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Gerhard Danzer Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen Anthropologie für das 21. Jahrhundert - Mediziner, Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte
Gerhard Danzer
Wer sind wir? Auf der Suche nach der Formel des Menschen Anthropologie für das 21. Jahrhundert - Mediziner, Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte
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Professor Dr. med. et phil. Gerhard Danzer Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik Charité Campus Mitte Luisenstraße 13a 10117 Berlin Ruppiner Kliniken Fehrbellinger Straße 38 16816 Neuruppin
ISBN-13 978-3-642-16992-2 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg Lektorat: Dr. Astrid Horlacher, Dielheim Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd., Pune, India SPIN: 80027004 Gedruckt auf säurefreiem Papier
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Gewidmet Josef Rattner – Humanist und Skeptiker, Arzt und Lehrer der Kultur.
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Ziel der Anthropologie
Anthropologie ist der Versuch des Menschen, sein Herkommen und seine Möglichkeiten zu ergründen und nach seinem Wesen und seiner Natur zu fragen. Seit Jahrtausenden formuliert er dabei neue Erkenntnisse, welche die althergebrachten ergänzen, verändern oder überflüssig machen: Geschöpf Gottes, Zoon politikon, das sprechende und denkende Tier, Homo sapiens, faber, ludens und consumens, Animal symbolicum oder das nicht festgestellte Tier sind nur einige Formeln für die vielen bisherigen Anläufe von Wissenschaftlern und Philosophen, Bilder, Lehren und Konzepte vom Menschen zu entwerfen. z
Entwicklung der Anthropologie
In den letzten zweieinhalb Jahrtausenden waren es in der Regel die Philosophen, die anthropologischen Ehrgeiz zeigten und das menschliche Wesen erkennen und in Worte fassen wollten. Immanuel Kant erachtete es geradezu als die hauptsächliche Aufgabe seiner Zunft, die Frage »Was ist der Mensch?« lösen zu helfen. Im 18. und 19. Jahrhundert gesellten sich zu den Philosophen anthropologisch interessierte Ärzte und Naturforscher. Einer von ihnen war der Göttinger Physiker und Moralist Georg Christoph Lichtenberg, der Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Sudelbüchern Vorschläge unterbreitete, wie man das Wesen des Homo sapiens beschreiben könne: »Der Mensch ist vielleicht halb Geist und halb Materie, so wie der Polyp halb Pflanze und halb Tier ist. Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe.« Zweihundert Jahre später, nach umfänglichen wissenschaftlichen und philosophischen Bemühungen, stellen wir fest, dass Lichtenberg mit seiner witzigen Charakterisierung nicht ganz schief lag. Der Mensch ist tatsächlich geistig und materiell zugleich, und dass es sich bei ihm um ein zutiefst seltsames Geschöpf handelt, das auf prekären Grenzlinien existiert, wird nach den turbulenten und erschütternden gesellschaftlich-historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts kaum jemand mehr bezweifeln wollen. Vor allem die Lebenswissenschaften (Biologie, Biochemie, Medizin, Neurowissenschaften) haben in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf das Verständnis dieses seltsamen Geschöpfes Mensch für ein Paradoxon gesorgt: Einerseits erklären sie mit immer feineren Methoden, wie unser Organismus inklusive des Gehirns aufgebaut ist und funktioniert. So können wir zum Teil sogar auf molekularer Ebene nachvollziehen, welche zellulären und interzellulären Mechanismen beim Menschen für Fortpflanzung, Wachstum, Stoffwechsel, Reagibilität (vegetative und motorische Reaktionen) und Bewusstsein (Erinnerungen, Wahrnehmungen, Emotionen, Kognitionen) notwendig sind. Ausgehend davon sind wir in der Lage, medizinisch und biologisch hochkomplexe Probleme anzupacken und zu lösen: Aufklärung des Genoms und damit verbundene Gentherapie; Transplantationsmedizin; Stammzellforschung, Biodesign und Fertilisationsmedizin bis hin zum Klonen; Tele- und Robotermedizin; Gehirnprothetik und Gehirn-Computer-Interaktion. Berücksichtigt man noch andere technische Errungenschaften der letzten Jahrzehnte (Weltraumfahrt, Tele- und Internetkommunikation, Atomphysik, Computertechnik), könn-
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te man wie Wagner zu Faust begeistert ausrufen, dass es der Mensch »zuletzt so herrlich weit gebracht« hat. Parallel zu diesem Zuwachs an Wissen und Können lässt sich jedoch ein zunehmendes Unbehagen vieler Forscher konstatieren, über den Menschen etwas Eindeutiges und Substanzielles auszusagen. Je detaillierter und effektiver er vermessen wird, umso mehr scheinen sich sein Wesen und seine Natur einem integral verstehenden Zugriff zu entziehen. Nicht wenigen heutigen Wissenschaftlern und Philosophen ergeht es in dieser Hinsicht beinahe noch wie Fjodor Dostojewski, der vor 150 Jahren feststellte:
»
Die Ameise kennt die Formel ihres Ameisenhaufens, die Biene die Formel ihres Bienenstocks. Sie kennen sie zwar nicht auf Menschenart, sondern auf ihre Art. Aber mehr brauchen sie nicht. Nur der Mensch kennt seine Formel nicht.
«
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Anthropologie im 20. Jahrhundert
Bei der Suche nach der Formel des Menschen beteiligten sich im 20. Jahrhundert neben Medizin und Philosophie viele weitere Disziplinen. Im Handbuch Anthropologie (2009) werden die Historiographie, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Ethnologie, Kultur- und Literaturwissenschaften, Theologie, Primatologie, Paläanthropologie, Kybernetik, Verhaltensgenetik und Biologie erwähnt, die aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus Beiträge zur Anthropologie geliefert und dafür gesorgt haben, dass man heute im günstigen Fall von einer Pluralisierung und im ungünstigen Fall sogar von einer Auflösung der Menschenbilder spricht. André Malraux hat vor Jahrzehnten diesen Sachverhalt schon anvisiert, als er schrieb: »Der Mensch an sich ist ein Nichts, ein Traum der Intellektuellen.« Nicht wenige Wissenschaftler und Philosophen stellen sich daher die Frage, ob man guten Gewissens diesen Traum weiterträumen und von der Natur und dem Wesen des Menschen sprechen könne. Womöglich handelt es dabei um Verallgemeinerungen, die keiner empirischen Überprüfung standhalten und lediglich von der Dominanz althergebrachter Vorurteile zeugen. So haben die Ethnologen Franz Boas, Ruth Benedict, Margaret Mead und Clifford Geertz gezeigt, wie leicht man als Anthropologe in die Falle universalistischer Aussagen tappt und sich dann den Vorwurf einer eingeschränkten wissenschaftlichen Perspektive gefallen lassen muss. Daneben stimmt uns die moderne Biologie nachdenklich, indem sie uns anhand der Primatenforschung demonstriert, dass einige bislang als spezifisch menschlich geltende Eigenschaften wie Werkzeuggebrauch, intentionales Bewusstsein, planendes Entwerfen in die Zukunft oder Geistigkeit zumindest in Vorformen auch im Tierreich anzutreffen sind. Andererseits lassen uns wissenschaftliche Ergebnisse von evolutionären Anthropologen (z. B. Michael Tomasello) vermuten, dass es Fähigkeiten geben könnte (wie etwa die Wir-Intentionalität oder Kooperationskraft des Menschen), die unsere Gattung von anderen Tieren unterscheidet und die Conditio humana charakterisiert. Wenn Wissenschaftler oder Philosophen in der Vergangenheit von dem Menschen sprachen, machten sie sich jedenfalls nicht selten grober Simplifizierungen schuldig. In der Regel zielten sie stillschweigend auf männliche, erwachsene, weißhäutige und innerhalb der
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westlichen Kultur sozialisierte Vertreter unserer Gattung ab. Ob ihre anthropologischen Aussagen auch auf Frauen, Kinder, Afrikaner, Asiaten, Indios, Eskimos oder auf Menschen anderer Zeiträume (Frühgeschichte, Antike, Mittelalter, Renaissance) zutreffend waren, wurde keineswegs immer mit der gebotenen Selbstkritik untersucht. Und ob es sich dabei um das spezifisch Menschliche handelte, das uns angeblich von Tier und Pflanze unterscheidet, war ebenfalls nicht immer erwiesen. Die Situation stellt sich noch komplexer dar, sobald man einzelne wissenschaftliche Disziplinen auf ihre anthropologischen Positionen hin studiert. Allein in der Medizin des 20. Jahrhunderts könnte man mühelos vierzig oder fünfzig Namen und Schulrichtungen aufzählen, welche die anthropologische Debatte mit zum Teil einander widerstreitenden Aussagen über den Menschen bereichert haben. Mit Fug und Recht darf man sich fragen, ob ihre »Wahrheiten« in einigen Jahren oder Jahrzehnten noch Gültigkeit besitzen, und welche ihrer Beiträge die Diskussion über Menschenbilder im 21. Jahrhundert fruchtbar inspirieren werden. Es ist interessant zu beobachten, dass es im 20. Jahrhundert generell eine merkliche Hinwendung zu anthropologischen Themen gab, die sowohl von Philosophen als auch von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen ausging. In kritischer Distanz zum 19. Jahrhundert, das sich in der westlichen Welt bevorzugt der Geschichte und den großen historischen Erzählungen über Fortschritt und paradiesische Entfaltung der Menschheit zugewandt hatte, rückte nun der einzelne Mensch (Individuum, Person) mitsamt seinem Leib in den Fokus der wissenschaftlich-philosophischen Aufmerksamkeit. Ziel, Aufgabe und Inhalt unserer Existenz wurden dabei nicht mehr bevorzugt im schwerverständlichen oder absurden Geschichtsverlauf gesucht. Stattdessen entdeckte man die Natur sowie den menschlichen Körper mit seinen bewussten (z. B. Neurowissenschaften) und unbewussten Regungen (z. B. Psychoanalyse) als Sinn-, Wert- und Bedeutungsreservoir. Zum Ende des 20. Jahrhunderts hin waren es für manche Forscher (zugespitzt ausgedrückt) nur noch die neuronalen Aktivitätsmuster, anhand derer das Wesen des Menschen ablesbar sein sollte. z
Medizinisch-philosophische Anthropologie
Diese Konzentration auf die Anthropologie unter Berücksichtigung des menschlichen Leibes lässt es verständlich werden, warum sich seit einiger Zeit Bezugnahmen zwischen Medizin und Lebenswissenschaften einerseits und der Philosophie andererseits zu etablieren beginnen. Diese interdisziplinären Beziehungen sind nicht frei von Rivalitäten und Konflikten; vor allem die letzten Jahre waren von Auseinandersetzungen zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen um die Deutungshoheit auf dem Gebiet der Conditio humana geprägt. Dabei sind Wissenschaftler auf Philosophen eigentlich ebenso angewiesen wie umgekehrt. Die Ersteren suchen positives Wissen über den Menschen, indes die Letzteren die Möglichkeiten eines Kategorien und Sinnzusammenhang generierenden Blicks versprechen. Außerdem sind gegenseitige Kritik und Korrektur (z. B. in Bezug auf Begriffe und Modelle) bei so komplexen Fragen wie nach der Natur des Menschen dringlich geboten. Im letzten Jahrhundert waren am ehesten jene Ärzte, die sich als Tiefenpsychologen, Psychiater, Psychotherapeuten oder Psychosomatiker um eine mehrdimensionale Sicht des Men-
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schen bemühten, für philosophische Reflexionen offen und formulierten davon ausgehend innovative anthropologische Konzepte. Um keine bloß spekulative Anthropologie zu entwickeln, griffen im Gegenzug manche Philosophen medizinisch-biologische Forschungsergebnisse auf und integrierten sie in ihre anthropologischen Überlegungen. Aus dieser gegenseitigen Rezeption und Inspiration entwickelten sich die Grundlagen einer interdisziplinären medizinisch-philosophischen Anthropologie, die in den vergangenen Jahren interessante Beiträge für die derzeitige Debatte über Wesen, Sinn und Möglichkeiten des Menschseins bereitgestellt hat. Im vorliegenden Buch wird anhand der biographischen und werkanalytischen Erörterung von fünfunddreißig maßgeblichen Ärzten und Philosophen des 20. Jahrhunderts diese Entwicklung nachgezeichnet und hinsichtlich ihrer Ergebnisse kritisch bewertet. z
Zur Gliederung des Buches
Das Eingangskapitel stellt sechs Meisterdenker vor, die mehr oder minder unbeabsichtigt zu Ideengebern der philosophischen Anthropologie geworden sind. In gewisser Weise war es (nach Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert) vor allem Edmund Husserl, der mit seiner Phänomenologie die Initialzündung für eine Reihe von Philosophen und Wissenschaftlern gab, sich direkt oder indirekt mit der Natur des Menschen zu beschäftigen. Neben und nach ihm haben Henri Bergson, Ernst Cassirer, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre ähnliche Wirkungen entfaltet. Im zweiten Kapitel werden die Beiträge von wichtigen Vertretern der philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Karl Jaspers, Helmuth Plessner, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer, Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty) erörtert. Sie haben sich in ihren Schriften dezidiert der Frage nach dem Wesen des Menschen gewidmet und dabei teilweise neuartige Antworten gefunden. Inspirationen und Material für ihre philosophisch-anthropologischen Reflexionen holten sich nicht wenige dieser Denker aus der Medizin. Die Art und Weise, wie Ärzte als Tiefenpsychologen, Psychosomatiker und Psychiater im 20. Jahrhundert den Homo patiens aufgefasst, verstanden, diagnostiziert und therapiert haben, schlug sich in ihren Aussagen zum Homo sapiens und damit in unterschiedlichen anthropologischen Konzepten nieder. Diese gegenseitig befruchtende Anregung zwischen Medizin und Philosophie wird anhand der Disziplinen von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie (Sigmund Freud, Alfred Adler, C. G. Jung, Karen Horney und Josef Rattner), Psychiatrie (Ludwig Binswanger, Viktor Emil von Gebsattel, Erwin Straus, Viktor Frankl und Ronald D. Laing) und Psychosomatik (Georg Groddeck, Medard Boss, Alexander Mitscherlich und Thure von Uexküll) demonstriert. Daneben haben die in der inneren Medizin, Urologie und Neurologie aktiven Ärzte Kurt Goldstein, Viktor von Weizsäcker, Arthur Jores und Oswald Schwarz sowie die grundlagenwissenschaftlich tätigen Mediziner Frederik J. J. Buytendijk, Georges Canguilhem, Heinrich Schipperges und Eric Kandel relevante Beiträge für eine medizinisch-philosophische Anthropologie formuliert.
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Zur Auswahl der Beiträge
Trotz der vielen hier berücksichtigten Philosophen und Ärzte blieb die getroffene Auswahl notwendigerweise unvollständig. Die Liste der nicht erörterten Denker und Wissenschaftler mag ähnlich lang sein wie diejenige der in diesem Band versammelten. So fehlen Hannah Arendt, Arnold Gehlen, Michel Foucault, Hans Jonas und Hermann Schmitz ebenso wie die Ärzte Ernst Kretschmer, Franz Alexander, Harry Stack Sullivan, Helen Flanders Dunbar, Hans Selye und Aaron Antonowsky. Da sich der Verfasser auf die medizinisch-philosophische Anthropologie konzentrierte, sind auch ethnologisch orientierte Forscher wie Claude Lèvi-Strauss, Bronislaw Malinowski, Margaret Mead und die weiter oben erwähnten Franz Boas, Ruth Benedict und Clifford Geertz sowie die Vertreter der soziologischen, historischen, kulturellen, pädagogischen und literarischen Anthropologie im Text nicht aufgeführt. Außerdem weist die hier versammelte Gruppe von ärztlichen und philosophischen Beiträgern zur Anthropologie einen Mangel an weiblichen Forschern und ein Überwiegen des Eurozentrismus auf. Wer andere Publikationen von mir und Josef Rattner (mit dem zusammen ich in den letzten Jahren als Juniorpartner viele gemeinsame Buchprojekte verwirklichen konnte) kennt, wird aber zugeben, dass dies nicht Ausdruck von männlichem oder nationalem Chauvinismus ist. Obwohl sich die vorliegende Untersuchung auf die medizinisch-philosophische Anthropologie beschränkt, ist ihr Bogen weit gespannt – er reicht von der Phänomenologie bis zu den Neurowissenschaften und von der Existenzphilosophie bis zur Psychosomatik und zur Theorie der Medizin. Ihre hier zu Wort kommenden Vertreter repräsentieren eine wissenschaftliche und/oder philosophische Haltung, die für die anthropologische Forschung im 20. Jahrhundert wesentlich war, und die sich in die Formel kleiden lässt:
»
Was der Mensch ist, erfährt er nur im grenzüberschreitenden Dialog zwischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie sowie unter dauernder Bezugnahme auf sein gelebtes Leben, das sich stets vielschichtiger und komplexer als alle seine Erkenntnisbemühungen erweist.
«
Gerhard Danzer
Berlin und Neuruppin, im Frühjahr 2011
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Weiterführende Literatur
5 Blumenberg H (2006) Beschreibung des Menschen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 5 Bohlken E, Thies C (Hrsg) (2009) Handbuch Anthropologie – Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. Metzler, Stuttgart 5 Böhme G (1985) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Suhrkamp, Frankfurt am Main 5 Gadamer H-G, Vogler P (Hrsg) (1998) Neue Anthropologie in sieben Bänden. Beck, München (Erstveröff. 1974) 5 Gebauer G (Hrsg) (1998) Anthropologie. Reclam, Leipzig 5 Geertz C (1990) Die künstlichen Wilden – Der Anthropologe als Schriftsteller. Hanser, München (Erstveröff. 1988) 5 Janich P (Hrsg) (2008) Naturalismus und Menschenbild. Meiner, Hamburg
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5 Krüger H-P, Lindemann G (Hrsg) (2006) Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert. Akademie, Berlin 5 Landmann M (1971) Das Ende des Individuums – Anthropologische Skizzen. Klett, Stuttgart 5 Lang H, Weiß H (Hrsg) (1992) Interdisziplinäre Anthropologie. Königshausen & Neumann, Würzburg 5 Malinowski B (1986) Schriften zur Anthropologie. Syndikat, Frankfurt am Main 5 Marquard O (1997) Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 5 Meuter N (2006) Anthropologie des Ausdrucks – Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur. Fink, München 5 Schmitz H (2003) Was ist Neue Phänomenologie? Ingo Koch, Rostock 5 Steffens A (1999) Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen. Reclam, Leipzig 5 Tomasello M (2009) Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröffl. 2008) 5 Weiland R (Hrsg) (1995) Philosophische Anthropologie der Moderne. Beltz-Athenäum, Weinheim
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Inhaltsverzeichnis Philosophie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Edmund Husserl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Henri Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Nicolai Hartmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Jean-Paul Sartre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Philosophie II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Max Scheler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Karl Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102 104 112 112
Helmuth Plessner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio: ärztliches Denken und Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116 118 125 126
Karl Löwith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130 132 140 140
Hans-Georg Gadamer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144 146 152 155
Simone de Beauvoir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Totalität der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das andere Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158 159 161 165 168 169
Maurice Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172 175 181 182
Tiefenpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Sigmund Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
188 190 196 199
Alfred Adler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
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XV
Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
C. G. Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216 218 224 227
Karen Horney . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230 232 240 241
Josef Rattner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244 247 254 254
Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Ludwig Binswanger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260 263 270 270
Viktor Emil von Gebsattel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
272 274 281 282
Erwin Straus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284 286 294 294
Viktor Frankl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Logotherapie und Existenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296 298 304 306
XVI
Inhaltsverzeichnis
Ronald D. Laing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308 310 315 319
Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
Georg Groddeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
324 327 332 334
Medard Boss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338 340 347 348
Alexander Mitscherlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
352 354 360 363
Thure von Uexküll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Neurologie/Urologie/innere Medizin
366 368 375 377
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
Kurt Goldstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
382 386 392 393
Viktor von Weizsäcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
396 400 404 406
Oswald Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
Inhaltsverzeichnis
XVII
Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
Arthur Jores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
422 423 431 432
Theoretische und Grundlagenmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433
Frederik J. J. Buytendijk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
436 438 445 446
Georges Canguilhem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
448 450 457 458
Heinrich Schipperges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
462 464 471 473
Eric Kandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Biographisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werkanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
476 478 484 486
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
1
Philosophie I Edmund Husserl – 3 Henri Bergson – 17 Ernst Cassirer – 31 Nicolai Hartmann – 45 Martin Heidegger – 59 Jean-Paul Sartre – 73
3
Edmund Husserl Biographisches – 4 Werkanalyse – 7 Conclusio – 12 Literatur – 14
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Edmund Husserl
. Abb. 1 Edmund Husserl (*1859; †1938). (Quelle: Wikipedia)
Edmund Husserl war der Begründer der Phänomenologie. Diese Denk- und Forschungsrichtung hat Künstler, Wissenschaftler und Philosophen in ihren Bann gezogen. So war Jean-Paul Sartre sofort begeistert, als sein Kollege Raymond Aron schwärmte: »Wenn du Phänomenologe bist, mon petit camarade, kannst du über einen Cocktail reden, und es ist Philosophie.« Die meisten phänomenologischen Forscher haben jedoch nicht nur über Cocktails nachgedacht, und nicht wenige von ihnen nutzten Husserls Philosophie für ihre anthropologischen Überlegungen (. Abb. 1).
Biographisches Husserl wurde 1859 als zweiter Sohn jüdischer Eltern in Proßnitz (Mähren) geboren. Nach der Gymnasialzeit in Olmütz studierte er von 1876–1878 in Leipzig Astronomie, Mathematik und Philosophie. Dort hörte er Vorlesungen von Wilhelm Wundt (1832–1920), der für den Studenten aufgrund seiner psychologischen Forschungen wichtig wurde. Neben Wundt lernte Husserl in Leipzig auch Tomas Masaryk (1850–1937) kennen, der 1918 erster Staatspräsident der Tschechoslowakei wurde. Masaryk hatte bei Franz Brentano in Wien Philosophie studiert und erhielt ab 1882 eine Professur für Philosophie an der Universität Prag. Auf seinen Rat hin konvertierte Husserl vom jüdischen zum protestantischen Glauben; außerdem riet er ihm, ebenfalls Schüler bei Brentano zu werden. Bevor sich Husserl nach Wien begab, verbrachte er die Jahre ab 1878 in Berlin, wo er bei Carl Weierstraß Mathematik und bei Friedrich Paulsen Philosophie studierte. Weierstraß gehörte neben
Cantor und Dedekind zu den Vertretern einer »kritischen Mathematik«. Er zielte in seinem Denken auf klare Definitionen der Begriffe und logische Strenge der Beweise ab. Diese wissenschaftliche Haltung hat Husserl später für sich als vorbildlich übernommen. Nachdem Husserl mit einer Arbeit über Beiträge zur Theorie der Variationsrechnung 1882 promoviert wurde, erhielt er bei Weierstraß eine Assistentenstelle. Auch seine Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl (1887), die er beim BrentanoSchüler Carl Stumpf in Halle anfertigte, fand die Anerkennung von Weierstraß. Von 1884–1886 studierte Husserl in Wien bei Brentano (1838–1917). Dieser war mit seinem Buch über Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) bekanntgeworden, worin er die These vertrat, dass das wesentliche Merkmal des Psychischen die Intentionalität ist. Das menschliche Bewusstsein sei kein bloßer Behälter, in dem sich Ideen oder Wahrnehmungen stapeln wie in einem Speicher; vielmehr sei es immer »Bewusstsein von etwas« und damit aktiv und gerichtet. Für ein solches Bewusstsein gibt es kein innen und außen, keine Trennung von Dingen und Objekten einerseits und den Gedanken des Subjekts andererseits. Mit dieser Auffassung Brentanos wurde die tradierte »Verdauungsphilosophie« (Jean-Paul Sartre), welche das Bewusstsein als einen Magen begriff, der mit Welt angefüllt wird, zumindest ansatzweise überwunden. Der Gedanke der Intentionalität war das Wichtigste, was Husserl in Wien auf philosophischem Terrain hinzulernte. Da er mathematischen Fragestellungen nachhing, lag es nahe, die Idee der Intentionalität zuerst auf Probleme der Mathematik und Logik anzuwenden. So wie Brentano das Bewusstsein als seelische Denkakte auffasste, wollte Husserl nun den Begriff der Zahl in psychischen Vorgängen begründen. Demgemäß ist seine Habilitationsschrift Über den Begriff der Zahl, die er 1891 unter dem Titel Philosophie der Arithmetik publizierte, von dem Impuls durchdrungen, Mathematik und Logik auf Psychisches zurückzuführen. Diese als Psychologismus bezeichnete Haltung wurde von Gottlob Frege und Paul Natorp kritisiert. Der Erstere, Begründer der modernen Logik, rezensierte die Arbeit Husserls mit energischem
Biographisches
Widerspruch. Diese Reaktion trug mit dazu bei, dass Husserl später selbst ein entschiedener Kritiker des Psychologismus wurde. Nach der Habilitation 1887 heiratete Husserl Malwine Steinschneider, mit der er eine überwiegend harmonische Ehe führte. Aus der Ehe gingen die Tochter Elisabeth sowie die beiden Söhne Gerhard und Wolfgang hervor; der Letztere starb 1916 als Soldat im Ersten Weltkrieg. Husserl war vierzehn Jahre als Privatdozent in Halle tätig. Während dieser Zeit entstanden die Logischen Untersuchungen (1900/01), die als sein erstes Hauptwerk gelten. Darin unternahm er nichts Geringeres als eine Begründung der reinen Logik, den Entwurf einer Erkenntnistheorie und die ersten Schritte hin zur Phänomenologie. Wichtige Ergebnisse dieser über tausend Seiten umfassenden Schrift waren Husserls Distanzierung vom psychologistischen Standpunkt sowie die Betonung der Evidenz als Gradmesser für den Wahrheitsgehalt von Aussagen. Aufgrund der Logischen Untersuchungen galt Husserl als Hoffnungsträger modernen philosophischen Denkens; Wilhelm Dilthey etwa sprach vom »ersten großen Fortschritt, den die Philosophie seit Kant gemacht hat«. 1901 erhielt ihr Verfasser jedoch nur ein Extraordinariat für Philosophie in Göttingen. Es dauerte Jahre und erforderte die energische Fürsprache Diltheys, bis er dort philosophischer Ordinarius wurde. In den Göttinger Jahren baute Husserl die Phänomenologie weiter aus. In Lehrveranstaltungen, Dutzenden von Manuskripten und in Büchern wie Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) sowie Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) formulierte er eine Haltung und Methode wissenschaftlichen Forschens und Philosophierens, die bald als innovativ und wegweisend galten. Um Husserl scharte sich ein Kreis von Schülern, die Kontakte zur Münchner Gruppe der Phänomenologen (Theodor Lipps, Alexander Pfänder, Max Scheler) unterhielten. Zu seinen Studenten in Göttingen gehörten neben vielen anderen Helmuth Plessner und Erwin Straus, die später wertvolle Beiträge zur Anthropologie lieferten. Als Lehrer war Husserl eigentümlich und faszinierend zugleich. Bei Vorlesungen sprach er lei-
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se und in sich versunken und bohrte dabei seine rechte Hand schraubend in die linke, so dass man ihn scherzhaft den Uhrmacher nannte. Er entwickelte monologisierend seine Gedanken und stellte allenfalls rhetorische Fragen, die er sich selbst beantwortete. Als der junge Hans-Georg Gadamer in Unkenntnis dieser Eigenart in einem Seminar Husserls eine kurze Antwort gab, evozierte dies lange Ausführungen des Meisters und zum Schluss der Lehrveranstaltung den Kommentar: »Heute war es einmal wirklich eine anregende Diskussion!« Bei aller Versunkenheit ließ Husserl seine Philosophie im konkreten Alltag und nicht in metaphysischen Hinterwelten entspringen; er dachte etwa über so banale Dinge wie Tintenfässer oder Zündholzschachteln nach. Als Jean-Paul Sartre später davon hörte, war er für die Phänomenologie sofort gewonnen. Aber das Ausgehen von Trivialitäten war für Husserl nur der Auftakt zu den höchsten Fragen des Daseins. Penibel, zäh und mit der Energie zu stets neuem Beginnen widmete er sich dem Rhythmus von Lesen, Schreiben und Dozieren. Intellektuelle Redlichkeit und Bescheidenheit waren ihm hohe Tugenden, und sobald Studenten und Schüler mit hochtrabenden Begriffen und hohlen Phrasen um sich warfen, kommentierte Husserl dies trocken: »Nicht immer große Scheine, meine Herren, Kleingeld, Kleingeld!« Husserl war ein ewiger Anfänger, der ein Manuskript nur selten als abgeschlossen oder druckreif betrachtete und dementsprechend wenige Bücher veröffentlichte. So erklären sich das relativ schmale Oeuvre der publizierten Texte und die große Menge von über 40.000 Seiten Entwürfe, die sich im Nachlass des Philosophen fanden. Bei den hohen Ansprüchen Husserls an sich selbst verwundert es nicht, dass er über den forschen und publikationsmunteren Max Scheler kritisch anmerkte: »Man muss Einfälle haben; aber man darf sie nicht veröffentlichen!« Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zerbrach der Göttinger Kreis. Husserl, der meist ohne Unterstützung der Philosophischen Fakultät in Göttingen gearbeitet hatte, übersiedelte 1916 nach Freiburg im Breisgau und trat dort die Nachfolge von Heinrich Rickert an. Zum Ersten Weltkrieg hatte sich der politisch unbedarfte Denker be-
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Kapitel • Edmund Husserl
jahend eingestellt, und selbst als dieser Krieg unzählige Opfer forderte, zeichnete er weiter Kriegsanleihen, deren Verlust ihn ökonomisch beinahe ruinierte. In Freiburg bildete sich rasch ein neuer Kreis von Studenten um Husserl: Martin Heidegger, Karl Löwith, Edith Stein, Hans-Georg Gadamer, Norbert Elias, Hans Jonas, Günter Anders, Ludwig Landgrebe, Emmanuel Lévinas, Eugen Fink, Rudolf Carnap und Herbert Marcuse gehörten zu seinen Schülern. Husserl lehrte in der Dreisam-Stadt bis 1928 und wurde dann emeritiert. Besondere Bedeutung für Husserl gewann Heidegger, der seit 1920 als sein geistiger Ziehsohn galt. In Gesprächen zwischen dem Meister und Malwine wurde Heidegger nicht selten als ihr »phänomenologisches Kind« tituliert. Dieses setzte jedoch bald eigene Akzente, die von Husserls Auffassungen abwichen. Heideggers Art des Philosophierens und Vortragens war viel pathetischer als diejenige Husserls. Mit hämmernder Sprache und expressionistischer Diktion lehrte der Jüngere vor einem Auditorium, das innerhalb kurzer Zeit eine begeisterte Anhängerschaft bildete. 1928 erhielt Heidegger den Lehrstuhl Husserls in Freiburg. Wenige Monate später brach das »phänomenologische Kind« den philosophischen Dialog mit seinem Ziehvater ab. Diese Enttäuschung war jedoch erst der Auftakt zu einer Entwicklung, deren Höhepunkt 1933 erreicht war, als man Husserl aufgrund seiner jüdischen Abstammung die Venia Legendi entzog und ihm verbot, sich weiter akademisch zu betätigen. Heidegger war damals Rektor der Freiburger Universität; er stimmte in seiner Gesinnung mit den braunen Machthabern überein und verriet seinen Lehrer. Nach seiner Emeritierung unternahm Husserl Reisen ins Ausland, so nach Amsterdam, Straßburg und Paris, wo er seine Philosophie vorstellte. Vor allem die Pariser Vorträge, die in französischer Sprache 1931 als Méditations Cartésiennes (deutsch 1950) veröffentlicht wurden, gelten als konzise Einführung in seine Gedankenwelt. 1935 und 1936 hielt Husserl Vorträge vor dem Wiener Kulturbund und in Prag, woraus seine letzte wichtige Veröffentlichung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) entstand. Die Generalthese
dieser Schrift lautet, dass es eine Welt vor allen Wissenschaften gibt, einen Erfahrungsraum, in dem wir leben und den wir aufgrund der prädikativen (aussagenkräftigen) Urteile der Wissenschaften auf einige spezielle Ausschnitte verkleinern. Es sei die vornehme Aufgabe der Phänomenologie, diese vorprädikative Welt – das lebensweltliche Apriori – zu erfassen und zu beschreiben. Die kulturelle Krise der Neuzeit beruht nach Husserl auf der systematischen Ausblendung dieser Lebenswelt. Seit dem Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters (Galilei und Descartes) gelten nur noch jene Phänomene als wirklich, welche den exakt-wissenschaftlichen Methoden zugänglich und in Maß und Zahl auszudrücken sind. Die Wissenschaften haben der Welt ihr »Ideenkleid« aus physikalischen Idealisierungen, arithmetischen Formeln und geometrischen Mustern übergeworfen, das jedoch die darunter verborgene Welt nur unzureichend abbildet. Husserl wandte sich in seiner Krisisschrift entschieden gegen diese Reduktion der Welt, wonach allein wirklich ist, was mathematisiert werden kann. Parallel zur Mathematisierung der Wirklichkeit kam es nämlich zur Sinnentleerung und Entwertung des Daseins, das nun zwar in seinen Quantitäten, nicht mehr jedoch in seinen Qualitäten und damit in seinem Wert und seiner Bedeutung erfasst wird. So leben die Menschen in einer exakt vermessenen, bezogen auf ihren Sinn aber stummen Welt. Einer lebendigen Philosophie komme die Aufgabe zu, die Welt wieder redend zu machen und die Sinndimensionen unserer Existenz freizulegen. Die letzten Lebensjahre Husserl verliefen für ihn entwürdigend. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zwang den Emeritus, aus philosophischen Organisationen auszutreten. 1937 verbot man ihm die Teilnahme am IX. Internationalen Kongress für Philosophie in Paris, und man entblödete sich nicht, ihn als Prototyp jenes jüdischen Intellektuellen zu brandmarken, der durch »unfruchtbaren Geist ohne Geblüt und Rasse« gekennzeichnet sei. Husserl starb 1938 nach einem Unfall in seinem 80. Lebensjahr.
Werkanalyse
Werkanalyse Zum Zeitpunkt seines Todes war Husserl beinahe völlig aus der öffentlichen Diskussion verbannt, und seine Schriften wurden in Deutschland kaum mehr zitiert. Es ist dem Mut des Franziskanerpaters Leo van Breda zu verdanken, dass der gesamte Nachlass des Denkers, der über 40.000 meist stenographisch eng beschriebene Seiten umfasst, in einer heimlichen Aktion außer Landes geschmuggelt und vor der Vernichtung durch die Faschisten gerettet werden konnte. Dieser Nachlass bildet auch heute noch den Grundstock des Husserl-Archivs, das in Löwen (Belgien) errichtet wurde. In den letzten Jahrzehnten sind Teile daraus in über dreißig Bänden der Gesamtausgabe der Husserliana (Hua) erschienen; hinzu kamen ein Dutzend publizierte Bände mit der Korrespondenz Husserls. In der Folge werden nur jene Denkfiguren und Begriffe aus der Philosophie Husserls beschrieben, die für die anthropologisch orientierte Forschungsarbeit von Ärzten, Psychologen und Philosophen relevant geworden sind. Dabei wird hauptsächlich Bezug genommen auf die Publikationen Logische Untersuchungen (1900/01), Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), hier besonders das zweite Buch mit dem Untertitel Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Husserliana Band IV, 1952), Cartesianische Meditationen (1931/50) und Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936). z
Phänomenologie
Im Terminus Phänomenologie steckt das griechische Wort »phänomenon«. Dieses bedeutet soviel wie das Erscheinende oder etwas, das sich zeigt. In der griechischen Philosophie vertrat vor allem Platon die Überzeugung, dass zwischen der Erscheinung und dem Wesen einer Sache Unterschiede bestehen. Ein konkreter Stuhl etwa gehörte zur Gruppe der Phänomene; die Idee eines Stuhles jedoch bezog sich auf alle möglichen Stühle. Ideen, meinte Platon, sind unveränderlich und ewig. Phänomene hingegen sind mannigfaltig, unterschiedlich, den Gesetzen von Raum und Zeit und damit dem Wandel und der Endlichkeit unterworfen. Die Idee eines Stuhles kann nicht altern,
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klapprig werden oder zusammenbrechen – ein konkreter Stuhl in unserer Wohnung kann alles dies sehr wohl. Weil die Ideen den Phänomenen gegenüber als beständig und ewig imponierten, sah sich Platon zu einer unglücklichen Zuordnung veranlasst: Den konkreten Dingen, der Natur und den leibhaftigen Menschen schrieb er die Qualitäten von Schein und Unwirklichkeit zu, wohingegen das eigentliche Sein für ihn im Bereich der Ideen beheimatet war. Die reale, sinnlich wahrnehmbare Welt wurde damit entwertet, und die Ideenwelt, die nur mittels Vernunft zu erkennen ist, entsprechend aufgewertet. Diese Einteilung erfuhr im Christentum eine Bekräftigung, da dieses das angeblich wertlose Diesseits (die irdischen Phänomene) von einem idealen Jenseits (das himmlische Paradies) scharf trennte. Gegen eine solche Aufteilung der Welt wandten sich seit der Antike bedeutende Künstler, Wissenschaftler und Philosophen. Zu ihnen zählte auch Goethe, von dem in seinen Maximen und Reflexionen der Spruch stammt: »Man suche nur ja nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.« Sehr viel besser hätte Husserl das Programm und die Stoßrichtung seiner Philosophie selbst nicht zusammenfassen können. Er registrierte, dass die abendländische Geistesgeschichte imposante Konzepte über Natur und Menschenwelt hervorgebracht, gleichzeitig aber weite Bereiche der Realität ausgeblendet hatte. Deshalb entwickelte er eine Theorie und Methode des Erkennens, welche die Einengung der bisherigen Forschung überwinden sollte. Seine Art wissenschaftlicher und philosophischer Betrachtung der Welt stand unter dem Motto: »Zu den Sachen selbst!« So einfach dieser Satz klingt, so schwierig ist er umzusetzen. Husserl demonstrierte an Hunderten von Themen, wie sehr jeder Denker aufgrund von theoretischen und praktischen Überzeugungen sowie weltanschaulichen und epochalen Rahmenbedingungen voreingenommen ist. Selbst in den Worten und Begriffen, die er gebraucht, um Sachverhalte zu beschreiben, steckt eine Art Theorie oder Ideologie. Daher sehen sich nicht wenige Wissenschaftler und Philosophen bei ihren Untersuchungen immer wieder lediglich in ihren Vormeinungen bestätigt, stoßen aber kaum je zur Sache oder zu den Phänomenen selbst vor.
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Kapitel • Edmund Husserl
Um diese Klippen zu umschiffen, entwickelte Husserl ein ausgeklügeltes System von Beobachtungen und Reflexionen, die eine zentrale Rolle im Rahmen seiner Forschungen einnahmen. Ein wichtiger Schritt für die phänomenologische Erfassung von Mensch und Welt besteht in der Einklammerung von Haltungen, Vorurteilen und Meinungen des Forschers – eine geistige Operation, die Husserl als »Epoché« oder phänomenologische Reduktion bezeichnete. Das griechische Wort »epoché« bedeutet so viel wie Anhalten oder an sich Halten. Mit diesem Begriff brachten die Stoiker und Skeptiker der Antike ihre Vorsicht im Hinblick auf Wert- und Sachurteile zum Ausdruck. Husserl verwendete »Epoché« in einem ähnlichen Sinne: Nur wenn man die tradierten Gewissheiten und Meinungen gedanklich ad acta lege, könne man damit rechnen, zum Untersuchungsobjekt selbst und zu dessen Wesen vorzudringen. Mittels dieser phänomenologischen Enthaltsamkeit wollte Husserl das Konglomerat (Verknüpfung) aus Welt und Ich, aus Gegenständen und Bewusstseinszuständen entzerren. Eine strenge Wissenschaft, die sich zu den Sachen selbst unterwegs weiß und das Wesen der Dinge ins Auge fassen will, darf sich mit einem Gemenge aus Untersuchungsobjekt und Forscher nicht zufrieden geben. Dem Philosophen schwebte stattdessen ein »reines Bewusstsein« des Wissenschaftlers vor. Dieser sollte sogar die natürliche Einstellung zur Welt einklammern und als »transzendentales Ich« ohne seelische (Phantasien, Wünsche) und körperliche Interaktionen (Begierden, Affekte) seine Forschungsobjekte untersuchen. In den Cartesianischen Meditationen hat Husserl die Forderung an Wissenschaftler und Philosophen, ihr Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Urteilen zu konzentrieren, noch weiter ausgeführt. Der erste Schritt zum eigenen Philosophieren bestand für ihn nun im radikalen Zweifel, in der kritischen Infragestellung aller tradierten und angeblich unumstößlichen Ideen, Schulmeinungen, Denkgewohnheiten und Vorurteile:
»
Jeder, der ernstlich Philosoph werden will, muss sich »einmal im Leben« auf sich selbst zurückziehen und in sich den Umsturz aller ihm bisher
geltenden Wissenschaften und ihren Neubau versuchen (Husserl 1992a, S. 4).
«
Husserl hielt Descartes zugute, dass er mit seiner skeptischen Haltung die Evidenz als Wahrheitskriterium eingeführt hat. Leider habe er diesen Gewinn wieder verspielt, weil er nicht auch das »Cogito«, also das eigene denkende Ich, angezweifelt hat. Husserl plädierte dafür, das Ich in die Rolle eines »transzendentalen Zuschauers« schlüpfen zu lassen, welcher die gesamte Welt einschließlich des eigenen natürlichen Selbst (Leib) als Phänomen oder bloßes Korrelat begreift. In den Cartesianischen Meditationen wies Husserl mit Nachdruck auf die Notwendigkeit derartiger phänomenologischer Reduktionen hin, die allein es dem Forscher ermöglichten, den »denkbar letzten Erfahrungs- und Erkenntnisstandpunkt« zu erreichen. Wer zeitweise jeglichen konkreten Lebensvollzug gedanklich zurückhalte, gewinne die Position wirklich kritischer Reflexion, die auch das eigene Ich mit einschließt. z
Wesensschau
Der mögliche Lohn solcher Anstrengungen besteht nach Husserl in der Wesensschau. Um das Wesen (griechisch: »eidos«) einer Sache zu erkennen, genügt es nicht selten, bloß ein einziges Exemplar (Individuum) geduldig zu erkunden. Daran könne ein Phänomenologe oftmals Substanzvolleres beschreiben als an einer großen Zahl von Gegenständen. Auf eine solche Art des Erkenntnisgewinns zielten übrigens schon manche Ärzte des 19. Jahrhunderts ab, wenn sie nach dem Motto arbeiteten: »Nicht viele Kranke sehen, sondern an einem Kranken vieles sehen!« Husserl wollte seine Philosophie als eidetische Wissenschaft, also als eine Wesenswissenschaft in Ergänzung oder auch im Gegensatz zu den Tatsachenwissenschaften verstanden wissen. Letztere werden vor allem durch die Naturwissenschaften und Medizin, teilweise aber auch durch die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften repräsentiert. Sie sammeln in der Regel eine Menge von Fakten und erheben viele Befunde, ohne dass sie diese immer in einen größeren, existentiell relevanten Zusammenhang von Sinn und Bedeutung einstellen können.
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Werkanalyse
Husserl hingegen war an der Essenz (so der lateinische Ausdruck für Wesen) von Sachen, Ereignissen sowie menschlichen oder kulturellen Phänomenen interessiert und hoffte, mittels seiner phänomenologischen Haltung und Methode zu ihr vordringen zu können. Durch geduldige und wiederholte »Epoché«, so war er überzeugt, entwickeln sich Wissenschaftler und Philosophen zu eidetischen Forschern, die von sich absehen können und zur Wesensschau fähig sind. Der Begriff der Wesensschau, stets im Zusammenhang mit dem Begriff der Intuition gebraucht, verführt leicht zu Missverständnissen. Nicht eine schlichte oder unmittelbare Schau ist damit gemeint. Um Wesen und Gehalt einer Sache oder Situation zu erkennen, ist es unabdingbar, am konkret individuell Erlebten oder Gedachten jede nur erdenkliche Variation dieses Erlebten oder Gedachten zusammenzuschauen. Das Gemeinsame dieser Variationen kann als Wesen angenommen werden. Forscher sollten emotional, sozial und intellektuell umfangreich gebildet sein, wenn sie phänomenologische Wesensschau betreiben. Nur jenen Menschen, die mit einem hohen Maß an Selbst-, Menschen- und Weltkenntnis sowie ohne einschränkende Ängste und Begierden ihre Mitmenschen sowie Kultur und Natur betrachten, kann sich das Wesen eines Sachverhalts kundtun. Sobald sich eigene (uneingestandene) Interessen in Erkenntnisprozesse mischen, verstellen sie die Sicht und verfälschen das Forschungsergebnis. Stimmungen wie Toleranz, Gelassenheit und Güte sowie grundsätzliche Bejahung des Lebens sind unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wesensschau. Als prominentes Beispiel dafür kann man die Arbeitsweise von Rainer Maria Rilke heranziehen. Dieser Poet hat um 1900 eine Reihe von sogenannten Ding-Gedichten verfasst und dabei wie ein Phänomenologe im Husserl‘schen Sinn den wesenhaften Gehalt der von ihm beobachteten Tiere und Dinge beschrieben. Zu diesen Gedichten zählen Der Panther, Die Gazelle, Das Einhorn, Römische Fontäne oder auch Das Karussell. In den 20er Jahren wandte Rilke die Fertigkeiten der Wesensschau auf den Menschen und seine Welt an. In den Duineser Elegien gelang es ihm, mit einem neuartigen und kühnen Ton Wesentliches
der menschlichen Existenz zu schildern und so wichtige Charakteristika der Conditio humana zu benennen. Die Duineser Elegien gerieten damit zu einer Art Anthropologie des Poeten. In gewisser Weise sind ernsthafte Künstler wie Rilke bis heute die überzeugendsten Phänomenologen der Kulturgeschichte, ohne dass sie sich selbst als solche bezeichnen würden. Dies liegt darin begründet, dass das Ziel bedeutender Kunst im synthetisch schauenden und nicht im analytisch aufteilenden Erfassen von elementaren Strukturen der Welt besteht. Neben der Kunst wird in den Geistes- und Kultur-, kaum aber in den Naturwissenschaften mit Methoden der Phänomenologie versucht, einen Erkenntniszuwachs zu ermöglichen. Besonders für Medizin, Psychologie und Soziologie als Lebenswissenschaften wäre eine solche Aufweitung ihrer etablierten Forschungsmethoden wünschenswert, um die Fülle ihrer Detailbefunde in einen umfassenden anthropologischen Zusammenhang zu integrieren. z
Lebenswelt
Weitere Vorteile phänomenologischen Forschens bestehen nach Husserl in der Wahrnehmung und Beschreibung nicht nur einiger weniger Forschungsgegenstände, sondern der gesamten Lebenswelt. Mit diesem Begriff, den vor ihm bereits Richard Avenarius, Ernst Mach und Georg Simmel verwendeten, zielte der Philosoph auf das alltägliche »Universum prinzipieller Anschaubarkeit«, in dem jedermann lebt, ohne dass und noch bevor die Wissenschaften aus der Gesamtheit einige wenige sie interessierende Motive und Objekte herausgeschält haben. Unter Lebenswelt verstand Husserl die Welt der »vorprädikativen Erfahrungen« im Gegensatz zur reduzierten Welt der »prädikativen Urteile«, wie sie uns von den Wissenschaften (besonders von den messend zählenden Naturwissenschaften) vermittelt wird. Vorprädikative Erfahrungen meinen die ganze Weite des für einen Menschen vorgegebenen Wahrnehmungsfeldes, dem er sich zuwendet, und aus dem er ihn interessierende Themen, Motive und Gegenstände auswählt. Die Atmosphäre eines nebligen Novembertages gehört ebenso zu diesem Horizont vorprädikativer Erfahrungen wie
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die Emotionen auslösende Begegnung zweier Menschen oder die Lektüre eines Gedichts. Als Lebenswelt dürfen wir uns also die Totalität unserer Weltbezüge und -erfahrungen vorstellen, die Husserl unter dem Begriff der natürlichen Einstellung zusammenfasste. Dabei haben und erleben wir die Welt, ohne sie »als« Welt zu besitzen oder zu erkennen. Wir befinden uns im Zustand des Meinens und Glaubens, wofür Husserl den griechischen Ausdruck der »doxa« verwendete. Die Lebenswelt bezeichnete der Denker auch als eine primordiale (ursprüngliche, die erste Ordnung oder das Ur-Ich betreffende) Sphäre, welche dem Menschen konkret, sinnlich und anschaulich in einem vorwissenschaftlichen Modus gegeben ist. In diese lebensweltliche Universalität werden die Menschen hineingeboren, und in ihr wachsen sie heran. Wie die Luft zum Atmen umgibt sie die Lebenswelt, wobei sie selbst ebenso wie die Mitmenschen Teil dieser Welt sind, diese dauernd assimilieren und verändern oder umgekehrt von ihr verändert werden. Wie ein großartiger materieller, biopsychosozialer und geistiger Stoffwechsel erscheint die Lebenswelt, wie eine grenzenlose Bühne, auf der sich individuelle Menschenschicksale ereignen, die umfänglich nur unter Berücksichtigung des lebensweltlichen Hinter- und Untergrunds verstanden werden können. Anders als einzelwissenschaftliche Untersuchungen versucht die phänomenologische Analyse, Bezug auf diese weit dimensionierten Gegenstandsfelder zu nehmen und Dinge, natürliche und kulturelle Phänomene sowie den Menschen vor einem möglichst weiten räumlichen und zeitlichen Horizont der Lebenswelt zu erforschen. Husserl verwendete dafür auch die Begriffe Hof und Hintergrund: Jedes Objekt ist in eine Umgebung integriert; jedes Ereignis weist ein Vorher und ein Nachher auf; jeder Mensch existiert in einem sozialen und kulturellen Kontext. Man kann sich das Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaften an einfachen Beispielen verdeutlichen. Angenommen, wir schwimmen an einem heiß-schwülen Sommertag in einem Bergsee oder trinken ein Glas Mineralwasser, so erleben wir das umgebende oder getrunkene Nass womöglich als erfrischend, vitalisierend, Durst löschend und abkühlend.
Von diesen Qualitäten können uns Wissenschaftler kaum Auskunft geben. Ein Chemiker oder Physiker würde eventuell darauf verweisen, dass es sich um 18°C kaltes H2O handelte, in dem wir uns bewegt haben, und ein Ernährungswissenschaftler kann den Gehalt von Mineralien und Spurenelementen angeben, die im Mineralwasser zu finden waren. Die Dimensionen subjektiver Emotionen, Wahrnehmungen, Empfindungen, Erinnerungen, Phantasien und Wünsche bleiben dabei ebenso unberührt wie die landschaftlichen Schönheiten des Bergsees oder die Verhältnisse, in denen wir Mineralwasser tranken. Einen besonderen Aspekt der Lebenswelt bildet die Zeitlichkeit, denn jedes gegenwärtige Ereignis ist eingebettet in Vergangenheit und Zukunft, die sich auf ein Individuum ebenso wie auf Kollektive oder die gesamte Gesellschaft und Kultur beziehen können. Husserl sprach vom dreifachen Erlebnishorizont, der zum Zeitfeld des Ich beiträgt, wobei der Begriff des Zeithorizonts für ihn die Geschichte und Zukunft der gesamten Welt umfasste. Nur wenn man in solche Dimensionen vordringe, lassen sich Realitäten und Potentialitäten einer menschlichen Existenz erahnen und Sinn, Wert und Bedeutung von Situationen klären. Nimmt der Phänomenologe dieses lebensweltliche Apriori ernst und gelingt es ihm, dieses zumindest teilweise in Worte zu fassen, kann er eventuell Antworten auf existentiell bewegende Fragen geben, welche die Einzelwissenschaften den Menschen schuldig bleiben. Weil Details und nicht der Zusammenhang der Lebenswelt von den Wissenschaften untersucht werden, können sie über Letztere nicht gehaltvoll urteilen:
» In unserer Lebensnot – so hören wir – hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins (Husserl 1992b, S. 4f.).
«
Der Lebenswelt begegnen wir nach Husserl mit einer Einstellung, die er als »Urdoxa« benannte. So sehr unser Ich sich auch bemühen mag, jeder
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»doxa«, also jedem bloßen Glauben und Meinen zu entgehen, so sehr bleibt es als konkretes psychologisches und leibhaftiges Ich doch innerhalb der Welt und seinem eigenen Dasein verfangen und ist felsenfest von deren Existenz überzeugt. Maurice Merleau-Ponty, den man zu Recht als den eigentlichen Nachfolger Husserls in Frankreich bezeichnet, hat in Die Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) dieses Urdoxa-Konzept weiterentwickelt. Er konnte nachvollziehbar zeigen, dass sich zum Beispiel psychotisch Erkrankte aufgrund ihrer tiefen Überzeugung von der Glaubhaftigkeit der Welt nur selten und unter großen Mühen von ihren Trugwahrnehmungen distanzieren – so sehr glauben sie an das Vorhandensein aller Phänomene, die ihnen begegnen, und seien es auch bloß halluzinierte. z
Der Leib
Ein Faktum, welches dem Menschen permanent demonstriert, wie sehr er Teil der Welt ist und dieselbe auch bei noch so geschickter intellektueller Einklammerung und Reduktion nicht wirklich hinter sich zu lassen vermag, ist der eigene Leib. Husserl hat sich diesem »sperrigen Stück Erfahrung« (wie er den Leib einmal charakterisierte) in vielen seiner Vorlesungen und Manuskripte gewidmet. Im zweiten Buch von Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, betitelt mit Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (1952), das Husserl bereits um 1912 entworfen hatte, schrieb er dazu:
» Der Leib konstituiert sich also ursprünglich auf doppelte Weise: einerseits ist er physisches Ding, Materie, er hat seine Extension, in die seine realen Eigenschaften … eingehen; andererseits finde ich auf ihm, und empfinde ich »auf« ihm und »in« ihm: die Wärme auf dem Handrücken, die Kälte in den Füßen, die Berührungsempfindungen an den Fingerspitzen (Husserl 1952, S. 145).
«
Ausgehend von solchen Beschreibungen hat der Husserl-Schüler Helmuth Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) das Konzept zentrischen und exzentrischen Existierens von Menschen entwickelt. Die erste Modalität entspricht in etwa den Husserl‘schen Leibempfindun-
gen (Plessner nannte dies »Leib sein«), wohingegen die letztere Modalität den Leib als materielles Gegenüber meint (bei Plessner als »Körper haben« bezeichnet). Anders als Plessner fand Husserl kein stringentes Modell, wie beide Seinsweisen ineinander übergehen oder sich ablösen. Immer wieder stößt man in seinen Schriften stattdessen auf Formulierungen, bei denen man spürt, wie sehr er mit der janusartigen Doppelgesichtigkeit des menschlichen Leibes zu ringen hatte:
»
Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding (Husserl 1952, S. 159).
«
Diese Schwierigkeiten bei der Konstitution des eigenen Leibes versuchte Husserl mit Hilfe seiner beiden Einstellungen – der transzendentalen und der natürlichen – zu lösen. Die transzendentale Einstellung jedoch (so lautet eine Kritik an Husserls Theorien zum Leib) trifft sich bezüglich ihrer Erfassung des menschlichen Leibes mit der von den Naturwissenschaften oftmals praktizierten naturalistischen Einstellung: Beide machen den Leib zum Körperobjekt, obwohl er in mancherlei Hinsicht kein Objekt wie die anderen Gegenstände der Welt darstellt. Der menschliche Leib als »Nullpunkt aller Orientierungen« zeigt bei näherem Hinsehen nämlich immer wieder seine Sonderstellung. Während er es uns ermöglicht, unsere Perspektive auf die Dinge der Umwelt beliebig zu ändern, gelingt dies nicht im Hinblick auf ihn selbst. Er bleibt stets in der Rolle des »letzten zentralen Hier« und wird nie eins mit den Objekten »dort«, auf die er bezogen ist. Ähnlich wie beim Leib mühte sich Husserl auch im Hinblick auf die Existenz anderer Menschen und Bewusstseine lange Zeit vergeblich ab, diese phänomenologisch befriedigend zu beschreiben. Immer wieder stellte sich ihm die schwer zu lösende Frage nach dem Erleben des Mitmenschen, wobei er verschiedene Vorschläge unterbreitete, wie in einem reinen Bewusstseinsstrom die Erfahrungen eines fremden Bewusstseinsstroms auftreten können.
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Kapitel • Edmund Husserl
Husserls Beschreibungen der Wahrnehmung und Erfahrung anderer Menschen wirken umständlich. Angeblich erleben wir zunächst den anderen als einen Körper, der sich bewegt. Nach und nach bemerken wir, dass dessen Bewegungen keine beliebigen sind, sondern etwas zu bedeuten haben. So kommen wir schließlich zum Urteil, bei dem sich bewegenden Körper müsse es sich ebenfalls um einen Menschen handeln. Bestärkt werden wir darin noch, wenn der andere auf ähnliche Themen und Motive Bezug nimmt wie wir:
» Wir sind also – wie könnten wir davon absehen –
»
An solchen Zeilen lässt sich ermessen, als wie bedeutend Husserl seine Arbeit und diejenige anderer Meisterdenker ansah. Gleichzeitig wird daran ersichtlich, was wohl eine wesentliche Ursache seines großen Lehrerfolgs bei den Studenten war, und weshalb er eine philosophische Schul- und Forschungsrichtung gründen konnte, die ihn überdauerte: Was er sagte und wie er lebte war konkordant, und daher bedurfte er (anders als Heidegger) keiner rhetorischen Tricks und keiner schwer verständlichen Scheintiefe. Ethos, Pathos und Logos entsprachen und ergänzten sich bei ihm bestens. Wären es nur diese Qualitäten, hätten wir bereits Grund genug, Husserl als Modell eines Forschers und Denkers vorzustellen, das Anthropologen nachdenklich stimmen dürfte. Darüber hinaus hat dieser Philosoph mit seiner von ihm begründeten Phänomenologie ausgesprochen innovativ gewirkt, wobei die methodischen wie inhaltlichen Neuerungen für die Anthropologie des 20. Jahrhunderts in vieler Hinsicht wie Initialzündungen wirkten. An einigen der eben erläuterten Begriffe wurde bereits gezeigt, inwiefern sie für Husserl-Schüler oder für Wissenschaftler aus anderen Disziplinen anregend wirkten und sie zu weiterer Forschung stimulierten. In den folgenden Kapiteln werden wir der Husserl‘schen Phänomenologie ebenso wie einzelnen von ihm angestoßenen Fragestellungen immer wieder begegnen, wobei sich nicht nur anthropologisch interessierte Philosophen, sondern auch Mediziner und Psychologen auf ihn beriefen. Husserl selbst wollte nie als Anthropologe missverstanden werden. Eine schlichte Umwandlung seiner phänomenologischen Ergebnisse in anthropologische Aussagen hätte er wohl als Anthropo-
Es bilden sich so Beziehungen des Einverständnisses … In diesen Beziehungen des Einverständnisses ist eine bewusstseinsmäßige Wechselbeziehung der Personen und zugleich eine einheitliche Beziehung derselben zur gemeinsamen Umwelt hergestellt (Husserl 1952, S. 192f.).
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Das Erlebnis des anderen wurde später vor allem von Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts (1943) im Kapitel »Der Blick« bedeutend griffiger und realitätsnäher erörtert als bei Husserl.
Conclusio In Husserl begegnet uns ein Gelehrter, der mit ungewöhnlich großem existentiellem Ernst nach Wahrheit und Erkenntnis suchte. Sein Oeuvre ist durchdrungen von einem Forschungs- und Arbeitsethos, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch bei wenigen Denkern und Wissenschaftlern zu spüren war. Zu dieser Lebenshaltung passten Ermahnungen an seine Freiburger Schüler wie: »Ein Philosoph geht nicht zum Fasching!« – eine Aufforderung, die angesichts der mehrtägigen und intensiv gefeierten alemannischen Fasnacht im Breisgau nicht ganz aus der Luft gegriffen schien. Neben seinem Arbeits- und Lebensstil wirkte Husserl auch in Bezug auf die Zielsetzung seines Forschens und Philosophierens vorbildlich. Ihm schwebte ein integraler Humanismus vor, in dessen Tradition er sich stellen und den er als inhaltlichen wie formalen Maßstab seines Denkens und Schreibens verstanden wissen wollte. Als dementsprechend wichtig umriss er die Rolle seriöser Wissenschaftler und Philosophen:
in unserem Philosophieren Funktionäre der Menschheit. Die ganz persönliche Verantwortung für unser eigenes wahrhaftes Sein als Philosophen in unserer innerpersönlichen Berufenheit trägt zugleich in sich die Verantwortung für das wahre Sein der Menschheit, das nur als Sein auf ein Telos (Ziel) hin ist und, wenn überhaupt, zur Verwirklichung nur kommen kann durch Philosophie – durch uns, wenn wir im Ernste Philosophen sind (Husserl 1992b, S. 15).
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Conclusio
logismus gegeißelt, wie er denn auch dem Psychologismus gegenüber kritisch eingestellt war. Der Übernahme einer phänomenologischen Haltung und Methode in die Bereiche von Wissenschaft, Kunst und Anthropologie hätte er jedoch wahrscheinlich zugestimmt. Auf den vorangehenden Seiten haben wir Namen von Philosophen aufgezählt, die hinsichtlich ihrer methodischen Ausrichtung von Husserl stark beeinflusst waren (Scheler, Plessner, Sartre, Merleau-Ponty). Daneben sind weitere Wissenschaftler, Ärzte und Philosophen erwähnenswert, die im Geiste Husserls arbeiteten und partiell zu jener Gruppe von Forschern gehörten, die Herbert Spiegelberg (selbst ein zur Emigration gezwungener Phänomenologe) als Phenomenological Movement (1982) beschrieben hat. Für unsere Zwecke noch informativer ist das Buch Phenomenology in Psychology and Psychiatry (1972) desselben Autors. In diesem Buch untersuchte Spiegelberg einerseits den Einfluss der Phänomenologie Husserls auf die Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Andererseits demonstrierte er, wie medizinische und psychologische Frage- und Problemstellungen ihrerseits auf die phänomenologische Philosophie befruchtend wirkten. Aus der Fülle des auf über 400 Druckseiten ausgebreiteten Materials geben wir in der Folge einige Kostproben. Im ersten Kapitel stellte Spiegelberg wichtige Vertreter der phänomenologischen Philosophie vor. Neben Husserl erwähnte er für den deutschsprachigen Raum Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Max Scheler und Martin Heidegger. Außerdem zeigte er, inwiefern sich auch Nicolai Hartmann mit der Husserl‘schen Philosophie auseinandergesetzt hat. In Frankreich erfuhr die Phänomenologie ein lebhaftes Echo und eine originelle Weiterentwicklung. An Namen wie Sartre, Merleau-Ponty, Gabriel Marcel und Paul Ricoeur verfolgte Spiegelberg die Traditionslinien und Wandlungen des Husserl‘schen Denkens. Interessant waren dabei die Überlappungen mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg stark in Mode gekommenen französischsprachigen Existentialismus. Wie sehr Husserl mit seiner Phänomenologie die junge französische Intelligenz begeisterte, macht ein Zitat Sartres offenkundig:
»
Husserl hat das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt. Er hat uns die Welt der Künstler und Propheten zurückerstattet: fürchterlich, feindselig, gefährlich, mit Häfen der Anmut und der Liebe. Er hat für eine neue Abhandlung über die Leidenschaften Platz geschaffen, die sich von dieser so simplen und so grundlegend von unseren Kennern verkannten Wahrheit leiten lassen würde: Wenn wir eine Frau lieben, dann darum, weil sie liebenswert ist … Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen (Sartre 1982, S. 36f.).
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Im Bereich der Psychologie wurde die Phänomenologie vor allem von den Gestaltpsychologen rezipiert. Spiegelberg erwähnte hierbei unter anderem Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler, Aron Gurwitsch und Kurt Lewin. Die meisten von ihnen wirkten auf die Phänomenologie zurück (z. B. auf die Philosophie von Merleau-Ponty); außerdem wurden sie von Ärzten wie Kurt Goldstein und Erwin Straus oder von Physiologen wie Frederik Buytendijk mit Zustimmung zitiert. Die Tiefenpsychologen und hier besonders die Pioniere Sigmund Freud, Alfred Adler und C. G. Jung waren hinsichtlich einer offenkundigen Rezeption der Phänomenologie zurückhaltend. Spiegelberg zeigte jedoch, dass zum Beispiel Freud, in dessen Schriften der Name Edmund Husserl nicht auftaucht, über Franz Brentano und Theodor Lipps mit phänomenologischen Ideen in Kontakt gekommen war. Umgekehrt setzten sich zwar nicht Husserl selbst, wohl aber viele seiner Schüler und Anhänger mit psychoanalytischen Konstrukten auseinander. Die Psychoanalytikergeneration nach Freud war bezüglich einer intellektuellen Debatte mit der Phänomenologie durchlässiger und offener als der in philosophischen Belangen skeptische Begründer der Psychoanalyse. Paul Schilder, Heinz Hartmann und Paul Federn oder in Frankreich Jacques Lacan interessierten sich zum Teil ausgiebig für phänomenologische Vorgehensweisen. Im deutschsprachigen Raum hat in den letzten Jahrzehnten vor allem Josef Rattner Phänomenologie, Tiefenpsychologie und Kulturanalyse fruchtbar aufeinander bezogen.
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Kapitel • Edmund Husserl
Auf eine eigene Art und Weise wurde die Phänomenologie in den Vereinigten Staaten von Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten aufgenommen. Spiegelberg verfolgte in seinem Text die diesbezüglichen Rezeptionsgeschichten bei William James, Gordon Allport, Carl Rogers und Rollo May. Letzterer hat in einer Reihe von Publikationen die Phänomenologie und Existenzphilosophie mit psychotherapeutischen und psychopathologischen Problemfeldern und Fragen verknüpft. Mit der Psychopathologie sind wir bei jenen Ärzten angekommen, die sich als Psychiater hauptberuflich mit der Diagnostik und Therapie von seelischen, sozialen und geistigen Störungen befassen. In dieser Berufsgruppe hat die Phänomenologie ihren Einfluss bisher am nachhaltigsten geltend gemacht. Man denke nur an Karl Jaspers, dessen psychiatrisches Hauptwerk Allgemeine Psychopathologie (1913) die Etablierung phänomenologischer Methoden und Haltungen innerhalb der Nervenheilkunde zum Hauptinhalt hatte. Weitere Nervenärzte von Rang, die sich einer phänomenologischen Herangehensweise in Theorie und Praxis befleißigten, waren Ludwig Binswanger, Eugène Minkowski, Viktor Emil von Gebsattel , Erwin Straus, Medard Boss, Viktor Frankl und Ronald D. Laing. Man sieht: Fast alle Psychiater, die sich als anthropologisch versierte Kliniker und Schriftsteller erwiesen, sind direkt oder indirekt durch Husserls phänomenologische Schulung gegangen. Von Spiegelberg nicht vergessen wurden die psychosomatisch tätigen Neurologen Viktor von Weizsäcker und Kurt Goldstein, die ebenfalls phänomenologisches Gedankengut in ihre klinischen und/oder theoretischen Konzepte aufgenommen haben. Der Letztere war philosophisch ungewöhnlich gebildet – war er doch der Cousin von Ernst Cassirer, der als eigenständiger Philosoph hervorgetreten ist. Übrigens schätzten Husserl und Cassirer einander trotz divergenter philosophischer Ansichten und Herangehensweisen sehr, was sich unter anderem an ihrem Briefwechsel ablesen lässt. Der Erstere versuchte während seiner Göttinger Zeit vergebens, den Letzteren dorthin zu lotsen, um mit ihm gemeinsam zu philosophieren. Zu einer persönlichen Begegnung kam es 1932, als der in Hamburg
lehrende Cassirer den bereits emeritierten Husserl in Freiburg besuchte. Lässt man die von Spiegelberg dargelegten Einflüsse zwischen Phänomenologen, Psychologen, Psychotherapeuten und Medizinern im 20. Jahrhundert Revue passieren, kommt man mit ihm zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine bemerkenswert fruchtbare Zusammenarbeit gehandelt hat. Husserl hat sich als Begründer einer interdisziplinär wirksamen Forschungsrichtung erwiesen, und seine Saat ist nicht nur im engeren Rahmen der Philosophie aufgegangen. Beim Studium von Husserls Biographie und Werk wird man jedoch auch wehmütig. Vor dem inneren Auge des Lesers wird in Umrissen immer wieder das alte Europa mit seiner niveauvollen Kultur sichtbar – mit jener Kultur, die von den Faschisten radikal zerstört oder nachhaltig geschädigt wurde. Husserl gehörte hinsichtlich seines Lebensstils, seiner Gesinnung und Weltanschauung noch vollumfänglich zu dieser einst- und einmaligen Kultur Alteuropas, und seine Phänomenologie konnte auf diesem mit griechisch-antiker Philosophie, Renaissance, Humanismus, Aufklärung und Klassik angereicherten kulturellen Nährmedium besonders üppig wachsen und gedeihen.
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Henri Bergson Biographisches – 18 Werkanalyse – 20 Conclusio – 28 Literatur – 29
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Henri Bergson
. Abb. 1 Henri Bergson (*1859; †1941). (Quelle: Wikipedia)
»Der Name Bergson durchtönt gegenwärtig in so aufdringlich lauter Weise die Kulturwelt, dass die Eigentümer feinerer Ohren zweifelnd fragen mögen, ob man wohl solchen Philosophen lesen soll.« Mit diesen Worten reagierte vor beinahe Hundert Jahren Max Scheler auf die Publikation von Henri Bergsons Schöpferische Entwicklung (1907), die 1912 in deutscher Übersetzung erschienen war. Obwohl es zu Beginn des 21. Jahrhunderts ziemlich still um den einstigen französischen Star- und Meisterdenker der Lebensphilosophie geworden ist, möchte man Schelers nicht nur rhetorisch gemeinte Frage mit einem entschiedenen »Man soll!« beantworten (. Abb. 1).
Biographisches Henri Bergson wurde 1859 (im selben Jahr wie Edmund Husserl) in Paris geboren und starb dort während des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1941. Er war der zweite Sohn jüdischer Eltern. Der aus Polen stammende Vater Michel Bergson war als Musiklehrer und Komponist tätig; die Mutter Catherine Lewison war gebürtige Engländerin. Daher wuchs der junge Henri zweisprachig auf und war von Kindheit an im Englischen beinahe genauso versiert wie in der französischen Sprache. Während der ersten Lebensjahre von Henri wohnte die Familie in der Schweiz, und erst 1866 erfolgte die Rückübersiedlung nach Paris, wo die Bergsons bis 1870 blieben. Ab 1868 besuchte Henri das berühmte Lycée Condorcet, an dem er als Schüler mehrfach Ehrenauszeichnungen erhielt. Besondere Leistungen er-
reichte er in den Fächern Sprachen, Rhetorik und Mathematik. Doch auch auf anderen Gebieten wusste er immer wieder zu brillieren, so dass für ihn die jährlichen Abschlussprüfungen regelmäßig zu Triumphen wurden. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass der Schüler Bergson ab seinem 11. Lebensjahr zwar in einem renommierten jüdischen Internat, dem Institut Springer, untergebracht war, aber keinen direkten Kontakt mehr mit seinen Eltern halten konnte. Diese hatten nämlich 1870 aufgrund des deutsch-französischen Krieges ihre Zelte in Paris abgebrochen, ihr Domizil nach London verlegt und ihren Sohn den Lehrkräften am Institut Springer anvertraut. Aus dieser Zeit rührte ein melancholischer und introvertierter Zug im Wesen Bergsons her, der sich in seinen Schriften ebenso wie auf den erhaltenen Porträtaufnahmen des Philosophen erkennen lässt. Bergson nahm kaum direkten Blickkontakt zu anderen Menschen auf und schien durch alle hindurchzusehen – wie einer, dem nicht die Angelegenheiten des Alltags, sondern komplexe und weit entfernte Themen am Herzen lagen. Da Bergson ein glänzender Schüler war, bestand er mit Bravour die Aufnahmeprüfung an der École normale supérieure (ENS), der Eliteschule Frankreichs, an der er von 1878–1881 Philosophie studierte. Zum selben Jahrgang der »Normaliens« wie Bergson gehörten der spätere Sozialistenführer Jean Jaurès sowie Émile Durkheim, der in den kommenden Jahren eine neue Disziplin, die »sciences sociales«, an Frankreichs Universitäten etablierte und später als Soziologe zum rationalistischen Antipoden des antirationalistischen Philosophen Bergson wurde. Nach Beendigung seines Studiums heiratete Bergson. Seine Frau Louise Neuburger war eine Cousine von Marcel Proust, der als Page an der Hochzeit teilnahm. Die spätere Bezugnahme des Dichters von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auf die Philosophie Bergsons war also nicht nur inhaltlich begründet, sondern erfolgte auch vor dem Hintergrund verwandtschaftlicher und persönlicher Beziehungen. Aus der Ehe stammte die einzige Tochter Jeanne Bergson, die von früh auf körperlich behindert war. Das Kind konnte nicht hören und sprechen.
Biographisches
Gleichwohl verabsäumte man keine sorgfältige Erziehung, und so konnte Jeanne eine Ausbildung als Bildhauerin absolvieren. Auch nahm sie an der gedanklichen Welt ihres Vaters lebhaften Anteil; nach dem Tod ihres Vaters verwaltete sie dessen Nachlass. Wie viele andere französische Intellektuelle und Wissenschaftler (so Jules Michelet, Émile Durkheim, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir) arbeitete auch Bergson nach seiner Zeit an der ENS zuerst als Gymnasiallehrer in der Provinz (in Angers und Clermont-Ferrand und danach in Paris, wo er eine Weile am Lycée Henri IV unterrichtete). Während dieser Jahre verfasste er mehrere kleinere Schriften (z. B. über Hypnose) sowie sein erstes Buch, das 1889 unter dem Titel Essais sur les données immédiates de la conscience (deutsch: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, 1911) erschienen ist und einen wichtigen Teil seiner später eingereichten Dissertation ausmachte. Mit dieser Publikation gelang es Bergson zum ersten Mal, in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Noch im selben Jahr wurde er mit seiner Arbeit promoviert, die als Beginn des Bergsonismus und als wesentlicher Beitrag zur Lebensphilosophie angesehen wurde. Auch nach seiner zweiten größeren Veröffentlichung – Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps et l‘esprit (1896, deutsch: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, 1919) – blieb Bergson vom Ziel seiner Bemühungen, eine Professur für Philosophie an der Sorbonne zu erhalten, vorerst noch weit entfernt. Der Soziologe Durkheim soll angeblich dazu beigetragen haben, dass die Bewerbungen seines ehemaligen Schulkameraden zunächst erfolglos verliefen. Erst 1900 eröffnete sich für Bergson die Möglichkeit, am hoch angesehenen Collège de France doch noch zu professoralen Ehren zu gelangen. Zunächst erhielt er den Lehrstuhl für griechische und lateinische Philosophie. 1904 konnte er auf den für ihn passenden Lehrstuhl für neuere Philosophie wechseln, den er bis 1921, also bis in sein 62. Lebensjahr hinein, innehatte. Über zwei Jahrzehnte lang lehrte der inzwischen über Frankreich hinaus bekannt gewordene
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Schriftstellerphilosoph an dieser Institution seine neuartige Philosophie des Bergsonismus. Das Collège de France beruft ihren Lehrkörper ohne jegliche Lehrverpflichtung. Mitglieder des Instituts können nach freiem Ermessen öffentliche Vorlesungen halten; im Allgemeinen dürfen sie sich jedoch ganz ihrer Forschung widmen. Bergson wollte durchaus nicht nur denken und schreiben, sondern auch dozieren. Vor allem zu seinen legendären Freitagskollegs strömte »tout Paris«, um den zart und in sich gekehrt wirkenden Gelehrten zu hören, dessen Habitus und äußere Erscheinung an einen vornehmen und stets untadelig korrekt gekleideten Aristokraten erinnerte, und dessen Augenpartie von nicht wenigen mit derjenigen einer weisen Eule verglichen wurde. Insbesondere die Atmosphäre der Weisheit und Vornehmheit, die Bergson um sich verbreitete, seine mehr vorsichtige denn zupackende Art des Denkens sowie seine feinsinnige und zartfühlende Intuition, mit der er die Welt erfasste und beschrieb, waren für die meisten Zuhörer faszinierend. Maurice Merleau-Ponty, der selbst einen zurückhaltenden Charakter hatte, hob jedenfalls diese Seiten Bergsons als besonders auffällig und angenehm hervor. Ab der Mitte seines Lebens wurde Henri Bergson mit Ehrungen und Auszeichnungen versehen: Man wählte ihn als Mitglied in die Académie Française und betraute ihn während des Ersten Weltkriegs mit diplomatischen Aufgaben. Weil in den USA der Philosoph William James zu seinen Anhängern zählte, wurde ein Kontakt mit Woodrow Wilson eingefädelt, bei dem Bergson den amerikanischen Präsidenten für den Eintritt der USA in den Krieg werben sollte. 1922 wurde Bergson für drei Jahre zum Präsidenten der Völkerbundkommission für geistige Zusammenarbeit ernannt, der auch Albert Einstein angehörte. Schon 1914 hatte der Vatikan die Schriften des Philosophen auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, da er in Schöpferische Entwicklung keine theistischen Gottesvorstellungen vertrat. Als Höhepunkt seiner philosophisch-schriftstellerischen Arbeiten erkannte man dem Philosophen 1927 den Nobelpreis für Literatur zu, den er vor allem für eben jene Publikation L‘Evolution créatrice (1907, deutsch: Schöpferische Entwicklung, 1912)
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Kapitel • Henri Bergson
und den exzellenten Stil seiner philosophischen Abhandlungen erhielt. Mit dieser Publikation war Bergson europaweit als Lebensphilosoph bekannt geworden. Er setzte sich darin tiefgründig mit den Problemen der Biologie und den Phänomenen des Lebens auseinander, wobei er über die Modelle von Charles Darwin und Jean Baptiste de Lamarck hinausging und als Erklärung für die Evolution eine biologische Urkraft postulierte, die er »élan vital« nannte – ein Begriff, der zum Markenzeichen der Philosophie Bergsons geworden ist. Dieser »élan vital«, die Lebensschwungkraft, wurde von Bergson als Schöpferkraft interpretiert, die vegetatives (pflanzliches), instinktives (tierisches) und intelligentes (menschliches) Leben hervorbringen soll. Die schöpferische Aktivität des »élan vital« ist nicht der analytischen Vernunft und Reflexion, sondern der Intuition zugänglich, die sich nicht auf Begriffe, Maß und Zahl, sondern auf Bilder und Atmosphären bezieht. Mittels philosophischer Intuition wollte Bergson neben dem »élan vital« auch die Zeit als Dauer (»durée«) sowie die Freiheit des Menschen erfassen. Auf einem internationalen Philosophenkongress 1911 in Bologna hielt er einen Vortrag mit dem Titel »Die philosophische Intuition«, der als leidenschaftliches Plädoyer für ein philosophisches Denken und Forschen verstanden werden sollte, das sich mit Themen des konkreten Lebens befasst:
blizierte Bergson eine diesbezügliche Abhandlung mit dem Titel Durée et simultanéité, die bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde, und deren Neuauflage vom Verfasser nicht gewünscht war. Nach seiner Emeritierung 1921 blieb Bergson als publizierender Philosoph aktiv. Besonders zu erwähnen ist sein Alterswerk Les Deux sources de la morale et de la religion (1932), das 1933 unter dem deutschen Titel Die beiden Quellen der Moral und der Religion erschien. Nicht erst in diesem Buch liebäugelte der jüdische Intellektuelle mit der Religion, vorrangig katholischer Couleur. Der späte Bergson soll immer wieder an eine Konversion gedacht, diese jedoch nie Realität haben werden lassen, da er aus Solidarität mit den zunehmend ausgegrenzten jüdischen Mitbürgern diese nicht verraten wollte. So kam es, dass Bergson nach der Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg denselben Repressalien wie andere Juden unterworfen wurde. Sein Tod 1941 ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich der über 80-Jährige eine Lungenentzündung zuzog, als er im kalten Winter viele Stunden lang in einer Warteschlange stand, um sich als Jude registrieren zu lassen.
Werkanalyse
Philosophieren ist immer ein einfacher Akt. Je mehr wir uns von dieser Wahrheit durchdringen lassen, umso mehr werden wir dazu neigen, die Philosophie aus der Enge der Schulwissenschaft zu befreien, um sie dem Leben wieder anzunähern (Bergson 1993a, S. 145).
Selbst wenn die große Zeit des Bergsonismus vorbei ist und Bergson oftmals nur noch unter philosophiehistorischer Perspektive betrachtet wird, lohnt eine inhaltliche Beschäftigung mit manchen Gedanken des Gelehrten. In seinen Büchern hat er neben heute als abseitig eingestuften Ideen auch Themen behandelt, die sich bis ins 21. Jahrhundert als anthropologisch relevant erwiesen haben.
In den letzten Jahrzehnten seines Lebens war Bergson in Frankreich und darüber hinaus in Europa eine Art Institution der Philosophie geworden, und als solche nahm er Einfluss auf viele seiner Kollegen, aber auch auf Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler. Spuren des Bergson‘schen Denkens finden sich etwa bei Marcel Proust und André Gide. Des Weiteren kam es mit Albert Einstein zu intensiven und fruchtbaren Auseinandersetzungen über den Begriff und das Wesen der Zeit. 1922 pu-
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Naturwissenschaften, allen voran die Biologie (in Form des Darwinismus) und Physik, aber auch die Medizin, große Fortschritte zu verzeichnen und waren auf gutem Wege, mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Art Erklärungs- und Definitionsmonopol in Fragen von Menschsein, Leben und Kosmos für sich zu reklamieren. Das szientistische Weltbild, das auf positivistischen und
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Zeit und Freiheit
Werkanalyse
materialistischen Grundannahmen fußt, schien damals andere, etwa künstlerische oder geisteswissenschaftliche Versuche, die Conditio humana zu bedenken, überflüssig zu machen. Vor allem in Frankreich und Deutschland mehrten sich Ende des 19. Jahrhunderts jedoch Stimmen, die auf Defizite und Unzulänglichkeiten einer bloß szientistischen Weltsicht hinwiesen. Im deutschsprachigen Raum trat eine Gruppe von Kritikern auf den Plan, welche die sogenannte Lebensphilosophie vertraten. Zu ihnen gehörten Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Ludwig Klages und Edmund Husserl. Der wichtigste Vertreter der Lebensphilosophie in Frankreich war unzweifelhaft Henri Bergson. Ihnen allen gemein war der Versuch, mit Hilfe des Phänomens Leben die reduktionistischen Tendenzen der (Natur-) Wissenschaften in die Schranken zu weisen. Wie unscharf allerdings der Terminus der Lebensphilosophie war, wird schon allein daran ersichtlich, dass manche Wissenschaftshistoriker die Vorsokratiker und französischen Moralisten ebenso zu den Lebensphilosophen rechnen wie die Vertreter der Existenzphilosophie. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Bergson zum Kritiker einer szientistischen Weltanschauung werden konnte, bestand darin, dass er ein versierter Kenner von Biologie, Physik, Evolutionstheorie und später der Relativitätstheorie war. Er wusste genau, wovon er sprach, wenn er die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit zum Ausgangspunkt für seine eigenen Überlegungen wählte. Vor allem seine ersten drei Bücher Zeit und Freiheit, Materie und Gedächtnis sowie Schöpferische Entwicklung enthalten viel Material der exakten Naturwissenschaften, das von Bergson mit leichter Feder aufs Papier gebracht wurde, und das in entsprechenden Lehrbüchern der Physik oder Biologie nicht eleganter hätte dargestellt werden können. Auch die Schrift Durée et simultanéité (1922) bestätigt, dass Bergson auf der Höhe der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit war und als Philosoph den inhaltlichen Debatten seiner Kollegen von der biologischen oder physikalischen Zunft zu folgen vermochte. Im Hinblick auf Chemie und Medizin bewegte er sich mit ähnlicher Souveränität.
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Neben diesen Fähigkeiten verfügte Bergson vor allem über präzise Intuition. Der Intuition als erkenntnistheoretisches Fundament wird von den Wissenschaftstheoretikern meist kein sonderlich hoher Stellenwert beigemessen. Oftmals versteht man unter Intuition eine Art Eingebung oder plötzliches ahnendes Erfassen von Verhältnissen, das sich reflektierenden oder diskursiven Auseinandersetzungen entzieht. Solche unmittelbaren Gewissheiten, die sich aus intuitiven Erkenntnisweisen ergeben, mögen in Zirkeln von Mystikern oder Religiösen Bedeutung haben, taugen jedoch wenig im Rahmen wissenschaftlicher Fortschrittsbemühungen. Von einem derartigen Verständnis von Intuition distanzierte sich Bergson. Für ihn stellte die Intuition keine Gefühlseingebung oder Erleuchtung dar, sondern bedeutete vielmehr eine seriöse Methode des philosophischen Nachdenkens, die Regeln gehorcht und daher von ihm mit dem Adjektiv präzise versehen wurde. Im Unterschied zur Methodik der Naturwissenschaften, Technik und Mathematik schützt die präzise Intuition freilich nicht vor systematischen Fehlern. Immerhin bietet sie ein relativ verlässliches Reflexionsverfahren, das nachvollziehbare Ergebnisse liefert. Dabei sollen die Phänomene des Lebens möglichst vorurteilsfrei und nicht gebunden an theoretische Prämissen erfasst werden. Das vollständig Gegebene und nicht die Einzelerfahrungen oder -ergebnisse, welche die Wissenschaftler erst sekundär wieder zum Ganzen vereinen, interessierten den präzise intuitiv vorgehenden Philosophen. In manchen Menschen dominiere diese hoch geistige intuitive Form von Einsicht und Verstehen. Es sind dies unter anderem die Künstler, Dichter und – wie Bergson meinte – die Bahnbrecher einer verinnerlichten Religion. Ein Phänomen, das Bergson mit Hilfe seiner intuitiven Methode besonders gründlich untersuchte, war die Zeit. Seit Aristoteles gibt es philosophische und physikalisch-wissenschaftliche Traditionen des Nachdenkens über das Wesen und die Eigenarten der Zeit. Für den griechischen Philosophen war die Zeit eine zerteilte Bewegung. Auch Newton, Leibniz und andere Forscher verwendeten einen erheblichen Anteil ihrer Arbeitskraft darauf, die Zeit zu verstehen, wobei oft zum Bild des Stromes gegriffen wurde, der mehr oder minder un-
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Kapitel • Henri Bergson
abhängig vom Leben und Erleben eines Menschen dahin fließt. Bergson vertrat diesen tradierten Modellen gegenüber einen radikal anderen Standpunkt. Zwar anerkannte er die physikalische Raumzeit, die sich mit Uhren messen lässt, und der man die Qualität einer zerteilten Bewegung (z. B. des Uhrzeigers) attestieren kann. Daneben jedoch gibt es dem Philosophen zufolge für uns Menschen die Erfahrung einer gänzlich anderen Zeit, die sich nicht in Sekunden oder Minuten einteilen lässt, die nicht gemessen werden kann und die deshalb nicht mit der Raumzeit vermischt oder verwechselt werden darf. Diese andere Zeit nannte Bergson in Zeit und Freiheit im Gegensatz zu »le temps« (die Zeit) »la durée« (die Dauer). Die Dauer kann als individuell erlebte oder gelebte Zeit aufgefasst werden. Jeder kennt das Phänomen, dass sich manche Momente im Dasein aufblähen, wohingegen andere nur karg und blass imponieren. Die Unterschiede dieser Erlebenszustände sind nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Daher lassen sich diese Zeitphänomene nicht (wie etwas Extensives) messen, sondern lediglich (wie etwas Intensives) in Bildern, Metaphern, Farben und Tönen beschreiben und erzählen. Die Zeitpunkte der gelebten Zeit darf man sich nicht wie Perlen nebeneinander aufgereiht auf einer Schnur vorstellen. Vielmehr schieben sie sich ineinander und bilden ein Kontinuum, ein dauernd wachsendes und sich veränderndes Ganzes. Das menschliche Leben besteht nicht aus primär getrennten Momenten, die sekundär synthetisiert werden; es kann viel treffender eben als ein Dauern verstanden werden. So ragt das Gesamt der Vergangenheit als Stimmung, Erinnerung, Erfahrung und Charakter ebenso in die Gegenwart eines Individuums hinein wie dessen Zukunft, die sich als Erwartung, Hoffnung, Entwurf oder Vorwegnahme beschreiben lässt. Wie ein weitgehend fertiges Kunstwerk (etwa ein Bild) alle Phasen des Entstehens, alle Pinselstriche, Korrekturen und Übermalungen in sich trägt und zugleich in seinen noch nicht ausgeführten Partien und in seiner Skizzenhaftigkeit die Potentialität der Zukunft beinhaltet, so kann nach Bergson auch die »durée« eines Menschen aufgefasst und verstanden werden.
Die Identität eines Menschen konstituiert sich nur aufgrund dieses Dauerns. Wenn wir morgens erwachen und innert kürzester Zeit wissen, wer wir sind, meldet sich unsere »durée« im Sinne von Bewahrung. Wenn wir abends zu Bette gehen und feststellen, dass uns das Leben neue Pinselstriche zur Skizze unserer Existenz hinzugefügt hat, meldet sich erneut unsere Dauer, dieses Mal jedoch im Sinne von Veränderung. Im Laufe unseres Lebens sind wir stets dieselben und zugleich doch andere – ein Paradoxon, das im Bergson‘schen Begriff der Dauer wesentlich mit enthalten ist. Das Ich dauert an, indem es sich ständig bewahrt und verändert. Neben oder hinter diesem Prozess gibt es keine Substanz, die man Ich nennen kann; das Ich ist dieser Prozess, ist »durée«. Zumindest das eigentliche Ich kann mit »durée« gleichgesetzt werden. Da jeder tagtäglich seine Existenz mit den raumzeitlichen Gegebenheiten vermengt, unterschied Bergson konventionelles Ich (»le moi conventionnel«) und fundamentales, wahres Ich (»le moi intérieur«). Das konventionelle Ich ist oberflächlich, für alle sichtbar, peripher, den Verhältnissen angepasst. Dieses Ich kann von einer positivistischen oder analytischen Psychologie erfasst und vermessen werden. Anders hingegen das fundamentale Ich, das uns und den anderen nur intuitiv gegeben und in Maß und Zahl nicht konvertierbar, nach Bergson »inexprimable« (unausdrückbar) ist. Diesem Tiefen-Ich kommen die Eigenschaften der Schöpferkraft, Freiheit und inneren Lebendigkeit, kurz: des »élan vital« zu. Es lebt und wächst in schöpferischer Entwicklung und entfaltet sich frei nach dem ihm innewohnenden Lebensdrang, der Lebensschwungkraft. In seinen späten Schriften hat Bergson nicht nur den einzelnen Individuen, sondern sogar dem gesamten Universum zugestanden, über »élan vital« zu verfügen und Formen des Dauerns und des Gedächtnisses aufzuweisen. Die Materialisten und Naturalisten gehen davon aus, dass sich das Leben aus der Materie entwickelt hat. Nach Bergson sollte man eher die geistige Energie des »élan vital« annehmen, die am Anfang des kosmischen Evolutionsgeschehens stand. Die Lebensschwungkraft sei spirituell, einer Feuerwoge ähnlich, die aus sich selbst heraus aktiviert wurde. An ihren Rändern erkaltete sie und bildete die
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Materie. Diese gehorcht dem Trägheitsprinzip; sie kann als eine Bewegung des Fallens (Schwerkraft) bezeichnet werden. Nun seien die aufwärts drängende Vitalenergie und die Materie da und dort zusammengetroffen. Der »élan vital« bohrte sich in die materielle Gegenbewegung ein und erzwang dadurch die Fülle der Lebensformen. Bei der Gestaltung der Organismen war er stets durch den vorgefundenen Stoff behindert. Er hat sich durch alle Widerstände hinaufgearbeitet, wobei sich die Geschichte seines Werdens in der Pflanzen- und Tierwelt der Erde niederschlug. Die Pflanzen zeigen eine statische Existenzform. Sie sind im Boden verwurzelt und benützen die Sonnenenergie, um Nahrungsstoffe für sich und die Tiere herzustellen. Bei den Tieren teilte sich der Lebensschwung in zwei Bahnen. Auf der einen Seite entstanden Insekten und Hautflügler, die sich mit Hilfe des Instinkts an die Lebensaufgaben anpassten. Die andere Entwicklungslinie führte über die Säugetiere zum Menschen. Bei ihm wurde der Intellekt zum wichtigsten Instrument der Lebensgestaltung. Durch ihn waren vielfältige Antworten auf nahezu alle Lebensbedingungen möglich. Die Intelligenz macht stets neue Anläufe, um die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten zu begreifen. Sie ist in der Dingwelt zu Hause und neigt dazu, alles mechanisch zu interpretieren. Darum eignet ihr, wie Bergson sagte, eine natürliche Verständnislosigkeit für das Leben und seine inneren Wesensgestalten. Der Intellekt ist ein Mathematiker und will alles zählen, wägen, messen und berechnen. Er ist geschickt im Werkzeuggebrauch und schuf im Laufe der Zeit die Technik, welche das Dasein weitgehend erleichtert. Weniger tüchtig ist er, sobald er mit Lebendigem zu tun hat, das Bergson zufolge intuitiv verstanden werden müsste. Die Überlegungen Bergsons hinsichtlich des »élan vital«, der Intuition sowie der Zeit, die er selbst als das Zentrum seiner Lehre bezeichnet hat, haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. In Frankreich haben sich Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty oder Emmanuel Lévinas zum Teil ablehnend, zum Teil zustimmend, immer aber fruchtbar auf Bergson bezogen.
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In der angelsächsischen Philosophie (z. B. bei Ludwig Wittgenstein, Karl Popper oder Bertrand Russell) überwogen die negativen Urteile über den französischen Kollegen. Russell, der in Paris Vorlesungen von Bergson gehört hatte, nannte ihn in seiner Philosophie des Abendlandes (1950) aufgrund seines Irrationalismus ein prächtiges Beispiel für eine gegen die Vernunft gerichtete Auflehnung. In Deutschland erlebte der Bergsonismus hingegen in den Reihen der Phänomenologen, aber auch bei Ernst Cassirer oder Georg Simmel wegen der tiefgründigen Analysen der subjektiv erlebten Zeit ein überwiegend positives Echo. Auch außerhalb der Philosophie wurde Bergsons Idee der »durée« diskutiert. So haben in den letzten Jahren die Naturwissenschaftler Ilja Prigogine (Das Paradox der Zeit, 1993) und Jacques Monod (Zufall und Notwendigkeit, 1970) in ihren Schriften auf den französischen Philosophen Bezug genommen. Ebenso hat sich die Dichtkunst mit dem Bergsonismus beschäftigt, wobei vor allem Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1912ff.) als groß angelegter Versuch gewertet werden darf, die Vergangenheit als Dauer wiederzugewinnen. Daneben profitierten die Tiefenpsychologie und Psychiatrie von den Gedanken Bergsons zur »durée«. So hat der Psychiater Eugène Minkowski in seinem Buch Le temps vécu (1933, deutsch: Die gelebte Zeit) die Idee der Dauer als Identität stiftendes Werden und Bewahren auf verschiedene Fragen der psychiatrischen Krankheitslehre angewandt. Man konnte feststellen, dass bei Menschen, die an Neurosen, Psychosen, Süchten oder Perversionen erkrankt sind, nicht selten Defizite hinsichtlich der Fähigkeit des Dauerns zu beobachten sind. Ihnen gelingt es nicht immer hinreichend, ihr Dasein als Kontinuum zu erleben und zu gestalten und dabei die drei Zeitdimensionen von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu einer einheitlichen Identität zu fusionieren. Bei manchen Kranken löst sich die Konsistenz ihres Tiefen-Ich in einem derart hohen Maße auf, dass bei ihnen nur noch ihr jeweiliges OberflächenIch dominiert. Andere scheinen arretiert in einem Zustand der Vergangenheit und des Bewahrens, der jegliches Werden und Verändern ausschließt
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(z. B. Patienten mit Zwangskrankheiten oder Depressionen). Wieder andere bringen die Kraft und Fähigkeit nicht mehr auf, die Momente und Zeitpunkte ihres Daseins zu synthetisieren. Ihre Existenz erinnert an misslungene Werke von Pointillisten, bei denen die einzelnen Farbpunkte ebenfalls keine kohärenten Bilder und Gestalten ergeben. Derartige Störungen können im Zuge von massiven Suchterkrankungen oder bei chronisch schizophren Erkrankten auftreten. z
Materie und Gedächtnis
Ausgehend von Zeit und Freiheit hat Bergson einige Jahre später ein weiteres Buch vorgelegt, in dem er kosmologische und anthropologische Fragen auf originelle Art miteinander verknüpfte und beantwortete. In Materie und Gedächtnis werden seine Überlegungen zur »durée« aufgegriffen, erweitert und auf das Gedächtnis angewandt. Das Gedächtnis war ähnlich wie das Thema der Zeit in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für Wissenschaftler und Philosophen interessant geworden. In diesem Zusammenhang kann man auf Friedrich Nietzsche verweisen, der betonte, dass das Gedächtnis beim Menschen nur deshalb so differenziert entwickelt wurde, weil er ein historisches und damit zeitliches Wesen ist. In seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1872) führte er weiter aus, dass die Tiere »kurz angepflockt an den Pflock des Augenblicks« scheinbar glücklich und selbstvergessen ihr Dasein fristen und im Gegensatz zu uns Menschen weder die Last der Vergangenheit noch die Sorgen der Zukunft kennen. Die Fähigkeiten der Erinnerung und des bewussten Gedächtnisses sind ihnen aufgrund dieses VerschmolzenSeins mit dem jeweiligen Augenblick fremd. Erinnerung und Gedächtnis haben nach Nietzsche nur für historisch-zeitliche Wesen einen Sinn und sind deshalb nur bei ihnen umfänglich ausgebildet. Wenige Jahre nach Nietzsches Ausführungen über den Nutzen und die Nachteile der Historie und des Erinnerns erschien das Buch Bergsons, das in seinem Titel eine Beschäftigung mit den Themen des Gedächtnisses und des Erinnerns ankündigte. Mit dieser Publikation beabsichtigte Bergson jedoch vielmehr, einen Beitrag bevorzugt zum Leib-
Seele-Problem und nicht so sehr zum Thema des Erinnerns und Vergessens zu liefern. Anhand des Gedächtnisses wollte er lediglich Wechselwirkungen zwischen Materie und Geist untersuchen und darstellen. Unter der Hand jedoch war Bergson mit Materie und Gedächtnis ein Text gelungen, welcher die Gedanken Nietzsches fortsetzte. Bergson unterschied darin zwei Arten des Gedächtnisses: Das mechanische oder habituelle Gedächtnis bedeutet die Gesamtheit von Gewohnheiten und Automatismen, welche den Lebensablauf eines Menschen in Muster und fixierte Formeln verwandelt. Ein fester Satz von erlernten Handlungen, Gedanken und Emotionen durchzieht und prägt als Resultat dieses Gedächtnisses die Momente der Gegenwart. Ohne sich an Situationen des Lernens und Einprägens zu erinnern, sind die Ergebnisse dieses Lernens dem Individuum reflexartig präsent. Bergson verdeutlichte dies am Beispiel des Auswendiglernens eines Gedichts: Der Erwachsene memoriert einzelne Strophen, normalerweise ohne dabei die Geschichte des Einprägens und Wiederholens vor Augen zu haben, die er als Kind oder Jugendlicher absolvierte. Irgendwann beherrscht sein habituelles Gedächtnis das Gedicht, und er kann es automatisch und ohne großes Nachdenken rezitieren. Die zweite Form menschlicher Erinnerungsmöglichkeit bezeichnete Bergson als reines Gedächtnis. In ihm werde die gesamte Summe der Lebensereignisse gespeichert, selbst wenn meistens weite Bereiche davon nicht direkt zugänglich sind. Diesen Gedanken griff in gewisser Weise Sigmund Freud auf, als er davon sprach, dass im Unbewussten nichts verloren geht. Unter dem reinen Gedächtnis verstand der Philosoph die umfassende Erinnerung einer individuellen Vergangenheit. Diese Art von Reminiszenz führe dazu, dass die Menschen ihre subjektive Zeit als »durée« und nicht nur als eine bloße Wiederholung oder Aneinanderreihung von Jetzt-Punkten erleben. Das Gedächtnis stellte für Bergson den Schnittpunkt zwischen Geist und Materie dar. An diesem Schnittpunkt wollte er demonstrieren, wie Geist und Materie, Seele und Leib interagieren und aufeinander Einfluss ausüben. Dabei verwahrte er sich gegen jeglichen Materialismus, der davon ausgeht,
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Werkanalyse
dass seelische und geistige Leistungen lediglich als Epiphänomene des Gehirns zu begreifen sind. Dem menschlichen Geist gestand Bergson einen hohen Grad an Freiheit und Gestaltungsspielraum zu, so dass er nicht als vollständig vom Körper determiniert erscheint:
» Es ist also in diesem Falle notwendigerweise der Willkür ein gewisser Spielraum gelassen; und wenn sich den die Tiere nicht zunutze machen, gefesselt wie sie sind von der materiellen Notdurft, so scheint sich doch der menschliche Geist unaufhörlich mit der Totalität seines Gedächtnisses gegen die Tür zu stemmen, die ihm der Körper halb öffnet: Daraus ergeben sich die Spiele der Phantasie und die Arbeit der Einbildungskraft – Freiheiten, die der Geist sich der Natur gegenüber herausnimmt (Bergson 1991, S. 175f.).
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Ausgehend von seiner Einteilung in habituelles und reines Gedächtnis hat Bergson im erwähnten Buch noch weitere komplexe Überlegungen zum Verhältnis von Materie und Geist angestellt, die hier nicht erörtert werden sollen. Erwähnenswert jedoch ist, dass seine Vorstellungen von den zwei Gedächtnistypen wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Materie und Gedächtnis literarisch ausgestaltet wurden. So hat Marcel Proust an einer zentralen Stelle seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschildert, wie habituelles und reines Gedächtnis gleichsam aufeinandertreffen und ineinander übergehen: Er schilderte, wie er (respektive die Hauptperson) beim Nachmittagstee ein Madeleinetörtchen in die vor ihm stehende Schale tunkte und ihm bei diesem habituellen Ritual jählings die Bilder, Ereignisse und Atmosphären seiner Vergangenheit als Gesamtheit und Dauer vor Augen standen. Obwohl die Erinnerungen seines reinen Gedächtnisses für ihn lange Zeit nicht präsent waren, waren sie dennoch nicht verloren. Sie lagerten als Hinweise und Spuren in der ihn umgebenden Materie und in seinem Körper, und sein reines Gedächtnis (für Bergson gleichbedeutend mit Geist) nutzte diese materiellen Engramme als Matrix für seine Erinnerungen.
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Das Lachen
Das Lachen stellte für Bergson ebenso wie das Gedächtnis ein Phänomen dar, an dem er Grundzüge seiner Philosophie erläutern konnte. Wann und warum Menschen lachen, ist oftmals eine Frage von Witz, Komik und Humor. Bergson erweiterte diese Themen in Le rire (Das Lachen) um die für ihn wichtigen Begriffe von Leben und Geist. Dass man anhand von Forschungen über Witz, Komik und Humor Wesentliches über den Menschen zutage fördern kann, hatten vor Bergson schon andere Denker gezeigt. Meist wurden diese Themen in der philosophischen Disziplin der Ästhetik abgehandelt, und so wird der Titel eines Buches von Jean Paul verständlich (Vorschule der Ästhetik, 1807), das geistreiche Überlegungen zum Humor und zum Lachen beinhaltet. In Le rire erwies sich Bergson ebenfalls als ein Autor, der sich über das alltägliche Lachen verwunderte und es zugleich in den Rang eines philosophischen Problems erhob. Über diese Art, sich mitten im Leben die Themen seiner Spekulation zu suchen, hat er später festgestellt, dass die meisten Denker diesbezüglich einen eklatanten Mangel aufweisen:
»
Was der Philosophie am meisten gefehlt hat, ist die Präzision. Die philosophischen Systeme sind nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben, zugeschnitten. Sie sind zu weit für sie. Man prüfe nur irgend ein passend ausgewähltes unter ihnen, so wird man sehen, dass es ebenso gut auf eine Welt passen würde, in der es weder Pflanzen noch Tiere, in der es nichts als Menschen gäbe, und in der sich die Menschen des Essens und Trinkens enthielten, in der sie weder schliefen noch träumten noch ihre Gedanken ziellos schweifen ließen, in der sie altersschwach geboren würden, um als Säuglinge zu enden, in der sich die Energie nicht zerstreute, sondern konzentrierte, kurzum auf eine Welt, in der alles gegen den Strich ginge und sich ins Gegenteil verkehrte (Bergson 1993b, S. 21).
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Um dieser Gefahr einer vom Leben losgelösten Philosophie nicht zu erliegen, war eine Untersuchung über die Komik und das Lachen bestens geeignet. Der erste Teil von Bergsons Le rire handelt von der Komik (nicht vom Witz oder Humor) im
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Kapitel • Henri Bergson
Allgemeinen und von derjenigen der Formen und Bewegungen im speziellen. Ein zentraler Gedanke dabei lautet: Komik und damit auch Lachen entstehen immer dann, wenn da, wo wir Leben und Geist vermuten, uns ein ins Leben eingebauter und das Leben imitierender Automatismus begegnet. Diese These belegte der Philosoph anhand vieler Beispiele. So lebt der Clown mit seinen parodistischen Slapstick-Einlagen ebenso wie der Karikaturist mit seinen Zeichnungen von einer »mécanisation de la vie«, einer Mechanisierung des Lebendigen, die als Nachahmung, Wiederholung, Übertreibung, Verdoppelung, Versteifung oder Fixierung eines ursprünglich lebendigen und damit sich permanent verändernden Prozesses imponieren kann. Einige dieser Mechanismen lassen sich auch bei zerstreuten Menschen finden, über die man ähnlich lächelt wie über jenen Zeitgenossen, der mit der Brille auf der Nase seine Brille sucht. Man kann die Zerstreutheit als eine passagere oder permanente Lebenshaltung verstehen, bei welcher das Bewusstsein eines Menschen in seiner Dichte und Konzentration reduziert ist; damit wirkt es den bedrängenden Verhältnissen gegenüber als zu wenig gewappnet. So kommt es, dass die Dinge und Verhältnisse der Umwelt eine relative Macht über den Betreffenden erhalten und ihn zumindest partiell dominieren. Nicht mehr die Person beherrscht ihre Objekte, sondern die Objekte machen sich über den Einzelnen her und bewirken, dass er sich an sie verliert. Durch die Faszination und Dominanz des Stofflichen kommt es zur Mechanisierung des Lebendigen und somit zu komischen Situationen. Doch nicht nur bei zerstreuten Menschen erlebt man Komisches. Oft genug lacht man auch über diejenigen, die als körperlich zu schwer, zu groß oder zu klein, als plump, verwachsen, unproportioniert oder schlicht als dysmorph erscheinen. Auch bei diesen Menschen hat die Materie scheinbar die Oberhand über ihr Seelisches und Geistiges errungen. Für die Tiefenpsychologie besteht eine enge Verwandtschaft zwischen Komik und Neurose. Sigmund Freud und Alfred Adler haben mehrmals darauf hingewiesen, dass seelische Störungen aufgebaut seien wie ein Witz; man kann ergän-
zen, dass ihnen auch das Element des Komischen nicht fremd ist. Dies liegt unter anderem an der permanenten Repetierung einer bestimmten und oft als störend erlebten Symptomatik (neurotischer Wiederholungszwang), die anstelle einer flexiblen Antwort auf die Lebensaufgaben zu beobachten ist. Diese an Automaten und Maschinen gemahnende Wiederholung tritt besonders deutlich bei Zwangsstörungen zutage (Zwangsgedanken, -impulse und -handlungen). Was bei einem komischen oder neurotischen Verhalten auf der Strecke bleibt, ist die Anmut. Anmut nennen wir seit Friedrich Schiller die Freiheit in der Bewegung, und diese Freiheit wird bei der Komik infrage gestellt. Statt im Sinne dieser Freiheit agiert der menschliche Körper oder der ganze Mensch maschinenartig und erweckt in uns die Empfindung von Komik. Ähnliches wird provoziert, wenn die Anmut, die ein unwillkürliches Phänomen ist, bewusst gewollt wird. Die häufigste Reaktion auf die Wahrnehmung von Komik ist das Lachen. Bergson hat in seinem Buch dieser Reaktion einen wichtigen Part im sozialen Kontakt der Menschen untereinander zugewiesen. Er betonte, dass im Lachen ein exquisiter Korrekturfaktor verborgen sei: Wer über einen komischen Mitmenschen lache, gebe ihm zu verstehen, dass er bei ihm eine »Mécanisation de la vie« wahrgenommen habe und diese als deplatziert erachte. Das Lachen verfolgt darüber hinaus auch einen egalisierenden Zweck, welcher den komisch anmutenden Menschen in die Region der Mitte und des Maßes zurückbringen soll. Wenn das Kleine sich als zu groß und das Große sich als zu klein gebärdet, und wenn Anspruch und Wirklichkeit allzu sehr auseinanderklaffen, kann es passieren, dass man mit einem lauten Lachen losprustet und das eben noch Erhabene ins Lächerliche verwandelt. Anders als beim Witz, dessen Lachen meistens gegen einen imaginären oder realen Menschen gerichtet ist und sich aus dem Gefühl der Distanz zu ihm speist, will das Lachen aufgrund von Komik den Betreffenden wieder ins mittlere und lebendige Menschentum zurückholen und integrieren:
» Was das Lachen hervorheben und korrigieren möchte, das ist dieses Starre, Fixfertige, Mechani-
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Werkanalyse
sche im Gegensatz zum Beweglichen, immerfort Wechselnden und Lebendigen, es ist Zerstreutheit im Gegensatz zur Aufmerksamkeit, Automatismus im Gegensatz zum freien Handeln (Bergson 1988a, S. 86).
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Im großen Stil erfolgt diese Korrektur im Theater. Die Komödie ist jene Kunstgattung, die sich intensiv mit Komik beschäftigt und hauptsächlich von ihren Effekten lebt. In jeder Komödie findet sich eine »Mécanisation de la vie«, über welche das Publikum lacht. In Le rire hat Bergson daher dieser Thematik breiten Raum gewidmet. Diese »Mécanisation« kann als äußere Rahmenhandlung imponieren, die durch Wiederholung einen maschinenartigen Eindruck hinterlässt; sie kann sich aber auch im Innern einer Figur als fixe Idee manifestieren. Des Weiteren wirken etwa Inversion (Umkehrung der Verhältnisse), Interferenz (zwei unabhängige Handlungsstränge werden ineinander verflochten und führen zu dauernden Verwechslungen) oder Transposition komisch. Um Letzteres handelt es sich zum Beispiel, wenn in einem Stück von Nikolai Gogol ein höherer Beamter seinen Untergebenen mit den Worten zurechtweist: »Du stiehlst zu viel für einen Beamten deiner Klasse!« Hierbei wird ein qualitatives (ethisches) Problem quantifiziert. Es verwundert nicht, wenn bei so viel »Mécanisation« in Komödien Typen und keine Individuen angetroffen werden. Bergson verwies darauf, dass wir von dem Menschenfeind, dem Geizigen oder dem Hypochonder sprechen. Das Schablonenhaft-Repetierende dieser Figuren obsiegt über das Persönliche, welches die Figuren der Tragödie auszeichnet und dazu beiträgt, dass wir uns als Zuschauer mitleidend in Don Carlos, Hamlet oder Romeo einfühlen, wohingegen die Typen der Shakespeare‘schen, Molière‘schen oder Shaw‘schen Komödien allgemein bleiben und uns lachen lassen. Das Lachen ist jedoch nicht nur ein Indikator für eine komische Situation. Es zeigt auch an, dass sich der Lachende via Intuition in seinen Mitmenschen einfühlt, dessen Freiheit und Lebendigkeit er als reduziert und durch »Mécanisation« ersetzt empfindet. Das Lachen bedeutete für Bergson daher einen neuerlichen indirekten Nachweis seiner
weiter oben bereits erwähnten Theorie der intuitiven Wahrnehmung und Beurteilung von anderen Personen in ihren biologischen, seelischen und geistigen Dimensionen. Im kritischen Nachgang zu Le rire hat Georg Simmel einige Jahre nach der Erstpublikation darauf hingewiesen, dass im Lachen nicht nur Komisches, sondern auch Tragisches enthalten sei. Simmel bewunderte Bergson und dessen Texte sehr, was unter anderem in folgendem, Simmel zugeschriebenem Bonmot zum Ausdruck kommt: »Dass Bergson mehr kann als ich, darüber freue ich mich; aber dass ich weniger kann als er, das ist doch schmerzlich.« An Le rire bemängelte Simmel, dass Bergson das Tragische der »Mécanisation de la vie« nicht genügend herausgestellt habe. Zwar sei es richtig, das Lachen als Hinweis für Mechanisierung und Reduzierung von Leben zu interpretieren und an ihm das Wesen intuitiver Erkenntnis zu demonstrieren. Gehe man dem Phänomen der »Mécanisation« jedoch weiter nach, gelange man zur tragischen Dialektik, dass alles Leben irgendwann in Mechanisches und Totes umschlägt. Das Lachen und die Komik trösten über dieses Faktum hinweg, ohne es angemessen zu erhellen. z
Die beiden Quellen der Moral und der Religion
Bergson hatte in seinen Schriften lange Zeit die politischen und sozialen Probleme der Menschen ausgespart. In seinem Alterswerk Die beiden Quellen der Moral und der Religion versuchte er dieses Versäumnis zu korrigieren. Darin unterschied er zwei Formen von Moralität und Religion. Geschlossene Moralen gibt es in begrenzten Gesellschaften, die nur die eigenen Mitglieder als ethische Gemeinschaft empfinden. Jenseits ihrer Grenzen sind Feinde lokalisiert, die meistens abgelehnt oder grimmig bekämpft werden. Geschlossene Gesellschaften beruhen auf dem Begriff der Pflicht. Durch Letztere werden die Mitglieder auf strenge Verhaltenskodizes eingeschworen. Wenn der verinnerlichte Zwang gut funktioniert, wird man an Insektenstaaten erinnert, wo alle Individuen im Dienste des Ganzen reagieren. Der Nachteil hiervon ist das Fehlen von Freiheit. Dazu kommt, dass der Zusammenhalt alle jene
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Kapitel • Henri Bergson
ausschließt, die unter die Kategorie des Fremden und Anderen fallen. Solche Moralität ist kein allzu hoher Wert. Daher propagierte Bergson eine offene Moral, die auf allgemeiner Menschlichkeit und Liebe beruht. Sie wurde in der Geschichte von großen Persönlichkeiten immer wieder geahnt und gepredigt. Sie sei suprarational und gehe aus einem Gefühl des Einsseins mit allem Lebendigen, speziell mit der Menschheit, hervor. Einen ähnlichen Dualismus gäbe es im Bereich der Religionen. Hier sprach der Philosoph von statischen und dynamischen Religionen. Die Ersteren sind Verteidigungsmaßnahmen des Menschen gegen den Tod und dienen ihrerseits der Aufrechterhaltung der geschlossenen Moral. Auch sie grenzen die Fremdgruppen aus und unterwerfen diese nicht selten der Verachtung oder Verfolgung. Weit höher stehen offene Religionen. In ihnen gehen Menschen vom Erlebnis der Intuition aus, die sie mit dem Kosmos als Totalität verbindet. Bergson sah in den offenen Religionen eine Religiosität der Lebensschwungkraft und ein Einswerden mit der spirituellen Energie am Werke, welche den Kosmos und das Lebendige hervorgebracht hat. Merkwürdigerweise erachtete Bergson vor allem die Mystiker der katholischen Kirche, mit denen er sich jahrelang beschäftigte, als die hauptsächlichen Bahnbrecher einer solchen universellen Verehrung von Göttlichkeit. Indem sich der Mystiker von der äußeren Wirklichkeit abwendet, spüre er die Gottheit, wobei das eigene Bewusstsein mit der Schöpfung harmonisch zusammenklinge. Man kann verstehen, dass nicht wenige Kritiker des Philosophen Die beiden Quellen der Moral und der Religion letztlich als Absage an die skeptische Vernunft und als Bekenntnis zum Katholizismus verstanden. Sir Karl Popper jedenfalls, der von Bergson immerhin die Terminologie der offenen und geschlossenen Gesellschaft übernahm, attestierte ihm in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1957) eklatanten Irrationalismus, der zu seinem, Poppers eigenem kritischen Rationalismus in entschiedenem Gegensatz stehe. Ähnlich distanziert urteilte Bertrand Russell in seiner Philosophie des Abendlandes (1950) über Bergson, dessen Weltbild er hohe poetische, dafür aber geringere philosophische Qualitäten bescheinigte.
Conclusio Blickt man beinahe ein Jahrhundert nach den bedeutenden Publikationen Bergsons auf dessen Lebenswerk zurück, fällt das Urteil zwiespältig aus. Der introvertierte Denker war gewiss kein Kämpfer, der sich ein Ringen mit dem Widerstand der stumpfen Welt zugetraut hätte. Eher finden sich bei ihm die Tendenzen von Ausgleich, Versöhnlichkeit und friedlicher Koexistenz. Staat, Kirche und gesellschaftliche Majorität wurden als Autoritäten von ihm jedenfalls nie radikal infrage gestellt, und selbst zu den Naturwissenschaften, die er im Hinblick auf ihre Ergebnisse wertschätzte, wegen ihres szientistischen Weltbildes jedoch kritisierte, versuchte er stets, (spirituelle) Brücken zu bauen. So ist es verständlich, dass Bergson in der bürgerlichen Welt wohl gelitten war und mit Ehrungen versehen wurde. Julien Benda zählte ihn folgerichtig zur Gruppe jener Intellektuellen, die zu Macht und Herrschaft zu wenig kritische Distanz entwickeln. Anders als Husserl hat Bergson keine Schule begründet, und sein Denken erfuhr keine systematische Weiterentwicklung. Allerdings haben immer wieder Dichter, Wissenschaftler und Philosophen (André Gide, Paul Valéry, Gabriel Marcel, Charles Péguy, Gaston Bachelard) betont, wie sehr sie von den Texten Bergsons und seiner sublim-poetischen Art des Philosophierens beeinflusst wurden. Wie gezeigt, lohnt die Beschäftigung mit Bergson immer noch, sobald man sich seinen Reflexionen zuwendet, die er im Hinblick auf anthropologisch relevante Themen angestellt hat. Seine Überlegungen zu Zeit, Gedächtnis, menschlicher Identität oder zum Lachen enthalten tief- und feinsinnige Erkenntnisse über die menschliche Existenz, die bis in eine klinisch-medizinische Ebene hinein genutzt werden können. Vor allem seine Spekulationen zur Zeitlichkeit des menschlichen Lebens und der gesamten Natur wirkten inspirierend. Sein Ausspruch bleibt gültig: »Überall, wo Leben ist, liegt ein Buch auf, worin sich die Zeit einschreibt.« Der Gedanke, dass die innerste Substanz unseres Daseins die Zeitlichkeit ist, hat im Existentialismus ebenso wie in der Anthropologie breite Wirkung entfaltet. Und Bergsons Einteilung in ein habituelles und reines Gedächtnis
Literatur
wird neuerdings sogar in den Neurowissenschaften als ernstzunehmendes Modell diskutiert (Squire u. Kandel 2009).
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Ernst Cassirer Biographisches – 32 Werkanalyse – 34 Conclusio – 41 Literatur – 42
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Ernst Cassirer
. Abb. 1 Ernst Cassirer (*1874; †1945). (Quelle: Wikipedia)
Die Biographie und das Werk Ernst Cassirers wurden von den epochalen Bedingungen und Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spürbar beeinflusst. Diese trugen wesentlich dazu bei, dass der Philosoph jahrzehntelang beinahe vergessen war. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es zu einer Cassirer-Renaissance, in deren Rahmen seine Texte zur Anthropologie in Philosophie, Psychologie und ansatzweise auch in der Medizin rezipiert wurden (. Abb. 1).
Biographisches Ernst Cassirer wurde 1874 in Breslau als viertes von insgesamt sieben Kindern geboren. Er entstammte einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie, die materiellen Reichtum und kulturelle Bildung zu verbinden wusste. Als 18-Jähriger immatrikulierte sich Cassirer 1892 in Berlin, wohin die Familie übergesiedelt war, zuerst für Rechtswissenschaften. Er sollte den Beruf seines Vaters weiterführen, der als Rechtsanwalt des Cassirer-Clans tätig war. Zur weitverzweigten Familie zählten unter anderem der Komponist und Musikwissenschaftler Fritz Cassirer (1871–1926), der Verleger Bruno Cassirer (1872–1941), die Neurologen Richard Cassirer (1868–1925) und Kurt Goldstein (1878–1965), der Galerist Paul Cassirer (1871–1926) sowie Toni Bondy, die einer Wiener Seitenlinie der Cassirers entstammte und später die Ehefrau des Philosophen wurde. Bald nach dem Studienbeginn wechselte Cassirer zur Philosophie und Literaturwissenschaft. In Leipzig hörte er den Psychologen Wilhelm Wundt, und auch in Heidelberg und Münster war er für
kurze Zeit immatrikuliert. 1894 kehrte er nach Berlin zurück, wo er in einer Vorlesung von Georg Simmel über Immanuel Kant auf Hermann Cohen (1842–1918) aufmerksam gemacht wurde. Cohen zählte neben Paul Natorp (1854–1924) zur Marburger Schule des Neukantianismus. Zusammen mit der Südwestdeutschen Schule, der Wilhelm Windelband (1848–1915) und Heinrich Rickert (1863–1936) angehörten, war die Marburger Schule bestrebt, die Philosophie Kants weiterzuentwickeln. Insbesondere die Verknüpfung von Empirie und philosophischer Spekulation, die bei Kant noch gegeben und im deutschen Idealismus ins Hintertreffen geraten war, wollten die Neukantianer neu beleben. Cassirer ging 1896 nach Marburg und wurde zum Lieblingsschüler Cohens. Sein großer Fleiß, seine außergewöhnliche Arbeitsfähigkeit und sein scharfer Verstand ließen ihn als frühreifen Denker erscheinen, der von den Kommilitonen als Olympier bezeichnet wurde. 1899 wurde er mit einer Arbeit über die Erkenntnistheorie Descartes’ promoviert, welche das seltene Prädikat »opus eximium« erhielt. Die Dissertation bildete einen Teil des ersten Buches von Cassirer, das er 1902 unter dem Titel Leibniz‘ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen veröffentlichte, und womit er ein Preisausschreiben der Berliner Akademie der Wissenschaften gewann. Nach der Fertigstellung dieses Manuskripts versuchte er, sich zuerst in Berlin, dann in Straßburg und im selben Jahr noch in Göttingen zu habilitieren. Doch diese Versuche schlugen fehl – vor allem wohl, weil Cassirer als Meisterschüler Cohens galt, der wie er selbst jüdischer Abstammung war. Auf die vergeblichen Habilitationsversuche reagierte Cassirer mit großer Produktivität und erhöhte noch sein Arbeitspensum; das Resultat waren die vier voluminösen Bände über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, die in den Jahren 1906, 1907, 1920 und postum 1950/57 erschienen, und in denen Cassirer seine bei Cohen begonnenen Studien auf eindrückliche Art ausweitete. Auch die private Situation des Philosophen veränderte sich damals grundlegend. Um 1900 hatten sich die Kontakte Cassirers zu seiner neun Jahre
Biographisches
jüngeren Wiener Cousine Toni Bondy intensiviert; nachdem sich eine Liebesbeziehung entspann, heirateten die beiden 1902. Die Ehe mit Toni stellte sich als glückliche Wahl heraus. Dem Paar wurden die Kinder Heinz, Georg und Anne geboren. In ihrem Buch Mein Leben mit Ernst Cassirer (1981) hat Toni Cassirer später ein einfühlsames und plastisches Porträt ihres Gatten vorgelegt. Die Cassirers zogen 1903 nach Berlin, wo sie bis 1919 lebten. 1906 legte der junge Denker den ersten Band von Das Erkenntnisproblem vor, womit er erneut den Versuch einer Habilitation wagte. Es bedurfte letztlich der ganzen Autorität des greisen Wilhelm Dilthey, um den Habilitanden an dieser akademischen Hürde nicht scheitern zu lassen. In den Jahren danach folgten die drei weiteren Bände über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, in denen der Autor die Probleme der Erkenntnistheorie von der Renaissance bis in die Neuzeit auf imposante Weise erörterte. 1916 veröffentlichte Cassirer das Buch Freiheit und Form – Studien zur deutschen Geistesgeschichte, worin ihm keine nur deutsche, sondern eine europäische und weltbürgerliche Kultur als Ideal vorschwebte. Als prototypischen Vertreter einer derartigen Geisteshaltung verwies er häufig auf Goethe, dem er in Freiheit und Form ein umfangreiches Kapitel widmete. 1918 folgte die Publikation von Kants Leben und Lehre. Diesen Text kann man als Rekapitulation der bis dahin erfolgten Entwicklung des Autors als Philosoph lesen. Nach dem Ersten Weltkrieg, bei dem Cassirer (er war aufgrund einer Hauterkrankung vom aktiven Kriegsdienst befreit) anders als viele Intellektuelle und Gelehrte nicht vom chauvinistischen und militaristischen Fieber angesteckt war, übersiedelte er nach Hamburg, wo er an der neu gegründeten Universität eine Professur erhielt. In der Hansestadt reifte Cassirers Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen, das er in drei Bänden ausarbeitete (publiziert 1923, 1925 und 1929). Entscheidende Anregungen dafür erhielt er im Umkreis von Aby Warburg, der mit seiner Bibliothek zum Mittelpunkt eines Intellektuellenzirkels von Rang geworden war. Neben Cassirer trafen sich bei ihm der Altertumsforscher Gustav Pauli, der Kunstgeschichtler Erwin Panofsky, der
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Orientalist Hellmut Ritter, die klassischen Philologen Bruno Snell und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, der Romanist Ernst Robert Curtius, der Religionsphilosoph Paul Tillich und der Talmudgelehrte Gershom Scholem. Cassirer profitierte enorm sowohl von der Bibliothek als auch von den dort Forschenden. Ihm wurde bewusst, wie sehr Kultur weit mehr als nur philosophische Problemstellungen umfasst. Mythos, Religion, Technik, Sitten und Bräuche gehören ebenso dazu wie Wissenschaft und Kunst. Will man den Menschen und seine Welt umfänglich verstehen, muss man diese Phänomene seines Daseins angemessen berücksichtigen. In den Jahren vor 1933 gelangen Cassirer noch zwei gewichtige Publikationen, in denen er seinen eigenen weltanschaulichen Standpunkt erläuterte: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) sowie Die Philosophie der Aufklärung (1932). Beide Bücher stellten für den Denker eine Art Selbstvergewisserung dar, die er als dringend notwendig erlebte, weil damals der Antisemitismus und damit auch die aggressiven Anwürfe gegen seine Person und Philosophie bedrohlicher und die totalitären Töne immer lauter wurden. 1933 emigrierten die Cassirers zuerst nach Zürich, dann nach Wien und schließlich nach Oxford, wo der Philosoph eine Dozentur am All Souls College erhielt. 1935 bekam er einen Ruf als Professor für Philosophie an die Högskola zu Göteborg, den er gerne annahm. An dieser Hochschule waren etwa 380 Studenten inskribiert; Cassirer hatte deshalb oftmals nur wenige Zuhörer. Dennoch hielt er unbekümmert bis 1940 regelmäßig Vorlesungen und Seminare, meist über Themen der Kulturphilosophie oder philosophischen Anthropologie. 1936 machten sich bei Cassirer ernsthafte Gesundheitsprobleme bemerkbar. Er erlitt eine Herzattacke, und außerdem stellte man bei ihm eine Zuckerkrankheit fest. In Toni Cassirers Mein Leben mit Ernst Cassirer kann man nachlesen, wie große Mühe der Philosoph damit hatte, seine Krankheiten diagnostizieren und behandeln zu lassen. Er hatte sein Leben bevorzugt in der geistigen Sphäre angesiedelt, und seine Beziehung zum eigenen Körper war distanziert. Dazu passt, dass er trotz massiv erhöhter Zuckerwerte noch Vorträge hielt, bis er beinahe komatös wurde.
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Kapitel • Ernst Cassirer
Wie energisch sich Cassirer in fremde Kulturen einzuarbeiten verstand, bewies er eindrücklich in Göteborg und später dann noch einmal in den USA. Er erlernte trotz mancher Schwierigkeiten die schwedische Sprache und wandte sich intensiv der skandinavischen Geistes- und Kulturgeschichte wie auch der zeitgenössischen Philosophie des Landes zu. So publizierte er Axel Hägerström – Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart (1939), in der er sich mit dem damals wichtigsten schwedischen Philosophen auseinandersetzte. Ebenfalls 1939 veröffentlichte Cassirer seine Untersuchung über Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, die bald darauf auch in französischer Sprache erschien. Mit Descartes hatte der Philosoph eine Thematik gewählt, von der sich seine Gastgeber ebenfalls angesprochen fühlten – hatte doch der französische Denker das letzte Jahr seines Lebens auf eine Einladung der schwedischen Königin Christina hin in Stockholm zugebracht. Wie produktiv Cassirer in Schweden war, lässt sich auch an den fünf Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) ablesen. Diese Studien dürfen als wichtiges Bindeglied zwischen der Philosophie der symbolischen Formen und dem Essay on Man (Versuch über den Menschen) angesehen werden, der 1944 in den USA erschien, wohin der Philosoph 1941 emigrierte. Das letztere Buch markierte den Durchbruch Cassirers als Anthropologe. Im Mai 1941 verließ das Ehepaar Cassirer Europa und floh weiter in die USA. Der Verlauf des Zweiten Weltkrieges und die deutsche Expansionspolitik, welcher die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Finnland bereits zum Opfer gefallen waren, ließen die Entscheidung, das Exilland neuerlich zu wechseln, als verständlich und vernünftig erscheinen. In New Haven bekleidete der Philosoph an der Yale University vorerst eine Gastprofessur. Er hielt Seminare und Vorlesungen über Immanuel Kant, Erkenntnistheorie und Ästhetik ab. Darüber hinaus arbeitete er an neuen Buchprojekten, wobei vor allem die beiden Texte An Essay on Man (1944) und Myth of the State (postum 1946) gesondert hervorgehoben zu werden verdienen. In New York traf er auf alte Bekannte wie Erwin Panofsky, Paul Tillich und Kurt Goldstein, die schon einige Zeit vorher vor dem Nationalso-
zialismus geflohen waren. Daneben wurde er mit Susanne Langer bekannt, die als Meisterschülerin des Denkers und Fortsetzerin seines Lebenswerks gilt. Es erfolgte dann ein nochmaliger Wechsel des Wohn- und Arbeitsbereiches Cassirers, der ab Mitte 1944 eine Gastprofessur an der Columbia University in New York wahrnahm. Trotz der äußerlichen Adaptation an die neuen Verhältnisse litt Cassirer innerlich unter dem Verlust seiner Heimat. Manchmal, so Toni Cassirer, behalf er sich mit sarkastisch klingenden Bemerkungen. Als bei einigen Exilierten die Idee entstand, von Amerika aus den zukünftigen Wiederaufbau Deutschlands zu unterstützen und die Schulen dort neu zu gestalten, soll der Philosoph trocken angemerkt haben: »Es kommt gar nicht darauf an, dass die Deutschen jetzt viel lernen; es kommt darauf an, dass sie viel verlernen.« Mit dem Faschismus hat sich Cassirer ausführlich in seinem Buch The Myth of the State (Der Mythus des Staates) auseinandergesetzt, das 1946 postum publiziert wurde. Eine zentrale These darin lautet, dass der Nationalsozialismus als Fusion mythologischen und technizistischen Denkens und Erlebens zu verstehen ist. Der Rückfall in die Barbarei sei unter anderem als Rückgriff auf primitivaggressive Mythen möglich geworden. Im Frühjahr 1945, kurz nach der Publikation seiner letzten Schrift über Rousseau, Kant, Goethe (1945), erlitt Cassirer ein akutes Herzversagen. Der Philosoph starb einen Tag nach Roosevelts Tod, der ihn heftig erschütterte, da er den Präsidenten als Repräsentanten einer besseren und humaneren Zukunft empfunden hatte.
Werkanalyse Wie sehr Cassirer in der letzten Zeit wieder in den Fokus eines wissenschaftlich-philosophischen Interesses geriet, wird an einer Reihe von neu erschienenen Monographien über den Denker sowie an der Tatsache ersichtlich, dass der Meiner-Verlag in Hamburg seit Kurzem die Werke des Philosophen in 26 Bänden und seinen Nachlass in weiteren 18 Bänden komplett ediert – eine verlegerische Unternehmung, die erst in einigen Jahren abgeschlossen sein wird.
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Werkanalyse
Bei der Erörterung von Cassirers Beiträgen und Anregungen zur medizinisch-philosophischen Anthropologie wird hier bevorzugt Bezug genommen auf die drei Bände Philosophie der symbolischen Formen, auf das Buch Versuch über den Menschen und auf die Nachlassbände Metaphysik der symbolischen Formen (1995) und Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie (2005) sowie auf den Band Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel (2009). z
Philosophie der symbolischen Formen
Das Leben und Werk Cassirers kann als überzeugendes Beispiel dafür angesehen werden, wie sehr sich Medizin und Philosophie bei günstigen Bedingungen gegenseitig anzuregen vermögen. Im konkreten Fall waren dafür die verwandt- und freundschaftliche Beziehung zwischen Cassirer und Goldstein, aber auch deren gemeinsame wissenschaftlich-philosophische Fragestellungen (z. B. hinsichtlich Symbol und Sprache) förderlich und hilfreich. So ist bekannt, dass Cassirer in den 20er Jahren enge Kontakte mit seinem Cousin Kurt Goldstein unterhielt, der als Neurologe in Frankfurt am Main tätig war und Patienten mit Gehirnverletzungen betreute. Die klinischen Erfahrungen seines Vetters nutzte Cassirer, um seine philosophischen Überlegungen zu Symbol- und Sprachgebrauch mit der konkreten Wirklichkeit abzugleichen. Ausgehend von neurologischen Krankheitsbildern formulierte Cassirer interessante Theorien zum Verlust von Symbolverständnis, die in die Philosophie der symbolischen Formen Eingang gefunden haben. Was aber sind Symbole, und was versteht man unter Philosophie der symbolischen Formen? Cassirer ging bei der Beantwortung dieser Fragen von der Unterscheidung zwischen Zeichen und Symbol aus. Er beschrieb den Menschen als ein Wesen, das schon seit Jahrtausenden für Existenz- und Kulturbereiche originelle Formen des Ausdrucks und der Verständigung geschaffen hat. Tiere können lediglich auf festgelegte Repertoires von Zeichen als Ausdrucksmöglichkeiten zurückgreifen. Menschen hingegen verfügen neben Zeichen auch über die Fähigkeit, mittels Symbolen einen Kosmos von Werten, Bedeutungen und Sinnzusammenhängen zu benennen, neu zu schaffen,
sich darüber zu verständigen und dadurch auch sich selbst besser zu verstehen. Die Bedeutungsvariationen von Symbolen unterscheiden sich von denen der Zeichen. Die Kommunikation von Tieren ist an Zeichen geknüpft, deren Mitteilungsgehalt mehr oder minder gleich bleibt. Die Duftmarke etwa, mit der ein Tier sein Revier markiert, wird von anderen Tieren stets als eindeutiges Zeichen wahrgenommen und beantwortet. Tiere leben in einer Umwelt, die durch Merken und Wirken (Johann Jakob von Uexküll), »challenge and response« charakterisiert ist. Menschen hingegen existieren in einer Welt der Natur und der Kultur, wobei Letztere durch eine unüberschaubare Menge an Symbolen ausgezeichnet ist. Symbole sind »sinnlich« wahrnehmbare Gegenstände, die zugleich »sinnhaft« sind. Anders als bloße Zeichen tragen sie ein Potential an Sinn und Bedeutung in und an sich, das je nach individuellen und kollektiven Gegebenheiten immer wieder verschieden ausgeschöpft wird. Ein Wort, ein Bild, eine Melodie, eine Strukturformel oder eine mathematische Gleichung werden je nach Epoche, Landstrich oder Bildungsstand von Einzelnen unterschiedlich interpretiert und mit Sinn versehen. Die Kultur als Gesamtheit von Symbolbereichen (z. B. von Kunst, Wissenschaften, Philosophie, Sitte, Recht, Mythos, Religion) bildet ein unermessliches Reservoir von Sinn und Bedeutung, das laufend erweitert wird, da Menschen immer wieder neue Symbole schaffen und damit ihre Sinn- und Werthorizonte ausweiten. Je weltoffener der Einzelne lebt, umso mehr Zugang verschafft er sich zu Symbolbereichen, und umso heimatlicher fühlt er sich in der ihn umgebenden Kultur. Eindrücklich lassen sich die Eigentümlichkeiten und Qualitäten von Symbolen an der menschlichen Sprache demonstrieren. Cassirer schätzte den Stellenwert dieses Symbolbereichs besonders hoch und widmete den ersten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen gänzlich der Thematik von Sprache, Sprachentstehung und Spracherwerb:
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So zeigt etwa der Prozess der Sprachbildung, wie das Chaos der unmittelbaren Eindrücke sich für uns erst dadurch lichtet und gliedert, dass wir es benennen und es dadurch mit der Funktion des
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sprachlichen Denkens und des sprachlichen Ausdrucks durchdringen … So wird die Sprache zu einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht (Cassirer 1988, S. 20).
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Sprachliche Symbole ermöglichen den Kontakt zwischen den Menschen sowie zwischen dem Einzelnen (personaler Geist) und der Kultur (objektiver Geist). Darüber hinaus kommen in ihnen die Sphären der Subjektivität und Objektivität zu einem Ausgleich. Aufgrund der großen Wandlungsfähigkeit gesprochener Sprachen ist eine stete Veränderung des Symbol- und Kulturbereiches Sprache zu beobachten. Die Sprache erlaubt den Aufbau einer geistigkulturellen Welt, die durch Distanz und Differenz zum Sprechenden hin ausgezeichnet ist und diesem die Entwicklung eines Innenraums mit eigenem Denken, Fühlen und Wollen sowie eigenen Freiheitsgraden ermöglicht. Der sprechende, fühlende und denkende Mensch emanzipiert sich von den Verhältnissen und Dingen und gebraucht Worte für die Charakterisierung seines Ich. Er ist nicht mehr wie das Tier vollständig in den Zirkel von Merken und Wirken eingespannt – zwischen Reiz und Reaktion schieben sich bei ihm Reflexion, Phantasie, Erinnerung und Entwurf, also jene Formen des Symbolgebrauchs, die ihn zu einem geistigen, vernunftbegabten und kulturellen Wesen machen. Im zweiten Band von Philosophie der symbolischen Formen ging Cassirer den Fragen nach, wie Menschen früherer Kulturstufen mit Hilfe von Mythen Anschauungen von Welt und eigener Existenz gewonnen haben, und inwiefern der Mythos daher ebenso wie Sprache, Kunst und Wissenschaft als symbolische Form begriffen werden kann. Dabei formulierte Cassirer die These, dass der Mythos den Mutterboden aller symbolischen Formen darstellt; an ihm können Entstehung, Wesen und Dynamik des Symbolischen gut demonstriert werden. Im Mythos sind Dinge, Naturereignisse oder Individuen noch nicht als Einheiten oder Vielheiten geschieden. Die Gegensätze zwischen Leben und Tod, Sein und Schein, Ich und Nicht-Ich, Vorstellung und Realität existieren für die Menschen im mythologischen Empfinden und Begreifen der
Welt kaum, und eine Scheidung von Innen und Außen, wesentlich und unwesentlich, von Dauerndem und Vergänglichem wird von ihnen nur rudimentär vorgenommen. Im mythologischen Erleben spielten die Beziehungen der Einzelnen oder eines Clans zum Heiligen und zu den Göttern eine gewichtige Rolle. Das Heilige galt in frühen Formen des Mythos als das Dämonische, dessen bunte Mannigfaltigkeit nur geringe Organisation aufwies. Je weniger das Dämonische organisiert war, umso hilfloser und ohnmächtiger erlebten sich die ihm ausgelieferten Menschen, und umso größer musste die magische Gewalt sein, die Gruppen oder Individuen aufzubringen hatten, um Dämonen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Phänomene, für deren Ursprung man Dämonen verantwortlich machte, waren etwa der Tod sowie Krankheiten aller Art. Ihnen gegenüber fühlten sich die Menschen ausgesprochen unterlegen:
» Das Ich sucht kraft der magischen Allgewalt des Willens die Dinge zu ergreifen und sie sich gefügig zu machen; aber eben in diesem Versuch zeigt es sich von ihnen noch völlig beherrscht, noch völlig besessen (Cassirer 1987, S. 188).
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Unter der Überschrift Die Dialektik des mythischen Bewusstseins erörterte Cassirer den nächsten Entwicklungsschritt der symbolischen Formen, den weite Teile der Menschheit in ihrer Zivilisationsund Kulturgeschichte durchlebten: die Religion. Wiewohl Religionen noch Elemente mythologischen Denkens und Erlebens in sich tragen, zeichnet sie zugleich ein mythenkritischer Zug aus. Statt der »Ausdrucksfunktion« von Dingen, Bildern und Metaphern (in den Mythen) trifft man bei Religionen auf die »Darstellungsfunktion« von Begriffen (heilige Schriften). Cassirer erwähnte darüber hinaus noch die »Bedeutungsfunktion«, die vor allem die nächste Stufe der Kulturentwicklung kennzeichnet. Darunter verstand er symbolische Formen, die von einem hohen Grad an Abstraktion, Freiheit, Differenz und Veränderbarkeit charakterisiert sind. Wissenschaft und Philosophie zum Beispiel greifen auf Symbole zurück, die in fast losgelöster Beziehung zu den bezeichneten Sachverhalten in einer funktiona-
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Werkanalyse
len Reihe angeordnet sind. Der Bedeutungs- und Wahrheitsgehalt, welcher den einzelnen Symbolen zukommt, wird dabei permanent neu verhandelt und unterliegt dauerndem Wandel. Mit der Unterscheidung in Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion der symbolischen Formen sind wir beim dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen angelangt, den Cassirer 1929 veröffentlichte. In diesem Band beschäftigte er sich mit den Phänomenen der intuitiven Wahrnehmung von Atmosphären und Stimmungen sowie mit den Themen ungewöhnlichen oder krankhaften Symbolwahrnehmens und -verstehens. Bei letzteren Fragestellungen griff er auf die klinischen Forschungsergebnisse seines Cousins Kurt Goldstein zurück. Goldstein hatte die überraschende Feststellung gemacht, dass seine Patienten weniger Defizite aufwiesen oder aber dieselben rascher überwanden, als man es bei der Größe und der Lokalisation ihrer neurologischen Defekte erwarten durfte. Dies ließ ihn die Theorie von der funktionellen statt der lokalen Organisation des Gehirns formulieren, die er in den 1930er Jahren zu seinem Opus magnum Der Aufbau des Organismus (1934) erweiterte. Die Beobachtungen Goldsteins bedeuteten für Cassirer eine reizvolle Anregung, seine Ideen über Symbolbewusstsein und -wahrnehmung in praxi zu überprüfen. Dabei gelang es ihm, neuropathologische Phänomene wie Aphasie, Apraxie und Agnosie jeweils als Unfähigkeit der Patienten einzuordnen, die Symbole in ihren vielfältigen Dimensionen richtig zu verstehen. Bei der Aphasie kann der Kranke Worte, die er eigentlich kennt, nicht situationsadäquat einsetzen. Die Apraxie ist charakterisiert durch die Unfähigkeit der Patienten, Handlungen vollständig auszuführen, wenn sie keine konkreten Materialien zur Hand haben, die ihnen als Handlungsanweisung dienen. Und bei der Agnosie kann der Betreffende zwar die Oberflächen seiner Umgebung regelrecht wahrnehmen und beschreiben, es gelingt ihm aber nicht, den Sinn und die Tiefendimension der Dinge und Sachverhalte zu benennen. Diese Mängel im Umgang mit Symbolen hat Cassirer im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen ausführlich erörtert. Ausgehend von seinen Beobachtungen bei neurologisch
Kranken schlug er eine Unterscheidung des Symbolgebrauchs in kategorial (abstrakt) und konkret vor. Diese Unterscheidung wurde später von Psychiatern in Bezug auf schizophren Erkrankte verwendet, um Defizite dieser Patienten zu charakterisieren. So sind manche von ihnen zum Beispiel in der Lage, Messer und Gabel sinnvoll zu gebrauchen und als solche zu benennen (konkretes Symbolverständnis). Bittet man sie jedoch, »Besteck« (abstrakter Begriff ) auf den Tisch zu legen, kann es passieren, dass sie diesen Begriff nicht mit konkreten Vorstellungen verbinden und daher nicht adäquat reagieren. Ihr Umgang mit Symbolen ist – ähnlich wie bei Kulturen mit vorrangig mythologischer Ausrichtung – konkretistischer Natur, und je höher der von ihnen geforderte Abstraktionsgrad, umso größer sind ihre Schwierigkeiten des Symbolverstehens. z
Versuch über den Menschen
Dieses Buch wurde 1944 zuerst in englischer Sprache unter dem Titel An Essay on Man – An Introduction to a Philosophy of Human Culture publiziert. Wir beziehen uns auf die deutsche Übersetzung Versuch über den Menschen – Einführung in eine Philosophie der Kultur (1990). Aufgrund seiner eleganten Sprache und konzisen Gedankenführung ist dieser Text inzwischen zu einem der beliebtesten und bekanntesten Bücher Cassirers geworden. Im Versuch über den Menschen fasste der Autor seine Thesen und Forschungsergebnisse der 20er und 30er Jahre im Hinblick auf den Symbolgebrauch zusammen. Dabei ergänzte er seine Überlegungen um anthropologische Problemstellungen und griff damit die kantische Frage nach dem »Was ist der Mensch?« auf. Schon in Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) hatte der Autor einige Anläufe unternommen, die Philosophie der symbolischen Formen auf die Anthropologie hin auszuweiten. So bezeichnete er die einzelnen symbolischen Formen als »Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden« (Cassirer 1971, S. 25). Durch das Reich der Symbole, welche der Mensch erfindet, versteht, erweitert und verändert, emanzipiert er sich von den Dingen und
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der Natur und lebt nicht mehr, wie dies in der Theoretischen Biologie (1928) Johann Jakob von Uexkülls für die Tiere erläutert wurde, in einer instinktgesteuerten Merk- und Wirkwelt. Der Mensch wird zu einem Wesen der Distanz und Ferne, welche die Grundlage für die Entwicklung von Geist und den Aufbau der Kultur bedeuten. Mithilfe der Symbole erobert er sich Möglichkeiten distanzierender Reflexion und befreiender Imagination. Damit löst sich der Mensch von der Dominanz des momentanen Existierens; er ist nicht mehr »kurz angepflockt an den Pflock des Augenblicks« (Nietzsche), sondern kann weit in die Vergangenheit zurück- und in die Zukunft vorausgreifen. Die Symbole und der Symbolgebrauch machen den Menschen unter anderem zu einem geschichtlichen Wesen, dessen Identität mit den Ergebnissen seines Geschichtssinns und der Historiographie eng verwoben ist:
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Geschichtswissenschaft ist nicht Erkenntnis äußerer Fakten oder Ereignisse; sie ist eine Form der Selbsterkenntnis. Wenn ich mich selbst erkennen will, darf ich nicht über mich hinweggehen, darf ich nicht über meinen eigenen Schatten springen … In der Geschichte kehrt der Mensch ständig zu sich selbst zurück; er versucht, seine gesamte Erfahrung der Vergangenheit in die Erinnerung zu heben und zu aktualisieren (Cassirer 1990b, S. 291).
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Des Weiteren stellen Individuen über die symbolischen Formen eine neue und im Vergleich zu Tieren andersgeartete Nähe zur Welt und zu den Mitmenschen her. Jeder verstehende Umgang mit Symbolen verbindet sie mit dem darin ausgedrückten und angedeuteten Sinn. Damit festigen und erweitern sie das kommunikative Fundament, auf dem sich das menschliche Dasein abspielt. Im Versuch über den Menschen heißt es dazu:
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Die Philosophie der symbolischen Formen geht von der Voraussetzung aus, dass, wenn es überhaupt eine Definition des »Wesens« oder der »Natur« des Menschen gibt, diese Definition nur als funktionale, nicht als substantielle verstanden werden kann … Das Eigentümliche des Menschen, das, was ihn wirklich auszeichnet, ist nicht seine
metaphysische oder physische Natur, sondern sein Wirken. Dieses Wirken, das System menschlicher Tätigkeiten, definiert und bestimmt die Sphäre des »Menschseins« (Cassirer 1990b, S. 110).
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Sucht man nach einer Formel, die auf das Wirken des Menschen abzielt und Spielarten dieses Wirkens berücksichtigt, stößt man laut Cassirer auf die von ihm erläuterten Symbole und symbolischen Formen. Der Mensch ist ein »animal symbolicum«, ein Symbole schaffendes und Symbole verstehendes Lebewesen, dessen Dasein maßgeblich durch die symbolhafte Gestaltung der Beziehungen zur Welt (Es), zum anderen (Du) und zu sich selbst (Ich) charakterisiert ist. Ich, Du und Es wurden von Cassirer als Basisphänomene angesehen. Bezug nehmend auf Goethes Gedicht Urworte – Orphisch (1820) und auf dessen Maximen und Reflexionen ordnete der Philosoph dem Ich das Leben, dem Du das Wirken und dem Es die Tat respektive das Werk zu. Leben, Wirken und Werk seien nicht weiter ableitbare Urphänomene, wobei man diese nicht als einzelne, wahrnehmbare Gegenstände, sondern eher als Medien oder Seinsweisen auffassen müsse, welche dem Menschen den Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen:
» Basisphänomene vermitteln uns nicht ein äußerlich Seiendes, das wir mittelbar mühselig »in unseren Kreis hineinziehen« müssen. Sie sind der Blick, den wir auf die Welt werfen – sozusagen das Auge, das wir aufschlagen. In diesem ersten Augenaufschlag erschließt sich uns das Phänomen »Wirklichkeit« (Cassirer 1995, S. 132f.).
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Im zweiten Teil von Versuch über den Menschen wird die Formel vom »animal symbolicum« auf ihre generelle Anwendbarkeit hin untersucht. Cassirer griff auf seine Einteilung aus der Philosophie der symbolischen Formen zurück und zeigte, inwiefern sich der Mensch im Bereich von Sprache, Mythos, Religion, aber auch von Kunst, Wissenschaft und Geschichte immer schon als Symbole schaffendes Lebewesen erwiesen hat und als solches seine soziale und kulturelle Welt gestaltet. So beschrieb der Autor die Möglichkeiten diverser Wissenschaften, dem Menschen die Gewiss-
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Werkanalyse
heit einer konstanten Welt zu vermitteln; der Wahrnehmungs-, Einordnungs- und Beurteilungsprozess der Welt erfahre durch sie eine Konsolidierung und Stabilisierung. Mittels der Wissenschaften entwickelte die Menschheit im Vergleich zu ihren mythologischen oder religiösen Kulturstufen ein neues Niveau und eine andere Idee von Wahrheit, und mit Hilfe der wissenschaftlichen Terminologie schuf sie sich ein Instrumentarium der Ordnung und Übersicht, das seinesgleichen sucht. Cassirer zitierte mit Zustimmung den Botaniker Carl von Linné, der meinte: »Wenn man die Namen nicht kennt, misslingt auch die Erkenntnis der Dinge.« Eine verlässliche Terminologie und Theorie lässt aus dem Wahrnehmbaren das Begreifbare und allfällige Verstehensprozesse erwachsen. Geht es im Bereich der Wissenschaft um Wahrheit, so geht es im Bereich der Kunst um Schönheit. Selbst wenn Schönheit stets Wahrheit ist, ist Wahrheit nicht notwendigerweise auch Schönheit. Um hohe und höchste Schönheit zu erzielen, ist die Abweichung von der Natur ebenso wesentlich wie ihre Nachbildung. Der Philosoph kam an dieser Stelle seiner Ausführungen einem Gedanken des Malers Paul Klee nahe, der seine Arbeit unter dem Motto verstanden wissen wollte: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« Kunst relativiert die nicht selten vorhandene Eindimensionalität der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Kant verkündete einst, die Mathematik sei der Stolz der menschlichen Vernunft, wobei die Menschheit für diesen Stolz einen hohen Preis an Abstraktion und teilweise an Verarmung der Welt zu entrichten hatte. Cassirer pflichtete Kant einerseits bei und sah andererseits in der Kunst eine Möglichkeit, die Fesseln einer alleinigen wissenschaftlichen Sicht der Welt zu sprengen:
anderen … Heraklits Ausspruch, die Sonne sei neu an jedem Tage, trifft für die Sonne des Künstlers gewiss zu, obwohl nicht für diejenige des Naturwissenschaftlers (Cassirer 1990b, S. 222).
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Die Kulturgeschichte beschrieb Cassirer als einen Prozess fortschreitender Selbstaufklärung und Emanzipation des Menschen. Sprache, Kunst, Mythos, Religion und Wissenschaft bildeten ihm zufolge unterschiedliche Phasen in diesem Prozess. In allen diesen Symbolbereichen entdeckten Menschen ihre Kraft und Fähigkeit, eine ideelle Welt zu errichten und damit die Bedrängnisse und Begrenzungen der Wirklichkeit zumindest gedanklich, manchmal aber auch real zu überschreiten. Einer Philosophie der symbolischen Formen fällt nach Cassirer bei diesem Prozess die Aufgabe zu, die grundlegende Einheit einer ideellen Welt aufzuspüren. Dabei darf sie jedoch die Spannungen und Reibungen, Kontraste und Konflikte zwischen den verschiedenen Kräften innerhalb des Menschen, der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen sowie der jeweiligen Symbolbereiche nicht übersehen. Alle ihre Funktionen ergänzen einander, eröffnen Horizonte und zeigen jeweils andere Aspekte von Kosmos, Leben und Kultur:
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Denn diese Philosophie sucht die Ganzheit der perspektivischen Ansichten, in denen sich uns Wirklichkeit erschließt – sie entscheidet nicht von vornherein über ihren Realitätscharakter, sondern sucht jede »Sicht« nach ihren eigenen Normen zu verstehen. Jede Form der »Sicht« trägt den Maßstab ihrer Realität in sich – wir müssen diesen Maßstab erst finden und verstehen lernen – so Sprache, Mythos, Wissenschaft (Cassirer 1995, S. 229f.).
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» Die Formen der Dinge, so wie sie in wissenschaftlichen Konzepten dargestellt werden, geraten mehr und mehr zu bloßen Formeln … Es scheint, als sei die Wirklichkeit unseren wissenschaftlichen Abstraktionen nicht nur zugänglich, sondern als würde sie auch von ihnen ausgeschöpft und geleert. Doch das erweist sich als Täuschung, sobald wir uns der Kunst zuwenden. Denn die Ansichten der Dinge sind zahllos, und sie verändern sich von einem Augenblick zum
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Der Mythus des Staates
Dass sich der Mensch, dieses »animal symbolicum«, im Laufe seiner Geschichte nicht auf einem geradlinigen Weg hin zu einem immer höheren Niveau von Geistigkeit, Vernunft, Humanität und Freiheit bewegt, verdeutlichte Cassirer in seiner letzten Buchpublikation Mythus des Staates – Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1946).
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Kapitel • Ernst Cassirer
Darin unternahm er den Versuch, die Gräueltaten des Nationalsozialismus ebenso wie die für viele Deutsche von ihm ausgehende Faszination mit Hilfe der Philosophie der symbolischen Formen verstehend einzuordnen. Cassirer war von Hause aus kein politischer Mensch, und es bedurfte massiver Erschütterungen (Vertreibung, Exil, Holocaust, Weltkrieg), um ihn zu der weit ausholenden politisch-philosophischen Abhandlung Mythus des Staates zu bewegen. Die zentrale These dieses Buches lautet, dass der Faschismus vor dem Hintergrund einer heillosen Fusion der Symbolbereiche Mythos und Technik entstanden ist. Der Autor benannte eine Reihe von Vertretern der europäischen Kulturtradition, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einem mythologisch-irrationalen Denken und Fühlen den Weg bereiteten: Thomas Carlyle mit der Inthronisation des mythologisch befrachteten Bildes vom Helden, Graf Gobineau und Houston Stewart Chamberlain mit ihrer Idee von der geschichtsträchtigen Kraft der (arischen) Rasse, Oswald Spengler mit der Prophezeiung vom Untergang des Abendlandes oder Martin Heidegger mit seinem Aufruf, sich dem dunklen Drama und der raunenden Tiefe eines angeblich wahrhaft existentialistischen Lebens hinzugeben. Neben der Tradition mythologischer Inhalte sowie der reduzierten Kritikfähigkeit vieler deutscher Intellektueller benannte Cassirer weitere Faktoren, welche die faschistische Katastrophe mit ermöglichten. So erlebte nach dem Ersten Weltkrieg die Nachrichtentechnik in Europa eine fulminante Entwicklung. Diese bildete die Grundlage für das gigantische Propagandaszenario, das von den Nationalsozialisten schon vor 1933 in Gang gesetzt worden war, und das dazu führte, bestimmte Bilder, Namen und Mythen schlagartig in ganz Deutschland publik zu machen. Einzelne wie Kollektive greifen bevorzugt in Zeiten von Krisen und historisch-gesellschaftlichen Notlagen auf mythologische Weltanschauungen zurück. Wenn entsprechende Abwehr- und Kompensationsmöglichkeiten der Betreffenden erschöpft und rationale Kalküle an ihre Grenzen gekommen sind, suchen Menschen in Magie, Riten und Beschwörungsformeln billige Lösungen:
» In verzweifelten Lagen will der Mensch immer Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen – und die politischen Mythen unserer Tage sind solche verzweifelten Mittel gewesen. Wenn die Vernunft uns im Stiche gelassen hat, bleibt immer die ultima ratio, die Macht des Wunderbaren und Mysteriösen (Cassirer 1985, S. 363).
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Der Faschismus und seine Führer wurden von vielen als Personifizierung ihrer Wünsche und Sehnsüchte nach Allmacht, Unverwundbarkeit, historischer Bedeutung sowie ungebremster Expansion verstanden. Hitler, Mussolini und Franco verkörperten kollektive Größenphantasien der Majorität und ließen sich ähnlich wie Gottheiten, Heilige oder Heroen als Projektionsflächen für zügellose Phantasien gebrauchen. Auch die Sprache während der nationalsozialistischen Herrschaft änderte sich im Sinne mythologischen Erlebens – Cassirer diagnostizierte diesbezüglich ein Überwiegen ihrer magischen Funktionen. Neben dem mythologischen Beigeschmack nahm die deutsche Sprache einen metallischen, mechanistischen und gefühlskargen Klang an. Im Rundfunk und in den Zeitungen konnte man schon die Trommelwirbel und den Stechschritt des kommenden Krieges ahnend heraushören und -lesen – eine stilistische Wandlung, die unter anderem Victor Klemperer (1881–1960) in seinem Buch Lingua Tertii Imperii – Die Sprache des Dritten Reiches (1947) überzeugend nachgewiesen hat. Eng mit bestimmten Begriffen verknüpft waren Riten, welche den Faschismus ebenfalls als eine mythologische Bewegung erscheinen ließen. Vom Heil-Hitler-Gruß, den Ornamenten über die Fackelumzüge bis hin zu den Massenaufmärschen überließ der Nationalsozialismus nichts dem Zufall, sondern plante bis ins Detail jene affektstimulierenden Bilder, welche die Menschen in Taumel und Verzückung geraten ließen. Mithilfe dieser Mechanismen konnten innerhalb weniger Jahre alte Mythen im kollektiven Ausmaß reaktiviert werden, von denen man dachte, sie seien aufgrund der wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der Neuzeit längst passé. Bilder und Götzen wie die germanische Rasse, Blut und Boden, Führer, Volk und Vaterland, der Lebensraum im Osten oder die Wacht am Rhein wurden
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Conclusio
mit ihrer diffusen Unbestimmtheit und teilweise harmlos klingenden Hülle scham- und mitleidlos dazu benutzt, barbarische und inhumane Inhalte in gigantischem Maße unters Volk zu streuen. Dieses sog begierig die sagenhaft-legendären Versprechungen seiner Führer auf, um eigene Empfindungen von Angst, Minderwertigkeit und Unterlegenheit schlagartig zu kompensieren. Cassirer attestierte der Politik (nicht nur in Deutschland), noch weit davon entfernt zu sein, eine positive Wissenschaft zu werden. Das scheinbar plötzliche Aufkommen kollektiv wirksamer Mythen und dumpf-irrationaler Verhaltensweisen verwies ihm zufolge darauf, dass die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts partiell noch tief in einem primitiven Denken und Erleben aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte verfangen waren, das bevorzugt die Motive von Macht, Überlegenheit und Gewalt anerkannte:
nehmheit verkörpert, und in ihnen erreichte das Miteinander von Eros, Vernunft, Wissenschaft, Kunst und Philosophie eine seither nicht mehr überbotene Intensität. Derartige Qualitäten aber sind erforderlich, um sich als Einzelner oder als Gesellschaft auf einem einigermaßen verlässlichen Boden des kulturell und sozial wertvollen Denkens und Handelns zu bewegen. Renaissance und Aufklärung waren auch (neben der griechischen Antike) jene Zeiträume während der bisherigen Menschheitsgeschichte, in denen die Möglichkeiten des »animal symbolicum« am eindrücklichsten verwirklicht wurden. Hier demonstrierten Künstler, Wissenschaftler und Philosophen, wie großartig und innovativ der Mensch Symbole und ganze Symbolbereiche interpretieren und schaffen kann und sich und seiner Gattung damit Sinn, Wert und Bedeutung verleiht.
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Conclusio
In welche Richtung aber sollen sich Individuen oder Gesellschaften bewegen, um vor neuerlichen Rückfällen in das alte Chaos einigermaßen gesichert zu sein? Wenn wir Cassirer und sein Oeuvre richtig verstehen, hätte der Philosoph zur Beantwortung dieser Frage auf Kulturepochen und Individuen verwiesen, die ihm bezüglich ihres gediegen-fortschrittlichen und humanen Umgangs mit Symbolen und Symbolbereichen modellhaft schienen: Die Renaissance und Aufklärung als kulturelle Zeiträume sowie Immanuel Kant und Goethe als bedeutende Repräsentanten der Kultur. In diesen Epochen und Personen sah der Denker kosmopolitische Haltungen, tolerante Weltanschauungen, hohes Bildungsniveau, universales Wissen, autonome Urteilskraft und elegante Vor-
Was macht nun den Reiz des Cassirer‘schen Denkens für die medizinisch-philosophische Anthropologie aus, und welche Anregungen können seine Philosophie der symbolischen Formen und die Formel vom »animal symbolicum« der Heilkunde des 21. Jahrhunderts geben? Diese Fragen lassen sich mit Verweis auf verschiedene Aspekte der Cassirer‘schen Philosophie beantworten. Da ist zuallererst der Begriff des Symbols, der nicht nur beim Denker, sondern auch in der Medizin des 20. Jahrhunderts eine gewichtige Rolle gespielt hat. So entwickelte Sigmund Freud seine psychoanalytische Theorie von der Entstehung, Diagnostik und Therapie von Hysterien in großer Nähe zum Symbolbegriff. Der Begründer der Psychoanalyse war überzeugt, dass in den körperlichen Symptomen (sensible und motorische Defizite) der hysterisch erkrankten Patienten vor allem deren sexuelle und aggressive Triebkonflikte symbolhaft zum Ausdruck kommen. Werden diese Symbole vom Therapeuten wie auch vom Patienten richtig interpretiert, erfolgt ein Rückgang der Beschwerden. Einen ähnlichen Ansatz des Verstehens körperlicher Krankheiten vertrat Alfred Adler, der jedoch somatische Symptome weniger strikt als symbol-
Ich zweifle nicht, dass spätere Generationen auf viele unserer politischen Systeme mit denselben Gefühlen zurückblicken werden, mit denen ein moderner Astronom ein astrologisches Buch oder ein moderner Chemiker einen alchimistischen Traktat studiert. In der Politik haben wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. Hier scheint keine klar verankerte kosmische Ordnung zu bestehen; wir sind immer vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos bedroht (Cassirer 1985, S. 386).
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Kapitel • Ernst Cassirer
hafte Darstellung von Triebkonflikten interpretiert wissen wollte. Stattdessen verwendete er die Begriffe Organsprache und Organdialekt, um zu verdeutlichen, dass den körperlichen Zuständen und Erkrankungen beim Menschen zwar ein Mitteilungscharakter zukommt, der aber jeweils eine sehr individuelle (und keine generelle) Übersetzungsarbeit erfordert. In den Jahrzehnten nach Freud und Adler wurde in der tiefenpsychologisch orientierten Psychosomatik das Symbolisierungskonzept bei körperlichen Krankheiten zum Teil maßlos überstrapaziert. Vor allem durch eine festgelegte Zuordnung von psychosozialen Inhalten zu somatischen Zuständen wurde man den individuellen Krankheiten der jeweiligen Patienten häufig nicht gerecht. Weit treffender als der psychoanalytische Symbolbegriff scheint in diesen Zusammenhängen der Cassirer‘sche Symbolbegriff angewendet werden zu können. Der Denker ging davon aus, dass alle körperlichen Zustände in der Biologie (und Medizin) sowohl »sinnlich« wahrnehmbar als auch »sinnhaft« sind und damit die Kriterien von Symbolen erfüllen. Das Sinnhafte des menschlichen Körpers, seiner Organe und Erkrankungen kann man mit den Begriffen Ausdruck, Geschichte und Bedeutung umschreiben, wobei sich schablonenartige Zuschreibungen von Sinn-Inhalten zu Krankheit und Gesundheit eines Menschen von vorneherein verbieten. Alle Zellen, Organsysteme und der gesamte menschliche Organismus weisen Formen und Gestalten auf und erleben eine Geschichte, die vom einzelnen Patienten wie auch vom Arzt in der Regel immer nur bruchstückhaft erkannt und benannt werden, und deren individueller Gehalt über jede fixe interpretatorische Koppelung von körperlichem Symbol und existentiellem Inhalt hinausreicht. Der Mensch ist ein Lebewesen, das sich und seine Stimmungen, Meinungen, Weltbezüge und schicksalhaften Daseinsverläufe in allen seinen Existenzvollzügen leibhaftig (und damit symbolisch) zum Ausdruck bringt. In gewisser Weise ist er belebte Materie, die dauernd nach ihrer Bedeutung sucht und von den Ergebnissen ihrer Sinnsuche erzählt – sei es mit gesprochenen Worten oder mit
den verschwiegenen Andeutungen des menschlichen Körpers. Jeder Patient präsentiert stets eine Geschichte, die mit den kargen Daten einer bloßen Anamese kaum hinreichend wiedergegeben werden kann. Seine Zustände von Krankheit und Gesundheit spiegeln die langjährigen Beziehungen des Betreffenden zu jenen Bereichen seines Daseins wieder, die Cassirer als Basisphänomene bezeichnet hat. Der Bezug zu sich selbst (z. B. Selbstwert, Ideale, Gewissensregungen) spielt dabei ebenso wie die Sphäre der Zwischenmenschlichkeit (Anerkennung, Konflikte, Affekte) oder der Weltkontakte (Ernährung, Klima, Umweltgifte, kulturelle Verhältnisse) eine entscheidende Rolle. Das »animal symbolicum« ist daher niemals nur durch seine Biologie (Genetik, Konstitution, Triebkonstellation) oder psychosozialen Erlebnisse und Gegebenheiten charakterisiert. Es zeichnet sich auch durch ein Kulturschicksal aus, und nur die Berücksichtigung des komplexen Zusammenspiels von Biologie und Biographie lassen seine Erkrankung und Gesundung verständlich und nachvollziehbar werden. Eine Heilkunde, welche den Kranken als »animal symbolicum« ernst nimmt, muss sich deshalb von der eindimensionalen Betrachtung einer vorrangig naturwissenschaftlichen Zugangsweise zum Patienten lösen und diese durch ein sozial- und kulturwissenschaftliches Sensorium ergänzen. Dafür dürfte sie neben der Technik auch Symbolbereiche wie Kunst, Philosophie, Religion, Mythos und Geschichte als für sich relevant begreifen.
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Literatur
Cassirer E (1990a) Philosophie der symbolischen Formen (1923–1929). Primus, Darmstadt Cassirer E (1990b) Versuch über den Menschen – Einführung in eine Philosophie der Kultur. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1944) Cassirer E (1994) Zur Logik der Kulturwissenschaften – Fünf Studien. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (Erstveröff. 1942) Cassirer E (1995) Zur Metaphysik der symbolischen Formen – Nachgelassene Manuskripte und Texte Band 1. Meiner, Hamburg Cassirer E (2005) Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, Nachgelassene Manuskripte und Texte Band 6. Meiner, Hamburg Cassirer E (2009) Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel, Nachgelassene Manuskripte und Texte Band 18. Meiner, Hamburg Cassirer T (2003) Mein Leben mit Ernst Cassirer. Meiner, Hamburg (Erstveröff. 1981) Ferrari M (2003) Ernst Cassirer – Stationen einer philosophischen Biographie. Meiner, Hamburg Graeser A (1994) Ernst Cassirer. Beck, München Krois JM (1987) Cassirer – Symbolic Forms and History. Yale University Press, New Haven-London Meyer Th (2006) Ernst Cassirer. Ellert + Richter, Hamburg Orth EW (1996) Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie - Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Königshausen & Neumann, Würzburg Paetzold H (1995) Ernst Cassirer – Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Recki B (2004) Kultur als Praxis – Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Akademie, Berlin Rudolph E (2003) Ernst Cassirer im Kontext – Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus. Mohr Siebeck, Tübingen Schwemmer O (1997) Ernst Cassirer – Ein Philosoph der europäischen Moderne. Akademie, Berlin
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Nicolai Hartmann Biographisches – 46 Werkanalyse – 48 Conclusio – 55 Literatur – 57
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Nicolai Hartmann
. Abb. 1 Nicolai Hartmann (*1882; †1950). (©akg-images)
Nicolai Hartmann gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bedeutendsten deutschen Philosophen. Er wurde meist in einem Atemzug mit Edmund Husserl, Ernst Cassirer und Martin Heidegger genannt. Zu seinen Lebzeiten (1882– 1950) meinten nicht wenige, dass er neben Husserl sogar die Nummer eins der Philosophie sei. Seine Beiträge zur Anthropologie sind vor allem in seinen ontologischen Schriften sowie in dem Sammelband Kleinere Schriften I enthalten (. Abb. 1).
Biographisches Hartmann stammte aus dem Baltikum (Riga). Sein Vater war ein deutscher Ingenieur und Erfinder, die Mutter eine fromme Pfarrerstochter. Nicolai hing sehr an seinem Vater, der ihn schon als Knaben in die Naturbeobachtung einführte. Er bewies ihm zum Beispiel die Erdrotation, indem er mit ihm nachts Sterne betrachtete, die im Verhältnis zu einer Kirchturmspitze wanderten, weil die Erde den Standort veränderte. Leider starb der Vater 1890, als sein Sohn acht Jahre alt war. Mit der Mutter ergaben sich für Nicolai Schwierigkeiten, so dass er froh war, als 15-Jähriger alleine nach Petersburg übersiedeln zu können, um dort die Schule zu besuchen. Damals bestritt er durch Nachhilfestunden weitgehend selbstständig seinen Lebensunterhalt. Er war zweisprachig, beherrschte das Russische wie das Deutsche und fand früh Zugang zur russischen wie auch deutschen Literatur. Nach seinem Abitur 1901 unternahm Nicolai lange und einsame Wanderungen, auf denen er
erkunden wollte, ob ihm dabei die Stimme Gottes begegnen würde. Dies war nicht der Fall, woraufhin sich der junge Mann zum radikalen Atheisten entwickelte. Von nun an war er überzeugt, dass alle Menschen nur vom Hörensagen über transzendente Mächte reden. Bestätigung für seine Religionskritik fand er später in den Schriften Ludwig Feuerbachs. Ab 1902 studierte Hartmann in Dorpat Medizin, wechselte jedoch nach zwei Semestern zur Philosophie. Danach besuchte er zwei Jahre lang Lehrveranstaltungen russischer Philosophiedozenten in Petersburg. Als 1905 dort revolutionäre Unruhen ausbrachen, beschloss er, den Studienort zu wechseln. Diese »Distanz zum Aktuellen« und zur Politik behielt Hartmann zeitlebens bei. Sie machte sich später während der beiden Weltkriege und als Haltung dem Faschismus gegenüber bemerkbar. Aufgrund ihres guten philosophischen Rufs ging Hartmann an die Universität Marburg. Dort stieß der 23-Jährige auf die Neukantianer Hermann Cohen und Paul Natorp, die ihn gründlich schulten und bald sein großes Talent und hohes Arbeitsethos erkannten. Rasch absolvierte er das Studium und erwarb mit Arbeiten über Platon sowie die philosophischen Anfangsgründe der Mathematik die akademischen Grade der Promotion und Habilitation. Als Privatdozent blieb Hartmann weiterhin erfolgreich, so dass er von den damals üblichen Kolleggeldern, verbunden mit einem asketischen Lebensstil, sogar eine kleine Familie ernähren konnte. 1911 heiratete er Alice Stephanitz, die Tochter eines Petersburger Gelehrten. 1912 kam seine Tochter Dagmar zur Welt. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde der junge Philosoph als Soldat eingezogen, wobei er aufgrund seiner Russischkenntnisse überwiegend als Dolmetscher eingesetzt war. Er leistete seinen Dienst ohne Widerstreben, aber auch ohne Begeisterung. Deutlich wurde seine distanziertplatonische Haltung etwa in seinem Briefwechsel (1907–1918) mit dem jüngeren Kollegen und Freund Heinz Heimsoeth. Bei seiner Rückkehr nach Marburg begann Hartmann ab 1919 mit der Ausarbeitung umfangreicher Abhandlungen. Obwohl er eigentlich ein Problemdenker war, sorgten der gediegene Stil
Biographisches
seiner Schriften sowie die Breite seiner Argumentationsketten dafür, dass seinen Publikationen oft das Prädikat des Systematischen verliehen wurde. Das zeigte sich bereits 1921 in Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis. Dass Hartmann sich mit Erkenntnistheorie beschäftigte, war bei seiner Ausbildung an der Marburger Schule nicht überraschend. Für diese bedeutete ganz im Sinne von Immanuel Kant das Studium der Erkenntnisvorgänge den Auftakt zu jeglicher Philosophie. Als gelehriger Schüler des Neukantianismus befolgte Hartmann diese Anweisung, wobei er jedoch eigenwillige Akzente setzte. Vor allem die Phänomenologie Edmund Husserls, die Hegel‘sche Dialektik sowie sein Hang zum Realismus, den Hartmann unter anderem seinen kurzen Medizinstudien verdankte, sorgten letztlich dafür, dass er sich von den idealistischen Vorstellungen der Neukantianer distanzierte. Bereits 1920 hatte man Hartmann zum Extraordinarius in Marburg ernannt. Er lehrte mit gutem Erfolg und wurde 1922 zum Nachfolger auf Natorps Lehrstuhl berufen; Cohen war schon bei Kriegsende emeritiert worden. 1923 kam Martin Heidegger an die Universität Marburg, wo er bis 1928 (bis zu seiner Berufung auf den frei gewordenen HusserlLehrstuhl in Freiburg) als Philosophiedozent blieb. Obwohl sich Hartmann für das Kommen Heideggers eingesetzt hatte, entwickelte sich zwischen den beiden angehenden Meisterdenkern bald eine merkliche Rivalität. Der Letztere verfügte über Charisma und wuchtig-expansives Auftreten, wodurch zwar das Gros der Studenten angezogen, der vornehm zurückhaltende Hartmann jedoch eher abgestoßen wurde. Außerdem war der Lebensstil der beiden grundverschieden. Heidegger war Frühaufsteher und hielt seine Vorlesungen zu einem Zeitpunkt, wo Hartmann gerade zu Bette ging. Weil also die Lichter beim Ersteren früh morgens angingen, wenn der Letztere sie gerade löschte, sprach man spaßeshalber von der »philosophia perennis« (von der ewigen Philosophie) in Marburg. Hartmann stand gewöhnlich gegen Mittag auf und bot nachmittags seine Lehrveranstaltungen an. Nachts schrieb er an seinen voluminösen Manuskripten. Den Aussagen Hans-Georg Gadamers in Philosophische Lehrjahre zufolge, der als junger Student Hartmann kennenlernte, muss dieser auf sei-
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ne Umwelt ziemlich steif und würdevoll, daneben aber auch liebenswürdig und verbindlich gewirkt haben. Er war vollständig seinen philosophischen Problemen hingegeben, und wenn er sich einmal den Luxus leistete, im Marburger Café Vetter seinen Tee zu nehmen, konnte es passieren, dass er seinem Gegenüber (wie Gadamer berichtete) die Kant‘schen Kategorientafeln auf den Caféhaustisch malte. Neben dem Philosophieren pflegte Hartmann als Hobbys Musik und Astronomie. Er war ein kenntnisreicher Beobachter des Sternenhimmels, den er in wolkenlosen Nächten mit seinem Teleskop beobachtete. Als Höhepunkt von Privatissimumveranstaltungen, die bis weit in die Nacht gingen, galt es, wenn der Herr Professor seine Studenten ebenfalls durch das Teleskop schauen ließ. Als Cellospieler brachte es Hartmann beinahe bis zur Konzertreife; zu seinen sonstigen Erholungen gehörten Kinobesuche und Spaziergänge. Aufgrund der zunehmenden Animositäten zwischen Heidegger und ihm war Hartmann froh, als er 1925 auf das Betreiben von Max Scheler nach Köln berufen wurde. Dieser war wegen seiner Studien über die Sympathiegefühle und seines Hauptwerks Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913) über die engere Philosophie hinaus bekannt geworden. Eine seiner wichtigsten Aufgaben sah er darin, die Phänomenologie auf die Probleme von Ethik, Moral und menschlicher Gefühlswelt anzuwenden. Scheler erhoffte sich in Hartmann einen Bundesgenossen, engen Dialogpartner und womöglich sogar Schüler. Obwohl Letzterer 1926 eine Ethik publizierte, in der er streckenweise auf Scheler Bezug nahm, enthält dieses Werk derart viel eigenständige Gedanken, dass von einem Schüler-Lehrer-Verhältnis der beiden Denker nicht gesprochen werden kann. Die Ethik gilt als eine der großartigsten Erörterungen ethischer Phänomene und Fragestellungen im 20. Jahrhundert. Ein intensiveres Zwiegespräch mit Scheler kam übrigens auch deshalb nicht zustande, weil dieser bereits 1928 starb. Mitte der 20er Jahre geriet Hartmanns Ehe in eine Krise; 1926 wurde sie geschieden. 1929 heiratete er Frida Rosenfeld, die Tochter eines Marburger Archivars. In dieser zweiten Ehe wurden die Kinder Olaf und Lise geboren. Sie erhielten eine religions-
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Kapitel • Nicolai Hartmann
freie und liberale Erziehung, wobei die Eltern sie zwar taufen, aber nicht konfirmieren ließen. Um 1930 suchte man an der Berliner Universität einen Ordinarius für Philosophie. Zunächst entschieden sich die Behörden für Heidegger, der jedoch den Ruf ablehnte. Daraufhin kam Hartmann zum Zug, der damit die Nachfolge von Fichte, Hegel, Schelling und Dilthey antrat. Er wurde zum Leiter des Philosophischen Seminars ernannt, womit er neben seinem großen Lehrpensum auch administrative Aufgaben übernahm. Während seiner Professorenjahre in Berlin von 1931–1945 entstanden nahezu alle Hauptwerke Hartmanns, die zunehmend ein systematischenzyklopädisches Format aufwiesen. 1933 erschien Das Problem des geistigen Seins als Teilstück einer Ontologie, welche die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit untersuchte. Gleichzeitig wollte der Philosoph damit auf die damals aktuellen anthropologischen Schriften Schelers (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928) und Helmuth Plessners (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) reagieren. Hartmann war einer der Wegbereiter der modernen philosophischen Ontologie. Dieser Fachausdruck (griechisch: Seinswissenschaft) ist ein Synonym für Metaphysik. Seit dem Aufklärer Christian Wolff, der im 18. Jahrhundert in Halle an der Saale lehrte, bezeichnet man damit die Untersuchung und Beschreibung des Seins in seinen Abwandlungen und Erscheinungsarten. Hartmann hatte sich in der Berliner Zeit in Potsdam-Babelsberg niedergelassen, wo er mit seiner Familie in einem eigenen Haus wohnte. Die für ihn wichtigsten Wohnräume waren seine Bibliothek und das Dachstübchen, in dem sein Fernrohr stand – ansonsten war er wie stets bedürfnislos. Die Distanz zur Universität bewältigte er mit der S-Bahn oder dem Fahrrad. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stand Hartmann ihnen nicht ablehnend gegenüber, brachte aber als unpolitischer Mensch für solche Wandlungen in der Politik wenig Interesse auf. Die spätere Psychoanalytikerin Ruth C. Cohn, die bei ihm studierte, berichtete, dass er taten- und kommentarlos zugesehen hätte, als SALeute 1933 während einer Lehrveranstaltung ihre Brüder aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ver-
prügelten. 1934 beteiligte sich Hartmann an einer Kundgebung deutscher Gelehrter, in der sie eine Erklärung »Deutsche Wissenschaftler hinter Adolf Hitler« unterzeichneten. Seine Gattin gab zu, sie habe ihm den Eintritt in die NSDAP vorgeschlagen; das habe er jedoch abgelehnt. Hartmann scheint Abstand zu jedem weiteren politischen und weltanschaulichen Engagement gehalten zu haben. Nach Kriegsausbruch vergrub er sich in Lehre und Forschung. Sein Schüler Wolfgang Harich, später ein bekennender Kommunist, erzählte, er habe ihn in jenen Jahren gefragt, wie er den Krieg einschätze. Der vorsichtige und lebenskluge Philosoph soll geantwortet haben: »Diese Sache ist mir zu speziell!« 1935 war Zur Grundlegung der Ontologie erschienen, und 1938 folgten als Zusatzbände Möglichkeit und Wirklichkeit sowie Der Aufbau der realen Welt (1940). Nimmt man Das geistige Sein hinzu, war damit das grandiose Ontologie-Werk konstituiert. 1950 erschien Philosophie der Natur, und aus dem Nachlass wurden Teleologisches Denken (1951), die Ästhetik (1953) sowie Kleinere Schriften in drei Bänden (1955ff.) herausgegeben. Ein umfangreiches Manuskript über die Logik ging leider in den Nachkriegswirren verloren. Weil die gesellschaftliche und politische Lage in Berlin nach dem Kriegsende unüberschaubar war, entschied sich Hartmann im Herbst 1945, ein Angebot auf eine Professur in Göttingen anzunehmen. Ab dem Wintersemester 1945/46 lehrte er an der altehrwürdigen Alma Mater dieser Stadt. Im Sommer 1950 erlitt Hartmann einen Schlaganfall. Im Bewusstsein der begrenzten Lebenszeit überarbeitete er noch einmal den Entwurf seiner Ästhetik. Im Herbst desselben Jahres starb der Philosoph.
Werkanalyse Bis auf die größere Abhandlung Naturphilosophie und Anthropologie (1944) hat Hartmann keine dezidiert anthropologischen Schriften verfasst. Gleichwohl enthalten seine Werke zur Ontologie und Ethik viele Aussagen über den Menschen, so dass sie zu einer ergiebigen Fundgrube für Anthropologen, Ärzte und Psychologen wurden. Hierin ähnelt (bei ansonsten großen Unterschieden) die Hart-
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mann‘sche Ontologie der Heidegger‘schen – beide Philosophen wollten das Wesen des Seins beschreiben und formulierten zuletzt doch immer wieder auch anthropologische Erkenntnisse. Um besser nachvollziehen zu können, wie Nicolai Hartmanns Lehre vom Menschen (so ein Buchtitel 1989) beschaffen war, werden zuerst seine ontologischen Überlegungen zum Aufbau der realen Welt (1940) erörtert. In einem zweiten Schritt wird dann anhand von Das Problem des geistigen Seins (1933) und Ethik (1926) die Hartmann‘sche Sicht auf spezifische Wesensmerkmale des Menschen wie etwa dessen Geistigkeit und Wertorientierung diskutiert. z
Der Aufbau der realen Welt
Zu den ontologischen Schriften Hartmanns zählen neben Der Aufbau der realen Welt – Grundriss der allgemeinen Kategorienlehre auch Zur Grundlegung der Ontologie (1935), Möglichkeit und Wirklichkeit (1938) sowie Philosophie der Natur – Abriss der speziellen Kategorienlehre (1950). Das Hauptwerk dieser Schriftengruppe ist zweifellos das erstgenannte Buch. Ontologie bedeutet so viel wie Lehre vom Sein. Diese Disziplin der Philosophie geht bis auf Aristoteles zurück, der darunter die Untersuchung des Seienden (Kosmos, Welt) wie auch das Nachdenken über das höchste Seiende (Gott) verstand. Dieses Konglomerat aus eigentlicher Ontologie und Theologie wurde bis ins 18. Jahrhundert beibehalten. Erst Christian Wolff sorgte dafür, die Seinslehre (die er allgemeine Metaphysik nannte) von theologischen Fragestellungen (spezielle Metaphysik) abzusondern. Wenn Hartmann von Ontologie sprach, bezog er sich als Atheist auf die Wolff ‘sche allgemeine Metaphysik. Im 18. Jahrhundert erfuhr die Ontologie noch eine zweite wesentliche Veränderung: Sie wurde ihrer Vormachtstellung innerhalb der Philosophie beraubt, die sie seit Aristoteles innegehabt hatte. Immanuel Kant gab der Erkenntnistheorie den Vorrang vor der Ontologie. In seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) ging er davon aus, dass es sich bei den realontologischen Kategorien recht eigentlich um Verstandeskategorien handelt. Wer über das Wesen des Seins etwas Substantielles aussagen wolle, müsse sich zuerst über die Möglichkeiten
und Begrenzungen des Erkennens Rechenschaft ablegen. Im 19. und 20. Jahrhundert kam es zu einer Rehabilitierung der Ontologie, wozu die wissenschaftlichen Ergebnisse der Naturforschung ebenso wie die Phänomenologie Edmund Husserls beitrugen. Hartmann reihte sich mit seinen ontologischen Untersuchungen in diese jüngere Tradition ein, wobei ihm von allem Anfang an eine Seinslehre vorschwebte, die sowohl die Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse als auch die Kant‘sche Erkenntniskritik angemessen berücksichtigen sollte. Dementsprechend sprach er von einer kritischen Ontologie. Nach Hartmann besitzt der Mensch als denkendes Wesen von vornherein ein Seinswissen. Schon im natürlichen Weltverhältnis geht jedermann davon aus, dass es Seinsmodi gibt, und niemand wird sich darüber hinwegtäuschen, dass die Seinsweisen von Materie, Pflanze, Tier und Mensch verschieden sind. Um dies jedoch auch philosophisch zu belegen, arbeitete der Denker seine umfangreichen ontologischen Schriften aus. Das Sein bedeutete für Hartmann einen letzten, nicht mehr definierbaren Begriff. Zwar könne man einzelne Seinsbereiche (Materie, Natur, Mensch), Seinsmomente, Seinsweisen oder Seinsmodi mit diversen Kategorien und Definitionen belegen – nicht aber das Sein allgemein:
»
Sein ist ein Letztes, nach dem sich fragen lässt. Ein Letztes ist niemals definierbar. Definieren kann man nur auf Grund eines anderen, das hinter dem Gesuchten steht (Hartmann 1965, S. 43).
«
Weil in Hartmanns Weltbild kein Platz für einen Schöpfergott war, gab es für ihn auch kein Motiv, über ein das Sein verursachendes Prinzip zu spekulieren. Wie aber lassen sich nun die verschiedenen Seinsbereiche charakterisieren? In diesem Zusammenhang ist Hartmanns ontologische These vom Schichtenbau der Welt zu erwähnen. Ihm zufolge weist die Realität eine geschichtete Struktur auf. Die unterste und alles tragende Schicht des Universums ist das Materiell-Gegebene. Hier walten Naturgesetze, mittels derer Physik und Chemie die Geheimnisse der Materie erschließen. Die exakten Wissenschaften sind für diesen Bereich zuständig,
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dessen Qualitäten zum Beispiel als Dichte, Schwere, Aggregatszustände und Strukturen beschrieben werden. Vor Jahrmilliarden kam es, ohne dass bis heute im Detail dessen Entstehungsbedingungen und -prozesse geklärt sind, zur Bildung von Leben innerhalb der kosmischen Substanz. Damit entstand eine zweite Schicht, welche auf der ersten aufruht und sie, wie der Hartmann‘sche Ausdruck lautet, überformt. Das bedeutet, dass Materie und Leben ineinander übergehen. Die Gesetze der materiellen Welt reichen in die Lebewelt hinein. Aber es sind neue Konfigurationen entstanden, welche man mit lediglich physikalischen Modellen nicht vollumfänglich begreifen kann. Das Lebendige verfügt über eigene Spontaneität und Zielstrebigkeit, Stoffwechsel, Reaktionsfähigkeit, Wachstum und Fortpflanzung. Außerdem hat die Kategorie der Kausalität von der Schicht der Materie zur Schicht des Lebendigen eine Akzentverschiebung erfahren. Physik und Chemie beschreiben mittels der Naturgesetze die kausalen Verhältnisse innerhalb der materiellen Welt, wohingegen die Biologie von Kausalität im Sinne der Determination durch Anlage, Vererbung und Umwelteinflüsse auszugehen hat. Die nächste Schicht im Realitätsaufbau über der biologischen ist die psychische. Sie ist mit dem Bios so eng verbunden, dass man von zwei Seiten einer Medaille sprechen kann. Hier kommt keine Überformung, sondern eine Überlagerung zum Tragen. Nach Hartmann darf man nicht behaupten, dass das Seelische nur eine kausal erklärbare Wirkung des Biologischen sei. Es hat seine Eigenexistenz und -dynamik, wobei kontinuierliche und vielfältigste Wechselwirkungen zwischen beiden Schichten stattfinden. Die untere Schicht ist die mächtigere, die obere behält ihr gegenüber jedoch eine relative Freiheit. Sofern man den Menschen ins Auge fasst, muss man als letzte Seinsschicht die Geistigkeit anerkennen. Auch hier ist eine Überlagerung zu beobachten. Das Psychische trägt den Geist, aber es bestimmt ihn nicht durchgehend. Im Materialismus wollte man diese Eigengesetzlichkeit leugnen, was zu ziemlich kruden philosophisch-theoretischen Modellen in Bezug auf die geistige Dimension führte. Die relative Eigenständigkeit (nicht aber
völlige Unabhängigkeit) der Geisteswelt darzustellen, war ein zentrales Anliegen nicht nur von Hartmanns Denken, sondern vieler Philosophen im 20. Jahrhundert. Wenn man dem Geist eine gewisse Autonomie zubilligt, erhebt sich die Frage, wie er denn in die Welt gekommen ist. Für theologisch gebundene Menschen ist dieses Problem leicht zu lösen. Schon bei der Entstehung von Kosmos und Leben nehmen sie im Willkürverfahren die Schöpfung durch eine Gottheit an. Analog soll die Geistigkeit dem Menschen durch eine transzendente Macht eingepflanzt worden sein. Solche religiösen Annahmen waren für den Atheisten Hartmann sowohl im Hinblick auf den Entwicklungsprozess der Welt als auch des Geistes nicht akzeptabel. Den Ursprung des geistigen Seins zu ergründen war zu Hartmanns Zeiten noch kaum möglich, was ihn jedoch nicht weiter anfocht. Für ihn stand fest, dass der Geist ein Novum in der Entwicklungsgeschichte des Kosmos darstellt, und er wollte sich darauf beschränken, die Seinsart des Geistigen in möglichst vielen Details exakt zu beschreiben. Materielle und biologische Ableitungen waren für ihn brauchbar und erwünscht, wenn sie sich an ihre ontologischen und kategorialen Grenzen hielten. Hartmanns Ontologie ist hinsichtlich anthropologischer Aussagen insofern nützlich, als er am Menschen eben jenen Schichtenaufbau als relevant annahm, den er im gesamten Kosmos als gegeben erachtete. Am Menschen lassen sich Materie, Bios, Psyche und Logos (Geist) erkennen, wobei es sich dabei keineswegs um eigene Wesenheiten handelt. Dem Philosophen schwebte ein holistisches anthropologisches Konzept vor, das sich allerdings nicht in billigen Ganzheitspostulaten erging:
» Das Seelenleben wird nicht als bewusste (und unterbewusste) Innenwelt mit ihren Akten und Inhalten allein verstanden, sondern zusammen und gleichsam ineins geschaut mit dem leiblichen Leben und dessen physischen Lebensbedingungen. Und das Geistesleben wird nicht allein als Ethos, Sprache, Kunst, Erkenntnis usf. verstanden, sondern ineins geschaut mit dem seelischen Aktleben, dem organischen Leben und den physischen Lebensbedingungen der Individuen, die seine Träger sind (Hartmann 1964, S. 451).
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Werkanalyse
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Das Problem des geistigen Seins
Ausgehend von seinem Plan einer umfassenden Ontologie explizierte Hartmann das geistige Sein, dem er eine Schlüsselstellung zugestand, in einem eigenen Band seines ontologischen Werks, in Das Problem des geistigen Seins. Darin wird deutlich, dass die langjährige Beschäftigung mit Hegel der Hartmann‘schen Geist-Philosophie ihre mächtigsten Impulse gegeben hat. Wer das geistige Sein beschreibt, liefert beinahe nolens volens eine philosophische Anthropologie. Der Mensch ist wahrscheinlich das einzige Wesen, das man als umfänglichen Geistträger bezeichnen kann. Indem er Vernunft, Selbstbezug und Weltoffenheit aufweist, ragt er in die Sphäre des Geistes hinein. Inwiefern andere Primaten zu (schlichter) geistiger Tätigkeit in der Lage sind, wird in den letzten Jahren durchaus kontrovers diskutiert. Diese Debatte erhält durch die Ergebnisse der vergleichenden Primatenforschung der jüngeren Zeit immer wieder neue und teilweise überraschende, die Sonderstellung des Menschen in mancherlei Hinsicht auch relativierende Nahrung. Die Sphäre der Geistigkeit besteht, wie Hegel es als Erster ausgeführt hat, nicht nur in einer individuell gegebenen Eigenschaft, die er subjektiven oder personalen Geist nannte. Sie weist auch ein kollektives Erscheinungsbild auf, das Hegel als objektiven Geist bezeichnete. Die Wechselwirkungen zwischen dieser übergreifenden Geistesmacht und den Individuen bedeutet das Grundgeschehen jeglicher Kultur. Neben dem objektiven Geist (Sitte, Brauchtum, Sprache, aktuelle Organisationsformen von Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht und Staat), den man als Zeitgeist titulieren kann, postulierte Hegel noch den absoluten Geist (Gott). Dieser hat sich dem Philosophen zufolge aus einem Zustand der reinen Innerlichkeit vor der Erschaffung der Welt in die Natur und in die Materie entäußert und damit einen ungeheueren Widerspruch zwischen seinem Für-sich-Sein (Geist) und dem An-sichSein (Materie) »in die Welt gesetzt«. Wie These und Antithese stehen sich seither angeblich Gott und sein Kosmos gegenüber. Nach Hegel kann man den gesamten Geschichtsverlauf als einen Prozess der zunehmenden Vergeistigung und damit des Zu-sich-Zurückkommens der Gott-
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heit interpretieren. Kunst, Philosophie und Religion spiegeln diese Entwicklung wider, deren Ende gleichbedeutend mit der vollständigen Vergeistigung der Materie ist. Hartmann übernahm von Hegel das Konzept eines Wechselspiels zwischen individuellem und kollektivem Geist, modifizierte allerdings dessen These vom absoluten Geist erheblich. Bei ihm finden sich daher die Begriffe des personalen, objektiven und objektivierten Geistes, mit denen er das geistige Sein in seinen Verästelungen zu erfassen und zu beschreiben unternahm. Bei der Erörterung des personalen Geistes hatte Hartmann das Problem zu lösen, dass es bei Tieren ähnlich wie bei Menschen Formen von Bewusstsein gibt. Die Tiere wollte er allerdings als triebgebunden, vorrangig in der seelischen Schicht verankert und geistlos verstanden wissen, indes sich das menschliche Bewusstsein durch mehr oder minder große Triebentbundenheit (ein ursprünglich von Scheler stammender Gedanke) sowie Geistigkeit auszeichnet. Das tierische Bewusstsein bezeichnete der Denker daher als dienend, das menschliche hingegen als herrschend. Die geistige Schicht im Menschen hat im Vergleich zur materiellen, biologischen und seelischen ein bedeutend größeres Maß an Variabilität und Vulnerabilität. Alle Inhalte und Qualitäten des personalen Geistes müssen von den betreffenden Individuen selbst erlernt, erobert und vertieft werden, wobei sich Weite und Höhe der Geistigkeit von Einzelnen immens unterscheiden können. Außerdem lassen sich merkliche intraindividuelle Schwankungen beschreiben: Das geistige Niveau eines Menschen als Kleinkind, Jugendlicher, Erwachsener oder Greis weist normalerweise große Differenzen auf, wobei durchaus nicht immer von einem stetigen Zuwachs ausgegangen werden darf. Vor allem in Bezug auf die Geistigkeit gilt, dass sich die Person zu dem machen muss, was sie ist. Hier hilft kein Hoffen auf Vererbung oder den glücklichen Zufall – jedem Menschen stellt sich in seinem Leben die Aufgabe neu und jeweils speziell auf ihn bezogen, sich die Fülle der Kultur anzueignen und womöglich noch durch eigene Beiträge zu erweitern. Der Einzelne sollte dabei jedoch die biologischen, seelischen und sozialen Bedürfnisse seiner
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Kapitel • Nicolai Hartmann
Existenz nicht vernachlässigen – ein Defizit, das Hartmann bei nicht wenigen geistig hoch gezüchteten Intellektuellen vermutete. Seine diesbezüglichen Überlegungen, die womöglich auch auf ihn selbst gemünzt sein mochten, erinnern in mancherlei Hinsicht an Sigmund Freuds Das Unbehagen in der Kultur (1930), das Hartmann in seinem Werk leider ebenso wie andere psychoanalytische Texte nicht berücksichtigte:
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Die Kulturhöhe der geschichtlich führenden Völker wird teuer bezahlt. Was wir unser Bildungs-, Schul- und Lehrwesen nennen, unser ganzes mit äußerstem Kraftaufwand hochgetriebenes Geistesleben, sieht unter diesem Gesichtspunkt bedenklich nach Raubbau am Leben aus (Hartmann 1962b, S. 106).
«
Der personale Geist zeichnet sich Hartmann zufolge durch Voraussicht, Zwecktätigkeit, Wertgefühl und Freiheit aus. Diese Eigenschaften ermöglichen es dem Menschen, den Kausalnexus seiner materiellen und natürlichen Welt in seinem Sinne zu verändern. Der Philosoph beschrieb, wie der Mensch mit seinem Ziele und Zwecke setzenden Planen und Handeln (Finalität, Teleologie) in die unendliche Zahl von Kausalreihen, welche den Kosmos und die Natur determinieren, erfolgreich und entscheidend einzugreifen vermag. Durch die Geistigkeit des Menschen erfährt der zur Finalität hin offene Kausalzusammenhang des Universums immer wieder relevante Veränderungen. Die Geistbegabung macht den Menschen zu einem weltoffenen Wesen – ein Begriff, den Hartmann von Max Scheler übernahm. Über die animalischen Reiz-Reaktions-Schemata hinaus ist der Mensch in der Lage, sich mittels seiner geistigen Fähigkeiten prinzipiell jedem nur möglichen Thema zuzuwenden. Er lebt daher nicht nur wie die Tiere in einer Umwelt (Johann Jakob von Uexküll) mit begrenztem Reizhorizont, sondern in einer Welt, deren Dimensionen aufgrund der Geistigkeit als infinit imponieren. Deutlich zu erkennen sind diese Merkmale des personalen Geistes, sobald man dessen Wechselwirkung mit dem objektiven und objektivierten Geist untersucht. Ähnlich wie Hegel subsumierte Hartmann den Zeitgeist unter den objektiven Geist.
Neben den kollektiven Phänomenen von Sprache, Moral, Recht und Weltanschauungen rechnete er jedoch auch Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion zur Sphäre des objektiven Geistes (Hegel ordnete diese dem absoluten Geist zu). So findet die gesamte Denk- und Kommunikationsfähigkeit eines Menschen nach Hartmann im objektiven Geist ihr Fundament. Dieser prägt die Individuen, ohne dass sich das Individuum seinem Einfluss je ganz entziehen könnte. Allerdings ist es ein Trugschluss zu glauben, dass der objektive Geist den Einzelnen vollständig determiniert:
» Objektiver Geist ist nicht die Zwangsjacke des personalen Geistes, nicht Uniformierung der Individuen. Er ist nur Basis, nur Niveau, und die Grenzen, die er absteckt, lassen der individuellen Mannigfaltigkeit eine Bewegungsfreiheit, der keine Charaktertypik gerecht zu werden vermag (Hartmann 1962b, S. 255).
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Der objektive Geist wird von Völkern getragen. Er lebt, ist individuell, weist Geschichtlichkeit auf und verfügt über Macht und Einfluss. Dennoch wäre es verfehlt, ihm eigenes Wollen, unabhängige Zielsetzungen oder Bewusstsein zuzugestehen. Anders als Hegel, der als Entdecker des objektiven Geistes diesem sogar die Kompetenz zuschrieb, Geschichte zu machen und zu lenken, stellte Hartmann diesbezügliche Limitierungen des Zeitgeistes heraus. So finden sich in ihm Wahrheit und Irrtum in bunter Mischung, und häufig erlaubt es nur der Zeitenlauf den Menschen, das Echte vom Falschen zu diskriminieren. Die Summe der materiell-geistigen Produkte von Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Kunst und Architektur wurde von Hartmann als objektivierter Geist bezeichnet. Dieser ist anders als der objektive Geist an ihn tragende und darstellende Materie gebunden. Diese kann zum Beispiel aus Papier (Bücher), Kunststoff (Tonträger für Musik), Steinen (Gebäude, Skulpturen) oder Leinwand (Malerei) bestehen. Der objektive Geist ist geschichtlich, wohingegen der objektivierte Geist ins Zeitlose und Übergeschichtliche hineinragt. Darum ist es wichtig, dass Künstler, Wissenschaftler und Philosophen ihre Gedanken und schöpferischen Aktivitäten
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einer Objektivierung (Materialisierung) anheim stellen. Nur wenn sie materielle Spuren hinterlassen, können zukünftige Generationen irgendwann den geistigen Gehalt, der in ihnen fixiert ist, wieder zum Leben erwecken. Für sie wird der objektivierte Geist günstigenfalls zur stimulierenden Tradition, im ungünstigen Fall jedoch zur Fessel für gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt. Der personale und objektive Geist sind potentiell progressiv, der objektivierte Geist dagegen konservativ. Hartmann warnte deshalb analog wie vor ihm schon Nietzsche vor einer Tyrannei historisch gewachsener Strukturen und objektivierter Kulturinhalte im Hinblick auf die Gestaltung des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens. z
Ethik
Ähnlich wie in seinen Schriften zur Ontologie finden sich auch in Hartmanns Texten zur Ethik relevante anthropologische Aussagen. Das moralphilosophische Hauptwerk des Denkers ist dabei zweifellos seine Ethik (1926), auf die wir uns im Folgenden hauptsächlich beziehen. Hartmanns Ausführungen zur Ethik sind vor dem Hintergrund jener Moraldebatte verständlich, die von Immanuel Kant mit seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) provoziert worden war, und die im 19. Jahrhundert zur Entwicklung divergenter ethisch-moralischer Ansichten und Systeme beigetragen hat. Kant hatte eine formale Pflicht- und Gesinnungsethik formuliert, die in den oft zitierten kategorischen Imperativ (sinngemäß) einmündete: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« An der Ethik des Königsberger Philosophen bemängelte man bald deren Formalismus. In Entscheidungssituationen lassen sich aus ihr nur schwer konkrete Handlungsanweisungen ableiten, um das eigene Tun mit hohen moralischen Standards zu versehen. Arthur Schopenhauer plädierte dafür, sich statt des kategorischen Imperativs eher auf Prinzipien zu stützen, in denen das Mitleid mit anderen Menschen und der gesamten belebten Natur im Mittelpunkt steht. Eine solche Formel lautet
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etwa »Tat twam asi« (Das bist du). Sie stammt aus den indischen Upanishaden und wurde von Schopenhauer als Grundsatz seiner Mitleids- und Sympathieethik angesehen. Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte der englische Philosoph John Stuart Mill eine utilitaristische Ethik. Mill ging davon aus, dass die Sittlichkeit einer individuellen Handlung daran zu ermessen sei, inwiefern sie dem sozialen Wohl aller dient. So sehr der Einzelne bei seinem Tun und Lassen den eigenen Vorteil im Sinn haben mag – solange er damit der Allgemeinheit nützt (Utilitarismus, vom englischen »utility«), kann dessen Handeln letztlich als gut bezeichnet werden. Einen nachhaltigen Einfluss auf die ethischen Diskussionen gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert gewann Friedrich Nietzsche mit seiner fundamentalen Moralkritik. Dieser Denker entlarvte viele bis dahin hoch gehandelte Werte wie Nächstenliebe, Demut, Armut, Gehorsam und Altruismus als überwiegend philiströs und dekadent. Gleichzeitig plädierte er für eine radikale Umwertung aller Werte und schlug als Ersatz für die tradierten Normen neuartige ethische Haltungen und Gesinnungen vor, die er als individuell und kulturell förderlich erachtete (z. B. intellektuelle Redlichkeit, schenkende Tugend, Fernstenliebe, Pathos der Distanz). Als Hartmann in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts daranging, ein eigenes Ethiksystem zu verfassen, bezog er sich ausführlich auf diese jüngere Moraltradition und bereicherte diese um Moralvorstellungen aus der griechischen Antike (Platon, Aristoteles, Stoa, Epikur). Außerdem stützte er sich auf Schelers Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913). Wie Scheler wollte auch Hartmann eine Theorie von Wert und Sittlichkeit entwickeln, welche die Moralkritik Nietzsches ernst nehmen und gleichzeitig den darin enthaltenen Werterelativismus überwinden sollte. Ein gewichtiger Kritikpunkt Hartmanns an der Ethik Kants bestand darin zu zeigen, dass nicht nur formale Prinzipien (wie etwa der kategorische Imperativ als allgemeines Sittengesetz), sondern auch materiale Werte a priori bestehen. In Fortsetzung von Scheler sprach daher auch Hartmann von einem Werte-Apriori:
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Es gibt eben ein reines Wert-Apriori, das unmittelbar, intuitiv, gefühlsmäßig unser praktisches Bewusstsein, unsere ganze Lebensauffassung durchzieht, und allem, was in unseren Gesichtskreis fällt, die Wert-Unwert-Akzente verleiht (Hartmann 1962a, S. 116).
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Werte bedeuteten für Hartmann ein ideales Sein, das unabhängig vom Menschen besteht. Ähnlich wie die Platonischen Ideen kommt den Werten absolute Geltung zu – sie existieren, gleichgültig, ob Menschen sie erkennen, anerkennen und sie realisieren oder aber kein Sensorium für manche von ihnen besitzen und sie negieren. Selbst wenn es irgendwann die Menschheit nicht mehr geben sollte, würde Hartmann zufolge das Reich der Werte weiter bestehen. Von Werten geht ein Sein-Sollen aus. Sobald der Einzelne einen Wert intuitiv spürt oder ihn bewusst erkennt, gerät er in dessen Bannkreis und bemerkt die Aufforderung, den betreffenden Wert zu verwirklichen. Als Wertsichtiger ist der Mensch als Person das einzige Lebewesen, welches den Werten zu ihrer Realisierung verhelfen kann. Personen nämlich sind »Bürger zweier Welten« (Kant) – der realen Welt des Seins und der idealen Welt der Werte. Man kann das Wertreich mit dem Firmament vergleichen, an dem potentiell eine Vielzahl von Sternen und Planeten zu beobachten ist. Jeder einzelne Mensch erblickt jedoch immer nur einen Ausschnitt aus der Wertfülle, und auch einzelne Epochen oder Kulturen erlauben stets lediglich selektive Wertwahrnehmungen. Ähnlich wie die Menschheit aufgrund verbesserter optischer Geräte in der Vergangenheit immer mehr und immer neue Fixsterne entdeckt hat, haben Individuen und Kollektive in ihrer bisherigen Geschichte einen Zuwachs an Werterkenntnis bewerkstelligt und werden zukünftig eventuell damit fortfahren. Alle Menschen sind auf irgendwelche Werte hin orientiert, und ihr Tun – und sei dies von außen betrachtet auch noch so unverständlich oder sogar böse – lässt sich als Konsequenz dieser Wertausrichtung verstehen. So können die Taten eines Verbrechers als Folgen eines Wertereigens eingeordnet werden, der aus Werten wie Überlegenheit,
Machtgefühl, Durchsetzungskraft oder Überleben besteht, und dem Werte wie Solidarität, Mitgefühl, Güte, Nachsicht, Gewaltfreiheit, Gerechtigkeit oder Würde fremd sind. Weil jedermann nur Ausschnitte aus dem gesamten Werthorizont erkennt und für sich als wesentlich erachtet, sind die sittlichen Niveaus und Handlungen einzelner Personen verschieden. Wer seine Mitmenschen oder sich selbst erkennen will, muss das fremde oder eigene Werteprofil und die Wertepyramide in Erfahrung bringen – ganz nach dem Motto: »Sage mir, welche Werte für dich relevant sind, und ich sage dir, wer du bist.« Hartmann unterschied niedere, hohe und höchste Werte, sittliche und außermoralische, Grund- und spezielle Werte. Zu den Grundwerten rechnete er das Gute und Edle sowie die Fülle und Reinheit. Bei den speziellen Werten erwähnte er diejenigen der Antike (Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit, Beherrschung), des Mittelalters (Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit, Treue, Demut) und der Neuzeit (schenkende Tugend, Fernstenliebe, Persönlichkeit, Liebe). Als außermoralische Werte galten ihm die Vital-, Sach- und Güterwerte (Leben, Besitz, Bildung) sowie die ästhetischen Werte (zum Beispiel Anmut, Schönheit, Grazie und Erhabenheit). Man sieht: Hartmann integrierte in seiner Ethik sehr verschiedene Werte und Tugenden zu einem komplexen Kanon, wobei er bemüht war, axiologische (die Werte betreffende) Kernaussagen aus den diversen weltanschaulich bedingten Wertvorstellungen (etwa des Christentums) herauszuschälen. Weil er überzeugt war, dass alle bisher in der Menschheitsgeschichte entdeckten und beschriebenen Werte ein Recht auf Erwähnung und Einordnung in sein System haben, gelang es ihm, die Nächsten- ebenso wie die Fernstenliebe zu berücksichtigen, ohne sich in Widersprüchen zu verfangen. Als hochstehende Werte ordnete Hartmann die personalen Werte ein. Würde, Freiheit, Individualität, Autonomie, Vernunft, Solidarität und Humanität gehörten für ihn zum unverlierbaren axiologischen Bestand von Personen. Hätte man den Denker nach auszeichnenden Fähigkeiten und Eigenarten des Homo sapiens gefragt, hätte er wohl auf diese Wertegruppe verwiesen, auf die hin sich Menschen ausrichten können, wenn sie erfolgreich dazu angeleitet werden, und wenn die tägliche Not-
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Conclusio
durft (Ernährung, Wohnen, Gesundheit) sie nicht allzu sehr okkupiert. Das Vermögen des Menschen, sich Werten zuoder sich von ihnen abzuwenden, ist nur auf der Grundlage von Freiheit möglich. Personen greifen aufgrund ihrer axiologischen Orientierung in den Kausal- und Determinationsnexus der Materie und Natur ein, wobei die Freiheit der Entscheidung für oder gegen bestimmte Werte eine Voraussetzung für die Selbstbestimmung von Personen bedeutet. Andererseits wird der Einzelne nach einer WertEntscheidung von dem betreffenden gewählten Wert determiniert – seine Freiheit geht an die Bindung zu Werten und einer bestimmten Wertehierarchie verloren. Erst mit dem Gesichtspunkt der Freiheit und daran anknüpfend der Verantwortung wird der Mensch zu einem sittlich-moralischen Wesen. Hartmann vertrat diesbezüglich eine anthropologische Position, die mit derjenigen der frühen Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres verwandt war. Zugleich wandte er sich gegen materialistische, biologistische oder psychosoziale Determinationslehren, welche die menschliche Freiheit in den ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, in den psychosozialen Schicksalen des Einzelnen oder im Neuronenfeuer des Gehirns untergehen lassen wollen:
» Freiheit ist die Erhebung der Initiative über das blinde Weltgeschehen. Diese Erhebung ist als solche wertvoll, sie hebt den Menschen über die Naturzusammenhänge hinaus, in denen er wurzelt, lässt ihn, ohne ihn dort loszureißen, in das »zweite Reich« hineinragen. Unfreiheit ist … die Knechtschaft des Menschen unter den allgemeinen Ablauf des Geschehens (Hartmann 1962a, S. 352).
«
Conclusio Hartmann hat keine Schule gebildet, so dass Nachfolger fehlten, die seine Lehre weitertrugen. Sodann ist sein Werk in seiner großen Gedankenfülle nur teilweise zeitgemäß. Mehr als viele seiner Kollegen legte er Wert auf Gelehrsamkeit, wissenschaftliche Akribie und zeitlose Gründlichkeit. Hartmann machte nirgendwo Konzessionen an das Sensa-
tionsbedürfnis. Was er schrieb, war nüchtern, aber beinahe überall erhellend. Sechs Jahrzehnte nach seinem frühen Tod kann man feststellen, dass sein Rang jenseits aller Denkmoden fest begründet bleibt. Wer die Geduld hat, seine streng systematische Philosophie durchzuarbeiten, erfährt in allen Fragen erschöpfende Belehrung. Es ist erstaunlich, dass ein Philosoph des 20. Jahrhunderts die Hauptgebiete seines Faches mit fast gleichbleibend tiefer Fundiertheit darzustellen vermochte. Er erinnert diesbezüglich an die Systembauer des deutschen Idealismus, vor allem an Hegel, der ihm ein Vorbild war. Bei Hartmann war die Philosophie mit einem Höchstmaß an Sachkenntnis und kritischem Geist verbunden. Sodann war er davon überzeugt, dass die Arbeit an den Problemen das eigentliche Geschäft des Philosophen sei. Im Grunde sind die uralten Fragen des Denkens, die seit 2500 Jahren die klügsten Köpfe des Abendlandes beschäftigt haben, noch in keiner Weise endgültig gelöst. Daher lohnt es sich, die Tradition aufzuarbeiten, sofern sie Problemgeschichte ist. Das besorgte Hartmann mit grenzenlosem Fleiß und durchdringendem Verstand. Trotz dieser Vorzüge wurde Hartmann im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten wenig rezipiert. Vielleicht hat dazu beigetragen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die anspruchsvolle Art seines Denkens zum abgesunkenen geistigen Niveau selbst mancher Intellektueller und Berufsphilosophen im deutlichen Kontrast stand. Da passten modische Philosophien wie Existentialismus, Sprachphilosophie, Strukturalismus und manche Spielarten des Neomarxismus besser in die allgemeine Szenerie – eine Szenerie, in welcher das Feuilletonistische nicht selten die Oberhand über solides Forschen und Philosophieren gewann. Bezüglich der Anthropologie steht eine ausführliche Rezeption und Weiterentwicklung des Hartmann‘schen Denkens noch aus. Als Ausnahmen erwähnenswert sind die Publikationen Nicolai Hartmanns Lehre vom Menschen (1989, von Arnd Grötz), Nicolai Hartmann zur Einführung (1997, von Martin Morgenstern) und Nicolai Hartmanns philosophische Anthropologie in systematischer Perspektive (2003, von Gerhard Ehrl), denen die vorliegende Abhandlung wertvolle Anregungen verdankt.
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Kapitel • Nicolai Hartmann
Außerdem enthalten die von Heinz Heimsoeth und Robert Heiß herausgegebene Gedenkschrift Nicolai Hartmann – Der Denker und sein Werk (1952) sowie der von Alois Buch edierte Sammelband Nicolai Hartmann – 1882–1982 (1987) interessante Hinweise auf anthropologische Aussagen in Hartmanns Werk. Neben der sparsamen Rezeption innerhalb von Philosophie und philosophischer Anthropologie ist auch eine bisher karge Kenntnisnahme von Hartmanns Lehre in den Lebens-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu konstatieren. Dabei könnte etwa seine Schichtenlehre inspirierend für Disziplinen wie Medizin, Psychologie und Psychosomatik wirken. Nicht wenige Ärzte oder Psychotherapeuten diagnostizieren und therapieren nämlich entweder lediglich die materiell-biologischen oder die seelisch-geistigen Schichten an ihren Patienten und vernachlässigen die jeweils korrespondierenden Dimensionen. Auch im Hinblick auf Pädagogik, Psychohygiene, Soziologie und Politik sowie allgemein auf Gesellschaftswissenschaften und Geschichte wäre eine umfängliche Berücksichtigung der Hartmann‘schen Gedanken zum Begriff und Phänomen der Person anregend. Gerade in den Bereichen von Erziehung und Bildung mangelt es in eklatanter Weise an orientierenden anthropologischen Konzepten, die eine fundierte Diskussion über Methoden, Inhalte und Richtungen des Erziehungs- und Bildungsgeschehens ermöglichen. Eine personale Pädagogik, Psychohygiene, Soziologie oder Politik zu entwerfen, wäre daher ein reizvolles Desiderat für die Zukunft. In diesen und benachbarten Disziplinen und Kulturbereichen dürfte auch die axiologische Debatte, die Hartmann in Weiterentwicklung von Schelers materialer Wertethik angestoßen hat, aufgenommen und fortgeführt werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist allenthalben die Klage über einen weitverbreiteten Wertewandel und Werteverlust zu vernehmen. Nur selten jedoch wird die Diskussion über deren Ursachen und mögliche Überwindung derart seriös und tiefschürfend geführt, wie Hartmann dies in seiner Ethik vorbildlich exemplifiziert hat. Es soll jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, als ob Hartmanns Philosophie über alle Kritik
erhaben wäre. Als Mangel wurde weiter oben bereits die fehlende Auseinandersetzung des Denkers mit den zu seiner Zeit modernen Strömungen der Psychoanalyse sowie der Gestalt- und Tiefenpsychologie erwähnt. Anders als bei der französischsprachigen Phänomenologie und Existenzphilosophie (Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty) gibt es keine Stellungnahmen Hartmanns zu den von der Psychoanalyse so beredt beschriebenen und anthropologisch relevanten Phänomenen wie Unbewusstes, Verdrängung, Narzissmus, Fehlleistung, Trieb, Traum, Neurose, Perversion oder Sexualität. Ausführungen zu diesen Themenfeldern aus der Feder Hartmanns wären auch deshalb reizvoll, weil er im Hinblick auf die Beschreibung des Menschen ein strikt biperspektivisches Vorgehen wählte:
» Was hier Not tut, ist gerade das vollständige Loskommen von den einseitigen Ansätzen, vom idealistischen wie vom naturalistischen. Stattdessen bedarf es vielmehr des doppelten Ansatzes, und zwar so, dass er das einheitliche Bild des Menschen nicht zerreißt. Denn der Mensch ist ein mehrschichtiges Wesen, und die heterogenen Gesetzlichkeiten des Organismus, des Seelenlebens und des Geistes bestehen in ihm zusammen, sich in ihm überlagernd und mannigfach ineinander greifend. Man kann also das Ganze seines Wesens nur so fassen, dass man zum mindesten von beiden Seiten zugleich vorgeht, vom Naturwesen und vom geistigen Wesen im Menschen (Hartmann 1955a, S. 216).
«
Bei diesen Versäumnissen Hartmanns (die in der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht singulär sind) muss man jedoch einräumen, dass im Gegenzug auch weder die Gründerväter der Tiefenpsychologie noch (bis auf wenige Ausnahmen, z. B. Josef Rattner) ihre Nachfolger die Philosophie Hartmanns adäquat zur Kenntnis genommen haben. Der Philosoph ebenso wie der überwiegende Teil der Psychoanalytiker, Tiefenpsychologen, Psychiater und Mediziner haben uns im Hinblick auf einen interdisziplinären philosophisch-psychologisch-medizinischen Dialog umfängliche Aufgaben hinterlassen.
Literatur
Literatur Buch A (Hrsg) (1987) Nicolai Hartmann – 1882–1982. Bouvier, Bonn Ehrl G (2003) Nicolai Hartmanns philosophische Anthropologie in systematischer Perspektive. Junghans, Cuxhaven Grötz A (1989) Nicolai Hartmanns Lehre vom Menschen. Peter Lang, Frankfurt am Main Harich W (2000) Nicolai Hartmann – Leben, Werk, Wirkung. Königshausen & Neumann, Würzburg Harich W (2004) Nicolai Hartmann – Größe und Grenzen. Versuch einer marxistischen Selbstverständigung. Königshausen & Neumann, Würzburg Hartmann N (1955a) Naturphilosophie und Anthropologie. In: Kleinere Schriften Band I. de Gruyter, Berlin (Erstveröff. 1944) Hartmann N (1955b) Kleinere Schriften Band I – Abhandlungen zur systematischen Philosophie. de Gruyter, Berlin Hartmann N (1962a) Ethik. de Gruyter, Berlin (Erstveröff. 1926) Hartmann N (1962b) Das Problem des geistigen Seins. de Gruyter, Berlin (Erstveröff. 1933) Hartmann N (1964) Der Aufbau der realen Welt. de Gruyter, Berlin (Erstveröff. 1940) Hartmann N (1965) Zur Grundlegung der Ontologie. de Gruyter, Berlin (Erstveröff. 1935) Heimsoeth H, Heiß R (Hrsg) (1952) Nicolai Hartmann – Der Denker und sein Werk. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Morgenstern M (1997) Nicolai Hartmann zur Einführung. Junius, Hamburg
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Martin Heidegger Biographisches – 60 Werkanalyse – 63 Conclusio – 69 Literatur – 71
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Martin Heidegger
. Abb. 1 Martin Heidegger (*1889; †1976). (Aus Stumm et al. 2005)
Wenn wir bei Heidegger um sein Einverständnis nachsuchen könnten, ihn in einen Sammelband über Anthropologie aufzunehmen, würde der Philosoph uns wahrscheinlich eine entrüstete Abfuhr erteilen. Er wollte Fundamentalontologe sein und als solcher die Geheimnisse des Seins belauschen. Dass er dabei – vor allem in seinem bekanntesten Werk Sein und Zeit (1927) – auch Aussagen über den Menschen gemacht hat, war für ihn lediglich ein notwendiger vorbereitender Schritt hin zu den großen ontologischen Erkenntnissen. Wie andere anthropologisch interessierte Ärzte (z. B. Ludwig Binswanger oder Medard Boss) nehmen wir uns jedoch ebenfalls die Freiheit heraus, Heidegger als Anthropologen zu lesen (. Abb. 1).
Biographisches Martin Heidegger wurde 1889 als Sohn eines Mesners im süddeutschen Städtchen Meßkirch geboren. Die Familie war streng katholisch. 1892 kam seine Schwester Maria und 1894 sein Bruder Fritz zur Welt. Martin und Fritz blieben einander zeitlebens eng verbunden. Aufgrund der finanziell kargen Mittel der Familie war trotz der großen Begabung von Martin an den Besuch einer höheren Schule vorerst nicht zu denken. Da sich der Ortspfarrer für ihn einsetzte, erhielt der Knabe ein Stipendium, mit dem er in Konstanz an einer Schule für zukünftige Geistliche aufgenommen wurde. Ab 1906 besuchte er das bischöfliche Seminar in Freiburg und absolvierte das Gymnasium. Nach seinem Abitur wurde er 1909 für wenige Wochen Novize in einem Jesuitenorden
und begann daraufhin das Studium der Theologie und Philosophie am Priesterseminar der Universität Freiburg. Sein Ziel war es, irgendwann einen Theologielehrstuhl zu übernehmen. Um 1911 geriet Heidegger in eine Glaubenskrise und brach das Theologiestudium ab. Stattdessen studierte er Philosophie als Hauptfach, ergänzt um einige naturwissenschaftliche Nebenfächer und Mathematik. 1913 schloss er seine Studien mit einer Dissertation über Die Lehre vom Urteil im Psychologismus ab. Zwei Jahre später gelang ihm bei Heinrich Rickert mit einer Arbeit über Die Kategorienund Bedeutungslehre des Duns Scotus die Habilitation. Duns Scotus war ein mittelalterlicher Denker aus der Gruppe der Nominalisten. Diese vertraten die fortschrittliche Auffassung, dass die Allgemeinbegriffe Worte und keine Fakten sind – eine Position, die seinerzeit von der Kirche bekämpft wurde. Im Ersten Weltkrieg wurde Heidegger aufgrund seines schwachen Herzens zuerst zu einer Poststelle in Freiburg eingezogen und später zur Wetterbeobachtung abkommandiert; 1918 wurde er ausgemustert. Ein Jahr zuvor hatte er Elfride Petri geheiratet, Tochter eines sächsischen Obersten. 1919 kam ihr erster Sohn Jörg und im Sommer 1920 der Sohn Hermann zur Welt. Der Vater von Hermann war ein Jugendfreund Elfrides (der Arzt Friedel Caesar), worüber in der Familie nie gesprochen wurde. Ab 1916 lehrte Edmund Husserl als Nachfolger von Rickert an der Universität Freiburg. Heidegger kam in Kontakt mit ihm, und weil der Philosophieordinarius dessen Qualitäten erkannte, machte er ihn zuerst zu seinem Assistenten und kurze Zeit später zum Direktor seines philosophischen Seminars. Heidegger ließ sich diese Förderung gefallen; wenig später aber schrieb er an Karl Jaspers: »Husserl ist gänzlich aus dem Leim gegangen und sagt Trivialitäten, dass es einen erbarmen möchte.« Ab 1920 bahnte sich die Freundschaft Heideggers mit Jaspers an, der in Heidelberg lehrte. Die beiden eröffneten eine Korrespondenz und bildeten eine »Kampfgemeinschaft«, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die tradierte Universitätsphilosophie durch innovatives und revolutionäres Denken von Grund auf zu erneuern. Heidegger fühlte sich stark im süddeutschen Landleben verwurzelt. Es war daher folgerichtig, dass seine Frau von ihren Ersparnissen ein Grund-
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Biographisches
stück in Todtnauberg im Schwarzwald kaufte und nach ihren Plänen darauf eine Hütte bauen ließ. Ab 1922 diente sie als Refugium für den Denker, der in der ländlichen Abgeschiedenheit einen Großteil seiner Werke verfasste. Eigenem Bekunden nach war seine »ganze Arbeit von der Welt dieser Berge und Bauern getragen und geführt«. Inzwischen setzte sich der akademische Aufstieg Heideggers fort. 1923 wurde er Professor in Marburg und blieb dort bis 1929. Marburg war lange Zeit eine neukantianische Hochburg gewesen, wofür die Namen Hermann Cohen, Paul Natorp und Ernst Cassirer standen. Der Erstere war damals bereits emeritiert, indes der Letztere über Berlin nach Hamburg berufen worden war. So traf Heidegger, dessen Familie vorerst in Freiburg wohnen blieb, in Marburg auf Natorp sowie auf Nicolai Hartmann. Zu diesem baute er starke Rivalitätsgefühle auf, die ein gemeinsames Philosophieren unmöglich machten. An Jaspers schrieb er im Hinblick auf Hartmann: »Ich werde ihm – durch das Wie meiner Gegenwart – die Hölle heiß machen.« Heidegger galt als philosophischer Lehrer, von dem es hieß, dass man bei ihm tatsächliches Denken lernen könne. In seinem eigens für ihn angefertigten bäuerlich-sportlichen Dress (von Studenten als »existentieller Anzug« bezeichnet) erläuterte der kleinwüchsige Mann mit dramatisierend-pathetischer Stimme den Zuhörern seine Sicht der Welt. Wie faszinierend Heidegger dabei gewirkt haben muss, macht die Liste seiner Studenten offenkundig. Unter ihnen befanden sich Hans-Georg Gadamer, Gerhard Krüger, Wilhelm Szilasi, Karl Löwith, Hans Jonas und Hannah Arendt. Letztere war als 18-Jährige aus Königsberg nach Marburg gekommen, um den Zauberer aus Meßkirch zu hören. Bald entspann sich ein Liebesverhältnis zwischen ihr und Heidegger, das beide lange Zeit geheim hielten. Hannah wurde für den Denker nicht nur wegen ihrer weiblichen Reize, sondern auch aufgrund ihrer Fähigkeiten zum inspirierend-philosophischen Gedankenaustausch wichtig. 1927 wurde Sein und Zeit publiziert, das Heidegger zum Großteil in seiner Hütte von Todtnauberg konzipiert hatte. Es erschien als Band VIII der Reihe Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
Forschung, dessen Herausgeber Husserl war. Als Widmung vermerkte der Autor: »Edmund Husserl in Verehrung und Freundschaft zugeeignet.« Das Werk erregte in der Fachwelt großes Aufsehen. Hartmann sprach von einem sehr bedeutenden Buch, und der bereits schwerkranke Max Scheler reiste nach Berlin, um dem zuständigen Minister anhand von Sein und Zeit zu erklären, warum Heidegger und kein anderer der geeignete Nachfolger für Husserl wäre, der 1928 emeritiert werden sollte. Tatsächlich wurde Heidegger als Ordinarius für Philosophie nach Freiburg berufen. Im Sommer 1929 hielt er seine Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?«, worin er seinen eigenwilligen Denkstil präsentierte und metaphysische Forschung nicht in Text-, sondern in Existenzanalysen des menschlichen Daseins verankerte. Im selben Jahr publizierte er Kant und das Problem der Metaphysik. In Freiburg setzte sich sein Lehrerfolg fort; nun saßen unter anderem Ernesto Grassi, Eugen Fink, Karl Rahner und Emmanuel Lévinas im Auditorium. Im März 1929 war es bei den Davoser Hochschultagen zu einem Gelehrtendisput zwischen Heidegger und Cassirer gekommen; thematisch sollte es bei dieser Auseinandersetzung um die Philosophie Immanuel Kants gehen. Der in zünftig-sportlicher Kleidung auftretende Heidegger verteidigte dabei in bekannt schneidiger Manier sein eigenes Denken, indes der weltmännisch-vornehme Cassirer in distinguierter Form seine Argumente vortrug. Die in der Mehrzahl radikalisierten Studenten applaudierten vor allem dem Ersteren, der damals schon antisemitisches Gedankengut in sich trug. In einem Brief an Victor Schwoerer schrieb er:
»
Wir [stehen] vor der Wahl …, unserem deutschen Geistesleben wieder echte bodenständige Kräfte und Erzieher zuzuführen oder es der wachsenden Verjudung im weiteren und engeren Sinne endgültig auszuliefern (Heidegger: Brief an Victor Schwoerer vom 02.10.1929, zit. nach Thomä 2003, S. 523).
«
Wie berühmt und in akademischen Kreisen anerkannt Heidegger in den 30er Jahren war, wird an zwei Rufen deutlich, die er nach Berlin auf den
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Kapitel • Martin Heidegger
ehemaligen Lehrstuhl von Fichte, Hegel, Schelling und Dilthey erhielt. Beide Male lehnte er ab. Als Begründung schrieb er, dass er nur auf dem heimatlichen Boden wahrhaft denken könne. Und in unfreiwillig komischer Wendung fügte er hinzu, er habe einen alten Bauern gefragt, wie er sich angesichts der Angebote aus der Hauptstadt verhalten solle. Der habe mit Kopfschütteln geraten: »Unerbittlich nein!« Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurde Heidegger im April fast einstimmig zum Rektor der Freiburger Universität gewählt; wenige Tage später trat er sehr zum Gefallen seiner Gattin Elfride in die NSDAP ein. Der konservativ-völkische Denker sah eine große Zeit anbrechen, bei deren revolutionärer Dynamik er an der Spitze der Bewegung stehen wollte. In blamabel-kitschigen Reden (Rektoratsrede, Schlageter-Rede, Ansprache zur Sonnwendfeier) pries er die neuen politischen Verhältnisse und machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für die braunen Barbaren. 1934 trat Heidegger gekränkt vom Rektorat zurück, weil seine ehrgeizigen Pläne (Dozentenakademie in Berlin) nicht realisiert wurden, und weil er nicht (sein Wunschtraum) philosophischer Führer des Führers geworden war. Er brach den Kontakt zu Husserl ab und sah tatenlos zu, wie man diesem die Venia Legendi und damit die Emeritusbezüge entzog. Ab 1935 stellte er die Korrespondenz mit Jaspers ein, dessen Frau Jüdin war. 1936 traf er in Rom auf Karl Löwith, der wegen seiner jüdischen Abstammung dorthin emigriert war. Der »sensible Denker« trug dabei stolz sein Parteiabzeichen und schwärmte seinem ehemaligen Schüler vor, wie sehr der Nationalsozialismus der für Deutschland vorgezeichnete Weg sei. Nach 1945 wollte sich Heidegger an all das nicht mehr erinnern. Im Gegenteil: Er sprach von einem Kesseltreiben, das gegen ihn während der NS-Zeit veranstaltet worden war, und das ihn in die innere Emigration hatte gehen lassen. 1946 erlitt er einen seelischen Zusammenbruch, woraufhin man ihn in die Klinik Viktor Emil von Gebsattels nach Badenweiler brachte. Der erfahrene Arzt und Menschenkenner verzichtete wohlweislich auf eine psychotherapeutische Aufarbeitung von Heideggers Lebensgeschichte. Stattdessen wanderte er mit
ihm im Schwarzwald, was den Philosophen sichtlich stabilisierte. In den späten 40er Jahren kam es zu unterschiedlichen Urteilen über die Rolle, die Heidegger während des Dritten Reiches gespielt hatte. Ein Gutachten von Jaspers belastete ihn, wohingegen andere Stimmen für eine harmlosere Einschätzung seines Verhaltens plädierten. Zum Schluss erhielt er 1951 seinen Professorentitel inklusive seiner Venia Legendi und der Altersbezüge wieder zugesprochen. Heidegger war rehabilitiert. In den 50er Jahren erfuhr der Denker einen erstaunlichen Zulauf. Der französische Existentialismus verehrte ihn als Erzvater; der Schweizer Psychoanalytiker Medard Boss befreundete sich mit ihm und begann, die Existenzphilosophie auf medizinische Probleme anzuwenden; manche Geisteswissenschaftler (z. B. der Germanist Emil Staiger) entdeckten Heidegger für sich und übertrugen Sein und Zeit auf Gebiete ihrer Forschung. Auch Hannah Arendt suchte wieder Kontakt zu ihm, obgleich sie in Briefen an Jaspers ihre Ambivalenz zum Ausdruck brachte. Heidegger genoss den Ruhm in vollen Zügen. Er wurde Mitglied verschiedener wissenschaftlicher und künstlerischer Akademien (Berlin, Heidelberg, München). Außerdem erfolgten Einladungen nach Frankreich, wo sich der Lyriker René Char eng mit dem Philosophen angefreundet hatte, und wo der Denker einen elitären Kreis in Philosophie unterrichtete. In seinen letzten Jahren erfolgte bei Heidegger eine Rückwendung zum Glauben seiner Kindheit. Das hatte sich schon in manchen seiner späten Publikationen angedeutet (Unterwegs zur Sprache, 1959; Die Frage nach dem Ding, 1962; Zur Sache des Denkens, 1969), in denen er sich in einem mystischen Stil über das Sein (bei ihm als Seyn stilisiert) äußerte, das für ihn die maßgebliche kosmische und geistige Urmacht war. Als Heidegger 1976 im 87. Lebensjahr starb, wurde er in Meßkirch, wo er in der Zwischenzeit Ehrenbürger geworden war, auf eigenen Wunsch kirchlich begraben.
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Werkanalyse
Werkanalyse Ab 1975 war man darangegangen, eine Gesamtausgabe von Heideggers Werken zu realisieren. Von den geplanten über Hundert Bänden sind bisher etwa siebzig erschienen. Hinzu kamen Tausende Seiten Briefe, die als Briefwechsel (z. B. mit Karl Jaspers, Hannah Arendt, Heinrich Rickert) ediert wurden. Berücksichtigt man noch die kaum zu überblickende Sekundärliteratur zu Leben und Werk Heideggers, wird man zugeben müssen, dass eine ausführliche oder gar lückenlose Bearbeitung dieses Materials einer Lebensaufgabe gleichkommt. Da dies hier nicht im Sinne des Autors ist, sind die werkanalytischen Ausführungen beschränkt auf Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit und ergänzend dazu auf Schriften respektive Vorlesungsmanuskripte wie Hermeneutik der Faktizität (1923), Was ist Metaphysik (1929), Kant und das Problem der Metaphysik (1929), Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) und Über den Humanismus (1947). z
Hermeneutik der Faktizität
An Heideggers Schriften fällt auf, dass es trotz der großen Zahl von Bänden in der Gesamtausgabe nur wenige größere und in sich geschlossene Abhandlungen gibt. Dazu zählen neben Sein und Zeit das Buch Kant und das Problem der Metaphysik sowie die beiden Bände über Nietzsche (1936–46). Ansonsten finden sich viele Aufsätze und Vorlesungsmanuskripte, bei denen nicht selten bereits in Titeln wie Wegmarken, Holzwege oder Unterwegs zur Sprache das Fragende und Unvollendete im Denken Heideggers angedeutet wird. Beim Band Hermeneutik der Faktizität handelt es sich um den Text einer frühen Freiburger Vorlesung, die Heidegger im Sommersemester 1923 gehalten hat. Einer seiner Studenten war damals Hans-Georg Gadamer, für den diese Lehrveranstaltung zum Erweckungserlebnis in Bezug auf das Hauptthema seines eigenen späteren Philosophierens geworden ist. Die genaue Überschrift des Vorlesungskonvoluts lautet Ontologie – Hermeneutik der Faktizität. In seinem Vorwort erläuterte Heidegger zum einen den Begriff der Ontologie, den er mit Lehre vom Sein übersetzt wissen wollte. Dabei war ihm wichtig zu betonen, dass er damit nicht auf eine philo-
sophische Disziplin oder Schulrichtung abzuheben gedachte. Zum anderen machte er deutlich, dass der erste Schritt einer jeden Ontologie im Zugang zum alles entscheidenden Seienden – nämlich dem Dasein respektive dem Menschen – besteht. Nur wer hinlänglich klärt, wie der Mensch als Untersucher und Forscher des Seins beschaffen ist, und wie er sich und die Welt um sich her befragt, kann mit Aussicht auf Erkenntniszuwachs ontologische Studien betreiben. Was aber soll der Zusatz »Hermeneutik der Faktizität« bedeuten? Mit Faktizität bezeichnete Heidegger zu jener Zeit den Menschen, den er auch als Dasein titulierte. Die Faktizität oder das Dasein ist nun allerdings kein x-beliebiger Gegenstand, sondern ein Lebewesen, das sich und die gesamte Welt verstehen will. Für die Kunst des Verstehens wurde schon lange der Begriff der Hermeneutik verwendet, wobei sich der Alt- und Großmeister der Hermeneutik Wilhelm Dilthey mit diesem Terminus vor allem auf das geisteswissenschaftliche und historiographische Verstehen von Texten und geschichtlichen Ereignissen bezogen hatte. Bei Heidegger erfuhr dieser Begriff eine entscheidende Erweiterung und Veränderung. Ihm ging es beim Verstehen nicht mehr primär um das Erkennen von Sinnzusammenhängen im Bereich von Kunst, Literatur und Geschichte, sondern um den Verstehenden selbst, der sich mithilfe der Hermeneutik Klarheit über sich selbst verschaffen sollte. Verstehender, befrage und verstehe dich selbst! – so könnte man eine wesentliche Botschaft Heideggers in seiner frühen Freiburger Vorlesung komprimieren:
»
Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein (Heidegger 1988, S. 15).
«
Welche Erkenntnisse über sich und die Welt gewinnt ein derart sich selbst befragendes Dasein? Heidegger meinte, dass ein solcher Hermeneutiker
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Kapitel • Martin Heidegger
auf die Grunderfahrung stößt, nicht lediglich (wie alle anderen Dinge der Welt) zu sein, sondern sich dieses Seins gewahr zu werden. Ich bin nicht nur – ich vollziehe mein Dasein. Und diesen Vollzug bezeichnete der Philosoph als Existenz: »Die eigenste Möglichkeit seiner selbst, die das Dasein (Faktizität) ist, … sei bezeichnet als Existenz« (Heidegger 1988, S. 16). Als Voraussetzungen solchen Existierens benannte Heidegger die Wachheit oder den hermeneutischen Einsatz. Ein Dasein, das sich nicht um sein eigenes Verstehen sorgt, döst oder schläft mehr oder minder im Zustand der Selbstentfremdung vor sich hin. Der Philosophie komme die Aufgabe zu, die Menschen zu einem wachen Dasein aufzurütteln und ihnen aufzuzeigen, dass sie und wie sie sich selbst oftmals aus dem Wege zu gehen versuchen. Das Heidegger‘sche Denken um 1923 wollte also Unruhe stiften und die Menschen dazu aufrufen, ihre Bequemlichkeit und ihre Angst vor der Unwägbarkeit der eigenen Individualität zu überwinden. Die Existenz als Ausdruck ureigenster Aufgaben und Möglichkeiten (später bezeichnete Heidegger diese als Freiheit) wirkt anstrengend und unsicher – daher flüchten sich viele in die tradierten und öffentlich verfügbaren Floskeln und Angebote, wie denn der Mensch, das Leben oder die Kultur sei:
»
Das Dasein bewegt sich (Grundphänomen) in einer bestimmten Weise des Redens von ihm selbst, das Gerede (Terminus) … Das Gerede beredet alles in einer eigentümlichen Unterschiedsunempfindlichkeit. Als solche Durchschnittlichkeit, das ungefährliche »Zunächst«, Zunächst als Zumeist, ist die Öffentlichkeit die Seinsweise des »Man«: man sagt, man hört, man erzählt, man vermutet, man erwartet, man ist dafür, dass … Das Gerede gehört niemand, niemand steht dafür ein, das Man hat es gesagt (Heidegger 1988, S. 31f.).
«
Ein Dasein, das sich auf den Weg zu sich selbst und seinen jeweiligen Möglichkeiten begibt, muss dieses Gerede als solches erkennen und zur Seite räumen. Heidegger erachtete eine Hermeneutik der Faktizität daher als einen primär abbauenden, destruierenden Vorgang. Die vorgegebenen
Auslegungsmuster für das menschliche Existieren müssten durchsichtig gemacht werden, wobei sich in der Vergangenheit die Wissenschaften wie die Philosophie als ergiebige Quellen für Gerede herausgestellt haben. Mit ihren Formeln, angeblichen Wahrheiten, wissenschaftlichen Ergebnissen und großartigen Denksystemen haben auch sie die Selbstentfremdung der Menschen befördert und deren Flucht vor sich selbst mit guten Argumenten gestützt. z
Sein und Zeit
Heidegger ging es also weniger darum, Antworten auf die Fragen nach dem Menschen und seiner Welt zu liefern – das hatten in den vergangenen Jahrhunderten schon Generationen von Philosophen vor ihm versucht, und oft genug endeten sie im bloßen Gerede. Statt Philosophiegelehrsamkeit beabsichtigte er, die Fragen nach Mensch und Welt neu zu stellen und vor allem diese Fragen offen zu halten. Die Philosophiegeschichte hat sich Heidegger zufolge im Grunde als eine Geschichte der Verdeckung von wesentlichen Fragen erwiesen. Sie habe nicht nur die Fragen nach dem Sein vergessen – auch das Faktum dieses Vergessens war ihr nicht mehr präsent. Daher müsse jedes fundamentalontologische Denken die Aufhebung der Seinsvergessenheit wie auch ihres Ausblendens zum Ziel haben: »Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.« Heideggers Hermeneutik der Faktizität machte darin einen beachtlichen Anfang und war gleichzeitig doch nur ein Präludium für das kommende Hauptwerk Sein und Zeit. Hierin wollte der Philosoph radikale, also an die Wurzeln gehende Fragen nach der Beschaffenheit des Seins und damit auch nach Sinn, Wert und Bedeutung von menschlichem Dasein, Natur und Kultur und des gesamten Kosmos stellen. Nach Heideggers Konzept ist das nur möglich, wenn man zuvor jenes Seiende untersucht, welches die Frage nach dem Sein stellt und bereits ein Vorverständnis vom Sein in sich trägt. Das ist der Mensch, der in seinem alltäglichen Umgang mit Dingen, Aufgaben und Verhältnissen der Welt deutlich macht, dass er über ein hohes Maß an Seinsverständnis verfügt. Daher eröffnete Heideg-
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Werkanalyse
ger sein Nachdenken über das Sein mit einer Analyse des menschlichen Alltagslebens. Dabei ging Heidegger nicht wie viele seiner Vorläufer von einem erkennenden »Cogito«, sondern von einem verstehenden Menschen mit vorreflexivem Verstehenshorizont aus. Dieser Mensch, den Heidegger als das Dasein bezeichnete, steht nicht wie ein einsames Subjekt seinen Objekten gegenüber. Er lebt vielmehr immer schon draußen bei der Welt, wofür der Philosoph den Begriff der Existenz wählte (vom lateinischen ek-sistere, was soviel wie draußen stehen bedeutet). Bei der Analytik des Daseins (Erforschung des Menschen in seiner Welt) stieß Heidegger auf verschiedene Seinscharaktere, die er – weil das Wesen des Daseins in seiner Existenz liegt – Existentiale nannte. Diese entsprechen den Kategorien, die sich auf die nichtmenschlichen Dinge, Lebewesen und Verhältnisse beziehen. Ein erstes wichtiges Existential bei der Beschreibung des Daseins ist sein In-der-Welt-Sein. Heidegger wollte damit zum Ausdruck bringen, dass Menschen nicht wie Gegenstände neben anderen Objekten in einem Behälter, sondern in steter Bezugnahme auf die Totalität der Welt existieren. Was immer die Erde zu bieten hat (Materielles, Natur, Kultur, die Mitmenschen) – das jeweilige Dasein hat damit potentiellen Umgang, sei es auf alltägliche, handwerkliche, mythologisch-religiöse, künstlerische, wissenschaftliche oder philosophische Art. Den tätigen Umgang mit der Welt bezeichnete Heidegger als das Besorgen. Dieses bezog er auf vielerlei Alltagsverrichtungen, auf den Umgang mit Materialien etwa oder auf die Aktivitäten zur Selbsterhaltung. Das Urverhältnis zur Wirklichkeit ist demnach ein praktisches. Besonders die Umsicht ist jene Haltung und Einstellung, welche für das Besorgen angemessen ist. Das In-der-Welt-Sein bedeutet jedoch nicht nur Umgang mit Dingen oder alltäglichen Aufgaben. Darüber hinaus begegnen Menschen permanent ihren Mitmenschen – ein Phänomen, das in Sein und Zeit unter dem Begriff des Mitseins figuriert und als eigenes Existential gilt. Den Umgang des Daseins mit anderen Menschen wollte Heidegger nicht unter den Terminus des Besorgens subsumieren; stattdessen bot sich derjenige der Fürsorge an.
Heidegger unterschied die zwei Formen der vorspringend befreienden und der einspringend beherrschenden Fürsorge. Im günstigen Fall der vorspringend befreienden Fürsorge ist das Dasein darum bemüht, dem Mitmenschen Freiräume an die Hand zu geben, seine Existenz selbst zu gestalten; Rücksicht und Nachsicht sind die dazu gehörigen Attribute. Einspringend beherrschende Fürsorge dagegen ist oft genug durch Rücksichtslosigkeit geprägt. Dabei nimmt das Dasein seinem Mitmenschen die Last der Selbstverwirklichung ab – eine Form der Fürsorge, die man als Verwöhnung oder Abhängigkeit bezeichnen kann. Neben dem Besorgen und der Fürsorge trifft man in Sein und Zeit auch auf den Begriff der Sorge. Damit sind nicht die vielen kleinen oder größeren Sorgen gemeint, mit denen sich Menschen immer wieder herumschlagen müssen. Heidegger meinte mit Sorge vielmehr eine Art gespannter Konzentration des Menschen auf sein Sich-vorweg-Sein. Der Mensch ist ein Wesen der Zukunft. Zwar wird er zufällig in bestimmte und ihn begrenzende Situationen hineingeboren – ein Faktum, das Heidegger als die Geworfenheit bezeichnete. Auf diese Geworfenheit antwortet er jedoch mit einem Entwurf: Er reagiert auf Begrenzungen, Einschränkungen, Chancen, Verlockungen usw. im Sinne von Akzeptanz, Kampf, Überschreitung, Rückzug, Resignation usw. Im Entwurf und in der konkreten Antwort des Daseins auf seine Geworfenheit sind Freiheitsmomente enthalten. Der Mensch kann sich und seine Individualität entwickeln oder stagnieren lassen, er kann sich selbst verwirklichen oder verfehlen. Das Dasein sorgt sich um die Gestaltung seiner Zukunft, wenn möglich im Sinne einer Selbstauszeugung der Person (Alexander Pfänder). Weil in der Regel das Besorgen und die Fürsorge zur Selbstverwirklichung eines Daseins beitragen, sind sie beim Begriff der Sorge mitgemeint:
»
Im Sich-vorweg-Sein als Sein zum eigensten Seinkönnen liegt die existential-ontologische Bedingung der Möglichkeit des Freiseins für eigentliche existentielle Möglichkeiten. Das Seinkönnen ist es, worumwillen das Dasein je ist, wie es faktisch ist. Sofern nun aber dieses Sein zum Seinkönnen selbst durch die Freiheit bestimmt wird,
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Kapitel • Martin Heidegger
kann sich das Dasein zu seinen Möglichkeiten auch unwillentlich verhalten, es kann uneigentlich sein und ist faktisch zunächst und zumeist in dieser Weise (Heidegger 1986, S. 193).
«
Heidegger unterschied zwei Seinsweisen des Daseins: eigentlicher und uneigentlicher Modus der Existenzgestaltung. Den Ersteren bezeichnete er als eigentliches Ich-selbst-Sein und stellte dies dem uneigentlichen Man-Selbst-Sein gegenüber. Mit emotionaler Bewegtheit, die von den meisten Heidegger-Experten nicht als selbstverständlich angesehen wird, polemisierte er gegen jenes Man, über das er sich bereits in Hermeneutik der Faktizität nicht gerade freundlich geäußert hatte:
»
Das Man hat selbst eigene Weisen zu sein … Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Alles Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft … Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweisen des Man das, was wir als »die Öffentlichkeit« kennen … Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus (Heidegger 1986, S. 127).
«
Mit seiner Kritik am Man und damit am Massenzeitalter griff Heidegger eine Denkfigur auf, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vor allem von konservativer Seite als grundlegende Skepsis allen Kollektiven gegenüber formuliert worden war. Entsprechend geißelte der Philosoph die Selbstvergessenheit des Menschen im öffentlichen Man. Ein Leben in den Normen, Moden und Schablonen der Majorität sei in keiner Weise menschenwürdig. Das Man bedeutete für Heidegger eine Verfallsform der Existenz, in der fast alle Menschen permanent verfangen sind. Spielarten des Verfallenseins an das Man sind das Gerede (bereits in Hermeneutik der Faktizität erwähnt) sowie die Neugier und die Zweideutigkeit. Heideggers durchaus schillernde und plastische Wortwahl trug nicht unwesentlich dazu bei, die ganze Tragik des Man-selbst-Seins zu verdeutlichen. Er sprach vom Absturz in die Bodenlosigkeit des uneigentlichen Seins oder von einem Wirbel
des Man, in welchen das betreffende Dasein hineingezogen wird. Das bedauernswerteste Resultat des Man-selbst-Seins aber ist der Selbstverlust: »Jeder ist der Andere und Keiner er selbst« (Heidegger 1986, S. 128). Aus solchen Sätzen lässt sich unschwer ablesen, dass Heidegger von der grundsätzlichen Möglichkeit und Aufgabe des Daseins überzeugt war, im Modus des eigentlichen Ich-selbst-Seins existieren zu können und zu sollen. In diesem Sinne interpretierte er auch die Gewissensfunktion des Menschen, die in ihrem existentiellen Gehalt (anders als das vulgäre Gewissen) eine Aufforderung zum Ich-selbst-Sein beinhaltet. Allerdings darf man sich den Ruf dieses existentiellen Gewissens nicht allzu laut vorstellen. Im Gegenteil: »Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens« (Heidegger 1986, S. 173). Auch das vulgäre Gewissen mit seinen üblichen Vorwürfen, Beschuldigungen und »Bissen« meldet sich stumm, wenngleich effektiv. Damit übertönt es aber ebenso wie das laute Gerede des Man die noch leisere Stimme des existentialen Gewissens:
» Dass man, nur lautes Gerede hörend und verstehend, keinen Ruf »konstatieren« kann, wird dem Gewissen zugeschoben mit der Ausrede, es sei »stumm« und offenbar nicht vorhanden. Mit dieser Auslegung verdeckt das Man nur das ihm eigene Überhören des Rufes und die verkürzte Reichweite seines »Hörens« (Heidegger 1986, S. 296).
«
Da sich das Man überall ausgebreitet hat und allmächtig scheint, ist die vom existentiellen Gewissen empfohlene Emanzipationsbewegung hin zum Ich-selbst-Sein und zur Authentizität selten und schwierig. Heidegger betonte, dass ein jedes SichLosreißen von der Majorität den Einzelnen verunsichert und ängstigt. Die Eigentlichkeit des Daseins sei nur um den Preis von Einsamkeit und Angst zu erringen. Mit der Angst sind wir beim Existential der Befindlichkeit respektive der Stimmungen angelangt. Wenn Heidegger von Stimmungen sprach, zielte er nicht auf innerseelische Phänomene ab. Weil das Dasein als In-der-Welt-Sein verstanden wird, sind Emotionen vielmehr als Tönungen des individuel-
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len Weltbezugs und des Erschließens von Weltmotiven zu begreifen. Diese Zusammenhänge exemplifizierte Heidegger in Sein und Zeit vorrangig an der Emotion der Angst; im Vorlesungsmanuskript Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929/30) griff er auf die Langeweile zurück, um seine diesbezüglichen Ansichten zu verdeutlichen. In der Angst erfährt das Dasein seine Ungeborgenheit und Heimatlosigkeit in der Welt, die für es charakteristisch sind. Wenn es nicht will, dass sich seine Existenz lediglich im Verfallensein an das Man erstreckt, muss es gewärtig sein, auf sich selbst und damit auf die Vereinzelung sowie auf die eigenen Möglichkeiten und Freiheitsgrade zurückgeworfen zu werden:
»
Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Sein-Können, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für … die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist (Heidegger 1986, S. 188).
«
Durch die Angst, durch dieses »Zurückweichen des Seienden im Ganzen«, wird sich das Dasein seiner selbst bewusst. So kann die Verängstigung zum Ausgangspunkt einer Orientierung am eigentlichen Ich-selbst-Sein werden. Darüber hinaus macht sich in der Angst jedoch auch ein Wissen oder Ahnen des Todes bemerkbar. Der Mensch ist das einzige Wesen, das um den Tod weiß und gedanklich zum möglichen Ende des Daseins vorstößt. In vielen Fällen reagiert der Betreffende auf das Empfinden oder Bedenken dieser unerbittlichen Begrenzung mit Ablenkungen aller Art oder mit billigen Vertröstungen und Bagatellisierungstendenzen. Der Tod war für Heidegger jedoch ein existentielles Absolutum, mit dem sich jedes Dasein auseinandersetzen muss, wenn es das Wagnis des Ich-selbst-Seins auf sich nehmen will. Heidegger in seiner heroisierenden Art empfahl sogar das (gedankliche) »Vorlaufen zum Tode«. Dies sei eine Haltung und Qualität, die auf entschlossenes Existieren des Menschen schließen lasse. Es gab so manche Interpretationen, wie ein derartiges Vorlaufen zum Tode konkret aussehen sollte. Die meisten Exegeten sind heute der Meinung, dass diese Formel (neben der Aufforderung,
an den Tod als überaus ernstes Thema zu denken) vor allem die düster-wuchtige Diktion von Sein und Zeit prägnant zum Ausdruck bringt. Die Studenten in Marburg jedenfalls haben schon vor Jahrzehnten auf solche und ähnliche Töne Heideggers ironisierend reagiert, indem sie zu sagen pflegten: »Ich bin wahnsinnig entschlossen, weiß aber noch nicht wozu!« Wie dem auch sei: Ein tiefes Begreifen der eigenen Endlichkeit (in den ersten Lebensjahrzehnten sterben erfahrungsgemäß immer nur die anderen, indes man sich selbst unsterblich wähnt) trägt sicherlich dazu bei, das Dasein als einzig und einmalig wertzuschätzen. Des Weiteren wird man angesichts der Todesthematik dazu angehalten, die Lebenszeit zu nutzen und sich nicht an Nebensächlichkeiten zu verlieren. Damit kommt die Zeitlichkeit des Daseins in Sicht, die Heidegger als das zentrale Existential ansah. Ähnlich wie Henri Bergson unterschied auch er eine existentielle, subjektive Zeit und eine physikalische Raumzeit. Erstere wird erlebt, indes Letztere gemessen und objektiviert werden kann. Verglichen mit seinem französischen Vorgänger sind die Zeitanalysen Heideggers noch subtiler und tiefsinniger ausgefallen. Die für den Einzelnen relevante oder ursprüngliche Zeit ist seine individuelle Lebensspanne. Letztlich bedeutet sie ihm die grundlegende Möglichkeit seiner Existenz, eine Art Feld oder Acker, die er mittels seiner Sorge bestellen kann. Das Dasein hat dabei keine Zeit – vielmehr zeitigt sich die Zeitlichkeit respektive der Mensch existiert zeitlich. Alle anderen Formen der Zeit – natürliche, kosmische, physikalische, lineare – sind von dieser existentialen Zeit abgeleitete kategoriale Varianten. Die Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestimmen den Ablauf der Existenz. Heidegger demonstrierte, dass diese Dimensionen als solche nie rein oder abgeschlossen erlebt werden. Stets ragt die Zukunft eines Menschen in seine Gegenwart hinein oder gewinnt das Vergangene seine Bewandtnis angesichts eines für ihn neuen Zukünftigen. Das unmittelbare Ineinander-Umschlagen dieser drei Zeitdimensionen bezeichnete Heidegger mit dem Begriff der Ekstase. Die Zeitlichkeit wurde von Heidegger als der Sinn der Sorge und aller übrigen Daseinselemente
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und Existentialen definiert. In mehreren Kapiteln führte er aus, inwiefern die im ersten Teil von Sein und Zeit erläuterten Daseinsformen wie Verstehen, Befindlichkeit und Stimmung, Verfallensein, Rede oder das Besorgen als zeitliche einzuordnen sind. Die Zeitlichkeit ist demnach als fundamentales und fundierendes Phänomen des menschlichen Daseins auszumachen. Für Heidegger war die Zukunft die entscheidende zeitliche Dimension des Menschen. Auf sie hin zielen seine Entwürfe, und sie hält für das Dasein sowohl Freiheit als auch letztgültige Limitierung (Tod) bereit. In sie hinein erfolgt auch jene Bewegung der Veränderung und des Übertritts, die Heidegger als Transzendenz bezeichnet hat. Der Mensch ist ein Wesen, das dauernd den Status quo transzendiert, wobei er sich immer wieder aus seinen Plänen und Ideen in die Gegenwart als die alleinige zeitliche Dimension zurückholt, in der konkrete und reale Metamorphosen erfolgen. Mithilfe der Zeitlichkeit wollte Heidegger auch die Geschichtlichkeit des Menschen erhellen. Dabei ging es ihm nicht darum, wie ein Historiker den Geschichtsverlauf als wissenschaftliche Thematik zu begreifen, der man gegenübersteht. Vielmehr ist das Dasein selbst geschichtlich und Teil dessen, was man Weltgeschichte nennt – wie umgekehrt diese Historie das In-der-Welt-Sein des Einzelnen maßgeblich prägt. z
Grundbegriffe der Metaphysik
Ursprünglich hatte Heidegger geplant, Sein und Zeit mit einem dritten großen Abschnitt zu versehen, den er mit Zeit und Sein betiteln wollte. Dieser Teil wurde von ihm zwar verfasst, aber 1927 nicht mit den anderen Abschnitten des Buches publiziert. Angeblich haben ein Gespräch mit Jaspers und die Nachricht vom Tod Rainer Maria Rilkes (im Dezember 1926) dafür den Ausschlag gegeben. Im Nachhinein war Heidegger froh, sich so entschieden zu haben, da er die nicht veröffentlichten Passagen später als zu unausgegoren beurteilte. Das damalige grundsätzliche Anliegen allerdings wurde für ihn in den Folgejahren zunehmend wichtiger. Er beabsichtigte nämlich, die Richtung seiner philosophischen Reflexion umzukehren und nicht mehr – wie in Sein und Zeit geschehen – vom Dasein ausgehend das Wesen des Seins zu bedenken.
Stattdessen nahm er sich vor, vom Sein her das menschliche Dasein zu reflektieren. Nicht mehr die Frage, was denn die Welt für den Menschen, sondern was der Mensch für die Welt zu bedeuten hat, stünde dann im Zentrum der philosophischen Spekulation. Diese Veränderung der Perspektive des Nachdenkens, von der wir hier nicht diskutieren, inwiefern sie überhaupt realisierbar ist (schließlich wären es doch wieder menschliche Augen, mit denen »vom Sein her« der Mensch geschaut und bewertet würde), bezeichnete Heidegger in Über den Humanismus (1947) als Kehre. Als Vorbereitung zu diesem Umdenken wurde die Geschichte der abendländischen Metaphysik auf ihre (wie Heidegger meinte) Irrtümer hin untersucht. So hielt er René Descartes vor, mit seinem »Ich denke, also bin ich« eine Inthronisation des Menschen bewerkstelligt zu haben, welche das Sein nur als sekundäres Phänomen erscheinen ließ. Immanuel Kant wollte Heidegger nachweisen, dass er mit seiner Kritik der reinen Vernunft eine Abschwächung der metaphysischen Erkenntnis in Richtung auf eine Erkenntnistheorie induziert hatte. Davon handelt das Buch Kant und das Problem der Metaphysik (1930). Aus jener Zeit gibt es eine Publikation, in der Heidegger sein Projekt der Kehre nicht weiter verfolgte, sondern sich wie in Sein und Zeit daseinsanalytisch und existentialanthropologisch einstellte: Es sind dies die Vorlesungen aus dem Wintersemester 1929/30, die unter dem Titel Die Grundbegriffe der Metaphysik – Welt, Endlichkeit, Einsamkeit angekündigt und als eigener Band der Gesamtausgabe publiziert wurden. Darin finden sich ausführliche Erörterungen der Langeweile, die Heidegger ähnlich wie die Angst in Sein und Zeit als eine Befindlichkeit des Daseins verstand, die eine exquisite Voraussetzung für ein originäres ontologisches Nachdenken bedeutet. Der Philosoph unterschied dabei das Gelangweilt-Werden von etwas, das Sich-Langweilen bei etwas sowie die tiefe Langeweile in Form von »es ist einem langweilig«. Schon Friedrich Nietzsche hatte in einem Aphorismus behauptet, dass der Mut zur Langeweile ein Element des wirklichen Denkens sei. Nur wer sein Leben nicht dauernd mit Aktivitäten und Aufgeregtheiten aller Art zuschüttet, gewinnt Zeit
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Conclusio
und Freiräume für autonome Reflexion. Neben der Langeweile muss ein solcher Abenteurer der Gedanken auch die Situationen der Einsamkeit ertragen lernen. Heidegger argumentierte in Die Grundbegriffe der Metaphysik mit analoger Stoßrichtung, wobei er die Langeweile auch als ein Phänomen der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins interpretierte. Vor allem jene Momente, in denen »es einem langweilig« wird, würden dem Betreffenden erfahrbar machen, dass die Zeit, die er erlebt, von ihm selbst gezeitigt wird – wenngleich im Modus des Zögerns, Stockens oder Anhaltens. Wie die Angst verbringt auch die Langeweile das Dasein in eine außergewöhnliche, oftmals mit Schreck einhergehende Situation, in der neuerlich die Leere und das Nichts erfahrbar werden. Es entsprach dem bereits erwähnten Hang zur heroisierenden und dramatisierenden Denk- und Darstellungsweise Heideggers, dass er einem Dasein, das sich auf den Weg zum Ich-selbst-Sein macht, solche Unannehmlichkeiten weder ersparen konnte noch mochte. In einer merklich helleren Atmosphäre ist der zweite Teil dieser Vorlesungsmanuskripte verfasst. In ihm wandte sich Heidegger der Thematik einer naturphilosophisch inspirierten Anthropologie zu, wie er sie sonst in seinem gesamten Oeuvre nicht mehr aufgegriffen hat. Diese Überlegungen entstanden als Replik auf die beiden damals viel diskutierten Schriften Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) von Max Scheler sowie Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) von Helmuth Plessner. Scheler und Plessner schilderten in ihren philosophisch-anthropologischen Schriften den Menschen in seinen geistigen wie auch organismischen Aspekten, ohne ihn naturalistisch auf die bloße Biologie zu reduzieren. Im Unterschied zu ihren Texten war in Sein und Zeit der biologische Gesichtspunkt beinahe gänzlich ausgespart geblieben, so dass unter anderem Karl Löwith an Heideggers Hauptwerk bemängelte, es erwecke den Anschein, die menschliche Existenz käme ohne den Leib bestens zurecht. In Die Grundbegriffe der Metaphysik beabsichtigte Heidegger diesen Eindruck zu korrigieren. Zwar war ihm wieder an der Seinsfrage gelegen;
dieses Mal wollte er sie jedoch im Zuge einer vergleichenden Studie über Materie, Tier und Mensch bearbeiten, wobei er folgende Thesen als grundlegend ansah: »1. Der Stein (das Materielle) ist weltlos; 2. das Tier ist weltarm; 3. der Mensch ist weltbildend« (Heidegger 1983, S. 263). Davon ausgehend beschrieb Heidegger das Materielle, Tierhafte und Menschliche anhand von deren jeweiligen Weltbezügen. Steine haben keine Welt. Sie sind für Tiere und Menschen da, aber umgekehrt gibt es uns nicht für sie. Andere Verhältnisse trifft man bei Tieren an, denen der Philosoph in Anlehnung an den Biologen Johann Jakob von Uexküll eine Umwelt zugestand. Diese Umwelt bildet laut Heidegger einen »Umring«, der zur »Benommenheit« der Tiere beiträgt und ihre grundsätzliche Weltoffenheit begrenzt. Heidegger zitierte mit Zustimmung den niederländischen Physiologen Frederik Buytendijk, der in diesem Zusammenhang von einer innigen Verbundenheit des Tieres mit seiner Umgebung sprach, von der es sich ebenso wenig distanzieren könne wie von seinem Körper. Das Tier verfügt zwar über eine gewisse Offenheit zur Welt – diese wird ihm jedoch im Unterschied zum Menschen niemals offenbar. Dessen Weltgebundenheit hat sich soweit gelockert, dass er zu sich wie zur Welt Distanz aufbauen und Bezug nehmen kann. Außerdem kennt der Mensch neben der realen Welt die Welt der Möglichkeiten und Vorstellungen, der Verneinung und Bejahung, und er kann, wenn ihm dies beliebt, versuchen, all das Mögliche im Wirklichen unterzubringen. Aus der Benommenheit animalischen Lebens taucht das Dasein zur Freiheit und zum kommentierend erkennenden Blick auf das Sein auf. Im Menschen gönnen sich Kosmos und Natur den Luxus des Nachdenkens über sich. Heidegger nannte das Dasein in Anlehnung an Schelling daher einen Lichtblick oder eine offene Stelle; man könnte auch sagen, dass mit dem Heraufkommen des Menschen die Weltnacht endete.
Conclusio In den Jahren nach 1930 wurden sowohl die Vorlesungen als auch die publizierten Texte Heideggers
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Kapitel • Martin Heidegger
zunehmend kryptischer und mystischer. Nach seiner Kehre schrieb der selbst ernannte Seinsdenker dem Seyn (wie er es nun meistens orthographisch eigenwillig bezeichnete) immer mehr eine Art Göttlichkeit zu. In einem Brief an Jean Beaufret aus dem Jahre 1946, der ein Jahr später unter dem Titel Über den Humanismus publiziert wurde, führte der Philosoph aus:
»
Das Sein als das Vermögend-Mögende ist das »Mög-liche«. Das Sein als das Element ist die »stille Kraft« des mögenden Vermögens, das heißt des Möglichen … Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins … Doch das Sein – was ist das Sein? Es »ist« Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muss das künftige Denken lernen (Heidegger 1949, S. 8 u. 22f.).
«
Um diese wortdrechselnde Seinsmystik zu untermauern, suchte sich Heidegger dichtende und philosophierende Gewährsleute, die er in Meister Eckhart ebenso wie in Schelling oder Friedrich Hölderlin fand. Andere Denker wie Platon oder Friedrich Nietzsche wurden von ihm (z. B. in seinem Werk Nietzsche) teilweise gewaltsam so lange uminterpretiert, bis sie zu seiner Argumentationslinie zu passen schienen. Dazu kam, dass Heidegger verstärkt Neologismen schuf und manchen deutschen Worten ungewöhnliche Bedeutungen zuschrieb. Der einst scharf denkende Philosoph wurde mehr und mehr zu einem dunkel raunenden Mirakel, dessen Verlautbarungen bevorzugt von seinen zahlreichen Schülern und Anhängern goutiert wurden. Kritischere Geister allerdings distanzierten sich vom Schwarzwälder Seinsmystiker, dessen Schriften überquollen vom Jargon der Eigentlichkeit (Theodor W. Adorno). Karl Löwith jedenfalls zog in Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953) einen klaren Trennungsstrich zu seinem ehemaligen Lehrer, aus dessen Texten er zitierte, um die Haltlosigkeit und Inhaltsleere von Heideggers Spätphilosophie eindrücklich zu demonstrieren:
» Schon im Vortrag über Das Ding wurde vom »Reigen des Ereignisses« gesprochen. Die Einheit des »Gevierts« von Himmel und Erde, Sterblichen und Unsterblichen »west als das ereignende Spiegel-Spiel der einfältig einander Zugetrauten«. »Die Vierung west als das Welten von Welt. Das Spiegel-Spiel von Welt ist der Reigen des Ereignens. Deshalb umgreift der Reigen auch die Vier nicht erst wie ein Reif. Der Reigen ist der Ring, der ringt, indem er als das Spiegeln spielt« (Löwith 1960, S. 42).
«
Man versteht, warum Schriftsteller wie Oscar Maria Graf, Gabriel Marcel (»Die Birne birnt, der Apfel apfelt«), Robert Minder und Theodor W. Adorno satirische Kommentare zu Heidegger als angemessen empfanden. Heideggers Spätphilosophie erfuhr teilweise großen Anklang. In ihr fand sich eine wenig verpflichtende Technikkritik, die darauf verwies, dass die Neuzeit dem Maschinenwesen verfallen sei und die Macht des Machbaren über alle Grenzen ausweite. Auch die verehrende Hinwendung zum Sein wurde von vielen gern gesehen, weil sie in gewisser Weise Religiosität im Gewande von Philosophie anbot und damit intellektuell anspruchsvoller erscheinen ließ. Im Vergleich zu Heideggers frühen Werken sind daher die Schriften nach 1929/30 für die Anthropologie wie für andere wissenschaftliche Disziplinen weniger anregend. Interessant ist allerdings ihr Autor und dessen Biographie, an denen sich zeigen lässt, wie sehr Menschen im Hinblick auf ihr Denken und Verhalten vom tragfähigen Mitsein mit vernunftbegabten Anderen abhängen. Solange nämlich Heidegger unter der Patronage von Rickert und Husserl stand, entwickelte sich zumindest sein Denken auf den Bahnen von Geistigkeit und »Common Sense«. Nach dem Bruch mit Husserl fehlte dem nun selbstständigen Philosophen die notwendige Korrektur durch ein ethisch und intellektuell hoch stehendes Vorbild. Dann kamen Heideggers Verfehlungen während des NS-Regimes, bei denen er sich hätte eingestehen müssen, tief im Morast des von ihm so sehr geschmähten Man-selbst-Seins versunken gewesen zu sein. Doch statt eines solchen Eingeständnisses, das für sich genommen als Zeichen der Redlich-
Literatur
keit gegolten hätte, griff der bauernschlaue Denker zu fadenscheinigen Erklärungen und schlüpfte aus der Täter- und Mitläufer- in die Opferrolle. Nicht dass er sich geirrt hat, war dabei sein Hauptversagen, sondern dass er seinen Irrtum nicht zugeben mochte. Die während und nach der Naziherrschaft bei Heidegger zu beobachtende Verdunkelung seines Denkens hatte wohl auch den Zweck, von seinen charakterlichen und mitmenschlichen Defiziten abzulenken und sie unsichtbar werden zu lassen. Letztlich versuchte er damit, seine persönlichen Schwächen und sein ethisches Versagen mit Mystizismen zu kaschieren. Wer mit sich und seinen Fehlern und Unebenheiten nicht halbwegs offen und authentisch umgehen kann, ist auf Verdrängungsmechanismen im Sinne der Psychoanalyse angewiesen. Zu Heideggers hauptsächlichen Verdrängungsmaßnahmen nach 1945 gehörte das mystifizierende und unklare Denken, mit dem er sich und seinem Publikum Scheintiefe und Scheingröße vorgaukelte, wo ein schlichter und nüchterner Blick auf seine Vita das Banale und Allzumenschliche freigelegt hätte.
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Jean-Paul Sartre Biographisches – 74 Werkanalyse – 76 Conclusio – 84 Literatur – 85
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Jean-Paul Sartre
. Abb. 1 Jean-Paul Sartre (*1905; †1980). (Aus Stumm et al. 2005)
Vor einigen Jahren erschien eine Monographie über Sartre, die betitelt war mit Sartre – Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. Der Titel dieses Buches von Bernard-Henri Lévy ist korrekturbedürftig. Zwar kann man Sartre zu Recht als bedeutenden, kaum aber als den Philosophen des letzten Jahrhunderts bezeichnen. Und des Weiteren darf man daran erinnern, dass er nicht nur Philosoph, sondern auch Romancier, Dramatiker, Biograph und Autobiograph, Reiseschriftsteller, Zeitschriftenherausgeber, politischer Intellektueller, Drehbuchautor, Essayist und Miterfinder des Existentialismus war und in allen diesen Rollen erhellende Beiträge zur Anthropologie geliefert hat (. Abb. 1).
Biographisches Sartre wurde 1905 in Paris als Sohn des Marineoffiziers Jean-Baptiste Sartre geboren. Der Vater starb schon 15 Monate nach der Geburt seines Sohnes an einer Infektionskrankheit. Die junge Mutter Anne-Marie (1882–1969) zog daraufhin zurück zu ihren Eltern. Jean-Paul wuchs deshalb unter dem Einfluss seines Großvaters Charles Schweitzer auf. Dieser war Sprachlehrer, der in Paris Deutschkurse gab und an der Sorbonne lehrte. Jean-Paul wurde von den Großeltern und seiner Mutter liebevoll aufgezogen. Er entwickelte sich zu einer Art Wunderkind und begann früh zu lesen und zu schreiben. Allerdings erlitt er als Junge eine Hornhauttrübung auf dem rechten Auge, das nach und nach erblindete, so dass er später zu schielen begann. Da er außerdem kleinwüchsig blieb, war er äußerlich kein attraktiver Mann. »Le petit homme«
(das Männchen), wie er von seinen Freunden genannt wurde, maß nur 1,57 Meter. Weil er von Privatlehrern und dem Großvater unterrichtet wurde, hatte Jean-Paul bis zu seinem zehnten Lebensjahr kaum Kontakte außerhalb der Familie. Später besuchte er das bekannte Lycée Henri IV, wo er sich mit Paul Nizan befreundete. Schon als Kind hatte er Texte verfertigt, die von seiner Familie bewundert wurden. Als Jugendlicher stand für ihn fest, dass er Schriftsteller werden würde. 1917 heiratete seine Mutter den Industriellen Joseph Mancy und zog mit ihm und ihrem Sohn nach La Rochelle. Jean-Paul, den man Poulou nannte, liebte den Stiefvater in keiner Weise. Dieser versuchte, strenge Erziehungsmethoden anzuwenden, woraufhin das verwöhnte Einzelkind revoltierte und Verwahrlosungserscheinungen entwickelte. Sartre kehrte 1920 nach Paris ans Lycée Henri IV zurück und kam 1924 an die École Normale Supérieure, wo er Philosophie studierte. Er stand mit einigen Kommilitonen in engem Kontakt, die später berühmt wurden: Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty, René Maheu und vor allem Simone de Beauvoir (geboren 1908), die bald die Frau seines Lebens wurde. 1929 schloss er seine Studien als Jahrgangsbester ab und absolvierte danach zwei Jahre lang seinen Militärdienst als Meteorologe. Ab 1931 verdiente sich Sartre sein Brot als Gymnasiallehrer für Philosophie in Le Havre. Auf Empfehlung seines Freundes Aron ging er 1933 als Stipendiat für ein Jahr nach Berlin ans Institut Français. Dort studierte er bevorzugt phänomenologische Texte von Edmund Husserl. Außerdem schrieb er an einem Romanmanuskript, das jedoch erst 1938 im Verlag Gallimard unter dem Titel Der Ekel erschien. Bei seiner Rückkehr nach Frankreich arbeitete Sartre genauso wie de Beauvoir weiter als Lehrer. Sie unterrichteten in verschiedenen Städten (Marseille und Le Havre), so dass sie sich nur in den Ferien oder an Wochenenden in Paris trafen. 1936 verfasste Sartre Die Mauer, eine Erzählung, welche die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs zu ihrem Inhalt hat, und von der André Gide so begeistert war, dass er sie für die Nouvelle Revue Française annahm. Noch im selben Jahr gab Sartre die Abhandlung über Die Imagination heraus, die
Biographisches
von der Phänomenologie Husserls geprägt ist und ein grundlegendes anthropologisches Problem (die Vorstellungskraft) reflektiert. Außerdem schrieb er an der Romantetralogie Die Wege der Freiheit, deren vierter Band allerdings Fragment blieb. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, musste Sartre zum Militär. Er war zunächst im Elsass stationiert, wo er in seiner Meteorologenfunktion viel freie Zeit hatte. Er wurde, wie er selbst sagte, zum Kriegsgewinnler, indem er täglich fast zwanzig Seiten Text für seine Bücher entwarf. Dazu kamen Briefe an de Beauvoir sowie an manche junge Geliebte. Sartre hatte mit Simone vereinbart, neben der »notwendigen« Liebe zu ihr auch kontingente (zufällige) erotische Abenteuer mit anderen Frauen einzugehen, was die Beziehung zwischen ihnen aber nicht grundsätzlich in Frage stellen sollte. 1940 geriet Sartre in Kriegsgefangenschaft und war in einem Lager bei Trier interniert. 1941 gelang ihm die Flucht, und er kehrte nach Paris zurück. Dort gründete er die Widerstandsgruppe »Sozialismus und Freiheit«, die aber nur kurze Zeit aktiv war und sich bald auflöste. Im von den deutschen Truppen besetzten Paris arbeitete Sartre unverdrossen weiter an philosophischen und literarischen Texten. 1943 erschien sein erstes Hauptwerk Das Sein und das Nichts. Schon zuvor hatte er das Theaterstück Die Fliegen beendet – ein Drama, dessen Aussage wie eine Aufforderung an die französischen Landsleute wirkte, die eigene Freiheit zu wagen. Daneben schloss er das Filmdrehbuch Das Spiel ist aus sowie das Stück Geschlossene Gesellschaft ab. Nach der Befreiung von Paris im Sommer 1944 ließ sich Sartre, der inzwischen von seiner Schriftstellerei leben konnte, aus dem Schuldienst entlassen. Zusammen mit Merleau-Ponty gründete er die Zeitschrift Les Temps Modernes; der Titel erinnerte an Charlie Chaplins berühmten Film Moderne Zeiten. In den Nachkriegsjahren wurde Sartre zum tonangebenden französischen Intellektuellen. 1946 publizierte er Der Existentialismus ist ein Humanismus; zusammen mit Das Sein und das Nichts bildete dieser Text das philosophische Fundament für jene berühmte Lebens- und Weltanschauung, die man Existentialismus nannte. Dessen Kernaussage bestand darin, dass der Mensch zufällig in die Ver-
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hältnisse seiner Existenz hineingeboren wird und aktiv selbst versuchen muss, seinem Dasein einen Sinn zu geben. Sartre war über diesen Ismus nicht glücklich, da er seine Gedankenwelt als strenge Philosophie ansah. In den folgenden Jahren veröffentlichte der erstaunlich produktive Autor am laufenden Band philosophische Traktate, Theaterstücke, Filmdrehbücher, Romane und Essays zu den verschiedensten Themen. 1947 gab er seine Studie über Baudelaire sowie die Essaysammlung Situationen heraus. Nebenbei hielt er viele Vorträge, in denen er seine Form einer atheistischen Existenzphilosophie erläuterte. In Genf, der Stadt des Reformators Calvin, eröffnete er eine dort zu haltende Rede mit der schlichten Feststellung: »Gott existiert nicht!« In den 50er Jahren kam es zu einer gesteigerten Politisierung in Sartres Leben. Zusammen mit de Beauvoir bereiste er eine Reihe von Ländern, um sich vor Ort über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu informieren. Dabei wandte er sich zunehmend dem Marxismus und Kommunismus zu, was ihm die Kritik selbst wohlwollender Freunde einbrachte. Die Freundschaften sowohl mit Albert Camus als auch mit Merleau-Ponty zerbrachen an den differenten politischen Einschätzungen der Protagonisten, die vor gegenseitigen Entwertungen und Verletzungen nicht haltmachten. Nach ihrem frühen Tod hat Sartre den beiden ehemaligen Freunden großherzige Nachrufe gewidmet. Sartres Annäherung an den Kommunismus hatte sich seit Langem angebahnt. 1946 war Materialismus und Revolution erschienen, worin der Autor den Materialisten der Vergangenheit seine Reverenz erwies. 1958 folgte Marxismus und Existentialismus – ein Text, in dem Sartre den Existentialismus und die marxistische Lehre fusionieren wollte. In seinem 1960 erschienenen zweiten Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft schließlich versuchte er, die marxistische Dialektik mit der existentialistischen Freiheitsidee zu verbinden. Neben den schriftstellerischen Aktivitäten sah man Sartre damals als konkret politisch Handelnden auf den Straßen und Plätzen vieler Länder der Erde. Er engagierte sich für die Unabhängigkeit Algeriens und die gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen in China und Kuba. Seinen Protest gegen die UdSSR vernahm man erst nach dem Ungarn-
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Kapitel • Jean-Paul Sartre
Aufstand 1956; ansonsten war er dem Stalinismus gegenüber bemerkenswert unkritisch eingestellt. Ende der 60er Jahre nahm er am Russell-Tribunal teil, wo die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam angeprangert wurden. Trotz seiner dauernden Reisen und politischen Verpflichtungen kam Sartres Schriftstellerei nicht zu kurz. Mitte der 50er Jahre begann er mit seiner monumentalen, zuletzt auf drei Bände angewachsenen Flaubert-Biographie, die ihn beinahe zwei Jahrzehnte lang beschäftigen sollte. Viel konziser geriet ihm seine Autobiographie Die Wörter (1964), in der er mit einer neuartigen Darstellungsweise seine Kindheit als Hineinwachsen in die Welt der Sprache interpretierte. Spätestens in den 60er Jahren wurde offenkundig, dass Sartres Lebensstil unzweifelhaft Züge von Selbstzerstörung aufwies. Alkohol- und Aufputschmittelmissbrauch, Überarbeitung, Kettenrauchen und opulente Mahlzeiten hatten seinem Körper dauerhafte Schäden zugefügt. Neben der Augenkrankheit entwickelten sich bei ihm Durchblutungsstörungen, erhöhter Blutdruck, Herzrhythmusstörungen sowie neurologische Ausfälle. Trotz angeschlagener Gesundheit reduzierte er sein Arbeitspensum nicht. 1964 wurde Sartre der Literaturnobelpreis zugesprochen, den er zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit ablehnte. Offiziell gab er an, er wolle sich nicht institutionalisieren lassen. Außerdem befürchtete er, dass im Rahmen des damals virulenten Kalten Krieges die Preisverleihung einem politischen Kalkül gefolgt war. 1968 kam es vor dem Hintergrund weltweiter Studentenunruhen auch in Frankreich zu heftigen Zusammenstößen zwischen revoltierenden jungen Leuten und der Staatsgewalt. Sartre engagierte sich lebhaft auf Seiten der Rebellierenden, gab eine revolutionäre Zeitung heraus und ging zusammen mit de Beauvoir auf die Straße, um sein Blatt zu verkaufen und um zu demonstrieren. Schon früher sollte er bei einer Kundgebung (im Hinblick auf den Algerienkonflikt) festgenommen werden. Im Mai 1968 intervenierte der Staatspräsident Charles de Gaulle gegen ein solches Ansinnen mit den Worten: »Einen Voltaire verhaftet man nicht!« 1971 erschien das Riesenfragment von Sartres Flaubert-Monographie, der er den Titel Der Idiot
der Familie gab. Auf insgesamt weit über 2000 Druckseiten breitete der Verfasser seine schier unbegrenzten Kenntnisse in Psychoanalyse, Soziologie, Historiographie, Philosophie, Literatur und Politik aus. Wie die meisten Bücher Sartres verkauften sich auch die fünf Bände von Der Idiot der Familie bestens; ob sie von den vielen Käufern auch gelesen wurden, darf bei ihrem Umfang bezweifelt werden. In Der Idiot der Familie wollte Sartre mit Hilfe der existentiellen Psychoanalyse und einer marxistischen Geschichtsdeutung den Charakter und Lebensstil sowie allfällige neurotische Störungen Flauberts lückenlos aus seiner Sozialisation erklären. Das Wertvolle an diesem Riesenwerk war die konsequent durchgehaltene Zusammenschau von individueller Neurose des Dichters und kulturellgesellschaftlicher Neurose der Epoche. Der Idiot der Familie gilt als gelungenes Beispiel einer philosophisch-historischen Anthropologie, die sich auf Existentialismus, Psychoanalyse und Marxismus als ihre wichtigsten Inspirationsquellen bezog. Die letzten Jahre Sartres waren eine persönliche Tragödie. Er war fast völlig invalid, erblindet und beinahe vollständig auf fremde Hilfe angewiesen, um auch nur die einfachsten Verrichtungen des Daseins zu vollbringen. Zum Glück kümmerten sich neben de Beauvoir einige seiner früheren Schüler und Geliebten um ihn. Trotz seiner Behinderungen versuchte er weiter, politisch und geistig präsent zu bleiben. Er beteiligte sich an Pressekonferenzen, gab Interviews und erläuterte seine Ansichten zu Politik, Geschichte und Kultur in langen Gesprächen, die aufgezeichnet und veröffentlicht wurden. Sartre starb 1980 in Paris. Wie sehr er zu einer Ikone im französischen und internationalen Geistesleben geworden war, wurde zu seinem Begräbnis offenkundig. Mehr als 50.000 Menschen folgten dem Leichenzug, der eindrücklich demonstrierte, dass hier ein »maître à penser« (Vor- und Meisterdenker) zu Grabe getragen wurde.
Werkanalyse Es wäre zum Scheitern verurteilte Hybris, auf wenigen Seiten die anthropologischen Aussagen Sartres kondensieren und sich dabei auf sein gesamtes
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Werkanalyse
Oeuvre beziehen zu wollen. Neben den soeben erwähnten Büchern gibt es aus seiner Feder Dutzende weiterer Abhandlungen, Stücke und Essays, die erhellende Ansichten zur Conditio humana enthalten – man denke nur an Die Kindheit eines Chefs (1938), Bewusstsein und Selbsterkenntnis (1947), Überlegungen zur Judenfrage (1948), Entwürfe für eine Moralphilosophie (postum 1983), an die Monound Biographien über Baudelaire (1947), Saint Genet – Komödiant und Märtyrer (1952) und Mallarmé (1953), an das Drehbuch über Sigmund Freud oder an die vielen Tagebuch- und Briefbände Sartres. Angesichts der Fülle von Material bleibt die Werkinterpretation auf das erste philosophische Hauptwerk Sartres Das Sein und das Nichts (1943) beschränkt. Ergänzende Gedanken sind den Texten Das Imaginäre (1940), Die Transzendenz des Ego – Philosophische Essays 1931–1939, Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946), dem Roman Der Ekel (1938) sowie dem zweiten Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft (1960) entnommen. z
Das Sein und das Nichts
Der Untertitel dieses Werks lautet Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Sartre wollte darin mit den Mitteln der Phänomenologie die Seinsfrage aufrollen. Der Titel erinnert an Martin Heideggers Sein und Zeit (1927), wobei Sartre in vielerlei Hinsicht weit über seinen deutschen Vorläufer hinausgegangen ist. Neben Heidegger wirkten für die Ausarbeitung dieses Buches auch Hegel und Husserl inspirierend. Des Weiteren enthält Das Sein und das Nichts ein großes Kapitel über »Die existentielle Psychoanalyse«, so dass man auch Sigmund Freud zu jenen maßgeblichen Denkern zählen darf, die für Sartre damals anregend waren. Ontologie bedeutet Seinslehre, und daher eröffnete Sartre seinen Text damit, nach den Arten des Seienden zu fragen. Er unterschied zwei Seinsweisen, wobei er sich der Terminologie von Hegel bediente, nämlich das An-sich-Sein und das Fürsich-Sein. Der erstere Begriff bezeichnete bei Hegel die materielle Welt. Sie ist kompakt, hat keine Innerlichkeit und kann keine Beziehung zu sich selbst aufnehmen. Sartre charakterisierte deshalb das An-sich-Sein recht lakonisch:
»
Tatsächlich ist das Sein sich selbst opak, eben weil es von sich selbst erfüllt ist. Das drücken wir besser aus, wenn wir sagen, das Sein ist das, was es ist (Sartre 1993, S. 42).
«
Ganz anders hingegen ist nach Sartre das Für-sichSein beschaffen. Als menschliches Bewusstsein ist es im Gegensatz zum An-sich-Sein nicht opak (fest, dicht, undurchdringlich), sondern luzide (klar, durchsichtig, zart, zerbrechlich). Das Für-sich weiß um sich und weist eine innere Entwicklung auf. Es ist dauernd bezogen auf das An-sich-Sein, das seine Existenzbasis ist – jedes Für-sich wird, obwohl es eine eigene Seinregion darstellt, stets durch ein An-sich bedingt. Die Welt (das An-sich) kann jederzeit und problemlos ohne das menschliche Bewusstsein bestehen; umgekehrt aber braucht das Für-sich die Welt, da es nur als Bezogensein auf sie existiert. Sartre nannte das Für-sich einen Riss im Sein, eine Art Nichts, das zu allen Objekten materieller, biologischer und psychischer Natur eine Distanz aufweist. Das Für-sich, das Bewusstsein, ist nicht (so wie die Dinge sind) – es existiert, denn es hält immer Distanz zum Sein und zu sich selbst. Das Für-sich ist zwar frei, wird aber im Vergleich zum An-sich durch einen Seinsmangel charakterisiert. Dies führt dazu, dass das Für-sich stets mit einer Seinsbegierde einhergeht, die nie wirklich befriedigt wird. Dies macht die etwas eigenwillige Formel verständlich, die Sartre für das Für-sich-Sein verwendete: »Es ist, was es nicht ist, und es ist nicht, was es ist.« Das Bewusstsein darf dabei nicht als Innenwelt, Behälter oder verdauender Magen vorgestellt werden, worin Begierden, Vorstellungen, Bilder und Gedanken aufbewahrt werden oder herumschwirren. Bewusstsein ist vielmehr (wie Husserl und vor ihm schon Franz Brentano betonten) Intentionalität, also Gerichtetsein auf die Welt:
»
Es gibt keine Bilder (Gedanken, Vorstellungen, Begierden usw.) im Bewusstsein, und es kann auch keine geben. Sondern das Bild ist ein bestimmter Bewusstseinstyp. Das Bild ist ein Akt und kein Ding. Das Bild ist Bewusstsein von etwas (Sartre 1982a, S. 242).
«
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Kapitel • Jean-Paul Sartre
Das Für-sich-Sein ist stets draußen beim An-sichSein, und darum ist das »Cogito« (in Form von Wahrnehmen, Urteilen, Wollen, Denken) mitten unter den Dingen. Zudem hat es eine Geschichte und ist ein ständiges Werden; daher kann man es nicht auf sein jeweiliges Jetzt beschränken. Das Für-sich-Sein ist Gewesenes und Zukünftiges; auch darauf spielte Sartre an, wenn er erklärte, das Fürsich sei, was es nicht ist. Die Vergangenheit ragt in seine Gegenwart hinein, und die Zukunft wirft einen Vorschein auf das aktuelle Leben und Erleben. Somit ist das Nicht-mehr und das Noch-nicht trotz seiner Irrealität im aktuellen Zustand anwesend. Angesichts der kompakten Seinsweise des Ansich erlebt sich das Für-sich immer als defizitär (Seinsmangel). Es ist daher verständlich, dass der Mensch am liebsten für-sich (also frei) und an-sich (also unzerstörbar) wäre. Diese Kombination von Attributen kommt der tradierten Überlieferung nach nur Gott zu; so erklärt sich die Formulierung Sartres, der Mensch sei »grundlegend Begierde, Gott zu sein«. Weil das menschliche Bewusstsein in der Regel die Qualitäten des Luziden aufweist, war es für Sartre nicht verwunderlich, wenn es dem kompakten An-sich-Sein gegenüber Empfindungen von Angst, Ohnmacht oder auch Überdruss entwickelt. Letzterer bildete einen wesentlichen Ausgangspunkt für den Roman Der Ekel, der auf epischer Ebene jene Existenzdeutung bieten sollte, wie sie in Das Sein und das Nichts auf philosophischer Ebene realisiert wurde. Die Hauptperson des Romans, der Schriftsteller Antoine Roquentin, scheint die grundlegenden Aussagen von Das Sein und das Nichts vorauszuahnen. Er erlebt einige existentielle Krisen, die ihn darin bestärken, das Dasein als überwiegend sinnwidrig zu empfinden. Die ganze bürgerliche Gesellschaft um ihn her hat sich in einem unbefriedigenden Status quo eingerichtet, und selbst die Natur erscheint Roquentin als wenig attraktiv und sinnvoll. Im Gegenteil: Angesichts der Fülle der Naturschönheiten überfallen den Dichter eine merkwürdige Distanz und ein Ekel vor der belebten Materie. Er sieht einen Kastanienbaum, und dabei wird ihm
deutlich, dass die Natur an wuchernden Lebensphänomenen überquillt, denen das menschliche Bewusstsein in seiner Fragilität nicht gewachsen ist:
» Die Wurzel des Kastanienbaums bohrte sich in die Erde, genau unter meiner Bank. Ich erinnerte mich nicht mehr, dass das eine Wurzel war. Die Wörter waren verschwunden und mit ihnen die Bedeutung der Dinge, ihre Verwendungsweisen, die schwachen Markierungen, die die Menschen auf ihrer Oberfläche eingezeichnet haben … die Vielfalt der Dinge, ihre Individualität waren nur Schein, Firnis. Dieser Firnis war geschmolzen, zurück blieben monströse und wabbelige Massen, ungeordnet – nackt, von einer erschreckenden und obszönen Nacktheit (Sartre 1981, S. 197f.).
«
Dieses Ekelgefühl Roquentins erhob Sartre analog der Angst bei Heidegger in den Rang einer Grundbefindlichkeit des Daseins, worin die Conditio humana erkennbar wird. Ekel ist die Antwort auf das Faktum, dass der Mensch in der Welt heimatlos und ungeborgen ist – oder in Sartres Worten: »Das Sein ist zuviel.« Es überwältigt das Bewusstsein, das bei der Menge von Erscheinungen des An-sich an bedrängende Klebrigkeit erinnert wird. Weil das Für-sich stets Freiheit ist und bleiben will, sind ihm alle Formen der Arretierung in Situationen zuwider – es ekelt sich. Nun könnte man meinen, dass ein Meiden von Situationen die Freiheit des Für-sich garantiert. Sartre verwies in Das Sein und das Nichts jedoch darauf, dass sich Freiheit nur innerhalb von Situationen ereignet. Situation ist definiert als Verknüpfung des Einzelnen mit den Mitmenschen und der Welt. Wer phobisch Situationen umgeht, wähnt sich lediglich frei, kann aber tatsächliche Freiheit niemals realisieren:
» So ahnen wir langsam das Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschlicheRealität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist (Sartre 1993, S. 845f.).
«
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Werkanalyse
Es gibt im Leben der Menschen immer wieder Situationen, die ihnen als zu unangenehm, klebrig und einengend erscheinen, als dass sie sich mit ihnen anfreunden könnten. Wenn sie aufgrund des Widerstandskoeffizienten nicht in der Lage sind, die Verhältnisse zu verändern, bleibt ihnen nach Sartre immer noch der Ausweg in die Phantasie: »Der Mensch ist wie Gas. Wird der Druck für ihn zu groß, entweicht er – ins Imaginäre.« Beim Menschen sind verschiedene Formen der Phantasietätigkeit bekannt. Diese reicht vom Tagund Nachttraum über die illusionäre Verkennung bis hin zum künstlerischen Schöpfertum. Sartre beschäftigte sich in Das Imaginäre (1940) generell mit der Einbildungskraft des Menschen, wobei sein Interesse auch einer Theorie von Kunstschaffen, Kunst und Ästhetik galt. Für Sartre stand fest, dass diese Themen eng mit der menschlichen Phantasie und ihrem Freiheitsspielraum verknüpft sind. Seit jeher sprach man in diesem Zusammenhang vom Möglichkeitssinn des Menschen. Nur weil er imaginieren kann, eröffnen sich ihm die Freiheitsgrade des Vorstellens und Schaffens, die es in der Tierwelt nicht gibt. Kunst bedeutete für Sartre eine produktive und originelle Antwort auf die Zufälligkeit und Überflüssigkeit des Seins. Das Kunstwerk erscheint als etwas Freies und Notwendiges in einer unfreien und kontingenten (zufälligen) Umgebung. Die Substanz des Werkes spiegelt, wenn es echt und ursprünglich gelingt, die Freiheit und Selbstbestimmung des Künstlers wider. Die Sartre‘sche Kunsttheorie mündete in die Aufforderung ein, dass der Mensch dem Authentizitätsmangel des Alltags entrinnen und sich Freiheit erobern soll. Kunstschaffende kämpfen häufig gegen Erstarrung und Kollektivismus an; sie wollen die Welt so sehen, hören und empfinden, wie es ihrer Individualität entspricht. Weil ihnen die Maßstäbe der Majorität oft ein Gräuel sind, gaben sie für Sartre ein Modell ab für ein Menschsein, das sich in Freiheit selbst entwirft und neu schafft. Eine weitere Variante menschlicher Freiheit wird nach Sartre in der Fähigkeit des Für-sich zur Verneinung offenkundig. Das Bewusstsein kann Fragen stellen, zweifeln, Skepsis entwickeln oder schlicht Nein sagen. Anders als alle anderen Lebewesen, die auf die Reize ihrer Umwelt immer nur
bejahend reagieren können, verfügt der Mensch über die Möglichkeit des Negierens oder (wie Sartre es ausdrückte) des Nichtens. Die Verneinung ist eine Erscheinungsform des Nichts, und das Für-sich wirkt daher wie eine Lücke im ansonsten fest geschlossenen An-sich der Welt. Heidegger sprach in diesem Zusammenhang von einer Lichtung des Seins, indes Sartre ein handfesteres Bild für das Bewusstsein wählte: »Es nistet im Herzen des Seins wie ein Wurm in einem Apfel.« Eine andere Konsequenz der Freiheit besteht in der Notwendigkeit des Menschen, Entwürfe für die eigene Existenz wählen zu müssen. Sartre zufolge ist der Mensch im Gegensatz zu Tieren und Pflanzen durch seine Geburt wesensmäßig nicht vollständig festgelegt. Es besteht ein (zugegebenermaßen häufig kleiner) Spielraum der Entscheidung, wer und wie der Einzelne in seinem Dasein sein und werden will. Dieser Aufgabe begegnet der Mensch bereits in seinen ersten Lebensjahren. Lange bevor er als Erwachsener rationale Entscheidungen trifft, hat er als Kind intuitiv einen bildhaft-emotionalen Plan entworfen, wie er später sein Leben bestehen könnte. Diese Urwahl findet auf einer prälogischen und nonverbalen Ebene statt. Sie macht deutlich, dass der Mensch zuerst existiert, um nach und nach mittels seines Handelns zu entscheiden, welche Essenz er seiner Existenz verleiht:
»
Der atheistische Existentialismus … erklärt: wenn Gott nicht existiert, so gibt es mindestens ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch oder, wie Heidegger sagt, das Dasein. Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert … Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht (Sartre 2000, S. 149f.).
«
Sartres Anthropologie kennt demnach keine fixierte menschliche Natur. Das Wesen des Menschen ist weder festgelegt noch unabänderlich. Vielmehr schafft jeder einzelne Mensch seine eigene Essenz, und damit entwirft er sich modellhaft für seine Mit-
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Kapitel • Jean-Paul Sartre
menschen. Dem Philosophen zufolge muss man anerkennen, dass jedermann den Aufbau seiner Persönlichkeit in verantwortlicher Weise mitgestaltet. Trotz der vielen zufälligen epochalen, sozialen, ökonomischen, biologischen und familiären Determinanten nimmt der Mensch zu allen Gegebenheiten seiner Existenz stets Stellung und formt sich damit selbst. Daher sollten Menschen niemals nur die Macht der Umstände anklagen oder beschwören, wenn sie bei sich Mängel oder Deformationen im Aufbau von Persönlichkeit und Charakter bemerken, oder wenn ihr Lebenslauf nicht ihren Wünschen entspricht. Greifen sie diesbezüglich dennoch zu Argumenten wie Vererbung, ungute Erziehung, widrige Umstände, undurchschaubare Beeinflussung durch schicksalhafte Mächte oder die Ungunst der Mitmenschen, besteht der Verdacht, dass die Betreffenden womöglich sich selbst bemogeln. Sartre bezeichnete diese Lebenslügen als »mauvaise foi« (Unaufrichtigkeit); bei ihr wird die menschliche Wahlfreiheit mehr oder minder preisgegeben. In seiner Skizze einer Theorie der Emotionen (1939) verwies Sartre auf eine spezielle Spielart von »mauvaise foi«: auf die Affekte. Wenn dem Einzelnen die Widerstände seiner Welt als unüberwindbar erscheinen, und wenn ihm der Mut und die Fähigkeiten fehlen, die Verhältnisse aktiv zu verändern, kann er immer noch via Emotionen die Welt zumindest in seinem Erleben magisch so lange modifizieren, bis sie zu seinen aktuellen Vorstellungen und Möglichkeiten zu passen scheint:
»
Emotionen werden wir einen abrupten Sturz des Bewusstseins ins Magische nennen. Oder, wenn man lieber will, es kommt zu einer Emotion, wenn die Welt der Utensilien abrupt verschwindet und an ihrer Stelle die magische Welt erscheint. Man darf also in der Emotion nicht eine vorübergehende Störung des Organismus und des Geistes sehen, die das psychische Leben von außen durcheinander brächte … Die Emotion ist kein Vorfall, sie ist ein Existenzmodus des Bewusstseins (Sartre 1982b, S. 315f.).
«
Als Adressaten von Emotionen gelten in der Regel die Mitmenschen, womit die soziale Welt in Sicht
gekommen ist. In Das Sein und das Nichts widmete sich Sartre ausführlich diesem Thema und lieferte eine viel beachtete Sozialanthropologie, die von Medizinern (etwa von Psychiatern und Psychotherapeuten) ebenso wie von Psychologen und Soziologen aufgenommen und weiter entwickelt wurde. Unter der Überschrift Das Für-andere handelte der Autor auf über zweihundert Druckseiten viele Varianten der Zwischenmenschlichkeit ab. Manche Sartre-Experten meinen, dass es sich bei diesen Ausführungen um den eigentlichen Hauptteil von Das Sein und das Nichts handelt, in dem es dem Verfasser gelungen ist, alle Argumente des Solipsismus zu widerlegen und das Faktum der Zwischenmenschlichkeit als gewichtiges Anthropinon zu würdigen. Sartre ging von der Hegel‘schen Schilderung zwischenmenschlicher Beziehungen aus, die dieser in Phänomenologie des Geistes (1806) im Kapitel Herr und Knecht hellsichtig erörtert hat. Man nimmt an, dass Hegel seinerseits durch den Roman Jakob, der Fatalist, und sein Herr (1775) von Denis Diderot zu seinen Überlegungen angeregt wurde. Hegel zufolge kommt es beim Zusammentreffen von Menschen unwillkürlich zu einem Kampf der Selbstbewusstseine aller Beteiligten. Als überlegener Herr erweist sich in dieser Auseinandersetzung derjenige, dem die Freiheit wichtiger ist als das Leben. Umgekehrt gerät jeder in die Knechtrolle und damit in Situationen von Abhängigkeit und Unterlegenheit, wenn er sich partout ans Leben klammert und der Freiheit nur wenig Wert zuschreibt. Dieser Kampf um die Überlegenheit ist nach Hegel überall anzutreffen. Lediglich in gelingenden Liebesbeziehungen gelten andere Gesetze: Liebe, so der Philosoph, ist die Anerkennung des eines Bewusstseins durch das andere Bewusstsein und vice versa. Sartre übernahm diese Hegel‘schen Gedanken, erweiterte sie aber um wesentliche sozialanthropologische Gesichtspunkte und erläuterte sie auf ungewöhnlich realitätsnahe und anschauliche Weise. Im Kapitel »Der Blick« führte er aus, dass sich jedermann als freies Subjekt und als Mittelpunkt seiner Welt erlebt, solange er alleine ist. Sartre verwies als Beispiel auf die Situation eines einsamen Spaziergängers in einem Park: Er betrachtet die Schönheiten der Natur und entwickelt dabei Emp-
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Werkanalyse
findungen von Souveränität und überlegenem Subjekt-Sein in Bezug auf die Welt. Dieses Empfinden ändert sich schlagartig, sobald ein anderer Mensch auftaucht. Wenn jener den einsamen Spaziergänger erblickt, ist dieser nicht mehr das alleinige Subjekt, sondern wird zum taxierten Objekt für den anderen. Die Rollen von Subjekt und Objekt werden jählings vertauscht – und mit ihnen das Erleben von Macht, Mittelpunktstellung und Dominanz. Es kommt zum »Auslaufen« des eigenen Subjekt-Seins hin zum Pol des anderen Subjekts und damit zu einer Art Entfremdung (»aliénation«). Erblickt ein Subjekt irgendwelche Objekte, sind damit Beurteilungen und Bewertungen verbunden, und nicht selten resultieren aus dem Blick Abwertung oder Entwertung. Im Zusammentreffen zweier oder mehrerer Personen geht es deshalb stets um die Frage, wer die Subjektrolle erobert und wer sich in die Objektrolle schicken muss. Diese Spannung und dieses Ringen um die Rolle des freien und blickenden Subjekts durchzieht die gesamte Welt des Sozialen. Um nicht selbst zum Objekt, zum Es und zum bloßen Ding vergegenständlicht zu werden, versucht daher jeder, möglichst rasch den anderen zu verobjektivieren:
» Die Objektivierung des Anderen ist … eine Verteidigung meines Seins, das mich gerade von meinem Sein für Andere befreit, indem es dem Andern ein Sein für mich verleiht (Sartre 1993, S. 483).
«
Beispiele für diese Dynamik finden sich im Sozialund Kulturleben der Menschen zuhauf. Man denke nur daran, dass in vielen Religionen ein Verbot besteht, sich ein Bild der Gottheit zu machen – das Bild würde den Gott zum betrachteten Objekt machen und damit seine absolute Subjektrolle relativieren. In manchen früheren Gesellschaften war es des Weiteren üblich, dass sich Sklaven, Diener, Frauen und Kinder in der Öffentlichkeit nur mit gesenktem Blick bewegen durften – damit wurden sie als Objekte definiert, ohne dass ihnen im Gegenzug die Möglichkeit eröffnet worden wäre, selbst in die Rolle eines blickenden Subjekts zu schlüpfen. Sartre hat darüber hinaus in seinen Überlegungen zur Judenfrage (1948) darauf hingewiesen, dass in diskriminierenden Vorurteilen eine analoge Dy-
namik vorherrscht. Hierbei ist die Rollenaufteilung zwischen einem souveränen Subjekt (welches die Vorurteile formuliert) und einem unterlegenen Objekt (das unter den Vorurteilen leidet) ebenfalls fixiert, und ausgehend von den jeweiligen vorurteilsvollen Meinungen etabliert sich zwischen Subjekt und Objekt ein verfälschender Blick, welcher die Vorurteile jeweils noch zu bestätigen vorgibt. Max Frisch hat diese Problematik in seiner Dichtkunst ebenfalls aufgegriffen; von ihm stammt die Warnung: »Du sollst Dir von deinem Mitmenschen kein Bildnis machen!« Sartre hätte ihm sicherlich zugestimmt und gleichzeitig darauf verwiesen, dass eine solche Bilderarmut zwischen den Menschen eine Rarität darstellt. Vor allem der eigene Narzissmus trägt dazu bei, die einmal angefertigten Bilder über die Mitmenschen nicht einmal in Nuancen einer Korrektur zu unterziehen. Manche gehen sogar über Leichen, nur um ihre starren Vorstellungen von anderen Menschen, Klassen, Religionen und Völkern oder vom anderen Geschlecht nicht revidieren zu müssen. Vor allem in Liebesbeziehungen und in Freundschaften wird jedoch der Andere zu einem Du, dessen Fremdheit und Freiheit mit Sympathie und Zustimmung betrachtet wird. Man reduziert ihn nicht auf seinen Ist-Bestand und seine realen oder vermeintlichen Defizite, sondern räumt ihm Möglichkeiten von Wachstum und Entwicklung ein. Sartre betonte, dass nur die wechselseitige Gewährung von Freiheit ein dauerhaft liebendes Miteinander begründet:
»
In der Liebe will der Liebende … für den Geliebten »alles auf der Welt« sein: Das bedeutet, dass er sich auf die Seite der Welt stellt; er ist das, was die Welt zusammenfasst und symbolisiert, er ist ein Dieses, was alle anderen »Dieses« umschließt, er ist Objekt und willigt ein, es zu sein. Doch andererseits will er das Objekt sein, in dem sich zu verlieren die Freiheit des Andern einwilligt, das Objekt, in dem der andere sein Sein und seinen Seinsgrund als seine sekundäre Faktizität zu finden einwilligt (Sartre 1993, S. 644).
«
Leider ergeben sich nur selten zwischenmenschliche Beziehungen, in denen die Beteiligten freiwillig dazu bereit sind, ihre Freiheit durch ein Gegenüber
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Kapitel • Jean-Paul Sartre
begrenzen zu lassen. Viel häufiger trifft man auf die hinlänglich bekannten Herr-Knecht- oder SubjektObjekt-Relationen, die zu vielfältigen Konflikten zwischen den Menschen führen und das Dasein außerordentlich beschweren. Eine wesentliche Aufgabe von Erziehung und Bildung der Zukunft wird es daher sein, den Menschen Chancen zu eröffnen, den liebenden Blick (Nicolai Hartmann) zu erlernen. Eine weitere Erschwerung der menschlichen Existenz ergibt sich aus dem Faktum, dass jedes Bewusstsein untrennbar mit einem Leib verknüpft ist. Dieser bildet als ein An-sich-Sein das materiellbiologische Fundament, auf welchem das Für-sichSein existiert. Es ist den Menschen seit jeher schwergefallen, sich mit dieser Situation zu arrangieren. Seit den Anfängen der Geschichte gibt es den Kampf gegen den Leib, als ob dieser ein Feind der Seele und des Bewusstseins wäre. Der eigene Körper mit seinen Bedürfnissen und Eigengesetzlichkeiten wurde und wird häufig als Zumutung oder Kränkung für das stolze und vermeintlich autonome Für-sich-Sein erlebt und entsprechend herablassend behandelt. Dass das menschliche Bewusstsein von so banalen Molekülen wie Blutsalzen, Fetten, Kohlenhydraten und Proteinen abhängen soll und sogar fundiert wird, hat der Homo sapiens bis heute kaum verwunden. Die Medizin kennt seit Langem das Krankheitsbild der Magersucht (Anorexia nervosa). Dabei weigern sich bevorzugt junge Mädchen beharrlich, Nahrung zu sich zu nehmen, selbst wenn sie dabei einen massiven Gewichtsverlust in Kauf nehmen. Als ein Motiv neben anderen für ihr Verhalten hat man bei den Patienten gefunden, dass sie damit ihrer Ablehnung von Materie, Körperlichkeit und Natur (An-sich-Sein) und der angeblichen Autonomie ihres Bewusstseins (Für-sich-Sein) Ausdruck verleihen wollen. Überträgt man diese Befunde auf die gesamte Menschheit, ist in gewisser Weise die Mehrzahl der Menschen magersüchtig (im Sinne von Entwertung der leiblichen Basis ihrer Existenz bei gleichzeitiger hybrider Überschätzung ihrer Bewusstseinsmöglichkeiten, die sie als unbegrenzt und unabhängig einschätzen). Dies traf auch auf nicht wenige Denker der Vergangenheit zu, die in ihren philo-
sophischen Schriften zwar der Ratio des Menschen breiten Raum zugestanden haben, seinen Leib hingegen völlig oder weitgehend vernachlässigten. Umso höher ist daher Sartres Leistung zu würdigen, der in Das Sein und das Nichts den Leib in erstaunlich hohem Umfang einer phänomenologischen Betrachtungsweise zugänglich gemacht hat. Weder Husserl noch Heidegger hatten sich an diese Aufgabe herangewagt. Parallel zu Sartre war es in Frankreich vor allem Merleau-Ponty, der mit ähnlicher Entschiedenheit den menschlichen Organismus in den Rang eines philosophischen Topos erhoben hat. Seit Das Sein und das Nichts wurden zahlreiche weitere Studien über den Leib und seine Verhaltensanomalien veröffentlicht. Im Anschluss an Sartre ist auch die Sexualität als philosophisches Thema aktuell geworden. Damit wurde eine Brücke zur Tiefenpsychologie und Psychosomatik geschlagen, die von Sartre selbst schon in Form der existentiellen Psychoanalyse angelegt worden war. Sartres Beschreibungen der Leiblichkeit umfassen Analysen zu Schmerz, Müdigkeit, Schlaf und in Andeutungen zu psychosomatischen Erkrankungen. Besonders in Krankheitszuständen bemerken Menschen ihren Leib und beginnen, über ihn nachzudenken oder sich (in Maßen) mit ihm zu beschäftigen. Normalerweise haben wir, solange wir gesund sind, keinerlei Veranlassung, unser biologisches Fundament zum Thema von Reflexionen zu machen. Unser Bewusstsein ist draußen in der Welt und kümmert sich um anderes denn um den eigenen Körper:
» Das Bewusstsein (von dem) Körper ist lateral und retrospektiv; der Körper ist das Unbeachtete, das »mit Stillschweigen Übergangene«, und doch ist er das, was das Bewusstsein ist; es ist sogar nichts anderes als Körper, der Rest ist Nichts und Schweigen (Sartre 1993, S. 583).
«
In Theorie der Emotionen hatte Sartre bereits darauf verwiesen, dass in Notlagen der Existenz für die Betreffenden die Möglichkeit besteht, die anstehenden Probleme durch Mobilisation von Affekten auszuklammern oder zu lösen. Bei diesem (wie Sartre es nannte) magischen Vorgang kommt es zu einer Regression in den Leib.
Werkanalyse
Greift der Mensch auf seine Leiblichkeit zurück und wird affektiv, erhöht sich sein subjektives Machtpotential. Außerdem erleichtert dies die Durchsetzung von Eigeninteressen im sozialen Raum, da Affekte aufgrund der starken Mitbeteiligung des gesamten Organismus die Mitmenschen beeindrucken. Ähnliches kann man bei Krankheiten beobachten, in denen sich der Körper ebenfalls in den Vordergrund des Erlebens schiebt. Aus dem unbeachteten und stillschweigenden Leib wird ein lärmiges und nicht zu übersehendes Geschehen, das in den Fokus der Aufmerksamkeit für das eigene Bewusstsein wie auch für dasjenige der anderen rückt. Alleine dadurch schon kann sich ein ins Wanken geratener Mensch (z. B. im Rahmen einer narzisstischen Krise) wieder stabilisieren. Doch nicht nur in Situationen wie Krankheit, Müdigkeit und Schmerz bemerken wir, dass wir leibhaftig sind. Daneben bedeutet die Sexualität eine exquisite und – falls sie gelingt – überaus angenehme Möglichkeit, sich der eigenen und der Körperlichkeit des anderen zu vergewissern. In Das Sein und das Nichts widmete sich Sartre dieser Thematik in gebührendem Ausmaß. Der Autor wandte sich gegen alle naturalistischen oder atomistisch-psychologischen Erklärungsmodelle, welche die sexuellen Beziehungen der Menschen auf Triebe und deren Abreaktion zu reduzieren versuchen. Für ihn war der Sexus primär in die leib-seelische Kommunikation zweier Menschen eingebettet. Das Du ist kein vorrangiges Sexualobjekt, sondern eine Person, der wir uns liebend und begehrend zuwenden. Weil verschiedene Qualitäten des Gegenübers unsere Bewunderung erregen, verspüren wir den Wunsch, uns ihm auf möglichst allen Ebenen unserer Seins und damit auch auf der leiblichen zu nähern. Man hat die gelingende Sexualität ein Gespräch zweier Menschen unter Einbeziehung des Leibes genannt. Dem Koitus ist in der Regel die Zärtlichkeit vorgeordnet, welche die in die Welt verstreute Aufmerksamkeit der Beteiligten in ihren Körper zurückholen will. Sartre schilderte anschaulich, wie durch Streicheln, Küsse und Umarmungen der Weltkontakt des Für-Sich beider Sexualpartner eingeschränkt wird und dadurch nach und nach ihr Bewusstsein im Leib versinkt.
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Hinzu kommen bei der Sexualität die Phänomene von körperlicher Nacktheit und Begierde, die von Sartre im Sinne der Magie eingeordnet wurden. Der eigene Leib wird ihm zufolge im sexuellen Akt dafür eingesetzt, im Sexualpartner Leidenschaften zu wecken, die bei ihm umso größer werden, je mehr er spürt, dass auch sein Gegenüber die Freiheit des Für-sich-Sein aufgibt und stattdessen ganz Leib (also An-sich-Sein) wird. Höhepunkt dieses sich gegenseitig in die Körperlichkeit Lockens ist der Orgasmus, welchen die Franzosen zu Recht als »petit mort« (kleinen Tod) bezeichnen, da sich in ihm das Für-sich-Sein für kurze Zeit im An-sichSein verliert. Viel beachtet wurde auch Sartres Theorie der Perversionen, die in wesentlichen Punkten von der psychoanalytischen Lehre abweicht. Für ihn bedeuteten die sexuellen Deviationen ein ängstliches Ausweichen vor der totalen Kommunikation auf leib-seelischer Ebene. Weil ängstliche und selbstunsichere Menschen das Subjekt-Sein ihres Partners nicht ertragen können, soll dessen Personsein ausgeschaltet werden. Zu diesem Zweck wird in der abwegigen Sexualpraxis das mehr oder minder komplette Objekt-Sein des Partners verlangt oder erzwungen. Diese Interpretation der Perversionen erscheint realistischer als die fragwürdigen triebtheoretischen Ableitungen der Psychoanalyse. Sartre demonstrierte die Tragweite seines Konzepts, indem er verschiedene sexuelle Deviationen wie Sadismus, Masochismus, Exhibitionismus und Voyeurismus auf die in ihnen enthaltenen existentiellen und sozialen Motive hin untersuchte. Bei allen Perversionen konnte er zeigen, dass in ihnen eine echte Ich-Du-Beziehung systematisch verhindert werden soll. Die sexuelle Ekstase entsteht hierbei als Ausdruck von Allmachtsgefühlen zweier einsamer Subjekte, die aus Angst vor dem Objekt-Werden gängige zwischenmenschliche Formen der Zärtlichkeit und des Sexus konsequent vermeiden. In den letzten Teil von Das Sein und das Nichts hat Sartre ein aufschlussreiches Kapitel über die existentielle Psychoanalyse eingefügt, worin er Freuds Theorien und Praxis in seinem Sinne umformen wollte. Wie beschlagen er im Hinblick auf die Psychoanalyse war, hat er unter anderem in sei-
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nem Filmdrehbuch über Freud um 1958 demonstriert. Die von Sartre skizzierte existentielle Psychoanalyse korrigierte die Freud‘schen Lehren an vielen Punkten. Der Autor nahm Abschied von der Libidotheorie, welche das Seelische energetisch und kausal beschrieben hat. Eine strenge Kausalität im Psychischen lehnte Sartre ab, da seiner Meinung nach die menschliche Freiheit trotz Traumen, Triebschicksalen und weiterer einschränkender Rahmenbedingungen immer wieder Räume der Veränderung eröffnet. Der Aufbau der Person werde durch Wahlhandlungen determiniert, welche das faktisch Gegebene durch Sinngebungen final und teleologisch verwerten. Selbst in Kritik der dialektischen Vernunft, die viel stärker als Das Sein und das Nichts auf die gesellschaftlichen, ökonomischen und historischen Rahmenbedingungen und Determinanten der menschlichen Existenz abhebt, gestand Sartre dem Einzelnen noch einen Rest von freiheitlicher Antwort auf die vorgefundenen Verhältnisse zu. Die Psychoanalytiker untersuchten bevorzugt das Pathologische am Menschen, wohingegen Sartre dafür plädierte, auch die gesunden Anteile der Persönlichkeit in die Analyse einzubeziehen. Überhaupt sollte man die Totalität von Personen und ihrer Lebensläufe stets im Auge behalten und sich durch Detailbefunde nicht allzu sehr ablenken lassen. Urwahl, Tat und Entwurf eines Menschen seien bedeutsamer als seine allfälligen neurotischen Symptome, die Sartre nicht als Resultate eines unbewussten Seelenlebens verstanden wissen wollte:
»
Und eben weil es das Ziel der Untersuchung sein muss, eine Wahl und nicht einen Zustand zu entdecken, muss diese Untersuchung … daran denken, dass ihr Gegenstand nicht eine in der Dunkelheit des Unbewussten verborgene Gegebenheit ist, sondern eine freie und bewusste Bestimmung (Sartre 1993, S. 983).
«
Conclusio Obwohl Sartres Rang in der Philosophiegeschichte eingangs etwas relativiert wurde, steht er unzwei-
felhaft an der Spitze der Existenzdenker des 20. Jahrhunderts. Dies liegt sowohl in seinen philosophischen Texten als auch in seinem gesamten sonstigen literarischen Schaffen begründet. Die von ihm formulierten Theorien und Gedankengebäuden haben, wie angedeutet, die anthropologischen, medizinischen, psychologischen und soziologischen Debatten des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst. Als ein Beispiel für viele soll auf eine Abhandlung des Neurologen und Psychosomatikers Viktor von Weizsäcker verwiesen werden, der 1947 einen Text über Jean-Paul Sartres »Sein und Nichts« publizierte, in dem er Aspekte aus dessen Philosophie auf ihre Anwendbarkeit in klinisch-medizinischen Zusammenhängen hin überprüfte. Neben solchen Möglichkeiten, die Sartre‘sche Philosophie mit Gewinn in konkrete Alltagssituationen übertragen zu können, überzeugt der französische Denker auch heute noch durch sein gelebtes Leben, das als unbedingtes Bekenntnis zu menschlicher Freiheit und Verantwortung verstanden werden kann. Selbst wenn er im Hinblick auf die Beurteilung politischer Situationen und gesellschaftlicher Prozesse Irrtümern unterlag (so in Bezug auf den real existierenden Sozialismus und Kommunismus), blieb die dabei gezeigte Stoßrichtung seines Engagements überwiegend eine humanistische. Eine lange schon im Humanismus kolportierte Überzeugung lautet, dass es keine Mächte über oder unter dem Menschen gibt, die sein Schicksal bestimmen. Weder Götter noch Dämonen lenken sein Geschick – er selbst ist Maß und Münze seines Daseins. Sartres Leben und Werk wirken wie eine Bestätigung dieser Ansichten. Dieser »petit homme« dachte groß im Hinblick auf das Recht und die Chancen des Menschen, seine Existenz autonom und (in Maßen) frei zu gestalten. Eine, wenn nicht die zentrale Idee seiner existentialistischen Anthropologie lautet daher, dass jeder Mensch, trotz vielfältiger ihn determinierender Faktoren, mit Entwürfen, Wahl und Handlungen seinem Dasein Sinn und Bedeutung verleiht und damit Vorschläge unterbreitet, wie die Essenz, das Wesen eines Menschen, beschaffen sein könnte.
Literatur
Literatur Biemel W (1988) Jean-Paul Sartre. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Cohen-Solal A (1988) Sartre 1905–1980. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1985) Danto AC (1986) Jean-Paul Sartre. Steidl, Göttingen Flynn T, Kampits P, Vogt EM (2005) Über Sartre – Perspektiven und Kritiken. Turia & Kant, Wien Hackenesch Ch (2001) Jean-Paul Sartre. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Hayman R (1988) Jean-Paul Sartre – Leben und Werk. Heyne, München Kampits P (1995) Jean-Paul Sartre – Zwischen Absurdität und Freiheit. In: Fleischer M (Hrsg) Philosophen des 20. Jahrhunderts. WBG, Darmstadt Lévy B-H (2002) Sartre – Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. Hanser, München (Erstveröff. 2000) Madsen A (1980) Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir – Die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe. Claassen, Düsseldorf Sartre J-P (1967) Kritik der dialektischen Vernunft. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1960) Sartre J-P (1981) Der Ekel. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1938) Sartre J-P (1982a) Die Imagination (Erstveröff. 1936). In: Die Transzendenz des Ego – Philosophische Essays 1931–1939. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Sartre J-P (1982b) Skizze einer Theorie der Emotionen (Erstveröff. 1939). In: Die Transzendenz des Ego – Philosophische Essays 1931–1939. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Sartre J-P (1982c) Saint Genet – Komödiant und Märtyrer. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1952) Sartre J-P (1983) Die Wörter. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1964) Sartre J-P (1993) Das Sein und das Nichts. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1943) Sartre J-P (2000) Der Existentialismus ist ein Humanismus. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1946) Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien Wannicke R (1990) Sartres Flaubert – Zur Misanthropie der Einbildungskraft. Reimer, Berlin von Wroblewsky V (Hrsg) (2009) Lebendiger Sartre – 115 Begegnungen. BasisDruck, Berlin
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Philosophie II Max Scheler – 89 Karl Jaspers – 101 Helmuth Plessner – 115 Karl Löwith – 129 Hans-Georg Gadamer – 143 Simone de Beauvoir – 157 Maurice Merleau-Ponty – 171
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Max Scheler Biographisches – 90 Werkanalyse – 92 Conclusio – 99 Literatur – 100
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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. Abb. 1 Max Scheler (*1874; †1928). (Aus Stumm et al. 2005)
Die Beiträge Schelers zur Anthropologie sind komplex und wurden in der Vergangenheit von Ärzten wie Philosophen gleichermaßen geschätzt. So haben Viktor von Weizsäcker, Viktor Emil von Gebsattel, Hans Kunz, Dieter Wyss, Paul Christian und andere Mediziner mehrfach auf die vielfältigen Anregungen des Denkers verwiesen, die sie gewinnbringend auf Themen der Heilkunde anwenden konnten (. Abb. 1).
Biographisches Max Scheler wurde 1874 in München als Sohn eines protestantischen Gutsverwalters und einer jüdischen Mutter (verwandt mit Lion Feuchtwanger) geboren. Der Vater war Angestellter des bayerischen Königs; er betreute dessen Güter in der Nähe von Bayreuth. Die Familie war auf Betreiben der Mutter nach München gezogen, wo ihr gut situierter Bruder Hermann lebte, in dessen Nähe sie zu sein wünschte. Aufgrund der Orthodoxie seiner Gattin Sofie war Vater Scheler zum jüdischen Glauben konvertiert. Weil auch Hermann streng gläubig war, wurde Max (der seinen Onkel später beerben sollte) ebenfalls im jüdischen Glauben erzogen. Hermine, die jüngere Schwester von Max, die bereits 1903 starb (sie suizidierte sich mit 16 Jahren), war analog sozialisiert worden. Über das Wesen von Sofie Scheler schrieb ihre Nichte Claire Goll: »Sie war eine sehr schöne Frau, aber orthodox genug, um einen Rabbiner zum Antisemiten zu machen.« Scheler war ein mittelmäßiger bis schlechter Schüler. Eine Weile besuchte er das Luitpoldgymnasium in München und dann eine private Lehran-
stalt. 1894 legte er am Ludwiggymnasium (ebenfalls in München) das Abitur ab. Schon während seiner Schulzeit kam er in Kontakt mit den Schriften Friedrich Nietzsches, die ihn ziemlich begeisterten, und die in ihm den Wunsch weckten, Philosoph zu werden. Ab 1894 studierte Scheler Philosophie und Psychologie in München. Nach einem Semester wechselte er sowohl die Fachrichtung als auch den Studienort. Er schrieb sich in Medizin ein und ging bald darauf nach Berlin. Dort belegte er jedoch keinerlei medizinische Studienangebote; stattdessen hörte er Vorlesungen bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel. Wiederum ein Jahr später wurde er Student in Jena, wo er 1897 als 23-Jähriger in Philosophie promovierte. Hintergrund für diese raschen Wechsel war die Liebesbeziehung Schelers zur sieben Jahre älteren Amélie von Dewitz-Krebs, die er auf seiner Abiturreise in Südtirol kennengelernt hatte. Diese lebte zusammen mit ihrer Tochter getrennt von ihrem morphiumsüchtigen Mann in Berlin. Sie galt als schwierige Frau, häufig kränkelnd, aber mit zielstrebigen Vorstellungen versehen, wenn es um die Gestaltung ihrer Beziehung mit dem jungen Philosophen ging. 1899 wurde Scheler in Jena bei Rudolf Eucken mit einer Arbeit über Die transzendentale und die psychologische Methode (1900) habilitiert. Der Jüngere schätzte am Älteren dessen engagierte Art des Philosophierens, seinen Personalismus und seine Auseinandersetzungen mit der Philosophie Immanuel Kants. Die von Eucken oft gestellte Frage nach der Stellung des Menschen innerhalb von Natur und Kultur wurde zu einem zentralen Thema der späteren Scheler‘schen Anthropologie. Ebenfalls 1899 heiratete Scheler nicht ganz freiwillig Amélie, die von ihm schwanger war. Zwei Wochen vor der Trauung konvertierte er zum Katholizismus – ein Zugeständnis an seine künftige Gattin, die selbst zwar jüdisch-orthodox aufgewachsen, von einer katholischen Mutter aber ihrerseits zur Konversion gezwungen worden war. So geriet Scheler in eine weltanschaulich und sozial prekäre Situation, die mit dazu beitrug, dass seine Ehe mit Amélie nicht allzu lange hielt. Hinzu kam, dass ihr gemeinsamer Sohn bald nach seiner Geburt starb. 1900 musste Scheler noch den Tod
Biographisches
seines Vaters und drei Jahre darauf denjenigen seiner Schwester verkraften. Vor allem ihr Suizid erschütterte ihn sehr. Um die Jahrhundertwende kam Scheler im Hause des Neukantianers Hans Vaihingers in Jena mit Edmund Husserl und der Phänomenologie in einen ersten Kontakt. Nachdem aufgrund von Affären und Streitigkeiten die Ehe mit Amélie in deutliche Schieflage geraten war und Letztere in Jena für einen Eklat gesorgt hatte, beschloss Scheler, nach München zu übersiedeln. 1906 gelang ihm unter anderem durch die Fürsprache Husserls eine Umhabilitierung. In der Isarmetropole schloss er sich dem Kreis der dortigen Phänomenologen (Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Theodor Conrad, Hedwig Martius, Dietrich von Hildebrand) an. Amélie, deren Mutter sowie der 1905 geborene Sohn Wolfgang hatten Scheler nach München begleitet. 1909 initiierte seine Gattin dort einen neuerlichen Skandal, in dessen Gefolge der Philosoph sogar seine Venia Legendi (Lehrerlaubnis) verlor. 1910 musste er nach einigen für ihn ungünstig verlaufenden Prozessen und Zeitungsberichten (so im Hinblick auf die »Würde eines Hochschullehrers«) trotz großem Lehrerfolg seine Dozentur aufgeben. Scheler zog daraufhin zuerst nach Berlin und dann nach Göttingen, wo er eine freie Lehrtätigkeit aufnahm. Zeitweise hielt er seine Seminare in einem Hotelzimmer ab. Um 1909 hatte er die 17 Jahre jüngere Märit Furtwängler kennengelernt, Tochter des Archäologen Adolf Furtwängler und Schwester von Wilhelm Furtwängler, dem späteren Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau heiratete Scheler 1912 Märit, mit der er einige Jahre in Berlin-Wilmersdorf lebte. Er veranstaltete private Vorlesungen und gab zusammen mit Husserl, Geiger, Pfänder und Adolf Reinach das Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung heraus. Die Trennung von Amélie und die neue Liebesbeziehung mit Märit lösten bei Scheler einen merklichen philosophisch-literarischen Produktionsschub aus. Nachdem es schon 1911 zu ersten phänomenologisch fundierten Publikationen gekommen war, folgte 1913 mit Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass sein erstes schwergewichtiges Buch. Es stellt eine
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tiefgründige Studie zum Wesen von Emotionen und hier vor allem von Liebesgefühlen dar. Noch im selben Jahr veröffentlichte er den ersten Band von Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik; der zweite Band folgte 1916. Die meisten Scheler-Experten beurteilen dieses Werk als Opus magnum des Denkers. Darin entwickelte er eine neben Nietzsches Wertrelativismus und Kants formalem Sittengesetz eigenständige materiale Wertethik, welche die ethischen Debatten im 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusste. 1915 erschien Schelers Abhandlung Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Dabei vertiefte er seine Überlegungen zu Ethik und Moral aus Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik und stellte den Begriff des Ressentiments in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Dieser Terminus war von Nietzsche herangezogen worden, um die Entstehung und Dominanz der christlichen Moral in der Geschichte des Abendlandes begreiflich zu machen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, an dem er krankheitshalber nicht teilnehmen musste, vertrat Scheler wie viele andere Intellektuelle eindeutig nationale und patriotische Ansichten. In Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1915) sprach er davon, dass dieser Weltkrieg ein großartiger Aufruf zur geistigen Wiedergeburt des Menschen sowie eine Zerfallserscheinung des Kapitalismus sei. Damit setzte er sich heftiger Kritik einiger pazifistisch orientierter Schriftsteller (Franz Werfel, Max Brod, Arnold Zweig) aus. Im Laufe des Krieges revidierte er seine Äußerungen und plädierte nunmehr für einen christlichen Sozialismus als dritten Weg zwischen dem westlichen Kapitalismus und dem östlichen Kommunismus. Spuren dieses veränderten Denkens finden sich in Krieg und Aufbau (1916) sowie in Die Ursachen des Deutschenhasses (1917). Außerdem fertigte er um 1919/20 ein Manuskript mit dem Titel Christlicher Sozialismus als Anti-Kapitalismus an, das unvollendet blieb. Darin machten sich seine Studien der Schriften von Ernst Troeltsch, Max Weber und Werner Sombart bemerkbar, mit denen er zeitweise persönlich verkehrte. 1919 holte Konrad Adenauer, der damalige Oberbürgermeister von Köln, Scheler an die Universität der Rheinstadt, wo er neben zwei weiteren
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Direktoren das Institut für Sozialwissenschaften leiten sollte. Dem Politiker galt er als katholischer Denker, was sich jedoch weder im Hinblick auf dessen Lebenswandel noch auf dessen Forschungsund Lehrergebnisse bestätigte. Der Neuberufene sprengte auf vielfältige Weise das enge Korsett einer christlichen Glaubenslehre. Die Breite der Scheler‘schen Ideen, Interessen und Ansichten lässt sich allein schon an der Liste seiner Brief- und Gesprächspartner illustrieren. Da gab es die religiös orientierten Martin Buber, Romano Guardini und Paul Tillich; daneben zählten die Phänomenologen sowie Albert Einstein, Ernst Bloch, Rainer Maria Rilke, Paul Valéry, Romain Rolland, Ernst Robert Curtius, Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Frederik Buytendijk, Helmuth Plessner und Otto Dix dazu. Letzterer hat 1926 ein Porträt Schelers geschaffen, das ihn als kräftigen Mann mit wuchtigem Schädel zeigt, und über welches der Porträtierte aussagte, dass es ihn treu und genau wiedergebe. Zu Beginn seiner Kölner Jahre lernte Scheler Maria Scheu kennen, die zuerst bei ihm studierte und bald als Assistentin an seinem Institut angestellt wurde. Der Philosoph verliebte sich in sie, und eine Weile versuchten sich er, seine Frau Märit und die junge Geliebte vergeblich in einer Art Dreiecksbeziehung. 1920 erlitt Scheler einen ersten Herzinfarkt. Als Risikofaktoren dafür müssen neben seinem maßlosen Nikotinkonsum die wiederholfen Ehe- und Liebeskalamitäten, die unstet-extravertierte Art der Lebensgestaltung sowie eine langjährige depressive Verstimmung benannt werden, die ihn manchmal in tiefe Verzweiflung bis hin zu Suizidgedanken verbrachte. 1923 kam es zur Scheidung von Märit, und ein Jahr später heirateten Scheler und Maria Scheu. Konservativ-katholische Kreise der Domstadt sprachen daraufhin abschätzig vom labilen Charakter ihres Professors, der zwischen maßloser Triebhaftigkeit und geistigen Höhenflügen hinund hertorkele. Mitte der 20er Jahre erhielt Nicolai Hartmann von Marburg aus einen Ruf an die Alma Mater in Köln. Im Vergleich zu Scheler war dessen Lebens- und Arbeitsstil um vieles gediegener und bürgerlicher. Die beiden Denker schätzten einander hinsichtlich ihrer Forschungsschwerpunkte –
so in Bezug auf ethische oder wertphilosophische Fragestellungen. Scheler allerdings urteilte über ihr Verhältnis bisweilen auch etwas lax und meinte zu Hartmann: »Ihr Sitzfleisch und mein Genie – das ergäbe einen wahren Philosophen!« In den wenigen noch verbleibenden Jahren bis zu seinem Tod – Scheler starb 1928 als 54-Jähriger an einem neuerlichen Herzinfarkt – bearbeitete er bevorzugt anthropologische Fragestellungen. Schon 1921 hatte er Vom Ewigen im Menschen publiziert. Es folgten Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (1923/24), Die Formen des Wissens und der Bildung (1925), Mensch und Geschichte (1926) sowie Politik und Moral – Die Idee des ewigen Friedens (1926/27). Die meist zitierte anthropologische Schrift Schelers wurde jedoch das Manuskript eines Vortrags, den er 1927 in Darmstadt an Hermann Graf Keyserlings Schule der Weisheit hielt, und der ein Jahr später unter dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos herausgegeben wurde. Darin gelang dem Denker eine originelle Beschreibung der Conditio humana, des menschlichen Wesens und seiner Aufgaben in Natur und Kultur. Es bleibt noch nachzutragen, dass sich Scheler in den letzten Jahren seines Lebens mehrfach um eine Wegberufung aus Köln (nach Berlin oder Frankfurt am Main) bemühte. Erst in seinem Todesjahr 1928 war er diesbezüglich erfolgreich. Den Ruf nach Frankfurt, den Adenauer dringlich befürwortet hatte, konnte er jedoch ebenso wenig mit Leben füllen wie seine erneute Vaterschaft: Sein Sohn Max wurde Ende 1928 geboren, als sein Vater bereits sieben Monate tot war.
Werkanalyse Schelers philosophisches Schrifttum ist breitgefächert; es reicht von der Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie bis zur Ethik, Axiologie (Wertlehre) und Metaphysik. In unserem Zusammenhang interessieren jene Texte, die sich auf anthropologische Fragen im engeren Sinne beziehen. Neben Wesen und Formen der Sympathie sowie Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik sind dies vor allem Die Stellung des Menschen im Kosmos und der Nachlass-Band III, der ver-
Werkanalyse
schiedene Abhandlungen zur Anthropologie versammelt. z
Wesen und Formen der Sympathie
Als stark von der Husserl‘schen Phänomenologie geprägter Philosoph tendierte Scheler stets dazu, seine philosophische Spekulation aus konkreten und lebensnahen Phänomenen entspringen und immer wieder in sie einmünden zu lassen. Dies trug dazu bei, dass er zu einem Problem- und nicht zu einem Systemdenker wurde. Seine Schriften vermitteln meist den Eindruck, dass in ihnen relevante menschliche Themen behandelt werden, von denen beinahe jedermann betroffen ist. In diesem Tenor ist sein frühes Buch Wesen und Formen der Sympathie verfasst. Ausgangspunkt der Scheler‘schen Ausführungen waren menschliche Emotionen wie Mitgefühl, Mitfreude, Mitleid und Liebe – emotionale Zustände, die allen Menschen irgendwie bekannt und für die Entwicklung ihrer Individualität wesentlich sind. Als gemeinsame Basis dieser Emotionen benannte Scheler eine teilnehmende und teilhabende Einstellung des Menschen in Bezug auf Welt, Mitmensch und Kultur – eine Einstellung, die er mit dem Begriff der Sympathie bezeichnete. Scheler unterschied vier Formen des Mitgefühls: Miteinanderfühlen (etwa gemeinsame Trauer beim Tod eines nahen Angehörigen); Mitund Nachfühlen als verstehendes Betrachten von Emotionen anderer Menschen; Gefühlsansteckung als kollektivpsychologisches Phänomen innerhalb von großen Gruppen und Massen; Einsfühlen (z. B. bei gelingender Sexualität oder – wie in der Romantik oft beschrieben – als Verschmelzung mit der Natur). Mitleid und Mitfreude sind vor dem Hintergrund dieser Einteilung als Varianten des Mitfühlens anzusehen. Wir können uns keinen emotionalen Zustand vorstellen, bei dem wir uns beispielsweise mit Schmerzgeplagten so sehr identifizieren, dass daraus eine Einsfühlung werden könnte. Allerdings können wir deren Schmerzen und die daraus erwachsenden Emotionen (Verzweiflung, Ärger, Groll, Hoffnungslosigkeit) derart intensiv miterleben, dass es gelingt, uns in sie einzufühlen und deren Affekte nachzufühlen, woraus Mitleid entspringt. Analoge Verhältnisse sind laut Scheler bei
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der Mitfreude zu konstatieren, bei welcher die gehobene Stimmung eines Gegenübers nachvollziehbar ist, ohne dass man selbst fröhlich, ausgelassen oder heiter zu sein braucht. Im Hinblick auf die Entstehung von Sympathiegefühlen untersuchte Scheler diverse Theorien, die im Laufe der Geistes- und Kulturgeschichte formuliert wurden. Brahmanismus, Buddhismus, die Lehre von Laotse, die frühchristliche Liebesmystik, Spinozas amor dei intellectualis und Arthur Schopenhauers Mitleidsethik wurden von ihm herangezogen, um zu zeigen, inwiefern Spielarten der Sympathie als Wesenseigentümlichkeiten des Menschen schon seit Jahrtausenden diskutiert werden. Im Rahmen dieser geschichtlichen Darlegungen konnte Scheler nachweisen, dass es in vielen Kulturen zu einengenden Differenzierungen der Sympathiegefühle kam. So wurde die Einsfühlung mit Natur und Kosmos im Zuge der jüdischen und christlichen Religion vernachlässigt; großenteils war stattdessen eine Haltung der objektivierenden Dominanz (»macht euch die Erde untertan«) und der Entwertung alles Natürlichen zu beobachten. Ähnliche Effekte gingen von den Naturwissenschaften und der Technik aus. Sie sorgten dafür, die Natur unter den Kautelen von Beherrschung, Nutzen und Gewinn zu betrachten; die Einsfühlung störte dabei nur. Weltanschauungen und philosophische Strömungen wie Rationalismus, Materialismus, Positivismus und Biologismus taten ein Übriges, um Erde, Leben und Mitmenschen auf bloße Sachverhalte zu reduzieren. Zum Schluss behielten laut Scheler im Abendland Begriffe wie Humanität oder allgemeine Menschenliebe zwar eine gewisse Bedeutung, die aber um wesentliche Aspekte einer umfassend gedachten Sympathie ärmer geworden waren. Will man zurück (oder voraus) zur Fülle der Sympathiegefühle, ist es dem Denker zufolge unerlässlich, die anthropologische Formel vom »ens amans« (liebendes Wesen) ernst zu nehmen. Der Mensch war für Scheler primär nicht »Homo faber« oder ein denkendes respektive sprechendes Tier. Die basale, dem Menschen gemäße Haltung und Einstellung zu sich selbst wie zu den anderen und zum Kosmos ist vielmehr die liebende Teilnahme und Teilhabe an der Welt. Erst Liebe und Sympathie lassen das eigene Wesen ebenso wie
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dasjenige von Mitmenschen, Natur und Kultur verstehbar werden, so dass ein achtungs- und würdevoller Umgang mit ihnen möglich wird. Wollen, Erkennen, Fühlen, Denken und Handeln sind idealiter in der Liebe fundiert. Sie bedeutete für Scheler den Urakt des Menschen, mit dessen Hilfe er den Brückenschlag einer sympathetischen Beziehung zur natürlichen, sozialen und geistig-kulturellen Welt verwirklichen kann. Liebe umfasst damit weit mehr als Romantik, Erotik, Sexus oder anhimmelnde Verliebtheit; Liebe ist das Apriori eines menschlichen Daseinsvollzugs. In Wesen und Formen der Sympathie hat Scheler im Zuge seiner phänomenologischen Beschreibung von Liebe (und Hass) bereits Begriffe wie Wert und Person eingeführt, die er in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik weiter erläuterte, und die daher im Detail erst im nächsten Abschnitt erörtert werden. Darüber hinaus griff er auf eine Definition Spinozas hinsichtlich Freude und Trauer zurück, die sich in dessen Buch Ethik (1677) findet, und die Scheler auf die Thematik von Liebe und Hass übertrug:
»
Während die Liebe eine Bewegung ist, die vom niederen zum höheren Wert geht, und in der jeweilig der höhere Wert eines Gegenstandes oder einer Person erst zum Aufblitzen kommt, ist der Hass eine entgegengesetzte Bewegung … Die Liebe richtet sich auf Setzung des möglichen höheren Wertes bzw. Erhaltung des höheren Wertes, und auf Aufhebung des möglichen niedrigeren Wertes (die selbst ein positiver Wert ist) (Scheler 1985, S. 155).
«
Für Scheler gab es drei Formen (Modi) der Liebe: die geistige der Person, die seelische des Ich sowie die vitale der Leidenschaft und des Bios. In den diversen Liebesbeziehungen – Mutter-, Heimat-, Geschlechtsliebe – sind diese drei Formen unterschiedlich stark repräsentiert. In der Regel sind die Liebesmodi mit Gefühlstönungen wie Wohlwollen, Dankbarkeit, Güte oder Freude verknüpft, mit denen bestimmte Wertaspekte der geliebten Objekte speziell gemeint und realisiert werden. Die Scheler‘sche Beschreibung von Liebesgefühlen enthält auch Hinweise auf das Wesen des Hasses. Eine solche Emotion, die sinnvollerweise
nicht als Gefühl, sondern als Affekt bezeichnet wird, kann nur entstehen, wenn der Betreffende niedere statt höhere Werte anstrebt. Das bedeutet, dass im Hass wie in allen anderen Affekten ebenso Werte eine entscheidende Rolle spielen. Allerdings ist hierbei das Wertniveau im Vergleich zu den Gefühlen deutlich niedriger angesetzt. Es verwundert nicht, dass Scheler vor dem Hintergrund solcher Gefühls- und Affekttheorien ein naturalistisches Erklärungsmodell für Sympathie und Liebe sowie Aggression und Hass, wie es die Psychoanalyse angeboten hatte, ablehnen musste. Für Sigmund Freud bedeuteten Emotionen wie Mitgefühl, Liebe und Zuneigung oder Wut und Zorn bloße Spielarten der von ihm biologisch konzipierten Libido und Destrudo, die sich entweder direkt als Sexualität oder Aggressivität oder in sublimierter Form als Stimmung, Gefühl oder Affekt bemerkbar machen. Kategorien wie Wert oder Person kamen in diesen psychoanalytischen Theorien Freuds nicht vor, was den entschiedenen Protest Schelers provozierte. Im dritten Teil von Wesen und Formen der Sympathie beschäftigte sich Scheler mit sozialphilosophischen Themen. Nimmt man Phänomene wie Mitgefühl, Gefühlsansteckung und Liebe ernst, werden alle Zweifel an der Existenz anderer Menschen (Solipsismus) ad absurdum geführt. Denn wer je liebte oder geliebt wurde, wird ohne weiteres zugeben, dass es da einen anderen gab, dem zumindest zeitweise das seelisch-geistige wie auch das vital-leibliche Interesse gegolten hat, und den man nicht erst künstlich und umständlich durch Analogieschlüsse als fremdes Ich groß detektieren musste. Ausgehend vom Faktum der Zwischen- und Mitmenschlichkeit untersuchte Scheler die genaueren Verhältnisse von Ich und Du. Als Säugling wird der Mensch in einen seit Generationen bestehenden Sozialnexus hineingeboren; daher besteht das Wir lange vor dem Ich. Erst im Alter von zwei oder drei Jahren bilden sich Personkerne aus, die zur Distanz zu den umgebenden Menschen beitragen. Trotz der heranwachsenden Individualität bleiben aber die Sphären von Du und Wir für den Einzelnen dominant und bestimmen via Erziehung, Schulung, Zeitgeist und Weltanschauung die Konturen des Ich wesentlich mit.
Werkanalyse
In späteren Texten und Vorträgen – so in Die Formen des Wissens und die Bildung (1925) – hat Scheler mehrfach darauf hingewiesen, dass Liebe und Sympathie zu bestimmten Modi des Wissens und Erkennens beitragen. Er unterschied Herrschafts-, Bildungs- und Erlösungswissen und meinte, dass Ersteres ohne größere Mit- und Einsfühlung zu realisieren sei. Naturwissenschaft und Technik, aber auch Institutionen wie Staat, Kirche, Schule und Militär haben in den letzten Jahrhunderten gezeigt, inwiefern sie Wissen zum Zwecke von Dominanz und Hierarchie gebrauchen, ohne sich dabei immer liebend und sorgend um die Objekte ihrer Begierde oder um deren innere Entwicklung zu bekümmern. Andere Verhältnisse finden sich beim Bildungswissen. Dieses ist darauf ausgerichtet, den Wert von Dingen, Menschen, Natur und Kultur zu erfassen, ohne dieselben in die Kategorien von Nutzen, Konsum, Genuss und Verbrauch einzustellen. Dies gelingt am ehesten jenen, die emotional, sozial und intellektuell gebildet sind – eine seltene Konstellation, die nur zu erwarten steht, sofern der Einzelne zur Person heranreift. Mit Erlösungswissen schließlich hob Scheler auf ein Denken des Absoluten und Göttlichen ab – ein Wissen und Denken, das seinem Streben nach metaphysischer Wahrheit ebenso wie seiner lange Zeit vorhandenen religiösen Orientierung geschuldet war. z
Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik
Dieses Buch begründete Schelers Ruf als eigenständiger Ethiker und Wertphilosoph. Wir beschränken uns in unserem Zusammenhang auf die Erörterung einiger anthropologisch relevanter Gedanken daraus. Die Tendenz Schelers ging dahin, statt der von Kant erarbeiteten Pflicht- und Sollens- eine materiale Ethik zu formulieren. Diese orientiert sich nicht an einem allgemeinen Sittengesetz wie etwa dem kategorischen Imperativ. Vielmehr will sie die moralischen Fragen nach Gut und Böse beantworten, indem sie auf eine Wertehierarchie verweist. Eine sittlich hoch stehende Handlung wird realisiert, indem der Einzelne hohe Werte anvisiert, indes sich fragwürdige Taten oder »das Böse« aus einer Orientierung an niedrigen Werten ergeben.
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Doch was ist ein Wert, und wie kann man höhere von niedrigeren Werten unterscheiden? Unter Wert versteht man etwas Ideelles, welches dem Realen anhaftet, aber auch unabhängig von konkreten Lebewesen, Dingen, Sachverhalten oder Menschen existiert. Man kann etwa einem Tier Werte wie Schönheit oder Anmut attestieren, und sobald man es sieht, erkennt man an ihm diese Qualitäten. Altert dieses Tier, verliert es womöglich einen Teil seiner Anmut, ohne dass jedoch dieser Wert per se verlorengeht. Jeder Wert strahlt ein Soll-Sein aus. Erkennen Menschen Werte, verspüren sie einen Imperativ, die entsprechenden ideellen Qualitäten zu realisieren und in die widerständige Wirklichkeit einzufügen. Wer Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Solidarität erschaut und anerkennt, ist unweigerlich mit deren Anspruch nach Verwirklichung konfrontiert. Werte gibt es zwar unabhängig von der Menschheit; sie brauchen jedoch die Menschen, um erkannt und verwirklicht zu werden. Scheler ging von einem gestuften System der Werte aus und beschrieb vier Wertreihen. Die unterste bilden sinnliche Werte, die mit Adjektiven wie angenehm, unangenehm oder nützlich belegt werden. Lebenskünstler oder Genussmenschen zielen bevorzugt auf derlei Werte ab. Die nächste Stufe bilden die vitalen oder Lebenswerte, die Nietzsche besonders hervorgehoben hat. Sie werden in Situationen von Krankheit, Gesundheit, Altern und Tod erfahren. Der Personentypus, der diese Werte über alles setzt und repräsentiert, ist Scheler zufolge der Held. Hierauf folgt die dritte Reihe der geistigen Werte: Schönheit, Wahrheit sowie das Gute und Rechte gehören ihnen an. Um sie zu erkennen und zu realisieren, braucht es Künstler, Gesetzgeber oder Philosophen, welche die Fähigkeit zum geistigen Fühlen entwickelt haben. Die höchste Wertreihe wird von den Werten des Heiligen gebildet, die in hohen Formen der Liebe verwirklicht sind. Zu ihrer Realisation sind Menschen mit ausgeprägter Personalität nötig. Scheler verband diese Wertehierarchie mit Typen, Akten und Handlungen von Personen sowie mit Zuständen, an denen diverse Werte abgelesen werden können. Zusammen mit der Relativität von Werten, die sich in ihrer Gültigkeit auf Sphären und
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Kapitel • Max Scheler
Lebensbereiche beziehen, bilden diese Hierarchien, Akte und Zustände den so genannten »Ordo amoris« (die Ordnung der Liebe):
»
Denn das, was wir »Gemüt« oder in bildhafter Weise das »Herz« des Menschen nennen, ist kein Chaos blinder Gefühlszustände, die sich nur nach irgendwelchen Kausalregeln mit anderen psychischen Gegebenheiten verbänden und ablösten. Es ist selbst ein gegliedertes Gegenbild des Kosmos aller möglichen Liebenswürdigkeiten – es ist insofern ein Mikrokosmos der Wertewelt: Le coeur a ses raisons (Scheler 1957, S. 361).
«
Der »Ordo amoris« bestand für Scheler innerhalb und außerhalb des Menschen. Er weist die Struktur einer Pyramide auf, an deren Spitze das personale Sein und dessen Werte angesiedelt sind. Die Basis dieser Pyramide setzt sich aus den sinnlichen Werten und damit aus der gesamten materiellen Dingwelt zusammen. Um unterschiedliche Wertsphären erkennen zu können, müssen die Betreffenden jeweils eigene Gefühlsqualitäten entwickeln. Scheler erwähnte das sinnliche, vitale, geistige und personale Fühlen und betonte, dass nur damit sinnliche, vitale, geistige und personale Werte geschaut werden. Fühlen bedeutet Werterkennen, und erkannte Werte induzieren ihrerseits wieder Gefühle respektive Affekte – je nachdem, welche Gruppe von Werten als relevant empfunden wird. Bei Affekten kommt es in der Regel zu einem Überwiegen sinnlicher und vitaler Wertsphären (Besitz, Kraft, Durchsetzungsvermögen usw.) sowie zu einer eingeschränkten Wahrnehmung in Bezug auf geistige und personale Wertdimensionen. Neben einer Wertlehre (Axiologie) und der daraus abgeleiteten Ethik enthält Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik eine ausführliche Erörterung der menschlichen Personalität. Scheler unterschied am Menschen dessen Leib/ Körper, Ich und Person. Der Leib ist durch physiologische (Ernährung, Verdauung, Bewegung, Schlafen, Wachen) und das Ich durch psychologische Funktionen (Wahrnehmung, Assoziationen, Aufmerken) gekennzeichnet. Eine Person hingegen weist Scheler zufolge nicht Funktionen, sondern Akte auf, wobei er unter
Akten etwa Fühlen, Vorstellen, Planen, Erinnern, Verstehen, Urteilen und Werten subsumierte. Ein Ich kennt ein Du und braucht eine Umwelt – ist also relativ. Eine Person jedoch ist absolut und als Einheit sowohl aller ihrer Akte als auch mit der gesamten Welt definiert. Der Leib und das Ich sind situativ, auf den aktuellen Ort und Zeitpunkt sowie auf sinnliche und vitale Werte hin orientiert. Personen sind im Gegensatz dazu an größeren Sinneinheiten sowie an geistigen und personalen Werten interessiert. Leib und Ich sind gegenständlich und werden von Biologie, Anatomie, Physiologie und Psychologie erforscht. Die Person ist ungegenständlich; sie wird von der Philosophie erfasst:
» Funktionen sind psychisch, Akte sind unpsychisch. Akte werden vollzogen; Funktionen vollziehen sich. Mit Funktionen ist notwendig ein Leib gesetzt und eine Umwelt, der ihre »Erscheinungen« angehören; mit Person und Akt ist noch kein Leib gesetzt, und der Person entspricht eine Welt und keine Umwelt. Akte entspringen aus der Person in die Zeit hinein; Funktionen sind Tatsachen in der phänomenalen Zeitsphäre und indirekt durch Zuordnung … auf die messbaren Zeitdauern selbst messbar (Scheler 1980, S. 387).
«
Die Person wurde von Scheler als einheitliches Zentrum von Akten aufgefasst. Indem sie Akte vollzieht, ereignet sie sich, wobei als ihr fundamentaler Akt das Fühlen und damit das Werterkennen bezeichnet werden darf. Je mehr der Einzelne vor allem geistige und personale Werte erschaut und deren Verwirklichung anstrebt, umso mehr wird er zu jenem »ens amans«, von dem Scheler überzeugt war, dass er mit diesem Begriff das Wesen des Menschen am treffendsten ausdrücken konnte. Weil Menschen immer auf Wertsphären, -dimensionen oder -stufen hin orientiert sind, konnte Scheler den lapidaren Satz formulieren: »Der Mensch ist eine Richtung und kein Ding.« Schieben sich allerdings die sinnlichen und vitalen Wertgruppen beim Einzelnen in den Vordergrund, entsteht bei ihm eine nur rudimentäre Personalität. Ähnliche Verhältnisse finden sich, wenn Menschen keine oder nur wenige Akte vollziehen (im Schlaf; bei reduzierter Wachheit; im Rahmen von Krankheiten; als Folge mangelhafter Erziehung,
Werkanalyse
Schulung und Bildung). Hierbei wird zu wenig Personalität induziert; oder das personale Niveau eines Individuums sinkt, und seine Person verkümmert. Diese Zusammenhänge zwischen Person, Wertdimensionen und Aktvollzug sind wesentlich für die Pädagogik. Scheler verwies im Vorwort zur dritten Auflage von Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik stolz darauf, dass ihn Gustav Kerschensteiner in dessen Theorie der Bildung (1926) erwähnte. Ebenso freute es ihn, dass Ärzte wie Paul Schilder, Kurt Schneider und Viktor von Weizsäcker in ihren Schriften seine Gedanken zu Wert und Person als fruchtbare Anregungen zitierten. z
Die Stellung des Menschen im Kosmos
Obwohl es sich bei dieser Schrift um ein Buch von lediglich Hundert Seiten handelt, werden die darin erörterten Ideen von Experten als Auftakt der modernen philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert bezeichnet. Gerechterweise muss man jedoch erwähnen, dass die Frage nach dem »Was ist der Mensch?« zeitgleich von Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927), Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928), Karl Löwith (Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 1928) und Ludwig Klages (Der Geist als Widersacher der Seele, 1929) gestellt wurde. Zu Beginn seines Buches verwies Scheler auf die theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Bemühungen, das Wesen des Menschen zu begreifen, ohne dass dies bis dahin eine befriedigende und umfassende Anthropologie ergeben hätte. Er empfand es deshalb als seine Aufgabe, mittels philosophischer Spekulation, die sich auf Ergebnisse aus Zoologie, Medizin, Psychologie und Soziologie stützte, die Stellung des Menschen im Vergleich zu Tier und Pflanze wie auch in Bezug auf den gesamten Kosmos zu bedenken. Ähnlich wie Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch beschrieb Scheler im ersten Drittel seines Buches das Wesen von Pflanze und Tier, um darauf aufbauend das Spezifische am Menschen sichtbar werden zu lassen. Diesen Abschnitten merkt man an, dass ihr Verfasser in Köln im regen Austausch mit dem biologisch versierten Plessner (den er Anfang der 20er Jahre in die Domstadt gelotst hatte) und dessen Habilitationsvater,
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dem Zoologen Hans Driesch, stand, von deren naturwissenschaftlichem Wissen er profitierte. Scheler sah in der organischen Natur einen vierschichtigen Stufenbau als gegeben, dessen erste basale Schicht er als Gefühlsdrang bezeichnete. Diesen konzedierte er bereits den Pflanzen, bei denen er ein »Hinzu« und ein »Vonweg«, eine objektlose Lust und ein objektloses Leiden annahm. Pflanzen weisen zwar weder Motorik und Sinnesorgane noch ein Zentrum im Sinne eines Nervensystems auf, und es mangelt ihnen daher an Empfindung und Bewusstheit. Auch vollziehen sie ihr Leben auf fast ausschließlich passive Weise (Ernährung, Wachstum, Fortpflanzung). Der Gefühlsdrang jedoch, der sie in bestimmte Richtungen wachsen und unter günstigen Umwelteinflüssen gedeihen lässt, qualifiziert sie als im weitesten Sinne beseelt: Sie zeigen die Urphänomene des Ausdrucks. Die nächste Stufe im Schichtenbau der Natur bilden Scheler zufolge die Instinkte. Darunter verstand er Verhaltensweisen, die sinnvoll und in einem festen Rhythmus ablaufen, wobei sich die Sinnhaftigkeit auf den Erhalt der ganzen Art, nicht aber auf das jeweilige Individuum bezieht. Instinkte sind angeboren; sie brauchen nicht erlernt werden und sind durch individuelle Erfahrungen kaum moduliert. Instinkte sind an tierisches Leben gebunden und kommen bei Pflanzen nicht vor. Ebenso verhält es sich mit den nächsten beiden Stufen, für die Scheler die Begriffe »assoziatives Gedächtnis« und »praktische Intelligenz« gebrauchte. Mit assoziativem Gedächtnis belegte er alle selbst erlernten oder andressierten Verhaltensmuster. Als Paradebeispiel dafür verwies er auf den bedingten Reflex, den als erster Iwan Pawlow beschrieben hatte. Aber auch Nachahmung, Kopieren oder sensomotorische Gewohnheiten rechnete der Denker zum assoziativen Gedächtnis, womit sich die betreffenden Lebewesen zumindest partiell aus dem engen Korsett ihrer Instinkte und damit ihrer Artgebundenheit lösen und individuell werden. Dieser Prozess der Individualisierung wird forciert durch praktische Intelligenz, worunter Scheler die Fähigkeit von Lebewesen verstand, neue Situationen und die in ihnen auftretenden Aufgaben ohne Probierversuche zu meistern. Eine gewisse Einsicht in Sach- und Wertverhalte ist dazu ebenso nötig wie das Vermögen, zwischen Gütern, Mög-
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Kapitel • Max Scheler
lichkeiten oder Artgenossen zu wählen. Außerdem braucht es für praktisch-intelligente Handlungen ein Minimum an Antizipation, also an Vorausschau über den momentanen Augenblick hinaus. In Die Stellung des Menschen im Kosmos betonte Scheler, dass die letztere Schicht nicht nur beim Menschen, sondern sehr wohl auch bei Primaten vorhanden ist. So habe Wolfgang Köhler mit seinen berühmten Schimpansenversuchen eindrücklich nachgewiesen, dass diese Tiere in nuce über jene Fertigkeiten verfügen, die zur praktischen Intelligenz nötig sind. Auch die Auswahl von Geschlechtspartnern spreche dafür, dass sie nicht nur von Trieben, sondern ebenso von Intelligenz gesteuert sind. Alle vier Stufen der organischen Natur kann man Scheler zufolge beim Menschen antreffen. So sei im Schlaf der Gefühlsdrang dominant – eine Existenzform, die man zu Recht als vegetativ bezeichnet. Am schwächsten sei die zweite Stufe ausgebildet; beim Menschen könne man daher von relativer Instinktentbundenheit sprechen. Die dritte und vierte Schicht jedoch ähneln derjenigen im übrigen Tierreich. Was aber macht bei derart großer Übereinstimmung mit Pflanze und Tier das spezifisch Menschliche am Menschen aus? Gibt es, wenn nicht die Fähigkeit zu Ausdruck, Werkzeuggebrauch oder antizipierendem Planen das Spezifische an der menschlichen Gattung bedeuten, darüber hinaus noch Qualitäten, welche den Menschen grundsätzlich vom Tier unterscheiden? In Die Stellung des Menschen im Kosmos beantwortete Scheler diese Fragen mit dem Verweis auf Begrifflichkeiten, die bereits in seinen früheren Schriften Verwendung fanden: Akt, Person und Geist. Die herausragende Wesenseigentümlichkeit des Menschen, die ihn im Vergleich zu anderen Lebewesen auszeichnet, ist seine Geistigkeit, die auch als Weltoffenheit oder Vernunft charakterisiert werden kann:
»
Stellen wir hier an die Spitze des Geistbegriffs seine besondere Wissensfunktion, die Art Wissen, die nur er geben kann, dann ist die Grundbestimmung eines geistigen Wesens, wie immer es psychophysisch beschaffen sei, seine existentielle Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit,
Ablösbarkeit – oder doch die seines Daseinszentrums – von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom »Leben« und allem, was zum Leben gehört – also auch von seiner eigenen triebhaften »Intelligenz« (Scheler 1988, S. 38).
«
Der Mensch ist ein Wesen, das sich in unbegrenztem Maße zur Welt hin öffnen und alles und jedes an ihr untersuchen, wertschätzen, erkennen und einordnen sowie bisweilen auch verändern kann. Tiere leben in einer Umwelt, aus der sie niemals aussteigen und die sie nicht transzendieren können. Menschen hingegen sind in der Lage, sich gedanklich soweit von der Welt und sich selbst zu emanzipieren, dass sie sich und ihre Existenz als frag- und reflexionswürdig erleben. Viele Tiere verfügen über Bewusstsein oder Vorstufen davon, indes nach Scheler nur der Mensch Selbstbewusstsein aufweist. Damit werden allein für ihn seine vegetativen, animalischen und geistigen Funktionen zu den seinigen. Er bemerkt und reflektiert sie, und eventuell gelingt es ihm, zu ihnen Distanz aufzubauen. In Ausnahmefällen kann er sogar seine Lebensbasis für angeblich hohe und höchste Werte (Ehre, Würde, Treue, Vaterland) opfern. Dieses Etwas am Menschen, das zu alledem fähig ist, nannte Scheler Person. Personen verfügen über Raum und Zeit, indem sie über diese Dimensionen nachdenken und sie zu Objekten ihrer spekulativen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Neugierde erheben können. Tiere leben in Raum und Zeit, ohne in Gedanken je aus ihnen aussteigen zu können. Personen sind Aktzentren. Wie bereits unter Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik ausgeführt, ereignet sich Personalität im Zuge ihrer Akte (Denken, Fühlen, Werten, Urteilen, Handeln, Verstehen). Ebenso hat Scheler das Wesen der Geistigkeit beschrieben: als Aktualität sowie als Ordnungsgefüge von Akten. Der Geist war für Scheler damit ebenso wenig gegenständlich wie die Person, wobei es für ihn unbestritten war, dass für beide Phänomene der menschliche Leib eine Grundvoraussetzung darstellt. Konstitutiv für den Menschen sind Spannungen und Konflikte zwischen Geist und Bios, Per-
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Conclusio
sonalität und Leib, Aktzentrum und psychophysischem Trieb und Drang. Die geistige Dimension des Menschen erachtete Scheler dabei ursprünglich als ohnmächtig, aber ziel- und wertorientiert; die biologischen und psychischen Dimensionen seien dagegen mächtig und dämonisch, aber primär sinnarm. Trotz aller Hervorhebung von Geistigkeit und Personalität als auszeichnendes Anthropinon hütete sich der Denker davor, hinter die von den europäischen Moralisten und besonders von Nietzsche begründete Vernunftkritik zurückzugehen. Auch für Scheler bedeutete der Leib die ältere und oftmals durchsetzungsfähigere Vernunft und das Ich, der Intellekt respektive das Selbstbewusstsein nur »ein Etwas am Leib«. Aufgrund einer permanenten gegenseitigen Durchdringung komme es beim Einzelnen im günstigen Fall zu einer Ermächtigung und Verlebendigung seines personalen Geistes sowie zu einem Zuwachs an Sinn, Wert und Bedeutung im Bereich von dessen drängend erlebten psychophysischen Schichten: »Geist und Drang wachsen so an sich selbst.« Eine Gegnerschaft von Bios und Geist, wie sie von Ludwig Klages in Der Geist als Widersacher der Seele beschrieben wurde, hat Scheler keineswegs postuliert. Wohl aber ist der Mensch aufgrund seiner Geistigkeit in der Lage, nein zum Leben und zu dessen unzähligen situativen Aufforderungen und Versuchungen zu sagen. Tiere sind zur andauernden Bejahung ihrer Existenz verurteilt: Jeder für sie relevante Reiz verursacht eine Reaktion, ohne dass sie zwischen diese beiden jene kleine Sekunde der Reflexion schieben könnten, die schon von Nietzsche als Voraussetzung für Geistentwicklung bezeichnet wurde. Scheler zitierte in diesem Zusammenhang Buddha, der meinte, es sei herrlich, »jedes Ding zu schauen, furchtbar, es zu sein«. Und weiter führte er aus, dass der Mensch nur als Neinsager zu Askese, Sublimierung und Versagung fähig ist. Scheler wollte seine Theorie der Verlebendigung des Geistes und der Vergeistigung des Leibes nicht mit psychoanalytischen Vorstellungen über Verdrängung und Sublimierung gleichgesetzt wissen. Freud und seine Schüler seien einem falschen naturalistischen Modell aufgesessen, als sie davon ausgingen, dass die Geistigkeit am Menschen mit
allen seinen Spielarten (Kunst, Wissenschaft, Philosophie, die Kultur allgemein) ein Produkt von Triebsublimierung und -umwandlung sei. Stattdessen seien der menschliche Geist sowie die Personalität ebenso ursprünglich wie Bios und Psyche. Daher irrten Scheler zufolge aber auch Denker wie Hegel, Fichte oder Schelling, welche der Geistigkeit (Vernunft, Logos, Gott) den Primat zuschrieben und Kosmos sowie das Leben aus ihr entspringen ließen. Diese idealistischen Theorien seien genauso wie die naturalistischen als einseitig abzulehnen. So sehr Scheler den Unterschied zwischen Leben und Geist betonte, so sehr war er von der ontologischen Identität von Physis und Psyche, Körper und Seele überzeugt. Diese waren für ihn lediglich phänomenal geschiedene Ansichten oder Aspekte des einen Leibes (beseelter Körper) oder Organismus:
»
Was wir also »physiologisch« und »psychologisch« nennen, sind nur zwei Seiten der Betrachtung eines und desselben Lebens-Vorganges. Es gibt eine »Biologie von innen« und eine »Biologie von außen« … Die Kluft, die Descartes, durch seinen Dualismus von Ausdehnung und Bewusstsein als Substanzen, zwischen Körper und Seele aufgerichtet hatte, hat sich heute fast bis zur Greifbarkeit der Einheit des Lebens geschlossen (Scheler 1988, S. 74f.).
«
Conclusio Mit diesen Beschreibungen wies Scheler Parallelen zu jenen Überlegungen zum Leib-Seele-Problem auf, welche die Psychosomatiker wie Viktor von Weizsäcker mit ihrem Aspektdualismus vertreten haben. Es ist bemerkenswert, bei einem Philosophen bereits Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts solche anthropologische Überzeugungen zu vernehmen, die selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht medizinisch-philosophisches Allgemeingut geworden sind. In Die Stellung des Menschen im Kosmos erlaubte sich der Denker sogar einen Ausflug ins Gebiet der Ätiologie von Krankheiten, den man mit Recht einen psychosomatischen nennen darf:
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Es kann ein Magengeschwür nach unserer heutigen Erfahrung ebenso wohl psychisch bedingt sein wie durch einen gewissen chemisch-physikalischen Prozess … Selbst der fundamentale Lebensvorgang, der »Tod« heißt, kann durch einen plötzlichen Affektschock ebenso wohl herbeigeführt werden wir durch einen Pistolenschuss. Das alles sind nur verschiedene Zugangsweisen, die wir in unserer Erfahrung und Lenkung zu ein und demselben ontisch einheitlichen Lebensprozess haben (Scheler 1988, S. 77).
«
Ähnlich wie Schelers Beschreibungen des Leibes als beseelter Körper, der als gesamter Organismus erkrankt oder gesundet, selbst wenn sich seelische oder körperliche Aspekte in den Vordergrund schieben, lassen sich auch andere Begriffe aus seiner Philosophie (etwa das Gegensatzpaar von Herrschafts- und Bildungswissen) für die Heilkunde nutzbar machen. So kann man sich fragen, inwiefern die Medizin im Laufe der letzten Jahrhunderte analog zu anderen Wissenschaften vorrangig zum Instrument des Herrschaftswissens Zuflucht suchte. Zumindest die Themen der Machbarkeit von Gesundheit und des Beherrschens von Krankheiten sind spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die abendländische Heilkunde dominant geworden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir darüber hinaus mit anspruchsvollen Problemstellungen wie Machbarkeit und Modulation von Leben generell (Biodesign, genetische Manipulation, In-vitroFertilisation, ästhetische Chirurgie, Nachzüchtung von Organen) und der Aufschiebung oder -hebung des Todes (reproduzierendes Klonen) konfrontiert. Die psychosozialen, anthropologischen und kulturellen Dimensionen dieser Fragen beginnen uns erst langsam bewusst zu werden. Für einen humanen und konstruktiven Umgang mit diesen Themen benötigen wir Ärzte, Psychologen, Therapeuten, Philosophen, Wissenschaftler, Politiker und nicht zuletzt Laien und Patienten, die über ein erhebliches Maß an Bildungswissen verfügen und ausgehend davon die wissenschaftlichtechnischen Möglichkeiten von Medizin, Biologie und Biotechnik mit emotionaler und sozialer Klugheit sowie mit vorausschauender Reflexionskraft durchdringen.
Dieser Gedanke leitet über zur Frage, welche Art von Heilkunde wir für das 21. Jahrhundert wünschen und entwerfen. Nimmt man Schelers Lehren hinsichtlich Wert, Person und Geistigkeit ernst, darf und muss sich die Medizin zukünftig energisch um eine Integration dieser Daseinsdimensionen in ihre Pathogenese-Theorien sowie Diagnostik- und Therapiemodelle bemühen. Damit könnte sich die Medizin von einer vorwiegend romantischen (um 1800), materialistischnaturalistischen (um 1900), psychosomatischen (um 1950) und molekulargenetischen (um 2000) zu einer personalen Heilkunde entwickeln, welcher das Geist- und Kulturschicksal ihrer Patienten ähnlich wichtig wird wie deren biologische Konstitution und psychosoziale Lebensgeschichte.
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Karl Jaspers Biographisches – 102 Werkanalyse – 104 Conclusio – 112 Literatur – 112
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Karl Jaspers
. Abb. 1 Karl Jaspers (*1883; †1969). (Stumm et al. 2005)
» Die Praxis des Arztes ist Philosophie. « Nicht nur aufgrund dieser Überzeugung verdient es Karl Jaspers, in einen Band über medizinischphilosophische Anthropologie aufgenommen zu werden. Schließlich hat er sich – was eine Seltenheit darstellt – sowohl in der Medizin (Psychiatrie) als auch in der Psychologie und Philosophie einen Namen gemacht. Dabei kreisen seine psychiatrischen Schriften ähnlich wie seine philosophischen Texte um Themen der menschlichen Existenz (. Abb. 1).
Biographisches Jaspers wurde 1883 in Oldenburg geboren und wuchs in eine großbürgerliche Familie hinein. Seine Vorfahren waren Bauern, Kaufleute und Pastoren; sein Vater hingegen war ein erfolgreicher Jurist, Beamter und Bankdirektor. Karls Kindheit war schwierig, denn er litt unter einer schwachen Gesundheit, ohne dass vorerst die Ursachen hierfür geklärt werden konnten. In der Schule war er solide, aber nicht überragend. Vom Vater hatte er dessen Eigenwillen übernommen, so dass er sich weigerte, einer der nationalistisch und paramilitärisch geprägten Schülerverbindungen beizutreten. Das erzürnte den Direktor, der ihn nach dem Abitur mit der düsteren Prognose aus dem Oldenburger Gymnasium entließ: »Aus Ihnen kann ja nichts werden, Sie sind organisch krank!« Dennoch machte sich Jaspers 1901 daran, zuerst in Heidelberg und dann in München Jura zu studieren. Während der ersten Semester wurde bei dem hochgewachsenen (über 1,90 Meter) und hageren
jungen Mann als Ursache seiner angeschlagenen Gesundheit ein Lungenleiden (Bronchiektasen, also Erweiterungen der Bronchien und Alveolen, die zu Ansammlung von Schleim und zu Entzündungen führen) diagnostiziert, in dessen Gefolge es zu einer Herzpumpschwäche gekommen war. Die Lebenserwartung bei solcher Krankheit wurde damals auf dreißig bis vierzig Jahre angesetzt. Jaspers reagierte vernünftig und entschlossen auf diese Situation und richtete sein Leben ganz auf die Bekämpfung des Krankseins aus. Durch permanentes Abhusten konnte er die Frequenz von Fieberschüben reduzieren. Auch teilte er sich den Tag genau ein; Überanstrengungen wurden vermieden. Nach einem Kuraufenthalt 1902 in SilsMaria (Schweiz) entschloss sich Jaspers, Medizin zu studieren. Nach einigen Semestern in Berlin und Göttingen beendete Jaspers sein Medizinstudium in Heidelberg mit Erfolg. 1908 wurde er mit einer Arbeit über Heimweh und Verbrechen von Franz Nissl, dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik, promoviert. Nissl war vorrangig an histologischen Untersuchungen interessiert, besaß aber zugleich die innere Souveränität, seine Doktoranden und Assistenten auch in andere Richtungen forschen zu lassen. Nach seiner Approbation wurde Jaspers Volontärassistent in der Heidelberger Psychiatrischen Klinik. Nissl bot dem schonungsbedürftigen Jungarzt entgegenkommende Arbeitsbedingungen: Jaspers musste keine klinischen Aufgaben übernehmen, durfte aber an psychiatrischen Aktivitäten und Veranstaltungen der Klinik nach freiem Ermessen teilnehmen und konnte ansonsten uneingeschränkt forschen. 1909 lernte Jaspers den Soziologen Max Weber kennen, der ihn beeindruckte, und den er sich als Vorbild für sein wissenschaftliches und philosophisches Schaffen wählte. Bereits 1907 hatte Jaspers über seinen Studienfreund Ernst Mayer dessen Schwester und seine spätere Frau Gertrud kennengelernt. Die Familie der künftigen Gattin war jüdisch. Die Angehörigen der beiden Brautleute kannten keine Vorurteile, so dass ihrer Eheschließung 1910 familiär nichts im Wege stand. Die Ehe erwies sich als außerordentlich stabil; Frau Gertrud starb 1974, fünf Jahre nach ihrem Gatten, im 97. Lebensjahr.
Biographisches
Das Arbeitspensum von Jaspers war trotz seiner chronischen Krankheit beachtlich. Nach einigen Detailuntersuchungen ging er an die Ausarbeitung seiner voluminösen Allgemeinen Psychopathologie (1913), in der er bei sorgfältiger Methodenklärung die Resultate der von Wilhelm Dilthey angebahnten geisteswissenschaftlichen Psychologie in die Psychiatrie einführte. Das ergab ein neues Verständnis für viele Krankheitsbilder, und die psychiatrische Fachwelt bekam den Eindruck, dass damit ein großer Fortschritt in Bezug auf Theoriebildung und Diagnostik innerhalb der Psychiatrie gelungen war. Nissl sorgte dafür, dass sein Ausnahmeassistent bei Wilhelm Windelband in der philosophischen Fakultät habilitiert wurde. Der frischgebackene Privatdozent lehrte im Anschluss daran Psychologie am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg, wo er 1916 zum Extraordinarius ernannt wurde. Jaspers hielt Vorlesungen über Sozial- und Völkerpsychologie, Ethik und Moralpsychologie, Religionspsychologie, Psycho- und Pathographien sowie Psychologie der Weltanschauungen. Nebenher studierte er intensiv die philosophische Tradition, und als er 1919 seine Psychologie der Weltanschauungen publizierte, musste man allgemein anerkennen, dass aus dem Psychologen Jaspers ein Philosoph geworden war. 1920 übernahm er die Nachfolge von Hans Driesch, der nach Köln wegberufen worden war, und nachdem ihm andere Universitäten einen entsprechenden Lehrstuhl angeboten hatten, verlieh man ihm 1922 ein Ordinariat in Heidelberg. Durch weitere Publikationen konsolidierte Jaspers seinen Ruf. 1931 veröffentlichte er ein Bändchen mit dem Thema Die geistige Situation der Zeit – eine Kulturanalyse, die weithin beachtet wurde. Fast gleichzeitig kam die dreibändige Philosophie auf den Markt, die erstmals den Begriff Existenzphilosophie im Sinne von Existenzerhellung gebrauchte. Dieses Monumentalwerk wurde unter der Mithilfe des Schwagers Ernst Mayer und der Ehefrau Gertrud ausgearbeitet. Nach Jaspers haben diese beiden Helfer einen gewaltigen Beitrag zum Buch geleistet. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 war Jaspers von den antisemitischen Verfolgungen überrascht. Als Gatte einer jüdischen Frau erlitt er selbst Repressalien. Wiewohl er noch bis 1937 einige
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Arbeiten (Nietzsche, 1936; Descartes, 1937) publizieren konnte, schloss man ihn von der Universitätsverwaltung aus und verbot ihm zuletzt sogar noch die Vorlesungen. Man zwang ihm den Ruhestand auf, so dass er sich ganz auf seine Privatexistenz zurückzog. Den besten Kommentar zu dieser traurigen Lage gab sein 80-jähriger Vater, der zu ihm sagte: »Es ist gut, mein Junge, dass es so gekommen ist; in diese Gesellschaft passen wir nicht.« Nota bene: Der Junge war zu diesem Zeitpunkt bereits 54 Jahre alt. Auf das Ehepaar Jaspers kamen viele Bedrängnisse zu. Weil sich die Pläne einer Emigration nicht realisieren ließen, trafen die Eheleute Vorkehrungen für den Fall, dass Frau Gertrud in eines der Konzentrations- und Vernichtungslager abtransportiert würde: Sie hatten sich Gift besorgt und wollten gemeinsam in den Freitod gehen. Weil die Alliierten im April 1945 Heidelberg befreiten, kam es nicht zu diesem tragischen Ende. Während der NS-Herrschaft hatten sich viele Kollegen von Jaspers abgewandt. Das betraf auch Martin Heidegger, mit dem er seit 1920 bekannt und befreundet war. Ganz anders reagierte die exilierte Hannah Arendt, die ihrem ehemaligen Philosophielehrer die Treue hielt; Jaspers hatte sie Ende der 20er Jahre promoviert, nachdem sie von Heidegger (dessen Geliebte sie war) zum Zwecke der Dissertation an seinen Heidelberger Philosophenfreund verwiesen worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Heidelberger Hochschule neu aufgebaut, worauf Jaspers großen Einfluss nehmen konnte. Als er mit Reden und Schriften in die Öffentlichkeit trat (z. B. mit Die Schuldfrage, 1946 oder Von der Wahrheit, 1947), empfand man ihn als »Praeceptor Germaniae«. Damals bot man ihm sogar das Amt des Bundespräsidenten an, was er mit Hinweis auf seine fragile Gesundheit ablehnte. 1948 – Jaspers war inzwischen 65 Jahre alt – kam es zu einem Ruf auf einen philosophischen Lehrstuhl in Basel und zur Umsiedlung in die Schweiz. In Deutschland reagierte man mit üblen Polemiken auf seine Ausreise und warf dem Philosophen vor, sein Land im Stich zu lassen. Dabei übersah man geflissentlich, wie sehr das Ehepaar Jaspers in den düsteren Jahren der Barbarei ständig in großer Gefahr gelebt hatte.
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Kapitel • Karl Jaspers
Die Basler Jahre waren hinsichtlich der Lehrund Publikationstätigkeit für Jaspers fruchtbar. Er fühlte sich wohl in dieser Stadt, die Erasmus von Rotterdam, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck zu ihren herausragenden Denkern zählen darf. Vor allem schätzte er die politische Unabhängigkeit in der Schweiz, indes er mit der Gestaltung der Bundesrepublik mehr oder minder haderte. Seinen Arbeits- und Lebensstil der damaligen Zeit brachte er in einem Bonmot auf den Punkt: »Ich arbeite immer; sonst tue ich nichts.« Die Schriften der Alterszeit entdeckten neue Themenbereiche. Der eine war die Geschichtsphilosophie, über die Jaspers Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) veröffentlichte. Darin findet sich die These von der Achsenzeit, nämlich des Zeitraums von 800–600 v. Chr., in welchem die Menschheit an verschiedenen Orten der Erde die Dimension der Vernunft für sich eroberte. Die damals erreichte Stufe der Hochkultur und Humanität hat für alle späteren Zeiten vorbildlich gewirkt. Einen anderen thematischen Schwerpunkt bildete die Philosophie der Religion. Jaspers lehnte die kirchliche Glaubenspraxis ab und meinte, dass Gespräche mit Theologen nutzlos seien. In Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) findet sich daher Skepsis gegenüber der Offenbarungsreligion. Dennoch hielt der Autor an einer vergeistigten Gotteslehre fest, womit er liberale Gläubige versöhnte, wie er denn überhaupt kein radikaler Kämpfer war. 1957 publizierte Jaspers zwei Bände Die großen Philosophen – ein Werk, das Tausend Druckseiten umfasst. Es stellt zuerst Maßgebende Menschen (Sokrates, Buddha, Konfuzius, Jesus) vor und leitet zu den Fortzeugenden Gründern des Philosophierens über. Weitere Kapitel erörtern Aus dem Ursprung denkende Metaphysiker wie Kant, Spinoza und andere. An allen Passagen erkennt man die großzügige Absicht, ein Gespräch der Denker über die Jahrtausende hinweg zu führen. In den 50er und 60er Jahren veröffentlichte der Philosoph einige politische Schriften. In Die Atombombe und die Zukunft des Menschen – Politisches Bewusstsein in unserer Zeit (1958) machte er die Menschheit auf ihre Krisensituation aufmerksam und setzte seine Hoffnung auf eine zukünftige Weltföderation. In Wohin treibt die Bundesrepublik?
(1966) rechnete Jaspers mit unerfreulichen Erscheinungen in seiner früheren Heimat ab, was einen Sturm der Kritik auslöste; unter anderem empfahl er, man solle sich mit den beiden deutschen Staaten abfinden. Doch trotz mancher kritischen Stimmen überwog in der Basler Zeit die Anerkennung für Jaspers. 1953 machte ihn die Universität Heidelberg zum Ehrendoktor; ärztliche Sozietäten ernannten ihn zum Ehrenmitglied. 1958 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und weitere Ehrungen in Paris, Genf und Basel (Erasmuspreis). Auch seine Schüler Hannah Arendt, Jeanne Hersch und Hans Saner äußerten sich in schönen Kommentaren und Darstellungen über ihren Lehrer, der 1969 in Basel im Alter von 86 Jahren starb. So legen etwa Jeanne Herschs Karl Jaspers – Eine Einführung in sein Werk (1980) ebenso wie Hans Saners Jaspers (1970) Zeugnis von deren Verbundenheit mit ihm ab. Hannah Arendt sagte über ihn: »Wenn Jaspers sprach, wurde es hell.« Das war auch der Eindruck, den seine Vorlesungen zu machen pflegten. Jeanne Hersch meinte über sie: »In all diesem war etwas Festes und Unerschütterliches; man sah einen Mann, der sich auf die Wahrheit stützte – und auf sie allein.« Der Autor hat sechzig Jahre lang publiziert. Er veröffentlichte über dreißig Bücher im Umfang von mehr als 12.000 Druckseiten. Im Nachlass fanden sich noch weitere 35.000 Blätter und Tausende Briefe. Die Texte wurden in vielen Übersetzungen in den wichtigsten Fremdsprachen verbreitet. Man kann von einem gigantischen Lebenswerk sprechen, das Jaspers, unterstützt von seiner Gattin, mit unendlicher Klugheit und Disziplin seinem kranken Körper abgerungen hat.
Werkanalyse Zahlreiche philosophische Begriffe, die Jaspers geprägt hat, werden heute in der Umgangssprache verwendet: Existenzerhellung, Scheitern, Grenzsituation, Kommunikation, Chiffre, Achsenzeit, Aufschwung des Daseins zum Selbstsein, das Umgreifende. In einigen dieser Termini sind medizinisch-anthropologische Aussagen mit enthalten. Diese werden ebenso erläutert wie das psychiatri-
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sche Hauptwerk des Denkers, die Allgemeine Psychopathologie, sowie seine Schriften zum Arztsein und zur Heilkunde, die unter dem Titel Der Arzt im technischen Zeitalter 1986 als Sammelband herausgegeben wurden. z
Allgemeine Psychopathologie
Schon als Volontärassistent in Heidelberg äußerte Jaspers mehrfach Unbehagen über die offenkundigen Defizite der Psychiatrie (und Medizin). Obwohl Nervenärzte oft Patienten gegenüberstanden, die über seelische, soziale und geistige Beschwerden klagten, tendierten die meisten seiner damaligen Kollegen dazu, lediglich deren Körper und hier in der Regel das Gehirn zu untersuchen. In gewisser Weise hielten sich fast alle an die von Wilhelm Griesinger (Berlin) tradierte Formel: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten.« Diese Formel war im 19. Jahrhundert durchaus progressiv gemeint, trug aber später zu einer merklichen Vereinseitigung von psychiatrischer Diagnostik und Therapie bei. Mit einem solchen körper- und gehirnzentrierten Vorgehen erwiesen sich viele Nervenärzte des frühen 20. Jahrhunderts als Vertreter eines Menschenbildes, das von Positivismus, Materialismus, Biologismus und Reduktionismus geprägt war. In ihrer diagnostischen und vor allem auch therapeutischen Ratlosigkeit griffen sie zu vereinfachenden anthropologischen Konzepten, von denen einige unter ihnen – so zum Beispiel auch Wilhelm Griesinger – spürten, dass sie den beobachteten Krankheitsphänomenen nicht vollumfänglich gerecht wurden. Gleichwohl stützten sie sich darauf, weil die biologistischen Theorien im Vergleich zu den spekulativ-romantischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts immer noch spürbare Fortschritte bedeuteten. Jaspers jedoch wollte sich damit nicht zufriedengeben. Ausgehend von der ganzen Breite des Menschseins in Gesundheit und Krankheit suchte er nach Untersuchungs- und Beschreibungsmethoden, welche die Lebenswirklichkeit psychiatrischer Patienten wirklichkeitsgetreu erfassen sollten. Damit hoffte der Autor eine Grundlage für die Beantwortung von medizinisch-philosophischen Fragestellungen (Was ist krank, gesund? Was sind Leib, Seele, Geist?) zu schaffen.
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Um die damals etablierten psychiatrischen Krankheitskonzepte weiterzuentwickeln, empfahl Jaspers sich und seinen Ärztekollegen, philosophisches und wissenschaftstheoretisches Denken zu erlernen. Auf diese Empfehlung reagierten die Angesprochenen recht unterschiedlich. Sein Psychiatriechef Nissl etwa meinte: »Schade um den Jaspers; er beschäftigt sich mit lauter Unsinn.« Und ein älterer Nervenarzt forderte im Scherz sogar: »Man muss den Jaspers verprügeln!« Kurz nach dem Erscheinen von Allgemeine Psychopathologie sprach keiner mehr von Unsinn, und auch die Vorschläge, den Autor zu verprügeln, waren nicht mehr zu vernehmen. Im Gegenteil: Die meisten Leser spürten, dass Jaspers ein großer Wurf gelungen war, der zu einem neuen Verständnis psychiatrischer Krankheiten und der Conditio humana generell beitragen konnte. Im ersten Teil seines Buches handelte Jaspers subjektive und objektive Erscheinungen und Leistungen des Seelenlebens ab. Zu den Ersteren zählte er normale (Raum- und Zeiterleben, Leibbewusstsein, Ich-Bewusstsein, Realitätsbewusstsein, Wahrnehmungen) und pathologische (Trugwahrnehmungen, Halluzinationen der Körpersinne, psychotische Bewusstseinsveränderungen, Wahnideen, phantastische Erlebnisse) psychische Phänomene. Zur Gruppe der objektiven Leistungen gehören dem Autor zufolge Reflexe, gestaltpsychologische Gesetzmäßigkeiten, Intelligenz, Denken, Erinnern, Urteilen und die Sprache. Auch hierbei lassen sich Normalität und Störungen unterscheiden. Den zweiten Teil von Allgemeine Psychopathologie überschrieb Jaspers mit Die verständlichen Zusammenhänge des Seelenlebens (verstehende Psychologie), wohingegen der dritte Teil die Überschrift Die kausalen Zusammenhänge des Seelenlebens (erklärende Psychologie) trägt. Beide Teile bilden das Kernstück des Werks und beinhalten eine ausführliche Beschreibung des verstehenden und erklärenden Vorgehens in der Psychiatrie und in den Wissenschaften vom Menschen. Mit den Erkenntniskategorien von Erklären und Verstehen nahm Jaspers auf Wilhelm Dilthey Bezug, von dem der Satz stammt: »In den Naturwissenschaften erklären und in den Geisteswissenschaften verstehen wir.« Die verstehende Metho-
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de hatte Dilthey im Rahmen der Hermeneutik zu einem hilfreichen Instrument der Geisteswissenschaften entwickelt. In Anlehnung an Diltheys hermeneutische Bemühungen strebte Jaspers eine verstehende Psychologie an, mit deren Hilfe sich Psychiater und Psychologen, aber auch Ärzte generell in ihre Patienten und deren fremde Persönlichkeiten einfühlen sollten. Jaspers machte seine Kollegen darauf aufmerksam, dass der Umgang mit seelisch kranken und gesunden Menschen mindestens so viel Verstehen wie Kausalanalyse erfordert. Beim Wahn zum Beispiel reichen biologische Überlegungen nicht aus, um über Lokalisationen im Gehirn oder Störungen des Hirnstoffwechsels die jeweiligen Symptome des Erkrankten zu erklären. Nimmt der Arzt jedoch eine existentielle Beziehung zum Kranken auf und tritt mit ihm in einen offenen und intimen Dialog ein, kann er vieles an dessen Symptomatik verstehen. In langen Ausführungen machte Jaspers deutlich, dass es sich beim Verstehen um eine exakte wissenschaftliche Methode handelt, die zwar anders als das Erklären keine Maß- und Zahlenangaben, dafür aber Sinn und Bedeutung als Ergebnisse ihrer Bemühungen präsentieren kann. Keinesfalls sei damit ein wildes Spekulieren oder ungefähres Denken und Urteilen gemeint. Im Gegenteil: Wer ernsthaft wissenschaftlich verstehend vorgehen will, müsse mit langwieriger und harter Arbeit rechnen. Neben den hermeneutischen Konzepten von Dilthey spielte bei den Jaspers‘schen Überlegungen auch die phänomenologische Methode von Edmund Husserl eine wichtige Rolle. Diese besagt, dass sich ein Phänomenologe bevorzugt auf die von ihm untersuchten Gegenstände (Phänomene), nicht aber auf die angeblich hinter oder in ihnen waltenden Ursachen und Dynamiken konzentrieren soll. Die meisten Wissenschaftler stürzen mit vorgefertigten Meinungen und Theorien auf ihre Objekte und übersehen dabei viele Gesichtspunkte, die an den Phänomenen selbst mit geduldigem Studium zu beobachten wären. Übertragen auf die Psychiatrie und Medizin allgemein heißt dies, die Beschwerden und Symptome der Patienten nicht sofort auf ihr Warum, sondern auf ihr Wie hin zu untersuchen und zu erforschen.
Damit fallen möglicherweise manche Vormeinungen und Vorurteile über das Wesen und die Genese von Krankheit und Gesundheit in sich zusammen:
» Wo ein theoretisches Vorurteil herrscht, wird die Auffassung der Tatbestände befangen. Man sieht die Befunde immer schon im Schema der Theorie. Was für sie gilt und sie bestätigt, das interessiert. Was keinen Bezug auf sie hat, das wird überhaupt nicht wahrgenommen. Was gegen sie spricht, wird verschleiert oder umgedeutet. Es ist daher ständig unsere Aufgabe, von theoretischen Vorurteilen, die jederzeit in uns wirksam sind, absehen zu lernen, uns zu üben, rein die Befunde aufzufassen (Jaspers 1959, S. 15).
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Dieses Methodenkonzept half entscheidend mit, die Alltagsarbeit der Psychiatrie und in mancherlei Hinsicht der gesamten Medizin zu klären. Mit der Allgemeinen Psychopathologie wurde Jaspers einer der Begründer einer verstehenden Psychologie. Von ihr ausgehend verstärkte sich bei Ärzten und Psychologen das Interesse an Psycho- und Pathographien, von denen Jaspers selbst glanzvolle Beispiele gab. So stellte er in seiner Studie Strindberg und van Gogh – Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und Hölderlin (1922) die Krankengeschichten dieser Künstler und Denker nebeneinander, wobei er bei diesen an Wahn Erkrankten sorgfältig zwischen jeweiligem Krankheitsprozess und Entwicklungen ihrer Persönlichkeit unterschied. Später hat Erwin Straus in Geschehnis und Erlebnis (1930) mit ähnlichen Methoden das Zusammenwirken kausaler Vorgänge und erlebter Gestaltungen im Kranksein phänomenologisch dargestellt. Man sollte meinen, dass Jaspers mit seinen hermeneutischen und phänomenologischen Vorstößen eine geistige Verwandtschaft mit der Psychoanalyse zu entdecken vermochte. Das war jedoch nicht der Fall. Er hegte eine entschiedene Abneigung gegen Sigmund Freuds Lehre, deren deterministische und triebpsychologische Sicht auf den Menschen ihn abstieß. Jaspers spürte offenbar die fundamentalskeptische Haltung der psychoanalytischen Schule und attackierte sie mehrfach, so in einem Vortrag mit dem Titel Zur Kritik der Psychoanalyse (1950).
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Darin warf er den Psychoanalytikern vor, die erwähnte Trennung von Erklären und Verstehen in Theorie und Praxis zu wenig zu beachten. Sie wechselten willkürlich von Kausalanalysen zu Verstehensvorgängen und umgekehrt. Die Freud-Schule meine, einen Menschen verstanden zu haben, wenn sie seine seelischen Kindheitstraumen und Triebschicksale aufgedeckt oder konstruiert habe. Dabei interpretiere sie psychische Störungen als Auswirkungen des Unbewussten, ohne ausreichend die personale Selbstgestaltung des Patienten mit einzubeziehen. Auch der Gesundheitsbegriff der Psychoanalyse lasse zu wünschen übrig. Letztlich werde jeder Psychotherapeut sein eigenes seelisches Zustandsbild auf die Maßstäbe des Gesundseins projizieren, was lediglich den Narzissmus des Therapeuten bestätige. Nach Jaspers täuscht man sich, wenn man glaubt, durch die sogenannte Lehranalyse der Psychoanalytiker dieser Gefahr begegnen zu können. Oft gestalte sich diese wie eine geistige Gleichschaltung des Lernenden, der die Gedankenwelt des Lehrenden kritiklos übernehmen müsse, wenn er in seiner Ausbildung erfolgreich sein wolle. So entstehe eine Tendenz zur intellektuellen Monotonie, die man jedoch viel eher bei manchen Schülern denn bei den Gründervätern der Tiefenpsychologie finde. Auch das Jaspers‘sche Argument, therapeutische Qualitäten seien kaum oder nur in Grenzen lehrbar, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Selbst die gründlichste Schulung kann Person- und Tugendwerte im Lernenden nicht mit Absicht erzeugen. Manchmal geschieht dies wie durch Wunderwirkung, wenn der belebende Funke von Person zu Person überspringt. Fehlen jedoch Ethos und menschliches Format in der Therapie, setzt dies deren Wirksamkeit unüberwindbare Grenzen. Vermutlich ist die Persönlichkeit des Therapeuten der stärkste Therapiefaktor. Jaspers zitierte zustimmend die Überzeugung eines Psychiaters: »Man kann niemanden weiter bringen als dorthin, wo man selber ist.« Denn nur ein um seine eigene Individualität wissender Arzt kann die spezifischen Eigenarten seines Patienten erfassen und gebührend berücksichtigen:
»
Im Erforschen des Menschen sind wir nicht nur Zuschauer eines uns Fremden, sondern selber Menschen. Wir sind es selbst, das wir untersuchen, wenn wir den anderen untersuchen. Es geht uns nicht nur das Wissen irgendwelcher Sachen an, sondern wir gewinnen ein Wissen nur durch unser eigenes Menschsein. Das Ansichsein des Menschen ist an der Grenze des Erkennbaren im Erkennenden wie im Erkannten fühlbar gegenwärtig … Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß und wissen kann und als irgendein anderer von ihm weiß (Jaspers 1959, S. 641).
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Existenz und Existenzerhellung
Die Entwicklung Jaspers’ von der Psychiatrie und Medizin zur Philosophie führte über die Psychologie. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg stellte die Ausarbeitung von Psychologie der Weltanschauungen (1919) dar. Darin lieferte der Autor eine Übersicht über die möglichen Einstellungen des Menschen zur Welt und die daraus erwachsenden Welt- und Lebensanschauungen. Erst wenn sich Einzelne auf den Weg der Selbstsuche und -verwirklichung begeben, existieren sie im Jaspers‘schen Sinne eigentlich. In seinen Schriften betonte der Autor, dass Menschen lediglich über die Möglichkeit des Existierens verfügen, die sie verfehlen oder realisieren können: »Ich bin nicht Existenz, sondern bin mögliche Existenz. Ich habe mich nicht, sondern komme zu mir.« Letztere Formulierung ähnelt den Anfangssätzen der Tübinger Vorlesungen von Ernst Bloch, der einige Jahre nach Jaspers analog dozierte: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, also werde ich.« Neben dem Begriff der Existenz gebrauchte Jaspers denjenigen der Existenzerhellung. Damit zielte er auf das Verstehen und Beschreiben von individuellen Aspekten der Existenz wie auch der Welt generell. Daraus ergab sich die Schwierigkeit, das je Einzelne, Subjektive und Historische eines menschlichen Daseins in allgemeinen Worten und Sätzen zum Ausdruck zu bringen. Jaspers gelang dies, indem er in seinem Buch neben dem psychologischen und philosophischen Jargon auch die Sphäre der Kunst zu Wort kommen ließ.
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Kapitel • Karl Jaspers
In Psychologie der Weltanschauungen wurde von vielen das Kapitel »Das Leben des Geistes« hervorgehoben. Darin beschrieb Jaspers das menschliche Dasein hauptsächlich in seinen tragischen Dimensionen. Er ging davon aus, dass der Mensch dauernd in Situationen lebt. Diese geben den Rahmen für alle möglichen existentiellen Entscheidungen ab, die stets eine Mischung aus Determination und Freiheit darstellen. Ein mitunter winziger Rest von Freisein ist dem Autor zufolge in allen Lebenslagen mitenthalten. Prekär wird die freie Wahl in den Grenzsituationen. Sie muten wie Mauern an, vor die man gerät, und an denen der Ernst und das Wesen der Conditio humana erfahrbar wird. Menschen leben oft leichtsinnig und oberflächlich eine uneigentliche Existenz. In die Eigentlichkeit werden sie hineingezwungen, wenn sich eine Grenzsituation konstelliert. Solche krisenhaften Zuspitzungen ergeben sich aus Leiden, Krankheit, Kampf, Tod, Zufall und Schuld. Aufgrund ihres tragischen Charakters versuchen viele, diese Grenzsituationen in ihrem existentiellen Gehalt zu relativieren oder zu verdrängen:
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Ähnlich ist wohl der heutige Gedanke, der statt der Zwecke Gottes biologische Zwecke als das Übergeordnete ansieht und das Leiden als biologisch zweckmäßig zu begreifen, zu verteidigen, zu bejahen, in Abhängigkeit zu bringen sucht, wobei man den Hintergedanken hat, das Leiden sei der Potenz nach ganz abzuschaffen, wenn der Mensch erst sein biologisches Wissen so vertieft hat, dass er die Situationen, in denen das biologisch zweckmäßige Leiden entsteht, meiden kann (Jaspers 1985, S. 251).
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Jaspers verwies bei der Schilderung von Grenzsituationen unter anderem auf Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Diese Denker waren durch ihre persönlichen Schicksale mit den genannten Grenzen des Daseins vertraut und haben sie in ihren Texten eindrücklich zum Ausdruck gebracht. Aus ihren Werken und Biographien entnahm der Autor wichtige Anregungen. Wer sich durch die lärmige und banale Lebenswelt nicht betäuben lässt, findet sich unweigerlich mit der Brüchigkeit und den Limitierungen des
Daseins konfrontiert. Jaspers plädierte dafür, die Fragilität der menschlichen Existenz (Niederlagen, Schwäche, Schmerz, Begrenzungen aller Art) vollumfänglich anzuerkennen und nicht mit Gleichgültigkeit oder Nihilismus darauf zu reagieren. Das häufig geäußerte Bedürfnis nach einem Halt in den festen Gehäusen des Lebens und Denkens sei verständlich; dennoch forderte der Autor seine Leser auf, solchen Wünschen nicht nachzugeben und stattdessen unter offenem Horizont zu existieren, selbst wenn dies Verängstigung bedeutet. Die adäquateste Antwort auf Erschütterungen des Daseins lag für Jaspers im mutigen Versuch der Selbstwerdung, die für ihn immer auch mit Selbsterkenntnis und Existenzerhellung einherging. Den Prozess der Gesundung siedelte er auf einem hohen philosophischen Niveau der permanenten Reflexion des Daseins und seiner Bedingungen an. Besserung oder sogar Heilung von Erkrankungen waren für ihn nicht nur biomedizinische oder psychosoziale Phänomene, sondern stets mit Erkenntnissen im Bereich der Conditio humana verknüpft. 1922 war Jaspers Ordinarius für Philosophie geworden. In den folgenden zehn Jahren schuf er sein Monumentalwerk Philosophie (1932), das zunächst in drei Bänden publiziert und später zu einem 900-Seiten-Opus zusammengefasst wurde. Der erste Teil ist mit Philosophische Weltorientierung überschrieben. Hierin werden die wissenschaftlichen Zugänge zur Wirklichkeit referiert, wobei Jaspers bestritt, dass diese ein vollständiges Weltbild begründen können. Wissenschaften untersuchen Sektoren der Realität und bewegen sich innerhalb der Subjekt-Objekt-Spaltung. Wenn wissenschaftliche Zugänge verabsolutiert werden, darf und muss die Philosophie als Korrekturmittel eingreifen. Sie intendiert die Totalität der Welterfahrung, die Jaspers »das Umgreifende« nannte. Der zweite Teil trägt den Titel Existenzerhellung. Diese verwertet die mannigfachen Wissenschaften vom Menschen, ist aber grundsätzlich von ihnen wesensverschieden. In ihr ist das Bewusstsein der Seins- und Sinnfrage lebendig. Sie begnügt sich nicht mit Faktenwissen, sondern stellt ein transzendierendes Denken dar, welches das reale und mögliche Dasein in Betracht zieht und ein Verständnis für das menschliche Leben als einem Spielraum potentieller Existenzformen entwickelt.
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Bereits in Psychologie der Weltanschauungen hatte Jaspers von den Grenzsituationen gesprochen, die für das Studium des Menschen und seiner Existenz aufschlussreich sind. In Philosophie ergänzte er, dass diese im Grunde eine Art Scheitern beinhalten. Der tragisch gestimmte Autor hielt eine Erweckung des Menschen aus seiner Seinsvergessenheit nur im Erlebnis von Daseinskrisen für realisierbar. Wenn Krisen überhandnehmen, werde der Mensch unwillkürlich auf das eigentliche Selbstsein hingelenkt:
» In der Grenzsituation erst kann es das Leiden als unabwendbar geben. Jetzt ergreife ich mein Leiden als das mir gewordene Teil, klage, leide wahrhaftig, verstecke es nicht vor mir selber, lebe in der Spannung des Ja-sagen-Wollens und des nie endgültig Ja-sagen-Könnens … Jeder hat zu tragen und zu erfüllen, was ihn trifft. Niemand kann es ihm abnehmen. Wäre nur Glück des Daseins, so bliebe mögliche Existenz im Schlummer. Es ist wunderlich, dass das reine Glück leer wirkt (Jaspers 1948, S. 493).
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Im Leid, in Krankheiten, Niederlagen und existentiellen Erschütterungen ist der Mensch alleine, und wenn er diese Situationen der Einsamkeit nutzt, kann er daraus gereifter und mit dem Gespür für seine individuelle Existenzform hervorgehen. In Philosophie betonte Jaspers, dass es neben solchen Voraussetzungen der Selbstwerdung auch das Erlebnis von Zwischenmenschlichkeit und Kommunikation gibt, die ähnlich wie die Grenzsituationen zur Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit beitragen. Im liebenden und langanhaltenden Bemühen um wechselseitige Transparenz und Verständigung geschieht nicht selten ein Aufschwung zu authentischen Daseinsformen, die auf andere Weise kaum zu realisieren wären. Diesbezüglich vertrat Jaspers eine dialogische Philosophie, wie sie auch von anderen Autoren (Martin Buber, Franz Rosenzweig) thematisiert worden war. Selbstsein ist zugleich auch Freiheit. Nach Jaspers greifen die deterministischen Lehren zu kurz, weil sie das menschliche Freisein übersehen. Es ist richtig, die vielfältige Bedingtheit des Handelns und Verhaltens aufzuweisen, aber ein Rest von
Wahl und Entscheidung gehört stets zum menschlichen Lebensprogramm. Daran zu appellieren und dies ins Bewusstsein zu bringen, sei eine der vornehmsten Aufgabe der Philosophie. Der dritte Teil von Philosophie heißt Metaphysik. Darin versuchte Jaspers, mögliche Erfahrungen der Transzendenz präzise zu erfassen. Die Metaphysik hat sich seit jeher dieser Frage angenommen. Für den Autor war es nicht sinnvoll, in den Spuren der überlieferten Religionen zu wandeln, die eine Hinter- und Überwelt jenseits der wirklichen Welt postulieren und diese anthropomorph als Analogon zur Realität ausmalen. Eher schon strebte Jaspers wie sein Vorbild Immanuel Kant eine Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) an. Unser Autor meinte, dass es existentielle Bezüge zur Transzendenz gibt, die sich für den Hellsichtigen in den Grenzsituationen und anderen seltenen Erlebnisweisen als Basis von Welt und menschlicher Existenz offenbaren. Anhand von Chiffren könne man erfahren, was der Sinn von Sein und Seiendem ist. Chiffren sind mehr als Symbole, wobei alles zur Chiffre werden kann, wenn der Einzelne die Fähigkeit des intuitiven Begreifens erworben hat, um die Sprache der Transzendenz zu verstehen. So gelangte Jaspers auf Umwegen zu einer Seinsmystik, die ihm ein relativ religionsnahes Philosophieren ermöglichte. Ganz glücklich konnten religiöse Leser mit dieser Philosophie aber nicht werden. Jaspers hat nie an einen persönlichen Gott geglaubt, der sich in geschichtlicher Weise offenbart. Eher schon dachte er an einen »Deus absconditus« im Sinne von Blaise Pascal, einen verborgenen Gott, der irgendwie mit dem Sein im Ganzen identisch ist. Zu seiner Distanz den landläufigen Religionen gegenüber passte es, dass der Philosoph vor seinem Tod festgelegt hatte, nach seinem Ableben ohne Mitwirkung eines Geistlichen beerdigt werden zu wollen. Erwähnenswert ist der Umstand, dass Jaspers nach dem Zweiten Weltkrieg die Themen von Existenz und Existenzerhellung auch in ihren kollektivgesellschaftlichen und politischen Dimensionen untersuchte. Nun legte er Wert darauf, dass jede Philosophie eine Bedeutung für die Politik besitzt. Schon Platon hatte gezeigt, dass echte Selbstbesinnung ein Nachdenken über Staat und Gesellschaft
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in sich schließt, und dass der Philosoph die Verantwortung für das Politische übernehmen muss. Ein Thema, das sich damals aufdrängte, war die Frage nach der Kollektivschuld des deutschen Volkes. In seinem Buch Die Schuldfrage – Für Völkermord gibt es keine Verjährung (1946) demonstrierte Jaspers seinen Landsleuten, dass sich niemand in Deutschland als total unschuldig betrachten konnte. Subtil unterschied er zwischen krimineller, moralischer und metaphysischer Schuld. Wer bei einem Verbrechen ohne Protest oder Eingreifen lediglich zusieht, werde ethisch beinahe ebenso belastet wie derjenige, der Mittäter ist. Weit wichtiger als diese Publikation war das Buch Die Atombombe und die Zukunft des Menschen (1958), das von Experten als die politischphilosophische Hauptschrift von Jaspers betrachtet wird. Der Philosoph war höchst alarmiert durch die atomare Aufrüstung und den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. In seinem 500-Seiten-Werk verknüpfte er das Problem der Bombe mit demjenigen des Totalitarismus, wobei es ihm gelang, diese beiden Gefahren in ihrer Destruktivität transparent zu machen. Von Politikern erhoffte sich Jaspers nur bedingt Kompetenzen zur Lösung dieser Menschheitsfragen. Eher setzte er auf individuelle Selbstbesinnung als Grundlage vernunftgeleiteter Politik. z
Der Arzt im technischen Zeitalter
Wir übergehen zwei umfängliche Publikationen von Jaspers, die er nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte, und die zu seinem Ruf als bedeutender Denker beitrugen: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949) sowie Die großen Philosophen (1956). Im ersteren Buch entwickelte der Autor die These von der Achsenzeit (zwischen 800 und 600 v. Chr.) – jener Epoche der Menschheitsgeschichte, in der parallel in mehreren Regionen der Erde die Weltvernunft erwachte. In China wirkten damals Konfuzius und Laotse, in Indien Buddha, in Persien Zarathustra, in Palästina die alttestamentarischen Propheten und in Griechenland die Schar der Philosophen, die in mustergültiger Weise die Probleme von Kosmos und Leben durchdachten. In ihnen anerkennen wir noch heute die Apologeten vernunftgemäßen Reflektierens.
In Die großen Philosophen vereinigte Jaspers fast alle wichtigen Gestalten der Philosophiegeschichte, deren Biographien und Werke er kenntnisreich und einfühlsam interpretierte. Obwohl der Autor in seiner Philosophenenzyklopädie auch Figuren würdigte, die nur teilweise fortschrittlichen Werten verpflichtet waren, kann man seiner monumentalen Gesamtschau der Weltphilosophie die grundsätzliche Hochachtung nicht versagen. Abschließend sollen jene Schriften des Autors erläutert werden, in denen er sich direkt zu Themen von Anthropologie, Medizin und Arztsein geäußert hat. Dabei greifen wir auf den Sammelband Der Arzt im technischen Zeitalter zurück. Ausgehend von seinen Erfahrungen mit der eigenen Krankheit wie auch im Rahmen der Psychiatrie vertrat Jaspers darin ein Konzept der Heilkunde, das man mit dem Adjektiv existentiell versehen kann. Jaspers verfocht weder eine nur naturwissenschaftlich orientierte Medizin noch eine ihm in mancherlei Hinsicht unwissenschaftlich imponierende Psychosomatik und Psychotherapie. Stattdessen plädierte er für eine Heilkunde, welche die Beziehung von Arzt und Patienten als Begegnung zweier Existenzen begreift und ihr diagnostisches und therapeutisches Vorgehen dementsprechend gestaltet. Um die existentiellen Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung wie der gesamten Medizin zu verdeutlichen, verwies Jaspers auf die Phänomene der Grenzsituationen (Leid, Tod, Schuld) sowie auf die Widersprüche (Antinomien) zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischenmenschlicher Kommunikation und Einsamkeit, die bei Kranken wie Therapeuten, in Zuständen von Pathologie wie auch Gesundheit anzutreffen seien. Damit wollte er zeigen, dass ärztlich-medizinische Handlungen und Reflexionen stets von philosophischen Fragen durchtränkt sind und in sie einmünden:
» Berühmt ist der Satz des Hippokrates: Iatros philosophos isotheos – der Arzt, der Philosoph wird, kommt einem Gotte gleich. Damit ist nicht etwa der philosophisch bloß Lehrende gemeint, sondern der handelnde Arzt, der mit seinem Arztsein denkend unter ewigen Normen im Strom des Lebens Philosoph ist – das ist schwer (Jaspers 1986a, S. 17).
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Werkanalyse
Jaspers unterschied mehrere Arzttypen, wobei er seine Beispiele meist aus dem Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie wählte. So gibt es seiner Meinung nach unter Medizinern die »gläubigen Flachköpfe«, die von der Wirksamkeit ihrer oft unbegründeten Behandlungsmethoden schlicht und naiv überzeugt sind. Die redlichen wie auch die skeptischen Ärzte sind in dieser Hinsicht bedeutend kritischer veranlagt, ohne aber ihre Zweifel mit effektiver philosophischer Reflexion zu versehen. Wieder ein anderer Typus ist derjenige des naturwissenschaftlichen Arztes. Dieser findet Rückhalt und Orientierung in Physiologie, Biochemie und Anatomie sowie in den klinisch-empirischen Beobachtungen. Solche Heilkundige sind vor Dogmatismus und Fanatismus ebenso wie vor Schwindel und Scharlatanerie gefeit. Sie diagnostizieren und therapieren solide und nicht selten mit großem Erfolg, wobei ihre Verankerung in der Jahrtausende umfassenden Tradition der Medizin wie in ihrer stimmig wirkenden biomedizinischen Gesundheits- und Krankheitslehre sie als sicher und kompetent erscheinen lässt. Dem Idealtypus eines Arztes kamen für Jaspers jedoch nur jene Heilkundigen nahe, die neben einer fundierten naturwissenschaftlichen Ausbildung auch Fähigkeiten des geisteswissenschaftlichen Verstehens ihrer Patienten und des philosophischen Einordnens von deren jeweiligen existentiellen Situation aufweisen, und die sich darüber hinaus durch ein hohes humanitäres Ethos auszeichnen:
» Unbedingt zu fordern ist vom Nervenarzt eine somatisch-medizinische und eine psychopathologische Bildung, die in beiden Richtungen wissenschaftlich ist. Ohne diese Basis kann er nur Scharlatan sein, aber mit dieser Basis ist er noch kein Nervenarzt. Die Wissenschaft ist nur eines der Hilfsmittel. Es muss noch viel hinzukommen. Unter den persönlichen Vorbedingungen spielt die Weite des Horizonts eine Rolle, die Fähigkeit, vorübergehend ganz wertungsfrei, hingebend, wirklich vorurteilslos zu sein, … schließlich eine ursprüngliche Wärme und Güte des Wesens (Jaspers 1986b, S. 103).
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Die ersteren Qualitätsaspekte können angehende Ärzte in Vorlesungen, Praktika, Seminaren, Laboren und durch wissenschaftliche Lektüre lernen. Seit Jahrzehnten wird zwar darüber debattiert, welche Lernziele im Detail in die Curricula von Medizinstudenten und Jungassistenten aufgenommen werden sollen. Dass man mittels solcher Lehrpläne einen gewichtigen Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung erfolgreich abdecken kann, ist jedoch unbestritten. Schwieriger stellt sich die Situation hinsichtlich der letzteren Merkmale eines Arztes dar. Persönliches Format, Wärme und Güte des Wesens, verstehende Solidarität, Humanität, Hilfsbereitschaft, Empathie, existentielle Ernsthaftigkeit, Humor trotz Tragik des Lebens, hoffnungsvoll-realistische Zuversicht und philosophisches Bedenken der Conditio humana (Weisheit) – alle diese und manch weitere Züge charakterisieren den idealtypischen Arzt im Jaspers‘schen Sinne. Wie aber können derlei Haltungen und Einstellungen erworben werden? Jaspers betonte, dass hierfür keine herkömmlichen Lehrpläne und -bücher ausreichen. Vielmehr braucht es eine lange und intensive Beziehung zu einem oder mehreren Mentoren, die Persönlichkeiten sind und dies in ihrem Dasein überzeugend zum Ausdruck bringen. Erst im erlebenden Mit- und Nachvollzug eröffnen sich für Adepten der Heilkunde Möglichkeiten, ärztliches Ethos in Form von Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Einfühlungsvermögen, Wohlwollen, Wissen, Kompetenz, Güte, Weisheit und Takt von ihren Lehrern zu übernehmen und in ihr eigenes Wesen zu integrieren. Dabei handelt es sich um vielfältige emotionale und intellektuelle Austauschprozesse, die häufig unbewusst ablaufen und sich nicht selten auf scheinbare Nebensächlichkeiten beziehen. Auftreten, Mimik, Gestik, Stimme, Kleidung, Gesprächsstil, diagnostischer und therapeutischer Zugang zum Patienten sowie Umgang mit Kollegen und Mitarbeitern können ebenso wie weltanschauliche und soziale Stellungnahmen der betreffenden Meister und Mentoren als Modelle und Anregungen dienen. Zwischen ärztlichen Lehrern und Schülern findet demnach nicht nur Wissens-, sondern vor allem Existenzvermittlung statt, welche die Basis
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Kapitel • Karl Jaspers
ihrer Lehrbeziehung darstellt. Damit üben sie paradigmatisch jene Art der Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung ein, die sich im günstigen Fall auch zwischen Arzt und Patient ergibt, und die ein entscheidendes »Agens movens« des Therapie- und Gesundungsprozesses bedeutet. Dementsprechend fragte sich Jaspers in Die Idee des Arztes (1953),
»
ob nicht die ärztliche Persönlichkeit auf eine legitime Weise selber zu einer heilenden Kraft wird … Die Gegenwart einer Persönlichkeit … ist nicht nur unendlich wohltuend. Das Dasein eines vernünftigen Menschen mit der Kraft des Geistes und der überzeugenden Wirkung eines unbedingt gütigen Wesens weckt im anderen, und so auch im Kranken, unberechenbare Mächte des Vertrauens, des Lebenwollens, der Wahrhaftigkeit, ohne dass darüber ein Wort fällt (Jaspers 1986a, S. 18).
«
Eine derartige Existenzvermittlung gehörte für Jaspers ebenso zur ernsthaften zwischenmenschlichen Beziehung wie die Existenzerhellung zum unverzichtbaren Gehalt seiner Philosophie. Medizin und Philosophie haben seiner Meinung nach die gemeinsame Aufgabe, sich um Menschen in ihren möglichen Existenzformen zu kümmern und deren Dasein zu verstehen. Jaspers empfahl daher Ärzten wie Patienten ein philosophisches Studium, das jedoch weder staubtrockene Exerzitien noch schwerverständliche Begriffsakrobatik bedeutete. Ihm ging es vielmehr um Existenzerhellung und -vermittlung, die beide das Leben von Arzt und Patient wie auch von philosophischem Lehrer und Schüler umgreifen sollten:
»
Man hört nicht selten: »Philosophie ist mir zu hoch«, »Philosophie verstehe ich nicht«. Man sagt, sie sei ein luftleerer Raum, in dem die Stimme nicht trage. Die Antwort wäre: Nicht luftleer sei der Raum, aber in der Tat wie bloße Luft, … die Luft der Vernunft, ohne die wir im bloßen Verstand ersticken. Sie wird der Lebensatem der Existenz … In der Vereinigung der Aufgaben von Wissenschaft und Philosophie liegt die wesentliche Bedingung, die heute zwar nicht die Forschung, aber die Bewahrung der Idee des Arztes ermöglicht. Die Praxis des Arztes ist konkrete Philosophie (Jaspers 1986c, S. 56).
«
Conclusio Jaspers bezeichnete ärztliches Tun als eine Form von konkreter Philosophie. Doch auch der umgekehrte Gedanke weist Gültigkeit auf: Philosophie ist im übertragenden Sinne eine Art abstrakte Heilkunde. Diagnostiziert und therapiert werden dabei die Irrtümer, falschen und schiefen Lebensanschauungen, Unwahrheiten und Vorurteile, welche das Denken, Fühlen und Handeln der Menschheit seit Jahrtausenden begleiten. Die seelisch-geistige Hygiene und Diätetik, die man von einer derart heilkundigen Philosophie erwarten darf, steht und fällt mit den jeweiligen Vertretern ihres Faches. Jaspers war sich dieser Dimension seines Berufs vollumfänglich bewusst: Er lehrte nicht nur Existenzphilosophie – er lebte sie. Dies bestätigten zumindest all jene, die ihn als Schüler, Studenten oder nahe Bekannte und Freunde kennenlernten. Als bedeutender Vermittler der »philosophia perennis« wollte er deren unendlichen Reichtum sichtbar machen und bewahren. Die Überlieferung der Jahrtausende war der hohe Maßstab, den Jaspers an sich selbst anlegte. Gern verwies er auf Sokrates als Modell eines philosophischen Mentors:
» Dem Drange der Schüler, den Lehrer zur Autorität und zum Meister zu machen, widersteht der sokratische Lehrer als der größten Verführung der Schüler; er weist sie von sich auf sich selbst zurück; er versteckt sich in Paradoxie, macht sich unzugänglich (Jaspers Die Idee der Universität, 1961, zit. nach Saner 2005, S. 126f.).
«
Zu dieser Einstellung passte die Aufforderung von Jaspers, die er nicht selten an seine Studenten richtete: »Folge nicht mir nach, sondern dir.«
Literatur Hersch J (1980) Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk. Piper, München Hersch J, Lochmann JM, Wiehl R (Hrsg) (1986) Karl Jaspers – Philosoph, Arzt, politischer Denker. Piper, München Jaspers K (1931) Die geistige Situation der Zeit. de Gruyter, Berlin
Literatur
Jaspers K (1948) Philosophie. Akademie, Berlin (Erstveröff. 1932) Jaspers K (1959) Allgemeine Psychopathologie, 7. Aufl. Springer, Berlin (Erstveröff. 1913) Jaspers K (1960) Vernunft und Existenz. Piper, München (Erstveröff. 1935) Jaspers K (1963) Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Piper, München (Erstveröff. 1949) Jaspers K (1977) Strindberg und van Gogh – Versuch einer vergleichenden pathographischen Analyse. Piper, München (Erstveröff. 1922) Jaspers K (1974) Nietzsche. Springer, Berlin (Erstveröff. 1936) Jaspers K (1983) Von der Wahrheit. Piper, München (Erstveröff. 1947) Jaspers K (1984) Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. Piper, München (Erstveröff. 1962) Jaspers K (1985) Psychologie der Weltanschauungen. Piper, München (Erstveröff. 1919) Jaspers K (1986) Der Arzt im technischen Zeitalter. Piper, München Jaspers K (1986a) Die Idee des Arztes. In: Der Arzt im technischen Zeitalter. Piper, München (Erstveröff. 1953) Jaspers K (1986b) Wesen und Kritik der Psychotherapie. In: Der Arzt im technischen Zeitalter. Piper, München (Erstveröff. 1955) Jaspers K (1986c) Der Arzt im technischen Zeitalter. In: Der Arzt im technischen Zeitalter. Piper, München (Erstveröff. 1958) Jaspers K (1988) Die großen Philosophen. Piper, München (Erstveröff. 1981) Saner H (2005) Karl Jaspers. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1970) Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Helmuth Plessner Biographisches – 116 Werkanalyse – 118 Conclusio: ärztliches Denken und Erkennen – 125 Literatur – 126
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Helmuth Plessner
Es gibt gute Gründe, Helmuth Plessner in einen Band über Gestalten der medizinisch-philosophischen Anthropologie aufzunehmen. In seinen Schriften hat er sich mehrfach zu Grenzthemen zwischen Medizin und Philosophie, vor allem zum menschlichen Leib und seinen verschiedenen Seinszuständen, geäußert. Darüber hinaus wirkten Teile seines Werks anregend sowohl auf Ärzte und Medizintheoretiker wie auch auf Philosophen. Letztere zählen ihn zu den Begründern der philosophischen Anthropologie.
Biographisches Helmuth Plessner wurde 1892 in Wiesbaden als einziges Kind seiner Eltern geboren. Sein Vater Fedor Plessner stammte aus Berlin und arbeitete in der hessischen Badestadt als niedergelassener Arzt und Leiter eines Sanatoriums. Das Klinikgebäude, in dem die Plessners eine Zeitlang auch wohnten, lag direkt am Kurpark. Ein Jahr nach der Geburt von Helmuth konvertierte der Vater vom jüdischen zum protestantischen Glauben; Helmuth selbst wurde ebenfalls getauft. Der Sohn wuchs unter günstigen Bedingungen auf. Der Vater war ein angesehener und wohlhabender Mediziner und hatte einige Zeit sogar den Vorsitz der Ärztekammer Wiesbaden inne. Die Mutter Elisabeth Eschmann, die als Gesellschafterin bei einer reichen Dame tätig gewesen war, brachte eine stattliche Mitgift in die Ehe ein. Sie soll ausnehmend schön gewesen sein, und sie vergötterte ihr Kind über alles. Den Besuch der Volksschule konnte Helmuth aufgrund eines langwierigen Keuchhustens abkürzen: Er erhielt Privatunterricht. Ab 1905 ging er aufs Gymnasium, das er bis zum Abitur 1910 absolvierte. Er lernte leicht, vor allem Fremdsprachen, wobei der Vater monierte, dass sich sein Sohn kaum mit Grammatik und Orthographie beschäftigte. Daneben eroberte er sich historisches, literarisches, künstlerisches, politisches und philosophisches Grundwissen: Namen wie Haydn, Mozart und Beethoven, Albrecht Dürer und Matthias Grünewald, Shakespeare, Lessing, Schiller und Kleist, Gottfried Keller, Theodor Storm, Adalbert Stifter und Theodor Fontane, Ibsen und Strindberg, Scho-
penhauer und Nietzsche, Ranke und Droysen waren dem Jugendlichen vertraut. Als Knabe bereits las er in der Bibliothek des Vaters Wilhelm Bölsches Die Abstammung des Menschen (1904). Zusammen mit Büchern von Herbert Spencer und Ernst Haeckel lernte Plessner dadurch darwinistische Ideen kennen, für die er sich zunehmend begeisterte. In ihm entstand der entschiedene Wunsch, zukünftig als Biologe und Forscher wirken zu wollen. Als er 1910 die Universität Freiburg bezog, immatrikulierte er sich jedoch für Medizin. Er belegte naturwissenschaftliche Fächer und wechselte ein Jahr später nach Heidelberg. Dort kam er mit dem Biologen Hans Driesch in Kontakt, auf dessen neovitalistische Ansichten er mit skeptischem Interesse reagierte: »Seine Kombination von Biologie und Philosophie faszinierte mich«, schrieb Plessner in seiner Selbstdarstellung (1975), »auch wenn mich sein Vitalismus nicht überzeugte.« In Heidelberg kam es für Plessner zu weiteren Begegnungen mit nachhaltigen Folgen: Von Wilhelm Windelband – neben Heinrich Rickert die zweite herausragende Gestalt der Südwestdeutschen Neukantianer – wurde er als Student in sein Seminar aufgenommen, und bei Max Weber durfte er am sonntäglichen »Jour fixe« teilnehmen, wo sich unter anderem auch Georg Lukács und Ernst Bloch tummelten. Außerdem ergaben sich Kontakte mit Johann Jakob von Uexküll, auf dessen die Umwelt eines Lebewesens berücksichtigende Biologie sich Plessner später mit Zustimmung bezog. Während seiner Heidelberger Jahre beschäftigte sich Plessner tagsüber mit naturwissenschaftlichen Studien. Nachts hingegen schrieb er an einem philosophischen Traktat, den er 1913 unter dem Titel Die wissenschaftliche Idee – Ein Entwurf über ihre Form publizierte. Als er die Veröffentlichung Windelband zeigte, war dieser so sehr davon angetan, dass er ihn damit in aller Kürze promovieren wollte. Plessner zögerte, da er spürte, wie wenig er von Philosophie wusste. Um dies zu ändern, teilte er Windelband seinen Entschluss mit, Philosophie zu studieren – allerdings nicht bei ihm, sondern bei Edmund Husserl in Göttingen. Der gutmütige Windelband war darüber fast nicht gekränkt und kommentierte den Wunsch seines Studenten recht
Biographisches
nachsichtig: »Wenn Sie denn meinen, dass Sie bei diesem Phänomenalisten etwas lernen können.« Im Sommer 1914 machte Plessner bei diesem Phänomenalisten in Göttingen seinen Antrittsbesuch – im Zylinder, wie er betonte. Husserl war liebenswürdig, hörte seinem Gegenüber jedoch nur kurz zu und begann bald, aus eigenen Manuskripten vorzulesen. Solche Sitzungen beendete er regelmäßig mit dem aufmunternden Satz: »Machen Sie nur so weiter!« Plessner studierte bis 1916 bei Husserl und ging (nachdem der Phänomenologe nach Freiburg berufen worden war) nach Erlangen, wo ein Windelband-Schüler seine philosophische Dissertation akzeptierte. Als frischgebackener Dr. phil. arbeitete er daraufhin als Volontärassistent am Germanischen Museum in Nürnberg. Für den Kriegsdienst war Plessner aufgrund einer Behinderung seines rechten Arms untauglich, so dass ihm ein Einsatz während des Ersten Weltkriegs erspart blieb. Um 1919 lernte Plessner Max Scheler kennen, der ihn einlud, an die damals soeben wieder gegründete Universität in Köln zu gehen: »Kommen Sie nach Köln, das neue Alexandrien.« Neben Scheler lehrte bald auch Driesch in der Rheinmetropole; bei Letzterem gelang es Plessner, sich mit Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft (1920) für Philosophie zu habilitieren. Mitte der 20er Jahre kam noch Nicolai Hartmann in die Domstadt, mit dem sich für Plessner eine väterliche Freundschaft ergab. In den Jahren bis 1933 wirkte Plessner als Privatdozent und später als Titularprofessor an der Kölner Universität. In dieser Zeit publizierte er Bücher wie Die Einheit der Sinne – Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923), Grenzen der Gemeinschaft – Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) sowie Macht und menschliche Natur (1931). Daneben verfasste er eine Reihe von Aufsätzen und hielt viele Vorträge und Lehrveranstaltungen. Allerdings verhalfen ihm seine regen publikatorischen und didaktischen Aktivitäten zu keinem Ruf auf einen Lehrstuhl. Dafür können diverse Gründe namhaft gemacht werden. Plessner befasste sich mit verschiedensten Themen (Biologie, Geschichte, Politik, Medizin, Erkenntnistheorie, Kunst, Musik, Soziologie, Anth-
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ropologie) und philosophischen Schulrichtungen (Neukantianismus, Phänomenologie Husserl‘scher und Scheler‘scher Prägung, Neovitalismus), ohne dass für Außenstehende ersichtlich war, ob dieser Polyskribent (Vielschreiber) ein Philosoph, Zoologe, Soziologe, Anthropologe oder alles zusammen sein wollte. Universitäten jedoch bevorzugen in der Regel eindeutige Kandidaten, die im Hinblick auf ihre weitere Entwicklung kein unkalkulierbares Risiko darstellen. Das Ausbleiben einer ordentlichen Professur bedeutete für den Privatdozenten, weiterhin auf finanzielle Zuwendungen von Seiten seiner Eltern angewiesen zu sein. Dieses Faktum dämpfte ebenso wie die mangelnde Anerkennung seiner Arbeiten die Stimmung Plessners. Hinzu kam, dass sich die Beziehung zu Scheler verschlechterte – und dies nicht nur, weil der Jüngere sich geweigert hatte, Märit Furtwängler, die zweite Gattin des Älteren, nach deren Scheidung von Scheler als Partnerin zu »übernehmen«, wie dieser es vorgeschlagen hatte. Plessner war daher froh, dass er 1924 zu einem längeren Studienaufenthalt nach Amsterdam reisen konnte. Dort forschte er zusammen mit Frederik J. Buytendijk in dessen Institut für Physiologie. Gemeinsam mit dem niederländischen Mediziner und Anthropologen verfasste er eine Abhandlung über Die Deutung des mimischen Ausdrucks – Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ich (1925), deren Inhalt erstaunliche Übereinstimmungen mit entsprechenden, in den 30er und 40er Jahren erfolgten Publikationen von Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty aufweist. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zog massive Veränderungen im Leben Plessners nach sich. In Wiesbaden hatte man begonnen, die Praxis seines Vaters zu boykottieren; wenige Wochen darauf fand man diesen tot in seinen Praxisräumen, ohne dass die Ursache dafür geklärt wurde. Dem Sohn hatte das Hitlerregime, wie er ironisch schrieb, aufgrund seiner Abstammung »liebenswürdigerweise empfohlen, für das Sommersemester nicht anzukündigen«. Plessner emigrierte nach Istanbul in der irrigen Meinung, dort eine adäquate Anstellung zu erhalten. Da sich dieses Abenteuer rasch als Fehlschlag erwies, war er froh, als ihn ein Brief seines Freundes Buytendijk erreichte, in dem ihn dieser für einen
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Kapitel • Helmuth Plessner
Lehrauftrag in Soziologie nach Groningen einlud. Ab 1934 lebte der Philosoph in den Niederlanden und lehrte an verschiedenen Universitäten. Nach 1940 tauchte Plessner aufgrund der deutschen Besatzung in Holland unter. Aus einer Vorlesungsreihe 1935 entstand die Schrift Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, die 1959 unter dem Titel Die verspätete Nation – Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes neu herausgegeben wurde und die Berühmtheit Plessners als politischer Autor begründete. 1941 erschien Lachen und Weinen – Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, womit er seine anthropologischen Studien weiter vorantrieb. Im selben Jahr starb seine Mutter; das gesamte Vermögen der Plessners fiel daraufhin an das Deutsche Reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Plessner in Groningen seine erste ordentliche Professur für Philosophie. 1952 erreichte ihn ein Ruf an die Universität Göttingen, wo er Professor am neu gegründeten Institut für Soziologie wurde. Zu jener Zeit lernte er die zwanzig Jahre jüngere Anglistin Monika Atzert kennen, die sich in der Erwachsenenbildung engagierte; kurz darauf heirateten beide. Mit ihrem Erinnerungsbuch Die Argonauten auf Long Island (1995) hat Monika Plessner ihrem Mann und ihrer gemeinsamen Beziehung ein literarisches Denkmal gesetzt. In den 50er und 60er Jahren wurde Plessner zumindest teilweise jene Anerkennung zuteil, die er lange Zeit hatte entbehren müssen. 1952 übernahm er in Frankfurt am Main die kommissarische Leitung des Instituts für Sozialforschung, das gemeinhin als Frankfurter Schule (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno) bezeichnet wird. 1955 wählte man ihn zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und drei Jahre später zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. 1960/61 wurde er Rektor der Universität Göttingen. Eine besondere Ehre bedeutete es für Plessner, 1962/63 die erste Theodor-Heuss-Gastprofessur an der New School for Social Research in New York zu bekleiden. Diese Hochschule war während der faschistischen Herrschaft zum exquisiten Treffpunkt und Arbeitgeber für viele deutschsprachige emigrierte Intellektuelle geworden. Einige von ihnen
trafen die Plessners auf Long Island, woraus sich der Titel von Monika Plessners Erinnerungsbuch erklärt. Ab 1963 lebten die Plessners abwechselnd in Göttingen und in der Schweiz. In Erlenbach nahe Zürich hatten sie ein Domizil gefunden, von dem aus der Philosoph zwischen 1965 und 1971 regelmäßig zu Vorlesungen an die Universität der Limmatstadt aufbrach, wo er einen Lehrauftrag für Philosophie innehatte. Außerdem publizierte er weiter Aufsätze und größere Abhandlungen zu anthropologischen, politischen, soziologischen und kunsttheoretischen Fragestellungen. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Plessner bevorzugt in Göttingen, wo er 1985 im 93. Lebensjahr starb; begraben wurde er in Erlenbach in der Schweiz. Durch die Herausgabe der zehnbändigen Gesammelten Schriften (1980-85) sowie die Gründung einer Helmuth-Plessner-Gesellschaft (1999) in Freiburg im Breisgau wurden Werk und Biographie dieses vielseitigen Philosophen in den vergangenen drei Jahrzehnten verstärkt beachtet und rezipiert.
Werkanalyse Im Rahmen dieses Buches beschränkt sich die Werkdarstellung auf die medizinisch-anthropologisch relevanten Abhandlungen und Bücher Plessners. Dazu zählen Die Einheit der Sinne (1923) bzw. die Anthropologie der Sinne (1970), Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Lachen und Weinen (1941) sowie die Aufsätze Vitalismus und ärztliches Denken (1922) und Über die Erkenntnisquellen des Arztes (1923). z
Anthropologie der Sinne
In der Medizin ist es seit langem üblich, die Sinnesorgane und -qualitäten des Menschen unter physiologischen und anatomischen Aspekten zu untersuchen. Damit können Leistungen wie auch Defizite und Krankheiten von Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten erfasst und quantifiziert werden. Diesem Vorgehen liegt ein Modell von Wahrnehmung zugrunde, das schon Jahrhunderte alt ist und in der Philosophie ebenso wie in der Medizin
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Werkanalyse
tradiert wird, ohne dabei immer kritisch hinterfragt zu werden. So unterschied John Locke in seinem Versuch über den menschlichen Verstand (1690) die äußeren Erfahrungen und Reize (»sensations«) von den inneren Vorstellungen (»ideas«). Die sinnliche Wahrnehmung der »sensations« wurde für Locke zur grundlegenden Voraussetzung jeder Erkenntnis und zur unabdingbaren Quelle aller Denkakte. Sein oberster Lehrsatz lautete: »Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in sensu« (»Es gibt nichts in unserem Bewusstsein, das nicht zuvor durch unsere Sinne aufgenommen worden wäre«). Das menschliche Bewusstsein verglich er mit einer »tabula rasa«, einem leeren Buch, dessen Seiten allmählich mit an »sensations« gebildeten »ideas« beschrieben werden. Mit seinen Überlegungen begründete Locke den Empirismus und Sensualismus. Beide besagen, dass Erkenntnisse auf Sinneseindrücke zurückzuführen sind, wobei sich der erstere Begriff von der Empirie (Erfahrung) und der zweite vom lateinischen Wort »sensus« (Sinn) ableitet. Empirismus und Sensualismus waren im Bereich von Psychologie und Medizin einflussreich. Das Modell der Seele als einer »tabula rasa«, die mit Sinneswahrnehmungen angefüllt wird und durch Assoziation komplexe Gedanken erzeugt, findet sich bis heute in psychologischen und neurologischen Theorien zur Funktion des Gehirns. In seinen Schriften zur Anthropologie der Sinne demonstrierte Plessner die Begrenzungen von solchen sensualistisch-empiristischen ebenso wie von rationalistischen Modellen. Letztere gehen in der Neuzeit vor allem auf René Descartes zurück und besagen, dass es angeborene Ideen und Denkakte geben soll, die unabhängig von äußeren Reizen und Erfahrungen und deren Wahrnehmungen existieren. Über Empirismus, Sensualismus und Rationalismus hinaus betonte Plessner, dass Wahrnehmungen beim Menschen nicht nur durch ihre physiologischen Funktionen und anatomischen Strukturen beschrieben werden sollten. Im Unterschied zu Tieren, bei denen sich Wahrnehmung in deren bloßer und direkter Information (Zeichen, Signale) erschöpft, können Menschen zumindest einen Teil ihrer Wahrnehmungen (nicht ihre Empfindungen) bewusst erleben und interpretieren (Symbole).
Tiere bemerken Zeichen, die für sie lockend (Annäherung) oder warnend (Abwehr und Flucht) wirken. Menschen hingegen beziehen die bewusst erlebten Sinnesreize auf ihr Selbst, ihre Geschichte, die momentane Situation und ihre Zukunft, auf ihre Ziele, Werte und Weltanschauung. Sie fragen nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Wahrnehmungen und ordnen dieselben in größere Zusammenhänge ein:
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Denn der Mensch beruhigt sich nicht bei dem puren Faktum seiner sinnlichen Organisation, er sieht etwas darin, einen Sinn – und wenn er ihn nicht findet, gibt er ihm einen und macht etwas daraus (Plessner 1980a, S. 332).
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Analoge Gedanken finden sich in Erwin Straus’ Vom Sinn der Sinne (1935/56). Plessner zitierte neben diesem Buch auch Straus’ Abhandlung Die aufrechte Haltung (1960), um hervorzuheben, wie sehr die Wahrnehmung beim Menschen durch die Aufrichtung des Organismus, das perspektivische Sehen und das erweiterte Auge-Hand-Feld spezielle Modifikationen erfuhr. Durch die größere Entfernung von Mund und Nase zu den Dingen der Welt traten beim aufrecht gehenden Menschen die Nahsinne (Tasten, Geschmack, Geruch) in den Hintergrund; stattdessen schoben sich die Fernsinne Gesicht und Gehör in den Vordergrund. Eng mit dem Sehen assoziiert sind nach Plessner beim Menschen das Einsehen oder die Einsicht, also Verstehens- und Erkenntnisprozesse. Ähnliches gilt für das Hören, das zum Gehorsam beiträgt. Die aufrechte Haltung sowie die Opponierbarkeit des Daumens vermittelten der menschlichen Hand große Freiheitsgrade. Sie wurde zur Grundlage für Handlungen aller Art. Darüber hinaus ist sie ein exquisites Ausdrucks- (Gestik), Orientierungs(Tastsinn) und Erkenntnisorgan (das Begreifen) geworden. An ihr lässt sich ablesen, was nach Plessner die Funktionen des menschlichen Körpers generell ausmachen: Er stellt die Basis für Handlungen (nicht nur für Reaktionen) dar, ermöglicht Ausdruck, Sprache und Denken und bedeutet daneben einen Resonanzboden für Emotionalität. Aufrechter Gang, perspektivisches Sehen sowie Dominanz der Fernsinne sind Voraussetzungen
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Kapitel • Helmuth Plessner
für die geistigen Fähigkeiten des Menschen. Hinzu kommt das Phänomen des Abstands, der durch die Haltung des menschlichen Organismus möglich wird. Der Einzelne kann sich Reizen, Dingen, Themen und Situationen zuwenden oder sich von ihnen abwenden, ihnen mit Zustimmung begegnen oder Distanz zu ihnen und zuletzt auch zu sich selbst einlegen. Er besitzt die Fähigkeit zur Objektivierung und erlebt sich deshalb als Subjekt. In gewisser Weise sind auch die zeitliche Verfasstheit des Menschen und seine Geschichtlichkeit mit dem aufrechten Gang und seiner speziellen Art des Sehens verknüpft. Der Mensch ist heutigem Kenntnisstand zufolge das einzige Tier, das weit zurück- und vorausblicken kann, womit sich ihm die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft eröffnen. Erinnerungen und gelebte Geschichte sind der eine Teil der menschlichen Identität (Realität); der andere Teil wird von den Plänen und Entwürfen des Individuums (Potentialität) gebildet. In Anthropologie der Sinne diskutierte Plessner die Frage, weshalb es bei Tier und Mensch zur Entwicklung von Sinnesorganen gekommen ist. Zum einen verwies er auf den Zirkel von Merken und Wirken, den Johann Jakob von Uexküll in den 20er Jahren als Funktionskreis beschrieben hatte: Lebewesen nehmen nur jene Aspekte ihrer Umwelt wahr und bilden dafür Sinnesorgane aus, auf die sie sinnvoller Weise einwirken können. Ein Mäusebussard etwa hat exzellente Sehfähigkeiten, mit denen er effektiv nach Nahrung sucht. Ein guter Geruchssinn ist dafür nicht nötig und deshalb bei ihm auch nicht forciert entwickelt. Der Mensch hat sich vom Funktionskreis emanzipiert, da er nicht mehr nur in einer streng definierten und begrenzten Umwelt, sondern in einer Welt existiert, in der er für potentiell alle Themen und Motive offen ist. Zwischen Reiz und Reaktion, Merken und Wirken haben sich bei ihm geistige Prozesse (Sinn- und Bedeutungszuschreibungen, Phantasien, Urteile usw.) geschoben, die in ihrer Gesamtheit die Entstehung der Kultur ermöglichten: Er lebt in einem Situationskreis (Thure von Uexküll). Für den Umgang mit Natur und Kultur war es für den Homo sapiens ratsam, seine Fernsinne zu schärfen und auf ein hohes Leistungsniveau seiner Nahsinne zu verzichten. Seine kulturelle wie auch
natürliche Welt ist bevorzugt eine sicht- und hörbare; feine Nasen und Geschmäcker waren allenfalls noch in der Frühgeschichte der Menschheit im Hinblick auf deren vitale Nöte, Triebe und Interessen wichtig und haben im Laufe der Kulturentwicklung an Bedeutung verloren. In diesem Zusammenhang bedachte Plessner eine alte Frage der Naturphilosophie, die Goethe schon bewegte. In den Zahmen Xenien findet sich der Ausspruch: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt’ es nie erblicken.« Plessner vertrat einen ähnlichen Standpunkt und meinte, dass die Sicht- und Hörbarkeit der Welt zur Entstehung von Auge und Ohr beigetragen habe und nicht umgekehrt. Die Welt weist nicht Klänge, Farben und Figuren, Oberflächen, Geschmack und Gerüche auf, weil Menschen oder andere Lebewesen entsprechende Sinnesorgane haben – die konträre Argumentation scheint richtig: Weil die Welt sicht-, hör-, riech-, schmeck- und tastbar ist, entstanden und vervollkommneten sich (bei vorhandener biologischer Disposition) korrespondierend dazu sensible Zellverbände, die sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte zu Sinnesorganen strukturierten:
» Nicht der Sinn in seiner Qualität führt und entscheidet über die Physiognomie der Welt, sondern diese über jene, obwohl nur insoweit, als spezifische und organbedingte Aufgeschlossenheit des jeweiligen Sinnes dafür da ist. Ob das Ding noch aussieht, wenn kein Auge mehr es ansieht? Das Wahrgenommene und Empfundene hängt nicht vom Wahrnehmen und Empfinden ab, aber darin, wie es sich darstellt, ist es mit ihm, seiner Weise, seinem spezifischen Modus ununterscheidbar verbunden (Plessner 1980a, S. 372).
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Die Stufen des Organischen und der Mensch
Bei diesem Buch handelt es sich um das anthropologische Hauptwerk Plessners. Als es 1928 erschien, stand es allerdings ganz im Schatten von Heideggers Sein und Zeit (1927) und wurde daher kaum rezipiert. Außerdem machte man dem Autor Plagiatvorwürfe, da sich in seiner Schrift ähnliche Gedanken wie in Schelers Buch Die Stellung des Menschen im Kosmos finden, das ebenfalls 1928 veröffentlicht
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Werkanalyse
wurde. Inzwischen haben sich die Plagiatswogen geglättet, und der hohe und eigenständige Wert von Plessners Text ist anerkannt. In Die Stufen des Organischen und der Mensch widmete sich Plessner einer Urfrage der philosophischen Spekulation: Was ist der Mensch? Er war überzeugt, dass es ohne eine Philosophie des Menschen keine tragfähige Theorie seines Daseins und ohne Philosophie der Natur keine sinnvollen Überlegungen zum Wesen des Menschen gibt. Eine philosophische Anthropologie musste für den Autor daher mit einer umfassenden Beschreibung der naturhaften Grundlage der menschlichen Existenz (Leib, Körper) sowie des Phänomens Leben beginnen. Das Lebendige unterscheidet sich von nicht belebter Materie durch einige grundlegende Eigenschaften: Reagibilität, Fortpflanzung, Vererbung und Selektion, Wachstum und Entwicklung, Stoffwechsel, Anpassung, Altern und Tod, Individualität von Lebensprozess, -form und -gestalt (Typus), selektive Durchlässigkeit der Grenzflächen, Selbstorganisation (Zellen, Gewebe, Organe, Organismus) und autonome Selbstveränderung (Auf- und Abbau), Trennung in innen und außen (eigen und fremd) sowie Bezug zu Raum und Zeit, Welt und Umwelt. Einem Einteilungsvorschlag Drieschs folgend beschrieb Plessner offene und geschlossene Organisationsformen von Lebewesen. Erstere Form charakterisiere die Pflanzen, die in allen ihren Lebensäußerungen unmittelbar in ihre Umgebung eingegliedert sind, und deren Organismus ein unselbständiger Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises ist. Pflanzen weisen keine Zentren oder Kerne (Zentralorgane) auf, und ihre Austausch- und Stoffwechselflächen liegen offen zutage. Weil sie ortsständig sind, fehlen ihnen höher entwickelte sensible und motorische Fähigkeiten – diese sind schlicht überflüssig. Anders ist es beim Tier, das sich gegen seine Umwelt abgrenzen kann und daher als geschlossene Organisationsform bezeichnet wird. Hier trifft man auf Zentralorgane (Gehirn) als Verarbeitungszentren sensibler und motorischer Reize und Reaktionen. Die stoffwechselaktiven Grenzflächen sind zum Beispiel als Lungen- oder Darmschleimhaut nach innen verlagert, ihr Kontakt mit der Umwelt
kann daher zumindest kurzfristig unterbunden werden. Die geschlossene Organisationsform machte es nötig, dass sich bei Tieren spezielle Sinnesorgane ausbildeten, welche deren Inneres (etwa ein Nervensystem) von den Zuständen des Außen unterrichtet und zu adäquaten Reaktionen des Gesamtorganismus veranlasst. Neben den schon erwähnten Motiven für die Entstehung von Sinnesorganen mag dafür also auch die geschlossene Organisationsform ausschlaggebend gewesen sein. Die sensiblen Rezeptoren und Sinnesfelder ermöglichen passives Merken, das zusammen mit dem aktiven Wirken (muskuläre Effektoren, Aktionsfeld) den Uexküll‘schen Funktionskreis ergibt. Die geschlossene Organisationsform trug dazu bei, dass Tiere sich als Gegenüber zu ihrem Umfeld positionieren. Sie bemerken ihre Umwelt als Lockung oder Gefahr, Widerstand oder ihnen Entgegenstehendes, auf das sie aus ihrem Zentrum heraus reagieren. Plessner benannte dies mit dem Ausdruck der Frontalität, welche das grundsätzliche Eingelassensein des Tieres in seine Umwelt ergänzt:
»
In seiner gegen das Umfeld fremder Gegebenheit gerichteten Existenz nimmt das Tier die Position der Frontalität ein. Vom Umfeld geschieden und zugleich auf es bezogen lebt es, seiner nur als Leib, als Einheit der Sinnesfelder und der Aktionsfelder bewusst, im eigenen Körper, dessen natürlicher Ort die ihm verborgene Mitte seiner Existenz ist (Plessner 1975, S. 291).
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Im Gegensatz zum zentrisch in seinem Leib und Hier und Jetzt lebenden Tier ist der Mensch fähig, ein Für-sich-Sein, einen Hiatus und eine Distanz zur eigenen Mitte zu erleben. Er weiß um seine Existenz, seine mögliche Freiheit und gleichzeitig um die Abhängigkeit seines Daseins von Bios und Materie: »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.« Phänomene wie Vernunft, Freiheit, Geist, Teilhabe am »Common Sense« und an der Kultur so-
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Kapitel • Helmuth Plessner
wie das um sich selbst wissende Ich charakterisieren den Menschen, wenn er sich exzentrisch positioniert. Tiere leben in einer begrenzten Umwelt, wohingegen Menschen im Modus exzentrischer Positionalität in einer offenen Welt existieren, die potentiell keine Grenzen des Erkennens, Begreifens und Verstehens vorschreibt. Anders als Tiere, die über Leiber als Konglomerat von Zellen, Geweben und Organen verfügen und in die Kreisläufe und Nischen ihrer Umwelt eingelassen sind, kann der Mensch als exzentrisch Positionierter sich respektive seinen Körper (den er hat und dem er oft ein Gegenüber geworden ist) von den biologischen Mustern, Rhythmen und Regeln partiell freisetzen und Distanz zu den Themen Fortpflanzung, Ernährung, Stoffwechsel, Bewegung, Trieb und Instinkt einlegen. In diesen Momenten hat er mehr einen Körper, denn dass er Leib ist. Normalerweise lässt sich beim Menschen ein permanenter Wechsel von Körper-Haben und Leib-Sein und damit von exzentrischer und zentrischer Position beobachten. Das menschliche Leben ist charakterisiert durch diesen Umschlag der Perspektiven oder – wie Plessner es nannte – den Doppelaspekt unserer Existenz. Menschen, denen das Wechselspiel von Körper-Haben und Leib-Sein gelingt (z. B. in Situationen von Entspannung, Zärtlichkeit, Sexualität), und die eine Innen-, Außenund Mitwelt konstellieren, bezeichnete Plessner als Personen. Beim Menschen verschränken sich nicht nur antagonistische Perspektiven, sondern auch viele darauf fußende existentielle Themen und Motive. Notwendigkeit, Zwang und Gesetz einerseits und Freiheit, Spontaneität und Impuls andererseits bedeuten ebensolche Antinomien wie diejenigen, sich als Mensch zu dem machen zu müssen, was man schon ist, oder ein Leben zu gestalten, das man schon lebt. Eine Verschränkung erfahren beim Menschen auch die Begriffe von Natur und Kultur, von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, von Ekstase/Transzendenz und Immanenz. Aufgrund der exzentrischen Positionalität zählt der Mensch zu den am meisten gefährdeten Lebewesen. Nicht so sehr Naturkatastrophen, das Klima oder natürliche Gegner, sondern der nicht mehr wie die anderen Tiere unbedarft und selbst-
verständlich in seiner und aus seiner Mitte heraus lebende Homo sapiens wird sich selbst oftmals sein größtes Problem, seine heftigste Gefahr und sein ärgster Feind. Unter der Überschrift Die anthropologischen Grundgesetze fasste Plessner deshalb einige Konsequenzen zusammen, die sich aus der exzentrischen Positionalität des Menschen für dessen Daseinsgestaltung ergeben. Er erwähnte etwa das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit, womit er Formen der Lebensführung meinte, die sich Menschen suchen und erfinden, weil sie ihnen nicht wie den Tieren durch Instinkte und biologische Programme gegeben sind. Sitte, Moral, individuelle Attitüden, soziale Regeln und Normen, Lebensstil, Zeitgeist sowie die gesamte Zivilisations- und Kulturgeschichte zeugen von den tausendfältigen Antwortmustern, die als Reaktionen auf die natürliche Unsicherheitslage des Menschen formuliert wurden. Wegen seiner exzentrischen Positionalität kann der Homo sapiens seine Impulse, Triebe und Bedürfnisse nicht schlicht ausagieren. Immer gesellt sich zu ihnen das irritierende Moment der Reflexion, das die Menschen aus ihrer natürlichen Selbstverständlichkeit holt und ihre Existenz fragwürdig und schwierig, aber auch kulturell produktiv werden lässt. Mit dem Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit zielte Plessner auf die eigentümlichen Beziehungsformen ab, die Menschen als exzentrisch Positionierte zu ihrer Außen-, Innen- und Mitwelt leben. Als Leib existiert der Mensch zentrisch wie andere Tiere und damit unmittelbar und direkt in und mit seiner Welt. In der exzentrischen Position jedoch drückt sein Körper ihn und seine Gedanken, Pläne, Hoffnungen, Erinnerungen und Phantasien mittelbar aus. Nun ist der Mensch immer beides: Sehender ebenso wie das Sehen und Gesehene Bedenkender, Subjekt ebenso wie die Subjektrolle Reflektierender, melancholisch oder heiter Gestimmter ebenso wie seine Stimmungen in Worte Kleidender. »Das Auge vergisst sich notgedrungen«, schrieb Plessner, »wenn es sieht.« Nicht so der schauend Forschende, der seine Eindrücke kritisch prüft und dabei sowohl seine Impressionen wie auch sich selbst als Wahrnehmenden, Denkenden, Urteilenden usw. beinahe
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Werkanalyse
wie von außen betrachtet. Er könnte an der Unmittelbarkeit seines Wissens und seines Weltkontakts beinahe verzweifeln, vor allem, wenn ihm bewusst wird, dass er faktisch nur Bewusstseinsinhalte hat, und dass sein Wissen von den Dingen sich als ein Etwas zwischen ihn und die Dinge schiebt. Dem Menschen bleibt als Möglichkeit und Aufgabe, diese wie alle anderen Facetten seines Lebens verbal und mit nonverbalen Mitteln auszudrücken. Tiere sind mit und in ihrem Leib dauernd expressiv – ihre momentanen Bedürfnisse, Emotionen und Antriebe kommen durch Blick, Laute, Mimik und Körperhaltung authentisch zum Ausdruck. Der Mensch hat darüber hinaus die Möglichkeit, sich mit Worten und selbst geschaffenen Symbolen mitzuteilen. Er ist, wie Ernst Cassirer dies formuliert hat, ein »animal symbolicum«, wobei diese Ausdrucksart ebenfalls auf seine exzentrische Positionalität verweist. Die Sprache war für Plessner eine »Expression in zweiter Potenz«, an welcher die vermittelte Unmittelbarkeit besonders deutlich ablesbar ist. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die exzentrische Positionalität auch die Grundlage dafür liefert, dass Menschen hinsichtlich ihrer verbalen wie nonverbalen Kommunikation durchaus Authentizität vermissen lassen können. Eventuell flunkern sie mit ihren Angaben, spielen Rollen und schützen oder verfehlen damit sich und den anderen. Einige dieser Aspekte hat Plessner in seinen Aufsätzen Zur Anthropologie des Schauspielers (1948), Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks (1967) oder Ausdruck und menschliche Existenz (1957) weiter ausgeführt. Als drittes Gesetz beschrieb Plessner dasjenige des utopischen Standorts. Zentrisch lebende Tiere nehmen in der Welt einen natürlichen Ort in Raum und Zeit ein, an dem sie gleichsam zu Hause sind. Nicht so der Mensch als exzentrisch Positionierter, der sich zufällig in einen bereits vorhandenen Kosmos versetzt vorfindet und aufgrund dieser Kontingenz einen utopischen Standort einnimmt. Weil dieses Utopia wenig Halt, Geborgenheit und Schutz verspricht, flüchten viele in den scheinbar sicheren Hafen von Religionen oder pseudoreligiösen Weltanschauungen. Plessner war in dieser Hinsicht skeptisch. Für ihn hieß Menschsein im Sinne exzentrischer Positionalität, keinen billigen
Scheinlösungen zu vertrauen, sondern das kritische Geschäft von Geist, Vernunft und Freiheit zu verfolgen:
»
Die Exzentrizität seiner Lebensform, sein Stehen im Nirgendwo zwingt ihn (den Menschen), den Zweifel gegen die göttliche Existenz, gegen den Grund für diese Welt und damit gegen die Einheit der Welt zu richten. Gäbe es einen ontologischen Gottesbeweis, so dürfte der Mensch nach dem Gesetz seiner Natur kein Mittel unversucht lassen, ihn zu zerbrechen (Plessner 1975, S. 346).
«
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Lachen und Weinen
Dieses Buch entstand unter erschwerten Bedingungen im holländischen Exil und wurde 1941 publiziert, als sein Autor bereits untergetaucht war. Gewidmet hat Plessner den Text Baukje Heerema (einer ehemaligen niederländischen Studentin, mit der er eine Liebschaft unterhalten hatte) und ihrem Partner Casper Ras. Mit beiden hatte sich für Plessner eine Freundschaft ergeben. In gewisser Weise bedeutete Lachen und Weinen eine Fortsetzung von Die Stufen des Organischen und der Mensch. Anfangs rekapitulierte Plessner in dieser Schrift daher seine Ausführungen zur exzentrischen Positionalität sowie zur vermittelten Unmittelbarkeit und zur Expressivität des Leibes. In diesem Zusammenhang hob er neben Gestik, Gebärden, Mimik und Haltung vor allem den Blick (Gesicht) und die Stimme des Menschen als dessen subtilste Ausdrucksinstrumente hervor. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, dass Lachen und Weinen ähnlich wie andere Affektäußerungen bei Mensch und Tier (z. B. Wut, Angst, Melancholie) einzuordnen sind. Lachen würde dabei den Pol des Lustig-Heiter-Seins und Weinen denjenigen des Traurig-VerzweifeltSeins repräsentieren. Plessner jedoch betonte, dass es sich dabei um eigene Zustandsformen menschlichen Daseins handelt, die für den Menschen spezifisch sind und im Tierreich nicht vorkommen. Wohl könne man bei Primaten zum Beispiel Tränenfluss, Fletschen der Zähne oder eine Art von Lächeln konstatieren. Alle diese Phänomene ergäben aber nicht jenes Lachen und Weinen, welches den Menschen auszeichnet.
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Kapitel • Helmuth Plessner
Was geschieht bei Lachen und Weinen, so dass man zu Recht von einer speziell menschlichen Ausdrucks- und Reaktionsform sprechen darf? Um diese Frage zu beantworten, holte Plessner in seiner Schrift weit aus und diskutierte diverse philosophisch-anthropologische, ästhetische, ethnologische, psychologische und physiologische Erklärungsmodelle für Lachen und Weinen. Begonnen bei Charles Darwins Der Ausdruck der Gefühle bei Mensch und Tier (1872) und den psychophysiologischen Ansätzen von Weber und Fechner über die verschiedenen Versuche, Lachen und Weinen als Gebärden zu interpretieren, bis hin zu den entsprechenden Texten von Arthur Schopenhauer, Sigmund Freud, Henri Bergson und Ludwig Klages reicht die Palette der vorgestellten Theorien, die vom Autor als interessant oder anregend, nicht aber als hinreichend eingestuft wurden, das Phänomen verständlich zu machen. Plessner gestand zwar wie manche seiner Vorläufer dem Lachen und Weinen eine Art Ausdruckscharakter sowie eine gewisse Gesten- und Gebärdenhaftigkeit zu. Entscheidend sei dabei aber jeweils der Vorgang des jäh Ins-Lachen- oder -Weinen-Verfallens, das mit einem Verlust an Selbstbeherrschung und einer Desorganisation des Menschen als Leib-Seele-Geist-Einheit parallel geht. Der Körper schiebt sich als Kichern, Schallen, Prusten, Zerbersten oder als Greinen, Schluchzen, Seufzen und Tränenfluss in den Vordergrund, ohne dass der Betreffende jedoch völlig den Kopf bzw. das Bewusstsein verliert:
»
Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwanghaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper ineins preisgegeben und wiederhergestellt. Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort (Plessner 1982, S. 274).
«
In welchen Situationen verfallen nun Menschen in Lachen oder Weinen? Plessner zählte eine lange Reihe situativer Momente auf, die uns zum Lachen oder Weinen bewegen. Ausführliche Schilderungen
widmete er den Phänomenen Freude, Spiel, Komik, Witz und Humor, wobei er auf außergewöhnlich heitere Weise seine Gedanken präsentierte. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man die prekären Umstände bedenkt, unter denen dieser Text entstanden ist. Nicht ganz so umfangreich sind die Erläuterungen Plessners zu jenen Situationen, welche die Menschen weinen machen. Er erwähnte den oft zitierten Ausspruch Johann Erdmanns, den man in dessen Buch Über Lachen und Weinen (1850) findet: »Man lacht über andere, und man weint über sich selbst.« Auch Schopenhauers Idee vom Selbstmitleid als Voraussetzung des Weinens wurde vom Autor erörtert. Des Weiteren stellte Plessner verschiedene Einteilungsversuche vor, welche das Weinen klassifizieren sollten: Das elementare Weinen sei physiologisch bedingt und vorrangig bei kleinen Kindern zu beobachten; das persönliche Weinen setze ein höheres Niveau an Emotionalität und individueller Reife voraus; das geistig bestimmte Weinen werde im Sinne von Hingabe, Andacht, Sehnsucht oder Ergriffensein hervorgerufen, wofür ein ausgebildetes Wertbewusstsein voraussetzend sei. Eine andere Einteilung des Weinens geht auf Wilhelm Wundt zurück, der hinsichtlich menschlicher Emotionen die Polarität von Lösung und Spannung als wesentlich erachtete. Dementsprechend unterschied er gespanntes Weinen etwa bei Schmerz und Zorn, Ohnmacht, Mutlosigkeit, Trostlosigkeit und Verzweiflung, Kummer, Reue, Gram und Enttäuschung. Gelöstes Weinen sei dagegen bei Schwermut, Wehmut und linder Trauer, aber auch bei Beglücktheit, Ergriffenheit, Rührung und Begeisterung sowie nach ausgestandener Angst und Anstrengung zu erwarten. Das Entscheidende sowohl bei Lachen wie auch bei Weinen hervorrufenden Situationen ist nach Plessner jedoch die Erfahrung von Begrenzungen – eine Idee, welche den Untertitel von Lachen und Weinen (Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens) verständlich werden lässt. Im Falle des Lachens sind es Momente von Nonsense (Unsinn), Widersinnigkeit oder Überlagerung mehrerer Bedeutungs- und Sinnebenen, auf welche der Lachende keine andere und passendere Antwort findet als sein Gelächter.
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Conclusio: ärztliches Denken und Erkennen
Beim Weinen sind es tragische und schicksalhafte Erlebnisse, die als begrenzend erfahren werden, und denen gegenüber der Einzelne als Ausdruck seiner Ohnmacht und Schwäche seinen Tränen (und damit seinem Körper) freien Lauf lässt. Bei beiden Reaktionen lässt der Mensch schlagartig seine exzentrische Position hinter sich und stürzt gleichsam ins Leibhaftige, dessen vegetative Funktionen für kurze Zeit die Führung übernehmen, ohne dass sie in diesen Situationen willkürlich gesteuert werden könnten: Der Betreffende muss lachen oder weinen. Anders stellen sich die Verhältnisse beim Lächeln dar: Das Individuum hält seine Autonomie und exzentrische Position aufrecht und bleibt (wie Plessner 1950 in Das Lächeln überzeugend nachweisen konnte) überlegen. Voraussetzung für Lachen und Weinen ist also die exzentrische Positionalität des Menschen, die dazu führt, dass Einzelne ihre jeweilige Daseinssituation als Schranke, Endlichkeit oder Unabwendbarkeit erleben, worauf sie antworten wollen und müssen. Da ihnen momentan keine adäquateren Reaktionen zur Verfügung stehen, retten sie sich, indem sie ihre exzentrische Position ebenso wie die bedrängende Lage hinter sich und jählings ihren Körper agieren lassen. Der Sturz aus der exzentrischen in die zentrische Position wird von Lachen oder Weinen begleitet. Weil Tiere keine exzentrische Positionalität aufweisen, wird verständlich, warum es bei ihnen kein Lachen und Weinen geben kann. Weder reflektieren sie Begrenzungen als solche, noch könnten sie darauf mit einer jähen Preisgabe ihrer exzentrischen Position reagieren – sie sind immer schon zentrisch. In Lachen und Weinen hat Plessner noch andere Formen von Desorganisation der menschlichen Leib-Seele-Geist-Einheit und des parallel gehenden Verlusts von Autonomie und exzentrischer Position angedeutet. Ohne dies weiter auszuführen, erwähnte er Symptome wie Erröten (Scham), Erblassen, Übelkeit (Ekel), Schwindel und Schmerz, an denen ähnliche Prozesse wie bei Lachen und Weinen zu beobachten seien:
» Unbeantwortbare und zugleich bedrohende Lagen erregen Schwindel. Der Mensch kapituliert als
Person, er verliert den Kopf. Symptome, die vom Drehschwindel her bekannt sind, wie Schweißausbruch … Erbrechen und Ohnmacht, können, wie bekannt, in gleichen Existenzkrisen höherer Ordnung auftreten. Der Ausdruck »mir schwindelt« ist in solchen Lagen durchaus adäquat (Plessner 1982, S. 275).
«
Conclusio: ärztliches Denken und Erkennen Mit diesem Zitat sind wir bei medizinischen Fragestellungen im engeren Sinne angelangt, die Plessner verstreut über sein Werk immer wieder anklingen ließ. In zwei frühen Aufsätzen über Vitalismus und ärztliches Denken sowie Über die Erkenntnisquellen des Arztes hat er sich jedoch ausführlich mit ärztlichen Themen auseinandergesetzt, die beinahe Inhalt seiner beruflichen Orientierung geworden wären. In der ersteren Abhandlung verwies Plessner eindringlich auf die Tatsache, dass der Mensch »Bürger zweier Welten« (Kant) ist. Aus dem Faktum, dass im Homo sapiens Natur und Kultur, Körper und Geist, Leib und Seele ineinander verflochten sind, erwachsen wichtige Konsequenzen für die medizinische Diagnostik und Therapie. In gewisser Weise plädierte der Autor schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts für einen biperspektivischen Zugang zum Patienten, der seine biomedizinische ebenso wie seine psychosoziale und geistige Situation diagnostisch und therapeutisch berücksichtigt:
»
Wo sinngesetzliche Verknüpfung möglich ist, hat die Naturwissenschaft nichts zu sagen, wo seinsgesetzliche stattfindet, schweigt die Psychologie. Aufgabe der Psychiatrie aber bleibt es, die verschiedenen Seinsgesetze zu verbinden (Plessner 1985a, S. 24).
«
Ersetzt man den Ausdruck Psychiatrie durch Psychosomatik (eine Form der Medizin, die sich in den 20er Jahren erst in Ansätzen herausbildete), kann man Plessner als frühen Programmgeber für diese anspruchsvolle Art der Heilkunde begreifen, welche die verschiedenen menschlichen Seinsdimen-
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Kapitel • Helmuth Plessner
sionen tatsächlich zu erfassen und ihre Behandlungsprozesse zu integrieren versucht. In Über die Erkenntnisquellen des Arztes plädierte Plessner für eine gediegene naturwissenschaftliche, an Empirie, Maß und Zahl orientierte Ausbildung der Mediziner, die jedoch um naturphilosophische und phänomenologische Studien ergänzt werden sollte. Durch derartige Exerzitien könne gewährleistet werden, dass Ärzte bei Phänomenen wie Leben, Krankheit, Gesundheit oder Patientsein neben deren quantitativen auch die qualitativen Aspekte wahrnehmen lernen. Dies sei nötig, um Patienten als Subjekte und Personen in ihrer individuellen Not- und Existenzsituation zu verstehen. Wiederum meint man, einen Pionier der Psychosomatik zu vernehmen, wenn man Plessners Ausführungen über die Gründe dafür liest, warum Ärzte sich in der Kunst der Hermeneutik menschlichen Daseins üben sollten:
»
Um eine Person wahrzunehmen, ihren psychophysischen Typus zu bestimmen, brauche ich außer sinnlichen Erfahrungsquellen auch unsinnliche, wozu Einfühlungsfähigkeit, seelisches und intellektuelles Verständnis, schließlich eine gewisse intuitive Gabe des Blicks für Menschen gehört … Wo die Krankheit bei aller physischen Bedingtheit auch psychische Bedingtheiten hat, wo die ganze Person in Mitleidenschaft gezogen ist …, da muss die Diagnose unter Zuhilfenahme nichtnaturwissenschaftlicher Wahrnehmungsquellen erfolgen (Plessner 1985b, S. 53f.).
«
Nicht nur aufgrund der Nähe mancher Gedanken Plessners zur Psychosomatik erachten wir seine Beiträge zu einer medizinischen und philosophischen Anthropologie als gewichtig. Vor allem die Überlegungen zur exzentrischen Positionalität des Menschen eröffnen vielfältige Ideenhorizonte, die für Theorie und Praxis der Medizin relevant sind. So kann man als Grundtendenz der abendländischen Heilkunde die Haltung beschreiben, Patienten bevorzugt in der grammatikalisch dritten Person (er, sie, es) als Körper und nicht als Leiber wahrzunehmen und zu behandeln. Körper können wie Dinge betrachtet und untersucht (Anatomie, Pathologie) oder als Teile der Natur erforscht werden, denen man mit Methoden der Biochemie,
Physiologie, Genetik oder Neurowissenschaften »zu Leibe rückt«. Was einer solchen Form der Medizin entgeht, sind die subjektiven Aspekte ihrer Patienten (zweite Person). Denn jeder Mensch existiert im dauernden Spiel von exzentrischen und zentrischen Positionen sowie in individuellen und vielgestaltigen Weltbezügen, die ihn als Person auszeichnen, und die kaum je auf allgemeine Begriffe gebracht oder lediglich in Maß und Zahl ausgedrückt werden können. Der Mensch ist ein Homo absconditus, ein verborgenes Wesen, wie Plessner dies in einem Aufsatz 1969 beschrieben hat. Dieser verborgene und nie ganz ergründete Mensch, das nicht festgestellte Tier (Nietzsche), kann nur unter Inkaufnahme kräftiger Reduktionen fixiert, verkörpert und objektiviert sowie in endgültige Formen und anthropologische Formeln gegossen werden. Als stets wechselnd erlebte, spontan gestaltete und dauernd neu erzählte Geschichte darf menschliches Dasein stattdessen verstanden werden, als ein tastender Aufbruch, Sinn und Bedeutung der eigenen Existenz zu suchen und notfalls auch zu schaffen. Plessner war aufgrund seiner breiten Ausbildung, vor allem aber aufgrund seiner weltoffenen, neugierigen, lebensbejahenden, heiter-charmanten und toleranten Gangart bestens dazu geeignet, den Homo absconditus in seiner Vielschichtigkeit zu beschreiben, ohne den falschen Ehrgeiz zu entwickeln, ihn in ein anthropologisches Korsett oder System zwingen zu wollen. Seine Schriften waren frei von Dogmatismus jeglicher Art, und sein Denken fühlte sich keinem Ismus (und sei er auch wissenschaftlicher Provenienz) verpflichtet. Vielmehr entzündete sich sein skeptischer Geist gerne an der eigenen exzentrischen Position und begann dabei zu fragen, zu zweifeln und ins Offen-Ungewisse zu weisen.
Literatur Dejung Ch (2003) Plessner – Ein deutscher Philosoph zwischen Kaiserreich und Bonner Republik. Rüffer & Rub, Zürich Dietze C (2006) Nachgeholtes Leben – Helmuth Plessner 1892–1985. Wallstein, Göttingen Haucke K (2000) Plessner zur Einführung. Junius, Hamburg
Literatur
Krüger H-P (2000) Das Spiel zwischen Leibsein und Körperhaben – Plessners Philosophische Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48. Jahrgang, Heft 2, Akademie, Berlin Plessner H (1975) Die Stufen des Organischen und der Mensch. de Gruyter, Berlin (Erstveröff. 1928) Plessner H (1980ff.) Gesammelte Schriften in zehn Bänden. Suhrkamp, Frankfurt am Main Plessner H (1980a) Anthropologie der Sinne. In: Gesammelte Schriften III. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1970) Plessner H (1982) Lachen und Weinen. In: Gesammelte Schriften VII. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1941) Plessner H (1985a) Vitalismus und ärztliches Denken. In: Gesammelte Schriften IX. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1922) Plessner H (1985b) Über die Erkenntnisquellen des Arztes. In: Gesammelte Schriften IX. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1923) Plessner M (1995) Die Argonauten auf Long Island. Rowohlt, Berlin Pietrowicz S (1992) Helmuth Plessner – Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens. Alber, Freiburg im Breisgau Schüßler K (2000) Helmuth Plessner – Eine intellektuelle Biographie. Philo, Berlin
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Karl Löwith Biographisches – 130 Werkanalyse – 132 Conclusio – 140 Literatur – 140
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Karl Löwith
Karl Löwith hat sich vor allem mit seinem Hauptwerk Von Hegel zu Nietzsche – Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941) sowie als skeptischer Geschichtsdenker im letzten Jahrhundert einen Namen gemacht. Daneben sind seine Texte zur philosophischen Anthropologie erwähnenswert, die im ersten Band seiner Sämtlichen Schriften zusammengestellt wurden.
Biographisches Karl Löwith wurde 1897 in München als einziges Kind des Kunstmalers Wilhelm Löwith und seiner Gattin Margarete geboren. Die Eltern waren jüdischer Abstammung, wobei das Judentum für sie keine religiöse Bedeutung hatte. Die Löwiths bewohnten eine großzügige Stadtwohnung in der Isarmetropole und eine Villa am Starnberger See; die Kindheit Karls verlief wohlbehütet. Mit dreizehn Jahren las der Knabe bereits Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra. Außerdem studierte er als Jugendlicher Texte von Kant, Fichte und Schleiermacher. Besonders beeindruckt war er von einem Biologielehrer am Gymnasium, der ihm die Wunder der lebendigen Welt erschloss – so drückte Löwith es später in seinem Curriculum vitae (1959) aus. 1914 meldete sich der 17-Jährige als Freiwilliger für den Ersten Weltkrieg. An der italienischen Front wurde er 1915 schwer verwundet und geriet in Kriegsgefangenschaft. Er erlitt einen Lungenschuss, dessen Folgen ihm zeitlebens zu schaffen machten. Noch Jahrzehnte nach seiner Verletzung klang die Stimme des Philosophen im Gegensatz zur Brillanz seiner Gedanken verhalten und matt. Ab 1917 studierte Löwith zuerst in München und dann in Freiburg Philosophie und Biologie. In München gehörten die Phänomenologen Alexander Pfänder und Moritz Geiger sowie der Botaniker Karl Ritter von Goebel zu seinen akademischen Lehrern; in Freiburg zählten der Zoologe und spätere Nobelpreisträger Hans Spemann und Edmund Husserl dazu. Neben Husserl traf Löwith in Freiburg auch auf dessen Assistenten Martin Heidegger, der als inspirierender philosophischer Dozent galt, von dem es hieß, dass man bei ihm wirklich denken lernen
könne. Seine dramatische Art des Vortrags und sein undurchsichtiger Tiefgang (Löwith) trugen dazu bei, dass sich viele Studenten – so auch Löwith – vom schwerer zugänglichen Husserl ab- und stattdessen Heidegger zuwandten. 1922 kehrte Löwith nach München zurück und promovierte ein Jahr darauf bei Moritz Geiger mit der Studie Auslegung von Nietzsches Selbst-Interpretation und von Nietzsches Interpretationen. Im Anschluss daran übernahm er eine Hauslehrerstelle auf einem mecklenburgischen Gut, die er 1924 gegen eine Assistentenstelle bei Heidegger eintauschte. Dieser war in der Zwischenzeit nach Marburg übergesiedelt, wo Nicolai Hartmann und Paul Natorp seine Kollegen waren. Hannah Arendt, Hans-Georg Gadamer, Leo Strauss und Hans Jonas studierten dort bei ihm. Löwith fühlte sich in diesem Kreise schnell heimisch, und bald stand fest, dass er sich bei Heidegger mit einer phänomenologischen Arbeit über Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen habilitieren wollte. Vor dem erfolgreichen Abschluss seiner Habilitation 1928 verbrachte der junge Philosoph in Rom und Florenz ein Studienjahr, das ihn für die Schönheiten Italiens begeisterte. Während seiner Assistentenzeit bei Heidegger begann Löwith, den »kleinen Zauberer von Meßkirch«, wie er von Studenten genannt wurde, für sich zu entzaubern. Nach und nach bemerkte er, dass die Vorlesungen seines Lehrers zwar außergewöhnlich expressiv waren, ihre Inhalte aber mit dem eindrücklichen Sprachstil nicht immer Schritt zu halten vermochten. Eine Wucht der Diktion ging von Heideggers Philosophie aus, welche die Zuhörer magisch in ihren Bann zog, ohne dass jedoch immer ersichtlich wurde, welchem Ziel der ganze Aufwand dienen sollte. Nach seiner Habilitation blieb Löwith in Marburg, indes Heidegger nach Freiburg ging, wo er den Lehrstuhl Husserls übernahm, der damals emeritiert wurde. Der Privatdozent Löwith erwies sich als Hochschullehrer mit breitem Interessenhorizont: Er las über Hegel und Marx, Kierkegaard, Nietzsche und Dilthey, philosophische Anthropologie, Soziologie und Psychoanalyse sowie Existenzphilosophie. Mit der Antrittsvorlesung »Jacob Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie« machte er deutlich, dass er sich auch dem
Biographisches
Geschichtsproblem in seiner anthropologischen Tragweite zuwenden wollte. 1929 verlobte sich Löwith mit Adelheid Kremmer, die drei Jahre jünger als er und Tochter des Direktors des Berliner Arndtgymnasiums war. Kurze Zeit später ließen sich die beiden in BerlinDahlem auf Wunsch der Schwiegereltern kirchlich trauen. Ada (so nannte der Philosoph seine Gattin) unterstützte ihren Mann in den kommenden Jahrzehnten; nach dem Tod Löwiths 1973 sorgte sie für die Herausgabe seiner autobiographischen Schrift Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Sie überlebte ihren Gatten sechzehn Jahre und starb 1989. Löwiths akademische Karriere wurde 1933 unterbrochen, als ihm nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Lehrbefugnis entzogen und er mit einem Publikationsverbot belegt wurde. Aufgrund eines Stipendiums der Rockefeller Foundation ergab sich für Löwith die Gelegenheit, zusammen mit Ada nach Italien zu emigrieren, wo sie von 1934 bis 1936 überwiegend in Rom lebten. Während dieser Zeit arbeitete der Philosoph seine Vorlesungsmanuskripte zu größeren Monographien um. 1935 publizierte er Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, und ein Jahr darauf erschien Jacob Burckhardt – Der Mensch inmitten der Geschichte. Beide Bücher blieben damals ohne öffentliche Resonanz, da sie in Deutschland nicht verkauft werden durften. Weil die Faschisten in Italien nach 1936 ähnliche Rassengesetze erließen wie die Deutschen, sahen sich die Löwiths zu weiterer Emigration gezwungen. Durch die Vermittlung vormaliger Schüler erhielt der Philosoph trotz diverser Einsprüche deutscher Dienststellen einen Ruf auf eine Professur an der Kaiserlichen Universität im japanischen Sendai, nördlich von Tokio gelegen. Während der sechswöchigen Schiffsfahrt von Neapel durch den Suezkanal über Ceylon bis nach Hongkong, Shanghai und weiter in die japanische Inlandsee führte Löwith ein Reisetagebuch, das postum 2001 zusammen mit seinem Bericht über seine zweite große Reise aus dem Jahr 1941 unter dem Titel Von Rom nach Sendai – Von Japan nach Amerika veröffentlicht wurde. Von Ende 1936 bis Anfang 1941 lehrte Löwith an der Kaiserlichen Universität in Sendai Philoso-
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phie. Die fremde Kultur und die Kontakte zu japanischen Kollegen, Studenten und anderen Universitätsangehörigen bedeuteten für ihn eine große Herausforderung, die er als Möglichkeit verstand, im Fernen Osten einige Facetten jener Lebens- und Weltanschauungen zu studieren, von denen er vermutete, dass sie einst in der griechischen und römischen Antike eine Rolle gespielt haben. Zu den wichtigsten philosophisch-literarischen Resultaten seines Japanaufenthalts rechnete Löwith sein Buch Von Hegel zu Nietzsche, das 1941 erschien. Neben den geschichtsphilosophischen Abhandlungen wird dieser Text zu Recht als Hauptwerk des Philosophen und als Klassiker der Philosophiegeschichtsschreibung bezeichnet. Der Autor hat darin den geistes- und kulturgeschichtlichen Wandel und Bruch in Europa zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts (Aufklärung, Klassik und Idealismus) und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Linkshegelianer, Kierkegaard und vor allem Nietzsche) souverän dokumentiert und interpretiert. Die zunehmende politische Orientierung Japans am deutschen und italienischen Totalitarismus (man sprach von der Achse Rom-Berlin-Tokio) sowie die Diskriminierung deutschstämmig jüdischer Emigranten ließen es Löwith angeraten erscheinen, sich nach einem neuen Exilland umzusehen. Die Vereinigten Staaten galten seinerzeit noch am ehesten als empfehlenswert für europäische Exilanten, und daher machten sich die Löwiths Anfang 1941 auf den Weg in die Neue Welt. Wie klug diese Entscheidung war, wurde einige Monate später offenkundig: Nach dem militärischen Überfall der Japaner auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbour (Hawaii) wäre eine Flucht kaum mehr möglich gewesen. Wie sinnvoll es seinerzeit gewesen war, sein Vaterland nach 1933 verlassen zu haben, wurde Löwith 1943 drastisch vor Augen geführt. In diesem Jahr sollte seine Mutter, die noch in München wohnte (ihr Gatte war bereits 1932 gestorben), aufgrund ihrer jüdischen Abstammung deportiert werden. Die alte Dame entzog sich der Verschleppung, indem sie in einem Sammellager bei München den Freitod wählte. In den USA sorgten die Theologen Paul Tillich und Reinhold Niebuhr dafür, dass Löwith eine Dozentur am Theologischen Seminar der Universität
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Kapitel • Karl Löwith
Hartford in Connecticut erhielt, die er bis 1949 innehatte. An dieser protestantischen Lehranstalt fühlte sich der agnostische Denker jedoch nie heimisch. In einem Brief an Leo Strauss beschrieb Löwith seine Situation als die »eines auf dem trockenen Sand der protestantischen Theologie nach Wasser und Luft schnappenden Fisches«. Trotz dieser Erschwerungen gelang es dem Philosophen in Hartford schriftstellerisch aktiv zu bleiben. 1946 publizierte er in Jean-Paul Sartres Les Temps Modernes einen Aufsatz über Die politischen Implikationen von Heideggers Philosophie der Existenz, und 1949 veröffentlichte er das Buch Meaning in History, das später in deutscher Sprache unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1953) erschien. Darin gelang dem Autor eine Kritik des abendländischen Geschichtsdenkens, das er als eine Weiterführung und Umformung der christlichen Heilsgeschichte bewertete. 1949 erhielt Löwith einen Ruf an die angesehene New School for Social Research in New York, wo er bis 1952 lehrte. Im Rahmen eines internationalen Philosophenkongresses in Mendoza (Argentinien) traf er auf alte Kollegen aus Europa, die in ihm das erste Mal wieder die Idee aufkeimen ließen, nach Deutschland zurückzukehren. Auf Betreiben von Hans-Georg Gadamer, der nach dem Krieg in Heidelberg Rektor an der Universität war, wurde aus diesem Gedanken Wirklichkeit: 1953 übernahm Löwith dort eine eigens für ihn geschaffene Professur. Zum Auftakt der Heidelberger Zeit, dessen Universitätsverhältnisse er im Vergleich zu 1933 »merkwürdig unverändert« vorfand, gab der Autor das Buch Heidegger – Denker in dürftiger Zeit (1953) heraus. Darin sezierte er mit kühler und doch polemischer Schärfe den Charakter und das Werk jenes Mannes, der ihm einst als Zauberer erschienen war, und von dem er sich nunmehr vollständig emanzipiert hatte. Drei Jahre darauf folgte der Band Wissen, Glaube und Skepsis, worin sich Löwith mit christlichen Denkern wie Augustinus, Pascal und Kierkegaard auseinandersetzte. Ziel dieser Studien war es, eine klärende Grenzziehung zwischen religiösem Glauben und philosophischem Denken herbeizuführen. Religionen vermitteln Glaubensinhalte; Wissenschaften zielen auf die Mehrung von Wissen und
Erkenntnissen ab; der Philosophie hingegen fällt die Aufgabe zu, skeptisch und kritisch auf religiöse und wissenschaftliche Aussagen zu reagieren. Im Buch Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche (1967) erörterte Löwith die Beziehung des Menschen zu Kosmos und Natur. In den letzten Jahren seines Lebens – der Denker starb 1973 – wandte er sich dem französischen Dichter Paul Valéry zu, der in seinen Cahiers ein mehrbändiges kaleidoskopartiges Werk origineller Reflexionen geschaffen hatte. Löwith fühlte sich Valéry in Bezug auf dessen hochgeistignüchterne Lebens- und Weltanschauung wesensverwandt. Der Text Paul Valéry – Grundzüge seines philosophischen Denkens (1970) bezeugt die Nähe Löwiths zu diesem französischen Dichter-Philosophen. Nach seiner Emeritierung 1964 lebte Löwith zusammen mit Ada abwechselnd in Heidelberg und im Tessin, wo er sich aufgrund seiner Italienliebe besonders wohl fühlte. Mehrfach suchten sie im Sommer Sils Maria auf. Hier trafen sie nicht selten auf Helmuth Plessner und seine Gattin Monika und führten mit ihnen lange Gespräche. Die Letztere hat in ihrem Buch Die Argonauten auf Long Island (1995) die freundschaftliche Beziehung der beiden Denker einfühlsam geschildert.
Werkanalyse Bei der Erörterung von Löwiths Werk wird vor allem Bezug genommen auf Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) sowie auf den ersten Band seiner Sämtlichen Schriften, der unter dem Titel Mensch und Menschenwelt die anthropologischen Texte des Denkers enthält. Zunächst aber werden Passagen seiner geschichtsphilosophischen Werke erläutert, in denen er den Wandel in der europäischen Kulturgeschichte weg von einer religiös-weltanschaulichen und historischen hin zu einer anthropologischen Orientierung des Menschen nachzeichnete. z
Von Hegel zu Nietzsche
Ausgangspunkt für die Abfassung dieses Werks waren die Vereinzelung des Menschen und seine ideologische Heimatlosigkeit im 20. Jahrhundert,
Werkanalyse
die Löwith nicht als alleinige Folgen von Totalitarismus und Weltkrieg verstanden wissen wollte. Seine These war vielmehr, dass man die Wurzeln dieser Phänomene bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen könne. Löwiths Untersuchung hebt an mit einer Darstellung von deutscher Klassik und idealistischer Philosophie. Um 1800 befanden sich in Europa und besonders in Deutschland Dichtung und Philosophie auf ihrem Zenit: Man denke an die Weimarer Klassik mit den Namen Wieland, Herder, Goethe und Schiller, an den Jenaer Kreis mit Fichte, Schelling, Hegel, Schlegel und Tieck, an Immanuel Kant in Königsberg oder an die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt. Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren geprägt vom grundsätzlichen Empfinden einer Zusammengehörigkeit von Mensch und Welt. An zwei umfangreichen Abhandlungen – Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und Goethes Anschauung des Weltgeschehens – demonstrierte der Autor, dass damals noch ein Einheitserleben zwischen Individuum und Gesellschaft sowie von Sinnlichkeit (Realität, Körper) und Vernunft (Idealität, Geist) möglich war. Dieses Einheitserleben fußte auf verschiedenen Prinzipien. Goethe etwa betonte, dass die Vernunft alles Lebendigen in der Natur zu finden sei, wohingegen Hegel dem Geist oder der Idee diese Funktion zuwies. Der Philosoph erwartete die Vervollkommnung des (absoluten) Geistes vom historischen Fortschritt, dessen Ende für ihn gleichbedeutend mit dem vollständigen Selbstbewusstsein von Weltgeist und Kultur war. Hegels Aussage allerdings, dass die Wirklichkeit vernünftig und die Vernunft wirklich sei, erschien angesichts der Ungerechtigkeiten in der Welt vielen seiner Schüler als intellektuelle und moralische Zumutung. Die Junghegelianer David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Arnold Ruge, Bruno Bauer, Max Stirner, Karl Marx und Friedrich Engels lehnten sich in ihren Schriften gegen ihren Lehrer auf. Besonders Marx und Engels versuchten, das idealistische Konzept Hegels vom Kopf auf die Füße zu stellen und in konkrete ökonomisch-gesellschaftliche Realitäten zu übersetzen. Dabei schrieben sie dem Proletariat eine entscheidende
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Rolle zu: Seine Herrschaft sollte das Ende der Geschichte (im Sinne von Paradies auf Erden) markieren. Nicht so sehr in gesellschaftlicher denn in religionskritischer Absicht attackierte Ludwig Feuerbach die Hegel‘sche Philosophie. Er nutzte die Denkfiguren des Meisters, um mit ihrer Hilfe die anthropologische Wende oder Reduktion durchzuführen. Darunter verstand er die Rücknahme jener Attribute, welche die Menschen in den letzten Jahrtausenden den Göttern verliehen haben, auf sie selbst. Feuerbachs Grundthese war, dass sich die Menschen aufgrund von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Angst einst Götter ausgedacht haben, denen sie Eigenschaften wie Allmacht, Allwissenheit und ewiges Leben andichteten. Sowohl die Götter als auch ihre großartigen Qualitäten waren jedoch nichts weiter als Projektionen von Menschen, die selbst gerne so gewesen wären, wie sie sich die Himmlischen imaginierten. Wenn die Menschheit den Mut aufbringt, sich diesen Entstehungsprozess von Göttern und Religionen einzugestehen, verliert sie zwar den illusionären Schutz und Beistand von Gottheiten (was kein großer Verlust ist) und wird auf sich selbst zurückgeworfen. Zugleich fallen jedoch die ehemals den Göttern verliehenen Attribute an die Menschen zurück, was diese in ihrem Selbstwert und in ihren realen Möglichkeiten stärkt und potenter werden lässt. Mit anderer Stoßrichtung als Marx, Engels und Feuerbach kritisierte Sören Kierkegaard die Hegel‘sche Philosophie. Dem Dänen ging es nicht um Fragen der Ökonomie und materiellen Lebensverhältnisse oder um die Abschaffung der Religion. Ausgehend von seiner eigenen Biographie war er vielmehr an einer authentischen Beschreibung des vereinzelten und nicht selten verzweifelten Individuums interessiert, das vergeblich in einen Dialog mit dem abwesenden und schweigenden Gott einzutreten versucht. Kierkegaard ebenso wie Feuerbach, Marx, Engels und die anderen Linkshegelianer standen Löwith zufolge mit ihrer Hegelkritik für jenen Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, der seither trotz vielfältiger Bemühungen nicht mehr zu kitten war. Die scheinbar selbstverständliche Einheit von
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Kapitel • Karl Löwith
Mensch und Welt, Individuum und Gesellschaft, Sinnlichkeit und Geist, wie sie noch für die Goethezeit charakteristisch war, ging damals unwiederbringlich verloren. Stattdessen wurden die Menschen auf das äußerlich-materielle (Marx, Engels), das innerlichreligiöse (Kierkegaard) oder das persönliche biologisch-geistige Fundament ihrer individuellen Existenz (Feuerbach) geworfen. Diese kulturelle Entwicklung habe dem Existentialismus ebenso wie dem anthropologischen Fragen im 20. Jahrhundert Vorschub geleistet. Daneben war es vor allem Friedrich Nietzsche, der laut Löwith mit seinem Denken den Schwenk hin zur Anthropologie und weg von einer im Geschichtsverlauf Sinn und Bedeutung suchenden Haltung der Menschen forciert hat. Zwar anerkannte Nietzsche, dass sich der Mensch anders als das Tier, das »kurz angepflockt an den Pflock des Augenblicks« sein Dasein fristet, erinnern kann und daher einen historischen Sinn entwickelt hat. Der Mensch solle sich jedoch durch eine kritische und monumentalische Historiographie von der toten Geschichte emanzipieren, um nicht von Ereignissen, Denk- und Handlungsweisen angeleitet, gehemmt oder erdrückt zu werden, die längst passé sind. Im Gegensatz zu Hegel und manchen seiner Schüler, die von einem zielgerichteten Ablauf der Historie ausgingen, die entweder in die Selbstbewusstwerdung des Geistes (Hegel) oder die klassenlose Gesellschaft (Marx, Engels) münden werde, vertrat Nietzsche ein zyklisches Geschichtskonzept. Wie einige Denker der griechischen Antike war auch er überzeugt, dass die Menschheitshistorie nicht auf Fortschritt oder gar Erlösung hin angelegt ist. Statt die Geschichte auf eine religiöse Art und Weise eschatologisch (auf die letzten Dinge gerichtet) zu begreifen, müsse man ihr Auf und Ab ähnlich wie die Bewegungsgesetze von Natur und Kosmos als Wiederkehr des ewig Gleichen interpretieren. Wichtiger noch als in Bezug auf seine Geschichtstheorie wurde Nietzsche für die Moderne aufgrund seiner fundamentalen Moralkritik. Im Rückblick auf fast zwei Jahrtausende Christentum stellte er fest, dass es sich dabei um eine Religion handelte, welche die Werte einer Sklavenmoral
(Armut, Keuschheit, Gehorsam, Demut, Unterwerfung) predigte. Parallel dazu kam es zur Entwertung jener Tugenden, die in der griechischen und römischen Antike hochgeschätzt wurden (Mut, Stolz, Durchsetzungsvermögen, Tapferkeit und Seelengröße). Nietzsche sah die Notwendigkeit, diese vitalitätswidrige Verkehrung von Gut und Böse rückgängig zu machen, die er für dekadent hielt. Wolle man am kulturellen Aufschwung arbeiten, müsse man der Ethik der Antike wieder höhere Bedeutung beimessen und darüber hinaus neue Werte und Tugenden (Fernstenliebe, Vornehmheit, intellektuelle Redlichkeit, Pathos der Distanz, Liebe zur Welt und zum Leben, Bejahung der Sinnlichkeit und der vernünftigen Eigenliebe) schaffen, welche das Wachstum und die Höherentwicklung von Individuen hin zum Übermenschen induzieren können. Nachdem Nietzsche sogar den Tod Gottes verkündet hatte, war jener Schlussstein entfernt, welcher den Bogen der abendländischen Moral seit Jahrtausenden stabil gehalten hatte. Auf Gott beriefen sich kirchliche wie weltliche Herrscher und Institutionen, wenn sie ihre jeweiligen Wertbegriffe legitimieren wollten. Gibt es keinen Gott mehr, fehlt die letztgültige Begründung für eine Vielzahl von Wert- und Normvorstellungen, und damit geraten Sitten, Brauchtümer und Rechtsordnungen in Erklärungsnot:
» Was Nietzsche voraussah, indem er zurücksah, war die Heraufkunft des europäischen Nihilismus, welcher besagt, dass nach dem Verfall des christlichen Glaubens und somit auch der Moral nichts mehr wahr und darum alles erlaubt ist … Diesen europäischen Nihilismus hat Nietzsche … in allen Erscheinungsweisen der Modernität, die »nicht aus und ein weiß«, mit psychologischer Meisterschaft philosophisch sichtbar gemacht: in Moral und Politik, Philosophie und Religion, Literatur und Musik (Löwith 1987, S. 455).
«
Nihilismus lässt sich in zweierlei Bedeutung verstehen: als Symptom des Niedergangs, aber auch als Zeichen für notwendige Enttäuschung und Ernüchterung, aus denen ein neuer Wille zum Dasein erwachsen kann. Für Löwith war Nietzsche zweifelsfrei in diesem letzteren Sinne zu interpretieren,
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Werkanalyse
und in diesem Sinne fassten ihn in der Mehrzahl auch jene Denker im 20. Jahrhundert auf, die sich in ihren Abhandlungen zur Anthropologie und Ethik auf Nietzsche und seine Formel vom Tod Gottes beriefen. Nietzsche wollte den Menschen durch seine Lehre von Geschichte und Moral neu in der Natur und im Kosmos verankern und beheimaten. Wenn der Mensch sich wieder in die kosmischen Gesetze einfüge und sich nicht in den unwegsamen Labyrinthen religiöser Geschichts- und Moralvorstellungen verliere, gewänne er die Eigenschaften der natürlichen Welt inklusive der Unschuld des Werdens für sich zurück. Vor allem der eigene Leib als die »ältere Vernunft« könnte dann wieder als Ort potentiellen Wohlbefindens und der Lebensfreude definiert werden. Mit solchen Gedanken wurde im 19. Jahrhundert neben den Linkshegelianern auch Nietzsche zum wichtigen Vorläufer und Ideengeber für die Anthropologie. Dass im 20. Jahrhundert derart nachhaltig die Natur und das Wesen des konkreten leibhaftigen Menschen erforscht wurden, lag Löwith zufolge an der von Nietzsche (und vor ihm bereits von Arthur Schopenhauer) erfolgreich ins Werk gesetzten Rehabilitierung eben dieses Menschen mitsamt seiner materiell-biologischen Existenz. z
Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen
Löwith hat nicht nur die geistesgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert beschrieben, die zum Aufkommen anthropologischer Fragestellungen einige Jahrzehnte später beigetragen hat. Daneben lieferte er – zum Beispiel in seiner Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen – eigene Beiträge zur philosophischen Anthropologie, in denen er mit Hilfe der phänomenologischen Vorgehensweise die Natur des Menschen zu erkunden suchte. In Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen nahm Löwith die Ausführungen Heideggers in Sein und Zeit (1927) zum Ausgangspunkt für seine eigenen Überlegungen. Ihm war aufgefallen, dass sein Lehrer einen Gesichtspunkt der menschlichen Existenz nicht genügend gewürdigt hatte, den Löwith als essentiell ansah: die Sphäre der Zwi-
schenmenschlichkeit. Heidegger hatte zwar viele Aspekte des Daseins bedacht und sie als Existentialen und Modi der Existenz (Sorge, Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Gestimmtsein, Ich-selbst-Sein und Man-selbst-Sein, Verfallen an die Welt, Rede und Gerede) eindrücklich beschrieben. Die sozialen Bezüge aber handelte er unter den Schlagworten des Mitseins und der Fürsorge nur kurz ab. Löwith hingegen erachtete die Bezugnahme des Einzelnen auf seine Mitmenschen als einen außerordentlich wichtigen konstitutiven Faktor, welcher die Frage nach dem Wesen des Menschen entscheidend mitbestimmt. Er sah sich diesbezüglich in Übereinstimmung mit Ludwig Feuerbach, der schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Bedeutung des Anderen für die Entwicklung des Einzelnen hingewiesen hat: Der Mensch wird nur am Du zum Ich. Diese Grundthese untermauerte Löwith anhand weitläufiger und tiefsinniger Reflexionen. Menschen existieren stets in einem Verhältnis zur Welt, und sie sind die einzigen Lebewesen, die dieses Verhältnis in zweifacher, ja sogar dreifacher Richtung erleben und gestalten: als Verhältnis zu anderen Menschen (Mitwelt), zu Dingen, Natur und Kosmos (außermenschliche Welt) und zu sich selbst. Nur unter Berücksichtigung dieser dreifachen Relation kann der Mensch nach und nach sein Wesen entdecken und über seine Natur etwas aussagen. Löwith zitierte in diesem Zusammenhang Verse aus Goethes Torquato Tasso (1790):
»
Inwendig lernt kein Mensch sein Innerstes Erkennen; denn er misst nach eignem Maß Sich bald zu klein und leider oft zu groß. Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, nur Das Leben lehret jedem, was er sei.
«
Im Hauptteil seiner Habilitationsschrift unternahm Löwith eine Analyse des Miteinanderseins. Er griff dabei auf den Strukturbegriff Wilhelm Diltheys zurück, der davon ausging, dass das menschliche Seelenleben sinnvoll und ganzheitlich gegliedert ist. Das bedeutet, dass verschiedene Elemente zusammengenommen eine Totalität bilden und sich dabei gegenseitig stützen und beeinflussen. Löwith übertrug diesen Gedanken auf die Mitwelt und erläuterte deren Eigentümlichkeit:
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Kapitel • Karl Löwith
»
Im Unterschied zu Etwas anderem sind die anderen dadurch ausgezeichnet, dass sie von derselben Seinsart, in derselben Weise da sind wie ich selbst. Unbeschadet dessen, dass sie andere sind, sind sie doch Meinesgleichen (Löwith 1981a, S. 65).
«
Der Mensch ist ein Jemand und kein Etwas, und ein Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Menschen besteht nur, wenn sie sich als Personen und Subjekte begreifen und entsprechend behandeln. Leider definieren Menschen einander nicht selten als bloße Mittel zum Zweck oder als Sachen, die man kaufen, mieten, gebrauchen oder auch missbrauchen kann. Damit pervertieren sie die Ich-Duzu Ich-Es-Beziehungen und verfehlen die Grundvoraussetzung der Zwischenmenschlichkeit und der personalen Interaktion. Ein weiteres Merkmal der Mitwelt ist das Phänomen der Sprache. Menschen werden in eine Sprachwelt hineingeboren und darin sozialisiert. Selbst wenn die konkreten sprachlichen Verlautbarungen im Alltag dürftig und monoton sind, verweisen Worte und Begriffe, aber auch Mimik, Gesten, Körperhaltung und sogar das Schweigen ständig auf die Anwesenheit oder zumindest die prinzipielle Existenz der anderen. Anhand einzelner Wörter lernen wir nicht nur die Bezeichnung für Dinge oder Verhältnisse kennen. Sie eröffnen uns vielmehr einen ganzen Horizont von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen, die seit Generationen von Menschen geschaffen, tradiert und verändert wurden. In diesen zwischenmenschlichen und zugleich kulturellgeistigen Nexus werden wir hineingeboren, und er wird jedes Mal bestätigt, wenn wir hören, sprechen, lesen und schreiben. Eine besondere Form der Kommunikation ist das Spiel von Frage und Antwort. Je intensiver und offener gefragt und geantwortet wird, umso intimer werden der Dialog und damit die Beziehung der Gesprächspartner. Solange der Andere für uns eine Frage darstellt, ist er interessant und neu. Gilt er hingegen als ein fragloses Faktum, sterben Zuwendung und Sympathie für ihn ab. Liebe und Freundschaft zeichnen sich durch lebendiges Fragen und Antworten aus. Nietzsche hat daher zu Recht eine
gelingende Ehe als ein lang dauerndes Gespräch charakterisiert. Der Andere als Mitmensch wird jedoch nicht nur im konkreten zwischenmenschlichen Dialog erfahrbar. Auch im Kontakt mit der Kultur lässt sich erspüren, dass in der Fülle ihrer Zeichen, Symbole und Sprachen (Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Recht, Wirtschaft, Politik, Sitte, Brauchtum, Mythologie, Religion) das Wirken der gesamten Menschheit nachweisbar ist. Aus Kunstwerken sowie Erkenntnissen des Alltags und der Wissenschaft sprechen Einzelne, Gruppen und Epochen zu uns und erinnern uns, dass jede kulturelle Leistung aus dem sozialen Miteinander entspringt. So wird der Mitmensch zur regelrechten Matrix für das Leben des Individuums, wie gleichzeitig der Einzelne sich immer in der Rolle des Mitmenschen befindet, selbst wenn er sie zu leugnen und sein eigenes Dasein in der exklusiven Einsamkeit zu fristen versucht. Das soziale Band zwischen den Menschen ist gleichsam unauflöslich und macht eines jener wenigen Wesensmerkmale aus, das Löwith nicht nur vielen einzelnen Individuen, sondern dem Menschen universell zugeschrieben hat. z
Mensch und Welt
Als Löwith in den 60er Jahren ein Vorwort für die Neuauflage von Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen verfasste, merkte er kritisch an, dass er drei Jahrzehnte nach der Erstpublikation den Schwerpunkt seiner damaligen Untersuchung nun anders legen würde. Zwar habe er die Bedeutung des Mitseins als Anthropinon (Wesenseigentümlichkeit des Menschen) richtig erfasst, was in den danach erschienenen Büchern von Martin Buber (Ich und Du), Paul Christian (Das Wesen der Bipersonalität), Alfred Schütz (Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt) oder Frederik Buytendijk (Das Menschliche) bestätigt worden ist. Er habe es damals aber versäumt, das Verhältnis von Ich und Du in den Zusammenhang des Verhältnisses von Mensch und Welt zu stellen. Die Mitwelt gewinne ihre wahre Proportion nur, wenn man sie vor dem Hintergrund von Natur und Kosmos betrachte. Dabei müsse man jedoch zugeben, dass »die eine und ganze Welt nicht eine Welt für den Menschen, und der vergängliche Mensch nicht
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das Ziel der gesamten, immerwährenden Schöpfung« ist. In späteren Abhandlungen wie Welt und Menschenwelt (1960) oder Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis Nietzsche (1967) hat Löwith diese Relativierung erläutert. Obwohl der Mensch das einzige uns bekannte Lebewesen ist, welches die Welt als Objekt erforschen kann, und in dem sich die Natur den Luxus gönnt, über sich nachzudenken, dürfe man dennoch nicht von einer Mittelpunktstellung der Gattung »Homo« sprechen:
» Welt und Menschenwelt sind nicht einander gleichgestellt. Die physische Welt lässt sich ohne eine ihr wesentliche Beziehung zum Dasein von Menschen denken, aber kein Mensch ist denkbar ohne Welt. Wir kommen zur Welt und wir scheiden aus ihr; sie gehört nicht uns, sondern wir gehören zu ihr. Diese Welt ist nicht nur eine kosmologische Idee (Kant) oder ein bloßer Total-Horizont (Husserl) oder ein Welt-Entwurf (Heidegger), sondern sie selbst, absolut selbständig (Löwith 1981b, S. 295).
«
Diese eine und ganze Welt, welche die Natur und den gesamten Kosmos in ihrer stummen Größe und Schönheit umfasst, empfahl Löwith in seinen Spätschriften als mögliche Orientierung für den Menschen. Nicht die Geschichte und ihr fraglicher Fortschritt können (wie dies Historiker im Nachgang zu Hegel, Marx und Engels propagierten) uns Menschen darüber aufklären, wer wir sind oder werden; wer derlei versuche, wirke wie ein verzweifelter Schiffbrüchiger, der sich vergeblich an den Wogen der Geschichte festhalten will. Löwith zufolge sind es vielmehr die natürlichen Verhältnisse und ihre Ordnung (griechisch: »Kosmos«), welche Richtschnur, Maß und Mitte unserer Existenz darzustellen vermögen. Der Philosoph plädierte zwar keineswegs für eine bloße Renaissance der Kosmologie der Griechen. Was ihm jedoch an deren Welt- und Selbstverständnis imponierte, war ihr selbstverständliches Eingefügtsein in die Natur. Analoges wünschte sich Löwith für das Menschenbild der Moderne, von dem er meinte, dass in ihm die materielle und biologische Basis der menschlichen Existenz keine angemessene Berücksichtigung findet:
»
Wir wissen zumeist nicht, wie tief und wie weit die Physis des leibhaftigen Menschen in seine bewusste Existenz hineinreicht. Kein Denken lässt sich erdenken, und die Gedanken kommen auch nicht aus einem leblosen und naturlosen Sein, das sich uns zudenkt und zuspricht. Wir müssen allem zuvor die Natur, die uns erzeugt hat, und den Zufall, dass wir zur Welt kamen, voraussetzen, damit sich ein Welt- und Selbstbewusstsein ausbilden kann (Löwith 1981c, S. 341).
«
Die systematische Geringschätzung von Materie und Bios führte Löwith zufolge in den letzten Jahrhunderten zu einseitigen anthropologischen Konzepten wie auch zu einer schiefen Ontologie oder Metaphysik. Die beiden letzten Begriffe stehen für die philosophische Disziplin einer Seinslehre, die sich mit der Frage nach dem Wesen des Seins generell (und nicht nur des Menschen) beschäftigt. z
Gott, Mensch und Welt
In Weltgeschichte und Heilsgeschehen (1949) hat Löwith ebenso wie in Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis Nietzsche (1967) auf die theologisch-religiösen Denkfiguren aufmerksam gemacht, die sich ins geschichtliche wie auch metaphysische Denken der Neuzeit eingeschlichen haben. Die Antworten auf ontologisch-metaphysische Fragen stützten sich in den letzten zweitausend Jahren weitgehend auf religiöse Welterklärungsansätze. In der griechischen Antike herrschte noch ein kosmotheologisches Weltbild vor, das von Löwith wohlwollender beurteilt wurde als das christlichreligiöse. Die vorsokratischen Denker sowie Sokrates, Platon und Aristoteles waren davon überzeugt, dass es das Universum immer schon gegeben hat, und dass dieses nicht die Schöpfung eines Gottes ist, sondern vielmehr selbst göttlich sei. Löwith zitierte zustimmend Heraklit, der über die Welt aussagte:
»
Diesen Kosmos hier vor uns, derselbe für Alles und Alle, hat weder einer der Götter erschaffen noch der Mensch. Er war schon immer, er ist und er wird sein. Sein Logosfeuer ist ewig aufflammend und wieder verlöschend nach festen Maßen (Heraklit: 30. Fragment, zit. nach Löwith 1986, S. 6).
«
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Kapitel • Karl Löwith
Die Griechen stellten sich die Götter nicht als transzendente, sondern als immanente Wesen vor, die sich in Naturgewalten zu erkennen gaben und ebenso wie die Menschen ins große Ganze des Alls eingebunden waren. Wenn sich die Letzteren an die universalen Ordnungsschemata hielten, erlebten sie die Welt mit ihren kosmischen Rhythmen als verlässliche Orientierung für ihr Dasein, und die Erde bedeutete ihnen Heimat und Harmonie. Als höchsten Wert empfanden sie die ewig kreisenden Gestirne, denen sie die vollkommenste Göttlichkeit zuerkannten. Mit dem Aufkommen des Christentums änderte sich dieses Erleben fundamental. Nun griff die bereits im Alten Testament beschriebene Überzeugung um sich, es gäbe einen Gott im Jenseits, der ewig existiert und in einem Schöpfungsakt die Welt bis hin zum Menschen erschaffen hat, welcher den angeblichen Gipfelpunkt der Schöpfung darstellt; er wird dementsprechend in der Bibel aufgefordert, sich die Erde untertan zu machen. Aufgrund solcher Glaubensartikel geriet die Beziehung zwischen Mensch, Gott und Welt in eine Schieflage. Aus der griechisch-antiken Gäo- und Kosmophilie erwuchs nach und nach eine Entwertung von Natur und Erde, bis diese als Jammertal erschien, wo ein trostloses Leben geführt werden musste. Weltentsagung und Weltüberwindung galten darum als hohe Werte und Tugenden der christlichen Religion. Die Situation änderte sich nochmals, als in der Neuzeit im Rahmen der Aufklärung durch Wissenschaften, Philosophie und Ideologiekritik die Menschen ihren Glauben an das Jenseits, den Schöpfergott und das ewige Leben zu verlieren begannen. Die Menschen der Moderne sind letztlich aus dem Seinsgefüge sowohl der kosmischen als auch der himmlischen Ordnung herausgefallen und haben kein Zentrum mehr. Diese Entwicklung wurde von Löwith im Detail erläutert, wobei er der Meinung war, die daraus resultierenden Konsequenzen seien im 20. Jahrhundert zum Hauptthema von Existentialismus und philosophischer Anthropologie geworden:
»
Wenn das Universum weder göttlich und ewig ist, wie es für Aristoteles war, noch vergänglich und geschaffen, wenn der Mensch überhaupt
keinen bestimmten Ort mehr innerhalb einer natürlichen oder übernatürlichen Ordnung hat, erst dann fängt er an, »inmitten« dieser ihm nicht mehr zugeordneten Welt ohne Bezugsmitte, ekstatisch, zu »existieren« (Löwith 1985, S. 262).
«
In Gott, Mensch und Welt verwies Löwith auf zwei Denker, deren Lehren imstande sind, Auswege aus der verfahrenen Situation des neuzeitlichen Menschen aufzuzeigen. Im Kapitel »Nietzsches Versuch zur Wiedergewinnung der Welt« erklärte er, inwiefern dessen Denken einen weltimmanenten Sinn schaffen könne. Zu den in diesem Zusammenhang zentralen Ideen des Philosophen zählte er die zyklische Geschichtstheorie (die Wiederkehr des ewig Gleichen), seine Umwertung aller Werte sowie dessen bedingungslose Bejahung des irdischen Lebens (»amor fati«) und der eigenen Leiblichkeit. Sodann gab es noch einen zweiten Denker, der eine konsequente Immanenzphilosophie entworfen hatte und damit die Welt als Heimat wiederzugewinnen trachtete, die im Gefolge des Christentums für die Menschen verlorengegangen war: Spinoza. Dieser stellte sich außerhalb der Tradition der Bibel und eröffnete mit seiner Formel »Deus sive natura« (Gott und die Natur sind eins) die Möglichkeit eines pantheistischen Erlebens des Alls, wie es vor ihm schon manche Philosophen der Antike propagiert hatten. Damit wurde er zu einem Vorläufer atheistischer Weltbilder ohne Hoffnung auf Sinngebung und Erlösung durch transzendente Mächte. Spinoza, den Löwith aufgrund seiner Immanenzphilosophie ähnlich hoch schätzte wie Nietzsche, war klug genug, nicht wie sein Nachfahre den Tod Gottes zu verkünden; im 17. Jahrhundert wäre dies einem Todesurteil für den Verkünder gleichgekommen:
» Vielleicht hat Spinoza nicht nur nicht alles gesagt, was er dachte, sondern auch gar nicht alles denken können, was für uns, die Erben der durch ihn eröffneten Religionskritik, kaum noch des Denkens und Sagens wert ist: dass überhaupt kein Gott ist – weder ein glaubwürdiger, noch ein denkwürdiger, weder ein anwesender noch ein abwesender … Spinozas Deus sive natura steht genau an der Grenze, an der das Vertrauen in Gott erlischt und der kritische Überschritt zur Anerken-
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nung eines gottlosen Weltalls geschieht, das ohne Zweck und also ohne »Sinn« oder »Wert« ist (Löwith 1986, S. 192f.).
«
z
Natur und Humanität des Menschen
Spinoza und vor allem Nietzsche haben, obwohl sie alle transzendenten Sinnquellen radikal in Frage stellten und strikt nur immanente Sinn- und Bedeutungseinheiten gelten lassen wollten, an der Idee der Humanität des Menschen festgehalten. Damit widerlegten sie jene religiösen Denker, die davon überzeugt waren, dass die Menschlichkeit massiven Schaden nehmen oder vollkommen verlustig gehen würde, sobald man sie von der überirdischen Göttlichkeit abkoppelt. Nur die Bewegung auf transzendente Mächte hin garantiere angeblich dem Menschen die Aufrechterhaltung seiner Humanität. Löwith vertrat diesbezüglich eine dezidiert andere Position. In Natur und Humanität des Menschen (1957) kritisierte er alle Versuche als verfehlt, das menschliche Wesen mitsamt seiner potentiellen Humanität an Göttern, transzendenten Ideen oder (wie bei Heidegger) am Sein festzumachen. Eine solche Tendenz sah der Autor übrigens auch in der Anthropologie von Max Scheler ansatzweise als gegeben. Der Mensch war für Löwith kein extramundanes Geschöpf und auch kein Ebenbild Gottes. Dennoch zeichnen ihn Eigenschaften aus, die ihn aus der übrigen Natur herausheben, ohne dass es dazu übernatürliche Einflussnahme braucht. So habe beispielsweise schon Johann Gottfried Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91) gezeigt, dass die Humanität, zu welcher der Mensch bestimmt sei, in ein und dieselbe Ordnung wie die gesamte Materie, Natur und Kultur gehöre. Auch Goethe wurde in diesem Zusammenhang vom Autor zitiert, der »seine ungewöhnliche Humanität nicht dem Studium der Geschichte verdankt, sondern seiner lebenslangen Bemühung um ein wahres Naturverständnis«. Als Hauptgewährsmann für eine in der Natur des Menschen und nicht im Göttlichen verankerten Humanität diente Löwith der bereits mehrfach erwähnte Friedrich Nietzsche. Dieser habe wie kein anderer vor ihm die überlieferte Idee des Menschen
und dessen Humanität bis an die äußerste Grenze in Zweifel gezogen, ohne sie jedoch preiszugeben. Und indem er den Menschen als das nicht festgestellte Tier bezeichnete, wies er ihm zugleich einen Platz im umfassenden Sein der physischen Welt zu. Mit Bejahung zitierte Löwith in diesem Zusammenhang einen Passus aus Nietzsches früher Schrift über Homer:
»
Wenn man von Humanität redet, so liegt die Vorstellung zugrunde, es möge das sein, was den Menschen von der Natur abscheidet und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung gibt es in Wirklichkeit nicht: Die »natürlichen« Eigenschaften und die eigentlich »menschlich« genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich (Nietzsche, zit. nach Löwith 1981d, S. 278).
«
Viele natürliche Vorgänge und Verrichtungen beim Menschen sind kulturell überformt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit denaturiert: Essen, Trinken, Schlafen, Verdauung, Ausscheidung, Bewegung, Ruhen sowie die Sexualität. Sein gesamtes Dasein führt er auf eine natürlich-kulturelle Art und Weise, bei der er alles Natürliche in Frage stellen, verändern oder sogar verneinen kann, ohne dass er jedoch den Horizont von Natur und Welt je hinter sich lassen könnte. Löwith erwähnte Hegel, welcher den Menschen als »negative Kraft des Geistes« charakterisierte; und Heidegger, der ihn als »Sorge um sein Ganzseinkönnen« beschrieb; und Sartre, der ihm schlicht attestierte, ein »Loch im Ganzen des Ansichseienden« zu sein. Mit dem Menschen kam ein Riss in die Natur, eine nicht heilen wollende Wunde und eine offene Frage, die sich dadurch auszeichnet, über alle Antworten erhaben zu sein:
»
Nach etwas fragen und es damit in Frage stellen, kann nur, wer über Gegebenes hinaus fragt. Wer etwas fraglos hinnimmt, kann es nicht suchend und untersuchend in Frage stellen. In Frage stellen lässt sich nur das, wovon man Abstand genommen hat. Wer aber fähig ist, von aller Naturgegebenheit, auch seiner eigenen, Abstand zu nehmen, ist nicht eindeutig eine Natur, sondern hat sie auf eine
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Kapitel • Karl Löwith
mehrdeutige Weise – in den von Natur aus gesetzten Grenzen (Löwith 1981d, S. 285).
«
Die Fähigkeit, Abstand zu sich, den Mitmenschen und zur Welt einnehmen zu können, ist auch die Voraussetzung dafür, dass Menschen ihr Dasein nicht nur leben, sondern gestalten. Diese Gestaltung ereignet sich zwischen den Polen von Selbstverwirklichung und Selbstverlust, Vollendung und Vernichtung. Gestaltend transzendiert der Mensch stets den Status quo, wobei es Löwith wichtig war zu betonen, dass das Woraufhin dieser Transzendenz innerhalb von Welt und Natur und nicht in einem Jenseits angesiedelt ist. Das Humane am Menschen sah er daher in der Möglichkeit gegeben, sich zu vervollkommnen: »Ein geglückter oder vollendeter Mensch, wie ihn Aristoteles in der Gestalt des »Großmütigen« und Nietzsche im Bild des »Wohlgeratenen« beschreibt, ist darum das Allerseltenste und doch die natürliche Norm alles menschlichen Strebens.«
Art so wirken, als wären sie von Denkern der griechischen oder römischen Antike verfasst, oder als hätten ihnen Autoren wie Montaigne, Goethe und Nietzsche Pate gestanden. In ihnen spürt man kontinuierlich eine leiseenergische Humanität, Liberalität, Skepsis und Toleranz, die bedeutend menschlicher wirken als das Pathos oder der Zynismus oder die nüchtern-kaltobjektive Sachlichkeit mancher zeitgenössischer Philosophen. Man kann daher vorbehaltlos mit der Beurteilung Hans-Georg Gadamers übereinstimmen, die dieser in seiner Autobiographie Philosophische Lehrjahre (1977) über seinen alten Freund und Weggefährten Löwith abgegeben hat:
» Karl Löwith war ein Mann von unverwechselbarer Eigenart … Ein unfasslicher Gleichmut schien ihn zu beseelen. In der Gleichmäßigkeit seiner Stimme, die sich kaum je zu dem leisen Nachdruck des Lehrers steigerte, war dieser Gleichmut wie leibhafte Gegenwart. Selbst wenn er auf dem Katheder sprach, war das fast eher ein ins Unendliche gehendes Selbstgespräch (Gadamer 1977, S. 231).
«
Conclusio Der Basler Religionshistoriker Franz Overbeck, den Löwith aufgrund seiner agnostischen und skeptischen Haltung zu Wissenschaft, Religion und Philosophie schätzte, definierte die Letztere einmal als »Mut zum Problem«. Wer wirkliches Denken und philosophische Reflexion erlernen wolle, müsse die seelisch-geistige Energie aufbringen, relevante, ins Zentrum eines Themas vordringende Fragen zu stellen und auf die dazugehörigen Antworten lange zu warten. In Löwiths Schriften begegnet man diesem Mut zum Problem. Wer sich den Luxus gönnt, Texte wie Von Hegel zu Nietzsche, Weltgeschichte und Heilsgeschichte, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Natur und Humanität des Menschen oder Welt und Menschenwelt intensiver zu studieren, wird mit einer Fülle von Anregungen sowie mit dem Erlebnis des soliden und souveränen Auslotens von philosophischen und anthropologischen Fragestellungen belohnt. Bei Löwith finden sich originelle, schnörkellose und hellsichtige Gedanken, die auf eine angenehme
Literatur Bormuth M, von Bülow U (Hrsg) (2008) Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise. Wallstein, Göttingen Braun H, Riedel M (Hrsg) (1967) Natur und Geschichte – Karl Löwith zum 70. Geburtstag. Kohlhammer, Stuttgart Gadamer H-G (1977) Philosophische Lehrjahre – Eine Rückschau. Klostermann, Frankfurt am Main Löwith K (Hrsg) (1962) Die Hegelsche Linke – Die Hegelsche Rechte, zwei Bände. Frommann-Holzboog, StuttgartBad Cannstadt Löwith K (1981ff.) Sämtliche Schriften in neun Bänden. Metzler, Stuttgart Löwith K (1981a) Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. In: Sämtliche Schriften 1. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1928) Löwith K (1981b) Welt und Menschenwelt. In: Sämtliche Schriften 1. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1960) Löwith K (1981c) Zur Frage einer philosophischen Anthropologie. In: Sämtliche Schriften 1. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1975) Löwith K (1981d) Natur und Humanität des Menschen. In: Sämtliche Schriften 1. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1957)
Literatur
Löwith K (1985) Wissen, Glaube und Skepsis. In: Sämtliche Schriften 3. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1956) Löwith K (1986) Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche. In: Sämtliche Schriften 9, Metzler, Stuttgart. (Erstveröff. 1967) Löwith K (1987) Nietzsche nach sechzig Jahren. In: Sämtliche Schriften 6. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1960) Löwith K (2001) Von Rom nach Sendai – Von Japan nach Amerika. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach Löwith K (2007) Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Metzler, Stuttgart (Erstveröff. 1940) Ries W (1992) Karl Löwith. Metzler, Stuttgart Wuchterl K (1995) Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Haupt, Bern
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Hans-Georg Gadamer Biographisches – 144 Werkanalyse – 146 Conclusio – 152 Literatur – 155
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Hans-Georg Gadamer
. Abb. 1 Hans-Georg Gadamer (*1900; †2002). (Foto: Philipp Rothe)
Die Hermeneutik gehörte neben der Phänomenologie, Lebens-, Sprach- und Existenzphilosophie zu den am meisten zitierten philosophischen Richtungen im 20. Jahrhundert. Vor allem Hans-Georg Gadamer und dessen Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) wurden einige Jahre derart breit besprochen, dass nicht zufällig der Begriff der Universalhermeneutik in Umlauf geriet. Was Hermeneutik heißt und welche Verbindungen zwischen ihr und der Anthropologie bestehen, wird im Folgenden erläutert (. Abb. 1).
Biographisches Hans-Georg Gadamer wurde 1900 in Marburg als zweiter Sohn seiner Eltern Emma und Johannes Gadamer geboren. Der Vater war ein angesehener Professor für pharmazeutische Chemie. 1902 erhielt er einen Ruf an die Universität Breslau, wo er bis 1919 lehrte. Anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Pharmazie in Marburg. Dort war er bis 1927 zeitweise als Rektor der Universität aktiv; er starb 1928. Bei aller väterlichen Strenge wuchs Hans-Georg wohlbehütet auf. In Breslau bewohnten die Gadamers eine komfortable Villa, wobei es selbstverständlich war, dass ihnen Personal die Verrichtungen des Alltags abnahm. Als 1912 der Untergang der Titanic in der Familie diskutiert wurde und der Vater darauf verwies, dass dabei so viele Menschen wie in einem großen Dorf umgekommen waren, kommentierte dies sein Jüngster mit der wenig einfühlsamen Bemerkung: »Ach, die paar Bauern!« Und beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs soll Hans-Georg ausgerufen haben: »Oh! Das ist fein!« – woraufhin ihm sein Vater in die Parade fuhr und meinte: »Du weißt nicht, wovon du redest!«
Mit achtzehn Jahren legte Gadamer seine Reifeprüfung am Gymnasium zum Heiligen Geist in Breslau ab. Wenige Wochen darauf immatrikulierte er sich an der dortigen Universität für Germanistik, wobei er während der nächsten drei Semester auch Sanskrit, Kunstgeschichte, Psychologie, Philosophie, Geschichte, Musikwissenschaft und Orientalistik studierte. Als sein Vater 1919 einen Ruf nach Marburg erhielt, folgte ihm sein Sohn und setzte in der Stadt an der Lahn seine Studien fort. Allerdings konzentrierte er sich nun auf das Fach Philosophie, das ihm anfänglich vor allem durch Paul Natorp und Nicolai Hartmann nahe gebracht wurde. Daneben besuchte er Vorlesungen beim Kunsthistoriker Richard Hamann (ein Schüler Wilhelm Diltheys und Georg Simmels) und beim Romanisten Ernst Robert Curtius. Die beiden Philosophen Natorp und Hartmann beeindruckten den jungen Studenten. Den Ersteren nannte er einen wunderbaren Schweiger, in dessen Gegenwart man verstummte, wenn man nicht etwas sehr Gewichtiges zu sagen hatte. Bei diesem Neukantianer hat Gadamer 1922 mit einer Arbeit über Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen promoviert – eine Dissertation, die er später selbstkritisch als wenig substanzvoll einschätzte. Ungezwungeneren Umgang hatte er mit Nicolai Hartmann, mit dem er häufig im Marburger Café Vetter saß, wo ihm der Ältere die Grundzüge seiner Kategorien- und Wertelehre auf den Caféhaustisch malte. Hartmann stand notorisch erst gegen Mittag auf, gab nachmittags seine Lehrveranstaltungen und lud abends gegen 21.00 Uhr Studenten (so auch Gadamer) zum Privatissimum. Ab Mitternacht entfalteten diese Treffen ihren ganz besonderen Glanz, und wenn man zu den Lieblingen des Professors zählte, durfte man mit ihm seinem Astronomiehobby frönen und durch sein Zeiß-Fernrohr die Sterne betrachten. Das Sommersemester 1921 verbrachte Gadamer in München, wo er bei den Phänomenologen Moritz Geiger und Alexander Pfänder Philosophie und bei Heinrich Wölfflin Kunstgeschichte studierte. Damals hörte er das erste Mal den Namen Martin Heideggers, und er traf auf Karl Löwith, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Kurze Zeit nach seiner Promotion befasste sich Gadamer nicht ganz freiwillig erneut mit Heideg-
Biographisches
ger. Damals grassierte in Marburg die Poliomyelitis (Kinderlähmung), von der auch der frischgebackene Dr. phil. erfasst wurde. Monatelang war er deshalb gezwungen, als Kranker in Isolation zu verbringen. Diese Zeit nutzte er, um ausführlich Texte von Edmund Husserl (die tausend Seiten der Logischen Untersuchungen) und Heidegger zu studieren. Die Krankheit verlief bei dem jungen Philosophen einigermaßen glimpflich. Allerdings blieb ihm als Residuum eine Schwäche des linken Beines, was dazu führte, dass Studienkollegen über ihn frotzelnd dichteten: »Der Gadamer, hinkt hinterher!« Weil die Rekonvaleszenz nur langsame Fortschritte machte, beschlossen Hartmann und seine Frau, die sich rührend um den Patienten kümmerten, dass dieser heiraten sollte; eine passende Gattin würde der Genesung sicherlich zuträglich sein. So kam es zur Heirat mit der zwei Jahre älteren Frida Katz, die Gadamer bereits aus Breslau kannte; seine Zustimmung zu dieser Ehe soll mehr passiver denn aktiver Natur gewesen sein. Zusammen mit seiner Frau wechselte der frisch Vermählte 1923 von Marburg nach Freiburg. Dort lernte er sowohl Heidegger als auch dessen Lehrer Husserl persönlich kennen. Von der Phänomenologie hatte der junge Student bereits 1920 durch Max Scheler einiges vernommen. Scheler hielt damals zwei Vorträge in Marburg, die auf Gadamer als »dämonische, ja beinahe satanische Ausführungen« wirkten. Verglich man Schelers Rhetorik mit Husserls Lehrveranstaltungen, schnitt der Letztere schlecht ab. Nüchtern, in sich versunken und stark monologisierend trug der Begründer der Phänomenologie seine Ideen vor, die bei den Zuhörern nur selten Begeisterung auszulösen vermochten. Die meisten wandten sich daher von Husserl ab und seinem Schüler Heidegger zu, der mehr noch als Scheler sein Publikum mittels seiner Vortragskunst in Bann zog. Auch Gadamer gehörte bald zur Fraktion jener Studenten, die sich um Heidegger scharten und von dessen Vorlesungen begeistert waren. Es gelang ihm, den Vortragenden auf sich aufmerksam zu machen, und innerhalb weniger Monate wurde er zum Meisterschüler, den Heidegger zusammen mit Frau Frida sogar für vier Wochen in seiner Hütte in
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Todtnauberg wohnen ließ. Als Heidegger 1923 nach Marburg berufen wurde, war es für Gadamer keine Frage, dass er ihm dorthin folgte. In der Stadt an der Lahn war Gadamer Hilfsassistent bei Heidegger und in dieser Rolle mit der Beschaffung von Büchern ebenso wie von Alltagsutensilien oder mit der Hörsaalbetreuung befasst. Anfänglich war der Meister noch zufrieden mit den Leistungen seines Adlatus. Nach und nach aber machte er seinem Unmut über das unzulängliche Wissen des Jüngeren Luft, und in einem Brief an ihn schrieb er: »Wenn Sie nicht genügend Härte gegen sich selbst aufbringen, wird nichts aus Ihnen.« Der erschütterte Gadamer beschloss daraufhin, ein zweites Mal zu studieren. Er inskribierte in klassischer Philologie, wozu ihm nicht nur Heidegger, sondern auch der Marburger Theologe Rudolf Bultmann geraten hatte. 1927 schloss Gadamer dieses Studium (unter anderem bei Paul Friedländer) mit der Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab, was von seinem philosophischen Mentor honoriert wurde. Nun war der Weg frei für eine Habilitation bei Heidegger, die 1929 mit einer Arbeit über Platons dialektische Ethik erfolgreich abgeschlossen wurde. Indes Gadamer sich einige Jahre der kulturellen Welt der Antike zuwandte, kümmerte sich seine im Vergleich zu ihm lebenslustigere Gattin Frida um gesellschaftliche Kontakte. Auf »halberotische Weise« (so Gadamer) knüpfte sie Beziehungen zu Freunden und Kollegen ihres Mannes, etwa mit den Philosophen Karl Löwith und Gerhard Krüger und Ende der 30er Jahre auch mit dem Romanisten Werner Krauss. Die Liaison von Frida mit Letzterem trug dazu bei, dass Gadamer in den 40er Jahren eine neue Partnerschaft mit der zwanzig Jahre jüngeren Studentin und späteren Assistentin Käte Lekebusch einging, die er 1950 ehelichte. Die 1926 geborene Tochter Jutta entstammte der gemeinsamen Ehe mit Frida; die Patenschaft für Jutta übernahm Karl Löwith. Nach seiner Habilitation arbeitete Gadamer als Privatdozent an der Marburger Universität. Die Studenten erlebten seine Gedankengänge in den Vorlesungen teilweise als so unverständlich, dass sie dafür eine neue Einheit (die »Gad«-Einheit) er-
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Kapitel • Hans-Georg Gadamer
fanden. Den Grad ihres Nicht-verstehens drückten sie von nun an in »Gads« aus – für den zukünftigen Großmeister der Hermeneutik durchaus eine Kränkung, wie er später in seiner Autobiographie Philosophische Lehrjahre (1977) zugab. In den folgenden Jahren bekleidete Gadamer mehrere Professuren: 1934 eine Vertretungsprofessur in Kiel; 1937 eine außerplanmäßige Stelle in Marburg; und 1939 eine ordentliche Professur in Leipzig, wo er bis 1947 blieb. Während dieser ganzen Zeit will er innerliche Distanz zum faschistischen Regime gehalten haben. Äußerlich aber verhielt er sich immerhin so geschickt, dass er im NS-Staat erfolgreich Karriere machte. In Philosophische Lehrjahre schrieb er über die letzte Phase des Dritten Reichs und die Tage des Volkssturms: »Wenn man sich einigermaßen vernünftig und unauffällig verhielt, war das Überleben nicht schwer (Gadamer 1977a, S. 122).« Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Gadamer zuerst Dekan der Philosophischen Fakultät und 1947 Rektor der Universität Leipzig. Zwei Jahre darauf übernahm er in Heidelberg den Lehrstuhl von Karl Jaspers, der einem Ruf nach Basel gefolgt war. In der Neckarstadt lehrte Gadamer bis zu seiner Emeritierung 1968 und behielt dort danach seinen Wohnsitz bei. Enge Kontakte pflegte er mit den Ärzten Viktor von Weizsäcker und Heinrich Schipperges sowie mit dem Philosophen Karl Löwith. Jahrelang war Gadamers Alltag durch umfangreiche administrative, organisatorische und didaktische Aufgaben geprägt, und so verwundert es nicht, dass er damals nur wenige größere schriftliche Arbeiten publizierte. Seine Stärke waren zunehmend das philosophische Gespräch und eine rege Vortragstätigkeit geworden. Dass es trotz vielfältiger Ablenkungen zur Abfassung des Hauptwerks Wahrheit und Methode (1960) gekommen ist, verdanken wir Käte Lekebusch, die ihren Gatten immer wieder zu konzentrierter schriftlicher Arbeit anhielt. Wahrheit und Methode ist sein einziges umfangreiches Buch mit zusammenhängendem Text geblieben. Gadamers andere Bücher – etwa Hegel, Husserl, Heidegger (1987), Griechische Philosophie I–III (1985–1991), Ästhetik und Poetik I–II (1993) sowie Hermeneutik im Rückblick (1995) – sind Montagen aus Vortragsmanuskripten und Essays, die
in einem Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten entstanden sind. Nach seiner Emeritierung 1968 lehrte Gadamer einige Semester als Vertreter des eigenen, vakant gewordenen Lehrstuhls. In den 70er Jahren gab er zusammen mit dem Mediziner Paul Vogler (der ihn als Arzt beriet) eine Neue Anthropologie in sieben Bänden heraus. Diese befassen sich mit Biologischer Anthropologie (Band 1 und 2), Sozialanthropologie (3), Kulturanthropologie (4), Psychologischer Anthropologie (5) und Philosophischer Anthropologie (6 und 7). Von 1985–1995 wurden im Verlag Mohr Siebeck in Tübingen die Gesammelten Werke Gadamers in zehn Bänden publiziert. Damit sind die meisten seiner Aufsätze und Manuskripte auch aus den 30er und 40er Jahren wieder verfügbar. In den letzten Jahren seines Lebens – Gadamer starb hochbetagt 2002 – veröffentlichte er noch verschiedene kleinere Texte, unter anderem die Bücher Gedicht und Gespräch (1990), Über die Verborgenheit der Gesundheit (1993) sowie Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung (1996). Auch als Vortragender und Interviewpartner blieb der Denker bis zu seinem Tod aktiv. Seit den 70er Jahren wurde Gadamer mit einer Reihe von Preisen und Ehrungen versehen: 1971 wurde ihm der Orden Pour le Mérite und der Reuchlin-Preis zuerkannt; 1979 erhielt er den Sigmund-Freud- sowie den Hegel-Preis; 1986 folgte der Jaspers-Preis, und 1993 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Daneben wurden ihm von mehreren Universitäten Ehrendoktorate überreicht.
Werkanalyse Der wesentlichste Beitrag Gadamers zur Philosophie, zur Analyse der menschlichen Existenz und damit auch zur Anthropologie liegt in seiner Ausarbeitung der Hermeneutik. Deshalb liegt hier der Schwerpunkt auf der Erörterung seiner hermeneutischen Schriften, vor allem auf seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960). Wahrheit und Methode, von Studenten und Kollegen liebevoll Wum genannt, entwickelte sich in den 60er Jahren zu einem Beststeller und ist inzwi-
Werkanalyse
schen zu einem Longseller geworden. In Deutschland kam es im Zuge der Studentenunruhen Ende der 60er Jahre zu einer regen Debatte über dieses Buch. Vor allem Karl-Otto Apel (geboren 1922) und Jürgen Habermas (geboren 1929) standen an der Spitze jener, die Gadamers Philosophie des Verstehens um ideologiekritische und psychoanalytische Positionen erweitern wollten. z
Geschichte der Hermeneutik
Die Tradition der in Wahrheit und Methode behandelten Hermeneutik reicht weit über Gadamer hinaus, und ihr Grundanliegen – das Verstehen von Zeichen, Symbolen, Texten, Sprachen, historischen Begebenheiten, Kunstwerken, anderen Menschen und nicht zuletzt der eigenen Person – ist beinahe so alt wie die Menschheit und ihre Kultur selbst. Dennoch lässt sich eine Geschichte der Hermeneutik im engeren Sinne nachzeichnen. So wurde bereits in der griechischen Antike im Umgang mit Mythen das Problem des Verstehens virulent. Die Griechen erkannten, dass sie mythologische Geschichten und Erzählungen nicht wörtlich, sondern allegorisch auffassen mussten, um sie richtig zu verstehen. So waren etwa die Auskünfte des Orakels von Delphi ausgesprochen interpretationsbedürftig. Allegorien zu deuten war eine der ersten Aufgaben, für die sich das griechische Volk den Götterboten Hermes zur Unterstützung erdichtete. Er sollte den Sterblichen die Botschaften und Taten der Götter verständlich machen und umgekehrt die Reaktionen der Irdischen an die Himmlischen weiterleiten. Im Begriff der Hermeneutik (das Griechische »hermeneuein« bedeutet soviel wie verstehen, auslegen und übersetzen) ist der Namen dieser mythologischen Gestalt mit enthalten. Eine Zuspitzung des Verstehensproblems soll sich nach Gadamer ergeben haben, als sich im Zuge von Luthers Protestantismus für die Gläubigen die Notwendigkeit ergab, Gottes Wort ohne Hilfestellung durch Priester auslegen zu müssen. Die Bibelexegese sei ein Paradebeispiel für die hermeneutische Tätigkeit geworden, und nicht ganz zufällig seien bedeutende Hermeneutiker wie Friedrich Schleiermacher und Rudolf Bultmann Theologen gewesen. Ausgehend von der Interpretation der Heiligen Schrift hat sich im Laufe der letzten Jahr-
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hunderte neben der philologischen auch der Zweig der theologischen Hermeneutik herausgebildet. Einer der Ersten, der im 19. Jahrhundert das Verstehen in einen wissenschaftstheoretischen Rahmen stellte, war Wilhelm Dilthey (1833–1911). Unter anderem mit seinen Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), seiner Schrift Die Entstehung der Hermeneutik (1900) sowie dem zusammenfassenden Band Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) profilierte er sich als neuzeitlicher Begründer einer verstehenden Methodenlehre. Ursprünglich wollte Dilthey ein methodologisches Fundament für die Geschichtswissenschaften formulieren. Bald stellte sich jedoch heraus, dass er mit seiner Hermeneutik eine Basis des methodischen Vorgehens für die Geistes- und Kulturwissenschaften generell skizziert hatte. Diese beschäftigen sich anders als die Naturwissenschaften mit individuellen und einmaligen und nicht mit regelhaften und allgemeinen Phänomenen. Naturwissenschaften generalisieren und formulieren Gesetzmäßigkeiten, wohingegen die Kulturwissenschaften individualisieren. Das Individuelle erfordert zu seiner wissenschaftlichen Erfassung einen eigenen Methodenkanon, für den eine verstehende Psychologie die Grundlage bilden sollte. Ausgehend davon gelangte Dilthey fast zwangsläufig auf hermeneutisches Terrain. Sein methodologisches Credo lautete sinngemäß: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben (und die Kultur) verstehen wir« – wobei sich das Verstehen nicht bloß auf einzelne psychische Funktionen bezog. Dilthey war vielmehr an der Erforschung größerer Zusammenhänge interessiert, die er im Seelenleben des Einzelnen ebenso wie in der Kultur vermutete. Das Ziel seiner Verstehensbemühungen war die Aufdeckung sogenannter Strukturen und der daraus entspringenden geistig-sozialen Leistungen. Für eine solche Psychologie, die tragende und formende Funktionen für die gesamten Wissenschaften vom Menschen übernehmen sollte, braucht es die Hermeneutik. Will man etwa eine geschichtliche Epoche oder ein literarisches Kunstwerk verstehen, muss sich der Interpret anders als in den Naturwissenschaften mit seinen persönlichen Urteilen, Erfahrungen
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und Neigungen in den hermeneutischen Prozess einbringen. Das Subjekt kann bei der Erforschung geisteswissenschaftlicher Themen nicht wie zum Beispiel in der Physik oder Chemie aus dem Forschungsgeschehen ausgeklammert werden, sondern bildet einen gewichtigen Bestandteil des wissenschaftlichen Verstehens. Um dem Vorwurf des Subjektivismus entgegenzuwirken, formulierte Dilthey Vorschriften, die jeder befolgen sollte, der hermeneutisch vorgehen will. Der zentrale Gedanke dabei lautete, dass das Verstehen ein zirkuläres Geschehen ist, dessen Bewegung keine Endpunkte kennt. Die Kunst und Technik des Verstehens könne nur erlernen, wer diesen hermeneutischen Zirkel akzeptiere, in den hineinzugelangen nicht immer leicht sei. Ihn viele Male zu wiederholen, erfordere außerdem ein hohes Maß an Geduld, Wissen und Können. Konkret müsse ein Interpret gedanklich mehrere Kreisbewegungen absolvieren: So solle er die einzelnen Elemente und Phänomene, die er beforsche, jeweils zum Ganzen seines Untersuchungsgegenstandes in Beziehung setzen und umgekehrt vom Ganzen zum Teil zurückkehren. Ähnliche zirkuläre Relationen bestehen zwischen dem Werk einerseits und der Weltanschauung seines Urhebers andererseits sowie zwischen dem Untersucher und seinem Forschungsobjekt. Die Beschäftigung mit Letzterem verändere den Ersteren, und dieser verstehe daraufhin neue Seiten an seinem Untersuchungsgegenstand. Um mittels Hermeneutik wissenschaftliche Ergebnisse und nicht lediglich individuelle Spekulationen zu generieren, forderte Dilthey die Geisteswissenschaftler auf, den hermeneutischen Zirkel mit aller nur erdenklichen Redlichkeit zu praktizieren. Ihm war daran gelegen, »Dämme gegen den Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität« zu errichten, und dementsprechend hochgesteckt waren seine Zielvorgaben, die jedem hermeneutischen Forschungsansatz zugrunde liegen sollten. Zu Diltheys Idealen im Hinblick auf das Verstehen zählte: 1) Hermeneutiker müssen die Resultate anderer Wissenschaftler bezüglich ihrer Forschungsthematik umfänglich kennen und schlüssig in ihre eigenen Interpretationen integrieren; 2) Hermeneutik darf sich nicht in Nebensächlichkeiten ergehen,
sondern soll das »eigentliche Objekt der Geisteswissenschaften, das Leben selbst« erschließen; 3) Letztes Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist es, Autoren, Künstler oder andere Menschen besser zu verstehen, als sie sich selbst verstanden haben. Trotz aller Versuche, die Hermeneutik im menschlichen Dasein zu verankern, blieb sie für Dilthey überwiegend ein methodisches Thema, mit dem sich Geistes- und Kulturwissenschaftler auseinandersetzen sollten. Eine Philosophengeneration nach ihm hat Heidegger das Motiv des Verstehens auf die Existenz des Menschen im Ganzen ausgeweitet. In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1923 (Hermeneutik der Faktizität) sowie in Sein und Zeit (1927) entwickelte er Gedanken zum Verstehen, welche die Hermeneutik als eine für alle Menschen existentiell relevante Problematik definierten:
» Die Hermeneutik hat die Aufgabe, … der Selbstentfremdung, mit welcher das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein (Heidegger 1975, S. 12).
«
Die hervorstechende Eigenschaft des Menschen ist seine Fähigkeit zur Selbst- und Weltdeutung: Der Mensch versteht sich als Verstehender. In Sein und Zeit bezeichnete Heidegger diese Fähigkeit als ein Existential (menschliche Wesenseigentümlichkeit). Sobald Menschen jedoch daran gehen, sich, andere oder die Welt zu verstehen, stoßen sie auf eine Fülle von Vormeinungen und -urteilen, die sie nicht ohne weiteres abstreifen können. Im Gegenteil: Heidegger zufolge gehört diese Vorstruktur wesentlich zu jedem Verstehensakt, und es sei eine Illusion zu glauben, dass man sich irgendwann voraussetzungslos, mit purem und nacktem Bewusstsein, der Natur, den Mitmenschen und den Dingen nähern könne. Weil in jedem Verstehensakt die Erfahrungen, der Charakter, die Erwartungen und die Lebensbedingungen des Verstehenden enthalten sind, sah es der Philosoph als eine hermeneutische Hauptaufgabe an, diese Vorbedingungen sowie das Vorverständnis des Menschen sich selbst betreffend durchsichtig zu machen. Dazu gehören zum Beispiel alle Vorentwürfe über das Objekt des Verste-
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Werkanalyse
hens, welche der Interpret in sich trägt, wenn er sich diesem zuwendet. z
Gadamers Universalhermeneutik
Als Gadamer im Sommersemester 1923 in Freiburg bei Heidegger studierte, kam er in Kontakt mit dessen Gedanken zur Hermeneutik, die ihn von da an nicht mehr losließen. Obwohl es über drei Jahrzehnte dauerte, bis er das Manuskript zu Wahrheit und Methode in Angriff nahm, kann dieses Buch als Fortsetzung Heidegger‘scher Verstehenskonzepte der 20er Jahre gelesen werden. Jene Fragen, welche der Lehrer damals nur angerissen und nicht weiter verfolgt hatte, bildeten für seinen Schüler den Stoff, woraus seine eigene Philosophie erwuchs. Ähnlich wie Heidegger wandte sich Gadamer gegen die von Dilthey vertretene Meinung, die Geistes- und Kulturwissenschaften hätten in der Hermeneutik eine Methode gefunden, die ihnen annähernd Objektivität und Allgemeingültigkeit gewähren könne. Verstehensprozesse ereignen sich weder im Bereich von Philosophie und Wissenschaften noch im Alltag auf dem Boden von Regelwerken. Mit methodischen Vorschriften die Aufgabe der Deutung und Auslegung von Kunstwerken oder Mitmenschen bewältigen zu wollen, führe lediglich zu sterilen Lösungen. Wesentliche Voraussetzungen für gelingendes Verstehen bilden Gadamer zufolge vielmehr Tugenden wie Takt, Geschmack, Gemeinsinn, Bildung und künstlerische Intuition. Im Eingangskapitel von Wahrheit und Methode zeigte er, welche Bedeutung diese Tugenden als humanistische Leitbegriffe für die Geisteswissenschaften (und das Alltagsleben) haben. Wer Kultur, Mitmenschen und sich selbst verstehen will, muss als Grundlage dafür eben diese zwischenmenschlichen und gefühlsmäßigen Fertigkeiten entwickeln. Statt einer Technik des Verstehens schwebte Gadamer also eine hermeneutische Einstellung vor, die eng mit der Persönlichkeit des Betreffenden verknüpft ist, und die mit Begriffen wie Selbst-, Menschen- und Weltkenntnis; Intuition, Empathie und Solidarität; Geduld, Vorsicht und Skepsis; weltanschauliche und geistige Unabhängigkeit; Vornehmheit, Würde und Stil skizziert werden kann. Doch selbst wenn Menschen derartige Eigenschaften aufweisen, sollten sie nicht meinen, die
Hürden des Verstehens überwunden zu haben. Für Gadamer war wie für Heidegger jede hermeneutische Bemühung stets mit Vormeinungen und -urteilen verknüpft. Wer zu verstehen sucht, ist der Beeinflussung durch eine Fülle von Vorannahmen ausgesetzt; die Qualität des Hermeneutikers besteht deshalb darin, sich dieser Voreingenommenheit bewusst zu sein, ohne sie je abstreifen zu können:
»
Eben hier liegt der Punkt, an dem der Versuch einer philosophischen Hermeneutik kritisch einzusetzen hat. Die Überwindung aller Vorurteile, diese Pauschalforderung der Aufklärung, wird sich selber als ein Vorurteil erweisen, dessen Revision erst den Weg für ein angemessenes Verständnis der Endlichkeit freimacht (Gadamer 1986, S. 280).
«
Gemeinhin wird angenommen, dass Vorurteile das Verstehen behindern, und in vielen Fällen lässt sich diese Annahme auch bestätigen. Nicht zuletzt deshalb kam es, wie Gadamer ein Kapitel in Wahrheit und Methode überschrieben hat, zur »Diskreditierung des Vorurteils durch die Aufklärung«. Daneben gibt es aber auch Vorurteile, welche das Verstehen eher befördern. So sei es in manchen Situationen sinnvoll, sich dem Vorurteil beispielsweise eines Lehrers, Fachmanns, Vorgesetzten oder anderer Autoritäten anzuvertrauen, um dadurch ein Grundverständnis für einen zu erlernenden Stoff zu entwickeln:
»
Die Vorurteile, die sie einpflanzen, sind zwar durch die Person legitimiert. Ihre Geltung verlangt Eingenommenheit für die Person, die sie vertritt. Eben damit werden sie zu sachlichen Vorurteilen, denn sie bewirken die gleiche Eingenommenheit für eine Sache, die auf andere Weise zustande kommen kann (Gadamer 1986, S. 285).
«
Vorurteile eignen uns Menschen wie eine zweite Haut; wir vermögen nicht, sie abzulegen, sondern nur, sie als wahr oder falsch zu differenzieren. Eine zentrale Frage der Hermeneutik lautet daher, wie wahre von falschen Vorurteilen zu trennen sind. Der Philosoph verwies diesbezüglich auf die Zeit und den Zeitenabstand, die es ermöglichen, Vormeinungen nach Jahren oder Jahrzehnten als falsch oder richtig zu klassifizieren. Darüber hinaus ge-
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stand Gadamer auch dem zwischenmenschlichen Dialog eine klärende, kritische und diskriminierende Funktion zu. Gadamer erachtete jedoch die Menschen als so unlösbar in das Denken und Empfinden des Zeitgeistes und der Wirkungsgeschichte eingebunden, dass ihre angeblich kritischen Urteile über vergangene Vorurteile ebenfalls schon wieder den Geruch von Vorurteilen an sich tragen. Einen archimedischen Punkt, von dem aus ein ungetrübtes Erkennen und Verstehen möglich ist, gibt es nicht; stattdessen sind alle Menschen stets mitten in eine Wirkungsgeschichte gestellt, die sie nur sporadisch begreifen und überblicken. Daher plädierte Gadamer dafür, die Macht der Wirkungsgeschichte anzuerkennen und nicht vergeblich zu versuchen, sie abzuschütteln. Weil Menschen in ihr und in jeweiligen Situationen existieren, ohne aus ihnen aussteigen und sie von außen beurteilen zu können, werden sie immer auf die Grenze ihres momentanen Wissens und Verstehens zurückgeworfen:
»
Wirkungsgeschichtliches Bewusstsein ist zunächst Bewusstsein der hermeneutischen Situation. Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, dass man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. Das gilt auch für die hermeneutische Situation (Gadamer 1986, S. 307).
«
Neben der Wirkungsgeschichte und den sich ändernden Situationen darf man nach Gadamer noch den Horizont berücksichtigen, vor dem der Gegenstand des Verstehens wie auch der Verstehende selbst angesiedelt sind. Mit Horizont meint man alltagssprachlich den Gesichtskreis, der alles umgreift, was von einem Punkt aus sichtbar ist. In der Philosophie wird seit Nietzsche und Husserl dieser Begriff verwendet, um die Gebundenheit des Denkens an seine endliche Bestimmtheit und das Schrittgesetz der Erweiterung des Gesichtskreises auszudrücken. In der hermeneutischen Situation treffen zwei Horizonte aufeinander: der eine, in welchem der
Verstehende lebt, und der andere, welcher dem Verstehensobjekt zugehörig ist. Je überlegener und weit dimensionierter der Horizont des Ersteren ausgebildet ist, je mehr er über sein Nahes und Gewohntes hinaussehen kann, umso leichter wird er den Horizont des Gegenüber wahrnehmen und sich in Maßen in diesen hinein versetzen können. Dabei verlässt er aber seinen eigenen Horizont nicht; vielmehr kommt es im günstigen Fall zu einer temporären und punktuellen Fusion von Perspektiven und Gesichtskreisen. Wirkungsgeschichte, Situation, Horizont – anhand dieser Begriffe wollte Gadamer seine Leser auf eine Art Überforderung aufmerksam machen, welche die Geschichte der Hermeneutik lange prägte. Dieses Problem ist dem Philosophen zufolge aus dem überzogenen Ideal eines grenzenlosen Verstehens und einer vollendeten Aufklärung erwachsen. Das geheime Ziel solcher Hermeneutik, die er bei Schleiermacher ebenso wie bei Hegel, Wilhelm von Humboldt und Dilthey vermutete, sei die »Aufhebung der eigenen Endlichkeit in der Unendlichkeit des Wissens«. Gadamer vertrat demgegenüber konsequent eine Hermeneutik der Begrenzung und der Endlichkeit. Er verglich zwar den Verstehensprozess mit einem lange währenden oder unendlichen Gespräch, dessen Spiel des Fragens und Antwortens immer wieder neu überraschende Perspektiven hervorbringt. So ausgiebig sich ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Gesprächspartnern aber auch entwickelt haben mag, bleiben sie letztlich doch immer mit einem Rest von ungelöstem Rätsel behaftet. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass alle Formulierungen, die von einem angeblich vollständigen Verstehen eines Textes oder einer raschen Übereinstimmung in zwischenmenschlichen Situationen berichten, unter den Verdacht von Missverstehen und Überschätzung hermeneutischer Potenzen fallen. Gadamer bezeichnete eine solche Art der Hermeneutik als naiv oder als eine Spielart des Dominanz- und Distanzstrebens:
» Der Anspruch, den anderen vorgreifend zu verstehen, erfüllt die Funktion, sich den Anspruch des anderen in Wahrheit vom Leibe zu halten (Gadamer 1986, S. 366).
«
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Werkanalyse
Wer derart zu verstehen vorgibt, hält sich nicht nur die Ansprüche des anderen vom Leibe – er bringt sich auch um das, was Gadamer die hermeneutische Erfahrung nannte. Unter Erfahrung verstand der Denker ein grundsätzlich negatives Erlebnis. So wie Arthur Schopenhauer meinte, dass Erfahrungen verlorene Illusionen sind, betonte auch Gadamer, dass man von Erfahrungen im eigentlichen Sinne nur sprechen könne, wenn sie den Erwartungen des Betreffenden zuwiderlaufen. Nur im Zusammenprall mit der widerständigen Realität oder im Zuge von Enttäuschungen mache man Erfahrungen. Als erfahren galt für Gadamer derjenige, dem die Ereignisse seiner Lebensgeschichte zu verändernden Erkenntnissen und Einsichten verholfen haben – wobei sich die Veränderungen sowohl auf die eigene Person als auch auf die Welt um sie her beziehen können. So oder so wird der Betreffende aber mit Begrenzungen konfrontiert, was Gadamer dazu verleitete, das Erleben der menschlichen Endlichkeit als die Erfahrung schlechthin zu bezeichnen, die in allen anderen als existentielle Tönung mitenthalten ist. Ausgehend von diesen Überlegungen erörterte Gadamer auch die hermeneutische Erfahrung. Bei ihr komme es ebenfalls zum aufrüttelnden Erlebnis der Widerständigkeit der Wirklichkeit, die sich dem Verstehenden hauptsächlich in zwei Formen präsentiert: als Erfahrung des Du sowie als Erfahrung der Überlieferung. Sowohl der Mitmensch als auch Bücher, Kunstwerke oder geschichtliche Epochen sind eigen und anders. Sie präsentieren sich dem Beobachter als mehr oder minder spröde Realität, in die er nur teilweise einzudringen vermag, und die ihn auf sich selbst zurückwirft. Am ehesten gelinge demjenigen ein verstehender Zugang zur Welt, der über eine fragende Einstellung verfügt. Gadamer betonte allerdings, dass nicht beliebige Fragen zum Verstehen beitragen. Im Alltag begegnen einem oberflächliche Fragen zuhauf, die kaum dazu dienen, Kunst, Kultur, Geschichte oder Mitmenschen wirklich kennenzulernen:
» Im Wesen der Frage liegt, dass sie einen Sinn hat. Sinn aber ist Richtungssinn. Der Sinn der Frage ist mithin die Richtung, in der die Antwort allein erfolgen kann, wenn sie sinnvolle, sinngemäße
Antwort sein will. Mit der Frage wird das Befragte in eine bestimmte Hinsicht gerückt (Gadamer 1986, S. 368).
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Als Beispiele für ein solches Fragen verwies Gadamer auf die sokratisch-platonischen Dialoge. Bei diesen Gesprächen ging es nicht darum, siegreich gegen jemanden anzuargumentieren. Vielmehr versuchten die Gesprächspartner stets, die Gedankengänge des anderen verstehend nachzuvollziehen und fragend ein gemeinsames Denken zu ermöglichen. Ziel der Dialoge war das Entdecken von Wahrheitspartikeln; dies geschah, wenn alle Beteiligten die Stärken einzelner Argumente hervorhoben, selbst wenn sie nicht die eigenen waren. Die Platonischen Dialoge lehren, dass sich jedes Fragen und Antworten und alle Verstehensakte im Medium der Sprache ereignen. Selbst jene Momente, in denen man in einem stummen Blick oder einer vielsagenden Geste des Gegenüber meint, etwas von ihm verstanden zu haben, sind nach Gadamer von Begriffen eingerahmt und durchsetzt. Sobald man interpretierend über diese Blicke oder Gesten nachdenkt, setzt dies sprachliche Kompetenzen voraus. Indem Menschen Sprachen lernen und in ihnen leben, sind sie automatisch in Kulturen mit allen ihren Vernunft- und Sinnanteilen, aber auch mit allen ihren Sinnwidrigkeiten und Absurditäten eingewoben. Hermeneutik im Medium der Sprache hat zum Ziel, sich potentiell am Verstehen der gesamten Welt und der Summe von Sinn, Wert und Bedeutung zu versuchen. Die Sprachen und Symbolbereiche der Menschen und damit ihre Verstehenskapazitäten haben sich im Laufe der Geschichte immer weiter ausdifferenziert, und dementsprechend plädierte Gadamer dafür, Leben, Mitmenschen, Kultur und letztlich den ganzen Kosmos als Themen der hermeneutischen Bemühungen zu begreifen. Ein solches Unterfangen bezeichnete er als Universalhermeneutik. Dieses universale Verstehen-Wollen wird zwar Mal um Mal von der Begrenztheit einzelner Verstehensakte, von der wirkungsgeschichtlichen Situation, den individuellen Vorurteilen und nicht zuletzt von der Sprache selbst limitiert. Doch trotz dieser Limitierungen plädierte Gadamer für ein Festhalten an der Aufgabe des Verstehens. Denn
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mit jedem auch noch so kleinen sprachlich-hermeneutischen Fortschritt festigt der Mensch seine Zugehörigkeit zur Sphäre von Freiheit, Vernunft und Humanität und trägt damit zu seiner Selbstaufklärung bei. Die bisherige Geschichte ihres Fragens und Verstehens weist die Menschen als exquisite Sinnsucher aus, die immer wieder Dimensionen von Wert und Bedeutung erkennen und benennen wollen, selbst wenn sie zugeben müssen, dass ihr Dasein stets vom Einbrechen des Sinnwidrigen und Absurden bedroht ist. Das Verstehen ihres Woher und Wohin und das Benennen ihres Wesens, die Hermeneutik ihrer Existenz treibt sie um, seit das Spiel der Evolution sie hervorgebracht hat, und sie wird erst enden, wenn die Gattung Homo irgendwann einmal in der stummen Weltnacht des Kosmos untergeht. Sinnverstehen und damit einhergehend Suche nach Wahrheit und Vernunft sind die eigentlichen und tiefgründigen Aufgaben der Menschheit schon seit Jahrtausenden. Daher definierte Gadamer seine Form der Hermeneutik als ein existentielles und anthropologisches Thema und nicht nur als methodologisches Problem der Geistes- und Kulturwissenschaften.
Conclusio Was haben nun Gadamers Ausführungen zur Hermeneutik mit der Heilkunde und medizinischen Anthropologie zu tun? Der Philosoph hat auf diese Frage vor allem in seinem 1993 publizierten Buch Über die Verborgenheit der Gesundheit Antworten formuliert. Außerdem finden sich im Eingangskapitel zu seiner Neuen Anthropologie (Band 1) Hinweise auf die gegenseitige Beeinflussung von Hermeneutik, Medizin, Philosophie sowie Anthropologie. Darin betonte Gadamer, man müsse sich von der Vorstellung lösen, mit Hilfe der Wissenschaften und Philosophie ein Menschenbild entwerfen zu können, das unverrückbar richtig und stabil ist. Allein das Faktum der Vorurteilsgebundenheit und Geschichtlichkeit aller Meinungen und Urteile lasse eine solche Hoffnung von vorneherein als illusionär erscheinen.
Des Weiteren machte der Autor darauf aufmerksam, dass in allen Wissenschaften vom Menschen und seiner Kultur implizit immer anthropologische Vorannahmen und Einstellungen mitschwingen, welche die konkrete wissenschaftliche oder soziale Praxis entscheidend prägen. Wir können uns zum Beispiel keinerlei Formen der Heilkunde ausmalen, die ohne derlei meist unausgesprochene Menschenkunde auskommen. So trägt jeder pflegend oder ärztlich Tätige im Gesundheitswesen Maßstäbe hinsichtlich Leib, Seele, Krankheit, Gesundheit, Lebensqualität, ArztPatienten-Beziehung, gegenseitiger Hilfe, Heil und Heilung und vieler anderer Aspekte in sich, die sein konkretes Tun und Lassen enorm beeinflussen. Fließen diese unreflektiert und unkorrigiert in seinen beruflichen Alltag ein, entstehen nicht selten Situationen, in denen sich Patienten zu Recht beschweren, sie stießen auf zu wenig Verständnis und Menschlichkeit innerhalb der Medizin. Hermeneutik im Sinne Gadamers kann dem Einzelnen helfen, seine anthropologischen Vorannahmen bewusster werden zu lassen und damit einer eventuell nötigen Korrektur anheimzustellen. Ähnlich wie die von Francis Bacon initiierte und im 19. Jahrhundert favorisierte Ideologiekritik (Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche) sorgt die Hermeneutik dafür, die Rahmenbedingungen jeglichen Denkens und Handelns (Zeitgeist, gesellschaftliche, ökonomische, geschichtliche, politische Gegebenheiten; persönliche Faktoren wie Charakter, Stimmung, Lebensentwurf) transparenter zu machen. Damit wirkt sie als …
» kritisches Maß, das das Handeln des Menschen von vorschnellen Wertungen und Abwertungen befreit und seinen Zivilisationsweg an sein Ziel erinnern hilft, der – sich selbst überlassen – weniger und weniger ein Weg zur Beförderung der Humanität zu werden droht. So dient die Wissenschaft über den Menschen dem Wissen des Menschen von sich selbst und seiner Praxis (Gadamer 1972, S. XXXVI).
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Hermeneutik ist für die Heilkunde und medizinische Anthropologie jedoch noch in anderer Hinsicht relevant. Seit dem Aufkommen von Psycho-
Conclusio
analyse, Tiefenpsychologie und Psychosomatik einerseits sowie von Existenzphilosophie und Sozialpsychologie andererseits tendiert die anthropologische Betrachtung des Menschen dazu, alles an ihm als Formen des Ausdrucks und der Kommunikation aufzufassen. Dies betrifft auch und vor allem den menschlichen Leib. Wir können uns keinen Zustand und keinen Moment im Dasein eines Menschen vorstellen, in denen der Betreffende nicht mit seiner Umund Mitwelt in irgendeiner Art kommuniziert. Selbst wenn der Einzelne schläft, schweigt, sich abwendet oder in die Einsamkeit flüchtet, drücken sein Blick, seine Körperhaltung, der Turgor und die Durchblutung seiner Haut oder die schlichte Tatsache seiner Abwesenheit etwas aus. In solchen Situationen kommuniziert der Betreffende vorwiegend expressiv und appellativ, nicht aber sonderlich informativ. Diese Begriffe verwendete der Wiener Psychologe und Sprachforscher Karl Bühler, um verschiedene Dimensionen der menschlichen Kommunikation zu beschreiben. Expressionen (Ausdruck) und Appelle (Aufforderungen an die Umwelt) werden von den Mitmenschen zwar wahrgenommen und intuitiv mehr oder minder korrekt eingeordnet – ihr Informationsgehalt aber ist in der Regel diffus. Der Mensch kann nicht nicht-kommunizieren – so lautet die oft zitierte Formel der Kommunikationsforscher. Der Mitteilungscharakter der menschlichen Existenz ist dabei leiblich begründet und in vielen Fällen expressiver und appellativer Natur. Da der menschliche Leib vielschichtige Ausdrucksmöglichkeiten aufweist (Blässe, Erröten, Zittern, Blutdruck- und Herzfrequenzschwankungen, Hüsteln, Seufzen, Obstipation), die sich als vegetativ gesteuerte Phänomene kaum willkürlich modulieren lassen, kommuniziert jedermann nolens volens mit seinen Mitmenschen, selbst wenn er keine Worte gebraucht. Besonders Affekte, Stimmungen, Atmosphären sowie Zustände von An- und Entspannung teilen sich auf diesem nonverbalen Weg wirkungsvoll mit. Weil der menschliche Leib (der beseelte und eventuell vergeistigte Körper) in gewisser Weise wie ein »Lied ohne Worte« erscheint (so der Titel einiger lyrischer Klavierstücke von Felix Mendelssohn-Bartholdy), gab es in der Vergangenheit
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immer wieder Versuche, das Expressive und Appellative an ihm mittels systematischer Kategorien zu interpretieren. So kann man Ernst Kretschmers Körperbau und Charakter (1921) als Typenlehre einordnen, die allein an der organischen Konstitution von Menschen (leptosom, athletisch, pyknisch) deren Gangart, Weltanschauung und Temperament erahnen und in begriffliche Informationen übersetzen wollte. Die Tiefenpsychologie und Psychosomatik ging in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts diesbezüglich differenzierter vor. Freud, Adler und ihre Schüler versuchten ebenso wie etwa Franz Alexander, Viktor von Weizsäcker oder Arthur Jores, in den körperlichen Zuständen ihrer Patienten individuelle Mitteilungen zu erkennen, die unter Umgehung der gesprochenen Sprache lebensgeschichtliche oder charakterliche Details der Betreffenden offenbaren. Die diesem Vorgehen zugrundeliegende tiefenpsychologische und psychosomatische Hauptthese lautet, dass sich das Unbewusste eines Menschen des Leibes bedient, um sich auszudrücken. Anders formuliert: Das Unbewusste ist der Leib, und alle seine Wünsche, Begierden und Triebimpulse, Ängste, Affekte, Kränkungen und Konflikte, aber auch die Lebensgeschichte eines Individuums sowie seine Ziele, Werte und Zukunftsentwürfe werden daher zu einem erheblichen Teil nicht wörtlich, sondern körperlich zum Ausdruck gebracht. Besonders jene Aspekte der Existenz, welche das eigene Selbstbild massiv in Frage stellen und als anstößig oder ängstigend erlebt werden, fallen häufig aus dem Rahmen der sprachlich-bewussten Kommunikation. Sie werden nicht mehr gelebt, sondern unbewusst geleibt – wie es der Daseinsanalytiker Medard Boss formuliert hat. Diese exkommunizierten Anteile des Daseins tragen oftmals wegen der mit ihnen einhergehenden vegetativen Dysbalance zur Entstehung körperlicher Krankheiten bei. Die Pioniere der Psychosomatik (Georg Groddeck, Helen Flanders Dunbar, Franz Alexander) setzten ihren Ehrgeiz darein, an den somatischen Symptomen ihrer Patienten deren existentielle Nöte und psychosoziale Belastungen wie vom Blatt abzulesen. Vor allem Groddeck glänzte diesbezüglich mit zügellos phantasievollen und symbol-
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trächtigen Interpretationen, indes Alexander sich mit seinem Spezifitätsmodell darauf beschränkte, einzelnen körperlichen Krankheiten spezifische seelische Konflikte zuzuordnen. Die Psychosomatik am Anfang des 21. Jahrhunderts ist skeptisch geworden in Bezug auf eine fixe Koppelung von körperlichen Symptomen und psychosozialen Inhalten, die darin unbewusst zum Ausdruck gebracht werden sollen. Was sie jedoch anerkennt ist die Möglichkeit und oftmals auch die Notwendigkeit, in den Krankheitszuständen von Patienten deren individuellen Sinn- und Bedeutungsgehalt zu erkennen und – falls gewünscht – mit den Betroffenen zu besprechen. Denn Gesundheit wie Krankheit eines Menschen sind eingebettet in dessen Lebensgeschichte und spiegeln deren Rahmenbedingungen und Verlauf wieder. Genetische Ausstattung, Konstitution, biologische Matrix, Familienkonstellation, ökonomische und ökologische Einflüsse, Erziehung und Bildung, politische und historisch-gesellschaftliche Gegebenheiten und Prozesse, Triebschicksal und Charakterstruktur, Weltanschauung, soziale und kulturelle Verhältnisse, Belastungen durch Umweltgifte und Erreger aller Art, Erfahrungen mit Eros und Sexus sowie die individuelle Wert- und Normorientierung – sie alle und weitere Faktoren verschränken sich beim Einzelnen und ermöglichen dessen Krankheit und Gesundheit. Ausgehend von derart komplexen Bedingungsgefügen wird rasch deutlich, dass der Medizin im Allgemeinen und den konkreten Ärzten im Besonderen eine immense hermeneutische Aufgabe zufällt, sofern sie ihre Patienten umfassend verstehen wollen. Alle Ärzte – nicht nur Psychiater, Psychotherapeuten und Psychosomatiker – sind aufgerufen, zumindest in Ansätzen jene Verstehensarbeit in Angriff zu nehmen, die unweigerlich auf sie zukommt, sobald sie sich die Dimensionen des Humanen in der Medizin vor Augen führen:
»
Denn der Mensch ist nicht nur ein Naturwesen, sondern auch sich selbst und anderen geheimnisvoll fremd, als Person, als Mitmensch, in Familie und Beruf, mit unzähligen unwägbaren Einwirkungen und Einflüssen, Belastungen und Problemen. Da gibt es noch ganz andere Unverständlichkeiten als die zu erforschenden Gesetzlichkeiten des
Naturgeschehens, die eine hoch entwickelte Forschung mehr und mehr ans Licht bringt. Nun, mit dem Unverständlichen und mit dem Verstehen der Unberechenbarkeiten des seelisch-geistigen Lebenshaushaltes des Menschen hat es die Kunst des Verstehens zu tun, die man Hermeneutik nennt (Gadamer 1993, S. 202f.).
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Gadamer sprach in seinem Werk mehrfach von Universalhermeneutik, um zu verdeutlichen, dass nicht nur einige wenige Geisteswissenschaftler, sondern alle Forscher, Künstler, Philosophen, Techniker, Juristen, Lehrer, Erzieher, Psychologen und Ärzte, die sich mit dem Menschen und seiner Kultur beschäftigen, unwillkürlich mit dem Thema des Verstehens konfrontiert sind. Gadamer selbst wählte aufgrund seiner konservativen Lebens- und Weltanschauung eher harmlose kulturelle Bereiche aus, an denen er sein Verstehenskonzept demonstrieren konnte: Lyrik und die schönen Künste, altphilologische und philosophiegeschichtliche Fragestellungen sowie die Mythologie und Theologie waren jene Disziplinen, in denen er sich mit seiner Hermeneutik am heimischsten fühlte. Eine universale Hermeneutik der menschlichen Existenz bedeutet unserer Ansicht aber auch, sich um das Verstehen von gesellschaftlich, historisch und politisch brisanteren Phänomenen zu bemühen: soziale und ökonomische Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung, Patriarchat, Imperialismus, Chauvinismus, religiöser und politischer Fanatismus und Fundamentalismus, Krieg, Militarismus, Aberglauben, staatliche und kirchliche autoritäre Hierarchien, Erziehungs- und Bildungsdefizite. Zu derlei Themen hat sich der Großmeister des Verstehens kaum geäußert. Wer jedoch als Arzt, Psychologe, Psychotherapeut oder einfach nur als Mitmensch seine Patienten und Zeitgenossen umfassend verstehen will, muss unweigerlich einige oder viele dieser Phänomene bei seinen hermeneutischen Bemühungen berücksichtigen, selbst wenn ihn dies in Distanz und Kontrast zur Majorität der »Insider« bringen sollte. Es steht zu vermuten, dass Gadamer aus Sorge, zum »Outsider« werden zu können, die delikateren Problemfelder der Universalhermeneutik nicht aktiv bearbeitet hat.
Literatur
Literatur Gadamer H-G (1972) Theorie, Technik, Praxis – die Aufgabe einer neuen Anthropologie. In: Neue Anthropologie Band 1, Biologische Anthropologie. Thieme, Stuttgart Gadamer H-G (1977a) Philosophische Lehrjahre. Klostermann, Frankfurt am Main Gadamer H-G (1977b) Selbstdarstellung. In: Philosophie in Selbstdarstellung III, hrsg. von Pongratz L. Meiner, Hamburg Gadamer H-G (1986) Wahrheit und Methode, Band 1 und 2. Mohr Siebeck, Tübingen (Erstveröff. 1960) Gadamer H-G (1993) Hermeneutik und Psychiatrie. In: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Suhrkamp, Frankfurt am Main Gadamer H-G (1999) Gesammelte Schriften in 10 Bänden (1985–1995). Mohr, Tübingen Grondin J (1991) Einführung in die philosophische Hermeneutik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Grondin J (1999) Hans-Georg Gadamer – Eine Biographie. Mohr Siebeck, Tübingen Habermas J (1988) Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1968) Heidegger M (1975) Hermeneutik der Faktizität. In: Gesamtausgabe Band 63. Klostermann, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1923) Ineichen H (1991) Philosophische Hermeneutik. Alber, Freiburg Orozco T (2004) Platonische Gewalt – Gadamers politische Hermeneutik der NS-Zeit. Argument, Hamburg (Erstveröff. 1995) Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien Tietz U (2005) Hans-Georg Gadamer zur Einführung, 3. Aufl. Junius, Hamburg
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Simone de Beauvoir Biographisches – 158 Die Totalität der Welt – 159 Das andere Geschlecht – 161 Das Alter – 165 Conclusio – 168 Literatur – 169
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Simone de Beauvoir
. Abb. 1 Simone de Beauvoir (*1908; †1986) und Jean-Paul Sartre am Denkmal von Balzac. (Quelle: Wikipedia)
De Beauvoir galt nach der Publikation von Das andere Geschlecht (1949) als eine der wichtigsten existentialistischen Schriftstellerinnen weltweit. Zusammen mit ihrem Buch über Das Alter (1970) lässt sich diese Autorin aber auch als philosophische Anthropologin lesen. In den beiden Werken behandelte sie zwei zentrale und universell vorkommende Merkmale von Menschen: dass sie ein Geschlecht besitzen und dass sie altern. Dabei zeigte sie, wie sehr beim Menschen diese Merkmale durch Kultureinflüsse modifiziert werden (. Abb. 1).
Biographisches Simone de Beauvoir wurde 1908 als älteste Tochter des Anwalts George de Beauvoir und seiner Frau Françoise, einer Bibliothekarin, in Paris geboren. Zwei Jahre nach ihr kam die Schwester Hélène zur
Welt. Der konservativ gebildete Vater hatte viel Zeit und las den Kindern gerne vor; er wählte die klassische Literatur Frankreichs, von der er umfangreiche Partien auswendig wusste. Auch die Mutter hatte Bildungsinteressen, die allerdings bei der täglichen Sorge um das prekäre Wohl der Familie unterdrückt wurden. Ähnlich wie Jean-Paul Sartre entdeckte Simone in ihrer Jugendzeit, dass Lesen und Schreiben Freiheitsräume eröffnen, in die sie mit Begeisterung vorstieß. Ihr ganzer Lebenshunger ergoss sich damals in die Literatur, von der sie in den höchsten Tönen schwärmte. Mit Hilfe ihrer Lektüre eroberte sie sich Wissen und Empfindungen von persönlicher Macht sowie Überschaubarkeit und Gestaltbarkeit der Welt. Weil andere Formen der Expansion für sie kaum zur Verfügung standen, konzentrierte sie sich auf die Themen des Lernens, der intellektuellen Ausbildung sowie der aktiven und passiven Teilhabe an Literatur. De Beauvoir wohnte bis zu ihrem Abitur bei ihren Eltern; erst in den Jahren 1925 bis 1927, als sie ihr Studium der Philologie am Institut Sainte-Marie, der Mathematik am Institut Catholique sowie der Philosophie an der Sorbonne aufgenommen hatte, konnte sie für sich konkrete Freiheitsgrade erobern. Sie war so streng erzogen worden, dass sie es bereits als Revolte erlebte, wenn sie es während der Zeit ihres Studiums wagte, Nachtlokale von Montparnasse aufzusuchen. Innerlich hatte sie jedoch schon früh eine Emanzipationsbewegung vollzogen. Mit etwa vierzehn Jahren verlor sie ihren Kinderglauben und war von da an überzeugt, dass es keinen Gott und kein ewiges Leben gibt. Der Himmel war für die junge Frau nun leer, und sie war zutiefst erschüttert, aber auch wachgerüttelt, als sie eines Nachmittags die Entdeckung machte, dass sie »zum Tode verurteilt« (also sterblich) war. 1929 bereitete sie sich an der École Normale Supérieure (ENS) auf die Lehrerlaubnis für Philosophie vor. Zur selben Zeit studierten an dieser Eliteschule auch Maurice Merleau-Ponty, Claude Lévy-Strauss, Raymond Aron, Georges Canguilhem, Paul Nizan und Jean-Paul Sartre, die alle über ein beträchtliches Wissen sowie Lust am Debattieren verfügten und bei de Beauvoir sowohl Neid als auch Bewunderung auslösten.
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Die Totalität der Welt
Vor allem Sartre zog Simone in seinen Bann. Dieser kleine, schielende und auf den ersten Blick fast hässliche junge Mann faszinierte seine Umgebung, sobald er zu reden begann. Für die weitere Entwicklung de Beauvoirs war es von großer Bedeutung, dass sie mit Sartre bald eine Liebesbeziehung einging. Ihre Partnerschaft gestalteten sie alles andere als konventionell: Sowohl bezüglich ihrer gegenseitigen intellektuellen und literarischen Förderung als auch hinsichtlich Treue und Monogamie sprengte dieses Paar viele hergebrachten Vorstellungen. So hatten sie einen Pakt geschlossen, der eine offene Beziehung mit intimen Seitenund Nebenliebschaften als normal vorsah. Von 1929–1943 war de Beauvoir als Lehrerin für Philosophie tätig. In den ersten beiden Jahren begnügte sie sich mit Privatstunden und einer halben Lehrverpflichtung in Paris. Von 1931–1932 unterrichtete sie in Marseille, wohingegen Sartre in Le Havre als Philosophielehrer angestellt war. Von 1932–1936 folgte eine Lehrtätigkeit in Rouen, und von 1936–1943 lehrte de Beauvoir Philosophie am Lycée Molière sowie am Camille Sée in Paris. Mit Sartre zusammen entdeckte sie die damals moderne Literatur, wie sie von Hemingway, Dos Passos oder Faulkner repräsentiert wurde. Diese Autoren beschrieben die Welt auf eine anschauliche Art, die zum Maßstab für ihre eigene künftige Schriftstellerei wurde. Darüber hinaus begeisterten sich beide für die eigentümliche Romanwelt Kafkas, deren Atmosphären sie als typisch für das Lebensgefühl in Europa im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einstuften. In den Jahren 1933 und 1934 weilte Sartre in Berlin, um sich die Phänomenologie Edmund Husserls anzueignen. De Beauvoir besuchte ihn dort und begann, sich ebenfalls mit Phänomenologie zu beschäftigen. Aus dieser Lektüre erwuchsen ihre ersten philosophischen Abhandlungen: Pyrrhus und Cinéas (1944), Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (1947), Moralischer Idealismus und politischer Realismus (1948) sowie Der Existentialismus und die Volksweisheit (1948). De Beauvoir kreierte keine eigenständige Philosophie, beteiligte sich aber intensiv an der Entwicklung jener Gedankengebäude, die unter dem Schlagwort des Existentialismus bekannt wurden. Mit Begriffen wie Freiheit, Verantwortung, Ent-
wurf, Subjekt, Blick des anderen – Begriffe aus der Philosophie Sartres – begann sie, ihre eigene Situation und die ihrer Mitmenschen zu beschreiben, wobei sie darauf abzielte, die Totalität des Individuums und seiner Welt zu begreifen.
Die Totalität der Welt Die Totalität der Welt – das waren für de Beauvoir in den 30er Jahren europäische und nordamerikanische Literatur, Philosophie, Kunst und Beziehung zu Künstlern, das Quartier Montparnasse mit seinen Lokalen, das Café Flore und die Jazzkeller. Was ihr damals fehlte, war ein politisches Bewusstsein. Selbst im faschistischen Berlin der Jahre 1933/34 wurde ihre gesellschaftliche Neugierde nicht sonderlich geweckt. Dies änderte sich mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Nachdem sich de Beauvoir zuerst noch zögernd für die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs und für den Kampf gegen das Franco-Regime interessiert hatte, war ihr nach dem September 1939 bewusst geworden, dass eine bloße Weiterführung ihres Lebens nicht mehr möglich war. Während der deutschen Besatzungszeit von 1940–1944 blieb de Beauvoir in Paris. Zusammen mit Sartre, der 1941 aus der deutschen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, knüpfte sie neue Beziehungen, so zu Albert Camus, Jean Genet, Alberto Giacometti und Pablo Picasso. Neben existentialistisch-philosophischen Themen spielten für sie damals ideologische und historische Fragen eine entscheidende Rolle. Vor allem die Bedeutung von Sozialismus und Kommunismus für die Bekämpfung totalitärer Regime und für die Gestaltung einer humaneren Gesellschaft erregte ihre Gemüter. Aus de Beauvoir wurde eine Frau, die politische Kategorien in ihr Denken und Handeln integrierte. Dies machte sich auch in den Motiven ihrer schriftstellerischen Aktivitäten bemerkbar. 1943 war sie aus dem Schuldienst entlassen worden. Seit dieser Zeit arbeitete sie als freie Schriftstellerin; im selben Jahr veröffentlichte sie ihren Roman Sie kam und blieb, der persönliche Nöte und Schicksale thematisierte.
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Kapitel • Simone de Beauvoir
Ihr nächster Roman Das Blut der anderen (1945) befasste sich mit der deutschen Okkupation und dem französischen Widerstand. Einen nochmaligen Schwenk hin zur politischen und damit zur engagierten Literatur (wie Sartre diese Art von Schriftstellerei nannte) unternahm de Beauvoir nach 1945 als Mitarbeiterin der Zeitschrift Les Temps Modernes. In diesem von Sartre und Merleau-Ponty gegründeten Periodikum publizierte sie philosophische und kulturkritische Essays. De Beauvoir begann, sich für Nord- und Südamerika, Nordafrika, die UdSSR sowie für den nahen und fernen Osten zu interessieren. Es ist erstaunlich, in wie viele staatliche, ökonomische, historische, ideologische und ethnische Fragestellungen sie sich in den folgenden zwei Jahrzehnten eingearbeitet und auf welch abenteuerlichen Reisen rund um den Globus sie ihre Überlegungen an konkreten Eindrücken überprüft hat. Die meisten Reisen unternahm de Beauvoir mit Sartre zusammen. 1947 allerdings besuchte sie alleine Nordamerika. Bald lernte sie dort den Schriftsteller Nelson Algren (1909–1981) kennen, mit dem sie aufgrund ihrer weltanschaulichen und künstlerischen Übereinstimmungen geistige Verwandtschaft verspürte. Es entstand eine transatlantische Liebe, die zu Briefen und Fahrten von Algren und de Beauvoir über den Ozean führte. Im Reisetagebuch Amerika Tag und Nacht (1948) hielt die Autorin viele ihrer Eindrücke aus den USA fest. Die bedeutendste Leistung de Beauvoirs jener Zeit war zweifellos ihr Werk Das andere Geschlecht (1949). Dieses Buch löste weltweit heftige Reaktionen aus und wurde partiell massiv attackiert. Man titulierte es als Brechmittel, mit dem die Autorin die Grenze der Verkommenheit erreicht habe: Männerfressende Suffragette und Amazone, welche die eine Hälfte der Menschheit gegen die andere aufzubringen versuche, waren noch die harmloseren Urteile über de Beauvoir, deren Text vom Vatikan auf den »Index der verbotenen Bücher« gesetzt wurde. In den 50er und 60er Jahren kümmerten sich de Beauvoir und Sartre um politische Probleme und Konflikte, die nicht nur Europa betrafen, sondern zum Teil Globus umspannend waren. Sie reisten nach Afrika, Russland, Kuba, Brasilien, Japan und China, wo sie Kontakte mit Intellektuellen und
Politikern suchten, die wirtschaftlichen, sozialen und historischen Gegebenheiten der Länder studierten und überall da, wo sie auf Ungerechtigkeiten stießen, diese in Artikeln und Essays kenntlich machten und die dafür Verantwortlichen öffentlich beim Namen nannten. Ein besonderes Engagement entwickelten die beiden im Hinblick auf den Algerienkrieg. Frankreich war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bereit gewesen, seine Kolonie in die Unabhängigkeit zu entlassen. Ab 1954 kämpften die Algerier mit Waffen für ihre Loslösung von Frankreich, was aber erst 1962 nach vielen Opfern gelang. Während dieser Zeit ergriffen de Beauvoir und Sartre wiederholt Partei für die Algerier. Im Jahr des Beginns der militärischen Auseinandersetzungen in Algerien veröffentlichte de Beauvoir ihren Roman Die Mandarins von Paris (1954). Für diesen Text über die französischen Linksintellektuellen, denen die Autorin darin ein literarisches Denkmal gesetzt hat, erhielt sie den »Prix Goncourt«, den höchsten Literaturpreis Frankreichs. Eine herausragende politische Rolle übernahmen de Beauvoir und Sartre im Rahmen des Russell-Tribunals 1967. Bertrand Russell hatte mit einigen Dutzend weiteren Intellektuellen dieses Tribunal in Stockholm initiiert, um die Kriegsverbrechen der Amerikaner während des Vietnam-Krieges zu untersuchen. 1970 trat de Beauvoir noch einmal als wissenschaftliche Autorin mit sozialem und humanitärem Anspruch auf: Damals veröffentlichte sie Das Alter. Mit diesem Text hatte sie Anschluss gefunden an ihre Studie über Das andere Geschlecht. Ähnlich wie in ihrem ersten Hauptwerk gelang es ihr auch mit dieser Schrift, persönliche Betroffenheit mit einer Fülle von Fakten und philosophischer Reflexion zu verknüpfen. Noch bewegender liest sich Die Zeremonie des Abschieds (1981), worin de Beauvoir das Siechtum und Sterben Sartres schilderte. Nach seinem Tod 1980 brach sie zusammen und verbrachte einige Wochen in einem Krankenhaus. Allmählich erholte sie sich, wobei sie die Erschütterung, die sie durch das Ableben ihres Partners erlitten hatte, mit jener Strategie beantwortete, die sie seit ihrer Jugend kannte: Sie schrieb.
Das andere Geschlecht
Das dabei entstandene Manuskript (Die Zeremonie des Abschieds) wurde der letzte Part jener autobiographischen Schriften, die de Beauvoir seit 1958 herausgegeben hatte: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause (1958), In den besten Jahren (1960), Der Lauf der Dinge (1963) sowie Alles in allem (1972). Zu dieser beeindruckenden Autobiographie gesellen sich eine Reihe von Brief- und Tagebuchbände, welche das Leben der Autorin authentisch widerspiegeln. De Beauvoir starb 1986 im 78. Lebensjahr in Paris.
Das andere Geschlecht Der Titel des ersten Hauptwerks de Beauvoirs ist in der deutschen Übersetzung mit dem Untertitel Sitte und Sexus der Frau versehen worden. Dafür lassen sich gute Gründe namhaft machen. Ergänzend kann man Das andere Geschlecht jedoch auch als eine Abhandlung über Sitte und Sexus des Menschen lesen. Zwar hat de Beauvoir aus einer weiblichen Perspektive heraus viele Aspekte der Frauenrolle während der letzten 2500 Jahre abendländischer Kulturentwicklung beschrieben. Dabei dachte sie aber gleichzeitig derart aufschlussreich über die MannFrau-Beziehung sowie über die Gestaltung von Liebe und Sexualität nach, dass es gerechtfertigt erscheint, von einem Buch für beide Geschlechter zu sprechen. Der französische Originaltitel dieses Werks lautet Das zweite Geschlecht, womit deutlicher als im deutschen Titel auf die entwertende Rangfolge der Frauen im Vergleich zu den Männern angespielt wird. Das Neuartige an diesem Text lag in der Synthese von Psychoanalyse, Marxismus und Existentialismus. Mit Hilfe dieser drei Perspektiven sowie unter Rückgriff auf wissenschaftliche Ergebnisse aus Medizin, Biologie, Soziologie und Geschichte gelang der Autorin eine universelle Standortbestimmung der Frau im 20. Jahrhundert. Seit Menschengedenken gelten Frauen in fast allen Kulturen als das negative Gegenbild des Mannes, der im Kontrast zu ihnen als Lichtgestalt erscheint. Ziemlich prägnant wurde diese Polarisierung schon in der Frühzeit der abendländischen Kultur von Pythagoras zum Ausdruck gebracht, der
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nicht nur der Urheber des pythagoreischen Lehrsatzes, sondern auch folgender grandioser Weisheit ist: »Es gibt ein gutes Prinzip, welches die Ordnung, das Licht und den Mann, und ein schlechtes Prinzip, welches das Chaos, die Finsternis und die Frau geschaffen hat.« Bedenkt man, dass vor und nach Pythagoras hunderttausendfach solche und andere Vorurteile über das weibliche Geschlecht verbreitet wurden, kann man die Höhe und Steilheit jener Hürden und Klippen erahnen, vor die sich jede anthropologische Klärung des Wesens von Mann und Frau gestellt sieht. Dieses Thema muss erst aus dem Umfeld regelrechten Wahnsinns auf die Ebene wissenschaftlicher Erforschung und philosophischer Reflexion verpflanzt werden, bevor vernünftige und realitätsadäquate Urteile darüber erwartet werden können. Mit eben einer solchen nüchternen Standortbestimmung eröffnete de Beauvoir ihre Untersuchung in Das andere Geschlecht. Im ersten Kapitel referierte sie Erkenntnisse der damaligen Biologie, sofern sich diese mit Männlichkeit und Weiblichkeit bei den verschiedenen Tierarten befasste. Ausgehend von biologischen Befunden haben sich in der Vergangenheit diverse Metaphern im Hinblick auf die menschlichen Verhältnisse etabliert, die in der Regel irreführend waren. So wurde und wird die Frau nicht selten mit dem Ovulum (Eizelle) identifiziert, das passiv die heranstürmenden männlichen Samenfäden erwartet und von ihnen penetriert wird; oder man assoziiert mit den Frauen die Affenweibchen, die sich schamlos kokettierend den Männchen immer wieder anbieten und entziehen. De Beauvoir anerkannte voll die biologischen Gegebenheiten und die Unterschiede zwischen Mann und Frau, war aber überzeugt, dass die anatomischen, physiologischen und hormonellen Besonderheiten nicht ausreichend verständlich machen, warum die Frau seit Jahrhunderten als das andere, das zweitrangige Geschlecht taxiert wird. Weil der Mensch nicht nur ein Geschöpf der Natur, sondern auch der Kultur ist, wird alles an ihm – und damit auch seine Geschlechtlichkeit – durch kulturelle Traditionen und Selbstgestaltungen modifiziert. Eine nur biologisch orientierte Anthropologie ermöglicht weder eine umfassende Sicht auf Mann und Frau noch auf den Menschen generell:
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Der Körper der Frau ist eines der wesentlichsten Elemente für die Situation, die sie in der Welt einnimmt. Aber andererseits genügt er auch nicht, um sie zu definieren; er besitzt keine erlebte Wirklichkeit außer durch das Bewusstsein, das ihn durch Handlungen und im Schoße der Gesellschaft einnimmt; die Biologie reicht nicht aus, um uns die Antwort auf die uns beschäftigende Frage zu geben: Warum ist die Frau die Andere? Es geht darum zu wissen, … was die Menschheit aus dem Menschenweibe gemacht hat (de Beauvoir 1987a, S. 50).
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Mögliche Antworten auf diese Fragen formulierte unter anderem die Psychoanalyse. Aufgrund ihres tiefenpsychologischen Konzepts und ihres ideologie- und kulturkritischen Potentials verfügte diese eigentlich über gute Voraussetzungen für eine realistische Theorie der Weiblichkeit. Allein – Sigmund Freud und die meisten seiner Schüler (auch diejenigen weiblichen Geschlechts) nutzten diese Chance schlecht. Der Begründer der Psychoanalyse nahm zwar an, dass viele seelische und womöglich auch körperliche Störungen und Erkrankungen auf Triebschicksal, Erziehung und biographische Einflüsse zurückzuführen seien. Hinsichtlich der weiblichen Psyche jedoch machte er beinahe ausschließlich die Biologie zum alleinigen verantwortlichen Faktor. Für ihn legten die weibliche Anatomie und nicht die individuelle Biographie oder die kollektiven Kultureinflüsse den Charakter und das Schicksal einer Frau fest. Ihre seelischen Eigenschaften und Mängel wurden von ihm im Wesentlichen auf das Fehlen des Penis zurückgeführt. Der Penisneid galt für Freud als Urtatsache, woraus die angebliche Neigung der Frau zu Infantilismus, Masochismus und Narzissmus abzuleiten sei. Obwohl de Beauvoir die Psychoanalyse grundsätzlich wertschätzte, entwickelte sie merkliche Skepsis in Bezug auf Freuds Äußerungen über die weibliche Charakterologie. Zu Recht hielt sie ihm vor, dass er mit seinen Ausführungen die Frau als verstümmelten Mann (und damit erneut als die Andere, die Uneigentliche) auffasste. Obwohl er und seine Schüler viele Details des »typischen Frauenlebens« richtig beschrieben hatten, war die
dahinter angelegte psychoanalytische Theorie der Weiblichkeit ihrer Meinung nach falsch. Als dritte Perspektive untersuchte de Beauvoir den Gesichtspunkt des historischen Materialismus. Sie anerkannte, dass Karl Marx und Friedrich Engels in ihren Schriften als erste die Entwertung von Frauen im Zusammenhang mit der Unterdrückung des Proletariats herausgearbeitet hatten. In der Folge hat dann August Bebel in Die Frau und der Sozialismus (1883) viele ihrer Erkenntnisse in einem klassischen Text vereinigt. Autoritäre Staatsformen und Weltanschauungen (Diktaturen, Absolutismus, Feudalismus, Totalitarismus) haben in der Vergangenheit nicht nur Frauen unterdrückt, sondern auch Sklaverei, Ausbeutung der arbeitenden Volksmassen, hierarchische Religionen und Vorurteile aller Art (Antisemitismus, Homosexuellenphobie) ausgebrütet. Im autoritären Weltbild bedarf man der Frau, um den Mann als Inhaber von Macht, Göttlichkeit und Herrschaft zu einem Idol stilisieren zu können. Die Väter des Sozialismus meinten daher zu Recht, dass man die Frauenfrage nur im Rahmen einer gesamthaft verstandenen sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Umgestaltung lösen kann. Eine gesellschaftliche Bewegung lediglich unter feministischen Aspekten springt zu kurz und verändert allenfalls die Oberfläche, ohne die tiefer liegenden Missstände zu beheben. Wie sehr sich das patriarchalische Denken und Empfinden in alle nur erdenklichen Winkel der Kulturen ausgebreitet hat, wies de Beauvoir in Das andere Geschlecht in einem geschichtlichen Kapitel nach. Liest man diese Passagen, erscheinen psychiatrische Diagnosen wie Irrsinn, Wahn, Paranoia und Massenpsychose für diese weltweit verbreiteten Lebensformen nicht als übertrieben. Man denke nur an Phänomene wie Hexenverbrennungen, Klitorisbeschneidungen, Zwangsehen, Prostitution oder die rechtliche Stellung von Frauen in vielen Kulturen, und man wird dem Urteil de Beauvoirs zustimmen müssen, dass es sich bei der Geschichte der Frauen bevorzugt um die Historie einer langen und stetigen Sklaverei handelte. Dass sich fragwürdige Meinungen über die Frau bis in die Literatur der Neuzeit hinein tradiert haben, zeigte de Beauvoir im Kapitel »Mythos«, worin sie die Haltung von Schriftstellern zur Frauenfrage
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Das andere Geschlecht
diskutierte. Erörtert wurden von ihr die Autoren Henri de Montherlant, D. H. Lawrence, Paul Claudel, André Breton und Stendhal. Mit Ausnahme von Stendhal erwiesen sie sich alle als Apologeten männlicher Überheblichkeit. In Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Literatur werden der Autorin zufolge geradezu Mythen über das Wesen der Frau formuliert und weitergegeben. Im Zentrum der mythologischen Beschreibungen steht fast immer das geheimnisvolle Bild von einer ganz und gar Anderen, die man selbst bei noch so großer Anstrengung niemals verstehen wird:
» In dem Geheimnis der Weiblichkeit, so wie es im mythischen Denken erscheint, zeichnet sich eine tiefere Wirklichkeit ab. Tatsächlich ist es unmittelbar in der Mythologie des Anderen als Absolutes begründet … Natürlich kann man sich Träumereien über die positive Wirklichkeit des Mysteriums nur im Dämmer des Selbstbetrugs hingeben; ähnlich wie bei gewissen Sehstörungen verflüchtigt es sich, sobald man es fixiert (de Beauvoir 1987a, S. 258).
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Solange man die Menschheit in »die Einen« und »die Anderen« unterteilt und den Anderen alle unguten Attribute zuschreibt, die man bei sich selbst nicht wahrhaben will, wird es zwischen Menschen keine Solidarität geben. In diesem Zusammenhang ist es übrigens unerheblich, ob der Eine (wie im Patriarchat) durch Männer oder (wie im militanten Feminismus) durch Frauen verkörpert wird – immer wird der Andere nolens volens zum Träger von Makeln und zum Ausbund des Bösen, das bekämpft und sogar (wie während der Zeit der Hexenverfolgung) eliminiert werden muss. Neben einer skeptischen Historiographie braucht es demnach eine wirkungsmächtige Mythenkritik, um in Ansätzen begreifen zu können, wie vorurteilsbeladen die angeblichen Wahrheiten über das Wesen der Frauen sind. De Beauvoir bezeichnete Mythen als Fallstricke falscher Objektivität, in welche der biedermännische Geist blind hineintappt, und in denen er sich regelmäßig verfängt. Egal, ob man die Frau als nährende Mutter, Nymphomanin, Amazone, Heilige, Hure, Neutrum, Hexe oder dunkel-schwärenden Urgrund ty-
pologisiert – immer ersetzt man das authentische Erleben und die Komplexität des Gegenüber durch starre Projektionen, die selbständige Urteile und unvoreingenommene Handlungen nicht zulassen. Ein häufig bedientes Vorurteil ist das angebliche Überwiegen der Immanenz bei der Frau. Unter Immanenz versteht man die Summe aller bewahrenden und oft passiven Tendenzen beim Menschen: Fortpflanzung der Gattung, Aufzucht der Kinder, Stabilisierung von Familie und Haushalt. Der Immanenz gegenüber steht die Transzendenz, also Bewegungen, die auf eine Überwindung des Status quo, auf Fortschritt, Veränderung sowie die expansive Eroberung neuer Horizonte ausgerichtet sind. Die bisherigen Kulturen kannten eine einseitige Zuordnung von Immanenz zur Frau und von Transzendenz zum Mann – eine Zuordnung, die sich bis in das Liebesleben von Mann und Frau hinein bemerkbar machte. Nach de Beauvoir ist die jahrhundertealte ungleiche Verteilung sexueller Aktivitäten zwischen den Geschlechtern nicht so sehr den biologischen Unterschieden als den Vorurteilen über weibliche Passivität und männliche Expansivität geschuldet:
»
Dass die Frau sexuell zu kurz kommt, damit haben sich die Männer ganz bewusst abgefunden. Wir haben gesehen, dass sie sich auf einen optimistischen Naturalismus stützen … Man begreift daher, dass die Männer nie Bedenken getragen haben, ihrer Genossin die sexuelle Befriedigung abzustreiten (de Beauvoir 1987a, S. 409).
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Um den Begriff des Anderen noch in einem weiteren Zusammenhang zu problematisieren, griff de Beauvoir auf Ideen aus der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres zurück und übertrug sie auf die Thematik des Mann-Frau-Verhältnisses. Sartre hatte in Das Sein und das Nichts (1943) im Kapitel »Der Blick« die zwischenmenschlichen Beziehungen weitgehend als eine Widerspiegelung von Herrschaft und Dominanz beschrieben. Jeder Mensch will Subjekt sein und als solches im Mittelpunkt einer Welt stehen, an deren Peripherie er die Mitmenschen als Objekte ansiedelt. Der Blick entscheidet nach Sartre, wer freies und gestaltendes Subjekt ist und wer als Erblickter
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Kapitel • Simone de Beauvoir
verobjektiviert und damit weniger frei wird. Diese Verteilung der Rollen wechselt im Normalfall dauernd einander ab: Subjekt und Objekt blicken und werden gleichzeitig erblickt, so dass beiden immer wieder ein Mehr und ein Weniger an Freiheitsgraden und Mittelpunktserleben zukommt. Sobald das Hin und Her von Blicken und Erblicktwerden, Subjekt- und Objektsein verlassen und die Rollen fixiert werden, mischt sich in die Zwischenmenschlichkeit das Gift von Überlegenheit und Herrschaft. Ähnlich wie Hegel dies bereits in seiner Phänomenologie des Geistes (1806) als Herr-Knecht-Beziehung beschrieben hat, schilderte auch Sartre derartige Verhältnisse als autoritär sowie auf Macht und Dominanz hin orientiert. De Beauvoir sah in der Geschichte von Mann und Frau eben solche Relationen gegeben, wie ihr Lebensgefährte sie für die Menschen ganz generell beschrieben hatte. Wer die Geschichte der Geschlechter unter derartigen Kriterien studiert, wird feststellen müssen, dass die Subjektrolle bisher zum überwiegenden Teil den Männern zugefallen ist. Sie gerierten sich im großen Stil als Herren sowie als autonome Mittelpunkte ihrer Welt und degradierten Frauen zu Mägden, Sklavinnen, Geliebten, Püppchen und Objekten am Rande ihres Gesichtskreises. In der Vergangenheit wurde demnach das weibliche zum anderen, sprich zum objektivierten, erblickten Geschlecht, dem es grundlegend an Macht, Subjektsein und Freiheit mangelte, und das häufig nicht nur in einer emotionalen, sondern ebenso sehr in einer sozioökonomischen Abhängigkeit lebte. Viele Gesellschaften kannten das Halten von Frauen ähnlich wie den Besitz von Sklaven und Lohnarbeitern. Weil Frauen seit Jahrtausenden gezwungen waren und sind, sich in einer Objektrolle einzurichten, haben sie jene Verhaltensweisen erlernt, mit denen sich Diener, Knechte und Untergebene schon lange an ihren Herren und Meistern rächen. De Beauvoir zählte einen ganzen Strauß weiblicher Einstellungen und Handlungen auf, die inzwischen beinahe zur Natur der Frau gerechnet werden, obwohl sie eigentlich als Reaktion auf deren permanent unterlegene Position zu verstehen sind. So kann man die von Freud als typisch weiblich denunzierten Eigenarten des Narzissmus, Infanti-
lismus und Masochismus als psychosoziale Reflexe von Frauen einordnen, die es aufgegeben haben, sich um die »männlichen Themen« einer vernünftigen und autonomen Gestaltung der Wirklichkeit zu kümmern. Stattdessen kreisen sie um ihren Körper, ihre Toilette, ihre kindlichen Ansprüche nach Verwöhnung sowie um ihre von den Männern kaum zu erfüllenden Anlehnungsbedürfnisse. Ebenso interpretierte de Beauvoir die Tendenz vieler Frauen, in ihren Ehen zu streiten oder sich unzufrieden zu geben, als Ressentiment geladene Racheaktionen auf Jahrhunderte lang erlittene Entwertungen und Verobjektivierungen. Vor diesem Hintergrund steht nicht zu erwarten, dass sich zwischen Männern und Frauen problemlose Liebesbeziehungen ergeben. Schon Hegel hatte betont, dass Liebe die Anerkennung des einen Bewusstseins (Subjekts) durch ein anderes Bewusstsein bedeutet. Diese Formel findet sich abgewandelt bei de Beauvoir wieder, wenn sie ausführt, dass alle Varianten von Ich-Es- (statt Ich-Du)-Beziehungen die Entstehung von Liebesgefühlen verhindern. Dies sei besonders im Bereich der Prostitution nachzuweisen, an der sich trefflich demonstrieren lässt, dass kein Mensch auf Dauer die Rolle des Objekts erträgt. Die Hure rächt sich am Kunden auf ihre Weise, indem sie sich ihm nie wirklich hingibt und ihn diese Täuschung auch noch bezahlen lässt:
» Vielleicht meint er [der Mann], er besitze sie. Doch dieser sexuelle Besitz ist illusorisch. Sie besitzt ihn auf dem viel solideren wirtschaftlichen Gebiet. Seine Eigenliebe wird befriedigt … Die Lust lässt sie sich nicht aufnötigen, sie erscheint viel eher als ein zusätzlicher Vorteil. Sie wird nicht in Besitz genommen, da sie bezahlt wird (de Beauvoir 1987a, S. 546).
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De Beauvoir verwehrte sich in Das andere Geschlecht nicht nur gegen die Prostitution, sondern gegen alle Formen von Besitzstreben im Bereich der Zwischenmenschlichkeit. Wie sie in ihrem Text hervorhob, war es Mitte des 20. Jahrhunderts selbst in Frankreich noch üblich, die Ehe als einen Kontrakt anzusehen, welcher den Mann in die Lage versetzte, seine Gattin mehr oder minder zu besitzen. Die Frau wurde durch Heirat ihrem Mann ange-
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Das Alter
hörig, wobei ein Kanon von Rechten und Pflichten ihre Beziehungen zueinander gesetzlich regelte. Trotz dieser Einschränkungen galt die Ehe lange als Sinnerfüllung der weiblichen Existenz. Sie war von Poesie umwoben, wurde als Keimzelle der Gesellschaft gerühmt und von konservativen Autoren als Stätte von Liebe, Ordnung und Zufriedenheit glorifiziert. In der Tat könnte sie eine Variante echter Partnerschaft zwischen Mann und Frau sein, die gemeinsam die Härten des Lebens bestehen und in wechselseitiger Förderung eine lebenslange Aufgabe erkennen. Doch das Patriarchat hat diese Situation zunehmend ins Unsinnige verschoben, und die Prestigepolitik der beiden Beteiligten deformierte und pervertierte ihr Zusammensein, so dass Aggression, Angst und Paranoia auf beiden Seiten ins Unermessliche wuchsen. Sartre urteilte daher zu Recht über die Frauen und ihre historisch-gesellschaftliche Situation: »Halb Opfer, halb Mitschuldige, wie wir alle!« De Beauvoir hat in Das andere Geschlecht an Hunderten Belegen aufgezeigt, wie diese Opferund Täterrolle bei Frauen zustande kommt. Es wäre falsch verstandene weibliche Emanzipationsbewegung, in diesen Belangen lediglich die Männer als Verantwortliche zu benennen; und es wäre unexistentialistisch gedacht, den (zugegebenermaßen oft geringen) Freiheitsspielraum der Selbstgestaltung, den sich Frauen zumindest im 20. Jahrhundert in der westlichen Welt erobert haben, zu negieren. Trotz dieser Einschränkungen behält der häufig zitierte Passus aus Das andere Geschlecht seine Richtigkeit:
» Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet (de Beauvoir 1987a, S. 265).
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Das Alter Neben dem Faktum, dass alle Menschen ein Geschlecht aufweisen (selbst wenn sie dies zu negieren versuchen oder durch hormonelle und chirurgische Maßnahmen verändern lassen wollen), ist noch eine weitere Tatsache für das menschliche Leben essentiell und unumstößlich: Dass wir wie alle anderen Lebewesen wachsen, reifen, älter und alt werden und zuletzt sterben. Im Gegensatz zu Tieren und Pflanzen allerdings unterliegen diese Alterungsprozesse analog wie bei der Geschlechtlichkeit des Menschen den kulturellen Einflüssen; außerdem ist der Mensch wahrscheinlich das einzige Lebewesen, das um die Unausweichlichkeit des Todes und seines Endes weiß. In ihrem Buch Das Alter wandte sich de Beauvoir der letzten Lebensspanne von Menschen zu. Wie die meisten ihrer Schriften entstand auch dieser Text aus persönlicher Betroffenheit heraus. 1968 war sie sechzig Jahre alt geworden, wobei sich das Problem des Alterns bei ihr schon vorher bemerkbar gemacht hatte. Gelegentlich erlitt sie physische Zusammenbrüche, und verschiedentlich stellten sich körperliche Krankheitssymptome ein. Auch häuften sich Todesfälle im Freundes- und Verwandtenkreis: 1960 starb Albert Camus, erst 46-jährig, bei einem Autounfall. Bald darauf erlag Merleau-Ponty, ebenfalls noch relativ jung, einem Herzleiden. De Beauvoirs Mutter musste wegen eines Schenkelhalsbruchs ins Spital eingeliefert werden. Dabei entdeckten die Ärzte ein Krebsleiden, das bald zum Tode führte. De Beauvoir hat die letzten Monate ihrer Mutter eindringlich in Ein sanfter Tod (1964) beschrieben. Soweit die biographischen Verhältnisse der Autorin in den Jahren vor und während des Zeitraums, in dem sie Das Alter verfasste. Doch die persönlichen Aspekte waren nicht das allein Ausschlaggebende für das Zustandekommen dieses Werks. Viel dringlicher war für de Beauvoir der Impuls, die Märchen und Mythen zu entzaubern, die sich in den westlichen Ländern im Hinblick auf das Altern entwickelt hatten. Seit ihrer Jugend gab es bei ihr das Ideal der Wahrhaftigkeit, und diesem Wert wollte sie auch in Bezug auf das Altersthema gerecht werden.
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Kapitel • Simone de Beauvoir
Schönfärberische Literaten und Vertreter einer Scheinmoral reden von den angeblichen Lichtseiten des Alters und wollen über dessen Tragik hinwegtäuschen. Sie verleugnen, dass die meisten alten Menschen fast überall auf der Welt als Parias gelten und große Mühe haben, den Ausklang ihres Lebens in Sicherheit, Ruhe und Würde zu vollziehen. In den derzeitigen Kulturen und Gesellschaften ist das Altern für die Mehrzahl der Betroffenen hart und inhuman und bringt gewaltige Nöte und Sorgen mit sich. Besonders auf diese Aspekte wollte de Beauvoir mit der ihr eigenen Kraft zur Empörung abheben. Mit Leidenschaft und Akribie spürte de Beauvoir in ihrem Buch den biologischen, psychologischen, soziologischen und kulturhistorischen Gesichtspunkten von Altern und Alter nach, wobei sie schockierende Details in ihre Erörterung einfließen ließ. Die Art und Weise, wie die meisten zivilisierten Länder mit den alten Menschen umgehen, ist zutiefst entwürdigend. Im ersten Teil ihres Werks erörterte die Autorin die Außenansicht von Altern und Alter. Sie befragte Wissenschaften wie Biologie, Medizin, Psychologie, Ethnologie und Historiographie nach deren Erkenntnissen hinsichtlich des von ihr untersuchten Themas. So bedeutet Altern für die Menschen auf körperlicher Ebene in der Regel Rückbildung, Schwächung und vermehrte Krankheitsanfälligkeit. Die Medizin spricht in diesen Zusammenhängen von Involution und betont, dass diese bei vielen alten Menschen sowohl auf der somatischen als auch auf der psychosozialen und geistigen Ebene stattfindet. Ebenso enzyklopädisch wie das Kapitel über die biomedizinischen Veränderungen im Alter imponieren die geschichtlich-soziologischen Kapitel über »Das Alter in den historischen Gesellschaften« sowie »Das Alter in der heutigen Gesellschaft«. Das Spektrum der Reaktionsweisen von den Jungen und Kräftigen auf die Alten und Schwachen war in den letzten Jahrtausenden vielfältig: Bei armen Naturvölkern pflegte man sich oft der hilflosen Alten zu entledigen, indem man sie tötete oder in der Einsamkeit verließ. Höhere Kulturen ermöglichten manchen alten Menschen bisweilen Formen eines erträglichen Daseins, das stellenweise Selbstverwirklichung und sogar Aufstieg im Alter bedeutete.
In der Regel gab und gibt es jedoch in vielen Gesellschaften den Kampf der Generationen. Die zunächst von den Älteren unterjochte und ausgebeutete Jugend rächt sich am absteigenden Geschlecht, indem sie ihrerseits Härte und Unmenschlichkeit an den Tag legt. Der griechische Mythos erzählt davon Analoges: Wenn ein junges Göttergeschlecht alt gewordene Götter ablöste, kam es zum rücksichtslosen Kampf der einen gegen die anderen. Andererseits erwähnte de Beauvoir auch Kulturen mit Gerontokratien, in denen Alte politisch und ökonomisch den Ton angaben:
» Das Alter war mächtig im hierarchischen und auf Wiederholung ausgerichteten China; in Sparta und den griechischen Oligarchien; in Rom bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. Es hat keinerlei politische Rolle gespielt in Zeiten der Veränderung, der Expansion, der Revolution. In Zeiten, als das Eigentum institutionalisiert wurde, hat die herrschende Klasse die Eigentümer respektiert … Wenn sie im Laufe ihres Lebens Grundbesitz, Waren oder Geld angehäuft hatten und reich waren, hatten die Greise im öffentlichen und privaten Leben großen Einfluss (de Beauvoir 1993, S. 181f.).
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Medizin, Epidemiologie, Soziologie sowie Gerontologie (Wissenschaft vom Alter), Geriatrie (Altersheilkunde), Gerontopsychologie (Psychologie des Alters) und -psychiatrie kommen darin überein, dass eine der wichtigsten Tatsachen unserer Zeit in der enormen Zunahme der Lebenserwartung von Menschen in vielen Gesellschaften besteht. Bis um 1700 betrug die Lebenserwartung eines Menschen etwa dreißig Jahre. Im 18. und 19. Jahrhundert stieg sie moderat an. Doch erst durch die moderne Medizin, Hygiene und Ernährung im 20. Jahrhundert konnte die Säuglings- und Kindersterblichkeit so effektiv bekämpft und die Vorsorge für das Alter derart hinreichend realisiert werden, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die meisten Menschen in der westlichen Welt eine Lebensspanne von achtzig und mehr Jahren erwarten. Das wirft neuartige ökonomische, soziale, psychologische und kulturelle Probleme auf, die von de Beauvoir in ihrem Buch sorgfältig referiert oder hellsichtig prognostiziert wurden.
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Anthropologisch noch interessanter als die Außenansicht des Alterns sind de Beauvoirs Ausführungen über das In-der-Welt-Sein alter Menschen. Der zweite Teil ihres Werks stellt die Innenansicht des Alters dar, die sie in Kapiteln wie »Die körperlich erlebte Erfahrung«; »Zeit, Aktivität und Geschichte«; »Alter und Alltag« sowie »Beispiele und Folgerungen« abhandelte. Die Autorin war sich bewusst, dass das Altern eine ontologische oder metaphysische Erfahrung ist; in ihm wird die Seinsverfassung des menschlichen Daseins transparent. Wer den Altersprozess nicht dumpf über sich ergehen lässt, erkennt, dass es im Menschenleben Endlichkeit, Einsamkeit und Endgültigkeit gibt. Das Alter konfrontiert den Einzelnen mit dem Sterben-Müssen – das macht seine Härte und Tragik aus. Um das In-der-Welt-Sein alter Menschen zu erfassen, werden oft Umfragen durchgeführt und diese statistisch ausgewertet. De Beauvoir berücksichtigte solche Untersuchungen, legte jedoch den Schwerpunkt ihres Essays auf biographische Darstellungen, in denen sie narrativ die Situation im Alter verdeutlichte. Dabei erläuterte sie über hundert Lebensläufe von bekannten Persönlichkeiten aus Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Politik im Hinblick auf deren Alterungsprozess. In zahlreichen Kurzbiographien explizierte sie die Erlebnisweise, Produktivität und das Selbstverständnis dieser alternden Menschen. Sie berichtete unter anderem über die Altersschicksale von Madame de Sévigné, Casanova, Proust, Gide, Flaubert, Yeats, Valéry, Goethe, Leonardo da Vinci, Clémenceau, Monet, Chateaubriand, Rodin, Swift, Fontenelle, Whitman, Tolstoi, Renoir, Hemingway, Freud, Lou Andreas-Salomé, Victor Hugo, H.G. Wells, Virginia Woolf, Chaplin, Michelangelo, Verdi, Churchill, Andersen, Zola, Galilei, Newton, Einstein, Pétain, Platon, Kant und Monteverdi. Bei diesen Persönlichkeiten zeigten sich im Schnitt viele jener Befunde, welche die Altersmedizin, -psychologie und -psychopathologie zu erheben pflegt, in geringerer Weise. Je produktiver und geistig wacher – so de Beauvoir – ein Mensch sein Leben führt, umso eher kann er Intelligenz und Schaffenskraft im Alter bewahren:
»
Geistig arbeitende Menschen werden weniger als alle anderen durch physiologischen Abbau in ihrer Tätigkeit behindert. Manche von ihnen genießen in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft eine einzigartige Unabhängigkeit: Es sind die schöpferisch Tätigen. Sie sind nicht zahlreich, aber aufgrund ihrer privilegierten Situation aufschlussreich für die Fragen: Welches sind die praktischen Möglichkeiten eines alten Menschen, wenn ihm ein Maximum an Chancen gewährt wird? Welches ist die Beziehung zwischen Alter und Schöpferkraft, und wie ist sie zu verstehen? (de Beauvoir 1993, S. 351).
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Bei kulturell produktiven Menschen kommt es sogar vor, dass sie erst in ihrer Altersphase die eigentliche Höhe ihres Berufes erreichen. In den Künsten und Wissenschaften ist bisweilen eine Altersproduktivität zu konstatieren, die in keiner Weise hinter den Jugendschöpfungen der kreativen Charaktere zurücktreten muss. Andererseits besteht bei vielen Alten, denen geistig-kulturelle Aktivitäten in ihrem Dasein mehr oder minder fremd waren, das Endergebnis ihres Lebens in Senilität und nicht in Weisheit, Reife und Vernunft. Aus ihren biologischen und sozialen Schwächepositionen resultieren oft gedrückte Lebensgefühle, vermehrte Angst, Lebensunlust und ein wachsendes Minderwertigkeitsgefühl. Diese Faktoren erschweren das soziale Miteinander und bekräftigen die allenfalls vorhandene Ich-Haftigkeit. Viele alte Menschen werden eigentümlich, da sie das Gefühl ihrer Bedeutungslosigkeit nicht selten in unkooperative Charaktereigenschaften umsetzen. Sie fühlen sich in ihrer Umgebung nicht eingebettet und haben damit Grund genug, die Welt als feindselig zu empfinden. Dies lässt bei ihnen Ängste oder Aggressionen vermehrt hervortreten. Seit jeher hat man an alten Menschen die Charakterzüge von Geiz, Herrschsucht, kleinlicher Gesinnung, Nörgelei und des Egozentrismus beobachtet. Unter den bisherigen kulturellen und sozialen Bedingungen pflegte das Alter die Charaktere von Menschen ungünstig zu beeinflussen, da man ihnen viele körperliche, seelische und ökonomische Entbehrungen und Frustrationen zumutete.
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Kapitel • Simone de Beauvoir
Ihre Hauptenttäuschung allerdings ist eine von der Kultur nur indirekt zu moderierende:
»
Der gesellschaftliche Kontext beeinflusst das Verhältnis des alten Menschen zum Tod. In manchen Gesellschaften lassen sich alte Menschen gleichgültig zugrunde gehen … In anderen Gesellschaften ist der Tod im Alter von einem Ritual umgeben, das ihn so stark aufwertet, dass er als etwas Wünschenswertes erscheint … Trotzdem hat der Tod ein überhistorisches Element: Indem er unseren Organismus zerstört, nichtet er unser In-der-Welt-Sein … Wenn der Tod uns beunruhigt, so deshalb, weil er die unvermeidliche Kehrseite unserer Entwürfe ist: Wenn man aufgehört hat zu handeln, etwas zu unternehmen, bleibt nichts, was er zunichte machen könnte (de Beauvoir 1993, S. 377ff.).
leute, Kulturschaffende und Intellektuelle. Darüber hinaus visierte sie jedoch den mehr oder minder großen Freiheits- und Gestaltungsspielraum von Individuen an, wenn sie schrieb:
» Wollen wir vermeiden, dass das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung, nämlich weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben einen Sinn verleihen: das hingebungsvolle Tätigsein für einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit. Das Leben behält Wert, solange man durch Liebe, Freundschaft, Empörung oder Mitgefühl am Leben der anderen teilnimmt (de Beauvoir 1993, S. 464).
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«
In Das Alter blieb de Beauvoir nicht bei philosophisch-anthropologischen Reflexionen über das Altern stehen. Mehrfach sprach sie davon, dass die Alterspolitik in den allermeisten Staaten dieser Erde ein Skandal und Verbrechen sei. Leidenschaftlich plädierte sie für Erhöhung der Renten, für gesunde Wohnungen sowie Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Selbstverwirklichung im Alter. Ihre Botschaft wurde von vielen gehört, und alte Menschen wurden durch sie daran erinnert, dass sie eine politische Macht darstellen, wenn sie sich in Vereinigungen organisieren. Die in den USA einsetzende Bewegung der grauen Panther berief sich ausdrücklich auf unsere Autorin, die mit ihrem Buch über Das Alter ein beeindruckendes Zeugnis für einen integralen Humanismus ablegte. Es gehört mit zur schriftstellerischen Meisterschaft de Beauvoirs, dass sie bei aller deprimierenden Schilderung des Alters ihr Buch nicht im Hoffnungslosen enden ließ. Trotz aller gesellschaftlichen und epochalen Limitierungen darf und soll sich der Einzelne darauf besinnen, wie er seinem Dasein auch im höheren Lebensalter eine tragfähige Bedeutung verleihen kann. In der Zusammenfassung ihres Werks forderte de Beauvoir merklich sozialere, solidarischere und menschenwürdigere Formen des Alterns, als sie gemeinhin zu beobachten sind. Als Adressaten für ihr Plädoyer galten dabei Politiker, Wirtschafts-
Conclusio Wir werfen hier nochmals die bereits eingangs angedeutete Frage auf, ob de Beauvoir zu Recht einen Platz in einem Buch über die medizinisch-philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert verdient, und wir zögern nicht, sie entschieden zu bejahen. Wohl sind ihre Hauptwerke und die meisten ihrer Nebenarbeiten im Grenzland zwischen Philosophie, Wissenschaft und Essayistik angesiedelt. Ihr Gehalt an anthropologischen Überlegungen ist jedoch so gewichtig, dass dies eine Darlegung in unserem Rahmen rechtfertigt. In diesem Zusammenhang wollen wir daran erinnern, dass Edmund Husserl das Studium der alltäglichen Lebenswelt als wertvollen Beitrag zur Grundlegung vieler Probleme der Philosophie und – so kann man ergänzen – der Anthropologie erachtete. Diese Qualität trifft man in den Schriften de Beauvoirs zur Genüge an. Ihr Gesamt-Oeuvre und vor allem ihre Hauptwerke über Das andere Geschlecht und Das Alter wirkten stimulierend im Hinblick auf eine anthropologische Erhellung der Geschlechtlichkeit und des Alterns von Menschen. In diesen beiden Büchern gelang es de Beauvoir des Weiteren, einen bemerkenswerten Ansatz zur Selbsterforschung durchzuführen, der Wissenschaft und Philosophie in den Dienst von Selbsterkenntnis stellte. Ihre Texte sind bewundernswer-
Literatur
te Akte der Selbstverständigung, die sich zwar der objektiven Sprache der Sachforschung bedienen, gleichzeitig aber die Sicht auf subjektive Meinungen und biographische Verhältnisse der Autorin freigeben. Überträgt man die Hauptaussagen von Das andere Geschlecht und Das Alter auf anthropologische Fragestellungen generell, wird man allen eindimensionalen Lösungsansätzen im Hinblick auf die Conditio humana gegenüber skeptisch. Egal, ob sich die Wissenschaften und Philosophie auf naturalistische, psychologische, soziologische, ökonomische oder kulturalistische Perspektiven berufen – das Wesen des Menschen verlangt nach einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise, wie sie von de Beauvoir exemplarisch vorgelebt wurde. Selbst wenn sich seit dem Erscheinen von Das andere Geschlecht und Das Alter viele Einzelbefunde in Bezug auf die Geschlechtlichkeit und das Altern des Menschen verändert haben mögen, bleibt es das große Verdienst de Beauvoirs gezeigt zu haben, wie sehr die menschliche Biologie in historische und kulturelle Prozesse eingebettet ist, von ihnen moduliert wird und ihrerseits Einfluss auf die Ausgestaltung von Geschichte und Kultur nimmt.
Literatur Bair D (1990) Simone de Beauvoir – Eine Biographie. Knaus, München de Beauvoir S (1945) Drei Essays zur Moral des Existentialismus. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg de Beauvoir S (1976) Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1958) de Beauvoir S (1978) Der Lauf der Dinge. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1963) de Beauvoir S (1986a) Amerika: Tag und Nacht. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1948) de Beauvoir S (1986b) Die Zeremonie des Abschieds. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1981) de Beauvoir S (1987a) Das andere Geschlecht. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1949) de Beauvoir S (1987b) Auge um Auge – Artikel zu Politik, Moral und Literatur 1945–1955 de Beauvoir S (1988) In den besten Jahren. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1960) de Beauvoir S (1993) Das Alter. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1970) de Beauvoir S (1999) Eine transatlantische Liebe – Briefe an Nelson Algren 1947–1964. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1997)
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de Beauvoir S (2004) Sie kam und blieb. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1943) Evans M (1986) Simone de Beauvoir – Ein feministischer Mandarin. Daedalus, Rheda-Wiedenbrück Francis C, Gontier F (1986) Simone de Beauvoir – Die Biographie. Quadriga, Weinheim (Erstveröff. 1985) Madsen A (1980) Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir – Die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe. Claassen, Düsseldorf Moi T (1996) Simone de Beauvoir – Die Psychographie einer Intellektuellen. Fischer, Frankfurt am Main Schwarzer A (1999) Simone de Beauvoir – Rebellin und Wegbereiterin. Kiepenheuer & Witsch, Köln Zehl Romero C (1978) Simone de Beauvoir. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg
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Maurice Merleau-Ponty Biographisches – 172 Werkanalyse – 175 Conclusio – 181 Literatur – 182
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Maurice Merleau-Ponty
. Abb. 1 Maurice Merleau-Ponty (*1908; †1961). (Aus Stumm et al. 2005)
Obwohl selbst kein Arzt, hat der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty in seinen Büchern und Vorlesungen wiederholt wichtige Fragen und Probleme der Humanmedizin aufgegriffen. Durch seine philosophischen Spekulationen trug er dazu bei, die Diskussionen innerhalb der Medizin über Krankheit, Gesundheit und den Menschen generell zu bereichern. Aufgrund seiner vornehmen und strikt an den Phänomenen orientierten Art des Philosophierens wurde er zu Recht als der eigentliche Nachfolger und Statthalter Edmund Husserls in Frankreich bezeichnet (. Abb. 1).
Biographisches Merleau-Ponty wurde 1908 in der Kleinstadt Rochefort-sur-Mer als zweites von insgesamt drei Kindern geboren. Sein Elternhaus und seine Vorfahren waren vom Katholizismus geprägt und wiesen als Berufe vorrangig Ärzte und Offiziere auf. Der Vater von Maurice war als Marineoffizier oft aushäusig,
was wesentlich mit dazu beitrug, dass seine Frau in La Rochelle, wo die Familie einige Zeit lebte, die Geliebte eines Universitätsprofessors war. Maurice und seine jüngere Schwester entstammten dieser Liebesbeziehung; sein älterer Bruder hingegen war leiblicher Sohn von Monsieur Merleau-Ponty. 1911 starb dieser überraschend, und die verwitwete Madame ging mit ihren drei Kindern daraufhin zuerst nach Le Havre und dann nach Paris. Maurice schloss sich in seinem weiteren Leben eng an seine Mutter und die jüngere Schwester an. Nachdem die Familie zuerst nach Le Havre und dann nach Paris gezogen war, beendete Maurice 1924 seine Gymnasialausbildung mit dem »Baccalauréat«. Über das Lycée Louis-le-Grand gelangte er an die École Normale Supérieure (ENS), an der er von 1926–1930 »Normalien« war und unter anderem Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Claude Lévi-Strauss kennenlernte. Mit den beiden Ersteren verband ihn viele Jahre lang eine intensive Freundschaft und Zusammenarbeit. An der ENS wandte sich Merleau-Ponty der Philosophie zu. Zu den für ihn wichtigen Lehrern zählte Léon Brunschvicg (1869–1944), der eine idealistische und am Neukantianismus orientierte Philosophie vertrat. Daneben gehörte auch Henri Bergson (1859–1941) zu den ihn prägenden Denkern. Dieser Lebensphilosoph dozierte am hochangesehenen Collège de France, wobei »tout Paris« zu den legendären Kollegs strömte, um den zart und in sich gekehrt wirkenden Gelehrten zu hören. Die Atmosphäre der Weisheit, die Bergson um sich verbreitete, sowie seine feinsinnige Intuition, mit der er die Welt erfasste, wirkten für Merleau-Ponty vorbildlich. Die Jahre nach seinem Studium sahen MerleauPonty zuerst als Philosophielehrer in der Provinz. 1935 kehrte er nach Paris zurück und übernahm die Stelle eines Repetitors an der ENS, die er bis zum Zweiten Weltkrieg behielt. Er beschäftigte sich intensiv mit der Phänomenologie, daneben aber auch mit der Gestalt- und Entwicklungspsychologie sowie mit Neurologie. Dabei nahm er auf den russischen Gestaltpsychologen Adhémar Gelb und den Neurologen Kurt Goldstein Bezug. Die Ergebnisse seiner Studien fasste er in Die Struktur des Verhaltens (1942) zusammen.
Biographisches
Mit der Phänomenologie war Merleau-Ponty bereits 1929 in Kontakt gekommen. Damals hielt Edmund Husserl seine »Pariser Vorträge« an der Sorbonne, um seine neuartige Philosophie in Frankreich bekannt zu machen. Im Auditorium saß seinerzeit auch Merleau-Ponty, dem in Husserl ähnlich wie bei Bergson ein Denker begegnete, der kontinuierlich eine Aura seriösester philosophischer Spekulation um sich verbreitete. An ihm wollte er sich ebenso wie an Bergson ein Beispiel nehmen. Diese beiden Denker waren Meister in der Integration positiven Wissens in ihre jeweiligen Philosophien. Die Ergebnisse von Mathematik, Physik und anderen Naturwissenschaften nutzten sie als Ausgangspunkte oder Argumente für ihre philosophischen Überlegungen. Daneben machte der Philosoph Aron Gurwitsch (1901–1973) Merleau-Ponty auf die Zusammenhänge zwischen Phänomenologie und den Wissenschaften (Biologie, Psychologie, Linguistik, Medizin) aufmerksam. Während des Zweiten Weltkriegs diente Merleau-Ponty kurze Zeit als Leutnant beim französischen Heer. Als er 1940 nach Paris zurückkam, wandte er sich erneut Husserl und der Phänomenologie zu. Das daraus resultierende Buch Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) brachte dem jungen Philosophen 1945 den Doktortitel ein und markierte den Beginn seiner Universitätskarriere. Man war allgemein der Ansicht, dass ihm mit diesem Text ein Meisterwerk gelungen war. Ende 1940 heiratete Merleau-Ponty seine Freundin Simone Jolibois, die damals von ihm schwanger war. Simone soll sehr auf diese Heirat gedrängt haben, wohingegen Merleau-Ponty Skrupel verspürte, Verantwortung für Frau und Kind zu übernehmen. De Beauvoir, die damals enge Kontakte zum bindungsscheuen Philosophen unterhielt, schrieb über das frisch vermählte Paar an Sartre: »Sie wohnen in zwei verschiedenen Hotels am Montparnasse und haben ein freundliches Verhältnis zueinander« (de Beauvoir 1998, S. 273). Später wurde aus Merleau-Ponty doch noch ein liebevoller Vater und Lebensgefährte. 1941 engagierte sich Merleau-Ponty in der Widerstandsgruppe »Socialisme et Liberté«, wo er wiederum auf den aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Sartre traf. Weil diese Gruppe aus Mit-
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gliedern mit sehr divergenten Weltanschauungen bestand, wurde über das Wie des Widerstands zwar heftig gestritten, ohne dass es jedoch zu effektiven Aktionen gekommen wäre. Merleau-Ponty zählte unter ihnen zu jenen »Kämpfern«, die sich eher Gedanken über einen pädagogischen Umgang und damit über eine friedlichere Kontaktaufnahme mit den Besatzern denn über militärische Aktionen machten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es ein Jahrzehnt lang zu einer engen und fruchtbaren Zusammenarbeit Merleau-Pontys mit Sartre, die in der gemeinsamen redaktionellen Verantwortung für die Zeitschrift Les Temps Modernes ihren Ausdruck fand. Ihre unterschiedlichen Charaktere und parallel dazu ihre differenten philosophisch-politischen Ansichten führten jedoch zu einer zunehmenden Distanzierung und – nach der Publikation von Merleau-Pontys Die Abenteuer der Dialektik (1955) – zum Bruch der Beziehung. Merleau-Ponty war ursprünglich unter dem religiösen Einfluss des Katholizismus gestanden. Doch schon in den 30er Jahren hatte er sich weitestgehend vom Christentum gelöst und war ins Lager der Agnostiker und Atheisten gewechselt. Dieser Gesinnungswandel war unter anderem durch die Vorlesungen des aus Russland stammenden Alexandre Kojève (1902–1968) angeregt worden. Kojève dozierte an der École pratique des Hautes Études über Hegels seinerzeit noch nicht ins Französische übersetzte Phänomenologie des Geistes. Er interpretierte den deutschen Meisterdenker eigenwillig und in einem politisch-linkshegelianischen Sinne. Merleau-Ponty lernte an ihm ein kritisches Denken, das sich später in Büchern wie Humanismus und Terror (1947), Sinn und Nicht-Sinn (1948) und Die Abenteuer der Dialektik (1955) sowie in seiner Vorlesung Die dialektische Philosophie (1956) bemerkbar machte. Bei aller Sympathie für den Sozialismus entwickelte sich Merleau-Ponty mehr und mehr zu einem politischen Denker, der gegen die real existierenden Formen des Staatssozialismus und -kommunismus Stellung bezog und deren Totalitarismus entschieden kritisierte. Diese Haltung führte zu Auseinandersetzungen mit dem kommunismusfreundlichen Sartre und schließlich zu einer nicht mehr überbrückbaren Distanz. Im Zusammenhang
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Kapitel • Maurice Merleau-Ponty
mit unterschiedlichen politischen Einschätzungen zerbrach auch die ursprünglich enge Beziehung Merleau-Pontys mit Albert Camus. Obwohl sich Merleau-Ponty lange Zeit im Kreis der Existentialisten, Künstler und Intellektuellen von Paris bewegte, ist über seinen Lebenslauf bedeutend weniger bekannt wie über diejenigen von Sartre, de Beauvoir oder Camus. Von ihm sind weder ein Briefwechsel noch Tagebücher oder autobiographische Texte erhalten. Der Philosoph hat seine Privatsphäre gekonnt zu schützen gewusst und die öffentlichen Verlautbarungen seines Daseins auf Vorlesungen, Essays und Bücher beschränkt. 1952 wurde Merleau-Ponty auf den ehemaligen Lehrstuhl Bergsons am Collège de France berufen. Zuvor hatte er kurzzeitig eine Professur an der Universität Lyon sowie für Kinderpsychologie und Pädagogik an der Sorbonne innegehabt. Im Rahmen dieser Lehrtätigkeit arbeitete er sich penibel in die damals aktuellen psychologischen Schulrichtungen ein und präsentierte in seinen Vorlesungen und Manuskripten zum Beispiel die Psychologie Jean Piagets oder Sigmund Freuds ebenso eingängig und exakt wie die Sprachtheorien von Ferdinand de Saussure, Ernst Cassirer, Karl Bühler oder Roman Jacobson. Am Collège de France lehrte und forschte der Philosoph bis zu seinem Tod 1961. Seine dortige Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel Éloge de la philosophie (Lob der Philosophie) 1953 publiziert. Merleau-Ponty widmete sie seiner Mutter, die damals gerade gestorben war. In Lob der Philosophie skizzierte er eindrücklich das Wesen und die Aufgaben eines philosophischen Denkers. Diesen charakterisierte er als einen bescheidenen und existentiell relevante Wahrheiten suchenden Menschen:
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Das Hinken des Philosophen ist seine Tugend. Was sagt er über das Verhältnis von Seele und Leib, wenn nicht das, was allen bekannt ist, die ihre Seele und ihren Leib, ihre Schmerzen und Freuden zugleich leben lassen. Was lehrt er über den Tod, es sei denn, dass er im Leben verborgen ist wie der Leib in der Seele. Diese Erkenntnis, sagte Montaigne, lässt »einen Bauern und ganze Völkerschaften ebenso gewiss sterben wie den Philosophen«. Der Philosoph ist ein Mensch, der aufwacht
und spricht. Indes, der Mensch selbst enthält, nur schweigend, die Widersprüchlichkeiten der Philosophie, denn um ganz Mensch zu sein, muss man etwas mehr und etwas weniger als Mensch sein (Merleau-Ponty 1973, S. 47f.).
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Die Bücher, Manuskripte und Vorlesungsmitschriften Merleau-Pontys aus den 50er Jahren zeigen, dass er zunehmend ein Autor wurde, der alles, was er sah, erlebte und bedachte, in seiner Widersprüchlichkeit und Ambiguität beschreiben wollte. In gewisser Weise erwies er sich dabei tatsächlich als »hinkender Philosoph«, welcher die Vorläufigkeit seiner Gedanken nicht kaschierte, sondern das experimentell Tastende und mäandernd Vorsichtige seines Denkens als Voraussetzung einer redlichen Reflexion über Mensch, Kultur und Kosmos begriff. Wie originell und produktiv Merleau-Ponty mit dieser Einstellung war, zeigen seine Bücher Das Primat der Wahrnehmung (1933–46), Keime der Vernunft (1949–52), Die Natur (1956–60), Das Sichtbare und das Unsichtbare (1959–61), Zeichen (1960), Das Auge und der Geist (1964) sowie Die Prosa der Welt (1969), die in der Mehrzahl postum veröffentlicht wurden. In ihnen wird die intellektuelle Experimentierfreudigkeit und Spannweite Merleau-Pontys offenkundig, der die Kunst Cézannes ebenso bedachte wie die Naturphilosophie Schellings oder die Geheimnisse der menschlichen Sexualität. An diesen Publikationen kann man erkennen, wie sehr es sich bei Merleau-Ponty um einen werdenden Philosophen handelte und sein Werk ein Denken »in statu nascendi« war, über das Paul Ricœur nach dem frühen Tod Merleau-Pontys traurig urteilte: »Die Unvollendetheit einer Philosophie der Unvollendetheit macht doppelt fassungslos« (siehe hierzu Ricœur in Métraux u. Waldenfels 1986, S. 56ff.). Gestorben ist Merleau-Ponty wahrscheinlich an einem Herzinfarkt, wozu sein jahrelanger Nikotinabusus sicherlich mit beigetragen hat. Der Tod kam für ihn und seine Umgebung völlig überraschend und riss ihn mitten aus begonnenen Arbeiten. Neben dem Toten lag aufgeschlagen das Buch, das er zuletzt noch gelesen hatte und das er sehr bewunderte: die Dioptrik (Lehre von der Brechung des Lichts) des René Descartes.
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Die Erläuterung von Merleau-Pontys Oeuvre bleibt hier auf einige wenige für die medizinisch-philosophische Anthropologie relevante Begriffe und Gesichtspunkte beschränkt: Erkenntnistheorie (Ambiguität), Verhalten, Wahrnehmung und der Leib. z
Erkenntnistheorie
Schon Friedrich Nietzsche hat auf die Bedeutung verschiedener wissenschaftlicher und philosophischer Haltungen für die Forschung hingewiesen. Mit sinnvollen Ergebnissen können nur jene Forscher rechnen, die für die Beantwortung sie interessierender Fragen die adäquaten wissenschaftlichen Methoden auswählen. Diese Auswahl entscheidet wesentlich über die wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse, da Methode und Ergebnisse zusammenhängen. Merleau-Pontys hauptsächlich praktizierte philosophische Haltung und Methode kann mit dem Begriff der Ambiguität wiedergegeben werden. Der niederländische Philosoph Alphonse de Waelhens (1911–1981) hat sein Buch über Merleau-Ponty sogar mit dem Titel Eine Philosophie der Ambiguität (1951) versehen und meinte, damit sowohl die philosophische Haltung und Methode wie auch einen Großteil der Forschungsergebnisse Merleau-Pontys prägnant auf den Punkt gebracht zu haben. Unter Ambiguität versteht man soviel wie Doppeldeutigkeit. Vielen kulturellen und natürlichen Phänomenen haftet etwas Janusgesichtiges an: dem Leib, dem Geist, der Kunst, dem Leben. Sobald man sich auf einen einzigen Aspekt beschränkt, um das Wesen dieser oder anderer Phänomene zu charakterisieren, geht man fehl und reduziert deren Komplexität. Nur im Akt des In-der-Schwebe-Haltens verschiedenster Aspekte, im Sowohl-als-auch wird man ihnen gerecht. Es besteht jedoch die Gefahr, mittels Ambiguität nicht Komplexität und Vieldeutigkeit, sondern Verwirrung und Zweideutigkeit zu erzeugen – denn nicht jedes Kaleidoskop ergibt schlussendlich ein schillerndes und vielschichtiges Bild. MerleauPonty hat sich mehrmals zu diesem Vorwurf der Ambiguität gegenüber geäußert und diesbezüglich eine gute von einer schlechten Ambiguität unterschieden:
Der Philosoph erkennt sich selbst daran, dass er unweigerlich den Sinn für Evidenz und Ambiguität besitzt. Wenn er sich mit dem Erdulden der Ambiguität zufrieden gibt, erhält diese den Namen Zweideutigkeit. Bei den Bedeutendsten wird sie zum Thema und trägt, statt zur Bedrohung, zur Begründung der Gewissheiten bei. In diesem Sinne müsste man zwischen einer guten und einer schlechten Ambiguität unterscheiden (MerleauPonty 1973, S. 16).
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Merleau-Ponty favorisierte das Adjektiv doppeldeutig (»ambigue«) und grenzte es von zweideutig (»équivoque«) ab. Die Schwierigkeiten eines Philosophen und Forschers bestehen darin, die Vielzahl der Bezüge und Perspektiven, die Pluralität der Dimensionen gelten zu lassen und das eigene Denken dementsprechend auszurichten. Sobald die daraus resultierenden Spannungen zur Angst provozierenden Bedrohung für den Forscher werden, wird dieser versucht sein, das sichere Ufer der Eindeutigkeit zu erreichen oder eventuell das ein oder andere zweideutige Wortspiel mitzuspielen, ohne selbst noch merklich involviert zu bleiben. Dabei entsteht bestenfalls Scheintiefe. Der Begriff und vor allem die Haltung der Ambiguität erfordern vom Forscher ein existentielles Bekenntnis zur Vieldeutigkeit der Welt. Er muss sich im Zwischenreich einrichten und permanent neue Forschungs- und Beobachtungsstandpunkte einnehmen und wieder verlassen. Dabei wird es ihn von den Natur- zu den Kulturwissenschaften, von der philosophischen Reflexion zum künstlerischen Ausdruck sowie vom positiven Wissen zum nagenden Zweifel treiben. Doch nur wer den geschützten Hafen der Eindeutigkeit verlässt und sich auf die hohe See der Doppeldeutigkeit begibt, wird den vielschichtigen Phänomenen im Bereich des menschlichen Lebens, der Kultur und des gesamten Kosmos wirklich gerecht:
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Man muss … einerseits der spontanen Entwicklung des positiven Wissens folgen, indem man sich fragt, ob hier wirklich der Mensch auf den Status eines Objekts reduziert wird, und man muss andererseits die reflexive und philosophische Einstellung überprüfen, indem man untersucht, ob
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Kapitel • Maurice Merleau-Ponty
sie uns wirklich das Recht gibt, uns als unbedingte und zeitlose Subjekte zu definieren. Vielleicht werden diese konvergierenden Untersuchungen am Ende dazu führen, dass wir ein Milieu vor uns sehen, das der Philosophie und dem positiven Wissen gemeinsam ist, und dass sich uns, diesseits des reinen Subjekts und des reinen Objekts, so etwas wie eine dritte Dimension eröffnet, wo unsere Aktivität und unsere Passivität, unsere Autonomie und unsere Abhängigkeit einander nicht mehr widersprechen (Merleau-Ponty: Exposé Titres et travaux, 1952, zit. nach Waldenfels 1983, S. 149f.).
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In der Medizin wird die Notwendigkeit hoher Ambiguitätsfähigkeit etwa im Bereich der Psychosomatik offensichtlich. Allein der Name Psychosomatik macht schon deutlich, dass da zwei ungleiche Wesenheiten »Soma« und »Psyche« vor einen gemeinsamen Karren gespannt sind. Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten betrachtet hat dies zur Folge, dass psychosomatisch tätige Wissenschaftler, Ärzte und Psychologen hinsichtlich der Erforschung, Diagnostik und Therapie von Erkrankungen dauernd gezwungen sind, Perspektivwechsel vorzunehmen. So kann an Patienten und ihren Krankheitsbildern abwechselnd Biologisches, Seelisches, Geistiges, Soziales und Kulturelles oder auch Subjektives und Objektives, Krankes und Gesundes, Bewusstes und Unbewusstes wahrgenommen, beschrieben, erklärt, verstanden und im Therapieprozess berücksichtigt werden. Psychosomatik bedeutet eine Form der Medizin, die auf eindimensionale Lösungen verzichtet und stattdessen eine Heilkunde propagiert, bei der nicht das Entweder-oder, sondern das von Merleau-Ponty als Milieu oder dritte Dimension bezeichnete Sowohl-als-auch dominiert. Patienten leiden nicht entweder an körperlichen Krankheiten oder an psychosozialen Unpässlichkeiten und Störungen. Vielmehr weisen sie stets alle eben erwähnten Facetten und Aspekte auf, die bei geeigneter erkenntnistheoretischer Haltung und Einstellung umfänglich erkannt und diagnostiziert sowie in die Behandlung integriert werden können. Dazu ist es allerdings nötig, dass Ärzte, Therapeuten, Schwestern und das gesamte Medizinalsystem die Bereitschaft und Fähigkeit zur Ambiguität aufbringen. Eine so verstandene Heilkunde kann
zum Modell einer Medizin der Zukunft werden, die in Bezug auf ihre Erkenntnistheorie ganz im Sinne Merleau-Pontys neben den Natur- auch die Kulturwissenschaften, die Philosophie und die Künste mit einbezieht. z
Das Verhalten
Bereits das Erstlingswerk Merleau-Pontys befasste sich mit einem für die Medizin und Anthropologie relevanten Thema: dem menschlichen Verhalten. An ihm glaubte der Philosoph die Tugenden und Qualitäten der Ambiguität überzeugend demonstrieren zu können. Für das wissenschaftliche und philosophische Verständnis des Menschen und seiner Welt sind seit langem zwei Positionen von Bedeutung, die von Merleau-Ponty ausführlich abgehandelt wurden: der szientistische Naturalismus, der die Wirklichkeit aus Materieelementen aufbaut und sie kausal erklärt, und der intellektualistische Kritizismus, für den die Welt letztlich aus Bewusstseinsprodukten besteht. Den Ersteren vertreten heutzutage die meisten Naturwissenschaftler, Neurobiologen und Behavioristen, den Letzteren manche Psychologen oder Philosophen. Beide Positionen, so Merleau-Ponty, sind in ihrer Radikalität nicht haltbar: Die Wahrheit liege in der Mitte, im Sowohl-als-auch. Besonders eindrücklich lasse sich diese neutrale Position zwischen den Polen des Physiologismus und des Psychologismus am Phänomen des menschlichen Verhaltens exemplifizieren, weshalb es sich gut als Beispiel für Ambiguität eignet. Wie lässt sich menschliches Verhalten am besten verstehen, und wie kann man sich Prozesse des Lernens und der Veränderung von Verhalten vorstellen? Wie viel Freiheit oder Determination prägen das menschliche Verhalten, und welche Rolle spielen dabei die Biologie, das ZNS, die Reflexe, die Umwelt, die Erziehung oder auch das Wollen und Vorstellen eines Individuums? Verhalten wir uns kausal oder final oder zufällig, und gibt es Gesetze, die unserem Verhalten zugrunde liegen? Einige dieser Fragen beantwortete MerleauPonty in Die Struktur des Verhaltens. Gegen die Auffassung vieler Reflexforscher (Thorndike, Pawlow) und Behavioristen (Watson, Skinner), welche die menschlichen Verhaltensmuster als Stimulus-
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Response-Schema interpretierten, und denen ein Reiz nichts weiter als ein physisches Datum bedeutete, führte Merleau-Ponty ein Vielzahl von Fakten und Einwänden ins Feld. Dabei verwies er bevorzugt auf die Gestaltpsychologie (Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Max Wertheimer) sowie den Psychologen Gelb und den Neurologen Goldstein, die alle statt der Begriffe Stimulus und Response diejenigen von Gestalt und Struktur bemühten, um den menschlichen Organismus, sein Verhalten, seine Beziehungen zu Natur und Kultur sowie seine Gesundheit oder Krankheit zu beschreiben. Besonders eindrücklich ist dies Goldstein in Der Aufbau des Organismus (1934) gelungen, worauf Merleau-Ponty wiederholt Bezug nahm. Der Begriff Gestalt wurde von Köhler, Koffka und Wertheimer verwendet, um den ganzheitlichen Charakter biologischer, psychischer, sozialer oder geistiger Gebilde und deren Wahrnehmung zu betonen. Bei diesen Phänomenen könne man einen Hintergrund beschreiben, vor dem sie im Vordergrund wirken und positioniert sind. Falls man an ihnen nur Teile oder kleinere Elemente wahrnehme, ergänze man diese zu einer imaginierten Totalität (Prägnanzprinzip). So wie die menschlichen Wahrnehmungsvorgänge den Gesetzen von Ganzheit und prägnanter Gestalt unterliegen, so sind normalerweise auch die Handlungen von Menschen auf den Erhalt oder die Entstehung von Gestalten hin ausgerichtet. Ein prominentes Beispiel für derartige Gestaltwahrnehmung schilderte Goethe in seiner Italienischen Reise: Als er in Verona die Überreste des antiken Theaters sah, ergänzte er vor seinem geistigen Auge das Oval zur architektonischen und atmosphärischen Ganzheit. Neben dem Begriff der Gestalt verwendete Merleau-Ponty noch denjenigen der Struktur, um menschliches Verhalten angemessen zu beschreiben. Dieser Terminus weist eine längere Vorgeschichte auf. In den Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) hatte Wilhelm Dilthey von einer Struktur des Seelenlebens gesprochen und damit diesen Begriff für die Psychologie und andere Humanwissenschaften fruchtbar gemacht. Diltheys zentrale These lautete, dass der psychische Lebensprozess ursprünglich und über-
all von seinen elementarsten bis zu seinen höchsten Formen eine Einheit bildet und nicht aus Empfindungs- oder Gefühlsatomen besteht. Aus dieser Einheit haben sich seelische Funktionen differenziert, verbleiben aber an ihren Zusammenhang gebunden und bilden damit Strukturen. Als Beispiele für ganzheitliche Strukturen nannte Dilthey die Einheit des Bewusstseins und die Einheit der Person; ergänzend ließe sich die Einheit des Leibes anführen. Sowohl beim Phänomen des Bewusstseins wie demjenigen der Person und des Leibes erlebt der Betrachter primär keine atomistischen Elemente, sondern einen Strukturzusammenhang, der es ihm erlaubt, in einem zweiten Schritt einzelne Teile als Verweise auf eine Summe oder ein Ganzes zu interpretieren. Merleau-Pontys Konzept des menschlichen Verhaltens stützte sich wesentlich auf die Termini Struktur und Gestalt, daneben aber auch auf die Begriffe Ordnung, Sinn und Bedeutung. Jedes menschliche Verhalten wollte er als strukturierte, gestalthafte, ganzheitliche und sinnvolle Antwort des Individuums auf die Bedeutung einer Situation verstanden wissen. Situationen bieten dem Menschen potentiell Sinn oder Wert an, und sein Verhalten darauf ist nicht bloße Reaktion auf einen Reiz, sondern Ergreifen oder Verfehlen von Bedeutungsmöglichkeiten. Wie aber können Situationen, also Materie, Natur, Mitmenschen und Kultur, auf ein Bewusstsein einwirken und für es sinnvoll sein? Merleau-Ponty nahm zu dieser Frage folgendermaßen Stellung:
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Die einzige Art und Weise, auf einen Geist zu wirken, besteht für ein Ding darin, ihm einen Sinn anzubieten, ihm zu erscheinen, sich vor ihm in seinen intelligiblen Zusammenhängen zu konstituieren (Merleau-Ponty 1976, S. 230).
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Diese intelligiblen Zusammenhänge wurden von Merleau-Ponty ebenfalls als Strukturen bezeichnet, als eine unlösliche Verbindung zwischen einer Idee und einer Existenz, als ein zufälliges »Arrangement, durch das Materialien vor unseren Augen einen Sinn annehmen«. Merleau-Ponty unterschied zwischen den der Materie anhaftenden Strukturen einerseits und der intelligiblen Bedeutung andererseits, die von Menschen den Dingen, der Natur und
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Kapitel • Maurice Merleau-Ponty
der Kultur zugeordnet wird. Strukturen oder Gestalten sind dem Philosophen zufolge dabei hierarchisch gegliedert:
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Materie, Leben und Geist müssen auf ungleiche Art an der Natur der Gestalt partizipieren, verschiedene Integrationsstufen darstellen und schließlich eine Hierarchie bilden, in der die Individualität sich immer stärker verwirklicht (Merleau-Ponty 1976, S. 151).
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Die Materie ist auf der untersten Strukturebene angesiedelt, darüber sind die Strukturebenen des Lebens und des menschlichen Daseins zu finden. Einzelne Ebenen sind durch unterschiedliche Strukturmerkmale und differente Grade der Integration charakterisiert. Den Menschen zeichnet aus, in seinem Verhalten die vorhandenen und geschaffenen Strukturen zum Teil übersteigen und neue schaffen zu können. Diese Merleau-Ponty‘schen Gedanken haben Relevanz für die Medizin. So entstehen Krankheiten nicht selten aus einer Reduktion des Gestaltund Strukturniveaus eines Menschen und verstärken ihrerseits solche Prozesse. Viele Suchtpatienten zum Beispiel nehmen schon vor ihrer manifesten Erkrankung wiederholt den Verlust höherer körperlicher, seelischer, sozialer oder geistiger Gestaltniveaus billigend in Kauf oder induzieren diese, um Entlastung von bedrängenden Situationen zu erreichen. Ein ausgeprägtes Suchtverhalten kann dementsprechend als Verlust von Ordnung, Sinn, Gestalt und Struktur auf verschiedenen Integrationsebenen (Körper, sozialer Nexus, geistige Leistungen) aufgefasst werden. Dabei lassen sich Funktionsstörungen, Substanzdefekte und Arretierungen auf niedrigeren Gestaltniveaus beschreiben. z
Die Wahrnehmung
Im Studium des Verhaltens hat Merleau-Ponty sich gleichsam von außen dem Menschen genähert. Das Studium der Wahrnehmung erforderte eine veränderte Perspektive des Forschers: Er versetzte sich quasi ins Innere eines Menschen. Die Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) kann daher als Fortsetzung und Ergänzung von Die Struktur des Verhaltens gelesen werden.
Wie in letzterem Buch nahm der Autor auch in Phänomenologie der Wahrnehmung zuerst Bezug auf bereits etablierte wissenschaftliche und philosophische Modelle seines Untersuchungsthemas. Dabei kritisierte er den Sensualismus wie auch den Assoziationismus und wies den rationalistischen und empiristischen Wahrnehmungstheorien Einseitigkeiten nach. Weder kann man die Wahrnehmung und damit das menschliche Bewusstsein als Anhäufung von Daten und Empfindungen beschreiben, die von außen unsere Sinne treffen und dann zu Bildern oder Melodien assoziiert und zusammengefasst werden, noch besitzt das Bewusstsein vorgefertigte Bilder oder Schablonen, mit denen es auf die Wirklichkeit losstürmt und diese dann konstituiert. Beiden sich scheinbar antithetisch einander ausschließenden Positionen bescheinigte MerleauPonty einen inneren Verwandtschaftsgrad, der sich in einem gemeinsamen Vorurteil zu erkennen gibt – im Vorurteil einer fertigen und in sich geschlossenen Welt:
» So ist die Verwandtschaft von Empirismus und Intellektualismus eine noch verborgenere und tiefere als man annimmt. Sie entspringt nicht allein der von beiden zugrunde gelegten anthropologischen Definition der Empfindung, sondern grundsätzlicher noch der Ungebrochenheit einer natürlichen und dogmatischen Einstellung in beiden … Beide sind Ausdruck des Vorurteils eines vollkommen expliziten Universums an sich (Merleau-Ponty 1966, S. 61ff.).
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Wie schon beim menschlichen Verhalten verwendete Merleau-Ponty auch zur Beschreibung der menschlichen Wahrnehmung die Begriffe Gestalt, Sinn, Ordnung und Struktur. Die Wahrnehmung wurde für ihn zu einem aktiv-passiven Vorgang, der die Welt in manchen Aspekten erst entstehen lässt respektive sie verändert. Wahrnehmung, Wahrnehmender und Wahrgenommenes sind eng miteinander verwoben und bedingen und schaffen sich gegenseitig. Der Mensch als Sucher und Schöpfer von Wert und Bedeutung beweist diese Fähigkeiten anhand jeder einzelnen Wahrnehmung, welche die Bruchstücke vorgezeichneter Sinnstrukturen der Welt er-
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ahnt und zu prägnanten Gestalten ergänzt. Wahrnehmendes Bewusstsein und wahrgenommene Welt zusammen ergeben Ordnung und Sinn, ohne dass einem der beiden dabei der Primat des Dominierenden zufiele. Das Bewusstsein kippt nicht Sinn und Bedeutung über das Wahrgenommene und rührt diese dann der Welt unter; vielmehr wird partieller, der Welt innewohnender und sich spontan organisierender Sinn wahrgenommen, ergänzt und gesteigert:
» Doch wenn nun auch die Gestalt in Form eines inneren Gesetzes ihren Ausdruck finden kann, so ist doch ein solches Gesetz nie als so etwas wie ein Modell zu betrachten, nach dem die Strukturphänomene sich realisierten … Sie ist nicht Bedingung der Möglichkeit der Welt, sondern Erscheinung der Welt selbst, nicht Erfüllung, sondern Entstehung einer Norm, nicht Projektion eines Inneren ins Äußere, sondern Identität des Inneren und Äußeren (Merleau-Ponty 1966, S. 85).
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Ähnlich wie das Verhalten oder die Handlungen eines Menschen können auch seine Wahrnehmungen als schöpferische Aktivitäten interpretiert werden, die ihn mit der Welt verweben. Wahrnehmend schafft er Situationen und lässt sich auf sie ein. Mit Situationen sind nun nicht nur Konstrukte, Modelle und Ergebnisse von Wissenschaft oder Philosophie gemeint. Wahrnehmung findet viel mehr und häufiger vor dem Hintergrund und im Bereich der Lebenswelt statt, zu der wir uns normalerweise im Modus des Urglaubens einstellen und verhalten:
» Wir glauben an das, was wir sehen, vor jeder Verifikation … Allen Wahrnehmungen im eigentlichen Sinne also liegt tragend zugrunde eine tiefere Funktion, ohne deren Vollzug den wahrgenommenen Gegenständen der Index der Realität selbst fehlte, so wie er beim Schizophrenen fehlt, und kraft deren sie erst für uns zählen und gelten. Es ist die Bewegung, die uns über die Subjektivität hinausträgt, die uns vor aller Wissenschaft und vor aller Verifikation in einer Welt begründet – durch eine Art Urglauben oder ursprüngliche Meinung, oder aber in unseren privaten Erscheinungen gleichsam versandet (Merleau-Ponty 1966, S. 394f.).
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Mit seiner Theorie der Wahrnehmung hat MerleauPonty Anregungen für die Medizin und Anthropologie sowie ein interessantes Erklärungsmodell für Trugwahrnehmungen formuliert. Wenn Wahrnehmung wesentlich mit einem Urglauben an die Welt und die anderen Menschen verknüpft ist, wird verständlich, warum Halluzinationen – egal ob durch Drogen oder Alkohol induziert oder im Rahmen von psychotischen Erkrankungen auftretend – Symptome sind, die sich vor dem Hintergrund von Lockerung der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Distanz und Misstrauen zur Welt ereignen. Beinahe unmerklich nämlich korrigiert, bestätigt und erzeugt der soziale Nexus der Mitmenschen unsere Wahrnehmungen. Entfällt dieser Korrekturfaktor aufgrund von Deprivation und Vereinsamung, begünstigt dies das Auftreten von psychopathologischen Symptomen wie Wahn und Halluzination. Menschen sind – ob sie dies wollen oder nicht – stets auf wohlwollende und zugewandte Interaktion mit anderen angewiesen, wenn sie hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen und Urteile einigermaßen gesund und funktionstüchtig bleiben wollen – oder aber sie versinken in Einsamkeit, Angst und eventueller Psychose. z
Der Leib
Medizin und Philosophie sind seit Jahrhunderten bemüht, eine Beschreibung des menschlichen Leibes in seinen verschiedenen Verfassungen und Dimensionen zu liefern. Vor allem für eine stimmige Leibtheorie, welche die biomedizinischen ebenso wie die psychosozialen und soziokulturellen Aspekte des menschlichen Leibes berücksichtigt, bieten die Ausführungen Merleau-Pontys wertvolle Anregungen:
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Der Körper ist ein Rätsel: einerseits ist er ein Teil der Welt, aber er ist in seltsamer Weise einem absoluten Verlangen als dessen Wohnstatt preisgegeben, sich dem anderen zu nähern und ihn auch in seinem Körper zu finden als einem belebten und belebenden, natürlichen Ausdruck des Geistes (Merleau-Ponty 1984, S. 120).
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Jenseits der Antagonismen von Ding oder Bewusstsein, empiristischer Außen- oder rationalistischer
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Kapitel • Maurice Merleau-Ponty
Innenansicht, Physiologie oder Psychologie, Subjektivem und Objektivem, Leib und Seele oder Materie und Geist verstand Merleau-Ponty den Leib primär als gelebte und erlebte Totalität. Für ein naives Bewusstsein, so betonte er, ist
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… die Einheit des Menschen … noch nicht zerbrochen, der Leib ist noch nicht der menschlichen Attribute beraubt und noch nicht zu einer Maschine geworden, die Seele ist noch nicht definiert als Existenz für sich. Das naive Bewusstsein sieht in der Seele nicht die Ursache für die Bewegungen des Körpers, und ebenso wenig setzt es sie in den Körper wie den Schiffer in sein Schiff (MerleauPonty 1976, S. 218).
ist der eines Dinges. Da er aber sieht und sich bewegt, hält er die Dinge in seinem Umkreis, sie bilden einen Anhang oder eine Verlängerung seiner selbst, sind seine Kruste und bilden einen Teil seiner vollen Definition, wie auch die Welt aus eben dem Stoff des Körpers gemacht ist. Diese Verkehrungen und Antinomien sind verschiedene Arten, zu sagen, dass das Sehen mitten aus den Dingen heraus geschieht, da, wo ein Sichtbares sich anschickt zu sehen, zum Sichtbaren für sich selbst durch das Sehen aller Dinge wird und die ursprüngliche Einheit des Empfindenden mit dem Empfundenen besteht wie die des Wassers im Eiskristall (Merleau-Ponty 2003b, S. 16f.).
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Der Leib ist biologische und psychologische Basis aller nur erdenklichen Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Intentionen und Handlungen. Die seit Descartes zitierte Dichotomie von »res extensa« und »res cogitans« wollte Merleau-Ponty am Leib überwunden wissen. Den Geist, das »cogito«, sah er als inkarniert und damit als nur bedingt frei an:
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Die höheren Verhaltensweisen geben dem Leben des Organismus einen neuen Sinn, doch verfügt der Geist hier lediglich über eine überwachte Freiheit (liberté surveillée). Mehr noch: Der Geist benötigt einfachere Aktivitäten, um sich als dauernde Institution im Organismus stabilisieren und verwirklichen zu können (Merleau-Ponty 1973, S. 4).
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Nur über den Leib nehmen Menschen wahr, denken sie nach und werden sie welthaltig: »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben« (Merleau-Ponty 1966, S. 176). Dieses Medium der Welthabe verankert sie gleichzeitig in der Welt – der Einzelne respektive sein Leib hat Welt, und die Welt hat ihn respektive seinen Leib. Ähnlich verhält es sich mit seiner Fähigkeit zu Erkenntnissen, seinem Bewusstsein, den Wahrnehmungen sowie dem Verhältnis von Passivität und Aktivität, welches dem menschlichen Leib eigen ist:
» Sichtbar und beweglich zählt mein Körper zu den Dingen, ist eines von ihnen, er ist dem Gewebe der Welt verhaftet, und sein Zusammenhalt
Im natur- und gleichzeitig Ich-haften Leib gönnen sich Natur und Welt ein reflexives Gegenüber, das sich – willkürlich und unwillkürlich zugleich – intentional zur Welt verhält und diese bedenkt. Wahrnehmen, Erkennen, Denken, Fühlen und Wollen werden jedoch nicht vollständig von Menschen als Zentren dieser Akte hervorgebracht. Vielmehr stellt der Leib die Quelle einer uneigentlichen Intentionalität dar, in dem sich Bedingtes und Bedingendes, Prägendes und Geprägtes andauernd abwechseln. Er bedeutet die Voraussetzung des Existenzvollzugs, ohne als Organismus nur eine Ansammlung von Organen zu sein:
» Das Auge ist für ein Denken, das in dieses hinabsteigt, viel mehr als ein Anlass zum Sehen – viel mehr als Mittel oder Organ – es ist Wiege des Sehens, wie der Leib die eines Lebens ist (MerleauPonty 2000c, S. 301f.).
«
Der Leib ist ein aktiv-passives Zentrum, in dem sich Welt und Ich, Geist, Kultur und Natur, Bewusstsein und Materie verflechten, ohne dass es möglich wäre, dem einen oder dem anderen die Rolle des Primären zuzuschreiben. In diesem natürlichen und gleichzeitig kulturellen Leib, diesem inkarnierten Bewusstsein, verschlingen sich psychologische Motive und körperliche Anlässe,
» … da keine Bewegung des lebendigen Leibes psychischen Intentionen gegenüber absolut zufällig ist, aber auch kein psychischer Akt, der nicht in physiologischer Anlage wenigstens seinen Keim
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Conclusio
oder seine allgemeine Vorzeichnung hätte (Merleau-Ponty 1966, S. 113).
«
Hätten Menschen nur Bewusstsein und keinen Leib, lebten sie wie eine flattrige Seele, die sich nach Grenzen und Gewichten sehnt, um Wirkung zu entfalten und zu den Dingen und den anderen Menschen zu gelangen. Nur über den Leib geraten Menschen auf die Bühne des Lebens, die sie ansonsten immer nur als Guckkasten vor sich sähen, ohne je als Akteur in Erscheinung zu treten. Der Leib bedeutet zwar eine andauernde Hürde und Grenze für alle Impulse, Intentionen, Aktivitäten und konkreten Taten: Nicht selten erlebt man ihn als müde, abgespannt oder hungrig und damit nicht immer als tauglich, den diversen Plänen und Vorstellungen Realität zu verleihen. Aber er verhindert gleichzeitig, dass Menschen bloße »Ritter des Möglichen« (Sören Kierkegaard) bleiben, die lediglich den Konjunktiv oder den »Möglichkeitssinn« (Robert Musil) kennen und ansonsten über das Relief der Welt hinweghuschen, ohne mit der Wirklichkeit innigen Kontakt zu haben:
» Ohne ihn hätten wir keine Welt, keine Gesamtheit von Dingen, die aus dem Formlosen emportauchen, indem sie sich unserem Leib darbieten als »zu berühren«, »zu nehmen«, »zu bezwingen«, wir hätten nie das Bewusstsein, uns den Dingen anzupassen und sie daselbst zu erreichen, wo sie sind, jenseits unser selbst … wir wären nicht zur Welt, selbst deren Schauspiel zugehörig und gleichsam den Dingen beigemischt, wir hätten lediglich die Vorstellung eines Universums (Merleau-Ponty 1966, S. 500f.).
«
Diese Gedanken Merleau-Pontys über den Leib und seine Bedeutung für Konstituierung, Wahrnehmung und Realisierung von Welt bestätigen sich durch Beobachtungen im Bereich der Psychopathologie. So berichten Patienten mit manischer Erkrankung oder Menschen mit hypomanischer Stimmungslage von einem Übermaß an Freiheit bezüglich ihrer Pläne, Entwürfe und imaginierten Rollen, die sie realisieren wollen. Dabei erleben sie fast keine Grenzen und empfinden den Widerstandskoeffizienten der Welt als minimal. Auch der Körper schließt sich bei manischen Patienten
dieser Art des Existierens an und weist Symptome wie Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Getriebensein und ein reduziertes Ruhebedürfnis auf. In der Regel kann ein derart Erkrankter seine Körpersignale kaum mehr wahrnehmen oder situationsadäquat beantworten. Umgekehrt empfinden depressiv verstimmte Menschen ihre Welt. Sie schildern ihr Dasein als trist und wie vernagelt; ihre Freiheitsgrade scheinen merklich eingeschränkt. Der Leib schiebt sich als »grober Klotz« oder als »schwerfälliger Sack« in den Vordergrund, ohne dabei als Ort spontan entspringender Intentionalität zu fungieren. Müde, abgespannt und in sich zusammengefallen, bedeutet er für den depressiven Patienten mehr Last als Lust, mehr Materie denn beseelte und vergeistigte Biologie. Manisch wie depressiv verstimmte Patienten schildern neben den erwähnten Symptomen auch eine Störung bezüglich der Wahrnehmung oder Realisierung von Sinn und Bedeutung in ihrem Leben. Eklatant tritt dies im Rahmen von schweren Depressionsschüben in Erscheinung, die von massivem Sinnlosigkeitserleben geprägt sind. Aber auch in der Manie kann das erkrankte Individuum den um es herum befindlichen Sinn seiner Existenz kaum mehr erkennen und handelt dementsprechend sinn- und ziellos, unkonzentriert und ohne Effekt und Durchsetzungskraft.
Conclusio In seinem Buch Das Sichtbare und das Unsichtbare hat Merleau-Ponty weiterführende Gedanken zum Thema des menschlichen Leibes entwickelt. Dabei verwendete er Bilder und Metaphern wie »rohes« und »wildes Sein«, »Fleisch« oder »Blätter« (»feuillets«), um Charakteristisches am Menschen – seine Naturhaftigkeit und sein gleichzeitig vorhandenes Bewusstsein – in Worte zu fassen. An dieser veränderten Terminologie lässt sich ablesen, wie sehr der Philosoph um eine neuartige Sprache gerungen hat, welche das Wesen des Menschen adäquat widerspiegeln sollte. Die dabei verwendeten Ausdrücke stammen nicht mehr allein aus der Philosophie; eher erinnern sie an Begrifflichkeiten aus der bildenden Kunst und der Poesie.
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Kapitel • Maurice Merleau-Ponty
Den menschlichen Leib als rohes oder wildes Sein oder auch als Fleisch wahrzunehmen und ihn damit als »être brut« zu begreifen, erfordert Merleau-Ponty zufolge eine entsprechend unbehauene oder wilde Wahrnehmung, wie sie am ehesten bei kleinen Kindern oder Künstlern oder in manchen Formen von Psychosen anzutreffen ist. Wenn man sich und die Welt auf diese Art betrachtet, erlebt man den Leib als Verlängerung und Teil der Natur oder als eingelassen in sie. Diese Teilhabe an der Natur und am Kosmos geht soweit, dass jeglicher Anthropozentrismus in Frage gestellt wird. Nicht ein unabhängiges Subjekt bedenkt und konstituiert Mitmenschen, Kultur und Kosmos. Vielmehr bedeuteten Phänomene wie Bewusstsein, Denken und Fühlen für den Philosophen nur die konkave Seite des konvexen Körpers, und als solche gehören sie ebenso zur Natur wie der ganze übrige Organismus:
»
Die Seele ist in den Leib eingepflanzt wie der Pflock in den Boden, ohne punktuelle Entsprechung zwischen Boden und Pflock, – oder besser: Die Seele ist die Höhle des Leibes, der Leib ist das Anschwellen der Seele. Die Seele hängt dem Leib so an, wie den Dingen ihre kulturelle Bedeutung anhängt, deren Kehrseite oder andere Seite sie ist (Merleau-Ponty 1986, S. S.295).
«
Seele, Geist und Bewusstsein sind Bedeutungen des menschlichen Leibes. In ihnen manifestiert sich ein unsichtbarer Sinn, welcher der Natur als Potentialität innewohnt und der von den Menschen sichtbar gemacht und realisiert werden soll. Merleau-Pontys Titel vom Sichtbaren und Unsichtbaren bezog sich vor allem auf diesen Aspekt des Sinns, der durch die Menschen und ihre sehr eigene Weise des Daseins seinen Aggregatzustand wechselt und zum Ausdruck gebracht wird. Diesen Sinn gibt es zwar auch ohne die Menschen; aber er braucht sie, um sichtbar zu werden. Falls je die Menschheit untergehen sollte, wird er wieder ganz im Unsichtbaren verharren. Als ein einheitliches Zentrum von Bedeutungen ähnelt der Leib mindestens so sehr einem Kunstwerk wie einem physikalisch-chemisch-biologischem Gegenstand. Kunstwerke, meinte Merleau-Ponty,
» … sind Individuen, in denen Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind, deren Sinn nur in unmittelbarem Kontakt zugänglich ist und die ihre Bedeutung ausstrahlen, ohne ihren zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen. In diesem Sinne ist unser Leib dem Kunstwerk vergleichbar (Merleau-Ponty 1966, S. 181f.).
«
So wie Kunstwerke nur als einheitliche Gestalt wirken, so zerfällt das Wesen des menschlichen Leibes, sobald man seine Elemente separiert. Zwar lassen sich Einzelheiten und Schichten an diesem Leib differenzieren und getrennt untersuchen: der Körper von Physiologen und Anatomen, die Seele von Psychologen, der Geist von Philosophen und Neurowissenschaftlern, das Verhältnis dieser Schichten zueinander von den Anthropologen. Doch der Mensch als Leib ist kein aus diesen a posteriori konstruierten Entitäten zusammengesetztes Commercium, sondern immer schon wie aus einem Wurf, einem Schlag – Totalität. Dieser Totalität, diesem nur künstlich zu dividierenden Körper-Seele-Geist-Sein und ihrer natürlich-kulturellen Verwobenheit werden sich Menschen oftmals erst bewusst, wenn sich in Situationen von Krankheit Teile dieses Kunstwerks in den Vordergrund drängen und damit das Muster, der Sinn und die Bedeutung des Leibes unkenntlich werden oder sich zu Fakten und Formen der Pathologie verändern. Es gehört zu den zukünftigen Aufgaben der Medizin, diese Aspekte des Menschseins in Theorie und Praxis der Diagnostik und Therapie von Patienten zu berücksichtigen. Merleau-Pontys Denken und hier besonders seine Anläufe der 50er Jahre, den menschlichen Leib in einer ungewohnten Sprache zu beschreiben, bieten dafür inspirierende Anregungen, welche die Heilkunde zwischen den Wissenschaften von Natur und Kultur, den Künsten und der Philosophie ausspannen.
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Tiefenpsychologie Sigmund Freud – 187 Alfred Adler – 201 C. G. Jung – 215 Karen Horney – 229 Josef Rattner – 243
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Sigmund Freud Biographisches – 188 Werkanalyse – 190 Conclusio – 196 Literatur – 199
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Kapitel • Sigmund Freud
Biographisches
. Abb. 1 Sigmund Freud (*1856; †1939). (Aus Stumm et al. 2005)
Wer je beabsichtigt, eine Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu verfassen, wird sich veranlasst sehen, Freud und dessen Psychoanalyse als hervorragend ins Zentrum einer solchen Darstellung zu rücken. Weit über eine Seelenkunde oder medizinische Therapiemethode hinaus hat Freud das Lebensgefühl, die Weltanschauung und das Menschenbild von Generationen entscheidend mitbestimmt. Seine Wirkung blieb weder auf Europa und die westliche Welt noch auf Medizin und Psychologie beschränkt. Seine Gedanken haben in fast alle Geistes- und Humanwissenschaften ebenso wie in Kunst, Politik und Wirtschaft Eingang gefunden, und viele der von ihm geprägten oder oft benutzten Begriffe wie Verdrängung, Unbewusstes, Über-Ich, Narzissmus, Penisneid, Kastrationsangst, Triebschicksal und Sublimierung werden heute wie selbstverständlich in der Alltagssprache benutzt. Hinsichtlich der medizinischen und teilweise auch philosophischen Anthropologie wirkte Freuds Psychoanalyse in hohem Maße Modell bildend und innovativ. Wer immer sich seither mit der Frage nach der menschlichen Natur in Krankheit und Gesundheit beschäftigte, war gut beraten, auf die Befunde des Wiener Arztes Bezug zu nehmen und sie zustimmend oder ablehnend in die eigenen Überlegungen zu integrieren. In Goethes Faust stellt Gretchen die bekannte Frage: »Wie hältst Du’s mit der Religion?« Die Gretchenfrage für die Anthropologen im 20. und 21. Jahrhundert lautet unserer Ansicht nach: »Wie hältst Du’s mit der Psychoanalyse?« Kritik an den Konzepten Freuds ist legitim und sinnvoll; seine Lehre jedoch zu übergehen disqualifiziert den Ignoranten als rückständig und kulturarm (. Abb. 1).
Die Lebensgeschichte Freuds wurde in den Jahren seit seinem Tod 1939 oft und kompetent erzählt. Erwähnt seien lediglich die Biographien von Ernest Jones (Das Leben und Werk Sigmund Freuds, 1960ff.), Max Schur (Sigmund Freud – Leben und Sterben, 1973), Hanns Sachs (Freud – Meister und Freund, 1982) und Peter Gay (Freud – Eine Biographie für unsere Zeit, 1995). In unserem Zusammenhang beschränken wir uns daher auf wenige lebensgeschichtliche Daten. Sigmund Freud wurde 1856 in Freiberg in Mähren in eine jüdische Familie hineingeboren. Sein Vater war ein Kaufmann, der 1859 mit seiner Familie nach Wien übersiedelte. Dort absolvierte Sigmund seine Schulzeit und bestand das Abitur als Klassenbester, was ihn in seiner Überzeugung bestärkte, für besondere Aufgaben prädestiniert zu sein. Als Studienfach wählte er Medizin, obschon er später in einem Brief eingestand, dass er als junger Mensch keine andere Sehnsucht als diejenige nach philosophischer Erkenntnis gekannt habe. Indem er als Arzt die Medizin zur Psychologie hin wendete, habe er dieser frühen Sehnsucht letztlich doch Rechnung getragen. Nach seinem Studium arbeitete Freud als Assistent zuerst im Bereich der Neuroanatomie; in diesem Fach erwartete er bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse. Weil damals eine akademische Karriere für Juden jedoch nicht sicher schien, eröffnete er eine Privatpraxis. Dadurch hoffte er, seinen Lebensunterhalt verdienen und aufgrund einer soliden ökonomischen Basis seine Braut Martha Bernays ehelichen zu können. Martha stammte aus einer wohlhabenden Hamburger Familie. Zur Eheschließung kam es 1886. Bald darauf zog das Paar in die Berggasse 19, nahe am Zentrum Wiens gelegen, wo die Freuds beinahe fünfzig Jahre lang wohnen blieben. Einen Teil der großzügigen Etage nutzte Freud als Praxisräume; im anderen Teil fand das Privatleben der nach und nach vielköpfigen Familie statt. Das Ehepaar Freud hatte sechs Kinder; außerdem lebte Minna, die vier Jahre jüngere Schwester Marthas, über viele Jahre in der Berggasse 19.
Biographisches
1885 war Freud die Habilitation in Neuroanatomie und -pathologie gelungen. Im Anschluss daran unternahm er eine Forschungsreise nach Paris, wo er an der Salpêtrière Jean-Martin Charcot und dessen neuartige Form der Diagnostik und Therapie von Hysterien kennenlernte. Nach Wien zurückgekehrt, berichtete er darüber begeistert seinen ärztlichen Kollegen; seine Schilderungen stießen jedoch auf wenig Gegenliebe. Die Begegnung mit Charcot sowie später mit Hippolyte Bernheim und A. A. Liébeault in Nancy bestärkten Freud in seiner Absicht, Spezialist für Nerven- und Gemütskrankheiten zu werden. Er befreundete sich mit dem Wiener Arzt Joseph Breuer, mit dem zusammen er 1895 die Studien über Hysterie publizierte. Darin wurden anhand von novellenartig verfassten Fallgeschichten erste Grundlagen der Psychoanalyse gelegt. In den kommenden Jahren entwickelte Freud sowohl seine Praxis als auch seine schriftstellerischen Aktivitäten mächtig weiter. Tagsüber war er viele Stunden mit Patienten beschäftigt, die er bald im Sinne der neuen psychoanalytischen Seelenheilkunde behandelte. Die von Charcot übernommene Methode der Hypnose ersetzte er durch die Techniken von freier Assoziation und Traumdeutung, wozu er seine Schützlinge auf die Couch legte. Nachts schrieb er an seinen Manuskripten. 1900 veröffentlichte er Die Traumdeutung. Mit diesem Buch, das viele Träume des Begründers der Psychoanalyse enthält, wurden die Konturen der Psychoanalyse geschärft. Dem Autor gelang es darin, seine Seelenkunde als eine dynamische Psychologie des Unbewussten zu entwerfen und einige ihrer wesentlichen Mechanismen freizulegen. Ab 1902 lud Freud ärztliche Kollegen zu sich ein, um mit ihnen über Praxis und Theorie der Psychoanalyse zu diskutieren. Aus dem ursprünglich kleinen Kreis (Alfred Adler, Max Kahane, Wilhelm Stekel und Rudolf Reitler) erwuchs bald die sogenannte Mittwochsgesellschaft, in der sich schließlich über zwanzig Schüler und Sympathisanten von Freud einfanden und mit ihm über Entwicklung und Anwendungsmöglichkeiten der psychoanalytischen Lehre debattierten. Dabei wurde ersichtlich, dass neben Medizin und Psychologie vor allem die Künste und Geisteswissenschaften von Freuds neuartigen Ideen pro-
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fitieren konnten. Der junge Psychoanalytiker Otto Rank wurde zum Protokollanten der Gesellschaft ernannt; seine später publizierten vierbändigen Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung spiegeln die imposante intellektuelle und kulturelle Weite der damaligen Freud-Schule wider. Nach Die Traumdeutung gab Freud eine Reihe weiterer Texte heraus, in denen er die Praxis und Theorie der Psychoanalyse ausbaute und erste Schritte zu einer psychoanalytischen Kulturtheorie unternahm: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904); Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905); Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905); Totem und Tabu (1913) sowie Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917). Den Ersten Weltkrieg registrierte Freud anfänglich und nur für kurze Zeit als Patriot. Später fasste er dessen grauenhaften Verlauf als Beleg für seine Theorie von der triebhaften menschlichen Aggression sowie der blinden Unterwerfung der Massen (z. B. Soldaten) unter ihre Führer auf. In Jenseits des Lustprinzips (1920) sowie in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) versuchte er diese Phänomene mittels psychoanalytischer Theorien zu erklären. In den 20er Jahren erlebten Freud und die Psychoanalyse Siege und Niederlagen zugleich. Mit Das Ich und das Es (1923) sowie Hemmung, Symptom und Angst (1926) gelangen dem Meister wichtige Schriften zur Abrundung seines Seelenmodells. Auf Kongressen und in Ortsgruppen verschiedener europäischer Länder (Ungarn, Deutschland, Schweiz, England) wurde der internationale Charakter der Psychoanalyse offenkundig. Aufgrund seiner Forschungsarbeiten wurde Freud schließlich mit einer Professur an der Wiener Universität sowie 1930 mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt geehrt. Zu diesen Erfolgen gesellten sich jedoch auch Rückschläge und persönliche Erschütterungen. So hatte Freud (nachdem es zuvor schon zu schmerzhaften Trennungen von Alfred Adler, C. G. Jung und Wilhelm Stekel gekommen war) den Verlust einiger seiner talentiertesten Schüler zu verkraften: Karl Abraham starb 1926 in Berlin, zur selben Zeit machte sich Otto Rank selbstständig, und Sándor Ferenczi entwickelte eine Therapiemethode (Austausch von Zärtlichkeiten mit Analysanden), die für Freud nicht tragbar war.
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Kapitel • Sigmund Freud
Über diese Enttäuschungen hinaus hatte der Begründer der Psychoanalyse seit 1923 mit einem Gaumenkrebsleiden zu kämpfen, das in den folgenden Jahren viele operative Eingriffe notwendig machte. Freud reagierte mit enormem Stoizismus sowohl auf seine Krankheit als auch auf den Weggang von engen Mitarbeitern. Energisch arbeitete er nun an jenen Schriften, die man als sein Alterswerk bezeichnet, und die sich vorrangig durch Kultur- und Ideologiekritik auszeichnen. Den Auftakt dazu bildete die religionskritische Abhandlung Die Zukunft einer Illusion (1927). Es folgten die Texte Das Unbehagen in der Kultur (1930), Warum Krieg? (1933) sowie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1936–39); letzteres Buch hielt Freud gedruckt im Londoner Exil in Händen. Dorthin war er mit seiner Familie geflohen, nachdem Nazi-Deutschland 1938 Österreich an das Dritte Reich »angeschlossen« und die Gestapo den alten Mann massiv unter Druck gesetzt hatte. Als das Leiden übermächtig wurde, bat Freud seinen Leibarzt Max Schur, der ihn seit Jahren betreute und mit ihm ins Exil gegangen war, um eine tödliche Dosis Morphium, die er erhielt. Nach seinem Tod sorgten seine Tochter Anna und einige Schüler für die Herausgabe der Gesammelten Werke, die als Imago-Ausgabe in 19 Bänden vorliegen.
Werkanalyse Im Rahmen dieses Buches wäre es unpassend, Freuds Schriften im Hinblick auf ihre klinischen oder kulturanalytischen Aussagen oder sogar in toto würdigen zu wollen. Stattdessen werden lediglich einige wesentliche psychoanalytische Begriffe herausgegriffen, um die in ihnen enthaltenen medizinisch-anthropologischen Annahmen zu erläutern. z
Das Unbewusste
Freuds Psychoanalyse gilt als die Psychologie des Unbewussten schlechthin. Nicht immer wird dabei bedacht, dass Freud diesbezüglich in einer langen Tradition stand, die bis auf Leibniz und Schelling zurückgeht. Vor allem die Romantiker (besonders Carl Gustav Carus) sowie Arthur Schopenhauer
und Friedrich Nietzsche haben wertvolle Beiträge hinsichtlich des Konzepts des Unbewussten geleistet, die Freud nicht vollständig kannte und nur teilweise zitierte. Eher schon verwies er auf Charcot und Bernheim als Quellen seiner Inspiration. Erste Erfahrungen mit dem Phänomen des Unbewussten sammelte Freud in seiner Praxis beim Umgang mit hysterisch erkrankten Patienten. An ihnen erkannte er, dass sie mit ihren Symptomen gerade jene Konflikte und Daseinsnöte unbewusst zum Ausdruck brachten, die sie bewusst nicht benennen konnten. In den Studien über Hysterie hat Freud dazu beeindruckende Fallbeispiele veröffentlicht. So zeigte er an der Patientin Elisabeth von R., die nicht stehen und gehen konnte, dass sie mit diesen körperlichen Beschwerden ihrer Umwelt unbewusst mitteilte, wie beschwerlich ihr das alleine und aufrecht Stehen (auch im übertragenen Sinne) falle, und wie sehr sie darunter leide, dass es in ihrem Leben »nicht weiter gehe«. Als kaum zu widerlegenden Hinweis auf die Existenz des Unbewussten wertete es Freud, dass die Symptome der Patientin zumindest für kurze Zeit verschwanden, wenn es ihr gelang, mit ihm direkt über ihre Daseinsnöte zu sprechen. Der Meister bezeichnete solche therapeutischen Gespräche als kathartische Bewusstmachung des Unbewussten, wobei er in der Frühzeit der Psychoanalyse überzeugt war, damit den entscheidenden Heilfaktor entdeckt zu haben. Später musste er zugeben, dass daneben noch weitere Veränderungen beim Patienten nötig sind, um dessen hysterische Krankheit nachhaltig günstig zu beeinflussen. Die Beobachtungen rund um das Krankheitsbild der Hysterie sowie die partiellen Erfolge durch die Verbalisierung von Konflikten (später als »talking cure«, also als analytische Gesprächstherapie bezeichnet) bewogen Freud zur Formulierung seines Konzepts des zweigeteilten Seelenlebens. Er war überzeugt, dass es nicht nur bei hysterisch erkrankten Patienten, sondern bei allen Menschen bewusste und unbewusste psychische Anteile gibt, wobei sich die Bewusstmachung des Unbewussten häufig als schwer zu bewerkstelligende Aufgabe erwies. Mit der Idee, dass unbewusste Konflikte und Nöte beim Menschen körperliche Beschwerden
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Werkanalyse
und Krankheiten hervorrufen können, erweiterte Freud das Spektrum pathogener Faktoren beträchtlich. Um 1900 stritten Humoral- und Zellularpathologen miteinander, ob Erkrankung als Resultat veränderter Körpersäfte oder veränderter Zellverbände zu verstehen sei. So oder so war damals die Überzeugung weit verbreitet, dass Traumen (Unfälle, Verbrennungen) oder Erreger (Tuberkelbakterien, Spirochäten und andere Mikroben) für die Entstehung von Krankheiten verantwortlich zu machen sind. Dass Freud im Rahmen seiner Lehre vom Unbewussten auch psychosoziale Belastungen und Erschütterungen in den Rang ernsthafter Pathogenesefaktoren erhob, klang in den Ohren seiner ärztlichen Kollegen ungewöhnlich und für manche regelrecht provozierend. Erst in den folgenden Jahrzehnten würdigte man die Studien zur Hysterie als Vorläufer psychosomatischer Krankheitsmodelle. Die Existenz und Wirkungsmächtigkeit des Unbewussten hat Freud in Die Traumdeutung sowie in Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904) weiter beschrieben. Seiner Meinung nach waren es vor allem die Phänomene des Traums, welche die Hypothese eines seelisch Unbewussten stützten. Dabei ging er von folgender Traumtheorie aus: Die Anregung zum Traum stammt aus einem Erlebnis des Vortages (Tagesrest), das unbewusste seelische Tiefenschichten des Träumers affiziert. Dieses Erlebnis stimuliert alte Erinnerungen und Wünsche, die keinen Zugang zum wachen Bewusstsein haben. Vor allem infantil-sexuelle Reminiszenzen melden sich im Traum und suchen symbolische Wunscherfüllung. Eine direkte Darstellung dieser Wünsche und ihrer Befriedigung widerspräche in der Regel den Wertvorstellungen des Träumers. Daher wacht eine Art Zensor darüber, dass dieses infantile Material nicht unverstellt ins Bewusstsein eindringt. Im Traum herrschen nach Freud andere Gesetze als im wachen Leben. Es dominiere der sogenannte Primärprozess, bei dem – anders als beim Sekundärprozess des Bewusstseins – Zeit- und Raumvorstellung ebenso wie die Logik außer Kraft gesetzt sind. Verschiebungen, Verdichtungen, Verkehrungen ins Gegenteil und Symbolisierungen sorgen dafür, dass unbewusste infantile Wünsche
vom innerseelischen Zensor nicht erkannt werden und als eigentümliche Traumbilder dem Träumenden beim Erwachen zu interpretierende Rätsel aufgeben. In Zur Psychopathologie des Alltagslebens beschrieb Freud erneut die Existenz und das Wesen des Unbewussten. Fehlleistungen wie Vergessen, Verlesen, Verschreiben, Verlegen und andere Symptom- und Zufallshandlungen bedeuteten ihm untrügliche Nachweise für das Walten des Unbewussten. Wie ein Kobold wirke dieses Unbewusste im Normalleben des Menschen, so dass sich für ihre Charakterisierung der Autor zu dem Motto aus Goethes Faust berechtigt fühlte: »Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, dass niemand weiß, wie er ihn meiden soll.« In Die Traumdeutung und Zur Psychopathologie des Alltagslebens imponiert das Unbewusste als eine Art Zweitpersönlichkeit, die im Gegensatz zur bewussten Persönlichkeit steht. Der wache und bewusst denkende Mensch ist einigermaßen vernünftig und moralisch, indes seine Träume und Fehlleistungen ihn als triebhaftes, perverses, egozentrisches und antisoziales Wesen erscheinen lassen. Freud war der festen Meinung, dass das Unbewusste nicht nur eine gewisse Autonomie, sondern ein deutliches Übergewicht über den Vordergrund der Person aufweist. Mit seinem Konzept des Unbewussten entwarf er ein Menschenbild, bei welchem die Tiefenpersönlichkeit viel mehr Kraft und Macht als das oberflächliche Bewusstsein besitzt. Die Beschreibung des Unbewussten durch ihn rechnete Freud zu den drei großen Kränkungen der Menschheit. Die erste Kränkung sei auf Kopernikus zurückzuführen, der gezeigt hatte, dass sich die Erde (und damit auch der Mensch) nicht im Mittelpunkt des Weltalls befindet. Die zweite Kränkung gehe auf das Konto von Charles Darwin, welcher die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich (die Affen als unsere allernächsten Verwandten) nachgewiesen habe. Die dritte Kränkung bestehe im psychoanalytischen Konzept des unbewussten Seelenlebens, das deutlich mache, dass der Mensch nicht mehr Herr im eigenen Hause ist. z
Die Triebe
Man kann verstehen, dass sich Freud aufgrund seiner Forschungen zum Unbewussten als ein Colum-
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Kapitel • Sigmund Freud
bus verstand, der einen neuen Kontinent – dieses »wahre innere Afrika«, wie Jean Paul schon um 1800 die unbewussten Seelenanteile genannt hat – entdeckte und bereiste. Dabei stieß er auf zwei Arten von »Ureinwohnern«, die er in immer neuen Anläufen beschrieb: die Triebe sowie das Verdrängte. Man hat Freud als typischen Vertreter einer materialistischen und biologistischen Wissenschafts- und Weltanschauung bezeichnet, was sich innerhalb seiner Psychoanalyse besonders deutlich an der Trieblehre demonstrieren lässt. Der Meister musste im Alter zwar zugestehen, dass er trotz aller Bemühungen nicht sämtliche Fragen um das Wesen der Triebe zu lösen imstande gewesen war. Doch obwohl sie für ihn bis zuletzt in ein mythologisches Dunkel getaucht blieben, formulierte er mehrere Triebtheorien, die in sich konsistent wirkten. Freud hat zeitlebens die menschliche Psyche und hier vor allem das Unbewusste als Tummelplatz polarer Grundkräfte definiert. In seiner Frühzeit sprach er von Ich-Trieben und Sexualtrieben – eine Zweiheit, für die er in Anlehnung an Friedrich Schiller die Kontrapunktik von Hunger und Liebe in Anspruch nahm. Später stellte er den Antagonismus von narzisstischer und Objektlibido fest. Zum Narzissmus wurden Strebungen wie Eitelkeit, Egoismus und Machtstreben gerechnet; die Objektlibido umfasste Sexualität und andere Formen der Hingabe. Die letzte Trieblehre Freuds hob auf den Gegensatz von Eros und Todestrieb (Thanatos) ab. Nun ergab sich die bunte Vielfalt des Seelischen aus dem Zusammenspiel einerseits von Vereinigungsstreben (Eros) und andererseits von Aggression oder einem metaphysisch angehauchten Willen zum Tode. Letzterer war schon vorher in dem Konstrukt eines Konstanz- und Nirwana-Prinzips aufgetaucht. Hier näherte sich Freud Arthur Schopenhauer an, der selbst wiederum aus indischen Lehren dafür Inspiration bezogen hatte. Alle Triebe basierten für Freud auf biologischphysiologisch gedachten Energiequanten, die er als Libido (Grundlage von Eros und Sexus) und Destrudo (Basis von Thanatos und Aggression) bezeichnete. Diese Energiequanten entspringen ihm zufolge körperlichen Quellen, rufen Triebspan-
nungen hervor und halten so den gesamten psychischen Apparat in Bewegung. In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie hat Freud hinsichtlich des Sexualtriebs aufgezeigt, dass dieser angeblich bereits bei Säuglingen und Kleinkindern vorhanden ist, und wie er sich im Laufe der Kindheit und Pubertät entwickelt. Der Begründer der Psychoanalyse sprach von polymorph-perversen, oralen, analen und phallischen Partialtrieben, die sich beim Heranwachsenden phasenhaft bemerkbar machen und bei ungehinderter Entwicklung in die genitale Sexualität einmünden. Nicht selten komme es jedoch während Kindheit und Adoleszenz zu Traumatisierungen, Fixierungen oder Regressionen hinsichtlich dieser sexuellen Entwicklungsphasen. Ein solches Triebschicksal führe später im Erwachsenenleben nicht selten dazu, dass Perversionen oder seelische und körperliche Erkrankungen entstehen. Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen und Hysterien seien ebenso wie Psychosen oder körperliche Symptome (Verdauungs-, Ess- und Schlafstörungen) auf das spezifische Schicksal des frühkindlichen Trieblebens rückführbar. Insbesondere bei hysterischen Erkrankungen meinte Freud zeigen zu können, inwiefern fehlgeleitete Libidoquanten aus einem psychischen in einen somatischen Zustand konvertieren und dadurch körperliche Beschwerden hervorrufen. Dieses Konversionsmodell wurde für ihn zu einem Paradigma für die Genese körperlicher Krankheiten generell. Außerdem beantwortete es zumindest teilweise die Fragen nach dem Zusammenhang von Leib und Seele. Als Freud in Jenseits des Lustprinzips neben dem Sexual- auch den Aggressionstrieb ins menschliche Seelenleben einführte, boten sich ihm neue Möglichkeiten, Krankheit und Gesundheit triebpsychologisch zu erklären. Solange die Libido (Eros und Sexus) der Destrudo (Thanatos und Aggression) Paroli bietet, hält sich der Gesamtorganismus gesund. Im Inneren des Menschen breiten sich jedoch meist unbemerkt thanatische Tendenzen aus, die Krankheiten und letztlich auch den Tod des Betreffenden bewirken. Freud war vom energetischen Triebseelenmodell so sehr überzeugt, dass er bis zum Ende seines Forscherlebens hoffte, irgendwie den Spannungs-
Werkanalyse
zustand und die Quantität der Triebe messen zu können. Außerdem sprach er davon, dass in ferner Zukunft eine direkte, eventuell medikamentöse Beeinflussung von Libido- und Destrudo-Quanten möglich würde, welche die langwierige psychoanalytische Behandlung überflüssig mache. z
Die Verdrängung
Die meisten Triebe sind ebenso wie viele Affekte wegen ihrer egoistischen und dem Lustprinzip gehorchenden Wesensart für das Bewusstsein nicht akzeptabel. Da man Triebe und Affekte jedoch nicht einfach eliminieren kann, behilft sich das Bewusstsein mit einer Art Trick: Es verdrängt die ihm unangenehmen seelischen Anteile, die bewusst werden wollen, und verbannt sie zurück ins Unbewusste. Wie dies im Detail geschieht, hat Freud unter anderem in Das Ich und das Es beschrieben. Schon früher hatte er ein technizistisches Modell der Psyche verwendet, das mit räumlichen Metaphern arbeitete. Dabei hatte die Seele bewusste Obergeschoße und tiefer liegende unbewusste Kellerräume erhalten. Um das Zusammenwirken der Stockwerke zu erläutern, erfand der Meister eine Metapsychologie. Sie sollte die Topik, Ökonomie und Dynamik des menschlichen Seelenlebens in gleichsam naturwissenschaftlicher Formulierung erklären. Das Raummodell verfeinerte Freud nun, indem er die Trias von Es, Ich und Über-Ich einführte. Ursprünglich ist nur das Es vorhanden, das als unbewusst gilt und als Kessel voll brodelnder Triebe bezeichnet wurde. Dieses Es (den Begriff hatte Freud in den 20er Jahren von seinem Schüler Georg Groddeck übernommen) schafft sich ein bewusstes Ich, das wahrnehmen, denken und urteilen kann. Sodann kommt unter dem Einfluss von Erziehung und Umwelt noch das Über-Ich hinzu, eine Stufe im Ich, welche die Wert- und Normvorstellungen der Gesellschaft und ihrer Autoritäten enthält. Im Über-Ich sind sowohl das Gewissen als auch das Ich-Ideal und ein Organ der Selbstwahrnehmung enthalten. Libido und Destrudo waren für Freud Kraftstoffe dieses seelischen Apparats. Sie wandern zwischen den Stockwerken hin und her (Dynamik, Ökonomie) und können verdrängt, abreagiert oder
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sublimiert werden. Als Verdrängungsinstanz kommen Ich und Über-Ich in Frage, wobei Letzteres mit seinen meist rigiden und lebensfremden Forderungen die Verdrängung von Triebhaftigkeit, Affekten, Wünschen und Begierden besonders forciert. Die Zensurbehörde, von der schon in Die Traumdeutung die Rede war, ist zwischen Ich und Es lokalisiert. Sie führt zur Unterscheidung von Vorbewusstem und Unbewusstem. Was vorbewusst ist, kann bewusst gemacht werden. Das Verdrängte bleibt im Untergrund und kommt in Träumen, Fehlleistungen und Symptomen nur schemenhaft zum Vorschein. Die Aufteilung der Psyche in Es, Ich und ÜberIch deckt sich nicht mit der Zweiteilung von Bewusstsein und Unbewusstem. Nach Freud sind weite Bereiche von Ich und Über-Ich ebenfalls unbewusst, so dass man fehlgeht, nur Triebe und Affekte im unbewussten Seelenleben zu suchen; auch Teile der Ich-Strebungen sowie Moral- und Wertvorstellungen bleiben außerhalb des Bewusstseins. Das erlaubte Freud die Formulierung, dass der Mensch nicht nur schlechter, sondern auch besser ist, als er glaubt; er trägt Wertstrebungen und -maßstäbe in sich, die er kaum kennt. Der Verdrängungsprozess bezieht sich jedoch hauptsächlich auf körperlich-vitale Impulse und Triebanteile. Nun kann nach Freud kein Ich alle Regungen des Es ins Bewusstsein integrieren; es muss auswählen, und damit werden Verdrängungsvorgänge allemal nötig. Übersteigt die Verdrängung aber ein gewisses Maß, und unterliegen ihr wesentliche Vitalitätsbereiche eines Menschen, schwächt dies sein Ich und trägt eventuell sogar zu Erkrankungen bei. Denn das Ich ist von seinem Leib und dessen Bedürfnissen nicht unabhängig. Vermutlich haben sogar jene recht (z. B. Friedrich Nietzsche), die behaupten, dass das Ich ein Organ des Leibes und seine Orientierungshilfe in der Welt ist. Entwickelt das Ich keinen breiten und tiefen Kontakt mit seinem Leib, hängt es gleichsam in der Luft. Es wird asthenisch und kann nur überleben, wenn es zunehmend Zonen der Triebhaftigkeit und weite Umweltbereiche ausklammert. Der daraus entstehende Status ist prekär. Sowohl das verleugnete Vitale wie auch das vernachlässigte Weltliche drängen ins Bewusstsein
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Kapitel • Sigmund Freud
und wollen anerkannt und gelebt werden. Der Betreffende muss daher stets in angespannter Habachtstellung existieren und das Verdrängte durch dauernde Gegenbesetzung in Schach halten – eine Art der Daseinsgestaltung, die viele Energien verschlingt, die in anderen Zusammenhängen (z. B. bei der Lösung sozialer und kultureller Aufgaben) fehlen. Verdrängungen schaffen eine innere Zerrissenheit im Menschen, der in sich ein inneres Ausland spürt, das er nicht zu akzeptieren und zu integrieren vermag. Viele Wünsche und Bedürfnisse können sich nur noch in entstellter Form seinem Bewusstsein präsentieren, und die daraus resultierende Dissoziation kann bis zu einer krankhaften Persönlichkeitsspaltung reichen, die beispielsweise einer Schizophrenie als leib-seelischer Störung zugrunde liegen mag. Es besteht ein proportionaler Zusammenhang zwischen Ich-Stärke und dem Ausmaß der Verdrängungen: Je größer jene ist, umso geringfügiger sind die anderen. Ein schwaches Ich bedarf weitgehender Verdrängungen, um sich gegen das Es behaupten zu können, und vice versa. Daher bedeutete es für Freud ein zentrales Anliegen der psychoanalytischen Behandlung, das Ich des Patienten zu stärken. Diese Überlegungen haben Relevanz für die Diagnostik und Therapie körperlich Erkrankter. So darf man jeden Patienten danach befragen, welche Zonen seiner Leiblichkeit und Vitalität er eventuell jahrelang gering geschätzt oder völlig verdrängt hat, bevor es bei ihm zu einem Krankheitsprozess gekommen ist. Nicht selten bedeuten derartige Verdrängungen ernstzunehmende Risikofaktoren für die Ausbildung etwa von Ess-, Schlaf- und Schmerzstörungen, aber auch von Blutdruck- oder Infektionserkrankungen. Des Weiteren verdrängen Patienten häufig die Tatsache, dass ihre Krankheit für sie primäre und sekundäre Krankheitsgewinne und damit neben Leid auch Lusterleben und Befriedigung bereithält. Der primäre Krankheitsgewinn besteht im regressiven Ausweg aus bedrängenden Lebenssituationen und bezieht sich auf den Moment des Krankheitsbeginns. Der sekundäre Gewinn entwickelt sich häufig erst nach Wochen oder Monaten; er hält für den Kranken Entlastungen von allfälligen Aufga-
ben oder finanzielle Zuwendungen (Schmerzensgeld, Rente, Krankengeld) bereit. Solange neben den somatischen nicht auch die psychosozialen Entstehungsbedingungen sowie die Konsequenzen von Krankheit für den Betreffenden durchschaubar sind, verlaufen therapeutische Bemühungen häufig frustran. Viele Widerstände gegen eine effektive Behandlung sind daher als Versuche des Kranken zu werten, den Status quo der Verdrängung aufrechtzuerhalten. Man kann verstehen, dass Freud als Motto der psychoanalytischen Kur den Satz prägte: »Wo Es war, soll Ich werden.« Damit fasste er in einer kurzen Formel den Prozess der Aufhebung von Verdrängungen und die Bewusstmachung unbewusster Seelenanteile zusammen. Dass es sich dabei um ein mühseliges Geschäft handelt, betonte der Meister mehrfach. Doch gleichzeitig wies er darauf hin, dass er sich einen einfacheren und schnelleren Weg der Gesundung zumindest für die nähere Zukunft nicht vorstellen konnte. z
Die Sublimierung
Wer ist nun aber die verdrängende Instanz? Nach Freud sind dies das individuelle Über-Ich wie auch die geltende Kultur und Moral. Sie bestimmen innerhalb der Triebnatur des Menschen, was als akzeptabel gilt. Der Einzelne unterliegt diesem kollektiven Vorgang ebenso unbewusst wie seinem eigenen Über-Ich und kann sich kaum dagegen wehren. Im Gegenteil: Das Ich entwickelt beinahe automatisch Bereitschaften zu Widerstand und Verdrängung, sobald Triebregungen oder andere vitale Bedürfnisse im Bewusstsein auftauchen wollen. Vor allem in den beiden kulturkritischen Schriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur hat Freud ausführlich kulturelle Mechanismen untersucht, die Verdrängungsleistungen beim Einzelnen evozieren. Institutionen wie Staat, Kirche und Militär definieren über ihre jeweiligen Wert- und Normsysteme schon seit Jahrtausenden, welche individuellen Antriebe, Impulse und Strebungen als erwünscht und gut oder aber als verwerflich und böse gelten und daher verdrängt werden. So ließ sich beobachten, dass die antike Kultur in Sparta bei ihren Mitgliedern flächendeckend
Werkanalyse
eine Mentalität der Stärke, Härte und Aggressionsbereitschaft heranzüchtete; bei ihnen wurden Regungen von Mitgefühl, Schwäche und Weichheit negiert und verdrängt. Im Gegensatz dazu brachte die Epoche des christlichen Mittelalters im Abendland einen Sozialisationstypus hervor, dem mönchische Werte und Tugenden wie Demut, Gehorsam, Bedürfnislosigkeit und ätherische Vergeistigung als hoch und heilig galten; diese Kultur ließ die Menschen fast ausnahmslos alle Regungen des Leibes als sündhaft beurteilen und entsprechend einem Verdrängungsprozess anheimstellen. Wie aber kommt es aus psychoanalytischer Sicht zur Ausgestaltung solcher Kulturen, und wie entstehen Institutionen wie Staat, Kirche und Militär mit ihren jeweiligen ideologischen und machtpolitischen Facetten? Freud beantwortete diese Frage mit einer Art Zirkelschluss: Ursprünglich habe die Verdrängung sexueller und aggressiver Triebanteile von Einzelnen dazu beigetragen, dass sie Kulturleistungen (etwa Zähmung des Feuers, Flecht- und Webarbeiten) schufen und sich zu größeren Verbänden unter der Leitung von Führern zusammenschlossen. Diese Gruppierungen wurden institutionalisiert und sorgten nun ihrerseits für Triebrepression und Verdrängungsleistungen bei ihren Mitgliedern. So sah sich Freud schließlich mit einem Verdrängungszirkel konfrontiert: Die Kultur entstand seiner Meinung nach durch individuelle Verdrängungen und induzierte ihrerseits wieder neue Verdrängungen. Kein Wunder, dass Freud sich angesichts solcher Verhältnisse zu umfassender Kulturkritik veranlasst sah und dabei einigen kulturellen Phänomenen Krankheitswert attestierte. Hinsichtlich der monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum) etwa sprach er von weltanschaulich-kollektiven Zwangsneurosen oder von illusionären Wahnsystemen, die alle jene Symptome der Psychopathologie in sich vereinen, die man in den Lehrbüchern der Psychiatrie und Psychoanalyse hinsichtlich einzelner Patienten präsentiert bekomme. Es sei nicht überraschend, dass Menschen, die unter derart pathogenen und triebfeindlichen Kulturbedingungen leben müssen, Empfindungen von Unbehagen und Widerwillen gegen die Kultur und ihre Repräsentanten entwickeln. Um sich ihr Da-
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sein etwas zu erleichtern, greifen viele von ihnen zu Alkohol, Drogen oder ideologischen Narkotika (religiöse Vertröstungen, Vorurteile aller Art) – Reaktionen, die ihrerseits wieder zur Aufrechterhaltung pathogener Kulturen oder zu konkreter individueller Krankheit (Sucht) beitragen. Wie aber kann der Homo libidinalis, als den Freud den Menschen charakterisierte, aus diesem unseligen Zirkel von Verdrängung und Kultur aussteigen? Lassen sich ein Leben jenseits der Triebverneinung und eine Kultur jenseits von Repression und Selbstentfremdung vorstellen? Freud beantwortete diese Fragen, indem er die Kulturbeiträge bedeutender Dichter und bildender Künstler (Michelangelo, Leonardo da Vinci, Goethe) mit psychoanalytischen Kriterien untersuchte. Offensichtlich gibt es Menschen, die nicht nur wenige Tendenzen zur Verdrängung ihrer Antriebe aufweisen, sondern darüber hinaus ihre seelischen Energien (Libido) in wertvolle Kulturschöpfungen investieren. Für dieses Phänomen verwendete Freud den Begriff Sublimierung, womit weder asketische Verneinung noch direkte Befriedigung der Triebe gemeint ist. Eher handelt es sich um eine Art Ordnung, Domestizierung oder Veredelung der gesamten Vitalsphäre, begonnen bei den Antrieben bis hin zu Affekten, Begierden und Impulsen, die alle in den Dienst der Verwirklichung sozial und kulturell wertvoller Leistungen gestellt werden. Mit dem Konzept der Sublimierung wollte Freud zeigen, dass es zumindest Teile des Kultur- und Geisteslebens gibt, die nicht aufgrund von Verdrängung, Repression und Triebverzicht entstanden sind, sondern in denen noch die ursprüngliche affektive und libidinöse Lebendigkeit ihres Urhebers (wenn auch in vergeistigter Form) nachweisbar ist, die für ihre Entstehung wesentlich war. Geist und Kultur müssen keine »Widersacher der Seele« (Ludwig Klages) oder des Leibes sein; sie können vielmehr als Entsprechungen des menschlichen Organismus verstanden werden, der potentiell geistig, weil anmutig, weltoffen, kommunikativ und vernünftig ist. Der Mensch ist demnach nicht nur ein verdrängendes, sondern eventuell auch ein sublimierendes Tier. Jede Erziehung, Ausbildung und Gesundheitsprophylaxe dürfte darauf ausgerichtet sein, den Einzelnen in seinen Fähigkeiten zur Sub-
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Kapitel • Sigmund Freud
limierung zu schulen und ihm eine emotionale und intellektuelle Bildung zukommen zu lassen, die am Leibe ansetzt. Nur der gebildete und sozialisierte Leib ist kulturfähig, wie er denn auch im rechten Augenblick genuss- und hingabefähig ist und seine Antriebe direkt ausleben kann. Vor dem Hintergrund der Sublimierung wird auch der Gesundheitsbegriff der Psychoanalyse verständlicher. Freud definierte den gesunden Menschen als arbeits- und liebesfähig. Beide Aktivitäten waren von ihm nicht als mechanische Verrichtungen, sondern als schöpferische und die Selbstverwirklichung des Betreffenden fördernde Haltungen gemeint. Sublimierung ist dabei als grundlegende Kompetenz sowohl im Arbeits- wie auch Liebesbereich unabdingbar. Es ist ein Irrtum, die Sexualität lediglich als somatisches Bedürfnis anzusehen, das abreagiert, und als eine Spannung zu definieren, die befriedigt werden soll. Im Bereich der Sexualität darf die Geistigkeit und Sublimierungsfähigkeit des Menschen hinzugedacht werden, was etwa an der dialogischen und kommunikativen Verfassung und Funktion von Eros und Sexus gezeigt werden kann. Nur in Zerrformen des Liebeslebens wird dieser Dialog vernachlässigt; dementsprechend verlaufen dann sexuelle Kontakte unbefriedigend und lassen spannungsarme Körper sowie vereinsamte Seelen zurück. Freuds Sublimierungslehre plädierte für umfassende Akzeptanz des Trieblebens, das in die Sphäre von Geistigkeit, Sozialität und Kultur integriert werden sollte. Gelingt diese Leistung, nähert sich nach Freud der Einzelne jenem Grad von Gesundheit an, der aufgrund seiner Biologie möglich ist. Darüber hinaus entwickelt er sich eventuell zu einem kulturell und sozial produktiven Menschen, was der Kultur und Menschheit als Ganzem zugutekommt.
Conclusio Trotz seiner weitläufigen psychoanalytischen Studien über die Fülle der Kultur verlor Freud den Homo natura nie aus den Augen. Dies bewahrte ihn davor, idealisierend-unrealistische Menschenbilder zu entwerfen, welche den biologischen Ge-
gebenheiten des Menschen, vor allem den vitalen Antrieben, nicht gerecht würden. Für die Psychoanalyse war der Homo natura gleichzusetzen mit dem Homo libidinalis; nur wer dieses Axiom verinnerlicht hatte, durfte sich nach der festen Überzeugung Freuds als Psychoanalytiker bezeichnen. Schon zu seinen Lebzeiten erfuhr Freud hinsichtlich dieser reduktiv die Triebschicht ins Zentrum rückenden Anthropologie zum Teil harsche Kritik; unter anderem seine frühen Mitarbeiter Alfred Adler und C. G. Jung sowie der Daseinsanalytiker Ludwig Binswanger zählten zur Schar ernst zu nehmender Kritiker des psychoanalytischen Menschenbildes. Man attestierte Freud, mit seinem triebenergetischen Modell einem lupenreinen Positivismus, Materialismus und Biologismus das Wort zu reden, die letztlich alle in einen wenig hoffnungsfrohen Determinismus einmündeten. Auf dem Boden eines der Physik und Chemie entlehnten Kausalitätsprinzips wolle er den Menschen und seine Kultur zu bloßen Ansammlungen von Libidoquanten machen, wobei die dabei häufig zur Anwendung gelangende Formel »nichts weiter als Sexualität« jede Debatte über menschliche und kulturelle Komplexitäten im Keim ersticke. Weitere kritische Einwände erhoben manche Philosophen, so Jean-Paul Sartre in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943). Der französische Existenzdenker bemängelte an Freuds Menschenbild, dass der Begründer der Psychoanalyse eine problematische Metapsychologie geschaffen habe. Die Trennung in Bewusstes und Unbewusstes sowie die Formulierung der Instanzen Es, Ich und Über-Ich trügen zu einer Aufsplitterung des Individuums in kleinere Unter-Persönlichkeiten bei, die von keiner phänomenologisch orientierten Empirie gedeckt sei. Der Mensch sei vielmehr Totalität, Geworfenheit, In-der-Welt-Sein, Mit-Sein, Zum-Tode-Sein, Freiheit, Verantwortung, Urwahl und Entwurf. Diese anthropologischen Qualitäten müssen gesehen und beschrieben werden, wenn man das Wesen des Homo sapiens erfassen wolle. Sartre plädierte daher für den Auf- und Ausbau einer existentiellen Psychoanalyse, welche die Befunde Freuds kritisch untersuche und mit denen der Existenzphilosophie amalgamiere.
Conclusio
Neben dieser größtenteils berechtigten Kritik sollen noch einige anthropologische Gesichtspunkte benannt werden, die implizit in Freuds Lehre enthalten sind und seine deterministischen und biologistischen Aussagen relativieren. Hans Kunz bezeichnete diese als Die latente Anthropologie der Psychoanalyse (1956). So hat Freud mit den Studien über Hysterie nicht nur das Fundament einer triebpsychologischen Seelenkunde gelegt. Wie er selbst bemerkte, waren ihm die darin abgedruckten Fallgeschichten vielmehr zu kleinen Novellen geraten, denen man eine gewisse künstlerische Gestaltung nicht absprechen konnte. Aus einem nüchtern-naturwissenschaftlichen und medizinischen Unterfangen war Poesie geworden. Dies war kein bloßer Zufall. Neben der Tatsache, dass Freud ein ausgezeichneter Schriftsteller war, trug zur Poetisierung seiner Krankengeschichten auch der Umstand bei, dass ihr Autor nicht nur das Wesen von Krankheiten (Hysterie), sondern kranke Personen und ihre Biographien beschreiben wollte. Sobald neben pathophysiologischen und -biochemischen Abläufen auch Charakter, Lebensgeschichte, Weltanschauung, Wünsche, Phantasien und Konflikte beim Patienten erfasst und zum Ausdruck gebracht werden, bewegt sich der Diagnostiker im Bereich der Natur- wie auch der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Er wird nolens volens zum Hermeneutiker, also zum verstehenden Interpreten von individuellen Sinn- und Bedeutungszusammenhängen, in welche die jeweilige Erkrankung eingebettet ist. Als solcher aber denkt und schreibt er in einer bildhaften, Metaphern und Symbole gebrauchenden Sprache, die jenseits von Maß und Zahl angesiedelt ist. Seit Freud wissen wir, dass es keine Krankheiten gibt, bei denen psychosoziale Aspekte des Kranken außer Acht gelassen werden dürfen. Damit sind keine fragwürdigen Psychogenesemodelle somatischer Erkrankungen gemeint; vielmehr zielen Freuds Befunde auf das Faktum ab, dass wir in der Medizin nie bloß mit Krankheiten, sondern immer mit kranken Menschen konfrontiert sind, deren Biographie sowie Lebens- und Weltanschauung bei Diagnostik und Therapie Berücksichtigung finden dürfen. Einige Jahrzehnte nach Freud wurden
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diese Erkenntnisse als »Einführung des Subjekts in die Medizin« (Viktor von Weizsäcker) und als »biographische Medizin« (Richard Siebeck) bezeichnet. Ein weiterer anthropologisch relevanter Fund steckt in den Studien über Hysterie und der daraus abgeleiteten Psychoanalyse. Angenommen, es gibt libidinöse Energiequanten, deren Schicksal über Gesundheit und Krankheit des Betreffenden entscheidet – so bleibt darüber hinaus die Beobachtung Freuds relevant, dass diese Quanten in der Lage sind, aus einem biologischen in einen psychosozialen und geistigen Zustand zu »konvertieren« und sich zu eigentümlichen Ausdrucksmustern zusammenzuschließen. Der menschliche Leib wurde von Freud damit in den Rang eines Trägers von Sinn und Bedeutung erhoben. Ob wir es wollen oder nicht: Unser Organismus erzählt dauernd die Geschichte unserer Existenz, wobei er sich bei dieser Erzählung häufig schwer verstehbarer und eintöniger Zeichen und Symbole bedient. Niederlagen, Triumphe, Erschütterungen, Enttäuschungen, Hoffnungen, Phantasien, Zeiten der Ein- und der Zweisamkeit, Zärtlichkeit, Liebe und Sexualität – es gibt nichts, was Menschen nicht leibhaftig erleben, und was sich bei ihnen nicht als körperliche Spur niederschlägt. Der Mensch ist demnach aus medizinanthropologischer und psychoanalytischer Sicht ein Wesen, das über ein doppeltes Gedächtnis verfügt. Zum einen kennen wir das Kurz- und Langzeitgedächtnis, das uns bewusste Reminiszenzen ermöglicht, und das sich mit Hilfe von Übungen und Assoziationen erweitern und trainieren lässt. Zum anderen übernimmt unser Leib die Rolle eines umfassenden Gedächtnisses, in dem sich Eindrücke, Wahrnehmungen, Empfindungen, flüchtige Gedanken und Träume des Daseins niederschlagen. In der Regel sind diese Erinnerungsspuren unbewusst und bleiben es auch – es sei denn, dass etwa Traumen, Krankheiten, liebevolle Gesten oder überraschende Ereignisse Unbewusstes in Bewusstes umschlagen lassen. Wird ein solches Modell von Bewusstsein und Unbewusstem akzeptiert, birgt dies Konsequenzen für die Medizin. Alle diagnostischen und therapeutischen Interventionen gelten damit nicht mehr nur einzelnen Organen und ihren kranken oder gesunden Strukturen. Die medizinischen Eingriffe
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Kapitel • Sigmund Freud
betreffen immer auch die bewusste und vor allem unbewusste Geschichte, also die individuelle Biographie eines Patienten, die sich innerhalb einer kollektiven Historie ereignet hat. Spätestens wenn der Patient bei scheinbar harmlosen Interventionen massive Affekte zeigt, sollten diese von Freud schon erahnten Zusammenhänge bedacht und im weiteren Diagnose- und Therapieprozess berücksichtigt werden. Weiter oben haben wir erwähnt, dass man Freud von verschiedener Seite her wegen seiner deterministischen Grundhaltung kritisierte. So sehr diese Einwände in Bezug auf viele theoretische Ausführungen der frühen Psychoanalyse gerechtfertigt erscheinen, so sehr tut es not, diese Kritik durch die von Freud gelebte psychoanalytische Praxis zu relativieren. Der Begründer der Psychoanalyse stellte sich in seinen Texten zwar als überzeugter Determinist dar, dem Kausalitäten, also Ursache-Wirkungs-Abläufe, als einzig wahre wissenschaftliche Forschungsinhalte galten. In seinen psychoanalytischen Therapien ging er jedoch ebenso wie in seinen Modellvorstellungen des Ich und der Sublimierung davon aus, dass die Menschen nicht vollständig durch ihre Triebschicksale und durch die daraus abgeleiteten libidinös-energetischen Verhältnisse festgelegt sind. Neben seinen physikalistisch-kausalen Seelenkonzepten waren Freud auch gewisse teleologisch-finale Vorstellungen nicht fremd. So schrieb er dem Unbewussten Ziele und Zwecke zu, die es verfolgt und realisiert. Das Es sei zwar ein Kessel voll brodelnder Triebe, die jedoch nicht selten zielorientiert interagieren und damit nicht nur unter den Bedingungen von »causa causalis« (Kausalität), sondern auch von »causa finalis« (Finalität) eingeordnet werden müssen. Ähnlich ambivalente Beschreibungen finden sich hinsichtlich des bewussten Ich. Zugegebenermaßen ist das Ich eingezwängt zwischen den Forderungen von Umwelt, eigenem Über-Ich und den triebhaften Impulsen aus dem Es. Zugleich aber vertrat Freud die Ansicht, dass die Psychoanalyse »dem Ich des Kranken die Freiheit schaffen soll, sich so oder anders zu entscheiden« (Freud 1999a, S. 280). Der Einzelne ist demnach seinen Trieben und sonstigen Sachzwängen nicht vollständig aus-
geliefert, sondern weist ein Minimum an Autonomie auf, die Freud als Ich-Stärke bezeichnete. Am Phänomen der Sublimierung schließlich kann man ebenfalls zeigen, dass der Betreffende trotz oder auch wegen seines frühkindlichen Triebschicksals über Gestaltungsspielräume verfügt, die er nutzt, um seine Libido entweder einer direkten Befriedigung (Lustprinzip) zuzuführen oder sie in sozial und kulturell anspruchsvolle Aufgaben zu investieren. Das Sublimierungsthema ist ein weiterer Beleg dafür, dass Freud gewillt war, in seinem zum Pessimismus hin tendierenden deterministischen Menschenbild kleine Farbtupfer der Spontaneität, Veränderbarkeit und freiheitlichen Humanität gelten zu lassen. Einen gültigen Ausdruck fand diese Haltung im Schlusspassus von Das Unbehagen in der Kultur. Nachdem der Autor zuvor ausführlich erläutert hatte, inwiefern Menschen Kultur bedingte Missstimmungen und Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen, die bis hin zu massiver Bedrohung durch gegenseitige Aggressionen reichen, beendete Freud seine Ausführungen mit dem Ausblick auf eine Kultur, die möglicherweise weniger thanatisch wirkt, und in welcher der Mensch dem Menschen nicht nur als Wolf gegenübertritt:
» Die Menschen haben es in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten. Aber wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen? (Freud 1999b, S. 506).
«
So spricht kein bis in die Wolle hinein gefärbter Misanthrop oder kalter Determinist, sondern ein nüchtern-skeptischer Diagnostiker von Mensch, Geschichte und Kultur, der trotz aller bisherigen Rückschläge und Erschütterungen in der Menschheitshistorie die Sache von Humanität, Vernunft und Fortschritt nicht als abgetan erachtete. Entsprechend skizzierte er seine eigene Rolle als die-
Literatur
jenige eines »Erziehers, Lehrers, Vorbilds, Aufklärers und Künders einer freien Weltanschauung«. In diesem Geist behandelte er seine Patienten, und in diesem Tenor sind seine Schriften verfasst. Freud lebte eine wissenschaftliche, humanistische, agnostische und aufgeklärte Weltanschauung vor, die zum Modell für Forscher, Denker und Therapeuten werden kann. Nicht zuletzt die therapeutische Praxis seiner Psychoanalyse machte deutlich, dass er sich solidarisch mit seinen Klienten fühlte und die in der Medizin weitverbreitete Hierarchie überwinden wollte. Selbst dieser letzte Aspekt ist anthropologisch relevant: Der Patient ist ebenso wie alle anderen Menschen zuallererst Mitmensch; wer dies übersieht, betreibt keine Humanmedizin.
Literatur Freud S (1999) Gesammelte Werke, Imago Ausgabe. Fischer, Frankfurt am Main Freud S (1999a) Das Ich und das Es. In: GW XIII. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1923) Freud S (1999b) Das Unbehagen in der Kultur. In: GW XIV. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1930) Gay P (1995) Freud – Eine Biographie für unsere Zeit. Fischer, Frankfurt am Main Jones E (1960ff.) Das Leben und Werk Sigmund Freuds. Huber, Bern Kunz H (1980) Die latente Anthropologie der Psychoanalyse. In: Bräutigam W (Hrsg) Medizinisch-psychologische Anthropologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (Erstveröff. 1956) Marcuse L (1964) Sigmund Freud – Sein Bild vom Menschen. Kindler, München Meyhöfer A (2006) Eine Wissenschaft des Träumens – Sigmund Freud und seine Zeit. Knaus, München Politzer H (2003) Freud und das Tragische. Edition Gutenberg, Wien Pontalis J-B (1968) Nach Freud. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1965) Sachs H (1982) Freud – Meister und Freund. Ullstein, Berlin Sartre, J-P (1993) Das Sein und das Nichts. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1943) Schur M (1982) Sigmund Freud – Leben und Sterben. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1973) Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Alfred Adler Biographisches – 202 Werkanalyse – 204 Conclusio – 212 Literatur – 213
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Alfred Adler
. Abb. 1 Alfred Adler (*1870; †1937). (Aus Stumm et al. 2005)
Neben Sigmund Freud gilt Alfred Adler als die zweite wesentliche Gründerfigur der Tiefenpsychologie. Er setzte sich intensiver als Freud mit philosophischen Strömungen seiner Zeit auseinander – vor allem mit der Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches und Wilhelm Diltheys, aber auch mit Immanuel Kant und dem Neukantianismus (Hans Vaihinger) sowie mit sozialistischen Autoren wie Karl Marx und Peter Kropotkin. Deren Gedanken ließ er in seine Seelenkunde einfließen, was zusammen mit seiner Philanthropie, Menschenkenntnis und seinem Humor bewirkte, dass Adler eine lebensnahe Psychologie und Anthropologie entwarf (. Abb. 1).
Biographisches Adler wurde 1870 als zweites Kind in Rudolfsheim bei Wien geboren. Sein Vater war Getreidekaufmann; die Familie lebte in mäßigem Wohlstand. Zwei Jahre vor Alfred war sein Bruder Sigmund zur Welt gekommen, und nach Alfred folgten noch fünf weitere Geschwister. Als Psychologe hat er später großen Wert auf die Beschreibung der Geschwisterkonstellation gelegt, wofür ihm seine eigene Kindheit reiches Anschauungsmaterial bot. Als Knabe litt Adler unter Atemnotanfällen und Rachitis. Eine bedrohliche Kinderkrankheit führte dazu, dass der hinzugezogene Arzt den Eltern keine Hoffnung auf das Überleben Alfreds machte. Er genas jedoch und entwickelte danach den Berufswunsch, Arzt zu werden – eine Wahl, die nicht selten als Reaktion auf früh erlebte Todesnähe erfolgt. Die Familie Adler war semitisch, hatte aber kaum Kontakt zum religiösen Flügel der jüdischen
Gemeinde Wiens. Adler hat anders als Freud diese Abstammung nie sonderlich betont; als Erwachsener vertrat er einen konsequenten Atheismus. Den zunehmenden Antisemitismus in Wien beantwortete er mit einer Hinwendung zu sozialistischen Ideen, von denen er sich eine vorurteilsfreiere und humanere Zukunft erhoffte. Seine Schulzeit absolvierte Adler nicht übermäßig erfolgreich. Nach seinem Abitur immatrikulierte er sich 1888 für Medizin an der Universität Wien. Das Studium begeisterte ihn, wobei er keine wissenschaftliche Karriere, sondern die Ausbildung zum praktischen Arzt im Sinn hatte. Um 1895 schloss er sein Studium ab und wandte sich daraufhin zuerst der Augenheilkunde zu. Außerdem wurde er während seines militärischen Pflichtjahrs zum Truppenarzt ausgebildet. 1897 traf Adler in Wien auf Raissa Timofevna Epstein, die aus einer begüterten Moskauer Familie stammte, an der Universität Biologie studierte und Sozialistenkreisen nahe stand. Die beiden heirateten bald und gründeten eine Familie mit vier Kindern: Valentine, Alexandra, Kurt und Nelly. Alexandra und Kurt traten in die Fußstapfen ihres Vaters und leiteten nach dem Zweiten Weltkrieg das Individualpsychologische Institut in New York. Nach der Heirat 1897 in Russland kehrte das Paar nach Wien zurück, und Adler begann seine Tätigkeit als praktischer Arzt. Dabei hatte er keine reiche Klientel. Aufgrund seiner zielsicheren Diagnosen und mitfühlenden Art der Behandlung war er bei seinen Patienten sehr beliebt. Die soziale Ausrichtung seines Denkens wurde offenkundig in seinem dreißig Seiten umfassenden Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe (1898). Darin beschrieb er Unterernährung, miserable Wohnverhältnisse, Überarbeitung, Mangel an staatlicher Absicherung und die körperlichen Gebrechen bei Schneidern. Für die Medizin sah er in diesem Zusammenhang die Aufgabe, über Missstände aufzuklären und Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Adler war ein passionierter Caféhaus-Besucher, der mit Kollegen und Freunden (darunter viele Sozialisten) stundenlang debattieren mochte. Auffällig waren seine besonnenen und oftmals lächelnden Stellungnahmen. Kurz nach der Jahrhundertwende publizierte er kleinere Aufsätze wie Das Eindringen sozialer Triebkräfte in die Medizin (1902), Eine Lehr-
Biographisches
kanzel für soziale Medizin (1902) und Der Arzt als Erzieher (1904). Ende 1902 wurde Adler (wahrscheinlich über die Vermittlung von Wilhelm Stekel) von Sigmund Freud zur Teilnahme an jenem Kreis eingeladen, aus dem sich die psychoanalytische Mittwochsgesellschaft entwickelte. Neben Adler gehörten Rudolf Reitler, Max Kahane und Stekel selbst zu den Ersten, die mit Freud zusammen die Entwicklung der neuen Seelenkunde diskutierten. Adler zählte zu den engagiertesten und originellsten Ärzten im Freud-Kreis. Vor allem seine Studie über Minderwertigkeit von Organen (1907) erntete allgemeine Anerkennung. Darin untersuchte er die Folgen von Organschäden für den Gesamtorganismus und die Psyche, wobei er feststellte, dass es körperliche wie auch seelische Mechanismen der Kompensation gibt, womit die ursprünglichen Defizite ausgeglichen werden sollen. Nach und nach machten sich Divergenzen zwischen Adler und Freud bemerkbar. In Essays wie Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes (1908) oder Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose (1908) hob der Erstere seine Einwände am psychoanalytischen Menschenbild hervor. So war er überzeugt, dass Kinder primär nicht narzisstisch sind, sondern ein grundlegendes Verlangen nach Zärtlichkeit aufweisen. Auch der Ödipus-Komplex wurde von ihm in Frage gestellt; er ordnete ihn als Verwöhnungs- und nicht als triebpsychologisches Phänomen ein. Daher war es nicht verwunderlich, dass es 1911 zum Bruch zwischen den beiden kam. Zusammen mit einem Dutzend Anhängern verließ Adler die Mittwochsgesellschaft und gründete die »Gesellschaft für freie Psychoanalyse«, die er bald in »Individualpsychologie« umtaufte. Anstelle der analytischen Vorgehensweise schwebte ihm eine Ganzheitspsychologie vor, die nicht naturwissenschaftlich, sondern hermeneutisch orientiert sein sollte. Begriffe wie Lebensstil, Charakter, Finalität, Zwecke und Werte, Minderwertigkeitsgefühle, Macht- und Überlegenheitsstreben (»männlicher Protest«), Erziehung sowie das Gemeinschaftsgefühl (»Common Sense«) spielten dabei eine zentrale Rolle. In Publikationen wie Über den nervösen Charakter (1912) oder Heilen und Bilden (1914) legte
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Adler die Fundamente seiner Individualpsychologie. Vor allem der erstere Text stand unter dem Einfluss Friedrich Nietzsches, indem er das Seelenleben bevorzugt im Hinblick auf Machttendenzen untersuchte. Besonders Menschen mit pathologischen psychischen Strukturen neigen nach Adler dazu, zwischenmenschliche Situationen unter dem Aspekt von oben und unten, Herrschaft und Unterwürfigkeit zu gestalten. Daher seien ihr Sicherheitsbedürfnis und ihre zögernde Attitüde stark ausgeprägt. In seinen Büchern verdeutlichte Adler die Idee der Finalität. Ihm zufolge sind Menschen dauernd auf Zielsetzungen, Werte und Ideale hin ausgerichtet, die sie verwirklichen wollen. Meistens dominieren Ziele der Macht und Überlegenheit, wohingegen die Werte von Kooperation sowie sozialer und kultureller Beitragsleistung seltener im Vordergrund stehen. Psychotherapie im Adler‘schen Sinne bedeutet dementsprechend, Eigen- mit Sozialinteressen abzugleichen. Mit der Schrift Über den nervösen Charakter wollte sich Adler habilitieren. Der Versuch misslang aufgrund eines ablehnenden Gutachtens des Wiener Psychiaters Julius Wagner-Jauregg, der einige Jahre später den Nobelpreis für die Einführung der Fiebertherapie bei progressiver Paralyse erhalten hat. Um 1914 war diese Koryphäe wegen ihres antipsychoanalytischen Affekts jedoch nicht in der Lage, die Genialität von Adlers Schrift zu würdigen. Nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte Adler das Buch Praxis und Theorie der Individualpsychologie – Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte und Lehrer (1920). Darin zeigte sich die große Spannweite seiner Lehre, die besonders in Bezug auf Fragen der Bildung und Erziehung eigenständige Antworten zu geben vermochte. Da in Wien damals die Sozialdemokraten führend waren (man sprach vom »Roten Wien«), gab es für die Individualpsychologie günstige Ausgangspunkte: Es konnten Erziehungsberatungsstellen und eine individualpsychologische Versuchsschule eingerichtet werden. In den 20er Jahren war Adler außerordentlich expansiv. Neben seiner psychotherapeutischen Praxis arbeitete er in Spitälern, lehrte am Pädagogium in Wien, gab Kurse in Volkshochschulen, be-
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Kapitel • Alfred Adler
teiligte sich an den wöchentlichen Sitzungen des Individualpsychologischen Vereins, unternahm Vortragstourneen in ganz Europa und kümmerte sich um die Organisation und das Wirken der individualpsychologischen Bewegung. Diese gewann in Wien und anderswo rasch Zulauf. Mit seiner humanen und eingängigen Art begeisterte Adler seine Zuhörer, Schüler und Patienten gleichermaßen. Stil und Inhalt seiner Rede waren schlicht, weise, gütig und humorvoll, und man versteht, dass Manès Sperber in seinem Buch über Alfred Adler diesen einen Konfuzius des Westens genannt hat. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre verlagerte Adler, der als libertärer Sozialist das Herannahen des Faschismus früh erkannt und richtig beurteilt hatte, seine Vortrags- und Lehrtätigkeit in die Vereinigten Staaten, wo er ab 1926 eine Gastprofessur an der Columbia University und ab 1932 am Long Island College innehatte. Außerdem übernahm er Lehraufträge an der New School for Social Research. Parallel dazu baute Adler die individualpsychologische Lehre weiter aus. In diesem Rahmen entstanden Bücher wie Menschenkenntnis (1927), Individualpsychologie in der Schule (1929), Das Problem der Homosexualität (1930), Religion und Individualpsychologie (1933) und Der Sinn des Lebens (1933). Der letztere Text markiert den Beginn von Adlers Alterswerk. Der Begründer der Individualpsychologie war froh über seinen neuen Wirkungskreis in den USA. Das Buch Menschenkenntnis wurde bald ins Amerikanische übersetzt und im Verlauf von wenigen Jahren mit mehr als einer Million Exemplaren verkauft. In Schulen benutzte man den eingängigen Text als Unterrichtsmittel für weltliche Ethik und Moral. Zusammen mit Der Sinn des Lebens macht diese Schrift deutlich, warum man ihren Autor völlig zu Recht zur Gruppe der philosophischen Ärzte rechnet. Neben vielfältigen Anerkennungen in der Neuen Welt genoss Adler die Distanz zur alten Heimat. Innerhalb der individualpsychologischen Bewegung hatte sich ein politisch konservativer Flügel (Oswald Schwarz, Rudolf Allers, Viktor Frankl, Fritz Künkel) und eine sozialistisch-marxistische
Gruppe (Manès Sperber, Alice Rühle-Gerstel, Otto Rühle) herausgebildet, was zu erheblichen Dissonanzen führte. Adler distanzierte sich schließlich von beiden Richtungen. Anfang der 30er Jahre hatte Adler den Großteil seiner Familie um sich in Amerika vereinigt. Allerdings fehlte die älteste Tochter Valentine, die mit ihrem Gatten in die Sowjetunion gegangen war. Als Stalin seine Säuberungen durchführen ließ, wurden Valentine und ihr Mann in ein Lager transportiert, wo die Adler-Tochter nach 1940 starb. Ihr Vater litt sehr unter der Unmöglichkeit, Nachrichten über Valentine zu bekommen. Man sagt, dass sein früher Tod 1937 auch durch den Kummer über das Schicksal seiner Tochter mitbewirkt wurde. Wiewohl sich damals ernsthafte Anzeichen einer Herzkrankheit einstellten, schonte sich Adler keineswegs. Ein Kardiologe riet ihm dringend zu Diagnostik und weitgehender Ruhe, woraufhin sein Patient lächelte und ihn damit vertröstete, er werde wahrscheinlich später, nach einer anstrengenden Vortragsreise, kürzertreten. Offenbar war Adler überzeugt, mit seinem immensen Pensum an Veranstaltungen die fatale politische Entwicklung in Europa und der westlichen Welt irgendwie beeinflussen zu können. 1937 reiste er nach Europa, um in Holland Vorträge zu halten und an der Universität Aberdeen Individualpsychologie zu lehren. Ende Mai brach er bei einem Morgenspaziergang zusammen und starb kurz darauf. Sein Tod erfolgte im 67. Lebensjahr, so dass es anders als bei Sigmund Freud und C. G. Jung von Adler kein ausgearbeitetes Alterswerk gibt. Auch autobiographische Schriften, Tagebücher und Briefbände von ihm fehlen.
Werkanalyse Adlers Beiträge zur Anthropologie sind über seine Schriften hin verstreut. Daher ist es sinnvoll, seine wichtigsten Publikationen – Studie über Minderwertigkeit von Organen, Über den nervösen Charakter, Heilen und Bilden, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, Menschenkenntnis sowie Der Sinn des Lebens – im Hinblick auf ihre anthropologischen Aussagen darzustellen.
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Studie über Minderwertigkeit von Organen
Dieses Buch stand unter dem Einfluss der Lehren von Darwin und Lamarck, die das Rätsel der Evolution zu lösen versuchten. Neu bei Adler war die Frage, welchen Einfluss unzulängliche Organe auf die Individualentwicklung nehmen. Nicht immer nämlich sind alle Organe des Organismus vollwertig. Es gibt oftmals Abweichungen von der Norm, die Erschwerungen im Lebenskampf mit sich bringen. Wenn das Individuum durch solche Organe nicht massiv erkrankt und früh stirbt, hat es eventuell die Chance, durch Kompensation und Überkompensation bessere Leistungen zu erbringen als der Durchschnitt. Das minderwertige Organ initiiert evolutionäre Steigerung. Dazu müssen allerdings die übrigen Lebensbedingungen günstig sein. In der Medizin häufig anzutreffende Beispiele für Kompensation sind bei paarig angelegten Organen (Lungenflügel, Schilddrüsenlappen, Nieren) die Hypertrophie des einen bei gleichzeitiger Atrophie des anderen Organteils. Bei einseitigem Ausfall (z. B. bei Schrumpfniere) kann die zweite Niere die Organfunktion übernehmen und erfährt dabei eine kompensatorische Größenzunahme. Das Defizit der einen Niere bedeutet einen Wachstumsreiz für die andere. Bei nichtpaarigen Organen lassen sich analoge Mechanismen beobachten. Ein pumpschwacher Herzmuskel reagiert mit einer Zunahme von Schlagfrequenz und Muskelmasse; das Organ hat bei sich selbst für Kompensation gesorgt. Reichen solche Möglichkeiten des Ausgleichs nicht aus, stellen der Gesamtorganismus oder einzelne Organsysteme Unterstützungen bereit. Das höchste Ziel ist jeweils, einen Zustand der Insuffizienz zu vermeiden oder rasch zu beheben. Diese biologischen Kompensationsmechanismen hat Adler um psychische und geistige Ausgleichsbewegungen erweitert. Menschen sind imstande, somatische Defizite mittels seelischer, sozialer und intellektueller Leistungen zu kompensieren. Als Beispiele hierfür dienten dem Autor der berühmte Redner Demosthenes, von dem bekannt ist, dass ihn ursprünglich ein Sprachfehler (Stottern) plagte, den er durch Übung nicht nur überwand, sondern der für ihn zum Anlass wurde, rhetorische Hochleistungen zu vollbringen. Ähnlich
sind Kompositionen Beethovens und Bruckners zu bewerten, die beide an Störungen des Gehörs litten (Beethoven war die letzten Jahre seines Lebens sogar taub), und die diese Minderwertigkeit mit musikalischen Meisterwerken beantworteten. Verallgemeinert man diese Einzelbeobachtungen, lässt sich aus ihnen ein Prinzip der Kulturentstehung ableiten. Die Gattung Mensch hat sich seit ihren Frühzeiten im Vergleich zu anderen Tieren und angesichts der vielfältigen Gefahren der Natur als biologisches Mängelwesen (Johann Gottfried Herder, Arnold Gehlen) und als körperlich minderwertig erlebt. Da die Kompensationsmöglichkeiten auf somatischer Ebene begrenzt waren, bestand ein evolutionärer Druck, auf sozialer und intellektueller Ebene nach Ausgleich zu suchen. Kulturelle Leistungen in Technik, Kunst, Mythos, Religion, Recht, Wissenschaft und Philosophie können daher als Kompensation biologischer Mängel interpretiert werden. Nicht selten aber, so Adler, werden organische Minderwertigkeiten auch zum Ausgangspunkt von Neurosen und körperlichen Erkrankungen. Dies könne man bei Kindern zeigen, bei denen eine Ursache ihrer Kinderfehler (z. B. Bettnässen, Daumenlutschen, Pavor nocturnus, Essstörungen) in Anomalien von Funktion oder Gestalt der betreffenden Organsysteme (z. B. Urogenitaltrakt) zu suchen sei. Das organische Entgegenkommen bahne die Aufgabe der Kompensation oder aber die spätere Erkrankung. Dieser Mechanismus sei bei Neurosen und bei anderen Krankheiten des Erwachsenenlebens zu beobachten. Die Studie stellte einen frühen eigenständigen Versuch Adlers dar, die Mechanismen der Entstehung seelischer und körperlicher Krankheiten wie auch kultureller Leistungen zu erfassen und einem einzigen Prinzip unterzuordnen. Dieses Prinzip hieß Kompensation somatischer Inferiorität mittels biologischer und psychosozialer Leistungen und hob auf eine monistische Lösung des Leib-SeeleProblems ab. z
Über den nervösen Charakter
Adlers theoretisches Hauptwerk bildete den Höhepunkt seiner ersten Schaffensperiode. Darin verwies er vor allem auf die Lebensphilosophie Nietzsches und auf den Fiktionalismus des Neu-
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Kapitel • Alfred Adler
kantianers Hans Vaihinger; beide Denker haben seine Ausführungen über den nervösen Charakter beeinflusst. Letzterer hatte 1911 seine erkenntnistheoretische Philosophie des Als Ob veröffentlicht, in deren Mittelpunkt der Begriff der Fiktion steht. Dabei handelt es sich um ein gedankliches Hilfsmittel, das im Alltagsleben wie im wissenschaftlichen Denken eine wichtige Rolle spielt. Fiktionen bestehen aus Meinungen und Modellvorstellungen über Aufbau und Wesen der Welt. Da es keine absoluten Wahrheiten gibt, muss sich der Mensch damit abfinden, sukzessive vom größeren zum kleineren Irrtum voranzuschreiten. Fiktionen werden fallengelassen, wenn sie sich als hinderlich erweisen oder ihren Dienst getan haben. Hält man jedoch rigide an ihnen fest, können sie zum Dogma erstarren, welches das Denken blockiert und die Annäherung an die Realität verhindert. Diesem Aspekt kommt nach Adler eine wesentliche Bedeutung im Aufbau des Charakters zu, den er als Gesamtheit mehr oder minder tauglicher Fiktionen ansah. Jeder Mensch bilde seit der Kindheit fiktionale Überzeugungen über sich und die Welt aus, die sein charakterliches Profil bestimmen, und die einer Überprüfung mit der Wirklichkeit nicht immer standhalten. Henrik Ibsens Terminus der Lebenslüge, den Adler in Lebensirrtum abwandelte, erschien ihm als brauchbarer Sammelbegriff für jene fiktionalen Realitätsverkennungen, die vor allem beim nervösen Charakter (»Neurotiker«) anzutreffen seien. Adler vertrat ein Strukturmodell der menschlichen Seele, die für ihn keine Ansammlung disparater Fakten und Funktionen, sondern ein finales, also zielgerichtetes Ganzes bedeutete. Von ihren oftmals unbewussten Zielsetzungen her könne man Individuen besser verstehen, als dies bei alleiniger Betrachtung ihrer Vergangenheit der Fall ist. Ihre finale Determinierung wiege nicht selten die in der Psychoanalyse propagierte Kausaldeterminierung auf. Gesunde und neurotisch Kranke unterscheiden sich dabei nur im Ausmaß an Selbsttäuschung und Täuschung anderer. Der Charakter regelt die Beziehung des Menschen zu sich selbst und zur Welt und dient der Realitätsbewältigung. Mit der Wirklichkeit kommen die Einzelnen in Form der Lebensaufgaben von Arbeit, Liebe und Sexualität, Freundschaften,
Beschäftigung mit sozialen und kulturellen Anliegen der Menschheit sowie kunstvoller Gestaltung des eigenen Lebens in Kontakt. Wenn sie diese Aufgaben im Sinne der Logik des Zusammenlebens bewältigen, werden sie zu Mitmenschen. Folgen sie jedoch ihrer Privatlogik, die bevorzugt dem Eigennutz dient, schlüpfen sie möglicherweise in die Rolle von Gegenmenschen, die sich und andere eventuell ins Verderben stürzen. Ausgangspunkt des gesunden wie kranken (neurotischen) Seelenlebens ist nach Adler das Empfinden von Unsicherheit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit, für das er den Begriff des Minderwertigkeitsgefühls verwendete. Dieser Zustand ist für Kinder und Erwachsene gleichermaßen bedrückend. Sie richten sich daher auf fiktionale Größenziele (Persönlichkeitsideal) aus, die Sicherheit, Geltung, Überlegenheit, Macht und Vervollkommnung versprechen. Werden diese Ziele mittels sozialer und kultureller Beitragsleistung angestrebt, entwickelt der Betreffende Sozialinteresse, »Common Sense« und Gemeinschaftsgefühl und damit tragfähige Bezüge zur Wirklichkeit. Verstärkt sich jedoch das Minderwertigkeitsgefühl zum Komplex und drängt das Gemeinschaftsgefühl in den Hintergrund, wird das Persönlichkeitsideal realitätsfremd und phantastisch. An die Stelle von Sozialinteresse tritt das Streben nach Macht und Schein, das Adler in Anlehnung an Nietzsche als zentral beim nervösen Charakter ansah. Vorbild für diese gemeinschaftsfeindliche Orientierung liefert das Patriarchat in der Formel »ich will ein ganzer Mann sein«, von Adler als »männlicher Protest« bezeichnet. Im Rahmen dieser eigentümlichen Logik wird männlich mit oben und stark, weiblich mit unten und schwach gleichgesetzt. Der männliche Protest gilt für Mann und Frau, obschon die Wege, die zum abstrakten und konkreten Größenideal führen, unterschiedlich sind. So findet man bei genauer Beobachtung Charakterzüge, in denen eine direkte, aktiv aggressive Haltung, und solche, in denen die indirekte, nämlich passiv kleinmütige Haltung zum Ausdruck kommt. Beide stehen im Dienst des fiktiven Endziels, an welchem der Mensch festhält, als ob er nur
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auf diese Weise Geltung und Sicherheit im Leben erlangen könnte. Bei Patienten lässt sich nicht selten nachweisen, wie sehr sie ihre körperlichen und/oder seelischen Symptome, Leiden und Gebrechen dazu verwenden, eine Art Dominanz über ihre Mitmenschen zu erlangen. Die offensichtliche Unterlegenheit ihrer Krankheit verwandeln manche von ihnen in eine Pose der Überlegenheit, indem sie via Klagen und Vorwürfe bei ihrer Umwelt schlechte Stimmungen und Schuldgefühle induzieren oder in Form von Zuwendung und sozialer Gratifikation einen sekundären Krankheitsgewinn realisieren. Im zweiten Teil von Über den nervösen Charakter beschäftigte sich Adler mit Charakterzügen wie Geiz, Neid und Eifersucht, mit Grausamkeit, Askese, Reisewut oder Verbrechen, dem Wesen des Wahns, Koketterie, Wahrheitsfanatismus und Entwertungstendenz, Ungeduld, neurotischer Hilfeleistung, Masturbationszwang, Schlaflosigkeit, Schweigsamkeit und Geschwätzigkeit. An diesen Phänomenen deckte er Machttendenzen in vielerlei Ausgestaltung auf. Sie seien auf fiktionale Überlegenheits- und Vollkommenheitsideale hin ausgerichtet und stellten eine Flucht vor Lebensaufgaben dar, denen sich der Betreffende nicht gewachsen fühlt. Häufig handelt es sich bei ihnen um Versuche, das Unmögliche möglich zu machen und die Wirklichkeit dem irrealen Persönlichkeitsideal anzupassen. Der individualpsychologischen Therapie komme die Aufgabe zu, Einzelne über ihre Möglichkeiten aufzuklären und sie dazu anzuregen, die bis dahin vergeudeten Kräfte für realistischere Ziele (Förderung der eigenen Person und der Allgemeinheit) einzusetzen. Selbstüberwindung im Nietzsche‘schen Sinne und nicht die Überwindung der anderen hielt Adler für ein ausgezeichnetes Gesundheitskriterium und einen wichtigen Bestandteil des Gemeinschaftsgefühls. z
Heilen und Bilden
In diesem Sammelband präsentierten Adler und seine Schüler Aufsätze, in denen sie Verbindungen zwischen Pädagogik, Psychopathologie, Psychohygiene und allgemeiner Psychologie zogen. Ein wichtiger Essay darin befasst sich mit dem Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose
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(1908). Adler war der Erstbeschreiber jener Aggressionstriebhypothese, die von Sigmund Freud und Konrad Lorenz danach breit ausgeführt wurde. Der Autor selbst hat diese These später abgelehnt. Er glaubte nicht mehr an eine autochthone Aggression im Menschen, sondern sah im aggressiven Verhalten eine Überkompensation von Angst. An seinen Anfängen erläuterte Adler jedoch geschickt normale und pathologische Phänomene, in denen Aggressivität aufgedeckt werden kann. Im Grunde meinte er damals die menschliche Aktivität, die mit allen übrigen Teiltrieben Verbindungen eingeht. Oft pervertiere das aggressive Ingredienz die übliche Triebrichtung oder führe zur Auswechslung von Triebzielen. So werde der Sexualtrieb nicht selten durch aggressive Beimengungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. In Über neurotische Disposition (1909) beschrieb Adler sein Neurosekonzept. Er bezweifelte, dass sexuelle Traumen und Triebschicksale in der Kindheit die relevanten Neurosefaktoren sind. Ausschlaggebender seien die Umstände der kindlichen Entwicklung, die Ehe der Eltern, deren Charakterstruktur, die Geschwisterkonstellation sowie biologische, familiäre und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Das Kind erleide das Neurotischwerden nicht bloß als passives Schicksal. Es wähle den Ausweg der Neurose, weil es sich anders in seiner Umwelt nicht zur Geltung bringen kann. Durch vielfältige Einflüsse verängstigt und vom Hineinwachsen in Kultur und Gemeinschaft abgeschnitten, entwickle sich der kindliche Charakter als ein Abwehr- und Kampfsystem, welches die Maßnahmen der Erzieher vereiteln soll. Eine dominierende Rolle spielen hierbei Überempfindlichkeit und andere Charakterzüge, die auf der Linie von Macht und Ohnmacht liegen. Das neurotische Kind strebe nach Machtpositionen, und die erlange es, indem es somatische und psychische Symptome entfaltet, auf welche die Umgebung Rücksicht nehmen muss. Man kann durch Schwäche herrschen, und das ist nach Adler ein Schlüssel zum Verständnis des Seelenlebens vieler körperlich und seelisch Erkrankter. Die Abhandlung Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose (1910) führte diese Gedankengänge weiter. Schon Freud hatte
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Kapitel • Alfred Adler
von der Bisexualität in der menschlichen Psyche gesprochen und damit eine biologistische Hypothese (die ursprünglich von Wilhelm Fließ stammte) formuliert. Adler hingegen hob mit seinem Begriff des Hermaphroditismus auf psychosoziale Phänomene ab. Er beobachtete an Patienten eine Aufspaltung oder Dissoziation in deren Seelenleben. Aufgrund von Verwöhnung und Selbstverwöhnung kultivieren Menschen, die zu neurotischen Störungen neigen, passive Gemütsregungen, welche die Kultur weiblich nennt. Weil das Feminine im Patriarchat seit Jahrhunderten wenig geschätzt wird, kommt es zu Kompensationen und Überkompensationen. Auf Phasen des ausgeprägten Schwach- und Untenseins folgen in der Regel heftige Bestrebungen, ein ganzer Mann und damit dominant zu werden. Versetzt man sich in die Psyche von Gesunden wie Kranken, wird man nie den männlichen Protest vermissen, der darauf gerichtet ist, dem betreffenden Individuum irgendeine Form von Superiorität im Leben zu verschaffen. Nach Adler ist der Männlichkeitswahn ein Krebsschaden der menschlichen Gemeinschaft. Es gibt viele Institutionen in Staat, Kirche und Gesellschaft, die von männlicher Idolatrie erfüllt sind. Um sich männlich zu gebärden, verleugnen die Menschen Gefühle und Solidarität und züchten stattdessen Macht und Gewalt, die selbst in der Seele des Ängstlichen noch ihre Auswüchse zeigen. 1911 waren die Gegensätze zwischen Freud und Adler so zugespitzt, dass der Erstere den Letzteren aufforderte, in drei Vorträgen in der Mittwochsgesellschaft seine Gesichtspunkte systematisch vorzulegen. Das tat Adler unter dem nicht gerade freundlichen Titel Zur Kritik der Freudschen Sexualtheorie des Seelenlebens. Bei der anschließenden Diskussion kam es keiner Verständigung, sondern zum Eklat. Adlers Kritik an der Freud‘schen Doktrin war umfassend. Er vertrat ein anthropologisches Konzept, das eine geisteswissenschaftliche und hermeneutische Fundierung aufwies. Daher erachtete er die Anlehnung der Psychoanalyse an die Naturwissenschaften für wenig förderlich. Den Determinismus hinsichtlich seelischer Vorgänge hielt Adler nur für ein Dogma: Es mache wenig Sinn, im Seelischen von Energiequanten, Energieverschiebungen
und Triebökonomie zu sprechen. Das sei lediglich eine Art Gleichnissprache, die keinen Erkenntnisgewinn bringe. Der Sexualjargon dränge sich der oberflächlichen Betrachtung auf, weil der Sexus nicht selten im Seelenleben dramatisch hervortritt. Die sogenannten Libidophasen seien jedoch einfach Stationen der psychischen Gesamtentwicklung, und man tue gut daran, deren sexuelle Begleitphänomene nicht zu überbewerten. Überhaupt weise jeder Mensch so viel und so gestaltete Libido auf, wie es für seine Ziele und Zwecke im Leben günstig ist. Wer sich etwa vom anderen Geschlecht ängstlich distanzieren will, reduziere seine Triebbedürfnisse; wer im Kampf zum heterosexuellen Partner steht, stachle seine Libido derart an, dass er unbefriedigt bleibt und daraus Vorwürfe gegen das Du ableiten kann. Auch der von Freud in den Mittelpunkt seiner Entwicklungslehre platzierte Ödipuskomplex wurde von Adler in Frage gestellt. Die Ödipuskonstellation bedeute nichts Ursprüngliches und Naturgegebenes; nur verwöhnte Kinder wollen den einen Elternteil eliminieren, um sich in den Besitz des anderen Teils zu bringen. Ein ödipales Kind ist nach Adler entwicklungsgehemmt. Anstatt ins Offene der Gemeinschaft zu streben, verstricke es sich bis ins Erwachsenenalter hinein in Familienkalamitäten. Im Aufsatz Organdialekt (1912) vertrat Adler die Ansicht, dass die Menschen nicht nur eine Verbal-, sondern auch eine Organsprache gebrauchen, um sich effektiv auszudrücken. Wenn die psychosozialen Fähigkeiten nicht ausreichen, um existentielle Anliegen zu kommunizieren, greifen die Betreffenden auf ihre Körpersprache (Mimik, Gestik, Tränen) zurück. Falls ihr Organismus es anbietet, werden dessen Störungen und Krankheiten in diesen Kommunikationsprozess mit einbezogen. So können Schmerzpatienten allein durch ihren gepeinigten Gesichtsausdruck oder ihren sozialen Rückzug ihrer Umwelt mitteilen, dass sie für keinerlei Aufgaben und Belastungen zur Verfügung stehen. Über Körpersymptome und die Reaktionen der Mitmenschen darauf üben Patienten und ihr soziales Umfeld vielfältige Formen der Unterhaltung ein, die völlig ohne Worte ausnehmend wirkungsvoll sind.
Werkanalyse
Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen mit Organjargon sind häufig nur aussichtsreich, wenn neben dem Patienten auch dessen Mitmenschen diagnostiziert (und womöglich sogar therapiert) werden. Die jeweilige Organsprache muss dabei ins Umgangssprachliche übersetzt werden, was häufig eine langwierige Behandlung notwendig macht. In Heilen und Bilden kamen nicht nur wissenschaftliche Gegensätze zwischen Freud und Adler, sondern auch deren verschiedenartige Menschenbilder und Weltanschauungen zum Tragen. Besonders in Bezug auf die Triebhaftigkeit des Menschen vertrat die Individualpsychologie eine der Psychoanalyse entgegengesetzte Position. Werden Kinder adäquat (weder verwöhnend noch verwahrlosend) erzogen, entwickeln sie in der Regel Charakterzüge, die sie später zu sozialer und kultureller Einfügung und Beitragsleistung befähigen. Private oder gesellschaftliche Probleme lösen sie im Geiste von Solidarität und Vernunft, und aggressive Triebregungen (für die Psychoanalyse beinahe eine Art Glaubensgrundsatz) suche man bei ihnen fast vergebens. z
Praxis und Theorie der Individualpsychologie
Dieser Text vereinigt Abhandlungen aus dem ersten Jahrzehnt nach Adlers Trennung von Freud. Sie verdeutlichen seine Wendung zur Ich-Psychologie als Abkehr von der psychoanalytischen Triebpsychologie. Freuds Determinismus verunmöglichte Adler zufolge ein tieferes Verstehen seelischer Gesundheit und Krankheit. Es ergebe ein schiefes Menschenbild, Sexual- oder Aggressionstriebe zu Hauptkomponenten der Psyche zu erheben. In Anlehnung an Nietzsche plädierte er vielmehr dafür, das Streben nach Selbstwert und Sicherheit angemessen zu berücksichtigen. Die anthropologische Urtatsache im Seelischen sei das Minderwertigkeitsgefühl, das dauernd zu Kompensation und Überkompensation Anlass gibt. Bestehen günstige Bedingungen in Kindheit und Erziehung, werden kompensatorische Ziele und Zwecke gewählt, die mit der Realität im Einklang stehen und Gesundheit ermöglichen. Krank wird der Mensch hingegen, wenn er (durch Umgebung, eigenen Irrtum und Zeitgeist verführt)
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Machtambitionen folgt, welche der Entwicklung von eigener Person, Gemeinschaft und Kultur widersprechen. Psychosoziale Störungen und Krankheiten entstehen auf dem Boden von fiktiver Lebensgestaltung und dem Willen zum Schein. Hierbei findet sich das Individuum auf der Unnützlichkeitsseite des Daseins. Anstatt soziale Lebensaufgaben (Arbeit, Liebe und Gemeinschaft) zu lösen, nütze der Patient die Hilfe anderer aus und sonne sich in scheinbarem Prestige. Diese Überlegungen wendete Adler auf Neurosen, charakterliche Fehlhaltungen, Sexualanomalien und Psychosen an. Dabei untersuchte er unter anderem Probleme, Symptome und Krankheiten wie Schlaflosigkeit, Zwangsneurose, Melancholie, Paranoia, Verwahrlosung und Prostitution. Bis in die feinsten Manifestationen des seelischen Krankseins hinein konnte Adler nachweisen, dass Menschen mit ihrer sozialen Umgebung verflochten sind und ihre normalen und pathologischen Verhaltensweisen so konstruieren, dass sie damit Fragmente von Selbstachtung und sozialer Anerkennung aufrechterhalten. Gemieden werden vor allem die Niederlage im Dasein und das Manifestwerden des eigenen Unwerts. Um derlei zu verschleiern, werden in Krisensituationen Phänomene eines Schockzustands festgehalten und ausgebaut. Nun hat der Patient ein Alibi, das ihn von seinen Misserfolgen freispricht. Mittels Privatlogik werden alle nur erdenklichen Argumente herbeigeholt, die zur Entschuldigung des Faktums dienen, dass der Betreffende keine Beiträge zu Kultur und Gesellschaft leistet. Er lebt zwar unbehaglich, aber gesichert im Schutzraum seiner Krankheit. Einen fulminanten Angriff richtete Adler in seinem Buch auch gegen das Freud‘sche Konstrukt des Unbewussten, das im Menschen beinahe ein zweites inneres Subjekt konstituiert, so dass man eigentlich mit einer Ich-Spaltung zu rechnen habe. Nach Adler findet man im Unbewussten des Menschen, das besser als ein Unverstandenes zu bezeichnen wäre, jedoch genau dieselben Tendenzen wie im Bewusstsein, nur etwas verschleiert und mitunter symbolisch entstellt. In einem Essay über Venerophobie berichtete Adler, bei manchen Patienten überhöhte Ängste vor syphilitischer Ansteckung diagnostiziert zu
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Kapitel • Alfred Adler
haben, welche dem Zweck dienten, ihr Liebesleben zu reduzieren oder auszuschalten. Ihre Befürchtungen waren häufig nicht völlig haltlos, da die Gefahr einer Infektion nicht ganz zu leugnen war. Aber Adler verwies auf die Tatsache, dass im neurotischen Leben und Erleben allzu oft »Vernunft zu Unsinn« und »Wohltat zur Plage« wird. Aus Sorge vor Selbstwertverlust klammern Patienten weite Bereiche der Wirklichkeit aus, weil sie der Meinung sind, nur bei »verringerter Frontbreite« ihren Selbstwert hoch und stabil halten zu können. Interessant sind auch Adlers Überlegungen zu Schlafstörungen, die von vielen Menschen beklagt werden. Dem Individualpsychologen zufolge erhalten sie damit eine Bestätigung ihres prekären Selbstwertgefühls. Was könnten sie nicht alles leisten, wenn sie nicht vom Fluch der unruhigen Nächte geschlagen wären! So schläft der Betreffende schlecht, um nicht als wertlos dazustehen. Amüsant ist der Umstand, dass Adler die charakterliche Prägung eines Menschen sogar in den Schlafstellungen nachzuweisen versuchte. Der ingeniöse Beobachter will gefunden haben, dass machtorientierte Persönlichkeiten meist auf dem Rücken liegen und wie Napoleon die Arme verschränken; Angsthasen hingegen liegen nachts zusammengekauert da. Nach Adler meldet sich hier die Einheit der Persönlichkeit, die alle Ausdrucksphänomene durchdringt und vom kundigen Diagnostiker auch in den unscheinbarsten seelischen Manifestationen enthüllt werden kann. Überall findet sich hierbei die Bewegung von unten nach oben, von der Ohnmacht zur Überlegenheit, selbst wenn Letztere nur in der Einbildung des Betreffenden besteht. Entsprechend insistierte Adler darauf, dass Träume kaum je der Erfüllung infantil-sexueller Wünsche (Freud) dienen, sondern geträumt werden, wenn Probleme anstehen, welche der Träumer mit normalen Mitteln nicht lösen kann. Mit Hilfe der Traumlogik schaffe er sich Aus- und Umwege, wobei ihm die suggestive und emotional getönte Bilderwelt des Traums die Ausschaltung des Realitätsprinzips erleichtere. z
Menschenkenntnis
Hinter dem schlichten Titel dieses bekanntesten Buchs von Adler verbirgt sich eine meisterhafte Aufklärungsschrift sowie ein hervorragendes Ins-
trument der Diagnostik und Psychotherapie. Der Begründer der Individualpsychologie unternahm es, Menschenkenntnis als Wissenschaft und Kunst zu etablieren und seine Vorstellungen des Verstehensaktes zu erläutern. Einen Menschen zu verstehen bedeutet, dessen Bewegungsgesetz zu erahnen, das auf bestimmte, meist geheime Ziele gerichtet ist. Die Bewegungslinie des Seelischen schlägt sich im Lebensstil nieder, in dem sich die Spannungen von Minderwertigkeitsgefühlen, Geltungsstreben und Gemeinschaftsgefühl verfestigen. Ein anderer Begriff für Lebensstil war für Adler Charakter, der in einzelnen Charakterzügen sichtbar wird. Letztere sind nicht angeboren, sondern in früher Kindheit erworben. Der Autor wandte sich energisch gegen die Vererbungsmythologie des Charakters, auf die in konservativ-reaktionären Kreisen gerne zurückgegriffen wird. Da im Erwachsenen das Kind weiterlebt, das er einmal war, ist es wichtig, jene Situationen zu kennen, in denen er sich einst befand. Darüber gibt nach Adler die Stellung in der Geschwisterreihe Auskunft. Er stellte fest, dass Jüngste oft ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl entwickeln, da man sie verzärtelt und ihnen wenig zutraut, Älteste dagegen für Macht prädestiniert sind, die sich in Charakterzügen wie Hass, Neid und destruktiver Konkurrenz bemerkbar machen können. Das einzige Kind wird nicht selten maßlos verwöhnt, steht meist im Mittelpunkt und kann sich, auf diese Weise entmutigt, nur mit Angst oder Feindschaft bewegen. Adler konzentrierte sich vorwiegend auf das kranke Seelenleben, da hier viele Befunde drastischer hervortreten als bei Gesunden. Im Übrigen sah er zwischen Neurose und Normalität keinen wesensmäßigen, sondern lediglich einen quantitativen Unterschied. Allerdings ließ er keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sich im Machtstreben das hervorstechende Übel der Menschheitskultur bekundet. An dessen Quelle findet sich stets ein übersteigertes Minderwertigkeitsgefühl, das sich mit einem bloßen Ausgleich nicht mehr zufriedengibt. Nach Adler krankt sowohl das familiäre als auch das politische und gesellschaftliche Leben an mangelhafter Menschenkenntnis. Die Familie
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Werkanalyse
isoliert häufig ihre Mitglieder und verhindert den Kontakt, der zur Entfaltung der Menschenkenntnis notwendig ist. Außerdem tradiert sie das folgenschwerste Vorurteil, das sämtliche Lebensbereiche unterminiert und den Menschen um erhoffte Glücksmomente bringt, nämlich das von der Minderwertigkeit der Frau. Fast jeder übernimmt es aus der Kinderstube ins Erwachsenenleben, ohne es je einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Adler geißelte den Kampf der Geschlechter, der daraus erwächst und das Liebesleben vergiftet. Das im Patriarchat vorherrschende Überlegenheitsprinzip führe zu Macht in Form von betont männlichen oder weiblichen Mitteln. Beide Tendenzen, die auf Sieg und nicht auf Zusammenarbeit ausgerichtet sind, korrumpieren die Beziehungen und beherrschen bereits die Erziehung. Sollen an die Stelle des Kampfes Kooperation und Solidarität treten, müssten Kinder von Beginn an dazu angeleitet werden, Konkurrenz und Prestigepolitik zu unterlassen. Da sich die Menschen zu wenig kennen, täuschen sie sich und fallen auf Täuschungen anderer herein. In dieser Täuschungsmöglichkeit, die sowohl im Privaten als auch in der Politik verheerende Folgen nach sich zieht, sah Adler eine Gefahr für Gesellschaft und Menschheit. Aufgrund mangelhafter Menschenkenntnis sind die Völker nämlich nicht in der Lage, Machthaber zu durchschauen, Fanatiker als Menschenfeinde zu entlarven und deren Parolen als Worthülsen zurückzuweisen. Menschenkenntnis war für Adler weder Selbstzweck noch Mittel zum Zweck, sondern ein Instrument der Hilfeleistung, also ethische Praxis. Derjenige, der sie nur benutzt, um andere auszubeuten, bleibt ebenso an der Oberfläche wie derjenige, der sich am Abstrakten orientiert oder an künstlichen Arrangements festhält. Nur jene, die in enger Beziehung zu ihren Mitmenschen stehen, die menschlichen Leidenschaften kennen und sich dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen stellen, haben eine Chance, sich und andere zu verstehen. Im Rahmen dieses Prozesses spielen Solidarität, Mitgefühl, Wohlwollen, Besonnenheit, Geduld und Heiterkeit eine bedeutende Rolle. Diese Tugenden und Emotionen fasste Adler unter den Begriff des Gemeinschaftsgefühls zusammen.
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Der Sinn des Lebens
Das Buch ist anthropologisch höchst relevant, da es den Menschen als Schöpfer und Sucher von Sinn, Wert und Bedeutung beschreibt. Adler unterschied subjektive und objektive Sinnqualitäten; seelische und manchmal sogar körperliche Krankheit und Gesundheit hängen ihm zufolge vom Ausmaß der Wahrnehmung und Verwirklichung objektiver, überpersonaler Sinn- und Wertinhalte ab. Jeder Mensch weist Meinungen, Urteile und Interpretationen über sich und die Welt auf, die unverrückbar scheinen und alle Handlungen, Vorstellungen, Empfindungen, Gedanken und Beziehungen des Einzelnen bestimmen. Nach Adler werden diese Fiktionen in früher Kindheit als Antwort auf die vorgefundene Umwelt formuliert. Sie betreffen wichtige Bereiche der Existenz und legen die Melodie fest, welche der Betreffende im Konzert der Vielen spielen kann und will. Die konkreten Lebensbewegungen eines Individuums können nun so verstanden werden, als ob der Einzelne mit ihrer Hilfe seine Meinung von sich und vom Leben zu bestätigen sucht. Der subjektive Sinn und Zweck, welcher dem Dasein untergeschoben oder übergestülpt wird, wirkt wie ein Kategoriensystem, auf dessen Grundlage die Welt erfasst, benannt und gestaltet wird. Je weiter sich Menschen bei der Formulierung ihres subjektiven Sinns von den Gesetzen der Vernunft und des »Common Sense« entfernen, umso eher laufen sie Gefahr, sich in den Fallstricken ihrer Fiktionen zu verfangen. Diese von Privatlogik geprägten Vorstellungen tragen nicht selten zur Ausbildung von Neurosen, Psychosen, Süchten, Perversionen und antisozialer Tendenz bei. Handlungen und Stellungnahmen von Menschen hängen daher direkt von ihrem subjektiven Sinnerleben ab. Bei allem fiktionalen und konstruierten Sinn darf nach Adler jedoch auch ein der Welt innewohnender objektiver Sinn vermutet werden. Wie das einzelne Individuum, so weise der gesamte Kosmos, die belebte und unbelebte Natur und ebenso die vom Menschen geschaffene Kultur globale Minussituationen auf, die zu Überwindung und Vervollkommnung drängen. Die von Darwin beschriebenen Phänomene der Evolution etwa können unter diese Prämisse eingeordnet werden.
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Kapitel • Alfred Adler
Wenn die Grundlagen für globale Bewegungen hin zu größerer Vollkommenheit geschaffen oder gesichert werden, kommt nach Adler objektiver Sinn zum Tragen. Im Bereich von Gesellschaft und Kultur nannte er diesen objektiven Sinn Gemeinschaftsgefühl oder »Common Sense«; Analoga hierfür sind Eros, Geist oder Vernunft. Je mehr sich Einzelne in ihrer subjektiven Sinngebung dieser kosmisch-universalen Dimension annähern, verwirklichen sie objektiven Sinn und tragen zur Steigerung ihres eigenen wie auch des Wertes der Welt bei. Solange Menschen ihren Selbstwert hoch und stabil halten, leben sie angstund affektarm und schaffen Voraussetzungen für relative seelische und körperliche Gesundheit. Sie ermöglichen ihrem Organismus je nach seinen biologischen Gegebenheiten ein Maximum an gesundem und langem Leben – ein Zusammenhang, den bereits Christoph Wilhelm Hufeland in seiner Makrobiotik (1796) angedeutet hat. Das Ausmaß des Gemeinschaftsgefühls kann Adler zufolge am Schwierigkeitsgrad der sozialen und kulturellen Aufgaben abgelesen werden, welche der Betreffende ins Auge fasst und zu lösen unternimmt. Zu diesen Aufgaben zählen Ausbildung und Beruf, Partnerschaft und Sexualität, Freundschaften, Familie und Erziehung, Assimilation und Weiterentwicklung von Kulturbereichen (Wissenschaft, Philosophie, Kunst) sowie Verantwortlichkeit für das Schicksal von Menschheit und Welt.
Conclusio Wie keine zweite tiefenpsychologische Schulrichtung des 20. Jahrhundert hat die Individualpsychologie Adlers die Erziehbarkeit des Menschen und damit die Pädagogik in den Vordergrund ihres Interesses gerückt. Adler erachtete es als vorrangige Aufgabe, Eltern, Lehrer, Ausbilder, Erzieher, Politiker und alle in der Bildung von Menschen Tätige in die Lage zu versetzen, ihre Kinder, Zöglinge und Schützlinge im Sinne des Gemeinschaftsgefühls zu unterrichten und zu beeinflussen. Solche Funktionen schrieb Adler auch Ärzten, Psychotherapeuten und dem gesamten Gesundheitssystem zu. Er war überzeugt, dass die Medizin
Prävention und Prophylaxe in gelebte Praxis umsetzen sollte. Nicht nur Diagnostik und Therapie, sondern vor allem die Verhütung von Krankheiten inklusive seelischer, geistiger und körperlicher Hygiene gehören zu den vornehmsten Problemfeldern der Heilkunde:
» Die Individualpsychologie erblickt ihre Aufgabe darin, dass ihre Lehren über die Grenzen von bloßer Krankenbehandlung und Individualerziehung hinaustreten, dass sie Prophylaxe werden und Weltanschauung. Im Banne des Kosmos, verknüpft durch die Schwäche seines Organismus, noch mehr durch seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Sprache, Vernunft, Ethik, Ästhetik und Erotik, zwingt das Leben den Menschen zur Antwort auf zwangsläufig entwickelte Fragen. Sein Mut, sein Optimismus und seine trainierte Leistungsfähigkeit sind notwendige Antworten auf eine reale Not, die auch ein dauerndes Gefühl der Minderwertigkeit als wesentlichen Inhalt seines Seelenlebens unterhält (Adler 1982b, S. 177).
«
Ausgehend von seinen frühen Studien über Minderwertigkeit von Organen formulierte Adler nach und nach ein anthropologisches Konzept, bei dem er den Menschen als geprägt von Unterlegenheitsgefühlen, Machtstreben und Gemeinschaftsgefühl beschrieb. Dem Einzelnen gestand er dabei die prinzipiellen Möglichkeiten zu, aktiv Antworten auf historische, soziale, gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen seiner Umgebung zu formulieren. Ob er sein Leben mehr mit der Macht-Ohnmacht-Thematik oder aber dem »Common Sense« verbindet, entscheidet wesentlich über dessen Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit und letztlich auch über das Geschick seiner Mitmenschen und ihrer Kultur mit. Den Menschen begriff Adler demnach in der Tradition Nietzsches als ein »nicht festgestelltes Tier«, das sich durch unbewusste affektive und charakterliche Entscheidungen in Kindheit und Jugend einen Lebensstil und eine Gangart schafft, womit es auf die Herausforderungen seines Daseins reagiert. Wie in der Existenzphilosophie von Jean-Paul Sartre beschrieben, wählt der Betreffende mittels einer Art Urwahl die fiktionalen Richtungen und Ziele
Literatur
seines Lebens, ohne dass er diesen Vorgang durchschaubar machen und in Worte fassen könnte. Das Faktum, dass diese grundlegende existentielle Orientierung in einem nonverbalen und vor aller bewussten Reflexion liegenden Zeitraum des menschlichen Lebenslaufs stattfindet, trägt wesentlich dazu bei, dass der Einzelne auch als Erwachsener die Umrisse und Inhalte von Urwahl und Charakter bei sich selbst nur schwer erkennt. Als Unverstandenes mischen sie sich jedoch in alle seine Existenzäußerungen und dominieren diese nicht selten. Medizinische und psychosoziale Diagnostik bedeutet daher, diese Aspekte eines Patienten ebenso wie seinen körperlichen Status in die Befunderhebung mit einzubeziehen. Analog sollte jegliche Therapie die unbewussten Zielsetzungen eines Menschen berücksichtigen. Großen Wert legte Adler dabei auf die Stärkung von Mut, Können, Zuversicht und Solidarität seiner Klienten. Von der Veränderbarkeit des Menschen war er ebenso überzeugt wie von dessen sozialen und ethisch-kulturellen Interessen. Falls man diese bei Krankheit oder antisozialer Tendenz nicht wahrnehmen könne, seien sie nur verschüttet, und man müsse sie durch Nacherziehung wieder freilegen. Wir nennen derlei Argumentation einen grundlegenden und nachahmenswerten anthropologischen Optimismus.
Literatur Adler A (1982a) Psychotherapie und Erziehung, drei Bände. In: Ansbacher H, Antoch R (Hrsg). Fischer, Frankfurt am Main Adler A (1982b) Die Individualpsychologie, ihre Bedeutung für die Behandlung der Nervosität, für die Erziehung und für die Weltanschauung (Erstveröff. 1926). In: Psychotherapie und Erziehung Band I Ansbacher H, Antoch R (Hrsg) Fischer, Frankfurt am Main Adler A (1998a) Studie über Minderwertigkeit von Organen. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1907) Adler A (1998b) Über den nervösen Charakter. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1912) Adler A (1998c) Heilen und Bilden, Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1914) Adler A (1998d) Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1920) Adler A (1998e) Menschenkenntnis. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1927)
213
Adler A (1998f ) Der Sinn des Lebens. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1933) Böhringer H (1985) Kompensation und Common Sense – Zur Lebensphilosophie Alfred Adlers. Athenäum, Königstein/Taunus Hoffman E (1997) Alfred Adler – Ein Leben für die Individualpsychologie. Reinhardt, München (Erstveröff. 1994) Rattner J (2008) Alfred Adler. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1972) Schiferer HR (1995) Alfred Adler – Eine Bildbiographie. Reinhardt, München Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
215
C. G. Jung Biographisches – 216 Werkanalyse – 218 Conclusio – 224 Literatur – 227
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • C. G. Jung
. Abb. 1 Carl Gustav Jung (*1875; †1961). (Stumm et al. 2005)
Carl Gustav Jung gilt als Mystiker unter den Pionieren der Tiefenpsychologie. Verglichen mit Freud und Adler zeigte der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut ein bedeutend größeres Interesse an Parapsychologie, Aberglauben, religiösen Fragestellungen und okkulten Phänomenen. Von manchen Kritikern wurde er daher der Fraktion der Gegenaufklärung innerhalb der Psychoanalyse zugerechnet. Gleichwohl enthalten seine Schriften anthropologisch relevante Überlegungen (. Abb. 1).
Biographisches Jung wurde 1875 in Kesswil auf der Schweizer Seite des Bodensees im Kanton Thurgau geboren. Sein Vater war als Pfarrer tätig und zog mit seiner Familie zuerst in die Nähe von Schaffhausen und dann nach Basel, wo Carl Gustav seine Kindheit und Jugend verlebte. Diese Zeit war von der schwierigen Ehe der Eltern und vom zeitweiligen Schulversagen des Knaben geprägt. Nach dem Abitur studierte Jung in Basel Medizin und wählte die Psychiatrie als Spezialgebiet. 1900 wurde er Assistenzarzt bei Eugen Bleuler in dessen Klinik Burghölzli in Zürich. Ein Semester hospitierte der angehende Nervenarzt bei Pierre Janet in Paris. 1903 heiratete er Emma Rauschenbach, die Tochter eines Schaffhauser Fabrikanten. Diese Heirat bedeutete für Jung einen großen finanziellen Rückhalt, da Emma eine beträchtliche Summe in die Ehe einbrachte. Das stattliche Wohnhaus in Küsnacht, direkt am Zürichsee gelegen, sowie das später erbaute Turm-Anwesen in Bollingen wurden zu keinem geringen Teil durch die Mitgift von Emma Jung finanziert. Mit ihr zusammen hatte er fünf Kinder. Während der letzten Schwanger-
schaft der Gattin bahnte sich eine Liebschaft Jungs mit der Psychoanalytikerin Toni Wolff an, die viele Jahre bestand und zu einer spannungsreichen Dreieckskonstellation führte. 1905 habilitierte sich Jung mit experimentellen Arbeiten, die er unter dem Titel Diagnostische Assoziationsstudien publizierte. Darin befasste er sich mit der Theorie gefühlsbetonter Komplexe – eine Theorie, welche der Psychoanalyse nahe kam. So überrascht es nicht, dass sich zu jener Zeit zwischen Freud und Jung ein Briefwechsel anbahnte, der bis zum Jahre 1913 andauerte. Jungs Chef Bleuler war beinahe der einzige Psychiater in Europa, der damals die Psychoanalyse mit Interesse und Wohlwollen beurteilte; durch ihn war sein Assistenzarzt auf Freud aufmerksam geworden. 1907 stattete Jung einen Antrittsbesuch in Wien ab. Angeblich soll er mit übersprudelnder Rhetorik mehrere Stunden auf Freud eingeredet haben, bis der Meister endlich sagte: »Nun wollen wir doch alles der Reihe nach vornehmen.« Es ergab sich ein fast zehn Stunden dauerndes Gespräch, das zu vielen Übereinstimmungen führte. 1907 veröffentlichte Jung sein Buch Über die Psychologie der Dementia praecox. Darin beschrieb er, wie psychoanalytische Theorien in der Diagnostik und Therapie von Geisteskrankheiten (Schizophrenie) Eingang finden sollten. Freud war hiervon begeistert – eröffnete sich ihm doch damit die Chance, seine Lehre in die Psychiatrie einzubringen. Überhaupt war ihm die Anhängerschaft der Zürcher (es bildete sich bald ein Kreis junger Ärzte um Jung) wertvoll, da sie offenkundig belegten, dass die neue Seelenheilkunde keine rein österreichische oder jüdische Angelegenheit war. Freud favorisierte Jung und dessen Gruppe am Zürichsee in besonderer Weise. Als er 1909 in die USA an die Clark University eingeladen wurde, um dort Vorlesungen zu halten und den einzigen Ehrendoktor seines Lebens entgegenzunehmen, war er froh, dass auch Jung mit von der Partie war. Dieser erhielt ebenfalls einen Doktor honoris causa (in Jurisprudenz), weil seine Assoziationsstudien den Weg zum Lügendetektor im Bereich der Kriminalistik bahnten. 1910 wurde Jung zum Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ernannt. Freud sah in ihm den Erben und Kronprinzen der
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Biographisches
psychoanalytischen Bewegung; Jung schien der Sache sehr ergeben zu sein. Außerdem war er energisch und zielstrebig, so dass Freud meinen konnte, seine Ideen könnten durch den hünenhaften Schweizer gut protegiert werden. Die vernachlässigten Wiener Analytiker mit Alfred Adler und Wilhelm Stekel an der Spitze betonten schon damals, dass Jung konservativ, autoritär und selbstherrlich sei. Das wollte Freud vorerst nicht wahrhaben. Als aber 1912 Jungs Frühwerk Wandlungen und Symbole der Libido erschien, musste auch er sich eingestehen, dass sein Adlatus nicht die Absicht hatte, zu einem Aufklärer und zum Rebellen gegen die bürgerliche Gesellschaft zu werden. Bereits ein Jahr später kam es zum Bruch ihrer Beziehung. Die Loslösung von Freud ergab eine gewaltige seelische Krise, die Jung in die Nähe einer psychotischen Erkrankung brachte. Er schrieb damals, dem Diktat seines Unbewussten folgend, die Sieben Ansprachen an die Toten (1916), die reichlich konfus anmuten. Parallel dazu gelang es Jung, eine gutgehende psychoanalytische Privatpraxis aufzubauen; vor allem betuchte ältere Damen zählten zu seiner Klientel. Außerdem gründete er mit Hilfe amerikanischer Gönner 1916 seinen Psychologischen Club in Zürich, wo er eine Stätte für sein Wirken als Lehrer und Meister fand. Unter seinen Anhängern gab es viele Frauen; auch ehemalige Patienten, die meisten aus der Oberklasse stammend, waren im Club anwesend. Jung war umfassend gebildet und publizierte viel in jenen Jahren. Herausragend war das Werk Psychologische Typen, das 1921 erschien. Es führte den Gegensatz von Extraversion und Introversion ein und beschrieb mit beachtlichem Geschick das Typenproblem im Alltag, im Kulturleben und in der Geistesgeschichte. Neben seiner universalen Bildung machten sich in Jungs Schriften jedoch auch dessen religiöse Einstellung sowie Neigungen zu Okkultismus, Parapsychologie, Alchemie und Esoterik bemerkbar. Er war überzeugt, dass etwa die Gnosis voll von psychologischer Symbolik sei. Hier finde man die Archetypen des Seelenlebens, jene Urbilder, welche der Conditio humana von alters her zugrunde liegen. Die Menschen der Moderne seien immer
noch von archetypischen Erlebnissen bestimmt, was vor allem in Krankheiten, aber auch in Kunst, Märchen, Mythen, Dichtung, Religion und Phantasiebildungen aller Art nachweisbar sei. In den 20er Jahren unternahm Jung Reisen nach Nord- und Ostafrika sowie nach Nordamerika. Überall suchte er Zugang zu den naturwüchsigen Verhältnissen, um seine Auffassungen über urtümliches Menschenverhalten zu überprüfen. So befasste er sich eingehend mit den Religionsvorstellungen von Eingeborenen, bei denen er manche Bestätigung für seine Archetypenlehre zu finden glaubte. Als nach 1930 in Deutschland der Nationalsozialismus an die Macht drängte, bezog Jung zunehmend problematische Positionen. Schon früh hatte er respektvolle Worte für Mussolini gefunden. Als nun 1933 Ernst Kretschmer die Leitung der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie niederlegte, übernahm Jung diesen Posten, was einer Sympathieerklärung für den Faschismus gleichkam. Ein kritisches Urteil dem Totalitarismus gegenüber entwickelte Jung auch die kommenden Jahre nicht – dazu fehlte ihm die Courage ebenso wie die intellektuelle Redlichkeit und die politische Weitsicht. In der von ihm geleiteten Ärztegesellschaft waren überzeugte Nationalsozialisten (z. B. Matthias Göring, Walter Cimbal) tonangebend. Jung stützte deren Antisemitismus, indem er von einem jüdischen und germanischen Unbewussten und einer ebensolchen Psychologie sprach und daneben gehässige Polemiken gegen Freud und die Psychoanalyse formulierte, die man schlicht als dümmlich bezeichnen muss. Nach 1945 wollte Jung von diesen geistigen Verfehlungen wenig wissen; dem Rabbiner Leo Baeck gegenüber verharmloste er seine Haltung mit den Worten, er sei damals eben »ausgerutscht«. Und in einem Brief aus dem September 1945 schrieb er sogar:
»
Es ist schwierig, die antichristliche Einstellung der Juden nach den schrecklichen Dingen, die in Deutschland geschehen sind, zu erwähnen, doch die Juden sind nicht wirklich so verflucht unschuldig – die Rolle, die die intellektuellen Juden im Vorkriegsdeutschland gespielt haben, wäre ein interessanter Untersuchungsgegenstand (Jung:
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Kapitel • C. G. Jung
Brief an Mary Mellon vom 24.09.1945, zit. nach Bair 2005, S. 629).
«
In den 30er Jahren erhielt Jung erste öffentliche Ehrungen, etwa den Literaturpreis der Stadt Zürich, einige Ehrendoktorate sowie eine Titularprofessur an der Technischen Hochschule, der 1943 eine Professur für Medizinische Psychologie in Basel folgte. 1933 bot ihm die holländische Millionärin Olga Fröbe-Kapteyn an, im Tessin Tagungen im Geiste seiner Psychologie durchzuführen. So entstand der Erános-Kreis, bei dem sich Jung jährlich mit ähnlich denkenden Forschern traf, um die kulturelle Situation der Gegenwart zu reflektieren. Die dabei gehaltenen Vorträge wurden jeweils als EránosJahrbücher veröffentlicht. Jungs Publizistik tendierte immer mehr zu Themen, die am Rande oder außerhalb der Wissenschaftssphäre standen. 1944 hatte er den Text Psychologie und Alchemie herausgegeben; 1948 folgte die Symbolik des Geistes und 1951 das Buch Äon, welches den Untertitel Untersuchungen zur Symbolgeschichte trägt. Im selben Jahr erschien Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge, worin er sich mit übergreifenden Zusammenhängen befasste, die scheinbar zufällige Parallelereignisse erklären sollten. 1952 veröffentlichte Jung die Schrift Antwort auf Hiob, die eine analytische Untersuchung Gottes enthält. Ein Jahr später ermöglichte ihm eine Rockefeller-Erbin die Herausgabe seiner Collected Works. Schon Jahre zuvor war in Zürich ein C. G. JungInstitut gegründet worden, das als Ausbildungsstätte fungierte. Schüler und Freunde bevölkerten diese Institution, die zu einem Weltzentrum für die Analytische oder Komplexe Psychologie Jung‘scher Prägung wurde. Auch in anderen Ländern entstanden ähnliche Institute. 1955 erhielt der 80-Jährige den Ehrendoktor der ETH in Zürich. Zwei Jahre zuvor war seine Gattin Emma gestorben. Eine englische Hausgenossin übernahm daraufhin die Betreuung des zunehmend hinfälligen Psychologen. Seine Schülerin Aniela Jaffé wurde zu seiner Sekretärin, der er seinen Lebensrückblick unter dem Titel Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung diktierte. Dieses eigenartige Buch wirkt wie der Schlussstein zum Oeuvre des Psychologen. Jung berichtete
darin zwar über seine Kindheit, Jugend, Familienverhältnisse, Studienerlebnisse, Reisen und Beziehungen zu Zeitgenossen wie Sigmund Freud, Richard Wilhelm (Sinologie), Heinrich Zimmer (Indologie) und Karl Kerényi (klassische Philologie). Den Hauptteil des Werkes machen jedoch die Schilderungen von Jungs Träumen sowie parapsychologischen Erfahrungen und Erlebnissen aus. Die Lektüre dieses Erinnerungsbuchs vermittelt den Eindruck eines Menschen mit großen inneren Konflikten und starkem Narzissmus, der immer wieder in der Nähe des seelisch-geistigen Zusammenbruchs lebte. Okkultes, Abergläubisches und schlichte Frömmigkeit kommen darin ebenso vor wie rational anmutende Überlegungen zu Natur und Kultur des Menschen – eine Mischung, die vor allem von einem konservativ und religiös orientierten Publikum mit Applaus bedacht wurde. Jung starb hochbetagt 1961 in seinem Haus in Küsnacht am Zürichsee. Er hat das Alter von 86 Jahren erreicht, wurde also drei Jahre älter als Freud und neunzehn Jahre älter als Adler. Seine Gesammelten Werke wurden in zwanzig voluminösen Bänden im Walter-Verlag Olten herausgegeben.
Werkanalyse Ähnlich wie bei Freud und Adler haben auch die Schriften C. G. Jungs auf die medizinische und psychologische Anthropologie des 20. Jahrhunderts nachhaltigen Einfluss genommen. Dies wird folgend anhand zentraler Begriffe der Komplexen Psychologie demonstriert. z
Die Libido
Dieser Begriff spielt hinsichtlich der anthropologischen Grundannahmen in der Psychoanalyse wie in der Komplexen Psychologie eine zentrale Rolle. Jung hat den Terminus und einige Gesichtspunkte des damit verbundenen Menschenbildes erstmals in Wandlungen und Symbole der Libido (1912) erläutert. Mit diesem Buch begann die Phase seiner Absetzbewegung von Freud. In der Psychoanalyse wurde Libido als die psychische Seite des sexuellen Bedürfnisses definiert. Freud formulierte mehrere Triebtheorien und legte dabei stets großen Wert auf eine dualistische Aus-
Werkanalyse
legung des Triebgeschehens (Ich-Triebe versus Sexualtriebe; Eros versus Thanatos). Die Libido vertrat als Energie die Sexualtriebe respektive den Eros, nicht aber den gesamten seelischen Energiehaushalt oder alle Triebregungen. Jung entwickelte dagegen einen monistischen Standpunkt. In den Wandlungen schlug er vor, den Begriff der Libido gleichbedeutend mit der ganzen psychischen Energie eines Individuums zu gebrauchen. Als solche vertrete sie nicht nur den Sexualtrieb, sondern letztlich auch diejenigen Triebanteile, die in der Psychoanalyse als aggressiv oder thanatisch gelten. Die Libido im Sinne von umfassend gemeinter seelischer Energie kleide sich in unterschiedliche Gewänder und imponiere als Interesse, Streben, Intentionalität, Lust oder allgemein als Aktivität. Sie gleiche dem Schopenhauer‘schen Willen, der sich ebenfalls in vielerlei Gestalten kundtue und das Gesamt der meist unbewussten Kräfte und Antriebe des Menschen darstelle. Auch gebe es Parallelen zwischen der Libido und dem Terminus der Energie, der in der Physik in verschiedenen Bereichen wie Thermodynamik, Mechanik oder Elektrizität Anwendung findet. Jung postulierte eine Art Urlibido, die ursprünglich der Ei- und Samenproduktion diene und später in allen weiteren Aktivitäten des Menschen enthalten sei. Im Laufe der Entwicklung eines Individuums verändere sich diese Urlibido permanent und zeige neben der Sexualfunktion ein imposantes Arsenal von Nebenfunktionen. Wenn sich diese Nebenfunktionen zum Nutzen des Betreffenden erweisen, spreche man von Sublimierung, anderenfalls von Verdrängung. Alle in der Psychoanalyse Freuds auftauchenden Triebe stellen Jung zufolge Abspaltungen von der Urlibido respektive von der Lebensenergie eines Individuums dar. Die Libido als Gesamtheit der seelischen Energie drückt sich in unterschiedlichen körperlichen, seelischen und geistigen Formen und Symbolen aus. Die Letzteren bedeuteten für Jung nicht nur Hinweise auf unbewusste Konflikte oder Triebkalamitäten. Für ihn stellten sie vielmehr Erscheinungsformen von etwas Geheimnisvollem und Numinosem dar. Diese seien auf Symbole angewiesen und könnten sich nur in ihnen kenntlich machen.
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Andere Zeichen oder die Alltagssprache taugen nach Jung nicht zur Wiedergabe der mysteriösen und göttlichen Dimensionen der menschlichen Existenz. Unter dem Numinosen und Unbestimmten verstand Jung nicht nur die in der Psychoanalyse beschriebenen unbewussten und verdrängten Seeleninhalte eines Menschen. Vielmehr melden sich in den Symbolen auch das Hintergründige und Noch-nicht-Gewusste sowie alle sedimentierten Erfahrungen der individuellen und der gesamten Menschheitsgeschichte. In späteren Schriften subsumierte der Begründer der Komplexen Psychologie darunter die Archetypen, die Urerfahrungen der Menschen, die sich seit Jahrzehntausenden wiederholen und in einer universellen Bildersprache, eben den Symbolen, tradiert werden. Jungs monistisches Libido-Konzept wurde in gewisser Weise vom Psychoanalytiker und Psychosomatiker Georg Groddeck weiterentwickelt. In dessen Buch vom Es (1923) erhielt das Es als unbewusste und universell aktive Energie ähnliche Potenzen zugesprochen wie die Libido. Auch das Groddeck‘sche Es schafft körperliche und seelische Krankheits- und Gesundheitssymptome und ist wie die Jung‘sche Libido ursächlich für alle sozialen und geistigen Aktivitäten eines Menschen verantwortlich. Eine Art Verwandtschaft zeigt sich auch zwischen dem Libido-Begriff Jungs und dem Konzept des »élan vital« von Henri Bergson. Dessen Idee einer Lebensschwungkraft, die letztlich alle Phänomene der Natur und Menschenwelt hervorgebracht haben soll, ist allerdings viel mehr von einer idealistischen Warte her konzipiert als das Libidomodell Jungs, der den Ursprung der libidinösen Energie in den Organismus des Einzelnen bzw. in die Natur generell verlegte. Man würde Jung jedoch falsch interpretieren, wenn man ihn als Vertreter einer materialistischen Weltanschauung einordnen wollte. Anders als Freud, dessen Menschenbild von der Überzeugung geprägt war, dass im Seelenleben das Kausalitätsprinzip alleinige Geltung habe und beinahe alles und jedes streng determiniert sei, vertrat der Schweizer Arzt viel stärker die Auffassung, dass die menschliche Psyche und ihre Libido auch finale Aspekte aufweise.
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Kapitel • C. G. Jung
Ähnlich wie Alfred Adler ging er davon aus, dass Seelisches durch Ziele, Zwecke und Werte und nicht nur durch Ursachen bestimmt sei. Das Verstehen eines Menschen werde sogar erleichtert, sobald man eine finale neben einer lediglich kausalen Betrachtungsweise gelten lässt. Das Tun und Lassen eines Individuums werde verständlicher, wenn man nachvollziehen kann, wohin der Betreffende strebt, und nicht nur weiß, woher er kommt. Ausgehend davon wollte Jung die Entstehung psychosozialer und teilweise auch körperlicher Störungen und Erkrankungen nicht nur aus Triebverdrängungen und unbewältigten Kindheitstraumen heraus erklären. Er war einer der Ersten, der ethische Probleme im Gefolge von Neurosen, Psychosen, Suchterkrankungen und Psychosomatosen zur Sprache brachte. Solche Krankheiten gingen für ihn mit einer defizitären Gestaltung allgemeiner Lebensprobleme (Liebe, Arbeit und Sinnfindung) einher. Daher sollten derart Erkrankte für Jung nicht nur analysiert, sondern auch erzogen und moralisch gefördert werden. Fehlgeleitete Libido oder Lebensenergie bedeutete für Jung nicht nur bei Neurosen und Psychosen, sondern auch bei somatischen Störungen einen krankheitsauslösenden Faktor. Analog zu den seelischen Komplexen meinte er etwa in Herzrhythmusstörungen, Dysmenorrhoen, Hyperventilationszuständen, Verdauungsschwierigkeiten und anderen Funktionsstörungen des menschlichen Organismus das anarchische Wirken libidinöser Energieanteile zu erkennen. z
Das Unbewusste
Schon vor seiner Bekanntschaft mit Freud war Jung mit Problemen des Unbewussten in Kontakt gekommen. Er befasste sich bei seinen Assoziationsstudien mit der Frage, wie Versuchspersonen auf gewisse Reizworte reagieren. Es war unverkennbar, dass emotional bedeutsame Worte bei den Probanden eine verlängerte Reaktionsdauer und sonderbare Reizantworten ergaben. Jung führte das auf Komplexe zurück, wobei er diese als Niederschlag affektgeladener Erlebnisse in der Vergangenheit eines Menschen ansah. Aus moralischen Erwägungen werden diese aus dem Bewusstsein verdrängt und stören den Ablauf psy-
chischer Prozesse. Weil sie die Einheit der menschlichen Person unterminieren, betrachtete sie Jung als Krankheitsfaktoren ersten Ranges. In seinen Büchern Wandlungen und Symbole der Libido (1912) und Psychologische Typen (1921) modifizierte Jung seine frühen Ansichten zum Unbewussten. Von Freud hatte er die Idee eines individuellen Unbewussten übernommen, das sich aus Triebregungen und dem Verdrängten zusammensetzt. In seiner bilderreichen Sprache nannte der Dissident vom Zürichsee Letzteres den Schatten. Damit zielte er auf jene Teile einer Persönlichkeit ab, die Menschen nicht gerne wahrhaben wollen und deshalb aus dem Lichtkreis ihres Bewusstseins heraushalten. Damit aber nicht genug. Jung postulierte weitere Phänomene des Unbewussten, die in der Tiefe eines jeden Individuums zu finden seien. So stoße man unterhalb der Schicht des Schattens auf die Schicksal bestimmenden Strukturen von Animus und Anima, die jeweils die Bilder des anderen Geschlechtes beinhalten. Der Mann trägt im Innern ein in der Regel unbewusstes Seelenbild der Frau und vice versa. Die produktive Beschäftigung mit diesen Imagines (Bildern) entscheidet über das Liebes- und Lebensgeschick des Einzelnen. Für Jung wies das Unbewusste noch weitere Dimensionen auf, die er mit geologischen Verhältnissen verglich. Ähnlich wie tiefliegende Gesteinsschichten Aussagen über die Vorgeschichte der Erde ermöglichen, treffe man in der menschlichen Psyche auf Ablagerungen uralter Erfahrungen, die analog zu den Instinkten der Tiere festgelegte Verhaltensdispositionen bekunden. So gebe es jenseits des persönlichen ein kollektives Unbewusstes, welches der Sitz der sogenannten Archetypen ist. Die Archetypen sind Zentren der psychischen Energie. Sie weisen eine numinose Eigenschaft auf und wirken aufwühlend und erschreckend, oft aber auch heilsam und fördernd. Archetypen erscheinen in Träumen sowie beim absichtlichen Phantasieren (Imaginieren) und spontanen Zeichnen (das Jung in der Psychotherapie als Hilfsmethode einsetzte). Außerdem entdecke man archetypische Gestaltungen in den Religionen und Mythen, in der Dichtung und der Kunst überhaupt. Sogar philosophische Systeme können archetypisch inspiriert sein.
Werkanalyse
Eine zentrale Aufgabe der Psychotherapie besteht nach Jung in der Auseinandersetzung mit diesen Archetypen. So gibt es den Archetypus des Geistes, der in Träumen als Wind, Ahnengestalt, helfendes Tier und Gottheit erscheinen kann. Auch Medizinmänner und jede Art von Heilern sind Konkretisierungen dieses Urbildes. Noch wichtiger ist der Archetypus des Selbst. Dieser wird aktiviert, wenn sich der Mensch auf den Weg der Individuation begibt, welche nach Jung die eigentliche Zielsetzung jeder seelenärztlichen Behandlung ist. Nach den Jungianern ist der Selbstverlust die Urform aller Neurosen. Der Einzelne würde seelisch nicht erkranken, wenn ihn nicht Erziehung, Gesellschaft und eigene Bequemlichkeit von sich selbst entfremden, so dass er an den wesentlichen Sphären seiner Innerlichkeit vorbei lebt. Das kollektive Unbewusste enthält noch weitere Archetypen. Wir erwähnen die Quaternität (also die Vierzahl), das göttliche Kind, das Mandala (ein Kreissymbol, das vor allem im fernen Osten seit jeher als Symbol der Ganzheit gilt) und den GottesArchetypus. Jung behauptete zwar, dass er lediglich Aussagen über die Existenz eines Gottesbildes in der menschlichen Seele machen könne, indes die Existenz Gottes ein Feld für Theologen und Metaphysiker sei. Doch er unterstrich diese These noch durch das Postulat, die Seele sei »naturaliter christiana et religiosa«. So enthielt das von ihm beschriebene kollektive Unbewusste nolens volens ein Bekenntnis zur traditionellen Religion. Auf die politischen Verwicklungen Jungs während der Zeit des Faschismus wurde bereits hingewiesen. Damals will er auch ein »rassisches Unbewusstes« entdeckt haben, und in seiner Abhandlung Der Gegensatz Freud und Jung (1929) sowie in späteren Arbeiten schreckte er nicht davor zurück, von einem jüdischen und germanischen Unbewussten zu sprechen, wobei er dem Letzteren gewaltige Seelentiefe und schöpferische Dispositionen zuschrieb. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Jung mit seinem Konstrukt eines kollektiven Unbewussten eine überpersönliche seelische Konstante in die Natur des Menschen legte. Ihm zufolge soll diese allgemeine psychische Grundlage angeboren und im Gehirn verortet sein. Das Fundament jedes
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subjektiven Seelenlebens stellen demnach weltweit verbreitete, bei allen Individuen wiederkehrende psychosoziale Muster dar, die sich in Bildern, Symbolen, Phantasien, Träumen, Märchen und Mythen, aber auch in Krankheitssymptomen (etwa in psychotischen Spuk- und Zerrgespinsten) ausdrücken. In seiner Abhandlung Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten (1934) ging Jung der Tradition des kollektiven Unbewussten und der Archetypen ideengeschichtlich nach. Schon Augustinus sowie einige Denker der Renaissance hätten auf unbewusste, bei allen Menschen vorhandene Urbilder abgehoben, die für die Ausgestaltung mythologischer und religiöser Vorstellungen verantwortlich seien. Jung war es wichtig zu betonen, dass es sich bei den Archetypen um Strukturen oder Muster und nicht um Inhalte handele. Diese Strukturen oder Muster seien als psychophysische oder anatomische Phänomene zu verstehen, die vom Menschen grundsätzlich nicht wahrgenommen werden können. Was unter optimalen Bedingungen wahrnehmbar sei, sind archetypische Bilder und Figuren, die in Visionen, Metaphern und Symbolen ihren Ausdruck finden. Im Schlaf, im Zustand der Intoxikation (Alkohol, Drogen) oder auch in Krisenzeiten, wenn das Ich eines Menschen geschwächt ist, dominiere das archetypische Verhalten. Dies zeichne sich durch Grenzenlosigkeit, mächtige Affekte und Leidenschaften sowie eine gewisse Distanz zum intellektuell-logischen Urteilen und Denken bei gleichzeitiger Bevorzugung des mythologisch-bildhaften und irrationalen Begreifens der Welt aus. Bei psychotischer Disposition oder Krankheit könne es geschehen, dass sich die archetypischen Figuren und ihre Inszenierungen von der Bewusstseinskontrolle befreien und völlige Selbständigkeit erlangen. Die relative Autonomie, welche den Archetypen im Seelenhaushalt sowieso zukomme, sei dann absolut und ungezügelt und rufe Zustände der Besessenheit und Verrücktheit hervor. Jung erwähnte an dieser Stelle den Fall Schreber, der durch seinen Bericht über die eigenen Wahngedanken (Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, 1903) sowie durch die Abhandlung Freuds über ihn (Psychoanalytische Bemerkungen über
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Kapitel • C. G. Jung
einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, 1911) zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt geworden war. Jung interpretierte die paranoiden Ideen Schrebers als Animabesessenheit, die dazu führte, dass sich der Kranke durch Selbstkastration in eine Frau verwandeln wollte oder zumindest befürchtete, dass so etwas mit ihm geschehen könnte. z
Psychologische Typen
Als frühes Modell einer psychophysiologischen Typenlehre, die körperliche und seelische Einzelphänomene zu größeren Einheiten zusammenfasste, gilt die in der griechisch antiken Medizin und Philosophie (z. B. beim Aristoteles-Schüler Theophrast) formulierte Temperamentenlehre des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers. Diese vier Typen wurden auf die Mischungsverhältnisse der Körpersäfte Blut und Schleim sowie gelbe und schwarze Galle und damit letztlich auf die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer zurückgeführt. Die somatischen und psychischen Verhältnisse beim Individuum (Mikrokosmos) hatten so ihre Entsprechung im Makrokosmos. Mit seinem 1921 publizierten Werk Psychologische Typen setzte Jung diese uralte Tradition der Typenlehre fort. Ausgehend von den von ihm formulierten seelischen Grundfunktionen unterschied er Denk-, Fühl-, Intuitions- und Empfindungstypen. Diese Funktionstypen wurden von ihm in zwei Klassen unterteilt: rationale und irrationale Typen. Eine noch weiter reichende Charakterisierung der Funktionstypen nahm er insofern vor, als er von Introversion und Extraversion sprach. Die Grundfunktionen des Denkens, Fühlens, Intuierens und Empfindens sind nach Jung Ausdrucks- und Erscheinungsformen der Libido oder allgemein der seelischen Energie eines Menschen. Als Grundfunktionen werden sie bezeichnet, weil sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen und sich fundamental voneinander unterscheiden. Jeder Mensch weise in der Regel eine dieser vier Grundfunktionen als dominierende auf, wohingegen die verbleibenden als minderwertige Funktionen mehr oder minder brach liegen und im Unbewussten ihre Wirkung entfalten. Mit der dominierenden seelischen Funktion versuche das Individuum bevorzugt, den Anforderungen seines
Lebens gerecht zu werden, was zu einer Perpetuierung dieser Einseitigkeiten beitrage. Wenn sich der Einzelne mit der bei ihm am weitesten entwickelten Funktion identifiziert und sie wertschätzt, ist er zum jeweiligen Typus geworden. Der Denktypus setzt einen Großteil seiner seelischen Energie dafür ein, mittels intellektueller Bemühungen die Welt in begrifflichen Zusammenhängen zu erfassen und zu gestalten. Der Fühltypus verlässt sich auf Stimmungen und Gefühle, um Situationen und Mitmenschen zu beurteilen. Der Intuitionstypus greift auf instinktives Erfassen von Gestalten und Ganzheiten zurück, um sich in der Welt zu orientieren – eine Form der Erkenntnis, die ähnlich bereits von Spinoza als »scientia intuitiva« beschrieben wurde. Der Empfindungstypus schließlich benutzt seine Sinnesorgane und die Perzeption seines Körperinneren, um für sich Gewissheit bezüglich der Fragen seiner Existenz zu gewinnen. Denken und Fühlen wurden von Jung als rationale Funktionen bezeichnet, weil bei ihnen Überlegung und Vernunftgesetze eine wichtige Rolle spielen. In ihnen waltet seiner Meinung nach die Vernunft, welche dem Prinzip objektiver Werte verpflichtet ist, worauf die rationalen Funktionen abzielen. Irrationale Funktionen wie Intuieren und Empfinden ermöglichen dagegen Wahrnehmungen und Urteile unter Umgehung von rationaler Ableitung und vernunftgemäßer Hervorbringung von Gedanken und Gefühlen. Die dabei wahrgenommenen Inhalte haben den Charakter des Gegebenen, ohne dass dieses Gegebene in Worte gefasst oder in seiner Entstehung nachvollzogen werden könnte. Jung betonte, dass man nur selten reine Typen beobachten könne. Bei den meisten Menschen kommen deren sekundäre Funktionen als oftmals unbewusste Beimengungen der Hauptfunktion zur Geltung. Insbesondere bei den rationalen Typen und Funktionen (Denken und Fühlen) schwingen die irrationalen Funktionen des Intuierens und Empfindens stets mit. Aber auch umgekehrt könne man bei Intuitions- und Empfindungstypen immer wieder Denken und Fühlen als Nebenstrategien der Existenzorientierung feststellen. Ganz entscheidend werden die verschiedenen Funktionstypen von den Einstellungen der Extra-
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Werkanalyse
version und der Introversion geprägt. Unter Extraversion verstand Jung die Auswärtswendung der Libido eines Menschen hin auf seine Umwelt und die Objekte, die ihm dort begegnen. Die Interessen des Extravertierten sind auf Mitmenschen, Situationen und Dinge gerichtet, denen er sich denkend, fühlend, intuierend oder empfindend zuwendet. Wenn es sich bei der Extraversion lediglich um eine passagere Haltung handelt, sprach Jung von Einstellung, bei Persistenz dieser Haltung von Typus. Analog unterschied Jung eine introvertierte Einstellung von einem introvertierten Typus. Bei Menschen mit überwiegender Introversion lässt sich eine Einwärtswendung der Libido, also ein Rückzug von Interessen auf das eigene Subjekt, beobachten. Andere Menschen oder die Umwelt spielen dabei hinsichtlich der Motivation und Problemlösungen eines Individuums nur eine untergeordnete Rolle. Bei einem pathologischen Überwiegen introvertierter Einstellungen kann es zu einer Introversionsneurose kommen. Die Betroffenen imponieren durch ein in sich verfangenes Wesen, durch Hemmungen und soziales Desinteresse bis hin zu schizoiden oder autistisch anmutenden Ausprägungen ihres Charakters. Analog könnte man beim einseitigen und fixierten Dominieren extravertierter Einstellungen von einer Extraversionsneurose sprechen, die von einem permanenten Außersich-Sein und der Abwesenheit von Innerlichkeit, Wesensmitte und autonomer Urteilskraft gekennzeichnet ist. In späteren Schriften verknüpfte Jung seine Typenlehre mit der Entwicklungspsychologie. Dabei führte er aus, dass bis zur Lebensmitte ein Überwiegen der Extraversion bei den meisten Menschen feststellbar und wünschbar sei. Die Lebensaufgaben in Beruf, Partnerschaft und Gesellschaft machen ein extravertiertes Vorgehen notwendig. Wer sich diesbezüglich als introvertiert erweise, gerate entweder unter Neuroseverdacht oder scheitere sogar an den Herausforderungen des Daseins. In der zweiten Hälfte des Lebens komme es jedoch bei vielen Individuen zu einer Zunahme der Introversion. Diese Verschiebung von Interessen und Zuwendung sei sinnvoll und entspreche der Rolle älterer Menschen. Wer seinen beruflichen und sozialen Platz in Gesellschaft und Kultur er-
obert habe, tue gut daran, sich nach der Lebensmitte verstärkt um die Aus- und Weiterbildung der eigenen Person und deren Innerlichkeit zu bemühen. Diesbezügliche Unterlassungen führen nicht selten zu krisenhaften Zuspitzungen der Existenz (»Midlifekrise«) oder zu körperlichen und seelischen Erkrankungen aller Art. Als Beispiele und Belege für die in seiner Typenlehre postulierten Polaritäten (rational/irrational; extravertiert/introvertiert; bewusst/unbewusst) griff Jung unter anderem auf mythologische Gestalten der europäischen Kulturgeschichte zurück. So könne man an den griechisch-antiken Figuren Prometheus (vorausdenkend) und Epimetheus (hinterherdenkend) ebenso wie an den Gottheiten Apollo und Dionysos die Antagonismen von Intround Extraversion sowie von Rationalität und Irrationalität aufzeigen. Auch in den Schriften Nietzsches, so Jung, werde mehrfach auf derlei polare Einstellungen und Haltungen angespielt. z
Individuation
Eine tiefere Bedeutung körperlicher und seelischer Krankheiten sah Jung darin, den Betreffenden daran zu erinnern, dass er eventuell im Status der Selbstentfremdung lebt. Medizinische und psychologische Diagnostik und Therapie sollten stets auch das Thema der Selbstfindung ins Visier nehmen – eine Thematik, die vom Schweizer Arzt mit dem Begriff der Individuation bezeichnet wurde. In diesem Terminus ist das Gesundheitskonzept der Komplexen Psychoanalyse mit enthalten. Jung kritisierte an vielen Stellen seines Werks die angepassten Durchschnittsbürger, die es versäumen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, und die in einem scheinbar konfliktfreien und problemarmen Zustand leben, den sie mit psychosozialer Normalität verwechseln. Neurotisch oder körperlich Erkrankte sind in dieser Hinsicht möglicherweise in einer günstigeren Situation, da sie die Anpassung an die bürgerliche Norm nicht umfassend zustande bringen und deshalb nicht selten das Potential zur Freilegung und zum Wachstum ihrer Person in sich tragen. Allerdings darf man nicht übersehen, dass psychosomatische oder neurotische Störungen häufig lediglich Defizitformen der Nichtanpassung bedeuten. Wenn daraus ein erfolgreicher Individua-
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Kapitel • C. G. Jung
tionsprozess werden soll, braucht es in der Regel gewaltige Anstrengungen des Lernens und der Selbsterziehung. Jung betonte, dass es sich dabei um eine beiderseitige Anstrengung handelt: Der Therapeut muss ebenso wie der Patient sein Selbst wandeln, um das Gegenüber zu verstehen und es seinerseits zur Selbstwerdung zu ermutigen. Viele Erkrankungen haben zwar ihren Ursprung in der Kindheit und Jugend: biologische Defizite, belastende Umweltverhältnisse, ungünstige Sozialisation und prekäre Charaktere der Eltern. Gleichwohl wäre es falsch, das Wesen neurotischer oder psychosomatischer Störungen allein in infantilen Traumatisierungen und Fixierungen suchen zu wollen. Jung wies mit Nachdruck darauf hin, dass in jeder dieser Störungen Gegenwartsprobleme enthalten sind, die eine vorrangige Berücksichtigung verdienen. Die Erörterung von Kindheitserlebnissen, die in der orthodoxen Psychoanalyse oft im Mittelpunkt steht, lenke von der aktuellen Situation ab, die doch primär bewältigt sein will. Menschen leben in der Gegenwart und haben sich in ihr zu bewähren:
»
Wenn man die Geschichte einer Neurose aufmerksam verfolgt, findet man regelmäßig einen kritischen Moment, in dem ein Problem auftauchte, welchem ausgewichen wurde. Nun ist dieses Ausweichen eine so natürliche und überall vorhandene Reaktion wie die ihm zugrunde liegende Faulheit, Bequemlichkeit, Feigheit, Ängstlichkeit, Unwissenheit und Unbewusstheit. Wo es unangenehm, schwierig und gefährlich wird, da zögert man meistens und geht womöglich nicht hin (Jung 1995, S. 27).
«
Angesichts von Krankheitssymptomen dürfen sich Arzt und Patient fragen, welche Lebensaufgabe der Letztere nicht zu lösen vermochte und wie ihn die Therapie dafür gewinnen kann, diese Aufgabenstellung zu erkennen und anzugehen. Das Zurückweichen vor der Realität ergibt pathologische Phantasietätigkeit, die man zwar untersuchen und analysieren soll, wobei man aber im Auge behalten muss, dass sich das wirkliche Leben nicht im Imaginären abspielt. Jung wollte seine Patienten dazu
ermutigen, sich aktiv mit ihrer Wirklichkeit auseinanderzusetzen:
» Das, was die Psychotherapie vom Patienten fordert, ist gerade das Gegenteil von dem, was der Patient bisher getan hat. Der Patient gleicht einem Menschen, der unabsichtlich ins Wasser gefallen ist und untersinkt, während die Psychotherapie von ihm fordert, er solle ein Taucher sein. Nämlich jene Stelle, wo der Patient hinein fällt, ist keine zufällige. Dort liegt ein versunkener Schatz. Aber nur ein Taucher kann ihn heben (Jung 1994, S. 212).
«
Hatte der Patient seine dringlichsten Probleme bewältigt, begab sich Jung mit ihm auf den Weg der Personwerdung. Die Individuation sollte durch eine tiefgehende Untersuchung des eigenen Innenlebens eingeleitet werden. Hierzu wurden weitgehend die Träume des Analysanden verwendet. Für Jung bedeutete der Traum keine infantile Trieberfüllung, sondern ein Naturereignis, welches die tiefsten Tiefen der menschlichen Psyche bloßlegt. Man kann Träume auf objektiver und subjektiver Stufe interpretieren: Im ersten Fall spiegeln sie ein Stück Welterfahrung wider, im letzteren Fall verweisen sie als Symbolisierungen auf das Selbst des Träumers. Jung war überzeugt, dass es beim Patienten zu umfassender Gesundung nur komme, wenn er sich der Thematik der Individuation aktiv zuwende. Dadurch sollte er aus fragwürdigen gesellschaftlichen Hüllen und Rollen (deren Gesamtheit Jung als Persona bezeichnete) befreit und zur Personwerdung animiert werden. Um die ethischen Implikationen zu unterstreichen, die im Individuationsbegriff mit enthalten sind, zitierte Jung in diesem Zusammenhang die Forderung des spätmittelalterlichen Arztes Paracelsus: »Keinem anderen gehöre, der sein eigen sein kann!«
Conclusio So sehr Jung ein monistisches Menschenbild entworfen hat, welches nur die eine Energie und Grundkraft der Libido kennt, so sehr war er gleichzeitig überzeugt, dass Menschen durch ihre polar
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Conclusio
angeordneten Haltungen und Eigenschaften charakterisiert werden. Einige dieser von Jung beschriebenen Antagonismen wurden bereits skizziert: bewusst und unbewusst; extravertiert und introvertiert; rationale (Denken, Fühlen) und irrationale psychische Funktionen (Empfinden, Intuieren); »Anima« und »Animus«; Persona und Person; Selbstentfremdung und Individuation. Ergänzen kann man diese um die Gegensatzpaare von Regression und Progression (der Libido), geistig und materiell sowie lebendig und tot. Das menschliche Dasein ereignet sich als dauerndes Oszillieren zwischen diesen Polaritäten, und die gesamte seelisch-geistige wie auch körperliche Dynamik eines Menschen wird verständlich, wenn man sich die antagonistischen Strebungen von dessen Existenz vor Augen hält. Gesundheit entsteht oder bleibt nach Jung am ehesten erhalten, wenn sich der Einzelne um einen Ausgleich der verschiedenen Antagonismen bemüht. Existentielle Spannungen, Konflikte und Erschütterungen sowie viele Krankheiten resultieren dem Schweizer Arzt zufolge häufig aus fixierten einseitigen Lebenseinstellungen, welche der Polarität des individuellen und kollektiven Daseins nicht ausreichend gerecht werden. Aus diesen anthropologischen Grundannahmen Jungs erwachsen weitreichende Konsequenzen für die Theorie, Diagnostik und Therapie der medizinischen und psychologischen Heilkunde. Ihm zufolge reicht es nicht hin, Entstehung, Verlauf und Behandlung körperlicher oder seelischer Erkrankungen lediglich mit den herkömmlichen Pathogenese-, Diagnose- und Therapiemanualen zu erfassen. Diese müssen um wesentliche Gesichtspunkte erweitert werden. Nach Jung lebt der Großteil der Menschen zumindest in der westlichen Welt in einem betont extravertierten und selbstentfremdeten Zustand. Ihr Dasein ist bevorzugt auf materielle Werte wie Geld und Besitz sowie auf gesellschaftliche Anerkennung und berufliche Karriere (Status des Persona-Seins) ausgerichtet. Glück und Zufriedenheit wird von ihnen in der Regel mit den Attributen jung, reich und schön verknüpft, und Leben findet für sie da statt, wo Zerstreuung, Spiel und Spaß geboten wird.
Erkranken Menschen mit solchen Lebensstilen, versuchen sie meist ebenso wie ihre Ärzte, die betreffenden körperlichen oder seelischen Funktionsausfälle rasch zu beseitigen. In vielen Fällen gelingt dies problemlos aufgrund moderner medizinischer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, und nicht selten sind die ehemalig Erkrankten damit in die Lage versetzt, ihr bisheriges (krankmachendes) Daseinsprogramm ohne größere Einbußen oder Veränderungen fortzusetzen. Damit aber verspielen Patienten wie Ärzte wichtige Chancen der existentiellen Erkenntnis und Wandlung. Krankheiten enthalten nämlich eine unausgesprochene Aufforderung zur Introversion und zur Besinnung auf die zentralen Aspekte der eigenen Existenz. Der erzwungene Rückzug (Bettlägerigkeit, Schonung) kann als Gelegenheit zur Innenschau und zur Distanz gegenüber dem geschäftigen Alltagstreiben verstanden werden, was Anlass zu einer Umwertung nicht aller, aber immerhin einiger Werte geben könnte. Ein Paradebeispiel für solche Krankheitseffekte stellt die Biographie Friedrich Nietzsches dar. Er war als junger Mann als Professor nach Basel berufen worden. Seine vielfältigen körperlichen Beschwerden bewirkten letztlich, dass er sich aus seinem ungeliebten Professorendasein lösen und ein Leben als freier Denker führen konnte. Seine Ausführungen in Menschliches, Allzumenschliches waren aus eigenem Erleben gespeist:
»
Wert der Krankheit. – Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: Er gewinnt diese Weisheit aus der Muße, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt (Nietzsche 1988, S. 234).
«
Krankheiten sind in der Regel mit Schwäche, Verlust von Freiheits- und Autonomiegraden sowie Ohnmachterlebnissen aller Art verbunden. Diese Zustände werden in den meisten Kulturen als wenig attraktiv beurteilt und, wenn immer möglich, gemieden. Im Patriarchat hat es sich darüber hinaus eingebürgert, solche Mängel im entwertenden Sinne als weiblich (»Anima«) zu bezeichnen, indes
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Kapitel • C. G. Jung
Stärke, Kraft und Macht als männliche Attribute (»Animus«) und damit als erstrebenswert gelten. Dies bedeutet, dass die Krankenrolle dem männlichen Patienten Gelegenheiten bietet, bei sich Anima-Anteile wahrzunehmen und wenn möglich auch zu integrieren. Männer wie Frauen werden durch Krankheit mit Nichtkönnen und Unterlegenheitsempfindungen aller Art konfrontiert. Wenn sie daraus nicht sofort kompensatorische Überlegenheitsgefühle (Krankheitsgewinn) entspringen lassen, bietet sich ihnen die Chance, ihre eventuell einseitig auf den Animus-Pol hin orientierte Persönlichkeit um die Anima-Qualitäten von Hingabefähigkeit und Eingeständnis von Schwäche zu ergänzen. Analog kann man vor allem bei körperlichen Krankheiten zeigen, dass sie die Betroffenen mit der Notwendigkeit konfrontieren, sich mit den oftmals abgewerteten irrationalen seelischen Funktionen von Empfindung und Intuition auseinander zu setzen. Viele somatische Krankheitsprozesse sind mit rationalen Erwägungen allein nicht umfassend einzuordnen; man muss ihnen im Erleben des eigenen Leibes mittels empfindsamer und intuitiver Körperwahrnehmung nachspüren. So enthalten Krankheiten für die Patienten und nicht selten auch für die Ärzte ein regelrechtes Programm der Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis und Selbstwandlung. Diese Gesichtspunkte freilich sind im herkömmlichen Medizinalbetrieb in der Regel unterrepräsentiert. Die technisch-apparativen Möglichkeiten von Diagnostik und Therapie machen längere Zeiten von Heilung und Rekonvaleszenz häufig überflüssig, und damit entfallen Chancen für nachdenkliche und die eigene Persönlichkeit verändernde Reflexion. Außerdem sind bei weitem nicht alle Ärzte willens und in der Lage, ihre Patienten zu derartigen Überlegungen anzuregen. Über die Fähigkeit, bei Patienten Prozesse der Veränderung ihrer Person anzustoßen, verfügen am ehesten jene Heilkundigen, welche der Aufgabe der Individuation bei sich selbst (in Ansätzen) nachkommen. Zumindest theoretisch war sich Jung dieser Zusammenhänge bewusst:
»
Der entscheidende Punkt ist, dass ich als Mensch einem Menschen gegenüberstehe. Die
Analyse ist ein Dialog, zu dem zwei Partner gehören. Analytiker und Patient sitzen einander gegenüber – Aug in Auge. Der Arzt hat etwas zu sagen, aber der Patient auch … Nur wo der Arzt selber getroffen ist, wirkt er (Jung 1971, S. 137ff.).
«
Leider wies Jungs Persönlichkeit erhebliche Tendenzen zur Anpassung an eine bürgerlich-konservative Weltanschauung auf, in der Elemente wie Religiosität, Esoterik, Konformismus, Aberglauben, Vorurteilshaftigkeit und Akzeptanz von Autoritarismen nicht fehlten. Dazu passte die ihn umgebende Aura eines Gurus, der anscheinend Zugang zu außerordentlichen Wahrheiten hatte, welche den mittleren Menschen für immer vorenthalten bleiben werden. So stilisierte sich der alternde Seelenarzt zu einem regelrechten Mystagogen, bei dem sich alle jene Zeitgenossen glücklich schätzen sollten, die an ihm irgendwie teilhaben durften. Er gab vor, ein Weiser zu sein, der zu fast allen existentiellen und kulturellen Dimensionen des menschlichen Daseins Originelles beizusteuern wusste – entsprechend angespannt muss sein basales Lebensgefühl gewesen sein. Applaus erhielt Jung vor allem von jenen Patienten und Anhängern, die eine ihm entsprechende ideologische Orientierung aufwiesen, und deren Narzissmus befriedigt wurde, indem ihnen der Guru vom Zürichsee attestierte, wie sehr ihre Existenz einem großartigen Mysterium glich, zu dessen Tiefendimensionen er ihnen Zugang schuf. Für nicht wenige Menschen bedeutete es denn auch eine Stabilisierung ihres Selbstwerts, nicht nur an einer schlichten Allerweltsneurose erkrankt zu sein, sondern von einer offenkundigen Koryphäe bescheinigt zu bekommen, dass sich in ihren Symptomen das gesamte Menschheitsschicksal widerspiegelt. Den kulturkritischen Auftrag der Psychoanalyse vergaß Jung dabei geflissentlich. Anders als Freud und Adler verkörperte er den Typus des Sehers und Zauberers unter den Seelenärzten, der zwar mit manchen seiner Konzepte die Tiefenpsychologie und Anthropologie bereicherte, mit seiner Persönlichkeit das Niveau der Vorbildlichkeit im Gegensatz zu den beiden anderen Pionieren der Psychoanalyse jedoch nicht erreichte.
Literatur
Literatur Bair D (2005) C.G. Jung – Eine Biographie. Knaus, München (Erstveröff. 2003) Barz H, Kast V, Nager F (1991) Heilung und Wandlung – C.G. Jung und die Medizin. dtv, München Jaffé A (Hrsg) (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. Walter, Olten (Erstveröff. 1962) Jung CG (1971) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung. In: Jaffé A (Hrsg), Walter, Olten (Erstveröff. 1962) Jung CG (1991ff.) Gesammelte Werke in 20 Bänden. Walter, Olten Jung CG (1994) Freud und die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke Band 4. Walter, Olten Jung CG (1995) Über die Psychologie des Unbewussten (1943). In: Gesammelte Werke Band 7. Walter, Olten (Erstveröff. 1943) Kast V, Thiedel J (Hrsg) (2011) C.G. Jung – Ausgewählte Schriften. Patmos, Ostfildern Nietzsche F (1988) Menschliches, Allzumenschliches. In: KSA Band 2. dtv – de Gruyter, München (Erstveröff. 1878/86) Samuels A, Shorter B, Plaut F (1991) Wörterbuch Jungscher Psychologie. dtv, München (Erstveröff. 1986) Stern PJ (1977) C.G. Jung – Prophet des Unbewussten. Piper, München Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien Wehr G (1995) C.G. Jung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1969) Wehr G (1988) C.G. Jung – Leben, Werk, Wirkung. Diogenes, Zürich (Erstveröff. 1985) Ziegler AJ (1987) Bilder einer Schattenmedizin. Schweizer Spiegel-Verlag, Zürich
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Karen Horney Biographisches – 230 Werkanalyse – 232 Conclusio – 240 Literatur – 241
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Karen Horney
. Abb. 1 Karen Horney (*1885; †1952). (Aus Stumm et al. 2005)
Karen Horney wird der Gruppe der Neopsychoanalytiker zugerechnet, zu der unter anderem auch Erich Fromm, Harry Stack Sullivan, Frieda FrommReichmann und Harald Schultz-Hencke gehörten. Das Suffix Neo macht deutlich, dass diese Psychoanalytiker für eine Umgestaltung und Neuorientierung der orthodoxen Sigmund Freud‘schen Lehre sorgten. An Horneys Beitrag kann man demonstrieren, dass die Neopsychoanalyse damit auch neue anthropologische Akzente setzte (. Abb. 1).
Biographisches Karen Horney wurde 1885 in Hamburg-Blankenese geboren. Sie war das zweite Kind; ihr Bruder Bernd war vier Jahre älter als sie. Der aus Norwegen stammende Vater Berenth Danielsen war Kapitän zur See. Er wird als stattlich, jähzornig und patriarchalisch beschrieben, was zu seiner Rolle als Kommodore der Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG) passte. Die Mutter Clotilde van Ronzelen war Tochter eines holländischen Architekten und Wasserbauingenieurs aus Amsterdam. Sie war um 18 Jahre jünger als ihr Mann, besaß Charme, Eleganz, Bildung und Schönheit und war im Gegensatz zu ihrem Gatten freidenkerisch. Zwischen den Eheleuten kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen und Streit, die sich auf alle Bereiche ihrer Beziehung – Weltanschauung, Kindererziehung, Alltagsgestaltung – bezogen. Die Kinder litten unter der angespannten Atmosphäre und waren jeweils froh, wenn ihr Vater auf große Fahrt ging und monatelang nicht zu Hau-
se war. Eine Weile war Karen religiös und besuchte eine Klosterschule. Zu jener Zeit empfand sie sich unattraktiv und hatte beschlossen, aufgrund ihres angeblich mangelhaften Äußeren zumindest klug werden zu wollen. Während ihrer Pubertät entschied sich Karen nach einer langwierigen Krankheit, Ärztin werden zu wollen. Dieser Plan war um 1900 keineswegs selbstverständlich. Weder war es für Mädchen üblich, Abitur zu machen, noch war es die Regel, dass sie zum Medizinstudium zugelassen wurden. Außerdem bedurfte es großer Überredungskünste, ihren Vater für diese Berufswahl zu gewinnen, was schlussendlich aber gelang. Am Gymnasium verlor Karen ihren Kinderglauben und wechselte ins Lager der Skeptiker und Agnostiker. 1904 verließ die Mutter Clotilde ihren Kapitän und zog zusammen mit den Kindern in eine Wohnung in Hamburg-Bahrenfeld. 1906 bestand Karen ihr Abitur und ging nach Freiburg, um dort Medizin zu studieren. Die Universitäten in Baden waren die ersten in Deutschland, die weibliche Studenten zum Medizinstudium zuließen. Aus ökonomischen Erwägungen heraus gab die Mutter daraufhin ihre Wohnung in Hamburg auf und begleitete ihre Tochter in den Breisgau. Das Medizinstudium bereitete Karen keine Mühe, und im Herbst 1908 bestand sie ihr Physikum. Während der ersten Semester hatte sie in Freiburg Oskar Horney kennengelernt, der Wirtschaftswissenschaften studierte. Nach einiger Zeit der Verliebtheit heirateten die beiden. Damals wohnte das Paar in Göttingen, wo Oskar promovierte und Karen ihre Studien fortsetzte. Noch in Freiburg war Karen in Kontakt mit dem philosophisch und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Psychoanalytiker Karl Müller-Braunschweig gekommen. Dieser machte sie auf Sören Kierkegaard sowie auf die Schriften von Sigmund Freud aufmerksam. Ende 1909 übersiedelten die Horneys nach Berlin, wo Oskar eine Anstellung als Generalsekretär beim internationalen Handelskonzern Stinnes erhielt. Das Paar bezog ein komfortables Haus in Zehlendorf, und Karen inskribierte an der Charité, wo sie weiter Medizin studierte. Ein Jahr später stand sie, inzwischen 25-jährig, kurz vor dem Staatsexamen und bemerkte, dass sie schwanger war.
Biographisches
Allein dieses Faktum sorgte bei ihr für einige Ratlosigkeit. Als dann auch noch Anfang 1911 Karens Mutter starb und sie wenige Tage später von ihrer Tochter Brigitte entbunden wurde, geriet die werdende Ärztin in eine heftige seelische Krise. Diese trug wesentlich dazu bei, dass Horney bei dem acht Jahre älteren Arzt und Psychoanalytiker Karl Abraham um Hilfe nachsuchte. Abraham hatte seinerzeit gerade das Berliner Psychoanalytische Institut sowie die Psychoanalytische Poliklinik gegründet. Zu den ersten Gästen, Mitarbeitern und Ausbildungskandidaten zählten Max Eitingon, Lou Andreas-Salomé, Gustav von Bergmann, Hanns Sachs, Sándor Rado, Melanie Klein, Theodor Reik, Ernst Simmel, Felix Boehm, Franz Alexander und Helene Deutsch. In den 20er Jahren gesellten sich unter anderem noch Alice und Michael Balint, Erich Fromm und Frieda FrommReichmann sowie für kürzere Zeit Medard Boss, Viktor Emil von Gebsattel und Erwin Straus dazu. Mit der Unterstützung Abrahams gelang es Horney 1912, ihr Studium erfolgreich zu beenden. Anschließend arbeitete sie als Ärztin in den psychiatrischen Kliniken von Hermann Oppenheim und Karl Bonhoeffer. Bei Letzterem promovierte sie 1915 mit einer Fallstudie Über eine posttraumatisch aufgetretene Psychose. 1913 und 1916 wurden ihre Töchter Marianne und Renate geboren. Parallel zu ihrer ärztlichen Tätigkeit absolvierte Horney am Psychoanalytischen Institut eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin. Dabei hielt sie in zunehmendem Maße Vorträge und verfasste Abhandlungen und Fallgeschichten. Ab 1920 wurde sie im Institut wie in der Poliklinik mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Im selben Jahr lernte sie bei einem Kongress in Den Haag Sigmund Freud persönlich kennen. Sie kam auch in Kontakt mit Georg Groddeck aus Baden-Baden, dessen unkonventionelle Art sie beeindruckte, und mit dem sie sich befreundete. Mitte der 20er Jahre erkrankte Oskar Horney an einer Entzündung des Gehirns und verlor in der Folge seine Arbeit. Damit kam die gesamte Familiensituation ins Wanken. Das Haus musste verkauft werden, und kurze Zeit später trennten sich die Eheleute. Karen zog mit ihren Töchtern in die Stadt und lebte fortan von den Einkünften aus ihrer Psychoanalyse-Praxis.
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Sie publizierte weiter ihre Aufsätze und hielt öffentliche Vorträge, wobei sie immer häufiger unorthodoxe tiefenpsychologische Positionen vertrat, die von ihren Berliner Freunden und Bekannten Fritz Künkel, Erich Wittkower (Individualpsychologen) und Erwin Straus mit beeinflusst waren. Vor allem Freuds Theorie der Weiblichkeit (Stichwort Penisneid) wurde von ihr kritisch beurteilt. Statt einer biologischen Herleitung der weiblichen Psyche bevorzugte sie einen kulturgenetischen Ansatz. Anfang der 30er Jahre folgte Horney einer Einladung Franz Alexanders, an seinem neu gegründeten psychoanalytischen Institut in Chicago (USA) mitzuarbeiten. Alexander selbst war kurze Zeit davor in die Vereinigten Staaten gegangen, weil die »American Association for Mental Health« ihn gebeten hatte, geeignete Programme zur Eindämmung des psychischen Massenelends in den USA zu entwickeln. Unter Alexanders Anleitung wurden wichtige Forschungen zur Psychosomatik realisiert. Aufgrund von Rivalitäten und unterschiedlichen Ansichten zur Psychoanalyse trennte sich Horney bald von Alexander und bewegte sich auf die Psychoanalytikerszene in Washington und New York zu. Dort traf sie auf Harry Stack Sullivan, Clara Thompson und Karl Menninger, daneben aber auch auf die Ethnologinnen Ruth Benedict und Margaret Mead. Außerdem gab es ein Wiedersehen mit vielen Psychoanalytikern aus Europa (Erich Fromm, Sándor Rado, Otto Rank und Wilhelm Reich), die aus Hitler-Deutschland emigriert waren und an der Ostküste der Vereinigten Staaten ihr Exil fanden. In Washington und New York hatte Horney großen Erfolg als Psychotherapeutin wie auch als Dozentin und Lehrtherapeutin. Außerdem gelangen ihr Buchpublikationen, in denen sie ihre eigenen Positionen zu Fragen der Tiefenpsychologie erläutern und einem größeren Publikum zugänglich machen konnte: Der neurotische Mensch unserer Zeit (1937) und Neue Wege in der Psychoanalyse (1939). Der neurotische Mensch unserer Zeit wurde in Amerika wie auf dem alten Kontinent unter Psychoanalytikern kontrovers diskutiert. Die Reaktionen reichten von begeisterter Zustimmung (Ruth Benedict, Clara Thompson) bis hin zu erbitterter
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Kapitel • Karen Horney
Ablehnung. Ernest Jones, orthodoxer Analytiker und späterer Freud-Biograph, attestierte Horney, gefährliche Halbwahrheiten zu verbreiten und psychoanalytische Dogmen (infantile Sexualität, Ödipuskomplex) in Frage zu stellen. In Neue Wege in der Psychoanalyse kritisierte Horney wesentliche anthropologische Grundannahmen der Psychoanalyse. Anhand von Begriffen wie Ödipuskomplex, Narzissmus, Todestrieb, Übertragung, Libido, Neurose und der psychoanalytischen Instanzenlehre (Es, Ich und Über-Ich) zeigte sie auf, inwiefern Freud und seine Adepten einem biologistischen und mechanistischen Menschenbild huldigten, das zu einer fragwürdigen Theorie der menschlichen Psyche führen musste. Damit war der Rubikon überschritten, und sowohl die in Europa verbliebenen Psychoanalytiker als auch diejenigen in der Neuen Welt machten Horney unmissverständlich klar, dass sie sich mit ihren Ideen weit jenseits der reinen Lehre bewegte. 1941 verließ sie nach heftigen Auseinandersetzungen die New Yorker Psychoanalytische Gesellschaft. Kurze Zeit später gründete sie die »Association for the Advancement of Psychoanalysis«, dem ein Institut zur Ausbildung von Psychoanalytikern angeschlossen war. Durch ihre Vorlesungen, Seminare und Kurse sowie mit Hilfe ihrer Gastdozenten (Ruth Benedict, Abraham Kardiner, Erich Fromm, Abraham Maslow, Harry Stack Sullivan) gelang es Horney, die »Association« zu einer anerkannten Größe in Amerika werden zu lassen. 1942 erschien Selbstanalyse, das dritte Buch Horneys. Aufgrund der darin vertretenen Meinung, dass Menschen sich unter bestimmten Umständen selbst analysieren können, wurde es ihre umstrittenste Publikation. Der französische Psychoanalytiker Jean-Bertrand Pontalis urteilte in den 60er Jahren über Selbstanalyse, die Autorin habe damit das Muster des amerikanischen Do-ityourself-Lebensstils kopiert. Mitte der 40er Jahre kam es zu Konflikten innerhalb der »Association«, vor allem zwischen Horney, Fromm und Sullivan. In der Folge trennten sich diese drei Analytiker, die alle auf ihre Weise die Sache der Neopsychoanalyse vorangetrieben haben. Vor allem der Bruch mit Fromm bedeutete für Horney eine schmerzliche Erfahrung, da ihre zwanzig Jahre währende Zusammenarbeit auch
Zeiten einer Liebschaft kannte. Etwa parallel dazu erschien Horneys Buch Unsere inneren Konflikte (1945), worin sie eine erweiterte Fassung ihrer Neurosenlehre präsentierte. Mit viel Elan ging Horney in den Folgejahren daran, ihr nächstes Buchprojekt auszuarbeiten, das 1950 unter dem Titel Neurose und menschliches Wachstum erschien. In dieser Publikation hat die Autorin ihr eigenständiges Konzept der menschlichen Psyche und ihrer Krankheiten am eindringlichsten zur Darstellung gebracht. Nach dieser Veröffentlichung machte Horney seit Jahren das erste Mal einen erschöpften Eindruck. Für die inzwischen 65-jährige Frau gab es immer noch keine befriedigende Liebesbeziehung und kein tragfähiges Zuhause, wo Rückzug, Muße und Entspannung möglich gewesen wären. Einer ihrer Aufsätze aus jener Zeit trägt den bezeichnenden Titel On feeling abused (Über das sich ausgelaugt und missbraucht Fühlen). Damals hätte Horney eigentlich allen Grund gehabt, zufrieden zu sein. Ihr Ausbildungsinstitut war auf über achtzig Kandidaten angewachsen, und einem Förderkreis, dem unter anderem Kurt Goldstein, Carl Zuckmayer und Ashley Montagu angehörten, war es gelungen, »The Karen Horney Foundation« ins Leben zu rufen – eine Stiftung zur medizinisch-klinischen Etablierung der Horney‘schen Psychoanalyse. In dieselbe Zeit fielen jedoch die ersten Krankheitsanzeichen bei Horney. Den dringenden Vorschlag ihres Internisten zu einer invasiven Diagnostik lehnte die Psychoanalytikerin ab – angeblich musste sie sich zuerst einmal um ihr Institut und ihre Patienten kümmern, und später wollte sie dann auch an sich denken. Wenige Monate darauf (im Winter 1952) starb Horney an einem metastasierten Gallenblasenkrebs.
Werkanalyse Bei den Erläuterungen zu den anthropologischen Beiträgen der Neopsychoanalyse Horneys wird Bezug genommen auf die eben erwähnten Buchpublikationen. Daneben sind zwei Veröffentlichungen für die Darlegung hier relevant, die postum erschienen, und in denen Aufsätze zur Psychologie der
Werkanalyse
Frau (1967) sowie zur Analytischen Technik (1987) enthalten sind. Weil die Abhandlungen zur weiblichen Psychologie schon in den 20er und frühen 30er Jahren verfasst wurden, stehen sie aus chronologischen Gründen am Anfang der Werkanalyse. z
Die Psychologie der Frau
Karen Horney gehörte neben Helene Deutsch zu den ersten Psychoanalytikerinnen, die sich mit Freuds Auffassungen von der weiblichen Psyche auseinandersetzten. Im Unterschied zu Deutsch, die ziemlich unkritisch die Ansichten des Meisters teilte, setzte Horney merklich eigene Akzente. Dem Begründer der Psychoanalyse zufolge werden die Mädchen im Laufe ihrer ersten Lebensjahre mit ihrem Penismangel konfrontiert, der zum späteren Penisneid und zum Kastrationskomplex der Frauen beiträgt. Diese biologisch bedingten seelischen Traumen im Leben der Frau sollen zur Ausbildung bestimmter Charaktermerkmale führen. Im Vergleich zum Mann diagnostizierte Freud bei Frauen ein höheres Maß an Masochismus, Infantilismus und Narzissmus. Diese Trias sei kennzeichnend für das weibliche Seelenleben. Horney ging von einer grundlegend anderen These aus, welche die Verschiedenartigkeit des weiblichen und männlichen Seelenlebens auf kulturelle und nicht auf biologische Gegebenheiten zurückführte. In ihren Aufsätzen Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes (1923), Flucht aus der Weiblichkeit – Der Männlichkeitskomplex der Frau im Spiegel männlicher und weiblicher Betrachtung (1927) und Gehemmte Weiblichkeit (1927) beschäftigte sie sich mit dem Männlichkeitskomplex, den sie als eine Mischung aus Gefühlen und Phantasien definierte, die allesamt zum Inhalt haben, dass die Frau sich den Männern gegenüber zurückgesetzt fühlt, sie beneidet, selbst gerne Mann sein möchte und aus diesen Gründen heraus die Rolle der Frau für sich ablehnt. Dieses Empfinden der Unterlegenheit sei jedoch nicht auf den organischen Penismangel, sondern auf die kulturellen Benachteiligungen zurückzuführen, die Frauen in patriarchalischen Gesellschaften zu gewärtigen haben. Unerwähnt blieb in diesem Zusammenhang, dass Alfred Adler mit seinem Konzept des männlichen Protests im Grunde dasselbe aussagte wie
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Horney mit dem Männlichkeitskomplex. Adler hatte seine Ideen dazu bereits um 1910 publiziert. Im Essay Gehemmte Weiblichkeit – Psychoanalytischer Beitrag zum Problem der Frigidität (1927) erläuterte Horney das Phänomen der Frigidität, die sie als nachvollziehbare Folge des Männlichkeitskomplexes interpretierte. Interessant seien Situationen, in denen weibliche Frigidität scheinbar jählings verschwindet: Es sind dies bevorzugt Momente, in denen sich Frauen gleichwertig oder dem Mann überlegen fühlen, so bei Atmosphären des Verbotenen oder der Ausschaltung von Gefühlen. Der Männlichkeitskomplex werde übrigens nicht nur durch Neid auf die Männer, sondern auch durch Ablehnung und Hass der Frauen auf ihre eigenen Mütter (als Urmodell für Frausein) unterhalten. In den Aufsätzen Das Misstrauen zwischen den Geschlechtern (1930) und Die Angst vor der Frau – Über den spezifischen Unterschied in der männlichen und weiblichen Angst vor dem anderen Geschlecht (1932) erwies sich Horney als historisch interessierte und beschlagene Autorin. Diese beiden Essays haben die unleidige Geschichte der Beziehung der Geschlechter zueinander sowie die Angst, die auf beiden Seiten als Resultat dieser Tradition und Historie entstanden ist, zum Inhalt. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer kennen Unterlegenheit, Unsicherheit, Misstrauen, Rückzugstendenzen und Angst. Männer und Frauen wachsen in der gleichen Kultur auf, welche den Keim der Paranoia in beide Geschlechter pflanzt und das weibliche wie das männliche Gemüt vergiftet. Wenn Mann und Frau versuchen, Nähe, Vertrauen, Hingabe und Partnerschaft zu verwirklichen, meldet sich über kurz oder lang dieses kulturelle Erbe, und der Gleichklang der Seelen gerät aus dem Takt. In diesen Essays wie auch in der Abhandlung Die Überbewertung der Liebe – Studie über eine für die heutige Zeit typische weibliche Persönlichkeit (1934) schlug Horney kulturanalytische Töne an, wie man sie keine zwei Jahrzehnte später in Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht (1949) in aller Deutlichkeit vernehmen konnte. Die Leistung von beiden Autorinnen lag für die Anthropologie darin begründet, dass sie von der Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit) der Geschlechter ausgingen und
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Kapitel • Karen Horney
ihre unterschiedliche Wertschätzung bis hinein in die Charakterstrukturen als kulturell bedingte Phänomene deuteten. z
Der neurotische Mensch unserer Zeit
Was ist eine Neurose, und was hat die Neurosendefinition mit Anthropologie zu tun? Neben anderem hat Horney auch zu dieser Thematik in ihrem Werk Erhellendes beigetragen. So betonte sie, dass die beobachtbaren Verhaltensweisen, die man gemeinhin als anormal oder neurotisch bezeichnet, von den jeweiligen umgebenden kulturellen Rahmenbedingungen abhängen. In den Begriffen Neurose oder seelische Störung spiegeln sich in einem erheblichen Ausmaß kollektive Bewertungen, Normen und Regeln wieder. Was etwa bei Pueblo-Indianern als völlig normal deklariert wird, kann in Griechenland zur Einweisung in eine psychiatrische Anstalt führen und umgekehrt. Doch auch innerhalb einer Gesellschaft wird der Inhalt von Normalität oder psychischer Krankheit immer wieder neu festgelegt oder im Rahmen kultureller Auseinandersetzung ausgehandelt. Wie kommt es nun bei Einzelnen zu Verhaltensweisen, die von ihnen selbst oder ihren Mitmenschen als anormal, neurotisch oder krank erlebt und bezeichnet werden? Ähnlich wie Sigmund Freud in Hemmung, Symptom und Angst (1926) postulierte auch Horney, dass im Zentrum jeglicher Psychopathologie – egal in welcher Kultur und Epoche – die Angst des betreffenden Individuums zu finden sei. Das Phänomen der Angst könne bei allen Menschen nachgewiesen werden, nehme aber bei Neurotikern ein unverhältnismäßiges Ausmaß an. Jene Angst, von der jedermann betroffen ist, bezeichnete Horney als Grundangst. Sie sei unvermeidlich und rühre von der Kindheit her. Ähnlich wie die Existenzphilosophen Sören Kierkegaard und Martin Heidegger erhob auch Horney die Angst in den Rang eines Anthropinons, einer Wesenseigentümlichkeit, die bei allen Menschen anzutreffen sei. Selbst die seelisch Gesunden sind davon nicht verschont, haben aber im Vergleich zu den psychisch labilen Mitmenschen deutlich günstigere Strategien entwickelt, ihre Grundangst in Schach zu halten und damit zu verhindern, dass sie pathogen wirkt.
Anders als Freud betonte Horney nicht die triebpsychologisch-biologischen, sondern die sozialen, beziehungsabhängigen Wurzeln und Konflikte, welche Angst hervorrufen. Nicht so sehr im Individuum, sondern zwischen den Menschen sei der Hauptmechanismus der Angstentstehung und -perpetuierung zu verorten. Die Grundangst entstehe, weil kein Mensch in hundertprozentig verlässlichen Beziehungen heranwachse. Die Eltern-Kind-Beziehungen sind wie alle zwischenmenschlichen Verhältnisse von den jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten geprägt. Horney erwähnte Neid, Rivalität, Aggression, autoritäre und Freiheiten einschränkende Strukturen, die Überschätzung von beruflichem Erfolg, wirtschaftlicher Potenz oder ewig währender Dauerliebe sowie die Vorgaukelung grenzenloser persönlicher Macht und Autonomie, die in der US-amerikanischen oder europäischen Kultur die Beziehungen der Menschen untereinander beeinflussen und oftmals in krankmachender Weise normieren. In solchen Kulturen erleben sich Erwachsene wie Kinder heimatlos und bedroht. Emotionale Geborgenheit, familiäre Stabilität und soziale Verlässlichkeit sind selten, was bei den betroffenen Individuen Grundangst auslöst und deren Ausmaß steigert. Dies führt zu erhöhter Bereitschaft von Menschen, mit Feindseligkeit auf ihre Umwelt zu reagieren, was die Angst aufgrund der dabei entstehenden Distanz zu den Mitmenschen nochmals steigert. Horney formulierte daher die These, dass aggressiv-feindselige und nicht wie von Freud angenommen sexuelle Konflikte und Impulse zu den Hauptquellen der neurotischen Angst zu zählen sind. In ihrer Theorie vertrat sie implizit auch die antibiologistische Idee, dass die primäre Angst des Menschen zu seiner sekundären Aggressivität führe – ein Konzept, mit dem Horney im Vergleich zu Freud den progressiveren Standpunkt einnahm. Die möglichen Reaktionen des Einzelnen auf seine Angst sind ebenfalls kulturell mitdeterminiert. Zu den wichtigsten Antworten auf Angst in der westlichen Kultur gehören die Rationalisierung, die Leugnung oder Betäubung von Angst sowie die Meidung Angst auslösender Situationen. Menschen mit einem niedrigen Angstpegel ent-
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Werkanalyse
wickeln, wenn sie in Krisen und Kalamitäten verwickelt werden, allenfalls eine Situationsneurose – eine Störung, die sich rasch auflösen lässt. Eine Charakterneurose hingegen entsteht, wenn Individuen über Jahre hinweg mächtige Schutzwälle gegen ihre unerträgliche Angst errichten. Die Autorin unterschied vier Strategien, wie sich Menschen gegen ihre Ängste wappnen: a) sich über Geliebt-Werden gegen die Angst schützen; b) sich unterwürfig und gefügig gegenüber anderen Menschen und Institutionen einstellen; c) mit Macht, Überlegenheit und Besitz die Angst minimieren; d) mittels Distanz und Unabhängigkeit nicht an die Angst erinnert werden. Da besonders die Mechanismen des Geliebtwerden-Wollens und die Suche nach Macht, Anerkennung und Überlegenheit zu Horneys Zeiten dominierend waren, widmete sie dem Liebes- und Machtbedürfnis eigene Kapitel in ihrem Buch. Auch an diesen Ausführungen wird die Korrelation zwischen den individuellen Formen der Neurose und den kulturellen Daseinsformen deutlich. Sie bestätigen das Resümee Horneys, dass Neurotiker »Stiefkinder der Kultur« sind – oder besser noch: Dass sich in ihnen die Neurose der Kultur widerspiegelt:
» Es scheint, als ob der Mensch, der in Gefahr ist, neurotisch zu werden, die kulturbedingten Schwierigkeiten in besonders starker Form, hauptsächlich durch das Medium seiner Kindheitserfahrung, erlebt habe, und dass er infolgedessen nicht imstande war, mit ihnen fertig zu werden oder doch nur unter großer Beeinträchtigung seiner Persönlichkeit. Wir könnten ihn ein Stiefkind unserer Kultur nennen (Horney 1995a, S. 216).
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Neue Wege in der Psychoanalyse
Diese Publikation war und ist für die Anthropologie noch bedeutender als Der neurotische Mensch unserer Zeit. Horney unternahm es hier, zentrale Begriffe des psychoanalytischen, vom biologistischen Triebkonzept geprägten Menschenbildes zu kritisieren und mit neuen, in der Regel kulturellen Aspekten anzureichern. Ein erster Terminus, an dem sie ihre Skepsis demonstrierte, war derjenige der Libido. Die Li-
bido bedeutete für Freud eine ungerichtete Sexualenergie, die (neben der Destrudo oder dem Aggressionstrieb) eine wesentliche Antriebskraft im menschlichen Seelenleben darstellt. Horney erkannte zwar an, dass es eine Fülle von Lustmöglichkeiten beim Menschen gibt, die schon beim Säugling beobachtet werden können, wenn er gestillt wird. Diese Phänomene als Spielarten eines Sexualtriebes zu interpretieren, erachtete sie jedoch als wenig plausibel. Daraus abgeleitet sah es Horney auch in keiner Weise als erwiesen an, dass es den sogenannten Ödipuskomplex beim Menschen gibt. Freud war davon ausgegangen, dass sich die kindliche Sexualität während der phallischen Phase (um das fünfte Lebensjahr) derart organisiert, dass z. B. der kleine Knabe seine Mutter sexuell begehrt und seinen Vater, den er notgedrungen als Rivalen erlebt, eliminieren will. Horney hielt dem entgegen, dass allenfalls die Eltern sexuelle Begierden in das Verhalten ihrer Kinder hineininterpretieren – eine Interpretation, die Sándor Ferenczi mit dem Begriff der Sprachverwirrung belegt hat. Außerdem betonte Horney, dass in den allermeisten Familien die Tendenz der Kinder erkennbar sei, sich aus Angst und dem Erleben von Abhängigkeit heraus eng an die Eltern anzuschließen. Nicht sexuelle, sondern existentielle Motive seien für die enge Bindung zwischen Eltern und Kindern verantwortlich zu machen, und der Ödipuskomplex sei daher ein Phantom. Ebenso erfuhren der Begriff und das Phänomen des Narzissmus von Horney eine entschiedene Umdeutung. In der Psychoanalyse wurde der Narzissmus als eine auf das eigene Ich hin gelenkte Form der Libido verstanden, wobei Freud einen primären (beim Neugeborenen) von einem sekundären Narzissmus (beim Erwachsenen) unterschied. Der primäre Narziss kenne keine eigenständigen Mitmenschen und Objekte; für ihn sind Ich und die Welt noch eins. Erst nach und nach realisiere das Kind, dass es die Anderen gibt, denen es sich zuwenden oder von denen es sich abwenden kann. Im ersteren Fall gilt ein Teil der Libido den Mitmenschen, wohingegen im letzteren Fall die Libido wieder dem eigenen Ich zugeführt wird (Zustand des sekundären Narzissmus).
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Kapitel • Karen Horney
Horney löste den Begriff des Narzissmus aus seiner libidinösen Verankerung. Ihrer Ansicht nach greifen Menschen zu narzisstischen Verhaltensweisen (Eitelkeit, Überheblichkeit, übersteigertes Prestige- und Bewunderungsbedürfnis, Mangel an Liebesfähigkeit, dauernde Besorgnis um die eigene Gesundheit oder Schönheit), wenn sie sich ängstlich fühlen und keine besseren Strategien der Angstabwehr kennen. Nach und nach erleiden sie dabei einen Verlust ihres substantiellen Ich oder Selbst und leben überwiegend nur noch als narzisstische Hülle. Daneben wollte Horney auch das Todestriebkonzept von Freud in keiner Weise akzeptieren. Der Begründer der Psychoanalyse war davon ausgegangen, dass es beim Menschen als Antagonisten des Sexualtriebs (Eros, Libido) den Todestrieb (Thanatos, Destrudo) gibt. Letzterer erkläre die historisch millionenfach belegte Grausamkeit und Zerstörungslust des Menschen. Außerdem arbeite Thanatos auf den Tod der Individuen hin – der Tod, so Freud, bedeute das geheime Ziel des Lebens. Horney konnte mit einer solchen Theorie nicht einverstanden sein. Die Destruktivität des Menschen sei unbezweifelbar; sie dürfe aber nicht auf ein biologisches Triebgeschehen zurückgeführt werden, sondern müsse im Zusammenhang mit der massiven Verunsicherung und Angst der Einzelnen den Kalamitäten und Aufgaben ihres Daseins gegenüber gesehen werden. Das Ausmaß des Thanatischen in der Welt mache deutlich, wie groß die Ohnmacht- und Angstempfindungen der Gattung Homo in der Vergangenheit gewesen sein müssen, und wie Angst auslösend die kulturellen Verhältnisse vielerorts zu beurteilen waren. Auch an den psychoanalytischen Begriffen von Es, Ich und Über-Ich brachte Horney ihre berechtigte Kritik an, die hauptsächlich gegen Freuds Konzept vom Homo libidinalis gerichtet war. Statt biologistisch-triebpsychologischer Herleitungen bevorzugte die Autorin jeweils ihre kulturgenetische Betrachtungsweise, die es ihr erlaubte, die von Freud beschriebenen Phänomene in einen sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhang einzuordnen. Es hätte ihrer Leistung keinen Abbruch getan, wenn sie dabei auf die wesentlichen Vorarbeiten Alfred Adlers hingewiesen hätte.
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Unsere inneren Konflikte
In gewisser Weise war der Titel dieses Buches von Horney irreführend, da er suggerierte, die Autorin wollte sich mit dem Innenleben von Menschen und den dabei zu findenden inneren Konflikten beschäftigen. Beinahe das Gegenteil war der Fall: Horney demonstrierte, dass innere Konflikte ihrem Wesen nach äußere, im interpersonalen Raum anzusiedelnde Konflikte sind. Ausgangspunkt des Buches war das Konzept des Grundkonflikts. Besondere Beachtung fand diese Idee bei Sigmund Freud, der in seiner psychoanalytischen Theorie einen Grundkonflikt zwischen dem blinden Drang der Triebe und den Über-Ich-Geboten der Menschen, in denen sich die Gesellschaft zu Wort meldet, postulierte. Alle Formen der Psycho- und Soziopathie seien auf diesen Grundkonflikt reduzierbar. Horney schloss sich zwar dem Gedanken eines Grundkonflikts als Kerngeschehen einer Neurose oder anderer psychopathologischer Zustandsbilder an, verortete diesen Konflikt aber nicht wie Freud innerhalb des Individuums (Trieb versus Moral), sondern verlegte ihn zwischen den Einzelnen und seine Umwelt. In der andauernden Aufgabe, Beziehung zu den Bezugspersonen und zur Welt generell herzustellen, lag für Horney eine nie versiegende Quelle möglicher Angst und daraus erwachsender Konflikte. Der Grundkonflikt eines Menschen ist demnach eng mit seiner Grundangst assoziiert. Unter Grundangst verstand Horney, wie bereits angedeutet, alle Arten von Nicht-Können, basaler Abhängigkeit, grundlegender Hilflosigkeit und länger anhaltender Unsicherheit. Häufig können diese Empfindungen nicht offen kommuniziert werden, was dazu führt, dass sich die Betroffenen ziemlich einsam fühlen. Die Heranwachsenden entwickeln verschiedene Strategien, um ihre Ängste nicht oder zumindest nicht in vollem Ausmaß spüren zu müssen. Wenn diese Strategien oft wiederholt werden, verfestigen sie sich zu Haltungen oder Charakterzügen. Falls diese zu Reibereien mit der Umgebung Anlass geben, entsteht der Grundkonflikt eines Menschen. Eine erste Strategie besteht der Autorin zufolge in der Hinwendung zu den Menschen – eine Haltung, die von ihr später als Reiz der Liebe bezeichnet wurde. Horney verstand darunter die zwang-
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hafte und oft selbst verleugnende Suche nach Liebe und Anerkennung sowie verschiedene Formen der Unterwürfigkeit bis hin zum Masochismus. Menschen mit einer solchen Strategie imponieren als selbstlos, dankbar, nachgiebig, überrücksichtsvoll und gehemmt bezüglich eigener Bedürfnisse, Ehrgeizziele oder Selbstdarstellung. Güte, Verständnis, Liebe, Großherzigkeit und Harmonie sind für sie hohe Werte, wohingegen sie Macht, Härte, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen als böse, destruktiv oder inhuman erleben. Den dahinter verborgenen Grundkonflikt kann man nach Horney in die Fragen kleiden: Wie schafft man es, rechthaberische, egoistische und machtvolle Strebungen und Impulse dem Bedürfnis nach Harmonie und Liebe (zu Eltern, Erziehern, Kindern, Freunden) unterzuordnen? Und wie kann man die Angst beherrschen angesichts möglicher Abwendung jener Menschen, welche den Betreffenden um jeden Preis lieben sollen, damit dessen Selbstwertempfinden konstant hoch bleibt? Eine zweite Strategie wurde von Horney als feindselige Einstellung gegen die Menschen charakterisiert. Damit umschrieb sie Personen, die ihr Heil nicht im Geliebt-Werden, sondern in der mehr oder minder offenen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt suchen. In späteren Publikationen rechnete sie diese Form der Angstlösung oder -minimierung zur Rubrik Reiz der Meisterschaft. Bei solchen Menschen finden sich Haltungen und Charakterzüge wie direkte Machtausübung, indirekte Manöver des Herrschaftsgewinns oder -erhalts, Tendenzen des Dominierens, Sich-Durchsetzens und der Ausweitung der persönlichen Einflusssphäre, Ehrgeiz, Habsucht und Erfolgsorientiertheit. Solange diese Ziele im Leben solcher Menschen erreicht werden, fühlen sie sich relativ angstfrei und sicher. Sobald aber Niederlagen ins Haus stehen oder sich körperliche oder seelische Schwächen bemerkbar machen, geraten sie in Panik und maßlose Unsicherheit. Offensichtlich diente ihr Kampf gegen die Mitmenschen der Betäubung ihrer eigenen Grundangst. Nicht besser ergeht es Menschen mit distanzierten und resignativen Einstellungen zum Leben. Weil viele Heranwachsende spüren, dass eine wesentliche Quelle ihrer Ängste in den Beziehungen zu den Eltern oder anderen wichtigen Bezugsper-
sonen begründet liegt, liebäugeln sie mit der Möglichkeit, sich zurückzuziehen und auf nahe und emotional anrührende Kontakte mit ihrer Umwelt ganz zu verzichten. Das Motto hierfür lautet: Wenn man keine Bedürfnisse (nach Verlässlichkeit, Verstandenwerden, emotionaler Wärme) zeigt und entwickelt, kann man diesbezüglich auch nicht enttäuscht und verletzt werden. Also wendet sich der Einzelne von seinen Mitmenschen ab und eliminiert damit scheinbar seine Grundangst. Menschen mit einer derartigen Lösungsstrategie erklären Werte wie Ungebundenheit, Autonomie, Überlegenheit und souveräne Distanz zu ihren höchsten Werten. In späteren Schriften hat Horney diese Einstellung als den Reiz der Freiheit bezeichnet. Als literarisches Beispiel für eine solche Haltung diente ihr die Figur des Peer Gynt im gleichnamigen Schauspiel von Henrik Ibsen, der sich erst im allerletzten Moment des Dramas zu einer Entscheidung für eine nahe Beziehung durchringt und aufgrund seines Freiheitsdrangs beinahe seine Identität verspielt. Als neurotisch oder krankhaft sah Horney diese drei Varianten der Angstminimierung an, wenn sie rigide und nicht situationsadäquat eingesetzt werden. Sie bedeuten für den Einzelnen dann Sicherungen seines prekären Selbstwerterlebens und werden dementsprechend gegen alle Veränderungsnotwendigkeiten seiner Existenz verteidigt. Bei einer derartigen Versteifung auf einen einzigen Bewältigungsmechanismus der Angst hilft in vielen Fällen nur eine psychotherapeutische Kur, welche den Betreffenden dazu anleiten soll, sich seiner Grundangst und dem daraus resultierenden Grundkonflikt anders als bislang zuzuwenden. z
Neurose und menschliches Wachstum
In diesem Buch nahm Horney eine nochmalige Veränderung ihrer Theorie vom Menschen und seiner neurotischen Verstrickungen vor. Wichtige Schlagworte dabei waren das wahre und das idealisierte (falsche) Selbst, die Tyrannei des Sollens sowie die Begriffe der Selbstentfremdung und Selbstverwirklichung. In Neurose und menschliches Wachstum stößt man zum einen auf das Thema der bereits bekannten Grundangst; zum anderen untersuchte Horney darin genauer den Aufbau und die Ausbildung
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Kapitel • Karen Horney
einer Person oder (wie sie es nannte) eines Selbst als Antwort auf die Grundangst. Dabei verwendete sie einen dichotomisierenden Begriff des Selbst und unterschied ein wahres von einem idealisierten oder falschen Selbst. Für Horney war das idealisierte oder falsche Selbst als Versuch eines Menschen zu werten, seine eventuell gesteigerte Grundangst zu minimieren, zu verdrängen oder zu betäuben und sich somit zu beruhigen. Ein idealisiertes Selbst besteht aus übersteigert wirkenden Ich-Idealen sowie aus einer Fülle von Selbsttäuschungen und Illusionen, welche die eigene Person wie auch die Mitmenschen und die Welt betreffen. Zum einen bewirken diese Ideale eine imaginäre Aufwertung der Person und damit eine Dämpfung ihrer Grundangst. Andererseits jedoch entwickeln sie fast immer eine destruktive Dynamik, da sie zur Abwertung und Verachtung des realen und wahren Selbst beitragen. Im schlimmsten Fall kommt es zur Tyrannei des Sollens, zum Imperativ des idealisierten Selbst, das für seinen Traum von der Gottähnlichkeit bereit ist, das reale Selbst zu quälen und womöglich sogar zu opfern. Um nämlich gottähnlich, grandios und fehlerfrei zu sein, nimmt das idealisierte Selbst alle Formen der Entfremdung bis hin zum seelisch-sozialen oder auch biologischen Tod des wahren Selbst in Kauf. Der Begriff der Tyrannei des Sollens entspricht in etwa dem, was Sigmund Freud unter den sadistischen Aspekten des Über-Ichs und unter einem rigiden Gewissen verstand. In der Psychologie Erich Fromms wird dieser Sachverhalt auch als autoritäres Gewissen bezeichnet. Für Horney fielen unter die Tyrannei des Sollens alle inneren Gebote eines Menschen, die ihm vorschreiben, was er zu tun, zu sein, zu fühlen und zu wissen und welche Tabus er zu respektieren hat. Tyrannisch nannte die Neopsychoanalytikerin diese Gebote, weil sie mit unerbittlicher Härte jene Forderungen an das Individuum stellen, die weit über die realen Möglichkeiten sowie die Wünsche und Vorstellungen des wahren Selbst hinausgehen oder diese sogar konterkarieren. Tyrannisch an ihnen imponieren auch die Konsequenzen, die aus ihrer Nichtbeachtung für den Betreffenden erwachsen: heftige Selbstvorwürfe, Beschimpfungen und Entwertungen der eigenen Person (also des
wahren Selbst) bis hin zu Selbstbestrafung oder sogar Suizid. Die Tyrannei des Sollens ist ein häufig zu beobachtender Mechanismus des idealisierten Selbst, sich gegen die Ansprüche des wahren Selbst zu behaupten und dieses klein zu halten. In den Maßstäben des idealisierten Selbst und in seinen autoritär wirkenden Forderungen schallen dem Individuum die Stimmen seiner wichtigsten Erzieher, aber auch die Meinungen und Wertehierarchien seiner kulturellen und gesellschaftlichen Umwelt entgegen. Das idealisierte Selbst wirkt wie der verlängerte Arm jener Autoritäten im Einzelnen. Es trägt dafür Sorge, aus kleinen Kindern oder angehenden Erwachsenen gefügige Staatsbürger, willige Soldaten, brave Befehlsempfänger und gehorsame Mitläufer zu machen. Zumindest in der Vergangenheit zeigten weder Institutionen (Staat, Kirche, Medien, Militär) noch die Masse der konkreten einzelnen Erzieher ein gesteigertes Interesse daran, dass die ihnen anvertrauten Kinder, Zöglinge oder Schutzbefohlenen ihr wahres Selbst entwickelten. Leichter manipulierbar sind jedenfalls Menschen mit einem falschen Selbst, deren emotionale Eigenständigkeit und autonome Urteilskraft sich in engen Grenzen hält. In Neurose und menschliches Wachstum benannte Horney drei weiter oben bereits angedeutete Richtungen, welche dem Einzelnen in unserer Kultur angeboten werden, um sein idealisiertes Selbst (und damit seine Neurose) zu organisieren: Den Reiz der Liebe, der Meisterschaft und der Freiheit, wobei häufig Mischformen davon anzutreffen sind. Unter dem Reiz der Liebe subsumierte die Autorin jene psychosozialen Strebungen und Tendenzen, die auf Selbstverleugnung, Altruismus, Demut, Entwertung der eigenen und Aufwertung der geliebten anderen Personen hinauslaufen. Vor allem bei Neurosen wie Depressionen oder Angststörungen, aber auch in scheinbar normalen Liebesbeziehungen lässt sich dieses Sammelsurium masochistischer und sich selbst reduzierender Werte im Zentrum des idealisierten Selbst finden. Solange ein geliebter und hochgeschätzter Partner in der Nähe des Betreffenden lebt und bleibt, verspürt dieser keine oder nur geringe Angst. Sobald sich der Partner jedoch abwendet, stürzt dies
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den auf Liebe setzenden Menschen in Ratlosigkeit und Verzweiflung und bringt ihn in nahen Kontakt zu seiner Grundangst. Zumindest zu den Zeiten, in denen Horney ihr Buch verfasste, ließ sich die Lösung des Reizes der Liebe noch deutlich häufiger bei Frauen als bei Männern beobachten. Männer tendierten Horney zufolge mehr zu den beiden anderen Lösungsversuchen, zum Reiz der Meisterschaft oder der Freiheit. Bei jenen, welche dem Reiz der Meisterschaft großes Gewicht einräumen, kann man gewöhnlich Werte wie Überlegenheit, Perfektionismus, die Macht des Könnens und Wissens, Streben nach Ruhm, Anerkennung und Überrundung der anderen bezüglich Leistung und Erfolg oder aber nach emotional-sozialer und ökonomischer Unabhängigkeit und unbegrenzter Autonomie konstatieren. Wenn sich bei solchen Personen tatsächlicher Erfolg oder wirkliche Unabhängigkeit einstellen, kann sich von außen betrachtet ihr Leben als völlig neurosefrei darstellen. Untersucht man diese Menschen genauer, werden jedoch in der Unerbittlichkeit und Ausschließlichkeit, mit der Erfolg oder Freiheit angestrebt und Misserfolg und Abhängigkeit gemieden werden, die neurotischen Solls ihres idealisierten Selbst offenkundig. Ein Befund, der sich bei vielen Menschen erheben lässt, ist deren Neigung, auf eigentümliche Aspekte ihres Lebens stolz zu sein. Horney bezeichnete eine solche Verhaltensweise als neurotischen Stolz, wobei sie hervorhob, dass es sich dabei nicht selten um Ersatz für ein gesundes Selbstvertrauen handelt. Dieser neurotische Stolz kann sich auf beliebige Gesichtspunkte einer Existenz beziehen: auf die eigene Ehrlichkeit, Redlichkeit und Moral oder auf vermeintliche Unverletzlichkeit, Kraft, Erfolge und Besitztümer oder auch auf die Fähigkeit, andere besonders geschickt ausnutzen und übervorteilen zu können. Hinter diesen Varianten von neurotischem Stolz steckt ein Trick, der bereits in einer Fabel von La Fontaine beschrieben wurde: Dem Fuchs, der nicht an die hoch hängenden Trauben gelangte, waren diese zuletzt ganz einfach nicht süß genug. Aus seinem Nicht-Können machte er ein Nicht-Wollen, was für das eigene Selbstwertgefühl als bedeutend weniger kränkend registriert wird.
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Auch der neurotisch Stolze verwandelt Defizite und Schwächen in vermeintliche Stärken. So kann er sein Anrennen gegen und seine Nichtakzeptanz von Normen und Regeln als Stolz auf seine unbegrenzte Freiheit ausgeben; seine Schwierigkeiten, für sich selbst etwas zu fordern, können sich in Stolz auf Altruismus und Selbstlosigkeit auflösen; und seine Abhängigkeit von anderen Menschen kann der Betreffende vor sich und der Umwelt als besonders umfängliche Liebesfähigkeit verkaufen und mit dementsprechendem Überlegenheitsgefühl versehen. Wird neurotischer Stolz verletzt, reagiert der davon Betroffene meist mit Scham, Empfindungen des Gedemütigt-Seins oder mit Trauer. Bisweilen lässt sich jedoch konstatieren, dass aus einer derartigen Affektlage heraus aggressive Verhaltensweisen entstehen oder sich der in seinem Stolz Verletzte schmollend zurückzieht. Idealisiertes oder falsches Selbst, Tyrannei des Sollens und neurotischer Stolz (der oft mit neurotischem Selbsthass korrespondiert) verweisen nach Horney auf ein tragisches Geschehen, das sich mit Selbstentfremdung und Selbstverlust umschreiben lässt. Äußerlich betrachtet erscheinen die betreffenden Menschen nicht selten als intakt und gesund. Blickt man jedoch genauer hin, mangelt es ihrem Selbst an Konsistenz, Echtheit und wirklicher Lebendigkeit. Als einen Hinweis auf das Vorliegen von Selbstentfremdung wertete Horney die affektive Abstumpfung und Verflachung einerseits oder das übertriebene Erleben von Gefühlen andererseits. Wenn Menschen eine mittlere emotionale Wohltemperiertheit kaum oder nie realisieren, steht zu vermuten, dass sie den Dynamiken eines idealisierenden Selbst und der Tyrannei ihres Sollens ausgeliefert sind. Ein seinem Selbst entfremdeter Mensch imponiert darüber hinaus wie emotional abgeschnitten und blockiert. Hinter einer Oberfläche von angeblicher Spontaneität und Vitalität verbergen sich Hemmungen und Ängste, deren Ausmaß längst nicht nur auf eine Situationsneurose hindeutet. Geraten solche Personen in Verhältnisse, in denen nichts Sensationelles, Neues und Abenteuerliches von außen geboten wird, erliegen sie rasch den Empfindungen von Leere und Langeweile.
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Kapitel • Karen Horney
Die Selbstentfremdung macht sich auch auf dem Terrain der zwischenmenschlichen Beziehungen bemerkbar. Mangel an Empathie, emotionale Übergriffe oder soziale Ungeschicklichkeiten aller Art gehören mit zum Syndrom des Selbstverlusts. Statt Einfühlung in die Mitmenschen dominiert der narzisstische Selbstbezug, der umso intensiver zelebriert werden muss, je weniger ein wahres Selbst vorhanden ist, auf das sich der Betreffende beziehen könnte. Wenngleich Selbstentfremdung und Selbstverlust mit beruflichem Erfolg und sozialem Prestige einhergehen können, versah Horney solche Zustände mit dem Begriff der Verzweiflung. In diesem Zusammenhang verwies sie auf den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, auf dessen Schriften sie das erste Mal durch Müller-Braunschweig während ihres Medizinstudiums aufmerksam gemacht worden war. In seinem Buch Die Krankheit zum Tode (1849) erachtete Kierkegaard die Verzweiflung als Indikator für eine Erkrankung des Selbst:
»
Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen (Kierkegaard 1962, S. 15.).
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Wie aber sieht im Gegensatz zu einem falschen Selbst mit neurotischem Stolz und Selbstentfremdung ein wahres Selbst mit stabilem Selbstwert aus? In Neurose und menschliches Wachstum beschrieb Horney, wie eine authentische und echte Existenzweise beschaffen ist und zur Entwicklung und Verwirklichung des Selbst beiträgt:
»
Der Mensch wird dann die einzigartigen Kräfte seines wahren Selbst entfalten: die Klarheit und Tiefe seiner eigenen Gefühle, Gedanken, Wünsche und Interessen; die Fähigkeit, seine eigenen Möglichkeiten zu erschließen; die Stärke seiner Willenskraft; … Dies alles wird ihn mit der Zeit befähigen, seine Wertmaßstäbe und Ziele im Leben selbst zu finden. Kurz gesagt, wenn der Mensch im Wesentlichen nicht abgelenkt wird, entwickelt er sich zur Selbstverwirklichung hin. Aus diesem Grund spreche ich an dieser Stelle und das ganze Buch hin-
durch vom wahren Selbst als der zentralen inneren Kraft, die – allen menschlichen Wesen gemein und dennoch einzigartig in jedem – die tiefe Quelle des Wachstums ist (Horney 1975, S. 15).
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Conclusio Horneys neopsychoanalytische Seelenkunde wurde in den letzten sechs Jahrzehnten nicht nur von Ärzten und Psychotherapeuten zitiert. Vor allem ihre Ausführungen in Neurose und menschliches Wachstum haben Literaturwissenschaftler, Psychobiographen, Historiker und Ethnologen mit Erfolg dazu animiert, die Horney‘sche Psychologie auf ihre jeweiligen Forschungsgegenstände zu übertragen und anzuwenden. Daneben wirkten Horneys Texte auf eine Reihe von Psychologen und Medizinern anregend, die sich um eine Emanzipation von der orthodoxen Psychoanalyse bemühten und gleichzeitig im Behaviorismus zu wenig existentielle und humane Ernsthaftigkeit und Tiefe fanden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Erik Homburger Erikson, Rollo May, Abraham Maslow, Donald Woods Winnicott, John Bowlby und Ronald D. Laing sowie an die Gruppe der Ich- und Selbstpsychologen wie Heinz Hartmann, Ernst Kris, Rudolph Loewenstein und Heinz Kohut. Viele dieser Wissenschaftler mag ein zentraler Gedanke Horneys inspiriert haben, der auch anthropologisch relevant ist: dass es bei allen Menschen ein tief verwurzeltes und letztlich unausrottbares Streben nach Verwirklichung und Auszeugung des ureigensten Wesens gibt. Dieses Streben wird zwar oft jahrzehntelang vom lauten Getöse des idealisierten Selbst übertönt und zum Schweigen gebracht (Horney nannte dies eine Neurose), aber nicht gänzlich eliminiert. In existentiell anrührenden und aufwühlenden Situationen wie Krankheit, Niederlagen und schweren Schicksalsschlägen, aber auch in gelingender Sexualität sowie in den nahen Momenten von Liebesbeziehungen, Freundschaften oder günstig verlaufenden Psychotherapien kann sich beim Einzelnen dessen wahres Selbst melden. An dieser Stelle darf kritisch angemerkt werden, dass die Neigung zur Substantivierung von
Literatur
Daseinsfunktionen und -vollzügen (das Selbst, das Sollen, die Grundangst usw.) problematisch ist. Dabei besteht immer die Gefahr, dass Begriffe für die Sache selbst genommen und als Unter- oder Nebenwesenheiten des Menschen vorgestellt werden (z. B. das falsche und das wahre Selbst). Horney war für solche prekären Substantivierungen ebenso anfällig wie für Dichotomisierungen (z. B. Selbstverwirklichung versus Selbstverlust), von denen bekannt ist, dass sie zwar das Bedürfnis nach Überschaubarkeit befriedigen, die Fülle der Phänomene jedoch nur unzureichend abbilden. Jenseits dieser Kritik kann man anerkennen, dass für Horney das wesentliche Ziel einer psychotherapeutischen Kur im Warten auf jenen Moment bestand, in dem beim Patienten ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung lebendig und vom Therapeuten mit authentischer Bejahung verstärkt wird. Dabei sei nicht die Richtung, sondern die Vitalität dieses Impulses von Bedeutung. Friedrich Nietzsche zielte auf Ähnliches ab, als er in einem Aphorismus meinte, man solle nicht zwischen Gut und Böse, sondern zwischen lebendig und unlebendig unterscheiden; das Lebendige (in den Worten Horneys das wahre Selbst) ist immer schon das Gute.
Literatur Horney K (1975) Neurose und menschliches Wachstum. Kindler, München (Erstveröff. 1950) Horney K (1984) Unsere inneren Konflikte. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1945) Horney K (1990) Analytische Technik. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1987) Horney K (1992) Neue Wege in der Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1939) Horney K (1994) Die Psychologie der Frau. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1967) Horney K (1995a) Der neurotische Mensch unserer Zeit. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1937) Horney K (1995b) Selbstanalyse. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1942) Kierkegaard S (1962) Die Krankheit zum Tode. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1849) Paris BJ (2006) Karen Horney – Leben und Werk. Psychosozial Verlag, Gießen (Erstveröff. 1994) Rubins JL (1980) Karen Horney – Sanfte Rebellin der Psychoanalyse. Kindler, München (Erstveröff. 1978) Schädlich S (2006) Karen Horney – Die Rivalin Freuds. Kreuz, Stuttgart
241
Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Josef Rattner Biographisches – 244 Werkanalyse – 247 Conclusio – 254 Literatur – 254
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Josef Rattner
. Abb. 1 Josef Rattner (*1928). (Quelle: privat)
Im 20. Jahrhundert wurden in Wien zwei wesentliche tiefenpsychologische Schulrichtungen begründet: Sigmund Freuds Psychoanalyse und Alfred Adlers Individualpsychologie. Manche erwähnen in diesem Zusammenhang noch Viktor Frankls Logotherapie, die eine modifizierte Spielart der Individualpsychologie darstellt. Darüber hinaus gibt es eine innovative Weiterentwicklung von Psychoanalyse und Individualpsychologie hin zur Philosophie und zu den Kulturwissenschaften, welche das Prädikat »Dritte Wiener Schule der Tiefenpsychologie« vollumfänglich verdient hätte: Josef Rattners personale Psychologie und Psychotherapie, die ihren Schöpfer als den eigentlichen Nachfahren und Fortsetzer von Freud und Adler erscheinen lassen (. Abb. 1).
Biographisches Josef Rattner wurde 1928 in Wien als jüngstes von insgesamt vier Kindern (eine Schwester und drei Brüder) geboren. Seine Vorfahren entstammten handwerklichen Berufen. Von ihnen habe er eigenen Aussagen zufolge kräftige Handwerkerhände sowie den Sinn für Solidität geerbt. Rattner verbrachte die ersten zehn Jahre seines Lebens in der Donaumetropole, in der seinerzeit in vielerlei Hinsicht noch jenes alt-österreichische Lebens- und Kulturgefühl präsent war, das zwar nach dem Ersten Weltkrieg schon Einbußen erlitten hatte, aber erst 1938 nach dem von den Nationalsozialisten erzwungenen Anschluss Österreichs an Deutschland zugrunde gegangen ist. Dieser Anschluss war von den meisten Österreichern mit großer Zustimmung und Begeiste-
rung aufgenommen worden – Reaktionen, die in der Familie Rattners gänzlich fehlten. Vater Rattner war ein überzeugter Sozialdemokrat und ahnte die heillosen Konsequenzen dieser politischen Entwicklungen voraus. Schon 1934 hatte er erwogen, Österreich zu verlassen. Nach den Ereignissen im März 1938 war es für die Familie keine Frage mehr zu emigrieren. Bald nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verließen die Rattners Wien und gingen in die Schweiz, wo sie politisches Asyl erhielten. Von 1938–1947 verlebte Rattner seine Jugend und Adoleszenz in der malerischen und idyllischen Kleinstadt Schaffhausen am Rhein, die damals etwa 30.000 Einwohner zählte. Rückblickend hat er gerne dort gewohnt; immerhin erlebte er in dieser Stadt seine ersten Liebschaften sowie das Erwachen von wissenschaftlichen und literarischen Interessen. Auch die Überschaubarkeit und das geordnete Leben in Schaffhausen behielt er – bei aller kleinbürgerlichen Provinzialität – als angenehm und wertvoll in Erinnerung. Rattner war ein exzellenter Schüler, wobei ihm zugutekam, dass einige Lehrer am Gymnasium außergewöhnlich kompetent waren. Obwohl er als kopflastig galt, begeisterte er sich für vielerlei Sportarten. Meist war er Klassenprimus; das Lernen und die Schulaufgaben nahm er ernst wie eine Berufstätigkeit. Schon während seiner Schulzeit kam er mit der Weltliteratur ebenso wie mit wissenschaftlichen und philosophischen Texten in Kontakt. 1946 bestand er ein Jahr früher als gedacht das Abitur. Ab 1947 studierte Rattner in Zürich Philosophie, Psychologie und Germanistik; sein Hang zum Generalisten- statt zum Spezialistentum war für diese Studienwahl mitentscheidend. Er hörte und lernte Philosophie unter anderem bei Hans Barth und Wilhelm Keller; bei Emil Staiger, der als Papst der damaligen deutschsprachigen Literaturwissenschaft galt, besuchte er Lehrveranstaltungen in Germanistik. Über je ein Semester genoss er auch Vorlesungen von Karl Löwith und Helmuth Plessner, die beide als Gastdozenten in Zürich tätig waren. Nicolai Hartmann erlebte er ebenso wie Martin Heidegger, Eduard Spranger, Martin Buber und José Ortega y Gasset in Vorträgen. Seine Studien schloss er 1952 mit einer Dissertation bei Wilhelm Keller
Biographisches
über Das Menschenbild in der Philosophie Martin Heideggers ab. Im Hinblick auf die Psychologie bot Zürich nach dem Zweiten Weltkrieg ein vielfältiges Angebot, das Rattner umfänglich nutzte. Er absolvierte eine Ausbildung am Institut für Angewandte Psychologie, an dem er unter anderem vom Graphologen Max Pulver und von der C. G. Jung-Schülerin Jolande Jacoby unterrichtet wurde. Jung selbst hat er in Vortragsveranstaltungen erlebt, wobei er schon damals gehörige Skepsis dem Begründer der Komplexen Psychologie gegenüber empfand. Des Weiteren nahm Rattner an Seminaren des Daseinsanalytikers Medard Boss und des Psychoanalytikers Gustav Bally teil. Seine individualpsychologische Ausbildung und Lehranalyse erfuhr Rattner bei Friedrich Liebling. Liebling stammte aus Wien, wo er Alfred Adler persönlich kennengelernt hatte, und war ebenfalls 1938 in die Schweiz emigriert. Er war außergewöhnlich belesen, hatte ein großzügiges und gewinnendes Wesen und war für den idealistischen und lernbegierigen Rattner ein überaus passender Mentor. Neben den inhaltlichen Aspekten von Adlers Psychologie war es die Persönlichkeit Lieblings, die Rattner für die Individualpsychologie nachhaltig begeisterte und aus ihm den wichtigsten Neoindividualpsychologen im deutschsprachigen Raum werden ließ. Zusammen mit Liebling entwickelte Rattner in Zürich, wo er nach seinem Studium zuerst in einer Praxis psychotherapeutisch gearbeitet hatte, das Modell der Großgruppentherapie. Dabei kamen fünfzig und mehr Patienten und Zuhörer zusammen, die unter der Anleitung von Liebling und Rattner ihre persönlichen Probleme vortrugen. Sie wurden diesbezüglich beraten sowie durch Vorträge und Lehrveranstaltungen in psychologischer Menschenkenntnis instruiert. Parallel zu seiner psychotherapeutischen Tätigkeit studierte Rattner von 1957–1963 in Zürich noch Medizin. Ihm war klar geworden, dass er nicht das Schicksal von Laienanalytikern erleiden wollte, die – ohne dass sie Ärzte waren – als Psychologen oder Pädagogen die Psychoanalyse praktizierten. Seit den Anfängen der Psychoanalyse hatte es teils erregte Debatten um den Stellenwert dieser Laienanalyse gegeben.
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1963 schloss Rattner das Medizinstudium mit einer preisgekrönten Promotion über Das Wesen der schizophrenen Reaktion ab. Sein Doktorvater war Manfred Bleuler, der damalige Leiter der Zürcher psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli. Bleuler war der Sohn des berühmten Psychiaters Eugen Bleuler, der als Erster für die Erkrankung der Dementia praecox den Begriff Schizophrenie verwendet hatte. Ab Mitte der 60er Jahre begann Rattner, seine Erfahrungen als Großgruppentherapeut und die Ergebnisse seiner tiefenpsychologischen und philosophischen Lektüre in Büchern zu publizieren. Zur Schriftstellerei war er über den Journalisten Max Rychner gekommen, der als Redakteur bei der Zeitung Die Tat arbeitete, und der Rattner mit journalistischen Aufgaben betraute, an denen er das Handwerk des Schreibens erlernte. In seinen frühen Veröffentlichungen legte Rattner das Fundament für die spätere Ausarbeitung seiner personalen Pädagogik, Psychologie und Heilkunde. Er verknüpfte Individualpsychologie, Psychoanalyse, Neopsychoanalyse und Daseinsanalyse mit der philosophischen Tradition von Humanismus, europäischer Aufklärung, Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existentialismus. Weil er damals viele Vorträge zu verschiedenen psychologischen Themen hielt, gewöhnte er sich einen schlichten und geradlinigen Stil der Darstellung an, der sein gesamtes literarisches Oeuvre bis heute durchzieht. 1967 erhielt Rattner ein Forschungsstipendium an der Freien Universität in Berlin. Da er neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit über genügend Zeit und Kraft verfügte, begann er, öffentliche Vorlesungen zu halten und Psychotherapie in Gruppen anzubieten. Weil seinerzeit im Zuge der Studentenunruhen die Psychoanalyse (neben dem Marxismus) in Mode gekommen war und man Fragen eines freieren und authentischeren Lebens (Erziehung, Partnerschaft, Sexualität) intensiv diskutierte, wurden die Angebote Rattners mit großem Zulauf beantwortet. In den Folgejahren entwickelte sich in Berlin, wohin Rattner übergesiedelt war, ähnlich wie in Zürich eine Großgruppentherapie, die allerdings ein deutlich wissenschaftlicheres Gepräge aufwies als in der Schweiz. Manche Veranstaltungen fanden
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Kapitel • Josef Rattner
wegen des regen Interesses der Hörer in den größten Hörsälen der Universität statt. Ab Mitte der 70er Jahre verlegte Rattner den Sitz des von ihm gegründeten Arbeitskreises und des Instituts für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie in eine geräumige Villa im Berliner Stadtteil Westend. Über zwanzig Jahre lang konnte man ihm hier mehrmals wöchentlich bei der psychotherapeutischen Arbeit mit etwa achtzig bis hundert Menschen über die Schulter sehen. Psychotherapie im Sinne Rattners bedeutete stets eine Mischung aus differenziertem Gefühlsreichtum, plaudernder Gelehrsamkeit, psychoanalytischem Scharfsinn, entspannter Selbsterziehung und weltbürgerlicher Kulturarbeit. Weil Rattner davon ausging, dass psychosoziale Defizite, Störungen und Erkrankungen Ausdruck unterbrochener emotionaler und intellektueller Bildungsprozesse sind, war er überzeugt, dass psychotherapeutische Prozesse in Nacherziehung, Selbsterkenntnis und Eroberung sozialer wie kultureller Fertigkeiten und Fähigkeiten einmünden sollten. Man kann verstehen, dass die Vertreter einer orthodox-reinen Psychotherapielehre ihre liebe Mühe mit derartigen Ansichten sowie mit der von Rattner etablierten Großgruppe hatten. Psychoanalytiker wie Individualpsychologen gingen auf Distanz zu ihm, wobei sich umgekehrt auch seine Nähebedürfnisse ihnen gegenüber in Grenzen hielten. Zuletzt trat er aus der Deutschen Individualpsychologischen Gesellschaft aus und wurde wie Erasmus von Rotterdam ein »Homo pro se«. Die Therapie- und Bildungsarbeit im Arbeitskreis und Institut von Rattner bewirkte, dass Hunderte von ehemaligen Patienten und Schülern zu entscheidenden Entwicklungsschritten angeregt und ermutigt wurden. Partnerschaft, Kindererziehung, Schul- oder Berufsausbildung, Studium, Diplom- oder Doktorarbeiten waren für viele durch die Unterstützung der Großgruppe zu lösbaren Aufgaben ihres Daseins geworden. Am Institut wurden in den über dreißig Jahren seines Bestehens Dutzende von Ärzten und Hunderte von Psychologen psychotherapeutisch ausgebildet. Daneben haben weit über hundert Pädagogen entweder noch Psychologie studiert und/ oder eine psychologische Beraterausbildung ab-
solviert. Etwa vierzig ehemalige Ausbildungskandidaten blieben als Lehrtherapeuten, Supervisoren und Dozenten am Institut und tragen bis heute die therapeutische Arbeit des Arbeitskreises. Anfang der 90er Jahre erkrankte Rattner an einem Herzinfarkt, der ihn zum Rückzug von der psychotherapeutischen Arbeit sowie von allen öffentlichen Auftritten bewog. Seither hat er sich mit seiner ihm verbliebenen Kraft der Schriftstellerei und der Abrundung seines literarischen Oeuvres gewidmet. Durch die Konzentration auf Lektüre und Autorenschaft konnten in den letzten zwei Jahrzehnten Buchprojekte verwirklicht werden, die als Aufgipfelung von Rattners wissenschaftlichem und philosophischem Werk gelten: acht Bände Europäische Geistes- und Kulturgeschichte (England, Frankreich, Italien, Russland, Dänemark und Norwegen, Deutschland, Österreich, Schweiz); sieben Bände Tiefenpsychologie (Psychoanalyse, Individualpsychologie, Klassiker der Psychoanalyse, Kunst und Krankheit, Grundbegriffe und Meisterwerke der Tiefenpsychologie, Psychosomatik); fünf Bände Philosophie (Philosophie für den Alltag, Existenzphilosophie, Philosophie im 17. Jahrhundert, Junghegelianer, Moralistik); acht Bände Anthropologie und Psychohygiene (Medizinische Anthropologie, Eros und Sexus, Liebe und Ehe, Der Mensch zwischen Krankheit und Gesundheit, Altern und Alter, Selbstverwirklichung, Erziehung zur Persönlichkeit, Humor) sowie die Enzyklopädie der Psychoanalyse in neun Bänden. Daneben hat Rattner in den letzten Jahrzehnten 37 Jahrgänge seiner Zeitschrift miteinander leben lernen und 28 Bände des Jahrbuchs für Verstehende Tiefenpsychologie und Kulturanalyse herausgegeben und zum überwiegenden Teil selbst verfasst. Erwähnenswert sind außerdem seine beiden Monographien über Goethe (1999) und Nietzsche (2000), in denen er zwei seiner wichtigsten Vorbildern seinen Dank abstattete. Woher ein Mensch soviel Mut und Energie nimmt? Sicherlich aus seinen hochgesteckten Ehrgeizplänen, dann aber auch aus seiner tiefen Verbundenheit mit den Mitmenschen und der Kultur, seiner Identifikation mit bedeutenden Kulturrepräsentanten sowie – aus seiner Ehe mit Roswitha Neiss, mit der er seit über dreißig Jahren verheiratet ist.
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Werkanalyse
Werkanalyse Das Gesamtoeuvre Rattners umfasst zurzeit über hundert Bände. Obwohl er inzwischen das 83. Lebensjahr erreicht hat, ist er weiterhin geistig rege und schriftstellerisch produktiv. Bei der Fülle der von ihm herausgegebenen Schriften, die sich auf einen großen Teil der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte beziehen und weit über Tiefenpsychologie, Psychosomatik und Psychotherapie hinausreichen, ist eine werkanalytische Beschränkung dringlich geboten. Der Schwerpunkt liegt hier auf jenen Büchern und Texten, in denen das Thema der Anthropologie und hier vor allem der Personalität direkt anvisiert wird. Dazu zählen Krankheit, Gesundheit und der Arzt (1993), Medizinische Anthropologie – Ansätze einer personalen Heilkunde (1997), Der Mensch zwischen Krankheit und Gesundheit (1999), Erziehung zur Persönlichkeit (2003) und Philosophie für den Alltag (2004). Des Weiteren wird Bezug genommen auf einige Abhandlungen zur Personalität, die in Miteinander leben lernen (mll) publiziert wurden. Die einzelnen Facetten von Rattners personalem Menschenbild werden in der Folge in zwölf Punkten erörtert. z
Skeptische Anthropologie
Rattner ist Empiriker und Skeptiker genug, um sein anthropologisches Konzept auf ein biologisches Fundament zu stellen. Unter der Überschrift »Plädoyer für eine realistische und reduktive Anthropologie« (mll Heft 2, 2003) führte er aus, dass die lange Zeit dominierenden spiritualistischen und spekulativen Ansätze in der Anthropologie zumeist von den Religionen her ihre Anregungen und inhaltliche Ausgestaltung erhielten. Diese Tendenz erfuhr durch die anthropologische Reduktion und Wende im 19. Jahrhundert (Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer) eine radikale Absage. Von da an war allem hochtrabenden Spekulieren über den Menschen der tragende Grund und Boden entzogen. Noch entschiedener als die beiden Philosophen untergrub Charles Darwin das theologische Menschenbild. Seit dem Erscheinen von Die Entstehung der Arten (1859) und Die Abstammung des Menschen (1871) wurde der Mensch unwiderruflich ins Tierreich versetzt.
Im Unterschied zu den anderen Tieren ist der Mensch jedoch ein organisches Mängelwesen (Instinktarmut, Mangel an natürlichen Waffen und Schutzmechanismen). Diesen Gedanken äußerte bereits Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert; Medizin, Biologie und Anthropologie im 20. Jahrhundert haben Herders Formel aufgenommen und modifiziert. Dem niederländischen Naturforscher Louis Bolk zufolge (in: Das Problem der Menschwerdung, 1926) bewahrt der Mensch in seinem Heranwachsen fötale Eigenschaften, wodurch er sein ganzes Leben lang ein Entwicklungspotential behält. Der Basler Zoologe Adolf Portmann (in: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, 1948) sprach davon, dass der Mensch durch ein extrauterines Jahr an seinem Lebensanfang gekennzeichnet ist. Nach dem Gesamthabitus zu urteilen müsste er eigentlich 21 Monate im Uterus verbringen und käme erst dann ausgereift zur Welt. Der verkürzte Aufenthalt in der Gebärmutter ist ein Pluspunkt, da nun die Mitmenschen (mütterliche Pflege) und die Kultur das primäre Reifungsmanko des Neugeborenen ausgleichen können und müssen. Im ersten Lebensjahr lernt der Säugling Bindungsverhalten, Kontaktaufnahme, den aufrechten Gang und die Anfänge der Sprache, und damit erfährt seine Natur eine grundlegende Sozialisation und Kulturation. In der Linie einer nüchternen Beschreibung des Menschentiers lag auch Sigmund Freuds Psychoanalyse. Er meinte, dass seit dem Anbruch der Neuzeit dem Kulturmenschen drei fundamentale Beeinträchtigungen seiner Eitelkeit zugefügt worden seien: Kopernikus habe mit seinem System die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltalls verbannt; Darwin habe die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich nachgewiesen; die Psychoanalyse habe das Erbe dieser großen Entzauberer angetreten, indem sie feststellte, dass der Mensch nicht einmal innerhalb seiner Seele Herr im eigenen Haus ist, sondern Impulsen seines Unbewussten, seiner Sexualität und seiner Triebhaftigkeit überhaupt folgt. z
Biologie und Biographie
Eine realistische und reduktive Anthropologie wertet die Jahrhunderte lang vernachlässigte Physis des Menschen auf und verankert den Homo sapiens in
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Kapitel • Josef Rattner
Materie und Bios. Es liefe jedoch auf einen eindimensionalen Reduktionismus hinaus zu denken, das menschliche Dasein sei nichts weiter als gut organisierte Anatomie, Physiologie und Biochemie. Es war Rattner wichtig zu betonen, dass die menschliche Biologie schon vor und besonders nach der Geburt durch soziale und kulturelle Einflüsse stark geprägt wird. Die Beziehungen des Menschen zur Welt der Mitmenschen und der Kultur bestimmen sein Wesen und seine Natur mindestens ebenso sehr wie das Genom und allfällige physikalische und biologische Einflussgrößen während seines Lebens. Rattner stimmte mit jenen Autoren überein, welche den Menschen als nicht festgestelltes Tier (Friedrich Nietzsche) oder als Existenz (Jean-Paul Sartre) bezeichneten und darauf abhoben, dass er sich selbst eine Form oder Essenz verleihen muss. Bei diesem Prozess ist die Kultur, in welche der Betreffende hineingeboren wurde und in der er lebt, maßgeblich beteiligt. Sie stellt die Matrix für die Selbstauszeugung von Individuen und der Menschengattung generell zur Verfügung, wobei man Karl Marx insofern ergänzen muss, dass dies nicht nur durch Arbeit im engeren Sinne geschieht. Neben der Tatsache, dass der Mensch Homo faber ist (Benjamin Franklin), konstituieren ihn auch Brauchtum, Sitte, Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Die komplexen Wechselwirkungen zwischen Basis und Überbau, Biologie und Biographie lassen jene Theorien einseitig erscheinen, die nur eine einzige menschliche Hauptmotivation anerkennen wollen: Sexualität oder Machtwille oder Egoismus oder Altruismus. Solche monothematischen Lehren wirken zwar meistens konsistent, blenden aber die Variabilität und Fülle der menschlichen Daseinsweisen aus. Will man die Totalität des Menschen im Auge behalten, muss man die immense Vielfalt der Menschen berücksichtigen. Dabei ist es geboten, Teile und Ganzes, Fassade und Hintergrund der untersuchten Individuen jeweils in einer Synopsis zu sehen. Oder anders ausgedrückt: Die Kunst der Menschendeutung besteht darin, je nach Bedarf vom Geistigen zum Emotionalen oder Triebhaft-Organischen überzugehen und umgekehrt. Des Weiteren soll man vom Kollektiven zum Individuellen
und vom Persönlichen zum Allgemeinen wechseln können. z
Hermeneutik
Diese eben empfohlenen Betrachtungsweisen sind in ähnlicher Form von Wilhelm Dilthey als hermeneutischer Zirkel beschrieben worden. Rattner ließ in seinen Schriften keinen Zweifel daran, dass ein adäquater wissenschaftlicher Zugangsweg zum Menschen die Hermeneutik, also die Kunst des Verstehens, mit enthalten muss. Neben einer erklärenden Methodik, wie sie in den Naturwissenschaften etabliert ist, benötigen die Wissenschaften vom Menschen und damit auch die Anthropologie das Repertoire des verstehenden Forschens und Erkennens. In vielen Texten, zuletzt in Hermeneutik und Psychoanalyse – Das Verstehen als Lebensaufgabe, Wissenschaftsmethode und Fundamentalethos (2008), hat Rattner hervorgehoben, dass und warum ohne Hermeneutik in Wissenschaften und Philosophie die konkreten untersuchten Individuen ebenso wie auch das Wesen des Menschen generell verfehlt werden. Mit Hans-Georg Gadamer stimmte Rattner insofern überein, als auch er den Menschen als ein Lebewesen begreift, welches die Hermeneutik nicht nur als wohlfeile Methode der Geistes- und Kulturwissenschaften definiert, sondern in ihr eine zentrale Aufgabe für und ein Wesensmerkmal von sich selbst erkennt. Der Mensch ist ein »ens hermeneuticum«, ein verstehendes Wesen, das um Selbst-, Menschenund Weltkenntnis ringt. Das Ausmaß des Verstehens in diesen Bereichen ist naturgemäß zwischen den einzelnen Menschen verschieden. Als ein allen Menschen gemeinsames Bestreben lässt sich jedoch der Imperativ einordnen, alles, was ihnen in ihrem individuellen oder kollektiven Leben begegnet, mit Sinn und Bedeutung zu versehen und damit in einen wie auch immer gearteten Verstehenszusammenhang einzustellen. z
»Trial and Error«
Wer sich je mit Hermeneutik und der Kunst des Verstehens beschäftigt hat, wird zugeben, dass jeder Verstehensprozess aus einer Mischung von Irrtum und Wahrheit, Missverstehen und Erkenntnis besteht. Dies weist auf ein weiteres Anthropinon
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Werkanalyse
hin: Der Mensch ist das Wesen, das sich irren kann. Weder Pflanzen noch Tiere irren sich, was daran liegt, dass sie keine Freiräume der Entscheidung und keinen Möglichkeitssinn kennen. Die vegetativen Wachstumsgesetze und die animalischen Instinkte sorgen dafür, dass Pflanzen und Tiere stets ihren jeweiligen Gegebenheiten gemäß leben und nichts falsch machen. Anders der Mensch. In seiner Instinktentbundenheit wurde er zum ersten Freigelassenen der Natur (Herder), den dies großartige Geschenk der Freiheit allerdings in tiefgreifende Verwirrung versetzte. Er stand nun vor der Aufgabe, sich durch »trial and error« (Versuch und Irrtum) seinen Weg zu bahnen. Kein Wunder, dass er dabei auf zum Teil wahnwitzige individuelle und kollektive Irrwege verfiel. Um welche Irrtümer es sich im Detail handelte, ist vollständig nicht leicht aufzuzählen. Rattner erwähnte in seinen Texten die Erfindung des Krieges, das Patriarchat, die Melodie von Macht und Herrschaft im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen, die Entwicklung weltfremder und lebensfeindlicher Religionen sowie die Entstehung von Staaten, Kirchen und Gesellschaftsklassen. Es ist fraglich, ob diese krummen und destruktiven Pfade der Entwicklung hätten vermieden werden können. Es wäre jedoch abermals ein tragischer Irrtum, all das dem Einzelnen und seiner Natur anzulasten. Allenfalls kann man ihm attestieren, dass er ein irrendes und suchendes Wesen ist, das aufgrund von unguten Sozialisations- und Kultureinflüssen bisher zu wenig Wissen und Bildung erworben hat, um sein Dasein und das seiner Mitmenschen vernünftiger und humaner zu gestalten. z
Werden statt Sein
Rattner wehrte sich deshalb dagegen, den Menschen als Irrläufer der Evolution zu bezeichnen, wie Arthur Koestler dies vorgeschlagen hat. Aber immerhin muss man zugeben, dass die Formel vom »animal rationale«, also vom vernunftbegabten Tier, für den Menschen nur potentiell zutrifft. Mit den Begriffen Vernunft und Verstehen sind wir bereits in jene Bereiche des menschlichen Wesens vorgedrungen, die Rattner personal nannte. In Anlehnung an Max Scheler, Nicolai Hartmann, William Stern, Ernst Cassirer, Michael Landmann
und Helmuth Plessner betonte er, dass Personalität beim Menschen kein Faktum, sondern ein Fakultativum darstellt. Menschen haben von ihrer Natur her lediglich eine Disposition dazu, Personalität zu entwickeln. Es müssen günstige Bedingungen des Daseins gegeben sein, damit jene Freiräume entstehen, innerhalb derer sich das jeweilige Individuum zum Personsein entfalten kann. Und selbst bei optimalen Konditionen wird ihm seine Personalität nicht geschenkt. Nur durch eigene Anstrengungen und Bemühungen (Selbstschöpfung) kommt personale Existenz zustande. Personalität ist kein Merkmal wie etwa die Haut- oder Augenfarbe oder das eigene Geschlecht. Als bloß vorhandene Disposition ist ihr Niveau dauernden Veränderungen unterworfen. Not, Krankheit und leidige Lebensumstände generell können dazu führen, dass bereits entwickelte Personalität verkümmert. Sie muss demnach immer wieder neu erobert und bestätigt werden. Weil das unablässige Werden für die Personalität relevant ist, kann und darf sie nicht in einem Stadium ihrer Entfaltung stehen bleiben. Nicht zufällig hat die anthropologisch inspirierte Psychotherapie (Viktor Emil von Gebsattel) als Grundmerkmal aller Neurosen die Werdenshemmung deklariert. Diese verweist auf einen personalen Mangel, der in Zuständen der Psychopathologie stets nachweisbar ist. z
Weltoffenheit
Ein weiteres Merkmal der Personalität ist ihr Selbstund Weltbezug. Ähnlich wie die existenzphilosophischen Denker Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre beschrieb Rattner als eine wesentliche Voraussetzung der Person ihr Bezogensein auf die Welt wie auch ihr Selbstverhältnis. Letzteres wird an Begriffen wie Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Selbsterziehung, Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung deutlich, die essentiell zum Personsein gehören. Der Selbstbezug entfaltet sich am ehesten, wenn sich auch der Weltbezug umfänglich und differenziert gestaltet. Nicht im narzisstischen Kreisen um das eigene Ich, sondern im Sich-Öffnen zur Welt und ihren nicht auszurechnenden Aufgaben und Motiven induziert der Mensch die Genese und das
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Kapitel • Josef Rattner
Wachstum seiner Personalität. Verschließt er sich in eine enge und dem Tier analoge Umwelt, verringert sich seine Personalität. Mit Zustimmung zitierte Rattner den Gedanken Sartres, dass die Verschlossenheit die Ursünde des Menschen ist. Daher sollten alle pädagogischen, bildenden und psychotherapeutischen Bemühungen an diesem Phänomen der menschlichen Existenz ansetzen. Einem durch Angst, Trotz, Mutlosigkeit oder Resignation verschlossenen Kind, Schüler oder Patienten kann man noch so kluge und interessante Inhalte vorsetzen – sie werden darauf kaum im erhofften Sinne reagieren. Nur der angstfreie, mutige und offene Mensch kann lernen und sich entwickeln. Alle Formen einer repressiven Erziehung und Bildung sind Widersprüche in sich und eigentlich nichts weiter als Dressur und Drill. Die Resultate einer derartigen Sozialisation sind keine Personen, sondern willige Mitläufer, die sich widerstandslos in die von Autoritäten, den Medien oder der Öffentlichkeit vorgegebenen Richtungen bewegen. z
Der Einzelne und die Vielen
Personalität entwickelt sich meist abseits des lärmigen Treibens der Vielen. Rattner bewertete den Rückzug als wesentliche Bewegung des Menschen hin zu seiner Individualität und damit auch zu seiner Personalität. Gleichzeitig benötigt aber jedermann den sozialen Austausch, die Ansprache und Korrektur durch die Mitmenschen sowie die Anregungen durch die Kultur. Nach Rattner lebt der Mensch daher dauernd im Spannungsfeld der Polarität von alleine und gesellig sein, und weder als Eremit noch als Teil der Masse findet er seine Personalität. In einer kleinen Erzählung, betitelt mit Ein Meister des Rückzugs (mll Heft 3, 1999), betonte Rattner, dass er es für die Entwicklung von Individualität und Personalität als essentiell erachtet, sparsam mit sich umzugehen und sich nicht an die betäubenden Vergnügungen der Masse zu verlieren. Die Selbstwerdung ist ein Prozess der Stille und der Nachdenklichkeit. An sich ist der Mensch darauf angelegt, ein Einzelner zu werden und zu sein. Nicht selten ist er stolz auf seine scheinbare Eigenart und Eigenwüchsigkeit, die ihn von anderen unterscheidet. Sieht man jedoch näher zu, entpuppt sich die angebliche
Individualität in vielen Fällen als narzisstisches Manöver. Jedenfalls reicht es nicht, mit einer Sonnenblume im Revers durch London zu flanieren, um ein Oscar Wilde zu sein. Die moderne Soziologie hat aufgezeigt, wie sehr das Kollektiv, der Zeitgeist oder der objektive Geist (Nicolai Hartmann) das Leben des Einzelnen mitgestalten und determinieren. So beschrieb schon Gustave Le Bon in seiner Massenpsychologie (1895) den Menschen als ein Lebewesen, das fast dauernd kollektiv lebt und handelt. In dieselbe Richtung gehen die Schilderungen Heideggers in Sein und Zeit (1927), der vom Manselbst-Sein des Menschen sprach, das seine primäre Seinsform ausmacht und ihm überall kollektive Denk- und Verhaltensmuster aufzwingt. Die Menschen sind umfänglich von Sippen, Gruppen, Gemeinschaften und der Gesellschaft gesteuert, und nur eine spezifische Anstrengung ermöglicht jene Emanzipation, die zum Ich-selbst-Sein hinführt. An Biographien von Künstlern, Dichtern, Wissenschaftlern und Philosophen hat Rattner gezeigt, wie eine solche emanzipatorische Daseinsbewegung glücken kann, ohne in sterilen Kampf mit der Majorität oder in letztendliches Beidrehen und Einlaufen in den sicheren Hafen der kompakten Masse einzumünden. Blättert man in den acht Bänden seiner Europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, gewinnt man den Eindruck, dass ein Großteil der fortschrittlichen und humanen Kulturleistungen von solchen bedeutenden Einzelnen geschaffen wurde, die sich die Freiräume der Personwerdung eroberten und gegen den Widerstand der stumpfen Welt verteidigten. z
Wertsichtigkeit
Diese Fähigkeit zur Emanzipation vom Manselbst-Sein liegt bei den Betreffenden nicht nur in ihrer genetisch-biologischen Ausstattung begründet. Oftmals waren es sogar jene, die von der Natur körperliche Defizite oder eine reduzierte somatische Vitalität als Hemmschuhe erhielten, die später (auch im Sinne der Kompensation ihrer eingeschränkten Leiblichkeit) kulturell produktiv geworden sind. Man denke nur an Georg Christoph Lichtenberg, der seinen Buckel regelrecht als Voraussetzung für eigenständiges Denken empfunden hat.
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Werkanalyse
Individualität und Kreativität kommen nicht durch biologische Gegebenheiten allein, sondern allenfalls auch durch kompensierende seelischgeistige Überwindung von Organminderwertigkeiten (Alfred Adler) zustande. Dazu gesellt sich aber noch ein weiterer Faktor, der für die künstlerische und wissenschaftliche Produktivität ähnlich wesentlich ist wie für die Entwicklung von Personalität allgemein: die Wertsichtigkeit. Wo immer ein Mensch zum Personsein erwacht, eröffnet sich für ihn das universelle Reich der Werte; und umgekehrt wird das Niveau der Personalität gesteigert und stabilisiert, sobald und solange Menschen Werte erkennen und realisieren. Der Hin- und Aufblick auf Werte und die Werthierarchie, die allem menschlichen Streben und Erleben Orientierung verleiht, unterstützt wesentlich die Personalität. Rattner bezog sich in seinen diesbezüglichen Ausführungen vor allem auf die Axiologie (Wertlehre) von Max Scheler und Nicolai Hartmann. Beide Philosophen haben in ihren Schriften überzeugend dargelegt, welch zentrale Rolle die Werte nicht nur in Bezug auf die Personwerdung, sondern auch hinsichtlich des Fühlens und Handelns von Menschen einnehmen. Zusammen mit Gefühlen, die durch Werterkennen induziert werden, bedeuten die Werte die eigentlichen Motoren des menschlichen Seelen- und Soziallebens. Ist ein Mensch mehr oder minder wertblind, kann seine Personalität nicht erblühen. Daher ist es das vorrangige Anliegen von Erziehung, Bildung und Psychotherapie, bei Kindern, Schülern und Patienten Wertgefühl und Wertbewusstsein zu vermitteln – eine Aufgabe, die nur gelingen kann, wenn die Eltern, Erzieher, Lehrer und Therapeuten selbst über ein gewisses Maß an Wertsichtigkeit verfügen. Es wurde angedeutet, dass Werterleben und Gefühlsmächtigkeit zusammenhängen. Überwiegen bei Menschen Affekte (Neid, Geiz, Hass, Wut, Eifersucht, Scham, Angst, Depressivität), lässt dies auf einen relativen Mangel an Wertsichtigkeit schließen. Entgegengesetzt kann bei reichem Gefühlsleben (Zuversicht, Freude, Solidarität, Hoffnung, Heiterkeit, Liebe, Generosität) von entsprechend weitdimensionierter Werterkenntnis ausgegangen werden.
z
Ethos und Moral
Diese letzteren Aspekte widerlegen den weitverbreiteten Irrtum, dass Personalität mit Intellektualität identisch sei. Rattner verwies mehrfach auf die Geschichte des Verrats der Intellektuellen (Julien Benda) im 20. Jahrhundert. Menschen mit hoch gezüchtetem Verstand wurden während der totalitären Diktaturen zu Mitläufern und Handlangern von Barbaren, ohne dass dies bei ihnen merkliche emotionale Regungen hervorgerufen hätte. Im Gegenteil: Mit Goethe- oder Rilke-Bänden auf dem Schreibtisch waren sie zu fast jeder inhumanen Untat bereit oder unterstützten diese durch ihre wissenschaftlichen und philosophischen Aktivitäten, ohne dass der Hauch einer mitmenschlichen Gewissensreaktion zu verspüren war. Personalität ohne sittlich-moralisches Format ist ein Popanz. In dieser Hinsicht war Rattner stets außerordentlich empfindlich, und wenn er bei seinen Mitmenschen oder – was häufiger vorkam – bei den sogenannt Großen der Weltgeschichte derartige Lücken wahrnahm, reagierte er überaus kritisch. Die Diagnosen Charaktermasken und Bildungskrüppel waren in diesem Zusammenhang noch milde Begrifflichkeiten für jene, die durch glamouröse Titel aller Art auf profilierten gesellschaftlichen Rängen platziert waren und in Bezug auf ihr ethisches Niveau versagten. z
Sprache und Gedächtnis
Als eine weitere tragende Säule der menschlichen Personalität kann man das Erinnerungsvermögen oder Gedächtnis anführen. In den letzten Jahrzehnten wurden von Seiten der Neurowissenschaften viele Erkenntnisse über die Möglichkeiten des Menschen, sich zu erinnern und Neues zu lernen, zutage gefördert. Ein wesentliches Ergebnis dieser Forschungen ist die Unterscheidung in ein explizites (bewusstes) und ein implizites (unbewusstes) Gedächtnis beim Menschen. Die letztere Gedächtnisart bezieht sich auf all jene Fertigkeiten, die Menschen irgendwann bewusst erlernt haben und dann normalerweise beherrschen, ohne dass sie darüber nachdenken müssen. Beispiele hierfür sind motorische Abläufe wie Schwimmen, Fahrradfahren, Treppensteigen, Klavierspielen und vieles andere mehr. Im Gegensatz dazu beinhaltet das bewusste oder explizite
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Kapitel • Josef Rattner
Gedächtnis Erinnerungen, die sich auf historische Prozesse, biographische Ereignisse und kulturelle Zusammenhänge beziehen. Tiere verfügen über ein teilweise ausgezeichnetes implizites Gedächtnis, das es ihnen ermöglicht, sich in ihrer Umwelt hervorragend zu orientieren. Ihnen mangelt es allerdings je nach Rasse und Tierart an expliziten Gedächtnisinhalten, die in der Großhirnrinde verortet sind, und über die daher im eben beschriebenen Ausmaß wahrscheinlich nur der Mensch (und in Abstufungen andere Primaten) verfügt. Das explizite oder bewusste Gedächtnis ist beim Menschen mit Begrifflichkeiten und Sprache verbunden – ein Faktum, das verständlich macht, warum Weite und Tiefe des Erinnerungsvermögens und die Sprachmächtigkeit eines Menschen miteinander korrespondieren. Der Mensch als sprechendes Tier wurde zu einem sich erinnernden Wesen, das anders als die übrigen Tiere über den Augenblick hinaus in seine individuelle und kollektive Vergangenheit zurück und ausgehend davon in die Zukunft vorausdenken kann. So hängen die schon von Friedrich Nietzsche und Henri Bergson sehr feinsinnig beschriebenen Gedächtnisleistungen des Menschen und seine von Ernst Cassirer, Ludwig Wittgenstein und anderen Philosophen und Forschern untersuchten Fähigkeiten zum Symbol- und Sprachgebrauch eng miteinander zusammen. Beides – explizites Gedächtnis wie bewusstes Sprechen und Denken – fundiert die Person und entscheidet wesentlich ihr Niveau mit. Rattner hat auf diese Zusammenhänge in vielen seiner Texte abgehoben, so etwa in Sprache und Psychoanalyse – Kommunikation als Sinn und Gehalt der menschlichen Existenz (2009). Mit Wittgenstein kann man sagen, dass die Grenzen der Sprache eines Menschen die Grenzen seiner Welt markieren. Und mit Bergson lässt sich argumentieren, dass die Fülle und der Inhaltsreichtum der Erinnerungen, die als »durée«, also als Dauer und Kontinuum dem Einzelnen zur Verfügung stehen, Umrisse und Substanz seiner Identität bestimmen. z
Kultur und Kulturkritik
Das explizite Gedächtnis bezieht sich jedoch nicht nur auf Die gelebte Zeit (1971), die Eugène Minkow-
ski so beredt als den Kern einer Person beschrieben hat. Darüber hinaus sind es vor allem die Inhalte der Geistes- und Kulturgeschichte, welche der Einzelne aufnehmen und erinnern soll, um seine Personalität zu entwickeln. In Rattners Schriften findet sich mehrfach ein Gedanke von Georg Simmel zitiert: »Die Kultur ist der Weg der Seele zu sich selbst.« Man kann sich demnach eine weit dimensionierte Personalität ohne assimilierende und eventuell sogar produktive Kulturarbeit nicht vorstellen. Im Gegenteil: Wer ohne Bezug zur Kultur seine Person zum Erblühen bringen möchte, landet bald in der öden Tristesse von Encounter- oder Selbsterfahrungsgruppen, deren Teilnehmer aufgrund von inhaltsleeren Gesprächen zu Affekten und gegenseitigen Attacken Zuflucht suchen. Rattner jedenfalls war und ist fest davon überzeugt, dass das Hineinwachsen in die Kultur zu den wesentlichen Aufgaben eines jeden Menschen zählt. Weil der Mensch Bürger zweier Welten (Immanuel Kant) und als solcher sowohl in der Natur wie auch in der Kultur beheimatet ist, gehört die Kenntnisnahme von objektivem Geist (Zeitgeist in allen seinen Formen) und objektiviertem Geist (Erkenntnisse und Werke von Kunst, Wissenschaft und Philosophie) zu den grundlegenden Möglichkeiten jedes Individuums. Macht es davon keinen Gebrauch, bleibt es zumindest halb ein Heimatloser. Nun wurde schon eingangs ausgeführt, dass die Kulturgeschichte des Menschen eine schillernde Melange aus Irrtum und Wahrheit, Humanem und Inhumanem bedeutet. Man kann zumindest den Titel von Sigmund Freuds Abhandlung über Das Unbehagen in der Kultur (1930) nachvollziehen, in der er erläuterte, inwiefern Kulturfortschritte in der Vergangenheit oft genug mit Triebverzicht des Einzelnen erkauft waren. Selbst wenn man Freuds Konzept der Kulturentstehung aufgrund von Sublimierung und Triebversagung als fragwürdig erachtet, muss man zugeben, dass seine Diagnose des Unbehagens etwas Wahres trifft. Angesichts der weltweit zu besichtigenden »kulturellen Errungenschaften« wie Patriarchat, Militarismus, Krieg, Massenelend, Prostitution, emotionale und ökonomische Ausbeutung, Gewaltherrschaft, Kinderarbeit, Hunger, Armut,
Werkanalyse
Obdachlosigkeit sowie Erziehungs- und Bildungsmangel muss man jenen, die sich dabei auch noch behaglich fühlen, sittlich-ethische Defizite hohen Ausmaßes attestieren. Die bisherige Kulturgeschichte der Menschheit war mindestens so sehr auch eine Historie der Unkultur. Daher sollte jedes Hineinwachsen in die Kultur stets mit Ideologie- und Kulturkritik verknüpft werden. Skepsis und Hingabefähigkeit sind deshalb unabdingbare Qualitäten von Adepten der Geistes- und Kulturgeschichte. Nicht stupides Faktenwissen, sondern autonome und humanistische Urteilskraft ist das Ziel der Kultureinfügung. Eine solche Art der Kulturarbeit schwebte Rattner vor, wenn er seine Großgruppentherapie als tiefenpsychologisch und kulturanalytisch bezeichnete. Seine Patienten, Schüler und Mitarbeiter sollten lernen, sich ein eigenständiges und fundiertes Wertempfinden anzueignen, das sie zu kritischen Stellungnahmen und Haltungen zu Gesellschaft, Staat, Kirchen, Institutionen und Traditionen befähigt. Nicht ganz zufällig hat Rattner ein Buch über Die Junghegelianer – Porträt einer progressiven Intellektuellengruppe (2005) verfasst. Bei allen Einschränkungen, mit denen man z. B. David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Arnold Ruge, Karl Marx oder Friedrich Engels beurteilen mag und muss, haben diese Denker und Schriftsteller gezeigt, dass eine destruierend-kritische wie auch aufbauend-konstruktive Einstellung der Kultur gegenüber möglich und notwendig ist. z
Dialogik und »Common Sense«
Bei aller hochgeistigen Kulturarbeit war es Rattner jedoch mindestens ebenso wichtig, die Personalität in der gelebten Zwischenmenschlichkeit entspringen zu lassen. Spätestens in Bezug auf diesen Gesichtspunkt personalen Daseins macht sich bemerkbar, dass Rattner unwiderruflich Adlerianer ist und als solcher die Gedanken von Gemeinschaftsgefühl und »Common Sense« immer hochgehalten hat. Neben Alfred Adler zog Rattner mehrfach Martin Buber heran, um zu erläutern, inwiefern Personalität mit gelingender Interpersonalität assoziiert ist. Buber hat in seiner Philosophie der Dialogik betont, dass die Person grundsätzlich und immer
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ein Du-sagendes Ich ist. Der Einzelne, der Person werden will, bedarf stets des personalen Gegenübers, mit dem er mehr oder minder rückhaltlos im dialogischen Austausch lebt. Die Zwiesprache ist das Lebenselement von Vernunft, Freiheit und Personalität. Wo der Dialog fehlt, wird man finden, dass die Menschen zwar viel reden, aber wenig sagen. Umfangreiche Teile der öffentlichen und privaten Kommunikation gehorchen diesen Gesetzen oberflächlichen und substanzlosen Geredes, das beliebig austauschbar und folgenlos repetierbar erscheint. Sobald sich solche Menschen der Aufgabe einer existentiellen Kommunikation gegenübersehen, wirken sie unbeholfen, reduziert und gleichsam stumm. Sie haben zu wenig gelernt, die emotional nahe und anspruchsvolle Situation echter Zwischenmenschlichkeit zu konstellieren, und reagieren auf derartige Angebote phobisch-zurückhaltend. Wie sehr der Mangel an gelebter Mit- und Zwischenmenschlichkeit zu einem krankmachenden Faktor werden kann, hat unter anderem Harry Stack Sullivan in seiner Interpersonellen Theorie der Psychiatrie (1953) demonstriert. Sullivan konnte zeigen, dass Menschen, denen von ihrer Kindheit an ein verlässliches Du und damit eine emotional günstige Kommunikation fehlt, in ihrem späteren Leben ein höheres Risiko aufweisen, an Neurosen oder Psychosen zu erkranken. Wiederum ist bei ihnen der Mangel an Personalität als ein pathogenes Agens auszumachen. Rattner war übrigens der Erste, der Sullivan im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg bekanntmachte. Er übersetzte Texte von ihm, schrieb eine erläuternde Einleitung zur Interpersonellen Theorie der Psychiatrie und verfasste Abhandlungen über den US-amerikanischen Psychiater, dessen Arbeiten er ausnehmend schätzt. Ähnlich wie Buber hat auch der französischsprachige Psychiater Eugène Minkowski (z. B. in Die gelebte Zeit) betont, dass jedes menschliche Wachsen und Werden ein Mit-Werden ist. Einsame Subjekte tauchen nie und nimmer in eine Werdensbewegung ein, die Leib, Seele und Geist umfasst und damit zur Basis von Personalität beiträgt. Zwar können isoliert vor sich hinlebende Menschen die eine oder andere Fähigkeit schulen und
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Kapitel • Josef Rattner
perfektionieren. Als Personen aber bleiben sie notwendigerweise steril, wenn sie nicht in Beziehung zum Du und Wir, zur Gesellschaft und Kultur leben. Das wissen die Einzelnen leider zu wenig, und so mancher angestrengte Individualist hat sein Dasein nutzlos vertan, weil er abseits von Mitwelt und Mitmenschlichkeit sich selbst zu verwirklichen meinte.
Conclusio In den letzten Jahrzehnten hat Rattner seine Überlegungen zur Personalität in mehreren Bereichen einer praktischen Überprüfung anheimgestellt. Diese bezogen sich auf die konkrete psychotherapeutische Praxis, die Großgruppentherapie als Möglichkeit von Selbsterziehung, Bildung und Kulturarbeit, die Pädagogik in Familie und Schule sowie auf die Psychosomatik (Medizin) als personale Heilkunde. Seine Erfahrungen damit hat er in einigen Büchern niedergelegt, so in Medizinische Anthropologie – Ansätze einer personalen Heilkunde (1997), Der Mensch zwischen Krankheit und Gesundheit (1999), Erziehung zur Persönlichkeit (2003), Homo insipiens oder der dumme Mensch – Ein Beitrag zur psychologischen Anthropologie und Kulturkritik (2004), Selbstverwirklichung – Seelische Hygiene und Sinnsuche im Dasein (2006) und Psychosomatik und Psychohygiene (2008). Darüber hinaus unternahm Rattner Anläufe zu einer personalen Kunst- und Literaturkritik sowie zu einer Politikanalyse (in Politik und Psychoanalyse, 2007), Sozialismuskritik (in Sozialismus und Psychoanalyse, 2009) und Geschichtsschreibung (in Geschichte und Psychoanalyse, 2010) unter den Kautelen der Personalität. Mit Recht kann man daher Inhalt und Stoßrichtung seiner Lebensleistung als Personalismus in weltbürgerlicher Absicht charakterisieren. Dieses Personalismuskonzept Rattners hat sich als theoretisch schlüssig und praktisch anwendbar erwiesen. Die hohe Tragfähigkeit und große Belastbarkeit dieses Modells kommt unter anderem dadurch zustande, dass in es wesentliche anthropologische Gedanken aus den Natur- und Geisteswissenschaften sowie aus der Philosophie der letzten
zwei Jahrhunderte eingeflossen sind. Mancher mag dies als Zeichen von Eklektizismus werten, wobei Rattner auf derlei Vorwürfe zu antworten pflegt, dass die Wahrheit noch nie nur in einem Kopf oder einer Schulrichtung beheimatet war. Neben diesen abgeschlossenen Studien bleibt für Rattner selbst wie für seine Mitarbeiter und Schüler jede Menge an Feinarbeit übrig. Wie bei großen Baumeistern üblich, hat auch Rattner die Fundamente für ein Gebäude gelegt und darin die wichtigsten tragenden Wände hochgezogen, ohne in jedem Raum für die Detailausstattung zu sorgen. So dürfen sich nun die Jüngeren mit der Frage abplagen, wie denn etwa eine personale Pädagogik, Heilkunde, Psychotherapie, Kulturanalyse oder Gesellschaftskritik genauer aussehen kann und soll, und in welchen anderen Bereichen von Politik, Kultur und Alltagsleben ein Konzept des personalen Daseins mit Gewinn angewendet werden könnte. Dass einer nicht nur ein großartiges Werk hingestellt hat, sondern damit auch eine Fülle von Aufgaben für die Nachgeborenen hinterlässt, ist das schönste Kompliment, das man einem kulturell so innovativen und produktiven Menschen wie Josef Rattner machen kann. Mit einer solchen Bewertung wird seine Lebensarbeit halbwegs objektiv taxiert. Darüber hinaus sei zum Schluss auch ein subjektives Urteil erlaubt. Rattner ist einer der letzten Gelehrten aus Alteuropa, der uns plaudernd die Geschichte vom Menschen und seiner Kultur erzählt; der uns dabei vorlebt, wie man Mitmensch wird; und der mit alledem der Definition eines »uomo universale« oder »Gentleman« von Immanuel Kant entspricht, die dieser in einer Vorlesung über Anthropologie vor über zweihundert Jahren zum Besten gegeben hat: »Der in der Weltkenntnis bewanderte Mann von Welt ist ein Mitspieler im großen Spiel des Lebens.«
Literatur Danzer G (1998) Josef Rattner – Ein Porträt. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (1993) Kunst und Krankheit in der Psychoanalyse. Quintessenz, München
Literatur
Rattner J, Danzer G (1997) Medizinische Anthropologie – Ansätze einer personalen Heilkunde. Fischer, Frankfurt am Main Rattner J, Danzer G (1999) Der Mensch zwischen Krankheit und Gesundheit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Rattner J, Danzer G (2003) Erziehung zur Persönlichkeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Rattner J, Danzer G (2004a) Philosophie für den Alltag. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Rattner J, Danzer G (2004b) Homo insipiens oder der dumme Mensch – Ein Beitrag zur psychologischen Anthropologie und Kulturkritik. Verlag für Tiefenpsychologie, Berlin Rattner J, Danzer G (2005) Die Junghegelianer – Porträt einer progressiven Intellektuellengruppe. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2006) Selbstverwirklichung – Seelische Hygiene und Sinnsuche im Dasein. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2007) Politik und Psychoanalyse – Plädoyer für ein Leben in Freiheit, Vernunft und Frieden. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2008a) Psychosomatik und Psychohygiene. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2008b) Hermeneutik und Psychoanalyse – Das Verstehen als Lebensaufgabe, Wissenschaftsmethode und Fundamentalethos. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2009a) Sprache und Psychoanalyse – Kommunikation als Sinn und Gehalt der menschlichen Existenz. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2009b) Sozialismus und Psychoanalyse. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2010) Geschichte und Psychoanalyse. Königshausen & Neumann, Würzburg Rattner J, Danzer G (2010) Pädagogik und Psychoanalyse, Königshausen & Neumann, Würzburg
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Psychiatrie Ludwig Binswanger – 259 Viktor Emil von Gebsattel – 271 Erwin Straus – 283 Viktor Frankl – 295 Ronald D. Laing – 307
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Ludwig Binswanger Biographisches – 260 Werkanalyse – 263 Conclusio – 270 Literatur – 270
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Ludwig Binswanger
. Abb. 1 Ludwig Binswanger (*1881; †1966). (Aus Stumm et al. 2005)
Ludwig Binswanger begründete zusammen mit seinem jüngeren Kollegen Medard Boss die daseinsanalytische Richtung in Medizin und Psychiatrie. Anders als Boss, der seine anthropologischen Erkenntnisse vor allem auf dem Gebiet der Psychosomatik gewann, war Binswanger als Klinikleiter einer Anstalt mit psychiatrischem Schwerpunkt tätig. In seinen Schriften finden sich daher viele Beschreibungen psychiatrischer Krankheitsbilder und Symptome, an denen er seine Überlegungen zum Wesen des Menschen anstellte (. Abb. 1).
Biographisches Ludwig Binswanger wurde 1881 in Kreuzlingen (Schweiz) in eine Dynastie von Nervenärzten hineingeboren. Sein namensgleicher Großvater Ludwig Binswanger (der Ältere) gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts zu jener fortschrittlichen Gruppe von Psychiatern, die keine grundsätzlichen, sondern nur graduelle Unterschiede zwischen »Irren« und Gesunden gelten lassen wollten. Dieser Großvater erwarb 1857 die Liegenschaft Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee und nutzte sie als Asyl für Geisteskranke. Bis zu vierzig meist gutsituierte Patienten wurden dort behandelt, wobei sie häufig eng in das Familienleben des Anstaltsleiters einbezogen waren. Als Ludwig Binswanger 1880 starb, übernahm sein Sohn Robert das Bellevue und veränderte es zur »Kuranstalt für Nerven- und Gemütskranke«. Die Anlage wurde auf achtzig Behandlungsplätze erweitert; die Patienten waren je nach ihren finanziellen Möglichkeiten zum Teil in vornehm eingerichteten Villen untergebracht. Um die Jahrhundertwende reagierte Robert Binswanger positiv auf die theoretischen und prak-
tischen Neuerungen der Psychoanalyse. So ist es verständlich, dass Joseph Breuer, der zusammen mit Sigmund Freud 1895 die Studien über Hysterie publiziert hatte, seine Patientin Bertha Pappenheim (der Fall Anna O.) zur Nachbehandlung ins Bellevue zu Binswanger schickte. Neben seinem Vater und Großvater machte auch ein Onkel Ludwigs, Otto Binswanger, als Psychiater von sich reden. Kurz nach seiner Habilitation wurde er 1882 als Direktor der Landesheilanstalt und Außerordentlicher Professor nach Jena berufen, wo er einige Jahre später unter anderem den geistig umnachteten Friedrich Nietzsche behandelte. Vor diesem familiären Hintergrund ist es kein Wunder, dass auch Ludwig Binswanger (der Jüngere) Medizin studierte und sich nach 1906 einer psychiatrischen Ausbildung am Burghölzli in Zürich zuwandte. Dort traf er auf Eugen Bleuler und dessen Oberarzt C. G. Jung, die ihn beide mit psychoanalytischem Gedankengut in Kontakt brachten. 1907 schloss Binswanger sein Assistenzjahr mit einer Promotion bei Jung über assoziationspsychologische Fragestellungen ab. Mit ihm zusammen reiste er im selben Jahr nach Wien, wo sie Sigmund Freud aufsuchten. Ausgehend von diesem ersten Besuch entwickelte sich zwischen dem Begründer der Psychoanalyse und dem 25 Jahre jüngeren Binswanger eine lebenslange Freundschaft. Ihrem Briefwechsel (1908–1938) kann man entnehmen, wie intensiv ihre Beziehung sowohl auf emotionaler als auch intellektueller Ebene war. Obwohl Binswanger immer wieder gewichtige Einwände gegen die Psychoanalyse formulierte, schätzte ihn Freud als loyalen und gelehrten Kollegen, den er 1912 sogar mit einem Besuch in Kreuzlingen beehrte. Binswanger arbeitete ab 1907 ein Jahr lang bei seinem Onkel in Jena, wo er die Diagnostik organischer Psychosen sowie neurologische Untersuchungstechniken gründlich erlernte. In der thüringischen Stadt traf er auf seine spätere Frau Hertha Buchenberg, Tochter des damaligen badischen Finanzministers, die sich allen Vorurteilen ihrer Familie zum Trotz als Krankenschwester hatte ausbilden lassen. Die Ehe war überwiegend glücklich, und Hertha Buchenberg, eine kultivierte und agile Frau,
Biographisches
wurde für Binswanger zur wichtigsten emotionalen Stütze sowie zu seiner stets solidarischen Helferin in klinischen Belangen. Mit ihr zusammen hatte er sechs Kinder; zwei Söhne (darunter der Erstgeborene Robert) kamen früh ums Leben, was Binswanger sehr erschütterte. 1908 wechselte er als Assistenzarzt zu seinem Vater ans Bellevue. Zwei Jahre später starb dieser überraschend, und Ludwig Binswanger übernahm kaum 30-jährig die Leitung des Sanatoriums. Der junge Direktor hielt die familiäre Tradition aufrecht und gestaltete die Behandlung der Patienten überaus individuell und freundlich-zugewandt. Von allem Anfang an versuchte er, psychoanalytische Therapieansätze bei psychotisch Erkrankten anzuwenden, was jedoch nur teilweise von Erfolg gekrönt war. Die Nervenklinik Bellevue war bereits bei Binswangers Vorfahren europaweit als außerordentlich gut geführte Anstalt bekannt gewesen. Unter der Leitung von Ludwig Binswanger festigte sich dieser Ruf, was dazu beitrug, dass eine Reihe prominenter Patienten bei ihm Hilfe suchte. Zu ihnen zählten der russische Tänzer Waclaw Nijinski, der Schauspieler Gustav Gründgens, der expressionistische Maler Ernst Ludwig Kirchner und der Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg. Mindestens so intensiv wie mit klinischer Tätigkeit beschäftigte sich Binswanger mit wissenschaftlichen und philosophischen Themen. Schon als Schüler war er geistes- wie naturwissenschaftlich interessiert gewesen und hatte viel Zeit mit der Lektüre von philosophischer, belletristischer und historiographischer Literatur verbracht. Außerdem wies er ein Faible für Kunst und Musik auf. Einen Großteil dieser Neigungen konnte Binswanger in seine Forschungs- und literarischen Arbeiten investieren. In der ersten Zeit publizierte er Abhandlungen über psychoanalytische Fragen, die für ihn (wie er später schrieb) zeitlebens ein Stachel waren, der ihn veranlasste, sich immer mehr in anthropologische Probleme zu vertiefen. 1922 legte er das Buch Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie vor, mit dem er erste Schritte auf dem Weg zu einer eigenständigen medizinisch-psychologischen Anthropologie zurücklegte. In diesem Text (den er Eugen Bleuler und Sigmund Freud widmete) unternahm Binswanger
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Anläufe, eine Personwissenschaft zu entwerfen, die als Grundlage für Psychologie, Psychiatrie und Medizin dienen sollte. Mit dem Begriff der Person wandte er sich teilweise von Positionen der Psychoanalyse ab und stattdessen der Phänomenologie Edmund Husserls zu. Ausgehend von seiner Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie publizierte Binswanger in den folgenden Jahren eine Reihe kleinerer Arbeiten, ohne damit die ungelösten Fragen einer personalen Medizin und Psychiatrie (Spaltung von Subjekt und Objekt, von Erklären und Verstehen) befriedigend zu beantworten. Dies änderte sich entscheidend mit der Lektüre von Martin Heideggers Sein und Zeit (1927). In diesem Werk hatte der Schwarzwälder Philosoph sogenannte Existentiale (Seinsstrukturen) und Daseinsmodalitäten formuliert, um das Spezifische des menschlichen Wesens (als Dasein bezeichnet) zu charakterisieren: In-der-Welt-Sein, Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins (Ich-selbst-Sein und Man-selbst-Sein), Sorge und Fürsorge, Weltoffenheit, Gestimmtheit, Transzendenz, Geworfenheit, Vorlaufen zum Tode, Mitsein. Binswanger war sowohl von diesen Begriffen als auch von den darin enthaltenen Konzepten begeistert. Zu Recht vermutete er, mit ihrer Hilfe merklich über das Erkenntnisniveau von Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie hinauszuwachen. Mit Feuereifer machte er sich deshalb daran, Heidegger‘sche Gedanken auf psychiatrische und anthropologische Fragestellungen anzuwenden. Neben mehreren Aufsätzen schlug sich Binswangers neues, von Heidegger inspiriertes Denken in seinem Buch Über Ideenflucht (1933) nieder. Außerdem beeinflusste es seinen Festvortrag »Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der Anthropologie«, den er im Mai 1936 in Wien zur Feier des 80. Geburtstags von Sigmund Freud hielt. Dort traf er unter anderem auf den Schriftsteller Leonhard Frank, mit dem er eng befreundet war, sowie auf Thomas Mann, der wie Binswanger einen geistreichen Vortrag zum Ehrentag des Begründers der Psychoanalyse verlas (»Freud und die Zukunft«). Freud, der aus gesundheitlichen Gründen an den Feierlichkeiten nicht teilnehmen konnte, er-
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Kapitel • Ludwig Binswanger
hielt den Text Binswangers später zugesandt. Dieser hatte den Homo natura als prägende Idee des psychoanalytischen Menschenbilds bezeichnet und die Stärken und Schwächen eines solchen anthropologischen Modells erörtert. Freud reagierte darauf in einem Brief an Binswanger:
»
Natürlich glaube ich Ihnen doch nicht. Ich habe mich immer nur im Parterre und Souterrain des Gebäudes aufgehalten – Sie behaupten, wenn man den Gesichtspunkt wechselt, sieht man auch ein oberes Stockwerk, in dem so distinguierte Gäste wie Religion, Kunst und andere hausen. Sie sind nicht der einzige darin, die meisten Kulturexemplare des Homo natura denken so. Sie sind darin konservativ, ich revolutionär. Hätte ich noch ein Arbeitsleben vor mir, so getraute ich mich auch jenen Hochwohlgeborenen eine Wohnstatt in meinem niedrigen Häuschen anzuweisen (Freud 1992, S. 236f.).
«
Binswanger gelang es später, seine Vorbehalte der Psychoanalyse gegenüber in eine davon unabhängige Anthropologie einfließen zu lassen. In seinem Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942) übertrug er zum Teil eigenwillig die Heidegger‘sche Daseinsanalytik auf psychiatrische, psychologische und medizinische Fragestellungen. Des Weiteren beschrieb er über Heidegger hinausgehend das Existential der Liebe. Die Resultate seiner Überlegungen wurden von ihm Daseinsanalyse genannt. In Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins verarbeitete er nicht nur Heideggers Existenzphilosophie, sondern auch viele zentrale Gedanken der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte. Hegel und die Linkshegelianer, Goethe, Schiller und Schleiermacher, Schopenhauer und Nietzsche, Dilthey, Husserl, Scheler, Cassirer, Jaspers und Löwith, aber ebenso Dichter wie Rainer Maria Rilke oder Robert Browning kommen darin ausführlich zu Wort. Zu einigen von ihnen (Husserl, Heidegger, Scheler, Löwith, Buber, Cassirer) pflegte Binswanger persönliche Kontakte. Ab Mitte der 40er Jahre arbeitete Binswanger mit dem Freiburger Philosophen Wilhelm Szilasi zusammen, woraus sich bald eine intensive Freundschaft entwickelte. Letzterer machte Binswanger
auf das Spätwerk Husserls aufmerksam, das für ihn eine Fülle inspirierender Gedanken für die eigene Forschung bereitstellte. Wie sehr Binswanger neben Philosophie und Psychiatrie auch die Dichtkunst als exquisite Möglichkeit anthropologischen Erkenntnisgewinns verstand, verdeutlichte er an seiner Studie Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation (1949). Darin demonstrierte und charakterisierte er anhand der Biographie des norwegischen Dramatikers sowie von dessen Schauspiel Baumeister Solness (1892) die Chancen der Selbstverwirklichung und die Risiken des Selbstverlustes als polare Möglichkeiten des menschlichen Daseins. In den 40er und 50er Jahren publizierte Binswanger jeweils Sammelbände mit Aufsätzen Zur phänomenologischen Anthropologie (1947) und Zur Problematik der psychiatrischen Forschung und zum Problem der Psychiatrie (1955). Darin wird die breite Gelehrsamkeit des Autors ebenso offenkundig wie in seinen Fallgeschichten (Der Fall Ellen West, 1944/45; Der Fall Jürg Zünd, 1946/47) und in seinen psychiatrisch-anthropologischen Monographien Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit (1956), Schizophrenie (1957), Melancholie und Manie (1960) sowie Wahn (1965). Binswanger war sich stets bewusst, dass sein Lebenswerk den literarischen und persönlichen Anregungen vor allem von Freud, Husserl und Heidegger viel zu verdanken hatte. Entsprechend verfasste er in der zweiten Hälfte der 50er Jahre ausführliche Abhandlungen Über Martin Heidegger und die Psychiatrie (1955), Erinnerungen an Sigmund Freud (1956), Mein Weg zu Freud (1957) und Dank an Edmund Husserl (1959). 1966 starb Binswanger 84-jährig in Kreuzlingen. Obwohl er nie Wert auf eine akademische Karriere gelegt hatte, wurde ihm zweimal in seinem Leben ein Ehrendoktorat verliehen – 1941 von der Universität Basel und 1959 von der Universität Freiburg im Breisgau. Zwei Jahre zuvor war er mit der Kraepelin-Medaille geehrt und 1961 zum Ehrensenator der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften in Basel ernannt worden. Binswangers Schriften sind zwar teilweise in einem schwer lesbaren Stil gehalten. Viele von ihnen wurden dennoch zwischenzeitlich in mehre-
Werkanalyse
re Sprachen übersetzt. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen vier Bände Ausgewählte Werke, in denen die wichtigsten klinischen und theoretischen Arbeiten des Autors zugänglich gemacht wurden. Die Leitung der Klinik Bellevue war schon 1956 von Binswangers Sohn Wolfgang übernommen worden. 1980 wurde sie aus ökonomischen Gründen geschlossen und 1986 als Immobilie verkauft.
Werkanalyse Die Erläuterung von Binswangers Werk bleibt hier beschränkt auf seine größeren, anthropologisch relevanten Abhandlungen Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie; Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins; Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit; Schizophrenie; Melancholie und Manie sowie Wahn. z
Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie
Binswangers Auseinandersetzungen mit Freud und dessen Psychologie waren von Anfang an zwiespältig. Den Begründer der Psychoanalyse verehrte er als integeren, humanen, fortschrittlichen und gebildeten Arzt und Forscher, der ihm in vielerlei Hinsicht ein Vorbild war. Seiner Lehre hingegen begegnete er zunehmend mit Skepsis, wobei sie ihn häufig zu produktiver Kritik anregte. Einen Hauptschwachpunkt vermutete Binswanger in Freuds Menschenbild, das beträchtlich vom Biologismus, Materialismus und Positivismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt war. Mit seinen libido-energetischen Vorstellungen der menschlichen Seele war Freud unweigerlich beim Konzept des Homo natura gelandet. Weil sein Naturbegriff jedoch sowohl von Goethe wie auch von Darwin her geprägt war, entdeckte er beim Homo natura entsprechend Goethes Empfindung der Natur in ihr etwas geheimnisvoll Unnahbares und Unbestimmbares, aus dem heraus seine Beschreibung der Triebe und des Unbewussten als dämonischmythologische Wesenheiten verständlich wird. Wie aber sollte aus diffusen Libidoquanten und -impulsen die Einheit von Ich, Selbst und Persön-
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lichkeit abgeleitet werden? Und wie konnte aus an sich sinnlosen biologisch-physikalischen Energietransfers die ganze Fülle von Sinn, Wert und Bedeutung erwachsen, welche das menschliche Dasein auszeichnen? Für Binswanger stand bald fest, dass ein atomistischer Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen nicht erfolgreich sein würde. So sehr er die Organismusaspekte in Freuds Anthropologie als wichtiges Korrektiv für die idealistischen und spekulativen Beschreibungen des Menschen im 18. und 19. Jahrhundert begrüßte, so sehr war er überzeugt, dass sie allein für ein umfassendes Verständnis der seelisch-geistigen Phänomene beim Menschen nicht ausreichen. In dieser Situation bedeutete es für Binswanger eine wesentliche Anregung, in den phänomenologischen Schriften Husserls auf eine grundsätzlich andere Art der Beschreibung des menschlichen Bewusstseins zu stoßen. Im Rückgriff auf den Wiener Philosophen Franz Brentano hatte Husserl davon gesprochen, dass jede seelisch-geistige Aktivität des Menschen durch die Intentionalität charakterisiert sei. Darunter verstand er das Gerichtetsein des Bewusstseins auf Ziele, Zwecke und Motive. Das Bewusstsein sei niemals leer und inhaltslos; vielmehr denke man stets an …, freue sich über …, hoffe auf oder ängstige sich vor …. Binswanger übernahm in seiner Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie diesen Begriff der Intentionalität, um damit das zentrale Merkmal des Menschen als Person zu beschreiben. Die intentionalen Akte bilden ihm zufolge den Kern jedes Individuums, das umfassend nur verstanden werden kann, wenn man seine subjektiven Strebensrichtungen berücksichtigt. Dies sei für die allgemeine Psychologie ebenso wie für die Psychiatrie (und die gesamte Medizin) bedeutsam. Ausgehend vom Personbegriff ergab sich für Binswanger die Notwendigkeit, Patienten nicht nur hinsichtlich ihrer biomedizinischen Gegebenheiten zu diagnostizieren – eine Form der Untersuchung, die ein erklärend-naturwissenschaftliches Begreifen des Organismus erfordert. Darüber hinaus müsse man auch die Biographie der Betreffenden als Summe ihrer intentionalen Akte ins Visier nehmen, was einer verstehend-geisteswissenschaftlichen Betrachtung entspricht. Wie eine Integration
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Kapitel • Ludwig Binswanger
dieser beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen erfolgen konnte, war ihm Anfang der 20er Jahre jedoch noch nicht ersichtlich. Unter Berücksichtigung seines Personkonzepts unterschied Binswanger beim Menschen später dessen Lebensfunktion (Biologie) von seiner inneren Lebensgeschichte (Biographie). Ähnlich wie Erwin Straus in Geschehnis und Erlebnis (1930) vertrat er die Ansicht, dass menschliches Dasein immer als Sinn- und Bedeutungszusammenhang verstanden werden kann:
»
In der Lebensgeschichte entfaltet und gestaltet sich … das innere Wesen des Menschen, seine geistige Person, und umgekehrt lernen wir aus der inneren Lebensgeschichte die geistige Person erst kennen, und nur aus ihr. Der Prozess dieses Kennenlernens ist die historisch-hermeneutische und psychologisch-hermeneutische Auslegung … Wiederholt sei, dass diese psychologische Auslegung der individuellen Person zur Grundlage hat ein ganz bestimmtes Reich geistigen »Seins«, eine ganz bestimmte Einheit »innerlich sich fordernder Momente eines Sinns« oder »innerer Motivationsgestaltung« (Binswanger 1994a, S. 85).
«
Neben Husserl zog Binswanger in seiner Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie auch Denker wie Henri Bergson und Wilhelm Dilthey heran, um zu zeigen, dass jede Form von Seelenmechanik und damit auch einige psychoanalytisch-anthropologische Grundannahmen zum Scheitern verurteilt sind. Unter Verweis auf Dilthey und Bergson wandte er sich gegen alle Versuche, Seelisches lediglich kausal zu erklären und in das Schema von Ursache und Wirkung zu zwängen. Diese Methode habe sich in den Naturwissenschaften zweifellos bewährt, müsse aber angesichts der personalen Qualitäten des Menschen mehr oder minder versagen. Als schlagendes Beispiel für die Notwendigkeit eines verstehenden Zugangs zum menschlichen Bewusstsein verwies Binswanger auf das Phänomen der individuellen Freiheit. Wenn die Persönlichkeit trotz ihrer vielen determinierenden Bedingungen originelle und schöpferische Lösungen für ihre allfälligen Lebensaufgaben findet, kann man derlei nicht ausschließlich kausal ableiten – man
muss sich solchen Aspekten des Daseins verstehend nähern. Mittels hermeneutischer (verstehender) Hilfsmittel, die nach Dilthey das Nachvollziehen von Sinngebilden erst ermöglichen, lassen sich die freien und kreativen Existenzbewegungen des Einzelnen am ehesten einordnen. Weil Gesundheit und Krankheit nicht selten die Konsequenzen aus solch autonomen existentiellen Entscheidungen darstellen, kommen Binswanger zufolge weder Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie noch die Medizin als Ganzes ohne den Begriff der Person und ohne Hermeneutik aus. z
Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins
In einem Brief an Heidegger hatte Binswanger 1947 geschrieben, dass Husserl ihm einst mit seiner Phänomenologie den »naturalistischen Star gestochen« und eine Methode an die Hand gegeben hatte, das psychoanalytische Menschenbild produktiv zu überwinden. Er, Heidegger, habe ihm später den »idealistischen Star gestochen« und gezeigt, worin jede Anthropologie entspringen muss. Was meinte Binswanger damit, und welche Folgen im Detail hatte die Heidegger‘sche Existenzphilosophie für ihn und seine medizinisch-anthropologischen Grundannahmen? Es wurde bereits erwähnt, dass Heidegger in Sein und Zeit wesentliche Strukturen des menschlichen Daseins aufgezeigt hat. Darin beschrieb er den Menschen jenseits der jahrhundertealten Subjekt-Objekt-Spaltung und auch jenseits einer Zweiteilung in Leib und Seele. Die Existentiale beziehen sich nicht lediglich auf Teilaspekte wie Körper, Seele und Geist, sondern auf die gesamte menschliche Existenz. Sie wollen die Frage beantworten, wie Menschen grundsätzlich in der Welt leben, wobei sie von der Prämisse ausgehen, dass Dasein immer schon Inder-Welt-Sein bedeutet. Der Mensch muss nicht erst mühsam zur Welt gelangen – er existiert als steter Bezug zu und mitten in ihr. Binswanger übernahm diese Heidegger‘sche Sicht, wobei er die Position des Schwarzwälder Philosophen durch eine Hegel‘sche Definition der menschlichen Existenz ergänzte: »Die Individualität ist, was ihre Welt als die ihrige ist«. Wer Umrisse
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und Inhalte der Weltbezüge eines Menschen nachvollzieht, kann dessen Wesen erahnen. Daseinserkenntnis wird ermöglicht und fundiert durch das Wissen um die Grundformen menschlichen Inder-Welt-Seins. Man hat Binswanger mehrfach vorgehalten, er habe Heideggers Sein und Zeit missverstanden, indem er die ontologischen Aussagen des Philosophen in Anthropologie und Psychologie umwandelte. Der berühmte Denker habe das Wesen des gesamten Seins (Ontologie) beschreiben wollen, indes der Arzt letztlich auf das Verstehen von Menschen in Gesundheit und Krankheit abzielte (Anthropologie). Wie dem Briefwechsel zwischen Binswanger und Heidegger zu entnehmen ist, waren dem Ersteren die Unterschiede zwischen seinen Ausführungen und der ontologischen Philosophie des Letzteren durchaus bewusst. Trivial sind seine Überlegungen aber dennoch nicht; ganz im Gegenteil: Seine Beschreibungen von Liebe, Eros und Freundschaft als Formen der Gemeinschaft weisen hohen phänomenologischen und anthropologischen Gehalt auf. Schon Karl Löwith hatte 1928 in seiner Habilitationsschrift über Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen bemängelt, dass sein Lehrer Heidegger in Sein und Zeit dem Phänomen der zwischenmenschlichen Beziehung zu wenig Beachtung geschenkt habe. Menschliches Dasein sei wesentlich durch die Tatsache bestimmt, dass es die anderen gibt, welche die Grundlage für die Existenz des Einzelnen bedeuten. Eine ähnliche Position vertrat Martin Buber in seiner dialogischen Philosophie. Auch er war überzeugt, dass ein jedes Ich des Du bedarf, um wachsen und gedeihen zu können. In der Ich-Du-Beziehung entwickelt sich das Individuum zur Persönlichkeit, und nur innerhalb einer solchen Relation kann es die Fülle der Geistes- und Kulturgeschichte assimilieren sowie Sprache, Wertbewusstsein und Vernunft erlernen. Binswanger stellte sich dezidiert in diese von Löwith und Buber repräsentierte Tradition einer Sozialanthropologie, deren Wurzeln über die beiden Philosophen hinaus bis zum Beispiel Ludwig Feuerbach reichen, der bereits in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) meinte: »Das höchs-
te und letzte Prinzip der Philosophie ist die Einheit des Menschen mit dem Menschen« – ein Satz, den Binswanger sicherlich ohne Vorbehalt gutgeheißen hätte. In Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins unternahm Binswanger nun nichts Geringeres, als die Heidegger‘schen Existentiale um die Grundformen der Liebe und des freundschaftlichen Umgangs mit sich und anderen zu erweitern. Der Schwarzwälder Denker hatte für die Beschreibung der menschlichen Existenz auf Begriffe wie Angst, Sorge, Hineingehalten-Sein ins Nichts und Vorlaufen zum Tode zurückgegriffen. Eine solche Terminologie schafft düster-unheilschwangere Atmosphären, denen das Anheimelnde und Geborgene fremd ist. Binswanger wählte für seine Anthropologie eine andere emotionale Grundlage. Für ihn wurde die Daseinsgestalt der Liebe zur zentralen Kategorie des Menschseins. Auf über 650 Druckseiten ging der Autor den Fragen nach, wie liebende, sich und andere wertschätzende Menschen leben, und wie die Liebe alle anderen Existentiale maßgeblich beeinflusst. Die Antworten darauf sind aufgrund des breiten Wissens Binswangers teilweise durchaus anregend – teilweise sind sie aber auch wegen ihrer komplizierten, von Heidegger her kommenden Sprache schwer verständlich. Als Beispiel hierfür soll ein kurzer Passus dienen, in dem es um das Wesen des freundschaftlichen miteinander Sprechens geht:
»
Im Gegensatz zum mitweltlichen (»gesellschaftlichen«) Verkehr von Einem mit dem oder den Anderen, wo, wie wir sahen, die objektive Bedeutungseinheit als feststehende »Sache« ausgetauscht wird und nur gefragt wird, ob »man« richtig gehört und richtig verstanden habe, stellt das Sich-Mitteilen der Freunde, um mit Humboldt zu reden, immer nur »gewagte Versuche« dar, sich dem anderen verständlich zu machen, bedeutet es, wie Stenzel noch prägnanter sagt, immer neue »Proben auf gemeinsames Meinen«. Das heißt nichts anderes, als dass es den Freunden nicht genügt, miteinander zu sein, sondern dass sie von diesem ihrem Miteinandersein ein klares Bewusstsein, ein Wissen, einen »Begriff« haben wollen (Binswanger 1993, S. 208f.).
«
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Kapitel • Ludwig Binswanger
Zu Recht hat man Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins als Hauptwerk Binswangers aufgefasst. Er hat darin die Summe seiner Gelehrsamkeit und Erfahrungen zu einem Text verschmolzen, der überzeugend darlegt, dass menschliches Dasein stets zwischen den Polen der Liebe und der Lieblosigkeit pendelt. Je mehr es sich dem Pol des Liebesmangels nähert, desto stärker treten eventuell krankmachende Lebensweisen in den Vordergrund, und desto größer wird das Risiko, körperlich oder seelisch manifest zu erkranken. Besonders hervorzuheben sind in Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins die vielen Zitate aus der Welt der Dichtkunst, die Binswanger als Belege für seine Thesen verwendete. Shakespeare, Goethe, Schiller, Elizabeth Barrett-Browning und Robert Browning, George, Hofmannsthal, Rilke und viele andere wurden von ihm ausführlich herangezogen, um das Wesen von Eros, Liebe und Freundschaft in Worte zu fassen. Allein diese Auswahl an Dichtern bot Gewähr dafür, dass der Grundtenor von Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins anders als Heideggers Sein und Zeit einen hellen, ästhetischen und erotischen Grundton aufweist. Die Lektüre dieses Buches lohnt trotz der erwähnten Schwierigkeiten, weil man als Leser immer wieder dazu angehalten wird, zumindest passager die Perspektive eines liebenden Blicks (Nicolai Hartmann) einzunehmen, welcher die Welt, die Mitmenschen und die eigene Person in einem wert-, sinn- und bedeutungshaltigen Licht erscheinen lässt. z
Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit
Schon Ludwig Binswanger der Ältere hatte betont, dass es zwischen Gesunden und psychiatrisch Kranken seiner Ansicht nach keine prinzipiellen, sondern nur graduelle Unterschiede gibt. Symptome wie affektive Störungen, Trugwahrnehmungen oder wahnhafte Urteile seien in Ansätzen bei jedermann zu beobachten; lediglich aufgrund des Ausprägungsgrades sowie der Symptomkonstellation könne man krank von gesund unterscheiden. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat sein Enkel in Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit. Im Vorwort zu
diesem aus drei umfangreichen Aufsätzen zusammengestellten Buch heißt es:
» Verstiegenheit, Verschrobenheit und Manieriertheit werden hier nicht als krankhafte »Minderwertigkeiten«, »Abwegigkeiten« oder »Symptome« medizinisch-psychiatrisch beurteilt oder gar menschlich verurteilt, sondern als Weisen des Missglückens oder Misslingens des menschlichen Daseins ins Auge gefasst (Binswanger 1992a, S. 237f.).
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In Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit setzte Binswanger psychiatrisch-tiefenpsychologisches Denken mit kunstgeschichtlicher Betrachtungsweise in Beziehung. Das neurotische und psychotische Erleben von Patienten weist eine Fülle von Entsprechungen in der Mentalitäts- und Geistesgeschichte auf, so dass der Autor die Überzeugung vertrat, seelisch kranke Menschen würden ihre Krankheit nicht selbst erfinden, sondern das Material dazu aus der sie umgebenden Kultur übernehmen. Bei schizophren Erkrankten lassen sich solche Zusammenhänge hinsichtlich ihrer häufig als verstiegen, verschroben und manieriert imponierenden Lebensgestaltung nachweisen. Unter Verstiegenheit verstand Binswanger einen Daseinszustand, wie er bei Bergsteigern zu finden ist, die sich im Hochgebirge dermaßen verklettert haben, dass sie den Rückweg ohne fremde Unterstützung nicht meistern. Analog dazu sind manche Patienten in intellektuellen oder sozialen Höhen unterwegs, die sie aufgrund ihres Könnens und ihrer Kenntnisse völlig überfordern. Oft genug benötigen sie die Hilfe eines Arztes und Psychotherapeuten, der sie aus ihren Schwindel erregenden Größenideen zurück auf das solidere Fundament von Maß und Mitmenschlichkeit bringt. Die Verschrobenheit kann ebenfalls als Variante des Menschseins verstanden werden, die bei Gesunden wie Kranken eine Rolle spielt. Quer zum allgemeinen Denken, Fühlen und Handeln stehendes Verhalten oder geschraubt gewundenes Gebaren findet sich bei schizophrenen Patienten, in milderer Form aber nicht selten auch bei den sogenannt Normalen.
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Erst recht gilt dies für Phänomene von Manieriertheit. Darunter werden unechte und unnatürliche Haltungen und Verhaltensweisen subsumiert, für die Binswanger eine Reihe von Begriffen wie absonderlich, abwegig, geziert, gespreizt, exzentrisch, verschnörkelt, vertrackt, gekünstelt, prätentiös, gestelzt, bizarr, affektiert, gesucht, abwegig und schwülstig verwendete. Um das Wesentliche manierierter Existenzformen herauszustreichen, griff er auch auf kunsthistorische Beschreibungen des Manierismus zurück, wobei der wiederholte Wechsel von psychiatrischen und geisteswissenschaftlichen Beispielen und Perspektiven einen besonderen Reiz seines Textes ausmacht. Bei allen drei Existenzweisen legte Binswanger großen Wert darauf, eine daseinsanalytische Einordnung vorzunehmen. Verstiegenheit, Verschrobenheit und Manieriertheit wollte er untersuchen, um an ihnen Aspekte der Conditio humana transparent zu machen. Als Kurzfassung seiner Erörterungen zum missglückten Dasein soll nochmals ein Passus aus seinem Vorwort zitiert werden:
Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit anspielte. In seiner Ibsen-Studie wandte sich Binswanger einerseits der Biographie Henrik Ibsens und andererseits dessen Drama Baumeister Solness (1892) zu, um an ihnen den Begriff der anthropologischen Proportion zu erläutern. Mit diesem Text erwies sich der Autor als veritabler Literaturpsychologe, den man zu Recht in die Gruppe der von Sigmund Freud und Alfred Adler begründeten tiefenpsychologischen Kunst- und Literaturanalyse einreihte. Was wollte Binswanger nun unter anthropologischer Proportion verstanden wissen? In seiner Abhandlung ging er davon aus, dass bei allen Menschen im Laufe ihres Lebens eine gewisse Entwicklung oder zumindest eine Strebensbewegung zu beobachten sei. Als Richtungen dieser Veränderung unterschied er ein Wachstum in die Weite (soziale Kontakte) und Höhe (Ehrgeiz), wobei er betonte, dass eine ideale, wohlproportionierte Entwicklung beiderlei Bewegungslinien in etwa zu gleichen Maßen umfassen soll:
» Zur Erleichterung des Verständnisses sei be-
Wenn wir sagten, die Lebensrichtung sei die Resultante aus Weite und Höhe, so können wir sie nun gerade an Hand des Vergleichs von Ibsens eigener Lebensrichtung und der seiner dichterischen Gestalten noch näher bestimmen als das proportionale oder disproportionale Verhältnis zwischen Höhe und Weite, mit einem Wort als die anthropologische Proportion schlechthin. Das deutlichste Beispiel für die gestörte, missglückte anthropologische Proportion ist der Baumeister Solness, in dessen Gestalt die Höhe unverhältnismäßig überwiegt über die Schmalheit der Basis, auf der sie steht, und dessen Schwindel und Sturz in die Tiefe nur der tatsächliche Ausdruck dieses gestörten Gleichgewichts, dieser gestörten anthropologischen Proportion ist (Binswanger 1949, S. 57).
merkt, dass wir als wesentlich für die Verstiegenheit die Disproportion zwischen der »Weite der Er-Fahrung« und der »Höhe der Problematik« des menschlichen Daseins herausgehoben haben oder, um mit Ibsen zu sprechen, das Missverhältnis zwischen der Höhe des Bauenkönnens und des eigenen Steigenkönnens; für die Verschrobenheit aber das Missverhältnis der weltlichen Verweisungszusammenhänge im Sinne der »Quere«. Als wesentlich für die Manieriertheit wiederum erwies sich uns das angsterfüllte, verzweifelte Nicht-Selbstseinkönnen, ineins mit der Haltsuche an einem Vor-Bild aus der Öffentlichkeit des Man und der Überbetonung dieses Vor-Bildes zur Verdeckung der Heimatlosigkeit, Weltunsicherheit und Bedrohtheit der Existenz (Binswanger 1992a, S. 239).
«
Der hier vorgenommene Verweis auf den norwegischen Dichter Henrik Ibsen erfordert eine Erläuterung. Schon 1949 hatte Binswanger eine kleine Studie mit dem Titel Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst publiziert, auf deren Inhalt er in Drei Formen missglückten Daseins:
»
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Mit der gleichnamigen Hauptfigur im Baumeister Solness hat Ibsen eine Gestalt entworfen, die höher baut, als sie steigen kann. Angefeuert von seiner jungen Geliebten Hilde Wangel klettert der alternde Baumeister bis ganz oben auf das Gerüst eines Turmes, den er für seine Gattin neu hat erbauen lassen. Obwohl er um seine Höhenangst weiß, erliegt er seinem eigenen und dem Ehrgeiz seiner
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Kapitel • Ludwig Binswanger
Geliebten und muss dafür zuletzt mit seinem Leben bezahlen. Die Bekanntschaft mit Hilde Wangel führte nicht zum erotischen Aufschwung, sondern zum hybriden Absturz von Solness. Die Charakterisierung des Baumeisters als eines Menschen, der höher baut, als er steigen kann, verwendete Binswanger in der Folge für alle jene, die aufgrund von Größenideen ihr Höhenwachstum forcieren, ohne auf eine adäquate Basis und Weite ihrer Existenz zu achten. Wer die soziale Verankerung seines Daseins vernachlässigt und stattdessen nur die Ziele von Überlegenheit und Großartigkeit kennt, mag sich zwar im günstigen Fall hoch über den anderen finden, hat aber nicht selten mit existentieller Höhenangst, Schwindel und Furcht vor dem eventuellen Absturz zu kämpfen. z
Schizophrenie, Melancholie und Manie, Wahn
In diesen Schriften der späten 50er und der 60er Jahre knüpfte Binswanger an seine Arbeiten aus den 30er Jahren an, in denen er mit Hilfe der Existenzphilosophie an den Symptomen psychischer und psychiatrischer Krankheit Abwandlungen der Grundstrukturen des menschlichen Daseins aufgezeigt hatte. Seelische Krankheit, so konnte er demonstrieren, verändert beispielsweise die Gestimmtheit des Menschen und beeinträchtigt das Zeiterleben seiner Existenz. Heilung bedeutet daher zum Beispiel, den Kranken umzustimmen und ihn dazu zu ermutigen, seine Rolle als geschichtliches Wesen zu akzeptieren, um Verantwortung für seine Existenz zu übernehmen. In seinen Büchern über Schizophrenie, Melancholie und Manie sowie Wahn griff Binswanger nun nicht so sehr auf die Heidegger‘sche Philosophie, sondern bevorzugt auf die Phänomenologie des späten Husserl der 30er Jahre und auf einige von ihr beeinflusste Psychiater wie Karl Jaspers, Viktor Emil von Gebsattel, Eugène Minkowski, Erwin Straus und Hubertus Tellenbach zurück. Damit beabsichtigte er wiederum, die psychiatrische Wissenschaft jenseits von Psychologie und Biologie als eine Disziplin zu verorten, welche den kranken wie gesunden Menschen in seiner Totalität erfasst und behandelt und als medizinische Anthropologie gültige Aussagen zur Conditio humana macht.
Anders als in den früheren Arbeiten ging Binswanger von der Frage aus, wie denn das Bewusstsein bei schizophren, melancholisch, manisch oder wahnhaft erkrankten Menschen beschaffen sei. Nicht mehr ihr In-der-Welt-Sein, ihr Existieren (Heidegger), sondern ihre spezifische Art, die Welt durch Bewusstseinsakte zu konstituieren (Husserl), stand dabei im Mittelpunkt der Interessen des Autors. Daher veränderte sich in seinen letzten Abhandlungen die von ihm verwendete Terminologie; statt daseinsanalytischer dominierten nunmehr phänomenologische Begriffe. Husserl war davon ausgegangen, dass sich das menschliche Bewusstsein nicht nur durch Intentionalität auszeichnet. Darüber hinaus sorgt es normalerweise dafür, dass wir unser Dasein als kontinuierlichen Zeitstrom erleben, in dem Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges ihren festen Platz einnehmen. Außerdem ermöglicht es uns, das eigene Bewusstsein als zu uns gehörig zu definieren (Selbstbewusstsein), es von fremdem Bewusstsein abzugrenzen und den Mitmenschen als Alter Ego (der Andere) wahrzunehmen. Und schließlich verdanken wir es unserem Bewusstsein, dass alle Ereignisse des Lebens, alle Gedanken, Urteile, Impulse, Phantasien, Wahrnehmungen und Empfindungen, in einen umfassenden Sinn-, Wert- und Bedeutungshorizont eingestellt werden, der selbst wieder auf noch umfänglichere derartige Horizonte verweist. Binswanger übernahm von Husserl neben diesen Beschreibungen vor allem dessen phänomenologische Haltung. Diese verhinderte, dass er für die Phänomene seiner Patienten (Symptome, Beschwerden, Daseinsgestaltung) vorschnelle Theorien formulierte, die angeblich die Ursachen von Krankheit und Gesundheit aufklärten. Weder biologische noch psychosoziale oder soziokulturelle Entstehungsmodelle wollte Binswanger so einfach gelten lassen, wenn es um die Pathogenese und das Wesen von Melancholie, Manie, Schizophrenie und Wahn ging. Ausgehend von detailliert aufgezeichneten Fallgeschichten konnte der Autor plausibel machen, dass bei einer geduldigen und selbst kleinste Einzelheiten berücksichtigenden Betrachtung von aktueller Symptomatik, Lebenslauf und Interaktion des Patienten mit seiner Umgebung Spielarten und
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Defizitformen jener Bewusstseinstätigkeiten nachzuweisen sind, die bereits Husserl ausführlich erläutert hatte. So lässt sich bei manisch erkrankten Patienten zeigen, wie sehr ihr Bewusstsein hinsichtlich der zeitlichen Einordnung des Erlebten, der Wahrnehmung anderer Menschen als Subjekte oder in Bezug auf einen kohärenten Sinn- und Bedeutungszusammenhang ihres Lebens im Vergleich zu Gesunden Veränderungen aufweist:
» Wir sehen also, dass sich die Störung im Aufbau der zeitlichen Objektivität in der Manie in zweifacher Hinsicht manifestiert, einerseits in der fehlenden Sinn- oder Denkkontinuität, andererseits in der fehlenden Appräsentationskontinuität, mit anderen Worten im Fehlen lebensgeschichtlich »verankerter«, »beständiger« oder, wie Husserl sagt, »habitueller« Appräsentationen (Mit-Vergegenwärtigung) (Binswanger 1994b, S. 408).
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Manisch Erkrankte befinden sich in einem Zustand eigentümlicher Leichtigkeit. Scheinbar kaum mit dem Gewicht der Welt belastet, huschen sie über das Relief ihrer Existenz hinweg, ohne sich tiefer in sie einzulassen. Getrieben, ideenflüchtig und immer schon auf dem Sprung zum nächsten Ziel und Thema, leben sie nie im Augenblick und damit auch nur in reduzierten Ich-Du-Beziehungen. Ihr Dasein vermittelt den Eindruck von Aufenthaltsund Heimatlosigkeit, und in ihrer Ungebundenheit und grundlosen Euphorie steckt viel mehr Not als Tugend oder tatsächliche Überlegenheit und Gestaltungsmacht. Analoge und zum Teil polar zur Manie angeordnete Befunde hat Binswanger bei melancholisch oder wahnhaft kranken Patienten erhoben. Beim Melancholiker dominiert nicht die Leichtigkeit des Seins, sondern der »Geist der Schwere« (Nietzsche). Das scheinbare Übermaß an Freiheitsgraden, welches den manisch Erkrankten charakterisiert, findet seine gegenteilige Entsprechung in der merklichen Reduktion von Freiheit in der Depression, und das Zuviel an Zukunft und Wunschdenken beim Ersteren wird konterkariert durch das Überwiegen der zeitlichen Dimension der Vergangenheit sowie die beinahe völlige Abwesenheit von Wünschen und Phantasien beim Letzteren.
Bei Wahnkranken kann Binswanger zufolge gezeigt werden, inwiefern ihre Bewusstseinstätigkeit derart verändert ist, dass bei ihnen Symptome und Syndrome wie Beeinträchtigungs-, Verfolgungs-, Beziehungs-, Verarmungs-, Vergiftungs-, Verleumdungs-, Größen- oder Kleinheitswahn entstehen. So fügen die Patienten zum Beispiel einzelne Wahrnehmungen und Empfindungen nicht mehr in den synthetischen Kontext aller ihrer bisherigen Erfahrungen, zwischenmenschlichen Beziehungen sowie Sinn- und Bedeutungshorizonte. Stattdessen separieren sie einzelne Sinneseindrücke, Phantasien, Ideen, Anschauungen oder Urteile, bis diese schlussendlich eine Art Eigenleben entwickeln und kaum mehr korrigiert werden können. Einsame Bewusstseinstätigkeit unter Ausschluss des Korrekturfaktors Mitmensch spielt die entscheidende Rolle bei dieser intellektuellen und emotionalen Separierungstendenz. Daneben seien bei Wahnkranken Defizite bezüglich ihres Umgangs mit Dingen und Situationen sowie mit Stimmungen zu beobachten. Hier dominiere eine Art Unfreiheit oder Zwang, welche die Betroffenen dazu verleiten, nicht mehr den situativen Gegebenheiten gemäß zu handeln und zu fühlen. Ihre »lauernde Vorerwartung« führe zu unflexiblen Emotionen und stereotypen Urteilen, von deren Inhalten sie sich selbst bei offenkundiger Widersprüchlichkeit kaum distanzieren können. Binswanger verwies in diesem Zusammenhang auf die Husserl‘sche Definition der menschlichen Vernunft. Diese sei durch »Evidentmachen und Vereinheitlichung der Bewusstseinssynthesis« gekennzeichnet – eine kritische Überprüfung eigener Gedanken, Affekte und Empfindungen im Hinblick auf ihre Plausibilität und Anschlussfähigkeit an den allgemeinen Sinn- und Bedeutungszusammenhang (»Common Sense«). Wahninhalte entstehen und verstetigen sich, wenn Einzelne oder ganze Gruppen diese Funktionen ihres Bewusstseins längere Zeit vernachlässigen. Anhand der Krankengeschichte von August Strindberg, der an Eifersuchts- und Verfolgungswahn litt, welcher die Ehen des Dichters zu Torturen entarten ließ, demonstrierte Binswanger, wie sehr Wahnkranke Teile ihres Daseins jenseits der kritischen Korrektur durch Mitmenschen und allgemeine Weltverhältnisse ansiedeln. Mit die-
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Kapitel • Ludwig Binswanger
ser »Wahl« schaffen sie Voraussetzungen für jene schicksalhaft scheinenden Verstrickungen, die ihre Existenz für sie wie für ihre Umwelt nicht selten zur schrecklichen Qual machen:
»
Diese Wahl und dieses Schicksal beruhen im Falle August Strindberg in erster Linie in seinem Verzicht auf die natürliche Erfahrung im Sinne der Logik der Begebenheiten und in seinem Schicksal im Sinne der Auslieferung an unsichtbare fremde Mächte oder »Personen« im Sinne der Schicksalslogik, der Logik des für ihn Belangvollen. Damit ist gesagt, dass er sich weder zu Seiendem verhält noch von Seiendem eingenommen ist, dass er jenseits jeder Begründungsmöglichkeit steht, keiner Begründung bedarf, auf keine Begründung angewiesen ist. Das aber besagt wiederum: »Hier waltet keine Welt« (Binswanger 1994c, S. 519f.)
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Conclusio Die Daseinsanalyse Binswangers kann unter verschiedenen Kriterien beurteilt werden. Wie im Text bereits mehrfach vermerkt, lässt sich vor allem hinsichtlich der Sprache des Autors Kritik nicht vermeiden. Wer als Leser in Husserl‘scher oder Heidegger‘scher Terminologie nicht sattelfest ist (und wer ist das schon?), hat bei der Lektüre Binswanger‘scher Schriften mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Dies erschwerte in den letzten Jahrzehnten die Assimilation und Rezeption seines Werks beträchtlich – was umso bedauerlicher ist, als es sich bei Binswangers Texten um kluge Beschreibungen psychiatrischer Krankheitsbilder und vor allem der Conditio humana handelt. Besonders seine Ausführungen zur Zwischenmenschlichkeit und Liebe sowie zur vernunftgemäßen Bewusstseinstätigkeit wären es wert, nicht nur von einer kleinen Schar von Binswanger-Exegeten studiert zu werden. Darüber hinaus ist die Haltung und Einstellung Binswangers den psychiatrischen Patienten gegenüber hervorzuheben. In seinen Schriften findet sich jener Geist der Solidarität und Toleranz, die bereits sein Vater und Großvater den Kranken des Bellevue entgegengebracht haben. Unser Autor war
durchdrungen von der Überzeugung, dass sich »die Verrückten« nur in Nuancen von der Daseinsgestaltung der Gesunden unterscheiden, und dass die angebliche Unverständlichkeit ihrer Krankheitssymptome lediglich auf eine unzulängliche Art der Diagnostik und Einordnung durch die sie behandelnden Ärzte zurückzuführen sei. Binswanger erkannte im kranken Gegenüber stets Grundzüge des allgemeinen Menschseins. Zwischen Kranken und Ärzten bestehe eine Daseinsgemeinschaft und Schicksalsverbundenheit, die weit über jegliche Symptomatik hinausreicht und eine hierarchische Distanz von vorneherein als deplatziert erscheinen lässt. Bei allen Abweichungen hinsichtlich ihres Existenzvollzugs sind »die Irren« zuerst und vor allem Menschen wie alle anderen auch. In ihren Symptomen scheinen die Grundstrukturen unseres Daseins auf, und in ihren Krankengeschichten erinnern sie uns daran, wie klein mitunter der Abstand zwischen normalen und gestörten Lebensläufen ist.
Literatur Binswanger L (1949) Henrik Ibsen und das Problem der Selbstrealisation in der Kunst. Asanger, Heidelberg Binswanger L (1993) Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. In: Ausgewählte Werke Band 2. Asanger, Heidelberg (Erstveröff. 1942) Binswanger L (1992ff.) Ausgewählte Werke in vier Bänden. Asanger, Heidelberg Binswanger L (1992a) Drei Formen missglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit. In: Ausgewählte Werke Band 1. Asanger, Heidelberg (Erstveröff. 1956) Binswanger L (1994a) Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte. In: Ausgewählte Werke Band 3. Asanger, Heidelberg (Erstveröff. 1928) Binswanger L (1994b) Melancholie und Wahn. In: Ausgewählte Werke Band 4. Asanger, Heidelberg (Erstveröff. 1960) Binswanger L (1994c) Wahn. In: Ausgewählte Werke Band 4. Asanger, Heidelberg (Erstveröff. 1965) Freud S (1992) Sigmund Freud – Ludwig Binswanger Briefwechsel 1908–1938. Fischer, Frankfurt am Main Passie Th (1995) Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie. Pressler, Hürtgenwald Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Viktor Emil von Gebsattel Biographisches – 272 Werkanalyse – 274 Conclusio – 281 Literatur – 282
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Viktor Emil von Gebsattel
. Abb. 1 Viktor Emil von Gebsattel (*1883; †1976). (Aus Stumm et al. 2005)
Von Gebsattel vertrat die anthropologische Richtung von Psychotherapie, Psychiatrie und Medizinischer Psychologie auf christlich-katholischer Grundlage. Daneben waren Tiefenpsychologie, Phänomenologie und Existenzphilosophie die geistigen Fundamente seiner personalistischen Medizin, deren Inhalte er vor allem in seinen Hauptwerken Prolegomena einer medizinischen Anthropologie (1954) und Imago Hominis (1964) skizziert hat (. Abb. 1).
Biographisches Viktor Emil von Gebsattel wurde 1883 in München in ein uradeliges Geschlecht hineingeboren. Unter seinen Vorfahren befanden sich mehrere Fürstund Erzbischöfe sowie hohe Militärs. Viktor Emil war der Erstgeborene; sein jüngerer Bruder starb im Alter von sechzehn Jahren. Seine Eltern wurden als gottesfürchtig und fromm geschildert. Der Vater Konstantin Freiherr von Gebsattel war wie nicht wenige seiner Ahnen als General tätig. Die Mutter hatte Interesse an Kunst und förderte ihren sensiblen Sohn in dieser Hinsicht. Von 1889–1894 besuchte dieser die Volksschule und das Neue Gymnasium in Bamberg. Anschließend wechselte er auf das humanistische Neue Gymnasium in Würzburg, wo er 1901 sein Abitur ablegte. Für Viktor Emil war eine militärische Laufbahn vorgesehen, die sich jedoch zerschlug, nachdem er sich bei einem Jagdausflug eine ernsthafte Knieverletzung mit bleibendem Gehschaden zugezogen hatte. Nun dachte er daran, statt dessen den diploma-
tischen Dienst anzustreben, und begann ein Jurastudium in Berlin. 1903 ging er nach München, um dort Philosophie (vor allem bei Theodor Lipps, später bei Max Scheler und Alexander Pfänder), Psychologie und Kunstgeschichte (bei Heinrich Wölfflin) zu studieren. In der Isar-Metropole beendete er 1906 seine Studien mit einer Dissertation Zur Psychologie der Gefühlsirradiation (Irradiation bedeutet Ausstrahlung). Sein Doktorvater war Lipps, der sich vor allem mit ästhetischen und psychologischen Fragestellungen beschäftigte. Nach dem Studium war Gebsattel unentschlossen, welchen Beruf er ergreifen sollte. Er bereiste mehrere Länder, unter anderem Italien, die Schweiz, Griechenland und Frankreich. Dort kam er in Kontakt mit Rainer Maria Rilke (mit dem er sich befreundete, und der später beinahe eine Psychoanalyse bei Gebsattel gemacht hätte), Auguste Rodin und Henri Matisse. Diese Künstler wirkten anregend auf den jungen Mann, der nun begann, französische Lyrik zu übersetzen und eigene poetische Versuche zu unternehmen. Zwischen 1908 und 1911 veröffentlichte er einige Gedichte und Prosastücke in der Zeitschrift Hyperion. In dieselbe Zeit fielen die ersten Begegnungen Gebsattels mit Vertretern der Psychoanalyse. Im Herbst 1911 nahm er am Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Weimar teil, wo er auf die damalige »Haute volée« der Tiefenpsychologie stieß. Neben Sigmund Freud waren C. G. Jung, Eugen Bleuler, Karl Abraham, Paul Federn, Sándor Ferenczi, Ernest Jones und viele weitere Ärzte, Psychologen und Geisteswissenschaftler in der Stadt an der Ilm anwesend, um über die Entwicklung der Psychoanalyse zu diskutieren. Zu ihnen zählte auch Lou Andreas-Salomé, die in Begleitung von Poul Bjerre (einer der ersten schwedischen Psychoanalytiker) gekommen war. Gebsattel war fasziniert von der russischstämmigen Schriftstellerin, mit der sich eine kurze erotische Beziehung ergab. Nachhaltigere Wirkung ging von der Begegnung mit Freud aus, der für Gebsattel dazu beitrug, sich der Medizin, Tiefenpsychologie und Psychotherapie zuzuwenden. Zur neuen Seelenheilkunde entwickelte er ein ambivalentes Verhältnis. Ähnlich
Biographisches
wie Freud es formuliert hatte – »Wen die Psychoanalyse einmal gepackt hat, den lässt sie nicht mehr los.« –, blieb Gebsattel zeitlebens für sie eingenommen, obwohl er vieles an ihr kritisierte. Von 1913–1919 studierte Gebsattel in München Medizin. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf nervenheilkundigen und psychiatrischen Fächern. Das Studium schloss er mit einer Promotion über Atypische Tuberkuloseformen ab. Die Arbeit wurde vom Psychiater Emil Kraepelin betreut, in dessen Klinik Gebsattel im Anschluss als Assistent tätig wurde. 1920 heiratete Gebsattel die Kinderärztin Karoline von Falkenhayn. Aus der Ehe gingen die beiden Töchter Maria (geboren 1920) und Christine (geboren 1922) hervor. Zwei Jahre darauf zog die Familie nach Berlin, wo Gebsattel an den Kuranstalten Westend tätig war; außerdem unterzog er sich einer Lehranalyse bei Hanns Sachs. 1925 eröffnete er im Schloss Fürstenberg in der Nähe von Berlin ein Privatsanatorium, dem er als Leiter vorstand. Hier begann er, erste Aufsätze zu Themen einer personalen Medizin zu verfassen. Ab Mitte der 20er Jahre unterhielt Gebsattel eine enge Beziehung mit Romano Guardini. Dieser aus Italien stammende Theologe lehrte als Professor in Breslau und Berlin und nach dem Zweiten Weltkrieg in München. Mit ihm besprach Gebsattel persönliche Probleme und innere Konflikte, die sich für ihn vor allem aus den unterschiedlichen Weltanschauungen von Psychoanalyse und Katholizismus ergaben. Ebenfalls während der 20er Jahre ergaben sich für Gebsattel die Freundschaften mit seinen Kollegen Ludwig Binswanger, Erwin Straus und Eugène Minkowski. Diese an der Phänomenologie Husserls und Schelers ausgerichteten Psychiater trafen sich öfters in Wengen im Berner Oberland (Schweiz), wo Binswanger gerne Urlaub machte. Man nannte die Vier deshalb auch den Wengener Kreis. Nach 1933 stand Gebsattel dem Nationalsozialismus distanziert gegenüber. Er sympathisierte mit dem Kreisauer Kreis um Helmut James von Moltke und setzte sich für jüdische Mitbürger ein, die er teilweise in seiner Klinik versteckt hielt. Als 1939 das Schloss Fürstenberg Kriegslazarett wurde, eröffnete Gebsattel in Berlin eine Privatpraxis. Außerdem war er eine Weile als Dozent am Deutschen
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Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie tätig. Als Ende 1943 Gebsattels Berliner Wohnung und Praxis bei einem Bombenangriff zerstört wurde, zog er mit seiner Familie nach Wien. Dort leitete er ein psychotherapeutisches Ambulatorium, das als Zweigstelle mit dem deutschen Institut in Berlin organisatorisch zusammenhing. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Gebsattel Chefarzt im Schloss Haus Baden, einer psychiatrischen Privatklinik in der Nähe von Badenweiler. Zu seinen prominenten Patienten zählte Martin Heidegger, der nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs in eine erhebliche psychosoziale Krise geraten war und sich einige Zeit von Gebsattel mit Erfolg behandeln ließ. Aus der Arzt-Patienten-Beziehung entwickelte sich später beinahe eine Freundschaft. Gebsattel hatte nach 1945 nebenbei an der Universität Freiburg die Fächer Psychotherapie und Psychologie unterrichtet. Zusammen mit seiner publikatorischen und klinischen Tätigkeit war dies für die Universität Würzburg überzeugend genug, ihn als Honorarprofessor an die dortige Alma Mater zu berufen. Ab dem Wintersemester 1950/51 übernahm er kommissarisch die Lehrstühle für Psychiatrie und Nervenheilkunde sowie für Erbbiologie und Anthropologie. Durch geschicktes Taktieren gelang es ihm, den letzteren Lehrstuhl in ein Lehrinstitut für Psychotherapie und Medizinische Psychologie umzuwandeln. Dieses war das erste seiner Art in Deutschland. Gebsattel war an der Leitung des Instituts bis 1969 beteiligt, also bis zu seinem 86. Lebensjahr. Es trägt immer noch seinen Namen. Die 50er und 60er Jahre gehörten zu den literarisch und institutionell-organisatorisch aktivsten Zeiten Gebsattels. 1952 gründete er die bis heute angesehene Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie (ursprünglich als Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie). Des Weiteren wurde er Mitherausgeber der Zeitschrift für Sexualforschung, der Confinia Psychiatrica, des Handbuchs der Neurosenlehre und Psychotherapie, des Handbuchs der medizinischen Sexualforschung sowie der Psychopathologie der Sexualität. In allen diesen Periodika veröffentlichte Gebsattel eigene Aufsätze zu Themen der Psychologie,
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Kapitel • Viktor Emil von Gebsattel
Psychopathologie, Psychotherapie und einer personal orientierten Heilkunde. Daneben kam es während dieser Zeit zur Publikation der beiden Hauptwerke Prolegomena einer medizinischen Anthropologie (1954) und Imago Hominis (1964). Außerdem verfasste der Autor theologisch-philosophische Texte wie Christentum und Humanismus – Wege des menschlichen Selbstverständnisses (1947). 1966 war Karoline, die Gattin Gebsattels, gestorben. Der Witwer verlegte daraufhin seinen Wohnsitz von Würzburg nach Bamberg und heiratete kurze Zeit später Rosmarie von Minden. In deren Haus eröffnete er zum letzten Mal in seinem Leben (Gebsattel starb 1976 hochbetagt im Alter von 93 Jahren) nochmals eine psychotherapeutische Privatpraxis. Bei den Aktivitäten und inhaltlichen Akzentsetzungen Gebsattels konnte es nicht ausbleiben, dass er mehrfach öffentliche Ehrungen erfuhr. Zu seinem 75. Geburtstag wurde er in Anerkennung seiner Verdienste um die Psychotherapie mit dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Zum 80. Geburtstag erschien der voluminöse Sammelband Werden und Handeln (1963), zu dem unter anderem Ludwig Binswanger, Erwin Straus, Walter Bräutigam, Eugène Minkowski, Igor Caruso und Eckart Wiesenhütter beitrugen. Zum 90. Geburtstag schließlich wurde Gebsattel von der Theologischen Fakultät der Würzburger Universität zum Ehrendoktor der Theologie ernannt, und die Medizinische Fakultät überreichte ihm die Franz-vonRienecker-Medaille.
Werkanalyse Die folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf die Prolegomena einer Medizinischen Anthropologie und auf Imago Hominis. Beide Schriften lassen die anthropologische und phänomenologische Ausrichtung ihres Verfassers deutlich zutage treten. Obschon die Aufsätze darin im Wesentlichen auf Fragen der Psychotherapie und -pathologie hin orientiert sind, werden allgemeine Themen der Medizin stets mitbedacht. Eine Theorie von Krankheit, Gesundheit und Heilungsprozess beschäftigte Gebsattel in allen seinen Arbeiten.
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Die Welt des Zwangskranken
Einen ersten Einblick in Gebsattels Denken gewährt ein Aufsatz mit dem obigen Titel, der 1938 erschien. Es ist ein umfangreicher Text, der sich mit der Theorie der Zwangsneurose auseinandersetzt. Am Zwangskranken erläuterte der Autor das Wesen von Neurosen und des Krankseins überhaupt. Die psychoanalytische Theorie der Zwangsneurose besagt, dass ihr eine archaische Libidoorganisation zugrunde liegt. Der Zwangskranke sei nicht über die anale Form der Libidosynthese hinausgekommen oder auf sie regrediert. Seine Antriebswelt sei mehr durch die Aggression als den Eros bestimmt. Die Verbindung zu Mitmenschen und Mitwelt sei prekär; der Zwangsneurotiker empfinde Hingabe als Her- oder Preisgabe. Daher dominieren trennende Affekte sein Seelenleben. Die große Distanz zu den Mitmenschen erinnere an schizoide Charaktere. Diese schwere psychische Krankheit ist gekennzeichnet durch Zwangsgedanken, -impulse und -handlungen, welche die Freiheit merklich einengen. Der Patient steht unter dem Imperativ, bestimmte sinnlose Handlungen durchzuführen, um Angst und Panik niederzuhalten. Auch suchen ihn Gedankenfragmente heim, die er als absurd oder widerwärtig empfindet. Die soziale Leistungsfähigkeit und die Liebesfähigkeit sind herabgesetzt, wenn nicht gar unterbunden. Manche Zwangskranke sind beruflich erfolgreich, indem sie ihre Nüchternheit, Exaktheit und ihr schematisierendes Verhalten nutzbringend einsetzen. Andere wieder sind völlig hilflos und kämpfen nur gegen ihre Zwänge an, die ihr Leben ausfüllen. Die Familientherapie behauptet, dass Zwangspatienten oft aus dem Typus der Festungsfamilie stammen. Es handele sich um Familien, die sich scharf gegen ihre Umwelt abgrenzen und damit die emotionale Kargheit des späteren Patienten induzieren. Gebsattel bestritt die Befunde der Psychoanalyse nicht, wollte aber darüber hinaus die spezifische Existenzweise des Zwangskranken erhellen. Nicht die Triebstruktur der Patienten interessierte ihn primär – eher schon ihre Art des In-der-Welt-Seins. Um diese zu erkennen und zu beschreiben, griff er auf phänomenologische Untersuchungsformen zurück. Anhand von subtilen Falldarstellungen wollte
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er die Struktur und das Wesen solcher Krankheiten respektive dieser Patienten durchschaubar machen. Es ging ihm also um eine Wesensschau der Zwangskrankheit, um das, was Edmund Husserl die Tätigkeit des Ideierens nannte. Was ist die Idee des Zwanghaftseins, die aus der Vielfalt der Zwangssymptome abstrahiert werden kann? Wer das erforschen will, muss zunächst die Symptomatik genau ins Auge fassen. Zwangspatienten leben in und mit sinnlosen Zeremonien und Abwehrhaltungen, die sie ausnehmend stören, deren Bedeutung sie selbst aber nicht durchschauen. Viele kämpfen gegen den Schmutz der Welt an; man denke an den Waschzwang, der auch nach Hunderten Reinigungen und Sterilisationen nicht zur Ruhe kommt. Manchen Beobachtern fiel auf, dass Zwangspatienten Handlungen nicht abschließen können – es kommt zu keinem Fortschritt oder Ende ihres Tuns. Häufig fehlt die Dimension der Zukunft im Dasein der Zwangskranken, und mit der fehlenden Zukünftigkeit schwindet auch das Gestaltenkönnen ihres Lebens. Die Kranken empfinden ihr Leben als Un- oder Missgestalt, und überall sind sie von Gestaltverlust bedroht. Daher wird ihr ständiges Achten auf Beschmutzung, Kot, Verunreinigung, Verwesung und Todessymbolik verständlich. Der von Freud schon erwähnte Wiederholungszwang, der als allgemeingültig für die Neurose beschrieben wurde, ist typisch für den Anankasten, der sich als Opfer eines ewig gleichbleibenden Schicksals fühlt. Gebsattel sprach in diesem Zusammenhang vom Verlust des Werdens und vom Überhandnehmen des Entwerdens und Entwesens. Die Kranken lehnen sich ohnmächtig gegen das Nichtgelingen ihres Daseins auf. Ihre Symptome seien Selbstheilungsversuche, nämlich die Karikatur erfolgreichen Handelns und Vollbringens auf der Sinnlosigkeitsseite des Lebens. Was aber macht den Wesenskern der untersuchten Problematik aus? Ähnlich wie Binswanger, Straus und Minkowski rückte auch Gebsattel die Zeitstruktur des menschlichen Daseins in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er erklärte, dass in der Zwangskrankheit (und nicht nur bei dieser Erkrankung) eine fundamentale Störung der gelebten Zeit zu konstatieren sei. Die Patienten können ihr inneres Zeitgeschehen nicht in Gang bringen, und
somit komme es zu einer pathologisch erlebten und gelebten Zeit. Über das Thema der Zeit haben im 20. Jahrhundert unter anderem Henri Bergson, Edmund Husserl und Martin Heidegger tiefschürfende Gedanken geäußert. Auch Max Scheler und Georg Simmel waren Zeitanalytiker von hohen Graden. Sie alle stimmen darin überein, dass Menschen ihre Existenz von Augenblick zu Augenblick vorrückend zeitigen und dabei ihre Gegenwart durch Erinnerungen an Vergangenes und durch Hoffnungen auf Zukünftiges bereichern. So geschieht dauernd eine Zeitsynthese, von der sie sich meist wenig Rechenschaft ablegen. Nach Scheler und Heidegger ist die Zukunft die wesentliche Zeitdimension des Menschen. Im Unterschied zum Tier greift er ständig und weit in die Zukunft vor, was ihm die Fülle des Augenblicks in der Gegenwart und die erinnerten Lehren der Vergangenheit erschließt. Nur der Mensch mit Zukunft ist handlungsfähig und entfaltet sein inneres und äußeres Werden. Neurose bedeutet nach Gebsattel Handlungsunfähigkeit und Werdenshemmung. Weil damit das Voranschreiten der Existenz behindert ist, kommt es zu einem Absinken des Form- und Gestaltniveaus in Chaos und Sinnwidrigkeit, worüber sich viele Zwangskranke, aber auch depressiv und schizophren Erkrankte beklagen:
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Das anankastische Verhalten ist zu verstehen als Abwehr der gestaltlosen Mächte, eine ohnmächtige Abwehr, denn die Richtung auf das Entwerden und Entwesen ist durch die ihrer Natur letztlich unbekannte Ausschaltung der Zukunft festgelegt und setzt sich allen Abwehrmaßnahmen zum Trotz immer wieder durch (Gebsattel 1954a, S. 144).
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Die Frage ist nun, woher die Handlungsstörung und Werdensblockade bei solchen Patienten stammt. Gebsattel diskutierte die Biographie seiner Klienten nur ansatzweise; gründliche Kindheitsanamnesen lieferte er nicht. Darin war ihm die Psychoanalyse überlegen. In vielen Fällen kommt es doch darauf an, ob man die frühen Jahre von Kindheit und Jugend in einem entwicklungs- und antriebsfreundlichen sowie zukunftsorientierten Milieu verbracht hat oder in einem angsterfüllt starren und gefühls-
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kargen Elternhaus, das durch Verbote und Gebote überlastet war und von vornherein jegliches Handeln und Werden zu unterbinden verstand. z
Fetischismus und andere sexuelle Störungen
Um noch tiefer in Gebsattels Lehre einzudringen, lohnt eine Darstellung seiner Studien zur Sexualpathologie. Unter anderem publizierte er Abhandlungen wie Über Fetischismus (1929), Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Perversionen (1932), Phänomenologie und Psychopathologie der Onanie (1950), Daseinsanalytische und anthropologische Auslegung der sexuellen Perversionen (1950) oder Geschlechtsleib und Geschlechtstrieb (1952/53). Beim Fetischismus handelt es sich um eine merkwürdige Sexualvariante. Die Betreffenden fixieren ihre sexuelle Erregung auf Gegenstände, die an mögliche Geschlechtspartner und den Sexualakt erinnern. Sie begnügen sich entweder mit dem Sammeln solcher Sexualutensilien oder benötigen den Fetisch am Partner, um sexuell erregt zu werden. Schuhe, Haare, Intimwäsche und andere Gegenstände können Objekte fetischistischer Begierde sein, deren Interpretation einige Mühe bereitet. Vor Freud gab es bereits die Assoziationstheorie des Fetischismus (Alfred Binet). Demnach kommt die Bindung an den Fetisch irgendwann in der Jugend zustande, indem das andere Geschlecht und der Sexus durch Zufallserlebnisse ein enges Junktim mit dem Fetischobjekt eingehen. Diese einfache Kausalerklärung reicht jedoch häufig nicht aus, um konkrete fetischistische Neigungen verständlich zu machen. Freud argumentierte differenzierter. Seiner Meinung nach repräsentiert der Fetisch den nicht vorhandenen mütterlichen Penis. In der phallischen Phase der Libidoentwicklung forscht der Knabe nach dem Unterschied der Geschlechter. Er erschrickt bei der Feststellung, dass die Frauen keinen Penis haben. Dagegen lehnt er sich auf, weil diese Erfahrung mit der eigenen Kastrationsangst verbunden ist. Der Fetischist versucht Freud zufolge den Penismangel der Frau zu leugnen und geht von der Gleichartigkeit der Geschlechtsbeschaffenheit aus. Weil er die direkte Annäherung an ein weibliches Gegenüber fürchtet, vollzieht er sie indirekt in der
Aneignung des Fetischobjekts. Damit hat seine Libidoorganisation die Stufe der Genitalität in keiner Weise erreicht; der normale Sexualakt wird von ihm ebenso ausgeklammert wie die Liebe in einer vollgültigen Ich-Du-Beziehung. Wir haben es mit einer sexuellen Perversion zu tun. Gebsattel war wiederum nicht uneingeschränkt einverstanden mit dieser psychogenetischen und triebtheoretischen Erklärung, bei der er die bereits genannte Wesensschau vermisste. Selbst wenn man die Erläuterungen der Psychoanalyse aus dem Sexualjargon in Normalsprache übersetze, erscheinen sie lückenhaft. Immerhin könne man sagen, dass der Fetischist offenbar den Sinn der Zweigeschlechtlichkeit nicht vollumfänglich begreift. Er dämonisiert die Weiblichkeit, indem er ihr Eigenschaften und Organe zuschreibt, die nicht vorhanden sind. Auch endet seine Ekstase mit dem Fetisch meistens im Onanieakt, der in gewisser Weise das Grundmodell jeglicher Perversion bietet. Die Onanie ist ein Abreagieren des Sexuellen am eigenen Leib, folglich egozentrisch oder gar narzisstisch. Partnerschaft kommt in ihr nicht zum Tragen. Studiere man als Anthropologe und Phänomenologe Fetischismus und andere Perversionen, registriere man in ihnen eine Abwendung von der Liebeswirklichkeit und eine Revolte gegen die Norm. Warum dieser Aufstand gegen die Normalität? Gewiss liegt diesem Nichtwollen auch ein Nichtkönnen zugrunde – beide Aspekte sind dialektisch aufeinander bezogen. Wer wenige oder keine Gefühle in sich verspürt, die ihn zur liebenden Kommunikation mit dem anderen Geschlecht hindrängen, greift zu einem Ersatzmodus, um ohne emotionale Hingabe auszukommen. Die Perversion macht aus der Not eine Tugend: Die Betreffenden schwärmen von ihrem exquisiten Sexualstatus, sind in Wirklichkeit jedoch sexuelle Mängelwesen. Sie wissen kaum je, was Liebe, Gegenseitigkeit und sexuelle Kooperation ist. Gebsattel sah in den Perversionen wie bei der Zwangskrankheit eine Hemmung des Werdens und der Selbstverwirklichung. Die Person wächst nur, wenn sie sich liebend an ein Du hingibt. Fehlt die Personalität oder sind nur Zerrbilder von ihr vorhanden, werden Sexualformen gewählt, die eher
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onanistisch sind und wenig innere und äußere Entwicklung in sich bergen. Weil die Befriedigungsmöglichkeiten in den Perversionen begrenzt sind, tendiert das perverse Verhalten zur Süchtigkeit. Das Erregungsniveau fällt jeweils nur wenig ab, und der Zwang zur Wiederholung ist gewaltig. Ein starkes Element von Unfreiheit und Sucht wird in diesen Sexualvarianten stets sichtbar. Nach Gebsattel versteht man Sinn und Tragik von Perversionen nur, wenn man sie vor dem Hintergrund voll entwickelter und reifer Formen des Liebens beurteilt. Was ist der Sinn der Liebe? Sie ist eine Ich-Du-Beziehung, in der möglichst weitgehende Anerkennung, Einigung und Verschmelzung der beiden Partner intendiert wird. Letztere ist physisch und psychisch zugleich gemeint. Sodann wollen Liebende einander nicht nur in ihrer Ist-Aktualität bestätigen; sie verhelfen ihrem Gegenüber zu dem ihm möglichen Wachstum und zu seiner Vervollkommnung. Diese Aspekte fehlen im Rahmen perverser Daseinsgestaltungen fast völlig. Menschen mit paraphilen Sexualpraktiken reduzieren ihre Partner oft auf Lustmöglichkeiten und partialisieren deren Leibwirklichkeit, als ob der andere nur Träger von Sexualutensilien und -eigenschaften sei. Eine Neigung zum Entwerten und Deformieren ist dabei fast regelhaft vorhanden. Perversionen oder (wie sie heutzutage bezeichnet werden) Paraphilien sind tendenziell Gestalt auflösend und ganzheitsfremd. Ihr kläglicher Triumph besteht darin, Normen, Werte und Ordnungen außer Kraft zu setzen:
» Das, was unseren Patienten als Dynamis bewegt, ist nicht ein primäres Streben nach Lust oder Abenteuer oder Sieg über Frauen, sondern ein reaktives Moment: die geheime Wendung der Persönlichkeit gegen die Möglichkeit eines echtelementaren Angezogenseins durch die weibliche Persönlichkeit und gegen die darauf sich gründende Ordnung der Liebe, der Treue und der Bindung. Der ihm selbst nur vage fassbare Sinn seiner Erlebnisse ist die Ausschaltung dieser höheren Formen des Liebeslebens. Erst ihr Gerichtetsein gegen diese Formen, welche Möglichkeiten repräsentieren der Selbstgestaltung und der Selbstverwirklichung, gibt seiner erotischen Expansion die
süchtige und fast perverse Note (Gebsattel 1954b, S. 163f.).
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Quasi als Flucht vor der Ganzheit eigener und fremder Liebeswirklichkeit entstehe die fetischistische Teilsetzung, und in einer Wendung gegen den Liebessinn von Scham und Anstand entwickeln sich Exhibitionismus und Voyeurismus. In den Paraphilien sah Gebsattel das Geschlechtsleben von der Möglichkeit bedroht, eine destruktive Wendung gegen das Sinngefüge seiner eigentlichen Intention zu nehmen. Diese Wendung wollte der Autor mit seinen Untersuchungen beschreiben und transparent machen. Man neigt demnach zu Perversionen aus Angst, Aggression und fehlender Sozialisierung, nicht aber aus Eros und sozialer Verbundenheit. Diese These akzentuierte Gebsattel in einer Polemik gegen die Daseinsanalyse der Perversionen, die Medard Boss 1947 in seiner Schrift Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen zur Diskussion stellte. Boss behauptete, dass auch im perversen Verhalten die Intention der Liebe inhärent sei. Bei langen Analysen sexualkranker Menschen habe er beobachtet, dass selbst Menschen mit Paraphilien auf Daseinseinigung und Daseinsmehrung ausgehen und folglich in ihrer Art Liebende seien. Dem widersprach Gebsattel energisch und betonte stattdessen den gelebten Nihilismus in den genannten sexuellen Anomalien. Wer diesen Zug zur Gestaltauflösung übersehe, habe von den Perversionen wenig verstanden. Es gehöre zu den Aufgaben der Zukunft, eine Lehre vom Menschen, also eine Anthropologie zu formulieren, welche diesen Hang zum Nichts und Nichtigen in den Paraphilien allein schon aus der Natur des Menschen ableitbar macht:
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Dieses ist nach meiner Meinung nur möglich vom Standpunkt einer personalistischen Anthropologie; denn als Person gesehen erweist sich der Mensch als das eigenartige Wesen, welches kraft seiner Freiheit zugleich die Möglichkeit empfängt, dieses Dasein zu verweigern – und d. h.: Statt auf das Sein, den Wert, die Liebe, die Partnerschaft sich hinzubewegen, sieht man den Menschen dem Zug zum Nichts, zum Unwert, zum Bösen, zum Abgrund erliegen. Von dieser Seite seines Wesens
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sind die sexuellen Perversionen nur eine Erscheinung, allerdings eine besonders repräsentative (Gebsattel 1954c, S. 220).
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Der kranke und der gesunde Mensch
Neben den über seine Texte verteilten Anmerkungen zu Gesundheit und Krankheit sowie zu Arzt und Patient finden sich in den Büchern Gebsattels einige Abhandlungen, in denen er sich dezidiert mit diesen Themen auseinandersetzte: Über den personalen Faktor des Heilungsprozesses (1925), Die Person und die Grenzen des tiefenpsychologischen Verfahrens (1950), Zur Sinnstruktur der ärztlichen Handlung (1953), Not und Hilfe – Prolegomena zu einer Wesenslehre der geistig-seelischen Hilfe sowie Vom Sinn des ärztlichen Handelns. Die drei ersten Aufsätze sind in den Prolegomena, die beiden letzten in Imago Hominis abgedruckt. Warum wird der Mensch krank, und wie kann man ihm zur Gesundheit verhelfen? Diese Fragen liegen ärztlicher Tätigkeit zugrunde. Die naturwissenschaftlich orientierte Heilkunde sucht seit Jahrhunderten materiell fassbare Krankheitsursachen, die sie großenteils ingeniös bekämpft. Durch die Tiefenpsychologie und Psychosomatik wurden zusätzlich psychosoziale Krankheitsauslöser und -bedingungen erkannt; der Ursachenkatalog der Medizin wurde dadurch beträchtlich erweitert. In der Psychosomatik wurde festgeschrieben, dass Leib und Seele in mannigfacher Wechselwirkung miteinander stehen. Darum muss die Krankheitserforschung beide Aspekte des menschlichen Seins im Auge behalten, und auch die Therapie kann oft nur erfolgreich sein, wenn neben den somatischen ebenso die seelischen, sozialen und geistigen Faktoren berücksichtigt werden. Was heißt das genauer? Das Neurosenmodell der Psychoanalyse, das zum ersten Paradigma der psychosomatischen Medizin wurde, konzentrierte sich auf Triebschicksale in der Kindheit und im späteren Leben, wobei es für die Erkrankung voraussetzt, dass sie eine Leistung des Unbewussten darstellt. In spezifischen Versuchungs- und Versagungssituationen werde die verdrängte Triebhaftigkeit und Lebensthematik mobilisiert, breche aus der unbewussten Sphäre halb ins Bewusstsein ein, er-
zeuge Konflikte und sorge mit psychischen oder somatischen Krankheiten dafür, dass die prekäre Daseinslage stabilisiert wird. Krankheit sei halb gescheiterte und halb gelungene Anpassung an das Leben. Sie befriedige infantile Triebwünsche und führe zur sozialen Entlastung. Auch drücke sich die Problematik des Kranken oft in symbolischer Gestalt aus. Wer das psychosoziale Moment in Erkrankungen verstehen wolle, müsse daher die Symbolsprache kennen. Was der Traum für das nächtliche Seelenleben ist, kann Krankheit für das existentielle Schicksal eines Menschen bedeuten. Viele Symptome können deshalb ähnlich wie Traumelemente gedeutet und interpretiert werden – wobei Deutung für die Psychoanalyse und frühe Psychosomatik hieß, den lebensgeschichtlichen, triebhaften und problemlösenden Stellenwert des jeweiligen Symptoms aufzudecken und analytisch einzuordnen. Gebsattel anerkannte durchaus die Leistungen der Psychoanalyse und Psychosomatik, aber als philosophisch Geschulter brachte er so manche Kritik und Korrektur an deren Konzepten an. Für ihn war der Mensch kein Triebwesen, Verhaltensautomat, determiniertes Naturobjekt oder auf psychologische Gesetzmäßigkeiten beschränkter Organismus. Insofern der Mensch potentiell Person und Persönlichkeit ist, muss man bei ihm die Geistsphäre in Betracht ziehen. Um ein Diktum anzuwenden, das von Karl Jaspers stammen soll: Die Tiefenpsychologie muss durch eine Höhenpsychologie ergänzt werden. Umstritten ist allerdings die Definition menschlicher Personalität. Person wird häufig als Synonym für Individuum, Selbst, Ich und Geist gebraucht. Gebsattel zog diesbezüglich Grenzen und meinte, dass in den psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Selbst- und Ich-Konzepten die personale Dimension nicht hinreichend abgebildet sei. Auch in C. G. Jungs Schriften über den Individuationsprozess fänden sich zwar Begriffe wie Person und Persona, die jedoch nicht die Personsphäre in seinem, Gebsattels Sinne, sondern lediglich Phänomene von Bios und Psyche widerspiegelten:
» Sagen wir in diesem Zusammenhang … Individuations prozess, so sprechen wir von einem Geschehen, von Vorgängen biologischer und
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psychologischer Natur; von einem Es, das werden will, auch wenn dieses Es dann wieder im Selbst des Menschen zentriert erscheint. Sprechen wir aber von einem Sich-Verhalten des Menschen zu eigenem Sein-Können, als vom Inneren der Selbstverwirklichung, so rühren wir an die Sinnfrage des Daseins, an die Probleme der personalen Entscheidung, der Freiheit, der Verantwortung und der inneren Tat; an die Orientierung an Norm- und Richtbildern des Menschseins und schließlich an das Walten der Person. Kurz, das Problem der Selbstverwirklichung hat eine personale und eine apersonale Seite (Gebsattel 1954d, S. 331).
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Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass Gebsattels Person-Begriff einen Bezug zum Transzendenten und Numinosen mit einschließt. Immer wieder begegnen dem Leser seiner Texte Gedanken, in denen die weltanschauliche Verankerung des Autors im Katholizismus offenkundig wird: »Personsein ist vom Menschen her gesehen ein Wagnis des Glaubens und von Gott her gesehen ein Akt der Liebe« (Gebsattel 1964a, S. 73). Doch zurück zur Beschreibung der Person jenseits fragwürdiger transzendenter Bezüge. Für die geistigen Modalitäten seines Seins hat der Mensch sehr wohl eine Disposition; um diese faktisch zu realisieren, müssen aber bestimmte Umwelteinflüsse und Eigenleistungen eingesetzt werden. Durch liebevolle Betreuung in der Kindheit, durch Anrede und Ermutigung wird die Person ins Leben gerufen. Dann wächst sie und entfaltet sich durch Taten und vollzogene Entwicklungsschritte; für diesen Bereich gilt das Sartre‘sche Wort: Der Mensch ist, wozu er sich macht. Person ist Du-sagendes Ich, bezogen auf die Mitwelt und auf die Welt der Werte, und wächst durch Selbstgestaltung und Wertrealisation. Sie ist ein geschichtliches Wesen und weiß um ihr Gewordensein wie um ihre zukünftigen Möglichkeiten. Sie steht in einem Verhältnis zu sich selbst und zu den übrigen Menschen. Da sie ein schwebender Seinszustand ist, kann sie sich gewinnen oder verfehlen. Bei den meisten Menschen wird die Person nur halb entfaltet; man kann auch ohne sie existieren oder vegetieren. Dann allerdings ist das Leben weniger frei, sinnvoll und schöpferisch. Erst durch das Personsein erhält die menschliche
Existenz ihren vollen Gehalt und ihre umfassende Bedeutung. Im Kern einer Person findet man Gefühle, mit denen Werte erkannt werden, und die wie lebendige Kraftquellen wirken. Werden, Handeln und Stellungnahmen sind personale Hauptaktivitäten. Vor allem der Hinweis auf das Beziehen von Stellung und Position ist wichtig, damit man sieht, dass die Person nicht nur von Erfolg zu Erfolg schreitet; oft genug erleidet sie auch Niederlagen und existentielle Erschütterungen. Dies unterbricht ihren Werdevorgang nicht, sofern sie Fehlschläge, Krisen, Leid und Kranksein sinnvoll auswertet. Fehlt es an solchen Wertungsprozessen, können selbst günstige Umfeldkonstellationen eine Personverkümmerung herbeiführen. Sprechen wir von Wachstum, Reife und innerer sowie äußerer Entwicklung, ist die Person als Aktzentrum gemeint. Oft ist dieses Sich-Entwickeln durch Krisen gekennzeichnet. Die Situation überfordert den Menschen, und er glaubt, ihr unterliegen zu müssen. Hält er aber an seinem inneren Sein und seinem Werthorizont fest, kann er Krisenhaftes überwachsen und fruchtbar machen. In vielen Fällen sind es Krankheiten, die vom Einzelnen als Krise und Erschütterung erlebt werden, und die er, wenn möglich, als Person beantwortet. Gebsattel postulierte, dass Krankheit entstehen kann und mitunter zum Tragen kommt, wenn in einer bedrängenden Lage die personale Antwort ausbleibt. Anstatt zu wachsen und zu werden, verkapselt sich der betreffende Mensch gegen den Anspruch des Lebens und die Aufgaben seiner Entwicklung. Arbeit, Liebe, Sexus, Menschheitsbezug und Kulturwerte aller Art können zur Existenz- und Sinnfrage werden, um die es zentral geht. Da gute Gestalten (im Sinne der Gestaltpsychologie) als soziale und geistig-kulturelle Reaktionen darauf nicht immer gefunden werden, fällt der Betreffende eventuell auf die niedrigeren, apersonalen Ordnungsebenen von Bios und Psyche zurück und erkrankt. Das Lebensganze partikularisiert sich im Kranksein, und anstatt als Person aktiv das Dasein zu gestalten, wird man Opfer der Verhältnisse und Objekt fremder Pflege. Wo der Einzelne in geistigen und sozialen Dimensionen hätte reagieren sollen, reagiert er seelisch und biologisch:
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Wesentliche Beeinträchtigungen des Individuationsprozesses … bedeuten auch, weil dieser von der Intaktheit der seelischen Tiefenmechanismen abhängt, eine Verhinderung der personalen Selbstverwirklichung. Aber mit gleichem Fug gilt auch das Gegenteil: 1. dass die Entthronung von Person, Freiheit, Ethos, die Vergewaltigung des Gewissens, die Lähmung der Selbstverantwortung Gesetzen unterworfen ist, die im seinsselbständigen Bereich des Personalen als in einer eigengesetzlichen Seinsebene gründen; 2. gilt, dass der Verlust der personalen Mitte in einer Art Fernwirkung einstrahlt in die apersonalen Funktionssysteme der Psyche und des Bios und schwere Störungen in diesen Gebieten determiniert (Gebsattel 1954d, S. 345).
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Ein Verlust personaler Mitte ist bereits gegeben, wenn der Einzelne dem drängenden Auftrag nach Werden und Veränderung nicht mehr nachkommt – ein Auftrag, den Rainer Maria Rilke in die Verse kleidete:
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Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn; Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen – aber versuchen will ich ihn.
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Das war auch Gebsattels Sicht des Menschen, dem er wesensmäßig ein Werdesein zuschrieb. Nur als permanent Werdender kann sich der Mensch geistig, seelisch und womöglich auch körperlich gesund erhalten. Schon wenn er in einem gegebenen Status quo stehen bleibt, bedroht ihn das Entwerden und Entwesen, das weiter oben bei der Analyse der Zwangsstörung bereits erwähnt wurde. Innere Stagnation führt zu einer merkwürdigen Veränderung des Leibes, den man sich nicht als feste Größe vorstellen darf. Normalerweise weiß der Mensch kaum um seine Leiblichkeit; beim Gesunden ist der Leib das verschwiegene Zentrum seines In-der-Welt-Seins. Er tritt in Funktion, bleibt aber weitgehend unauffällig. Befinden wir uns in zärtlichen Situationen mit einem Liebespartner, verwandelt sich der Alltagsleib in einen Liebesleib. Dabei handelt es sich um beseelte Physis, um den Leib als Instrument und
Ausdrucksmittel der Zärtlichkeit – so wie es im Französischen heißt, dass in der Liebe die Seele den Leib umhüllt. Dieser Liebesleib entsteht jedoch nur bei jenen Menschen, die zur Hingabe befähigt sind. Angst, Aggression, Distanz, Gefühlskargkeit und Hypermoral verhindern diese ersehnte Wandlung zum Liebesvollzug. Sie machen den Leib ebenso starr, mechanisch und partiell leblos wie die eben angedeuteten stagnierenden Existenzverhältnisse. Genügt man den Ansprüchen und Wachstumsgesetzen des Lebens und Liebens nicht oder nur unzulänglich, kann es Gebsattel zufolge dazu kommen, dass der Gestaltverlust des Daseins den Krankheitsleib in Erscheinung treten lässt. Nun wird der Leib zum Problem. Er drängt sich dem Bewusstsein durch Schwere, Funktionsbehinderung und Schmerz auf. Vor allem der Schmerz wirft den Menschen, der sonst draußen in der Welt lebt, auf den puren Körper zurück. Ziele, Zwecke und Werte der Normalexistenz schrumpfen auf Themen der Selbsterhaltung und des Gesundwerdens zusammen. Das Sein ist bedroht durch das Nichtsein, also den Tod. Psychosoziale und zumindest ein Teil der biomedizinischen Erkrankungen sind nach Gebsattel Ausdruck und Erscheinungsweisen existentieller Neurosen, also misslungener Personwerdung, Sinnfindung und Sinngestaltung des Daseins. Der Autor sprach in dieser Hinsicht von einem regelrechten Nihilismus der Persönlichkeit, welcher dem Einzelnen jedoch meist ebenso wenig zugänglich ist wie seiner Umwelt oder den ihn diagnostizierenden und therapierenden Ärzten:
» Der Mensch ist so geartet, dass er, zu personalem Sein gerufen, ja sagt zu dieser Möglichkeit, im gleichen Atemzug aber auch nein. Dass er also sein will, und doch, dass er, ohne sich durchsichtig zu sein, auch nicht sein will; nicht nämlich er selbst, und keineswegs diese Person … Was wir im Umgang mit dem an sich leidenden, seinsunfähigen Menschen erfahren, ist …, dass der Wille der Person zu ihrer Selbstaufhebung meist nur in seiner apersonalen Vorgestalt in biologischen und psychologischen Störungsmechanismen zu fassen ist (Gebsattel 1954d, S. 346).
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Conclusio
Gebsattel erwähnte in diesem Zusammenhang Sören Kierkegaard und dessen Konzept einer »Krankheit zum Tode«. Damit meinte der dänische Philosoph jene Formen der Verzweiflung, die auftreten, wenn der Einzelne »verzweifelt er selbst« oder vor allem »verzweifelt nicht er selbst« sein will. Folgt man den Ausführungen Gebsattels, bekundet sich Kranksein am organischen oder seelischen Substrat, stellt aber im Grunde eine geistig-personale Problematik dar. Daher wusste sich Gebsattel mit Viktor Frankl in Übereinstimmung, welcher die Forderung nach Logotherapie erhob. Bei vielen Formen von Krankheit kann nur eine »Heilung durch den Geist« (Stefan Zweig) wesentliche Resultate erzielen. z
Ärztliches Handeln
Sieht man Krankheit und Gesundheit unter solch personalistischen Gesichtspunkten, braucht es für Diagnostik und Behandlung von Patienten speziell dafür ausgebildete Ärzte und Psychotherapeuten. Wie Gebsattel sich die Handlungen und Einstellungen derartiger Heilkundiger günstigen Falls vorstellte, erläuterte er in Essays wie Zur Sinnstruktur der ärztlichen Handlung, Not und Hilfe – Prolegomena zu einer Wesenslehre der geistig-seelischen Hilfe sowie Vom Sinn des ärztlichen Handelns. Der Autor unterschied drei Sinnstufen ärztlichen Handelns. Zunächst ist der Arzt zu unmittelbarer Sympathie mit dem leidenden Menschen aufgerufen. Er wird angesprochen durch die Not des anderen, der seine Hilfe sucht. Man kann in diesem Zusammenhang von Mitleid und Mitgefühl sprechen. Dabei darf es jedoch nicht bleiben. Es entspricht dem Stand der ärztlichen Wissenschaft, dass auf einer zweiten Stufe des Arztverhaltens objektive Befunde erhoben werden. Hier wird der Arzt zum sachlichen Diagnostiker: Er überprüft Funktionen, nimmt Abstand zum Kranken und betrachtet ihn notwendigerweise nüchtern und objektivierend. Es kommt zu einem Subjekt-Objekt-Verhältnis, wobei der Arzt seinem Schützling mehr oder minder autoritativ gegenübertritt. Biomedizinisch orientierte Mediziner verharren nicht selten in dieser zweiten Phase des ärztlichen Handelns. Damit bleiben sie ihren Patienten Wesentliches und Hilfreiches schuldig. In gewisser
Weise benehmen sie sich wie Veterinärmediziner, wiewohl sie nicht mit tierischen Organismen, sondern mit menschlichen Personen zu tun haben. Letzteren kann die dritte Stufe des Arztseins gerecht werden. Nun geht es darum, mit dem Kranken zu erforschen, wo und wann er gegen das Gebot des Handelns und Werdens verstoßen hat, und in welcher Weise er guten Gestalten des Daseins etwas schuldig geblieben ist. Hier wird der Arzt zum Partner seines Gegenübers. Er sollte auf Überlegenheitsposen verzichten und gemeinsam mit dem leidenden und hilfsbedürftigen Menschen auf die Idee der Gesundheit hinstreben. Er sieht sich dabei auf einer Ebene mit dem Patienten – denn niemand wird dem Sinn des Lebens vollkommen gerecht. Am besten lernt man das Werden und Handeln zu zweit, etwa im therapeutischen Dialog. Damit visierte Gebsattel eine ethische Zielsetzung an. Der Arzt ist nicht nur Gesundheitstechniker, sondern in Maßen auch (wie Freud es ausdrückte) Erzieher, Vorbild und aufklärender Lehrer seiner Patienten. Er bringt sittlich-moralische Ansprüche in seine Tätigkeit ein, wiewohl dies gewisse Gefahren der Indoktrination und weltanschaulichen Beeinflussung heraufbeschwört. Dem kann man begegnen, wenn man sich der Fragwürdigkeit des eigenen Standpunktes bewusst bleibt. Es ist keineswegs so, dass Ärzte in der Wahrheit, Patienten hingegen in der Unwahrheit leben. Beide sind im inneren und äußeren Werden begriffen und gründen darauf ihre Gemeinsamkeit des Suchens und Forschens.
Conclusio So schön sich dies alles liest, so sehr darf man kritisch anmerken, dass Gebsattel in vielen seiner Schriften ein entschieden katholisch-konservatives Weltbild vertrat, für das er leidenschaftlich Partei ergriff. Er verklärte das Mittelalter mit seiner angeblichen Einheit Europas, schwärmte von der Geborgenheit im christlichen Glauben und wollte seine Patienten für diese Glaubensgewissheiten gewinnen. Sowohl sein Gesundheits- wie auch sein Personbegriff hängen inhaltlich von einer Bezugnahme zur Gottheit ab. Kein Zweifel: Dieser Autor und Teile seiner medizinischen Anthropologie (wo
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Kapitel • Viktor Emil von Gebsattel
sie mit dem Transzendenten und dem lieben Gott liebäugelt) zählen zur Gegenaufklärung innerhalb von Tiefenpsychologie, Psychotherapie und psychosomatischen Medizin. Die Art und Weise jedoch, wie sich Gebsattel liebevoll in die Lebensläufe und Schicksale seiner Patienten vertiefte und behutsam auf eine Philosophie von Kranksein und Gesundwerden hinarbeitete, ist stellenweise eindrucksvoll. Man kann aus seinen Texten manches lernen, und die soigniertaristokratische Diktion seiner Bücher und Abhandlungen wirkt an vielen Stellen wohltuend, mitunter aber auch verträumt und verstiegen. Es gibt im Bereich des modernen medizinischen Denkens viele Varianten der philosophischen Durchdringung von Wissenschaft und Praxis. Gebsattels rückwärts gewendeter Personalismus und Gestaltgedanke hat sowohl Licht- wie Schattenseiten. Immerhin war er ein ernsthafter Versuch, die Einseitigkeiten des Szientismus von Medizin und Psychologie zu überwinden, und als solcher darf er trotz der erwähnten Einschränkungen als Fortschritt im Bereich der medizinisch-philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts beurteilt werden.
Literatur Berger M (2006) Viktor Emil von Gebsattel. In: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 26. Bautz, Nordhausen von Gebsattel VE (1954) Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Springer, Berlin von Gebsattel VE (1954a) Störungen des Werdens und des Zeiterlebens psychiatrischer Erkrankungen. In: Prolegomena einer Medizinischen Anthropologie. Springer, Berlin (Erstveröff. 1939) von Gebsattel VE (1954b) Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen. In: Prolegomena einer Medizinischen Anthropologie. Springer, Berlin (Erstveröff. 1932) von Gebsattel VE (1954c) Daseinsanalytische und anthropologische Auslegung der sexuellen Perversion. In: Prolegomena einer Medizinischen Anthropologie. Springer, Berlin (Erstveröff. 1950) von Gebsattel VE (1954d) Die Person und die Grenzen des tiefenpsychologischen Verfahrens. In: Prolegomena einer Medizinischen Anthropologie. Springer, Berlin (Erstveröff. 1950) von Gebsattel VE (1964) Imago Hominis. Neues Forum, Schweinfurt
von Gebsattel VE (1964a) Vom Sinn des ärztlichen Handelns. In: Imago Hominis. Neues Forum, Schweinfurt May R, Angel E, Ellenberger HF (Hrsg) (1958) Existence – A New Dimension in Psychology and Psychiatry. Basic Books, New York Passie Th (1995) Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie. Thieme, Stuttgart Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien Wiesenhütter E (Hrsg.) (1963) Werden und Handeln. Hippokrates, Stuttgart Wiesenhütter E (1974) Freud und seine Kritiker. Wissenschaftl. Buchgesell., Darmstadt Wyss D (1966) Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
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Erwin Straus Biographisches – 284 Werkanalyse – 286 Conclusio – 294 Literatur – 294
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Erwin Straus
Am Werk von Erwin Straus lässt sich gut zeigen, wie interdisziplinäres Vorgehen – in seinem Fall das Zusammenspiel von psychiatrischen, psychologischen und phänomenologischen Forschungsansätzen – zur Entstehung origineller medizinischphilosophischer Konzepte beiträgt. Gleichzeitig demonstriert sein Lebenslauf exemplarisch die Folgen der faschistischen Diktatur für Wissenschaft und Philosophie in Deutschland.
Biographisches Erwin Straus wurde 1891 in Frankfurt am Main in eine wohlhabende jüdische Familie hineingeboren. Sein Vater war Bankier, und seine Mutter führte ein Antiquitätengeschäft in Berlin. Die Kindheit und Jugend verbrachte er in Frankfurt; dort besuchte er das Lessing-Gymnasium, an dem er eine humanistische und naturwissenschaftliche Bildung erfuhr. 1909 legte Straus sein Abitur ab und studierte ein Semester an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Danach wechselte er zur Medizin. Im Rahmen dieses Studiums kam er nach Zürich, München, Göttingen und zuletzt wieder nach Berlin. Er interessierte sich besonders für Psychiatrie; in Zürich stieß er auf Eugen Bleuler und C. G. Jung und in München auf Emil Kraepelin. Neben der Medizin und Nervenheilkunde befasste sich Straus mit Philosophie, genauer gesagt mit Phänomenologie. Wesentlich für sein späteres wissenschaftliches Arbeiten wurde die Begegnung mit Edmund Husserl in Göttingen. Bei ihm lernte der junge Student die Grundzüge phänomenologischer Betrachtung und Beschreibung der Welt kennen – eine Form des wissenschaftlich-philosophischen Erkenntnisgewinns, die Straus zeitlebens beibehalten hat. Außerdem besuchte er während seiner Studienzeit in München Seminare bei den Philosophen Theodor Lipps und Moritz Geiger. Im Ersten Weltkrieg war Straus als Offizier an der Front in Frankreich stationiert, wo er gegen Kriegsende leicht verwundet wurde. 1917/18 legte er sein Staatsexamen ab und begann daraufhin, als Assistenzarzt an der Nervenklinik der Charité unter Karl Bonhoeffer zu arbeiten. Dieser wurde sein wichtigster klinischer Lehrer. Mit dessen Sohn Dietrich, der 1945 aufgrund seines Widerstands
gegen das Hitlerregime hingerichtet wurde, war Straus befreundet. 1919 erschien die erste wissenschaftliche Arbeit von Straus Zur Pathogenese des chronischen Morphinismus. Mit dieser knapp 15 Seiten umfassenden Abhandlung, in der er auf die Suchtgefahren einer ärztlich verordneten Morphiumbehandlung von Schmerzen aufmerksam machte, wurde er promoviert. Als man ihm später den knappen Umfang seiner Dissertation vorhielt, verwies er darauf, dass die wissenschaftlichen und literarischen Hauptaufgaben fast regelmäßig erst nach der Promotion auf einen Forscher zukommen – er solle daher sein Pulver nicht schon bei im Grunde unwesentlichen Qualifikationsarbeiten verschießen. Im Falle von Straus bewährte sich diese Einstellung. Während seiner Assistenzzeit bei Bonhoeffer publizierte er weitere Artikel, so über Wesen und Vorgang der Suggestion (1925), Das Problem der Individualität (1926) sowie Über Suggestion und Suggestibilität (1927). Nachdem er an die Neurologische Poliklinik gewechselt war, die von Richard Cassirer (einem Cousin des Philosophen Ernst Cassirer) geleitet wurde, gelang ihm mit seinen Untersuchungen über die postchoreatischen Motilitätsstörungen, insbesondere die Beziehungen der Chorea minor zum Tic (1927) die Habilitation. In den folgenden Jahren erweiterte Straus seinen Aktionsradius beträchtlich. Zusammen mit dem befreundeten Psychiater Jürg Zutt begründete er die Monatsschrift Der Nervenarzt, die bis heute als renommiertes psychiatrisches Journal verlegt wird. Er war Mitglied im Wengener Kreis um Ludwig Binswanger, Viktor Emil von Gebsattel und Eugène Minkowski sowie in Bonhoeffers »Die Großhirnrinde« – einem Verein, der sich der Erforschung des menschlichen Gehirns und seiner Krankheiten widmete. Vor allem die Kontakte mit Ludwig Binswanger, den Straus 1924 in Innsbruck kennengelernt hatte, vertieften sich bald in Richtung Freundschaft. Ende der 20er Jahre eröffnete Straus eine Privatpraxis in Berlin. Daneben verfolgte er seine wissenschaftlichen wie musischen Interessen. Er war ein ausgezeichneter Cellist und spielte zusammen mit dem Physiker Max Planck in einem kleinen Kammerorchester. Dort traf er auf die seinerzeit bekannte Konzertgeigerin Gertrud Lukaschik, die
Biographisches
bald seine Frau wurde (die Ehe war bis zum Lebensende von Straus stabil; das Paar blieb kinderlos). Auch mit Binswanger, der in Kreuzlingen am Bodensee eine Klinik leitete, und mit dem sich eine rege Korrespondenz ergab, hat Straus bei gemeinsamen Treffen musiziert. 1931 erhielt Straus ein Extraordinariat für Psychologie an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Neben kleineren Arbeiten (Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung, 1928; Die Formen des Räumlichen, 1930) hatte er in der Zwischenzeit besonders mit seinem Buch Geschehnis und Erlebnis (1930) auf sich aufmerksam gemacht. In dieser Publikation stellte Straus seine eigenständige Art des phänomenologischen Denkens in Medizin, Psychiatrie und Psychologie eindrucksvoll unter Beweis. Er griff darin Gedanken von Wilhelm Dilthey und Edmund Husserl ebenso wie Grundideen der Psychoanalyse Freuds und aus der Allgemeinen Psychopathologie (1913) von Karl Jaspers auf und übertrug sie auf klinische und anthropologische Fragestellungen. Eine ähnliche Form psychiatrischer Forschung und Diagnostik vertraten in den 20er und zu Beginn der 30er Jahre die Nervenärzte Gebsattel, Binswanger und Minkowski. Zwischen den vier Ärzten bestand ein enger Gedankenaustausch, und es war kein Zufall, dass sie mehrfach thematisch eng aufeinander bezogene Publikationen vorlegten. Im Vergleich zu seinen drei Kollegen hatte Straus weniger Kontakte zu Patienten, was seinen Abhandlungen einen stärker theoretischen und philosophischen Anstrich verlieh. Dies lässt sich in vielen Schriften der 30er Jahre nachweisen, so in Zwang und Raum (1930), Zur Psychologie und Psychopathologie der Sentimentalität (1931), Die Scham als historiologisches Problem (1933) sowie in Ein Beitrag zur Pathologie der Zwangserscheinungen (1938). In diesen Publikationen begegnet man einem Autor, der scharfsichtig die Schwächen von biologisch orientierter Psychiatrie, Psychoanalyse, Behaviorismus und akademischer Psychologie aufdeckte und zugleich ein Menschenbild entwarf, welches die Lebenswelt als maßgeblichen Ausgangspunkt der Beschreibung wählte. Der Begriff Lebenswelt stammt aus der Philosophie Husserls; er zielt darauf ab, die Totalität der menschlichen Existenzbe-
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dingungen möglichst authentisch und ohne theoretische Fixierungen und Vorannahmen zu erfassen. Besonders ausführlich und überzeugend erläuterte der Forscher sein anthropologisches Konzept im Buch Vom Sinn der Sinne (1935). In dieser Schrift, die 1956 eine erweiterte zweite Auflage erfuhr, hat Straus auf über 400 Seiten eine phänomenologisch fundierte Menschenkunde ausgearbeitet, die von Kennern als Meilenstein der medizinischen und psychologischen Anthropologie gefeiert wurde. Vom Sinn der Sinne ist das unbestrittene Hauptwerk des Autors geworden. Mitte der 30er Jahre bekam Straus die ersten Repressalien des NS-Regimes am eigenen Leibe zu spüren: Wegen seiner Abstammung entzog man ihm sein Extraordinariat, und er wurde gezwungen, die Leitung des Journals Der Nervenarzt abzugeben. Aufgrund der politischen Entwicklungen verließ Straus 1938 Deutschland. Zusammen mit seiner Frau gelangte er über Frankreich in die Vereinigten Staaten, wo er zuerst in North Carolina eine Bleibe fand. Das Ehepaar erhielt am Black Mountain College Lehraufträge: Gertrud Straus arbeitete als Deutschlehrerin, und ihr Gatte unterrichtete Psychologie. Nach und nach knüpfte er Beziehungen zur JohnsHopkins-University in Baltimore (Maryland) an, wo er 1946 sein ärztliches und ein Jahr später sein psychiatrisches Diplom erwarb. Aufgrund dieser Prüfungen war es ihm möglich, ab 1946 in Lexington (Kentucky) am »Veterans Administration Hospital« als Direktor des »Department of Professional Education and Research« sowie als psychiatrischer Konsilarzt zu arbeiten. Diese Tätigkeit bot ihm die Chance, seine klinischen und vor allem theoretischen Forschungen in den USA weiterzuführen. Die Arbeitsverhältnisse waren so befriedigend, dass er 1946 ein Angebot der Universität Berlin ausschlug, einen Lehrstuhl für Psychotherapie zu übernehmen. Trotz dieser Entscheidung für Amerika nahm Straus bald nach dem Zweiten Weltkrieg wieder intensive Kontakte zu kontinentaleuropäischen Kollegen und ehemaligen Freunden auf. Neben Binswanger, Gebsattel und Minkowski waren es Jürg Zutt (Frankfurt am Main) und Frederik Buytendijk (Amsterdam), mit denen er eng zusammenarbeitete. Außerdem lud er Forscher und Denker
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Kapitel • Erwin Straus
aus der Alten Welt wie Helmuth Plessner oder Paul Ricoeur in die Vereinigten Staaten ein, um an den von ihm initiierten »Lexington Conferences on Pure and Applied Phenomenology« teilzunehmen. Wiederholt besuchte er seine alte Heimat und übernahm 1953 in Frankfurt am Main sowie 1961 in Würzburg eine Gastprofessur; die fränkische Universität verlieh ihm im selben Jahr die Ehrendoktorwürde. Weitere Ehrendoktorate erhielt Straus 1963 von der Universität Kentucky und 1971 von der Universität Transilvania; ebenfalls 1971 wurde der Forscher in Deutschland mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. In den USA war Straus literarisch weiterhin aktiv. Erwähnenswert sind seine Abhandlungen Die aufrechte Haltung – Eine anthropologische Studie (1949), Der Seufzer – Einführung in eine Lehre vom Ausdruck (1952), Der Mensch als fragendes Wesen (1953), Über Gedächtnisspuren (1960), Phenomenology of Hallucinations (1962), Die Verwechslung von Reiz und Objekt, ihr Grund und ihre Folgen (1963), Psychiatrie und Philosophie (1963), Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt – Betrachtungen zur aufrechten Haltung (1963) sowie Über Anosognosie (1964). Einige dieser Aufsätze wurden 1960 im Sammelband Psychologie der menschlichen Welt zusammengefasst. Verglichen mit den Publikationen vor seiner Emigration sind die Arbeiten der 50er und 60er Jahre allerdings schmaler und weniger weitläufig. Man merkt ihnen an, dass ihr Verfasser trotz aller Bemühungen von der gewohnten Denktradition und dem intellektuell-geistigen Milieu Alteuropas abgeschnitten war – sofern diese nach 1933 überhaupt noch als Tradition und Milieu existent waren. Zusammen mit den Kollegen vom Wengener Kreis gelang es Straus, nach dem Zweiten Weltkrieg etwa ein bis zwei Jahrzehnte Einfluss auf die deutschsprachige Psychiatrie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie zu nehmen. Unter ihrer Patronage wurden an einigen Kliniken und Universitäten neue Direktoren und Professoren berufen, die eine philosophisch-anthropologische Ausrichtung vertraten und entsprechende klinische und wissenschaftliche Akzente setzten. Zu ihnen zählten Wolfgang Blankenburg, Roland Kuhn, Hubertus Tellenbach, Paul Christian, Walter Bräutigam, Dieter Wyss, Eckart Wiesen-
hütter und Gaetano Benedetti. Im angloamerikanischen Raum haben zum Beispiel Rollo May, Ronald D. Laing und Edmund Pellegrino die phänomenologisch-anthropologische Forschungstradition von Erwin Straus weiterentwickelt. Straus starb 1975 im Alter von 83 Jahren in Lexington; seine Frau Gertrud überlebte ihn um zwei Jahre. Die Bibliothek und das Arbeitszimmer des Forschers wurden von der Philosophischen Fakultät der Duquesne University in Pittsburgh (Pennsylvania) übernommen und zu seinem Andenken rekonstruiert.
Werkanalyse Zwei Bücher und ein Sammelband mit umfangreichen Aufsätzen von Straus stellen die Grundlage der Werkanalyse dar: Geschehnis und Erlebnis (1930); Vom Sinn der Sinne (1935/56) sowie Psychologie der menschlichen Welt (1960). z
Geschehnis und Erlebnis
In dieser Schrift wählte Straus das Problem der Rentenneurose und des psychischen Traumas als Ausgangspunkt für anthropologische Überlegungen. Ausgehend vom Begriff des Traumas, das nicht selten chronifizierende Erkrankungen und in der Folge ein Rechts- oder Rentenbegehren nach sich zieht, ging er der Frage nach, was unter diesem Terminus zu verstehen ist und welche krankmachende Bedeutung ihm zukommt. An den Konzepten von Psychoanalyse, Komplexer Psychologie (C. G. Jung) und der Pawlow‘schen Reflexlehre zeigte Straus, dass deren Entstehungsmodelle von Trauma und Krankheit grundsätzliche Mängel aufweisen. So verwendete Freud fälschlich mechanistische Ausdrücke wie Reizzuwachs oder motorische Abfuhr für seelisch-geistige und soziale Phänomene, bei denen es sich nicht um biologische Mechanismen, sondern um Sinngehalte, Strukturen und Modi des Erlebens handelt. Um diese zu begreifen, dürfe man nicht von Trieben, Libidoquanten und Reflexen als maßgebliche anthropologische Prämissen ausgehen. Stattdessen müsse man die historische Modalität menschlichen Erlebens berücksichtigen. Im Gegensatz zu physiologischen, biologischen und
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Werkanalyse
biochemischen Prozessen sind seelische, soziale und geistige Vorgänge beim Menschen immer geschichtlich. Die innere Lebensgeschichte eines Individuums, die Ordnung der biographischen Ereignisse sowie die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit seines Erlebens können nach Straus nur unter Inkaufnahme massiver Vereinfachungen auf das Niveau mechanistisch-materialistischer Theorien reduziert werden. So seien seelische Traumen eines Menschen nur verstehbar, wenn neben dem äußeren Geschehnis, das ihn möglicherweise schädigte, auch sein inneres Erlebnis und damit das für ihn Plötzliche, Erschütternde, Überraschende, Neue und Verändernde ins Auge gefasst werden. Nur so ist es nachvollziehbar, wie ähnliche Ereignisse oder Geschehnisse bei unterschiedlichen Individuen und zu verschiedenen Zeiten zu differenten Erlebnissen und Verarbeitungsmustern führen. Mit der Geschichtlichkeit des Menschen verknüpft sind Phänomene wie Werden, Gedächtnis, Zeitlichkeit sowie Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese Themen wurden von Straus zwar in seine Überlegungen aufgenommen und in ihrer Relevanz für die historische Seinsweise des Menschen angedeutet, in Geschehnis und Erlebnis aber nicht detailliert ausgearbeitet. Ein weiteres Anthropinon (Wesenseigentümlichkeit) bestand für den Autor darin, dass Menschen der Welt, in der sie leben, und den in ihr ablaufenden Ereignisketten dauernd Sinn entnehmen und sie in soziale sowie geistig-kulturelle Zusammenhänge einordnen. Straus sprach hierbei von einem Imperativ, den oftmals absurd oder chaotisch anmutenden Geschehnissen des Lebens einen Sinn abzugewinnen oder unterzulegen. Sinnentnahme kann in etwa gleichgesetzt werden mit dem Begriff der Bedeutungszuschreibung. Straus unterschied zwischen differenter und indifferenter Bedeutung. Äußere Geschehnisse können als different (also relevant) oder indifferent erlebt werden, und der Einzelne entnimmt ihnen aszendierenden oder kollateralen Sinn- und Bedeutungsgehalt. Als Beispiel aszendierender Sinnbeziehung entwarf der Autor eine Situation, in welcher ein Passant auf ein Unfallopfer stößt und angesichts dieses Ereignisses an eigene Gefährdung und To-
desmöglichkeit denkt. Eine kollaterale Sinnentnahme lag hingegen bei der berühmten Anekdote vor, die erzählt, wie Isaac Newton beim Erlebnis eines fallenden Apfels die Gravitationsgesetze entdeckt haben will:
»
Wäre die Newton-Anekdote wahr, so zeigte sie, wie sich produktives Erleben eines Ereignisses bemächtigt, sich nicht von ihm zu einer bestimmten Sinnentnahme zwingen lässt, sondern aktiv fragend an es herantritt, einen indifferenten Vorgang aus der Indifferenz herausdrängt, die Problematik des Alltäglichen wieder entdeckt. Erst dadurch, dass Newton die in ihm beschlossene und repräsentierte Problematik entdeckte, wurde das Erlebnis aus seiner Alltäglichkeit herausgehoben (Straus 1978a, S. 97f.).
«
Es ist unerheblich, ob es sich um differente oder indifferente Bedeutung und um aszendierende oder kollaterale Sinnentnahme handelt – immer haftet dem uns begegnenden Leben die Aufforderung an, von uns in einen stimmigen Kontext eingefügt zu werden. Der Mensch ist ein Sinnsucher, und nur wenn er dieser Aufgabe nachkommt, kann er für sich Entwicklung, Gesundheit und manchmal sogar Glück realisieren. Ein letztes von Straus erwähntes Anthropinon ist die Tendenz des Menschen, bei seinen Aufgaben, Handlungen und Verhaltensweisen ein Maximum an Form oder prägnanter Gestalt zu verwirklichen. Eng mit der Realisierung von Form und Gestalt verknüpft ist die Wahrnehmung von Werten. Jedwede Situation wird nur formvollendet gestaltet, wenn die ihr innewohnenden Werte und das von diesen Werten ausgehende Sollen erkannt, anerkannt und in die Wirklichkeit eingearbeitet werden. Manche Krankheiten sowie Perversionen, Süchte, Kriminalität und eben auch die Rentenneurosen wurden von Straus als Resultate und Äquivalente ahistorischer, sinn- und formwidriger Lebensvollzüge angesehen. Wann immer sich Einzelne gegen den Prozess von Werden und Veränderung sowie gegen eine Mehrung von Sinn und Wert innerhalb ihres Lebens stellen, laufen sie Gefahr, einem Deformierungsprozess anheim zu fallen. Dieser führt zu einem Niveau- und Funktionsverlust ihrer kör-
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Kapitel • Erwin Straus
perlichen, sozialen oder seelisch-geistigen Verfassung und damit zu reduzierten Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen:
»
Organempfindungen sind genau wie Sinnesempfindungen nur Material für das Erlebnis unseres Wohl- oder Übelbefindens. Damit unser Wohl- in Übelempfinden umschlägt, brauchen nicht andere körperliche Vorgänge und Empfindungen gegeben zu sein; es genügt schon ein Wechsel oder Fortfall des Ziels, das Aufhören oder Entgleiten möglicher Selbstverwirklichung (Straus 1978a, S. 126).
«
Diese Zusammenhänge haben für die Therapie seelischer wie körperlicher Erkrankungen (und auch von Traumen und Rentenneurosen) Folgen. Über eine Symptom- und Beschwerdebeseitigung bei Patienten hinaus dürfen und sollen Ärzte die Daseinsdimensionen ihrer Geschichtlichkeit, Sinnsuche sowie Form- und Wertverwirklichung untersuchen. Solche Gesichtspunkte einer existentiell angelegten Diagnostik und Behandlung berühren allerdings nicht nur die Welt- und Lebensanschauungen der Patienten, sondern auch diejenige von Ärzten und Therapeuten. z
Vom Sinn der Sinne
Als Reaktion auf Geschehnis und Erlebnis publizierte Ludwig Binswanger 1931 eine ausführliche Rezension, in der er auf einige Schwächen im Text von Straus hinwies. Dieser nahm die Einwürfe seines Freundes ernst und beschloss, in einer neuen Schrift darauf einzugehen. Daraus entstand innerhalb weniger Jahre das über 400 Druckseiten umfassende Manuskript Vom Sinn der Sinne, das 1935 veröffentlicht wurde. Dieses Buch trägt den Untertitel Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie. Womöglich hat Straus hierbei untertrieben, denn korrekterweise hätte er sein Hauptwerk durchaus mit Grundlegung der Psychologie, Medizin und Anthropologie betiteln dürfen. Wir beziehen uns bei unserer Erörterung auf die zweite, um wesentliche Aspekte erweiterte Auflage aus dem Jahr 1956. Wie weitläufig der Autor sein Werk konzipierte, wird schon an der Einleitung ersichtlich. Darin setzte er sich mit der Erkenntnistheorie von René
Descartes auseinander, der im 17. Jahrhundert ein Hauptvertreter des Rationalismus geworden war. In seinen Schriften hatte er ein Bild des Menschen entworfen, das von einer Trennung in »res extensa« (Körperlich-Materielles) und »res cogitans« (Seele/ Bewusstsein) ausging und aufgrund seiner inneren Konsistenz und leichten Umsetzbarkeit Generationen von Philosophen und Wissenschaftlern nachhaltig, aber nicht immer nur günstig beeinflusste. Descartes war überzeugt, dass viele philosophische Probleme nur deshalb auftraten und nicht erfolgreich gelöst wurden, weil Forscher und Denker die beiden Welten von Materie (das Ausgedehnte) und Geist (das Erkennende, das Bewusstsein) nicht säuberlich trennten. Empfindungen und sinnliche Wahrnehmungen bedeuteten in seinem Modell unmittelbare Affektionen, die zwar zwischen der materiell ausgedehnten Welt und dem Bewusstsein vermittelten, gleichzeitig jedoch das abstrakte Denk- und Erkenntnisvermögen störten. Für den französischen Philosophen gab es nur einen Ort im menschlichen Organismus, an dem die Sinnesdaten der äußeren Welt auf das nicht materielle Bewusstsein treffen sollten: die Zirbeldrüse, im Zentrum des Gehirns gelegen. Hier war seiner Meinung nach die Vermittlungsstelle zwischen »res extensa« und »res cogitans« beheimatet. Ansonsten führten ihm zufolge Denken und Vernunft (»ratio«) ein vom Körper unabhängiges Eigenleben – daher der Begriff Rationalismus. Ausgehend von dieser cartesischen Scheidung in die zwei strikt voneinander getrennten Substanzen Materie und Geist respektive Soma und Psyche sind einige Forscher nach Descartes der Tendenz erlegen, den menschlichen Körper als belebte, nicht aber als beseelte Maschine aufzufassen. Somatische Funktionen wie Wahrnehmungen, Bewegung, Verdauung, Atmung, Schlafen oder Wachen begriffen sie entsprechend dem Maschinenmodell als komplexe Mechanik, die exakt (Gesundheit) oder weniger exakt (Krankheit) abläuft. Der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de Lamettrie brachte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts diese Einstellung auf die griffige Formel »l’homme machine«. Im 19. Jahrhundert erfuhr dieses Konzept mächtigen Aufschwung. Die Forschungsergebnisse von Physik, Chemie und Biologie sowie eine posi-
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Werkanalyse
tivistische und materialistische Weltanschauung schienen das Modell vom menschlichen Körper als Maschine vollumfänglich zu bestätigen. Dabei wurden das Seelisch-Geistige am Menschen, sein sinnliches Erleben und seine subjektiven Empfindungen ausgeklammert oder als zweitrangige Epiphänomene physikalisch-biologischer Vorgänge betrachtet. Dies führte bei manchen Wissenschaftlern dazu, dass sie einfache, aber falsche Konzepte des menschlichen Organismus formulierten. Im ersten und zweiten Kapitel seines Buches demonstrierte Straus, wie zum Beispiel der russische Neurologe und Nobelpreisträger Iwan Pawlow (1849–1936) mit seinen lerntheoretischen Erwägungen in der philosophischen Tradition von Descartes stand. Die von ihm gebrauchten Begriffe wie Reiz, Reflex und Konditionierung legten nahe, den Menschen als bloße Ansammlung anatomisch-physiologischer Grundelemente und -funktionen von Gehirn (Nervenzellen, Reflexbogen), inneren Organen und Bewegungsapparat (Muskelzellen) zu begreifen. Existentiell relevante Phänomene wie Intentionalität, Geschichtlichkeit, Wertorientierung oder subjektive Verarbeitung von Empfindungen wurden dabei vernachlässigt. Es macht einen Teil der Qualität von Straus‘ Text aus, mit eleganter Polemik und umfassenden naturwissenschaftlichen Kenntnissen die prinzipiellen Schwachstellen des Pawlow‘schen Modells offen gelegt zu haben. Bei dieser Gelegenheit wies Straus noch anderen Konzepten wie dem Behaviorismus, der Psychoanalyse oder der akademischen Medizin und Psychologie nach, dass sie den anthropologischen Prämissen von Descartes Folge leisteten und damit das Spezifische des menschlichen Organismus und seiner Existenz verfehlten. In Vom Sinn der Sinne gab sich Straus jedoch mit Kritik allein nicht zufrieden. Im dritten und vierten Kapitel, überschrieben mit Der Mensch denkt, nicht das Gehirn sowie Das Empfinden und Sich-Bewegen historiologisch betrachtet, entwickelte er eigene Theorien über Aufgabe und Funktion des menschlichen Leibes, vor allem seiner Sinnesorgane, des Gehirns und des Bewegungsapparats. Dabei berücksichtigte er die biologische Basis des Menschen ebenso wie seine Geschichtlichkeit und permanente Bezogenheit auf die Welt.
Nach Straus geht man grundsätzlich fehl, wenn man den Körper des Menschen mit Maschinen gleichsetzt, selbst wenn diese – wie etwa Fotoapparate oder Thermometer – zur Registrierung physikalischer Zustände in der Lage sind. Zwar gibt es zum Beispiel beim Sehvorgang manche Ähnlichkeiten zwischen dem Auge (Retina, Sehnerv und -rinde) und mechanisch-optischen Apparaturen; nicht zufällig greifen Augenärzte auf Erkenntnisse der optischen Physik zurück, um ihre Patienten korrekt zu diagnostizieren und zu therapieren. Bei allen Analogien jedoch bestehen gravierende Unterschiede, auf die Straus mehrfach und entschieden hinwies. Zugegebenermaßen treffen optische, akustische, olfaktorische (den Geruchssinn betreffende), gustatorische (den Geschmack betreffende) oder taktile Reize der Umwelt auf entsprechende Rezeptoren des Körpers und werden über Nervenzellen zum Zentralnervensystem geleitet, wo sie weiterverarbeitet, im Gedächtnis archiviert und mit vegetativen und motorischen Reaktionen des Gesamtorganismus beantwortet werden. Diese Verarbeitung, Archivierung und Beantwortung geschieht jedoch anders als bei fotomechanischen Ablichtungen, Tonaufnahmen oder Bewegungsmeldern. Das Gehirn ist kein Organ, das nur zwischen Reiz und Reaktion, Input und Output vermittelt – es ist vielmehr ein Mittler zwischen physikalischer und erlebter Welt, ein Organ der Transformation und nicht lediglich der Transmission:
»
Das Gehirn ist ein Organ im ursprünglichen Sinn des Wortes. Die Griechen haben die Glieder des Leibes Organe, also Werkzeuge genannt. Das Werkzeug vermittelt zwischen dem Menschen und dem natürlichen Geschehen. In einem ähnlichen Sinn vermittelt das Auge oder das Nervensystem zwischen dem physikalischen Geschehen und der dem erlebenden Wesen erscheinenden Welt. Atomares Geschehen zusammenfassend, lässt es die großen stabilen Ordnungen erstehen, in denen Tier und Mensch sich orientieren und orientierend handeln (Straus 1978b, S. 189).
«
Nach Straus sind wir (wie Goethe den Türmer Lynkeus in Faust II von sich sagen lässt) »zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt«. Das heißt, dass
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Kapitel • Erwin Straus
unsere Sinneseindrücke zu interpretierender und sinnstiftender Abbildung der Wirklichkeit führen. Wir sehen nicht nur dieses oder jenes – zugleich wird dem Gesehenen immer auch eine Bedeutung und ein Wert zuerteilt, und damit wird es zum Geschauten. Des Weiteren sind Sinneseindrücke, Empfindungen und Wahrnehmungen nicht im Betreffenden allein zu verorten – sie ereignen sich vielmehr in einem Feld sympathetischer Kommunikation, im Geflecht von Individuum, Mitmenschen, Natur, Kultur und Welt. Auch eine strikte Trennung in Wahrnehmungsmodalitäten wie optisch, akustisch, haptisch, olfaktorisch sei unstatthaft; immer handele es sich um das Zusammenspiel von Sinnesreizen zu Synästhesien. Den einzelnen Sinnesmodalitäten schrieb Straus unterschiedliche Qualitäten zu. So gibt es pathische (passiv sich ereignende) und gnostische (erkennende) Aspekte sinnlicher Wahrnehmung: Beim Hören, Riechen und Schmecken überwiege der pathische Anteil, wohingegen das Sehen dem Pol des Gnostischen zugeordnet sei. Der taktile Sinn enthalte beide Qualitäten; Menschen greifen und können dadurch etwas begreifen (gnostisch), oder sie berühren und werden dadurch berührt (pathisch). Daneben könne man analytische (z. B. das Sehen) von synthetischen (z. B. das Hören) sowie permanente von momentanen Sinneseindrücken unterscheiden. Auch die Räumlichkeit des sinnlich Wahrgenommenen differiere erheblich. Die meisten Sinneseindrücke sind auf vorsprachlicher Ebene angesiedelt. Vor aller Benennung und Verdinglichung spüren Menschen Empfindungen, die ihre Verhaltensweisen und Stimmungen beeinflussen, ohne dass sie sich ihrer bewusst werden. Der Einzelne kommuniziert sympathetisch mit seiner Welt und greift dabei kaum auf Begriffe zurück. Er erlebt sinnlich-leibhaftig Zustände ohne Distanz zu Dingen, Verhältnissen oder Mitmenschen um ihn her; die Kategorien von innen und außen sind außer Kraft gesetzt: »Im sinnlichen Erleben trennt uns kein Rahmen vom Gegenstand; es ist ein und dieselbe Welt, die uns und das Andere umfasst« (Straus 1960a, S. 246). Auf der Ebene sympathetischer Kommunikation gibt es für den Menschen Lockendes oder
Schreckendes, dem er sich annähert, mit dem er sich vereinigt oder von dem er sich entfernt. Empfindungen sind immer mit Bewegungen verknüpft, die sich zum Beispiel als Begehren, Abscheu oder Flucht beschreiben lassen. Diese Elementarreaktionen beziehen sich weder auf Vergangenheit noch Zukunft; sie sind auf den aktuellen Zustand oder in den Worten von Straus auf den präsentischen Raum und die präsentische Zeit ausgerichtet. Beispiele derartiger Kommunikation hatte Straus bereits 1930 in Die Formen des Räumlichen beschrieben. Darin untersuchte er menschliches Raumerleben beim Musikhören und Tanz. Dabei komme es zu einer gegenseitigen Durchdringung pathischer und gnostischer Momente der Wahrnehmung, was dazu beitrage, dass der Rhythmus der Musik beim Hörer willkürliche und unwillkürliche Bewegungen induziere. Rhythmus, Bewegung und Melodie formen eine spezielle Art der Räumlichkeit, wie sie am stärksten im Tanz erlebbar werde. Tanz sei eine Form der Bewegung, die kaum gerichtet und auf keine Entfernungen hin bezogen ist. In ihm mache sich die sympathetische Kommunikation des Tänzers mit seiner Umgebung besonders deutlich bemerkbar. In der durch Musik und Tanz ausgelösten Ekstase könne es sogar zu einer Lockerung und Auflösung der Subjekt-Objekt-Grenzen und zu einer Art Einswerdung mit dem Raum kommen. In Die Formen des Räumlichen hat Straus bereits ein Jahrzehnt vor Viktor von Weizsäcker den engen Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung beschrieben. Anhand des Tanzes zeigte er auf, wie sehr gehörte Musik und dazu korrespondierende Motorik eine untrennbare Einheit bilden. Weizsäcker hat später in Der Gestaltkreis (1940) analoge Gedanken zum Verhältnis von Wahrnehmung und Bewegung geäußert. Von den Empfindungen unterschied Straus die Wahrnehmungen. Diese sind bewusst und werden sprachlich mit Anderen (Gespräch) oder im betreffenden Individuum (Selbstgespräch, Denken) kommuniziert. Der Wahrnehmende erlebt sich nicht mehr vollständig eingelassen ins sympathetische Feld seiner Eindrücke; im Prozess der Wahrnehmungen wird er zu einem erkennenden und nicht selten distanzierten Gegenüber von Mitmensch, Welt und Kultur:
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Werkanalyse
» Die Wahrnehmung bedarf wie alle Erkenntnis eines allgemeinen objektiven Mediums. Die Wahrnehmungswelt ist eine Welt von Dingen mit festen und veränderlichen Eigenschaften in einem allgemeinen objektiven Raum und einer allgemeinen objektiven Zeit. Der Raum der Empfindungen verhält sich zum Raum der Wahrnehmungswelt wie die Landschaft zur Geographie (Straus 1978b, S. 334).
«
Anhand vieler Beispiele, die von der Psychopathologie bis zur Dichtung und Kunstmalerei reichen, beschrieb Straus die Unterschiede zwischen landschaftlichem und geographischem Raum sowie den entsprechenden zeitlichen Daseinsweisen. In Landschaften sind Menschen eingelassen und von einem Horizont umgeben; Raum und Zeit erleben sie präsentisch und subjektiv. Distanz dazu in Form eines ordnenden Überblicks ist nur möglich, wenn sie eine geographische Perspektive einnehmen, die mit objektiven und messbaren Raum- und Zeitangaben assoziiert ist. Die Geschichte von Straus’ Ästhesiologie (Lehre von den Sinnen und ihren Funktionen) zeigt übrigens, welche destruktiven Folgen der Faschismus (neben allen Opfern an Sachwerten und Menschenleben, die er vor allem kostete) im Hinblick auf den wissenschaftlich-philosophischen und geistig-kulturellen Austausch zwischen einzelnen Forschern und Denkern hatte. Mitte der 30er Jahre, als Vom Sinn der Sinne erschien, war der Zoologe und Philosoph Helmuth Plessner bereits zwei Jahre aus Deutschland vertrieben und lebte im holländischen Exil. Er hatte sich seit Mitte der 20er Jahre ebenfalls mit Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes (1923) befasst, die jedoch ähnlich wie seine anderen Texte kaum Beachtung fanden. Straus erwähnte Plessner in der ersten Auflage Vom Sinn der Sinne nicht, und aufgrund seiner eigenen Vertreibung und der damit verbundenen Unterbrechung der wissenschaftlichen und literarischen Kommunikation mit Forschern aus Europa dauerte es noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg, bis Straus auf die entsprechenden Schriften Plessners stieß und vice versa. Dies ist bedauerlich, weil Plessner manche Ideen von Straus in modifizierter Form schon vorweggenommen hatte, und weil die
davon ausgehende gegenseitige geistige Befruchtung nun erst Jahrzehnte später stattfand. Straus lud Plessner zu den »Lexington Conferences« in die Neue Welt ein, und Letzterer zitierte den Ersteren dann anerkennend erst in seiner 1970 erschienenen Anthropologie der Sinne. z
Psychologie der menschlichen Welt
Vom Sinn der Sinne ebenso wie viele kleinere Abhandlungen von Straus dienten dem Zweck, die animalisch-vegetative Ursituation des Menschen sowie die damit verbundenen Grundfunktionen (Atmung, Bewegung, Wahrnehmung, aufrechte Haltung, Verdauung, Sexualität) zu beschreiben. Der Autor war überzeugt, dass realistische Anthropologien von den vital-biologischen Gegebenheiten des Menschen ausgehend formuliert werden müssen. Daher richtete er sein wissenschaftliches Interesse selbst auf so nebensächliche somatische Phänomene wie das menschliche Seufzen oder Achselzucken, an denen er anthropologische Erkenntnisse gewann, und die er als Grundlage für seine Axiome der Alltagserfahrung nutzte. Entsprechende Analysen zur Natur des Menschen finden sich im Sammelband Psychologie der menschlichen Welt. Das Buch vereinigt eine Reihe von Aufsätzen von Straus aus vier Jahrzehnten, darunter so bedeutende wie Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression (1928), Die Formen des Räumlichen (1930), Die Scham als historiologisches Problem (1933), Ein Beitrag zur Pathologie der Zwangserscheinungen (1938), Die aufrechte Haltung (1949), Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen (1949), The Sigh – An Introduction to a Theory of Expression (1952) sowie Der Mensch als ein fragendes Wesen (1953). Vor allem an der aufrechten Haltung ging Straus der Frage nach, inwiefern das Weltverhältnis des Menschen von seinen organismischen Fakten her bestimmt ist. Jedem Lebewesen sei durch seinen Bauplan vorgezeichnet, welche Möglichkeiten des Existierens es ergreifen kann – so auch dem Homo sapiens, dessen seelisch-geistige Potenzen zu einem nicht geringen Teil von der Tatsache abhängen, dass er zum aufrechten Gang befähigt ist. Die aufrechte Haltung kann im wörtlichen und im metaphorischen Sinn verstanden werden. Im ersteren Zusammenhang meint man die Aufrich-
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Kapitel • Erwin Straus
tung des menschlichen Körpers in die Senkrechte, bei welcher der Schwerkraft entgegengewirkt wird. Auf die letztere Bedeutung spielte zum Beispiel Ernst Bloch in seinem Das Prinzip Hoffnung (1954–59) an, als er meinte, dass für die meisten Menschen nichts schwerer zu erlernen sei als der aufrechte Gang. Straus erwähnte viele Konsequenzen, die sich aus der aufrechten Körperhaltung ergeben. Solange sich Tiere auf allen vieren laufend mit ihren Sinnesorganen nahe am Boden bewegen, dominieren ihre Nahsinne (Riechen, Schmecken, Tasten). Als der Mensch sich im Laufe der Evolutionsgeschichte aufrichtete, entwickelten sich die Fernsinne (Sehen und Hören), so dass man ihn heute als ein Wesen der Ferne bezeichnet. Damit verknüpft ist seine Fähigkeit zum perspektivischen Schauen, Einordnen und Erkennen. Menschen unterscheiden räumlich und zeitlich das Nahe und Ferne, womit ihnen allein schon vom aufrechten Stand her die Möglichkeit eröffnet wird, ins Vergangene und Zukünftige zu blicken. Außerdem bildet ihre Körperhaltung die Grundlage für das Erlebnis von potentiell grenzenloser Weite, das sich als seelisch-geistige Weltoffenheit und als panoramatisch-enzyklopädisches Interesse an der Totalität des Universums manifestieren kann:
übernehme die Sprache die Rolle von Vermittlung und Kontaktgestaltung zwischen dem Einzelnen, seinen Mitmenschen und der Welt. Mit der aufrechten Haltung verbunden ist des Weiteren ein Zuwachs an Freiheitsgraden. Dies wird offenkundig, wenn man bedenkt, dass durch die Aufrichtung des Körpers die menschliche Hand für ihre vielfältigen Funktionen freigesetzt wurde. Straus charakterisierte die menschliche Hand als multipotentes Werkzeug (nicht zuletzt aufgrund des opponierbaren Daumens), Orientierungsmöglichkeit (bei Blinden, im Dunklen), Sinnesorgan (Tasten), Kommunikationsorgan (Gesten), Kontaktfläche (Handschlag) und als »Vorposten der Erkenntnis« (greifen führt nicht selten zum Begreifen und Erkennen). Darüber hinaus erlebt sich der Mensch aufgrund seiner Körperhaltung generell als ein Freigesetzter:
» Im Aufrichten löst sich der Mensch vom Boden,
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dem tragenden Grund. Er gewinnt Freiheit, zugleich aber verliert er den innigen Kontakt, die sichere Geborgenheit – ein nie verschmerzter Verlust. Aufrecht sehnen wir uns nach dem Grund, genießen das Sinken und Sich-fallen-Lassen. Aber eingezwängt in die Enge der »Gruft-Welt« sehnen wir uns danach, uns zu erheben, die Freiheit der Bewegung wiederzugewinnen (Straus 1960b, S. 226f.).
Weil Menschen Wesen der Ferne und Distanz geworden sind, ergab sich für sie die Notwendigkeit, über größere Entfernungen hinweg miteinander zu kommunizieren. Straus führte daher die Sprachentwicklung unter anderem auf das Faktum des aufrechten Gangs zurück. So wie die Sinne, das Gehirn und der gesamte Organismus des Menschen sein In-der-Welt-Sein ermöglichen und modifizieren,
So existieren wir alleine aufgrund unserer biologischen Gegebenheiten zwischen den Polen von Freiheit und Zwang, Wagnis und Sicherheit, Senk- und Waagerechten. Wir erleben Triumphe, Niederlagen, Begierden, Chancen, Gefahren, Konflikte, Wünsche, Hoffnungen – und dies stets als leibhaftige Wesen. Straus betonte, dass wir uns die Menschen weder als leib- und weltlose Bewusstseine (wie im Cartesianismus beschrieben) noch als mechanisch funktionierende Organismen und Nervensysteme (wie ansatzweise bei Lamettrie skizziert) noch als Kompositum von alledem vorstellen dürfen. Vielmehr sind wir als verkörperte Bewusstseine in die andauernde sympathetische Kommunikation mit der Welt und den Mitmenschen eingebunden, und alle Versuche, sich daraus lösen und in Quarantäne vor den Anderen existieren zu wollen, enden in Verzweiflung und Pathologie. Ein Selbstbewusst-
Im Gegenüber der aufrechten Haltung kommen die Dinge in ihrem eigenen Wesen in Sicht, dringt der Blick in die Tiefe, wird die Sicht zur Einsicht. Einsicht ist notwendig Fernsicht. Einsicht fordert, dass ich von mir absehend die Dinge betrachte, nicht um sie mir einzuverleiben, sondern um sie in ihrem Wesen zu erschauen. In der aufrechten Haltung löst sich der Mensch von der Nähe, wird sein Auge zum Fernsinn, der vordringt bis zu den äußersten Horizonten, bis zum Himmel und den Sternen (Straus 1960b, S. 232).
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Werkanalyse
sein jenseits des Weltbewusstseins gibt es nicht – es gibt uns immer nur als jeweils Erlebende, das heißt als Wahrnehmende, Liebende, Begehrende, unsere Geschichte Gestaltende und Erleidende, als Erkennende, Vorstellende, Empfindende, Denkende oder Handelnde in und mit unseren Organismen und nicht daneben, davor oder darüber hinaus. In Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen untersuchte Straus bei psychiatrisch Erkrankten, welche Folgen für sie aus gelockerten Beziehungen zu ihrem Körper und ihrer Welt erwachsen. Bei der Beschreibung ihrer Symptome (Halluzinationen, Depersonalisation, Unheimlichkeitserleben) ging es ihm vorrangig nicht um das Warum, sondern das Wie des psychotischen Krankseins. Ähnlich wie er es bei Husserl gelernt hatte, interessierte er sich ausführlich für die existentiellen Phänomene und die Lebenswelt der Kranken, ohne sich groß um die Ätiologie ihrer Störungen zu bekümmern. Straus zufolge deuten die Erfahrungen von Depersonalisation (Fremdheit der eigenen Person) oder Derealisation (Fremdheit der Welt) auf eine Störung der sympathetischen Kommunikation des Betroffenen hin. Sein Ich-Welt-Verhältnis müsse dergestalt beeinträchtigt sein, dass er die Inhalte seiner sinnlichen Wahrnehmungen nicht mehr ohne weiteres in sein persönliches Ordnungs- und Werdeschema integrieren kann. Damit sei seine Bindung an die Welt wie abgeschnitten, was in grundsätzlicher Weise zu einer Behinderung seiner Selbstverwirklichung sowie zum Fremdheitserleben von Welt und eigener Person beitrage. Auch bei Trugwahrnehmungen zum Beispiel im Rahmen von Delirien oder Schizophrenien ging Straus von einer fundamentalen Instabilität der Ich-Welt-Beziehungen der Patienten und daraus resultierend ihrer Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit aus. Das Stimmenhören vieler an Schizophrenie Erkrankter mache sich in einer entstalteten akustischen Erlebnissphäre bemerkbar, die dadurch gekennzeichnet sei, dass die Betreffenden keine Distanz zwischen sich und ihre Phoneme legen können. Weil die Kranken darüber hinaus meistens über zu wenige tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen verfügen, fällt für sie und ihre Symptomatik der Korrekturfaktor Mitmensch aus. Die Patien-
ten sind mit ihren sie in vielen Fällen bedrängenden Stimmen alleine, ohne dass die anderen durch ihre Art der Kommunikation und Interaktion bei ihnen Zweifel an ihren Trugwahrnehmungen wecken können. Wie wichtig nicht nur für psychiatrisch Kranke, sondern für alle Menschen ein heimatliches Erleben der Welt ist, wird deutlich, sobald dem Einzelnen ihm unvertraute Fremde begegnen. Im günstigen Fall reagieren Menschen auf Unbekannte mit freundlicher Distanz oder mit interessierter Vorsicht. Wenn Menschen jedoch in unbehausten, unsicheren Atmosphären leben, misstrauisch gestimmt oder psychotisch erkrankt sind, können die Fähigkeiten einer realistischen Beurteilung ihrer Gegenüber eventuell eingeschränkt sein. Möglicherweise sehen sie nun im Anderen (dem Allon, wie Straus ihn nannte) hauptsächlich eine Gefahr. Ähnlich wie Jean-Paul Sartre dies in Das Sein und das Nichts (1943) im Hinblick auf das Verhältnis von blickendem Subjekt und erblicktem Objekt beschrieben hat, erläuterte Straus in seiner Abhandlung Philosophische Grundfragen der Psychiatrie (1963) die Folgen derartiger Einschränkungen:
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Der Kranke wie der Gesunde steht selbst im Erlebnisfeld, affiziert von dem Allon, dessen Macht er erfährt. Trübung des Bewusstseins besagt jetzt unter anderem, dass die Distanzierung, die Scheidung der bipolaren Ordnung misslingt, die Grenzen zum Allon sich verschieben, die gegenständliche Ordnung ins Wanken gerät. Misslingt die Distanzierung, sind wir dem Allon ausgeliefert, wir erfahren seine Macht physiognomisch als wachsende Bedrohung (Straus in Philosophische Grundfragen der Psychiatrie, Erstveröff. 1963, zit. nach Passie 1995, S. 167).
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In solchen Situationen vernachlässigen wir oftmals jene Aufgabe, die Straus in Der Mensch als fragendes Wesen (1953) als zentral für den Homo sapiens herausstellte. Um sich in der Welt orientieren zu können, Sinn, Wert und Bedeutung des eigenen Daseins, des Lebens der anderen und der gesamten Kultur zu verstehen und sich damit Empfindungen von Sicherheit und Heimat zu erwerben, braucht es eine fragende Einstellung.
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Kapitel • Erwin Straus
Wer sich stattdessen mit vorschnellen Antworten und Vorurteilen zufriedengibt, steht mit einem Bein bereits im Bereich der Pathologie. Nur dem Fragenden erschließen sich die Zusammenhänge der individuellen Geschichte mit derjenigen von Kosmos, Leben und Kultur.
Conclusio Man hat Erwin Straus zu Recht bescheinigt, dass er in seinen Schriften ein hohes Maß an geistvollen Gedanken präsentierte, welche den Leser bereichern und nicht selten aufgrund ihrer überraschenden Verknüpfungen verblüffen. Straus war ein Gelehrter par excellence, wobei hervorgehoben werden darf, dass er seine Ideen auf verständliche Weise zu Papier gebracht hat. Gleichzeitig wurde an seinen Texten bemängelt, dass sie zu wenig praktisch-konkrete Gesichtspunkte zur Diagnostik und Therapie von psychiatrischen oder somatischen Erkrankungen enthalten. Größere Abhandlungen über Behandlungsverläufe oder Fallgeschichten fehlen fast ganz – ein Faktum, welches das auf Theorie hin orientierte Interesse von Straus realistisch widerspiegelt. Unser Autor hätte solchen Einwürfen wohl entgegnet, dass er mit seinen Aufsätzen und Büchern primär das Ziel verfolgte, den Menschen in seiner normalen Art der Existenz und nicht als Patient zu beschreiben. Nur wenn man über Vorstellungen von der Norm des menschlichen Daseins verfüge, könne man ermessen, was das Wesen von Deviation, Störung oder Krankheit ausmache. Daher finden sich bei Straus viele Anläufe, den Menschen in seinen teilweise schlichten und normalen Lebensvollzügen zu erfassen. Die Intention seiner Erörterungen lag darin, der Conditio humana von ihrer organismischen Basis aus nachzuspüren und sie in den physiologischen Grundfunktionen aufzuweisen. Dabei konnte er zeigen, dass beim Menschen selbst so banale biologische Phänomene wie ein Seufzer, die aufrechte Haltung oder schlichte Sinneswahrnehmungen psychosoziale und geistig-kulturelle Bedeutungen repräsentieren. Der Mensch ist nie nur Bios, und wo er sich selbst dazu macht oder von anderen auf diese Dimension reduziert wird, verfehlt er sich in seinem
Wesen. Jeder Moment und jede Situation unseres Daseins enthalten Sinn, Wert und Bedeutung, und immer leben wir in Bezug auf Mitmensch, Welt und Kultur. Der Norm unseres Existierens werden wir gerecht, solange wir diese Rahmenbedingungen akzeptieren. Zumindest andeutungsweise hat Straus ausgeführt, wie in Süchten, Perversionen und Krankheitszuständen (Depersonalisation, Halluzination, Depression, Zwang) diese Norm außer Kraft gesetzt wird. Es bleibt ein Desiderat zukünftiger anthropologischer und klinischer Forschung, diese Zusammenhänge umfassend transparent zu machen.
Literatur Bossong F (1991) Zu Leben und Werk von Erwin Walter Maximilian Straus (1891–1975). Königshausen & Neumann, Würzburg Passie T (1995) Phänomenologisch-anthropologische Psychiatrie und Psychologie – Eine Studie über den Wengener Kreis. Thieme, Stuttgart Spiegelberg H (1972) Phenomenology in Psychology and Psychiatry. Northwestern University Press, Evanston Straus E (1960) Psychologie der menschlichen Welt – Gesammelte Schriften. Springer, Berlin Straus E (1960a) Ästhesiologie und Halluzinationen. In: Psychologie der menschlichen Welt. Springer, Berlin (Erstveröff. 1949) Straus E (1960b) Die aufrechte Haltung. In: Psychologie der menschlichen Welt. Springer, Berlin (Erstveröff. 1949) Straus E (1963) Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt – Betrachtungen zur aufrechten Haltung. In: Wiesenhütter E (Hrsg) Werden und Handeln. Hippokrates, Stuttgart Straus E (1978a) Geschehnis und Erlebnis – Zugleich eine historiologische Deutung des psychischen Traumas und der Rentenneurose. Springer, Berlin (Erstveröff. 1930) Straus E (1978b) Vom Sinn der Sinne – ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie (1935/1956). Springer, Berlin
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Viktor Frankl Biographisches – 296 Logotherapie und Existenzanalyse – 298 Conclusio – 304 Literatur – 306
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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. Abb. 1 Viktor Frankl (*1905; †1997). (Aus Stumm et al. 2005)
In den inzwischen über hundert Jahren psychotherapeutischer Praxis hat es divergente Antworten auf die Frage gegeben, was Inhalt und Zweck einer seelenärztlichen Behandlung sein soll: die Rekonstruktion der Biographie; die Deutung von Träumen und Fehlleistungen; die Analyse des Lebensstils und der Familienatmosphäre; die Bearbeitung von Widerstand und Übertragung; oder das Umlernen und Konditionieren von Verhaltensmustern. Mit diesen Vorschlägen sind jeweils Menschenbilder verknüpft, die in den verschiedenen Schulen der Psychotherapie favorisiert wurden. Je nachdem, ob der Patient als Trieb- oder Mängelwesen, als ein »learning animal« oder als genetisch determiniertes Etwas definiert wird, muss seine Psychotherapie auf voneinander abweichende Zielsetzungen ausgerichtet sein und dementsprechende Vorgehensweisen anbieten. Viele psychotherapeutische Richtungen tendieren dahin, Patienten in jenen Bereichen ihres Lebens Ordnung, Sinn und Maß anzubieten, in denen sie diese verloren oder nie erobert haben. Störung oder Krankheit wird von den Menschen als Unordnung, Unsinn oder das Absurde erlebt und klassifiziert. Psychosoziale Behandlungen zielen daher oft auf eine Wiederherstellung oder Neufindung von Sinn ab – eine Idee, der sich Viktor Frankl in seinem Werk ausführlich gewidmet hat, und womit er eine Wesenseigentümlichkeit des Menschen – seine Suche nach Sinn – ins Visier nahm (. Abb. 1).
Biographisches Frankl wurde 1905 in Wien als Sohn eines jüdischen Staatsbeamten und einer Prager Patrizier-
tochter geboren. Sein Vater, der aus Südmähren stammte, hungerte sich – so Frankl – bis zum Absolutorium durchs Medizinstudium, musste dann aber aus finanziellen Gründen aufgeben und in den Staatsdienst eintreten: »Er war zehn Jahre Parlamentsstenograph und dann Privatsekretär eines österreichischen Ministers.« Frankl hat in diesem Zusammenhang seinen Vater als »den Gerechtesten aller Gerechten« bezeichnet. Gleichzeitig betonte er, dass aufgrund der beruflichen Ausrichtung des Vaters die Familie nach dem Ersten Weltkrieg relativ verarmte. Von der Mutter sprach Frankl stets in den höchsten Tönen. Sie sei eine überaus herzensgute und fromme Frau gewesen, die ihm in seiner Kindheit Geborgenheit und Schutz geboten und damit seine spätere Entwicklung als Psychotherapeut begünstigt habe. Beide Eltern sind ebenso wie Frankls Bruder in einem Konzentrationslager umgekommen – ein Schicksal, dem Frankl selbst nur knapp entronnen ist. Als dreijähriger Junge wollte Frankl entweder Arzt oder Schiffsjunge und Offizier werden. Um auf keines dieser Ziele verzichten zu müssen, kombinierte er seine Wünsche und formulierte als Ausweg das Berufsziel Schiffs- oder Militärarzt. Als Pubertierender fühlte sich Frankl zur Seelenkunde hingezogen und belegte in der Volkshochschule Kurse in angewandter Psychologie. Mit 15 Jahren, also um 1920, schrieb er die ersten Briefe an Sigmund Freud. Später erzählte Frankl stolz, dass der Begründer der Psychoanalyse ihm jeweils binnen 48 Stunden darauf geantwortet und sich, als beide einander 1926 persönlich kennenlernten, noch genau an seine, Frankls Adresse erinnert habe. Zu diesem Zeitpunkt war Frankl jedoch bereits zu Alfred Adler und dessen Individualpsychologie übergelaufen. Vor allem die sozialistische Weltanschauung Adlers imponierte anfänglich dem jungen Mann, der damals Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend war. Frankl war mit dem Begründer der Individualpsychologie im Rahmen von Vorträgen an der Volkshochschule in Kontakt gekommen. Kurze Zeit später wurde er im Café Siller, in dem Adler abends oft Schüler um sich scharte, in den Kreis der Individualpsychologen eingeführt und aufgenommen.
Biographisches
1925 publizierte Frankl in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie den Aufsatz »Psychotherapie und Weltanschauung«, und 1926 hielt der erst 21-Jährige, damals noch Student der Medizin, ein Hauptreferat auf dem Internationalen Kongress für Individualpsychologie in Düsseldorf. Nicht ganz zu Unrecht bezeichnete sich Frankl aufgrund dieser Karriere später als »schnellen Brüter«. Ein Jahr später erlebte der junge Gipfelstürmer allerdings einen Dämpfer. In den Reihen der Individualpsychologen waren schon längere Zeit Richtungskämpfe zu beobachten gewesen, die vor allem wegen der Abwesenheit Adlers, der in der zweiten Hälfte der 20er Jahre häufig in den USA weilte, vor sich hinschwelten. Der christlich-konservative Flügel um Oswald Schwarz und Rudolf Allers konkurrierte dabei mit linksradikal eingestellten Mitgliedern wie Manès Sperber, mit dem sich Frankl vorerst wegen dessen marxistischer Weltanschauung solidarisiert hatte. Als Adler 1927 eine Klärung dieser Querelen herbeiführte und Schwarz und Allers zum Verlassen der Individualpsychologischen Vereinigung aufforderte (Manès Sperber trennte sich später ebenfalls von Adler), war davon auch Frankl betroffen. Dieser hatte sich inzwischen inhaltlich auf die Seite der konservativen Clique gestellt und wurde wie Schwarz und Allers von Adler ausgeschlossen. Mit Rudolf Allers verband Frankl eine Tätigkeit in dessen sinnesphysiologischem Laboratorium, und an Schwarz bewunderte der junge Student dessen Fusion medizinischer und philosophischer Interessen. Frankl schlug ab 1927 einen eigenen Weg ein, der ihn bald als Leiter von Wiener Jugendberatungsstellen sah. Im roten Wien der 20er Jahre gehörten solche Beratungsstellen ebenso wie Schulexperimente zum Erziehungsprogramm der sozialistischen Stadtverwaltung. Neben Frankl arbeiteten noch weitere Tiefenpsychologen – etwa Erwin Wexberg, Rudolf Dreikurs, Ida Löwy und August Aichhorn – sowie Charlotte Bühler an diesen Institutionen mit. 1930 wechselte der inzwischen promovierte Frankl an den Steinhof, an die damals größte psychiatrische Klinik Österreichs, wo er anfänglich im sogenannten Selbstmörderinnen-Pavillon eingesetzt wurde. Als Arzt und angehender Psycho-
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therapeut wurde er dabei viele Male mit Frauen konfrontiert, die aus Empfindungen der Sinnlosigkeit und Resignation heraus Suizidversuche unternommen hatten. Im Rahmen dieser Tätigkeit stieß Frankl auf sein zukünftiges Lebens- und Forschungsthema: die Beziehung von Sinn respektive Sinnlosigkeit zu seelischer Krankheit und Gesundheit. Er begann, seine Beobachtungen und Überlegungen niederzuschreiben und in Form von Zeitschriftenartikeln zu veröffentlichen. Aus diesen Aufzeichnungen ist sein erstes Buch hervorgegangen, das Frankl 1946 unter dem Titel Ärztliche Seelsorge veröffentlichen konnte. In ihm sind die Grundzüge der späteren Logotheorie und -therapie bereits angelegt. 1937 ließ Frankl den Steinhof hinter sich und machte sich mit einer eigenen Praxis als Facharzt für Psychiatrie und Neurologie selbständig. Ab 1938 veränderten sich nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich die politischen Rahmenbedingungen radikal. Als Jude war Frankl froh, die Leitung einer Abteilung des Rothschildspitals in Wien übernehmen zu können und aufgrund dieser Position einen gewissen Schutz vor antisemitischen Übergriffen zu haben. Dieser Schutz bestand nur kurze Zeit. Zusammen mit seiner Frau Tilly wurden Frankl, sein Bruder und seine Eltern nach Theresienstadt und schließlich nach Auschwitz verschleppt. Der Vater Frankls starb schon in Theresienstadt, die übrige Familie wurde in Auschwitz ermordet. Frankl selbst überlebte denkbar knapp; zuletzt wog er, als er in einem Außenlager von Dachau dahinvegetierte, keine vierzig Kilogramm mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging Frankl daran, seine Erfahrungen der vergangenen Jahre einzuordnen und seine Gedanken zum Sinn und dessen Bedeutung für das menschliche Dasein zu bündeln. Daraus entstand die erwähnte Monographie Ärztliche Seelsorge. Mit dieser Veröffentlichung war Frankls schriftstellerischer Durchbruch verbunden. In den folgenden Jahrzehnten hat er mehr als zwanzig Bücher verfasst, die in viele europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt wurden, und die ihren Verfasser und dessen Logotherapie berühmt machten. Einige Zeit nach der Publikation von Ärztliche Seelsorge heiratete Frankl ein zweites Mal. Seine
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Kapitel • Viktor Frankl
Frau Eleonore Katharina, mit der er über vier Jahrzehnte eine harmonische Ehe führte, widmete sich ganz den vielfältigen Aufgaben, die im Umkreis ihres Gatten und der Logotherapie erwuchsen. In späteren Jahren erledigte sie seine Korrespondenz und organisierte seine Vortragsreisen in viele Länder der Erde. Nach der Veröffentlichung von Ärztliche Seelsorge folgten weitere Aufsätze und Monographien, in denen Frankl seine Konzepte verfeinerte. 1947 erschien Die Psychotherapie in der Praxis – ein Buch, das sich konkreten Problemen der psychotherapeutischen Praxis widmete. Unter anderem wurde darin die Technik der paradoxen Intention von Frankl beschrieben und in ihren möglichen Indikationen vorgestellt. 1949 folgten mit Der unbedingte Mensch und 1950 mit dem Buch Homo patiens weitere Publikationen, in denen Frankl eine Art »Pathodizee« (Rechtfertigung von Krankheit) formulierte und die Sinndimensionen von Krankheit und ihrer Überwindung freilegte. In manchen eigentümlichen Antworten, die Menschen auf sinnlos anmutende Schicksalsschläge finden, liegen dem Wiener Arzt zufolge oft genug ernst zu nehmende Sinnpotentiale verborgen. Diese Publikationen sowie seine rege Vortragstätigkeit führten in den 50er Jahren dazu, dass Frankl an der Wiener Universität eine Professur für Neurologie und Psychiatrie zugesprochen bekam und mit der Leitung der Neurologischen Abteilung der Poliklinik betraut wurde. Wie sehr er auf universitärer Ebene Erfolg hatte, wird aus der hohen Zahl von Ehrendoktoraten (über zwanzig) und Professuren ersichtlich, mit denen er in den 60er und 70er Jahren geehrt wurde. Erwähnenswert ist dabei vor allem eine Professur für Logotherapie, die man Frankl 1970 in San Diego an der »United States International University« zuerkannte. Auch in Harvard und Stanford hielt er Vorlesungen und Seminare ab, mit denen er große Resonanz beim Publikum hervorrief. Als Höhepunkte seines Lebenswerks bezeichnete Frankl selbst die Gründung des Instituts für Logotherapie in San Diego und des »Centro Psicologico Vittorio Frankl« an der Universität in Messina. Inzwischen (zu Beginn des 21. Jahrhunderts) existieren in allen Erdteilen Logotherapie-Institu-
te, Frankl-Foundations und Logotherapie-Gesellschaften. Neben seiner rührigen Art der Verbreitung seiner Ideen – Frankl schreckte auch vor einigen Tausend Zuhörern nicht zurück und konnte mit seiner extravertiert mitreißenden Rhetorik die Leute zu »Standing Ovations« animieren – versuchte er, seine Seelenkunde mit zeitgenössischen philosophischen Schulrichtungen in Kontakt zu bringen. Martin Heidegger, Karl Jaspers, Martin Buber und Gabriel Marcel gehörten zu seinen wichtigsten philosophischen Gewährsleuten, mit denen er teilweise auch persönlich bekannt war. Daneben erwähnte Frankl in seinen Texten oft die Namen und Konzepte von Max Scheler, Erwin Straus, Ludwig Binswanger und Medard Boss, natürlich aber auch diejenigen von Sigmund Freud, Alfred Adler und C. G. Jung. An manchen dieser Namen erkennt man rasch, dass sich Frankl auch mit Fragen der Religion auseinandergesetzt und die Logotherapie in Bezug zu religiösen Weltanschauungen gebracht hat. Obwohl er betonte, dass Religionen auf das Seelenheil, die Existenz- und Logotherapie im Gegensatz dazu jedoch auf die Heilung der Seele abzielen, kam es im Schrifttum Frankls immer wieder zu religiös anmutenden Passagen. Bis ins hohe Alter war Frankl geistig wie körperlich rüstig. Von dem fast 80-jährigen alten Mann ist überliefert, dass er mit großer Begeisterung seinem Hobby, dem Bergsteigen, nachging und stolz darauf war, wenn ihn hauptamtliche Bergsteiger ob seiner ausgefeilten Klettertechnik bewunderten. Auch seine Lust an Vortragsreisen erlahmte erst spät. Frankl, der von manchen als Begründer der dritten Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule bezeichnet wird, starb 1997 im Alter von 92 Jahren in der Donaumetropole. Er hinterließ ein wohl bestelltes Feld der Logotherapie und Existenzanalyse, die vor allem in Österreich und Süddeutschland, aber auch in Nord- und Südamerika Verbreitung gefunden hat.
Logotherapie und Existenzanalyse Seit 1948, als W. Soucek in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift die Frankl‘schen Ausfüh-
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Logotherapie und Existenzanalyse
rungen zur Psychologie und Psychotherapie als Existenzanalyse und dritte Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule titulierte, haben sich diese Begriffe als feststehende Termini eingebürgert. Frankl selbst hat in späteren Schriften und Vorträgen Souceks Bezeichnungen mit Zustimmung verwendet. Was aber ist mit Logotherapie, Existenzanalyse und dritter Richtung der Wiener psychotherapeutischen Schule gemeint? Sigmund Freud und Alfred Adler gelten als maßgebliche Pioniere der Tiefenpsychologie. Mit ihren Konzepten haben sie wissenschaftliche Innovationen in die Welt gesetzt, die man als bahnbrechend und umwälzend bezeichnet. Sowohl bezüglich ihres Menschenbildes als auch im Hinblick auf ihre konkrete Praxis der Diagnostik und Therapie von Patienten unterscheiden sich Freud und Adler jedoch merklich. In den Worten Frankls ausgedrückt, dominiert beim Ersteren der Wille zur Lust, beim Letzteren derjenige zur Macht. Das psychoanalytische Menschenbild beschreibt den Homo sapiens als ein von Trieben (Sexualität, Aggressivität) geprägtes und gelenktes Wesen, das am Ziel des Lustgewinns ausgerichtet ist und deshalb das Dasein derart gestalten will, dass via Triebbefriedigung Lust und Glück erreicht werden. In der Individualpsychologie stehen dagegen die Motive von Überlegenheit, Sicherheit und Macht im Vordergrund. Menschen streben laut Adler permanent danach, ihre reale oder imaginierte Unterlegenheit und Ohnmacht zu kompensieren und stattdessen Kraft, Kompetenz und Überlegenheit zu erlangen. Alle menschlichen Daseinsbekundungen seien auf die Erringung, die Steigerung oder den Erhalt von Macht hin orientiert, die von den einzelnen Individuen als Garant ihres Lebensglücks definiert wird. Auf die Formeln vom Willen zur Lust und Willen zur Macht hat Frankl oft zurückgegriffen, um seine eigenen Anschauungen und sein Menschenbild kontrastierend zu Freud und Adler als Wille zum Sinn zu charakterisieren. Mit diesem Schlagwort war der Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie überzeugt, den Inhalt seiner eigenen Psychologie am treffendsten auf den Punkt gebracht und eine dritte Richtung der Wiener Tiefenpsychologie etabliert zu haben.
Für Frankl zeichnen den Menschen primär nicht Triebhaftigkeit, Minderwertigkeitsgefühle und Überlegenheitstendenzen sowie sonstige biologische oder psychische Aspekte und Dimensionen aus. Für ihn stellte der Homo sapiens vielmehr ein Wesen dar, das vom Anfang bis zum Ende seiner individuellen wie auch kollektiven Existenz auf Sinn angewiesen ist, nach Sinn sucht und diesen zu verwirklichen trachtet. In einem Vortrag aus dem Jahre 1985 hat Frankl sogar von einem Sinn-Hunger gesprochen und diesen bezüglich der Relevanz für das menschliche Dasein mit dem Hunger nach Brot verglichen. z
Die Geistigkeit des Menschen
Frankl betonte in seinen Schriften, dass der Mensch nicht nur ein biologisches, seelisches und soziales, sondern darüber hinaus auch ein geistiges Wesen ist. Ausgehend von der Schichtenlehre Nicolai Hartmanns und den phänomenologischen Studien Max Schelers beschrieb Frankl den Menschen als Einheit von Bios, Psyche und Logos (Geist), wobei vor allem die letztere Schicht nur fakultativ ausgeprägt und in ihren Dimensionen und Kapazitäten von Individuum zu Individuum starken Schwankungen unterworfen ist. Erst die Geistigkeit des Menschen macht diesen zur Person oder zu einem unverwechselbaren Individuum. Frankl verstand unter Geist die Teilhabe des Einzelnen an Kultur, Sprache, differenzierten Gefühlen (wie etwa Liebe), übergreifenden Werten und Idealen (Schönheit, Frieden, Gerechtigkeit) sowie am Humanen schlechthin. In seinem Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie (1959) zählte er die Geistigkeit – neben Freiheit und Verantwortlichkeit – zu »Existentialen des Menschseins« (Frankl 1987a, S. 72), wobei diese Terminologie ebenso wie einzelne Gedanken daraus an Heidegger‘sche Begrifflichkeiten erinnern und von dessen Sein und Zeit (1927) beeinflusst sind. So sprach Frankl vom »Bei-Sein« (BeisammenSein zweier oder mehrerer Menschen, die einander verstehen wollen) und meinte damit ungefähr das Existential des Mit-Seins, das Heidegger in Sein und Zeit beschrieben hat. Dieses Bei-Sein kann sich auf Menschen, Themen und Motive, Werte und Ideale beziehen und bildet einen wesentlichen Baustein der Geistigkeit des Menschen:
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Kapitel • Viktor Frankl
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Zum Wesen des Menschen gehört das Hingeordnet- und Ausgerichtetsein, sei es auf etwas, sei es auf jemand, sei es auf ein Werk oder auf einen Menschen, auf eine Idee oder auf eine Person. Und nur in dem Maße, in dem wir solcherart intentional sind, sind wir existentiell, nur in dem Maße, in dem der Mensch geistig bei etwas oder jemandem ist, bei geistigem, aber auch bei ungeistigem anderem Seienden – nur in dem Maße solchen Beiseins ist der Mensch bei sich (Frankl 1987a, S. 80f.).
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Die Geistigkeit eines Individuums bedeutet nicht, dass alle Schichten an ihm – also auch Leib oder Seele – via Wille oder Vorsatz direkt verändert oder beeinflusst werden. Wie Hartmann in seiner Schichtenlehre dezidiert ausgeführt hat, liegt die geistige Schicht den anderen Schichten auf, hängt von ihnen ab und kann nur indirekt Einfluss auf sie nehmen. Diesen Standpunkt vertrat auch Frankl, der in seinen Schriften mehrmals darauf verwiesen hat, dass der menschliche Geist gebunden ist und immer von den instrumentellen und expressiven Funktionen des psychophysischen Organismus abhängig bleibt. Bald nach Beginn seines Erwachens nimmt der Geist eines Menschen Stellung zum psychophysischen Organismus, der ihn bedingt und ermöglicht, und gestaltet dessen Lebensschicksal mit. Nach und nach verschränken sich Biologie und Biographie und imponieren schließlich als personales Ganzes sowie als beseelter und vergeistigter Leib. z
Die Freiheit des Menschen
Die Geistigkeit eines Individuums eröffnet diesem gewisse Grade von Freiheit. Frankl benannte drei Bereiche der menschlichen Existenz, in denen sich freiheitliche Entscheidungen bemerkbar machen können: die Triebe, die biologischen Erbanlagen und die Umweltbedingungen. Zu diesen das Individuum determinierenden Faktoren und Konstanten kann Frankl zufolge ein Mensch, der über die »Trutzburg des Geistes« verfügt, Haltungen und Einstellungen entwickeln und sich mehr oder minder von den jeweiligen Gegebenheiten emanzipieren. Kaum je sind Menschen vollständig Opfer
ihrer Triebe, Erbanlagen oder Umweltbedingungen. Neben allen Bedingtheiten und über alle Faktizitäten hinaus kennen Menschen die Fähigkeit, zu Tatsachen und Situationen eine innere oder äußere Distanz einzulegen. Diese Freiheit der Distanznahme und Relativierung bildet eine wesentliche Voraussetzung für die Geistigkeit von Personen. Wer stets in den jeweiligen Kalamitäten und Schicksalswendungen seiner Existenz verfangen bleibt, erklimmt nur schwerlich die höhere Warte von Vernunft, Geist, Logos und Personalität:
» Das Geistige ist ex definitione eben nur das Freie im Menschen. »Person« nennen wir von vornherein überhaupt nur das, was sich – zu welchem Sachverhalt auch immer – frei verhalten kann. Die geistige Person ist dasjenige im Menschen, was allemal und jederzeit opponieren kann (Frankl 1987a, S. 94).
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Die Freiheit, die Frankl dem Menschen zugestand, ist jedoch in zweifacher Hinsicht eine relative. Zum einen darf Freiheit nicht mit Allmacht verwechselt werden: Nicht alles, was ein Individuum tun oder werden will, kann es auch durchführen. Oft genug handelt es sich bei den angeblich freien Entwürfen eines Menschen mehr um wohlfeile Wünsche denn um kraftvolles Wollen. Zum anderen ist mit Freiheit immer Verantwortlichkeit verknüpft, die in der Regel verhindert, Freiheit mit Willkür zu verwechseln. Weder Allmacht noch Willkür waren gemeint, wenn Frankl von menschlicher Freiheit sprach. Besonders der Aspekt von Verantwortung spielte in Frankls Existenzanalyse eine zentrale Rolle. Die Freiheit, welche der Wiener Arzt und Psychotherapeut meinte, war auf ein Wozu und Wofür ausgerichtet. An den Zielsetzungen sowie am Realisieren der darin aufscheinenden Werte und Ideale kann ermessen werden, inwiefern der Einzelne seiner Verantwortung, die aus seiner Freiheit folgt, gerecht wird. Frankl war überzeugt, sich diesbezüglich von anderen Formen der Psychologie und Philosophie abgrenzen zu müssen. Namentlich erwähnte er die Existenzphilosophie französischer Couleur, von der er behauptete, sie definiere den Menschen
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Logotherapie und Existenzanalyse
lediglich als freies Wesen, ohne diese Freiheit vor einen Werthorizont zu platzieren. Wer jedoch zum Beispiel Jean-Paul Sartres Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946) liest, wird zugeben müssen, dass der Mensch in der französischen Existenzphilosophie nicht nur freigesetzt, sondern auch mit Fragen nach Sinn und Wert konfrontiert wird, die freilich anders als in Frankls Existenzanalyse beantwortet werden. Grundsätzlich aber hätten Sartre wie die meisten anderen Existenzphilosophen wahrscheinlich die Formel Frankls cum grano salis unterschreiben können, die da lautet:
» Nach der Lehre der Existenzanalyse ist dasjenige, wofür der Mensch verantwortlich ist, die Erfüllung von Sinn und die Verwirklichung von Werten (Frankl 1987a, S. 98).
«
Worin sich allerdings Existenzanalyse und Logotherapie vom Sartre‘schen Existentialismus oder von weiteren philosophischen und psychologischen Schulrichtungen unterscheiden, ist die Art und Weise, wie Frankl Sinn und Wert definierte und mit Inhalt füllte. Zwar hatte er Recht, wenn er etwa der Psychoanalyse nachwies, dass der Begriff der Lust nicht hinreichend ist, um einen differenzierten Werthorizont zu konstituieren, und dass das Triebkonzept nicht umfassend genug ist, alle Sinnmöglichkeiten des Menschen abzubilden. Ebenso ist sein Hinweis, Phänomene wie Freiheit, Geistigkeit und Verantwortung nicht auf bloße Psychodynamik reduzieren zu dürfen, berechtigt und nachvollziehbar. z
Die Verantwortung des Menschen
Wenn eine Fundierung von Sinn und Wert auf den Ebenen von Bios oder Psyche schwerfällt, ist dies jedoch kein Grund, dieselben in Sphären des Göttlichen und Transzendenten beheimaten zu müssen. Auf diesen Ausweg aber verfiel Frankl, der sich, seine Patienten und die Leser davon überzeugen wollte, dass das Phänomen der Verantwortung und damit die Sinn- und Wertorientierung des Menschen zwangsläufig und direkt in eine Gottesvorstellung einmünden. Verantwortung erlebe der Mensch häufig als Ruf des Gewissens, wobei in diesem Gewissen
nicht nur die Stimmen des Über-Ich, also der Eltern oder anderer Autoritäten, sondern auch eines Gottes zu vernehmen seien: »Hinter dem Über-Ich des Menschen steht das Du Gottes« (Frankl 1987a, S. 111). Und weiter führte Frankl dazu aus:
»
Die Instanz, vor der wir verantwortlich sind, ist das Gewissen … Tatsächlich erweist sich dieses Wovor bei näherer und eingehender phänomenologischer Analyse als aufhellbar, und aus dem Etwas wird ein Jemand, eine Instanz durchaus personaler Struktur, ja mehr als dies: ein Personalissimum; und wir sollen die Letzten sein, die sich scheuen, diese Instanz, dieses Personalissimum, so zu nennen, wie die Menschheit es nun einmal genannt hat: Gott (Frankl 1987a, S. 110f.).
«
In seinen Schriften hat Frankl jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass seine Form der Psychotherapie auch bei agnostisch oder atheistisch eingestellten Patienten anwendbar sei. Die religiöse Grundeinstellung des Begründers der Existenzanalyse und Logotherapie sei nur eine von vielen Weltanschauungen. Der religiöse wie der areligiöse Mensch sehe sich vor die Notwendigkeit gestellt, dem Dasein Sinn und Bedeutung zu verleihen, und diese Aufgabe vereine letztlich Theisten wie Atheisten. Die Existenzanalyse solle beiden helfen, die Suche nach Sinn zu bewerkstelligen, ohne dabei die jeweiligen Inhalte von Sinn, Wert und Bedeutung vorzugeben:
»
Im Gegensatz zur Psychoanalyse als einer Analyse auf Triebhaftigkeit hin stellt die Existenzanalyse eine Analyse auf Sinnhaftigkeit hin dar. Ist es doch die Sinnhaftigkeit des Daseins, die für die Existenzanalyse zur Debatte steht … Menschliches Sein wird von der Existenzanalyse gesehen als wesentlich durchwaltet von einem Willen zum Sinn (Frankl 1990b, S. 290).
«
Ausgehend von den erwähnten anthropologischen Grundannahmen, welche die Geistigkeit, Freiheit und Verantwortung des Menschen als seine wesentlichen Eigenschaften beschreiben, hat Frankl dargelegt, dass der Einzelne nur dann relativ zufrieden und gesund leben kann, wenn er sein Dasein in eine Atmosphäre von Sinn, Wert und Bedeutung
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Kapitel • Viktor Frankl
hinein entwirft und realisiert. Sinnlosigkeit, Wertverlust, Nihilismus und Absurdität wirken mindestens so pathogen wie Strahlen, Viren, Pilze oder Bakterien, wobei der Nachweis ihrer Pathogenität auf der biologisch-materiellen Ebene nicht leicht zu führen, auf der seelischen Ebene hingegen einfacher nachvollziehbar ist:
»
Neurosen müssen nicht in einem Ödipuskomplex oder in einem Minderwertigkeitskomplex wurzeln, sie können auch in einem geistigen Problem, in einem sittlichen Konflikt und in einer existentiellen Krise begründet sein … Eben diese existentielle Frustration ist mindestens so oft pathogen, das heißt mögliche Ursache seelischer Krankheiten, wie die diesbezüglich soviel inkriminierte sexuelle Frustration (Frankl 1975, S. 65).
«
Die Sorge um die Sinnhaftigkeit respektive die Feststellung von Sinnlosigkeit der eigenen Existenz bedeutet noch keine Krankheit. Erst die vergebliche Suche nach Sinn und Wert oder die resignative Haltung, keine tragfähige Bedeutung für das eigene Leben finden zu können, lassen sogenannte noogene Neurosen (aus Sinndefiziten erwachsende seelisch-geistige Störungen) entstehen. z
Der Sinn der menschlichen Existenz
Bei depressiven Erkrankungen tritt dieser Mangel an Sinn oder ein existentielles Vakuum (wie Frankl es benannte) besonders eklatant zutage. Aber auch in anderen Neurosen und ihren Symptomen – Angst, Zwang, Schuld, Scham, Wut, Ekel, Hass – sowie in den Psychosen, Perversionen und dissozialen Entwicklungen wirken Abwesenheit eines tragfähigen Sinns und stabilen Werterlebens der Betreffenden in vielen Fällen als Krankheit auslösende oder unterhaltende Faktoren. Frankl selbst schätzte, dass etwa zwanzig Prozent aller Patienten in diese Kategorie fallen und deshalb logotherapeutisch behandelt werden sollten:
»
In Fällen von noogener Neurose ist die Logotherapie indiziert. Selbstverständlich kann nicht davon die Rede sein, dass die Logotherapie dem Leben des Patienten einen Sinn gibt. Den muss der Patient selbst und selbständig finden (Frankl 1997b, S. 183).
«
In seinem Buch Die Psychotherapie in der Praxis (1947) hat Frankl bei unterschiedlichen Krankheitsbildern nachgewiesen, inwiefern in ihnen relevante Sinnkrisen zum Ausdruck kommen. Nicht nur interpersonelle oder intrapsychische Konflikte, sondern auch Verlust von Sinn und Wert können beispielsweise zu Potenz- und anderen Sexualstörungen, zu klimakterischen Neurosen, Schlafstörungen und Organneurosen aller Art beitragen. In diesem Buch, das von den anschaulichen Fallbeispielen lebt, gelang es Frankl, einen Brückenschlag zwischen seinen theoretischen Erwägungen zur Existenzanalyse und Logotherapie und den praktischen Konsequenzen für einen davon inspirierten logotherapeutischen Prozess herzustellen. Darüber hinaus hatte Frankl im Konzentrationslager Gelegenheit zuhauf gehabt, bei seinen Leidensgenossen zu beobachten, wie und unter welchen Umständen Einzelne die grässlichen Bedingungen überlebten. In einem Gespräch Anfang der 80er Jahre, das er mit dem österreichischen Journalisten Franz Kreuzer führte, kam er auf seine damalige Situation in Auschwitz zurück, in der er einige fundamentale Ideen für seine spätere Logotherapie und Existenzanalyse gewonnen hatte:
» Dass jene die größten Überlebenschancen gehabt haben, die eben in die Zukunft, und zwar auf eine konkrete Aufgabe in der Zukunft, ausgerichtet waren … Dieses motivationstheoretische Konzept habe ich im Rahmen der Logotherapie entwickelt, den »Willen zum Sinn«. Das heißt, ein Mensch, der auf einen Sinn ausgerichtet ist, diesem Sinn sich verpflichtet fühlt, diesem Sinn gegenüber Verantwortung empfindet, ein solcher Mensch hat unvergleichlich größere Überlebenschancen in Extremsituationen als der durchschnittliche andere (Frankl u. Kreuzer 1997, S. 27).
«
Inzwischen sind diese Beobachtungen Frankls auf vielfältige Art bestätigt worden. Bekannt wurden in diesem Zusammenhang die Untersuchungen Aaron Antonowskys, der im Rahmen seines Salutogenese-Konzepts den Frankl‘schen Willen zum Sinn als Kohärenzgefühl bezeichnet hat. Der Medizinsoziologe Antonowsky konnte nachweisen, dass dieses einen Gesundheitsschutz par excellence darstellt.
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Logotherapie und Existenzanalyse
Unter Kohärenzgefühl (»sense of coherence«) subsumierte er die Fähigkeit von Menschen, ihr Dasein und die schicksalhaften Ereignisse ihres Lebens in einen tragfähigen Sinn- und Bedeutungszusammenhang einzuordnen. Damit sei eine relative Handlungsfähigkeit des Betreffenden ebenso gegeben wie dessen Fertigkeit, gegenüber den Bedrängnissen seiner Existenz eine geistig-weltanschauliche Distanz aufzubauen. Dabei sei es nicht entscheidend, ob Einzelne über religiöse, humanistisch-agnostische, kommunistische oder wissenschaftliche Weltbilder verfügen. Als wesentlich habe es sich vielmehr erwiesen, dass die jeweilige Ideologie Möglichkeiten bietet, existentielle Schicksalsschläge und Erschütterungen in einen umfassenden, Sinn und Wert vermittelnden Zusammenhang einzustellen. Patienten mit einem hohen Maß an Kohärenzgefühl gesunden rascher als solche mit geringem »sense of coherence«, und bisweilen hilft dieser Zusammenhangsinn sogar mit, ein Individuum am Leben zu erhalten, selbst wenn es (wie in Konzentrationslagern) starken übermenschlichen Belastungen ausgesetzt ist. Eindrücklich hat vor vielen Jahren das von den Nationalsozialisten ermordete jüdische Mädchen Anne Frank in seinen Tagebüchern auf ihre Weise über den Zusammenhang von Sinn und Existenz nachgedacht und dabei ein hohes Maß an Kohärenzgefühl bewiesen. Nicht zufällig hat Frankl ein Zitat aus diesen Tagebüchern seinem Buch Der Wille zum Sinn (1972) vorangestellt, wo es heißt: »Ich will nicht so wie die meisten Menschen für nichts gelebt haben!« Wie aber Sinn generieren, wenn die Zeiten und Verhältnisse völlig sinnwidrig sind? Wie können Menschen, deren Leben sinnarm oder langweilig verläuft, und die deshalb eventuell sogar erkrankt sind, wieder Anschluss finden an die Sphären von Wert und Bedeutung, welche den Rahmen und das Fundament einer gelingenden menschlichen Existenz ausmachen? Frankl war überzeugt, dass nicht wenige Menschen diesen Fragen hilflos gegenüberstehen. Daher entwarf er eine Form der Psychotherapie, welche die Suche nach Sinn und Wert als eines ihrer wichtigsten Anliegen versteht. Eine solche Therapie sollte die geistige Schicht (Logos) des Menschen
zum Ort und Ziel des therapeutischen Geschehens machen. z
Die Logotherapie
Die Logotherapie darf zwar ihren Patienten keine konkreten Sinneinheiten vorschreiben oder ihnen diese gar aufoktroyieren. Dennoch ist sie gehalten, die Fragen nach Sinn und Bedeutung einer Existenz mit Nachdruck zu stellen und dem Einzelnen die Suche danach zu ermöglichen. Dabei fließt, ob der Therapeut dies will oder nicht, dessen eigene Sinnorientierung mehr oder minder bewusst in den Prozess der Existenzanalyse und Logotherapie mit ein. Dem Therapeuten kommt daher eine große Verantwortung zu. Ohne dass er sich entblößt, soll er doch seine eigene Welt-, Wert- und Lebensanschauung so transparent präsentieren, dass der Patient sie an ihm erkennen und eventuell auch in Frage stellen kann. Gleichzeitig muss er die Sinnund Wertorientierung seines Gegenübers authentisch und mit größtmöglicher Achtung tolerieren und parallel dazu eventuell Vorschläge zur Korrektur unterbreiten. Im günstigen Fall ergibt sich im Rahmen der Logotherapie ein Arzt-Patienten-Verhältnis, das eine unvoreingenommene und rückhaltlose Debatte unterschiedlicher Werte, Normen, Sinn- und Bedeutungssphären ermöglicht. Wie schwierig es ist, eine derartige Gesprächsatmosphäre zu konstellieren, wird allein daran ersichtlich, dass der Eine (Patient) für die Zuwendung des Anderen (Therapeut) zu bezahlen hat und damit von vorneherein eine Hierarchie zwischen den Protagonisten besteht. Trotz aller Schwierigkeiten ist es aber als unzureichend einzuordnen, wenn Frankl in Der Wille zum Sinn vorschlägt, die Diskussion über Sinnaspekte im Rahmen der Logotherapie irgendwann als nicht weiter hinterfragbar abzubrechen:
»
Der Sinn ist eine Mauer, hinter die wir nicht weiter zurücktreten können, die wir vielmehr hinnehmen müssen: Diesen letzten Sinn müssen wir deshalb annehmen, weil wir hinter ihn nicht zurückfragen können, und zwar deswegen nicht, weil bei dem Versuch, die Frage nach dem Sinn von Sein zu beantworten, das Sein von Sinn immer schon vorausgesetzt ist (Frankl 1997b, S. 118).
«
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Kapitel • Viktor Frankl
Man darf und soll jedoch auch die Frage nach dem Sinn von Sein stellen und ansatzweise beantworten. Es kommt einer Art Denkhemmung gleich, bei derartigen Problemen in ehrfurchtsvolle Starre und schweigende Andacht zu verfallen und das Sein zum Numinosen, zu einem heiligen Geheimnis zu machen, dessen Reflexion beinahe einem Tabubruch nahe kommt. Wer solche Haltungen empfiehlt, verlässt die Tradition aufgeklärter Wissenschaften und Philosophie und nähert sich den Argumenten jener Theologen und Seelsorger an, denen das Heil wichtiger ist als die Wahrheit, und die letztlich die Sicherheit fragwürdiger Antworten der Unsicherheit existentieller Fragen vorziehen. Zwei Begriffe respektive Techniken sollen noch Erwähnung finden, die in der Existenzanalyse und Logotherapie eine wichtige Rolle spielen und von Frankl bereits in den 20er und 30er Jahren beschrieben und angewandt wurden: die paradoxe Intention und die Dereflexion. Man versteht darunter Anweisungen des Therapeuten an seine Patienten, sich in bestimmten, meist Angst besetzten Situationen gegensätzlich zur beabsichtigten Intention (paradox) zu verhalten oder aber, sich kognitiv entgegengesetzt zur situativen Forderung einzustellen. In Die Psychotherapie in der Praxis hat Frankl Beispiele solcher Interventionen gegeben. Er berichtete über ein Ehepaar, das seit langer Zeit Sexualstörungen entwickelt hatte und immer wieder mit dem festen Vorsatz, leidenschaftliche Sexualität erleben zu wollen, Schiffbruch erlitt. Die paradoxe Intention bzw. Dereflexion für dieses Paar bestand darin, dass der Therapeut beiden Eheleuten getrennt in ihren Sitzungen verboten hatte, Sexualität bis zum Beischlaf zu praktizieren; lediglich harmlose Zärtlichkeiten waren erlaubt. Innerhalb weniger Tage kam es ganz gegen das therapeutische Gebot zur Sexualität, die beide als ausnehmend leidenschaftlich beschrieben. Solche paradoxen Anweisungen, die in ähnlicher Form vor Frankl bereits von Alfred Adler, Rudolf Dreikurs und Erwin Wexberg praktiziert wurden, haben inzwischen Eingang in die Behandlungstechniken vieler psychotherapeutischer Schulrichtungen gefunden. Verglichen mit den bedeutend wichtigeren Fragen nach der Sinn- und Werthaltigkeit des menschlichen Daseins stellen sie
jedoch lediglich Randerscheinungen und Aperçus der Existenzanalyse und Logotherapie dar.
Conclusio In den vorangehenden Ausführungen wurde bereits angedeutet, dass die religiösen Anklänge in Frankls Werk als unpassend erscheinen. So sehr der Begründer der Logotherapie mit seinem Verweis auf die Notwendigkeit von Sinnsuche und -verwirklichung ein wesentliches Anthropinon ins Zentrum seiner Forschung und Behandlung stellte, so sehr ist es bedauerlich, dass er sich bei der konkreten Benennung von Sinn, Wert und Bedeutung nicht selten an religiös beeinflusste Denkstile und -inhalte anlehnte. Womöglich hätte Frankl bei der Beantwortung seiner Fragen nach Sinn und Wert des menschlichen Lebens nicht auf das Transzendente und Göttliche zurückgreifen müssen, wenn er den Ansichten der Wiener Pioniere der Tiefenpsychologie Sigmund Freud und Alfred Adler bezüglich der Sinnproblematik mehr Raum zugestanden hätte. Beide haben in ihren tiefenpsychologischen Konzepten teilweise explizit, teilweise aber auch nur implizit zur Thematik der Sinnsuche Stellung bezogen und praktikable Lösungen ohne Rückgriff auf das Numinose angeboten. So enthält die Freud‘sche Definition des gesunden Menschen – er soll lieben und arbeiten können – durchaus Sinndimensionen: In ihr klingen zum Beispiel Begriffe wie Eros, Menschheit, Kultur, Fortschritt und Aufklärung als Sinnträger und Sinnstifter an. Auch im Konzept der Sublimierung kann man Aspekte der Sinnhaltigkeit und der Wertschöpfung entdecken, ohne dass hierfür eine transzendente Gottheit als Initiator oder Taktgeber nötig wäre. Ebenso lässt sich die psychoanalytische Situation per se als Versuch interpretieren, der Absurdität von Nicht-Verstehen, Störung und Krankheit den Sinn und Wert von Ordnung, Verstehen und Erinnern sowie der Offenheit und Wahrhaftigkeit entgegenzuhalten. Noch dezidierter als Freud hat sich Adler mit der Sinnfrage respektive mit dem Sinndefizit von Menschen auseinandergesetzt; die Individualpsychologie kann weithin geradezu als Antwort auf
Conclusio
diese Problematik gelesen werden. Für Adler kranken viele Individuen an einem prekären Selbstwertgefühl, das aus Empfindungen der Inferiorität und aus überschießenden und untauglichen Kompensationsbemühungen resultiert. Der eigene Wert wie auch derjenige der Mitmenschen und der Welt werden falsch taxiert, was schließlich zu vielfältigen Einstellungs- und Verhaltensstörungen, zu seelischen und körperlichen Krankheiten, zu Perversionen, Sucht und Kriminalität führen kann. Wenn Menschen ihre Fiktionen und subjektiven Urteile über sich und die Welt (Privatlogik) revidieren lernen, erkennen sie parallel dazu Sinnund Bedeutungsstrukturen zuhauf, die ihnen wegen ihrer eingeschränkten Perspektive lange Zeit verborgen blieben. Besonders in Der Sinn des Lebens (1933) hat Adler deutlich gemacht, inwiefern es neben den subjektiven Sinnzuschreibungen einzelner Individuen so etwas wie einen objektiven Sinn gibt, dessen Träger der Kosmos, die Erde und die Kultur sind. Selbst wer nur kleine Partikel dieses objektiven und weltimmanenten Sinnes wahrnimmt und verwirklicht, erlebt Adler zufolge bereits Anflüge von Gemeinschaftsgefühl. Sogar bei heftigeren Erschütterungen seiner Existenz wird er dadurch nie mehr ganz der Sinnwidrigkeit und dem Nihilismus verfallen. Die Steigerung und Erhaltung der Werte der eigenen Person wie auch der menschlichen Kultur und des gesamten Kosmos stellen Sinnpartikel und -strukturen dar, angesichts deren Großartigkeit und Überzeugungskraft göttliche Sinnquellen überflüssig werden. Nimmt man noch hinzu, dass C. G. Jung schon um 1930 die Neurose als Krankheit von Individuen definierte, die einen tragfähigen Sinn des Lebens nicht gefunden haben, so reduziert sich die Frankl‘sche Innovation des Willens zum Sinn auf eine Umschreibung von Fakten und Zusammenhängen, die vor ihm die Gründerväter der Tiefenpsychologie ansatzweise erwähnt oder bereits ausgeführt hatten. Die sogenannte dritte Wiener Schule der Tiefenpsychologie war im Grunde ein gekonntes Resümee von Erkenntnissen, die Freud, Adler und Jung schon zuvor in ihren Texten erläutert hatten. Ebenfalls zu kurz kam in Frankls Texten die Auseinandersetzung mit jenen philosophischen
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Autoren, die sich in ihren Schriften explizit mit der Sinnfrage des menschlichen Daseins befassten. Neben dem zitierten Jean-Paul Sartre sind dabei etwa Albert Camus und Maurice Merleau-Ponty zu nennen. So hat Camus in mehreren seiner Bücher (Der Fremde; Der Mythos von Sisyphos; Der Mensch in der Revolte; Die Pest) dargelegt, dass der Mensch in eine grundsätzlich absurde und sinnwidrige Welt hineingeboren wird. Armut, Krankheit, Hunger, Krieg, Ungerechtigkeiten aller Art und nicht zuletzt der Tod sind Manifestationen des Absurden. Unterlegt man ihnen einen höheren Sinn, beteiligt man sich an den seit Jahrhunderten üblichen Unehrlichkeiten und Lügengebäuden, die von Kirchenleuten und Herrschenden wie auch von manchen Intellektuellen errichtet und verbreitet werden, um die unkritische Majorität der Menschen ruhig zu halten und ihnen billige Vertröstungen zukommen zu lassen. Angesichts dieser fast überwältigenden Sinnwidrigkeit des Lebens gehört es zu den exquisiten Aufgaben von Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern, immer wieder neu immanenten und gültigen Sinn zu suchen und zu schaffen. So schwingt sich zum Beispiel jeder, der sich über inhumane Zustände empört und gegen sie revoltiert, zu sinnvollen Haltungen und Handlungen auf, die in besonderen Fällen sogar gemeinschafts- und kulturstiftend wirken. »Ich empöre mich und revoltiere – also sind wir!« Diese Formel war für Camus eine Sinn, Wert und Bedeutung fundierende Antwort auf die Misslichkeiten der menschlichen Existenz. Der französische Schriftsteller verlegte dabei den Ort der Revolte nicht in den politischen, sondern in den künstlerischen und zwischenmenschlichen Raum. Jedes gelungene Bild, Gedicht, Schauspiel oder Tonstück erzählt ebenso wie jede authentische Liebes- oder Solidarbeziehung von der Würde und Größe des Menschen und bietet der ubiquitären Sinnarmut Paroli. Ähnliche Positionen vertrat Maurice MerleauPonty. In Büchern wie Die Struktur des Verhaltens (1942), Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) oder Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) legte der Denker wiederholt dar, dass sich der Mensch seit Jahrtausenden als Sinnsucher erlebt. Zum Pro-
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Kapitel • Viktor Frankl
gramm der menschlichen Selbstverwirklichung gehört es, sich immer wieder neu der Sinnsuche zu widmen, wobei Merleau-Ponty wie Camus überzeugt war, dass es realiter nur immanente Sinnquellen gibt. Jedes heimliche Blinzeln nach transzendenten Sinndimensionen schwäche die Kraft der Sinnsuche auf Erden. Anders als Camus war Merleau-Ponty jedoch der Ansicht, dass es innerhalb von Natur sowie menschlicher Geschichte und Kultur genügend Sinnpartikel gibt, welche der Mensch zu sinn- und wertvollen Einheiten ergänzen soll. Die Hauptaufgabe des Homo sapiens sei es, an jenem Entwurf weiterzuarbeiten, den der Kosmos seit Jahrmilliarden unbewusst und ungewollt hervorgebracht hat. Neben der Kunst kommen für derlei Ergänzungen auch Technik, Philosophie und die Wissenschaften sowie Geschichte und Politik in Betracht. Außerdem untersuchte Merleau-Ponty viele alltägliche Situationen des menschlichen Lebens, an denen er aufzeigte, inwiefern sie einen Imperativ zur Sinnsuche und -ergänzung enthalten. So kann man Zärtlichkeit, Intimität und Sexualität ebenso wie den zwischenmenschlichen Dialog als eindrückliche Beispiele für jenen Prozess interpretieren, welchen der französische Philosoph in Anlehnung an die Gestaltpsychologie als Aufspüren und Vollenden unvollendeter Sinn- und Gestaltstrukturen bezeichnete. Man sieht: Frankls Lebensthema des Willens zum Sinn enthält anthropologische Weitungen, von denen der Wiener Arzt und Psychotherapeut nur einen Ausschnitt bewältigen konnte. Insbesondere die Aspekte von Kultur- und Ideologiekritik waren ihm fremd und fehlen in seinem Werk. Gerade in diesen Dimensionen finden sich jedoch jene tragfähigen immanenten Antworten auf die Sinnfrage und -suche, welche die Menschen für die Gestaltung ihres Daseins benötigen. Mit allen transzendenten Sinnquellen hingegen darf man es mit Heinrich Heine halten: Wir überlassen sie den Engeln und den Spatzen.
Literatur Adler A (1997) Der Sinn des Lebens. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1933) Frankl V (1949) Der unbewusste Gott. Maudrich, Wien (Erstveröff. 1948) Frankl V (1952) Ärztliche Seelsorge. Maudrich, Wien (Erstveröff.1946) Frankl V (1975) Der Mensch auf der Suche nach Sinn – Zur Rehumanisierung der Psychotherapie. Herder, Freiburg (Erstveröff. 1959) Frankl V (1987) Logotherapie und Existenzanalyse – Texte aus fünf Jahrzehnten. Piper, München Frankl V (1987a) Grundriss der Existenzanalyse und Logotherapie. In: Logotherapie und Existenzanalyse. Piper, München (1959) Frankl V (1990a) Der unbedingte Mensch – Metaklinische Vorlesungen. In: Der leidende Mensch – Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Piper, München (Erstveröff. 1949) Frankl V (1990b) Homo patiens – Versuch einer Pathodizee. In: Der leidende Mensch – Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Piper, München (Erstveröff. 1950) Frankl V (1997a) Die Psychotherapie in der Praxis. Boehlau, München (Erstveröff. 1947) Frankl V (1997b) Der Wille zum Sinn. Boehlau, München (Erstveröff. 1972) Frankl V, Kreuzer F (1997) Im Anfang war der Sinn – Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Ein Gespräch. Piper, München (Erstveröff. 1982) Freud S (o. J.) Die Zukunft einer Illusion. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1927) Lukas E (1990) Geist und Sinn. Logotherapie – Die dritte Wiener Schule der Psychotherapie. Kösel, München Petrilowitsch N (1972) Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Ronald D. Laing Biographisches – 308 Werkanalyse – 310 Conclusio – 315 Literatur – 319
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Ronald D. Laing
. Abb. 1 Ronald D. Laing (*1927; †1989). (Aus Stumm et al. 2005)
Oberflächlich betrachtet gilt Ronald D. Laing als Anti-Psychiater, dessen hauptsächliche Wirkung in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts längst passé ist. Sieht man genauer zu, entpuppt sich dieser unkonventionelle Arzt und Schriftsteller als Ideengeber nicht nur für die Psychiatrie, sondern auch für die Anthropologie. Seine anthropologischen Anleihen nahm Laing vor allem bei der Existenzphilosophie Jean-Paul Sartres (. Abb. 1).
Biographisches Laing wurde 1927 in Glasgow (Schottland) als Einzelkind geboren. Sein Vater war als Elektroingenieur und die Mutter als Hausfrau tätig. Die Erziehung war einerseits streng (Ronald wurde des Öfteren wegen kleinerer Vergehen geschlagen) und religiös; andererseits waren die Eltern kunst- und musikinteressiert, was auf ihren Sohn abfärbte. Als Kind und Jugendlicher spielte Ronald Klavier, und eine Weile dachte man von ihm, er verfüge über ein absolutes Gehör. Daneben war er sportlich aktiv (Golf, Tennis, Kricket). Hemmend wirkte sich in seiner Kindheit ein wiederkehrendes Ekzem aus, das bei seiner Mutter dazu führte, ihn mit allerlei Diätvorschriften zu gängeln. Weil Ronald als Einzelkind oft alleine war, beobachtete er häufig aus der Ferne den Umgang der Menschen untereinander und träumte sich ausgiebig in Phantasiewelten hinein. Diese Übungen erleichterten es ihm später, sich in die eigentümlichen Gedankengänge seiner Patienten einzufühlen und darauf verständnisvoll zu reagieren. Schon während seiner Schulzeit – Ronald gehörte immer zu den Klassenbesten und besuchte deshalb ein Gymnasium – kam er mit Texten
von Montaigne, Voltaire, Kierkegaard, Marx und Nietzsche in Kontakt. Sie bestärkten ihn in seinem keimenden Zweifel an der Religion und dämpften seine Schuldgefühle, die in ihm aufgrund seiner Distanz zu den religiösen Denkinhalten seiner Eltern virulent wurden. Nach seinem Abitur war Laing hinsichtlich seiner Studien- und Berufswahl ambivalent. Die Musik und das Künstlertum reizten ihn ebenso wie der Vorschlag seines Altphilologielehrers, Griechisch und Latein zu studieren. Zuletzt entschloss er sich für die Medizin in der Hoffnung, sowohl mit der konkreten menschlichen (Geburt, Krankheit, Schmerz, Tod) wie auch mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert zu werden. Zwischen 1945 und 1951 studierte Laing Medizin an der Universität Glasgow. Vor allem ein Anatomieprofessor bestärkte ihn in seinem Impuls, ein forschender Arzt werden zu wollen. Als der Professor allerdings hörte, dass sich der junge Mann dem Studium der menschlichen Seele und ihrer Erkrankungen zuwenden wollte, riet er ihm davon ab. Er solle sich ein überschaubareres und handfesteres Thema suchen und beispielsweise Embryologe werden. Obwohl Laing in seiner Ausbildung die meisten Disziplinen der Medizin kennenlernte und die chirurgischen Fächer durchaus interessant empfand, blieb er seinem ursprünglichen Plan treu und ließ sich als Nervenarzt ausbilden. Nachdem er sein Abschlussexamen beim zweiten Anlauf bestanden hatte, arbeitete er in der neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses Killearn nahe Glasgow. Dort traf er auf den Neurochirurgen Joe Schorstein, in dem er eine Zeitlang sein ärztliches, wissenschaftliches und intellektuelles Vorbild sah. Schorstein kam ursprünglich aus Österreich und hatte Alfred Adler, Karl Jaspers, Martin Heidegger und Martin Buber persönlich kennengelernt. Er bewegte sich in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte ähnlich souverän wie als Chirurg in den anatomischen Strukturen des Gehirns – eine Doppelqualifikation, die auf Laing reizvoll wirkte. Von 1951–1953 arbeitete Laing als angehender Psychiater bei der Royal Army. In den Militärkrankenhäusern lernte er verschiedene seelisch-geistige Krankheitsbilder (z. B. Neurosen, Suchterkrankungen, endo- und exogene Psychosen, Trauma
Biographisches
bedingte Störungen) sowie die damals üblichen Formen der Therapie kennen (Insulinkoma, Lobektomie, Beruhigungsmedikamente, Zwangsjacke, Elektroschocks, Gummi- und Ausnüchterungszellen). In ihm regten sich mächtige Zweifel, ob mit diesen Behandlungen nicht mehr Schaden als Nutzen bewirkt wurde. Nach seiner Zeit beim Militär wechselte Laing ins Gartnavel Royal Mental Hospital in Glasgow, um seine nervenärztliche Ausbildung zu vervollständigen. Diese psychiatrische Anstalt war offen für innovative Therapieformen, so dass der angehende Nervenarzt einige Experimente hinsichtlich der Behandlung von psychotisch Erkrankten wagen konnte. Dazu zählte der von Laing initiierte »Rumpus Room«, eine Art komfortables Zimmer, in dem sich Patienten mit Schizophrenie aufhalten durften, ohne dass man sie in irgendeiner Weise ändern oder groß therapieren wollte. Im Gegenteil: Das therapeutische Team ließ die Betreffenden gewähren und bot ihnen statt eingreifender Behandlungen Gelegenheiten, mit ihnen zusammen diverse Alltagsverrichtungen (Kochen, Gartenarbeit, künstlerische Betätigung) auszuüben. Die Erfolge dieser (nicht-)therapeutischen Haltung waren ermutigend, und als Laing 1956 als Facharzt für Psychiatrie an die berühmte Tavistock-Klinik in London wechselte, war er fest entschlossen, seine Erfahrungen aus dem Gartnavel Royal Mental Hospital in sein neues Wirkungsfeld einfließen zu lassen. Die Tavistock-Klinik war 1920 von dem Psychiater Hugh Crichton-Miller gegründet worden. Sie befasste sich anfänglich bevorzugt mit der Diagnostik und Therapie sogenannter traumatischer oder Kriegsneurosen (Schützengrabenschocks), die – was damals ungewöhnlich war – durch Reden, Zuhören und verstehendes Einordnen behandelt wurden. Die betreffenden Soldaten waren zuvor in der Regel als Feiglinge angesehen, bestraft oder sogar erschossen worden. Während des Zweiten Weltkriegs dienten viele der hauptberuflichen Angestellten der TavistockKlinik als psychiatrische Spezialisten in den Streitkräften, wobei die Psychoanalytiker Wilfred Bion und S. H. Foulkes gruppenanalytische Methoden bei der Auswahl von Offizieren zur Anwendung
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brachten. Sie beobachteten die Kommunikation in führerlosen Gruppen und wählten daraufhin jene Soldaten als Offiziere aus, die für andere Verantwortung übernahmen und nicht lediglich Befehle gaben. Als Laing an der Tavistock-Klinik zu arbeiten begann, engagierten sich viele seiner Kollegen hinsichtlich der Erforschung psychiatrischer Krankheitsbilder sowie psychohygienischer und psychotherapeutischer Fragestellungen. Er geriet also in ein intellektuell und sozial anregendes Umfeld, das seine eigenen Änderungsimpulse in Bezug auf das Verständnis wie auch die Behandlung von psychotischen Krankheiten noch verstärkte. Unterstützt wurden Laings skeptische Ansichten zur herkömmlichen Psychiatrie durch die Anregungen, die er im Rahmen seiner Ausbildung als Psychoanalytiker erhielt. Sein Lehranalytiker war Charles Rycroft (1914–1998), der ein im englischsprachigen Raum oft zitiertes Kritisches Wörterbuch der Psychoanalyse verfasst hat. Die Supervision seiner Fälle übernahm Donald W. Winnicott (1896– 1971), der sich als Kinderarzt und Psychoanalytiker aus der Melanie-Klein-Schule einen Namen machte, und der durch eine Reihe von Buchveröffentlichungen bekannt geworden ist. Trotz dieser hochkarätigen Ausbilder blieb die »Psychoanalytic Society« in Großbritannien Laing gegenüber zurückhaltend – man spürte, dass es sich bei ihm um einen Querdenker handelte. Dazu passte, dass Laing Mitte der 50er Jahre auf den britischen Schriftsteller Colin Wilson (geboren 1931) und dessen Buch Der Outsider (1956) stieß. Darin untersuchte der Autor die Lebensläufe von Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Sartre, Camus sowie von Vincent van Gogh und Nijinsky, um an ihnen die Problematik von gesellschaftlichen Outsidern aufzuzeigen, die kulturell produktiv waren. Die Lektüre dieses Textes ebenso wie die Arbeit an der Tavistock-Klinik und seine Psychoanalyse animierten Laing zu eigenen schriftstellerischen Aktivitäten, woraus sein erstes Buch Das geteilte Selbst (1960) entstand. Diese Publikation bildete den Auftakt zu einer Reihe von Büchern, Aufsätzen, Vorträgen und Fernsehauftritten, in denen der Psychiater seine Sichtweise über geistige Gesundheit und Wahnsinn erläuterte. Wichtige weitere Veröffentlichun-
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gen waren Das Selbst und die Anderen (1961), Knoten (1971), Die Phänomenologie der Familie (1974), Liebst Du mich? (1976), Die Tatsachen des Lebens (1976), Gespräche mit meinen Kindern (1978) sowie die 1985 herausgegebene Autobiographie Weisheit, Wahnsinn, Torheit – Werdegang eines Psychiaters. Anfang der 60er Jahre lernte Laing den sozialpsychologisch interessierten Anthropologen Gregory Bateson (1904–1980) kennen, der sich mit Kommunikationstheorien beschäftigte. Bekannt wurde er als Mitglied der Palo-Alto-Gruppe (benannt nach dem Ort ihres Instituts in Kalifornien), der unter anderem noch Don D. Jackson, John H. Weakland, Virginia Satir, Jay Haley und Paul Watzlawick angehörten. Diese Forscher untersuchten die Paradoxien der Abstraktion in der Kommunikation (so der Titel ihres wissenschaftlichen Projekts) und stießen dabei auf die sogenannte Doppelbindungstheorie. Diese besagt, dass widersprüchliche Formen und Inhalte der Kommunikation manche Menschen in eine Art Zwickmühle des Fühlens und Handelns bringen (»double bind«), und dass damit bei ihnen die Entstehung von Schizophrenie und anderen psychischen Störungen begünstigt werden kann. Laing erkannte einige Parallelen zwischen den Arbeiten der Palo-Alto-Gruppe und seinen eigenen Forschungsergebnissen. In der Folgezeit publizierte er mit manchen ihrer Mitglieder Abhandlungen über psychiatrische und kommunikationstheoretische Themen. Eine weitere für ihn wichtige Bekanntschaft machte er mit dem Nervenarzt David Cooper (1931–1986), der als Erster den Begriff der Anti-Psychiatrie benutzt hatte. Auch mit Cooper ergab sich eine enge Zusammenarbeit, so beim Buch Vernunft und Gewalt – drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950–1960 (1964), zu dem JeanPaul Sartre selbst ein anerkennendes Vorwort verfasst hat. Von 1962 an leitete Laing die Langham Klinik in London. Nachdem es mit dem Direktor dieser Einrichtung zu Meinungsverschiedenheiten gekommen war (Laing vertrat z. B. den Gebrauch von LSD und anderen Drogen), gründete er 1965 zusammen mit Cooper, Aaron Esterson und weiteren kritischen Nervenärzten Kingsley Hall, eine antipsychiatrische Wohngemeinschaft im Londoner East End. Hier lebten Patienten und Therapeuten
eng zusammen, wobei Letztere versuchten, alle Formen der Etikettierung und Pathologisierung der Ersteren zu vermeiden. Auch sollte es keine strikte Zweiteilung in Gesunde und Kranke geben; die psychotischen Krankheiten wurden als verständliche Reaktionen von Individuen auf kranke gesellschaftliche Verhältnisse interpretiert. 1970 wurde Kingsley Hall geschlossen. Laing reiste daraufhin über ein Jahr lang durch Ceylon und Indien, wo er Erfahrungen mit Hinduismus, Buddhismus und Meditation machte und Sanskrit lernte. Als er 1972 nach London zurückgekehrt war, bot er sogar »Rebirthing«-Kurse an. Er eröffnete eine psychoanalytisch-psychiatrische Praxis, mit der er in den folgenden Jahren seinen Lebensunterhalt verdiente. Obwohl Laing weiterhin publizierte, konnte er an seine großen Erfolge der 60er Jahre nicht mehr anschließen. In den 80er Jahren gerieten er und seine ungewöhnlichen Ansichten zu geistig-seelischer Krankheit und Gesundheit ziemlich in Vergessenheit, was unter anderem an den deutlich verbesserten medikamentösen Therapiemöglichkeiten bei Psychosen lag. Nachzutragen bleibt, dass Laing mehrere, letztlich wenig erfolgreiche Anläufe unternahm, eine zufriedenstellende Partnerschaft zu führen. Seine zweite Ehe wurde 1986 geschieden. Im 60. Lebensjahr war er gezwungen, auf seinen Eintrag im Arztregister und damit auf weitere ärztliche Tätigkeit zu verzichten. Zwei Jahre darauf starb Laing im Sommer 1989 in St. Tropez an einer Herzattacke.
Werkanalyse Laings Schriften spiegeln seine jahrelange therapeutische Arbeit mit schwerstgestörten psychiatrischen Patienten ebenso wie sein Studium von existenzphilosophischen Texten (Kierkegaard, Heidegger, Sartre, Jaspers, Merleau-Ponty) wider. Seine Theorie stellt eine Übertragung der Schizophrenieforschung auf Fragestellungen der medizinischen und philosophischen Anthropologie dar. Vor allem in Das geteilte Selbst – eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn (1960), Das Selbst und die anderen (1961); Vernunft und Gewalt – drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950-1960
Werkanalyse
(1964) sowie Phänomenologie der Erfahrung (1967) hat der Autor seine diesbezüglichen Ansichten ausführlich dargelegt. Die Nähe zu seinen Patienten ermöglichte es Laing, einfühlsame und detaillierte Beobachtungen und Erkenntnisse über das Wesen wahnhafter Erkrankungen zu gewinnen, die er in seinen Büchern mit den existenzphilosophischen Beschreibungen des Menschen in Bezug setzte. In den einleitenden Kapiteln von Das geteilte Selbst erläuterte er seine wissenschaftlich-erkenntnistheoretische Plattform, von der aus er seine Forschungsergebnisse kommentierte. Laing griff auf eine existentiell-phänomenologische Methode für die wissenschaftliche und klinische Erfassung seiner Patienten zurück. Darüber hinaus baute er Gedanken aus den Schriften Sigmund Freuds und anderer Tiefenpsychologen sowie von Wilhelm Dilthey, Martin Buber, Medard Boss, Ludwig Binswanger und Eugène Minkowski in seine Theorie seelisch-geistiger Krankheit und Gesundheit ein. Berücksichtigt man die Grundüberzeugungen dieser Autoren sowie die Erfahrungen, die jedermann mit psychiatrischen Patienten machen kann, sofern er unvoreingenommen und empathisch mit ihnen Umgang pflegt, kommt man nach Laing zu dem Schluss, dass diese Patienten ebenso wie alle anderen Menschen als Personen und nicht als bloße Lebewesen oder gar als Gegenstände verstanden, behandelt und geachtet werden müssen. z
Das geteilte Selbst
Im Eingangskapitel von Das geteilte Selbst beklagte Laing, dass viele Mitarbeiter psychiatrischer Kliniken (Nervenärzte, Pflegende, Therapeuten) diesem anthropologischen Credo nicht gerecht werden. Im Gegenteil: Statt personaler Beziehungen weise ihr Umgang mit den Patienten oftmals ein hohes Maß an Dominanzstreben, Verdinglichung, Entwertung und autoritären Hierarchien auf:
» Auf den folgenden Seiten werden wir uns wesentlich mit Leuten befassen, die sich selbst als Automaten, als Roboter, als Maschinenteile oder sogar als Tiere erfahren. Solche Personen werden mit Recht als verrückt angesehen. Warum aber betrachten wir nicht eine Theorie, die Personen in
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Automaten oder Tiere zu transmutieren sucht, als ebenso verrückt (Laing 1994, S. 27)?
«
Laing setzte sich energisch dafür ein, Psychiatrie, Psychotherapie und letztlich die gesamte Medizin als eine Wissenschaft von Individualitäten und Personen zu begreifen. Ihm zufolge begeht man einen fundamentalen Fehler, bei der Erforschung, Diagnostik und Therapie von Kranken die Unterschiede zwischen Sachen und Personen zu negieren. Der Mensch ist ein Jemand und kein Etwas; übersieht man dieses anthropologische Faktum, werden sämtliche angeblich wissenschaftlichen Erkenntnisse oder die daraus abgeleiteten Umgangs- und Behandlungsmodalitäten fragwürdig, schief oder sogar inhuman. In vielen Wissenschaften vom Menschen galt im 20. Jahrhundert der materialistische Positivismus des 19. Jahrhunderts als Leitidee. Diese führte zu Einseitigkeiten der Betrachtung, die etwa in der Medizin zu überwiegend biologischen Erklärungsansätzen hinsichtlich menschlicher Krankheit und Gesundheit sowie zur Vernachlässigung des Verstehens psychosozialer Dimensionen beitrugen. Aus Unsicherheit und Angst vor gleichberechtigten Beziehungen tendierten nicht wenige Ärzte dazu, ihre Patienten zu verobjektivieren und aus ihnen Diagnosen, Fälle und letztlich Sachen werden zu lassen. Auf diese Gefahr verfehlter Zwischenmenschlichkeit hat bereits Martin Buber hingewiesen, der in seinen Schriften darlegte, wie aus Ich-Du- allzu oft Ich-Es-Relationen werden. Die Verdinglichung und Objektivierung des Anderen soll dabei das eigene Subjektsein als Monopol sichern – eine Strategie, die auch Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts (1943) als weitverbreitete Verhaltensweise geschildert hat. Vor diesem Hintergrund werden Ärzte, Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten nicht selten zu überheblichen Wissenschaftlern und Behandlern, die ihre Untersuchungs-»Objekte« fast ausschließlich in der dritten Person (er, sie, es) mit den Kategorien der Dinglichkeit erfassen, erforschen und beschreiben. Laing attestierte nicht nur der Psychiatrie, sondern auch der institutionalisierten Psychoanalyse seiner Zeit, in den Sog einer solchen Entpersönlichungsideologie geraten zu sein. Sie schuf eine Terminologie und ein theoretisches
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Kapitel • Ronald D. Laing
Gebäude, die wenig Raum für ungekünstelte Beziehungsaufnahme und freie Selbstgestaltung der Individuen ließen. Ähnlich wie die Psychiatrie wurde die psychoanalytische Theorie und Praxis damit ein System der menschlichen Entfremdung:
»
Der größte Psychopathologe war Freud. Freud war ein Held. Er stieg in die Unterwelt und traf dort auf bloße Schrecken. Er brachte mit sich seine Theorie wie ein Haupt der Medusa, das diese Schrecken in Stein verwandelte. Wir, die wir Freud folgen, ziehen Nutzen aus dem Wissen, das er mitbrachte und uns übermittelte. Er überlebte. Wir müssen sehen, ob wir jetzt überleben können, ohne eine Theorie zu benutzen, die gewissermaßen ein Instrument der Verteidigung ist (Laing 1994, S. 29).
«
Nach Laing entspringt das übliche psychiatrische und psychoanalytische Vokabular gegenüber den Patienten in vielen Fällen einem Wörterbuch der Verunglimpfung. Personen und ihre Schicksale werden dabei auf eine Sachebene reduziert, persönliche Erlebniswelten als Naturprozesse und molekulare Reaktionen geschildert, Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen als Reflexe oder als physiologische und pathologische Reaktionen des Körpers definiert. Vor diesem Hintergrund überrascht die ehemalige Aussage des berühmten Zürcher Psychiaters Eugen Bleuler nicht, der trotz seiner jahrzehntelangen Arbeit mit schizophren Erkrankten davon sprach, dass ihm diese Patienten fremder seien als die Vögel in seinem Garten. z
Krankheit und Gesundheit
Wilhelm Dilthey hat Ende des 19. Jahrhunderts darauf aufmerksam gemacht, dass Naturwissenschaften zu erklären, Geisteswissenschaften indes zu verstehen versuchen. Beim Menschen und seinen Erkrankungen sind beide Modalitäten nötig. Bei alleiniger Berücksichtigung biologischer Ursachen von Seelenkrankheiten vernachlässigt man die psychosoziale und soziokulturelle Situation, in der die Patienten reagieren. Es tut daher eine Krankheitslehre not, welche die biographischen, charakterologischen und weltanschaulichen Aspekte der Betreffenden angemessen versteht:
» Naturwissenschaftliche Forschung richtet sich auf Objekte, Dinge. Personen unterscheiden sich dadurch von Dingen, dass sie die Welt erfahren, während Dinge sich in der Welt verhalten … Menschen sind nicht einfach äußerlich aufeinander bezogen wie zwei Billardkugeln, sondern durch die Beziehung zweier Erfahrungswelten, die ins Spiel kommen, wenn zwei Menschen einander begegnen. Wenn Menschen nicht als Menschen betrachtet werden, ist das abermals Gewalt und Mystifikation (Laing 1969, S. 55).
«
Psychiatrisch Kranke als Mitmenschen und nicht als bloße Objekte zu behandeln ist jedoch nur möglich, wenn sich Ärzte und Pflegende auf einer Ebene mit ihren Patienten bewegen. Solange Medizin und vor allem Psychiatrie unüberwindliche Trennlinien zwischen krank und gesund, Patient und Arzt ziehen, vertiefen sie die Kluft zwischen den Kranken und sich selbst und erschweren ein umfängliches Verstehen ihrer Patienten. Solidarisches Identifizieren mit den existentiellen Nöten und Kalamitäten von Patienten ist die Basis, auf der erst Empathie sowie fürsorgliche und verstehende Diagnostik und Therapie erwachsen können. Gelingt eine derartige Arzt-Patienten-Beziehung, erkennt man nach Laing an den psychiatrisch Erkrankten, dass die Entstehungsbedingungen ihrer Störungen nicht nur in ihnen selbst zu suchen sind. Mindestens so sehr wie deren genetische Ausstattung sind die jeweiligen Erziehungs-, Umwelt- und Kultureinflüsse als pathogenetische Faktoren verantwortlich zu machen. Gestört und krank sind nicht nur die Patienten – krank sind in vielen Fällen auch deren Familien, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sie leben, sowie die Ärzte und Klinikstrukturen, die eigentlich für deren Behandlung Sorge tragen sollten. Die Psychiatrie wirkt nach Laings harten Worten nicht selten ähnlich verrückt wie die Patienten, mit denen sie sich abzugeben hat. So kam es noch in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts häufig vor, dass sich Missachtung und Selbstentfremdung, unter denen Patienten in ihrer Kindheit und Jugend litten, in den psychiatrischen Kliniken und Ambulanzen fortsetzten – nun aber unter dem Deckmantel von Diagnostik und
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Werkanalyse
Therapie. Es war daher dem Autor zufolge nicht verwunderlich, dass sich Besserungen oder Heilungen psychotischer Erkrankungen unter diesen Kautelen nicht allzu oft beobachten ließen. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungstechniken, welche den Menschen ohne Berücksichtigung von Selbstsein, Freiheit, IchDu-Wirklichkeit und Wertbezogensein traktieren, zementieren gerade jene Krankheiten, die sie zu beheben beabsichtigen, und womöglich rufen sie dadurch sogar noch neue Störungsbilder hervor. Animiert vom Geiste der Existenzphilosophie forderte Laing daher für die nervenheilkundigen Fächer eine strikt verstehende Diagnostik und Therapie der individuellen Lebenswelten ihrer Patienten. z
Ontologische Unsicherheit
Einen ersten wichtigen Befund, den Laing bei seinen Patienten in diesem Zusammenhang erhob, und der für die Entstehung schizophrener Erkrankungen Relevanz besitzt, benannte er mit dem Begriff der ontologischen Unsicherheit. Normalerweise erleben sich Menschen als real, lebendig, ganz, verschieden vom Rest der Welt, innerlich konsistent, kontinuierlich in Raum und Zeit, mit Substanz, Wahrheit und Wert versehen, einen Anfang und ein Ende aufweisend. Damit verfügen sie über einen festen Kern ontologischer Sicherheit, und diese Sicherheit beziehen sie auf ihr eigenes Dasein wie auch auf das Sein ihrer Umwelt. Ontologisch unsichere Menschen hingegen erleben sich eher tot als lebendig, eher irreal als real, vom Rest der Welt nicht sicher differenziert, personal inkonsistent, räumlich und zeitlich fragil sowie möglicherweise körper- und substanzlos. Solche Individuen sind meist damit beschäftigt, sich ihrer Identität und Lebendigkeit, ihres Körpers und seiner Differenz zur Umwelt sowie ihres Selbstwertes zu versichern. Gleichzeitig haben sie permanent Angst, ihren letzten Rest von ontologischer Sicherheit auch noch zu verlieren. Damit verändern sich ihre Beziehungen zu anderen Menschen und ihr In-der-Welt-Sein radikal:
» Natürlich ist es unvermeidbar, dass ein Individuum, dessen Erfahrung von sich selbst so ist, nicht mehr in einer »sicheren« Welt leben kann … Die ganze »Physiognomie« seiner Welt wird ent-
sprechend verschieden von der eines Individuums sein, dessen Gefühl vom Selbst sicher in seiner Gesundheit und Validität begründet ist … Wenn man sich das klar macht, ist es möglich zu verstehen, wie sich Psychosen entwickeln können (Laing 1994, S. 51).
«
Die ontologische Unsicherheit macht sich nach Laing bei den Betreffenden in drei Formen bemerkbar: als Angst, verschlungen zu werden; als Angst vor Implosion und als Angst vor Petrifikation und Depersonalisation. Die Erstere manifestiert sich als Befürchtung, das Gegenüber könne einen verschlucken, einschließen, ersticken oder unterdrücken. Für den therapeutischen Umgang wichtig ist die Beobachtung, dass ontologisch unsichere Menschen auch dann Angst vor Verschlungen-Werden entwickeln, wenn sie verstanden werden. Ganz verstanden (oder auch geliebt und gesehen) werden wird von ihnen wie einverleibt werden erlebt und dementsprechend mit Flucht- und Distanzmanövern beantwortet (negative therapeutische Reaktion). Die Angst vor Implosion entsteht, wenn sich Menschen innerlich als leer, als Vakuum oder als Nichts erleben. Die äußere Realität bedeutet damit fast stets eine Gefahr, ungehindert ins eigene Innere eindringen und sich dort festsetzen zu können. So sehr sich der Einzelne auch nach Kontakt mit der Realität sehnen mag, so sehr fürchtet er gleichzeitig diesen Kontakt, da er nicht weiß, ob sich die Verhältnisse um ihn her nicht in seinem Innenleben breitmachen und ihn dominieren. Unter Angst vor Petrifikation schließlich verstand Laing die Furcht eines Menschen, in einen Stein, ein totes Ding, einen Automaten oder ein depersonalisiertes Es verwandelt zu werden. Nicht selten greifen solche Patienten, um dieser Gefahr zuvorzukommen, selbst zur Petrifikation von sich und anderen und verwandeln in einer Art magischem Akt sich oder ihre Umwelt zu leblosen Dingen und zu depersonalisierten, materialisierten und unfreien Sachen und Maschinen. Anerkennt man die ontologische Unsicherheit und die damit einhergehenden Ängste eines Menschen, erscheinen seine verrückten, psychotischen und schizophrenen Handlungen, Empfindungen, Gedanken und Gespräche durchaus sinnvoll
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Kapitel • Ronald D. Laing
und verständlich. Anhand mehrerer Fallbeispiele demonstrierte Laing, dass unter solchen Beobachtungsprämissen die psychotisch Kranken zuallererst und mehr als alles andere einfach nur menschlich (Harry Stack Sullivan) sind. z
«
Wahres und falsches Selbst
Wie aber entstehen derart umfassende und an die Wurzeln des eigenen Seins gehende Unsicherheiten? Laing verwies zur Beantwortung dieser Frage auf das Konzept vom wahren und falschen Selbst (Karen Horney). Wenn Kinder in bedrängenden, verwahrlosenden, unzuverlässigen und deprivierenden Verhältnissen aufwachsen, entsteht in ihnen häufig der Impuls, sich aus diesen unangenehmen Situationen zurückzuziehen. Gleichzeitig bemerken sie, dass sie aufgrund ihrer Abhängigkeit von den Erziehern und wegen ihrer allgemeinen Hilflosigkeit diesen Rückzug nicht wirklich zuwege bringen. In diesem Dilemma greifen die betreffenden Kinder oft zu einem Trick. Sie halten gleichsam Anteile ihrer Seele und ihres Bewusstseins aus dem zwischenmenschlichen Bereich heraus und belassen nur noch ihren Körper in der jeweiligen Situation, nach dem Motto: Die biologische Basis meiner Existenz muss ich der Bedrängnis ausliefern, aber mein Fühlen, Denken und Empfinden und damit mein eigentliches Selbst wird niemand erreichen können. Wer diesen Mechanismus bei sich häufig anzuwenden gezwungen war, lebt nicht mehr vollständig in seinem Körper und ist somit nicht mehr inkarniert. Diesen Begriff verwendete der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty, um den Menschen zu beschreiben. Er sprach in diesem Zusammenhang von inkarniertem Geist oder vom Leib als einem Ankerplatz der menschlichen Existenz. Wird der Körper jedoch häufig im Stich gelassen, bedeutet er nach einiger Zeit keine Heimat mehr. Stattdessen wird er als fremd oder falsch bewertet und vom wahren Selbst (die zurückgezogene Seele, das Bewusstsein) geschieden:
»
schlossenheit genannt wurde. Die Aktionen des Individuums werden nicht als Ausdruck seines Selbst empfunden. Seine Aktionen, all das, … was ich vorgeschlagen habe, sein falsches Selbst-System zu nennen, werden dissoziiert und autonom (Laing 1994, S. 90).
Das Selbst in einer solchen schizoiden Organisation ist gewöhnlich mehr oder weniger unverkörpert. Es wird als geistige Entität erfahren. Es tritt in den Zustand, der von Kierkegaard Ver-
In Nuancen kennen die meisten Menschen Zustände, in denen sie nicht vollständig inkarniert sind. Jede Form des Eine-Maske-Tragens oder Eine-Rolle-Spielens geht mit einer gewissen Differenz zwischen wahrem und falschem Selbst einher. C. G. Jung bezeichnete dies mit dem Begriff der Persona (falsches Selbst) im Gegensatz zur Person (wahres Selbst). Bei der Erkrankung der Hysterie kommt es zu stärkerer Dissoziation von Person-Anteilen bis hin zur »belle indifférence«. Obwohl der Körper unangenehme Symptome erleidet (gestörte Sinneswahrnehmungen bis hin zu dissoziativer Blindheit oder Taubheit, motorische Lähmungen, Störungen der Sensibilität), scheint die Stimmung des Patienten im Sinne seines falschen Selbst als ausgeglichen und beinahe heiter. Je umfänglicher Menschen die Daseinsvollzüge ihrem falschen Selbst überlassen, umso welt- und realitätsärmer werden sie im Laufe der Zeit. Damit wachsen ihr Angstpotential und ihre ontologische Unsicherheit bei jedem neuerlichen Kontakt mit ihrer Umwelt und bestärken sie in ihrer misstrauisch-vorsichtigen und zurückgezogenen Grundeinstellung. Solche Prozesse können schließlich in psychotische Erkrankungen einmünden. Menschen mit psychotischen Erkrankungen lassen sich daher als heimatlos in einem umfänglichen Sinne begreifen. Weder empfinden sie sich in ihrem eigenen Körper zu Hause, noch erleben sie ihre Mitmenschen als zugewandt und Halt gebend. Aufgrund dieser doppelten Fremde kann man nachvollziehen, dass vielen dieser Kranken kaum oder nie Sexualität mit einem Du gelingt. Sie sind – wie die französische Sprache sie charakterisiert – »aliénés«, also Fremdlinge, die zwar die Sehnsucht nach Nähe und Heimat mindestens so sehr wie alle anderen kennen, zugleich aber aufgrund ihrer ontologischen Unsicherheit fast stets jene Situationen phobisch meiden, in denen sich Intimität und Hingabe ereignen könnten.
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Conclusio
z
Der Wahnsinn der Normalität
Laing war überzeugt, dass die Ursachen für diese existentiellen Fluchtbewegungen der Einzelnen in den familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen zu suchen sind, in denen sie aufwuchsen und weiterhin zu leben gezwungen waren. Daher fokussierte er sowohl seine diagnostischen wie therapeutischen Interessen bevorzugt auf die Sozietät und ihre Defizite, von denen er annahm, dass ihre Veränderung relevanter sei als die alleinige Behandlung individueller psychotischer Symptome. So beschrieb er in Phänomenologie der Erfahrung (1967) all jene verrückten und krankmachenden Bedingungen innerhalb von Familien, gesellschaftlichen Institutionen wie Schulen, Kirchen oder Militär sowie von Staaten, die ihm im Rahmen der britischen Kultur und innerhalb der Geschichte des 20. Jahrhunderts als besonders auffällig erschienen. Neben den gestörten familiären Kommunikations- und Interaktionsstilen waren es vor allem die historischen Ereignisse in Europa zwischen 1914 und 1945, die für Laing ein kaum vorstellbares Maß an Destruktivität und pervertierter Zwischenmenschlichkeit aufwiesen, und die von ihm als überaus pathogen eingestuft wurden. Verglichen mit den kollektiven Wahnsystemen des Chauvinismus, Nationalismus, Antisemitismus, religiösen Fanatismus und des Patriarchats erschienen ihm die psychotischen Symptome einzelner Kranker geradezu als vollendete Harmlosigkeiten. Und bedenke man Krieg, Verfolgung und Ausrottung Unschuldiger, Holocaust, ethnische Säuberungsaktionen, die Abermillionen Tote und den Verlust jeglicher ethisch-moralischer sowie kultureller Maßstäbe, müsse man sich eher darüber verwundern, dass nicht mehr Menschen an diesen Verhältnissen irregeworden sind und sich als Patienten in den psychiatrischen Anstalten Englands und anderer europäischer Staaten aufhielten:
» Die Deutschen brachten ihren Kindern bei, die Juden auszurotten, ihren Führer zu verehren und fürs Vaterland zu töten und zu sterben. Die Mehrheit meiner Generation hielt oder hält es nicht für eine völlige Verrücktheit, lieber tot als rot zu sein … In den letzten fünfzig Jahren haben
wir Menschen mit eigener Hand an die hundert Millionen Artgenossen hingeschlachtet. Wir alle leben unter der ständigen Drohung unserer totalen Annihilation … Nur durch die abscheulichste Vergewaltigung unserer selbst vermögen wir in relativer Anpassung an eine Kultur zu leben, die augenscheinlich ihrer eigenen Destruktion zutreibt (Laing 1969, S. 67f.).
«
Der Wahnsinn der Normalität (1987) – so der Titel einer Publikation des deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Arno Gruen (geboren 1923) – führt Laing zufolge bei den meisten Menschen dazu, dass sie sich an die verrückten Verhältnisse ihrer Umwelt adaptieren und damit als gesund und normal gelten. Diejenigen hingegen, die sich solch fragwürdiger Anpassungsleistungen entziehen, imponieren für die angepasste Majorität als krank und anormal. Genau genommen bringen diese Kranken jedoch in ihren Symptomen und Weigerungshaltungen den durchaus gesunden Impuls zum Ausdruck, sich mit den wahnwitzigen Bedingungen um sich her nicht arrangieren zu wollen.
Conclusio Mit solchen Ansichten hatte Laing Anschluss gefunden an die Gruppe der sogenannten Anti-Psychiater. Obwohl er diesen Begriff nicht schätzte – er definierte sich als Psychiater und wollte die Psychiatrie von innen heraus reformieren und nicht von außen attackieren –, identifizierte er sich mit einigen inhaltlichen Positionen, die etwa von Franco Basaglia, Erving Goffman, Thomas Szasz, Erich Wulff und Jan Foudraine vertreten wurden. Zusammen mit Philosophen wie Gilles Deleuze, Michel Foucault und Georges Devereux formulierten diese Anti-Psychiater grundlegende Kritik an den damals üblichen Formen der Diagnostik und Therapie von psychiatrischen Patienten. Unter dem Schlagwort der »totalen Institution« (Goffman) wandten sie sich gegen autoritäre Hierarchien an den Nervenheilanstalten, welche die Kranken zu mehr oder minder willenlosen Opfern degradierten. Außerdem kritisierten sie die teilweise entwertende Terminologie sowie die fragwürdigen Behandlungsmethoden, die bis in die 60er und
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Kapitel • Ronald D. Laing
70er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Psychiatrie weithin üblich waren. Ausgehend von ihrer Fundamentalkritik griffen die Anti-Psychiater zu radikalen Innovationen. So wurde von ihnen der Krankheitsbegriff in der Psychiatrie nicht nur auf den Prüfstand gestellt, sondern in manchen Bereichen völlig abgeschafft. Die Unterbringung der Patienten sollte nur noch freiwillig und in kleinen und überschaubaren Wohnanlagen erfolgen (lange Zeit waren psychiatrische Klinikkomplexe mit weit über Tausend Insassen fast die Regel). Zwangsmaßnahmen (geschlossene Abteilungen, Elektrokrampftherapie, Medikation) sollten unterbleiben, und der vielerorts praktizierten Hospitalisierung (Liege- und Behandlungszeiten manchmal über Jahre) wurde mit einem Programm zur Resozialisierung der Kranken und mit Öffnung der psychiatrischen Pforten begegnet. In seinen Büchern ebenso wie im konkreten Umgang mit seinen Patienten erwies sich Laing in vielerlei Hinsicht als durchaus zugehörig zur Gruppe der Anti-Psychiater. So wollte er Ernst machen mit der Idee eines herrschaftsfreien Dialogs, den er als essentiell für den therapeutischen Umgang mit psychisch schwerkranken Patienten ansah. Sie als Personen zu achten und sie würdevoll zu behandeln, kann als vorbildliche ärztliche Haltung und Einstellung bezeichnet werden, die für Laing einen hohen Stellenwert einnahm. Auch seine Experimente mit dem »Rumpus Room« und seine Wohngemeinschaft in Kingsley Hall zeichnen Laing als einen Psychiater aus, der seine Patienten nicht von oben herab diagnostizierte, sondern in engem Kontakt mit ihnen lebte und den Alltag mit ihnen teilte. Diesbezüglich darf man sich jedoch fragen, ob sich Laing der großen sozialen und emotionalen Belastungen vollumfänglich bewusst war, die es bedeutete, Tag und Nacht mit zum Teil schwerstgestörten Menschen auf engstem Raum zusammenzuwohnen. Womöglich haben diese Herausforderungen neben seinen persönlichen und privaten Kalamitäten mit zu seiner Herzerkrankung und dem frühen Tod beigetragen. Drei bis vier Jahrzehnte nach dem Aufstand der Anti-Psychiater im Bereich der Nervenheilkunde und zwei Jahrzehnte nach dem Tod Laings kann man einigermaßen fundiert beurteilen, inwiefern
ihr Engagement zu Fortschritten in der Medizin oder aber zu wenig hilfreichen Übertreibungen beigetragen hat. Als Erfolg der antipsychiatrischen Aktivitäten lässt sich zum Beispiel die Problematisierung der psychiatrischen Terminologie und Nosologie sowie der Stigmatisierung psychiatrischer Patienten verbuchen. Ebenfalls günstig wirkte sich die Kritik Laings und seiner Mitstreiter im Hinblick auf die Unterbringung und Behandlung von psychiatrisch Kranken aus. In den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten wurden umfangreiche Resozialisierungsprogramme umgesetzt, so dass viele hospitalisierte Patienten in therapeutische Wohngemeinschaften oder in eigene Wohnungen entlassen werden konnten. Auch die Etablierung von psychiatrischen Tag- und Nachtkliniken (Paradebeispiel Soteria in Bern) sowie von therapeutischen Einrichtungen wie Treffpunkten, Cafés und Werkstätten (Sozialpsychiatrie) hat dazu beigetragen, dass die Patienten einen deutlichen Zuwachs an Lebensqualität bei sich verzeichnen können. In Bezug auf Verbesserung und Humanisierung psychiatrischer Therapieoptionen waren neben den Initiativen von Laing und anderen kritischen Nervenärzten in den letzten Jahrzehnten vor allem die rasante Entwicklung der Psychopharmaka sowie das erweiterte Angebot von sozio- und psychotherapeutischen Verfahren maßgeblich. Mit Hilfe dieser Behandlungsmöglichkeiten entfielen für die meisten Patienten jahrelange Klinikaufenthalte, Elektrokrampftherapie, gefängnisähnliche Aufbewahrung und entwürdigende Fixierungsmaßnahmen. Zu Recht als problematisch wurde es von vielen Schulmedizinern jedoch angesehen, dass Laing nicht nur psychiatrische Krankheitskonzepte in Frage stellte, sondern tendenziell die Kranken zu Gesunden stempelte, die aufgrund ihrer Sensibilität und Unangepasstheit den Wahnsinn der Normalität erkennen und sich weigern, darauf adaptiv zu reagieren. Damit verspielte er die Chance, eine auch unter medizinanthropologischen Gesichtspunkten interessante Debatte über die Kriterien von psychosozialer und geistiger Krankheit und Gesundheit so zu führen, dass weite Bereiche der Medizin und Psychiatrie daran hätten teilnehmen können und wollen.
Conclusio
Eng mit den Krankheitskonzepten assoziiert sind die Vorstellungen über Entstehung und Verlauf von psychiatrischen Erkrankungen. Im Zuge der materialistischen und positivistischen Ausrichtung der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es auch innerhalb der Psychiatrie zu einem Schwenk hin zu einer biologischen Genesetheorie von geistig-seelischen Krankheitsbildern gekommen. Dies hatte anfänglich günstige Folgen für die Lehre von den psychiatrischen Erkrankungen. Die bis dahin vorherrschenden, meist spekulativen Ideen über die Entstehung und das Wesen von Psychosen und Neurosen (z. B. Ausdruck von Sünde, Verhexung, Spuk, Teufelskontakt) wurden abgelöst durch rationale Erklärungsansätze. Oft zitiert wurde in diesem Zusammenhang Wilhelm Griesingers Diktum: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«, mit dem er programmatisch eine empirienahe, an anderen körperlichen Erkrankungen ausgerichtete Ätiologie der psychiatrischen Krankheitsbilder verfocht. In der Folge entwickelte sich die Psychiatrie gemeinsam mit der Neurologie zu einer medizinischen Disziplin, die hinsichtlich ihrer Ätiologiekonzepte materialistische und biologisch-organische Modelle favorisierte. Als man Ende des 19. Jahrhunderts das Bakterium Treponema pallidum als Erreger der Syphilis identifizierte, war damit auch die Entstehung des luetischen Wahns (Syphilis Stadium IV) mit geklärt. Als 1909 die Entdeckung des Wirkstoffs Salvarsan und 1928 diejenige des Penicillins gelang, konnte diese Infektionskrankheit effektiv behandelt und damit die Entwicklung eines luetischen Wahns verhindert werden. Man kann verstehen, dass viele Psychiater im Hinblick auf andere Psychosen und Neurosen von analogen Entstehungsbedingungen wie bei der Syphilis und dem luetischen Wahn ausgingen. Dementsprechend fahndeten sie nach möglichen Erregern von Schizophrenie oder manisch-depressivem Irresein, wobei sich im Laufe der Jahrzehnte zunehmend auch hereditäre Ätiologieüberlegungen in den Vordergrund schoben. Mit dem Aufkommen von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie veränderten sich neuerlich die Krankheitskonzepte der Psychiatrie. Sigmund Freud und seine Schüler machten Triebkonflik-
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te und -schicksale, narzisstische Bedürfnisse und Frustrationen, Versuchungs- und Versagungssituationen, Verdrängungstendenzen, Selbstentfremdung, Minderwertigkeitskomplexe und kompensatorische Größenideen, Privatlogik und einige weitere innerseelische und zwischenmenschliche Belastungen für die Entstehung und den Verlauf von Neurosen und Psychosen verantwortlich. Die Nervenheilkunde konnte sich nur partiell mit diesen Ätiologiefaktoren anfreunden; zeitweise wurden Freud, die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie von der überwiegenden Zahl der Psychiater heftig attackiert. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es darüber hinaus aufgrund der Anfeindungen, welche die psychodynamische Seelenkunde durch Faschismus und Bolschewismus erfuhr, zu einem deutlichen Überwiegen der biologisch orientierten Psychiatrie. Die Anti-Psychiatrie kann als neuerliche Pendelbewegung innerhalb der Nervenheilkunde verstanden werden. Mit ihr sollten das somatische Vorurteil vom Wesen und von der Entstehung psychiatrischer Störungen ebenso wie die herkömmlichen Diagnose- und Therapiestrategien der Psychiatrie radikal vom Tisch gefegt werden. Vertreter der traditionellen Heilkunde galten nicht selten als reaktionär und konservativ, indes sich die AntiPsychiater mehrheitlich als fortschrittlich, aufgeklärt, demokratisch und empathisch-solidarisch definierten. Betrachtet man die heftigen Kämpfe, die in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zwischen schulmedizinischen und Anti-Psychiatern ausgetragen wurden, mit historischem Abstand, fallen einige grundlegende anthropologische und wissenschaftstheoretische Themen auf, um die dabei gerungen wurde. So kann man etwa die Antworten auf die Fragen nach den Ätiologiefaktoren psychiatrischer Erkrankungen den beiden Begriffen »nature« (Natur, hereditäre Komponenten) und »nurture« (Umwelteinflüsse, Sozialisation) zuordnen. Die Fraktion der Somatiker vertrat die »Nature«-Hypothese, wohingegen die Psychiker (Anti-Psychiater) von der »Nurture«-Hypothese überzeugt waren. Ähnlich entgegengesetzt imponierten die Therapievorstellungen der beiden Gruppierungen. Viele der biologisch orientierten Nervenärzte konnte
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Kapitel • Ronald D. Laing
man einer Behandlungsrichtung zuordnen, die als fordernd, streng oder sogar brutal zu bezeichnen war: Von Lobektomie und Krampftherapie über Aufbewahrung und Fixierung bis hin zu Arbeitstherapie reichte das Spektrum ihres Therapierepertoires, das man zumindest teilweise als patriarchalisch-autoritär charakterisieren kann. Die meisten Anti-Psychiater waren von mütterlich verwöhnenden und gewähren lassenden Behandlungsmaximen überzeugt. Psycho-, soziound kreativtherapeutische Maßnahmen sollten das Verständnis für die Lebensgeschichte der Patienten wecken und das kreative Potential, das (in den meisten Fällen zu Unrecht) in deren psychotischen Zuständen vermutet wurde, aktivieren. Laing sprach in manchen seiner Schriften nicht von Therapie, sondern von einer »Reise durch den Wahnsinn«, welche die Betreffenden absolvierten, wobei er selbst die Rolle des Reisebegleiters übernahm. Ebenfalls diametral angeordnet waren die Definitionen von krank und gesund, anormal und normal, die von den beiden Gruppierungen der Nervenärzte formuliert wurden. Die traditionellen Psychiater beschrieben bei ihren psychotischen Patienten diverse Symptome, ordneten diese zu Syndromen und bezeichneten sie mit Begriffen wie Dementia praecox (vorzeitige Verblödung), Schizophrenie (Gespaltensein), Paranoia (Wahn) und Cyclothymie (manisch-depressives Irresein). Bei der Abfassung dieser Diagnosekriterien erlebten sich die betreffenden Ärzte als zur Gruppe der gesunden und normalen Majorität gehörig. »Die Psychotiker« dagegen waren die ganz anderen, die Fremden, die sie in der Regel mit der Distanz des diagnostizierenden Forschers begutachteten. Die Anti-Psychiater hoben im Gegensatz dazu stark darauf ab, die Patienten nicht zu bloßen Objekten ihrer wissenschaftlich-diagnostischen Begierde zu degradieren. Überhaupt wurden der Begriff des Patienten und damit auch Termini wie Störung, Symptom und Krankheit mit Misstrauen beäugt. Mindestens so krank wie die in den psychiatrischen Kliniken hilfesuchenden Individuen waren für die Anti-Psychiater deren Familien sowie vor allem die Gesellschaft und Kultur, in der sie lebten. Damit stellten sich diese Nervenärzte solidarisch auf eine Ebene mit den psychotischen Menschen, denen sie verstehend begegnen und die
sie nicht in die Ecke der »aliénés«, der Fremden verbannen wollten. Diese inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen Nervenärzten verschiedenster Couleur (biologische Psychiater, Sozialpsychiater, Anti-Psychiater, psychodynamisch orientierte Psychiater) spiegeln in gewisser Weise die divergenten Haltungen und Positionen wider, welche die Ärzte und die Medizin generell seit Jahrhunderten einnehmen und kontrovers diskutieren. Die Fragen nach krank und gesund, anormal und normal, verstehender Nähe oder erklärender Distanz sowie nach mütterlicher Güte oder väterlicher Strenge charakterisieren die Heilkunde seit den Tagen der ägyptischen, griechischen und römischen Antike. Die Medizin entwickelte sich immer dann fruchtbar weiter, wenn sie einerseits die Spannungen ertrug, die von unkonventionellen und quer zur Majorität denkenden Ärzten ausging – mögen sie Paracelsus, Sigmund Freud oder eben Ronald D. Laing geheißen haben; und wenn sie andererseits die von diesen Ärzten ausgehenden Impulse in ihre tradierte Lehre integrierte. In diesem Sinne werden zum Beispiel die Entstehung und das Wesen der Krankheit Schizophrenie zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr unter dem Gegensatz »nature or nurture«, sondern mit Hilfe der Formel »nature and nurture« diskutiert. Um solche Entwicklungen innerhalb von Medizin und Anthropologie zu ermöglichen, braucht es unruhige Geister wie Laing, der bei aller berechtigten Kritik an seiner Person und seinem Werk wertvolle Veränderungen im Bereich der Psychiatrie und der Heilkunde mit angestoßen hat. Daher schließen wir uns durchaus dem Urteil Jean-Paul Sartres an, der über ihn schrieb:
» Ich bin wie Sie der Meinung, dass man psychische Störungen nicht von außen, aufgrund eines positivistischen Determinismus verstehen noch durch eine Kombination von Begriffen rekonstruieren kann, die außerhalb der erlebten Krankheit bleiben. Ich glaube ebenfalls, dass man eine Neurose weder untersuchen noch heilen kann ohne eine grundsätzliche Respektierung der Person des Patienten, ohne ständige Anstrengung, seine Grundsituation zu begreifen … Ich bin überzeugt, dass Ihre Bemühungen dazu beitragen, uns
Literatur
der Zeit näher zu bringen, in der die Psychiatrie endlich eine humane Psychiatrie sein wird (Sartre in Statt eines Vorworts, in: Cooper u. Laing 1973, S. 5).
«
Literatur Bateson, Jackson, Laing, Lidz, Wynne et al. (1981) Schizophrenie und Familie. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1969) Cooper DG, Laing RD (1973) Vernunft und Gewalt – Drei Kommentare zu Sartres Philosophie 1950–1960. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1964) Laing RD (1969) Phänomenologie der Erfahrung. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1967) Laing RD (1971) Die Politik der Familie. Kiepenheuer & Witsch, Köln (Erstveröff. 1969) Laing RD (1973) Das Selbst und die Anderen. Kiepenheuer & Witsch, Köln (Erstveröff. 1961) Laing RD (1980) Gespräche mit meinen Kindern. Kiepenheuer & Witsch, Köln (Erstveröff. 1978) Laing RD (1987) Weisheit, Wahnsinn, Torheit – Werdegang eines Psychiaters. Kiepenheuer & Witsch, Köln (Erstveröff. 1985) Laing RD (1990) Die Tatsachen des Lebens. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München (Erstveröff. 1976) Laing RD (1994) Das geteilte Selbst – Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Kiepenheuer & Witsch, Köln (Erstveröff. 1960) Laing RD, Phillipson H, Lee AR (1971) Interpersonelle Wahrnehmung. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1966) Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Psychosomatik Georg Groddeck – 323 Medard Boss – 337 Alexander Mitscherlich – 351 Thure von Uexküll – 365
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Georg Groddeck Biographisches – 324 Werkanalyse – 327 Conclusio – 332 Literatur – 334
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Georg Groddeck
. Abb. 1 Georg Groddeck (*1866; †1934). (Aus Stumm et al. 2005)
»Was der Mensch sei, erfährt er nur durch die Geschichte.« Dieser Satz Wilhelm Diltheys wurde im 19. Jahrhundert nicht nur von Historikern oft zitiert. Ganz generell galt damals, dass das Studium der Geschichte Antworten auf die Fragen nach Herkunft, Wesen und Ziel der menschlichen Gattung bereithält. Im 20. Jahrhundert schob sich eine andere Formel in den Vordergrund: »Was der Mensch sei, erfährt er nur durch die Erforschung seines Unbewussten.« Dass sich Anthropologie, Psychologie und Medizin vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den unbewussten Dimensionen der menschlichen Existenz zuwandten, ist nicht zuletzt dem Leben und Werk Georg Groddecks geschuldet (. Abb. 1).
Biographisches Groddeck wurde 1866 in Bad Kösen an der Saale als jüngstes von fünf Geschwistern geboren. Sein Vater Carl Theodor war Arzt, der mit seiner Promotion Die demokratische Krankheit – eine neue Wahnsinnsform (1849) für Aufsehen gesorgt hatte. Ein Jahr nach dem Paulskirchen-Experiment wurde dieser Titel von den Gutachtern zu Recht als Provokation erlebt. Georgs Kindheit verlief anfangs unspektakulär. Nach finanziellen und zwischenmenschlichen Schwierigkeiten der Familie wurde er jedoch 1878 in das Internat Schulpforta gesteckt, das nur wenige Kilometer von Bad Kösen entfernt liegt. An dieser berühmten Schule, die unter anderem Klopstock, Fichte und Nietzsche besucht hatten, war der Groß-
vater Georgs als Direktor tätig gewesen. Sein Enkel erwies sich allerdings als Karzerkönig und Lehrerschreck, der sein Abitur nur mit Mühe ablegte. Nach dem Abitur begann Groddeck ein Medizinstudium in Berlin. Das väterliche Vorbild hatte ihn gelehrt, was es heißt, quer zu denken und Außenseiterpositionen einzunehmen. Ganz in diesem Sinne schloss sich der Sohn in Berlin dem medizinischen Outsider Ernst Schweninger an, der die etablierte Heilkunde skeptisch hinterfragte. Schweninger war Dermatologieprofessor und Leibarzt Bismarcks. Letzterer war kränklich, bis Schweninger ihm als Heildiät ausschließlich Heringe (die berühmten Bismarck-Heringe) verschrieb. Daraufhin urteilte der eiserne Kanzler anerkennend, Schweninger sei der erste Arzt, der ihn behandelt hätte – alle anderen Ärzte habe stets er behandelt. Dieser medizinische Sonderling prägte Groddeck nachhaltig. Von ihm übernahm er eine kritische Haltung gegenüber der Schulmedizin (z. B. von Rudolf Virchow) ebenso wie die Kunst des Individualisierens, der ganz persönlichen Diagnostik und Therapie von Krankheiten. Außerdem war Schweninger ein Meister der Physio- und Balneotherapie sowie Diätetik, womit er selbst scheinbar unheilbar Kranke zu retten vermochte. Adlige aus halb Europa kamen zu ihm, um sich von ihm behandeln zu lassen. Von 1890–1900 arbeitete Groddeck als Assistent Schweningers. Für ihn verfasste er Abhandlungen für medizinische Fachzeitschriften, und von 1896–1900 leitete er in Berlin und Baden-Baden Sanatorien, die im Geiste des Dermatologieprofessors ausgerichtet waren. 1894 lernte Groddeck Else Neumann kennen; sie war verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Nach ihrer Scheidung heirateten die beiden; fünf Jahre später wurde die Tochter Barbara geboren. Kurz darauf trennte sich Groddeck von seiner Frau. Rückblickend schrieb er, dass seine Ehe äußerlich länger als zwei Jahrzehnte gehalten habe, obwohl das innerliche Band schon bald gelockert und nach wenigen Jahren zerrissen war. 1900 gründete Groddeck in Baden-Baden sein eigenes Sanatorium, die Villa Marienhöhe, die man bald »Satanarium« nannte. Rasch verbreitete sich sein Ruf als großer Arzt und Heiler sogar bei aussichtslosen Fällen. Groddeck muss ziemlich autori-
Biographisches
tär gewirkt haben. Vom Augenblick an, da die Patienten sein Sanatorium betraten, bis zu ihrer Entlassung bestimmte er ihr Leben. Die meisten nannten ihn einen Giganten oder Verrückten. Er konnte schonungslos, fast gewalttätig werden; andererseits soll er wieder sehr zartfühlend und freundlich gewesen sein. Obwohl Groddeck aus der Villa Marienhöhe innerhalb weniger Jahre eine Goldgrube gemacht hatte, war er mit seinen medizinischen und wirtschaftlichen Erfolgen nicht zufrieden. Seine Ehe war zerrüttet, und er selbst suchte nach neuen beruflichen Herausforderungen. Auf sie stieß er im Kontakt mit seiner Patientin Fräulein G., die für ihn eine ähnliche Rolle spielte wie die Patientin Anna O. für Sigmund Freud und Joseph Breuer. An Fräulein G. erkannte er, dass die Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung (in der Psychoanalyse auch als Übertragung und Widerstand bezeichnet) ein wesentlicher therapeutischer Faktor ist. Außerdem wurde er bei ihr mit dem Phänomen der Symbolisierung konfrontiert – sie drückte ihre Beschwerden in symbolischer Form aus, was Groddeck bald als zentraler Krankheitsaspekt bei vielen weiteren Patienten auffiel. Mit den Entdeckungen bei Fräulein G. (Symbol, Übertragung, Widerstand) war Groddecks Krise überwunden. 1909 veröffentlichte er eine kleine Schrift mit dem Titel Hin zu Gott Natur, in der er auf Goethes Begriff der Gottnatur Bezug nahm. Im Anschluss an Spinoza hatte der Dichter damit seine pantheistische Einstellung zum Ausdruck gebracht. In Hin zu Gott Natur vertrat Groddeck ebenfalls pantheistische Ansichten. Er sprach vom Einssein mit Gott Natur und vom Bewusstsein, selbst zum schaffenden All zu gehören. Obwohl er in seinem späteren Buch vom Es (1923) die 1909 angestellten Überlegungen als »Schwatzen über Weltseele, Pantheismus, Gottnatur« abtat, wurde die pantheistische Sichtweise zu einer wichtigen Wurzel seines späteren Es-Begriffs. Der neue Lebensschwung Groddecks machte sich auch auf sozialem Terrain bemerkbar. 1911/12 beteiligte er sich in Baden-Baden an der Gründung eines gemeinschaftlich organisierten Lebensmittelhandels und einer gemeinnützigen Baugenossenschaft. Außerdem hielt er Vorträge über Der gesunde und der kranke Mensch, die als Werbemaß-
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nahmen für den Verein und die Genossenschaft dienten. Dabei äußerte er sich nicht nur zu medizinischen Themen. In seinen Reden schwangen eindeutig rassistische, chauvinistische, militaristische und patriarchalische Töne und Vorurteile mit, die man nicht anders denn als problematisch beurteilen kann. Weltanschaulich gehörte Groddeck damals nicht gerade zur Gruppe der fortschrittlich Gesinnten. Seine medizinischen Vorträge, die für ein Laienpublikum konzipiert waren, wurden von Groddeck in Nasamecu (1913) zusammengefasst. Der Titel dieses Buches ist die Kurzformel eines Leitspruchs von Schweninger: »natura sanat, medicus curat« (die Natur heilt, der Arzt behandelt). Darin zog Groddeck ein vorläufiges Resümee seiner ärztlichen Tätigkeit, die geprägt war von den Ansichten seines ehemaligen Mentors. Den zukünftigen Lehrer Freud hatte Groddeck in Nasamecu für sich noch nicht entdeckt; er sprach darin vielmehr vom »gefährlichen Gift der Psychoanalyse, das sich ausbreiten wird wie eine Seuche«. In den folgenden Jahren musste Groddeck dieses Urteil gründlich revidieren. Nachdem er einige Schriften Freuds studiert hatte, gab er diesem 1917 brieflich zu verstehen, dass er erschüttert und begeistert gewesen war, als er in den psychoanalytischen Ausführungen jene Phänomene mit Fachbegriffen beschrieben wieder erkannte, die er bei Fräulein G. und anderen Patienten glaubte als Erster entdeckt zu haben. Von nun an war und blieb Groddeck überzeugter Psychoanalytiker – oder zumindest das, was er darunter verstand. Er unterhielt einen regen Briefwechsel mit Freud, der den knorrigen Baden-Badener wegen seiner unkonventionellen und originellen Art schätzte. Als Groddeck 1920 in Den Haag am 6. Internationalen psychoanalytischen Kongress teilnahm, hielt er einen Vortrag, den er mit den Worten »Ich bin ein wilder Analytiker« begann und mit Assoziationen zu seinem eigenen früheren Bettnässen anreicherte. Die meisten Kongressteilnehmer waren schockiert; einzig Sándor Ferenczi und Karen Horney, mit denen er sich befreundete, fanden seine Ideen interessant, und Freud amüsierte sich sogar köstlich über sie. Die Beziehung zu Freud führte bei Groddeck zu einem literarischen Produktionsschub. 1917 ver-
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Kapitel • Georg Groddeck
öffentlichte er Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden. Der Text wurde zur Ouvertüre und Programmschrift zukünftiger Groddeck‘scher Bemühungen, Denkfiguren und Methoden der Psychoanalyse auch auf dem Terrain der somatischen Medizin Geltung zu verschaffen. Er gipfelte in dem Satz: »Die Psychoanalyse darf und wird vor organischen Leiden nicht halt machen« – ein Satz, den Freud bejahte, obwohl er selbst kein expliziter Psychosomatiker war. 1921 publizierte Groddeck im Psychoanalytischen Verlag das Buch Der Seelensucher. In dieser Mischung aus romanhafter Handlung und tiefenpsychologischem Traktat zieht die Hauptfigur Thomas Weltlein alias Georg Groddeck durch Deutschland und verkündet, halb Wanderprediger, halb Nietzsche‘scher Zarathustra, das Evangelium des psychoanalytischen Pansexualismus. Als es Protestbriefe der Schweizer Psychoanalytischen Vereinigung im Hinblick auf den Seelensucher hagelte, erwiderte Freud lakonisch: »Groddeck verteidige ich energisch gegen Ihre Respektabilität. Was hätten Sie als Zeitgenosse von Rabelais gesagt?« Nicht ganz so begeistert reagierte Freud hingegen auf die nächste Veröffentlichung Groddecks, auf Das Buch vom Es (1923). Darin hatte Letzterer über dreißig Psychoanalytische Briefe an eine Freundin (so der Untertitel) zusammengestellt, in denen er das Wesen und die Wirkungsmächtigkeit des Unbewussten, das er Es nannte, geradezu hymnisch beschrieb. Das Buch vom Es wurde Groddecks bekannteste Schrift. Bereits um 1918 hatte Groddeck seine zweite Frau Emmy von Voigt kennengelernt. Sie war eine junge Witwe schwedischer Abstammung, die als Patientin zu ihm gekommen war, die er heilte und die später seine neue Lebensgefährtin wurde. Emmy von Voigt hat als eine der Ersten die Schriften Freuds ins Schwedische übersetzt. Auf einer Reise in Emmys Heimat traf Groddeck 1924 den Philosophen Hermann Graf Keyserling, der später als Patient ins Satanarium kam. Groddeck seinerseits hielt Vorträge an der Darmstädter Schule der Weisheit und publizierte Aufsätze in Der Leuchter, einem von Keyserling edierten Jahrbuch. Von 1925–1927 gab Groddeck eine Halbmonatszeitschrift, Die Arche, heraus, in der er bevorzugt seine eigenen Artikel veröffentlichte. Die Polizei
wie auch die Drucker verhinderten wegen der angeblich nicht tolerablen Freizügigkeit des Blattes diverse Male ein pünktliches Erscheinen der Zeitschrift. In den folgenden Jahren meldete sich Groddeck nur noch selten öffentlich zu Wort. In Berlin war er an der Lessing-Hochschule mit Vortragsreihen über Der Ring des Nibelungen, Peer Gynt, Faust und Struwwelpeter vertreten. Daneben gab es sporadische Kontakte zu Ernst Simmel, Harald Schultz-Hencke, Viktor von Weizsäcker und Heinrich Meng sowie zu Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Letzterer war von Groddeck so angetan, dass er ihn in den Minima Moralia (1951) als den Begabtesten aus der Psychoanalytikerzunft bezeichnete – was reichlich übertrieben war. Ende der 20er Jahre kam es zu zunehmender Distanz zwischen Groddeck und den Psychoanalytikern, die auch Freud mit einschloss. Verantwortlich dafür waren dissonante inhaltliche Ausrichtungen: Während Groddeck auf seiner Es-Psychologie beharrte, entwickelten sich viele Tiefenpsychologen weiter hin zur Ich-Psychologie oder (wie Freud) zur Kulturanalyse. Dies führte neben dem Faktum, dass Groddeck nie Schüler um sich geschart hatte, zur Vereinsamung des Baden-Badeners. 1933 publizierte Groddeck ein größeres Manuskript mit dem Titel Der Mensch als Symbol – Unmaßgebliche Meinungen über Sprache und Kunst. Darin untersuchte er anhand von Gemälden diverser Epochen den Symbolgehalt in der Malerei und parallel in der Sprache. Ansonsten hielt dieses Jahr dem Autor eher traurige Empfindungen bereit: Seine Freunde Karen Horney und Ernst Simmel waren in die USA emigriert, und Sándor Ferenczi starb an perniziöser Anämie. Groddeck, der sich nun ziemlich verlassen erlebte, erkrankte wenig später ernsthaft an Durchblutungsstörungen von Herz und Gehirn – woran ursächlich der jahrelange Konsum seiner geliebten Havannas nicht unbeteiligt war. Im Frühjahr 1934 hielt er auf Einladung von Medard Boss noch Vorträge in der Nähe von Zürich, wo er kurze Zeit später an Herzversagen starb.
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Werkanalyse
Werkanalyse Groddecks Leben und Werk geriet nach seinem Tod bald in Vergessenheit. Der Faschismus und der Zweite Weltkrieg haben daran ebenso ihren Anteil wie die Tatsache, dass Groddeck – anders als Sigmund Freud, Alfred Adler, C. G. Jung und andere Tiefenpsychologen – kein eigenes Ausbildungsinstitut gegründet, keine Schüler, Assistenten und Nachfolger herangebildet und auch keine geordneten wissenschaftlichen Schriften hinterlassen hat. Im Gegenteil: Lange Jahre galten die Bücher Groddecks als buntes Sammelsurium von Briefen, Träumen, Erzählungen, freien Assoziationen, autobiographischen Erinnerungen, Fallgeschichten, Kunstinterpretationen, Literaturanalysen, aufgezeichneten spontanen Vorträgen und genialischen Essays. Das Phantastische, Traum- und Märchenhafte, die Kunst und das Spiel standen ihm näher als das exakte Vorgehen in den Wissenschaften. Dementsprechend haben sich nach seinem Tod Schriftsteller und Dichter wie Ingeborg Bachmann, Alfred Polgar, Henry Miller und Lawrence Durrell oder Philosophen wie Adorno eher an ihn erinnert als die Psychoanalytiker und Psychosomatiker vom Fach. In den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es jedoch zu einer Groddeck-Renaissance. In Frankfurt am Main gründete man eine Georg-Groddeck-Gesellschaft, die Kongresse veranstaltete und sich für eine Neuedition seiner Schriften einsetzte. Im Verlag Stroemfeld/Roter Stern (Frankfurt) wurde in den letzten Jahren eine Reihe von Bänden mit Vorträgen, Zeitschriftenartikeln sowie medizinischen und psychoanalytischen Schriften Groddecks herausgegeben. Die wichtigsten Texte des Autors (Die Natur heilt; Krankheit als Symbol; Das Buch vom Es; Der Mensch als Symbol; Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst) sind ebenso wie seine Briefwechsel mit Freud und Sándor Ferenczi als Taschenbücher erhältlich, und in mehreren Biographien kann man sich über das Leben Groddecks kundig machen. Was aber sind nun wesentliche Errungenschaften Groddecks, die es erlauben, ihn als einen Anreger und Ideengeber für die Anthropologie zu interpretieren? Es sind dies vor allem sein Begriff und seine Konzepte des Es, die in dieser Hinsicht
erwähnt werden dürfen. Ausgehend davon hat er darüber hinaus Formen der Psychosomatik und Medizin entwickelt, die in manchen Aspekten modern, unkonventionell und zukunftsweisend sind. z
Die Geschichte des Es
Der Begriff Es weist eine Geschichte auf, die einige Generationen vor Groddeck zurückreicht. Die Groddeck- und Es-Spezialisten haben recherchiert, dass sich etwa in den Schriften von Georg Christoph Lichtenberg und Karl Philipp Moritz schon Ende des 18. Jahrhunderts Passagen finden, in denen von einem Es gesprochen wird. Dessen Eigenschaften erinnern teilweise an jene Qualitäten, die von Groddeck und den Tiefenpsychologen im 20. Jahrhundert beschrieben wurden. So plädierte zum Beispiel Lichtenberg dafür, die Denkakte eines Menschen nicht bevorzugt als seine bewussten Leistungen anzusehen; vielmehr ergebe sich eine Art Denkstrom beinahe von alleine und ohne das willkürliche Zutun des Einzelnen: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt.« Ähnliche Positionen vertrat Moritz, wenn er schrieb: »Das Es bezeichnet das unbekannte Etwas, das sich in der innersten Tiefe unserer Seele in Dunkelheit hüllt.« Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren es einige Romantiker, die sich im Anschluss an Lichtenberg und Moritz als Vertreter einer »Es-denkt-Tradition« sahen. Sie waren überzeugt, dass die cartesianische Formel »Ich denke, also bin ich« nicht die wahren Verhältnisse beim Menschen widerspiegelt. Das Ich und das menschliche Bewusstsein werden dabei als viel zu mächtig und autonom aufgefasst. Realistischer sei es, die Macht des Unbewussten anzuerkennen – dem zum Beispiel Novalis nachspürte, indem er die Losung ausgab, der Weg der Erkenntnis führe nach innen. Der Arzt Carl Gustav Carus vertiefte diese Richtung der Forschung, wobei er in seinem Buch Psyche (1846) von verschiedenen Schichten oder Niveaus des menschlichen Unbewussten sprach (so von einem relativen und absoluten Unbewussten). Nicht als Romantiker, sondern in der Nachfolge Immanuel Kants und damit in der Tradition der Aufklärung stehend stieß Arthur Schopenhauer ebenfalls auf das Phänomen des Unbewussten. Er äußerte dabei Gedanken, die ihn zu einem Vor-
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Kapitel • Georg Groddeck
läufer des Groddeck‘schen Es werden ließen. Bei seiner Suche nach dem Kant‘schen Ding an sich entdeckte er eine Art Lebenstrieb oder -spannung, wofür er den Begriff »Willen« gebrauchte. Im Gegensatz zu den »Vorstellungen«, die lediglich die Oberfläche und das Außen bedeuten, repräsentiert nach Schopenhauer der Wille die eigentliche Tiefe und das Innen. Die Welt erscheint uns normalerweise im Gewande der Vorstellungen – wir stecken nie in den Dingen, sondern nehmen diese stets von außen wahr. Nur an einer einzigen Stelle gewährt dem Philosophen zufolge die Welt dem Menschen einen Blick hinter die Kulissen: Diese Stelle ist der eigene Leib, den jedermann von außen sieht und zugleich von innen erlebt. Zwar kann man den eigenen Körper als ein Phänomen der Welt der Vorstellungen klassifizieren und seine Oberfläche betasten, die Unebenheiten betrachten oder seine Transpiration riechen. Aber darüber hinaus sind wir gleichzeitig dieser Leib mit seinen vegetativen Funktionen, vitalen Erscheinungen und triebhaften Impulsen. Dieses Leib-Sein, mithin dieses Vegetativ-Vital-TriebhaftSein, nannte Schopenhauer den Willen. In der Schopenhauer‘schen Philosophie rangiert der unbewusste Wille als blinder Riese, welcher den Intellekt – diese geistig-seelische Befehlszentrale, auf deren Kommando der Körper angeblich zu hören hat – als Zwerg auf seinen Schultern trägt. Dieser lächerliche Zwerg, das Bewusstsein, meint, dem Riesen Richtung und Ziel vorschreiben zu können, wohingegen jener (das Unbewusste) sich gebärdet, wie er will, und sich Befriedigung holt, wo er will. Das Bewusstsein und der Verstand wurden für Schopenhauer somit zu einem Organ, zum verlängerten Arm des Willens. Die Vernunft hält dem Willen lediglich Motive vor, welche ihn (als Gesamtheit der leiblichen Existenz) anregen sollen. Der unbewusste Wille, der Lebensdrang sind nichts, was der Einzelne bewusst steuern könnte. Dieser Wille geschieht, und gegen diesen Willen, »gegen die mächtige Stimme der Natur vermag die Reflexion wenig« – so Schopenhauer. Der Philosoph war überzeugt, dass sich der Wille am eindeutigsten in der Sexualität kundtut. In ihr erschallt die Stimme der Natur am lautesten, so dass Schopenhauer sogar formulierte, dass die Ge-
nitalien den eigentlichen Brennpunkt des Willens darstellen. Das Individuum sei ein bloßer Spielball der Natur und gehorche letztlich immer seinem Drang zum Leben und zur Sexualität. Analog wie beim Einzelnen unbewusste und blinde Triebe ihr Wesen treiben, muss man sich nach Schopenhauer die gesamte Natur und sogar den Kosmos als von einem derartigen Willen dominiert vorstellen. Dieser Weltwille spielte in Schopenhauers Philosophie die Rolle eines metaphysischen Prinzips. Als permanent ungelöste Trieb- und Lebensspannung liegt es in der Hand des Willens, das menschliche und kosmische Schicksal zu gestalten. Der Philosoph stand bereits an der Schwelle zur Groddeck‘schen Psychosomatik, als er behauptete, dass der Wille sogar über die Fähigkeit verfügt, Krankheiten hervorzurufen, die von außen betrachtet wie eine Attacke von Erregern oder wie ein Zufall oder Unfall imponieren. Der Wille ist ein omnipotenter Marionettenspieler, an dessen Fäden die seelischen und körperlichen Zustände eines Menschen wie Puppen bewegt werden. Noch größeren Einfluss als die Schriften Schopenhauers hatten die Texte Friedrich Nietzsches auf Groddecks Es-Begriff. Nietzsche hatte von seinem »Erzieher Schopenhauer« dessen Idee eines Willens übernommen und denselben als Wille zur Macht, zum Leben und zur Steigerung des Selbstwerts interpretiert. Vor allem in Also sprach Zarathustra (1883) betonte Nietzsche, dass nicht das bewusste Ich, sondern der Leib mit seinem urtümlichen und chthonischen Eigenleben den Menschen beherrscht und dessen Bewusstsein zum staunenden Logenplatzbesitzer degradiert, welcher den Darbietungen auf der Bühne des Unbewussten mit offenem Munde folgt:
» Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit … Dein Selbst lacht über dein Ich und seine stolzen Sprünge (Nietzsche 2005, S. 40).
«
Die eigentliche Lebensweisheit und die ältere Vernunft sind nach Nietzsche im Leib, im Selbst beheimatet. Das vordergründige Ich gebärdet sich als
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Werkanalyse
dem Selbst entfremdeter, vom Leib losgelöster oder ihm entgegen gesetzter Verstand nicht selten als dumm und krankmachend. Klugheit und Gesundheit sind Resultate eines beseelten Körpers und Ausdruck eines im Leibe wohnenden Individuums, das seinem Unbewussten den ihm angemessenen hohen Rang zugesteht. Das Selbst als mächtiger Gebieter und unbekannter Weiser und der Leib als die ältere Ordnung sind nach Nietzsche nicht völlig autonom und absolut. In ihnen manifestiert sich eine Kraft, die in organischer wie anorganischer Natur zu finden ist: eben der Wille zur Macht. Nietzsche meinte, wo er Lebendiges fand, da stieß er auf den Willen zur Macht. Nur wo Leben ist, da sei auch Wille; aber nicht Wille nur zum Leben, sondern zur Macht sowie zur Selbstüberwindung und Selbstwertsteigerung. Angesichts der Vielheit von Trieben und Impulsen muss man einen gemeinsamen Herrn annehmen, meinte Nietzsche. Dieser Herr findet sich jedoch nicht im Bewusstsein; vielmehr stellt das Bewusstsein nur ein Organ dar, ähnlich wie der Magen oder die Leber auch. Dasselbe Verhältnis, das Nietzsche zwischen dem Bewusstsein und den organischen Phänomenen des Leibes beschrieb, kehrte bei Groddeck in dessen Schilderungen der Beziehungen zwischen dem Ich und dem Es wieder. Für ihn bedeutete das Ich ebenfalls lediglich ein Organ unter vielen am großen Organismus des Es, als eine Art Knecht, der seinem Herren Es zu dienen hat, und der törichterweise seine Knechtschaft mit den Prädikaten der Herrschaft besingt. z
Das Es ist alles, was der Fall ist
Diese Anspielung auf eine Formulierung Ludwig Wittgensteins (»Die Welt ist alles, was der Fall ist«) will zum Ausdruck bringen, wie allumfassend Groddeck sich das Es vorgestellt hat. In seinen Schriften trifft man auf ein Konzept des Unbewussten und des Es, das als Fortsetzung der Schopenhauer‘schen und Nietzsche‘schen Gedanken verstanden werden kann. Der Baden-Badener Arzt war ebenfalls von der Dominanz unbewusster Mächte und Energien überzeugt, denen er den uneingeschränkten Vorrang vor den bewussten Verstandesaktivitäten des Menschen einräumte:
»
Ich bin der Ansicht, dass der Mensch vom Unbekannten gelebt wird. In ihm ist ein Es, irgendein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt. Der Satz »ich lebe« ist nur bedingt richtig, er drückt ein kleines Teilphänomen von der Grundwahrheit aus: Der Mensch wird vom Es gelebt. Wir kennen von diesem Es nur das, was innerhalb unseres Bewusstseins liegt. Weitaus das meiste ist unbetretbares Gebiet (Groddeck 1978a, S. 18).
«
Ähnlich wie seine philosophischen Vorläufer erachtete Groddeck das Ich als ein bloßes Organ des Es, das vollumfänglich von dessen Intentionen abhängig ist. Anders als Freud, der kurze Zeit nach dem Erscheinen von Das Buch vom Es den Groddeck‘schen Begriff in sein eigenes Modell des menschlichen Seelenlebens integrierte, gestand der Baden-Badener dem Ich keine Eigenständigkeit zu. Freud gebrauchte den Terminus Es für die Summe unbewusster Triebe. Dieser Instanz stellte er das Ich gegenüber, das von ihm als mehr oder minder autonome seelische Instanz entworfen wurde und in Form des Über-Ich über die Möglichkeiten der Selbstbeobachtung und des Gewissens verfügt. Das Ich bei Freud ist eventuell durchaus in der Lage, den unbewussten Regungen Paroli zu bieten und sie mit den Forderungen des Über-Ich oder der Umwelt abzugleichen. Bei Groddeck hingegen gab es keine Ich-Instanz, welche dem Es in irgendeiner Weise Einhalt gebieten könnte. Zwar lassen sich bestimmte Äußerungsformen des Es wie Sprache, Denken oder bewusste Wahrnehmungen als Ich-Funktionen interpretieren – allein, für Groddeck blieben sie letztlich Phänomene des Es. Das Ich nimmt sich bei ihm wie ein Seismologe neben einem tätigen Vulkan aus, der konsterniert immer neue Lavaströme um sich diagnostizieren muss, ohne imstande zu sein, über Ausmaß und Zeitpunkt der nächsten Eruptionen Verlässliches zu prognostizieren, geschweige denn, das eigentliche Geschehen im Innern auch nur annähernd zu beeinflussen. Das Es gönnt sich im Ich, ähnlich wie die Natur im Menschen, die Möglichkeit, bewusst über sich nachzudenken und mit der Welt auf eine mehr oder minder unverschlüsselte Art zu kommunizieren. Daneben bedient sich das Es einer Unmenge
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Kapitel • Georg Groddeck
anderer Methoden, seinem Wollen Ausdruck zu verleihen: Träume, Fehlleistungen, Stimmungen, Gefühle, Affekte, Neigungen, Aversionen, Symbole sowie seelische und körperliche Erkrankungen künden Groddeck zufolge lautstark vom munteren Treiben des Unbewussten:
»
Man kann das Ich dem Unbewussten oder den Trieben gegenüberstellen, aber niemals dem Es. Denn das Es umfasst bewusst und unbewusst, Ich und Triebe, Körper und Seele, Physiologisches und Psychologisches; dem Es gegenüber gibt es keine Grenzen zwischen Physischem und Psychischem. Beides sind Äußerungen des Es, Erscheinungsformen (Groddeck 1951, S. 483).
«
Mit solchen Gedanken hob Groddeck auf die Einheit von körperlichem und psychischem Leben ab. Mit Hilfe seines Es-Konzepts, das keine Limitierungen zwischen Soma und Psyche, Materie und Geist kennt, und das neben seelischen Phänomenen das weite Feld körperlicher Erscheinungen und damit auch somatischer Krankheiten umspannt, wollte Groddeck einen Leib-Seele-Dualismus vermeiden. Groddecks Es eröffnete die Möglichkeit einer monistischen Sicht auf den Menschen. Obwohl es nicht selten sexualistische Züge aufweist, wurden ihm von seinem Autor auch alle jene Eigenschaften zugestanden, welche den Menschen insgesamt auszeichnen: Vernunft, Emotionalität, Intentionalität, Zeitlichkeit, Phantasietätigkeit, Spontaneität, Kreativität und Intellektualität. Geist und Psyche bedeuteten für Groddeck also weder bloße Epiphänomene der Materie noch (wie in der Psychoanalyse) Sublimierungsphänomene von Triebenergien. Hinsichtlich dieses Monismus war Groddeck kein Einzelkämpfer. Schon Nietzsches Wille zur Macht war als Versuch gedacht, die Vielfalt der Erscheinungen auf ein einziges Lebensprinzip zurückzuführen. Nietzsche wollte den Dualismus des Dionysisch-Apollinischen und damit den Jahrtausende alten Antagonismus von Liebe und Hass, Eros und Thanatos überwinden. Letzterer spielte zum Beispiel beim griechischen Philosophen Empedokles eine wichtige Rolle und wurde bis in das Welt- und Menschenbild Sigmund Freuds hinein weiter tradiert.
Groddecks Ausführungen über das Es ähneln darüber hinaus den Vorstellungen der Vitalisten (Romantik) und Neovitalisten (z. B. Hans Driesch). Diese vermuteten als verursachendes Prinzip hinter der Fülle der Naturerscheinungen eine geheimnisvolle Lebensschwungkraft, die »vis vitalis«. In Anlehnung daran schrieb Groddeck seinem Es die Macht zu, individuelle Organismen hervorzubringen und deren Lebensschicksal zu determinieren. Und ebenso wie die spekulativ orientierten Romantiker war Groddeck davon überzeugt, dass das Es beinahe göttlich zu nennende Schöpfungspotenzen aufweist:
» Das Es ist vor dem Gehirn da, schafft das Gehirn, erlaubt dem Gehirn zu denken, macht es fähig dazu … Es lässt das Herz entstehen, gibt allem Form und Gestalt. Es lässt uns wachsen, bekommt Lust, sich zu bewegen und gibt den Muskeln und Nerven Fähigkeit und Auftrag dazu … Das Es lässt uns denken, fühlen und handeln, es lebt uns … Es gibt uns das Bewusstsein und die Illusion des Ich, die Moral und die Verdrängung (Groddeck 1951, S. 483).
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Die Hauptäußerungsform des Es, in der neben seelischen auch körperliche Komponenten eine wichtige Rolle spielen, stellte für Groddeck die Sexualität dar. Diese verstand er einerseits als real gelebte Geschlechtlichkeit und andererseits als Bündel triebhafter Impulse, die in tausenderlei Symbolen zum Ausdruck kommen. Wie phantasievoll und bisweilen aber auch skurril Groddeck die harmlosesten Gegenstände als sexuelle Symbole zu deuten wusste, wird ersichtlich, wenn man seine Essays in Der Mensch als Symbol (1933) studiert. Dass Gurken, Würmer oder Zeigefinder den männlichen Phallus symbolisieren, mag der unbefangene Leser noch hinnehmen. Delikater ist es allerdings, Spucken als Symbol für Samenerguss, Weinen als Ersatz für Orgasmus, das Nähen als symbolisierte Onanie und das Schreiben (z. B. von Briefen oder Büchern) als Symbol des Geschlechtsakts zu interpretieren. Kein Wunder, dass dem Baden-Badener von Seiten seiner Kritiker nicht selten Pansexualismus zum Vorwurf gemacht wurde.
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Werkanalyse
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Krankheit und Gesundheit als Leistung des Es
Nicht weniger kritische Reaktionen wie für seine sexualistischen Interpretationen musste Groddeck für viele seiner psychosomatischen Überlegungen hinnehmen. Seit seinen Entdeckungen bei Fräulein G. aus dem Jahre 1909 beschäftigte ihn der Gedanke, dass körperliche Erkrankungen ebenso wie seelische Leiden als Ausdruck und Sprache des Es verstanden werden könnten. 1917 publizierte er Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden, worin er eine am eigenen Leib erlittene Mandelentzündung im Zusammenhang mit seelischen und sozialen Belastungen interpretierte. Dabei vertrat er die These, dass somatische Erkrankungen auf dem Boden starker, den Körper und das Vegetativum in Aufruhr versetzender Affekte entstehen. Im Rahmen seiner Angina tonsillaris erinnerte sich Groddeck an heftige Neidaffekte und Angstattacken. Die bewusste Reflexion und Überwindung dieser Affekte schufen angeblich die Voraussetzung für ein rasches Ende seiner Schluckbeschwerden, die von ihm als symbolhafte Weigerung des Unbewussten, also des Es interpretiert wurden, »eine Erkenntnis zu schlucken, die ihm unangenehm war«. Seit Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden besaßen körperliche Symptome für Groddeck ähnlich wie psychoneurotische Beschwerden Abwehrcharakter. Dies bedeutete, dass für ihn somatische Phänomene wie Schwindel, Schmerz, Übelkeit, Schwäche oder Juckreiz, aber auch organische Erkrankungen wie Krebs, Herzinfarkte oder Geschwürbildungen mit verdrängtem psychischem Material assoziiert waren. Eine Aufhebung der Verdrängung provozierte demnach wie bei der psychoanalytischen Behandlung von Neurosen den Rückgang des körperlichen Symptoms oder Krankheitszustands. Diese Theorien sowie Groddecks Konzept des Es führten zu einem Modell von Psychosomatik, das auf einen integralen Krankheits- und Gesundheitsbegriff abzielte. Der Baden-Badener unterschied nicht körperliche von seelischen Erkrankungen; vielmehr war er überzeugt, dass immer die gesamte Person, also das Es mitsamt seinen biologischen, psychischen und geistigen Ausdrucksformen erkrankt:
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Da das Leben immer noch wie vor allem als eine rätselhafte Zusammenexistenz von dem, was Körper, und von dem, was Seele genannt wird, als eine Einheit von Körper und Seele aufgefasst wird und werden muss, so ergibt sich daraus, dass es weder körperliche noch seelische, weder physische noch psychische Erkrankungen gibt, sondern dass immer und unter allen Umständen beide gleichzeitig erkranken (Groddeck 1987a, S. 141).
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Eine seelische Bedingtheit körperlicher Störungen, eine Psychogenese im eigentlichen Sinne des Wortes, wie sie von dualistisch eingestellten Ärzten und Psychologen lange Zeit vermutet wurde, war für Groddeck nicht vorstellbar. Seine monistische Grundkonzeption des Es verbat es ihm, von einer wie auch immer gearteten Seele zu sprechen, die kausal auf Körperliches einwirkt oder vice versa. Zwar schieben sich beim Kranken oftmals biologische oder psychische Gesichtspunkte in den Vordergrund; gleichzeitig sind aber auch die im Hintergrund befindlichen Dimensionen mit erkrankt, geschädigt oder beeinträchtigt. Diese Ansichten Groddecks beeinflussten neben der Diagnostik von Krankheiten auch seine Therapiemethoden. Es versteht sich beinahe von selbst, dass er stets somatische und psychosoziale Befunde parallel zu erheben versuchte, um so möglichst den gesamten Patienten (das Es) zu erfassen. Diesem Es galt auch sein therapeutisches Interesse, wobei Groddecks Repertoire von Diät, Massage und Krankengymnastik über Medikation bis hin zu biographischer Anamnese, freier Assoziation sowie Traum- und Symptominterpretation reichte. Das wesentlichste therapeutische Agens war für ihn jedoch die Arzt-Patienten-Beziehung. Die Phänomene Übertragung und Widerstand nahm Groddeck im Kontakt mit seinen Kranken ebenso ernst wie die Psychoanalytiker im Umgang mit ihren Klienten. Er war überzeugt, dass Besserung oder Heilung von Krankheitsbildern nur zu erwarten stehen, wenn die Patienten Vertrauen und Sympathie für ihren Arzt empfinden. Ganz konsequent fragte er daher bei Verschlechterungen eines Krankheitsprozesses die Betreffenden: »Was haben Sie gegen mich einzuwenden?« – eine Frage, die auf die existentielle und sympathetische Übereinstimmung zwischen Arzt und Patient abhob:
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Kapitel • Georg Groddeck
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Die tiefste Grundlage für ärztliches Handeln, das im wesentlichen Wechselwirkung zwischen Arzt und Krankem, Krankem und Arzt ist, ist eine gewisse Übereinstimmung dieser beiden Menschen auf animalischem Gebiet. Der Ausdruck »animalisch« soll bedeuten, dass dieser wichtigste Faktor der Behandlung aus der Begegnung zweier Menschenwelten, aus ihrer gegenseitigen Sympathie und Antipathie entsteht. Es gehört nicht viel Erfahrung dazu, um zu wissen, dass die körperliche Berührung für die Ausbildung dieses Heilfaktors beinahe entscheidend ist (Groddeck 1987b, S. 219).
«
Trotz dieser Zuwendung habe man, so Groddeck, als Arzt immer auch mit dem sogenannten Krankheitswillen des Patienten zu rechnen, der dessen Genesungswillen entgegensteht. Dieser Krankheitswille, seiner Natur nach konservativ, statisch, entwicklungsträge, thanatisch angehaucht, trage beim Kranken dazu bei, den Arzt als Widersacher zu erleben. Daher lauere dieser beständig darauf, irgendetwas am Arzt auszusetzen oder an ihm Widerstandsgründe zu finden. Um diese Klippen möglicher Widerstandsgenese glücklich zu umschiffen, erscheint es für den Therapeuten ratsam, sich mit den progressiven, dynamischen und erotischen Tendenzen des Patienten, also seinem Genesungswillen zu verbünden. Letztlich entscheidet jedoch das Es, also der gesamte Mensch mit allen seinen unbewussten Anteilen, ob Gesundung, Besserung, Chronifizierung oder aber Verschlechterung und Tod den Verlauf einer Krankheit ausmachen.
Conclusio Groddecks Ansichten und Theorien zum Es enthielten – so widersprüchlich und eigentümlich sie im Detail auch gewesen sein mochten – einige anthropologische Überlegungen, die bis zum heutigen Tag relevant geblieben sind. Ohne es direkt zu beabsichtigen, lieferte er Beiträge zu einem Menschenbild, das vor allem hinsichtlich der Frage nach der menschlichen Freiheit aktuell anmutet. Besonders durch seine strikte Hervorhebung der unbewussten Motivationen des Menschen und damit dessen eingeschränkter Freiheitsgrade hat
er eine Richtung vorgegeben, die von vielen Wissenschaftlern und Philosophen im 20. Jahrhundert weiterverfolgt wurde. Das Problem der Willens-, Wahl und Handlungsfreiheit beschäftigt die Anthropologen, Ärzte, Psychologen und Juristen schon seit Jahrhunderten. Inwiefern der Mensch autonom ist und mit Hilfe seines Verstandes freie Entscheidungen treffen kann, welche die Gestaltung seines Daseins maßgeblich beeinflussen, wurde und wird immer wieder kontrovers diskutiert und in den letzten Jahrzehnten zunehmend skeptisch beurteilt. Ausgehend von dieser Debatte gab es unterschiedliche Antworten auf die Fragen, wie sehr dem Menschen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und der Verantwortung für den Ablauf seines Lebens zugestanden werden sollen. Diese Themen berühren zum Beispiel die Probleme der Schuldfähigkeit im juristischen wie auch des Scheiterns im existentiellen Sinne. Wenn Individuen vor Gericht oder von ihrem eigenen Gewissen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, ist derlei nur sinnvoll, wenn die Betreffenden über die grundlegenden Freiheitsgrade verfügen, sich effektiv für oder gegen eine Handlung zu entscheiden. Obschon die Diskussion über die menschliche Willensfreiheit bis in die Antike zurückreicht, erwähnen wir hier lediglich die Positionen Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches. Diese beiden philosophischen Ideengeber Groddecks haben in ihren Schriften der menschlichen Willens-, Wahl- und Handlungsfreiheit enge Grenzen gezogen. So meinte etwa Schopenhauer, dass der Einzelne allenfalls in der Wahl seines vorgeburtlichen Lebenswillens frei sei. Danach müsse man mit einem angeborenen und unveränderlichen Charakter rechnen, der auch durch noch so gut gemeinte Vorsätze nicht merklich zu verändern sei. Im unbewusst agierenden Willen verschaffe sich dieser Charakter seinen beredten Ausdruck. Dem Bewusstsein eines Menschen (seinen Vorstellungen) komme lediglich die Rolle eines Kommentators zu, der sich zu Unrecht in dem illusionären Glauben wiegt, er könne autonome Entscheidungen treffen. Im Gegenteil: Nach Schopenhauer ist das Schicksal des Individuums in den Abgründen seines Unbewussten vorgezeichnet; die bewussten
Conclusio
und angeblich freien Vorsätze und Gedanken ändern daran nichts Wesentliches. Obwohl Friedrich Nietzsche diese fatalistische Theorie seines »Erziehers« kritisierte und von der grundsätzlichen Möglichkeit eines sich wandelnden Charakters ausging, war auch er alles andere als optimistisch, wenn es darum ging, die Freiheitsgrade des menschlichen Bewusstseins als hoch anzusetzen. In Menschliches, Allzumenschliches (1878) heißt es hierzu:
» Der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irrtum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existieren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrtum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrtümern des Menschen handelt, doch so, als wären sie Grundwahrheiten (Nietzsche 1988, S. 40).
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Es verwundert nicht, dass man in der Tiefenpsychologie ebenfalls auf das Problem der Willensfreiheit stieß. Sigmund Freud vertrat im Rahmen seiner materialistisch-positivistischen Weltanschauung einen strengen Determinismus. Seiner Meinung nach sind die Menschen in ihren Lebensäußerungen weitgehend unfrei. Überall wirken unbewusste Motive mit, über die sich niemand im vollen Umfang Rechenschaft ablegen kann. Entscheidend für die Gestaltung des individuellen Daseins sind Charakter und Triebstruktur, deren Prägung in der frühen Kindheit stattfindet. Sie bestimmen, welche Gedanken, Gefühle, Affekte, Impulse, Wünsche und Erinnerungen der Mensch in sich vorfindet. Freud sprach sogar vom Wiederholungszwang, um verständlich zu machen, warum Menschen oft scheinbar wider besseres Wissen die Fehler und Irrtümer ihres Lebens repetieren und kaum Freiräume der Veränderung aufweisen. Alfred Adler war mit dieser deterministischen und naturalistischen Sicht nicht einverstanden. Er vertrat die Ansicht, dass das Kind in einem Frühstadium über relative Wahlfreiheit verfüge und seine Erlebnisse auf verschiedene Weise interpretiere.
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Hat es jedoch zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr seinen Daseinsentwurf konstituiert, spielt sich alles Weitere im Rahmen dieses Planes oder Lebensstils ab. Die ursprüngliche Freiheit geht an die Charakter- und Gefühlskonstanten verloren. Groddeck reihte sich mit seinem Es-Konzept nahtlos in die Schar jener Philosophen und Tiefenpsychologen ein, welche die menschliche Willens-, Wahl- und Handlungsfreiheit als begrenzt und allenfalls im Unbewussten des Menschen beheimatet ansahen. Wenn es jedoch am Unbewussten liegt zu entscheiden, wie Personen denken und handeln, ist deren Freiheit und damit auch Verantwortung schwer fassbar. In manchen Darstellungen wird das unbewusste Seelenleben daher mit einem Eisblock verglichen, von dem neun Zehntel unter Wasser liegen und unsichtbar sind. Das Bewusstsein ragt über die Oberfläche hinaus, aber verglichen mit seinem mächtigen Unterbau fällt es kaum ins Gewicht. Für Groddeck stand es unzweifelhaft fest, dass der Ursprung aller Impulse, Vorstellungen, Phantasien, Wünsche und Begierden eines Menschen im unbewussten Es und damit in seinem Gesamtorganismus gesucht werden muss. Man gehe fehl, wenn man dafür das bewusste Denken und die angeblich freien Verstandesregungen eines Menschen verantwortlich mache. Das Gehirn und hier besonders die Großhirnrinde, wo die intellektuellen Leistungen verortet werden, waren für ihn nur ein Etwas am umfänglicheren Leib, der gesamthaft die Richtungen und existentiellen Entscheidungen eines Individuums festlegt. Diese unbewussten Festlegungen entspringen laut Groddeck nicht nur einem physikalisch-chemisch-biologischen Kausalnexus. In gewisser Weise war der Baden-Badener daneben ein Vertreter der Teleologie, also der Idee von der Zweckmäßigkeit und Zielorientierung aller Lebensphänomene. Leben (bei ihm das Es) verhält sich nicht nur den Ursachen gemäß, sondern verfolgt Ziele und Zwecke – wobei man sich diese Ausrichtung wiederum als keine bewusste vorstellen darf. Das Es intendiert Kreatürlichkeit, Triebfreundlichkeit, Wachstum, Progression, Expansion, Ausdruck und Kommunikation. Alle Existenzbewegungen eines Organismus sind auf die Erhaltung oder Wiedererlangung dieser Ziele ausgerichtet.
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Kapitel • Georg Groddeck
Andererseits ist dieses Es sogar in der Lage, seinen Tod herbeizuführen, wenn es in bedrohliche Daseinszusammenhänge gerät, die ein Weiterleben als nicht sinnvoll und adäquat erscheinen lassen. So sehr man Groddeck zu Recht vorgehalten hat, mit seinem Es-Konzept in vielerlei Hinsicht die Grenzen der Wissenschaftlichkeit und seriösen philosophischen Spekulation überschritten zu haben, so sehr hat er damit doch manche anthropologisch relevanten Befunde ahnend vorweggenommen oder angestoßen, die sich in den letzten Jahrzehnten zu bestätigen scheinen. So kann man etwa hundert Jahre nach den ersten Beschreibungen Groddecks im Hinblick auf das Es feststellen, dass die Neurobiologie zu Beginn des 21. Jahrhunderts überwiegend ähnliche Positionen in Bezug auf den freien Willen des Menschen formuliert wie der Baden-Badener. Benjamin Libet, Gerhard Roth, Eric Kandel oder Wolf Singer (allesamt Vertreter der Neurobiologie) sprechen allerdings nicht von einem organischen Es, sondern vom limbischen System und von den Basalganglien (Strukturen des menschlichen Gehirns), in denen das Unbewusste beheimatet ist. Ausgehend von einer Fülle neurobiologischer Experimente darf man vermuten, dass viele Empfindungen, Wahrnehmungen und motorische Handlungsmuster in diesen Hirnstrukturen unbewusst bereits früher generiert oder verarbeitet werden, als dass sie von der Großhirnrinde als bewusster Wunsch oder Impuls registriert sind. Inwiefern von den bisherigen Experimenten mit meist schlichten motorischen Handlungsalternativen (hebt der Proband nach Aufforderung die rechte oder die linke Hand) auf ethisch-moralisch anspruchsvolle Fragestellungen rückgeschlossen werden darf, ist zurzeit umstritten. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass die bewusste Willens-, Wahl- und Handlungsfreiheit des Menschen letztlich begrenzter eingeschätzt werden muss, als es das stolze Cogito des Menschen lange von sich dachte. Bei allen Ähnlichkeiten zwischen den Groddeck’schen Ideen zum Es und den neurobiologischen Befunden der letzten Jahrzehnte darf jedoch nicht übersehen werden, wie sehr sich die Methoden und Forschungshaltungen von Groddeck und den meisten Neurowissenschaftlern unterscheiden. Der Baden-Badener Arzt blieb stets ein »An-
archist« in Sachen Wissenschaftlichkeit und war beinahe immer bereit, jedes nüchterne Kalkül fahrenzulassen, nur um neuerlich eine Hymne auf die unbegrenzte Allmacht und die Wandlungsfähigkeit des Es zu singen.
Literatur Groddeck G (1951) Psychosomatische Forschung als Erforschung des Es. Psyche 10: 483, Thieme, Stuttgart Groddeck G (1970) Der Mensch und sein Es. Limes, Wiesbaden Groddeck G (1976) Der Mensch als Symbol. Kindler, München (Erstveröff. 1933) Groddeck G (1978a) Das Buch vom Es. Limes, Wiesbaden (Erstveröff. 1923) Groddeck G (1978b) Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G (1985) Die Natur heilt (Nasamecu). Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1913) Groddeck G (1987) Krankheit als Symbol – Schriften zur Psychosomatik. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G (1987a) Gibt es Psychogenese? (Erstveröff. 1926). In: Krankheit als Symbol – Schriften zur Psychosomatik. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G (1987b) Massage (Erstveröff. 1931). In: Krankheit als Symbol. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G (1987c) Vorträge Band I–III. Stroemfeld, Basel/ Frankfurt am Main Groddeck G (1988) Verdrängen und Heilen – Aufsätze zur Psychoanalyse und psychosomatischen Medizin. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G (1992a) Satanarium. Stroemfeld, Basel/Frankfurt am Main Groddeck G (1992b) Schicksal, das bin ich selbst. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G (1998) Der Seelensucher. Stroemfeld, Basel/ Frankfurt am Main (Erstveröff. 1921) Groddeck G (2001) Die Arche Band I–III. Stroemfeld, Basel/ Frankfurt am Main Groddeck G, Ferenczi S (1986) Briefwechsel 1921–1933. Fischer, Frankfurt am Main Groddeck G, Freud S (1985) Briefwechsel. Limes, Wiesbaden Jägersberg O (Hrsg) (1984) Georg Groddeck – Der wilde Analytiker, Es-Deuter, Schriftsteller, Sozialreformer und Arzt aus Baden-Baden. Elster, Bühl-Moos Lewinter R (1990) Georg Groddeck – Studien zu Leben und Werk. Fischer, Frankfurt am Main Martynkewicz W (1977) Georg Groddeck – Eine Biographie. Fischer, Frankfurt am Main Nietzsche F (1988) Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2. dtv – de Gruyter, München – Berlin (Erstveröff. 1878) Nietzsche F (2005) Also sprach Zarathustra, KSA 4. dtv – de Gruyter, München – Berlin (Erstveröff. 1883)
Literatur
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Medard Boss Biographisches – 338 Werkanalyse – 340 Conclusio – 347 Literatur – 348
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Medard Boss
. Abb. 1 Medard Boss (*1903; †1990). (Aus Stumm et al. 2005)
Die Daseinsanalyse, die im 20. Jahrhundert vor allem von Ludwig Binswanger und Medard Boss entwickelt wurde, trat von Anfang an mit dem Anspruch auf, anthropologisch relevante Fragen zu stellen und zu beantworten. Die Komplexität ihrer Gedanken und Sprache machen die Texte von Binswanger und Boss teilweise jedoch schwer verständlich. Eine ausführliche Rezeption ihrer Schriften zur Anthropologie innerhalb von Medizin, Psychologie und Psychosomatik steht daher noch aus (. Abb. 1).
Biographisches Medard Boss wurde 1903 in Sankt Gallen in der Schweiz geboren und wuchs ab dem dritten Lebensjahr in Zürich auf. Sein Vater war dort als Verwalter der Universitätskinderklinik tätig, so dass beim Sohn der Wunsch entstand, Medizin zu studieren. Sein Studium, das er in Zürich, Paris und Wien absolvierte, brachte ihn 1925 in Kontakt mit Sigmund Freud, bei dem er sich in Psychoanalyse begab. Die Analyse dauerte sechs Monate und sah wöchentlich sechs Sitzungen vor. Sie soll allen Entlarvungstendenzen und Abstinenzregeln zum Trotz vom Meister unkonventionell durchgeführt worden sein. Eine Anekdote erzählt, dass Freud seinem öfter etwas ausgehungerten Schützling manchmal einige Schillinge zusteckte, damit er sich eine ordentliche Mahlzeit leisten konnte. 1928 schloss Boss sein Studium mit einer Promotion Zur erbbiologischen Bedeutung des Alkohols ab. Daraufhin wandte er sich einer psychiatrischen Weiterbildung bei Eugen Bleuler am Zürcher Burg-
hölzli zu, wo er bis 1932 blieb. In den kommenden Jahren ergaben sich enge Beziehungen zu den Psychiatern C. G. Jung und Ludwig Binswanger, die damals beide – wenn auch aus unterschiedlichen Erwägungen heraus – ein ambivalentes Verhältnis zur Psychoanalyse und zu Freud hatten. Mit Jung bildete Boss von 1938 an ein Jahrzehnt lang eine therapeutische Arbeitsgemeinschaft. Die Zweifel Binswangers und Jungs an der Psychoanalyse wirkten ansteckend auf Boss, der parallel zu seiner psychiatrischen Weiterbildung seine in Wien begonnene Lehranalyse bei einem Zürcher Analytiker fortsetzte. Obwohl er die Diagnostik und Therapie der Freud‘schen Seelenkunde schätzte, erschienen ihm nicht wenige ihrer philosophisch-anthropologischen Grundannahmen fragwürdig oder zumindest klärungsbedürftig. Zwischen 1932 und 1934 besuchte Boss postgraduale Lehrgänge für Neurologie und Psychoanalyse in London und Berlin. In der Themse-Stadt schloss er sich der psychoanalytischen Ausbildungsgruppe um Ernest Jones an, und in der deutschen Hauptstadt setzte er seine psychoanalytische Weiterbildung unter Supervision bei Karen Horney, Harald Schultz-Hencke und Otto Fenichel fort. Außerdem hospitierte er in der Neurologischen Klinik des Krankenhauses Moabit bei Kurt Goldstein. Nach Zürich zurückgekehrt, arbeitete Boss kurze Zeit als Assistenzarzt am Burghölzli und wurde bald darauf zum Chefarzt des privaten Nervensanatoriums Schloss Knonau (im Kanton Zürich gelegen) ernannt. In dieser Funktion blieb er weiterhin tätig, selbst nachdem er 1935 eine psychotherapeutische Privatpraxis in Zürich eröffnet hatte. Während des Zweiten Weltkriegs leistete Boss als Bataillonsarzt in der Schweizer Armee Militärdienst, wobei er mehr als tausend Diensttage im Einsatz war. Während dieser Zeit stieß er auf philosophische Schriften Martin Heideggers, den er 1947 persönlich kennenlernte, und mit dem ihn bis zu dessen Tod 1976 eine enge Freundschaft verband. Es kam zu einem intensiven Briefwechsel, gegenseitigen Besuchen sowie zu gemeinsamen Urlauben und Lehrveranstaltungen. Heidegger war nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner Haltung zum NS-Regime öffentlich in die Schusslinie geraten. Trotz dieser Kritik hielt Boss immer treu zu dem von ihm innig verehrten
Biographisches
Philosophen und sah sich zu keiner Zeit veranlasst, sich von ihm zu distanzieren. 1947 gelang es Boss, sich mit einer Arbeit über Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen – Ein daseinsanalytischer Beitrag zur Psychopathologie des Phänomens der Liebe (so der Titel des als Buch publizierten Werks) an der Universität Zürich für Psychotherapie zu habilitieren. Weil der Autor in seiner Schrift sowohl die Psychoanalyse Freuds als auch die Archetypenlehre Jungs kritisierte, beendete Letzterer die freundschaftliche Zusammenarbeit mit Boss. Noch vor seiner Habilitation hatte Boss bereits Abhandlungen über Körperliches Kranksein als Folge seelischer Gleichgewichtsstörungen (1940), Die Bedeutung der Psychologie für die menschlichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaften (1943) sowie Die Gestalt der Ehe und ihre Zerfallsformen (1944) veröffentlicht. In den 50er Jahren machte Boss Karriere. Man wählte ihn zum Präsidenten der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psychotherapie und ernannte ihn zum Professor für Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Außerdem hatte er einige Jahre die Präsidentschaft der Internationalen Föderation für medizinische Psychotherapie inne, und 1955 wurde er Gründungsmitglied des Instituts für ärztliche Psychotherapie in Zürich, wo er mit dem Psychoanalytiker Gustav Bally zusammenarbeitete. Nachhaltigen Einfluss auf Boss’ Denken hatten seine Reisen in den Fernen Osten: 1956 und 1958 wurde er zu mehrmonatigen Gastdozenturen nach Indien und 1959 nach Djakarta (Indonesien) eingeladen. Über die Erlebnisse während dieser Reisen und ihre Folgen für sein weiteres Dasein berichtete Boss ausführlich in seinem Buch Indienfahrt eines Psychiaters (1959). Ab 1959 führten Boss und Heidegger zusammen die Zollikoner Seminare durch. Das idyllische Dorf Zollikon liegt direkt am Zürcher See, nicht weit von der Nervenklinik Burghölzli entfernt. Boss hatte dort ein geräumiges Haus erworben, in dem er mehrmals jährlich klinisch-philosophische Lehrveranstaltungen für Psychiatriekollegen und psychotherapeutische Ausbildungskandidaten abhielt. Heidegger nahm an diesen Seminaren gerne teil, wobei sich rege Debatten über seine Existenz-
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philosophie und über die Möglichkeiten ihrer Integration in die Medizin ergaben. Die meisten dieser Veranstaltungen wurden aufgezeichnet und 1987 als Zollikoner Seminare im Rahmen des Heidegger‘schen Gesamtwerks publiziert. Der Denker hat bis zu seinem Tod an den klinischen Aktivitäten Boss’ und an der Entwicklung der Daseinsanalyse intensiven Anteil genommen. Boss fügte im Gegenzug viele Denkfiguren der Heidegger‘schen Philosophie in seine daseinsanalytische Medizin, Psychotherapie und Psychosomatik ein. In den 60er und 70er Jahren erhielt Boss viele Einladungen zu Vorträgen und Gastdozenturen in Europa, Amerika sowie im Fernen Osten. Oftmals war er wochen- und monatelang auf Reisen, so mehrfach an der Harvard University (USA), in Mendoza und Buenos Aires (Argentinien), Delhi und Madras (Indien), Tokio, Kioto und Nagoya (Japan), Helsinki, Sao Paulo, Paris, Amsterdam und Oslo. Verantwortlich für den hohen Bekanntheitsgrad von Boss waren unter anderem seine Buchpublikationen der 50er Jahre. Dazu zählten Der Traum und seine Auslegung (1953), Einführung in die psychosomatische Medizin (1954), Psychoanalyse und Daseinsanalyse (1957) sowie Lebensangst, Schuldgefühle und psychotherapeutische Befreiung (1962). Diese Bücher wurden wie fast alle größeren Werke des Autors in wichtige Weltsprachen übersetzt und in mehreren Auflagen herausgegeben. 1971 publizierte Boss seinen Grundriss der Medizin – Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie, Therapie und zu einer daseinsgemäßen Präventivmedizin in der modernen Industriegesellschaft. Neben dem ausführlichen Untertitel macht auch der Umfang des Buches (600 Druckseiten) deutlich, dass es sich dabei um das Hauptwerk des Autors handelt. Anfang der 70er Jahre kam es zur Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Daseinsanalyse und des Daseinsanalytischen Instituts für Psychotherapie und Psychosomatik in Zürich. Damals wurde Boss in Anerkennung seiner Verdienste als Psychotherapeut der »Great Therapist Award« durch die American Psychological Association verliehen. Diese Ehrung war nur eine unter vielen, die ihm in den folgenden Jahren von Universitäten,
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Kapitel • Medard Boss
Vereinigungen und Gesellschaften zuerkannt wurden. Nach seinem Grundriss der Medizin veröffentlichte Boss noch weitere Bücher: Es träumte mir vergangene Nacht (1975), Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse (1979), Von der Spannweite der Seele (1982) sowie als Herausgeber Martin Heidegger – Zollikoner Seminare (1987). Daneben hat der Autor noch Dutzende kleinerer Abhandlungen über Fragen der Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Philosophie und Daseinsanalyse publiziert. 1990 ist Medard Boss im Alter von 87 Jahren in Zollikon gestorben. Seine bekanntesten Schüler Gion Condrau und Alois Hicklin haben das Lebenswerk ihres Lehrers im Hinblick auf Ausbildung und Psychotherapieangebote fortgeführt. Marianne Boss, die zweite Gattin des Mitbegründers der Daseinsanalyse (aus der ersten Ehe mit Gertrud Wissler entstammten drei Kinder), verwaltete nach dem Tod ihres Mannes dessen Nachlass. Die Psychotherapeutin Alice Holzhey-Kunz hat es während der letzten zwei Jahrzehnte unternommen, in Buchpublikationen und Zeitschriftenartikeln die philosophischen und anthropologischen Aspekte des Boss’schen Denkens weiterzuentwickeln. Vor allem in Österreich und der Schweiz hat sich die Daseinsanalyse in Theorie und Praxis der Psychotherapie einen gewichtigen Stellenwert erobert.
Werkanalyse Aus dem Spektrum der Boss’schen Veröffentlichungen werden hier jene Schriften berücksichtigt, in denen dezidiert anthropologische Themen angeschnitten werden. Dazu zählen Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen, Der Traum und seine Auslegung, Grundriss der Medizin und der Psychologie sowie Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse. Anhand der Phänomene von Sexualität, Traum sowie Krankheit und Gesundheit ging Boss der Frage nach, was das Wesen des Menschen ist. Dabei bezog er sich hinsichtlich seines methodischen Vorgehens wie auch der von ihm verwendeten Begriffe und inhaltlichen Konzepte auf die Existenzphilosophie und Daseinsanalyse Heideggers, vor allem auf dessen Buch Sein und Zeit (1927).
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Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen
Im ersten Teil seiner Habilitationsarbeit über Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen stellte Boss etablierte Theorien zum Wesen und zur Genese von Perversionen vor, so diejenigen der Psychoanalyse sowie von anthropologisch orientierten Psychiatern und Psychologen wie Erwin Straus, Viktor Emil von Gebsattel, Oswald Schwarz und Hans Kunz. In einem zweiten Schritt untersuchte Boss diese Theorien kritisch, um im Hauptteil des Buches seinen eigenen daseinsanalytischen Ansatz zum Verständnis von Perversionen zu erörtern. Freud hat das erste Mal eine in sich stimmige Perversionstheorie in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) vorgelegt. Darin vertrat er die Ansicht, dass Fixierungen und Regressionen auf infantile Stadien der Libidoentwicklung sowie ein Übermaß der Partialtriebe zur Entstehung von Perversionen beitragen. Nach Freud ist das Kind ein kleiner Perverser und der erwachsene Perverse ein großes Kind. Man kann verstehen, dass solche Formulierungen nach dem Erscheinen der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie zum Teil für Entrüstung sorgten. Als Psychophysiker suchte Freud die Ursachen des perversen Liebeslebens im Triebschicksal seiner Patienten. Einen Baustein dafür glaubte er in abnormen ödipalen Entwicklungen zu erkennen. Wer am Ödipuskomplex scheitert, bewältige notwendige Sublimierungsleistungen nicht, was zur Entstehung entweder von Neurosen oder Perversionen führe. Im ersteren Fall sei eine Hypertrophie des Hemmungsapparates zu beobachten, im letzteren die Ungezügeltheit von Partialtrieben, die einer sozialen und kulturellen Hemmung bedürfen. So konnte Freud den Satz formulieren, dass die Neurose das Negativ der Perversion sei. Ähnlich wie die anthropologisch orientierten Psychiater war Boss mit Freuds psychophysiologischer und libidoenergetischer Herleitung der Perversionen nicht einverstanden. Anstatt fragwürdige Abflusshindernisse und Energiestauungen der Libido zu postulieren, die aus dem Menschen eine mechanische Apparatur werden lassen, plädierte der Autor für ein phänomenologisches Vorgehen, welches die Eigentümlichkeiten von Individuen mit Perversionen detailliert beschreibt und behutsam deutet.
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Werkanalyse
Eine derartige Vorgehensweise wurde seinerzeit zum Beispiel von Erwin Straus, Viktor Emil von Gebsattel, Oswald Schwarz und Hans Kunz praktiziert. Sie betonten, dass Menschen mit perversen (paraphilen) Sexualpraktiken die Norm des Liebeslebens zwar erahnen, sich jedoch aggressiv und entwertend gegen sie entscheiden. Infolge von Angst und Unreife lösen sie in den Perversionen die Ganzheit der dualen Liebesgestalt auf und zerstören diese. An die Stelle des kommunikativen und kooperativen Liebesaktes tritt eine destruktive Wendung, die in allen Fällen perversen Verhaltens nachweisbar sei. Sexuell pervers organisierte und strukturierte Menschen tendieren den anthropologisch orientierten Psychiatern zufolge zum Normwidrigen, weil sie das Normale nicht genug kennen oder es sich nicht zutrauen. Sie gewinnen Lust aus destruktiven Impulsen und Machtgebärden, hinter denen in der Regel tiefsitzende Ängste angenommen werden müssen. Die Perversionen sind daher nicht Abkömmlinge von Partialtrieben, sondern Fehlentwicklungen des Werterlebens und damit Defizienzformen der menschlichen Personalität. Wer als Person existiert, wird immer das Du suchen, schätzen und in Liebe und Sexus an seiner Entfaltung mitwirken. Verkümmerte Persönlichkeiten neigen hingegen dazu, in der Wertverneinung ihre Selbstbestätigung zu finden. Für Boss waren diese Ausführungen der anthropologischen Medizin ähnlich wie diejenigen der Psychoanalyse nicht ausreichend, da sie seiner Meinung nach zu sehr die defizitären Gesichtspunkte von Perversionen betonten. Um zu einer umfänglicheren Würdigung der Phänomene zu gelangen, verwies er auf die Norm der Liebe, die er als einen Versuch von Daseinseinigung und Daseinsmehrung durch die Hingabe an ein Du definierte. Dadurch können Welt, Selbst und Mitmenschen in der Fülle ihrer Möglichkeiten erfahren werden, und in diesem Sinne war für Boss das Lieben der naturgemäßeste Wesensvollzug des Menschen. Dieser werde seiner existentiellen Bestimmung vollumfänglich nur gerecht, wenn er liebend in der Welt steht und damit das seinem Wesen entsprechende Mit- oder Miteinander-Sein zur Entfaltung bringt.
Eng mit der Liebe assoziiert sind Stimmungen wie Bejahung, Heiterkeit, Offenheit und Freiheit. Defizienzformen der Liebe zeigen nach Boss dagegen Merkmale der Verstimmung und Verkapselung in Gestalt von Angst oder Feindseligkeit oder beidem. Wer nicht lieben kann, verfehlt daher nicht nur den Mitmenschen, sondern aufgrund von gedrückten Stimmungen, Hemmungen und Rückzugsverhalten eventuell sein Dasein als Ganzes. An einigen Beispielen von Menschen mit Perversionen zeigte Boss in seinem Buch auf, inwiefern sie Veränderungen der Liebeswirklichkeit darstellen. Die perversen oder – wie man sie heute meistens nennt – paraphilen Verhaltensweisen interpretierte er als Ausdruck ängstlich-trübsinnig-verzweifelten In-der-Welt-Seins, dem die prägende Erfahrung des Einswerdens mit einem Geschlechtspartner aus lebensgeschichtlich nachvollziehbaren Gründen versagt blieb. Im Kern der fetischistischen, koprophilen, voyeuristischen, exhibitionistischen oder sadomasochistischen Perversionen stecke nach Boss jedoch trotz aller emotionalen und sozialen Defizite ein Versuch des Durchbruchs zur Liebeswirklichkeit, der berücksichtigt und verstanden werden müsse, wenn man den Betreffenden (etwa im Rahmen einer Psychotherapie) bei der Nachreifung und Selbstentfaltung helfen wolle. Das Destruktive, Entwertende und Triebhafte im perversen Leben und Erleben ordnete Boss jeweils nur als ein Vordergrundphänomen ein. Dieses dränge sich nach vorne, weil die Selbstverwirklichung im Lieben und Geliebtwerden durch ungünstige frühe Werdensbedingungen in Kümmerformen steckengeblieben ist:
»
Samt und sonders erweist sich das sexuell perverse Verhalten als die Austragungsphänomene eines Widerspruches zwischen dem liebenden Miteinandersein zweier Menschen und einem ihnen andressierten oder aufgezwungenen Weltverhältnis, in dessen Licht die begegnenden Dinge und Mitmenschen nur als betont widerständige, begrenzte, starre, verkrustete, ferne Erscheinungen sich zeigen konnten. In Beziehung zu den so verengt vernommenen Dingen und Mitmenschen konnten sich die Kranken auf ein liebendes Miteinandersein nur in Ausschnitten und Peripherien
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Kapitel • Medard Boss
der mitmenschlichen Partner … bis zu einem gewissen Grade doch noch einlassen (Boss 1984, S. 170f.).
«
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Der Traum und seine Auslegung
Einen anderen Zugang zum Wesen des Menschen wählte Boss im Buch Der Traum und seine Auslegung. War die Schrift über Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen in gewisser Weise noch im Bereich von Medizin und Pathologie angesiedelt, begab sich der Autor mit seinem Traumbuch zumindest vordergründig auf das Terrain der Psychologie von Normalität und Gesundheit. Im ersten Teil seiner Abhandlung verdeutlichte Boss, dass Träume schon seit Jahrtausenden als wertvolle Diagnosemöglichkeiten genutzt werden, um verborgene Wünsche oder Eigenarten des Träumers ebenso wie eventuelle Krankheiten an ihm zu erkennen. Vor allem die Tiefenpsychologie hat während der letzten hundert Jahre ausgefeilte Anleitungen zur Traumdeutung formuliert, anhand derer die unbewussten Schichten der Betreffenden transparenter gemacht werden sollten. Boss, der in der Einleitung seines Traumbuches schrieb, dass er im Laufe seiner langjährigen Berufstätigkeit mehr als fünfzigtausend Träume von mindestens fünfhundert verschiedenen Menschen kennengelernt hat, unterzog die Traumtheorien von Sigmund Freud, C. G. Jung, Harald SchultzHencke, Erich Fromm und Ludwig Klages einer strengen Kritik. Seiner Ansicht nach legten diese Traumdeuter zu wenig Respekt vor dem Traumphänomen als solchem an den Tag. Stattdessen nahmen sie die Trauminhalte zum Ausgangspunkt ihrer theoriegebundenen Umdeutungen und Konstruktionen, welche der Sache selbst nicht gerecht wurden. So behauptete Freud, dass der manifeste Traum auf ein latentes Traummaterial verweise, das durch die analytische Deutung erst erschlossen werden müsse. Der Analytiker leistet hier Übersetzungsarbeit, indem er die Traumerzählung in ihre eigentliche Aussage transponiert. Er folgt dabei den Regeln, die Freud angegeben hat. Nach Freud stecken in jedem Traum verborgene Triebwünsche und infantil-sexuelle Impulse, die als hauptsächliche Motoren des Träumens
anzusehen sind. Verdichtung, Umkehrung ins Gegenteil, Symbolisierung und Verschiebung sind die Mechanismen der Traumarbeit, die man deutend rückgängig macht, um zum Sinn des Traumes vorzustoßen. Dabei enthüllt man das unbewusste Traummaterial, das zum Kern der Persönlichkeit hinführt. Boss anerkannte zwar die Subtilität der Freud‘schen Traumdeutung, stieß sich aber an deren reduktionistischer und libidoenergetischer Tendenz. Außerdem bemängelte er die einseitigen Interpretationsmuster, die in allen möglichen Gegenständen und Situationen Symbole für Penis, Vagina oder Koitus zu sehen vorgaben. C. G. Jung war in dieser Hinsicht vielseitiger, doch auch er war vor der Gefahr nicht gefeit, das menschliche Sein sowie die Seele zu substantialisieren. Jung unterlag zwar nicht dem sexualsymbolischen Deutungszwang, aber seine Lehre machte aus harmlosen Traumerscheinungen Symbole von mythologischem Gehalt, die auf unbefangene Betrachter künstlich wirken. Auch bei ihm mussten die wahrgenommenen Phänomene hinter postulierten Strukturen, Gestalten und Mächten zurücktreten. Die Spekulation triumphierte über schlichte Sachverhalte, die zu beachten und zu würdigen die grundlegende Aufgabe der Wissenschaft sei. Wie aber kann man Träumen gerecht werden, und welche anthropologischen Erkenntnisse sind in ihnen enthalten? Nach Boss enthält jedes Traumdetail wie auch das Traumganze eine unendliche Fülle von Verweisungen und Bedeutungszusammenhängen, die in der Weise der Phänomenologie freigelegt und ans Licht gehoben werden sollten. Dies geschehe dadurch, dass man sich von der in jedem Traum waltenden Gestimmtheit anmuten lässt. So teile der Traum mit, in welcher emotionalen Tönung der Träumer sein In-der-Welt-Sein vollzieht, wobei die Stimmungen eines Menschen darüber entscheiden, welche Inhalte des Erfahrens und Erlebens für ihn überhaupt zugänglich sind oder werden. Jedes Traumfaktum soll nach Boss nichts weiter als es selbst bedeuten. Eine Schale im Traum ist zunächst eine Schale, nicht aber das Symbol einer Vagina oder ein Kultgegenstand, der auf sakrale oder mythologische Bedeutungen verweist. Bei sachgerechter Auslegung kann eine Schale der Verwei-
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Werkanalyse
sungs- und Bedeutungsmittelpunkt für vielfältige Modalitäten zum Beispiel existentiellen Empfangens, Sammelns und Aufbewahrens sein. Im Wachen wie im Träumen hat alles und jedes ein weitläufiges Verweisungsfeld, das mitgesehen und mitempfunden wird, wenn man die Kunst des phänomenologischen Sehens beherrscht. Boss zufolge dürfe man sich hinsichtlich einer Traumauslegung etwa fragen, welche Form des Welterlebens sich im Traum kundtut, welche Möglichkeiten seines Daseins der Träumer ergriffen oder verfehlt hat und wo sich im Traumgeschehen verengte, deformierte und entwicklungsgehemmte Existenzentwürfe andeuten. So wurde für Boss der Traum ähnlich wie die Sexualität eines Menschen zum Stenogramm von dessen gelebtem oder versäumtem Leben. Zwar seien im Wachen und Träumen die Freiheitsgrade sowie die Weltoffenheit des Betreffenden verschieden; es handele sich jedoch stets um dieselbe Person mit lediglich zwei differenten Modifikationen des Existierens. Daher könne man auch beim Träumer relevante Erkenntnisse über sein Dasein gewinnen. Anhand zahlreicher Beispiele demonstrierte Boss, inwiefern auch in Träumen jene Existentiale (also Wesenseigentümlichkeiten des Menschen) nachweisbar sind, die Heidegger in Sein und Zeit ausführlich beschrieben hatte, und welche der Autor bereits bei seiner Untersuchung der sexuellen Perversionen erwähnte. So zeigte er anhand mehrerer Träume seiner Patienten, inwiefern sie im schlafenden ähnlich wie im wachen Zustand kein objektives und physikalisches, sondern ein subjektives Erleben von Raum und Zeit aufweisen – eine den Menschen zutiefst auszeichnende Eigenart:
» In Wirklichkeit ist ursprünglich nie ein Raum an und für sich vorhanden, an dessen verschiedenen Stellen dann Dinge zu stehen oder auch nicht zu stehen kämen, so Zwischenräume und Abstände verschiedenster Ausdehnung zwischen sich lassend. Darum sind nie zuerst irgendwelche Stellen in einem abstrakten Raum da, an denen die Dinge stünden. Umgekehrt sind erst die Dinge, die Orte, und unser Verhältnis zu ihnen bestimmt auch ihre ursprüngliche Nähe und Ferne, ihre räumlichen Beziehungen zu uns … Weil die ursprüngliche und
wirkliche Räumlichkeit unserer Welt unmittelbar in unseren Bezügen zu den Dingen gründet, kann es ohne diese weder Orte noch irgendwelche räumliche Verhältnisse geben (Boss 1974, S. 223ff.).
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Im Verlauf gelingender Psychotherapien kommt es nach Boss nicht selten zu einer Veränderung des subjektiven Raum- und Zeiterlebens, die sich auch in den Träumen der Patienten widerspiegelt. Dies betreffe sowohl die geträumten räumlichen Dimensionen (Enge, Weite, Übersichtlichkeit) als auch die emotionale Färbung, die von räumlichen Verhältnissen induziert wird. Alle diese Phänomene sollen dem Autor zufolge phänomenologisch ausgelegt und nicht – wie in den tiefenpsychologischen Schulrichtungen üblich – dogmatisch gedeutet werden. z
Grundriss der Medizin und der Psychologie
Eine beeindruckende Synopsis seiner anthropologischen Überlegungen gelang Boss mit seinem Grundriss der Medizin und der Psychologie. In diesem Buch lieferte der Autor eine tiefgründige Kritik am tradierten Menschenbild in Medizin und Psychologie und demonstrierte darüber hinaus, inwiefern die Heidegger‘sche Existenzphilosophie und deren Beschreibung des menschlichen Daseins die Basis für eine differenzierte medizinisch-psychologische Anthropologie bedeuten. Unter der Überschrift Art und Grenzen der bisherigen medizinischen Vorstellungswelt handelte Boss in seiner Einführung so unterschiedliche Modelle und Leitbilder wie mechanistische und vitalistische Biologie, Naturphilosophie, Materialismus, den Driesch’schen Neovitalismus und die organismische Betrachtungsweise des Biologen Bertalanffy bis hin zum Selye‘schen Stresskonzept ab. Sie alle haben für die Heilkunde zu verschiedenen Zeiten Bedeutung erlangt und Konzepte von Krankheit und Gesundheit mitgeprägt, ohne jedoch das Wesen und den Gehalt menschlicher Erkrankungen im Kern aufzuklären. Die mechanistisch und technizistisch orientierte Medizin verfügt Boss zufolge zwar über ein imposantes körperliches Diagnose- und Therapierepertoire, stößt jedoch hinsichtlich der psychosozialen und geistigen Dimensionen ihrer Patienten rasch an Grenzen. Anhand der Krankengeschichte
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Kapitel • Medard Boss
von Frau Regula Zürcher, die er selbst drei Jahre lang psychotherapeutisch betreute, verdeutlichte der Autor die Reichweite und Limitierungen einer solchen Medizin. Frau Regula Zürcher war als Kleinkind an einem nässenden Ekzem erkrankt. Später gesellten sich bei ihr Infektanfälligkeit und Obstipation dazu. Nach ihrer Eheschließung mit neunzehn Jahren entwickelte sie ein Colon irritabile (Reizdarm), eine Mastodynie (schmerzhafte Veränderung der Brustdrüsen) sowie eine doppelseitige Adnexitis (Entzündung der Eierstöcke). Eine Pankreatitis (Entzündung der Bauchspeicheldrüse) und eine schmerzhafte Sehnenscheidenentzündung führten zu Morphinbehandlungen und schließlich zu einer Abmagerung auf zuletzt unter vierzig Kilogramm Körpergewicht. An diesem Testfall zeigte Boss die Versuche von Medizin und Psychologie auf, sowohl die normalen und gesunden Phänomene (Wille, Gedächtnis, Wahrnehmung, Bewusstsein, vegetative Funktionen) wie auch die Pathologiesymptome der Patientin (Schmerzen, Infektionen, Gewichtsverlust, zusätzlich eine Fraktur des Beines) zu erklären. Diese Erklärungsmuster und die aus ihnen resultierenden diagnostischen und therapeutischen Reaktionen sind von physikalischen und biochemischen Vorstellungen über Krankheit und Gesundheit wie über das Wesen des Menschen schlechthin geprägt. Eine solche Heilkunde kennt etwa Scher- und Zugkräfte, die auf einen Knochen wirken, Osteoblasten und Osteoklasten (Zellen, die zu Neuanbau und Abbau von Knochengewebe führen), Nervenzellen, welche allfällige Schmerzen an das Gehirn übermitteln, Bakterien und Protozoen, die für Infektionen verantwortlich sind, oder histologische Veränderungen der Schleimhaut bei Dickdarmentzündungen. Eine nur mit solchen Größen hantierende Medizin ist jedoch kaum in der Lage, die Berichte ihrer Patienten als zusammenhängende Geschichte zu erfassen. Außerdem kann sie die Emotionen, Affekte, Leidenschaften und die weltanschauliche Haltung, die allesamt in das Krankheitsgeschehen etwa bei Frau Zürcher eingeflochten waren, nur schwer wahrnehmen und würdigen. Solche Defizite wurden von Sigmund Freuds Psychoanalyse und der Psychosomatik nur teilwei-
se kompensiert. Nach Boss tendieren diese nämlich dazu, Kausalitäten zwischen abgeschlossenen und differenten Entitäten (Psyche, Körper, Organe) zu formulieren, wo doch weder eine Seele kausal auf einen Körper wirkt noch Angst oder sonstige Affekte entstehen, weil der Leib in spezifische somatische Zustände verfällt. Freud und seine Nachfolger haben sich Boss zufolge hinsichtlich ihrer anthropologischen Modelle zu sehr in dem tradierten Dualismus von Leib und Seele bewegt. Medizin, Psychologie und Psychosomatik bedürfen stattdessen eines den Phänomenen gerecht werdenden anthropologischen Fundaments, das sich an den Sachen selbst und nicht an spekulativen Theorien orientiert. Ein erster Schritt auf dieses Ziel hin bestand für Boss in der Ausarbeitung umfassender Gesundheits- und Krankheitsbegriffe; damit einher ging für ihn die Frage nach dem Wesen des Menschen. Für die Klärung dieser Themen griff der Autor auf jene Beschreibungen des menschlichen Daseins zurück, die Heidegger in Sein und Zeit geliefert hat. Dabei wurde Boss mit dem Problem konfrontiert, dass sein Schwarzwälder Philosophenfreund eine Ontologie (Lehre vom allgemeinen Sein) entworfen hatte, Gesundheit und Krankheit jedoch nicht ontologische, sondern stets ontische (konkrete und faktische) Zustände widerspiegeln. In Sein und Zeit hatte Heidegger die ontologischen Eigentümlichkeiten des Menschen als Existentiale bezeichnet; für die menschliche Existenz generell verwendete er den Begriff des Daseins. Dieses Dasein zeichnet sich dem Philosophen zufolge durch grundsätzliche Weltoffenheit und durch In-der-Welt-Sein aus. Anders als Tiere, die in ihre Umwelt eingelassen sind und nur dasjenige empfinden, worauf sie sinnvoller Weise reagieren können, lebt der Mensch in einer Welt. Was immer die Welt zu bieten hat – Materielles, Natur, Kultur, die Mitmenschen –, kann vom jeweiligen Dasein potentiell wahrgenommen, verstanden, gebraucht oder verändert werden. Gesundheit beim Menschen korrespondiert nach Boss in vielen Fällen mit einem hohen Maß an Weltoffenheit, indes Krankheit nicht selten mit reduzierter Weltoffenheit vergesellschaftet ist. Ein verschlossenes Dasein, von Jean-Paul Sartre auch als Ursünde des Menschen tituliert, markiert er-
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höhte Erkrankungsrisiken, ohne selbst schon als Pathologie zu gelten. Andererseits führen Krankheiten nicht selten dazu, dass die Betroffenen eine merkliche Einschränkung ihres Interessenhorizonts an den Tag legen. Das In-der-Welt-Sein des Menschen bedeutet, dass jeder Einzelne in einem individuell und subjektiv erlebten und empfundenen Raum existiert. Dieses Raumerleben unterscheidet sich fundamental von der Geometrie, die sich in Maß und Zahl ausdrücken lässt. Je nach Stimmung, Expansivität, zwischenmenschlichen Beziehungen, Intentionalität, Bildung und körperlichen Zuständen des Betreffenden konstelliert sich sein subjektiver Raum dauernd neu. Manchmal verändert dieser individuelle Raum seine Dimensionen schlagartig, wenn etwa Schmerz die Aufmerksamkeit eines Menschen und sein Raumerleben auf die Ausmaße seiner kleinen Zehe schrumpfen oder Schwindel den Raum als nicht mehr Halt und Orientierung gewährende Umgebung erscheinen lässt. Andererseits bedeutet Gesundheit häufig die Voraussetzung für eine nicht beeinträchtigte Entwicklung des räumlichen In-der-Welt-Seins. Wie für den Raum ausgeführt, lebt und erlebt jeder Mensch auch seine sehr eigene und subjektive Zeit. Neben der objektiven und exakt messbaren Raumzeit gibt es jene Zeitdimension, die als individuelle Spanne oder Dauer von Individuum zu Individuum verschieden ist. Diese Zeit, die jeder auf ganz eigene Art empfindet und definiert, unterscheidet sich merklich von der öffentlichen und gemessenen Zeit:
» Das »Haben« von Zeit zeigt stets an, dass und wie ein Mensch überhaupt und als ganzer ist, nämlich existierend im und als der Vollzug dieser oder jener Beziehung zu dem ihm Begegnenden. Im Zeithaben für das oder jenes und im Vollzug dieser Verhaltensmöglichkeiten zeitigt sich das Dasein im Sinne seines sich Entfaltens und sich Austragens (Boss 1975, S. 268).
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Sind Menschen körperlich und seelisch gesund, gehen sie oft souveräner als bei Krankheit mit ihrer Zeit um. Sie gestalten die Gegenwart nach selbst gewählten Zukunftsentwürfen und verwerten Erfah-
rungen ihrer Vergangenheit mit. Dabei unterliegen sie keiner dieser Zeitdimensionen völlig, sondern existieren in ihnen jeweils situationsadäquat. Anders bei Erkrankungen wie der Depression, Manie oder Sucht. In der Ersteren dominiert die zeitliche Dimension der Vergangenheit, wobei die Patienten meist Unangenehmes, Schuldhaftes oder Niederlagen aller Art aus ihrer persönlichen Geschichte erinnern. Bei der Manie sind die Verhältnisse hinsichtlich des Zeiterlebens umgekehrt: Hier steht eine niemals einzulösende Zukunft, der Konjunktiv oder Möglichkeitssinn, im Mittelpunkt der individuellen Zeitigung. Der Einzelne ist sich immer schon voraus, ohne aus seinen Wünschen und Potentialitäten Realitäten erwachsen lassen zu können. Bei der Sucht schließlich schieben sich der Augenblick und die Gegenwart in den Vordergrund; die Dimensionen von Gestern und Morgen werden vom Süchtigen zumindest im Zustand des Rausches und der Ekstase erfolgreich ausgeblendet. Ähnlichen Einfluss auf das In-der-Welt-Sein des Individuums wie Räumlichkeit und Zeitlichkeit nehmen seine Stimmung respektive seine Gestimmtheit. Diese emotionale Tönung zieht sich oftmals wie ein immer wiederkehrendes Motiv durch Tage, Wochen, Jahre oder ein ganzes Leben. Wie der Schussfaden in einen Teppich, so ist die jeweilige Stimmung in den Ablauf der menschlichen Existenz eingewoben und bestimmt maßgeblich deren Muster, Farben und Ausdruck. Manche Stimmungen wie Hoffnung, Zuversicht, Heiterkeit oder Liebe ermöglichen einen umfassenden Weltkontakt; sie weiten das In-der-WeltSein des Menschen und wirken gesundheitsfördernd. Stimmungen wie Ärger, Angst, Melancholie oder Langeweile reduzieren hingegen die Intensität des Weltkontakts und bringen den Betreffenden in Situationen von Einsamkeit, Rückzug und Verstummen. Vielen Erkrankungen gehen, häufig über Jahre anhaltend, solche Verstimmungen und Affekte voraus oder begleiten sie. Diese negativ eingefärbten Emotionen müssen als pathogenetische Faktoren auch in der körperlichen Dimension verstanden werden. Das Immunsystem ebenso wie das vegetative Nervensystem sind zumeist körperliche Spiegelbilder der jeweiligen Gestimmtheit eines Individuums.
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Kapitel • Medard Boss
Stimmungen sind auch dafür verantwortlich, dass Menschen sich zur Welt, zu den Dingen und besonders zu anderen Menschen hingezogen fühlen oder auch nicht. Vor allem Verstimmungen lassen die Tatsache, dass es Mitmenschen, Sozietät, Gesellschaft und Kultur gibt, zunehmend aus dem Blickfeld verschwinden. Das interessanteste Objekt, dem der Mensch in seinem In-der-Welt-Sein begegnet, ist der Andere, der Mitmensch. In der Beziehung zu ihm und im Kontakt zur Gemeinschaft wird der Mensch zum Menschen und reift seine Existenz zu einer kooperativen und kommunikativen Daseinsform. Heidegger hat in Sein und Zeit diese Verhältnisse als Existential des Mitseins bezeichnet, wobei schon früh – zum Beispiel von Karl Löwith in seiner Habilitationsschrift Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) – bemängelt wurde, dass der Seinsphilosoph diese Dimension der menschlichen Existenz eigentümlich sparsam und blass abgehandelt hat. Die Tatsache, dass es andere gibt, verpflichtet uns nach Heidegger, uns um diese in Form der Fürsorge zu kümmern. Fürsorge sollte dabei den Charakter vorausspringender und nicht einspringender Fürsorge annehmen. Letztere birgt die Gefahr Abhängigkeit produzierender Ge- und Verwöhnung in sich. Neben der Fürsorge kannte Heidegger noch den Seinsmodus der Sorge. Damit waren nicht die täglichen Allerweltssorgen gemeint, sondern eine Haltung und Einstellung sich selbst gegenüber, die darauf ausgerichtet sind, die Entwicklung eines unverwechselbaren Selbst bei sich nicht zu vernachlässigen. Gesundheit hängt nun nach Boss mit der Sorge um sich selbst und der Fürsorge um den Anderen zusammen. Bei Krankheiten lassen sich manchmal schon im Vorfeld beim späteren Patienten eine eingeschränkte Sorge um sich sowie eine reduzierte Fürsorglichkeit für die Mitmenschen konstatieren. Entweder offensichtlich oder meist unmerklich verschieben sich die Gewichte von der Schale der Sozial- und Selbstinteressen zur Schale von Narzissmus und damit verbundenem Welt- und Selbstverlust des Betreffenden. Solche Akzentverschiebungen führen dazu, dass der Einzelne im Nexus der Sozietät und Vernunft ebenso wie hinsichtlich seiner Aufgabe der Selbstwerdung nur noch locker
und mangelhaft verankert ist, was die Gefahr zu erkranken erhöht. Ein weiterer Existenzmodus, den Boss in seinem Grundriss erwähnte, ist das Verfallen-Sein. Sowohl an Dinge und Verhältnisse wie auch an andere Menschen kann der Einzelne verfallen; das Kriterium dafür ist eine Abnahme an Freiheit und eine Zunahme an Abhängigkeit. Weit verbreitet ist das Verfallen-Sein in Form der Uneigentlichkeit der eigenen Existenz. Viele Menschen leben, denken, fühlen und handeln, wie der Durchschnitt, die Majorität, die Öffentlichkeit oder das Man es von ihnen erwartet. Sie führen eine Art Schablonen- oder Klischeedasein, das nicht weiter auffällt, weil die allermeisten Menschen ähnliche Existenzmuster bevorzugen. Die günstigere und anstrebenswerte Art des Existierens besteht nach Boss wie nach Heidegger im Ich-selbst-Sein. Das Verfallen-Sein an das Man birgt allemal die Gefahr, über kurz oder lang zumindest seelisch und geistig, eventuell sogar auch körperlich zu erkranken. Das Ich-selbst-Sein oder die Eigentlichkeit der Existenz ist allerdings nicht selten mit merklicher Angst und Vereinsamung verknüpft und wird deshalb von vielen gemieden. Zuletzt erörterte Boss noch das Existential der Transzendenz. Ähnlich wie Heidegger verstand er darunter die Fähigkeit des Menschen, seinen Status quo immer wieder zu überschreiten und sich zu verändern. Erst in der Veränderung, in der andauernden Metamorphose und Entwicklung sowie im stetigen Werden, welches dem statischen Sein entgegengesetzt ist, verwirklicht sich der Mensch und lebt seinem innersten Wesen gemäß. Die zeitliche Dimension, auf welche die Transzendenz des Daseins ausgerichtet ist, ist die Zukunft. In die Zukunft hinein entwirft sich der Mensch, und diese Zukunftsentwürfe versucht er, in seiner Gegenwart Realität werden zu lassen. Eine ausgeprägte Vergangenheitsbezogenheit (wie bei depressiven Erkrankungen) stellt demnach ebenso ein Zeichen für Pathologie dar wie ein alleiniges Überwiegen der Zukunftsdimension (wie bei manischen Krankheitsbildern). Bei vielen körperlichen Erkrankungen lässt sich ein Mangel an Transzendenz und Zukunftsbezogenheit des Patienten konstatieren. Dies kann im Vorfeld von Krankheiten eventuell eine pathogene
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Conclusio
Rolle spielen. Oftmals sind daneben die bereits eingetretenen Störungen und deren körperliche und psychosoziale Symptome mitverantwortlich dafür, dass Statik, Hoffnungslosigkeit und reduziertes Weltinteresse beim Kranken dominieren.
Conclusio Die anthropologischen Ausführungen von Boss weisen eine große innere Konsistenz auf, die vor allem auf deren Übereinstimmung mit der Heidegger‘schen Existenzphilosophie zurückzuführen ist. Obwohl der Philosoph eine Ontologie und keine Anthropologie formulieren wollte, hat sein ärztlicher Schüler und späterer Freund daraus ein medizinisch-psychologisches Menschenbild abgeleitet, das durch methodische (Phänomenologie) und terminologische Stimmigkeit (Daseinsanalyse) besticht. Diese Qualitäten markieren jedoch gleichzeitig die Schwachstellen der Boss’schen Anthropologie. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Boss sich umfänglich mit der Person und Philosophie Heideggers identifizierte und niemals zu einer kritischen Haltung dem Schwarzwälder Denker gegenüber bereit war. Dies bedeutete für ihn eine hervorragende Schulung in Existenzphilosophie, nicht jedoch in Gesellschafts-, Kultur- und Ideologiekritik – ein Mangel, der sich in seinen anthropologischen Ausführungen bemerkbar macht. Weil Boss viele Begriffe Heideggers in sein System übernommen hat, wird der Leser mit einer Terminologie konfrontiert, die hohe und höchste Ansprüche an seine philosophischen Kenntnisse und Lernimpulse stellt. Und so glänzend und elegant manche theoretischen Überlegungen in Worte gefasst sind, fragen sich wohl nicht wenige praktisch tätige Ärzte, wie all diese philosophisch inspirierten Spekulationen in einen ärztlichen Alltag integriert und in konkrete Medizin umgesetzt werden können. Boss hat derlei Einwände selbst gespürt oder als Echo auf seine Zollikoner Seminare immer wieder von jüngeren Kollegen zu hören bekommen. Ausgehend davon publizierte er 1978 sein Buch Praxis der Psychosomatik, in dem er seine teilweise hochtheoretischen Reflexionen zum menschlichen Da-
sein und dessen Krankheiten in nachvollziehbare Medizin und Psychosomatik übersetzte. An Beispielen von Essstörungen, Bluthochdruck, MagenDarm-Erkrankungen sowie Asthma bronchiale demonstrierte Boss die Tragweite seiner daseinsanalytischen Theorien. Erwähnt werden hier lediglich seine Überlegungen zur Genese und zum Wesen von Adipositas (Übergewicht). Bei fettleibigen Menschen unterschied Boss sogenannte erdnahe und spirituelle Adipositas, paradoxe Fettleibigkeit (Adipositas, die während der Zeiten von Kriegswirren und Hungersnöten auftritt) sowie Adipositas bei Erwachsenen, die am liebsten Kinder geblieben wären. Obwohl diese Untergruppen eigene Charakteristika und verschiedene Detailprobleme aufweisen, kann man laut Boss Gemeinsamkeiten bei diesen Patienten entdecken. So weisen viele Adipositaskranke aufgrund von Hoffnungslosigkeit und verdunkelter Zukunft einen monotonen Weltbezug auf, der sich auf die Einverleibung von Nahrung reduziert. Die Kompaktheit und sofortige Verfügbarkeit von Nahrung verspricht – anders als unzuverlässige zwischenmenschliche Beziehungen oder anspruchsvolle geistig-kulturelle Weltbezüge – momentane, fassbare und gesicherte Befriedigung. Parallel zur gesteigerten Nahrungsaufnahme lasse sich daher bei nicht wenigen Fettleibigen ein Rückgang ihrer Sozial- und Weltinteressen konstatieren. Boss beschrieb in seiner Praxis der Psychosomatik eine Patientin mit deutlichem Übergewicht, die erst nach einem halben Jahr der steten therapeutischen Beziehungsaufnahme zu ihm langsam in der Lage war, ihr Gewicht zu reduzieren. Im Rahmen der daseinsanalytischen Kur gelang es ihr, ihr Leben im Hinblick auf die Existentiale des Mit-Seins und der Transzendenz zu verändern:
»
Während sie noch vor kurzem im Grunde völlig beziehungslos gegenüber ihrer Mitwelt dahinvegetierte, begann sie sich jetzt in der analytischen Situation sicher und geborgen zu fühlen und den Analytiker selbst als eine schützende und Halt gebende väterliche Gestalt wahrzunehmen. Kaum konnte sie aber ihre Existenz wieder in eine mitmenschliche Beziehung hinein entfalten, und mochte deren Struktur zunächst auch bloß einer
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Kapitel • Medard Boss
auch noch so infantilen Kleinkind-Eltern-Liebe entsprechen, fing ihr Fett an, wie Butter an der Sonne weg zu schmelzen (Boss 1978a, S. 42).
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Den Dreh- und Angelpunkt der Therapie von Adipositas stellte für Boss das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut dar, das überwiegend die Qualitäten von Geborgenheit, Schutz und Halt aufweisen sollte, um dem Betreffenden einen sicheren Rahmen für die Entwicklung tragfähiger zwischenmenschlicher Beziehungen zu gewährleisten. Dem Zürcher Daseinsanalytiker zufolge bedeuten diese ein existentielles Fundament, von dem aus der Einzelne andere Formen seiner Lebensgestaltung einüben und erlernen kann. Bedenkt man den hohen Stellenwert des therapeutischen Verhältnisses für die Behandlung fettsüchtiger Patienten, wird verständlich, warum viele dieser Menschen regelmäßig an Diäten und Fastenkuren scheitern, solange ihre Beziehungen zu den Mitmenschen unverändert bleiben. Vergebliche Versuche der Gewichtsabnahme verringern den Aktivitätsgrad und steigern die Resignation eines Menschen nochmals und tragen damit zur Perpetuierung des Leidens bei. Erst wenn solche Patienten eine Veränderung ihres In-der-Welt-Seins zuwege bringen, erscheint es aussichtsreich, die Zufuhr von Kalorien zu vermindern. Solange sie die individuellen Möglichkeiten ihrer Existenz nicht verwirklichen, sind sie nach Boss beinahe dazu verurteilt, zu »leiben, was sie nicht leben«. Mit dieser Formel wollte Boss zum Ausdruck bringen, dass Menschen mehr oder minder gezwungen sind, sich mit den Themen ihrer Existenz zu beschäftigen. Geschieht dies nicht auf einer psychosozialen und geistigen Ebene, steht dafür immer noch die Ebene des körperlichen »Leibens« (oftmals in Form von Krankheiten) zur Verfügung. Für die Behandlung adipöser Menschen bedeutet dies nicht selten eine Verlagerung ihrer Expansion weg vom konkret Materiellen hin zu sozialen und geistig-kulturellen Dimensionen. Die Lebensgeschichten und charakterlichen Ausprägungen von Patienten mit eingeengten Lebens- und Weltbezügen sind jedoch mannigfacher Natur und unterscheiden sich deutlich von Individuum zu Individuum.
Boss betrachtete seine Patienten daher nicht unter krankheits-, konflikt- oder ereignisspezifischen, sondern immer unter weltbezugspezifischen und individuellen Gesichtspunkten. Eine Rubrizierung von Menschen als »typisch adipös« lehnte er ab:
» Denn stets will alle Statistik sämtliche Phänomene auf Gleiches und auf vergleichbare Gegenstände reduzieren. Die psychosomatische Heilkunde, der es um die Erhellung leiblichen Krankseins als der abwegigen Austragungsarten menschlicher Existenzweisen geht, hat es jedoch immer nur mit den je einzigartigen Strukturen einer ganzen menschlichen Lebensgeschichte zu tun. Das geschichtliche Gefüge einer Existenz kann aber nie ohne Verstümmelung oder Vergewaltigung auseinander gebrochen werden, und noch weniger dürfen Strukturbrocken, die zudem noch künstlich zu bloßen Eigenschaften einer X-Substanz umgedacht wurden, mit solchen eines anderen Daseins verrechnet werden (Boss 1978a, S. 100).
«
Mit solchen Ausführungen hat Boss in Praxis der Psychosomatik wie auch in seinen anderen Schriften und mehr noch mit seiner Art der Diagnostik und Therapie auf ein Anthropinon, eine Wesenseigentümlichkeit des Menschen hingewiesen, die unserer Ansicht nach alle ärztliche Tätigkeit prägen sollte: dass jeder Patient Individuum und als solches »ineffabile«, also unausschöpfbar und unergründlich ist.
Literatur Boss M (1954) Einführung in die Psychosomatische Medizin. Huber, Bern Boss M (1966) Indienfahrt eines Psychiaters. Herder, Freiburg (Erstveröff. 1959) Boss M (1974) Der Traum und seine Auslegung. Kindler, München (Erstveröff. 1953) Boss M (1975) Grundriss der Medizin und der Psychologie. Huber, Bern (Erstveröff. 1971) Boss M (1978a) Praxis der Psychosomatik. Huber, Bern Boss M (1978b) Körperliches Kranksein als Folge seelischer Gleichgewichtsstörungen. Huber, Bern (Erstveröff. 1956) Boss M (1979) Von der Psychoanalyse zur Daseinsanalyse. Europa, Wien
Literatur
Boss M (1984) Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen – Ein daseinsanalytischer Beitrag zur Psychopathologie des Phänomens der Liebe. Fischer, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1947) Condrau G (1965) Die Daseinsanalyse von Medard Boss und ihre Bedeutung für die Psychiatrie. Huber, Bern Heidegger M (1986) Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen (Erstveröff. 1927) Heidegger M (1987) Zollikoner Seminare, hrsg. von Medard Boss. Insel, Frankfurt am Main Paulat U (2001) Medard Boss und die Daseinsanalyse – Ein Dialog zwischen Medizin und Philosophie im 20. Jahrhundert. Tectum, Marburg Pongratz L (1973) Psychotherapie in Selbstdarstellungen. Huber, Bern Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien
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Alexander Mitscherlich Biographisches – 352 Werkanalyse – 354 Conclusio – 360 Literatur – 363
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Alexander Mitscherlich
. Abb. 1 Alexander Mitscherlich (*1908; †2004). (Mit freundlicher Genehmigung von akgimages)
Der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hat sich vor allem als Leiter einer Abteilung für psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg, als Direktor des SigmundFreud-Instituts an der Universität Frankfurt am Main, als Herausgeber der Zeitschrift Psyche sowie als Beobachter und Kommentator der Nürnberger Ärzteprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg einen Namen gemacht. In diesen Funktionen hat er wichtige medizinanthropologische Beiträge formuliert (. Abb. 1).
Biographisches Alexander Mitscherlich wurde 1908 als Einzelkind in München in großbürgerliche Verhältnisse hineingeboren und wuchs in Hof nahe der böhmischen Grenze auf. Sein Vater Harbord Mitscherlich war ein bekannter Chemiker und Fabrikbesitzer. Auch andere Vorfahren Alexanders waren im Bereich der Naturwissenschaften erfolgreich, so dass man von einer regelrechten Chemikerdynastie sprechen konnte. Die Ehe der Eltern wurde von Biographen wie von Mitscherlich selbst (in seiner Autobiographie Ein Leben für die Psychoanalyse, 1980) als schwierig beschrieben. Der Vater soll reaktionär und gefühlskarg gewesen sein. Zeitweise war angespanntes Schweigen zwischen Vater, Mutter und Sohn vorherrschend, so dass Mitscherlich im Rückblick von einer unglücklichen Kindheit sprach. Mit zwanzig Jahren bezog Mitscherlich nach seinem Abitur die Universität München, wo er begann, Historiographie, Kunstgeschichte und Philosophie zu studieren. Dies entsprach keineswegs
den Wünschen des Vaters, der in Alexander seinen potentiellen Nachfolger als Fabrikdirektor sah. Letzterer ließ sich jedoch von seinen Plänen nicht abbringen und wechselte 1929 für kurze Zeit nach Prag, wo er seine begonnenen Studien fortsetzte. Ende der 20er Jahre kam Mitscherlich in Kontakt mit Ernst Jünger (1895–1998). Dieser war unter anderem mit seinem Buch In Stahlgewittern – Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers (1920) bekannt geworden. Darin hatte der dichterisch veranlagte Haudegen seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg niedergeschrieben, wobei er sich als heroische Gestalt charakterisierte, der man nicht zufällig die Auszeichnung »Pour le Mérite« verliehen hatte. Jünger war ein führender Vertreter der Idee einer nationalen Revolution. In vielen Artikeln für Zeitungen und Bücher vertrat er antiliberale und antidemokratische Standpunkte. Seine Weltanschauung trug dazu bei, dass sich um ihn ein Kreis von konservativ-reaktionären und nationalistisch gesinnten Menschen bildete, zu denen auch Ernst Niekisch (1889–1967) gehörte. Dieser war Herausgeber von Widerstand – Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik sowie Autor von Hitler – Ein deutsches Verhängnis (1932); sein ideologischer Standpunkt war ein nationalbolschewistischer. Mitscherlich unterhielt sowohl zu Jünger wie auch zu Niekisch enge Kontakte. Beide übernahmen für ihn insofern väterliche Funktionen, als er in ihnen Identifikationsfiguren suchte und fand, die etwas Dynamisch-Konservatives im Gegensatz zum Statisch-Konservativen des eigenen Vaters verkörperten. Je mehr sich der junge Mann schließlich von Jünger abwandte, umso stärker kam es vorderhand zur weltanschaulichen und emotionalen Anlehnung an Niekisch. Anfang der 30er Jahre lernte Mitscherlich die junge Ärztin Melitta Behr kennen, die er 1932 heiratete; im selben Jahr wurde die Tochter Monika geboren. Eine in München bei einem jüdischstämmigen Professor begonnene Promotion konnte nach dessen überraschendem Tod wegen antisemitischer Vorurteile anderer Hochschullehrer nicht beendet werden. Mitscherlich entschloss sich daher, in Berlin-Dahlem eine Buchhandlung zu eröffnen; Berlin war ihm aufgrund der Beziehung mit Ernst Jünger schon vertraut. Nebenbei studierte er auf Anregung seiner Gattin Medizin.
Biographisches
Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 konnte Mitscherlich seine Buchhandlung noch zwei Jahre weiterführen. Da er aber Schriften von Niekisch zum Verkauf anbot, der zunehmend in Konflikte mit den braunen Machthabern verwickelt wurde, geriet auch Mitscherlich in die Schusslinie der Nationalsozialisten. 1935 sah er sich gezwungen, sein Geschäft zu veräußern. Zusammen mit seiner neuen Partnerin Georgia Wiedemann, die er 1936 nach der Scheidung von Melitta heiratete, ging er zuerst nach Freiburg und dann nach Zürich, wo er bis 1937 lebte. Damals wurden seine Tochter Merit und sein Sohn Malte geboren; die Tochter Barbara war bereits 1933 zur Welt gekommen. Die wichtigste Bekanntschaft Mitscherlichs in Zürich war diejenige mit Gustav Bally. Bei ihm erhielt er einige psychoanalytische Sitzungen (Charakteranalyse); außerdem machte ihn Bally auf Viktor von Weizsäcker und auf den Psychoanalytiker Felix Schottlaender aufmerksam, die zukünftig beide eine zentrale Rolle in Mitscherlichs Lebenslauf spielen sollten. Mitte 1937 reiste der unvorsichtig gewordene Mitscherlich aus der Schweiz nach Deutschland, wo er prompt verhaftet und von der Gestapo acht Monate lang in Nürnberg in Untersuchungshaft gehalten wurde. Nach seiner Freilassung wandte er sich nach Heidelberg, um dort weiter Medizin zu studieren. Dabei kam er in direkten Kontakt mit Viktor von Weizsäcker, der für ihn ähnlich wie zuvor Jünger und Niekisch (von denen er sich abgewandt hatte) eine väterliche Mentorenrolle und darüber hinaus eine wichtige Funktion als klinischer Lehrer sowie Ideengeber einer medizinischen Anthropologie und psychosomatischen Medizin übernahm. 1941 promovierte Mitscherlich bei ihm mit einer Arbeit Zur Wesensbestimmung der synästhetischen Wahrnehmung. Neben Weizsäcker lernte er in Heidelberg auch Karl Jaspers kennen, bei dem er eine Weile Rat und Unterstützung im Hinblick auf seine berufliche und persönliche Entwicklung suchte. Mitscherlich musste keinen Wehrdienst leisten – zuerst wurde er als wehrunwürdig eingestuft und dann wegen einer Gelenkerkrankung nicht eingezogen; zuletzt war er aufgrund seiner ärztlichen Tätigkeit an der Nervenabteilung der Ludolf-KrehlKlinik in Heidelberg »unabkömmlich«. Während
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des Zweiten Weltkriegs absolvierte er eine Ausbildung als Neurologe und Internist, wobei ihm die Weizsäcker‘sche Art einer biographischen Medizin (mit Anleihen bei Freuds Psychoanalyse) ebenso wie die daseinsanalytische Form der Heilkunde (verkörpert durch Ludwig Binswanger und Medard Boss) als vorbildlich erschienen. 1943/44 verfasste er eine Abhandlung über Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit (1946), die er später zu einem eigenständigen System der medizinischen Anthropologie ausweiten wollte – ein Plan, der so nie realisiert wurde. Außerdem protokollierte er einige Fallgeschichten von Diabetes insipidus – eine Erkrankung, bei der Patienten außerordentlich viel trinken. Mitscherlich diagnostizierte bei ihnen neben ihren körperlichen Veränderungen auch biographische, charakterliche und existentielle Besonderheiten, die er in einen tiefenpsychologischen, anthropologischen und daseinsanalytischen Zusammenhang einordnete. 1947 wurde er mit der daraus resultierenden Schrift Vom Ursprung der Sucht – Eine pathogenetische Untersuchung des Vieltrinkens an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg habilitiert. Schon 1946 war Mitscherlich gemeinsam mit Fred Mielke von den Ärztekammern der drei Westzonen beauftragt worden, die Leitung einer Kommission zu übernehmen, die in Nürnberg die dort stattfindenden NS-Ärzteprozesse beobachten sollte. Sinn und Zweck dieser Aktivitäten war es, den Vorwurf der Kollektivschuld von der deutschen Ärzteschaft abzuwenden. Mitscherlich war für diese Funktion unter anderem deshalb ausgewählt worden, weil er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einige Monate lang in der amerikanischen Besatzungszone quasi das Amt eines Ministers innegehabt und sich dabei das Vertrauen der Alliierten erworben hatte. Das Ergebnis der Beobachtungsmission Mitscherlichs war jedoch anders als intendiert. In der von ihm verfassten Dokumentation Diktat der Menschenverachtung – Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Quellen (1947) berichtete er erschüttert über die Grausamkeiten und Verbrechen, die nicht einzelne wenige, sondern erschreckend viele deutsche Ärzte während der faschistischen Herrschaft begangen hatten. Der Autor ging sogar so weit zu behaupten, dass eine fast ausschließlich an
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Kapitel • Alexander Mitscherlich
Technik und Naturwissenschaften orientierte Heilkunde, welche die Begriffe und Dimensionen von Ethik und Menschlichkeit ausblendete, die schändlichen Handlungen der betreffenden Mediziner mit ermöglicht habe. Im Jahr der Publikation von Das Diktat der Menschenverachtung gründete Mitscherlich die Zeitschrift Psyche. Diesem psychoanalytischen Periodikum gehörten anfänglich noch Felix Schottlaender und Hans Kunz als Mitherausgeber an. Bald kam es jedoch unter den Herausgebern zu Meinungsverschiedenheiten; Mitscherlich stieg zum führenden Kopf der Zeitschrift auf, wohingegen die beiden anderen als Herausgeber ausschieden. Damit wurde er zu einer psychoanalytisch-publizistischen »one man army«, wie Erik H. Erikson ihn später charakterisierte. 1947 lernte Mitscherlich die Ärztin Margarete Nielsen (geboren 1917) kennen, die für ihn zur neuen Lebenspartnerin sowie zu einer wichtigen Koautorin mancher seiner Publikationen wurde. 1949 wurde der gemeinsame Sohn Mathias geboren, und 1955 kam es zur Heirat. Frau Mitscherlich überlebte ihren Mann über ein Viertel Jahrhundert lang. Ende der 40er Jahre gelang Mitscherlich in Heidelberg gegen den Widerstand von Fakultätskollegen die Gründung einer psychosomatischen Klinik an der Universität. Vor allem wegen seiner Veröffentlichung Diktat der Menschenverachtung war er von vielen Medizinern als Nestbeschmutzer beschimpft worden. Bei seinem Engagement für die Psychosomatik ließ man ihn nun spüren, was man von ihm hielt. Allein die finanzielle Unterstützung durch die Rockefeller Foundation ermöglichte schlussendlich die Durchsetzung seiner Pläne. 1956 organisierte Mitscherlich zu Ehren von Sigmund Freuds hundertstem Geburtstag in Heidelberg und Frankfurt eine Vorlesungsreihe, an der auch ehemals vertriebene Psychoanalytiker aus dem Ausland teilnahmen. Vier Jahre später gründete Mitscherlich das Frankfurter Sigmund-FreudInstitut und leitete es weit über ein Jahrzehnt als Direktor. Mit der Zeitschrift Psyche, der Klinik für Psychosomatik und dem Sigmund-Freud-Institut hatte er einen merklichen Schwenk von der anthropologischen Medizin Weizsäckers zur Psychoanalyse genommen, als deren Repräsentationsfigur er in den 60er und 70er Jahren galt. Das Ausmaß
seiner vielfältigen Aktivitäten lässt es verständlich werden, warum Mitscherlich damals von manchen als »Seine Turbulenz« tituliert wurde. In den 60er Jahren veröffentlichte er seine bekanntesten Bücher, die von einer Entwicklung weg von der Medizin und hin zur Soziologie und Politik zeugten: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963), Die Unwirtlichkeit unserer Städte (1965) sowie zusammen mit seiner Frau Margarete Die Unfähigkeit zu trauern (1967). Daneben meldete sich Mitscherlich mit einer beachtlichen Zahl von Aufsätzen und Interviews zu Themen von Politik, Zeitgeschehen (Studentenrevolte), Zeitgeschichte, Psychoanalyse und Massenpsychologie zu Wort. 1969 wurde er für seine literarisch-öffentlichen Aktivitäten mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt. 1977 musste sich Mitscherlich einer Leistenbruchoperation unterziehen, von der er sich nicht mehr erholte. Es kam zu einem sichtbaren körperlichen und seelisch-geistigen Abbau, der seine bereits vorhandene Parkinson-Erkrankung noch forcierte. Immerhin gelang es ihm in den folgenden Jahren, seine Autobiographie Ein Leben für die Psychoanalyse (1980) zu verfassen, in der er die Geschichte seiner Entwicklung offen auch im Hinblick auf Irrtümer und Brüche erzählte. Mitscherlich starb 1982 nach langer Krankheit. Bereits ein Jahr später begann der Suhrkamp-Verlag in Frankfurt mit der Edition der zehnbändigen Ausgabe der Gesammelten Schriften des Autors, die neben seiner Autobiographie einen umfassenden Einblick in sein Leben und Werk ermöglichen.
Werkanalyse Bei der Erörterung von Mitscherlichs Schriften wird der Schwerpunkt auf jene Texte gelegt, die medizinanthropologische Fragen im engeren Sinne berühren: seine Ausführungen zur Psychosomatik, zum Wesen der Krankheit sowie zur menschlichen Fähigkeit der Erinnerung. z
Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit; Krankheit als Konflikt
Unter dem letztgenannten Titel publizierte Mitscherlich in den Jahren 1966/67 Sammelbände mit
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Werkanalyse
Aufsätzen zur Theorie und Praxis der Psychosomatik, welche die Summe seiner klinischen Tätigkeit aus über zwei Jahrzehnten bedeuten. Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit stellt dagegen die erste größere medizinanthropologische Abhandlung des Autors dar, worin er sich – ausgehend vom Begriff der Freiheit – um eine fundamentale Klärung von Krankheit und Gesundheit bemühte. Ein zentraler Befund an Patienten und ihrer Krankheit ist Mitscherlich zufolge die Geschichtlichkeit. Jeder Mensch weist eine individuelle Biographie auf, die allerdings von den meisten kaum umfassend erinnert wird. Unterzieht man sich jedoch zum Beispiel im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung der Mühe, Vergangenes (Kindheit, Adoleszenz, Entwicklungs- und Wachstumsprozesse, Erschütterungen, Krisen, Stagnationen, existentiell relevante Entscheidungen) verstehend zu rekonstruieren, wird man zugeben müssen, dass sich dabei sinn- und bedeutungsvolle Gestalten und Strukturen abzeichnen, in denen sich die Lebensgeschichte des Betreffenden ebenso wie sein Charakter und seine allfälligen Krankheiten widerspiegeln:
» In der Anwendung auf das Phänomen Krankheit ist zu folgern, dass es nicht damit gedient sein kann, sie … unhistorisch, das heißt unter dem Gesichtswinkel einer natürlichen Pathogenese, zu betrachten. Die Krankheit des Menschen muss wie jede andere seiner Lebensbewegungen in einem Zusammenhang mit der Geschichtlichkeit seiner individuellen Existenz, sie muss im Gegensatz zur Krankheit der übrigen Lebewesen als überdeterminiert gelten (Mitscherlich 1983a, S. 84).
«
Weil immer geschichtliche Subjekte erkranken, die auf ihren Zustand mit individuellen seelischen, sozialen und geistigen Antwortmustern reagieren, reicht es nicht hin, wenn Ärzte lediglich die »Geschichte ihrer Krankheit« (Anamnese) erheben – vielmehr sollten sie stets die »Geschichte der Kranken« ins Visier nehmen. Dabei werden sie bemerken, dass im Zuge jeder Krankheit Typisches und Gesetzmäßiges (z. B. die Zunahme der Leukozytenzahl bei Entzündungen) mit Einmaligem und Speziellem (z. B. das eigenwillige Krankheitskonzept des Patienten) verflochten ist.
Medizinische Diagnostik und Therapie soll jeweils beide Aspekte von Krankheit berücksichtigen. Mitscherlich führte als Beispiel die in den 40er Jahren übliche chirurgische Behandlung des Magengeschwürs an und betonte, dass mit der operativen Entfernung eines Teils des Magens zwar die Krankheit Ulcus ventriculi, nicht aber der UlkusKranke geheilt wurde. Wollte man den Letzteren effektiv behandeln, sind neben chirurgischen eventuell auch psychologische oder soziale Therapieansätze nötig. Diagnostiziert man Patienten hinsichtlich der biomedizinischen wie auch psychosozialen Dimension ihrer Existenz, lassen sich Mitscherlich zufolge häufig im Vorfeld von deren Erkrankungen Situationen eruieren, in denen sie aufgrund von Konfliktscheu, Unredlichkeit oder Bequemlichkeit graduell auf ihren autonomen Daseinsvollzug verzichteten. Hält diese Reduktion von Freiheitsgraden längere Zeit an, kann sich daraus eine Neurose entwickeln. Erkrankt dieser Patient nun körperlich, erlebt er dies normalerweise ebenfalls als Einschränkung seiner Autonomie. Eventuell bietet es sich für ihn an, seine geringeren Freiheitsgrade, die er ursprünglich im Rahmen seiner Neurose selbst zu verantworten oder die er aufgrund mangelnder Anleitung in Kindheit und Jugend nicht erlernt hatte, nunmehr seinem kranken somatischen Zustand zuzuschreiben:
»
Wo Freiheit sich selbst aufgab, im Verfehlen ihrer Möglichkeit, erscheint dann Unfreiheit, welche aus dem Objektbereich der Körpervorgänge herzurühren scheint. Der Mensch, der sich selbst unfrei werden ließ, wähnt sich dann in einer von außen, vom Schicksal über ihn verhängten Krankheit und Freiheitsbeschränkung (Mitscherlich 1983a, S. 80).
«
Die Behandlung derart Erkrankter ist langwierig. Mitscherlich betonte, dass viele Krankheiten bis zu jenem Punkt durchdiagnostiziert und -therapiert werden müssen, an welchem das Ich des Patienten im Krankheitsgeschehen oder in seiner Vorgeschichte einen entscheidenden Autonomieverlust erlitt oder selbst herbeigeführt hat. Erst wenn der Betreffende solche Entwicklungsprozesse versteht
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und daran geht, seine Freiheitsgrade wiederzugewinnen oder auszuweiten, kann man von erfolgreicher Behandlung des Kranken und nicht nur seiner Krankheit sprechen. Zwanzig Jahre nach Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit widmete sich Mitscherlich in Krankheit als Konflikt erneut dem Thema Krankheit und Gesundheit in einem umfassenden Sinn. In der Zwischenzeit war aus ihm ein Kliniker, Psychoanalytiker und Psychosomatiker geworden, dessen Terminologie und Denkweise sich verändert und der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds angenähert hatte. Ein wichtiger Terminus technicus, den Mitscherlich gebrauchte, und der heute noch als relevant für die Entstehung von manchen körperlichen Erkrankungen angesehen wird, ist derjenige der zweiphasigen Abwehr. Der Autor ging vom psychischen Abwehrprozess aus, den bereits Freud als ein zweiphasiges Geschehen beschrieben hat. Nach Freud findet eine erste Verdrängung in der frühen Kindheit statt – zu einem Zeitpunkt also, an dem Kinder ein schwaches Ich aufweisen und ihre Triebregungen mit primitiven Abwehrprozessen in Schach halten. Im späteren Leben werden neu auftretende Triebkonflikte nicht selten mit Hilfe dieser altbewährten Verdrängungsmechanismen im Sinne einer Nachverdrängung gelöst. Diese von Freud formulierte Idee einer Nachverdrängung bildete für Mitscherlich den Ansatz zu einer eigenen Hypothesenbildung, die er auf die Psychosomatik bezog. Er postulierte, dass die erste Phase der Verdrängung ein psychischer (und in gewisser Weise auch infantiler) Vorgang ist. Eine zweite Phase der Verdrängung wird für Mitscherlich immer dann erforderlich, wenn die seelischen Abwehrstrategien alleine nicht ausreichen, einen Konflikt für das Individuum befriedigend ins Unbewusste abzudrängen. Dermaßen bedrängte Menschen greifen oftmals zu körperlichen Symptomen und Erkrankungen, um ihren konflikthaften Triebregungen Paroli zu bieten oder Ausdruck zu verleihen. Viele Funktionsstörungen im Bereich der Psychosomatik (Essstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Sexual-, Schmerz-, Verdauungs- und Ventilationsstörungen) seien als Resultat derartiger zweiphasiger Abwehrvorgänge zu verstehen.
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Das psychosomatische Simultangeschehen
Das Modell einer zweiphasigen Abwehr wirft eine Reihe von Fragen auf. Warum erfolgt bei einer Gruppe von Individuen die Nachverdrängung auf einer psychosozialen Ebene, wohingegen die andere Gruppe auf eine somatische Ebene zurückgreift? Warum verstärken manche Menschen angesichts ihrer Konflikte ihre seelischen Abwehrmechanismen bis hin zu neurotischen und psychotischen Erkrankungen, und was trägt dazu bei, dass andere den eigenen Körper für ihre Verdrängungsarbeit benötigen? Welche Faktoren schließlich sind dafür verantwortlich zu machen, dass bei bestimmten Menschen aus ihren ursprünglich alloplastischen (die Umwelt betreffende) autoplastische (ihren eigenen Körper betreffende) Bewältigungs- und Veränderungsversuche werden? Einige dieser Fragen hat Mitscherlich in Krankheit als Konflikt beantwortet; vor allem anhand der Entstehung von Magengeschwüren ging er diesen Fragenkomplexen weiter nach. Obwohl in der Zwischenzeit nachgewiesen wurde, dass neben anderen Faktoren auch eine bakterielle Entzündung durch den Erreger Helicobacter pylori zur Pathogenese von Magengeschwüren beitragen kann, sind die von Mitscherlich angestellten Überlegungen zur Psychosomatik von Ulcus ventriculi et duodeni immer noch bedenkenswert. Anhand von physiologischen und psychoanalytischen Fallbeispielen demonstrierte er das sogenannte psychosomatische Simultangeschehen. Darunter verstand er das Phänomen, dass jede wie auch immer geartete seelische Regung – Gefühle, Stimmungen, Affekte, Erinnerungen, Impulse, Assoziationen, Phantasien – mit einer Veränderung des körperlichen Zustands parallel geht. Je nachdem, welches Organ näher untersucht wird, kann dieses Korrelat als Veränderung von Puls- oder Atemfrequenz, Blutdruck, Hautdurchblutung oder auch als veränderte Sekretionsrate von Magensäure imponieren. Jeder Mensch weist nach Mitscherlich hereditär und konstitutionell bedingte Organfunktionen und Regelkreise seines Körpers auf, die in psychosozialen Konfliktlagen oder bei existentiellen Erschütterungen überschießender als der restliche Organismus mit veränderten, eventuell Krankheiten auslösenden Leistungen reagieren. So sei bei
Werkanalyse
Patienten mit Magengeschwür häufig eine hohe basale Sekretionsrate von Magensäure feststellbar, die bei affektiver Erregung noch weiter in die Höhe schnelle und daher zu einer Geschwürentstehung beitragen könne. Zu diesen biologischen Determinanten komme hinzu, dass viele Magengeschwürpatienten in weiten Bereichen ihres Daseins auf orale Themen hin ausgerichtet sind, wozu das Haben- und Gefüttertwerden-Wollen, das Einverleiben und beginnende Verdauen, der Hunger nach Nahrung, aber auch nach anderen Formen von Zuneigung, Schutz und Geborgenheit, nach Umsorgt- und Gehegt-Werden zählen. Diese Themen sind dem Einzelnen in der Regel nicht vollständig bewusst, sondern durchziehen wie ein kaum vernehmbarer »Basso continuo« seine Existenz. Diese orale Fixierung, für die sich biographische und charakterliche Zusammenhänge beim Betreffenden benennen lassen, trägt ihrerseits dazu bei, vorrangig das somatische Organ der Verdauung (und nicht der Atmung, des Kreislaufs oder einer sonstigen körperlichen Funktion) zu vermehrter Leistung zu stimulieren, was sich in einer Hypersekretion von Magensäure bemerkbar macht. Wenn das Leben eines derart oral Fixierten darüber hinaus noch eine Reaktivierung ehemaliger Konflikte bereithält, entsteht leichter als bei anderen Menschen ein Ulcus ventriculi oder duodeni (Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür). Handelt es sich bei den bisher dargestellten Mechanismen um sinnvolle und nachvollziehbare simultane psychosomatische Zusammenhänge, so kommt es Mitscherlich zufolge nicht selten auch zu Zerreißungen dieses psychosomatischen Simultangeschehens. Bei chronisch somatischen Erkrankungen etwa fehlen häufig die für Außenstehende nachvollziehbar erscheinenden Konflikte, existentiellen Erschütterungen oder psychosozialen Versuchungs-Versagungs-Situationen, die eine körperliche Reaktion wie die Hypersekretion von Magensäure verständlich machen könnten. Hierbei muss bedacht werden, dass der menschliche Körper ebenso wie jede komplexere biologische Struktur (vor allem, wenn ihre Funktionen über längere Zeit hinweg gestört sind) Eigendynamiken entwickelt, die zu den momentanen seelischen und geistigen Erlebnissen nicht mehr parallel
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verlaufen. Im Gegenteil: Patienten berichten häufig darüber, dass sie zu Zeiten relativer Konfliktfreiheit (z. B. Urlaub, Wochenende, Zustand nach bestandener Prüfung) mit einer verstärkten körperlichen Symptomatik bis hin zu manifester Erkrankung konfrontiert werden. Neben der Tatsache, dass hierfür oftmals eine Verschiebung der Aufmerksamkeit (weg vom Konflikt und hin zum Körper) und ein Umschlag des Vegetativums vom »Fight-and-flight«-Muster (Sympathikus-Aktivierung) zum »Conservationand-withdrawal«-Muster (Parasympathikus-Aktivierung) eine Rolle spielt, ist die von Mitscherlich so benannte Zerreißung des psychosomatischen Simultangeschehens für eine solche zeitliche Abfolge von Konflikt und Symptom verantwortlich zu machen. Chronische Erkrankungen treten bei Menschen unter anderem auf, wenn sie sich angesichts von Niederlagen, Frustrationen und existentieller Erschütterungen (in der Terminologie von Mitscherlich: Objektverluste oder Leistungsverluste) und aufgrund ihrer relativen Ich-Schwäche zu lang anhaltenden Hilf- und Hoffnungslosigkeitshaltungen verleitet sehen. Diese emotionalen Einstellungen, die auch von anderen Psychosomatikern (z. B. George Schmale und George Engel) als wesentlich für die Genese von chronischen Krankheiten angesehen wurden, können als eine Spielart der seelischen Regression bezeichnet werden. Diese führt Mitscherlich zufolge parallel zu einer physiologischen Regression oder (wie der Psychosomatiker Max Schur es benannte) zu einer Resomatisierung – ein Begriff, den auch der Autor verwendete, um zu verdeutlichen, inwiefern der psychophysische Gesamtorganismus im Zustand der Hoffnungslosigkeit auf körperliche Mittel und Wege der Existenzbewältigung zurückgreift. Damit gerät der betreffende Patient in eine Situation, in der er bevorzugt autoplastisch (sich und den eigenen Körper verändernd) und nicht mehr alloplastisch (die Welt und ihre Verhältnisse verändernd) reagiert. An mehreren Beispielen (Allergien, Enuresis, Schmerzstörungen) demonstrierte Mitscherlich die Relevanz seiner Ideen zur Konfliktgenese und Therapie körperlicher Krankheiten. Außerdem konnte er daran zeigen, inwiefern der mensch-
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liche Organismus stets gesamthaft reagiert: Seine Zustände von Krankheit und Gesundheit müssen als Resultate eines psychophysischen Simultangeschehens interpretiert werden. Mit diesem Konzept erteilte Mitscherlich den dualistischen Modellen im Bereich der Anthropologie eine Absage: Beim Menschen führen weder Soma noch Psyche ein autonomes Eigenleben, und es stellt eine terminologische Ungenauigkeit dar, etwa von »seelischen Konflikten« oder »körperlichen Schmerzen« zu sprechen. Genau genommen sind Konflikte ebenso wie Schmerzen beim Menschen stets als »psychosomatisch« einzuordnen. z
Medizin ohne Menschlichkeit
Eine psychoanalytische Therapie, so Mitscherlich im Anschluss an Freud, soll es dem Einzelnen ermöglichen, seine individuelle Werdensgeschichte zu rekapitulieren und verstehend einzuordnen. Den Lebenslauf zu erinnern bedeutet für den Betreffenden zwar nicht selten eine schmerzhafte Korrektur seines Selbstbildes und seiner Größenideen, wodurch es jedoch zu einer Ich-Stärkung sowie zu einem realitätsgerechteren Kontakt zu den Mitmenschen und zur Welt kommen kann. In seinen Schriften hob Mitscherlich hervor, dass eine solche Erinnerungsarbeit nicht nur für Individuen, sondern auch für Kollektive nötig sei und sich günstig für deren Selbstverständnis auswirke. Gruppen, Gesellschaften, Völker und Staaten weisen wie einzelne Menschen eine Entwicklungsgeschichte auf, die sie erinnern sollen und müssen, um sich und nachfolgenden Generationen ein einigermaßen an der Wirklichkeit orientiertes Bild von sich zu übermitteln. Aufgrund von fragwürdigen und beschämenden Handlungen sowie unangenehmen Ereignissen in der Vergangenheit tendieren jedoch die meisten Sozietäten und ihre Historiker zu verdrängender, beschönigender und heroisierender Geschichtsschreibung. Nationale wie internationale Historiographien gleichen meistens Legenden- und Sagensammlungen, bei denen all jene Aspekte wegretuschiert oder vergessen werden, welche das narzisstische Größenbild stören. Besonders anschauliches Material für derlei kollektives Vergessen erlebte Mitscherlich hautnah mit, als nach der Kapitulation Deutschlands im Mai
1945 innerhalb von Tagen, Wochen und Monaten aus ehemals überzeugten Nationalsozialisten und aktiven Tätern massenhaft angeblich bloße Mitläufer, leidende Opfer oder in der inneren Emigration befindliche Dissidenten wurden. Fast das gesamte Volk, der Großteil seiner Eliten (Ärzte, Juristen, Wissenschaftler, Philosophen, Künstler) sowie viele Vertreter von Institutionen (Kirchen, Hochschulen, Wirtschaftsverbände, Militär) vergaßen oder beschönigten ihre Einstellungen, Anschauungen, Rollen und Taten während der zwölfjährigen faschistischen Herrschaft und leisteten sich den Luxus einer umfassenden Verdrängung. Mitscherlich untersuchte diese kollektiven Verdrängungsprozesse in mehrfacher Hinsicht. 1946 interessierte er sich zusammen mit Fred Mielke als Beobachter der Nürnberger Prozesse für die Haltungen und Handlungen der Ärzteschaft während des Faschismus. Zwanzig Jahre später analysierte er gemeinsam mit seiner Frau die Mechanismen des Vergessens im deutschen Volk in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Beide Studien sind inhaltlich aufeinander bezogen und lassen ihren Verfasser als einen Arzt und Publizisten erscheinen, der einen (wie er selbst den Titel einer seiner Abhandlungen wählte) zähen Kampf um die Erinnerung führte. Vom November 1946 bis zum August 1947 fanden in Nürnberg jene Prozesse statt, bei denen unter Führung des US-amerikanischen Militärgerichtshofs unter anderem die grausamen und verbrecherischen Menschenversuche deutscher Mediziner während der NS-Herrschaft aufgedeckt, verhandelt und wenn nötig bestraft werden sollten. Neben den Untaten prominenter Klinikleiter und medizinischer Wissenschaftler waren es vor allem auch die mitleidslose Haltung der vielen Tausend Helfer und Helfershelfer sowie die Banalität des Bösen (Hannah Arendt), die Mitscherlich und Mielke schockierten, und welche die gewissenlose Brutalität der Hauptangeklagten mit ermöglichte. In ihrem Bericht präsentierten Mitscherlich und Mielke Stichproben jener Verbrechen, die in Nürnberg publik wurden. Da gab es etwa den Anatomieordinarius August Hirt, der überaus erfreut war, aufgrund des Vernichtungskrieges sowie der Vergasungsanstalten der Deutschen endlich über ausreichendes »jüdisches Humanmaterial« zu ver-
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fügen, um seine anthropologisch angeblich so interessante Schädelsammlung zu vervollständigen. In exakten schriftlichen Anweisungen wurde verfügt, wie »das Material zu gewinnen und zu konservieren« war:
» Der zur Sicherstellung des Materials Beauftragte … hat eine vorher festgelegte Reihe photographischer Aufnahmen und anthropologischer Messungen zu machen … Nach dem danach herbeigeführten Tod des Juden, dessen Kopf nicht verletzt werden darf, trennt er den Kopf vom Rumpf und sendet ihn, in eine Konservierungsflüssigkeit gebettet, in eigens zu diesem Zwecke geschaffenen und gut verschließbaren Blechbehältern zum Bestimmungsort (Zit. n. Mitscherlich 1983b, S. 196).
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Solche Details wurden in Nürnberg zuhauf veröffentlicht. Daneben hörten Mitscherlich und Mielke Dutzende Biographien von ärztlichen Kollegen, die sich während der Jahre des Faschismus in Deutschland als Mörder, Handlanger der Vernichtung, skrupellose Wissenschaftler oder gefühlskalte Schreibtischtäter erwiesen hatten. Den meisten von ihnen sah man ihre Brutalität und Inhumanität nicht an:
» Ich habe den Kommandanten von Auschwitz gesprochen, auf dessen Konto die Tötung von 2,5 Millionen Menschen kommt; er ist nicht mehr und nicht weniger auffällig als der Bäcker, der bei Ihnen um die Ecke wohnt. Weltberühmte Professoren hatten sich daran gewöhnt, in Konzentrationslagern wie in Tierzuchtinstituten ihr »Material zu bestellen«. Herr Pohl, der oberste Chef der Konzentrationslager, hat den statistischen Wert eines Häftlings bis zum Knochenmehl auf 1435 RM berechnet (Mitscherlich: Brief an A. Frisch, 1947. Zit. nach Hoyer 2008, S. 381).
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Neben den albtraumartigen Bestialitäten in den Konzentrationslagern, an denen Ärzte direkt oder indirekt beteiligt waren, gab es noch viele weitere Gelegenheiten, wie Mediziner zu Hitlers willigen Helfern (so der Titel eines Buches des US-amerikanischen Historikers Daniel Goldhagen) wurden. So kamen etwa allein durch den staatlich organisierten und juristisch wie medizinisch legitimierten Mas-
senmord an Geisteskranken, körperlich Behinderten, Psychiatriepatienten und chronisch Kranken über 100.000 Opfer zu Tode – einer Todesart, die man zynisch Euthanasie nannte. Mitscherlich gehörte mit seinem Bericht über die abscheulichen ärztlichen Handlungen während der NS-Zeit zu den Ersten, die sich dieses Themas annahmen. Obwohl ihm bewusst war, wie wichtig eine Aufarbeitung dieser Untaten besonders für die nachfolgenden Generationen werden konnte, hatte er sich immer wieder neu zu weiterer Recherche zu zwingen – so angewidert war er von der unfassbaren Inhumanität, die ihm während des Prozesses entgegenschlug. Am Ende der Verhandlungen musste Mitscherlich feststellen, dass so gut wie kein angeklagter Arzt Schuldgefühle oder Reue zeigte. Als besonders erschreckend erlebte er deren verteidigende Argumentation, sie hätten ihre tödlichen Menschenversuche (Eiswasser-, Hitze- und Höhenexposition, Vivisektion, absurd waghalsige operative Experimente, Bakterien-, Pilz- und Giftexposition usw.) nur unternommen, um dem medizinischen Fortschritt zu dienen. Zu Recht fragte er sich, inwiefern eine Medizin ohne Menschlichkeit zur Entwicklung derartiger Ärzte beitrug – also eine Heilkunde, die lediglich technisch-naturwissenschaftliche Zugänge zum Menschen unter völliger Ausschaltung sozialer, emotionaler und damit ethisch-sittlicher Dimensionen kennt. Nach den frühen Aufzeichnungen Mitscherlichs und Mielkes haben sich in den letzten Jahrzehnten Medizinhistoriker zunehmend der Aufgabe gestellt, die Verbrechen deutscher Ärzte im Faschismus zu benennen, ihr Engagement im NS-Staat zu untersuchen und ihre berufliche Entwicklung nach 1945 zu verfolgen. So konnten Ernst Klee (Deutsche Medizin im Dritten Reich – Karrieren vor und nach 1945, 2001), Fridolf Kudlien (Ärzte im Nationalsozialismus, 1985) und Gerhard Baader/ Udo Schultz (Medizin und Nationalsozialismus: Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?, 1980) nicht nur die Befunde Mitscherlichs bestätigen und partiell ergänzen. Darüber hinaus mussten sie auch konstatieren, dass sich viele der wegen ihrer Untaten in Verruf geratenen Ärzte bald nach dem Zweiten Weltkrieg erneut in Amt und Würden befanden.
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Kapitel • Alexander Mitscherlich
Mitscherlich hätte in diesem Zusammenhang wohl von einer personifizierten Wiederkehr des Verdrängten gesprochen. Wenn Einzelne oder Kollektive ihre Vergangenheit nicht erinnern und sie einem mehr oder minder aktiven Verdrängungsprozess anheim stellen, laufen sie Gefahr, die verdrängten Inhalte unbewusst immer wieder zu reaktivieren und deren Motive zu wiederholen. Nur wer sich erinnert, erkennt; und nur wer etwas an sich und seinem Werdegang erkennt, kann sich verändern. z
Die Unfähigkeit zu trauern
In Die Unfähigkeit zu trauern benannten Alexander und Margarete Mitscherlich weitere Gründe, warum die Erinnerungsarbeit der Deutschen in Bezug auf ihre unselige NS-Vergangenheit derart unzureichend war. Ähnlich wie die Arbeitsgruppe um Horkheimer und Adorno gingen sie davon aus, dass es sich bei vielen Deutschen, die Hitler zujubelten und in seinem Namen Verbrechen begingen, um autoritäre Persönlichkeiten handelte, die aufgrund ihrer Ich-Schwäche dazu tendierten, sich blindlings einem Führer anzuschließen und ihn zu ihrem Ich-Ideal zu küren. Dadurch hatten sie teil an seiner angeblichen Göttlichkeit und Allmacht und konnten zugleich ihr Über-Ich und ihre Gewissensregungen an ihn delegieren. Als dieses grandiose kollektive Ich-Ideal 1945 plötzlich abhanden gekommen war, verfügten Millionen Deutsche wegen ihrer Ich-Schwäche nicht über die Fähigkeit, sich diesen Verlust in seiner ganzen Tragweite einzugestehen, was bei ihnen massive Trauer und Melancholie evoziert hätte. Stattdessen erlebten sie eine diffuse emotionale Mischung aus Wut, Angst, Scham und Schuld, die sie mit Ungeschehenmachen, Vergessen, Verleugnung, Verkehrung ins Gegenteil, Aktivismus (Wirtschaftswunder) oder Rationalisierung beantworteten. Zu einer ehrlichen und konfrontierenden Auseinandersetzung mit ihrer jüngsten Vergangenheit waren die meisten Deutschen damals ebenso wenig imstande wie zu einem Eingeständnis ihrer Ich-Schwäche und Autoritätshörigkeit. Hinzu kam, dass kurz nach dem Zweiten Weltkrieg viele Täter entweder tot oder in Kriegsgefangenschaft waren. Aus dieser realen Abwesenheit vieler Männer ent-
wickelte sich in den folgenden Jahrzehnten die »vaterlose Gesellschaft«. In Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft erörterte Mitscherlich die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen, die sich aus dem Faktum ergaben, dass nach 1945 in Deutschland massenweise Männer und Väter entweder konkret oder im übertragenen Sinne nicht anwesend waren und daher ihren erzieherischen und repräsentierenden Aufgaben nicht nachkamen. Selbst wenn sie in den Familien existent waren, hatten sie aufgrund ihrer persönlichen Vergangenheit Mühe, ein verlässliches Norm- und Wertesystem zu verkörpern – zu sehr mischten sich Schuld-, Scham- und Wutaffekte in ihre Versuche, Autorität darzustellen. Der »kulturschaffende Konflikt der Geschlechterfolge« (Mitscherlich), den Sigmund Freud mit dem Ödipuskonflikt beschrieben hatte, war damit nicht mehr in Funktion. Die Väter (Laios) waren zu schwach und unsicher, als dass sich die Söhne (Ödipus) an ihnen hätten erfolgreich abarbeiten und entwickeln können. Das Schlagwort von der vaterlosen Gesellschaft, das in den 60er Jahren kontrovers diskutiert wurde, sollte Mitscherlich zufolge jedoch noch eine weitere Bedeutung beinhalten. Seiner Meinung nach besteht die Aufgabe der nachwachsenden Generation nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Vätern, sondern auch in deren Überwindung. Nur wenn die Söhne selbst erwachsen werden, sind sie gegen die Suche nach Übervätern wie Hitler und Stalin immun.
Conclusio Man kann das Lebenswerk Mitscherlichs unter verschiedenen Gesichtspunkten einordnen: als Beitrag zu Klinik, Praxis und Theorie von Psychoanalyse, Psychosomatik und Psychotherapie; als Sozial- und Massenpsychologie; als Gesellschafts- und Kulturkritik sowie als impliziter Entwurf einer Anthropologie. Der letztere Aspekt interessiert bevorzugt in unserem Zusammenhang. Interpretiert man die unterschiedlichen Texte wie auch die klinisch-psychologischen und politisch-gesellschaftlichen Aktivitäten Mitscherlichs, klingt in ihnen wiederholt ein anthropologisch relevantes Thema an, das mit den Begriffen Ge-
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Conclusio
schichtlichkeit und Erinnerung umrissen werden kann. Begonnen bei seinen frühen Schriften über Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit und Medizin ohne Menschlichkeit bis hin zu seinem letzten Buch, der Autobiographie Ein Leben für die Psychoanalyse, zieht sich als roter Faden der Versuch, das menschliche Leben als einen Kampf um die Erinnerung zu deuten. In dieser 1975 erschienenen Publikation vertrat der Autor die Ansicht, dass es zu den erhebenden und Würde verleihenden Fähigkeiten des Menschen gehört, sich seiner selbst bewusst zu werden und die eigene wie auch kollektive Geschichte zu erinnern. Bewusstmachende Reflexion und Distanz zu vergangenen Geschehnissen ebenso wie zu momentanen Bedürfnissen, Wünschen, Affekten und Impulsen zeichnen den entwickelten Homo sapiens aus, wobei es das vordringliche Ziel der Psychoanalyse seit den Zeiten Sigmund Freuds gewesen sei, dem Einzelnen eben jene Fertigkeiten an die Hand zu geben:
» Die Menschheit hat in ihrer Geschichte gelernt, mannigfache Abwehrtechniken gegen Schuldgefühle zu entwickeln. Freud forderte vom Patienten, er solle nicht agieren, sondern das, was ihn sich schuldig fühlen lasse oder worüber er sich schäme, erinnern, genauer: erinnernd nochmals erleben … Die psychoanalytische Methode will dazu beitragen, Handlungs- und Erinnerungszusammenhänge zu rekonstruieren, Triebschicksale zu verfolgen, Phantasien in ihrer Herkunft zu begreifen, nicht zuletzt seelische Fixierungen, die die Entwicklung der Persönlichkeit blockieren, abzubauen (Mitscherlich 1983c, S. 391/399).
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Erinnerungsarbeit stellt jedoch nicht nur einen wesentlichen Baustein der psychoanalytischen Kur dar. Darüber hinaus kann man sie als Fundament der menschlichen Identität sowie als zentrales »Agens movens« eines jeden Aufklärungsprozesses bezeichnen. Wenn Menschen wissen wollen, wer sie sind oder werden könnten, haben sie sich ebenso ihrer Geschichte zuzuwenden, wie wenn sie sich selbst und andere über die wichtigsten Formen der Selbstentfremdung aufzuklären beabsichtigen. Das individuelle wie kollektive Wissen um das eigene Wesen ist unzweifelhaft ein historisches.
Wir können uns keine Personalität ohne Zugang zur eigenen Lebens- und zur allgemeinen Kulturgeschichte vorstellen. Sobald die Erinnerungsfähigkeit des Individuums erlischt, wie dies Aldous Huxley in seinem utopischen Roman Brave New World (1932) auf eindrückliche Weise künstlerisch dargestellt hat, haben wir es nicht mehr mit individuellen, sondern viel mehr mit Retortenmenschen zu tun. Der Mensch ist das Tier, das sich erinnern kann. Auf diesen Aspekt hob schon Friedrich Nietzsche in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) ab. Darin formulierte er, dass das Tier »kurz angepflockt an den Pflock des Augenblicks« existiere, indes der Mensch in der Lage sei, weit in seine Vergangenheit zurück- und in seine Zukunft vorauszusehen. Der Philosoph betonte freilich, dass es verschiedene Arten der Erinnerung gibt, und dass ein Zuviel an Vergangenheitsbezug das effektive Handeln im Augenblick erschwere oder verunmögliche. Neben Nietzsche gab es im 19. und 20. Jahrhundert noch weitere Philosophen, Wissenschaftler und Künstler, die sich dem Gedächtnis und der Erinnerungsfähigkeit als exquisit menschliche Eigenschaften zuwandten. So haben Henri Bergson in Materie und Gedächtnis (1896) oder Marcel Proust mit seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1922) dieser Thematik aufschlussreiche Überlegungen gewidmet. Dass die Fragen nach dem Wesen von Erinnerung und Geschichtlichkeit bis heute aktuell geblieben sind, beweisen die Forschungen Eric Kandels. Dieser Arzt und Neurowissenschaftler, der für seine Studien über die neurobiologischen und molekularen Prozesse bei der Gedächtnisbildung im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Medizin geehrt wurde, betitelte seine Autobiographie in Anlehnung an Marcel Proust mit Auf der Suche nach dem Gedächtnis (2006) – ein Text, der für sich selbst schon wieder ein Stück Erinnerungsarbeit bedeutet. Doch zurück zu Alexander Mitscherlich und seinen Ausführungen zum Erinnern, Vergessen und Verdrängen. Es gehört zu den bedeutenden Errungenschaften der Psychosomatik seit Sigmund Freud, in diversen Krankheitszuständen der Patienten Motive ihres ungelebten Lebens aufgespürt zu haben. Freud konnte zeigen, dass in den Symptomen der Hysterie ungelöste Triebkonflikte schlum-
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Kapitel • Alexander Mitscherlich
mern, deren Lösung und Bewusstmachung zu einer Besserung oder Heilung der Krankheit führt. Psychoanalytisch inspirierte Psychosomatiker der nächsten Generation (Georg Groddeck, Ernst Simmel, Franz Alexander) haben Freuds Ideen weiterentwickelt und konnten nachweisen, inwiefern auch nichthysterische körperliche Beschwerden und Krankheiten in die Lebensgeschichte der Patienten eingeflochten sind. Mitscherlich baute auf den Untersuchungen Groddecks, Simmels und Alexanders auf und amalgamierte sie mit den Beobachtungen Viktor von Weizsäckers sowie einiger daseinsanalytischer Ärzte (Medard Boss, Ludwig Binswanger). Zusammen mit eigenen klinischen Erfahrungen kam er zu dem Schluss, dass körperliche Krankheiten eine spezielle Art des menschlichen Gedächtnisses darstellen. Ausgehend von diesem Credo forderte er eine darauf abgestimmte Form medizinischer Geschichtsschreibung. Wenn körperliche Symptome neben somatischen Veränderungen immer auch seelische und soziale Stellungnahmen des Patienten (Emotionen, Weltanschauung, Konflikte) ausdrücken, greift eine bloße Anamnese (Krankheitsgeschichte) zu kurz. Gefordert ist eine Katamnese, also eine Krankengeschichte, die potentiell alle existentiell relevanten Dimensionen des Kranken zum diagnostischen und womöglich auch therapeutischen Fokus erklärt. So verstandene Krankengeschichten berichten nicht nur von den Folgen von Infektionen, Traumen oder Durchblutungsstörungen – sie erzählen letztlich von der Conditio humana, vom Wesen des Menschen, von seinen Triumphen und Niederlagen, Wahrheitssuchen und Irrungen und von seinem Woher und Wohin. Übersieht man diese Inhalte, bleiben Patienten wie Ärzte auf unaufgeklärten Erkenntnis- und Wissensstufen stehen, was nicht selten dazu beiträgt, dass sie mehr oder minder zur Wiederholung ihrer Irrtümer und Schicksalssackgassen gezwungen sind. Dies war auch Mitscherlichs große Sorge angesichts der massiven Verdrängungsprozesse, die er im Hinblick auf die NS-Vergangenheit der Deutschen registrierte. Wie kann verhindert werden, dass das Ausmaß an Barbarei, das während der zwölf Jahre Faschismus in Deutschland offenkun-
dig wurde, jemals wieder manifest wird und Bürokratien, wie er schrieb, »geduldig neue Positionen des Antihumanismus vorbereiten«? Als in mancher Hinsicht orthodoxer Psychoanalytiker neigte Mitscherlich dazu, ein biologisch verankertes Aggressionspotential beim Menschen anzunehmen – eine problematische Hypothese, die ihn überzeugt sein ließ, dass man die menschliche Destruktivität niemals ganz überwinden, sondern allenfalls in Schach halten wird können. Als Hauptstrategie auf dem Weg zu Aufklärung und Humanität erachtete Mitscherlich die rückhaltlose und reflektierende Erinnerung des Einzelnen wie von Gruppen und Gesellschaften. Wie dünn der Firnis von Vernunft, Ethos und Kultur sei, welchen die Menschheit im Laufe der Zivilisationsgeschichte über ihre triebhafte Natur gelegt hat, habe das 20. Jahrhundert mit den horriblen Phänomenen von Weltkriegen, Totalitarismen und Holocaust zur Genüge gezeigt. Umso dringlicher sei eine verstehende Auseinandersetzung mit diesen Phasen der Geschichte, selbst wenn die dabei generierten Erkenntnisse dem Homo sapiens nicht uneingeschränkt zur Ehre gereichen. Mitscherlich hat seine Forderung nach redlicher Erinnerungsarbeit auch persönlich umgesetzt. Vor allem in seiner Autobiographie bedachte er in den letzten Jahren seines Lebens die Entwicklung seiner Person, die politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts sowie seine manchmal prekären Reaktionen darauf authentisch und direkt. In diesem Buch findet sich daneben auch die Antwort Mitscherlichs auf die inhumanen Verhältnisse um ihn her – eine Antwort, die ihn als einen Humanmediziner auszeichnete:
» Das Elend der Nazizeit, die so viel Leid über Millionen Menschen brachte, ihre unmenschlichen Ideale und ihre ungehemmte Neigung zu Projektionen, Selbsttäuschungen und Vorurteilen, die die Masse des deutschen Volkes ergriff und dessen Denken vergiftete, hat mich grundlegend geprägt. Seither lag mir der Wunsch, die Welt zu verbessern und Masseneinstellungen mit Hilfe von Kenntnissen auch des individuellen Seelenlebens aufklärend zu ändern, am Herzen (Mitscherlich 1983d, S. 318).
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Literatur
Literatur Baader G, Schultz U (1980) Medizin und Nationalsozialismus: Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition? Mabuse (früher Gesundheit), Berlin Dehli M (2007) Leben als Konflikt – Zur Biographie Alexander Mitscherlichs. Wallstein, Göttingen Drews S (Hrsg) (2006) Freud in der Gegenwart – Alexander Mitscherlichs Gesellschaftskritik. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main Hoyer T (2008) Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – Ein Porträt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Klee E (2001) Deutsche Medizin im Dritten Reich – Karrieren vor und nach 1945. Fischer, Frankfurt am Main Kudlien F (1985) Ärzte im Nationalsozialismus. Kiepenheuer & Witsch, Köln Lohmann H-M (1987) Alexander Mitscherlich. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Mitscherlich A (1983) Gesammelte Schriften Band I–X, Suhrkamp, Frankfurt am Main Mitscherlich A (1983a) Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit. In: Gesammelte Schriften I, Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1946) Mitscherlich A (1983b) Menschenversuche im Dritten Reich. In: Gesammelte Schriften Band VI. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1966/67) Mitscherlich A (1983c) Der Kampf um die Erinnerung. In: Gesammelte Schriften VIII. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1975) Mitscherlich A (1983d) Ein Leben für die Psychoanalyse – Anmerkungen zu meiner Zeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1980)
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Thure von Uexküll Biographisches – 366 Werkanalyse – 368 Conclusio – 375 Literatur – 377
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Thure von Uexküll
. Abb. 1 Thure von Uexküll (*1908; †2004). (Aus Stumm et al. 2005)
Aufgrund seines weit über Tausend Seiten umfassenden Lehrbuchs der Psychosomatik galt Uexküll im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts als Nestor der deutschsprachigen Psychosomatik. Daneben gründete er an deutschen Universitätskliniken psychosomatische Modelleinrichtungen und sorgte dafür, dass die Psychosomatik ebenso wie die medizinische Psychologie und Soziologie zu fest etablierten Fächern im Medizinstudium in Deutschland wurden. In Theorie der Humanmedizin (1987) schließlich erörterte er seine anthropologischen Grundüberzeugungen und skizzierte die daraus erwachsenden Konsequenzen für die Heilkunde (. Abb. 1).
Biographisches Thure von Uexküll wurde 1908 in Heidelberg als mittleres von drei Kindern (eine ältere Schwester, ein jüngerer Bruder) geboren. Seine Familie stammte ursprünglich aus Estland. Sein Vater war der berühmte Biologe Johann Jakob Baron von Uexküll (1864–1944), der mit einer geborenen Gräfin von Schwerin verheiratet war. 1917 verlor Uexküll im Zuge der russischen Oktoberrevolution sein Vermögen im Baltikum und nahm daraufhin die deutsche Staatsangehörigkeit an. Die Gräfin, Thures Mutter, kümmerte sich hauptsächlich um die ökonomischen Belange der Familie, wohingegen sich ihr Gatte weiterhin wissenschaftlichen Fragen zuwandte. Bekannt wurde er mit den Büchern Umwelt und Innenwelt der Tiere (1909) sowie Theoretische Biologie (1920), worin er seine Lehre vom Funktionskreis und von der spezifischen Umwelt darlegte. Unter anderem Helmuth
Plessner, Ernst Cassirer und Edmund Husserl nahmen zustimmend auf ihn Bezug. Uexküll hatte herausgefunden, dass Tiere in ein zirkulär strukturiertes Leben eingelassen sind. Mittels ihrer Sinnesorgane merken sie (Merkorgane), und mit Hilfe von Motorik und Bewegungsapparat wirken sie (Wirkorgane). Der Zirkel von Merken und Wirken ereignet sich in jeweils spezifischen Umwelten. Jedes Tier bemerkt in seiner Umwelt nur jene Aspekte, die für sein Leben von Belang sind, und auf die es adäquat reagieren kann. Diese zwischen Tier und Umwelt eng aufeinander bezogene Existenzform bezeichnete Uexküll als Funktionskreis. Flucht, Kampf, Todstellreflex, Nahrungssuche und Fortpflanzung sind tierische Verhaltensweisen, die sich als Reaktion auf bestimmte, nur für die jeweilige Gattung relevante Reize ergeben. So leben Bienen in einer gänzlich anderen Umwelt als Würmer, Schmetterlinge, Elefanten oder Walfische. Will man einzelne Tierarten beschreiben, müssen Uexküll zufolge die jeweiligen Umwelten (ökologische Nischen) mitcharakterisiert werden. Aufgrund seiner Theorie vom Funktionskreis wurde Uexküll zu einem Vorläufer von Konstruktivismus, Biokybernetik und Biosemiotik. Er ging davon aus, dass es keine für alle Tiere gemeinsame Wirklichkeit, sondern nur jeweils spezifische Umwelten gibt, die von den einzelnen Gattungen individuell erlebt (merken) und modifiziert (wirken) werden. Tiere konstruieren demnach gleichsam die Realitäten ihrer Umwelt, mit der sie fixe Regelkreise bilden (Biokybernetik), und deren spezielle Zeichen sie wahrnehmen (Biosemiotik) und kommunikativ verarbeiten. Dieser interaktionelle Umweltbegriff des Vaters, der ab 1925 in Hamburg das Institut für Umweltforschung leitete, prägte den Sohn Thure. Schon als Jugendlicher nahm er sich vor herauszufinden, was die Forschungsergebnisse seines Vaters übertragen auf den Menschen und die Medizin bedeuten konnten. Nach seinem Abitur begann Thure von Uexküll 1928 in Hamburg Medizin zu studieren. Im Laufe seines Studiums wechselte er an die Universitäten in München, Innsbruck und Rostock. Nach dem Staatsexamen 1934 unternahm er einige Seereisen als Schiffsarzt und arbeitete dann an der Neurolo-
Biographisches
gischen Klinik des Barmbecker Krankenhauses in Hamburg. Bald stand für ihn jedoch fest, dass er Internist werden wollte. In Gustav von Bergmann (1878–1955) fand er an der Berliner Charité einen Lehrer, der neben klinisch-internistischem Wissen auch Interesse an theoretischer Durchdringung des Krankheitsgeschehens aufwies. Bergmann, Sohn des Chirurgen Ernst von Bergmann, hatte in den 30er Jahren die Funktionelle Pathologie (1932) ausgearbeitet. Ergänzend zu Rudolf Virchows Zellularpathologie war er der Meinung, dass es im Zuge von Erkrankungsprozessen geraume Zeit vor einer zellulären Schädigung zu Funktionsstörungen von Organen oder Organsystemen komme. Diese Funktionsstörungen, die anfänglich keine nachweisbaren Defekte an Geweben verursachen, wirken wie die Einfallstore für die späteren Krankheiten. Bestehen Funktionsstörungen lange genug, rufen sie nach und nach Gewebeschäden hervor. Seine funktionelle Pathologie hatte Bergmann aufgrund von Beobachtungen an Patienten mit Magenfisteln entwickelt. Bei ihnen konnte er über die Fistelung direkt erkennen, dass die Magenschleimhaut je nach Affektlage des Betreffenden unterschiedlich durchblutet war. Bei heftigen aggressiven Emotionen erschien die Magenschleimhaut blass – so sehr war die Durchblutung gedrosselt. Bergmann kombinierte richtig, dass bei häufigeren Durchblutungsstörungen und parallel erhöhter Säuresekretion das Risiko für eine Geschwürsbildung merklich ansteigt. Neben seinem Vater war Bergmann der zweite wichtige Lehrer für Uexküll geworden; bei ihm absolvierte er zum überwiegenden Teil seine internistische Ausbildung. Im Gegensatz zu seinem klinischen Mentor, der sich teilweise mit den Nationalsozialisten arrangiert hatte (er wirkte bei problematischen Forschungsprojekten mit, wurde von Hitler zum Mitglied des Wissenschaftlichen Senats des Heeressanitätswesens ernannt und gehörte dem Beirat der Deutschen Gesellschaft für Konstitutionsforschung an), weigerte sich Uexküll beharrlich, in die NSDAP einzutreten. Weil jedoch die NSDAP-Mitgliedschaft während des Dritten Reichs Voraussetzung für seine Habilitation gewesen wäre, wurde er erst 1948 in München zum Privatdozenten für innere Medizin
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ernannt. In die Isarmetropole hatte Uexküll seinen Lebensschwerpunkt verlegt, da er als Oberarzt seinem Chef Bergmann folgen wollte, der dort nach dem Zweiten Weltkrieg einen Ruf als Ordinarius für innere Medizin erhalten hatte. In die Münchner Zeit fiel die Beschäftigung Uexkülls mit der Psychoanalyse. An Freud schätzte er vor allem dessen frühe Schriften, in denen der Begründer der Psychoanalyse mit seinem Triebkonzept noch einen dezidiert psychosomatischen Denkansatz vertreten hatte. Triebe sollten ihm zufolge sowohl eine biologisch-somatische Quelle als auch eine seelisch-geistige Repräsentanz aufweisen. Später verließ Freud diese Spur und wandte sich bevorzugt psychologischen und kulturellen Fragestellungen zu – eine Entwicklung, die nach Meinung Uexkülls mit dazu beigetragen hat, dass im 20. Jahrhundert einerseits eine Medizin für seelenlose Körper und andererseits eine Heilkunde (Psychoanalyse) für körperlose Seelen entstanden ist. Seit den späten 40er Jahren war Uexküll mit Alexander Mitscherlich befreundet. Diese Freundschaft hielt trotz einiger Divergenzen (nicht zuletzt im Hinblick auf die Ausgestaltung der Psychosomatik) bis zum Tod Mitscherlichs 1982. Letzterer war in Heidelberg mit dem Aufbau einer psychosomatischen Abteilung an der Universitätsklinik befasst, indes Uexküll nach einem Forschungsaufenthalt in den USA (1953) nach Gießen wechselte, wo er an der Universitätsklinik Ordinarius und Direktor der medizinischen Poliklinik wurde. In dieser Funktion wandte sich Uexküll medizinsoziologischen und psychosomatischen Forschungsfragen zu. Er untersuchte bei Studenten in Prüfungssituationen deren Blutdruckverhalten und formulierte davon ausgehend das Phänomen der Situationshypertonie. Außerdem fasste er wesentliche Themenkomplexe der Psychosomatik in Grundfragen der psychosomatischen Medizin (1963) zusammen. Mit dieser Publikation wurde er erstmals einem breiteren Lesepublikum bekannt. 1966/67 folgte Uexküll einem Ruf an die neu gegründete Reformuniversität in Ulm, wo er zehn Jahre lang den Lehrstuhl für Innere und Psychosomatische Medizin innehatte. Hier verwirklichte er seine Ideen einer integrierten Psychosomatik, die sich nicht als ein Fach neben anderen medizinischen Disziplinen, sondern als ärztliche Einstel-
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Kapitel • Thure von Uexküll
lung und diagnostisch-therapeutisches Vorgehen begreift. Es schwebte Uexküll vor, dass alle Ärzte und das ganze Medizinalsystem sowohl biomedizinische als auch psychosoziale Fertigkeiten und Angebote hinsichtlich Diagnostik und Behandlung entwickeln sollten; eine Spezialisierung auf einige wenige sogenannt psychosomatische Krankheitsbilder lehnte er ab. Uexküll erkannte, dass für die Umsetzung derartiger Konzepte eine veränderte Approbationsordnung für Ärzte nötig war. Grundkenntnisse in Psychologie und Soziologie sollten den angehenden Medizinern ebenso vermittelt werden wie die wesentlichen Gesichtspunkte einer integrierten Psychosomatik. Ab 1970 wurden diese Ausbildungsinhalte in einer novellierten Approbationsordnung für Ärzte verankert, wobei sich in Bezug auf die Psychosomatik allerdings nicht so sehr der Uexküll‘sche Gedanke einer Integration in die gesamte Heilkunde, sondern die Vorstellungen eines eigenständigen Faches durchsetzten. 1976 wurde Uexküll emeritiert. Dieses Datum bedeutete für ihn in keiner Weise ein Signal zum Ruhestand. Schon bald darauf erschien zum ersten Mal sein umfangreiches Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin (1979), das von ihm als Herausgeber bis zur sechsten, in zentralen inhaltlichen Aspekten immer wieder veränderten Auflage (2003) betreut wurde. Seit der ersten Auflage dieses Kompendiums liest sich die Liste der Beiträger wie ein »Who’s who« der deutschsprachigen Psychosomatik. Noch in seine Ulmer Zeit fiel Uexkülls Anregung zur Gründung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM). Diese Vereinigung organisiert seither deutschlandweit ein bis zwei internationale Kongresse pro Jahr und unterstützt als ihr offizielles Organ die Zeitschrift für Psychosomatik, Psychotherapie und medizinische Psychologie (PPmP). Außerdem kümmert sie sich um berufspolitische Fragen und erarbeitet in Ausschüssen und Kommissionen inhaltliche Positionen zu klinischen und theoretischen Themenbereichen der Psychosomatik. 1992 gründete Uexküll die Akademie für Integrierte Medizin (AIM). Damit versprach er sich mehr noch als mit dem DKPM die Realisierung einer Heilkunde, die sich auf ein biopsychosozia-
les Menschenbild stützt und Psychosomatik als Haltung, nicht aber als Fach oder Verbandspolitik definiert. In dieselbe Richtung gingen Uexkülls Publikationen Subjektive Anatomie (1994) und Integrierte Psychosomatische Medizin (1994). Für die medizinische Anthropologie als fruchtbar erwies sich Uexkülls Theorie der Humanmedizin (1987), die er zusammen mit seinem Weggefährten Wolfgang Wesiack verfasste. Darin erläuterte er die von ihm initiierte Weiterentwicklung des Funktionskreismodells seines Vaters zum Situationskreismodell, das spezifische Eigenschaften des Menschen (besonders seine geistigen Verarbeitungsmöglichkeiten) berücksichtigt. Dabei integrierte Uexküll philosophische und erkenntnistheoretische Strömungen wie den Konstruktivismus, die Systemtheorie und die Semiotik (Zeichenlehre). In den letzten Jahrzehnten seines Lebens wohnte Uexküll mit seiner Frau Marina in Freiburg im Breisgau. Sein Haus auf der Sonnhalde wurde zunehmend zu einer Art kleiner Privatuniversität, wo sich all jene trafen, die sich von dem alten Herrn Anregungen und Unterstützung hinsichtlich ihrer Fragen und Probleme bei der Formulierung und Umsetzung einer integrierten Psychosomatik erhofften. Unter seinen Gästen und Schülern befanden sich nicht wenige Lehrstuhlinhaber für Psychotherapie und psychosomatische Medizin. Uexküll starb hochbetagt 2004 in Freiburg. Bis zuletzt war der alte Mann geistig wie körperlich rüstig, und seinem stets leicht gebräunten Gesicht sah man auch im Greisenalter noch ein gewisses »Savoir-vivre« an. Mit dem DKPM und der AIP hinterließ Uexküll zwei Organisationen, die sich seit seinem Tod als ähnlich widerstandsfähig erwiesen haben wie manche zentralen Gedanken aus seinen Büchern und Aufsätzen.
Werkanalyse Da es in unserem Zusammenhang um die Darstellung medizinanthropologischer Konzepte geht, finden hier viele klinische Details aus den psychosomatischen Schriften Uexkülls keine Erwähnung. Im Mittelpunkt der Erörterung stehen die Grundfragen der psychosomatischen Medizin, die Subjektive Anatomie sowie die Theorie der Humanmedi-
Werkanalyse
zin. Das Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin wird im Hinblick auf jene Kapitel herangezogen, in denen anthropologische Überlegungen angestellt werden. z
Grundfragen der psychosomatischen Medizin
Dieses Buch erschien 1963 in der damals von Ernesto Grassi herausgegebenen Reihe Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Mit Grassi hatte Uexküll schon seit seiner Berliner Zeit Kontakte gepflegt und einige Abhandlungen über die Grenzen von Naturund Geisteswissenschaften veröffentlicht. Obwohl die Grundfragen vor beinahe einem halben Jahrhundert verfasst wurden, lohnt ihre Lektüre immer noch. Die darin aufgeworfenen Themen – Stellung der Psychosomatik in der Medizingeschichte, Leib-Seele-Problem, Theorie von Krankheit und Gesundheit, Psychologie und Soziologie in ihrer Bedeutung für die Humanmedizin – sind großenteils bis heute relevant. Außerdem bediente sich Uexküll in den Grundfragen einer auch für interessierte Laien verständlichen Sprache – eine Qualität, die sich in seinen späteren Schriften nicht immer vollumfänglich durchzusetzen vermochte. Im Eingangsteil der Grundfragen rekapitulierte Uexküll in groben Zügen die Entstehungsgeschichte der Psychosomatik. Den Ursprung der Psychosomatik verlegte er auf die ersten Schritte zur Diagnostik und Therapie von hysterischen Störungen, etwa der Kriegszitterer (Soldaten des Ersten Weltkriegs mit Zitterattacken ohne organisch fassbare Ursachen) oder der Fallgeschichten Sigmund Freuds aus den Studien über Hysterie (1895). Aufgrund der hohen Expressivität dieser Störungen bezeichnete Uexküll die Hysterien als Ausdruckskrankheiten. Mit ihren Symptomen (Lähmungen, Sensibilitätsstörungen, hysterische Blindheit, Taubheit usw.) bringen die Patienten ungelöste Konflikte und massive Affekte zum Ausdruck. Unbewusst greifen sie dabei auf ihren Bewegungsapparat oder ihre Sinnesorgane als biologische Basis der Ausdruckskrankheit zurück. Psychoanalytisch orientierte Psychosomatiker wie Georg Groddeck, Erich Wittkower, Felix Deutsch und Eduardo Weiß bezogen sich anfänglich bei der Konzeptualisierung der Psychosomatik
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fast ausschließlich auf die Ausdruckskrankheiten. Bald jedoch wurde es ersichtlich, dass es daneben Krankheiten gibt, bei denen ein symbolhafter Ausdruck von Konflikten keine relevante Rolle spielt. So gehen Stimmungen, Gefühle und Affekte mit Veränderungen des vegetativen Nervensystems einher (Bereitstellungsreaktionen), ohne dass die jeweiligen körperlichen Veränderungen (z. B. Hypersekretion im Magen-Darm-Trakt, Hypertonie) direkt und konkret etwas auszudrücken vermögen. Möglicherweise bedeuten sie Risikofaktoren für ernsthafte Krankheitsbilder (z. B. Magengeschwür oder Herzinfarkt). Wenn derartige Veränderungen längere Zeit bestehen bleiben, bezeichnete Uexküll sie als Bereitstellungskrankheiten. Damit deutete er an, dass sich der betreffende Organismus im Affekt (etwa Angst oder Aggression) auf eine bestimmte Aktion (etwa Kampf oder Flucht) einstellt und die für solche Handlungen typischen biologischen, psychosozialen und geistigen Veränderungen aufweist. Viele Psychosomatiker, die als Internisten, Physiologen oder Neurologen die Psychosomatik entwickelten, beschrieben Mechanismen von Bereitstellungskrankheiten. Ludolf von Krehl, Viktor von Weizsäcker, Gustav von Bergmann, Helen Flanders Dunbar, Franz Alexander und Arthur Jores wurden von Uexküll in diesem Zusammenhang gewürdigt. Außerdem erläuterte er die Einflüsse von Psychiatern (Wilhelm Griesinger, Ernst Kretschmer) sowie des Neurophysiologen Iwan Pawlow und des Stressforschers Walter Cannon auf die Psychosomatik. Als Gemeinsamkeit aller Psychosomatiker benannte Uexküll deren Versuch, neben den körperlichen Zuständen ihrer Patienten auch deren Biographie, Charakter und psychosoziale Lebenssituation zu erfassen. Viktor von Weizsäcker hatte dies als die Einführung des Subjekts in die Heilkunde bezeichnet – eine Leistung, die nicht von ihm alleine, sondern von der ganzen Schar der frühen Psychosomatiker ermöglicht wurde. Eng verknüpft mit der Einführung des Subjekts in die Medizin war ein Umdenken hinsichtlich des Verhältnisses von Leib und Seele, Körper und Geist. Im 19. Jahrhundert, so Uexküll, hatte man es sich unter Medizinern im Zuge eines nur halb verstandenen Cartesianismus leichtgemacht: Man tat so, als ob Leib und Seele beim Menschen säuberlich
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Kapitel • Thure von Uexküll
zu trennen wären, und konzentrierte sich bei medizinischer Diagnostik und Therapie auf den Körper; das Psychische wurde außen vor gelassen. Als Begründung für derlei Vorgehen verwies man auf die Schriften von René Descartes. Dieser hatte eine »res extensa« (Materie, ausgedehnte Substanz) von einer »res cogitans« (Bewusstsein, denkende Substanz) unterschieden. In seinen Meditationen allerdings hatte der französische Denker darauf hingewiesen, dass es sich beim Leib-SeeleProblem um eine delikate Angelegenheit handelt. Mitnichten könne man davon sprechen, dass sich das menschliche Bewusstsein im Körper befinde wie ein Schiffer in seinem Schiff. Vielmehr sei bei genauer Betrachtung eine Fülle von komplexen Wechselwirkungen zu verzeichnen. Anhand der Begriffe Handlung und Motiv demonstrierte Uexküll die Limitierungen eines cartesianischen Anthropologiekonzepts. Selbst bei schlichten Aktivitäten wie der Wahrnehmung und Auswahl von Dingen (zum Beispiel Nahrungsmittel) kann man nicht davon sprechen, dass ein autark vor sich hindenkendes Bewusstsein dem Körper Befehle gibt, Hunger oder Appetit zu entwickeln, und sich dann entscheidet, etwa Äpfel zu essen. Der Verzehr eines Apfels ist ein psychophysisches Simultangeschehen, das von einer Fülle unbewusster Impulse mitgestaltet wird; der bewusste Kommentar dazu wirkt verglichen damit wie ein bloßes Aperçu. Neben den individuellen psychophysischen Spannungs-, Konflikt- und Triebkonstellationen machen sich ethnische, kulturelle, historische, ökonomische, ästhetische und weitere Rahmenbedingungen modulierend im Hinblick auf die Handlungen und Motive des Einzelnen bemerkbar. Diese kollektiv wirksamen Faktoren widersprechen einer Spaltung in Leib und Seele ebenso wie die menschlichen Handlungen und Motive selbst:
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Bei all dem greifen Körperliches und Seelisches so ineinander, dass es nicht möglich ist zu unterscheiden, wie weit sich in den resultierenden Handlungen Seelisches in Körperliches oder Körperliches in Seelisches umgesetzt hat. Beide gehen vielmehr in einer neuen Form der Einheit auf. Daher kann man nicht sagen, dass sich bei der Umsetzung von Motiv-Konstellationen in Handlung
Seelisches in Körperliches verwandelt (Uexküll 1968, S. 133).
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Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin
In den Grundfragen hatte Uexküll das Funktionskreismodell seines Vaters sowie davon ausgehende Überlegungen zu Kybernetik und Nachrichtentechnik zwar erwähnt, aber nicht ausführlich erläutert. Er gestand ein, dass deren Ausdrucksweise technizistisch klingen und für die Psychosomatik befremdlich erscheinen mochte. Dennoch verfolgte er in den kommenden Publikationen die Richtung von Funktionskreis, Semiotik (Zeichenlehre) und Kybernetik weiter – Wissenschaftsbereiche, die aufgrund ihrer Terminologie und Forschungsart nicht leicht verständlich sind. Die erste Auflage ihres Lehrbuchs der Psychosomatischen Medizin (1979) eröffneten Uexküll und sein Mitstreiter Wolfgang Wesiack mit einem umfangreichen wissenschaftstheoretischen Kapitel, das sich unter anderem einer Theorie der Heilkunde, dem Funktions- und Situationskreis sowie dem Leib-Seele-Problem widmete. Diese Passagen enthalten die anthropologisch relevanten Aussagen des Buches. Aus den Überschriften der Eingangskapitel wird ersichtlich, dass Uexküll von einem Psychosomatikbegriff ausging, der nicht einige wenige Krankheitsbilder, sondern letztlich die gesamte Heilkunde umfasst. Ihm war es wichtig zu zeigen, dass menschliches Dasein in gesunden wie kranken Zuständen stets als biopsychosoziales Geschehen aufzufassen ist. Selbst wenn sich bei bestimmten Krankheiten körperliche Symptome in den Vordergrund spielen, sind die seelischen und sozialen Aspekte immer noch als Hintergrundphänomene präsent. Ausgehend vom Funktionskreismodell seines Vaters erläuterte Uexküll die Weitungen dieses Konzepts hin zum Situationskreismodell. Menschliches Dasein unterscheidet sich vom tierischen insofern, als hier in den Zirkel von Merken und Wirken zum Beispiel Phantasietätigkeit, Vernunft, Geist, Reflexion, Erinnerungsvermögen und Zukunftsentwürfe eingeschaltet sind. Gleichzeitig ist der Mensch seiner Instinkte entbunden und kann daher seine Reaktionen (Wirken) auf das von ihm
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Werkanalyse
Wahrgenommene und Empfundene (Merken) freier als die Tiere gestalten. Dieser Zuwachs an Freiheitsgraden und Verlust an instinktiven Handlungsmustern macht beim Menschen eine umfängliche Sozialisation und Ausbildung nötig, die bei einfachsten Körperfunktionen (Ernährung, Ausscheidung, Schlafverhalten, Sexualität) beginnt und bis weit in seine Kulturaktivitäten (Kunst, Wissenschaft, Philosophie) hineinreicht. Uexküll betonte, dass es bereits hinsichtlich des Erlernens von Körperfunktionen zu eklatanten Störungen kommen kann, die sich eventuell später im Rahmen von Krankheiten bemerkbar machen. Andererseits gibt es Körperfunktionen wie zum Beispiel die Atmung, die beim Menschen ebenso wie beim Tier keine Sozialisation erfahren. Die kontinuierliche Sauerstoffzufuhr ist für den menschlichen Organismus derart essentiell, dass ein Aufschub oder eine Sublimierung (wie bei der Nahrungsaufnahme, Ausscheidung oder Sexualität) nicht möglich sind. In dieser Beziehung leben Menschen im Status des Funktionskreises und damit in enger Symbiose mit ihrer Umwelt. Eine Störung dieser symbiotischen Verhältnisse (z. B. Asthmakranke, die auf Medikamente und die Hilfe durch Ärzte und Schwestern sowie manchmal sogar auf Beatmungsmaschinen angewiesen sind) löst bei den Betroffenen in der Regel Angst bis hin zur Panik aus. Der Mensch als biopsychosoziales Wesen existiert jedoch meist in Situationskreisen und damit nicht wie die Tiere in Umwelten, sondern in einer Welt. Tiere leben in ökologischen Nischen. Sie nehmen wahr, was für sie relevant ist, und sie reagieren auf Dinge, Lebewesen und Ereignisse, die für sie von Belang sind. Nicht so der Mensch: Ihn zeichnet Weltoffenheit aus, womit gemeint ist, dass er sich für alle möglichen Fragen und Themen der Welt interessieren kann, selbst wenn diese für die Geschäfte seiner Gattung zweit- oder drittrangig sind. Die Weite, Fülle und Inhalte dieser Welten differieren von Mensch zu Mensch erheblich. Uexküll hob mehrfach darauf ab, dass jedermann in einer subjektiven Welt lebt, in die er aufgrund von Geburt, Erziehung und Zufall hineingerät, und die er durch Charakter, Weltanschauung und Lebensstil modifiziert. Außerdem sucht und findet jeder Mensch individuell Sinn, Wert und Bedeutung in
seinem Dasein, so dass er schlussendlich wie in einer ganz eigenen Wirklichkeit existiert:
»
Das Modell des Situationskreises beschreibt die Umwandlung neutraler Umgebung in eine individuelle Wirklichkeit, die sich von der artspezifischen Umwelt der Tiere vor allem durch ihre Mehrdeutigkeit unterscheidet. Auch die individuelle Wirklichkeit lässt sich als eine feste, für den außen stehenden Beobachter unsichtbare Schale auffassen, die jeden Menschen umhüllt und für ihn die gleichen vitalen Funktionen erfüllt wie die Umwelt-Schale für das Tier (Orientierung, Ernährung, Schutz vor Feinden, Kontakt mit Objekten usw.) … Eine Verletzung dieser Hülle führt zu heftigen Reaktionen von Seiten des Verletzten (Uexküll 1979, S. 19).
«
Diese Antwortmuster bezeichnete Uexküll als Stressreaktionen. Eine ausschließlich an den körperlichen Phänomenen orientierte Medizin nimmt solche Reaktionen ebenso wie die individuelle Wirklichkeit ihrer Patienten kaum wahr. Unter Psychosomatik wollte Uexküll jene Form der Heilkunde verstanden wissen, die Sensorien sowohl für die objektiven somatischen als auch für die subjektiven Realitäten der Kranken entwickelt. Zu seinen Lebzeiten hat Uexküll insgesamt sechs Auflagen seines Lehrbuchs betreut; die letzte erschien unter dem Titel Psychosomatische Medizin – Modelle ärztlichen Denkens und Handelns (2003). Der Umfang dieses Buches beträgt über 1500 Seiten, wobei das theoretische Kapitel eine Kürzung auf vierzig Seiten erfahren hat. Der Grund hierfür lag in der Auslagerung der meisten Theorieaspekte in eine eigene Publikation, die bereits 1987 als Theorie der Humanmedizin erschienen war. Die siebte Auflage des Uexküll wurde Anfang 2011 von einem vielköpfigen Herausgeberteam ediert. Uexküll selbst, der 2004 gestorben ist, hat noch zusammen mit Wolfgang Wesiack das Eingangskapitel dazu verfasst. Im Vergleich zur ersten Auflage demonstrierte Uexküll nun verstärkt den Zusammenhang von individueller Wirklichkeit (Lebenswelt), Sprache und Kommunikation. Zwar wurden von ihm die Modelle von Funktions- und Situationskreis beibehalten. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Existenzformen besteht nach Uexküll jedoch in
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Kapitel • Thure von Uexküll
einem differenten Sprach- und Kommunikationsverhalten der betreffenden Lebewesen. So verwenden Tiere eine Sprache mit vorwiegend ikonischen und indexikalischen Zeichen; Menschen hingegen greifen darüber hinaus auf symbolische Zeichen zurück, wenn sie kommunizieren. Diese Einteilung stammt von dem US-amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce und besagt, dass die Notwendigkeit komplexer Interpretationen von der Ebene der Ikonen hin zu den Symbolen zunimmt. Ikonische Zeichen (z. B. Gerüche, Geschmäcker) präsentieren eine bestimmte Qualität; Indexe (z. B. Rauch bei offenem Feuer) repräsentieren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge; Symbole unterliegen Konventionen und müssen daher interpretiert werden. Das menschliche Alltagsleben und die gesamte Kultur bestehen aus einer Fülle symbolischer Zeichen, welche die individuelle Wirklichkeit des Situationskreises ausmachen. z
Subjektive Anatomie
Besonders eindrücklich lässt sich die Variabilität symbolischer Zeichen im Bereich der verbalen Sprache nachvollziehen. Einzelne Wörter ebenso wie Sätze oder ganze Textpassagen können und müssen von demjenigen, der sie hört oder liest, interpretiert und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, wenn sie denn annähernd richtig verstanden werden sollen. So kann man an einzelnen Begriffen demonstrieren, wie sehr die subjektive Wirklichkeit von Menschen zu unterschiedlichen Bedeutungen dieser Wörter beiträgt. Vater, Mutter, Kindheit, Jugend, Heimat, Körper, Seele, Partnerschaft, Liebe, Ehe – die Liste jener Begriffe ließe sich beliebig verlängern, an denen deutlich wird, dass es sich dabei um symbolische Zeichen handelt, denen ein ganzer Strauß von individuellen Erinnerungen, Vorstellungen, Wünschen, Phantasien, Erfahrungen und Emotionen anhaftet. Jedes Gespräch oder jede schriftliche Verständigung zwischen den Menschen ist daher prinzipiell auf umfangreiches Nachfragen und geduldiges Zuhören angewiesen. Alle Formen des angeblich raschen und problemlosen Verstehens fallen unter den dringenden Verdacht des Nicht- oder Missverstehens. Mit der verbalen Sprache und darüber hin-
aus mit allen weiteren komplexen Symbolbereichen der Kultur (z. B. Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Wirtschaft, Jurisprudenz, Religion, Mythos) ist daher die Aufgabe der Hermeneutik verknüpft. Hermeneutik bedeutet übersetzt Kunst und Technik des Auslegens und Interpretierens. Seit Jahrhunderten schon werden vor allem in der Philosophie, den Geistes- und Kulturwissenschaften, der Psychologie und Soziologie sowie in den Künsten große Anstrengungen unternommen, das Verstehen von historischen Begebenheiten, philosophischen Ideen, Kunstwerken oder des Fremdseelischen zu systematisieren und zu verbessern. Dezidiert haben sich Philosophen wie Wilhelm Dilthey, Henri Bergson und Hans-Georg Gadamer in ihrem Werk den Fragen der Auslege-, Interpretations- und Verstehenskunst zugewandt. Dabei hoben sie auf verschiedene Qualitäten ab, die nötig sind, um ein erfolgreicher Hermeneutiker zu werden: Intuition, Empathie, Zusammenhangswissen, Taktgefühl, Strukturdenken, Reflexion der eigenen Persönlichkeit (Mängel, Vorlieben, Bedürfnisse), emotionale und existentielle Autonomie. Diese Vorzüge sind auch bei Ärzten, Pflegenden und Therapeuten im Umgang mit ihren Patienten wünschenswert. Jeder Patient nämlich verkörpert eine eigene Welt, in der er beheimatet ist, in der er krank wurde und die als Bühne für Gesundung oder chronische Erkrankung dauernd präsent bleibt. Weil diese Welt (und damit auch der Patient selbst) aus einer Fülle symbolischer Zeichen besteht und beschrieben wird, braucht es hermeneutische Kompetenz, um sie annähernd richtig zu verstehen und adäquat zu behandeln. Diese Notwendigkeit medizinischer Hermeneutik lässt sich alleine schon am Erlebnis und an der Beschreibung des kranken und gesunden Körpers beobachten. Befragt nach ihren Beschwerden, greifen Patienten in der Regel nicht auf exakte anatomische oder physiologische Begriffe und Konzepte zurück. Vielmehr berichten sie von Schmerzen, Übelkeit, Schwellungen, Schwäche, Enge und Auftreibungen »in der Magengegend« oder »am Herzen«, wobei sie dabei nicht selten auf Körperregionen zeigen, die nur entfernt mit Magen oder Herz assoziiert sind. Meist versuchen Ärzte rasch, aus diesen als vage empfundenen Informationen verlässlichere Daten
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Werkanalyse
werden zu lassen. Mithilfe klinischer und paraklinischer Untersuchungsbefunde (Sonographie, Röntgenbilder, Blutwerte) sollen die subjektiven Schilderungen der Patienten zu objektiv nachvollziehbaren Arbeitshypothesen und Diagnosen veredelt werden, um davon ausgehend eine rational begründete Therapiestrategie zu formulieren. In den Worten von Uexküll (und Peirce) ausgedrückt, überspringen Ärzte im Gespräch mit ihren Patienten häufig die Ebene der symbolischen Zeichen und begeben sich auf das Terrain der indexikalischen Zeichen. Die klinischen Zeichen Fieber und Herzgeräusch sowie die paraklinischen Zeichen einer Leukozytose (Vermehrung der weißen Blutkörperchen) und Vegetation auf Herzklappen (Ultraschallbefund bei Bakterienbesiedlung) zum Beispiel sprechen mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine Endokarditis (Entzündung der Herzinnenhaut respektive der Herzklappen). Die Indexzeichen repräsentieren die zugrundeliegende Krankheit und können als Ursachen und Resultate auf die Krankheitsprozesse bezogen werden. Nicht wenige Ärzte und medizinische Disziplinen – Radiologen, Laborärzte, Endoskopie- und Sonographiespezialisten, Mikrobiologen, Pathologen – haben sich mehr oder minder vollständig auf das Lesen von indexikalischen Zeichen verlegt. Damit entheben sie sich der mühevollen Aufgabe, die Lebenswelt des Patienten mitsamt seinen individuellen und subjektiven Sinn-, Wert- und Bedeutungszuschreibungen verstehen und in die Diagnose- und Therapieüberlegungen mit einbeziehen zu müssen. Sie versäumen es damit aber auch nicht selten, mit ihrem Gegenüber eine gemeinsame Wirklichkeit zu schaffen – eine Wirklichkeit, die als eine von mehreren Voraussetzungen für gegenseitiges Vertrauen und therapeutische Kooperation gilt. In seinem Buch Subjektive Anatomie, das Uexküll 1994 zusammen mit einigen Mitarbeitern herausgegeben hat, versammelte er eindrückliche klinische Fallbeispiele, an denen er aufzeigte, wie hilfreich es hinsichtlich Diagnostik und Therapie für den Arzt sein kann, die Lebenswelt und damit die Situationskreise seiner Patienten verstehen zu wollen. Dies umfasst auch den Versuch, das subjektive Erleben von Krankheitssymptomen ernst zu nehmen, selbst wenn dies mit (auf den ersten Blick) eigentümlichen Krankheitskonzepten und
ebensolchen anatomisch-physiologischen Vorstellungen einhergeht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Neurologen Henry Head und Charles Sherrington die neurologischen Grundlagen für jene Phänomene beschrieben, die man als Körperschema, Körperbild oder Körperselbst bezeichnet. Bestimmte Teile des Nervensystems senden andauernd Informationen über die Stellung der Gliedmaßen und den Zustand der inneren Organe an das Gehirn – ein Informationstransfer, den man Propriozeption nennt. Die Summe der propriozeptiven Informationen, von denen die meisten unbewusst bleiben, bildet die Grundlage dafür, den eigenen Leib als Körperselbst und lebendige Basis der Individualität zu empfinden. Der Neurologe Oliver Sacks hat deshalb vorgeschlagen, die Propriozeption als sechsten Sinn des Menschen einzuordnen. Für das subjektive Erleben und Empfinden des Körpers und damit des eigenen Selbst sind nicht nur die momentanen propriozeptiven Informationen relevant. Daneben spielen die vielen Tausend Erfahrungen eine Rolle, welche der Leib im Laufe seiner Geschichte gemacht hat. Vor diesem Hintergrund versteht man, dass Menschen sich und ihren Körper subjektiv beschreiben und sich nicht an anatomische Strukturen halten. Zu Recht erwähnte Uexküll in diesem Zusammenhang Helmuth Plessner, von dem die Formel stammt, dass Menschen sowohl ein Leib sind (und ihn erleben) als auch einen Körper haben (den sie wie von außen betrachten). z
Theorie der Humanmedizin
In diesem erstmals 1987 erschienenen Buch haben Uexküll und Wesiack ihre theoretischen Überlegungen zum Wesen des Menschen und davon ausgehend der Humanmedizin zusammengestellt. Hier gelang es ihnen, die Modelle des Funktionsund Situationskreises mit psychoanalytischen, kommunikationstheoretischen, autopoetischen, neurobiologischen und konstruktivistischen Konzepten zu einer konsistenten anthropologischen Skizze zu fusionieren. Neben ausführlichen Erörterungen hinsichtlich des Funktions- und Situationskreises widmeten sich die Autoren in Theorie der Humanmedizin eingehend dem Leib-Seele-Problem und damit dem
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Kapitel • Thure von Uexküll
Verhältnis von Bios und Psyche, Materie und Geist beim Menschen. Nicht ganz zu Unrecht karikierten sie die bisherigen Bemühungen der Medizin, Licht ins Dunkel dieser Fragestellung zu bringen, als Exerzitien, die man eher als eine Leiche-Seeledenn als Leib-Seele-Thematik bezeichnen musste. Um den tradierten Leib-Seele-Dualismus zu überwinden, den viele Ärzte und Medizintheoretiker fälschlicherweise René Descartes anlasten, griffen Uexküll und Wesiack zu Überlegungen, die in der Biologie und Systemtheorie des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Neben Johann Jakob von Uexkülls Ausführungen sind in diesem Zusammenhang auch diejenigen von Ludwig von Bertalanffy, Humberto Maturana, Francisco Varela, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld und Gregory Bateson erwähnenswert. Diese Biologen, Neurophysiologen und Kommunikationsforscher haben Begriffe und Konzepte in die Welt gesetzt, die Uexküll und Wesiack in ihr Modell integrierten. So unterschieden sie offene von geschlossenen Systemen. Erstere zeichnen sich durch Austauschprozesse mit ihrer Umwelt aus; Bertalanffy bezeichnete dies als Fließgleichgewicht. Der menschliche Organismus ist fast immer als ein offenes System im Fließgleichgewicht aufzufassen, wobei seine Grenzflächen für bestimmte Stoffe durchlässig sind (semipermeabel). In krisenhaften Situationen jedoch imponiert er als beinahe geschlossenes System, das für begrenzte Zeit die Austauschprozesse mit seiner Umgebung mehr oder weniger stark reduziert (Winterschlaf, Todstellreflex, Koma, Katatonie). Der lebendige Körper nimmt dann beinahe Eigenschaften beispielsweise von Steinen oder Kristallen an – ein Zustand, der in der Psychiatrie bei stupurös-katatonen Patienten als Petrifikation (Versteinerung) bezeichnet wird. In Theorie der Humanmedizin findet sich eine Entwicklungslehre, welche die biopsychosozialen Wachstumsprozesse beim Menschen in den wichtigsten Etappen schildert. Während der Embryonal- und Fetalzeit lebt das zukünftige menschliche Wesen in einer Art vegetativem Zustand, der sich später in einen animalischen Zustand umwandelt. Uexküll und Wesiack beschrieben, wie Embryonen ähnlich wie Pflanzen noch ohne differenzierte Wahrnehmungsorgane (merken) und ohne Möglichkeit zur Fortbewegung (wirken) existieren. Ein-
genistet in der Gebärmutter, stellen sie ein ziemlich geschlossenes System dar, das auch in der Fetalzeit über die Versorgung durch Plazenta und Nabelschnur eine Fortsetzung erfährt. Der vegetative Status des Feten verändert sich parallel zur Ausbildung von Sinnesorganen immer mehr zum animalischen Status. Der Fötus ist nun in der Lage, über seine Tast- (Haut), Gehör- und Gleichgewichtsorgane (Innenohr) Veränderungen seiner Lage ebenso wie der mütterlichen Herzfrequenz zu empfinden und motorisch darauf zu reagieren. Mit der Geburt erfährt das geschlossene System Fötus-Uterus einen Wandel. Die biologische Symbiose des Neugeborenen mit der Mutter wird beendet, und mit dem ersten Atemzug findet es sich als offenes System im Funktionskreis der Atmung wieder. Die Austauschprozesse von Kohlendioxid und Sauerstoff bewirken innerhalb kurzer Zeit ein Fließgleichgewicht. Analoges gilt für Ernährung, Ausscheidung und viele weitere Funktionskreise. Diese Funktionskreise werden von den Mitmenschen des Neugeborenen entscheidend mitgestaltet. Die biologisch-materiellen und seelischgeistigen Gegebenheiten von Eltern, Erziehern, Verwandten und weiteren Kontaktpersonen beeinflussen die Prozesse von Ernährung, Ausscheidung, Schlafen, Wachen und Bewegung. Zusammen mit den Bedürfnissen und Befriedigungen des Kindes induzieren sie bei ihm Anspannung und Entspannung, Erregungszustände oder Wohlbefinden. Aufgrund tausendfältiger Erfahrungen assoziiert das Kind seine physiologischen Zustände allmählich mit emotionalen (angenehm/unangenehm; sicher/ängstigend) und sozialen Bedeutungen (Kontakt suchend oder meidend; frustrierend oder belohnend). Parallel lernt das Kind, zwischen dem eigenen Ich und einem Gegenüber zu unterscheiden. Mit Hilfe der Sprache werden diese biopsychosozialen Bedeutungen und Erfahrungen in Begriffe gefasst und in immer komplexer werdende Zusammenhänge eingeordnet. Zunehmend entwickeln Heranwachsende nun Vernunft, Selbstbewusstsein und kulturelle Interessen:
» Das Modell des Situationskreises beginnt als dynamische Entwicklung mit einer umweltlosen Frühphase als reiner Körper, dessen Bedürfnisse
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Conclusio
nach innen gerichtet sind. Die Entwicklung schreitet dann über Etappen fort, in denen Bedürfnisse durch Funktionskreise nach außen kanalisiert und Umwelten aufgebaut werden. Sie mündet schließlich in die Phase der erwachsenen Individuen, die in Situationskreisen mit ihrer als individuelle Wirklichkeiten interpretierten Umgebung verbunden sind (Uexküll u. Wesiack 1991, S. 483).
«
Nach Uexküll und Wesiack besteht der Vorteil ihres anthropologischen Modells in der strikten Vermeidung dualistischer Denkweisen. Soma und Psyche sind lediglich Subsysteme oder Ebenen des einen und einzigen Organismus. Sobald dessen Physiologie mit Sinn, Wert und Bedeutung assoziiert wird, sprechen die Autoren von Seele. Und wenn die Beziehung des Organismus zu seiner Umwelt (Funktionskreis) und den Mitmenschen gemeint ist, stehen seine sozialen und geistig-kulturellen Eigenschaften im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Medizin hat es bei ihren Patienten stets mit biopsychosozialen Einheiten zu tun. Untersuchung und Behandlung von Kranken waren für Uexküll und Wesiack daher gleichbedeutend mit Situationsdiagnosen und Situationstherapie – wobei sie unter Situation ein Systemganzes verstanden wissen wollten, bestehend aus den Subsystemen von Körper, individueller Wirklichkeit des Patienten (Seele) und Summe der Bezüge zur menschlichen Mitwelt (Soziales). Ein derartiges Menschenbild hat weitreichende Konsequenzen für die gesamte Heilkunde. Das Studium der Medizin, die Ausbildung junger Ärzte, die Strukturen in Kliniken und Heilanstalten, das Arzt-Patienten-Gespräch, die ärztlichen Interventionen, die Beziehung zwischen Helfern und Hilfesuchenden (Passung), Diagnostik und Therapie, ärztliche Ethik, Dimensionen von Krankheit und Gesundheit – alle diese Begriffe und Problemfelder sind inhaltlichen Veränderungen unterworfen, sobald die Medizin die Limitierungen eines bloßen Maschinenmodells des menschlichen Organismus erkennt und es mit dem biopsychosozialen Konzept überschreitet.
Conclusio Aufgrund dieser großen Umwälzungen innerhalb der Medizin, die von einem biopsychosozialen Menschenbild ausgehen könnten, sprachen Uexküll und Wesiack von einem Paradigmenwechsel. Paradigma bedeutet so viel wie Vorbild, Beispiel oder Muster. Seit dem 18. Jahrhundert wird dieser Begriff gebraucht, um wissenschaftliche Schulen oder Denkweisen zu charakterisieren. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn sprach in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) davon, dass Paradigmen in der »Scientific Community« aus Bildern, Annahmen und Vorstellungen bestehen, die es den Wissenschaftlern ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen zu bieten. Ihm zufolge sind Paradigmen solange anerkannt, bis Ereignisse oder Phänomene auftreten, die mit der bis dahin gültigen Lehrmeinung und Weltsicht nicht mehr vereinbar sind. Dann stellen Einzelne neue Theorien und Ordnungsschemata auf, die nicht selten zu Streit und Hader zwischen den Traditionalisten und den Vertretern der innovativen Lehre führen. Setzt sich die neue Lehrmeinung mit weitreichenden Konsequenzen für viele Wissenschaftsdisziplinen durch, spricht man von einem Paradigmenwechsel. Hinsichtlich der Medizin und ihren Hilfswissenschaften ging Uexküll davon aus, dass einige Jahrhunderte lang das Maschinenmodell paradigmatisch wirkte. Ähnlich wie es sich Julien Offray de Lamettrie in seinem oft zitierten Buch L’homme machine (1748) ausgemalt hatte, verbündeten sich im 19. Jahrhundert Medizin und die Naturwissenschaften, um zu zeigen, dass im menschlichen Organismus »keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen« – so der Physiologe Emil Dubois-Reymond in einem Brief an seinen Freund Ernst von Brücke. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts geben wir gerne zu, dass ohne physikalisch-chemische Prozesse keine Aktivität etwa des menschlichen Gehirns vorstellbar ist. Darüber hinaus wissen wir jedoch, dass seelisch-geistige Aktivitäten nicht mit physikalischchemischen Formeln allein beschrieben werden können. Das Bewusstsein des Menschen und seine daraus entspringenden psychischen, sozialen und
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kulturellen Leistungen weisen neben einer materiellen stets auch eine Sinn-, Wert- und Bedeutungsebene auf, die in der Philosophie der letzten Jahrzehnte oftmals unter dem Schlagwort »Qualia« diskutiert wird. Nur wenn beide Gesichtspunkte berücksichtigt werden, wird man dem Homo sapiens und seinen Eigenschaften gerecht. Weil die Medizin lange Zeit am Paradigma des Maschinenmodells festgehalten hat, entwickelte sie eine Heilkunde für seelen- und geistlose Körper und – als Reaktion darauf in Form der Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Psychotherapie – eine Heilkunde für körperlose Seelen. Die Psychosomatik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternahm große Anstrengungen, die beiden Dimensionen des menschlichen Organismus (Psyche und Soma) wieder unter einem medizinischen Dachkonzept wohnen zu lassen. Dafür brauchte es ein neues Paradigma, welches das tradierte anthropologische Modell überwinden half. Dieses neue Paradigma (das es ähnlich schon vor der Ära der einseitig naturwissenschaftlich orientierten Heilkunde gegeben hatte) sah Uexküll in der Semiotik, der Zeichenlehre gegeben. Diese geht davon aus, alle biomedizinischen Abläufe des menschlichen Organismus als potentielle Zeichen oder Bedeutungsträger aufzufassen. Damit ergibt sich für Ärzte wie Patienten die Möglichkeit, körperliche Phänomene nicht nur als solche wahrzunehmen und erklärend zu beschreiben, sondern sie auch auf deren verstehbaren Sinn- und Bedeutungsgehalt hin zu befragen:
»
Dann kann Medizin wieder das werden, was sie im Grunde immer war: eine Zeichenlehre, die somatische, psychische und soziale Indizien zu einer, der direkten Erfahrung des Arztes unzugänglichen Wirklichkeit eines kranken Menschen integriert (Uexküll 1994a, S. 33).
«
Mit Semiotik, Kybernetik, Konstruktivismus und Kommunikationstheorie hat Uexküll die lange Zeit auf Physik, Chemie, Biologie, Physiologie und Biochemie hin orientierte Medizin um wichtige Aspekte erweitert. Die zeichentheoretische Perspektive erlaubt es wie die konstruktivistische oder kommunikationstheoretische, ein differenzierteres Bild des Menschen zu malen, bei dem dessen indi-
viduelle Wirklichkeit wie auch dessen biopsychosoziale Komplexität mehr Berücksichtigung erfahren als bei alleiniger Geltung des Maschinenmodells. Uexkülls semiotische, kybernetische und konstruktivistische Ausrichtung war vor dem Hintergrund der Prägung durch seinen Vater nicht verwunderlich. Diese wissenschaftlichen und philosophischen Richtungen ließen sich gut mit biologischen Fragestellungen und Fakten verknüpfen und boten sich daher für ihn und seine Art der Medizin als Ergänzung an. Sie trugen wesentlich mit dazu bei, eine integrierte Form der Psychosomatik zu entwickeln, bei welcher die dichotomisierende Sicht – entweder körperlich oder seelisch bedingt – erfolgreich ad acta gelegt und durch ein sowohl – als auch ersetzt wurde. Die Anlehnung an Konstruktivismus, Kommunikationstheorie und Semiotik war jedoch auch mit Limitierungen verbunden. Auf die kompliziert anmutende Sprache in manchen Schriften Uexkülls haben wir bereits hingewiesen – eine Sprache, die ihre Begriffe und Denkmuster zu einem nicht unerheblichen Teil aus den aufgezählten Wissenschaften und philosophischen Schulen (so von Charles Sanders Peirce) rekrutierte und für Ärzte wie Patienten teilweise nicht immer einladend wirkt. So begrüßenswert es einerseits ist, dass Uexküll in seinen Texten Philosophen und Kulturwissenschaftler zu Wort kommen ließ und deren Gedanken auf klinisch-medizinische sowie theoretische und anthropologische Themen anwandte, so bedauerlich ist es andererseits, dass er sich dabei nur auf einige wenige Philosophen beschränkte und wichtige zeitgenössische philosophische Richtungen unberücksichtigt ließ. So wurden von ihm weder die Lebensphilosophie (Nietzsche, Dilthey, Bergson, Simmel) noch die Phänomenologie (Husserl, Scheler, MerleauPonty), Existenzphilosophie (Heidegger, Jaspers, Sartre), Hermeneutik (Gadamer) oder der Neukantianismus (Cassirer) rezipiert. Auch manche relevanten Richtungen der Sprachanalyse (Wittgenstein) oder der modernen Ontologie (Hartmann) fehlen in seinen Schriften. Dabei hätten sich, ausgehend von der von ihm favorisierten Zeichenlehre, vielfältige Brückenschläge zur Kunst des Verstehens (Hermeneutik), zur Philosophie der symbolischen Formen
Literatur
(Cassirer) oder auch zur Sprachspieltheorie Wittgensteins durchaus angeboten. Ein Dialog mit diesen philosophischen Richtungen hätte wohl dazu beigetragen, aus dem biopsychosozialen ein biopsychosoziospirituelles Modell werden zu lassen, welches die Phänomene von Geist und Vernunft beim Menschen gebührend berücksichtigt. Wem dieses Wortungetüm zu sperrig klingt, mag sich mit dem Begriff der personalen Heilkunde anfreunden, der inhaltlich dasselbe meint.
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Neurologie/Urologie/ innere Medizin Kurt Goldstein – 381 Viktor von Weizsäcker – 395 Oswald Schwarz – 407 Arthur Jores – 421
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Kurt Goldstein Biographisches – 382 Werkanalyse – 386 Conclusio – 392 Literatur – 393
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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. Abb. 1 Kurt Goldstein (*1878; †1965). (Stumm et al. 2005)
Goldstein gehört zur Gruppe jener Wissenschaftler, deren Konzepte und Forschungsergebnisse aufgrund ihrer Vertreibung aus Deutschland 1933 in Europa lange Zeit beinahe in Vergessenheit geraten waren. Erst in den letzten fünfzehn Jahren deutet sich eine Goldstein-Renaissance an, wobei die wichtigsten Publikationen dieses originellen Neurologen bis heute nur antiquarisch zu erhalten sind (. Abb. 1).
Biographisches Kurt Goldstein wurde 1878 in Kattowitz als siebtes von insgesamt neun Kindern geboren. Der Vater besaß ein Sägewerk; die Mutter Rosalie war Tante des späteren Philosophen Ernst Cassirer, mit dem sich Goldstein befreundete, und mit dem er ab den 20er Jahren zusammenarbeitete. Beide Eltern waren jüdischer Abstammung, wobei die Religion keine bestimmende Rolle in der Familie spielte. Kurt war als Kind und Jugendlicher ein Bücherwurm, der wegen seiner ernsten und klugen Art von den Kameraden Professor genannt wurde. Nach dem Abitur wollte er Philosophie studieren, was den Vater nur wenig begeisterte. Der junge Mann setzte sich jedoch durch und immatrikulierte sich für Literatur und Philosophie in Heidelberg. Dort hörte er Vorlesungen über den Neukantianismus und die südwestdeutsche Schule der Philosophie. In seiner Freizeit spielte er gerne Cello. Goldstein blieb zwar zeit seines Lebens philosophisch interessiert, verließ aber nach einem Jahr Heidelberg und ging nach Breslau, um Medizin
zu studieren. Neuroanatomie, Neurophysiologie, Pathologie und Psychiatrie waren jene Fächer, die ihn besonders anzogen. Entsprechend promovierte er 1903 bei Carl Wernicke, jenem Nervenarzt, der 1874 das sensorische Sprachzentrum entdeckt hatte. Obwohl Goldstein im Hinblick auf die Funktionen des Gehirns einen zu Wernicke entgegengesetzten Standpunkt entwickelte, schätzte er die Forschungsarbeiten seines ehemaligen Doktorvaters auch später noch sehr. Goldstein untersuchte in seiner Promotion Die Zusammensetzung der Hinterstränge (Strukturen des Gehirns). Außerdem gelang ihm 1903 eine erste Publikation mit dem Titel Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns. Anschließend verließ er Breslau in Richtung Frankfurt am Main, um am dortigen Senckenbergischen Neurologischen Institut bei Ludwig Edinger zu arbeiten. Edinger war ein mindestens ebenso entdeckungsfreudiger Arzt und Neurologe wie Wernicke. Mit seinen Forschungen hatte er die Embryonalneuroanatomie bei Mensch und Tier begründet. Dabei machte er unter anderem Schmerzbahnen im Gehirn sowie jene Nervenzellen ausfindig, die für die Augenbewegung zuständig sind; diese Zellen heißen nach ihm Edinger-Westphal-Kern. In Frankfurt baute Edinger eine privat finanzierte neurologische Forschungseinrichtung auf, die er nach dem Arzt und Stifter Johann Senckenberg benannte. Goldstein blieb bis 1906 bei Edinger, den er als Lehrer bewunderte. Zwischenzeitlich ging er als Assistent zu Alfred Hoche (Psychiatrie) nach Freiburg und zu Hermann Oppenheim (Neurologie) nach Berlin. 1905 heiratete Goldstein Ida Zuckermann, mit der er drei Töchter hatte. Zu ihr wie auch zu seinen Kindern hielt er immer Kontakt, selbst als es später zur Trennung von Ida kam. Eine zweite Ehe ging Goldstein in den 30er Jahren mit der um zwanzig Jahre jüngeren Nervenärztin Eva Rothmann ein, die er in Berlin kennenlernte. 1906 wechselte Goldstein an die Königsberger Psychiatrische Klinik. Weil es damals nur wenig effektive Behandlungskonzepte für psychiatrisch Erkrankte gab, konzentrierte er sich auf die Diagnostik und Beobachtung seiner Patienten und veröffentlichte Arbeiten zu diversen neurologischen und psychiatrischen Fragestellungen – so zu gestörter
Biographisches
Motorik und Sensorik, Halluzinationen, Alkoholismus, Schizophrenie und manisch-depressiven Erkrankungen. 1907 wurde er Privatdozent an der Königsberger Universität; seine Antrittsvorlesung hielt er über Das Realitätsurteil halluzinatorischer Wahrnehmungen. 1914 folgte Goldstein einer Einladung Edingers und übernahm die Leitung der Neuropathologischen Abteilung am Senckenbergischen Institut in Frankfurt. In der Zwischenzeit hatte Edinger Kontakt mit den Gestaltpsychologen Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka aufgenommen, auf die Goldstein nun stieß, und deren Ideen er in seine eigenen Forschungsarbeiten einfließen lassen konnte. Ab 1916 erweiterte sich der Aufgabenbereich Goldsteins, der sich bis dahin auf Laborarbeiten konzentriert hatte. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden zunehmend hirnverletzte Soldaten von der Front in Heimatlazarette verlegt, die dort eine meist kümmerliche Form der Therapie erfuhren. Goldstein wollte diesen Umstand verbessern und gründete in Frankfurt ein Lazarett für Hirnverletzte, das er leitete. Parallel dazu initiierte er ein Institut zur Erforschung von Folgeerscheinungen bei Hirnverletzten, das er auch nach dem Krieg weiterführte. Noch während der Zeit des Ersten Weltkriegs kam es zum Kontakt Goldsteins mit dem von der Gestaltpsychologie und Phänomenologie beeinflussten russischen Psychologen Adhémar Gelb. Dieser hatte in Berlin Psychologie studiert und war 1912 nach Frankfurt gekommen, wo er sich 1919 habilitierte. Ab 1929 war er zusammen mit Max Wertheimer als Direktor des Psychologischen Instituts der Universität tätig. Goldstein und Gelb schlossen Freundschaft und ergänzten sich hinsichtlich ihrer Forschung ideal. Der Erstere war extravertierter, klinisch erfahrener und ein Meister des geschriebenen Wortes, wohingegen der um neun Jahre Jüngere den kritischeren Part ihrer Zusammenarbeit übernahm. Wie sehr die beiden aufeinander eingespielt und angewiesen waren, wurde an einer Aussage Goldsteins deutlich: »Ich kann keine Bücher ohne meinen Freund Gelb schreiben!« An ihrem Institut entwickelten Goldstein und Gelb Rehabilitationsprogramme für hirnverletz-
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te Soldaten, um sie beruflich und im Hinblick auf ihren Alltag wieder zu ertüchtigen. Dabei gelangten die beiden Forscher zu überraschenden Einsichten über das Gehirn und seine Möglichkeiten der Kompensation von Traumen und Defiziten, die sie bald systematisch wissenschaftlich untersuchten. Ihre Forschungsergebnisse führten dazu, dass Goldstein und Gelb nach und nach neuartige Theorien über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns formulierten. Paradigmatisch diente ihnen die Krankengeschichte des Soldaten Schneider, der 1915 mit zwei Wunden am Hinterkopf ins Lazarett für Hirnverletzte gekommen war. Der Patient litt am Verlust der Lesefähigkeit (Alexie). Mit diesem Manko konnte er zwar nach und nach umgehen. Goldstein und Gelb war dabei jedoch aufgefallen, dass Schneider die von ihm wahrgenommenen Details nicht mehr korrekt zu kompletten Gestalten und Figuren synthetisierte. Außerdem hatte der Patient Mühe, konkrete Dinge und Ereignisse mit abstrakten Begriffen und Kategorien zu verknüpfen. Des Weiteren war sein Möglichkeitssinn beeinträchtigt – Sätze im Konjunktiv konnte er nicht mehr begreifen. Der Fall Schneider spielte für Goldstein und Gelb immer mehr jene Rolle, die Anna O. für Sigmund Freud und die Entwicklung der Psychoanalyse eingenommen hatte. An ihm machten sie Entdeckungen, nach denen sie im Gefolge bei anderen Hirnverletzten systematisch fahndeten, und die sie bei ihnen großenteils bestätigen konnten. In vielen Publikationen berichteten die Wissenschaftler über ihre Beobachtungen und die daraus abgeleiteten Hypothesen, die sie über das Zentralnervensystem (ZNS) hinaus auf den gesamten Organismus und dessen Krankheits- und Gesundheitszustände ausdehnten. Ihre Veröffentlichungen waren hierbei interdisziplinär angelegt. Neben anatomischen, physiologischen und neurologischen Befunden kamen psychologische (vor allem gestaltpsychologische) und in den 20er Jahren auch philosophische Überlegungen zum Zuge. Großen Anteil daran hatte Ernst Cassirer, der damals seine Philosophie der symbolischen Formen (1923ff.) ausarbeitete und gerne auf Fallbeispiele und Untersuchungsergebnisse seines Cousins zurückgriff. Im Gegenzug integrierte die-
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ser spekulative Ideen Cassirers sowie Immanuel Kants und Edmund Husserls in seine Forschungen. In den 20er Jahren knüpfte Goldstein in Frankfurt Kontakte zu Psychoanalytikern und Psychosomatikern. Karl Landauer (der Begründer des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts), Frieda Reichmann, Fritz Perls, Sigmund Fuchs (nach seiner Emigration Foulkes) und Erich Fromm gehörten ebenso zu seinem Bekanntenkreis wie der Psychiater Hans Prinzhorn und die psychosomatisch orientierten Ärzte Heinrich Meng, Felix Deutsch, Gustav von Bergmann und H. J. Schultz. Sigmund Freud und der Psychoanalyse gegenüber war Goldstein grundsätzlich bejahend eingestellt, wenngleich er manche Konstrukte (z. B. die Triebpsychologie betreffend) kritisch beurteilte. Wie liberal und geistig anregend Frankfurt in den fünfzehn Jahren zwischen den beiden Weltkriegen war, wird des Weiteren an jenen Namen deutlich, die häufig im Zusammenhang mit dem damaligen Institut für Sozialforschung genannt werden: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Friedrich Pollock und Leo Löwenthal. Daneben dozierten Karl Mannheim und Norbert Elias sowie Paul Tillich (bei dem Adorno habilitierte) und Martin Buber an der Frankfurter Universität. Zu ihnen allen unterhielt Goldstein mehr oder minder intensive Beziehungen. Trotz dieser intellektuell befruchtenden Atmosphäre siedelte Goldstein 1930 nach Berlin über, wo er am Krankenhaus Moabit eine eigene klinische Abteilung für Neurologie eröffnete. In Frankfurt hatte er nach dem Tod Edingers 1918 zwar die Leitung des Senckenbergischen Instituts übernommen und wurde 1929 zum neurologischen Ordinarius ernannt; eine bettenführende Einrichtung an der Universitätsklinik war ihm jedoch nicht ermöglicht worden. Dies war einer der Hauptgründe für den Wohn- und Arbeitsplatzwechsel des Forschers. In Berlin fand Goldstein vorerst ideale Arbeitsbedingungen vor. Das Krankenhaus Moabit war mit der Charité assoziiert, an der einige jener Ärzte tätig waren, die Goldstein bereits kannte und schätzte: Erwin Straus, Erich Wittkower, Gustav von Bergmann. Daneben traf er wieder mit Wolfgang Köhler zusammen, der in der Zwischenzeit Direktor des Psychologischen Instituts der Friedrich-Wilhelm-Universität geworden war. Mit ih-
nen organisierte Goldstein Diskussionsrunden, an denen manchmal auch Kurt Lewin und Albert Einstein teilnahmen. Neben klinischen und wissenschaftlichen Aufgaben engagierte sich Goldstein in Berlin politisch im Verein sozialistischer Ärzte. Dieses Engagement ebenso wie seine jüdische Abstammung waren Grund genug für die Nationalsozialisten, ihn wenige Wochen nach ihrer Machtergreifung zu verhaften. Aufgrund energischer Intervention von Eva Rothmann kam Goldstein unter der Maßgabe, Deutschland sofort zu verlassen, nach einigen Tagen frei. Über Zürich flüchtete der Exilant nach Amsterdam, wo er mit Hilfe der Rockefeller Foundation materiell einigermaßen gesichert leben konnte. Er nutzte die unfreiwillige Muße im niederländischen Exil und verfasste innerhalb weniger Monate jenes Buch, das unbestritten als sein Hauptwerk gilt: Der Aufbau des Organismus. Das über 350 Seiten starke Manuskript erschien in deutscher Sprache 1934 im holländischen Verlag Martinus Nijhoff in Den Haag. 1935 emigrierte Goldstein weiter in die USA, wo er ab 1936 als klinischer Professor für Neurologie an der Columbia University in New York eine Anstellung fand. Eva Rothmann reiste ihm bald nach; sein Freund Adhémar Gelb allerdings starb in Nazi-Deutschland, wo er vergeblich auf ein Visum für Amerika gewartet hatte. 1938/39 wurde Goldstein eingeladen, die »William James Lectures« an der Harvard University zu halten, woraus die wichtige Publikation Human nature in the light of psychopathology (1940) erwuchs. Im selben Jahr nahm der Forscher die amerikanische Staatsbürgerschaft an und beschloss, an die Tufts Medical School in Boston zu wechseln, wo er bis 1945 arbeitete. 1941 kamen Ernst Cassirer und seine Gattin Toni in die Vereinigten Staaten. Auch sie hatten vor den Nationalsozialisten fliehen müssen und waren über England und Schweden in die USA gelangt. Leider starb Goldsteins Cousin bereits 1945 an Herzversagen. Ebenfalls in den 40er Jahren stieß der aus Litauen stammende Philosoph Aron Gurwitsch zu Goldstein. Beide hatten sich bereits während der 20er Jahre in Frankfurt kennengelernt, und Gurwitsch (der von 1933–1940 an der Sorbonne in Paris
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Biographisches
lehrte und dort engen Kontakt mit Maurice Merleau-Ponty hatte) verkörperte für den Neurologen nun die kontinentaleuropäische Tradition phänomenologisch orientierter Philosophie. Obwohl Goldstein in den Vereinigten Staaten wissenschaftlich und klinisch weiter arbeiten konnte, fühlte er sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nie umfassend wohl. Die englische Sprache musste er erst mühsam erlernen, und mit seinen amerikanischen Kollegen kam es selten zu mehr als oberflächlichen Kontakten; einzig mit dem Physiologen Karl Lashley ergab sich eine freundschaftliche Beziehung. Ansonsten erfreute sich Goldstein an den immer wieder stattfindenden Treffen mit alten Bekannten aus Europa (Ernst Cassirer, Paul Tillich, Albert Einstein, Aron Gurwitsch, Karen Horney). Ende der 40er Jahre – Goldstein war inzwischen wieder nach New York zurückgekehrt – veröffentlichte er einige größere Abhandlungen zu Fragen von Sprache und Sprachstörungen sowie von Krankheit und Gesundheit. Der inzwischen 70-jährige Forscher war Mitglied anerkannter nervenärztlicher und psychologischer Vereinigungen sowie Herausgeber des Journal of Nervous and Mental Disease geworden. Zu seinem 75. Geburtstag 1953 wurde Goldstein vor allem von Neopsychoanalytikern um Karen Horney und Frieda Fromm-Reichmann sowie von der »American Society of Adlerian Psychology« (jedoch nicht von orthodoxen Analytikern) als Hauptvertreter einer humanistischen Psychologie gefeiert. Im selben Jahr reiste Goldstein zusammen mit Eva Rothmann das erste Mal nach seiner Vertreibung wieder nach Europa. In einem Heim für Hirnverletzte traf er seinen ehemaligen Patienten Schneider, den er exakt nachuntersuchte. Er wollte damit Zweifeln begegnen, die von manchen seiner Kollegen an seinen früheren Publikationen geäußert worden waren. Im Großen und Ganzen konnte er dabei die Ergebnisse aus den 10er und 20er Jahren bestätigen. Ende der 50er Jahre war der 80-jährige Goldstein als Dozent immer noch aktiv. In New York hielt er an der New School for Social Research Kurse ab, und einmal wöchentlich fuhr er nach Boston, wo er an der Brandeis University eine Gastprofessur innehatte. 1958 verlieh man ihm die Ehrenmit-
gliedschaft der Hebräischen Universität in Jerusalem und die Ehrendoktorwürde der Universität Frankfurt. 1960 wurde Goldstein im Kern seiner Person erschüttert: Seine Frau Eva nahm sich das Leben. Wahrscheinlich haben sowohl mehrere Schübe einer depressiven Erkrankung als auch Eifersucht auf Ida, die erste Gattin des Neurologen, zu dieser suizidalen Handlung beigetragen. Danach sorgte eine Cousine für den Witwer, und seine älteste Tochter mitsamt ihrer Familie zog in seine Nähe, um den einsam gewordenen Mann etwas aufzurichten. In den letzten Jahren – Goldstein starb 1965 an einem Schlaganfall – beschäftigte er sich fast ausschließlich mit Literatur und Philosophie. Ein enger Kollege von ihm erinnerte sich, dass Goldstein von allen seinen Mitgliedschaften in Vereinigungen jene im Internationalen PEN-Club am höchsten schätzte. Die Dichtwerke von Humanismus, Aufklärung und deutscher Klassik hatte er seit seiner Jugend geliebt, wobei vor allem Goethes Leben und Werk im Zentrum seiner literarisch-künstlerischen Interessen stand. Am Weimarer Olympier bewunderte er dessen universelle, vitale und originelle Art der Lebensführung, die er als vorbildlich für sich selbst einstufte. So hatte sich Goldstein 1932 bei einem Kongress in Marienbad unter dem Titel Die ganzheitliche Betrachtung in der Medizin zu einer wissenschaftlichen und weltanschaulichen Haltung bekannt, die er mit der Goethe‘ schen Form einer »schauenden Erkenntnis« verglich. Der Dichter kam jenem Ideal menschlicher Daseinsgestaltung ziemlich nahe, die Goldstein im Aufbau des Organismus mit drei grundlegenden Fertigkeiten charakterisiert hat:
»
In der Möglichkeit zur Hingabe an das Seiende; in der Möglichkeit zur bescheidenen Distanzhaltung ihm gegenüber; und in der Möglichkeit zum Handeln in Entscheidung und Einsatz der freien Persönlichkeit (Goldstein 1934, S. 346).
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Werkanalyse Das literarisch-wissenschaftliche Oeuvre Goldsteins umfasst mehr als zweihundert Publikationen. Es handelt sich zum großen Teil um Zeitschriften- und Kongressbeiträge sowie Fallvignetten. Daneben veröffentlichte er umfangreiche Monographien, von denen Der Aufbau des Organismus besonders hervorzuheben ist. Auf dieses Buch wird bei der Erörterung von Goldsteins Beiträgen zur medizinischen Anthropologie ebenso wie auf den postum von Aron Gurwitsch, Else GoldsteinHaudek und William Haudek (die Tochter und der Schwiegersohn Goldsteins) edierten Band Selected Papers/Ausgewählte Schriften (1971) Bezug genommen. z
Der Aufbau des Organismus
Wie erwähnt, griff Goldstein bei der Formulierung seiner Theorien über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und des gesamten Organismus auf klinische Beobachtungen und Untersuchungen etwa des Patienten Schneider zurück. Dabei versuchte er eine wissenschaftliche Haltung und Vorgehensweise zu realisieren, wie sie Husserl in seiner Phänomenologie entwickelt hatte. Ähnlich wie der Begründer der Phänomenologie wollte Goldstein die Phänomene (in seinem Fall Symptome, Störungen und Leistungen des Organismus) ohne fixierte Theorien betrachten und sie durch möglichst unvoreingenommene Beschreibungen in ihrem Wesen erfassen. Damit hoffte er, Krankheits- und Gesundungsprozesse von Gehirn und Organismus besser nachvollziehen und Patienten effektiver behandeln zu können. Unter Organismus verstand der Forscher nicht nur die Biologie eines Menschen, sondern seine ganze Person. An ihr lassen sich nach Goldstein körperliche, seelische und geistige Aspekte unterscheiden, ohne dass diese Dimensionen eigene Wesenheiten darstellen. Der Neurologe wandte sich gegen eine Dichotomisierung (Zweiteilung) in Materiell-Biologisches und Seelisch-Geistiges beim Menschen, die zu einem anthropologischen Konzept nach dem Matrjoschka-Prinzip (russische Puppen) führt: Geist wird von Seele umhüllt, die ihrerseits im Körper steckt, der selbst wieder von Welt (Materie) umgeben ist.
Körper, Seele und Geist bedeuteten für Goldstein Erscheinungs- und Existenzweisen des Organismus. Je nach Situation spielt sich eine der drei Modalitäten als Figur in den Vordergrund; die beiden anderen bleiben als Hintergrund immer vorhanden. Ähnlich den Kippbildern der Gestaltpsychologie könne man bei Körper, Seele und Geist oftmals ein schlagartiges Wechseln von Figur und Hintergrund beobachten. Dabei werde nicht selten der falsche Eindruck erweckt, der eine Modus (z. B. die Seele) wirke auf den anderen (z. B. den Körper) ein:
» Weder wirkt Psychisches auf Physisches noch Physisches auf Psychisches; so sehr das auch der Fall zu sein scheint, handelt es sich doch immer um die Reaktion des Organismus … Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir leugnen damit weder das Psychische noch das Physische in seiner Eigenart, wir verlangen nur auch hier eine Analyse des jeweilig auftretenden Psychischen respektive Physischen nach seiner Bedeutung für das Leben des Organismus in der Situation (Goldstein 1934, S. 202).
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Unter Geist oder Bewusstsein verstand Goldstein jene Existenzweise des Organismus, bei der er sich als waches Subjekt einer gegenständlich gegliederten Welt gegenübersieht. Dies geht mit dem Wissen um das eigene Ich (Selbstbewusstsein) einher. Als Seelisches fasste der Forscher die Sphäre des Erlebens und Empfindens (Gefühle, Affekte, Stimmungen), aber auch intentionale Akte wie Wollen (Triebe, Impulse) zusammen. Psychisches begleitet wie das Physische als Hintergrund die geistigen Vorgänge, meist ohne bewusst zu werden. Kommt es beim Menschen zu einem situationsadäquaten Wechsel von Figur- und Hintergrundgeschehen, bezeichnete Goldstein dies als geordnete oder ausgezeichnete Existenz. Je nach den Anforderungen und Möglichkeiten des ihn gerade umgebenden Milieus schieben sich jeweils geistige, seelische oder körperliche Erscheinungsweisen des Organismus in den Vordergrund. Hängen die wechselnden Verhaltensweisen untereinander und mit der umgebenden Welt eng zusammen, benannte er dies als Zentrierung oder hohes Gestaltniveau. Stehen etwa beim Schlaf oder
Werkanalyse
in der Sexualität psychophysische Modalitäten des Organismus im Vordergrund, erleben sich die Betreffenden als eins und eingelassen in ihre Umgebung; sie existieren geordnet und zentriert, obwohl ihr Bewusstsein teilweise oder ganz in den Hintergrund getreten ist. Eine Dezentrierung liegt vor, wenn Einzelaspekte starr dominieren und den Zusammenhang mit dem Gesamtorganismus und dem umgebenden Milieu (Mitmenschen, Situationen) verlieren. Menschen mit triebhaftem Verhalten (z. B. maßloses Essen und Trinken, pervertierte Sexualität), Affektdurchbrüchen oder abgehoben-steriler Intellektualität zählen ebenso dazu wie solche mit Manierismen, Zwangsstörungen oder narzisstischen Daseinsarrangements. Bei ihnen kommt es neben dem Verlust an Ordnung und Zentrierung zur Reduktion ihres Form- und Gestaltniveaus. Begriffe wie Ordnung, Zentrierung, Form- und Gestaltniveau sowie Figur, Vorder- und Hintergrund, aber auch Milieu, Struktur, Prägnanz und Ganzbeschaffenheit hatte Goldstein durch die Gestaltpsychologen kennengelernt und modifiziert in sein Organismuskonzept aufgenommen. Des Weiteren übertrug er Gedanken aus der Theoretischen Biologie Johann Jakob von Uexkülls auf den Menschen. Letzterer hatte gezeigt, dass Tiere immer in spezifischen Umwelten (ökologische Nischen) leben, die für ihre Art des Existierens wesentlich sind. Analog zur Gestaltpsychologie und dem Uexküll‘schen Modell ging Goldstein davon aus, dass jeder Moment des menschlichen Daseins als eine ganzheitliche und komplexe Reaktion des Organismus auf die Welt verstanden werden kann, in der er lebt. Dabei ist es gleichgültig, ob er auf intellektuelle Herausforderungen, den Sauerstoffgehalt der Atemluft oder auf den zärtlichen Blick seines Gegenüber antwortet – stets versucht der Betreffende, möglichst vollständige und prägnante Gestalten geistiger, seelisch-sozialer und biologischer Natur zu verwirklichen. Die Priorität der Ganzheit sei auch im Hinblick auf die Leistungen einzelner Organe zu konstatieren. Zwar könne man von einer Spezifität etwa der Sinnesorgane sprechen und deren rezeptive Fähigkeiten (Sehen, Hören, Schmecken, Tasten, Riechen) auf einzelne Rezeptoren und Nervenverbände be-
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ziehen. Gleichzeitig müsse man jedoch zugestehen, dass diese speziellen Aktivitäten nur im Rahmen des organismischen Gesamtgeschehens entstehen und Bedeutung gewinnen. Wenn ein Organismus eine regelrechte, der jeweiligen Aufgabenstellung entsprechende und adäquate Leistung zeigt, bezeichnete Goldstein dies als ausgezeichnetes Verhalten. Dabei erlebe der Betreffende ein Gefühl des Bequemen, Angenehmen, Sicheren und Richtigen. Der Autor war davon überzeugt, dass Menschen wie alle anderen Lebewesen stets dazu neigen, Adäquates auf höchstem Niveau leisten zu wollen. Mit anderen Worten: Ihnen wohnt ein Vollkommenheitsstreben inne, das sich selbst in Situationen von Krankheit oder Destruktivität nicht ganz unterdrücken, in ihrer Wirkung allerdings abschwächen lässt. Die Tendenz des Organismus, alle seine Einzelleistungen unter das Gesetz der Gestaltwerdung zu stellen, bezeichnete Goldstein als Streben nach »self-actualization« (Selbstrealisation). Dieser Begriff spielte später im Konzept der blockierten Selbstverwirklichung (Frieda Fromm-Reichmann) ebenso wie in der humanistischen Psychologie Abraham Maslows eine wichtige Rolle. Fromm-Reichmann war schon in Königsberg auf Goldstein gestoßen, wohingegen Maslow ihn erst an der Brandeis University kennenlernte; beide profitierten sehr von dessen anthropologischen Konzepten. Mit seiner gestalttheoretischen und organismischen Einstellung wurde Goldstein zu einem Verfechter holistischer und mehrdimensionaler Betrachtungsweisen in Medizin, Biologie und Psychologie. Er korrigierte damit einige Vorstellungen über die Funktionsweise von menschlichem Gehirn und Organismus, so die Anfang des 20. Jahrhunderts als gültig und bewiesen angesehene Lokalisationstheorie des ZNS. Dieser Theorie zufolge, die unter anderem auf Franz Joseph Galls Phrenologie zurückgeht, sind Leistungen oder Defizite des Gehirns auf anatomisch definierte Orte des Nervensystems zu beziehen. Gestützt wurde die Lokalisationslehre durch Beschreibungen diverser Hirnareale durch Korbinian Brodmann. In die von ihm angefertigten Gehirnkarten ließen sich die Funde anderer Neurologen gut einfügen – so das Zentrum für die Koordination des Bewegungsapparates (zuerst von Eduard
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Hitzig und Gustav Fritsch bei Hunden entdeckt), das motorische Sprachzentrum (Pierre-Paul Broca) und das sensorische Sprachzentrum (Carl Wernicke). Die Lehre von der topographisch gegliederten Arbeitsweise des ZNS schien endgültig bestätigt. Goldstein jedoch stellte aufgrund seiner klinischen Beobachtungen diese Theorie in Frage und ergänzte sie um ein funktionalistisches Modell. Er plädierte dafür, sowohl Defekte als auch Leistungen des Gehirns nie isoliert und bloß topographisch zu betrachten. Seiner Ansicht nach können cerebrale (das Gehirn betreffende) Aktivitäten wie Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Wollen oder das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln (wie bei Reflexen) ebenso wie Funktionsausfälle des Gehirns (etwa nach Schlaganfällen, Verletzungen, Entzündungen oder bei Hirntumoren) nur umfassend verstanden werden, wenn sie als Phänomene des gesamten Organismus interpretiert werden:
»
Ob ein bestimmtes Symptom bei einer örtlichen Schädigung auftritt, namentlich ob es Dauersymptom wird, ist jedenfalls nicht nur von dem Ort der primären Schädigung, sondern von vielen Momenten, von der Natur des Krankheitsprozesses, von der Beschaffenheit des übrigen Gehirns, von den Zirkulationsverhältnissen, von der psychophysischen Anlage des Kranken, von der Schwierigkeit der Leistung, deren Störung das Symptom darstellt, von der Reaktion des ganzen Organismus auf den Defekt abhängig (Goldstein 1934, S. 165).
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Diese Untersuchungsergebnisse wirkten sich auf Goldsteins Verständnis von Krankheiten generell aus. Für den Neurologen bedeutete Krankheit nicht bloß Ausfall von Organen oder Subsystemen analog den defekten Teilen einer Maschine. Vielmehr sei der ganze Organismus in seiner Ordnung, Zentrierung, Gestalt, Struktur und Funktion gestört, was zu veränderten Beziehungen des Patienten zu seinem Milieu, also zu Welt und Mitmenschen, beiträgt. Doch wird weder vom Einzelnen noch von den Ärzten und vom Medizinalsystem jede Abweichung des Organismus von Ordnung, Norm und Gestalt als Krankheit erlebt oder definiert. Man denke nur an die Adipositas (Fettsucht oder Obesitas), von der bekannt ist, dass sie nicht in allen Fällen zu Er-
krankungen führt oder als krankhafte Störung bezeichnet werden muss. Dennoch liegt bei ihr eine für viele Menschen offenkundige Norm- und Gestaltabweichung vor. z
Krankheit, Angst und Katastrophenreaktion
Wie kann also Krankheit über die Begriffe von Ordnung, Norm und Gestalt hinaus charakterisiert werden? Goldstein bestand darauf, die Defizitzustände des Organismus nur von einer Idee der Gesundheit aus verständlich machen zu können. So wenig man von den Einzelteilen aufsteigend zur Ganzheit einer Sache, einer Situation oder eines Lebewesen gelangen kann, so wenig habe man Erfolg, wenn man von inkompletten (kranken) Gestalten aus die gesunden und kompletten zu erfassen versuche. Um den gesunden Organismus zu kennzeichnen, griff Goldstein zu jenen Begriffen, die weiter oben bereits erläutert wurden: Gesundheit sei vor allem die Fähigkeit eines Individuums, sich geordnet und wenn möglich ausgezeichnet zu verhalten und sich den ständig verändernden Verhältnissen seines Milieus anzupassen. Davon ausgehend vertrat Goldstein die Ansicht, dass es immer nur individuelle Gesundheits- und Normkonstanten gibt, die man schwerlich auf die Allgemeinheit übertragen kann. Doch selbst wenn man derartige Konstanten formuliert, bleibe es eine delikate Angelegenheit, das Wesen von »Krankheit« daraus inhaltlich abzuleiten. Aussichtsreicher sei es, den Status des »Krankseins« zu umreißen, der von den Patienten häufig als eine Unordnung oder Störung im Ablauf ihrer Lebensvorgänge angegeben wird:
» Krankheit ist Erschütterung und Gefährdung der Existenz. Damit verlangt die Bestimmung der Krankheit den Ausgang vom individuellen Wesensbegriff. Krankheit tritt auf, wenn ein Organismus so verändert ist, dass es in dem ihm zugehörigen Milieu zu Katastrophenreaktionen kommt. Das äußert sich dann nicht nur in bestimmten Leistungsstörungen entsprechend der Stelle des Defekts, sondern ganz allgemein, weil ungeordnetes Verhalten immer mehr oder weniger ungeordnetes Verhalten im ganzen Organismus darstellt (Goldstein 1934, S. 269).
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Trotz Belastungen, drohender Gefahren und eventuell eintretender Funktionsausfälle versucht jeder Organismus, die Aufgaben des Daseins kompensatorisch zu bewältigen – ein Gedanke, der ähnlich bereits in Alfred Adlers Studie über die Minderwertigkeit von Organen (1907) zu finden ist. Übersteigen jedoch die Anforderungen die Möglichkeiten der Kompensation, und erlebt sich der Kranke existentiell bedroht und hinsichtlich seiner Selbstverwirklichung eingeschränkt, kommt es zu Verhaltensmustern, die Goldstein als Katastrophenreaktion beschrieb:
» Die katastrophalen Reaktionen erweisen sich als ungeordnet, wechselnd, widerspruchsvoll, eingebettet in Erscheinungen körperlicher und seelischer Erschütterung. Der Kranke erlebt sich in diesen Situationen als unfrei, hin und her gerissen, schwankend, er erlebt eine Erschütterung der Welt um sich wie seiner eigenen Person. Er befindet sich in einem Zustand, den wir gewöhnlich als Angst bezeichnen (Goldstein 1934, S. 24).
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Im Gegensatz zur Furcht, die sich auf identifizierbare Objekte der Umwelt bezieht, sieht sich der Angstgequälte einer Bedrohung seiner Existenz ausgesetzt, oft ohne entsprechende Gefahrenquellen ausfindig machen zu können. Goldstein schlug bei seiner Beschreibung von Angst eine Brücke zur Gestaltpsychologie (Angst als Folge von Gestaltauflösung) und zur Existenzphilosophie. Deren Vertreter (z. B. Sören Kierkegaard oder Martin Heidegger) charakterisierten Angst als das Erleben von Unheimlichkeit und Hineingehaltensein ins Nichts. Ähnlich drastisch – so der Neurologe – müsse man sich die Ohnmacht- und Panikempfindungen von Menschen mit Angst- und Katastrophenreaktionen vorstellen. In seinen Schriften hat sich Goldstein mehrfach mit dem Phänomen Angst beschäftigt. Dieser Affekt sei nicht nur im Rahmen von Krankheiten, sondern auch im Leben eines jeden gesunden Menschen zu erwarten. Wann immer die Fähigkeiten des Einzelnen, mit den Aufgaben und Herausforderungen seines aktuellen Daseins produktiv umzugehen, an Grenzen stoßen, müsse mit dem Auftreten von mehr oder minder starken Angstreaktionen gerechnet werden.
Weil Kranke, zum Beispiel Hirnverletzte, in vielen Fällen sowohl in körperlicher als auch in seelischer und geistiger Hinsicht beeinträchtigt sind, kommt es bei ihnen häufiger als bei Gesunden zu Angstzuständen und Katastrophenreaktionen. Sigmund Freud habe richtig beobachtet, dass Angst im Zentrum aller psychopathologischen Zustände zu finden sei. Allerdings habe er seinen Befund mit fragwürdigen Ursachen- und Erklärungsmustern versehen:
»
Die Darlegungen Freuds über die Entstehung der Angst sind recht widerspruchsvoll. Es ist wie ein immerwährender Kampf zwischen der biologischen Auffassung und der psychologischen, in dem bald die eine, bald die andere als Siegerin hervorgeht – ein Ausfluss der Ungeklärtheit von Freuds Vorstellungen über das Wesen des Psychischen und des Physischen und ihrer Beziehungen zueinander (Goldstein 1971a, S. 260f.).
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Goldstein spielte hier auf Freuds Abhandlung Hemmung, Symptom und Angst (1926) an, in der er eine neuerliche Revision seiner früheren, von der Triebpsychologie und damit von biologischen Konstrukten geprägten Angsttheorien vorgenommen hatte. Mitte der 20er Jahre war Freud zu der Ansicht gelangt, dass verschiedene Formen von Angst (Phobien, diffuse und frei flottierende Angst, Panik) unbewusste Äußerungen einer Kastrationsund Todesangst (der letztendlichen und absoluten »Kastration«) darstellen. Goldstein anerkannte durchaus die bahnbrechenden Leistungen des Begründers der Psychoanalyse, ging aber mit seinem Konzept des Unbewussten und den meisten daraus abgeleiteten Erwägungen nicht »d’accord«. Statt von einem Unbewussten und damit von einer Art Zweitperson im Menschen zu sprechen, plädierte Goldstein dafür, Fehlhandlungen und Träume oder auch psychische Symptome wie hysterische Sensibilitäts- und Motorikstörungen, Depressionen, Zwänge und Ängste, in denen die Psychoanalyse das Wirken des Unbewussten nachweisen wollte, als Phänomene von Dezentrierung zu interpretieren. Auch die psychoanalytischen Begriffe Fixierung und Regression waren für den Autor überflüssig, wenn man seinem Zentrierungskonzept folgte:
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Infolge mangelhafter Zentrierung werden Reizverwertungen auch inhaltlicher Natur, die in der Kindheit entstanden sind und jetzt zu der neuen Situation passen, auftauchen, erinnert und vorgebracht werden. Dann gewinnt man den Eindruck, als ob der Kranke in einen kindlichen Zustand regrediert wäre. Es besteht aber keine Regression, sondern nur die gleiche, allerdings jetzt ganz anders, nämlich pathologisch bedingte Form der Reizverwertung, nämlich in isolierten Teilen (Goldstein 1934, S. 213).
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Weil die Führung und Zentrierung durch Geist und Vernunft in Fällen von Müdigkeit, Schlaf, Rausch und Krankheit nicht ausreichend gegeben ist, treten somatische und/oder psychische Aspekte beim Betreffenden meist bruchstückweise in den Vordergrund. Bei entsprechender theoretischer Ausrichtung könne man meinen, ein Unbewusstes im Menschen habe sich selbständig gemacht und die Herrschaft über das Bewusste angetreten. »Das, was als Unbewusstes erscheint«, schrieb Goldstein, »ist aber nichts anderes als das in eine Reaktion Eintreten einer früheren Erregungsgestalt des Organismus, wenn die Situation dazu geeignet ist« (Goldstein 1934, S. 216). Angst und Katastrophenreaktionen weisen nach Goldstein wie alle anderen menschlichen Existenzformen eine innige Verschränkung von Körper, Seele und Geist auf. Allerdings schieben sich bei ihnen die psychophysischen Aspekte des Organismus in den Vordergrund, und Vernunft, Freiheit und Reflexivität treten in den Hintergrund. Eventuell verlieren Ängstlich-Panische daher sogar ihr Bewusstsein. Sobald bei Angstattacken und Katastrophenreaktionen geistige Funktionen wieder das Vordergrundgeschehen zu dominieren beginnen, deutet dies darauf hin, dass die Betreffenden angstfreier und ihre Verhaltensweisen zunehmend zentrierter und ausgezeichneter werden. z
Gesundheit, Ordnung und Kultur
Um zu einer geordneten Form der Existenz zurückzukehren, sind nicht selten produktiv-schöpferische Leistungen nötig. Diese beziehen sich auf das Individuum (der Organismus hat gelernt, krankheitsbedingte Defizite mit Kompensationsstrate-
gien auszugleichen) und das umgebende Milieu, das sich hinsichtlich seiner Reize und Aufgabenstellungen so verändert, dass keine Unsicherheit auslösenden Überforderungen mehr für den Kranken bestehen. Dieses neue Gleichgewicht, das sich zwischen Mensch und Welt einstellt, wird vom Patienten wie von seiner Umwelt als Gesundung oder Rehabilitierung bezeichnet und als Umorientierung im Hinblick auf das Form- und Gestaltniveau erlebt. Dabei kommt es für den Einzelnen und seine Umgebung zu einer anderen und neuen Art von Gesundheit: Man kann niemals mehr derselbe werden, der man vor einer Krankheit war. Bei diesem Restitutionsprozess, der einer partiellen Neuschaffung und Umwidmung von Identität und Dasein gleichkommt, räumte Goldstein den geistigen Fähigkeiten von Menschen ebenso die Priorität ein wie bei der Gestaltung ihrer Existenz generell. Ein Organismus, der auf die Reize von Welt, Mitmensch und Kultur dauernd mit Anpassung reagieren und sein inneres Milieu gesund erhalten will, kommt diesen Aufgaben am ehesten nach, wenn er sich in Bezug auf seine körperlichen, seelischen und vor allem geistigen Fertigkeiten immer weiterentwickelt. In Abgrenzung und im Widerspruch zu Ludwig Klages, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts den Geist als Widersacher der Seele und als potentielle Gefahr für die Vitalität des Menschen bezeichnet hatte, bekannte sich Goldstein zu den Vorzügen von Logos und Vernunft:
» Alle schöpferische Leistung entspringt gewiss aus der lebendigen Auseinandersetzung des Organismus mit der Umwelt; aber damit es zur Darstellung kommt – und das ist das Charakteristische der menschlichen Produktivität gegenüber dem tierischen Verhalten –, ist das Bewusstsein notwendig. Der Geist mag noch so ohnmächtig gedacht werden in seiner direkten Wirkung auf die Welt – durch ihn wird doch alle menschliche Wirkung erst möglich, er bestimmt erst die Richtung. So ist es begreiflich, dass es nicht schon beim Tier, sondern nur beim Menschen Sprache, sittliches Handeln, Kunst, Kultur, kurz gesagt freies Handeln, Freiheit gibt (Goldstein 1934, S. 219).
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Werkanalyse
Unter Bezugnahme auf die Philosophie seines Cousins Ernst Cassirer fasste Goldstein diese menschlichen Fähigkeiten unter dem Begriff des Symbolgebrauchs zusammen. Das Verstehen von Kulturbereichen ist an die Assimilation und den richtigen Gebrauch von Symbolen gekoppelt, die anders als Zeichen einen Sinn-, Wert- und Bedeutungszusammenhang bilden, der jeweils interpretiert werden muss. Nur wer lernt, sich innerhalb dieser Zusammenhänge einigermaßen souverän zu bewegen, erlebt die ihn umgebende kulturelle Welt als heimatlich und zu ihm gehörig. Bei Kranken beobachtete Goldstein häufig eine Beeinträchtigung ihres Symbolgebrauchs. Manche Hirnverletzte hatten die Fähigkeit eingebüßt, mit abstrakten Begriffen adäquat umzugehen; sie konnten nur noch konkrete Dinge und Verhältnisse benennen und verstehen. In vielen seiner Schriften (so in Die zwei Formen der Störungsmöglichkeit der Sprache, 1931) beschrieb der Autor diese Defizite und entwickelte daraus abgeleitet sein Konzept von Abstract and Concrete Behavior (Abstraktes und konkretes Verhalten, 1941). Ein Verlust der abstrakten oder kategorialen Einstellung sich selbst und der Welt gegenüber spielt nicht nur bei neurologischen Patienten, sondern zum Beispiel auch bei schizophren Erkrankten, bei Menschen mit schweren Affekt- und Zwangsstörungen oder bei Katastrophenreaktionen eine Rolle. Immer ist ein solch defizitärer Symbolgebrauch mit Reduktion von Autonomie- und Freiheitsgraden sowie mit Unsicherheit und Angst vergesellschaftet:
» Wahl ist eine Entscheidung, die auf der Betrachtung und Einschätzung der ganzen Situation beruht und die wiederum eine bestimmte geistige Funktion voraussetzt, die Fähigkeit zu abstrahieren, insbesondere in dem Sinne, die Kategorie der Möglichkeit annehmen zu können. Patienten, die in dieser Fähigkeit beeinträchtigt sind, können keine Wahl treffen (Goldstein: Health as value, 1959. Zit. nach Harrington 2002, S. 283).
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Die klinischen Forschungen Goldsteins bestätigten zum großen Teil die anthropologische Formel und das Konzept Ernst Cassirers vom »animal symbolicum«. Der Mensch ist ein Symbole schaffendes
und verstehendes Wesen, und nachhaltige Einschränkungen dieser Fähigkeit sind assoziiert mit körperlichen, seelischen oder geistigen Störungen und Krankheiten des Organismus. Die Einschränkungen des Symbolgebrauchs einerseits und die Störungen, Symptome und Krankheiten andererseits bedingen sich dabei gegenseitig und zirkulär. Ausgehend von der großen Übereinstimmung der von ihm beobachteten klinischen Phänomene und der von Cassirer entwickelten philosophischanthropologischen Spekulationen befasste sich Goldstein in einigen Publikationen dezidiert mit dem Phänomen der Sprache. In diesem Zusammenhang dürfen besonders das Buch Language and Language Disturbances (Sprache und Sprachstörungen, 1948) und die Abhandlung Bemerkungen zum Problem »Sprechen und Denken« aufgrund hirnpathologischer Erfahrungen (1954) hervorgehoben werden. Goldstein bezog sich darin auf seine Unterscheidung in abstraktes und konkretes Verhalten und führte aus, dass bei Ersterem die Sprache eine wesentliche Rolle spiele, wohingegen bei Letzterem Worte oftmals nur eine begleitende und manchmal sogar störende Rolle spielen. Beim abstrakten Verhalten werden Begriffe im Sinne von Symbolen verwendet, beim konkreten Verhalten allenfalls als Zeichen oder aber als Ausdruck irgendeiner körperlichen oder seelischen Regung. Sprache und Denken sind eng aufeinander bezogen, gehen ineinander über und stoßen sich gegenseitig an. Goldstein beschrieb die Entstehung von Gedanken durch Wort- und Satzteile, Assoziationen und Erinnerungen, die ihrerseits wieder durch Ideen ergänzt, korrigiert und weitergeführt werden. Keinesfalls würde man zuerst einen Gedanken denken und ihn dann ins Sprachliche transponieren; vielmehr seien Sprechen und Denken wie ineinander verflochten. Analog zum abstrakten und konkreten Verhalten sprach Goldstein von einem abstrakten und konkreten Denken. Abstraktes Denken bedeute aktive und von der jeweiligen Person dirigierte Art der Gedankenarbeit, wogegen konkretes Denken mehr oder minder automatisiert ablaufe. Bei Einschränkungen der abstrakten oder kategorialen Einstellung greifen die Betreffenden auf konkretes Denken zurück, was sich in ihrer Sprache bemerk-
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Kapitel • Kurt Goldstein
bar macht (Weglassen von Satzteilen, Präpositionen, Artikeln, Pronomina und Bindeworten; fehlerhafte oder simplifizierende Verwendung der Grammatik). Umgekehrt denken Menschen, die eine Fremdsprache nicht fließend beherrschen, in dieser Sprache nicht oder nur ansatzweise abstrakt; vorwiegend denken sie konkret. In gewisser Weise könne man sprachlich-gedankliche Störungen bei Hirnverletzten oder sonstigen Patienten mit dem Verlust der abstrakten Einstellung nachempfinden, indem man sich in die Situation eines Menschen mit ungenügenden Fremdsprachenkenntnissen versetzt. Sprache und Denken waren für Goldstein exquisite Möglichkeiten des Menschen, sich in Welt und Kultur zu orientieren, Kontakt zu den Mitmenschen aufzunehmen und sich seiner eigenen Werdensgeschichte und Identität zu vergewissern. Anhand von Patienten mit Sprach- und Denkstörungen könne man erst ersehen, wie sehr der Homo sapiens ein sprechendes Tier ist (Aristoteles), dessen Wohl und Wehe mit seiner Fähigkeit zum Symbolgebrauch aufs Engste korreliert:
»
Man macht es sich gewöhnlich nicht klar, wie sehr die abstrakte Einstellung die Grundlage unseres Lebens in der Alltäglichkeit ist, wie sehr unsere alltägliche Welt auf Abstraktion und damit auf Sprache aufgebaut ist. Gewiss bringt die Sprache nicht nur Ordnung, sondern auch Zweideutigkeit in unser Leben. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen, wie leicht Sprache Denken vortäuschen kann … Aber damit wird ihre enorme Bedeutung für die höchste Form der Selbstverwirklichung des Menschen in keiner Weise eingeschränkt, die ohne Denken und Sprechen nicht möglich wäre (Goldstein 1971b, S. 465).
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Conclusio Goldstein war ein interdisziplinärer Forscher mit vielfältigen Interessen, umfänglicher Bildung, weitverzweigten Sozialkontakten und philosophischer Spekulationskraft. Wie universell sein Denken angelegt war, wird auch daran ersichtlich, dass er mit Hilfe medizinischer Begriffe politische und histo-
rische Phänomene interpretierte. So publizierte er 1936 Bemerkungen über die Bedeutung der Biologie für die Soziologie anlässlich des Autoritätsproblems, die im von Max Horkheimer edierten Band Studien über Autorität und Familie erschienen. Um den Faschismus in Deutschland zu charakterisieren, verglich Goldstein darin Teile des deutschen Volks mit hirngeschädigten Patienten im Status von Katastrophenreaktionen: unsicher, ängstlich, desorganisiert und daher auf klare Strukturen und Autoritäten angewiesen; im Denken starr und eingeengt; Dominanz von primitivem Form- und Gestaltniveau sowie ein Zurücktreten geistiger Funktionen (Mangel an Selbst- und Fremdkritik, Abwesenheit von Beschaulichkeit und Humor). Goldsteins Hauptaugenmerk galt jedoch nicht gesellschaftlichen Studien, sondern der Diagnostik und Therapie kranker Menschen und der Erarbeitung einer realistischen medizinischen Theorie und Anthropologie. Seine biologischen, psychologischen, medizinischen und philosophischen Überlegungen wurden von Neurologen (z. B. Oliver Sacks) ebenso wie von Psychologen (vor allem Gestaltpsychologie) und Philosophen (Maurice Merleau-Ponty, Aron Gurwitsch) aufgegriffen und beispielsweise zum neuen Fach der Neuropsychologie weiterentwickelt. Neben wissenschaftlichen Meriten zeichnete den Forscher seine Persönlichkeit aus. Von Zeitgenossen wurde er als Mensch beschrieben, der trotz herber Schicksalsschläge bis zuletzt einen gütigheiteren Zug in seinem Wesen behielt. Dazu gesellten sich seine mitfühlende Art, mit der er Patienten behandelte, und seine vital-sinnliche Lebenseinstellung, die ihm über existentielle Erschütterungen und Untiefen hinweghalf. Ähnlich wie sein großes Vorbild Goethe wollte Goldstein aus seinem Dasein eine gerundete und prägnante Gestalt werden lassen, bei der Körper, Seele und Geist, individuelle Neigungen, soziale Kontakte und kulturelle Interessen harmonisch aufeinander bezogen sein sollten. Dabei gelang ihm ein Leben, das zwar nicht frei von Brüchen, Krisen und Niederlagen war, dafür aber einen stimmigen Hintergrund bot für sein wissenschaftliches und literarisches Oeuvre, das bis heute anregenden Stoff für Fächergrenzen überschreitendes Denken bereithält.
Literatur
Literatur Belz W, Eisenblätter A, Schulz A (2006) Vom Konkreten zum Abstrakten – Leben und Werk Kurt Goldsteins (1878–1965). Verlag für Akademische Schriften, Frankfurt am Main Goldstein K (1934) Der Aufbau des Organismus. Nijhoff, Den Haag Goldstein K (1948) Language and Language Disturbances. Grune & Stratton, New York Goldstein K (1971) Selected Papers/Ausgewählte Schriften, hrsg. von Gurwitsch A, Goldstein-Haudek EM, Haudek WE. Nijhoff, Den Haag Goldstein K (1971a) Zum Problem der Angst (Erstveröff. 1927). In: Selected Papers/Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Gurwitsch A, Goldstein-Haudek EM, Haudek WE. Nijhoff, Den Haag Goldstein K (1971b) Bemerkungen zum Problem »Sprechen und Denken« aufgrund hirnpathologischer Erfahrungen (Erstveröff. 1954). In: Selected Papers/Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Gurwitsch A, Goldstein-Haudek EM, Haudek WE. Nijhoff, Den Haag Harrington A (2002) Die Suche nach Ganzheit – Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (Erstveröff. 1996) Noppeney U (2000) Abstrakte Haltung – Kurt Goldstein im Spannungsfeld von Neurologie, Psychologie und Philosophie. Königshausen & Neumann, Würzburg Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien The American Society of Adlerian Psychology (1959) Kurt Goldsteins 80th Anniversary. J Individ Psychol 15: Number 1
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Viktor von Weizsäcker Biographisches – 396 Werkanalyse – 400 Conclusio – 404 Literatur – 406
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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. Abb. 1 Viktor von Weizsäcker (*1886; †1957). (Aus Stumm et al. 2005)
Im Jahr 1900 prägte der damals bekannte Kliniker Bernhard Naunyn einen Satz, der seither als programmatisch für weite Bereiche der Heilkunde gilt: »Die Medizin muss eine wissenschaftliche sein oder sie wird nicht sein;« – wobei er mit wissenschaftlich auf die Naturwissenschaften abzielte. Ein halbes Jahrhundert später formulierte Viktor von Weizsäcker eine auf Naunyn Bezug nehmende Replik: »Die psychosomatische Medizin muss eine tiefenpsychologische sein oder sie wird nicht sein.« Noch treffender hätte er seine Forschungsarbeiten mit der Formel umschreiben können: »Die Medizin muss eine anthropologische sein oder sie wird nicht sein.« (. Abb. 1).
Biographisches Viktor von Weizsäcker wurde 1886 in Stuttgart als drittes von vier Kindern in eine angesehene Familie hineingeboren, in der er eine protestantisch-humanistische Erziehung genoss. Sein Großvater Carl Weizsäcker war Theologieprofessor in Tübingen. Sein Vater Karl Hugo Weizsäcker machte als Jurist und Ministerialsekretär in Stuttgart Karriere und wurde 1897 in den Adelsstand erhoben; 1906 ernannte ihn der König sogar zum Ministerpräsidenten von Württemberg. Nach seiner Reifeprüfung 1904 leistete der junge Weizsäcker Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger. Parallel dazu begann er in Tübingen Medizin zu studieren. 1906 wechselte er nach Freiburg, wo er nach dem Physikum im Labor des renommierten Physiologen und Psychologen Johannes von Kries (1853–1928) mit ersten experimentellen Arbeiten betraut wurde.
Kries hatte sich als Sinnesphysiologe einen Namen gemacht. Mehrere Jahre lang arbeitete Weizsäcker in dessen Labor, wo er sich bevorzugt mit der Physiologie von Herz und Kreislauf beschäftigte. Er galt als talentiert, zeigte aber für Kries’ Geschmack zu großes Interesse für klinisch-praktische Bereiche der Medizin. Die Frage seines Schülers, ob er eher zum Theoretiker oder Kliniker tauge und er sich mehr dem Labor oder den Patienten zuwenden solle, beantwortete Kries im Sinne der Neigungen, die er bei ihm wahrgenommen hatte: Er riet ihm zu einer klinischen Ausbildung. Weizsäcker befolgte den Rat seines Mentors, ohne jedoch in den folgenden Jahren die naturwissenschaftliche Exaktheit und die Vorliebe für theoretische Fragen, die er als Tugenden bei Kries kennengelernt hatte, zu vergessen. Viele spätere Schriften spiegeln die solide Sozialisation Weizsäckers innerhalb der Physiologie wieder und sind zugleich geprägt vom Geist grenzüberschreitender Forschung. Während seiner Freiburger Studienjahre knüpfte Weizsäcker auch Kontakte zum Philosophen Heinrich Rickert. Weil dieser darauf bestand, dass man als Student seine, Rickerts Werke gelesen haben sollte, wurde er von dem jungen Medizinstudenten distanziert beurteilt. Als Weizsäcker 1908 nach Heidelberg wechselte, blieb sein philosophisches Interesse jedoch weiterbestehen. In der Person Wilhelm Windelbands fand er in der Neckarstadt einen für ihn akzeptableren Lehrmeister. Windelband und Rickert waren die Hauptfiguren der sogenannten Südwestdeutschen Schule, die zusammen mit der Marburger Schule (Hermann Cohen, Paul Natorp, Nicolai Hartmann, Ernst Cassirer) und anderen Philosophen (Ernst Mach, Hans Vaihinger) dem Neukantianismus zugerechnet wurden. Es war daher nicht verwunderlich, dass Weizsäckers philosophische Lektüre der damaligen Jahre speziell aus den Schriften Immanuel Kants bestand. Bei Windelband und Rickert lernte Weizsäcker methodologische Überlegungen zur Wissenschaft kennen. Naturwissenschaften benutzen nomothetische Verfahren, um ihre Objekte zu erforschen: Sie formulieren allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Die Kultur- oder Geisteswissenschaften sind im Unterschied dazu an Einzeltatsachen interessiert und ge-
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hen verstehend vor; ihre Methoden bezeichneten Windelband und Rickert als idiographisch. Weil der Mensch einer Beschreibung Kants folgend Bürger zweier Welten ist (der Natur wie auch der Kultur), muss er nomothetisch und idiographisch erforscht werden. Dieses methodische Programm prägte die spätere Forschungsarbeit Weizsäckers sowie sein Bemühen um Integration gegensätzlicher wissenschaftlicher Methoden. Er gewöhnte sich daran, ärztliche Handlungen philosophisch zu reflektieren sowie Ideen und Modelle der Philosophie auf ihre Praktikabilität und medizinische Handhabbarkeit hin zu untersuchen. Während der letzten Semester seines Heidelberger Studiums geriet Weizsäcker in den Einflussbereich Ludolf von Krehls. Dieser war ein angesehener Internist und Physiologe, bei dem der junge Student auch deshalb leicht unterkam, weil sein Vater Karl Hugo von Weizsäcker, der eine Weile als Kultusminister tätig gewesen war, den begehrten Kliniker Jahre zuvor nach Tübingen berufen hatte. Zu jener Zeit war Krehl mit seiner Pathologischen Physiologie bekannt geworden, einem Lehrbuch, das klinische und experimentell-theoretische Gesichtspunkte der Medizin aufeinander bezog, und das in vielen Auflagen erschien. Anfänglich waren sie im Geiste der Physiologie verfasst. Nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich besonders das Vorwort in den Neuauflagen. Nun begegneten dem Leser Begriffe wie Biographie und Persönlichkeit des Kranken oder auch Verstehen – Begriffe, die für ein Lehrbuch der Physiologie ungewöhnlich waren. Noch radikaler beschrieb Krehl in Krankheitsform und Persönlichkeit (1929) die Art seiner Heilkunde, die einige Gesichtspunkte der späteren Einstellung Weizsäckers vorwegnahm:
» Die Weiterbildung liegt, soviel ich sehe, im Eintritt der Persönlichkeit als Forschungs- und Wertungsobjekts in die Medizin. Das aber bedeutet eine Wiedereinsetzung der Geisteswissenschaften und der Beziehungen des ganzen Lebens als andere und der Naturwissenschaft gleichberechtigte Grundlage der Medizin (Krehl 1929, S. 6).
«
Krehls Einfluss auf Weizsäcker war groß. Weizsäcker arbeitete beinahe drei Jahrzehnte mit ihm zusammen und erlebte hautnah dessen Schwenk von
der experimentaltheoretischen Phase hin zu einer biographischen Medizin. Er bewunderte an ihm seine Art der Vorlesung ebenso wie seine Weise des Umgangs mit Patienten und Mitarbeitern, seinen geistig-kulturellen Horizont (Krehl hatte früh Freuds Studien über Hysterie schätzen gelernt) sowie sein internistisches und neurologisches Fachwissen. Der Ältere bedeutete dem Jüngeren ein Modell für eine Form des Arztseins, das Praxis und Theorie, Philosophie, Naturwissenschaft und Psychologie umfasste und integrierte. Nach seiner Approbation und Promotion zum Dr. med. arbeitete Weizsäcker ab 1911 als Assistent an der Krehl-Klinik in Heidelberg. Wissenschaftlich war er vorwiegend mit Herz-Kreislauf-Forschung befasst. Nebenbei publizierte er aber auch Aufsätze wie jenen über Neovitalismus, in dem er die naturphilosophischen Ansichten des Biologen Hans Driesch referierte. Driesch war seit 1909 Privatdozent an der Heidelberger Universität, wo ihn Weizsäcker kennengelernt hatte. Den Ersten Weltkrieg erlebte Weizsäcker als Truppenarzt an verschiedenen Fronten. Seine Einstellung zum Krieg war ambivalent: Eigenen Angaben zufolge glaubte er von vorneherein nicht an einen Sieg der Deutschen; andererseits war er von der Woge patriotischer Gefühle der Massen mächtig ergriffen. Zum Ende der Kriegshandlungen hin wurde er für einige Monate von den Amerikanern als Kriegsgefangener interniert. Danach kehrte er an die Krehl-Klinik zurück. Während des Ersten Weltkriegs fand Weizsäcker Muße genug, seine Habilitationsschrift Über Energetik der Muskeln und insbesondere des Herzmuskels sowie ihre Beziehung zur Pathologie des Herzens zu verfassen. Zur selben Zeit wandte er sich theologischen Fragestellungen zu. Seine entsprechenden Überlegungen brachte er als Credo zu Papier; später bezeichnete er diese als intellektuelle Mystik. Nach dem Weltkrieg wurde er als Privatdozent mit der Leitung der Abteilung für Nervenkrankheiten der Krehl-Klinik betraut. Die Hinwendung zur Neurologie entsprach zwar nicht seinem Herzenswunsch, war aber notwendig geworden, da der frühere Abteilungsleiter gestorben war. 1922 erhielt Weizsäcker den Titel eines außerordentlichen Professors. In den Folgejahren versuchte er mehrfach
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vergebens, wieder in die innere Medizin zu wechseln. Gleichzeitig publizierte er wichtige neurologische Abhandlungen wie Über den Funktionswandel, besonders des Drucksinnes, bei organisch Nervenkranken und über Beziehung zur Ataxie (1923). Darin vertrat Weizsäcker ähnliche Ansichten zur Funktion des Gehirns wie zur selben Zeit Kurt Goldstein, dessen Arbeiten er schätzte. Schon 1920 hatte Weizsäcker Olympia Curtius geheiratet. Sie war die Tochter eines Juristen, der sich als kirchlicher Funktionär einen Namen gemacht hatte. Dem Ehepaar wurden vier Kinder geboren, darunter die jüngste Tochter Cora (verheiratete Penselin), die später Teile des väterlichen Nachlasses verwaltete. Ab Mitte der 20er Jahre unterhielt Weizsäcker regen Kontakt mit Sigmund Freud und einigen Psychoanalytikern. Obwohl er bei sich keine Lehranalyse durchführen ließ, war er mit der Freud‘schen Terminologie und Denkweise gut vertraut und hat diese teilweise in seine Art der Medizin übernommen. 1926 kam es in Wien in der Wohnung Freuds zur ersten und einzigen persönlichen Begegnung mit dem Begründer der Psychoanalyse. Mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie und Praxis war es für Weizsäcker möglich geworden, der von Krehl initiierten Idee einer biographischen Medizin konkretes Leben einzuhauchen. Die Psychoanalyse konnte bei vielen neurotischen Symptomen deren Sinn und Bedeutung entschlüsseln. Weizsäcker versuchte nun, auch bei körperlich schwerkranken Patienten biographische und charakterliche Aspekte bei der Entstehung und beim Verlauf ihrer Krankheiten zu berücksichtigen. Obwohl Freud einer Ausdehnung der Psychoanalyse auf das Gebiet somatischer Erkrankungen aktiv selbst nie Vorschub leistete, unterstützte er dieses Vorgehen Weizsäckers. Keine Unterstützung hingegen erfuhr Weizsäcker von Freud für eine andere Seite seines Denkens. Bei ihrer Begegnung in der Berggasse in Wien kamen die beiden zum Schluss auf das Thema der Religion zu sprechen. Dabei bekannte Weizsäcker, dass er im Nebenamte Mystiker sei, woraufhin Freud ihn entsetzt angesehen und ausgerufen haben soll: »Das ist ja furchtbar!« In Fragen der Weltanschauung erwies sich Freud als atheistisches
Urgestein, dem anders als Weizsäcker jeglicher religiöse Glaube ein Vergehen gegen den Geist der Aufklärung und Wissenschaft war. 1926 publizierte Weizsäcker Stücke einer medizinischen Anthropologie in der von Martin Buber edierten Zeitschrift Die Kreatur, bei der er als Mitherausgeber fungierte. Diese Abhandlung bildete den Auftakt einer Reihe medizinanthropologischer Schriften, die er in loser Folge veröffentlichte. Zusammengefasst ergaben diese Arbeiten zwei Bände der Gesammelten Schriften (Der Arzt und der Kranke – Stücke einer medizinischen Anthropologie; Grundfragen medizinischer Anthropologie). Ende der 20er Jahre beschäftigte sich Weizsäcker mit sozialmedizinischen Fragen. Vor allem die Probleme der Berentung oder Rehabilitation nach Traumen und bei chronischen Erkrankungen wurden von ihm theoretisch (in größeren Abhandlungen) wie auch praktisch (auf einer eigens dafür eingerichteten Station) zu klären versucht. Er benutzte Begriffe wie Rechts-, Unfall- und Rentenneurose, um die komplexen sozialen, psychologischen und biomedizinischen Situationen zu beschreiben, in welche die betreffenden Patienten dabei ebenso wie die Sozialversicherungssysteme verwickelt waren. Seit Anfang der 30er Jahre war bei Weizsäcker eine neuerliche Verschiebung seiner klinischen und wissenschaftlichen Interessen zu bemerken. Ausgehend von Beobachtungen und Experimenten zur Psychophysiologie der Wahrnehmung formulierte er erste Gedanken zum Gestaltkreis, mit denen er die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung darstellen wollte. Eine Buchpublikation mit dem Titel Der Gestaltkreis erschien 1940. Der oft zitierte Eingangssatz von Der Gestaltkreis lautet: »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen.« Damit hob der Autor darauf ab, dass Ärzte bei Diagnostik und Therapie ihrer Patienten eine empathische und solidarische Haltung entwickeln müssen, um sie angemessen zu verstehen und zu behandeln. Wenn der Helfer kalt und unbeteiligt seine Schützlinge betreut, sind kaum wesentliche Therapiefortschritte zu erwarten. Ausgehend von diesen Überlegungen wurde Weizsäcker später als jener Arzt und Autor bekannt, der als Erster das Subjekt in die Medizin eingeführt hat (Sigmund Freud und Alfred Adler haben dies
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in ihren tiefenpsychologischen Schriften und Praktiken auf andere Weise schon vor Weizsäcker realisiert). Gemeint war damit sowohl das Subjekt des Mediziners als auch dasjenige des Patienten. Bei der Arzt-Patienten-Beziehung handelt es sich um eine Relation zwischen Personen; wer daraus bloße Sachthemen oder Subjekt-Objekt-Verhältnisse macht, verfehlt das Wesen medizinischer Diagnostik und Therapie. Zwischen 1933 und 1945 blieb Weizsäcker in Deutschland, behielt Ämter und Würden und wurde 1941 als Ordinarius für Neurologie nach Breslau berufen, wo er bis Kriegsende tätig war. Während dieser zwölf Jahre gab es von ihm mündliche und schriftliche Äußerungen sowie (unter seiner Oberaufsicht) klinische Aktivitäten, die nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus kritische Fragen im Hinblick auf seine damalige Haltung dem NS-Regime gegenüber evozierten. Aufgrund der bisher zugänglichen Akten konnte man Weizsäcker keine direkten Verfehlungen wie offenen Antisemitismus, Denunziation von gefährdeten Personen oder Mithilfe zu Tötungsdelikten nachweisen. Er benutzte jedoch in Vorlesungen und Publikationen aus den Jahren 1933/34 problematische und zweideutige Begriffe wie unwertes Leben, unwerte Zeugungsfähigkeit, Rassenhygiene, Vernichtungslehre und -politik oder »gesunder« Volkskörper und schrieb in diesem Zusammenhang unter anderem:
»
Der Staat ist es, welcher die Frage nach dem Erhaltungswürdigen (Hervorhebung Weizsäcker) stellt und welcher seiner eigenen Entscheidung Geltung verschafft … Auch als Ärzte sind wir verantwortlich beteiligt an der Aufopferung des Individuums für die Gesamtheit. Es wäre illusionär, ja es wäre nicht einmal fair, wenn der deutsche Arzt seinen verantwortlichen Anteil an der notgeborenen Vernichtungspolitik glaubte nicht beitragen zu müssen (Weizsäcker 1987a, S. 318/323).
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Es konnte Weizsäcker wahrscheinlich nicht entgangen sein, dass er mit seiner Wortwahl Assoziationen an jene berüchtigte Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – Ihr Maß und ihre Form (1920) weckte, in welcher die Autoren Karl Binding und Alfred Hoche der »Vernichtung
nicht lebenswerter Leben aus der Reihe der geistig Toten« das Wort redeten. In den ersten Jahren des NS-Regimes benutzte Weizsäcker eine Terminologie, die zumindest nach außen eine gewisse Affirmation den braunen Machthabern und ihrer Ideologie gegenüber erkennen ließ. Als Vordenker der Vernichtung im Sinne des Holocaust darf man ihn deshalb jedoch sicher nicht bezeichnen. 1941 folgte Weizsäcker dem Ruf an die Medizinische Fakultät Breslaus und übernahm dort bis 1945 die Neurologische Klinik als Ordinarius. Sein Hauptaugenmerk galt der Weiterentwicklung seiner Gestaltkreistheorie, von der er sich eine Neuformulierung der Funktion des Gehirns und damit von neurologischen Krankheiten erhoffte. Außerdem leitete er ein Lazarett für Hirnverletzte mit 460 Betten. Während seiner Breslauer Zeit stand Weizsäcker darüber hinaus indirekt einem Institut vor, das von einem Dr. Scherer geleitet wurde, der seinerseits Weizsäcker unterstellt war. Dieses Neuropathologische Institut arbeitete eng mit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Anstalt im nahe gelegenen Loben zusammen. Zwischen 1942 und 1945 erhielt das Institut weit über 200 Gehirne von Kindern und Jugendlichen zur pathologischen Diagnostik – wobei inzwischen nachgewiesen ist, dass die meisten der in Loben gestorbenen Kinder im Rahmen des sogenannten Euthanasieprogramms ermordet wurden. Soweit bekannt, war Weizsäcker nie mit der pathologischen Begutachtung der betreffenden Gehirne befasst und wusste vermutlich nichts über deren Herkunft. Er hat sich aber als Verantwortlicher für die gesamte Neurologie offenkundig auch niemals über die ungewöhnlich große Zahl an Hirnpräparaten von Kindern und Jugendlichen verwundert gezeigt – eine Unterlassung, die Weizsäcker später vorgehalten wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam Weizsäcker auf verschlungenem Wege zurück nach Heidelberg, wo er eine Professur für allgemeine klinische Medizin erhielt. In den darauffolgenden Jahren unterstützte er die Etablierung einer Abteilung für psychosomatische Medizin, die ab 1950 mit neun Betten und einer Poliklinik ihren Betrieb aufnahm, und der Alexander Mitscherlich in leitender Funktion vorstand. Damit wurde zwar einerseits
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die Psychosomatik aufgewertet; andererseits schlug sie eine Richtung ein, die sie letztlich als eigenes Fach und nicht mehr integriert als ärztliche und wissenschaftliche Haltung innerhalb der gesamten Medizin erscheinen ließ. Neben diesen institutionellen Bemühungen war Weizsäcker damals mit literarischen Projekten befasst. Dazu zählten Abhandlungen zur medizinischen Anthropologie, Psychosomatik, Neurologie, Sozialmedizin und zu einer Heilkunde der Zukunft, die er als anthropologische Medizin bezeichnete. Außerdem stellte er umfangreiche autobiographische Texte zusammen, die unter den Titeln Begegnungen und Entscheidungen (1949), Natur und Geist – Erinnerungen eines Arztes (1954) sowie Meines Lebens hauptsächliches Bemühen (1955) publiziert wurden. 1952 wurde Weizsäcker im 66. Lebensjahr emeritiert. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits an Morbus Parkinson erkrankt – eine Krankheit, die ihm seinen Bewegungsradius nach und nach merklich einschränkte, und an der er fünf Jahre später starb. Er verließ sein Haus nur noch selten und stellte sarkastisch fest: »Ich bin eine Ruine und werde besichtigt wie das Heidelberger Schloss.« Trotz seiner körperlichen Beeinträchtigungen blieb er geistig rege, so dass ihm 1956 noch die Veröffentlichung seines Hauptwerks Pathosophie gelang. In diesem beinahe 600 Druckseiten umfassenden Buch zog der Autor ein Fazit seiner vielfältigen wissenschaftlichen Interessen und anthropologisch-philosophischen Spekulationen. Von ihm nahestehenden Kollegen und Schülern sowie von Weizsäcker-Experten wurde dieser Text als sein geistiges Vermächtnis angesehen.
Werkanalyse Das wissenschaftlich-literarische Oeuvre Weizsäckers – zum überwiegenden Teil Aufsätze – wurde in den letzten Jahren als Gesammelte Schriften in zehn Bänden herausgegeben. Die einzelnen Bände sind thematisch gegliedert, so etwa autobiographische Schriften (Band 1), Abhandlungen zur Physiologie und Neurologie (Band 2 und 3), Erläuterungen zum Gestaltkreis (Band 4), anthropologische Texte (Band 5, 7 und 9), Aufsätze zur Psychosomatik
(Band 6) und zu sozialmedizinischen Fragestellungen (Band 8) sowie Pathosophie (Band 10). Bezug genommen wird hier auf letzteres Buch, auf Weizsäckers Gedanken zum Gestaltkreis sowie auf die Schriften zur Anthropologie. z
Der Gestaltkreis
In Der Gestaltkreis (1940) wies Weizsäcker nachdrücklich auf die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (so der Untertitel) hin. Er zeigte, dass Sinneswahrnehmungen nur bei Bewegungen der Sinnesorgane erfolgen. Optische Wahrnehmungen etwa sind mit kleinsten motorischen Veränderungen der Augenachsen oder des Kopfes verknüpft. Wären diese Bewegungen oder irgendwelche Veränderungen beim erblickten Objekt ausgeschlossen, sähen wir nicht, wie man annehmen könnte, immer dasselbe – wir sähen nach kurzer Zeit überhaupt nichts mehr. Analoges gilt für die anderen Sinnesqualitäten. Doch nicht nur die Wahrnehmung ist auf Bewegungen angewiesen – auch umgekehrt sind sämtliche Bewegungen des menschlichen Körpers nur auf dem Boden vielfältigster Sinnesreize und ihrer zentralnervösen Verarbeitung möglich. Beides – Wahrnehmen und Bewegen – ist zirkulär voneinander abhängig und bedingt sich gegenseitig, so dass verständlich ist, warum Weizsäcker diesbezüglich von einem Kreis sprach. Es sind jedoch nicht nur Wahrnehmung und Bewegung kreisförmig ineinander verschränkt. Ebensolche Verhältnisse beschrieb Weizsäcker für die Beziehung des Einzelnen zu seiner Umwelt und den Mitmenschen. Alle dabei auftauchenden Leistungen und Funktionen von Organen, Gesamtorganismen, Individuen und Gruppen können als kreisförmige Gestalten (im Sinne der Gestaltpsychologie) verstanden werden, womit die Bezeichnung Gestaltkreis nachvollziehbar wird:
» Des Wesentliche des Gestaltkreises ist, dass das Wahrnehmen und das Bewegen einander vertretbare Zustände in jedem biologischen Akte sind, dass sie jeweils gegeneinander verborgen bleiben und dass an dieser Verschränkung, Vertretung und Verborgenheit auch das Subjekt und Objekt teilnehmen: Das »Wirkliche« erscheint bald im einen, bald im anderen (Weizsäcker 1997, S. 93).
«
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Werkanalyse
Aufgrund dieser zirkulären Verschränkung von Wahrnehmen und Bewegen, Ich und Umwelt forderte Weizsäcker in Der Gestaltkreis für die naturwie auch für die kulturwissenschaftliche Erfassung menschlichen Lebens, seiner Krankheit und Gesundheit die existentielle Teilhabe der Ärzte und Forscher am Daseins- und Krankheitsprozess ihrer Klienten:
» Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen. Man kann zwar den Versuch machen, Lebendes aus Nichtlebendem abzuleiten, aber dieses Unternehmen ist bisher misslungen. Man kann auch anstreben, das eigene Leben in der Wissenschaft zu verleugnen, aber dabei läuft eine Selbsttäuschung unter. Leben finden wir als Lebende vor; es entsteht nicht, sondern es ist schon da, es fängt nicht an, denn es hat schon angefangen. Am Anfang jeder Lebenswissenschaft steht nicht der Anfang des Lebens selbst; sondern die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben angefangen (von Weizsäcker 1997 S. V).
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In dieser Präambel, welche den Gestaltkreis einleitet, deutete Weizsäcker ein zentrales Anliegen seines Textes an: die Einführung des Subjekts in Medizin und die Wissenschaften vom Menschen. Forscher und Ärzte sollten bei sich selbst wie bei Patienten ihr Subjektsein erkennen und im Forschungs- und Heilungsprozess berücksichtigen. Weizsäcker war sich bewusst, dass mit dieser Forderung auch Konsequenzen für erkenntnistheoretische und anthropologische Themen verknüpft waren. Menschen sind, selbst wenn sie körperlich erkranken, nie bloße Objekte. Immer erkrankt ein Subjekt, an dem zwar Somatisches und damit Objektives diagnostiziert, therapiert und wissenschaftlich erforscht werden kann, das jedoch aufgrund seiner Subjekthaftigkeit daneben stets einer psychosozial und geistig-kulturell ausgerichteten Betrachtungsweise bedarf: »Der Gegenstand der Medizin ist ein Objekt, dem ein Subjekt innewohnt« (Weizsäcker 1997, S. 168). Die Betonung objektiver (materiell-biologischer) und subjektiver (psychisch-geistiger) Facetten am Menschen führte bei Weizsäcker nicht zu einem Leib-Seele-Dualismus. Für ihn bestand zwi-
schen seelischen Zuständen und somatischen Veränderungen kein kausales Verhältnis im Sinne von Ursache und Wirkung. Seele und Leib bedeuteten ihm vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die sich in ihren Ausdrucksmöglichkeiten gegenseitig ergänzen und vertreten. In anderen Zusammenhängen nannte er dies das Äquivalenzprinzip. Aufgrund dieser Auffassung zählt man Weizsäcker zu den sogenannten Aspektdualisten. Die zentrale anthropologische Frage des Leib-Seele-Problems wollte er gelöst wissen, indem er vorschlug, den Menschen als eine Einheit zu begreifen, an der unterschiedliche Aspekte (Materielles, Biologisches, Seelisches und Geistiges) wahrgenommen, nicht aber voneinander separiert werden können. Wie bei einer Drehtüre, welche den Benutzer abwechselnd in zwei Räume verbringt, ohne dass er in beiden gleichzeitig sein kann, wechselt der Betrachter eventuell seine Perspektiven auf diese Ganzheit Mensch. Je nach Beobachtungsstandpunkt bleibt dabei entweder der seelische oder der körperliche Aspekt des Gegenübers für ihn im Hintergrund, aber ebenso aktiv wie sein vordergründiges Pendant. Weizsäcker vertrat daher den oft zitierten Grundsatz: »Nichts Organisches hat keinen Sinn, nichts Psychisches hat keinen Leib.« In ausführlichen Fallgeschichten, veröffentlicht zum Beispiel in Körpergeschehen und Neurose (1947), wollte er die praktische Relevanz dieser Überzeugung demonstrieren. Dabei gelang es ihm, Organkrankheiten als Äquivalent psychosozialer Konflikte oder Erschütterungen darzustellen. Der Einzelne kann solchen existentiellen Krisen mit Wandlung und Neuordnung seines Daseins begegnen, er kann Entscheidungen treffen, Verzicht leisten, Chancen ergreifen oder aber – wenn all dies für ihn nicht möglich scheint und sein Organismus ihm gleichzeitig entgegenkommt – mit Erkrankung reagieren und darüber eine notwendige Veränderung herbeiführen:
»
Eine Situation ist gegeben, eine Tendenz kommt auf, eine Spannung steigt an, eine Krise spitzt sich zu, ein Einbruch der Krankheit erfolgt und mit ihr, nach ihr ist die Entscheidung da; eine neue Situation ist geschaffen und kommt zu einer Ruhe; Gewinne und Verluste sind jetzt zu übersehen. Das
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Ganze ist wie eine historische Einheit. Wendung, kritische Unterbrechung, Wandlung sind hier im dramatischen Ganzen zu erkennen (Weizsäcker 1986a, S. 233).
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Immer wieder begegnen dem Arzt oder Psychotherapeuten Patienten als »Subjekte in Krisen«. Letztere verknüpfen sich entweder schleichend mit deren Existenz oder widerfahren ihnen jählings. Krisen ereignen sich häufig vor dem Hintergrund nicht gelebten Lebens und langanhaltender zwischenmenschlicher Konflikte, die aus diesen Gründen für Weizsäcker als krankheitsauslösende oder mit bedingende Faktoren immer in Betracht zu ziehen waren: »Die Krankheit liegt zwischen den Menschen, ist eine ihrer Verhältnisse und ihrer Begegnungsarten.« – schrieb er. »Hier beginnt anthropologische Medizin« (Weizsäcker 1987b, S. 370). z
Studien zur Pathogenese
Zentrale und konkrete Fragen einer solchen Heilkunde sind daher: Warum erkrankt ein Patient, warum zu einem gewissen Zeitpunkt, warum an einem bestimmten Organ und warum an einer bestimmten Krankheit? In seinen Studien zur Pathogenese (1935) konnte Weizsäcker an unterschiedlichen Erkrankungen wie hysterischen Lähmungen, paroxysmaler Tachycardie (eine Herzrhythmusstörung) oder Diabetes insipidus (eine Erkrankung des Körperwasserhaushalts) das erwähnte Prinzip der Äquivalenz nachweisen und zeigen,
»
… dass diese Krankheiten an Wendepunkten biographischer Krisen stehen oder in die schleichende Krise eines ganzen Lebens eingeflochten sind. Wir erfahren ferner, dass diese Einflechtung keine äußerliche, zufällige und grobmechanische ist, sondern dass Krankheit und Symptom den Wert von seelischen Strebungen, moralischen Positionen, geistigen Kräften annehmen und dass dadurch in der Biographie so etwas wie ein gemeinsamer Boden für den körperlichen, seelischen und geistigen Anteil der menschlichen Person entsteht (Weizsäcker 1986, S. 329).
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Anhand zahlreicher weiterer Untersuchungen gelang es Weizsäcker, sein Äquivalenzprinzip nicht nur bei funktionellen Störungen (wie es der In-
ternist Gustav von Bergmann in Berlin gezeigt hatte), sondern auch bei morphologischen Veränderungen von Organen als beinahe fixe Regel der Krankheitsentstehung nachzuweisen. Gerade bei Patienten mit angeblicher psychischer Unauffälligkeit verbergen sich hinter der Fassade der Normalität oftmals große existentielle Nöte und Krisen, die aber einer doppelten Verdrängung anheimgefallen sind und nur noch als somatische Beschwerden und Symptome ihren Austrag finden. Der psychoanalytisch orientierte Psychosomatiker Alexander Mitscherlich hat später dafür den Begriff der zweiphasigen Abwehr verwendet. Körperliche Prozesse und Störungen wurden von Weizsäcker also als Äquivalente, nicht als Folgen eines lebensgeschichtlichen Vorgangs verstanden. Zwischen psychisch-geistigen Ereignissen und körperlichen Veränderungen besteht kein schlichtes kausales Verhältnis im Sinne von Ursache und Wirkung. Leib und Seele sind vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die sich gegenseitig in ihren Ausdrucksmöglichkeiten ergänzen und vertreten. Bestimmte Existenzmotive, Erschütterungen oder Lebenskrisen kann der Einzelne Weizsäcker zufolge manchmal nur im Modus von Störung und Krankheit beantworten. Gemäß dem Äquivalenzprinzip kann er dabei verschiedene Ausdrucksund Störungsebenen durchlaufen, die vom Autor als Neurose, Biose und Sklerose benannt wurden. Im Status der Neurose erlebt und agiert der Betreffende seine Konflikte in einer psychosozialen Dimension. Dabei entstehen Symptome wie Angst, massive Affekte, Zwangsimpulse oder -handlungen, Hemmung, sozialer Rückzug oder auch Streitsucht und dissoziales Verhalten. Leidet ein Mensch an einer Neurose, kann sein Umfeld am ehesten erahnen, dass der Betreffende mit Daseinsschwierigkeiten zu kämpfen hat. Dieselben innerpsychischen oder zwischenmenschlichen Konflikte können aber auch auf einer biotischen Ebene gelebt und zum Ausdruck gebracht werden. Unter Biose verstand Weizsäcker körperliche Beschwerden, die häufig als vegetative Dystonie oder somatoforme Funktionsstörung bezeichnet werden: Herzrasen und andere Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck oder Blutniederdruck, Übelkeit, Brechreiz, Inappetenz und Gewichtsverlust, Neigung zu Verstopfung oder
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Werkanalyse
Durchfällen, Hyperventilation sowie manche Formen von Schmerz-, Ess- und Schlafstörungen. Als Sklerose bezeichnete Weizsäcker somatische Krankheiten, bei denen es zu morphologischen und strukturellen Veränderungen des Gewebes kommt. Nicht selten führen langanhaltende Biosen oder Funktionsstörungen zu derartigen Erkrankungen; allerdings können diese auch ohne jede derartige Vorankündigung auftreten. Beispiele hierfür sind Geschwüre des Magens, Infarkte des Herzens und Gehirns (Schlaganfall), Krebserkrankungen, Infektionskrankheiten (AIDS, Malaria, Tuberkulose) Autoimmunerkrankungen (multiple Sklerose, Rheuma) oder Unfälle mit Gewebsschaden (Knochenbrüche, Verbrennungen). Bei allen Störungsebenen (also nicht nur bei Neurosen und Biosen) sollte im Diagnose- und Therapieprozess auf allfällige Konflikte und Krisen des Patienten abgehoben werden. Deckt der Arzt bei einer Sklerose (im Sinne Weizsäckers) relevante psychosoziale Belastungen auf, und wird dieser Befund vom Patienten ebenfalls erkannt, muss in einer solchen Situation dem Äquivalenzprinzip gemäß mit dem Auftreten seelischer Verstimmungen und Krisen gerechnet werden. Weizsäcker berichtete von quasi-psychotischen Depressionen und Angstzuständen bei Patienten, deren Tuberkulose oder Polyarthritis im Abklingen begriffen war. Die neu aufgetretenen Neurosen bildeten nun die erwünschte Stellvertretung für den destruktiven und lebensgefährlichen Organprozess. In mehreren seiner Schriften äußerte sich Weizsäcker auch zu den Begriffen Krankheit und Gesundheit. Bei seiner Vorliebe für zirkuläre Gestalten verwundert es nicht, dass er auch die Zustände von gesund und krank als kreisförmig aufeinander bezogen verstanden wissen wollte:
» Die Gesundheit eines Menschen ist eben nicht ein Kapital, das man aufzehren kann, sondern sie ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick des Lebens erzeugt wird. Wird sie nicht erzeugt, ist der Mensch bereits krank (Weizsäcker 1989, S. 94).
«
Der Mensch war für Weizsäcker ein soziales und darüber hinaus finales Wesen. Seine Krankheiten wie die Arten und Weisen ihrer Entstehung und
Überwindung spiegeln neben der Biologie die Stellung des Betreffenden in Familie, Berufsleben und Gesellschaft sowie die Ausrichtung seines Daseins auf Ziele, Zwecke, Werte und Sinn wider. Eine anthropologische, die Wesenseigentümlichkeiten des Menschen angemessen verstehende Medizin müsse deshalb Begriffe wie Krise, Einheit von Individuum und Umwelt sowie Ordnung des Daseins in ihrer Diagnostik, Therapie und wissenschaftlichen Tätigkeit berücksichtigen. Die Schwierigkeiten für eine breite Etablierung anthropologischer Diagnostik und Therapie somatischer Erkrankungen liegen Weizsäcker zufolge nicht nur in den statisch anmutenden Verdrängungsmustern der Patienten. Mindestens ebenso statisch sind die Ärzte, Institutionen und Kliniken, die sich nicht selten einer mehrdimensionalen Untersuchung und Behandlung von körperlichen Krankheiten verweigern. Die Ausbildung von Medizinern ebenso wie die Strukturen des Medizinalsystems verhindern nach Weizsäcker in der Regel die Erhellung und Durchleuchtung körperlicher Erkrankungen auf ihren immanenten Existenz- und Sinngehalt hin. Oftmals zementieren sie regelrecht die doppelte Verdrängung einer Krankheit in der Dimension der Körperlichkeit und bestärken die Patienten in der Rolle des »wirklich somatisch Kranken«, dem damit ein Zugang zu seinen Lebenskrisen verbaut wird. z
Pathosophie
In seinem Buch Pathosophie fasste Weizsäcker viele dieser Gedanken aus früheren Publikationen zu einer Art anthropologischer Gesamtschau zusammen. Übersetzt bedeutet der Titel des Buches soviel wie Weisheit des Leidens. Den Menschen beschrieb er darin als ein pathisches Wesen, das nicht nur lebt, sondern auch gelebt wird, neben dem Leiden auch die Leidenschaften kennt und zwischen den Polen von Freiheit und Notwendigkeit oszilliert. Menschliche Existenz ereignet sich nach Weizsäcker innerhalb des pathischen Pentagramms, womit er fünf gegenseitig sich bedingende und beeinflussende Bereiche des Daseins charakterisierte: Dürfen, Müssen, Wollen, Sollen und Können. Diese Grundformen des menschlichen Lebensvollzugs zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich
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Kapitel • Viktor von Weizsäcker
bevorzugt auf die existentiellen Möglichkeiten und nicht so sehr auf Gegebenheiten oder Fakten eines Menschen beziehen. Das Pathische zielt auf künftige Werdens- und Entwicklungschancen eines Individuums ab, wohingegen das Ontische (als das tatsächliche Sein) die geronnene und Wirklichkeit gewordene Vergangenheit des Betreffenden repräsentiert. Dürfen und Müssen spiegeln dem Autor zufolge die Pole von Freiheit und Notwendigkeit respektive Zwang wider. Im Wollen verbindet sich die Freiheit des Dürfens mit der Realität des Könnens. Das Sollen verweist auf die ethischen Implikationen menschlichen Daseins. Das Können schließlich bezieht sich vorrangig auf das Leben-Können, auf die Fähigkeit des Individuums also, seine Lebenszeit als Spanne zu begreifen, in welcher der Einzelne seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfasst und unter den Primat des Werdens der Person und ihrer Selbstverwirklichung stellt. In Krankheiten melden sich Urformen des Pathischen zu Wort, worunter Weizsäcker Symptome wie Angst, Schmerz, Schwäche und Schwindel subsumierte. Diese Phänomene sind bis heute sowohl in ihrer Qualität als auch Quantität schwer zu erfassen, und häufig scheitert der Versuch, für sie strikt biologische Krankheitskonzepte zu formulieren. Die Urelemente menschlichen Leidens und Erkrankens verweisen deshalb auf die dringliche Notwendigkeit, Menschen und ihre Zustände von Krankheit und Gesundheit über die bloße Biologie hinaus auch unter anthropologischen, psychosozialen und philosophischen Perspektiven zu betrachten. Neben den Elementen des Pathischen beschrieb Weizsäcker am Menschen auch die Phänomene des Antilogischen. Damit wollte der Autor jene philosophischen und anthropologischen Konzepte erweitern, die seit den Zeiten von Aufklärung und deutschem Idealismus als gültig anerkannt waren. So fanden bei Immanuel Kant in dessen Kategoriensystem vor allem Raum und Zeit sowie die Kausalität Berücksichtigung. Mittels dieser logischen Kategorien versuchen bis auf den heutigen Tag die Naturwissenschaften, Lebendiges und damit auch den Menschen zu begreifen und einzuordnen. Weizsäcker betonte, dass das menschliche Dasein darüber hinaus auch von Antilogik geprägt
sei. Zu den irrationalen oder paradoxen Kategorien zählte er Phänomene wie Krisen, Begegnungen, Ereignisse oder das Werden. Alle diese Begriffe sind charakterisiert durch ihnen innewohnende Widersprüche, die auch mit größter intellektueller Anstrengung nicht aus der Welt zu schaffen sind. So sei ein Mensch, der für sich den Begriff des Werdens ernstnimmt und sich entwickelt, einerseits identisch (derselbe), paradoxerweise zugleich aber auch verschieden (ein anderer). Die Phänomene der Antilogik müssen nach Weizsäcker bei Fragen menschlicher Gesundheit oder Krankheit ebenso ins Visier genommen werden wie diejenigen der Logik. Wissenschaften, die sich ausschließlich den Aspekten von Quantität und Kausalität verschreiben, laufen diesbezüglich ins Leere. Die Antilogik erfordere eine Heilkunde, welche der tatsächlichen Lebenswelt ihrer Patienten wie auch von Ärzten und Pflegenden gerecht wird.
Conclusio Weizsäckers vielschichtige Ausführungen zum Wesen des Menschen, zu Krankheit und Gesundheit, zu Diagnostik und Therapie sowie zum Arzt- und Patient-Sein führten dazu, dass er erfolgreich die Grundlinien einer von ihm als anthropologisch bezeichneten Medizin in theoretischer Hinsicht formulieren und teilweise in konkrete Praxis umsetzen konnte. Hört man heute den Begriff der anthropologischen Medizin, assoziiert man Weizsäckers Name damit fast automatisch. Daneben haben einige seiner Gedanken zur anthropologischen Medizin Eingang in die psychosomatische Medizin gefunden, die sich in Deutschland nach 1950 entwickelte. Dass die Psychosomatik zumindest im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beachtliche theoretische, klinisch-praktische und institutionelle Fortschritte verzeichnen konnte, ist zu keinem geringen Teil auf das Wirken Weizsäckers zurückzuführen. Siebzig Jahre nach der Publikation von Der Gestaltkreis und ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Pathosophie werden in Bereichen der Psychosomatik und Medizin Weizsä-
Conclusio
cker‘sche Konzepte wie die Berücksichtigung der Subjektrolle bei Arzt und Patient, das Drehtürprinzip, die Verschränkung von biomedizinischer Krankheit und psychosozialer Lebensgeschichte (biographische Medizin) oder eine aspektdualistische Sichtweise auf den menschlichen Organismus umgesetzt. Auch in der Ausbildung von Medizinstudenten und jungen Ärzten spielen diese Konzepte mancherorts eine gewichtige Rolle. Des Weiteren kann man feststellen, dass sich nach Weizsäckers Tod seine Schüler um eine sorgfältige Weitergabe der wissenschaftlichen Ideen und klinischen Erfahrungen ihres Lehrers bemühten; unter anderem die Edition der zehnbändigen Gesammelten Schriften (1986ff.) sowie die Gründung einer Viktor von Weizsäcker-Gesellschaft (1994) legen davon Zeugnis ab. Zusammen mit den realisierten psychosomatischen Innovationen ist das Resümee angebracht, dass die Saat der theoretisch-anthropologischen Überlegungen Weizsäckers zumindest teilweise aufgegangen ist. Neben diesen beachtlichen Pluspunkten seiner Wirkungsgeschichte soll aber nicht verabsäumt werden, auf einige kritische Aspekte im Leben und Werk Weizsäckers hinzuweisen. Dabei beziehen wir uns vor allem auf sein Buch Pathosophie sowie auf charakterliche und weltanschauliche Facetten seiner Persönlichkeit. In den zehn Bänden der Gesammelten Schriften sind jeweils Porträtfotos Weizsäckers aus verschiedenen Phasen seines Lebens abgebildet. Dabei blickt der Autor durchgehend entschlossen und ernst, nicht selten aber auch etwas grimmig, verschlossen und manchmal sogar mürrisch-gedrückt. Es fehlen Abbildungen, die Heiterkeit, Gelöstheit oder Entspannung widerspiegeln. Dieser optische Eindruck erfährt eine Bestätigung, wenn man sich in die Schriften Weizsäckers vertieft und neben den inhaltlichen auch die stilistischen Besonderheiten seiner Texte wahrnimmt. Vor allem an den nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten Publikationen fällt auf, dass sie teilweise schwer verständlich geschrieben sind – als ob ihr Autor zwischen sich und den Leser eine Barriere schob, welche den literarischen Zugang zu ihm erschwert. Ähnlich müssen es nicht wenige Zuhörer in seinen Vorlesungen und Seminaren erlebt haben.
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So bezeichnete Helm Stierlin in einem Interview den Sprachduktus Weizsäckers als »kryptisch«. Der spätere Familientherapeut verglich ihn wegen seiner komplizierten Sprache sogar mit Martin Heideggers verrätselter Ausdrucksweise (s. hierzu Stierlin »Er hatte das Charisma eines fragenden Weisen«. Zit. in Stoffels 2008, S. 199–205). Andere, die ihn persönlich kannten (Ernst Scheurlen, Alexander Mitscherlich), sprachen von den vielen Demütigungen, die ihm das Leben zugefügt hatte, oder erwähnten sogar nihilistische Anwandlungen und melancholische Verstimmungen: »Weizsäckers Depressivität war auch in seiner Vorlesung in den letzten Jahren … immer spürbar« (Scheurlen: Begegnung mit Viktor von Weizsäcker. Zit. in: Stoffels 2008, S. 222) Diesem »Geist der Schwere« (Friedrich Nietzsche) entsprach die fast durchgehende Abwesenheit von Humor. Selbst in jenen lebendigeren Passagen seiner Schriften, die wörtliche Unterhaltungen zwischen Weizsäcker und seinen Patienten wiedergeben, geht es getragen und seriös und nicht selten tragisch zu. Zu diesen Stilelementen gesellen sich inhaltliche Auffälligkeiten. In vielen Texten Weizsäckers begegnen dem Leser Themen und Begriffe wie Leiden, Krankheit, Tod, Streit, Wahn, Krieg, Macht, Lüge, Unzulänglichkeit des Daseins, Sünde, Grenzerfahrung, Schwäche und andere mehr. Nun könnte man argumentieren, dass ein klinisch tätiger Arzt mit diesen Phänomenen täglich Umgang hat und es daher nicht verwunderlich ist, wenn solche Begrifflichkeiten regelmäßig in seinen Schriften auftauchen. Die Kritik bezieht sich hierbei nicht so sehr auf die Tatsache, dass Weizsäcker derlei thematisierte, sondern auf die Art und Weise, wie er dies seinen Lesern nahebrachte. Die Lektüre seiner Abhandlungen bedrückt nicht selten wegen ihres Übermaßes an Tragischem, und es fehlen jene zuversichtlicheren und erotischeren Qualitäten, welche das Deprimierende und Erschütternde in Schach halten oder gelegentlich sogar überwinden könnten. Mit der düsteren Weltanschauung assoziiert war bei Weizsäcker eine Neigung zu konservativen Einstellungen. Wie manch andere Forschergestalt seiner Epoche war er von Vorurteilen nicht ganz frei, denen zufolge es etwa nicht nur biologische,
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Kapitel • Viktor von Weizsäcker
sondern auch psychologische und intellektuelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern geben sollte, welche die Frauen in keinem sonderlich günstigen Licht erscheinen ließen:
»
[Ich bekunde], dass das eigentümlich Weibliche nicht nur in dem hervorragenden Anlehnungsbedürfnis vieler Frauen bestehe, sondern auch darin, dass Frauen sich von Männern unterscheiden, indem sie das Unsagbare nicht sagen können, und in der besonderen Art des Verschweigens liegt, der zufolge die Frauen dann zwar auf das, was Männer sagen, hören, aber auch gegensätzlich zu ihnen sich stellen. Am besten lässt sich dies Letztere aus ihrem Handeln erkennen, was dann als die vielberufene Unlogik der Frauen zutage treten kann. Ja sie behaupten sogar, dass die Welt langweilig wäre, wenn alles logisch wäre (Weizsäcker 2005, S. 431).
«
Weizsäckers Charakter, Weltanschauung und literarischer Stil wird nicht erwähnt, um seine unbestrittenen Leistungen zu schmälern. Im Gegenteil: Manches am Werk wird in seinem Wert besonders hervorgehoben, wenn man die biographischen und persönlichen Rahmenbedingungen seines Urhebers mit berücksichtigt. Andererseits lassen sich dadurch auch die dunkleren und schwerverständlichen Partien seiner Schriften besser einordnen. Zwischen dem Werk eines Autors und seiner Persönlichkeit bestehen ebenso intensive kreisförmige Abhängigkeiten, wie Weizsäcker sie in seinem Gestaltkreis für den Zusammenhang von Wahrnehmen und Bewegen beschrieben hat. Wenn ihn (den Autor) gedämpfte Stimmungen oder reduzierte Zukunftsperspektiven heimsuchen, muss sich derlei in seinen Texten ähnlich widerspiegeln wie Erlebnisse und Emotionen der Heiterkeit und Sinnenfreude. Darum charakterisiert und beschreibt jedermann das Wesen seiner Mitmenschen und damit auch seine Anthropologie gemäß jenen Empfindungen, Begierden, Vorstellungen und Phantasien, die er im eigenen Inneren bei sich spürt und erlebt.
Literatur Benzenhöfer U (2007) Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker – Leben und Werk im Überblick. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Dressler St (1989) Viktor von Weizsäcker – Medizinische Anthropologie und Philosophie. Ueberreuter, Wien Jacobi R-M, Janz D (Hrsg) (2003) Zur Aktualität Viktor von Weizsäckers. Königshausen & Neumann, Würzburg Krehl L (1929) Krankheitsform und Persönlichkeit. Springer, Heidelberg Stoffels H (Hrsg) (2008) Soziale Krankheit und soziale Gesundung. Königshausen & Neumann, Würzburg Stumm G, Pritz A, Gumhalter P, Nemeskeri N, Voracek M (2005) Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien von Weizsäcker V (1986ff.) Gesammelte Schriften in 10 Bänden. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (1986a) Körpergeschehen und Neurose (Erstveröff. 1947). In: Gesammelte Schriften 6. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (1987a) Ärztliche Fragen – Vorlesungen über allgemeine Therapie, 2. Aufl. 1934. In: Gesammelte Schriften 5. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (1987b) Das Problem des Menschen in der Medizin (Erstveröff. 1953). In: Gesammelte Schriften 7. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (1989) Soziale Krankheit und soziale Gesundung (Erstveröff. 1930). In: Gesammelte Schriften 8. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (1997) Der Gestaltkreis – Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen (Erstveröff. 1940). In: Gesammelte Schriften 4. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (1986) Studien zur Pathogenese (Erstveröff. 1935). In: Gesammelte Schriften Band 6. Suhrkamp, Frankfurt am Main von Weizsäcker V (2005) Pathosophie. In: Gesammelte Schriften Band 10. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 1956)
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Oswald Schwarz Biographisches – 408 Werkanalyse – 410 Conclusio – 418 Literatur – 418
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Oswald Schwarz
Oswald Schwarz war bisher der einzige Vertreter eines Faches, das an den medizinischen Fakultäten weltweit kaum gelehrt wird: Urosophie. Dieser Begriff stellt eine Kreuzung der Wörter Urologie und Philosophie dar, und in der Tat kann man Schwarz als einen Mediziner auffassen, der einerseits ein tüchtiger und habilitierter Urologe war und andererseits als philosophisch gebildeter Arzt eine anthropologische Durchdringung der Heilkunde ins Werk setzten wollte. Vor allem mit seiner Medizinischen Anthropologie (1929) machte er dem ihm spaßeshalber verliehenen Titel eines Urosophen alle Ehre.
Biographisches Oswald Schwarz wurde 1883 in Brünn (Mähren) als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Nach seinem Abitur 1901, das er in Brünn ablegte, studierte er bis 1906 vorrangig in Wien Medizin. Während dieser Jahre wechselte er für ein Semester nach Straßburg und für kürzere Zeit nach München und Berlin. Das Studium schloss er mit einer Promotion zum Dr. med. ab. Danach wandte sich Schwarz der Chirurgie zu und absolvierte in der Folgezeit eine breite medizinische Ausbildung. Von 1908 an war er ein Jahr lang sogenannter Operationszögling an der ersten chirurgischen Universitätsklinik in Wien. Daraufhin wechselte er an die Klinik für Geburtshilfe, und von April bis Dezember 1911 war er zu Studienzwecken in Deutschland, unter anderem in München bei Albert Döderlein (1860–1941), bei jenem Frauenarzt, nach dem die Döderlein‘schen Stäbchen (Bakterien in der Vagina) benannt sind. 1912 kehrte Schwarz nach Wien zurück und wurde Mitarbeiter an der Urologischen Abteilung der Allgemeinen Poliklinik. Von 1913 bis 1928 war er als Assistenz- und Oberarzt an der Urologischen Klinik tätig. Sein Chef war lange Zeit der damals berühmte Chirurg Otto Zuckerkandl, Bruder des ebenfalls bekannten Anatomen Emil Zuckerkandl, der mit der Journalistin und Saloniere Berta Zuckerkandl verheiratet war. Nebenbei betrieb Schwarz wissenschaftliche Studien an verschiedenen chemischen Laboratorien in Wien und Straß-
burg sowie am Serotherapeutischen und Pharmakologischen Institut (beide in Wien). Seit 1908 war Schwarz beim österreichischen Heer als Assistenzarzt der Reserve registriert. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde er als Oberarzt zuerst an der russischen Front eingesetzt. Aufgrund gesundheitlicher Kalamitäten erfolgte seine Versetzung nach Wien zur militärischen Verwendung. Später wurde er für seine militärärztlichen Leistungen auf italienischen Kriegsschauplätzen (unter anderem bei den Isonzo-Schlachten) mehrfach ausgezeichnet. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich Schwarz 1919 an der Wiener Universität in Medizin für das Fach Urologie habilitieren. Dafür hatte er insgesamt 35 wissenschaftliche Arbeiten aus den Gebieten der Chemie, experimentellen Pharmakologie, Chirurgie und Urologie eingereicht. Als Privatdozent für Urologie übernahm er bald nach seiner Habilitation auch Vorlesungen an der »Post Graduate School of the American Medical Association« in Wien. Die damaligen Forschungsschwerpunkte von Schwarz bestanden vor allem aus den Themen der Urologie und Sexualmedizin. So stellte er wissenschaftliche Untersuchungen in Bezug auf die normale und pathologisch veränderte Blasenphysiologie an. Außerdem entwickelte er neue Ansätze der Nierenfunktionsdiagnostik. Daneben interessierten ihn jedoch zunehmend Fragen der menschlichen Sexualität und ihrer Störungen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Urologen begonnen, sich mit der Behandlung sexueller Probleme, der Reizblase und der funktionellen Störungen des gesamten Urogenitaltrakts zu beschäftigen. Mit seinen Forschungs- und Therapieansätzen gehörte Schwarz in den 20er Jahren zu den herausragenden Vertretern dieser Gruppe. Weil er zugleich ein operativ sehr engagierter Urologe war, wurden seine sexualmedizinischen Arbeiten im Kreis der »Scientific Community« durchaus ernst genommen. Sogar seine Ausflüge auf das Terrain der Psychosomatik wurden von seinen Kollegen toleriert. Zu dieser Anerkennung in den Reihen der Schulmediziner trug auch bei, dass Schwarz Mitglied zahlreicher Vereine und Gesellschaften war: Deutsche Gesellschaft für Urologie, Gesellschaft
Biographisches
der Ärzte in Wien und Österreichische Gesellschaft für Urologie (1923 und 1924 sogar ihr Schriftführer). In den Sitzungsberichten zwischen 1920 und 1932 sind zahlreiche Referate von Schwarz über urologische Fragestellungen erwähnt. Des Weiteren publizierte er eine Vielzahl kleinerer Arbeiten und einige Monographien zur Urologie wie etwa die Pathologische Physiologie der Harnblase – Handbuch der Urologie (1926–29). Neben seiner schulmedizinischen Verankerung war Schwarz auch Mitglied im Internationalen Verein für Individualpsychologie, in der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie sowie im Akademischen Verein für Medizinische Psychologie. Man sieht: Der Urologe begann in den 20er Jahren, sich eine zweite Heimat im Reich der Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatik zu schaffen, wobei ihn bevorzugt philosophisch-anthropologische Themen interessierten. Wann und wie er dabei genau auf Alfred Adler und dessen Mitarbeiter stieß, ist im Detail nicht bekannt. 1924 veröffentlichte Schwarz erste Beiträge in der Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie. Dabei handelte es sich um eine Rezension von Arthur Kronfelds Monographie Sexualpathologie sowie um den Abdruck eines Vortrags über »Liebe, Sexualität und Geschlecht«, den Schwarz im selben Jahr in Wien gehalten hatte. Inhaltlich bezog er sich darin auf die Adler‘sche Individualpsychologie und ergänzte diese um philosophische Aspekte wie etwa das Problem der Werterkenntnis und -realisierung in Liebe und Sexualität. 1925 machte Schwarz als Herausgeber des Buches Psychogenese und Psychotherapie körperlicher Symptome auf sich aufmerksam. Er selbst hatte dafür das medizintheoretische Eingangskapitel »Das Problem des Organismus« verfasst, in dem er Begriffe wie Qualität, Quantität, Ganzheit, Gestalt, Handlung, Sinn und Zweck auf den menschlichen Organismus anwendete und ausgehend davon eine verstehende Haltung dem Patienten gegenüber einforderte. Neben Schwarz hatten Rudolf Allers, Paul Schilder, Gustav Richard Heyer und andere Ärzte Beiträge für diesen Sammelband geliefert. Von Schwarz stammten noch Artikel über »Psychogene Miktionsstörungen« und über »Psychogene Störungen der männlichen Sexualfunktion«. Dem
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Buch kann man entnehmen, wie sehr die einzelnen Beiträger um eine sowohl biomedizinische als auch psychosoziale Betrachtungsweise der von ihnen beschriebenen Krankheitsbilder bemüht waren. In den folgenden Jahren entwickelte sich Schwarz zu einer der führenden Persönlichkeiten innerhalb der Individualpsychologie, und eine Weile machte es den Anschein, als ob er im engsten Zirkel um Adler wohlgelitten war. 1926 hatte er sogar die Position des stellvertretenden Vorsitzenden der Wiener Abteilung des Internationalen Vereins für Individualpsychologie inne. Damals arbeitete er in der Urologischen Klinik sowie ambulant im psychotherapeutischen Bereich. Außerdem hielt er wie viele Individualpsychologen Vorträge an Erziehungsberatungsstellen und Volkshochschulen, bevorzugt zu sexualmedizinischen Themen. 1927 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Schwarz, Allers und Viktor Frankl auf der einen Seite (diese bildeten zusammen mit Fritz Künkel aus Berlin den konservativ und religiös orientierten Flügel der Individualpsychologie) und den sozialistisch-marxistisch eingestellten Alice Rühle-Gerstel, Otto Rühle und Manès Sperber auf der anderen Seite. Vor allem der Letztere attackierte Schwarz heftig, und nachdem Adler in diesem Streit dem blutjungen Sperber recht gegeben hatte, traten Schwarz, Allers und Frankl aus dem Individualpsychologenzirkel aus. Einige Zeit später distanzierte sich Adler allerdings auch von den politisch links stehenden »Wilden« der Individualpsychologie, die daraufhin ebenfalls seinen Kreis verfließen. Die Trennung von Adler bewirkte bei Schwarz einen literarischen Produktionsschub. Innerhalb weniger Jahre veröffentlichte er die Bücher Medizinische Anthropologie (1929), Das Leib-Seele Problem in der Medizin (1930), Über Homosexualität – Ein Beitrag zu einer medizinischen Anthropologie (1931), Sexualität und Persönlichkeit (1934) sowie Sexualpathologie (1935). Daneben blieb er weiterhin als Vortragender und wissenschaftlicher Autor hinsichtlich urologischer Themen aktiv. Zwei kleinere Abhandlungen von Schwarz verdienen es, gesondert erwähnt zu werden, weil sie wie eine Vorwegnahme seines zukünftigen Lebens wirken. In der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie publizierte er 1932 und 1933 zwei Aufsätze »Zur Psychologie des Weiterlebens
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Kapitel • Oswald Schwarz
und der Fremdheit«. Ein Jahr später erhielten diese Motive für ihn persönliche Relevanz, als er im Rahmen einer Englandreise 1934 beschloss, wegen des zunehmenden Antisemitismus und des sich etablierenden Austrofaschismus unter Engelbert Dollfuß und Kurt von Schuschnigg nicht mehr in seine Heimat zurückzukehren. Von 1934 an lebte Schwarz mit seiner Familie – er war verheiratet mit Irma Seligmann und hatte mit ihr zwei Söhne – in London. An der Wiener Universität hatte er offiziell um Sonderurlaub für wissenschaftliche Arbeiten nachgesucht, der ihm gewährt wurde. Im Spätherbst 1935 langte ein weiteres Schreiben von ihm im Wiener medizinischen Dekanat ein: »Da sich meine Tätigkeit in England voraussichtlich noch um einige Zeit erstrecken wird, bitte ich höflichst um eine Urlaubsverlängerung für ein (weiteres) Jahr.« Die österreichischen Behörden verfuhren bis 1938 im Sinne von Schwarz. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs ans Dritte Reich wurde ihm jedoch wie vielen weiteren jüdischen Gelehrten seine Venia legendi aus rassischen Gründen entzogen. In London beschäftigte sich Schwarz hauptsächlich mit urologisch-psychosomatischen sowie sexualmedizinischen Fragestellungen. 1935 erschien sein erstes englischsprachiges Buch über The Psychology of sex and sex education (kleinere Abhandlung über urologische Themen hatte er früher schon in englischer Sprache publiziert). Über das Leben von Schwarz während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist wenig bekannt. 1949 gelang ihm noch die Veröffentlichung von The Psychology of sex. In diesem Buch, das mehrere Auflagen erfuhr, unternahm der Autor nochmals den Versuch, die normale und pathologische Sexualität des Menschen anthropologisch einzuordnen und philosophisch, an manchen Stellen auch theologisch zu deuten. Kurz nach dem Erscheinen von The Psychology of sex starb Schwarz 1949 in London an einem Herzinfarkt. Mit dem Weggang aus Österreich ins Londoner Exil verlor Schwarz seine wissenschaftliche, kulturelle und soziale Einbettung. Damit begann ein beinahe vollständiges Vergessen seiner Lebensleistung. Einzig Viktor Frankl verwies in autobiographischen Texten darauf, dass Schwarz (neben Allers) sein wichtigster psychologisch-psychoso-
matischer Lehrer war, dessen Ideen er fortzusetzen gedachte. Daneben hat der Sexualmediziner Hans Giese anthropologische Überlegungen von Schwarz in Bezug auf die Homosexualität weiterentwickelt. In den von ihm edierten Sammelband Die sexuelle Perversion (1967) hat er in memoriam Schwarz‘ Essay »Über das Wesen der Perversionen« aufgenommen. Danach wurde es um den Wiener Urosophen still. Seine Bücher und Zeitschriftenartikel sind bis heute nur antiquarisch zu erhalten, und es gibt weder eine Biographie über ihn noch eine vollständige Bibliographie oder eine umfänglichere Werkanalyse. Erwähnenswert ist allerdings die 2001 an der Universität Mainz erschienene medizinische Promotion von Brigitta Kieser, die Schwarz als Urologen, Sexualmediziner, Psychosomatiker und Medizinanthropologen angemessen würdigte.
Werkanalyse Die hauptsächlichen Beiträge von Schwarz zur medizinischen Anthropologie finden sich in seinem gleichnamigen Buch sowie in seinen Texten zur normalen und pathologischen Sexualität. Daher wird hier Bezug genommen auf die Darlegung von Medizinische Anthropologie sowie Sexualität und Persönlichkeit. z
Medizinische Anthropologie
Als dieses knapp 400 Seiten umfassende Hauptwerk von Schwarz 1929 erschien, hatte es kurz zuvor wichtige Publikationen zur Anthropologie aus der Feder von Philosophen gegeben: Martin Heideggers Sein und Zeit (1927), Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928) und Karl Löwiths Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928). Außerdem hatte Ernst Cassirer damals gerade seine dreibändige Philosophie der symbolischen Formen (1923–29) abgeschlossen. Ein erster überraschender Befund bei der Lektüre von Schwarz’ Medizinischer Anthropologie ist das Faktum, dass beinahe alle diese Philosophen mit ihren neuesten Werken von ihm zitiert oder zumindest mit ihren anthropologischen Ansichten
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Werkanalyse
ausführlich erörtert wurden. Der Autor war – obwohl hauptamtlich habilitierter Urologe und als solcher tüchtig – hinsichtlich der philosophischen Literatur absolut »a jour«. Dies galt übrigens auch für seinen Informationsstand in Bezug auf Medizin, Biologie und Physik (z. B. in Bezug auf Albert Einstein und Max Planck). Daneben war Schwarz auch in der Geschichte der Philosophie sehr beschlagen. Platon und Aristoteles, Descartes, Kant, Hegel, Brentano, Husserl, Bergson, Dilthey, Simmel und Rickert scheinen ihm vertraut gewesen zu sein. Einzig Nicolai Hartmann, dessen Ethik (1926) damals in Fachkreisen viel diskutiert wurde, fehlt in der Literatur- und Namensliste der Medizinischen Anthropologie. Des Weiteren verfügte Schwarz über einen soliden Überblick über die seinerzeit aktuelle deutschsprachige wissenschaftliche Literatur aus Psychiatrie, Tiefenpsychologie, Psychosomatik und personalistischer Medizin. Neben Alfred Adler, Sigmund Freud, Erwin Wexberg und Heinz Hartmann (Psychoanalyse und Individualpsychologie) tauchen wiederholt Namen wie Friedrich Kraus, Theodor Brugsch, Gustav von Bergmann (Internisten aus Berlin), Ludolf von Krehl und Viktor von Weizsäcker (Internisten und Neurologen aus Heidelberg), Ernst Kretschmer, Ludwig Binswanger, Karl Jaspers und Erwin Straus (Psychiater), Kurt Goldstein sowie die Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler und Christian von Ehrenfels in der Medizinischen Anthropologie auf. Mit diesen Namen ist der Horizont abgesteckt, vor dem Schwarz seine Überlegungen zur medizinischen Anthropologie ansiedelte. Im Vorwort zu seinem Buch führte er aus, dass er sich der Schwierigkeiten seiner Aufgabe bewusst war: Weil der Mensch (wie Kant es formuliert hatte) Bürger zweier Welten ist, wollte und musste Schwarz ihn in seiner Medizinischen Anthropologie sowohl in der natürlichen, biomedizinischen als auch in der psychosozialen und geistigen Dimension beschreiben. Für die Erstere waren umfängliche anatomische, physiologische und biologische, für die Letztere psychologische und vor allem philosophische Kenntnisse erforderlich. Einer Heilkunde, die Menschen und nicht nur seelenlose Körper oder körperlose Seelen diagnostizieren und therapieren will, schrieb Schwarz die
Aufgabe zu, zuerst ein entsprechendes anthropologisches Konzept zu entwerfen, um in einem zweiten und dritten Schritt die Natur von Krankheit und Gesundheit zu erforschen und daran anschließend deren Diagnostik und Therapie zu entwickeln:
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Es wird also von einer Theorie der Medizin ein systematischer Aufriss des menschlichen Wesens verlangt, aus dem sich das Wesen des Krankseins deduzieren lässt, in dem das Kranksein einen logischen Ort findet. Diese Grundwissenschaft vom Menschen bezeichnen wir als Anthropologie. Ihr Aufbau ist bestimmt durch die einzigartige Struktur ihres Gegenstandes: des Menschen, der Teil der Natur und zugleich Bürger im Reich des Geistes ist (Schwarz 1929, S. XVII).
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Ausgehend von der Janusköpfigkeit des Menschen erklären sich jene Dualismen, die im zwischenmenschlichen Verkehr allgemein und in der Medizin im Besonderen eine Rolle spielen: Materie und Geist, Realität und Idealität (Werte), Sein und Geltung, Inhalt und Form, Leib und Seele. Für die naturwissenschaftliche Heilkunde besteht nach Schwarz die Aufgabe, Anschluss an die Wertwissenschaften, Künste und Philosophie zu suchen. Erst wenn sie diesen gefunden hat, wird sie tatsächliche Humanmedizin (im Sinne von menschenadäquater Heilkunde) sein. Damit verknüpft seien die Grundlagen für eine Lehre von der Person und eine tragfähige medizinische Anthropologie:
»
Das, was in der wissenschaftlichen Medizin heute geschieht, sind die ersten noch recht schüchternen Versuche, die Biologie des Kaninchens zu einer Lehre von der Person des Menschen umzubilden (Schwarz 1929, S. 17).
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Mit dem Begriff der Person stellte Schwarz einen folgenschweren Begriff ins Zentrum seiner Anthropologie und Heilkunde. Wer dem Menschen potentielle Personalität bescheinigt, kann und muss davon ausgehend bestimmte Formen der Diagnostik und Behandlung im medizinischen wie auch zum Beispiel im pädagogischen und psychotherapeutischen Bereich ableiten, welche die Medizin respektive die Erziehungslehre und Psychotherapie nachhaltig verändern.
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Kapitel • Oswald Schwarz
Person und Personalismus
Der Personbegriff war besonders in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts in der europäischen Philosophie aktuell geworden. Als Hauptvertreter des Personalismus galt der französische Linkskatholik und Philosoph Emmanuel Mounier (1905–1950), der in seinem Buch Das personalistische Manifest (1936) eine kulturelle und gesellschaftliche Neugestaltung unter personalistischen Perspektiven forderte. Vor ihm hatten unter anderem schon William Stern (Grundgedanken der personalistischen Philosophie, 1918; Person und Sache – System eines kritischen Personalismus, 1923/24), Max Scheler (Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 1921) und Nicolai Hartmann (Das Problem des geistigen Seins, 1933) die Umrisse und Inhalte der Personalität beim Menschen beschrieben. In Ergänzung zu deren Ausführungen hob Mounier vor allem auf die gesellschaftlichen Konsequenzen des Personalismus als weltanschauliche Haltung jenseits der danach aktuellen Ideologien von Faschismus, Sozialismus und egoistischem Individualismus ab. Schwarz nun ging bei seinem Personkonzept von der These aus, dass der naturhafte Anteil beim Menschen von dessen individueller Geistsphäre und der kollektiven Kultur her sinnvoll erhellt und zugleich das Geistige an ihm naturhaft fundiert wird. In gewisser Weise handelt es sich bei Personen um eine intensive Mischung aus Natur und Kultur – eine Mischung, die wenige Jahrzehnte später von Maurice Merleau-Ponty in Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) mit dem Begriff des Chiasm (Kreuzung) charakterisiert wurde. Schwarz beschrieb das Wesen dieser Kreuzung bereits 1929 in seinem Buch:
»
Gegenstand der medizinischen Anthropologie ist der Mensch, soweit er naturhaft ist, das heißt innerhalb der Sphäre biologisch-vitaler Ursachen und Zwecke; dann aber, soweit er sich zur Idee wendet, das heißt Werte in sich verwirklicht, also im Totalaspekt seiner lebendigen Existenz … Dieses Zwischenreich zwischen Biologie und Geisteswissenschaften gilt es abzustecken als eigentliche Domäne der Anthropologie (Schwarz 1929, S. 21).
«
In einem ersten großen Kapitel, betitelt mit »Der Mensch als Teil der Natur«, entwickelte Schwarz eine Schichtenlehre, die wie eine Parallele oder Vorwegnahme jener ontologischen Schriften wirkt, die damals fast zeitgleich von Nicolai Hartmann in Marburg, Köln und dann in Berlin verfasst wurden. Unter Bezugnahme auf die antike Philosophie (Platon, Aristoteles) sowie die Philosophie des deutschen Idealismus (vor allem Hegel) unterschied Schwarz beim Menschen die vier Schichten Materie (das Unbelebte), Bios (das Belebte), Psyche (das Seelische) und Logos (der Geist). Hartmann, der drei Jahre vor Schwarz‘ Medizinischer Anthropologie immerhin seine Ethik (1926) publiziert hatte, wurde von ihm weder im Zusammenhang seines Schichtenmodells noch der in seinem Buch angedeuteten Axiologie (Wertlehre) erwähnt. In seinen Ausführungen zu den verschiedenen Schichten am und im Menschen betonte Schwarz, dass es sich dabei nicht um eigenständige Wesenheiten handelt. Im Gegensatz etwa zu René Descartes, der eine materiell-körperliche von einer seelisch-geistigen Dimension scharf trennte und »res extensa« (den Körper) mit »res cogitans« (dem Bewusstsein, Geist) nur in einer kleinen Struktur des Gehirns (der Zirbeldrüse) kommunizieren ließ, stellte Schwarz mehrfach heraus, dass die einzelnen Schichten eng miteinander verwoben sind und ineinander übergehen. Dennoch weisen sie unterschiedliche Qualitäten und Eigenschaften auf. So haben unbelebte physikalische Dinge (beim Menschen zum Beispiel dessen Blutsalze oder Knochenbestandteile) eine gewisse Dichte, Schwere, Struktur und Kontur. Was ihnen jedoch im Vergleich mit dem Belebten fehlt, sind Form (als Ausdruck einer inneren Funktion), Gehalt (nicht nur Inhalt), Grenzflächen (semipermeable Membranen für den Stoffwechsel), Zentrum und Peripherie, Aktivität (Intentionalität) und Produktivität (Fortpflanzung), Wachstum, Reagibilität sowie Ganzheit (im Sinne von »mehr als die Summe der Einzelteile«):
» Chemisch-physikalische Systeme reagieren, Organe haben eine Funktion. Das ist ein grundlegender Unterschied. Die Maschinen … haben eine Leistung … Betrachtet man aber den Begriff Leistung einer Maschine nicht mehr physikalisch,
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Werkanalyse
sondern lebensmäßig, so ergibt sich, dass in ihm Bezogenheit auf ein Wertganzes liegt (Schwarz 1929, S. 48).
«
Bei einfachen Organismen handelt es sich im Hinblick auf dieses Wertganze fast ausschließlich um Vitalwerte. Anders als die bloße Materie will sich das Leben erhalten, durchsetzen, fortpflanzen und vermehren – kurz: Leben will überleben und tut alles, um diesen Wert zu verwirklichen. Auch beim Menschen lässt sich zeigen, dass er grundlegend auf solche Vitalwerte hin ausgerichtet ist. Gerät diese Wertsphäre für ihn in Gefahr, löst dies bei ihm massive Ängste und entsprechende Überlebensreaktionen aus. Eine derartige Wertorientierung lässt sich nach Schwarz bis in die Phänomene der Fluchtreflexe hinein beobachten, die er (in Anlehnung an Neurologen wie Charles Sherrington und Kurt Goldstein) als sinnvolle Antworten des Gesamtorganismus auf Nöte und Bedrängnisse aller Art interpretierte. Mit dem Begriff der Angst haben wir die dritte Schicht des Menschen, das Seelische, erreicht. Der Autor betonte hierbei, dass das Psychische nicht nur von ausdifferenzierten Emotionen (Angst, Wut, Zorn, Eifersucht, Neid, Scham, Hoffnung, Freude, Glück, Liebe usw.), sondern auch durch den »empfindungslosen Gefühlsdrang« (Max Scheler) gekennzeichnet ist. Des Weiteren weise das Seelische immer über sich hinaus (Intentionalität), indes das Körperliche in sich beschlossen bleibe. Die stets vorhandenen emotionalen Tönungen eines Menschen drücken sich als Haltungen, Stimmungen, Gefühle, Affekte, Einstellungen und Handlungen aus. Der Eindruck (als Folge von Geschehnissen) und der Ausdruck (als psychophysische Reaktion darauf) bilden ein festes und unauflösliches Gegensatzpaar, das jedoch nicht nur das menschliche, sondern auch das tierische Seelenleben charakterisiert. Schwarz war wie viele andere Philosophen, Biologen und Anthropologen der Meinung, dass alles Belebte immer auch beseelt ist – wobei sich trefflich darüber streiten lässt, ob dies analog für Pflanzen gilt, deren Ausdrucks- und vor allem Reaktionsvermögen (Verwurzelung und beinahe völliger Mangel an Motorik) im Vergleich zu Mensch und Tier merklich eingeschränkt sind.
Hinsichtlich der vierten Schicht beim Menschen (Logos, Geist) nahm Schwarz starke Anleihen bei den entsprechenden Ausführungen Hegels. Ebenso wie der von ihm zitierte Philosoph unterschied er den subjektiven vom objektiven Geist. Dessen idealistische Lehre vom absoluten Geist (Gott), der angeblich in allen Dingen, der Natur, dem Menschen und der Kultur enthalten ist und über den Geschichtsprozess aus anfänglicher Selbstentfremdung wieder zu sich selbst zurückkehrt, übernahm er allerdings nicht. Die Entwicklung von subjektivem Geist ist die Voraussetzung für die menschliche Personalität. Nur durch Teilhabe und Bildung am objektiven Geist (Kultur) wachsen und gedeihen der subjektive Geist und damit das personale Niveau eines Menschen. Dieses macht sich als Vernunft, Selbstbewusstsein, Sinn-, Wert- und Bedeutungssichtigkeit, Kommentar zu Handlungen (Gewissen), Möglichkeit zur Distanznahme sich selbst und der Welt gegenüber sowie als Fähigkeit zu Reflexion und Erkenntnis (Sprache) bemerkbar. Zu den Hauptaufgaben des subjektiven Geistes zählte Schwarz die Kulturarbeit (Objektivierung) in Form von Erkenntnis (Assimilation) oder Gestaltung (Handlung). Ausgehend von seiner Schichtenlehre erörterte der Autor im zweiten Hauptkapitel, betitelt mit Der Mensch als Schöpfer der Kultur, verschiedene Varianten der Objektivierung. Hierbei erwähnte er Sport, Tanz, Schauspiel und Sprache als lange bekannte und weitverbreitete Objektivierungsphänomene. Ausführlich beschäftigte er sich mit den Begriffen Handlung und Produktion, wobei er körperliche Produkte (Sekrete, Exkremente, motorische Handlungen) von seelisch-geistigen Produkten (Emotionen, Worte, Gedanken, künstlerische und wissenschaftliche Produkte) unterschied. Objektivierung bezieht sich demnach auf die eigene Person, auf die Mitmenschen, die Natur wie auch auf die Kultur. Objektivieren sich Menschen bevorzugt auf sich oder die nächsten Mitmenschen bezogen, bezeichnete Schwarz dies als Ausdruckshandlung oder -bewegung. Hierunter lassen sich Affekte, somatische Reaktionen wie Erröten und Erblassen, Lachen und Weinen sowie Gesten und Körperhaltungen als psychophysische Kundgaben eines Individuums subsumieren.
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Kapitel • Oswald Schwarz
Im Gegensatz und in Ergänzung dazu beschrieb Schwarz die sogenannten Werkhandlungen. Bei ihnen versucht der Einzelne, jenseits der eigenen Person angesiedelte Werte zu verwirklichen. Dabei kann es sich um Sach- und Güterwerte (Handwerk, Handel, Bildung), personale Werte (Freiheit, Würde, Solidarität, Humanität, Intuition) oder kulturelle Werte (Wahrheit, Schönheit, Erkenntnis) handeln. Eine besondere Art von Objektivierung sind technische Handlungen. Ihr Wesen erläuterte Schwarz anhand der medizinischen Diagnostik und Therapie, die man landläufig als angewandte Wissenschaft bezeichnet. Der Autor betonte, dass Wissenschaften nicht angewendet werden können, ohne dass sie sich als solche fundamental verändern. Setzt man nämlich ihre Erkenntnisse in konkretes Handeln um, entsteht – Technik. z
Personale Heilkunde
Beim ärztlichen Tun handelt es sich dem Autor zufolge nun nicht nur um technische, sondern auch um beinahe künstlerische Handlungen. Ärzte legitimieren ihre diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweisen zwar meist mit naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Berücksichtigt man aber das Faktum, dass sie mit kranken Personen und deren körperlichen, seelischen und geistigen Schichten Umgang pflegen, dürften ärztliche Tätigkeiten mit demselben Recht von den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften als zuständige Instanzen betrachtet werden. Sowohl die Schichtenlehre als auch die Definitionen von Produktion, Handlung und Objektivierung verwendete Schwarz, um die medizinischen Begriffe von krank und gesund prägnanter als zu seiner Zeit üblich mit Inhalt zu füllen. Er exemplifizierte dies anhand des Erkrankungsbildes der Neurosen, die damals im Zuge ihrer tiefenpsychologischen Erforschung (Freud, Adler, Jung) viel diskutiert wurden:
»
Krank sind diese Menschen, weil ihre psychophysische Konstitution sie nicht in die Lage versetzt, den Anforderungen vom Geiste her zu genügen, noch sie radikal abzulehnen, und weil sie das vom Körper her genährte Gefühl der Unangepasstheit dem Leben gegenüber und des Ungenügens
dem Geiste gegenüber als leidvolle Spannung und Hemmung erleben … Neben die vorhin erwähnte Undiszipliniertheit der Ausdruckshandlung tritt die Entartung der Werkhandlung. Die Neurose spielt sich demnach in dem spezifisch menschlichen Geschehen, der Handlung ab, sie ist geradezu die Erkrankung der Handlung als solcher (Schwarz 1929, S. 80).
«
Bei Krankheiten, aber auch bei antisozialem Verhalten, Kriminalität oder Perversionen ist Schwarz zufolge bei den Betreffenden eine Orientierung an nur einem oder wenigen Werten zu beobachten. Die Vielfalt und Breite des Werthorizonts ist eingeschränkt, wobei in der Regel die Vitalwerte (Überleben, Macht, Überlegenheit) im Zentrum ihrer Wertwahrnehmungen stehen. Die Dominanz von jeweils einem Wert oder einer Wertgruppe macht die zu beobachtende Handlungsweise, Lebenshaltung und Weltanschauung eines Individuums verständlich. Die meisten dieser axiologischen Überlegungen spielen jedoch im konkreten medizinischen Alltag zumindest keine explizite Rolle. Schwarz bemängelte den kruden Pragmatismus vieler Ärzte und in der Medizin tätiger Forscher, die sich einmal dem anatomischen Befund, das nächste Mal dem Blut- oder Röntgenbild, ein drittes Mal den Beschwerden des Patienten, dem Ätiologiekonzept oder den sozialmedizinischen Folgen einer Krankheit zuwenden, um diese beim Namen zu nennen und zu behandeln. Ein anthropologischer Leitfaden (orientiert zum Beispiel an einem Schichtenmodell) fehlt dabei ebenso wie eine durchgehende wissenschaftliche Haltung oder eine konzise Terminologie. Die terminologischen Schwierigkeiten erläuterte Schwarz anhand des in der Medizin zentralen Begriffs des Symptoms. Wie am Menschen verschiedene Schichten beschrieben werden können, lassen sich auch am Symptom materiell-biologische und seelisch-geistige Dimensionen erfassen. So kann der Arzt mit Hilfe geeigneter Untersuchungstechniken die physische Realität von Symptomen nachweisen (körperlicher Befund) und zugleich den oftmals sehr individuellen Sinn- und Bedeutungsgehalt desselben Symptoms (seelische und geistige Aspekte) vom Patienten erfragen. Will man
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Werkanalyse
Kranke und nicht nur Krankheiten diagnostizieren und therapieren, sind beide Gesichtspunkte essentiell. Ähnlich komplex und vielschichtig wie der Terminus Symptom ist derjenige der Therapie. Schwarz attestierte dem Medizinalsystem auch in Bezug auf diesen Begriff einen eklatanten Mangel an terminologischer und damit theoretischer Durchdringung. Weder sei es im konkreten Einzelfall in der Regel geklärt, welches therapeutische Ziel angesteuert wird (hier gibt es meist erhebliche Differenzen zwischen den Vorstellungen des Patienten und denjenigen von Ärzten, Pflegenden und Therapeuten), noch besteht Einigkeit über die dafür notwendigen Mittel. Schließlich ist häufig auch nicht geklärt, welche therapeutischen Interventionen zum Erfolg oder Misserfolg beigetragen haben, und wie der Spontanverlauf der jeweiligen Krankheit ohne spezifische Therapien ausgefallen wäre. Meist einigen sich deshalb Patienten und Ärzte ganz schlicht darauf, einen Zustand von Gesundheit anzustreben. Für Schwarz war eine solche Zielsetzung begrifflich und theoretisch jedoch ebenso unscharf wie die Termini Krankheit, Symptom und Therapie. Seiner Meinung nach gewinnt man wenig, wenn man den nicht geklärten Terminus Krankheit durch den ähnlich diffusen Begriff einer allgemein gültigen Gesundheit zu definieren versucht. Um diese Defizite umfassend zu beheben, forderte er unter Bezugnahme auf die schon von Wilhelm Dilthey beschriebenen Methoden des Verstehens (in den Geisteswissenschaften) und Erklärens (in den Naturwissenschaften) die Etablierung einer personalen Heilkunde:
» Die allerjüngste Phase der Entwicklung der modernen Medizin steht unter dem Zeichen des Personalismus. Darunter wird verstanden, dass auch in der Erkrankung die Einzigartigkeit der Person zu ihrem Rechte gelangen soll … Von einer Pathologie der Person wird aber mehr verlangt, nämlich eine extensive Bereicherung unseres ärztlichen Denkens und Könnens; es sollen neue Seiten des kranken Menschen aufgedeckt und in das Krankenbild einbezogen werden. Diese betreffen nun nicht nur das Sein, nicht nur das Reagieren, nicht nur die Funktion des individuellen Organismus …, sondern das Handeln der Person … Von
dieser Intentionalität her den Sinn des physischen Geschehens zu verstehen und nicht aus psychophysischen Gesetzen zu erklären, ist Aufgabe eines wahren Personalismus (Schwarz 1929, S. 355ff.).
«
z
Sexualität und Persönlichkeit
Seine personalistische Sicht des Menschen aus Medizinische Anthropologie übertrug Schwarz in seine sexualmedizinischen Schriften. Ausgehend von der Grundthese, dass der Mensch sowohl Teil der Natur als auch Schöpfer und Geschöpf der Kultur (so der Titel eines Anthropologie-Buches von Michael Landmann) ist, interpretierte der Autor dementsprechend die gelingende menschliche Sexualität prinzipiell als ein körperlich-triebhaftes wie auch seelisch-geistiges und kulturelles Phänomen:
»
Denn wie die Sexualität erst ihre Vollendung erfährt, dass sie eine personhafte wird, so erlangt die menschliche Person wiederum ihre Vollkommenheit erst dadurch, dass sie eine geschlechtliche ist (Schwarz 1934, S. XII).
«
Schwarz war überzeugt, dass man für alle Formen von Normabweichung oder Pathologie innerhalb der Medizin, Psychologie und Psychotherapie zuerst eine Vorstellung über das Normgerechte und Gesunde entwickeln müsse. Nur wenn man sich im Klaren darüber sei, wie Normen (etwa im Hinblick auf körperliche Funktionen oder seelische Zustände) beschaffen sind, könne man das davon Abweichende erkennen und in adäquater Weise einordnen. Dies galt für Schwarz auch in Bezug auf die menschliche Sexualität. In Sexualität und Persönlichkeit unternahm er daher den Versuch, den Gehalt normgerechter menschlicher Sexualität zu erfassen. Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Buches publizierte er den korrespondierenden Text über Sexualpathologie (1935), worin er sexuelle Funktionsstörungen und Deviationen abhandelte. Sexualität und Persönlichkeit ist in zwei große Kapitel unterteilt. Im ersten beschäftigte sich der Autor mit den körperlichen, seelischen und geistigen Aspekten der menschlichen Geschlechtlichkeit. Dabei unterzog er den Begriff Trieb einer fundierten Kritik. Vor allem das Triebkonzept Sigmund
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Kapitel • Oswald Schwarz
Freuds fand bei Schwarz wenig Gegenliebe. Der Begründer der Psychoanalyse sei von der irrigen Meinung ausgegangen, dass Triebe ein Ziel verfolgen, über sich hinaus auf Objekte ausgerichtet sind und abreagiert oder sublimiert werden können. Hinsichtlich dieser Thesen vertrat Schwarz dezidiert andere Positionen. Auch Arthur Schopenhauers Vorschlag, die Sexualität als eine Art List der Natur zu interpretieren, welche dem Menschen mit Hilfe des damit verbundenen Lustgewinns das Zeugungsgeschäft seiner Gattung schmackhaft machen solle, fand keine Zustimmung des Autors. Vielmehr betonte er, dass der Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung beim Menschen nur ein sehr indirekter sei, und dass sich der Homo sapiens diesbezüglich in einer im Vergleich zu den Tieren merklich freieren und selbst bestimmten Situation befinde. Ebenso wenig wie man beim Menschen die Sexualität mit der Zeugung von Nachkommenschaft in eins setzen dürfe, ist es sinnvoll, den Geschlechtstrieb mit Eros und Liebe zusammenzuwerfen oder – wie dies in der Psychoanalyse geschieht – die Letzteren als sublimierte Formen des Ersteren zu definieren. Ausgehend von seinem Schichtenmodell ordnete Schwarz den Sexualtrieb vielmehr der vital-biologischen, die Liebe dagegen der personalseelisch-geistigen Schicht im Menschen zu. Niemals könne ein Trieb zur Ursache für ein seelischgeistiges Phänomen wie die Liebe werden. Weil jedoch beim konkreten Geschlechtsakt die vital-triebhaften Impulse gemeinsam mit emotional-seelischen (Zuneigung, Zärtlichkeit, Intimität, Nähebedürfnis, Sympathie) und personal-geistigen Phänomenen (Anerkennung eines Du, Verwirklichung von Werten wie Freiheit und Solidarität, Wertschätzung der eigenen Person wie auch des Gegenüber) auftreten, sind manche Beobachter auf die Idee verfallen, die Triebe als kausal wirkende Ursachen für Liebe und Eros zu deklarieren. Den Geschlechtsakt bezeichnete Schwarz als eine Handlung. Damit wollte er ausdrücken, dass sich in das Geschehnis der Triebbefriedigung ein ganzes Bündel von Erlebnissen, Motiven und Werteinstellungen der Beteiligten mischt. Dass sich der bloße Sexualtrieb ungehemmt, unverhüllt und ohne psychosoziale und geistig-personale Gesichtspunkte durchsetzt, komme beim Menschen selten vor.
Allenfalls in extremen Rauschzuständen oder im Zuge neurologischer Krankheiten lasse sich derlei beobachten. Weil für Schwarz die gelingende Sexualität ein zutiefst personales Ereignis war, und weil die Personalität eines Menschen über Jahre hinweg intensiver Förderung und Entwicklung bedarf, bis sie ein hohes Niveau erreicht, überrascht es nicht, dass der Autor auch hinsichtlich der Sexualität von einer Jahre und Jahrzehnte dauernden Phase des Lernens und der Evolution ausging. Anerkennend zitierte er in diesem Zusammenhang Freuds Phasenlehre der psychosexuellen Entwicklung des Kindes; ihr sei es zu verdanken, dass man seither die verschiedenen Aspekte der frühkindlichen Sexualität ohne falsche Scham und Scheu thematisiere und erforsche. Allerdings konnte sich Schwarz mit den inhaltlichen Ausgestaltungen der Freud‘schen Entwicklungslehre nicht anfreunden. In Anlehnung an Charlotte Bühlers Lebensstufenkonzept, das sie in Büchern wie Kindheit und Jugend (1931) und Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem (1933) formuliert hatte, entwarf Schwarz deshalb eine eigene Stufenfolge der menschlichen Geschlechtlichkeit mit den vier Phasen der frühkindlichen, jugendlichen, reifenden und reifen Sexualität. Bei kleinen Kindern nahm Schwarz ähnlich wie Alfred Adler Vorstufen und Ansätze von Zärtlichkeit als keimende Formen der Erotik als gegeben an. Zwar werden durchaus Säuglingsonanie und bei Knaben Spontanerektionen beschrieben. Darüber hinaus seien Sexualspiele (Doktorspiele) bei Kindern beinahe ebenso die Regel wie die Tendenz der Fünf- bis Sechsjährigen, sich nackt zu zeigen oder die Nacktheit der anderen erspähen zu wollen. Allen diesen sexuellen Aktionen und Reaktionen mangele es jedoch sichtlich an Erotik und geschlechtlichem Erleben. Wenn Erwachsene in die Kinder Derartiges hineininterpretieren, handelt es sich um deren eigene Phantasien, nicht aber um tatsächliche kindliche Erlebnisqualitäten. Mit Recht sprach Sándor Ferenczi diesbezüglich von einer Sprachverwirrung, die leider immer wieder bis zur Gefühls- und Handlungsverwirrung (sexueller Missbrauch) ausufert. Der Phase der jugendlichen Sexualität ordnete Schwarz die Phänomene von Onanie, Entwick-
Werkanalyse
lungshomosexualität und Pubertät zu. Im Unterschied zur Säuglingsonanie phantasiert der einsam masturbierende Jugendliche einen oder mehrere Sexualpartner, womit er zumindest in Gedanken in Beziehung zu anderen Menschen tritt und probeweise eine sexuelle Situation einübt. Daneben gibt es aber auch die Formen der Zweck-, Angst-, Belohnungs- und Trostonanie, bei denen die körperliche zugleich und eigentlich eine seelische Spannungsabfuhr bezweckt. Ebenfalls als übende Vorstufe der späteren reifen Sexualität verstand Schwarz die Entwicklungshomosexualität. Meist ereignen sich solche sexuellen Kontakte im Rahmen von engen Freundschaften, als Schwarm, in Internaten und Jugendgruppen oder beim Militär. Nicht selten bleibt es bei erotisch-sehnsuchtsvoller platonischer Beziehungsaufnahme zum gleichen Geschlecht; bisweilen kommt es aber auch zu vollgültigen sexuellen Handlungen. Ein wesentlicher seelischer Zug bei der Entwicklungshomosexualität ist nach Schwarz die »zögernde Attitüde«. Diesen Ausdruck übernahm er von Alfred Adler, der damit das vorsichtig zurückhaltende Agieren von schüchternen und ängstlichen Menschen (Neurotikern) bezeichnet hatte. Schwarz sah eine solche Einstellung bei jenen Jugendlichen als gegeben, die sich zwar dem Thema der Sexualität zuwenden, dabei aber noch nicht den Mut aufbringen, sich dem Radikalfremden (anderes Geschlecht) zu nähern, und deshalb bei der gleichgeschlechtlichen Liebe haltmachen. Den Schritt zum andersgeschlechtlichen Du wagt der mutig expansive Pubertierende, wobei die Fusion von Eros, Sexus und Personalität bei ihm im Vergleich zum Erwachsenen auf einem niedrigeren Niveau stattfindet. Weil die ersten realsexuellen Kontakte oft mit Frustrationen verknüpft sind, suchen nach Schwarz vor allem junge Männer in der Spätpubertät und Adoleszenz nach Möglichkeiten, außerhalb einer sich fest anbahnenden Beziehung diverse Liebestechniken zu erlernen. Diese finden sie nicht selten im Rahmen von Verhältnissen, Affären, Liebeleien und – der Prostitution. Es mag überraschen, dass der religiös orientierte Urosoph Schwarz unter der Überschrift Die reifende Sexualität dem Thema der Prostitution breiten Raum zugestand und diese Form der Ge-
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schlechtlichkeit als beinahe reguläre Stufe hin zur reifen Sexualität auffasste. Liest man jedoch genauer nach, wird deutlich, dass er damit alle Spielarten einer anonymen, zukunftslosen und bedeutungsarmen Sexualität meinte. Dass man für derlei die käufliche Liebe benutzt und für Liebesdienste bezahlt, sei eine Sonderform der reifenden Sexualität, die vom Autor zwar nicht goutiert, aber auch nicht generell in Frage gestellt wurde. In seinem Text fühlte er sich gekonnt in das Seelenleben jener jungen Männer ein, die aus pädagogischen Motiven oder (was viel häufiger geschieht) aufgrund von Hemmungen, Verwöhnung, Konsumentenhaltung und patriarchalischem Dominanzstreben Prostituierte aufsuchen. Die Not der in den allermeisten Fällen zur Prostitution gezwungenen Frauen (mit materiellen, sozialen und seelischen Defiziten versehen; oftmals ehemalige Missbrauchsopfer) wurde in Schwarz‘ Buch jedoch bemerkenswert kurz abgehandelt. Viel ausführlicher widmete sich Schwarz im letzten Teil seines Buches der Ehe und der reifen Sexualität, die er in den Rang »echter anthropologischer Grundphänomene« erhob. Als Ehe bezeichnete er jene Partnerschaften, die als spezifisch, definitiv, persönlich, bedeutsam und lang dauernd angelegt sind und von der Kultur gewollt, mitgestaltet und gefördert werden. Gemeinhin wird die Ehe mit Gefühlszuständen wie Verliebtheit und Liebe in Verbindung gebracht. Schwarz negierte diese Zusammenhänge nicht, relativierte sie jedoch. Normalerweise sei bei jahrelangen Partnerschaften eine Entwicklung und Veränderung der Liebesrealität zu konstatieren, die man als Übergang von der Verliebtheit in die exklusive Liebeswelt und weiter in die Tagesliebewirklichkeit charakterisieren kann. Eng damit assoziiert ist die Integration von Alltag ins Eheleben. Um dasselbe nicht alltäglich werden zu lassen, ist es nötig, Werte wie Treue, Verstehen, Würde, Solidarität, Personalität und Gemeinschaftserleben als solche zu erkennen und zu verwirklichen. Bezogen auf den letzteren Wert wollte Schwarz partout Parallelen zwischen der Ehe sowie völkischen und religiösen Gemeinschaften sehen – eine Verbeugung von dem damaligen Zeitgeist (Mitte der 30er Jahre), die als unnötig und deplatziert erscheint.
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Kapitel • Oswald Schwarz
Noch problematischer sind die Ausführungen von Schwarz zu den Themen Ehe als historisches Phänomen, Zur Soziologie der Ehe und Die aktuelle Ehekrise. Hier erwies er sich als konservativ gesinnter Forscher und Schriftsteller, der in der Institutionalisierung der bürgerlichen Ehe einen Wert an sich erblickte und die sozialgesellschaftlichen Experimente seiner Zeit (Sozialismus, Kommunismus) als Angriff nicht nur auf die Ehe, sondern auf den damaligen Wertekanon generell erachtete. So war er zum Beispiel fest davon überzeugt, dass eine proletarische Existenzweise per se ehefeindlich sei. Die Lektüre von Sexualität und Persönlichkeit hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Anerkennenswert ist, dass Schwarz die Sexualität des Menschen nicht nur als biologisch-triebhaftes, sondern auch als psychosoziales, geistiges und damit personales Phänomen begriff, das axiologisch verankert werden soll. Leider unterließ er es, dieser Thematik auch kulturkritisch zu begegnen. Dabei hätte er zu berichten gehabt, wie sehr Religionen, weltliche Ideologien (Kapitalismus, Totalitarismus) und das Patriarchat in der Vergangenheit die Sexualität der Menschen massiv verunstaltet und belastet haben.
Conclusio Diese Kritik an Sexualität und Persönlichkeit bedeutet in gewisser Weise auch ein Urteil über das gesamte anthropologische Werk von Schwarz. Seine Medizinische Anthropologie glänzt durch Beschlagenheit in Bezug auf Biologie, Psychologie und Philosophie der Person, und das darin vorgestellte Schichtenmodell weist große Stringenz und Praktikabilität auf, so dass es heute noch als anthropologische Basis einer personalen Heilkunde zitiert und angewendet wird. Man kann Schwarz daher zu Recht attestieren, sich als einer der ersten anthropologisch interessierten Ärzte im 20. Jahrhundert dem Begriff der Person und davon ausgehend einer philosophischen Fundierung der Medizin gewidmet zu haben. Der Personalismus hat in ihm einen ärztlichen Vertreter gefunden, der sowohl Philosophen als auch medizinische Kollegen zu überzeugen wusste. Schmerzlich vermisst man beim Studium der Schriften von Schwarz jedoch eine entschiedene
Kulturanalyse und -kritik. So fehlen bei ihm die Namen und skeptischen Ideen der Linkshegelianer (Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Karl Marx, Friedrich Engels) ebenso wie diejenigen der Ideologieund Religionskritiker Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Der kulturanalytische Mangel führte dazu, dass Schwarz das Werden und Wachsen einer Person mitsamt den involvierten Schichten nur von der individuell-persönlichen, nicht aber von der historisch-gesellschaftlich-kulturellen Dimension her beschreiben konnte. Daher erscheinen die von ihm skizzierten Menschen auch nicht als politische, gesellschaftliche und geschichtliche Wesen oder als Einzelne, die notfalls um den Preis von Streit, Konflikt und Revolte um Selbstrealisation, Aufklärung und Fortschritt ringen. Eine kritische Berücksichtigung des Faktors Kultur hätte Schwarz wohl davor bewahrt, universalistische Aussagen über den Menschen (etwa in Bezug auf Sexualität und Ehe) zu treffen. Und sie hätte ihn womöglich in die Lage versetzt, die Einflüsse von Historie und Sozietät auf die Menschen bis in ihre biomedizinischen und seelisch-geistigen Schichten hinein aufzuzeigen. Trotz dieser Einschränkungen lohnt die Beschäftigung mit den Schriften des Wiener Urosophen. Obwohl Schwarz konservativ gesinnt war, atmen seine Texte das hohe Sprach- und Bildungsniveau von Alteuropa, mit dem zu kommunizieren auch heute noch lehrreich und inspirierend wirkt.
Literatur Bühler Ch (1933) Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Hirzel, Leipzig Frankl V, Kreuzer F (1997) Im Anfang war der Sinn – Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Ein Gespräch. Piper, München (Erstveröff. 1982) Handlbauer B (1984) Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers. Fischer, Frankfurt am Main Hoffman E (1997) Alfred Adler – Ein Leben für die Individualpsychologie (1994). Ernst Reinhardt, München Kieser B (2001) Oswald Schwarz – Urologe, medizinischer Anthropologe und Psychosomatiker, medizinische Promotion. Mainz Landmann M (1961) Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. Reinhardt, München
Literatur
Schwarz O (Hrsg) (1925) Psychogenese und Psychotherapie körperlicher Symptome. Springer, Wien Schwarz O (1929) Medizinische Anthropologie – Eine wissenschaftstheoretische Grundlegung der Medizin. Hirzel, Leipzig Schwarz O (1930) Das Leib-Seele Problem in der Medizin. Thieme, Leipzig Schwarz O (1931) Über Homosexualität – Ein Beitrag zu einer medizinischen Anthropologie. Thieme, Leipzig Schwarz O (1934) Sexualität und Persönlichkeit. Weidmann, Wien Schwarz O (1935a) Sexualpathologie. Weidmann, Wien Schwarz O (1935b) The psychology of sex and sex education. Penguin Books, London Schwarz O (1949) The psychology of sex. Penguin Books, London
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Arthur Jores Biographisches – 422 Werkanalyse – 423 Conclusio – 431 Literatur – 432
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Arthur Jores
. Abb. 1 Arthur Jores (*1901; †1982) (rechts) bei der Verleihung des Goethepreises 1950 an Carl Jacob Burckhardt. (Mit freundlicher Genehmigung von interfoto)
Mit seinem Buch Der Mensch und seine Krankheit (1956) hat sich Arthur Jores (1901–1982) um die Psychosomatik und medizinische Anthropologie Verdienste erworben. Er wurde zu einem bedeutenden Promotor einer Synthese zwischen Tiefenpsychologie und moderner Heilkunde. Auch in anderen Arbeiten strebte er dieses Ziel an, so in Vom kranken Menschen (1961), Die Medizin in der Krise unserer Zeit (1966) Menschsein als Auftrag (1967) und Um eine Medizin von morgen (1969). Zusammen mit Margit von Kerekjarto gab Jores das Buch Der Asthmatiker (1969) heraus. Zudem war er Herausgeber des Lehrbuchs Praktische Psychosomatik (1976), an dem viele Kapazitäten auf diesem Gebiet mitgearbeitet haben (. Abb. 1).
Biographisches Arthur Jores wurde 1901 als zweiter von insgesamt drei Söhnen in Bonn in eine Arztfamilie hineingeboren. Sein Vater war Anatom, der 1911 nach Marburg und 1917 nach Kiel berufen wurde, wo er das Ordinariat für pathologische Anatomie erhielt und später sogar Rektor der Universität wurde. Nach seinem Abitur 1919 inskribierte Jores trotz skeptischer väterlicher Kommentare in Medizin. Sein Studium absolvierte er in München und Kiel. Er war ein begeisterter und erfolgreicher Student, der sich mit Hochachtung von den Koryphäen der jeweiligen medizinischen Fakultäten (z. B. vom Gynäkologen Albert Döderlein oder vom Chirurgen Ferdinand Sauerbruch) in die Grundlagen ihrer Disziplinen einführen ließ.
Als Jores sein Medizinstudium abgeschlossen hatte, fuhr er einige Monate als Bordarzt zur See und absolvierte dann in Hamburg eine Weiterbildung zum Internisten am Altonaer Krankenhaus. Sein dortiger Chef Leopold Lichtwitz, der in den 30er Jahren am Virchow-Klinikum in Berlin tätig war und wegen seiner jüdischen Abstammung in die USA emigrieren musste, wurde für ihn zu einem maßgeblichen Vorbild. An ihm lernte er, wie man exakte klinische Forschungsarbeit mit empathischer und mitmenschlicher Haltung den Patienten gegenüber verbinden kann. In Lichtwitz’ Abteilung befasste sich Jores wissenschaftlich mit der Thematik der Chronobiologie und Endokrinologie. Er erforschte den 24-Stunden-Rhythmus diverser vegetativer Funktionen des menschlichen Körpers. Außerdem untersuchte er das Melanophorenhormon, von dem er zeigen konnte, dass es ein eigenständiges Hormon der Hypophyse ist, welches die Pigmentierung der Haut reguliert. Mit den letzteren Arbeiten habilitierte sich Jores 1932 an der Universität Rostock für innere Medizin. Noch in Hamburg hatte Jores eine junge Assistenzärztin geheiratet, die er von seinem Studium her kannte. Mit ihr zusammen wohnten er und ihre beiden Söhne bis 1936 in Rostock. Als ein Oberarzt an der dortigen Universitätsklinik bemerkte, dass Jores brieflichen Kontakt mit seinem ehemaligen Lehrer Lichtwitz in den USA unterhielt, verlor er seine Anstellung. Im NS-Regime reichten persönliche Beziehungen zu Juden aus, um seiner Ämter und Würden enthoben zu werden. In den darauf folgenden Jahren arbeitete Jores in Hamburg in einer chemisch-pharmazeutischen Fabrik, wo er Hormonpräparate biologisch auswertete. Während des Zweiten Weltkriegs tat er in verschiedenen Lazaretten in Dänemark und Norddeutschland Dienst. Aufgrund einer unvorsichtigen pazifistischen Bemerkung wurde er wegen angeblicher Wehrzersetzung angezeigt und entging nur um Haaresbreite einer Verurteilung zum Tode. Die Erlebnisse der Haft und des Prozesses trugen mit dazu bei, dass Jores und seine Frau vom Protestantismus zum Katholizismus übertraten. Die kurze Phase einer skeptischen Weltanschauung, während der Jores mit innerer Zustimmung Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Ernst
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Werkanalyse
Haeckel gelesen hatte, wurde abgelöst von einer tiefen Religiosität, welche das Denken und die Schriften des Autors beeinflusste. Seine medizinisch-naturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten wurden von den religiösen Ideen allerdings nicht tangiert. Nach 1945 übernahm Jores die Leitung der internistischen Abteilung des Krankenhauses Hamburg-Eppendorf. 1946 wurde er Ordinarius für innere Medizin und 1950 sogar Rektor an der dortigen Universität. Damals machte sich immer mehr sein Interesse für Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Psychotherapie und Psychosomatik bemerkbar, das sich in den folgenden Jahrzehnten zunehmend in den Vordergrund schob. Jores absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung und beschäftigte sich mit psychosozialen Aspekten körperlicher Krankheiten. Vor allem beim Studium des Asthma bronchiale gewann er wichtige Einsichten hinsichtlich der seelischen Dimensionen dieses Leidens. In den 50er Jahren war aus ihm ein profunder Kenner der tiefenpsychologischen Theorie und Praxis geworden, was seine Wendung hin zur Psychosomatik verständlich erscheinen lässt. Einige Jahre lang leitete Jores neben seiner universitären Klinik eine 40-Betten-Abteilung mit psychosomatischem Schwerpunkt. Dort entwickelte er nach eigenem Bekunden zusammen mit den Patienten diagnostische und therapeutische Vorgehensweisen, die sowohl die körperlichen als auch die seelisch-geistigen Aspekte der Krankheiten umfassten. 1955 publizierte Jores das Buch Der Mensch und seine Krankheit. Es bildete den Auftakt zu einer Reihe von Veröffentlichungen, die sich mit psychosomatisch-anthropologischen Fragestellungen beschäftigten: Die Medizin in der Krise unserer Zeit (1961), Vom kranken Menschen (1961), Menschsein als Auftrag (1964), Um eine Medizin von morgen (1969), Der Asthmatiker (1969, zusammen mit Margit von Kerekjarto), Der Kranke mit psychovegetativen Störungen (1973) und Praktische Psychosomatik (1976, Herausgeber). Ende der 50er Jahre traten Jores und sein Mitarbeiter Hans Georg Puchta mit einer Untersuchung über den Pensionierungstod an die Öffentlichkeit, die weithin Beachtung fand. Bei Hamburger Beamten hatten sie festgestellt, dass überproportional
viele von ihnen in den ersten Monaten und Jahren nach ihrer Pensionierung verstarben. Die Forscher führten dies auf einen eklatanten Mangel an Aufgaben und Sinn-Erleben bei den Pensionären zurück. Jores selbst überwand die Klippe der Berentung gut. Nach seiner Emeritierung 1968 stellte er weiterhin wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich der Gruppenpsychotherapie an. Außerdem blieb er als Autor aktiv, wobei es ihn mit besonderer Genugtuung erfüllte, im 75. Lebensjahr als Herausgeber die erste Auflage eines umfangreichen Psychosomatiklehrbuchs (Praktische Psychosomatik) in Händen zu halten. Der Inhalt dieser Publikation bestätigt jene Einschätzung, mit der Jores seine Selbstdarstellung (in: Pongratz 1973) ausklingen ließ: »Immer bewegte mich bei aller meiner wissenschaftlichen Arbeit die Sache und nicht meine Person; und immer ging es mir im Grunde genommen um den kranken Menschen – ich war mit Leidenschaft Arzt.«
Werkanalyse In der Folge wird hauptsächlich Bezug genommen auf die Abhandlung Über den Sinn der Krankheit (1950) sowie die Bücher Der Mensch und seine Krankheit, Die Medizin in der Krise unserer Zeit und Menschsein als Auftrag. In diesen Texten ist der anthropologische Standpunkt des Autors besonders klar herausgearbeitet. An den Beginn der Erörterungen soll eine Art programmatisches Credo gestellt werden, das Jores in seiner Selbstdarstellung formuliert hat, und in dem er auf das Leib-SeeleProblem zu sprechen kam:
»
Ein jeder Mensch bietet uns immer die beiden Aspekte: den somatischen und den psychischen, aber beide Aspekte sind Polaritäten. Für sie gilt das Komplementaritätsprinzip, wie es von Nils Bohr aufgestellt worden ist. Man muss ganz frei werden von dem dualistischen Denken der Vergangenheit (Jores 1973a, S. 245).
«
Dieser monistischen Überzeugung gemäß kann man an dem einen menschlichen Organismus zwar verschiedene Aspekte (Somatisches und Psychisches) erkennen und beurteilen, ohne dass diese je-
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Kapitel • Arthur Jores
doch als eigenständig oder voneinander unabhängig bezeichnet werden dürfen. Dementsprechend sind Einteilungsschemata in entweder seelische oder körperliche Erkrankungen fragwürdig.
Schilddrüse bekommt, ist dabei nicht beantwortet … In der Kette von Ursachen, die zu der Erkrankung führt, ist also die Ätiologie das erste, die Pathogenese das letzte Glied (Jores 1966, S. 16).
z
Habe man lediglich die Pathogenese von Krankheiten verstanden, könne man die Patienten und ihre Erkrankungen immerhin den jeweiligen Pathomechanismen gemäß behandeln. So verabreicht man bei Morbus Basedow Medikamente, welche die Überfunktion der Schilddrüse drosseln und damit die Beschwerden der Betreffenden mindern, ohne dass jedoch in der Regel die Krankheitsursachen dafür umfassend geklärt sind. Noch prekärer stellt sich die Situation bei jenen Patienten dar, deren unterschiedliche Leidenszustände nur symptomatisch therapiert werden können, weil weder Ätiologie noch Pathogenese hinreichend bekannt sind. Zu dieser Gruppe zählten damals, als Jores sein Buch über Die Medizin in der Krise unserer Zeit verfasste, zum Beispiel die Funktionsstörungen des Magens, Herzens, Urogenitaltrakts oder der Lunge sowie Schmerzstörungen, Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Adipositas, aber auch Asthma bronchiale, Ulcus ventriculi et duodeni (Geschwüre des Magens und des Zwölffingerdarms), Hypertonie und Colitis ulcerosa (eine chronisch entzündliche Darmerkrankung). Inzwischen sind für einige dieser Erkrankungen pathogenetische und/oder ätiologische Konzepte formuliert worden. Dennoch behält Jores’ Vorschlag, diese (wie auch andere) Krankheiten nicht nur nach möglichen Ursachen, sondern auch nach deren Sinn und Bedeutung zu befragen, ihre Gültigkeit. Eine solche Idee äußerte er das erste Mal öffentlich bei seiner Rektoratsrede 1950 in Hamburg:
Ätiologie und Pathogenese
Statt einer solchen Unterteilung schlug Jores ein anderes Schema vor und beschrieb drei Krankheitsgruppen: Erkrankungen, bei denen entweder Ätiologie sowie Pathogenese, nur die Pathogenese oder aber keine von beiden bekannt sind. Unter Ätiologie versteht man die Lehre von den Ursachen einer Krankheit einschließlich materieller, biologischer, psychosozialer und kultureller Faktoren, die zu ihrer Entstehung beitragen. Die Pathogenese hingegen beschreibt lediglich jene biomedizinischen Vorgänge im Organismus, die im Rahmen von bestimmten Erkrankungen typischerweise auftreten. Bei vielen Infektionskrankheiten etwa ist die Ätiologie (z. B. Viren, Bakterien, Pilze) wie auch die Pathogenese (Entzündungsprozesse) weitgehend geklärt. Nach Jores lassen sich derartige Krankheitsbilder oft kausal therapieren (mit Hilfe von antiviral, antibiotisch oder antimykotisch wirkenden Medikamenten). Ähnliche Verhältnisse hinsichtlich Ätiologie und Pathogenese finden sich bei Fehlernährung, äußeren physikalischen und chemischen Noxen oder bei Traumatisierungen. Diese Verursacher von Krankheiten wirken bei Pflanze, Tier und Mensch (besonders bei den beiden Letztgenannten) in beinahe analoger Weise pathogen. Daneben gibt es jedoch viele Erkrankungen, die von der Medizin bisher lediglich in Bezug auf ihre Pathomechanismen, nicht aber hinsichtlich ihrer Ätiologie durchschaut wurden. Jores erwähnte in Die Medizin in der Krise unserer Zeit in diesem Zusammenhang unter anderem den Morbus Basedow:
»
Eine Erkrankung, deren unmittelbare Ursache eine Überfunktion der Schilddrüse darstellt. Alle Zeichen, die ein solcher Mensch bietet, sind uns dank der pathogenetischen Forschung völlig verständlich. Aber die Frage danach, warum ein bestimmter Mensch, häufig sogar an einem genau festgelegten Tag, eine solche Überfunktion der
«
» Die Frage nach dem Sinn der Krankheit aufzuwerfen, wäre noch vor nicht allzu langer Zeit von naturwissenschaftlicher Seite als durchaus unwissenschaftlich hingestellt worden; galt doch nur die rein kausale Betrachtung als die einzig mögliche! Heute aber sehen wir klar, dass die naturwissenschaftliche Darstellung nur einen Bereich im Krankheitsgeschehen erfasst, und zwar den Bereich, der im Organischen abläuft. Der Mensch ist aber mehr. Das geistige Prinzip durchdringt ihn in
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Werkanalyse
allen seinen Teilen, und hier müssen wir die Sinnfrage aufwerfen (Jores 1950, S. 4).
«
Sobald in die Ätiologie- und Pathogeneseforschung bei körperlichen Krankheiten auch psychosoziale und geistige Facetten integriert werden, führt dies nach Jores zu einer Erweiterung des diagnostischen Spektrums des Arztes. Nun soll er sich nämlich für das Wozu von Krankheiten (Finalität, Sinnaspekte) ebenso wie für das Warum (Kausalitäten) interessieren. Eine solche Art der Diagnostik trage zum Verständnis von Krankheiten wie vor allem auch des Patienten und seiner Lebenssituation enorm viel bei. z
Die menschlichen Krankheiten
Ausgehend von seiner Forderung, viele Erkrankungen nicht nur kausal, sondern auch final zu erforschen, entwickelte Jores das Konzept der »menschlichen Krankheiten«. Darunter verstand er Krankheitsbilder, die aus nicht bewältigten Lebenskrisen und Schicksalssackgassen heraus entstehen und demnach nicht selten ein existentielles Scheitern des Patienten anzeigen. Solche Krankheiten kommen bei Tieren (in freier Wildbahn) nicht oder kaum vor; beim Menschen hingegen sind sie überaus weit verbreitet. Ausschlaggebend dafür ist die Instinktausstattung der Tiere, die dazu führt, dass diese ihr Leben mittels fester, biologisch vorgegebener Muster bestreiten, die ihnen keine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Vegetierens lassen. Menschen hingegen sind diesbezüglich frei. Sie sind von Instinkten entbunden und können die Fragen ihrer Existenz sehr unterschiedlich beantworten. Das Plus an Gestaltungsvariabilität bezahlen sie allerdings mit dem Risiko von Irrtümern und Illusionen, die ihrerseits der Entstehung vielfältiger Krankheiten den Weg bereiten. Die Instinkte werden beim Menschen durch Bewusstsein, Vernunft, Sprache und Ethik ersetzt. Das Kind erwirbt sein Wissen um gut und böse durch die Erziehung, das soziale und politische Umfeld, die herrschende Moral und die Kultur. Hinzu kommt ein umfängliches und lebenslang relevantes Lernprogramm, das eine große Menge emotionaler, sozialer und intellektueller Reifungsschritte für das Individuum vorsieht.
Es war unzweifelhaft ein Verdienst von Jores, dass er durch seine Betrachtungsweise die emotionalen, soziokulturellen und ethischen Komponenten hinsichtlich der Entstehung und Beurteilung menschlicher Krankheiten mit einbezog. Das seelisch-geistige Innenleben der Patienten – Motivationen, Konflikte, Finalität, Intentionalität, Sinnund Werthorizonte – kam damit in den diagnostischen Fokus der Medizin. Das Leben des Menschen hat Aufgabencharakter, und nur wer die Aufgaben des Daseins angemessen löst, kann (falls nicht andere ätiologisch relevante Faktoren auf den Plan treten) gesund bleiben. Die Medizin sollte sich nach Jores deshalb damit anfreunden, diese Sinn- und Anforderungsstruktur des Daseins zu begreifen, und den Homo patiens dazu anleiten, die Fragen und Problemstellungen seiner Existenz in ihrer Bedeutung adäquat einzuschätzen und womöglich auch zu lösen. Im Hinblick auf den Aufgabencharakter der menschlichen Existenz zitierte Jores nicht (was naheliegend gewesen wäre) Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, der in seinen Schriften als Aufgaben für den Menschen die Themen von Partnerschaft und Liebe, Arbeit, Sozialund Kulturinteresse sowie Entwicklung der eigenen Persönlichkeit erwähnte. Jores bezog sich vielmehr auf die Hamburger Philosophin Margarete Eberhardt, die in ihren Texten das evolutionäre Gesetz hervorhob, dass alles Leben nach seiner höchst möglichen funktionellen Entfaltung strebe. Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung appellieren an autonome Akzentsetzungen des Einzelnen, schränken jedoch die menschliche Freiheit in gewisser Weise auch ein. Jeder müsse sich fragen, wozu er frei sei, und an welchen Werten und Idealen er sein Leben ausrichten wolle. Der Mensch habe jedoch sogar die Freiheit, sich gegen diese begrenzende Bindung zu entscheiden, was dazu führen kann, dass er sich verfehlt und eventuell körperlich und/oder seelisch erkrankt. Menschen, die an den Aufgaben des Daseins scheitern, leiden womöglich an Krankheiten, denen keine Erreger im engeren Sinne zugrunde liegen. Als verursachende Faktoren für ihre Störungen kommen vielmehr Ängste, Hemmungen, Verdrängungen, Sinnlosigkeitsgefühle oder gelebter Nihilismus in Betracht.
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Kapitel • Arthur Jores
Im klinischen Alltag erscheinen solche Patienten oft als Problempatienten, die auf physikalische Therapie, Ernährungsumstellung und chirurgischmedikamentöse Maßnahmen allein kaum ausreichend ansprechen. Menschliche Krankheiten sollten zwar mit Medikamenten, Diät, Bewegung, Stahl und Strahl, daneben aber auch durch Psychotherapie behandelt werden. Neurosen stellen in gewisser Weise den Prototyp menschlicher Krankheiten dar. Bei ihnen liegen die Hauptursachen nicht bevorzugt im Umfeld des Betreffenden, selbst wenn traumatisierende Situationen für ihre Entstehung geltend gemacht werden können. Wichtiger sind innere Konstellationen und der Werdegang des Menschen von seiner Kindheit an. Die Lebensgeschichte wird zum maßgeblichen Krankheitsfaktor, und der Patient erkrankt nicht an den Zufallsbedingungen allein, in die er hineingerät. Er hat von seinen ersten Lebensjahren an auf seine Erkrankung hin gelebt, auch wenn diese erst im Erwachsenenalter ausbricht. So legte Jores am Leitfaden der Psychologie Harald Schultz-Henckes dar, wie zum Beispiel ein Mann, der in der Kindheit Hemmungen im Besitzstreben erfuhr, später in einer Versuchungssituation (er sollte Geld einfordern) eine spezielle Magensymptomatik entwickelte. Andere Patienten erkranken an ihren somatischen Leiden, wenn ihre Selbstentfaltung eine neuerliche Versagung erfährt. Einprägsam konzentrierte Jores seine Erfahrungen im Merksatz: »Härte hemmt das Handeln, Verwöhnung das Verzichten.« Ein wesentlicher Sinn von Krankheiten liegt darin, den Betreffenden aufzurütteln und ihm durch die Symptome klarzumachen, dass er seine Möglichkeiten nicht entfaltet hat und in seiner Gehemmtheit verblieben ist: »Gehemmte Entfaltung macht krank« – meinte Jores. Nicht wenige Asthmapatienten etwa, mit denen der Autor wegen seiner wissenschaftlichen Aktivitäten viele konkrete Erfahrungen sammelte, leiden am Alleinsein, da sie Hemmungen im Geltungsstreben aufweisen. Mit Hilfe ihrer Krankheit kompensieren sie in gewisser Weise ihr Defizit, indem sie durch sie Aufmerksamkeit und Fürsorge einklagen – allerdings auf Kosten ihrer Gesundheit. Außerdem haben sie aufgrund ihrer Anfälle meist mit massiven Anspannungszuständen zu kämpfen:
» Wir wollten einmal die Sinnfrage des Asthmas aufwerfen und gingen dabei von der simplen Tatsache aus, dass ein Mensch in einem Asthmaanfall sich in einem Zustand ganz besonderer Angst befindet; ich möchte sagen, es ist die Angst eines Ertrinkenden, es ist eine tiefe, profunde Existenzund Lebensangst … Nun darf man nicht sagen, dass es sich bei der profunden Existenzangst und dem Asthmazustand um ein Kausalgeschehen handele … Man wird den Dingen wohl am ehesten gerecht, wenn man ganz vorsichtig formuliert, dass eben einer profunden Existenzangst im seelischen Bereich ein Asthmaanfall im körperlichen Bereich entspricht. Man kann vielleicht sagen: Der Asthmaanfall ist die Ausdrucksbewegung, nicht die Ursache einer profunden Existenzangst (Jores 1950, S. 4).
«
Betrachtet man Krankheit unter solchen Aspekten, wird sie zu einer expressiven Leistung des Subjekts. Diese Sicht sollte nach Jores nicht nur auf Hysterien, Zwangs- und Angststörungen sowie Depressionen angewendet werden, sondern auch auf gewisse somatische Störungen, bei denen die biomedizinische Diagnostik meistens wenig pathologische Befunde erbringt, oder bei denen die körperlichen Untersuchungsbefunde allein das Krankheitsgeschehen nur unzureichend verständlich machen. Überprüft man den Ausbruch oder die Verschlechterung solcher Leiden, findet man immer wieder Versuchungs- und Versagungssituationen, anlässlich derer sich die bedrängende Symptomatik zu entfalten begann. Die Versuchungssituation als Auslöser körperlicher Krankheiten bestehe im Gegensatz zur Entstehungskonstellation bei Neurosen jedoch meist darin, dass durch die jeweiligen Existenzverhältnisse bestimmte Entwicklungs- und Entfaltungsanforderungen gestellt sind. Diesen kann der Patient auf Grund seiner Biographie und Charakterformung nicht gerecht werden. Er bleibt psychosozial und/ oder geistig hinter seinen Möglichkeiten zurück und erkrankt. Das Organleiden wird bei ihm demnach zum Indikator einer existentiellen Störung. Die Krisen seines Daseins werden so eventuell somatisiert, wodurch Ängste, Affekte, soziale Auseinandersetzungen und mentale Leistungen eingespart werden.
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Werkanalyse
Trügen die Betreffenden mehr Seelenkraft und Geistesmacht in sich, wäre so manche menschliche Krankheit unnötig. So aber habe man als Arzt mit einer großen Zahl derartiger Erkrankungen zu rechnen:
» Hier erscheint die einheitliche Grundursache der spezifisch menschlichen Krankheit als eine Lösung des Problems. Wir erkennen, dass damit die Krankheitssymptomatik nur ein Epiphänomen ist, abhängig von der jeweiligen Individualität des Menschen und seinem besonderen Lebensschicksal. Von hier verstehen wir dann auch die Tatsache, daß der Mensch von den 3000 Krankheiten, zwischen denen er die Auswahl hat, immer nur eine aufweist, und dass diese zu schwinden pflegt, wenn eine neue auftritt (Jores 1970, S. 83).
«
In Krankheiten kommt Jores zufolge das Prinzip der Natur zum Tragen, den Einzelnen im Zweifelsfall zugunsten des Überlebens der Gattung dem Untergang anheimzustellen oder zumindest in seinem Bestand zu gefährden. Das Individuum wird gewissermaßen aufgegeben, wenn sein Leben aus äußeren oder inneren Gründen keine Möglichkeiten zur Selbstentfaltung mehr aufweist. Wer Hemmungen und Stagnation in sich trägt, wird krank, sobald die Summe seiner Werdenshemmungen das seelisch-geistige Wachstumspotential übersteigt. So wie Wildtiere in Gefängnissituationen verkümmern, erkranken Menschen, wenn sie in anerzogenen oder selbst geschaffenen Kerkern gefangen sind. Krankheiten haben daher eventuell auch mit Schuld zu tun, wobei Jores betonte, dass es sich dabei nicht um das schlechte Gewissen der Patienten, sondern um eine Existentialschuld handele. Am Beispiel von Suchtkrankheiten demonstrierte er das Schuldigwerden dieser Menschen hinsichtlich ihres existentiellen oder humanistischen Gewissens (Erich Fromm), das ihnen zuruft, das Leben zu bejahen und Verantwortung für die Entwicklung der eigenen Person zu übernehmen. Zu Recht, aber in den existentiellen Dimensionen häufig nicht verstanden, empfinden Süchtige ihr Tun als Laster, da sie sich ihrer Verantwortung zur Gestaltung ihres Daseins und ihrer Person entziehen, indem sie sich selbst zerstören. Als Haupt-
ursache dieser Misere benannte Jores den Mangel an Grundkraft des Menschen, nämlich an Liebe. Dass ein solches Ausweichen vor eigenverantwortlichen Akzentsetzungen nicht nur bei der Sucht, sondern auch bei anderen menschlichen Krankheiten beobachtet werden kann, belegte Jores anhand vieler Beispiele aus seiner klinischen Praxis:
»
Eine Frau kommt zu mir, die im Krieg und in der Nachkriegszeit ihrem Mann nicht treu war. Sie erfährt, dass ihr Mann aus der Gefangenschaft zurückkommen wird. Sie wird zu einer schwer wiegenden Entscheidung aufgerufen, entweder mit dem Mann, mit dem sie jetzt zusammen lebt, zu brechen und sich wieder ihrem angetrauten Mann zuzuwenden, oder diesem bei seiner Rückkehr die tatsächliche Lage zu sagen und sich von ihm zu trennen. Sie weicht aber aus, sie trifft keine Entscheidung, aber sie bekommt unerklärliches Herzklopfen und Angstzustände (Jores 1950, S. 4).
«
Patienten mit menschlichen Erkrankungen sollen daher von ihren Ärzten mit diagnostischen Fragen konfrontiert werden, die auf einschränkende oder blockierende Daseinskonditionen abheben. Allerdings gibt es für derlei Urteile kaum objektive und in Maß und Zahl zu fassende Kriterien. Was für den einen eine unübersteigbare Mauer ist, kann für den anderen eine Bagatelle des Lebens bedeuten. Für Jores werden häufig dann die ersten Weichen hin zu einer Erkrankung gestellt, wenn Menschen resignieren und anstelle von Auseinandersetzungen mit Entmutigung reagieren. Nicht selten stabilisiert sich der Einzelne vorerst scheinbar, indem er krank wird und Unbequemlichkeiten an den Rand des Bewusstseins schiebt. Aber da Krankheiten meistens keine innere und äußere Entwicklung mit sich bringen, leuchten in ihnen gleichsam die Phänomene des Scheiterns und des Todes auf. z
Altern und Tod
In einem eigenen Kapitel wandte sich Jores in Der Mensch und seine Krankheit der Thematik »Altern und Tod« zu. An sich ist der Alterungsvorgang nichts Krankhaftes, sondern eine Eigenschaft alles Lebendigem. Dabei dürfe man jedoch nicht an eine Maschine denken, die mit der Zeit ausleiert, rostet und schadhaft wird.
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Kapitel • Arthur Jores
Auf menschlicher Ebene hat Altern viel mit der Verwirklichung von Lebensmöglichkeiten und der Erfüllung von Daseinsprogrammen zu tun. Altern erhält so einen positiven Akzent; auch im Alter kann sich der Mensch noch entwickeln und reifer werden. Darum wurden früher in manchen Kulturen die alten Menschen, wenn sie innerlich wuchsen und reich an Lebenskenntnis waren, hoch geschätzt. Kranksein bedeutet mitunter verfrühtes Altern, ohne dass seelisch-geistige Reifung parallel dazu verläuft. Manchmal beobachtet man, dass Einzelne krank werden, wenn ihr Reifungsprozess stagniert oder sie auf frühere Entfaltungsstufen zurückfallen. Es kann sogar psychosozialer Tod eintreten, wenn keinerlei Reifungsschritte und Veränderungen mehr möglich sind. Jores betonte, dass man an Hoffnungslosigkeit sterben kann, wobei sich Hoffnung (im Gegensatz zu Illusionen) auf immer noch realisierbare Möglichkeiten bezieht. Der Autor war skeptisch, ob man zur Erklärung solcher Phänomene wie Sigmund Freud einen Todestrieb heranziehen muss. Seiner Meinung nach genügt die Feststellung, dass Menschen Sinn und Zukunftsambition für eine gedeihliche Existenz genauso brauchen wie den Sauerstoff zum Atmen. Man könne sich daher sogar fragen, ob nicht zu jenen Giften und Stoffen, die Krebs oder andere tödliche Krankheiten erzeugen, die Sinnlosigkeitsatmosphären hinzugezählt werden sollten. Wenn es richtig ist, dass Todesgefahr unter anderem droht, sofern es keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr für den Organismus gibt, kann man menschliche Krankheiten immerhin noch als Entfaltungsminimum ansehen. Erkrankung wird in diesem Zusammenhang zu einer Leistung und einer Art Rettung: Mit ihrer Hilfe verhütet der Mensch – so eigentümlich es auf den ersten Blick auch erscheinen mag – den völligen Zusammenbruch. Nicht jedem gelingen jedoch derartige Fluchtbewegungen in eine lebensrettende Krankheit. Wie schon erwähnt, untersuchten Jores und sein Mitarbeiter Puchta den Pensionierungstod. Sie fanden an frühzeitig pensionierten Hamburger Beamten, dass diese eine deutlich höhere Mortalitätsrate als jene ihrer Kollegen hatten, die im Amt verblieben. Beschäftigungslosigkeit kann tödlich sein. Auch
braucht der Mensch das Gefühl, etwas Nützliches zu tun oder irgendwo sinnvoll eingeordnet zu sein. Außerhalb der mitmenschlichen Arbeits- und Beziehungswelt zu stehen, ist für Menschen kaum zu ertragen – wofür Jores ein aufschlussreiches Beispiel anführte:
» Ich weiß von einer früher gefeierten Sängerin, die Schweres in ihrem Leben durchgemacht hatte und schließlich einsam und allein, unterstützt von der Wohlfahrt, auf den Tod wartete. Dass sie nicht starb, war medizinisch ein Rätsel, denn sie war voller Ödeme, hatte einen Hochdruck und eine Herzinsuffizienz, wurde aber kaum ärztlich behandelt. Schließlich ergab sich, dass sie auf den Tag ihres fünfzigjährigen Bühnenjubiläums zulebte. Es sollte ein großes Fest werden, noch einmal hoffte sie, dass die Öffentlichkeit von ihr Notiz nähme. Der Tag kam heran, aber es ließen sich nur wenige blicken, und Freunde sorgten dafür, dass nur eine kleine Notiz in die Zeitung kam. Wenige Tage später war sie tot (Jores 1970, S. 136).
«
Nach Jores gibt es recht unterschiedliche Arten des Todes: Zufallstode durch Infektionen, Unfälle und Naturkatastrophen, Tode im Rahmen chronischer Erkrankungen, aber auch den Tod am Ende eines erfüllten, eine Vielfalt von Möglichkeiten ausschöpfenden Daseins. Das Sterben im letzteren Fall gleiche einem Akt der Hingabe an die Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Jores’ Ausführung über das Altern und den Tod strahlen nicht nur Wissen, sondern auch Weisheit aus. Der Leser spürt hinter seinen Worten authentische Erfahrungen und gelebte Humanität – stand doch dem Autor während der Nazi-Zeit die Möglichkeit des Sterben-Müssens mehrfach sehr realistisch und nah vor Augen. z
Menschsein als Auftrag
Wenn Krankheit den Menschen daran erinnert, dass er sterblich ist, und ihn mahnt, dem Aufruf nach Selbstentfaltung zu folgen, stellt sich die Frage, wie sich eine menschliche Existenz dem eigenen Wesen und seinen Potentialitäten gemäß führen lässt. Was ist die Bestimmung des Homo sapiens im Milliarden Jahre währenden Spiel des Kosmos, und wie unterscheidet sie sich vom tierischen Dasein?
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Diese anthropologisch relevanten Fragen versuchte Jores nicht nur in Der Mensch und seine Krankheit, sondern vor allem auch in Menschsein als Auftrag zu beantworten. Da er ein religiöser Mensch war, lehnte er sich bei seinen Antworten an konservative Denker wie Teilhard de Chardin an, dessen Werke in den 50er und 60er Jahren breit diskutiert wurden. Im Brennpunkt des Interesses standen damals Teilhards Bücher wie Der Mensch im Kosmos (1959), Die Entstehung des Menschen (1961) und Der göttliche Bereich (1962). Seine Werke wurden von der katholischen Kirche zunächst nicht anerkannt, aber unter dem Druck ihres beachtlichen Erfolges bei einer speziellen Leserschaft ließ man ihn letztlich gewähren. Nach Teilhard liegt dem gesamten Evolutionsgeschehen ein großartiger Plan zugrunde. Der Mensch kam nicht durch Zufall zustande; die ganze Reihe der Lebewesen vor ihm zielte auf sein Gestaltwerden hin. Schon die Materie beinhaltet ihm zufolge eine primitive Form des Bewusstseins. Je höher man auf dem Lebensbaum steigt, umso differenziertere Bewusstseinstätigkeit trifft man an. Im Menschen wird Bewusstsein zum Selbstbewusstsein, und Logos oder der Geist meldet sich. Alle vorhergehenden Lebewesen existieren in der Biosphäre; mit dem Menschen beginnt die Noosphäre, die Sphäre des Geistes. Somit ist die Geistwerdung jene Aufgabe, welche dem Menschen überantwortet ist. Das mag als diffuse Zielsetzung erscheinen. Nach Teilhard haben die Menschen jedoch bereits ein Vorbild davon erhalten, was geistige Existenz bedeutet: Jesus Christus, der Gottmensch. In ihm wurde vorweggenommen, welche Wesensform der Mensch der Zukunft annehmen soll. Hat er diese erreicht, ist der Himmel auf Erden da, und das Reich Gottes kann beginnen. Teilhard machte geistige Anleihen bei Henri Bergsons Lehre von der spirituellen Lebensschwungkraft. Auch Bergson war vom geistigen Hintergrund des Kosmos überzeugt und sah in der Evolution eine gewisse Zielstrebigkeit. Für ihn waren die Heiligen aller Religionen (besonders des Katholizismus) vom »élan vital« inspirierte Menschen, denen es gelungen ist, das Biologische fast gänzlich ins Geistige transponiert zu haben.
Bergson wie Teilhard vertraten ebenso wie der sie zitierende Jores mit ihren Ausführungen im Grunde genommen religiös-gläubige Ansichten, keineswegs aber wissenschaftliche Erkenntnisse oder kritisch-skeptische anthropologische und philosophische Überlegungen. Ähnlich müssen die Positionen weiterer Gewährsmänner des Autors beurteilt werden, die er in Menschsein als Auftrag mit Zustimmung anführte. Die Weltanschauungen des Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser, des katholischen Metaphysikers Peter Wust, des frommen Moralphilosophen Josef Pieper oder des an Mythen orientierten Jungianers Erich Neumann kamen derjenigen von Jores sehr entgegen. In Menschsein als Auftrag proklamierte dieser sogar die Überlegenheit des Christentums über andere Religionen und über das Weltbild von Wissenschaft und Philosophie:
»
Diese kurzen Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, dass der Glaube an Gott in jedem Menschen als Notwendigkeit begründet ist, und dass das Christentum zweifellos die Religion ist, die das Wesen des Menschen und das Ziel seiner Entwicklung am klarsten gesehen und erkannt hat. Diese Wahrheiten wurden dem Menschen offenbart zu einer Zeit, zu der noch keine Wissenschaft existierte, die so wie heute in der Lage gewesen wäre, die Richtigkeit vieler Lehren Christi in dem Sinne darzulegen, wie es in diesem Buch heute möglich ist. So war und ist daher das Christentum mit vollem Recht Offenbarungsreligion. Von daher wird es auch wieder verständlich, dass der abendländische Mensch seinen heutigen Stand in dem Prozess der Evolution ganz wesentlich dem Christentum verdankt (Jores 1978, S. 104).
«
Jores argumentierte in diesen Passagen, als ob es keine Denker der Aufklärung und keinen Ludwig Feuerbach, Friedrich Nietzsche, Karl Marx, Sigmund Freud oder Nicolai Hartmann gegeben hätte. In Der Mensch und seine Krankheit widmete er ein ganzes Kapitel dem Thema Krankheit in biblischer Sicht und sprach bei Gelegenheit sogar von Krankheit als Folge der Sünde oder Erbsünde. Damit führte er seine Leser zu manchen supranaturalistischen Ideologien der Vergangenheit zurück und machte es allen jenen schwer, ihm geistig zu folgen,
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Kapitel • Arthur Jores
die seine medizinischen und psychosomatischen Arbeiten wertschätzen, sich aber weltanschaulicher Skepsis und Redlichkeit verpflichtet fühlen. Viel leichter kann man sich mit jenen Kapiteln von Menschsein als Auftrag identifizieren, in denen Jores von der Biologie und Medizin her die Conditio humana beschrieb und ausgehend davon anthropologische Überlegungen anstellte. So heißt es zum Beispiel im Passus über »Die Schlafexistenz des Menschen«:
» Da, die Kinderzeit eingerechnet, der Mensch etwa die Hälfte seines Lebens im Schlaf zubringt, kann dieser Zustand für sein ganzes Leben nicht ohne Bedeutung sein. Im Schlaf fällt der Mensch auf eine rein vegetative Existenz zurück. Sein Bewusstsein, seine Vorstellungswelt und damit alles das, was wir als seine Willkür bezeichnen, sind ausgeschaltet. Er ist den Kräften und Möglichkeiten des Innen und des Unwillkürlichen, Vegetativen anheim gegeben … Offenbar ist es für Menschen von entscheidender Notwendigkeit, etwa die Hälfte des Lebens im Zustand einer animalischen Existenz zu verbringen (Jores 1978, S. 73).
«
Ausgehend von dieser Beobachtung erörterte Jores mögliche Ursachen und Folgen von Schlafstörungen. Einschlafen wie Durchschlafen bedeuten demnach, sich der animalisch-vegetativen Existenzweise hinzugeben und auf Willkür und Kontrolle zu verzichten. Helmuth Plessner hat diesen Wechsel von bewusstem und unbewusstem Leben auch als Umschlagen der exzentrischen in eine zentrische Existenzweise bezeichnet. Wer aus welchen Gründen auch immer Schwierigkeiten hat, einem geregelten Schlaf-wachRhythmus nachzugehen, muss mit Störungen des gesamten Organismus und mit generellen Beeinträchtigungen seiner Lebensführung rechnen. Der Schlaf erinnert den Menschen gleichsam an seine materiell-biologische Herkunft und Beschaffenheit; diese negieren zu wollen, ist ein riskantes Unterfangen, das eventuell mit ernsthafter Krankheit bezahlt wird. Weitere rational anmutende Spekulationen anthropologischer Natur stellte Jores in seinem Buch Der Kranke mit psychovegetativen Störungen an. Hierin erläuterte er verschiedene körperliche
Funktionsstörungen, die er mit psychosozialen Eigenarten und existentiellen Erschütterungen der betreffenden Patienten in Beziehung setzte. Im Hinblick auf Schmerz und Schmerzsyndrome zitierte der Autor umgangssprachliche Wendungen, an denen zum Beispiel auf die Bedeutung des aufrechten Gangs für den Menschen und auf daraus resultierende, möglicherweise Schmerz auslösende Veränderungen angespielt wird:
» Es gibt eine Fülle von Redensarten, die uns Zusammenhänge (zwischen Schmerz, körperlicher Haltung und Existenzsituation) erkennen lassen, so »den Kopf oben behalten«, »den Kopf hoch tragen«. Wenn einem Menschen zu viel zugemutet wird, was seine Freiheit bedroht, dann »steht ihm das Wasser bis zum Halse«. Man kann »hartnäckig« sein in seinem Widerstand, den Hals also »steif halten«, oder in Verbissenheit »halsstarrig« werden. Die Halsstarrigkeit kann echte Verteidigung sein, aber auch übertrieben und unsinnig (Jores 1973b, S. 149).
«
Kopf, Hals und Schulter sind nicht zufällig häufig jene Körperpartien, die mit muskulärer Verkrampfung und davon ausgehend mit Schmerzen reagieren, sobald sich im Dasein eines Menschen reale oder imaginäre Bedrohungen seines Selbstwerts abzeichnen. Eine Gefährdung im Rahmen des Selbstwerterlebens ängstigt den Menschen und führt bei ihm regelhaft zu Affekten aller Art. Diese tendieren dazu, den Betreffenden aufzuwerten und seine Durchsetzungschancen zu steigern. Gleichzeitig sind diese Affekte mit vegetativen Veränderungen (Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Schweißneigung, Darmtätigkeit) sowie mit Anspannung der Muskulatur assoziiert. Jene Bereiche des Halte- und Bewegungsapparates, die von ihren Ausdrucksmöglichkeiten her die Tendenz zur Selbstdurchsetzung unterstreichen, sind davon besonders betroffen. Dazu gehört auch die Betonung des aufrechten Gangs durch verstärkten Muskeltonus der Hals- und Lendenwirbelsäule.
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Conclusio
Conclusio Obwohl weiter oben durchaus kritische Ansichten über Jores geäußert wurden, würde man dieselben jedoch missverstehen, wenn man sie als eine Abqualifizierung des Autors zu deuten unternähme. Seine Verdienste um Medizin, Psychosomatik und humane Ausgestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung sind unbestritten, und seine Publikationen über Der Asthmatiker (zusammen mit Margit von Kerekjarto) oder die Praktische Psychosomatik sind weiterhin lesenswert, wenngleich sich viele biomedizinische und psychosoziale Erkenntnisse in den letzten Jahrzehnten geändert haben. Jores war persönlich ein liebenswürdiger und aufrechter Mensch, der in Ludwig Pongratz’ Psychotherapie in Selbstdarstellungen (1973) einen sympathischen Lebensbericht gab. In dieser Autobiographie erzählte er von seiner bürgerlichen Herkunft, seinem völlig unpolitischen Werdegang und seiner erschütternden Konfrontation mit dem für ihn fast unbegreiflichen Phänomen des Nationalsozialismus. Damals zerbrach für den stillen Forscher, der sich kaum je mit Politik und Gesellschaftstheorie befasst hatte, eine ganze Welt. Dann kam sein Zusammenstoß mit dem Regime, der keineswegs radikaler Opposition, sondern einem Vorsichtsmangel und naiver Ahnungslosigkeit entsprang. Die Gefahr des Todesurteils leitete bei Jores die katholische Bekehrung ein. Die Kirche versprach ihm eine heile oder doch von einem Gott gelenkte Welt, nach der sich der Forscher zurücksehnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot der Katholizismus nicht nur Schutz und Trost, sondern auch eine überschaubare Philosophie und Anthropologie. Für Jores, der in den Naturwissenschaften sozialisiert worden war, ergab sich hiermit die Chance, im Bereich jener medizinisch-anthropologischen Fragestellungen mit zu argumentieren, die ihm zu Recht als wesentlich erschienen. Der Weg in die medizinische Anthropologie kann offenbar nicht gut von den Naturwissenschaften her allein bestritten werden; Kenntnisse der gesellschaftlich-geschichtlich-geistigen Welt sind dafür unabdingbar. Hat man sie sich zu wenig angeeignet, kehrt man nicht selten zu jenen einfacheren Philosophien zurück, die man meist schon
im Elternhaus, in der Schule und im durchschnittlichen öffentlichen Leben kennengelernt hat. Man wird beispielsweise fromm, und das ist häufig mit intellektueller oder möglicherweise auch moralischer Kapitulation verknüpft. Die Religion ist überwiegend eine Insider-Ideologie, die von wohlmeinenden Leuten ebenso respektiert wird wie von den Obrigkeiten und Autoritäten. Das Einlaufen in einen Hafen, in dem die Boote und Schaluppen der gesellschaftlichen Mehrheit ankern, beruhigt zwar die Gemüter, verhindert aber in der Regel eigenständiges Denken und progressiv-fortschrittliches Handeln. Eben solche Qualitäten sind jedoch vonnöten, um für die Heilkunde der Zukunft ein solides anthropologisches Fundament zu formulieren. Jores ahnte wohl die Dimensionen dieser Aufgabe und sprach in Die Medizin in der Krise unserer Zeit sogar von einer »personalen Medizin« als Ziel seiner Bemühungen. Was aber eine Person ist, und inwiefern Aspekte der Personalität in eine zukünftige Heilkunde Eingang finden können – diese Fragen konnten von ihm nicht umfassend ausgeführt, sondern lediglich angedeutet werden:
»
Die Medizin bedarf also der Ergänzung, der Ergänzung durch die Hereinnahme des Seelischen. Das Seelische verlangt aber zu seiner Erforschung andere Methoden, ein anderes Vorgehen. Die Medizin muss erkennen, dass sie nicht nur angewandte Naturwissenschaft ist, sondern auch Geisteswissenschaft. Dabei ist die Befürchtung, dass nunmehr ein Absinken in die Zeit der Romantik und des Spekulativen erfolgen wird, ganz unbegründet (Jores 1966, S. 86f.).
«
Leider hat sich Jores selbst nicht an diese Maßgabe gehalten. So stützte er sich bei der Beschreibung dessen, was eine Person ausmacht und wodurch sie definiert ist – etwa in Menschsein als Auftrag –, auf durchaus fragwürdige Behauptungen und erklärte:
»
Person ist der Mensch, der in vollkommener leib-seelischer Harmonie sein individuelles Wesen zum Austrag bringt und so die Transzendenz eines höheren Seins hindurch klingen lässt … Die Existenz Gottes ist einem solchen Menschen eine feste Gewissheit (Jores 1978, S. 115).
«
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Kapitel • Arthur Jores
Eine skeptische und emanzipierte Philosophie, Anthropologie oder personale Heilkunde ist aus derlei Beschreibungen schwerlich abzuleiten. Es empfiehlt sich, die naturwissenschaftlichen und psychosomatischen Erkenntnisse von Jores sowie seine humanistisch-empathische Haltung den Patienten gegenüber in ihrem hohen Wert anzuerkennen, aber an seinen Spekulationen vorüberzugehen und sich das anthropologische Denken für die Medizin dort zu suchen, wo es freier, kühner und realitätsgerechter ist.
Literatur Jores A (1950) Über den Sinn der Krankheit – Thesen aus der Hamburger Rektoratsrede (1950). In: Die Zeit 47 vom 23. November 1950. Die Zeit, Hamburg Jores A (1966) Die Medizin in der Krise unserer Zeit. Huber, Bern (Erstveröff. 1961) Jores A (1970) Der Mensch und seine Krankheit. Klett, Stuttgart (Erstveröff. 1955) Jores A (1973a) Selbstdarstellung. In: Pongratz LJ (Hrsg) Psychotherapie in Selbstdarstellungen. Huber, Bern Jores A (1973b) Der Kranke mit psychovegetativen Störungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Jores A (1976) Praktische Psychosomatik. Huber, Bern Jores A (1978) Menschsein als Auftrag. Huber, Bern (Erstveröff. 1964) Pongratz LJ (1973) Psychotherapie in Selbstdarstellungen. Huber, Bern
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Theoretische und Grundlagenmedizin Frederik J. J. Buytendijk – 435 Georges Canguilhem – 447 Heinrich Schipperges – 461 Eric Kandel – 475
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Frederik J. J. Buytendijk Biographisches – 436 Werkanalyse – 438 Conclusio – 445 Literatur – 446
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Frederik J. J. Buytendijk
Frederik Buytendijk war zwar Mediziner, hat aber nur kurze Zeit als Arzt gearbeitet und war ansonsten vor allem als Physiologe, Biologe und Psychologe tätig. Dabei führte er eine Reihe von Untersuchungen durch und verfasste Abhandlungen, die zweifelsohne der medizinischen und philosophischen Anthropologie zugeordnet werden können. Seine Bücher Über den Schmerz (1948), Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung (1948/56) und Prolegomena einer anthropologischen Physiologie (1965) haben das Wissen und Nachdenken über die Conditio humana bereichert.
Biographisches Frederik J. J. Buytendijk wurde 1887 in der Provinzstadt Breda in den Niederlanden geboren. Sein Vater war Mathematiker und weckte früh bei seinem Sohn Interesse für die Natur. Frederik sammelte Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge, besaß ein Aquarium und beschrieb und zeichnete Exponate seiner Sammlung. Nach dem Besuch der Oberrealschule zuerst in Breda und danach in Alkmaar studierte Buytendijk ab 1904 Medizin in Amsterdam. Während des Studiums wandte er sich auf Anregung von Professor Place, dem Ordinarius für Physiologie, theoretischen biologischen Fragestellungen zu. 1906 wurde eine Arbeit des jungen Studenten über die Wirkung von Adrenalin auf die Blutgefäße mit der Goldmedaille der Medizinischen Fakultät preisgekrönt. Im Anschluss daran ging Buytendijk nach Berlin und Neapel, wo er seine physiologischen und medizinischen Studien weiter verfolgte. Nach der Doktorprüfung 1909 arbeitete er zwei Jahre als Assistent des Physiologen Hendrik Zwaardemaker (1857–1930) an der Utrechter Universität. Ab 1911 unternahm er ausgedehnte Studienreisen nach Gießen, Bonn, Basel und Liverpool. In England erhielt er Gelegenheit, bei dem damals berühmten Gehirnforscher Charles Scott Sherrington (1857–1952) zu hospitieren. Sherrington war der Erste, welcher den Begriff der Synapse (Verbindung zweier Nervenzellen) in die Medizin einführte. Zurück in den Niederlanden, wurde Buytendijk während des Ersten Weltkriegs als Sanitätsoffizier mobilisiert und erhielt eine Ausbildung zum Ner-
venarzt am Amsterdamer Militärhospital. Außerdem war er Mitarbeiter an der Psychiatrischen Klinik der dortigen Freien Universität. Diese Tätigkeit ebnete ihm den Weg zu einer akademischen Laufbahn. 1918 wurde er Lektor und ein Jahr später Ordinarius für allgemeine Biologie an der Amsterdamer Universität. Seine Forschungen und Vorlesungen waren auf dem Grenzgebiet von Biologie, Physiologie, Tierpsychologie und Philosophie angesiedelt – eine wissenschaftliche Ausrichtung, die Buytendijk zeitlebens beibehielt. Bald darauf knüpfte der junge Professor Kontakte mit Hans Driesch, Max Scheler und Helmuth Plessner. Driesch (1867–1941) war Biologe und Naturphilosoph und gehörte zur Gruppe der Neovitalisten. Diese vertraten die Ansicht, dass eine »vis vitalis« (Lebenskraft) hinter den vielfältigen Formen des Lebendigen zu vermuten sei – eine Überzeugung, die bereits in der Romantik formuliert worden war, und von der sich Buytendijk später deutlich distanzierte. Driesch war ab 1911 außerordentlicher Professor und ab 1920 Ordinarius für Philosophie an der Universität Köln. Dort lehrte ab 1921 auch Scheler (1874–1928), der zuvor schon in München von sich reden gemacht hatte. Scheler war ein genialischer Denker. 1913 hatte er mit seiner Schrift Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik eine im Verhältnis zu Edmund Husserl und zur Phänomenologie eigenständige philosophische Position eingenommen, die im deutschsprachigen Raum kontrovers diskutiert wurde. Anfang der 20er Jahre erhielt Buytendijk eine Einladung nach Köln, wo er bis 1923 wiederholt mit Gastvorlesungen auf sich aufmerksam machte. Dabei lernte er Scheler persönlich kennen. Neben seinen Schriften war es vor allem dessen Persönlichkeit, die dazu beitrug, dass Buytendijk seine Beziehung zum Philosophen im Rückblick mit dem Begriff der Verehrung charakterisierte. Anders reagierte er auf Edmund Husserl, den Begründer der Phänomenologie. Im April 1928 kam Husserl nach Amsterdam, wo er zwei Vorträge über Phänomenologie und Psychologie hielt. Buytendijk gehörte zu den Zuhörern, war jedoch von den Ausführungen des Referenten nicht restlos beeindruckt und unternahm daher keine Anstalten, ihn direkt anzusprechen.
Biographisches
Noch in die erste Hälfte der 20er Jahre fielen die Bekanntschaften Buytendijks mit Helmuth Plessner, Viktor von Weizsäcker und Viktor Emil von Gebsattel. 1923 arbeitete Plessner sogar eine Weile im Labor seines niederländischen Kollegen, zu dem sich nach und nach eine enge Freundschaft ergab. Auch mit Weizsäcker und Gebsattel intensivierten sich die Kontakte in den kommenden Jahren. Darüber hinaus entdeckte Buytendijk die Relevanz der Gestaltpsychologie (Köhler, Koffka und Wertheimer) sowie der seinerzeit modernen theoretischen Biologie (Johann Jakob von Uexküll, Adolf Portmann). 1925 wurde Buytendijk als Professor für Physiologie an die Medizinische Fakultät der Universität Groningen berufen. Im Rahmen seiner Antrittsvorlesung plädierte er für phänomenologische und hermeneutische Methoden, die in der Medizin die erklärende Haltung der Naturwissenschaften ergänzen sollten. Im selben Jahr publizierte er zusammen mit Plessner seine erste größere Abhandlung über Die Deutung des mimischen Ausdrucks – Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ich. In den folgenden Jahren veröffentlichte Buytendijk eine Reihe von Büchern, in denen er sich einerseits als Biologe und Physiologe, andererseits aber auch als Psychologe und Anthropologe präsentierte: Die Weisheit der Ameisen (1925), Über das Verstehen der Lebenserscheinungen (1925), Reaktionszeit und Schlagfertigkeit (1932) sowie Wesen und Sinn des Spiels (1933). Die letztere Publikation wirkte anregend auf einen Landsmann Buytendijks, auf den Historiker Johan Huizinga, der 1938 sein Buch Homo ludens (Der spielende Mensch) herausgab, worin er ähnlich wie sein medizinischer Kollege die Fähigkeit zum Spiel als wesentliche Eigenschaft des Menschen beschrieb. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 erlebte Buytendijk mit großer Sorge. Dass Hitler und seine willigen Helfer eine destruktive Politik vertraten, welche die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa stark gefährdeten und einzelne Individuen massiv attackierten, konnte Buytendijk unter anderem am Schicksal seines Freundes Plessner sehen. Diesem hatte man aufgrund seiner jüdischen Abstammung ein Lehrverbot an der Alma Mater in Köln erteilt, woraufhin er sich zur Emigration entschloss.
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Buytendijk organisierte für Plessner, der zuerst vergeblich nach Istanbul ausgewichen war, ein Stipendium, das ihm eine Existenz als Dozent an der Universität Groningen sicherte. Ab 1934 lehrte Plessner in Groningen Philosophie und später, als man für ihn eine Stiftungsprofessur einrichtete, Soziologie. Gleichzeitig intensivierte er seine Zusammenarbeit mit Buytendijk und verfasste mit ihm zusammen eine größere Abhandlung über Die physiologische Erklärung des Verhaltens – eine Kritik an der Theorie Pawlows (1935). Buytendijk wurde nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 als Divisionsarzt eingezogen, konnte jedoch bereits 1940 nach Groningen zurückkehren. Nachdem die Deutschen Holland besetzten, wurde er für kurze Zeit inhaftiert und tauchte nach seiner Entlassung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden unter. Während seiner Haft verfasste er das Manuskript für sein Buch Über den Schmerz, das er 1948 veröffentlichte. 1946 erhielt der Forscher einen Ruf an die Universität Utrecht als Professor für Allgemeine Psychologie. Buytendijk füllte diese Rolle als überzeugter Phänomenologe aus, der bei den von ihm bearbeiteten wissenschaftlichen Fragestellungen aus den Bereichen von Biologie, Physiologie und Psychologie jeweils Brückenschläge zur Anthropologie und Philosophie herstellte. Aus der Gruppe der phänomenologisch orientierten Denker waren für Buytendijk neben Scheler die französischen Philosophen Jean-Paul Sartre, Gabriel Marcel und Maurice Merleau-Ponty wichtig geworden. Vor allem der Letztere vertrat in seinen Büchern Die Struktur des Verhaltens (1942) und Phänomenologie der Wahrnehmung (1945) viele Positionen zu Themen des Lebens und der menschlichen Existenz, die inhaltlich von Buytendijk geteilt wurden. Dieser nahm darüber hinaus auch mehrfach auf Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht (1949) Bezug, dessen Grundaussagen er in einer eigenen Publikation über Die Frau – Natur, Erscheinung, Dasein (1953) ausführlich würdigte. Daneben gewann für Buytendijk nach dem Zweiten Weltkrieg das Denken Husserls zunehmend Bedeutung. Dazu hatte eine Gastprofessur beigetragen, welche der niederländische Forscher
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in Löwen (Belgien) am dortigen Husserl-Archiv zugesprochen bekam. Weniger Relevanz für seine Arbeiten hatten die Texte von Martin Heidegger und Karl Jaspers; zum Denken beider Philosophen hielt Buytendijk Distanz. Während seiner Zeit als Ordinarius für Psychologie in Utrecht veröffentlichte Buytendijk sein erstes anthropologisches Hauptwerk über Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung (1948/56). Das Manuskript war in den Jahren zwischen 1940 und 1945 entstanden, als er in Holland untergetaucht war und sich gleichwohl schriftstellerisch betätigte. Nach seiner Emeritierung 1957 blieb Buytendijk als Forscher und Autor aktiv. In Nimwegen und Löwen übernahm er Dozenturen für Physiologie sowie für theoretische und vergleichende Psychologie. Außerdem publizierte der inzwischen 70-Jährige munter weiter, wobei die Breite seiner Interessen die Naturwissenschaften ebenso umfasste wie die Philosophie, Pädagogik und Literaturwissenschaften. Schon 1928 hatte Buytendijk ein Manuskript über erzieherische Fragen entworfen, das er in erweiterter Form 1962 unter dem Titel Erziehung zur Demut veröffentlichte. Diesem Buch merkt man ähnlich wie manchen anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Schriften des Autors an, dass er im niederländischen Calvinismus aufgewachsen war, von dem er sich zeitlebens nicht emanzipieren konnte. Trotz literarischer Beziehungen zu den französischen Existentialisten Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty wurde aus ihm kein Agnostiker, der statt einer Erziehung zur Demut eine Erziehung zur revoltierenden Skepsis hätte verfassen können. Um 1950 hatte sich Buytendijk mit der Psychologie des Romans (deutsch 1966) beschäftigt, worin er besonders Dostojewskis Der Idiot aus einer psychologischen und anthropologischen Perspektive interpretierte. Es folgten Bücher und Abhandlungen über Begegnung der Geschlechter (1953), Der Geschmack (1957), Mensch und Tier – Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie (1958), Das Menschliche – Wege zu seinem Verständnis (1958) sowie Über die menschliche Bewegung als Einheit von Natur und Geist (1963).
Als Höhepunkt des wissenschaftlich-schriftstellerischen Schaffens von Buytendijk gilt das Buch Prolegomena einer anthropologischen Physiologie, das er 1965 als beinahe 80-Jähriger publizierte. Darin zog er eine umfassende Bilanz seines über ein halbes Jahrhundert währenden Forscherdaseins. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens – Buytendijk starb 1974 in Nimwegen – hatte er die Gewohnheit entwickelt, ein persönlich gehaltenes Ideenbuch zu führen, in dem er zu vielen Gestalten der europäischen Kulturgeschichte Stellung bezog. Gedanken von Platon, Pascal, Leibniz, Herder, Goethe, Schiller, Nietzsche, Rilke, Valéry, Sartre, Alain und anderen wurden darin von ihm zustimmend oder kritisch kommentiert. Eine Auswahl davon ist 1980 unter dem holländischen Titel Aandenken – Bezinning over de Levensloop (Andenken – Reflexionen über den Lebenslauf) posthum veröffentlicht worden.
Werkanalyse In der folgenden Darstellung des Werks von Buytendijk liegt der Schwerpunkt auf jenen Büchern, in denen er anthropologische Themen im engeren Sinne bearbeitet hat: Über den Schmerz (1948), Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung (1948/56) sowie Prolegomena einer anthropologischen Physiologie (1965). z
Über den Schmerz
Der Schmerz ist ein weitverbreitetes Phänomen im Bereich des Lebendigen. Viele Tiere ebenso wie der Mensch verfügen über die Fähigkeit zu Schmerzempfindungen, wobei das Schmerzerleben an die Möglichkeit von ausweichender Bewegung oder Flucht gekoppelt ist. Die Natur hat besonders jene Lebewesen mit Schmerzrezeptoren versehen, welche den Schmerz als Warn- und Gefahrenhinweis registrieren und darauf adäquat mit fight or flight reagieren können. Bei Mensch und Tier lässt sich beobachten, dass schmerzhafte Affektionen – etwa Berührungen mit heißen oder kalten Oberflächen sowie Traumen aller Art – zu Fluchtreflexen der betroffenen Körperpartien oder des gesamten Organismus führen. Noch bevor das Bewusstsein potentielle Gefahren-
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quellen korrekt einschätzen kann, zieht sich das Individuum, vermittelt durch das Schmerzerleben, oft blitzschnell aus den es gefährdenden Situationen zurück. Der Schmerz ist Hüter und Wächter der körperlichen Integrität. In der Medizin haben Schmerzen darüber hinaus diagnostische Bedeutung. Viele Krankheiten gehen mit akut auftretenden oder chronisch schleichenden Schmerzen einher, und es macht unter anderem die Qualität eines Arztes aus, anhand der Schmerzbeschreibung des Kranken (Lokalisation; diverse Arten wie dumpf, stechend, kolikartig) annähernd richtige Verdachtsdiagnosen zu stellen und entsprechende weitere Diagnose- und Therapieschritte einzuleiten. Bei nicht wenigen Menschen treten Schmerzen jedoch nicht nur akut oder als Indikator für Gefahren auf. Sie berichten über chronische Schmerzzustände, von denen nach geraumer Zeit meist kaum mehr zu beurteilen ist, inwiefern somatische oder psychosoziale Belastungen und Erschütterungen für ihre Genese und Penetranz verantwortlich zu machen sind. Zuletzt leiden die Betreffenden seelisch und körperlich, und auch ihre näheren Bezugspersonen sind von solchen Schmerzstörungen aufgrund der Klagsamkeit der Patienten mitunter arg beeinträchtigt. Weil Schmerz von allen Menschen in ihrem Dasein irgendwann erlebt und gleichzeitig phobisch gemieden wird, gibt es seit Jahrtausenden Strategien, ihn als Phänomen des Lebens einzuordnen und zugleich zu bekämpfen. Seit der Antike versuchen sich Ärzte als Fachleute für Analgesie (Schmerzbetäubung), wobei sie häufig auf Sucht erzeugende Drogen (Alkohol, Opiate) zurückgriffen, um bei den jeweiligen Patienten schmerzlindernde Effekte hervorzurufen. Neben den Ärzten haben sich auch die Philosophen mit der Schmerzthematik auseinandergesetzt. Erwähnt seien lediglich die Stoiker, die überzeugt waren, dass Schmerz aus der menschlichen Existenz nicht weggedacht oder eliminiert werden kann. Ihrer Ansicht nach sollen und können Menschen dem Schmerz gegenüber eine Haltung der Tapferkeit und Überlegenheit entwickeln. Damit distanzieren sie sich zumindest teilweise von ihrem Leid und verwirklichen bei sich den Zustand der Ataraxie (Meeresstille des Gemüts).
Im 19. Jahrhundert war es vor allem Friedrich Nietzsche, der als Philosoph hellsichtig über den Schmerz geschrieben hat. Weil er selbst jahrelang unter heftigsten Schmerzen litt, wusste er, wovon er sprach, wenn er seinem Schmerzerleben attestierte, dass es ihn für die Momente von schmerzfreier Gesundheit und von Glück empfänglicher gemacht hat. Außerdem habe der Schmerz ihm zur Tiefe des Denkens verholfen – ein Gedanke, der so ähnlich auch bei Scheler zu finden ist. Letzterer meinte, dass Schmerzen die Menschen davor bewahren, in stumpfe Behaglichkeit und metaphysischen Leichtsinn abzugleiten. Im ersten Kapitel seines Buches rekapitulierte Buytendijk einige dieser medizinischen und philosophischen Positionen zum Schmerz. Im Anschluss an Weizsäcker, der Schmerzen (neben Schwindel, Angst und Schwäche) zu den Urformen des Pathischen zählte, betonte er, dass im Schmerz ein Schatten und Mahnruf des Todes enthalten sei:
»
Während wir unser eigenes Dasein und alles Leben als Äußerung von Selbstbewegung, -erhaltung und -verwirklichung erfahren, lehrt uns der Schmerz, wie unfrei, vergänglich, ohnmächtig wir sind, wie das Leben in sich die Möglichkeit birgt, zum Feinde seiner selbst zu werden (Buytendijk 1948, S. 26).
«
Im zweiten Kapitel erläuterte er die Physiologie des Schmerzes. Diesen Passagen merkt man an, dass Buytendijk gelernter Physiologe war, der souverän über Zusammenhänge von Schmerz, Hautsensationen, motorischen Bewegungen, vegetativen Reaktionen und Veränderungen im Bereich des Nervensystems (z. B. Sympathikus) zu referieren vermochte. Dabei macht die Steigerung der Sympathikusaktivität verständlich, warum bei Schmerzen die Betreffenden oft mit erhöhtem Blutdruck, verstärkter Herztätigkeit, angespannter Muskulatur sowie Anstieg des Blutzuckers und größerer Neigung zur Blutgerinnung reagieren. Ähnliche Effekte sind bei heftigen Affekten wie Angst oder Wut zu beobachten. Buytendijk betonte, dass bei Menschen ebenso wie in der Tierwelt Schmerzen meistens Anlass zu Kampf- oder Fluchtverhalten (»fight and flight«) geben – ein Reaktionsschema, auf das bereits Charles Darwin hin-
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gewiesen hat, und welches der US-amerikanische Physiologe und Stressforscher Walter B. Cannon (1871–1945) in seinem Buch Wut, Hunger, Angst und Schmerz – Eine Physiologie der Emotionen erstmals 1915 ausführlich beschrieben hat. Im dritten Kapitel zeigte Buytendijk anhand vieler Beispiele aus der Tierwelt, inwiefern Schmerz, Affekte und verschiedene Bewegungsmuster miteinander gekoppelt sind. Der Autor benannte fünf Reaktionsformen, die zum Beispiel bei Hunden zu beobachten sind, wenn sie von Schmerzen geplagt werden: 1) Fluchtreaktion; 2) motorische Desorganisation; 3) aggressive Äußerungen; 4) Aktivitätshemmung sowie 5) Pflege und Verteidigung eines verletzten Körperteils. Bei Tieren mit akut auftretenden Schmerzen, so Buytendijk, habe man häufig das Empfinden, sie geraten außer sich; besonders eine desorganisierte und ziellose Motorik trage zu diesem Eindruck bei. In diesem Zusammenhang verwies er auf Plessners Gegensatzpaar von zentrischer und exzentrischer Positionalität. Er betonte, dass Tiere anders als Menschen immer an das vitale Zentrum ihrer Existenz gebunden sind:
» So gewiss ein Hund Schmerz empfindet, bleibt im Erleben des Schmerzes ein wesentlicher Unterschied zum Menschen bestehen, weil die Freiheit gegenüber dieser quälenden Empfindung und damit die Emanzipation vom vital determinierten Verhalten fehlt (Buytendijk 1948, S. 88).
«
Im anthropologisch gehaltvollen vierten Kapitel seines Buches spürte Buytendijk detailliert den Parallelen und Unterschieden zwischen dem tierischen und menschlichen Schmerzerleben nach. Einerseits lassen sich beim schmerzgeplagten Menschen analoge Verhaltensweisen finden, wie sie der Autor bei Tieren beobachtet hat. Diese reichen von der Flucht bis zu verschiedenen Schutz- und Pflegemaßnahmen. Andererseits erlaubt die exzentrische Positionalität des Menschen eine emotionale und geistige Distanzierung vom Schmerzgeschehen. Wir verfügen über die prinzipielle Fähigkeit, zu uns selbst, zu unserem Körper und zu einzelnen seiner Zustände Stellung zu beziehen und uns beinahe wie von außen zu betrachten. Damit können wir uns
aus existentiell bedrängenden Situationen gedanklich und imaginär entfernen, obwohl wir leibhaftig darin verfangen bleiben. Menschen sind in der Lage, über ihre Schmerzen nachzudenken und ihnen Sinn und Bedeutung zuzuschreiben. Durch die Reflexion dieses Zustandes kommen manche sogar so weit, eine Metaphysik und Anthropologie des Schmerzerlebens zu formulieren – eine Leistung, der auch Buytendijk mit seinem Buch nacheiferte. So charakterisierte der Autor den Schmerz als ein Phänomen, welches den Betreffenden ins Hier und Jetzt zwingt. Ein schmerzfreier Organismus erlaubt den Menschen, geistig weit ins Vergangene oder Zukünftige abzuschweifen. Schmerzen hingegen bewirken, dass der Augenblick aufgebläht und dominant wird. Des Weiteren rufen Schmerzen bei den Betroffenen nicht selten Empfindungen der Kränkung und Empörung hervor. Diese lassen sich als Reaktion darauf verstehen, dass sich Schmerzgeplagte in ihrer vitalen Ordnung und in ihren Autonomiegraden beeinträchtigt erleben. Die dabei empfundene Ohnmacht kann sich bis zur Bedrohung des Ich und seiner Integrität steigern, worauf die meisten mit Angst und Panik reagieren. Nicht selten werden Schmerzen primär als sinnlos eingeschätzt, und erst im Laufe eines längeren Einordnungsprozesses versieht der Einzelne sie mit jeweils individuellen Bedeutungen. Buytendijk referierte einige solcher Muster von Sinnzuschreibungen, die vom Heroismus bis zur Demut reichen – wobei er den Ersteren deutlich skeptischer beurteilte als die Letztere. Diesen Urteilen merkt man die weltanschauliche Haltung unseres Autors an, der im Zweifelsfall eher auf Thomas von Aquin, Pascal und Bergson als auf Nietzsche zurückgriff, um den potentiell sinnwidrigen Situationen von Leid und Schmerz doch noch einen Sinn abzuringen. In seiner Optik erhielten damit sogar schmerzvollste Verwundungen bei Soldaten im Krieg eine gewisse positive Bedeutung. z
Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung
In der Geschichte der Philosophie und Anthropologie gibt es seit Jahrtausenden Versuche, das Spezifische am Menschen im Vergleich zu anderen
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Lebewesen zu beschreiben. Dabei wurden unter anderem Formulierungen wie Homo faber, Homo ludens das sprechende, Werkzeug machende oder Symbole schaffende und verstehende Tier (»animal symbolicum«) verwendet. Außerdem bezog man sich auf die Opponierbarkeit des Daumens (Greifhand) oder das große Volumen des Neokortex (Großhirn), um maßgebliche Unterschiede von Mensch und Tier zu benennen. In diesem Zusammenhang haben manche Forscher auch auf die aufrechte Körperhaltung verwiesen, die für die Ausprägung von menschlichen Eigenschaften wichtig geworden ist. So erkannte man bereits in der Renaissance, dass aufgrund der aufgerichteten Haltung des Menschen (und der parallel gestellten Augenachsen) für ihn im Unterschied zu anderen Lebewesen ein perspektivisches Sehen und Erleben der Welt möglich wurde. Im 20. Jahrhundert war es zum Beispiel Erwin Straus, der in seinen Schriften – etwa in Die aufrechte Haltung – Eine anthropologische Studie (1949) – auf die vielfältigen Konsequenzen der Körperhaltung für das menschliche Dasein hingewiesen hat. Von dieser und anderen Abhandlungen ließ sich Buytendijk inspirieren, als er seine Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung während des Zweiten Weltkriegs konzipierte und Mitte der 50er Jahre für die deutschsprachige Version vorbereitete. Ähnlich wie in seinem Buch Über den Schmerz ging Buytendijk auch hierin von den anatomischen und physiologischen Gegebenheiten des Menschen aus, um diese mit geistes- und sozialwissenschaftlichen sowie philosophisch-anthropologischen Gesichtspunkten zu verknüpfen. Dabei lehnte er eine bloß materialistische Betrachtungsweise ebenso ab wie eine übereilt metaphysische. Auch die wissenschaftstheoretischen Standpunkte der Gestaltpsychologie und des Vitalismus überzeugten ihn wegen ihrer impliziten Grundannahmen über das Wesen des Lebendigen nicht (das Leben z. B. lediglich als Struktur verstanden oder aber als von einer ominösen Lebenskraft induziert). Stattdessen wandte er in seiner Allgemeinen Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung eine phänomenologische Forschungsweise an. Bei solchen Untersuchungen könne man nicht erwarten, auf Gesetze zu stoßen, wie sie in der Phy-
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sik und Chemie formuliert werden. Eher schon müsse man sich mit dem Begriff des Prinzips anfreunden. In diesem Zusammenhang verwies er auf den Neurologen Kurt Goldstein, der in seinem Hauptwerk Der Aufbau des Organismus von einem »Prinzip des ausgezeichneten Verhaltens« sprach, um verständlich zu machen, wie Menschen die jeweiligen Aufgaben ihrer Existenz zu lösen versuchen. Mit den Begriffen Funktion und Subjekt benannte Buytendijk zwei Prinzipien, die im Bereich des Lebendigen und damit auch beim Menschen eine wesentliche Rolle spielen. Die menschliche Existenz ist geprägt durch eine immense Anzahl komplexer Funktionen, die man in vegetative und animalische, bewusste und unbewusste unterteilen kann. So kennen wir vegetative Funktionen der Atmung, des Herz- und Kreislaufsystems, der Verdauung oder des Urogenitalsystems; unter animalischen Funktionen versteht man willkürliche und unwillkürliche Bewegungen der quer gestreiften Muskulatur des Organismus. Daneben gibt es Funktionen, die an unsere Sinnesorgane (Wahrnehmungen, Empfindungen) und an unser Gehirn (Denken, Fühlen) gebunden sind und unser Bewusstsein mit konstellieren. Allen Funktionen gemeinsam ist ihre Bezogenheit auf die jeweilige Umwelt der betreffenden Lebewesen. Nach Buytendijk begeht man ontologische Fehler, wenn man Pflanzen, Tiere oder auch den Menschen nur für sich alleine untersucht. Alles Leben ist eingebettet in Welt und Umwelt, und nur vor diesem Hintergrund kann es umfassend und adäquat verstanden und beschrieben werden. Neben der Funktion bildete für Buytendijk das Subjekt ein zweites wichtiges Prinzip. Unter Subjekten verstand er Lebewesen, die sich durch Wahrnehmung, Handlung und Ausdruck auszeichnen. Die allermeisten Pflanzen fallen demnach ebenso wenig unter diese Kategorie wie Einzeller, Insekten oder Fische. Wohl aber erfüllen viele andere Tiere sowie der Mensch die Kriterien des Subjektseins. Lebendiges unterliegt meist einem Reiz-Reaktions-Schema, in das es eingebunden ist, und dem es Folge leisten muss. Die dabei zustande kommenden Bewegungen geschehen mehr, denn dass sie aktiv initiiert werden. Subjekte hingegen bewegen sich darüber hinaus selbst; neben den Reaktionen
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zeigen sie eigene Handlungen und Ausdrucksmuster. Die Ersteren sind ziel- und leistungsorientiert, die Letzteren sind zumindest auf den ersten Blick zweck-, aber nicht bedeutungslos. Mit beiden Arten der Bewegung antworten Subjekte auf die wahrgenommenen Reize ihrer Umwelt und gestalten diese mit. Genau genommen kann man daher nie davon sprechen, dass sich Gegenstände bewegen – immer werden sie bewegt, selbst wenn wir ihren Antrieb nicht immer sofort durchschauen. Des Weiteren haben sie keine Beziehung zu Raum und Zeit; sie befinden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im physikalischen Raum. Subjekte jedoch leben im vitalen Raum und in der vitalen Zeit. Ihr Raum zeichnet sich durch Qualitäten wie nah, fern, heimelig und fremd und ihre Zeit durch Phänomene wie Wachstum, Entwicklung, Lernen, Erinnern, Altern und Tod aus:
»
Auch der Mensch bewegt sich in einem vitalen Raum. Insofern er mit »Leib und Seele« bei den Sachen ist und sich nicht reflektierend von ihnen distanziert, empfindet und behandelt er alles auf »animierte« Weise. Es fehlt ihm dann zwar nie das spezifisch Menschliche, aber diese Lebensweise als Selbst-Bewegung und Selbst-bewegt-Werden ist doch keine Äußerung des Geistes, sondern sie ist unmittelbar beseelt, wie beim Tier (Buytendijk 1956, S. 44).
«
In diesem Zitat wird angedeutet, dass menschliche Subjekte im Vergleich zu tierischen Subjekten potentiell durch Geistigkeit ausgezeichnet sind. Ihre Bewegungen teilte Buytendijk daher in vier Gruppen ein: Reflexe oder zwangsläufige Bewegungen; Reaktionen (beherrschbare Bewegungen); autonome und verfügbare Bewegungen; willkürliche und frei beherrschte Bewegungen. Letztere trifft man nur beim Menschen an. Es verwundert nicht, dass sich Buytendijk diesen Bewegungen mit besonderer Sorgfalt zuwandte, um an ihnen anthropologisch Relevantes aufzuzeigen. So beschrieb er ausführlich Bedingungen und Gestaltungen des aufrechten menschlichen Standes und Ganges, wie sie andeutungsweise auch bei Erwin Straus zu finden sind.
Buytendijk ergänzte dessen Ausführungen um die Haltungsaspekte von Stabilität, Asymmetrie und Alternierung. Der Mensch sichere sein aufrechtes Stehen und Gehen, indem er durch asymmetrische Körperhaltungen und alternierende Anspannung seiner Muskulatur ein Maximum an Stabilität gewinnt. Außerdem zeige er ein lokomotorisches Gangmuster, das durch Bewegungsdrang, Diskontinuität (Wechsel von Spannung und Entspannung), Rhythmik und symmetrisch gleichoder gegensinnige Mitbewegungen des Gesamtorganismus charakterisiert sei. Neben diesen anatomischen und physiologischen Gesichtspunkten manifestieren sich in der menschlichen Haltung und Bewegung viele weitere Faktoren des jeweiligen Individuums: Charakter, Biographie, Lebensstil, Weltanschauung, momentane Stimmungen, Niederlagen und Triumphe, Zielsetzungen, aber auch Alter, Geschlecht und Zugehörigkeit zu Berufsgruppen, Kultur und ethnischen Gruppen bestimmen die Art und Weise des Gehens und Stehens von Einzelnen:
» Das Gehen in seiner Ganzheit, als dynamische Gestalt, der totale Verlauf also und einige dominierende, charakteristische Züge sind uns in der unmittelbaren Anschauung unmittelbar gegeben. Deshalb unterscheiden wir typologische Formen und eine ästhetische Rangordnung. Es gibt kindliches, männliches und weibliches Gehen, wie man auch einen typischen Gang der Bauern, Städter, Seeleute, Soldaten usw. feststellen kann. Es gibt auch schlampige, unbeherrschte, verkrampfte, unnatürliche und manierierte sowie ausgeglichene, anmutige, würdige, edle Weisen des Gehens (Buytendijk 1956, S. 128).
«
Unter Berücksichtigung dieses vielschichtigen Bedingungsgefüges menschlicher Haltungen und Bewegungen ging Buytendijk daran, scheinbare Alltagshandlungen des Menschen genau zu untersuchen. So finden sich in seinem Buch aufschlussreiche Beschreibungen etwa über Lidschlag, Abwehrbewegung, Erhaltung des Gleichgewichts, Sichkratzen, Greifen, Springen und Werfen. Außerdem zeigte er auf, inwiefern der Einzelne durch seine Art des Stehens, Sitzens und Liegens sowie
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durch eine große Zahl von Bewegungen (Gestik) seinen Gemütszuständen Ausdruck verleiht. Menschliche Haltungen und Bewegungen sind immer expressiv und vermitteln eine Fülle von Botschaften an die Mitmenschen, selbst wenn sich der Betreffende seines Ausdrucks nicht bewusst ist. So erzählt uns der depressiv Verstimmte allein schon durch sein schlurfend-langsames Bewegungsmuster von der Last seines Daseins, ohne dass er sein Leid in Worte kleiden müsste. Analoges gilt für alle anderen Spielarten von Stimmungen, Verstimmungen und Lebenseinstellungen. Das letzte Kapitel seines Buches widmete Buytendijk dem Thema »Typologie der menschlichen Dynamik«. Hierin schilderte er kindliche und jugendliche Bewegungstypen (z. B. ungerichtete Vitalität), spezifische Haltungen von Menschen in Schwellensituationen (Pubertät, Lebensmitte, Alter) sowie geschlechtstypische Ausgestaltungen von Bewegungen wie Gehen, Greifen, Nehmen, Halten und andere mehr. Die vom Autor dabei angeführten Beobachtungen bestätigen sich größtenteils bis zum heutigen Tag. So kann man etwa allein am Gangbild oder an der Art des Handschlags erkennen, ob es sich beim Gegenüber um eine Frau oder einen Mann handelt. Diese motorischen Muster sind weit verbreitet und bleiben sogar bestehen, selbst wenn sich die Betreffenden einer operativen und hormonellen Geschlechtsumwandlung unterzogen haben. Im Gegensatz dazu sind die menschlichen Haltungen von Anmut, Würde und aufrechtem Gang viel seltener anzutreffen. Buytendijk verwies auf Friedrich Schillers Essay über Anmut und Würde (1794), in welchem der Dichter die Abhängigkeit anmutiger Bewegungen von der jeweiligen Persönlichkeit betont hat. Ähnlich ordnete unser Autor Anmut und Würde, Grazie und Leichtigkeit als unwillkürliche Leistungen einer Person ein. Sie entstünden nur, wenn der Organismus die je individuelle Lebensordnung und -anschauung des Einzelnen vollgültig zum Ausdruck bringe. Zusammenfassend kann man daher den Inhalt von Buytendijks Buch in die anthropologische Formel kleiden: Der Mensch ist ein Tier, das sich eine eigene Haltung und Bewegung aneignen kann und muss. Dies gelingt, wenn sich Einzelne nicht nur als Subjekte, sondern als Personen begreifen und
geistig-kulturelle Fähigkeiten entwickeln. Wie diffizil dies ist, hat unter anderem Ernst Bloch bestätigt, der in Das Prinzip Hoffnung meinte, der aufrechte Gang sei für Menschen am schwierigsten zu lernen. z
Prolegomena einer anthropologischen Physiologie
Ähnlich wie in seiner Allgemeinen Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung vertrat Buytendijk auch in den Prolegomena eine wissenschaftlich-philosophische Position, die davon ausging, dass jedes biologische Phänomen beim Menschen psychosoziale und geistige Bedeutungen hat, die es zu verstehen gilt. Dieses Credo hat der Autor im Vorwort formuliert, wo er schrieb, dass »im vegetativen Leben des Menschen das Geistige in Anspielungen erscheint, aber zugleich blinde Notwendigkeit wirksam ist« (Buytendijk 1967, S. 17). Im ersten, theoretisch gehaltenen Teil der Prolegomena werden Anthropologen, Philosophen, Psychologen, Biologen, Physiologen und Ärzte zitiert, die diese wissenschaftstheoretische Haltung stützten: Max Scheler, Nicolai Hartmann, Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricoeur und Gabriel Marcel, Helmuth Plessner, Adolf Portmann und Ludwig von Bertalanffy sowie Kurt Goldstein, Oswald Schwarz, Henry Ey, Viktor von Weizsäcker, Erwin Straus, Medard Boss, Viktor Emil von Gebsattel, Eugène Minkowski und Sigmund Freud. Mehrfach und ausführlich kam Buytendijk auf sie zurück, um die Unterschiede zwischen Körper und Leib zu verdeutlichen. Unter Körper wollte der Autor die biologische Dimension am Menschen verstanden wissen – jene Dimension, die in der Medizin von Anatomie, Biochemie und Physiologie erforscht und beschrieben wird. In Ergänzung dazu zielt der Begriff des Leibes auf den beseelten, sozialen und vergeistigten Körper und damit auf die Totalität einer Person ab. Eine dem Menschen als Person gerecht werdende Physiologie und Medizin darf nach Buytendijk nicht nur den Körper als wissenschaftliches Objekt definieren. Neben den biologischen Gesetzmäßigkeiten müssen auch die seelischen, sozialen und geistigen Facetten eines Individuums Berücksichtigung finden. Eine solche Wissenschaftsdisziplin nannte der Autor im Kontrast zur herkömmlichen eine anthropologische Physiologie, für die er unter
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anderem Sigmund Freud als Ahnherrn geltend machte:
»
Die Erkenntnis dieser Tatsachen hat uns verpflichtet, den Begriff der Subjektivität in die Physiologie einzuführen. Das bedeutet im Prinzip die Überwindung des Gegensatzes zwischen Körper und Geist. Es ist interessant, dass in der unmittelbaren Zuwendung zum Menschen in der Historizität seines Daseins, so wie diese von Freud in seiner auf die Psychoanalyse fundierten Therapie gesucht wurde, mit dem Begriff des Unbewussten zugleich der Begriff der Einheit von Geist und Körper in die medizinische Wissenschaft eingeführt wurde (Buytendijk 1967, S. 82).
«
Im zweiten und dritten Teil seines Buches demonstrierte Buytendijk die Tragweite seines theoretischen Konzepts. Anhand physiologischer Phänomene wie Schlafen, Wachen, Hunger und Durst, verschiedener Affekte wie Schreck und Ekel sowie Regulationsmechanismen im menschlichen Körper (Körperhaltung, Augenbewegung, Thermoregulation, Atmung und Blutkreislauf) verband er die zu seiner Zeit bekannten Erkenntnisse der Physiologie mit psychologischen und anthropologischen Befunden. Besonders eindrucksvoll gelang ihm dies im Kapitel über die menschliche Körperhaltung. In Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung hatte Buytendijk bereits wichtige Vorarbeiten zu dieser Thematik geliefert. Nun erweiterte er seine Ausführungen um die Aspekte von Freiheit und Angst. Aufgrund der biologischen Voraussetzungen des aufrechten Gangs können Menschen einen Horizont und Perspektiven erblicken, ein positionales Verhältnis zu ihrer Umwelt einnehmen, Objekte als Gegenüber begreifen sowie Weltoffenheit erleben. Die menschliche Freiheit ist letztlich und zuallererst Resultat der biologischen Gegebenheiten unseres Körpers. Der Körper bedeutet jedoch nicht nur eine Matrix für Freiheit, sondern gleichzeitig auch für Angst. Buytendijk zitierte in diesem Zusammenhang einen Satz von Erwin Straus – »Der Aufrechte ist vom Sturz bedroht« – und erläuterte davon ausgehend seine These, dass Angst beim Menschen als
Angst vor dem Fallen respektive vor dem Verlust der aufrechten Haltung zu interpretieren sei. Der Autor verwies auf kleine Kinder, die ihre stärksten Angstaffekte dann aufweisen, wenn man ihnen plötzlich ihre Unterlage entzieht und sie quasi ins Bodenlose fallen lässt. Ähnliche physiologische Veränderungen wie bei solchen Kindern könne man bei Erwachsenen beobachten, die am Rande eines Abgrunds stehen. Sie weisen oft beschleunigten Puls und erhöhten Muskeltonus, Empfindungen des Schwindels und der Leere im Kopf sowie ein Erleben von Schwäche und Ohnmacht auf. Diese anthropologisch-physiologische Theorie der Angst kennt zum einen Sören Kierkegaard und zum anderen Sigmund Freud als Vorläufer. Von Kierkegaard stammt die Formel, dass Angst der Schwindel der Freiheit sei – eine Formel, welche den Affekt (Angst), die begleitende physiologische Reaktion (Schwindel) und seine Bedingung (Freiheit) auf einen Nenner bringt. Freud wiederum gebrauchte den Begriff des Fallens im übertragenen ethisch-moralischen Sinn und stellte fest, dass eine Angst vor dem Fallen oftmals eine Lust auf das Fallen anzeige. Buytendijk integrierte diese beiden Gesichtspunkte im Terminus der Kohärenz. Damit ist eine geordnete, zuverlässige und überschaubare Verbindung von Individuum und Welt gemeint. Beim Menschen tragen vor allem die Fernsinne (Sehen und Hören) zu seinem Kohärenzerleben bei. Sobald wir uns in dunkler oder akustisch abgekapselter Umgebung befinden, gerät die Kohärenz in Gefahr, und als Reaktion darauf greifen wir auf unsere Nahsinne (meist den Tastsinn) zurück, um uns neuerlich zu orientieren. Ereilt den Menschen jählings ein Kohärenzverlust, löst dies bei ihm Angst im Sinne von Kierkegaard aus. Buytendijk sprach diesbezüglich von unterbrochener optomotorischer Kohärenz, die beim Betreffenden starke Verunsicherung mit teilweise massiven körperlichen Funktionsstörungen evoziert. Analoges geschieht, wenn unser psychosoziales oder geistig-kulturelles Kohärenzgefühl bedroht ist – ein Faktum, das im Voodoo-Tod primitiver Kulturen (Tod nach Ausstoßung aus dem Stamm) oder im Pensionistentod (Arthur Jores) seine Bestätigung findet.
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Conclusio
Manchmal erfolgt ein Kohärenzverlust nicht in Form des Erleidens, sondern des bewussten Wollens. Menschen lassen dann mehr oder minder lustvoll ihre altbekannten Verhältnisse hinter sich und brechen zu neuen Ufern auf. Diese Lust kann ebenfalls Sorge und Bangigkeit induzieren – eine Angst im Sinne der Freud‘schen Psychoanalyse. In beiden Fällen ist der Verlust an Kohärenz mit einem nicht selten bis in die Physiologie hineinreichenden Haltungsverlust verknüpft. Angst ist oft mit dem somatischen Symptom der Hyperventilation vergesellschaftet. Hierüber und über die Atmung generell hat Buytendijk in seinen Prolegomena ebenfalls interessante Betrachtungen angestellt. Im Gegensatz zu den Psychosomatikern Eduardo Weiss und Franz Alexander, welche die Aufnahme, Retention und Ausscheidung als relevante Bedeutungsebenen der Atmung ansahen, betonte unser Autor die Pole von Freiheit und Notwendigkeit, die sich in normaler und gestörter Atmung widerspiegeln. Schon Goethe hatte auf diese Polarität abgehoben, als er dichtete:
» Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; jenes bedrängt, dieses erfrischt; so wunderbar ist das Leben gemischt.
«
Menschen, die unwillkürlich und von selbst atmen, leben Buytendijk zufolge nahe am Pol der Freiheit. Wenn sich bei ihnen Lufthunger, Atemnot, Druck, Enge und Hyperventilation einstellen, bewegen sie sich auf den Pol der Notwendigkeit zu. Dabei sei es gleichgültig, welche Not oder welcher Zwang sie konkret peinigt. Darüber hinaus diene die Atmung, obwohl sie nur über wenige Modulationsfähigkeiten verfügt (Atemtiefe und -frequenz, Seufzeratmung), dem körperlichen Ausdruck von Befindlichkeiten und Emotionen eines Individuums.
Conclusio Mit seinen Schriften zur medizinischen Anthropologie hat Buytendijk einen wertvollen Beitrag zur Debatte über Wesen und Natur des Menschen geliefert. Da er ein kompetenter Physiologe und Biologe war, konnte er somatische Grundlagen und
organpathologische Prozesse des menschlichen Körpers anschaulich darstellen. Seine persönlichen Kontakte zu Philosophen und philosophisch orientierten Naturforschern sowie seine umfangreichen Literaturstudien ermöglichten es ihm, die Grenzen einer sich nur naturwissenschaftlich verstehenden Physiologie und Medizin zu erkennen und zu überschreiten. Dementsprechend war er bestrebt, in Begriffen wie Leib, Subjekt, Funktion und Kohärenz neben einer physiologischen auch einer sozialwissenschaftlichen und philosophisch-anthropologischen Perspektive Raum zu bieten. Dass Buytendijk dieses Unterfangen grundsätzlich vom Bios her durchführte, ist vor dem Hintergrund seiner Sozialisation als Arzt und Physiologe verständlich und bedeutet in gewisser Weise eine Qualität. Eine solche Basis verhindert fragwürdige anthropologische Spekulationen und erzieht den Wissenschaftler zu nüchtern-realistischer und reduktiver Denk- und Forschungsarbeit. Gleichzeitig kann das Korsett naturwissenschaftlichen Vorgehens eng und limitierend wirken. Buytendijk ahnte die geistig-kulturellen Dimensionen, die sich hinsichtlich der Anthropologie im Bereich von Geisteswissenschaften und Philosophie eröffnen, ohne dass ihm immer die Möglichkeiten offen standen, diese Regionen umfassend in seine eigenen Arbeiten zu integrieren. So fehlen bei ihm und seinen anthropologischen Schriften Themen und Begriffe wie Kulturanalyse, Geschichte und Geschichtlichkeit, Politik und Gesellschaft, Ethik, Moral und Wertlehre, Weltanschauungs- und Ideologiekritik sowie eine umfassende Rezeption von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Alle diese Bereiche spielen jedoch für Gesundheit und Krankheit von Menschen eine ähnlich wichtige Rolle wie deren biologische Konstitution und ihr Affekthaushalt, und alle diese Themen sind relevant für eine integral verstandene Anthropologie. Man kann sich daher eine anthropologische Physiologie und Pathologie vorstellen, die in deutlicher Erweiterung von Buytendijks Vorarbeiten die krankmachenden Effekte zum Beispiel von Militarismus, Patriarchat, Vorurteilsdenken und religiösem Aberglauben untersucht. Und ebenso sinnvoll wäre es, im Rahmen einer medizinisch-philosophi-
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Kapitel • Frederik J. J. Buytendijk
schen Anthropologie die protektiven und gesundheitsförderlichen Einflüsse von Vernunft, Eros und Erziehung zu freiheitlich-fortschrittlichem Denken sowie zu umfassender Solidarität zu beschreiben.
Literatur Bahner H (Hrsg) (1982) Geschichte der Psychologie – Geistesgeschichtliche Grundlagen, Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts. Beltz, Weinheim (Erstveröff. 1976) Buytendijk F (1948) Über den Schmerz. Huber, Bern Buytendijk F (1953) Die Frau – Natur, Erscheinung, Dasein. Bachem, Köln Buytendijk F (1956) Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung. Springer, Berlin (Erstveröff. 1948) Buytendijk F (1958) Mensch und Tier – Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Buytendijk F (1962) Erziehung zur Demut. Henn, Ratingen Buytendijk F (1966) Psychologie des Romans. Otto Müller, Salzburg Buytendijk F (1967) Prolegomena einer anthropologischen Physiologie. Otto Müller, Salzburg (Erstveröff. 1965) Buytendijk F (1980) Aandenken – Bezinning over de Levensloop. Ambo, Baarn (Niederlande) Spiegelberg H (1972) Phenomenology in Psychology and Psychiatry. Northwestern University Press, Evanston
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Georges Canguilhem Biographisches – 448 Werkanalyse – 450 Conclusio – 457 Literatur – 458
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Georges Canguilhem
Canguilhem war ein französischer Arzt und Philosoph, der seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts zuerst in Frankreich und später auch darüber hinaus mit wissenschaftshistorischen und -theoretischen Abhandlungen auf sich aufmerksam machte. Vor allem sein Buch über Das Normale und das Pathologische (1943/66, deutsch 1974) wurde in medizinischen und philosophischen Fachkreisen diskutiert.
Biographisches Georges Canguilhem wurde 1904 in Castelnaudary in der Nähe von Toulouse in eher einfache Verhältnisse hineingeboren; seine Vorfahren entstammten dem bäuerlichen Milieu. Als Kind und Jugendlicher war er Schüler am Lyzeum in Castelnaudary, wo er großen schulischen Erfolg hatte. Daher wurde er bald ans Lycée Henri IV nach Paris geschickt. Der wichtigste Lehrer während seiner Schuljahre am Lycée Henri IV war der Moralist Émile Chartier, besser bekannt unter dem Pseudonym Alain. Bei ihm lernte Canguilhem die Vorzüge einer verständlichen und knapp-präzisen Schriftstellerei kennen – Alain war Verfasser zahlreicher kleinerer Essays, der Propos, die er in Zeitungen für ein breites Publikum veröffentlichte. Außerdem bewunderte der Schüler an seinem Mentor dessen skeptische und pazifistische Weltanschauung, die er sich in großen Teilen zueigen machte. Ab 1924 besuchte Canguilhem die École normale supérieure (ENS) in Paris, wo er zusammen mit Paul Nizan, Raymond Aron, Daniel Lagache und Jean-Paul Sartre im selben Jahrgang studierte. 1925 kam Maurice Merleau-Ponty an die ENS; zu ihm unterhielt Canguilhem wie zu einigen weiteren seiner prominenten Mitstudenten später eine kritisch-freundschaftliche intellektuelle Beziehung. Während seiner Zeit an der ENS befreundete sich Canguilhem mit Jean Cavaillès, der ein Jahr vor ihm an die Eliteschule gekommen war und ab 1929 als Repetitor für Philosophie an seiner ehemaligen Lehrstätte arbeitete. Zuvor war Cavaillès über ein Rockefeller-Stipendium für einige Zeit nach Berlin gelangt, wo er die Schriften von Edmund Husserl, Martin Heidegger und Ernst Cassirer studierte und sich ansonsten mit Problemen
der Mathematik befasste. Zurück in Paris, machte er Canguilhem auf die moderne deutschsprachige Philosophie aufmerksam. Dieser absolvierte von 1927–1929 seinen Militärdienst. Gleichzeitig begann er, ähnliche Essays wie Alain zu schreiben. Dabei beschäftigte er sich mit verschiedenen Themen wie Schulwesen, Meinungsfreiheit oder Pazifismus. Außerdem verfasste er Gedenkblätter über Philosophen wie Pierre Bayle, Immanuel Kant und Henri Bergson und gab sich in manchen seiner Aufsätze als antifaschistischer Intellektueller zu erkennen. Nach dem Abschluss seines Militärdienstes war Canguilhem vorerst als Philosophielehrer an Gymnasien in diversen Städten Frankreichs tätig. 1931 ließ er sich für einige Zeit beurlauben, um sich ganz der Schriftstellerei und der Mitarbeit an Alains Libres propos zu widmen. Weil die faschistischen Bewegungen in Europa immer mehr Einfluss gewannen, engagierte er sich in antifaschistischen Gruppen und verfasste Pamphlete wie Le Fascism et les paysans (Der Faschismus und die Bauern, 1935). Ab 1936 unterrichtete Canguilhem wieder an einem Gymnasium in Toulouse. Seine Lehrmethoden waren ungewöhnlich und streng, aber bei den meisten Schülern anerkannt. Er verzichtete weitgehend auf die üblichen Unterrichtsmaterialien (Bücher) und gestaltete seine Stunden frei und wie aus dem Stegreif. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit begann Canguilhem ein Studium in Medizin. Die Heilkunde hatte er gewählt, weil er sich damit – wie er es in Das Normale und das Pathologische später ausdrückte – einen nahen, lebendigen und direkten Kontakt zur Wirklichkeit des menschlichen Daseins erhoffte. Und weiter meinte er zu seiner Motivation:
» Philosophie ist eine Form der Reflexion, der jeder fremde Gegenstand gut tut und der – wie wir hinzufügen möchten – jeder vertraute Gegenstand fremd sein muss … Was wir von der Medizin erwarteten, war eine Einführung in konkrete menschliche Probleme (Canguilhem 1974, S. 15).
«
Als 1940 nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen das Vichy-Regime eingesetzt wurde, quittierte Canguilhem aus Protest gegen die kollaborierende Politik von Marschall Pétain sei-
Biographisches
nen Dienst am Gymnasium in Toulouse. Seinem Vorgesetzten schrieb er als Erklärung dafür: »Ich bin nicht ‚agregé de philosophie‘ geworden, um ‚Arbeit, Familie, Vaterland‘ zu unterrichten.« Kurze Zeit darauf erhielt Canguilhem eine Stelle an der Universität Straßburg, die damals kriegsbedingt nach Clermont-Ferrand (Auvergne) verlegt worden war. An der Hochschule übernahm er die Stelle seines Freundes Cavaillès, der sich von da an ganz seinem Engagement in der Résistance zuwandte. 1943 wurde Canguilhem mit dem Versuch über einige Probleme, das Normale und das Pathologische betreffend in Medizin promoviert. Dieser Text wurde zur Grundlage für das Buch Das Normale und das Pathologische (1966), das entscheidend zur Bekanntheit des Autors beitrug. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Canguilhem als Arzt in der Auvergne und erhielt dabei Gelegenheiten genug, jene konkreten menschlichen Probleme kennenzulernen, die er sich von der Medizin erwartet hatte. Außerdem wirkte er unter dem Codenamen Lafont ebenso wie sein Freund Cavaillès aktiv in der Résistance mit und war 1944 südlich von Clermont-Ferrand bei einer der erbittertsten Schlachten zwischen den Deutschen und den französischen Widerstandskämpfern beteiligt. Anders als Cavaillès, der aufgrund seiner persönlichen Kontakte zu Charles de Gaulle in London immer gefährdet war und mehrfach verhaftet wurde, hatte Canguilhem Glück: Er kam mit dem Leben davon, indes Cavaillès 1943 von einem Agenten verraten und hernach von den Deutschen hingerichtet wurde. 1976 publizierte Canguilhem unter dem Titel Leben und Tod von Jean Cavaillès einen Text zur Erinnerung an seinen ehemaligen Freund. Außerdem veröffentlichte er posthum dessen letztes Manuskript Über die Logik und die Theorie der Wissenschaften (1947). Im Rahmen dieser Aktivitäten lernte Canguilhem den französischen Philosophen Gaston Bachelard kennen, der eine Einleitung zum Buch von Cavaillès geschrieben hatte. Bachelard gehörte ab 1940 dem Lehrkörper der Sorbonne an und unterrichtete Wissenschaftsgeschichte und -theorie. Canguilhem sollte einige Jahre später (1955) der Nachfolger Bachelards an der Sorbonne werden. Nach dem Krieg wurde die Universität Straßburg von Clermont-Ferrand wieder an ihren ur-
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sprünglichen Platz zurückverlegt. Canguilhem siedelte daher ins Elsass über und stieß dort auf den Physiologen Charles Kayser sowie auf dessen Labor und Bibliothek. Dadurch wurde er zu ausgiebigen Studien über den menschlichen Organismus, über das Nervensystem und speziell das Wesen des Reflexes inspiriert. Aus seinen Arbeiten erwuchs eine umfangreiche Schrift, die 1955 unter dem Titel Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert publiziert wurde. Dieses Buch trug dazu bei, dass Canguilhem im selben Jahr das »Doctorat ès lettres« (in Frankreich die höchste Stufe einer akademischen Qualitätsarbeit) an der Sorbonne erhielt. 1948 wurde Canguilhem zum Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Straßburg ernannt. Außerdem übernahm er die Funktion des Generalinspekteurs des nationalen Bildungswesens. Als solcher beaufsichtigte und kontrollierte er die Qualität des Unterrichts an den französischen Gymnasien. Dabei soll er wie schon früher als Lehrer hohe Ansprüche im Hinblick auf das Niveau der Lehre an den Tag gelegt und im Zweifelsfall mit heftigen Affekten die nötige Exzellenz eingeklagt haben. 1955 wechselte Canguilhem auf die erwähnte Professur an der Sorbonne und übernahm als Nachfolger Bachelards auch das Direktorat des Instituts für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Universität Paris. Dieses Institut war 1932 von dem Physiker und Philosophen Abel Rey gegründet worden. Seit dieser Zeit beschäftigten sich die Mitarbeiter des Instituts mit Fragen der Technik- und Wissenschaftshistorie, wozu auch die 1935 ins Leben gerufene Zeitschrift Thalès wichtige Beiträge lieferte. Canguilhem behielt die Position des Institutsdirektors bis zu seiner Emeritierung 1971 bei. Anders als Bachelard, der sich vor allem mit Physik und Chemie als Beispiele für die Wissenschaftsgeschichte und die Evolution des rationalen Denkens beschäftigt hatte, wählte Canguilhem die Medizin und Biologie, um an ihnen die Entwicklungen und verschiedenen Ausgestaltungen des wissenschaftlichen Arbeitens während der letzten Jahrhunderte zu demonstrieren. Zu jener Zeit war Canguilhem neben seiner Tätigkeit an der Sorbonne als Generalinspekteur für
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Kapitel • Georges Canguilhem
den gesamten Philosophieunterricht in Frankreich zuständig. Als Präsident der Prüfungskommission sorgte er dafür, dass dieses Fach von den Studenten allein schon wegen der strengen Abschlussprüfungen ernst genommen wurde. Ehemalige Schüler wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Pierre Bourdieu und Louis Althusser, die später als Philosophen und Schriftsteller von sich reden machten, bezeugten, wie sehr sie von der gewissenhaften Art der Lehre und Forschung Canguilhems, von seinen überaus soliden und ernsthaften Ansprüchen an sich und die anderen wie auch von seiner ganzen Persönlichkeit beeindruckt waren. In den 60er Jahren kam es zu einer ersten Welle der Rezeption von Schriften und Gedanken Canguilhems über Frankreich hinaus. 1961 wurde er nach Oxford zu einem Symposium über »Scientific Change« eingeladen, auf dem er über typische Muster und Modelle bei biologischen Entdeckungen referierte. An derselben Tagung nahm Thomas S. Kuhn teil, der damals einige Thesen seiner kurz darauf publizierten Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) vorstellte. Ein Jahr später sorgte der Physiologe und Medizinhistoriker Karl Rothschuh dafür, dass Canguilhem nicht nur im angloamerikanischen, sondern auch im deutschsprachigen Raum bekannter wurde. Er lud seinen französischen Kollegen zu einer Tagung nach Münster ein, die sich thematisch der Entwicklung der Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert widmete. Beide Forscher wiesen in ihren Arbeiten der kommenden Jahre anerkennend auf die Gedanken ihres jeweiligen Pendants hin. Besondere Beachtung fand dabei der von Rothschuh herausgegebene Sammelband Was ist Krankheit (1975), in dem ein umfangreicher Aufsatz Canguilhems in direkter Nachbarschaft zu entsprechenden Abhandlungen von Robert Koch, Sigmund Freud, Viktor von Weizsäcker, Viktor Emil von Gebsattel, Franz Alexander und Arthur Jores abgedruckt wurde. Neben den beiden erwähnten Büchern hat Canguilhem eine Fülle von Aufsätzen mit großer Themenvielfalt verfasst, die mehrfach in Sammelbänden veröffentlicht wurden. In deutscher Sprache erschienen Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie (1979), Grenzen medizinischer Rationalität – Historisch-epistemologische Untersuchungen
(1989), Gesundheit – Eine Frage der Philosophie (2004), Wissenschaft, Technik, Leben (2006) sowie Die Erkenntnis des Lebens (2009). Außerdem wurde 2005 unter dem Titel Maß und Eigensinn zum zehnten Jahrestag seines Todes (1995) ein Studienband über Canguilhems Denken publiziert, worin Beiträge zu verschiedenen Aspekten der medizintheoretischen Positionen des Autors sowie eine biographische Skizze über ihn abgedruckt sind. Bis heute gibt es in deutscher Sprache jedoch keine umfängliche Biographie und Werkanalyse, welche das Leben und die intellektuelle Breite dieses originellen französischen Mediziners und Wissenschaftstheoretikers angemessen widerspiegelt.
Werkanalyse Im Folgenden wird Bezug genommen auf Canguilhems Bücher Das Normale und das Pathologische sowie Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. Darüber hinaus werden einige seiner Abhandlungen aus den erwähnten Sammelbänden berücksichtigt. z
Das Normale und das Pathologische
Dieses Buch entstand als Überarbeitung der medizinischen Doktorarbeit Canguilhems. Es wurde 1966 publiziert, wobei die revidierte im Vergleich zur ursprünglichen Version um ein Kapitel erweitert wurde, das mit Neue Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen überschrieben ist. Im ersten Teil seiner Schrift stellte der Autor wichtige Etappen der Formulierung von Gesundheits- und Krankheitskonzepten dar. Schon in der Antike führten Ärzte und Naturphilosophen Debatten darüber, ob Krankheiten beim Menschen auf einzelne Bereiche des Körpers lokalisiert werden können oder aber stets den gesamten Organismus betreffen. Die erstere Position bezeichnet man als Lokalisations-, die letztere hingegen als Totalisierungstheorie. Hippokrates etwa war ein Vertreter der Totalisierungsidee. Er entwickelte zusammen mit vorsokratischen Philosophen die Viersäfte-Lehre und war damit einer der Begründer der Humoralpathologie. Das Mischungsverhältnis der vier Säfte Blut,
Werkanalyse
Schleim sowie gelbe und schwarze Galle wurde von ihm und seinen Schülern für Gesundheit oder Krankheit verantwortlich gemacht. Ein harmonisches Mit- und Nebeneinander dieser vier Körpersäfte garantierte Gesundheit. Eine Disharmonie hingegen brachte Krankheit hervor, konnte zur Diagnostik dieser Krankheit Verwendung finden und gab gleichzeitig therapeutische Leitlinien ab. Eine Rückführung der Disharmonie erfolgte beispielsweise durch Hygiene, Diät, Bewegung, klimatische Veränderungen, Chirurgie und Medikamente. War damit (oder durch den Spontanverlauf) die ehemalige Harmonie oder Homöostase wieder erreicht, bedeutete dies Gesundung oder zumindest Besserung. Mit dem humoralpathologischen Modell war die Basis für eine Heilkunde geschaffen worden, die in ihren Grundzügen bis zu Paracelsus (Spätrenaissance) Bestand hatte. Als Ärzte des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich um modernere Theorien für Krankheit und Gesundheit bemühten, erwähnte Canguilhem in seinem Text Thomas Sydenham (1624–1689) und Giovanni Battista Morgagni (1682–1771). Beide emanzipierten sich von der Humoralpathologie, und vor allem Morgagni trug mit seinen fünf Büchern Über den Sitz und die Ursachen der Krankheiten, aufgespürt durch die Anatomie (die er 1761 als fast 80-Jähriger veröffentlichte) entscheidend dazu bei, dass sich nach und nach eine anatomisch orientierte Pathologie etablierte, die sich größtenteils einer Lokalisationstheorie zuneigte. Sydenham wie Morgagni verwiesen in ihren Schriften darauf, dass pathologische (also krankhafte) Phänomene in der Regel als quantitative Abweichungen von einer Norm zu verstehen seien. Lebende Organismen zeichnen sich meist durch eine wohl definierte Physiologie (normale oder gesunde Körperfunktionen) aus, wohingegen Krankheit durch ein Zuviel (»hyper«) oder ein Zuwenig (»hypo«) charakterisiert sei. In Begriffen wie Hypertonie (Bluthochdruck), Hypotonie (Blutniederdruck), Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) und Hypothyreose (Schilddrüsenunterfunktion) kommen diese Konzepte terminologisch noch heute zum Tragen. Beinahe zeitgleich mit Sydenham und Morgagni publizierte Julien Offray de Lamettrie seine Schrift L’homme machine (1748). Für Lamettrie
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(1709–1751) bedeutete der menschliche Körper eine Maschine, vergleichbar mit einem Uhrwerk allerhöchster Komplexität. Krankheit war das Zeichen für eine Störung innerhalb dieses Getriebes, und Genesung oder Gesundung waren Phänomene, die auf eine Reparatur des defekten Mechanismus schließen ließen. Dieses mechanistische Konzept ermöglichte der naturwissenschaftlich orientierten Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen mächtigen Aufschwung. Den Heilkundigen und Philosophen der Romantik erschienen solche Vorstellungen allzu krude. Ärzte wie Carl Gustav Carus, Christoph Wilhelm Hufeland, Albrecht von Haller, Franz Anton Mesmer, Samuel Hahnemann und John Brown oder der Philosoph Friedrich Willhelm Schelling waren Vitalisten, die im Gegensatz zu den Mechanisten die Meinung vertraten, dass als zentrale Energie eine »vis vitalis« (Lebenskraft) und nicht nur ein schnöder Mechanismus im menschlichen Organismus anzutreffen sei. Eine Schwächung und Reduktion dieser Kraft bewirke Krankheiten, wohingegen die Gesundheit als Resultat einer stabilen und ungebrochenen »vis vitalis« zu interpretieren sei. Alle therapeutischen Bemühungen der vitalistischen Ärzte zielten dementsprechend auf eine Stärkung der Lebenskraft ab – egal, ob dies mit Magnetismus (Mesmer), Homöopathie (Hahnemann), Makrobiotik (Hufeland) oder Brownismus (Unterscheidung in sthenische und asthenische Zustände und Krankheiten) bewerkstelligt werden sollte. Vor allem der Brownismus wurde von Canguilhem in Das Normale und das Pathologische breit erörtert und mit den positivistischen Konzepten eines Auguste Comte verglichen. Zwischen Mechanisten und Vitalisten gab es bald grundsätzliche Auseinandersetzungen, die sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzten. Der Biologe Hans Driesch (1867–1941) zum Beispiel oder der Philosoph Henri Bergson (1859–1941) gehörten ebenso wie der Pionier der Psychosomatik Georg Groddeck (1870–1936) zur Gruppe prominenter Vitalisten, die sich auf die Suche nach der »vis vitalis« begaben. Dagegen waren die meisten naturwissenschaftlich orientierten Ärzte und Pathologen entschieden einem mechanistischen Lager zuzurechnen.
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Kapitel • Georges Canguilhem
Canguilhem erwähnte diesbezüglich die französischen Mediziner Claude Bernard (1813–1878) und René Leriche (1879–1955). Der Erstere entdeckte die Funktion von Bauchspeicheldrüse und Leber im Hinblick auf die Verdauungsvorgänge. Dabei beschrieb er das »Milieu intérieur«, das innere Milieu, das für die Aufrechterhaltung des Lebens notwendig ist. Ausgehend von der hohen Bedeutung der inneren Homöostase meinte Bernard keck: »Der Keim ist nichts, das Milieu ist alles.« Auch den operativ orientierten Arzt Leriche – er trat vor allem mit gefäßchirurgischen Operationstechniken sowie mit seinem Buch Chirurgie des Schmerzes (1937) hervor – zitierte Canguilhem ausführlich. Von Leriche stammt die fast poetische Umschreibung eines gesunden Körpers: »Die Gesundheit ist das Leben im Schweigen der Organe.« Umgekehrt zeichne sich Krankheit dadurch aus, dass sie die normale Lebensführung des Menschen hemmt und ihn leiden macht. Ähnlich wie Bernard betonte auch Leriche, dass es sich bei der Erkrankung um ein »physiologisches Novum« handle:
»
Wir begreifen die Krankheit nicht mehr als einen Parasiten, der den Menschen befällt, von ihm lebt und ihn schwächt. Vielmehr sehen wir in ihr die Folge einer – zu Anfang geringfügigen – Abweichung von der physiologischen Ordnung. Im Grunde ist sie eine neue physiologische Ordnung, an welche die Therapie den kranken Menschen angleichen möchte (Leriche, zit. nach Canguilhem 1974, S. 62).
«
Mit den Begriffen Norm, Durchschnitt und Ordnung respektive Unordnung und Anormalität näherte sich Canguilhem jenen Fragen, die er als zentral für eine Definition von Krankheit und Gesundheit ansah. Häufig wird ein gesunder Zustand synonym mit Normalität und ein kranker synonym mit Abnormalität gebraucht. In der Medizin ist es seit Jahrhunderten üblich, Normwerte zu definieren, Funktionen des menschlichen Körpers mit Referenzbereichen zu versehen und somit Gesundheit (Physiologie) von Krankheit (Pathologie) zu scheiden. Diese mit Maß und Zahl abgesicherten Bereiche der Normalität werden auf vielfältige Art und Weise erzeugt. Nicht selten greift man dabei auf
die Durchschnittswerte vieler Menschen zurück. Bei diesen an einer großen Zahl erzeugten Normwerten stellt sich jedoch oft die Frage, ob einzelne Individuen tatsächlich krank sind, sobald sie den Bereich der statistischen Normalität verlassen; und ob sie gesunden, sobald sie sich wieder normgemäß verhalten. Der klinische Alltag bietet Beispiele zuhauf dafür, dass Einzelne weit jenseits von Normbereichen des Kollektivs (also der angeblichen Gesundheit) leben, ohne dass dies für sie persönlich Pathologie bedeutet. Canguilhem erwähnte etwa Napoleon, von dem bekannt ist, dass seine Herzfrequenz fast dauernd um vierzig Schläge pro Minute betrug, ohne dass er sich krank fühlte. Wählt man allein diese Zahl als Referenzwert, müsste man den französischen Herrscher im Nachhinein noch zum Herzkranken stempeln. Weil also der Begriff der Normalität im Hinblick auf Krankheit und Gesundheit problematisch ist, schlug Canguilhem in Das Normale und das Pathologische vor, kranke und gesunde Zustände beim Menschen nicht mittels des Terminus der Norm, sondern desjenigen der Normativität zu charakterisieren. Gesundheit sei durch die Fähigkeit gekennzeichnet, normativ zu sein, wohingegen Krankheit mit diesbezüglichen Einbußen einhergehe. Unter Normativität versteht man die Möglichkeiten einer Person, sich und eventuell auch anderen Normen zu setzen. Solche Vorgaben können sich auf körperliche, seelische, soziale und geistige Bereiche der Existenz beziehen, wobei die jeweils relevanten Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssen. Wenn sich etwa ein 80-Jähriger vornimmt, Marathon zu laufen, zeugt dies womöglich von Dummheit und nicht von normativer Kraft. Ebenso wenig darf der Entschluss einer Anorexiepatientin, keine kalorienreiche Nahrung zu sich zu nehmen, als Norm gebend beurteilt werden; solche Vorsätze sind als Pseudoautonomie und Trotz, nicht aber als originelle Normativität zu werten. Generell sind Krankheiten mit Einschränkungen der normativen Möglichkeiten der Patienten assoziiert. Je nach Krankheitsbild stehen körperliche, psychosoziale oder geistige Beeinträchtigungen im Vordergrund, die in der Regel gleichbedeutend mit einer Reduktion der Normativität sind.
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Werkanalyse
Herzinfarkt, Asthma-bronchiale-Anfall, hochfieberhafter Infekt oder eine Trauma bedingte Fraktur (Knochenbruch) begrenzen primär vor allem die körperlichen Potentialitäten, wohingegen etwa ein cerebraler Insult (Schlaganfall) daneben auch psychosoziale oder geistige Sphären der Normativität betrifft. Rekonvaleszenz, Rehabilitation, Gesundung oder auch chronische Krankheiten sind von einem neuen Niveau der Normativität geprägt. Der ehemals akut Erkrankte hat entweder sein althergebrachtes Maß beinahe wieder erreicht, oder er hat sich auf einem anderen Level seiner Leistungsmöglichkeiten eingerichtet, von dem aus er an sich selbst nun neue, adäquate Forderungen und Erwartungen formuliert. Genau genommen kann man daher bei stabil chronischer Krankheit im Sinne Canguilhems auch von einer neu erworbenen Gesundheit sprechen. Die Normativität des Betreffenden hat sich (wenn auch auf anderem Niveau) wiederum entfaltet, und der ehemalige Patient ist zu einem womöglich behinderten oder chronisch kranken »Gesunden« (in Bezug auf die Normativität) geworden:
» Was die Gesundheit ausmacht, ist die Möglichkeit, die das augenblicklich Normale definierende Norm zu überschreiten; die Möglichkeit, Verstöße gegen die gewohnheitsmäßige Norm hinzunehmen und in neuen Situationen neue Normen in Kraft zu setzen (Canguilhem 1974, S. 132).
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Als Gewährsleute für solche Ansichten zu Krankheit und Gesundheit dienten Canguilhem vor allem der Neurologe Kurt Goldstein sowie die Philosophen Ernst Cassirer (mit dem Goldstein eng kooperierte) und Maurice Merleau-Ponty (der Goldstein in seinen eigenen Arbeiten häufig zitierte). In einigen späteren Texten (etwa in Gesundheit – Gemeinbegriff und philosophische Frage, 1988) nahm der Autor noch Ausführungen von Descartes, Leibniz, Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche zu Hilfe, um seine eigenen Positionen zu untermauern. In diesem Zusammenhang führte Canguilhem auch aus, dass sich Menschen im Zustand der Gesundheit bevorzugt dem Thema der Selbstverwirklichung widmen, indes sie sich bei Krankheiten
aller Art der Thematik der Selbsterhaltung zuwenden. Gesundheit sei durch ein Plus an Freiheitsgraden, Möglichkeiten und Energien gekennzeichnet, welche der Einzelne in die Ausgestaltung seiner Existenz und der ihn umgebenden Kultur fließen lassen könne. Krankheit hingegen mache häufig die Konzentration auf die Aufrechterhaltung von Leib und Leben notwendig und sei daher nicht selten mit reduzierter Selbstrealisation assoziiert. z
Gesundheit – eine Frage der Philosophie
Wie eine Ergänzung zu Das Normale und das Pathologische lesen sich manche Aufsätze Canguilhems in Gesundheit – Eine Frage der Philosophie (2004). In Gesundheit – Gemeinbegriff und philosophische Frage (1988) rekapitulierte der Autor die Geschichte der Gesundheitskonzepte, wie sie im 18. Jahrhundert vorrangig von Philosophen mit formuliert wurden. Er erwähnte zum Beispiel Pierre Bayle, Leibniz, Diderot und Kant, die sich alle über das Phänomen wunderten, dass Gesundheit kaum spürbar sei: »Wenn wir uns wohl fühlen, unterrichtet uns kein Teil des Körpers von seiner Existenz« – schrieb Diderot. Kant ergänzte diese Beschreibungen im Streit der Fakultäten (1798), indem er auf die trügerische Sicherheit hinwies, die von einem angeblich gesunden Körperzustand ausgehen kann:
» Man kann sich gesund fühlen (aus dem behaglichen Gefühl seines Lebens urteilen), nie aber wissen, ob man gesund sei … Daher der Mangel dieses Gefühls [krank zu sein] keinen andern Ausdruck des Menschen für sein Wohlbefinden verstattet, als dass er scheinbarlich gesund sei (Kant: Der Streit der Fakultäten, 1798, zit. nach Canguilhem 2004a, S. 53).
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Im 19. Jahrhundert zählte vor allem Friedrich Nietzsche zu jenen Denkern, die sich in ihren Schriften intensiv dem Thema der Gesundheit widmeten. Von ihm lassen sich viele Textstellen anführen, in denen sich der Philosoph des Willens zur Macht auch als versierter Theoretiker der menschlichen Gesundheit erwies. Dies überrascht nicht, wenn man die Biographie und Krankengeschichte Nietzsches berücksichtigt. Weil er zeitlebens mit verschiedenen hartnäckigen Krankheiten zu kämpfen hatte, konnte er die seltenen Zustände relativen Ge-
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Kapitel • Georges Canguilhem
sundseins umso intensiver erleben und hellsichtig beschreiben. Von Nietzsche stammt der Begriff der großen Gesundheit, womit er auf die Fähigkeiten von Patienten abzielte, ihre Krankheiten zu überwinden und die nächste beschwerlichere gesundheitliche Attacke zu parieren. Gesundheit ist überwundene Krankheit – so lautete sein Credo. Des Weiteren betonte er, dass es keine allgemeine, sondern immer nur eine individuelle Gesundheit gibt, die eng mit den körperlichen, sozialen, seelischen und geistigen Gegebenheiten des Einzelnen verkoppelt ist. In Also sprach Zarathustra (1884) schließlich feierte er den Leib (und nicht das denkende Ich) als Schauplatz jener Gesundheit, die sich aus einer ungebrochenen und moralinfreien Vitalität des Körpers speist:
»
Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinn, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt … Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner besten Weisheit (Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 1884, zit. n. Canguilhem 2004a, S. 56).
«
Canguilhem griff in seinen Texten häufig auf Nietzsche zurück, wenn es darum ging, medizinisch-biologische Phänomene aus philosophischen Perspektiven heraus zu charakterisieren. Ähnlich oft zitierte er seinen ehemaligen Kommilitonen an der ENS Maurice Merleau-Ponty, um den menschlichen Leib und dessen kranke oder gesunde Zustände zu beschreiben. Merleau-Ponty war ein Philosoph, der vieles, was er untersuchte, mit dem Begriff der Ambiguität belegte. Damit wollte er die grundsätzliche Zweideutigkeit berücksichtigen und zum Ausdruck bringen, welche Mensch, Natur, Kosmos und Kultur auszeichnen. Canguilhem übernahm von seinem Philosophenkollegen diese Betrachtungsweise der Ambiguität und brachte sie im Hinblick auf den menschlichen Körper und dessen Krankheit und Gesundheit in Anschlag. Dabei betonte er, dass sowohl der gesunde wie der kranke Leib als einerseits gegeben und andererseits erworben aufgefasst werden können. Jedermann muss sich zum einen mit den von Natur, Geburt und genetischer Disposition vorgegebenen
biologischen Rahmenbedingungen seiner Existenz arrangieren. In vielen Fällen entscheiden die angeborenen Konditionen maßgeblich über Krankheit oder Gesundheit. Zum anderen sind jedoch die Art und Weise, wie der Einzelne mit seinen körperlichen Gegebenheiten umgeht, ebenso verantwortlich dafür, gesund zu bleiben, krank zu werden oder aber eine bestehende somatische Schädigung adäquat und fürsorglich zu behandeln. Wer zum Beispiel ein genetisches Risiko in sich trägt, an Diabetes mellitus zu erkranken, kann die manifeste Erkrankung eventuell verhindern, indem er lebenslang kein Übergewicht entwickelt. Canguilhem resümierte daher, dass der menschliche Körper sowohl eine Gegebenheit als auch ein Produkt ist, und dass seine Gesundheit als Zustand ebenso wie als Anweisung und als Resultat eines gelebten Lebens verstanden werden kann. Und weiter schrieb er:
» Der Körper ist in dem Maße eine Gegebenheit, in dem er ein Genotyp, eine zugleich notwendige und einzigartige Wirkung von Bestandteilen seines genetischen Erbes ist. In dieser Hinsicht ist die Wahrheit seiner Anwesenheit in der Welt keine bedingungslose … Der Körper ist in dem Maße ein Produkt, in dem seine aktive Einfügung in eine charakteristische Umwelt, seine gewählte oder ihm auferlegte Lebensweise, Sport oder Arbeit, dazu beitragen, seinen Phänotyp zu gestalten, d. h. seine morphologische Struktur zu verändern und dementsprechend seine Fähigkeiten zur Geltung zu bringen (Canguilhem 2004a, S. 60).
«
Der alte und immer wieder neu aufflackernde Streit, ob denn Krankheit und Gesundheit als biomedizinisch oder psychosozial bedingt anzusehen sind, wurde von Canguilhem mit Verweis auf die Realität menschlichen Lebens zurückgewiesen. Nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-alsauch spiegeln die tatsächlichen Verhältnisse am besten wider. z
Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert
Ein wichtiges Anliegen Canguilhems bestand in vielen seiner Schriften, die Wirkungen wissen-
Werkanalyse
schaftlicher Begriffe innerhalb von Theorie und Praxis (etwa der Medizin) zu beschreiben. Schon seine allererste Studie über den Gesundheitsbegriff, das mehrfach erwähnte Buch Das Normale und das Pathologische, widmete sich in einigen wesentlichen Grundaussagen dieser Intention. Mit seiner 1955 erschienen Arbeit über Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert setzte Canguilhem diese Richtung seiner Forschung fort. Ähnlich wie in Das Normale und das Pathologische wollte er darin den Nachweis führen, dass Begriffe die Wirklichkeit nicht nur abbilden, sondern in gewisser Weise auch schaffen. Eindrücklich ließen sich diese Zusammenhänge anhand des medizinisch-neurologischen Konzepts vom Reflex nachweisen. Was bedeutete der Terminus »Begriff« für Canguilhem? In seinem Buch über den Reflexbegriff benannte er drei Aspekte, die zusammengenommen einen (wissenschaftlichen) Begriff auszeichnen: das jeweilige Phänomen (Ding, Situation, untersuchter Gegenstand), ein Name (Bezeichnung) sowie eine Definition (Bestimmung, Interpretation). Canguilhem ging davon aus, dass sich solche wissenschaftlichen Begriffe und Konzepte in der Regel nicht allein aus der Beobachtung der Wirklichkeit, sondern häufig aus bereits bestehenden Theorien ableiten. Weniger die Empirie als die theoretischen Vormeinungen und -urteile sind für die Entstehung und Verbreitung von Begrifflichkeiten verantwortlich zu machen. Oft genug nämlich werden Begriffe derart formuliert, dass sie die etablierten Meinungen und Theorien über die Wirklichkeit bestätigen, ohne diese wahrheitsgemäß abzubilden. Bisweilen werden mittels solcher Begriffe über lange Zeit sogar Ideen und theoretische Vorannahmen kolportiert, welche der Realität widersprechen oder sie zumindest nur bruchstückhaft wiedergeben. In den Begriffen und der Terminologie stecken die Theorie und Weltanschauung einer jeweiligen Wissenschaft. Werden Begriffe mit der nötigen wissenschaftlichen Autorität vorgetragen – zum Beispiel in Lehrbüchern, auf Kongressen und in Hörsälen –, sind Schüler, Studenten, Lehrende und Experten von der Richtigkeit ihrer Inhalte mehr oder minder leicht zu überzeugen. Die weiterführende Forschung greift meist auf die jeweilige
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Terminologie zurück und baut auf sie auf, so dass schließlich eintritt, was Canguilhem das Schaffen von Wirklichkeit durch Begriffe, Konzepte und Theorien nannte. Einen Großteil dieser wissenschaftstheoretischen Überlegungen demonstrierte Canguilhem am Begriff des Reflexes. Ausgehend von der Geschichte dieses Begriffes zeigte er, wie sich in ihm über Jahrhunderte physikalisch-mechanistische Vorurteile einnisteten, die durch konkrete und unvoreingenommene Betrachtungen leicht und schnell hätten revidiert werden können. Statt solcher Untersuchungen aber haben Generationen von Ärzten und Neurologen immer wieder nur jene Aspekte an den Reflexen wahrgenommen und beschrieben, welche der tradierten Reflextheorie entsprachen. Der Begriff Reflex stammt ursprünglich aus der Physik und bedeutet so viel wie Widerspiegelung (etwa von Lichtstrahlen). René Descartes übertrug diesen Begriff auf biologische Phänomene und wurde – so wird es zumindest in den meisten Lehrbüchern kolportiert – zum Vater des medizinischen Reflexbegriffs und -konzepts. Am Beispiel des Lidschlags als einer stereotypen Bewegung nach Reizung der Hornhaut entwickelte er die Vorstellung, dass zwischen der nervösen Erregung (Hornhaut) und der motorischen Reaktion (Lidschlag) eine gesetzmäßige Verbindung bestehe, die er »reflexion« nannte. Im 18. Jahrhundert wurde dieses physikalistische Modell von Ärzten wie Georg Prochaska, Marshall Hall und Johannes Müller aufgegriffen und weiterentwickelt. Sie beobachteten gehirnlose Tiere, die gleichbleibende motorische Reaktionen nach Reizung bestimmter Körperregionen zeigten. Daraufhin definierten sie Reflexe als unwillkürliche somatische Akte, die auch beim Fehlen höherer Abschnitte des Gehirns zustande kommen, und deren Bewegungsmuster durch den Ort der Reizung bestimmt sei. Großen Aufschwung erhielt die Reflexlehre in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch die Arbeiten der russischen Physiologen Iwan Setschenow und Iwan Pawlow. Ausgehend von der maschinenartigen Reaktionsweise der Rückenmarkreflexe erweiterten sie den Reflexbegriff auf diejenigen der diffe-
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Kapitel • Georges Canguilhem
renzierten und komplexen höheren Gehirnreflexe. Vor allem Pawlow wurde mit seinen Forschungen zu den bedingten oder konditionierten Reflexen (z. B. bei Hunden) weltberühmt. Bezug nehmend darauf kam es bald zu einer Aufweitung des Reflexbegriffes. Psychologen und Verhaltensforscher übertrugen die Ergebnisse Pawlows auf den Menschen und interpretierten dessen Lernen und Verhalten als Aneinanderreihung und Resultate unterschiedlicher bedingter Reflexe. Hinzu kam, dass damals auch die Kybernetiker den Reflexbegriff entdeckten und für sich reklamierten. Norbert Wiener sprach Mitte des 20. Jahrhunderts davon, dass es »nichts in der Natur der Rechenmaschine (gibt), was sie daran hindert, bedingte Reflexe zu zeigen«. Wie zum Beweis dieser These präsentierte der Neurophysiologe Walter Grey zur selben Zeit künstliche Schildkröten, die er seinem staunenden Publikum als »leicht belehrbare Maschinen« vorstellte. Als Canguilhem um 1950 seine Studie über Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert anfertigte, konnte man von einer regelrechten Inflation dieses Konzepts sprechen. Das Wort Reflex war damals weit verbreitet, gleichzeitig aber auf eine physikalische Bedeutung eingeengt. Dies begann schon bei der Tatsache, dass der mechanistisch orientierte Descartes als Urheber des Reflexbegriffs bezeichnet und sein Zeitgenosse Thomas Willis (1621–1675) vergessen wurde. Willis war englischer Arzt und Naturphilosoph und hatte parallel zu seinem französischen Kollegen ein biologistisches Reflexkonzept formuliert. Die physikalistischen und mechanistischen Grundannahmen von Descartes und nicht die biologistischen von Willis prägten fortan lange Zeit die Vorstellungen über den Reflexbegriff und führten schließlich dazu, dass Ärzte, Neurologen und Physiologen zunehmend auch nur noch jenes Technisch-Materielle in den verschiedenen Reflexphänomenen sahen oder hinzudichteten, das traditionsgemäß im Terminus enthalten war:
»
Der Reflex hört auf, ein bloßer Begriff (concept) zu sein, um eine Wahrnehmung (percept) zu werden. Er existiert, weil er Gegenstände existieren lässt, die er verständlich macht (Canguilhem 2008, S. 197).
«
Es bedeutete große Anstrengungen und Auseinandersetzungen innerhalb der Medizin, als in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einige Neurologen begannen, das etablierte Reflexmodell in Frage zu stellen. Vor allem Kurt Goldstein hat mit seinen Arbeiten über den Babinski-Reflex für eine Revision des physikalistischen Konzepts gesorgt. Dieser Reflex, den 1896 der französische Arzt Joseph Babinski erstmalig als Anhebung der Großzehe beschrieben hat, gilt seither als Zeichen einer Schädigung der Pyramidenbahn (einer Nervenbahn des Gehirns). Goldstein konnte zeigen, dass der BabinskiReflex ebenso wie andere krankhafte Symptome und Beschwerden nicht als Defizit und Ausfall einer Körpermaschine aufzufassen ist. Solche Reflexe sollten vielmehr von ihrer Entstehungsgeschichte her als produktive Antworten des Organismus auf an ihn gestellte Anforderungen verstanden werden. Man dürfe nicht einzelnen Symptomen eine höhere Bedeutung als dem Gesamtorganismus zuerkennen und müsse darüber hinaus zugestehen, dass ein Reflex wie der von Babinski beschriebene alles andere als ein monotones Antwortmuster auf einen wohl definierten Reiz darstellt. Neben Goldstein erwähnte Canguilhem noch Viktor von Weizsäcker und Maurice Merleau-Ponty, die sich in ihren Schriften ebenfalls um eine Weitung des Reflexbegriffs über ein technischmechanisches Verständnis hinaus bemühten. Sie wandten sich gegen ein reduziertes Reflexkonzept sowie gegen das in ihm latent vorhandene Bild vom Menschen als einer komplexen Maschine. Ihrer Meinung nach darf man eine Anthropologie nicht aus reduktiv gewonnenen Einzelphänomenen aufbauen – egal, ob diese Phänomene von René Descartes, Iwan Pawlow oder Norbert Wiener beschrieben wurden. In Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert hat Canguilhem die Geschichte dieses ursprünglich physikalischen und später medizinischen Terminus detailliert nachgezeichnet. Dabei ging es ihm nicht um die Frage, welches Reflexkonzept das richtige oder falsche ist. Eine solche Frage an wissenschaftliche Definitionen heran zu tragen, würde denn auch von wenig historischem und epistemologischem, also wissenschaftstheoretischem Gespür zeugen.
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Conclusio
Canguilhem wies in seinen Texten mehrfach darauf hin, dass viele Begriffe, Konzepte und Modelle in den Wissenschaften vorläufigen Charakter haben und im Laufe der Zeit durch andere, bessere ersetzt werden. Zugleich setzte er sich mit der oft zu beobachtenden Tatsache auseinander, dass Wissenschaftler wie Laien an den gegebenen Begriffen und Konstrukten eisern festhalten und sich gegen deren Wandel wehren. Ein prominentes Beispiel dafür war das ptolemäische Weltbild, das erst nach zähem Ringen vom kopernikanischen abgelöst wurde. Diese Beharrungstendenzen hinsichtlich wissenschaftlicher Begriffe und Konzepte kann man am ehesten als eine Art von Angstabwehr verstehen. Weil in der Terminologie nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern darüber hinaus oftmals auch eine Weltanschauung und ein Menschenbild mit enthalten sind, werden sie beinahe wie religiöse Dogmen verteidigt. Müssen sie dennoch irgendwann abdanken, ängstigt dies bevorzugt gläubig-autoritätshörige Menschen. Seine Untersuchungen speziell über den Reflexbegriff und generell über das Wesen der Wissenschaftsund Begriffsgeschichte ließen Canguilhem daher zu dem Schluss kommen: »Unschuldige oder neutrale Benennungen gibt es nicht« (Canguilhem 1979a, S. 95). Dieser Satz gilt auch und gerade für die Naturwissenschaften und die Medizin. Canguilhem erwähnte neben dem Reflex auch Termini wie Allergie, körpereigenes Abwehrsystem, Selbst und Nichtselbst (hinsichtlich des Immunsystems) oder die sogenannten Willkürbewegungen, in denen zweifelhafte biomedizinische Konzepte und ebensolche anthropologische Annahmen enthalten sind. So könne man sich etwa fragen, ob denn der Verursacher von Willkürbewegungen tatsächlich so bewusst und frei agiert, wie der Begriff der Willkür es suggeriert. Wer den Wissenschaften oder der gesamten Kultur gegenüber eine skeptisch-analytische Haltung einnehmen will, tut demnach gut daran, bei den Begriffen zu beginnen und Sprachkritik zu üben. Die Terminologie von wissenschaftlichen, philosophischen oder auch künstlerischen Disziplinen sowie das Idiom von Institutionen, Gruppen und Gesellschaften enthalten implizit deren Grundüberzeugungen von Natur, Mensch und
Kosmos. Wer in diesen Bereichen sprachkritisch vorgeht, diagnostiziert die Weltsicht der Betreffenden und betreibt schlussendlich Ideologiekritik. Auf ähnliche Zusammenhänge zwischen Wissenschaft, Sprache und Weltanschauung hat bereits zwei Jahrzehnte vor Canguilhems Buch über den Reflexbegriff Edmund Husserl hingewiesen. In Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) demonstrierte der Begründer der Phänomenologie, wie etwa die Naturwissenschaften ihr terminologisches Ideenkleid über die Phänomene des Lebens werfen, dieses in Maß und Zahl berechenbar machen und damit dessen bunte Vielfalt reduzieren. Wenn Menschen lange genug in den eindimensionalen Sphären solcher Wissenschaften sozialisiert werden, verlieren sie mit der Zeit ihr Wertbewusstsein für die unendliche Weite und Tiefe der von Husserl so benannten Lebenswelt. Sie existieren in und mit der Terminologie und Ideologie von Tatsachenwissenschaften und entwickeln sich nach und nach zu Tatsachenmenschen. Als solche sind sie taub geworden für die Poesie des Daseins, und der Horizont von Wert, Sinn und Bedeutung des menschlichen Lebens engt sich für sie auf einige wenige Aspekte ein. Als krisenhaft bezeichnete Husserl diese sich seit der Renaissance in Europa beschleunigende Entwicklung, weil er überzeugt war, dass sie zur Abschottung der Menschen von den sie bewegenden Existenzfragen führt. Wer nur noch die in den Naturwissenschaften generierten Maß- und Zahleinheiten als wahr gelten lässt, beraubt sich des Bodens, auf dem Leben erwächst. Der bodenlos gewordene Tatsachenmensch verfängt sich in den Begriffen, Definitionen und Objektivismen der von ihm selbst betriebenen Wissenschaft und verliert jene Wahrheiten aus dem Auge, die seine Wissenschaft nicht messen und zählen kann und daher als subjektiv entwertet. Diese Wahrheiten jedoch bilden die Grundlage und Substanz der menschlichen Lebenswelt.
Conclusio Soweit man die deutschen Übersetzungen der Texte Canguilhems einsehen kann, finden sich
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Kapitel • Georges Canguilhem
bei ihm kaum Hinweise auf das Denken Husserls oder dessen Krisis-Schrift. Wenn er deutschsprachige Philosophen zitierte, dann bevorzugt Leibniz, Kant und Hegel sowie besonders häufig und zustimmend Nietzsche. Gleichwohl war ihm die Phänomenologie vertraut, vor allem im Gewande des Denkens von Merleau-Ponty. Mit Husserl teilte Canguilhem die Sorge um eine Kultur, die seit einigen Jahrhunderten zunehmend Technik und Naturwissenschaften zu ihren Göttern gemacht und mit dem Verweis auf ihre Unwissenschaftlichkeit und Subjektivität alle jene Bereiche der Existenz vernachlässigt hat, die man als emotionale, soziale, philosophisch-spekulative und künstlerische Qualitäten zusammenfasst. Innerhalb der Medizin ist eine derartige Entwicklung verstärkt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachten. In seinem Essay über Macht und Grenzen der Rationalität in der Medizin (1970) hat Canguilhem deutlich gemacht, wie sehr er einerseits die rationalen Diagnose- und Therapiekonzepte der modernen Heilkunde schätzte und bewunderte. Er war kein romantischer Bilderstürmer, der mit den fragwürdigen Angeboten von Alternativ- oder Paramedizin liebäugelte. Im Gegenteil: Er beurteilte Biologie, Physiologie, Anatomie, Biochemie, Neurologie und die vielen klinischen Fächer der Medizin mit ausgesuchter Hochachtung, und mit ihren technischen Möglichkeiten konnte er sich mühelos identifizieren. Dennoch blieb er andererseits skeptisch im Hinblick auf die Wahrnehmung und Akzeptanz der Grenzen dieser von Technik und Naturwissenschaft geprägten Medizin – einer Medizin, die von der Krisis der europäischen Wissenschaften im Husserl‘schen Sinne mit betroffen ist. Über viele Facetten nämlich, welche den Kranken als Individuum und Person ausmachen, geht sie achtlos hinweg oder stülpt sie ihre allgemeinen Diagnose-, Prognose- und Therapiebegriffe, die jedoch den Einzelnen nicht mehr abbilden und meinen:
»
Man muss endlich einräumen können, dass der Kranke mehr und anderes ist als ein besonderes Terrain, in dem sich die Krankheit festsetzt, dass er mehr und anderes ist als ein grammatisches Subjekt, das durch ein der gerade aktuellen Nosologie
entnommenes Attribut näher bestimmt wird. Der Kranke ist ein ausdrucksfähiges Subjekt (Canguilhem 1989a, S. 61).
«
Man kann daher Canguilhems wissenschafts- und erkenntnistheoretische Untersuchungen auch als einen Versuch werten, angesichts der Dominanz von naturwissenschaftlich-technischer Methodik, Terminologie, Denk- und Vorgehensweisen innerhalb der Medizin das Spontane, Lebendige und Subjektive am Menschen sichtbar werden zu lassen und deren Wert zu schützen. Damit wollte er das Personale am Menschen vor egalisierenden Zu- und Übergriffen durch eine Welt der bloßen Zahlen retten und dessen individuelle Aspekte hervorkehren. Über die Philosophie, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie wurde Canguilhem in gewisser Weise seiner zweiten Ausbildung gemäß doch noch ärztlich tätig: als ein Diagnostiker der Kultur, der manche ihrer Engen und Einseitigkeiten benannte, und als literarischer Therapeut, der gegen einengende Begriffe und Konzepte in der Medizin als Vademekum Skepsis und Kritik empfahl.
Literatur Borck C, Hess V, Schmidgen H (Hrsg) (2005) Maß und Eigensinn – Studien im Anschluss an Georges Canguilhem. Fink, München Canguilhem G (1974) Das Normale und das Pathologische (Erstveröff. 1943/66). Hanser, München Canguilhem G (1979) Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie – Gesammelte Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt am Main Canguilhem G (1979a) Die Herausbildung des Konzeptes der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert (Erstveröff. 1974). In: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie – Gesammelte Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt am Main Canguilhem G (1989) Grenzen medizinischer Rationalität – Historisch-epistemologische Untersuchungen. Kimmerle, Tübingen Canguilhem G (1989a) Macht und Grenzen der Rationalität in der Medizin (Erstveröff. 1970) In: Grenzen medizinischer Rationalität. Kimmerle, Tübingen Canguilhem G (2004) Gesundheit – Eine Frage der Philosophie. Merve, Berlin Canguilhem G (2004a) Gesundheit – Gemeinbegriff und philosophische Frage (Erstveröff. 1988). In: Gesundheit – Eine Frage der Philosophie. Merve, Berlin
Literatur
Canguilhem G (2006) Wissenschaft, Technik, Leben – Beiträge zur historischen Epistemologie. Merve, Berlin Canguilhem G (2008) Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. Fink, München (Erstveröff. 1955) Canguilhem G (2009) Die Erkenntnis des Lebens. Buchhandlung König, Köln (Erstveröff. 1952) Husserl E (1977) Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Meiner, Hamburg (Erstveröff. 1936) Lecourt D (2008) George Canguilhem. Presses Universitaires de France, Paris
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Heinrich Schipperges Biographisches – 462 Werkanalyse – 464 Conclusio – 471 Literatur – 473
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Heinrich Schipperges
. Abb. 1 Heinrich Schipperges (*1918; †2003). (Foto: Philipp Rothe)
Im 20. Jahrhundert kam es nicht häufig vor, dass sich Medizinhistoriker an öffentlichen Debatten über Gesundheit und Krankheit sowie über Form und Inhalt der Heilkunde beteiligten. Heinrich Schipperges gehörte zu diesen seltenen Beispielen, wobei er in Vorträgen und Publikationen auch direkte Beiträge zur medizinisch-philosophischen Anthropologie lieferte (. Abb. 1).
Biographisches Heinrich Schipperges wurde 1918 in Kleinenbroich bei Düsseldorf als Sohn eines Innenarchitekten geboren. Die Volksschule und das Gymnasium besuchte er im nahe gelegenen Neuß. Mit 19 Jahren schloss er 1937 seine Schulzeit mit dem Abitur ab. Im selben Jahr hatte Schipperges die Absolvierung seines Wehrdienstes zu gewärtigen. Nach der Grundausbildung zum Soldaten ergab sich für den jungen Mann keine Gelegenheit zum Studium – stattdessen begann im September 1939 der Zweite Weltkrieg, für den er rekrutiert wurde, und an dem er mit Unterbrechungen bis zum Ende des Krieges 1945 teilnahm. Eine Verwundung 1941 ermöglichte es Schipperges, für zwei Semester in Tübingen Philosophie, Psychologie und Anatomie zu studieren. Obwohl er bald wieder an die Front zurückbeordert wurde, waren die Eindrücke für den Studenten im Bereich der Philosophie derart nachhaltig, dass er sich später neben medizingeschichtlichen auch immer wieder philosophischen Themen zuwandte. Nach dem Zweiten Weltkrieg bezog Schipperges 1946 die Universität Bonn, wo er sich für Medizin immatrikulierte. Innerhalb von fünf Jahren durchlief er die akademische Ausbildung zum Arzt, die er mit einer medizinhistorischen Promotion über Krankheitsursache, Krankheitswesen und Hei-
lung in der Klostermedizin, dargestellt am Weltbild Hildegards von Bingen 1951 beim Medizingeschichtler Johannes Steudel (1901–1973) abschloss. Dieser war während des Dritten Reiches Mitglied der NSDAP gewesen und hatte 1943/44 einen Karrieresprung auf den Lehrstuhl für Medizingeschichte in Bonn gemacht. Nach 1945 distanzierte sich Steudel so geschickt von seinen Verwicklungen mit dem Nationalsozialismus, dass er nach einigem Hin und Her 1948 schließlich als unbelastet eingestuft wurde. Schipperges bezeichnete seinen Doktorvater später als »Spiritus Rector« des Bonner Medizinhistorischen Instituts, an dem er vor allem seine weit verzweigte Bildung bewunderte (klassische Archäologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Medizin). 1952 wurde Schipperges mit einer thematisch ähnlichen Arbeit wie seine medizinische Promotion über Das Bild des Menschen bei Hildegard von Bingen – Beitrag zur philosophischen Anthropologie des 12. Jahrhunderts (1952) bei dem anthropologisch orientierten Philosophen Erich Rothacker zum Dr. phil. promoviert. In den folgenden Jahrzehnten kehrte Schipperges in vielen Veröffentlichungen zu Hildegard von Bingen, seiner frühen wissenschaftlichen Liebe, zurück. Rothacker (1888–1965) war noch mehr als Steudel überzeugter Nationalsozialist gewesen. 1932 hatte er einen Wahlaufruf von Hochschullehrern für Adolf Hitler unterzeichnet; 1933 trat er der NSDAP bei. Er wirkte als Abteilungsleiter im Propagandaministerium und war 1933 Verbindungsmann zur studentischen Bücherverbrennung. In seinem Buch Geschichtsphilosophie (1934) befürwortete Rothacker die nationalsozialistischen Rassentheorien. Er war Mitglied der nationalsozialistischen Akademie für Deutsches Recht und Gründer des Ausschusses für Rechtsphilosophie. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligte sich Rothacker am NS-Projekt »Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften«. In der Nachkriegszeit konnte er schon 1947 seine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen und blieb bis zu seiner Emeritierung 1956 Professor in Bonn. Ab 1952 ließ sich Schipperges in Zürich und Kiel zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie ausbilden. Die Psychiatrische Klinik Burghölzli in Zürich leitete damals Manfred Bleuler (1903–1994), der Sohn Eugen Bleulers (1857–1939), der als erster
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Biographisches
Nervenarzt den Begriff der Schizophrenie in die psychiatrische Literatur eingeführt hatte. Nach dem Tod des Vaters führte Manfred Bleuler dessen Lehrbuch der Psychiatrie in Neuauflagen fort, das erstmals 1916 erschienen war. In jene Auflagen, die 1937 und 1943 in Deutschland erschienen, fügte Bleuler junior als Referenz an die politischen Verhältnisse im Nachbarland Aufsätze von Rassenhygienikern ein. In den Nachkriegsauflagen des weitverbreiteten psychiatrischen Standardwerks verschwanden diese Einfügungen wieder. Nach kurzer Zeit wechselte Schipperges von Zürich nach Kiel. Verglichen mit dem Burghölzli war die Kieler Nervenklinik (mit Blick über die Kieler Förde) landschaftlich ähnlich schön gelegen, wissenschaftlich betrachtet jedoch weniger spektakulär. Die Arbeit an dieser Klinik ließ dem psychiatrischen Assistenzarzt so manchen Freiraum, den er nutzte, indem er parallel zu seiner Facharztweiterbildung ab 1954 ein Studium der Arabistik und Islamwissenschaften in Bonn bei Otto Spies (1901–1981) absolvierte. Trotz seiner Ausbildung zum Nervenarzt in Zürich und Kiel hatte Schipperges weiterhin enge Kontakte zum Medizinhistorischen Institut in Bonn und zu Johannes Steudel gehalten. Diese Beziehungen sowie seine Studien der Islamwissenschaften ermöglichten es ihm, sich 1957 mit einer Arbeit Zur Rezeption und Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter bei seinem ehemaligen Doktorvater für Geschichte der Medizin zu habilitieren. 1959 übernahm Schipperges einen Lehrauftrag für Medizin- und Kulturgeschichte an der Universität Kiel. Seine Antrittsvorlesung hielt er über Alexander von Humboldt und die Medizin seiner Zeit. Ein Jahr darauf schloss der Privatdozent seine Facharztweiterbildung zum Neurologen und Psychiater erfolgreich ab. Schon Mitte der 50er Jahre hatte er Ruth Niessen geehelicht, mit der zusammen er eine Familie mit drei Söhnen und einer Tochter gründete. Als vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere konnte es Schipperges verbuchen, als er 1961 einen Ruf als Extraordinarius auf den Heidelberger Lehrstuhl für Geschichte der Medizin erhielt. Zwei Jahre später wurde er zum Ordinarius ernannt. In dieser Funktion baute er in den folgenden Jahrzehnten
eines der europaweit renommiertesten Institute für Medizingeschichte auf. In dieser Zeit entwickelte Schipperges eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit. Der Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt (geboren 1941), der selbst Habilitand bei Schipperges war, mit ihm zusammen das Buch Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert (1980) verfasst hat und von 1983–2006 das Medizinhistorische Institut in Lübeck leitete, schrieb über die Aktivitäten seines ehemaligen Lehrers:
»
Nahezu unbegreiflich war die Fülle der Vorträge von Heinrich Schipperges, die in ihrer programmatischen Intensität, ihrer literarischen Qualität und ihren geistreich-humorvollen Zuspitzungen die Zuhörer immer fesselten, anregten und nie unberührt ließen (Engelhardt 2005, S. 1253–1259).
«
Inhaltlich beschäftigte sich Schipperges mit den unterschiedlichsten medizinhistorischen, ethischen und anthropologischen Themen. Die von Engelhardt gegebene Aufzählung – antike Diätetik, arabische Medizin, Klostermedizin, Petrus Hispanus, Maimonides, Hildegard von Bingen, Paracelsus, Novalis, Nietzsche, Gesundheitsbildung, Altern und Alter, Lebensqualität, Krankheits- und Therapiebegriff, Rolle der Kunst in der Medizin – bedeutet nur einen Ausschnitt aus dem breit angelegten Oeuvre von Schipperges. So finden sich in seinem Werk Publikationen wie Hildegard von Bingen – Leben und Werk im Dienste der Heilkunde, 1964; Moderne Medizin im Spiegel der Geschichte, 1970; Paracelsus – Der Mensch im Licht der Natur, 1974; Am Leitfaden des Leibes – Zur Anthropologie und Therapeutik Friedrich Nietzsches, 1975; Wege zu neuer Heilkunst – Traditionen, Perspektiven, Programme, 1978; mit Dietrich v. Engelhardt: Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert, 1980; Kosmos Anthropos – Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, 1981; Der Garten der Gesundheit – Medizin im Mittelalter, 1985; Homo patiens – Zur Geschichte des kranken Menschen, 1985; Die Technik der Medizin und die Ethik des Arztes, 1988; Medizin an der Jahrtausendwende – Fakten, Trends, Optionen, 1991; Die Kunst zu leben – Eine Reise von Paracelsus zu Goethe, 2001; Lehrjahre der
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Kapitel • Heinrich Schipperges
Lebenskunst bei Novalis – Von der Lebensnaturlehre über die Lebenskunstlehre zur Lebensordnungslehre, 2002; Gesundheit und Gesellschaft – Ein historischkritisches Panorama, 2003. Bei einer derart umfänglichen und weitdimensionierten wissenschaftlich-literarischen Produktivität – die Schipperges-Kenner sprechen von über einhundert Monographien und etwa Tausend Aufsätzen und Originalarbeiten – blieb es nicht aus, dass der Medizinhistoriker mit Ehrungen und Auszeichnungen reich bedacht wurde. Er wurde Ehrendoktor der Universidad Complutense in Madrid, und man verlieh ihm die Paracelsus-Medaille, die Celsus-Medaille sowie das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Des Weiteren wurde er zum Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der Internationalen Akademie für Geschichte der Medizin, der Academia Real de Toledo, der Academia Nacional de Ciencias de Buenos Aires, der Academia Scientiarum et Artium Europaea, der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte, der Sokratischen Gesellschaft zu Mannheim und mancher anderen Gesellschaften ernannt. Die Gründungen der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte wie der Gesellschaft für Gesundheitsbildung, der Weltvereinigung für Neurologie und des Instituts für Gesundheitsbildung in Bad Mergentheim gehen auf Initiativen von Schipperges zurück. Das Heidelberger medizinhistorische Institut war während der 60er und 70er des 20. Jahrhunderts tonangebend im deutschsprachigen und teilweise auch europäischen Raum. Ablesen ließ sich dessen Bedeutung an der großen Zahl von Doktoranden und Habilitanden, aber auch an den internationalen und interdisziplinären Kontakten, die auf die Agilität von Schipperges zurückzuführen waren. Sein spezielles Interesse galt dabei dem Dialog von Medizin mit Philosophie und Theologie (Schipperges war bekennender katholischer Christ). Zusammen mit dem Pathologen Wilhelm Doerr (1915–1996) richtete Schipperges in Heidelberg eine Forschungsstelle für theoretische Pathologie ein. Dort sollten menschliche Krankheiten im Hinblick auf geomedizinische, meteorobiologische, historische und philosophische Gesichtspunkte erforscht und beschrieben werden.
Auch in Bezug auf die Ausbildung von Medizinstudenten und jungen Ärzten steuerte Schipperges Innovationen bei. So entwickelte er ein Lehrkonzept für medizinische Terminologie, das als Einführung in Sprache und Denken der Medizin gedacht war und bei den Studierenden der Medizin in Heidelberg auf große Zustimmung stieß. In seiner Vorlesung zur Geschichte der Medizin verband er ab den 60er Jahren historische, ethische und theoretische Aspekte der Heilkunde – eine Art der Fächer übergreifenden Gesamtschau medizinischer Themen- und Problembereiche, wie sie im angloamerikanischen Begriff der »Medical Humanities« zum Ausdruck kommt. Als Schipperges 1987 emeritiert wurde, bedeutete dies für ihn keine Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Arbeit. In schriftlicher wie mündlicher Form meldete er sich weiterhin regelmäßig zu Wort und äußerte sich zu historischen, ethischen und anthropologischen Fragestellungen der Medizin. Bis zu seinem Tod (Schipperges starb 2003 im Alter von 85 Jahren in seinem Haus in Dossenheim bei Heidelberg) formulierte er Pläne hinsichtlich neuer Publikationsprojekte, wozu auch die Veröffentlichung seiner Tagebücher zählen sollte – ein Vorhaben, das er nicht mehr realisieren konnte.
Werkanalyse Die Darstellung bleibt hier beschränkt auf drei Gestalten und deren Werke, die für Schipperges im Hinblick auf seine anthropologischen Überlegungen besonders bedeutsam waren: Paracelsus, Novalis und Nietzsche. Sie tauchen in seinen Schriften als Gewährsmänner für seine eigenen Aussagen zu anthropologischen Fragen in Medizin und Philosophie immer wieder auf. z
Paracelsus
Theophrastus Bombastus von Hohenheim, der sich später nach Art der Humanisten Paracelsus nannte, wurde 1493 in der Nähe von Einsiedeln in der Schweiz geboren. Sein Vater Wilhelm Bombastus von Hohenheim war Arzt, Naturforscher und Alchemist. Nach dem frühen Tod der Mutter zogen Vater und Sohn von Einsiedeln nach Villach in Kärnten, wo Wilhelm Bombastus als Stadtmedikus
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Werkanalyse
so große Wirkung entfaltete, dass Theophrastus sich schon als Jugendlicher entschloss, ebenfalls Arzt werden zu wollen. Im Alter von sechzehn Jahren nahm Paracelsus das Studium der Medizin an der Universität Basel auf. Anfang des 16. Jahrhunderts wurde beinahe noch an allen Hochschulen die Viersäfte- und Temperamentenlehre des Hippokrates und Galen gelehrt, welche die Grundlage von Diagnostik und Therapie der menschlichen Erkrankungen darstellte. Auch Paracelsus wurde mit diesen Ideen konfrontiert, wobei sein rebellischer Charakter es ihm rasch ermöglichte, Zweifel an diesem tradierten Lehrgebäude zu mobilisieren. In den folgenden Jahren absolvierte der angehende Arzt eine breitgefächerte Ausbildung an diversen Hochschulen Europas. Außerdem ging er bei damals namhaften Alchemisten in die Lehre und ließ sich auch von einfachen Leuten ärztlichmedizinische Ratschläge erteilen. 1510 erlangte er in Wien den Grad eines Bakkalaureus der Medizin. Nach einem kurzzeitigen Aufenthalt in Ferrara zur Erlangung der Doktorwürde (um 1516) führte ihn die anschließende Arbeit als Wundarzt durch große Teile Europas. 1524/25 ließ sich Paracelsus in Salzburg nieder. Durch seine Unterstützung der Aufständischen im Bauernkrieg machte er sich beim Salzburger Erzbischof unbeliebt und musste die Stadt verlassen. Bald darauf wurde er an den Universitäten von Freiburg im Breisgau, Straßburg und Basel aktiv, wo er durch Provokationen der etablierten Ärzte auffiel:
» Ich sage euch, mein Haar im Genick weiß mehr als Ihr und Eure Skribenten, und meine Schuhriemen sind gelehrter als Eure hohen Schulen. Wie gefällt Euch der Peregrinus? Wie gefällt Euch der Waldesel von Einsiedeln? Kommt heraus mit dem, was in Euch steckt: Könnet Ihr disputieren? Warum fangt Ihr’s nicht an (Paracelsus, zit. nach Schipperges 1985a, S. 129)?
«
In Basel und anderswo machte Paracelsus jedoch nicht nur durch kecke Sprüche von sich reden. Seine dauernde Wanderschaft und sein lern- und neugieriges Wesen hatten seinen Geist in Bewegung gehalten und ihn vor Dogmatismus und Theorie-
lastigkeit bewahrt. Auf den Straßen und Plätzen Europas hatte er pragmatische Medizin gelernt, die zusammen mit der von ihm gut geheißenen medizinischen Tradition ein ärztliches Gebräu ergab, das günstige Wirkungen zeigte. Hinzu kamen ein Schuss scholastischer Philosophie und etwas mittelalterliche Mysterienweisheit, die das Schillernde an der Person des Theophrastus noch betonten und seine Heilerfolge steigerten. Auf dem Höhepunkt seiner ärztlichen Karriere zählten Erasmus von Rotterdam und Holbein der Jüngere zu seinen Patienten und Verehrern. Kein Wunder, dass Paracelsus Neid und Missgunst ebenso wie Ressentiments gegen sich zu evozieren imstande war. 1528 drohte ihm ein Gerichtsverfahren, vor dem er ins Elsass floh. Neuerlich schlossen sich Wanderjahre an, wobei sich ihm zeitgleich erste Schüler anvertrauten. 1529 stellte Paracelsus die Bücher Paramirum und Paragranum sowie eine Reihe weiterer kleinerer Schriften medizinischen Inhalts zusammen, die jedoch nicht veröffentlicht wurden. Als Krönung seiner literarischen Bemühungen gilt das 1537 vollendete Schriftwerk Astronomia Magna. Vermutlich aufgrund einer Einladung des Pfalzgrafen zu Rhein und Herzogs in Bayern zog Paracelsus 1541 wieder nach Salzburg, wo er bald darauf an den Folgen einer Bleivergiftung starb. Wahrscheinlich ist, dass er sich mit Blei selbst therapiert hat, um eine Mittelohrentzündung zu bekämpfen. Paracelsus wurde auf dem Sebastianfriedhof in Salzburg beigesetzt und 1752 in die Kirche St. Sebastian umgebettet. Für Paracelsus war die Ausbildung zum Mediziner gleichbedeutend mit einem umfassenden Studium generale. Weil er den Mikrokosmos des individuellen Leibes auf den Makrokosmos des Universums bezog und das Schicksal des Einzelnen ins große Ganze der Welt eingelassen sah, musste seiner Meinung nach jeder Arzt versuchen, eine Art Weltweiser zu werden: »Denn der Mensch kann nur vom Makrokosmos aus erfasst werden, nicht aus sich selbst heraus. Erst das Wissen um diese Übereinstimmung vollendet den Arzt« – heißt es im Opus Paramirum. Vor dem Hintergrund eines derart umfangreichen Curriculums wird die Aussage des Theophrastus verständlich: »Der Arzt stirbt in der Lehrzeit.«
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Kapitel • Heinrich Schipperges
Diagnostik und Therapie von Krankheiten bezogen sich bei Paracelsus auf die gesamte Existenz des Kranken. Am menschlichen Dasein unterschied er fünf Bereiche (Entitäten), die auch für die Medizin relevant waren: Ens astrale, veneni, naturale, spirituale und dei. Bis auf den letzteren Bereich (Bezug zur Gottheit) kann man alle anderen Entitäten als beinahe schon moderne Beschreibung des menschlichen Lebens begreifen. Unter »Ens astrale« verstand Paracelsus die Biographie, Anamnese und Katamnese des Patienten, seine Vergangenheit und Zukunft und damit also seine Zeitlichkeit. Ähnlich wie in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts die Art und Weise, wie Menschen ihr Dasein zeitigen, als entscheidend für die Entwicklung ihrer Individualität und Personalität beschrieben wurde, ahnte bereits Theophrastus, dass der Umgang des Menschen mit seiner Zeitspanne zwischen Geburt und Tod über Glück und Unglück, Krankheit und Gesundheit mitbestimmt. Die zweite Entität, das »Ens veneni«, bezog sich bei Paracelsus auf die natürliche Umwelt des Menschen, auf Nahrungs- und Genussmittel, Giftstoffe und Abfälle, auf den gesamten toxischen Dunstkreis sowie den notwendigen Schutz vor dieser Umwelt. Mit dem Ens veneni wird der Mensch in einen konkreten biologischen Raum (Ökologie) gestellt, in einen beständigen Assimilations- und Ausscheidungsprozess, der von Rezeption und Exkretion geprägt ist, und welcher den Menschen als Teil eines Biotops, als veränderbare Größe im Regelkreis der Natur sieht. Mit der dritten Entität, dem »Ens naturale«, hat sich – anders als bei den beiden vorangehenden Bereichen der Zeitlichkeit und des Raums – auch die heutige Schulmedizin umfänglich angefreundet. Gemeint ist damit die Konstitution und das Schicksal des individuellen Organismus, seine Krankheiten, Krisen und Gesundungsprozesse, seine Anatomie und Physiologie ebenso wie seine Pathologie. Paracelsus unterschied drei Substanzen, die für ihn die natürliche Konstitution des Körpers bestimmen: Schwefel (Sulphur), Blei (Mercurius) und Salz (Sal). Unter Sulphur verstand er das Prinzip des Brennbaren, Mercurius stand für ihn für das Flüssige und Salz für das Erstarrte. Je nach Zusammensetzung dieser Substanzen bildete sich eine
konkrete Ganzheit, ein sogenannter Corpus. Dieser Corpus war für Theophrastus der Schlüssel zur Krankheit und ihrer Überwindung, eine Fährte, auf welcher der Arzt sicher zur Diagnose und Therapie gelangte – wenn er denn des Fährtenlesens, Schauens und Erkennens kundig war. Von unserer modernen Heilkunde wird die vierte Entität, das »Ens spirituale«, mit einem Schattendasein bedacht. Paracelsus wollte hierbei den Einfluss emotionaler, sozialer und geistiger Faktoren auf Gemüt, Temperament und Leib verhandelt wissen. So schrieb er Emotionen und der Vorstellungskraft pathogene oder salutogene Wirkung zu:
» Denn kann Imaginatio Krankheit machen, kann Erschrecken Krankheit machen, so kann Freude Gesundheit machen; und so Imaginatio gut und böse sein mag, so mag sie auch ebenso gesund machen wie krank (Paracelsus, zit. nach Schipperges 1985a, S. 147).
«
Paracelsus postulierte des Weiteren, dass es im Innern des menschlichen Organismus einen »archäus« gibt, der alle Funktionen überwacht und die Integrität des Ganzen aufrecht zu erhalten vermag. Dieser innere Arzt kontrolliere Verdauung, Atmung, Blutzirkulation, Ausscheidungen und das Wachstum. Soll eine Krankenbehandlung schnell und sicher heilen, muss sie sich der Mitwirkung dieses »archäus« versichern. Paracelsus stellte in diesem Zusammenhang fest: »Jeder Mensch ist sein eigener Arzt!« Theophrastus äußerte sich auch zum Wesen des Arztes und der Medizin. Das Haus der Heilkunde stützt sich ihm zufolge auf vier Säulen: Philosophie, Astronomie, Alchemie und Physik. Mit Philosophie zielte er auf das Sichtbare und das Unsichtbare der Natur ab, auf eine Einordnung des Menschen in die ihn tragende und umgebende Natur sowie auf eine entsprechende Idee vom Leib und seinen Erkrankungen: »Es ist ein grob Ding an einem Arzt, der sich einen Arzt nennet, und ist der Philosophie leer und kann ihr nit!« – so lautete die lakonische Paracelsische Umschreibung eines unfähigen Mediziners. Der Aufbau der Welt, der von der Philosophie (Ontologie) bedacht werden soll, wird ergänzt
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durch die Geschichtlichkeit der Welt. Letztere war für Paracelsus ein astronomisches Thema, da sich am Lauf der Gestirne die Zeitlichkeit des Lebens ablesen lasse. Mit dem Wissen um Zeit und Zeitigung wird der äußere Himmel (Makrokosmos) zum Wegweiser des inneren Himmels (Mikrokosmos) – ein Wissen, das jeden kompetenten Medikus auszeichne:
» »So du solches nicht weißt, was meinest du, dass du für ein Arzt seiest? Nichts als ein Rumpler.« Der rein empirische, theorielose »modus medicandi et practicandi«, das wäre nichts als ein ungewisser »Fischergrund«, ein reines »Lappenwerk«, ein »irriger, falscher, beschissener Bau« (Schipperges 1983, S. 52).
«
Ähnliche Bedeutung wie Philosophie und Astronomie hatten Alchemie und Physik für Theophrastus. Der Begriff Alchemie darf dabei im Sinne unserer Chemie verstanden werden als eine Art Stoffkunde. Wer als Arzt therapeutisch wirken will, greift unwillkürlich auf Materie und Stoff zurück, sei dies in Form von Arzneien, Ernährung oder Diät. Mit Physik schließlich zielte Paracelsus auf eine besondere Form der medizinischen Wahrnehmung und Interaktion ab. Heute sprechen wir vom ärztlichen Blick, von der ärztlichen Haltung und Ethik sowie vom Arzt-Patienten-Kontakt, um Ähnliches auszudrücken wie seinerzeit Paracelsus. Die Persönlichkeit des Arztes ebenso wie die »Droge Arzt« (Michael Balint) werden hierbei verhandelt. Neben vielen weiteren Aspekten verwies Schipperges in seinen Texten über Paracelsus immer wieder auf dessen Nähe zur antiken Medizin, wenn es ihm darum ging, jene Existenzbereiche zu markieren, die für medizinische Therapien relevant sind. Es handelt sich dabei um die sechs »res non naturales«, jene »nicht natürlichen Dinge«, welche der Einzelne für sich oder in Kooperation mit seinem Arzt regeln muss, um zu gesunden: Umgang mit Licht, Luft, Klima und Landschaft; Ernährung; Verhältnis von Arbeit und Muße; Biorhythmen (Schlafen, Wachen, Bewegung); Hormonhaushalt (Sexualität, Alterungsvorgänge) sowie Affekthaushalt (Psycho- und Soziohygiene).
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Novalis
Nicht wenige dieser paracelsischen Gedankengänge wurden in der Romantik zu neuem Leben erweckt. Angesichts der Auflassungen der spekulativ orientierten Philosophie einerseits und der empirienahen Naturforschung andererseits etablierte sich um 1800 eine Art lebensweltlich ausgerichteter Anthropologie, welche die Vorzüge von philosophisch-geisteswissenschaftlicher und empirisch analysierender Herangehensweise an den Menschen in sich zu vereinen suchte. Den Homo sapiens als geschichtliches und biologisches Wesen zugleich aufzufassen und dem Homo patiens eine dementsprechende Diagnostik und Therapie zukommen zu lassen, war ein zentrales Anliegen unter anderem von Novalis (1772– 1801), der – obwohl selbst kein Arzt – als chronisch Kranker über reiche Erfahrungen als Patient verfügte und aus dieser Perspektive heraus die Relevanz einer soliden Aufklärung der Erkrankten wie auch der Gesunden betonte. Novalis, der eigentlich Friedrich Freiherr von Hardenberg hieß, wünschte sogar, man müsse die Medizin zur Elementarwissenschaft eines jeden gebildeten Menschen machen. Er postulierte, dass Krankheiten Lehrjahre des Gefühls seien. Wer eine Erkrankung sinnvoll verarbeitet, erwerbe an ihr eine ausgeprägte Individualität, welche den andauernd gesunden Menschen abgehe. Kranksein sei regelrecht eine Schulung in Philosophie, wobei ihm eine »höhere Philosophie« vorschwebte, welche »die Ehe von Natur und Geist« behandelt. Hintergrund seiner Auffassungen war die These, dass Menschen nicht nur an äußeren Gegebenheiten, sondern auch an sich selbst, ihrem Wesen und ihrer Geschichte erkranken. Lernt man dieses Faktum begreifen, kann man physische Irritationen zum Anlass der Entwicklung der Persönlichkeitskultur machen. Nach Novalis wird viel Brachland innerhalb der Menschheit erzeugt und geduldet, weil nur wenige wissen, wie sie mit ihren Krankheiten produktiv umgehen sollen. Novalis, der einem alten niederdeutschen Adel entstammte, studierte in Jena Juristerei. Dort begegnete er dem Geschichtsprofessor Friedrich Schiller, zu dem er eine enge Beziehung knüpfen konnte. Nach und nach lernte er auch Goethe, Herder, Jean Paul, Ludwig Tieck, Friedrich Wilhelm
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Kapitel • Heinrich Schipperges
Joseph Schelling sowie die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel persönlich kennen. Mit einigen von ihnen ergaben sich intime Freundschaften. Nach seinem Studium wurde der junge Jurist nicht wie geplant in den Staatsdienst übernommen. Er verdingte sich daraufhin 1794 in Tennstadt bei einem Kreisamtmann, der sein Freund und späterer Biograph wurde. Im nahen Schloss Grüningen ergab sich die Bekanntschaft mit der gerade einmal 12-jährigen Sophie von Kühn. Etwa ein Jahr später verlobten sich die beiden, doch die Beziehung hielt nur kurz: 1797 starb Sophie als kaum 15-Jährige. Damals begann Novalis ein Zweitstudium an der Bergakademie in Freiberg. Dort wurde er mit einem breiten Fächerkanon vertraut gemacht: Bergwerkskunde, Mathematik, Chemie und allgemeine Naturforschung. Parallel dazu widmete sich der junge Mann der Schriftstellerei, und 1798 erschienen erste Fragmente von ihm unter dem Titel Blütenstaub in der Zeitschrift Athenaeum. In diesem Zusammenhang verwendete er erstmals das Pseudonym Novalis. 1798 ging Novalis eine zweite Verlobung mit Julie von Charpentier ein. Bald darauf machte er die Bekanntschaft mit dem Kreis der Jenaer Romantiker, denen er sich nahe fühlte. Obwohl er als Salinenassessor und später als Landrat im Thüringischen tätig war und in dieser Funktion als Erster geologische Vermessungen der Region vornahm, fand er Muße für seine Dichtkunst. 1800 publizierte er seine berühmt gewordenen Hymnen an die Nacht. Bereits ein Jahr später starb Novalis. Lange Zeit ging man davon aus, dass der Dichter an Tuberkulose erkrankt war und durch einen Blutsturz ums Leben kam. Neuere Forschungen mutmaßen, dass es sich bei seiner Erkrankung eventuell um eine Mukoviszidose gehandelt haben könnte – eine vererbte Lungenerkrankung, die verständlich machen würde, warum Novalis schon als Kind immer wieder mit Entzündungen und allgemeiner Schwäche zu kämpfen hatte. Nach dem Tod des Dichters sorgten Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel für die Herausgabe des Nachlasses von Novalis. Darunter fanden sich die unvollendeten Romane Heinrich von Ofterdingen und Die Lehrlinge zu Sais sowie die später so
genannte Rede Die Christenheit oder Europa. Dem Roman Heinrich von Ofterdingen entstammt die Blaue Blume – ein Symbol, das für die gesamte Romantik zum Sinnbild wurde. Das Werk von Novalis spiegelt seine beruflichen Tätigkeiten ebenso wie seine Biographie samt seiner Erkrankung wieder. Neben der Lyrik, den Fragmenten und der Prosa enthält es eine erstaunliche Fülle von Aufzeichnungen zu Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Ästhetik, Naturwissenschaftsgeschichte und zu Fragen der Medizin. Der Dichter reflektierte alles, was ihn gebildet oder erschüttert hatte, und versuchte es in größere Zusammenhänge im Sinne einer allumfassenden Enzyklopädie der Künste und Wissenschaften einzuordnen. Diese Aufzeichnungen werden als das Allgemeine Brouillon bezeichnet. Hardenbergs Bestreben richtete sich auf eine Poetisierung und Romantisierung der Welt. Er sehnte sich nach einer Verbindung von Lyrik und Wissenschaft, die in progressive Universalpoesie einmünden sollte: »Poesie ist die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt.« Dieser Poetisierungstendenz unterwarf Novalis auch Phänomene wie Krankheit und Gesundheit, Leib und Seele, Arzt und Patient. Es ist erstaunlich, wie konsequent er Physiologie und Psychologie als die zwei Seiten des menschlichen Organismus beschrieben hat, ohne je der Versuchung nachzugeben, zwischen diesen Aspekten irgendwelche Kausalitäten zu postulieren oder zu konstruieren:
» An dieser Stelle dürfen wir erinnern an das Grundverhältnis von Leib und Seele, das durchaus nicht im Sinne einer existentialen Dualität oder auch nur eines psychophysischen Parallelismus gedeutet werden kann. Hier ist nirgendwo von seelischen Einflüssen oder psychogenen Reaktionen die Rede. Alles bleibt vielmehr im Spiel einer gebildeten, sich bildenden Leiblichkeit, wo Körper nur das System der gröberen Organe meint, während uns in der Seele ein System der feineren Organe begegnet (Schipperges 1981, S. 289).
«
Aufgrund der Berücksichtigung von Biologie, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Geschichte, Emotionalität, Sozialität, Geistigkeit sowie kultureller und
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Werkanalyse
kosmischer Verbundenheit des Leibes wurde Novalis für Schipperges zu einem wichtigen Vertreter jener Gruppe von Ärzten, Dichtern und Denkern, die sich erfolgreich um eine Philosophie des Leibes bemühten. Nach Paracelsus und Novalis hat sich Schipperges zufolge im 19. Jahrhundert diesbezüglich vor allem ein weiterer Denker besonders hervorgetan: Friedrich Nietzsche. z
Friedrich Nietzsche
Auch Nietzsche (1844–1900) war kein Mediziner, verstand sich aber durchaus als Arzt der Kultur und hat in seinen Schriften originelle Überlegungen zu anthropologischen Themen (Krankheit, Gesundheit, Leib, Seele, Bewusstsein, Aufgabe des Arztes) veröffentlicht. Zu Recht interpretierte Schipperges ihn daher als einen entscheidenden Ideengeber einer Philosophie des Leibes. Nietzsche brachte aufgrund seiner Herkunft, Erziehung und körperlichen Konstitution mitsamt seiner späteren Krankengeschichte günstige Voraussetzungen mit, um zum Entdecker eines der wichtigsten philosophischen Themen zu werden: des menschlichen Organismus mit seinen biologischen, psychischen, sozialen und geistigen Aspekten. Er selbst bezeichnete die Erträge seines Denkens folgerichtig als eine Philosophie am Leitfaden des Leibes. Aufgewachsen im protestantischen Milieu (sein frühverstorbener Vater war Pastor), gehörte es zu den wesentlichen Anliegen Nietzsches als Erwachsener, sich von den religiösen Einflüssen seiner Kindheit und Jugend zu emanzipieren. Dabei wurde er zu einem der wirkmächtigsten und radikalsten Religionskritiker der Kulturgeschichte. Im Zuge seiner agnostisch-skeptischen Reflexionen stieß er immer wieder auf die umfassende Leib- und Naturverachtung, welche die Menschen im Abendland während der letzten zwei Jahrtausende vor allem aufgrund des Einflusses des Christentums anerzogen bekamen. Diese Geringschätzung von Materie und Biologie ist Nietzsche zufolge eines der Grundübel der abendländischen Kultur, das auch das Denken der meisten Philosophen korrumpierte. So kritisierte Nietzsche entschieden, dass viele seiner Kollegen von einer hehren Geist- und Bewusstseinsebene aus philosophierten und die an-
geblich schnöde und zweitrangige organismische Basis der menschlichen Existenz systematisch ausblendeten. In Die fröhliche Wissenschaft (1782) stellte er fest:
»
Oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Großen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen ist (Nietzsche 1988a, S. 348).
«
Dieses Missverständnis des Leibes aufgedeckt zu haben, gelang Nietzsche nicht nur aufgrund intellektueller Anstrengungen. Ihm kam zugute, dass er ab etwa seinem dreißigsten Lebensjahr chronisch krank war und häufig an unangenehmen Symptomen litt: Sehstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Schlafstörungen, Gallenkoliken sowie Kopf-, Magen und Gliederschmerzen, die ihn oft tagelang ans Bett fesselten und arbeitsunfähig machten. Als Tierquälerei und Vorhölle charakterisierte er seine Zustände in Briefen, als ein Leben von Tag zu Tag, und »jeder Tag hat seine Krankengeschichte«. Der Philosoph betonte jedoch mehrfach, dass er den Krankheiten viel zu verdanken hatte. Sie lösten ihn aus seinen alltäglichen beruflichen Pflichten als Basler Professor für Philologie (er wurde früh berentet) und eröffneten ihm neue und ungeahnte Perspektiven des Nachdenkens: »Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft.« Und an Georg Brandes schrieb er im Februar 1888:
»
Auch leiblich: Ich lebte jahrelang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein großes Glück: Ich vergaß mich, ich überlebte mich (Nietzsche: Brief an Georg Brandes, 1888, zit. nach Schipperges 1981, S. 343).
«
Fragen der Wertphilosophie konnte Nietzsche ebenso wie manche ontologische (Leib, Seele), sozialphilosophische (Sexus, Nächsten- und Fernstenliebe) oder kulturphilosophische Themen innovativ beantworten, weil ihm der eigene Körper als Maßstab und Koordinatensystem diente. Dies half ihm, vergeistigte oder lebens- und leibfeindliche Denkmuster und Weltanschauungen als solche zu demaskieren und stattdessen eine menschenfreundlichere Ethik und Moral zu formulie-
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Kapitel • Heinrich Schipperges
ren. Außerdem versetzte es ihn in die Lage, über Gesundheit und Krankheit auf eine Art und Weise nachzudenken, die für die Heilkunde wertvolle Erkenntnisse bedeutete und das Wesen des Menschen neu beleuchtete. Vor allem die letzteren Aspekte wurden von Schipperges in seinen Büchern (besonders in Am Leitfaden des Leibes – Zur Anthropologie und Therapeutik Friedrich Nietzsches, 1975; Kosmos Anthropos – Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, 1981; Homo patiens – Zur Geschichte des kranken Menschen, 1985) herausgestellt. Für ihn stand Nietzsche paradigmatisch für jene Denker, die eine reduktive Anthropologie vertraten – also Bilder und Konzepte vom Menschen formulierten, die von Materie und Bios und nicht von irgendwelchen idealistischen Vorstellungen her aufgebaut sind. In Also sprach Zarathustra (1884) brachte Nietzsche auf poetische Art seine anthropologischen Überzeugungen zum Ausdruck. Im Hinblick auf das uralte Leib-Seele-Problem schrieb er ähnlich wie einige Jahrzehnte später die meisten Psychosomatiker, welche monistische (nur eine einzige Substanz als gegeben annehmende) Lösungsversuche für diese Thematik formulierten:
»
Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft … Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du »Geist« nennst, ein kleines Werkund Spielzeug deiner großen Vernunft (Nietzsche 1988b, S. 39).
«
Mit solchen Aussagen stellte sich Nietzsche in die Reihe jener Es-denkt-Philosophen, die konträr zur berühmten cartesianischen Formulierung »Ich denke, also bin ich« mit Vehemenz betonten, dass dieses Ich keineswegs eine vom Leib losgelöste Instanz ist. Vielmehr denkt unser ganzer Leib, und weil diese Tätigkeit in den meisten Fällen unoder halbbewusst abläuft, waren jene Forscher im Recht, welche die Formel »es (der unbewusste Leib) denkt« benutzten. Neben Nietzsche zählten zu ihnen unter anderem Georg Christoph Lichtenberg und Arthur Schopenhauer sowie der Tiefenpsychologe Georg Groddeck.
Der Leib unterlag für Nietzsche denselben Wirkprinzipien wie die gesamte übrige Natur. Dort meinte der Denker eine metaphysische Kraft erkannt zu haben, die er Wille zur Macht nannte. Darunter subsumierte er alle Phänomene des Lebens wie Fortpflanzung, Wachstum, Entwicklung, Steigerung, Stoffwechsel, Krankheit, Gesundheit sowie letztlich auch den Tod. Alle diese Äußerungsformen des Lebendigen sind dem Philosophen zufolge auf das Wirkprinzip des Willens zur Macht zurückzuführen, wobei er mit Macht nicht primär Herrschaft über andere, sondern Metamorphose- und Wachstumsprozesse meinte:
» Gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht (Nietzsche 1988c, S. 55).
«
Als jahrelang chronisch Kranker war es kein Wunder, dass Nietzsche sich in seinen Schriften auch ausführlich zu den Themen Krankheit und Gesundheit äußerte. Diesem Begriffspaar kommt in seinem Oeuvre eine zentrale Bedeutung zu, weil er den Zustand eines Organismus stets von biologischen, psychosozialen und geistigen Faktoren beeinflusst ansah und daher umgekehrt die Adjektive krank und gesund auch auf kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse anwandte. Für ihn war letztlich die gesamte Lebensführung eines Menschen für Krankheit und Gesundheit verantwortlich; vice versa vermag ein kranker oder gesunder Leib je unterschiedliche soziale und intellektuelle Leistungen zu vollbringen. Als pathogenen Einfluss erachtete Nietzsche beispielsweise eine Daseinsgestaltung, welche das Wesen und die existentielle Situation des Betreffenden nicht angemessen berücksichtigt. Wer an seinen Wünschen, Bedürfnissen, Hoffnungen und inneren Haltungen systematisch vorbei lebt, muss sich über daraus resultierende Erkrankungen nicht verwundern. Nicht selten sind es scheinbare Erleichterungen und Verwöhnungen, die zur Selbstentfremdung beitragen, und welche der Einzelne
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Conclusio
danach mit Verwundbarkeiten aller Art zu bezahlen hat:
» Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf unsre Aufgabe zweifeln wollen, – wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Unsere Erleichterungen sind es, die wir am härtesten büßen müssen! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns keine Wahl: Wir müssen uns schwerer belasten, als wir je vorher belastet waren (Nietzsche 1988d, S. 373f.).
«
Neben der Krankheit war es auch die Gesundheit, die von Nietzsche in ihrem Wesen immer wieder bedacht wurde. Beide Zustände sind dialektisch aufeinander bezogen – eine Dynamik, welche der Denker in Sätzen wie »Gesundheit ist überwundene Krankheit« oder »Gesundheit ist Vorbereitung auf die nächst größere Krankheit« zum Ausdruck brachte. Generell gäbe es kaum andere derart interessante Themen wie diejenigen von Krankheit und Gesundheit. Ein Psychologe – so Nietzsche in Die Fröhliche Wissenschaft (1882) – kenne wenig so anziehende Fragen wie die nach dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, dass er selber krank wird, betrachte er seine Krankheit mit großer wissenschaftlicher Neugier. Ein Hauptirrtum der bisherigen Medizin bei der Diagnostik und Therapie von Krankheiten lag darin begründet, dass die meisten Ärzte von einer Uniformität gesunder oder kranker Organzustände ausgingen. Seit langem bemühten sich Mediziner, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten von Entstehung, Verlauf, Untersuchung, Behandlung und Prognose von Erkrankungen ausfindig zu machen – ein Unterfangen, das nach Nietzsche nicht erfolgreich sein kann:
» Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit gibt es unzählige Gesundheiten des Leibes (Nietzsche 1988a, S. 477).
«
In diesem Zusammenhang führte Nietzsche den Begriff der großen Gesundheit ein. Darunter verstand er das Vermögen eines Organismus, mit immer größeren biologischen, psychosozialen und geistigen Herausforderungen produktiv umgehen zu können. Als die Gesündesten wurden von ihm diejenigen Menschen angesehen, welche »den meisten Malheurs gewachsen sind und deshalb sich vor den Malheurs nicht so fürchten«. Konstitution, Vitalität und Lebensstil entscheiden ebenso wie die Tugenden von Kraft, Ausdauer, Zähigkeit und Zielstrebigkeit sowie die Haltungen von Optimismus und Zuversicht über die große Gesundheit:
»
Der Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes – aber, natürlich auch, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulansmitteln der großen Gesundheit (Nietzsche 1980, S. 499).
«
Nicht immer kann der Einzelne kompetent darüber entscheiden, welche Stimuli er sich zutrauen soll oder darf. Für Nietzsche gehörte es zu den vornehmen Aufgaben eines Arztes, seinem Patienten diesbezüglich mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Das bedeutet, dass der Heilkundige nicht nur über das Niveau der körperlichen, sondern mindestens so sehr auch der seelischen, sozialen und geistigen Herausforderungen im Bilde sein sollte, zu deren Akzeptanz er seinen Schützling ermutigt. Man kann nachvollziehen, warum Nietzsche die Warnung aussprach: »Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zugrunde.«
Conclusio Angesicht ihrer Fülle von Anregungen kann man verstehen, warum Schipperges die Schriften von Paracelsus, Novalis und Nietzsche im Hinblick auf seine eigenen anthropologischen Überlegungen wiederholt zitierte. Ebenso wie die Texte von Hippokrates, Galen, Hildegard von Bingen, Hufeland, Feuchtersleben oder Virchow enthalten sie wertvolle Vorstufen zu einer Philosophie des Leibes, de-
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Kapitel • Heinrich Schipperges
ren Ausgestaltung er als wichtigstes Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit bezeichnet hat. Schipperges hatte sich damit einem Lebensthema zugewandt, das er zusammen mit seinem ehemaligen Kommilitonen Hermann Schmitz (geboren 1928) bereits in Bonn formuliert hatte. Die beiden Studenten mutmaßten damals, dass die Entdeckung und Entwicklung des Geistes im Abendland gegenläufig mit einer Verdeckung und Entwertung des Leibes einherging. Sowohl Mediziner wie Philosophen hätten deshalb Jahrtausende lang Mühe gehabt, den Leib (und nicht nur entweder den materiellen Körper oder den immateriellen Geist) wieder zu entdecken. Schipperges und Schmitz nahmen sich vor, diesem Prozess im Bereich von Medizin und Philosophie entgegenwirken zu wollen. In seinem zehnbändigen System der Philosophie (1964ff.) hat Schmitz, inzwischen emeritierter Professor an der Universität Kiel, auf philosophischem Terrain das vollzogen, was Schipperges als Mediziner und Historiker versuchte – eine Rehabilitierung des Leibes mitsamt seinen biologischen, psychosozialen und geistigen Bezügen und Qualitäten. Für beide Forscher bedeutete der Leib den lebendigen Organismus in seinem Wechselspiel mit der Welt, wobei Schipperges mehrfach auf Karl Jaspers verwies, der ähnlich wie der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty betont hatte, dass der menschliche Körper der einzige Teil der Welt sei, der zugleich von innen empfunden und von außen wahrgenommen werden kann. Ganz in diesem Sinne heißt es auch bei Hermann Schmitz:
»
Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen oder betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein Sinnesorgan wie Auge oder Hand zu verfügen (Schmitz 1990, S. 115).
«
Namen wie Karl Jaspers, Maurice Merleau-Ponty oder Hermann Schmitz bezeugen, dass die Wiederentdeckung und Beschreibung des Leibes ein wichtiger und notwendiger Schritt bei der Formulierung einer modernen Anthropologie war und weiterhin ist. Mit seinen Schriften hat Schipperges zu diesem Prozess zweifelsohne beigetragen.
Die Art und Weise aber, wie er sich diesem Unterfangen widmete, ist ergänzungswürdig. So fehlen in seinen Büchern fast vollständig Untersuchungen des Leibes in Bezug auf Selbstentfremdung, Ausbeutung und Missbrauch. Menschen wurden seit Jahrtausenden – bedingt durch Autoritarismen, Militarismus, Patriarchat, Religionen, Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme – als Frauen, Sklaven, Arbeitstiere oder Soldaten entwürdigt, geschunden und entwertet. Eine umfassende Beschreibung des Leibes darf diese Aspekte nicht ausblenden, wobei dazu neben historischer Archivarbeit auch Vorurteils- und Ideologiekritik nötig sind. Schipperges war zwar bestens vertraut mit Hildegard von Bingen und beschlagen im Quellenstudium eines Petrus Hispanus, Paracelsus, Hufeland, Novalis und Feuchtersleben. Doch schon bei seinen Nietzsche-Ausführungen war auffällig, dass er ihn als Ideengeber für Gesundheits- und Krankheitskonzepte darstellte, ohne seine Rolle als Religionsund Kulturkritiker angemessen zu würdigen. Blättert man in anderen Büchern des Medizinhistorikers, stellt man darüber hinaus fest, dass in seinem Oeuvre die Namen skeptischer Aufklärer ebenso wie diejenigen der Linkshegelianer fehlen, obwohl sie für die Medizinanthropologie und das Leibverständnis durchaus innovative Beiträge geliefert haben. Die gesamte Garde der Tiefenpsychologen inklusive Freud, Adler und Jung wurde von Schipperges ebenfalls nicht erörtert (die Kapitel über Psychoanalyse und Marxismus in Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert stammen – man merkt es am Stil – höchstwahrscheinlich vom Koautor Dietrich von Engelhardt). Es steht daher zu vermuten, dass für den christlich und konservativ eingestellten Schipperges die Weltanschauung zur nicht überschreitbaren Hürde bei der Gestaltung seiner Anthropologie und seines gesamten Werks wurde. Diese ideologische Ausrichtung wurde durch akademische Lehrer wie Johannes Steudel, Erich Rothacker und Manfred Bleuler nicht korrigiert, sondern eher induziert oder verstärkt. Sein Konservatismus wie eventuell auch der Wunsch, diese ehemaligen Mentoren nicht belasten zu wollen, mögen außerdem mit dazu beigetragen haben, dass der Autor weder in Die Tech-
Literatur
nik der Medizin und die Ethik des Arztes noch in Gesundheit und Gesellschaft – Ein historisch-kritisches Panorama auf die in anthropologischer und ethischer Hinsicht höchst problematische Zeit des Faschismus ausführlicher Bezug genommen hat. Schipperges bestätigte damit die schon lange bekannte Erkenntnis aus der Wissenschaftstheorie, dass Charakter und Weltanschauung eines Forschers vor allem in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wie auch in der Philosophie die Ergebnisse seiner Forschungen wesentlich mitbestimmen. Wer in diesen Bereichen humanistisch, aufgeklärt und progressiv denken, lehren und schreiben will, kommt nicht umhin, die eigene Person in Richtung Skepsis und Kritikfähigkeit zu entwickeln und sich von tradierten politischen, religiösen und konservativ-ideologischen Glaubensartikeln zu emanzipieren.
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Eric Kandel Biographisches – 476 Werkanalyse – 478 Conclusio – 484 Literatur – 486
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel • Eric Kandel
. Abb. 1 Eric Kandel (*1929) bei der Veranstaltung »Lange Nacht der Forschung« in Wien. (Quelle: Wikipedia, Flickr. com - image description page; Urheber: aquarius3)
»Wer die Affen versteht, leistet mehr für die Metaphysik als John Locke.« – meinte im 19. Jahrhundert launig Charles Darwin. Hundertfünfzig Jahre später könnte mancher Neurobiologe in Anlehnung an Darwin versucht sein zu formulieren: »Wer das Gehirn versteht, leistet mehr für die Anthropologie als so mancher Philosoph.« Dass man als kompetenter Anthropologe neurowissenschaftlich beschlagen und außerdem aber auch noch philosophisch gebildet sein darf, soll an der Biographie Kandels sowie an der Entwicklung der Neurobiologie demonstriert werden (. Abb. 1).
Biographisches Erich (Eric) wurde 1929 als zweiter Sohn von Hermann und Charlotte Kandel in Wien geboren. Sein Vater besaß ein Spielwaren- und Koffergeschäft. Die jüdischstämmige Familie wohnte im 9. Bezirk der Donaumetropole, ganz in der Nähe der Berggasse 19, wo Sigmund Freud lebte und seine psychoanalytische Praxis unterhielt. Erich eiferte in seiner Kindheit stets dem fünf Jahre älteren Bruder Ludwig nach, von dessen geistiger Virtuosität er überzeugt war. Er lernte gerne und leicht und empfand seine Kindheit bis 1938 als unbeschwert. Die massiven antisemitischen Übergriffe nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich blieben Erich allerdings in bleibender Erinnerung. In seiner Autobiographie Auf der Suche nach dem Gedächtnis (2006) schrieb er, dass sie dazu beigetragen haben, aus ihm einen Spezialisten für die menschliche Erinnerungsfähigkeit werden zu lassen. 1939 emigrierten die Kandels, wobei die Familie getrennt wurde. Erich fuhr mit seinem Bruder alleine per Eisenbahn nach Antwerpen und per Schiff weiter in die Vereinigten Staaten. Erst Monate später konnten seine Eltern nachfolgen. Die Knaben
wohnten in der Zwischenzeit in Brooklyn bei den Großeltern, denen kurze Zeit davor die Flucht nach Nordamerika geglückt war. Weil er spürte, dass er sich an die neuen Verhältnisse anpassen musste, lernte Erich rasch Englisch; außerdem strich er das H in seinem Vornamen und nannte sich von da an Eric. Die Eltern Kandel erwarben dank ihrer Tüchtigkeit einen Laden in Brooklyn, der zur ökonomischen Basis für die Familie wurde. Die Söhne reüssierten in der Schule, so dass Eric sich an der Harvard University in Cambridge bewarb und dort zum Studium zugelassen wurde. Er belegte die Fächer neue europäische Geschichte und Literatur. Kandel studierte unter anderem bei Karl Viëtor (1892–1951), den er überaus schätzte. Viëtor zählte zu jenen herausragenden Geisteswissenschaftlern, die nach ihrer Emigration aus Deutschland in den Vereinigten Staaten (1937) Fuß gefasst hatten. Er war der Autor exzellenter Abhandlungen über Goethe (Goethe. Dichtung – Wissenschaft – Weltbild, 1949); außerdem hatte er eine wegweisende Studie über Georg Büchner verfasst. Ursprünglich wollte Kandel bei Viëtor seine Abschlussarbeit in Literatur anfertigen, doch sein Lehrer starb überraschend 1951 an Lungenkrebs. Dieser Tod erschütterte den jungen Studenten und stürzte ihn hinsichtlich seiner Studien- und Berufswahl in tiefe Zweifel. Damals hatte er Anna Kris kennen und lieben gelernt, eine junge Studentin, die mit ihrer Familie ebenfalls aus Wien emigriert war. Über sie kam Kandel in Kontakt mit ihren Eltern Ernst und Marianne Kris, die beide Psychoanalytiker aus dem Freud-Kreis waren. Ernst Kris, ursprünglich Kunsthistoriker und Kurator am Kunsthistorischen Museum in Wien, hat auf Anregung von Anna Freud zusammen mit Heinz Hartmann und Rudolph Loewenstein die Ich-Psychologie ausgebaut, die Freuds Es- oder Triebpsychologie sinnvoll ergänzte. Die Familie Kris war ausgesprochen großzügig und ermutigend. Der junge Kandel lauschte den Debatten von Annas Eltern, bei denen oft Hartmann und Loewenstein zu Besuch waren. Nach und nach keimte in ihm der Plan, ebenfalls Psychoanalytiker werden zu wollen. Um dafür eine Grundlage zu schaffen, beschloss Kandel, einen
Biographisches
Wechsel der Studienfächer vorzunehmen und Medizin zu studieren. Im Herbst 1952 wurde Kandel an der New York University in Medizin immatrikuliert. Während der ersten Jahre seiner studentischen Ausbildung hielt er an seinem Plan fest, Psychoanalytiker zu werden. Im letzten Studienjahr allerdings wandte er sich verstärkt der biologischen Grundlagenforschung zu, wobei ihn besonders der Aufbau und die Funktion des menschlichen Gehirns faszinierten. Zu dieser Interessenverschiebung trug die Tatsache bei, dass die Beziehung mit Anna Kris beendet worden war und Kandel als neue Freundin Denise Bystryn kennengelernt hatte. Die junge Soziologiestudentin stammte aus Frankreich, wo sie und ihre jüdischstämmigen Eltern mit viel Glück die Verfolgungen durch die Nazis während der deutschen Besatzungszeit überstanden hatten. 1949 waren sie nach Nordamerika ausgewandert. Kandel und die damals 23-jährige Denise heirateten 1956. In der Folgezeit unterstützte sie vorbehaltlos seinen Impuls, sich statt der psychologischen einer biologischen Erforschung des menschlichen Bewusstseins und des Unbewussten zuzuwenden. Über den seinerzeit bekannten Neurophysiologen Harry Grundfest, dem Kandel erzählte, er wolle die neurologischen Grundlagen von Freuds Instanzenmodell (Es, Ich und Über-Ich) entdecken, geriet der junge Arzt auf die Laufbahn eines Neurowissenschaftlers. In der ersten Zeit beschäftigte er sich mit der Elektrophysiologie des menschlichen Gehirns. In besonderem Maße interessierte er sich für ein tief im Zentrum des Gehirns liegendes Areal mit Namen Hippocampus. Kandel wollte herausfinden, inwiefern diese Region an der Speicherung von Eindrücken und an ihrem Erinnern beteiligt ist. Seine Forschungen erbrachten kaum brauchbare Ergebnisse. Kandel musste feststellen, dass der Hippocampus beim Menschen im lebendigen Zustand aufgrund seiner Lage mitten im Gehirn nur schwer zu untersuchen ist. Außerdem weist der Hippocampus ziemlich komplexe Nervenverbindungen auf, so dass er als ein einfaches Modell für die Erforschung von Grundlagen des Gedächtnisses bei Mensch und Tier nicht in Frage kam. 1956 legte Kandel sein Staatsexamen ab und arbeitete daraufhin als Assistenzarzt an einer New
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Yorker Klinik. 1957 wechselte er ins neurophysiologische Labor des National Institute of Health (NIH). Weil man inzwischen davon ausging, dass das Erinnerungsvermögen mit den Verbindungen zwischen den Nervenzellen, den sogenannten Synapsen, etwas zu tun haben musste, entschied sich Kandel, zuerst an einfachen Tierarten Untersuchungen durchzuführen, bei denen die Synapsen leicht zu beobachten sind. In einem zweiten Schritt wollte er diese Ergebnisse auf den Menschen übertragen. Auf der Suche nach dafür geeigneten Tieren stieß er nach vielerlei Überlegungen auf die Meeresschnecke Aplysia californica (Kalifornischer Seehase). Das Gehirn von Aplysia hat den großen Vorteil, nur über 20.000 Nervenzellen zu verfügen – im Vergleich zu Hundert Milliarden Nervenzellen beim Menschen. Die meisten ihrer Nervenzellen sind in nur neun Ganglien (Anhäufungen von Nervenzellen) organisiert. Einige Nervenzellen von Aplysia sind außerdem so groß, dass man sie mit bloßem Auge erkennen kann. Als Kandel beschloss, an Aplysia Forschungen anzustellen, gab es weltweit nur zwei Wissenschaftler, die Untersuchungen an diesem Tier durchführten. Zu einem von ihnen nahm er Kontakt in Paris auf, und nachdem er 1962 seine psychiatrische Facharztausbildung an der Harvard University abgeschlossen hatte, wechselte er für ein Jahr nach Frankreich, um den korrekten wissenschaftlichen Umgang mit der Meerschnecke zu erlernen. Zuvor war 1961 Paul, der Sohn Kandels, geboren worden; 1965 kam dann noch die Tochter Minouche zur Welt. Als Kandel in die USA zurückgekehrt war, arbeitete er zwei Jahre lang als Dozent an der Harvard Medical School. Im Anschluss daran ging er 1965 an die New York Medical School, wo er mit anderen zusammen eine Abteilung für Neurobiologie und Verhaltenswissenschaften aufbaute. In der Zwischenzeit hatte er in Boston eine Psychoanalyse beendet, von der er im Nachhinein meinte, sie habe ihm geholfen, sich selbst und die Mitmenschen besser zu verstehen und ein einfühlsamerer Vater und Ehemann zu werden. Obwohl er seine psychiatrische Ausbildung als Facharzt abgeschlossen und dazu noch eine Psychoanalyse absolviert hatte, entschied sich der
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inzwischen Mitte 30-jährige Kandel, zukünftig nicht mehr klinisch arbeiten zu wollen, sondern sich voll und ganz der wissenschaftlichen Forschung zu widmen. Diese Entscheidung erwies sich als sinnvoll. Zusammen mit verschiedenen Kollegen und Labormitarbeitern gelang es Kandel, an Aplysia viele jener zellulären Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, die für Lern- und Gedächtnisvorgänge generell wesentlich sind. So konnte er zeigen, dass sich sowohl die Anzahl auch die Funktion von Synapsen ändert, wenn Nervenzellen durch bestimmte Reize veranlasst werden, etwas zu erlernen oder zu vergessen. Bei Sensitivierung durch unangenehme Reize reagierten Aplysia und die beteiligten Nervenzellen stärker, was durch Aktivitätssteigerung der Synapsen erreicht wurde. Das Gegenteil war bei Habituation durch harmlose und neutrale Reize zu beobachten: Das Tier stellte nach und nach seine Reaktionen auf den Reiz ein, wobei sich parallel dazu die Synapsenaktivität reduzierte. Dabei war es für das Kurzzeitgedächtnis (ein Lernvorgang für Minuten/ Stunden) ausreichend, wenn sich die Funktion der Synapsen veränderte; beim Lernen im Sinne von Langzeitgedächtnis kam es darüber hinaus zu Veränderungen der Anzahl von Synapsen. In den frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts konnten Kandel und sein Team des Weiteren nachweisen, welche Neurotransmitter (Überträgerstoffe im Gehirn, mit deren Hilfe Nervenzellen untereinander kommunizieren) an diesen Veränderungen beteiligt sind. 1976 publizierte er sein Buch Cellular Basis of Behavior (Zelluläre Grundlagen des Verhaltens), in dem er das erste Mal seine Befunde, die er bis dahin immer als Journalbeiträge in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht hatte, einem breiteren Publikum vorstellte. In den 80er Jahren beteiligte sich Kandel federführend am Aufbau des Howard Hughes Medical Institute für molekulare Neurowissenschaften an der Columbia University in den USA. Mit Hilfe molekulargenetischer Forschungs- und Untersuchungsmethoden, die es in den Jahren davor so noch nicht gegeben hatte, konnte Kandel nun daran gehen, die Veränderungen in den Zellen bis hin zur genetischen Erbinformation zu verfolgen, die es bei der Bildung von Langzeitgedächtnisinhalten zu erwarten gab.
Kandel und sein Team züchteten einen vereinfachten neuronalen Schaltkreis von Aplysia in der Zellkultur, so dass sie die Zellkerne (als Sitz der genetischen Information) der beteiligten Nervenzellen gut untersuchen konnten. Dabei entdeckten sie, dass ein Protein namens CREB (englisch: »cAMP response element binding protein«) über die Aktivierung von gedächtnisfördernden Genen entscheidend zum Aufbau von Synapsen und damit des Langzeitgedächtnisses beiträgt. Diese Ergebnisse bei Aplysia konnte Kandel auf Wirbeltiere (genmutierte Mäuse) übertragen und damit wahrscheinlich machen, dass die molekularen Mechanismen der Erinnerungsfähigkeit bei vielen oder allen Lebewesen gleich sind. Bei seinen Forschungen an der Maus kam er in den 90er Jahren wieder zu jenem Hirnareal zurück, mit dem er sich schon fünfzig Jahre zuvor intensiv beschäftigt hatte: dem Hippocampus. Im Jahr 2000 wurde Kandel zusammen mit dem Schweden Arvid Carlsson und dem Amerikaner Paul Greengard der Nobelpreis für Medizin für ihre Entdeckungen betreffend der Signalübertragung im Nervensystem verliehen. Daneben erhielt der Forscher, der bei öffentlichen Auftritten die Geschichte der Gedächtnisforschung immer noch sehr lebendig erzählen kann, weitere Auszeichnungen für sein Lebenswerk: deutscher Orden »Pour le mérite« für Wissenschaft und Künste; österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst; Ehrenpreis des Viktor-Frankl-Instituts sowie 2009 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien.
Werkanalyse Kandel hat seine Forschungsergebnisse in einer großen Zahl von Originalarbeiten in Fachjournalen wie Science, Neuroscience, Nature, Neurophysiology oder Cell veröffentlicht. Daneben publizierte er einige Bücher, in denen er seine wissenschaftlichen Befunde und Theorien in verständlicher Sprache so aufbereitete, dass sie auch von interessierten Laien nachvollzogen werden können. Zu diesen Büchern zählen neben dem weiter oben erwähnten Cellular Basis of Behavior unter anderem Mind and Behavior (Geist und Verhalten, 1980) sowie Principles of Neural Science and Beha-
Werkanalyse
vior (Grundlagen der Neurowissenschaften und des Verhaltens, 1995). In deutscher Sprache sind erschienen: Neurowissenschaften – Eine Einführung (zusammen mit James Schwartz und Thomas M. Jessel, 1996), Gedächtnis – Die Natur des Erinnerns (zusammen mit Larry R. Squire, 1999, in zweiter Auflage 2009), Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes (2005) sowie die Autobiographie Auf der Suche nach dem Gedächtnis – Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes (2006). In der Werkanalyse wird hauptsächlich auf die zuletzt genannten drei Bücher Bezug genommen. Bevor jedoch detaillierter auf die Forschungen Kandels eingegangen wird, erfolgt überblicksartig eine Skizzierung der Geschichte der Neurobiologie des 20. Jahrhunderts. Ausgehend davon lassen sich sowohl die Leistungen des Nobelpreisträgers als auch die daraus abzuleitenden anthropologischen Schlussfolgerungen besser einordnen. z
Eine kurze Geschichte der Neurobiologie
Vor einigen Jahren erschien die oft zitierte Kurze Geschichte der Zeit (1988) von Stephen Hawkin. Darin ist es dem bekannten Astrophysiker gelungen, ohne überfordernden Rückgriff auf physikalischmathematische Formeln die Entwicklung des Universums so großartig und plastisch nachzuerzählen, dass sie auch für Nichtastrophysiker verstehbar wurde. Wenn wir auf den folgenden Seiten einen komprimierten Überblick über die Geschichte der Gehirnforschung geben, müssen wir uns allein vom Umfang her mit überaus knappen Andeutungen begnügen. Dabei werden wir jedoch ähnlich wie der bedeutende Physiker Wert darauf legen, die komplexe Materie der Neurowissenschaften auf eine auch für Nichtmediziner nachvollziehbare Art zu präsentieren. Viele Neurowissenschaftler (so auch Kandel) lassen die Geschichte ihrer Forschungsrichtung in der Moderne mit Franz Joseph Gall beginnen. Gall war ein deutscher Arzt und Neuroanatom, der in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an der Wiener Universität lehrte. Seine für die Neurobiologie wichtigen Grundthesen lauteten: 1) alle geistigen Prozesse sind biologischer Natur und werden vom Gehirn hervorgebracht; und 2)
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die Großhirnrinde weist verschiedene Regionen auf, die jeweils für unterschiedliche geistige Funktionen zuständig sind. Weil Gall seine Theorie beweisen wollte, indem er von der Form des Schädelknochens auf die darunter liegenden Gehirnareale und ihre Ausprägungen Rückschlüsse zog, wurde er bald von vielen belächelt. Man konnte zeigen, dass seine als Phrenologie bezeichnete Lehre groteske Konsequenzen zeitigte. Von der Schädelform charakterliche, intellektuelle oder ethisch-moralische Eigenschaften des Betreffenden abzuleiten, war schlicht abenteuerlich. Dass Gall bei seinen neuroanatomischen Forschungen aber auch brisantere und seriöse Thesen formuliert hatte, kann man unter anderem daran ersehen, dass die römisch-katholische Kirche gegen ihn Sturm lief. Daneben waren weitere konservative Kreise in Wien von seiner materialistisch-biologistischen Auffassung des menschlichen Geistes schockiert, so dass der österreichische Kaiser Franz I. dem Medikus letztlich Lehrverbot erteilte und ihn des Landes verwies. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Theorie Galls von der regionalen Zuordnung bestimmter geistiger Funktionen zu Gehirnarealen bestätigt, wozu die Neurologen Pierre-Paul Broca in Paris und Carl Wernicke in Breslau entscheidend beitrugen. Beide studierten die Gehirne verstorbener ehemaliger Patienten und konnten an den Autopsiepräparaten zeigen, dass die jeweiligen neurologischen Defizite der Patienten mit Defekten im Gehirn (Schlaganfall, Tumor, Entzündung) korrelierten. Broca beschrieb dabei ein auffälliges Areal im Frontallappen des Gehirns, das er mit den geistigen Fähigkeiten des (motorischen) Sprechens und Schreibens in Verbindung brachte. Weil alle Präparate die Schädigungen in der linken Hemisphäre aufwiesen, formulierte er das oft zitierte neurologische Dogma: »Nous parlons avec l’hémisphère gouche!« (wir sprechen mit der linken Hemisphäre). Das neurologische Defizit wurde als motorische Aphasie (Unfähigkeit zu sprechen) bezeichnet. Wernicke entdeckte eine zweite Form der Sprachstörung, die sensorische Aphasie. Dabei kann der Betreffende zwar Wörter bilden und aussprechen, aber den Sinn der von ihm vernomme-
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Kapitel • Eric Kandel
nen Sprache nicht korrekt verstehen. Die neuroanatomischen Veränderungen sind ebenfalls in der linken Hemisphäre lokalisiert, allerdings im Seitenlappen des Gehirns. Beide Aphasien werden heute noch entweder als Broca- oder als WernickeAphasie benannt. Der Gehirnforscher Korbinian Brodmann hat Anfang des 20. Jahrhunderts eine Karte des Gehirns erstellt, in dem neben anderen sowohl das Broca- als auch das Wernicke-Areal aufgeführt sind. Neuroanatomen und Neurologen hatten noch einige weitere Areale gefunden, die sie mit spezifischen geistigen Funktionen des Menschen in Beziehung setzten. Der US-amerikanische Neurochirurg Wilder Penfield konnte sich Mitte des letzten Jahrhunderts im Rahmen seiner Epilepsieoperationen am offenen Gehirn, bei denen die Patienten (weil das Gehirn schmerzunempfindlich ist) bei vollem Bewusstsein waren, als Erster von der Richtigkeit dieser kartierenden Zuordnung direkt überzeugen. Doch zurück ins 19. Jahrhundert. Damals wurde nicht nur die Lokalisationstheorie der seelischgeistigen Funktionen des menschlichen Gehirns, sondern auch die Neuronenlehre entwickelt. Diese besagt, dass die Nervenzelle (das Neuron) der Grundbaustein und die wesentliche Signaleinheit des Gehirns ist – egal, ob es sich dabei um menschliche oder tierische Nervensysteme handelt. Neben der Neuronenlehre sind noch die Theorien der Übertragung von Informationen innerhalb der Nervenzelle (durch elektrisch geladene Teilchen) und der Informationsübermittlung von einer Nervenzelle zur nächsten (durch chemische Stoffe, die sogenannten Transmitter oder Überträgerstoffe) grundlegend. Diese drei Prinzipien wurden großenteils im 20. Jahrhundert nachgewiesen. Die entscheidenden Vorarbeiten dazu wurden jedoch bereits Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt. Ein Name wird in diesem Zusammenhang immer wieder besonders hervorgehoben: Santiago Ramón y Cajal. Dieser spanische Neuroanatom, der eigentlich Kunstmaler werden wollte, hat mit großem Geschick einzelne Nervenzellen präpariert, ihre mikroskopische Anatomie aufgeklärt und mit verblüffender Intuition eine Theorie ihrer Funktionen formuliert, die sich später, nachdem geeignete Untersuchungsmethoden entwickelt waren, überwiegend als richtig herausstellte.
Dass Neurone viele Zellfortsätze aufweisen, und dass man diese wiederum in Dendriten (zum Zellkörper hinführend) und Axone (vom Zellkörper wegführend) unterscheidet, hat Ramón y Cajal ebenso schon erkannt wie deren unterschiedliche Funktion (mit Dendriten empfängt die Nervenzelle Signale von anderen Nervenzellen, und mit dem Axon sendet sie selbst Informationen an andere Zellen). Des Weiteren beschrieb Ramón y Cajal, wie die Kommunikation zwischen den Nervenzellen beschaffen ist. Dabei konnte er mit einfachen Mitteln nachweisen, dass die Axon-Endigungen der einen Nervenzelle mit den Dendriten der anderen Nervenzelle an speziellen Stellen kommunizieren, und dass es an diesen Kontaktstellen zwischen Axon und Dendrit einen kleinen Spalt gibt. Der englische Physiologe Charles Sherrington hat diese Befunde Ramón y Cajals in seinem Modell der Synapse (griechisch: Verbindung) einige Jahre später bestätigt und im Detail erforscht. Zum Dritten war es Ramón y Cajal gelungen zu zeigen, dass Neurone nicht beliebig mit anderen Nervenzellen Kontakte eingehen. Hier herrscht eine strenge Spezifität, wobei sich einzelne Neurone zu bestimmten Bahnen zusammenfinden und mit anderen kommunizierenden Nervenzellen fixe Schaltkreise bilden. Nur innerhalb dieser Schaltkreise werden die jeweiligen Signale und Erregungen fortgeleitet. Damit formulierte Ramón y Cajal ein neurologisches Gesetz, das seinerzeit heftig umstritten war. Der spanische Neuroanatom war überzeugt, dass das Gehirn kein diffuses Netzwerk aus Nervenzellen darstellt, sondern aus den eben erwähnten Schaltkreisen besteht, die eine exakte Zuordnung ihrer jeweiligen Lokalisation, Funktion und Aufgabe in der Gesamtheit des Nervensystems erlauben. So unterschied er sensorische Neurone, welche die Information von der Peripherie (z. B. von der Haut oder Muskulatur) ins Zentrum (Gehirn) transportieren, von motorischen Neuronen, welche die entgegen gesetzte Richtung der Informationsweitergabe aufweisen (vom zentralen Nervensystem – auch ZNS genannt – zur Peripherie, beispielsweise zur Muskulatur). Dazwischengeschaltet sind die Interneurone, die als große Relaisstationen gedacht werden können.
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Werkanalyse
Völlig zu Recht erhielt Ramón y Cajal 1906 den Nobelpreis für Medizin zuerkannt. Seine Leistungen waren umso bemerkenswerter, als er ohne jene eleganten Untersuchungsmöglichkeiten auskommen musste, welche den heutigen Neurowissenschaftlern zur Verfügung stehen: Mikroskopie (Fluoreszenz- und Elektronenmikroskope), molekularbiologische und -genetische Analyseverfahren sowie Zellkulturen für die mikroanatomische Erforschung und bildgebende (Magnetfeldresonanztomographie/MRT, Positronen-Emissionstomographie/PET, Computertomographie) sowie elektrophysiologische Verfahren zur makroanatomischen Betrachtung. Weiter oben wurde bereits Charles Sherrington erwähnt, der sich um die Aufklärung der Kontaktund Kommunikationspunkte zwischen den Nervenzellen verdient gemacht hat. Zusammen mit Edgar Douglas Adrian erhielt auch er den Nobelpreis für Medizin (1932). Letzterer konnte zeigen, dass die Erregung in Axonen und Dendriten aus fortgeleiteter elektrischer Spannung besteht, die selbst wiederum durch eine bestimmte Verteilung von elektrisch geladenen Teilchen (Ionen) an der Zellmembran zustande kommt. Drei Jahrzehnte später wurden Alan Hodgkin und Andrew Huxley (Halbbruder von Julian und Aldous) mit dem Medizinnobelpreis geehrt, weil sie die elektrischen Spannungsverhältnisse an den Membranen von Nervenzellen, die man als Ruheund Aktionspotential bezeichnet, am Riesenaxon des Tintenfischs aufklären konnten. Zeitgleich erforschten die Neurophysiologen John Eccles, Stephen Kuffler und Bernard Katz in Australien (wohin sie Hitler-Deutschland und der Zweite Weltkrieg getrieben hatte) den chemischen Übertragungsmodus an den Synapsen und entdeckten dabei sowohl verschiedene Überträgerstoffe (Transmitter) als auch die dazu gehörigen Rezeptoren (Eiweißmoleküle in der Zellmembran, die für Transmitter sensibel sind und auf sie reagieren). Auch Eccles erhielt für seine Forschungen den Nobelpreis für Medizin. Nachdem bis Mitte des 20. Jahrhunderts wichtige grundlegende Erkenntnisse über den Bau und die Funktion sowohl des gesamten Gehirns als auch seiner kleinsten Einheiten (der Neurone) gewonnen waren, ging man daran, die Ergebnisse der Grundlagenforschung in die medizinische Diagnostik und
Therapie einfließen zu lassen. So wurden neurobiologische Krankheitskonzepte etwa für Morbus Parkinson, multiple Sklerose, Epilepsie sowie für die Durchblutungsstörungen, Neubildungen und Entzündungen des Gehirns entwickelt. Daneben konnten biologische Veränderungen bei Angstund Suchterkrankungen sowie Depressionen beschrieben werden. Für eine große Zahl dieser Erkrankungen sind in den letzten Jahren spezifische Therapiestrategien – von den Psychopharmaka bis hin zum Gehirnschrittmacher – entwickelt worden, die ohne die erfolgreiche neurowissenschaftliche Grundlagenforschung nicht denkbar wären. z
Eric Kandel und das menschliche Gedächtnis
Die Entwicklung der Neurowissenschaften (neben Neuroanatomie und -physiologie gehören dazu beispielsweise auch Neurologie, Neuroradiologie, -psychologie und -chirurgie sowie die Psychoneuroimmunologie) darf demnach als eine Erfolgsgeschichte aufgefasst werden. Begonnen mit den Entdeckungen der Grundlagenforscher bis hin zur konkreten medizinischen Anwendung dieser Erkenntnisse im Rahmen von Diagnostik und Therapie bei Krankheitsbildern, deren Verlauf bis vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten noch als unbeeinflussbar galt, zieht sich als roter Faden ein Motto und Programm, das bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Auguste Comte für die Wissenschaften generell formuliert worden war: »Wissen, um vorauszusehen; voraussehen, um sich vorzusehen!« Das Lebenswerk Kandels kann man durchaus in dieser Tradition ansiedeln. Seine Grundlagenforschung hinsichtlich des Lernens und des Gedächtnisses bei Tier und Mensch verfolgte nicht nur das von ihm früh geäußerte Ziel, die neurobiologischen Korrelate der psychoanalytischen Instanzen von Es, Ich und Über-Ich zu finden – ein Ziel, von dem er bald einsah, wie überaus komplex es sich darstellt, sobald man versucht, die seelischgeistigen Bedeutungen von Freuds Begriffen ohne kruden Reduktionismus in die biologische Dimension zu übertragen. Darüber hinaus beabsichtigte Kandel vor allem aber auch, Beiträge zum Verständnis sowohl von Erkrankungen des Gedächtnisses (z. B. Morbus Alzheimer) als auch des gesunden Menschen und seines Gedächtnisses als Fundament seiner Identi-
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Kapitel • Eric Kandel
tät zu liefern. Besonders die letzteren Aspekte sind anthropologisch relevant. So haben Philosophen, Ärzte, Tiefenpsychologen und Psychiater im 19. und vor allem 20. Jahrhundert wiederholt darauf abgehoben, dass die enorme Erinnerungsfähigkeit des Menschen ihn von anderen Tieren unterscheidet und wahrscheinlich ein Spezifikum des Homo sapiens darstellt. In diesem Zusammenhang soll lediglich auf Friedrich Nietzsches Konzept vom Menschen als einem geschichtlichen Wesen, auf Henri Bergsons Begriff der »durée« (Dauer) und auf Sigmund Freuds Umschreibung der psychoanalytischen Kur als Erinnerungsarbeit verwiesen werden. Nun wurde im biographischen Teil dargelegt, dass Kandel seine Erkenntnisse als Gedächtnisforscher mitnichten am Menschen, sondern an der auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Meeresschnecke Aplysia gewonnen hat. Inwiefern lassen sich diese Forschungsergebnisse auf den Menschen übertragen, und in welcher Hinsicht waren und sind Kandels Arbeiten von anthropologischer Bedeutung? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen wir etwas ausholen und das Phänomen des Gedächtnisses allgemein ins Visier nehmen. Dabei sollen vorrangig neurobiologische Aspekte Berücksichtigung finden; die psychosozialen und geistigen Gesichtspunkte der Erinnerungsfähigkeit des Menschen wurden in den vorangehenden Kapiteln bereits mehrfach erörtert. Unter Gedächtnis in einem weiten biologischen Sinn versteht man die Möglichkeiten und Kompetenzen des Nervensystems von Lebewesen, aufgenommene Informationen (Wahrnehmungen, Sinneseindrücke, Empfindungen) zu behalten, zu ordnen und wieder abzurufen. Die Speicherung dieser Informationen geschieht in Form von bewussten und/oder unbewussten Lernprozessen. Die Gedächtnisbildung ist dabei stets Ausdruck von plastischen, sich verändernden neuronalen Systemen.1
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Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass man auch im Bereich der Technik (z. B. beim Arbeitsspeicher eines Computers) oder der Kultur allgemein von Gedächtnis spricht (so sind z. B. Bibliotheken oder Museen im gewissen Sinn das literarische und künstlerische Gedächtnis einer Kultur).
Akzeptiert man diese Definition, kann man selbst einfachen Lebewesen mit überschaubar schlichten Nervensystemen die Fähigkeiten von Lernen und Erinnern attestieren. Die Kapazität, Komplexität und Menge der gelernten und erinnerten Abläufe oder Fakten sind stark evolutionsabhängig und nehmen mit der Entwicklung der diversen Nervensysteme enorm zu. Kandel hat mit seinen Forschungen an Aplysia eine Gedächtnisart untersucht, die man als unbewusst oder prozedural bezeichnet. Generell unterscheidet man ein prozedurales und ein deklaratives Gedächtnis. Das Erstere wird auch als unbewusstes und implizites Gedächtnis benannt. Man subsumiert darunter alle Lern- und Erinnerungsvorgänge, die als Ergebnisse von Konditionierungs- und Prägungsvorgängen im allerweitesten Sinne verstanden werden. Die Erinnerungen des prozeduralen oder impliziten Gedächtnisses reichen von einfachen motorischen Reaktionen bei Aplysia bis zu den automatischen und ohne größere Bewusstseinseinschaltung ablaufenden menschlichen Bewegungsmustern beim Spielen einer Beethoven-Sonate auf dem Klavier. Wenn ein Pianist jede einzelne Fingerbewegung bewusst induzieren müsste, würde von ihm niemals ein akzeptables Klavierkonzert zu hören sein. Statt sein Bewusstsein und damit seine Großhirnrinde zu aktivieren, greift er – wie alle Menschen und viele Tiere beim prozeduralen Gedächtnis – vor allem auf sein Kleinhirn zurück, in dem die Erinnerungen an die komplexen Bewegungsabläufe seiner Finger gespeichert sind. Neben dem unbewusst ablaufenden prozeduralen und impliziten verfügt der Mensch noch über ein bewusstes Gedächtnis, das auch als deklarativ oder explizit bezeichnet wird. Dieses Erinnerungsvermögen speichert Fakten und Ereignisse, die bewusst wiedergegeben werden können; manche nennen es deshalb auch das Wissensgedächtnis. Für seine Funktion greift dieses Gedächtnis anders als das prozedurale auf die Großhirnrinde des menschlichen ZNS zurück, wobei auch tiefer gelegene Bereiche des Gehirns (Hippocampus, limbisches System) an der Speicherung und Memorierung dieser Gedächtnisinhalte beteiligt sind. Das macht verständlich, warum emotionale Faktoren (die im limbischen System ihre neurobiologische
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Werkanalyse
Heimat haben) das bewusste Lernen und Erinnern respektive das Vergessen stark mitmodulieren. Das deklarative oder explizite Gedächtnis wird nochmals in zwei verschiedene Formen unterteilt: Das semantische Gedächtnis enthält die ganze Fülle der Daten und Fakten, die Menschen während ihres Lebens erlernen: die Namen von Ländern, Städten oder Flüssen, die Bezeichnungen für Tage und Monate, die mathematischen Grundrechenregeln, physikalische und chemische Formeln, geschichtlich Herausragendes oder auch die einzelnen Strophen und Verse von Friedrich Schillers Die Glocke. Das episodische Gedächtnis ist der zweite Bereich des deklarativen Gedächtnisses. Hier finden sich Erlebnisse, Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben, die eine stark emotionale Tönung aufweisen. Wenn das semantische Gedächtnis etwa dafür sorgt, die Schiller-Ballade fehlerfrei aufzusagen, so liefert das episodische Gedächtnis die psychosozialen Begleitumstände, die wichtig waren, als der Betreffende versuchte, das Gedicht auswendig zu lernen (z. B. Anspannung beim wiederholten Lesen, Freude und Stolz beim gelungenen Rezipieren vor der Klasse). Einschränkend muss jedoch betont werden, dass dabei keine eins zu eins Abbildung des Vergangenen erfolgt. Die Rekonstruktion der eigenen (wie auch der kollektiven) Geschichte muss oft genug als eine Konstruktion angesehen werden:
» Uns allen ermöglicht das explizite Gedächtnis, Raum und Zeit zu überspringen und Ereignisse und Gefühlszustände heraufzubeschwören, die zwar in der Vergangenheit verschwunden sind, aber in unserem Geist irgendwie fortleben. Doch wenn man eine Erinnerung episodisch abruft – egal, wie wichtig sie sein mag –, schlägt man nicht einfach ein Fotoalbum auf … Was das Gehirn speichert, ist nach allgemeiner Ansicht nur eine KernErinnerung. Beim Abruf aus dem Gedächtnis wird diese Kern-Erinnerung dann ausgearbeitet und rekonstruiert – nicht ohne Abzüge, Hinzufügungen, Ausschmückungen und Verzerrungen (Kandel 2007, S. 307).
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Die Unterscheidung in ein semantisches und episodisches Gedächtnis beim Menschen erinnert an die
Theorie Bergsons im Hinblick auf ein habituelles (semantisches) und reines (episodisches) Gedächtnis, die er in Materie und Gedächtnis (1896) erläuterte. Abgesehen davon, dass das reine Gedächtnis eigentlich zu Unrecht als rein bezeichnet und durch allerlei subjektive Modifikationen getrübt wird, bezog sich der Philosoph bei seinen Beschreibungen des habituellen Erinnerungsvermögens auch auf motorische Automatismen, welche die Neurowissenschaftler heute dem prozeduralen und nicht dem deklarativen Gedächtnis zuordnen. Kandel hat in Gedächtnis – Die Natur des Erinnerns (2009) gleichwohl zustimmend auf mögliche Parallelen zu den Konzepten des französischen Philosophen hingewiesen. Das deklarative Gedächtnis ist durchaus nicht nur beim Menschen zu finden. Die Primatenforschung der letzten Jahrzehnte hat anhand geschickt angelegter Experimente gezeigt, zu welch umfangreichen analog-deklarativen Gedächtnisleistungen beispielsweise Schimpansen in der Lage sind, obschon sie das Erinnerte nicht sprachlich ausdrücken können. Auch die Einteilung in ein Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis scheint konstant im gesamten Tierreich wie beim Menschen vorhanden zu sein. Das Kurzzeitgedächtnis, von dem Kandel nachgewiesen hatte, dass es auf einer Erhöhung der synaptischen Aktivität der beteiligten Neurone beruht, wird von heutigen Neurowissenschaftlern weiter in ein Ultrakurzzeit- oder sensorisches Gedächtnis sowie in das eigentliche Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis unterteilt. Die erstere Form speichert ihre Inhalte (vor allem visuelle und akustische Wahrnehmungen) Millisekunden lang; das Arbeitsgedächtnis kann Sekunden bis Minuten lang das Gespeicherte präsent halten. Sollen Kurzzeitgedächtnisinhalte darüber hinaus länger gespeichert werden, müssen sie in die Langzeitgedächtnisse überführt werden. Die dafür notwendigen strukturellen Umbauprozesse an den Synapsen und im Bereich der Zellkerne (genetische Veränderungen) entsprechen im Prinzip jenen Mechanismen, die Kandel zuerst an Aplysia und in modifizierter Form im Mausmodell gefunden hat. Dabei ist es hinfällig, ob es sich um prozedurale oder deklarative Langzeitgedächtnisinhalte handelt. Allerdings ereignen sich die verschiedenen
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Kapitel • Eric Kandel
molekularen Umbauprozesse jeweils an Neuronen unterschiedlicher Gehirnstrukturen (Hippocampus, Kleinhirn, Großhirnrinde). Alle Gedächtnisinhalte sind demnach – von Aplysia bis zum Menschen – in den Verbindungen der Nervenzellen, den Synapsen, niedergelegt. Je komplexer die erinnerten Inhalte sind, umso großartiger muss die zugrundeliegende synaptische Effizienz, Kompetenz und Plastizität der beteiligten Neuronennetzwerke sein. Bei Aplysia handelt es sich dabei um etwa 20.000 Nervenzellen – beim Menschen hingegen um ungefähr Hundert Milliarden Neuronen mit etwa fünfhundert Billionen Synapsen. Ausgehend von seinen Forschungen zum Gedächtnis wagte Kandel auch einige Aussagen zur Neurobiologie von menschlichem Geist und Bewusstsein. Hierzu äußerte er sich bedeutend vorsichtiger als zu seinen empirisch belegten Befunden zum Gedächtnis – wohl wissend, wie riesig die Dimensionen dieses Themas und verglichen damit wie begrenzt die bislang gesicherten Erkenntnisse der Neurowissenschaften sind. Im Hinblick auf die höheren geistigen Leistungen beim Menschen – neben dem Erinnern sind dies Denken, Sprechen, Vorstellen, Entwerfen, Wollen – schloss sich Kandel der Meinung der überwiegenden Mehrheit der Neurowissenschaftler an, die sich zusammen mit den meisten Philosophen des Geistes darin einig sind, dass das Bewusstsein aus dem materiellen Gehirn hervorgeht. Der inzwischen verstorbene Gehirnforscher John Eccles war in enger Abstimmung mit dem Philosophen Karl Popper einer der wenigen Vertreter aus der Zunft der Neurowissenschaftler, der einen dazu entgegengesetzten dualistischen Standpunkt vertrat. Wenn man eine monistische, reduktive und auf die Biologie bezogene Theorie des menschlichen Geistes und Bewusstseins entwirft, wird man rasch mit zurzeit noch nicht lösbaren Problemen und Fragen konfrontiert. So ist ungeklärt, wie es aus neurobiologischer Sicht zu jenem Hiatus im Menschen kommt, der Phänomene wie exzentrische Positionalität (Helmuth Plessner), Selbstbewusstsein und gedankliche Distanznahme zu sich und zur Welt ermöglicht:
» Welche Strategie wendet das Gehirn an, um sich selbst zu lesen? Diese Frage, für die Einheitlichkeit der bewussten Erfahrung von zentraler Bedeutung, ist bis heute eines der vielen ungelösten Rätsel der neuen Wissenschaft des Geistes (Kandel 2007, S. 330f.).
«
Als noch komplexer erachtete Kandel die Themen der Einheitlichkeit und Subjektivität des menschlichen Bewusstseins. An diesen beiden Fragen hat sich Francis Crick, der zusammen mit James Watson so elegant die Struktur der DNS (Doppelhelix) hatte aufklären können, einige Jahrzehnte seines Forscherlebens vergeblich abgemüht. Auch Kandel, der von den neurobiologischen Forschungen Cricks wie von seiner Persönlichkeit angetan war, musste eingestehen, dass es derzeit die Theoriebildung und die konkreten Untersuchungsmethoden der Neurowissenschaftler völlig überfordert zu erklären, wie die objektiven Neurone des menschlichen Gehirns subjektive Sinn- und Bedeutungszusammenhänge (die sogenannten »Qualia«) generieren. Als mindestens so diffizil ordnete Kandel das Phänomen des freien Willens beim Menschen ein. Bekannt geworden und viel diskutiert wurden die Experimente des Neurowissenschaftlers Benjamin Libet, der in den 80er Jahren nachweisen konnte, dass das Bereitstellungspotential für eine motorische Verrichtung (z. B. Handheben) 200 Millisekunden früher auftritt als jener Moment, welchen die betreffende Person als ihren freien Willen bewusst wahrnimmt und als solchen angibt. Kandel war zurückhaltend hinsichtlich ethischer oder anthropologischer Konsequenzen, die manche vorschnell aus Libets Ergebnissen ableiten wollten: »Wir können mitnichten auf die Gesamtheit der neuronalen Aktivität schließen, indem wir einfach ein paar neuronale Schaltkreise im Gehirn betrachten« (Kandel 2007, S. 418).
Conclusio An der Thematik des freien Willens haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten heftige Debatten entzündet, in die Neurowissenschaftler ebenso
Conclusio
wie Philosophen, Theologen, Juristen und Anthropologen viel Energie investierten, und die nicht selten Züge eines weltanschaulichen Kreuzzuges an sich trugen. Fast mochten die einen meinen, der Mensch verlöre seine Autonomie und Würde, wenn sich die Resultate von Libets Experimenten bestätigen sollten, indes die anderen davon ausgingen, dass man nach Libet das Strafgesetzbuch umschreiben müsse, da es erwiesenermaßen keinen freien Willen und damit keine Verantwortung des Menschen für sein Tun und Lassen gäbe. Darüber hinaus nahmen einige Neurobiologen, Wissenschaftler und Philosophen Libets Befunde und die sich daran entfachende Diskussion zum Anlass, über die Deutungshoheit hinsichtlich pädagogischer, psychologischer, ethischer und anthropologischer Fragen generell zu streiten. Die Beantwortung der Frage »Was ist der Mensch« sollte nur noch einer Disziplin überlassen werden, wobei sich nicht wenige Gehirnforscher anheischig machten, diese Rolle für sich zu reklamieren. Manche von ihnen erhoben ihre neurobiologischen Befunde in den Rang von Generalantworten auf existentiell bewegende Themen der Menschheit – von der nachlassenden sexuellen Attraktion in lang gehenden Partnerschaften über die Schwierigkeiten bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen bis hin zu den Gräueltaten von Schwerverbrechern. Dass es immer noch Einzelne gibt, welche die Conditio humana mit Begriffen wie Vernunft, Humanität und Freiheit in Verbindung bringen, wurde von ihnen nicht selten milde belächelt. Im Gegenzug diagnostizierten einige Geisteswissenschaftler und Philosophen ohne erkennbare Differenzierungsbemühung ganz allgemein an den Neurowissenschaften die Untugenden und geistig-intellektuellen Krankheitssymptome von Reduktionismus, Szientismus, Naturalismus und Materialismus. Damit waren zwar klare Fronten eröffnet, an denen jeder nach Bedarf sein Mütchen kühlen konnte; ein gegenseitiges Lernen und Verstehen jedoch war verunmöglicht. Die emotionale und ideologische Verve der Auseinandersetzung lässt vermuten, dass es womöglich fundamentale Fragen des Menschenbildes waren, die von den Protagonisten verhandelt wurden, ohne dass sie diese immer direkt beim
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Namen nannten. Kandel zum Beispiel meinte, dass die Neurowissenschaften mit ihren Forschungsergebnissen das Band zwischen Biologie und göttlich-religiöser Schöpfungsgeschichte endgültig zerschnitten haben, das unter anderem durch die Darwin‘sche Deszendenzlehre bereits merklich gedehnt worden war. In gewisser Weise ritten die Neurobiologen mit ihren Forschungsergebnissen auch Attacken gegen die menschliche Eitelkeit. Geist, Bewusstsein und Subjektivität als das Vollkommenste im Menschen wurde auf das Spiel einiger Milliarden Nervenzellen reduziert (»a pack of neurons« – so Francis Crick) und mit Formeln wie »nichts weiter als Biologie« einer Entzauberung anheim gestellt. Allein das Motto von der »Naturwissenschaft des Geistes« musste in den Ohren jener, die beim Begriff Geist an Hegel, Scheler und Nicolai Hartmann, nicht aber an Transmitter und Neurone denken, wie eine dissonante Zumutung klingen. Dabei ist der Gedanke, dass das gesamte menschliche Dasein mitsamt den wunderbaren geistig-kulturellen Fähigkeiten von »Homo sapiens sapiens« (eine Bezeichnung Carl von Linnés aus dem frühen 18. Jahrhundert) auf einer biologischen Basis ruht und aus ihr entspringt, nicht neu. Sätze wie »Gehirn und (personaler) Geist sind untrennbar« oder »alle (personalen) geistigen Prozesse sind biologischer Natur – sie hängen alle von organischen Molekülen und Zellprozessen ab, die sich buchstäblich in unserem Kopf vollziehen« (Kandel 2007, S. 12 u. S. 363) hätten sinngemäß auch schon von Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts stammen können. So gab der im Vorwort dieses Buches zitierte Georg Christoph Lichtenberg in Bezug auf den freien Willen des Menschen zu bedenken: »Ein Meisterstück der Schöpfung ist der Mensch auch schon deswegen, dass er bei allem Determinismus glaubt, er agiere als freies Wesen.« Noch konziser entwickelte Arthur Schopenhauer die Idee, dass es im Menschen eine unbewusste und im Körper wirkende Kraft (den Willen) gibt, die seine bewussten und angeblich freien Entscheidungen und Handlungen von vorneherein festlegt. Beim Philosophen heißt es: »Der Mensch kann tun was er will; er kann aber nicht wollen was er will.«
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Kapitel • Eric Kandel
In dasselbe Horn stieß Friedrich Nietzsche mit seiner Formulierung (in: Also sprach Zarathustra), dass das denkende und wollende Ich nur ein Etwas am Leibe sei, und dass Letzterer die ältere Vernunft bedeute. Dieses Credo übernahmen die meisten Tiefenpsychologen im 20. Jahrhundert und sprachen von unbewussten somatischen Bedürfnissen, Trieben und Antrieben, welche das Bewusstsein des Menschen determinieren. Und selbst jener Philosoph, der im 20. Jahrhundert Das Problem des geistigen Seins am tiefgründigsten beschrieben hat (Nicolai Hartmann), legte großen Wert darauf hinzuweisen, wie sehr der subjektive Geist des Einzelnen in seinen biologischen und seelischen Schichten verankert ist. So kann man sich nach einigen Jahrzehnten neurobiologischer Forschung und den davon ausgehenden heftigen Auseinandersetzungen um eine Anthropologie für das 21. Jahrhundert jenem witzig-nachdenklichen Kommentar anschließen, welchen der französische Molekularbiologe François Jacob vor einigen Jahren über das Wesen des Menschen abgegeben hat:
»
Wir sind eine zweifelhafte Mischung aus Nukleinsäuren und Erinnerungen, aus Begierden und Proteinen. Das zu Ende gehende Jahrhundert hat sich eingehend mit Nukleinsäuren und Proteinen beschäftigt. Das kommende wird sich auf die Erinnerungen und die Begierden konzentrieren. Wird es solche Fragen zu lösen vermögen (Jacob 1998, S. 198)?
«
Nimmt man diese Umschreibung ernst, bleibt auch in Zukunft die Aufgabe bestehen, das Wesen des Menschen sowohl aus einer natur- wie auch aus einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus zu erforschen und die jeweiligen Ergebnisse mit philosophischer Skepsis und Kritik aufeinander zu beziehen. Wer sich eindimensional nur auf die Seite der Proteine oder diejenige der Begierden schlägt, verfehlt den »kosmos anthropos« und reduziert den Menschen zu einem naturalistischen Ding oder einem spiritualistischen Schemen. Den Neurowissenschaften fällt dabei die Aufgabe zu, neben ihrer genuinen Forschung auch für adäquaten Transfer ihrer Ergebnisse in die menschliche Lebenswelt zu sorgen:
» Zudem wird die neue Biologie des Geistes mit dieser Agenda ihre zugeschriebene Rolle als natürliche Brücke annehmen zwischen den Geisteswissenschaften, die mit dem Wesen der menschlichen Existenz befasst sind, und Naturwissenschaften, die sich um die Natur der physischen Welt kümmern (Kandel 2006, S. 321).
«
Literatur Bieri P (2002) Das Handwerk der Freiheit – Über die Entdeckung des eigenen Willens (Erstveröff. 2001). Fischer, Frankfurt am Main Breidbach O (1997) Die Materialisierung des Ich – Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Suhrkamp, Frankfurt Hager M (2006) Der Geist bei der Arbeit – Historische Untersuchungen zur Hirnforschung. Wallstein, Göttingen Jacob F (1998) Die Maus, die Fliege und der Mensch – Über die moderne Genforschung. Berlin Verlag, Berlin Janich P (2009) Kein neues Menschenbild – Zur Sprache der Hirnforschung. Suhrkamp, Frankfurt am Main Kandel E (2006) Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 2005) Kandel E (2006a) Gene, Gehirne und das Selbstverständnis des Menschen (Erstveröff. 2001). In: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 2005) Kandel E (2007) Auf der Suche nach dem Gedächtnis – Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes (Erstveröff. 2006). Siedler, München Keil G (2007) Willensfreiheit. de Gruyter, Berlin Libet B (2007) Mind Time – Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 2004) Roth G (2009) Aus Sicht des Gehirns. Suhrkamp, Frankfurt am Main Singer W (2007) Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Suhrkamp, Frankfurt am Main Spitzer M (2005) Nervensachen – Geschichten vom Gehirn. Suhrkamp, Frankfurt am Main (Erstveröff. 2003) Squire LR, Kandel E (2009) Gedächtnis – Die Natur des Erinnerns. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg (Erstveröff. 2009)
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Abbildungsnachweis
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Abbildungsnachweis
Kapitel
Abb.-Nr.
Seite
Quelle
Edmund Husserl
1
4
Wikipedia http://dic.academic.ru/pictures/wiki/files/ 69/EdmundHusserl.jpg
Henri Bergson
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Wikipedia http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/ laureates/1927/bergson.html
Ernst Cassirer
1
32
Wikipedia http://www.memo.fr/Dossier.asp?ID=286
Nicolai Hartmann
1
46
akg-images
Martin Heidegger
1
60
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Jean-Paul Sartre
1
74
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Max Scheler
1
90
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Karl Jaspers
1
102
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Hans-Georg Gadamer
1
144
Philipp Rothe, Heidelberg
Simone de Beauvoir
1
158
Wikipedia; Archives Gallimard
Maurice Merleau-Ponty
1
172
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Sigmund Freud
1
188
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Alfred Adler
1
202
Stumm et al. 2005, Springer Wien
C. G. Jung
1
216
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Karen Horney
1
230
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Josef Rattner
1
244
privat
Ludwig Binswanger
1
260
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Viktor Emil von Gebsattel
1
272
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Viktor Frankl
1
296
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Ronald D. Laing
1
308
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Georg Groddeck
1
324
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Medard Boss
1
338
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Alexander Mitscherlich
1
352
akg-images
Thure von Uexküll
1
366
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Kurt Goldstein
1
382
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Viktor von Weizsäcker
1
396
Stumm et al. 2005, Springer Wien
Arthur Jores
1
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interfoto
Heinrich Schipperges
1
462
Philipp Rothe, Heidelberg
Eric Kandel
1
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Wikipedia, Flickr.com - image description page; Urheber: aquarius3
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Stichwortverzeichnis
G. Danzer, Wer sind wir? – Auf der Suche nach der Formel des Menschen, DOI 10.1007/978-3-642-16993-9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Stichwortverzeichnis
A Abraham, Karl* 189, 231, 272 Abwehr, zweiphasige 402 Achsenzeit 104, 110 Adenauer, Konrad* 91 Adler, Alfred* 13, 26, 41, 189, 196, 201, 216–218, 220, 226, 233, 236, 245, 251, 253, 267, 296–299, 304, 305, 308, 327, 333, 389, 398, 409, 411, 414, 416, 417, 425, 472 Adorno, Theodor W.* 70, 118, 326, 327, 360, 384 Adrian, Edgar Douglas* 481 Affekte 80, 83, 331, 345, 439, 440, 444 Aggression 189, 192, 198, 207 Aggressionstrieb 235 Aggressivität 207, 234 Agnosie 37 Aichhorn, August* 297 Aktionspotential 481 Aktzentrum 98, 279 Alain; Chartier, Émile* 438, 448 Alexander, Franz* 153, 231, 362, 369, 445, 450 Algren, Nelson* 160 aliénation 81 aliénés 314, 318 Allers, Rudolf* 204, 297, 409, 410 alloplastisch 356, 357 Allport, Gordon* 14 Altern 166, 169, 427, 428 Alterspolitik 168 Altersproduktivität 167 Althusser, Louis* 450 Altruismus 248 Ambiguität 174–176, 454 – gute 175 – schlechte 175 amor fati 138 Anamnese 355, 362 Anders, Günter* 6 Andreas-Salomé, Lou* 231, 272 Angst 66, 67, 234, 236, 237, 389–391, 444, 445 Angstabwehr 236 Angststörungen 192 Anima 220, 225 animal symbolicum 38, 42, 123, 391, 441 Animus 220, 225, 226 Anorexia nervosa 82 anthropologische Medizin 400, 402, 404 anthropologische Physiologie 443 anthropologische Proportion 267
anthropologische Vorannahmen 152 anthropologische Wende 133 Anthropozentrismus 182 Antilogik 404 Anti-Psychiater 315–318 Anti-Psychiatrie 310, 317 Antonowsky, Aaron* 302 Apel, Karl-Otto* 147 Aphasie 37 – motorische 479 – sensorische 479 Aplysia 477, 478, 482–484 Apraxie 37 Aquin, Thomas von* 440 Äquivalenzprinzip 401–403 Arbeitsgedächtnis 483 archäus 466 Archetypen 217, 219–221 Arendt, Hannah* 61–63, 103, 104, 130, 358 Aristoteles* 21, 49, 53, 137, 222, 411, 412 Aron, Raymond* 4, 74, 158, 448 Aspektdualismus 99 Aspektdualisten 401 Aspekte sinnlicher Wahrnehmung – gnostische 290 – pathische 290 assoziatives Gedächtnis 97 Ästhesiologie 291 Ataraxie 439 aufrechte Haltung 291, 441, 444 aufrechter Gang 120, 292, 443, 444 Augustinus* 132, 221 Ausdruckshandlung 413 Ausdruckskrankheiten 369 Ausdrucksmuster 442 Austrofaschismus 410 autoplastisch 356, 357 autoritäre Persönlichkeit 360 Avenarius, Richard* 9 Axiologie 92, 96, 251, 412 axiologisch 418 axiologische Kernaussagen 54 Axon 480
B Baader, Gerhard* 359 Babinski, Joseph* 456 Babinski-Reflex 456 Bachelard, Gaston* 28, 449 Bachmann, Ingeborg* 327 Bacon, Francis* 152 Baeck, Leo* 217
Balint, Alice* 231 Balint, Michael* 231, 467 Bally, Gustav* 339, 353 Barrett-Browning, Elizabeth* 266 Barth, Hans* 244 Basaglia, Franco* 315 Basisphänomene 38, 42 Bateson, Gregory* 310, 374 Bauer, Bruno* 133 Bayle, Pierre* 448, 453 Beaufret, Jean* 70 Bebel, August* 162 Bedeutung 106, 177, 182, 197, 211, 263, 290 – differente 287 – indifferente 287 Bedeutungsfunktion 36 Bedeutungshorizont 268 Bedeutungszusammenhänge 136 Bedeutungszuschreibung 287 Beethoven, Ludwig van* 205 belle indifférence 314 Benda, Julien* 28, 251 Benedetti, Gaetano* 286 Benedict, Ruth* 231, 232 Bereitstellungskrankheiten 369 Bereitstellungspotential 484 Bereitstellungsreaktionen 369 Bergmann, Ernst von* 367 Bergmann, Gustav von* 231, 367, 369, 384, 402, 411 Bergson, Henri* 17, 67, 124, 172, 174, 219, 252, 264, 275, 372, 376, 411, 429, 440, 448, 451, 482, 483 Bergsonismus 19, 20 Bernard, Claude* 452 Bernheim, Hippolyte* 189, 190 Bertalanffy, Ludwig von* 343, 374, 443 Bewusstes 196, 197 Bewusstsein 181, 191, 193, 477, 484–486 Bewusstsein, inkarniertes 180 Bewusstseinsakte 268 Bildungswissen 95, 100 Binding, Karl* 399 Binet, Alfred* 276 Binswanger, Ludwig (der Ältere)* 260, 266 Binswanger, Ludwig (der Jüngere)* 14, 60, 196, 260, 266, 273–275, 284, 285, 288, 298, 338, 353, 362, 411 Binswanger, Otto* 260 Binswanger, Robert* 260 biographische Medizin 398, 405 Biokybernetik 366
491
Stichwortverzeichnis
biologisches Mängelwesen 205 Bion, Wilfred* 309 biopsychosoziale Bedeutungen 374 biopsychosoziale Einheiten 375 biopsychosoziale Komplexität 376 biopsychosoziale Wachstumsprozesse 374 biopsychosoziales Geschehen 370 biopsychosoziales Konzept 375 biopsychosoziales Menschenbild 368, 375 biopsychosoziales Wesen 371 biopsychosoziospirituelles Modell 377 Bios 50, 279, 299, 301 Biose 402, 403 Biosemiotik 366 biperspektivischer Zugang zum Patienten 125 Bisexualität 208 Bismarck, Otto von* 324 Bjerre, Poul* 272 Blankenburg, Wolfgang* 286 Bleuler, Eugen* 216, 245, 260, 261, 272, 284, 312, 338, 462 Bleuler, Manfred* 245, 462, 463, 472 Bloch, Ernst* 92, 107, 292, 443 Boehm, Felix* 231 Bolk, Louis* 247 Bölsche, Wilhelm* 116 Bondy, Toni* 32 Bonhoeffer, Karl* 231, 284 Boss, Medard* 14, 60, 62, 153, 231, 260, 277, 298, 311, 326, 337, 353, 362, 443 Bourdieu, Pierre* 450 Bowlby, John* 240 Brandes, Georg* 469 Bräutigam, Walter* 274, 286 Brentano, Clemens* 411 Brentano, Franz* 4, 13, 77, 263 Breton, André* 163 Breuer, Joseph* 189, 260, 325 Broca, Pierre-Paul* 388, 479 Broca-Aphasie 480 Broca-Areal 480 Brod, Max* 91 Brodmann, Korbinian* 387, 480 Brown, John* 451 Browning, Robert* 262, 266 Brücke, Ernst von* 375 Bruckner, Josef Anton* 205 Brugsch, Theodor* 411 Brunschvicg, Léon* 172
Buber, Martin* 92, 109, 136, 244, 253, 262, 265, 298, 308, 311, 384, 398 Büchner, Georg* 476 Buddha 99, 110 Bühler, Charlotte* 297, 416 Bühler, Karl* 153, 174 Bultmann, Rudolf* 145, 147 Burckhardt, Jacob* 104 Buytendijk, Frederik J. J.* 13, 69, 92, 117, 136, 285, 435
C Camus, Albert* 75, 159, 165, 174, 305, 306, 309 Canguilhem, Georges* 447 Cannon, Walter B.* 369, 440 Carlyle, Thomas* 40 Carnap, Rudolf* 6 Carus, Carl Gustav* 190, 327, 451 Caruso, Igor* 274 Cassirer, Bruno* 32 Cassirer, Ernst* 14, 23, 31, 61, 123, 174, 249, 252, 262, 284, 366, 376, 377, 382–385, 391, 396, 410, 448, 453 Cassirer, Fritz* 32 Cassirer, Paul* 32 Cassirer, Richard* 32, 284 causa causalis 198 causa finalis 198 Cavaillès, Jean* 448, 449 Cézannes, Paul* 174 Chamberlain, Houston Stewart* 40 Char, René* 62 Charcot, Jean-Martin* 189, 190 Chartier, Émile; Alain* 448 Chiasmus 412 Chiffre 104, 109 Christian, Paul* 90, 136, 286 Claudel, Paul* 163 Cogito 8, 65, 78, 334 Cohen, Hermann* 32, 46, 61, 396 Cohn, Ruth C.* 48 Common Sense 203, 206, 211, 212, 253, 269 Comte, Auguste* 451, 481 Condrau, Gion* 340 Conrad, Theodor* 91 Conservation-and-withdrawal 357 Cooper, David* 310 Crick, Francis* 484, 485 Curtius, Ernst Robert* 33, 92, 144
A–D
D Darstellungsfunktion 36 Darwin, Charles* 20, 124, 191, 205, 211, 247, 263, 439, 476, 485 Dasein 63, 65, 344, 347, 466 Daseinsanalyse 262, 270, 277, 339, 340, 347 Daseinsanalytiker 153 Daseinseinigung 277, 341 Daseinsmehrung 277, 341 de Beauvoir, Simone* 19, 74–76, 157, 172–174, 233, 437, 438 de Gaulle, Charles* 76, 449 de Lamarck, Jean Baptiste* 20 de Saussure, Ferdinand* 174 Deleuze, Gilles* 315 Demosthenes 205 Dendrit 480 Denkhemmung 304 Denktypen 222 Depersonalisation 293, 313 Depression 192, 269 Derealisation 293 Dereflexion 304 Derrida, Jacques* 450 Descartes, René* 6, 68, 119, 174, 180, 288, 289, 370, 374, 411, 412, 453, 455, 456 Destrudo 94, 192, 193, 235, 236 Deus sive natura 138 Deutsch, Felix* 369, 384 Deutsch, Helene* 231, 233 Devereux, Georges* 315 Dezentrierung 387, 389 dialogische Philosophie 109, 265 Diderot, Denis* 80, 453 Dilthey, Wilhelm* 5, 21, 33, 48, 62, 63, 90, 103, 105, 130, 135, 144, 147–149, 177, 202, 248, 262, 264, 285, 311, 312, 324, 372, 376, 415 Dionysos 223 Dix, Otto* 92 Döderlein, Albert* 408, 422 Doerr, Wilhelm* 464 Dollfuß, Engelbert* 410 Dos Passos, John* 159 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch* 438 double bind 310 doxa 10, 11 Drehtürprinzip 405 Dreikurs, Rudolf* 297, 304 Driesch, Hans* 97, 103, 116, 117, 121, 330, 343, 397, 436, 451 Dubois-Reymond, Emil* 375 durée 20, 22–24, 252, 482
492
Stichwortverzeichnis
Durkheim, Émile* 18, 19 Durrell, Lawrence* 327
E Eberhardt, Margarete* 425 Eccles, John* 481, 484 Eckhart, Johannes von Hochheim (Meister Eckart)* 70 Edinger, Ludwig* 382–384 Ehrenfels, Christian von* 411 eidetische Wissenschaft 8 Eigentlichkeit der Existenz 346 Einstein, Albert* 19, 92, 384, 385, 411 Eitingon, Max* 231 Ekel 78 élan vital 20, 22, 219, 429 Elias, Norbert* 6, 384 Emotionen 80, 93 – Liebe 93 – Mitfreude 93 – Mitgefühl 93 – Mitleid 93 Empathie 312 Empedokles* 330 Empfindungstypen 222 engagierte Literatur 160 Engel, George* 357 Engelhardt, Dietrich von* 463, 472 Engels, Friedrich* 133, 162, 253, 418 Ens amans 93, 96 Ens astrale 466 Ens hermeneuticum 248 Ens naturale 466 Ens spirituale 466 Ens veneni 466 Entfremdung 81, 238, 312 Entpersönlichung 311 Entwicklungshomosexualität 417 Entwicklungslehre 416 Entwicklungspsychologie 172 Epikur 53 Epimetheus 223 Epoché 8 Erasmus von Rotterdam* 104, 246, 465 Erikson, Erik H.* 240, 354 Erinnerung 354, 361, 362 Erinnerungsarbeit 358, 361 Erkenntnistheorie 5, 47, 49, 175 Erlösungswissen 95 Eros 192, 196, 212, 236, 416, 417 Erröten (Scham) 125 Es 193, 194, 196, 198, 232, 236, 326–334 Es-denkt 470
Es-Psychologie 326 Essenz 9, 79 Esterson, Aaron* 310 Ethik 48, 53, 91, 96 – utilitaristische 53 – materiale 95 Ethos, humanitäres 111 être brut 182 Eucken, Rudolf* 90 Euthanasie 399 Evidenz 8 Exhibitionismus 277 Existentiale 65, 261, 264, 265, 299, 343, 344, 346, 347 Existentialismus 13, 29, 55, 75, 134, 159, 161, 301 existentielle Psychoanalyse 76, 83, 196 Existenz 64, 65, 79, 80, 107, 109, 148, 264, 300, 303, 305, 314, 344–346, 348, 425, 466 Existenzanalyse 298–304 Existenzerhellung 103, 104, 107–109, 112 Existenzphilosophie 21, 55, 103, 196, 212, 264, 268, 300, 308, 313, 339, 340, 343, 347, 376 Existenzvermittlung 112 Existenzweise 274 – exzentrische 430 – zentrische 430 Extraversion 217, 222, 223 Extraversionsneurose 223 exzentrische Positionalität 122, 126, 484 Ey, Henry* 443
F falsches Selbst 238–241 Faschismus 40, 204, 217, 221, 291, 317, 327, 358, 359, 362, 392, 473 Faulkner, William* 159 Fechner, Gustav Theodor* 124 Federn, Paul* 13, 272 Feminismus 163 Fenichel, Otto* 338 Ferenczi, Sándor* 189, 235, 272, 325–327, 416 Fernsinne 119, 292, 444 Fetischismus 276 Feuchtersleben, Ernst Maria Johann Karl Freiherr von* 472 Feuerbach, Ludwig* 46, 133, 135, 152, 247, 253, 265, 418, 429 Fichte, Johann Gottlieb* 48, 62, 99, 130, 133, 324
Fight-and-flight 357, 439 Fiktion 206, 211 Finalität 52, 198, 203, 425 Fink, Eugen* 6, 61 Flanders Dunbar, Helen* 153, 369 Fließ, Wilhelm* 208 Fließgleichgewicht 374 Foerster, Heinz von* 374 Foucault, Michel* 315, 450 Foudraine, Jan* 315 Foulkes, S. H.* 309, 384 Franco, Francisco* 40 Frank, Leonhard* 261 Frankfurter Schule 118 Frankl, Viktor* 14, 204, 281, 295, 409, 410 Franklin, Benjamin* 248 Frege, Gottlob 4 freier Wille 484, 485 Freiheit 20, 55, 78, 108–110, 264, 300, 301, 332, 333, 355, 403, 404, 444, 445 Freiheitsgrade 332, 333, 355, 356, 371 Freud, Anna* 476 Freud, Sigmund* 13, 24, 26, 41, 52, 77, 83, 94, 99, 106, 124, 153, 162, 164, 174, 187, 203, 204, 207–210, 216–221, 226, 230–234, 236, 238, 247, 252, 260–263, 267, 272, 276, 281, 285, 286, 296, 298, 299, 304, 305, 311, 317, 318, 325–327, 329, 330, 333, 338–340, 342, 344, 353, 354, 356, 358, 360, 361, 367, 369, 383, 384, 389, 397, 398, 411, 414, 416, 428, 429, 443–445, 450, 472, 476, 477, 481, 482 Friedländer, Paul* 145 Frigidität 233 Frisch, Max* 81 Fritsch, Gustav* 388 Fromm, Erich* 230–232, 238, 342, 384, 427 Fromm-Reichmann, Frieda* 230, 231, 385, 387 Fühltypen 222 funktionelle Pathologie 367 Funktionen 96, 441 – irrationale 222 – rationale 222 Funktionskreis 120, 121, 366, 370, 371, 373–375 Funktionskreismodell 368, 370 Fürsorge 65, 346 – einspringend beherrschende 65 – vorspringend befreiende 65
493
Stichwortverzeichnis
G Gadamer, Hans-Georg* 5, 6, 47, 61, 63, 130, 132, 140, 143, 248, 372, 376 Galen* 465, 471 Galilei 6 Gall, Franz Joseph* 387, 479 Gay, Peter* 188 Gebsattel, Viktor Emil von* 62, 90, 231, 249, 268, 271, 284, 285, 340, 341, 437, 443, 450 Gebser, Jean* 429 Gedächtnis 22, 24, 28, 197, 251, 289, 362, 481, 482, 484 – assoziatives 97 – bewusstes 482 – deklaratives 482, 483 – episodisches 483 – explizites 251, 252, 482, 483 – habituelles 24, 29 – habituelles (semantisches) 483 – implizites 251, 252, 482 – prozedurales 482, 483 – reines 24, 29, 483 – reines (episodisches) 483 – semantisches 483 – sensorisches 483 – unbewusstes 482 Gedächtnisart – prozedural 482 – unbewusst 482 Gehlen, Arnold* 205 Geiger, Moritz* 13, 91, 130, 144, 284 Geist 38, 50, 98, 195, 196, 212, 300, 429, 485 – absoluter 51 – objektiver 51, 52 – objektivierter 51, 52 – personaler 51, 52 – subjektiver 51 Geistigkeit 50, 100, 300, 301, 442, 468 Gelb, Adhémar* 172, 177, 383, 384 Gemeinschaftsgefühl 203, 206, 207, 210–212, 253 Genet, Jean* 159 Geschichte 198, 344, 361, 362, 468 Geschichtlichkeit 68, 287, 288, 355, 361, 467 Geschichtskonzept, zyklisches 134 Geschichtsschreibung 358, 362 Geschlechtlichkeit 161, 169 Geschmack 149 Gestalt 177, 178, 388 Gestalt, prägnante 287 Gestaltgedanke 282 Gestaltkreis 398–400 Gestaltniveau 386, 387, 390, 392
Gestaltpsychologie 172, 177, 279, 306, 387, 389, 392, 400, 441 Gestaltwerdung 387 Gesundheit 154, 192, 196, 209, 278, 281, 297, 309–311, 316, 340, 342–346, 355, 356, 358, 369, 385, 388, 390, 401, 403, 404, 411, 415, 426, 451–454, 466, 468–471 – individuelle 454 Gesundheit, große 471 Gesundheitsbegriff 196, 331, 344 Gewissen 301 – existentielles 66 – vulgäres 66 Giacometti, Alberto* 159 Gide, André* 20, 28, 74 Giese, Hans* 410 Glasersfeld, Ernst von* 374 Gobineau, Joseph Arthur Graf de* 40 Goebel, Karl Ritter von* 130 Goethe, Johann Wolfgang von* 7, 33, 38, 41, 120, 133, 135, 140, 191, 195, 251, 262, 263, 266, 289, 325, 385, 392, 438, 467 Goffman, Erving* 315 Gogol, Nikolai* 27 Goldhagen, Daniel* 359 Goldstein, Kurt* 13, 14, 32, 34, 35, 37, 172, 177, 232, 338, 398, 411, 413, 441, 443, 453, 456 Goll, Claire* 90 Graf Keyserling, Hermann* 92 Graf, Oscar Maria* 70 Grassi, Ernesto* 61, 369 Grenzsituation 104, 108, 110 Grey, Walter* 456 Griesinger, Wilhelm* 105, 317, 369 Groddeck, Georg* 153, 193, 219, 231, 323, 362, 369, 451, 470 Großgruppentherapie 245, 246, 253, 254 Gruen, Arno* 315 Grundangst 234, 236–239 Grundfest, Harry* 477 Grundfunktionen 222, 291 Gründgens, Gustav* 261 Grundkonflikt 236, 237 Guardini, Romano* 92, 273 Gurwitsch, Aron* 13, 173, 384–386, 392
H Habermas, Jürgen* 147 Haeckel, Ernst* 116, 423
D–H
Hahnemann, Christian Friedrich Samuel* 451 Haley, Jay* 310 Hall, Marshall* 455 Haller, Albrecht von* 451 Halluzinationen 179 Haltungen 442, 443 Haltungsaspekte 442 Hamann, Richard* 144 Harich, Wolfgang* 48 Hartmann, Heinz* 13, 240, 411, 476 Hartmann, Nicolai* 13, 45, 61, 82, 92, 117, 130, 144, 145, 244, 249–251, 266, 299, 300, 376, 396, 412, 429, 443, 485, 486 Hawkin, Stephen* 479 Head, Henry* 373 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich* 47, 48, 51, 55, 62, 77, 80, 99, 130, 133, 139, 164, 173, 262, 264, 411–413, 458, 485 Heidegger, Martin* 6, 12, 13, 40, 47, 59, 77, 79, 82, 97, 103, 120, 130, 135, 139, 144, 145, 148, 149, 234, 244, 249, 250, 261, 262, 264–266, 268, 270, 273, 275, 298, 299, 308, 310, 338–340, 343, 344, 346, 347, 376, 389, 405, 410, 438, 448 Heilkunde, personale 100, 377, 432 Heimsoeth, Heinz* 46 Hemingway, Ernest* 159 Hemmung des Werdens 276 Heraklit* 137 Herder, Johann Gottfried von* 133, 205, 247, 249, 438, 467 Hermaphroditismus 208 Hermeneutik 63, 106, 126, 144, 147, 149, 248, 264, 372, 376 – der Begrenzung und Endlichkeit 150 – der Existenz 152 Hermeneutiker 197, 372 hermeneutische Aufgabe 154 hermeneutische Erfahrung 151 hermeneutischer Zirkel 148, 248 Herrschaftswissen 95, 100 Hersch, Jeanne* 104 Heyer, Gustav Richard* 409 Hicklin, Alois* 340 Hildebrand, Dietrich von* 91 Hildegard von Bingen* 462, 463, 471, 472 Hippocampus 477, 478, 482 Hippokrates* 450, 465, 471 Hispanus, Petrus* 463 historischer Materialismus 162 Hitzig, Eduard* 388 Hoche, Alfred Erich* 382, 399
494
Stichwortverzeichnis
Hodgkin, Alan* 481 Hofmannsthal, Hugo von* 266 Holbein der Jüngere* 465 Hölderlin, Friedrich* 70 Holzhey-Kunz, Alice* 340 Homo absconditus 126 Homo faber 248, 441 Homo libidinalis 195, 196, 236 Homo ludens 441 Homo natura 196, 262, 263 Homo patiens 425, 467 Homo sapiens 196, 247, 291, 293, 299, 306, 361, 362, 376, 392, 416, 428, 467 Homo sapiens sapiens 485 Homöostase 451, 452 Horkheimer, Max* 118, 326, 360, 384, 392 Horney, Karen* 314, 325, 326, 338, 385 Hufeland, Christoph Wilhelm* 212, 451, 471, 472 Huizinga, Johan* 437 Humanismus 12, 84, 168 humanitäres Ethos 111 Humanität 139, 140, 198, 362 Humboldt, Alexander von* 133 Humboldt, Wilhelm von* 133 Humor 25 Humoralpathologie 450, 451 Husserl, Edmund* 3, 21, 47, 49, 60, 61, 70, 74, 77, 82, 91, 106, 116, 130, 145, 159, 168, 173, 261–264, 268–270, 273, 275, 284, 285, 293, 366, 376, 384, 386, 411, 436, 437, 448, 457, 458 Huxley, Andrew* 481
I Ibsen, Henrik* 206, 237, 267 Ich 193, 194, 196, 198, 232, 236, 329 Ich-Du 311 Ich-Es 311 Ich-Ideal 360 Ich-Psychologie 209, 326 Ich-Schwäche 360 Ich-selbst-Sein 346 Ich-Stärke 194, 198 Ich-Triebe 192 idealisiertes Selbst 237, 239, 240 Identität 22, 28, 38, 252, 361, 390, 392, 482 Ideologiekritik 152, 253, 306, 457 ikonische Zeichen 371, 372 Immanenz 163
In-der-Welt-Sein 65 indexikalische Zeichen 372, 373 Individualität 250, 251 Individuation 221, 223–226 Individuationsprozess 224 individuelle Gesundheit 454 inkarnierter Geist 314 inkarniertes Bewusstsein 180 Instinktentbundenheit 98, 249 integrierte Psychosomatik 367, 368 Intentionalität 4, 77, 180, 263, 268, 345, 412, 413, 425 Introversion 217, 222, 223, 225 Introversionsneurose 223 Intuition 9, 20, 149 – präzise 21 Intuitionstypen 222
J Jackson, Don D.* 310 Jacob, François* 486 Jacobson, Roman* 174 Jacoby, Jolande* 245 James, William* 14, 19 Janet, Pierre* 216 Jaspers, Karl* 14, 60, 62, 63, 68, 101, 146, 262, 268, 278, 285, 298, 308, 310, 353, 376, 411, 438, 472 Jaurès, Jean* 18 Jean Paul* 25, 192, 467 Jonas, Hans* 6, 61, 130 Jones, Ernest* 188, 232, 272, 338 Jores, Arthur* 153, 369, 444, 450 Jung, C. G.* 13, 189, 196, 204, 245, 260, 272, 278, 284, 286, 298, 305, 314, 327, 338, 339, 342, 414, 472 Jünger, Ernst* 352, 353 Junghegelianer 133
K Kafka, Franz* 159 Kahane, Max* 189, 203 Kandel, Eric* 334, 361, 475, 487 Kant, Immanuel* 34, 39, 41, 47, 49, 53, 61, 68, 90, 95, 109, 125, 130, 133, 202, 252, 327, 328, 384, 396, 397, 404, 411, 422, 448, 453, 458 Kardiner, Abraham* 232 Kastrationsangst 276 Kastrationskomplex 233 Katastrophenreaktionen 389–392
Katz, Bernard* 481 Kausalität 50, 198, 425 Kayser, Charles* 449 Keller, Wilhelm* 244 Kerekjarto, Margit von* 422, 423, 431 Kerényi, Karl* 218 Kerschensteiner, Gustav* 97 Keyserling, Hermann Graf* 326 Kierkegaard, Sören* 108, 130–133, 181, 230, 234, 240, 281, 308–310, 389, 444 Kirchner, Ernst Ludwig* 261 Klages, Ludwig* 21, 97, 99, 124, 195, 342, 390 Klee, Ernst* 359 Klee, Paul* 39 Klein, Melanie* 231, 309 Klemperer, Victor* 40 Klopstock, Friedrich Gottlieb* 324 Koch, Robert* 450 Koestler, Arthur* 249 Koffka, Kurt* 13, 177, 383, 437 Kohärenz 444, 445 Kohärenzgefühl 302, 303 Kohärenzverlust 444, 445 Köhler, Wolfgang* 13, 92, 98, 177, 383, 384, 411, 437 Kohut, Heinz* 240 Kojève, Alexandre* 173 kollektives Unbewusstes 220, 221 Kommunikation 153, 371 – sympathetische 293 Konfuzius 110 Konstruktivismus 366, 368 Kopernikus* 191, 247 Körperbild 373 Körper-Haben 122 Körperhaltung 441, 444 Körperschema 373 Körperselbst 373 Körpersprache 208 kosmos anthropos 486 Kraepelin, Emil* 273, 284 Krankheiten 83, 154, 153, 182, 192, 209, 225, 226, 278, 279, 342, 345–348, 355–357, 362, 367, 391, 281, 287, 296, 297, 310, 311, 316, 318, 340, 343–345, 354–356, 358, 369, 373, 385, 388, 390, 401, 403, 404, 411, 414, 415, 425, 426, 427, 428–430, 450–454, 466, 467–471 Krankheitsbegriff 331, 344 Krankheitsgeschichte 362 Krankheitsgewinn – primärer 194 – sekundärer 194, 207
495
Stichwortverzeichnis
Krankheitskonzepte 373 Kraus, Friedrich* 411 Krauss, Werner* 145 Krehl, Ludolf von* 369, 397, 398, 411 Kretschmer, Ernst* 153, 217, 369, 411 Kries, Johannes von* 396 Kris, Ernst* 240, 476 Kris, Marianne* 476 Krisen 401–404, 426 Kronfeld, Arthur* 409 Kropotkin, Peter* 202 Krüger, Gerhard* 61, 145 Kudlien, Fridolf* 359 Kuffler, Stephen* 481 Kuhn, Roland* 286 Kuhn, Thomas S.* 375, 450 Kultur 35, 38, 51, 120, 195, 196, 198, 205, 233, 248, 252, 413, 418 Kulturanalyse 13 Kulturarbeit 246, 252, 413 Kulturgeschichte 39, 252, 253, 361 Kulturkritik 253, 306 Künkel, Fritz* 204, 231, 409 Kunst 39, 79 Kunz, Hans* 90, 197, 340, 341, 354 Kurzzeitgedächtnis 478, 483 Kybernetik 370
L l’homme machine 288 la durée 22 La Fontaine 239 Lamettrie, Julien Offray de* 288, 375, 451 Lacan, Jacques* 13 Lachen 25, 26, 28, 123, 124 Lagache, Daniel* 448 Laing, Ronald D.* VIII, 14, 240, 286, 307–319 Lamarck, Jean-Baptiste de* 205 Landauer, Karl* 384 Landgrebe, Ludwig* 6 Landmann, Michael* 249, 415 Langer, Susanne* 34 Langeweile 67, 68 Langzeitgedächtnis 478, 483 Laotse 93, 110 Lashley, Karl* 385 Lawrence, D. H.* 163 Le Bon, Gustave* 250 le temps 22 Lebensfunktion (Biologie) 264
Lebensgeschichte (Biographie) 154, 264, 287, 361 Lebensirrtum 206 Lebenslüge 206 Lebensphilosophie 18, 19, 172, 202, 205, 376 Lebensschwungkraft 22, 429 Lebensstil 203, 210, 212, 333 Lebenswelt 6, 9, 10, 179, 285, 313, 371, 373, 457, 486 lebensweltliches Apriori 6, 10 Lebenswissenschaften 9 Leib 82, 175, 180–182, 197, 122, 314, 328, 329, 472 Leibniz, Gottfried Wilhelm* 21, 190, 438, 453, 458 Leib-Seele-Dualismus 330 Leib-Seele-Problem 205, 369, 370, 373, 401, 423 Leonardo da Vinci* 195 Leriche, René* 452 Lévinas, Emmanuel* 6, 23, 61 Lévy-Strauss, Claude* 158, 172 Lewin, Kurt* 13, 384 Libet, Benjamin* 334, 484, 485 Libido 94, 193, 195, 208, 218–220, 222–224, 232, 235, 236 – narzisstische 192 Libidoquanten 196, 263 Libidotheorie 84 Lichtenberg, Georg Christoph* 250, 327, 470, 485 Lichtwitz, Leopold* 422 Liebe 94, 161, 265, 266, 270, 416, 417 Liébeault, A. A.* 189 liebender Blick 82 Liebling, Friedrich* 245 Linkshegelianer 131, 418 Linné, Carl von* 39, 485 Lipps, Theodor* 5, 13, 272, 284 Literatur – engagierte 160 Locke, John* 119 Loewenstein, Rudolph* 240, 476 Logos 50, 299, 300, 303, 429 Logotherapie 281, 297–299, 301–304 Lokalisationstheorie 387, 480 Lorenz, Konrad* 207 Löwenthal, Leo* 384 Löwith, Karl* 6, 61, 62, 69, 70, 97, 129, 144–146, 244, 262, 265, 346, 410 Löwy, Ida* 297 Luther, Martin* 147
H–M
M Mach, Ernst* 9, 396 Maheu, René* 74 Maimonides* 463 Makrokosmos 467 Man 66, 346 Mängelwesen 247 Manie 269 Manieriertheit 267 Mann, Thomas* 261 Mann-Frau-Beziehung 161 Mannheim, Karl* 384 männlicher Protest 203, 206, 208, 233 Marcel, Gabriel* 13, 28, 70, 298, 437, 443 Marcuse, Herbert* 6 Martius, Hedwig* 91 Marx, Karl* 130, 133, 152, 162, 202, 248, 253, 308, 418, 429 Marxismus 75, 161 Masaryk, Tomas* 4 Maschinenmodell 288, 375, 376 Maslow, Abraham* 232, 240, 387 materiale Ethik 95 materiale Wertethik 91 Matisse, Henri* 272 Maturana, Humberto* 374 mauvaise foi 80 May, Rollo* 14, 240, 286 Mead, Margaret* 231 Medical Humanities 464 Medizin 154 – anthropologische 400, 402, 404 – biographische 398, 405 – personale 431 Meister Eckhart* 70 Meng, Heinrich* 326, 384 Menninger, Karl* 231 Menschenbild 263, 299 – biopsychosoziales 368 Menschenkenntnis 210, 211 menschliche Krankheiten 425– 427, 428 Merken 35, 36, 120, 366, 370, 371 Merkorgane 366 Merkwelt 38 Merleau-Ponty, Maurice* 11, 13, 19, 23, 56, 74, 75, 82, 117, 158, 165, 171, 305, 306, 310, 314, 376, 385, 392, 412, 437, 438, 443, 448, 453, 454, 456, 458, 472 Mesmer, Friedrich Anton* 451 Metaphysik 68, 109, 137 – allgemeine 49 – spezielle 49
496
Stichwortverzeichnis
Metapsychologie 193, 196 Michelangelo* 195 Michelet, Jules* 19 Mielke, Fred* 353, 358, 359 Mikrokosmos 467 Milieu 388, 390 Mill, John Stuart* 53 Miller, Henry* 327 Minder, Robert* 70 Minderwertigkeitsgefühle 203, 206, 209, 210 Minkowski, Eugène* 14, 23, 252, 253, 268, 273–275, 284, 285, 443 Mitmenschen 136, 179, 248 Mitscherlich, Alexander* 351, 367, 399, 402, 405 Mit-Sein 65, 346, 347 Mit-Werden 253 Möglichkeitssinn 249 Moltke, Helmut James von* 273 Momente der Wahrnehmung – gnostische 290 – pathische 290 Monismus 330 monistischer Standpunkt 219 monistisches Menschenbild 224 Monod, Jacques* 23 Montagu, Ashley* 232 Montaigne, Michel Eyquem de* 140, 308 Montherlant, Henri de* 163 Moral 91 – geschlossene 27 – offene 28 Moralisten 99 Morgagni, Giovanni Battista* 451 Moritz, Karl Philipp* 327 motorische Aphasie 479 Mounier, Emmanuel* 412 Müller, Johannes* 455 Müller-Braunschweig, Karl* 230, 240 Musil, Robert* 181 Mussolini, Benito* 40, 217 Mythos 36, 40, 163
N Nahsinne 119, 292, 444 Napoleon, Bonaparte* 210, 452 Narzissmus 81, 164, 192, 232, 235, 236, 346 – primärer 235 – sekundärer 235 Natorp, Paul* 4, 32, 46, 61, 130, 144, 396
nature and nurture 318 nature or nurture 318 natürliche Künstlichkeit 122 Naunyn, Bernhard* 396 Neomarxismus 55 Neukantianer 32, 206 Neukantianismus 32, 202, 376, 396 Neumann, Erich* 429 Neuron 480, 481 Neuronenlehre 480 Neurosen 26, 205, 207, 209, 210, 232, 234, 238, 240, 275, 402 Neurosen, noogene 302 Neurosenmodell 278 neurotischer Stolz 239, 240 Newton, Isaac* 21, 287 Nichten 79 Nichts 77, 79 Niebuhr, Reinhold* 131 Niekisch, Ernst* 352, 353 Nietzsche, Friedrich* 21, 24, 38, 53, 68, 70, 90, 91, 95, 99, 104, 108, 126, 130, 131, 134, 135, 138–140, 152, 175, 193, 202, 203, 205–207, 209, 212, 223, 225, 248, 252, 260, 262, 269, 308, 309, 324, 326, 328–330, 332, 333, 361, 376, 405, 418, 422, 429, 438–440, 453, 454, 458, 463, 464, 469, 471, 472, 482, 486 Nihilismus 277, 280 Nijinski, Waclaw* 261 Nijinsky, Vaslav* 309 Nissl, Franz* 102, 105 Nizan, Paul* 74, 158, 448 Noosphäre 429 Norm 276, 388, 415, 452 Normabweichung 415 Normalität 452 Normativität 452, 453 Novalis* 327, 463, 464, 467–469, 471, 472 Numinose 219, 279, 304
O Oberflächen-Ich 23 objektiver Geist 36, 52, 252 objektivierter Geist 52, 252 Objektlibido 192 Ödipus 360 Ödipuskomplex 208, 232, 235, 340 Ödipuskonflikt 360 ökologische Nischen 366, 371, 387 Ontologie 48, 49, 63, 77, 137, 265, 344, 376, 466 ontologische Unsicherheit 313, 314
Oppenheim, Hermann* 231, 382 Ordnung 177, 178, 387, 388 Ordo amoris 96 Organdialekt 42 Organisationsform – geschlossene 121 – offene 121 Organismus 386–391, 466, 470–472 Organjargon 209 Organminderwertigkeit 251 Organsprache 42, 209 Ortega y Gasset, José* 244 Overbeck, Franz* 104, 140
P Pädagogik 97, 212 Panofsky, Erwin* 33, 34 Pappenheim, Bertha* 260 Paracelsus* 224, 318, 451, 463–467, 471, 472 Paradigma 375, 376 Paraphilien 277 Partialtriebe 340, 341 Pascal, Blaise* 109, 132, 438, 440 Pathisches 404 pathisches Pentagramm 403 Pathodizee 298 Pathogenese 424, 425 Pathologie, funktionelle 367 Patriarchat 163, 211, 249, 252, 418 Pauli, Gustav* 33 Paulsen, Friedrich* 4 Pawlow, Iwan Petrowitsch* 97, 176, 286, 289, 369, 455, 456 Péguy, Charles* 28 Peirce, Charles Sanders* 373, 376 Pellegrino, Edmund* 286 Penfield, Wilder* 480 Penismangel 233 Penisneid 162, 231, 233 Pensionierungstod 428 Pensionistentod 444 Pentagramm, pathisches 403 Perls, Fritz* 384 Person 54, 56, 83, 84, 94–96, 98, 100, 122, 126, 136, 223, 225, 226, 238, 239, 249, 261, 263, 264, 278, 279, 281, 300, 311, 312, 314, 316, 331, 333, 341, 343, 386, 399, 411–414, 418, 431, 443, 452, 458 Persona 224, 225, 278, 314 personale Heilkunde 100, 377, 418, 432 personale Medizin 431 personale Werte 414
497
Stichwortverzeichnis
personaler Geist 36, 52 Personalismus 282, 412, 418 Personalität 96, 249–251, 254, 276, 300, 341, 361, 411–413, 416, 417, 431, 466 Persönlichkeit 80, 111, 149 Persönlichkeit, autoritäre 360 Persönlichkeitsideal 206, 207 Personwerdung 224 Personwerte 107 Personwissenschaft 261 Perspektive 444 – geographische 291 perspektivisches Schauen 292 perspektivisches Sehen 441 Perspektivwechsel 176 Perversionen 83, 276, 277, 287, 340, 341, 343 Petrifikation 313, 374 Petrus Hispanus* 472 Pfänder, Alexander* 5, 13, 65, 91, 130, 144, 272 Pflicht- und Gesinnungsethik, formale 53 Phänomenologie 5, 77, 172, 264, 268, 342, 347, 376 phänomenologische Reduktion 8 Philosophie des Leibes 471 Phrenologie 387, 479 Physiologie – anthropologische 443 Physiologismus 176 Piaget, Jean* 174 Picasso, Pablo* 159 Pieper, Josef* 429 Planck, Max* 284, 411 Platon 7, 46, 53, 70, 109, 137, 411, 412, 438 Plessner, Helmuth* 5, 11, 48, 69, 92, 97, 115, 132, 244, 249, 286, 291, 366, 373, 410, 430, 436, 437, 440, 443, 484 Plessner, Monika* 118 Polgar, Alfred* 327 Pollock, Friedrich* 384 Pongratz, Ludwig* 431 Pontalis, Jean-Bertrand* 232 Popper, Karl* 23, 28, 484 Portmann, Adolf* 247, 437, 443 Positionalität – exzentrische 122, 126, 440 – zentrische 440 Prägnanzprinzip 177 präsentische Zeit 290 präsentischer Raum 290 Prigogine, Ilja* 23 Primärprozess 191
Prinzhorn, Hans* 384 Privatlogik 206, 209, 211, 305, 317 Prochaska, Georg* 455 Projektionen 133, 163 Prometheus 223 Prophylaxe 212 Proust, Marcel* 18, 20, 23, 25, 361 Psychoanalyse 94, 161, 162, 196, 274, 278 – existentielle 76, 83, 196 Psychologie – erklärende 105 – komplexe 218 – verstehende 105, 106, 147 Psychologismus 176 Psychopathologie 181 psychophysisches Simultangeschehen 358, 370 Psychosomatik 153, 154, 176, 278 – integrierte 367, 368 psychosomatisches Simultangeschehen 356, 357 psychosozialer Tod 428 Puchta, Hans Georg* 423 Pulver, Max* 245 Pythagoras 161
Q Qualia 376, 484
R Rado, Sándor* 231 Rahner, Karl* 61 Ramón y Cajal, Santiago* 480, 481 Rank, Otto* 189, 231 Rationalismus 119, 288 Rattner, Josef* 13, 56, 243 Raum 345 – präsentischer 290 Räumlichkeit 290, 468 Raumzeit – physikalische 67 Reflex 455–457 Reflexbegriff 455–457 Reflexlehre 455 Reich, Wilhelm* 231 Reichmann, Frieda* 384 Reik, Theodor* 231 Reinach, Adolf* 91 Reitler, Rudolf* 189, 203 Reiz der Freiheit 237–239 Reiz der Liebe 236, 238, 239
M–S
Reiz der Meisterschaft 237–239 Religion 36, 298 – dynamische 28 – offene 28 – statische 28 res cogitans 180, 288, 370, 412 res extensa 180, 288, 370, 412 res non naturales 467 Resomatisierung 357 Rey, Abel* 449 Rickert, Heinrich* 5, 32, 60, 63, 70, 116, 396, 411 Ricoeur, Paul* 13, 174, 286, 443 Rilke, Rainer Maria* 9, 68, 92, 251, 262, 266, 272, 280, 438 Ritter, Hellmut* 33 Rodin, Auguste* 272 Rogers, Carl* 14 Rolland, Romain* 92 Roosevelt, Franklin D.* 34 Rosenzweig, Franz* 109 Roth, Gerhard* 334 Rothacker, Erich* 462, 472 Rothschuh, Karl* 450 Ruge, Arnold* 133, 253 Rühle, Otto* 204, 409 Rühle-Gerstel, Alice* 204, 409 Russell, Bertrand* 23, 160 Russell-Tribunal 76, 160 Rychner, Max* 245 Rycroft, Charles* 309
S Sachs, Hanns* 188, 231, 273 Sacks, Oliver* 373, 392 Salutogenese 302 Saner, Hans* 104 Sartre, Jean-Paul* 4, 5, 12, 13, 19, 23, 55, 56, 73, 117, 132, 139, 158–160, 163, 165, 172–174, 196, 212, 248–250, 279, 293, 301, 308–311, 318, 344, 376, 437, 438, 448 Satir, Virginia* 310 Sauerbruch, Ferdinand* 422 Scheler, Max* 5, 13, 18, 47, 48, 51, 53, 61, 69, 89, 117, 120, 139, 145, 249, 251, 262, 272, 273, 275, 298, 299, 376, 410, 412, 413, 436, 439, 443, 485 Schelling, Friedrich Wilhelm* 48, 62, 69, 70, 99, 133, 174, 190, 451, 468 Scheurlen, Ernst* 405 Schicht 49 Schichtenbau 49
498
Stichwortverzeichnis
Schichtenlehre 56 Schilder, Paul* 13, 97, 409 Schiller, Friedrich* 26, 133, 192, 262, 266, 438, 443, 467, 483 Schipperges, Heinrich* 146, 461 Schizophrenie 318 Schlaf 430 Schlegel, August Wilhelm von* 133, 468 Schlegel, Friedrich* 468 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst* 130, 147, 262 Schmale, George* 357 Schmerz 125, 430, 438–440 Schmerzstörungen 439 Schmitz, Hermann* 472 Schneider, Kurt* 97 Scholem, Gershom* 33 Schopenhauer, Arthur* 53, 93, 108, 124, 135, 151, 152, 190, 192, 219, 247, 262, 309, 327–329, 332, 416, 418, 470, 485 Schorstein, Joe* 308 Schottlaender, Felix* 353, 354 Schultz, H. J.* 384 Schultz, Udo* 359 Schultz-Hencke, Harald* 230, 326, 338, 342, 426 Schur, Max* 188, 190, 357 Schuschnigg, Kurt von* 410 Schütz, Alfred* 136 Schwarz, Oswald* 204, 297, 340, 341, 407, 443 Schweitzer, Charles* 74 Schweninger, Ernst* 324, 325 Schwindel 125, 444 Schwindel der Freiheit 444 Scott Sherrington, Charles* 436 Seinsbegierde 77 Seinsmangel 77 sekundärer Krankheitsgewinn 207 Sekundärprozess 191 Selbst 221, 238 – falsches 238–241, 314 – idealisiertes 237, 240 – wahres 237, 238, 240, 241, 314 Selbstauszeugung der Person 65 Selbstbewusstsein 268, 429, 484 Selbstdeutung 148 Selbstentfaltung 425, 427 selbstentfremdeter Zustand 225 Selbstentfremdung 64, 223, 225, 237, 239, 240, 317, 361, 470, 472 Selbsterhaltung 453 Selbsterkenntnis 168, 226 Selbstgestaltung 279 Selbstrealisation 387
Selbstverlust 66, 221, 262 Selbstverwirklichung 237, 262, 306, 332, 341, 387, 425, 453 Selbstwahrnehmung 226 Selbstwandlung 226 Selbstwerdung 108, 224, 250 Selye, Hans* 343 Semiotik 368, 370, 376 Senckenberg, Johann* 382 sense of coherence 303 sensorische Aphasie 479 Sensualismus 119, 178 Setschenow, Iwan* 455 Sexualität 82, 83, 161, 192, 196, 232, 247, 248, 330, 340, 343, 408, 409, 415–418 Sexualpathologie 276 Sexualtrieb 192, 207, 235, 236 sexuelle Deviationen 83 Sexus 208, 417 Shakespeare, William* 266 Sherrington, Charles* 373, 413, 480, 481 Siebeck, Richard* 197 Simmel, Ernst* 231, 326, 362 Simmel, Georg* 9, 21, 23, 27, 32, 90, 144, 252, 275, 376, 411 Simultangeschehen, psychophysisches 370 Singer, Wolf* 334 Sinn 106, 177, 178, 182, 197, 211, 263, 287, 297, 299, 303–305 Sinnaspekte 425 Sinnentnahme 287 – aszendierende 287 – kollaterale 287 Sinneseindrücke – analytische 290 – synthetische 290 Sinnhorizont 268, 425 sinnlich 35, 42 Sinnlosigkeit 297, 428 Sinnsuche 288, 296, 301–303, 306 Sinnsucher 152 Sinnverstehen 152 Sinnzusammenhänge 136 Sinnzuschreibungen 440 Situationshypertonie 367 Situationskreis 120, 370–373 Situationskreismodell 368, 370 Skinner, Burrhus Frederic* 176 Sklerose 402, 403 Snell, Bruno* 33 Sokrates 112, 137 sokratisch-platonische Dialoge 151 Solipsismus 80, 94 Sorge 65, 346
Sozialanthropologie 80, 265 Sozialismus 159, 173 Spemann, Hans* 130 Spencer, Herbert* 116 Spengler, Oswald* 40 Sperber, Manès* 204, 297, 409 Spiegelberg, Herbert* 13 Spies, Otto* 463 Spinoza, Baruch de* 93, 94, 325, 138, 139, 222 Sprachanalyse 376 Sprache 35, 123, 136, 151, 252, 292, 371, 391, 392 Sprachentwicklung 292 Sprachgebrauch 252 Sprachkritik 457 Sprachphilosophie 55 Sprachspieltheorie 377 Spranger, Eduard* 244 sprechendes Tier 392 Staiger, Emil* 62, 244 Stalin, Josef* 204 Stalinismus 76 Stein, Edith* 6 Stekel, Wilhelm* 189, 203, 217 Stendhal* 163 Stern, William* 249, 412 Steudel, Johannes* 462, 463, 472 Stierlin, Helm* 405 Stimmung 66, 68, 345 Stimulus-Response 177 Stirner, Max* 133, 253, 418 Stoa 53 Stoiker 439 Straus, Erwin* 5, 13, 14, 106, 119, 231, 264, 268, 273–275, 283, 298, 340, 341, 384, 411, 441–444 Strauß, David Friedrich* 133, 253 Strauss, Leo* 130, 132 Stressreaktionen 371 Strindberg, August* 269 Struktur 135, 147, 177, 178, 388 Strukturalismus 55 Stumpf, Carl* 4 Subjekt 81, 164, 136, 401, 405, 441–443 Sublimierung 99, 194–196, 198, 219, 304 Sucht 287, 439 Süchtigkeit 277 Sullivan, Harry Stack* 230–232, 253, 314 Sydenham, Thomas* 451 Symbol 35, 41, 119, 219, 330, 342 Symbolgebrauch 252, 391, 392 symbolische Zeichen 372, 373 Symbolisierung 325
499
Stichwortverzeichnis
sympathetische Kommunikation 290, 292, 293 Sympathie 93 Sympathieethik 53 Symptome 278, 414, 415 Synapsen 477, 478, 480, 483, 484 Synästhesien 290 Systemtheorie 368 Szasz, Thomas* 315 szientistische Weltanschauung 21 szientistisches Weltbild 20, 28 Szilasi, Wilhelm* 61, 262
T tabula rasa 119 Technik 40, 93, 414 Teilhard de Chardin* 429 Teleologie 52, 333 Tellenbach, Hubertus* 268, 286 Temperamentenlehre 465 Thanatos 192, 236 Theophrast* 222 Thompson, Clara* 231 Thorndike, Edward Lee* 176 Tieck, Johann Ludwig* 133, 467, 468 Tiefen-Ich 22, 23 Tiefenpersönlichkeit 191 Tillich, Paul* 33, 34, 92, 131, 384, 385 Tod Gottes 134 Todestrieb 192, 232, 236 Totalitarismus 110, 133, 173, 217 Totalität 84, 177, 180, 182, 248, 268, 285, 292 Transmitter 480, 481 Transzendenz 68, 140, 163, 346, 347 Traum 191, 224, 342, 343 Trauma 286, 287 Traumdeutung 342 Traumlogik 210 trial and error 249 Triebe 83, 191, 192, 299, 415, 416 Triebentbundenheit 51 Triebhaftigkeit 247 Triebschicksale 198 Trugwahrnehmungen 179, 293 Tyrannei des Sollens 237–239
U Über-Ich 193, 194, 196, 232, 236, 329 Übermensch 134 Übertragung 232, 325, 331
Uexküll, Johann Jakob von* 35, 38, 69, 116, 120, 366, 374, 387, 437 Uexküll, Thure von* 120, 365 Ultrakurzzeitgedächtnis 483 Umwertung aller Werte 53, 138 unbewusster Wille 328 Unbewusstes 153, 189–193, 196–198, 220, 222, 247, 263, 327, 328, 329, 331–333, 477 – kollektives 221 uneigentliches Man-SelbstSein 66 Uneigentlichkeit 346 Universalhermeneutik 151, 154 Unschuld des Werdens 135 Urdoxa 10 Urformen des Pathischen 439 Urglauben 179 Urlibido 219 Urphänomene 38 Urwahl 79, 84, 212, 213 Utilitarismus 53
V Vaihinger, Hans* 91, 202, 206, 396 Valéry, Paul Ambroise* 28, 92, 132, 438 van Breda, Leo* 7 van Gogh, Vincent* 309 Varela, Francisco* 374 vaterlose Gesellschaft 360 vegetative Dysbalance 153 Verdrängung 99, 192–195, 219, 361, 358 Verfallen-Sein 68, 346 Verlust des Werdens 275 Vernunft 98, 152, 198, 212, 300 Versagungssituation 426 Verschrobenheit 266, 267 Verstehen 68, 105, 106, 148, 372 verstehende Psychologie 105, 106, 147 Verstiegenheit 266, 267 Viersäfte-Lehre 450, 465 Viëtor, Karl* 476 Virchow, Rudolf* 324, 367, 471 vis vitalis 330 Vitalismus 441 Vitalisten 451 Vitalwerte 413, 414 Vogler, Paul* 146 Voltaire* 308 von Gebsattel, Viktor Emil * 14 von Weizsäcker, Viktor* 14 Voodoo-Tod 444
S–W
Vormeinungen 149 Vorurteilen 81, 149 Voyeurismus 277 vulgäres Gewissen 66
W Waelhens, Alphonse de* 175 Wagner-Jauregg, Julius* 203 wahres Selbst 237, 238, 240, 241, 314 Wahrnehmungen 175, 178, 290, 400 Warburg, Aby* 33, 261 Watson, James* 484 Watson, John Broadus* 176 Watzlawick, Paul* 310 Weakland, John H.* 310 Weber, Ernst Heinrich* 124 Weber, Max* 102, 116 Weierstraß, Carl* 4 Weiss, Eduardo* 369, 445 Weizsäcker, Viktor von* 84, 90, 97, 99, 146, 153, 197, 290, 326, 353, 354, 362, 369, 395, 411, 437, 439, 443, 450, 456 Weltanschauung, szientistische 21 Weltbild, szientistisches 20, 28 Weltoffenheit 98, 292, 371, 444 Werdenshemmungen 427, 249, 275 Werfel, Franz* 91 Wernicke, Carl* 382, 388, 479 Wernicke-Aphasie 480 Wernicke-Areal 480 Werte 53, 54, 94, 95, 100, 211, 251, 263, 277, 279, 287, 290, 416, 417 – außermoralische 54 – kulturelle 414 – personale 54, 414 – spezielle 54 Werte-Apriori 53 Werteinstellungen 416 Werterelativismus 53 Werterkennen 96 Wertethik, materiale 91 Werteverlust 56 Wertewandel 56 Wertheimer, Max* 13, 92, 177, 383, 437 Werthorizonte 268, 279, 414, 425 Wertlehre 92, 96, 251 Wertphilosophie 469 Wertrealisation 279 Wertsichtigkeit 251 Wertsphäre 413
500
Stichwortverzeichnis
Wertverwirklichung 288 Wesen 8 Wesensschau 9, 275 Wesiack, Wolfgang* 368, 370, 373–375 Wexberg, Erwin* 297, 304, 411 Wiederholungszwang 26, 275, 333 Wiederkehr des ewig Gleichen 134, 138 Wiederkehr des Verdrängten 360 Wieland, Christoph Martin* 133 Wiener, Norbert* 456 Wiesenhütter, Eckart* 274, 286 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von* 33 Wilde, Oscar* 250 wildes Sein 181 Wilhelm, Richard* 218 Wille 328 – freier 484, 485 – unbewusster 328 Wille zum Sinn 299, 302, 305, 306 Wille zur Lust 299 Wille zur Macht 299, 328, 329, 470 Willen 219, 328 Willis, Thomas* 456 Wilson, Colin* 309 Wilson, Woodrow* 19 Windelband, Wilhelm* 32, 103, 116, 396 Winnicott, Donald W.* 309 wirken 35, 36, 38, 120, 366, 370, 374 Wirkorgane 366 Wirkungsgeschichte 150 Wissensgedächtnis 482 Wittgenstein, Ludwig* 23, 252, 376, 377 Wittkower, Erich* 231, 369, 384 Wolff, Christian* 48, 49 Wölfflin, Heinrich* 144, 272 Wulff, Erich* 315 Wundt, Wilhelm* 4, 32, 124 Wust, Peter* 429 Wyss, Dieter* 90, 286
Z Zarathustra 110 Zeichen 35, 119 – ikonische 372 – indexikalische 372, 373 – symbolische 372, 373 Zeit 20–22, 28, 275, 345 – existentiale 67 – präsentische 290 Zeitgeist 51, 252
Zeitlichkeit 10, 29, 67, 466–468 Zeitstrom 268 Zeitstruktur 275 Zeitsynthese 275 Zentrierung 386–388 zentrisch 121 Zimmer, Heinrich* 218 zögernde Attitüde 417 Zuckerkandl, Berta* 408 Zuckerkandl, Emil* 408 Zuckerkandl, Otto* 408 Zuckmayer, Carl* 232 Zutt, Jürg* 284, 285 Zwaardemaker, Hendrik* 436 Zwangsgedanken 274 Zwangshandlungen 274 Zwangsimpulse 274 Zwangskrankheit 275 Zwangsneurose 274 Zwangsstörungen 192 Zweifel, radikaler 8 Zweig, Arnold* 91 Zweig, Stefan* 281 zweiphasige Abwehr 356, 402 Zwischenmenschlichkeit 80, 135, 253, 270 zyklisches Geschichtskonzept 134