Die Ursache der Explosionen war unbekannt, aber es lag ihnen ein Schema zugrunde, das allein schon genügte, alle in Ang...
30 downloads
666 Views
844KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Die Ursache der Explosionen war unbekannt, aber es lag ihnen ein Schema zugrunde, das allein schon genügte, alle in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie ereigneten sich in regnerischen Nächten. Sie traten nur in geschlossenen Räumen auf. Jede erwies sich als eine Folge der vorhergehenden. Betroffen waren die Anführer der radikalpatriotischen Vereinigung der Söhne Amerikas. Der Ausgang einer jeden war tödlich. Und keine hinterließ Spuren. Da weder Spuren noch Hinweise vorhanden waren, die zum Täter hätten führen können, gab es nur eine Hoffnung: man mußte versuchen, ihn am Tatort zu fassen. Auch das schien unmöglich; denn wie stellt man einen Verbrecher, der offensichtlich in der Lage ist, durch Raum und Zeit zu reisen, um seine Opfer zu ermorden, Tage vor dem Eintritt ihres Todes?
Weitere Romane von WILSON TUCKER in der Reihe der Ullstein Bücher: Die letzten der Unsterblichen (2959) Die Unheilbaren (2981) Geheimwaffe Mensch (3030)
Ullstein Buch Nr. 3140 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der amerikanischen Originalausgabe: TIME BOMB (TOMORROW PLUS X) Übersetzung von Otto Kuehn und Peter Mathys
Umschlagillustration: Fawcett Umschlaggraphik: Ingrid Roehling Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1955 by Wilson Tucker Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03140 4
Wilson Tucker
Zeit-Bombe SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
1. Kapitel A Neben dem Inspizientenstand, außer Sichtweite der Kameras und der Studiogäste, hielt ein grinsender Bühnenarbeiter in einem weißen Arbeitsanzug ein Schild in die Höhe, auf dem mit weißer Kreide geschrieben stand: vier Millionen. Der Bühnenarbeiter wartete so lange, bis der Star des Abends das Schild erblickt hatte. Der große, zappelige Komiker, der vor der Kamera und dem Publikum seine Possen riß, bewegte sich unauffällig ein paar Schritte zur Seite, um die Mitteilung zu lesen. Dann nickte er und wandte sich mit einem noch breiteren, glücklicheren Lächeln wieder seinem Publikum zu. Vier Millionen Geräte waren eingeschaltet. In vier Millionen Wohnstuben leuchtete an diesem Dienstagabend sein Gesicht auf. Und vor jedem Gerät saßen gebannt die Zuschauer, zwei, drei, vier Leute vor jedem Gerät? Acht Millionen, zwölf Millionen, sechzehn Millionen Menschen sahen ihm zu! Er ließ die übertrieben geschminkten Augenbrauen auf- und niederhüpfen, und die Studiogäste brüllten und applaudierten. Das elektronische Ortungsgerät im Sendestudio
hatte registriert, daß fast vier Millionen Geräte dieses Programm empfingen. Nur ein paar wenige Tausend weniger als vier Millionen. Der Computer log nicht. Der Bühnenvorhang ging auf und gab den Blick frei auf eine große schwarze Kiste, die eine bizarre Maschine darstellen sollte. Sie war mit einem wirren Durcheinander von Skalen, Zahnrädern, Hebeln und Schaltern bemalt: ein mechanischer Alptraum aus der Werkstatt eines Verrückten. Der Komödiant kam auf die Bühne gehinkt. Er stellte einen uralten Mann dar, der sich nur noch mit Hilfe eines Stockes fortbewegen konnte. Der Rücken war gekrümmt, die Hand auf die Hüfte gestützt, um den Zustand des Alters besser darzustellen, und bei jedem Schritt schien es, als müsse er über den langen weißen Vollbart stolpern. Er schlurfte zur Tür der Kiste, klopfte ängstlich dagegen und wartete, bis das Gelächter im Zuschauerraum abgeklungen war. Dann öffnete er die Tür und verschwand in der Kiste. Sogleich erzeugten die Bühnenarbeiter hinter den Kulissen einen Höllenlärm. Eine Sirene heulte, der Motor eines Schwertransporters röhrte, Funken und Blitze zuckten hinter der Kiste auf, und das ganze Gebilde hüpfte und schüttelte sich wie bei einem Erdbeben. Als der Krach und das Durcheinander ihren Höhepunkt erreicht hatten,
flog eine zweite Tür der Kiste auf, und der Komödiant trat heraus, jung, groß und kerzengerade, und nur mit einem Windelhöschen bekleidet. Im Licht der Bühnenscheinwerfer schimmerte seine Haut rosig. »Bäh, bäh«, sang er mit Babystimme. »Mein Papi hat mir eine Zeitmaschine gekauft!« Acht, zwölf, sechzehn Millionen Kretins hielten sich den Bauch und kreischten vor irrem Vergnügen.
B Der Mann in mittleren Jahren beugte sich über den Schreibtisch und schlug mit der Faust wütend auf einen Stoß von Konstruktionsplänen. Dann stieß er den Stuhl zurück und ging quer durch den Raum. Der große Fernsehschirm war in die Wand des Büros eingebaut. Mit einer heftigen Bewegung schaltete er das Gerät aus, und das Bild verschwand. Einige tausend Kilometer entfernt, in Hollywood, registrierte der Computer einen Zuschauer weniger. Hollywood ignorierte diese Tatsache. Der verärgerte Zuschauer wandte sich von dem Bildschirm ab und ging durch den Raum zu einem offenen Fenster. Die Nacht an diesem Dienstag war schwarz wie Tinte; Regen lag in der Luft. In der Ferne wetterleuchtete es, und leiser Donner drang herüber.
Der Mann blickte zum drohenden Himmel hinauf, dann auf die Lichter der Stadt. Er verließ das Fenster und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er zog den Stuhl heran und setzte sich. Geistesabwesend strich er über seinen Schnurrbart, der halbmondförmig war und seine Oberlippe fast völlig verbarg. Der Mann war ebenso altmodisch wie sein Schnurrbart, und er schätzte die Vergangenheit mehr als die Gegenwart. Seine Pfeife mit dem großen Kopf war schwarzbraun vom Alter, und das Haar über dem alt wirkenden Gesicht zeigte deutlich Spuren von Grau. Er beschäftigte sich wieder mit dem Schaltschema. Mit dem kurzen Zeigefinger folgte er den eingezeichneten Schaltkreisen. Nach einer Weile blickte er wieder auf den stummen, dunklen Bildschirm. Die leise Stimme des alten Mannes war wie ein böses Grollen. »Der blöde Hund.«
C Es regnete in Strömen. In der Stadt Springfield im Bundesstaat Illinois erschütterte ein mächtiger Explosionsknall die Regennacht. Der feurige Widerschein zuckte über den re-
gennassen Himmel, und der Regen war machtlos gegen die tobende Feuersbrunst. Die Schockwelle warf Leutnant Danforth aus dem Bett. Instinktiv landete er auf den Füßen. Er wußte nicht, was geschehen war. Er hielt sich am Kopfende des Bettes fest und schüttelte schlaftrunken den Kopf. Sobald er klar denken konnte, gaukelte ihm seine Phantasie roten Feuerschein und zur Erde zurückfallende Trümmer vor. Ziegelsteine, Balken, Glasscherben. In einem Winkel seines Bewußtseins bildete sich die Frage: Wieviele hatte es diesmal erwischt? Er griff nach den Kleidungsstücken und begann sich anzuziehen. Seine Stimmung war so düster wie die Nacht. Das kleine Kommunikationsgerät auf seinem Nachttisch begann leise zu summen. Er griff danach. »Danforth«, meldete er sich. »Ich hab's gehört. Ich komme.« Die männliche Stimme am anderen Ende sagte: »Üble Sache, Leutnant.« Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Danforth hörte die Sirenen der Löschzüge durch die Nacht heulen. Dazwischen das Auf und Ab der Polizeisirenen. Eine üble Geschichte – für ihn. Das wußte sogar der Polizeifunker und bemitleidete ihn. Diese Explosion hatte das Faß zum Überlaufen gebracht. Man würde ihn und seine Mitarbeiter in die Wüste schicken.
D Fast fünfzehntausend brüllende Männer und Frauen füllten das Fußballstadion am Stadtrand von Atlanta im Bundesstaat Georgia. Mehrere Tausende drängten sich auf dem Rasen. Die Rednerplattform lag in grellem Scheinwerferlicht. Auf der Plattform befanden sich einige Männer, und einer von ihnen winkte der heulenden Meute mit gönnerhafter Geste zu. »Ben!« brüllten sie alle. »Ben! Ben!« Der Mann auf der Plattform verschränkte die Hände über dem Kopf und schüttelte sie wie ein Boxer im Ring nach einem gewonnenen Kampf. E Nur gelegentlich blickten der Mann und die Frau in dem gedämpft beleuchteten Wohnzimmer auf den Bildschirm in der gegenüberliegenden Wand. Es war kein großer Schirm und auch kein Gerät neuesten Modells, was auf untergeordnete Bedeutung schließen ließ. Für diese beiden Menschen gab es Interessanteres im Leben als das Fernsehen. Die von ihnen bevorzugte Zerstreuung und Unterhaltung lag auf einem kulturell höheren Niveau. Der Schirm war so angebracht und gerahmt, daß er in ausgeschaltetem Zustand wie ein Bild wirkte.
»Du bist am Zug«, sagte der Mann. Die Lautstärke war so schwach eingestellt, daß sich die Stimme des Komödianten wie ein Bellen aus weiter Ferne und das irre Gelächter der Studiogäste wie ein Hintergrundgeräusch anhörten. Zufällig blickte die Frau auf den Schirm. »Gilbert ...« Schweigend sahen sie zu, wie der Possenreißer die Nummer mit der Zeitmaschine abzog. Zusätzlich eingespieltes Gelächter vom Band diente dazu, die Zuschauer zu Hause noch stärker zu stimulieren. Die Abscheu, die Gilbert empfand, hörte man seiner Stimme an. »Und für so etwas wird der Kerl auch noch bezahlt.« »Und Zuschauerpost wird er ebenfalls bekommen. Mir tut er fast leid«, sagte seine Frau. Gilbert blickte wieder auf den Schirm und lachte leise. »Wenn Gedanken töten könnten ...« Seine Frau nickte. »Deswegen tut er mir ja auch leid. Eines Tages ist es vielleicht so weit, daß Gedanken töten können, daß sie ihn auf der Bühne erreichen und ihm das Herz anhalten. Dann stirbt der Narr, aber sein Souffleur entkommt.« »Shirley, du liest meine Gedanken! Genau dasselbe habe ich auch gedacht. Diese Nummer ist arrangiert, als Köder gedacht.« »Köder«, wiederholte sie. »Überall werden Köder
ausgestreut. Von unbekannten Leuten, die selbst im Dunkeln bleiben.« »Ach ja«, sagte Gilbert nachdenklich. »Der Unbekannte hinter den Kulissen, an dessen Fäden Narren wie der da tanzen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung auf den Bildschirm. »Die Welt besteht nur noch aus Komplotten und Intrigen. Menschheit, wohin gehst du?« »Ich gehöre auch dazu«, sagte seine Frau, »und ich liebe die Menschheit! Tu nicht so überlegen, sonst denunziere ich dich bei der Partei und sage, du seist gar kein Mensch.« Gilbert Nash lachte und griff über das Schachbrett nach seiner Frau. »Und du wirst mit mir hängen, als Mitverschwörerin. Wie heißt das doch bei euch? Mitgegangen, mitgehangen?«
F Mr. Ramsey blickte stumm auf den Fernsehschirm. Sein Interesse galt der sogenannten Zeitmaschine. Er hörte das alberne Geschwätz des Komödianten und das Gelächter der Studiogäste. Sein Ausdruck veränderte sich nicht. Mit der Fernsteuerung schaltete er auf einen ande-
ren Kanal. Der eine Studiocomputer registrierte eine Abschaltung, ein anderer eine Einschaltung. Die Massenszene im Fußballstadion füllte den Bildschirm. Die Lautsprecher gaben das Brüllen und Schreien naturgetreu wieder. Mr. Ramsey sah zu und schwieg. Der Telepath kam vor dem Zeitreisenden. Einige wenige nachdenkliche Menschen machten sich Gedanken, wie das Ergebnis möglicherweise ausgesehen hätte, wenn die Reihenfolge anders gewesen wäre.
2. Kapitel Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei des Bundesstaates Illinois, dessen Abteilung für Sprengstoffdelikte zuständig war, stieß die Tür seines Büros auf und betrat den Raum, ohne Licht zu machen. Er zog die Dunkelheit dem Lichte vor. Nachdem er sich in den Drehsessel hinter seinem Schreibtisch gesetzt hatte, wandte er sich dem Fenster zu und blickte auf das dunkle Rechteck der Nacht. Es regnete unvermindert stark. An einigen Stellen seines Regenmantels war die Nässe bis auf die graugrüne Uniform gedrungen. Seine Gedanken und seine Stimmung waren so düster wie die Wolken jenseits des Fensters. Er starrte aus dem Fenster und fragte sich wohl zum tausendsten Mal, wo das alles enden sollte. Seine Zukunft, sowohl im privaten wie auch beruflichen Bereich, erschien ihm in einem sehr düsteren Licht. Im ganzen Gebäude herrschte eine bedrückende, angespannte Atmosphäre. Alles schien darauf zu warten, daß etwas geschah. Mit der Sicherheit langjähriger Übung griff Danforth in der Dunkelheit über den Schreibtisch nach einer Reihe von Knöpfen. Eine Signallampe leuchtete bernsteinfarben auf und warf verzerrte Schatten an die Wand. »Danforth hier«, sagte er laut.
Eine körperlose Stimme schien ihm aus der Luft über dem Schreibtisch zu antworten. Es war die Stimme des Funkers, die er vor einer Weile zu Hause über sein Kommunikationsgerät vernommen hatte. »Immer dasselbe, Leutnant. Zerstörung vollkommen, wie üblich; Ursache unbekannt, auch wie üblich. Vor siebzehn Minuten in der South Kingman 205. Sie wissen, wer dort wohnt.« Die Stimme war flach und interesselos. »Es wird nach Überlebenden gesucht.« Danforth schloß die Augen. Er wußte, wer dort lebte – gelebt hatte, bis vor siebzehn Minuten. Simon Oliver, Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten; Simon Oliver, der große Parteivorsitzende. »Haben Sie den Captain benachrichtigt?« »Nein. Ich kann ihn nicht auffinden. Er ist weder in seinem Büro noch zu Hause. Daher rief ich Sie an.« »In Ordnung. Ich übernehme den Fall, bis Sie ihn ausfindig gemacht haben. Sonst alles wie üblich?« »Ja. Ein Stadtpolizist machte die Meldung. Er war gerade auf seiner Runde, ungefähr drei Häuserblocks von der Unglücksstelle entfernt, als es geschah. Er fand zwei junge Leute auf der Straße. Beide von den Trümmern verletzt. Es heißt, der Mann habe das Mädchen heimbegleiten wollen.« »Im Regen?« »Sie behaupten es. Sie befinden sich jetzt im Memo-
rial Hospital unter Bewachung. Der Polizist rief die Feuerwehr, erst dann seine Vorgesetzten. Diese schickten einen Krankenwagen und benachrichtigten uns. Drei Mann und die Fotografen brachen hier vor neun Minuten auf. Ich habe für Sie einen Wagen bereitstellen lassen.« »In Ordnung«, wiederholte Danforth. »Ich komme sofort.« Er unterbrach die Verbindung. Zögern und Dunkelheit lasteten in dem Raum, bevor er den zweiten Knopf niederdrückte. Er fuhr sich durch das kurzgeschnittene Haar und versuchte, seine Stimme so unpersönlich klingen zu lassen wie die soeben vernommene. »Mr. Ramsey. Ein weiteres Attentat, vor siebzehneinhalb Minuten in der South Kingman 205. Simon Oliver, Staatssekretär. Vollkommene Zerstörung, Ursache unbekannt – wie immer. Suche nach Überlebenden eingeleitet.« Er sprach, als säße ihm der andere Mann am Schreibtisch gegenüber. »Captain Redmon ist nicht erreichbar, und so habe ich bis auf weiteres das Kommando übernommen. Spezialisten und Kameraleute befinden sich bereits am Tatort. Ich selber fahre gleich hin und bringe Ihnen die Aufnahmen, sobald sie fertig sind. Irgendwelche sonstigen Befehle?« Die körperlose Stimme Mr. Ramseys enthielt einen
eigenartigen, melodischen Unterton und wirkte irgendwie beruhigend. »Leutnant!« »Ja?« »Sagen Sie vorläufig nichts, bis wir die Aufnahmen haben. Captain Redmon befand sich in jenem Haus!« Danforth preßte vor Überraschung die Lippen aufeinander. Der Tod seines Vorgesetzten machte ihn automatisch zum Leiter der Spezialabteilung für Sprengstoffattentate. Eine zweifelhafte Ehre. Er erkannte, daß seine neue leitende Stellung von sehr kurzer Dauer sein würde. Vielleicht bis zum Sonnenaufgang morgen früh – höchstens. Und dann würde er auf der Straße stehen, ein Opfer von verängstigten Parteiführern. Aber Captain Redmon lag tot unter den Trümmern des Hauses. War sein Besuch dort rein privater Natur gewesen, oder hatte er vergattert werden sollen, als der Laden in die Luft flog? Seltsam war die Sache auf jeden Fall. Simon Oliver war ein großes Rad in der Parteimaschinerie – eine Einladung zum Abendessen brauchte nicht unbedingt etwas anderes als eine freundliche Geste gewesen zu sein. Andererseits war Simon Oliver auch der Einpeitscher der Partei – daß er gerade einen für Sprengstoffattentate zuständigen höheren Polizeibeamten zu sich eingeladen hatte,
konnte kein Zufall gewesen, sondern mit der Absicht erfolgt sein, diesem die Leviten zu lesen. Mr. Ramseys Stimme unterbrach Danforths Gedanken. »Das ist alles, Leutnant.« Danforth antwortete: »Ja, Sir«, und schaltete ab. Das Signallämpchen ging aus, und er saß im Dunkeln und dachte nach. In der Ferne heulten die Sirenen. Der Telepath kam vor dem Zeitreisenden. Das wußte jeder. Einen Apparat, der die Zeitreise ermöglichte, gab es nicht, noch nicht. Aber es lag etwas in der Luft. Es war schon so greifbar nahe, daß die Leute ihre Witze darüber machten oder mit Unterschriftenaktionen dagegen protestierten. Die Werbung, von einigen fortschrittlichen Unternehmen angekurbelt, pries die Vorzüge der Zeitreise. Zeitungen und Zeitschriften druckten Artikel über ihre mutmaßlichen Vor- und Nachteile. Die Illustratoren stellten die Maschine als Kasten, Fahrrad oder Taucherglocke dar. Die Kabarettisten nahmen sich des Themas auf ihre Weise an. Einige Tageszeitungen brachten den uralten Roman von H. G. Wells in Fortsetzungen. Im Kongreß wurde darüber debattiert. Ein Elektrokonzern rechnete damit, in etwa fünf Jahren das erste Modell auf den Markt zu bringen – jedenfalls hatte das ein Firmensprecher behauptet. Die Polizei dagegen hoffte, daß es in fünfhundert Jahren erst der Fall sein würde.
Das Hauptwerk des besagten Konzerns lag in einer ländlichen Gegend, und die einfachen Leute dort behaupteten, Direktoren der Firma würden bereits mit einem Prototyp Ausflüge weiß der Teufel wohin machen. Andere wiederum wiesen darauf hin, daß es Gottes Absicht nicht gewesen sein könne, dem Menschen ein solches Instrument in die Hand zu geben, sonst hätte er die Entwicklung des Menschen von vornherein rückläufig angelegt. Auf Drängen der Militärs schickte die Regierung eine Gruppe von Beobachtern in das Werk. Und ein Streit entstand um die Frage, welcher Gewerkschaft die Leute angehören sollten, die die Maschine letztlich bauen würden. Aber, und das sagte jeder, es sei ein Glück, daß der Telepath vor dem Zeitreisenden gekommen war. Wäre die Reihenfolge anders gewesen, hätte das entstehende Durcheinander die Arbeit der Polizei unmöglich gemacht. Eine Zeitmaschine in den richtigen Händen könnte und würde alle Schiebungen und Ungerechtigkeiten aufdecken; in den falschen Händen würde sie unbeschreibliches Unheil anrichten. Es wäre unmöglich, den Mantel der Zeit über die Sünden der Vergangenheit zu decken. Der Gedanke, in der Zeit spionieren zu können, war furchterregend. Deshalb hatte sich die Polizei in kluger Voraussicht der Mitarbeit aller Telepathen, soweit deren Fähigkeit bekannt geworden waren, versichert und diese aus-
gebildet. Warum nicht? Man wollte für den Zeitpunkt vorbereitet sein, wo allen, die es nötig hatten, ein neuer Fluchtweg offenstehen würde. Aber es gab nur wenige Telepathen, und die meisten von ihnen zeigten wenig Begeisterung für die Ziele der Polizei. Die Geburtenrate bei Telepathen war winzig klein, und so kam es, daß die Sicherheitspolizei des gesamten Staates Illinois nur über einen einzigen Telepathen verfügen konnte. Mr. Ramsey. Leutnant Danforth rieb mit den Händen über die Hosenbeine und stand auf. Mit sicheren Schritten durchquerte er das dunkle Büro und ging hinaus. Mr. Ramseys Gesichtsausdruck blieb unverändert. Die Polizei hatte die Unglücksstätte abgesperrt und hielt eine beträchtliche Menschenmenge zurück, die sich trotz des Regens ansammelte. Leutnant Danforth verließ seinen Wagen und bückte sich unter den Seilen der Absperrung durch, um sich seinen Weg durch ein Gewirr von Feuerwehrschläuchen zu bahnen. Der Sitz des Staatssekretärs war eine respektable Villa gewesen – mit ungefähr achtzehn bis zwanzig Räumen, vermutete Danforth. Er war nie im Innern des Gebäudes gewesen und hätte auch nicht erwartet, es je zu betreten, wenn es weiterbestanden hätte. Er war kein fanatischer Mitläufer und auch kein Politi-
ker. Simon Oliver und seine Partei bedeuteten ihm nichts. Jetzt waren die Trümmer von achtzehn oder zwanzig Räumen über eine weite Fläche verstreut. Einige der Trümmerstücke waren auf die Straße gefallen, andere lagen auf den Dächern der Nachbarhäuser. Feuerwehrleute richteten Leitern auf, um sie herunterzuholen. Alles in allem, dachte Danforth, war es doch ein ziemlicher Aufwand. Er kletterte über die Trümmer auf das zu, was einst eine Ecke des Hauses gewesen war. Ein Fotograf stand dort, einen schützenden Schirm über seine Chrono-Kamera haltend. Danforth fragte sich, ob die leise surrende Kamera ihren Zweck auch erfüllte. Niemand würde das sicher wissen, bis die Filmkassette abgelaufen und in den Entwickler gelegt worden war. Chrono-Kameras waren in der Theorie eine bemerkenswerte Einrichtung: man drehte eine Wählscheibe, stellte die richtigen Objektive ein und überließ den Rest der Kamera. Diese vermochte einige Minuten in die Vergangenheit zurückzugreifen und festzuhalten, was geschehen war. Wenn also der Fotograf die ungefähre Zeit der Explosion wußte und den Ort rasch genug erreichte, konnte er seine Kamera einstellen und den Ablauf der Geschehnisse in rückläufiger Entwicklung aufnehmen. Allerdings stimmten bei manchen Ergebnissen Theorie und Praxis nicht überein. Es konnte also
auch im vorliegenden Fall geschehen, daß auf dem Film überhaupt nichts zu sehen war. An verschiedenen Punkten des Gartens hatten sich weitere Kameraleute aufgestellt. Auch auf der Straße hatte sich einer mit Stativ und Kamera postiert, die mit einem Weitwinkelobjektiv das verflossene Geschehen einzufangen versuchte. Der Kameramann hörte ihn kommen und sah sich um. »Hallo, Leutnant – Sie sind spät dran.« »Ich habe geschlafen«, sagte Danforth. »Geschlafen? Um diese Zeit?« Er blickte auf die Uhr. »Das muß schön sein. Die Nacht hat ja noch nicht einmal begonnen.« »In meinem Fall begann sie bei Sonnenuntergang; ich brauchte den Schlaf. Habe die letzte Nacht durcharbeiten müssen.« Der Kameramann nickte. »Wohl wegen der Aufregung in der Festhalle? Ich habe am Morgen davon gehört. Falscher Alarm, oder?« »Er war falsch«, stimmte Danforth zu. »Jemand hatte angerufen und eine Bombenwarnung durchgegeben. Wir durchkämmten das Gebäude vom Keller bis zum Dachgeschoß. Eine Bombe wurde nicht gefunden, aber die Leute dort hatten vor lauter Angst die Hosen voll.« »Es soll Feuer ausgebrochen sein.«
»Das geschah später. Wir ließen die Halle räumen, während wir das Gebäude durchsuchten; es müssen über tausend Menschen gewesen sein, und wir trieben sie auf die Straße hinaus. Als die Leute wieder hineinströmten, zündete jemand eines der von einer Seite zur anderen gespannten Spruchbänder an. Ich befand mich noch dort. Über tausend Söhne Amerikas führten sich auf, als wären sie alle miteinander vom Veitstanz erfaßt. Jemand muß den Feuermelder betätigt haben, und die Feuerwehrleute beendeten die Kundgebung.« »Das hätte ich gern sehen wollen!« Der Kameramann begann laut zu lachen. »Den Brüdern gönne ich es, wenn ihnen mal tüchtig eingeheizt wird.« »Ich auch. Aber passen Sie auf, daß das keiner hört.« Der Leutnant blickte sich um. »Sonst sind Sie plötzlich Ihren Job los und sitzen auf der Straße.« »Ein wahres Wort! Aber unter uns gesagt, Leutnant, ich habe noch keinen von Bens Anhängern getroffen, der mir sympathisch gewesen wäre. Das sind doch alles arrogante Angeber, wenn nicht schlimmeres. Vor zwei Jahren wollte meine Frau, daß ich mich den Söhnen Amerikas anschließe. Ich hatte keine Lust.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Der politische Zirkus war ihr egal – sie wollte einfach mit dabei sein und am Vereinsleben teilnehmen. Die Picknicks, Kaffeekränzchen und Konzerte hatten es
ihr angetan. An den Gruppenreisen nach Chicago wollte sie sich beteiligen. Die meisten Frauen in unserer Nachbarschaft sind Mitglieder, und sie wollte nicht abseits stehen.« »Die ziehen ja auch alle Register. Stellen es so dar, als ob es eine Auszeichnung sei, dazuzugehören.« »Gewiß. Bereits die Kinder tragen Abzeichen: ›Ich bin für Ben, und mein Vater ist ein Sohn Amerikas.‹ Wenn man nicht dazugehört und seinen Kindern nicht eine Handvoll Abzeichen gibt, so grämen sie sich, weil alle anderen Kinder in der Straße eins haben. Dummköpfe!« Danforth lächelte zustimmend. »Sie würden sich besser fühlen, wenn Sie letzte Nacht dabeigewesen wären. Auf dem Spruchband stand ›Wir sind für Ben, und Ben ist für uns.‹ Aber Ben vermochte die Zusammenkunft trotzdem nicht zu retten.« Der Kameramann schaute auf die Uhr und wischte einen Wassertropfen von seiner Kamera. »In sieben Minuten ist alles vorbei«, sagte er. »Ich nehme den Film gleich mit.« »Gut. Geben Sie uns eine Viertelstunde Zeit, und Sie können das Zeug haben. Die fertige Arbeit wird am Morgen auf Ihrem Schreibtisch liegen –.« Er verstummte, um den Leutnant anzublicken, bemüht, seine aufkommende Verlegenheit zu unterdrücken. Danforth führte den Gedanken für ihn zu Ende.
»Wenn ich am Morgen immer noch im Amt bin. Was ich bezweifle.« »Tut mir verdammt leid, Leutnant.« »Machen Sie sich keine Sorgen.« Danforth ging mit einem Achselzucken darüber hinweg und beugte sich vor, um in die Linse der Kamera zu blicken. »Wenn ich am Morgen nicht da bin, geben Sie die Aufnahmen Mr. Ramsey.« Der Kameramann rief: »Tun Sie das nicht! Ihr Atem wird sich an der Linse niederschlagen und sie verschleiern.« Mit einem Zipfel seiner lacke wischte er über das Glas. »Dieses Dreckwetter verpfuscht alles. Erwarten Sie nicht zuviel von den Aufnahmen.« »Tut mir leid.« Der Kameramann rückte den Regenschirm zurecht und blickte wieder auf die Trümmer des Hauses. »Ziemlich großer Kasten, nicht wahr?« »Es war mal einer.« Danforth lächelte freudlos. »Und selbst der Trümmerhaufen ist noch eindrucksvoll.« Er trat mit dem Fuß gegen ein Mauerstück und empfand so etwas wie Befriedigung, als es umstürzte. Die Männer vom technischen Hilfswerk kletterten über die Trümmer, auf der wenig aussichtsreichen Suche nach Opfern. Sie würden noch nicht einmal eine abgetrennte Hand oder ein Bein finden, um eine Identifizierung der Opfer vornehmen zu können. Die Explosion verwischte alle Spuren und ließ der Polizei
nur eine Hoffnung, daß die Zeitkameras zeigen würden, wer sich zum Zeitpunkt der Explosion in dem Haus befunden hatte. »Leutnant, ich habe eine Theorie.« Danforths kurzes Lächeln war bitter. »Theorien haben alle. Und wie lautet Ihre?« »Sechsmal ist das schon passiert, stimmt's?« »Sechs Bombenattentate in sechs Wochen, ja. Zwei in Chicago, eins in Peoria und drei hier in der Stadt. Und wir sind keinen einzigen Schritt weitergekommen.« »Betrachten Sie die Sache mal so: Jedesmal ist ein Großkopfeter von der Partei dabei draufgegangen. Hab ich recht? Egal, ob der Kerl in der Regierung saß oder nicht, er war in jedem Fall einer von Bens engsten Vertrauten. Zahlreiche andere Parteimitglieder begleiteten ihn auf seiner Himmelfahrt. Bis hierher stimmt's doch, oder?« »Ja.« »Gut. Und jetzt komme ich zum Kern der Sache. Zielscheibe der Anschläge sind in jedem Fall Bens Anhänger. Gelegentlich trifft es auch Außenstehende, wie heute nacht, aber das dürfte reiner Zufall sein. Es ist das Pech dieser Leute, daß es sich so ergab. Und letzte Nacht gab jemand in der Halle, wo sich die Söhne Amerikas versammelt hatten, Bombenalarm. Passiert ist allerdings nichts.«
»Verträgt sich auch das mit Ihrer Theorie?« »Gewiß. Als Folge dieses Zwischenfalls trafen sich heute nacht einige von der Parteiführung hier in Olivers Haus. Leute, die gestern auf der Versammlung nicht anwesend waren. Da geht die Bombe hoch! Ein raffinierter Schachzug. Die Absicht ist jedesmal dieselbe. Es trifft immer Bens engste Vertraute. Jemand scheint sie nicht zu mögen.« »Es dürfte viele Leute geben, die sie nicht mögen. Aber fahren Sie fort.« »Ich glaube, es stecken die Zeitreisenden dahinter.« Danforth runzelte die Stirn. Das hatte er erwartet. »Aber es gibt doch keine Zeitreisemaschinen.« »Doch«, sagte der Kameramann mit Nachdruck. »Im geheimen.« »Wenn Zeitreisende existierten, wüßten es unsere Telepathen und könnten sie erwischen.« Der Kameramann schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben einen Schutz. Etwas Neues vielleicht, ein elektronischer Schutzschild. Sie können nicht aufgespürt werden.« »Dann die Fabriken. Es gibt keine Zeitmaschinen in den Fabriken und Laboratorien, die unter Aufsicht der Bundesregierung stehen. Und vergessen Sie nicht, daß auch Bens Anhänger dort arbeiten; diese würden eine solche Maschine entdecken und die Neuigkeit nach Washington weiterleiten.«
»Diesmal nicht. Nach meiner Theorie wurde die Maschine im geheimen gebaut, und zwar von einem oder zwei Männern, die allein arbeiten und nicht in diesen Labors. Der Bursche, der sie gebaut hat, will nicht, daß sie den Bundesbeamten in die Hände fällt, und er will vor allem nicht, daß sie Ben in die Finger kriegt. Aber er will an Bens Anhängern, vielleicht an Ben selber, Rache nehmen. Daher löscht er sie einen nach dem andern aus. Habe ich recht, Leutnant?« »Wer bin ich, zu unterscheiden, ob Sie recht oder unrecht haben? Ich weiß es nicht; niemand scheint es zu wissen. Die Leute im Hauptquartier haben diese Theorie ebenfalls unter die Lupe genommen, oder jedenfalls eine, die ähnlich lautet. Sie sind zu keinem lohnenswerten Entschluß gekommen. Und Mr. Ramsey sagt immer noch: nein!« »Ein elektronischer Schutzschild könnte ihn täuschen«, erklärte der Kameramann mit Entschiedenheit. »Wenn Radio- und Drahtfunkmitteilungen abgeschirmt werden können, so können es auch Gedanken. Das Schutzgerät könnte beispielsweise im Hut oder in der Tasche getragen werden. Man könnte damit Mr. Ramsey bis auf drei Meter nahekommen, ohne daß er die geringste Kleinigkeit aus dem Gehirn zu entnehmen vermag.« »Dieser Umstand wäre an sich schon verdächtig«, meinte Danforth. »Mr. Ramsey würde die Abwehr-
vorrichtung spüren und sie bis zu ihrem Träger zurückverfolgen. Seine Anwesenheit wäre damit verraten.« Der Kameramann stand schweigend da. Schließlich sagte er: »Daran habe ich nie gedacht.« »Oh, das macht nichts. Ich leite Ihre Idee weiter. Jemand wird sich damit beschäftigen. Die Bundespolizei hat sich bereits für den Fall interessiert. Da Ben sich für die Wahl zum Vizepräsidenten aufstellen lassen will, und seine Anhänger die Opfer sind, müssen sie sich dafür interessieren. Und wenn jemand heimlich eine Zeitmaschine gebaut hat, vermute ich, daß sie doch früher oder später entdeckt werden wird.« Sie sahen schweigend zu, wie die Männer vom technischen Hilfsdienst ihre ergebnislose Suche abbrachen und zu den Rettungsfahrzeugen zurückkehrten. Polizisten und Feuerwehrleute kletterten noch zwischen den Trümmern herum, obwohl sie wußten, daß sie nichts finden würden, nur einfach deshalb, weil man es von ihnen erwartete. Ziegel, Mörtelbrokken, Glas, Holzstücke und Porzellanscherben wurden aufgehoben und untersucht, aber nirgends fand sich auch nur die kleinste Spur menschlichen Gewebes. Die Explosion hatte es restlos vernichtet. Regenwasser fiel auf die Trümmer und verdampfte. Der Trümmerberg hatte in der Mitte einen Krater, ein Zeichen, daß die Kellerdecke eingebrochen war. Wasser-
lachen hatten sich in den Vertiefungen gebildet, und Gasgeruch hing in der Luft. Die Männer zwischen den Trümmern bewegten sich vorsichtig. Keiner hatte Lust, von abrutschendem Mauerwerk in die Tiefe gezogen zu werden. Danforth stand mit gespreizten Beinen da und beobachtete das Treiben mit mißmutigen Blicken. Die sechste Explosion. Für ihn würde es, was seine berufliche Tätigkeit betraf, die letzte sein. Die erste Bombe war in Chicago hochgegangen, in einem der nördlichen Stadtteile. Die zweite war in Peoria explodiert, die dritte wieder in Chicago – und dann drei Attentate hier in der Stadt. Der Kameramann hatte vorhin nur das gesagt, was alle vermuteten. Jemand hatte es auf Bens Anhänger abgesehen. Jemand haßte diese Leute so sehr, daß er sie der Reihe nach umbrachte, zu zweien, fast dutzendweise. Sechsmal hatte er bisher zugeschlagen, jedesmal vernichtend und immer bei Nacht. In keinem Fall hatte es eine Spur oder einen Hinweis gegeben. Selbst die Zeitkameras hatten nichts registriert. Immer bei Nacht ... Er wiederholte das mehrmals in Gedanken. Bei Nacht. Und was war ihm noch aufgefallen? Es gab noch etwas, aber was es war, ließ sich nicht klar umreißen. Die Explosionen ereigneten sich nur bei Nacht. Nur hohe Funktionäre der Partei waren ihre
Opfer, und sie – was war ihnen noch gemeinsam? Danforth zermarterte sich vergebens das Gehirn. Die Söhne Amerikas, als betroffene Gruppe, machten naturgemäß das größte Geschrei. Sie warfen der Sicherheitspolizei vor, nichts zu unternehmen. Sie verdächtigten die Kommunisten, die Internationalisten, die Linksliberalen, die Republikaner, die Demokraten und bloß versehentlich nicht die Prohibitionistenpartei. Sie hielten Massenkundgebungen ab, wie die im Fußballstadion von Atlanta, schickten Telegramme ans Weiße Haus und protestierten lautstark. Sie verlangten, daß endlich etwas geschehe. Aber was? Danforth hätte es beim besten Willen nicht sagen können. Die Polizei in Chicago hatte nichts verhindern und nichts aufklären können. Dasselbe hatte sich in Peoria, eine Woche später, wiederholt. Er und Captain Redmon waren gleich nach Bekanntwerden des Attentats nach Peoria gefahren. Sie waren keinen Schritt weitergekommen als die dortige Polizei. Und die Bombenattentate gingen weiter. Das erste Opfer war der Aufsichtsratsvorsitzende der Energieversorgungsbetriebe von Nord-Illinois gewesen, der gleichzeitig das Amt des Schatzmeisters einer politischen Vereinigung bekleidet hatte, die sich die Söhne Amerikas nannte. Mit ihm waren seine Frau und die Unterlagen über die finanziellen Trans-
aktionen der Vereinigung zur Hölle gefahren. Ebenso ahnungslos war das zweite Opfer gewesen, der Befehlshaber der Nationalgarde von Illinois, den es nachts im Standorthauptquartier in Peoria erwischt hatte. Eine Gruppe von Militärs und Teile des Fuhrparks hatten sich ebenfalls in nichts aufgelöst. Kurz vor seinem Abgang war Kritik an seinen politischen Aktivitäten aufgekommen und daran, daß er Bens politische Ambitionen öffentlich unterstützte. Damals hatte man zwischen beiden Attentaten noch keinen Zusammenhang gesehen. Das dritte Attentat in der darauf folgenden Woche war im wahrsten Sinne des Wortes ein Volltreffer gewesen. Wieder war Chicago der Schauplatz, und zu den Opfern zählten der Gouverneur von Illinois, der älteste Senator des Staates Indiana, der Minister für soziale Angelegenheiten von Indiana, zwei Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft von Iowa und eine Reihe weiterer hoher Verwaltungsbeamter aus diesen drei Bundesstaaten. Ausnahmslos waren es überzeugte Anhänger der Söhne Amerikas, die sich getroffen hatten, um über die Marschrichtung der Vereinigung anläßlich der für November angesetzten Nationalwahlen zu beraten. Es war bezeichnend, daß die Opfer beiden großen Parteien des Landes angehörten, als Mitglieder einer patriotischen Vereinigung jedoch gemeinsame Ziele verfolgten. Ben strebte als
Mitglied seiner Partei das Amt des Vizepräsidenten an, ließ dabei jedoch niemand im Ungewissen, wo seine wahren Sympathien lagen. Bens Anhänger wußten genau, wer das Land regieren würde, falls und wenn der nur als Gallionsfigur dienende Präsidentschaftskandidat ins Amt gewählt werden sollte. Nach diesem dritten Attentat war völlig klar, daß zwischen allen dreien ein Zusammenhang bestand. Und die Söhne Amerikas begannen, lauthals zu lamentieren und protestieren. Der Bundesstaat Illinois wurde zur Zeit kommissarisch vom Gouverneurstellvertreter regiert. Dessen Leben war verhältnismäßig ungefährdet. Er war von der Opposition als Kandidat aufgestellt worden und hatte das Amt offensichtlich nur durch einen Zufall bekommen. Er hielt herzlich wenig von den Söhnen Amerikas, und Ben war in seinen Augen ein krasser Opportunist. Der Mann konnte nachts ruhig schlafen. Von den nächsten drei Explosionen wurde Springfield in der vierten, fünften und sechsten Woche heimgesucht. Betroffen waren der Senatsvorsitzende, der Besitzer einer Kette von Filmtheatern, ein Verleger und zuletzt der Staatssekretär für äußere Angelegenheiten, Simon Oliver. Und nächste Woche? Danforth schüttelte den Kopf. Wer würde der nächste von der Parteiprominenz sein, der den Fehler machte, nachts ein Haus oder ein
Gebäude zu betreten? Es brauchte nicht notwendigerweise dieselbe Nacht in der Woche zu sein, aber es geschah immer bei Nacht und – ja, was hatten die sechs Attentate noch gemeinsam? Danforth war wieder bei der Kernfrage angelangt. Irgend etwas war bei den Attentaten immer gleich. Nur, was konnte es bloß sein? Danforth richtete sich ruckartig auf und blickte auf die rauchende Ruine. Er drehte sich um, und sein Blick fiel auf den Kameramann und seinen großen Regenschirm. Der Regen. Es hatte jedesmal geregnet. Jeder der sechs Sprengstoffanschläge war bei Nacht erfolgt, jeweils einer pro Woche, und jetzt fiel es Danforth ein, daß es in allen diesen Nächten geregnet hatte. Die Bomben waren nur in Regennächten hochgegangen. Was bedeutete das? Der Kameramann trat vor die Kamera und setzte den Objektivdeckel auf die Linse. Er schaltete den Motor aus, zog die Schutzhaube über das Gerät und klappte den Regenschirm zusammen. Nachdem er sich bei seinen Mitarbeitern mit einem schrillen Pfiff und Winken seiner Arme bemerkbar gemacht hatte, hob er die Kamera und das Stativ auf und ging zu dem Lieferwagen, der am Straßenrand wartete.
»Ich hab's im Kasten, Leutnant. Die Explosion ist vorüber.« »Ich warte auf den Film«, sagte Danforth. »Eine Viertelstunde wird es dauern«, sagte der Kameramann. Danforth ging mit ihm zur Straße. Hinter ihnen folgte die Mannschaft mit dem Rest der Ausrüstung. Der Lieferwagen diente als Transporter und fahrbare Dunkelkammer. Danforth wollte sich gegen den nassen Kotflügel lehnen, um zu warten, aber der Kameramann bedeutete ihm, er solle sich weiter entfernen. Die Zeitkamera war ein kompliziertes Gerät, und der Umgang mit ihr war weder einfach noch ohne Risiko. Sie stellte einen wichtigen Beitrag der Fotoindustrie zum Atomzeitalter dar, obwohl es Leute gab, die das Gegenteil behaupteten. Ihr Geheimnis bestand in dem mit radioaktiver Substanz beschichteten Film, die, wie man hätte meinen können, die Aufnahmen nicht unbrauchbar machte, und in einer besonderen Anordnung der Linsen im Objektiv. Man konnte die Kamera nicht auf Gegenstände richten und diese aufnehmen. Statt dessen konnte sie, allerdings nur unter ausgezeichneten Begleitumständen, bis zu siebenundzwanzig Minuten in die Vergangenheit blicken. Siebenundzwanzig Minuten waren der unter Laborbedingungen aufgestellte Weltrekord. Berufs- und Amateurfotografen auf der ganzen Welt versuchten
ständig, diesen Rekord zu brechen. Die billigste Zeitkamera kostete über tausend Dollar und konnte unter günstigen Umständen Aufnahmen machen, die bis zu drei Minuten in die Vergangenheit zurückreichten. Man konnte sie, sofern man das Geld dafür ausgeben wollte, in jedem Fotogeschäft kaufen. Die Preise für bessere Kameras lagen unverhältnismäßig höher. Das batteriebetriebene Gerät, mit dem die Sicherheitspolizei von Illinois ausgerüstet war, konnte maximal vierundzwanzig Minuten in die Vergangenheit blikken. Diese zeitliche Begrenzung hielt die Kameraleute jedoch nicht davon ab, zu experimentieren. Wie so manche andere revolutionäre Erfindung oder Entdeckung hatte auch die Zeitkamera, nachdem sie über das Stadium des Experimentierens hinausgekommen war und serienmäßig hergestellt werden konnte, zu Spekulationen und Experimenten geführt. Journalisten, Zukunftsforscher und selbsternannte Propheten sahen schon den nächsten Schritt voraus: die Zeitreisemaschine. Die Zivilisation machte sich auf, ein weiteres Mal am Lauf der Natur zu manipulieren. Ein Team von Fachleuten arbeitete seit Jahren daran, eine Kamera zu entwickeln, die noch weiter in die Vergangenheit zurückblicken konnte. Die Folgen solcher Bemühungen waren unter anderem, daß die Polizei Telepathen rekrutierte, daß Telepathen nach Zeitreisenden Ausschau hielten und auf
den Markt von morgen spekulierende Unternehmen lautstark verkündeten, die Fertigstellung eines solchen Apparates stünde unmittelbar bevor. Das Verrückte daran war nur die offensichtliche Paradoxie. Es ließ sich unmöglich sagen, ob das Pferd vor den Wagen gespannt war oder umgekehrt. Wissenschaftler und Politiker ließen Verlautbarungen verbreiten, die keiner verstand. Absurde Gesetzesvorlagen wurden eingebracht, die es Zeitreisenden verbieten sollten, durch die jeweiligen Staatsgebiete und deren ureigenste Zeit zu reisen. Selbsternannte Kapazitäten verbreiteten Aufrufe, Klarstellungen und Warnungen vor dem Verderben. Doch der Mann auf der Straße scherte sich nicht darum und ging seiner Wege. Denn die ganze Angelegenheit blieb so akademisch wie sie paradox war. Das Problem war nämlich folgendes: Wie sollte man einen Zeitreisenden fangen, der zurückreisen und die Falle zerstören konnte, im selben Moment, in dem sie errichtet wurde? Und mit ihr den Fallensteller. Zweite Frage: Wenn die im Dienst der Polizei tätigen Telepathen jetzt schon nach Zeitreisenden Ausschau hielten, während die unter Regierungsaufsicht stehenden Unternehmen noch gar nicht in der Lage waren, eine Zeitreisemaschine zu entwickeln, weshalb lebten dann die für den Zeitreisenden so gefähr-
lichen Telepathen noch immer, wenn man davon ausging, daß eine Zeitreisemaschine eines Tages erfunden werden würde? Wer war zuerst da: die Henne oder das Zeitreiseei? Das Lichtsignal der Dunkelkammer blinkte auf, und die Hecktür des Lieferwagens wurde vorsichtig geöffnet. Der Kameramann streckte seinen Kopf heraus und überreichte Danforth eine runde Dose. »Nichts Besonderes, Leutnant. Ich habe es Ihnen vorausgesagt.« »Aber wenigstens etwas?« »Sicher. Man kann Leute und Hunde erkennen. Und das Haus. Aber achten Sie auf den Explosionsblitz; der ist zu grell für die Augen, wenn man ihn direkt durch den Projektor betrachtet.« Danforth dachte darüber nach, auf die Dose in seiner Hand starrend. Dann blickte er den Kameramann an. »Haben Sie einen Geigerzähler?« »Einen Gei –« Neugierige Verwunderung stand im Gesicht des Mannes. »Sicher. Wir haben einen, um den Zustand des Films zu überprüfen.« »Leihen Sie ihn mir bitte!« »Leutnant, Sie glauben –« »Egal, was ich glaube. Ich will sicher sein. Den Zähler bitte.«
Der Kameramann gab ihm das Instrument, sprang aus dem Wagen und folgte Danforth über den Rasen zu den Ruinen des Hauses. Sie kletterten über den Rand des Fundamentes und erreichten das eigentliche Zentrum der Zerstörung. Danforth bückte sich und hielt das Gerät gegen die zerstörten Backsteine. Der Zähler begann langsam, aber gleichmäßig zu tikken. Die Strahlung war schwach. Die beiden Männer wechselten einen Blick. Der Kameramann sagte plötzlich: »Leutnant, es kann keine Atombombe gewesen sein. Nicht einmal eine Miniaturbombe. Sie hätte unsere Filme zerstört.« »Schauen Sie sich den Zähler an.« »Ich sehe das, aber es ist zu schwach. Es kann keine Bombe gewesen sein – nicht so, wie Sie denken. Die bei einer Atomexplosion auftretende Strahlung hätte unseren Film durchlöchert. Es muß etwas anderes gewesen sein.« »Etwas war es ganz gewiß.« »Sicher. Vielleicht hatte der Staatssekretär eine Menge Leuchtuhren in seinem Haus, oder etwas Ähnliches. Aber es war keine Bombe, das können Sie mir glauben.« Danforth richtete sich auf und gab den Geigerzähler dem Kameramann zurück. Sie schritten schweigend zur Straße zurück, ohne auf den Regen zu achten.
Jetzt war ein weiterer scheinbar zusammenhangloser und verwirrender Umstand zu den bisherigen drei hinzugekommen: die Explosionen erfolgten nur einmal in der Woche, nur nachts und nur wenn es regnete. Der neue vierte Faktor war die Tatsache, daß die Trümmerstücke eine schwache radioaktive Strahlung aussandten. Eine schwache Strahlung, nicht einmal stark genug, um eine Gefahr darzustellen, aber doch stärker als normal. Die durchschnittliche Strahlung auf der Erde war zwar beträchtlich angestiegen, seit die Nationen begonnen hatten, Atombombenversuche durchzuführen; aber diese Strahlung hier überstieg dennoch die gegenwärtige Norm. Und er war schon lange genug Polizist, um zu wissen, daß scheinbar unzusammenhängende Tatsachen höchst selten nichts miteinander zu tun hatten. Sie verhüllten möglicherweise äußerst aufregende Zusammenhänge. »Nehmen Sie das mit ins Hauptquartier; geben Sie es Mr. Ramsey«, sagte Danforth. »Fahren Sie nicht selber hin, Leutnant?« »Jetzt nicht, nein. Wenn ich schon morgen in die Wüste geschickt werden soll, dann gibt es noch einige Dinge, die ich heute nacht erledigen muß.« Er wich den Feuerwehrleuten aus, welche die Schläuche aufrollten, und kehrte zu seinem Wagen zurück. Dann nahm er das Kommunikationsgerät
von der Gabel. Die bekannte Stimme am anderen Ende sagte: »Zentrale.« »Danforth. Informieren Sie Mr. Ramsey und geben Sie es an alle Reviere durch. Sämtliche kürzlich erfolgten Bombenattentate sind wie folgt auf ein gemeinsames Schema zu überprüfen: Erstens, sie erfolgen nur in regnerischen Nächten; zweitens, die Trümmer senden eine schwache radioaktive Strahlung aus, die immerhin beträchtlich über dem Durchschnitt liegt; drittens, die Explosionen kommen, wie bis jetzt festgestellt, nur einmal in der Woche vor. Weisen Sie alle Reviere an, ihre Ergebnisse sofort zu melden, besonders diejenigen über die Strahlung.« »In Ordnung, Leutnant.« »Teilen Sie Mr. Ramsey außerdem mit, daß ich mit dem Film zurückkomme; das Kamerateam bringt ihn. Ich fahre ins Memorial Hospital, um mit den beiden Verletzten zu reden. Ende.«
3. Kapitel Nur einige wenige Lichter kennzeichneten die dunkle Masse des Krankenhauskomplexes. Am entfernteren Nordende schimmerte das große Fenster eines Operationsraumes in blauweißer Helligkeit, und einige Lichter waren im obersten Stockwerk in der Frauenabteilung zu sehen. Danforth parkte seinen Wagen auf dem für Ärzte reservierten Platz und schritt den Weg zur Empfangshalle entlang. Ein weißgekleidetes Mädchen saß dort auf einem Stuhl und las in einer Zeitschrift für Kinderpflege. »Hallo«, sagte der Leutnant. Sie lächelte ihn an. »Dritter Stock, Südflügel.« »Wie bitte?« »Das ganze Krankenhaus weiß Bescheid, wenn uns die Polizei Patienten schickt. Sie liegen im Südflügel im dritten Stock.« Nach einem Blick auf die Pfütze, die sich um seine Füße gebildet hatte, fuhr sie fort: »Melden Sie sich aber im Büro. Man möchte gern wissen, wer kommt und geht. Besonders bei Nacht.« Danforth lächelte. »Ich werde es tun.« »Hut und Regenmantel können Sie hierlassen, wenn Sie wollen.« Sie sah zu, wie er die beiden Kleidungsstücke an die Garderobe hängte. »Das Büro be-
findet sich auf diesem Flur, gleich um die Ecke. Husten Sie, bevor Sie hineingehen.« »Damit ich sie nicht im Schlaf überrasche?« »Richtig.« Danforth hustete und meldete sich in dem Büro an. Dann fuhr er mit dem Aufzug in den dritten Stock hinauf. Er verließ den Lift und sah sich einer weiteren Schwester gegenüber, einer älteren Frau, die hinter einem Schreibtisch saß und Formulare ausfüllte. Sie blickte auf, musterte seine Uniform und sein nasses Gesicht und zeigte mit ihrem Stift den langen, schwach beleuchteten Gang hinunter. Danforth nickte und lächelte. Das hätte er sich sparen können. Die Frau war schon wieder damit beschäftigt, ihre Formulare auszufüllen. Neben einer nicht ganz geschlossenen Tür saß ein Polizist auf einem Stuhl und schlief. Ein paar Türen weiter, auf der anderen Seite des Flurs, saß eine Polizistin und beobachtete ihn. Danforth nickte der Frau zu, dann tippte er dem Polizisten auf die Schulter. Gemeinsam betraten sie das Krankenzimmer. Danforth schaltete das Licht ein. Der junge Mann, der sich gerade im Bett aufsetzte, hatte nicht geschlafen. Sein Kopf und die rechte Seite seines Gesichts waren verbunden. Er schien alles andere als erfreut zu sein über den Besuch. »Rein und raus«, beschwerte er sich, »wie in einem
Taubenschlag. Die ganze Nacht hindurch. Werdet ihr denn niemals müde? Ich jedenfalls bin es.« »Jetzt hören Sie schon auf!« sagte der Polizist ungnädig. Danforth machte eine entschuldigende Handbewegung. »Es tut mir leid, aber es ist nicht zu ändern«, sagte er zu dem Patienten im Bett. »Ich bin Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei. Ich möchte Ihnen einige Fragen stellen. Es wird nicht lange dauern.« »Fragen, immer wieder Fragen ...« Er winkte resignierend mit der Hand. »Also meinetwegen. Sie unterscheiden sich zumindest von Ihren Kollegen, indem Sie höflich sind. Bis jetzt jedenfalls. Um was geht es also?« »Fangen wir mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse an, und wie heißt die junge Dame, und wo wohnt sie?« »Aber das habe ich doch schon hundertmal gesagt. Man hat es niedergeschrieben. Was haben Sie gesagt?« »Ich habe gesagt, daß es mich trotzdem interessiert. Ich war noch nicht hier.« Danforth versuchte, geduldig zu sein. »Jetzt sagen Sie es mir.« »Also gut, dann muß ich wohl. Haben Sie eine Zigarette? Und machen Sie die Tür zu, bitte. Die Stationsschwester ist ein Satan.« Er steckte die Zigarette
zwischen die Lippen und wartete, bis der Leutnant ihm Feuer gab. Dann nahm er sie heraus und sagte müde: »Ich heiße Raymond Boggs. Man nennt mich Red. Wegen meines roten Haares. Wenn man mir nicht den Kopf verbunden hätte, könnten Sie es sehen. Ich habe in der North Monument Street 13 ein möbliertes Zimmer. Nur zum Schlafen. Ich esse auswärts. Ich arbeite für Alton.« Er schaute den Polizisten, der noch neben Danforth stand, böse an. »Ich bin kein Radikaler, und ich habe das verdammte Haus nicht in die Luft gesprengt. Also, was ist jetzt?« »Wissen Sie, wer es getan haben könnte?« »Ich habe keine Ahnung.« »Das dachte ich mir«, murmelte Danforth. »Es wird einem niemals leicht gemacht. Man hat mir gesagt, Sie hätten eine junge Frau vom Kino nach Hause begleitet. Bei diesem Regen?« »Ganz richtig.« Er blickte Danforth herausfordernd an. »Im Regen. Wir gehen gern im Regen spazieren. Der Film war ein Reinfall, aber ich habe die Kinokarten noch in meiner Tasche.« Wieder blickte er den Polizisten an. »Falls sie mir nicht jemand weggenommen hat.« »Schon gut, ich glaube Ihnen ja. Aber warum sind Sie im Regen zu Fuß gegangen? Und warum gerade durch diese Straße und um diese Zeit?« »Wir sind im Regen spazierengegangen, weil es
uns Spaß macht. Wenn wir mal heiraten, wünschen wir uns ein Schlafzimmer mit einem Blechdach. Dann können wir im Bett liegen und zuhören, wie der Regen darauf trommelt. Und wenn Ihnen das als Begründung nicht genügt, kann ich Ihnen nicht helfen.« Boggs gab sich keine Mühe, die Herausforderung in seiner Stimme abzuschwächen. »Und wir waren um diese Zeit unterwegs, weil wir das Kino zu keiner anderen Zeit verlassen hatten und eben so weit gekommen waren, als es passierte.« »Schön. Aber warum gingen Sie gerade durch diese Straße?« »Weil sie die beste Verbindung vom Kino zur Bushaltestelle an der Ecke ist, wo sie immer einsteigt. Wir gehen immer durch diese Straße. Und es gibt da einen kleinen Kiosk, da kann man noch spät abends Eiscreme kaufen. Da gehen wir immer vorbei, bevor sie in den Bus steigt.« »In den Bus wohin?« »Zum See hinaus. Sie arbeitet dort und bleibt auch über Nacht.« »Am See? Aber dieser Bus hält doch an mehreren anderen Haltestellen in der Innenstadt, wo sie hätte früher zusteigen können.« »Natürlich. Aber ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir gern spazieren gehen, besonders im Regen. Wir warten nie an einer Haltestelle in der Innenstadt,
nachdem wir aus dem Kino gekommen sind oder sonst etwas getan haben, sondern wir gehen zu dem kleinen Kiosk und anschließend zu der Haltestelle. Manchmal fahre ich mit ihr zum See hinaus, manchmal nicht.« »Und was hatten Sie heute vor?« »Ich wollte mit ihr zum See hinausfahren.« »Und anschließend nach Hause?« »Nein, ich hatte vor, zur Arbeit zu gehen. Ich habe Nachtschicht.« »Wie heißt das Mädchen?« »Barbara Brooks. Und lassen Sie sie bloß in Ruhe. Sie weiß von der Sache nicht mehr als ich.« »Lebt sie draußen am See?« »Ja und nein. Meistens wohnt sie draußen. Ihre Eltern haben draußen eine Farm, und am Wochenende fährt sie immer nach Hause. Während der Woche arbeitet sie in verschiedenen Häusern am Seeufer. Einen oder auch zwei Tage bei einer Familie, am Tag darauf dann bei der nächsten. Jedenfalls ist sie fünf Tage in der Woche beschäftigt.« »Aha. Und bei diesen Familien übernachtet sie auch?« »Natürlich. Der Bus fährt bis Linden Lane, und den Rest des Weges gehen wir zusammen zu Fuß. Je nachdem, in welchem Haus sie am Tage gearbeitet hat.«
»Und wo wollte sie heute noch bleiben?« »Der Mann heißt Nash, Gilbert Nash. Ich kann Ihnen die Hausnummer nicht sagen, aber in der Dunkelheit finde ich das Haus ohne Schwierigkeiten.« »Liegt es in der Linden Lane?« »Nein, etwas abseits von der Straße, etwa zweihundert Meter, vielleicht auch mehr. Jetzt tun Sie mir bloß den Gefallen und fahren Sie nicht hinaus, um die Leute verrückt zu machen. Das könnte meine Freundin die Stellung kosten.« »Keine Sorge, diese Absicht habe ich nicht. Ich habe schon genug mit verrückten Leuten zu tun«, sagte Danforth. »Haben Sie in Ihrem Betrieb Bescheid gesagt und diesen Nash angerufen?« »Ja, meinen Schichtführer. Das heißt, die Schwester hat es getan. Nashs haben kein Telefon.« »Ich werde sie benachrichtigen«, versprach Danforth, »wenn es die Polizei nicht schon getan hat. Jetzt, Boggs, nehmen Sie bitte Ihren Grips für einen Moment zusammen. Denken Sie ganz genau nach und sagen Sie mir, ob Sie irgend etwas Ungewöhnliches kurz vor der Explosion sahen oder hörten.« Boggs grinste. »Sie machen Witze! Ich hatte nur Augen und Ohren für Barbara.« »Zweifellos. Aber versuchen Sie es trotzdem. Erinnern Sie sich noch an das Haus?« »Oh, ich weiß, wo wir waren, und ich kannte den
Ort. Irgendein großes Tier wohnt dort. Hält sich ein Paar Doggen – und ich konnte sie bellen hören.« »Bellten sie Ihretwegen?« »Himmel, nein, sie waren einen halben Häuserblock entfernt. Beim Haus oben, vermute ich. Aber sie vollführten einen höllischen Radau.« »Hörten Sie jemand sprechen oder schreien?« »Nein.« »Nichts außer dem Gebell der Hunde?« »Stimmt.« »Haben Sie eine Idee, was sie zum Bellen veranlaßt haben könnte?« »Guter Gott, nein! Ich konnte sie nicht einmal sehen.« »Waren andere Leute in der Nähe?« »Niemand, den ich gesehen hätte.« »Fahrzeuge?« »Habe ich keine gesehen – aber wenn auch, ich schaute nicht hin.« »Natürlich. Sie schauten Miss Brooks an.« »Warten Sie, bis Sie sie sehen. Sie werden ebenfalls schauen!« Danforth zog sich einen Stuhl von der Wand heran und setzte sich. Er schloß die Augen. »Nun, es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe, Boggs. Ich danke Ihnen für die Mitarbeit. Ich hoffte, Sie würden mir etwas mitteilen können. Irgend etwas.« »Nein, das ist wirklich alles, Leutnant. Als Sie he-
reinkamen, dachte ich, Sie würden so wie die anderen sein.« Boggs warf einen raschen Blick auf den Polizisten im Hintergrund. »Sie geben verdammt wenig auf den Schlaf eines Mannes, und sie denken, jedermann sei ein Lügner oder ein Betrüger. Beschuldigten mich sogar, ein Radikaler zu sein.« »Nehmen Sie es den Männern nicht krumm; sie waren ziemlich aufgebracht. Sie haben von den Bombenanschlägen gelesen?« »Sicher. Die Anarchisten möglicherweise.« »Vielleicht. Aber wir wissen wenig mehr darüber als Sie in diesem Augenblick. Das ist der Grund, weshalb Sie jetzt die Zielscheibe aller Fragen sind. Sie hatten das Pech, in der Nähe der Unglücksstätte zu sein, als es geschah.« »Das bedrückt mich, Leutnant. Zu all diesen Scherereien verliere ich noch einige Tage Arbeit. Und wir sparen, um heiraten zu können.« »Ich werde Ihre Freundin besuchen, bevor ich gehe.« »Seien Sie nicht zu grob zu ihr, Leutnant. Versprechen Sie mir das. Barbara weiß nichts, die ganze Geschichte hat sie sehr aufgeregt.« »Ich werde mich bemühen.« Danforth stand auf. »Gute Nacht.« »Auf Wiedersehen, Leutnant. Ich hoffe, Sie erwischen die Bombenleger.« Der Polizist setzte sich wieder auf den Stuhl drau-
ßen auf dem schwach beleuchteten Gang. Die Augen fielen ihm zu. Er schien das Interesse an der ganzen Angelegenheit verloren zu haben. Danforth überquerte den Korridor und ging zu der Stelle, wo die Polizistin saß. Sie stand auf, als er näherkam. »Ich hätte gern kurz mit ihr gesprochen, falls sie wach ist.« »Gewiß, Leutnant.« Gemeinsam gingen sie hinein, und die Polizistin schaltete das Nachttischlämpchen an. Boggs hatte nicht übertrieben. »Ich habe Sie gehört«, sagte das Mädchen im Bett leise. »Ich bin wach.« »Miss Brooks, ich bin Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei. Mit der Aufklärung von Sprengstoffattentaten betraut. Ich habe mich gerade mit Boggs über die Explosion heute nacht unterhalten.« Sie lächelte schwach. »Auch das habe ich zum Teil mitgehört. Raymond fährt leicht aus der Haut, und dann spricht er sehr laut.« Danforth sah sich gezwungen, seine Fragen an sie anders zu formulieren, als er ursprünglich vorgehabt hatte. Nachdem sie wußte, was Boggs gesagt hatte, würde sie ihre Antworten darauf abstimmen. Deshalb wiederholte er nun alles, was der Mann ihm gesagt hatte, und fragte sie dann, ob sie irgend etwas hinzuzufügen habe.
»Überlegen Sie bitte, Miss Brooks, ob Sie noch etwas ergänzen können. Gleichgültig, wie unbedeutend es Ihnen erscheinen mag.« Das Mädchen schloß die Augen und dachte lange nach. Als sie sie wieder öffnete, blickte sie den Leutnant an. »Und Sie werden auch nicht glauben, daß ich mir das alles nur eingebildet habe, Leutnant?« Er beugte sich interessiert nach vorn. »Bestimmt nicht! Was war es denn?« »Ein zischendes Geräusch. Eher ein Rauschen.« Danforth runzelte die Stirn. »Ein Rauschen?« Sie nickte. »Leutnant, können Sie sich vorstellen, wie es sich anhört, wenn ein Boot durchs Wasser fährt? Ein ziemlich großes Boot, das den Fluß hinauffährt. So hat es sich angehört.« Er fragte: »Ein Schiffsrauschen?« Wieder nickte sie. »Vor Jahren machte ich mit einer Freundin eine Flußfahrt auf dem Ohio, mit einem Ausflugsdampfer. Es war einer von diesen altmodischen Raddampfern, und es war Nacht, wir standen am Bug und hörten zu, wie das Wasser vorbeirauschte. Es ist ein ganz bestimmtes Geräusch. Es tut mir leid, daß ich es Ihnen nicht besser beschreiben kann.« »Und ein ähnliches Geräusch haben Sie heute nacht gehört?« »Ja. Unmittelbar bevor es Trümmer zu regnen be-
gann. Es war ein Rauschen, wie wenn ein Schiff durchs Wasser fährt.« »Es regnete«, sagte Danforth. »Hätte es nicht das Rauschen des Regens sein können, vielleicht im Laub der Bäume?« »Nein. Das habe ich auch gehört. Aber dieses andere Rauschen hatte ich schon seit Jahren nicht mehr gehört.« »Hat Boggs es auch gehört?« »Das möchte ich stark bezweifeln. So etwas hört er nicht.« »Wo entstand dieses Rauschen? Hinter der Grundstücksmauer? Könnten Sie mir die Stelle bezeichnen?« »Nein.« Ihr Ausdruck verriet, daß sie unsicher war und verwirrt. »Es war überall und nirgends. Es schien in der Luft zu schweben, Leutnant. Und es klang in einem kurzen Augenblick so echt, daß ich mich unwillkürlich nach einem Schiff umschaute.« »Aber da war keins«, sagte er. »Nein«, bestätigte sie. »Bevor ich wußte, was los war, fielen die Brocken vom Himmel, und – hier bin ich nun.« Danforth seufzte und stand auf. Er hatte geglaubt, das Mädchen würde ihm etwas Wichtiges berichten können, und nun war die Enttäuschung fast wie ein körperlicher Schmerz. Er steckte die Hände in die Taschen und blickte auf sie hinab.
»Ja, da sind Sie nun, und Sie können mir glauben, daß ich das bedaure. Kein schönes Ende für einen netten Abend. Ich habe übrigens Boggs versprochen, daß ich Ihren Arbeitgeber verständigen würde – diesen Mr. Nash. Er soll allerdings kein Telefon haben.« »Nein, er ist schrecklich altmodisch. Bitte sagen Sie den Nashs, daß mir nichts passiert ist. Mrs. Nash könnte sich sonst Sorgen machen.« »Das werde ich tun«, versprach er. Mehr fiel ihm nicht ein. Er zögerte noch einen Augenblick, dann kam er sich albern vor und sagte: »Also dann gute Nacht.« »Gute Nacht.« Danforth fuhr mit dem Lift hinunter und holte Hut und Mantel von der Garderobe neben dem Eingang. Die junge Schwester saß nicht mehr hinter dem Schreibtisch. Beim Hinausgehen setzte er den Hut auf, und da es draußen noch immer regnete, zog er auch den Mantel an. Dann ging er die Auffahrt hinunter zu der Stelle, wo er den Wagen stehengelassen hatte. Mitten im Schritt hielt er plötzlich an und blickte zum regnerischen Himmel hinauf. »Rauschen!« sagte er mit bitterer Stimme. »Jetzt hören es die Leute auch noch rauschen. Aber wenn ich das jemandem sage, werde ich nur ausgelacht.« Er ging weiter zu seinem Wagen, und als er die Tür öffnete, hielt er noch einmal inne.
»Rauschen. Nacht, Regen, radioaktive Strahlung, Rauschen.« Eine Reihenfolge, die keinen Sinn ergab. Vielleicht in veränderter Form? Nacht, Regen, Rauschen, radioaktive Strahlung. Nicht weniger albern und bedeutungslos. Danforth setzte sich in den Wagen und schlug die Tür zu. Aber er ließ den Motor nicht an. Nach einer Weile drehte er das Fenster hinunter und steckte den Kopf hinaus in den Regen. Ein Rauschen hörte er nicht. Danforths Gedanken beschäftigten sich auch weiter mit dem Problem, als er nach Lake Springfield hinausfuhr. Der nasse Asphalt reflektierte das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Wagen, und er kniff die Lider zusammen, um nicht geblendet zu werden. Daß man die Krankenzimmer bewachen ließ, war ein deutliches Anzeichen dafür, daß die Behörden der Stadt die beiden jungen Leute noch im Verdacht hatten. Danforth dachte anders darüber. Im Augenblick wußte er mehr über die Bombenattentate als die Polizei der Stadt, und Boggs und das Mädchen paßten nicht in das Bild, das er sich machte. Das würden zur gegebenen Zeit auch die Behörden der Stadt einsehen, aber bis dahin wollte man sie unter Beobachtung halten, was den beiden sicherlich Unbequemlichkei-
ten einbringen würde. Sie waren rein zufällig am Explosionsort vorbeigegangen, als es passierte, und dabei verletzt worden. Das war auch schon alles. Fast alles. Das Mädchen hatte ein Rauschen in der Regennacht gehört, das sie an das Rauschen der Bugwellen eines Schiffes erinnert hatte. Schon deshalb war Danforth froh, daß sie sich mit ihrem Freund in der Nähe befunden hatte. Daß sie dabei verletzt worden war, tat ihm leid – aber für ihre Beobachtung war er dankbar, denn das war ein weiterer Punkt auf seiner Liste von Tathinweisen. Ausbildung und Erfahrung veranlaßten ihn, alles in einem wenn auch noch sehr lockeren Zusammenhang zu sehen, und nun sagte ihm seine Intuition, daß alles in einem Zusammenhang stehen mußte – auch wenn es noch keinen Sinn ergab. Das war ihm in der vergangenen Stunde klar geworden. Während er durch den Regen fuhr, versuchte er, alle diese Anhaltspunkte systematisch zu ordnen und chronologisch aneinanderzureihen. Begonnen hatte es mit einem politischen Wirrkopf namens Ben. In diesen Tagen schien sich nahezu alles um diese Figur zu drehen. Seit zwanzig, vielleicht auch fünfundzwanzig Jahren hatte sich dieser Mann politisch betätigt. Jeder Ausspruch, den er von sich gegeben hatte, wo immer dies auch gewesen sein
mochte, hatte stürmische Kontroversen ausgelöst. Leute hatten sich zu Gruppen zusammengefunden, um ihm zu widersprechen, aber noch mehr unterstützten ihn. Letztere waren so aktiv und äußerten sich so lautstark, daß es schien, als repräsentierten sie die gesamte Bevölkerung. Schließlich war es, angeblich unter dem Druck der Basis, zur Gründung einer politischen Vereinigung gekommen, die wie eine politische Partei organisiert war und sich nationalpatriotisch gebärdete: die Söhne Amerikas. Bens Anhänger. Diejenigen Leute, die ihn bisher öffentlich gefördert hatten, scharten sich noch enger um ihn, unterstützten die Bewegung finanziell, vertraten sie publikumswirksam nach außen hin, indem sie mit Anstecknadeln und Abzeichen herumliefen. Diejenigen aber, die sich ihm bisher widersetzt hatten, waren wie gelähmt vor Entsetzen oder wurden einfach aus dem Weg gedrängt. Zu Bens Anhängern gehörten bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen und privaten Lebens ebenso wie kleine Leute, gleichgültig welcher politischen Partei sie zuneigten. Nur die radikalen Gruppen machten nicht mit, und sie wurden auch die Zielscheibe von Bens heftigen Angriffen. Vor etwa acht oder zehn Jahren hatte Ben schließlich die Unterstützung seiner eigenen offiziellen Partei verloren, weil man Angst vor ihm und seiner zunehmenden Macht bekommen hatte. In der darauf-
folgenden Wahl zeigte sich jedoch, daß sie zu spät gehandelt hatten. Bens Anhänger sorgten mit Eifer dafür, daß er wiedergewählt wurde, wobei sie auch vor unlauteren Mitteln nicht zurückschreckten, und Ben kehrte im Triumph nach Washington zurück. Er gehörte der Regierung bis heute an. Für den kommenden November war der nächste große Schritt geplant gewesen. In fünfzig Bundesstaaten sollte gewählt werden. Das Volk hatte die Wahl zwischen sechs politischen Parteien: die Republikaner, die Demokraten, die Söhne Amerikas, die Prohibitionisten, die Vegetarier und die Sozialisten. Die ersten beiden, die größten unter den sechs Parteien, prophezeiten mit großem Aufwand, daß sie als Sieger hervorgehen würden. Sie veranstalteten Meinungsumfragen, die ihre Behauptungen erhärten sollten. Stärker als alle unterschiedlichen Ansichten war ein Band, das sie zusammenhielt: die Angst. Die Söhne Amerikas hatten als ihren Präsidentschaftskandidaten einen Mann namens Smith aufgestellt, ein unbeschriebenes Blatt aus Hawaii, und Ben hielt sich bescheiden im Hintergrund und strebte die Vizepräsidentschaft an. Aber damit täuschte er niemanden. Ben würde nicht nur im Senat das große Wort führen, sondern Smith und das Weiße Haus am Gängelband. Es schien kein Mittel zu geben, ihn aufzuhalten. Der von ihm auserwählte Repräsentant saß bereits im Ka-
binett und verbreitete Untergangsstimmung, ohne auch nur den Mund zu öffnen. Dann war der Telepath auf dem Plan erschienen, wahrscheinlich gleichzeitig mit Ben. Niemand konnte sagen, wie lange sie schon in der zivilisierten Welt existiert hatten. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Militärs einen ausfindig gemacht und sich seither auf der Suche nach weiteren fast verrückt gemacht. Eine Abteilung des militärischen Geheimdienstes hatte bald darauf zwei weitere Telepathen in Oak Ridge aufgestöbert. Mehrere Telepathen arbeiteten inzwischen im öffentlichen Dienst, hauptsächlich für die Polizei der Vereinten Nationen, das Militär und im diplomatischen Dienst. Man vermutete, daß es noch mehr von ihnen gab, die sich im Hintergrund hielten und ihr Privatleben nicht aufgeben wollten. Der dritte Aspekt war die Erfindung der Zeitkamera vor ein paar Jahren. Sie erwies sich als der auslösende Faktor für eine ganze Reihe von Schwierigkeiten – Danforths eigenen miteingeschlossen. Die Kamera wurde als ein bedeutender Schritt nach vorn in der Entwicklung der Wissenschaft, bei der Verbesserung der polizeilichen Ermittlungsarbeit und überhaupt als ein Segen für die Menschheit gefeiert, und ihre Erfinder galten als die Helden des Tages. Eines allerdings sehr kurzen Tages. Irgendein Theoretiker hatte den Wermutstropfen in
den Wein geschüttet, als er das Thema Zeitreisemaschine ins Spiel gebracht hatte. Man müsse, hatte er gemeint, endlich damit beginnen, dieses Projekt aus dem Bereich der Science Fiction herauszunehmen, wie andere Entwicklungen vorher auch, und alle Anstrengungen unternehmen, die Idee in die Praxis umzusetzen. Nach den Worten des Theoretikers sei durch die Erfindung der Zeitkamera eindeutig bewiesen, daß man auf dem richtigen Weg sei, und nur weiterzugehen brauche, um geradewegs ins Paradies zu gelangen. Dieser Vorschlag war zunächst mit Skepsis und höflichem Schweigen aufgenommen worden. Erstaunlicherweise waren es gerade die Leute gewesen, die etwas von Science Fiction verstanden, die gegen die Theorie Sturm gelaufen waren. Das war verständlich, wenn man bedachte, daß sie mit jeder Erfindung, die gemacht wurde, um ein wichtiges Element ihrer Literaturgattung ärmer wurden. Sie wiesen ausdrücklich darauf hin, daß gerade das Thema Zeitreise schon in der Literatur eine der großen Paradoxien darstellte. Aber der Theoretiker blieb am Ball, und es dauerte nicht lange, da griffen die Medien das Thema auf. Der Wettlauf um die erste Zeitreisemaschine setzte ein. Institutionen auf der ganzen Welt, wie Polizei, Militär und politische Parteien, standen vor einer völlig neuen Situation. Sie, das heißt ihre Telepathen, beobachteten, während das Volk abwartete.
Und dann war plötzlich, wie aus heiterem Himmel, die erste Explosion erfolgt. Im weiteren Verlauf waren innerhalb von sechs Wochen auf dieselbe Weise eine politische Figur nach der anderen eliminiert worden – alles Mitglieder der beiden größten Parteien und diverse Amtspersonen, die eines gemeinsam hatten: sie gehörten der Vereinigung der Söhne Amerikas an und unterstützten Ben öffentlich mit Wort und Tat. Das Motiv hinter den Sprengstoffanschlägen war ebenso deutlich erkennbar wie ihre Ziele: Bens Anhänger daran zu hindern, die Novemberwahlen zu gewinnen. An diesem Punkt war auch Danforth mit in die Sache hineingezogen worden. Er konnte sich noch erinnern an die Zeit, als er ein Junge gewesen war und seine Eltern sich über Ben unterhalten hatten. Er war aufgewachsen und hatte sich daran gewöhnt, daß Bens Name in aller Munde war. Viele seiner Kollegen im Amt gehörten der Vereinigung an, desgleichen einige von seinen Vorgesetzten. Als der Telepath eingestellt worden war, hatte er ein unangenehmes Gefühl gehabt. Es ging ihm wie allen anderen Mitarbeitern in seiner Dienststelle. Die Vorstellung, daß Mr. Ramsey ihre Gedanken lesen konnte, war nicht gerade angenehm. Aber es hatte keine peinlichen Zwischenfälle gegeben, und schließlich hatte er die Existenz des Mannes akzep-
tiert. Große Erwartungen hatte Danforth in den Kauf der Zeitkameras gesetzt. Die Enttäuschung war um so herber gewesen. Wie so viele seiner Kollegen hatte auch er erwartet, daß die Kameras ihnen die Ermittlungsarbeit stark erleichtern würden. Dies war nicht der Fall gewesen. Und jetzt, heute nacht, schien die lange Kette von lose miteinander zusammenhängenden Vorfällen ihren Höhepunkt in einem persönlichen Unheil zu finden. Sein Vorgesetzter war tot, ein Opfer des letzten Attentats, und so war das Kommando an ihn übergegangen. Aber infolge des starken Druckes, der von politischer Seite und auch von der Regierung auf die Sicherheitspolizei im allgemeinen und auf seine Abteilung im besonderen ausgeübt wurde, konnte das Kommando im allerbesten Falle nur für einige wenige Stunden in seinen Händen bleiben. Und dann die Entlassung. Sein Leben und seine berufliche Karriere waren noch bis vor sechs Wochen eine geordnete Angelegenheit gewesen, bis eines Tages ein Verrückter damit begonnen hatte, seine Feinde auszuradieren. Danforth begann, den Verrückten zu verfluchen und hörte damit erst auf, als er hinter einem rücksichtslosen Fahrer herfluchte, der ihn beim Überholen schnitt und Schmutz und Wasser auf seine Windschutzscheibe spritzte.
Als er sich dem See näherte, bog er in eine Asphaltstraße ein, die dem Verlauf des Ufers folgte. Er fuhr langsam dahin, bis im Licht seiner Scheinwerfer ein Briefkasten auftauchte. Er hielt an und leuchtete mit einer Taschenlampe zu dem Briefkasten hinüber. Er fand den Namen, den er suchte: Gilbert & Shirley Nash. Er parkte den Wagen und schritt in das Dunkel hinein, einem kleinen Weg folgend, der vom Briefkasten zum Haus führte. Danforth tastete am Hauseingang nach einer Glokke, als die Tür vor ihm plötzlich geöffnet wurde. Ein Mann stand dort. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Danforth. »Ich fand die Klingel nicht.« »Kommen Sie herein«, lud ihn Nash ein. »Ich hörte Sie den Weg heraufkommen.« Danforth fragte sich, ob das möglich sei. »Ich bin ziemlich naß«, wandte er ein. »Kommen Sie«, wiederholte Nash. »Wir besorgen das schon.« Er hielt die Tür auf und trat zurück. Danforth ging hinein, dabei automatisch seinen Regenmantel ausziehend. »Ich bin Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei.« Er übergab Nash den tropfenden Mantel. »Ich dringe nicht gern unangemeldet bei Ihnen ein.« »Gilbert Nash«, stellte sich Nash vor. »Meine Frau ist nebenan. Ist etwas passiert?«
»Ja und nein. Nichts Schlimmes – nicht für Sie jedenfalls.« Er biß sich auf die Lippen. So viel hatte er nicht zu sagen beabsichtigt. Nash entfernte sich von ihm, ein kleiner, schlanker Mann, der über seine Anwesenheit oder das, was er soeben gesagt hatte, nicht besonders beunruhigt schien. Danforth folgte ihm durch einen bogenförmigen Eingang ins angrenzende Zimmer und verglich das Verhalten des Mannes mit demjenigen der vielen Leute, die aufgeregt wurden, wenn unerwartet ein Polizist bei ihnen eintrat. Mit einem raschen und umfassenden Blick übersah er den Raum; den dunklen, in die Wand eingebauten Fernsehempfänger, den gefüllten Bücherschrank, die übrigen Möbel, das Schachbrett am Boden und die attraktive Frau, die davor saß. Er nickte ihr zu, als Nash sie einander vorstellte. »Nehmen Sie Platz, Leutnant«, begrüßte sie ihn. »Trinken Sie etwas?« »Nein danke, ich bin im Dienst.« »Aber Kaffee?« »Gern, ja, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht.« »Absolut nicht.« Die Frau erhob sich und Danforth ertappte sich dabei, wie er ihre Figur musterte. »Ist etwas passiert?« »Ja, Ihrem Mädchen, Barbara Brooks.«
Shirley Nash schrie auf, dann tat sie etwas Eigenartiges. Sie rannte durch das Zimmer und faßte ihn beim Handgelenk, um es mit einem festen, schmerzhaften Griff festzuhalten. Er war erstaunt. Die Frau löste ihren Griff. Sie öffnete ihre Augen und trat zurück, ihrem Mann einen Blick zuwerfend. Danforth sah das Stirnrunzeln des Mannes; dann betrachtete er den Eindruck ihrer Nägel in der Haut. Sie waren tief eingedrungen. »Ich hole Kaffee«, sagte Shirley Nash, eine momentane Verwirrung verbergend. »Erzählen Sie Gilbert, was geschehen ist.« Dann verließ sie den Raum. Danforth wandte sich Nash zu. »Entschuldigen Sie, daß ich das sage, aber sie ist eine ungewöhnliche Frau!« »Ja«, sagte sein Gastgeber trocken. »Ich habe das bereits herausgefunden.« Er bot dem Leutnant einen bequemen Sessel an und setzte sich daneben hin. »Nun, was ist geschehen?« Danforth berichtete von dem nächtlichen Attentat und der Rolle, die das junge Paar zufälligerweise gespielt hatte. Er erwähnte auch, daß er gekommen sei, um die Botschaft zu überbringen, weil kein Telefon vorhanden sei, und um die Echtheit der Aussage der beiden an Ort und Stelle nachzuprüfen. Er beschränkte sich bei seinem Bericht auf die Tatsachen, die höchstwahrscheinlich auch in den Zeitungen erscheinen würden.
Nash hörte bis zum Ende zu und nickte dann. »Sie können uns einen Gefallen tun, Leutnant, wenn Sie wollen. Wenn Sie in die Stadt zurückkehren, lassen Sie bitte im Krankenhaus eine kurze Mitteilung zurück, daß wir Barbara am nächsten Morgen besuchen werden. Oh – und sagen Sie, daß ich die Rechnung übernehmen werde. Für beide. Krankenhäuser sind kleinlich in solchen Dingen.« »Das stimmt. War wirklich Pech, daß die beiden dort waren. Ich nehme an, die Geschichte des Mädchens stimmt, soweit Sie sie jetzt wissen?« »Ja.« Nash nickte. »Wenn Sie Referenzen über sie brauchen, wenden Sie sich an mich. Was sie Ihnen erzählt hat, war ehrlich und aufrichtig.« »Sagen Sie mir, ist sie schwermütig? Leidet sie unter Tagträumen? Oder Wahnvorstellungen?« »Das wäre mir neu«, erklärte Nash. »Wie kommen Sie darauf?« »Barbara sagte, sie hätte ein Geräusch gehört. Wie von den Bugwellen eines Schiffes. Sie sagte, es sei so echt gewesen, daß sie sich nach dem Schiff umgeschaut habe.« »Hm«, sagte Nash. »Auch das noch.« »Wie bitte?« »Ich versuche mir gerade einen Reim darauf zu machen.« »Ich auch.« Danforth musterte die Zimmerdecke
mit schwachem Interesse und fragte sich, ob ihn sein Gesicht verraten würde. »Ich komme allmählich zum Schluß, daß sie es sich doch eingebildet hat.« Nash lächelte ihn an. »Wenn sie darauf besteht, ein Geräusch gehört zu haben, dann hat sie es auch gehört.« Er kratzte sich am Kopf und betrachtete den Leutnant. »Das ist wirklich ein Problem. Haben Sie sonst noch jemanden ausfindig gemacht, der ähnliche Geräusche gehört hat? Bei den anderen Anschlägen?« »Nein. Unglücklicherweise hat es bis heute noch keiner überlebt, um darüber sprechen zu können. Und sie ist lediglich noch am Leben, weil sie nicht näher beim Haus war.« »Nun gut, dann habe ich eine Idee.« »Ich höre«, sagte Danforth. »Finden Sie heraus, wer nächste Woche an der Reihe ist, und schicken Sie einen Mann hin, der genau aufpaßt und zuhört!« Danforth starrte auf seine nassen Füße hinunter und dann zu Nash hinüber. »Es tut mir leid, aber ich finde die Geschichte gar nicht lustig.« »Ich scherze nicht, Leutnant, ich meine es ernst.« Nash hielt die Hand in die Höhe und spreizte die Finger. »Zählen Sie ab. Jetzt sind noch soundsoviele bedeutende Männer in Illinois am Leben. Und bis zur nächsten Woche wird sich eine ganze Menge von ihnen aus dem Staub gemacht haben, wenn sie klug
sind. Finden Sie heraus, wer übrig ist, und lassen Sie alle beobachten. Erraten Sie, wer das nächste Opfer sein wird – das verlockendste Opfer – und setzen Sie zwei ihrer Leute auf ihn an. Sie sollen genügend Abstand halten, und schärfen Sie ihnen ein, daß sie die Ohren aufmachen sollen.« »In Illinois?« wiederholte Danforth verwundert. »Ja«, nickte Nash, den Polizisten beobachtend. »Den Nachrichten zufolge ereigneten sich alle Attentate in diesem Staat: in Chicago, Peoria und hier. Es scheint, daß sich der Bursche aus irgendeinem unersichtlichen Grund auf dieses Gebiet beschränkt. Er geht nicht nach Indianapolis hinüber, sondern wartet, bis die Politiker von dort hierher kommen.« Nash stützte das Kinn in seine Hand und schaute das Schachbrett an. »Vielleicht wohnt er an einer Stelle, die von allen drei Städten gleich weit entfernt ist, zwischen ihnen also, sozusagen. Oder vielleicht lebt er in einer Stadt, von der aus ihm alle drei Orte leicht zugänglich sind, oder er macht sich einfach nicht die Mühe, sein Operationsgebiet auszudehnen; diese drei Städte kommen ihm gerade gelegen, und jede enthält ein ganzes Nest von politischen Opfern.« »Dann sollte man meinen, daß Washington das geeignetere Ziel wäre«, warf Danforth ein. »Möglicherweise. Während der Amtsperiode, ja. Aber Bens wirkliche Stärke liegt hier auf dem Land;
seine Anhänger befinden sich hier.« Nash schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Theorie ist die, daß der Mann hier lebt und die drei Städte ausfindig gemacht hat, wo sich die meisten großen Tiere aufhalten.« »Und er wird nächste Woche wieder zuschlagen?« »Wenn sich ihm eine Gelegenheit dazu bietet – gewiß.« Danforth verfiel in Schweigen und dachte nach. Es war ein Irrtum, jetzt anzunehmen, das Schema sei klar. Es war noch immer undurchsichtig und verschwand zeitweise ganz. Eine Regennacht in der Woche, in oder um Mittel-Illinois, mit einem Rauschen und radioaktiver Strahlung. Aber was in dieser Kette von Umständen verursachte die Explosion einer Bombe? Eigenartigerweise, gegen seinen Willen, regte sich der Gedanke an Zeitreisende. Shirley Nash betrat den Raum mit einer Kanne und mit Täßchen, die viel zu klein und zierlich waren, um einen richtigen Schluck Kaffee fassen zu können. Sie schenkte zuerst Danforth ein und zögerte einen Moment, als sie ihrem Mann einschenkte. Schließlich setzte sie sich auf den Boden und füllte ihre eigene Tasse. Danforth hob die Tasse an die Lippen, dann hielt er an und schnupperte. Der Kaffee enthielt Brandy.
Shirley lachte über seinen Gesichtsausdruck. »Eine sehr nasse Nacht, Leutnant. Und Sie dürfen während des Dienstes nicht trinken. Dies ist dann das Nächstbeste, nicht wahr?« Er lachte und nickte. Während er an seinem Kaffee nippte und ihrem Geplauder zuhörte, dachte er über die eigenartige Weise nach, wie sie ihrem Mann eingeschenkt hatte. Nachdem sie Nash die kleine Tasse gegeben hatte, hatte sie einen Moment lang ihre Fingerspitzen auf seinen Handrücken gelegt. Und dann hatte sie sich von ihrem Mann entfernt und sich gesetzt. Der Gesichtsausdruck von keinem der beiden enthielt eine Andeutung. Es war lediglich ein flüchtiger Kontakt gewesen, mehr nicht. Er ertappte sich dabei, wie er Shirley Nash anstarrte. Ihr Mann sagte: »Leutnant, warum halten Sie nicht einen Geigerzähler über die Trümmer des Hauses?«
4. Kapitel A Die Schau war gelaufen. Die Bühnenscheinwerfer waren bereits abgeschaltet, und die Studiogäste verließen den Zuschauerraum. Die Kameraleute zogen Schutzhauben über ihre Kameras, die Beleuchter rollten die Kabel zusammen. Der Fernsehkomiker war in Hochstimmung. Als er die Bühne verließ, hatte ihm jemand eine Aufstellung gereicht, aus der hervorging, daß von Minute zu Minute immer mehr Fernsehteilnehmer das Programm eingeschaltet hatten. Er hatte die Aufstellung rasch überflogen, und sein Blick war an der letzten Zahl hängengeblieben: vier Millionen eintausendundzwanzig. Sein Manager lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Der Maskenbildner begann ihn abzuschminken und gratulierte ihm wortreich. Sein Drehbuchautor lachte und meinte, das habe er vorausgesagt. Die Sekretärin kam mit einer Handvoll Glückwunschtelegrammen. Seine Frau saß in einem Sessel neben der Tür zu seiner Garderobe, aber seine Geliebte kam ihm entgegengelaufen. Es war reiner Zufall, daß die beiden Frauen Schwestern waren.
Ein Studioarbeiter kam mit einer Flasche kalter Milch über die Bühne. Denn nach jeder Vorstellung pflegte der Komiker Milch zu trinken. Seine Geliebte nahm die Flasche, goß ihm ein Glas ein und reichte es ihm. Der Komiker hauchte einen Kuß auf die Wange des Mädchens und leerte das Glas. Er verzog das Gesicht, denn die Milch hatte einen eigenartigen Geruch. Ohne sein ohnehin nicht vorhandenes schauspielerisches Talent anstrengen zu müssen, brach er tot auf dem Fußboden zusammen. Ein feiner Duft von Pfirsichblüten hing in der Luft.
B Mit einer ungeduldigen Bewegung wischte der Mann in den mittleren Jahren einige Spinnenfäden von seinem ergrauenden Haar und suchte in seinen Taschen nach der Pfeife. Dann fiel ihm ein, daß er sie oben auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Er stand noch eine Weile da und fragte sich, warum er überhaupt in den Keller hinunter gegangen war. Eine magere schwarze Katze strich um seine Beine. Jetzt wußte er es wieder – der Gasboiler für das Warmwasser war ausgegangen. Er kniete sich hin, zündete ein Streichholz an und
suchte unter der Boilerhaube nach den Düsen. Die Flamme entzündete sich mit einem dumpfen kleinen Knall. Der Mann stellte den Thermostat höher, blies das Streichholz aus, das noch immer brannte, drehte sich um und ging die Stufen hinauf. Die Katze lief voraus. Der Mann strich sich noch einmal über das Haar und suchte dann wieder geistesabwesend in seinen Taschen. Die Pfeife lag dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Er beschloß, die Schaltkreispläne auf seinem Schreibtisch wegzuräumen. Er rollte sie zusammen, schob ein Gummiband über die Rolle und legte sie in die Schublade des Schreibtischs. An der Tür drehte er sich noch einmal um, um nachzusehen, ob er den Fernseher ausgeschaltet hatte. Der Bildschirm war dunkel. Er ging in die Küche, goß für die Katze Milch in eine Schale und setzte sich hin, um zu warten, bis das Badewasser heiß war.
C Das Flugzeug, das neben dem Flughafengebäude des Verkehrsflughafens von Atlanta wartete, trug die Insignien der Luftwaffe der Vereinigten Staaten. Pilot und Kopilot, beide in Uniform, warteten in der Pilo-
tenkanzel auf die Rückkehr ihres Passagiers. Weiter hinten im Flugzeug saß ein Mann und beschäftigte sich mit einem Kreuzworträtsel. Ein weiterer stand an der offenen Tür und beobachtete das Flughafengebäude. Im Heck der Maschine saß eine Stewardeß und schien zu schlafen. Der Kopilot setzte sich auf und stieß den Piloten an. Dann wandte er sich um und rief der Stewardeß zu: »Sally! Wach auf. Der Chef kommt.« Das Mädchen sprang auf, strich die Uniform glatt und richtete ihr Haar. »Wie wird es diesmal werden? In welcher Stimmung ist er? Kannst du das schon sehen?« »Ganz mies«, antwortete der Kopilot, nachdem er eine Weile hinausgesehen hatte. »Er macht ein Gesicht, als ob er jeden Augenblick in die Luft gehen wolle.« »Du meine Güte! Wahrscheinlich hat es mit seiner Ansprache nicht so recht geklappt. Er wird auf dem ganzen Rückflug nach Washington schimpfen und sich beschweren.« »Ich vermute etwas ganz anderes«, meinte der Pilot. »Es wird nicht an seiner Ansprache gelegen haben, sondern an einer zu geringen Zuschauerbeteiligung. Eines der anderen Programme haben ihm die Leute scheinbar weggenommen. Was stand eigentlich heute noch auf dem Programm?«
»Schnallt euch an, Jungs, es wird eine stürmische Nacht«, riet die Stewardeß. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich so etwas erlebe.«
D Der Mann war groß, hager und über die Maßen verängstigt. Er kam aus dem Schnellimbiß gerannt, der die ganze Nacht über geöffnet hatte, und stieg ein Stück weiter die Straße hinunter in ein Taxi. Verzweifelt verlangte er von dem Fahrer, daß er sich beeilen solle. Nervös zupfte er den Mann an der Schulter. Sie schafften die Fahrt durch die Stadt, die normalerweise zwanzig Minuten dauerte, in siebzehn. Der Mann hatte die ganze Zeit über keine Ruhe gegeben. Seine Angst und Nervosität machten ihn zu einem sehr unangenehmen Fahrgast. Am Ziel angekommen, zahlte er und rannte, ohne auf das Wechselgeld zu warten, quer über den Rasen zur Seitentür eines großen, dunklen Gebäudes. Mit dem Schlüssel öffnete er die Tür. Im Haus saß ein Mann im Dunkeln und wartete auf ihn. Der Mann stellte ihm eine Frage. »Ja«, stieß der hagere und verängstigte Bursche hervor, »ja, ja, ja ...« Er streckte die Hand aus, denn er erwartete Geld.
Der Mann, der im Haus gewartet hatte, zog die Hand aus der Tasche und feuerte drei Schüsse in das magere, entsetzte Gesicht. Auf die kurze Entfernung rissen die Kugeln beim Austritt die Schädeldecke mit. Der Revolvermann nahm den Türschlüssel aus den leblosen Fingern und schloß wieder ab, nachdem er hinausgegangen war.
E Mr. Ramsey saß nachdenklich in der Stille. Sanft rieb er sich mit dem langen Zeigefinger über den Nasenrücken.
5. Kapitel Leutnant Danforth stellte die Kaffeetasse vorsichtig ab. Einen gedankenvollen Moment lang betrachtete er das Schachbrett, das vergessen am Boden lag, dann blickte er in die warmen und freundlichen Augen von Shirley Nash. Langsam, beinahe zögernd, wanderte sein Blick zu ihrem Mann weiter. »Ich komme mir vor wie ein Bauer in einem Schachspiel«, bemerkte er. Nash lächelte und schwieg. »Das war doch eine wohlüberlegte Frage, Mr. Nash.« »War es!« gab der Mann zu. »Sie wissen oder vermuten, daß ich die Trümmer bereits mit einem Geigerzähler untersucht habe.« Nash nickte. »Ich weiß es, ja.« Danforth bewegte einen Finger. »Sie sind am Zug!« »Ich möchte gern darüber sprechen. Ich möchte gern mit Ihnen darüber sprechen. Jetzt wissen Sie den Grund.« Danforth beobachtete ihn immer noch; sein Ausdruck war maskengleich. Nach einer langen Weile entspannte er sich plötzlich und lächelte. »Ich muß mich entschuldigen. Ich habe Sie unterschätzt – beide.«
»Ich auch«, entgegnete Nash. »Es scheint mehr hinter Ihnen zu stecken, als auf der Oberfläche erscheint.« »Danke. Das Berufsgesicht. Die Öffentlichkeit erwartet von Polizisten, daß sie unbeholfen und phantasielos sind. Das Resultat von zu vielen irreführenden Fernsehsendungen, Filmen und Büchern. Und um von ihnen die gewünschten Antworten zu erhalten, zeigt man den Leuten das phantasiearme Gesicht. So ist meines. Was steckt hinter dem Ihren?« Nash lachte vergnügt. »Ich glaube, ich bin mit Ihnen einig. Radioaktive Strahlung und Zeitmaschinen haben meine Gedanken beschäftigt, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Ich vermute, daß auch Sie sich damit befaßt haben, und vielleicht haben Sie auch bereits etwas unternommen. Ich fühle mich irgendwie erleichtert. Es ist beruhigend zu wissen, daß nicht irgendein gescheiter Bursche eine Atombombe im Taschenformat erfunden hat.« »Irgendein gescheiter Bursche hat das aber«, sagte Danforth ruhig. Nash richtete sich auf. »Nicht dieses –« »Nein, nicht dieses Attentat. Die Trümmer sandten eine schwache Strahlung aus; höher als die normale Strahlung in der Atmosphäre, aber immer noch nicht hoch genug, um die Filme der Zeitkameras zu zerstö-
ren. Aber ein heller Kopf in Dakota hat genau das getan, was wir befürchtet haben.« »Ich habe nichts darüber gehört«, warf Shirley ein. »Das freut mich«, sagte Danforth grimmig. »Es wurde nämlich in den Nachrichten verschwiegen.« Er fuhr sich mit der Hand über das Haar und sank in den Sessel zurück. »Es ist beängstigend und doch eigenartig komisch. Ein grüner Junge tat es. Es geschah vor ungefähr zwei Jahren an einer Universität in Dakota. Ein Physikstudent reichte eine Arbeit ein über die Atombombe – Pläne, technische Ausführung und Bau. Es war eine tolle Leistung! Aber scheinbar war sein Professor gewöhnt, derartige Projekte vorgelegt zu bekommen, und der ganzen Sache längst überdrüssig. Kurz gesagt, er wies sie ab. Sie können sich die Reaktion des Studenten vorstellen. Er fühlte, daß man ihm nicht einmal die geringste Beachtung geschenkt hatte. Er gehörte nun zu der Sorte junger Männer, die alles tun, um etwas zu beweisen, an das sie glauben, und er brachte einen Sommer damit zu, nachzuweisen, daß sein Professor im Unrecht gewesen war. Er beschaffte sich einen alten Geigerzähler und suchte die Hügel von Nevada ab, bis er das Erz beisammen hatte, das er benötigte. In der Werkstatt seines Vaters schmolz er es ein und bewegte seinen Vater, ihm ein Gerät nach seinen Anweisungen zu bauen. Der alte
Herr fand ganz offensichtlich nie heraus, was er eigentlich konstruierte. Dann nahm der Sohn seine Bombe hinaus in die Wüste, wo sie keinen Schaden anrichten würde, brachte einen Zeitzünder an und rannte in Deckung. Die Bombe ging genau zur vorausberechneten Zeit hoch, aber sie verursachte ein größeres Loch als vorgesehen. Sie hätten es sehen sollen!« »Ich kann es mir vorstellen«, sagte Nash trocken. »Aber wie erklärten das die Behörden der Öffentlichkeit?« »Erdbeben.« Nash schlug sich auf die Schenkel vor Lachen. »Ein Aufklärungstrupp der Armee in Oregon entdeckte die Spuren der Strahlung mit seinen Geräten und eilte herbei. Sie hatten geglaubt, die Russen hätten mit Erfolg ein Fernlenkgeschoß durch ihre Radarsperre geschossen. Der Student berichtete alles – er war recht stolz auf seine Leistung. Heute zählen seine Aufzeichnungen zu den wichtigsten Unterlagen auf diesem Gebiet. Der Junge hatte den Wissenschaftlern gezeigt, wie man die Bombe besser, kleiner, billiger und wirksamer konstruieren konnte, als es sich die besten Köpfe vorgestellt hatten. Man glaubte es kaum, daß er seine Testbombe in einem alten Eimer zum Versuchsgelände hinausgetragen hatte.« »Verdammt zuversichtlicher Bursche!« Nash blick-
te in seine leere Tasse. Er hielt sie seiner Frau hin, um sie nachfüllen zu lassen. »Hat aber mit diesen Attentaten nichts zu tun, wie?« »Nein. Auf alle Fälle nicht mit dem von heute nacht. Die Strahlung war viel zu gering und das zerstörte Gebiet zu klein.« »Einfach so aus dem Stegreif«, sagte Nash, »kann ich keine Erklärung finden.« »Ich auch nicht.« »Dann wollen wir uns einmal die Angelegenheit mit der Zeitmaschine ansehen!« »Mr. Ramsey erklärt, es gebe keine!« sagte Danforth. »Mr. Ramsey?« fragte Nash. »Unser Telepath.« Nash wechselte einen Blick mit seiner Frau. Nach einem Augenblick wandte er sich wieder Danforth zu. »Sie haben einen?« »Wir haben einen!« »Hm – er sollte es wissen.« Er zuckte die Achseln. »Vor einer Weile«, sagte Danforth, »schlugen Sie mir vor, ich sollte das vermutliche Opfer der nächsten Woche erraten und von meinen Leuten beobachten lassen. Zwar könnte es sein, daß ich nächste Woche nicht mehr das Kommando habe – aber lassen wir das. Glauben Sie, daß dieser – dieser Anarchist seine Verbrechen solange fortsetzen wird, bis er alle Söhne Amerikas in diesem Bundesstaat ausgerottet hat?«
Nash schaute ihn an. »Er wird weitermachen, bis er Ben erwischt. Wenn Sie ihm nicht vorher das Handwerk legen.« »Das Schiffsgeräusch, das Barbara gehört hat!« sagte Shirley unvermittelt. Danforth wandte seine Aufmerksamkeit ihr zu. Er hatte zu ihr nichts über das Geräusch gesagt und darüber, was das Mädchen im Krankenhaus ihm erzählt hatte. Er hatte die Angelegenheit mit Gilbert Nash besprochen, während sie in der Küche Kaffee zubereitete. »Was ist mit dem Geräusch?« fragte er. »Der Bug eines Schiffes, der durch das Wasser gleitet«, erklärte sie. »Das Geräusch einer Maschine, die durch die Zeit gleitet!« Danforth runzelte seine Brauen. »Sagen Sie das nochmal!« »Ich überlege mir, ob das fremdartige Geräusch, das Barbara hörte, auf diese Weise erklärt werden könnte. Ein Schiff, das sich durch das Wasser bewegt, erzeugt ein bestimmtes Geräusch. Könnte nun aber nicht ein Schiff, das durch die Zeit reist, für einen stationären Beobachter, der zufällig an der günstigen Stelle steht, ein ähnliches Geräusch erzeugen?« »Stationär«, wiederholte Danforth nachdenklich. »Stationär in bezug auf den Augenblick, in dem wir gerade leben?«
»Ja. Barbara stand sozusagen still in bezug auf die Zeit. Das Schiff kam von irgendwoher aus der Zukunft und rauschte an ihr vorbei – fuhr dicht an ihr vorbei, nach dem zu schließen, was sich dann abspielte.« Danforth entsann sich, daß er auch über das nächtliche Bombenattentat ihr gegenüber nichts erwähnt hatte. »Aus der Vergangenheit vielleicht«, wandte Nash ein. »Ich würde eher Zukunft sagen«, entgegnete seine Frau. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn man das Schiff einmal hat, kann es von beiden Seiten gekommen sein. Ich hätte die Vergangenheit gewählt.« Shirley schüttelte den Kopf. »Nein. Es muß aus der Zukunft kommen. Der Mann kauft sich eine Zeitung oder hört sich die Nachrichten an; daraus entnimmt er, daß irgendein wichtiger Politiker sich gestern an der und der Adresse aufgehalten hat. Die Gelegenheit erscheint ihm günstig, und er fährt mit seiner Zeitmaschine nach gestern zurück und bombardiert das betreffende Haus.« »Jetzt bist du daneben getappt!« rief Nash. »Wenn er das getan hätte, könnte er in der Zeitung gar nicht gelesen haben, daß der Mann sich in dem Haus aufhielt. Statt dessen würde er erfahren, daß er umge-
bracht worden ist; die Zeitungen am folgenden Tag würden über die Tragödie berichten. Daher würde er gar nicht auf den Gedanken kommen, um einen Tag in die Vergangenheit zu reisen und den Mann umzubringen, denn in der Zeitung steht, daß es bereits geschehen ist. Jetzt reime dir das zusammen!« »Aber er würde es trotzdem tun«, entgegnete Shirley. »Wenn nicht, könnte das Bombenattentat nicht in der Zeitung stehen. Er muß zurückreisen!« »Vergangenheit, Vergangenheit. Ich verstehe immer nur Vergangenheit«, sagte ihr Mann. »Dein Bösewicht liest in der Zeitung oder erfährt es sonst woher, daß am nächsten Tag in der Wohnung des großen Führers eine Versammlung stattfinden wird. Es sollen auch eine Menge wichtiger Leute kommen. Er setzt sich also in seine Maschine und reist einen Tag in die Zukunft, um seine Bombe loszulassen. Dann kehrt er nach Hause zurück, führt in seinem Heute, Morgen und am dritten Tag ein normales Leben. Am dritten Tag liest er dann in der Zeitung, was er schon weiß.« »Es gibt keine Zeitreisenden!« schaltete sich Danforth ein, um der verwirrenden Diskussion ein Ende zu machen. Sie wandten sich ihm beide gleichzeitig zu und blickten ihn an. »Spielverderber«, sagte Nash. »Das ist nicht fair.«
»Wir haben einen ganzen Keller voll davon«, fügte Shirley hinzu. »Zeitmaschinen natürlich, nicht Zeitreisende.« »Bleiben wir ernst«, sagte Nash. »Weil es paradox ist, kann es sie gar nicht geben. Und schon gar nicht das, was du eben erzählt hast.« »Unsinn!« entgegnete die Frau. »Paradoxien existieren nur in verbohrten Gehirnen. Sie existieren nur in der mathematischen Scholastik eines Aristoteles.« Nash hob schulmeisterhaft den Finger. »In der Boleanischen Algebra habe ich auch eines gefunden. Erinnerst du dich?« Er schürzte die Lippen. »Vielleicht sollte ich darüber einen Artikel für eine Fachzeitschrift schreiben. Die Wissenschaftler würden kopfstehen.« »Nein. Sie würden die Theorie nur zurückweisen, und du würdest nach Dakota fahren, um es zu beweisen.« »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Danforth und stand auf. »Es wird spät. Ich habe in der Stadt zu tun.« Aber es dauerte noch drei Minuten, bis seine Gastgeber davon überzeugt waren, daß er wirklich gehen mußte. Draußen blieb Danforth kurz stehen und sah zu, wie der Regen auf das Dach seines Dienstfahrzeugs prasselte. Das war weiß Gott ein ungewöhnliches Erlebnis gewesen.
Sie waren ein nettes Paar, freundlich und entgegenkommend. Sie waren aber auch außerordentlich neugierig und hatten ihm alles entlockt, was er zu sagen bereit gewesen war. Und noch mehr dazu! Die Frau hatte weit mehr gewußt, als er in Worte gefaßt hatte; hatte es irgendwie erfahren, obwohl er keine Absicht gehabt hatte, es zu verraten. Sie hatte die Auskünfte entweder von ihrem Mann bekommen oder selber herausgebracht. Zusammen schienen die zwei bedeutend mehr zu wissen, als er gesagt hatte. Und dieser letzte hitzige Wortwechsel! Diese eigenartige Unterhaltung, ob die Zeitreisenden von gestern oder von morgen kamen, um ihre Bomben zu werfen. Das war nur für ihn bestimmt gewesen. Shirley Nash hatte die Diskussion mit ihren Bemerkungen über die Schiffsgeräusche angefacht, während ihr Gatte die Sache weiterführte, indem er die Unterhaltung auf Vergangenheit oder Zukunft brachte. Sorgfältig und berechnend hatten die beiden alles nur deshalb getan, um ihn an diesen Möglichkeiten zu interessieren, um seine Gedanken in die von ihnen gewünschten Bahnen zu lenken. Es war ein Köder! Danforth setzte sich in seinen Wagen. Er nahm das Mikrofon von der Gabel. »Zentrale«, sagte die bekannte Stimme. »Danforth hier. Gehöre ich noch zur Abteilung?«
»Soviel ich weiß: ja, Leutnant.« »Das überrascht mich. Ich möchte eine Überprüfung von Mr. und Mrs. Gilbert Nash. Gilbert und Shirley Nash, wohnhaft Linden Lane am See.« Er verstummte. »Tun Sie mir einen Gefallen, bitte. Wenn Sie in unseren Archiven nichts finden, so senden Sie eine Anfrage nach Washington. Das Haus ist nicht sehr alt; die beiden können hergezogen sein und hier gebaut haben.« »In Ordnung, Leutnant. Sagen Sie – haben Sie kürzlich die Nachrichten gehört?« »Nein. Was ist geschehen?« »Ihr Lieblingskomiker wurde umgelegt.« »Mein was? Ach, Sie meinen Kid Cooky.« »Das ist er. Er hat seinen letzten Witz gerissen. Es geschah kurz nachdem er heute nacht die Bühne verlassen hatte.« »Wie ist es passiert?« fragte Danforth. »Zwei Gramm – wenigstens zwei Gramm – Zyankali in seiner Milch. Er fiel sofort um. Es ist eine rein akademische Frage, ob ihn letztlich das Zyanid oder das Zyanwasserstoffgas in der Milch umgebracht hat.« Der Mann erlaubte sich ein makabres Lachen. »Interessiert ohnehin niemanden, außer den Gerichtsmediziner.« »Wie hat das überhaupt passieren können?« »Man weiß es noch nicht – jedenfalls noch nicht al-
les. Wir erhalten laufend neue Informationen über den Fernschreiber. Konkretes geht daraus allerdings noch nicht hervor. Jedenfalls sieht es bis jetzt so aus, als habe das Opfer ungewöhnliche Eßgewohnheiten gehabt. So etwas wie einen nervösen Magen. Vor seinen Auftritten hat er den ganzen Tag nichts essen können. Aber unmittelbar nach Programmschluß wurde ihm eine Flasche Milch gebracht, aus einem Schnellimbiß in der Nähe, der die Nacht über offen ist. Er trank die Milch und ging dann anschließend essen.« Danforth schüttelte den Kopf. »Das erklärt den Vorfall.« »Richtig. Er hatte einen leeren Magen und war übernervös. Entweder hat er das Zyanwasserstoffgas eingeatmet, oder das Zyankali hat ihn umgebracht, nachdem er sich im Magen mit der Magensäure vermischt hat. Ein Bühnenangestellter und zwei Frauen sind vorübergehend festgenommen worden. Wußten Sie übrigens, Leutnant, daß er sich zwei Frauen geleistet hat? Seine Frau und seine Geliebte waren Schwestern, und sie befanden sich bei ihm im Studio.« »Um Däumchen zu halten?« vermutete Danforth. »Hat letzten Endes auch nichts genützt. Die drei Personen sollen nur vernommen werden und können anschließend wieder gehen. Der Verdacht fällt auf einen Angestellten des Schnellimbisses, der, noch wäh-
rend die Sendung lief, verschwunden ist. Zog seine weiße Jacke aus und rannte aus dem Laden, gleich nachdem er dem Bühnenangestellten die Flasche Milch verkauft hatte. Ganz klarer Fall, nach Lage der Dinge.« »Ich vermute, daß es so ist. Gut, ich komme. Ist Mr. Ramsey noch dort?« »Ja, Leutnant.« »Richten Sie ihm aus, daß ich ihn sprechen möchte, sobald ich dort bin.« »In Ordnung.« »Ende«, sagte Danforth und hängte das Mikrofon ein. Er ließ den Motor an, fuhr auf der Seestraße dahin und lenkte den Wagen zur Stadt. Der Regen schien nachgelassen zu haben. Kid Cooky und Zyankali! Wenn das nicht eine Wahnsinnshandlung von seiten des Angestellten jenes Geschäftes gewesen war, dann war es ein raffiniert geplanter Mord. Es verriet eine saubere, gutdurchdachte Organisation von Anfang bis Ende. Die Gepflogenheiten des Komikers waren bekannt gewesen und studiert worden, der Mordplan im voraus entworfen, und der Angestellte war einfach ein Werkzeug, das seine Aufgabe erfüllt hatte und danach verschwand. So hatte es sich wahrscheinlich zugetragen. Was den Angestellten betraf, so gab es nur
zwei Zukunftsaussichten für den Mann. Entweder wurde er ausgezahlt und aus dem Land weggeschickt oder zum Schweigen gebracht. Saubere und unfehlbare Organisation! Irgendeine große Persönlichkeit hatte es auf Kid Cooky abgesehen. Nun, darüber konnte sich Los Angeles den Kopf zerbrechen ... Sein Funkgerät summte. Er griff nach dem Hörer. »Danforth.« Die bekannte Stimme warnte ihn. »Leutnant, Sie werden ersucht, so rasch als möglich im Hauptquartier Ihren Bericht persönlich abzugeben. Persönlich, auf keine andere Weise. Bitte bestätigen.« »Bestätigt«, sagte Danforth ruhig. Die Stimme des Mannes hatte ihm verraten, daß sich noch andere Personen in jenem Raum aufhielten. »Ich komme in etwa zwanzig Minuten.« »Jawohl, Sir. Ende.« Danforth legte den Hörer auf. Es war so weit. Danforth parkte den Polizeiwagen in der Garage hinter dem Gebäude des Hauptquartiers und zögerte einen Moment, um auf das Armaturenbrett hinunterzublicken. Der Wagen gehörte ihm nun schon so lange, daß er bereits so etwas wie Besitzerstolz fühlte, gehörte ihm seit dem Tag, an dem er in die Polizeigarage geliefert worden war, mit nur vier Meilen auf dem Kilometerzähler. Er entdeckte, daß er ganz ge-
wohnheitsmäßig den Zündschlüssel abgezogen hatte und ihn nun fest in der Hand hielt. Danforth steckte den Schlüssel ins Zündschloß zurück und entfernte sich. Der Garderobenraum und die Duschen lagen neben dem Hintereingang des Gebäudes. Danforth zog seinen Regenmantel aus, nahm seinen Hut, Abzeichen und Schulterhalfter ab und verstaute die Gegenstände vorschriftsmäßig im Schrank. Er verschloß die Schranktür und ging weiter in den Nachrichtenraum, wo der Beamte neben dem Sprechfunkgerät saß. Der Mann sah ihn kommen, grinste und machte eine vielsagende Handbewegung. Danforth kannte das Zeichen. Einige Söhne Amerikas befanden sich im Gebäude und machten sich auf die übliche Weise breit. »Meine Ausrüstung befindet sich in meinem Schrank«, sagte Danforth zum Nachrichtenbeamten und schob ihm den Schlüssel hin. »Haben Sie schon etwas über Nash herausgefunden?« »Hier nicht, Leutnant. Ich habe in Washington angefragt.« »Danke. Was auch gleich geschehen mag, ich bin stets daran interessiert. Würden Sie mich benachrichtigen, wenn irgend etwas darüber hereinkommen sollte?« »Wir sind schon lange Freunde, Leutnant!«
»Nochmals meinen Dank. Sie kennen meine Adresse – die Miete ist für drei Wochen im voraus bezahlt. Viel Glück.« »Danke ebenfalls. Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung. Sie sind in Mr. Ramseys Büro versammelt.« Danforth ging durch einen dunklen Korridor und stieg die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Vor einem beleuchteten Raum hielt er an und klopfte. »Herein, Leutnant!« rief Mr. Ramseys ruhige Stimme. Einer vom Kamerateam hatte eine Leinwand und einen Projektor aufgestellt. Der Raum schien mit Männern vollgepfercht zu sein. Da war der Chef, grimmig und sauer dreinblickend, bereit, seinen Zorn an irgend jemand abzureagieren. Neben ihm saß ein Captain, der unzweifelhaft den Befehl ausgegeben hatte, Danforth herbeizurufen. In einer Reihe vor einer langen Wand standen drei Männer mit weißen Gesichtern in krampfhaft starrer Haltung; sie schienen es nicht zu wagen, sich zu setzen. Danforth empfand Mitleid mit ihnen; sie stellten seine gesamte Mannschaft dar, und ihre Anwesenheit in diesem Raum konnte nur eines bedeuten. Mr. Ramsey saß ruhig und gelassen in einem Stuhl neben dem Schreibtisch. Um ihn herum standen oder saßen in verschiedenen Posen der Niedergeschlagenheit sechs Söhne Amerikas.
Alle wandten den Kopf, als Danforth eintrat. Mr. Ramsey sagte: »Wir haben auf Sie gewartet, Leutnant. Wir wollen uns zuerst die Aufnahmen ansehen, bevor wir Ihren Bericht anhören.« »Jawohl, Sir.« Danforth ging durch den Raum und stellte sich neben seine Leute an die Wand. Sie mieden geflissentlich seinen Blick. »Wir dürfen von den Bildern nicht allzuviel erwarten«, fuhr Mr. Ramsey fort, »wegen des Wetters. Ich habe sie bereits gesehen und möchte sagen, daß es nicht die Schuld der Kameraleute ist. Können wir anfangen?« Jemand löschte das Licht, und ein Kameramann trat zum Projektor. Die Köpfe drehten sich zur Leinwand. Es regnete stark. Und durch den Regen tollten zwei große, verspielt aussehende Wachhunde. Hinter ihnen, im Dunkel der Nacht, erhob sich das Haus, das noch bis vor wenigen Stunden unversehrt dagestanden hatte. Ein vereinzeltes Licht brannte über dem Eingang. Während mehrerer Minuten war nichts anderes zu sehen. Es schien endlos zu dauern, aber Danforth kannte den täuschenden Eindruck, den eine unbewegte Szene hervorruft, und vermutete, daß es nicht mehr als dreieinhalb bis vier Minuten waren. Dann tauchten plötzlich die Hunde wieder auf und rannten wie toll durch den Garten auf die Straße zu.
Langsam in den Sichtbereich der Kamera rollend, erschien ein Wagen der Sicherheitspolizei. Die Hunde begleiteten den Wagen, als er den Weg zum Haus hinauffuhr, und schnappten nach den Reifen. Der Wagen hielt an, die Scheinwerfer erloschen, die Wagentür wurde aufgestoßen, und Captain Redmon trat in den Regen hinaus. Die Hunde waren sofort an seiner Seite und beschnupperten ihn. Er tätschelte ihre Köpfe, stieß sie zur Seite und betätigte einen altmodischen Messingklopfer am Hauseingang. Dann, in einer unbewußten und völlig nutzlosen Bewegung, hielt er die Arme vom Körper ab, wie wenn er durchsucht würde. Einer der Zuschauer im dunklen Raum lachte. Danforth unterdrückte ein Grinsen. So war sein Vorgesetzter gewesen. Er pflegte automatisch die Arme breit zu machen, wenn er wußte, daß Suchstrahlen seinen Körper abtasteten. Er hatte die alte Gewohnheit nie abgeschüttelt, die noch üblich gewesen war, als er der Polizei beitrat. Diese zu beiden Seiten der Tür verborgen angebrachten Suchgeräte brachten ein eventuell vorhandenes Geschoß zur Explosion, fanden unweigerlich eine Klinge oder andere Metallgegenstände unter der Kleidung und erhitzten sie bis zu einem unerträglichen Grad. Redmon hatte die Vorsichtsmaßnahme ergriffen und seine Ausrüstung im Wagen gelassen.
Die Tür öffnete sich, und ein Diener ließ Redmon ein. Dann schloß sie sich wieder, und die Hunde rannten davon. Das war alles, und der nun folgende Abschnitt der scheinbaren Bewegungslosigkeit war wirklich lang. Einmal oder zweimal liefen die Wachhunde über die Bildfläche, aber die meiste Zeit über war nichts zu sehen außer dem großen Haus, dem Licht, das über der Tür brannte, und dem unaufhörlichen Regen. Sie warteten. Mr. Ramseys weiche Stimme unterbrach plötzlich das im Raum lastende Schweigen. »Ich würde Ihnen anraten, jetzt die Augen abzuschirmen. Der Schein ist sehr grell.« Hände wurden im Halbdunkel erhoben und die Augen bis auf schmale Schlitze zwischen den Fingern verdeckt. Jedermann wollte es sehen, obwohl sie alle solchen Szenen bereits früher beigewohnt hatten und eine solche Zerstörung nicht wieder zu sehen wünschten. Sie saßen oder standen nervös und in unbequemen Stellungen, warteten in der gespannten Stille auf das Kommende. Die Hunde erschienen auf der Leinwand. Sie rannten bellend auf das Haus zu. Sie hatten es nahezu erreicht, als sich die Umrisse aufzulösen begannen. Es war nichts zu erkennen, außer dem nur Bruchteile von Sekunden währenden Anblick von Wänden,
die sich nach innen krümmten, und dem undeutlichen Eindruck eines einstürzenden Daches. Dann überlagerte die schreckliche Explosion alles mit einem blendenden Lichtschein. Die Fläche der Leinwand glitzerte hell wie ein Spiegel, der die Nachmittagssonne reflektierte. Der Raum war für Sekunden in helles Licht getaucht, und dann wurde es wieder dunkel, und die Trümmer begannen herabzustürzen. Der Film war zu Ende. In der schweigenden Dunkelheit ertönte die Stimme Mr. Ramseys: »Andere Aufnahmen zeigen die Seiten- und Rückansicht. Sie bieten nichts Neues. Wünschen Sie sie trotzdem zu sehen?« Jemand antwortete. »Nein!« Es war nur ein Flüstern. »Gut dann. Bitte Licht.« Danforth fand sich selber in der Mitte des Raumes stehend, er war sich gar nicht bewußt, daß ihn seine Erregung dorthin getrieben hatte. »Die Wände explodierten nach innen!« sagte er zu dem Telepathen. »Genau.« »Na und, zum Teufel?« fragte einer der Politiker. »Das war eine Implosion!« sagte Danforth. »Ja«, bestätigte Mr. Ramsey. »Das war es.« »Was zum Teufel ist eine Implosion? Sie reden unverständliches Zeug!«
»Eine Implosion«, erklärte Mr. Ramsey gelassen, »ist einfach das Gegenteil einer Explosion.« Der Politiker öffnete den Mund, schloß ihn wieder und hob hilflos die Hände. »Die Wände des Gebäudes stürzten nach innen, das Dach fiel nach unten und innen«, erläuterte Mr. Ramsey. »Und nur zufällig fielen einige Trümmerstücke wie bei einer normalen Explosion nach außen. Eine Begleiterscheinung vielleicht. Das Haus aber wurde durch eine Implosion zerstört. Und wir dürfen annehmen, daß die vorhergehenden Attentate auf gleiche Weise erfolgten.« »Aber die Filmaufnahmen waren nicht zufriedenstellend«, erklärte Danforth. »Sie wurden zu spät aufgenommen, und die Ausbeute war mager. Dies ist das erste Mal, daß wir ein eindeutiges Bild bekommen.« »Ich bitte Sie«, warf der stellvertretende Gouverneur ein. »Was soll dieses Geschwätz! Sprechen Sie es aus!« »Es bedeutet, daß jemand etwas Neues erfunden hat. Eine implodierende Bombe!« »Gut! Dann ist es also eine neue Bombe!« schnappte der hohe Beamte. »Neue Bomben hat es schon früher gegeben, und man ist mit ihnen fertig geworden. Aber was wollen Sie jetzt unternehmen, junger Mann?«
Danforth blickte ihn prüfend an und erkannte, daß er noch nicht informiert war. Er schaute zum Telepathen hinüber. Mr. Ramsey schloß die Augen und nickte. »Nichts«, sagte Danforth deutlich. »Waaas?« »Ich bin vom Dienst suspendiert. Nichts.« Er genoß es beinahe. Der Beamte sprang von seinem Sitz hoch. Mr. Ramsey streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten. »Der Leutnant wurde auf einstimmigen Beschluß seiner Vorgesetzten suspendiert«, sagte der Telepath langsam. »Es war ein Entschluß, dem ich zustimmte. Sie haben soeben den Tod von Captain Redmon miterlebt, der der Abteilung für Bombenattentate vorstand. Mit der Entlassung von Leutnant Danforth und der Neueinteilung seiner Leute wird die Gruppe aufgelöst. Die leitenden Offiziere dieser Dienststelle erachten dies als notwendig. Ein neues Sonderkommando wird zusammengestellt werden, das das Problem von vorn anpackt.« »Es wird aber auch langsam Zeit!« knurrte einer der Söhne Amerikas. »Sie können doch nicht einfach dabeistehen und zusehen, wie wir in unseren Betten ermordet werden!« Danforth betrachtete die geröteten Wangen des
Mannes und fragte sich, welches der beste Ansatzpunkt sei. »Sie sind jetzt nicht im Bett«, sagte er kalt. »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, daß sechs von Ihnen hier in diesem Raum zusammen mit den leitenden Beamten dieser Dienststelle versammelt sind. Die Bombenanschläge sind speziell auf Versammlungen wie diese gerichtet.« »Warum? Verdammt noch mal ...!« »Ruhe!« brüllte der Gouverneurstellvertreter. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, um die Ordnung wiederherzustellen. »Seien Sie kein Narr. Der junge Mann hat recht. Wir wollen die Sache abschließen und machen, daß wir hier herauskommen, bevor etwas geschieht.« Er wandte sich dem Telepathen zu. »Was wird das neue Sonderkommando unternehmen? Sagen Sie mir das!« »Ich weiß es nicht. Zum Teil, so nehme ich an, wird man sich an Tatsachen und Beweise halten, die von Leutnant Danforth an diesem Abend zusammengetragen wurden.« »Beweise? Was für Beweise?« Mr. Ramsey schlug höflich vor, daß der Leutnant die Einzelheiten selber erzähle. Er wolle sie nicht aus Danforths Gehirn entnehmen und laut wiedergeben. Danforth erzählte ihnen alles und wies zum Schluß darauf hin, daß bis heute alle Anschläge auf das Gebiet von Illinois beschränkt waren, obwohl auch in
benachbarten Staaten potentielle Opfer lebten. Dann erinnerte er sie nochmals an die Aufnahmen, die sie soeben angesehen hatten und die zeigten, wie ein Haus durch eine Implosion zerstört worden war. »Und? Was ist damit? Und mit der Strahlung, die Sie erwähnten?« »Ich bin noch nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken, Herr Gouverneur. Außerdem – erinnern Sie sich noch daran, wie wir vor ein paar Jahren diese Atombomben entdeckten, welche die Chinesen für eventuelle zukünftige Verwendung gelegt hatten? Und erinnern Sie sich, daß gewisse technische Daten über diese Bomben für die Öffentlichkeit freigegeben wurden?« »Natürlich. Aber Sie meinen doch nicht, die Chinesen –« »Nein. Ich weise bloß darauf hin, daß der Auslösemechanismus auf einem Implosionseffekt beruhte. Die Bombe wurde durch eine Implosion gezündet, erst dann explodierte sie auf normale Weise.« »Nun, es scheint, daß wir langsam zu einem Ziel kommen. Besteht irgendein Zusammenhang zwischen der Implosion und der von Ihnen entdeckten radioaktiven Ausstrahlung?« »Ich weiß es nicht. Es könnte sein. Bis heute haben wir noch keine Bombe dieses Typs gefunden.« Er legte besondere Betonung auf das Wort »heute«. Mr.
Ramsey blickte ihn mit dem Anflug eines Lächelns an. Niemand bemerkte es. »Und Redmon hat nichts in das Haus mitgenommen?« »Nein, Sir. Auch keiner von den übrigen Anwesenden, es sei denn, die Suchstrahlen wären abgeschaltet gewesen. Aber das ist unwahrscheinlich.« Der Staatsbeamte blickte ihn mit kalten Augen durchdringend an. »Und wie wäre es mit einer Zeitbombe, die vor einigen Tagen dort eingeschmuggelt wurde?« »Diese Frage liegt außerhalb meines Urteilsvermögens«, sagte Danforth mit Nachdruck. »Ich habe keinerlei Hinweise auf einen Zeitreisenden oder eine Zeitmaschine gefunden«, warf Mr. Ramsey ruhig ein. »Keine Spur. Ich nehme an, das beantwortet Ihre Frage, Herr Gouverneur?« »Es muß wohl! Aber ich würde gern die wahre Antwort auf diese Frage kennen.« Er stand auf. »Implosionen und Strahlung, und doch soll es keine Atombombe gewesen sein. Wir kommen mit niemand in Berührung außer mit den Leuten, die wir unsere Freunde nennen, und Sie sagen, es sei kein Zeitreisender gewesen. Dann, wer zum Teufel, tat es eigentlich? Und wie?« »Vergessen Sie nicht auch zu fragen: warum?« fragte Danforth. Die Mienen der Söhne Amerikas wurden frostig.
6. Kapitel Sie waren allein im Raum und sahen sich an. Mr. Ramsey war ein junger Mann; Ende zwanzig, Anfang dreißig, schätzte Danforth. Der äußere Anschein ließ keine Schlüsse zu. Genaueres könnte man sicherlich aus den Unterlagen im Archiv erfahren, aber Danforth hatte sich bisher nicht dafür interessiert. Alle in der Dienststelle, ob jung oder alt, betrachteten ihn wegen seiner ungewöhnlichen Fähigkeiten irgendwie als alten Mann. Jedenfalls als einen Menschen, der ihnen in jeder Hinsicht überlegen war. Dieser Eindruck wurde auch dadurch noch gefördert, daß Mr. Ramsey selbst dem ranghöchsten Beamten der Dienststelle überlegen war. Er war zierlich von Gestalt, mit beginnender Glatze, und er hatte eine ruhige, beherrschte Art. Ein Lächeln sah man bei ihm selten, Witze machte er nie, und er sprach nur, wenn es unbedingt nötig war. Mit keinem seiner Mitarbeiter pflegte er gesellschaftlichen Umgang. Wegen seiner Fähigkeiten und aufgrund seiner eigenen Veranlassung galt die unumstößliche Regel, daß in seiner Gegenwart und über Dinge, die ihn betrafen, laut gesprochen wurde. Er ließ es nicht zu, bei der Berichterstattung Zeit zu sparen, indem der Berichterstatter seine Gedanken entsprechend formu-
lierte. Auf diese Weise geriet Mr. Ramsey nie in die unangenehme Lage, in die Gedanken seines jeweiligen Gesprächspartners eindringen zu müssen. Das war eine kluge Entscheidung gewesen, und sie hatte nicht zuletzt dazu geführt, das Mißtrauen und die Ressentiments abzubauen, die normale Sterbliche gegenüber einem Telepathen hegten. Beamte der Sicherheitspolizei unterschieden sich darin in nichts von normalen Menschen. Es herrschte im Haus jedesmal ein Gefühl des Unbehagens, wenn Mr. Ramsey sein Büro betrat. Keinem, selbst seinen Mitarbeitern nicht, gefiel die Vorstellung, daß ihre Gedanken jederzeit sozusagen abgehört werden könnten. Aber indem die bestehende Regelung strikt eingehalten und peinliche Zwischenfälle vermieden wurden, hatte man sich allmählich an die Anwesenheit des Telepathen gewöhnt. Soweit sich Danforth zu erinnern vermochte, war es in dieser Nacht das erste Mal, daß diese Regel, wenn auch sehr behutsam, durchbrochen wurde. Danforth und der Telepath waren so ziemlich gleich alt. Jedenfalls konnten es nicht sehr viele Jahre sein, die sie trennten. Danforth war größer von Statur, drahtiger, kräftiger. Er trug sein Haar sehr kurz, einfach weil es sich auf diese Weise besser pflegen ließ. Seine Gesichtszüge waren unauffällig, ohne besondere Merkmale, eine wichtige Voraussetzung für
die Ausübung seines Berufes, zumal er gelegentlich auch in Zivilkleidung arbeitete. Er war weitsichtig und mußte beim Lesen eine Brille tragen. Sein Vater war bei Unruhen in Panama getötet worden, und seine Mutter war nach Ohio zurückgekehrt, um in dem Haus zu wohnen, das seit Generationen der Familie gehörte. Er, Danforth, war zur Sicherheitspolizei von Illinois gegangen, weil er ein leidenschaftlicher Jäger war – auf alles. Unvermittelt sagte Mr. Ramsey: »Entschuldigen Sie.« »Was denn?« »Daß ich meine eigene Regel gebrochen habe. Daß ich eine neue Tatsache ausgesprochen habe, bevor Sie sie erzählt hatten.« Danforth rieb seine Hände an den Hosen und erwiderte mit breitem Grinsen: »Macht nichts, Mr. Ramsey. Ich hatte meine Rache. Das entschädigt mich.« »Also gut. Jetzt möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.« »Gern – wenn ich Ihnen helfen kann.« »Berichten Sie mir über Gilbert und Shirley Nash!« Danforth zuckte überrascht zusammen. »Das wollte ich soeben Sie fragen!« »Und wenn wir nun unser Wissen austauschen?
Ich bin höchst neugierig, was diesen Mr. Nash und seine Frau anbelangt.« »Die beiden sind ebenfalls ein neugieriges Paar, Mr. Ramsey. Eigenartig von Anfang bis Schluß – und ich glaube nicht, daß das Ende schon gekommen ist. Ich möchte ihnen gern einen weiteren Besuch abstatten. Ich verspüre beinahe einen Drang, zurückzugehen.« »Das ist richtig. Ein solcher Drang besteht; er wurde in Ihr Unterbewußtsein eingepflanzt.« »Den Teufel wurde er! – Die beiden sind also doch telepathisch begabt!« »Ja und nein. Nicht in dem Sinn, wie Sie meinen.« »Entweder sie sind es, oder sie sind es nicht«, warf Danforth in einiger Verwirrung ein. »Ich hatte bereits den Verdacht gefaßt, sie seien es.« »Verstehen Sie mich bitte richtig. Die Nashs sind in gewissen Grenzen telepathisch veranlagt; aber nicht so, wie Sie die Telepathie kennen. Ein sehr starker Wunsch, zu ihnen zurückzukehren, wurde Ihnen tatsächlich eingegeben.« »Weshalb?« »Ganz offensichtlich, um weitere Informationen zu erhalten. Sie sind an gewissen Schritten interessiert, die Sie unternehmen.« Danforth kratzte sich am Kopf. »Hm – inwiefern?« »Lassen Sie mich Ihr Gedächtnis ein wenig auffri-
schen. Als Sie das Haus betraten und erzählten, was dem Mädchen zugestoßen war, was geschah dann?« »Mrs. Nash rannte auf mich zu und grub ihre Fingernägel in mein Handgelenk. Sie schloß ihre Augen. Dann ging sie in die Küche, um Kaffee zu machen, und bat mich, ihrem Mann zu erzählen, was vorgefallen war. Schon da begann ich mißtrauisch zu werden.« »Ja. Und sie zeigte kein weiteres Interesse am Schicksal des Mädchens?« »Nein. Es kann sein, daß wir später nochmals darüber gesprochen haben, aber sie stellte keine Fragen.« »Wie ich erwartet habe.« Mr. Ramsey faltete die Hände. »Und Sie erzählten Nash wörtlich, was geschehen war. Dann, als Mrs. Nash den Kaffee brachte ...?« »Ich meinte zu sehen, wie sie zögerte, als sie ihrem Mann einschenkte. Sie berührte seine Hand oder seine Finger.« »Schüttelte Gilbert Nash Ihnen die Hand?« »Als ich mich verabschiedete, ja.« »Und ich nehme an, daß während der ganzen Unterhaltung sowohl er als auch sie im Besitz von mehr Informationen zu sein schienen, als Sie ihnen tatsächlich gegeben haben?« »Das stimmt.« »Und sie verleiteten Sie absichtlich dazu, Ihre Gedanken in ganz bestimmte Bahnen zu lenken?«
»Ja.« »Sehen Sie! Es ging um Zeitmaschinen, oder?« Leutnant Danforth streckte seine Beine aus und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er Mr. Ramsey. »Wie Sie wissen«, begann dieser, »gibt es eine ganze Anzahl von Telepathen in öffentlichen Ämtern, und vielleicht vermuten Sie, daß es noch weitere im Privatleben gibt, die keine Absicht haben, bekannt zu werden. Zu diesen zwei Arten gesellt sich jedoch noch eine dritte. Telepathen, die mehr oder weniger im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden, sich dann jedoch ins Privatleben zurückgezogen haben. Um genau zu sein, die den Staatsdienst verließen und verschwanden.« »Das ist eine Neuigkeit!« »Ihre Anzahl ist jedoch beschränkt«, sagte Mr. Ramsey. »Zwei.« »Nur zwei?« »Der erste war ein junger Mann, der in der Armee Dienst tat und der nichts von seiner Fähigkeit wußte, Paul Breen. Schließlich wurde er in die Umgebung von Washington versetzt und arbeitete für den CIC. Nach einer Anzahl von Jahren verschwand er plötzlich, wobei er gleichzeitig eine junge Frau mitnahm, die er zu heiraten beabsichtigte. Keiner von beiden wurde seither wiedergesehen.
Der zweite war ein Mann, der in der Nähe von Oak Ridge entdeckt wurde, zu einer Zeit, als Forschungen von großer Wichtigkeit dort betrieben wurden. Man weiß von ihm mit Sicherheit, daß er eine Rolle gespielt hatte, als die Raumstation gebaut wurde, die jetzt über uns kreist. Dieser Mann nahm nicht direkt Anteil am öffentlichen Leben, doch leistete er gute Dienste vor allem dabei, das Forschungsprojekt nach außen abzuschirmen. Wie der erste verschwand auch er und nahm eine Frau mit sich, die eine Stelle als Sekretärin in einer geheimen Dienststelle bekleidet hatte.« »Gilbert und Shirley Nash?« fragte Danforth. »Das ist meine Vermutung, gestützt auf Ihre Auskünfte.« »Aber Sie erwähnten eine bestimmte Form von Telepathie.« »Auch ein Teil meiner Vermutung. Mrs. Nash berührte erst Sie und danach ihren Mann. Später schüttelte er Ihnen die Hand, und jetzt verspüren Sie einen Drang, zu ihnen zurückzukehren. Ich nehme nun an, daß sie nicht wirkliche Telepathen sind in dem Sinne, wie ich es bin, sondern auf körperliche Berührung angewiesen sind, um die Verbindung herzustellen.« Danforth schaute auf sein Handgelenk hinunter. »Sie las also in meinen Gedanken, als sie mich anfaßte?« »Ja. Sie entnahm Ihnen die Informationen vermit-
tels eines persönlichen Kontaktes. Ferner haben Sie beobachtet, daß sie ihren Mann auf die gleiche Weise berührt hat; das war nötig, um ihm die Informationen zu übermitteln, die sie von Ihnen bekommen hatte.« »Und das Händeschütteln war –« »War wiederum der erforderliche Kontakt, um eine Verbindung herzustellen. Es spielt dabei keine Rolle, daß Sie keine telepathischen Fähigkeiten besitzen.« Mr. Ramsey senkte den Blick und studierte die Oberfläche seines Schreibtischs. »Das Händeschütteln vermittelte Ihnen eine Botschaft, die mit einem posthypnotischen Befehl zu vergleichen ist. Er wünschte, daß Sie zurückkehrten, und ließ den Wunsch so erscheinen, als ob es Ihr eigener wäre.« »Ich kann nicht gerade behaupten, daß mir das gefällt!« Mr. Ramsey hob den Blick und meinte: »Wenn Sie wollen, Leutnant, kann ich den Befehl wieder löschen.« Danforth warf ihm einen überraschten Blick zu. »Danke«, sagte er nach einer Weile. »Nein. Jetzt will ich zurückkehren!« »Ich hoffte es.« »Warum?« »Weil ich Mr. und Mrs. Nash kennenzulernen wünsche. Ich möchte gern von Ihnen dort eingeführt werden.«
Danforth grinste nur, statt einer Entgegnung. »Warum, vermuten Sie, wollen die Leute wohl, daß Sie zurückkehren?« fragte Mr. Ramsey. »Um mich auszuhorchen. Ich baue keine Zeitmaschine, aber wenn sie es tun, so wollen sie auf dem laufenden bleiben über die Fortschritte, die die Polizei bei ihren Ermittlungen macht.« »Genau das. Aber trotzdem begrüße ich die Gelegenheit, weitere Auskünfte einholen zu können. Immer vorausgesetzt, daß meine Vermutungen richtig und sie die Leute sind, die früher in Oak Ridge gelebt haben. Zu jener Zeit war über telepathische Fähigkeiten der Sekretärin nichts bekannt, sondern lediglich von denen des Mannes. Aber es gibt immer noch einen unbekannten Faktor, und den möchte ich gern in Erfahrung bringen. Telepathie, auch in jener beschränkten Form, war nicht unbedingt die einzige interessante Erscheinung bei Gilbert Nash.« Danforth schwieg und wartete. »Ich hatte das Vergnügen, die Akte zu lesen, die der Geheimdienst über Gilbert Nash angelegt hat. Es bestehen Unterlagen über jede Person, gegen die jemals, wenn auch indirekt, ermittelt wurde.« Mr. Ramsey verriet nicht, ob er die Akte über einen anderen Telepathen als Mittelsmann eingesehen hatte, der beim Geheimdienst arbeitete. Diese und ähnliche Stellen würden wahrscheinlich aufs höchste be-
unruhigt sein, wenn sie wüßten, daß ihre geheimsten Unterlagen jedem beliebigen Telepathen auf der Welt zugänglich waren, sofern dieser den Wunsch hatte, Einblick zu nehmen. Mr. Ramsey fuhr fort: »Gilbert Nashs Spezialität ist Langlebigkeit.« Danforth dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. »Der Mann ist noch nicht einmal vierzig.« »Und seine Frau?« »Vielleicht fünfundzwanzig.« »Die beiden Personen, die damals mit der Sache in Oak Ridge in Zusammenhang gebracht worden waren, waren etwas jünger. Er schien Anfang dreißig zu sein, sie dreiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig.« »Aber das war, wenn ich Sie richtig verstehe, vor über zwanzig Jahren«, wandte Danforth ein. »Ich sagte bereits, daß Nashs Spezialität Langlebigkeit ist.« Mr. Ramsey legte die Fingerspitzen aneinander und musterte Danforth über den Schreibtisch hinweg. »Man täuscht sich oft, wenn man zu schätzen versucht, wie alt oder wie jung jemand ist. Sagt Ihnen der Name Gilgamesch etwas?« »Nein ... Ich glaube nicht.« »Stammt aus dem Altertum. Besser noch, aus prähistorischer Zeit.« »Tut mir leid. In der Schule fingen wir mit den alten Griechen an.«
»Fällt Ihnen nichts auf, wenn Sie die beiden Namen vergleichen: Gilbert Nash und Gilgamesch?« Danforth blickte sein Gegenüber stumm an. Irgendwo im Haus, einen Stock tiefer, wurde eine Tür laut zugeschlagen. Die Motoren mehrerer Autos wurden angelassen. Der Regen hatte nachgelassen, und es sah aus, als würde er bald ganz aufhören. Mr. Ramsey fuhr fort: »Gilgamesch ist ein prähistorischer Name. Archäologen haben im vorderen Orient Steintafeln freigelegt, aus denen hervorgeht, daß dieser Gilgamesch ein Abenteurer war, der vor vieroder fünftausend Jahren gelebt hat.« »Das glaube ich nicht«, sagte Danforth unverblümt. »Es ist aber wissenschaftlich belegt«, entgegnete Mr. Ramsey. »Das ist es nicht. Sie wissen schon, was ich meine. Der Mann, den ich heute nacht besuchte, war keine vier- oder fünftausend Jahre alt.« »Und die Frau war vermutlich auch nicht über vierzig?« »Wohl kaum.« Mr. Ramseys fast nicht wahrnehmbares Nicken war das einzige äußere Zeichen, daß er mit dem Leutnant nicht übereinstimmte. »Ich werde nicht versuchen, Sie umstimmen zu wollen, Leutnant. In einem Fall wie dem vorliegenden ist es wichtig, daß Sie die Überzeugung selbst gewinnen. Lassen Sie mich
nur eines sagen: Ich kenne die Akte über Gilbert Nash, der vor zwanzig Jahren aktiv am Start der ersten Raumstation mitgewirkt hat, und diese ungewöhnliche Art der Gedankenübertragung interessiert mich sehr. Ich würde Gilbert und Shirley Nash gern persönlich kennenlernen und wäre Ihnen zu Dank verbunden, wenn Sie den Kontakt herstellen könnten.« »Vielleicht legen die beiden keinen Wert darauf – zumal Sie ihnen gegenüber im Vorteil sind.« »Das ist richtig. Deshalb wäre es wohl das beste, wenn Sie sich vorher erkundigten.« »Das kann ich tun. Wann?« »Sobald Sie Zeit haben. Was planen Sie als nächstes zu tun?« Danforth blickte auf die Wanduhr. »Als erstes gehe ich nach Hause und lege mich schlafen, wenn möglich vierundzwanzig Stunden lang. Ich war die ganze gestrige Nacht auf den Beinen, wegen dieser Bombendrohung in der Festhalle, und heute nacht wurde ich wieder geweckt. Ich brauche meinen Schlaf.« »Dann wählen Sie selbst den Zeitpunkt.« Mr. Ramsey blickte ihn nachdenklich an. »Ich möchte Ihnen aber sagen, daß es mir persönlich leid tut, daß Sie schon gehen. Ich wünschte, Sie würden bleiben.« Aus Danforths Blick sprach Überraschung. Das konnte er nicht glauben. Er machte sich nicht die Mühe, es laut auszusprechen.
Der Telepath fuhr fort: »Ich entschuldige mich noch einmal. Die Entscheidung Ihrer Vorgesetzten war einstimmig. Natürlich standen sie unter starkem politischen Druck. Sie suchten einen Sündenbock, und die Wahl fiel auf Sie. Ich widersprach nicht, weil es nichts genützt hätte. Ich widersprach auch deshalb nicht, weil ich wollte, daß Ihre Amtsentbindung aufgrund eines einstimmigen Beschlusses erfolgen sollte. Und jetzt sage ich Ihnen, daß ich diesen Schritt zwar persönlich bedauere, ich aber trotzdem glaube, daß es für Sie nur vorteilhaft sein wird.« »Das sagen Sie bitte noch einmal im Klartext«, entgegnete Danforth. Er beobachtete den Telepathen scharf und versuchte zu erraten, worauf der Mann hinaus wollte. »Ich glaube, daß es von größerem Nutzen sein wird, wenn Sie nicht im Auftrag der Sicherheitspolizei arbeiten.« »Also in Zivil?« fragte Danforth. »Auf eigene Faust?« »Ja.« »Und indem ich nur Ihnen Bericht erstatte?« Im Grunde eine überflüssige Frage. »Die Antwort ist dieselbe, ja.« »Was wird eigentlich gespielt?« »Leutnant, in der Geschichte dieses Landes hat es nur ein einziges Mal eine Revolution gegeben, und das Land hat in seiner Geschichte auch nur einen
Bürgerkrieg erlebt. Keine dieser beiden Tragödien darf sich jemals wiederholen.« »Mr. Ramsey, Sie überschätzen meine Bedeutung!« »Solche Katastrophen werden nicht durch große Ereignisse ausgelöst. Es beginnt mit kleinen Zwischenfällen, und die sind Bestandteil unseres Alltags. Mit einem dieser Zwischenfälle haben Sie sich heute nacht beschäftigt, Leutnant. Ihnen ist sicherlich klar, daß ein erbitterter Kampf um die Macht zwischen zwei gegensätzlichen Gruppen öffentlich ausgebrochen ist. Soweit wir wissen, hat die eine Seite bisher in sechs Fällen bluten müssen. Daß auch der anderen Seite eine Wunde zugefügt worden ist, könnte sich vor kurzer Zeit gezeigt haben.« Danforth überlegte. Ihm fiel ein, was er vor kaum einer Stunde erfahren hatte. »Sie meinen doch nicht etwa diesen Fernsehkomiker? Der hat doch nichts verbrochen.« »Sein Programm am heutigen Abend enthielt eine grobe, aber wirkungsvolle Parodie auf die Zeitmaschine. Die Theorie muß erlaubt sein, daß ihm diese Parodie von bisher noch unbekannter Seite nahegelegt worden ist, um eine bisher ebenfalls unbekannte Kraft aus der Reserve zu locken. Der Komiker ist ermordet worden, und die Art und Weise, wie dies geschah, läßt auf vorherige Planung schließen. Die Vermutung liegt nahe, daß die bisher von Attentaten betroffene Gruppe
zurückgeschlagen und, wenn auch indirekt, einen Treffer erzielt hat. Sozusagen als Vergeltung für die Sprengstoffattentate. Leutnant, ein zweiter Bürgerkrieg liegt durchaus im Bereich des Möglichen.« »Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen sechs Sprengstoffattentaten und dem Tod eines zweitklassigen Komikers«, sagte Danforth, dem das alles zu schnell ging. »Es besteht auch keine offensichtliche Verbindung. Es ist zunächst nichts anderes als eine Theorie. Eine verhältnismäßig lockere, aber fanatisierte politische Gruppierung strebt nach der Macht im Staat. Im November könnte sie ihnen zufallen. In der Zwischenzeit suchen eine oder mehrere ebenfalls fanatisierte Gruppen nach einer funktionierenden Zeitreisemaschine. Es ist möglich, daß sie sie jederzeit bekommen. Betrachten wir die Sache einmal von der Zukunft aus, so könnten sie sie bereits besitzen. Die neue Partei fürchtet diese Maschine schlimmer als den Teufel. Ihre Mitglieder unter den Wissenschaftlern, den Ingenieuren und Arbeitern halten unentwegt Ausschau nach Anzeichen, die auf die Existenz eines solchen Gerätes hindeuten könnten. Die Partei fürchtet die Maschine deshalb so sehr, weil diese den Untergang der Partei bedeuten würde. Die vollständige Auflösung. Denken Sie nur an die sechs Sprengstoffattentate und das herrschende Mißtrauen in der Öffentlichkeit
und unter den Anhängern der Partei. Erinnern Sie sich auch an den Mann, der durch seinen Fernsehauftritt bewußt oder unbewußt zur Popularisierung dieser Maschine beigetragen und sein Leben verloren hat. Leutnant, soweit wir bis jetzt wissen, bedient man sich des Mordes, des Massenmordes, um die Partei zu bekämpfen. Wir wissen das nur zu gut, denn wir haben mit dieser Sache unmittelbar zu tun. Und deshalb ist es meine zunächst nur als Theorie aufzufassende Vermutung, daß die Partei heute nacht ihren ersten Vergeltungsschlag geführt hat.« »Den ersten Vergeltungsschlag?« fragte Danforth. »Wir wissen nur von diesem einen. Andere können folgen. Die Partei fühlt sich in die Enge getrieben, und aus dieser Verzweiflung heraus kann ein Bürgerkrieg entstehen.« »Dennoch glauben Sie, daß es noch keine Zeitreisenden gibt?« »Ich bin überzeugt, daß kein Zeitreisender in der vergangenen Nacht in der Nähe von Staatssekretär Olivers Haus war. Ich glaube auch nicht, daß einer in der Stadt war oder hier ›vorbeifuhr‹.« Mr. Ramsey faltete die Hände. »Aber ich weiß auch, daß mir nur wenige glauben werden, weil man mir nicht glauben will. Die Söhne Amerikas sind überzeugt, von einem Zeitreisenden umgebracht zu werden.« Sie saßen in nachdenklichem Schweigen.
Nach einiger Zeit stellte Danforth eine Frage, die ihn beschäftigte, seit er die Aufnahmen der Zeitkameras gesehen hatte. »Haben Sie gesehen, wie eine Sekunde vor der Implosion die Hunde auf das Haus zurannten? Sie waren aufgeregt.« »Ich glaube, ja.« »Messen Sie dem irgendwelche Bedeutung bei?« »Eigentlich nicht. Ohne ein Urteil über den Wert des Aberglaubens zu fällen, dürfen wir doch annehmen, daß sie den Tod herannahen fühlten.« »Vielleicht«, sagte Danforth zögernd. »Oder sie bemerkten plötzlich, daß beim Haus etwas nicht in Ordnung war.« Er blickte den Telepathen an. »Haben Sie Gedankenkontakt gehalten? Was taten die Leute im Haus in den letzten Sekunden?« »Ich folgte Captain Redmon, seit er das Dienstgebäude verließ«, antwortete Mr. Ramsey ruhig. »Er nahm einen Whisky von einem der Diener entgegen und setzte sich, um der Unterhaltung zuzuhören. Er beantwortete die Fragen, die an ihn gerichtet wurden, beteiligte sich jedoch sonst nicht an den Gesprächen. Nach einigen Minuten begab er sich zur Bar. Er füllte sein Glas nach, nahm ein kleines Spielzeug in die Hand, betrachtete es, und das war das Ende.« Danforth lehnte sich nach vorn. »Was für ein Spielzeug?«
»Eine Gummipuppe.« »Eine Gummipuppe?« wiederholte Danforth. »Eine Puppe mit rundem Unterteil. Eine kleine Puppe, die nicht umfallen kann. Sie richtet sich immer wieder auf, wenn man sie losläßt. Ein beliebter Nippesgegenstand in Hausbars.« »Schwerlich eine Implosionsbombe«, sagte Danforth gedehnt. »Kaum«, stimmte ihm Mr. Ramsey zu. »Hat sie der Captain einige Male angestoßen, bevor er sie in die Hand nahm?« »Ja. Dann hob er sie hoch und untersuchte den runden Fußteil.« »Päng!« sagte der Leutnant humorlos. Mr. Ramsey antwortete nicht. Danforth fuhr fort: »Ich versprach einem der Kameraleute, daß ich Sie über Schutzgeräte fragen würde. Über Zeitreisende und Schutzgeräte. Ist es möglich, Gedanken vor Ihnen zu verbergen? Mit mechanischen Hilfsmitteln, meine ich? Der Mann hatte die Theorie entwickelt, daß sie die Zeitreisenden vor Ihnen verbergen, indem sie einen Schild tragen oder irgend etwas, das ihre Gedanken abschirmt.« »Eine amüsante Theorie, muß ich zugeben, aber eine nutzlose. Gedanken, wie auch die meisten Strahlungen können nur mit einem Mittel abgeschirmt werden. Bleipanzer.«
»Und Sie würden einen solchen Panzer wahrnehmen?« »Ein solcher Schutzschild würde den beabsichtigten Zweck selber zunichte machen. Der Schirm selbst und das Nichtvorhandensein von normalen Gedankenströmen würde auffallen.« »Weshalb«, fragte Danforth neugierig, »ist Ihnen das Ehepaar Nash bis jetzt nicht aufgefallen?« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Mangel nicht der Öffentlichkeit preisgäben. Einige Angehörige meiner Abteilung wissen um die Beschränkung meiner Fähigkeit, aber die meisten wissen nichts davon. Ich habe keine Bedenken, es Ihnen zu verraten, aber ich bitte Sie, es nicht weiterzusagen.« »Sie haben mein Wort!« »Danke. Telepathie – meine Form der Telepathie – ist keineswegs die geheimnisvolle Zauberei, welche die meisten Leute dahinter sehen. Es besteht eine eigenartige Beschränkung. Ich kann nur die Gedanken derjenigen Personen lesen, denen ich persönlich begegnet bin.« »Das ist mir aber neu!« »Kann ich mir vorstellen. Sie werden sich erinnern, daß alle Mitarbeiter in dieser Dienststelle einen Teil ihrer Ausbildung in meiner Gegenwart erhalten haben. Umgekehrt war es genauso. Ich habe mit den einzelnen Leuten mehrere Tage lang gemeinsam ge-
arbeitet und trainiert. Das war erforderlich, damit ich die einzelnen Personen genau kennenlernen konnte. Sobald dies der Fall ist, kann ich der betreffenden Person in Gedanken den Rest ihres Lebens folgen, wohin sie auch gehen mag. Ich bin mir der Stadt bewußt und des umliegenden Landes; ich bin mir der Menschen bewußt, die da leben, was sie im allgemeinen treiben und wie viele es sind. Aber ich kann ihre Gedanken nicht lesen, sofern ich sie nicht vorher persönlich kennengelernt habe. Daraus ergibt sich, daß ich einem Menschen besser folgen kann, je genauer ich ihn kenne. Den Leuten, die sich in Olivers Haus in dieser Nacht getroffen haben, bin ich noch nie begegnet. Aber ich konnte sie durch Captain Redmons Augen und Gedanken beobachten. Ich bin auch Gilbert und Shirley Nash noch nicht begegnet. Sie wären mir auch nie aufgefallen, es sei denn, sie hätten durch irgendeine ungewöhnliche Handlung meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Um es mit Ihnen geläufigeren Begriffen auszudrükken: Sie als Polizist können zwar eine ganze Gegend überwachen, einen Verbrecher finden sie aber erst, nachdem er eine verbrecherische Tat begangen hat.« »Sie haben die beiden aber inzwischen gesehen.« »Ich sah Mr. und Mrs. Nash diesen Abend, solange Sie sich in ihrem Haus aufhielten, aber ich sah sie nicht mehr, nachdem Sie gegangen waren. Wenn ich
das Glück habe, ihnen persönlich zu begegnen, so werde ich sie nie mehr verlieren, ohne auf Ihre Anwesenheit bei ihnen angewiesen zu sein.« Mr. Ramsey spreizte seine Finger. »Ich nehme Ihre nächste Frage gleich vorweg. Sie ist berechtigt, erfordert aber eine recht komplizierte Antwort. Sie können fragen, was ist mit diesem angenommenen Zeitreisenden, der die Stadt betritt, einem Mann, der mir unbekannt ist. Als erstes möchte ich feststellen, daß niemand, der mir bis heute begegnet ist, ein Zeitreisender war. Ich bin ganz sicher, daß heute nacht kein Zeitreisender in dieser Stadt weilte, obwohl ich natürlich keinen Beweis für meine Behauptung antreten kann. Ich bin nicht vollkommen und habe Fehler, aber ich glaube, daß ich in der Lage wäre, die Anwesenheit eines Fremden zu erkennen, der sich unserer Stadt und unserer Zeit mit einer Zeitmaschine nähert.« »Wie?« fragte Danforth offen. »Falls ein Zeitreisender jene Bombe in Simon Olivers Haus getragen hat, so ist es logisch, anzunehmen, daß er zusammen mit den anderen umgekommen ist. Leutnant, haben Sie je einen Menschen sterben hören? Sterben durch rohe Gewalt? Und dann stellen Sie sich vor, einen Mann auf dem Umweg über seine Seele und seinen Geist sterben zu hören! Eine ganze Anzahl von Männern starben in dieser
Nacht. Und ich kann lediglich sagen, es war furchtbar. Ich hörte jeden von ihnen sterben, jeden einzelnen im ganzen Haus. Einige von ihnen waren mir nicht bekannt; ich kannte sie jedoch im Moment ihres Todes. Die Gedanken eines Zeitreisenden waren nicht darunter. Auch ein Bleipanzer hätte in diesen letzten Augenblicken keinen Schutz mehr gewährt.« »Aber ...« »Ich sagte bereits, daß es schwierig zu beantworten wäre. Es ist schwierig, Begriffe in Worte zu fassen, welche nur vom inneren Ich eines Menschen erkannt werden können. Ich sagte, daß ich der Leute in der Stadt, ihrer Bewegungen und Anzahl gewahr sei. Ich habe sie nie persönlich getroffen, aber trotzdem nehme ich sie wahr. Und sollte ein Zeitreisender eintreffen, so würde ich die Zunahme bemerken und die außergewöhnliche Bewegung seines Kommens entdecken. Schon der Vorgang seiner Ankunft oder Durchreise würde meine Aufmerksamkeit auf ihn lenken.« »Damit komme ich wieder zum Ausgangspunkt zurück«, sagte Danforth. »Jemand jagte ein Haus in die Luft und verschwand ohne jede sichtbare Spur.« »Ja.« »Als unmittelbare Folge verliere ich meinen Posten, erhalte aber einen neuen Auftrag. Ich glaube den-
noch, Sie schätzen mich zu hoch ein. Ich kann weder eine Revolution noch einen Bürgerkrieg verhindern!« Mr. Ramseys Antwort kam mit ruhiger, sachlicher Stimme. Danforth drängte sich der Vergleich mit silbernen Glocken auf, die er zwar hören, die er aber nicht sehen konnte. »Ein Mann hätte alle diese Zwischenfälle, von denen ich gesprochen habe, verhindern können, Leutnant.« Ex-Leutnant Danforth schloß die Tür seiner Wohnung auf und ging hinein, ohne Licht zu machen. Einer alten Gewohnheit folgend, zog er seine graugrüne Uniform aus und hängte sie in den Wandschrank neben seine drei Anzüge, die er von nun an statt der Uniform tragen würde. Aus einer Schublade holte er frische Unterwäsche und legte sie auf die Kommode. Dann holte er sich noch ein großes grüngestreiftes Badetuch und ging ins Bad, um zu duschen. Der Regen hatte schließlich aufgehört, und die Wolkendecke begann sich zu lichten. Einige Sterne waren bereits zu sehen, und der Mond spendete schwaches Licht. Danforth kam aus dem Bad und ließ sich nackt auf das Bett fallen. Er schob die Decke zum Fußende und blickte durch das Fenster zum Himmel hinauf. Eine ereignisreiche Nacht.
Er hatte in dieser einen Nacht mehr erfahren als während seiner ganzen Dienstzeit bei der Sicherheitspolizei. Und jede dieser Erfahrungen war eine Lektion für sich gewesen. Mr. Ramsey war also nicht vollkommen. Das war von allen Dingen das Erstaunlichste. Bis jetzt hatte es so ausgesehen, als ob ein Telepath allmächtig sei und gleich nach Gott käme. Bis zu diesem Abend hatte er gedacht, ein Telepath sei einer, der alles beobachten könne, der alles wußte und wenig sagte. Ein Telepath galt als der heimliche Kopf einer Organisation, der die Informationen auswertete und vorschlug oder empfahl, wie im Einzelfalle vorgegangen werden sollte. Ein Telepath war Rechtsanwalt, Richter und Geschworener in einer Person, ein Allwissender, der nur auf die Stadt herabzublicken brauchte und gleich die Gedanken und Geheimnisse aller kannte, die darin wohnten. Nichts ließ sich vor einem Telepathen verbergen, er war allmächtig. Bis heute nacht. Bis jetzt. Heute nacht hatte ein Telepath zugegeben, daß seinen Fähigkeiten Grenzen gesetzt waren; er konnte nur die Gedanken jener Menschen lesen, die er persönlich kennengelernt hatte, mit denen er, und wenn auch nur kurz, in direktem Kontakt gestanden hatte. Aber er konnte nicht sagen, ob es in seiner Nähe noch einen anderen Telepathen gab, solange die Beweise nicht auf
dem Tisch lagen. Er war also bei weitem nicht das, wofür ihn die Allgemeinheit hielt, und er hatte zugelassen, daß man seine Fähigkeiten überschätzte. Ein Telepath war ein unvollkommener Mensch. Eine ungeheuerliche Vorstellung, genauso ungeheuerlich, wie wenn jemand behauptet hätte, der Präsident der Vereinigten Staaten ließe sich bestechen. Und die andere Überraschung – Gilbert und Shirley Nash. Eine ganz neue Art, sich der Telepathie zu bedienen. Mr. Ramsey hatte nichts davon gewußt, hatte überhaupt nicht geahnt, daß es so etwas geben könnte. Eine Art telepathischer Fähigkeit, die Gedankenübertragung nur bei körperlicher Berührung zuließ. Wie hatte es Mr. Ramsey ausgedrückt? »Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen, wenn sie ihre Hände auf Ihr Gesicht gelegt oder Sie geküßt hätte.« Gar nicht so übel, überlegte Danforth. Shirley Nash zu küssen wäre ein Vergnügen gewesen, selbst wenn sie dabei etwas ganz anderes im Sinn gehabt hätte. Heute nacht hatte sie sein Handgelenk mit ungewöhnlicher Kraft festgehalten und seinen Gedanken alles entnommen, was sie über Barbara Brooks Unfall hatte wissen wollen – und sicherlich noch einiges mehr. Und dann hatte sie mit einer leichten Berührung ihres Fingers diese, man konnte schon sagen gestohlenen, Informationen an ihren Mann weitergegeben. Ihr Mann hatte
mit ihm offen über diese Informationen diskutiert. Er schien nichts zu verbergen, schien unbesorgt zu sein, daß Danforth etwas von diesem Gedankenaustausch gemerkt hatte. Das könnte natürlich ein raffinierter Schachzug gewesen sein, um den Eindruck zu erwekken, hinter Unbefangenheit verberge sich auch ein offener Charakter. Und wenn er den Blick richtig deutete, den Mann und Frau gewechselt hatten, dann wußten sie nichts von Mr. Ramseys Existenz. Waren Telepathen also allmächtig, oder waren sie es nicht? Waren sie auf einen Mann wie Danforth angewiesen, der hin- und herlaufen mußte, um den einen von der Existenz des anderen zu benachrichtigen? Um Telepathen miteinander bekannt zu machen? Und Gilbert Nash – vier- oder fünftausend Jahre sollte er alt sein? Gleichgültig, ob die Anregung nun von ihm selbst oder von einem Dritten stammte, er würde zum See hinausfahren und das nette Ehepaar noch einmal aufsuchen. Vielleicht würde er diesmal Informationen bekommen, statt sie zu liefern. Diese klugen Reden über Zeitmaschinen, die hin- und herreisten, aus der Vergangenheit in die Zukunft und wieder zurück, könnten unter Umständen doch recht aufschlußreich sein ... Danforth setzte sich im Bett auf.
Mr. Ramsey war davon überzeugt, daß in dieser Nacht keine Zeitreisenden durch die Stadt gekommen waren, daß sie nicht der Zeit vorausgeeilt waren, auf dem Weg zu der Stelle, wo die Bombe explodiert war. Er war sicher, daß er es hätte bemerken müssen, gleichgültig, ob die Zeitreisenden einen Gedankenschirm gehabt hatten oder nicht. Ob sie nun aus der Zukunft oder aus der Vergangenheit gekommen waren, sie hätten zumindest einige Augenblicke in der Gegenwart und somit in seiner Reichweite verbringen müssen. Er hätte sie unweigerlich aufgespürt. Trotzdem hatte er von Gilbert und Shirley Nashs Existenz nichts gewußt. Wären Gilbert oder Shirley die Zeitreisenden gewesen, der Telepath hätte nichts von ihnen gemerkt. Es sei denn, jemand sagte nicht die Wahrheit. Danforth ließ sich auf das Kissen zurückfallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er fragte sich, ob Mr. Ramsey in diesem Augenblick seine Gedanken las. Er schüttelte den Kopf, um solche Überlegungen zu vertreiben. Früher war es weiß Gott einfacher gewesen, Polizist zu sein. Das Leben war viel unproblematischer, als es noch keine Zeitkameras gab. Dank dieser neuen technischen Errungenschaften wären er und seine Leute durchaus in der Lage gewesen, schon kurze Zeit nach Besichtigung des Tatorts
zu sagen, was für eine Bombe benützt worden war, wie groß sie war und welchen Sprengstoff man verwendet hatte. Davon ausgehend hätte man Schlüsse auf die Identität des Herstellers ziehen können. Diese Methode hatte ihnen jedoch bei den fraglichen sechs Sprengstoffattentaten nichts geholfen. Es gab kein Indiz, das auf den Hersteller schließen ließ. Das ihnen zugrunde liegende Schema war so völlig anders als alles, was sie bisher gekannt hatten. Die hinterlassenen Spuren ließen sich nicht deuten, führten nur in die Irre. Die Folge waren Verwirrung und ziellose Gedanken. Können Sie das in meinen Gedanken lesen, Mr. Ramsey? Wenn Gilbert oder Shirley Nash sich in dieser Nacht einer Zeitmaschine bedient hatten, um Simon Oliver und seine Vertrauten in die Luft zu jagen, dann haben die beiden Sie ganz schön hereingelegt. Sie wußten nichts von ihrer Existenz, folglich wäre es Ihnen nicht möglich gewesen, ihre Absicht zu durchschauen. Aber seien wir gnädig und nehmen wir an, daß sie nichts anderes sind als das nette Ehepaar, das sie zu sein scheinen. Dann haben sie Simon Oliver nicht zum Teufel geschickt, und wir können sie von unserer Liste der Verdächtigen streichen. Das wenige, was wir an Hinweisen haben, zeigt, daß diese Sprengstoffattentate etwas völlig Neues
waren. Ein Vorgang, mit dem die Polizei noch nie konfrontiert worden war. Was gibt es also Neues in der Welt? Natürlich die Zeitkamera und die Gerüchte von den Zeitreisenden. Allerdings behaupten Sie, daß es keine Zeitreisenden gibt, und auch heute nacht keine am Werk waren. Da mögen Sie sich vielleicht irren, aber nehmen wir für den Augenblick an, Sie hätten recht. Das bringt uns eine willkommene Theorie, denn wir haben die Zeitkamera, aber keine Zeitreisenden. Dennoch steckt hinter den Bombenattentaten etwas völlig Neues und Ungewöhnliches ... Danforth richtete sich so heftig auf, daß das Bett quietschte. Mr. Ramsey, was wissen Sie eigentlich darüber? Sie haben mir gegenüber zugegeben, daß Sie alles andere als vollkommen sind, keine Legende. Und eine Maschine, die nun mal keine eigenen Gedanken hat, wäre Ihnen sicherlich nicht aufgefallen. Eine durch die Zeit reisende Bombe, automatisch gesteuert und ohne Menschen an Bord, benötigt keinen Gedankenschirm, um unbemerkt an Ihnen vorbeizukommen. Und ferngelenkte Bomben gelangen ans Ziel, auch wenn kein menschlicher Pilot sie begleitet.
7. Kapitel A In Des Moines, Iowa, zerstörte ein aufgebrachter Mob von kreischenden Frauen ein Forschungsinstitut mit angeschlossener Experimentalklinik. Sie schlugen die Glastüren ein, stießen den verängstigten Pförtner aus dem Weg und demolierten systematisch die fünfzehn Räume des Gebäudes. Kühlschränke wurden aufgerissen und der Inhalt auf dem Fußboden verstreut, in den Labors wurden die Geräte zu Boden geworfen und zertreten, Instrumente flogen durch die Fenster oder wurden zerschlagen, Schreibtische und Arbeitstische wurden umgeworfen, Stühle zu Kleinholz zerschlagen. Dann stürmte der Mob in die Krankenzimmer und verscheuchte das Dutzend Patienten, alles werdende Mütter. Bettzeug und Matratzen wurden aufgeschlitzt, man zerschlug die elektrischen Anlagen und warf brennende Streichhölzer auf die Trümmer. Die vor Wut hysterischen Frauen drängten anschließend auf die Straße hinaus, um die herbeigerufene Polizei zu attackieren und die Feuerwehrleute daran zu hindern, das Gebäude zu retten. Das Ergebnis der Nacht: eine Schwesternschülerin zu Tode getrampelt, eine weitere Schwester durch
Brüche in beiden Beinen schwer verletzt, eine Anzahl verletzter Männer – und eine Fehlgeburt. Ursache dieser sinnlosen Zerstörungswut: das Experimentalkrankenhaus war ein Werk des Teufels. Es war un-amerikanisch. In der Klinik hatte man sich mit der Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Befruchtung beschäftigt. Und mit einem neuartigen Nebeneffekt auf sozialem Gebiet. Keine der hier untergebrachten werdenden Mütter hatte mit dem Vater des noch ungeborenen Kindes körperlichen Kontakt gehabt. Drei der Frauen waren sogar noch weiter gegangen und trugen Kinder für Ehepaare, die selbst keine bekommen konnten. Für diese Ehepaare, die keine eigenen Kinder haben konnten oder wollten, waren diese drei werdenden Mütter Pioniere auf einem neuen und ungewöhnlichen Weg. Diese drei Frauen waren von drei Ehepaaren als ideale Mütter ausgewählt worden; der männliche Teil jedes der drei Ehepaare hatte den Samen geliefert, der künstlich übertragen worden war, die Frau tat nichts, und die zu diesem Zweck ausgewählte und dafür bezahlte Mutter würde das Kind auf die Welt bringen. Mit der Geburt des Kindes war der Vertrag erfüllt, die vereinbarte Summe würde der Mutter bezahlt werden, und das Ehepaar würde mit dem Kind nach Hause gehen und es als das eigene
betrachten. Die Mutter selbst stand bereit für den nächsten Auftraggeber. Diese Möglichkeit, zu einem Kind zu kommen, kam all jenen Frauen gelegen, die sich ihre schlanke Figur erhalten wollten. Polizei und Feuerwehr zerstreuten die Menge, indem sie die Spritzen auf die Frauen richteten. Durchnäßt und heulend rannten sie nach Hause. Eine rotweiß-blaue Armbinde, die vom Arm ihres Trägers heruntergerissen worden war und nun auf dem Wasser im Rinnstein schwamm, trug die Aufschrift: Für die Söhne Amerikas und unsere Freiheit.
B In New Orleans vollbrachte eine etwas kleinere aufgebrachte, aber weniger militante Gruppe von Männern und Frauen das Werk, eine Bar zu verwüsten. Die Meute, die aus Personen beiderlei Geschlechts und mittleren Alters bestand, schien sich vortrefflich zu amüsieren. Ein schon etwas älterer Herr, der es für klüger hielt, die Schwerarbeit anderen zu überlassen, beschränkte sich darauf, neben der Tür zu stehen und den das Lokal fluchtartig verlassenden Gästen Pamphlete über die Gefahren und Versuchungen des Alkohols auszuhändigen.
»Wir setzen das Werk unserer Väter fort!« schrie ihr Anführer. »Wir haben Beweise, daß es hier Anzeichen von Kommunismus gibt!« Der Anführer, der wie die meisten Beteiligten eine Frau war, berichtete einem Reporter, daß sich die Mitglieder des von ihr geleiteten Vereins als Männer verkleidet hätten, um Trunkenbolde und Saufbrüder zu spielen, andere hätten sich unter der Maske von Prostituierten eingeschlichen, um in der Bar zu spionieren und Beweise zu sammeln, daß hier subversive Umtriebe im Gange seien. Gerade dieses Lokal sei ein wahres Schlangennest subversiver Tätigkeit gewesen, aber es sei nicht das einzige. Daß der Reporter so schnell zur Stelle war, schien ihr nicht merkwürdig vorzukommen. »Sie haben ja keine Ahnung, wo man so etwas überall antrifft«, erklärte sie. »In eleganten Bars ebenso wie in primitiven Kneipen. Die Roten sind überall! Die verstecken sich sogar hinter Kirchenmauern – ganze Gruppen, die den Treueschwur nicht leisten wollen.« Sie und ihre Mitstreiterinnen hatten keine Ahnung, was sie damit angerichtet hatten. Mit ihrer Aktion hatten sie zwar die Absicht verfolgt, Aufmerksamkeit zu erregen, aber es war ihnen entgangen, daß die Bar in der Hauptsache von Reportern, Fotografen und Journalisten frequentiert wurde. Diese hatten bisher keine Ahnung gehabt, daß sie sich in Gesellschaft ro-
ter Schlangen befunden hatten, und ihre Reaktion war auch dementsprechend. Das Ereignis wurde am nächsten Tag in den Zeitungen recht bissig kommentiert, und ein Leitartikler ging sogar so weit, die Frage zu stellen, wie erfolgreich die verkleideten Prostituierten gewesen sein könnten und über welche Erfahrungen sie doch verfügen müßten, um ihre Rolle so überzeugend zu spielen.
C In Los Angeles verfolgte ein Einsatzwagen der Kriminalpolizei den Weg eines Taxis quer durch die Stadt und hielt vor einem unbeleuchteten Haus, in dessen Küche eine langsam erkaltende Leiche lag. Von Gesicht und Kopf waren nicht genug übriggeblieben, um eine Identifizierung vornehmen zu können, aber die Bekleidung entsprach der Beschreibung, die man von dem kürzlich verschwundenen Angestellten einer Imbißstube hatte. Das Ergebnis der Ermittlungen bestätigte eine bereits gehegte Vermutung. Der Mann, der das Zyankali in die Milch geschüttet hatte, war tot. Was blieb, war die Aufgabe, den Mann oder die Person ausfindig zu machen, die ihn aus Sicherheitsgründen zum Schweigen gebracht hatte. Natürlich hatte von den Nachbarn kein einzi-
ger einen Schuß gehört oder irgend jemand gesehen, der das Haus verlassen hatte.
D Nachdem das Flugzeug in Washington gelandet war, stieg der Chef aus. Er war noch immer wütend. Zwei Assistenten stiegen aus dem Wagen, der über das Flugfeld herangekommen war, und liefen auf den Chef zu. Während dieser eine Pause machte, um zwischen wütenden Tiraden Luft zu holen, flüsterte ihm einer der Männer etwas zu. Er verhielt mitten im Schritt, blickte den Mann an und verlangte, daß dieser es wiederhole. Dann brach er in lautes, brüllendes Gelächter aus und klatschte in die Hände. Ben hatte eine Vorliebe für spektakuläre Gegenmaßnahmen.
E Es war kurz vor Morgengrauen am nächsten Tag, als in der zwielichtigen Stille, die dem Sonnenaufgang vorausgeht, ein Farmer im seichten Wassertümpel seiner Viehweide einen Gegenstand fand. Er war dem Pfad gefolgt, den seine Kühe benützten, um zur Tränke zu gehen, und der um das schlammige, zer-
trampelte Ufer herumführte. Der Mann blieb stehen und starrte auf den Gegenstand. Es war eine verbogene, halb zerbrochene Apparatur, und der Farmer konnte sich nicht erinnern, so etwas überhaupt schon einmal gesehen zu haben. Bevor die Maschine zu Schrott verwandelt worden war, mußte sie gut über einen Meter lang gewesen sein und einen Durchmesser von mehr als einem halben Meter gehabt haben. Das Ding war hohl, und aus einer Öffnung ragten mehrere schwarze, verbogene Stäbe. Die Drähte, die wie dünnes Gedärm herausquollen, erinnerten ihn schwach an die elektrische Anlage eines Autos. Er beugte sich vor, um in die Öffnung zu blicken, und fuhr entsetzt zurück. Drinnen lag eine tote Katze, eine dürre, zerzauste, schwarze Katze. Die ganze Sache hatte für ihn weder Hand noch Fuß. Gestern hatte das Ding jedenfalls noch nicht dagelegen. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Druckbehälter für Gas oder Luft, den jemand von weit oben heruntergeworfen hatte.
F Im Bundesstaat Washington veranstaltete die Bundespolizei mit Unterstützung der städtischen Polizei um Mitternacht eine Razzia.
8. Kapitel Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei – ExLeutnant Danforth – öffnete vorsichtig ein Auge und blickte in das helle Tageslicht. Dann schaute er auf die Uhr und sprang unwillkürlich aus dem Bett, erschreckt, daß es schon so spät war. Als beide Füße den Boden berührt hatten, entsann er sich, daß er ExLeutnant Danforth war, und fiel langsam wieder zurück. Irgendwie gefiel ihm das ebenfalls. Nach einiger Zeit stellte er fest, daß er hungrig war, und stand ein zweites Mal auf, um sich anzukleiden. Er war unten auf der Treppe und beinahe schon an der Tür, als aus einem angrenzenden Raum seine Wirtin gestürzt kam. »Schlecht«, erklärte sie mit erhobenem Zeigefinger. »Schlecht, schlecht, schlecht!« »Schlecht?« fragte Danforth. Die Wirtin nickte. »Nur das Schlechte schläft so lange. Rechtschaffene Leute stehen mit der Sonne auf. Es tut mir leid, Mr. Danforth.« »Was tut Ihnen leid?« wollte er wissen. »Daß Sie Ihren Posten verloren haben. Diese Leute sind schlecht.« »Einen Augenblick, bitte. Woher wissen Sie, daß ich meinen Posten verloren habe, und wer ist nun schlecht?«
»Die Beamten der Staatsverwaltung. Man kann niemandem von der Staatsverwaltung trauen, Mr. Danforth. Das soll Ihnen eine Lehre sein.« Sie trat näher zu ihm heran, einen Staublappen schwenkend. »Sie haben Sie an die Luft gesetzt. Es kam heute früh in den Nachrichten. Aber ich bin auf Ihrer Seite, Mr. Danforth. Machen Sie sich über die Miete keine Gedanken!« »Nun, danke – vielen Dank!« Er schien verlegen. »So, ich bin also in den Nachrichten? Was wurde über mich gesagt?« »Sie sagten, Sie hätten Ihre Pflicht vernachlässigt, und Sie hätten es zugelassen, daß letzte Nacht das Haus des Politikers in die Luft gesprengt wurde. Sie sagten, sie hätten eine gründliche Säuberung in der ganzen Abteilung vorgenommen. Ich wußte, daß hinter allem diese bösen Zeitmaschinen steckten!« »Was?« »Die Zeitmaschinen. Sie wissen schon, Mr. Danforth. Man hat eine entdeckt und den Mann festgenommen. Es kam auch in den Nachrichten heute morgen.« Danforth fuhr herum. »Wo wurde sie gefunden? Wen haben sie verhaftet?« »Oh, sein Name wurde nicht genannt. Irgendein Ingenieur bei der Great Electric.« »Aber wo?« fragte er. »Ich habe es ja soeben gesagt. Dieser Ingenieur bei
der Great Electric. In Binghamton, glaube ich, hat der Ansager berichtet. Oder vielleicht war es auch Birmingham. Ach – wo diese Fabrik eben ist. Sie wissen das ja.« Er wußte es nicht, aber er erfuhr es, als er das Restaurant betrat, wo er gewöhnlich zu frühstücken pflegte, und dort eine Zeitung in die Hand nahm. Die ersten drei Zeilen des Berichts überzeugten ihn, daß es sich um eine Falschmeldung handelte, veranlaßt von einem übereifrigen Reporter. Aber es gab eine gute Schlagzeile ab. ZEIT-VERSCHWÖRER VERHAFTET! Unterstützt von Beamten der Bundespolizei war die Polizei von Bellingham im Bundesstaat Washington in den frühen Morgenstunden in das Haus eines bekannten, aber namentlich nicht erwähnten Elektronikingenieurs eingedrungen, der für die Great Electric Corporation arbeitete. Der Mann und eine weitere männliche Person, die um diese Zeit in einem Werkraum im Keller des Gebäudes gearbeitet hatten, waren verhaftet worden. Laut Mitteilung der Polizei seien die beiden mit dem Zusammenbau einer rätselhaften Maschine beschäftigt gewesen, von der man annahm, daß es sich um ein Zeitreisegerät handelte. Die beiden Männer hatten Widerstand geleistet, so daß sich die Polizei gezwungen sah, Gewalt anzuwenden.
Die Frau des Ingenieurs, die zur Zeit der Razzia in einem Zimmer im ersten Stock des Hauses geschlafen hatte, war durch den Lärm geweckt worden und hatte in die Auseinandersetzung eingegriffen. Sie war ebenfalls verhaftet worden. Die Bundesbeamten hatten die Maschine sichergestellt. Die Razzia war ausgelöst worden durch die Anzeige eines Nachbarn, der seit einigen Nächten rätselhafte Aktivitäten in der Kellerwerkstatt festgestellt hatte. Der Nachbar war einer von Bens Anhängern. Mehr wäre über diesen Vorfall nicht zu berichten gewesen, aber der Reporter hatte die mageren Fakten zu eineinhalb Spalten Länge ausgewalzt. Der Bericht war durch ein Foto des Mannes ergänzt, der die Polizei auf den Plan gerufen hatte. Er machte ein sehr zufriedenes Gesicht. Danforth wandte seinen Blick von der Reportage ab und suchte auf der ersten Seite nach dem anderen aufregenden Ereignis des Tages, den Einzelheiten über die Explosion der vergangenen Nacht. Eine große Aufnahme zeigte die Ruinen von Simon Olivers Villa. Die Geschichte enthielt nichts, was Danforth nicht schon wußte. »Sie stehen auf Seite drei!« ertönte plötzlich eine weibliche Stimme. Danforth schielte über die Zeitung nach dem Mädchen, das hinter der Theke stand.
»Hallo, Dutch. Ich habe Hunger.« »Dem kann man abhelfen. Miserables Foto, übrigens.« »Wirklich?« Danforth wendete die Zeitung und schaute auf Seite drei nach. Das Bild, das den Bericht über seine Entlassung ergänzte, stellte ihn dar, wie er vor einigen Jahren ausgesehen hatte. Es war ihm nie aufgefallen, daß er inzwischen so sehr gealtert war. »Ich werde die Zeitung verklagen«, sagte er zu dem Mädchen. »Taten Sie es wirklich?« wollte sie wissen. »Was?« »Eine Bombe legen?« »Nein.« »Dann verklagen Sie die Leute!« stimmte sie zu. »Was ist mit dem Kerl, den man verhaftet hat? Dem Ingenieur?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, daß das gerechtfertigt war.« Dutch nickte. »Der Koch auch. Er sagte, es sei alles Schwindel. Ich frage mich nur, woher er das wissen will.« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Haben Sie von dem Neunmalklugen gehört, der im Keller seines Hauses ein Boot gebaut hatte und es dann nicht herausschaffen konnte, als es fertig war? Nun, das ist dasselbe. Kein Ingenieur würde sich in seinem Keller eine Zeitmaschine bauen und dann die Wände nie-
derreißen, um die Maschine herauszuschaffen. Alles aufgelegter Schwindel, sagte der Koch. Er meint, der Ingenieur hätte vielleicht ein Destilliergerät für Selbstgebrannten Schnaps bauen wollen.« »Freut mich, das zu hören«, meinte Danforth. »Jetzt, wo wir uns einig sind, könnte der Koch vielleicht mein Frühstück machen?« »Ich kann es ihm ausrichten«, sagte Dutch. »Was?« Danforth bestellte, und sie verschwand durch die Flügeltüren im Hintergrund des Raumes. Lächelnd begann er zu überlegen, welche Art von Erziehung wohl notwendig sei, um die Menschen an die Tatsachen zu gewöhnen, wenn die Zeitreise je Wirklichkeit wurde, um sie zu überzeugen, daß vier Wände für eine Zeitmaschine kein Hindernis darstellten. Auf der einen Seite vermuteten sie, daß bevorzugte Leute diese Maschinen besaßen und damit heimliche Vergnügungsfahrten durchführten, aber andererseits klammerten sie sich an die merkwürdige Vorstellung, ein Mann könne eine derartige Maschine nicht aus seinem Kellergeschoß entfernen. Für eine Zivilisation, die daran gewöhnt war, sich mit den verschiedenartigsten Geschwindigkeiten zwischen Spazierschritt und Raketenflug durch den Raum fortzubewegen, durch die Zeit jedoch lediglich durch das Weiterleben von Tag zu Tag, würde dieser Begriff einigermaßen schwierig zu fassen sein.
Notwendigerweise – überlegte er weiter – würde ein Zeitreisender in der Lage sein müssen, sich sowohl durch den Raum als auch durch die Zeit zu bewegen, sonst würde seine wundervolle Erfindung bis in alle Ewigkeit an einen einzigen Fleck gebunden bleiben. Betrachten wir einmal diesen Ingenieur mit seiner Bastelei im Keller. Angenommen, das war eine Zeitmaschine. Falls er sie zum Funktionieren gebracht hatte, falls sie sich tatsächlich nach seinen Einstellungen durch die Zeit bewegte – was dann? Sie würde vorwärts oder rückwärts durch die Zeit reisen, das nächste oder das vergangene Jahr besuchen, aber doch immer innerhalb der Mauern dieses Kellers bleiben; immer an der Stelle, wo der sie gebaut und in Betrieb genommen worden war. Wenn der Ingenieur die Maschine einige Jahre zurückzuschicken vermochte in die Zeit, bevor der Keller ausgeschachtet und das Haus gebaut worden waren, würden er und sie unter einigen Metern Erde begraben sein. Oder wenn er sie einige Jahre in die Zukunft schickte, vielleicht in eine Zeit, in der das Haus wieder abgerissen und der Keller mit Erde aufgefüllt wäre, würden er und sie erneut verschüttet sein. Er würde also jedesmal eine Schaufel mitnehmen müssen, um sich einen Weg ans Tageslicht zu graben. (Und wohin mit dem Erdreich, wenn der Weg von unten her gegraben werden mußte?)
Und gesetzt den Fall, irgendwann in der Zukunft wird das Haus umgebaut. In diesem Fall könnte sich auch die Raumeinteilung geändert haben. Was früher die Werkstatt gewesen war, konnte dann der Heizkeller oder die Waschküche sein. Und was würde ein Zeitreisender machen, wenn sich seine Maschine im Innern eines Ofens oder einer Waschmaschine materialisierte? Oder angenommen, das Haus wurde abgerissen und der Grund, auf dem es gestanden hatte, abgetragen, um einer Straße Platz zu machen. Wenn der Ingenieur mit seiner Maschine in diesem Moment ankommen sollte, würde er mit tödlicher Sicherheit sofort auf das neue Niveau der Straße niederstürzen – und was dann mit einer zerschmetterten und unbrauchbaren Zeitmaschine? Es war also nötig, daß sich die Maschine sowohl durch den Raum als auch durch die Zeit bewegen konnte. Wenn nicht, hatte man ein Automobil ohne Räder erfunden. Danforth starrte verdrossen auf das Wasserglas, das die Kellnerin vor ihn hingestellt hatte. Ob wohl die Maschine des Ingenieurs ein Rauschen verursachte, wenn sie sich durch Raum und Zeit bewegte? Er trieb sich ohne Ziel in der Stadt herum. Zufällig kam er an der städtischen Bibliothek vorbei, und er ging hinein und erkundigte sich nach dem Roman
von H. G. Wells: »Die Zeitmaschine«. Die Erzählung war ziemlich populär geworden, seit die Diskussion über Zeitkameras und Zeitmaschinen in Gang gekommen war, doch vermochte er sich nicht zu entsinnen, sie wirklich einmal gelesen zu haben. Vielleicht war es eines jener namenlosen Bücher, die er während der Schulzeit gelesen hatte, um sie sofort wieder zu vergessen. Die Bibliothekarin erkannte ihn von seinem Foto in der Zeitung und musterte ihn eingehend, aber sie suchte ihm den gewünschten Band heraus, ohne ihm gutgemeinte Ratschläge oder eigene Theorien anzubieten. Es war eine alte und ziemlich zerlesene Ausgabe. Danforth klemmte das Buch unter den Arm und ging. Im Nacken fühlte er die Blicke der anderen Angestellten. Sein Weg führte ihn an die Stelle, wo vergangene Nacht die Bombe explodiert war. Aber wenig ereignete sich dort. Er sah nur einen Mann, der mit einem Geigerzähler in der Hand zwischen den Trümmern herumkletterte. Ein Versicherungs-Rechercheur. In den Zeitungen, die er gelesen hatte, war nichts von der Radioaktivität erwähnt worden; irgend jemand hielt offensichtlich diese Neuigkeit bei der ganzen Angelegenheit zurück. Dieser Jemand wäre wenig erfreut gewesen, wenn er jetzt den Versicherungsangestellten zufällig hätte sehen können.
Danforth bückte sich unter dem Absperrungsseil durch und überquerte die Straße, die an der Vorderseite des Grundstückes entlangführte. Er zögerte und blickte nach beiden Seiten, um festzustellen, wo Boggs und das Mädchen gestanden haben mochten, als plötzlich der Himmel über ihnen einzustürzen begann. Dort unten – näher bei jener Baumgruppe. Danforth hatte mit Barbara über das Geräusch des fallenden Regens gesprochen, und sie war sicher gewesen, noch ein anderes Rauschen gehört zu haben. Hier ungefähr. Er schaute zum zerstörten Gebäude hinüber, das durch die geborstene Mauer und die zerrissenen Hecken sichtbar war. Dann drehte er sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Flaches Gelände erstreckte sich in jener Richtung, mehrere Motels, ein Bahnhof, und die vierspurige Autobahn nach Chicago. Außerdem ein halbes Hundert Dörfer und Städte von verschiedener Größe längs der Autobahn. Das seltsame Rauschen mußte aus Norden gekommen sein. Der Gedanke von gestern nacht kehrte in seine Erinnerung zurück. Eine kleine Maschine, die durch die Nacht flog. Ein Fernlenkgeschoß, das durch die Zeit fallend geradewegs auf Simon Oliver und die bei ihm versammelten Söhne Amerikas niederstürzte. Ein Geschoß ohne menschlichen Piloten, das aus diesem Grund auch keine Ausstrahlung von sich gab, die die Anwesen-
heit eines Zeitreisenden verraten hätte. Was halten Sie davon, Mr. Ramsey? Danforth drehte sich um und schaute zu den Ruinen und dem Versicherungsangestellten hinüber. Es war eine Implosion gewesen. Implosion – nicht Explosion! Die kleine Maschine, die Zeit-Bombe im wahrsten Sinne des Wortes, war implodiert und hatte mit der Gewalt einer Detonation nach innen gewirkt. Einwärts. In die Vergangenheit? Bei diesem Gedanken runzelte er die Stirn. Eine rückläufige Explosion? Eine Explosion, die dem normalen Ablauf der Zeit, der normalen Lebensentwicklung genau entgegengesetzt war? Leben strebte der Zukunft entgegen, der Mensch lebte von einem Augenblick zum nächstfolgenden, und seine Betrachtungsweise war notwendigerweise dieselbe. Wie würde ein Mensch eine Explosion sehen, deren Ablauf auf umgekehrte Weise erfolgte? Wenn sie jetzt, in diesem Augenblick, begann, allerdings rückwärts verlief statt vorwärts? Konnten die Zeitkameras überhaupt einen Vorgang festhalten, der sich ohnehin schon in Richtung auf die Vergangenheit entwickelte? Er schüttelte den Kopf. Sollte sich Mr. Ramsey damit befassen! Sollten sich doch sämtliche Mr. Ramseys und Polizisten auch der folgenden Jahre mit – um einen neuen Ausdruck zu prägen – diesen Zeitverbrechen abgeben!
Er verließ das abgesperrte Gebiet und setzte seinen Spaziergang fort. Um sich selbst zufriedenzustellen – obwohl er den jungen Leuten glaubte, daß sie die Wahrheit gesagt hatten –, folgte er dem wahrscheinlichen Weg, den das Paar in der vergangenen Nacht im Regen eingeschlagen hatte. Boggs und Barbara Brooks waren genau das, was sie angegeben hatten, und hatten genau das getan, was sie gesagt hatten. Er wartete auf den Bus und fuhr in die Stadt zurück. Außer einer Frau war er während des größten Teils der Strecke der einzige Fahrgast. Der Schaffner war zu einem Gespräch aufgelegt und bestritt fünfundneunzig Prozent der Unterhaltung. Er redete über den Mord an dem Komiker, die Verhaftung des Ingenieurs in Bellingham, das kürzliche Auftauchen von fliegenden Untertassen, das Bombenattentat und über den Polizisten, der letzte Nacht seinen Posten verloren hatte. Alles in allem, faßte er seine Meinung zusammen, hatte sich in der vergangenen Nacht allerhand ereignet, oder? Danforth stimmte zu. Also, was kam als nächstes? Was konnte möglicherweise als nächstes geschehen? Danforth dachte an das Ende der Welt. Das wäre ganz gewiß einmal etwas ganz anderes. Er machte einen kurzen Abstecher zum Krankenhaus, um mit den jungen Leuten zu reden, und überbrachte
das Angebot von Nash. Boggs wollte nichts davon wissen und sagte es auch. »Ich will seine Almosen nicht!« drückte er es aus. »Machen Sie das mit ihm aus«, sagte Danforth. »Ich habe Ihnen lediglich die Nachricht überbracht.« »Gut, gut. Er hat aber auch ein Gemüt! Sind Sie schon bei Barbara gewesen? Sie wollen mich nicht zu ihr lassen.« »Es geht ihr ausgezeichnet. Übrigens sind Sie beide von der Liste der Verdächtigen gestrichen, wenn ich richtig gelesen habe. Die Polizeiwache ist entfernt worden.« »Prächtig!« »Vielleicht läßt man Sie noch für eine Weile beobachten.« »Wozu denn, zum Teufel?« »Vielleicht hofft man, daß Sie sie an den Ort führen, wo Sie das Dynamit verborgen haben.« »Ach, die Dummköpfe.« Er bat Danforth um eine Zigarette. »Ich hörte einige der Schwestern miteinander reden. Niemand scheint zu wissen, was los ist.« »Das stimmt. Niemand. Selbst ganz oben nicht.« »Und ich behaupte immer noch, daß es ein Anarchist gewesen ist.« »Vielleicht haben Sie recht.« Dann besuchte er das Mädchen und fragte sie nochmals nach dem Geräusch, das sie gehört hatte.
Ihre Antworten blieben dieselben und waren genauso unergiebig wie vorher. Das Rauschen hatte nicht vom Regen in den Bäumen hergerührt. Er brach seinen Spaziergang durch die Stadt ab und ging in ein Restaurant. Er blätterte flüchtig in dem Roman von Wells, bis das Essen gebracht wurde. Er entdeckte, daß der fehlende Teil einer Illustration ursprünglich ein grauenhaftes, krabbenähnliches Ungeheuer dargestellt hatte, das einen Mann vertilgte. Im Roman hieß er der Reisende. Der unglückliche Mann war mit seiner Maschine gekommen, um in einer weit in der Zukunft liegenden Zeit den Rest seines Lebens zu verbringen, in einer Zeit, da menschliches Leben längst von der Erde verschwunden war und Himmel und Erde nur noch sterbende Materie waren und die Rotation des Planeten allmählich langsamer wurde. Ein Mensch wie der Reisende war willkommene Nahrung für das Monstrum, das aus dem Meer hervorgekrochen war. Danforth schmeckte das Essen nicht mehr. Als er das Lokal verließ und in das helle Sonnenlicht des Nachmittags hinaustrat, bemerkte er den Streifenwagen der Stadtpolizei. Er war offensichtlich erst angekommen, denn einer der vorn sitzenden Polizisten wollte soeben aussteigen. Der Mann hielt inne, als er Danforth erblickte. »Danforth – das Hauptquartier sucht nach Ihnen.
Rufen Sie dort an!« Danforth winkte zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und betrat das Restaurant wieder. Während er die Nummer wählte, überlegte er sich, wie es ihnen gelungen war, ihn ausfindig zu machen. Der Nachrichtenbeamte der Tagschicht nahm seinen Anruf entgegen. »Verbinden Sie mich mit Mr. Ramsey, bitte.« »Jawohl, Sir«, antwortete die Stimme unpersönlich. »Wer ist am Apparat?« »Geheimagent X.« Der Mann zögerte unwillkürlich, dann lachte er, als er Danforths Stimme erkannte. Er sagte: »Ein Freund von Ihnen hat einige Informationen für Sie. Er hat eine Nachricht zurückgelassen für den Fall, daß Sie anrufen. Er ist bis kurz vor sechs Uhr zu Hause anzutreffen.« »Danke. Ich rufe ihn an.« Dann wurde die Verbindung mit dem anderen Büro hergestellt. »Mr. Ramsey?« »Ja, Leutnant. Ich habe veranlaßt, daß Sie einen Dienstwagen haben können. Die Zentrale hat vor kurzem einen Anruf von einem Farmer namens Joseph Sohl erhalten, der zwei Meilen östlich von Buckhart wohnt. Der Farmer berichtete, daß eine seltsame Metallapparatur entweder gestern nacht oder
heute früh auf seine Weide gefallen sei. Auf unsere Frage hin gab er zu, das Ding nicht selbst fallen gesehen zu haben, und er kann auch nicht mit Sicherheit sagen, daß es irgendeine Apparatur ist. Nach seiner Beschreibung hat man in der Zentrale vermutet, daß es sich einfach um ein Stück weggeworfenes Altmetall handelte. Leutnant, mir scheint, als ob es –« »Ich habe begriffen«, sagte Danforth. »Ich werde mir das Ding sofort ansehen. Noch eine Frage: Wissen Sie etwas über den Ingenieur in Bellingham? Echt oder eine Falschmeldung?« »Falsch. Ich glaube, der Mann arbeitete an einer Art militärischer Waffe, die er der Regierung zu verkaufen hoffte. Ich glaube, er beschrieb es als eine neue Landmine, die durch die Gedankenausstrahlungen der anrückenden Feinde zur Explosion gebracht werden kann.« »Danke! Ich bin schon unterwegs!« Er rannte aus dem Restaurant, winkte einem Taxi und fuhr durch die Stadt zum Polizeihauptquartier. Der Nachrichtenbeamte warf ihm einen Schlüsselbund zu und lächelte wissend. Danforth erwiderte das Lächeln und hastete durch die Tür zum Parkplatz hinaus. Buckhart lag etwa fünfzehn Kilometer südöstlich von Springfield. Der Weg dorthin führte ein Stück über die Staatsstraße und zweigte dann als unbefe-
stigte Landstraße nach Osten ab. Kurz vor der Ortschaft war es dann nur noch eine holprige, ausgefahrene Wagenspur. Danforth fuhr so schnell, wie es die Wegverhältnisse zuließen, und beschäftigte sich in Gedanken mit dem Ingenieur von der Great Electric Corporation, dem genialen Heimwerker, der vermutlich inzwischen wieder an einer neuen Vernichtungswaffe bastelte. Er fand Sohls Farm mit Hilfe des handgeschriebenen Namens auf dem Briefkasten, der auf einem Pfosten neben der Landstraße stand, in dessen Schatten ein kleiner Junge saß. Das Polizeifahrzeug schien auf das Bürschlein einen großen Eindruck zu machen. Ungefragt verkündete er, daß sein Vater mit dem Traktor unterwegs sei, er sich jedoch freuen würde, als Führer und Erklärer helfen zu dürfen. Danforth öffnete ihm die Wagentür, und gemeinsam fuhren sie den staubigen Weg hinauf, vorbei an dem Farmhaus und den Nebengebäuden. Hinter der großen Scheune drängten sich die Rinder im Schatten des Gebäudes zusammen. Der Junge stieg aus, um ein Gatter in der Einzäunung der Rinderkoppel zu öffnen, und zeigte wortlos auf den kleinen Tümpel. Als Edison das Telefon erfand, sah es nicht im entferntesten so aus wie die modernen Apparate der Gegenwart; und die silberglänzenden, stromlinien-
förmigen Aufnahmemikrofone in den Studios waren keine Entwürfe von Marconis Hand. Danforth stieg aus dem Wagen und starrte auf die Konstruktion. Es war ein Metallzylinder, der halb vergraben im schmutzigen Wasser des Weihers lag, ein unbeschreibliches, zerbrochenes Etwas, mit einem Durcheinander von stumpfen schwarzen Stäben und zerrissenen Drähten, die aus dem offenen Ende heraushingen. Es sah so aus, als ob es einfach hingeworfen worden sei. Rostflecken hatten sich schon seit einiger Zeit auf der ganzen Länge des Zylinders angesetzt. Die Öffnung war uneben und eingedrückt, und die Spuren von Hammerschlägen waren deutlich sichtbar. Das Ding war ursprünglich verschließbar gewesen, jetzt jedoch fehlte der Deckel. Irgend etwas hatte dem Zylinder in der Mitte einen heftigen Schlag versetzt. Danforth wußte, daß er es gefunden hatte! Ohne auf den Schmutz zu achten, ließ er sich auf die Knie nieder, um in das Innere des Zylinders hineinzuschauen. Überrascht sprang er wieder auf und sah, daß ihn der Junge beobachtete. »Ich hätte Ihnen sagen sollen, daß eine Katze drinnen ist.« »Gehört sie dir?« »Nein.«
»Gehört sie einem Nachbarn?« »Nein. Die nicht.« Danforth blickte nochmals hinein. Die Katze war gefangen in einem Wirrwarr von Drähten und Stäben. Sie war offensichtlich hängengeblieben, als sie versucht hatte, sich einen Weg durch den Irrgarten zu bahnen – mit dem Erfolg, daß sie sich selber erwürgt oder aufgespießt hatte. Danforth blickte genauer hin. Oder aber sie war in dem Zylinder beim Aufschlag getötet worden. In einer plötzlichen Eingebung befahl Danforth dem Jungen, sich vom Weiher zu entfernen und hinter dem Wagen in Deckung zu gehen. »Wozu, Mister?« »Weil ich dieses Ding aus dem Matsch herausziehen werde und es dabei in die Luft gehen könnte. Und jetzt geh endlich!« Danforth faßte das scharfkantige offene Ende des Zylinders mit beiden Händen an und zog daran. Es glitt so leicht aus dem Sumpf heraus, daß er stolperte und beinahe auf den Rücken gefallen wäre. Er zog den Gegenstand ganz vom Ufer weg und ließ ihn auf dem Gras liegen. Dann trat er zurück und betrachtete ihn. Es war nichts anderes als ein leerer Blechbehälter, ungefähr hundertzwanzig Zentimeter lang und mit einem Durchmesser von vielleicht sechzig Zentimetern; die Wände waren ziemlich stark und dicht.
Rost und Dreck bedeckten das einstmals glänzende, galvanisierte Äußere, und am Boden war ein Deckel angeschweißt. Er bewegte den Zylinder mit dem Fuß, und eine fachmännisch geschweißte Naht kam zum Vorschein. Es schien wirklich nichts mehr zu sein als ... Etwas auf dem Boden zog seinen Blick an. Er ließ sich erneut aufs Knie nieder und kratzte den Schlamm weg. Der Junge stand neben ihm und verfolgte jede seiner Bewegungen. »Was steht da drauf?« »Es heißt«, las Danforth vor, »galvanisierter Stahl, Fassungsvermögen 120 Liter, hergestellt in den USA.« »Was bedeutet das?« »Daß das ein Wasserbehälter ist. Ein rostiger, verbeulter Wassertank aus einer Warmwasserheizung.« »Mit einer toten Katze drin?« »Mit einer toten Katze drin, jawohl. Bemerkenswert, nicht?« »Was?« »Ist es nicht bemerkenswert, was ein verkanntes Genie fertigbringt, wenn es sich etwas vornimmt?« Der Knabe verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Danforth klopfte mit den Knöcheln auf den Behälter und schüttelte den Kopf. »Ich habe schon zu viele
hausgemachte Bomben gesehen, um das hier nicht als solche erkennen zu können. Und noch keine einzige war lackiert oder verchromt gewesen, das kommt erst später.« Er rollte den Tank mit der Hand hin und her. »Sie sind ohne Chrom und Lack genauso wirksam.« Der Junge blickte ihn fragend an, sagte aber nichts. »Dieses Ende des Zylinders ist abgesägt worden – siehst du die rauhen Kanten? Falls das Modell in Serienproduktion geht, wird man die Kanten glätten. In die Öffnung wurde die Apparatur geschoben. Ein nachträglich angebrachter Deckel ist verlorengegangen. Vielleicht liegt er auf dem Boden des Tümpels.« Er blickte in den Himmel. »Möglicherweise ist er auch schon in der Luft verlorengegangen.« Danforth drehte den Zylinder mit dem offenen Ende gegen die Sonne zu, und hob ihn auf seine Knie, um das Innere genauer sehen zu können. Irgend etwas rollte lose hin und her, als er ihn bewegte. Das Gewirr von Drähten und zerbrochenen Stäben machte ihn nicht klüger als vorher, aber er konnte jetzt wenigstens hinter den Kadaver der toten Katze am anderen Ende des Zylinders sehen. Ein schmutziges, zerrissenes Stück Dekke war dort befestigt – das Lager der reisenden Katze. Ein bequemer Ort, um sich daraufzulegen auf der langen Reise – wohin? Zu den Opfern der nächsten Woche? Wahllos durcheinander lagen auf der Decke ferner zwei Batterien und eine Prince-Albert-Tabakbüchse. Er
vermeinte ein Ende eines dünnen Drahtes aus dem Deckel der Büchse hervorragen zu sehen. Die Pole der Batterien waren nirgends angeschlossen, aber etliche kurze Drahtstücke lagen auf dem Boden. Danforth ließ den Tank fallen und rannte zum Wagen. Er öffnete den Kofferraum. Ein Geigerzähler lag dort in einer Pappschachtel. Er legte den Tragriemen des Gerätes über seine Schulter und kehrte zum Zylinder zurück. Dann hielt er den Zähler tief in den Behälter hinein. »Was verursacht das knatternde Geräusch, Mister? Uran?« »Kann sein. Ich weiß es noch nicht.« »Es ist radioaktiv, nicht wahr?« »Ja, es ist heiß.« Er legte den Zähler beiseite und langte nochmals hinein, um die Katze herauszunehmen. Es war eine magere schwarze Katze, die offensichtlich in ihrem ganzen Leben nicht einmal ausreichend zu fressen bekommen hatte; die Spitze ihres langen Schwanzes war in einem eigenartigen Winkel gekrümmt, wie wenn er gebrochen wäre, und in einem Ohr befand sich ein kleiner Einriß. Danforth berührte nicht das schwarze Stäbchen, das wie ein Dolch zwischen ihren Rippen steckte. Das Blut war längst getrocknet. Eine Weile später überprüfte er die Katze mit dem Geigerzähler, aber es zeigte sich kein Ausschlag.
Als nächstes wurden die beiden Batterien in das Sonnenlicht gelegt, und wieder schwieg der Zähler. Danforth entdeckte Reste einer Lötmasse an den Enden der Pole. »In dieser Büchse ist ganz gewiß Uran!« brach es aus dem Jungen hervor. Er starrte mit großen Augen auf den Zähler. »Ich habe das schon mal im Fernsehen gesehen.« Vorsichtig öffnete Danforth den Deckel der Büchse. Erde. Er streute ein wenig davon auf seine Hand und nahm den Geigerzähler. Die Erde war radioaktiv. Danforth legte den Zähler beiseite, schüttete die Erde wieder in die Büchse zurück, verschloß sie und stellte sie auf den Boden. Dann setzte er sich hin und stützte das Kinn auf die Hand. Der Knabe schaute ihm sekundenlang zu und machte ihn dann nach.
9. Kapitel Moskowitz, der Labortechniker, pflegte im Labor einen grünen Arbeitsmantel zu tragen, der ihm bis zu den Knien herabhing. Er ließ ihn zweimal im Jahr waschen, ob er die Reinigung benötigte oder nicht, und er hatte die Taschen schon vor langer Zeit abgetrennt, weil seine Arbeitskollegen die Gewohnheit angenommen hatten, Gegenstände hineinzustecken – unerwartete und oftmals unerwünschte Gegenstände. Er blickte mit höchster Verachtung auf ihre weißen, nur bis zu den Schenkeln reichenden Arbeitsmänteln herab. Außerdem liebte und trug er farbenfreudige Krawatten. Die aufregende rosa Krawatte, die er jetzt gerade umgebunden hatte, paßte in keiner Weise zu seinem grünen Kleidungsstück. »Ein Schwindel«, erklärte er. »Ein ausgemachter Schwindel, um die Leute zu verdummen. Eine Verschwörung zwecks Schwindel und Betrug, eine fürchterliche Verdrehung von Tatsachen. Und ihre Werbung ist es offensichtlich ebenfalls.« »Es ist lediglich radioaktiver Dreck«, erinnerte ihn Danforth. Moskowitz wandte sich vom Spektroskop ab und hielt eine kleine Menge von der Erde in seiner Hand.
Er schien sie zu wiegen, roch daran, blickte sie prüfend an und zerdrückte sie schließlich in der Faust. »Ein Schwindel, sage ich. Ein eiskalter Schwindel, welcher der leichtgläubigen Menschheit da aufgetischt wird. Eine minderwertige Ware, die mit großen Worten angepriesen und an unerfahrene Studenten verkauft wird. Es sollte ein Gesetz dagegen geben!« Danforth seufzte und rieb geduldig seine Handflächen an der Hose. »Bitte, Moskowitz, was ist es?« »Seltene Erde.« »Das?« »Unrein!« »Wieso unrein?« »Eine Irreführung. Kein Mensch, der sein Handwerk versteht, wäre darauf hereingefallen.« »Was ist es?« fragte Danforth erneut. »Reine Erde in unreiner Form. Vermischt mit ganz gewöhnlichem Dreck, um das Verkaufsgewicht zu erhöhen. Ich kann mir jetzt ungefähr ein Bild vom Verkaufsangebot machen. Seltene Erden, das Pfund nur zwei Dollar fünfundneunzig.« Er zerrte erbost an seiner Krawatte. »Auswahl zwischen sechs verschiedenen Elementen der Lathanide und Actinide: Cer, Neodym, Europium, Holmium2, Californium, Fermium. Fordern Sie unseren illustrierten Katalog an!« »Wessen Katalog?« fragte Danforth. »Des Versandhauses, das diesen Dreck verkauft.«
»Das Zeug kann einfach so auf dem Markt gekauft werden?« »Natürlich.« Die rosa Krawatte wurde erneut zurechtgezerrt. »Sie verstoßen gegen die grundlegendsten Anstandsregeln. Man sollte sie anzeigen, daß sie solche minderwertige Ware verkaufen.« Danforth betrachtete die Handvoll Erde. »Vielleicht hat er sie nicht von einem Versandhaus gekauft. Vielleicht hat er sie in seinem Garten ausgegraben.« Moskowitz lächelte überlegen. »Seltene Erden werden nicht in Gärten gefunden. Unmöglich.« »Nein? Soweit ich mich erinnere, wurde Uran auch nicht eher in Kalkstein entdeckt, bis jener Indianer zufällig darüber stolperte.« »Ein Zufall«, sagte Moskowitz. »Seltene Erden werden in Mineralien gefunden, die nur vereinzelt vorkommen. Monazit, Cerit, Gadolinit, Samarskit – liegt so etwas in diesem Garten herum?« »Ich weiß es nicht. Ich habe den Garten noch nicht gefunden. Wie gewinnt man sie? Werden sie abgebaut?« »Ziemlich einfach. Die Trennung von seltenen Erdmetallen und gewöhnlichen Metallen erfolgt gewöhnlich durch Ausscheidung mittels geeigneter Lösungsmittel. Es gibt eine Menge davon.« »Das freut mich; Sie können sie mir später einmal aufzählen. Aber mit was haben wir es hier zu tun?«
Moskowitz hielt die Erde sorgfältig abwägend in der Hand. »Ich habe hier«, sagte er feierlich, »in meiner Hand eine winzige Menge seltener Erde, die auf hinterlistige Weise mit gewöhnlicher Erde vermengt wurde. Letztere stammt aus einem Garten, erstere nicht. Ich vermute, daß erstere von einem Versandhaus stammt, das diese mit betrügerischer Absicht verkauft hat.« Danforth setzte sich. »Ich warte seit einer Viertelstunde darauf, das zu hören.« Moskowitz sah zu ihm hinüber. Der Sarkasmus in Danforths Stimme war nicht zu überhören. »Ich werde in der Lage sein, Ihnen zu sagen, um welche seltene Erde es sich handelt, nachdem ich einige Versuche angestellt habe. Es gibt viele dieser Elemente.« »Natürlich«, stimmte Danforth zu. »Was ist eigentlich außergewöhnlich an dem Zeug?« »In welchem Sinn? Sie müssen sich deutlicher ausdrücken. Sie werden in der Industrie verwendet.« »Auch in einer Bombe, beispielsweise.« Der Techniker warf ihm einen überraschten Blick zu. »Das Attentat von gestern nacht?« vermutete er scharfsinnig. Danforth nickte. »Nun«, sagte Moskowitz, »das würde mich wun-
dern! Natürlich unmöglich. Die meisten seltenen Erden sind stark paramagnetisch, wenn dir das weiterhilft.« »Paramagnetisch?« »Ja. Ein Körper, der magnetische Polarität aufweist in der gleichen Richtung wie die magnetische Kraft selber, wird paramagnetisch genannt, im Gegensatz zu diamagnetisch.« »Ach so, das erklärt natürlich alles! Nun, dann wurde Simon Oliver mittels Paramagnetismus ins Jenseits befördert.« »Das gibt es nur in schlechten Zukunftsromanen.« »Ich bezweifle, daß Simon Oliver so etwas gelesen hat«, spottete Danforth. »Ich nehme nicht an, daß es Ihnen gelang, den aufgefundenen Mechanismus zu untersuchen?« »Die Überreste schon, den kompletten Apparat nicht. Ich habe den Behälter, die Tabakbüchse, zwei Batterien, einen Haufen Draht und eine tote Katze, aber keine blasse Idee, wie alles zusammengehört. Ein Draht steckte in der Dose, bevor ich sie herausnahm, und ich vermute, daß weitere Drähte an die Pole der Batterien angeschlossen waren. Eine Schaltuhr fand ich nicht – wenn ich eine gefunden hätte, so würde ich sagen, sie sei der Zeitmechanismus gewesen. Unmöglich, aber dennoch eine Bombe.« »Eine tote Katze?« fragte Moskowitz. »Wozu?«
»Als Pilot«, schlug Danforth vor. Moskowitz setzte sich. »Sie tun mir leid«, sagte er. »Weshalb?« »Sie suchen sich doch einen anderen Beruf, oder?« »Das hat noch Zeit.« »Sie werden es schwer haben, eine Stelle zu finden, ohne Referenzen vom früheren Arbeitgeber. Wenn ich dieser Arbeitgeber wäre, so würde ich besagte Referenzen nicht geben. Sie sind noch nicht alt genug für eine Pension, wie?« Danforth lachte. »Ich will erst noch reich werden. Ich halte mir als Ansporn immer das Bild jenes armen alten Indianers vor Augen, der sich über ein Kalksteingebirge schleppte und Uran entdeckte.« »Das war nur eine Ader, nichts als ein Zufall«, sagte Moskowitz. »In Kalkgestein gibt es kein Erz.« »Es könnte auch etwas in der Erde meines Gartens liegen!« Danforth ging, um weiter an seinem Fund zu arbeiten. Er schüttelte den Inhalt der Tabakbüchse in einen großen Umschlag und steckte ihn in die Tasche. Die Büchse steckte er in einen zweiten großen Umschlag und versah diesen mit seinen Initialen. Dann schnitt er ungefähr einen Meter von dem Draht ab, rollte ihn auf und etikettierte ihn ebenfalls. Das tat er auch mit
den beiden Batterien sowie einem halben Dutzend der schwarzen Stäbe verschiedener Länge. Alle diese Einzelteile legte er zusammen in eine kleine Pappschachtel. Schließlich entnahm er den ersten Umschlag ein wenig von der Erde und schüttete sie in einen gewöhnlichen Briefumschlag, auf welchen er ebenfalls seine Anfangsbuchstaben schrieb, nachdem er ihn zugeklebt hatte. Es war Polizeiroutine, der übliche Arbeitsvorgang, um aus spärlichsten Beweisen ein Maximum an Ergebnissen herauszuholen. Die Tabakbüchse würde zuerst einer Joddampf-Behandlung ausgesetzt werden, um Fingerabdrücke aufzudecken. Einige der so enthüllten Abdrücke würden von Danforth stammen, einige von dem Händler, der den Gegenstand verkauft hatte, und einige würden vom Käufer herrühren. Danforth brauchte die Abdrücke des Käufers. Danach würde die Büchse dem Verkäufer oder der Herstellerfirma übergeben werden, in der Hoffnung, daß sie sich bis zur Adresse des Käufers zurückverfolgen ließ. Unterdessen würde eine Probe der Erde aus der Büchse in das Labor der Universität von Illinois gesandt werden. Dort würde sie verschiedenen Tests unterworfen werden, um ihre chemische Zusammensetzung, das mögliche Vorhandensein unbekannter Stoffe sowie die einzelnen übrigen Bestandteile zu bestimmen. Dies würde sodann ermöglichen,
den ungefähren Ort zu ermitteln, wo die Erde gefunden worden war. Moskowitz, trotz seines offensichtlichen Widerwillens, würde die Bestandteile an seltener Erde von den übrigen Stoffen scheiden und die betreffenden Elemente bis zu dem Versandhaus oder dem Labor zurückverfolgen, das sie verkauft hatte. Daraus würde sich wiederum eine Liste von Käufern ergeben. Auf ähnliche Weise würden dann auch Analysen von dem Draht, den Batterien und den Stäben gesammelt werden. Die Batterien trugen zudem nicht nur den Namen der Herstellerfirma, sondern darüber hinaus Seriennummern, welche zu dem Geschäft führen konnten, das sie verkauft hatte. Mit dem Draht würde es schwieriger sein, denn Teile davon würden zuerst verschiedenen Herstellern zur Identifizierung vorgelegt werden müssen; danach erst konnte, wiederum in mühsamer Kleinarbeit, der Zwischenhändler ausfindig gemacht werden und die Geschäfte, die den Draht verkauften. Eines dieser Geschäfte würde dann vielleicht in demselben Gebiet liegen, in welchem die Tabakdose und die Batterien verkauft worden waren und aus dem die Erde herstammte; auf diese Weise würde die Liste der möglichen Käufer allmählich auf einige wenige Personen zusammenschrumpfen. Danforth legte die letzten der mit seinen Initialen versehenen Beweisstücke in die Pappschachtel und
nahm sie mit. Er legte die Schachtel auf den Sitz neben sich und fuhr quer durch die Stadt zur Wohnung des Nachrichtenbeamten der Nachtschicht. Er fuhr die Zufahrt hinauf, stellte den Motor ab und vernahm das unverkennbare Geräusch eines Rasenmähers vom Garten her. Danforth stieg aus und ging um das Haus herum zum Garten. »Hallo, Dave.« Er setzte sich neben den Mann und fuhr mit den Fingern durch das frischgemähte Gras. »Riecht gut, nicht?« Dave nickte. »Haben Sie bei der Identitätsüberprüfung der Nashs etwas entdeckt?« Der Nachrichtenbeamte begann zu lachen. »Leutnant, Sie sind bei Ihren Nachforschungen gegen eine Betonmauer gestoßen! Washington sagt: Hände weg!« »Was?« »So hieß es. Zuerst suchte ich in unseren eigenen Archiven, aber es war nichts vorhanden, also fragte ich in Washington an. Die Antwort kam heute morgen, kurz bevor mein Dienst zu Ende war. Ich habe das Tonband im Haus, aber ich kann Ihnen das meiste auch so sagen. Sie sind über einen VIP gestolpert. Solange Sie nicht eindeutige Beweise über irgendwelche kriminellen Handlungen haben, lassen Sie die Finger davon. Mischen Sie sich nicht ein.«
Danforth sank auf das Gras zurück und blickte in den Himmel. »Dieser Gilbert Nash«, fuhr Dave fort, »stand irgendwie in Verbindung mit den Oak Ridge Laboratorien – gerade um die Zeit herum, als die Raumstation auf ihre Kreisbahn geschickt wurde. Washington war nicht sehr mitteilsam. Ich vermute, daß er beim Geheimdienst eine Rolle spielte, seine Frau auf jeden Fall. Shirley Nash – damals waren sie noch nicht verheiratet – arbeitete für eine der Sicherheitsorganisationen. Wie dem auch sei, die beiden müssen in Ruhe gelassen werden, sofern Sie nicht eindeutige Beweise gegen sie haben. Und wenn Sie solche haben, müssen Sie sich direkt mit Washington in Verbindung setzen, und zwar unverzüglich und bevor Sie irgend etwas auf eigene Faust unternehmen. Und nun schlucken Sie das.« »Dasselbe, was Sie mir gesagt haben«, erklärte Danforth, »habe ich bereits aus einer anderen Quelle erfahren, aber ich glaubte es nicht. Gilbert und Shirley Nash sind also sehr wichtige Leute.« Dave blickte ihn an, sagte aber nichts. »Ich habe übrigens die Zeitbombe gefunden, der Simon Oliver zum Opfer gefallen ist!« sagte Danforth nach einer Pause. »Was Sie nicht sagen!« »Doch«, sagte Danforth und nickte. »Draußen im
Wagen liegt sie.« Dann korrigierte er sich. »Es ist natürlich nicht dieselbe Bombe; es ist ein Zwilling von ihr.« »Entschärft, hoffe ich!« Dave blickte zur Auffahrt hinüber. »Meinen Glückwunsch, Captain! Wann treten Sie wieder Ihren Dienst an?« Danforth streckte sich aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Mir gefällt die Freiheit. Warum sollte ich wieder Dienst tun?« »Es muß schön sein, nicht ins Büro zu müssen.« »Die Bombe ist in Teile zerlegt«, erklärte Danforth. »Ich habe eine Schachtel voll Einzelteile mitgebracht, von denen ich möchte, daß Sie sie weiterleiten. Batterien, Draht, eine Tabakbüchse und etwas, das wie Aluminiumstäbe aussieht. Es wäre gut, wenn wir alles bis zu dem Mann zurückverfolgen könnten, der die Gegenstände gekauft hat.« »Es wäre auch gut, wenn die Steuern abgeschafft würden. Ich werde heute nacht noch damit beginnen. Wie gelang es den Leuten bloß, eine Zeitbombe in jenes Haus hineinzubringen?« »Zeit-Bombe, Dave!« Der Nachrichtenbeamte sprang auf. »Großer Gott, nein!« »Doch!« »Eine richtige Zeitbombe, Leutnant? Die Sache mit der Great Electric?« »Ja, aber Great Electric hat nichts damit zu tun.
Meine stammt von einem Hobby-Bastler.« Er stand auf. »Kommen Sie mit zum Wagen und schauen Sie sich das Ding an!« Danforth öffnete den Kofferraum, um den Tank und das Zubehör zu zeigen. Dave staunte. »Ich kann es nicht glauben!« erklärte er nach kurzer Betrachtung. »Das ist ja nichts anderes als der Warmwasserboiler einer alten Heizungsanlage.« »Denken Sie an all die vielen Leute, die Schwarzpulver in Bierflaschen füllten und damit wirksame Bomben besaßen«, erinnerte ihn Danforth geduldig. »Es ist nicht nötig, ein fabrikmäßig hergestelltes Gerät zu haben.« »Gut, gewiß. Aber das Zubehör!« »Dieses Zubehör war genauso sinnreich, so einfach und so tödlich wie jene Bierflaschen. Dave, es funktionierte! Ich weiß nicht wie, aber es funktionierte.« Er rollte den Zylinder etwas zur Seite und deutete darauf. »Sehen Sie, wie verbeult er ist? Wenn er nicht irgendwie mitten im Flug aufgehalten worden und in den Weiher eines Farmers gestürzt wäre, so hätte er heute oder morgen oder nächste Woche jemanden getötet, so sicher wie sein Zwillingsbruder gestern nacht Simon Oliver tötete. Er war zu irgendeinem Ziel unterwegs und ist mit etwas zusammengestoßen. Ich habe keine Ahnung, wie er abgeschossen und gelenkt wurde, aber ich werde es noch herausfinden.«
Der Nachrichtenbeamte überwand seine Scheu und beugte sich über den Tank, um ihn genauer zu betrachten. »Sie meinen, Gilbert Nash hat diesen Apparat gebastelt?« Danforth runzelte die Stirn. Dieser Gedanke war ihm zum erstenmal gekommen, als er das Ding aus dem Wasser gezogen hatte, und das hatte ihn auf dem ganzen Weg zur Stadt beschäftigt. »Ich glaube es nicht«, antwortete er langsam. Er blickte auf den Tank und betastete den Umschlag mit der Erde in seiner Tasche. »Nein, ich glaube nicht. Ich kenne Nash und seine Frau. Das hier scheint mir nicht zu ihnen zu passen. Verstehen Sie, was ich meine?« »Vielleicht. Ich weiß nicht. Nein.« »Die beiden sind Könner. Wenn sie ihre Zeit und Begabung dazu benützt hätten, eine solche Waffe zu bauen, dann sähe sie raffinierter aus. Diese hier ist zu primitiv, zu hastig zusammengebastelt. Nein – ich glaube nicht, daß Nash verantwortlich zu machen ist.« »Was unternehmen Sie, wenn nun doch alle Spuren bei den beiden enden?« »Ich werde Washington unterrichten«, sagte Danforth kurz. »Ja, Leutnant, das Leben ist nicht einfach!« Er überlegte einen Augenblick. »Wer weiß alles davon?«
»Mr. Ramsey, Moskowitz vom Labor, Sie und ich. Es darf nicht weiter bekannt werden.« »Wie Sie meinen. Wo sind die einzelnen Teile?« Danforth überreichte ihm die Schachtel. »Wenn Sie Unterstützung brauchen, wenden Sie sich an Mr. Ramsey, aber verraten Sie nichts an andere Personen. Geben Sie nichts an die Zeitungen heraus oder gar an die Söhne Amerikas, wenn nicht Mr. Ramsey die Erlaubnis dazu gibt. Moskowitz weiß nicht, daß Sie im Bilde sind; er wird seine Ermittlungsergebnisse direkt weiterleiten. So, das dürfte alles sein – oh, ich möchte gern Ihr Telefon benützen. Mr. Ramsey wartet auf meinen Bericht.« »Gern. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo der Apparat steht.« »Danforth hier«, sagte er, als die Verbindung hergestellt war. »Ich habe das Objekt geborgen.« »Ich weiß«, entgegnete Mr. Ramsey. »Ich habe es vor wenigen Minuten erfahren. Die Landpolizei ist ziemlich sauer wegen dieser angeblich unerlaubten Amtshandlung in ihrem Gebiet. Ich wurde der rechtswidrigen Amtsanmaßung beschuldigt. Zum Glück war der Junge nicht in der Lage, eine zuverlässige Beschreibung von Ihnen zu geben, so daß alles an mir hängen bleibt.« »Soll ich das Ding hinüberbringen?«
»Ich denke nein. Es ist am besten, wenn Sie so wenig Verbindung wie möglich mit mir und der Dienststelle halten. Ich habe es durchsetzen können, daß Sie den Wagen auf unbestimmte Dauer behalten können, aber es wäre nicht klug, den Kontakt über diesen Punkt hinaus auszudehnen. Wo befinden Sie sich jetzt?« Danforth nannte ihm die Adresse und den Namen des Hauseigentümers. Es entstand eine nachdenkliche Pause. »Ist er Ihr Vertrauensmann? Verläßlich?« »Ja.« »Ausgezeichnet. Wenn er bereit ist, uns sein Haus als Treffpunkt zur Verfügung zu stellen, so möchte ich Sie heute abend dort treffen. Verbergen Sie den Gegenstand dort oder sonstwo, wir wollen ihn dann gemeinsam untersuchen. Ich möchte das lieber nicht am Telefon besprechen.« »Bis heute abend.« Danforth legte auf und ging durch die Küche in den Garten zurück, wo der Nachrichtenbeamte seine Arbeit mit dem Rasenmäher wieder aufgenommen hatte. Er unterbrach sie sofort, als Danforth kam. »Fühlen Sie sich nicht wie ein Verschwörer, Dave?« Der Beamte lachte. »Sie haben es erraten, Leutnant. Ich werde mir wohl am besten gleich Maske und Umhang besorgen, um meiner neuen Rolle gerecht zu werden.«
Mr. Ramsey im Schneidersitz auf dem Küchenboden. Danforth hatte den Telepathen bis heute in einer ganzen Anzahl von Stellungen gesehen; aber dies war das erste Mal, daß er ihn außerhalb der Dienststelle erlebte – und dazu mit untergeschlagenen Beinen auf einem Küchenboden. Es machte Mr. Ramsey irgendwie ein wenig menschlicher. Mr. Ramsey hatte den leeren Tank mit den Knöcheln abgeklopft, die Schriftzeichen auf dem Boden des Tanks gelesen und lange und neugierig in dessen leeres Innere geschaut. Nach der ausführlichen Untersuchung hatte er einen Stift hervorgezogen, um damit behutsam zwischen dem Draht und den Aluminiumstäben herumzustochern, die jetzt auf dem Boden verstreut lagen. Von Zeit zu Zeit zog er eine flüchtig hingeworfene Skizze zu Rate, welche den Zusammenhang zwischen den fehlenden Bestandteilen und den vorhandenen angab. Danforth hatte keinerlei künstlerisches Talent; er hatte lediglich eine einfache, grobe Zeichnung angefertigt, welche die ungefähre Lage der Batterien, der Tabakbüchse, der Katze und der Decke zeigte, so wie er sie vorgefunden hatte. Eine weitere Skizze zeigte den Behälter, wie er teilweise im Wasser gelegen hatte. »Wir wollen einmal annehmen, daß jemand, der uns offensichtlich überlegen ist, ein neues technisches
Gerät entwickelt hat«, begann Mr. Ramsey. »Wie die meisten derartigen Erfindungen, scheint es mehr als nur einem Zweck zu dienen, einschließlich dem des Tötens. Die Geschichte wiederholt sich an dieser Stelle, Leutnant. Ich habe mich mehrmals gefragt, wieso die Erfinder der Zeitkameras diesem Gerät nicht irgendeine Möglichkeit zum Töten eingebaut haben. Sie haben sich eine einzigartige Gelegenheit und nicht geringen Reichtum entgehen lassen, indem sie dieses Detail wegließen. Ihre Nachkommen werden ihnen nie verzeihen.« Danforth legte die Hand auf den Tank. »Ich denke, sie haben es doch getan, Mr. Ramsey. Die Kamera ist der Vorläufer von dem hier!« »Möglicherweise haben Sie recht. Die Antwort liegt in der Zukunft, wenn es überhaupt je eine geben wird.« Er schaute Danforth an. »Eine tote Katze?« »Ja – hier«, deutete Danforth und gewöhnte sich allmählich an den raschen Themawechsel des Telepathen. »Das Stück Decke war dort am hinteren Ende, und die beiden Batterien lagen wahrscheinlich hier – zwischen der Decke und dem Rest des Innenraums. Oder vielleicht ein paar Zentimeter weiter auf dieser Seite.« Er zeigte auf die Skizze. »Ich glaube, die Katze lag auf der Decke, als das Geschoß gestartet wurde; vielleicht ist sie sogar betäubt worden. Ich komme gleich darauf zurück. Dann, als der Tank mitten im
Flug gegen etwas prallte, oder als er auf die Erde stürzte, wurde die Katze entweder nach vorn geworfen und durchbohrt, oder sie war wach und versuchte, sich einen Weg nach vorn zu bahnen. Es ist auch möglich, daß der Deckel weggerissen wurde und die Katze das Tageslicht sah – oder Sternenlicht – und versuchte, ins Freie zu gelangen. Die logischste Erklärung ist die, daß der Zusammenstoß in der Luft den Deckel wegriß und die Katze aufweckte; sie versuchte, nach vorn zu gelangen, als der Zylinder aufschlug und sie aufgespießt wurde.« »Das Folgende ist eine höchst interessante Frage«, sagte Mr. Ramsey. »Ja«, entgegnete Danforth. »Was stieß mit dem Zylinder mitten im Flug zusammen? Ich habe bei einigen der in der Nähe liegenden Flugplätze angefragt. Keine Maschine wurde in irgendeiner Hinsicht beschädigt. Aber das drängte eine andere Frage in den Vordergrund. Wie hoch fliegt das Ding? Und weshalb sollte es gerade in der Höhe fliegen müssen, in der der Flugverkehr sich abwickelt?« Mr. Ramsey zuckte bedauernd die Achseln. »Um bei Ihrer Frage zu bleiben: muß das Ding denn überhaupt fliegen können?« »Nun ... es bewegt sich sowohl durch den Raum als auch durch die Zeit.« »Das stimmt. Aber muß es denn in die Höhe stei-
gen? Wenn sich das Geschoß vom Moment des Starts von einer Werkbank aus bis zum Augenblick seiner Zerstörung durch die Zeit bewegt, muß es denn unbedingt höher fliegen, als die Werkbank hoch ist, also etwas über einen Meter?« Danforth beobachtete ihn und hörte nur mit einem Ohr zu. Er bewegte seine Lippen und stieß einen langgezogenen Pfiff aus. »Ja, Leutnant?« fragte der Telepath. »Mr. Ramsey, würden Sie bitte noch einmal die Szene beschreiben, die Sie in Simon Olivers Wohnzimmer sahen? Sie erwähnten, daß Captain Redmon ein Glas Whisky von einem Diener entgegennahm und sich dann niedersetzte, um der Unterhaltung zuzuhören. Was geschah anschließend?« »Captain Redmon beantwortete die paar Fragen, die an ihn gerichtet wurden, mischte sich aber sonst nicht in das Gespräch ein«, sagte der Telepath. »Nach einigen Minuten begab er sich zur Bar und füllte sein Glas nach.« »Und dann – was weiter?« »Er nahm das Stehaufmännchen, die Gummipuppe mit dem runden Fuß. Er stieß sie einige Male hin und her, dann hob er sie auf, um den Fuß näher zu betrachten.« »Richtig«, bestätigte Danforth. »Und das war alles?«
»Das war alles.« Der Telepath nickte. »Ich glaube, über die Puppe haben wir bereits gesprochen.« »Sie würden also sagen«, fragte Danforth, »daß die Hausbar ungefähr einen Meter hoch ist? Daß ihre Oberfläche, auf der die Puppe stand, etwa einen Meter über dem Fußboden liegt?« »Ich bin geneigt, der Theorie zuzustimmen, die Sie da entwickeln, Leutnant. Es ist eine ausgezeichnete Theorie, vorausgesetzt, daß unsere Aufnahmen zutreffen. Und Sie vermuten nun, daß sich in dem Stehaufmännchen die gleiche seltene Erde befand wie in der Tabakbüchse?« Danforth sprang auf und schritt in der Küche auf und ab. »Diese verflixte Gummipuppe hat mich vom ersten Moment an verwirrt, als Sie sie erwähnten. Mr. Ramsey, irgend jemand könnte das Ding in das Haus gebracht oder mit der Post geschickt haben. Allein die Tatsache, daß sie dort war, zeigt doch, wie leicht sie in den Raum hatte gebracht werden können, wie leicht sie die elektronischen Suchstrahlen passierte. Sie konnte schon Monate dort gelegen haben! Aber als dann Redmon kam und sie aufhob – päng! Moskowitz erwähnte, daß seltene Erden paramagnetisch seien; ich wollte, ich wüßte genau, was er damit meinte. Paramagnetisch. Sagt Ihnen das etwas?« »Ein wenig«, nickte Mr. Ramsey.
»Ich habe mir die Bombe immer als Fernlenkgeschoß vorgestellt, gesteuert von dem Mann, der sie losgeschickt hat. Doch gesetzt den Fall, sie wurde auf andere Weise gesteuert? Durch Anziehung. Die seltene Erde im Fußteil der Gummipuppe zog die seltene Erde in der Tabakbüchse an!« Mr. Ramsey blickte zu ihm auf. »Und die Katze?« fragte er. Danforth blieb stehen, drehte sich herum und sank auf die Fersen nieder. »Was hatte überhaupt die Katze in dem Zylinder zu suchen?« fragte er den Telepathen. »War das nur ein Scherz? Eine Katze, die durch die Zeit reist? Was wird die Geschichtsschreibung dazu sagen?« Der Telepath wußte keine Antwort. »Ich möchte wissen, ob die Katze betäubt war. Ihr Platz, der ihr für die Reise zugedacht war, befand sich auf der Decke am hinteren Ende des Zylinders. Man wollte sie dort haben. Warum?« »Redmon hielt die Puppe in der Hand«, sagte Mr. Ramsey leise. »Und?« »Ich frage mich, ob nicht vielleicht ein körperlicher Kontakt nötig war. War an der Katze ein Draht angeschlossen?« »Ich weiß nicht. Ein Aluminiumstab –« »Aha! Und Redmon hielt die Puppe in der Hand.
In beiden Fällen stand also ein lebender Organismus in mittelbarer Verbindung mit den seltenen Erden. Was meinen Sie, Leutnant, würde ein solcher Kontakt Paramagnetismus herbeiführen?« Danforth stand auf und lachte. »Mr. Ramsey, Sie fragen den falschen Mann.« »Wirklich?« Danforth trat einen Schritt zurück und musterte den Mann am Boden. Der Telepath erwiderte den Blick geduldig. Nach kurzem Schweigen wies der Leutnant das Zwingende der Schlußfolgerung wieder von sich. »Nun?« fragte er. »Bis gestern nacht«, sagte Mr. Ramsey, »war die Gesamtsumme unserer Anhaltspunkte über die Bombenanschläge noch nahezu gleich Null. Wir wußten nicht mehr über sie, als daß sie geschehen waren. Aber in der vergangenen Nacht übernahmen Sie das Kommando des Sonderkommandos und entdeckten oder folgerten in kürzester Zeit eine ganze Anzahl Dinge, die vorher nicht bekannt gewesen waren. Sie entwickelten eine Theorie, die den Umständen zu entsprechen schien; Sie stellten verschiedene Faktoren fest, welche andere vor Ihnen übersehen hatten, und fügten sie in die Theorie ein. Sie lieferten eine logische, fachmännische Überlegung, in welche alle bekannten Tatsachen einbezogen waren, und heute
nachmittag fanden Sie eine Maschine, welche genau diejenige zu sein scheint, nach der Sie suchten.« »Ich bin nicht so phantasiebegabt, Mr. Ramsey. Etliche dieser Vermutungen entstanden erst nach gründlicher Überlegung.« »Vergessen Sie solche Gedanken, Leutnant. Ich bin nicht so beschränkt, daß ich glaube, Sie hätten schon vorher über diese Dinge Bescheid gewußt. Statt dessen vermute ich genau das Gegenteil.« Danforth wartete mit aufeinandergepreßten Lippen. »Es scheint mir, daß Sie darauf gestoßen wurden, Leutnant!« »Gestoßen? Worauf?« »Die Gegenstände, die Sie zur Identifizierung weitergaben, können leicht zurückverfolgt werden. Ein gescheiter Mann würde sich diese Nachlässigkeit nicht zuschulden kommen lassen.« »Vielleicht nicht. Aber jeder meiner Mitarbeiter hätte auch tun können, was ich getan habe; jeder von ihnen hätte mit den beiden jungen Leuten im Krankenhaus sprechen können, hätte auf den Umstand des Regens und der Radioaktivität stoßen können.« »Hätten die aber ihren Denkapparat so einsetzen können wie Sie? Hätten sie von den Nashs so viele Auskünfte einbringen können? Hätten sie dieses Gerät mit gleichem Scharfsinn und gleichen Ergebnissen
auseinandernehmen können? Hätten auch nur einer Ihrer Leute die Theorie aufstellen können, die Sie entwickelt haben?« »Auf viele meiner Überlegungen wurde ich erst durch Sie oder andere gebracht.« »Richtig.« Mr. Ramsey nickte. »Wir wollen zunächst das ganz Offensichtliche klarstellen. Die Zubehörteile dieser Bombe sind leicht zu identifizieren, können sehr leicht zurückverfolgt werden. Diese Tatsachen lassen nur zwei mögliche Schlußfolgerungen zu. Normalerweise wird die Bombe zusammen mit ihren Opfern vernichtet, daher besteht kein Grund, die Herkunft ihrer Einzelteile zu verschleiern. Nun spielt uns ein glücklicher Zufall eine im wesentlichen unzerstörte Bombe in die Hände. Ein vorsichtiger und vorausblickender Mensch hätte diese Möglichkeit in Betracht gezogen und alle möglicherweise auf ihn weisenden Indizien beseitigt.« »Dem Mann, der diese Bombe baute, war das egal!« »Wiederum richtig. Also wurden Sie doch darauf gestoßen. Ich vermute, der Bastler dieser Waffe wünscht, daß Sie ihn finden. Oder aber er gab sich einfach keine Mühe, weil er wußte, daß er auf irgendeine andere Art geschützt ist.« Danforth verzog das Gesicht. »Klar. Er könnte einer von uns sein.«
10. Kapitel A Die alte Pfeife und eine magere schwarze Katze waren seine ständigen Gefährten. Er war eben aus dem Haus getreten, nachdem er eine weitere – vielleicht die hundertste oder die hundertunderste – fruchtlose Suche aufgegeben hatte. Wie ein übergründliches altes Dienstmädchen hatte er sein kleines Haus durchsucht, aber nichts gefunden. Endlich strich er einen weiteren Tag auf dem großen Kalender in der Küche durch und zog sich auf die Veranda in seinen Schaukelstuhl zurück. Er war ein Mann, der seine mittleren Jahre überschritten hatte. Zufrieden schaukelte er auf der Veranda auf und ab, von Zeit zu Zeit gedankenverloren über seinen altmodischen Schnurrbart streichend und zu irgendwelchen alten Erinnerungen und geheimen Gedanken nickend. Die Kinder in der Nachbarschaft lachten manchmal über ihn und seinen Schnurrbart und machten sich über seine abgetragene Kleidung lustig, aber er nahm keine Notiz von ihnen. Er setzte sich gern hin und liebte es, gemütlich zu leben und der Welt zuzuschauen, wie sie sich wie Verrückt um ihn herum drehte. Er pflegte dem Verkehr auf der
Autobahn zuzuhören, die drei Häuserblocks von ihm entfernt lag, dem Geräusch der Wagen zu folgen, von denen keiner kam, um ihn aufzusuchen. Die Katze sprang auf seinen Schoß und machte es sich bequem. Gemächlich kraulte er sie hinter den Ohren und zog an seiner Pfeife.
B In seinem Büro in Washington konferierte Ben mit seinen Assistenten. Auf dem Fußboden lag eine Zeitung, deren große Schlagzeilen den Tod des Fernsehkomikers verkündeten. Ben hörte sich den Bericht über die letzten Ereignisse, soweit diese seine politische Karriere betrafen, ungeduldig an, und dann erklärte er seinen Assistenten, ohne auf deren Bedenken einzugehen, daß er die Einladung angenommen habe, in der kommenden Woche in St. Louis auf einer Parteiversammlung als Gastredner aufzutreten. Ben liebte die Öffentlichkeitsarbeit, auch wenn ein Risiko damit verbunden war.
C In Los Angeles schloß ein Polizeiinspektor die Ermittlungsakte zu einem Mordfall für immer. Die Öffent-
lichkeit wußte nichts davon, noch nicht einmal die engsten Mitarbeiter und Freunde des Inspektors waren eingeweiht. Offiziell war auch ihm nichts darüber bekannt, aber er war schon zu lange im Dienst, um nicht zu wissen, was die Schrift an der Wand zu bedeuten hatte. Die Pressestelle versicherte zwar noch allen, die sich dafür interessierten, daß die Ermittlungen mit Nachdruck weiterbetrieben wurden, er jedoch wußte, daß in diesem Fall nicht eine einzige Frage mehr gestellt werden würde. Sofern nicht etwas Unvorhergesehenes eintreten würde, zum Beispiel ein Hinweis von dritter Seite oder ein Geständnis, womit keiner rechnete, galt der Komiker als tot und begraben und bereits halb vergessen. Die sterbliche Hülle seines Mörders lag im Leichenschauhaus, und die Hintermänner des Mörders, die Drahtzieher und Anstifter, waren in das Dunkel zurückgewichen, aus dem sie getreten waren. Ende des Falles. Verfahren eingestellt. Täter nicht ermittelt.
D Das Wetter war unverändert heiß und schwül. Millionen von schwitzenden Menschen warteten auf das verlängerte Wochenende, um der Hitze zu entfliehen. Wer in der Stadt wohnte, würde aufs Land hinaus-
fahren, die vom Land würden sich in die Stadt begeben. Die Arbeit an vier Tagen in der Woche war nur deshalb erträglich, weil man sich schon auf Zahltag und Wochenende freute. In Trenton in New Jersey überprüfte ein Angestellter die Seriennummern von zwei Batterien; in Louisville in Kentucky ging man den Fabrikationszeichen einer Tabakbüchse nach. In einem Lagerhaus in Chicago stellte ein Arbeiter eine Liste derjenigen Geschäfte zusammen, die eine bestimmte Sorte Draht, von der man ein Muster vorliegen hatte, verkauften. Ebenfalls in Chicago diktierte ein Vertriebschef einen sorgfältig verfaßten Brief, in dem er die Verkaufsund Werbetaktik seines Unternehmens verteidigte. Eine Liste von Kunden in dem betreffenden Verkaufsbezirk wurde beigefügt. Zwei Studenten von der Universität von Illinois fertigten eine topographische Karte des Gebietes an, in der die verschiedenen Bodenschichten eingezeichnet waren. Der Erkennungsdienst der Staatspolizei beschäftigte sich mit Fingerabdrücken und ihrer Identifizierung. Neben den Abdrücken von Ex-Leutnant Danforth konnte man diejenigen identifizieren, die dem Besitzer eines Zigarettengeschäftes gehörten, der polizeibekannt geworden war, weil er in dem Verdacht stand, Wetten anzunehmen, was verboten war.
E Mr. Ramsey wälzte sich auf die andere Seite und murmelte im Schlaf. Das geschah nur selten, und er wachte vom Geräusch seiner eigenen Stimme auf. Er stützte sich auf den Ellbogen, blickte in die Dunkelheit und schien auf etwas zu lauschen. Die Nacht war still. Nach einer langen Pause legte er sich wieder zurück und schlief ein. Das Lächeln auf seinen Lippen war ganz deutlich zu erkennen.
11. Kapitel Die Fische bissen nicht an, aber ihn störte das nicht. Der Nachmittag war viel zu angenehm, als daß man sich über Fische hätte ärgern müssen. Danforth lag auf den warmen Holzplanken des Stegs, den Rücken gegen einen Pfosten gelehnt. Er fühlte sich frei und ungebunden, was bei ihm nur ganz selten vorkam. Er hatte das Hemd ausgezogen und die Hosenbeine in die Höhe gerollt. Die nackten Füße ließ er ins Wasser hängen. Hinter ihm warf ein riesiger Baum seinen Schatten auf den Steg und das Ufer des Sees, und neben ihm stand eine Kühlbox mit einem halben Dutzend Bierbüchsen. Shirley Nash saß in der Nähe, aber beim Angeln hatte sie so wenig Glück wie er. Dreißig Meter draußen im See plätscherte ihr Mann im Wasser. »Wenn ich nicht so faul wäre, und ich mich nicht so wohl fühlen würde, würde ich selber hineinspringen«, sagte Danforth. Shirley verzog das Gesicht. »Er verscheucht doch nur die Fische.« Er richtete sein Augenmerk wieder auf die Angelrute. Es war ein strahlender Tag, und der Sonntag lag noch vor ihm. Er war am Samstagvormittag zu dem Haus am See hinausgefahren mit der festen Absicht,
nicht mehr als eine oder zwei Stunden dort zu verbringen – bis ihn die Nashs überredet hatten. Das war nicht allzu schwierig gewesen. Sein ursprünglich kurzer Besuch war zuerst um eine Stunde bis nach dem Essen ausgedehnt worden und dann um den ganzen Nachmittag am See, worauf sofort eine Einladung folgte, er solle für den Rest des Wochenendes bleiben. Es war ihm auch dann nicht schwergefallen, anzunehmen. Obwohl er es erst einmal in einer Regennacht gesehen hatte, gefiel ihm das Haus der Nashs. Es schien von der Zivilisation wie abgeschnitten zu sein, verborgen zwischen den Bäumen, die am Seeufer wuchsen. Danforth war im Frieden mit sich selbst. Shirley Nash bereitete dem ein Ende. »Kürzlich irgendwelche Verbrecher gejagt?« fragte sie ihn lächelnd. »In letzter Zeit nicht«, entgegnete er verdrießlich. »Müssen Sie mir den schönen Nachmittag verderben?« »Es tut mir leid«, sagte sie, aber ihr Tonfall widersprach ihren Worten. »Ich glaubte, Sie hätten Ihre Leute jedesmal erwischt.« Er blickte sie an. »Manchmal ist es eine Frau.« »Oh, wie romantisch! Was machen Sie mit weiblichen Gefangenen?« »Wir haben besondere Zellen mit Vorhängen an den Fenstern. Außerdem werden sie jeden Tag gefegt.«
»Erregend. Fangen Sie viele weibliche Kriminelle?« Er musterte die attraktive Frau und fragte sich im stillen, ob sie lediglich belanglose Konversation machte oder ob sie damit ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen beabsichtigte. Sie hatte den Frieden des Augenblicks ohnehin gebrochen. »Ja«, gab er zu. »In der Tat habe ich noch vor wenigen Tagen eine Frau verfolgt.« »Wirklich?« Ihr Blick war offen und ehrlich. »Haben Sie sie erwischt?« »Nein. Washington hat es verboten.« Shirley Nash hielt für einen Moment den Atem an. »Washington hat es verboten?« wiederholte sie. »Ja, mit sehr unmißverständlichen Worten. Die Dame hat einflußreiche Freunde in hohen Ämtern. Sie banden mir die Hände.« »Es ist gut, das zu wissen. Oh, es tut mir leid für Sie, aber es ist tröstlich, so etwas zu wissen.« Danforth legte die Angelrute nieder und griff in die Kühlbox nach einer Büchse Bier. »Vor einiger Zeit erwachte mein Interesse an der Archäologie. Ich ging sogar so weit, zwei Bücher darüber zu lesen; in der Schule habe ich mich nie viel damit befaßt, deshalb fehlen mir die Grundkenntnisse. Was ich entdeckte, war lehrreich, aber nicht unbedingt befriedigend. Um ganz offen zu sein, ich kann es nicht glauben.« Die Frau sagte minutenlang nichts. Sie legte ihre
Rute ebenfalls beiseite und griff mechanisch nach dem Bier, das er ihr entgegenhielt. Endlich wandte sie ihm ihr Gesicht zu. »Der Name meines Mannes ist auch in archäologischen Schriften erwähnt.« »Das war ein Teil, den ich am schwersten glauben konnte.« »Ich verstehe das, Mr. Danforth. Nur sehr wenige Leute würden es glauben.« Danforth leerte sein Bier. »Gilgamesch?« »Gilgamesch«, wiederholte sie ruhig. »Nicht einmal jene einflußreichen Freunde in Washington glauben die ganze Wahrheit. Ich kann von Ihnen nicht erwarten, daß Sie es tun.« »Man sagt, dieser Gilgamesch sei vier- bis fünftausend Jahre alt!« »Zehntausend wäre etwas genauer.« Er überlegte das eine Weile, fand aber, daß diese Zahl auch nicht viel mehr konkreten Sinn ergab als die erstgenannte. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen und auch Ihre Gastfreundschaft keineswegs kritisieren«, sagte er, »aber ich muß bald gehen.« »Ich verstehe das. Wissen Sie was – im Haus haben wir ein oder zwei Bücher, die Sie heute nacht vielleicht lesen könnten. Da werden sie leichtere Kost finden als in archäologischen Schriften. Das eine wurde von einem bekannten Wissenschaftler ge-
schrieben und verfolgt die Legende von Gilgamesch von ihrem tatsächlichen Ursprung an bis zu ihrem scheinbaren Ende im Britischen Museum in London. Das andere ist ein Werk eines Verfassers historischer Romane; der arme Gilgamesch muß darin eine unglaubliche Menge von Abenteuern bestehen.« »Was hält Gilgamesch von all dem?« fragte Danforth vorsichtig. »Von den beiden Büchern? Er findet sie lustig.« »Ich habe Unsterbliche und Sagenhelden immer auf die gleiche Ebene gestellt.« Danforth blickte über das Wasser. Shirley nippte an ihrem Bier. »Gilgamesch ist nicht unsterblich. Sein Tod ist klar und eindeutig bestimmt. Der richtige Ausdruck ist Langlebigkeit; zehntausend Jahre oder mehr bedeuten für ihn eine durchschnittliche Lebenserwartung. Ich würde Ihnen raten, das bessere der beiden Bücher zu lesen. Die Angelegenheit wird darin sorgfältig und glaubwürdig dargelegt; vielleicht vermag es Sie zu überzeugen.« »In Oak Ridge lebten zwei Leute«, sagte Danforth nach einer Weile. »Washington gab das zu und empfahl mir, die Sache zu vergessen.« »Ja, wir waren in Oak Ridge.« »Die zwei Leute in Oak Ridge«, fuhr er fort, als ob sie ihn nicht unterbrochen hätte, »besaßen ein gewisses Alter und hatten gewisse Posten inne, die etwas
mit Geheimhaltung zu tun hatten. Ich verstehe gut, daß sie nach Erfüllung ihrer Pflichten das Gebiet verließen, ebenso verstehe ich, daß sie in all den Jahren nicht wahrnehmbar gealtert waren. Ich will damit sagen, daß ich einen Teil davon verstehe. Ich nehme es als erwiesen an, daß das Paar in Oak Ridge gearbeitet hat, und ich beneide es um die Fähigkeit, nicht zu altern. Soviel kann ich begreifen. Aber –« »Aber es bleiben dennoch eine Menge unbeantworteter Fragen und die unüberwindbare Weigerung, das Unmögliche zu glauben?« »Ja!« Sie lächelte. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Glauben Sie mir, auch ich stand einmal vor demselben Problem.« Er drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. Er forschte immer noch nach irgendwelchen verwirrenden Erklärungen, und sie hatte sie ihm fast freiwillig gegeben. »Nein, Mr. Danforth, ich bin kein zweiter Gilgamesch. Nicht im eigentlichen Sinne, müßte ich vielleicht hinzufügen. Ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber ich werde kein zweites Mal vierzig sein.« Er starrte auf ihr attraktives Gesicht und ihre faltenlose Haut und verspürte den heftigen Wunsch, ›Quatsch!‹ zu rufen. Sie war eine äußerst anziehende, jugendliche Frau.
»Es ist die Wahrheit, Mr. Danforth. Ehrlich.« Er konnte es immer noch nicht glauben. Der Telepath hatte es ihm zuerst gesagt, und jetzt hatte sie es ihm bestätigt. Von irgendwoher und irgendwann, vor ungefähr zehntausend Jahren, tauchte ein Mann namens Gilgamesch auf der Erde auf. Er existierte bereits, als die Erde noch jung war, lebte Seite an Seite mit einem Baumbewohner, der nicht weit vom Affen einzustufen war und erlebte Noah mit der Arche. Er schien unsterblich zu sein und suchte dennoch das Geheimnis der Unsterblichkeit. Die alten Aufzeichnungen gingen in diesem Punkt auseinander. Aber sie behaupteten, daß er noch gelebt habe, als die Schrifttafeln entstanden waren. Danforth leerte die zweite Dose Bier und warf sie beiseite. Einen Augenblick später erinnerte er sich an seine Manieren und bückte sich, um sie wieder aus dem Wasser herauszufischen. »Fühlen Sie sich nun besser?« fragte Shirley Nash. »Es hilft meistens.« Es bedeutete eine Anstrengung, sie anzublicken. »Wenn Sie gestatten, so möchte ich Ihnen noch eine Frage stellen. Dann werde ich dem Befehl von Washington gehorchen.« »Bitte.« »Sind Sie nur vierzig Jahre alt?« Sie hörte die Betonung heraus und lachte. »Danke. Ich fasse das als Kompliment auf. Etwas über vierzig,
Mr. Danforth. Ich vermute, daß ich eine sehr entfernte Verwandte meines Mannes bin.« »Wie?« »Ganz am Anfang war Gilgamesch nicht allein. Es waren noch viele andere wie er da, obwohl er der einzige ist, der jetzt noch lebt. Ich bin entweder ein Nachkomme jener anderen oder ein Nachkomme von ihm selber. Was vielleicht meine eigene scheinbare Langlebigkeit erklärt.« Sie schaute gedankenverloren auf den See hinaus. »Wenn ich Glück habe, kann ich vielleicht ein paar hundert Jahre mit ihm zusammenleben.« »Nun, Danforth, haben Sie sich den Bauch vollgeschlagen?« Gilbert Nash schob seinen Stuhl zurück und zeigte mit beiden Händen auf das Wohnzimmer, eine Geste, die sowohl als Frage wie auch als Einladung verstanden werden konnte. »Gilbert.« Seine Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Entschuldigung«, sagte Nash. »Ich wollte fragen, ob Sie satt sind. Einen Drink?« »Ja, danke, aber keinen Drink, danke. Ist noch zu früh.« Danforth folgte seinem Gastgeber in den anderen Raum und setzte sich wie dieser auf den Fußboden. »Schach?« fragte Nash. »Ich spiele es nicht. Aber im Damespiel bin ich
Meister. Wenn Sie meine Bescheidenheit entschuldigen wollen.« »Sie sei Ihnen vergeben. Also Dame.« Nash kratzte sich nachdenklich am Kinn und lächelte. »Ich wünschte aber, Sie würden Schach spielen. Mit Shirleys Technik bin ich schon vertraut.« Er zeigte auf das Spielgerät aus transparentem Kunststoff, das zwei Spielebenen hatte; das Schachbrettmuster war nur durch dünne Linien angedeutet, sonst aber durchsichtig. »Ich bringe ihr gerade dreidimensionales Schach bei. Ein interessantes Spiel.« »Ich bleibe bei Dame«, sagte Danforth. »Und wie kommen Sie mit Ihren Ermittlungen voran?« Statt zu antworten, tat Danforth etwas, das nicht nur Nash, sondern ihn selbst überraschte. Er ergriff Nashs Hand, hielt sie einige Sekunden lang fest. Erst als er die Hand wieder zurückzog, wurde ihm klar, was er getan hatte. Nash richtete sich auf und zog eine Zigarre aus der Tasche. Während er die Hülle entfernte und sich Feuer gab, hatte er Zeit, sein Gegenüber zu mustern. »Da hat jemand aus der Schule geplaudert«, sagte er, und es klang ein wenig ironisch. »Man ist in seinem eigenen Haus nicht mehr sicher. Überall lauern die Spitzel.« Danforth hatte sich immer noch nicht beruhigt. Es
war ihm selbst rätselhaft, wie er so impulsiv hatte handeln und Nash mehr oder weniger in sein Wissen hatte einweihen können. »Mr. Ramsey möchte Sie kennenlernen«, sagte er. Er blickte Nash an und lächelte schwach. »Er findet, daß gleichartige Interessen einen verbindenden Charakter haben.« »Womit er nicht ganz unrecht hat. Bitte, richten Sie ihm aus, wenn Sie Mr. Ramsey das nächste Mal sehen, daß er bei uns willkommen ist.« »Das ist nicht nötig«, erinnerte ihn Danforth. »Er weiß es inzwischen.« »Ah – ja«, sagte Nash. »Ihre offene Art gefällt mir.« »Dagegen kann ich nichts tun. Ich bin schon immer so gewesen.« »Ich habe vor, ein wenig zu experimentieren«, sagte Nash als nächstes. »Ich habe in Ihren Gedanken den Schaltplan gelesen. Der interessiert mich. Ich glaube, Sie haben dabei etwas übersehen. Einen Transistor oder so etwas ähnliches.« Danforth wußte im ersten Augenblick nicht, von was Nash sprach, bis ihm klar wurde, daß dieser in seinem Gedächtnis auch die Schaltskizzen gesehen haben mußte. »Ich habe jedes Einzelteil genau festgehalten«, sagte er seinem Gastgeber. »Habe den Zylinder ausgeräumt und alles notiert. Aber fangen Sie nicht auch noch an, Zeitbomben zu bauen!« »Keine Sorge, mein Freund, nur keine Angst. Es
geschieht alles nur im Interesse der Wissenschaft. Und ich verspreche Ihnen – keine Bomben.« Er blickte seinen Gast nachdenklich an. »Danforth, ich kann mir einfach nicht vorstellen, über welche Energiequelle dieser Apparat verfügte. Zugegeben, der Mann weiß mehr als wir. Dennoch braucht er Energie, um den Flugkörper anzutreiben. Ich versuche, einen Transistor in den Schaltkreis einzubauen. Die Sache auszuweiten. Tontechniker benutzen Transistoren, um ein Quietschen zu einem Brüllen zu verstärken. Wäre es möglich, daß dieser Unbekannte zwei einfachen Batterien eine Energiemenge von den Dimensionen der Niagara-Fälle entlockt haben könnte?« »Ich werde Ihnen eine Abschrift seines Geständnisses schicken«, versprach der Leutnant. »Und wenn es Ihnen gelingt ein funktionsfähiges Modell zu bauen, werden wir es vor Gericht als Beweis präsentieren.« »Damit uns die Öffentlichkeit am nächsten Tag steinigt? Auf keinen Fall.« Nash setzte sich wieder und blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke. Ein verborgenes Entlüftungsgerät saugte ihn ab. »Suchen Sie nach einer Startrampe«, riet er Danforth. »Irgendeine mechanische Starthilfe. Es könnte ein ziemlich großes Gerät sein. Wenn ich so etwas bauen müßte, würde ich elektrische Energie verwenden.« Er zeigte auf die Lampen. »Elektrizität gibt es überall und von höchster Spannung. Mit einem elektrisch angetriebe-
nen Startgerät würde ich die Bombe abschießen und die Batterien als Energiequelle für die Fernsteuerung benützen. Die Reichweite kann nicht allzu groß sein.« Danforth nickte. »Danke für den Hinweis. Eine Starkstromleitung, die in ein Haus führt, könnte mich also auf die Spur bringen?« »Möglich wäre es. Ein Elektroofen oder eine Klimaanlage könnte als Tarnung dienen.« Nash lächelte verschmitzt. »Eine Klimaanlage in einem Haus, in dem es nicht kühl ist, ist in jedem Fall verdächtig.« Der nächste Tag war ein Sonntag. Im Fernsehen wurde berichtet, daß der Ingenieur von der Great Electric Corporation im geheimen gar keine Zeitmaschine gebaut hatte, sondern nur eine militärische Waffe von eindrucksvoller Wirkung, die er in echt patriotischer Gesinnung der Regierung übergeben hatte. Und in St. Louis wurde von der dortigen Gruppe der Söhne Amerikas eine große politische Veranstaltung vorbereitet, die in der kommenden Woche stattfinden sollte. Es sollte die größte Massenveranstaltung werden, die jemals in einer Stadt abgehalten worden war. Nash und sein Gast gingen angeln. Aber auch am Sonntag bissen die Fische nicht an.
12. Kapitel A Gilbert Nashs Stimmung war bedrückt. Er stand im Flur und blickte auf die Tür, durch die Danforth eben hinausgegangen war. Der Ex-Leutnant war bis Sonntagabend geblieben und dann aufgebrochen. Shirley spürte, daß ihren Mann etwas bedrückte. Aber sie fragte ihn nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Das wäre nicht ihre Art gewesen. »Gilbert, warum warst du denn so unfreundlich? Du hast ihm gar nicht gesagt, daß er uns wieder einmal besuchen soll.« Nash bewegte langsam den Kopf, aber er blickte seine Frau nicht an. »Er kommt nicht zurück.« »Aber – warum denn nicht?« »Er war nicht auf der Hut und hat mir die Hand gegeben, als er sich verabschiedete. Ich weiß, daß er nicht zurückkommt. Shirley, er hat sich in dich verliebt.« »Aber Gilbert!« »Er konnte es nicht verheimlichen. Aber das war nicht der einzige Grund –« »Nun hör doch auf in Rätseln zu sprechen. Was ist es denn, Gilbert?«
Nash drehte sich um und ging auf seine Frau zu. Er legte die Arme um sie und küßte sie auf die Wange. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit griff auch auf sie über. »Jetzt weißt du's auch«, sagte er. »Danforth kann nicht mehr zurückkommen. Er wird nie mehr Zeit dazu haben.«
B Montagvormittag. Danforth wurde eine maschinengeschriebene Liste übergeben. Die Erdproben stimmten überein mit Funden aus den Counties von Livingston, McLean und Logan. Der hohe Fluorgehalt deutete besonders auf Livingston und McLean hin. Die Herstellungskennzeichen auf der Tabakbüchse verrieten, daß sie aus einer Serienfabrikation stammte, die für ein Warenhaus in Mittel-Illinois angefertigt worden war. Weitere Anhaltspunkte ergaben sich keine daraus. Der Draht, für 12-Volt-Geräte in Autos gedacht, war für eine Kette von Läden für Autozubehör hergestellt und an diese verkauft worden. Neunzehn dieser Geschäfte hatten ihren Sitz in Illinois.
Die Batterien waren als Bestandteile einer umfangreicheren Lieferung für dieselben Händler hergestellt worden, und sie hatten in jedem der neunzehn Geschäfte erstanden werden können. Die einzigen erkennbaren Fingerabdrücke (außer denjenigen von Ex-Leutnant Danforth), die auf der Büchse gefunden worden waren, gehörten dem Besitzer eines Ladens in Lexington. Die seltenen Erden, eine Zusammensetzung von Ytterbium und Californium sowie die Aluminiumstäbe und eine Anzahl Transistoren waren von einem Versandhaus für technische Artikel in Chicago zu wiederholten Malen an einen bestimmten Käufer verschickt worden; die Postadresse lautete Water Street 260, Lexington, Illinois. Der Name des Kunden: Theodore Mays.
13. Kapitel Erstaunlich viele Leute in Lexington kannten Theodore Mays. »Ja – er ist ein Altwarenhändler. Schiebt einen zweirädrigen Karren durch die Stadt und holt altes Gerümpel ab.« »Ein netter alter Mann; ruhig und anständig. Fällt nirgends unangenehm auf, und erst wenn man seinen Karren sieht, weiß man, daß er in der Nähe ist. Scheint auch ganz gut davon leben zu können. Ist immer ordentlich angezogen, und ich habe nie gesehen, daß er Hunger gehabt hätte.« »Mays? Ja, der ist vor mehreren Monaten zugezogen. Im letzten Winter, glaube ich – vielleicht war's auch schon Frühling. Hat das Haus vom alten Evans gemietet. Wenn Sie der Landstraße folgen, kommen Sie, nachdem Sie links abgebogen sind, zur Texaco Tankstelle. Ein Stück hinter der Tankstelle steht das Haus. Ein kleines weißes Holzhaus mit blau gestrichenen Fensterläden.« »Ich habe ihn nie gefragt, aber ich nehme an, er war Farmer, bevor er sich zur Ruhe setzte. Er ist kein Einzelfall hier in der Gegend. Habe ihn nie gefragt, aber Geld hat er. Hat sich einen Wagen gekauft und ihn fast völlig umgebaut. Der versteht was von Technik.«
»Ja, er kauft hier ein. Wir sind auch das einzige Geschäft dieser Art in der Stadt. Hat eine völlig neue elektrische Anlage in sein Auto eingebaut. Eine Türklingel auch, glaube ich. Aber sonst ist er völlig in Ordnung. Sein Geld ist es auf jeden Fall.« »Ha! Er badet jede Nacht. Von unserem Haus aus können wir sein Badezimmerfenster sehen. Und ich sage Ihnen was – er ist der reinlichste Mensch in dieser Stadt.« »Die Kinder mögen ihn. Ein harmloser alter Mann. Manchmal machen Sie sich über ihn lustig, aber er nimmt es nicht übel. Kümmert sich um seinen eigenen Kram. Den ganzen Tag über sitzt er auf seiner Veranda im Schaukelstuhl. Oder er arbeitet im Garten. Netter alter Mann.« »Ja, Sir, er ist Kunde unserer Bank. Aber ich fürchte, diese Auskunft kann ich Ihnen nicht geben. Ich schlage vor, daß Sie uns ein offizielles Schreiben Ihrer Dienststelle bringen ...« »Das ist das Haus, etwas von der Straße zurückgesetzt. Sicher, er wird zu Hause sein. Wenn er nicht da ist, brauchen Sie nur ein paar Minuten zu warten.« Das weiße Holzhaus mit den blauen Fensterläden war einige Meter von der Straße zurückgesetzt. Der Rasen war ausgedehnt und sorgfältig gepflegt, er machte einen besseren Eindruck als derjenige der an-
grenzenden Grundstücke. Ein mit Platten belegter Weg führte von der Straße zur Veranda; auf der Straße selber gab es keinen Bürgersteig. Es war ein kleines Haus in einem kleinen Ort, der dabei war, zur Stadt zu werden. Danforth hatte den Wagen hinter der Tankstelle angehalten, um die Lage auszukundschaften. Eigenartigerweise verspürte er keinerlei Aufregung, keine Genugtuung, daß er dem Opfer nahe war. In früheren Fällen, wo jede Schlußfolgerung, jeder Schritt vorwärts eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen, ein altbewährtes, starres Schema, da war der Mangel an Erregung vor dem Zuziehen der Schlinge verständlich. Aber hier, wo etwas Neues zutage trat, wo neue Leute mit neuen Einfällen aufwarteten, hätte sich die Spannung in direktem Verhältnis zum näherrückenden Ende der Jagd steigern sollen. Doch es war anders. Vielleicht war dies das erste sichere Anzeichen dafür, daß er für den Polizeidienst nicht mehr taugte. Er ließ den Motor an und fuhr von der Tankstelle weg. Sein Dienstrevolver, der ihm zusammen mit der maschinengeschriebenen Liste übergeben worden war, steckte im Halfter. Danforth fuhr bis vor das Haus und parkte den Wagen. Er sah keinen Grund, weshalb er sich nicht offen nähern sollte. Er stieg aus und ging über den plattenbelegten Weg zum Haus.
Theodore Mays saß auf der Veranda und schaukelte. Und wartete. Niemand im Ort hatte Danforth, als er seine Erkundigungen einzog, auf die Augen des Mannes aufmerksam gemacht. Sie strahlten in tiefem Blau. Auch sonst hatten die Nachbarn von Theodore Mays keine gute Beschreibung gegeben. Er war nicht greisenhaft oder krank, sondern gebeugt. Sein schwarzes Haar wurde an den Schläfen langsam grau, aber es war nicht unbedingt Altersschwäche; sein Körper – auch wenn er sich wie jetzt im Stuhl ausruhte – war nicht von den Jahren niedergedrückt, sondern von Kummer und Schmerz. Und über allem, in auffälligem Gegensatz zu seiner übrigen Erscheinung, leuchteten die sehr lebendigen, einmalig blauen Augen. Sie musterten Danforth mit ebenso großem Interesse, wie der Leutnant ihren Besitzer ansah. Danforth löste seinen Blick vom Gesicht des Mannes und bemerkte die Bewegung auf dessen Schoß. Die magere schwarze Katze lag dort, blickte ihn an und bewegte langsam ihren gebrochenen Schwanz hin und her. Danforth starrte das Tier an wie unter einem Zwang. Der Bann wurde gebrochen, als sich der Mann im Schaukelstuhl vorbeugte und die Tür der verkleideten Veranda öffnete. Er hielt sie offen, abwartend und
einladend, bis Danforth seinen Fuß auf die unterste Stufe setzte, die Veranda betrat. Hinter ihm fiel die Tür wieder zu. Langsam und mit sichtlicher Mühe hob Theodore Mays einen Spazierstock vom Boden auf und hängte ihn an die Lehne eines anderen Stuhles. Damit zog er den Stuhl heran und lud seinen Besucher mit einer Handbewegung ein, es sich bequem zu machen. Nach kurzer Suche in seinen Taschen förderte er eine alte Pfeife zutage und zündete sie an. Dann sank er in seinen Stuhl zurück und fuhr fort zu schaukeln, geistesabwesend die Katze zu streicheln und Danforth zu beobachten. Danforth zögerte und setzte sich dann auf den angebotenen Stuhl. Er blickte erneut auf die Katze, auf die Prince-Albert-Tabakbüchse, die auf dem Fensterbrett lag, und in die außergewöhnlich blauen Augen. Die einzigen Geräusche auf der Veranda waren das rhythmische Knarren des Schaukelstuhls und das unablässige Schnurren der Katze, die er kürzlich als Kadaver gesehen hatte. Es mochten nur wenige Minuten verstrichen sein, oder es mochte eine ganze Stunde gedauert haben, bis einer der Männer sprach. Mit eigenartig krächzender Stimme sagte Theodore Mays: »Hallo, mein Sohn!«
»Sie sind Theodore Mays«, sagte Danforth. Es war eher eine Feststellung, als eine Frage. »Ja, der bin ich.« »Leutnant Danforth von der Sicherheitspolizei. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann und daß Sie das Recht haben, einen Anwalt beizuziehen.« »Wir können dieses Recht für eine Weile beiseite lassen, mein Sohn.« »Wie Sie wollen. Sie wissen, weshalb ich hier bin.« »So, weiß ich das?« »Ich nehme es an. Wünschen Sie eine Aussage zu machen?« »Bin ich verhaftet?« »Nein – noch nicht. Ich habe keinen Haftbefehl. Wenn es sich jedoch als nötig erweisen sollte, so kann ich die Hilfe der Ortspolizei in Anspruch nehmen und Sie unter Hausarrest stellen. Ich hoffe, daß Sie mir behilflich sind.« Er kam sich albern vor, als er dies sagte. Das Gesetz verlangte es von ihm, aber in der Gegenwart dieses Mannes klang es außerordentlich dumm. Mays lächelte. »Deshalb bin ich ja hier – mein Sohn, um Ihnen zu helfen. Wollen Sie mich durchsuchen?« Danforth wollte sich erheben, überlegte es sich dann aber anders. »Tragen Sie eine Waffe bei sich?« »Nein, Sir.«
»Befinden sich im Haus irgendwelche Waffen?« »Nein, Sir.« Danforth beugte sich gespannt vor. »Wirklich keine? Irgendwelcher Art?« Er gewann den flüchtigen Eindruck, daß ihn die blauen Augen auslachten. »Wirklich keine«, wiederholte Mays. »Durchsuchen Sie das Haus, wenn Sie wollen, mein Sohn.« »Verschwunden?« fragte Danforth scharf. »Wie wenn sie nie dagewesen wären.« »Abgeschossen? Wegkatapultiert – oder wie Sie es nennen?« »Wir nennen es eingestellt und aktiviert.« »Wir nennen es Mord!« Mays bückte sich nach seinem Spazierstock und nickte. »Es wird immer noch Mord genannt, und ist immer noch üblich. Sogar noch ein wenig öfter.« »Dann geben Sie also zu, daß Sie die Bomben losgeschickt haben – Sie?« »Ich habe sie losgeschickt. Mit Freude im Herzen.« »Warum?« Die blauen Augen wurden plötzlich kalt wie Eis. »Seien Sie doch kein verdammter Narr, mein Sohn! Sie wissen, weshalb. Sie lesen die Zeitungen. Sie können es doch voraussehen.« »Ich will es von Ihnen hören«, sagte Danforth. Theodore Mays schlug mit dem Griff des Stocks
auf den Verandaboden. Die Katze flüchtete erschreckt. »Warum!« Er schrie beinahe. »Weil der dreckigste Verräter, den dieses Land je gesehen hat, sich auf dem Weg ins Weiße Haus befindet. Weil das Blut, das fließen wird, Sie in die Knie zwingen und zum Weinen bringen wird. Weil die Nation mitten entzweigerissen und der Sezessionskrieg im Vergleich dazu wie ein Kinderspiel anmuten wird! Weil dreißig Jahre lang kein Mann und keine Frau einen freien Atemzug machen oder ein freies Wort sprechen werden. Weil die Verfassung und die Menschenrechte auf einer öffentlichen Kundgebung verbrannt werden. Weil jeder Bundesstaat sein eigenes Konzentrationslager haben wird, aus denen niemand je lebend wieder herauskommen wird. Weil Sie einem Menschen täglich werden danken müssen, daß Sie noch am Leben sind. Warum? Weil ein gemeiner Dreckskerl dieses Land mit bloßen Händen erwürgen wird! Jetzt – jetzt haben Sie es gehört. Was werden Sie unternehmen?« Danforth war in seinen Stuhl zurückgesunken und starrte vor sich hin. Der Ausbruch hatte ihm die Fassung geraubt. »Sind Sie verrückt?« »Ja, ich bin verrückt! Ich bin verrückt von meinen Gedanken und den gräßlichen Dingen, die ich gesehen habe. Ich bin aufgerüttelt, entsetzt über die Din-
ge, die meinen Freunden und Nachbarn zugestoßen sind. Ich werde wahnsinnig beim Gedanken an den fürchterlichen Alptraum, der über mein Land kommt. Es ist auch Ihr Land! Danforth, nennen Sie mich einen Narren oder einen irregeleiteten Patrioten – nennen Sie mich, was Sie wollen, aber ich bin besessen von dem einen Ziel, jenem Mann in den Arm zu fallen, ihn wenn nötig eigenhändig umzubringen! Ja, ich bin verrückt.« »Sie sprechen, wie wenn dies alles schon geschehen wäre.« »Es ist schon geschehen.« »Wo?« »Hier. In dieser Stadt und in jeder anderen auch.« Er zeigte auf die Straße. »Die Kinder dort rennen geradewegs ins Verderben. Einige von ihnen sind schon so gut wie tot.« »Einen Augenblick mal. Sie sagen, all dies habe sich für Sie bereits ereignet?« »Noch nicht.« »Aber für mich ist es nicht geschehen.« »Ja.« »Ich bin ein sturer Mensch«, sagte Danforth, »und ein geduldiger dazu. Ich besitze ein gewisses Maß an Vorstellungskraft. Ich war mein ganzes Leben lang so, und deshalb bin ich heute dort, wo ich bin. Und jetzt erzählen Sie mir eine Schauergeschichte und ver-
langen, daß ich Ihnen glaube. Sie behaupten, daß diese – diese gräßliche Geschichte auf mich zukommen wird. Und auf diese Kinder. Daß sie sich in unserer Zukunft abspielen wird!« »In Ihrer allernächsten Zukunft, mein Sohn, wenn Sie nicht handeln!« »Woher wissen Sie das alles?« »Ja, woher wohl?« fragte Mays. Die Dunkelheit war angebrochen. Danforth trommelte mit den Fingern auf den Küchentisch. »Ich glaube es erst, wenn ich es sehe!« sagte er starrköpfig. »Zeigen Sie es mir!« Mays sah ihn über den Tisch hinweg an, über einen Tisch, auf dem jetzt eine ganze Anzahl leerer Teller und Schüsseln standen. Er besaß kein geringes Kochtalent und hatte es nun Danforth soeben zu dessen Zufriedenheit bewiesen. Die Katze hockte unter dem Tisch und fraß die Reste auf. Wortlos erhob sich Mays und verließ die Küche. Danforth folgte ihm. Er wurde in einen Raum geführt, der offensichtlich Arbeitszimmer und Werkstatt des Mannes darstellte; er enthielt einen Schreibtisch und einen Stuhl, ein Fernsehgerät, einen Bücherschrank und hundert andere Dinge, die sich mit der Zeit in einem solchen Raum ansammeln. Mays schob die Unordnung auf dem Tisch beiseite und öff-
nete eine Schublade. Er entnahm ihr ein Bündel Zeichnungen und breitete sie aus. Dann trat er zurück und beobachtete Danforth schweigend. Danforth hielt die Luft an, als er sich über die Zeichnungen beugte. Beim ersten raschen Blick erkannte er das Herz der Maschine, das verwirrende und doch bereits vertraute Schema, das er vor ein paar Tagen mit soviel Mühe auf Zeichenpapier zu rekonstruieren versucht hatte. Er entdeckte unschwer seine Fehler und Ungenauigkeiten. Der Plan zeigte die richtige Anordnung der Batterien, die beiden Transistoren, deren Vorhandensein Nash vermutet hatte, den Behälter mit der seltenen Erde und dem darin eingebetteten Kontaktstück sowie einen weiteren Anschluß, der zu einem kleinen, mit einem Fragezeichen markierten Rechteck führte. Seine Augen wanderten weiter zum Rest der Maschine, aber nach kurzer Betrachtung wandte er sich wieder dem Anschluß mit dem Fragezeichen zu. Er blickte zu Mays hinüber. Mays krempelte einen Hemdsärmel bis zum Ellbogen hoch und zeigte auf eine Narbe. Sie war dreieckig und noch rot, weil sie erst kürzlich verheilt war. »Der Auslösemechanismus ist mit einem Zeitzünder gekoppelt«, sagte er. »Wir hatten nichts Besseres, deshalb benützten wir den Pulsschlag.« »Sie bauten Ihren eigenen Herzschlag in das Ding ein?«
»Den Puls«, wiederholte Mays. »Irgendeine regelmäßige Schwingung. Ich fing Ratten, betäubte sie mit Chloroform und baute sie in den Schaltkreis ein, mit einem Transistor auf jeder Seite. Ich schnitt ihnen die Haut mit einem Skalpell auf und legte einen Aluminiumstab an eine Vene. Sobald die Haut wieder zugewachsen ist, hat man einen wirksamen Impulssender. Es ist grausam, Danforth, aber es funktioniert einigermaßen, und wir konnten uns einfach nichts Besseres leisten.« »Wir?« fragte Danforth. »Meine Brüder.« Mays schien plötzlich unendlich müde. »Meine beiden Brüder und ich. Sie bauten es, ich setzte es in Betrieb.« Danforth blickte sich um. »Wo sind sie?« In den blauen Augen stand Schmerz. »Einer von ihnen ist tot. Unsere erste Maschine explodierte. Der andere ist immer noch drüben – ich hoffe und bete, daß er noch am Leben ist.« »Was bezeichnen Sie mit ›drüben‹?« »Können Sie es so schwer glauben, Danforth?« Mays machte eine umfassende Handbewegung und deutete auf den Raum. »Nach all dem zweifeln Sie noch an mir? ›Drüben‹ ist meine Welt, meine Zeit! Das Ende dieses Jahrhunderts und der Beginn des nächsten. Vor nicht allzulanger Zeit erlebte ich den
Neujahrstag des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Er wurde nicht gefeiert. Zweitausendundeins kam in Blut und Finsternis – wie üblich.« Danforth musterte ihn prüfend. Seine Hand ruhte auf den Plänen, und nach einer Weile bemerkte er es. Langsam studierte er das Schema, um sich dann genauso langsam wieder Mays zuzuwenden. »Das einundzwanzigste Jahrhundert ...« Mays nickte und erklärte: »Einige Männer sehnten diesen Tag herbei, diesen Wendepunkt. Männer aus Ihrer Zeit und aus der Zeit Ihres Vaters. Die Zahl hatte eine magische Wirkung, und sie dachten, das neue Jahrhundert würde ihnen große Dinge bescheren. Sie meinten, man würde zum Mond vorstoßen und zu den Planeten; sie glaubten, Krankheit, Hunger und Elend würden besiegt werden. Sie hätten sich nicht ärger täuschen können! Die magische Jahreszahl brach an mit Blutvergießen, Dunkelheit und Verzweiflung. Es gibt keine Raumschiffe; nur die Raumstation, die Bens Welt umkreist und in seinem Auftrag bewacht.« Er schlug mit verzweifelter Kraft auf den Schreibtisch. »Ich muß Sie überzeugen, Danforth! Es wird die zweitschwerste Arbeit meines Lebens sein, Sie zu überzeugen!« »Warum versuchen Sie es nicht?« fragte Danforth eindringlich. »Zeigen Sie mir die Beweise!« Theodore Mays lächelte unvermittelt. »Ich werde
etwas Besseres tun!« Er ging hinkend um den Tisch herum und riß eine Reihe von Schubladen auf. Aus der untersten nahm er eine Rolle Draht und zwei Batterien, aus einer anderen ein Bündel Stäbe. Zwischen Schaumstoff lagen mehrere Kleintransistoren. Mays wählte zwei aus und legte sie auf den Plan. Aus seiner Tasche zog er die Tabakbüchse hervor, leerte ihren Inhalt in eine Ecke einer Schublade und füllte sie aus einem Topf, der Erde enthielt. Mit sicherem Blick schätzte er die Menge der Erde in der Büchse ab, fügte ein wenig hinzu und nickte befriedigt. Er öffnete eine weitere Schublade, und ein schwerer Behälter wurde sichtbar. Mays nahm den Deckel ab. Der Behälter war mit Blei gefüttert und enthielt ein paar Gramm eines unscheinbaren Materials, das gelegentlich im Widerschein der Deckenbeleuchtung farbig glitzerte. Er klaubte eine winzige Menge davon heraus, legte es zu der Erde in der Büchse und schüttelte diese, um den Inhalt zu mischen. Zuletzt brachte er einen elektrischen Lötkolben und reichte ihn dem erstaunten Danforth. »Machen Sie sich an die Arbeit!« befahl er. »Halten Sie sich an die Zeichnung. Ich schaue unterdessen in den Rattenfallen nach und suche einen Behälter.« »Ich?« Danforth Mund stand offen. »Sie!« Der Schnurrbart zitterte, als ob ein Lachen dahinter verborgen sei.
»Aber – ich glaube nicht ...« »Sie verlangten Beweise, mein Sohn. Hier liefere ich sie Ihnen. Und jetzt sehen Sie zu, daß Sie vorankommen!« Und er schlurfte aus dem Raum, ohne weitere Erklärungen abzugeben. Als Danforth die Gegenstände musterte, die auf dem Schreibtisch lagen, entdeckte er, daß keine Lötmasse vorhanden war. Er öffnete daher eine Schublade nach der andern und fand schließlich eine Rolle Lötdraht und eine kleine Dose Lötpaste. Noch immer zögernd und fassungslos blickte er auf die Zeichnung und sagte sich, daß es am besten sei, bei den Batteriepolen zu beginnen und von dort auszugehen. Er wartete, bis das Löteisen heiß war, dann machte er sich an die schwierige Aufgabe, die Apparatur zusammenzubauen. Die Arbeit schritt langsam voran, weil er seiner selbst nicht sicher war. Nach einer endlos scheinenden Zeitspanne hörte er den alten Mann die Treppe heraufkommen, einen schweren Gegenstand hinter sich herziehend. Das Ding schlug laut gegen jede Stufe. Danforth blickte neugierig auf, als Mays es durch die Tür hereinzerrte. Es war ein rostiger 120-Liter-Tank von einer alten Warmwasserheizung. Danforth staunte, dann nahm er etwas verwirrt die Batterien in die Hand, um die Seriennummern zu lesen. Trotz der vorausgegangenen Warnung versetz-
ten ihm die Zahlen einen Schock. Endlich griff er auch nach der Tabakbüchse, obwohl er wußte, daß er seine Fingerabdrücke darauf zurückließ. Mays richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand erschöpft über das Gesicht. »Ich schaue jetzt in den Fallen nach.« Mechanisch, beinahe geistesabwesend, fuhr Danforth fort, den Apparat zusammenzubauen. Schließlich trat er zurück, um die beendete Arbeit zu betrachten. Es war liederliches Flickwerk. Er spürte plötzlich, daß Mays hinter ihm stand, und drehte sich um. Der Mann stand gebückt da und hatte die Augen niedergeschlagen. Er hielt die magere schwarze Katze in den Armen. Mit langsamer, unsicherer Stimme sagte er: »Die Fallen waren leer. In jener Schublade ist eine Flasche Chloroform.« »Jetzt aber Schluß!« protestierte Danforth. »Dieses Spiel wurde weit genug getrieben –« »Sie finden ein Skalpell neben der Flasche. Eingewickelt in einen Fetzen schwarzes Tuch. Legen Sie beides auf den Tisch, und ich erledige den Rest. Es dauert nicht lange.« Zärtlich drückte er die Katze an seine Brust. »Lassen Sie die Katze los«, befahl Danforth. »Ich habe genug gesehen.« »Nichts haben Sie gesehen!« Mays schrie es beina-
he. »Sie leben in einer ruhigen, sicheren Zeit. Sie haben den Wahnsinn und das Morden nicht gesehen – nicht das Blut in den Straßen und die Zeichen, die an den Bäumen hängen! Sie haben nicht erlebt, wie die Lynchjustiz den Rechtsstaat hinwegfegte. Und Sie haben nicht gesehen, wie Männer ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie verbotene Zeitungen lasen!« Er verstummte, außer Atem, aber mit brennendem Zorn in den Augen. Danforth bewegte hilflos die Arme und fand keine Worte. »Geben Sie mir das Skalpell und das Chloroform, mein Sohn. Und dann sehen Sie genau zu, was ich mache – weil Sie es vielleicht bald auch tun müssen!« Eine leere Schreibtischplatte, leer bis auf eine Kanne Kaffee und zwei Tassen. »Wissen Sie, was ich getan habe?« fragte Danforth. Der anfängliche Schock der Überraschung war noch nicht ganz verflogen. »Ich vermute es. Wohin fiel sie?« »In einen Weiher – fünf Meilen südlich von Springfield.« »Ja, das kann stimmen. Wasser zieht sie an, wenn sie auf kein festes Ziel eingestellt ist.« Mays nickte gedankenverloren und nippte an dem dampfenden Kaffee.
Danforth starrte auf den Schreibtisch. Er sah immer noch das Bild vor sich, wie jener rostige Tank vor seinen Augen verschwand und sich in Nichts auflöste. Er war langsam durchsichtig geworden und schließlich mit der schwachen Andeutung eines Rauschens ganz verschwunden. »Ich fragte mich bereits, warum auf den Teilen so viele Fingerabdrücke von mir gefunden worden waren. Mays, ich fand diese Bombe in einem Weiher und schickte sie fünf Tage später selber ab! Es muß so sein, denn ich fand das verflixte Ding letzten Mittwoch nachmittag und begann die Spur zurückzuverfolgen. Ich mußte es ja wiederfinden – da ich es selber gebaut habe!« »Ich sehe nichts Aufregendes daran. Sie kam vergangenen Mittwoch herunter, sagen Sie. Es hätte aber auch nichts ausgemacht, wenn sie erst nächsten Mittwoch heruntergekommen wäre. Sie haben kein bestimmtes Ziel festgelegt; sie konnte daher in beide Richtungen fliegen.« Er wies mit dem Finger auf eine Schublade. »Wenn ich die Erde nicht in einem isolierten Behälter aufbewahrte, wäre die Bombe zu uns zurückgekommen.« »Aber es ist, wie wenn man rückwärts lebte«, protestierte Danforth. »Ich fand sie, bevor ich sie gebaut hatte.« »Sie würden das nicht denken, wenn Sie sie erst am
nächsten Mittwoch gefunden hätten. Dann würden Sie es glauben.« »Nun – vermutlich schon.« Dann lachte er plötzlich kurz und humorlos. Mays blickte ihn über den Rand der Tasse hinweg an. »Was ist?« »Dieser alberne Tank hat eine Rundreise durch die Zeit gemacht. Heute nacht schoß ich ihn in die Vergangenheit. Und heute vormittag brachte ich ihn zurück.« Er wies auf die Straße. »Im Kofferraum meines Wagens!«
14. Kapitel »Was wird geschehen?« hatte Danforth den Zeitreisenden gefragt. »Wie sieht es ›drüben‹ aus?« Er bekam seine Antwort in nüchternen, erbarmungslosen Worten ... Die neue Regierung war beinahe ein Jahr im Amt, bis ihre Machenschaften augenfällig wurden. Der Finanzhaushalt wurde schuldenlastig, unausgeglichener als je zuvor, und es wurde nicht einmal darüber gesprochen, ihn wieder zu stabilisieren. Nationale Stiftungen und Geldvorräte sanken auf den Nullpunkt, und die Etats der Ministerien für Arbeit, Handel und Wohlfahrt wurden auf nahezu nichts beschnitten. Die früher selbstverständliche Subvention von Schulen, Krankenhäusern, Verkehrsmitteln und ähnlichen Einrichtungen wurde kurzerhand eingestellt. Aber das Militärbudget stieg steil an. Gegen Ende des zweiten Jahres geschah etwas, das beinahe niemand erwartet hatte, etwas, das die große Mehrheit der erschreckten Bevölkerung bis zum Wahnsinn aufpeitschte. Das unbeschriebene Blatt namens Smith, der erste von Hawaii stammende Präsident, wurde ermordet, als er im Ballsaal eines Hotels stand und eine Rede über nationale Sicherheit hielt. Selbstverständlich übertrugen die Rundfunk-
und Fernsehstationen das Ereignis, und so sah und hörte das Land seinen Präsidenten sterben. Ben war der Situation gewachsen. Man könnte beinahe sagen, er war darauf vorbereitet. Er nannte die Mörder. Natürlich wußte er nicht den Namen und die Adresse des Mannes, der den Schuß abgefeuert hatte, aber er nannte die Gruppe, die das Attentat geplant hatte, nannte die Partei, die es unterstützt hatte und die europäische Regierung, die indirekt dafür verantwortlich war. Und er verlangte Vergeltung. Es wurden keine förmlichen Noten ausgearbeitet und von einem ebenso förmlichen Botschafter überreicht, keine fruchtlosen Vergeltungsmaßnahmen ergriffen und keine internationalen Beziehungen abgebrochen. Ebensowenig wurden Entschuldigungen oder Entschädigungen gefordert. Ben hielt nichts von Diplomatie. Eine Kompanie Soldaten stieg vor der Botschaft des europäischen Staates von ihren Lastwagen. Sie brachen das Tor auf, marschierten über den Rasen und schlugen die Türen ein. Und dann demolierten sie das Botschaftsgebäude systematisch vom Keller bis zum Dach und töteten jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die sie darin fanden. Das, eröffnete Ben seinen verblüfften Mitbürgern, sei die gerechte Rache für die Ermordung ihres geliebten Präsidenten.
Gegenmaßnahmen wurden erwartet, blieben aber seltsamerweise aus. Der umsichtige Ben hatte sich auch darum gekümmert. Natürlich gab es einige Gegenschläge; aber die Bombenabwürfe waren nicht annähernd so genau, wie es wünschenswert gewesen wäre. Die Bombardements nach einem bestimmten Plan begannen an den östlichen Grenzen von Finnland, Deutschland und Österreich und fegten weiter in die sibirischen Ebenen hinein; von in Alaska gelegenen Stationen erhob sich eine weitere Flotte in die Luft, um Sibirien zu bombardieren. Die Arsenale waren überfüllt. Und die Raumstation zeigte plötzlich, daß sie nicht nur Beobachtungsstation war. Alle diese Todesboten waren mit Atomgeschossen beladen und trugen zudem chemische und bakteriologische Vernichtungswaffen mit sich. Sie wurden über einem überraschten und völlig überrumpelten Feind abgeworfen, der sich seit langem auf ein solches Ereignis vorbereitet, aber nie damit gerechnet hatte, daß es eines Tages eintreffen könnte. Natürlich entschuldigte sich Ben! Er bedauerte den unerwarteten Schaden an Finnland; der Wind hatte plötzlich gedreht und Giftgase in eine Grenzstadt getragen, aber derartige Fehler können im Krieg vorkommen. In Wirklichkeit schulde ihm die Welt Dank.
Ben wurde für eine zweite Regierungsperiode wiedergewählt, und das war die letzte Wahl für nahezu dreißig Jahre. Er widmete den Rest seines Lebens der Aufgabe, Amerika für die loyalen Amerikaner lebenswert zu machen. Selbstverständlich definierte er den Begriff »Loyalität nach eigenen Vorstellungen.« Eine neue Liste von Staatsverbrechen wurde aufgestellt. Sie wuchs auf vier enggeschriebene Seiten an. Ex-Leutnant Danforth saß auf den Stufen vor dem Haus, den Kopf zum Himmel emporgerichtet. Seine Augen suchten nach jenen vertrauten Sternen, die er kannte und aufzufinden vermochte; sie waren treue Gefährten und schon seit undenklichen Zeiten dort oben und unveränderlich strahlend. »Ich will nicht in einer solchen Welt leben«, erklärte er fest. Hinter ihm knarrte der Schaukelstuhl. »Ich schätze mich glücklich, mein Sohn. Ich entkam dieser Welt!« Pfeifenrauch schwebte langsam durch die schweigende Nachtluft. »Ich bin zu alt und zu müde, um dorthin zurückzukehren. Was dort auch geschehen mag, ich will nicht zurück!« Er schaukelte eine Zeitlang und fügte dann hinzu: »Ob wir nun hier verlieren oder gewinnen, ich gehe nicht zurück. Ich will den November nicht wieder erleben.«
»November«, sagte Danforth vor sich hin. »Noch vier Monate ...« »Ich wollte, es wären vier Millionen Jahre! Und das wäre noch zu wenig, wenn dann noch Menschen lebten. Mein Wort darauf, mein Sohn. Es ist höllisch, an jenem ersten Mittwochmorgen im November aufzuwachen und den Namen des nächsten Präsidenten zu vernehmen. Lassen Sie es nicht geschehen!« »Aber, Sie sagten, es sei bereits geschehen – und geschehe immer weiter bis ins nächste Jahrhundert hinein?« »In meinem Leben. Aber es kann anders werden in Ihrem. Wir können es von heute an in wenigen Tagen ändern – wenn Sie den Mut dazu haben. Meine Brüder wußten, was sie taten.« »Ja, Ihre Brüder, was ist mit ihnen? Wie konstruierten sie die Zeitmaschine? Wie bauten sie sie?« »Jahre ...« erwiderte die alte Stimme bitter. »Es kostete sie Jahre, während sie flüchteten, sich verbargen und in Löchern lebten; Jahre, in denen sie Fragen ausweichen und neugierige Spitzel überlisten mußten. Die Wälder sind voll von Leuten, die einen für einen Dollar der Polizei ausliefern. – Jahre«, wiederholte er. »Es begann mit der Zeitkamera. Sie brachten Jahre damit zu, Teile von überallher zu stehlen; sie bettelten um Draht, suchten Stäbe aus Abfallhaufen hervor und logen, um die Batterien zu bekommen, die sie brauchten.«
Er lehnte sich weit aus dem Schaukelstuhl vor, um Danforth auf die Schulter zu tippen. »Wissen Sie, wie ich hierherkam, mein Sohn? Wissen Sie, was sie für mich bauten? Einen Sarg! Einen gestohlenen Sarg von einem Friedhof! Es gibt viele Särge drüben.« Er verstummte für eine Weile, und Danforth vermeinte, ein leises Flüstern zu hören. »Mein Bruder starb in einer Kiste; irgend etwas mit jener Maschine war nicht in Ordnung, etwas überhitzte sich und explodierte. Und dabei kamen sie uns verdammt nahe – es blieben Spuren zurück.« »Radioaktivität.« Danforth nickte rasch. »Sie hinterlassen eine Spur von Radioaktivität.« »Jene Explosion zeigte uns, wie man sie zum Explodieren bringen konnte«, gab Mays zurück. »Zufällig. Wir wußten bereits, daß sie nachts am besten funktionierten – keine störende Strahlung von der Sonne – und bei Regenwetter. Nässe erhöht ihre Wirksamkeit. Wasser zieht sie an, wenn nicht ein Ziel für sie vorbereitet wurde. Aber es dauerte lange, bis wir die richtige Zusammensetzung fanden: Ytterbium und Californium. Es war eine lange Zeit.« »Aber die letzte der Bomben implodierte«, wandte Danforth ein. »Einige von meinen Bomben implodierten.« »Aber weshalb?« »Wegen des Mischungsverhältnisses. Wenn die
Zusammensetzung zu stark ist, so implodiert die Bombe, statt daß sie explodiert. Was macht das schon aus?« »Ich dachte, es geschehe deshalb, weil die Maschine rückwärts reiste – in die Vergangenheit.« »Unsinn!« Mays Stimme klang ungeduldig. »Der Sarg brachte mich hierher zurück, aber jetzt kann ich sie nicht mehr so groß und so wirksam herstellen. Nicht mit den wenigen Hilfsmitteln, die mir zur Verfügung stehen, mit dem wenigen, was ich weiß. Es wäre anders, wenn mein Bruder nicht gestorben wäre, wenn er jetzt an meiner Stelle säße. Aber er ist nicht hier, und ich weine nicht deswegen. Ich tue mein Bestes. Kleine, schwache Dinger, wie Sie eines abfeuerten. Sie taugen für ein paar Stunden, ein paar Meilen – entsprechend der Lebensdauer der Batterien, oder der Katze.« »Ich errate die Funktionsweise«, sagte Danforth. »Die Zusammensetzung seltener Erden, die Sie am Ziel deponierten. Die Gummipuppe.« »Die Puppe?« fragte Mays neugierig und lachte dann. »So gelangte sie also doch hinein, wie? Das war die schwierigste Aufgabe, die ich je hatte! Ich strich tagelang um das Grundstück herum, ich versuchte sie mit der Post zu schicken, ich warf sie über die Mauer, stieß sie zu den Hunden hinüber. Sie trugen die Puppe also ins Haus, nicht?« Er schien ein eigenartiges
Vergnügen dabei zu finden. »Die Puppe erfüllte also ihre Aufgabe. Sobald die Maschine abgeschossen ist, beginnt sie nach dem gleichen Material zu suchen, das sie mit sich trägt. Natürlich muß es innerhalb von ein paar hundert Meilen im Umkreis sein; diese räumliche Begrenzung besteht. Und dann peilt sie das Ziel an. Deshalb muß ich den Vorrat in einem Bleibehälter aufbewahren, sonst würde ich mich selber in die Luft sprengen. Der Teil der Mischung, der sich beim Opfer befindet, zieht die Maschine an und bewirkt ihre Auslösung. Je näher sie dem Ziel kommt, desto stärker erhitzt sie sich. Und sobald sie sich genau darüber befindet, fällt sie. Das ist so ziemlich alles.« »Einfach!« sagte Danforth. Er versuchte nicht, seinen Sarkasmus zu verbergen. »Ich war lange Jahre Sprengstoffexperte, aber ich verstehe es trotzdem nicht!« Theodore Mays ließ Schweigen aufkommen. Er schaukelte und rauchte geräuschvoll seine Pfeife, er griff geistesabwesend auf seinen Schoß, um die Katze zu streicheln, die nicht mehr dort war. Und nach einer langen Weile sagte er ruhig, zu ruhig: »Sie können aussteigen, mein Sohn, wenn Sie wollen!« Danforth drehte sich auf der Treppe um, damit er ihn besser sehen konnte. Er schwieg. »Wenn Sie wollen, können Sie es selber erleben.
Lassen Sie den November herankommen. Lassen Sie geschehen, was geschehen wird. Und in acht oder zehn Jahren, wenn Sie dann noch am Leben sind, sage ich Ihnen, wo Sie meine Brüder finden können. Sie können sie dann beobachten, wie sie die große Maschine bauen, meinen Sarg! Das wird Ihnen dann vielleicht genügen. Sie brauchen es nur zu sagen, mein Sohn.« Seine Stimme blieb leise und beherrscht. Danforth schaute Mays lange an und wandte das Gesicht dann wieder dem Nachthimmel zu. Die Stadt war dunkel. Sie schlief. Der Verkehr auf der Autobahn war zurückgegangen; es fuhren fast nur noch Lastwagen. Die Tankstelle hatte die Nacht über geschlossen. Geräusche wurden in der nächtlichen Stille weit getragen. Er dachte an all die Vorfälle, die ihm zugestoßen waren seit der Explosion in jener Dienstagnacht – auf die er im Grunde genommen gestoßen worden war und an die Leute, die dabei in seinem Gesichtskreis geraten waren. Er erinnerte sich daran, wie ihn die Detonation aus dem Bett geworfen hatte, und an das hartnäckige Summen des Kommunikators einige Minuten darauf. Der Nachrichtenbeamte und der Kameramann waren sehr mitfühlend gewesen; sie wußten, ohne daß es ihnen gesagt worden war, daß er erledigt war. Der Telepath war zuerst zugeknöpft und später sehr aufrichtig
und offen gewesen. Er erinnerte sich an seine ersten aufregenden Entdeckungen am Schauplatz des Attentates und an das, wohin sie geführt hatten, entsann sich des nächtlichen Besuches im Krankenhaus und wohin dieser geführt hatte. Zu dem Haus am See und einem unbegreiflichen Mann, der in dem See umherschwamm. Und Shirley Nash. Was würden sie tun, wohin würden sie nach den Novemberwahlen gehen? Nach den Novemberwahlen! Und nun endet die Spur hier in einem kleinen weißen Haus, das in einer Nebenstraße stand, in einer Kleinstadt an der Autobahn. Kein lärmerfülltes Laboratorium, keine gigantische Fabrik, kein Regierungsbüro. Eine friedliche Stadt, ein unbeachtetes Häuschen und ein menschliches Wesen, das von den Nachbarn als alter Mann bezeichnet wurde – ein Altwarenhändler. Ein Zeit-Mensch, wenn man ihn so bezeichnen wollte, der mit einer selbstgebastelten Maschine hergekommen war, die man in einen gestohlenen Sarg eingebaut hatte; ein Zeit-Mensch, der am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts gelebt hatte. Der genügend Verantwortung für seine Mitmenschen – Freunde und Unbekannte – aufbrachte, um seinen Körper den Gefahren der Zeitreise auszusetzen. Der sein Land liebte und den Mann haßte, der es zu vernichten gedachte.
Danforth hatte seinen Entschluß gefaßt. »Wie wollen Sie einen Mann wie Ben aufhalten?« »Wie würden Sie ihn denn aufhalten?« fragte Mays. Ohne Zögern erwiderte Danforth: »Ich würde meine Taschen mit der Erde aus Ihrer Bleibüchse füllen oder sie in einem Sack um meinen Hals hängen! Und ich würde bei der Massenveranstaltung in St. Louis dabeisein. Ich würde so nahe wie möglich beim Rednerpult stehen, hurra rufen und schreien und ihn den größten Mann nennen, der je auf Erden wandelte. Ich würde ihn umarmen, wenn er es zuließe. Ich wäre sein Judas. Ich würde ihm auf den Fersen bleiben, bis ich ein Rauschen vernähme, das aus dem Nichts zu kommen scheint.« Danforth rieb seine plötzlich feuchten Handflächen über den Stoff seiner Hose. »Und dann würde ich noch ein klein wenig länger bleiben!« »Ich hatte an so etwas gedacht, mein Sohn. Und ich möchte dir die Hand schütteln.« »Aber was geschieht mit Ihnen?« fragte Danforth. »Ich habe eine breite Spur hinterlassen. Alle Einzelheiten sind in der Dienststelle bekannt. Sie werden sich beeilen müssen, nachdem Sie das Ding abgeschossen haben.« Mays schüttelte den Kopf. »Nicht nach dieser Explosion. Mein Sohn, es wird reiner Zufall sein, ob zu-
erst die Polizei oder ein Lynchmob hier sein wird. Aber wenn du meinst, daß auch nur die geringste Chance besteht, so bleibst du hier, und ich fahre nach St. Louis.« »Ich habe die Judasrolle schon gewählt«, erinnerte ihn Danforth. »Dann ist es abgemacht. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit.« Mays erhob sich aus dem knarrenden Schaukelstuhl. »Ich mache mich besser auf und sehe in den Fallen nach und suche etwas, in das wir die Maschine einbauen können.« »Nicht nötig. Ich habe den Tank im Kofferraum meines Wagens.« Er zog die Schlüssel aus der Tasche und ging zu seinem Wagen hinaus. Er öffnete das Schloß, hob den Deckel in die Höhe und klopfte auf den rostigen Zylinder. »Das Geschenk für Ben!«
15. Kapitel Die Stadt war ein dichter Dschungel von Menschen und Fahrzeugen, Lärm und Bewegung. Sie dröhnte in einem nichtendenwollenden Crescendo von schrillem Getöse und hastigem Vorüberfluten, lediglich von Zeit zu Zeit unterbrochen von blökenden Autohupen. Es war ein Tollhaus auf Rädern. Drei Geschäftsstraßen stießen im nördlichen Teil der Stadt zusammen, wo sie einen kleinen, dreieckigen Platz begrenzten, der die Kreuzung bildete. Ein Fleckchen Gras bedeckte die Stelle, ein seltenes Stück lebendiges Grün in einer betonierten Stadt. Das Dreieck hatte sogar einen Namen, aber es war kein eigentlicher Platz, und sein Name bedeutete nichts oder fast nichts, ausgenommen für Historiker. Niemand beachtete den Platz. Ähnlich wie auf Hunderten von ähnlichen Plätzen stand hier ein Denkmal, ein mächtiger Granitsockel, der himmelwärts strebte; als ob er dem Lärm entkommen wolle. Irgendein längst vergessener Bildhauer hatte zwei Männer daraufgesetzt, die Arm in Arm auf einen unbekannten Ort zuschritten. Aber wer achtet schon auf namenlose, längst gestorbene Männer, kümmert sich um die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts? Der dreieckige grüne Fleck
und das Denkmal darauf waren bereits zum Abbruch vorgesehen, da der wertvolle Raum für den ständig anwachsenden Verkehr benötigt wurde. Gilbert Nash rieb den Schmutz weg, der den Sockel des Denkmals bedeckte, um die Namen sichtbar zu machen, die dort eingehauen waren. Er blickte auf die Namen, länger als ein Kind gebraucht hätte, um sie viele Male zu lesen. Seine Frau berührte ihn am Arm. »Komm weiter. Wir machen bereits die Leute auf uns aufmerksam.« »Gleich«, sagte Nash. »Ein Mann hat das Recht, ein paar Minuten bei einem alten Freund zu verweilen.«