räumen der Wohnung wieder erschien, ging er aufrecht wie normale Menschen. Ohne etwas zu sagen, zog er seine Hose an. Vielleicht erwartete er, daß Yoti ihm ins Jackett half, aber da machte der Sergeant nicht mit. Nachdem Bony den Rock angezogen und die Hemdsärmel sorgsam zurechtgerückt hatte, lächelte er – nach Yotis Gefühl rätselhaft – und sagte : »Bringen Sie den Oberwachtmeister herein, der die Tote gefunden hat. Essen ist es, glaube ich. Wir wollen in der Diele über die Sache sprechen.« Sie fanden Bony dann mit dem Rücken ans Fenster gelehnt, wie er sich eine Zigarette drehte. »Erlauben Sie mir, Ihnen das Bild, das ich mit nicht geringem Interesse studiert habe, zu vergegenwärtigen«, sagte er, als müsse er an seine Zuhörer eine schwierige Forderung stellen. »Zuweilen sind die Umstände dem Aufklärenden günstig. In diesem Fall waren sie es. Als Sie, Oberwachtmeister Essen, das Haus, durch die unverschlossene Vordertür betraten, gefolgt von Mr. Thring, gingen Sie zuerst in die Diele, nachdem Sie Thring gesagt hatten, er solle im Flur bleiben. Von dort gingen Sie in das Schlafzimmer gegenüber und blieben ein Weilchen in der Tür stehen. Dort stießen Sie einen Schreckensruf aus, weil Thring jetzt zu Ihnen getreten war, hinter Ihnen stand und das sah, was Sie sa16
hen. Sie sagten ihm nochmals, er solle im Flur bleiben, und diesmal tat er das auch, während Sie hineingingen, das Licht anknipsten und sich die Tote ansahen. Dann gingen Sie ans Bettchen des Babys und von da aus wieder zur Tür. Sie durchquerten den Flur, öffneten die Tür zur Linken, dann die nächste rechts, und gelangten zur Küche, wo Sie die Hintertür zu öffnen suchten. Wieder durch den Flur nach vorn, begaben Sie sich mit Thring vor die Haustür, schlossen diese und wiesen Thring an, dazubleiben und niemanden einzulassen. Sie gingen dann fort, um mit Sergeant Yoti zu telefonieren. Habe ich mich in irgendeiner Kleinigkeit geirrt?« »Nein, es stimmt alles genau, Sir.« »Als Sergeant Yoti ankam, folgte er Ihnen ins Haus, während Thring und der Wachtmeister auf Anordnung draußen blieben. Sergeant Yoti ging sofort zum Schlafzimmer, und Sie folgten ihm bis an die Tür. Wie vorher Sie selbst, so stand auch Sergeant Yoti kurze Zeit auf der Schwelle, ehe er auf Fußspitzen ins Schlafzimmer eintrat. Solange er dort drin war, ging er auf den Fußspitzen zu der Toten, zum Kinderbettchen, und wieder zur Tür. Sie folgten ihm von der Schlafzimmertür durch den Flur zur vorderen Haustür und gingen hinter ihm hinaus. Nochmals : Irre ich mich in Einzelheiten?« »In keiner, Sir.« »Als Doktor Nott beim Hause eintraf, haben Sie, Sergeant Yoti, ihn hineingeführt«, fuhr die kühle Stimme leise fort. »Er ging ins Schlafzimmer – ich möchte annehmen : vor Ihnen? Das ist der einzige Punkt, in dem ich Zweifel habe – ging sofort an die Fenster und öffnete die Jalousien. Nach Untersuchung der Toten schloß er sie wieder, um sich dann zu Ihnen in den Flur zu begeben. Etwas falsch?« »Nein«, erwiderte Yoti. Bony lachte zufrieden. »Wenn ich Diktator wäre, würde ich für Fußbodenbelag nur die Herstellung, den Verkauf und Gebrauch von Linoleum zulassen und alles andere Material verbieten. Darf ich nun, bevor ich den nächsten Schritt unternehme, Ihrer Mitarbeit versichert sein?« Nachdem sie ihm alle ihre Bereitwilligkeit erklärt hatten, führte er aus, er habe, als er sich einverstanden erklärte, die Nachforschungen nach den verschwundenen Säuglingen zu übernehmen, die Bedingung 17
gestellt, daß die staatliche Kriminalpolizei sich in seine Arbeit nicht einmischen dürfe. Dieser dazwischengekommene Mordfall könne allerdings die getroffene Vereinbarung stören. Yoti sagte mit einem Eifer, über den Essen sich wunderte : »Wir wollen die Kerls aus der Stadt gar nicht hier haben, Sir. Von denen haben wir die Nase voll. Essen hat das Spezialfach Fingerabdrücke in Sydney gelernt und kann auch sehr gut fotografieren. Also könnten wir die Herren aus Sydney ganz gut entbehren.« »Wir werden sie auch nicht brauchen, und ich will Ihnen jetzt sagen, was das Linoleum mir erzählt hat«, fuhr Bony fort, indem er seine Genugtuung deutlich merken ließ. »Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß die jetzt tote Frau am Tag vor der Todesnacht ihre Fußböden gebohnert hat, und da wir wissen, wer dieses Haus betreten hat, nachdem Mr. Thring die Polizei anrief, gewinnen wir durch Ausscheiden der uns bekannten Personen die Fußspuren unbekannter Personen. Nach meinen Feststellungen sind in diesem Hause, seitdem Mrs. Rockcliff ihre Fußböden gebohnert hat, zwei Unbekannte gewesen. Einer war ein Mann, und zwar ein großer, der Schuhe Größe 8 trägt, die unter den Spitzen an der Außenseite merklich abgetreten sind. Es kann ein Betrunkener gewesen sein oder ein nach langer Reise gerade an Land gegangener Seemann. Er kam durchs Fenster der Spülküche herein und hat nachher an der Wand hinter der Schlafzimmertür gestanden, von wo aus er sein Opfer niederschlug. Später ist er durch dasselbe Fenster wieder hinausgestiegen. Die zweite Person war eine Frau. Sie kam durch die Vordertür herein, stand eine Weile im Flur, vermutlich um zu lauschen, ob sie auch allein im Hause sei. Sie betrat dann das Schlafzimmer, wo sie unters Bett kroch. An der anderen Seite hervorkommend, stand sie neben dem Kinderbett. Sie trägt Schuhgröße 6, spitze flache Schuhe, in denen sie beim Gehen das Gewicht stark nach vorn verlagert, weil sie wahrscheinlich sonst immer hochhackige Schuhe trägt. Sie entfernte sich durch die Vordertür.« »Mit dem Baby«, ergänzte Essen. »Da das Kind keine Fußspuren hinterlassen hat, kann ich darüber nichts Bestimmtes behaupten«, fuhr Bony sofort dazwischen. »Auch der Mann kann das Kind genommen haben, denn er hat ebenfalls neben dem Kinderbettchen gestanden. Nach meinem Empfinden haben 18
diese beiden Personen unabhängig voneinander gehandelt, eine Annahme, die durch die Tatsache, daß die Frau unter das Bett kroch, zweifellos gestützt wird, und dadurch, daß sie sich unter dem Bett befand, als der Mann das Schlafzimmer betrat und Mrs. Rockcliff tötete. Was ist Ihnen über die Erschlagene bekannt?« »Sehr wenig«, antwortete Yoti, »und das bißchen wissen wir von Doktor Nott. Sie ist aus Melbourne hierher nach Mitford gezogen. Dort war ihr Hausarzt ein gewisser Dr. Browner in Glen Iris. Das hiesige Haus hat sie durch Mitforder Grundstücksmakler gemietet.« »Das ist immerhin ein Anfang«, sagte Bony sanft. »Wie stark ist übrigens Ihr Stab?« »Zwei Wachtmeister und Essen als Oberwachtmeister. Könnten noch zwei Mann von Albury zuziehen.« »Könnten Sie Essen entbehren und sich selbst mit diesem Fall ein wenig beschäftigen?« »Aber gewiß.« »Schön. Lassen Sie die Tote ins Leichenhaus bringen und versuchen Sie von den Grundstücksmaklern Näheres über sie zu erfahren. Mordspuren gehen rasch verloren, und diese ist jetzt vierzig Stunden alt. Wir wollen nicht, daß Ihre Kriminalpolizei in den Spuren herumtrampelt, vielleicht noch nützliche Zeugen verschüchtert oder uns beiden Ärger macht, wie? Ich werde daher diesen Mord nach Sydney melden, und Sie melden Ihrem Chef, daß ich die Sache übernommen habe.« Und zu Essen sagte er : »Können Sie Fingerabdrücke und Fotos gleich aufnehmen?« »Jawohl, Sir.« »Dann warte ich hier, bis Sie fertig sind. Und nebenbei gesagt : Wenn wir unter uns sind, tun Sie mir den Gefallen, das ›Sir‹ fortzulassen und bei ›Bony‹ zu bleiben. So werde ich von allen meinen Freunden genannt.« Yoti lachte, ihm machte das diebischen Spaß. »Jetzt weiß ich’s«, stimmte er begeistert zu. »Jetzt weiß ich auch, wie’s kommt, daß Sie bis jetzt jeden Fall aufgeklärt haben.« »Ich auch«, bestätigte Essen, dessen breites Gesicht vor Begeisterung, die er gar nicht merken lassen wollte, noch breiter wurde.
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ls Bony allein im Haus war, holte er aus der Diele ein mit Satin bezogenes Kissen, kniete sich im Flur darauf und umrandete mit Kreide drei verschiedene Fußspuren, eine männliche und zwei weibliche. Dann betrat er ein zweites mäßig möbliertes Schlafzimmer und fand in einem Wäscheschrank ein geeignetes Laken, das er mit ins vordere Schlafzimmer nahm. Der goldene Sonnenstrahl, der durchs Fenster fiel, war inzwischen von der Hand der toten Frau auf das elfenbeinfarbene Korbgeflecht des Kinderbetts gewandert, – sonst war das Bild unverändert. Bony schaltete das Licht ein und betrachtete die Tote. Aus ihrer Lage ergab sich für ihn als wichtig nur, daß sie den tödlichen Schlag empfangen haben mußte, als sie bereits im Zimmer war : Ihr Alter schätzte er auf etwa dreißig. Sie war nicht schön, aber hübsch gewesen, besonders hübsch das kastanienbraune Haar. Die Augen waren blau. Die Füße, von denen er die Schuhe abgezogen hatte, und die langen Beine waren wohlgeformt. Sie trug ein Schneiderkostüm aus blauem Gabardine. Nur dreißig Jahre hat sie gelebt, um die Hälfte ihres Lebens betrogen, dachte Bony und war froh, als er das Laken über sie gebreitet hatte. Aber auch so sah er sie im Geist genau vor sich. Die Lage der Wunde und der Fleck auf dem Linoleum bewiesen, daß sie durch einen Schlag auf die Schädeldecke getötet worden war. Da sie nach seiner Schätzung fast 1,80 m groß war, mußte ihr Mörder auch groß, gewesen sein. Daß sie an diesem letzten Abend ihres Lebens keinen Hut getragen hatte, wäre in der Kleinstadt Mitford auch durchaus nicht aufgefallen. Das rot verklebte Haar ging Bony nicht aus dem Sinn, und er hatte das Gefühl, als lauere im Zimmer ungreifbar ein unheimliches Wesen, das ihn mit starrem Blick verfolgte. 20
Er betrachtete das Kinderbettchen. Die Decke war zurückgeschlagen, der Eindruck des kleinen Köpfchens auf dem Kissen deutlich erkennbar. Die Bettwäsche war von guter Qualität, und eine kleine Kommode ganz mit teurem Babyzeug angefüllt. Diese winzigen Kleidungsstücke prüfte Bony mit dem naiven Erstaunen, das alle kraftvollen Männer vor so zarten Gegenständen zeigen. Ein gerahmtes Bild des Kindes stand auf dem Frisiertisch, und über dem Kopfende des Bettes hing dasselbe Bild in klein. Das schelmische Gesichtchen war mit einem Schal umhüllt, und Bony war überzeugt, daß nach mehreren Monaten weder er noch jemand anderes es wiedererkennen würde. Eine Frau vielleicht … Eine Frau konnte schon allein aus dem Kinderbettchen, den Kleidungsstücken in der Kommode und gewissen Dingen in der Küche manchen Schluß ziehen, und eine im Umgang mit Säuglingen erfahrene Frau hätte vielleicht allein nach dem Saugfläschchen auf dem kleinen Tisch wertvolle Fingerzeige geben können. Ob nicht die Wand hinter der Tür ihm Aufschlüsse gab? Er nahm die am Kopfende des Bettes befestigte Leselampe ab, um diese Wand und die Stelle, wo der Mörder auf sein Opfer gewartet haben mochte, zu untersuchen. Ja, hier gab es für ihn Zeichen zu lesen, aber er mußte einen Stuhl nehmen, um sie zu entziffern. Erst nach einer Weile vermochte er den schwachen Fleck auf dem gelblichen Anstrich zu erkennen, der nur von einer öligen Substanz stammen konnte : von Haaröl am Hinterkopf des Mörders. Nach der Höhe des Flecks vom Boden aus mußte der Mann gut einen Meter achtzig groß gewesen sein. Hängengebliebene Haare fand Bony nicht, aber vielleicht ließ sich später mit dem Vergrößerungsglas eins entdecken. Er konnte das Geräusch eines Autos in der Ferne, das Kreischen eines Kakadus und die Rufe eines Jungen hören, doch in seiner Nähe war es totenstill, und er spürte im Nacken den eisigen Atem des noch Unnennbaren. Als er wieder im Flur war, ging er zur Küche, studierte die dort stehende Milchflasche des verschwundenen Kindes und betrachtete mit gefurchter Stirn die Gegenstände auf dem Bord beim Küchentisch und dem Gestell über dem Herd. Er blickte in die Schränke, das Fenster der Spülküche überließ er Essen. Der konnte unschwer feststellen, daß der 21
gewöhnliche Schnappverschluß mit einem Messer geöffnet und wieder geschlossen worden war. In dem von einem hohen Bretterzaun umgrenzten Hinterhof hing Wäsche auf der Leine. Der Hof war betoniert, ein betonierter Weg führte von dort zur Vorderseite des Hauses. Die Wäsche auf der Leine war strohtrocken und staubig. Eine kluge Frau hätte vielleicht aus ihrem Zustand wertvolle Schlüsse ziehen können. Ja, eine Frau wäre hier nützlich – zum Beispiel seine Marie, die in Banyo, einem Vorort von Brisbane, ihr Heim regierte und – sein Herz, wo immer er war. Als Essen mit seiner Kamera und anderem Gerät kam, überließ ihm Bony die weitere Tätigkeit im Hause, mit der Anordnung, nichts zu verändern. Vor der Haustür fragte er den dort stehenden Wachtmeister nach seinem Namen und sagte ihm, er solle die Tür offenlassen, um zu sehen, ob Essen Unterstützung brauchte. Er setzte seinen grauen Hut auf und trat in den grellen Sonnenschein hinaus. Die sich nach Westen neigende Sonne war unumstritten Herrscherin über diesem Land am Murrayfluß. Die Menschen blickten sie niemals an, denn sie waren, ständig von ihr umgeben : Sie sprang ihnen vom erhitzten Erdboden entgegen, von jedem Gegenstand in ihrer Nähe und vom kobaltblauen Himmel. Die Schatten waren bedeutungslos, sie blieben nur dunkle Risse in dem alles erfassenden goldenen Glast. Die paar Neugierigen draußen warteten noch auf Ereignisse, und Bony saß bei Thrings im Vorderzimmer, als der Wagen vom Beerdigungsinstitut kam und vor Nr. 5 hielt. In diesem Vorderzimmer von Nr. 7 spürte Bony so recht seinen Widerwillen gegen Mrs. Thring, eine magere Frau mit einem Habichtskopf, die – bildlich gesprochen – ihren geduldigen Mann eigentlich zum Mord herausfordern mußte. Sie sagte, es sei zehn Minuten nach acht gewesen an dem Montag abend, als Mrs. Rockcliff ihre Wohnung verließ. Sie hätte, als sie in der schon beginnenden Dunkelheit ihre Blumen begoß, genau gesehen, wie Mrs. Rockcliff aus ihrer Haustür auf die Straße trat, ohne Hut und auch ohne ihr Kind. Nein, sie hätte keinen Wagen für das Kind gehabt. Ja, abends war sie ziemlich oft ausgegangen – eigentlich überhaupt fast nur abends. Sie sei bestimmt nicht auf guten Wegen gewesen. 22
»Na, nun mal langsam«, beschwerte sich ihr Mann, »sicher ist Mrs. Rockcliff mal ins Kino oder zum Tanzen gegangen oder hat Bekannte besucht. Dagegen kannst du doch nichts sagen.« »Eigentlich nicht, aber du mußt ja auch bedenken, daß sie selbst nie Besuch von Bekannten gehabt hat. Sogar der Methodistenprediger hat die Besuche bei ihr aufgegeben«, widersprach seine Frau. Ein häßliches, spöttisches Lächeln verzerrte ihre Lippen. »Aber das Kind hat sie allein im Haus gelassen – wie einen Kanarienvogel im Bauer mit ’nem Tuch darüber. Ich habe es einmal schreien gehört, während sie sich amüsieren gegangen war, und als ich ihr das sagte, hat sie mir deutlich genug klargemacht, daß ich mich um meine eigenen Sachen kümmern sollte.« »Aber richtig vernachlässigt hat sie das Kind doch nicht, oder?« »Nein, in anderer Weise nicht«, erwiderte Mrs. Thring naserümpfend. »Sauber war das Kind ja.« »Und Sie haben den Eindruck, daß Mrs. Rockcliff keine Bekannten hatte?« »Ja. Und ich habe mir auch immer gedacht, Inspektor, daß sie gar keinen Mann gehabt hat.« »Kann ja Witwe gewesen sein«, warf Mr. Thring ein. »Davon hat sie mir jedenfalls kein Wort gesagt. Meiner Ansicht nach lebte sie zu ruhig, unnatürlich ruhig für eine junge Frau von ihrer Art. Sie muß fast den ganzen Tag gelesen haben. Ich habe öfter gesehen, daß sie ganze Packen von Büchern aus der Stadtbibliothek zum Umtauschen bei sich hatte, wenn sie wegging. Meinen Sie, daß ihr Kind entführt worden ist wie die andern, Inspektor?« »Daß läßt sich jetzt noch nicht entscheiden«, gab Bony zurück. »Mrs. Rockcliff kann ihr Baby ja nachmittags mit aus dem Hause genommen und bei Bekannten gelassen haben – vielleicht auch im Krankenhaus. Wir werden sehen.« »Nein, sie hat es bestimmt im Hause gelassen«, erklärte Mrs. Thring. »Sie ging um zehn nach acht fort, wie ich Ihnen schon sagte. Um halb acht hatte sie das Baby aus der Wiege auf der vorderen Veranda genommen, und als sie wegging, ist es bestimmt in der Wohnung geblieben.« Bony stand auf und sagte : »Freut mich, daß wir diesen Punkt klarstellen konnten, Mrs. Thring. Haben Sie vielleicht auch bemerkt, wie Mrs. Rockcliff gekleidet war?« 23
»Ja. Sie trug ihr blaues Kostüm. Und wenn ich nicht irre, hatte sie auch Bibliotheksbücher bei sich.« »Gut, danke – Mr. Thring : Sie standen doch im Flur, als Oberwachtmeister Essen das Schlafzimmer betrat. Können Sie sich erinnern, ob in dem Zimmer das Licht an war?« »Es war nicht an, Inspektor. Er hat es erst angeknipst.« »Sie gingen dann durch den Flur und standen dicht hinter Essen, der in der Tür zum Schlafzimmer stehengeblieben war. Wissen Sie noch, ob die Jalousien heruntergelassen waren?« »Sie waren geschlossen«, antwortete Thring ohne Zögern. »Danach sieht es also aus, als ob Mrs. Rockcliff an dem Abend die Jalousien geschlossen hat, bevor sie das Haus verließ«, blieb Bony bei dem Punkt. »Es war zehn Minuten nach acht und noch nicht so dunkel, daß sie Licht machen mußte. Auf der Diele hat sie beim Weggehen die Jalousien nicht heruntergelassen. Hat sie denn bei früheren Gelegenheiten, wenn sie das Baby allein in der Wohnung ließ, die Jalousien geschlossen?« »O ja«, erwiderte Mrs. Thring. »Und das Licht ließ sie dann auch brennen.« »Hm. Das dürfte wohl kaum von Bedeutung sein«, sagte Bony sanft. »Ich glaube, sie hat, wenn sie ausging, das Licht angelassen, damit die Leute denken sollten, sie wäre zu Hause«, sagte Mrs. Thring. »So kam es mir jedenfalls vor. Daß sie es das letztemal nicht anmachte, scheint mir darauf hinzudeuten, daß sie vielleicht nicht länger als eine halbe Stunde wegbleiben wollte. Um welche Zeit ist sie denn ermordet worden?« Bony ließ ihre Frage unbeantwortet. Thring begleitete ihn bis ans Gartentor, wo er als Entschuldigung für seine Frau erklärte, sie litte an einem Magengeschwür. Die Neugierigen hatten sich entfernt, auf dem Stuhl vor der Haustür von Nr. 5 saß jetzt ein anderer Polizeibeamter. Bony schritt in der Sonnenhitze durch die Straße mit den Häusern des bürgerlichen Mittelstandes und kreuzte eine andere, um auf die Hauptstraße zu gelangen. Hier waren die Häuser und die Gärten größer. In der stillen Luft hielten sich die Gerüche von Teer und Staub und der Duft von Rosen, Weintrauben und Pfirsichen. Nur ein Mann wie Bony vermochte in der Vielfalt der Gerüche auch den besonderen Duft des riesigen, dem Menschen noch 24
nicht gewonnenen Landes hinter den letzten Bewässerungskanälen zu spüren, den Duft des wahren, des ewigen Australien, wo für immer die Geister des uralten Alchuringa leben. Er überlegte gerade, wie er wohl reagieren würde, wenn Mr. Thring ihm gestände, er habe seiner Frau mit dem Tischmesser den Hals durchgeschnitten – da vernahm er eine Stimme, die gar nichts Galliges und Giftiges an sich hatte. »Von wo kommen denn Sie?« wollte die Stimme wissen. Bony blickte nach links. Die Stimme konnte der korpulenten Frau gehören, die hinter der kleinen Gartenpforte in einer dichten Hecke von Lambertiana stand, eine formlose Gestalt im leichten Sommerkleid. Über ihre breiten Schultern hinweg, an einem Band um den Hals, ein riesiger Strohhut. Ihr Gesicht war groß und rund, die Augen waren klein und braun, um ihre Mundwinkel spielte ein belustigtes Lächeln. »Wie bitte?« fragte Bony überrascht. »Woher Sie stammen, meine ich. Hier aus der Gegend des Murray River doch sicher nicht. Ihr Äußeres interessiert mich sehr.« »Madame, das Interesse besteht auch meinerseits«, sagte Bony mit einer leichten Verbeugung. »Wieviel Geld haben Sie auf der Bank?« »Was? Wie? Ach so. Nein, ich wollte nicht zudringlich sein. Ein Mann von Bildung, wie? Und mit einem guten Posten, nach Ihrem Anzug zu urteilen.« »Ihr fortgesetztes Interesse, Madame, wird weiterhin erwidert. Warum fragen Sie eigentlich soviel? Wer sind Sie? Was sind Sie, und wie geht es Ihnen?« Das runde, wettergebräunte Gesicht wurde durch ein Lächeln noch größer, die großen braunen Hände umspannten fest die Spitzen der Zaunlatten. Hinter ihr in dem dicht abgeschirmten Garten sagte eine Männerstimme : »Komm mal her, Schatz, ich möchte dir die Bilder von den Flaschenbäumen im Kimberleygebirge zeigen. Die Zeitschrift ist diesen Monat sehr gut.« »Moment, Henry. Ich stehe hier vor einer ganz besonderen Gattung Mensch, die keinesfalls zu den Stämmen im Tal des Murray gehört.« Und zu Bony gewandt, sagte sie : »Wer ich bin? Ich bin Mrs. MarloJones. Was ich bin? Ein aufdringliches Menschenkind. Und wie es mir geht? Ich bin entzückt, Sie kennenzulernen. Kommen Sie herein, damit 25
ich Sie mit Professor Marlo-Jones bekannt machen kann. Lehrstuhl für Anthropologie, jetzt im Ruhestand.« Das Tor wurde zum Willkommen weit geöffnet. Als die Einladung wortlos abgelehnt wurde, knallte es wieder zu. Hinter dieser nicht alltäglichen Frau erschien ein Riese von Mann, eine markante Persönlichkeit. Er mochte siebzig Jahre alt sein, wirkte aber in seinem Auftreten wie vierzig. Seine grauen lebhaften Augen gaben ihm etwas jugendlich Frisches, das dunkle Haar über der hohen, gebräunten Stirn war kaum angegraut. »Großer Gott«, sagte er laut, »woher hat du dieses Exemplar?« Jetzt blieb Bony aus wirklicher Neugier vor den zwei merkwürdigen Menschen stehen. Es erschreckte ihn, daß sie in ihm die Abstammung erkennen konnten : das Blut seiner mütterlichen Vorfahren, das tiefer in die Geschichte Australiens reichte als der tiefste Naturbrunnen im Lande. »Lizbeth, du hast diesen Mann beleidigt«, sagte der jugendliche Greis mit Donnerstimme. »Hoffentlich nicht, Henry. Ich möchte gern freundschaftlich mit ihm umgehen.« »Natürlich, Lizbeth.« Zu Bony : »Bitte sagen Sie uns, wer Sie sind.« »Ich bin Napoleon Bonaparte«, erklärte Bony jetzt freimütig. »In Wiederholung einer der Fragen, die Sie mir gestellt haben, Mr. Bonaparte : Was sind Sie?« fragte die Frau, jetzt bescheidener. »Ich bin Kriminalbeamter.« »Habe ich mir gedacht«, bestätigte sie. »Fährtenaufspüren muß Ihnen ja im Blut liegen. Und zur dritten Ihrer eigenen Fragen : Wie geht es Ihnen?« »Bis vor ein paar Augenblicken war mir nicht sonderlich wohl. Aber jetzt entschuldigen Sie gewiß, wenn ich mich um meine Geschäfte kümmere.« »Oh, gehen Sie doch noch nicht«, drängte die Frau, »wir sind nämlich im Grunde ganz normal.« »Daran habe ich nie gezweifelt«, log Bony feierlich. »Dann kommen Sie doch für ein paar Minuten herein. Ich mache Ihnen einen guten Tee, und Kuchen habe ich auch da.« Bony hörte gerade in diesem Moment, da er noch nicht wußte, ob er sich über die hartnäckige Überheblichkeit dieser beiden Leute ärgern 26
oder amüsieren sollte, ein Auto bremsen. Er sah, wie der große Mann über ihn hinwegblickte und vergnügt nach dem Wagen hinüberwinkte. Dann hörte er Sergeant Yoti sagen : »Dachte mir, daß Sie gern den Wagen hätten, Sir.« Mit Vergnügen bemerkte er das wachsende Erstaunen in den Augen der Frau. Der Mann sagte laut : »Bitte stellen Sie uns vor, Sergeant.« Yoti warf einen Blick auf Bony, der ihm einen zustimmenden Wink gab. »Professor Marlo-Jones und Gemahlin – Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte von Queensland.« Bony verneigte sich, das Ehepaar unwillkürlich auch. Sie sagten nichts. Als sie sich wieder gefaßt hatten, lächelte Bony. »Sonderbares Pärchen«, sagte er zu Yoti, als sie abgefahren waren. »Ganz harmlos aber«, erwiderte der Sergeant. »Er soll ein sehr kluger Kopf sein, und sie tut auf mancherlei Art viel Gutes.« »Richtiger Professor?« »Und ob. Im Ruhestand natürlich. Wohnt hier, um in der Nähe der Eingeborenensiedlung zu sein, die ein Stück weiter oben am Fluß liegt. Schreibt ein Buch über sie. Seine Frau gibt Unterricht in Botanik.« Bony lachte leise : »Hat mich scheint’s für eine neue Blume gehalten. Ich sollte auf einen Topf Tee mit Kuchen bei ihnen bleiben, Sie hat wohl gedacht, das sei genau das Richtige für ein Halbblut.« Er lachte noch, dann setzte er bitter hinzu : »Raten Sie mal, was ich meiner Selbstachtung und meinem Rang schuldig bin.« »Keine Ahnung«, erwiderte der jetzt vorsichtige Yoti. »Die Leichtigkeit, mit der ich hochmütigen Leuten eine lange Nase drehe. – Halten Sie bitte beim Postamt an, ich muß ein telegrafisches Gesuch an Chefinspektor Bolt in Melbourne schicken.«
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hefinspektor Bolt, der Chef der Kriminalpolizei von Victoria, der kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag stand, sah der unfreiwilligen Pensionierung mit Ingrimm entgegen. Er hatte viele Freunde und Bewunderer in der Abteilung, und darunter war die Oberwachtmeisterin Alice McGorr. Bony wußte zwar, daß Bolt von ihr viel hielt, hatte sie aber bisher nicht kennengelernt und auch von Bolt noch nichts über ihre Laufbahn gehört. Vater McGorr war einer der besten ›Büchsenöffner‹ seiner Generation gewesen, nachdem er in einer englischen Geldschrankfabrik gelernt und seine Kenntnisse ständig vervollkommnet hatte. Bolt, noch Sergeant, als er zum erstenmal mit McGorr zu tun bekam, der damals gerade einmal nicht im Gefängnis saß, hatte wesentlich dazu beigetragen, die ›Ferien‹ des berühmten Geldschrankknackers zu beenden. McGorr starb im Gefängnis, und zufällig erfuhr Mrs. Bolt durch ihren Kirchenverein, daß seine Frau und Kinder in bittere Not geraten waren. Sie besuchte das Haus, in dem die Witwe wohnte, um sich selbst von der Lage zu überzeugen, und erschien dort eine Stunde, nachdem Mrs. McGorr mit einem schweren Leiden ins Krankenhaus transportiert worden war. Mrs. Bolt wurde ins Vorderzimmer gebeten von Alice, einem großen, mageren, fünfzehnjährigen Mädchen, das ihr erklärte, die Mutter seit schon lange sehr krank gewesen. Die Besucherin wurde unbefangen freundlich behandelt und erfuhr, daß der älteste Sohn neunzehn war, in fester Arbeit stand, und die älteste Tochter mit achtzehn noch ihre erste Stellung als Stenotypistin hatte. Das dritte Kind war Alice, nach ihr kamen noch ein Mädchen von sechs und Zwillingsbrüder von etwas über zwei Jahren. Sie erfuhr auch, von anderer Seite, daß Alice McGorr 28
schon achtzehn Monate lang allein den Haushalt geführt, die kranke Mutter gepflegt und die kleineren Geschwister versorgt hatte. Die kinderlosen Bolts nahmen Alice an Kindes Statt an, als die Mutter gestorben war und kein Mitglied der Familie das geringste Interesse an Geldschränken und deren Öffnung ohne Schlüssel bewies. Alice McGorr konnte Abendkurse besuchen, und wenn sie den Chefinspektor anblickte, bot sie in ihrer Dankbarkeit ein schönes Bild. Sie lernte ihre Aufgaben beim Bettenmachen und Stubenfegen und sogar beim Kochen und bestand bald die Prüfung für Fortgeschrittene. Sie wohnten mitten in einem Industrievorort. Alice interessierte sich sehr für die Menschen in ihrem Bezirk und betätigte sich als soziale Helferin. Sie hatte die Gabe, kleine Brocken zufällig erfahrener Neuigkeiten rasch zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und so sah sich Bolt für seine menschenfreundliche. Tat bald über Erwarten belohnt. Als die Zwillinge aus der Schule kamen und sich Arbeit gesucht hatten, während die Frau des ältesten Sohnes den Haushalt übernahm, trat Alice in den Dienst der Polizei. Sie besaß alle Gaben, die der Beruf verlangte. Schon bevor sie zum Spezialtraining geschickt wurde, konnte sie wie eine Tigerin kämpfen, und als sie in den aktiven Dienst übernommen wurde, war sie im Jiu-Jitsu ihren Lehrern überlegen. Sie wurde in die übelsten Viertel geschickt, und nie geschah ihr ernstliches Malheur. Schwere Jungen versuchten sie kampfunfähig zu machen und wurden selbst von ihr zum Krüppel geschlagen. Einem Killer, der auf sie schoß, zerschnitt sie mit dem Messer das Gesicht. Es kam der Abend, an dem Alice von ihrem Vorgesetzten aufgefordert wurde, sich bei Bolt in der Wohnung dienstlich zu melden. Bolt sagte : »Alice, willst du mir einen Gefallen tun?« »Aber gewiß, jeden«, erwiderte sie ruhig und ernst. »Ich habe einen Freund«, fuhr Bolt fort, »der eingebildetste Kerl in Australien, der einem auf die Nerven fallen kann, weil er meint, er weiß alles – manchmal. Ich kenne ihn schon Jahre, und wir sind noch gute Freunde. Er ist ein Halbblut, aber weißer als ich. Er ist –« »Unmöglich, Papa.« »Doch, ist er. Streite nicht mit mir. Sein Name ist Napoleon Bonaparte.« »Von dem hab’ ich schon gehört, Papa. Weiter.« 29
»Bony – alle seine Bekannten nennen ihn so – scheint den Auftrag, die Entführung der vier Säuglinge in Mitford aufzuklären, angenommen zu haben. Liegt nicht ganz in seinem Rahmen, seine Spezialität sind schwierige Mordfälle. Jedenfalls ist er bereits in Mitford und hat mich gebeten, dich zur Unterstützung zu ihm zu schicken. Das macht er ohne nachzudenken. Überlegt gar nicht, daß wir zu Victoria gehören und er für Neusüdwales arbeitet. Staatliche Grenzen und zwischenstaatliche Eifersüchteleien zählen, bei ihm nicht. Er bittet einfach um dies oder jenes und erwartet immer die Zusage, wie selbstverständlich. Willst du hinfahren?« »Gern möchte ich das.« »Schön. Ich habe alles vorbereitet. Du hast natürlich in Mitford dienstlich keine Selbständigkeit, trittst nur als Bonys private Hilfskraft auf. Morgen früh um zehn geht von Broken Hill ein Flugzeug nach Mitford. Du mußt den Bus nehmen, der um neun Uhr dreißig abfährt. Frag dort nach deiner Flugkarte, sie ist schon bezahlt.« »All right. Ohne Uniform doch?« Alice stand auf. »Schönen Dank, Papa. Ich werde dich und deinen Freund nicht enttäuschen. Die verschwundenen Babys werde ich im Nu wiederhaben. Habe alle Meldungen über die Fälle gelesen. Arme kleine Dinger. Sie tun mir so leid.« Am nächsten Morgen um elf landete Alice McGorr in Mitford und wurde von Oberwachtmeister Essen begrüßt. »Befehl, Sie abzuholen, Miss McGorr, und Sie gleich mit nach Hause zu nehmen. Sie wohnen bei uns und sollen sich erst mal tüchtig stärken, ehe Sie beim Boss zu wirken anfangen. Geben Sie mir Ihren Koffer.« Alice McGorr mochte Essen und seine Frau gut leiden. Auch ihr Zimmer gefiel ihr, und das Baby fand sie reizend. Sie fand die Hauptstraße und den Geruch des Städtchens romantisch – der Geruch reifer Früchte, trocknender, kochender und verfaulender Früchte, und der andere, undefinierbare Geruch, die eigenartige Essenz des unerforschten Binnenlandes, der weiten Ebenen mit Salzbusch und den Mulgawäldern. Ihr gefiel auch das Haus in der Elgin Street, obgleich sie im Flugzeug den Bericht über den Mord in diesem Haus gelesen hatte. Essen führte sie in die Diele. »Miss McGorr, Sir«, sagte er nur und zog sich zurück. »Ah, Miss McGorr ! Ich bin entzückt, daß Sie herkommen konnten. Bitte setzen Sie sich und rauchen Sie, wenn Sie wollen.« Bony rückte ihr 30
einen Stuhl zurecht und lächelte sie an, ohne sich den Schrecken über ihre Erscheinung anmerken zu lassen. Er gab ihr Feuer für ihre Zigarette, setzte sich und fragte nach Chefinspektor Bolt und Frau. Sie mochte Napoleon Bonaparte gleich leiden. Er hörte ihr zu und versuchte, sich ein klares Bild von ihr zu machen. Ihr Gesicht hatte tragische und heroische Züge. Der tragische Ausdruck kam daher, daß sie fast kein Kinn hatte. Die Augen waren von sanftem Braun, und schön. Auch ihre Hände waren schön und gepflegt. Als er ihr vorschlug, den Hut abzulegen, sah er die breite Stirn und die Frisur, die ihm mißfiel : straffes, nach hinten zu einem Knoten gebundenes Haar. Der Hut, aus weißem Stroh, war niedrig und stand ihr schlecht. Ihre Kleidung – aber bevor er sich klar wurde, was daran unschön war, gab sie ihm einen Brief von Chefinspektor Bolt. »Lieber Bony ! Nun haben Sie Ihren Willen. Preisen Sie sich glücklich. Denken Sie an das, was ich Ihnen schon von ihr gesagt habe. Sie wird Ihnen gute Dienste leisten, denn sie besitzt so erstaunlich viele Fähigkeiten, wie ich nur selten an einem Menschen beobachtet habe. Sie können ihr alle Ihre Geheimnisse anvertrauen und Ihre Sünden beichten – sie wird niemandem davon erzählen, höchstens mir. Eins behalten Sie im Auge : Die Frau hat keinerlei Schwächen, nur bei Kindern und Kranken, darauf können Sie sich verlassen.« Dem Brief beigefügt war die Mitteilung eines Kriminalbeamten, der sich mit Dr. Browner aus Glen Iris unterhalten hatte. Der Arzt erklärte, eine Mrs. Rockcliff gar nicht zu kennen. Auch habe er in den letzten anderthalb Jahren in seiner Praxis keinen Fall von Schwangerschaft gehabt, die nicht normal durch eine Geburt beendet worden sei. Als Bony den Brief auf einen Stapel Papiere fallen ließ, fühlte er den forschenden Blick der Frau. Als er sie ansah, hielt sie das gegenseitige Mustern ohne Wimperzucken aus. Sie war nach seiner Schätzung fünfunddreißig. Groß und eckig gebaut, hatte sie kräftige Schultern und starke Arme. Als er lächelte, verschwand der warme, anerkennende Ausdruck aus ihrem Gesicht ; es wurde kühl. »In der Bibel steht, daß es eine Zeit fürs Geborenwerden und eine fürs Sterben gibt«, sagte Bony. »Eigentlich müßte es auch eine für die ehrliche Aussprache geben. Ich will jetzt mit Ihnen offen reden. Wenn ich Fotos brauche, nehme ich mir einen Fachmann. Will ich wissen, weshalb ein Mensch an Krämpfen gestorben ist, so befrage ich einen 31
Spezialarzt. Jetzt will ich meine Kenntnisse von Säuglingen erweitern, und das ist der Grund, weshalb ich um Ihre Mitarbeit gebeten habe. Sie verstehen doch etwas von Babys, nicht wahr?« »Ich war dreizehn, als Mutter krank wurde, Sir, und hatte noch die Zwillinge und eine kleine Schwester zu versorgen. Ja, ich verstehe etwas von kleinen Kindern.« »Und Sie haben in Ihrer Dienstzeit noch mehr dazugelernt.« »Mehr über Eltern, Sir.« »Ich habe mich bereit erklärt, das Verschwinden von fünf Säuglingen in dieser Stadt aufzuklären, Miss McGorr. Würden Sie mir dabei assistieren?« In ihren Augen las er die Bereitschaft. »Sicher würde ich das, Sir.« »Wir werden zunächst gemeinsam arbeiten. Später möchte ich gern, daß Sie die amtlichen Akten über die vier verschwundenen Kinder studieren, und werde Ihnen in großen Zügen erklären, was über das fünfte Kind bekannt ist, das höchstwahrscheinlich am letzten Montagabend zur gleichen Zeit, als seine Mutter ermordet wurde, hier aus dem Haus entführt worden ist. Diese Akten sind von Männern aufgesetzt worden, beachten Sie das : von Männern, die beim Blick in einen Kinderwagen nicht fähig sind, zu sagen, ob das Kind darin ein Mädchen oder ein Junge ist. Könnten Sie das?« »Bei sehr kleinen Kindern kann man es eigentlich nur raten, aber oft würde ich mich wohl nicht irren.« »Hm … Warten Sie hier, ich muß Ihnen etwas zeigen.« Die braunen Augen folgten ihm, als er hinausging. Sie saß seltsam apathisch da, ihre schön geformten Hände, die auf dem Tisch lagen, bildeten einen scharfen Gegensatz zu den harten muskulösen Unterarmen. Ein kleines Lächeln lag um ihren unglücklichen Mund, doch es schwand gleich, als Bony mit zwei Säuglingsflaschen zurückkam, die er nebeneinander auf den Tisch stellte. »Sagen Sie mir, was Ihnen an diesen Flaschen auffällt«, forderte er sie auf. »Sie können sie ruhig anfassen, die Fingerabdrücke sind schon abgenommen.« Alice McGorr hielt die Flaschen einzeln prüfend ans Licht. In beiden war die Flüssigkeit geronnen, ein Teil des Inhalts schien eine kompakte Masse zu sein, der Rest sah aus wie bläuliches Wasser. Sie betrachtete 32
an den Flaschen sehr aufmerksam die Gummisauger, stellte sie dann wie vorher auf den Tisch und setzte sich. »Die Flaschen sind von verschiedenem Fabrikat, aber beide von der üblichen Größe«, begann sie. »Diese hier enthält ein Nahrungsmittelpräparat, die andere Kuhmilch. Der Sauger an der ersten ist schon längere Zeit benutzt worden, er ist weich vom häufigen Sterilisieren. Der an der Flasche mit Milch dagegen ist noch ganz neu. Zwar auch schon sterilisiert, aber sehr selten gebraucht oder gar nicht. Es besteht noch ein Unterschied : Das Loch in dem älteren Sauger ist mit einer heißen Nadel erweitert worden, das an dem neuen dagegen nicht.« »Sehr gut, Miss McGorr. Ich darf wohl annehmen, daß diese Sauger im ungebrauchten Zustand alle die gleiche Lochgröße haben?« »Ja, Sir. Die Hersteller richten sich dabei nach den Fähigkeiten des durchschnittlichen Säuglings, um das rechte Maß für die Arbeit von Mund und Halsmuskeln beim Ansaugen der Nahrung zu erzielen. Häufig aber ist ein Baby zu schwach oder auch zu träge. Es ist, als ob man an einer zu fest gestopften Zigarette zieht, wissen Sie. Dann erweitert eben die Mutter das Loch mit einer Nadel.« »Und das Baby ist dann zufrieden?« »Ja. Nur darf das Loch auch nicht zu groß sein, sonst kriegt das Kind den Schluckauf«, fuhr Alice ganz ernst fort. »Hm, als wenn einer das Bier zu schnell ’runtergießt«, erklärte Bony, ohne ein Lächeln zu wagen. »Ich will diese Flaschen wieder fortstellen. Warten Sie bitte hier.« Als er wieder kam, sagte er : »Mrs. Rockcliff hatte dieses Haus gemietet, es aber selbst möbliert. Vorigen Montag ist sie abends kurz nach acht ausgegangen und hat das Baby in seinem Bettchen am Fußende ihres eigenen Bettes gelassen. Anscheinend ist sie häufig abends fortgegangen und hat es sich selbst überlassen. Für den Augenblick will ich Ihnen nichts weiter erklären, aber bevor wir zum Essen gehen, möchte ich Ihnen sozusagen das Haus übergeben, damit Sie die Antwort auf einige Fragen finden können. Erstens : Wie stellen Sie sich Mrs. Rockcliffs Charakter vor? Zweitens : Welche Gewohnheiten hatte sie zu Haus? Drittens : Weshalb enthält die Flasche aus dem Schlafzimmer Kuhmilch und die andere, die in der Küche stand, ein Präparat? Und was Sie sonst noch alles an Schlüssen zu ziehen vermögen.« 33
Eine volle Stunde beobachtete Bony sie stumm bei ihrer Tätigkeit, ohne sich bemerkbar zu machen. Sie untersuchte das Bettzeug, das Innere des Kinderbettchens und die Kleidungsstücke im Schrank. Sie wühlte in den Schubladen und Schränkchen, nahm Gegenstände von den Wandborden und betrachtete fachmännisch die Kochtöpfe und Geräte. Sie holte die Wäsche von der Leine, tastete die Gardinen ab, drehte die paar Bilder im Zimmer um und betrachtete jeweils die Rückseite, hob das Linoleum an den Kanten hoch, blätterte in den Zeitschriften und klappte die paar vorhandenen Bücher auf. Als sie fertig war, hatte sie schmutzige Hände, und ihr Haar war vor Feuchtigkeit strähnig. »Die Frau ist stolz auf ihr Baby gewesen«, sagte sie, als sie in der Diele am Tisch saß und eine Zigarette aus Bonys Spezialschachtel rauchte. »Das Zeug des Kindes ist Handarbeit und aus teurem Material. Genäht ist es ganz vorzüglich. Ich kann mir vorstellen, wie sie daran gearbeitet und sich etwas Schönes für ihr Kind ausgedacht hat.« »Und trotzdem hat Mrs. Rockcliff ihr Kind abends stundenlang allein gelassen«, murmelte Bony. »Es reimt sich nicht zusammen«, gab Alice McGorr zu. Sie kniff die Augen zu, drei senkrechte Falten standen auf ihrer Stirn. »Wie hat die Frau ihren Lebensunterhalt bestritten?« »Wissen wir nicht.« »Kein Geld – Handtasche?« »Keine Handtasche, kein Geld, kein Bankbuch. Ihr Bild ist in jeder Bank gezeigt worden, niemand konnte sie identifizieren.« »Sie muß aber Geld gehabt haben, denn sie hat gut gelebt. Sie verstand zu kochen und nahm nicht nur die einfachen Zutaten. Sie haßte Schmutz und Unordnung, hatte Interesse an Geographie und las lieber Reisebücher als Romane. In der Kleidung hatte sie einen Geschmack, der über mein Verständnis geht, aber da bin ich wahrhaftig nicht maßgebend. Teuer war ihr Zeug jedenfalls. Also muß sie Geld gehabt haben, mehr als ich zum Beispiel verdiene.« »Ich habe diesen Punkt bei meinen Überlegungen nicht außer acht gelassen«, sagte Bony. »Bitte weiter.« »Es reimt sich nicht zusammen«, wiederholte sie. »Sie mußte abends fortgehen und ließ das Baby allein im Hause. – In Geldverlegenheit war sie nicht. Die Säuglingskleidung ist durchweg aus dem feinsten, teuer34
sten Material. Es fehlte an nichts. Sie empfing keine Gäste, denn heutzutage sieht man, wenn Gesellschaft gewesen ist, bestimmt hinten im Hof leere Flaschen. Aber sie muß von irgendwo oder irgend jemandem Geld bekommen haben. Wissen Sie nicht, woher?« »Nein.« »Ich glaube, daß sie hier unter einem angenommenen Namen gelebt hat«, sagte Alice, wobei sie die Augen halb schloß. »Irgend etwas ist mir an der Sache noch schleierhaft. Sie sagten mir, sie hieße Pearl Rockcliff, doch an einigen ihrer Kleidungsstücke habe ich das Monogramm P. R. von einem anderen, das J. O. oder J. U. heißen muß, überdeckt gefunden. Und daß die Frau sich keine getragenen Kleidungsstücke gekauft hat, darauf wette ich ein ganzes Pfund.« Bony empfand Hochachtung vor ihr, da ihm gar nicht auf gefallen war, daß sie sich für diese Einzelheiten an der Kleidung besonders interessiert hatte. Er gefiel sich eigentlich in der Rolle des Meisters, der seinen Schüler zu immer besseren Leistungen anspornt. »Weiter«, sagte er leise. »Mrs. Rockcliff hat sich bemüht, als sie nach Mitford kam, alles, was auf ihr früheres Leben hinwies, auszulöschen. Sie ist hierhergekommen, um den Folgen eines Verbrechens zu entgehen, oder weil sie jemanden fürchtete. Ihr Vorname war nicht Pearl, sondern Jean oder höchstwahrscheinlich Joan.« »Warum gerade Jean oder Joan?« »In der Zeitung steht, daß sie etwa dreißig Jahre alt war, und vor dreißig Jahren war es Mode, kleine Mädchen Joan oder Jean oder Jessica zu taufen.« »Es gibt also bei Vornamen auch Moden?« »O ja. Lesen Sie mal Todesanzeigen und vergleichen Sie die Namen mit dem Alter der Personen.« »Das müßte ich eigentlich, aber … Was sagen Ihnen die Milchflaschen noch?« »Ehe Mrs. Rockcliff an dem Abend ausging, gab sie dem Säugling die Flasche. Der trank aber nicht alles, und sie brachte die Flasche zum Auswaschen in die Küche. Dazu kam sie jedoch nicht mehr, denn sie muß in Eile gewesen sein. Der Sterilisiertopf steht noch auf dem Herd, im Baderaum ist Gesichtspuder verstreut, und zwei Kleider sind von den Bügeln gefallen. Die hätte sie sonst, bei ihrer Ordnungsliebe, 35
bestimmt wieder aufgehängt. Das Kind wurde mit einem Präparat ernährt : Ich habe eine große Dose gefunden, aus der ein Teil verbraucht ist. Also muß die Flasche auf dem Küchentisch die richtige Flasche sein. Die Person, die das Kind entführte, brachte die andere mit, die beim Bettchen stand, und zwar, um das Kind vom Schreien abzuhalten, während es fortgetragen wurde. Gestohlen hat das Baby ein Mann.« Alice McGorr schwieg und errötete ein wenig, als sei sie sich plötzlich bewußt, zuviel geredet und sich vor diesem Mann, der nach Bolts Schilderungen der beste Kriminalist in Australien war, zu sehr ins Licht gestellt zu haben. Aber Bony veranlaßte sie in seiner ruhigen Art, weiterzusprechen. »Wieso schließen Sie auf einen Mann? Der Gedanke an eine Frau liegt doch viel näher.« »Eine Frau hätte es nicht riskiert, einen Sauger mit einem so kleinen Loch für die Flasche zu nehmen, weil ein ganz kleines Kind vielleicht nicht fähig gewesen wäre, die Milch durchzusaugen, und daher Geschrei erhoben hätte, gerade das also, was unbedingt vermieden werden sollte. Eine Frau hätte sich sehr genau um den Sauger gekümmert. Im übrigen hätte sie gar nicht erst Milch mitgebracht, sondern einen gewöhnlichen, in Malzextrakt oder Honig getauchten Lutscher. Damit läßt sich jedes Baby für zehn Minuten still halten, und mehr Zeit war ja für die Entführung nicht nötig.« Bony erhob sich lächelnd. »Setzen Sie Ihren Hut auf«, befahl er, »wir gehen jetzt zum Mittagessen.« Er sah zu, wie sie den unkleidsamen Hut aufstülpte, ohne in den Spiegel über dem Kamin zu blicken. Als sie rot wurde, während sie neben ihm durch die Diele schritt, sagte er : »Chefinspektor Bolt kenne ich schon viele Jahre. Er nennt mich Bony. Sogar mein Chef in Brisbane tut das ständig und meine sonstigen Bekannten auch. Ich fände es nett, wenn Sie das Gefühl haben könnten, zu meinen Freunden zu gehören.« Sie antwortete melancholisch, daß ihr das nicht schwerfallen und sie ihn sehr gern Bony nennen würde, unter der Bedingung, daß er zu ihr Alice sagte. Wie es sein berühmter Namensvorfahre angeblich bei guter Laune tat, kniff er sie ins Ohr und lachte herzlich über ihre erschrockene Mie36
ne. Er öffnete ihr höflich die Haustür. Bolt wäre sehr verwundert gewesen, daß Alice sich von Bony ins Ohr kneifen ließ.
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A
m Tisch in einem ruhigen Restaurant zog Bony gegen seine Gewohnheit Alice McGorr weiter ins Vertrauen. »Ich muß sagen, Alice«, begann er, als werde es ihm schwer, das zuzugeben, »Ihre Theorie, daß es ein Mann war, der die Flasche mit Kuhmilch ins Haus brachte, und daß ein Mann den Säugling gestohlen hat, verwirrt mich nicht wenig. Sie paßt nicht zu dem, was ich am Linoleum abgelesen habe, und kann doch zutreffen. Der Verlauf, wie ich ihn ablas, war so, daß eine Frau durch die Vordertür eintrat, als Mrs. Rockcliff nicht zu Hause war. Sie befand sich gerade im Schlafzimmer, da hörte sie einen Mann durchs Fenster der Waschküche hereinklettern und kroch unters Bett. Anscheinend war der Mann mit der Einrichtung des Hauses vertraut, die Frau aber nicht. Als er hörte, wie Mrs. Rockcliff zurückkam und die Vordertür aufschloß, schlüpfte er ins Schlafzimmer und stellte sich hinter die Tür, wo er wartete, bis er sie niederschlagen konnte. Er verzog sich dann durchs Fenster der Abwaschküche, die Frau aber durch die Vordertür. Da Essen nachher sah, daß das Sicherheitsschloß festgesetzt und die Tür nur mit dem Schnapper geschlossen war, muß entweder die Fremde vergessen haben, das Schloß zu lösen, weil sie einen Schlüssel oder einen Zelluloidstreifen bei sich hatte, oder Mrs. Rockcliff selbst hat es vergessen. Wir können annehmen, daß der Mann und die Frau keine Komplicen waren, und außerdem, daß die Frau sich unter dem Bett befand, als der Mord verübt wurde.« Nach seinen Worten machte Alice ein so zweifelndes Gesicht, daß er sich beeilte, ihr die Unsicherheit wieder zu nehmen. »Wir wollen uns aber jetzt durch die Verschiedenheit unserer Theorien nicht beunruhigen lassen«, sagte er. »Die weiteren Nachforschungen werden da schon 37
Klarheit bringen. Eins müssen wir vor allem im Auge behalten : den Mordfall nicht etwa wichtiger zu nehmen als die Entführungen. Die fünf Babys können noch am Leben sein. Wir müssen jedenfalls von der Voraussetzung ausgehen, daß eins oder zwei von ihnen, vielleicht alle, noch leben, während Mrs. Rockcliff tot ist und ihr Mörder mir nicht entkommen kann. Also werden wir die Entführungsfälle vorziehen und hoffen, daß wir ihnen durch den Mord an Mrs. Rockcliff leichter auf die Spur kommen oder das Schicksal der Kinder erfahren.« In den braunen Augen konnte er jetzt schrankenlose Zustimmung lesen. Ganz hingegeben beobachtete Alice sein ausdrucksvolles Gesicht. Sie merkte gar nicht, was sie aß, sondern spürte nur die von ihm ausgehende Kraft, eine Kraft, die aus der Intelligenz und ihr noch unbegreiflichen Eigenschaften hervorging. »Was Sie an den persönlichen Sachen von Mrs. Rockcliff erkannt haben, ist alles richtig«, fuhr Bony fort, »aber wir finden keinen Leitpfad in ihr früheres Leben und wissen nichts über ihre Einkommensquelle. Sie hat Doktor Nott erzählt, sie sei früher von Doktor Browner in Glen Iris behandelt worden, und hat dem Reverend Baxter sowie Doktor Nott erzählt, ihr Mann sei bei einem Verkehrsunglück getötet worden. Wir haben jedoch in ganz Australien nicht feststellen können, daß ein Mann dieses Namens an einem Verkehrsunfall gestorben ist. Die aus ihrem Briefkasten entnommene Post besagt für uns nichts. Es waren zwei Rechnungen von hiesigen Ladengeschäften, eine Bitte um Spenden für wohltätige Zwecke und ein Brief mit einem Lotterielos. Bisher haben wir auch in Mitford noch niemanden ermittelt, mit dem sie freundschaftlich verkehrte, aber das werden wir noch. Eine Nachbarin hat erklärt, daß Mrs. Rockcliff offenbar zur Leihbibliothek wollte, als sie vorigen Montag abends fortging. Es war schon dämmerig, und nach Ansicht dieser Nachbarin las sie leidenschaftlich Bücher. Tatsächlich hat sie aber ihre Leihbücher gar nicht umgetauscht, denn die zuletzt entnommenen befinden sich noch im Hause. Wohin sie ging, mit wem sie zusammenkam und wann sie zurückkehrte, wissen wir nicht. Wir haben sehr wenige Anhaltspunkte – bisher. Wir wissen, daß der unbekannte Mann in Schuhen über 1.80 Meter groß ist, daß er angetrunken war oder es sich um einen an lange Reisen gewöhnten Seemann handelt. Er trug Handschuhe, nach Essens Überzeugung Gummihand38
schuhe, und hatte Schuhgröße 8. Er wiegt nur wenig mehr als ich und muß daher bei seiner Größe hager sein. Die unbekannte Frau hat Schuhnummer 6, ist schwerer als ich und gewohnt, hochhackige Schuhe zu tragen, während sie an dem Abend flache trug. Sie hatte ebenfalls Handschuhe an, der linke war am Zeigefinger gestopft. Ich neige zu der Ansicht, daß sie Linkshänderin ist. Vielleicht gewinnen wir noch mehr Hinweise aus dem ans Laboratorium in Sydney gesandten Kehricht und aus den Monogrammen in den Kleidungsstücken. Vielleicht stellen wir dadurch auch fest, in welchen Geschäften sie ihre Sachen gekauft hat. Alles zu seiner Zeit. Das sind Fragen, die wir den Experten überlassen. Haben Sie mal in der Zeitung etwas über den Zeitungskönig Lord Northcliffe gelesen?« »Ja. Er war sogar hier im Lande, als ich noch klein war.« »Als ihn jemand fragte, weshalb er nicht Stenographie gelernt hätte, antwortete er : ›Weshalb sollte ich auf so ein Vorhaben kostbare Zeit verschwenden? Ich hatte stets Wichtigeres zu tun !‹ – Ich bin wie Lord Northcliffe.« Alice McGorr hütete sich, über dieses – das erste – Beispiel von Bonys Eitelkeit zu lächeln. »Also werden wir, Sie und ich, nachdem wir die Experten in Tätigkeit gesetzt haben, in aller Ruhe in das Seelenleben etlicher Männer und Frauen eindringen. Heute nachmittag besuchen wir die Eltern der entführten Babys und denken dabei überhaupt nicht an das, was die amtlichen Akten enthalten. Meinen Sie, daß Sie sich bei Oberwachtmeister Essen und seiner Familie wohl fühlen werden?« »Ja, gewiß, sie sind beide sehr nett.« »Ich dachte mir schon, daß sie es Ihnen behaglich machen würden. Ich selbst bin von Sergeant Yoti und seiner Frau herzlich aufgenommen worden und freue mich überdies, daß ich nicht im Hotel zu wohnen brauche, wo meine Wege so leicht überwacht werden können.« Als sie in der Taxe saßen, die Bony für den Nachmittag gemietet hatte, sagte er : »Die erste Entführung ging am 20. Oktober vor sich. Die Eltern sind ein Doktor Delph und Frau. Sie hatten ein Kindermädchen, das aus einem Modegeschäft in der Hauptstraße ein Paket abholen sollte. An dem Nachmittag war dort lebhafter Betrieb. Der Laden ist lang und schmal, mit Läufern ausgelegt und überfüllt mit Kleidungsständern und dergleichen. Wie das Mädchen später erklärt hat, ist es kein La39
den, in den man Kinderwagen mitnimmt. Sie ließ also das Kind in dem durch eine Bremse gesicherten Wagen draußen stehen. Bis sie im Laden bedient wurde, vergingen einige Minuten, und als sie wieder herauskam, war der Kinderwagen leer. Es hat sich kein Mensch gemeldet, der beobachtet hätte, daß sich jemand an dem Wagen zu schaffen gemacht hat.« »Ziemlich geschickte Arbeit, wie?« bemerkte Alice, indem sie sich die Nase puderte. Bony empfand dankbar, daß sie keinen Lippenstift benutzte. »Ganz recht. Wir werden jetzt das Ehepaar Delph aufsuchen. Achten Sie bitte nur darauf, wie diese Eltern auf meine Fragen reagieren. Sagen Sie nichts, solange Ihnen nicht ein wichtiger Punkt einfällt, den ich vielleicht unerwähnt lasse. Sie sind meine Kusine, die sich für Kriminalistik interessiert, klar?« »Einverstanden«, stimmte Alice ergeben zu. Die Taxe bog in eine breite Allee, deren eine Seite der von Bäumen gesäumte Fluß begrenzte. Gegenüber lagen die Wohnhäuser der Honoratioren des Städtchens. Dr. Delph hatte ein Haus im Kolonialstil. Die Veranda war durch gestreifte Markisen beschattet, zur Haustür ging es über drei breite, von steinernen Löwen flankierte Stufen. Die mit Glasscheiben versehenen Türen wurden von einer Frau mit eckigen Bewegungen und einem spitzen Gesicht geöffnet, einer der Frauen, die laut sprechen, weil sie das für vornehm halten. Als Bony sich vorstellte und auf seine Aufgabe hinwies, bekam ihr Gesicht für Augenblicke einen leeren Ausdruck, aber sie forderte beide auf, einzutreten und in der Diele Platz zu nehmen. Mrs. Delph selbst setzte sich nicht. Sie wartete, indem sie Bony und Alice abwechselnd mit geringschätziger Miene betrachtete, bis dieser Abschaum der Menschheit sich genauer über seine Absichten äußerte. »Ich habe die Hoffnung, vielleicht weitere Einzelheiten über die Entführung Ihres Kindes zu erfahren, Mrs. Delph«, fing Bony sanft an. »Wie alt war das Baby, als es aus seinem Wagen verschwand?« Mrs. Delph stieß einen kummervollen Schrei aus, sank auf ein kleines Sofa und schloß die Augen. Sofort bedauerte Bony, so unvermittelt die wunde Stelle berührt zu haben. Als er ratlos Alice anblickte, war er erstaunt, Verachtung in ihrem Gesicht zu lesen. Und schon brachte Mrs. Delph ihre Antwort heraus : »Das liebe kleine Wesen war gerade 40
vier Wochen und zwei Tage alt, als der Unmensch es aus seinem Wagen nahm. Oh, weshalb kommen Sie her und peinigen mich noch in meiner Verlassenheit?« Heftiges Schluchzen erschütterte ihren Körper, sie verbarg das Gesicht in einem Kissen, das ihr lautes Weinen dämpfte. Bony wartete geduldig auf das Nachlassen ihres Kummers. Alice McGorr schlug ihre langen Beine über, der Lichtschein vom Feuer ließ ihre eleganten braunen Schuhe erglänzen. Der obere Schuh wippte auf und ab, als wollte seine Trägerin zeigen, daß ihr der Kummer der Frau zuwider sei, und dieser Schuh mißfiel Bony. Schließlich hatte Mrs. Delph sich so weit gefaßt, daß sie die Einzelheiten der Entführung, wie das Kindermädchen sie beschrieben hatte, wiedergeben konnte. Bony hörte aufmerksam und mitfühlend zu. »Sagen Sie mir, Mrs. Delph«, bat er, »war der kleine Kerl gesund?« »Selbstverständlich, Inspektor. Ein schönes Kind. Ich hätte nie diesem elenden, dummen Mädchen erlauben dürfen, es auszufahren, aber ich war so erschöpft nach meiner Rückkehr aus der Klinik.« »Ein harter Schicksalsschlag«, murmelte Bony, und wieder sah er den ungeduldig wippenden Schuh. »Glauben Sie mir, Mrs. Delph, es tut mir leid, an die Wunde zu rühren, wie man so sagt, aber seien Sie bitte versichert, daß wir alles, was in unserer Machtsteht, tun und weiter tun werden, um Ihnen Ihr Kind wiederzubringen.« »O nein ! Sie werden es nicht mehr finden, nach so langer Zeit«, jammerte die unglückliche Mutter. »Es ist höchstwahrscheinlich schon umgebracht worden. Ich habe jede Hoffnung aufgegeben.« »Wie lange waren Sie aus der Klinik zurück, als die Geschichte passierte?« »Wie lange? Da muß ich nachdenken. Ach, mein armes Herz !« Da die Frage bisher noch nicht gestellt worden war, wurde ihr Zögern entschuldigt. »Elf Tage, genau. Ich fühlte mich noch gar nicht wohl, und mein Mann war auch dafür, das Kindermädchen zu nehmen. Ein furchtbar dummes Ding, aber es hatte glänzende Zeugnisse.« »Entschuldigen Sie bitte meine nächste Frage : Wurde das Kind mit der Flasche ernährt?« »O ja. Ich – ich konnte ja nicht, ich war zu krank.« »Bekam es Kuhmilch als Nahrung?« 41
»Nein«, sagte Mrs. Delph jetzt energisch, »das wäre ja noch schöner, wo die Kühe dasselbe Gras fressen wie die durch Bakterien verseuchten Kaninchen ! Der kleine Kerl gedieh prächtig bei einem Spezialpräparat.« »Wer war Ihr Arzt?« »Mein Arzt – meinen Sie in der Klinik? Doktor Nott. Ich war natürlich in seiner Privatklinik, nicht im Krankenhaus.« Mrs. Delph richtete sich auf und betupfte die Augen mit einem viel zu kleinen Spitzentüchlein. »Doktor Notts Spezialität sind kleine Kinder, Inspektor, die behandelt er sogar im Krankenhaus. Er hat mit meinem Mann eine Vereinbarung getroffen : daß mein Mann die Außenpraxis besorgt, was er sowieso lieber macht.« »Wer hat das Kind gefüttert, Mrs. Delph?« warf Alice ein. »Ich – oh, was sagten Sie?« Mit einem Auge schien sie Alice aufzuspießen wie der Sammler einen Schmetterling. »Wer in Wirklichkeit das Baby gefüttert hat«, wiederholte Alice. »Das hat meine Köchin besorgt«, erwiderte Mrs. Delph. »Sie hat selbst mehrere Kinder und versteht sich vorzüglich auf Babys. Und ich war, wie gesagt, damals nicht wohl.« »Ja, ich verstehe«, fiel Bony ein. »Das Kindermädchen wurde also vermutlich nur zur allgemeinen Betreuung des Kleinen angenommen?« »Ganz recht, Inspektor. Sie wohnte ja auch nicht bei uns, sondern kam jeden Tag.« »Sind Sie mit Mrs. Rockcliff bekannt gewesen?« »Ach, diese arme Frau !« Mrs. Delph sank wieder auf ihr Kissen. »Wer weiß, was noch alles passiert. Nein, ich kannte sie nicht, sie gehörte nicht zu unseren Kreisen.« »Kennen Sie die Mütter der anderen gestohlenen Säuglinge?« »Nur Mrs. Bulford und Mrs. Coutts. Mit der anderen habe ich gesellschaftlich keinen Kontakt. Wozu stellen Sie eigentlich alle diese Fragen, Inspektor?« »Um Ihr vermißtes Kind zu finden und Ihnen wiederzubringen. Lösegeld ist doch von Ihnen nicht verlangt worden, oder?« »Nein.« Mrs. Delph faßte sich wieder. »Ich – wir hätten es bezahlt, wenn es gefordert worden wäre.« In scharfem Ton fügte sie hinzu : »Ist bei einer der anderen Frauen Lösegeld verlangt worden?« »Nein. Wie lange praktiziert Doktor Delph schon hier im Ort?« 42
»Fast sieben Jahre. Aber verheiratet sind wir erst zwei Jahre, und ich wollte, obgleich ich nicht mehr jung bin, gern ein Kind haben.« »War es üblich, durch das Kindermädchen Pakete holen zu lassen, wenn es auf das Kind aufpassen sollte?« »Nein. Das tut sonst der Mann, den wir als Chauffeur und Gärtner haben. Aber an dem Tage mußte er meinen Mann zu vier Patienten fahren, und ich wollte mein Kleid gern haben. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß sie das Kind draußen vor dem Laden lassen würde.« »Sie kennen den Laden auch selbst, ja?« »Gewiß.« »Er soll an dem Nachmittag so voll gewesen sein, daß der Kinderwagen nicht mehr hineinpaßte. Deshalb ließ das Mädchen ihn draußen. Meinen Sie nicht, daß diesem Mädchen zuviel Schuld beigemessen wird?« »Nein, das kann ich durchaus nicht finden«, erwiderte Mrs. Delph mit einem steinharten Blick ihrer grauen Augen. »Sie hatte den Wagen wenigstens bis durch die Tür schieben können, da hätte er gut gestanden. Madame Clare hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, da sie wußte, daß es mein Baby war. Ich finde es unverzeihlich, daß sie den Wagen draußen ließ, aber vielleicht steckte sie mit dem Dieb unter einer Decke, was mich nicht überraschen würde.« Bony erhob sich. »Außer Ihrer Familie wissen Sie niemanden, der sich ungewöhnlich für Ihr Kind interessierte?« »Nein, keinen. Bitte jetzt nicht mehr fragen. Es ist alles so schrecklich, und ich ertrage es nicht mehr, darüber noch zu reden.« »Besten Dank, daß Sie uns unter den tragischen Umständen so gute Auskünfte gegeben haben«, murmelte Bony, während Mrs. Delph wieder die Augen schloß und seufzte. »Au revoir, Sie dürfen hoffen …« Sie hörten noch bis an die Haustür das Schluchzen von Mrs. Delph. Als sie über den Kiesweg zum Tor an der Straße gegangen waren, drehte Alice sich plötzlich um und blickte zum Haus zurück. In der Taxe gab Bony dem Fahrer die nächste Adresse und fragte Alice : »Warum waren Sie so ungnädig über Mrs. Delphs ganz begreiflichen Kummer?« »Weil sie nur markierte«, antwortete sie bitter. »Ich kenne diesen Typ. Sie ist hart, herzlos und egoistisch bis auf die Knochen. Außerdem eine eingebildete Pute.« 43
»Sie wollen doch nicht sagen, daß sie ihren Kummer nur vorgetäuscht hat?« »Aber ja ! Als wir sie verließen, lag sie wie erledigt auf dem Sofa, und dann beobachtete sie gleich durch die Gardine, wie wir zum Tor gingen. Frauen berühren jedesmal die Gardinen, wenn sie beobachten wollen. Das ist mir unbegreiflich –« Alice hätte es sich bequem machen können, saß aber stocksteif da. Der Strohhut betonte durch seinen schiefen Sitz noch ihren strengen Gesichtsausdruck. »Wohin fahren wir jetzt?« fragte sie hoffnungsvoll. »Das Kindermädchen befragen.« »Schön. Aus ihr werden wir etwas herauskriegen.« »Aber Sie müssen sich zurückhalten«, sagte Bony ruhig. Sie blickte ihn an, der aufkommende Ärger verflog sofort, und sie sagte fast flüsternd : »Entschuldigen Sie, Bony, ich – die Frau hat mich wütend gemacht. Jetzt bleibe ich eisern.« »Brav so.« Sie sprachen kein Wort mehr, bis die Taxe in einer sonnendurchglühten Straße, die kein Ende zu nehmen schien, vor einem kleinen Haus anhielt. »Ich werde nachfragen, ob sie zu Hause ist«, sagte Bony. »Wenn ich winken sollte, kommen Sie mir bitte zu Hilfe.« Die Tür wurde von einer älteren Frau geöffnet, die ihm erklärte, daß ihre Tochter in der Konservenfabrik arbeite. Also folgte noch eine Fahrt von fünfzehn Minuten bis zu dem riesengroßen Gebäude, das die Früchte waggonweise verschluckte. Der Direktor führte sie durch das Gewirr des weiten Fabriksaals, wo hundert Arbeiter beschäftigt waren. Aus dem Hintergrund kamen auf Transportbändern blinkende Blechdosen an die Werktische, wo Mädchen die Pfirsiche und andere Früchte entkernten. Halbnackte Männer bedienten die Feuerungen unter den Bottichen, in denen Marmelade gekocht wurde. Das Rattern der Maschinen wurde übertönt vom Hämmern der Kistenmacher. Eine Kiste nach der anderen wurde gefüllt und erhöhte den an einer Wand aufgestapelten Berg. Inmitten dieses geordneten Wirrwarrs wurden Bony und seine ›Kusine‹ zum Tisch von Betty Morse gesteuert.
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B
etty Morse war eine rechte Augenweide für schönheitsdurstige Männer. Sie trug einen hellblauen Kittel, ihr Haar fing den goldenen Glanz des Sonnenlichts auf und hielt ihn fest. Ihre Arme waren nackt, und das Messer, das sie niederlegte, war eine der gefährlichsten Waffen, die Bony je gesehen hatte, abgesehen im Polizeimuseum. Nachdem der Direktor gegangen war, sagte er in seiner gemütlichen Tonart : »Soviel ich weiß, Miss Morse, arbeiten Sie hier im Akkord, aber vielleicht können Sie während der Arbeit sprechen. Meinen Sie, daß es geht? Ich möchte Sie sonst nicht behindern.« »Das stört mich nicht, Inspektor«, sagte sie, nahm einen Pfirsich, schnitt einmal hinein, hob den Kern heraus und ließ die Fruchthälften in eine Blechdose fallen. Das Messer war scharf wie eine Rasierklinge, der Arbeitsgang dauerte nur zwei Sekunden. »Werden Sie auch bestimmt nicht abgelenkt, so daß Sie sich womöglich schneiden?« fragte Bony noch einmal, um sicherzugehen. Sie drehte sich lachend zu ihm um, das entsetzliche Messer schien jetzt seine Arbeit von selbst zu tun. Rechts und links neben ihr arbeiteten andere junge Mädchen ebenso geschickt. Manche unterhielten sich lebhaft, ihre Hände schafften mechanisch, während ihre Gedanken sich auf Liebespfaden bewegten. »Ich habe die Sache mit Mrs. Delphs Baby nun schon bis zum Überdruß erzählen müssen«, sagte Betty Morse ein wenig verärgert. »Das Kind verschwand einfach aus dem Wagen, der draußen stand, während ich im Laden war, um das Paket zu holen.« »Ja, es muß Ihnen schon langweilig sein, Miss Morse«, beschwichtigte Bony. »Wenn’s nach mir ginge, würde ich lieber über Pfirsiche sprechen und Sie fragen, wie viele Dosen Sie täglich füllen und wie hoch Ihr höchster Wochenverdienst war. Meine Kusine hier, die gern Detektivin 45
werden möchte, interessiert sich mehr für Babys als ich im Augenblick, aber ich muß mir, genau wie Sie, mein Brot verdienen. Als Sie das Kind von Mrs. Delph im Wagen ausführen, hat da irgend jemand Sie angesprochen und sich nach dem Kind erkundigt?« »Nein. Es war ja auch nichts Besonderes an dem Kleinen. Ich habe wirklich keine Schuld, daß er gestohlen wurde. Viele Frauen lassen ihre Babys, wenn sie einkaufen, im Kinderwagen vor den Läden stehen. Mrs. Delph hatte gar keinen Grund, wie verrückt nach der Polizei zu schreien, die mich verhaften sollte !« »Ziemliche Hexe, wie?« warf Alice ein, und schon verflog Bettys Ärger. Sie war erstaunt und offensichtlich dankbar, daß endlich jemand ihre Lage nachfühlte. »Das kann ich Ihnen flüstern«, betonte sie kräftig. »Hat gekreischt, daß die Wände wackelten, und warf mir die größten Gemeinheiten an den Kopf. Dann schrie sie nach der Köchin, die mußte die Polizei anrufen, und als ein Polizist kam, behauptete sie, ich hätte das Baby verkauft, und er solle suchen, wo ich das Geld versteckt hätte.« »Leicht erregbare Frau«, bemerkte Bony, doch Betty Morse kümmerte sich um ihn nicht mehr. Das Messer blitzte, die Pfirsiche fielen in Hälften und die Kerne in einen Eimer zu ihren Füßen. Nur eine zehntel Sekunde brauchte sie ihre Augen, um das Werk der Hände zu kontrollieren, während sie Alice hemmungslos von ihrer Leidenszeit erzählte. Und Alice McGorr nickte energisch, warf viele Ah’s und Oh’s ein, brachte dann und wann eine ablenkende Frage dazwischen und bewies Bony, daß sie die Kunst, auf Umwegen ein Ziel zu erreichen, gut gelernt hatte. Bony mußte nun still dabeisitzen und konnte nur mit wachsender Abneigung zuschauen, wie das blinkende Messer die Früchte in anscheinend immer schnellerem Tempo attackierte, indes Betty beim Reden erst richtig in Fahrt kam. Ein Junge erschien und schüttete ihr eine neue Ladung Pfirsiche auf das Arbeitstablett. Ein Mann kam, nahm die vollen Dosen mit und notierte etwas auf ihrem Kontrollblock. Wo Bony eigentlich literweise vergossenes Blut erwartet hätte, war nicht das kleinste Fleckchen. Er wurde von den beiden Frauen nicht mehr beachtet, aber das Bild faszinierte ihn. Es stellte sich heraus, daß Mrs. Delphs Köchin über ihre Herrschaft sehr viel wußte. Dr. Delph bewältigte eine sehr ausgedehnte Praxis. 46
Nach Ansicht der Köchin arbeitete er sich zu Tode und konnte sich nur mit Hilfe von Whisky, den er in der Garage versteckte, auf den Beinen halten. Es lag sonst kein Grund vor, Whisky dort zu verstecken, weil genug davon im Hause war. Nach den Worten der Köchin war Dr. Delph ein netter ›alter‹ Herr, aber Bony wußte, daß er noch nicht vierzig war. Seine Frau, eine Pfarrerstochter, hatte ›reichlich spät‹ geheiratet. Dabei wußte Bony, daß sie noch nicht über fünfunddreißig war. Sie war ›hochnäsig‹, empfindlich und bekam ihre Touren, wenn sie bei ihrem Mann etwas durchsetzen wollte. Und – sie hatten kein gemeinsames Schlafzimmer. Als Mrs. Delph merkte, daß sie ein Kind bekam, kündigte sie der Köchin viermal an einem Tage, schrie ihren Mann an und jammerte eine ganze Woche. Nachher lebte sie wieder in üblicher Weise, ging zu Cocktailpartys und gab selbst Partys. Obwohl sie durchaus gesund war, verlangte sie einmal wöchentlich Dr. Notts ärztlichen Besuch, und als er zweimal ausgeblieben war, drohte sie ihrem Mann, sie werde sich ertränken, weil sich niemand um sie kümmere. In Anbetracht der Tatsache, daß Betty Morse nur zehn Tage bei Mrs. Delph in Dienst gestanden hatte, war es erstaunlich, welche Fülle intimer Einzelheiten sie in Alices aufnahmebereite Ohren ergoß. Nur einmal machte sie eine Pause, wurde aber von Alice geschickt zu neuen Bemühungen angespornt. Eine Zwischenbemerkung von Bony blieb unbeachtet. Hatte Mrs. Delph ihr Kind wirklich geliebt? Natürlich nicht ! Sie konnte sich nur selbst lieben. Ja, die Köchin hatte das Kind versorgt. Das arme Würmchen. Fast jede Nacht hatte sie es mit seinem Bettchen in ihr Zimmer holen müssen. Aber kümmerte sich denn Mrs. Delph nicht selbst um das Kind? Verflixt wenig. Nur wenn Besuch da war, ließ sie das Bettchen in die Diele bringen und markierte mit süßem Getue die zärtliche Mutter. So floß der Bericht unentwegt weiter. Bony wollte gern rauchen, aber die zahlreichen großen Verbotsschilder machten ihm das unmöglich. Er schaute auf seine Uhr : Es war schon Zeit zum Nachmittagstee, und er meinte, vor Durst bald umfallen zu müssen. Doch er mußte noch anhören, daß Mrs. Delphs ältester Bruder Organist an einer Mitforder Kirche war und ihr zweiter Bruder sich darauf vorbereitete, des Vaters Pfarrei zu übernehmen, wenn ›der 47
Alte‹ in den Ruhestand trat. Der dritte Bruder sei Facharzt in Melbourne (irgendwas mit Psycho), und ihre einzige Schwester habe einen Juwelier, geheiratet und befände sich zur Zeit in einer Trinkerheilanstalt. Er erfuhr auch noch, daß Betty Morse mehrere Freunde hatte, jedoch keinen von ihnen heiraten wollte. Aber Männer spielen nun mal eine Rolle im Leben aller junger Mädchen. Als er noch anhören mußte, welche Vorzüge und Fehler diese Freunde hatten, kapitulierte er und zog sich in die Taxe zurück. »Sind Sie verheiratet?« fragte er den Chauffeur. »Nee, das fehlte noch«, erwiderte der, als sei schon der Gedanke daran eine Beleidigung. Er spürte Bonys Ungeduld und fragte nach einer Weile : »Soll ich ’reingehen und dafür sorgen, daß die da Schluß machen?« »Lassen wir sie noch fünf Minuten, meine Kusine kann unangenehm werden.« Der Fahrer seufzte. Bony rauchte. Noch zehn Minuten vergingen, bis Alice am Tor in dem hohen eisernen Zaun erschien. Sie sah kühl und tatenlustig aus, und als sie es sich auf dem Platz neben Bony bequem machte, gab sie durch einen Seufzer ihre große Befriedigung zu erkennen. »Als Zeichen meiner Anerkennung sollen Sie heute zum Tee auch Kuchen mit Schlagsahne haben, Alice«, sagte Bony. Sie warf ihm einen raschen Seitenblick zu, um sich zu vergewissern, ob der freundschaftlich warme Ton, den sie in seiner Stimme entdeckte, auch echt war. Als sie, nach einer Erfrischung, wieder im Wagen saßen, sagte Bony jagdeifrig : »Wir werden uns jetzt in die Entführung des nächsten Babys vertiefen, die am 29. November stattfand, fünf Wochen nach dem Verschwinden des Delphschen Säuglings. Die Eltern heißen Bulford. Er ist Bankdirektor, seine Wohnung liegt über der Bank. Sie sind seit sechs Jahren hier ansässig.« »Wie lange verheiratet?« »Weiß ich noch nicht. Da sie zwei Söhne haben, die in die Schule gehen, dürfen wir annehmen, daß sie es schon etliche Jahre sind. Wie erwähnt, wohnen die Bulfords über der Bank. Sie haben einen Privateingang zu einem Flur im Parterre. Am 29. November schloß die Bank zur üblichen Zeit, um 15.30 Uhr, und der Direktor arbeitete, wie häufig, in seinem Büro bis 17.30 Uhr. 48
Um 17.45 Uhr hatte er eine Verabredung in der Stadt. Nachdem er die Hintertür der Bank abgeschlossen hatte, ging er nach oben, um sich zu waschen. Er wußte, daß seine Frau schon vor einer Weile fortgegangen war, denn er hatte gehört, wie die Tür des Privateingangs geöffnet und geschlossen wurde. Als er auf den Treppenflur im ersten Stock kam, wo das leere Kinderbettchen stand, dachte er, seine Frau hätte das Kleine mitgenommen, was jedoch nicht zutraf. In der Zeit, nachdem sie das Haus verlassen hatte, bis ihr Mann nach oben ging, wurde das Kind aus seinem Bett auf dem Vorplatz gestohlen.« »Keine Anhaltspunkte?« »Keine. Wir sind am Ziel und können gleich bei der Ortsbesichtigung unsere eigenen Schlüsse ziehen.« Auf dem Weg zum Privateingang neben der Bank mußten sie eine Gasse zwischen dem Gebäude und einer hohen Bretterwand durchschreiten. Während Alice auf den Klingelknopf drückte, sprang Bony ein wenig hoch, um über die Holzwand zu blicken, und sah dahinter ein unbebautes Grundstück. Die Klingel schlug irgendwo im ersten Stock an. Alice, die nicht mehr in der Sonne stehen wollte, die heiß in die enge Gasse brannte, wollte noch einmal klingeln, da schrillte ganz in ihrer Nähe ein Telefon. Eine volle Minute verging, ehe ein Mann in Hemdsärmeln die Tür öffnete. Er trug eine randlose Brille, seine braunen Augen sahen müde aus. Der kleine Bürstenschnurrbart paßte zu seinem kantigen Gesicht. Als Bony ihre Namen nannte und den Zweck ihres Besuches andeutete, erklärte er, seine Frau sei gerade beim Umziehen, weil sie fort wolle, und er könne jetzt erst öffnen, weil das Telefon ihn aufgehalten habe. Sie wurden gebeten, einzutreten, gelangten durch die Tür in den hinteren Teil des Bankraums und über eine mit Läufern belegte Treppe in ein Wohnzimmer. Der Direktor ging hinaus, um seine Frau zu holen, und Alice begann, den Wert der Möbel und des Teppichs abzuschätzen. Mrs. Bulford war das Gegenstück zu Alice McGorr :, hohe, schmale Stirn, kleine, dunkle Augen und ein Kinn, das jeden Mannwarnen mußte, der von Frauen nur die leiseste Ahnung hatte. Sie begrüßte die Besucher frostig und setzte sich dann in Positur wie die Königin Victoria, wenn sie ihrem Minister Gladstone tüchtig die Meinung sagen wollte. 49
»Die Sache war höchst mysteriös, Inspektor«, sagte Mr. Bulford in seiner knappen Sprechweise. »Am besten, du läßt mich darüber berichten, John«, wandte seine Frau gleich ein. »Also es war so, Inspektor : Mein Mann arbeitete in seinem Privatbüro, weil die Bank schon geschlossen war. Nachdem ich fortgegangen war – ich hatte eine Verabredung –, befand sich außer meinem Mann niemand mehr im Hause. Wäre das Kind aufgewacht und hätte geschrien, dann hätte er das unbedingt hören müssen.« »Ich habe nicht den kleinsten Laut gehört.« »Bitte, John !« »Na, gut.« Bony warf ein : »Der Privateingang war verschlossen, nachdem Sie weggegangen waren, und die Hintertür, die auf einen kleinen Hof führte, desgleichen. Die einzigen offenen Fenster in Ihrer Wohnung waren die nach der Straße zu, durch die jemand nur mit Hilfe einer Leiter hätte einsteigen können. Da die Leiter als zu unwahrscheinlich ausscheidet, können wir zwei Theorien entwickeln : Entweder war der Entführer vorher im Haus versteckt oder besaß einen Nachschlüssel für den Seiteneingang. Die hintere Tür ist ja außer durch das Schloß noch durch einen Riegel gesichert, während die Seitentür ein automatisches Schnappschloß hat, das einklinkt, wenn Sie es beim Weggehen zuklappen. Wissen Sie genau, daß Sie das getan haben, Mrs. Bulford?« »Ganz genau, Inspektor.« »Ich habe gehört, wie meine Frau die Tür zumachte und das Schloß einschnappte«, ergänzte der Direktor. »Wäre es leicht für jemanden gewesen, sich im Hause zu verstecken, bevor die Bank für das Publikum geschlossen wurde?« »Leicht? So gut wie unmöglich ! Es gibt keinerlei Versteck, das kann ich Ihnen zeigen.« »So hatte ich auch gehofft. Wann wird der Bankraum gesäubert?« »Jeden Morgen. Dafür kommt um 7.45 Uhr ein Mann. Den lasse ich selbst herein, und wenn er fortgeht, beginnt die Geschäftszeit.« »Benutzt der Mann auch mal die Hintertür?« »Ja. Im Parterre liegt nämlich die Küche, von der eine Tür zum Hinterhof führt. Aber die hat ein Sicherheitsschloß und wird nie offengelassen. Das Küchenfenster ist durch eiserne Gitterstäbe gesichert. Unser 50
Reiniger kann mit der Sache nichts zu tun haben, er macht schon über zwanzig Jahre diese Arbeit für die Bank.« »Sie haben noch mehr Kinder?« »Zwei Jungen«, antwortete wieder seine Frau. »Sie sind in Melbourne, wo sie zur Schule gehen, in Pension.« »Mrs. Bulford, Ihr Baby ist doch in der städtischen Klinik zur Welt gekommen, nicht wahr?« »Ja, ganz recht.« »Ihr Arzt?« »Doktor Nott. Aber wozu –?« »Entschuldigen Sie, wurde das Kind mit der Flasche ernährt?« »Wurde es, ja«, erwiderte Mrs. Bulford stirnrunzelnd. »Gesund?« »Selbstverständlich«, kam die Antwort. »Geben Sie viele Gesellschaften?« »Nein. An jedem dritten Dienstag im Monat eine Sherryparty.« »Hm. Auf Kosten der Bank«, unterbrach der Direktor. »Die übliche Geschichte : Eingeladen werden wichtige Kunden und andere Leute, die nicht übergangen werden dürfen. Und natürlich ein paar persönliche Freunde.« »Um welche Zeit finden diese Partys statt?« »Von 4.30 Uhr bis 6 Uhr.« »Worauf wollen Sie denn hinaus?« fragte Mrs. Bulford, doch Bony brachte seine nächste Frage vor, als habe er ihre gar nicht gehört. »Kommen jeden Monat die gleichen Personen in Ihr Haus?« »In der Mehrzahl ja. Sind natürlich alle sehr gute Bekannte.« »Mrs. Delph – gehört die auch zu Ihren Gästen?« »Ja. Ihr Mann ebenfalls, wenn er aus seiner Praxis abkommen kann.« »Hat Mrs. Rockcliff ein Konto bei Ihnen?« Die Frage zündete. Die Augen hinter den randlosen Gläsern flackerten, der Blick wurde reserviert. »Nein, Inspektor. Den Namen kannten wir gar nicht, bis wir ihn in der Zeitung lasen, und mein Personal konnte die Frau nach dem Bild, das der Wachtmeister brachte, nicht als Kundin identifizieren.« »Ist es wahr, daß auch das Baby dieser Frau verschwunden ist?« fragte Mrs. Bulford. 51
»Leider ja. Verzeihen Sie, wenn ich unverschämt wirke : Womit waren Sie an dem Nachmittag, an dem Ihr Baby gestohlen wurde, beschäftigt?« »Oh ! Ich war auf einer Cocktailparty bei Mr. und Mrs. Reynolds.« »Unsere besten Kunden, Inspektor«, schaltete der Direktor ein. »Ich sollte an dem Tage vor sechs Uhr bei ihnen sein. Um 5.30 Uhr ging ich aus der Bank nach oben, um mich vor dem Weggehen frischzumachen. Da fand ich das Kinderbett leer. Es stand auf dem Treppenflur vor diesem Zimmer.« »Um welche Zeit gingen Sie fort?« wandte Alice sich an Mrs. Bulford, und Bony zog die Stirn kraus, denn er hatte ihr das ja schon gesagt und hatte eben die Frage selbst stellen wollen. Mrs. Bulford blickte Alice grimmig an. »Ungefähr um halb fünf«, sagte sie schroff. »Also hatten Sie die Absicht gehabt, das Baby für etwa anderthalb Stunden allein zu lassen?« fuhr Alice hartnäckig fort. »Dem Kind ging es sehr gut, und nach unserer Meinung lag es hier auch ganz sicher«, erwiderte Mrs. Bulford eiskalt und entschieden. »Beim Untersuchen derartiger Fälle«, erklärte Bony betont freundlich, »ist es notwendig, jeden einzelnen Weg zu verfolgen, um festzustellen, ob der Dieb seinen Erfolg dem Zufall verdankt oder seiner genauen Kenntnis der elterlichen Gewohnheiten. Deshalb diese Fragen, die Ihnen vielleicht zu persönlich vorkommen. Wie oft ist das Kind vor seinem Verschwinden allein im Haus gelassen worden?« Mr. Bulfords Gesicht rötete sich langsam, doch das seiner Frau blieb unverändert. Sie sagte mit einer gewissen Schärfe : »Das weiß ich nicht mehr genau, Inspektor. Ein paarmal wohl. Es kam vor, wenn ich mit meinem Mann zusammen bei Bekannten war oder wenn er geschäftlich unterwegs war oder Tennis spielte und ich auch eine Verpflichtung hatte.« »Sie sagten, Sie müßten jeden dritten Dienstag im Monat eine Sherryparty geben. Haben Mr. und Mrs. Reynolds auch jeden Monat einen festen Empfangstag?« »O ja. An jedem zweiten Mittwoch.« »Dort treffen Sie gewiß dieselben Leute an, die auch bei Ihnen verkehren?« »Ja, alle, die zu unserem gesellschaftlichen Kreis gehören.« 52
»Natürlich. Beschäftigen Sie Hausperonal?« »Das ist unmöglich«, erwiderte Mrs. Bulford. An ihrem Ton ließ sie merken, daß das Fehlen häuslicher Hilfe ihr größtes Kreuz war. Bony stand auf. Er verabschiedete sich durch eine Verbeugung von Mrs. Bulford und folgte mit Alice dem Direktor die Treppe hinab in den Hausflur, wo er sagte, er wolle gern einen Blick in den Bankraum werfen. Der Raum war ziemlich klein, der breite Schaltertisch, mit den durch Wände getrennten Abteilungen dahinter, lief durch die ganze Länge. Sie wurden in den Tresorraum geführt und nachher in das geschmackvoll mit einem großen Diplomatenschreibtisch, Drehstuhl und mehreren Klubsesseln für die Kunden ausgestattete Geschäftszimmer des Direktors. »Sehr gemütlich«, bemerkte Bony. »Hier muß es einem Kunden Spaß machen, um Erhöhung seines Kredits zu bitten, und Ihnen als Direktor die Erfüllung seines Wunsches.« Mr. Bulford lachte, er war plötzlich ein ganz anderer Mensch. »Es ist tatsächlich so, Inspektor«, sagte er, »daß jede Bank ihre Kunden gern zufriedenstellt und ihnen sehr ungern etwas abschlägt.« »Ah ! Daran werde ich denken, wenn ich wieder einmal auf meiner Bank zu tun habe«, gelobte Bony. »Ich habe bisher meinen Bankdirektor immer für ein Ungeheuer gehalten.« Als Mr. Bulford die Seitentür geöffnet hatte und Bony sich verabschieden wollte, sagte der Direktor zögernd : »Die bedauernswerte Frau, Mrs. Rockcliff – hatte die vielleicht den Kinderdieb bei seiner Tat überrascht?« »Ausgeschlossen ist das nicht, Mr. Bulford. Sie hatte die Gewohnheit, das Baby allein im Haus zu lassen. Kann auf eine bestimmte Methode der Diebe hindeuten, nicht wahr?« Das Telefon im Privatbüro rief den Direktor, der nun mit einer gewissen Hast die Tür hinter ihnen schloß. Alice ging bis zur Straße, Bony hielt das Ohr ans Schlüsselloch. Er konnte Bulford am Apparat sprechen hören, aber nichts verstehen. Als er zu Alice in die Taxe stieg, sagte er : »Ich glaube, das reicht für heute nachmittag, es ist gleich fünf Uhr.« »Ich brauche ein starkes Getränk«, erklärte Alice. »Höre ich richtig?« »Bier, bitte schön.« 53
»Fahrer, zur nächsten Milchbar«, befahl Bony. »Nein, zum ›River Hotel‹«, gab Alice energisch Gegenbefehl.
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er Wagen glitt durch eine breite Allee mit Dattelpalmen, die ihre Schatten als schwarze Streifen über den Fahrdamm warfen, der einem Tigerfell glich. Wo die Palmen aufhörten, lag das von alten Eukalyptusbäumen umstandene ›River-Hotel‹. Mit seinem grünen Dach, der gelblich gestrichenen Fassade, den breiten, dicht umrankten Veranden und den glitzernden Flächen des breiten Flusses im Hintergrund gab das Hotel dem ankommenden Gast sogleich das Gefühl, daß ihn hier Erfrischung und Entspannung erwarteten. Der Fahrer erklärte, er wolle sich gern bei dieser Gelegenheit mit einem Freund in der Stehbierhalle unterhalten, was natürlich Bony und seiner Begleiterin nur recht war. Sie schritten über ein paar Stufen zum Haupteingang. Alice blieb einen Moment stehen. Es mißfiel ihr, daß mehrere Kinderwagen und Karren in einem Alkoven standen, wo sie allerdings niemandem im Wege waren. Bony wartete, während sie die Kinder kurz musterte. Es entging ihm nicht das ärgerliche Blitzen in ihren Augen, als sie das Hotel betraten. Im Vestibül saßen die Mütter, eine Gruppe trinkfreudiger Damen. »Immer dieselbe Geschichte«, sagte Alice, die an dem eiskalten Lagerbier nippte. »Elf Weiber besaufen sich, und draußen stehen neun Kinder im Wagen, weil es verboten ist, sie mit ins Lokal zu nehmen. Ich würde es gesetzlich verbieten, Kinder vor so einem Lokal unbeaufsichtigt zu lassen.« »Auf der Veranda ist es schattig und kühl«, murmelte Bony beim Drehen einer Zigarette. »Auch offen, frische Luft. Und vielleicht sind die Kinder da ganz geschützt.« »Erzählen Sie mir, wie das Baby von hier gestohlen wurde«, bat Alice. »Deshalb wollte ich ja gern mit Ihnen hierherkommen.« 54
»Ich hatte Ihre Gedanken gelesen, Alice, und gab Ihrem Wunsch nach, weil Sie sich einen erfrischenden Trunk ehrlich verdient hatten.« Bony hielt höflich ein brennendes Streichholz an ihre Zigarette. »Am 27. Dezember brachte eine Mrs. Helen Ecks ihren erst wenige Wochen alten Säugling mit hierher und ließ ihn da draußen auf der Veranda. Als sie ankam, standen bereits zwei Kinderwagen auf der Veranda. Das war um 4.15 Uhr. Um 4.40 Uhr etwa kam noch eine Frau an, die ihr Kind – als viertes – da draußen ließ. Diese Frau erinnerte sich, daß bei ihrer Ankunft das Kind von Mrs. Ecks noch in seinem Wagen lag. Mrs. Ecks behauptete, sie habe als erste um 5.25 das Lokal verlassen, also müßte das Kind zwischen 4.40 Uhr und 5.25 Uhr gestohlen worden sein. Sie erklärte ferner, sie habe drei Glas Gin mit Limonade getrunken, eine Angabe, die der Barkellner allerdings auf sieben Glas ergänzte. Jedenfalls soll Mrs. Ecks, nach Aussagen mehrerer Frauen, die mit im Vestibül saßen und sie kennen, verhältnismäßig nüchtern hinausgegangen sein. Sie zog ihren Kinderwagen zwischen den übrigen hervor, schob ihn, ohne hart anzustoßen, die Stufen hinab und machte sich auf den Heimweg, um ihrem Mann das Abendessen zu kochen. Unterwegs traf sie eine Bekannte, die sie lange nicht gesehen hatte. Erst als diese das Baby betrachten wollte, merkte Mrs. Ecks, daß der Wagen leer war.« »Sieben Glas Gin – kein Wunder«, sagte Alice fast zischend. »Mrs. Ecks hatte beim Verlassen des Hotels rein mechanisch gehandelt. Sie war noch nüchtern genug, um keinen falschen Kinderwagen zu nehmen, aber doch schon so benebelt, daß sie sich vor der Heimfahrt nicht überzeugte, ob ihr Kind munter und zufrieden war.« »Und kein Mensch hat gemeldet, daß sich jemand an den Kindderwagen zu schaffen gemacht hat?« »Nein, keiner.« »Mr. Ecks hat seine Frau dann ins Krankenhaus gebracht, nicht wahr?« »Er hat einen Obstversand. Ihn packte der Jähzorn, weil er sich schon lange darüber geärgert hatte, daß seine Frau jeden Freitag nachmittag schon in das Hotel ging. Ich persönlich bin nicht dafür, daß ein Mann mit einem Stuhl nach seiner Frau wirft.« »Nein? Aber ich !« meinte Alice streng. »Und was ist aus dem armen Mr. Ecks geworden?« 55
»Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände ließ es der Richter bei einer Geldstrafe bewenden.« Alice drückte ihre Zigarette aus und blickte finster durch den großen Raum nach den Frauen, die auf der anderen Seite saßen. Sie sagte : »Eine Arztfrau, eine Bankiersfrau, eine Großhändlersfrau und eine angebliche Witwe. Wie steht es denn mit der Mutter Nummer vier?« »Sie ist die Frau eines Ingenieurs.« »Ach !« Alice wurde nachdenklich, und Bony bestellte beim Barkellner neue Getränke. Nachdem diese serviert waren, sagte Alice : »Die Bankiersfrau hat ihren Mann aber unterm Pantoffel.« »Ja, sie sieht hart aus«, stimmte Bony ihr bei. »Das kann man wohl sagen. Ich – ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?« »Weshalb?« »Daß ich zu frei mit Ihnen umgehe – mit einem Inspektor : Ich mache mich wohl ziemlich wichtig, oder?« »Nein. Was hatten Sie sagen wollen?« »Über Olga Bulford. Ich kann mir die Art dieser Frau gut vorstellen. Zwei Jungen auswärts auf der Schule, der jüngste mindestens zehn. Dann kommt das Baby an, als sie schon in vorgerückten Jahren ist. Das geht ihr gegen den Strich, es stört den Geselligkeitsrummel, die Sherrypartys. Scheint ein Bild zu geben, nicht wahr?« »Meinen Sie?« fragte Bony lächelnd. »Selbstverständlich. Ziehen Sie mich doch nicht auf !« »Na schön. Inwiefern ein Bild?« »Also«, erklärte sie, »Baby Nr. 1 verschwindet aus einem Kinderwagen auf der Hauptstraße. Die Mutter führt das Leben einer Drohne. Ein Baby wird, ihr lästig, weil es ihr die Figur verdirbt und ihre Sherrypartys stört. Baby Nr. 2 wird aus einer Bank gestohlen. Die Mutter, schon in vorgerückten Jahren, denkt, die Leute kicherten über sie. Auch hier die Störung des Vergnügungsbetriebes. Baby Nr. 3 verschwindet aus dem Kinderwagen vor diesem Hotel. Die Mutter denkt mehr ans Trinken und Klatschen als an ihr Baby. Aus allem ergibt sich das Gesamtbild : Vernachlässigung.« »Und Mrs. Rockcliff?« »Mrs. Rockcliff trank nicht, ließ aber abends, wenn sie fortging, ihr Baby allein. Vernachlässigung aus einem noch festzustellenden Grun56
de. Und wie verhält es sich beim Baby des Ingenieurs? Wie ging da die Sache vor sich?« »Seine Frau sagt, ihr Kind sei aus dem auf der vorderen Veranda stehenden Wagen genommen worden, als sie im Hause zu tun hatte.« Bony beobachtete Alice verschmitzt, aber aufmerksam. »Da ist vielleicht kein Alkohol im Spiel, Alice. Auch keine Vernachlässigung.« »Können wir noch nicht wissen. Wann beschäftigen wir uns mit dem Fall?« »Morgen.« »Möchte wetten, daß es sich auch da um Vernachlässigung handelt.« »Und wenn es so ist?« »Das Gesamtergebnis wird heißen : Vernachlässigung. Es ist da jemand auf vernachlässigte Kinder aus.« »Bestimmt aber auf männliche. Alle verschwundenen Babys waren männlichen Geschlechts.« »Das könnte noch einen anderen Schluß zulassen.« »Vielleicht«, stimmte Bony zu. »Sie haben eine Schwäche für Mathematik. Noch ein Bier?« . »Nein, danke, Bony. Zwei im Jahr decken meinen Bedarf. Ich muß an meine Karriere denken.« »Eine schöne Karriere noch dazu«, meinte er, doch sie wollte das nicht wahrhaben. Indem sie ihn mit leiser Trauer im Blick ansah, gestand sie : »Meine Karriere ist es nicht, sondern ich will Chefinspektor Bolt eine Freude machen, weil er den McGorrs so geholfen hat. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie mit ihm befreundet sind. Wissen Sie, daß mein Vater Geldschrankknacker war?« Bony nickte langsam. »Er hat immer viel Pech gehabt, mein Papa. Wurde irgendwo ein Geldschrank geknackt, schon jagten sie hinter Pat McGorr her. Er hat mehr als einmal gesessen, wenn er’s gar nicht gewesen, war.« Das Lächeln um den traurigen Mund schien für einen Moment froher, als die sanften braunen Augen lebendiger funkelten. »Mutter hat der Polizei nie Vorwürfe gemacht und ich auch nicht, weil Pat McGorr der beste ›Büchsenöffner‹ des Jahrhunderts war, und jedesmal, wenn sie ihn grundlos verhafteten, war das ein Ausgleich für die anderen Fälle, in denen er ihnen entwischte. Mutter war die Frau dieses Pat McGorr 57
und ich seine Tochter. Und Sergeant Bolt war Sergeant Bolt, jetzt Chefinspektor. Verstehen Sie nun?« »Schnelles und gründliches Verstehen liegt in meiner Natur, Alice.« »Dann wird es Ihnen nicht schwerfallen, mir zu verzeihen, wenn ich angebe wie vorhin, oder? Nur Chefinspektor Bolt und seine Frau sind zu mir freundlich, wirklich freundlich gewesen, und so echte Freundlichkeit geht bei mir tief. Glauben Sie nicht, daß das Bier hier mitspricht.« Sie stand auf, Bony begleitete sie durchs Vestibül zum Ausgang. Als sie die Stufen hinab zu der wartenden Taxe gingen, sprachen sie kein Wort. Bony hielt ihr schweigend die Wagentür auf. Erst als der Wagen in schnellem Tempo durch die Hauptstraße zurück zur Polizeiwache fuhr, fragte er, um ihr wieder Mut zu machen : »Was halten Sie von Mr. Bulford?« »Ein Wurm, Bony. In seine jetzige Stellung hat ihn seine Frau hineingeboxt, und sie sorgt dafür, daß er das nie vergißt. Sie wird immer schlimmer werden, je mehr die Haare auf ihrer Oberlippe wachsen. Vielleicht krümmt sich der Wurm eines Tages, macht sie kalt und versenkt sie stückweise im Fluß. Tief genug ist der ja.« »So sieht mir der Mann aber nicht aus«, protestierte Bony. »Nicht der Typ dazu.« »Typ genug, sie um die Ecke zu bringen.« »Sind Ihnen seine Augen nicht aufgefallen?« »Wirkten müde, fand ich. Arbeitet wohl zuviel, um das Geld für das Gesellschaftsleben in diesem Mitford zu beschaffen. Haben Sie ausgeknobelt, wie der Dieb in die Bank gekommen ist?« »Ich fange an, Theorien aufzustellen.« »Am liebsten möchte ich das Bankgebäude mal ganz allein untersuchen«, fuhr sie fort. »Vielleicht wurde das Kind überhaupt nicht gestohlen. Vielleicht hat der Mann die ewigen Klagen seiner Frau so satt gehabt, daß er das Kind erwürgt und die Leiche im Hinterhof vergraben hat.« Nach diesen Bemerkungen verfiel Alice ins Grübeln, und Bony versuchte nicht, sie wieder munter zu machen. Ihn bewegten gemischte Gefühle. Er freute sich, daß es Alice entgangen war, wie Bulfords Augen sich verschleiert hatten, als er Mrs. Rockcliff erwähnte, aber sonst 58
gefiel es ihm ganz entschieden, die Oberwachtmeisterin Alice McGorr in seiner Nähe zu haben. Draußen herrschte noch immer eine bedrückende Hitze, als sie an der Polizeiwache die Taxe verließen und über den Fahrweg zwischen den Diensträumen und Wohnungen zu Fuß gingen. Der Weg führte auf einen Hinterhof mit den Gefängniszellen, den jetzt als Garage dienenden Stallungen und den Nebengebäuden. Essen kam ihnen gerade entgegen. Er wollte zum Abendbrot nach Hause, und Bony schlug Alice gleich vor, sich von ihm im Wagen mitnehmen zu lassen und früh schlafen zu gehen, nach diesem für sie gewiß anstrengenden Tage. »Falle ich Ihnen schon auf die Nerven?« fragte sie. Er nickte, öffnete ihr die Wagentür und sagte : »Wir dürfen Alice nicht überanstrengen, Essen. Klar?« Essen grinste breit, schaltete den Gang ein, und Alice McGorr nahm auf die Fahrt das›Bild von einem lächelnden dunklen Gesicht und lachenden blauen Augen mit. Bony blickte dem Wagen nach, bis er in die Straße einbog. Als er sich herumdrehte, um durch die Hintertür ins Polizeigebäude zu gehen, stand plötzlich ein junger Eingeborener mit einer Schubkarre vor ihm. »Hallo ! Wer bist du denn?« fragte er. Der Eingeborene stellte die Karre hin und richtete sich auf, um den elegant gekleideten Fremden, der so nett sprach, genauer zu betrachten. Er hatte es mit seiner Antwort nicht eilig. Er kramte eine halbe Zigarette aus der Tasche seines Hemdes, aus der Hosentasche ein Wachsstreichholz und zündete erst die Zigarette an, ehe er sagte : »Mein Name ist Fred Wilmot. Und Ihrer?« »Napoleon Bonaparte. Was hast du hier zu arbeiten?« »Ich bin hier als Fährtensucher, Wagenwäscher und Holzhacker. Und was haben Sie hier zu suchen?« Die schwarzen Augen blickten frech, der dicke Mund war aufgeworfen in unterdrücktem Ärger. Als die schwarzen Augen den blauen begegneten, fingen sie an zu flackern und senkten sich schließlich auf den Karren, überallhin ausweichend, um nur dem Blick der blauen zu entgehen. Wilmot war ein kräftiger Mann Anfang der Zwanzig, nach den Begriffen der Eingeborenen hübsch. Unter dem offenen Kragen seines blauen Hemdes waren die Narben der feierlichen Mannesweihe zu se59
hen, was für Bony interessant war. Er sagte : »Ich bin Kriminalinspektor, Fred. – Wo liegt euer Lager?« Keine Antwort. »Wo hegt euer Lager?« »Flußaufwärts.« »Wie weit?« »Bißchen über fünf Kilometer.« »An welcher Seite?« »Nach hier zu.« »Bleibst du nachts hier, oder gehst du ins Lager?« »Ins Lager. Habe ein Fahrrad.« »Und wie lange hast du schon bei Sergeant Yoti gearbeitet?« Fred gähnte. »Diesmal seit letztem Dienstag. Vorher schon einmal drei Monate. War eine Weile nicht hier.« »Oh. Wie viele Leute sind in eurem Camp?« Die schwarzen Augen blickten wieder auf in die blauen, und diese waren jetzt nicht mehr so ungewöhnlich groß und drohend. »Ungefähr siebzig bis achtzig«, erwiderte Fred. »Es ist eine Missionsstation. Der Geistliche ist Mr. Beamer, ein Methodist.« »Hab’ von dem schon gehört«, sagte Bony seidenweich und zog sein Etui mit den nicht handgedrehten Zigaretten. Fred nahm eine an, das Eis begann zu schmelzen, aber ganz behaglich fühlte er sich unter dem Blick der blauen Augen doch nicht. Er wich ihnen aus, aber als er die Griffe seiner Schubkarre wieder anfaßte und sie hochnahm, hielt ihn Bonys nächste Frage noch fest : »Wie lange bist du schon auf der Mission?« »Ungefähr fünf Jahre. Mein Vater ist auch da, und die anderen von uns. Wir kommen vom Darling River, oben bei Menindee. Waren Sie schon mal in Menindee?« »Mehr als einmal. Ich kannte den alten Pluto.« »Er ist tot. Schon lange.« »Habe ich auch gehört. Na, ich sehe, du hast noch zu arbeiten, ehe es dunkel wird. Mach nur weiter.« Die schwarzen Augen wichen schnell aus, und Bony belustigte es, daß seine kleine Disziplinlehre hier auf wenig Gegenliebe stieß. Zu gute Bezahlung, zu starke Verwöhnung durch den Staat und durch Ge60
sellschaften, die um die Wohlfahrt der Ureinwohner besorgt waren, hatten zu viele Fred Wilmots hervorgebracht.
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ony hatte im Polizeigebäude ein nach Süden gelegenes Zimmer, das er vom Garten aus betreten konnte. Es war klein, schlicht möbliert, angenehm kühl und luftig. Früher hatte dort Sergeant Yotis Sohn George gewohnt, der jetzt bei der Verkehrspolizei in Sydney war. Bony durfte von dem Schreibtisch, von Georges Schreibmaschine und den vielen Romanen beliebig Gebrauch machen. Nachdem er geduscht und sich umgezogen hatte, setzte er sich an den Schreibtisch. Es klopfte. Sergeant Yoti trat ein und setzte sich in den Schaukelstuhl seines Sohnes. »Wir essen in einer halben Stunde«, sagte er. »Wie ist Ihr Tag verlaufen?« »Vielversprechend«, erwiderte Bony, indem er sich zur Seite drehte und ein Bein über die Sessellehne schwang. »Bis jetzt habe ich freilich kaum mehr als ein allgemeines Bild, Atmosphäre und Hintergründe.« »Bewährt sich diese Alice McGorr?« »Ja, ich bin zufrieden mit ihr. Hatte sie mit Essen nach Hause geschickt, dachte mir aber gleich, daß sie darüber empört war. Deshalb rief ich hinterher bei Essen an und gab ihr für heute abend einen Auftrag. Wissen Sie, ob Essen etwas ausgerichtet hat?« »Ja und nein. Er ist in sämtlichen Banken gewesen, aber bei keiner gab es ein Konto unter dem Namen Rockcliff. Ich selbst war beim Postdirektor, mit dem ich befreundet bin. Wir sind auch in derselben Loge. Er hat mir versprochen, sein Personal zu befragen und alle Listen nachzusehen, um festzustellen, ob Mrs. Rockcliff ein Konto bei der Commonwealth Sparkasse gehabt hat oder Geld auf dem Postwege empfing. Er will heute abend herkommen, um uns zu berichten. 61
Essen hat auch die Lieferanten von Mrs. Rockcliff, den Schlachter, den Milchmann, den Bäcker und den Kolonialwarenhändler aufgesucht. Sie bezahlte ihre Rechnungen monatlich, und dabei ist ihm etwas aufgefallen : daß sie nämlich regelmäßig am 12. des Monats bezahlte, in bar. Es scheint also, daß sie auch regelmäßig einmal im Monat Geld bekam oder irgendwo abholte, nicht wahr?« »Offenbar«, stimmte Bony zw. »Etwas festgestellt über ihre Bekanntschaften im Ort?« »Nichts, oder fast nichts. Sie war in keinem Frauenverein, keinem Sportklub oder Lesezirkel. Dagegen holte sie sich ständig Bücher aus der Stadtbibliothek und scheint auch oft lange im Leseraum gesessen zu haben. Ob sie Bekannte im Ort hatte, konnte Essen bis jetzt noch nicht feststellen. Seine Schwester und ihr Mann behaupten, es sei nie jemand bei ihr gewesen außer Reverend Baxter, und dieser erklärte, sie sei zwar jeden Sonntagabend zum Gottesdienst gekommen, habe sich aber sonst nicht für die Kirche betätigt. Er hat ihr Kind in der Kirche getauft, doch hat sie es nachher nie mehr mitgenommen.« »Und wie steht’s mit dem Makler, der ihr das Haus vermietet hat? Mit ihren Referenzen?« »Der Chef – er heißt Martin – war heute nachmittag nicht im Büro, aber sein Buchhalter hat Essen die Auskunft gegeben, daß das Haus an Mrs. Rockcliff für ein Jahr vermietet wurde und sie anstelle von Referenzen die Miete für drei Monate vorausbezahlt hat. Sie ist am 12. Oktober eingezogen. Vorher hatte sie im ›River-Hotel‹ gewohnt, wo sie laut Gästebuch am 9. Oktober ankam. In einer Taxe. Wir haben den Fahrer ausfindig gemacht, der ausgesagt hat, daß sie ihn gegen 11 Uhr morgens auf der Hauptstraße angehalten und ihn nach einem guten Hotel gefragt hat. So weit sind wir mit ihrer Vorgeschichte gekommen.« »Hm. 11 Uhr vormittags. Kommt um diese Zeit ein Zug oder ein Flugzeug an?« »Nein. Das erste Flugzeug landet um 9.45 Uhr, der erste Zug kommt 14.20 Uhr an. Vermutlich ist sie im Auto nach Mitford gekommen. Die Polizei in Albury und Mildura versucht das zu ermitteln. Natürlich kann sie auch von einer Farm im Norden oder im Süden gekommen sein, in einem gemieteten Wagen oder in einem von Bekannten.« 62
Die alte Pfeife war ausgegangen. Yoti zündete sie wieder an, während er Bony mit düsterem Blick betrachtete. Plötzlich lächelte Bony, dann fiel ihm die ärgerliche Miene des Sergeanten auf. »Wir müssen die wichtigen Punkte im Auge behalten. Einige sind wesentlich, andere nebensächlich«, erklärte Bony. »Bevor ich nach Mitford kam, sind vier kleine Kinder entführt und die vier Fälle gründlich untersucht worden. Ungefähr zu der Zeit, als ich hier erschien, wurden eine fünfte Entführung und ein Mord entdeckt. Aus den vier ersten Entführungen ergab sich nichts, was Anhaltspunkte für die fünfte geben konnte. Wir haben also hinsichtlich dieser vier Babys gar keine Grundlagen, müssen, aber die Fälle als ein Ganzes betrachten und das Problem dementsprechend anfassen. Der oder die Entführer der fünf Kinder leben hier in Mitford und bewegen sich frei wie wir. Natürlich verfolgen sie unsere Tätigkeit mit großer Spannung. Sehr wahrscheinlich wissen sie schon, daß Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte die Verbrechen untersucht. Also werden sie sich für mich besonders interessieren. Zweifellos sind die Entführer, ob Männer oder Frauen, äußerst geschickt. Bei der Aufklärung von Verbrechen stellt sich eigentlich immer heraus, daß besondere Umstände, reine Zufälle und sogenanntes Glück dem Kriminalisten oder dem Verbrecher zustatten kommen. Bisher haben die Kinderdiebe das Glück auf ihrer Seite gehabt, und ihre Verfolger erreichten nichts. Wovon können wir nun ausgehen? Ein Verbrecher, der – ob er nun allein oder mit anderen zusammen tätig ist – sich ganz besonders schlau vorkommt, muß trotzdem wohl einigermaßen gespannt sein, zu erfahren, was Kriminalinspektor Bonaparte unternimmt oder vermutlich noch unternehmen wird. Wie ich schon oft gesagt habe : Wenn der Verbrecher sich nach Begehen seiner Tat still verhalten würde, entkäme er in vielen Fällen der Vergeltung, doch zum Glück für Recht und Gesetz bringt er das nicht fertig. Ich kann mir eigentlich noch nicht erlauben, das zu sagen, Yoti, aber ich möchte behaupten, der Mord an Mrs. Rockcliff ist das erste Anzeichen dafür, daß die Glückssträhne der Kinderdiebe abgerissen ist und unsere angefangen hat. Ich habe Leute gekannt, die Banken ausgeraubt, andere Einbrüche verübt und Betrugsmanöver ausgeführt haben, Männer, die ihre ganze Intelligenz gegen die Kriminalwissenschaft aufgeboten haben, wobei sich zeigte, daß sie im Grunde die Sache wie 63
einen Sport betreiben, so wie wir beim Pferderennen wetten. Diese Art Menschen kommen als Mörder so wenig in Frage wie Sie oder ich. Und bei dem Entführer der fünf Kinder handelt es sich meiner Meinung nach um diesen Typ des Kriminellen. In welcher Geistesverfassung mag der also jetzt sein, wenn ihm auch ein Mord zur Last gelegt werden kann? Er muß in großer Unruhe sein und wütend. Angenommen, er hat Mrs. Rockcliff ermordet, weil sie ihn erkannte, welche Wirkung würde das auf seinen Komplicen haben? Beschuldigungen, Furcht, Verrat, alles kommt vom Mord. Wie ich schon sagte, ist Mord ein Stachel, der keine Ruhe und keinen Frieden gibt und jedes Vertrauen untergräbt.« Yoti, der Bony nicht einmal ins Gesicht geblickt hatte, starrte auch jetzt noch an ihm vorbei, auf ein Bild, das seinen Sohn im Badeanzug zeigte. Bony sagte : »Die Wirkung des Mordes wird sich auf alle an den Kindesentführungen beteiligten Personen erstrecken. Bestimmt sogar. – Rief uns nicht eben Ihre Frau?« Yoti nickte. Er wollte gern ein paar Gedanken äußern und mit Bony Überlegungen anstellen, aber er sah ihn jetzt strahlend lächeln und hörte wieder seine angenehme Stimme : »Unweigerlich wird der Feind eine falsche Bewegung machen, doch wollen wir uns dadurch nicht unseren Appetit verderben lassen. Entschuldigen Sie uns jetzt beide bei Ihrer Frau, denn wir kamen ja auch gestern zu spät zum Essen, und da habe ich mich entschuldigt.« Yoti knurrte unwillig, wurde dann aber zugänglicher, so daß sie ganz vergnügt bei Tisch saßen. Nach der Mahlzeit begaben sie sich in Yotis Dienstzimmer, um dort den Postdirektor zu erwarten, doch zunächst erschien Essen, um zu melden, daß Alice McGorr die Wohnung verlassen habe, um ihren Fall weiter zu bearbeiten. »›Ihren‹ Fall?« murmelte Bony, worauf Oberwachtmeister Essen lächelnd wiederholte, das habe sie wörtlich gesagt. Da die Nacht keinen kühlenden Wind brachte, saßen die drei Männer in Sporthemd und leichter Hose am Tisch. Essen ergänzte seine Berichte durch theoretische Betrachtungen, als im Vorzimmer Stimmen laut wurden. Herein trat energisch ein etwa fünfzigjähriger Mann mit angegrautem Haar, der fröhlich lächelte. Er schielte ein wenig. Das feuchte Seidenhemd klebte ihm am Rücken. Aus dem Hosenbund zog er vier 64
Flaschen Bier. Nachdem er Bony heftig die Hand geschüttelt hatte, sagte er in der unverkennbaren, langsamen Sprechweise des Binnenländers : »Ich kenne kein besseres Steckenpferd als Biertrinken, Inspektor, und nirgends ist das so befriedigend wie in Mitford. Ich habe deswegen sogar eine Beförderung in einen größeren Bezirk ausgeschlagen. Mir gefällt das Bierklima hier. Sehen Sie sich doch Essen an : Er war noch gar kein richtiger Kerl, als er nach Mitford kam, wenn er sich auch jeden Tag rasieren mußte.« »Seit ich Sie kennengelernt habe, tauge ich als Polizeibeamter nicht mehr viel«, gab Essen zurück, während er aus einem Wandschrank vier Gläser nahm. »Das schlimmste ist, daß ich eurem Kegelklub beigetreten bin.« »Glauben Sie ihm kein Wort«, protestierte der Postdirektor. »Seine Frau ist ebenso versessen auf den Klub wie ich und Yoti. Wie geht’s dem Baby?« »Was hat das hiermit zu tun?« »Hm. Ihnen ist was über die Leber gelaufen, nicht wahr? Na, egal, trinken Sie einen ordentlichen Schluck.« Zu Bony sagte er : »Hoffe, Sie kegeln auch, Inspektor. Müssen bei uns mitmachen. Wir ernennen Sie zum Ehrenmitglied. Netter Verein. Habe auch Schankkonzession und verdiene ganz schön mit der Bar.« Er ließ sich gemütlich in einen Sessel sinken, hob sein Glas und trank mit Genuß. »Ach so, wegen Mrs. Rockcliff. Ich kann nicht lange hierbleiben, weil ich die Logenbücher für morgen abend noch fertigmachen muß.« Schon füllte der Postdirektor sein Glas wieder, wobei er scheel auf die drei anderen Gläser blickte, die noch fast voll waren. »Bin nach dem Abendbrot wieder ins Amt gegangen«, fuhr er fort. »War natürlich niemand im Dienst, so daß ich ungestört alles prüfen konnte. Habe die Eintragungen in den Registern bis vier Monate zurück durchgesehen. Kein Einschreibebrief an oder von Mrs. Rockcliff. Bei den Postanweisungen auch nichts, und auch kein Konto bei der Commonwealth Sparkasse.« »War großzügig von Ihnen und im Ergebnis von Nutzen für uns«, sagte Bony. »Schon gut, Inspektor. Bin der Polizei stets gern behilflich. Schon aus Diplomatie, denn die Brüder können einem auch mal Ärger machen. 65
Darf ich nachfüllen? Hat denn keiner von euch ordentlich trinken gelernt? – Na, ich hab’ noch mehr unternommen. Habe mit dem Direktor von der Staatsfiliale telefoniert. Umsonst. Auch da kein Konto unter Rockcliff. Bin mit ihm befreundet. Sitzen im selben Boot.« »Im Kegelklub, was?« »Richtig.« »Und in der Loge?« »Wieder richtig.« Der Postdirektor trank aus, füllte sein Glas neu und leerte es wieder in einem Zuge. »Na, Wiedersehen, Inspektor. Bringen Sie ihn Samstagnachmittag zum Kegeln mit, You. Bier gibt’s da in rauhen Mengen.« »Ich möchte gern ein paarmal mitspielen, ehe ich Mitford verlasse«, versicherte Bony dem fröhlichen Mann, der ein ›Bierklima‹ liebte. »Bleibt dabei, Inspektor. Wiedersehen, ich muß zu meinen Logenbüchern. Wollen Sie nicht mal aufs Wohl des Inspektors trinken, Yoti?« Essen begleitete den Postdirektor zum Ausgang, dann schenkte er frisch ein und steckte sich eine Pfeife an. »Der Bericht über die Monogramme in der Kleidung müßte bis morgen mittag hier sein«, sagte er. »Sonderbar, daß die Frau ihre Rechnungen immer am 12. bezahlt hat.« »Interessanter Punkt«, stimmte Bony zu. »Meine Assistentin meinte, das Geld könnt von einem Freund hier in der Stadt gekommen sein.« »Nach Aussage von Mr. Thring und Frau hat sie niemals Herrenbesuch gehabt«, gab Essen zu bedenken. »Sie könnte ja zu dem Mann hingegangen sein, abends.« »Allerdings.« »Wer gehört denn so zu Ihrem Kegelclub?« Yoti gab ihm die Auskunft, daß der Verein ungefähr achtzig Mitglieder habe, auch Geschäftsleute, Beamte, der Bahnvorsteher, der Stadtingenieur und die meisten Anwälte seien dabei, »Wie ist’s mit den Direktoren der Privatbanken?« . Yoti grinste ohne Ironie. Die fühlen sich über unsere Leute erhaben.« »Und die Ärzte?« »Dito.« Das Telefon klingelte. Essen ging hinaus. 66
»Diese Frage möchte ich ganz klarstellen, Yoti«, fuhr Bony fort. »Haben die Bankdirektoren, die Ärzte und sonstigen Leute der besseren Gesellschaft einen eigenen Klub oder Verein?« »Ja, mit Tennisplätzen und Golfplatz. Weshalb liegt Ihnen an dieser Feststellung?« »Die Kindesentführung von der Olympic-Bank war die schwierigste von allen und hing von genauer Zeitberechnung und genauer Kenntnis der Gewohnheiten beider Eltern ab. Wie viele altmodische Wandtelefone gibt es noch in Mitford? Mir fällt auf, daß Sie hier auch so eins haben.« »Es sind uns schon Tischapparate in Aussicht gestellt worden. Warum fragen Sie?« Essen kam herein. »Ein gewisser Wyatt, Ukas Street 17, meldet, daß ein schwerverletzter Eingeborener am vorderen Tor liegt«, sagte er. »Der Eingeborene behauptet, von drei Männern überfallen worden zu sein. Ich habe nach dem Krankenwagen telefoniert. Wenn er kommt, müßte ich mitfahren.« »Geht in Ordnung«, knurrte Yoti. »Stellen Sie dann fest, was der Schwarze nach Sonnenuntergang in der Stadt zu suchen hatte. Wenn er nicht ins Krankenhaus muß, sperren Sie ihn über Nacht in die Zelle.« Essen ging hinaus, um auf den Krankenwagen zu warten, und Yoti fragte : »Wie war es mit dem Bankfall?« »Wahrscheinlich von Leuten ausgeführt, die mit den Lebensgewohnheiten der Eltern und dem Inneren des Bankgebäudes einschließlich der Wohnung vertraut waren. Drei Personen waren dazu nötig. Eine trat in die Gasse, die zum Privateingang führt. Die zweite rief den Direktor von einem öffentlichen Fernsprecher aus an. Der mußte seinen Schreibtisch im Büro, von dem aus er den Flur seiner Privatwohnung übersehen konnte, verlassen und ans Telefon treten, so daß er mit dem Rücken zur Privatwohnung stand. Die erste Person öffnete die Privattür mit einem Nachschlüssel, ging nach oben, holte das Baby und gab es dann der dritten Person, die hinter dem Bretterzaun bereitstand. Er kann dann in dem leeren Haus neben der Bank geblieben sein, bis es dunkel wurde.« »Sauber«, bestätigte Yoti. »Hat Ihnen Bulford nicht gesagt, wer ihn an dem Nachmittag anrief, nachdem seine Frau fortgegangen war?« 67
»Danach habe ich ihn nicht gefragt«, erwiderte Bony. »Laut Polizeiakte hat er erklärt, niemand habe ihn angerufen, nachdem seine Frau gegangen war.« »Gut, aber wie konnte die zweite Person wissen, daß die erste mit Bulford telefonierte? In der Nähe ist kein von jener Tür aus sichtbarer öffentlicher Fernsprecher.« »Draußen vor der Tür konnte die zweite Person den Direktor am Telefon im Salon sprechen hören.« Bony blickte auf seine Uhr. »Hm – gleich 11. Wird Zeit, daß Miss McGorr sich meldet. Erstaunliche Frau übrigens.« »In bezug auf Köpfchen oder äußerlich?« »Sie meint, alle Kinder seien gestohlen worden, weil sie vernachlässigt wurden. Da kann sie recht haben.« »Vernachlässigt ! Wieso will sie das feststellen können?« »Vernachlässigt, während die Mutter im Lokal Schnäpse trinkt oder von einer Sherryparty zur anderen läuft. Vernachlässigtes Baby der Betreuung durch die Köchin überlassen, damit die Mutter zum Sherry eilen kann. Vernachlässigtes Baby allein im Haus, während die Mutter zur Bibliothek oder zu einem Freund geht. Ein System wäre da erkennbar, nicht wahr?« »Möglich«, gab Yoti zu. »Bei unseren weiteren Ermittlungen wird noch mehr Methodisches zum Vorschein kommen«, erklärte Bony weiter. »Die Zeit wird uns Zufälle liefern, durch die sich einzelne Vorgänge verbinden, Zufälle, die, wie man so sagt, bei der alltäglichen Polizeiarbeit nie mitspielen.« »Bin nicht Ihrer Meinung. Könnte gleich ein paar aufzählen.« »Natürlich. Ich dachte ja auch nur an die Schwierigkeiten, die für die Kritiker meiner Biographie entstehen werden. – Ah, Alice McGorr scheint zu kommen.« Sie erschien, den bewußten Strohhut auf dem Kopf, in der Tür und kam mit langen Schritten zum Schreibtisch. Der gekräuselte Kragen ihrer Bluse war zerrissen, und als sie den Hut auf den Schreibtisch warf, sahen die Männer, daß es dem traurig ergangen war. Auch mit ihren braunen Augen war etwas passiert, und an ihrem kleinen Kinn war ein Fleck zu sehen, der das Entstehen einer Beule andeutete. Bony stellte ihr einen Stuhl bereit, in den sie hineinfiel, als sei ihr ein elektrischer 68
Schlag in die Beine gefahren. »Haben Sie einen Unfall gehabt?« fragte er. »Ein Zwischenfall war es, kein Unfall«, schnaubte sie. »Ich dachte mir schon, daß ich überwacht wurde, bevor ich die Wohnung von Betty Morse erreichte. Als wir zusammen zu den Delphs gingen, wußte ich’s genau. Der Mann hielt sich auch hinter mir, als wir von Delphs wieder fortgingen, und blieb mir auf den Fersen, als ich von Bettys Wohnung allein wieder zurückkam. So wartete ich im Dunkeln unter einem Baum. Als er vorbeikam, packte ich ihn und marschierte mit ihm zur nächsten Straßenlaterne, um ihn näher zu betrachten. Ich fand ihn unsympathisch, und er wollte mir nicht verraten, was er vorhatte.« »Böse Situation, Alice. Haben Sie was zerbrochen?« »Mußte ich«, gestand sie. »Er war doppelt so schwer wie ich und fiel hart. Ich hörte noch, wie er einem Passanten vorstöhnte, sein Arm sei gebrochen, er müßte einen steifen Hals, eine Gehirnerschütterung und einen verrenkten Fuß haben.«
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or dem Frühstück am nächsten Morgen machte Bony sich weitere Notizen über die von Alice McGorr bei der Köchin von Mrs. Delph ermittelten Einzelheiten. Nach dem Frühstück gab er an Essen telefonisch durch, daß Alice ihm erst nach der Mittagspause weitere Meldungen machen solle. Sie würden dann zusammen zu Mrs. Coutts gehen, die sie über die Entführung ihres Kindes befragen wollten. Um neun Uhr begab er sich zum Städtischen Krankenhaus, um mit dem Mann zu reden, der am Abend vorher Alice verfolgt hatte. Er hoffte, daß die Überwachung von Betty Morse und Alice McGorr ein Zeichen für die erste Bewegung seiner Gegner war. Langsam schritt er durch die Hauptstraße, wo eben die Läden geöffnet wurden, und bog dann in eine Nebenstraße ab, die zur Flußallee und dem Krankenhaus führte. Ein heißer Nordwind drohte 69
den Staub aufzuwirbeln und den undefinierbaren Geruch des Binnenlandes heranzutragen, der so bedeutungsvoll werden sollte. Die Bäume am Fluß versprühten schon ihren Eukalyptusduft. Nach einem Gespräch mit der Oberschwester wurde er von einem Stationshelfer in ein einbettiges Krankenzimmer geführt. Der Patient hatte keinerlei klares Rassenmerkmal, sein Stammbaum schien der Völkerbund zu sein. Bony zerlegte den ›Baum‹ im Nu : zwei Teile australischer Eingeborener, drei Teile Malaie, ein Teil Chinese, drei Teile Europäer und ein Teil brasilianischer Gorilla. Nach der Krankentafel hieß der Mann Bertrand Clark. Er lag in seinem Bett, sein linker Fuß war mit Schellen ans Bett gefesselt. Im übrigen hatte er es so bequem, wie ärztliche Kunst es ihm machen konnte. Freilich lag sein rechter Fuß in Gips, der linke Arm war geschient und der Schädel bandagiert. Mit kleinen schwarzen Augen betrachtete er seinen Besucher so bösartig, daß, Bony sich unauffällig der Reichweite seines unverletzten Armes entzog. »Wie fühlst du dich heute früh?« fragte er den Patienten ganz ernst. »Was geht das Sie an?« »Ich bin von der Polizei«, erklärte Bony sanft. »Es scheint, daß du die Situation, in der du dich gestern abend zuletzt befandest, falsch eingeschätzt hast. Bist ja auch hier in Fesseln gelegt.« »Hab’ nichts Unrechtes getan«, behauptete Bertrand Clark, fügte allerdings hinzu : »Bin bloß nach Sonnenuntergang noch in der Stadt gewesen. Hatte einen alten Bekannten getroffen, der in der flußabwärts gelegenen Siedlung wohnt. Ich ging mit ihm dahin, und wir haben ein bißchen palavert. Er hatte ein Flasche Gin, dadurch haben wir die Uhrzeit vergessen. Als ich von der Siedlung zurückkam, war es dunkel, aber noch nicht so dunkel, daß ich einfach durch die Stadt gehen konnte. Mußte mir ruhige Straßen aussuchen, damit mich die Polizei nicht schnappte. Da sprangen plötzlich drei Kerle auf mich los. Den einen schlug ich k. o. und einen trat ich in den Bauch, aber der dritte riß mir den Arm über die Schulter, daß der Knochen brach. Dann kriegte ich einen Tritt gegen den Fußknöchel, und der Schädel wurde mir kaputtgeschlagen.« »Ein mächtiger Kampf, wie? Und was passierte dann, Bertrand?« »Wurde bewußtlos, natürlich. Als ich wieder zu mir komme, beugt sich ein Mann aus dem nächsten Haus über mich. Dann kommt der 70
Krankenwagen, und Oberwachtmeister Essen wird grob mit mir, weil ich nach Dunkelheit in der Stadt bin. Als ich ihm nichts vorlügen will, wird er ganz gemein, und da fällt mir ein, daß meine Faust noch heil ist –« »Ganz schöne Leistung, Bertrand«, sagte Bony verständnisvoll. »Aber trotzdem wirst du nur sechs Monate kriegen. Einen für Widerstand gegen die Staatsgewalt, einen für Beleidigungen, einen für Aufenthalt in der Stadt nach Sonnenuntergang und drei wegen Verfolgung von zwei jungen Frauen, mit der Absicht, sie zu belästigen. Wir könnten die Strafe sogar auf drei Jahre treiben.« »Ich erzähle Ihnen doch die Wahrheit ! Sehe ich aus, als ob ich lügen könnte?« »Ich finde, du siehst fürchterlich aus«, sagte Bony. »Wenn ich nicht wüßte, wie es zugegangen ist, würde ich denken, daß du von dreißig Mann und nicht von drei überfallen wurdest. Aber ich lese folgendes aus deinem Anblick : Eingeborener Rüpel, der wehrloses weißes Mädchen belästigen will, ist ’reingefallen, da das vermeintliche Opfer sich auf die, Kunst des Judo und die australische Wissenschaft der Fußtritte versteht. So ein Pech – für dich, Bertrand.« Der Patient vermochte sein Gesicht zur Wand zu drehen, und so verharrte er. »Im übrigen, Bertrand, bist du ein Lügner, was noch in der gestrigen Nacht bewiesen wurde, denn Oberwachtmeister Essen hat in der Siedlung keinen angeblichen Freund von dir gefunden, bei dem du gemütlich gezecht haben wolltest. Du hast behauptet, dich durch Gin verspätet zu haben. Freut mich, daß du gesagt hast : Gin. Sherry solltest du nie trinken, Bertrand. Den überlaß man anderen !« Der Patient starrte weiter die Wand an. »Für dich steht es recht finster«, fuhr Bony fort. »Und doch hast du in deiner Notlage einen Freund : keinen geringeren nämlich als den Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte – also mich. Mach reinen Tisch und erzähl mir, warum du eine harmlose junge Frau verfolgt hast. Dann will ich sie dazu bringen, daß sie die Klage, die sie gegen dich erheben will wegen Überfall und tätlichem Angriff mit schwerer Körperverletzung, fallenläßt. Und dann brauchst du nur eine Woche ins Kittchen, weil du dich zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang in der Stadt aufgehalten hast.« 71
Der Patient schwieg weiter, während Bony sich eine Zigarette rollte und sie anrauchte. Das Interessante an Bertrand Clark lag darin, daß Alice McGorr meinte, von ihm nicht zum Zweck des Überfalls verfolgt worden zu sein, sondern weil er feststellen wollte, was sie mit Betty Morse vorhatte. Ging es dabei um seine eigene Wißbegier oder um die eines Dritten, für den er handelte? Als Bony schließlich überzeugt war, von Bertrand Clark keine nützliche Auskunft mehr zu bekommen, wünschte er ihm vorläufig alles Gute und empfahl sich. Die Morgensonne war jetzt wirklich heiß, als er vom Krankenhausgelände auf die Allee kam, wo ihm der tiefe Schatten der Bäume sehr wohltat. Auf einmal bremste neben ihm am Bordstein ein Auto. Dr. Nott rief ihn an : »Hallo, Inspektor ! Haben die Schwestern Sie abgewiesen, weil keine Besuchszeit ist?« »Morgen, Doktor !« Bony lehnte sich an die Tür des eleganten Coupes. »Ich habe Mr. Clark besucht, die Oberschwester war sehr nett und entgegenkommend.« »Haben Sie denn Interesse an dem schwarzen Schurken? Der ist ganz schön zugerichtet, was?« »Allem Anschein nach, ja. In Mitford herrschen wohl rauhe Sitten. Armer Kerl !« »Im allgemeinen ist’s hier recht friedlich, Inspektor. Wir haben unsere Kinderdiebe, gelegentlich unseren Mord, aber daß Strolche auf offenen Straßen in Aktion treten, kommt sehr selten vor und kann schon Aufsehen erregen.« »Vielleicht ist Clark in ein Kanalloch gestürzt oder in eine Grube. Die Leute buddeln ja ständig, wo kein Mensch damit rechnet. Sie sehen müde aus.« »Bin ich auch. Heute nacht vier Zugänge zur Bevölkerung, und bis morgen erwarte ich noch vier.« In seinen müden Augen leuchtete Begeisterung. »Nachts gab’s zwei von derselben Sorte. Je Sieben-PfundZwillinge.« Bony sah, wie er sich in die Brust warf. »Habe im letzten Jahr nur ein Baby verloren, und das war noch die Schuld der dummen Mutter.« »Solche Mütter sind wohl selten?« 72
»Zum Glück ja, Inspektor. Aber nachlässige Mütter nicht. Manche Frauen verdienen gar kein Kind, und viele, die eins haben, dürften es nicht behalten.« »Woran liegt es nach Ihrer Ansicht hauptsächlich, wenn Mütter ihre Kinder vernachlässigen?« »Am Saufen«, kam ohne Zögern die Antwort. »So? Und sonst?« »Am Romanschreiben.« »Wirklich?« »Beides ist ein Ausweichen vor der Wirklichkeit des Alltags. Eine normale Frau müßte mit der Verantwortung für ein Kind alücklich sein. Mrs. Ecks hat übermäßig getrunken und nach meiner Ansicht den Verlust ihres Kindes verdient. Mrs. Coutts schreibt Schundromane. Na, Sie kennen sie wohl schon?« »Noch nicht. Vielleicht suche ich sie heute nachmittag auf.« »Dann werden Sie mir nachher gewiß recht geben. Wie weit sind Sie mit Ihren Nachforschungen gekommen?« »Die Kinderdiebe haben es nicht eilig, sich zu demaskieren, aber das werden sie noch. Verbrecher melden sich unweigerlich bei mir, manche schnell, andere ein wenig zögernd. Brauche nur zu warten. Ich rühme mich nämlich, der geduldigste Mann in ganz Australien zu sein.« Dr. Nott lachte kichernd, aber Bonys Gesicht blieb unbewegt. »Einmal bin ich mit einem Mörder zusammen in einem leeren Haus gewesen, in der Finsternis, die Lichtleitung war zerschnitten«, erzählte Bony. »Ich unternahm gar nichts, setzte mich nur, mit dem Gesicht zur Haustür, auf den Fußboden und wartete. Und brauchte nur drei Stunden zu warten, bis der Mörder die Nerven verlor und zu mir kam mit der Bitte, ihn zu verhaften. Nachher hat er mir erklärt, er habe meine Augen im Dunkeln glühen sehen, und ich müßte hundert Paare Augen gehabt haben, die ihn schließlieh ganz in die Enge trieben. Einbildung selbstverständlich, Doktor. Meine Augen sind ganz normal.« Nott, der regungslos zugehört hatte, schaltete jäh den ersten Gang ein. »Normal, so? Na, na. Ich muß jetzt aber weiter, meine Babys aufsuchen. Hoffe, Sie gelegentlich wiederzusehen.« »O ja. Vielleicht muß ich in Mitford zehn Jahre herumlungern. Au revoir !« 73
Der lackglänzende Wagen fuhr ins Krankenhaus. Bony schlenderte durch die Allee und betrat schließlich das Kontor der Firma Martin & Martin, Auktionatoren und Taxatoren, auf der Haupt. Straße. Er ließ sich beim Seniorchef anmelden. »In welcher Angelegenheit?« fragte der Angestellte. »Meine Aufgabe besteht im Entdecken von Mördern und anderen Kleinigkeiten.« Bony sah, wie das hochmütige Gesicht sich rasch änderte. »Ich bin Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte.« Mr. Cyril Martin, ein Mann in den sechziger Jahren, sah aus wie ein Beerdigungsunternehmer bei der beruflichen Tätigkeit. Seine Stimme klang wie eine Hartholz schneidende Säge. »Nehmen Sie Platz, Inspektor. Was kann ich für Sie tun?« »Im Augenblick interessiert mich besonders die verblichene Mrs. Rockcliff«, fing Bony an, indem er sich setzte und sorgsam die Beine in den haarscharf gebügelten Hosen überschlug. »Sie haben ihr, wenn ich richtig orientiert bin, das Haus auf der Elgin Street vor einiger Zeit vermietet.« »Ja, das stimmt. Wir haben gestern dem Oberwachtmeister genaue Auskunft gegeben.« »Sie vermieteten Mrs. Rockcliff das Haus für ein Jahr?« »Zu einer monatlichen Miete von zehn Pfund?« »Ja.« »Nach Kalendermonaten?« »Ja. Der Oberwachtmeister hat alles …« Bony lächelte. »Ich hole mir gern direkte Auskünfte«, sagte er, und Mr. Martin lächelte nicht. »Die Miete wurde prompt bezahlt?« »O ja. Am 12. jeden Monats.« »War dieser Zahltermin im Mietvertrag vereinbart?« Zum erstenmal zögerte Mr. Martin mit der Antwort. »Eh – nein. Das hat Mrs. Rockcliff dann selbst mit uns ausgemacht. Sie schlug vor, die Miete für das erste Vierteljahr vorauszuzahlen, anstelle von Referenzen, die wir sonst unbedingt verlangen.« »Wie hat sie die Miete beglichen?« »In bar.« »Bei wem?« »Bei meinem Buchhalter im Vorzimmer.« 74
Bony zog sein Zigarettenetui. Mr. Martin beeilte sich, seiner nächsten Frage zuvorzukommen. »Eine höchst sonderbare Geschichte. Inspektor«, sagte er. »Ich war mit Mrs. Rockcliff nur zweimal zusammen und fand sie eigentlich recht nett.« »Das Opfer eines Mordes braucht ja auch nicht unbedingt eine unsympathische Person zu sein, Mr. Martin.« Und der Makler mußte lachen, als Bony das lächelnd vorbrachte. »Könnten Sie uns Ihren Eindruck von Mrs. Rockcliff nicht etwas deutlicher wiedergeben?« »Ja, das kann ich. Ich würde sagen, daß sie recht gebildet war. Sie sprach kultiviert, verstehen Sie.« »Australisch oder Englisch?« »Das läßt sich schwer sagen. Einen rein englischen Akzent hatte sie nicht und sprach auch gar nicht wie Sie, diese Mischung von Londoner Englisch und Australisch.« »Wem gehört das Haus in Elgin Street 5?« Die Frage fiel im richtigen Augenblick, als Mr. Martin Bony voll ins Gesicht sah. Sogleich verschleierte sich sein Blick. »Einer Miss Mary Cowdry, die in Schottland lebt«, erwiderte er, nicht so eifrig wie vorher. »Wie lautet ihre Adresse?« »Hm. Das letztemal hatte ich Nachricht von ihr aus einem Hotel in Edinburgh. Sie reist viel, und wir schicken ihr die Miete nach, wenn sie mal schreibt.« Mr. Martin lachte wieder. »Sie gehört, nach unserer Ausdrucksweise, zu den sogenannten ›schwimmenden Hausbesitzern<. Wir haben mehrere solche Kunden.« »Wie übermitteln Sie das Geld an Miss Cowdry?« »Oh – durch die Bank.« »Welche?« »Die ›Olympic‹.« Mr. Martin zog ein Tüchlein aus seiner Brusttasche, schneuzte sich oberflächlich und tupfte sich verstohlen die Stirn ab. Es war auch, trotz Ventilator, recht heiß in dem Büro. Bony blickte auf seine Armbanduhr und erhob sich, um zu gehen. »Wann dürfen wir die Freigabe des Hauses durch die Polizei erwarten?« fragte der Makler, indem er auch aufstand. »Es gibt, wie überall, auch in Mitford wenige Häuser zu freier Vermietung, Inspektor, und die Nachfrage ist groß.« 75
»Vielleicht in einer Woche, Mr. Martin. Kann auch länger :dauern. Na, ich will jetzt Ihre Zeit nicht mehr beanspruchen. Besten Dank für Ihre Mitarbeit.« »Gern geschehen.« Das bezweifelte Bony, als er aus dem Kontor in die Hitze der Hauptstraße hinaustrat. Es war 11.10 Uhr. Als er an Madame Cläres Modesalon vorbeikam, prallte Alice McGorr fast mit ihm zusammen. »So eine Eile ausgerechnet in Mitford«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich habe mein Geld restlos ausgegeben«, sagte sie. »Kann ich mir leicht vorstellen. Der Hut kleidet Sie sehr gut.« Die sanften Augen forschten in seinem Gesicht nach Ironie, sahen aber zu Alices heimlicher Freude keine Spur davon. »O je, ist das eine Hitze, was?« rief sie. »Hatten Sie die Absicht, mich zum Tee einzuladen?« »Ihr Scharfsinn ist erstaunlich, Alice, denn ich hatte daran schon gedacht, als Sie mich umrennen wollten.« »Anders konnte ich Sie gar nicht auf mich aufmerksam machen.« »Höchst ungehörig, daß Sie es so eilig hatten, zu ergründen, wie ich über eine Erfrischung denke. Na, da sind wir ja schon.« Am Tisch in dem verhältnismäßig kühlen Café fragte sie : »Was haben Sie heute vormittag hinter meinem Rücken getan?« »Ich war im Hospital und habe nach Kräften den Kranken getröstet. Der arme, bedauernswerte Mann, dem haben Sie übel mitgespielt.« Alice prüfte in einem kleinen Spiegel ihre neueste Erwerbung. »Ihnen scheint aber Ihr Opfer ganz gleichgültig zu sein.« »Er kann von Glück sagen, daß ich ihm nicht den Hals gebrochen habe.« »Wie großmütig ! Was haben Sie heute morgen angefangen?« »War außer Dienst. Das hatten Sie ja durch Essen angeordnet. Ich badete sein Kind, dann entschloß ich mich, einen Hut zu kaufen. Unterwegs hatte ich die Idee, Sie vom Dienstgebäude abzuholen, weil ich dachte, Sie würden mir vielleicht den neuen Hut aussuchen. Der diensttuende Beamte sagte mir aber, Sie seien spazierengegangen, und bei. Sergeant Yoti im Zimmer wimmelte es von Reportern, die ihn mit Fragen piesackten, daß er vor Wut knurrte. Ich fragte den Diensthabenden, wo Essen sei, und erfuhr, daß er zur Stadtbibliothek gefahren war – da ist nämlich ein Diebstahl vorgekommen.« 76
»Diebstahl in der Stadtbibliothek?« rief Bony. »Das habe ich erwartet ! Die Leute wollen Bücher lesen, und jetzt, da die Regierung den Import von Büchern eingeschränkt hat, ist begreiflich, daß sie die Bibliotheken berauben, um sie zu kriegen. Es ist ein Verbrechen, das ganz meine Billigung findet. Darf ich noch um eine Tasse Tee bitten?«
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uf dem Wege zur Wohnung von Mrs. Coutts fragte Bony : »Gestern, als wir vom ›River-Hotel‹ zurückgingen, haben Sie, nach allerlei arithmetischen Anstrengungen, den Schluß gezogen, daß Alkoholsucht der Grund für die Vernachlässigung der Kinder sei. Was kann sonst noch dafür maßgebend sein?« »Ich möchte annehmen, die Jagd nach billigen Einkäufen, beim Ausverkauf und so. Viele Frauen lassen alles im Stich und vergessen alles, wenn sie dazu Gelegenheit sehen.« »Wir haben bei vier von unseren fünf Babys das häusliche Milieu studiert und in keinem Fall leibliche Vernachlässigung festgestellt. Verstehen Sie etwas vom Romanschreiben?« »Sehe ich aus, als ob ich Romane schriebe?« »Ja.« »Sie verkohlen mich.« »Das tue ich nie. Ich fragte Sie nur, weil Mrs. Coutts Romane schreibt. Nach Doktor Notts Ansicht ist auch das ein Grund zur Vernachlässigung der Kinder.« Eine Weile dachte Alice darüber nach, während sie, den Kopf erhoben, Schultern zurückgedrückt, Mund streng verkniffen, mit Bony Schritt hielt. Wenn sie sich nicht verliebt und heiratet, dachte Bony, ist sie dazu verurteilt, ein Ebenbild der Romanschreiberin zu werden, deren Konterfei die Leser der populären Zeitschriften bedrohlich anblickt. 77
»Soll ich weiter bei dem Thema Kindervernachlässigung bleiben?« fragte Alice, als sie in eine Seitenstraße bogen. »Ja, damit wir auch den Grad der Vernachlässigung ermitteln können. Nach dem Besuch bei Mrs. Coutts werden wir vermutlich wissen, daß sie nur im Bann ihrer Inspirationen ihr Baby vergessen, es aber leiblich nicht vernachlässigt hat. Dann können wir überlegen, ob der Grad der Vernachlässigung, soweit diese bei den fünf Säuglingen festzustellen ist, mit ihrer Entführung etwas zu tun hat.« Das Haus des Ingenieurs stand ziemlich weit von der Straße ab und schien in den gepflegten Rasen, der unter der Sonnenhitze ganz frisch blieb, hineingestellt. Es war wie ein Bungalow gebaut und hatte vorn eine geräumige, durch bunte Markisen beschattete Veranda. Die Haustür wurde geöffnet von einer großen blonden Frau, die einen farbenfreudigen japanischen Kimono trug und mit einer zentimeterlangen Zigarettenspitze bewaffnet war. Sofort mußte Bony an Mrs. Thring und die Verfasserin der populären Romane denken. Die Dame war offensichtlich mißvergnügt und führte ihre Besucher nicht gerade höflich in eine Art Diele. Hier standen ganz gute Möbel, aber der Teppich fühlte sich unter den Füßen klumpig an, auf dem Kaminsims lagen viele Zigarettenstummel, und der leinzige Tisch, am Fenster, war mit Büchern und Schreibutensilien bedeckt. Echt war jedenfalls der drückende, schwere Geruch nach Speisen, Zigaretten und Zitronen. »Also, Inspektor, worum handelt es sich?« fragte Mrs. Coutts, indem sie sich vor ihre Schreibausrüstung setzte. »Hat die Polizei mein Kind gefunden?« »Leider nein, Mrs. Coutts«, erwiderte Bony, der nicht merkte, daß Alice, so bescheiden sie dasaß, schon wieder den Preis aller Einrichtungsgegenstände abschätzte. »Ich habe den Auftrag, die Entführung Ihres Babys – und der anderen – aufzuklären, und versuche mir das allgemeine Bild deutlich zu machen. Sagen Sie mir bitte, wie an dem Nachmittag, als Ihr Kind gestohlen wurde, das Wetter war.« »Das Wetter? Was für eine merkwürdige Frage !« Mrs. Coutts schob eine neue Zigarette in die lange Ebenholzspitze, und Bony reichte ihr Feuer. »Der Verdächtige wird ja oft gefaßt mit der Frage, wo er sich in der Nacht des Verbrechens aufgehalten habe, nicht wahr? Ich schreibe, wie Sie vielleicht wissen, Romane mit echter Handlung, nicht solche gräßlichen Schauergeschichten.« Sie deutete lässig auf den vor 78
ihr liegenden halb beschriebenen Bogen Aktenpapier, den Stapel vollbeschriebener Blätter rechts auf dem Tisch und das noch von Tinte unberührte Papier zu ihrer Linken. »Das Wetter an dem Tage? Es war heiß und schwül, und wir hatten einzelne Gewitter, aber ich war wie gewöhnlich in mein Schreiben vertieft, und das Kleine schlief.« »Ihr Mann hat, als er in sein Büro ging, das Kind schlafend in seinem Bettchen liegen sehen. Um welche Zeit ist er fortgegangen?« »Zehn Minuten nach zwei, wie immer.« »Und Sie fanden dann um 3 Uhr 30 das Kinderbettchen leer?« »Ja.« »Hatten Sie einen besonderen Anlaß, gerade um diese Zeit an das Bettchen zu gehen?« »Wir waren ungefähr um Viertel vor zwei mit dem Essen fertig. Mein Mann ging in sein Zimmer, um etwas zu holen, dann ging er, wie ich schon sagte, durch die vordere Veranda fort. Ich kam hierher, um zu schreiben, da ich gerade besonders gute Ideen hatte. Ich arbeitete bis 3 Uhr 30, als mir einfiel, daß ich das Kind noch nicht gefüttert und seine Windeln nicht gewechselt hatte. So ging ich an sein Bettchen, und da war es fort.« »Und was taten Sie dann?« »Selbstverständlich rief ich gleich meinen Mann an. Ich dachte, er hätte das Kind mit ins Büro genommen. Kaum hatte er mir gesagt, das sei ihm gar nicht eingefallen, er würde die Polizei anrufen, da rannte ich ans Gartentor, in der Hoffnung, die Person, die das Kind mitgenommen haben mußte, noch zu sehen.« »Und Sie sahen einen Wagen vor einem Haus in Richtung Hauptstraße, auf dem Bürgersteig gegenüber eine ältere Frau mit einem Handkoffer und zwei Jungens, die davonliefen, als ob sie Angst vor dem Gewitter hätten.« »Ganz richtig, Inspektor. So habe ich es der Polizei geschildert.« »Sie haben da ausgesagt, daß Sie die ältere Frau mit dem Koffer nicht erkennen konnten. Nun, Mrs. Coutts, ist Ihnen vielleicht in der Zwischenzeit bewußt geworden, daß diese Frau Sie, ganz allgemein, an irgendeine Bekannte erinnerte?« »Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, da sie ja mit dem Rücken zu mir eilig fortging. Die Polizei meinte, die zwei Jungens müßten sie bemerkt haben, aber das hatten sie nicht. Doch das wissen Sie selbstverständlich 79
schon alles. Sie glauben doch wohl nicht, daß diese Frau mein Kind gestohlen hat, oder?« »Nein. Aber wenn wir sie ausfindig machen könnten, würden ihre Beobachtungen uns vielleicht nützlich sein. Ihre Beschreibung vor der Polizei war ziemlich unklar, was ich bei Ihrer Sorge und Aufregung sehr gut verstehen kann. Ich hoffte, daß Ihr Gedächtnis Ihnen nach und nach geholfen hätte und Ihnen vielleicht jemand eingefallen wäre, dem die Frau ähnlich sah.« »Ach so. Na, es hätte nach meinem Eindruck Mrs. Peel oder Mrs. Nott, die Frau des Arztes, sein können, oder sogar Mrs. Marlo-Jones – untersetzt, vollschlank, wendig. Aber es war keine von den dreien.« »Wie wollen Sie das so bestimmt wissen?« »Weil die Frau grellgelbes Zeug trug, eine Farbe, die ältere Frauen so schlecht kleidet, Inspektor. Die Frauen, die ich nannte, tragen durchweg gedämpftere Farben. Und wenn sie ihr Alter vergessen, tragen sie Blumenmuster, die einen schwindlig machen können.« »Hm.« Bony stand auf, um sich zu verabschieden. »Der Junge war erst sieben Wochen alt. War er ganz gesund?« »Ist nicht einen Tag krank gewesen«, antwortete Mrs. Coutts, die sitzen blieb. »Er hat fast nie geschrien und schlief auch sehr gut. Deshalb hatte ich mich ja auch an dem Tag nach dem Mittagessen nicht gleich um ihn gekümmert.« Mrs. Coutts nickte Alice zu, und Bony sah, daß Alice dieses Nikken erwiderte, aus Höflichkeit oder aus Mitgefühl. Alice ging hinaus, und Mrs. Coutts beeilte sich, Bonyaioch zu sagen : »Ich werde durch mein Schreiben so der Gegenwart entrückt, Inspektor, daß ich mich ganz darin verliere und richtig im Kreis der geschilderten Personen lebe.« »Es muß eine mitreißende Tätigkeit sein.« »Ja. Ich hoffe, Erfolg mit meinen Romanen zu haben. Mehrere Kurzgeschichten habe ich nämlich schon geschrieben und den ersten Preis der Literarischen Gesellschaft von Mitford gewonnen.« »Gratuliere ! Wie viele sind schon veröffentlicht?« »Bis jetzt noch keine, Inspektor. Unser Präsident James Nyall, der bekannte australische Romancier, sagt, ich müßte erst lernen, meinen feinen Stil herabzuschrauben, um bei den Redakteuren Anklang zu finden. Man muß lernen, seine Talente zu Geld zu machen. Es geht mir im Grunde absolut nicht darum, doch ich muß praktisch handeln. Mein 80
Mann, der sehr praktisch denkt, behauptet, wenn eine Geschichte den Redakteuren nicht gefällt, sei sie nichts wert. Eine dumme Ansicht.« »Vielleicht sollte man auf keinem Gebiet der Kunst allzu praktisch denken«, gab Bony ihr geschmeidig recht. »Übrigens – die Literarische Gesellschaft : Gehören Mrs. Peel, Mrs. Nott und Mrs. Marlo-Jones ihr auch an?« »Nein. Mrs. Marlo-Jones hat da schon Vorträge gehalten, aber sie behauptet, viel zu beschäftigt zu sein, um noch besonderen Interessen zu folgen.« »Sie haben diese Damen auf Gesellschaften kennengelernt?« »Gewiß. Auf Partys und bei ähnlichen Geselligkeiten.« »Wurden Sie in der kritischen Zwischenzeit, nachdem Ihr Mann ins Büro gegangen war und Sie das Fehlen des Kindes entdeckten, ans Telefon gerufen?« »Nein. Vielleicht hätte ich das Klingeln auch gar nicht bemerkt, denn sogar das Gewitter ist mir kaum zum Bewußtsein gekommen.« »Wie kamen Sie auf den Gedanken, Ihr Mann könnte das Kind mit ins Geschäft genommen haben?« Über die grünen Augen senkte sich ein Vorhang. Vera Coutts schob ihren Stuhl hastig zurück und stand auf. Alice erschien in der Tür, Mrs. Coutts blickte sie an und hätte sicher mit ihr gesprochen, wenn sie nicht an Bonys Haltung bemerkt hätte, daß er mit einer Antwort rechnete. »Oh, das weiß ich wirklich nicht mehr, Inspektor. Manchmal verspottet mein Mann mich wegen meiner Schriftstellerei. Er wirft mir dann vor, ich vergäße darüber alles.« »Auch das Baby?« »Das selbstverständlich nicht.« Die grünen Augen bekamen einen harten Ausdruck. »Einmal, als er zu Mittag kam und ich in der Küche war, wimmerte der Kleine. Ich konnte nicht gleich von der Arbeit weg, da warf mein Mann mir vor, ich vernachlässigte das Kind, er würde es ins Geschäft mitnehmen und von seiner Sekretärin – dieser blöden Gans – versorgen lassen. Natürlich sollte das wohl Spaß sein.« »Sicherlich.« Bony sagte, es bestehe Hoffnung, das Kind doch noch wiederzufinden, worauf Mrs. Coutts ihre Besucher bis zur Gartentür begleitete. Als sie die Hauptstraße erreichten, sagte Bony : »Na, schießen Sie los, Alice.« 81
»Schmutzige Wohnung«, stellte Alice fest, als habe sie vor Gericht auszusagen. »Sie hatten angeordnet, daß ich der Frau keine Fragen stellen sollte, und das habe ich auch nicht getan, jedenfalls nicht faut. Sie ist vernarrt in ihre Romanschreiberei, und alles andere verkommt. Ihr Baby war ihr vollkommen egal, und es geschieht ihr recht, daß es fort ist. Ich kenne diese Sorte. Wahrscheinlich hat sie das Kind so vernachlässigt, daß es gestorben ist, und hat es im Garten vergraben.« »Was für eine Prognose ! Weshalb haben Sie und Mrs. Coutts sich so zugezwinkert?« »Ach, das ! Ich spiegelte ihr was vor, um mir die übrige Wohnung ansehen zu können.« »Mit dem Ergebnis, daß wir jetzt …?« »Das System in der Sache erkennen, Bony. Fünf Kinder geraubt. Fünf Säuglinge. Fünf männliche. Fünf gesunde. Fünf verwahrloste. Klingt wie ein schrecklicher Kindergartenvers«, zitierte Alice in bitterem Ton. »Drei Mütter, die Sherry trinken, eine, die Gin trinkt, und eine, die angeblich nichts Schlimmeres als Tee trinkt.« »Möglicherweise sind die Kinder nicht deshalb entführt worden, weil sie äußerlich von ihren Müttern vernachlässigt wurden, sondern weil diese Vernachlässigung das Entführen leichtmachte.« »Das ist ja gar nicht Ihr Ernst, Bony.« »Nein, ich glaube das nicht, denn die Entführung aus dem Bankgebäude war nicht einfach und die aus dem Kinderwagen vor dem Laden und dem am Hotel waren sogar entschieden riskant. Lassen Sie uns jetzt in die Bibliothek gehen und Weiteres über Mrs. Rockcliff ermitteln.« »Haben Sie einmal überlegt, daß die Entführungen erst erfolgt sind, nachdem Mrs. Rockcliff nach Mitford gezogen war?« fragte Alice, als sie im Portal der im griechischen Stil gehaltenen Fassade der Stadtbibliothek standen. »Ja, habe ich. Jetzt lassen Sie mich erst mit dem Bibliothekar sprechen. Falls Essen noch hier ist, interessieren Sie sich mit ihm für die Diebstahlsaffäre.« Essen war aber nicht mehr in dem Gebäude, das als Museum und Bibliothek diente. Alice fand es leer. Eine Weile blieb Bony noch bei ihr. Sie betrachteten die Schaukästen mit Reliquien der Ureinwohner und Fotografien vom Murrayfluß, der Brücke bei Mitford und 82
den einheimischen Konservenfabriken und Obstweinkeltereien. Es gab da auch Modelle von den fast ausgestorbenen Schaufelraddampfern, Wassertreträdern, gab Ölgemälde, Radierungen, Aquarelle und Waffen der Eingeborenen. Bony studierte eine im großen Maßstab gehaltene Gebietskarte, auf der Mitford das Zentrum sternförmig verlaufender Straßen bildete. Den Fluß eingerechnet, hatte die Stadt sechzehn Ausgänge, und durch einen mußten fünf kleine Kinder gebracht worden sein. Im ganzen Gebäude befanden sich nur zwei Angestellte : eine junge Frau, die an einem Werktisch ein Buch neu einband, und ein älterer Mann, der in einem von Glaswänden umgebenen Arbeitsraum saß. Bony ging in die Abteilung Nachschlagewerke, wo er einen Band »Bekannte Persönlichkeiten« entdeckte und den Namen Marlo-Jones aufschlug. Er las »Geboren 1881« – also 71 Jahre alt – »Doktor der Wissenschaften, Adelaide. Examen in Anthropologie. Forschungsassistent für Anthropologie in Adelaide.« Hm – fachlich ganz gut vorwärtsgekommen. »Veröffentlichungen: Zyklisches Zeremoniell beim Stamm der Warramunga‹. Verheiratet mit Elizabeth Wise.« – Keine Kinder erwähnt. »Freizeitbeschäftigung : Gartenpflege und Wanderungen.« – Ganz interessanter alter Knabe – noch sehr munter mit 71 ! Kann es auf 100 bringen …’ Er beschäftigte sich noch zehn Minuten mit diesem Band der Prominenten, indem er die Personalien eines Mannes studierte, der schon vor vier Jahren reif für den Henker gewesen wäre, ferner die von drei Leuten, die im Gefängnis sitzen mußten, und von einem fünften, über den er noch nicht ganz im klaren war. Dann betrachtete er Glaskästen voller Insekten und fragte sich, wer wohl die in den Flüssen Darling und Murray heimischen Mollusken klassifiziert haben mochte. Während Alice sich eine Zeitschrift vornahm, trat er in das umglaste Büro. »Ich bin Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte«, sagte er zu dem Herrn, der wie ein Gelehrter aussah. Wie meistens, registrierte er bei dem Angesprochenen jähes Erstaunen, Unglauben, Vorsicht und Zurückhaltung. »Vielleicht wollen Sie sich telefonisch bei Sergeant Yoti erkundigen? Ich bin mit der Aufklärung des Mordes an Mrs. Rockcliff beauftragt und habe gehört, daß sie aus Ihrer Bibliothek regelmäßig Bücher entliehen hat.« In den blaßgrauen Augen bemerkte er jetzt ein lebhaftes Interesse. 83
»Ja, Inspektor Bonaparte, Mrs. Rockcliff holte sich regelmäßig Bücher. Fällt mir ein, daß sie drei oder vier bisher nicht zurückgebracht hat. Die werden sicher in ihrer Wohnung sein.« »Wissen Sie zufällig, welche Art Literatur sie bevorzugte? Eins der Bücher in ihrer Wohnung ist eine Biographie, zwei sind Klassiker.« »Ich weiß, daß sie nicht den Geschmack des Durchschnittslesers hatte«, entgegnete der Bibliothekar. »Sie las gern Biographien, vorzugsweise von weltberühmten Autoren. An Romanen suchte sie nur das Beste. Ich war wirklich bekümmert über ihr Ende.« »Hatte sie schriftstellerische oder sonstwie künstlerische Neigungen?« »Nicht so stark, um aktiv tätig zu werden. Sie sprach über sich selbst recht wenig.« Der Bibliothekar lächelte, und Bony gefiel sein Lächeln. »Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, die zu denken scheinen, hier sei eine Schwatzbude. Meine Assistenten schelten mich manchmal, ich sei zu freundlich, aber ich mag gern andern gefällig sein, besonders ernst veranlagten Menschen und Studierenden.« »Sagen Sie mir, war Mrs. Rockcliff hochmütig? Ich meine, ob sie den Eindruck machte, daß ihre Mitmenschen ihr gleichgültig waren?« »Nun, das könnte ich kaum sagen, Inspektor. Sie hat sich mit mir oft unterhalten. Über Literatur natürlich. Ich fand sie recht intelligent. Das Interesse an berühmten Autoren teilte sie mit einem unserer Bankdirektoren. Sie wurden dann auch hier miteinander bekannt und zogen sich oft in einen stillen Winkel zurück, um sich zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde zu unterhalten. Ich bin überzeugt, daß Mr. Bulford sie vermissen wird. Er hat eine leidenschaftliche Vorliebe für Joseph Conrad und verehrt sehr die Schwestern Bronte.« »Die Bibliothek ist auch abends geöffnet?« »Bis zehn Uhr. Wir haben hier Diskussionsgruppen, und weder meine Tochter noch ich bedauern, dafür Überstunden zu machen.« »Ihre Tätigkeit ist sicher reizvoller als meine«, sagte Bony. »Ich muß mich an eine einzige Welt halten, in der die abnorme Psyche eine Rolle spielt, während Sie in anderen, viel gesünderen Welten leben können. Wie ich hörte, ist bei Ihnen gestohlen worden. Haben Sie schwere Verluste gehabt – Bücher, Gemälde?« »Nichts dergleichen, Inspektor. Die Sache ist sonderbar : Der gestohlene Gegenstand war eine Felszeichnung von Eingeborenen. Ich habe 84
hier die Leitung erst seit einem halben Jahr – vorher lebte ich in Sydney – und weiß nicht viel von der Geschichte des Stückes. Ich müßte in den Akten nachschlagen.« »Es handelt sich bei der Felszeichnung doch gewiß um ein Gemälde?« »Nein. Es war tatsächlich eine Sektion oder ein Stück der Felsschicht mit der Originalzeichnung, die in weißem und gelbem Ocker ausgeführt war. Es hatte im Leseraum ein besonderes Podest und muß fast einen Zentner gewogen haben.« »Hm. Merkwürdiges Objekt für einen Diebstahl. Wertvoll?« »Für ein Museum oder einen Sammler ohne Zweifel.« »Und was stellte die Zeichnung dar?« »Das weiß keiner. Mein Vorgänger mag es gewußt haben, doch er starb, kurz nachdem ich ihn hier abgelöst hatte. Selbst Professor MarloJones wurde stutzig. Er meinte, die Abbildung könnte etwas mit den Riten der ›Regenmacher‹ beim Stamm der Arunta zu tun haben.« »Wie Sie schon sagten, ein sonderbarer Gegenstand für einen Dieb«, bestätigte Bony. »Na, ich danke Ihnen sehr für Ihre Assistenz. Ich werde dafür sorgen, daß Sie die Bücher aus Mrs. Rockcliffs Wohnung zurückbekommen, und darf mich jetzt verabschieden.« Alice erwartete ihn im Hauptraum, wo sie interessiert zur Decke hinaufblickte. »Mir gefällt das. Ihnen auch?« sagte sie. »Die Farbe, ja.« »Ich glaube, ich werde in unserer Diele die Decke genauso malen, in diesem matten Blau, und die Wände elfenbeingelb.« »Sie tünchen selbst?« »Richtig geraten. Mein Bruder muß mir dabei helfen. Ich kann mir bei den heutigen Preisen keinen Maler leisten. – Hübsch, diese Bibliothek. Hier könnte ich viel Zeit vertun.« »Aber ach, Alice, für heute ist unsere Zeit schon vertan.«
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onys Zimmer im Polizeigebäude lag an der kühlen Seite, was jetzt in der heißen Jahreszeit entschieden angenehm war. Er konnte Tür und Fenster offenlassen, dann war es selbst in der Nachmittagshitze behaglich zum Arbeiten, zumal eine Zimmerwand nur aus Fliegennetzdraht bestand und bei Wind noch durch Jalousien geschlossen werden konnte. Als Alice an die offene Tür klopfte und Bony sie bat, näherzutreten, saß er am Schreibtisch, ohne Rock, mit einem Hemd aus Tussahseide. Unter den aufgerollten Ärmeln sah sie seine glatte dunkle Haut und die Muskeln, die täuschend schlaff aussahen. Er lächelte Alice an und deutete auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch. »Ist Essen noch an der Arbeit?« fragte er. »Ja. Sauste gleich nach Tisch wieder in seine Dunkelkammer, das sogenannte Labor. In dem Rattenloch kocht er was aus. Er sagt, er verfolgt eine wichtige Spur in der Bibliothekssache, aber sich glaube, er braut was zusammen.« »Vielleicht ist die Hitze schuld, Alice, aber das klingt mir zu verworren.« »Die Hitze wird’s sein«, gab Alice ihm recht, indem sie den Hut abnahm und sich langsam die Stirn abwischte. Ihr kurzärmeliges Kleid enthüllte die fast männlich muskulösen Arme, die gut geschwungene Nackenlinie paßte nicht recht zu dem hageren Hals mit dem großen Kopf, dessen Frisur durch die übertriebene Straffung des blonden Haares so ungünstig wirkte. »Essen ist also aufgeregt?« murmelte Bony. »Es ist ja möglich, daß der Bibliotheksdiebstahl unsere Fälle berührt, und wenn Essen so fix in die Dunkelkammer gestürzt ist, wächst die Wahrscheinlichkeit dafür. Wissen Sie denn, was dort gestohlen wurde?« 86
»Weiß ich, obgleich Sie es mir nicht gesagt haben.« »Sie hatten mich ja durch das Thema Zimmerdeckenbemalung abgelenkt. Na, egal, wir müssen auf Essens Ergebnisse warten. Diese Bilder hat er jedenfalls vorzüglich gemacht.« Alice nahm die Reproduktionen der Aufnahmen von Mrs. Rockcliff und ihrem Baby zur Hand. Nach der Art, wie sie die Bilder studierte, war Bony fast überzeugt, daß ihr das Kind am wichtigsten war und blieb. Zweifellos war das Mütterliche in Alice McGorr sehr stark entwickelt. »Ich finde die Bilder auch gut«, bestätigte Alice, »aber Sie müssen die Aufnahmen sehen, die Essen von seiner Frau und ihrem Baby gemacht hat ! Ganz vorzüglich. Wofür sind übrigens diese bestimmt?« »Hauptsächlich für die Zeitungen. Yoti beklagt sich darüber, daß wir bisher den Reportern aus Melbourne und Sydney nichts geben konnten. Mag sein, daß der eine oder andere die tote Frau unter anderem Namen gekannt hat.« Alice schnüffelte, und Bony spürte, was sie dadurch andeuten wollte. »Sie mögen meine Methoden nicht?« »Ich habe nicht darüber zu urteilen.« »Sie denken, ich sei zu bedächtig, zu langsam, und erinnern sich daran, daß der Mord bei der Entdeckung schon vierzig Stunden alt war und jetzt noch zweiundsiebzig Stunden ohne greifbare Resultate vergangen sind.« »Vielleicht tue ich das. Mordaufklärung ist ein Job für mehrere.« »Zwei Teams arbeiten ja daran : eins in Melbourne und eins in Sydney. Ein gut funktionierendes Team hätte mich schon gestern abend oder heute früh anrufen müssen, um mir mitzuteilen, was sich aus der Prüfung der Kleidermonogramme, aus der Untersuchung der Wand, an der Haaröl des Mörders klebte, und aus der Untersuchung des Kehrichts ergeben hat. Ich warte aber noch darauf. Gruppen von Experten eilten nach Mitford, um die Entführung der Babys 2, 3 und 4 zu ergründen. Hin und her eilten die Teams, haben Sergeant Yoti müde gemacht, haben Essen verärgert, ihre Gehälter und Unkosten eingestrichen und – genau nichts erreicht. Jetzt brüten Sie mal über diesen von Inspektor Janes nach seinen Ermittlungen präparierten Akten über die vier gestohlenen Babys. Merken Sie sich alle Widersprüche, alles, was im Vergleich zu Ihrer eigenen Kenntnis der Zusammenhänge anomal oder absurd erscheint, und las87
sen Sie mich dann wissen, was Sie von der Arbeit des Inspektors halten.« Als Alice die mit enger Maschinenschrift bedeckten Bogen entgegennahm, blitzte es ärgerlich in ihren braunen Augen, denn selbst jetzt vermochte sie noch nicht zu erkennen, ob Bony sie verspottete oder sie nur ein bißchen reizen wollte. Sie las die erste Polizeiakte. Nach der zweiten machte sie sich in großen eckigen Buchstaben und langsam, wie Menschen mit geringer Schulbildung, ein paar Notizen. Als sie zwischendurch Bony anschaute, sah sie, daß er ganz entspannt mit geschlossenen Augen dasaß. Da bekamen ihre eigenen Augen einen Ausdruck kindlicher Verwunderung, denn Alice McGorr war zwischen zynischen und mißtrauischen Menschen groß geworden. Beim Lesen des dritten Aktenstücks störten laute Stimmen draußen ihr konzentriertes Denken. Sie blickte wieder Bony an. Er saß noch ebenso da, hatte aber ein Auge geöffnet. »He, mal hoch jetzt und ’raus da, meinen Wagen putzen !« brüllte Essen. »Jetzt wird nicht geschlafen, und wenn du nicht arbeiten willst, marsch zurück in die Siedlung.« Gemurmel antwortete. »Ich will dich nur warnen, Fred, und damit basta.« Essen trat ein, mit breitem Lächeln. Bony öffnete auch das andere Auge, wies nickend auf einen freien Stuhl und sagte : »Ihr Fährtensucher schläft wohl, statt zu arbeiten?« »Schläft beinahe immer, der Bursche. Hat gleich neben Ihrer Tür draußen seinen Lieblingsplatz im Gebüsch. Kann’s ihm eigentlich nicht verdenken, bei dieser Hitze würde jeder gern streiken.« »Haben Sie Ihren Einbrecher gefaßt?« fragte Bony. »Nein. So was Blödes zu stehlen ! Steinbrocken so groß wie ’ne Tischplatte und dreimal so dick. Dieb ist durch ein Fenster an der Rückseite eingestiegen, Riegel mit einem Messer geöffnet. An der Fensterscheibe verwischte Flecke vom linken Handschuh. Ein Fleck innen auf der Scheibe zeigt denselben Abdruck wie der von dem unter Mrs. Rockcliffs Bett gefundenen geflickten Handschuh.« »Ich bezweifle nicht gern Ihre Worte, aber sind Sie ganz sicher?« »Kamera beweist es«, antwortete Essen enorm selbstzufrieden. »Weiter«, befahl Bony. »Ich bin ganz Ohr, das dürfen Sie glauben.« »Es waren bei dem Diebstahl mehr als zwei Personen beteiligt. Wie viele, weiß ich allerdings nicht. Das Fenster liegt über einem betonier88
ten Fußweg, der ums ganze Haus läuft. Mehr als zwei müssen es gewesen sein, weil der gestohlene Gegenstand durch die Hintertür hinaus ums Haus bis zur Vordertür getragen wurde, wo ein Lieferwagen oder ein Lastwagen gewartet haben muß.« »Direkt auf der Hauptstraße, im vollen Licht der Straßenlaternen?« »Die werden um ein Uhr nachts ausgeschaltet. Wachtmeister Robbins machte seine letzte Runde früh 2 Uhr 15. Um die Zeit stand kein Fahrzeug vor der Bibliothek. Kein Anwohner in der Nähe hat ein Motorfahrzeug vorfahren oder starten gehört, aber die Straße geht hier bergab, so daß ein von oben kommender Wagen im Leerlauf bis an die Bibliothek und ebenso noch gut tausend Meter weiter abwärts fahren konnte. Feststeht, daß die Betreffenden mit der Absicht, diesen bestimmten Gegenstand zu stehlen, gekommen sind, und daß einer von ihnen die Frau gewesen ist, die unters Bett von Mrs. Rockcliff gekrochen war, als diese ermordet wurde.« »Der Bibliothekar hat mir erzählt, er wüßte nicht, was die Felszeichnung darstellt, und Professor Marlo-Jones auch nicht«, ergänzte Bony. »Es könnte aussehen, als sei die Zeichnung bedeutungslos und das Stück nur wegen seines Wertes als Museumsstück gestohlen worden oder auf Veranlassung eines skrupellosen Sammlers. Möglich, daß Marlo-Jones helfen kann, er kennt vielleicht so einen Sammler. Da Sie mit dem Einbruchsfall beschäftigt waren, haben Sie wohl nicht mit Mrs. Ecks sprechen können, wie ich Ihnen vorschlug?« »Hätte ich machen können, aber der Sergeant war einverstanden, daß Robbins es machte. Der stellte fest, daß von den fünf Babys, die zur Zeit der Entführung vor dem Hotelrestaurant standen, das verschwundene Kind der Mrs. Ecks das einzige männliche war.« »Gut. Ein deutlicher Hinweis darauf, daß der Entführer nur Kinder männlichen Geschlechts suchte.« Bony notierte sich etwas. »Ich glaube, wir müßten für das Krankenhaus eine Sicherung treffen, damit aus der Kinderabteilung keine Babys gestohlen werden. Vorige Nacht sind dort männliche Zwillinge geboren worden.« »Na, wenn die gestohlen würden, dann wäre aber der Teufel los«, sagte Essen. »Was ist nach Ihrer Meinung der Grund für diese Entführung? Ich komme nicht dahinter.« 89
»Das werden Sie noch. Nur Geduld, Essen, Geduld. Der Feind ist in Bewegung geraten. Er hat einen Fehler begangen, als er Alice den Bertrand Clark auf die Fersen setzte. Er hat – aber was ist da jetzt im Anzug?« Laute tiefe Stimmen kamen näher, schwere Schritte stapften über den Betonboden vor der Tür, dann war der Rahmen ausgefüllt von einer riesigen Gestalt, einem Mann mit kurzgeschorenem grauen Bürstenhaar, einem beträchtlichen Bauch und den Füßen eines Tänzers. Hinter ihm erschien Yoti. Essen sprang auf und salutierte, Alice erhob sich ebenfalls. Bony trat lächelnd vor, aber seine Augen lächelten nicht mit. »Na, so etwas ! Chef Inspektor Canno, Sie haben die weite Fahrt von Sydney gemacht?« »Guten Tag, Bonaparte, wie geht’s?« »Ausgezeichnet. Aber hier unter Freunden nennen Sie mich bitte Bony. Darf ich Ihnen meine Kusine vorstellen? Alice McGorr. Sie studiert meine Methoden und möchte später gern eine Privatschule für drittklassige Detektive gründen.« »Haha ! Freut mich, Miss McGorr.« Canno ließ sich elegant in einen Sessel gleiten. Yoti murmelte etwas Und ging hinaus. Alice und Bony setzten sich wieder. Und Canno fuhr fort : »Ein Freund von mir, namens Bolt, hat angedeutet, daß Sie Bony zur Hand gehen. Das finden Sie gewiß manchmal recht anstrengend. Ist bis jetzt jedem so ergangen.« »Ich finde ihn stets originell, deshalb spielt alles andere keine Rolle«, erwiderte Alice und hatte gleich das Gefühl, die Verbindung mit Bony müsse ihren Sinn für Disziplin ruiniert haben. »Soll ich gehen und Mrs. Yoti bitten, daß sie Ihnen Tee macht?« Der Chef des Sydneyer Morddezernats lachte tief, es klang wie ferner Donner. »Sehr gute Idee, Miss McGorr. Und ich will mich auch mit Ihnen über unseren gemeinsamen Freund nicht streiten.« Er stand auf, als Alice sich anschickte, hinauszugehen, und setzte sich wieder, als sie, das Zimmer verlassen hatte. »Dieses Mädel hat einen mächtigen Ruf«, sagte er. »Was haben Sie denn mit ihr vor, Bony?« Bony entzog sich der direkten Auskunft. Er antwortete : »Da fragen Sie sie mal selbst, Chef, und dann können Sie ausprobieren, wie es ist, wenn man mit Schwung aus dem Zimmer in den Garten befördert wird«, sagte er. »Abgesehen davon bin ich erfreut, Sie hier zu sehen. Weshalb sind Sie gekommen?« 90
»Nur weil ich Sie gern wiedersehen wollte.« Canno stopfte eine große Shagpfeife und zündete sie an, während Bony schwieg und Essen, der jetzt Platz genommen hatte, sich fragte, ob er entlassen war oder bleiben sollte. »Mußte sowieso nach Albury ’runter, und da habe ich mich entschlossen, gleich hier ’rüberzufahren, um zu sehen, wie Sie vorwärtskommen. Und wie steht’s mit den Fortschritten?« »Ich bin zufrieden.« »Ja, das weiß ich, Bony, Von den Fortschritten möchte ich hören.« »Die sind entschieden größer und sind entschieden schneller erfolgt als in den drei Fällen, für die Ihre besten Leute angesetzt waren.« »Ja, aber … Hören Sie, Bony, mein Boss verliert die Geduld, er ärgert sich über die Berichte in den von hier eintreffenden Zeitungen. Die zeigen uns ihren Zorn weniger über den Mordfall Rockcliff als über die Serie von Kindsentführungen. Ich weiß, daß Janes und alle seine Leute versagt haben, aber wir müssen auch die Stimme des Volkes ernst nehmen. Der Boss sagte gestern abend, er würde uns alle aus dem Dienst jagen, wenn noch ein einziges Baby in Mitford verschwindet.« »Und was wäre nach Ansicht Ihres Herrn Vorgesetzten zu tun?« »Daß wir allesamt nach Mitford sausen und die Stadt in kleine Stücke zerlegen müßten.« »Gehen Sie darin mit ihm konform?« »Tja, ich meine, wir sollten …« »Nur mit der Ruhe, Chef.« Bony rollte eine Zigarette, während sein riesiger Vorgesetzter so heftig paffte, daß seine Unruhe offenbar wurde. »Ich werde mit Ihnen die Akten durchgehen und Ihnen dann einiges sagen, was Sie instand setzen wird, dem Polizeidirektor vorzuschlagen, wie er die Geschichte betrachten muß. Zunächst beantworten Sie mir die Frage, ob Sie oder Janes oder andere höhere Beamte Ihrer Abteilung bei einem Blick in den Wagen eines sechs Wochen alten Säuglings dessen Geschlecht zu erkennen fähig sind.« Canno schürzte die Lippen und blies mit Wucht einen dünnen Rauchstrahl gegen die Zimmerdecke. »Na bitte, beantworten Sie das«, drängte Bony. »Sie sind doch Familienvater mit sechs Kindern, Janes hat einen Sohn und eine Tochter : Also beide Väter wie ich. Beantworten Sie also meine Frage.« Langsam fügte sich der Chefinspektor. »Ich glaube, mit Sicherheit könnte ich’s nicht, ich kann Küken nie recht unterscheiden.« 91
»Natürlich können Sie das nicht. Und doch – was ist passiert? Bei Ihren Experten befand sich keine Frau. Wie konnten Sie also erwarten, daß eine Schar Männer dieser Serie von Entführungen richtig auf den Grund ging? Ich aber hatte gleich an Alice McGorr gedacht, als ich diesen Auftrag annahm. Wenn ich Fotos reproduziert haben will, wende ich mich an Essen, der ein vollendeter Fotograf und in so einer kleinen Stadt ganz fehl am Platze ist. Und wenn ich mich über Babys orientieren will, frage ich da einen Polizeibeamten? Nein, eine Polizeibeamtin. Nun, zu diesen albernen Akten. Da ist mit keinem Wort erwähnt, daß die anderen Säuglinge vor dem Lokal, wo das Kind von Mrs. Ecks gestohlen wurde, weiblichen Geschlechts waren, worin der Beweis liegt, daß die Entführer, wie auch schon bestätigt, nur Kinder männlichen Geschlechts haben wollten. Kein Wort, daß Mrs. Delphs Kind durch die Köchin versorgt und betreut wurde, während die Mutter von einer Sherryparty zur andern flitzte. Kein Wort im diesbezüglichen Aktenstück, daß das Telefon im Büro des Direktors der ›Olympic-Bank‹ ein altmodischer, an die Wand geschraubter Kasten ist. Und keinerlei Theorie über die Entführung des Kindes aus dem Bankhaus. So könnte ich noch vielerlei anführen, aber das hieße nur, Sie mit der krassen Dummheit Ihrer sogenannten Experten langweilen. Ich bin erst drei Tage für die Aufklärung dieser Fälle eingesetzt und soll Ihnen sofort den Mörder und die Entführer präsentieren. – Essen, gehen Sie doch mal ’raus und sehen Sie nach, ob Ihr Fährtensucher nicht horcht. – Nicht einmal, sondern fünfzigmal habe ich Aufträge bekommen in Fällen, in denen Ihre großartigen weißrassigen Spürhunde auf ihren breiten, fetten Hintern gefallen sind, und dann wird mir zugesetzt, ich müsse gefälligst binnen drei Tagen den Verbrecher vorzeigen, wie der Zauberer ein Karnickel aus dem Zylinder zieht. Und das ist der Grund, weshalb ich jetzt Ihnen, Ihrem Boss, meinen eigenen und allen Kriminalbeamten im Land eine lange Nase mache, ob Ihnen das behagt oder nicht. Ich werde den Mörder der Mrs. Rockcliff und den oder die Entführer der kleinen Kinder ans Tageslicht bringen, wenn ich die Zeit für gekommen halte, mit oder ohne Ihre gütige Erlaubnis.« »Na, na, Bony, alter Freund«, brummte Canno. »Das wird ja gar nicht bestritten, man hat sich nur ein bißchen über die Unruhe geärgert, die durch die verdammten Zeitungen gestiftet wird. Wir wollen Ihnen doch nur nach besten Kräften helfen.« 92
»Warum, zum Donnerkiel, haben Sie dann nicht Druck daruntergesetzt, daß wir die Untersuchungsberichte von dem Zeugs bekommen, das wir an Ihr Labor geschickt haben? Weshalb wurden diese Berichte nicht per Flugzeug hergeschickt, wenn es zu riskant ist, sie telefonisch oder telegrafisch durchzugeben?« »Die haben Sie doch sicher bekommen?« »Natürlich nicht ! Ich will Ihnen sagen, was Sie tun können. Arrangieren Sie beim Präsidium, daß Sergeant Yoti noch vier Kriminalbeamte zugeteilt werden, von denen er zwei oder drei an Essen abgeben kann. Wir müssen die Kleinkinder im Krankenhaus bewachen und die im Auge behalten, die von ihren dämlichen Müttern vor den Lokalen gelassen werden. – Hat der Fährtensucher sich vor der Tür herumgedrückt, Essen?« »Nein, Sir.« »Warum wollen Sie nicht meine Leute mitwirken lassen?« fragte Canno. »Weil Ihre Herren ihre Chance hier schon gehabt und anscheinend lieber Karten gekloppt haben.« »Sie beleidigen wohl gern Leute, mein Lieber?« »Ich könnte es noch besser.« Alice erschien mit einem großen Tablett, das sie auf den Schreibtisch stellte. Sie begann Teller und Tassen zu arrangieren, und Bony fuhr fort« »Es gibt, wie Sie wissen, einen regelrechten Kinderhandel. Ohne Zweifel haben Sie immer, wenn Sie Verdacht in dieser Richtung hatten, die Fälle von allen Gesichtswinkeln aus beleuchtet, und Bolt wird es ebenso gemacht haben. Also setzen Sie jetzt Ihre Leute mal von einem anderen Gesichtswinkel aus auf das gleiche Verbrechen an. Sie werden sich an Davos in Wien und an Lumsdon in Argentinien erinnern. Dieselben Greuel könnten auch in unseren Städten praktiziert werden, in irgendeinem Versteck, sogar in einem angeblich vornehmen Hause.« »Was?« Canno schrie fast. Eine Tasse klirrte, heißer Tee floß über das Tablett. Dann packte Alice Bony bei den Schultern, ihre Hände verkrampften sich, ihr Gesicht war hart. »Davos !« rief sie. »Sie glauben doch nicht etwa – Teufelsanbetung … Schwarze Messen mit Babys, die an den Füßen gekreuzigt werden … Babys – doch nicht hier in Australien …?« 93
»Ruhe, Alice«, sagte Bony gelassen. Alice blieb noch eine Weile wie erstarrt stehen, dann schenkte sie weiter den Tee ein.
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elbstverständlich ließ Bony es sich angelegen sein, den wichtigen Besucher zum Flugplatz zu begleiten, und Chefinspektor Canno bekam erst, als die Maschine schon unterwegs war, die Gefühle einer diplomatisch abgeschobenen Schwiegermutter. Alice McGorr werkte mit Nadel und Faden an ihrem Hut, als Bony zurückkam und sofort nach den Berichten aus Sydney fragte, die noch nicht eingetroffen waren. Er ließ keinen Ärger über die Verzögerung merken, vielmehr hatte Alice den Eindruck, daß er mit dem Leben außerordentlich zufrieden war. »Wir haben uns nicht genug angestrengt«, sagte er zu ihr, während er eine seiner lächerlichen Zigaretten drehte. »Der Große Weiße Häuptling in Sydney ist mit der Arbeit seiner niederen Handlanger in Mitford durchaus unzufrieden.« Alice versuchte zu lächeln, gab es aber auf und sagte : »Tut mir leid, daß ich mich so dumm benommen habe.« »Das haben Sie doch gar nicht, Alice. Sie haben dem, was ich dem Vertreter des Großen Weißen Häuptlings auf seinem hohen Roß unter die Nase rieb, genau die richtige dramatische Würze gegeben. Er war nämlich nahe daran, mich auszuzählen, um seinen Vorgesetzten berichten zu können : ›Dem Bony habe ich ordentlich die Leviten gelesen‹, und dann seine angeblichen Experten wieder nach Mitford zu entsenden.« Alices Hände, die auf dem Schreibtisch lagen, sprachen stumm ihre Gedanken aus. »Glauben Sie wirklich, daß diese Kinder so umgebracht wurden, wie Sie andeuteten?« fragte sie. »Möglich ist es, Alice. Die Tatsache, daß alle fünf gesunde Knaben waren, erfüllt mich mit Unbehagen, ebenso, daß die Entführer, bis wir 94
hierher kamen, keinen einzigen Fehler begingen. Und Sie hatten gedacht … Was für Pläne hatten Sie hinter den Entführungen vermutet?« »Daß die Kinder verkauft werden sollten wie gestohlene Autos«, Antwortete sie. »In den Findlingsheimen liegen lange Listen mit den Namen von Leuten, die gern ein Kind adoptieren möchten, und manche können nicht sehr lange warten, weil sie sonst zu alt werden. Wenn die Entführungen richtig organisiert werden, kann sich das üble Geschäft sehr lohnen. Denken Sie an den Fall der Krankenschwester Quigly in der vornehmen Privatklinik in Melbourne. Die handelte im Einverständnis mit einem Arzt unverheiratete Mädchen, die ein Kind erwarteten, wurden gern aufgenommen. Sie konnten sich dort unbesorgt entbinden lassen, bekamen aber ihr Kind gar nicht zu sehen und konnten unbehindert an ihre Arbeit zurückkehren. Die Kinder wurden an Ehepaare verkauft, die sich nach einem Adoptivkind sehnten. Die Quigly und ihr Arzt bekamen manchmal fünfhundert, nie aber weniger als fünfzig Pfund für ein Baby.« »Das hing natürlich von den Mitteln der Adoptierenden ab. Gab es für Knaben mehr als für Mädchen?« »Nein. Nach den Erfahrungen der Leiterinnen von Findlingsheimen werden ebensooft Mädchen wie Knaben gewünscht.« »Und wir kommen nun wieder auf die Tatsache zurück, daß alle fünf entführten Babys Knaben waren. Hätten also unsere Diebe ähnlich wie die Schwester Quigly gehandelt, so wären sie auf leicht zu raubende Kinder ausgegangen, hätten sie einfach aus den Wagen gestohlen und Gefahren, wie beim Diebstahl aus der ›Olympic-Bank‹ vermieden. Haben Sie schon mal von den Satanisten gehört?« »Nein«, sagte Alice, die offenbar davon auch nichts hören wollte. »Ich weiß auch nur sehr wenig über sie. Vor ein paar Jahren wurden in Sydney die Überreste von drei männlichen Säuglingen im Garten hinter einem großen Wohnhaus ausgegraben. Die Ermittlungen kamen zum Stillstand, weil die beauftragten Beamten nicht genug Geduld aufbrachten, aber es bestand Grund zu der Vermutung, daß zur Zeit des Todes dieser Kinder in dem Hause Satanisten gewohnt hatten, eine besonders wilde Gruppe der sogenannten Teufelsanbeter. Wir müssen daher die Möglichkeit, daß dergleichen wieder geschieht, in Betracht ziehen. 95
Jetzt aber brauchen wir Sonnenschein für unser Gemüt, Alice. Setzen Sie Ihren Hut auf, spazieren Sie zum Krankenhaus und begeben Sie sich zur Oberschwester. Ich werde Sie telefonisch anmelden. Mein Wunsch ist, daß Sie die Säuglingsabteilung kennenlernen und herausfinden, auf welche Art die Kinder bei Nacht geschützt werden. Machen Sie sich auch einen allgemeinen Lageplan von dem Gebäude.« Alice ging, offensichtlich erfreut, Beschäftigung zu haben, indes Bony die Oberschwester anrief. Als er in sein Zimmer kam, erwartete ihn dort Polizeimeister Essen. »Post eben gekommen«, sagte Essen, der seine Neugier und Ungeduld schlecht verbergen konnte. Er legte Bony mehrere Briefe und ein großes Dienstkuvert auf den Schreibtisch. Bony bot ihm Platz an, betrachtete flüchtig die Briefe und nahm zuerst das große Kuvert vor. »Unter dem Monogramm P. R. in der Wäsche der Ermordeten fanden sich die Initialen J. Q.«, sagte er nach einer Weile. »Zufall, möchte ich annehmen, aber gerade vor knapp einer Stunde erwähnte Alice, daß ihr eine Krankenschwester namens Quigly bekannt gewesen sei, die Babys stahl und für Adoptionen verkaufte.« »Ich erinnere mich auch an den Fall«, sagte Essen. »Vor vier Jahren war das. Die Quigly, zweiundfünfzig Jahre alt, kriegte achtzehn Monate. Unsere Mrs. Rockcliff kann also nicht mit ihr identisch sein.« »Über den Fleck auf dem Wandanstrich ist nichts weiter festgestellt worden, als daß er von einer bekannten Frisiercreme stammt, die frei von klebrigen Stoffen ist und in ihrer Zusammensetzung von den übrigen Marken abweicht. Sie können ein Glas davon auf meinem Frisiertisch hinter sich stehen sehen. Der Kehricht vom Fußboden im Schlafzimmer hat mehr ergeben. Zwei dunkelbraune, von einem Mann stammende Haare, über die noch mehr gesagt werden kann, was uns aber erst angeht, wenn der Mörder gefunden ist. Ferner mehrere Kopfhaare der getöteten Frau und nicht weniger als fünf vom Kopf einer anderen. Sie wissen ja noch, daß Sie ein in die Sprungfedern der Matratze geklemmtes langes Haar gefunden hatten, das wahrscheinlich der Frau, die unters Bett kroch, vom Kopf gerissen wurde. Das gehört zu den fünf en, die von der unbekannten Frau stammen. Sie sind so schwarz wie meine, sind aber mit keinem Frisiermittel in Berührung gekommen. 96
Was im Bericht über die Fingerabdrücke gesagt wird, ist enttäuschend, oder wäre es, wenn Sie sie nicht gestäubt und fotografiert hätten. Deutlich sind nur die Abdrücke von der toten Frau. Die Handschuhe der Unbekannten sind aus einem Baumwollstoff. Die Vergrößerung der geflickten Stelle wird sicher Alice McGorr interessieren. Die Abdrücke des unbekannten Mannes beweisen, daß er Chirurgenhandschuhe aus Gummi getragen hat. Sie können sich den Bericht in Ruhe ansehen.« »Danke schön, und besten Dank auch für das, was Sie dem Chefinspektor über mich gesagt haben«, erwiderte Essen. »Stimmt es, daß wir Verstärkung bekommen sollen?« »Von Albury, fünf Mann. Ich habe die Absicht, Yoti vorzuschlagen, daß er Sie und wenigstens drei von den fünfen zur Verhütung weiterer Kindsentführungen einsetzt. Alice ist zum Krankenhaus gegangen, um festzustellen, welche Möglichkeiten ein Babydieb dort hätte, und Sie müßten dann die Männer zweckentsprechend placieren. Wenn Sie die in Mitford noch vorhandenen Babys schützen, werde ich von dieser Sorge entlastet.« »Ich werde mir die größte Mühe geben.« »Das weiß ich. Was macht unser Freund Bertrand Clark?« »Doktor Nott hat ihn heute früh ins Krankenhaus der Eingeborenenmission verlegen lassen. Er meint, daß er dort gut untergebracht ist, da Doktor Delph die Mission betreut und jeden zweiten Tag die Kranken besucht.« »Er gehört zu den Leuten, die mir bei heißem Wetter ein bißchen zu schwungvoll vorkommen. Immer unterwegs, bei den Männern gern gesehen und Liebling der Frauen.« Essen ging, und Bony trat an seinen Frisiertisch, wo er nachdenklich ein Haar aus den Borsten seiner Kopfbürste herauswand. Er ging mit dem Haar ins Licht eines Sonnenstrahls und betrachtete es eine volle Minute, bevor er seinen Hut aufsetzte und ebenfalls das Zimmer verließ. Ungeachtet Alice McGorrs privater Ansicht über das Tempo seiner Fortschritte und unabhängig von dem Besuch des Chefs des Morddezernats, der diese Ansicht teilte, war Bony mit seinen eigenen Methoden durchaus zufrieden. Wie bei vielen anderen Aufträgen, die er erst übernommen hatte, wenn die Polizei mit dem Einsatz ihrer Experten gescheitert war, so war es auch diesmal. Er hatte damit angefangen, 97
unauffällig die von den Kinderdiebstählen betroffenen Leute zu studieren und hatte nun die Situation herbeigeführt, in der die Verbrecher anfangen, sich Blößen zu geben. Bald, vielleicht schon sehr bald, wollte er in das Nest stechen und beobachten, wie die gereizten Ameisen reagieren würden. Arbeit zu mehreren, meinte Alice, sei immer gut. Freilich nicht in jedem Fall. Oft war sie sehr günstig, wenn es um Verbrechen ging, bei denen sich entweder bestimmte Fingerzeige auf die Methode des Verbrechers ergaben, oder Fingerabdrücke, oder die Täter verpfiffen wurden. Bot aber ein Verbrechen keinen Anhaltspunkt dieser Art, dann klappte es mit dem Teamwork nicht mehr, und er, ein Halbblut, wurde von Beamten, die inzwischen auf sein Versagen hofften – um dadurch auch selbst entschuldigt zu sein – gebeten, die Nachforschungen aufzunehmen. Als Bony die Bibliothek betrat, war er fast heiter. Diese Stimmung war nicht durch die Aussicht auf den Enderfolg hervorgerufen, sondern erwuchs aus den vielen kleinen Tatsachen und Folgerungen, zu denen er bereits gekommen war. Seine Stimmung wurde noch erfreulicher durch die soeben gemachte Entdeckung, daß Fred Wilmot, der für die Polizei tätige Fährtensucher, ihm von der Wache aus gefolgt war und sich jetzt, als er die Bibliothek betrat, hinter einem Möbelwagen versteckte. Mr. Oats, der Bibliothekar, begrüßte ihn harmlos freundlich. »Nehmen Sie Platz, Inspektor. Womit kann ich Ihnen heute dienen?« »Tja, ich komme hauptsächlich wegen des Diebstahls. Oberwachtmeister Essen, der sich um die Sache gekümmert hat, ist auf einige Schwierigkeiten gestoßen. Es wäre möglich, daß ich ihm weiterhelfen kann. Vielleicht kennen Sie, wenn auch nur dem Namen nach, einen Kunstmaler, den es reizen könnte, Ihre Eingeborenenmalerei zu kaufen?« Mr. Oats schüttelte sanft sein silberweißes Haupt. »Von einem Kunstmaler sollte man eigentlich weniger Interesse an diesem Stück Naturfels erwarten als beispielsweise vom Kurator eines Museums, und ich kenne keinen Kurator, der so skrupellos wäre, es zu kaufen, selbst wenn er das Geld dazu hätte, was ich, wenn ich an mein eigenes Gehalt denke, sowieso bezweifle.« 98
»Haben Sie dieses Steinbild genau im Gedächtnis? Glauben Sie, es aus dem Kopf skizzieren zu können?« »Versuchen will ich’s, aber erwarten Sie bitte von mir kein Kunstwerk.« Der Bibliothekar zog einen Schreibblock heran und nahm einen Bleistift zur Hand. »Ich muß noch ein bißchen überlegen. Ach so : Unter dem Ganzen, ziemlich weit unten, war ein Strich, eine waagerechte Linie, etwa so. Halt, ich irre mich : Die Linie war nicht genau waagerecht, sondern leicht gebogen, und auf ihr sah man eine Gestalt, die eine Art Sack trug, ungefähr von dieser Form. Eine eigenartige Gestalt, ähnlich wie ein Mensch, aber mit dem Kopf und Schwanz vom Emu. Am oberen Rand des Bildes waren nach unten abgerundete Linien, die vielleicht Wolken bedeuten sollten, und zwischen diesen und dem Erdboden ein Gebilde, das wohl ein Baum sein mußte. Der Baum steht vor dem schreitenden Mann, und am Fuß des Baumes liegen kleine Dinger, aus denen ich nie klug werden konnte.« Mr. Oats gab Bony, der sich bessere Zeichnungen zutraute, die Skizze. »Nach Ansicht von Professor Marlo-Jones«, erklärte Oats weiter, »sind es Regenwolken, und die Gestalt stellt einen Mann dar, der – in uralter Zeit, als Alchuringa lebte – aus dem Erdboden hervorkam und überall Regensteine ausstreute, damit die Wolken den Regen freigaben.« Bony studierte die Skizze. »Darf ich dies behalten?« »Aber selbstverständlich.« »Das Bild war mit Ocker gemalt, weiß und gelb, nicht wahr?« »Ja.« »Kein Gips?« »Nun, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Nach meiner Kenntnis hielt ich die Farbe für hellen Ocker.« »Vielleicht ist das gar nicht von Bedeutung.« Bony zündete sich eine Zigarette an. »Ich werde die Skizze vervielfältigen und verbreiten lassen. Mag sein, daß sich dann jemand erinnert, dieses Felsstück gesehen zu haben. Welche Farbe hatte übrigens das Gestein?« »Braunlila, Inspektor. Wüstensandstein hat es Professor Marlo-Jones genannt, wenn ich nicht irre. Es kommt aus einem sehr einsamen Landstrich in Inneraustralien. Ich vermute, daß wegen dieser Steinfärbung kein roter Ocker für das Bild verwendet wurde.« 99
»Wahrscheinlich. Ich möchte nur wissen, weshalb es gestohlen wurde. Vielleicht sollte dieser Diebstahl nur ein Deckmantel für wertvollere Beute sein. Haben Sie den übrigen Bestand des Museums nachgeprüft?« »Es ist sonst nichts geraubt worden«, antwortete Mr. Oats. »Da wir, wie Sie wissen, hier nicht sehr viele Stücke haben, konnten wir uns davon rasch überzeugen. Mir ist die Sache ebenso schleierhaft wie Ihnen.« Im Stehen blickte Bony auf die Skizze hinab. Mr. Oats war im Zweifel : Er sah es nicht, aber er fühlte, daß Bony lächelte.
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ieben Minuten nach vier Uhr ertönte die Klingel am Privateingang zum Hause der ›Olympic-Bank‹. Als Mr. Bulford die Tür öffnete, stand Bony vor ihm auf der Drahtmatte. Ohne Erstaunen zu verraten, begrüßte Bulford ihn lächelnd und trat zurück, indem er den Besucher mit einer Handbewegung zum Eintritt aufforderte. »Bitte gehen Sie gleich hinein, Inspektor, ich muß die Tür zum Privatbüro erst schließen.« »Gerade da möchte ich gern mit Ihnen plaudern, Mr. Bulford«, entgegnete Bony, drehte sich um und trat in den Bankraum und von da ins Direktionszimmer. Als Bulford sich hinter seinem geschnitzten Schreibtisch bescheiden in dem Herrschersessel niederließ, wirkte er fast wie ein junger Anfänger im Bankfach. »Wissen Sie auch, daß, wenn Sie am Telefon in diesem Zimmer sprechen, jeder Mensch, der sich vor Ihren Privateingang stellt, Sie hören kann?« fragte Bony. Sofort machte Bulford ein erschrockenes Gesicht. »Nein, das wußte ich nicht«, erwiderte er. »Ich neige dazu, laut zu sprechen, weil dieser elende Apparat nichts mehr taugt und schon längst in Stücke gehauen sein müßte. – Das ist wirklich sehr unangenehm.« 100
»Einzelne Worte zu verstehen ist nicht möglich, Mr. Bulford. Wesentlich ist, daß die Leute, die Ihren kleinen Sohn stahlen, wußten, wann Sie am Telefon festgehalten waren, und so nach einem ganz simplen Plan handeln konnten.« Der Direktor unterbrach das Anzünden seiner Zigarette für einen Moment. »An der Entführung Ihres Sohnes waren drei Personen beteiligt«, fuhr Bony fort und schilderte in großen Zügen, wie die einzelnen ihre Schritte genau nach dem Zeitplan richten mußten. »Sie können ja nun selbst sehen, daß Sie, wenn Sie vor Ihrem altmodischen Telefon stehen, Ihrer Bürotür den Rücken zuwenden. Wie Sie jetzt an Ihrem Schreibtisch sitzen, haben Sie freien Ausblick auf die Seitentür, den Privateingang. Nur wenn Sie am Telefon standen, konnte jemand unbemerkt den Flur betreten und die Treppe hinaufgehen, mit dem Kind wieder herunterkommen und das Haus verlassen, während sein Helfer Sie weiter im Telefongespräch festhielt. Sie geben wohl zu, daß diese Theorie einleuchtend ist?« »Einleuchtend, gewiß.« Mr. Bulford strich mit dem Ende der Zigarette über seinen gestutzten Schnurrbart, seine freundliche Stimme klang beim langsamen Sprechen täuschend sanft wie das Schnurren eines Tigers. »Ihre Gattin hat uns berichtet, daß sie an dem Nachmittag, als das Kind gestohlen wurde, um 4 Uhr 30 zu einer Sherryparty ging. Sie selbst gingen um 5 Uhr 30 nach oben. In der Stunde dazwischen muß der Kindesräuber Ihren Flur betreten haben. Mit einem Nachschlüssel oder, was wahrscheinlicher ist, einem kräftigen Streifen Zelluloid konnte er die ganze Aktion in schätzungsweise anderthalb Minuten durchführen. Stimmt’s?« »Ja. Hätte funktionieren können, wenn ein Anruf für mich gekommen wäre. Es hat aber, nachdem meine Frau gegangen war, bis ich selbst nach oben ging, kein Mensch angerufen.« »Ich wüßte das gern genau, Mr. Bulford.« »Sollen Sie.« Der Direktor nahm aus dem Schreibtisch ein schwarzes Buch, in dem er schnell blätterte. »Hier habe ich die Notizen von dem Tag, dem 29. November. Der letzte Anruf, von einem Kunden namens Rawson, kam um 2 Uhr 56.« 101
»Und kein Bekannter hat während der für uns wichtigen Penode angerufen? Kein Freund, dessen Anrufe Sie vielleicht nicht eintragen?« »Nein, keiner, Inspektor.« »Haben denn Sie niemanden angerufen?« »Ich wüßte wirklich nicht.« Mr. Bulford hatte freimütig geantwortet, sein Blick aber blieb wachsam. Bony fand sein Urteil über den Bankdirektor bestätigt : ein Mann, der im Geschäftlichen bei freundlichsten Worten hart sein konnte, seiner Sache stets sicher war und sich ausschließlich auf die nackten Zahlen stützte. Bony drückte die Zigarette aus und betrachtete nachdenklich seine Fingernägel. In seiner Haltung und im Gesicht prägte sich Enttäuschung aus. »Sind Sie in der einen wichtigen Stunde ununterbrochen in diesem Raum geblieben, Mr. Bulford?« fragte er. »Ununterbrochen, Inspektor.« »Überlegen Sie noch einmal, ich möchte da ganz sichergehen. Vergessen Sie nicht, daß es um das Leben Ihres kleinen Sohnes gehen kann.« »Mich brauchen Sie nicht unter Druck zu setzen, Inspektor.« »Gern tue ich das auch nicht, seien Sie versichert, Mr. Bulford. Aber lassen Sie uns erst auf einen anderen Punkt eingehen. An dem Nachmittag war Ihre Gattin bei einem Ehepaar Reynolds eingeladen. Reynolds gibt einmal monatlich diese Gesellschaften und zählt zu Ihren bedeutenden Bankkunden. Ich setze voraus, daß man bei diesen Partys nicht mit einem Baby auf dem Arm erscheinen kann?« »Auf keinen Fall.« »Nach dem Bericht des Kriminalsergeanten Moss haben Sie ausgesagt, Sie hätten, als Sie das Kinderbett leer fanden, vermutet, Ihre Frau hätte das Kind zu Reynolds mitgenommen.« »Nun ja – war das nicht ein ganz natürlicher Gedanke?« suchte Bulford die Frage abzubiegen. »Ich ging nach oben, fand das Bett leer und sagte mir : Sie wird den Jungen wohl mitgenommen haben.« »Weder dem Sergeanten Moss noch mir haben Sie gesagt, daß Sie, weil das Kind nicht in seinem Bettchen lag, in Ihr Schlafzimmer gestürzt waren, wohin Ihre Frau doch das Kind gebracht haben konnte.« »Aber sie hatte es doch immer nur im Kinderbett gelassen, und so war, wiederhole ich, der Gedanke, sie könne es mitgenommen haben, 102
für mich ganz natürlich, obgleich ich wußte, daß sie zu einer Party ging und sie das vorher nie getan hatte.« Mit einer Langsamkeit, an der Mr. Bulford merkte, daß er scharf nachdachte, rollte Bony sich wieder eine Zigarette und preßte ebenso bedächtig mit einem Streichholz den Tabak fester. Dann zündete er es an und hielt es, den Blick fest auf Bulford gerichtet, länger als nötig an die Zigarette. Er gab absichtlich dem Direktor Zeit, sich zu sammeln, ehe er zur nächsten Attacke überging. Und die begann gleich. »Sie haben neulich erklärt, Mrs. Rockcliff hätte kein Konto bei Ihnen.« Die braunen Augen verschlossen sich, aber Bonys Blick hielten sie aus. »Das entspricht auch der Wahrheit«, sagte Bulford. »Mrs. Rockcliff hatte hier kein Konto.« »Ferner haben Sie erklärt, Sie hätten Mrs. Rockcliff nicht einmal dem Namen nach gekannt, bis Sie den Bericht von ihrer Ermordung in der Zeitung lasen.« »Ganz richtig, Inspektor.« »Ich erinnere mich, daß ich Sie danach oben in der Wohnung fragte, als Ihre Gattin dabei war. Sie ist aber jetzt nicht hier.« Die braunen Augen wichen ab und blickten starr auf das Zigarettenkästchen. Eine weiße feiste Hand griff langsam hinein, um eine Zigarette herauszunehmen. Das Anreißen des Streichholzes wirkte wie ein Knall. Es wurde ausgeblasen und fiel in den Aschenbecher. Dann stellten sich die braunen Augen wieder dem prüfenden Blick der eiskalten blauen. »Ich kannte Mrs. Rockcliff schon länger«, gestand Bulford. »Sie hatten sie in der Bibliothek kennengelernt?« fragte Bony, der sich später oft daran erinnern mußte, daß die Frage ein schwerer Fehler war. »Das wissen Sie also.« »Waren Sie mit Mrs. Rockcliff in der Bibliothek während der Zeit, als Ihr Kind entführt wurde?« »Leider ja. Ich ging von hier zehn Minuten nach meiner Frau fort und kam um 5 Uhr 30 zurück. Begreiflicherweise konnte ich das in Gegenwart meiner Frau nicht erwähnen.« »Unter welchen Umständen sind Sie zuerst Mrs. Rockcliff begegnet?« 103
»Ende Oktober war das. Ich war in der Bibliothek und hörte sie mit dem Bibliothekar über Bücher sprechen. Das Thema interessierte mich auch, und der Bibliothekar – hm – er machte uns in angenehmer Weise miteinander bekannt. Ich fand sie intelligent und unterhielt mich gern mit ihr. Wir trafen uns später oft zu einem Gespräch. Nur über Bücher, das dürfen Sie glauben.« »Nicht über Mrs. Rockcliffs persönliche Angelegenheiten?« »Nein. Erwähnt wurde nur, daß sie ihren Mann durch einen Verkehrsunfall verloren und mehrere Jahre in Sydney gewohnt hatte.« »Und Sie meinten, Ihre Gattin würde die Bekanntschaft mißbilligen?« »Sie haben meine Frau ja kennengelernt, Inspektor.« »Mrs. Rockcliff paßte auch nicht in Ihren Gesellschaftskreis?« »Es gab Gründe, daß sie nicht akzeptiert wurde. Dumme Gründe natürlich. Du lieber Gott, ich habe die Menschen satt ! Mit Ausnahme von Mrs. Marlo-Jones konnte keine Frau in Mitford Mrs. Rockcliff an Klugheit das Wasser reichen.« Bulford wartete auf die nächste Frage. Da keine gestellt wurde, setzte er hinzu : »Als Direktor einer Bankfiliale führt man ein sehr gesichertes und respektables Leben, aber schon seit Jahren war es mir manchmal zuwider. Ich habe Mrs. Marlo-Jones erwähnt. Sie und ihr Mann, ein Professor für Anthropologie, der im Ruhestand lebt, sind reizende Leute, haben aber leider sehr begrenzte Interessen und werden nach einiger Zeit langweilig. Abgesehen von diesen beiden, sind die Leute hier ehrgeizig und wissen nichts von der Welt außerhalb ihres eigenen Kreises. Und ich gehöre dazu. Meine Stellung zwingt mich, mitzumachen, und meine Frau wünscht es auch. Was ich aber nach Ansicht meiner Bank nicht tun oder nicht wissen soll, verbietet mir meine Frau auch. Für mich gibt es nur einen Weg zu geistiger Freiheit, den Weg der Bücher, aus denen man von freien Menschen erfährt, oder doch von Leuten, die zu ihren Lebzeiten frei waren. Ja, ich habe Mrs. Rockcliff recht gut kennengelernt. Sie hat niemals neugierig nach meinen persönlichen Angelegenheiten gefragt, und ich habe mich um ihr Privatleben auch nicht gekümmert.« »Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen«, murmelte Bony, der sich eine neue Zigarette ansteckte. »Ebenso verstehe ich Ihre innere Auflehnung gegen das Leben in engem Kreise, aber schließlich hat jeder sich irgendeinem Herrn zu fügen : Sie sind der Sklave gesellschaftlichen Zwanges, 104
und ich unterstehe noch stärkeren Gewalten. Waren Sie in Mrs. Rockcliff verliebt?« » Ja. Das spürte ich erst, nachdem sie ermordet war.« »Natürlich wollten Sie nicht, daß Ihre Freundschaft bekannt wurde?« »Wollte ich nicht, und doch …« »Bitte?« »Wäre sie bekanntgeworden und das Schlimmste eingetreten, das heißt, hätte die Bank mich verwarnt, so daß ich ewig der Nörgelei meiner Frau ausgesetzt gewesen wäre, dann hätte ich vielleicht alles im Stich gelassen und wäre mit einem Bündel im Busch, im Urwald verschwunden. Und ich glaube, wenn ich mir einen Job im einsamen Hinterland gesucht hätte, wäre ich glücklicher geworden.« »Hm … Wenn Ihre beiden Söhne erwachsen und selbständig sind, können Sie vielleicht noch so handeln und damit einen sehr klugen Schritt tun. Jetzt aber eine unverblümte Frage : Gingen Sie sehr liebevoll mit Ihrem kleinen Sohn um?« »Nein. Das war nicht erlaubt.« »Ihre Frau erlaubte es nicht?« Bulford nickte. Er sah sich jetzt, wie ihn Bony sah, und wand sich in Selbstverachtung, daß so ein verflixtes Halbblut ihn derart ins Verhör nehmen durfte. »Hat Ihre Frau den Kleinen gern gehabt?« Bulford sah nicht mehr sein eigenes Abbild, sondern seine Frau. Da brach der Ärger los, der jahrelang in ihm gebrodelt hatte. »Nein«, antwortete er laut, »kein bißchen ! Das Kind kam spät, war ihr unerwünscht. Sie behauptete, jeder lache sie aus, und deshalb haßte sie das Kind und auch mich. Und jetzt hasse ich sie, eben deswegen.« Mr. Bulford begrub das Gesicht in den Händen, und Bony, von Sympathie für den Mann ergriffen und unentwegt geduldig, rollte wieder eine Zigarette und konnte sie ganz rauchen, bis Bulford sich wieder gefaßt hatte. »Um noch einmal auf Mrs. Rockcliff zurückzukommen«, sagte er absichtlich kalt, weil er damit dem andern schneller zur Beruhigung verhalf, »sie mietete das Haus von der Firma Martin & Martin, an die sie ihre Miete zahlte. Wer ist rechtmäßiger Eigentümer des Hauses?« »Die Bank.« 105
»Also nicht eine gewisse Miss Cowdry?« »Der würde es gehören, wenn sie ihr überzogenes Konto ausgeglichen hätte. Ehe sie im vorigen Jahr nach Europa übersiedelte, fand sie sich bereit, unserer Bank die Rechte an dem Haus abzutreten, die Zinsen für ihr Debet zu bezahlen und die Mieterträge auf die Schuld verrechnen zu lassen.« »Wenn ich mich recht erinnere, hatten Sie doch gesagt, daß Sie Mrs. Rockcliff, ehe sie das Haus mietete, noch nicht kannten?« »Nein, vorher kannte ich sie noch nicht. Mr. Martin empfahl sie, und ich stimmte dem Mietvertrag zu, als sie sich erbot, die Miete für ein Quartal vorauszuzahlen.« »Und sie bezahlte die Miete stets in bar. Auch ihre sonstigen Rechnungen bezahlte sie bar, Mr. Bulford. Von keiner Bank in Mitford, auch nicht durch die Post, hat sie Geld abgehoben. Hatte sie nicht bei Ihnen ein Konto?« »Diese Frage habe ich doch schon beantwortet. Nein.« Bony seufzte und setzte sich so gemütlich hin, als wollte er eine Woche bleiben. Langsam sagte er : »Mir schwebt vor, daß ich – wenn alle anderen Fragen klargestellt sind – Ihre platonische Freundschaft mit Mrs. Rockcliff in meinem Bericht unerwähnt lassen könnte, falls, Mr. Bulford – falls Sie jetzt, außerhalb der Geschäftsstunden, einmal vergessen würden, daß Sie als Bankdirektor vor mir sitzen.« Mr. Bulford blickte Bony fest an. »Darf ich erfahren, was Sie von mir verlangen, Inspektor?« »Hat die Firma Martin & Martin ein Konto bei Ihnen?« »Ja.« »Hat Mr. Martin auch sein Privatkonto hier?« »Ja.« »Würden Sie einmal überprüfen, ob Ihnen an diesen beiden Konten irgend etwas auffällt?« »Ja. Lassen Sie mir eine halbe Stunde Zeit.« Bony nickte, der Direktor ging in den Bankraum. Bony machte es sich im Direktionszimmer bequem, wo schon so viele wichtige Geldfragen besprochen worden waren. Hin und wieder hörte er Geräusche im Hauptraum. Draußen vor den Fenstern bewegte sich die kleine Welt, die Mitford hieß, eine Gemeinde hastender Ameisen, deren jede ihre Last trug. 106
Nebenan der Direktor Bulford, der so gern aus seinem Alltag ausbrechen wollte und doch wußte, daß er es nie tun würde. Und an Alice McGorr dachte Bony. Eine Frau, die ihre mütterliche Sehnsucht zu verleugnen suchte, schwer belastet durch Hemmungen, dem Produkt ihrer Umgebung während der Entwicklungsjahre. Hemmungen haben mehr Lebensschiffe versenkt als alle sonstigen Einflüsse. Und unvernünftiger Ehrgeiz vernichtet zahllose andere. Nur ein Napoleon Bonaparte bringt, vermittels purer Energie und seiner bewußt durch Übung gesteigerten Intelligenz, die Kraft auf, sich vor nichts, nicht einmal vor dem Tode zu fürchten und fürchtet doch sich selbst. Vermochte ein Bulford wirklich seine Bürde abzuwerfen und in den Busch zu entweichen, um dort neue Lasten zu schultern? Konnte er, Napoleon Bonaparte, seine Karriere opfern, spurlos in den ungeheuren Weiten im Herzen dieses Kontinents verschwinden und damit frei werden von den Lasten, die er trug …? Der Direktor kam wieder herein, die fruchtlosen Grübeleien mußten aufhören. »Ich glaube beinahe, ich habe das von Ihnen Gewünschte, Inspektor«, sagte er, indem er sich wieder in seinen gewichtigen Sessel niederließ. »Seit Oktober hat Mr. Cyril Martin jeden Monat am 11. einen Scheck über 50 Pfund einkassiert. Das Geld wurde ihm in Einpfundnoten ausgezahlt. Am 11. Februar, das heißt in diesem Monat, wurde der Scheck über 50 Pfund nicht präsentiert.« »So?« sagte Bony nachdenklich. »Mr. Martin löste also einen Scheck über 50 Pfund ein an dem Tage, bevor Mrs. Rockcliff das Haus mietete, und nachdem sie ermordet war – am 7. Februar – kam er nicht mit dem üblichen Monatsscheck.« Mr. Bulford saß ganz still und abwartend. Bony stand auf. »Ich danke Ihnen, Mr. Bulford«, sagte er. »Ich nehme an, unser kleiner Handel erleichtert Ihre Bürde.« Der Direktor blieb reglos sitzen. Äußerlich war ihm nicht anzumerken, ob seine Last leichter wurde.
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lice McGorr und Essen klopften kurz nach sieben Uhr an die Tür von Bonys Zimmer, als der Sonnengott den glühenden Griff, in dem er das Land hielt, lockerte und vor Zorn den Himmel blutrot malte. Bony saß lässig im Sessel, seine Notizen und Berichte vor sich auf dem Tisch. Er hatte den Rock ausgezogen, sein weißes Leinenhemd sah noch frisch aus. »Treten Sie näher und nehmen Sie beide Platz. Nach der Hitze heute müssen Sie ja ganz schlapp sein. Rauchen Sie und machen Sie sich’s bequem.« »Ich war schon hier, als ich vom Krankenhaus zurückkam, traf Sie aber nicht an«, sagte Alice, zog ihre Handschuhe ab und holte ein Zigarettenetui mit Feuerzeug aus ihrer Handtasche. »Ich war zu Besuch in der Großen Welt.« »Bei einer Frau, Bony?« fragte sie mißtrauisch. Essen mußte lachen. »Man könnte uns in die Schranken zurückweisen.« »Mich brauchen Sie daran nicht zu erinnern«, sagte Alice schroff. »Wir wurden beide aufgefordert, ihn Bony zu nennen. Er sagte, er sei für seine Freunde nur Bony, und wir seien seine Freunde. Na, stimmt das etwa nicht?« »Hat er getan«, gab Essen ihr recht, während er seine Pfeife in Brand setzte. »Trotzdem sind wir nur kleine Beamte, und er ist Kriminalinspektor. Möchte wissen, ob er nicht mal sein ganzes Lametta anlegt, die Mütze mit den Goldborten, Hose mit Streifen, Rock mit Goldknöpfen und so weiter.« »Meine Frau hat das alles, auch den Säbel, in Seidenpapier gewickelt und in eine Truhe gesteckt«, sagte Bony stolz und lachte selbst über den Spott, den sie sich mit ihm erlaubten. 108
»Und nun, meine Freunde«, fügte er hinzu, »mit Ihrer gütigen Erlaubnis einige Fragen. Nummer eins : Was halten Sie von dem Krankenhaus, Alice?« »Als Krankenhaus erstklassig. Alle denkbaren Einrichtungen vorhanden. In der Säuglingsstation neun Babys. Diese Zwillinge, ein Paar prächtige Kinder, die zu stehlen eine Anstrengung wert ist. Aber sonst ! Jeder Mensch könnte sich da einschleichen und sämtliche Kinder mitnehmen. Die Station ist nach einer Veranda mit Fliegenschutznetz ganz offen, und die Verandatür wird nie zugeschlossen.« »Ist da keine Nachtschwester tätig?« »Ja, aber die hat noch andere Pflichten und wird oft von der Säuglingsstation abgerufen. Allerdings bleibt sie dabei in der Nähe, so daß sie ein schreiendes Kind hören müßte.« »Und Sie, Essen? Was haben Sie unternommen?« »Bin stundenlang auf dem Standesamt gewesen und habe mir die Adressen sämtlicher Eltern mit Kindern unter drei Monaten notiert.« »Haben Sie auch ihr Geschlecht vermerkt?« »Jawohl.« »Sorgen Sie in erster Linie für die Sicherheit der männlichen. Haben Sie überlegt, wie?« »Ja, ich glaube, ich kann das schaffen. Die Verstärkung von Albury soll um halb neun hier sein. Der Sergeant will mir Robins überlassen, der die Stadt kennt, und zwei von den Beamten aus Albury. Robins ist jetzt unterwegs, er geht zu allen Eltern mit männlichen Säuglingen, um sie zu warnen. Wir werden die Kinder im Krankenhaus bewachen, die anderen Beamten können in der Stadt ihre Runden gehen. Haben Sie das Gefühl, daß die Kinderräuber es noch mal versuchen?« »Nach dem historischen Ablauf kommt auf jeden Monat eine Entführung«, erwiderte Bony. »Ich treffe diese Vorsichtsmaßnahmen, um Chefinspektor Canno zufriedenzustellen und mich selbst nicht durch den Gedanken an die Möglichkeit weiterer Entführungen ablenken zu lassen. Halten Sie es für denkbar, daß Sergeant Yoti mir Ihren Fährtensucher, den Fred Wilmot, auf die Fersen gesetzt hat?« »Ihnen auf die Fersen? Um Himmels willen.« »Wie lange steht der Mann schon im Dienst der Abteilung?« »Oh, so ungefähr drei Jahre, glaube ich.« 109
»Mrs. Rockcliff wurde vorigen Montag abend ermordet. Am nächsten Morgen erschien Wilmot hier zum Dienst. Ich frage mich, ob das Zufall war oder auf Anordnung von Yoti oder von Ihnen geschah.« »Glaube ich nicht. Werde den Sergeanten fragen.« Essen ging ziemlich eilig hinaus, und Bony schob Alice über den Schreibtisch das Foto eines gestopften Handschuhfingers zu. »Würden Sie sagen, daß diese Stelle von einer im Nähen sehr erfahrenen Frau oder von einer ungeschickten genäht ist?« fragte er Alice und beobachtete sie schweigend. Sie nahm den Abdruck mit ans Fenster, wo es ihr aber nicht hell genug war. So knipste sie das Licht an und stellte sich direkt unter die Birne. »Fein und gleichmäßig gestopft«, sagte sie. »Ja, das hat eine im Ausbessern sehr gewandte Frau gemacht.« »Wären Sie fähig, deren Arbeit, wenn Sie sich diese genau merken, auch an einem anderen Kleidungsstück zu erkennen?« »Kann sein, aber ohne Garantie.« Alice studierte weiter den Abdruck. »Ich würde sagen, daß die Betreffende im Leben sehr viel genäht hat, und ferner, daß sie ihre Sachen so lange wie nur möglich instand gehalten hat und daher nicht zu den reichen Nichtstuern gehört.« Essen kam wieder und meldete, daß Sergeant Yoti keinesfalls Wilmot beauftragt habe, Inspektor Bonaparte zu überwachen. Die Vereinbarung, nach der dieser Eingeborene als ›Spürhund‹ für die Polizei angesetzt wurde, sei sehr dehnbar. Oft sei er tagelang, sogar wochenlang nicht zum Dienst erschienen, wenn er nicht besondere Nachricht bekam. Am vorigen Dienstag, als er sich zum Dienst meldete, sei er allerdings gar nicht aufgefordert worden. Seine Aufgabe war, den Hof sauberzuhalten, die Zellen auszuscheuern, für Mrs. Yoti das Brennholz zu hacken und auf Verlangen die Beamten zu begleiten. »Sind Sie auch sicher, daß er Sie überwachte?« fragte Essen. Bony antwortete sehr kühl. »Selbstverständlich. Bertrand Clark überwachte Alice und jetzt Frederick Wilmot mich. In der Bibliothek wird gestohlen, ein großes Felsstück mit einer plumpen Zeichnung von der Hand eines Eingeborenen. Sollte mich nicht überraschen, wenn das Exemplar nur gestohlen wurde, weil ich es nicht sehen sollte.« »Niemand scheint zu wissen, was die Zeichnung bedeutet, sagte mir der Bibliothekar«, bemerkte. Essen. »Nicht mal der alte Marlo-Jones, der das meiste von Eingeborenen verstehen müßte.« 110
»Mir hat Mr. Oats erklärt, daß der Professor glaubt, es hinge mit dem Ritus der Regenmacher zusammen«, fuhr Bony fort. »Oats weiß nichts über das Bild, weder woher es stammt, noch wer es ins Bibliotheksmuseum gebracht hat. Ich muß morgen mal zur Missionsstation fahren.« Bony zündete sich die Zigarette an, mit der er schon minutenlang gespielt hatte. »Diese Kinderdiebstähle weisen bisher auf Einflüsse der Ureinwohner und gar nicht auf Weiße hin. Übrigens, Alice, wir beide sind für morgen nachmittag zu einer Sherryparty eingeladen. Was ist ein gutes Gegengift für australischen Sherry? Kennen Sie eins?« »Ein Tropfen Schwefelsäure, sagte mein Papa immer«, erwiderte Alice. »Hm. Den Witz muß ich schon mal gehört haben«, sagte Bony mit leichtem Tadel. »Ich weiß ein weniger drastisches Rezept. Na, hier ist jedenfalls die Einladung. Sie lautet : ›An Inspektor Bonaparte und Kusine. Sherry um 5 Uhr. Bitte nicht absagen. Marlo-Jones.‹ Unsere Namen mit grüner Tinte geschrieben, in einer Schrift, wie man sie heute selten sieht. Kusine ! Das haben die aufgeschnappt, Alice. Sie können sich jedenfalls nicht drücken.« »Ich gehe aber nicht hin«, erklärte sie, »ich trinke keinen Sherry.« »Sie haben mich zu begleiten, Alice«, befahl Bony. Die Strenge seines Kommandotones milderte ein Lächeln. »Sie werden auch Sherry trinken, wie ich. Ich werde ein wirksames Gegengift mitnehmen, so daß keiner von uns bei Erfüllung der Pflicht sonderlich leiden wird.« »In meinem Diensteid kommt nicht vor, daß ich Sherry trinken muß«, widersprach Alice streitlustig, indem sie den Kopf hochwarf, so daß sie ihre Frisur neu ordnen mußte. »Sie werden ihn auch nur mir zuliebe zu trinken haben«, lenkte Bony ein. »Die Einladung muß ich annehmen und muß jemand zur Unterstützung bei, mir haben, am besten Sie. Und wenn wir schließlich Arm in Arm in wenig dienstlicher Haltung durch die Hauptstraße schwanken, dann …« »Mir gefällt das nicht«, protestierte Alice weiter. »Kann ich nicht eine Flasche Gin oder so etwas mitnehmen?« »Das geht wohl nicht gut«, sagte Bony ganz ernst, »unsere Gastgeber würden sich gekränkt fühlen. Es bleibt also beim Sherry.« »Ich hasse dieses gräßliche Zeug.« 111
»Angeblich kommt man bald auf den Geschmack«, bemerkte Essen. »Ich mag ihn ganz gern.« »Sie gehen aber nicht mit, sondern ich«, warf Alice rasch ein und gab jeden Widerspruch auf aus Angst, daß Bony an ihrer Stelle den männlichen Kollegen mitnehmen könnte. Ein paar Minuten später entließ Bony sie für diesen Tag. Dann nahm er seine Papiere, verschloß sie in einer Kassette und schritt in die warme, milde Abendluft hinaus, um Reverend Baxter zu besuchen, der ihn freundlich lächelnd empfing und ihn eine Stunde lang in lebhaftem Gespräch festhielt. Es ergab sich jedoch aus ihrer Unterhaltung nicht mehr als das, was der methodistische Geistliche ihm schon früher gesagt hatte. Anderthalb Stunden wanderte Bony noch durch die Straßen von Mitford, denn ihn erfüllte wachsende Unruhe, weniger weil er mit dem Tempo seiner Fortschritte unzufrieden gewesen wäre, als weil er instinktiv spürte, daß feindliche Kräfte gegen ihn zu wirken begannen. Er besann sich, ob er etwas unterlassen, irgendeine Spur nicht verfolgt hätte. Nichts. In keinem Wählerverzeichnis der Staaten Neusüdwales und Victoria kam der Name Pearl Rockcliff vor, ebenso bei keiner Finanzbehörde. Gruppenweise forschten geduldige Männer nach dem Leumund aller Personen, deren Name mit Q begann, so gering auch die Möglichkeit war, unter diesen eine Frau zu entdecken, die sich aus ihrer Wohnung entfernt hatte. Eine gewaltige, endlos erscheinende Aufgabe, die gar keinen Erfolg zu versprechen schien. Als er über die Hauptstraße zum Polizeigebäude strebte, kam gerade das Publikum aus dem Kino. Das Gebäude lag im Dunkel, doch in dem Büro gegenüber brannte Licht. Er fand dort den diensthabenden Polizeibeamten, der jedoch nichts Neues zu melden wußte. Mit dem Gedanken an ein Brausebad vor dem Schlafengehen betrat Bony, körperlich und geistig abgespannt, sein Zimmer, knipste das Licht an und setzte sich auf den Bettrand, um Hausschuhe anzuziehen, als er plötzlich erstarrte. Irgend etwas im Zimmer war nicht wie sonst. Er stand auf und blickte sich in dem behaglichen Raum um. Jeden Gegenstand betrachtete er mißtrauisch, ohne Besonderes zu entdecken. Der Koffer stand genauso an der Wand wie vorher, als er sich zum Abendessen das Haar gebürstet hatte. Die Kommode war auch nicht 112
von der Stelle gerückt, alle Gegenstände auf ihr waren am selben Platz. Der Schreibtisch, fast kahl, war sauber, der Aschenbecher voll von Zigarettenstummeln. Aber – es waren weniger als bei seinem Fortgehen, und es waren Stummel von Alice McGorrs Zigaretten. Alle Reste von seinen selbstgedrehten waren verschwunden. Oho – da stimmte etwas nicht ! Er zog lange die Luft ein, ganz geräuschlos, wie ein Hund, der stumm Witterung aufzunehmen sucht. Dann ließ er die Jalousien herunter und schlich umher wie eine Katze, die Gefahr wittert, indem er häufig an Möbelstücken und manchmal am Linoleum auf dem Fußboden roch. Das Linoleum war alt, und bei der schwachen Beleuchtung wären Spuren kaum zu erkennen gewesen. Das Bett sah ordentlich aus, wie Mrs. Yoti es immer bereitete : die Wolldecken sauber zusammengelegt, sein Schlafanzug adrett gefaltet auf dem Kissen. Er beschnupperte den Anzug, die Kissen, studierte abermals das ganze Bett und beroch noch einmal Schlafanzug und Kissen. Die gelbliche Bettdecke aus grobem Leinen zeigte kein Fältchen. Er schaute unters Bett. Nichts, öffnete den Kleiderschrank und durchwühlte das Zeug, öffnete den Koffer und betrachtete jedes darin liegende Stück genau. Noch nichts. Doch das Prickeln in seinem Nakken, das ihn noch nie getäuscht hatte, warnte ihn unablässig. Er ging wieder ans Bett und beschnüffelte es, diesmal laut. Jetzt meinte er einen sonderbaren Geruch zu spüren, zweifelte aber noch. In dieser Ungewißheit verfeinerte sich der Tastsinn seiner Fingerspitzen. Vorsichtig nahm er den Schlafanzug hoch und ließ ihn auf einen Stuhl fallen. Ebenso vorsichtig nahm er die beiden Kissen einzeln aus dem Bett, und ganz besonders vorsichtig und langsam rollte er die Bettdecke zurück, bis ans Fußende. Auf einmal langte er zum Frisiertisch hinüber, ergriff seine Haarbürste und schlug fünf rotrückige gestreifte Spinnen tot, die unten im Bett lagen. Wenn diese Spinnen, die oft scharenweise auftreten, jemanden unvermutet angreifen, kann ihn nur schnelle ärztliche Hilfe retten, sonst bringt ihr Biß lange Krankheit oder den Tod.
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s war kein angenehmer Tag. Alice fand, daß Leute, die lieber im Urwald als in einer gesunden Stadt leben wollten, ruhig in ihrem verflixten Urwald bleiben sollten. Das Tal des Murray bietet da, wo die Weinberge und Obstgärten aufhören, die aus einem Netz von Kanälen in der Umgebung Mitfords ihre Fruchtbarkeit ziehen, ein Bild platter Einöde, doppelt heiß in der prallen Sonne, die nur scheinbar gemildert wird, wenn der Wind den dunkelgrauen Staub aufwirbelt. Bony und Alice saßen im Wagen von Wachtmeister Robins, der sie selbst fuhr. Nur ungefähr zwei Kilometer ging es auf geteerter Straßendecke, dann auf einem der vielen Querfeldeinwege, die ins Innere führen, in Richtung Albury. Nach drei Kilometern durch ödes, flaches Gebiet, wo nur vereinzelt Eukalyptus- oder Buchsbäume standen, zweigte vor einem Bach die Straße zur Eingeborenensiedlung ab. Verglichen mit den bis dahin eintönigen Strecken am Flußlauf, wirkte die Gegend bei der Siedlung überraschend freundlich. Ein stattliches Stück Land in einer-Biegung des hier von Bäumen gesäugten Flusses wurde gleichsam bewacht durch das vor dem Halbkreis liegende Haus des leitenden Missionars, neben dem rechts und links die Kirche und ein Speicher lagen. Hinter diesem ersten Bollwerk lagen die kleinen Geschäfte, die Schule und das Lazarett, und hinter diesen Gebäuden, innerhalb der Flußbiegung, Straßen mit einräumigen Hütten. Es war kurz vor elf Uhr, auf den ›Straßen‹ fehlten die Kinder, die jetzt dichtgedrängt in der Schule saßen und im Singsang ihre Aufgaben lernten. Die wenigen erwachsenen Eingeborenen, die sich zeigten, trugen Kleidung wie die Weißen, die Frauen aus grellbunten Stoffen. Der Missionsleiter, Reverend Beamer, empfing die Besucher in seinem Büro. Er war noch jung, offenbar leicht zu begeistern und einer Zigarette nicht abgeneigt. In seinem Tropenanzug und mit seinem fri114
schen, offenen Auftreten erinnerte er Bony an wohlhabende Plantagenbesitzer. »Wie Ihnen Sergeant Yoti wohl am Telefon erklärt hat«, eröffnete Bony das Gespräch, »komme ich, um mit Bertrand Clark zu reden. Ich habe meine Kusine Miss McGorr mitgebracht, die gern etwas von Ihrer Tätigkeit bei den Eingeborenen wissen möchte.« »Dann ist uns Miss McGorr willkommener als Sie, Inspektor«, sagte Mr. Beamer mit Nachdruck. »Wir sind stets erfreut, wenn sich jemand für unsere Bemühungen interessiert, aber weniger begeistert, wenn Vertreter des Gesetzes erscheinen. Dem Clark ist, seinem Aussehen nach, offenbar mehr Unrecht getan worden, als er selbst begangen hat.« Mr. Beamer kicherte. »Jedenfalls hat er reichlich Prügel gekriegt dafür, daß er während der Sperrzeit in der Stadt angetroffen wurde.« »Das scheint mir mehr Sergeant Yotis private Auslegung der Sache zu sein«, entgegnete Bony. »Mich dagegen interessiert, weshalb der Mann überhaupt in der Stadt gewesen ist. Sie legen hier den Leuten keine Beschränkungen auf, nicht wahr?« »In der persönlichen Freiheit gar keine. Sie können kommen und fortgehen, wie sie wollen, freilich suchen wir die Kinder an die Schulstunden zu binden. Selbstverständlich aber weiß jeder hier, daß er sich zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang nicht ohne behördliche Erlaubnis in der Stadt aufhalten darf. Und hier in der Siedlung müssen die Leute sich auch nach bestimmten Vorschriften richten.« »Und Weiße dürfen die Siedlung nicht ohne Ihre Genehmigung betreten?« »Sehr richtig. Tatsächlich fehlt es den Leuten hier ja auch an nichts, vom Mehl bis zum Tabak. Sie bekommen sogar Matratzen mit Strohfüllung und Wolldecken. Um auf Clark zurückzukommen : Sein wahrer Grund für den späten Aufenthalt in der Stadt war Ellen Smith, die er besucht hat. Er möchte sie gern heiraten, aber die Sache scheint nicht nach Wunsch zu verlaufen.« »Und Ellen Smith ist …?« »Hausmädchen bei Mrs. Marlo-Jones. Eine reinblütige Eingeborene. Mrs. Marlo-Jones hat mir erzählt, sie habe Clark, weil Ellen sich zur Ehe mit ihm nicht entschließen könne, aber ständig von ihm belästigt werde, aus dem Hause gewiesen und ihm verboten, wiederzukommen.« 115
»Wahrscheinlich ist Ellen Smith sehr klug«, sagte Bony lächelnd. »Ich jedenfalls könnte als Frau für Clark nicht gerade schwärmen. Wie lange leiten Sie schon die Mission, Mr. Beamer?« »Etwas über drei Jahre«, erwiderte der Reverend, der, wie Alice zu spüren meinte, beunruhigt war, weil er nicht wußte, wohin diese Fragen zielten. »Gab es während dieser Zeit Unruhen unter den Leuten?« »Anfangs, bald nach meinem Antritt, sogar ziemlich oft. Ich verstand ja noch sehr wenig von ihrer Wesensart – das heißt, im engeren Kontakt – aber«, der Geistliche lächelte, und Alice gefiel sein Lächeln – »aber ich hatte den besten Willen, zu lernen, und gebe gern zu, daß Professor Marlo-Jones und seine Frau gewissermaßen die ruhenden Pole in dem Trubel gewesen sind. Ich erkannte, daß diese Menschen durch Erziehung schon sehr weit von den Stammessitten ihrer Ahnen abgerückt sind. Sie waren bereits zu eng mit der Zivilisation der Weißen in Berührung gekommen, ihr rassisches Eigenleben ist in Verwirrung geraten, weil unsere Zivilisation sie nicht assimilieren will oder kann – ich persönlich glaube, daß der australische Eingeborene sich sehr wohl assimilieren ließe. Verzeihen Sie, wenn ich mich in Hitze rede«, fuhr Mr. Beamer fort. »Ich habe den Eingeborenen keineswegs überschätzt, mich aber in jeder Weise bemüht, ihm Wege zu weisen, wie er seine frühere Selbständigkeit im Denken und Handeln wiedergewinnen kann. Ich habe die Älteren, ihre natürlichen Führer, aus der Gleichgültigkeit erweckt, damit sie ihren Einfluß und ihre Macht über die Unmündigen wie früher geltend machen konnten – natürlich nur im Rahmen meiner Oberaufsicht. So gewöhnten sich die Leute allmählich an eine Disziplin, die ihrem Verstand einleuchtet, und begannen, mit Interesse die am wenigsten barbarischen Sitten und die traditionellen Stammestänze bei ihren Corroborées – den zeremoniellen Versammlungen – zu pflegen. Dadurch wiederum wurde ihr Zusammenhalt gefördert und der Stolz auf die eigene Wesensart, ohne den kein Volk existieren, geschweige denn blühen kann.« »Nützliches Werk, Pater«, sagte Bony in herzlich anerkennendem Ton, und Alice hätte am liebsten ›Hört, hört‹ gerufen. »Später sind dann also die Unruhen immer seltener geworden?« 116
»Ja. Zu verdanken ist das vor allem Professor Marlo-Jones und Frau, diesen klugen Menschen, die mit den Eingeborenen so gut umzugehen wissen.« »Aber Sie selbst haben den Weitblick und die Tatkraft gehabt, das Wissen in Wirklichkeit zu verwandeln«, sagte Bony beharrlich. »Sie haben es doch fertiggebracht, die Führer der Eingeborenen zu Besprechungen zu versammeln.« »Ja, sie versammeln sich zu Beratungen. Häufig laden sie mich ein, daran teilzunehmen, aber noch öfter bitte ich sie, sich unter meiner Leitung zu versammeln. Ein großer Gewinn ist schon, daß Delinquenten wie Clark von den Führern zur Rechenschaft gezogen und, falls sie weiter gegen die Vorschriften handeln, aus der Siedlung verbannt werden. Bei diesen Beschlüssen bin ich sehr selten zugegen. Wir verlangen, daß die Erwachsenen am Sonntag zweimal zum Gottesdienst kommen, und haben die Erfahrung gemacht, daß sie dem ohne Zwang gehorchen. Die Kinder – Sie sollten sie bei der Schularbeit sehen – bereiten ihren Lehrern Freude und keinen Ärger. Bei den Kindern ist für uns immer das Problem – und hier hat sich Professor MarloJones sehr stark eingesetzt –, wie wir ihnen die beste Erziehung geben können, damit sie in dem trostlos engen Bereich, den ihnen die Zivilisation der Weißen zum Leben erlaubt, eine nützliche Tätigkeit ausüben können. Sie wissen ja, wie die Dinge liegen. Als Viehhüter und Hauspersonal sind sie erwünscht, aber sonst nicht.« »Ja, ich weiß, wie es hergeht«, stimmte Bony ihm bei, und Alice spürte seinen bitteren Unterton. »Wieviel Leute haben Sie zur Seite?« »Den Schulunterricht gibt meine Frau mit Eingeborenenfrauen, die das Mittelschulexamen gemacht haben. Ein Eingeborener verwaltet sehr ordentlich unser Vorratslager und hilft mir bei der Buchführung. Ich selbst habe, kurz bevor ich hierher kam, den medizinischen Doktorgrad erworben und betreue das. Lazarett, wobei mich Doktor Delph unterstützt. Wir haben einen Eingeborenen als Metzger, einen als Zimmermann, einen als Schmied und einen alten Knaben, der sogar Uhren für einen Juwelier in Mitford repariert.« »Ausgezeichnetes Ergebnis, Mr. Beamer.« Bony erhob sich. »Nun, wir wollen Sie nicht länger aufhalten als nötig. Vielen Dank, daß Sie so viel Geduld mit uns hatten.« 117
»Ich habe Ihnen zu danken, Inspektor, und Ihnen, Miss McGorr. Möchten Sie jetzt vielleicht einen Rundgang machen?« »Ja, sehr gern.« In der Schule wurden sie mit Mrs. Beamer und ihren Hilfslehrerinnen bekannt gemacht, sahen sich die Arbeiten der Kinder an und hörten ihre Lieder. Auch die Kirche wurde ihnen gezeigt, wo sie die von den älteren Mädchen gewebten Wandteppiche sehr bewunderten. Sie warfen einen Blick in den sauberen, gut gefüllten Speicher und besuchten den Uhrmacher an seinem Arbeitstisch in der Werkstatt des Schmiedes. Es war ein uralter Mann mit struppigem weißem Vollbart, ebenso struppigen weißem Kopfhaar und borstigen Augenbrauen. Bony machte es Spaß, wie der Alte redete und ihm mit allerlei Scherzen seine feinen Werkzeuge zeigte. Er fragte sich nur, ob nicht manchmal die Metallspäne auf dem Arbeitstisch in die zarten Uhrwerke gepustet wurden. Alice war ganz entzückt, als sie im Krankenhaus zwei Neugeborene entdeckte, die noch eine ganz rote Haut hatten. Bertrand Clark lag in einem Zimmer für sich, schien aber diese Ehre gar nicht zu würdigen. Er war mürrisch und gab nur dem Geistlichen ausweichende Antworten. Als sie wieder draußen in der Sonnenhitze waren, sagte Mr. Beamer : »Einer der wenigen, denen ich nicht traue, Inspektor.« »Daß Sie ihn nicht mögen, kann, ich verstehen«, bekräftigte Bony. »Weshalb trauen Sie ihm nicht?« »Ohne freilich Beweise zu haben, glaube ich, daß er bei vielen kleinen Unbotmäßigkeiten der Urheber ist. Seit einiger Zeit habe ich gemerkt, daß insgeheim gegen meine Tätigkeit und meine Ziele gewühlt wird, und habe den Verdacht, daß diese Gegenströmung von Clark ausgeht. Ich bemühe mich, nicht ungerecht zu sein, jedoch …« Mr. Beamer und seine Frau begleiteten ihre Gäste bis an den Wagen und forderten sie auf, wiederzukommen. »Das waren freundliche Leute, nicht wahr?« sagte Alice, als sie auf dem Rückweg zur Stadt waren. »Und diese kuschligen, winzigen Babys ! Ist es wahr, daß sie in ein paar Tagen ganz schwarz werden?« »Ja. Ich finde, das ist eine Verschönerung.« »Ich weiß nicht recht. Mir gefallen sie gerade, wie sie jetzt sind, so gut.« 118
Er blickte sie von der Seite an und sah an ihrem fest geschlossenen Mund, daß sie in rebellischer Stimmung war. Beim zweiten Seitenblick empfand er Bedauern für diese Frau, die ihre Karriere nur zur Betäubung brauchte. Einen Augenblick fragte er sich, wie sehr ihr der unterdrückte Muttertrieb noch schaden würde. »Mir kamen sie vor wie frisch ausgebrütete Vögel im Nest«, sagte er, und sofort rief sie scharf : »Mund gehalten.« Sie fuhren wieder durch den fruchtbaren Grüngürtel mit den Obstbäumen und Weingärten, den Luzernefeldern und den Rasenflächen vor den in lebhaften Farben gestrichenen Häusern, und bogen alsbald in die Hauptstraße. Hier berührte Alice ihn sanft an der Hand und sagte leise : »Tut mir leid, daß ich so schroff war. Schuld waren Sie, wie meistens ; ich vergesse dann, daß Sie Inspektor sind und ich bloß ein Nichts.« »Und ich werde weiter dafür sorgen, daß Sie das vergessen, Alice. Ich bin, wie meine Frau manchmal zugibt, der taktvollste Mann der Welt.« Zum drittenmal warf er ihr einen Seitenblick zu, und jetzt sah auch sie ihn an. Ihre Augen waren verschleiert.
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er kleine Mann in Australien, in dessen Sphäre Alice McGorr geboren und aufgewachsen war, trinkt seinen Wein aus der Flasche, aus dicken Porzellantassen oder Bechern. In den Gesellschaftskreisen, in die sie jetzt eingeführt werden sollten, wird der Wein selbstverständlich aus feinen Kristallgläsern getrunken oder – gesoffen, aber in seiner Qualität und Stärke besteht kein Unterschied. Leuten wie Bony gefiel dieses Sherrytrinken absolut nicht, wenn sie, wie in diesem Fall, in Erfüllung beruflicher Pflichten trinken mußten. Jede andere Weinsorte wäre ihm weniger zuwider gewesen, denn Australien produziert auch Weine, die es mit den ausländischen aufneh119
men können, sogar alle außer dem Sherry, der so schwer verdaulich ist wie das Öl aus Sardinendosen. Als sie im Wagen zum Haus von Professor Marlo-Jones fuhren, erklärte ihm Alice, sie sei keineswegs Abstinenzlerin und einem guten Trunk nicht abgeneigt, wenn sie sich das Getränk aussuchen könnte und gerade Appetit darauf hätte. Sie hatte mehr Beispiele der bösen Wirkungen des Alkohols gesehen als Bony, angefangen vom guten soliden Whisky bis zum Methylalkohol. Auch ihren Vater hatte der Alkohol ruiniert, hatte sein Gehirn vernebelt und seine Finger dick und ungeschickt gemacht. Schon im Rumtrinken hatte er beachtliche Leistungen vollbracht, aber der Anfang vom Ende war der Sherry geworden. Alice rebellierte noch immer dagegen, daß sie Bony auf diese Party begleiten mußte, aber nicht um die Welt hätte sie zugegeben, daß ihr Widerwille weniger dem Sherrytrinken galt, vielmehr hauptsächlich der Angst entsprang, sich in diesen Kreisen nicht richtig bewegen zu können. Auch Bony hatte geheime Gedanken, die er um keinen Preis seiner Begleiterin anvertraut hätte. Ihre Kleidung war schlecht gewählt, das Bunte allzu bunt. Und der Hut ! Auch hatte sie die Nase zu stark gepudert. Nicht daß ihn das Aussehen seiner ›Kusine‹ sonderlich beunruhigt hätte. Im Grunde war er sogar befriedigt darüber, denn es konnte sich wohl niemand Alice McGorr in der straffen Polizeiuniform vorstellen. Außerdem hob sich neben ihr sein eleganter Anzug noch vorteilhafter ab. »Haben Sie sich ein Gegengift für den Sherry ausgedacht?« fragte sie etwas nervös. »O ja. Um sechs Uhr wird Robins uns abholen und uns erst rasch zu unseren Gemächern fahren, wo Sie sofort ein Glas heißes Wasser mit zwei Teelöffeln Natron trinken. Wenn Sie dann den Sherry herausgewürgt haben, müssen Sie eine Tasse warmes Wasser mit sechs aufgebrühten Gewürznelken trinken. Dann eine halbe Stunde lang liegen. Wenn dann das Zimmer vor Ihnen schwankt wie ein Schiff im Sturm, müssen Sie einen tüchtigen Schluck Kognak nehmen.« »Ich habe im Ernst gefragt«, sagte Alice ziemlich gereizt. 120
»Ich meine es auch ernst. So ernst, daß ich Essen gebeten habe, sich zu überzeugen, ob seine Frau auch die Nelken schon aufgebrüht hat.« »Wollen Sie selbst denn auch dieses angebliche Gegengift trinken?« »Nein, ich kenne noch ein viel angenehmeres.« »Und das wäre?« Er betastete mit seinen schlanken Fingern ein Päckchen in Seidenpapier. Als er es aufwirbelte, kam ein kleines Schraubglas zum Vorschein. Aus der Tasche holte er zwei Teelöffel und gab einen Alice. »Hier habe ich ein halbes Pfund Butter«, erklärte er. »Davon will ich, schon bevor wir zum Sherry kommen, die Hälfte essen. Die andere Hälfte biete ich Ihnen an. Das Geheimnis dieser kleinen Vorspeise besteht darin, daß der Sherry unter einer Schicht Butter gehalten wird, die den Fusel vom Alkohol hindert, ins Gehirn zu steigen, wo er sonst den Zustand bewirkt, den wir Trunkenheit nennen. Ich kann Ihnen versichern, daß dieses Mittel sehr wirksam ist.« »Ich mag übrigens sehr gern Butter«, sagte Alice etwas ungeduldig. »Dann nehmen Sie Ihr Teil zuerst.« »Danke.« »Bei dieser Menschenschau werden wir die Elite von Mitford kennenlernen, Alice. Sie sind dort meine Kusine und haben großes Interesse an der kriminalistischen Ermittlungstätigkeit, weil Sie dabei das psychologisch Abnorme kennenlernen können, worüber Sie gern später ein Buch schreiben möchten. Apropos : Vergessen Sie nicht, daß wir väterlicherseits verwandt sind.« »All right, ich habe begriffen.« »Wir sind eingeladen, weil der Professor und seine Frau mich als anthropologische Rarität betrachten, die sie sehr interessiert, so daß sie mich stark mit Beschlag belegen werden. Deshalb ist wichtig, daß Sie sich möglichst viele Bruchstücke der sonstigen Gespräche und Ihre Eindrücke von den einzelnen Personen merken und ganz Ihrer weiblichen Intuition folgen.« Sie sah zu, wie er den letzten Löffel mit Butter aus dem Gläschen nahm, den Deckel aufschraubte und das Gefäß mit dem Löffel auf den Boden stellte. Dann sah sie ihn auf seine Uhr blicken, hörte ihn ›5 Uhr 10‹ sagen und merkte, daß der Wagen gebremst wurde. »Na, dann hinein ins Vergnügen«, sagte sie, als er ihr galant beim Aussteigen half. 121
Sie bemerkte sein Lächeln, und schon geleitete er sie durch ein niedriges, von Blüten umranktes Tor und über einen Rasen, in dem viele kleine Rosenbüsche standen. Vor ihnen erhob sich ein geräumiges, altes Backsteinhaus mit Erkerfenstern und Jalousien. Das farbenfreudige Bild wurde verdrängt durch ein schokoladenbraunes Gesicht über weißem Leinen : das breite Gesicht einer Eingeborenen, die Alice mit ihren riesigen, feuchtschimmernden Augen anblickte. Das Bild verschwand, Alice sah jetzt einen langen Raum mit vielen Menschen, ein Gewühl, aus dem sich der ›Wikinger‹ abhob, eine Gestalt wie aus einem historischen Film. Bony überragend, verbeugte er sich vor ihr und ergriff ihre Hand. Und Bony sagte : »Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine Kusine vorstelle, Miss McGorr – Professor Marlo-Jones.« »Willkommen, Miss McGorr«, rief der Wikinger dröhnend. »Und ich bin hocherfreut, daß Sie den Inspektor mitgebracht haben, denn der muß ja sehr beschäftigt sein. Kommen Sie, ich will Sie mit den Gästen bekannt machen. Ach, Schatz – hier haben wir Inspektor Bonaparte und Miss McGorr.« Das Ehepaar stand vor ihnen : die Frau, klein, breit, mit dickem, schon angegrautem Haar und kleinen schwarzen, zwinkernden Augen. Der Mann, riesengroß und voll Energie, ein Mensch, der nicht alt zu werden schien. Beide zeigten deutlich, daß Bony ihnen die Hauptsache war, viel wichtiger als seine Begleiterin. Menschen ringsum – und Stimmen ! »Mr. und Mrs. Simpson – Miss McGorr. Doktor Nott – Miss McGorr. Mrs. Bulford – Miss McGorr. Mr. Martin – Miss McGorr.« Klirrende Gläser mit Sherry gefüllt, viele Gläser auf silbernem Tablett, dargeboten von einem schokoladenbraunen Gesicht mit großen schwarzen, unergründlichen Augen. »Doktor Delph, Mrs. Delph – Miss McGorr.« »Zum Wohl, Miss McGorr !« Geruch von Sherry, der Geschmack von Sherry. Sherry, der ihr durch die Kehle glitt, um mit der Butter zu kämpfen, der sie so sehr den Sieg wünschte. »Mrs. Coutts, unsere einheimische Schriftstellerin, von der Sie wohl schon gehört haben – Miss McGorr. Zum Wohl ! Mr. und Mrs. Reynolds – Miss McGorr.« Noch mehr Sherry. Gott sei Dank, das Glas ist leer. Und immer wieder dieselbe Stimme : »Inspektor Bonaparte«, und immer wieder : »Miss McGorr«. Am liebsten hätte sie den Mann angeschrien, er solle zur Abwechslung einmal ›Bony‹ und ›Alice‹ sagen, aber die Stimme blieb dabei, bis 122
zum Glück sich Alice am Arm ergriffen fühlte und jemand sie leise bat, in einem Sessel Platz zu nehmen. Sie sah neben sich eine große Frau, deren hellblaue Augen von dicken, überpuderten Falten umgeben waren, ihr Gesicht war erhitzt, und die Schminke zeichnete sich schon streifig ab. »Schrecklich langweilig, diese vielen Namen anzuhören«, sagte sie zu Alice. »Ruhen Sie ein bißchen aus, Verehrteste, und trinken Sie einen Schluck. Der Professor versteht sich auf Sherry.« Ein glucksendes Lachen folgte. »Sind Sie auch von der Kriminalpolizei?« Alice, die pflichtgemäß ihre Beziehungen zu Bony erklären wollte, vermochte nur zu kichern. Ein Tablett mit gefüllten Gläsern wurde gereicht, doch diesmal war das Gesicht hinter dem Tablett weiß, die Augen grau. Diese Augen zwangen sie förmlich, ihr leeres Glas gegen ein volles zu tauschen, und sie brachte die Kraft zum Ablehnen nicht auf. Stimmen … Stimmen in der Nähe und in der Ferne. Grobe Stimmen, undeutliche und bösartige. Menschen ringsum an den Wänden sitzend oder stehend in Gruppen. Ein Wahnsinniger, der auf das Klavier eindrosch. Hände, viele Hände, die rosafarbene Glasstiele hielten, über denen wie in gelben Kugeln klar der Wein leuchtete. Stimmen : »Scheußlicher Tag, mein Lieber. Bin heute gar nicht in Form.« – »Ja, er hat den Vertrag bekommen. War ja vorauszusehen.« – »Was halten Sie von ihr?« – »Aber Liebling, ich sagte doch schon, daß er den Vertrag bekommen hat.« – »Auch ein Einfall, dieses Halbblut hier einzuladen. Was soll der sein? Kriminalinspektor? Meine Güte ! Mit dem muß ich mich bekannt machen.« – »Kind, die ist mindestens schon fünfzig.« – »Oh, das haben Sie gar nicht gewußt? Grenzt wohl schon an Geisteskrankheit.« – »Schreibt den ganzen Tag. Um ihr Baby und ihren Mann schert sie sich überhaupt nicht. Will eine berühmte Schriftstellerin werden.« – Gelächter. Stimmengewirr – Mißtöne, daß einem die Ohren wehtaten. »Trinken Sie doch, Kind«, drängte die Frau mit dem fetten Gesicht. »Hier kommen neue Gläser.« Vor Alice standen die dicke Frau und wieder die Eingeborene, die breit grinste, während ihre schwarzen Augen sie intensiv musterten und zu sagen schienen : ›Was, Sie mögen keinen Sherry? Alle trinken ihn doch, so viel und so schnell sie trinken können. Bald ist es sechs Uhr.‹ 123
Alice trank ihr Glas aus und nahm ein volles an. Merkwürdig, daß sie sich noch gar nicht anders fühlte als bei der Ankunft. Keine gehobene Stimmung, kein Drang zum Reden, nur diese Hitze im Körper, die an einem so heißen Tag wenig willkommen war. Die dicke Frau sagte : »Prosit, meine Liebe !« Alice trank einen Schluck und noch einen und hätte am liebsten der Dicken das Glas ins Gesicht geworfen. Sie konnte sich später nicht erinnern, wie der plötzliche Wandel sich vollzog : daß ihr die Umgebung nicht mehr konfus erschien, sondern alles sich klar abzeichnete. Gesichter verbanden sich mit Hälsen, Händen und Armen zu ganzen Gestalten. Sie sah Bony über eine Äußerung des Wikingers lachen und fand ihn am hübschesten von allen anwesenden Männern. Sie sah die einheimische Schriftstellerin in ernstem Gespräch mit einer jungen Frau, die ihr hingerissen zuhörte, und wußte auch, ohne ein Wort von Mrs. Courts zu verstehen, daß ihr Thema das Romanschreiben war. Sie beobachtete Mrs. Marlo-Jones, die bei einer Gruppe stand und, offenbar ganz in Gedanken versunken, ihre Gäste zu vergessen schien. ›Komische kleine Frau‹, dachte Alice. ›Was dieser Löwe von einem Mann an der finden konnte, ist mir unbegreiflich‹. In dem Augenblick, als sie ihren Blick abwandte, schien Mrs. Marlo-Jones aufzuwachen. Sie begann zwischen den Gruppen hin und her zu gehen, sprach mit diesem oder jenem, begab sich aber rasch wieder auf den Platz, wo sie so nachdenklich gestanden hatte, und Zwar dicht hinter Bony, woraus Alice den Schluß zog, daß sie weiter dem Gespräch ihres Mannes mit Bony zuhören wollte. Aber das war doch wohl Einbildung? Zum zweitenmal entging es Mrs. Marlo-Jones, daß Alice sie beobachtete. Sie bückte sich rasch und hob etwas vom Fußboden auf. Wieder kam die Eingeborene mit frischgefüllten Gläsern, und wieder fühlte Alice sich gezwungen, eins vom Tablett zu nehmen. Als die Frau weitergegangen war, sah Alice Mrs. Marlo-Jones am Kamin stehen, auf dessen Sims seltsam bemalte Schalen standen, vermutlich Arbeiten von Eingeborenen. Eine Schale bestand aus einem grün gefärbten Emu-Ei, in das ganz flach eine Schlange eingraviert war, die sich weiß abhob. Alice sah, wie ihre Gastgeberin in diese Schale einen kleinen Gegenstand fallen ließ – einen Knopf. 124
Die dicke Frau erhob sich und murmelte ein paar Worte, die Alice nicht verstehen konnte. Auf ihrem Weg zur Tür ging sie noch einigermaßen gerade. In den freigewordenen Sessel ließ sich Mr. Bulford gleiten. Er lächelte Alice an und sagte : »Auf Ihr Wohl !« Sie trank mit ihm und war froh, daß Bonys ›Gegengift‹ sich so gut bewährte. »Wie gefällt’s Ihnen in Mitford, Miss McGorr?« fragte der Bankier. Sie erwiderte, die Hitze sei ja schlimm, aber im Winter müsse es recht nett sein. In dem Augenblick zog sich Dr. Delph, ein großer stattlicher Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, auf ihrer anderen Seite einen Stuhl heran. Alice gefielen seine Augen und sein sauber gestutzter grauer Schnurrbart. Sie spürte sofort, daß diese beiden Männer sich näherstanden, als es den Anschein hatte. »Wie ich höre, studieren Sie die anomale Psyche, Miss McGorr«, sagte der Arzt. »Da dürfen Sie sich wohl glücklich preisen, das an der Seite eines Kriminalinspektors tun zu können, indem Sie seine Methoden verfolgen und so weiter. Stimmt es übrigens, daß Inspektor Bonaparte bisher jeden ihm übertragenen Fall gelöst hat?« »Ja, ich glaube wohl«, gab Alice zu und wappnete sich sofort mit Vorsicht. Sie sah, wie Mrs. Marlo-Jones das Zimmer verließ, von der Eingeborenen beim Hinausgehen beobachtet, und war überzeugt, daß weder Delph noch Bulford ihr Interesse an der Eingeborenen auffiel. »Ein erstaunlicher Mann«, sagte der Arzt. »Habe gerade eben mit ihm ein Weilchen gesprochen. Er beweist, wie der Geist über die Materie triumphieren und der Mensch unbesiegbar erscheinende Schwierigkeiten überwinden kann.« • »Jedenfalls ein reizender Mensch«, fügte Mr. Bulford hinzu. »Ich glaube, mir wäre nicht wohl, wenn er mir auf den Fersen säße.« »Und ich käme mir vor wie der Mann in der Bibel : Ich würde mir einen Mühlstein um den Hals hängen und mich im Meer ertränken«, bemerkte Alice. Sie spürte die Nähe eines großen, hageren Mannes, und als sie hochblickte, sah sie Professor Marlo-Jones am Kamin stehen. Er nahm den Knopf aus der Porzellanschüssel. Dann rief er das weiße Hausmädchen, ein neues Tablett mit Wein zu bringen, und Alice sah, daß er den Knopf in die Schale zurückfallen ließ. Bony konnte sie nicht sehen. »Wie gefallen Ihnen unsere Mitforder Gesellschaften, Miss McGorr?« fragte der hagere Mann. Kichernd erwiderte Alice : »Reizend, Mr. Mar125
tin. Sherry und Verbrechen passen gut zusammen. Ich wüßte nicht, was mir besser gefiele.« »Manchmal muß das ganz aufregend sein«, bemerkte Dr. Delph mit etwas belegter Stimme. Seine Augen glänzten, seine Gesichtsfarbe konnte jetzt als rosig bezeichnet werden. »Aufregend ist es immer«, bestätigte Bony, der jetzt hinter Alice stand. »Ich vermute, Sie sprechen von der Verbindung zwischen Verbrechen und Sherry. Habe mich schon oft gewundert, inwieweit Verbrechen und Trinken zusammengehören.« Alice spürte eine zunehmende Hitze und hoffte, kein knallrotes Gesicht zu haben. Ab und zu meinte sie, doch schon beschwipst zu sein, war aber ihrer Sache durchaus nicht sicher. Das schwarze Hausmädchen bewegte sich jetzt in der Nähe des Kamins, wo es einigen Gästen, deren Namen Alice nicht mehr wußte, Getränke anbot. Mr. Bulford sagte etwas, worüber Alice lachte, obgleich sie die Worte gar nicht verstand. Nur sie konnte von ihrem Platz aus die Eingeborene beobachten, ohne daß es ihren Nachbarn auffiel. Sie nahm den Knopf aus der Schüssel und tat ihn in die Tasche ihrer weißen Schürze. Alice fand es sehr heiß und laut im Zimmer, als sie bemerkte, daß die Gäste dem Ausgang zustrebten. Als sie aufstand, war sie froh, daß ihr die Beine nicht den Dienst versagten und die Umgebung nicht auf dem Kopf stand. Für einen Moment ärgerte sie sich, daß Bony schwankend gegen sie stieß, einen Arm unter den ihren schob und sie sanft zum Ausgang drängte. In der Diele verabschiedeten sie sich von ihren Gastgebern, und als sie über den Gartenweg zum Tor gingen, war sie wieder ärgerlich, daß Bony etwas torkelte. »Sind Sie wirklich blau?« fragte sie, sobald sie in Robins’ Wagen saßen, den der Wachtmeister selbst steuerte. »Nicht so, daß man’s sehen kann, Alice. Und wie fühlen Sie sich?« »Prima. Weshalb haben Sie vorhin markiert?« »Na, ich muß mindestens eine halbe Flasche Sherry getrunken haben, und unsere Gastgeber wären gewiß gekränkt gewesen bei dem Gedanken, daß ihr guter Wein keine Wirkung gehabt haben sollte. Ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« »Nein, könnte ich nicht sagen. Und Ihnen?« 126
»Ja, ich habe viel Interessantes gelernt, aber gleich zu Anfang fühlte ich mich ungemütlich. Ich habe nämlich – hm – einen Hosenknopf verloren.« Alice lachte so schrill, daß Bony erschrak. Sie erzählte die abenteuerliche Geschichte von dem Hosenknopf. Als sie damit fertig war, packte Bony sie am Arm. »Sie haben etwas sehr Wichtiges mitangesehen«, sagte er.
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chließen Sie die Augen, Alice, und versuchen Sie zu entscheiden, ob Mrs. Marlo-Jones den Knopf nur aufhob, damit niemand ausrutschen konnte, oder ob sie ihn an sich genommen hat wie jemand, der eine Zehnpfundnote findet – ganz schnell, bevor der Verlierer es merkt.« »Sie stand dicht hinter Ihnen und blickte zu Boden. Ging dann etwas weiter, sprach mit einigen Gästen, und kam wieder auf denselben Platz zurück. Nahm den Knopf auf und schlenderte offenbar gleichgültig, zum Kamin, wo sie ihn in eine Schale fallen ließ.« »Ein Stück dieses Bilderrätsels. Ich darf Näheres ausführen. Der Professor unterhielt sich mit mir die ganze Zeit im Stehen. Wir sprachen pausenlos. Andere Gäste kamen hinzu, aber keiner blieb bei uns, weil der Professor so einseitig am Gespräch mit mir interessiert war. Wenn zwei Personen, wie wir, lange in einem überfüllten Raum stehen, bleiben sie nicht ganz auf demselben Fleck. Ich weiß noch, wann mir der Knopf von der Hose absprang – hinten –, und daß das ein recht unbehagliches Gefühl war. Mrs. Marlo-Jones sah den Knopf auf dem Fußboden liegen, hob ihn aber nicht gleich auf, sondern wanderte erst ein Weilchen umher. Der Professor stand mir gegenüber und konnte daher sehen, daß seine Frau etwas aufhob und in die Schale legte. Er konnte nicht wissen, daß es 127
ein Knopf war, und fühlte sich veranlaßt, genauer festzustellen, was es war. Weshalb so viel Theater um einen Knopf? Warum mochte sich der Professor so für einen Gegenstand interessieren, den seine Frau auf dem Fußboden entdeckt hatte? Und dann – geben Sie acht – kam die Eingeborene ins Spiel. Ob sie gesehen hat, daß Mrs. Marlo-Jones den Knopf aufhob und in die Schale tat, oder hat diese ihr die Einzelheiten erzählt? Die Fragen klingen vielleicht albern, aber ich hätte gern Ihre Antwort.« »Ist mir nicht klar«, gestand Alice. »Weshalb sind hier Antworten nötig?« »Vorige Nacht ist jemand in meinem Zimmer gewesen, hat fünf Rotrückenspinnen in mein Bett gepackt und alle meine Zigarettenstummel aus dem Aschenbecher gestohlen. Durch die Spinnen sollte ich für lange Zeit ins Krankenhaus, wenn nicht in den Sarg befördert werden. Die Zigarettenstummel wurden für denselben Zweck gestohlen wie der Knopf aus der Schüssel. Knopf und Stummel stammen von mir, sind gewissermaßen Teile von mir und daher erforderlich, wenn auf mich ›mit dem Knochen gezeigt‹ werden soll. Bei einem anderen Fall ist das mit mir exerziert worden und war durchaus nicht angenehm. Weshalb soll wohl jetzt diese Praxis angewandt werden? Weil Sie Clark in die Wolle geraten sind oder er Ihnen. Später bin ich ihm im Krankenhaus nähergetreten – jedoch als Freund. Warum sollte also mit dem Knochen auf mich gezeigt werden für das, was Sie ihm unwissentlich angetan haben? Das scheint mir keinen Sinn zu haben. Es sei denn, daß ich denjenigen, die die Säuglinge gestohlen haben, gefährlich werde oder denen, die für den Mord an Mrs. Rockcliff oder für beide Verbrechen verantwortlich sind. Ich muß wohl für die Eingeborene – oder wer sonst meine Zigarettenstummel gestohlen hat – gefährlich geworden sein. Und das deutet auf die Beteiligung Eingeborener an den Kindesentführungen und vielleicht auch auf den Mord hin. Gut ! Wir sind auf dem richtigen Wege.« »Wieso?« fragte Alice, dankbar, daß sie der Wohnung von Familie Essen und damit dem Natron näher kamen. »Die Verbrecher sind in Bewegung geraten, sie können nicht mehr stillhalten.« »Hat der Diebstahl der Felsenzeichnung auch damit zu tun?« 128
»Ich glaube, ja.« »Und die Sache mit dem Knopf ist eine Form von Zauberei?« »So etwas Ähnliches.« »So etwas Ähnliches ! Entweder geht es um Zauberei oder nicht.« »Das kommt darauf an, wie man die Sache betrachtet. Wenn ein Wilder aus dem Busch zum erstenmal Radio hört, nennt er das Zauberei. Was nicht begriffen wird, gilt als Zauber – ein bequemes Wort, das uns der Mühe enthebt, unseren Denkapparat zu gebrauchen, um dahinterzukommen.« »Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen«, erklärte Alice. »Na, wir sind ja gleich bei Mrs. Essen und den Gewürznelken. Und Selterswasser. Sie haben sich fein gehalten, das freut mich. Wenn Sie sich nachher besser fühlen, kommen Sie doch noch mal ins Dienstgebäude, dann können wir weiter über – die Sherryparty reden.« »Schön. Und vielen Dank für das Mittel, Bony. Ich muß sagen, daß es verflixt gut gewirkt hat. Und die Kopfschmerzen, die ich erwartete, sind nicht die von Ihnen erwarteten, denn die kriege ich nicht.« »Ganz richtig, Alice. Ich glaube aber, jetzt bekomme ich welche.« »Auf Wiedersehen nachher«, rief sie, stieg aus und winkte Bony zu, als Robins den Wagen drehte. Im Polizeigebäude musterte ihn Sergeant Yoti und sagte : »Was? Sie torkeln ja gar nicht !« »Das tue ich nie.« »Keine dumpfen Kopfschmerzen, kein Klopfen im Schädel?« »Nein, bisher nicht. – Ihr Fährtensucher und seine Sippschaft sind, wie er sagt, vor etwa fünf Jahren in die Siedlungen am Darlingfluß gekommen. Mir wäre es lieb, wenn Sie bei der Polizei in Menindee feststellten, warum sie die dortige Gegend verlassen und wie sie sich bis dahin geführt haben, falls das bekannt ist.« »Das habe ich schon vor einem Jahr getan, als wir den jungen Wilmot in Dienst nahmen. Damals war nichts Belastendes bekannt.« »Dann brauchen Sie nicht erneut nachzuforschen.« »Sie kommen mir ein wenig erbittert vor.« »Ich bin in meinen Ermittlungen an einen Punkt gelangt, an dem es sich empfiehlt, in einen Ameisenhaufen zu stechen und aufzupassen, was passiert. Im Moment aber ist eine Tasse starker Tee wichtig, und dabei will ich mit Ihrer Frau intim werden.« 129
»Bitte. Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht, ich bin bloß der Ehemann.« Yoti lächelte. Bony kam von der Tür noch einmal zurück, dem Sergeanten die ›Krume‹ zuzuwerfen, um die er mit den Augen bettelte. »Bei allen meinen Fällen stand ich anfangs gleichsam vor einer undurchbrechbaren Mauer, an der ich immer drücken und stochern mußte, um eine schwache Stelle zu finden.« Wieder zeigte Bony sein strahlendes Lächeln. »Meistens ist eine direkte Attacke gar nicht empfehlenswert, wie es ja auch ungeschickt ist, wenn Sie von Ihrer Frau plötzlich eine Tasse Tee verlangen, während sie gerade das Essen kocht.« »Ich weiß nicht recht«, meinte Yoti. »Vielleicht haben Sie recht. Jedenfalls scheint es, als wenn Ihre Kampagne jetzt Resultate bringt. Das wollten Sie doch gewiß sagen?« »Richtig, Sergeant. Jetzt will ich aber los.« Bony fand Mrs. Yoti in der Küche, wo sie tatsächlich gerade das Abendessen kochte. In der Küche war es heiß, Mrs. Yoti war erhitzt, und unter solchen Bedingungen ist keine Frau in ihrer besten Form. »Ach, da sind Sie ja ! Na, wie war’s auf der Party?« fragte sie so nebenhin. »Ziemlich langweilig«, erwiderte Bony, indem er sich an den mit Backgeräten bedeckten Tisch setzte. »Ich schätze den Sherry nicht. Alice nennt ihn ›Plonk‹. Ganz passender Name, finde ich. Könnten Sie mir ein paar Aspirintabletten geben?« »Aber gern. Waren viele Gäste da?« »Überfüllt. Die Bulfords, die Delphs, die Notts, die Reynolds, die romanschreibende Dame und so weiter. Zwei weibliche Hilfen, eine war schwarz, servierten die Gläser so schnell, wie es verlangt wurde, und die meisten Gäste verlangten Tempo. Der Professor legte mich für eine Debatte in Beschlag. Ich interessierte ihn und auch seine Frau, als rassischer Typ. Ich verlor einen Hosenknopf Und bekam Kopfschmerzen.« Bony spülte das Aspirin mit ein paar Schluck Wasser hinunter. Dann stierte er die Teekanne an, die auf dem Sims über dem heißen Herd stand, und stierte so lange hin, bis er meinte, Mrs. Yoti müsse seinen Gedanken erraten. »Was verloren Sie?« fragte sie. 130
»Einen Hosenknopf«, antwortete er, indem er sich erhob. »Na, ich darf Sie nicht bei der Arbeit aufhalten. Schönen Dank für die Tabletten.« Während er ihr zulächelte, blickte er wieder auf die Teekanne und schritt zur Tür. Mrs. Yoti sah nach der Uhr auf dem Sims und bemerkte die danebenstehende Kanne. »Hätten Sie gerne eine Tasse Tee gehabt? Ich hätte Zeit, eine Kanne voll aufzugießen, bis ich meine Torte aus dem Ofen nehmen muß.« »Nichts wäre mir lieber«, sagte Bony und setzte sich wieder an den Tisch. »Eine Tasse starker Tee würde meinen Kater vertreiben. Sehr aufmerksam von Ihnen. Wie gefällt Ihnen eigentlich das Leben als Gattin eines Polizeibeamten?« »Einen anderen möchte ich gar nicht haben«, entgegnete Mrs. Yoti’, indem sie kochendes Wasser in die Kanne goß. »Mein Vater war bei der Polizei, meine beiden Brüder waren dabei, und jetzt ist mein Sohn Polizist.« Der Tee war fertig, der Ofen wurde geöffnet, die Torte kam schön gar heraus. Mrs. Yoti fragte Bony lachend, was passiert sei, als der Hosenknopf absprang. »Mrs. Marlo-Jones schlich im Zimmer herum, hob ihn auf, schlich dann zum Kamin und ließ ihn in eine Schüssel fallen. Wenn Sie bei einer Gesellschaft einen Knopf fänden, würden Sie das genauso machen?« »Nicht, solange meine Gäste da sind. Aber nachher. Gute Knöpfe haben heutzutage ihren Wert. Aber die Professorsfrau ist ganz verrückt nach Knöpfen.« »Wirklich?« Bony schlürfte mit innigem Behagen den heißen Tee. »Die Tochter einer Freundin von mir geht auf die Höhere Schule, wo Mrs. Marlo-Jones eine Stunde in der Woche in Botanik oder so was unterrichtet. Einmal trug sie beim Unterricht ein Kostüm. Als sie ihr Taschentuch aus der Seitentasche ziehen wollte, zog sie ungefähr zwei Dutzend Knöpfe mit ’raus. Alle möglichen Sorten. Die Mädels schrien vor Freude, als sie umherkrochen unddie Knöpfe aufsammelten.« »Und nun hat sie meinen Knopf ihrer Kollektion hinzugefügt. Ich mochte sie nicht bitten, ihn mir wiederzugeben.« »Nein, das konnten Sie auch nicht gut tun«, stimmte ihm Mrs. Yoti zu. »Ich werde Ihnen einen anderen annähen.« 131
»Danke schön. Selbst kann ich das nämlich schlecht. Ja, eine Tasse nehme ich gerne noch. Übrigens : Ist Ihr Sohn groß, größer als sein Vater?« »Größe 1.90 Meter, Brustumfang 117 Zentimeter, Gewicht 89 Kilo. Gegen unseren George ist der Papa ein Zwerg.« »Ich dachte mir das schon ungefähr, weil ich ein Paar Halbschuhe von ihm gesehen habe, Schuhgröße 9, nicht wahr?« »Ja. Er braucht zum Putzen jedesmal fast eine ganze Dose Schuhkrem.« »Sind von ihm noch ein Paar alte Schuhe da? Die würde ich gern einmal entleihen.« »Entleihen !« echote Mrs. Yoti. »Georges Schuhe? Für was denn?« »Nur, um einen falschen ›Eindruck‹ zu machen.« Sie starrte Bony an und begann zu nicken, als begriffe sie so langsam wie ein dressierter Pudel, dem die Leine abgenommen wird. Bony war überzeugt, daß sie noch nicht ganz begriffen hatte, als er das Zimmer verließ, um zu duschen. Aber er hatte die Schuhe Nummer 9 in der Hand und fragte sich, wie einem übergroßen Menschen zumute sein mochte. Nach dem Abendbrot fand er Alice und Essen vor seinem Zimmer auf der Stufe sitzend. Alice sagte, sie fühle sich durchaus wohl, während Essen empört tat, daß die Gewürznelken zu Hause umsonst eingeweicht waren. Er fügte hinzu : »Jedenfalls werde ich mir nach dem nächsten Logenabend welche aufbrühen.« Bony nahm neben ihnen Platz. »In Gedanken war ich mit Mr. Cyril Martin beschäftigt. Was halten Sie von dem Mann, Essen?« »Ich mag ihn nicht, habe aber nichts Besonderes gegen ihn.« »Wie ist sein Familienleben?« »Ich glaube, ganz gut. Seine Frau ist halb invalide, sie geht nie aus dem Hause, dafür er um so mehr.« »Wissen Sie, wie er finanziell steht?« »Nein. Genaues weiß ich nicht. Scheint aber gut dran zu sein, denn er kauft sich alle zwei Jahre einen neuen Wagen.« Bony betrachtete sinnend Alice, die gern seine Gedanken erraten hätte. »Wie denken Sie über Mr. Martin, Alice?« »Ich kenne diese Sorte : Je älter sie werden, um so toller sind sie auf Frauen und haben meistens nur schmutzige Gedanken im Kopf.« 132
»Sie halten ihn also für einen gräßlichen Menschen?« fragte Bony klipp und klar. Essen lachte, worauf Alice ihn vorwurfsvoll ansah und zu Bony sagte : »Eins will ich Ihnen erklären, und zwar im Ernst. Je mehr ich von diesen Herrschaften sehe, einschließlich Mr. Martin, um so mehr werde ich an das erinnert, was Sie über Satanisten und dergleichen sagten. Es liegt hier etwas in der Luft, was mir gegen den Strich geht. Da ziehe ich die Großstadthalunken noch vor, denn die sind sauberer als diese Plonksäufer hier.« »Na, na, Alice«, verwies Bony sie in die Schranken, »wir wollten jetzt nur über Mr. Martin reden.« »Schön, wollen wir«, stimmte Alice rasch zu. »Mir schwebt da etwas vor von dem Mann. Ich komme jetzt nicht darauf, aber das werde ich noch.« »Lassen Sie mich aushelfen«, bat Bony und fuhr fort : »Erinnert er Sie vielleicht an den Mann mit Schuhgröße 8, der ungefähr wie ein Seemann geht?« »Oh …« Alice stierte ihn an. »Ja, das ist es !« »Ich glaube, von allen, die wir in Mitford jetzt kennen, ist ihm der Mord an Mrs. Rockcliff am ehesten zuzutrauen«, sagte Bony träumerisch. »Aber ich muß Sie ernstlich ermahnen, Alice, sich nicht auf ein Terrain zu stürzen, das sogar Bony nur vorsichtig betritt. – Sagten Sie nicht, Essen, daß Martin zwei Kinder hat, einen Jungen und ein Mädchen?« »Stimmt. Der Sohn muß jetzt sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig sein, das Mädchen ein paar Jahre jünger. Der Sohn war früher am Geschäft des Vaters beteiligt, aber vor drei Jahren hat’s da einen mächtigen Krach gegeben, worauf er nach Melbourne verschwand. Auch seine Schwester ging mit.« »Und was war der Grund für den Krach?« »Darüber weiß ich nichts. Mag sein, weil Vater und Sohn genau vom gleichen Kaliber sind und sich deshalb nicht vertrugen.« »Meinen Sie körperlich oder geistig gleich?« »Beides. Der Sohn gleicht haargenau dem Alten. Soviel ich weiß, hat er sich als Grundstücksmakler in Croyden niedergelassen.« »Ich könnte ja diesen Mr. Cyril Martin mal aufs Korn nehmen«, sagte Alice erwartungsvoll. 133
»Habe ich bereits getan, Alice. Am Tage bevor Mrs. Rockcliff das Haus in der Elgin Street mietete, löste Mr. Martin einen Scheck über fünfzig Pfund ein. Das war am 11. Oktober. Nachher reichte er jeden Monat am 11. einen Scheck in gleicher Höhe ein, das heißt, bis zum 11. Januar. Am 11. Februar, also vier Tage nach dem Mord, brachte er keinen Scheck mehr zur Bank. Sie werden sich beide noch erinnern, daß Mrs. Rockcliff ihre Miete und alle Rechnungen stets am 12. des Monats bezahlte.« »Jetzt leuchtet mir verschiedenes ein«, sagte Alice mit strengem Blick. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde scharf. »Ich habe Sie beide ins Vertrauen gezogen, nicht um Ihnen auf die Sprünge zu helfen, sondern um Sie von dem deprimierenden Gedanken zu befreien, daß ich zuviel schliefe. Könnten Sie mir für heute abend ein Fahrrad besorgen, Essen?« »Wir haben hinten im Schuppen eins stehen«, erwiderte der Ober Wachtmeister. »Das ist zu bekannt. Können Sie eins ausleihen?« »Klar. Gleich hier auf unserer Straße ist ja ein Fahrradgeschäft.« »Ist der Fährtensucher noch im Dienst?« »Der Sergeant sagte mir, daß er vor einer Stunde wieder in die Siedlung gegangen ist.« »Dann leihen Sie für mich ein stabiles Fahrrad und stellen Sie es hier in mein Zimmer.« Essen stand auf und wartete noch auf eine Erklärung, wozu das Fahrrad dienen sollte. Er bekam sie. »Ich will Besuchsfahrten machen«, sagte Bony kurz. Es hieß soviel wie ›Schluß jetzt‹. Essen lächelte Alice zu und ging. »Fühlen Sie sich nun besser?« fragte Bony, während er eine Zigarette drehte. »Viel besser, danke. Auch bereit zur weiteren Mitarbeit.« »Die Arbeit wird schon kommen, Alice. Ich fange heute abend an und morgen Sie. Inzwischen begeben Sie sich bitte zur Stadtbibliothek und setzen Sie sich ein paar Stunden mit Zeitschriften still in den Leseraum. Es gilt ja, den Diebstahl der Eingeborenenzeichnung aufzuklären, außerdem muß doch überlegt werden, ob Ihre Zimmerdecken in dem hellblauen Farbton gestrichen werden sollen.« 134
»Zum Kuckuck, was hat denn …?« »Heute nachmittag, als ich mit Professor Marlo-Jones über die Narbenformen bei der Mannesweihe der Worgias sprach, hörte ich jemanden sagen, die Erneuerungsarbeiten, die im vorigen November in der Bibliothek durchgeführt wurden, hätten die mit dem Stadtrat vereinbarten Kosten weit überschritten. Ein anderer Mann sagte, die Arbeiten seien so gut gemacht, daß der Mehrbetrag sich gelohnt habe. Und der erste meinte, die Arbeit hätte nicht so lange zu dauern brauchen, daß die Bibliothek eine ganze Woche für das Publikum geschlossen werden mußte. Ich möchte nun gern wissen, ob die Bibliothek am 29. November geschlossen war.« »Gut, das werde ich feststellen. 29. November. Das war doch der Tag, an dem das Bulfordsche Kind entführt wurde?« »Da liegt die Übereinstimmung, ja«, sagte Bony sanft. Alice ging zur Tür. An der Haltung ihrer Schultern konnte er erkennen, daß sie ärgerlich war. Sie kam zum Schreibtisch zurück und starrte ihn an, während er ihr lächelnd ins Gesicht blickte. »Bin ich Ihr Kamerad oder nur ein Rädchen in Ihrer Maschine?« fragte sie. »Was soll das mit der Zimmerdeckenfarbe in der Bibliothek und dem Baby von Bulford bedeuten? Ach, verflixt – verzeihen Sie mir, Bony.« Sie war schon wieder an der Tür, als er sie zurückrief. »Da Sie kein Rädchen in meiner Maschine sind, Alice, müssen wir eine andere Bezeichnung für Sie wählen. Wir kommen doch prächtig miteinander aus, also wollen wir uns jeder schön auf seine Aufgabe konzentrieren, damit wir gemeinsam den Erfolg erzielen.« Sie nickte, biß sich auf die Lippen und platzte los : »Bin ganz einverstanden, Bony. Aber was haben Sie mit den enorm großen Schuhen vor und mit dem Fahrrad, das Essen herbringt?« »Ich will einen Ameisenhaufen aufstochern, Alice.«
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till und dunkel war die Nacht, der Wind war abgeflaut. Es hat sich stets als gesunde Praxis erwiesen, dem Gegner, wenn es nicht gelingt, ihn gleich aufs Geständnis hinzusteuern, so zu denken zu geben, daß er auf alles kommt, nur nicht auf die Wahrheit, und so in möglichst große Unsicherheit gerät. Nach Bonys Besuch in der Missionssiedlung stand zu erwarten, daß diejenigen, die ihm die giftigen Spinnen ins Bett gelegt, die Zigarettenstummel und einen Knopf gestohlen hatten, weiteres unternehmen würden, sobald sie an den Rand der Verzweiflung gebracht waren. Noch jetzt, um zehn Uhr, beleuchtete die Sonne des verstrichenen Tages schwach die westliche Krümmung der Weltkugel. Der Weg war nur dicht vor Bonys Fahrrad erkennbar, doch vom Ende der festen Straße an konnte selbst er mit seinen scharfen Augen den über die Sandbänke am Fluß entlangführenden Pfad kaum erkennen. Fortwährend kam er vom Weg ab, mußte vom Rad steigen und ihn suchen. So hinterließ er auf dem staubigen Boden die Abdrücke seiner Schuhe, Größe 9. Als er einen alten Eukalyptusbaum dicht am Weg erreichte, befand er sich weniger als hundert Meter vom Seitenpfad zur Siedlung. Er stieg ab, lehnte das Fahrrad an der Rückseite gegen den Baum und setzte sich auf einen abgefallenen Ast, um die großen Schuhe auszuziehen. Er ließ sie neben den Ast fallen, nahm ein paar besonders zugeschnittene Hölzer und befestigte mit starkem Pflaster je eins zwischen dem zweiten und dritten Zeh und zwischen dem dritten und vierten an jedem Fuß. So hinterließ er beim Gehen eine klare Fährte mit drei langen Zehen. Er malte sich aus, wie am nächsten Morgen scharfe Augen vor Schreck größer wurden – mußte nicht diese Fährte von dem gefürchteten Kur136
daitcha mit den gefiederten Füßen gemacht sein? – und wie die Spur bis zu dem Baum verfolgt wurde, an dem der vermeintliche Kurdaitcha wieder die großen Schuhe angezogen und sein Fahrrad bestiegen hatte, um nach Mitford zurückzuradeln. Schlaue Köpfe kamen gewiß darauf, daß hinter dem bösen Geist Kurdaitcha der von weit her gekommene mischblütige Kriminalbeamte steckte. Der Eingeborene setzt, wie sehr er auch zivilisiert sein mag, die Zauberkräfte in Beziehung zu der Entfernung, aus der sie wirken. Wenn also dieser Bonaparte mit dem Blut ihrer Ahnen ein verkappter Kurdaitcha war, dann folgte daraus mit aller Gewißheit, daß jeder Eingeborene sehr auf der Hut sein mußte. Schließlich kam der falsche Kurdaitcha vor Mr. Beamers Haus an, das, zwischen Kirche und Vorratshaus, wie schützend vor der Missionssiedlung lag. Bony sah Mr. Beamer gemütlich unter den Fliegennetzen der Veranda sitzen. Im Haus spielte jemand Klavier. Hinter dem Haus beleuchtete die rote Glut der offenen gemeinsamen Feuer, an denen wahrscheinlich ein paar Männer die von den Weißen stammende Mundharmonika spielten und die Frauen schwatzten, die kleinen Wohnhütten der Eingeborenen. Nur die Hunde mochten vielleicht mißtrauisch werden, aber stören würden sie das Tun eines Fremden erst, wenn ihre Besitzer im Schlaf lagen. Mit einem Stock kratzte Bony einen Kreis, durch den ein zackiger Blitz fuhr, in den Staub. Vor dem Speicher zeichnete er in den Sand ein halbiertes Quadrat und in jede Hälfte ein Dreieck. Mit einer verhüllten Taschenlampe betrat er die Zimmermannswerkstatt, wo er Kreide benutzte, um in eckigen Strichen einen Mann auf ein gegen die Wand gelehntes Brett zu zeichnen. In der Schmiede malte er auf den Amboß ein Rechteck, vor dem ein ebenso primitiv gezeichneter Mann entfloh. Er betrachtete aufmerksam den Arbeitstisch des Uhrmachers und das Innere eines tragbaren Schränkchens. Ein Fach, das verschlossen war, öffnete er mit der Zange und fand darin elf Taschenuhren, die alle ein adrettes kleines Schild mit der Nummer trugen. Oben auf das Schränkchen malte er eine Sonne, die böse auf einen am Boden liegenden Eingeborenen blickte. In einer Schachtel, die dem Federkasten der Schulkinder glich, entdeckte er mehrere 18 Zentimeter lange und 4 Zentimeter breite Streifen aus starkem Zelluloid. 137
Vor der Schule zeichnete er in Strichmanier sechs Kinder in den Sand, ehe er zum Lazarett schlich. Er wußte, daß in diesem aus Holz und Eisenträgern gebauten Haus drei erwachsene Patienten lagen und daß Clark ein gesondertes Abteil auf einer Veranda mit Fliegenschutzwänden hatte. Trotz der späten Stunde war in diesem Raum noch Licht und, zu Bonys Verwunderung, auch ein Besucher : ein verhutzelter Greis, der am Fußende auf dem Krankenbett saß. Sein Gesicht war im Schein der auf dem Nachttisch stehenden Öllampe deutlich zu sehen. Neben der Lampe lagen eine mit Silber beschlagene Tabakspfeife, ein Stück Plattentabak, ein Messer und ein kartonierter Roman. Offensichtlich stellte Mr. Bertrand Clark größere Ansprüche als seine Rassegenossen. Er bemerkte gerade : »Ich sage dir doch, daß ich auf den ganzen Quatsch gar nichts gebe. Ihr könnt mir den Fuß nicht wieder gesund machen und auch den Arm nicht heilen.« Der Alte kicherte trocken und heiser. »Warte nur ab, mein guter Clarky«, sagte er sanft. »Nur abwarten. Die jungen Burschen haben beschafft, was ich wollte, und Fred wird schon tun, was ich ihm auftrage.« Clark langte nach seiner Pfeife und begann sie zu stopfen, der Alte biß ein Stück Kautabak ab. Obwohl beide die schokoladenbraune Haut hatten, waren sie weiter voneinander entfernt als Planeten. Häuptling Wilmot trug seine undurchdringliche Miene wie ein Kleid, das seine Ahnen durch unendliche Zeiten für ihn gewebt hatten. Clark mit seinem nackten Gesicht und seiner Nervosität war das Produkt von einem Dutzend verschiedener Rassen. Er war unruhig, ungeduldig und quälte sich, weil er nur wenig von der Wahrheit wußte. »Ich behaupte ja gar nicht, daß Fred seine Sache nicht versteht«, quengelte er im erhabenen Ton eines stark beschäftigten Vaters, der mit einem begriffsstutzigen Kind spricht, »aber ich wiederhole, was ich allen gesagt habe : daß dieses Gemurmel, Gestöhne und Geheul über Gegenständen, die ein Mensch benutzt hat, ihm in fünf Minuten nicht mal Bauchschmerzen bringt. Einen Knopf aufheben, den einer von der Hose verliert, seine Zigarettenstummel klauen und so was und dann diese Dinge verfluchen, wenn ihr mit dem Knochen auf ihn zeigt, das mag vielleicht helfen, wenn ihr einen ganzen Monat oder länger auf ihn einwirken könnt. 138
Es wird Zeit, daß wir Eingeborenen aufwachen und moderne Mittel anwenden, die rascher wirken, wie zum Beispiel die Verwendung der roten Spinnen. Das war eine gute Idee, und ich wette, sie stammte nicht von dir. Wie ich beim Corroborree in der vorigen Woche sagte : Wir müssen mit dem Gehirn und den Werkzeugen des weißen Mannes kämpfen und müssen lernen, daß wir gar nichts erreichen, wenn wir den ganzen Tag auf unserem Hintern sitzen. Na ja, ihr alten Knaben seid sowieso hoffnungslos. Ich ziehe die Jungen vor, in ihnen liegt noch Hoffnung.« »Der Polizeimann muß die Spinnen gefunden haben«, wagte der alte Wilmot einzuwerfen. »Klar, sonst liefe er wohl nicht mehr herum.« Wilmot nickte merkwürdig zufrieden, und Clark schnaubte zornig, als er merkte, daß alle seine geringschätzigen Worte über das ›Knochenzeigen‹ nicht den geringsten Eindruck gemacht hatten. »Ist der junge Fred hier im Lager?« fragte er. »Kam schon früh zurück und ist zur großen Flußbiegung gegangen. Will versuchen, den alten Kabeljau zu fangen, der sich da ’rumtreiben soll. Muß ein großer Bursche sein, der alte Kabeljau.« »Fred schleicht doch nicht etwa zuviel um die Sarah herum, was?« »Nein.« Der Häuptling, lachte glucksend. »Aber er meuterte schon, daß er’s nicht soll. Meint, das wäre unrecht, da sie erst einen Monat verheiratet sind und er nicht bei ihr sein darf. Ich sagte ihm, daß es Befehl ist, und er ging wütend weg.« »Na, er darf jedenfalls nicht hier im Lager sein«, betonte Clark noch einmal. »Lange ist das ja nicht nötig, bis wir dann mit der Sache klar sind. Ach, dieses elende kaputte Bein ! Wird Zeit, daß ich die Kerle treffe, die mir das angetan haben. Die haue ich ins Krankenhaus !« »Mußt du auch, mußt du wahrhaftig«, bekräftigte der Alte. »Weißt du, wann du hier ’rauskommst?« »Nein. Doktor Delph sagt, je mehr ich auf dem Bein ’rumkrebse, desto länger muß ich hierbleiben, und mir wird’s schnell bessergehen, wenn du öfter zu mir kommst. Sag auch Fred, daß er mich besuchen soll. Aus dem kann ich mehr ’rauskriegen.« Bony entfernte sich, als eine riesige Eingeborenenfrau mit weißer Schürze und weißem Leinentuch plötzlich am Bett erschien und den 139
alten Mann ausschalt, weil er so spät noch da war. Vor der Verandatür zeichnete Bony noch einen besonders gräßlichen Teufel. Als er wieder bei dem Baum ankam, wo sein Rad stand, löste er die Stöcke von seinen Zehen und zog die Schuhe Größe 9 wieder an. Von dort aus schob er das Fahrrad den ganzen Weg bis zur festen Straße, zufrieden, mit seinen Possen einen großen Trubel angestiftet zu haben, der schon früh morgens beginnen mußte. Als er in Mitford eintraf, strömten die Besucher aus den beiden Kinos. Jünglinge, auf ihren Motorrädern am Bürgersteig hockend, glotzten die vorbeigehenden Mädchen an, während andere junge Männer ihre Begleiterinnen in die Milchbars führten. Keiner achtete auf den schäbig aussehenden Mann, der in den Hof am Polizeigebäude einschwenkte – außer Alice McGorr und Mrs. Yoti, die eben durch die Hintertür ins Haus treten wollten. »Aha !« rief Bony. »Was habt ihr beide denn heute abend ausgerichtet?« »Haben unsere Freizeit genossen«, erwiderte die Frau des Sergeanten. »Wir wollten gerade einen Topf Kaffee kochen und belegte Brote machen, ehe Alice nach Hause geht. Würden Sie meinen Mann und Mr. Essen holen? Ich denke, sie sind beide im Dienstzimmer.« Bony fand den Oberwachtmeister bei Yoti. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine Flasche Bier. Als Bony über den nackten Fußboden bolzte, bemerkte Essen seine Schuhe und starrte verwundert auf die ausgebeulten Hosen und das schweißfeuchte schwarze Hemd. »Waren Sie zum Ball?« fragte er kurz. Bony ließ sich in einen Sessel gleiten. »Ich habe meine künstlerischen Talente walten lassen, Essen. Etwas Neues?« »Nichts«, antwortete Essen, indem er Bony ein Glas Bier vorsetzte. Der trank es mit Genuß, dann zog er aus der Hosentasche ein gefaltetes Stück Papier. »Betrachten Sie diesen Metallstaub und geben Sie Ihre Meinung zum besten«, sagte er, während er sich selbst noch einmal einschenkte. Indes die beiden Beamten sich über das Papier beugten, auf dem die helle Lampe den mit gröberen Spänen gemischten feinen Metallstaub bestrahlte, drehte er sich eine Zigarette und begann zu rauchen. Er streifte die Schuhe des Sergeantensohnes von den müden Füßen, wobei er die Schnürsenkel gar nicht zu lösen brauchte. 140
Endlich sagte Essen : »Für Gold zu leicht, und Kupfer ist es auch nicht.« »Feilspäne, wie’s scheint«, meinte Yoti. »Feilspäne, klar«, bestätigte Essen und fragte Bony : »Sie wissen die Erklärung, ja?« »Ich halte es für Feilspäne von Schlüsseln.« »Ja, richtig !« rief Essen, holte einen Bund Schlüssel aus der Tasche, nahm einen vom Ring und legte ihn auf den Metallstaub. »Ich wette meinen Posten gegen ein abgebranntes Streichholz, daß Sie recht haben.« »Ihre Entschiedenheit freut mich«, murmelte Bony und legte auf den Tisch etwas, das nicht zu verkennen war. »Vielleicht beurteilen Sie dies ebenso entschieden?« Yoti sagte sofort : »Gebrannter Gips ! Sieh mal an, mit dem Teilabdruck von einem Schlüssel. Einem Schlüssel für ein Sicherheitsschloß.« »Ich konnte die übrigen Stücke nicht finden, um den Eindruck zu vervollständigen«, sagte Bony, »sonst hätten wir uns einen Schlüssel angefertigt und ihn am Schloß von Mrs. Rockcliffs Haustür probiert oder an der Tür der ›Olympic-Bank‹.« Essen setzte sich wieder. Yoti blickte Bony an – lag Mißtrauen in seinem Blick oder Hoffnung? – und fragte : »Machen Sie Spaß?« Und als Bony ihm einen Streifen Zelluloid reichte : »Haben Sie das am selben Ort gefunden wie den Gips und die Feilspäne?« »In einer Schmiede, keine zehn Kilometer von hier.« Bony lächelte. Er wurde weiterer Aufklärung enthoben durch Alice, die hereinkam und sie bat, gefälligst zum Abendbrot zu kommen, denn es gäbe auch Leute, die mal schlafen gehen möchten. Als wohlerzogene Ehemänner standen sie auf und folgten ihr ohne Widerrede. Bony ging zunächst in die Waschküche, stellte die großen Schuhe ab und zog seine eigenen wieder an, bevor er ins Haus trat, wo in der Küche angerichtet war. Alice vermied, ihm ins Gesicht zu sehen. Keine Bemerkung fiel über seine alten wollenen Hosen oder das schwarze Hemd, denn die gehörten zu Bonys Requisiten. Alice mußte, während sie ein Sandwich kaute, lebhaft an ihren verstorbenen Vater denken, der jedesmal, wenn er sich zum Geldschrankknacken auf den Weg machte, genauso gekleidet war wie Bony : dunkles Zeug, ohne das geringste bißchen Weiß. 141
Als sie nachher über den dunklen Hof zu Essens Wagen gingen, da der Oberwachtmeister sie nach Hause bringen wollte, ehe er seine Runde bei den Sicherheitsposten machte, fand Alice Bony an ihrer Seite. »Waren Sie in der Bibliothek?« fragte er sie leise. »Selbstverständlich. Der Bibliothekar sagte, das ganze Gebäude sei für das Publikum am 26., 27., 28., 29. und 30. November geschlossen gewesen, solange die Innendekoration dauerte.« »So, so. Das, Alice, nenne ich gutes Teamwork.«
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m nächsten Morgen brachte Bony das Fahrrad in den Laden zurück und sorgte dafür, daß in der Nähe des Polizeigebäudes keine Reifenspuren blieben, die der Fährtensucher Wilmot vielleicht bemerkt hätte. Da noch nicht Frühstücksstunde war, schlenderte er die Hauptstraße hinunter und bog in einen Nebenweg zum Fluß ab. Hier hatte das Flußufer einen vom städtischen Gartenbauamt gepflegten Graswuchs, und die Straße verlief vor den Villen der ›oberen Hundert‹ ganz gerade und flach von West nach Ost. Es war schon zu spüren, daß der Tag große Hitze brachte, aber für einen Sturm, der sich in Mitford so unangenehm auswirkte, gab es keine Anzeichen. Der leichte Wind kam aus Norden. Er flüsterte Bony die Geheimnisse von Millionen Jahren zu, Legenden des Schreckens und der Liebe, und Geschichten von jenen Wesen, die dem schwarzen Menschen ein Paradies für sein Leben eingerichtet hatten und dann ihn und sein Paradies vergaßen. Die wunderbaren Himmelsfarben in diesem Paradies verblaßten, wenn die Hitze alle Feuchtigkeit aufsog und die Stürme ausbrachen, um alles Lebende unter heißem, scharfkantigen Sand zu versengen und in der Sonnenglut zu schmoren. Die Menschen wurden gezwungen, nachzudenken, wenn sie nicht umkommen wollten, und das taten sie, 142
indem sie zweierlei streng durchführten : Geburtenkontrolle und Ausmerzung der Lebensuntüchtigen. Somit wurden die Auserwählten am Leben erhalten, und sie blieben den Schöpfern des Paradieses treu, indem sie von Geschlecht zu Geschlecht ihre Entwicklungsgeschichte weitergaben, durch Erzählung, durch Tänze und die Bilder auf Höhlengestein. Und bis zur Ankunft der weißen Fremden herrschte im Lande Fröhlichkeit und Ordnung. Der erste weiße Mann, der den Fuß auf australischen Boden setzte, brachte die Schlange aus dem Garten Eden mit, und dann herrschten im Land nicht mehr Gesetz und Gelächter – es gab nur noch die allmählich fortschreitende Aufteilung der immer mehr einschrumpfenden Reste einer Rasse, eine Zersplitterung in Reservationen und Siedlungen. Typisch wurde alsdann die von den christlichen Kirchen betreute Eingeborenensiedlung, überwacht durch einen ihrer Vertreter. Die Kirche wollte, wenn das auch nur in geringem Maße noch möglich war, das von der Schlange angerichtete Böse wieder gutmachen. Der Ehrgeiz ihrer Vertreter richtete sich auf das Ziel, dem Ureinwohner seine überlieferten Bräuche und seine Selbstachtung wiederzugeben. Konnte diese Absicht verwirklicht, werden, indem man die alten Sitten nur soweit erlaubte, als sie den Gesetzen der Weißen nicht widersprachen, wenn schon der Einfluß des weißen Mannes es dahin gebracht hatte, daß der dunkelhäutige Mitmensch in einem geistigen Urzustand vegetierte? Hier und da machten sich an der Oberfläche des breiten, gemächlich dahinziehenden Flusses die Strudel bemerkbar, als lächle er Bony an, indem er sein Wasser langsam runzelte, wie ein Baby seine Grübchen zeigt. Bei dem Vergleich mußte Bony lächeln, obwohl ihm das Herz schwer war von düsteren Ahnungen, was er wohl aufdecken mochte. Er machte kehrt und ging denselben Weg zurück. Am Polizeigebäude angekommen, spürte er gleich den angenehmen Bratgeruch von Speck und den Duft von gutem, starkem Kaffee. Yoti kam verspätet nach Hause und zog sich eine sanfte Rüge seiner Gattin zu. »Entschuldige«, sagte er. »In der Siedlung war allerlei los, ich mußte dauernd am Telefon hängen. Wissen Sie was von der Geschichte, Bony?« »Ich bin tagelang an keinem Telefon gewesen, Sergeant.« 143
»Aber Sie können gut über Knüppeldämme hopsen, nicht wahr?« »Besser als über sie stolpern. Was ist denn geschehen?« »Pater Beamer hat angerufen. Ein Kurdaitcha soll vorige Nacht die Siedlung heimgesucht haben. Nach den Angaben der Schwarzen ist dieses Monstrum sechs Meter groß, hat zwei gewaltige Adlerfüße, macht Schritte von fünfzig Meter Länge und kritzelt überall, wo es hinkommt, Nullen und Kreuze. – Ich nehme an, Sie haben die Metallspäne und den gebrannten Gips aus der Schmiede dort draußen?« »Wäre möglich. – Über was hatte Mr. Beamer sonst noch zu klagen?« »Er sagte, die Eingeborenen schienen zu glauben, daß der Kurdaitcha hier in Mitford lebt. Er soll sich auf einem Fahrrad fortbewegen und zwängt seine Füße in Schuhnummer 9. Mr. Beamer bat mich, hinzukommen und mir die in den Erdboden gekratzten Zeichen des Bösen anzusehen, auch die auf Arbeitstische, Wände, Ambosse und so weiter gekritzelten – und natürlich die entsetzlichen Fußspuren.« »Schöner Tag für so einen Ausflug, Sergeant. Ich bin überzeugt, daß Ihre Gattin gern mitfahren würde. Sie hat mir erst gestern anvertraut, daß sie nur selten mit Ihnen zusammen aus dem Hause kommt.« Yoti knurrte, er habe genug andere Arbeit, zum Donnerwetter, und keine Zeit, einem albernen Kurdaitchagespenst nachzuschnüffeln. »Da werde ich wohl Robins hinschicken müssen, obgleich der mit Essen die ganze Nacht im Dienst war«, sagte er. »Geht nicht. Ich will mir Robins’ Wagen für den Nachmittag ausleihen. Hat Mr. Beamer noch weitere Sorgen?« »Ja. Die meisten Eingeborenen packen ihre Habe zusammen und wollen fort. Sie haben Angst gekriegt. Sogar Clark schreit, daß er fort will, und brüllt immerzu nach Krücken. – Warum haben Sie das eigentlich angezettelt?« »Bloß, um zu beobachten, was daraus entsteht«, erwiderte Bony lachend. »Und natürlich auch, um davon abzulenken, daß ich den Arbeitsplatz des Uhrmachers untersucht habe.« »Und warum das? Das hätten Sie doch auch bei Tage tun können.« »Wer mit gerissenen Leuten zu tun hat, muß selbst gerissen vorgehen.« Bony, der noch Tee wünschte, reichte seine Tasse Mrs. Yoti, die über den Ton ihres Mannes nicht erbaut war. »Es ist doch so, Sergeant : Wenn wir einen Mord aufklären wollen, können wir nicht einfach an den Tatort stürzen, überall herumtrampeln, alle Menschen anschreien 144
und das ganze wissenschaftliche Rüstzeug zur Anwendung bringen, um etwas zu erreichen. Den Ermordeten berührt es ja nicht, was getan oder unterlassen wird. Ich bin nach Mitford gekommen, um zu ermitteln, was mit einer Reihe von Kindern geschehen ist, und muß, solange sich nicht das Gegenteil herausstellt, hoffen, daß ich die Kinder lebend rette. Die Anwendung von Methoden nach dem Muster des Morddezernats auf die Entführung dieser Kinder würde nach meiner Überzeugung diese Hoffnung automatisch und gründlich zerstören.« »Und Sie meinen, daß die Eingeborenen an dieser Babyklauerei beteiligt sind?« fragte Yoti, indem er Bony fast wütend ansah. Seine Frau, die am Herd die Kaffeekanne neu füllte, schien erstaunt aufzuhorchen. »Ja, möglicherweise sind sie an der ›Babyklauerei‹ beteiligt. Ebensogut ist es möglich, daß Sie selbst beteiligt sind, oder Mrs. Essen oder Doktor Nott oder Sie alle zusammen. Hauptziel ist : die Kinder wiederzufinden.« »Ich muß Ihnen beipflichten, Inspektor Bonaparte«, warf Yotis Frau ein. Der Sergeant widmete sich weiter mit stoischer Miene seinem Frühstück. »Mr. Beamer kann besänftigt werden«, sagte Bony nach kurzer Gesprächspause. »Erklären Sie ihm, die Eingeborenen würden, wenn ein weißer Mann die Figuren gezeichnet hätte, das bestimmt wissen und nicht in Panikstimmung geraten. Vermutlich habe einer ihrer Medizinmänner sich einen Streich erlaubt. Bitten Sie Beamer, daß er uns meldet, ob Clark mit fortwandert, und daß er nachher feststellt, wie viele Eingeborene im Lager bleiben und welche. Ferner wüßte ich gerne, ob sie alle gemeinsam das Lager verlassen oder in Gruppen und, welchen Weg beziehungsweise welche Wege sie eingeschlagen haben.« »All right, das wird Beamer beruhigen.« »Gewiß«, murmelte Bony. »Keine Situation ist so verzwickt, daß ihr nicht mit Diplomatie begegnet werden kann.« »Mit Rechtsverdrehung, meinen Sie.« »Die Bedeutung beider Worte ist gleich. – Ich vermute, Sie sind mit der Umgebung von Mitford genau vertraut?« »Das müßte ich wohl sein.« 145
»Wissen Sie zum Beispiel, ob es in dreißig Kilometer Umkreis von der Stadt eine ganz besonders auffallende geologische Erscheinung gibt, eine Stelle, die des ›Teufels Marmelspiel‹ genannt wird, weil dort Felsblöcke sehr bedenklich auf anderen Felsblöcken balancieren?« »Es gibt diese Teufelsmarmeln nicht weit vom Weg nach Ivanhoe, vom Fluß aus gerechnet zwanzig Kilometer. Bei Tage sind sie gar nicht zu verfehlen«, antwortete Yoti erwartungsvoll. »Es sind dort mehrere tiefe Höhlen an der Klippenwand, wo früher der Fluß eine scharfe Biegung machte. Nehmen Sie den Weg nach Wentworth. Auf der Farm Nooroo können Sie dann erfahren, wie Sie am besten hinkommen.« »Hm … Nun wollen wir uns mal von der Geologie zur Baumkunde wenden. Gibt es stromabwärts oder stromauf einen besonders großen oder besonders alten Eukalyptusbaum?« »Keinen, der sonderlich auffallen würde.« »Gibt es draußen in der roten Erde einen Baum von merkwürdiger Form oder mehrere?« »Ja, allerdings. Ungefähr 15 Kilometer von Mitford ist der Weg zur Wavering Farm abschüssig und führt in eine etwa drei Kilometer breite Senke. Da steht in der Mitte ein einzelner Roteukalyptus. Er ist stark versengt von Grasbränd.en und vom Blitz gespalten, hält aber immer noch stand.« »Scheint mir von Bedeutung. Fällt Ihnen noch mehr ein?« »N-nein. Aber ich wüßte gern, was Sie im Sinn haben.« Bony schob seinen Sessel zurück und erhob sich. Indem er den Sergeanten und seine Frau ansah, sagte er leise : »Träume.« Er ging hinaus, die beiden tauschten stumme Blicke, der Sergeant stand vom Tisch auf und verließ ohne ein Wort den Raum. Um 9 Uhr 40 betrat Bony die Bibliothek, wo er die in großem Maßstab gehaltene Karte des Bezirks studierte. Im Geist vermerkte er die Lage der ›Marmeln‹, den Standort des einsamen Baumes, die Lage der Höhlen im früheren Flußufer und schätzte die Entfernung von Mitford aus. Nach einer Weile spürte er den Bibliothekar neben sich. »Guten Morgen, Inspektor«, sagte Mr. Oats, »ich habe unsere Akten wegen der Felszeichnung mal durchgesehen und festgestellt, daß das Stück der Bibliothek geschenkt wurde – das heißt : der früheren Bibliothek – von einem gewissen Silas Roddy, im Jahre 1888.« »Nett von Ihnen, daß Sie sich so bemüht haben.« 146
»Aber ich bitte Sie –, ich bin Ihnen sehr gern gefällig. Allerdings habe ich in den Papieren keinen Hinweis auf den Sinn der Zeichnung gefunden. Immerhin ist da zu lesen, daß Mr. Roddy das Exemplar mitgebracht hat, als er von einer Reise in den höchsten Norden von Australien zurückkam, wo er Weideland suchte. Anscheinend hat er noch mehr Reliquien von Ureinwohnern mitgebracht, denn dieses Steingemälde ist in einer Liste notiert, auf der steinerne und hölzerne Churingas, uralte Zauberbeutel, Regensteine und Zeigeknochen erwähnt sind.« »Sind die Regensteine und Zeigeknochen noch hier im Hause?« »Aber ja. Hm – haben Sie Grund zu der Hoffnung, daß die Felszeichnung gefunden und uns wiedergegeben wird?« »Ja. Ich darf hoffen, daß ich sie selbst zurückgeben oder zurückbringen lassen kann. Seltsam, daß niemand zu wissen scheint, was sie darstellt. Ich habe neulich mal mit Professor Marlo-Jones gesprochen, der mir sagte, er habe noch nirgends dergleichen gesehen.« »Zu erklären wäre es nur als Abbildung eines Ureinwohners, der Regensteine fallen läßt.« »Ja, der Ansicht war der Professor auch. Er meinte ferner, die Zeichnung habe schließlich nur Wert für einen ganz fanatischen Sammler von Kunstgegenständen der Ureinwohner. Dabei war sie nicht einmal gut, gar nicht zu vergleichen mit der im Museum von Adelaide.« »Aber für Mitford ist sie wertvoll.« »Selbstverständlich«, bestätigte Bony. »Ich bin auch überzeugt, daß Sie eines Tages wieder in Ihrem Leseraum stehen wird. Sind die von Mrs. Rockcliff entliehenen Bücher zurückgebracht worden?« »Ja. Besten Dank auch noch, Inspektor.« Bony empfahl sich und schritt nachdenklich durch die Hauptstraße. Die Straßenreiniger waren soeben mit dem Spülen des Fahrdamms fertig und verschraubten den Hydranten am Bürgersteig. Silbern blinkten die Sonnenstrahlen in den Pfützen und den Spritzern, die auf den Fußweg gefallen waren. Zwei Sperlinge badeten in einer Wasserlache, die Tropfen umsprühten sie wie Silber und Gold. Eine Frau, die gerade durch eine nasse Stelle ging, hinterließ ihre Schuhspur, die auf dem trockenen Beton schnell verdampfte. Und neben ihrer Spur war deutlich die eines Mannes zu sehen, von Schuhen Größe 8 mit vorn an der Außenkante abgelaufenen Sohlen. 147
Zwei Schuhspuren also, die eine fast schon verschwunden, die andere vollkommen klar. Aber da waren noch mehr da und weitere kamen hinzu, auch die Fährte eines Hundes. Bony fesselten nur die beiden zuerst genannten. Also hielt sich der Mörder von Mrs. Rockcliff noch in Mitford auf. Vielleicht war er kaum hundert Meter vor ihm hier vorbeigegangen … Bony beeilte sich, er lief fast, um die nächste nasse Stelle zu suchen. Beim nächsten Hydranten war der Bürgersteig nur einen Fußbreit vom Wasser überspült und keine Spur von den Schuhen des Mörders zu sehen. Bony kam am Büro von Martin & Martin vorbei, an Madame Clares Modengeschäft und an der ›Olympic Bank‹ vorbei, aber auch die beiden nächsten Hydranten hatten nichts zu seinen Gunsten ausgerichtet, und als er die Straße wieder zurückging, hatte die Sonne alles getrocknet. Im tiefen Schatten stehend, betrachtete er vor einem Schaufenster die ausgestellten Bücher, das heißt, er nahm nur den Wirrwarr der bunten Umschläge wahr. Er trocknete sich das Gesicht mit dem Taschentuch und hatte im Geist nur den nassen Schuhabdruck vor Augen, der bis ins kleinste den Fährten entsprach, die er auf dem Linoleum im Haus Elgin Street Nr. 5 entdeckt hatte. Spuren von einem Mann, der größer war als er, größere Schritte machte und auf den Fußballen ging wie ein Betrunkener oder ein Seemann auf kurzem Landurlaub. Aber zum Betrunkensein war es jetzt eigentlich nicht die rechte Tageszeit, und der Seemann hätte inzwischen längst ›Landbeine‹ bekommen müssen. Ein Mann jedenfalls mußte es sein, der so ging, als habe er Sorge, nicht rechtzeitig ans Ziel zu kommen. Bony betrat das Kontor der Maklerfirma Martin & Martin. Der Kommis im vorderen Büro lauschte den Klagen einer Frau über den Zustand des Lattenzaunes vor ihrem Haus, der nahe daran war, auf den Bürgersteig zu fallen, während der Hauswirt nach ihren Angaben schon vor Monaten versprochen hatte, ihn reparieren zu lassen. Die Frau wußte ganz entschieden, was sie wollte, denn der sonst etwas hochnäsige junge Mann schmolz förmlich zusammen. Die Tür zum inneren Büro war geschlossen. Gemurmel von innen drang heraus, ein Beweis, daß Mr. Cyril Martin da war. Er war größer als Bony und ging wie ein Mann, der Sorgen hat, zu spät ans Ziel zu 148
kommen. Mochte sein, daß er erst vor fünf Minuten zurückgekommen war und die nasse Stelle auf dem Bürgersteig passiert hatte … Die Tür ging auf, eine Männerstimme sagte : »Na ja, so ist’s eben und wird auch so bleiben.« Er kam heraus, den Hut auf dem Kopf. In seinen braunen Augen funkelte Zorn. Er schloß die Tür mit unnötiger Wucht und trat gegen die Fußmatte, als er auf die Außentür zuging. Er war größer als Bony. Bony folgte ihm auf die Straße und beobachtete ihn im Gehen. Mr. Cyril Martin hätte nie abstreiten können, daß das sein Sohn war. Abgesehen von den Falten, die der Vater im Gesicht hatte, wären sie für Zwillinge gehalten worden. Es blieb abzuwarten, weshalb Martin junior bei seinem Vater gewesen war. Bony schlenderte zur ›Olympic Bank‹ und wurde sofort bei Mr. Bulford vorgelassen, der hinter seinem Schreibtisch stand, ihn nervös begrüßte und ihn bat, Platz zu nehmen. »Puh, ist das heiß heute morgen«, sagte Bony, indem er sich wieder mit dem seidenen Tuch die Stirn abwischte. »In dieser Jahreszeit nicht anders zu erwarten, Inspektor.« Der Direktor hatte einen wachsamen, fast zu wachsamen Blick. In seiner Stimme schwang die Spannung, die auch seinen Händen anzumerken war. Bony steckte das Tüchlein in die Brusttasche zurück und holte aus der Seitentasche seinen Tabakbeutel und Zigarettenpapier. Er blickte erst Mr. Bulford an, dann sah er auf seine Finger, die an der Zigarette formten. Bulford schwieg. Er nahm eine Zigarette aus einem silbernen Kästchen und zündete sie an. »Ihr Kind wurde am 29. November entführt, nicht wahr, Mr. Bulford?« »Ja, das Datum stimmt, Inspektor.« »Vom 26. bis 30. November war die Stadtbibliothek wegen Bauarbeiten für das Publikum geschlossen.« Schweigen herrschte im Direktionszimmer. Aus dem Bankraum klang schwach das Klimpern von Hartgeld und tönten gedämpft die Stimmen herein. Bony zog an seiner Zigarette, blies langsam den Rauch aus und blickte durch die Wolke auf den hinter dem Schreibtisch sitzenden Mann. Mr. Bulford drückte seine halbgerauchte Zigarette aus und nahm dann seine Hände unter die Tischkante. »Hatte ganz vergessen, daß die Bibliothek an dem Tag geschlossen war.« 149
Bony wartete. Mr. Bulford wartete. Keiner sprach, bis Bony sich vorbeugte und den Rest seiner Zigarette im Aschenbecher ausdrückte. »Erstens haben Sie, Mr. Bulford«, begann er wieder, »hier gearbeitet, als das Kind entführt wurde. Zweitens, Mr. Bulford, haben Sie kurz nach Ihrer Frau das Haus verlassen und haben sich mit Mrs. Rockcliff in der Bibliothek getroffen. Drittens – können Sie mir als Punkt drei erklären, was Sie am Nachmittag des 29. November zwischen 4.30 Uhr und 5.30 Uhr getan haben?« »Ja, das kann ich, Inspektor«, sagte Bulford leise. Im Licht des Fensters wurden die Schweißtropfen auf seiner Stirn sichtbar. »Was ich früher zu der Frage gesagt habe, stimmt.« Langsam schüttelte Bony den Kopf. »Tut mir leid, aber das genügt nicht, Mr. Bulford.« »Nein, das kann ich mir denken.« »Vielleicht möchten Sie doch gern jetzt die Wahrheit sagen?« »Vielleicht wissen Sie die Wahrheit, Inspektor.« »Nein.« Wieder trat Schweigen ein, das noch intensiver wirkte durch die Geräusche außerhalb der vier Wände. »Wenn ich gebeten werde, ein Verbrechen, zu untersuchen, Mr. Bulford, dann wird die Aufdeckung gleichsam zur eiskalten Rutschbahn, an deren unterem Ende unweigerlich die Wahrheit liegt. Weshalb zögern Sie also? Würden Sie auch das Einnehmen von Rizinusöl hinausschieben, wenn es für Sie nötig ist?« Bony stand auf und strich sein tadellos gebügeltes Seidenjackett glatt. Er blickte unter leicht erhobenen Augenbrauen auf Mr. Bulford hinunter. Der Direktor brachte, seine Hände zum Vorschein und stierte sie an, als könnten sie ihm helfen. Bony wartete. Plötzlich blickte Mr. Bulford zu ihm auf und schüttelte langsam den Kopf. Bony zuckte resigniert die Achseln, drehte sich um und ging hinaus.
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A
ls Alice McGorr neben Bony in dem schnittigen Sportwagen saß, nahm sie sich vor, recht folgsam zu sein und – falls dieses Fahren eine der Methoden war, mit denen Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte seine Verbrecher jagte, ihre eigenen völlig zu vergessen. Der niedrig gebaute Wagen, ein Zweisitzer mit langer Motorhaube, war rot lackiert. Das Segeltuchverdeck war zurückgeklappt, die Sonne brannte hinein, der Wind, der in Stößen um die Schutzscheibe fuhr, war heiß und doch erstaunlich belebend. Alice kam sich vor wie ein Backfisch mit dem ersten Freund und hätte am liebsten ihr Haar offen wehen lassen. Sobald sie aus dem Gürtel fruchtbaren Grünlands heraus waren und die ersten glatten Sandflächen am Fluß passiert hatten, wurde die Welt ringsum noch heller, und alles sah erstaunlich klar und plastisch aus. Alice blickte zu der einzigen Wolke empor, die über den sonst rein blauen, gleichsam blank gewaschenen Himmel zog. Sie sah sich unerwartet und jäh in eine ungewohnte Umwelt versetzt, zu der sie sich hingezogen fühlte. Der Weg war nur ein Pfad, der sich gleichsam träge um einzelne Gruppen von Akazien und Buchsbaumhaine wand, um dann schnurgerade über die mit Blaubusch bewachsenen sandigen Strecken zu laufen, immer weitergelockt von dem fernen, im Sonnenglast tanzenden Horizont. Schafe lagen gemütlich im Schatten der Salzsträucher, Kaninchen schlüpften zwischen dem kniehohen Grün in ihren Bau. In der Ferne sah Alice unter Bäumen Pferde, klein wie aus der Spielzeugschachtel, und auf einer Ebene von Braungras weideten scheckige Kühe. Känguruhs blieben stehen und blickten den Wagen neugierig an, drei Emus trotteten wie im Tanz über eine Fläche von rotem Sand. 151
Sie vergaß die stechende Sonne. Die Fliegen waren weit hinter dem Wagen zurückgeblieben wie kleine Jungen, die sich anhängen wollten und vom Kutscher mit der Peitsche vertrieben wurden. Und diese Alice McGorr, aufgewachsen in einem dichtbewohnten Armenviertel der Großstadt, wo sie umgeben gewesen war von Verbrechern und Laster, hatte das Gefühl, schnell in eine Fata Morgana, weitab von ihrem Alltagsleben, in eine echte Heimat getragen zu werden, von der sie jahrhundertelang ferngehalten worden war. Einige Krähen suchten dem Wagen im Tiefflug zu folgen, ihr KrahKrah klang, als verspotteten ungezogene Kinder ein Liebespaar. Kaum glaublich erschien ihr jetzt, daß sie die Oberwachtmeisterin Alice McGorr sein sollte, und ganz unmöglich, daß ihr Begleiter ein Inspektor von der Kriminalpolizei von Queensland war. Pechschwarze Kakadus, auf der Unterseite scharlachrot, kreischten empört über diese unwirkliche Wirklichkeit, ein Schwarm grauer Galahs mit rosaroter Brust stimmte in ihr Geschrei ein. In das Schlummerlied, mit dem der surrende Motor und die im Sand singenden Reifen Alice einlullten, wehte die Stimme ihres Begleiters, und in den wenigen Sekunden, bevor sie ihn anblickte, spürte sie, daß es Willenskraft verlangte, den Bann der Verzauberung zu durchbrechen. »Haben Sie sich gemerkt, wann wir Neumond haben?« Sie hob den Blick von den schlanken dunklen Händen am Lenkrad und betrachtete lange das Profil seines Gesichts. Es kam ihr vor, als stehe die Zeit still, während sie das energische Kinn, die gerade Nase, die hohe Stirn und das glatte schwarze Haar studierte, das auch ein Sturm nicht kräuseln konnte. »Das muß heute sein«, antwortete sie. »Heute? Es hat einmal jemand über den Mond gesagt : ›Der jungfräulich reine Mond in seinem blauen Gewand.‹ Und ich glaube, es war Shakespeare, der schrieb : ›Der Mond, gleich einem silbernen Bogen, im Himmel neu gespannte Vermitteln diese Gedanken Ihnen ein Bild?« »Kein klares«, erwiderte sie, »ich bin ja nicht gebildet wie Sie.« »Ein mythisches Problem, Alice. Die Zitate kamen mir so in den Sinn, weil sie eine Theorie stützen. ›… gleich einem silbernen Bogen, im Himmel neu gespannt‹, ›Ein jungfräulich reiner Mond in seinem 152
blauen Gewand.‹ Ein unschuldiges Wesen und ein Bogen – der Bogen Amors.« Nach einer halben Minute des Schweigens sagte Alice : »Da komme ich nicht mit.« »Ich hatte den Gedanken, daß die Tage, an denen die Babys entführt wurden, absichtlich im Zusammenhang mit dieser Mondphase gewählt sein könnten.« »Infolge von Mondsucht oder heimlich bei Mondschein gebranntem Schnaps?« »Ich suchte nach der möglichen Deutung«, sagte Bony tadelnd. Warum gerade der Neumond, wenn die Theorie stimmt, für die Entführer entscheidend gewesen sein mag, muß ich noch ermitteln. Der Neumond kommt heute. Wir werden ihn gleich nach Sonnenuntergang sehen können.« Auf einem Flecken büscheliger Gräser, die eine Erhöhung verdeckten, erschienen vier Emus. Sie liefen stumpfsinnig neben dem Wagen her, dann eilten, sie mit gesenkten Köpfen quer über den Weg, ihre Schwanzfedern wippten auf und nieder, die gespreizten Füße an den langen Beinen warfen kleine Staubwolken auf. Kurz nachdem die Vögel, die niemals fliegen, aber fünfundsechzig Kilometer in der Stunde laufen können, in der Ferne durch die Farbe des Erdbodens verdeckt waren, hielt Bony den Wagen an und spähte durch einen Feldstecher in der Fahrtrichtung zum Horizont. »Etwa zwei Meilen von hier befinden sich die sogenannten Teufelsmarmeln«, sagte er. »Weit im Nordwesten zeigt mir eine Staubwolke eine Herde Schafe auf dem Wege zu ihrer Wasserstelle. Rauch ist nicht zu sehen, überhaupt nichts, was auf die Anwesenheit von Eingeborenen, deutet. Also hat Pater Beamer recht mit seiner Behauptung, daß seine Schwarzen nach Osten gezogen sind, flußaufwärts.« Bald erschienen die ›Teufelsmarmeln‹ im Landschaftsbild, wie eine Figur sich beim Entwickeln von Filmen abhebt. Dann schien es, als sprängen sie unter dem Druck vulkanischer Gewalten über den Rand der Welt hervor. Alice wunderte sich, weshalb Bony an diesen großen braunen Felsblöcken vorbeifuhr, die ein ebenso merkwürdiges Naturschauspiel bilden wie die berühmten Felsen von Stonehenge in England. 153
Bony bremste, stand wieder auf und studierte die Landschaft ; »Wir müssen zu Fuß weiter«, sagte er. »Nur einen Kilometer. Sie dürfen aber, wenn Sie wollen, auch im Wagen bleiben. Ich könnte bis ganz an die Felsen fahren, doch, die Reifenspuren würden auffallen, wenn der Neumond sein blaues Gewand trägt.« »Ich werde schon viel zu sehr ausgeschaltet«, protestierte Alice und stieg fast überstürzt aus. Dann mußte sie sich wundern, warum er nicht direkt auf die Felsengruppe losging, sondern im Winkel, und zwar so, daß er über eine ganze Kette betonharter Lehmflächen schreiten konnte. Und als sie einmal zum Wagen zurückschaute, konnte sie sich einbilden, sie seien Weltraumwanderer beim Erforschen eines anderen Planeten, auf alles Mögliche gefaßt. Riesige glatte Felsblöcke von braunem Granit trugen andere Blöcke gewissermaßen auf den Schultern, einige so, daß sie für alle Ewigkeit sicher zu liegen schienen, andere hielten so bedenklich ihr Gleichgewicht, daß Alice meinte, sie würden jetzt umfallen. Bony forderte sie auf, stehenzubleiben, und wanderte rund um den kleinen Berg. Er bemerkte eine Stelle, wo ein Lagerfeuer gebrannt hatte. Der Weg zum Wagen zurück schien länger zu dauern. Alice verstand noch immer nicht, weshalb Bony von der geraden Richtung abwich und immer die harten Bodenstellen zum Gehen aussuchte. Sie war froh, als sie den Wagen erreichten und beim Fahren der Wind eine gewisse Abkühlung brachte. Bony fuhr noch einen Kilometer ins Land, bevor er nach Mitford umkehrte. Eine halbe Stunde später hielt er an, und Alice konnte sich nicht erinnern, die Windmühle und die eisernen Tanks, in deren Nähe sie jetzt standen, auf dem Hinweg gesehen zu haben. Auch das Weidetor war ihr nicht im Gedächtnis, vor dem Bony jetzt ausstieg, um es zu öffnen und nach der Durchfahrt wieder zu schließen. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sie sich befanden. »Wahrscheinlich wollen Sie mir nicht gern verraten, warum wir hier durch die Gegend tigern?« fragte sie, als Bony vor einem zweiten Weidetor anhielt. Sie kam sich fast verloren vor. »Ihre Geduld ist nicht unbemerkt geblieben, Alice«, erklärte er, als sie wieder fuhren. »Unser Geschäft hier besteht im Forschen nach einer theoretischen Goldader, die vielleicht reichen Ertrag bringt. Und zwar müßten wir sie finden, bevor sich weitere Wirkungen der in der Missi154
onssiedlung verursachten Aufregung zeigen. Es kommt alles auf Entfernungen, auf Winkel, Kompaßstriche und dergleichen an.« »Jetzt ist mir die Sache völlig klar«, sagte Alice spöttisch. »Wissen Sie denn wenigstens, wo wir sind?« »Ja. Ein Stück vor uns liegt ein Brunnen, der ›Murphys’ Triumph‹ genannt wird. Weit nach links hinüber liegen Murray und Mitford. Wenn wir unsere Fahrtrichtung für vier Wochen beibehalten würden, kämen wir nach der Hafenstadt Perth in Westaustralien.« »Was müßten wir tun, wenn der Wagen versagt?« »Wir würden zu Fuß nach Mitford gehen, also südwärts.« »Ich bin froh, daß wir von Mrs. Yoti die Thermosflasche voll Tee und ein paar Sandwiches mitgenommen haben«, sagte Alice, »aber ich hoffe doch, daß der Wagen uns nicht im Stich läßt.« Plötzlich wurde sie innerlich wütend über einen Gedanken, der von ihr Besitz ergriff. »Wir werden unseren Tee im Schatten eines Baumes trinken, mit dem ich Sie bekannt machen möchte«, sagte Bony, und Alice war froh, daß er ihren Gedanken nicht erraten hatte. »In etwa zwanzig Minuten müßten wir ihn erreichen. Da dieser Baum schon stand, wenn auch nur als ein junges Stämmchen, als Kapitän Dampier als erster Weißer die Küste Australiens sichtete, ist er heute der uralte König der Bäume in diesem Gebiet. Schon deshalb muß ich Sie ihm vorstellen.« Und weiter rollte ihnen das Land entgegen, es bot ihnen immer wieder neue Bilder, und auf einmal war es, als gelangten sie ans Ende der Welt : Nur Himmel schien noch vor ihnen zu sein, doch gleich hörte die Täuschung auf, denn ein neues Gesicht zeigte ihnen die Erde : eine riesige Senke von geringer Tiefe unter einem rostroten Teppich. Der Wagen neigte sich vorwärts und fuhr auf den Teppich, in dessen Mitte ein kleiner Strauch stand. Der Teppich war gewoben aus vertrocknetem Grünzeug über bröckligem Lehm, und der Strauch wirkte wie ein Webfehler. Allmählich ward dieser Fleck ein Baum, der wuchs und wuchs, als wolle er die ganze Welt unter seine Aufsicht nehmen. Etwa vierhundert Meter vor ihm bremste Bony, und Alice dachte : ›Wie dumm von dem Baum, so allein dort zu wachsen. Er muß sich auch wirklich einsam fühlen, denn freundlich schaut er nicht in die Welt.‹ Sie tranken Mrs. Yotis Tee und aßen ihr Weißbrot mit Fleischsalat, ehe sie zu dem Baum hinübergingen. Alice, die gern behaglich im Wagen gerastet hätte, vergaß beim Anblick dieses Urbilds vom ewigen Leben 155
alle Müdigkeit. Welch ein Riese ! Die grau und braun gesprenkelte Rinde war glatt und doch fein gerunzelt wie die Schale eines Kürbisses. Hoch oben hing sie in langen Fetzen herab, die im Wind leise raschelten und sangen. Vier mächtige Äste reckten sich aus dem Stamm, die schwächeren waren dicht mit Rinde bedeckt, die der Baum an Stelle von Blättern abwarf. Am Fuß war der Riesenbaum hohl. Die geschwärzten Wände der Höhlung erzählten vom heftigen Ansturm der Grasbrände, den Erdboden innen bildete leicht geriffelter, hellroter Sand, vom Wind hineingeweht. Alice, die auf Bonys Wunsch mit in die Höhlung trat, sah erstaunt, daß hier zehn oder mehr Menschen bei Unwetter bequem Zuflucht finden konnten. »Ein wahrer Monarch«, sagte sie. Bony nickte und ging hinter ihr wieder hinaus. Zusammen umschritten sie den Baum, aber zum Mitklettern forderte Bony, der plötzlich im Gezweig verschwand, Alice nicht auf. Als der Wind raschelnd zwischen die Rindenstreifen fuhr, fühlte sich Alice in der Weite und Leere der Landschaft auf einmal ganz klein und nichtig. Sie sah nicht, wie Bony auf der anderen Seite den Baum hinabkletterte, und hörte ihn auch nicht, bis er sie rief. Da fand sie ihn in der Höhlung, wo er den Sand glatt strich, zuerst mit den Fingern, dann durch Wedeln mit seinem Taschentuch. Zum zweitenmal war sie nahe daran, zu kichern, und wieder stieg Zorn in ihr auf, diesmal bei dem Verdacht, daß Bony den Sand nur deshalb glättete, um zu verbergen, daß sie hier gewesen waren. Als sie dem südlichen Rand der Senke entgegenfuhren, blickte sie zurück und sah den Baum als Symbol eines trutzigen, unbesiegbaren Riesen, als ein schon in der Jugendzeit der Welt errichtetes Denkmal. Und er tat ihr leid in seiner grenzenlosen, furchtbaren Einsamkeit. Wieder durchführen sie die rosarote Ebene hinter der Senke. Der goldene Sonnenball tauchte über dem Horizont in einen Dunstschleier, und drei Minuten später, als Alice wieder hinschaute, war das Gold getrübt. Die mit grauem Salzstrauch bewachsenen Sanddünen leuchteten hochrot, die Schatten zwischen dem Gesträuch und unter den Bäumen, an denen sie vorbeifuhren, bekamen einen violetten Farbton. Der Wind, seiner Arbeit wohl müde, schlief plötzlich ein, der Himmel war bläulichgrau wie Steinkohlenqualm. 156
»Morgen gibt’s Sturm«, prophezeite Bony. Alice lächelte, ruhig und zufrieden. Ein Känguruh mit weißer Schürze auf dem braunen Fell sprang hinter ihrem Wagen her. Aus dem Brustbeutel schaute das winzige Köpfchen eines Jungtiers. Als das Känguruh zur Seite forthüpfte, erhob sich überall unter seinen klopfenden Füßen der Staub in scharlachroten Puderbällen. »›Wie ein silberner Bogen, im Himmel neu gespannt‹«, zitierte Bony. Alice blickte wieder zur Sonne und sah über ihr eine schmale Mondsichel. Glücklich sagte sie : »Der jungfräuliche Mond in seinem Gewand von – von Rubinen.« Die Sonne versank, als sie in den Grüngürtel vor Mitford einfuhren. Sofort verdunkelte sich die Welt, alle Herrlichkeit der offenen Landschaft blieb nur noch ein unvollkommenes Erinnerungsbild. Alice raffte sich zusammen, saß kerzengerade, gefaßt auf die Rückkehr in den nüchternen Alltag und betrübt, daß dieser Tag zur Neige ging. »Es war wunderschön«, sagte sie zu Bony. »Nie hätte ich geglaubt, daß das wahre Australien so prächtig sein kann.« In einem Schwärm zogen Galahpapageien, leise schnatternd, über dem Wagen ihre Bahn. Die letzten, durch den Dunst gefilterten Strahlen der Sonne malten die Farben des Regenbogens auf das Gefieder der Vögel. Der vom Wagen aufgewirbelte Staub blieb in der Luft hängen wie Rauch an einem frostigen Morgen. Die Dunkelheit vertiefte sich schnell, als Bony den Wagen in die Hauptstraße lenkte, und als sie beim Polizeigebäude eintrafen, war es schon Zeit, Licht anzumachen. Essen erschien aus der Hintertür des Dienstzimmers und stand bereits am Wagen, als Bony den Motor abstellte. Er sagte wie ein Zeuge im Verhör : »Gegen 16.25 Uhr heute nachmittag, Sir, hat sich Mr. Bulford in seinem Privatbüro in der ›Olympic Bank« das Leben genommen.«
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B
ony saß am Schreibtisch des Sergeanten, seine auf blauen Papieren ruhenden Finger trommelten und verrieten seine Stimmung. Bei ihm waren Alice McGorr und Essen. »Herrscht allgemein die Überzeugung, daß es Selbstmord war?« fragte er, als sie sich über sein Schweigen schon wunderten. »Die Bank hatte schon geschlossen, nur der Kassierer und der Kontenführer arbeiteten über die Bürozeit. Knapp drei Sekunden nach dem Schuß waren sie im Direktorzimmer. Bulford lag über seinen Schreibtisch hingestreckt, den Revolver in der rechten Hand, nahe am Kopf. Er hatte sämtliche Schriftstücke von seinem Schreibtisch entfernt, als habe er bedacht, daß sie durch sein Blut ruiniert würden. Die Hintertür vom Bankraum war angelehnt, die Seitentür verschlossen.« Essen machte eine Pause, um mit Nachdruck hinzuzufügen : »Zweifellos Selbstmord.« Die langen, dunkelhäutigen Finger trommelten weiter langsam auf den blauen Amtspapieren. Alice fragte jetzt ungeduldig : »Haben Sie damit gerechnet, Bony?« Blaue Augen, jetzt ungewöhnlich blau, musterten sie unbewegt, kalt, undurchdringlich. Bei der Erinnerung an die Fahrt mit ihm am Nachmittag bereute sie, jetzt gesprochen zu haben, und war froh, daß die Finger das Trommeln aufgaben und sich mit einer Zigarette beschäftigten. »Ja, ich dachte mir, daß Mr. Bulford den Selbstmord als Ausweg wählen würde«, räumte Bony ein. »Noch ein anderer Weg stand ihm offen, der ihn vielleicht an den Fuß des Regenbogens geführt hatte. Über den Weg sprachen wir auch. Mr. Bulford fehlte es nämlich bedauerlich an Energie, aber er hatte drei starke Vorzüge : Ehrlichkeit, Treue und Ehrfurcht vor höheren Dingen. Möglich, daß kommende Er158
eignisse meiner Ansicht widersprechen, ich glaube jedoch, ihn richtig einzuschätzen. Essen, wo steckt Yoti eigentlich?« »War noch im Bankgebäude, als ich dort vor zwanzig Minuten abfuhr.« »Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung. Er soll das Bankpersonal befragen, ob einer von den beiden Martins heute mit Bulford eine Besprechung gehabt hat.« »Einer von beiden, wieso? Der junge Martin ist doch …« »… in Mitford.« Essen starrte Bony an und begab sich stirnrunzelnd ans Wandtelefon im vorderen Dienstraum. Bony zündete seine Zigarette an, und Alice verzieh ihm, daß er auf sie nicht recht achtete. Sie hörte Essen am Apparat sprechen und hätte gern Fragen gestellt, holte aber statt dessen still eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Essen kam mit ebenso gefurchter Stirn zurück. »Der Sergeant sagt, daß Cyril Martin junior heute nachmittag kurz nach zwei eine Unterredung mit Bulford gehabt hat.« »Hm … Ich hätte ja die Lage falsch einschätzen können«, gab Bony zu bedenken, »aber das glaube ich nicht. Ich möchte noch wissen, wann der junge Mann nach Mitford gekommen ist, und vor allem, ob er etwa zur Zeit im Ort war, als Mrs. Rockcliff ermordet wurde. Er darf von den Ermittlungen nichts merken, das ist äußerst wichtig.« »Werde mich sofort auf den Weg machen.« »Warten Sie noch. Erst Abendbrot essen. Sie können beide jetzt gehen. Und behalten Sie bitte im Auge, daß unsere Suche nach den Babys absolut den Vorrang hat. Kommen Sie nach dem Abendessen erst noch mal zu mir, ich habe Aufgaben für Sie beide.« Er begleitete sie ms vordere Büro. Alice, die sich im Torweg umdrehte, sah ihn am Telefon stehen. Bony hörte, wie Essens Wagen den Hof der Polizeistation verließ, bevor er im Apparat die Stimme von Mr. Beamer vernahm. »Ah, Mr. Beamer. Hier Inspektor Bonaparte. Ist Ihr Völkchen von der Wanderung zurückgekehrt?« »O nein, noch nicht, Inspektor. Mehrere Tage bleiben die mindestens fort.« »Das kam plötzlich, wie? Der Sergeant meinte, die Leute hätten Angst vor einem Kurdaitcha bekommen öder vor ähnlichem Spukzeug.« 159
»Ja. Ich glaube das selbstverständlich nicht. Sergeant Yoti meinte übrigens später, einer von den Eingeborenen selbst müsse sich einen Scherz erlaubt haben, indem er die Figuren in den Boden kritzelte und so weiter.« »Liegt sehr nahe, Pater. Ist der Häuptling auch mit fortgezogen?« »Nein. Auch sein Sohn Fred und fünf, sechs andere nicht. Die schwarzen Schwestern wollten das Krankenhaus verlassen, doch Häuptling Wilmot hat ihnen befohlen, zu bleiben, weil sich außer Clark noch andere Patienten dort befinden. Jetzt muß auch meine Frau sich bemühen, daß sie nicht den Kopf verlieren.« »Wann sind die Leute zuletzt aus der Siedlung abgewandert?« fragte Bony. »Oh, da muß ich mal überlegen. Ist noch nicht lange her. Vor etwa vier Wochen.« »Und vorher? Wissen Sie das noch?« Mr. Beamer kicherte. »Und ob ich das weiß ! Wir hatten alles fertig zum Empfang des Premierministers, der die Mission besuchen wollte, und einen Tag vorher verschwanden sie alle, das heißt : bis auf zehn oder zwölf. Der Premier konnte nur die fast leere Siedlung inspizieren.« »Ihr Leben muß ganz amüsant, aber auch reich an Arbeit sein, Mr. Beamer. Na, jetzt können Sie es sich ja mit Ihrer Gattin mal ein wenig bequem machen.« »Ich wünschte, wir könnten das, Inspektor«, erwiderte der Missionar bedauernd, »leider ist dazu keine Gelegenheit, wir haben immer viel Arbeit nachzuholen. Mit – hm – die Geschichte mit Mr. Bulford ist doch entsetzlich.« »Ja, das ist sie. Ich habe erst eben davon gehört.« »Er muß sich schweren Kummer um den Verlust seines Kindes gemacht haben. Ich mochte ihn gern und meine Frau auch. Wir haben nämlich unser Konto bei seiner Bank, daher kannten wir ihn recht gut.« »Ich mochte ihn auch ganz gut leiden«, sagte Bony. »Vermutlich ist er mit den Nerven zusammengebrochen. Na, vielen Dank, Mr. Beamer. Ich komme gelegentlich mal wieder zu Ihnen ’raus.« »Ja, das tun Sie mir.« 160
Bony hängte ab und blieb beim diensthabenden Wachtmeister stehen, der sich erhob. »Wann haben Sie Ihren Dienst angetreten?« »Um vier, Sir.« »Notieren Sie die einlaufenden Gespräche?« »Jawohl, Sir.« Bony überprüfte das an ein Wandbrett geheftete Blatt mit dem Tagesdatum. Die ›Olympic-Bank‹ hatte um 16.29 Uhr angerufen, um 16.41 Uhr Sergeant Yoti, um 16.44 Uhr Dr. Nott, von dem ein zweiter Anruf um 17.14 Uhr notiert war. »Wissen Sie, weshalb Doktor Nott zweimal anrief?« fragte Bony den Wachtmeister, der eine ganz aufschlußreiche Antwort geben konnte. »Jawohl, Sir«, sagte er. »Beim ersten Anruf erklärte er mir, er könne wegen eines Schwerkranken eigentlich das Krankenhaus nicht verlassen. Ich solle Doktor Delph anrufen. Das tat ich, rief in seiner Wohnung an, wo mir aber gesagt wurde, er sei nicht zu Hause. Also rief ich nochmals im Krankenhaus an und bat, Doktor Nott zu bestellen, daß wir Doktor Delph nicht erreichen könnten. Ich wurde allmählich unruhig, weil ich doch wußte, daß der Sergeant in der Bank war und warum. Da klingelte Doktor Nott nochmals an und sagte, er würde in fünf Minuten vom Krankenhaus abfahren.« Bony betrachtete abermals die Telefonnotizen, ohne noch Auffälliges zu entdecken. Kaum war er aus der Seitentür getreten, da schrillte der Apparat wieder. Er blieb stehen, weil er Nachricht von Yoti erwartete. Der Wachtmeister sagte : »Weiß ich nicht genau. Wer ist denn am Apparat? – Oh ! Ja, so was Ähnliches, glaube ich. – Weiß ich nicht. Sergeant Yoti kümmert sich um den Fall, ist aber im Augenblick nicht hier. – Ja, geht in Ordnung !« Bony ging zurück und hob fragend die Augenbrauen. Der Wachtmeister meldete : »Mrs. Marlo-Jones, Sir. Wollte wissen, ob das mit Mr. Bulford wahr ist. Da die Zeitungen schon informiert sind, habe ich es ihr ruhig gesagt.« »Recht so. Hat übrigens sonst noch jemand angerufen und sich speziell nach dem Bankdirektor erkundigt?« »Eine Mrs. Coutts und Mr. Oats von der Bibliothek. Ich habe denen dieselbe Auskunft gegeben wie eben Mrs. Marlo-Jones nur ganz kurz. Geheimhalten läßt sich das in einem Ort wie Mitford sowieso nicht lange.« 161
»Nein, das macht rasch die Runde«, bestätigte ihm Bony. Mrs. Yoti und Bony waren mit dem Abendessen schon fast fertig, als Yoti zurückkam. Er warf Bony einen Blick zu, als mißfiele ihm dessen Anwesenheit, doch Bony unterhielt sich ruhig weiter mit Mrs. Yoti über Sandbänke am Fluß. Nachher, als sie rauchten und die Frau den Tisch abräumte, fragte der Sergeant : »Wieviel wissen Sie eigentlich schon von der Sache?« »Daß Mr. Bulford sich das Leben mit dem der Bank gehörenden Revolver genommen hat.« »Wie ich höre, sind Sie noch heute vormittag bei ihm gewesen.« »Ja, ich habe ihn besucht.« »Oh !« Yoti machte ein finsteres Gesicht. »Sie wollen also nicht reden, wie?« »Nein, zuhören will ich.« »Also gut. Er hat sich in den Mund geschossen.« Yoti seufzte. »Wir verflixten Polizeibeamten sind ja angeblich gefühllose Burschen, aber als ich ihn da über seinem Schreibtisch liegen sah, fand ich es doch schrecklich, das Leben so wegzuwerfen. Ich habe mit ihm zusammen gekegelt, war mit ihm in der gleichen Loge und glaube nicht, daß er Bankgelder unterschlagen und sich deshalb erschossen hat. Das kann gar nicht sein.« »War denn jemand dieser Meinung?« »Nein. Der Kassierer hat die Leitung der Bank übernommen, und der Inspektor von der Hauptbank in Albury wird schon erwartet. Wissen Sie denn, weshalb Bulford Selbstmord beging?« »Ich habe eine noch unreife Theorie«, entgegnete Bony. Der Sergeant fand diese Formulierung offenbar merkwürdig. Er sagte : »Komisch, wie das Leben mit manchen Menschen umspringt. Meine Frau und ich, wir haben nie Ärger, wir vertragen uns immer gut. Wenn ich so zurückdenke, ist unsere Ehe mit den Jahren eigentlich immer schöner geworden, aber bei vielen Leuten ist das umgekehrt, da geht’s gleich nach der Hochzeit los. Sie haben ja Bulfords Frau auch kennengelernt, nicht wahr?« »Ja. Alice McGorr behauptet, daß sie zu den Leuten gehört, die förmlich dazu reizen, à la Grippen erledigt zu werden.« Yoti lächelte und mußte dann laut lachen. »Guter Witz«, bestätigte er. »Da hat das Mädel den Nagel auf den Kopf getroffen. Bulford war 162
friedlich und leicht zu lenken, konnte allerdings auch aufbrausen. Der arme Kerl ! Wenn er bloß die Courage gehabt hätte, sie jede Woche mal zu verprügeln !« »Sie können wohl Mrs. Bulford gar nicht leiden, wie?« »Das ist nichts Neues. Jetzt will die Frau Ihnen die Schuld geben : Sie hätten ihm wegen des entführten Kindes zu sehr zugesetzt, als er allein und wehrlos im Büro saß. Die wochenlange Sorge um das Kind und Ihre Fragerei hätten ihn zum Selbstmord getrieben. Wollen Sie mich nun nicht auch ein bißchen aufklären? – Jetzt wäre ich mit dem Zuhören an der Reihe.« »Na schön, ich will Ihnen sagen, was ich weiß«,, stimmte Bony zu. »In der ersten Darstellung, die Bulford mir gab – sinngemäß dieselbe, die er früher schon den Ermittlungsbeamten gegeben hatte –, behauptete er, an dem Tag, nachdem seine Frau fortgegangen war, bis 17.30 Uhr im Büro gearbeitet zu haben. Später erklärte er, er sei nicht dageblieben, sondern zur Bibliothek gegangen, um sich dort mit Mrs. Rockcliff zu unterhalten. Heute vormittag nun habe ich ihn informiert, daß am Tage der Entführung seines Kindes die Bibliothek wegen Renovierung für das Publikum geschlossen gewesen sei. Ich verlangte von ihm die Wahrheit, aber er wollte nicht bekennen. Als ich ihn verließ, wußte er, daß ich sie entdecken würde. Vermutlich war er sogar schon überzeugt, daß ich die Entführung seines Kindes bereits aufgedeckt hätte.« »So war also die Geschichte !« sagte Yoti langsam. »Und Sie kennen den wahren Sachverhalt?« »Vielleicht ist meine Theorie richtig. Wie verlief eigentlich die Schererei mit den Ärzten?« »Anscheinend hat der Kassierer nach seinem Anruf bei mir gleich Doktor Delph angerufen und ihn in seiner begreiflichen Aufregung nur gebeten, einmal schnell zur Bank zu kommen. Als Delph nicht kam, klingelte ich bei Doktor Nott an und hörte, er sei im Krankenhaus. Als ich seiner Frau erklärte, weshalb wir ihren Mann sofort brauchten, sagte sie, sie würde dafür sorgen, daß er käme. Dann hat Nott angerufen, er könne wegen eines schwierigen Falles nicht vom Krankenhaus weg. Nun rief der Diensthabende bei Doktor Delph an, der jedoch nicht zu Hause war. Inzwischen war Nott im Krankenhaus mit seiner Operation fertig, wollte aber, wenn irgend möglich, noch bei seinem Patienten 163
bleiben. Deshalb rief er bei Delph an, wo ihm die Köchin erklärte, der Arzt könne nicht an den Apparat kommen, weil seine Frau erkrankt sei.« »Mrs. Delph plötzlich erkrankt? – Hm … Bei der Sherryparty, die ich mit Alice besuchte, war sie noch sehr auf der Höhe.« »Säuft wie ein Loch«, knurrte Yoti. »Haha ! Die Frau brauchte einen Dr. Grippen ! Das war ein zu schöner Witz. Woher wissen Sie denn von den Telefonaten der Ärzte?« »Vom Verzeichnis der Anrufe auf der Wache. Man müßte dafür sorgen, daß diese Eintragungen jeder Polizeiwache im Lande zur Pflicht gemacht werden. Meinen Sie, daß Sie Ihren Freund, den Postdirektor, wieder veranlassen können, uns zu assistieren?« »Aber gewiß. Freunde sind schließlich dazu da, einem zu helfen.« »Ich hätte gern eine Liste von allen Telefonaten, die Mrs. Bulford heute nachmittag nach 16 Uhr geführt hat, desgleichen von allen Anrufen der Delphs nach 16 Uhr und von sämtlichen Gesprächen, die von der Missionssiedlung aus angemeldet oder dort angenommen wurden. Und zwar bis heute um Mitternacht ungefähr. Glauben Sie, daß er das für uns tun wird?« »Für mich bestimmt. – Noch etwas : Weshalb interessiert Sie der junge Martin so?« »Über diesen Punkt möchte ich nichts sagen.« Yoti sah Bonys Blick härter und sein Kinn eckiger werden. »Sie müssen mich auf einer Fahrt begleiten, Yoti, auf der ich mich so leise und federnd bewegen muß wie eine schleichende Katze. Wie ich schon erwähnte, geht die Aufklärung der Kindesentführungen der Mordsache Rockcliff unbedingt vor. Mit der Überwachung des Mr. Martin habe ich Essen beauftragt. Martin darf nicht mißtrauisch gemacht werden. Dasselbe, nämlich völliges Schweigen, gilt hinsichtlich der gestohlenen Felszeichnung, obgleich der Fall an sich längst nicht so wichtig ist. Ich weiß, weshalb das Ding gestohlen wurde und habe bis zur Aufklärung des Kinderraubs kein Interesse, zu erfahren, wer es gestohlen hat und wo es sich zur Zeit befindet. Wann ist übrigens der Premierminister in Mitford gewesen?« »Wie bitte? Ach so, der Premier …« »Am 3. Januar, Inspektor«, warf Mrs. Yoti ein. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt abdecken.« 164
»Aber bitte schön. Da Ihr Herr Gemahl so streitsüchtig ist, lassen Sie ihn doch das Geschirr abwaschen.« Bony empfahl sich, über den finsteren Blick des Sergeanten lächelnd. In seinem Zimmer fand er Essen und Alice vor, die ein dunkelbraunes Kleid und eine kleine schwarze Baskenmütze trug, mit einer großen roten Troddel, die nach der Seite herabhing. Irgend etwas gefiel Bony an der Zusammenstellung nicht. War es das Braun und Rot an sich oder diese Troddel auf schwarzem Grund? Er gab seine Musterung auf und sagte heiter : »Jetzt sind Sie ja in großer Form, um unser Gehalt verdienen zu helfen. Und Sie, Essen? Haben Sie schon Bestimmtes über Martin junior ermittelt?« »Nur, daß er im eigenen Wagen gekommen ist, den er bei einer Tankstelle untergebracht hat. Zufällig ist ein guter Bekannter von mir der Leiter dieser Tankstelle. Er will heute abend ein bißchen spionieren, ohne mich zu erwähnen.« »Gut. Jetzt zu einer weiteren Aufgabe. Ich möchte ein Boot haben, ein leichtes, mit geringem Tiefgang, und zwar heute abend um 11 Uhr. Ist das zu schaffen?« »Ja, da weiß ich das richtige für Sie.« »Hundert Meter stromaufwärts von der Brücke ist ein alter Anlegeplatz. Halten Sie dort das Boot bereit.« »Auf die Sekunde«, erwiderte Essen. »Wie weit drückt der Fluß bei der Eingeborenensiedlung sein Wasser in den Bach?« »Das weiß ich nicht, kann es aber von dem Schlachter erfahren, der dicht dahinter seine Viehweide hat.« »Holen Sie diese Auskunft ein – mit Ihrer üblichen Vorsicht.« Essen ging. Bony betrachtete Alice, die ihn jetzt verändert fand. »Mr. Bulford hat sich das Leben genommen, Alice«, sagte er, »und Mrs. Delph ist plötzlich erkrankt. Sobald es dunkel wird, suchen Sie mal ihre Köchin auf, um zu erfahren, was für ein Leiden die Gnädige hat, und, wenn möglich, auch die Ursache. Geben Sie mir das telefonisch durch. Dann eilen Sie zur »Olympic Bank‹ und behalten Sie Mrs. Bulford im Auge. Klar?« »Vollkommen. Sie haben jetzt wohl den Ameisenhaufen aufgerührt?« »Gut erraten, Alice.« »Vielleicht.« 165
»Schön, lassen wir das zunächst. Auf Wiedersehen bis morgen, ich muß jetzt mit Yoti reden.« Alice hatte meuterische Gedanken, stürzte sich aber gleich eifrig in den neuen Job. Bony ging an Essen vorbei, der telefonierte, und ließ sich neben Yoti im Sessel nieder. Yoti legte den Federhalter beiseite, mit dem er an dem Bericht über Bulfords Selbstmord geschrieben hatte, da kam Essen schon herein und machte genaue Angaben, wie weit der Fluß in den Bach bei der Siedlung drückte. Bony bat ihn, eine grobe Skizze zu machen. Sie zeigte ihm, daß der Sumpf, in dem der Wasserzufluß endete, gleich hinter Mr. Beamers Haus lag, an der Nordseite. »So hatte ich es auch gehofft«, sagte Bony, sichtlich zufrieden. »Morgen früh, Essen, fahren Sie bitte mit zwei Konstablern in die Missionssiedlung. Brechen Sie Punkt 9 Uhr von hier auf. Gleich bei der Ankunft erklären Sie Mr. Beamer, daß Sie über den ungesetzlichen Aufenthalt des Mr. Clark in Mitford genauere Informationen hätten und daß alle in der Siedlung zurückgebliebenen Eingeborenen verhört werden müssen. Sie sollen alle ins Lazarett bestellt werden und in dem Raum, in dem Clark als Patient liegt, mindestens eine Stunde bleiben. Nehmen Sie die Leute aufgrund dieser angeblichen Informationen ins Kreuzverhör und sorgen Sie dafür, daß kein einziger die Station vor Ablauf der Stunde verläßt. Es sind, wie Beamer mir sagte, höchstens noch zwölf Leute im Lager, und die will ich nur für eine Stunde aus dem Wege haben. Klar?« »Jawohl, wird so gemacht«, antwortete Essen. »Mit zwei Mann verlasse ich Punkt 9 Uhr die Stadt. Inzwischen …« »Sind Ihre Patrouillen eingesetzt?« »Ja.« »Gut ! Jetzt muß ich aber selbst meine Vorbereitungen treffen. Mit Ihnen, Sergeant, spreche ich noch, bevor ich abfahre.« Bony verschwand durch den Torweg. Essen blickte seinem Vorgesetzten nach mit einem Lächeln, das seinen Mund stark in die Breite zog. »Der Mann kann manchmal ganz schön in Schwung kommen, was?« sagte er vor sich hin, als sei niemand im Zimmer. »Erinnert mich an einen Chinesen, mit dem ich öfters Dame gespielt habe«, sagte Yoti ganz ernst. »Ah Chung hieß er. Der ließ mich immer erst gewinnen, eine Figur, vielleicht noch ein paar und noch eine zie166
hen, so daß ich schon dachte, ich hätte ihn im Sack. Dann sagte er, scheinbar zögernd : ›Ich geben Chance‹, machte einen Zug, um mich zu reizen, und plötzlich spielte er mich in Grund und Boden. Und zwar jedesmal.« »Ja, so ähnlich macht unser Mischling das auch«, sagte Essen gedehnt. »Spielt aus, bringt eine Bande Eingeborene in Aufruhr – und was ergibt sich? Fast sämtliche Eingeborenen reißen aus, und ein Bankdirektor erschießt sich. Und jetzt will er mit einem Boot los, und ich muß morgen die restlichen Eingeborenen unter falschen Angaben zusammentrommeln. Aber jetzt muß ich mich um das Boot kümmern.« Yoti nickte und widmete sich wieder seiner endlosen Schreiberei. Um 20 Uhr meldete sich der ablösende Wachtmeister zur Wache. Er bekam den Auftrag, vorn abzuschließen und nach Hause zu gehen. Um 20.20 Uhr rief Alice McGorr an und sprach mit Sergeant Yoti. Um 21.25 Uhr erschien der Postdirektor mit zwei Flaschen Bier und unterhielt sich eine Viertelstunde mit ihm. Um 21.40 Uhr kam Bony zurück. Er war ganz in Schwarz gekleidet, trug alte schwarze Segeltuchschuhe und um den Hals gehängt ein Paar grob gearbeitete Überschuhe aus Schafpelz, mit der Wolle nach außen. »Soll’s diesmal zum Maskenball gehen?« spottete Yoti. »So ungefähr. – War etwas Neues?« »Ja. Alice McGorr hat telefonisch gemeldet, Mrs. Delph habe einen Nervenkollaps erlitten.« »Wirklich?« sagte Bony sanft. »Nach dem Eindruck, den ich von ihr hatte, mußte es dahin kommen.« »Nach gewissen Informationen«, fuhr Yoti in grimmigem Ton fort, »soll Doktor Delph sich mit Doktor Nonning in Melbourne in Verbindung gesetzt und ihn wegen der schweren Erkrankung seiner Frau gebeten haben, sofort nach Mitford zu kommen und ihn in seiner Praxis zu unterstützen.« »Bedeutungsvoll, Sergeant«, sagte Bony fast flüsternd. »Nonning ist der Bruder von Mrs. Delph, ein bekannter Psychiater.« »Ist das wichtig für Sie?« »Möglich. Doktor Nonning ist auch Sammler von Reliquien der Ureinwohner. Möchte wissen, ob der sich für die verschwundene Felszeichnung interessiert.«
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ußer dem leise am Bug wispernden Wasser war von Boot und Besatzung nichts zu hören. Der ›jungfräuliche Mond‹ war nicht mehr sichtbar und die Schar der Sterne glanzlos. Der Fluß zog gemächlich und ohne Strudel dahin, unangenehm : waren nur die Mücken. Mit dem Gesicht in Fahrtrichtung ruderte Bony drei Stunden lang, ehe er über dem Nordufer am Horizont den Baum sehen konnte, der den zur Siedlung abzweigenden Bach anzeigte. Zehn Minuten später machte er unter der Brücke, über die der Hauptweg nach der Siedlung lief, eine kurze Rast. Nach den Sternen war es zwei Uhr früh, eine Zeit, zu der alle braven Eingeborenen in festem Schlaf liegen sollten, wohlbehütet und geschützt vor dem gefürchteten Kurdaitcha. Unter der Brücke war es ganz dunkel, der Bach hatte gar keine Strömung. Das Boot lag bewegungslos. Bony drehte eine Zigarette, die er aber erst anzündete, nachdem er Kopf und Hände in einen Sack gesteckt hatte. Beim Rauchen hielt er schützend die Hände über die Glut. Hier kamen die Fische nur träge an die Oberfläche. Im Fluß hatte er beobachtet, wie sie bei der Jagd auf kleinere Beute schwungvoll nach oben vorstießen. Die Ochsenfrösche quakten laut wie Glocken, aber ohne deren Wohlklang, die unsichtbaren Nachtvögel schlugen ihre Beute zielsicher und ohne Aufregung. Zur Eile bestand kein Anlaß. Bony schmierte, als er die Zigarette aufgeraucht hatte, die Bohrung im eckigen Heck des Bootes mit Fett aus und steckte eine Gabel ein, die er ebenfalls einfettete, bevor er den Riemen einschob. Von hier ab wollte er das Boot nur mit den Heckriemen rudern, es ließ sich so sehr gut steuern. Hinter der Brücke wurde der Wasserweg so schmal, daß die Kronen der Bäume von beiden Ufern sich fast berührten. Beim Wriggen machten Riemen und Gabel kein Geräusch, so daß Bony glauben konnte, die Bäume zögen am stillstehenden Boot vorüber, nicht umgekehrt. Die Sterne warfen keinen Widerschein, aufs Wasser, die Bäume ruhten, ohne vom Wind gewiegt zu werden. Bony hatte noch reichlich Zeit, das Ende des Wasserweges zu erreichen und sein Boot zu verbergen, denn erst beim Morgengrauen wollte er hoch oben in einem alten Eukalyp168
tusbaum sitzen, der etwa fünfzig Meter von der Schmiede und ebenso weit von Mr. Beamers Haus stand. Wo der Baumbewuchs an den Ufern aufhörte, säumte niederes Gestrüpp, der Bergsalbei, das hier seichte Wasser. Nach mehreren Minuten Fahrt spürte Bony Rauch in der Nase. Qualm von Lagerfeuern vor drei Uhr früh? Die Eingeborenen löschten oder dämpften doch stets für die Nacht ihr Feuer. Gewiß kam der leichte Luftstrom von der Siedlung her, aber der Rauchgeruch war so stark, daß er nicht von einem mit Asche zugedeckten Feuer stammen konnte, das sonst immer erst zum Bereiten des Frühstücks wieder geschürt wird. Bony hörte auf zu wriggen, langsam glitt das Boot weiter durch das stille Gewässer. Plötzlich war der Brandgeruch wie weggeblasen und nur der ranzige Gestank des Schlammes wahrzunehmen. Geräuschlos drehte Bony das Boot und ruderte es langsam zurück, bis er sich wieder in der Zone des unsichtbaren, angenehm süßen Rauches befand. Soeben mußte ein noch kaltes Stück Astholz die weiße Asche, die das ›Herz‹ des Feuers bedeckte, eingedrückt haben, denn in der schwarzen Samtwand der Nacht leuchtete jetzt ein rubinroter Punkt, der wie ein zorniges Auge den Mann im Boot anzublicken schien. Fünf lange Minuten starrte Bony auf das böse rote Auge, dann sah er die Glut für wenige Sekunden unter einer winzigen Flamme zurückweichen. Ein alter Baumstumpf war es, der schon tagelang geschwelt haben mußte. Also doch ein Lagerfeuer, denn dicht dahinter befand sich eine plump aus Zweigen errichtete kleine Laube, wie Bony im Licht der Flamme erkennen konnte, ehe sie erstarb und das rote Auge ihn wieder böse anblickte. Leise trieb sein Boot den Bach abwärts bis an ein dichtes Gebüsch von Bergsalbei, das bis ins Wasser hineinwuchs. Hier stieg er an Land und zog das Boot ganz ins Ried. Als er aus dem Gebüsch aufs Trockene trat, trug er die Überschuhe aus Schafpelz, mit denen er spurlos über die harten Sandflächen im Flußgebiet gehen konnte. Er pirschte ohne das leiseste Geräusch näher an das Lagerfeuer und hockte sich wenige Meter vor dem roten Glutauge hinter einen Strauch. Bis auf etwa zehn waren aus der Siedlung alle Eingeborenen abgewandert. Die zurückgebliebenen schliefen bestimmt in ihren festen Hütten, nicht hier neben dem modrigen Brackwasser. Für diese einsame 169
kleine Schutzlaube, die anzeigte, daß jemand an dem Lagerfeuer ›gewohnt‹ hatte, gab es unter normalen Umständen nur eine einzige plausible Erklärung : daß ein jung verheirateter Eingeborener seine Braut hierhergeführt hatte. Aber unter der vermuteten Bedrohung durch den umherschleichenden Kurdaitcha waren Flitterwochen in dieser Einsamkeit selbst der gehorsamsten Braut nicht zuzumuten. Die Dämmerung setzte ein, gefolgt von noch tieferer Dunkelheit mit einer leichten kalten Brise, unter der Bony fröstelte. Ein Fuchs bellte, als wollte er den hockenden Mann beschimpfen, und einige Sekunden später bellte er noch einmal aus größerer Entfernung. In dem Augenblick, als das zweite Bellen in der schwindenden Nacht erstarb und Bony den ersten schmalen Streifen weichen Tageslichts hoch am Himmel sah – in diesem Augenblick weinte das Baby … Bony vernahm eine gedämpfte Stimme, die beruhigende Worte murmelte, das Kind wurde still. Als das Tageslicht in hellen Pfeilen durch den Nachthimmel brach, schrie das Kind wieder, diesmal heftiger, als wenn ihm etwas fehlte. Eine Frau sagte verschlafen : »Was hast du denn, mein Kleiner?« Die Stimme war die einer Eingeborenen. Das Baby, schon alt genug, um zu wissen, wie es Aufmerksamkeit fordern konnte, schrie noch lauter, und alsbald verschwand das rote Auge im Lagerfeuer. Aber gleich danach ließ ein rasch zur hellen Flamme wachsendes Flackern erkennen, daß die Eingeborene das Feuer in Gang gebracht hatte. Im vollen Feuerschein erkannte Bony, daß die Laube aus einem durch grüne Zweige getarnten Zelt bestand, dessen Eingang er nicht sehen konnte. Die Frau stand am Feuer : Sie war groß und gut gebaut. Sie trug Männerkleidung, einen Schlafanzug aus Flanell, und hatte ihr schwarzes Haar mit einem blauen Band zusammengefaßt. Bony erkannte sie wieder : Sie war bei dem alten Wilmot gewesen, als er mit Alice die Siedlung besucht hatte. Jetzt trat sie ins Zelt, besänftigte das Kind, das sich nicht beruhigen lassen wollte, und kam mit einer Säuglingsflasche, einer Dose Milchpulver und einem alten Kochkessel wieder zum Vorschein. Füllte den Kessel am Bach und setzte ihn aufs Feuer. Der Säugling hörte, weil er wohl einsah, daß sein Heulen ihm nichts einbrachte, ebenso jäh damit auf, wie er angefangen hatte. Die Frau liebte, wie alle Mütter ihrer Rasse, die kleinen Kinder, verstand aber auch, rücksichtslos zu sein, wo das keinen Schaden tat. Das Kind hatte 170
Hunger, also mußte es gefüttert werden, aber sich über sein Geschrei viel Gedanken zu machen, wäre ihr sehr dumm vorgekommen, weil sie an der Art des Schreiens ja merkte, daß es keine Schmerzen hatte. Gemächlich wartete sie, bis das Wasser heiß wurde, und erst, als es kochte, ging sie ins Zelt und holte den Krug, in dem sie das Milchpulver anmischte. Sie schöpfte aus dem Bach noch kaltes Wasser, um die Milch abzukühlen, bevor sie sie aus dem Krug in die Flasche füllte. Ihre Bewegungen waren ohne Hast, in ihrem Gesicht prägte sich größte Zufriedenheit aus. Sie ging mit der Flasche ins Zelt und sprach mit dem Baby, das wieder losheulte, aber gleich schwieg, als es den Sauger der Flasche im Mund fühlte. Nun sang die Frauenstimme leise Schlummerlieder. Bony konnte nicht länger bleiben, denn jetzt war das Wasser des Bachs schon sichtbar, und die Riesenfischer begrüßten bereits den neuen Tag mit ihrem ironischen Gelächter. Das Boot war gegen zufällige Entdeckungen gut gesichert. Bony ging leise am Bach hinauf bis zu dem Eukalyptusbaum bei der Schmiede. Der Baum war vom Alter gebeugt und trug vom Klettern der Jungen, die den besten Weg hinauf zu finden wußten, zahlreiche Narben. Bony nahm denselben Kletterweg bis zu einer auch von den Kindern der Siedlung gebauten primitiven Plattform in der Gabelung der dicksten Äste. Bedächtig wie die Frau am Lagerfeuer machte er es sich auf den wie ein simples Nest über Kreuz gelegten Stangen und Zweigen bequem. Er rauchte zwei Zigaretten, wobei er ab und zu über gewisse Szenen, die ihm einfielen, lächeln mußte. Jeden Gedanken an häßliche Dinge wies er jetzt von sich. Nachdem er die zwei Zigarettenstummel in die Tasche gesteckt hatte, befahl er seinem Gehirn Ruhe. Und sein Gehirn gab Ruhe. Es begann um neun Uhr wieder zu arbeiten, als die Sonne schön hoch stand und die Ameisen in den Baum kletterten, um die süßen Säfte, die er ausschwitzte, zu sammeln. Eine Bullenameise, die über seine Anwesenheit ärgerlich zu sein schien, schnipste er mit dem Finger fort. Die saftraubenden roten Ameisen, die von ihm keine Notiz nahmen, beachtete er nicht weiter. Er kletterte höher und hatte oben vollen Ausblick über die Siedlung. 171
Drei Elstern schnatterten auf dem Dach des Büros, der Rauch aus dem Schornstein von Mr. Beamers Haus hatte fast die Farbe von Waschblau. Aus dem Lazarett kam eine Eingeborene in weißem Kleid mit weißen Schuhen, um etwas zum Müllofen zu bringen. Mr. Beamer begab sich von seiner Veranda nach dem Büro im Lagerhaus. Hinter ihm trottete ein schrecklich fetter Foxterrier, der aber die Pflicht, seinen Herrn zu begleiten, rasch vergaß und lieber mit Behagen sein linkes Ohr am Boden rieb, um die Zecken loszuwerden. Zwanzig Minuten nach neun sah Bony die Staubwolke hinter dem Wagen aufwirbeln, mit dem Essen und seine Wachtmeister kamen, und fünf Minuten später veranlaßte das Geräusch des Motors Mr. Beamer, schleunigst aus dem Büro zu kommen, und seine Frau kam aus der Veranda. Eine Besprechung wurde abgehalten, die damit endete, daß Mrs. Beamer mit einem Polizeibeamten zum Lazarett ging und Mr. Beamer sich mit Essen und dem zweiten Polizeibeamten nach den Hütten der Eingeborenen begab. Alles verlief programmgemäß. Der Missionar mußte wissen, welche von seinen ›Schäflein‹ fortgezogen und welche noch in ihren Hütten waren. Ein paar Gestalten erhoben sich vom gemeinsamen Lagerfeuer, und einige kamen aus den Hütten. Im ganzen neun Personen. Endlich waren alle da und gingen zum Lazarett hinüber. Bony erkannte den Häuptling Wilmot, seinen Sohn Fred, den Uhrmacher und den Lagerverwalter. Am Schluß gingen eine alte Frau und zwei junge. Fragen : Wußten die Beamers von der Frau und dem Säugling in dem unter Zweigen verborgenen Zelt? Wußte es der alte Häuptling? Der höchstwahrscheinlich, denn seiner Aufmerksamkeit entging nichts und niemand. Bony blickte über die Kronen der kleineren Bäume hinweg nach dem Landstrich mit den dunkelgrünen Salbeisträuchern, sah aber nicht das kleinste Rauchwölkchen von dem Lagerfeuer. Der Polizeibeamte hatte mit Mrs. Beamer das Lazarett betreten, Essen und Mr. Beamer mit den Eingeborenen, folgten ihnen im Gänsemarsch. Nur ein Wachtmeister blieb vor dem Eingang. Bony wartete fünf Minuten, ob die Frau mit dem Baby auch kam. Die leiseste Bewegung wäre ihm aufgefallen, doch er sah nichts. Dann stieg er vom Baum. Die ganze Siedlung war jetzt eine Stunde für ihn frei. 172
Der Wachtmeister am Lazaretteingang sah ihn um die Schmiede herum zu den Hütten gehen. Er sah Bonys ungewöhnliche Fußbekleidung und beobachtete ihn gespannt, bis er ihn aus den Augen verlor. Der Erdboden war trocken und blätterig, unter den Fladen war er hart. Zu Staub zertreten von vielen Füßen war er nur auf bestimmten Strecken : um Mr. Beamers Haus, wo der ganze Verkehr sich konzentrierte, bei der Schule und beim Lazarett. Von nackten Füßen ausgetretene Pfade zogen sich dicht an den Hütten entlang, denn neben den Pfaden lauerten dreikantige Kletten mit nadelscharfen Spitzen. Bonys erstes Ziel waren das noch brennende gemeinsame Lagerfeuer und die ihm nächstgelegenen Hütten. Es waren alles Bretterbuden mit nur einem Raum. Jede enthielt einen Tisch und ungepolsterte Stühle sowie Strohmatratzen auf dem Fußboden. In der ersten Hütte, die er betrat, lagen Wolldecken auf einer der beiden Matratzen. Ein Militärmantel und ein paar baumwollene Unterhemden dienten als Kopfkissen. An Nägeln in den Wänden hingen eine Soldatenmütze mit losem Schirm, eine teure Stockpeitsche, ein Paar wie Gänsehälse gebogene Sporen, deren Rädchen durch Sixpencestücke ersetzt waren, damit sie lauter klingelten, sowie ein grellbunter Seidenschal, der sicher einer Frau gehörte. Außerdem lagen in der Hütte ein unordentlicher Haufen von Witzblättern, ein Paar braune Schuhe und ein Zaum. In einer Ecke stand ein Gewehr, Kaliber 6 mm. Bony überlegte, warum von den zwei dicht nebeneinander liegenden Matratzen nur eine in Gebrauch war. Vorsichtig, um die Decken nicht zu verschieben, blickte er unter beide Matratzen, fand jedoch nichts. Er konnte sich jetzt das ganze Bild erklären. Die an den Wänden hängenden Sachen, vor allem die Mütze und die Sporen, besagten, daß hier Fred Wilmot wohnte, der Fährtensucher. Die unbenutzte Matratze mußte das Bett seiner abwesenden Frau sein. Bony erinnerte sich, daß Clark von einer Eingeborenen namens Sarah gesprochen hatte, mit der Fred erst vier Wochen verheiratet war. Aus dem Gesehenen und Gehörten zog er den Schluß, daß eine junge Eingeborenenfrau in dem geheimen Lager zwischen den Salbeisträuchern lebte. Das Innere der nächsten Hütte bewies ihm sofort, daß hier Freds Vater, der alte Wilmot, wohnte. Auch hier gab es zwei Matratzen, aber beide in Benutzung und so weit wie möglich voneinander entfernt. An sich war es innen sauber, da Mr. Beamer regelmäßig diese Wohnungen 173
inspizierte, aber von Ordnung konnte keine Rede sein. Unter der einen Matratze fand Bony einen ›Satz‹ Zeigeknochen und einen Sack aus Tierhaut mit vielen kostbaren Churingasteinen und mehreren Regensteinen von der Größe einer Hand und so grün wie polierter Jade. Die Tatsache, daß diese geheiligten Gegenstände unter dem Bett des Häuptlings versteckt waren, anstatt an einem geweihten Lagerplatz, also unter einem Felsen oder einem Baum, deutete darauf, daß Häuptling Wilmot seiner neu gewonnenen Autorität über die Menschen seines Stammes nicht sicher war. Er mußte zu der Überzeugung gekommen sein, daß viele von ihnen durch die Zivilisation der Weißen so ›verdorben‹ waren, daß sie diese Stammesheiligtümer einfach stehlen und gegen eine Platte Tabak eintauschen würden. In den Hütten des Uhrmachers und des Lagerverwalters wie auch in den übrigen, die Bony rasch untersuchte, entdeckte er nichts von Belang. Wie vorausgesehen, fand er einen Pfad, der direkt von den Hütten zu dem geheimen Lagerplatz führte, zweihundert Meter weit über offenes Gelände. In der Gewißheit, daß die Eingeborene mit dem Kind jetzt friedlich in ihrem Zelt lag, folgte er dem Pfad und kam bald an die Gabelung. Hier mündete ein direkt von der Mission kommender Pfad in den Weg zum Lager. Und auf diesem Pfad fand er Abdrücke von den Schuhen der Frau, die unter das Bett von Mrs. Rockcliff gekrochen war … Die Trägerin der Schuhe hatte das geheime Lager besucht und war auf demselben Weg zurückgegangen. Er folgte den Spuren ihres Rückwegs – sie liefen am Büro vorbei bis ans Haus des Missionars. Die Frau, die unter Mrs. Rockcliffs Bett gelegen hatte, war durch die Hintertür von Mr. Beamers Haus aus- und eingegangen.
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ony wriggte sein Boot gemächlich zurück, ohne jede Anstrengung. Er freute sich, daß die Strömung es jetzt schob, und wußte auch, daß die Eingeborenen noch eine Viertelstunde im Lazarett festgehalten waren. Vor dem gleißenden Sonnenlicht kniff er die Augen zu. Die Frau, die in Mrs. Rockcliffs Haus gewesen war, hatte tags zuvor in der Missionssiedlung dieselben Schuhe getragen. Sie war durch die Hintertür von Mr. Beamers Haus zu dem geheimen Lagerplatz und auf demselben Wege zurückgegangen. Für Bony war dieses Faktum unwiderleglich bewiesen. Er hatte gute Gründe, jetzt nicht diesen Spuren ins Haus des Missionars zu folgen, um die Schuhe zu suchen. Nicht zuletzt verzichtete er darauf, weil vielleicht Beamer oder auch seiner Frau der Aufenthalt beim Oberwachtmeister im Lazarett zu lange dauern mochte und sie früher nach Hause gingen als erwartet. Essen konnte zwar die Eingeborenen eine Stunde lang festhalten, aber die Beamers brauchten sich nach ihm nicht zu richten. Die würden natürlich scharf protestieren, wenn sie Bony ohne Haussuchungsbefehl in ihrer Wohnung anträfen. Einen weiteren Hinweis gab ihm das Studium der Schuhabdrücke, die Mrs. Beamer auf dem Weg zum Lazarett hinterlassen hatte. Die Größe stimmte. Sie trug spitze, flache Schuhe. Aber die Abdrücke bewiesen Bony auch, daß sie an flache gewöhnt war, während die Frau, die das Haus auf der Elgin Street betreten hatte, offenbar normalerweise Schuhe mit hohen Hacken trug. Ganz sicher war er seiner Sache noch nicht – denn kein menschliches Gedächtnis ist absolut unfehlbar –, aber fast überzeugt doch schon, daß nicht Mrs. Beamer das geheime Camp besucht hatte. 175
Er ließ das Boot treiben und rauchte noch eine Zigarette. Das eine von einer Frau getragene Schuhpaar ließ auf einen Zusammenhang der Ermordung Mrs. Rockcliffs und der Entführung ihres Kindes mit der Missionssiedlung schließen und legte die Vermutung nahe, daß das kleine Kind in dem Versteck ein weißes war. Für die gegenteilige Annahme lag kein Grund vor, denn es gab für das kleine, mit Laub verkleidete Zelt, das nur ein paar hundert Meter von achtundzwanzig wetterfesten, bequemen Holzhütten errichtet war, keine andere vernünftige Erklärung. Und keine Eingeborene konnte ein Kind heimlich zur Welt bringen und es dann noch verborgen halten. Als sicher durfte vorausgesetzt werden, daß Häuptling Wilmot und seine Leute von dieser Frau und dem Kind wußten. Und zwei weitere Tatsachen galten für Bony als ausgemacht : Erstens, daß der Grund, weshalb das Baby in dem geheimen Lager gehalten wurde, ein Stammesgeheimnis war, und ferner, daß Geheimnisse dieser Art den Eingeborenen durch keine der in den zivilisierten Ländern des Westens üblichen Methoden entlockt werden können. Er machte das Boot an dem alten Steg fest und begab sich aut Umwegen zum Polizeigebäude, wo er an der Rückseite über den Zaun kletterte. Unbemerkt betrat er, die Schafpelzschuhe unter dem Arm, sein Zimmer, in dem Essen und Alice McGorr beim Pokerspiel saßen. Essen sagte lächelnd : »Sie sehen aus, als hätten Sie in einer Hundehütte geschlafen.« Und Alice fragte : »Haben Sie schon gefrühstückt?« »Noch nicht, Alice.« Bony warf sich das schwarze Haar aus der Stirn, setzte sich vor den Schreibtisch und begann die unvermeidliche Zigarette zu drehen. »Würden Sie so gut sein und …?« »Ich werde Ihnen Kaffee und etwas zu essen aus der Küche holen«, erklärte sie mit strenger Miene. »Allerdings nur so viel, daß Sie noch Appetit aufs Mittagessen behalten. Geben Sie aber meinem Kollegen keine Informationen, bis ich wieder hier bin !« »Nein, kein Wort, Alice, nichts werde ich ihm erzählen.« Nachdem sie hinaus war, sagte er zu Essen : »Nun berichten erst Sie mir bitte, restlos.« »Ich bin Ihren Instruktionen fast bis auf den I-Punkt gefolgt«, begann der Oberwachtmeister. »Kam pünktlich an und fuhr pünktlich 176
wieder ab. Mit den Beamers hatte ich keine Schwierigkeiten, im Gegenteil, sie waren mir behilflich. Beamer ging mit mir und einem Wachtmeister zu den Wohnhütten. Wir brachten sämtliche in der Siedlung zurückgebliebenen Schwarzen zusammen. Nach Ihrem Befehl sollte ich sie eine Stunde vom Gelände fernhalten. Ich habe noch zehn Minuten zugegeben, weil ich gleich nach Beginn der Verhöre etwas Hinterhältiges spürte, woraus ich nicht klug wurde. Sie kennen ja die Eingeborenen : Man kann sie lenken, aber niemals treiben. Den Clark habe ich schön zum Schwitzen gebracht, aber obgleich der gegen die reinblütigen ein Schwächling ist, ließ er sich kein bißchen von seinen früheren Behauptungen abbringen. Er blieb dabei, daß er sich mit einem Bekannten aus der unteren Flußsiedlung betrunken habe. Ich täuschte ihm alles mögliche vor : Wir wüßten, daß er öfters Schnaps kaufte und mit anderen Schwarzen außerhalb der Siedlung zechte, überhaupt, daß er ein sehr unangenehmer Kerl sei. Half alles nichts. Der alte Wilmot saß ganz still und sprach keinen Ton, und sein Sohn Fred wich meinem Blick immer aus. Die übrigen wackelten mit den Zehen und machten einen verängstigten Eindruck, und die Beamers blickten mich an, als wollte ich Unschuldslämmer ermorden. Soweit das äußere Bild, aber dahinter verbarg sich etwas Unklares. Kam mir vor, als wenn Leute, die ich wegen eines Diebstahls verhöre, jeden Moment damit rechnen, wegen Mordes angeklagt zu werden. Bei meinen Fragen blieben sie ganz gleichgültig, schienen aber sehr gespannt noch ganz andere Fragen zu erwarten.« »Schlossen Sie das aus der Haltung, die der Häuptling, sein Sohn und Clark zeigten? Nicht aus der Haltung anderer?« »Nein, jedenfalls nicht der anderen Männer, sondern der Frauen. Auch der beiden, die als Krankenschwestern tätig sind.« »Haben Sie sie auch gefragt, weshalb die übrigen fortgezogen sind?« »Das erwähnte ich gleich zu Anfang. Sie haben sich bis zur nächsten großen Flußbiegung zurückgezogen.« »Wie weit liegt die von der Siedlung?« »Gut sechzehn Kilometer. – Was für Fortschritte haben Sie selbst gemacht?« Bony lächelte. »Denken Sie nicht an den Befehl, daß ich zu schweigen habe, bis das Frühstück aufgetischt ist?« 177
»Ach ja, richtig.« Essen lachte. »Das ist ein Mädchen, was? Sie hat tausend, verschiedene Gesichter, und ich habe bisher erst sechs kennengelernt : die fürsorgliche Hausfrau, die schlagkräftige Gegnerin im Kampf mit Männern, die Detektivin, die bemutternde Tante, die Säuglingspflegerin und den Diktator.« »Der Befehl braucht Sie aber nicht zu hindern, mir Aufschluß über das Treiben von Mr. Cyril Martin junior zu geben.« »Sehr richtig. Also : Der junge Martin ist seit zwei Tagen in der Stadt, vorgestern abend spät angekommen. Das letztemal, als er hier war, wohnte er bei einem Freund, der ungefähr drei Kilometer flußabwärts einen Weingarten besitzt. Das war vom 26. oder 27. Januar bis zum 10. Februar. Jedenfalls hielt er sich am 1. und am 10. Februar in Mitford auf, denn an diesen beiden Tagen hat er bei der Tankstelle Benzin geholt.« »Und wo steckt er jetzt?« »Bei seinen Eltern«, erwiderte Essen. »Muß sich wohl mit dem Alten halbwegs ausgesöhnt haben.« »Die Versöhnung kann schon wieder vorbei sein, Essen. Ich habe die beiden im Büro von Martin senior heftig streiten gehört.« Bony schwieg einen Moment, ehe er hinzufügte : »Sogar das muß warten.« Während sie über Fred Wilmot sprachen, kam Alice mit einem Tablett herein. Sie stellte es vor Bony hin und goß ihm sofort Kaffee ein. Sein, Lächeln erwidernd, setzte sie sich neben Essen an die andere Seite des Schreibtischs und musterte ihren Chef kritisch. »Na, was haben Sie zu berichten, Alice?« fragte er, indem er Kaffee trank und mit der anderen Hand ein belegtes Brot nahm. »Ich ging in die Wohnung von Doktor Delph und besuchte meine Busenfreundin, die Köchin. Anscheinend wird sie dort gut behandelt. Sie war mit der Tagesarbeit fertig und befand sich in ihrem Zimmer, in einem kleinen Nebengebäude hinter dem Haus, das fürs Personal bestimmt ist. Zur Zeit ist sie die einzige Hilfskraft. Durch ein Haustelefon in ihrem Zimmer ist sie mit der Wohnung verbunden. Na, wir ließen uns bei einer halben Flasche Gin nieder, und ich erfuhr die Tagesneuigkeiten. Alles verlief normal bis um 15 Uhr 30, als Doktor Delph nach Hause kam und seine Frau bei der Köchin den Nachmittagstee anforderte. Sie deckte den Tisch in der Diele, wo der Arzt und seine Frau sich bereits heftig über das tägliche Thema stritten. Es ging 178
stets, wie die Köchin mir erklärte, um die monatlichen Ausgaben für ihren gräßlichen Sherry. Als die Köchin den Teetisch abgeräumt hatte und das Gemüse zum Abendessen putzte, klingelte das Telefon im Flur. Mrs. Delph nahm das Gespräch an und rief laut nach ihrem Mann, der irgendwo aus dem Hintergrund kam. Sie sagte etwas, das die Köchin nicht verstehen konnte, und plötzlich kreischte sie los wie ein wütender Papagei. Der Arzt schimpfte, telefonierte dann aber mit leiser Stimme. Gleich nach dem Gespräch schrie er nach der Köchin. Als diese in den Flur kam, stand der Arzt über seine Frau gebeugt, die auf dem Rücken am Boden lag und immerfort das eine Wort ›nein‹ kreischte. Doktor Delph forderte die Köchin auf, Mrs. Delph zu beruhigen, so gut sie vermöchte, eilte in sein Sprechzimmer, holte eine Spritze und machte seiner Frau eine Injektion. In knapp einer Minute war sie still. Zusammen trugen sie sie in ihr Schlafzimmer, wo die Köchin sie auszog und ins Bett packte. Später erklärte er der Köchin, sie seien beide über einen Anruf aus der Bank, der den Selbstmord Mr. Bulfords meldete, so erschrocken gewesen. Beim Tischdecken für das Abendbrot hörte die Köchin, wie Delph telefonisch ein Telegramm aufgab, und zwar an Doktor Nonning, den Bruder seiner Frau in Melbourne, dem er mitteilte, sie sei mit den Nerven zusammengebrochen, er möge doch kommen und ihr helfen. Dann ereignete sich nichts Wichtiges mehr. Als die Köchin mit dem Abwaschen fertig war, fragte sie Doktor Delph, ob sie für seine Frau noch etwas tun könnte, aber er antwortete, er wolle sie selbst pflegen und gab der Köchin für den Abend frei. Ich überließ der Köchin den Gin, der noch da war, suchte mir eine Telefonzelle und meldete alles – wie Sie befohlen hatten – Sergeant Yoti. Von dort ging ich zur ›Olympic Bank‹. Vor dem Haus standen drei Wagen. In den Zimmern über dem Bankraum brannten die Lampen, auch vor dem Privateingang. Ich begab mich auf das leere Nebengrundstück und stellte mich an den Zaun gegenüber dem Privateingang, um zu sehen, wer herauskam. Es dauerte kaum zwanzig Minuten, da fuhr draußen Doktor Delph vor und kam durch den langen Zwischengang, um an der Tür zu klingeln. Er wurde eingelassen, aber nicht durch Mrs. Bulford, sondern durch Professor Marlo-Jones. Keiner von den beiden sprach an der Tür. 179
Ich nehme an, sie hatten sich schon telefonisch verständigt, und Doktor Delph kam, um auch Mrs. Bulford eine Spritze zu geben. Na, ich blieb zwei Stunden auf dem Fleck stehen und hatte meine Last mit den Mücken, bis die Tür wieder aufging und die Besucher herauskamen, auch Mrs. Bulford, die also wohl keine Injektion bekommen und ihrem Aussehen nach auch keine nötig hatte. Es waren : Professor Marlo-Jones und Frau, Doktor Delph, die Dame Coutts und ihr Mann, der Stadtingenieur sowie ein weiterer Mann und eine Frau, deren Namen ich nicht kenne. Sie hatten wohl ihre Sherryparty gehabt. Nachdem sie fort waren, wartete ich noch und ging erst, als oben alle Lampen aus waren und ich annehmen konnte, daß Mrs. Bulford sich zu Bett gelegt hatte. Ich ging in ein Lokal, um rasch ein paar Tassen Kaffee zu trinken und eine Fleischpastete zu essen, bevor ich mich wieder zu den Delphs begab. Im Flur brannte Licht, außerdem in einem Vorderzimmer und in einem an der Seite. Ich setzte mich auf eine Bank innen hinter der Gartentür, die ich mir gemerkt hatte, und erschlug wieder Mücken. Die ganze Nacht geschah nichts, die Lampen blieben brennen. Gegen Morgen erst kam der Wagen. Ich ging gerade auf der Straße hin und her, weil ich vom langen Sitzen steif war. Es war ein großer Wagen, der gleich ins Tor einbog. Also kannte der Fahrer seinen Weg genau. Doktor Delph lief dem Wagen entgegen, ehe er vor der Haustür ganz stillstand. Er sagte : ›Hallo, Jim, Sie haben aber Tempo vorgelegt.‹ ›Ja, ich habe ordentlich Gas gegeben. Nachts hat man ja freie Straßen‹, antwortete der. ›Bei der Eile konnte ich aber nur eine Krankenschwester auftreiben. Wie geht’s der Patientin?‹ ›Ich sorge dafür, daß sie Ruhe hat, Jim‹, erwiderte Doktor Delph. Jim öffnete den Wagenschlag und half zwei Frauen beim Aussteigen. Eine wurde dem Arzt als Miss Watson vorgestellt, die andere kannte er schon, denn er nannte sie Dicky. Die Frauen gingen ins Haus, wo Dicky offenbar Bescheid wußte, und als die beiden Männer das Gepäck abluden, sagte Jim : ›Dicky habe ich mitgebracht, damit sie ein bißchen den Haushalt versieht. Miss Watson ist eine erfahrene Schwester und diskret. Zu ihr können Sie volles Vertrauen haben.‹ ›Wenn Sie das sagen, genügt’s mir‹, sagte Delph. ›Nett von Dicky, daß sie mitgekommen ist. Und was wird mit den anderen? Je schneller diese neueste Geschichte aufgeklärt wird, um so besser.‹ 180
›Ganz meine Meinung‹, antwortete Jim. ›Ich habe ihnen gesagt, sie sollten heute abend um elf kommen, und habe dem Ehemann die üblichen Anweisungen gegeben.‹ Und das war alles, was ich mithören konnte«, schloß Alice. »Die ›üblichen Anweisungen‹, sagten Sie?« forschte Bony. »Ja«, erwiderte Alice. »Als es so hell wurde, daß ich mich, dort nicht mehr aufhalten konnte, ging ich nach Hause, um wenigstens zwei Stunden zu schlafen. Der Jim ist übrigens Doktor James Nonning.« »Und Dicky?« fragte Bony mit leisem Spott. »Muß wohl Nonnings Frau sein.« »Wie kommen Sie darauf?« »Beide Ärzte waren zu Miss Watson höflich. Um Dicky kümmerten sie sich nicht – deshalb meine ich das.« »Gesunde Logik, Alice, und zu neunzig Prozent richtig. Aber vergessen Sie nicht, daß es nur wenige so gute Ehemänner gibt wie mich. – So, jetzt können Sie beide gehen. Legen Sie sich wieder zu Bett und ruhen Sie sich aus, denn heute abend müssen wir alle wieder ins Geschirr.« »Ich werde zur Stelle sein. Ich glaube, ich könnte jetzt acht Stunden schlafen, und Mr. Essen muß schon beinahe bewußtlos sein.« Alice stand auf, Essen warf ihr einen skeptischen Blick zu. An der Tür blieb sie stehen und fragte erwartungsvoll : »Haben Sie heute nacht gute Fortschritte erzielt?« »O ja«, entgegnete Bony obenhin, »ich habe einen zweiten Moses in den Binsen entdeckt.« »Was? Sie haben …?« Alices dienstlich strenges Gesicht sah auf einmal lebhaft aus. »Doch nicht, etwa eins von den –?« »Wie Sie mich zum Geständnis zwingen, Alice ! Nichts weiter jetzt. Sie müssen gehen, und ich möchte mich umziehen. Melden Sie sich um 20 Uhr wieder.«
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asiert, gebadet und frisch angezogen saß Bony an seinem Schreibtisch und las die morgens mit dem Flugzeug eingetroffene Post. Der erste Brief, den er öffnete, trug die Handschrift seiner Frau. Sie schrieb hauptsächlich über einen theoretischen Fall, von einer Frau, die ein Kind zur Welt brachte, nachdem sie längst den Gedanken daran aufgegeben hatte. In ihrer Darstellung kamen keine psychologischen Fachausdrücke vor, sie bewies mit einfachen und daher sehr wirkungsvollen Worten eine gründliche Kenntnis der weiblichen Komplexe. Bonys alter Freund, der Chef der Kriminalpolizei von Victoria, hatte dem übersandten Ermittlungsbericht, betreffend einen gewissen Nonning und einen gewissen Martin, persönliche Grüße beigefügt. Ferner war da eine offizielle Mitteilung von Chefinspektor Canno, die in der Beamtensprache ein ›Ersuchen um Aufklärung‹ genannt wird. Die erbetene Aufklärung betraf das völlige Fehlen von Berichten über bisherige Erfolge. Als Sergeant Yoti durch die offene Tür ins Zimmer blickte, saß Bony kerzengerade im Sessel, hatte die Hände auf der geöffneten Post liegen und die Augen geschlossen. Zuerst glaubte er, Bony sei so übermüdet, weil er die ganze Nacht tätig gewesen war, doch als er länger hinsah, merkte er, daß das nicht stimmte. Er trat ein, Bony schlug die Augen auf. »Guten Tag, Sergeant.« »Hm. Dachte schon, Sie schliefen. Haben wohl gegrübelt?« »Ja, ich rang mit einem Problem.« Yoti setzte sich und begann seine Pfeife zu stopfen. »Was tut der Mensch«, fuhr Bony fort, »wenn ihn genau zur Mittagszeit zwei Impulse treiben, die beide gleich starke Überzeugungskraft haben?« 182
»Der arme Bulford wußte die Antwort darauf«, erwiderte Yoti. »Und er wird morgen begraben.« »Leichenschau erledigt?« »Vor einer Stunde.« »Wer war außer den Amtspersonen dabei?« »Mrs. Bulford, der Kassierer, der Hauptbuchhalter und der Revisor von der Hauptbank. Und natürlich die Presse : neun Großstadtreporter, abgesehen von den einheimischen.« »Keiner von Bulfords Freunden?« »Nein. Das heißt : Doktor Nott, Mrs. Marlo-Jones und Mrs. Coutts.« »Klarer Urteilsspruch vermutlich?« »Ja. Geistige Störung, wahrscheinlich verursacht durch den Verlust des Kindes. Der Revisor hat in der Bank alles in bester Ordnung gefunden.« »Armer Kerl.« Nachdenklich starrte Bony auf die offenen Briefe. Yoti rauchte mit Hingebung. Als ihn das Schweigen bedrückte, sagte er : »Ich bin gekommen, um Sie zum Mittagessen zu holen.« »Dem Ruf müssen wir gehorchen. Aber sagen Sie mir erst noch, ob sich Ihr Fährtensucher heute morgen zum Dienst gemeldet hat.« »Habe ihn beim Revier nicht gesehen, allerdings war ich ja fast den ganzen Vormittag bei den Coutts !« »Stellen Sie fest, ob er gekommen ist oder nicht. Ich werde mich inzwischen mit Ihrer Gattin unterhalten.« Beim Essen meldete Yoti, nachdem er sich erkundigt hatte, Fred Wilmot sei nicht gekommen. Dann sagte er zu seiner Frau, Bony sei mit einem Problem beschäftigt. Auf ihren fragenden Blick zog er warnend die Stirn in Falten, denn Bony war wieder in Gedanken versunken, was bei Tisch selten vorkam. So sprachen die beiden von belanglosen Sachen, bis Bony sagte : »Weil ich nicht an zwei Orten zugleich sein kann, fühle ich mich entschieden behindert. Wenn ich an die Zwillingsfährten von Weiß und Schwarz denke, neige ich dazu, mich für Weiß zu entscheiden. Da ich jedoch Gefühlsmensch bin und niemanden kenne, der vom Busch und vom Wesen der Eingeborenen mehr versteht als ich selbst – so daß ich ihn um Rat fragen könnte –, muß ich mich für Schwarz entscheiden.« 183
»Sehr einleuchtend gesprochen, nicht wahr?« bemerkte Yoti zu seiner Frau. »Könnten Sie mir Wohl eine Flasche starken Kaffee ohne Milch und Zucker und Brote für zwei Mahlzeiten mitgeben, Mrs. Yoti?« fragte Bony höflich. »Selbstverständlich. Auch Kuchen?« »Keinen Kuchen. Bei der Hitze mag ich keine Süßigkeiten. Aber vielleicht haben Sie einen leeren Nylonbeutel, den ich als Proviantsack benutzen kann?« »Ja, ich werde schon einen finden.« »Ich werde also um 14.30 Uhr an Ihrer Küchentür erscheinen, um Kaffee und Brote in dem Beutel in Empfang zu nehmen. Schönen Dank, Mrs. Yoti. Und nun, Sergeant, könnten Sie mich um 15 Uhr hinausfahren, eine Strecke von etwa sieben Kilometern?« Yoti hatte zwar sehr viel Arbeit vor sich, konnte aber der Versuchung, ›seinen Finger in diese Pastete zu Steckens nicht widerstehen. »Sie werden mich pünktlich um 15 Uhr in Ihrem Wagen sitzend finden«, sagte Bony. »Ich danke Ihnen beiden für Ihre Hilfe. Jetzt muß ich Instruktionen aufschreiben.« Nachdem er gegangen war, sagte Yoti zu seiner Frau : »Der macht sich Sorgen, was?« »Aber nicht über seine eigene Person«, entgegnete sie. »Woher willst du das wissen?« »Weil ich’s eben weiß.« »Zum Donnerkiel ! Fragt man eine Frau, dann kriegt man bloß zur Antwort ›weil‹ und ›weil‹. Laß mich nur wieder in mein Büro gehen.« Er bedauerte sofort diese Worte, küßte seine Frau zärtlich aufs Ohr und ging. Bei der Arbeit schaute er immerfort auf die Wanduhr, und als es auf 15 Uhr ging, stapfte er ins Dienstzimmer und sagte zu dem Wachtmeister, er werde vielleicht eine Stunde, vielleicht auch eine Woche fortbleiben. Im Hof und auf dem Fahrweg zwischen Wache und Wohnhaus vibrierte die Luft vor Hitze. Kein Mensch war zu sehen. Er schritt zur Garage, öffnete die Flügeltür und ging hinein. Im Wagen sah er niemand. Als er sich ans Steuer gesetzt und ihn rückwärts hinausgefahren hatte, hörte er jemanden sagen : »Fahren Sie in Richtung Ivanhoe.« 184
Yoti drehte seinen Rückspiegel hin und her, entdeckte aber keinen Mitfahrer. Erst als er sich über den Sitz zurückbeugte, sah er Bony auf dem Fußboden hocken. »Verstecken Sie sich vor den Kobolden?« fragte er ihn. »Ich möchte unbemerkt aus der Stadt kommen. Geben Sie mir ein Zeichen, sobald wir im Freien sind.« Yoti fuhr durch die fast menschenleere Hauptstraße, bog nach rechts in den Boulevard und bei den Anlagen am Ende dieser breiten Allee nach Norden ab. Zwischen Obstplantagen und Weingärten ging es aus der Stadt. Wo der leicht ansteigende Weg zur Ebene des roten Sandes begann, für die Alice sich so begeistert hatte, rief er Bony zu : »Alles klar«, worauf dieser gleich über den Sitz neben ihn kletterte. »Ich lasse hier vorn in dem Fach diese drei Kuverts«, sagte er mit seiner angenehmen Stimme, in der ein ernster Unterton mitschwang. »Die an Alice McGorr und Essen adressierten enthalten ganz bestimmte Instruktionen. Das dritte Schreiben ist an Sie gerichtet, mit dem Vermerk, daß es nicht vor morgen abend um 18 Uhr geöffnet werden darf, und dann auch nur, wenn ich es vor dieser Zeit nicht zurückfordere. Klar?« »Vollkommen.« »Sollte mir zwischen jetzt und morgen um 18 Uhr ein Unheil zustoßen, so wären die Ergebnisse meiner Ermittlungen in der Mordsache Rockcliff für das Präsidium verloren. Deshalb habe ich das bisher Geleistete schriftlich skizziert, in einer Form, die Ihnen genügen müßte, um gegen den Mörder der Frau vorzugehen.« »Wollen Sie damit sagen, daß der Name des Mörders in diesem Brief steht?« fragte Yoti. »Ja, obwohl das Beweismaterial noch nicht ganz schlüssig ist. Ich muß jedoch abermals betonen, daß die Lösung der Kindesentführungen wichtiger ist als die Festnahme des Mörders.« »Das werde ich nicht vergessen. Auf den Mörder und die Kinder beziehen sich also die Fährten von Schwarz und Weiß, die Sie erwähnten?« »Nein. Die weißen deuten auf einen bestimmten Ort und die schwarzen auf einen zweiten, und ich kann nicht an beiden zugleich sein. Mir bleibt daher, weil die Sicherheit eines kleinen Kindes obenan stehen muß, keine Wahl.« »Haben Sie denn eins der Kinder ausfindig gemacht?« rief Yoti laut. 185
»Ich habe Grund, das zu hoffen.« »Ha ! Und dabei denken der alte Canno und ich, Sie wären ganz in die Fußstapfen der anderen Schwachköpfe von der Kriminalabteilung getreten. Was habe ich denn nun heute abend zu tun? Soll ich stillsitzen und an den Fingernägeln knabbern?« »Ja. Vielleicht kommt morgen für Sie die große Aufgabe – nach 18 Uhr. Ich werde Sie jetzt bei den Keulenbäumen da vorn verlassen. Halten Sie gar nicht an, sondern fahren Sie so langsam, daß ich hinausspringen kann, und fahren Sie noch zwei Kilometer weiter, ehe Sie umkehren. Wer Sie dann umdrehen sieht, wird nur auf den Wagen achten, nicht aber auf diese Baumgruppe und … auf mich.« Bony zog die Überschuhe aus Schafpelz an und band sie an den Knöcheln fest. Nahm den Nylonbeutel mit seinem bescheidenen Proviant zur Hand, öffnete die Tür und sprang, sobald der Wagen zwischen den Keulenbäumen gedeckt war, hinaus. Yoti fuhr noch eine Strecke weiter und wendete den Wagen auf festem Lehmboden. Inzwischen war Bony schon bis zu einem Salzbusch fast tausend Meter von der Absprungstelle vorgedrungen, und bevor das Auto in der Ferne zu einem schwarzen Pünktchen auf einem langen Streifen wirbelnden Staubes geworden war, befand er sich hoch oben auf einem Baum und blickte durch ein starkes Fernglas. Nach fünf Minuten hatte er festgestellt, daß sich außer Yoti mit dem Wagen in der ganzen Umgebung nichts bewegte. Die Tiere saßen und lagen, wie immer bei solcher Hitze, im. Schatten und warteten auf den Untergang der Sonne, um erst dann ihre Weideplätze oder die vom Menschen eingerichteten Tränken aufzusuchen. Der Mensch jedoch konnte ganz anders handeln, ihn konnten zwingende Gründe in die sengend heiße Sonne treiben wie jetzt Bony. Nichts verriet Bewegung, weder Tier noch Mensch. Bony stieg vom Baum, legte sich den Nylonbeutel wie einen Rucksack über die Schulter, hängte den Feldstecher um und klopfte auf die Pistole, die er in einem Halfter unter der Achsel trug. Er befand sich etwa vier Kilometer nördlich der Missionssiedlung. Deckung fand er genug, Salzbüsche, Raumgruppen und ausgetrocknete Wasserläufe. Schlaue weiße Pfadfinder mögen viel ausrichten, wenn sie ihr Können mit dem anderer Weißer messen, doch wenn sie es mit Eingeborenen aufnehmen wollen, kommen sie nicht weit. Den au186
stralischen Busch nördlich vom Murray hält jeder, der sich in der Wildnis zu bewegen weiß, für ein ideales Gelände, aber das täuscht sehr. Er wird manche Überraschung erleben. Bisweilen hat er auf ganz ebenem Grund das Gefühl, einen Berg zu ersteigen. Er sieht einen seichten Bach, und das Wasser fließt bergauf. Er wettet, das sei unmöglich, und verliert. Die Entfernung eines Sandhügels schätzt er auf zwanzig Kilometer, und es ist nur einer. Er weiß, daß eine Baumgruppe nur wenige Hundert Meter links von ihm liegt, muß aber eine Stunde gehen, bis er sie erreicht. Und wenn er meint, er könne den Eingeborenen entfliehen, wenn sie Jagd, auf ihn machen, ist er schwer im Irrtum. Die trügerischen Luftspiegelungen breiten sich am ganzen Horizont wie riesige Binnenseen aus. Sie täuschen ihn so, daß er kleine Blausträucher für riesige Eukalyptusbäume hält oder einen Büschel roten Schweinekrauts für einen dreißig Meter hohen Sandberg. Niemals aber wird er in der trügerischen Luftlandschaft die wilden Ureinwohner entdecken, denn die verstehen sich auch in ihr unsichtbar zu machen. Von Bäumen aus, von Hügelkuppen oder hinter Salzbüschen verborgen, spähte Bony scharf nach kleinen Staubspritzern, nach Rauchspiralen. Er beobachtete auch die Adler und die Krähen, und sein Gehör sagte ihm genau, in welcher ›Stimmung‹ die Kakadus und Papageien waren. Nach einiger Zeit legte er sich, fast erschöpft, naßgeschwitzt und etwas wackelig auf den Beinen, die so lange Anstrengung nicht gewohnt waren, hinter Salbeisträucher und lugte zwischen den dünnen, seilartigen Stengeln hindurch. Er blickte auf Wasser und sah jenseits des Wassers die graue Laubverkleidung des kleinen Zeltes. Die schwarze Frau bereitete gerade für das Baby eine Milchflasche vor. Als er sich somit überzeugt hatte, daß das Kind noch in dem Versteck war, zog er sich bis zu einem Baum auf einer Anhöhe zurück. Er brauchte nicht hoch zu klettern, um freien Ausblick über die ganze Umgebung des Lagers zu haben. Auf seinem hohen Sitz trank er den lauwarmen Kaffee und aß sparsam von den Broten, die Mrs. Yoti ihm eingepackt hatte. Kein Kaninchen hätte bis an das Lager gelangen können, ohne daß er es merkte. Als die Sonne, noch langsam, am westlichen Himmelsbogen sank, spannten sich Bonys Nerven in Erwartung der Ereignisse. Er wurde im187
mer unruhiger, weil leise Zweifel in ihm bohrten, ob er sich auf seinen Instinkt noch verlassen konnte. Ein Kaninchen wagte sich aus dem Bau hervor und rannte zum Bach, um zu trinken. Seine Bewegungen schienen zum Signal für die Vögel zu werden : Die blauen Zaunkönige und die Wellensittiche schwangen sich scharenweise in die Luft, die Adler zogen ihre Kreise niedriger. Galahs und Kakadus flogen in Schwärmen zum abendlichen Trunk aus. Und aus dem Baum, der dem Lager am nächsten stand, stieg Fred Wilmot, der Fährtensucher. Er mußte etwas gerufen haben, denn die Eingeborene kam aus dem Zelt und setzte sich zu ihm vor das schwach brennende Feuer. Bony konnte die weißen Zähne der beiden sehen, als sie lachten und scherzten, indem Fred die Frau in die Rippen knuffte und sie ihn zum Spaß ohrfeigte. Kein Zweifel, daß sie ineinander verliebt waren. Und daß sie jung verheiratet waren, fand Bony dadurch bewiesen, daß Fred willig den Befehlen der Frau gehorchte. Er füllte nämlich einen Kochtopf am Bach und setzte, ihn aufs Feuer. Ging mit seiner Frau ins Zelt, wo sie ihm eine zinnerne Badeschüssel und eine Decke gab, um draußen zu überwachen, wie er die Decke ausbreitete und das Kinderbad vorbereitete. Dann bekam er den Auftrag, Wasser für das Bad aus dem Bach zu holen und warmes aus dem Topf zuzugießen. Sie kam dann mit einem Bündel aus dem Zelt und kniete sich auf die Decke. Ihr Mann stand dicht neben ihr und sah zu, wie sie es auswikkelte. Lachend schaute sie zu ihm auf und hob das nackte Kind aus den Windeln. Ein glänzender Sonnenstrahl fiel über die Gruppe. Die schokoladenbraune Haut der Eltern bekam einen goldenen Glanz, zwischen ihnen lag weißhäutig das winzige Kind.
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urchs Fernglas beobachtete Bony, wie die Eingeborene das Kind badete, ihm Zeug anzog, das sie aus einem Handkoffer nahm, und es in einen großen weißen Schal wickelte. Ihr Mann saß währenddessen auf den Hacken, sah ihr zu und lachte sie an. Als sie fertig war, wurde die Badeschüssel wieder ins Zelt gebracht, dann setzten sich die beiden mit dem Kind in der Mitte vor den Eingang. Während sie lachten und sich neckten, so daß Bony ihre Zähne blitzen sah, leuchteten seine Augen saphirblau, denn er war hoch befriedigt, weil seine Voraussagen sich als richtig erwiesen hatten. Jetzt sollte der Vorhang vor einem Drama aufgehen, das zum erstenmal schon in grauer Vorzeit abgerollt war, und das Baby wurde vorbereitet, um seine Rolle dabei zu spielen. Zwanzig Minuten vergingen, die Schatten wurden merklich länger, da kam zwischen den Bäumen, die den Bach zur Linken von Bony verdeckten, ein von zwei Pferden gezogener vierrädriger Karren mit Brettern als Sitzen hervor. Die Pferde lenkte der weißhaarige Häuptling Wilmot. Er schien es nicht eilig zu haben, was offenbar die Tiere auch merkten, denn das Gefährt bewegte sich gemächlich an der Seite des Baches entlang, wo Bony sich befand, um schließlich gegenüber dem Zelt haltzumachen. Der junge Wilmot nahm Handkoffer und Decke und ging seiner Frau, die das Kind trug, durch das seichte Gewässer voraus. Während sie auf den Wagen stieg und sich mit dem Rücken zur Kutscherbank auf das hintere Brett setzte, hielt er das Baby. Sie nahm es dann wieder, Koffer und Decke wurden auf einen Haufen gelegt, der wie Brennholz aussah. Alle diese Vorbereitungen für eine Reise wurden ohne die sonst bei den Eingeborenen übliche Aufregung getroffen. Kein Geschrei, kein 189
rastloses Hin und Her, ein Beweis dafür, daß die Fahrt einen anderen Zweck hatte als ein gewöhnliches ›walkabout‹, eine kurze Abwanderung. Häuptling Wilmot hatte nämlich die Siedlung auf dem über die Flußbrücke führenden Weg verlassen und war dann dem Lauf des Baches so gefolgt, daß die Bäume sein Gefährt vor Beobachtung durch Mr. Beamer verdeckten. Deshalb unterließ er auch das Geschrei, mit dem sonst die Pferde angetrieben wurden, und verhielt sich in der Nähe des geheimen Lagers ganz still. Nachdem Fred Wilmot sich neben seinen Vater gesetzt hatte, trieb der Häuptling die Pferde mit der Peitsche an. Das Gefährt steuerte jetzt auf ›Bonys‹ Baum zu. Bony lief nun so über das offene Gelände, daß der Baum ihm Deckung bot. Lief bis hinter ein Dickicht von Nadelholz, wo er wartete, bis der Wagen wieder in Sicht kam und er dessen Richtung verfolgen konnte. So hielt er sich von Deckung zu Deckung vor den Fahrenden, für die nach seiner Überzeugung nur zwei Ziele in Betracht kamen, und war froh über das langsame Reisetempo. Bony hatte den großen Vorteil, den Fahrenden voraus zu sein. Die Männer auf der Kutscherbank mußten, da sie nach Nordwesten fuhren, in die grell von Westen strahlende Sonne blicken, indes der Ausblick für die scharfsichtige junge Eingeborenenfrau, die mit dem Rücken zu den beiden saß, bei ihrem Forschen nach möglichen Verfolgern nicht behindert war. Als der Wagen den Bach etwa zwei Kilometer hinter sich gelassen hatte, gab Häuptling Wilmot seine Vorsicht auf : Er schrie die Pferde an, wenn er sie schlug, weniger um sie zu schnellerer Gangart anzutreiben als aus reiner Gewohnheit. Und das verstanden die Tiere sehr wohl, denn sie fielen aus dem gelegentlichen Trab immer gleich wieder in ihren faulen Schritt. So brauchte sich Bony mit Laufen nicht sehr anzustrengen, er mußte nur aufpassen, daß ihm, wenn er wieder eine Deckung verließ und zur nächsten hinübersprang, das Gefährt nicht vorauskam. Schließlich überquerte er den nach Ivanhoe führenden Weg unweit der Keulenbäume, bei denen Yoti ihn abgesetzt hatte. Ein Stück weiter nahm er wieder Deckung hinter Salzsträuchern. Wenn die Eingeborenen auf diesen Weg nach Ivanhoe abschwenkten, wollten sie bestimmt zu den ›Teufelsmarmeln‹, die er kürzlich mit Alice McGorr aufgesucht 190
hatte. Behielten sie aber ihre jetzige Richtung bei, dann mußte ihr Ziel der uralte Baum in der Mitte der breiten Senke sein. Familie Wilmot fuhr geradeaus. Über ihr Fahrtziel nun nicht mehr im Zweifel, eilte Bony westwärts. Nach einer Stunde erreichte er den Rand eines längst ausgetrockneten Sees, der fast kreisrund und ungefähr vier Kilometer lang gewesen war. Etwa eine Minute suchte er mit dem Fernglas die ganze frühere Uferlinie ab und überzeugte sich durch Beobachten, daß unter dem Baum oder in seiner Nähe kein Mensch zu sehen war. Zwischen dem Baum und dem Uferrand gab es keinerlei Deckungsmöglichkeiten, doch als die Wilmots sich dem Baum näherten, saß Bony schon in ihm versteckt und beobachtete den Wagen bei der Fahrt durch die Senke. Der unter den Rädern und Hufen aufwirbelnde Staub schwebte im Sonnenschein wie gesponnenes Gold über der Erde. Die Sonne stand schon tief, als Häuptling Wilmot mit Gebrüll die Pferde anhielt, die sowieso auf das geringste Zerren am Zügel stehengeblieben wären. Der Wagen stand ungefähr hundert Meter südlich von dem Baum. Die Männer sprangen ab, reckten sich und stampften im Staub, als hätten sie Tag und Nacht steif auf dem Wagen gesessen. Sonst benahmen sie sich nicht auffällig. Keine besondere Aufregung, kein Anzeichen von Eile. Sie hatten anscheinend viel Zeit. Die Lubra – die junge schwarze Frau – reichte ihrem neugebackenen Ehemann den Säugling vom Wagen. Dem Häuptling gab sie einen großen Kasten Proviant, einen Zwanzigliterkanister voll Wasser, den Handkoffer, die Decke, und warf noch eine ansehnliche Menge Brennholz vom Wagen. Als sie abgestiegen war, wollte sie das Kind wieder nehmen, doch ihr Mann widerstrebte lachend, drehte ihr den Rücken zu und rief, sie solle Feuer anmachen. Nachdem sie ihn im Scherz noch ein paarmal vergeblich gebeten hatte, schichtete sie in guter Laune gleich leichtes Buschholz auf und zündete es an. Inzwischen hatte der Häuptling den Wagen noch fünfzig Meter weiter gefahren. Er schirrte die Pferde ab und ließ sie mit Fußfesseln frei zum Grasen. Verschiedene Einzelheiten, die vom üblichen Verhalten der Eingeborenen abwichen, machten Bony die besondere Bedeutung des riesigen Baumes klar, in dem er versteckt lag. Ungewöhnlich war, daß das Lagerfeuer so weit vom Baum angelegt wurde, der doch förmlich zu 191
Schutz und Gemütlichkeit einlud. Ungewöhnlich auch, daß der Wagen so weit vom Feuer abgestellt wurde. Und die Art und Weise, wie die Lubra und ihr Mann sich um das Baby bemühten, war entschieden seltsam, denn nicht einmal mit einem eigenen Säugling wären sie so zärtlich umgegangen. Die Sonne verschwand hinter der erhitzten Erdhälfte, der Südwind flaute ab bis auf eine sanft kühlende Brise. Jetzt war der Rauch des Feuers kaum sichtbar. Die Eingeborenen waren still geworden. Über sie und Bony hinweg strömte das melodische Klingen der Glocken an den Hälsen der Pferde. Fred Wilmot ging zum Wagen und kam mit einem gefüllten Zuckersack wieder, der bestimmt keinen Zucker enthielt. Der Häuptling zog sein Hemd und die Stiefel aus. Auf seiner Brust und auf dem Rücken sah Bony die Narben von der Mannesweihe, die Zeugen von den mit Feuerstein geschnittenen Wunden, die künstlich verbreitert worden waren durch hineingedrückten Schlamm, der die Heilung verzögerte. Das Alter hatte des Häuptlings Rücken nicht gebeugt und ihm nichts von seiner Kraft genommen, das Hemd war nur eine bedauerliche Maskierung, die Uniform einer ungesunden Zivilisation. Hoch aufgerichtet, die Schultern gestrafft, die Augen unter den buschigen angegrauten Brauen offen und klar – denn hier hatten sie nichts vor der Welt zu verschleiern –, so trat er näher an den geheiligten Baum. Bony las auf seinem ruhigen Gesicht die Ehrfurcht, als der Häuptling vor diesem lebenden Denkmal stehenblieb, mit dem er sich, ungeachtet der Ernten, die Zeit und Tod gehalten hatten, innerlich tief verbunden fühlte. Vor dem Baum gab Häuptling Wilmot sich so offen, wie er im ganzen Leben noch keinem weißen Mann und nur selten einem vom eigenen Stamm entgegengetreten war. Er hatte, was seinem Sohn und der jetzigen Generation nicht mehr beschieden war, noch die Zeiten erlebt, da die Stämme der schwarzen Rasse Australiens eine gewisse Freiheit besaßen. Er konnte sich der Tage erinnern, da er, als kleiner nackter Knabe, seinen Vater und die anderen Männer mit Speeren und Kriegskeulen gegen die Männer anderer Stämme kämpfen sah, wenn diese von erbarmungsloser Dürre aus ihrem Heimatgebiet vertrieben wurden. Er wußte auch noch, daß sein Vater bei so einem Kampf von einem Speer tödlich getroffen wurde. 192
Sein Vater war wie ein Mann gestorben, während er, der Sohn, am Leben blieb, um sich durch die Weißen seiner angestammten Rechte beraubt zu sehen und durch deren Gesetze und Verbote wie mit Ketten gefesselt zu werden. Sein Sohn wiederum und dessen Generation fühlten die Fesseln nicht, sie kümmerten sich wenig um die verlorenen Rechte und noch weniger um die Stammesgeschichte, die seit fünftausend Jahren von einer Generation zur nächsten weitererzählt wurde. Dieser einsame Vertreter einer Rasse, die sich durch ihre ehrbaren Sitten, ihren Gerechtigkeitssinn und durch das Fehlen jeder Habgier ausgezeichnet hatte, blickte jetzt auf die Zufluchtsstätte des Vertrauens und des Glaubens all der in die Friedhöfe der Jahrtausende gesunkenen Generationen. Der Baum vor ihm war kein beliebiger Baum, den nur sein Alter zur Seltenheit machte. Er war ›Der Baum‹, geschlagen vom Teufel, der ihn aus einer Wolke ansprang, und verbrannt durch einen anderen Teufel, der über die Erde raste und dem Baum ein Loch in den Leib bohrte, und doch hatte der Gott Altjerra ihn erhalten, damit er immer und ewig lebte. Altjerra selbst hatte einstmals unter ihm geschlafen. Jahrhundertelang war dieser Baum den schwarzen Menschen in dieser Gegend ein geheiligter Aufbewahrungsort gewesen. Unter ihm hatte sich die berühmte Orinana mit ihrem Liebhaber aus einer verfemten Sippe getroffen, hier hatten ihre Brüder sie ertappt und sie samt dem Geliebten getötet. Wie Bony erwartet hatte, erspähte Häuptling Wilmot die Fährten von ihm und Alice, worauf er sofort wachsam wurde und etwas in seiner Stammessprache schrie, die er schon so lange nicht gebraucht hatte, daß sein Sohn ihn nicht verstand und zurückrief : »Was ist denn los?« Aber der dringliche Ton in der Sprache des alten Mannes setzte den Fährtensucher Fred Wilmot schnell in Bewegung. Gemeinsam untersuchten sie die Fußspuren und waren sich einig darüber, daß ein weißer Mann und eine weiße Frau von der Straße bis zum Baum und denselben Weg zurückgegangen waren : Auch wann das gewesen war, erkannten sie. In einer Kleinigkeit irrten sie freilich : Bony – der ja kein weißer Mann war – hatte beim Gehen die Füße so gewinkelt, wie die Weißen es tun, und hatte sorgsam jedes Anzeichen, daß er in den Baum geklettert war, ausgelöscht. 193
»Sind gestern hier gewesen, nicht wahr?« sagte der Häuptling. »Ja«, bestätigte sein Sohn, der jetzt federnd hin und her sprang. »Bestimmt weiße Menschen. Vielleicht der alte Jenko von der Wayering-Farm. Hat eine weiße Frau hergebracht, um ihr den Baum zu zeigen. Ich will aber genau nachschauen, denn bald ist es dunkel.« Ohne einmal fehlzugehen, verfolgte Fred Wilmot die Spuren bis zu dem weit entfernten Weg, wo Bony mit dem geliehenen Wagen gehalten hatte. Bony, der ihn beobachtete, konnte an seinem ganzen Gehaben erkennen, daß er mit seinen Forschungen zufrieden war. Der Häuptling kehrte wieder ans Lagerfeuer zurück und stellte sich mit dem Rücken gegen die lodernden Flammen, wie die Menschen es seit jeher getan haben. Vom Osten kroch die Dunkelheit heran, als sei sie ungeduldig, daß der Tag nicht schnell genug sterben wollte. In der Hochofenglut der sinkenden Sonne waren der von den Fährten zurückkommende junge Mann, die schwarze Frau, die den Säugling fütterte, und der ehrwürdige alte Mann am Feuer ganz rot überglänzt. Und in die Wärme des bunt leuchtenden Himmels bettete sich der schlanke ›jungfräuliche‹ Mond. Häuptling Wilmot sprach mit der Lubra, die das Kind in die zu einem Nest gefaltete Decke legte und graziös zum Wagen schritt. Sie holte dort einen Jutesack, den sie rasch bis obenhin mit Pflanzenflaum füllte. Nachdem sie den vollen Sack wieder auf den Wagen gelegt hatte, bekam sie den Auftrag, trockene Äste zum Feuermachen zu sammeln und sie an einen Platz etwa sechs Meter von der Baumhöhlung zu pakken. Ihr Mann schichtete stärkeres Holz darüber, der Häuptling kam mit einer Flasche und besprengte den Holzhaufen ausgiebig mit Petroleum. Bony beobachtete das Ganze gespannt, denn das Buschholz war trocken wie Zunder. Mit der Flasche noch in der Hand stellte der Alte sich in einer Entfernung von drei Metern vor die Höhlung und markierte die Stelle mit dem Hacken seines Stiefels. »Hier legst du dich hin«, sagte er zu der jungen Lubra. »Ja, gut«, sagte sie gehorsam, »aber nicht auf die Kletten.« »Ich mach’ dir den Platz schön zurecht«, sprang ihr Mann ein, indem er mit einem Zweig den Boden sauberfegte. Sie gingen zunächst ans Lagerfeuer zurück und ließen sich lachend zum Essen nieder, ohne den anderen Holzhaufen anzuzünden. 194
Bony aß und trank möglichst wenig und brachte es dann fertig, eine Zigarette anzuzünden, indem er Kopf und Schultern in das vom Blitzschlag aufgerissene Baumloch steckte. Er spürte, wie er sich seit dem Absprung von Yotis Wagen verändert hatte, und empfand keine Scham, daß der Lebenshauch aus den Urgründen dieses riesigen Landes ihm die Blutsverbundenheit mit seinen mütterlichen Ahnen bewußt machte. Der junge Mond lagerte träge über dem mit Bäumen gespickten Horizont. Die Spitzen schienen in ihn einzudringen und ihn zu vernichten. Es war, als erblasse der Himmel in kalter Wut. Das Kreuz des Südens, das nicht mehr strahlte, stand tief im Südosten, aber die ›Drei Schwestern‹, schön in Reihe ausgerichtet, folgten getreulich dem Pfad der Sonne und sagten Bony, daß es elf Uhr war. Eben zündete die Lubra nahe beim Wagen ein kleines Feuer an, setzte sich davor und begann, das Kind zu wiegen. Sie saß mit dem Rücken zum großen Lagerfeuer, denn bei dem, was jetzt folgte, dürften Frauen nicht zusehen. Der junge Wilmot streifte seine Kleidung ab, band die bei Stammesfeiern gebräuchliche, aus dem taubengrauen Federkleid einer Wildente angefertigte Quaste um den Leib und hängte sich, an einem Strick aus Menschenhaar, den Zauberbeutel des geweihten Mannes, einen Beutel aus Känguruhleder, der seine geheiligten Gegenstände enthielt, um den Hals. Mit Ocker malte er seinem Vater weiße Ringe um den Körper, wodurch dem Häuptling äußere Ähnlichkeit mit einem jungen Emu verliehen werden sollte, besonders betont noch durch den dichten Schopf, zu dem sein glattes schwarzes Kopfhaar mit einem Band aus Menschenhaar hochgebunden wurde. Der alte Mann trat ein Stück vor, zufrieden mit dieser Schöpfung, und zog nun auch seine Hose aus. Auf dem Proviantkasten stehend, überragte er seinen Sohn, seine Haut glänzte im Feuerschein, der die kleinen Unebenheiten ausglich, mit denen das Alter den Körper zeichnet. Der leichte Wind, der ihn umfächelte, versetzte ihn in Begeisterung. Frohlockend rief er : »Orri ock gorro !« – Ich bin ein Mann – und Bony auf dem uralten Baum kam in Versuchung, ebenfalls sein Zeug abzuwerfen und selbst den urmenschlichen Stolz auf den Körper so zu fühlen wie dieser schwarze Mann. 195
Häuptling Wilmot war wie eine Schlange, die ihre alte, rissig gewordene Haut abgeworfen hat : Die neue war glatt und fest, seine Haltung aufrecht ; Haar, Bart und Augenbrauen, die weiß abstanden, gaben ihm ein wild männliches Aussehen und einen Nimbus von Herrschertum, das durch fünfhundert Generationen auf ihn vererbt war. Und zum erstenmal sah Bony den Sohn in unterwürfiger Haltung, als Fred dem Vater die festliche Quaste von Emugefieder aushändigte und den Zauberbeutel aus Känguruhleder mit den kostbaren Churingas, in die soviel Zauberkraft aus der Ferne ›gerieben‹ worden war. Er malte dem Häuptling mit Ocker weiße Streifen über die Beine, von den Hüften bis auf die Fußknöchel, und malte die Arme ganz weiß an. Nun setzte der Häuptling sich auf den Kasten, sein Sohn öffnete den Zuckersack und entnahm ihm ein Klümpchen Baumwolle, das er in flüssiges Harz tauchte und seinem Vater an die Brust klebte. Nach und nach wurden unter dieser feierlichen Bemalung die weißen Streifen zu einem Muster auf Brust und Rücken, in dem Bony das ›Zaubergewand des Medizinmannes‹ erkannte. Wangen, Mund und Nasenlöcher waren mit Ocker geweißt, auf der Stirn formte die Baumwollflocke den Buchstaben U, der die ›Teufelshand‹ versinnbildlichte, und jetzt wurde das ebenfalls geweißte Haar so hochgebunden, daß es wie Schaum aussah. Bonys Herz krampfte sich ein wenig zusammen beim Anblick dieses ›Magischen Wesens‹, das alles weiß, das durch Zeigen mit dem Knochen töten kann und heilen kann, indem es die Steine des Schmerzes entfernt. Die junge Frau hatte nicht gewagt, sich umzudrehen und zuzuschauen, sie blieb, so still wie der schlafende Säugling, weiter an ihrem kleinen Feuer sitzen, nicht der Wärme wegen, sondern um ein beruhigendes Bild vor sich zu haben. Der Medizinmann drehte langsam den Körper, damit das Harz, das die Baumwolle hielt, schneller trocknete. Schon nach wenigen Augenblicken sagte ihm sein Sohn, daß alles getrocknet sei, und hüllte den Vater in eine Decke, damit kein Auge unberechtigt den gefürchteten Zaubermantel erblickte. Er selbst zog seinen Militärmantel an und rief seine Frau, die nun, von den unsichtbaren Fesseln befreit, wieder ans große Lagerfeuer ging. Sie ließen dieses Feuer vorläufig niederbrennen, so daß es wie ein großer roter Edelstein in der samtschwarzen Nacht glomm. Es war zwei Uhr. Ein Stern ging auf, der soviel Licht am Himmelsgewölbe 196
ausstrahlte wie eine Lampe in der Hütte eines Viehwächters. Weit im Süden und ganz niedrig trat noch ein Stern hervor, der zu tanzen und in einen Abgrund zu gleiten schien, wo er bebend liegenblieb. Auf das Feuer wurde Buschholz geworfen, und nach wenigen Minuten hörte Bony einen Motor surren : Von Mitford her näherte sich ein Auto. Er hatte schon erkannt, daß der Fahrer nur mit dem Licht der Parklampe steuerte. Seine Scheinwerfer wären auf zwanzig Kilometer oder noch weiter sichtbar gewesen. Das Auto schwenkte vom Wege ab und hielt dicht bei dem Pferdegespann. Wagentüren wurden zugeknallt, zwei Gestalten, eine große und eine kleine, kamen aus dem dunklen Hintergrund in den Schein des Lagerfeuers. Die wartenden Eingeborenen begrüßten sie, Professor MarloJones und Gemahlin. Der Professor sprach mit ernster Miene, Häuptling Wilmot antwortete ihm. Mrs. Marlo-Jones sprach mit der Lubra, die das Gesicht des Säuglings aufdeckte und vor Freude lachte, als die weiße Frau sie lobte. Zusammen wickelten sie das Kind aus dem weißen Schal und legten ihm einen schwarzen um. Minuten vergingen, für Bony langsam. Dann erschienen zwei leuchtende Punkte, die sich ebenso bewegten wie der letzte : Zwei Autos mit kleinstem Licht trafen ein und fuhren dicht an den Wagen des Professors. Inzwischen waren die Anwesenden in der Dunkelheit untergetaucht, das Feuer war wieder bis auf ein rotes Glutauge heruntergebrannt. Für Bony drehte die Welt sich jetzt rückwärts, immer weiter zurück, bis in die Tage Alchuringas. Sein Puls klopfte stark, seine Gedanken tasteten und suchten nach dem ›Allwissen‹. Aus dem Glutauge des Feuers sprang ein Funkenregen empor, der heftig wirbelte, als Fred Wilmot den Feuerstab im Kreise schwang und sich wie mit leuchtenden Bändern umkränzte. Er lief auf die Ebene hinaus, um hinter den Baum zu gelangen, rannte um ihn herum und am Lagerfeuer vorbei, in das er den Feuerstab warf. Hochauf hüpfte die Flamme, deren Lichtschein ihm in die Finsternis folgte. In weiter Ferne stieß ein Nachtvogel sein gräßliches Geschrei aus. Vom Hauptweg her kam etwas – eine Gestalt, die keinem Lebewesen der Schöpfung ähnelte. Über drei Meter groß, stapfte sie daher wie ein Riesenvogel, der nicht gewohnt ist, auf festem Boden zu gehen. In der 197
roten Feuersglut sah es aus, als schrecke sie zurück, aber dann stand sie wirklich im vollen Schein des lodernden Feuers dicht bei dem uralten Baum. Sie hatte den Kopf und den schlanken gefiederten Hals des Emu und dessen langen, gekräuselten Schwanz. Körper und Beine waren die eines Menschen, auf der einen Schulter lastete ein dicker Sack. Der Vogelmann schritt weiter vor, bis er im Feuerschein für die Leute bei den Wagen, und den gespannt im Baum beobachtenden Bony deutlich sichtbar war. Der Vogelmann trug das ›Zaubergewand des Medizinmannes‹, in dem er rund um den Baum ging. Vor der Höhle in dem riesigen Stamm machte er halt und nahm aus seinem Sack kleine Dinge, die aussahen wie schneeweiße Daunen, und diese kleinen leichten Dinge flatterten zu Boden, wo der wispernde Wind sie in die Höhle drängte, damit sie gut geborgen waren. Eine kleine Weile blieb der Vogelmann noch stehen. Er blickte in die Krone des Baumes empor, und Bony konnte ihn leise sprechen hören. Dann verschwand er in den ›Flügeln der Nacht‹, die beleuchtete ›Bühne‹ war leer, es blieb nur der Baum als majestätische Kulisse. Aber nicht lange. Nahe am Feuer erhob sich eine große Gestalt mit gewandten Bewegungen und schritt, noch zögernd, auf den hell beleuchteten Schauplatz. Das Licht nahm sie auf, es strahlte um ihren nackten Leib, den Leib einer jungen, üppigen Lubra. Ihr glänzend schwarzes, schönes glattes Haar war zu einem Büschel hochgebunden. An die Brust gedrückt hielt sie den Säugling in dem Schal, der so schwarz war wie ihre Haut, hielt ihn aber so, daß keiner von den andern das Kind sehen konnte. Wie in demütigem Gebet stand sie vor dem Baum, ließ sich graziös zur Erde gleiten, indem sie achtgab, daß das Kind unsichtbar blieb, und bereitete sich zum Schlafen vor. Die Zeit verstrich. Der schreiende Nachtvogel strich über den Wipfel des Baumes, sein unheimliches Kreischen erschreckte Bony. Zwei Gestalten kamen aus dem Dunkel bei den Wagen. Ein großer schlanker Mann mit einer Baskenmütze, der den Arm um eine Frau gelegt hatte, die einen Staubmantel trug und um den Kopf einen schleierartigen Schal gewickelt hatte. Vielleicht nahm sie ihre Umgebung wahr, 198
aber zu gehen vermochte sie nicht ohne die Hilfe des Mannes. An ihren schön geformten weißen Händen trug sie keine Handschuhe. Sie näherten sich der ›schlafenden‹ Lubra und gingen um sie herum zur Höhle, wo der Mann die Frau vorsichtig aufhob und sie in den Baum aller Bäume trug. Der junge Wilmot ging leise zu seiner Frau und gab ihr eine Decke, in die sie sich hüllte. Dann brachte sie den Säugling zu dem Mann im Baum und trat wieder heraus neben Fred. Nach einigen Augenblicken kam der weiße Mann wieder aus der Höhlung und ging zum Wagenplatz zurück. Die Lubra eilte zum Wagen des Häuptlings, während Fred Wilmot mit den Händen Sand ins Feuer warf, um das kleine Feuer vor der Höhle, die ›Bühnenbeleuchtung‹, zu löschen, denn das Schauspiel war zu Ende. Auf das große Lagerfeuer legte er noch Buschholz, so daß alsbald die Umstehenden hell beleuchtet waren : Professor Marlo-Jones und seine Frau, der schlanke Mann, der die Frau in den Baum getragen hatte, ein kleiner untersetzter und noch ein dritter, in dem Alice Dr. Delph erkannt hätte. Hell bestrahlt waren ihre Gesichter. Der Professor war in leutseliger Stimmung, seine Frau bewegte sich lebhaft. Der schlanke Unbekannte schüttelte dem kleinen die Hände, als gratuliere er ihm herzlich. Dr. Delph sah müde und vereinsamt aus. Auf einmal gingen alle zusammen zu ihren Wagen. Zwei Autos fuhren davon, wieder mit Standlicht. Der untersetzte Mann erschien wieder beim Lagerfeuer, wo er sich eine Zigarre anzündete. Fährtensucher Wilmot gesellte sich zu ihm und bekam auch eine. Gleich darauf trat Häuptling Wilmot, wieder in Hosen und Überrock, hinzu und forderte ohne Umstände eine Zigarre. Und schließlich trat in den Lichtkreis des Feuers die Lubra, angekleidet und ganz aufgeregt. Als sie nach einer Stunde noch dastanden, wohl weil sie den Sonnenaufgang abwarten wollten, kletterte Bony leise vom Baum, an einer Stelle, wo ihn die vom Feuerschein Geblendeten nicht bemerken konnten. Der Gedanke an die hilflose Frau erfüllte ihn mit neuer Tatkraft. In der Baumhöhlung war es ganz finster. Er kniete nieder und fand die Frau, die mit dem Kind im Arm auf der Seite lag. Er fand ihre Hand und tastete sie leicht mit den Fingerspitzen ab. Ungeduldig geworden, 199
fühlte er nach ihrem Gesicht, das nicht mehr vom Schal umhüllt war. Die Frau, die hier lag, war Alice McGorr …
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B
ony saß Alice McGorr zu Füßen. Durch den Rahmen des oben gerundeten Höhleneingangs sahen sie das nächtliche Lagerfeuer und die Gestalten, die neben ihm auf die Dämmerung warteten. Im Herzen des uralten Baumes war es so dunkel, daß Bony von der zurückgelehnt sitzenden Frau und dem Kind an ihrer Brust nichts sehen konnte. Das Kind schlief noch, während Alice – wie Bony gleich vermutet hatte – durch ein Narkotikum betäubt war. Bonys innere Spannung, die sich in den letzten Tagen ständig verstärkt hatte, wich jetzt vor dem schönen Gefühl der Genugtuung, daß wieder eine Aufgabe kurz vor ihrer Lösung stand, wieder einmal die stets über ihm schwebende Drohung, doch vielleicht zu versagen, siegreich überwunden war. Ohne den Himmel im Osten sehen zu können, merkte er, wie die Morgenhelle sich allmählich über die Erde breitete. Fred Wilmot legte wieder Holz aufs Feuer, seine Frau, holte Wasser herbei. Der Häuptling schritt zu seinem Wagen, von dem er das Zaumzeug nahm, und ging die Pferde holen. Währenddessen saß der kleinere, wohlhabend aussehende weiße Mann auf einer zusammengelegten Decke und paßte auf, ob das Wasser im Kessel bald kochte. Der Tag verdrängte die Nacht. Die Landschaft, die Bony jetzt sah, wirkte wie eine Strichätzung auf rosarotem Stahl, bis der Sonnenball über dem Horizont aufblitzte und die metallisch harten Tönungen verschwanden. Gerade öffnete Alice die Augen, schloß sie aber gleich wieder für eine ganze Weile. Als sie sie zum zweitenmal aufschlug, starrte sie erst Bony und dann die schwarze Decke der Höhlung verwundert an. Während sie sich bemühte, Bonys ermunterndes Lächeln zu erwi200
dern, rührte sich das Kind, und der böse Dunst, der ihre Sinne umnebelt hatte, verzog sich, als sie schnell den Körper drehte, um das Kind genau sehen zu können. Diesen Moment sollte Bony für immer im Gedächtnis behalten. Mit ihren Zärtlichkeiten weckte sie den Säugling, der in seiner Umhüllung strampelte und gähnte, indes sie ihm in unverhohlenem Erstaunen lange ins Gesicht schaute. Dann begann das Kind nach Nahrung zu schreien. Die Gruppe am Feuer, hinter der Häuptling Wilmot die Pferde an die Räder seines Wagens band, um sie anzuschirren, stutzte plötzlich. Der weiße Mann eilte, gefolgt von der Lubra, an den Baum, bückte sich, spähte in die Höhlung und – in Bonys Pistole. »Guten Morgen !« sagte Bony heiter, in einem fragenden Ton. Der weiße Mann sprang zurück, doch Bony stand ihm sofort draußen gegenüber. Die Lubra rief etwas, worauf der Häuptling und sein Sohn herbeieilten. »Wer sind Sie eigentlich, zum Donnerwetter?« fragte der weiße Mann herrisch. »Verzeihen Sie«, murmelte Bony, so sanft er konnte, »ich bin Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte. Und Sie?« »Ich – zum Donn … Wo ist meine Frau? Was soll das alles bedeuten?« Der untersetzte Herr war gut gekleidet und offenbar gewohnt, unterwürfige Antworten zu bekommen : ein reicher Prominenter aus der Großstadt, den die Luft im urwüchsigen Australien aus dem Gleichgewicht brachte. Hinter ihm stieß Fred Wilmot seinen Vater an und packte seine Frau am Arm. Hastig zogen die drei sich zurück. »Treten Sie zehn Meter zurück«, befahl Bony dem fremden Herrn, »diese Pistole ist sogar für meinen Bedarf zu empfindlich. So ist’s besser. Sie sind verhaftet. Von Ihren Komplicen werden Sie im Stich gelassen, wie ich sehe.« Der Weiße blickte sich um und sah, wie seine Helfershelfer rasch die Pferde an den Wagen schirrten. Im Vergleich zu ihrem Tempo war das der Feuerwehr eine müde Angelegenheit. Als der Fremde wieder Bony anblickte, sah er Alice mit dem Kind auf den Armen neben ihm stehen. »Wo ist meine Frau?« schrie er. »Wo meine Frau ist, will ich wissen !« 201
»Im Krankenhaus, wohin sie gehört, Sie Ungeheuer«, antwortete ihm Alice ganz laut, um das Geschrei des Kindes zu übertönen. »Ich nehme an, Sie haben drüben im Wagen was zu essen für das Kind. Holen Sie das her.« Der Mann ließ mit einer Gebärde hoffnungsloser Resignation die Arme sinken und schickte sich an, den Befehl auszuführen. Als er beim Wagen ankam, bemerkte er Bony dicht hinter sich, der ihn anfuhr : »Zuerst die Zündschlüssel her, bitte !« Sobald er sie empfangen hatte, trat er beiseite, während der andere im Wagenkasten wühlte, um einen Korb herauszunehmen, und die Eingeborenen auf ihr Gefährt kletterten, wo sie sich gegenseitig und gleichzeitig die Pferde anschrien, während Wilmot junior sich hinstellte, um besser mit der Peitsche schlagen zu können. Bony mußte über ihre wild hastende Abfahrt lachen. Der Häuptling wies mit der Hand nach Süden. Bony sah hinter dem fernen Rand der Ebene ein Auto in toller Fahrt verschwinden. Vor Zorn ganz rot im Gesicht, trug der Fremde, während Bony ihm auf den Fersen folgte, den Imbißkorb ans Lagerfeuer, stellte ihn neben die Proviantkiste und bekam den Befehl, sich auf die andere Seite des Feuers zu stellen und dort zu bleiben. Alice McGorr legte Bony den Säugling in die Arme und begann, Milch zu mischen. Das Kind schrie vor Ungeduld, und der Fremde sagte : »Wiederholen Sie bitte, wer Sie sind.« »Ich bin die Brücke, die ein weißer Mann und eine schwarze Frau gebaut haben, um die Kluft zwischen zwei Rassen zu überspannen«, erwiderte Bony großspurig. »Bei meinen Freunden heiße ich allgemein Bony, für Sie bin ich der Kriminalinspektor Napoleon Bonaparte.« So wurde Essen und dem Wachtmeister, als sie in einer Wolke von rötlichem Staub angebraust kamen, ein familiäres Idyll geboten, in dem als Hauptfigur ›Die Brücke‹ stand, die einen ergrimmten Säugling trug. »Ich wünschte, ich besäße so eine Maschine«, sagte Bony, als er es Alice auf dem vorderen Platz im eleganten Wagen des prominenten Mannes recht gemütlich machte. Er blickte das Baby an, das auf ihrem Schoß lag. »Ist Ihr Kopf jetzt freier?« »Viel besser geworden, schönen Dank für die Nachfrage«, erwiderte sie lächelnd. »Wünschte, Sie hätten so einen Wagen, keine Frau.« 202
Ein wenig erschrocken schloß Bony die Wagentür und ging festen Schrittes auf die andere Seite, wo er sich ans Steuer setzte und den Motor anspringen ließ. Weit in der Ferne, in der Senke, stieg der Staub unter Essens Wagen empor, in dem der Wachtmeister mit dem weißen Mann saß, der sich Marsh genannt und seine Frau ›verlegt‹ hatte. »Neid ist eine fressende Sünde, Alice«, begann Bony das Gespräch, als sie in die Straße von Mitford einbogen. »Ich habe einen Mann gekannt, der einen Rolls Royce besaß. Der wünschte sich, wieder jung zu sein und einen alten Ford Modell T zu fahren, mit netten Freunden und Geselligkeit bei gutem Rotwein. – Nun sagen Sie mir aber erst mal, wie Sie hierhergekommen sind.« »Also : Wie Sie befahlen, begab ich mich gestern abend in die Delphsche Wohnung. Als ich ein paar Meter vor dem Gartentor stand, begegnete mir die Köchin, zum Ausgang angezogen. Ich ging mit ihr bis zur Hauptstraße, und unterwegs erzählte sie mir, sie habe von Doktor Nonning für die Betreuung von Mrs. Delph eine Kinokarte und eine Schachtel Pralinen bekommen. Mrs. Nonning versorgte den Haushalt und pflegte Mrs. Delph, die noch sehr krank sei. Doktor Delph sei auf Visite gefahren und fahre selbst, da der Fahrer, der auch als Gärtner angestellt war, entlassen worden sei.« »Wohnte dieser Fahrer nicht mit im Haus?« »Nein, er ist verheiratet und hat eine eigene Wohnung. Na, ich beeilte mich jedenfalls, nachdem ich die Köchin verlassen hatte, wieder zum Delphschen Hause zu kommen. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Doktor Delphs Wagen stand gegenüber auf der Straße und Doktor Nonnings Wagen vor der Haustür. Auf der anderen Seite vom Wagen, an der Rasenfläche, stand ein blühender Baum, der mir gut zupaß kam. Hinter ihm versteckt konnte ich, durch die Fenster des Wagens, die Haustür und den Flur beobachten. In der Halle brannte Licht, vor der Tür aber keins. Bis halb zehn geschah nichts, dann kam Doktor Nonning heraus und holte aus dem Gepäckfach seines Wagens eine flache lange Schachtel, die er auf den Tisch im Flur legte. Um zwanzig vor elf kamen Nonning und Delph heraus. Delph fuhr Nonnings Wagen rückwärts auf die Straße und brauste ab. Nonning ging wieder ins Haus und öffnete den Kasten auf dem Flurtisch. Er hantierte noch an einem Gegenstand, als 203
Dicky, seine Frau, kam und etwas sagte, was ich nicht hören konnte. Ich hörte ihn aber sagen, sie solle sich keine Sorgen machen, denn es werde nun das letzte sein, und sie möchte lieber bei Flo, also bei Mrs. Delph, bleiben. Um Viertel nach elf kam Delph in Nonnings Wagen wieder, dicht hinter ihm fuhr ein zweiter Wagen. Delph fuhr an der Haustür vorbei, damit der andere Wagen dort halten konnte. Neben dem Fahrer dieses Wagens saß seine Frau, und zwar an der Seite, wo ich stand … Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer ab und stieg aus. Nonning kam auf ihn zu und fragte : ›Gute Fahrt gehabt?« Er bejahte das, und Nonning fragte weiter : ›Haben Sie Ihrer Frau die Tabletten gegeben?‹ Der Fahrer erwiderte, er habe Punkt zehn gebremst und sie ihr gegeben. Nonning kam dann auf meine Seite und öffnete die Wagentür. Das Licht vom Flur war so hell, daß ich die Frau sehen konnte. Sie trug über einem braunen Kleid einen leichten Wettermantel und um den Hals einen hauchdünnen seidenen Schal. Sie sprach überhaupt nicht, und ich schloß aus ihrer bewegungslosen Haltung, daß sie betäubt sein mußte. Na, Nonning sagte : ›Nun, Mrs. Marsh, wie geht es Ihnen?‹ Die Frau murmelte nur Unverständliches, wissen Sie, wie ein Mensch murmelt, der sehr müde ist. Ich sah, wie Nonning ihr den Puls fühlte. Dann wandte er sich wieder Doktor Delph zu und sagte : ›Es geht ihr gut. Eine Spritze gebe ich ihr später.‹ Delph nickte, und beide gingen um den Wagen herum, wo Nonning zum Fahrer sagte : ›Ihrer Frau geht es gut, Mr. Marsh. Möchten Sie nicht etwas essen und trinken?‹ Marsh war gern bereit und erklärte, die weite Fahrt aus der Stadt habe ihm schwer zugesetzt. Worauf Nonning sagte, er könne sich ja jetzt ausruhen. ›Setzen Sie sich in Delphs Wagen, ich werde dann Ihren fahren.‹ Alle gingen ins Haus, während die Frau steif im Wagen sitzen blieb und ich unter meinem Baum abwartete. Ich trat an das offene Wagenfenster neben ihr und fragte : ›Fühlen Sie sich wohl, Mrs. Marsh?‹ Wieder murmelte sie nur, als wollte sie nicht aufwachen. Ich machte die Tür auf und sah, daß sie zu beiden Seiten durch Kissen gestützt war. Es gelang mir trotz allen Mühens nicht, ihr Gesicht so deutlich zu sehen, daß ich sie notfalls wiedererkannt hätte. Und, was großartig paßte : Sie hatte dieselbe Figur wie ich, und ich trug zufällig auch ein braunes Kleid. Da Sie mir in Ihrer schriftlichen Instruktion erklärt hatten, daß nach Ihrer Ansicht, die Nonning-Geschichte mit dem Baby zusammenhinge 204
und ich diesen Besuchern auf der Spur bleiben müsse, verstärkte sich jetzt mein Gefühl, daß diese Mrs. Marsh den Säugling bekommen sollte, den Sie wiederentdeckt hatten. Zuerst hatte ich den Plan, mich hinten im Wagen, dicht an den vorderen Sitzen, zu verstecken, aber ich überlegte mir, daß die Leute vielleicht anders disponierten und Doktor Delph und das Ehepaar Marsh doch zusammen in diesem Wagen fahren würden. So kam ich zu dem Entschluß, die Stelle der Frau einzunehmen. Ich hob sie aus dem Wagen, trug sie auf den Rasen unter den Baum. Gerade als ich ihr den Mantel ausziehen wollte, erschien plötzlich Kollege Essen hinter mir und fragte mich, was gespielt würde. Ich sagte, er solle mit zufassen, und erklärte ihm mein Vorhaben, während er mir in den Mantel half, mir den Schal umband und die Kissen wieder zurechtrückte. Er wollte die Frau einfach ins Gebüsch packen, aber das gefiel mir nicht, weil sie so benommen war. Also trug er sie aus dem Garten zu seinem Wagen und fuhr sie ins Krankenhaus. Ich sagte ihm noch, wenn er sich beeilte, könnte er noch rechtzeitig wieder zurück sein, um den anderen auf der Spur zu bleiben. Mir wurde das Warten sehr lange, bis die Männer wieder herauskamen. Marsh und Delph gingen auf die Straße zu Delphs Wagen. Nonning trat an meiner Seite an den anderen Wagen, öffnete die Tür und fragte : ›Können Sie verstehen, was ich sage, Mrs. Marsh?‹ Ich murmelte nur wie sie vorher, und er sagte : ›Jetzt fahren wir zu Altjerra, dem Geber. Wie ich Ihnen schon oft erzählt habe, vermag Altjerra, der Geber, Träume wahrzumachen, und so werden Sie nun in einem Baum schlafen und beim Erwachen ein eigenes Kind in Ihren Armen finden. Und dann werden Sie glücklich sein, sehr glücklich.‹ Damit schloß er die Wagentür, setzte sich ans Steuer und fuhr rückwärts aus dem Grundstück. Der andere Wagen, der gewartet hatte, fuhr uns voraus. Wir verließen die festen Straßen und nahmen, immer hinter Delphs Wagen fahrend, einen Feldweg bis zu einer Gabelung, die wir nach kurzer Zeit erreichten. Gleich dahinter wurden die Scheinwerfer des ersten Wagens abgeschaltet, nur das Rücklicht blieb an. Doktor Nonning stellte ebenfalls seinen Scheinwerfer ab und fuhr, wenn auch langsam, nur mit dem Parklicht. Wie er das fertigbrachte, weiß ich nicht. Nach geraumer Zeit sah ich voraus ein Feuer glühen, und als wir uns ihm näherten, bog Doktor Nonning vom Wege ab auf die Feuerstelle 205
zu. Ein zweites Feuer loderte auf, es beleuchtete einen großen Baum, und ich wußte gleich, daß es der war, den Sie mit mir zusammen aufgesucht hatten. Als wir neben Doktor Delphs Wagen und einem, der schon dastand, anhielten, holte Doktor Nonning hinten etwas aus dem Gepäckfach, schob mir den Ärmel hoch und machte mir eine Injektion. Er schwieg, bis er die Spritze wieder weggepackt hatte, dann sagte er mehrmals hintereinander zu mir, in ganz weichem Ton : ›Mrs. Marsh ! Mrs. Marsh, Sie werden jetzt Altjerra, den Geber, aufsuchen, Sie werden erleben, wie die Seelen der kleinen Kinder zu dem großen Baum laufen und dort warten. Sie warten, Mrs. Marsh, auf Frauen wie Sie. Auch andere Frauen sind schon hierhergekommen, voller Hoffnung, und wurden für immer glücklich gemacht. Und jetzt kommen Sie mit Ihrer Hoffnung, Mrs. Marsh. Sie werden in der Höhlung des Baumes einschlafen, und wenn Sie wieder erwachen, werden Sie Ihr eigenes Kindchen – Ihr eigenes ! – in den Armen haben. Alles, was Sie sehen, werden Sie im Gedächtnis behalten, aber nicht behalten werden Sie meine Stimme und meine Worte. Vergessen Sie nicht, denken Sie immer daran : Die Wahrheit ist das, was Sie sehen, bevor Sie in Schlaf versinken.‹ Diese Sätze wiederholte er noch oft, während in mir das Betäubungsmittel so stark wirkte, daß ich auf Luft zu schweben glaubte. Und ich wollte doch mit aller Gewalt wachbleiben ! Ich wußte noch, daß ich Alice McGorr war und nicht Mrs. Marsh, und hatte das Gefühl, ich müßte gegen diese unaufhörlich redende Stimme anschreien und Fragen über Altjerra, den Geber, stellen, aber ich konnte mich nicht bewegen und wollte es im Grunde auch nicht. Nur eins wünschte ich sehr : daß Sie da wären und feststellten, was hier vorging. Eine innere Stimme sagte mir aber, daß diese Autosuggestion, oder was Doktor Nonning mit mir exerzierte, nicht klappen würde, weil ich ja nicht die Tabletten bekommen hatte, durch die Marsh seine Frau schon vor ihrer Ankunft in Mitford betäubte. Nonning redete mir ein, ich müsse seine Stimme vergessen, doch ich sträubte mich innerlich und habe sie auch nicht vergessen. Ich wartete ab, was noch geschehen mochte. Ein Feuer überstrahlte den Baum mit hellem Schein, und dann sah ich den Mann, der halb einem Vogel glich und einen großen Sack auf der Schulter trug. Er ging an den Baum und ließ kleine Gegenstände fallen, die liefen wie lebende Wesen in 206
die Baumhöhlung. Sie waren nicht größer als Schmetterlinge. Ich sah, wie die Eingeborenenfrau hineinging und sich dort hinlegte, und wollte zu Nonning sagen, er solle sie daran hindern, in dieser Nacht sei der Baum doch für mich da, ich müßte in ihm schlafen und niemand anders. Und die ganze Zeit wußte ich, daß ich Alice McGorr war – Ihre Assistentin … Ich wurde aus dem Wagen gehoben, dann ging ich auf meinen eigenen Füßen, ohne aber den Erdboden unter mir zu spüren, zu dem Baum. Drinnen war es dunkel, eine weiche, warme, schläfrig machende Finsternis, und von irgendwoher hörte ich Doktor Nonning sagen : ›Schlafen, Mrs. Marsh, schlafen Sie jetzt.‹« Alice schwieg, und Bony blieb ebenfalls still, um den Fluß ihrer Erinnerungen nicht zu stören. Erst als sie durch den Grüngürtel der Stadt fuhren, sprach sie wieder. »Was ich dort eigentlich zu finden erwartete, weiß ich nicht, Bony, aber, es war wie im Himmel. Bitte erklären Sie mir, was das alles bedeutet.«
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eit der Revolte der Obstpflücker hatte die Polizei von Mitford noch nie wieder soviel Arbeit gehabt. Geduscht, frisch angezogen und nach gutem Frühstück saß Bony vor dem Schreibtisch des Sergeanten, ihm zur Rechten saß Alice McGorr, in einer Ecke des Zimmers ein Stenograph. Yoti wirkte, wenn er aus dem Zimmer ging oder hereinkam, wie ein Bürolehrling, der fürchten muß, entlassen zu werden. Oberwachtmeister Essen betätigte sich als Zeremonienmeister. Mr. Robert Marsh, Besitzer von Nachtlokalen und Sportsmann, wurde hereingeführt und aufgefordert, sich zu setzen. Er war jetzt weniger aufgeregt als draußen beim heiligen Baum, nachdem er einen 207
günstigen ärztlichen Bescheid über das Befinden seiner Frau erhalten und Gelegenheit gehabt hatte, sich über seine Situation klarzuwerden. »Nun, Mr. Marsh, lassen Sie sich einen guten Rat geben«, begann Bony, »sagen Sie uns alles, was Sie wissen, von Anfang an bis zu dem Moment, da Sie bei Ihrer Frau im Herzen des alten Baumes ein gestohlenes Baby zu finden erwarteten. Nach den mir schon verfügbaren Informationen neige ich zu dem Glauben, daß Sie nicht so sehr von kriminellen Absichten geleitet wurden, als von der Sorge um den Geisteszustand Ihrer Frau. Nun, wie stellen Sie sich dazu?« Mr. Marsh erkannte die Darstellung an und hatte schon den Entschluß gefaßt, sich aus der Sache herauszuwickeln. Sein Bericht war klar und sachlich, und als der Stenograph seine Aussagen mit der Maschine geschrieben hatte und sie ihm vorgelesen waren, unterschrieb er sie fast eifrig. Nachdem Marsh in seine Zelle zurückgebracht war, führte Essen Dr. Nonning ins Zimmer und bat ihn, Platz zu nehmen. Nonning gab sich viel schwieriger : Er blieb sogar noch halsstarrig, als ihm die Hauptpunkte aus den von Marsh unterschriebenen Aussagen vorgelesen wurden. Erst nachdem er daran erinnert worden war, daß bei der Entführung des für Mrs. Marsh vorgesehenen Kindes ein Mord begangen wurde, löste sich seine Zunge. Essen brachte ihn in die Zelle und führte Dr. Delph vor, dem ein Auszug aus den Angaben Marshs und Nonnings vorgelesen wurde. Er war Vernunftgründen zugänglich. Während seine Aussagen zu Protokoll gegeben und unterschrieben wurden, sehnte Bony sich nach einer Tasse Tee. Als sie wieder im Hof zwischen Amtsgebäude und Wohnhaus waren, fragte er den Sergeanten nach dem Kuvert, das er tags zuvor in das Fach am Armaturenbrett des Wagens gelegt hatte. Yoti zog es aus einer Tasche seines Uniformrocks. Bony betrachtete es kurz, gab es zurück und sagte : »Gestern nachmittag erklärte ich Ihnen, daß dieses Schreiben den Namen des Mörders von Mrs. Rockcliff enthalte, obgleich das Beweismaterial gegen ihn noch unvollständig sei. Jetzt, da ich in der Lage bin, auch die vier übrigen Säuglinge aufzufinden, kann ich die Mordsache Rockcliff abschließen, indem ich Ihnen den Mann zeige, damit Sie ihn verhaften können. – Essen !« »Sir?« 208
»Fahren Sie mit zwei Wachtmeistern zur Hauptstraße und fordern Sie die Herren Martin, senior und junior, auf, mich hier zu besuchen. Wenn Sie mit den beiden ankommen, halten Sie vor der Einfahrt in diesen Hof. Lassen Sie sie zum Seiteneingang der Wache bringen, und zwar so, daß rechts und links von den beiden je ein Beamter geht. Betreten Sie den Hof aber erst, wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe. Verstanden?« »Jawohl, Sir.« Essen rief Robins und noch zwei Wachtmeister zu sich, mit denen er zur Maklerfirma C. Martin fuhr. »Jetzt, Yoti, eine Harke und einen Besen bitte. Rasch !« Der Sergeant holte die Geräte. »Während ich harke, streichen Sie die Erde mit dem Besen glatt. Sagen Sie Ihren Männern, daß sie die Reporter draußen halten.« Die Oberfläche des Hofes bestand aus Sand, der von Stiefeln und Autoreifen festgepreßt war. Bony begann den Boden mit schwungvollen Strichen von der Einfahrt bis an die Hintertür des Polizeigebäudes zu harken. Der Sergeant glättete alles säuberlich mit dem Besen. Beiden Männern war heiß geworden bei dieser Arbeit, doch Yoti bekam keine Zeit zum Ausruhen. »Gebrannten Gips jetzt, Wasser und die Maurerkelle, bitte. Beeilen !« rief Bony. So wurde die Bühne hergerichtet, die Akteure mochten ins Rampenlicht schreiten. Bony stand innen dicht am Tor. Yoti und Alice bewunderten die Blumen in dem winzigen Garten vor dem Wohnhaus, der Sergeant hatte eine Dose mit der Aufschrift ›Superphosphat‹ und eine Maurerkelle in den Händen. Essen kam angefahren. Die beiden Wachtmeister stiegen aus, nach ihnen zwei Zivilisten. Der ältere Martin nickte Bony zu, der jüngere stierte ihn mürrisch an. Sie wurden gebeten, nebeneinander zu gehen, und betraten, von zwei Polizeibeamten flankiert, den Hof. Als sie über das vorbereitete Terrain schritten, wurden vier verschiedene Schuhabdrücke sichtbar, zwei von den Zivilisten, die körperlich gleich groß waren, dieselbe Figur, dieselbe Gangart und denselben Familiennamen hatten. Und einer von den beiden hatte Mrs. Rockcliff ermordet. 209
Bony folgte in leicht gebückter Haltung den vier Reihen von Fußspuren. Auf einmal ritzte er einen Pfeil in den Sand, um einen Abdruck des Schuhs von dem rechts gehenden Martin zu bezeichnen, und Yoti füllte sofort die Schuhspur mit halbflüssigem Gips. Ein zweiter Pfeil bezeichnete einen weiteren Abdruck von demselben Mr. Martin, dann winkte Bony Essen zu sich und rief gleichzeitig : »Die Wachtmeister halt, einen Moment stehenbleiben !« Wie angewurzelt blieb die kleine Schar stehen. Zu dem rechts gehenden Martin sagte Bony : »Ich beschuldige Sie des Mordes an Mrs. Pearl Rockcliff, begangen am Abend des 7. Februar. Essen, nehmen Sie den Mann fest.« »Kommen Sie, Mr. Martin senior«, sagte Essen im Ton höchster Befriedigung. Für eine Stunde vor dem Mittagessen herrschte im Dienstzimmer des Sergeanten emsiger Betrieb, nachdem ein großer Bereitschaftswagen der Polizei vorgefahren war, die Häuptling Wilmot, seinen Sohn, dessen Frau und den alten Uhrmacher brachte, sowie Mr. Beamer, der mitkam, um gegebenenfalls für seine schwarzen Missionskinder einzutreten. Die Eingeborenen gaben ihr verstocktes Schweigen bald auf, als Bony ihnen versichert hatte, sie dürften nach freimütigem Geständnis wieder in ihr Siedlungsdorf zurückkehren. Mr. Beamer, der sich emsig um die Verteidigung bemühte, unterschrieb als Zeuge ihre Aussagen, dann wurden sie auf Staatskosten wieder in die Siedlung gefahren. Um zwei Uhr nachmittags wurden Professor Marlo-Jones und seine Frau im Zimmer des Sergeanten dem Kriminalinspektor vorgeführt. Ein seltsames Paar : der Mann in majestätischer Haltung und sprudelnd vor Energie, die Frau äußerlich unbedeutend, aber voll verhaltener Tatkraft. In ihren kleinen braunen Augen glomm es wie Feuer, ihr breiter Mund hatte einen grausamen Zug. »Jetzt endlich«, rief sie, »sind wir in der Lage, Sinn in das ungewöhnliche Treiben der Polizei zu bringen. Bitte geben Sie uns Erklärungen, Inspektor, falls Sie tatsächlich Inspektor sind.« »Nur nicht so bissig, Schatz«, ertönte der Baß des Professors. »Inspektor Bonaparte tut doch nur seine Pflicht, und du wirst ja noch wissen, daß ich dir abriet, die Felszeichnung aus dem Museum zu nehmen.« 210
»Ja, ich weiß«, gab sie zu, »allerdings …« »Wir beabsichtigen sowieso, die Zeichnung zurückzugeben«, versicherte der Professor. »Es war bloß eine dumme Posse, weiter nichts.« Er lachte. »Wir sind auch bereit, die Strafe dafür hinzunehmen, daß wir uns gewissermaßen etwas vom Nachbarn entliehen haben.« »Aber warum haben Sie das getan, Professor?« fragte Bony sanft. »Als ich Ihr Gast war, sagten Sie mir, Sie könnten aus dem, was der eingeborene Künstler durch das Bild ausdrücken wollte, nicht klug werden. Oder haben Sie es gestohlen, damit ich es nicht zu sehen bekam, weil Sie dachten, ich würde vielleicht die der Zeichnung zugrunde liegende Legende erkennen?« »O nein, nicht deshalb«, warf Mrs. Marlo-Jones ein. »Und daß ich dann auch wissen würde, was in Ihnen den Plan, Säuglinge zu stehlen, erweckt hatte?« »Oh !« rief die Frau Professor. »Ah !« hauchte ihr Mann. »Ich freue mich, daß Sie meinen Gedankengang akzeptieren«, murmelte Bony. »Ich schlage vor, daß Sie mir den ganzen Hergang berichten, von Anfang an, und zwar auch die Ermordung der Mrs. Rockcliff an dem Abend, als Sie, Mrs. Marlo-Jones, ihr Haus betraten und ihr das Kind stahlen.« »Ich?« schnaubte die Frau Professor. »Ich habe sie nicht ermordet !« »Sie befanden sich aber unter ihrem Bett.« »Unter dem Bett? – Henry, du bist ein Verräter ! Du hast diesem Mann erzählt, was ich dir anvertraut habe.« »Das habe ich nicht, Schatz«, dröhnte der Professor. »Inspektor, wie haben Sie herausgekriegt, daß meine Frau da unter dem Bett steckte?« »Wie ein bekannter Romandetektiv zu sagen pflegte : ›Elementar, mein lieber Watson‹. Als Ihre Gattin unter Mrs. Rockcliffs Bett kroch, trug sie Handschuhe, und zwar dieselben, die sie jetzt trägt, mit einem gestopften Finger. Sie sehen doch beide die ausgebesserte Stelle, nicht wahr? Auf dem Linoleum im Zimmer, auch unter dem Bett, waren Abdrücke des gestopften Handschuhes zu erkennen, desgleichen an einem Fenster der Bibliothek, der Beweis, daß Sie, Mrs. Marlo-Jones, an dem Diebstahl der Felszeichnung beteiligt waren. Sie sehen, wie schwierig es ist, ein Verbrechen wirklich lohnend zu gestalten.« »Ich habe die Frau nicht ermordet !« rief Mrs. Marlo-Jones laut. 211
»Dann sagen Sie mir, wer.« »Ja, Schatz, sag es nur«, drängte der Professor. »Es wäre mir ja furchtbar, wenn du dafür aufgehängt würdest.« Seine Frau zuckte resigniert die Achseln, wie eine Königin, die von ihren sämtlichen Höflingen im Stich gelassen wird. »Ich lag also unter dem Bett, wie Sie sagten, Inspektor«, erklärte sie. »Ich mußte mich da verstecken, weil ich ja nicht wußte, ob jemand in der Wohnung war. Das merkte ich erst, als der Betreffende ein Möbelstück umwarf. Er kam ins Schlafzimmer, ohne Licht zu machen, und dann hörte ich die Haustür aufgehen. Ich wußte, daß es Mrs. Rockcliff war, denn ich erkannte sie an ihrem Schritt im Flur. Freilich begriff ich nicht, weshalb sie so früh zurückkehrte. Sie kam ins Schlafzimmer, knipste das Licht an, und dann hörte ich den Schlag und sah sie tot zu Boden fallen. Dann sah ich, wie der Mann sich über sie beugte. Ganz genau sah ich sein Gesicht.« »Sie wußten, wohin Mrs. Rockcliff an dem Abend gegangen war?« »O ja, Inspektor. Sie traf sich mit dem Mann zweimal in der Woche, aber diesmal muß er wohl nicht dagewesen sein in dem Haus, wo sie sich trafen, deshalb kam sie zurück, und er wartete in ihrer eigenen Wohnung, um sie zu ermorden.« »Weshalb haben Sie das alles nicht gemeldet – mir gemeldet?« »Ihnen das melden ! Wie konnte ich das? Es ging doch noch um mehr, um die Babys.« »Und obgleich Sie wußten, daß der Mann ein Mörder war, haben Sie nichts unternommen?« drängte Bony. »Nein. Überlegen Sie doch mal …« Sie blickte hilflos ihren Mann an, der nun für sie sprach. »Mr. Martin war über Nonnings Experimente vollkommen im Bilde, denn er war mit den Delphs schon seit Jahren befreundet«, erklärte er. »Er hat sich aber an unseren kleinen Versuchen nicht aktiv beteiligt, sondern erfuhr erst durch Delphs die Einzelheiten unseres Planes mit dem Rockcliff’schen Kind, denn so weit hatten wir ihn doch nicht ins Vertrauen ziehen wollen. Wenn ihm nämlich nach dem Mord unsere veränderte Haltung aufgefallen wäre, hätte er erraten, daß wir wußten, wer der Täter war. Und um das Verbrechen zu verschleiern, hätte er vielleicht auch uns umgebracht. Am besten ist es wohl, wenn ich Ihnen den ganzen Verlauf erzähle.« 212
Als Bony zustimmend nickte, fragte der Professor, ob er rauchen dürfe. Nachdem er eine Zigarette angesteckt hatte, setzte er sich bequem zurecht, räusperte sich, wie er es stets bei Beginn seiner Vorlesungen getan hatte, und warf einen flüchtigen Blick auf den Stenographen. »Der Keim zu der – hm – der Intrige entstand im vorigen August, als wir einmal abends bei Delphs waren, die gerade den Bruder von Mrs. Delph, Doktor Nonning und dessen Frau, zu Besuch hatten. Das Gespräch an dem Abend drehte sich um unser Museum, das Doktor Nonning besichtigt hatte. Er hatte die Felszeichnung gesehen und Mr. Oats, den Kurator, gefragt, was das Bild bedeute, doch Mr. Oats, der erst kürzlich seinen Posten übernommen hatte, wußte das nicht. Deshalb habe ich die Legende erklärt, die Doktor Nonning so stark beeindruckte, daß er später auf die Idee kam, einige seiner Patienten auf ganz bestimmte Weise zu heilen. Er behandelte nämlich verschiedene Frauen, die unter besonders schweren Neurosen litten. Ich kann mich nicht seines ärztlichen Jargons bedienen und habe auch wenig Verständnis für diese neuen Wissenschaften. Jedenfalls scheinen manche Frauen in eine Art Geisteskrankheit zu verfallen, wenn sie nicht fähig sind, Kinder zur Welt zu bringen, und dieser Zustand verschlimmert sich, je mehr sie sich nach einem Kind sehnen. Auch wird bei ihnen der Gedanke, sie würden von allen Leuten verachtet, allmählich zur fixen Idee. Nonning entwickelte die Theorie, daß solche Frauen, wenn es gelänge, ihnen einzureden, daß sie, wie die Legende es überliefert, ein eigenes Kind geboren hätten, sie geistig und körperlich wieder gesunden würden. Sie werden mir recht geben, wenn ich sage, daß Frauen dieser Art, falls sie ein Kind auf diesem gewissermaßen geistigen Wege empfangen, ihr seelisches Gleichgewicht vollkommen und für dauernd wiederfinden können, viel eher jedenfalls, als wenn sie sich etwa im Waisenhaus ein Kind aussuchten, so wie der Mensch auch sonst Dinge wählt, die ihm gerade gefallen mögen. Nonning kam im September wieder nach Mitford, als gerade den Delphs ein Sohn geboren wurde. Da erklärte er uns, seine Schwester habe das Kind ganz gegen ihren Willen bekommen, aber er habe eine Patientin, der sehr geholfen werden könne, wenn man ihr im Einklang mit der Legende ein Kind verschaffe. Wir beschlossen daraufhin, diese Sage in die Wirklichkeit umzusetzen, mit Hilfe etlicher Eingeborener 213
aus der Siedlung, und entwarfen einen Plan für die Kindesentführung, denn Mrs. Delph wollte auf jeden Fall vermeiden, daß die Leute behaupteten, sie hätte ihr Kind nicht haben wollen. Wir vereinbarten also mit den Eingeborenen, daß –« »Pardon, Professor, aber diese ganzen Arrangements mit den Eingeborenen, wie sie das Kind übernehmen, es pflegen, und wie sie ihre Rollen als Gestalten der Legende durchführen sollten, sind mir bekannt«, unterbrach Bony seine Rede. »Oh – das kennen Sie also, Inspektor?« »Ja, ich habe auch Sie beide gestern nacht bei der Veranstaltung gesehen. Ich war bei den Göttern, oben im Baum. Nun sagen Sie mir, wie Sie die Entführung bewerkstelligt haben.« »Das war ganz leicht. Wir kauften einen Kinderwagen vom gleichen Modell, wie Mrs. Delph es besaß, und dann wurden mit ihrer Hilfe die gleichen Säuglingskleider, wie ihr Kind sie hatte, und sogar der gleiche Fliegenschutzschleier für den zweiten Wagen angefertigt. Das Dienstmädchen wurde mit dem Kinderwagen zu dem Modegeschäft geschickt. Wir wußten, daß er, wenn sie das Paket aus dem Laden holte, draußen bleiben mußte. Unsere schwarze Hausgehilfin schob den zweiten Kinderwagen neben den Delphschen, blieb dort ein Weilchen stehen und fuhr dann mit dem Wagen, in dem das Baby lag, wieder fort. Sie brachte ihn bis zum Ende der Hauptstraße, wo ein Eingeborener mit einem Lastwagen auf sie wartete. Eine Eingeborene auf dem Wagen nahm das Kind in Empfang. Der Kinderwagen wurde später, mit Steinen vollgepackt, mitten im Fluß versenkt. Es klappte alles störungsfrei.« »Und dann entführten Sie, unter Assistenz des Vaters, das Bulfordsche Kind«, warf Bony ein. »Einer von Ihnen stellte sich hinter dem Zaun auf, der die Bank von dem leeren Grundstück trennt, der zweite klingelte und nahm Mr. Bulford, der schon wartete, das Kind ab.« »Sie sind ein sehr kluger Mensch«, bemerkte Mrs. Marlo-Jones. »Ich bin überzeugt, daß Sie das nicht von Mr. Bulford wissen.« »Ganz recht«, bestätigte Bony und konnte sich nicht versagen, hinzuzufügen : »Mr. Bulford hat Selbstmord verübt, weil ihm klargeworden war, daß ich ein sehr kluger Mann bin. Und seine Frau wollte von Ihren Plänen nichts wissen, stimmts?« 214
»Nein, die Frau wollte mit nichts und niemandem mitmachen. Man konnte ihr auch nicht trauen«, erwiderte Mrs. Marlo-Jones, »aber sie war froh, daß ihr Kind verschwand. Diese blöde Person meinte immer, alle Menschen Jachten sie aus. Und wie sie ihren armen Mann behandelte, das war ja eine Schande ! Wir waren alle sehr froh, weil wir nur Kinder von Eltern genommen haben, denen sie lästig und unerwünscht waren, und daß sie Frauen gegeben wurden, die buchstäblich vor Sehnsucht nach einem Kind gestorben wären.« »Und nachdem das Bulfordsche Baby der ausgewählten Patientin Nonnings gegeben war, stieg die Nachfrage nach Babys, und Sie begannen regelrecht Kinder zu stehlen?« forschte Bony weiter. »Ja, wir begannen nun regelrecht Diebstahle«, übernahm der Professor wieder, in fast heiterem Ton, das Gespräch. »Wir kannten das Ehepaar Ecks und wußten, daß Mrs. Ecks häufig ins River Hotel ging. Das Kind wurde von der geradezu trunksüchtigen Mutter schlecht betreut, und Doktor Nonning war es sehr darum zu tun, für eine wirklich schwer leidende Patientin ein Kind zu beschaffen. Alles ließ sich leicht durchführen, ebenso die Entführung des Coutts’schen Kindes. Mrs. Coutts war für das hilflose kleine Wesen eine noch schlechtere Mutter als Mrs. Ecks. Sie träumt nur davon, eine berühmte Schriftstellerin zu werden, alles andere vernachlässigt sie.« »Und die schlimmste von allen war diese Rockcliff !« unterbrach ihn seine Frau. »Cyril Martin ahnte nicht, wie gut wir über die beiden Bescheid wußten : daß sie ihn in dem Häuschen unten am Fluß immerfort besuchte und ihr Baby stundenlang allein in der Wohnung ließ. Deshalb haben wir ihr ja das Kind weggenommen. Wir haben damit moralisch kein Unrecht begangen, Inspektor, sondern haben nur unerwünschte Kinder an Leute gegeben, die sich ein Kind sehr wünschten und es zärtlich großziehen. Außerdem sind die vier Frauen, die von uns die Babys bekommen haben, von ihrer Krankheit genesen und sind jetzt glücklich und gesund. Doktor Nonning ist von seinen Erfolgen begeistert und hat allen Grund dazu. Und die andere junge Frau wird sich auch erholen.« »Und was wird mit den Müttern, die ihre Babys verloren haben : mit Mrs. Coutts, Mrs. Ecks und Mrs. Rockcliff – falls sie am Leben geblieben wäre?« 215
»Pah ! Aber Inspektor !« rief Mrs. Marlo-Jones empört. »Diese Weiber empfanden ja ein Kind wie eine peinliche Krankheit, als Ärgernis. Und aus diesem Grunde haben wir gerade ihre Kinder für Doktor Nonnings Patientinnen ausgesucht.« »Weshalb haben Sie eigentlich nur Kinder männlichen Geschlechts gewählt? Geschah das, weil die Eingeborenen sich weigerten, ihre feierlichen Handlungen an weiblichen vorzunehmen?« »Ja, genau deshalb. Mädchen gelten als ganz unwichtig.« »Welche Mittel haben Sie angewandt, damit das Baby von Mrs. Coutts nicht schrie, als Sie es aus dem Bettchen nahmen?« »Gar keins. Wir wußten, daß dieses Kind nur selten weinte. Aber das tat es dann doch. Es schrie, als ich es in den Handkoffer gepackt hatte und schon auf der Straße war. Das war sehr unangenehm, aber zum Glück hatten wir gerade Gewitter, und alle Leute beeilten sich, ins Trokkene zu kommen.« »Bitte weiter, über das Baby von Ecks.« »Da habe ich eine Flasche Milch mitgenommen. Das Kind hatte gerade Appetit und verhielt sich daher still.« »Kuhmilch?« »Aber ja.« Die Frau Professor lächelte. »Wir hatten uns gesagt, daß es falsch gewesen wäre, ein Nährmittel zu kaufen, da man uns dann vielleicht auf die Spur gekommen wäre.« Bony schwieg nachdenklich, und der Professor und seine Frau beobachteten ihn, wie Kinder, die mit ihren Schularbeiten fertig sind und auf das Schlußzeichen warten, um ins Freie zu eilen. In ihren Augen schien der Diebstahl von fünf Säuglingen für den Zweck, den sie freimütig eingestanden hatten, nicht so strafwürdig wie der Diebstahl der Felszeichnung aus der Stadtibliothek, und diese Reliquie bezeichneten sie als geliehen, da sie wieder auf ihren Platz gebracht werden sollte. So bot ihr Verhalten ein seltenes Problem. »Ich werde Ihnen gestatten, in Ihre Wohnung zurückzukehren«, erklärte Bony. »Natürlich dürfen Sie nicht versuchen, die Stadt zu verlassen, bis von höherer Stelle entschieden wird, wie die Sache weitergeht. Sie selbst haben keine Kinder?« »Nein«, antwortete der Professor in einem Ton, der viel ahnen ließ. »Hm – Mrs. Marlo-Jones : als Sie unter dem Bett lagen, welchen Cyril Martin sahen Sie über die Tote gebeugt?« 216
»Na, den Vater selbstverständlich. Er hatte ja schon seit Weihnachten mit der Rockcliff ein Verhältnis, vielleicht noch früher. Jedenfalls haben wir das seit damals beobachtet.« Bony warf Yoti und Essen einen Blick zu. Ihr langsames Kopfnicken war die bejahende Antwort auf seine unausgesprochene Frage : Also habe ich den Richtigen zur Strecke gebracht, wie?
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amit also findet ein sehr eigenartiger Fall seinen Abschluß«, sagte Bony, als der Professor und dessen Frau, nachdem sie ihre Aussagen unterschrieben hatten, entlassen waren. »Mrs. Marlo-Jones ist nicht leicht als Typ einzuordnen, und der Professor lebt in einer anderen Welt. Er hat sich vor einem halben Jahr zum erstenmal in Abenteuer eingelassen, und ich glaube, das interessanteste psychologische Objekt ist für ihn seine Frau gewesen. Nachdem wir nun auch Doktor Nonning verhört haben, können wir verstehen, wie er über diese beiden Menschen so leicht Gewalt gewinnen konnte. Nonning gehört zu den rücksichtslosen Wissenschaftlern, die weder sich selbst noch ihre Mitmenschen schonen, wenn es die Förderung ihrer Arbeit gilt. Delph ist das ganze Gegenteil von ihm : mit sich und dem Leben zufrieden und glücklich, wenn er in seiner Praxis herumschwirren kann. Er wünscht sich nur ein ruhiges Heim und ein wenig Ausspannung. Ganz einfach gesagt : Seine Frau hat die Hosen an, und da sie willens war, ihr Baby einer alten Frau zu überlassen, stimmte er um des lieben Friedens willen zu – ein verhängnisvoller Fehler, der erste Schritt zu kriminellen Handlungen. Und wie ähnlich diesem Doktor Delph war John Bulford !« Grüblerisch rollte Bony eine Zigarette, und Yoti hätte ihm diese Arbeit am liebsten abgenommen, so schlecht gelang sie den dunklen Fingern. Der Sergeant war müde, Essen gingen so viele Gedanken durch 217
den Kopf, daß er Mühe hatte, sie einigermaßen klar zu ordnen. Alices Blick hing an Bony, in ihren Augen las er aufrichtige Bewunderung. Gerade wollte sie ihn etwas fragen, da sprach er weiter : »Mrs. Delph wollte den Leuten die Geburt ihres Kindes verheimlichen, und ihr Mann, dessen Gewissen der Sinn der Legende beruhigte, erklärte sich mit der Entführung und mit Nonnings Experiment einverstanden. Nun passen Sie gut auf. Die Entführung mußte, unter den genau nachgeahmten Zeremonien der Legende, von zwei Leuten ausgeführt werden, die eigentlich für eine erfolgreiche kriminelle Laufbahn wenig geeignet waren. Gerade die Einfachheit des Planes, wie das Baby von der Hauptstraße entführt werden sollte, sicherte ihnen den Erfolg. Nachher hat die Mutter ihren Kummer so wirksam markiert, daß sie Männer, die über das Kind mir ihr sprachen, täuschen konnte, aber doch nicht gut genug markiert, um eine Frau zu täuschen, nämlich Sie, Alice. Auch der Plan zur Entführung des Bulfordschen Kindes war ein Muster an Einfachheit, wobei allerdings der Vater mithelfen mußte. Die moralische Schwäche des Vaters verriet dann entscheidend die Tätigkeit der Entführer. Seine erste Aussage, durch die er seine Handlungen während der Zeit, in der das Baby gestohlen wurde, verschleiern wollte, hielt unter meinen Attacken nicht stand, sein zweiter Versuch mißlang, weil er vergessen hatte, daß die Bibliothek an dem gewissen Tag wegen Renovierung geschlossen war. Aber niedergebrochen ist Bulford erst infolge des Mordes an Mrs. Rockcliff. Zweifellos hat er gedacht, sie sei gerade von den Leuten ermordet worden, denen er sein eigenes Kind überlassen hatte, obwohl ihm Mrs. Marlo-Jones versicherte, das sei nicht der Fall. Die Entführung des Ecks’schen Kindes verlangte, wenn sie gelingen sollte, so viel Glück, daß kein erfahrener Verbrecher sie allein daraufhin versucht haben würde. Ebenso viel Glück war bei dem Säugling des Ehepaares Coutts nötig. Beide Fälle liefern den Beweis dafür, daß der Mensch, wenn er als Verbrecher Erfolge haben will, am besten seine Tat im vollen Tageslicht und zwischen möglichst vielen Leuten begehen sollte und daß er die Fähigkeit haben muß, sich unter ungewöhnlichen Verhältnissen ganz normal zu benehmen. Die Kinder wurden in jedem Fall schleunigst in die Eingeborenensiedlung geschafft, wo sie in dem Versteck, sozusagen vor der Nase von 218
Mr. Beamer und Frau, betreut worden sind. Als die Zeit zur Inszenierung der legendären Riten gekommen war, schickte der schlaue alte Häuptling die meisten Angehörigen seines Stammes auf eine Wanderung, nicht weil die eigenen Leute nichts wissen sollten, sondern weil während ihrer Abwesenheit Mr. und Mrs. Beamer die Gelegenheit bekamen, ihre schriftlichen Missionsarbeiten nachzuholen, und so vorläufig an ihre Schreibtische gebunden blieben. Wir können uns gut vorstellen, wie Professor Marlo-Jones nachts, wenn es kühl wurde und das Meditieren eine erholsame Beschäftigung war, seine langen Spaziergänge machte. Wir sehen, wie er durch reinen Zufall entdeckte, daß der Makler Martin ein Haus unten am Fluß betrat, in dem er, wie der Professor wußte, nicht wohnte. In den vorderen Räumen wurde Licht gemacht, und alsbald erschien geheimnisvoll eine Frau, für die er die Haustür öffnete. Der Professor blieb auf dem Posten und beobachtete, wie die beiden um zwei Uhr früh getrennt das Haus verließen. Hier erkennen wir, wie das Abenteuerliche den Professor und seine Frau reizte, weiter nachzuforschen, um, wie uns Mrs. Marlo-Jones vorhin sagte, die Vorgänge zu ergründen. Sie sahen Mrs. Rockcliff auf den nächtlichen Wegen an ihrem Hause auf der Hauptstraße vorbeigehen, sie wußten, wann sie sich in die Klinik begab und wann sie später mit dem Baby herauskam. Sie wußten, daß das Kind die Frucht eines illegitimen Verhältnisses war und hatten sich über die Lebensweise des Mr. Cyril Martin schon lange ein Bild gemacht. Demzufolge muß Martin die Frau in Adelaide kennengelernt haben, wo sie unter dem Namen Jean Quayle lebte. Offenbar ist sie nicht leicht zu fangen gewesen, denn sie brachte Martin so weit, daß er ihr einen Heiratsantrag machte. Als sie merkte, daß sie von ihm ein Kind bekommen würde, bedrängte sie ihn, die Heirat früher anzusetzen, aber Martin entwand sich den Fesseln. Jedenfalls meinte er, sich freigemacht zu haben. Er hatte ihr von seinem Geschäft erzählt, ohne ihr jedoch den Wohnsitz seiner Firma zu verraten. Aber das ermittelte sie ganz einfach aus dem Adreßbuch der Häusermakler. So kam sie nach Mitford und setzte ihn hart unter Druck. Er sollte ihr monatlich fünfzig Pfund in bar geben und außerdem monatlich weitere fünfzig auf eine Bank in Adelaide überweisen. Ferner sollte er ein Haus für sie suchen und es auf seine Kosten möblieren. Weil dieses Abkom219
men für sie so vorteilhaft war, unternahm sie Schritte, um ihre Personalien zu ändern und die Verbindung mit Martin geheimzuhalten. Martin wurde die Zahlung von hundert Pfund im Monat höchst lästig. Er wußte, an welchem Abend Mrs. Marlo-Jones das Baby der Mrs. Rockcliff stehlen würde, denn er hatte alle Einzelheiten von Mrs. Delph erfahren, ohne daß diese ahnte, was das für Folgen haben konnte. Er wußte auch, daß die Frau Professor beim Eindringen in die Wohnung das Schnappschloß an der Haustür mit einem Streifen Zelluloid öffnen wollte, und wußte auch genau die Zeit, zu der das Baby entführt werden sollte. Jedenfalls glaubte er sie zu wissen, aber Mrs. MarloJones verspätete sich um eine Stunde. Als er durch das Fenster der Abwaschküche in die Wohnung drang, rechnete er damit, daß das Kind schon fort sei. Als Makler, der die Wohnung ja ausgesucht hatte, kannte er das Innere des Hauses genau, und von Mrs. Rockcliff wußte er, wo das Baby schlief. Also begab er sich gleich ins vordere Schlafzimmer. Kaum war er dort, als er Mrs. Rockcliff hereinkommen hörte. Infolgedessen hat er sich, nach seiner Aussage, nicht mehr überzeugen können, ob das Kinderbett schon leer war. So befreite er sich durch den Mord von einem Alpdruck, indem er den Anschein erweckte, als hätten die Entführer des Kindes, in flagranti von Mrs. Rockcliff überrascht, sie ermordet. Nach der Tat entfernte er sich rasch, ohne zu wissen, daß das Kind sich noch in seinem Bettchen befand und Mrs. Marlo-Jones unter dem großen Bett lag. In dem Glauben, den Mord glücklich auf die Kinderdiebe abgewälzt zu haben, hätte er noch in der Wohnung bleiben können. Der Professor und seine Frau brachten es nicht fertig, stillzuhalten. Über den Mord entsetzt, mußten sie zu einem Entschluß kommen, wie sie sich verhalten wollten. Sie setzten Bertrand Clark als Spürhund auf Alice an, und Wilmot glaubte, mich gut im Auge zu haben. Der Diebstahl der Felszeichnung war der Höhepunkt der Dummheit. Sie hofften, daß ich diese Tat nicht mit den Entführungen in Verbindung bringen würde, und meinten, ich würde nicht feststellen, welche Bedeutung das Bild hat. Wenn ich es freilich gesehen hätte – so folgerten sie –, wäre ich schnell auf die Zusammenhänge von Tat und Legende gekommen. 220
Als Mr. Oats mir eine nach dem Gedächtnis gezeichnete Skizze von dem Bild gab, war ich aus meinen schlimmsten Befürchtungen über das Schicksal der kleinen Kinder erlöst. Ich vermerke gern, daß die roten Spinnen nicht von dem Professor oder seiner Frau, sondern von Bertrand Clark in mein Bett praktiziert worden sind. Denn das Professorenpaar fürchtete mich längst nicht so wie die Eingeborenen, die daher auf eigene Faust handelten. Damit wäre die Aufklärung beider Verbrechen annähernd gelungen. Meine Hauptsorge war das Schicksal der Säuglinge, wie ich so oft betont habe, und wir alle dürfen uns freuen, zu wissen, wo sie sind und daß sie gut behandelt werden. Den Eltern wird mitgeteilt, wo sie ihr Kind wiederfinden können.« »Nun erzählen Sie uns bitte von der Legende«, bat Alice. »Die Legende !« Bony lächelte sie herausfordernd an. »Also : Es war vor langer, langer Zeit, in den Tagen Alchuringas, als die Welt noch jung war und darauf wartete, daß die Menschen, die wir heute die Eingeborenen nennen, sie in Besitz nahmen. In jener fernen Zeit war die Erde, von allen möglichen Ungeheuern bevölkert, und eines Tages kam durch die Meere ein sonderbares Wesen gewatet, das halb Vogel, halb Mann war. Es hieß Altjerra und war der »Schöpfer aller Dinge‹. Als Altjerra aufs feste Land kam, war er sehr erschöpft, weil er auf der Schulter einen riesigen Sack getragen hatte, der voll war von Kinderseelen, mit denen er die Welt bevölkern wollte. Er suchte nach einem Ruheplatz im Schatten, den er am Fuß eines großen ›Baobab‹, eines Eukalyptusbaumes, fand. Als er erwachte, war er sehr hungrig. Da sah er im Geäst einen armen alten Vogel, einen Riesenfischer. Den fing er und verzehrte ihn. Jetzt aber begann der Baum zu weinen und rief : ›Du hast meinen besten Freund getötet, ohne den ich nun ganz einsam bin.‹ Altjerra tat der Baum sehr leid, deshalb öffnete er seinen großen Sack, nahm viele Kinderseelen heraus, die in den hohlen Baum liefen und sich in ihm versteckten. Dann verließ Altjerra den alten Baum, der wieder glücklich war, und wanderte durch Australien. Überall, wo er einen besonders alten Baum entdeckte, einen Haufen ›Teufelsmarmeln‹ oder einen merkwürdig geformten Berg, ließ er Kinderseelen aus seinem Sack fallen, die sich an diesen Orten verbargen. 221
Nachdem die Kinderseelen schon lange in dem Baobab gesessen hatten, wurden sie es leid, eingesperrt zu sein. Von allein konnten sie nicht den geheiligten Ort verlassen und in die weite Welt ausschwärmen, und so wurden sie – wie sehr ihnen auch der Baum mit seinen Blättern zuwisperte : ›Habt Geduld‹ – immer trauriger. Eines Tages erschien dann ein anderes Wesen, diesmal eine Lubra, eine Eingeborenenfrau. Sie war müde und sorgenvoll. Müde, weil ihr Mann sie aus dem Camp gejagt hatte, und sorgenvoll, weil er ihr nicht verzieh, daß sie ihm keinen Sohn schenken konnte. So legte sie sich in den Schatten des Baobab und weinte, bis sie einschlief. Da krabbelte eine der Kinderseelen, die mehr wagte als die übrigen, aus dem Baum hervor und verbarg sich im Leib der Lubra, die schließlich ein echtes Menschenkind zur Welt brachte. So kam es, daß später jede Eingeborene, die sich ein Baby, wünschte, ihr Volk verließ und sich zum Schlafen an einen der heiligen Orte legte, an dem, wie es hieß, Kinderseelen im Verborgenen lebten. Und stets ging ihr Wunsch in Erfüllung.« Alle schwiegen, bis Alice nach einer Weile sagte : »Das ist eine wirklich schöne Geschichte.« Yoti sagte, ironisch prustend : »Na ja, aber was war eigentlich zuerst da, das Ei oder die Henne?« Bony stand seufzend auf. »Müssen Sie unbedingt so prosaisch sein, Sergeant?« Essen lachte gedämpft, aber Alice schwieg. Yoti nahm wieder das Wort. »Damit wären ja alle Knoten entwirrt. Ich glaubte immer, über Verbrechen und Verbrecher recht gut im Bilde zu sein, bin aber doch nur ein Anfänger. Kommen Sie, Essen, und helfen Sie mir bei den verflixten Berichten über diese Geschichte.« Sie gingen hinaus, Bony trat vor seinen Handkoffer und begann zu packen. Alice blieb still, bis er sagte : »Gibt’s noch Fragen, Alice?« »Ja. Ich möchte das Baby behalten, der kleine Kerl ist doch für mich aus dem Baum gekommen, so daß ich ihn liebhaben muß. Erlauben Sie mir, ihn zu behalten, Bony?« Er ging wieder zum Schreibtisch, sie stand auf und stellte sich vor ihn. »Eine kluge Frau würde mit diesem Problem nicht zu Salomo gehen«, sagte er, zart lächelnd. »Ich bin kein Salomo, sondern nur Ihr guter Freund Bony. Wir nehmen das Flugzeug nach Melbourne, das in einer Stunde startet. Also machen Sie sich bereit. Denken Sie daran :
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Melbourne gehört nicht zu Neusüdwales, und auch daran, daß Besitzen manchmal schon fast so gut ist wie die gesetzliche Genehmigung …«
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