Judith Lyons
Zeit für die Liebe
Nur knapp entkommen die schöne Pilotin Winnie Taylor und ihr Passagier Bob Smith einer...
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Judith Lyons
Zeit für die Liebe
Nur knapp entkommen die schöne Pilotin Winnie Taylor und ihr Passagier Bob Smith einer Katastrophe: In letzter Sekunde gelingt es, die brennende Maschine mitten in Alaskas Wildnis notzulanden. Und plötzlich findet Winnie sich in einer Situation wieder, die sie seit ihrer gescheiterten Ehe nie mehr haben wollte: Sie muss sich auf einen Mann verlassen. Doch Bobs tatkräftige Unterstützung, sein Mut und seine liebevolle Art flößen ihr Vertrauen ein. Sie ist auf dem besten Weg, ihr Herz an ihn zu verlieren – und weiß nicht, wer dieser Mann, der sie jede Nacht sicher in seinen Armen hält, wirklich ist…
© 2003 by Julia M. Higgs Originaltitel: „Alaskan Nights“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam © Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA Band 1419 (12/2) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: M. R. Heinze Fotos: getty images Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
1. KAPITEL Feuer im Cockpit! Winnie Mae Taylor brach der Angstschweiß aus. Unter dem Armaturenbrett züngelten bläuliche Flammen hervor. Rauch erfüllte die Kabine der kleinen einmotorigen Maschine. „Winnie, fliegen Sie sofort zum Flugplatz zurück!“ befahl Bob Smith scharf. Mit dem schwarzen gewellten Haar, der sonnengebräunten Haut und dem Dreitagebart erinnerte Bob Smith sie an ein Raubtier – schön, stark und faszinierend. Er bewegte sich ebenso kontrolliert und geschmeidig wie ein Panter: Voll Kraft und natürlicher Anmut. Und er war ihr viel zu nahe. An der rechten Schulter spürte sie die Wärme seines Körpers. Seine männliche Ausstrahlung ließ die Spannung zwischen ihnen knistern. Als sie ihm das erste Mal begegnet war, hatte sie auf der Stelle die Flucht ergreifen wollen. Hätte sie es bloß getan! Bob Smith war der Typ, der in jeder Frau alle weiblichen Instinkte und Gefühle weckte – und sie war eine Frau. Daran wollte sie jedoch nicht erinnert werden. Nach dem niederschmetternden Betrug durch ihren Ehemann wollte Winnie in Alaska ein neues Leben beginnen, unabhängig sein und Männern aus dem Weg gehen. Leider hatte sie sich heute doch nicht an diesen Grundsatz gehalten, und nun saß sie mit Smith in dieser Maschine. Energisch schob sie den Hauptschalter in die AUSStellung und unterbrach damit die Stromzufuhr zum Instrumentenbrett. Ein Feuer an dieser Stelle wurde stets durch Strom ausgelöst, und sie wollte den Brand nicht noch weiter anfachen. Der Motor erzeugte für sich genug Strom. „Vergessen Sie den Flughafen!“ überschrie sie den Lärm des Motors. „Wir brauchen einen Landeplatz! Sofort!“ Smith richtete den eindringlichen Blick seiner dunklen Augen auf sie. „Ist es wirklich so schlimm? Wir sind hier mitten in der Wildnis.“ Was er nicht sagte! Aber ihnen blieb keine andere Wahl. Noch hatte der Brand kein kritisches Stadium erreicht. Kabel schmorten, brannten zwar nicht lichterloh, doch an den Cockpitwänden zogen sich Treibstoffleitungen entlang, und darum wäre es Wahnsinn gewesen, zu dem kleinen Flugplatz zurückzukehren, von dem aus sie gestartet waren. „Wir dürfen nicht warten, bis es schlimmer wird. Wir landen sofort. Helfen Sie mir, eine Lichtung zwischen den Bäumen zu finden.“ Er sah sie unverwandt an, eindeutig nicht ganz überzeugt, dass sie die richtige Entscheidung traf. Winnie hielt seinem Blick stand. „Glauben Sie mir, Smith, es ist das einzig Vernünftige. Also, helfen Sie mir!“ Er nickte knapp. „Notlandung“, bestätigte er und beugte sich zum Fenster hin. Winnie atmete erleichtert auf. Es war schon schwierig genug, sie heil auf die Erde zu bringen, ohne dass sich der Passagier dagegen wehrte. Außerdem war es ein gutes Gefühl, dass Smith auf ihrer Seite war. Der Mann besaß eine Ausstrahlung, als wäre er schon öfters in schwierige Situationen geraten. Ihre Augen tränten vom Rauch, während sie verzweifelt nach einer freien Fläche unter ihnen Ausschau hielt. Irgendwo musste es doch eine Lichtung geben! Sie sah jedoch nur Baumwipfel. „Öffnen Sie Ihr Fenster!“ rief sie heiser und hustete. Smith beugte sich zu ihr, bis seine Schulter sie berührte. Auch seine Augen tränten. „Facht der Sauerstoff nicht das Feuer an?“ „Das müssen wir riskieren. Ich kann nicht blind oder bewusstlos landen. Unter dem Armaturenbrett brennt Kunststoff, dabei wird Zyanid freigesetzt, und das ist
giftig. Öffnen Sie Ihr Fenster!“ Wieder nickte er energisch, entriegelte sein Fenster und klappte es auf. Winnie tat das Gleiche auf ihrer Seite. Sekundenlang wurde der Rauch aufwärts gewirbelt und erschwerte ihr die Sicht, doch dann wurde er abgesogen. Sie atmete tief die frische Luft ein und konnte nun auch das Land unter sich deutlicher sehen. Leider gab es da nichts weiter als Berghänge und Bäume, so weit das Auge reichte. „Ist drüben bei Ihnen eine freie Stelle?“ „Rechts ein kleiner Streifen.“ Das Wort „klein“ störte sie zwar, aber sie neigte die Maschine auf die Seite, um durch Smiths Fenster blicken zu können. „Das reicht nicht“, stellte sie fachmännisch fest. „Wie groß muss die Lichtung sein?“ Winnie atmete tief ein, hustete und setzte erneut an. „Mindestens fünfhundert Meter! Siebenhundert wären besser. Dann könnten wir wieder starten, nachdem wir den Brand gelöscht haben.“ Zwar hatte sie nicht viel Hoffnung, aber beim Fliegen kam es stets darauf an, weit genug im Voraus zu denken. „Hier drüben ist nichts.“ „Halten Sie weiter Ausschau. Ich fliege über den nächsten Bergkamm. Dann liegt auf der anderen Seite der ganze Abhang vor uns.“ Und dort gab es hoffentlich keine Bäume. Die Maschine glitt über den Kamm hinweg – nichts weiter als dunkle Baumwipfel. Winnie bekam Herzklopfen. Flammen leckten nun schon ständig über das Instrumentenbrett. Hätte sie bloß diesen Auftrag nicht übernommen! Sie hatte sich bei Henry für Frachtflüge gemeldet, nicht für solche Einsätze. Doch einer von Henrys Piloten lag im Krankenhaus, und der andere feierte seinen ersten Hochzeitstag. Also war nur sie im Dienst gewesen, und da Henry Geld brauchte und endlich einen gut zahlenden Kunden hatte, war sie weich geworden. „Dort!“ Smith deutete nach rechts. Erneut legte sie die Maschine auf die Seite und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Stelle groß und vor allem auch nahe genug wäre. Die Flammen breiteten sich ständig weiter aus und hatten schon den kleinen Instrumentenkasten zwischen den beiden Sitzen erreicht. Die freie Wiese war groß genug. „Zu weit weg“, erklärte sie dennoch voll Panik. „Sehen Sie die Hütte? Vielleicht sind dort Menschen. Zumindest hätten wir da einen Unterstand.“ Sie schüttelte den Kopf. „Zu weit. Das schaffen wir nie.“ Vielleicht schafften sie es überhaupt nicht. Trotz der geöffneten Fenster wurde der Rauch dichter, und bald würde sie nichts mehr sehen. Winnie legte die Maschine wieder gerade und starrte nach unten. Und dann sah sie die Lichtung, die allerdings nicht lang genug war. Egal, wie sie es auch anstellte, mussten sie gegen Bäume prallen, doch wenn sie im Anflug einige Baumwipfel abrasierte, die Maschine so schnell wie möglich aufsetzte, die Klappen voll ausfuhr und die Bremse hart durchtrat, würde der Aufprall vielleicht nicht allzu schlimm werden. Sie richtete die Nase des Flugzeugs aus. „Wir gehen runter.“ Smith fluchte. „Können Sie denn da landen? Die Lichtung ist nicht viel größer als der erste Platz, den wir gesehen haben.“ „Wir haben keine Wahl.“ „Aber wir können dann nicht mehr starten.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Da ist unser kleinstes Problem“, wehrte sie ab und zeigte auf die Instrumente zwischen den Sitzen. Bläuliche Flammen leckten darüber. „Hier verläuft die Brennstoff zufuhr.“
Verdammt! Rand Michaels, der sich im Moment Bob Smith nannte, fluchte in sich hinein. Der Einsatz ging schon zu Beginn schief. Er konnte allerdings nichts anderes tun, als auf Winnies fliegerisches Können zu setzen, und das war laut Bericht beträchtlich. Er warf ihr jenen beschwörenden Blick zu, den er bei der Army von einem Sergeanten gelernt hatte. Der Kerl hatte mit diesem Blick Männer dazu gebracht, übers Wasser zu gehen. „Ist mir egal, wie Sie es schaffen, aber bringen Sie uns heil runter!“ „Das mit dem ,heil’ können Sie vergessen!“ rief sie zurück. „Beten Sie, dass wir überhaupt den Erdboden erreichen, bevor wir uns in einen Feuerball verwandeln.“ „Na dann viel Glück!“ Sie durfte nicht während seines Einsatzes sterben. Er hatte schon zu viele Tote gesehen. Dieses Spiel reichte ihm. Er war es leid, immer wieder Menschen mit hineinzuziehen und dann festzustellen, dass sie unschuldig waren. Natürlich wusste er nicht, ob Winnie unschuldig war. Sein Auftrag lautete, sich an Winnie Mae Taylor heranzumachen und herauszufinden, was sie über ihren Mann wusste, der mit fünfzig Millionen Dollar Staatsgeld verschwunden war. Es ging darum, ob ihre Scheidung von diesem Taylor sowie der plötzliche Umzug nach Alaska vielleicht nur die Ermittler von der Spur ihres Mannes ablenken sollten. Ein ganz normaler Flug war nun jedoch zu einer lebensgefährlichen Krise geworden. Er warf einen Blick aus dem Fenster und bekam fast einen Herzschlag, weil sie direkt auf einen Baum zusteuerte. „Vorsicht! Das ist ein Baum!“ Ein Ruck ging durch die Maschine, als sie die Spitze der Tanne abrasierte. „Das war Absicht!“ schrie Winnie und hielt den Steuerknüppel eisern fest. „Jetzt!“ Sie drückte die Maschine scharf nach unten. Die Räder prallten auf die Erde, sprangen zweimal hoch und pflügten dann durch den unebenen Boden. Rand schlug das Herz bis zum Hals, als die Bäume am Rand der Lichtung erschreckend rasch näher kamen, aber Winnie schien alles unter Kontrolle zu haben. Sie beugte sich vor, schlug auf einen Schalter, rammte die Füße in die Bremsen und trat sie mit aller Kraft durch. Wieder ein Ruck, und die Maschine verlor rasant an Tempo, doch es reichte nicht. Der Aufprall war unvermeidlich. Rand packte den Türgriff und stemmte die Füße gegen den Boden. Die Maschine krachte gegen Stämme. Metall kreischte, Holz knirschte. Die Flügel brachen ab. Noch ein harter Ruck, und der Vogel stand. Für Rand fühlte es sich an, als würde ihn der Gurt in der Mitte durchschneiden, doch als er nach dem Aufprall gegen die Lehne zurückgeschleudert wurde, war er immer noch ganz. Und Winnie wirkte zwar leicht benommen, schien aber auch nicht verletzt zu sein. Die Erleichterung hielt jedoch nicht lange an, weil er außer Rauch noch etwas roch. Benzin! „Raus!“ brüllte er. Auf Winnies Seite ragte ein Teil des abgebrochenen Flügels in die Kabine. Die Bruchkante erinnerte Rand an die Zähne eines gewaltigen Hais. Auf ihrer Seite kamen sie also nicht ins Freie. Er öffnete mit der einen Hand seinen Gürtel und drückte mit der anderen gegen die Tür auf seiner Seite, die sich jedoch kaum rührte. Hastig drehte er sich, achtete nicht auf die Hitze im Rücken und stemmte die Beine gegen die Tür. Sie
mussten sofort die Maschine verlassen, sonst würde es zu spät sein.
Endlich gab die Tür nach. „Schnell, raus!“ rief er, packte Winnie am Arm, sprang
ins Freie und wollte sie mit sich ziehen.
Winnie riss sich los. „Hinten in der Maschine ist ein Überlebenspaket. Das
brauchen wir!“
„Vergessen Sie es! Das Ding geht gleich hoch!“ Er griff erneut nach ihr und zog
an ihr.
Sie stemmte sich dagegen. „Wir brauchen das Paket, sonst schaffen wir es nicht.
Nicht hier in Alaska.“
„Dann hole ich es. Raus mit Ihnen!“ Noch ein Ruck, und sie war draußen. Rand
schob sie energisch von der Maschine fort, achtete nicht weiter auf den
Benzingeruch und riss die Tür zum Frachtraum auf.
Er sah das Paket sofort. Es war in den Frachtnetzen an der Seitenwand befestigt.
Der Rauch wurde dichter, und die Flammen züngelten höher, während er mit den
widerborstigen Knoten kämpfte. Sein Herz schlug schneller. Verdammt, wer hatte
bloß diese Knoten geschlungen?
Sie drückte sich plötzlich an ihn. „Nein, so geht das!“ Sie zog an einer Schnur,
und das ganze Netz fiel herunter.
„Verdammt, raus jetzt!“
„Aber…“ Sie drängte sich zur Rückseite ihres Sitzes und zog aus dem daran
befestigten Netz einen goldfarbenen Karton von der Größe eines Toasters.
Rand packte sie um die Mitte und stieß sie aus der Maschine. „Laufen Sie!“
brüllte er.
Endlich lief sie, so schnell sie konnte, und drückte dabei den Karton an sich. Er
griff nach dem Überlebenspaket sowie seinem Gewehr unter dem Sitz und folgte
ihr.
Knapp fünfzehn Meter hinter der Maschine schleuderte die Wucht der Explosion
sie beide zu Boden. Ein Hitzeschwall raste über sie hinweg. Der gewaltige Knall
sprengte ihnen fast das Trommelfell. Flammen brüllten.
Rand raffte sich hoch, packte mit einer Hand das Gewehr, Winnie mit der
anderen und zerrte sie weiter. Erst als die Hitze der Flammen sie nicht mehr
erreichte, ließ er los.
Winnie fiel auf die Knie und drückte den goldfarbenen Karton an die Brust.
Rand sah sich das Ding genauer an. Es war ein kleiner Karton,
zusammengehalten von einem goldfarbenen Band mit Schleife. „Was ist da drin,
dass Sie dafür Ihr Leben riskiert haben?“ fragte er ungläubig.
„Das ist nur…“ Sie stockte und wich seinem Blick aus. „Das ist einfach ein
Geschenk.“
Seiner Meinung nach war das nicht „einfach ein Geschenk“. Entweder handelte es
sich um ein sehr wichtiges Geschenk, oder es war Geld, vielleicht ihr Anteil an
den fünfzig Millionen, oder vielleicht Papiere, die zu einem Konto in der Schweiz
und zu Taylor führten.
Vorerst gab es jedoch Wichtigeres zu erledigen. Winnie sah nicht gut aus. Sie
war blass und atmete flach.
„Was ist los?“ fragte er und kniete sich neben sie.
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hände zitterten, als sie den Karton auf die Erde
legte. „Nicht anfassen.“
„Schon gut.“ Sie saßen in der Wildnis von Alaska fest, und ihr Flugzeug hatte sich
in Rauch aufgelöst. Bestimmt hatte er noch viel Zeit, um das Rätsel des Kartons
zu lösen. Im Moment ging es ihm vorerst um Winnie. „Sind Sie verletzt?“
„Nein, ich bin nur völlig…“
Sie brauchte es nicht auszusprechen. Sie war völlig fertig. Und ihm erging es
ähnlich. „Sie haben das gut gemacht“, versicherte er. „Ja, einfach himmlisch“, erwiderte sie spöttisch und blickte zu dem brennenden Wrack hinüber. Er lächelte flüchtig. Unschuldig oder schuldig, mutig war sie jedenfalls. Doch im Moment ging es nicht darum, dass sie mutig und hübsch war oder wie gut es sich angefühlt hatte, als sie sich an ihn drückte. Er durfte auch nicht daran denken, wie lange er schon nicht mehr mit einer so attraktiven Frau wie Winnie Mae Taylor zusammen gewesen war. Trotzdem fiel es ihm schwer, nicht nur auf ihr zart geschnittenes Gesicht und das auf den Rücken fallende schwarze Haar zu achten. Da es darum ging festzustellen, ob diese Frau ins Gefängnis gehörte, musste er jegliches Gefühl unterdrücken. „Sie sind verletzt“, stellte er fest und griff nach ihrem linken Arm, als Blut durch den Ärmel sickerte. Winnie wurde noch blasser, kaum dass sie das Blut sah. Ihre grünen Augen weiteten sich, doch sie biss die Zähne zusammen und löste sich von ihm. „Ich mache das.“ Entschlossen zog sie den zerrissenen Ärmel beiseite und wollte die Wunde untersuchen, schaffte es jedoch nicht. Er rückte näher zu ihr und schob ihre Hand weg. „So lassen Sie sich doch helfen!“ Mit einem kraftvollen Ruck erweiterte er den Riss und biss die Zähne zusammen, als er die Wunde sah. Zehn Zentimeter lang und ziemlich tief. Hätte er ihr gleich gesagt, dass er für die Regierung arbeitete, dann wäre das nicht passiert. Doch auch dieses Mal ermittelte er verdeckt, wie er das seit acht Jahren machte. Es war eben einfacher, sich das Vertrauen einer verdächtigen Person zu erschleichen.
2. KAPITEL Winnie vermied es, die blutende Wunde anzusehen, und wappnete sich gegen den Schmerz, als Smith sie untersuchte. „Nicht gut“, stellte sie fest und stand auf. „Keine Angst“, meinte er. „Hässlich, aber nicht tödlich.“ Allmählich ließ die Wirkung des Adrenalinschubs nach, und der Arm begann zu schmerzen und höllisch zu brennen. Und das war noch nicht alles. Sie saß mitten in der Wildnis mit einem Mann fest, der eine ungeheure Ausstrahlung hatte. Das war nicht gut für eine Frau, die beschlossen hatte, allein und unabhängig zu leben. Es war ihr gelungen, sie beide heil auf die Erde zu bringen, doch nun war es ihre Pflicht, zurück in die Zivilisation zu finden. Angst packte sie. Henry hatte behauptet, ein Pilot würde alles Lebensnotwendige in dem Paket finden, das Smith aus der Maschine gerettet hatte, doch sie konnte nicht damit umgehen. Alaska war kein Land für Weichlinge. Dafür lauerten hier überall viel zu viele Gefahren, angefangen von schwierigem Gelände und Temperaturstürzen bis hin zu wilden Tieren, Raubkatzen, Wölfen und Bären. Grizzlybären! Schon in der ersten Woche in Alaska hatte ein Grizzly versucht, in ihre Hütte einzudringen. Das Geräusch von splitterndem Holz und das Brummen des hungrigen Bären hatten sie zu Tode geängstigt. Die tiefen Kratzspuren an der Tür hatten sie am nächsten Morgen absolut nicht beruhigt. Wie sollte sie sich und Smith vor solchen Gefahren schützen? Sie zuckte zusammen, als Smith den Ärmel ganz abriss, um ungestört an die Wunde heranzukommen. „Ich sage es nur ungern, Mr. Smith* aber wir stecken hier fest und kommen nur zu Fuß von Punkt A nach Punkt B. Und dieser Punkt B ist auf jeden Fall sehr weit entfernt.“ „Darum kümmern wir uns, wenn wir Ihren Arm versorgt haben“, erwiderte er sehr ruhig und beherrscht. Blut floss ihren Arm hinab und tropfte von den Fingern ins Gras. Winnie bekam weiche Knie, schwankte und sah alles plötzlich verschwommen. „Setzen Sie sich“, drängte er und half ihr dabei. „Geht es?“ Schon lange nicht mehr. Seit ihr Exmann Tucker ihr Leben zerstört hatte, versuchte sie mehr oder weniger vergeblich, die Bruchstücke wieder zusammenzusetzen. Jetzt fiel das Wenige, was sie bisher geschafft hatte, erneut auseinander. Da sie aber im Moment das Kommando hatte, durfte sie sich nicht hängen lassen. Sie holte tief Atem. „Alles in Ordnung.“ Langsam zog er die Hände von ihren Schultern und wartete ab, ob sie sich aufrecht halten konnte. „Wenn Ihnen wieder schwindelig wird, beugen Sie sich vor und senken Sie den Kopf. Klar?“ „Klar.“ Aus dem abgerissenen Ärmel formte er ein kleines Kissen und drückte es auf die Schnittwunde. Winnie stieß zischend den Atem aus, und der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. „Tut mir Leid, aber wir müssen die Blutung stoppen“, erklärte er. „Haben Sie einen ErsteHilfeKasten in dem Paket?“ Sie nickte. „In der großen Außentasche links.“ Er drückte ihre Hand auf das provisorische Wundkissen, stand auf und lief zu dem Paket, das nicht weit entfernt auf der Erde lag. Dabei bewegte er sich so zielstrebig, kraftvoll und energisch, dass sie sicher war, dass er über Erfahrung in Notsituationen verfügte. Aus seinem ganzen Verhalten ging hervor, dass er gewohnt war, die Dinge in die
Hand zu nehmen und sich um alles zu kümmern. Er machte das auch sehr gut,
und bei den Schmerzen und der Schöpfung, die Winnie packten, wollte sie sich
ihm gern anvertrauen. Doch das kam nicht infrage. Sie bestimmte jetzt über ihr
Leben. Daran änderte auch die Verletzung nichts. Noch dazu wäre es dumm
gewesen, sich für einen Mann wie Smith zu interessieren. Mochte er auch noch so
faszinierend wirken, so wusste sie doch aus bitterer Erfahrung, dass man den
meisten Männern nicht vertrauen durfte.
Das Wundkissen war schnell blutgetränkt. „Beeilen Sie sich, Smith“, drängte sie.
„Wir müssen das Blut wegwaschen, sonst locken wir wilde Tiere an.“
Er kam mit dem ErsteHilfeKasten zu ihr zurück. „Wegen der Tiere brauchen Sie
sich keine Sorgen zu machen. Ich habe mein Gewehr gerettet.“
„Können Sie denn auch damit umgehen?“ fragte sie und blickte zu der Waffe, die
in der Nähe lag. Eine Waffe steckte allerdings auch in ihrem Paket.
„Wozu sollte ich das verdammte Ding mit mir herumschleppen, wenn ich nicht
damit umgehen kann?“
„Ich habe ebenfalls eine Waffe dabei“, erwiderte sie. „Das ist Vorschrift. Aber ich
kann sie nicht bedienen.“
„Es ist Vorschrift, dass Sie eine Waffe bei sich haben, die Sie nicht bedienen
können?“ fragte er ungläubig.
Winnie nickte.
Smith schüttelte den Kopf und begann, ihren Arm zu reinigen. „Kein Kommentar.
Beißen Sie die Zähne zusammen. Das brennt.“
Sie zuckte instinktiv zurück, als er die Wunde mit Alkohol reinigte, doch er hielt
sie fest und arbeitete schnell, aber vorsichtig. Sie schloss die Augen und
versuchte, nicht an die Bären zu denken, die vielleicht schon zu ihnen unterwegs
waren. „Sind Sie gut?“
„Womit?“
„Mit dem Gewehr.“
„Ich erlege einen Star, wenn er groß genug ist“, erwiderte er und lächelte
amüsiert.
„Was ist mit Bären?“
Aus seinen braunen Augen begegnete ihr ein forschender Blick. „Haben Sie Angst
vor Bären?“
„Ich habe keine Angst vor Bären“, stellte sie klar. „Ich mag sie nur nicht.“
„Aha“, murmelte er und lächelte noch eine Spur amüsierter.
Schön, dann konnte sie ihm also nichts vormachen. Auch gut.
„Machen Sie sich wegen Bären keine Gedanken“, sagte er überraschend sanft.
„Ich kann gut mit einem Gewehr umgehen.“
Nie zuvor hatte ihr jemand Schutz angeboten. Als sie klein war, war ihr Vater
nicht da gewesen, um die Ungeheuer unter dem Bett oder aus dem Schrank zu
vertreiben. Und Tucker war viel zu beschäftigt gewesen, um sich mit ihr
abzugeben. Es war schön, dass sich ausnahmsweise jemand um sie sorgte. Und
es war angenehm und…
Nein, halt! Smith, sollte ruhig für sie Bären erschießen, weil sie das nicht
schaffte, aber diese angenehmen Gefühle waren lächerlich und gefährlich. Nur
weil Smith attraktiv, stark und sexy war, durfte sie ihm noch lange nicht
vertrauen.
„Danke“, sagte sie trotzdem.
„Kein Problem.“ Er zeigte ihr einen Druckverband. „Jetzt müssen Sie den Arm still
halten und gegen mich pressen, während ich ihn verbinde. Das tut weh, aber es
ist unvermeidlich. Kann’s losgehen?“
Sie biss die Zähne zusammen. „Los!“
Er drückte das Kissen auf die Wunde, umwickelte den Arm mit der elastischen Bandage und sicherte den Verband mit Metallklammern. „Fertig.“ Erneut wurde ihr schwarz vor Augen, aber sie hielt den Atem an und kämpfte gegen den Schmerz. „Ganz ruhig“, redete Smith auf sie ein und stützte sie. „Tief durchatmen.“ Endlich bekam sie wieder Luft, öffnete die Augen und löste sich von Smith. Es war unklug, sich zu lange seinen starken Armen anzuvertrauen. „Geht schon wieder.“ „Gut, dann machen wir Sie jetzt sauber“, entschied er und wischte mit einem frischen GazeKissen das Blut von ihrem Unterarm. Winnie blickte zur Maschine hinüber. Bald würde sie nur noch ein rauchendes Wrack sein. Sie kannte Berichte über Flugzeugabstürze in Alaska. Es dauerte Tage, bis eine andere Maschine die Unglücksstelle überflog, manchmal auch Wochen. Einige Wracks waren nie gefunden worden. Plötzlich fiel ihr die Lichtung ein, die Smith ihr gezeigt hatte. „Die Hütte.“ Er ließ das Kissen fallen und griff nach einem frischen. „Was ist damit?“ „Sie haben doch vor der Landung eine Hütte auf einer Lichtung gesehen“, erklärte sie eindringlich. „Dorthin müssen wir uns durchschlagen.“ „Warum?“ „Weil da vielleicht jemand ist, der ein Funkgerät oder ein Fahrzeug hat und uns helfen kann. In der Hütte sind wir außerdem sicher und geschützt.“ Und sie brauchten Schutz vor der Witterung und vor Bären. „Das ist eine ziemliche Strecke, aber wir könnten es schaffen“, fuhr sie fort. „Ich habe mir die Kompassanzeige in der Maschine gemerkt, und in dem Überlebenspaket finden wir bestimmt einen Kompass. Ich sehe sofort nach.“ Smith hielt sie fest, als sie aufstehen wollte. „Immer langsam, ich bin noch nicht fertig“, warnte er und drückte sie wieder zurück auf den Boden. „Wenn Sie mit einem blutigen Arm durch den Wald marschieren, locken Sie tatsächlich Bären an. Wir brechen in frühestens einer Stunde auf. Ich möchte, dass Sie sich ausruhen und…“ „Eine Stunde?“ rief sie erschrocken. „Kommt gar nicht infrage! Wir müssen sofort losmarschieren, damit wir es vor Einbruch der Dunkelheit schaffen.“ Doch Smith schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Im Moment haben Sie noch einen viel zu hohen Blutdruck. Darum bluten Sie auch so stark. Beim Gehen wird das schlimmer. Sie müssen Sich ausruhen, damit das Blut in der Wunde gerinnen kann.“ „Ich komme klar“, behauptete sie. „Eine Stunde, Winnie“, entschied er unnachgiebig. „Nein, sofort“, verlangte sie. Je schneller sie in die Zivilisation zurückkehrten, desto schneller wurde sie Smith wieder los. „Wir müssen unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit zur Hütte kommen.“ Er ließ ihren Arm nicht los, doch sie gab keinen Millimeter nach. Endlich schien er einzusehen, dass sie auf ihrem Willen beharrte. Er zog die Hand zurück, stand jedoch nicht auf, sondern streckte die Beine aus. „Wenn Sie losmarschieren wollen, ist mir das recht. Ich bleibe jedenfalls eine Stunde hier.“ „Mr. Smith“, erwiderte sie zornig, „vermutlich sind Sie daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Wenn allerdings ein Flugzeug abstürzt, dann ist der Pilot für die Passagiere verantwortlich. Und in diesem Fall bin ich das.“ Er zuckte bloß mit den Schultern. „Sie werden uns kaum retten, wenn Sie für Bären eine Blutspur hinterlassen oder umkippen, weil Sie zu viel Blut verloren haben. Machen Sie es sich also bequem.“
„Sie geben nicht nach?“ fragte sie hilflos.
Er schüttelte den Kopf und wagte auch noch zu schmunzeln.
Winnie machte ein wütendes Gesicht. „Gut, ausnahmsweise. Lassen Sie sich aber
eins sagen. Ich bin gerade dabei, mir ein neues Leben aufzubauen, das
wesentlich besser werden soll als mein bisheriges. Wenn Sie mir das verpatzen,
indem einer von uns von einem Bären gefressen wird, werde ich sehr sauer.“
3. KAPITEL Rand behielt Winnie ständig im Auge, während sie sich zwischen den hohen Nadelbäumen einen Weg zur nächsten Anhöhe suchten. Auf dem Marsch zur Hütte hatte sie sich anfangs darüber beschwert, dass er sich immer wieder nach ihr umdrehte. Darum hatte er mit ihr die Position gewechselt, um sie ohne Streit überwachen zu können. Der Anblick ihres weichen gelockten Haars, das bis zur Taille fiel, und ihres perfekt geformten Pos versüßten ihm den Marsch. Deshalb bekam er kein schlechtes Gewissen. Schlimmer war da schon, dass der Marsch zur Hütte sich als sehr hart erwies, und Winnie war erschöpft. Dennoch drängte sie weiter. Zweimal hatte er sie zu einer Rast gezwungen und sich dabei ihren Zorn zugezogen. Er hatte sich einfach hingesetzt und nicht mit sich reden lassen. Ihm war es gleichgültig, ob sie es zur Hütte schafften. Schon mit Anfang zwanzig hatte er den ersten Einsatz bestanden. Vier Monate hatte er im mittelamerikanischen Urwald verbracht, um sich in eine Rebellentruppe einzuschleusen und ihre Umsturzpläne gegen die Regierung herauszufinden. Seither hatte er unzählige weitere Einsätze wie diesen bestanden, zuerst für die CIA und jetzt für Freedom Rings. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er also unter schwierigen Bedingungen verbracht und stets mit Angriffen von Feinden gerechnet, die wesentlich gefährlicher als Bären waren. Winnie war allerdings keine Soldatin, sondern Zivilistin. Daher verstand er, warum sie die Hütte erreichen wollte. Wie die meisten Menschen, fühlte sie sich in einem geschlossenen Gebäude sicherer. Wenn sie das brauchte, hatte er nichts dagegen, solange sie sich dabei nicht selbst schadete. Es störte ihn jedoch, dass sie sich seinetwegen anstrengte und glaubte, für seine Sicherheit sorgen zu müssen. Das war irgendwie… süß. Und das verdiente und wünschte er sich nicht. Dadurch wirkte sie unschuldig, und er wollte nicht, dass sie das war. Wenn sie schon durch sein Auftauchen diesen Albtraum erlebte, sollte sie wenigstens schuldig sein. Sollte sie Tucker Taylor tatsächlich bei seinem Verbrechen geholfen haben, dann war sie eben selbst an ihrem Unglück schuld. Er stieg über einen großen Stein hinweg und verfluchte die Umstände, die ihn hergeführt hatten. Hätte sich die CIA an eine andere Organisation als Freedom Rings gewandt, dann wäre jetzt ein anderer und nicht er in der Klemme. Ein anderer müsste sich mit dem Fall beschäftigen, in dem es unter anderem um einen Drogenbaron aus Kolumbien ging. Die CIA hatte sich allerdings an Griffon Tyner gewandt, den sie am liebsten für besonders heikle und geheime Aufträge einspannte. Tyner war kompetent und ehrlich, und Rand arbeitete für ihn. So konnte die CIA Rand ganz leicht in die Gesamtaktion einbauen. Wieder ging es einen Hang hinauf. Rand presste die Lippen aufeinander. Vom ersten Moment an hatte er ein schlechtes Gefühl gehabt, als er den für den Einsatz zuständigen CIAAgenten traf – Winnies Exmann Tucker. Der Kerl war zu zuversichtlich, zu selbstsicher und zu glatt gewesen, blond, gut aussehend und mit einem hinreißenden Lächeln. Bei der perfekten Erscheinung war Rand sofort misstrauisch geworden. Tatsächlich hatte dieser Mistkerl von Anfang an nichts Gutes im Schilde geführt. Leider war Rand zu spät dahinter gekommen, worum es sich dabei handelte. Und deshalb war er nun in Alaska, marschierte hinter einer verletzten Frau her, die noch dazu bildschön und viel zu nett war, und hoffte, dass sie schuldig war. Sie sollte hinter Gittern landen, damit er sein Gewissen beruhigen konnte. Winnie rutschte auf dem feuchten Boden aus und verhinderte einen Sturz nur,
indem sie sich mit dem verletzten Arm abfing. Unter dem gesunden Arm trug sie ihren kostbaren Karton. Rand war sofort bei ihr, als sie laut aufstöhnte. „Geht es?“ „Ja, bestens“, erwiderte sie abweisend, nickte knapp und marschierte weiter. Sie sah gar nicht gut aus. Vor Schmerz war sie blass geworden, aber sie stieg weiter den Hang hinauf. Rand blieb an ihrer Seite und betrachtete den Karton mit der scheußlichen Schleife. „Sie sollten das Ding nicht schleppen. Wenn es schon wichtig ist, überlassen Sie es wenigstens mir.“ Verlegen wich sie seinem Blick aus und schwieg. Offenbar trennte sie sich nicht von dem Päckchen und gab auch keine Erklärungen ab. Am liebsten hätte er es hinter sich gebracht. Weil sie den Karton nicht aus der Hand gab und jedes Mal rot wurde, wenn er sie darauf ansprach, war er überzeugt, dass er unter dem Goldpapier die Lösung des ganzen Falls finden konnte. „Ich habe keine Ahnung“, sagte er mit einem gezielten Blick, „was so wichtig ist, dass man es quer durch Alaska schleppt. Es kann doch nicht so wertvoll sein, dass es sich nicht ersetzen lässt.“ „Vielleicht hat der Wert nichts mit dem Kaufpreis zu tun. Könnte doch sein, dass es sich um ein unersetzliches Stück handelt, zum Beispiel um ein Erbstück, an dem man hängt.“ Sie war schön und eigensinnig. Aber war sie auch schuldig? „Ist es denn so etwas?“ „Spielt doch keine Rolle“, wehrte sie starrsinnig ab. „Ich lasse diesen Karton nicht zurück, Mr. Smith. Dafür ist er für mich zu wertvoll.“ Die Frage war nur, warum er wertvoll war. Weil er den Schlüssel zu fünfzig Millionen enthielt? Erneut betrachtete Rand den Karton. Vielleicht warf er einen Blick hinein, wenn Winnie heute Nacht schlief. Das war ein Kinderspiel, weil der Karton nicht mal eingewickelt war. Es handelte sich um einen einfachen goldfarbenen Geschenkkarton, der von einem Band zusammengehalten wurde. Im Moment war es jedoch wichtiger, dass sie den Aufstieg schafften. Der Berghang wurde immer steiler. Winnie rutschte wieder aus und konnte sich dieses Mal nicht abfangen. Sie landete hart auf der Erde und verlor den wertvollen Karton. Der Deckel löste sich, und der Inhalt fiel auf den Waldboden. Rand ging neben Winnie in die Hocke. „Ist Ihnen etwas passiert?“ Die Wunde blutete nicht wieder, und Winnie schien auch keine Schmerzen zu haben. „Nein, mir nicht“, erwiderte sie. „Aber…“ Sie verstummte und deutete auf den Inhalt des Kartons, der auf der Erde verstreut lag. Endlich war das Glück bei dieser ganzen verunglückten Mission auf seiner Seite. Triumphierend drehte er sich um, doch dieser Triumph dauerte nicht lange. Auf dem Waldboden lagen keine Papiere und auch keine Geldscheine, sondern… Makeup. Nichts weiter als Makeup. Aller möglicher Kram, den eine Frau zur Verschönerung benützt. Er griff nach einem der kleinen durchsichtigen Behälter mit farbigem Puder. „Sie haben in dem brennenden Flugzeug Ihr Leben für Makeup im Wert von fünfzehn Dollar riskiert?“ fragte er fassungslos. Zornig riss sie ihm den Behälter aus der Hand. „Es ist nicht fünfzehn, sondern achtzig Dollar wert, und es ist…“ „Sie haben Ihr Leben für achtzig Dollar riskiert?“ Er hätte sie auf der Stelle erwürgen können, doch er hatte ihr vermutlich schon mehr angetan, als sie
verdiente. Seufzend kauerte er sich neben sie und strich sich durchs Haar. Sie griff nach dem leicht verbeulten Karton und begann, ihre Sachen wieder einzusammeln, sie Stück für Stück zu säubern und wieder an ihren Platz zu legen. „Achtzig Dollar sind vielleicht nicht viel für einen Mann, der es sich leisten kann, ein Flugzeug zu mieten. Für mich ist es eine Menge Geld“, fügte sie hinzu und wurde erneut rot. Deshalb war sie verlegen geworden? Sie fühlte sich nicht schuldig, sondern ihre finanzielle Lage war ihr peinlich? Rand schüttelte den Kopf. Sie hatte ihr Leben für Makeup im Wert von achtzig Dollar riskiert, weil sie fürchtete, in nächster Zeit nicht genug zu verdienen, um es ersetzen zu können? Gereizt stand er auf und ging ein Stück weg. Keine normale Frau kletterte in ein brennendes Flugzeug, um ein Geschenk im Wert von achtzig Dollar zu retten, und sie schleppte das Päckchen dann auch nicht mit einem verletzten Arm durch halb Alaska, wenn ihr Ehemann mit gestohlenen fünfzig Millionen Dollar zu ihr zurückkommen würde. Das war ausgeschlossen. Die schöne und reizvolle Winnie Mae Taylor war unschuldig. Daran führte kein Weg vorbei. Winnie war tödlich verlegen. Sie gab nur höchst ungern zu, wie arm sie war. Sicher, das war dumm von ihr, und sie selbst hatte Menschen auch nie nach ihrem Geld beurteilt. Deshalb hatte sie keine Ahnung, wieso sie jetzt ausgerechnet bei sich damit anfing. Doch, sie wusste es, aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Hätte sie ihre Geldknappheit erklärt, hätte sie den Grund dafür nennen müssen: Tucker hatte sie völlig mittellos sitzen lassen. Irgendwann während der letzten vier Jahre hatte er aufgehört, sie zu lieben, und vielleicht hatte er sie überhaupt nie wirklich geliebt. Was hatte sie bloß an sich, was die wichtigen Männer in ihrem Leben vertrieb? Fehlte ihr etwas? War sie einfach nicht liebenswert? Oder logen sowieso alle Männer, betrogen ihre Frauen und machten ihnen das Leben unnötig schwer? Seufzend wischte sie sich eine Träne von der Wange. Bisher hatte sie keine Antwort auf die Fragen gefunden, die sie verfolgten, seit sie ein kleines Mädchen war. Damals hatte sie nicht verstanden, wieso ihr Vater nur ab und zu bei ihr und ihrer Mutter auftauchte, bloß oft genug, als dass sie ihn nicht aus ihren Herzen verbannten. Wieso hatte er es richtig gefunden, jedes Mal ihr Bankkonto zu plündern und sie ohne einen Cent zurückzulassen, wenn er wieder verschwand? Verstört atmete sie tief durch, putzte sorgfältig eine schimmernde goldfarbene Tube und legte sie behutsam zu den anderen Sachen in den leicht beschädigten Karton. Jetzt war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt für Selbstmitleid. Sie saß in der Wildnis fest, ihr Arm schmerzte höllisch, Bären waren hinter ihr her, und die Nacht rückte rasch näher. Entschlossen wischte sie die Tränen weg und beeilte sich. Bis zur Hütte war es vermutlich noch gut eine Stunde. Sie mussten weiter. Smith tauchte wieder vor ihr auf und kniete sich hin. „Ich helfe Ihnen“, bot er an, hob einen Schminkbehälter auf und wischte ihn an seinen Jeans sauber. Er sollte ihr nicht zu nahe kommen, damit er nicht merkte, dass sie Tränen in den Augen hatte. Darum schüttelte sie den Kopf. „Ich mache das schon. Ich kann das alleine.“ „Natürlich, aber ich will Ihnen helfen.“ „Bitte!“ Seufzend griff er nach einem Fläschchen Gesichtsreiniger. „Tut mir Leid, dass ich Sie in Verlegenheit gebracht habe“, fuhr er fort und legte das Fläschchen in den Karton. „Diese ganze Sache tut mir sehr Leid.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, entgegnete Winnie. „Ich müsste mich bei Ihnen entschuldigen, wenn schon nicht für die Notlandung, dann dafür, dass ich hier schniefend sitze, anstatt zur Hütte zu marschieren.“ „Nach einem solchen Tag haben Sie ein Recht darauf zu schniefen“, versicherte er lächelnd. „Und entschuldigen müssen Sie sich bestimmt nicht. Das können Sie mir glauben.“ Winnie überlegte, wie er das meinte, doch nach der Aufregung und durch die Schmerzen schwand ihre Energie merklich. Wenn sie nicht bald wieder auf die Beine kam, schaffte sie es vermutlich gar nicht mehr. Darum holte sie tief Atem, legte die letzten Gegenstände in den Karton und verknotete die Schleife. „Sieht nicht mehr so schön aus wie in dem Laden“, stellte sie betrübt fest, „aber es muss reichen.“ „Die Empfängerin dieses Geschenks sollte froh sein, dass sie es überhaupt bekommt“, bemerkte Smith stirnrunzelnd. „Glauben Sie wirklich, sie hätte gewollt, dass Sie Ihr Leben dafür riskieren?“ Plötzlich wurde sie wieder von dieser gefährlichen Wärme erfüllt. Ihr Vater und ihr Exmann hätten keinen Gedanken daran verschwendet, wenn sie ihr Leben für etwas riskiert hätte. Ihr Vater hatte bei jeder Flugschau zugesehen, an der sie teilgenommen hatte, und er hatte sie sogar zu immer waghalsigeren Manövern ermutigt, weil sie dafür mehr Geld verlangen konnte. Dieser Fremde dagegen sorgte sich um ihre Sicherheit. Solche Gefühle durfte sie sich nicht erlauben. Hoffentlich gab es auf der Welt anständige Männer, aber Winnie war sicher, dass sie niemals ihren Weg kreuzen würden. Mr. Smith machte einen anständigen Eindruck. Man brauchte allerdings kein Psychologe zu sein, um zu wissen, dass sie drei Monate nach dem Verrat ihres Exmannes und nun nach dem Absturz ziemlich verwundbar war. Sie war im Moment bestimmt nicht in der Lage, Menschen besonders gut einzuschätzen. Kein Fremder, mochte er auch noch so nett und attraktiv sein, durfte ihre Gefühle beeinflussen. Sie musste ein unabhängiges Leben beginnen, und der nächste Schritt dorthin war die Hütte, in der es hoffentlich ein Funkgerät und einen Menschen gab, der ihnen half. Sobald Mr. Smith in Sicherheit war, konnte sie sich ein neues Leben aufbauen – allein und ohne Männer, die sie im Stich ließen. Rand hielt sich weiterhin an Winnies Seite und half ihr an schwierigen Stellen. Trotz ihres Schneids und der Entschlossenheit, die Hütte zu erreichen, war sie kräftemäßig bald am Ende. Zum Glück hatten sie es fast schon überstanden. Von der letzten Anhöhe hatten sie die Hütte nicht allzu weit entfernt am Hang gesehen. Sie waren noch zu weit weg gewesen, um zu erkennen, ob sich dort jemand aufhielt, aber sie hatten sich wenigstens den kürzesten Weg aussuchen können. Noch ungefähr zehn Minuten, dann würden sie da sein. Und das war auch gut so, weil es bereits dämmerte. Die Luft wurde kühl und machte Rand eine Gänsehaut. Er atmete tief ein. Es roch nach Tannen, frisch und sauber. Schön war es hier, rau und wild, aber sauber. Rand genoss den Anblick der hohen Nadelbäume und der zerklüfteten Felsen. Schon lange war er an keinem Ort gewesen, der solchen Frieden ausstrahlte. Die Orte, an denen er in den letzten Jahren gegen Waffenschmuggler und Drogenhändler gekämpft hatte, waren alles andere als friedlich und schon gar nicht sauber gewesen. Verzweiflung, Hass und Wut hatten die Atmosphäre vergiftet. Erneut atmete er tief durch und rieb sich die Arme. Nach einem halben Jahr im südamerikanischen Urwald war er an diese Kühle nicht mehr gewöhnt. Die Schönheit der Gegend entschädigte ihn jedoch dafür, dass es nur etwa fünf Grad
warm war. Liebend gern wäre er sogar hier geblieben, hätte er dann nie wieder auf einen Einsatz gehen müssen. Das war jedoch ein frommer Wunsch. Vor einigen Jahren hatte er versucht, ein normales Leben zu beginnen, und war jämmerlich gescheitert. Im normalen Leben war kein Mann gefragt, der anderen Geheimnisse entlockte, die er dann an den Arm des Gesetzes weitergab. In Gesellschaft von normalen und anständigen Menschen fühlte Rand sich einfach nicht mehr wohl. Es war außerdem schwierig, Kontakte zu anderen aufzunehmen, wenn man über seine Vergangenheit nicht sprechen durfte. Mit sicherem Griff nahm er Winnie am Arm und half ihr den Hang hinunter, damit sie nicht wieder auf der Erde landete. „Wir haben es gleich geschafft“, versicherte er aufmunternd. Sie hielt sich trotz Müdigkeit und Schmerzen gut. Das war einer jener Einsätze, die schief gingen, ohne dass jemanden die Schuld daran traf. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Am liebsten hätte er Winnie erklärt, dass er für die CIA arbeitete und ihren Mann samt gestohlenen fünfzig Millionen Dollar suchte, doch das kam nicht infrage. In seinem Beruf lernte man als obersten Grundsatz, dass Menschen unberechenbar waren. Und in diesem Fall war er nur in einem Punkt sicher: Tucker kam bestimmt nicht zu Winnie zurück, um ihr ein Leben in Luxus zu bieten. Das war aber auch schon alles, was er wusste. Er kannte nicht mal die näheren Umstände der Scheidung. Rand hatte keine Ahnung, ob Winnie ihm Tipps geben würde, die den Kerl hinter Gitter bringen konnten. Darum durfte er sich nicht zu erkennen geben und musste in den nächsten Wochen bei ihr bleiben und so tun, als wäre er ihr bester Freund. Nur so kam er an Informationen über ihren Exmann heran. Es gefiel ihm nicht, Winnie zu hintergehen, doch das ließ sich nicht ändern. Er konnte ihr nur so gut wie möglich helfen. Um sie ein wenig abzulenken, deutete er auf den Karton, den sie auch weiterhin an sich drückte. „Für wen ist denn das Geschenk?“ „Für Jenny Mallard, ein Mädchen auf meiner Postroute“, erwiderte Winnie lächelnd. „Sie wird heute dreizehn.“ Ihr Lächeln gefiel ihm eindeutig besser als das von Schmerzen gepeinigte Gesicht. „Ein großer Tag. Das Makeup ist sozusagen der Eintritt ins Leben einer jungen Erwachsenen, nicht? Meine Schwestern haben damals jede Menge Make up bekommen. Dann haben sie sich stundenlang im Badezimmer eingeschlossen und sich geweigert, es wieder zu verlassen.“ „Sie Ärmster“, meinte Winnie bedauernd und lachte leise. „Ja, ich glaube, es ist Tradition, einem Mädchen zum dreizehnten Geburtstag Makeup zu schenken. Damals habe ich von meiner Mom den ersten Lippenstift bekommen. Leider muss Jenny nun doch noch darauf warten.“ „Die anderen Mädchen bei der Geburtstagsfeier werden ihr bestimmt auch Make up schenken, nicht wahr?“ vermutete er tröstend. „Meine Schwestern haben damals jedenfalls genug Lippenstift fürs ganze Leben bekommen.“ „Ja, schon, aber Jenny und ihr Vater leben draußen in der Tundra, weit draußen“, erklärte sie. „Es gibt da keine Straßen, und das nächste Haus ist ungefähr sechzig Kilometer entfernt. Ich wäre der einzige Gast gewesen, und mich haben sie auch nur eingeladen, weil ich ein Flugzeug habe.“ „Bekommt Jenny denn nichts von ihrer Mutter? Dann geht die Tradition nicht ganz verloren.“ Er reichte ihr wieder die Hand, damit sie sich festhalten konnte. „Jennys Mutter ist vor drei Jahren an Krebs gestorben.“ Auch das noch! Irgendwie musste er das alles wieder gutmachen. „Ich sage
Ihnen etwas. Wenn jemand in der Hütte ist, sorge ich dafür, dass Sie noch heute
Abend nach Hause gebracht werden. Dann lassen Sie sich von einem Arzt
untersuchen und schlafen sich gut aus. Morgen chartere ich eine andere von
Henrys Maschinen, und wir fliegen zu Jenny und bringen ihr das Geschenk.
Einverstanden?“
Winnie lächelte zwar, schüttelte jedoch den Kopf. „Das geht nicht. Das wäre viel
zu teuer, und Sie können schließlich nichts dafür.“
„Ich will es aber so. Kommen Sie schon! Sagen Sie ja!“
„Also gut, einverstanden“, lenkte sie ein und lächelte strahlend.
„Gut“, meinte er zufrieden. „Und jetzt nehmen wir das letzte Stück in Angriff.“
Er half Winnie beim Aufstieg und hoffte inständig, dass jemand in der Hütte war,
die er jetzt endlich direkt vor sich sah. Sie befand sich nur noch ungefähr dreißig
Meter unterhalb von ihnen, doch in der Nähe war kein Wagen zu sehen. Es war
auch nichts zu hören, und drinnen brannte kein Licht. Die Fensterläden waren
geschlossen und dienten wohl als Schutz gegen Mensch und Tier.
„Da ist keiner!“ rief Winnie enttäuscht.
„Geben Sie nicht sofort auf“, bat er. „Vielleicht kommt später jemand zurück.
Sehen wir nach.“
Er führte sie den Hang hinunter. Vielleicht war die Hütte wenigstens für
Wochenenden gedacht und nicht bloß für die Jagd. Bei einer Wochenendhütte
konnten sie auf schnelle Hilfe hoffen. Eine Jagdhütte wurde im Jahr nur wenige
Male benutzt.
Sobald sie die Wiese erreichten, auf der die Hütte stand, lief Rand los, sprang auf
die Veranda hinauf und drückte gegen die roh gezimmerte Tür. Sie war
verschlossen. Durch die Fensterläden konnte er auch nichts sehen. Die
Glasscheiben waren von einer dicken Schmutzschicht bedeckt.
Die Hintertür war ebenfalls verschlossen, doch Rand trat sie einfach ein. Winnie
stieß einen überraschten Schrei aus, kam jedoch näher und warf einen Blick in
die Hütte. Es gab einen kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen, Küchenschränke,
eine Arbeitstheke mit einer Spüle und ein Doppelbett, das mit einem weißen
Laken bedeckt war. Überall lag Staub, und es roch nach Moder und Mäusekot.
Hier schien seit Jahren niemand mehr gewesen zu sein. Die Hoffnung auf eine
schnelle Rettung mussten sie begraben.
„Tut mir Leid“, sagte Rand und lehnte sich seufzend an den Türrahmen.
Winnie seufzte auch, lächelte jedoch tapfer. „Macht nichts. Unsere Wünsche
haben sich zwar nicht erfüllt, aber wir haben wenigstens ein Dach über dem
Kopf, und heute Nacht wird uns kein Bär fressen.“ Leise lachend fügte sie hinzu:
„Zumindest, wenn es uns gelingt, die Tür wieder zu befestigen.“
Rand erwiderte ihr Lächeln und fühlte sich in ihrer Nähe wohler, als es ihm
eigentlich zustand.
4. KAPITEL Am nächsten Morgen lehnte Rand am Stamm einer mächtigen Tanne in der Nähe der Hütte und genoss die großartige Landschaft von Alaska. Er war schon eine ganze Weile hier draußen. Drinnen hatte er Winnie beim Schlafen beobachtet und sich danach gesehnt, sich zu ihr ins Bett zu legen. Es war die reinste Qual gewesen. Darum war er bereits vor Sonnenaufgang ins Freie gegangen. In der frischen Morgenluft fröstelte er zwar, doch das störte ihn nicht weiter. Hier war es so schön, dass er die Kälte gern in Kauf nahm. Dieser Einsatz ging ihm ganz besonders gegen den Strich, weil Winnie dabei zu Schaden gekommen war. Ausnahmsweise beklagte er sich jedoch nicht über die Umgebung, in der er arbeitete. Im frühen Licht der Sonne schimmerten rings um ihn herum die schneebedeckten Berggipfel, und die Wiesen mit den unzähligen Blumen vor der Hütte leuchteten. Er atmete die klare Bergluft tief ein und betrachtete die hellblauen Blumen, die in der Mitte der Lichtung wuchsen. Diese mochte er am liebsten. Die gelben und weißen Blumen wirkten hell und fröhlich, doch das sanfte Blau hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Friedlich. Das Wort fiel ihm immer wieder ein, weil er selten im Leben Frieden gefunden hatte. Fand Rand ihn dann doch mal, genoss er ihn ganz besonders. Hinter ihm quietschten die rostigen Angeln der Hüttentür. Als er sich umdrehte, sah er, wie Winnie ins Freie trat. „Wie geht es Ihnen?“ Alberne Frage! Sie sah schlimm aus. Sie hatte Schmerzen, das erkannte man schon an ihrem Blick, und sie ließ die Schultern hängen. Doch sie rang sich zu einem Lächeln durch. „So, als wäre ich gestern mit einem Flugzeug in den Wald gekracht. Der Kopf tut mir weh. Der ganze Körper tut mir weh. Der Arm tut mir weh. Ich spüre jeden Herzschlag in der Wunde. Wie sieht es bei Ihnen aus?“ „Ausgezeichnet.“ Er deutete auf den Arm. „Brennt die Wunde? Wir müssen darauf achten, ob es eine Infektion gibt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nur der normale Schmerz, und so ausgezeichnet kann es Ihnen auch nicht gehen. Niemand fühlt sich nach einer Notlandung ausgezeichnet. Bestimmt haben Sie Prellungen. Spielen Sie also nicht den Macho, und sagen Sie mir lieber, wie Sie sich wirklich fühlen.“ Ihrer Reaktion verstärkte sein schlechtes Gewissen, weil sie sich um ihn keine Sorgen machen sollte. Er hatte sie schließlich in diese Lage gebracht, und die paar Prellungen, die er sich eingehandelt hatte, waren harmlos im Vergleich zu ihrer Verletzung oder zu den Wunden, die er sich sonst bei seiner Arbeit zuzog. Das konnte er ihr natürlich nicht sagen, und darum lächelte er bloß. „Ich habe einige blaue Flecke, und die Knochen tun mir etwas weh, aber Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Sie sehen allerdings aus, als würden Sie jeden Moment umfallen. Wollen Sie sich nicht setzen?“ „Besser ja.“ Sie ließ sich vorsichtig auf eine Stufe der Veranda sinken und strich sich durch das zerzauste Haar. „Es ist nicht zu verstehen. Eigentlich sollte ich nicht so schwach sein. Ich habe die ganze Nacht und bis in den Morgen hinein geschlafen, jedenfalls dem Sonnenstand nach zu urteilen. Daher sollte ich mich besser fühlen und für einen Gewaltmarsch bereit sein.“ „Es wird ein oder zwei Tage dauern, bis Sie für irgendeinen Marsch bereit sind“, warnte er. „Aber – wieso denn? Gestern, direkt nach der Notlandung habe ich mich nicht so schlecht gefühlt.“ „Da hat auch noch das Adrenalin gewirkt, und das ist ein gewaltiges Mittel, um Schmerzen zu betäuben und Energien zu mobilisieren. Man zahlt dafür allerdings
einen hohen Preis. Die Kopfschmerzen sind ganz typisch nach einem starken Adrenalinschub. Und nach einem Absturz und dem gestrigen Marsch müssen Sie ganz einfach erschöpft sein.“ „Wahrscheinlich haben Sie Recht“, lenkte sie ein. „Trotzdem nervt es.“ „Das kenne ich. Leider haben wir außer dem Aspirin im ErsteHilfeKasten nichts gegen die Schmerzen im Arm. Koffein hilft allerdings gegen Müdigkeit und Kopfschmerzen.“ Er deutete zu dem Lagerfeuer hinüber, das er bereits entzündet hatte. „Möchten Sie Kaffee? In dem Überlebenspaket war welcher drin.“ „Erst muss ich genug Kraft finden, um zur Toilette zu kommen, und im Moment fehlt mir sogar die Energie zum Aufstehen.“ „Ich kann Ihnen helfen, wenn es dringend ist“, bot er lächelnd an. Verlegen schüttelte sie den Kopf. „Tun Sie mir einen Gefallen. Wenn es soweit ist, dass ich es nicht mal mehr selbst auf die Toilette schaffe, erschießen Sie mich bitte. Machen Sie das?“ Lachend setzte er sich neben sie auf die Stufe. „So drastische Maßnahmen werden wohl kaum nötig sein.“ Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, hörten den Vögeln zu und beobachteten zwei Eichhörnchen, die sich um die Ausbeute ihrer Streifzüge stritten. Winnies Wärme vertrieb die innere Kälte, die Rand sonst immer verspürte. Er rückte vorsichtig etwas näher, damit sie sich nicht bedrängt fühlte, aber doch nahe genug, um diese Wärme zu genießen. Vögel sangen, und die Blumen wiegten sich im leichten Lufthauch. Es war geradezu idyllisch, und Rand hätte am liebsten seinen Auftrag vergessen. Wieso konnte er nicht so tun, als wäre er einfach ein Mann, der nach einer Notlandung mit einer schönen Frau für einige Tage im Wald festsaß? Ein Mann, dessen größtes Problem darin bestand, ob er diese Frau küssen sollte oder nicht? Rand lächelte. Sehr gern hätte er sich diesen Wunsch erfüllt, und mit jeder Stunde fiel es ihm schwerer, sich zurückzuhalten. Sie stieß mit der Schulter leicht gegen ihn. „Die ganze Sache tut mir Leid. Ihre Pläne sind dadurch völlig durchkreuzt worden. Hoffentlich dauert es nicht lange. Ich hatte unseren Flug angemeldet. Nachdem wir eine halbe Stunde überfällig waren, sind Suchflugzeuge aufgestiegen. Bestimmt werden wir bald gefunden“, versicherte sie, blickte jedoch besorgt zum Himmel. Es störte ihn nicht, dass sie noch nicht gerettet worden waren. Es würde ihm auch nichts ausmachen, wenn Hilfe erst eintraf, nachdem die blauen Blumen verwelkt waren. Winnie sollte sich jedoch keine Gedanken machen. „Ich komme nirgendwo zu spät, und vorerst haben wir alles, was wir brauchen: Lebensmittel, Wasser und ein Dach über dem Kopf. Wir schaffen das schon.“ „Sicher, aber ich mag es nicht, wenn ich jemandem solche Probleme verursache. Henry ist bestimmt ganz verrückt vor Angst. Sein armes Flugzeug! Aber was ist denn eigentlich mit Ihnen? Waren Sie mit niemandem verabredet? Wird sich Ihretwegen niemand Sorgen machen?“ Aus und vorbei mit der Idylle. Er musste wieder an seinen Beruf denken. „Vergessen Sie es. Ich mache nur Urlaub fern von jeglichem Stress. Zwei Wochen für mich allein haben mich gelockt. Es erwartet also niemand, dass ich mich melde.“ Die Lügen gingen ihm leicht über die Lippen. „Und wie ist das bei Ihnen? Wartet jemand am Telefon auf eine Nachricht vom Rettungsteam? Ihre Eltern?“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben, und mit meinem Vater habe ich keinen Kontakt.“ „Das ist schade.“
„Nein, das ist gut“, wehrte sie ab. Er sah sie fragend an und hoffte auf eine Erklärung. Natürlich wusste er aus der Akte der CIA, dass sie keinen Kontakt zum Vater unterhielt, doch er hätte gern den Grund dafür erfahren. Je mehr er über Winnie wusste, desto leichter konnte er sie in die für ihn richtige Richtung steuern. Traurig und gleichzeitig zornig blickte sie zum Wald hinüber. „Drücken wir es so aus: Sollte mein Dad vor Ihrer Haustür auftauchen, sollten Sie schleunigst Ihr Geld einstecken und die Flucht ergreifen.“ „Ihrer Miene nach zu schließen, ist das absolut kein Scherz.“ „Das ist auch kein Scherz, sondern das Ergebnis von harten Lektionen, die ich gelernt habe.“ „Im Verlauf Ihres Lebens oder in jüngster Zeit?“ Sie lachte trocken. „Man sollte meinen, ich hätte es schon früher begriffen. Schließlich habe ich oft genug beobachtet, wie mein Vater für einige Wochen heimkam und dann regelmäßig mit sämtlichen Ersparnissen meiner Mutter wieder verschwand. Aber Sie wissen ja, dass die Hoffnung nicht so schnell stirbt. Kinder wollen immer glauben, dass der Vater sie liebt.“ „Ihrer liebt Sie nicht?“ „Sie können jede Wette eingehen, dass es nur einen Menschen auf der Welt gibt, den mein Vater jemals wirklich geliebt hat, und das ist er selbst. Jahrelang war ich überzeugt, dass es genügt, wenn ich brav bin, in der Schule gute Noten bekomme und ihn gut behandle, wenn er zu Hause ist, damit er bleibt. Dann war er wieder weg und hatte das Geld mitgenommen. Leider hat das noch nicht ausgereicht, um mich von Männern völlig abzuschrecken zu lassen.“ Es tat ihm weh, sich Winnie als kleines Mädchen vorzustellen, das um die Liebe des Vaters kämpfte und einen Rückschlag nach dem anderen einsteckte. Grundsätzlich wollte er sie nicht auch noch enttäuschen, aber bei seiner Arbeit ging es darum, so viele Informationen wie nur möglich zu sammeln. „Was hat Sie denn dann letztlich abgeschreckt?“ erkundigte er sich. „Das ist eine lange Geschichte“, wehrte sie ab. „Wir haben viel Zeit“, stellte er lächelnd fest. „Ja, allerdings“, bestätigte sie leise lachend. „Also schön, wo fange ich an? Wie gesagt, ich habe früher nicht begriffen, dass mein Vater nicht meinetwegen so lange weg war. Als ich älter wurde, habe ich mir andere Methoden einfallen lassen, um ihn zu halten. Ich habe den Flugschein gemacht, damit wir etwas gemeinsam hätten, ein Band, das ihn besser festhält.“ „Dann ist Ihr Vater vermutlich Pilot?“ Rand wusste natürlich, dass Winnies Vater Kunstflieger war. Bob Smith durfte das jedoch nicht wissen. „Dad hatte eine Chipmunk, ein gutes Flugzeug für Kunstflug. Damit verdiente er bei Flugschauen Geld.“ „Das klingt eigentlich nach einem reinen Vergnügen. War es anstrengend, Pilotin zu werden? Ist Ihr Vater danach tatsächlich länger geblieben?“ Winnie schüttelte den Kopf. „Er hat sich mehr mit mir beschäftigt und über die Fliegerei unterhalten. Das war für mich schon eine gewaltige Verbesserung, wenn schon kein durchschlagender Erfolg. Ich habe mich seinetwegen immer leidenschaftlicher auf die Fliegerei gestürzt und auch mit Kunststücken angefangen, sobald ich dazu in der Lage war. Dann hat mein Vater mir angeboten, ihn zu begleiten.“ „Und? Haben Sie sich ihm angeschlossen?“ Ja, das hatte sie. Es stand in den Unterlagen, dass die Rating Bullets im ersten Jahr sensationelle Erfolge gefeiert hatten. Allerdings hatten sie sich nach zwei Jahren schon wieder getrennt, ohne dass es dafür eine Erklärung gab. Und genau dieser Punkt interessierte Rand.
„Fragen Sie ernsthaft?“ wollte sie wissen. „Vater und Tochter endlich zusammen! Natürlich habe ich die Gelegenheit ergriffen.“ „Da kommt aber vermutlich ein Haken.“ „Bei meinem Vater gibt es immer einen Haken, und es geht stets um Geld und einen Freifahrschein – für ihn. Als Kind habe ich nie begriffen, dass mein Vater so viel herumreisen konnte, weil er keine Arbeit hatte. Ich habe auch nicht verstanden, dass er meiner Mutter Geld stehlen musste, eben weil er keine Arbeit hatte. Mit anderen Worten, ich habe nicht erkannt, dass mein Vater im Grunde ein fauler und verantwortungsloser Mensch ist, der seinen Charme einsetzt, damit andere ihn aushalten.“ Ihr Blick wanderte über die scheinbar endlosen Wälder und die leuchtenden Gipfel. „Als ich mit ihm arbeitete, konnte ich es nicht länger übersehen. Manchmal verschwand er für Tage oder sogar Wochen. Dann musste ich mich um alles kümmern. Er versäumte die Übungsflüge und tauchte bei einer Flugschau auf, bei der wir ein Kunststück vorführen sollten, das wir noch nie gemacht hatten. Es war schwer für mich, alles aus eigener Kraft am Laufen zu erhalten. Zuverlässig hat er nur jeweils den Scheck abgeholt. Da war er zur Stelle. Aber war er da, wenn anfangs des Monats die Rechnungen fällig waren? Nein, natürlich nicht.“ Winnie verzog geringschätzig den schönen Mund. „Immer wieder musste ich zusätzliche Arbeit annehmen, um die Rechnungen bezahlen zu können und damit die Bank unsere Maschinen nicht pfändete. Hätte ich bloß nichts unternommen!“ Rand stellte die entscheidende Frage. „Und aus welchen Gründen ist das Team letztlich zerbrochen?“ „Aus den üblichen Gründen. Dad hat hinter einem Zaun grüneres Gras entdeckt und ist verschwunden. Und ich saß da mit den Rechnungen und den Pfändungsbeschlüssen von der Bank. Da wurde mir endlich klar, dass es für mein Gefühlsleben und für mein Konto gesünder ist, meinem Vater aus dem Weg zu gehen. Seither habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen, und ich habe es auch nicht vor.“ Das war zwar traurig, aber eindeutig die richtige Entscheidung. „Daddy haben wir also abgehakt, aber was ist mit den Flugschauen? Treten Sie da noch an, oder mussten Sie die Maschinen verkaufen?“ Auch darüber konnte Bob Smith nicht informiert sein. „Es wäre am einfachsten gewesen, die Maschinen der Bank zu überlassen, aber ich wollte den Kunstflug nicht aufgeben. Ich trete gern auf. Also habe ich ein Flugzeug der Bank gegeben. Das andere habe ich umbenannt und bin bei Flugschauen solo aufgetreten. Ich habe hart gearbeitet, um alles abzuzahlen.“ „Sie treten nicht mehr ständig bei Schauen auf?“ erkundigte er sich. „Man verdient damit hart sein Geld, und dieses Leben ist auch sehr anstrengend. Außerdem tauchte ein Mann auf, und ich habe geheiratet. Beruf lieh, musste er viel reisen. Darum wollte ich lieber in der Nähe unseres Wohnsitzes arbeiten. Dann war ich wenigstens da, wenn er nach Hause kam. Hat aber auch nicht geholfen“, fügte sie bitter hinzu. „Das klingt, als wäre Ihre Ehe nicht viel besser als die Beziehung zu Ihrem Vater verlaufen“, stellte er fest und war froh, dass sie endlich bei dem Thema angelangt waren, das ihn am meisten interessierte. Zwar war er überzeugt, dass Winnie nichts mit Tuckers Verbrechen zu tun hatte, aber er wusste nicht, wie Tucker aus ihrem Leben verschwunden war. Er wusste nicht, ob sie ihn nach der Tat noch mal gesehen hatte oder ob er einfach verschwunden war. Möglicherweise hatte sie einen Tipp, der zu Tuckers
Aufenthaltsort führte. „Es war so ziemlich das Gleiche“, bestätigte sie. „Genau wie Daddy, hat auch Tucker hinter dem Zaun grüneres Gras entdeckt. Bei ihm ging es allerdings weniger um Gras, sondern mehr um eine hübsche Stute.“ Eine andere Frau? Das war interessant. „Kannten Sie die Geliebte?“ „Nein, zum Glück nicht. Ich habe sie nie gesehen, und er hat ihren Namen nie erwähnt. Er kam nur vor einigen Monaten nach Hause, erklärte, er hätte eine andere Frau gefunden, packte seine Sachen und verschwand.“ Das war der kritische Punkt. Vielleicht hatte Tucker wenigstens angedeutet, wohin er mit seiner neuen Freundin wollte. Rand kam jedoch nicht dazu, noch eine Frage zu stellen. Winnie stand auf. „Jetzt schaffe ich den Gang“, erklärte sie und verschwand hinter der Hütte. Ausgerechnet in dem Moment, in dem es für ihn gut lief! „Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um den Kaffee.“ Vielleicht entlockte er ihr beim Frühstück noch einige Einzelheiten. „Danke.“ Lächelnd drehte sie sich kurz noch mal um. „Ich möchte mich bei Ihnen auch dafür bedanken, dass Sie gestern Abend die Hütte gereinigt und das Bett bezogen haben. Ich war bei der Ankunft schon völlig erledigt, und ich war froh, nicht auf Mäusekot schlafen zu müssen.“ Er winkte bloß ab. „Nicht der Rede wert.“ „Doch“, widersprach sie. „Sie haben sich sehr bemüht, und Sie sind ein richtiger Märchenprinz.“ Von wegen richtiger Märchenprinz! Er hatte sie in diese Lage gebracht, und er belog sie pausenlos. Dabei wollte er sie eigentlich in die Arme nehmen und küssen, bis sie den Kummer durch ihren Vater und den Schmerz durch ihren Exmann vergaß. Und er wollte sie küssen, bis er sich nicht mehr einsam fühlte. Er selbst war offensichtlich noch schlimmer als ihr Vater und der gute Tucker zusammen.
5. KAPITEL Am nächsten Nachmittag beschnitt Winnie die Stiele der Blumen, die sie vor der Hütte gepflückt hatte. Bisher hatte sich kein Suchflugzeug gezeigt. Nicht mal in der Ferne hatte sie das Brummen eines Motors gehört. Die Lage war alles andere als gut. Der arme Henry sorgte sich bestimmt halb zu Tode und überlegte, was mit ihr wohl passiert wäre. Hoffentlich wurden sie bald gefunden. Dann musste sie sich allerdings mit den Folgen der Bruchlandung auseinander setzen, und die waren alles andere als erfreulich. Trotzdem wollte sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Winnie schob die düsteren Gedanken beiseite und steckte die Blumen in ein Wasserglas. Der Tisch war gedeckt und sah sogar recht gut aus. Die blau emaillierten Teller und Tassen, die sie in der Hütte gefunden hatten, waren zwar alles andere als elegant, doch zusammen mit den blauen Blumen wirkte alles rustikal, aber gemütlich. Lächelnd trat sie an den Herd, auf dem das Mittagessen in einem Eisentopf schmorte. Das alles hatte sie vorbereitet, um Smith eine Freude zu machen. Trotz des Kaffees hatte sie den Großteil des vorhergehenden Tages verschlafen, während Smith sich um das Feuer kümmerte, Essen machte und Wache gegen Bären hielt. Lächelnd nahm sie mit Hilfe eines Topflappens den Kochtopf vom Herd. Smith hatte klar und deutlich gesagt, dass seiner Meinung nach diese „Bärenwache“ völlig überflüssig war, aber er hatte trotzdem mit dem Gewehr seine Pflicht erfüllt. Das tat er nur, damit sie sich sicher fühlte, und zum Dank hatte sie das Essen hübsch vorbereitet. Bei einem Blick in den Topf seufzte sie. Der Eintopf bestand aus Trockennahrung, die sie im Überlebenspaket gefunden hatte, und fiel bestimmt nicht unter den Begriff „hübsch“. Trotzdem ging sie mit dem Topf in der Hand zur Hüttentür. Smith saß auf den Stufen der Veranda und blickte über die Lichtung hinweg. Am Vortag war Winnie nur selten wach gewesen, doch jedes Mal hatte sie ihn hier gefunden. Er saß gern auf der Veranda oder lehnte an einem Baumstamm und betrachtete die Landschaft. Sein Gesicht konnte sie im Moment zwar nicht sehen, aber es drückte bestimmt wie schon zuvor Zufriedenheit und noch etwas anderes aus, was sie nicht genau einordnen konnte. Vielleicht war es Sehnsucht. Trotzdem musste sie ihn stören. Heiß war der Eintopf scheußlich, kalt jedoch ungenießbar. „Das Essen ist fertig.“ Er drehte sich um und musterte sie eingehend, ob sie sich auch nicht überanstrengt hatte. „Hören Sie damit auf“, verlangte sie. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es mir gut geht.“ „Das haben Sie gesagt“, bestätigte er lächelnd. „Ich möchte nur nicht, dass Sie sich zu etwas zwingen, wenn Sie nicht kräftig genug sind. Das Essen hätte auch ich machen können.“ „Das weiß ich. Schließlich haben Sie gestern gekocht, und das war auch nicht schlecht. Jetzt bin ich aber an der Reihe.“ „Nichts dagegen einzuwenden.“ Vergeblich bemühte sie sich, nicht auf seine breiten Schultern oder das Muskelspiel zu achten, als er aufstand. Mit kraftvollen, fließenden Bewegungen kam er näher, und als er an ihr vorbeiging, löste er in ihr Empfindungen aus, die sie überhaupt nicht haben wollte. Es wäre natürlich viel leichter gewesen, ihn zu ignorieren, wäre er nicht so nett gewesen. Und das war er wirklich. Keine gute Ausgangssituation für eine Frau, die ein unabhängiges Leben aufbaute.
Vorsichtshalber wich sie ein Stück zurück, während er zum Tisch ging. Plötzlich
blieb er überrascht stehen.
„Das sieht hübsch aus“, stellte er fest. „Richtiges Geschirr und sogar Blumen. Sie
haben sich viel Mühe gegeben.“
Sie erwiderte sein Lächeln und deutete auf den Tisch. „Ich habe gemerkt, wie gut
Ihnen diese Blumen gefallen. Als wir heute Morgen das SOS ins Gras getreten
haben, waren Sie sehr darauf bedacht, dass sich die blauen Blumen in der Mitte
des O befinden. Darum habe ich welche als Tischdekoration gepflückt.“
„Sie gefallen mir wirklich, und sie verschönern die Hütte“, erwiderte er und
setzte sich.
Nachdem sie die Teller gefüllt hatte, stellte sie den Topf wieder auf den Herd.
„Finde ich auch, aber ich mag Blumen überhaupt. Als ich im Frühling in meine
Hütte gezogen bin, habe ich Samen für Wiesenblumen gekauft und im Vorgarten
ausgestreut. Es sind tatsächlich viele aufgegangen, und vor zwei Wochen haben
sie sogar zu blühen begonnen. Es ist wunderbar, wie es täglich mehr werden.“
„Klingt nett“, stellte er fest.
„Das ist es auch.“ Sie kostete, aber das Essen schmeckte so gut wie nach nichts.
Hoffentlich wurde das wenigstens durch den gedeckten Tisch ausgeglichen.
Smith begann, sichtlich begeistert zu essen. Winnie war überzeugt, dass seine
Freude abnahm, wenn er merkte, was er da aß, doch ihm schien es nichts
auszumachen.
„Sie müssen Junggeselle sein“, urteilte sie schließlich erstaunt.
„Wie kommen Sie darauf?“ fragte er und blickte kurz vom Teller hoch.
„Weil Sie dieses Zeug essen, als würde es nach mehr als puren Kalorien
schmecken.“
„Es schmeckt gut.“
„Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief sie aus.
„Doch, es ist gut“, beteuerte er. „Außerdem würde ich es auch gern essen, würde
es nicht gut schmecken. Sie haben sich schließlich viel Mühe gemacht. Sie haben
gekocht, die Blumen gepflückt und den Tisch gedeckt. Das muss ich einfach
genießen.“
Schlagartig fühlte sie sich viel besser und hätte liebend gern die harte
Wirklichkeit vergessen. In diesem Moment verspürte sie jene wohligen Schauer,
durch die eine Frau bei einem Mann wie Smith in ernsthafte Schwierigkeiten
geraten konnte.
„Das sollten Sie nicht machen“, stellte sie seufzend fest.
„Was?“
„Ständig so nett sein.“
„Ich bin doch nur höflich. Wenn sich jemand für einen Mühe gibt, muss man das
schätzen.“
„Das trifft bestimmt nicht auf jeden zu“, wehrte sie ab.
„Das bezieht sich vermutlich wieder auf Ihren Exmann“, stellte er fest.
Wenn es ein wirksames Mittel gegen die wohligen Schauer gab, war es ein
Gespräch über Tucker. „Stimmt. Wie oft habe ich den ganzen Tag ein besonderes
Essen für ihn vorbereitet, und der Mistkerl hat es nicht mal zur Kenntnis
genommen. Oder er sagte, ich könnte am nächsten Tag ein Steak machen, als
hätte ich mich nicht stundenlang bemüht, sondern einen fertigen Hamburger
gekauft.“
Rand zuckte mit den faszinierend breiten Schultern. „Warum haben Sie es denn
gemacht, wenn er dermaßen undankbar war? Warum haben Sie für ihn nicht
fertige Hamburger besorgt?“
„Keine Ahnung“, gestand sie. „Wahrscheinlich wollte ich mir nicht eingestehen,
dass er meine Anstrengungen nicht zu schätzen wusste. Außerdem sollte er es
schön haben, wenn er zu Hause war.“
„Ach ja, Sie haben die vielen Reisen erwähnt. Was hat er denn gemacht?“
Sie zwang sich, einen Bissen von dem unmöglichen Eintopf zu essen. „Er
arbeitete für die CIA.“
„Wie interessant.“
„Das hätte es sein können, hätte er mir etwas erzählt. Das war aber alles streng
geheim. Ich habe nie etwas erfahren.“
„Wirklich nicht?“ fragte Smith enttäuscht. „Wir könnten uns sonst die Zeit mit
einigen guten Spionageschichten vertreiben.“
Winnie musste lachen. „Tut mir Leid, geht nicht. Tucker war verschwiegen. Ich
habe nie gewusst, wohin er fährt, was er macht oder wann er wieder nach Hause
kommt.“
„Wahrscheinlich war das wirklich streng geheim“, meinte Smith. „Und es war
auch für Sie besser, dass Sie nichts wussten.“
„Das dachte ich, aber jetzt bin ich nicht mehr überzeugt“, erwiderte sie.
„Natürlich gab es geheime Informationen, aber er hätte mir nicht verschweigen
müssen, wann er zurückkommt. Ich glaube eher, er hat mich nicht informiert,
damit er völlig ungebunden ist. Ich wusste ja nie, wann sein Einsatz beendet
war. Also hatte er so viel Zeit für sich, wie er wollte.“
Smith betrachtete sie eingehend. „Kann schon sein, aber wenn Sie mich fragen,
ist an der Trennung am schlimmsten, dass Ihr Mann nicht schon vor Jahren
gegangen ist. Er hat nichts getaugt. Er hat sein Leben nicht mit Ihnen geteilt, hat
nicht zur Kenntnis genommen, welche Mühe Sie sich für ihn gegeben haben, und
zum Schluss ist er mit einer anderen Frau verschwunden. Sie können froh sein,
dass Sie ihn los sind.“
Das stimmte zwar, doch sie hatte Tucker geliebt. Sie hatte sich auf den Tag
gefreut, an dem er den Dienst quittieren würde, damit sie endlich für immer
zusammen sein konnten. Das Platzen dieses Traums hatte eine große Leere in ihr
hinterlassen und sie in dem Glauben bestärkt, dass sie die Liebe eines Mannes
nicht halten konnte.
Doch Tucker war fort, und Winnie schob die melancholische Stimmung von sich.
Vier Jahre ihres Lebens hatte sie ihm geopfert, und das reichte. Vor allem galt
das jetzt, da ihr ein faszinierender Mann gegenübersaß. „Also, Mr. Smith, wir
haben uns nun ausreichend über mein langweiliges Leben unterhalten. Jetzt sind
Sie an der Reihe. Erzählen Sie mir etwas über sich.“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, wehrte er ab.
„Aha, auch noch bescheiden“, stellte sie scherzhaft fest. „Das hilft aber nur wenig
bei einem Tischgespräch. Erzählen Sie mir, was Sie beruflich machen.“
Er zögerte nur einen Moment, ehe er wieder mit den Schultern zuckte. „Ich bin
selbstständiger Fotograf.“
„Das klingt interessant. Was war denn Ihr letzter Auftrag? Etwas Anrüchiges?
Oder hatten Sie mit den Reichen und Berühmten dieser Welt zu tun?“
„Es war weder aufregend noch interessant“, entgegnete er lächelnd.
„Was dann?“
„Aufnahmen von Flora und Fauna im Urwald von Kolumbien.“
„Gut, das mag nicht aufregend sein“, stellte sie fest, „aber es hört sich
interessant und exotisch an. Urwald mit Orchideen und gastfreundlichen
Einheimischen. Sehr schön.“
Er schüttelte jedoch den Kopf. „In Filmen wirken diese Wälder toll, aber es ist
schwül, und überall trifft man auf Insekten, die einen stechen und beißen. Und
was die Einheimischen angeht, schleppen viele von ihnen Maschinenpistolen mit
sich herum und suchen nach lohnenden Zielen.“ Sie hatte völlig vergessen, dass ein Großteil der Wirtschaft Kolumbiens vom Drogenhandel bestimmt wurde und dass das politische Klima alles andere als angenehm war. „Also doch kein Spaß?“ „Absolut nicht“, bestätigte er. „Dann suchen wir uns ein angenehmeres Thema. Wo wohnen Sie?“ „Mal hier und mal da. Man weiß schließlich nie, wo man die nächste lohnende Gelegenheit findet. Könnten wir uns nicht über etwas Interessanteres als mich unterhalten?“ Für Winnie war er das interessanteste Thema, aber vielleicht sollte sie genau deshalb einen anderen Punkt ansprechen. „Glauben Sie, unsere Zeichen werden von Rettungstrupps bemerkt?“ „Bestimmt. Der Rauch des Feuers neben dem SOSZeichen fällt sicher auf, wenn ein Suchflugzeug dieses Gebiet überfliegt.“ „Aber wenn keines herkommt?“ fragte sie ängstlich. „Winnie, man wird uns finden“, versicherte er. „Sie haben Recht, aber die Leute sollen sich beeilen, damit Henry erfährt, dass wir noch leben. Er ist schließlich der Einzige, der sich um uns sorgt.“ Smith griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Fürchten Sie Henrys Reaktion auf den Verlust der Maschine?“ Sie nickte und genoss die Kraft und das Verständnis, die aus seinen Worten sprachen. „Auf mich hat Henry einen vernünftigen Eindruck gemacht. Er wird einsehen, dass Sie Ihr Bestes getan haben, als die Maschine brannte. Von mir wird er jedenfalls hören, dass Sie uns beiden das Leben gerettet haben.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihr Vater war so gut wie nie da gewesen. Ihre Mutter war in ihrem eigenen Kummer fast umgekommen. Ihr Mann hatte ständig versucht, die Welt zu retten. Also war bisher alles an ihr hängen geblieben. Smith gab ihr jedoch das Gefühl, endlich einen Verbündeten und Freund zu haben, und das war völlig neu für sie. „Danke“, erwiderte sie und drückte seine Hand. „Schon gut. Ich möchte heute Nachmittag Holz sammeln für den Fall, dass wir länger auf die Retter warten müssen. Sollten wir morgen noch hier sein, gönnen wir uns etwas Vergnügen. Auf einer Bärenstreife habe ich einen Fluss in der Nähe entdeckt. Wir gehen angeln“, schlug er vor und strahlte dabei wie ein Zehnjähriger, der die Schule schwänzen wollte. Angeln? Mit scharfen Haken, stinkenden Ködern und glitschigen Fischen? Eigentlich hätte sie angewidert ablehnen sollen, doch wegen Bob Smith freute sie sich schon auf das Unternehmen. Und genau deshalb sollte sie eigentlich erst recht ablehnen. Trotzdem tat sie es nicht. Seine Hand bot ihr Wärme, und in seinem Blick fand sie ein stummes Versprechen. „Ja, das klingt wirklich gut“, stellte sie fest.
6. KAPITEL Am nächsten Morgen ging Rand voraus und führte Winnie einen Wildpfad
entlang. Sie folgte ihm mit der Angelrute und dem Kasten für Köder, die sie im
Überlebenspaket gefunden hatten.
Rand angelte gern und freute sich vor allem, weil Winnie bei ihm war. Er wollte
sie allerdings zu nichts drängen, das sie vielleicht ablehnte. „Wollen Sie wirklich
mitmachen?“ fragte er und blickte kurz nach hinten.
„Aber natürlich“, versicherte sie. „Außerdem ist das Ihr Urlaub, den Sie eigentlich
im Markham’s Lodge im Naturschutzgebiet verbringen sollten. Dort findet man
angeblich die besten Forellen.“
Er hatte nur so getan, als wollte er ins Naturschutzgebiet, und er hatte auch eine
Angelrute mitgebracht. Natürlich hätte er auch geangelt, aber sehr bald hätte er
wieder bei Henry angerufen und verlangt, an einen anderen Ort gebracht zu
werden.
„Ich sage Ihnen etwas“, meinte er. „Sie versuchen es, und wenn es Ihnen nach
einer Stunde nicht gefällt, hören wir auf.“
„Und ich sage Ihnen etwas“, entgegnete sie. „Wenn es mir nach einer Stunde
nicht gefällt, angeln Sie weiter, und ich gehe zur Hütte zurück.“
„Und was ist mit den Bären?“ fragte er und deutete auf sein Gewehr.
„Gut, ich ändere den Plan“, lenkte sie sofort ein. „Wenn es mir nicht gefällt,
setzte ich mich gemütlich ans Ufer und sehe Ihnen beim Angeln zu.“
„Klingt unbeschreiblich toll“, stellte er trocken fest.
Winnie lachte. „Wenn ich später beim Essen helfen darf, wird es für mich kein
großes Opfer sein.“
„Abgemacht“, sagte er und streckte ihr die Hand hin, die sie begeistert ergriff.
Offenbar mochte sie die Notrationen wirklich nicht.
Hastig ließ er ihre Hand los, die sich sehr warm und weich anfühlte. Schließlich
wollte er nicht daran denken, wie lange er schon mit keiner Frau zusammen
gewesen war, schon gar nicht mit einer, die so schön, reizvoll und unschuldig wie
Winnie war.
„Sie haben wieder Gänsehaut“, bemerkte sie nach einem Blick auf seinen Arm.
„In Alaska ist es Ihnen wohl zu kühl.“
„Der Unterschied zu Kolumbien ist beträchtlich.“ Wenn er sich als Fotoreporter
ausgab, brauchte er wenigstens nicht zu schwindeln, was die Orte anging, an
denen er sich aufgehalten hatte.
„Sie hätten sich eine Decke umhängen sollen. Dann würden Sie nicht frieren.“
„Das macht mir nichts aus“, erklärte er, „weil es mich wenigstens daran erinnert,
dass ich nicht mehr im Urwald bin.“
Sie hörten schon das Plätschern des Flusses, den sie kurz darauf erreichten.
Winnie blieb stehen und sah sich an dem breiten Ufer um, auf dem Gras wuchs.
„Sehr hübsch.“
Auch hier wirkte alles friedlich und idyllisch. Ein menschenleerer Wald, ein
plätschernder Fluss, eine schöne Frau und eine Angelrute. Was wünschte er sich
noch mehr?
Rand lehnte das Gewehr an einen Baum und nahm Winnie die Rute ab. „Also,
fangen wir an“, sagte er und betrachtete die teleskopartig ausziehbare Rute, die
aus dem Überlebenspaket stammte. „Das ist das albernste Ding, das ich je
gesehen habe.“
„Beschweren Sie sich nicht. Ohne dieses Ding müssten wir eine Schnur an einen
langen Ast binden und einen Haken basteln.“
„Auch wieder richtig“, gab er lachend zu. „Gut, ich bin von dem Überlebenspaket
beeindruckt, das die Bundesluftfahrtbehörde vorschreibt. Decken, Essen, Wasser,
ein Zelt und Werkzeug, sogar eine Waffe, eine Angelrute und ein Netz.
Erstaunlich.“
„Nicht wahr?“ meinte sie lächelnd. „Leider kommt es in Alaska häufig zu
Notlandungen. Manchmal dauert es Wochen, bis die Leute gerettet werden.
Darum ist diese Vorsorgemaßnahme nötig.“
„Und ich bin auch sehr dankbar.“ Er griff zum Haken. „Nun kommt der Köder.“
„Hoffentlich kein Wurm.“
„Was haben Frauen nur gegen Würmer?“ fragte er amüsiert.
„Abgesehen davon, dass sie schleimig, schmutzig und eklig sind?“
„Die Fische finden sie saftig, würzig und sehr lecker.“ Er deutete auf den Kasten,
den sie noch in der Hand hielt. „Wir nehmen heute aber einen anderen Köder.
Fischlaich.“
Sie öffnete den Kasten und reichte ihm einen Behälter mit hellrotem Inhalt. „Sehr
hübsch.“
„Vielleicht machen wir aus Ihnen noch eine begeisterte Anglerin.“ Rand steckte
einen Köder an den Haken und trat ans Ufer. „Jetzt zeige ich Ihnen, wie man
auswirft, und dann gebe ich Ihnen die Angel.“ Als sie sich neben ihn stellte,
berührten sie sich an den Schultern. Zusätzlich zu der vertrauten Tätigkeit und
der schönen Umgebung genoss er auch Winnies Nähe. Er erklärte ihr genau, was
sie machen sollte, und warf die Angel aus. „Sie lassen den Haken so weit wie
möglich am anderen Ufer schwimmen“, fügte er hinzu.
„Und warum nicht in der Mitte? So weit schaffe ich es doch gar nicht.“
„Das lernen Sie schon“, versicherte er. „Sehen Sie, wie der Schwimmer durch die
Strömung auf unsere Seite kommt? Bald ist er wieder bei uns, und dann holen
Sie ein, damit sich der Haken nicht an einem Hindernis verfängt.“
Sie wischte sich die Hände an der Jeans ab und griff nach der Angel. „Warum
gehen Sie nicht ein Stück weg?“ drängte sie.
„Ich bleibe hier.“ Er wollte bei ihr sein, so nahe wie möglich.
„Ich habe aber Angst, dass ich Sie mit dem Haken erwischen könnte. Für das
Weltgeschehen wäre das vermutlich nicht weiter schlimm, für Sie aber
schmerzhaft.“
Lachend ging er nun doch ein Stück weg, damit sie keine Angst um ihn zu haben
brauchte. „Also los!“
Sie konzentrierte sich und schaffte es immerhin, den Haken bis in die Mitte des
schmalen Flusses zu schleudern. „Geschafft“, stellte sie begeistert fest.
„Sehr gut“, lobte er und freute sich über ihr Lächeln. Es erinnerte ihn an seine
Anfänge in diesem Sport. Sein Vater und sein Großvater hatten ihm das Angeln
beigebracht und ihm alte Geschichten erzählt und Tipps gegeben, während sie
bis zu den Hüften im Wasser standen oder am Lagerfeuer die Ausbeute des
Tages aßen. Das war die beste Zeit seines Lebens gewesen.
Nach den vergeblichen Versuchen, wieder ein normales Leben zu führen, hatte er
eingesehen, dass er nie eine eigene Familie haben würde. Und er hatte sich
gefragt, ob er jemals mit jemandem die Leidenschaft fürs Angeln teilen würde.
Jetzt war eine solche Situation eingetreten, und an diesen Tag würde er sich
immer erinnern.
Winnie versuchte es gleich noch ein weiteres Mal und kam nun schon über die
Mitte des Flusses hinaus.
Rand erinnerte sich an seine Kindheit. Mit sieben war er das erste Mal mit seinem
Vater Angeln gegangen, und sein Vater hatte ihn für jeden Erfolg gelobt. Jetzt
lächelte er Winnie zu. „Gutgemacht.“
Beim dritten Versuch klappte es noch besser, und sie wandte sich an ihn. „Ich
weiß gar nicht, was Sie gegen diese Angel haben. Sie ist doch großartig.“
Er tat entsetzt. „Das ist eine Beleidigung! Sie halten den müden Abklatsch einer
richtigen Angel in den Händen. Ein wahrer Angler wählt seine Angel mit der
gleichen Sorgfalt aus, mit der er sich eine Frau sucht. Sie muss gut aussehen,
sich richtig anfühlen und perfekt reagieren, wenn er sie in seinen Händen hält.
Das Ding da erfüllt nur die Mindestanforderungen, vergleichbar mit einem Quickie
in einem Hausflur. Damit klappt es zwar, aber von Schönheit, Romantik,
Gefühlen oder gar seelischer Tiefe kann keine Rede sein.“
Zuerst sah sie ihn verblüfft an, und dann lachte sie schallend. „Zu der Erklärung
können Sie von mir keine Antwort erwarten!“
Er schüttelte vergnügt den Kopf. „Was soll ich schon sagen? Einem Mann
bedeuten seine Angel und die Frauen in seinem Leben gleich viel.“
„Gut, es reicht“, erwiderte sie amüsiert. „Jetzt erklären Sie mir, woher ich weiß,
ob ein Fisch angebissen hat.“
„Sie werden nie einen fangen, wenn Sie alle fünf Sekunden neu auswerfen. Der
Fisch muss den Köder schließlich sehen, bevor er anbeißt.“
„Aber das Auswerfen macht doch Spaß“, wandte sie ein.
„Schön, gönnen Sie sich den Spaß, und vielleicht fangen Sie auch etwas, weil
gerade ein Fisch mit offenem Maul vorbeischwimmt und Sie ihn mit dem Haken
treffen. So könnte es klappen.“
„Da spricht der Fachmann“, stellte sie fest und warf erneut begeistert aus.
Lachend sah Rand zu. Jetzt wäre es einfach gewesen, Winnie Informationen zu
entlocken, weil sie sich ganz auf ihre Tätigkeit konzentrierte. Sie hätte
wahrscheinlich nicht mal gemerkt, was sie sagte. Doch er wollte diesen Moment
nicht verderben, indem er seinen Beruf ins Spiel brachte und sie belog.
Nach der Rettung blieb noch genug Zeit, um mit ihr sein doppeltes Spiel zu
spielen. Hier war das unmöglich. Dafür unterhielt sie sich zu gut, und das Gleiche
galt auch für ihn.
Er wäre gern zu ihr gegangen, um sie in die Arme zu nehmen und sie im weichen
Gras zu lieben, während die Sonne ihre nackten Körper wärmte. Doch das kam
nicht infrage. Er gönnte sich nur dieses harmlose und unbeschwerte Vergnügen,
aber sonst nichts.
Auch diese Entscheidung war nicht sonderlich klug. In seinem Beruf büßte jeder
Agent für einen Verstoß gegen die Regeln. Und es war ein solcher Verstoß, wenn
man sich mit der Zielperson auf etwas einließ. Im Moment war ihm das jedoch
gleichgültig.
Die Sonne schien warm, und Winnie amüsierte sich offenbar. Genau das brauchte
er, um sich wie ein normaler Mensch zu fühlen, sei es auch nur für eine Woche,
einen Tag oder gar nur für eine Minute.
7. KAPITEL Am nächsten Nachmittag saß Winnie beim Essen neben Smith auf der Veranda. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Luft war warm, und Winnie war in bester Stimmung, obwohl sie noch immer nicht gerettet worden waren. Es machte ihr nichts aus, im Gegenteil. Sie genoss es zu angeln! Wer hätte das gedacht? Natürlich hatte das mit dem Mann zu tun, der ihr das Angeln gezeigt hatte und jetzt neben ihr saß. Geduldig hatte er ihr am Fluss zugesehen und sie ermutigt. Er hatte sie zwar auch damit geneckt, dass sie nichts gefangen hatte, aber an diesem Vormittag hatte sich das Blatt gewendet. Vielleicht war tatsächlich ein Fisch mit offenem Maul vorbeigeschwommen. Jedenfalls hatte es einen gewaltigen Ruck gegeben. Den Fisch einzuholen hatte ihr genauso viel Freude gemacht wie der erste Kunstflug. Ihr Vater hätte ihr dabei helfen sollen, aber wie üblich war er nicht erschienen. Er war an einem verlockenden Lächeln hängen geblieben. Darum war Winnie allein aufgestiegen und hatte das Kunststück auch ganz allein gelernt. Es war großartig gewesen, aber leider ein einsames Vergnügen. Heute war Smith jedoch bei ihr am Fluss gewesen und hatte mit ihr um die Wette gestrahlt. Auch jetzt lächelte sie noch, wenn sie beim Essen daran dachte. Dabei gab es keine frische Forelle, sondern gefriergetrockneten Schinken mit Bohnen aus einem Fertigbeutel aus dem Überlebenspaket. Es schmeckte heute nicht besser als am Vortag, doch es störte sie nicht. Sie stieß Smith leicht an. „Sie sind doch nicht böse auf mich, weil ich den Fisch schwimmen ließ, oder?“ „Ich bin nicht derjenige, der sich über dieses Essen hier beschwert hat“, erwiderte er vergnügt. „Ich lasse auch oft einen Fisch schwimmen.“ „Ach ja?“ Eigentlich hatte Winnie nicht erwartet, dass Smith sich einen Fang entgehen ließ. „Ja, wirklich“, versicherte er. „Mir geht es beim Angeln nicht darum, Trophäen zu sammeln. Wichtig sind die Sonnenaufgänge, das Wasser und die Kameradschaft. In dieser viel zu hektischen, überfüllten und manchmal auch viel zu brutalen Welt verschwinden zu viele traditionelle Fähigkeiten.“ „Oh“, meinte sie. „Ich glaube, das habe ich mir jetzt nicht alles gemerkt.“ „Mit der Zeit werden Sie selbst dahinter kommen“, erwiderte er. Das mochte durchaus stimmen, doch im Moment wollte sie mehr über seine Erfahrungen hören. „Verraten Sie mir doch, großer Weiser der Angelkunst, noch mehr über Ihre kostbare Angel. Ein Mann, der wie Sie eine Angel dermaßen wortgewandt mit einer Frau vergleicht, muss selbst ein ganz besonderes Stück besitzen.“ Einen Moment lang verdüsterte sich seine Miene, doch gleich darauf sah er Winnie wieder belustigt an. „Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen über dermaßen persönliche Dinge sprechen sollte.“ „Reden Sie schon“, verlangte sie und stieß ihn mit dem Knie an. „Ich will es hören.“ „Also gut, aber beschweren Sie sich nicht, wenn Sie sich langweilen. Ich könnte die Vorstellung nicht ertragen, dass eine Frau meine Begeisterung nicht teilt.“ Lachend stieß sie ihn erneut mit dem Knie an. „Zurück zur Angelrute! Los, reden Sie endlich!“ Er schob sich erst noch einen Bissen in den Mund und überlegte. „Also, mal sehen, wie ich die gute Bessie am Besten beschreibe. Sie ist…“ „Sie haben Ihrer Angel einen Namen gegeben?“ unterbrach Winnie ihn. „Das war mein Großvater. Ursprünglich hat sie ihm gehört. Er hat sie sich selbst geschenkt, als er Vizepräsident seiner Firma wurde.“
„Bei einem so besonderen Anlass muss es auch eine besondere Angel sein“, vermutete sie. „Die allerbeste Angel“, beteuerte er stolz. „Der Rolls Royce unter den Angeln, ein hexagonaler Bambusstab.“ „Das klingt wirklich exotisch. Hat Ihr Großvater sie Ihnen geschenkt, als er zu alt zum Angeln wurde?“ „Großvater wurde nie zu alt dafür“, berichtete er. „Er lebte mit Großmutter an einem der besten Flüsse für Angler in den Smokies, und er hat bis zu seinem letzten Atemzug geangelt.“ Winnie fand es traurig, dass er einen geliebten Menschen verloren hatte, doch wenigstens hatte der Großvater ihm ein wichtiges Erinnerungsstück hinterlassen. „Sie haben also die Angel von ihm geerbt?“ „Nein, mein Großvater hat sie meinem Vater geschenkt, aber der hatte von meiner Mom zum zehnten Hochzeitstag schon eine ähnliche Angel bekommen. Als ich mit sechzehn alt genug war, um die Angel richtig zu behandeln, hat mein Vater sie mir geschenkt.“ Noch heute lächelte er bei der Erinnerung an jenen Tag. „Ich sehe Großvater noch vor mir, wenn wir zu dritt angelten. Großvater sagte immer, die gute Bessie wäre für ihn aufregender und anmutiger als alle anderen Angeln. Und er hatte Recht“, fügte er versonnen lächelnd hinzu. „Sie können sich glücklich schätzen, Mr. Smith, dass Sie diese Erinnerungen haben“, meinte Winnie wehmütig. Sie hatte stets vergeblich gehofft, ihr Vater würde wenigstens zu ihrem Geburtstag auftauchen. Dabei war es ihr nicht um ein Geschenk gegangen. Er sollte ihr nur gratulieren und mit ihr und ihrer Mutter feiern. „Ja, in dem Punkt hatte ich Glück“, bestätigte er. Doch auch jetzt machte er einen Moment lang ein finsteres Gesicht. Vermutlich hing es damit zusammen, dass sein Großvater gestorben war. Aber sein Vater musste eigentlich noch leben. Woher kam also diese düstere Miene, als wäre das alles für immer vorbei? Plötzlich glaubte sie zu verstehen. „Um Himmels willen! Bessie war im Flugzeug!“ „Nein“, wehrte er eine Spur zu hastig ab. „Belügen Sie mich nicht. Es stimmt doch, oder?“ drängte Winnie. Sie hatte genug davon, immer wieder von Männern belogen zu werden. Er zögerte, nickte dann jedoch. „Ja, es stimmt, aber machen Sie sich deshalb keine Gedanken. So ist eben das Leben.“ Natürlich machte sie sich Gedanken, und sie fühlte sich auch schuldig. Sicher, es war nicht ihre Schuld, dass Kabel zu schmoren begonnen hatten, aber letztlich hatte sie die Bruchlandung hingelegt. Der Appetit war ihr schlagartig vergangen. „Es tut mir schrecklich Leid“, murmelte sie. Er legte den Arm um sie und zog sie tröstend an sich. „Sie sollen sich doch keine Gedanken machen. Sowohl mein Großvater als auch mein Vater würden Ihnen erklären, dass sich in dieser Maschine nur zwei wichtige Dinge befunden haben, und das waren die beiden Menschen. Die haben Sie gerettet, und das zählt.“ „Trotzdem…“ „Nein, nichts trotzdem. Ich sagte doch, so ist das Leben. Denken Sie nicht mehr daran“, verlangte er und drückte sie fester an sich. Sie legte ihm die Hand auf die Brust, schmiegte sich an ihn und versuchte ihrerseits, ihn zu trösten. „Es tut mir trotzdem Leid.“ „Danke“, entgegnete er lächelnd. Jetzt sollte sie sich wieder zurückziehen, aber die Wärme und die Kraft seines Körpers taten ihr gut, und er schob sie ja auch nicht von sich. Nur noch einen Moment, nahm sie sich vor. Einen einzigen Moment.
Der Moment dehnte sich jedoch in die Länge, und die Stimmung veränderte sich. Smith strich ihr über den Rücken und legte ihr dann die Hand an die Taille. Erotik knisterte zwischen ihnen, und als Winnie den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke. Seine Augen wirkten so sinnlich, dass ihr der Atem stockte und sich eine gefährliche Wärme in ihr ausbreitete. Verlangen packte sie. Alles an Smith faszinierte und erregte sie, doch er war ein Mann, und mit Männern wollte sie nichts mehr zu tun haben. Daran änderte sich nichts, nur weil es sich schön anfühlte, von ihm gehalten zu werden. Es fiel ihr jedoch immer schwerer, an ihren Vorsatz zu denken. Er senkte den Blick auf ihren Mund, und tief in ihr setzte ein sehnsüchtiges Ziehen ein. Smith konnte eine Frau alles vergessen lassen und jeden Widerstand brechen, und deshalb musste sie sich zurückhalten und durfte sich nicht küssen lassen. Dabei wünschte sie sich genau das. Sie wollte seine Lippen spüren und sich seinem Kuss hingeben. Langsam beugte er sich zu ihr. Es war klar, was er sich wünschte, und sein Atem strich über ihr Gesicht. Sie sehnte sich nach ihm und wollte fliehen, solange noch Zeit war. Was sollte sie bloß tun? „Ich kann es nicht“, flüsterte sie und schob ihn von sich. Er versuchte nicht, sie festzuhalten, ließ jedoch die Hand an ihrer Taille liegen und sah ihr tief in die Augen. „Natürlich können Sie“, sagte er leise. „Sie brauchen nur die Augen zu schließen und sich schöne Gedanken zu machen. Den Rest übernehme ich.“ Wenn sie nicht sofort etwas unternahm, war sie verloren. Winnie sprang auf und schüttelte den Kopf. „So einfach ist das nicht. Ich fange gerade ein neues Leben an. Haben Sie das schon vergessen?“ Wahrscheinlich hätte sie wesentlich glaubwürdiger gewirkt, wäre sie nicht dermaßen außer Atem gewesen. „Sie haben es erwähnt, ja“, bestätigte er und wandte den Blick keinen Moment von ihr. „Aber was hat das damit zu tun?“ „In diesem neuen Leben kommen keine Männer mehr vor, und das ist der wichtigste Punkt überhaupt“, erklärte sie. Sein Blick blieb sinnlich, obwohl sich sein Gesichtsausdruck verhärtete. „Hat das zufällig etwas mit Ihrem Exmann zu tun?“ erkundigte er sich. „Ja, dieser Mistkerl hat etwas damit zu tun, aber…“ „Winnie, er war doch nur ein Mann von vielen. Sie können nicht sämtliche Männer der Welt verbannen, nur weil einer sich mies verhalten hat.“ Mit geschmeidigen Bewegungen folgte er ihr die Stufen hinunter, als sie die Veranda verließ. Sie wich weiter zurück, um einen sicheren Abstand einzuhalten, und nahm sich vor, nicht nachzugeben. „Mein lieber Exmann war nicht der erste Mann, der mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen und mir nur Tränen und Schulden hinterlassen hat. Mein Vater war noch vor Tucker da.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht Ihr Exmann, Winnie, und ich bin auch nicht Ihr Vater. Außerdem verspreche ich Ihnen nichts weiter als einen Kuss, einen schlichten und ehrlichen Kuss.“ Das kaufte sie ihm nicht ab. „Und wieso werde ich dann den Verdacht nicht los, dass ein Mann, der dermaßen leidenschaftlich von einer Angel schwärmt, nicht schlicht küsst?“ Stellte sie sich seine Küsse vor, dachte sie sofort an nackte Haut und ekstatisches Stöhnen. Sein Lächeln bestärkte sie in ihrer Vermutung. „Und wenn ich verspreche, dass der Kuss kurz und sanft wird? Laufen Sie dann nicht mehr vor mir weg?“ Ihr Lachen klang leicht hysterisch. „Erinnern Sie sich überhaupt daran, wann Sie das letzte Mal kurz und sanft geküsst haben?“
„Nein, aber…“ „Sehen Sie, genau das ist mein Problem. Und darum…“ Winnie stieß gegen einen Baumstamm, und bevor sie ausweichen konnte, stand Smith direkt vor ihr. Sie schluckte heftig. „Das ist keine gute Idee.“ Er beugte sich zu ihr und stützte sich gegen den Stamm. „Die Welt ist kalt und grausam, Winnie. Ein Mann ist ein Glückskind, wenn ihm etwas wirklich Süßes über den Weg läuft, und er ist ein Narr, wenn er es laufen lässt, ohne wenigstens zu kosten. Mehr will ich nicht. Nur ein wenig kosten.“ „Meinen Sie mich?“ flüsterte sie. „Mit süß?“ „Zweifeln Sie daran?“ fragte er leise. Sie wich seinem Blick aus. Es war schon sehr lange her, dass ein Mann sie so bezeichnet hatte. Männer hatten sie nur benutzt, und deshalb hielt sie sich zurück. Dennoch sehnte sie sich nach dem Kuss eines Mannes, der sie süß fand. Das war nicht Tucker, sondern ein Mann mit Gefühlen, der sogar seine Angelrute liebte. Und jetzt sah er sie an, als gäbe es für ihn nichts Begehrenswerteres. Tucker hatte sie nie so angesehen, und schließlich band sie sich ja auch nicht lebenslänglich an diesen Mann. Was konnte ein kurzer Kuss schon schaden? Sie sah Smith in die Augen, und das reichte ihm als Einladung. Seine Lippen berührten ihre – warm und sanft und unbeschreiblich zärtlich. Hitze und Verlangen erfüllten sie. Nie zuvor war sie so geküsst worden, und es fühlte sich herrlich an, als sie ihm die Hände auf die Brust legte und seinem Kuss entgegenkam. Er hielt sich jedoch an sein Versprechen und zog sich wieder zurück, wenn auch nur widerstrebend. Winnie klammerte sich an ihn, weil es noch nicht vorbei sein sollte. Dafür hatte es viel zu schön begonnen. „Du hörst jetzt nicht auf, oder?“ flüsterte sie. „Doch, wenn es bei kurz und sanft bleiben soll“, erwiderte er. Nun war es um ihren Widerstand endgültig geschehen. „Kurz und sanft war schön, aber jetzt will ich wissen, was danach kommt“, flüsterte sie. „Sehr gern“, murmelte er sinnlich und zog sie erneut an sich. Dieses Mal fiel der Kuss nicht sanft aus, sondern wild und leidenschaftlich, und tiefes Verlangen packte sie, als er die Hände über ihren Rücken und ihre Hüften gleiten ließ und ihr mit seinen Lippen heiße Schauer durch den Körper sandte. Er spielte mit ihrer Zunge, bis sie sich an seinen harten Körper presste und seine kraftvollen Muskeln ertastete. Winnie stöhnte leise auf, als sie spürte, wie erregt er war. Immer wieder strich er ihr durchs Haar, wickelte es sich um die Finger und betrachtete es bewundernd. „Schön“, flüsterte er. Winnie hielt den Atem an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals herauf, und sie hätte ihm gern geglaubt, konnte es jedoch nicht. Enttäuscht und verlegen wandte sie sich ab. Er legte ihr die Hand unters Kinn und drehte ihr Gesicht wieder zu sich. „Du glaubst mir nicht?“ „Meine Mutter hat stets gesagt, ich wäre klug und tüchtig“, gestand sie. „Mein Vater hat mich abenteuerlustig und sogar mutig genannt. An guten Tagen hat Tucker mich als ,niedlich’ bezeichnet. Schön bin ich kaum, aber wir beide müssen ehrlich zueinander sein. Du darfst nichts erfinden, nur weil du glaubst, dass ich es hören will oder hören muss.“ Er sah ihr beschwörend in die Augen. „Tut mir Leid, dass deine Eltern dir nicht gesagt haben, wie schön du bist. Und was deinen Exmann angeht, waren wir uns bereits einig, dass er ein Mistkerl und ein Dummkopf ist. Jetzt steht auch fest, dass er blind ist. Ich soll ehrlich sein? In Ordnung. Also, wenn ich vor dir stehe,
möchte ich, dass du nicht mehr an diesen Kerl denkst, sondern nur noch an
mich. Und ich finde dich schön“, beteuerte er und eroberte erneut ihren Mund.
Heiß, hart und fordernd.
In diesem Moment fühlte Winnie sich tatsächlich schön, während er sie mit
Lippen und Zunge verwöhnte und ihren Körper streichelte. Das Denken fiel ihr
schwer. Er fand sie schön, und sie sehnte sich nach ihm und wünschte sich,
dieser Moment würde nie zu Ende gehen.
Plötzlich dröhnte es in ihren Ohren, die Erde bebte unter ihr, und im nächsten
Moment war der Kuss zu Ende.
Schon jetzt fühlte sie sich einsam und verlassen, doch gleich darauf begriff sie,
dass sie sich das Dröhnen und das Beben nicht nur eingebildet hatte. Beides war
echt.
Am Himmel hing ein gewaltiger schwarzer Hubschrauber, der langsam tiefer
sank.
Die Rettung war da!
8. KAPITEL Winnie saß im hinteren Teil des Hubschraubers zwischen zwei Männern des Rettungsteams, Cash Ryan und Talon Redhorse. Cash war ein attraktiver Mann mit sportlicher Figur, Talon ein Indianer mit langem, schwarzem Haar und ausdruckslosem Gesicht. Die beiden sowie der Pilot Griffon Tyner trugen Tarnkleidung und gehörten vermutlich zu einer Teileinheit der Streitkräfte. Die Rettung sowie der rasche Start waren jedenfalls mit militärischer Präzision durchgeführt worden. Eigentlich sollte Winnie sich freuen, dass sie nun zurückflogen. Letztlich hatten sie und Smith Glück gehabt. Sie waren bei der Bruchlandung nicht ernsthaft verletzt worden, und seither war es ihnen auch nicht schlecht ergangen. Sie hatten nicht gefroren oder gehungert und hatten genug zu trinken gehabt dank Überlebenspaket und Hütte. Bären hatten auch nicht angegriffen. Sicher, die Rettung hätte eine halbe Stunde später erfolgen können, doch grundsätzlich war es positiv, dass sie in guter Verfassung zurück in die Zivilisation flogen. Und doch empfand sie im Moment ein leichtes Unbehagen. Irgendetwas bei dieser Rettung stimmte nicht. Während sie im hinteren Teil der Maschine untergebracht war, saß Smith vorne beim Piloten. Smith und die anderen Männer hatten zwar nicht zu erkennen gegeben, dass sie sich kannten, hatten sich jedoch vom ersten Moment an absolut aufeinander eingestimmt verhalten. Sie hatten geradezu ein Team gebildet, als sie alles zusammenpackten und die Hütte so herrichteten, wie sie vorher gewesen war. Smith unterhielt sich eingehend über Kopfhörer mit dem Piloten. Wenn der Pilot der Rettungsmaschine sich von jemandem über die Bruchlandung informieren ließ, dann hätte das doch sie als Pilotin sein sollen. Sie beugte sich zu dem Soldaten zu ihrer Linken. „Könnte ich auch Kopfhörer bekommen?“ rief sie, um das Dröhnen des Motors zu übertönen. „Ich sollte mit dem Piloten sprechen!“ „Die beiden haben jetzt ein persönliches Gespräch, Ma’am“, erwiderte Ryan. „Wenn sie fertig sind, gebe ich Ihnen Kopfhörer.“ Ihr Unbehagen wuchs. Männer, die einander nicht kannten, führten normalerweise keine langen persönlichen Gespräche. Sie wollte wissen, was los war, und sie wollte auch nicht länger warten. Darum beugte sie sich vor und zog Smith die Kopfhörer von den Ohren. Er drehte sich ruckartig zu ihr um. „Was geht hier vor?“ rief sie. Er versuchte nicht, ihr die Kopfhörer abzunehmen, sondern setzte sich ein anderes Paar auf. „Was geht hier vor?“ wiederholte Winnie, nachdem sie sich seine Kopfhörer aufgesetzt hatte. „Kennst du diese Leute?“ fragte sie ängstlich, weil sie das Gefühl nicht loswurde, dass die ganze Situation nichts Gutes zu bedeuten hatte. Er presste die Lippen fest aufeinander und schien angestrengt zu überlegen. „Du musst es ihr erklären, Rand“, sagte der Pilot jetzt über die Kopfhörer. „Nietos Männer sind bereits vor zwei Tagen gelandet. Wenn das FBI sie nicht schnappt, werden sie bald hier sein. Sie muss wissen, worum es geht, und wir brauchen auf der Stelle alle Informationen über Taylor.“ Nietos Männer? Taylor? Was hatte das bloß zu bedeuten? Und dann war da eine noch wichtigere Frage. „Wer ist Rand?“ fragte sie verständnislos. Bob wandte für einen Moment den Blick ab und sah sie dann finster an. „Ich bin Rand. Rand Michaels. Bob Smith ist ein Deckname.“ Ein Deckname? Winnie hatte schon gehört, dass Fotografen im Beruf andere Namen benutzten, aber nur, wenn sie gerade an einer heiklen Sache arbeiteten.
Das Unbehagen steigerte sich gewaltig. „Wieso hast du bei mir einen Decknamen
benutzt? Und wer sind diese Männer?“
Er deutete auf den Piloten. „Griff ist mein Chef.“
„Dein Chef? Arbeitest du nun für eine Zeitschrift oder nicht? Ich dachte, du wärst
freiberuflich tätig.“
„Nicht direkt.“
„Und was soll das heißen?“ fragte sie energisch.
„Ich bin kein Fotograf, Winnie, sondern ein Agent, ein Soldat bei einer
Spezialeinheit, wenn du so willst. Tyner leitet die Gruppe, für die ich arbeite.
Freedom Rings.“ „Agent?“ In was war sie da bloß hineingeraten?
Smith nickte. „Du musst mich nicht ansehen, als würden wir dich auf der Stelle
umbringen und aus der Maschine werfen. Wir stehen auf der richtigen Seite.“
„Auf der, richtigen Seite?“ wiederholte sie fassungslos. „Wobei?“
„Bei der Suche nach deinem Exmann.“
„Wird er denn vermisst?“ fragte sie verwirrt.
„Weißt du, wo er ist?“
„Nein, aber die CIA müsste es wissen. Sie behält doch alle ehemaligen Agenten
im Auge, nachdem sie ausgeschieden sind, oder etwa nicht?“
Seine Miene verdüsterte sich noch weiter. „Nur, wenn diese Agenten auf die
übliche Weise ausgeschieden sind.“
Nun verstand sie gar nichts mehr. „Was heißt das?“
„Das heißt, dass Tucker selbst für seine Abfindung beim Ausscheiden gesorgt hat.
Er ist mit fünfzig Millionen untergetaucht, die eigentlich dem Staat gehören, und
die CIA möchte sich deshalb gern mit ihm unterhalten. Sie sucht ihn.“
Winnie verstand zwar alles, was er sagte, begriff jedoch nichts. Tucker und
fünfzig Millionen, die dem Staat gehörten? Ausgeschlossen! Und selbst wenn es
wahr sein sollte, blieb offen, was Rand Michaels damit zu tun hatte. Etwas
stimmte hier ganz und gar nicht.
„Woher weißt du, dass die CIA nach Tucker sucht?“ fragte sie Smith oder
Michaels oder wie immer er hieß.
„Weil ich für sie arbeite.“
„Was? Eben hast du dich als Agent bezeichnet, und du arbeitest für ihn“, fügte
sie hinzu und zeigte auf den Piloten.
„Das stimmt alles, aber manchmal fordert die CIA Hilfe von Außenstehenden an.
Dies ist ein solcher Fall.“
„Warte“, bat sie. „Das ist alles viel zu verwirrend. Ich beantworte keine einzige
Frage mehr, bevor du mir nicht ganz genau erklärst, worum es eigentlich geht.“
Er zögerte nur kurz, ehe er ihr einen Überblick gab. „Vor einiger Zeit hat die
kolumbianische Regierung die Vereinigten Staaten um Hilfe gebeten, einen
wichtigen Drogenbaron zur Strecke zu bringen. Ein Drittel aller Drogen, die
überhaupt in die Staaten eingeführt werden, schmuggelt Miguel Nieto zu uns.
Darum war unsere Regierung einverstanden.“
„Und somit kam die CIA ins Spiel“, stellte Winnie fest.
„Genau. Es gab mehrere Pläne, von einem militärischen Angriff bis zu einer
unauffälligeren Aktion der CIA. Letztlich entschied man sich für einen
Waffenhandel. Nieto verfügt über eine große Armee, die er bis an die Zähne
bewaffnet. Er braucht also jede Menge Waffen.“
„Und Tucker hatte damit zu tun? Du etwa auch?“
„Tucker hatte bereits früher mehrere Waffengeschäfte abgewickelt. Darum wurde
er von der CIA mit der Leitung des Einsatzes beauftragt. Allerdings waren noch
ein Mann nötig, der zusammen mit Tucker die Verhandlungen führen sollte, und
hinterher Soldaten, um die Festnahmen durchzuführen. Darum wurde Freedom Rings eingeschaltet. Ich wurde als zweiter Mann bei den Verhandlungen angefordert, und unsere Leute sollten an den Festnahmen beteiligt werden.“ „Sie haben dich angefordert? Dann bist du bei der CIA bekannt?“ Er nickte. „Ich habe für die CIA gearbeitet, bevor ich zu Freedom Rings ging.“ Winnie bekam ein flaues Gefühl im Magen. „Zuerst CIAAgent und jetzt bei einer paramilitärischen Spezialeinheit. Reizend. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese Geschichte nur noch unangenehmer werden kann.“ Er ging nicht weiter auf ihre sarkastische Bemerkung ein. „Der Einsatz in Kolumbien sollte ganz einfach ablaufen. Tucker und ich locken Nieto mit dem Waffengeschäft. Am Tag der Übergabe werden Nieto und seine Männer von Mitarbeitern von Freedom Rings festgenommen. Danach sollten die fünfzig Millionen, die Nieto bezahlt, sowie die Waffen in die Vereinigten Staaten gebracht werden.“ „Und dazu ist es nicht gekommen“, mutmaßte sie. „Alles lief bestens, bis unsere Leute die Drogenbande festnehmen wollten. Ringsum im Urwald erfolgten mehrere Explosionen. Unsere Leute dachten, sie wären von Guerillas umzingelt. Unser sauber geplanter Angriff endete im Chaos, und dabei verschwand Tucker mit den fünfzig Millionen Dollar.“ „Ausgeschlossen“, widersprach Winnie. „Tucker hat das Geld nicht gestohlen. So ist er nicht. Der Mann ist ein Mistkerl und ein Weiberheld, aber kein Dieb. Ich bitte dich! Er steht auf der Seite des Gesetzes! Bestimmt ist einer von Nietos Männern mit dem Geld geflohen.“ Doch Michaels schüttelte den Kopf. „Nieto und zwei seiner engsten Mitarbeiter sind untergetaucht. Bei ihnen haben wir zuerst das fehlende Geld gesucht, obwohl Tucker unerklärlicherweise verschwunden war. Dabei haben wir erfahren, dass Nieto genau wie wir das Geld sucht, und dabei geht er bei weitem nicht so nett vor wie wir. Tucker ist unser Mann, Winnie.“ Es war schon schlimm genug gewesen zu entdecken, dass Tucker sie nicht geliebt hatte und mit einer anderen Frau fort gegangen war. Doch das jetzt war noch viel schlimmer. Hatte sie den wahren Tucker denn überhaupt nicht gekannt? Hatte sie vier Jahre ihres Lebens mit einem Fremden verbracht? Mit einem Trugbild? Bereits bevor sie die nächste Frage stellte, fürchtete sie die Antwort. „Was hat das alles mit mir zu tun? Wieso sucht ihr hier nach Tucker?“ „Wir sind hier, weil du unsere einzige Spur zu Tucker bist“, erwiderte er. „Wir dachten, du könntest seine Komplizin sein.“ „Seine Komplizin?“ Die Geschichte wurde immer verwirrender. „Hatte er denn eine?“ Michaels nickte. „Jemand hat ihm geholfen, die Explosionen im Wald vorzubereiten und auszulösen. Die Sprengkörper waren nicht mit Zeitzündern versehen, sondern wurden ferngesteuert ausgelöst. Jemand hielt sich nahe genug auf, um den Ablauf der Übergabe zu beachten, und hat die Bomben im richtigen Moment gezündet.“ „Und du hast gedacht, das wäre ich gewesen?“ fragte Winnie empört. „Ich habe bisher nicht mal einen Strafzettel für Falschparken bekommen! Außerdem muss die CIA wissen, dass ich das Land nie verlassen habe. Wurde das denn nicht überprüft?“ „Natürlich ist bekannt, dass du das Land nie unter deinem Namen verlassen hast“, räumte er ein. „Tucker wäre aber durchaus in der Lage gewesen, dir einen gefälschten Pass zu besorgen.“ „Ich glaube es nicht“, wehrte sie ab. „Ich bin doch von dem Mann geschieden.
Das ist sicher auch bekannt, oder?“ „Ja, das ist bekannt.“ „Wieso… Einen Moment! Hat Tucker das Geld vor oder nach der Scheidung gestohlen?“ „Danach.“ Winnie atmete erleichtert auf. „Dann frage ich dich noch ein letztes Mal, wieso ihr mich gesucht habt. Wieso glaubt die CIA, ich könnte meinem Exmann helfen, fünfzig Millionen Dollar zu stehlen?“ „Weil die Scheidung zu dem Plan gehören könnte“, erklärte Michaels. „Es könnte sich um einen Trick handeln, der von dir ablenkt. Dadurch hätte Tucker die Möglichkeit, das Geld sicher bei einer Person seines Vertrauens zurückzulassen, während er untertaucht. Wenn es später nicht mehr mit vollem Einsatz gesucht wird, könnte er dann heimlich zurückkommen und sich mit dir treffen.“ „Das ist der albernste Fluchtplan, den ich je gehört habe“, stellte sie aufgebracht fest. „Ist bei der CIA denn niemand auf die Idee gekommen, dass ich mich nicht mit einem Haufen unbezahlter Rechnungen herumschlagen würde, hätte ich fünfzig Millionen? Vermutlich hat man mein Kreditkartenkonto überprüft. Sie schnüffeln doch sonst überall herum!“ Die Vorstellung, dass Tucker mit seinem neuen Schatz den Reichtum genoss, während sie Schulden abzahlte, die er zum größten Teil verursacht hatte, machte sie unbeschreiblich zornig. „Man hat deine Finanzen überprüft“, bestätigte Michaels über Kopfhörer. „Aber Tucker hätte damit gerechnet, dass die CIA sich über dich informiert, und dann wirkt es natürlich unverdächtig, wenn du finanziell am Ende bist. Wie du selbst gesagt hast, würde eine Frau, die am Diebstahl von fünfzig Millionen beteiligt ist, keine alten Rechnungen abbezahlen.“ Winnie schüttelte den Kopf. „Du und deine Kollegen, ihr denkt ziemlich pervers, weißt du das?“ „Das hat mit dem Beruf zu tun“, räumte er ein. „Wenn man ständig mit dem Abschaum der Menschheit zu tun hat, denkt man irgendwann wie diese Leute.“ „Und deshalb hast du nicht wie jeder anständige Mensch an meine Tür geklopft und mich gefragt, ob ich etwas über meinen verschwundenen Mann und die fünfzig Millionen Dollar des Staates weiß“, hielt sie ihm entrüstet vor. „Stattdessen hast du dich als Kunde in mein Leben eingeschlichen. Was hast du denn gedacht? Dass ich dir während des zweistündigen Fluges alles gestehe und wichtige Hinweise liefere? Sollte ich dir verraten, wo Tucker sich versteckt?“ Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke. „Hast du vielleicht sogar die Notlandung inszeniert?“ „Nein!“ widersprach er entschieden. „Wieso sollte ich das denn machen? Ich hätte nur sehr schwer etwas erfahren, wenn wir beide tot gewesen wären.“ „Vielleicht hast du nicht geahnt, wie schwierig es ist, einen Landeplatz zu finden. Deine Aufgabe wäre jedenfalls viel leichter zu erfüllen gewesen, wenn ich mit dir in der Einsamkeit festgesessen hätte.“ „Ich arbeite schon sehr lange verdeckt, Winnie“, hielt er ihr gereizt vor. „Ich bin darauf spezialisiert, Informationen von Verdächtigen zu erhalten, und ich bin darin verdammt gut. Ich habe es nicht nötig, Menschen in Gefahr zu bringen, um etwas herauszubekommen. Während des zweistündigen Flugs hätte ich vermutlich alles Nötige aus dir herausgekriegt. Und wenn nicht, hätte ich weitere Flüge gebucht, bis wir uns angefreundet hätten. Dann hättest du offen mit mir gesprochen.“ „Nein, das hätte nicht geklappt“, widersprach sie. „Ich übernehme nie Passagierflüge, sondern transportiere Fracht.“
„Hältst du es vielleicht für einen Zufall, dass ich an einem Tag aufgetaucht bin,
an dem Henry keine anderen Piloten hatte? Das war alles geplant, Winnie. Hätte
ich die gewünschten Informationen nicht bekommen, hätte ich Henry angerufen,
dich gelobt und verlangt, dass du mich an einen anderen Ort fliegst. Und zwar
nur du und sonst niemand! Henry ist ein kluger Geschäftsmann, der meine
Wünsche erfüllt hätte.“
Er klang so entschlossen, dass sie fröstelte. Das war ein völlig anderer Mann als
jener, der mit ihr geangelt hatte und der sie… Um Himmels willen! Es versetzte
ihr einen Stich ins Herz. „Könnte ich kurz ungestört mit Michaels sprechen, Mr.
Tyner?“ fragte sie den Piloten.
Tyner warf ihr einen Blick zu und nahm seine Kopfhörer ab.
Winnie sah Michaels wieder an. „Hast du mich deshalb geküsst? Weil ich dir nicht
genug über Tucker erzählt habe? Hast du gedacht, eine Verführung…“
„Nein!“ wehrte er sofort ab. „Was sich zwischen uns abgespielt hat, hatte nichts
mit dem Fall zu tun. Ich wusste, dass du unschuldig bist, seit ich das Makeup
auf der Erde liegen gesehen habe. Ich musste zwar noch herausfinden, was du
vielleicht über Tucker weißt, aber das hatte Zeit. Ich habe es genossen, in deiner
Nähe zu sein. Und ich wollte nicht an meinen Job oder an Tucker denken.“
Er schien sich aufrichtig über den Vorwurf zu ärgern, und seine Worte klangen
ehrlich. Es war jedoch sein Beruf, die Menschen alles glauben zu lassen, was er
behauptete, und er hatte selbst betont, wie gut er in seinem Beruf war. „Ach ja“,
erwiderte sie daher nur geringschätzig und nahm die Kopfhörer ab.
Noch kurz zuvor hatte sie es genossen, in seinen Armen zu liegen und sich von
ihm küssen zu lassen. Was war sie doch dumm! Lernte sie es denn nie?
Rand wandte Winnie den Rücken zu und blickte nach vorne. Die Sonne blendete
und ärgerte ihn. Im Moment hätte ein düsterer Himmel mit Donner und Blitz eher
seiner Stimmung entsprochen, doch sogar die Natur hatte sich gegen ihn
verschworen.
Wie sollte er das alles bloß wieder hinbiegen? Was war ihm nur eingefallen,
Winnie Mae Taylor zu küssen? Als Bob Smith hatte er sich das gegönnt, aber
dadurch war er in ihr Leben eingedrungen, und das war nicht korrekt gewesen.
Allerdings hatte er ihr nicht widerstehen können.
Als sie sich an ihn schmiegte, hatte es ihm nicht mehr gereicht, nur von ihren
Küssen zu träumen. Für kurze Zeit hatte er sie haben wollen, und nun bezahlte
er dafür.
Kaum hatte Griffon den Hubschrauber auf Henrys Flugfeld gelandet, als Winnie
schon über Cash hinwegkletterte und auf die Landebahn sprang. Sie lief auf
Henry und mehrere Männer zu, die auf sie warteten.
Rand stieg mit den anderen aus. Cash und Talon gingen zu dem kleinen
Gebäude, er und Griffon näherten sich Winnie und den anderen.
„Wir brauchen sie noch“, sagte Griffon. „Sie mag überzeugt sein, nicht zu wissen,
wo Tucker ist, aber sie kann uns vielleicht trotzdem helfen. Und solange Nietos
Männer frei sind, ist sie in Lebensgefahr. Sie braucht Schutz, und da wäre es
einfacher, wenn sie mit uns zusammenarbeitet.“
„Was du nicht sagst“, entgegnete Rand ironisch.
Griffon blieb stehen. „Gibt es vielleicht ein Problem, über das ich Bescheid wissen
sollte? Geht es vielleicht darum, worüber sie mit dir ungestört sprechen wollte?“
„Nein, alles bestens“, wehrte Rand ab.
„Stimmt das auch?“ fragte Griff herausfordernd. „Könntest du mir denn schildern,
was sich genau zwischen euch abgespielt hat?“
„Das geht dich nichts an.“
Griff schüttelte den Kopf. „Es gibt einen guten Grund, aus dem man sich nie mit
der Zielperson einlassen darf. Ich verstehe ja die Versuchung. Sie ist eine schöne Frau, aber…“ „Lass das, ich kenne die Regeln“, fiel Rand ihm ins Wort. „Ich kenne auch die Gründe, und ich habe Mist gebaut. Aber ich bringe das alles wieder in Ordnung.“ Griff sah ihn erneut forschend an und nickte schließlich. „Also gut, aber beeil dich. Es wird für alle wesentlich einfacher und sicherer, wenn Winnie mitmacht.“ Das war Rand schon klar, aber wie sollte er das erreichen? Er ließ Griff stehen und ging zu den Männern, die sich um Winnie drängten. „Henry“, sagte Winnie gerade zu dem alten Mann, „ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich habe aus Ihrer Maschine ein Wrack gemacht. Unter dem Armaturenbrett ist ein Brand entstanden, und es gab keinen Landeplatz.“ Rand wollte schon eingreifen und dafür sorgen, dass sie ihren Arbeitsplatz nicht verlor, doch das war nicht nötig. Henry legte ihr den Arm um die Schultern. „Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Ihnen und Smith ist nichts passiert, und nur das ist wichtig. Und was die Maschine angeht, so habe ich zwanzig Jahre lang die Versicherung bezahlt. Höchste Zeit, dass ich für mein Geld eine neue Maschine bekomme. Bei den Beiträgen, die ich hingeblättert habe, sollte ich eigentlich eine ganze Luftflotte kriegen.“ Winnie konnte schon wieder lächeln. „Wenn die Versicherung nicht alles übernimmt, Henry, sagen Sie mir Bescheid. Dann zahle ich den Rest. Sie können es mir vom Lohn abziehen. Sofern ich die Stelle noch habe“, fügte sie unsicher hinzu. „Natürlich haben Sie die Stelle“, erwiderte Henry ungeduldig. „Was soll das denn heißen? Und nun hören Sie auf, sich um den Vogel Gedanken zu machen. Das ist meine Sache.“ Rand atmete erleichtert auf. Wenigstens hatte er ihr Leben nicht völlig ruiniert. Sie hatte ihre Arbeit behalten, und er wollte dafür sorgen, dass Henry kein Verlust entstand. Winnie umarmte Henry. „Danke! Was ist mit der Bundesluftfahrtbehörde? Haben Sie denen schon gemeldet, dass man mich gefunden hat, oder soll ich das machen?“ „Ich habe sofort angerufen, als Mr. Tyner über Funk durchgab, dass er Sie gefunden hat“, erwiderte Henry. „Die Suche wurde daraufhin eingestellt. Morgen kommt dann jemand her und spricht mit Ihnen über den Vorfall. Ruhen Sie sich erst mal aus. Und vor allem gehen Sie zum Arzt. Ich möchte, dass Sie sich untersuchen lassen. Ihr beide“, fügte Henry hinzu. „Mir ist nichts passiert“, versicherte Rand. „Ich brauche keinen Arzt, aber Winnie schon.“ Besorgt betrachtete Henry ihren Arm. „Du lieber Himmel, ich war so froh über das Wiedersehen, dass ich den Verband gar nicht bemerkt habe. Wie schlimm ist es?“ Winnie sah Rand vorwurfsvoll an. „Gar nicht schlimm. Es ist nur ein kleiner Schnitt. Morgen gehe ich bestimmt zum Arzt, aber jetzt muss ich sofort fliegen.“ Sie drückte dem alten Mann einen Kuss auf die Wange und ging weg. Rand holte sie ein. „Du kannst nicht fliegen. Du bist verletzt und müde und nicht in der Verfassung…“ Sie ging nur schneller und achtete nicht auf ihn. Er packte sie am Arm und hielt sie fest. „Finger weg, Michaels!“ fauchte sie ihn an. „Such dir ein Telefon, und erzähle deinen Freunden bei der CIA, dass ich nichts mit Tuckers Machenschaften in
Kolumbien zu tun habe. Und danach setzt du dich ins nächste Flugzeug und
verschwindest aus meinem Leben!“
Erneut riss sie sich los und eilte weiter. Jemand hielt ihn fest, bevor er sich ihr
anschließen konnte.
Griffon schüttelte den Kopf. „Lass sie. Die muss erst mal Dampf ablassen.“
„Sie sollte nicht fliegen.“
„Mag sein, aber tut sie es nicht, streitet ihr nur weiter, und damit wäre keinem
gedient. Wenn das hilft, könnte ich dich durch Cash ersetzen. Eine Tarnung ist
nicht mehr nötig, und vielleicht arbeitet sie mit einem anderen eher zusammen.“
„Du wirst mich nicht ersetzen“, erwiderte Rand scharf.
„Ach, so ist das?“ fragte Griff wissend.
Nein, so wie er die Sache verstand, war es nicht. Leider. Aber das war
unmöglich. Heim und Herd gab es für Rand nicht. Er wollte jedoch nicht, dass
Cash oder ein anderer Mann in Winnies Nähe käme. Er selbst wollte auf sie
aufpassen.
„Es ist mein Problem, und ich werde es lösen“, erklärte er entschieden.
„Na gut“, lenkte Griff ein. „Aber du solltest dich beeilen. Es bleibt nicht mehr viel
Zeit.“
9. KAPITEL Rand sah vom Rollfeld aus zu, wie Winnie in einem Hangar mit gewaltigen Schiebetüren verschwand. Es gefiel ihm nicht, dass sie jetzt schon aufsteigen wollte, aber vielleicht hatte Griff Recht und es half ihr, sich zu beruhigen. Er wandte sich an Henry. „Wohin fliegt sie, wenn sie sich über etwas aufgeregt hat?“ erkundigte er sich. Es passte ihm gar nicht, sie aus den Augen zu lassen. „Das dort ist ihr Hangar“, erklärte der alte Mann. „Sie holt die Angry Bullet. Wahrscheinlich wird sie über dem Flugplatz kreisen.“ Das war nur ein kleiner Trost, aber Rand war damit zufrieden. Im Hangar sprang ein Motor an, und dann rollte eine Maschine ins Freie. Es war ein Flugzeug mit tief angesetzten Flügeln und einem schlanken Bug. Dank der Bemalung in Schwarz, Grau und Rot machte sie ihrem Namen, der an der Seite stand, alle Ehre: Angry Bullet, ein zorniges Geschoss, das über den Himmel jagte. Mit einer solchen Maschine konnte eine müde und verletzte Pilotin in Schwierigkeiten geraten, wenn sie nicht aufpasste. Atemlos sah Rand zu, wie sich die Maschine am Ende der Startbahn mit ohrenbetäubendem Dröhnen in die Luft erhob. „Waren Sie mal bei einer Flugschau?“ rief Henry. Rand schüttelte den Kopf. „Dann passen Sie gut auf. Jetzt kriegen Sie eine tolle Vorführung geboten.“ Rand wusste nicht, was er davon halten sollte. Die Angry Bullet stieg immer höher in den Himmel, bis sie nur noch ganz klein wirkte. Dann kippte die Maschine auf die Seite und jagte mit heulendem Motor der Erde entgegen. Zuerst wirkte alles ganz gut, doch Rand hielt trotzdem den Atem an und bekam Herzklopfen, als Winnie die Maschine nicht hochzog. Sie war müde, und ihre Reflexe waren vermutlich nicht so gut wie sonst. Wenn sie nicht bald etwas unternahm… „Verdammt, Winnie, hochziehen“, flüsterte er und ballte die Hände zu Fäusten. Im letzten Augenblick beendete die Maschine den Sturzflug. Die Räder streiften fast das hüfthohe Gras vor dem Rollfeld. Erleichtert atmete er auf, doch dann stieg Winnie zum zweiten Mal und stellte auch noch den Motor ab. Dieses Mal drehte sie die Maschine während des Sturzflugs, so dass es Rand den Atem verschlug. Endlich drehte sich das Flugzeug nicht mehr, raste aber erneut auf die Erde zu. Plötzlich sprang der Motor wieder an, und erneut berührten die Räder beim Hochziehen das Gras. Rand strich sich durchs Haar. Was fiel ihr bloß ein? Gehörte das zur Schau? Er blickte zu Henry und Griff, doch beide sahen nicht interessiert oder begeistert zu, sondern wirkten angespannt. Und sie waren die Fachleute! Der Schweiß brach Rand aus, während Winnie weitere riskante Manöver ausführte und zuletzt zum dritten Mal hochstieg. Was plante sie denn jetzt? Plötzlich überschlug sich die Maschine immer wieder, und das sah nicht nach einem gewollten Kunststück aus. Winnie schien die Kontrolle verloren zu haben. Rand tat aufgeregt einige Schritte vorwärts. „Ganz ruhig“, meinte Henry. „Das soll so aussehen, als wäre die Maschine nicht mehr zu beherrschen, aber Winnie hat alles unter Kontrolle.“ „Glaubst du das auch?“ fragte er Griff. „Mach dir keine Sorgen, solange sie in der Luft ist“, erwiderte Griff knapp. „Erst der Aufprall bringt sie um. Leider habe ich den Eindruck, dass sie mit dem Aufprall flirtet.“ Genau das tat sie, sonst hätte sie nicht mit den Rädern das Gras berührt. Doch machte sie es, weil sie wütend war oder weil ihre Reflexe nicht richtig
funktionierten? Rand bekam Herzklopfen. Wollte sie ihm vielleicht Angst einjagen, um sich an ihm zu rächen? Er wandte sich an Henry. „Wie lange bleibt sie normalerweise oben?“ „Sie hat nur für ungefähr fünfzehn Minuten Treibstoff. Es dauert nicht mehr lange.“ Rands Nerven waren zum Zerreißen angespannt, während Winnie mit der Maschine Überschläge und Kurven flog. Endlich setzte sie zur Landung an, und das war keinesfalls zu früh. Rand reichte es. Doch plötzlich drehte sie das Flugzeug auf den Rücken und raste mit heulendem Motor die Landebahn entlang. Rand blieb fast das Herz stehen. Wenn sie aus Zorn ein solches Risiko einging, sollte man ihr die Lizenz entziehen. Und wenn sie sich an ihm rächen wollte, würde er ihr den Hals umdrehen. Ihr langes Haar hing nach unten gegen die Glaskuppel, während sie Rand einen triumphierenden Blick zuwarf. Er wurde noch zorniger. Wenn sie überhaupt lebend aus dieser Maschine herauskam, brachte er sie auf jeden Fall um. Am Ende der Rollbahn führte sie erneut eine Drehung aus und stieg auf, flog einen Bogen und landete dann behutsam, als sei nichts gewesen. Rand sah zu, wie sie sich dem Hangar näherte. Griffon trat neben ihn. „Du solltest bis zehn zählen, bevor du zu ihr gehst.“ Er sah Griff an und zählte. „Eins, zehn.“ Dann stürmte er zu Winnies Hangar. Sie sollte ruhig merken, wie wütend er war. Als er den Hangar erreichte, war sie schon ausgestiegen und schob die Maschine rückwärts hinein. Rand verschränkte die Arme und wartete. Es dauerte nicht lange. Sie kam heraus, warf ihm einen finsteren Blick zu und schloss die Schiebetür. Er sah sie noch zorniger an und zeigte zur Startbahn. „Was sollte das? Wolltest du dich umbringen, oder wolltest du dich an mir rächen?“ Sie sah ihn gespielt unschuldig an und klimperte mit den Wimpern. „Weshalb, um alles in der Welt, sollte ich mich an dir rächen wollen?“ „Lass bei mir die Spielchen, Winnie! Ich bin genauso zornig wie du. Du glaubst, ich hätte dir bei der Hütte etwas vorgemacht und hätte versucht, dich zu verführen, um an Informationen zu kommen. Der Kuss hatte aber nur mit dir und mir zu tun.“ „Der Kuss kann gar nichts mit uns zu tun gehabt haben, Rand Michaels“, fuhr sie ihn an. „Ich wusste ja nicht mal, wer du bist!“ Sie ließ ihn stehen und ging zu dem kleinen Gebäude, in dem der Aufenthaltsraum und die Werkstatt untergebracht waren. Er blieb hartnäckigen ihrer Seite. „Du hast meinen richtigen Namen nicht gekannt, aber der Kuss war trotzdem echt. Der Wunsch, das Verlangen und die Spannung zwischen uns waren verdammt echt!“ „Ach, ich bitte dich! Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Es ist aus und vorbei“, fuhr sie geringschätzig fort. „Wieso müssen Männer stets hinterhältig und verlogen handeln? Wieso sind deine Freunde von der CIA nicht zu mir gekommen und haben mich gefragt, was ich über meinen Exmann und die fünfzig Millionen weiß? Ich hätte ihnen erklärt, dass ich nichts mit Tuckers Tat zu tun habe. Ich hätte ihnen sogar erzählt, dass er mit einer anderen durchgebrannt ist. Wenn deine Freunde nach seiner Komplizin suchen, könnten sie sich doch mit dieser Frau beschäftigen. Aber ist jemand zu mir gekommen? Nein!“ Sie riss die Tür auf und betrat das Gebäude. „Stattdessen haben sie dich losgeschickt, den unwiderstehlichen Mr. Smith! Sie dachten, wenn sie einen so tollen Kerl wie dich zu mir in ein Flugzeug setzen, erzähle ich dir gleich meine ganze Lebensgeschichte. Und wenn ich nichts
ausspucke, ist das auch kein Problem. Dann verführst du mich eben. Irgendwie bringst du mich schon zum Reden, nicht wahr? Was seid ihr doch alle schmutzig!“ Rand sah sich drinnen um und stellte erleichtert fest, dass sie allein waren. Cash und Talon waren nicht mehr da. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass die beiden Zeugen des Streits wurden. Rasch schloss er hinter sich ab, damit sie nicht gestört wurden. Zuerst sollte Winnie sich abreagieren, und dann wollte er ihr die Meinung sagen. Sie wirbelte zornig zu ihm herum. „Was ist denn an der Wahrheit so schlimm, dass die gesamte männliche Bevölkerung davor zurückschreckt? Liegt es an eurem Stolz, oder woran sonst?“ Er hatte keine Geduld abzuwarten, bis sie sich beruhigte. Dafür hatte sie ihm schon zu viel zugemutet. „Tut mir Leid, dass die CIA sich für diese Methode entschieden hat, aber es stand ja nicht fest, dass du unschuldig bist.“ „Es stand aber auch nicht fest, dass ich schuldig bin!“ „Nein, aber wenn es bei einem Verbrechen einen Komplizen gibt, ist es fast immer eine nahe stehende Person des Täters. Bei Ermittlungen ist der direkte Weg meistens nicht die beste Vorgehensweise, ob du es nun glaubst oder nicht. Es bringt nichts, die Karten offen auf den Tisch zu legen, wenn man nichts erreicht und sogar noch Verluste einsteckt. Also hat sich die CIA für eine sichere Methode entschieden. Das verletzt zwar gelegentlich Unschuldige, aber das musst du verstehen.“ „Ich muss gar nichts verstehen, wenn man sich in mein Leben einmischt!“ schrie Winnie. „Und warum hat Tucker mich nicht gewarnt, dass er nicht nur mit einer anderen Frau verschwindet, sondern auch noch Geld unterschlägt? Warum hat er nicht gesagt, dass sich die CIA bei mir melden wird und wahrscheinlich auch einige Verbrecher an meine Tür klopfen werden? Nietos Männer werden viel direkter vorgehen, nicht wahr? Sie werden offen und ehrlich auftreten. Daumenschrauben und Messer, stimmt’s?“ Die Vorstellung gefiel ihm zwar nicht, doch er konnte nicht widersprechen. „Richtig.“ „Ist es nicht ironisch?“ fragte sie verächtlich. „Die Bösen in diesem Spiel treten am ehrlichsten auf.“ „So ist das nun mal“, stellte er nüchtern fest. „Und was den guten Tucker angeht, hättest du längst wissen müssen, dass mit eurer Ehe etwas nicht stimmte. Du hast mir nicht viel erzählt, aber du hast eindeutig nie bekommen, was du haben wolltest. Wieso bist du nicht ausgestiegen, sondern hast gewartet, bis er sich absetzt?“ „Oh, entschuldige! Ich dachte eben, dass er mich liebt und dass wir eines Tages ein schönes Leben genießen würden. Ich dachte auch, dass ich ihn glücklich machen könnte.“ Sie tat ihm Leid, und so leicht gab er nicht auf. „Es war nicht deine Aufgabe, ihn glücklich zu machen, und du warst auch nicht dafür verantwortlich, ob dein Daddy zu Hause blieb oder nicht. Wenn du nicht immer wieder zum Opfer gemacht werden willst, biete dich nicht an. Hör auf, alle anderen glücklich machen zu wollen, und warte nicht auf jemanden, der dich glücklich macht. Finde heraus, was du im Leben willst und was dich glücklich macht. Und dann hole es dir!“ Zorn und Schmerz spiegelten sich in ihren Augen, doch sie wehrte sich gegen Tränen. „Ein sehr guter Rat, Michaels! Und im Moment will ich, dass du verschwindest. Also, nimm deine Sachen, und hau ab!“ Er verschränkte die Arme, als sie zu der verschlossenen Tür zeigte. „Dazu wird es
leider nicht kommen. Du glaubst zwar, dass du Tuckers Aufenthaltsort nicht kennst, aber das stimmt vielleicht nicht. Ich muss dir noch eine Menge Fragen stellen. Und dann ist da noch ein kleines Detail: Nieto und seine Männer. Solange sie nicht hinter Gittern sitzen, brauchst du Schutz.“ „Aber ganz sicher nicht von dir!“ Sie wandte ihm den Rücken zu und ging zu den Sachen, die sie nach der Bruchlandung gerettet hatten. Cash und Talon hatten sie offenbar hier abgelegt. Entschlossen holte sie das Gewehr hervor, das sich in dem Paket befunden hatte. Na toll. Wollte sie sich damit schützen? Was für ein Unsinn. Winnie hatte eingestanden, dass sie mit dem Ding gar nicht umgehen konnte. Hielt sie sich vielleicht für Rambo, nur weil sie wütend war? Oder vielleicht wollte sie ihn erschießen. Auch gut. Sie drehte sich wieder um. „Du hast völlig Recht. Es ist nicht meine Aufgabe, jemanden glücklich zu machen oder anderen die Arbeit abzunehmen. Ihr wollt Tucker haben? Dann sucht ihn. Aber ohne mich. Ich will, dass du mit deinen miesen Freunden aus meinem Leben verschwindest. Und was Nietos Leute angeht, sollen sie ruhig kommen. Mir ist jetzt nach Blut.“ Mit dem Gewehr in der Hand ging sie an ihm vorbei, machte die Tür auf und stürmte ins Freie. Rand sah ihr ratlos nach. Konnte es überhaupt noch schlimmer werden? Er trat zur Tragetasche und holte mit Erleichterung etwas heraus, was Winnie vergessen hatte. Die Munition. Wenigstens konnte sie ihn nicht erschießen, wenn er vor ihrer Hütte auftauchte.
10. KAPITEL Winnie reckte und streckte sich im Schlafzimmer der kleinen gemieteten Hütte. Es war schön, wieder hier zu sein, aber sie hatte eine schlimme Nacht hinter sich, in der sie gewütet, geweint und nachgedacht hatte. Jetzt waren ihre Augen gerötet und geschwollen, und das Gesicht war fleckig. Außerdem war sie zutiefst verunsichert. Besaß sie wirklich eine Opfermentalität? Hatten Tucker und ihr Vater sie benutzt, weil sie das zugelassen hatte? Sie schüttelte den Kopf. Was war denn schlimm daran, wenn man zu anderen Menschen nett war und versuchte, sie glücklich zu machen? Erwartete man von Kindern nicht, dass sie ihren Eltern Freude bereiteten? Sollte ein Ehepartner sich denn nicht bemühen, den anderen glücklich zu machen? War das nicht das Kernstück einer Ehe? Rückblickend hatte sie in der vergangenen Nacht allerdings erkannt, dass Tucker sich nicht bemüht hatte, sie glücklich zu machen. Sie – und nicht er – war die Kompromisse eingegangen. Möglicherweise war sie in der Ehe wirklich übereifrig gewesen, vielleicht sogar dumm. Aber konnte man sie dafür als bereitwilliges Opfer abstempeln? Das nahm sie nicht hin. Die ganze Nacht hatte sie sich mit diesen Problemen herumgeschlagen, und nun brauchte sie dringend eine Tasse Kaffee, bevor sie den Tag in Angriff nahm. Während sie in den Küchenbereich des großen Wohnraums ging, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne stieg soeben über den Horizont, und es wurde hell. Auf der anderen Straßenseite bewegte sich etwas. Winnie erstarrte. Waren das vielleicht schon Nietos Männer? Sie duckte sich und sah genauer hin, erkannte schließlich den Mann und riss daraufhin wütend die Tür auf. „Was machst du hier, Michaels?“ Mit einer gefährlich aussehenden Waffe auf dem Rücken kauerte er neben einem kleinen Zelt und trieb soeben einen Hering in die Erde. „Ich lege ein Blumenbeet an“, erwiderte er. „Sehr witzig.“ „Besser geht es heute Morgen nicht. Ich habe eine lange Nacht hinter mir, und hier draußen ist es verdammt kalt.“ Er hatte es gewagt, die ganze Nacht vor ihrer Hütte zu verbringen, obwohl sie ihn weggeschickt hatte? Hoffentlich hatte er sich etwas abgefroren. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du mit deinen Freunden abhauen sollst?“ „Das hast du.“ Er wandte ihr den Rücken zu und sicherte weiter das Zelt. Schon holte sie tief Luft, um ihm zu sagen, dass er in seinen Wagen steigen und wegfahren sollte, doch dann sah sie sich um. „Wie bist du hergekommen? Wo ist dein Wagen?“ „Ich bin mit der Einheit gekommen, die Griff zur Bewachung der Hütte abgestellt hat.“ Winnie riss die Augen auf. „Einheit?“ Er nickte. „Acht Mann. Wir haben das Gebiet um deine Hütte in Zonen unterteilt. In jeder Zone hält ein Mann Wache, und ein Mann macht ständig Runden, übermittelt Botschaften und achtet darauf, dass alle auf Posten sind. Ich habe hier Stellung bezogen. Cash und Talon halten die Stellung ungefähr fünfhundert Meter weiter an der Straße. Sie haben auch den Jeep.“ Eine ganze Truppe! „Hör mit dem Gehämmere auf! Ich habe dir gestern gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will, und das meine ich ernst. Das gilt auch für deine Freunde.“ Er griff nach dem nächsten Hering. „Und ich habe dir gesagt, dass ich nicht
verschwinde, solange dieser Auftrag nicht erledigt ist und Nietos Leute nicht
hinter Gittern sitzen.“
„Ich brauche deinen Schutz nicht. Ich habe ein Gewehr.“
Er stand energisch auf und erinnerte sie wieder an einen Panter, der sich auf
seine Beute stürzte. Doch er blieb nur ruhig stehen. „Ja, hol das Gewehr.“
„Warum?“ entgegnete sie. So leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. „Willst du es
mir wegnehmen?“
„Hol es“, verlangte er.
Sie wollte sich weigern, doch sein scharfer Ton und vor allem sein Blick warnten
sie, dass er das Gewehr auch selbst holen konnte. Rasch verschwand sie im
Schlafzimmer, nahm die Waffe vom Bett und ging wieder an die Haustür. „Hier
ist das Gewehr, aber ich gebe es dir nicht.“
„Das habe ich auch nicht verlangt.“ Er deutete auf eine riesige Tanne in zehn
Metern Entfernung. „Schieß auf den Baum.“
„Was?“ fragte sie verärgert. „Glaubst du vielleicht, ich kann nicht treffen?“ Das
war natürlich durchaus möglich, weil sie keine Ahnung von Waffen hatte. Da sich
aber ein Gewehr im Überlebenspaket befand, damit man sich mit seiner Hilfe
Nahrung verschaffte, konnte es nicht allzu schwer sein. Man brauchte bloß zu
zielen und den Abzug zu drücken.
„Schieß!“ befahl Michaels scharf.
Schön, wenn sie ihn dadurch loswurde, schoss sie eben auf den armen
unschuldigen Baum. Zwar bekam sie feuchte Hände, weil sie nun tatsächlich die
Waffe benutzte, doch sie schob einen Fuß vor und den anderen zurück, achtete
nicht auf das Beben in ihrem Körper und hob das Gewehr an die Schulter.
Kimme und Korn – ja, das war einfach. Sie zielte auf den breiten Stamm und
drückte den Abzug.
Klick.
Klick? Nichts weiter? Erstaunt betrachtete sie das Gewehr und dann Michaels.
Er schüttelte den Kopf. „Dachte ich es mir. Du hast keine Ahnung, worum es
geht. Du hast gestern eine ungeladene Waffe und keine Munition mitgenommen,
und du willst es mit Verbrechern aufnehmen? Die laden nämlich ihre Waffen,
bevor sie Jagd auf unschuldige Opfer machen.“
Winnie fröstelte, als sie begriff, wie schutzlos sie die ganze Nacht über gewesen
war. Nun ja, nicht ganz schutzlos, weil Rand vor der Hütte gewacht hatte, und
die kleine Armee war rings um das Haus verteilt. Aber ohne diese Männer… Ohne
es wirklich zu wollen, war sie ihnen dankbar.
Eine Nacht als Babysitter brachte Michaels jedoch bei ihr nicht wieder in Gnade.
Wenn sie an den Kuss dachte, war sie noch immer zornig und kam sich albern
und ausgenutzt vor. Und bei Rands Anblick dachte sie unweigerlich an den Kuss.
Darum wollte sie, dass er mitsamt seinen Freunden verschwand. „Ich besorge
mir Munition“, erklärte sie entschlossen.
„Nein, tust du nicht“, widersprach er. „Eine Waffe in der Hand eines blutigen
Amateurs ist gefährlich.“ Damit wandte er ihr erneut den Rücken zu und trieb
den letzten Hering in die Erde.
Winnie biss die Zähne zusammen. „Ich mache einen Schnellkurs mit. Dann kann
ich mit einer Waffe umgehen, und außerdem hast du mir nichts zu befehlen. Ich
muss dir nicht gehorchen.“
Er sorgte dafür, dass das Zelt richtig befestigt war, und achtete gar nicht auf sie.
Winnie stampfte mit dem Fuß auf. „Weg mit dem Zelt, verdammt!“
Jetzt drehte er sich um und betrachtete sie unnachgiebig. „Du brauchst mehr als
einen Wochenendkurs, um dich gegen Nietos Leute zu wehren. Das Zelt bleibt.
Und ich auch.“
„Wenn dieses Zelt nicht innerhalb von fünf Sekunden verschwindet, rufe ich den Sheriff an. Ich bin mit ihm befreundet, und er steckt dich bestimmt wegen Hausfriedensbruchs ins Gefängnis.“ „Ich begehe aber keinen Hausfriedensbruch“, erwiderte Rand. „Dein Grundstück endet auf deiner Seite der Straße. Ich halte mich auf öffentlichem Grund und Boden auf. Übrigens habe ich mich schon mit dem Sheriff unterhalten und ihm erklärt, wie gefährlich Nietos Leute sind. Er ist einverstanden, dass ich hier bin. Kein Problem.“ „Hast du ihm auch erzählt, dass ich dich nicht bei mir haben will?“ „Ja, ich habe ihm erklärt, dass du die Bewachung nicht willst, aber er ist dein Freund, wie du selbst gesagt hast, und er mag dich. Er meinte, ich sollte mir deinetwegen keine Sorgen machen. Solltest du dich bei jemandem beschweren wollen, sollst du ihn anrufen. Er wird dir gern zuhören.“ „Aber er wird dich nicht vertreiben?“ „Nein.“ Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. „Wenn du mich loswerden willst, Winnie, musst du uns helfen, Tucker und das Geld zu finden. Sobald der Staat beides hat, wirst du für Nieto uninteressant.“ Zum Teufel mit Tucker, der ihr das eingebrockt hatte! Und zum Teufel mit Michaels, weil er ein verlogener Kerl und nicht der ehrenhafte Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Doch wenn sie wieder normal leben wollte, musste sie offenbar auf ihn eingehen. Zu Freundlichkeit war sie allerdings nicht verpflichtet. „Also schön, ich beantworte deine Fragen“, entschied sie. „Vorher trinke ich aber heißen Kaffee. Bis dahin kannst du da draußen sitzen und frieren!“ Winnies Hütte war klein. Die Veranda zog sich über die ganze Vorderfront hin und hatte ein hölzernes Geländer. Die Hütte wirkte anheimelnd und einladend und stand an einem der schönsten Flecken der Welt. Im kleinen Garten blühten zahlreiche Blumen. Birken und Nadelbäume schlossen sich an. Dahinter erhob sich eine Bergkette majestätisch in den blauen Himmel. Schnee lag auf den kahlen Gipfeln. Es war schön, wenn auch kühl. Rand saß auf den Brettern der Veranda und rieb sich die Arme, um sich zu wärmen. Für dieses Klima hatte er nicht genug warme Sachen eingepackt. Flanellhemd und Pullover reichten nicht. Hoffentlich brachte Winnie ihm eine Tasse Kaffee, wenn sie herauskam und seine Fragen beantwortete, doch damit rechnete er nicht. Schließlich ließ sie ihn schon seit einer Stunde warten und hatte bestimmt allen Kaffee selbst getrunken. Endlich wurde die Tür geöffnet, und Winnie kam mit einer großen dampfenden Tasse heraus. Hoffnung keimte in Rand auf, doch sie nahm einen Schluck und setzte sich in den alten Schaukelstuhl bei der Tür. Rand seufzte lautlos. Also kein Kaffee. Er musste sich später selbst versorgen. Sie wandte sich stirnrunzelnd an ihn. „Fang an, Michaels. Je schneller du von meiner Veranda verschwindest und die Jungs aus dem Wald abziehst, desto mehr soll es mich freuen.“ Der Kaffee hatte ihre Laune nicht verbessert, doch schließlich hatte sie ein Recht, auf alle Beteiligten zornig zu sein. Am Besten hielt er die Befragung möglichst kurz und brachte Tucker hinter Gitter, damit Winnie wieder in Ruhe leben konnte. Er drehte sich zu ihr und lehnte sich an den Pfosten. „Schön, fangen wir vor einem halben Jahr an.“ „Das ist einfach. Im letzten halben Jahr habe ich Tucker überhaupt nicht getroffen“, erwiderte sie geringschätzig. „Abgesehen natürlich von dem Tag, an dem er nach Hause kam, packte und mir sagte, dass er sich von mir trennt.“ Das ergab keinen Sinn. „Ganz sicher? Du hast ihn in der ganzen Zeit nicht mehr
gesehen?“ „Was ist?“ fragte sie gereizt. „Glaubst du vielleicht, mein Mann war einige Tage zu Hause, ohne dass ich ihn bemerkt hätte?“ „Nein, aber ein halbes Jahr ist ein ziemlich langer Zeitraum. Gehen wir es schrittweise an, einverstanden?“ „Von mir aus.“ „Aus den Unterlagen bei Gericht geht hervor, dass du die Scheidung eingereicht hast einige Tage, bevor Tucker und ich nach Kolumbien geflogen sind. Verständlich, dass du ihn danach nicht mehr gesehen hast. Wir waren in Südamerika, und es gab so viel zu tun, dass er nicht zurückfliegen konnte. Aber in den zwei Monaten davor waren wir in den Vereinigten Staaten und haben die Operation vorbereitet. In diesem Zeitabschnitt gab es Tage und sogar Wochen, in denen er hätte nach Hause kommen können.“ Winnie warf ihm über den Rand ihrer Tasse hinweg einen harten Blick zu. „Ich habe ihn in dem gesamten Zeitraum nur ein einziges Mal gesehen. Das war an dem Tag, an dem er mir die Trennung verkündet hat. Ungefähr zwei Wochen später habe ich die Scheidung eingereicht.“ „Also schön, dann gehen wir ein Stück weiter zurück. Ich habe mich bei der CIA informiert. In Tuckers Kalender gibt es für einen ziemlich langen Zeitraum vor unseren Vorbereitungen keine Eintragungen. Hast du ihn da gesehen?“ „Wie oft soll ich noch wiederholen, dass ich ihn nicht gesehen habe? Er hat behauptet, er hätte einen Einsatz.“ Tränen schimmerten in ihren Augen, als Schmerz den Ärger überlagerte. „Vermutlich war er mit seinem neuen Schatz zusammen.“ Am liebsten hätte Rand sie in die Arme genommen, um sie zu trösten – und zu küssen. Das war dumm. Sie wollte ihn nicht, und er sollte besser gar nicht daran denken. „Tut mir Leid.“ „Beschränk dich auf die Fragen, Michaels“, verlangte sie und wischte die Tränen weg. „Schön. Wie sieht es mit Anrufen aus? Er hat dich doch bestimmt angerufen.“ „Ja, mehrmals, aber er hat mir nicht gesagt, wo er ist und was er macht. Er hat mir nie etwas über seine Arbeit verraten, sondern nur über Belanglosigkeiten geredet. Es würde ihm gut gehen, und er würde irgendwann nach Hause kommen und so weiter.“ Michaels wappnete sich gegen den Schmerz in ihrer Stimme. „Was ist mit Hintergrundgeräuschen?“ „Er war immer in einer Bar, wenn er mich angerufen hat. Viel Lärm und Musik, aber nichts Spezielles. Das musst du mir glauben.“ „Man kann ziemlich viel aus Hintergrundgeräuschen erkennen, wenn man weiß, worauf man achten muss. Hast du zum Beispiel Stimmen gehört?“ „Schon möglich, aber…“ „Denk nach“, drängte er. „Falls du Stimmen gehört hast,’ in welcher Sprache redeten sie?“ Seufzend schloss sie die Augen und überlegte, schüttelte jedoch den Kopf. „Tut mir Leid. Wenn ich eine fremde Sprache gehört haben sollte, habe ich nicht darauf geachtet.“ „Was ist mit der Musik? Rock oder etwas anderes?“ „Michaels“, wehrte sie gereizt ab, „ich habe doch schon gesagt, dass ich nichts Spezielles gehört habe. Und das meine ich auch so. Kann denn die CIA aus den Unterlagen für meinen Anschluss nicht erkennen, von wo aus ich angerufen wurde?“ Rand schüttelte den Kopf. „Daraus ersieht man nur, wen du angerufen hast. In
umgekehrter Richtung kann man Anrufe im Nachhinein nicht verfolgen.“ „Schade, aber ich kann dir nicht helfen. Ich habe einfach nicht auf Geräusche geachtet. Schließlich hatte ich keine Ahnung, dass mein Mann mich fallen lassen und mit einer kleinen Liebschaft und fünfzig Millionen durchbrennen würde.“ Da es ihr sicher nicht angenehm war, immer wieder daran erinnert zu werden, ging er einen Schritt weiter. „Na gut. Und wie war das letzte Zusammentreffen mit Tucker? Er hat gepackt und sich verabschiedet. Was hat er dir über die Frau erzählt, mit der er weggeht?“ „Nur, dass es sie gibt.“ „Er hat keinen Namen genannt?“ „Nein. Ich habe ihn gefragt, aber er ist nicht dumm. Er hat mir nichts verraten, das der CIA oder Nieto helfen könnte.“ „Das war zu erwarten, aber ich habe trotzdem gehofft.“ Rand überlegte. „Wir müssen herausfinden, warum er überhaupt noch ein letztes Mal nach Hause gekommen ist.“ „Findest du vielleicht, ich wäre es nicht wert, dass man sich persönlich von mir verabschiedet?“ hielt sie ihm verletzt und zornig vor. „Das habe ich nicht gesagt“, wehrte er ab. „Meiner Meinung nach verdienst du viel mehr, als Tucker dir jemals gegeben hat. Aber schließlich hat er dich sitzen lassen und sogar damit gerechnet, dass dir Verbrecher später das Leben zur Hölle machen werden. Deshalb kann ich mir kaum vorstellen, dass er sich aus Ehrgefühl verabschieden wollte.“ Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie begriff, dass vermutlich sogar Tuckers Abschied unehrlich gewesen war. Rand hasste seine Aufgabe. Am Besten war es, er sorgte für ein schnelles Ende der ganzen Sache. „Er ist aus einem ganz bestimmten Grund nach Hause gekommen, Winnie. Im Haus muss etwas gewesen sein, was er brauchte. Du hast gesagt, er hätte gepackt. Erinnerst du dich daran, was das war?“ Sie nahm sich zusammen und schüttelte den Kopf. „Kaum war er zur Tür hereingekommen, sagte er auch schon, dass er mich verlässt. Ich war völlig geschockt.“ „Gehen wir es langsam an. Hat er Kleidung mitgenommen?“ Sie seufzte und trank einen Schluck Kaffee. „Ja.“ „Sachen für schlechtes Wetter? Mäntel? Windjacken?“ „Nein, die hingen im Schrank in der Diele, und er hat während des Packens das Schlafzimmer nicht verlassen. Er hat sich nur in zwei Räumen aufgehalten. Im Wohnzimmer hat er mir erklärt, dass er mich verlässt, und danach war er im Schlafzimmer. Anschließend ist er gegangen.“ „Das ist gut. Also kann er nur etwas aus einem der beiden Räume mitgenommen haben.“ Winnie schüttelte den Kopf. „Nur aus dem Schlafzimmer. Ich bin sicher, dass er im Wohnzimmer nichts angefasst hat.“ „Schön. Hatte er im Schlafzimmer etwas außer Kleidung? Gab es einen Schreibtisch? Hat er da Papiere aufbewahrt?“ „Der Schreibtisch stand im Freizeitraum, und den hat er nicht betreten. Außerdem habe nur ich ihn benutzt, weil ich zu Hause war und mich um Rechnungen und Versicherungen gekümmert habe. Und bevor du fragst – nein, ich habe in den Monaten vor Tuckers Verschwinden keine verdächtigen Papiere gesehen. Überhaupt nie.“ „Was ist mit Kleinkram? Hatte er im Schlafzimmer vielleicht einen Karton mit Schmuck und Schlüsseln oder ähnlichen Dingen? Hat er vielleicht den Schlüssel für ein Schließfach geholt?“
„Wir haben uns eine Schmuckschatulle geteilt, und in der hat er nachgesehen.“
Sie dachte angestrengt nach. „Er war dabei sehr vorsichtig. Offenbar kam er zu
dem Schluss, dass er von den fünfzig Millionen viel schönere Schmuckstücke
kaufen kann. Jedenfalls hat er nichts herausgenommen.“
„Bist du sicher?“
„Absolut sicher. Er hat nur ziemlich verärgert die Schatulle geschlossen, den
Reißverschluss an seiner Tasche zugezogen und sich verabschiedet.“
Eine Sackgasse. Rand war tief enttäuscht. Er hatte auf einen Hinweis gehofft, der
ihn zu Tucker führte, damit Winnie nicht länger in Gefahr war. Bei diesem Fall lief
jedoch nichts glatt.
„Nun“, fragte sie nach einer Weile, „was denkst du?“
Rand zuckte mit den Schultern. „Ich denke, dass du dich an mich auf deiner
Veranda und an die Männer im Wald gewöhnen solltest. So schnell wirst du uns
nicht los.“
11. KAPITEL Am späten Vormittag stand Winnie vor dem Badezimmerspiegel und steckte sich
das Haar hoch. Nach den letzten vierundzwanzig Stunden fühlte sie sich, als wäre
sie von einer Boeing überrollt worden. Und sie sah auch so aus.
Nach der Befragung durch Rand Michaels hatte sie versucht, sich auszuruhen und
die dunklen Ringe unter den Augen loszuwerden, aber sie hatte nicht geschlafen.
Sie war traurig, zornig und auch ein wenig verängstigt.
Nun, wenn sie ehrlich war, dann war sie zutiefst verängstigt.
CIA, Drogenbarone, gestohlene fünfzig Millionen Dollar. Das alles klang nicht
ermutigend, und sie hatte bereits genug durchgemacht.
Winnie betrachtete sich seufzend im Spiegel. Sie hatte vier Jahre mit Tucker
gelebt, ohne zu erkennen, wer er wirklich war. Sicher, in den letzten zwei Jahren
hatten sie so gut wie nicht miteinander gelebt, weil er mehr fort als zu Hause
gewesen war. Wieso hatte sie nicht gemerkt, in welchen Schwierigkeiten ihre Ehe
steckte?
Oder hatte sie es doch gemerkt? Sie hatte sich mehr als einmal vorgenommen,
ihn beim nächsten Wiedersehen darauf anzusprechen, dass er stets viel zu lange
fort war.
Warum hatte sie es nicht getan? Die Antwort lag auf der Hand. Sie hatte sich an
ihren Traum geklammert und gefürchtet, Tucker könnte sie verlassen, wenn sie
ihn zu einer Aussprache zwang. Bei ihrem Vater war das immer so verlaufen.
Daher hatte sie sich mit der kurzen Zeit begnügt, die Tucker ihr bot. Und sie
hatte sich mit der geringen Zuneigung abgefunden, die er ihr schenkte.
Auf diese Weise hatte sie sich den Traum von einem Zuhause, einer Familie und
einem Mann bewahrt, den sie lieben konnte – und der sie liebte.
Leider hatte das weder ihre Ehe noch ihren Traum gerettet. Vielleicht war es an
der Zeit, dass sie sich selbst glücklich machte.
Nein! Nicht vielleicht, sondern es war bestimmt höchste Zeit. Sie musste heute,
in dieser Stunde und in dieser Sekunde damit anfangen.
Nie wieder wollte sie um Liebe bitten. Es ging um ihr Leben, das sie auskosten
wollte. Das tat sie nicht mehr für einen Vater, der sich nur an sie erinnerte, wenn
er Geld brauchte, und auch nicht für einen Ehemann, der sich offenbar gar nicht
mehr an sie erinnerte. Sie tat es nur noch für sich selbst.
Winnie lächelte trocken. Hätte sie doch bloß gewusst, wie sie das anstellen sollte
und was sie überhaupt wollte.
Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis sie sich einen kompletten Plan
zurechtgelegt hatte, doch der erste Schritt war einfach: Sie würde an die Arbeit
zurückkehren, weil sie fliegen musste. Nur beim Fliegen fand sie Frieden. Und
das wiederum bedeutete, dass sie den Arzttermin wahrnehmen musste, den
Henry für sie gemacht hatte. Sie sah auf die Uhr. Höchste Zeit!
Hastig verließ sie das Badezimmer, griff nach der Tasche und verließ das Haus.
Draußen holte sie die Autoschlüssel hervor und stockte.
Diese arrogante Schlange!
Zornig stürmte sie zu ihrem gelben Kleinwagen. „Was machst du in meinem
Auto?“
Michaels hatte es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht. „Ich bringe dich zum
Arzt.“
„Woher weißt du überhaupt, dass ich einen Termin habe?“ fauchte sie ihn an.
„Ich habe Henry angerufen. Hast du das schon vergessen? Ich habe versprochen,
von ihm eine Maschine zu chartern, um dich damit zu Jenny zu bringen.“
Nein, das hatte sie nicht vergessen.
„Henry hat geantwortet, dass du in keine seiner Maschinen steigst, wenn du nicht
vorher beim Arzt warst. Dann hat er mir verraten, dass du heute einen Termin hast. Um ein Uhr, richtig? Wir sollten losfahren. Henry hat mich gebeten, dich um spätestens halb drei auf dem Flugplatz abzuliefern. Dann warten die Typen von der Bundesluftfahrtbehörde auf dich.“ Winnie betrachtete das Gewehr, das Michaels griffbereit zwischen die beiden Sitze gelegt hatte. Es wirkte wesentlich gefährlicher als die Waffe aus dem Überlebenspaket. Winnie wollte jedenfalls den Wagen nicht mit dieser Waffe teilen, und schon gar nicht mit diesem Mann. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist nicht mein Sekretär und auch nicht mein Leibwächter. Meinetwegen kannst du auf der Veranda sitzen und das Haus bewachen, aber ich schleppe dich nicht mit mir herum. Steig aus!“ „Du hast Recht“, bestätigte er. „Ich bin nicht dein Sekretär, aber ich bin dein Leibwächter, und du fährst ohne mich nirgendwohin. Also, steig ein.“ Sie beherrschte sich nur mit Mühe. „Sieh mal, wenn Nietos Leute tatsächlich auftauchen, dann doch hier und nicht in der Arztpraxis. Also brauche ich dich dort nicht, aber deine Freunde hier schon.“ „Du weißt ebenso wenig wie ich, wo Nietos Leute auftauchen werden. Und was meine Freunde angeht, so können sie sehr gut für sich selbst sorgen. Du kannst mir vertrauen.“ Darauf lachte sie bloß abfällig. „Wir beide wissen, wie dumm das wäre.“ „Steigst du jetzt in den Wagen?“ fragte er und seufzte. „Oder soll ich beim Arzt anrufen und sagen, dass du nicht kommst? Dann musst du aber Henry informieren, dass du morgen nicht fliegen kannst.“ Es war zum Verrücktwerden. Morgen flog sie auf jeden Fall, komme, was da wolle. Zornig lief sie um den Wagen herum, stieg ein und knallte die Tür zu. „Das ist nicht fair, und du weißt das sehr genau.“ Er hielt ihr gelassen die Hand hin. „Dass das Leben nicht fair ist, habe ich schon im ersten Jahr bei der CIA festgestellt. Erwarte nie etwas Gutes, damit du nicht enttäuscht wirst.“ Ungehalten drückte sie ihm die Schlüssel in die Hand. „Was für eine positive Einstellung! Weißt du, wie du fahren musst?“ Er startete den Motor. „Zuerst in die Stadt.“ Da er offenbar die Richtung kannte, schwieg Winnie und blickte aus dem Fenster, um der im Wagen herrschenden Spannung zu entgehen. Das gelang ihr jedoch nicht. Bei der Fernstraße, die zur Arztpraxis führte, deutete sie verkrampft nach rechts. „Hier abbiegen.“ Michaels fuhr weiter und warf ihr einen Blick zu. „Alles wäre einfacher, wenn wir einen Waffenstillstand schließen könnten.“ „Für einen Waffenstillstand braucht man ein Mindestmaß an Vertrauen, und meinen Standpunkt in dieser Hinsicht habe ich schon klar ausgedrückt.“ Er blickte grimmig nach vorne. „Hör mal“, begann er nach einer Weile, „ich werde mich nicht für meine verdeckte Ermittlung entschuldigen. Ich habe nur meine Arbeit getan. Aber für den Kuss entschuldige ich mich. Dazu hätte es nicht kommen dürfen.“ „Findest du tatsächlich?“ fragte sie so spöttisch wie nur irgend möglich. „Ich hätte dich nicht küssen sollen, allerdings aus einem anderen Grund, als du annimmst.“ „Findest du es vielleicht richtig, wegen deines Auftrags eine Frau zu verführen?“ erkundigte sie sich scharf. „Noch dazu, wenn sie unschuldig ist?“ „Nein, grundsätzlich nicht. Ich kann mir allerdings Situationen vorstellen, in denen es denkbar wäre. Wäre es die einzige Möglichkeit, um Menschenleben zu
retten, würde ich es machen. Ich habe es bisher nie getan, aber ich wäre notfalls bereit. Ich habe dich allerdings bei der Hütte nicht deshalb verführt. Der Kuss hatte nichts mit meiner Arbeit zu tun.“ Winnie schüttelte bloß ungläubig den Kopf. Einen kurzen Moment wandte er den Blick von der Straße. „Es ist so“, beteuerte er. „Ich habe dich aus einem einzigen Grund geküsst. Ich wollte es.“ Das nahm sie ihm nicht ab, auch wenn er den gleichen Ton anschlug wie bei dem Gespräch über das Gewehr. „Aber ja, natürlich!“ „Glaubst du vielleicht“, fuhr er fort, „du bist der einzige Mensch auf der Welt, der sich vergeblich nach einem schönen Zuhause gesehnt hat? Mir ist es auch mal so ergangen. Ich habe davon geträumt, ein Zuhause und eine reizende und liebevolle Frau zu haben. Dann musste ich allerdings einsehen, dass ich das nie haben kann und von einem solchen Leben immer nur träumen werde. Da draußen aber in den Wäldern…“ Um seinen Mund spielte ein entrücktes Lächeln. „Du warst alles, was ich mir jemals bei einer Frau gewünscht habe – hübsch, klug, süß und…“ „Du stellst mich hin, als wäre ich Shirley Temple“, fiel sie ihm ins Wort. „Nicht ganz“, widersprach er amüsiert. „Shirley Temple war ein niedliches kleines Mädchen. Du dagegen bist eine aufregende und erregende Frau, kein Mädchen.“ Seine Stimme hatte einen rauen Klang angenommen, und aus seinen Augen traf sie ein Blick, als würde er es wirklich ernst meinen. Eigentlich wollte sie ihm glauben und sich daran festhalten, dass die schöne Zeit in den Wäldern echt gewesen war. Sie wollte glauben, dass er gern mit ihr geangelt und gelacht hatte. Vor allem aber wollte sie glauben, dass die Leidenschaft bei dem Kuss nicht gespielt gewesen war. Doch Lügen gehörten zu seinem Beruf, und noch ein weiteres Mal ließ sie sich nicht Sand in die Augen streuen. „Ich nehme dir nicht ab, dass ein weltgewandter Mann wie du eine durchschnittliche Frau wie mich mehr als… amüsant findet.“ „Weltgewandt?“ fragte er kopfschüttelnd. „Gibt es das wirklich? Weltmüde würde besser passen. Das bin ich nämlich. Aber du bist alles andere als durchschnittlich. Und bei der Hütte…“ Sie sollte nicht fragen, sondern sich zurückziehen, aber sie musste wissen, ob dieser unbeschreibliche Kuss echt gewesen war. „Was war bei der Hütte?“ „Du hättest nie erfahren sollen, wer ich bin. Nach diesem Einsatz sollten wir uns nicht wiedersehen. Ich dachte, dass es niemandem schadet, wenn ich mir einige Tage nur für mich nehme. Ich wollte deine Nähe genießen und eine Weile so tun, als wäre ich ein ganz normaler Mann, der mit einer schönen Frau in der Wildnis festsitzt.“ Sekundenlang fuhr er schweigend weiter. „Ich wollte diesen Kuss, nur einen einzigen Kuss, sonst nichts.“ Die Sehnsucht in seiner Stimme wirkte echt, und Winnie wollte ihm glauben. Sie wäre gern der Traum eines Mannes gewesen. Aber durfte sie ihm vertrauen? Winnie steuerte die Beech 18, nachdem der Arzt am Vortag erlaubt hatte, dass sie wieder arbeiten könnte. In einem Flugzeug hoch am Himmel hatte sie immer das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Nun, dieses Mal nicht ganz. Rand saß rechts von ihr, der lebende Beweis, dass in ihrem Leben doch nicht alles stimmte. Die beiden Motoren der Maschine dröhnten gleichmäßig, und Winnie führte wie üblich donnerstags den Frachtflug nach Anchorage durch. Das war zwar nur ein kleines Stück Normalität, doch sie war dankbar dafür. Erneut hatte sie eine fast schlaflose Nacht hinter sich, weil eine Frage sie gequält hatte. Angenommen, der Kuss und die damit verbundene Leidenschaft waren echt gewesen, was bedeutete das dann?
Wollte sie ihn einfach als wunderbare Erinnerung einstufen und für ihr ruhiges
und unabhängiges Leben bewahren? Wünschte sie sich denn überhaupt ein
ruhiges und unabhängiges Leben? Ein solcher Kuss machte es einer Frau sehr
schwer, Männer völlig zu verbannen, vor allem aber diesen einen Mann. Das
wiederum führte zu einer Reihe weiterer Fragen.
Wollte sie, dass Rand nach diesem Einsatz verschwand, oder sollte er wenigstens
noch eine Weile bei ihr bleiben? Wollte sie ausprobieren, ob aus dieser
Leidenschaft mehr werden konnte?
Halt, das war viel zu weit gedacht. Sie war nicht mal überzeugt, dass der Kuss
echt gewesen war. Um das zu entscheiden, musste sie mehr wissen. Auf dem
Weg zum Arzt hatte er im Wagen eine Bemerkung gemacht, über die sie
hinweggegangen war. Heute war das anders.
Sie warf ihm einen Blick zu. Er sah nach vorne. Das Gewehr lehnte neben ihm an
der Tür der Maschine.
„Tut mir Leid wegen Jennys Geburtstag“, sagte er über Kopfhörer, als er merkte,
dass sie ihn von der Seite betrachtete. „Du hast den Besuch nicht gern
verschoben.“
„Schon gut“, meinte sie. „Wenn das alles vorbei ist, sehe ich sie wieder. Dann
holen wir die Feier nach.“
Wie versprochen, hatte er für diesen Tag eine Maschine von Henry chartern
wollen, damit sie zu Jenny fliegen und mit ihr feiern konnten. Winnie hatte
jedoch abgelehnt.
Laut neuester Meldung waren Nietos Leute im Anzug. Winnie nahm zwar an, dass
sie ihnen entkam, wenn sie ständig unterwegs war. Das war jedoch anders, wenn
sie einen ganzen Tag bei jemandem verbrachte, und sie wollte Jenny nicht in
Gefahr bringen.
Rand nickte. „Ich werde die Kosten für den Flug übernehmen.“
Das war zwar nicht nötig, aber sie ahnte, dass er sich nicht davon abbringen
lassen würde. Und im Moment gab es Wichtigeres zu bereden. „Sprich
meinetwegen mit Henry. Jetzt habe ich aber eine Frage an dich.“
„Schieß los“, forderte er sie auf.
„Gestern hast du gesagt, dass du mich nicht hättest küssen sollen.“
„Ich weiß“, erwiderte er vorsichtig.
„Warum nicht? Vielleicht könnte ich dir glauben, aber dazu muss ich mehr
wissen. Warum hättest du mich nicht küssen sollen?“
Rand schüttelte den Kopf. „Lass es, Winnie. Es war ein Fehler, und daran ändert
sich nichts, wenn wir darüber reden.“
„Schon möglich, aber ich möchte darüber reden, und das bist du mir schuldig.
Komm schon, Superspion, warum hättest du mich nicht küssen sollen?“
Er versuchte, sie mit einem einschüchternden Blick von der Frage abzubringen,
doch sie gab nicht nach.
„Warum nicht, Michaels?“
Seufzend strich er sich über die Augen. „Das bringt doch nichts.“
„Überlass mir das.“
Plötzlich wirkte er sehr erschöpft. „Sieh mal, du bist eine attraktive, liebevolle
Frau mit einem guten Herzen. Und ich… Nun ja, du hast mich schmutzig genannt,
und genau das bin ich. Ein Mann wie ich muss sich von einer Frau wie dir fern
halten.“
Damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. „Wenn du mich nicht geküsst hast,
um mich aus beruflichen Gründen zu verführen, wieso fühlst du dich dann
schmutzig?“
„Weil ich in diesem Punkt unschuldig, in vielen anderen aber schuldig bin“,
erklärte er stockend. „Wenn man so viele Jahre in diesem Beruf ist wie ich, macht man sich unweigerlich die Hände schmutzig.“ Sie hatte stets angenommen, dass die Arbeit der CIA zum Schutz des Staates gefährlich und auch schmutzig war. Darum hatte es sie erstaunt, wie wenig sich das auf Tucker ausgewirkt hatte. Doch vielleicht traf das gar nicht zu. Vielleicht war er letztlich deshalb zum Dieb geworden. Die Auswirkungen auf Rand waren jedenfalls ganz anders als die auf Tucker. „Du fühlst dich schmutzig wegen der Dinge, die du in Ausübung deines Berufs getan hast?“ fragte sie. „Denkst du denn nicht so?“ entgegnete er. „Muss ich dich daran erinnern, was du über die Hinterhältigkeit von Männern ganz allgemein und speziell von CIA und anderen Agenten gesagt hast?“ „Da war ich zornig, aber jetzt bin ich ganz ruhig. Ich habe über alles nachgedacht, und ich verstehe nun, warum ihr den Fall so angegangen seid. Du kannst dich nicht schmutzig fühlen, weil du bei der Arbeit manchmal unschöne Dinge tust.“ Er schüttelte jedoch den Kopf. „So redest du nur, weil du nicht weiß, wie viele unschuldige Menschen geopfert wurden, damit die Menschen in diesem Land in Frieden leben können.“ Er hatte Recht, sie war weitgehend ahnungslos. Wenn sie ihn jedoch so niedergeschlagen und unglücklich erlebte wie jetzt, fragte sie sich, wieso er seinen Beruf nicht schon längst aufgegeben hatte. „Vielleicht solltest du aussteigen.“ „Das habe ich ein einziges Mal versucht“, erwiderte er. „Klappt nicht.“ „Warum nicht?“ „Fragst du das ernsthaft? Was habe ich denn deiner Meinung nach mit normalen Menschen gemeinsam? Worüber soll ich mich mit ihnen unterhalten? Meinst du, sie wollen hören, wie viele Menschen ich schon getötet habe? Glaubst du, sie würden verstehen, warum ich es tun musste?“ „Lieber Himmel, du musst eine Unterhaltung nicht unbedingt mit einer Leichenzählung beginnen!“ „Nein, aber wenn man jemandem verrät, dass man für die CIA gearbeitet hat, kommt stets die Rede darauf. Und selbst wenn es die Leute verstehen, möchte ich nicht so viel Hässlichkeit in das Leben anderer bringen.“ „Dann erzählst du eben niemandem, dass du für die CIA gearbeitet hast. Erfinde eine Vergangenheit. Darin bist du doch ein richtiger Profi.“ Ihre Worte entlockten ihm ein betrübtes Lächeln. „Meinst du, daran hätte ich noch nicht gedacht? Genau das habe ich ursprünglich auch versucht. Ich habe eine neue Vergangenheit erfunden, mir ein Haus gekauft und ein neues Leben begonnen.“ „Und weiter?“ „Einige Monate hat es geklappt. Ich hatte ein hübsches kleines Haus mit einer Veranda, auf der man herrlich sitzen und bei einem kalten Bier den Sonnenuntergang beobachten konnte. Ich hatte nette Nachbarn und eine durchschnittliche Arbeit. Aber nach einer Weile ist mir klar geworden, dass es keinen Sinn hat. Ich hatte die CIA verlassen, weil ich nicht mehr lügen und so tun wollte, als wäre ich ein anderer. Und nun tat ich genau das Gleiche wieder. Ich log und verhielt mich, als wäre ich ein anderer.“ „Selbstverständlich war der Anfang schwer“, gab sie zu bedenken. „Die CIA war schließlich deine Vergangenheit. Also hast du jedes Mal gelogen, wenn du mit jemandem gesprochen hast. Mit der Zeit wäre es bestimmt einfacher geworden. Irgendwann hättest du eine echte Vergangenheit gehabt, über die du hättest reden können.“
„Das kann schon sein“, erwiderte er resigniert. „Vielleicht wäre es leichter geworden, aber letztlich wäre es ein Leben gewesen, das auf einer Lüge aufgebaut war. Das könnte vermutlich ein allein stehender Mann hinnehmen, aber ich wollte nicht mehr allein sein. Erinnerst du dich an meinen Traum? Ein Zuhause, eine Ehefrau und ein Dutzend Kinder.“ „Gleich ein Dutzend?“ fragte sie ungläubig. „Na ja, ich wäre auch mit weniger zufrieden gewesen“, lenkte er lachend ein. „Darum geht es aber nicht, weil es nie eine Mrs. Rand Michaels geben wird.“ Das konnte Winnie sich nicht vorstellen. Schließlich wusste sie, wie er küsste. „Wieso denn nicht, um alles in der Welt? Die Nachbarn sind gut mit dir ausgekommen. Wieso sollte das nicht auch für eine Frau gelten?“ Er sah sie an, als hätte sie überhaupt nichts von seinen Erklärungen verstanden. „Man kann keine Frau belügen, die man heiraten will, und ihr vormachen, man wäre ein anderer Mensch. Man kann keine Ehe auf Lügen und Halbwahrheiten aufbauen. Gerade du solltest das wissen.“ Ja, er hatte Recht, sie sollte es wissen. Ihre gescheiterte Ehe war das beste Beispiel dafür. Tucker hatte sie lange Zeit belogen oder ihr zumindest nicht die ganze Wahrheit erzählt. Er hatte Geheimnisse vor ihr gehabt, die seine Arbeit und ihn selbst betrafen; Selbst wenn er sie nicht verlassen hätte, wäre die Ehe früher oder später zerbrochen. Winnie sah ein, dass sie sich mehr gewünscht hatte, und irgendwann hätte sie es auch gefordert. „Du hast natürlich Recht“, bestätigte sie daher, „eine auf Lügen aufgebaute Ehe klappt nicht, sondern scheitert notgedrungen irgendwann. Du müsstest deine Frau aber nicht für immer belügen. Der Richtigen könntest du die Wahrheit erzählen. Für eine Frau, die dich ehrlich und wahrhaftig liebt, ist deine Vergangenheit unwichtig.“ „In welcher Traumwelt lebst du denn eigentlich?“ fragte er bitter. „Ich habe dich nur geküsst, und als du herausgefunden hast, dass ich Rand Michaels und nicht Bob Smith bin, wolltest du mir den Hals umdrehen. Und das mit Recht!“ „Ich habe nicht behauptet, dass sie das nicht auch machen will, wenn sie die Wahrheit erfährt. Aber wenn sie dich wirklich liebt, überwindet sie es auch, und dann kannst du mit ihr eine richtige Ehe führen.“ „Du verstehst noch immer nicht, worum es mir geht“, hielt er ihr vor. „Ganz abgesehen von den Lügen, wollte ich nicht die Hässlichkeit meiner Vergangenheit ins Leben meiner Nachbarn bringen. Und das gilt noch mehr für eine Frau, die ich liebe. Also bin ich zu meiner ursprünglichen Arbeit zurückgekehrt, allerdings auf privater Basis. Auf diese Weise konnte ich mir die Aufträge selbst aussuchen und den schlimmsten Einsätzen ausweichen.“ Winnie betrachtete ihn wortlos. Im Moment wusste sie nicht, ob seine Entscheidung gut und richtig oder falsch und dumm gewesen war. Doch eines war ihr nun klar: Der Kuss war echt gewesen. Ein Mann, der sich seinen Wunschtraum nicht erfüllt, um seinen Nachbarn und der gar nicht existierenden Frau seiner Träume seine Vergangenheit zu ersparen, würde eine Frau nicht nur aus beruflichen Zielen verführen. Es sei denn, es liegt ein Notfall vor. Da oben bei der Hütte hatte es jedoch keinen Notfall gegeben. Der Kuss, dieser verzehrende und faszinierende Kuss, war tatsächlich echt gewesen.
12. KAPITEL Am nächsten Morgen saß Winnie erneut am Steuerknüppel eines Flugzeugs. Es war Freitag, der Posttag. Der Frachtraum der Maschine war angefüllt mit Post, außerdem mit etlichen Päckchen, die sie am Tag zuvor abgeholt hatte, sowie Lebensmitteln und Geräten, die sie am Vorabend nach der Rückkehr aus Anchorage eingeladen hatte. Es handelte sich um Dinge, die Menschen brauchten, die nicht oft in die Stadt kamen. Sie und Rand waren in der Cessna 185 unterwegs, einer kleineren, ruhigeren und langsameren Maschine, die leichter auf Gras und kleinen Flächen landen konnte als die Beech. Am klaren Himmel trieben fröhliche Schäfchenwolken, die zu Winnies Stimmung passten. Endlich hatte sie gut geschlafen und fühlte sich nun viel besser. Noch immer gingen ihr unzählige Fragen durch den Kopf, die sich auf ihr Leben und Rand Michaels bezogen, doch heute wollte sie über nichts nachdenken. Sie brauchte einen Tag zur Erholung und Entspannung. Die letzte Woche war unglaublich anstrengend gewesen. Heute traf sie keine einschneidenden Entscheidungen. Wenn sie ihre Probleme einen oder zwei Tage ruhen ließ, sah sie hinterher bestimmt alles klarer. Diesen Tag wollte sie einfach nur genießen. Bisher war es großartig gelaufen. Sie freute sich, die Menschen zu sehen, denen sie Post zustellte. Diese Leute hatten ihr gefehlt. Sie ließ sich erzählen, was sich alles ereignet hatte, und wurde überall mit offenen Armen empfangen. Dank der Nachrichtenübermittlung über Computer oder Funk hatten alle gewusst, wann sie vermisst und wann sie gerettet worden war. Heute wurde sie daher besonders freudig begrüßt und umarmt. Sie und Rand wurden in jedes Haus geführt und mussten bei Eiscreme und Plätzchen von der Bruchlandung erzählen. Für Winnie war das eine wunderbare neue Erfahrung. Nie zuvor hatte sie sich als Mitglied einer Gemeinschaft gefühlt. Und erst jetzt merkte sie, wie sehr sie schon zu dieser Gemeinschaft gehörte. Es war auch schön, dass Rand bei ihr war. Nachdem der Streit über den Kuss geendet hatte, war die Kameradschaft aus der Zeit in der Wildnis zurückgekehrt – und mit ihr die erotische Spannung.
Diese Spannung ignorierten sie beide, und das war eine gute Entscheidung,
zumindest für einen Tag.
Winnie sagte sich jedoch, dass sie es bereuen würde, wenn sie Rand aus ihrem
Leben verschwinden ließe, ohne zumindest zu erforschen, was zwischen ihnen
sein könnte. Diesen Tag wollte sie damit allerdings nicht belasten.
Winnie blickte auf das unberührte Land unter ihnen und zeigte auf eine Hütte in
einiger Entfernung. „Unser nächster Halt. Mary Long. Du wirst sie mögen. Sie ist
Anglerin.“
„Ach ja?“ erwiderte er lächelnd. „Dann mag ich sie jetzt schon.“
Bisher hatte er alle gemocht, die er traf, und umgekehrt hatten alle ihn gemocht.
Er glaubte, nicht in die normale Gesellschaft zu passen, doch Winnie war
überzeugt, dass diese Gegend hier für ihn richtig war. Die Wildnis von Alaska war
ein gutes Zuhause für einen Panter. Dieses Land ertrugen nur starke Menschen,
die auch mit seiner Vergangenheit umgehen konnten. Allerdings war es bestimmt
nicht einfach, Rand davon zu überzeugen.
Winnie konzentrierte sich auf den schmalen Streifen frisch gemähten Grases vor
Marys Hütte und drückte den Steuerknüppel nach unten. „Halt die Torte fest,
während ich den Vogel lande“, bat sie Rand.
Die CooperKinder hatten ihr zur Feier ihrer Rettung eine Schokoladentorte
geschenkt und mit farbigem Zuckerguss Bilder darauf gemalt, die man allerdings
nicht erkennen konnte. Trotz der abstrakten Zuckerkunst sah die Torte lecker
aus, und sie schmeckte bestimmt noch viel besser, weil die Kinder sie eigens für
Winnie gemacht hatten.
Rand griff nach hinten und hielt die Torte fest, während Winnie aufsetzte und die
Maschine über den unebenen Boden auf die Hütte zurollen ließ. Mary eilte ihnen
bereits entgegen. Der graue Pferdeschwanz schwang hin und her. Auf dem Kopf
hatte sie ihren alten Hut mit breiter Krempe und zahlreichen bunten
Schwimmern. Winnie hatte stets darüber gestaunt, wie schnell sich Mary für eine
Frau Ende sechzig bewegte. Sie war zweifellos großartig in Form.
Sobald Winnie aus der Maschine geklettert war, packte Mary sie an den Schultern
und musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. „Sie sehen gut aus. Verborgene
Verletzungen?“
Winnie lächelte. Absichtlich hatte sie ein langärmeliges Hemd angezogen, damit
sich niemand wegen des Arms Sorgen machte. Doch Mary ließ sich nicht so leicht
etwas vormachen. „Ein kleiner Schnitt im Arm, mehr nicht“, erwiderte Winnie
lächelnd. „Es geht mir großartig.“
Mary richtete den Blick auf Rand. „Waren Sie bei der Bruchlandung in der
Maschine?“
„Ja, Ma’am“, erwiderte er amüsiert.
„Ist der Schnitt wirklich so klein, wie sie behauptet?“
„Nein, Ma’am“, antwortete er lächelnd, „aber er heilt bereits.“
Die Frau nickte und sah wieder Winnie an. „Passen Sie auch gut auf?“
„Ja, Mary, das mache ich. Und damit Sie mich nicht noch eine halbe Stunde lang
ausfragen, wechseln wir jetzt das Thema. Rand ist Angler.“ Darauf sprang Mary
bestimmt an.
Die grauhaarige Frau wandte sich interessiert an Rand. „Stimmt das?“
„Ja, Ma’am, ich liebe diesen Sport.“
„Sind Sie nach Alaska gekommen, um zu angeln?“ fragte Mary hoffnungsvoll.
„Teilweise“, räumte er ein.
„Schon Glück gehabt?“
Winnie seufzte. „Seine Angel ist in der Maschine verbrannt, bevor er sie
überhaupt einsetzen konnte.“
Mary runzelte die Stirn. „Das ist wirklich Pech. Was für eine Angel war das denn?
Hoffentlich nicht so ein neumodisches, hoch technisches Zeug.“
Winnie bedauerte bereits, dieses Thema angeschnitten zu haben.
„Sie war toll, eine Thomas & Thomas von meinem Großvater“, erzählte er.
Jetzt verzog Mary schmerzlich das Gesicht. „Eine Thomas & Thomas! Das ist ja
eine Katastrophe. Ich konnte mir nie eine leisten, aber ich hatte ein paar Mal
eine in den Händen.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. „Diese Angeln haben etwas
ganz Besonderes an sich, etwas geradezu Mystisches. Sie wissen, was ich
meine?“
„Und ob, Ma’am“, versicherte Rand, „ich weiß genau, was Sie meinen.“
„Na, Sie sind noch jung“, stellte Mary fest. „Sie haben genug Zeit vor sich, um
sie zu ersetzen. Ich habe eine Angel, die ich Ihnen leihen kann. Es ist keine
Thomas & Thomas, aber sie reicht.“
Nicht zum ersten Mal wurde Winnie heute daran erinnert, wie großzügig die
Menschen hier in der Gegend waren. Mary kannte Rand überhaupt nicht und
wollte ihm trotzdem etwas leihen.
Er schüttelte jedoch den Kopf. „Vielen Dank, aber ich habe im Moment keine Zeit
zum Angeln. Ich muss etwas erledigen und danach sofort wieder abreisen.“
„Jammerschade. Alaska ist ideal zum Angeln“, schwärmte Mary. „Vielleicht beim
nächsten Mal.“
„Ja, vielleicht“, meinte er und sah sich geradezu sehnsüchtig um.
Winnie wusste jedoch, dass es kein nächstes Mal geben würde. Wenn er abreiste,
kam er nicht mehr zurück. Sie schob den Gedanken beiseite und holte Marys Post
sowie ein Päckchen, das die Apotheke schickte, aus der Maschine. „Post“, sagte
sie und reichte ihr die Umschläge.
„Alles Mist“, stellte Mary nach einer flüchtigen Kontrolle fest.
„Insulin und ein Brief vom Doc“, fuhr Winnie fort.
„Was will der alte Kerl denn von mir?“ fragte Mary ungeduldig.
„Er verlangt, dass Sie sich von ihm untersuchen lassen, bevor er Ihr Rezept
erneuert.“
„Sagen Sie ihm, er kann mich mal.“
„Mary, er sorgt sich um Sie, weil Sie schon zwei Jahre nicht mehr bei ihm waren.
Sie bekommen womöglich nicht die richtige Dosis Insulin.“
„Er sorgt sich? So ein Quatsch! Der alte Kerl rammt einem nur gern Nadeln in
den Körper.“
„Schon möglich“, erwiderte Winnie lachend. „Mich hat er tatsächlich unzählige
Male gestochen, als er Blut abgenommen und mir eine Tetanusspritze gegeben
hat. Er schickt Ihnen aber kein Insulin mehr, wenn Sie sich nicht untersuchen
lassen.“
Mary zögerte. „Die Fahrt ist lang, und meine Augen sind nicht mehr so gut wie
früher.“
„Dann fliege ich Sie eben“, bot Winnie an. „In zwei Wochen. Tragen Sie es auf
dem Kalender ein, und ich sage dem Doc, dass Sie zu ihm kommen.“
„Sie können mit Ihrer Zeit etwas Besseres anfangen als…“
„Schluss jetzt! Es ist meine Zeit, und wenn ich Sie in die Stadt fliegen will, mache
ich das auch.“
„Na gut“, lenkte Mary ein. „Sagen Sie meinetwegen dem Quacksalber, dass ich
ihn besuche. Und jetzt kommen Sie ins Haus, während ich Ihrem Freund auch ein
Sandwich mache. Ihres ist schon fertig.“
Winnie eilte hinter ihr zur Hütte. „Machen Sie sich keine Mühe. Ich kann mit ihm
teilen.“ Dann brauchten sie wenigstens nur ein Sandwich wegzuwerfen, wenn sie
wieder bei Henry waren.
„Unfug, das ist doch ein großer Junge, der ordentlich essen muss. Es dauert nicht
lange, dann können Sie wieder starten.“
Winnie wusste, wann sie verloren hatte. „In Ordnung.“
Während Mary das Sandwich machte, setzte Winnie sich im Wohnzimmer in
einen Sessel. Rand trat ans Fenster und bewunderte wieder die Landschaft, die
ihm bestimmt fehlen würde, wenn er wieder fort war. Winnie hätte gern gewusst,
ob er auch sie vermissen würde. Umgekehrt war das bestimmt der Fall.
Mary brachte zwei eingepackte Sandwichs aus der Küche und gab sie Rand.
„Wenn Sie mal mehr Zeit haben, kommen Sie wieder her. Dann gehen wir zum
Angeln.“
„Ich bin dabei.“ Er gab Mary die Hand, ehe sie zur Maschine zurückkehrten.
Als sie wieder in der Luft waren, wandte Winnie sich lächelnd an Rand. „Sie ist
schon eine Type, nicht wahr?“
„Das ist sie, aber ich mag sie, wie du vorhergesagt hast.“
„Ja, ich auch. Genau genommen, mag ich das alles“, fügte sie hinzu, als ihr
plötzlich eine Erkenntnis kam. Offenbar war es wirklich gut, nicht über Problemen
zu grübeln. Dann lösten sie sich schlagartig von selbst.
„Das alles?“ fragte Rand.
„Ja, das alles“, wiederholte sie. „Es gefällt mir, in meiner Hütte zu wohnen, für
Henry zu arbeiten und Postflüge zu machen.“ Zufrieden blickte sie nach draußen.
„Weißt du, mir ist klar geworden, dass du Recht hast. Ich habe einen Großteil
meines Lebens damit verbracht, andere glücklich machen zu wollen. Jetzt nehme
ich mein Leben in die Hand und finde heraus, was ich will.“
Sie lächelte aufgeregt. „Ursprünglich bin ich nach Alaska gekommen, weil man
hier als Pilotin leicht Arbeit findet. Henry zahlt zwar keinen tollen Lohn, aber ich
konnte sofort anfangen. Eigentlich wollte ich das nur machen, bis ich etwas
Besseres finde und größere Maschinen fliegen kann. Dann könnte ich auch mehr
verdienen und die Schulden schneller abbezahlen.“
Rand nickte. „Die meisten Menschen sind auf der Suche nach einer besseren
Stellung.“
„Aber ich nicht mehr. Ich will keine besser bezahlte Arbeit, sondern diese. Hier
gefällt es mir, ich fliege gern die Post aus, ich mag diese Menschen, und ich
kümmere mich gern um sie.“ Winnie konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln.
„Und es ist toll, wie sie sich um mich kümmern.“
„Wie schön für dich“, pflichtete Rand ihr strahlend bei.
„Ja, wie schön für mich“, bestätigte sie und trommelte fröhlich mit den Fingern
auf den Steuerknüppel.
„Das muss gefeiert werden“, erklärte er, wickelte eins von Marys Sandwichs aus
und reichte es ihr.
„Oh nein, damit feiern wir ganz bestimmt nicht“, wehrte sie lachend ab und legte
das Sandwich in ihren Schoß. „Das wollen wir nicht mal essen.“
„Wie du meinst, aber ich bin hungrig. Plätzchen und Eis sind ja nett, aber ich
möchte etwas Richtiges“, erwiderte er und hob das Sandwich zum Mund.
„Nicht!“ rief sie und wollte es ihm wegnehmen, aber er biss hinein, kaute und
schluckte.
„Was ist denn? Schmeckt doch gut.“
Winnie starrte ihn entsetzt an. „Das ist Leber mit Sardellen und
Traubenmarmelade!“ erklärte sie und schüttelte sich angeekelt.
„Klingt nahrhaft und enthält eine Menge Proteine“, stellte er fest. „Zucker
versorgt einen mit Energie“, fügte er hinzu und biss erneut ab.
„Hör bloß auf“, bat sie und schloss die Augen, weil sie es nicht sehen konnte.
„Was ist denn bloß mit dir los? Hast du keine Geschmacksnerven?“
„Das schon, aber ich habe mir schon vor langer Zeit abgewöhnt, damit etwas zu
schmecken.“
„Das ist unmöglich“, widersprach sie.
Er biss erneut in das Sandwich und lachte über Winnies Gesicht. „Doch, es ist ein
Trick. Man kann sich doch auch dazu erziehen, keinen Schmerz zu spüren oder
seinen Feinden keinen Anhaltspunkt zu liefern.“
Sie sah ihn durchdringend an. Stimmte das, oder nahm er sie auf den Arm?
Er hob lachend die Hand wie zum Schwur. „Es ist wahr, ich schwöre es.“
„Was hat nichts schmecken damit zu tun, dass man seinen Feinden keinen
Anhaltspunkt liefert?“
„Hast du eine Ahnung, wohin ich bei meiner Arbeit manchmal geschickt werde?“
fragte er.
„So wie du diese Landschaft hier ansiehst, sind das meistens keine schönen
Gegenden.“
„Absolut nicht schön“, bestätigte er. „Meistens lande ich in einer schlimmen
Umgebung in der Dritten Welt. Kannst du dir vorstellen, was man da zu essen
bekommt?“
Winnie schüttelte den Kopf. Wenn im Vergleich dazu ein Sandwich mit Leber,
Sardellen und Marmelade gut schmeckte, wollte sie es lieber gar nicht wissen.
„Schlangen, Insekten, Affen. Schrecklich“, stellte er fest.
„So etwas hast du doch nicht im Ernst gegessen?“ fragte sie schaudernd.
„Und ob, sonst wäre doch meine Tarnung aufgeflogen. Wenn ich nicht auffallen
möchte, muss ich alles essen. Das meine ich damit, dass man dem Feind keinen
Anhaltspunkt liefern darf. Esse ich nicht das Gleiche wie die Leute, merken sie,
dass ich nicht der bin, für den ich mich ausgebe.“
„Verstehe“, meinte sie und schauderte erneut. „Aber jetzt bist du in keiner
schlimmen Umgebung. Es besteht kein Grund dazu, dieses schreckliche Sandwich
zu essen.“
„Abgesehen davon, dass ich hungrig bin und dass es sättigt“, meinte er. „Nach all
meinen Erfahrungen spielt es keine Rolle, was ich esse.“
„Was heißt, es spielt keine Rolle? Du verstehst es vielleicht, deine
Geschmacksnerven auszuschalten, aber sie sind noch vorhanden, und du kannst
sie doch auch wieder einschalten, oder nicht?“
„Vermutlich schon, aber wozu?“ fragte er und schob sich den letzten Bissen in
den Mund.
„Willst du damit sagen, dass du gar nichts mehr schmeckst?“ erkundigte sie sich
überrascht.
„So gut wie nichts.“ Er zeigte auf ihr Sandwich. „Isst du das nun oder nicht?“
„Nein.“ Sie schob ihr Fenster auf und warf das Sandwich hinaus. „Und ich sehe
auch nicht zu, wie du es isst.“
„Hey!“
„Vergiss es. Es gibt doch bestimmt etwas, was du gern isst.“
Rand zuckte mit den Schultern. „Julianas Kuchen.“
„Wer ist Juliana?“ fragte sie eifersüchtig.
„Griffs Frau“, erwiderte er lächelnd. „Sie macht oft Apfelkuchen.“
Eine Frau, die mit einem Mann verheiratet war, der fast so attraktiv war wie
Rand. Das war schon besser. „Na schön, du magst Julianas Kuchen. Was noch?“
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand völlig die Lust am Essen verloren
hatte.
Rand überlegte… und überlegte…
„Ich bitte dich! Dir fällt doch bestimmt noch etwas ein, wofür du gern deine
Geschmacksnerven wieder einschalten würdest!“
„Tut mir Leid“, erwiderte er kopfschüttelnd.
Das machte Winnie traurig und zornig. Vor allem fand sie es schade, dass dieser
Mann seinen Traum aufgegeben hatte und sich sogar das harmloseste Vergnügen
versagte. Und das alles tat er für eine Arbeit, die er ablehnte.
Gleichzeitig wurde sie tatsächlich zornig. Wie kam er dazu, ihr zu sagen, sie wäre
für ihr eigenes Glück verantwortlich, wenn er nicht mal mehr wusste, was er gern
aß?
Männer! Vor allem dieser Mann brauchte dringend einen ordentlichen Tritt, damit
er die richtige Richtung fand.
Winnie lächelte angriffslustig. Vielleicht bekam er diesen Tritt ja von ihr.
13. KAPITEL Rand saß auf einem Holzscheit, das er neben dem Feuer auf die Erde gelegt hatte, wärmte sich die Hände und bewunderte Winnies Blumenwiese, die sich sanft im Abendwind wiegte. Es war Samstagabend neun Uhr. Die Wachablösung hatte soeben stattgefunden. Er rieb sich die Hände gegen die Kälte. Eine leichte Jacke hatte er schon angezogen, und bald wollte er sich eine dickere holen. Bis zum Morgen wurden es dann insgesamt mehrere Lagen Kleidung, aber er würde noch immer frieren, weil er sich einfach noch nicht auf die nordischen Temperaturen in Alaska eingestellt hatte. Aufmerksam betrachtete er den Wald. Nietos Leute waren am Morgen in Kanada gesichtet worden, doch hier war alles ruhig. Winnie hatte den ganzen Tag ihre Hütte nicht verlassen. Rand war froh, sie davon überzeugt zu haben, dass der Kuss und seine Arbeit nichts miteinander zu tun gehabt hatten. Endlich fühlte sie sich nicht mehr von ihm betrogen. Damit hatte er allerdings auch die Trennwand zwischen ihnen beseitigt, und das konnte gefährlich werden. Trotz des Entschlusses, sich zurückzuhalten, begehrte er Winnie. Am Tag zuvor war er auf kleinstem Raum mit ihr zusammen gewesen und hatte miterlebt, wie sie allmählich ihr wahres Ich entdeckte. Dabei hatte er die starke Anziehung zwischen ihnen ebenso wie sie einfach ignoriert. Es war die reinste Qual gewesen. Daher war es beinahe schon eine Erleichterung, hier draußen zu sitzen, während sie sich in ihrer Hütte versteckte. Dort war sie in Sicherheit – vor Nietos Leuten und vor ihm. Allerdings hätte er gern gewusst, was sie machte. Sie war den ganzen Tag über sehr beschäftigt gewesen und hatte sich viel in der Küche aufgehalten. Vor zwei Stunden hatte Talon ihr eine Tüte aus einem Laden gebracht. Rand hatte ihn gefragt, was darin wäre, doch Talon hatte nur mit den Schultern gezuckt und seinen Posten wieder bezogen. Kopfschüttelnd warf Rand Holzscheite ins Feuer. Talon war ein guter Kollege, mit dem er gern arbeitete, aber für eine Unterhaltung oder Auskünfte war er nicht zu gebrauchen. Wenn er meinte, jemand sollte etwas erfahren, sagte er es. Ansonsten schwieg er. Rand nahm zwar an, dass der Inhalt der Tüte harmlos war. Dennoch hätte er gern gewusst, was Winnie bestellt hatte. Es gefiel ihm nicht, dass sie etwas hinter seinem Rücken tat. Außerdem hätte er sie zum Laden fahren können. Offenbar wollte sie nicht, dass er wusste, was sich in der Tüte befand. Er schürte das Feuer mit einem Ast und blickte zur Hütte hinüber. Was lief dort drüben? Er nahm zwar nicht an, dass Winnie dumm genug war, ihre Wächter abzuschütteln, sicher war er allerdings nicht. Bisher hatte sie mitgespielt, aber glücklich war sie nicht. Erneut blickte er zur Hütte hinüber. Man konnte leicht hineinsehen. Es wurde bereits dunkel, und Winnie hatte schon vor einer halben Stunde Licht eingeschaltet. Daher entdeckte er sie sofort. Sie war noch immer in der Küche und holte soeben etwas aus dem Herd. Da er auf der Erde saß, konnte er jedoch nicht erkennen, was es war. Er stand auf, schaffte es jedoch nicht mehr, weil sie schon ein Tuch darüber gelegt hatte. Soeben wischte sie sich die Hände an den Jeans ab und ging zur Haustür, öffnete sie und sah lächelnd zu ihm herüber. „Wie läuft es denn? Alles ruhig an der Front?“ „Ganz ruhig“, bestätigte er. „Recht kühl hier draußen“, stellte sie provozierend fest.
„Ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte er vorsichtig. Sie war eindeutig auf
irgendetwas aus.
Winnie blickte zum Himmel hinauf, an dem sich bereits die ersten Sterne zeigten.
„Vermutlich wird es heute Nacht kälter als gestern.“
Er seufzte. „Bist du nur herausgekommen, um mich zu quälen?“
„Nein“, erwiderte sie lachend. „Ich biete dir sogar für diese Nacht ein warmes
Plätzchen zum Schlafen an.“
Schlagartig wurde ihm warm, weil er wieder vor sich sah, was er sich schon den
ganzen Tag ausgemalt hatte: Winnie und er nackt im Bett. Er dachte jedoch auch
praktisch. Schließlich hauste er nur hier draußen, weil er Winnie nicht stören
wollte, doch viel lieber hätte er sie drinnen in der Hütte beschützt, und gegen
Wärme hatte er auch nichts einzuwenden. „Ein warmes Plätzchen zum Schlafen?“
Sie nickte. „Vielleicht willst du in der Hütte schlafen? Hier ist es warm, und du
könntest auf dem Sofa anstatt auf der kalten Erde liegen.“
„Ist das eine Einladung?“
„Vielleicht.“
„Vielleicht?“ wiederholte er. „Wo ist der Haken?“
„Du musst erst einen Test bestehen“, erklärte sie strahlend.
„Was für einen Test?“ fragte er vorsichtig.
„Komm herein, dann zeig ich es dir“, forderte sie ihn auf und zog sich ins Haus
zurück.
Er griff nach dem Gewehr, durchquerte den Vorgarten mit den Blumen und trat
ein. Es roch nach Zimt. „Du hast gebacken.“
„Richtig, und das ist der Test.“ Sie deutete auf das Tuch, unter dem sich der
Schatz verbarg. „Apfelkuchen.“
„Apfelkuchen ist mein Test?“ forschte er.
„Das ist der Handel. Heute Abend wecken wir deine Geschmacksnerven ein wenig
auf. Diese Selbstverweigerung muss aufhören. Es ist schlimm, dass du manchmal
etwas Unappetitliches essen musst, aber das ist kein Grund, völlig auf gutes
Essen zu verzichten. Dagegen werden wir heute Abend etwas unternehmen.“
Es gab eine ganze Menge, wonach er sich während der Wache gesehnt hatte.
Apfelkuchen hatte nicht dazugehört.
„Du hast gesagt, dass du Apfelkuchen magst“, fuhr sie fort. „Da ich den besten
Apfelkuchen in den gesamten Vereinigten Staaten mache, dachte ich, dass ich so
am Besten deinen armen Geschmackssinn wecke.“
„Also, wenn ich dafür ein Plätzchen auf deinem Sofa bekomme, esse ich sehr
gern deinen Kuchen“, versicherte er.
„Oh nein“, wehrte sie ab, „so einfach ist das nicht. Ich habe gesehen, wie du
lächelnd dieses grauenhafte Sandwich verschlungen hast. Es geht also nicht nur
darum, den Kuchen zu essen.“
„Also kommt noch ein Haken“, stellte er fest.
„Natürlich“, versicherte sie vergnügt und zog das Tuch weg. „Hier sind zwei
Kuchen. Den einen habe ich gebacken, und der andere war tiefgefroren. Griff hat
ihn im Laden besorgt und hergeschickt.“
„Das war also in der Tüte, die Talon gebracht hat.“
Winnie nickte. „Kuchen und Eiscreme.“
„Sonst noch etwas?“
„In der Tüte? Nein. Was hast du denn gedacht? Eine Bombe?“
„Da du mir Apfelkuchen anbietest, habe ich eher an etwas Harmloseres gedacht
wie zum Beispiel Schlaftabletten oder Strychnin.“
„Rand, ich bitte dich! Einer deiner Männer hat die Sachen gebracht. Meinst du, er
hätte das getan, wenn ich damit Schaden anrichten könnte?“
„Grundsätzlich nicht, aber bei Talon weiß man nie. Er hat einen ziemlich schrägen
Humor.“
„Möglich, aber so schräg ist er nun auch wieder nicht. In der Tüte waren keine
Schlaftabletten und auch kein Strychnin. Wozu auch? Ich bin nicht mehr böse auf
dich.“
„Freut mich zu hören“, versicherte er. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob du dich
mit der ständigen Bewachung abgefunden hast.“
„Ich bin nicht begeistert“, bestätigte sie, „aber ich möchte mich auch nicht selbst
gegen Nietos Männer verteidigen müssen. Also bekommt keiner von euch
Schlaftabletten.“
„Was für eine Erleichterung.“
„Natürlich. So, nun wieder zu den Kuchen. Du kostest beide, und dann musst du
entscheiden, welchen ich gebacken habe und welcher aus dem Laden stammt.
Irrst du dich, schläfst du draußen auf der Erde. Errätst du es, warten
Behaglichkeit und Wärme auf dich“, fügte sie hinzu und deutete zum Sofa.
Das hatte sie sich gut ausgedacht. Dieses Mal musste er sich anstrengen. Es
reichte nicht, dass er bloß lächelte und versicherte, wie toll es schmeckte.
Schlimm war vor allem, dass er bei einem Fehler nicht nur wieder draußen in der
Kälte landete, sondern dass Winnie dann auch auf ihn sauer sein würde. „Du bist
eine hinterhältige Frau, Winnie Mae Taylor.“
„Ich weiß“, bestätigte sie vergnügt. „So. Du setzt dich jetzt aufs Sofa, und ich
verbinde dir die Augen. Dann geht es los.“
„Oh nein, sonst kann ich dich nicht beschützen, wenn…“
„Bitte“, fiel sie ihm ins Wort. „Entspann dich. Cash und Talon sind doch draußen
auf der Straße.“
„Nein, Marshall und Rawlins. Cash und Talon sind ein Stück…“
„Egal. Eure Leute haben jedenfalls alles unter Kontrolle.
Außerdem werde ich dich nicht fesseln und knebeln, sondern dir nur die Augen
verbinden. Sollten Nietos Leute ausgerechnet während des Tests auftauchen,
nimmst du die Augenbinde ab und kannst sofort den Helden spielen.“
„Also schön, fangen wir an“, lenkt er ein, lehnte das Gewehr ans Sofa, zog die
Jacke aus und setzte sich.
Winnie holte ein rotes Tuch vom Tisch und kniete sich neben ihm aufs Sofa.
„Augen zu“, befahl sie und stieß mit dem Knie gegen seinen Schenkel.
Er gehorchte, und sobald er nichts mehr sehen konnte, spürte er den Druck ihres
Knies viel deutlicher. Ihre Brüste streiften seine Schulter. Ihr Körper strahlte
Wärme aus.
Verlangen durchströmte ihn, und es fiel ihm schwer, die Hände bei sich zu
behalten.
„Keine Angst, es ist nicht schwer“, versicherte sie.
Hatte sie eine Ahnung! Allerdings ging es bei ihm nicht um den Test.
Sobald Winnie sich davon überzeugt hatte, dass das Tuch gut saß, zog sie sich
zurück, holte die Kuchen und setzte sich erneut neben ihn. Ihre Körper berührten
sich.
„Der erste Bissen“, kündigte sie an.
Er roch den Kuchen, öffnete den Mund, nahm den Bissen entgegen und kaute
langsam. Aber vielleicht konnte er tatsächlich nichts mehr schmecken. Im
Moment merkte er jedenfalls nicht viel. Wenn er nicht mehr schaffte, stand
Winnie eine Enttäuschung bevor. Darum konzentrierte er sich.
Es schmeckte süß… und salzig… etwas klebrig. Es war essbar, aber nicht
besonders. Hoffentlich war das nicht Winnies Kuchen.
„Gut?“ fragte sie, sobald er schluckte.
Oh! Klang sie so begeistert, weil es doch ihr Kuchen war? Jetzt steckt er in
ernsthaften Schwierigkeiten. „Gut“, versicherte er.
„Dann koste diesen hier.“
Er ließ sich wieder füttern, kaute sorgfältig und hoffte, einen gewaltigen
Unterschied festzustellen, damit er Winnies berühmten Kuchen erkannte.
Es schmeckte süß… und salzig… etwas klebrig, genau wie der erste Bissen. Er
schluckte krampfhaft.
„Nun?“ fragte sie.
Warum hatte er sich bloß darauf eingelassen! „Ich merke den Unterschied, aber
ich brauche noch von jedem einen Bissen, um ganz sicher zu sein.“
„Im Ernst?“ fragte sie empört.
„Nur noch einen Bissen von jedem“, drängte er.
Sie riss ihm das Tuch von den Augen. „Rand, diese beiden Kuchen sind
unterschiedlich wie Tag und Nacht. Wenn du noch einen Bissen brauchst,
bemühst du dich nicht!“
Er versuchte, nicht darauf zu achten, wie angenehm es war, dass sie sich an ihn
drückte. „Ich bemühe mich, aber… es ist nur… Nimm es nicht persönlich, aber ich
bin mir nicht sicher, ob ich Apfelkuchen überhaupt mag.“
„Du hast doch gesagt, dass du ihn magst“, hielt sie ihm enttäuscht vor.
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe gesagt, dass ich gern Julianas Apfelkuchen
essen, aber nicht, weil er gut schmeckt.“
„Warum sonst solltest du ihn gern essen?“ fragte sie verblüfft.
„Weil es Juliana unbeschreiblich viel Vergnügen bereitet, ihn zu backen. Sie hat
für Griff als Erstes Apfelkuchen gemacht.“
„Aber er schmeckt gut, oder?“
„Woher soll ich das denn wissen?“ fragte er ratlos. „Ich schmecke es doch nicht.
Ich esse ihn wie alles andere. Kauen, schlucken und glücklich lächeln.“
„Du bist ein hoffnungsloser Fall“, stellte sie fest. „Und dir entgeht bei Julianas
Kuchen bestimmt etwas.“
„Das bezweifle ich“, wehrte er ab. „Außer mir rührt ihn keiner an.“
„Aber warum isst du ihn denn dann?“ fragte sie verblüfft.
„Weil Juliana sich unglaublich anstrengt und jemand das schätzen sollte.“
Winnie lächelte. „Du bist ein reizender Mann, Rand Michaels; unmöglich, aber
reizend.“ Sie tätschelte freundschaftlich seinen Schenkel. „Lass dir von
niemandem etwas anderes einreden.“
Die Wirkung auf seinen Körper war alles andere als freundschaftlich. Die Hose
begann zu spannen. Es war besser, er zog sich zurück, bevor etwas passierte,
was er hinterher bereute.
Er schob Winnies Hand weg und räusperte sich. „Es war eine nette Idee von dir,
aber wir sollten jetzt damit aufhören. Ich gehe wieder nach draußen.“ Die kühle
Luft würde sein Verlangen eindämmen, und Winnie war vor ihm sicher…
„Oh nein, kommt nicht infrage“, entschied sie und hielt ihn am Arm fest. „Du hast
gerade erst angefangen.“
„Winnie…“
„Ich dulde nicht, dass du aufgibst, bevor du es nicht wirklich versucht hast. Im
Einsatz willst du nichts schmecken, aber jetzt will ich, dass du gutes Essen
genießt. Das bringt Freude und ist schön, ja sogar sinnlich. Es gibt keinen Grund,
dir das nicht zu gönnen, nur weil du es manchmal nicht brauchen kannst.“
Sein Verlangen wuchs. Wenn er sich nicht schnellstens zurückzog, gab es
Probleme, doch mit Taktgefühl kam er offenbar nicht los. „Willst du wissen, was
sinnlich ist?“ fragte er und beugte sich zu ihrem Haar. „Wie du duftest, wie du
mich berührst, wie deine Brust gegen meinen Arm drückt. Ich soll genießen? Gut,
ich könnte die beiden Kuchen genießen, aber ich will dich. Und wenn ich nicht auf
der Stelle gehe, handle ich danach.“
Er wartete darauf, dass sie ihn freigab, aufsprang und sich in Sicherheit brachte.
Sie drückte jedoch seinen Arm noch fester, und ihr Atem ging plötzlich schneller.
„Was ist, wenn ich das will?“ flüsterte sie.
„Winnie…“
Sie strich sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Ich will es. Ich weiß nicht,
wie es hinterher weitergehen wird, aber küss mich bitte wieder. Ich möchte diese
Spannung, die Wärme und das unbeschreibliche Verlangen spüren.“
Das sollte er nicht machen. Er sollte aufstehen und das Haus verlassen, solange
es noch möglich war. Doch er schaffte es nicht und wollte es auch gar nicht. Sein
letzter Widerstand brach zusammen.
Ohne zu überlegen, küsste er sie, erforschte ihren Mund und zog .sich zurück.
„Das ist ein Geschmack, den man nicht vergisst: süß, verführerisch und
berauschend“, flüsterte er und gab sich erneut dem Genuss hin.
Sie kam ihm entgegen und stöhnte leise, als sie ihm die Arme um den Hals
schlang und ihn zu sich heranzog. Rand hob sie hoch, und sie ließ sich auf seinen
Schoß sinken und klemmte seine Schenkel zwischen den Knien ein.
Jetzt stöhnte er, als sie sich intim berührten, und rieb sich langsam und
aufreizend an ihr, während er die Zunge tiefer in ihren Mund drängte. Ihre Brüste
berührten seine Brust, mit den Fingern strich sie durch sein Haar.
Mit bebenden Händen hielt er sie fest und verwünschte die Kleidung, die sie
voneinander trennte. Sie war nicht wie die Frauen, von denen er geträumt hatte,
sondern besser. Viel besser. Er brauchte sie, wenn auch nur ein einziges Mal. Das
würde ihm genügen.
Das Verlangen, mit ihr zu schlafen, war stärker, als der Wunsch zu atmen. Doch
was war mit ihr? Eine Nacht mit einer Frau wie Winnie war mehr, als er jemals
erwartet hätte, ein Geschenk, das ihm eine wertvolle Erinnerung mit auf den
restlichen Lebensweg gab. Doch vor Winnie lag die Zukunft. Was konnte er ihr
schon geben?
Nichts. Er hatte nichts anzubieten, und er hatte ihr schon genug Kummer
bereitet. Noch ein Kuss, dann löste er sich von ihr und schob sie heftig atmend
von sich. „Das können wir nicht machen“, wehrte er ab.
Winnie klammerte sich an seinen Schultern fest. „Was ist denn daran falsch?“
„Alles. Du willst keinen OneNightStand, und mehr kann ich dir nicht geben.“
„Ich habe dich nicht um eine lebenslängliche Bindung gebeten, Rand.“
„Das weiß ich, aber du willst sie.“
„Woher weißt du denn, was ich will?“ fragte sie aufgebracht.
„Du hast dich vier Jahre lang bemüht, eine Ehe zu bewahren, die keine Chance
hatte“, hielt er ihr vor. „Eine einzige Nacht würde dir niemals genügen. Ich werde
dich nicht verletzen, nur weil wir beide im Moment erregt sind.“
Damit schob er sie endgültig von sich und stand auf. Winnie war sichtlich
enttäuscht und verletzt, und er sehnte sich verzweifelt nach ihr.
Entschlossen griff Rand nach Jacke und Gewehr und ging zur Tür. „Schließ hinter
mir ab, und öffne niemandem!“
Mir am allerwenigsten, fügte er im Stillen hinzu.
14. KAPITEL Winnie stellte einen schweren Karton auf das Bett. Nach dem Umzug hatte sie die Hälfte ihrer Sachen in den Kartons gelassen, weil sie mit einer besser bezahlten Stellung und einem neuerlichen Umzug gerechnet hatte. Doch sie suchte keine andere Stellung mehr, und darum packte sie jetzt aus. Das war nicht unbedingt die interessanteste Tätigkeit an einem sonnigen Sonntagnachmittag, aber sie konnte und wollte Rand nicht gegenübertreten. Andererseits musste sie sich irgendwie von dem gestrigen Kuss ablenken. Sie war verwirrt, enttäuscht und nervös. Aber sie war auch froh, dass Rand sich zurückgezogen hatte, bevor es kein Halten mehr gegeben hätte. Es stimmte, dass sie nicht so einfach mit einem Mann ins Bett ging. Hätte sie es mit ihm getan, hätte sie ihm einen Teil ihres Herzens geschenkt, und sie wusste nicht, ob sie dafür bereit war. Andererseits… Sie fragte sich, ob sie nicht etwas Unbeschreibliches versäumt hatte. Nie zuvor hatte sie ein solches Verlangen verspürt. Doch reichte eine Nacht für sie? Mehr wollte Rand ihr nicht geben. Er glaubte sogar, ihr nicht mehr bieten zu können. Hätte er mit ihr geschlafen, hätte das wahrscheinlich bis zum Ende seines Einsatzes gedauert, doch danach wollte er gehen. Natürlich konnte sie ihn auch bitten zu bleiben, doch dann riskierte sie einen größeren Teil ihres Herzens. Es gab schließlich keine Garantie dafür, dass er bleiben würde. Alles deutete auf das Gegenteil hin, und diesen Schmerz wollte sie vermeiden. Schließlich war sie gerade erst dabei, ihr Herz zu heilen. Seufzend riss sie das Klebeband vom Karton. Es reichte. Sie wollte nicht länger nachdenken. Schließlich hatte sie schon in der Nacht kaum geschlafen, weil sie wegen des ungestillten Verlangens nicht zur Ruhe gekommen war. Im Moment konzentrierte sie sich darauf, die kleine Hütte in ein richtiges Zuhause zu verwandeln. Entschlossen öffnete sie den Karton, in dem alles Mögliche verstaut war. Zuerst holte sie ihre Jahrbücher aus der Schulzeit heraus und legte sie aufs Bett. Danach folgten die Bücherstützen aus Messing in Form von Flugzeugen. Ihre Schmuckschatulle war in ein Handtuch gewickelt, damit sie nicht beschädigt wurde. Lächelnd stellte Winnie die Schatulle auf die Kommode. In dieser Umgebung gab es nur wenige Gelegenheiten, bei denen man Schmuck tragen konnte, aber sie besaß einige Stücke, an denen sie hing und die sie fast immer tragen konnte. Um sich den Tag zu verschönern, hob sie den Deckel an. In der Schatulle lag die schlichte Goldkette mit einer einzelnen Perle, die ihre Mutter ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Der Klassenring aus der High School folgte. Sie hatte ihn sich sehnsüchtig gewünscht und dann nur eine Woche getragen. Da war auch noch die Uhr, die Tucker ihr ziemlich kurz vor der Trennung geschenkt hatte. Diese Uhr erinnerte sie daran, wie schmerzlich es sein konnte, wenn man sein Herz entblößte. Zögernd griff sie nach der Uhr, Tuckers letztem Geschenk, und strich darüber. Ihr Blick fiel auf die Gravur, die sich auf der Rückseite befand. Es war ein Name, aber nicht ihrer. Ein hässlicher Verdacht meldete sich. Tucker hatte eine Erklärung für den Namen geliefert, und sie hatte ihm geglaubt. Rückblickend war sie sich ihrer Sache jedoch nicht mehr sicher, schon gar nicht, wenn sie daran dachte, wie Tucker am letzten Tag in der Schmuckschatulle gesucht hatte. War es ihm um die Uhr gegangen? Zornig verließ sie das Schlafzimmer und öffnete die Haustür. Rand drehte sich mit dem Gewehr im Arm um. Sie winkte ihm von der Veranda zu. „Komm mal
her!“ Er durchquerte den Vorgarten. „Was gibt es?“ Sie hielt die Uhr hoch. „Vor acht Monaten hat Tucker mir bei einem seiner Kurzbesuche das hier geschenkt.“ Rand betrachtete die Uhr, wusste aber sichtlich nicht, worum es ging. „Hübsch.“ „Das fand ich auch“, stellte sie fest. „Aber deshalb zeige ich sie dir nicht. Ich glaube, sie war nicht für mich bestimmt.“ „Wieso nicht?“ Winnie versuchte, sich ganz genau zu erinnern. „Weil er mir diese Uhr unter sonderbaren Umständen geschenkt hat.“ „Was meinst du damit?“ fragte er rasch. Sie schwieg, weil sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. „Rede einfach, Winnie, und wir finden dann schon heraus, was wichtig ist und was nicht.“ „Also schön. Tucker war schon den zweiten Tag wieder da, und wie üblich hatte ich am Vorabend zu seiner Rückkehr ein großes Essen vorbereitet. Es blieb so viel übrig, dass ich daraus das Mittagessen machen wollte. Mittags wollte er aber unbedingt ein Sandwich mit Erdnussbutter.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ein Sandwich mit Erdnussbutter! Ich bin wirklich ein Dummkopf. Wer isst schon Erdnussbutter, der älter ist als zwölf Jahre?“ „Meines Wissens eine ganze Menge Menschen.“ „Tucker hat sie jedenfalls nie gegessen“, stellte sie fest. „Offenbar wollte er mich aus dem Haus haben. Und als liebe brave Ehefrau bin ich natürlich sofort losgelaufen, um ihm seine Erdnussbutter zu besorgen. Ich war aber kaum aus dem Haus, als mir eingefallen ist, dass ich das Geld vergessen hatte. Also bin ich wieder zurückgelaufen.“ „Und jetzt kommt die Uhr ins Spiel?“ Sie nickte. Mittlerweile war sie restlos überzeugt, dass Tucker sie auch in dieser Hinsicht belogen hatte. „Als ich ins Haus kam, packte er soeben eine Schmuckschatulle in rosa Papier ein. Er war sichtlich überrascht, und als ich ihn fragte, was er da tat, hat er zuerst herumgestottert. Dann hat er behauptet, er hätte mir etwas mitgebracht, das er einpacken wollte, bevor er es mir gibt. Aber nun wäre ich schon mal hier, und da könnte er es mir gleich so geben.“ „Und in der Schatulle lag die Uhr?“ „Genau, und ich habe mich sofort darin verliebt, aber nicht nur, weil sie mir gefallen hat. Es war das erste Mal, dass er mir etwas mitgebracht hat. Ich war begeistert. Dann ist mir allerdings aufgefallen, dass auf der Rückseite nicht Winnie Mae eingraviert war.“ „Hast du ihn denn darauf angesprochen?“ Sie nickte. „Ich sollte mich nicht an der Gravur stören. Er hätte die Uhr bei seinem letzten Einsatz auf einem Flohmarkt gefunden und sofort an mich gedacht.“ „Du hast ihm geglaubt?“ hakte Rand nach. „Damals schon, aber jetzt vermute ich eher, dass das Geschenk für seine neue Liebe bestimmt war. Ich weiß noch, dass ich überrascht war, weil sie wie neu aussah und nicht den kleinsten Kratzer hatte.“ Sie hatte bereits begriffen, dass ihre Ehe schon längst zerbrochen war, bevor Tucker sie beendete. Trotzdem traf sie jeder neue Beweis. „Vielleicht ist das eine Spur, die euch hilft“, sagte sie und reichte Rand die Uhr. „Als er sich von mir trennte, war die Uhr nicht in der Schatulle. Ich hatte sie ausnahmsweise in eine Schublade gelegt.“ Er drehte sich um und las die Inschrift. „Carmen Marguerite. Einzeln sind das ziemlich übliche Namen, in dieser Kombination aber ungewöhnlich. Beide sind
lateinamerikanisch. Das passt. Tucker ist in Südamerika verschwunden, und laut CIA hat er im letzten Jahr ausschließlich da unten gearbeitet. Vielleicht ist das wirklich der gesuchte Hinweis. Ich rufe Griff an.“ Er gab ihr die Uhr zurück und schaltete sein Handy ein. „Hier Michaels“, sagte er nach einer Weile. „Winnie hat mir soeben eine Uhr gezeigt, die Tucker ihr vor ungefähr acht Monaten geschenkt hat. Auf der Rückseite ist der Name ,Carmen Marguerite’ eingraviert. Die näheren Umstände sind im Moment unwichtig, aber diese Carmen Marguerite könnte die Frau sein, mit der Taylor durchgebrannt ist.“ Er ging einige Schritte weg, während er zuhörte. „Gut, wir warten.“ Er steckte das Telefon weg. „Griff ruft die CIA an, und weil die CIA manchmal Informationen zurückhält, setzte er auch einen der Männer von Freedom Rings darauf an. Wir erfahren es, sobald er etwas hört.“ Winnie nickte und blickte zu den schneebedeckten Gipfeln hinaus. Nachdem sie Rand informiert hatte, sollte sie wieder hineingehen und weiter auspacken, aber sie fand nicht die nötige Energie. „Alles in Ordnung?“ erkundigte er sich. „Ja, bestens“, erwiderte sie und lächelte matt. Doch nichts war bestens. Sie fühlte sich ausgelaugt und allein. „Tut mir Leid wegen der Uhr“, meinte er besorgt. „Nicht deine Schuld, dass ich einen Schuft geheiratet habe, ohne es zu merken“, erwiderte sie. Rand wartete darauf, dass sie sich zurückzog, doch sie ertrug die Einsamkeit im Haus im Augenblick nicht. „Soll ich dir eine Weile Gesellschaft leisten?“ bot er an. Sie sollte ablehnen, weil er eindeutig Abstand wahren wollte, und darauf sollte auch sie achten, solange sie nicht wusste, wie es zwischen ihnen weiterging. Im Moment sehnte sie sich jedoch nach Gesellschaft, und sie konnte sich keine bessere als Rand wünschen. „Ja, das wäre schön“, sagte sie und hielt ihm die Tür auf. Es war schon nach zehn Uhr, aber sie saßen noch immer am Küchentisch und spielten das Kartenspiel Gin. Rand hatte zwar behauptet, das wäre kein Spiel für Männer, aber Winnie war nicht in der Stimmung gewesen, die Regeln für Poker zu lernen. Da er Gin beherrschte, hatte sie ihn so lange gedrängt, bis er mit ihr spielte. Durch seine Gegenwart hatte er Kälte und Einsamkeit vertrieben und Winnie daran gehindert, an die Vergangenheit zu denken. Bisher hatten sie nichts von Griff gehört, aber Winnie ahnte, dass sich etwas tat. Und zum ersten Mal dachte sie an das Ende, das Tucker sich selbst zu verdanken hatte: Gefängnis im besten, Tod im schlimmsten Fall. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Sie schob die melancholischen Gedanken von sich und konzentrierte sich auf ihre Karten. Vielleicht gewann sie endlich mal. Das Handy klingelte. Rand griff danach und schaltete es ein. „Ja?“ Er hörte eine Weile zu. „In Ordnung“, sagte er und schaltete es wieder aus. „Volltreffer! Sie glauben, dass sie ihn gefunden haben.“ „Mit Carmen?“ Rand nickte. „Wer ist sie? Wie hat er sie kennen gelernt?“ Das spielte zwar keine Rolle, weil dieser Teil ihres Lebens vorbei war und sie letztlich nur Salz in die Wunden streute, aber sie wollte es dennoch wissen. „Sie arbeitete als Agentin für die kolumbianische Regierung. Tucker hat sie vor fast zwei Jahren kennen gelernt, als sie gemeinsam an einem Fall arbeiteten.“ Schon vor zwei Jahren! Einsamkeit und Kälte kehrten zurück. „Wo sind die
beiden?“
„In Amsterdam, zumindest Carmen, und die CIA ist ziemlich sicher, dass Tucker
bei ihr ist.“
„Was heißt ,ziemlich sicher’?“
„Das heißt, dass ihn die Agenten nicht persönlich gesehen haben. Die Nachbarn
behaupten jedoch, dass Carmen mit einem Amerikaner zusammen ist. Die
Beschreibung passt auf Tucker.“
„Amsterdam“, wiederholte Winnie. „Seltsame Wahl für eine Südamerikanerin und
einen Amerikaner. Tucker bevorzugte eigentlich immer schon das südliche
Klima.“
„Gar nicht so seltsam, weil eine Halbschwester von Carmen Marguerite dort
wohnt.“
Also war das alles offenbar von langer Hand vorbereitet gewesen. „Wie hat man
die beiden denn so schnell gefunden?“
„Die CIA hat Agenten in jedem Land der Welt, die auf solche Aufträge warten.
Die kolumbianischen Stellen wussten über die Halbschwester Bescheid, die
Carmens einzige noch lebende Verwandte ist.“
Das Tempo, mit dem sich der Fall auf das Ende zu bewegte, machte Winnie
schwindelig. „Wann werden die beiden verhaftet? Was ist mit dem Geld? Ich
glaube kaum, dass Tucker die Kontonummer verrät.“
„Der Staat soll sich um sein Geld selbst kümmern. Die CIA rechnet damit, dass
sie Tucker und Carmen spätestens morgen früh schnappen.“
„Warum hat er das bloß getan?“ fragte sie betrübt.
„Es ist nicht ungewöhnlich, dass Agenten die Seiten wechseln“, erklärte Rand.
„Durch die ständigen Einsätze verwischen sich manchmal die Grenzen zwischen
Gut und Böse oder verschwinden sogar völlig. Wenn dann auch noch Geld lockt,
kann so etwas passieren.“
„Sehr traurig.“
Rand drückte ihre Hand. „Das ist es, aber er hat sich freiwillig dafür entschieden.
Ihm war klar, was passiert, wenn man ihn schnappt.“
„Ja, sicher“, bestätigte sie und versuchte, die trübe Stimmung abzuschütteln.
„Du musst es positiv sehen“, redete er ihr zu. „Sobald Tucker und Carmen
geschnappt sind, lässt die CIA Nietp wissen, dass die beiden das Geld gestohlen
haben und dass sie geschnappt wurden und hinter Gittern sind. Dann zieht Nieto
seine Leute von dir ab, sofern wir sie nicht vorher erwischen. Und dann bist du in
Sicherheit.“
Sicherheit war gut und schön, doch dann würde Rand wieder fortgehen,
möglicherweise schon morgen. Dazu war sie jedoch noch nicht bereit. Hastig
stand sie auf und ging unruhig hin und her. Sämtliche Gefühle dieses Tages
stürmten auf sie ein – Zorn, Traurigkeit, Einsamkeit.
Rand hielt sie fest. „Ganz ruhig“, sagte er.
Sie drehte sich zu ihm um und hielt sich an ihm fest. Er war ihr Felsen, der ihr
Wärme und Kraft bot.
„Ist ja gut“, flüsterte er nach kurzem Zögern und nahm sie in die Arme. „Es ist
schon gut.“
Es war gut, solange er sie festhielt. Doch wenn er sie losließ, würde erneut alles
auf sie einstürmen, und das wollte sie nicht. Das ertrug sie nicht. Auch wenn sie
nicht wusste, was die Zukunft brachte und wie der nächste Tag aussehen würde,
wusste sie doch, was sie jetzt wollte und brauchte.
„Bleib heute Nacht hier“, bat sie.
Sanft strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. „Keine Angst, ich gehe nicht weg,
solange Nietos Leute hinter dir her sind. Ich bin gleich draußen vor der Tür.“
„Das habe ich nicht gemeint. Ich möchte, dass du in meinem Haus bleibst.“ Nie zuvor hatte sie einen Mann gebeten, mit ihr zu schlafen, doch plötzlich fand sie den nötigen Mut. „In meinem Bett.“ Verlangen zeichnete sich in seinem Gesicht ab, doch hastig zog er die Hände zurück und schüttelte den Kopf. „Darüber haben wir schon gesprochen. Du bist keine Frau für eine Nacht, und ich…“ „Das ist mir jetzt völlig gleichgültig. Heute Nacht will ich dich. Bei dir möchte ich mich als etwas Besonderes fühlen, das auch geschätzt wird. Das brauche ich unbedingt. Ich verlange von dir keine feste Bindung. Ich bitte dich nur um eine Nacht, eine einzige Nacht, in der sich keiner von uns beiden einsam und traurig fühlt. Das haben wir uns verdient. Bitte!“
15. KAPITEL Bitte… Das war die verlockendste Einladung, die Rand jemals gehört hatte. Trotzdem sollte er ablehnen, weil Winnie etwas Besseres verdient hatte, nicht einen Mann wie ihn. Als er jedoch widersprechen wollte, legte sie ihm die Hand auf den Mund. „Sag nichts“, bat sie. „Wir wollen eine Nacht voll Freude erleben. Morgen ist morgen“, fügte sie hinzu, zog die Hand weg und küsste ihn sachte. Ihre Brüste drückten gegen seinen Oberkörper. Sein Traum von einer schönen und reizenden Frau wurde wahr und schaltete alle seine Überlegungen aus. Stöhnend zog er sie an sich und erwiderte den Kuss. Winnie schlang ihm die Arme um den Nacken und rieb sich an ihm. „Heißt das Ja?“ fragte sie leise. Noch hätte er aufhören können, doch er gab sie nicht frei. Auch er wünschte sich diese Nacht, in der es keine Dunkelheit und keine Einsamkeit gab. Davon wartete in seinem Leben noch genug auf ihn. „Ja“, erwiderte er und küsste sie hingebungsvoll. Sie spielte mit seiner Zunge und schmiegte sich an ihn, bis sie sich wieder zurückzog. „Sag bitte nicht, dass du es dir anders überlegt hast“, flehte er. „Komm mit“, antwortete sie nur und zog ihn durch den kurzen Korridor zu ihrem Schlafzimmer. Dabei lächelte sie scheu. Offenbar war es für sie neu, einen Mann in ihr Schlafzimmer zu führen. Rand nahm sich vor, diese Nacht für sie unvergesslich zu machen. Er würde sie bestimmt nie wieder vergessen. Sein Körper verlangte nach ihr, und sein Herz war von einem Gefühl erfüllt, bei dem er sofort an Liebe dachte, doch dagegen wehrte er sich. Zu Liebe gehörte eine Bindung für immer, doch er hatte nur eine einzige Nacht zu bieten. Winnie schloss hinter ihnen die Tür. Durchs Fenster fiel Mondlicht in den Raum, und Rand hätte sie gern im Mondschein vor sich gesehen. Trotzdem zog er das Rollo herunter. Seine Kameraden waren da draußen im Wald, beobachteten das Haus und sorgten für den nötigen Schutz. Keiner von ihnen sollte etwas mitbekommen. Danach kehrte er zu Winnie zurück, zog sie in die Arme, und sie erwiderte seine Küsse voll Sehnsucht und Hingabe. Genau davon träumte er, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, und nun ging dieser Traum in Erfüllung. Doch es war bei weitem nicht genug. Es würde nie genug sein. Er musste ihren nackten Körper spüren. Ohne den Kuss zu beenden, begann er, die Knöpfe an seinem Hemd zu öffnen. Winnie folgte seinem Beispiel, und Sekunden später landeten die Hemden auf dem Fußboden. Schuhe und Socken folgten, danach die Hosen. Zu ungeduldig, um alles auszuziehen, drückte er sie wieder an sich und spürte endlich ihre weiche glatte Haut, und er stellte sich vor, wie sie nackt aussah mit ihrer hellen Haut und den herrlichen Brüsten. Wenn er schon nur diese eine Nacht hatte, musste er sie sehen. „Wir brauchen Licht“, flüsterte er rau. Nur widerwillig gab sie ihn frei. „Auf dem .Nachttisch steht eine Lampe. Beeil dich!“ Er tastete sich vor, fand den Schalter und drückte ihn. Sanftes Licht fiel auf Winnie. Sie war noch schöner, als er es sich erträumt hatte. Viel schöner mit den weichen Rundungen, der zarten Haut und dem scheuen Lächeln. Slip und BH waren rosa
und ganz schlicht. Manche Männer bevorzugten französische Dessous, doch auf
ihn wirkte sie viel erregender, so, wie sie vor ihm stand.
Voll Verlangen kam er zu ihr zurück. „Du bist unglaublich schön“, flüsterte er und
berührte sachte den Arm oberhalb des Verbandes. „Das tut mir schrecklich Leid.“
„Es war nicht deine Schuld“, erwiderte sie leise.
„Doch, natürlich“, widersprach er.
„Hör auf“, bat sie und legte ihm die Hände an die Wangen. „Heute Nacht gibt es
keine Vergangenheit, sondern nur uns beide.“
„Ich weiß.“ Er nahm sie an der Hand und führte sie zum Bett. „Ich will dich ganz
sehen“, bat er.
Nach kurzem Zögern streifte sie den BH ab und ließ ihn zu Boden fallen.
„Schön?“ Rand legte die Hände auf ihre Brüste. „Schön ist viel zu wenig.
Außergewöhnlich, sagenhaft. Einfach perfekt“, flüsterte er und drückte die Lippen
auf eine ihrer rosigen Brustspitzen.
Es war herrlich, wie Winnie ihm entgegenkam und lustvoll aufstöhnte. Als er sie
fester küsste, klammerte sie sich an seine Arme.
„Rand“, hauchte sie.
Er wollte jeden Zentimeter ihres Körpers erforschen, doch das musste noch
warten. Nachdem auch er das letzte Kleidungsstück abgestreift hatte, stand er
nackt und erregt vor ihr. Einen Moment lang hielt er den Atem an. Überlegte sie
es sich vielleicht noch anders?
Sie zögerte jedoch keinen Moment, sondern schob sich den Slip über die Hüften,
kam einen Schritt näher, legte die Arme um ihn und küsste ihn.
Er zog sie augenblicklich fest an sich und verfiel in einen Rhythmus, der zum
Gipfel führen würde.
Stöhnend ließ er sich mit ihr aufs Bett sinken. Sie schlang ein Bein um ihn,
öffnete sich für ihn und stöhnte auf, als er sich gegen sie presste. Mit der Hand
an ihrer Hüfte führte er sie, damit sie beide fanden, wonach sie sich sehnten.
Beinahe hätte er die Beherrschung verloren, doch ihretwegen hielt er sich zurück,
rollte sich über sie, stützte sich auf die Ellbogen und betrachtete sie.
Sie war unbeschreiblich schön mit den grünen Augen und dem schimmernden
Haar, ein Lächeln auf den vollen Lippen.
„Nimm mir die Kälte, Rand, bitte“, flüsterte sie und streichelte seine Wange.
Sie brauchte ihn nicht zweimal zu bitten. Behutsam drang er tief in sie ein. Und
Winnie hob sich ihm entgegen und nahm ihn ganz in sich auf, seufzte lustvoll und
klammerte sich an ihn.
Er zog sich zurück, um sich erneut mit ihr zu vereinigen, und sie drängte sich
gegen ihn, weil ihr Höhepunkt bereits nahte.
„Das halten wir nur zehn Sekunden durch“, flüsterte er ihr zu.
„Aber es werden sagenhafte zehn Sekunden“, erwidert sie lächelnd.
Winnie wand sich unter ihm und kam ihm entgegen. „Mehr“, verlangte sie. „Ich
will alles von dir!“
Er gab ihr, was sie haben wollte, und schenkte ihr die Erfüllung. Ein Schrei stieg
in ihrer Kehle hoch, ein Schrei, den er mit einem Kuss erstickte. Sie wurde
erschüttert von der Lust, stöhnte erneut auf und erschauerte dann in seinen
Armen. Im nächsten Augenblick erreichte auch er den Gipfel und verschmolz
restlos mit ihr.
Eng umschlungen lagen sie da und genossen die Wärme, doch Angst keimte in
Rand auf. Wenn er fortging, würde die Leere in sein Leben zurückkehren. Noch
war Winnie jedoch bei ihm, und nur das zählte im Moment.
Sein Verlangen hatte trotz der Erfüllung nicht nachgelassen, doch dass er schon
wieder bereit war, bedeutete noch lange nicht, dass das auch für sie galt. Darum
bewegte er sich ganz vorsichtig. Es dauerte nur wenige Sekunden, ehe sie ihn sehnsüchtig ansah und ihm die Hüften entgegendrängte. „Noch einmal“, flüsterte sie. „Nur zu gern.“ Er prägte sich alles ein, jede Bewegung, Winnies Lächeln, ihre sinnlichen Blicke und ihren Körper. Diese Nacht sollte nie enden. Behutsam strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. „Teil dir deine Energie gut ein. Es wird eine sehr lange Nacht.“ „Ich nehme dich beim Wort“, erwiderte sie lächelnd, küsste ihn und bewegte sich unter ihm. Und Rand liebte sie die ganze Nacht und ließ dabei das Licht brennen, damit ihm nichts entging und er sich später an alles erinnern würde. Winnie schmiegte sich an Rand, den Kopf an seine Schulter geschmiegt, die Brüste an seinen kräftigen Oberkörper gedrückt, ein Bein über ihn gelegt. Er fühlte sich wunderbar an, und er war wach, obwohl er die Augen geschlossen hielt. Vielleicht wollte er so verhindern, dass die Nacht endete. Das jedenfalls wünschte sie sich, weil es die schönste Nacht ihres Lebens gewesen war. Wie Rand sie gestreichelt und dabei bewundernd angesehen hatte, war für sie unvergesslich. Das sollte nie aufhören, doch das Ende war nahe. Der erste Lichtschein drang schon durch die Jalousie. Der neue Tag hatte begonnen. Als hätte Rand ihre Gedanken erraten, zog er sie näher an sich heran und blickte zum Fenster. „Die Sonne geht auf. Ich muss bald gehen“, erklärte er rau. „Ich will aber nicht, dass du gehst“, flüsterte Winnie und wurde von der gleichen Panik ergriffen wie am Abend zuvor, jetzt allerdings noch viel stärker. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich will auch nicht, aber ich kann nicht bleiben. Ich muss beim Wachwechsel draußen sein.“ Schon jetzt merkte sie, wie er ihr entglitt. „Wenn du hinausgehst, kommst du dann nicht zurück?“ Seine Miene verdüsterte sich. „Nein.“ „Dann will ich nicht, dass du gehst. Sollen sich doch eure Männer um Nietos Leute kümmern.“ „Es ist mein Beruf, Winnie“, hielt er ihr vor. „Ich muss gehen.“ „Nein, musst du nicht.“ Es störte sie nicht, dass sie sich wie ein eigensinniges Kind anhörte. „Winnie, selbst wenn wir uns noch einen Tag stehlen, fühlen wir uns bestimmt nicht besser, sobald ich fort muss.“ Das traf sie schmerzhaft, weil es stimmte. Zwölf Stunden würden ihr nicht reichen. Ihre Zeit lief ab, und wenn sie ihn bitten wollte zu bleiben, musste sie das sofort machen. Hatte er ihr Haus erst mal verlassen, kam er nicht mehr zurück. Sie hatte jedoch Angst, ihn zu bitten. Ihr Vater und Tucker hatten sie zurückgewiesen. Wenn sie nun Rand bat zu bleiben, drohte ihr die nächste Zurückweisung. Er hatte klar gesagt, dass er nichts im Leben einer Frau zu suchen hatte, nicht mal für eine kurze Zeit. Es würde nicht leicht sein, ihn zum Bleiben zu überreden. Doch sollte sie stumm zusehen, wie er aus ihrem Leben verschwand? Sie holte tief Luft und wagte zum ersten Mal in ihrem Leben, nach etwas zu greifen, was sie haben wollte. „Was ist, wenn ich mehr als nur einen Tag mit dir haben möchte? Was ist, wenn ich will, dass du nach diesem Auftrag bei mir bleibst?“ Er zuckte zusammen. Schlagartig wirkte er unglücklich, doch er nahm sich zusammen. „Winnie, die letzte Nacht war wunderbar und außergewöhnlich. Wir wünschen uns beide, dass es so bleibt, doch das hat keine Zukunft.“
So schnell gab sie nicht auf. „Ich verlange nicht, dass du für immer bleibst,
sondern nur eine Zeit lang, damit wir sehen, ob es für uns beide eine Zukunft
gibt.“
Einen Moment presste er die Lippen aufeinander. „Du fängst in einer schönen
Umgebung ein neues Leben an. Verdirb dir das nicht, indem du mich da
hineinziehst. Ich gehöre nicht hierher.“
„Warum nicht?“ fragte sie und bekam Herzklopfen. „Weil du glaubst, kein
normales Leben führen zu können? Das ist doch Unsinn. Ich habe gesehen, wie
du mit den Menschen hier umgehst. Sie mögen dich, Henry mag dich, der Sheriff
auch. Du müsstest es nur versuchen und würdest feststellen, dass du gut zu uns
passt.“
Doch er rückte von ihr ab. „Diese Leute kennen mich nicht“, widersprach er,
stand auf und sammelte seine Kleidung zusammen.
Verzweifelt versuchte sie, trotz seines verführerischen Anblicks klar zu denken.
„Doch, sie kennen dich, auch wenn sie nicht alles über dich wissen. Sie kennen
den Teil deiner Persönlichkeit, der Alaska mag, gern angelt und sich bei Eiscreme
und Plätzchen gut unterhält.“
Nachdem er den Slip angezogen hatte, griff er nach den Jeans. „Diese Hälfte von
mir zählt nicht“, wehrte er gereizt ab.
„Doch“, widersprach sie, wickelte sich in die Decke, sprang aus dem Bett und
suchte ihre Sachen zusammen. Wenn er dachte, er könnte sich anziehen und so
einfach gehen, täuschte er sich.
Während sie versuchte, sich den Slip anzuziehen, ohne die Decke loszulassen,
überlegte sie hektisch, wie sie ihn überzeugen konnte. Bestimmt wünschte er
sich genau wie sie eine Zukunft. Er hatte nur Angst, dass…
Angst?
Mit einem Bein in der Hose erstarrte sie. Wie kam sie auf Angst? Rand hatte nicht
mal angedeutet, dass er so etwas wie Angst hätte. Er hatte nur davon
gesprochen, dass er niemandem seine hässliche Vergangenheit zumuten wolle.
Trotzdem ahnte sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Wovor jedoch hatte er
Angst?
Der Mann war ein ehemaliger CIAAgent. Was konnte noch Furcht erregender
sein?
Ihre eigene Angst gab ihr eine Antwort auf diese Überlegung.
Auf der einen Seite fand sie es unsinnig, ein Mann mit Rands Erfahrungen könnte
Angst vor Zurückweisung haben. Auf der anderen Seite aber wusste sie von sich
selbst, dass man diese Angst keineswegs leichtfertig abtun konnte.
Oder bildete sie sich das alles nur ein?
Rand hatte schon die Hose angezogen und schloss soeben sein Hemd. Jetzt
fehlten nur noch die Stiefel, und dann war er fertig.
Winnie ließ die Decke fallen, schlüpfte blitzartig in die Jeans, griff zum Hemd und
lief zur Tür. Erst nachdem sie sich davor aufgebaut hatte, zog sie das Hemd über,
knöpfte es aber nicht zu, sondern verschränkte nur die Arme vor der Brust.
„Weißt du“, begann sie, „du hast mir anvertraut, dass du nicht in die normale
Welt passt und darum keine Frau und keine Familie haben kannst. Und ich habe
mich gefragt, ob diese Entscheidung selbstlos und klug oder feige und dumm
ist.“
„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“ fragte er in einem Ton, der
deutlich ausdrückte, dass es ihm nicht wichtig war.
„Alles trifft zu. Nach der Bruchlandung hast du mir gezeigt, wie fürsorglich du
bist.“
„Ich habe nur meine Pflicht getan“, wehrte er ab.
„Ja, aber es war nicht deine Pflicht, wegen Bären Wache zu schieben. Du hast es dennoch getan.“ „Damit du beruhigt bist“, erwiderte er und zog die Stiefel an. „Das meine ich ja gerade. Dir liegt etwas an den Gefühlen anderer Menschen. Darum glaube ich, dass du selbstlos bist und andere Menschen nicht mit deiner Vergangenheit belasten möchtest. Ich glaube aber auch, dass du nur aus Feigheit weiterhin einen Beruf ausübst, den du nicht magst.“ „Schön für dich.“ Er griff nach dem Gewehr und kam zu ihr. „Geh auf die Seite.“ Doch Winnie schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nicht fertig.“ „Es ist mir gleichgültig, warum du mich für einen Feigling hältst.“ „Schön“, erwiderte sie entschlossen. „Dann macht es dir nichts aus, wenn ich es dir erkläre. Ich denke, du schämst dich für manches, was du in deinem Beruf getan hast.“ „Scham ist mein kleinstes Problem“, warf er ein. „Ich habe Dinge getan, die mir für den Rest meines Lebens Albträume verschaffen werden.“ Wie gerne hätte sie den abgrundtiefen Schmerz aus seinem Blick vertrieben. Liebevoll sah sie ihn an. „Außerdem glaube ich, dass du Angst vor Zurückweisung hat.“ „Meinst du“, fragte er herausfordernd, „es interessiert mich, ob ein Nachbar mit mir spricht oder nicht?“ „Nein, aber ob die Frau mit dir spricht, mit der du dein Leben teilen willst. Du fürchtest, sie könnte deine Vergangenheit nicht ertragen. Ich habe dir gesagt, dass eine Frau, die dich liebt, auch deine Vergangenheit verkraftet. Ich habe nicht daran gedacht, wie es für dich sein muss, wenn sie dich nicht ausreichend liebt. Du hast Angst, in den Augen der Frau, die du liebst, Entsetzen über dein bisheriges Leben zu entdecken. Die Angst vor dieser Zurückweisung ist der eigentliche Grund, warum du weitermachst.“ „Du weißt nicht, wovon du redest“, behauptete er hart. Er wirkte zornig, aber Winnie erkannte hinter dieser Fassade seine Angst. „Doch, ich weiß es. Ich habe den Nagel auf den Kopf getroffen. Bleibst du aber hier, weil wir es versuchen möchten, brauchst du keine Angst davor zu haben, ich könnte deine Vergangenheit entdecken. Ich weiß, dass du Agent bist. Ich weiß, dass du bei der CIA warst. Deine Vergangenheit jagt mir keine Angst ein.“ „Freut mich zu hören. Wenn du mit der Psychoanalyse fertig bist, würdest du mir dann bitte aus dem Weg gehen?“ Verflixt, war der Kerl starrsinnig. Dabei hatte ihm die letzte Nacht so viel bedeutet wie ihr, davon war sie überzeugt. Sie hatte es in seinem Blick und an seinen Zärtlichkeiten erkannt. Trotzdem wollte er fortgehen, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. „Nein, ich gehe dir noch nicht aus dem Weg“, erwiderte sie trotzig. Rand kam einen Schritt näher und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Du glaubst bloß, meine Vergangenheit zu kennen. Du hast keine Ahnung, was es heißt, als Agent zu arbeiten. Ich könnte dir Dinge erzählen, bei denen dir die Haare zu Berge stehen.“ Sie zuckte zurück, wich jedoch nicht, sondern hielt seinem Blick stand. „Ganz sicher könntest du das. Sprich darüber, wenn du dich dann besser fühlst. Ich möchte, dass die dunklen Schatten aus deinen Augen verschwinden. Aber auch solche Geschichten können mich nicht verscheuchen. Ich würde dich deswegen nicht weniger schätzen.“ „Denkst du vielleicht, ich will nicht bleiben?“ fragte er zornig und offenbar traurig. „Ich würde bleiben, wäre ich überzeugt, dass ich dir geben kann, was du brauchst.“
„Und was brauche ich deiner Meinung nach?“ rief sie aufgebracht.
„Jemanden, der so ist wie du – unschuldig und gut. Ich bin das nicht.“
„Rand Michaels“, redete sie beschwörend auf ihn ein, „du bist ein guter Mensch,
der beste Mensch, den ich kenne. Du bist nett und sanft und…“
„Nette und sanfte Männer haben kein Blut an den Händen“, wehrte er ab.
„Manche schon. Das sind die Männer, die für unsere Freiheit kämpfen. Sie haben
Blut an den Händen, aber sie sind deshalb nicht schlecht oder…“
„Mach mich jetzt nicht auch noch zum Helden!“ fiel er ihr ins Wort.
„Na schön, aber mach du dich nicht zum Ungeheuer“, verlangte sie. „Du hast so
viel Hässliches gesehen, dass du die Berge und den Frieden dieser Landschaft
schätzt. Deshalb liebst du auch eine schlichte kleine Hütte im Wald. Und deshalb
gehst du auch mit mir behutsam um.“
Er wandte sich ab und hielt das Gewehr dabei fest umklammert. „Wieso tust du
das?“ fragte er heiser. „Wieso machst du es uns so schwer?“
Hilflos betrachtete sie seinen Rücken. Weil ich dich liebe, du starrsinniger…
Das Herz blieb ihr fast stehen, als die Erkenntnis sie wie ein Schlag traf.
Sie liebte ihn. Sie kämpfte nicht, damit er eine Woche oder einen Monat bei ihr
blieb, sondern weil sie ihn nie wieder loslassen wollte.
Angst packte sie. Sie hatte gewusst, dass sie einen Teil ihres Herzens riskierte,
wenn sie mit ihm ins Bett ging, doch sie hatte es ganz verloren. Und nun fühlte
sie, wie er ihr entglitt, weil er ihr eine hässliche Zukunft ersparen wollte.
Bitte bleib, ich liebe dich! Die Worte lagen ihr schon auf der Zunge, doch Winnie
sprach sie nicht aus.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie um Liebe gebeten, zuerst ihren Vater und dann
Tucker. Das würde sie nie wieder machen. Wenn Rand blieb, dann sollte er das
auch selbst wollen. Sie drängte ihn nicht. Sie bettelte nicht. Er sollte bleiben, weil
er sie so liebte wie sie ihn – von ganzem Herzen und mit ganzer Seele.
Auf eines konnte sie ihn allerdings noch hinweisen. „Weißt du, ein kluger Mann
hat mir gesagt, dass Menschen selbst für ihr Glück verantwortlich sind. Darum
müssen sie herausfinden, was sie im Leben haben wollen, und es sich holen.
Wenn du zu Freedom Rings zurückkehrst, verdienst du alles Schlechte, was
dieses Leben zu bieten hat. Wenn du andererseits etwas viel Besseres haben
willst, solltest du es dir jetzt holen.“
Nach diesen Worten atmete sie tief durch und gab die Tür frei.
Rand streckte die Hand nach der Klinke aus, als draußen im Wald ein Schuss fiel.
Nietos Leute waren hier!
„Runter!“ Rand packte Winnie und zog sie hinters Bett, glitt zum Fenster und
blickte unter dem Rollo durch. Nichts. Draußen war kein Mensch zu sehen. Er
löste das Funkgerät vom Gürtel. „Hier Michaels. Was ist da los?“
„Weiß ich noch nicht“, antwortete Cash. „Der Schuss kam aus Marshalls Bereich,
aber er hat sich noch nicht gemeldet.“
Das war nicht ungewöhnlich. Wenn Marshall jemanden belauerte, verriet er
natürlich nicht seine Position.
„Ich sehe jetzt nach“, fuhr Cash fort. „Vielleicht ist nur ein Jäger gestolpert und
hat dabei einen Schuss ausgelöst. Verlassen dürfen wir uns darauf aber nicht.
Kannst du die Lady sicher in einem Schrank einschließen?“
Rand warf einen Blick auf den Schrank. „Mach ich.“
„Gut. Ich melde mich wieder.“
Rand kam wieder zu Winnie und griff nach ihrem Arm. „Du hast es gehört.
Komm.“
„Nein“, wehrte sie ab und versuchte, sich zu befreien. „Du wirst mich nicht in den
Schrank stecken. Da drinnen käme ich mir wie eine Zielscheibe vor.“
Er zog sie jedoch quer durch den Raum. „Du bist da drinnen keine Zielscheibe,
sondern in Sicherheit. Der Schrank steht an keiner Außenwand, und er schützt
dich. Und ich bin direkt vor der Haustür.“
„Ich soll mich verkriechen, während du dich im Freien zeigst und erschossen
wirst?“ Sie wehrte sich heftiger. „Ausgeschlossen.“
„Winnie, bitte! Nietos Leute sind nicht zum Scherzen aufgelegt. Geh in den
Schrank!“ Als sie nicht gehorchte, setzte er seine ganze Kraft ein und drückte sie
in das sichere Versteck.
Sie stemmte die Füße gegen die Tür, damit er sie nicht einschließen konnte.
„Komm zu mir herein!“
„Unsinn. Ich muss…“
„Du lässt dich nicht da draußen für mich erschießen, Rand. Komm in den
Schrank!“ verlangte sie starrsinnig.
Es war klar, dass sie die nächsten zehn Minuten streiten würden, und dabei
wollte er keine Sekunde verlieren. Eine zusätzliche Wand sollte Winnie vor den
Kugeln schützen. „Also gut, mach Platz.“ Im Schrank konnte er sie auch
schützen. Darum drückte er sich zu ihr, schloss die Tür, ging in die Hocke und
hielt das Gewehr schussbereit. Falls jemand den Schrank öffnete, ohne sich
vorher zu erkennen zu geben, war er ein toter Mann.
Winnie drückte sich gegen ihn. „Was ist da draußen los?“ flüsterte sie ängstlich.
Er legte ihr den Arm um die Schultern. „Keine Sorge, unsere Leute werden schon
damit fertig, ohne dass sie^zu Schaden kommen.“
„Ich will aber, dass überhaupt niemand zu Schaden kommt.“
„Das weiß ich“, versicherte er und drückte sie fester an sich.
Wieder fiel ein Schuss, noch einer und dann ein dritter. Winnie zuckte jedes Mal
zusammen. Das war kein Jäger, sondern der Kampf hatte begonnen.
„Ganz ruhig“, redete Rand auf sie ein. Selbst bei sorgfältigster Planung lief
manchmal etwas schief, und Unschuldige traf es genau wie die Schuldigen.
Eine Kugel durchschlug das Schlafzimmerfenster und traf den Schrank.
„Runter auf den Boden“, zischte Rand und drückte sie nach unten.
Wieder traf eine Kugel den Schrank, und die dritte riss ein kleines Loch ins Holz.
„Ganz nach hinten!“ befahl Rand und schob sich über sie.
„Nein, du deckst mich nicht mit deinem Körper“, wehrte sie ab. „Runter von mir!“
verlangte sie, doch er erstickte den Befreiungsversuch im Ansatz.
„Bleib liegen, verdammt, und sei still! Ich muss hören, was draußen los ist.“
Die nächste Kugel durchschlug den Schrank, und Winnie gab die Gegenwehr auf.
Um sie herum war es dunkel. Die Luft wurde stickig. Rand wartete auf den
Moment, in dem er Winnie und sich mit der Waffe verteidigen musste. Und er
wartete auf den Schmerz, wenn ihn eine Kugel traf.
Er war die Gewalt und das Töten leid. Die Vorstellung, wieder einen unschuldigen
Menschen – Winnie – zu verlieren, schnürte ihm die Kehle zu.
Das ertrug er nicht länger, und er würde auch eine Trennung von Winnie nicht
ertragen.
Weich strich ihr Haar über sein Gesicht. Er wollte bei ihr bleiben, doch hatte er
das Recht dazu?
Plötzlich sah er ein, dass Winnie seine Motive erkannt hatte. Er hatte Angst. Auf
keinen Fall wollte er, dass sie ihn abwies, und was hatte er ihr schon zu bieten,
dass sie ihn trotz seiner Vergangenheit akzeptierte?
Er dachte daran, wie verloren und einsam sie gewirkt hatte, wenn sie von ihrem
Vater oder Tucker gesprochen hatte.
Vielleicht konnte er ihr doch etwas bieten.
Draußen fielen immer mehr Schüsse, und dann herrschte schlagartig Stille.
Im Funkgerät knackte es. „Alles klar bei uns“, informierte Cash. „Du kannst sie
jetzt herauslassen.“
Es war vorbei! Rand drückte die Sprechtaste. „Roger!“ gab er durch, stand auf
und zog Winnie auf die Beine. „Verschwinden wir von hier.“
Winnie folgte Rand aus dem Schrank und atmete tief durch. Hoffentlich konnte
sie sich auf den Beinen halten. Noch nie hatte sie solche Angst gehabt, und auch
noch nie war sie so zornig gewesen.
Entschlossen zog sie ihn zu sich herum. „Was ist dir denn eingefallen, dich über
mich zu werfen? Glaubst du, ich will weiterleben, wenn du tot bist?“
Er zog sie an sich und drückte sie tröstend an seinen Körper. „Winnie, keinem
von uns ist etwas geschehen.“
Das stimmte, aber viel hätte nicht gefehlt. Und das führte ihr vor Augen, dass
das Leben viel zu kurz war, um nicht auszusprechen, was man fühlte. Was ein
anderer dann damit machte, war seine Sache.
Keine Geheimnisse mehr!
Sie beugte sich zurück und sah Rand in die Augen. „Ich liebe dich. Wenn du mich
nicht genug liebst, um uns beiden eine Chance zu geben, ist das auch dein
Verlust, aber ich weiche den Tatsachen nicht mehr aus. Ich liebe dich und finde,
dass du in Alaska bleiben solltest – hier bei mir. Wir könnten eine ganz
besondere, eine geradezu magische Beziehung aufbauen.“
Abwehrend hob sie die Hand, bevor er einen Einwand vorbringen konnte.
„Wenn du nicht meiner Meinung bist und nicht bleiben willst, ist es auch gut.
Denk aber bitte sehr, sehr genau nach, bevor du in dein altes Leben
zurückkehrst“, drängte sie und zeigte zu dem zersplitterten Fenster.
Zu ihrer Überraschung verkrampfte er sich nicht wieder und machte auch kein
finsteres Gesicht, sondern lächelte sogar. „Ich habe bereits sehr genau über alles
nachgedacht“, erwiderte er und sah ihr dabei tief in die Augen. „Ich kehre nicht
mehr in dieses leere Leben zurück. Nie wieder.“
Einen Moment lang stockte ihr der Atem, und sie schöpfte neue Hoffnung.
„Nein?“
„Nein“, beteuerte er und schüttelte lächelnd den Kopf.
„Hast du ein bestimmtes Ziel vor Augen?“ fragte sie bang. „Weißt du schon,
wohin du gehst?“
Er zuckte mit den Schultern und betrachtete sie aufmerksam. „Eigentlich wollte
ich nirgendwohin gehen. Ich dachte, ich könnte genau hier bleiben und abwarten,
wie es läuft.“
Am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt, doch sie hielt sich zurück.
Gemeinsam hatten sie aufregende Minuten überstanden, und sie wollte sicher
sein, dass Rand sich alles wirklich genau überlegt hatte. Er sollte sich absolut
sicher sein, dass er bleiben wollte. Und er sollte nur bleiben, wenn er ihnen
beiden eine ehrliche Chance gab und bereit war, sich zu binden.
„Hast du keine Angst mehr, du könntest mein Leben beschmutzen?“ fragte sie.
„Glaubst du nicht länger, ich könnte hinter ein schreckliches Geheimnis kommen
und dich verlassen?“
„Ich habe Angst“, gestand er. „Winnie, es wird nicht einfach werden. Es hat
keinen Sinn, wenn ich dir etwas vormache. Manches aus meiner Vergangenheit
wird sich nie auslöschen lassen, sondern uns immer begleiten. Bist du aber
bereit, mir eine Chance zu geben, sollst du es nicht bereuen. Es wird kein Tag
vergehen, an dem du nicht weißt, dass ich dich liebe.“
Die Freude sprengte ihr fast das Herz. „Könntest du das vielleicht wiederholen?“
bat sie.
Lächelnd strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. „Ach ja, habe ich das vielleicht
noch nicht erwähnt? Ich liebe dich, Winnie Mae. Von ganzem Herzen.“ Endlich küsste er sie sanft und zärtlich und zeigte ihr damit seine Liebe und Leidenschaft. Und er vertiefte den Kuss, als sie ihm entgegenkam und mehr verlangte. Als das Gewehr gegen ihren Rücken stieß, zog sie sich lächelnd zurück. „Du trennst dich doch von dem Ding, oder?“ „Ich möchte es eigentlich eintauschen.“ „Ach ja?“ fragte sie. „Gegen was?“ Er zuckte mit den breiten Schultern. „Gegen eine Angel… und vielleicht einige Kinder.“ Kinder? Aus dem Funken Hoffnung wurde eine helle Flamme. Wenn er an Kinder dachte, wollte er sich tatsächlich binden. „Wirst du ihnen beibringen, wie man angelt?“ fragte sie strahlend. Rand erwiderte ihr Lächeln, und je zuversichtlicher er wirkte, desto mehr wichen die dunklen Schatten aus seinem Blick. „Schließlich müssen sie sich ja irgendwie beschäftigen, wenn sie nicht gerade hoch über der Erde mit ihrer Mom Loopings fliegen.“ „Das stimmt“, bestätigte sie und dachte gerührt daran, dass alte Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Und sie drückte ihn an sich, um seine Wärme, seine Kraft und seine Liebe in sich aufzunehmen. „Wir beide haben Glück, Rand, sehr viel Glück, und gemeinsam werden wir viele schöne Erinnerungen sammeln.“
EPILOG „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ riefen alle im Raum. Griffon Tyner stand mit einem Bier in der Hand in Winnies Wohnzimmer und sah zu, wie Jennifer Mallard die Augen schloss und sich etwas wünschte, während sie die Kerzen auf ihrer Torte auspustete. Die Dreizehnjährige war ein niedliches Mädchen mit Sommersprossen und einem netten Lächeln. In wenigen Jahren würde sie Herzen brechen. Griff trank noch einen Schluck und beobachtete, wie Rand das Mädchen umarmte und der Kleinen ein Geschenk überreichte. Auf einem Tisch türmten sich die Präsente, die mitgebracht worden waren. Winnie hatte entschieden, dass Jenny eine große Party verdiente, um ihren neuen Lebensabschnitt zu feiern. Gleichzeitig wollte sie Rand der kleinen Gemeinde vorstellen. Zahlreiche Gäste waren erschienen. Griff hatte seinen Hubschrauber als Lufttaxi eingesetzt. Der Vormittag war hektisch verlaufen, doch auch er hatte die Leute kennen lernen wollen, die nun zu Rands Leben gehören würden. Er kannte und schätzte Rand seit Jahren und wollte sich deshalb davon überzeugen, dass sein Freund und Kollege in guten Händen zurückblieb. Diese Party war dafür die ideale Gelegenheit. Und seine Männer, die ebenfalls eingeladen waren, konnten sich entspannen, bevor sie zurückfliegen und den nächsten Einsatz übernehmen würden. In den vergangenen zwei Tagen hatten sie den Fall um Winnies Exmann abgeschlossen. Es hatte viel Schreibarbeit gegeben, vor allem wegen der beiden Männer, die Nieto geschickt hatte und die bei der Schießerei ausgeschaltet worden waren. Tucker und Carmen waren in Amsterdam von der CIA ergriffen worden, und Griff war sicher, dass sie für viele Jahre hinter Gittern bleiben würden. Für Winnie war jedoch viel wichtiger, dass das Geld sichergestellt worden war. Nieto wusste nun, dass sich die fünfzig Millionen wieder in der Staatskasse befanden. Leider war der mächtige Drogenbaron noch nicht zur Strecke gebracht worden, doch auch dazu würde es eines Tages kommen. Winnie war jedenfalls in Sicherheit, und Rand brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. Winnie schnitt die Schokoladentorte an, legte ein Stück auf einen Teller und kam mit ihrem Glas in der Hand zu Griff. „Ich möchte mich bei Ihnen und Ihren Männern für alles bedanken“, begann sie und reichte ihm den Teller. „Gern geschehen“, erwiderte er. „Wie finden Sie denn unsere kleine Party?“ „Sehr hübsch“, sagte er und blickte zu Rand, der Jenny beim Öffnen der Geschenke zusah und sich dabei mit einer älteren Frau mit einem langen grauen Pferdeschwanz unterhielt. „Rand scheint es auch zu gefallen.“ „Allerdings“, bestätigte Winnie sanft. „Er hatte zuerst Sorge, ob er zu diesen Leuten passt, doch das ist offenbar kein Problem.“ „Er ist ein guter Mensch, den man gern zum Freund hat. Unterschätzen Sie aber nicht die Wirkung, die seine Vergangenheit auf manche Leute hat. Viele halten die CIA für ein Werk des Teufels, und die meisten Leute haben von Geheimagenten eine sehr geringe Meinung.“ „Ich weiß“, bestätigte sie, „aber er braucht ja keine Unmenge von Freunden. Einige gute Freunde genügen.“ „Da haben Sie Recht, einige gute Freunde genügen“, bestätigte Griffon. „Und am wichtigsten sind ohnedies Sie für ihn. Wie denken Sie denn über seine Vergangenheit?“ „Mr. Tyner“, erwiderte sie amüsiert, „Sie kümmern sich um das Wohlergehen
einer Ihrer Männer?“
„Aber sicher“, bestätigte er.
„Dann sage ich Ihnen das Gleiche, was ich zu Rand gesagt habe“, entgegnete sie.
„Seine Vergangenheit wird mich nicht vertreiben.“
„Und wie viel wissen Sie darüber?“
„Nicht allzu viel“, gestand sie. „Aber er hat mir in den letzten zwei Tagen einiges
erzählt. Wahrscheinlich wollte er mich auf die Probe stellen und herausfinden, ob
ich nicht doch die Flucht ergreife.“
„Und?“
„Sehe ich vielleicht aus, als wollte ich fliehen?“
Nein, im Gegenteil. Sie wirkte ruhig und zuversichtlich. „Vermutlich hat er noch
nicht die härteren Geschichten erzählt.“
„Nein, bestimmt nicht, aber auch die werden mich nicht vertreiben. Ich liebe ihn,
Mr. Tyner“, beteuerte sie. „Wissen Sie, was das bedeutet?“
Noch vor wenigen Monaten hätte er verneint, doch dann war Juliana in sein
Leben getreten und hatte ihm gezeigt, was die Liebe eines starken Menschen
auszurichten vermochte. Liebe konnte aus einem leeren Wrack einen von Leben
erfüllten und glücklichen Mann machen. „Ja, ich weiß, was Liebe bedeutet.“ Er
prostete ihr mit der Bierflasche zu. „Und ich wünsche euch beiden alles Gute.“
„Habe ich etwas versäumt?“ Rand tauchte bei ihnen auf und legte den 4rm um
Winnie.
„Ja, aber du kannst dich uns anschließen.“ Erneut hob Griffon die Flasche. „Auf
Liebe, Glück und große Fische!“
Winnie und Rand stießen lachend mit ihm an und tranken auf eine glückliche
Zukunft.
„Da wir gerade von Fischen sprechen“, sagte Rand. „Mary hat erwähnt, dass
Grant McKinley einen Führer für Angler sucht. Ich könnte morgen mal in seinen
Laden für Anglerzubehör gehen und mit ihm reden.“
„Ach“, meinte Winnie amüsiert, „wolltest du nicht fliegen lernen und mein Kopilot
werden?“
„Soll das ein Scherz sein?“ entgegnete Rand. „Ich dachte, du würdest für
McKinley arbeiten, während ich dir das Angeln beibringe, und dann würden wir
ebenfalls einen Laden für Angler eröffnen.“
„Träum weiter, Kamerad“, wehrte sie lachend ab. „Was hältst du davon, auf der
Tragfläche eines Flugzeugs zu stehen? Wir könnten die große Sensation bei
Luftschauen werden.“
Griff lachte. Rand war eindeutig in guten Händen, in sehr guten Händen sogar,
denn man sah Winnie die Liebe deutlich an.
„Major.“ Cash kam mit ernster Miene zu ihnen.
Griffon war sofort alarmiert. „Was ist los?“
„Ich habe soeben aus der Zentrale erfahren, Sir, dass Matt die Maschine verpasst
hat.“
Das war schlecht.
„Wer ist Matt?“ fragte Winnie besorgt.
„Einer meiner Männer“, antwortete Griff on. „Er ist im Ausland und versucht, die
Tochter eines Senators und vier Waisenkinder aus einer Gefahrenzone zu holen.
Sie wollten heute Morgen von einem unserer Hubschrauber ausgeflogen werden.
Offenbar haben sie es nicht geschafft.“
„Soll ich die Männer zusammentrommeln?“ fragte Cash.
Griff on nickte und reichte Winnie die Hand. „Hat mich sehr gefreut, Ma’am.
Wenn einer von euch jemals etwas brauchen sollte, genügt ein Anruf.“ Er drückte
Rand die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. „Pass gut auf sie auf. Sie ist der
Haupttreffer deines Lebens. Und melde dich. Juliana und ich erwarten Berichte
von dir.“ Er schüttelte Rand die Hand und verließ mit seinen Männern die Party.
Bevor er sich wieder an die Arbeit machte, warf er noch einen Blick zurück. Rand
und Winnie hielten einander eng umschlungen und küssten sich. Griff lächelte.
Das Handwerk von Undercoveragenten war hart, und ein gutes Ende erlebte man
nur selten.
Doch dies hier war ein gutes Ende. Ein sehr gutes sogar.
ENDE