Zombies an Bord! von Frederic Collins
Mademoiselle Croix schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, erklärte sie den beiden M...
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Zombies an Bord! von Frederic Collins
Mademoiselle Croix schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, erklärte sie den beiden Männern. »Ich gebe den Jungen nicht heraus!« Der jüngere Mann trat hitzig vor. »Ihr letztes Wort?« schrie er wütend. »Mein letztes Wort!« entschied Mademoiselle Croix. Das war ihr Todesurteil. Die Augen des Mannes färbten sich glutrot. Die Flammen der Hölle schlugen der Wehrlosen entgegen und hüllten sie ein. Mademoiselle Croix starb lautlos in den Flammen des Bösen. Und das war erst der Auftakt …
Wenn sie nicht gerade gegen das Böse in der Welt kämpften, lebten die Bewohner von Sagon Manor zurückgezogen. Alles nahm dann seinen gewohnten Gang auf Sagon Manor, dem Sitz des Großmeisters des Ordens der Weißmagier. An diesem sechzehnten Oktober schlugen gleich zwei Bomben ein. Butler Harvey brachte dem jungen Großmeister des Ordens ein Telegramm. Peter Winslow nahm es von dem silbernen Tablett, auf das der Butler in keiner Situation verzichtete. Hastig überflog er den Inhalt. Dann drehte er das Telegramm nach allen Seiten. »Wann ist es hier angekommen?« fragte Peter Winslow erstaunt. »Eben erst, Sir«, erwiderte Butler Harvey steif. »Ich würde mir nie erlauben, ein Telegramm liegen zu lassen.« »Es ist vor einer Woche in New York aufgegeben worden.« Der junge Großmeister sprang auf. »Rasch, Harvey! Besorgen Sie mir die schnellste Verbindung nach Paris! Ich muß sofort hin! Und dann schicken Sie Maud zu mir! Sie muß mich begleiten! Und ich brauche einen Kontaktmann in Paris! Und das alles sollte schon vor einer Woche passiert sein!« So würdevoll sich der Butler auch gab, in einem Einsatz war er an Schnelligkeit nur schwer zu übertreffen. Er stürmte aus dem Raum. Peter Winslow war an seinem zwanzigsten Geburtstag zum Großmeister gewählt worden. Seither stand er dem Orden der Weißmagier vor. Seine Aufgabe war es, all jenen Menschen zu helfen, die sich dem Kampf gegen das Böse, gegen Geister und Dämonen und Schwarzmagier verschrieben hatten. Dieses Telegramm war ein Hilferuf! Und es war mit einwöchiger Verspätung bei ihm eingetroffen! Maud Orwell platzte in den Raum. Offiziell arbeitete die hübsche Rothaarige mit den Sommersprossen und den lebhaften grünen Augen als Hausmädchen. In ihrer zweiten Funktion war sie eines der wichtigsten Ordensmitglieder.
»Was ist los?« rief sie. »Wo brennt es?« »Möglicherweise in Paris.« Peter schob ihr das Telegramm zu. »Vor einer Woche aufgegeben! Ich sollte den Jungen schon längst geholt haben und …« Er unterbrach sich, als das Telefon klingelte, hob ab und meldete sich. Besorgt beobachtete Maud, daß er blaß wurde. So jung der Großmeister auch war, so gut hatte er sich in der Gewalt. Doch jetzt konnte er sein Erschrecken nicht verbergen. »Okay, ich kümmere mich darum«, versprach er und legte auf. »Das war die Kinderspäherin«, sagte er heiser. »Sie hatte vor wenigen Minuten eine Vision.« »Die Kinderspäherin?« fragte Maud erstaunt und zog ihre mit Sommersprossen übersäte Nase kraus. »Seit wann? Sie fühlte sonst nur, ob ein Kind schwarz- oder weißmagische Anlagen besitzt.« »Ich kenne den Grund nicht«, fuhr Peter gereizt auf. »In ihrer Vision hat sie jedenfalls einen ungefähr vierzehnjährigen Jungen gesehen, der hinter einem Flammenvorhang verschwunden ist. Zu seinen Füßen lag eine Mumie im Feuer.« »Ungefähr vierzehn?« Maud warf einen schnellen Blick auf das Telegramm. »Könnte Jacky Kent gemeint sein?« »Er ist vierzehn«, erklärte der Großmeister. »Und er ist in Gefahr. Nicht umsonst telegrafiert mir seine Mutter aus New York, daß ich ihn in Paris im Internat abholen soll. Wo bleibt denn Harvey? Such ihn, Maud! Ich brauche schnellstens einen Kontaktmann in Paris!« Maud traf in der Tür mit Harvey zusammen. Der Butler – wie alle Leute auf Sagon Manor Mitglied des Ordens – schwenkte einen Zettel. Peter riß ihm das Blatt Papier aus der Hand. »Mach dich fertig, Maud«, sagte er knapp zu seiner Helferin. »Wir fahren nach Paris.« »Du mußt dich auch noch umziehen«, mahnte Maud, während Peter schon wählte.
»Keine Zeit«, drängte er. »Ich bleibe, wie ich bin. – Ja, hallo? Monsieur Croix? Hier spricht Peter Winslow! Hören Sie genau zu! Es geht um einen Jungen namens Jacky Kent! Sie müssen folgendes tun …« Der junge Großmeister schilderte in knappen Worten dem Ordensmitglied in Paris, was getan werden mußte, um einen schweren Schlag der Schwarzmagier aufzufangen. Als Peter auflegte, war er sicher, alles in seiner Macht stehende getan zu haben. »Die Frage ist nur«, sagte er zu Maud, »ob ich noch rechtzeitig eingegriffen habe!« »Wir werden es erfahren, wenn wir da sind«, antwortete Maud knapp. Die beiden nahmen sich nicht einmal die Zeit, um sich von jemandem zu verabschieden. Jede Minute war kostbar. Der Feind hatte einen Vorsprung von einer Woche. Nur mit viel Glück konnte Peter Winslow noch etwas für den Jungen tun.
* »Bist du verrückt?« fuhr der ältere der beiden Männer seinen Begleiter an. »Du hast sie umgebracht!« »Na und?« Der Jüngere zeigte sich unbeeindruckt. »Eine weniger! Was macht das schon?« »Du hast sie mit deinen Augen umgebracht, du Wahnsinniger!« zischte sein Komplize. »Schau sie dir an! Jeder, der sie sieht, merkt doch etwas!« Das gab dem Mann mit den glühenden Augen nun doch zu denken. Vor ihnen lag eine mumifizierte Leiche. Sie sah aus, als hätten die beiden sie soeben aus einem ägyptischen Königsgrab geholt. »Wir haben den Befehl, keine Spuren zu hinterlassen«, zischte der ältere Schwarzmagier. »Und du hast soeben eine wunderbare Visi-
tenkarte abgegeben!« Ein böses Lächeln erschien um den Mund des jungen Mannes. »Reg dich wieder ab«, sagte er leise. »Das haben wir gleich!« Sie hatten mit Mademoiselle Croix in deren Büro in dem Internat gesprochen. Es waren nur wenige Schritte zu einem Raum, in dem Zeichengerät finden Malunterricht verstaut war. Die beiden Schwarzmagier brauchten nicht lange zu suchen. Sie kamen mit vier schweren Kanistern wieder und kippten Lösungsmittel für Farben in dem Büro aus. Ein Streichholz genügte. Die Explosion zerriß die vormittägliche Stille in dem Internatsgebäude. Im Moment hielten sich hier keine Kinder auf. Sie waren alle in einem zweiten Gebäude, in dem die Unterrichtsräume lagen. Feueralarm gellte durch Schule und Internat. Die beiden Männer nutzten die Gelegenheit. Sie liefen den Kindern und Jugendlichen entgegen, die aus den Unterrichtsräumen kamen. »Panik!« befahl der Ältere, als er sein Opfer entdeckte. Wieder blitzten die Augen des Jüngeren glühend rot auf. Feuerstrahlen schlugen daraus hervor und setzten Teile des Korridors in Brand. Die Kinder stoben schreiend nach allen Seiten auseinander. Nur ein ungefähr vierzehnjähriger Junge nicht. Er blieb ruhig stehen und blickte den Männern starr entgegen. Ein Lehrer packte den Jungen am Arm. »Lauf, Jacky!« schrie er. Der Junge rührte sich nicht von der Stelle, als könne er sich nicht mehr bewegen. Starr sah er in die Augen des jüngeren Mannes. Sie glühten noch immer rot, verschossen aber keine Blitze mehr. Benommen tastete der Junge an seinen Hals und zog an einer Silberkette. Ehe er jedoch das daranhängende Medaillon unter dem Hemd hervorholte, war der Ältere bei ihm.
Mit einem kräftigen Ruck zerriß er die Halskette und schleuderte sie mitsamt dem Medaillon in eine Ecke des Korridors. Kinder und Lehrer waren inzwischen geflohen. Niemand achtete mehr auf Jacky. Der Junge schwieg auch noch, als erneut eine Feuerwand aus den Augen des Schwarzmagiers hervorbrach und auf ihn zuraste. Die Flammen hüllten den Jungen ein. Sekunden später war der Junge verschwunden. Die beiden Schwarzmagier verließen ungehindert das Gebäude, das nun an mehreren Stellen brannte. Sie tauchten unbeachtet in der Menge der Schaulustigen unter. Niemand vermißte Jacky Kent.
* Butler Harvey hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Für seinen jungen Großmeister setzte er alle Hebel in Bewegung, um ihn so schnell wie möglich nach Paris zu bringen. Sagon Manor, der Stammsitz des Großmeisters, lag bei Brighton. Von diesem englischen Seebad aus fuhr ein Tragflügelboot mit Peter Winslow und Maud über den Kanal. In Calais gingen sie an Bord eines Privatflugzeuges, das sie nach Paris brachte. Die Anhänger des Ordens der Weißmagier waren über die ganze Welt verteilt. In Fällen wie diesen standen sie zusammen, obwohl sonst jeder für sich arbeitete. »Dieses Telegramm wurde aufgehalten«, sagte Peter während der Überfahrt. »Eine ganze Woche lang.« »Das würde bedeuten«, schloß Maud daraus, »daß man es dir jetzt absichtlich zugespielt hat.« »Ganz genau«, bestätigte Peter. »Den Grund kenne ich noch nicht. In dem Telegramm bittet mich Mrs. Kent nur darum, ihren Sohn Jacky aus dem Internat zu holen und nach Sagon Manor zu bringen,
weil sie Angst um ihn hat.« »Das war schon vor einer Woche«, gab Maud zu bedenken. Peter seufzte und nickte. »Das ist das Schlimme. Ich fürchte nicht nur für den Jungen, sondern auch für seine Eltern. Warum haben sie nicht nachgefragt, ob ich Jacky schon zu mir geholt habe?« Maud wollte seine Sorgen zerstreuen. »Vielleicht vertrauen sie dir so sehr, daß sie sich nicht vergewissern.« »Wenn Jacky dein Sohn wäre«, fragte Peter, »würdest du nicht nachfragen?« Maud seufzte. »Natürlich würde ich«, sagte sie leise. »Warum ist die Familie Kent überhaupt mit ihrer Yacht unterwegs über den Atlantik? Warum kommt sie nicht mit dem Flugzeug?« »Ich habe die Kents vor einiger Zeit in Amerika kennengelernt«, erklärte Peter. »Sie gehören zu unserem Orden und beschäftigen sich mit Forschungen in den kanadischen Wäldern.« »Ich erinnere mich«, warf Maud ein. »Dort soll es einen Einsiedler geben, der zahlreiche weißmagische Geheimnisse kennt.« »Genau diesen Mann suchte die Familie Kent«, erläuterte der junge Großmeister. »Sie haben mich von New York aus angerufen, daß sie erfolgreich waren und die Yacht mit interessantem und wertvollem Material voll beladen hätten. Deshalb sind sie nicht geflogen.« »Sind sie schon überfällig?« Das war die wichtigste Frage. Peter zuckte die Schultern. »Sie könnten schon in Brighton sein«, sagte er vorsichtig. »Noch haben wir keinen Grund zur Sorge.« Sie wußten beide, daß es immer Grund zur Sorge gab, wenn sie gegen feindliche Mächte kämpften. Der Privatjet setzte in Paris zur Landung an. Peter Winslow und Maud Orwell wurden um den Zoll herumgeschleust. Dann erst lernten sie Monsieur Croix kennen, ihren Verbindungsmann in Paris. Zu ihrer Überraschung entpuppte er sich als hoher Polizeimeister. »Sie machen ein so bedrücktes Gesicht, Monsieur Croix«, stellte Peter auf dem Weg zu dem Wagen des Ordensbruders fest.
»Ich habe auch allen Grund dazu.« Croix bemühte sich um Selbstbeherrschung. »Ich fürchte, Sie sind zu spät gekommen.« »Ist Jacky Kent etwas zugestoßen?«, rief Peter alarmiert. Croix nickte. »In seinem Internat hat sich vor kurzer Zeit eine Explosion ereignet. Fast gleichzeitig brachen an mehreren Stellen Brände aus. Meine Schwester wurde ermordet, und Jacky ist verschwunden.« Peter und Maud sahen einander bestürzt an. Monsieur Croix sagte nichts mehr. Es gab auch nichts zu sagen. Er fuhr vom Flughafen in die Stadt, als beteilige er sich an der Rallye Monte Carlo. Peter und Maud mußten sich festklammern, sonst wären sie hin und her geschleudert worden. »Müssen Sie so rasen?« rief Maud, als es ihr zu schnell wurde. »Ja«, antwortete Croix. »Vielleicht hat unser Großmeister noch die Chance, eine Spur des Jungen aufzunehmen. Und wenn nicht, so können Sie wenigstens die Mörder meiner Schwester verfolgen, Sir!« Peter saß mit Maud auf den Rücksitzen. Er beugte sich zu Croix vor. »Wie wurde Ihre Schwester ermordet?« fragte er. »Schwarze Magie!« Croix zuckte die Schultern, während er mit einem riskanten Manöver einen langsameren Wagen auf der Stadtautobahn überholte. »Sie ist in den Flammen eine Mumie.« Er sprach nicht weiter. Mitten im Satz brach er ab. Zuerst dachte Peter, dem Mann wäre etwas eingefallen. Dann erkannte er den wahren Grund. Croix sackte am Steuer in sich zusammen. Der Wagen beschleunigte. Croix trat mit dem vollen Gewicht seines Fußes auf das Gaspedal. »He, Croix!« schrie Peter. Noch wußte er nicht, was mit ihrem Fahrer geschehen war. Er hoffte, Croix wecken zu können. »Peter!« schrie Maud entsetzt auf, als der Wagen scharf nach links
zog und sich gefährlich der Mittelschiene der Autobahn näherte. Peter schnellte sich nach vorne. Seine Hände krampften sich um das Lenkrad. Im letzten Moment riß er den Wagen wieder zur Straßenmitte. Die Reifen pfiffen und kreischten, als der Wagen schleuderte. Peter fing auch das auf. Aber er hing über der Sitzlehne und kam nicht an die Pedale heran. Der Wagen beschleunigte noch mehr. Croix nahm den Fuß nicht vom Gas, und sein Schuh rutschte nicht einmal bei den Schlingerbewegungen zur Seite. Der junge Großmeister mußte das Steuer festhalten und nach vorne klettern. Der schwere Wagen schoß an einer ganzen Kolonne von Autos vorbei. Längst hatten sie die Höchstgeschwindigkeit überschritten. Wenn jetzt einer der langsameren Wagen ausscherte und die Überholspur blockierte, war es aus! Peter hatte erst eines seiner langen Beine über die Lehne gezwängt, als es passierte. Es war ein Kleinwagen, und er kam ohne Blinker nach links herüber. Wieder schrie Maud, und Peter sah das Ende nahen. In seiner Verzweiflung kurbelte er das Lenkrad nach rechts. Der Wagen schoß in die Lücke, die der Kleinwagen in der rechten Kolonne hinterlassen hatte. Maud schrie noch einmal. Sie jagten auf das Heck eines voranfahrenden Lastwagens zu. Peter zog das Lenkrad nach links. Haarscharf rasierten sie am Heck des Lastwagens vorbei und schnitten dem Kleinwagen die Bahn. Der Fahrer hupte wütend und langgezogen. Peter störte es nicht. Wenn er nicht schnellstens nach vorne kam, würde ihn in seinem Leben überhaupt nichts mehr stören.
Er fühlte etwas Warmes an seiner Schulter, achtete aber nicht darauf. Mit einer gewaltigen Anstrengung hob er auch das zweite Bein über die Sitzlehne. Maud half, wo sie konnte. Sie rang nur die meiste Zeit selbst um Gleichgewicht, weil der Wagen wild schlingerte und bockte. Weiter vorne gab es einen Stau. Peter sah die roten Bremslichter. Wenn es jetzt nicht klappte, war es aus! Das Lenkrad war im Weg, und der Schaltknüppel behinderte ihn. Aber endlich bekam er wenigstens den Fuß ihres Fahrers vom Gas. Der Wagen wurde langsamer. Es genügte nicht. Sie jagten direkt auf die roten Bremslichter zu! Peter erschien es wie eine Ewigkeit, bis er seinen Fuß nach unten zwängte und die Bremse ertastete. Er hatte keine Zeit mehr für Feinheiten, sondern rammte den Fuß mit ganzer Kraft auf das Pedal. Die blockierten Reifen kreischten über den Asphalt. Der Wagen drehte sich, stellte sich quer, kippte jedoch nicht. Und dann stand er still! Maud blickte Peter leichenblaß ins Gesicht, zuckte zurück und schrie gellend auf. Der junge Großmeister warf einen Blick in den Innenspiegel. Als er das Blut in seinem Gesicht entdeckte, verstand er Maud. Aber er war nicht verletzt, hatte nicht einmal eine Schramme. Er sah Croix an. Und er fand auf Anhieb das Einschußloch in der Schläfe.
* Die Motoryacht hieß FREEDOM. Sie beförderte die wertvollste Fracht, seit sie von Stapel gelaufen war. »Wenn wir damit heil nach Brighton kommen, haben wir den größten Triumph auf unserer Seite«, sagte Alice Kent.
Sie lehnte neben ihrem Mann im Führerhaus der Yacht. Mit einer Hand hielt sie das Steuerrad. Es gab für sie nicht viel zu tun. Das Meer war glatt, der Himmel klar. »Joe, hast du mich nicht gehört?« fragte sie nach einer Weile, als sie keine Antwort erhielt. »Natürlich habe ich dich gehört«, erwiderte Joe Kent. »Mehr hast du nicht zu sagen?« beklagte sich seine Frau. Er kam mit dem Kopf unter der Abdeckung des Führerstandes hervor, das Gesicht mit Öl verschmiert. »Ich möchte dieses elende Funkgerät endlich wieder in Gang bringen, Alice!« fuhr er seine Frau an. »Daran muß ich pausenlos denken. Für Triumphgefühle ist es viel zu früh! Wir hätten umkehren sollen, als das Ding gleich hinter New York ausfiel! Aber nein, du wolltest nicht auf mich hören.« »Umkehren, damit wir den Feinden in die Hände fallen!« Alice Kent schüttelte heftig den Kopf. »Du weißt so gut wie ich, wie wertvoll unsere Ladung für die Gegenseite ist!« »Aber wir wissen nicht einmal, ob der Großmeister unser Telegramm wegen Jacky erhalten hat!« rief Joe Kent gereizt. »Warum denn nicht?« Alice winkte ab. »Du siehst zu schwarz.« »Streitet ihr euch schon wieder?« fragte die fünfzehnjährige Tochter Nancy, die ihre Eltern auf der Atlantiküberquerung begleitete. »Hört denn das nie auf?« Joe Kent preßte die Lippen fest zusammen und tauchte wieder unter die Abdeckung. Alice wurde auch abgelenkt. Ohne ersichtlichen Grund schlingerte die Yacht auf einmal. Erschrocken drehte Alice am Steuer. Das Schiff gehorchte dem Ruder nicht. »Joe!« schrie sie erschrocken auf. Ihr Mann fuhr hoch und knallte mit dem Kopf gegen die Abdeckhaube. Schimpfend und fluchend kam er ganz hervor. »Was ist denn jetzt wieder?« schrie er. »Kannst du nicht einmal
mehr die Yacht führen?« Alice wurde blaß vor verhaltenem Ärger. »Entschuldige«, sagte sie schroff. »Sekundenlang hat die Yacht sich aufgeführt, als würden wir auf dem Rücken eines Wals reiten.« »Ach ja, ein Riesenwal!« bemerkte Joe und rieb sich die Stelle, an der er sich den Kopf gestoßen hatte. »Vielleicht war es Moby Dick persönlich?« »Ihr seid mal wieder unmöglich!« beklagte sich Nancy. Sie lehnte an der Reling und wandte ihren Eltern demonstrativ den Rücken zu. »Das ist die letzte lange Fahrt, die ich mit euch zusammen mache. Einzeln seid ihr ja zu ertragen, aber wenn ihr beisammen seid, streitet ihr euch dauernd!« »Was soll denn das heißen?« rief ihr Vater zu ihr hinunter. Sein Zorn entlud sich auf seine Tochter. Doch von einer Sekunde auf die andere herrschte an Bord der FREEDOM Frieden und Stille. Nur das Dröhnen der Motoren und das Rauschen der Bugwelle war zu hören. Fassungslos und von Grauen gepackt starrten die drei Menschen in das Wasser, das rasch an ihnen vorbeizog. Die Oberfläche wimmelte plötzlich von Schwimmern, die alle auf die Yacht zuhielten. Weit und breit war kein Land in Sicht, auch kein anderes Schiff, nicht einmal ein Rettungsfloß. Die Schwimmer hatten aber auch kaum noch Ähnlichkeit mit Menschen. »Um alles in der Welt!« schrie einer der drei italienischen Matrosen entsetzt. »Was ist das?« Joe Kent faßte sich als erster. »Zombies!« schrie er. »Lebende Wasserleichen!« Seine Faust hämmerte auf den Gashebel. Er jagte die Motoren schlagartig auf Vollgas. Gleichzeitig übernahm er das Steuer.
Er entdeckte eine Lücke in der Masse der anrückenden Untoten und steuerte darauf zu. Die Bugwelle schäumte hoch auf, als die Zombies mit unglaublicher Schnelligkeit diese Lücke schlossen. Die FREEDOM war eingekesselt, doch Joe Kent dachte gar nicht daran, die Motoren zu drosseln. Das da draußen waren keine Menschen, sondern Abgesandte der Hölle. Auch nur einen von ihnen zu schonen, hätte den sofortigen Tod bedeutet. Lebende Leichen kannten keine Gnade! Die Matrosen schrien in ihrer Muttersprache durcheinander. Sie gehörten nicht zum Orden und sahen zum ersten Mal in ihrem Leben Untote. Der Schock traf sie doppelt hart. Joe Kent versuchte, die Yacht so gut wie möglich in freies Wasser zu steuern. Er beging nicht den Fehler, seine Feinde zu unterschätzen. Alice Kent lehnte wie gelähmt im Führerstand des Schiffes und hielt sich krampfhaft fest. Sie erwachte erst aus ihrer Erstarrung, als ein Untoter an der Reling auftauchte und versuchte, sich auf die Decksplanken zu schwingen. Er hatte sich aus dem Wasser hochgeschnellt. Seine weißen Hände krallten sich um die Messingstange. Das Gesicht der Wasserleiche tauchte neben der Bordwand auf. Alice Kent packte den erstbesten Gegenstand und schlug zu. Der Untote verschwand wieder im Wasser. »Mum!« schrie Nancy und deutete auf die andere Seite des Schiffes. Dort versuchten gleich zwei Untote, das Deck zu erreichen. Die Matrosen reagierten schnell. Sie hatten gesehen, wie sich die Schiffseignerin verhielt. Das gab ihnen Mut. Sie beförderten die lebenden Leichen zurück ins Wasser. Gleich darauf lief ein harter Stoß durch die Yacht. Die Motoren brüllten überlastet auf. Joe Kent biß die Zähne zusammen. Er wußte genau, was gesche-
hen war. Die Yacht war auf die Barriere aus Untoten aufgelaufen. Sie kam nicht durch. Er blickte sich verzweifelt nach seinen Angehörigen um. Alice kämpfte gemeinsam mit den Matrosen gegen die unaufhörlich vordringenden Zombies. Die Matrosen konnten sich um nichts mehr kümmern. Sie hatten alle Hände voll zu tun, die Zombies am Entern der Yacht zu hindern. Wo war Nancy? »Nancy!« schrie Joe Kent erschrocken. »Nancy, wo bist du?« Er wollte schon das Steuerrad im Stich lassen, als er seine Tochter entdeckte. Sie kam aus den Kabinen herauf. In den Armen trug sie verschiedene Gegenstände, die Joe Kent nicht genau unterscheiden konnte. Alles ging zu schnell. Er wirbelte das Steuerrad herum und quälte die Motoren noch einmal auf volle Leistung. Die Yacht stemmte sich gegen die unheimliche Barriere. Noch kam sie nicht frei, aber Nancy griff ein. Sie warf ihrer Mutter eine Peitsche zu und reichte ihrem Vater ein Gewehr mit abgesägtem Lauf herauf. Erleichtert erkannte Joe Kent Gegenstände aus der Hütte des Einsiedlers. Sie brachten endlich die Wende. Mit jedem Peitschenschlag fegte Alice Kent die Zombies ins Wasser zurück. Die Untoten versanken und tauchten nicht mehr aus den Fluten auf. Joe Kent lud das Gewehr durch. Es war eine Schrotflinte. Er wußte nicht genau, woraus der Schrot wirklich bestand. Der Einsiedler hatte es ihm nicht verraten. Er kannte aber die Wirkung. »Alfredo!« rief er einem Matrosen zu. »Lös mich ab!« Der Italiener sprang auf die Brücke und übernahm das Steuer. Joe Kent hetzte über das Deck und beugte sich am Bug weit über
die Reling. Der Bug ragte am höchsten aus dem Wasser. Deshalb versuchten es die Zombies hier erst gar nicht, die Yacht zu entern. Joe Kent hatte Zeit, hielt die Flinte senkrecht und drückte beide Läufe ab. Grelle Lichtblitze schossen aus den Läufen. Die Yacht machte förmlich einen Sprung vorwärts, als die Barriere in sich zusammenfiel. Kein einziger Zombie stemmte sich mehr gegen das Schiff. Alfredo nahm sofort die Geschwindigkeit zurück. Sie durften die Motoren nicht überlasten. Die Yacht gewann rasch freies Wasser. Kein einziger Feind war mehr zu sehen. Alice stand wie betäubt an Deck und sah sich suchend um. Nancy lehnte an den Aufbauten. Das Mädchen war blaß, aber gefaßt. Joe Kent trat auf seine Frau zu und legte ihr einen Arm um die Schultern. Nancy, die sich bisher so tapfer gehalten hatte, flüchtete sich schluchzend in den anderen Arm ihres Vaters. »Okay«, murmelte Joe Kent. »Ist ja okay! Wir haben es geschafft, und wir werden es auch bis Brighton schaffen. Dort ist der Großmeister, der uns weiterhelfen kann!« Aber ein Blick in sein Gesicht genügte. Er glaubte selbst nicht mehr so recht daran, daß sie es wirklich schaffen konnten. Zu massiv war dieser Angriff gewesen. Seine Augen suchten die Meeresoberfläche ab. Und über seiner Nasenwurzel stand eine steile Falte.
* Peter Winslow und Maud Orwell waren dem Tod nur knapp entkommen. Um ein Haar wären sie in einem Knäuel zerbeulten Blechs gestorben. »Die hier sind schlimmer als der Anschlag«, sagte Peter leise zu
seiner Begleiterin. Er meinte die Pariser Polizisten, die das junge Paar eingekreist hielten. Die Polizisten musterten die beiden Engländer mit bösen Blicken. »Du mußt sie verstehen, Peter«, redete Maud auf den Großmeister ein. »Croix war einer von ihnen. Und jetzt finden sie ihn mit einer Kugel im Kopf und zusammen mit uns in einem Auto. Ich würde mich wundern, falls sie freundlich wären. Sie kennen uns doch gar nicht.« »Wir müssen nach Paris zu Jacky Kent«, sagte Peter beschwörend. »Wie lange wollen diese Leute uns denn noch festhalten?« »Jacky ist schon verschwunden«, erwiderte Maud. »Auf eine oder zwei Stunden kommt es nicht mehr an. Sei vernünftig!« Peter lächelte verzerrt. »Denk daran, daß ich der Großmeister bin!« mahnte er. »Im Moment bist du ein nervtötender junger Mann, sonst gar nichts«, antwortete Maud energisch. »Warte, jetzt tut sich etwas.« Wieder hielt ein Wagen auf der gesperrten Stadtautobahn. Zwei dunkel gekleidete Männer stiegen aus, beide grauhaarig und um die Fünfzig. Sie kamen zu Peter und Maud und stellten sich als Beamte der britischen Botschaft vor. »Wir können natürlich nicht verhindern«, erklärte der Wortführer der beiden, »daß die französische Polizei diesen Mord untersucht. Aber wenn Sie wirklich so dringend in die Stadt müssen, bringen wir das für Sie in Ordnung.« »Sie müssen sich nur zur Verfügung der Polizei halten«, meinte der zweite Botschaftsangestellte. »Meinetwegen kann die ganze Pariser Polizei mit uns fahren«, bot Peter an. »Wenn es nur schnell geht.« Ihre Landsleute verhandelten mit den Kriminalbeamten, die den Mord an ihrem Kollegen untersuchten. Endlich einigten sie sich dar-
auf, daß ein Pariser Kommissar mit Peter und Maud in das Internat fuhr. Es stellte sich heraus, daß er gut Englisch sprach. »Ich habe zusammen mit Monsieur Croix den Brand, den Mord und das Verschwinden des Jungen untersucht«, erklärte er. »Sehr mysteriös!« Er warf Peter einen mißtrauischen Blick zu. »Als Sie angekündigt wurden, Mr. Winslow, war Monsieur Croix erleichtert. Er sagte, jetzt würden wir bald klar sehen. Wieso? Sie sind doch kein Kriminalbeamter.« »Ich bin Fachmann für mysteriöse Fälle«, antwortete Peter ausweichend. Damit war Kommissar Leblanc zwar nicht zufrieden, eine andere Erklärung bekam er jedoch nicht. Endlich erreichten sie das Internat mit der ausgebrannten Schule. »Die Vision der Kinderspäherin«, sagte Maud leise. Peter Winslow nickte. »Sie hat Jacky Kents Entführung gesehen«, antwortete er. »Sprechen wir mit Augenzeugen.« Kommissar Leblanc zeigte sich von seiner besten Seite. Er war hilfsbereit und erfüllte den beiden jungen Engländern jeden Wunsch. Peter und Maud konnten mit einigen Schülern sprechen. Alle sagten das gleiche aus, nämlich daß zwei Männer bei dem Feueralarm in die Gruppe der Kinder eingedrungen waren. Einer von ihnen hatte mit seinen Augen Feuerblitze verschossen. »Das ist ja wohl kindliche Phantasie«, tat Kommissar Leblanc diese Aussagen ab. Peter Winslow verzichtete auf eine Antwort. Sollte der Kommissar ruhig glauben, was er wollte. »Monsieur le Commissaire!« Einer der Pariser Polizisten kam zu Leblanc und sprach leise mit ihm. Peters Schulfranzösisch reichte aus, um die Unterhaltung der Männer zu verstehen. Kommissar Leblanc erklärte gleich darauf, worum es ging. »Meine Leute haben einen Anhänger gefunden«, erklärte er. »Und
zwar in dem Raum, in dem Jacky Kent zum letzten Mal gesehen worden ist. Kommen Sie!« Er führte Peter und Maud in einen völlig verkohlten Teil des Korridors und nahm einem seiner Kollegen eine Plastiktüte ab. Darin glitzerte es silbern. »Darf ich?« Peter nahm dem Kommissar die Tüte aus der Hand, griff hinein und holte Halskette sowie Anhänger heraus. »Was erlauben Sie sich!« fuhr Leblanc den jungen Engländer an. »Sie zerstören Fingerabdrücke!« »Die sind unwichtig«, erwiderte Peter. »Wenigstens in diesem Fall. Die Täter werden Sie mit Ihren Methoden nicht finden!« Leblanc tobte weiter, aber Maud griff ein. Sie zog den Kriminalbeamten ein Stück beiseite und versuchte, ihm die Lage zu erklären. Dabei machte sie auch Andeutungen, was wirklich hinter allem steckte. Peter untersuchte inzwischen das Medaillon. »Hören Sie doch auf!« fuhr Leblanc Maud an. »Ich glaube kein Wort von diesem Unsinn!« »Dann zeigen Sie uns doch die Leiche von Mademoiselle Croix«, verlangte Maud. Der Kommissar zuckte leicht zusammen. Er wollte Ausflüchte machen, aber Maud drängte so lange, bis er auch dazu seine Einwilligung gab. Peter hatte inzwischen das Medaillon geöffnet. »Ich kann nichts damit anfangen«, sagte er. »Leider. Aber das Medaillon gehört einwandfrei Jacky Kent.« »Was haben Sie denn gesucht?« fragte Leblanc gereizt, während er den Anhänger wieder in der Plastiktüte verstaute und seinem Mitarbeiter gab. »Daß die Entführer ihre Visitenkarte angeheftet haben?« »So ungefähr«, sagte Peter seelenruhig. Aus Leblancs Augen traf ihn ein ungläubiger Blick. Um den Mund des Kommissars zuckte ein spöttisches Lächeln. »Nehmen Sie sich
nicht ein wenig zu wichtig, junger Mann?« fragte er herablassend. Peter schüttelte den Kopf. »Nicht im geringsten«, erwiderte er so selbstsicher, daß Leblanc unsicher wurde. Peter war ihm keineswegs böse. Es passierte ihm oft, daß man ihn seiner Jugend wegen nicht ganz voll nahm. Es störte ihn nicht. Die Leute staunten hinterher um so mehr, wenn sie ihn in Aktion erlebten. Wieder trat einer der Untersuchungsbeamten zu Leblanc und berichtete. Diesmal verstanden auch Peter und Maud, was er sagte. »Kann ich die Eintragung im Besucherbuch sehen?« bat Peter, als die Meldung zu Ende war. »Es ist doch richtig, daß sich die beiden Entführer vor dem Betreten des Internats eingeschrieben haben, Monsieur le Commissaire?« »Ja«, gab Leblanc zähneknirschend zu und ging voran. Seine Leute überprüften das Besucherbuch. Einer von ihnen tippte auf die letzte Eintragung. »Barney Jefferson«, las Maud daraus vor. »Hier steht nur ein Name. Zwei Personen betraten das Internat.« Ein Angestellter der Schule mischte sich ein. »Es genügt, wenn sich einer der Besucher einträgt«, erklärte er. »Gut, dann fahren wir jetzt in die Leichenhalle«, entschied Kommissar Leblanc. Wieder ging er voran. Als sie im Wagen saßen, wandte er sich an Peter Winslow. »Haben Sie eine Ahnung, was hinter dem Mord an Croix stecken könnte?« »Wie?« Peter schreckte aus seinen Gedanken hoch. »Verzeihen Sie, ich habe nicht zugehört.« »Mademoiselle Croix wurde ermordet«, antwortete Maud an Peters Stelle, »weil sie die Entführer gesehen hatte. Das ist klar. Und Ihr Kollege Croix wurde getötet, weil er unserem Orden angehörte und mit uns zusammen war. Ich habe Ihnen vorhin erklärt, worum es in unserem Orden geht, Monsieur Leblanc.« Der Kommissar warf ihr einen seltsamen Blick zu, während sein
Fahrer den Wagen durch den dichten Pariser Verkehr steuerte. »Wollen Sie damit sagen«, fragte Leblanc, »daß es genügt, mit Ihnen zusammen zu sein, um erschossen zu werden?« »Ja«, versicherte Peter. »Das genügt völlig!« Daraufhin stellte der Kommissar keine Fragen mehr und beobachtete die Straßen sehr genau, durch die sie zur Leichenhalle fuhren. Peter und Maud taten das ebenfalls. Auch sie rechneten mit einem weiteren Anschlag. Er kam ganz sicher. Fragte sich nur, wann.
* Die italienischen Matrosen taten, was sie konnten. Sie besserten die Schäden aus, die an der FREEDOM aufgetreten waren. Der Angriff der Zombies hatte das Schiff reichlich mitgenommen. »Joe!« Alice setzte sich zu ihrem Mann, der wieder das Steuer übernommen hatte. »Tut mir leid, daß ich vorhin so …« »Schon gut, Darling«, unterbrach Joe seine Frau. »Ich weiß, was du sagen willst. Wir sind nur knapp dem Tod entronnen. Da wird alles andere unwichtig.« Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. »Nancy ist unten im Laderaum«, sagte sie nach einer Weile. »Sie sieht nach, ob die Sachen des Einsiedlers beschädigt worden sind.« »Okay«, murmelte Joe Kent. »Du glaubst nicht, daß wir es schon überstanden haben, nicht wahr?« stellte Alice fest. Joe blickte seiner Frau in die Augen. Er sah, daß sie Mut gefaßt hatte. »Nein, ich glaube es nicht«, gab er offen zu. »Nein, ganz bestimmt nicht. Sie wissen, was wir mitführen. Sie wollen uns haben, und sie werden wiederkommen.« »Ja«, sagte Alice tonlos. »Wir hätten nach New York zurückfahren sollen, als das Funkgerät ausfiel. Du hattest recht.« »Das ist jetzt auch unwichtig«, erwiderte Joe leise. »Selbst wenn
wir umgekehrt hätten, wären unsere Feinde auf eine andere Methode verfallen.« Er seufzte. »Wir beide wußten immer, was auf uns zukommen könnte. Dafür sind wir Ordensmitglieder. Wegen Nancy tut es mir leid, nur wegen ihr.« Alice preßte die Lippen aufeinander und nickte. Sie war eine schöne Frau. Man sah es auch jetzt, obwohl sie Ölzeug angezogen hatte. Es konnte ihre schlanke, gut proportionierte Figur nicht ganz verhüllen. Ihr Gesicht wirkte durch die leicht schräg stehenden Augen rassig. Ihr Mund war verlockend, wenn sie nicht gerade so wie jetzt von schweren Sorgen gepeinigt wurde. »Wann werden sie kommen?« fragte Alice besorgt. Joe zuckte die Schultern. »Wenn nichts passiert, sind wir morgen vormittag in Brighton.« »Also passiert es heute nacht«, stellte Alice fest. Joe nickte. Er war vierunddreißig und hatte gehofft, älter zu werden. Wie es aussah, würde ihm das nicht gelingen. »He, ihr beiden!« rief Nancy fröhlich. »Macht keine so traurigen Gesichter!« Ihre Eltern hielten die Fröhlichkeit für Unbeschwertheit der Jugend und teilweise auch für Ahnungslosigkeit. Nancy kam zu ihnen, ein schlaksiger Teenager in ausgebleichten Bluejeans. Sie lächelte auf ihre Eltern herunter. »Warum habt ihr Ölzeug an?« fragte sie. »Sturmwarnung«, erwiderte ihr Vater knapp. »Uns werden nur die Ausläufer streifen, aber so ist es besser. Warum strahlst du?« Nancy kauerte sich neben ihren Eltern auf den Boden und lachte leise. »Ihr fürchtet euch vor dem nächsten Angriff«, sagte sie unbekümmert. »Auf die einfachste Idee kommt ihr nicht, wie?« »Und die wäre?« fragte ihr Vater gereizt. »Wir haben jetzt wirklich nicht die Nerven, mit dir ein Ratespiel zu machen.« »Typisch die Elterngeneration«, bemerkte Nancy lässig. »Kaum
wißt ihr nicht weiter, fangt ihr zu schreien an. Wir haben die Sachen des Einsiedlers. Warum verwandeln wir die FREEDOM nicht in eine schwimmende Festung?« Joe und Alice Kent sahen einander überrascht an. Diese Idee war wirklich so einfach, daß sie sich fragten, warum sie nicht darauf gekommen waren. Sie machten sich sofort an die Arbeit, während die italienischen Matrosen für die Schiffsführung sorgten. In dieser Hinsicht war auf sie völlig Verlaß. Nur von Weißer Magie verstanden sie nichts. Eine Stunde vor Sonnenuntergang war die Arbeit vollendet. »Wir haben das Schiff total abgesichert«, behauptete Joe Kent, der sich mit Weißer Magie am besten auskannte. »Jetzt kommt kein einziger Zombie mehr an Bord.« Er sprach absichtlich so laut, daß seine Matrosen ihn ebenfalls hörten. Sie machten so niedergeschlagene Gesichter, daß Joe sie aufmuntern wollte. Ihre Gesichter veränderten sich nicht. Sie blickten lediglich betreten zu Boden. »Was ist mit euch los?« rief Joe Kent und klatschte in die Hände. »Ihr habt immer gewußt, womit ich mich beschäftige. Ich habe euch nichts vorgemacht. Ihr habt die Risiken dieser Fahrt vorher gekannt, oder etwa nicht?« »Ja, wir haben alles gewußt«, bestätigte Alfredo und blickte betroffen zu Marco. Auch Aldo, der dritte Matrose, sah Marco an. »Was ist los?« fragte Joe Kent noch einmal die drei Matrosen, die alle Mitte zwanzig waren. »Vertraut ihr mir nicht? Ich versichere euch, die Sachen des Einsiedlers werden uns gegen alle Feinde verteidigen.« Er deutete auf Totempfähle, magische Zeichen, Tücher und andere Gegenstände, die er und seine Frau und Tochter überall auf der Yacht befestigt hatten. Die drei Italiener schwiegen.
»So sagt doch etwas!« schrie Alice Kent, der die Nerven durchgingen. »Aldo! Alfredo! Marco!« »Sag du es, Marco«, forderte Alfredo seinen Kameraden auf. Marco räusperte sich. Er zuckte die breiten Schultern. »Wir werden diese Nacht nicht überleben«, sagte er dumpf. »Ich weiß das!« Er stand auf und ging an den Bug. Dort blieb er stehen und starrte düster in das schäumende Wasser.
* »Peter«, sagte Maud leise und hakte sich bei ihm unter, als sie die Leichenhalle betraten. »Du hast vorhin bei dem Namen Barney Jefferson gestutzt. Warum?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er genauso leise. »Wundert es dich, daß sich in einem Pariser Internat ein Besucher mit einem englischen Namen eingetragen hat?« fuhr Maud fort. Sie gab sich mit seiner knappen Antwort nicht zufrieden. »Es ist eben einer unserer Feinde aus England auf den Kontinent gefahren, um Jacky zu holen.« Peter schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.« Das ernste Gesicht des jungen Großmeisters verschloß sich. Seine blauen Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Irgendwie kommt mir der Name Barney Jefferson bekannt vor.« »Ich habe ihn noch nicht gehört«, versicherte Maud. Peter antwortete nicht, weil sie den Kühlraum erreicht hatten. Kommissar Leblanc öffnete die Eisentür. In dem gekachelten Raum mit dem kalkweißen Licht erwartete sie schon ein Angestellter der Leichenhalle. Er blickte Peter mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck entgegen. Maud stutzte. Peter erwiderte den Blick gelassen, wunderte sich aber auch. Der ungefähr dreißigjährige Mann mit den schüt-
teren Haaren wirkte, als wolle er Peter jeden Moment um den Hals fallen. »Nummer 239«, verlangte Kommissar Leblanc. Der Angestellte nickte und zog an dem entsprechenden Handgriff. Die Bahre rollte surrend auf Kugellagern aus der Wand. Kommissar Leblanc trat an die Tote heran, die sich unter dem Laken abzeichnete. Dabei wandte er dem Angestellten den Rücken zu. Jetzt lächelte der Mann zu Peter. Seine dunklen Augen nahmen für Sekunden ein helles blaues Leuchten an, Erkennungszeichen der Ordensmitglieder. Es war ein untrügliches Zeichen, das bisher noch nie von Schwarzmagiern kopiert worden war. Die Gegenseite schaffte es nicht. Peter nickte dem Unbekannten zu. Der Angestellte hatte in ihm den Großmeister erkannt. Maud atmete erleichtert auf. Sie hatte schon Komplikationen befürchtet. »Nun?« fragte Kommissar Leblanc ungeduldig, als Peter sich nicht gleich um die Leiche kümmerte. Der junge Großmeister trat näher heran. Er biß die Zähne fest zusammen. Es war kein leichter Job, gegen das Böse zu kämpfen. Peter hatte trotz seiner Jugend schon viel mehr erlebt als die meisten anderen Menschen in ihrem ganzen Leben. Der Anblick der toten Mademoiselle Croix war jedoch besonders schwer zu ertragen. Sie war völlig mumifiziert. »Sie hat keine Verbrennungen«, sagte Maud mit belegter Stimme. Sie hielt sich tapfer, mußte sich aber genau wie Peter zusammennehmen. »Wieso nicht?« »Wurde sie nicht in ihrem eigenen Büro ermordet?« fragte Peter. »Monsieur Croix behauptete das zumindest. Und dort begann der Brand durch explodierende Farben und Lösungsmittel.« »Richtig«, bestätigte Leblanc. Er zuckte die Schultern. »Keine Er-
klärung, tut mir leid.« Peter überlegte krampfhaft. »Mumifiziert«, murmelte er. »Sie wurde von einem Schwarzmagier getötet.« Der Angestellte der Leichenhalle ließ sich kein Wort seines Großmeisters entgehen. »Ich glaube«, fuhr Peter wie in einem Selbstgespräch fort, »man wollte mir die Tote zeigen. Deshalb haben die Magier sie vor dem Verbrennen geschützt. Ich sollte sie sehen. Aber warum?« »Um die Macht unserer Gegner zu erkennen?« schlug Maud als Erklärung vor. Peter zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« Er wandte sich an Leblanc, der sich ein wenig überflüssig vorkam. »Wann ist die Obduktion, Monsieur le Commissaire?« »Gleich morgen früh«, erwiderte Leblanc. »Ich bin auf das Ergebnis gespannt. Einen solchen Fall von Mumifizierung innerhalb weniger Minuten hatte ich noch nicht.« »Ich schon, und zwar oft«, antwortete Peter und handelte sich einen ungläubigen und verblüfften Blick des Kommissars ein. »Gehen wir!« Er warf dem Angestellten einen vielsagenden Blick zu. »Passen Sie gut auf die Tote auf, damit es keine Überraschungen gibt.« Der Angestellte gab ihm ebenfalls mit den Augen ein Zeichen, daß er aufpassen werde. Peter wußte, was mit einer Leiche geschehen konnte, vor allem mit einer auf diese Weise gestorbenen Person. Da der Angestellte zu seinem Orden gehörte, brauchte er keine weiteren Erklärungen zu geben. Der Mann konnte auf sich selbst aufpassen. Sie verließen den Raum. Der Angestellte blieb zurück. Leblanc ging als Letzter. Er ließ die Eisentür eine Handbreit offen. »Was machen Sie jetzt, Mr. Winslow und Miss Orwell?« erkundigte sich der Kommissar. Maud überließ Peter die Antwort. Er war ihr Großmeister. Jedes
Ordensmitglied respektierte ihn trotz seiner Jugend. Peter Winslow zuckte die Schultern. »Ich weiß es noch nicht, Monsieur le Commissaire.« »Wir werden Ihnen aber nicht mehr in die Quere kommen. Von jetzt an sind wir …« Er sprach nicht weiter. Die Eisentür schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloß, obwohl es hier keine Zugluft gab. Leblanc zuckte erschrocken zusammen, wußte jedoch nicht sofort, was er tun sollte. Peter war mit einem Sprung an der Tür. Seine Hand schlug auf die Klinke, doch die Tür rührte sich nicht. Peter zog und zerrte, und er war außergewöhnlich kräftig. Dennoch erreichte er nichts. Die Tür saß fest, als wäre sie zugeschweißt. Und dann kam von drinnen der Schrei … Peter Winslow hatte ins Ausland keine Waffen mitgenommen, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Das bereute er jetzt bitter. Mit einer entsprechend präparierten Pistole hätte er die Tür aufschießen können. Weißmagische Mittel wären die einzige Möglichkeit gewesen, dem Angestellten zu helfen. Der Schrei brach ab … Im nächsten Moment sprang die Tür wieder auf und blieb eine Handbreit offen stehen, wie es vorher gewesen war. Peter versetzte der Tür einen Fußtritt, daß sie gegen die Wand schlug. Peter bot sich ein Bild des Schreckens. Der Angestellte lag auf dem Boden vor dem Fach der Mumie. Der schwere Deckel, der das Kühlfach sonst verschloß, hatte ihn erschlagen. Für den Mann gab es keine Hilfe mehr. Aber wo war die Mumie? Peter strengte seine Augen an, doch er konnte nicht in das Fach
hinein sehen. Das Laken war zusammengeschoben und versperrte den Einblick. Die Mumie konnte noch im Fach liegen. Sie konnte das enge Gefängnis aber auch verlassen haben. Kommissar Leblanc wollte an Peter vorbei in den Kühlraum laufen. Der junge Großmeister packte ihn am Arm und riß ihn zurück. »He, was soll das!« protestierte Leblanc. »Sind Sie …« Das Wort blieb ihm im Hals stecken, als im Kühlraum ein nerventötendes Kratzen erklang. Niemand hatte sich in dem Raum aufgehalten, den Angestellten ausgenommen. Und der war tot. Von ihm stammte das Geräusch nicht. Es gab keinen zweiten Zugang, so daß auch niemand unbemerkt den Raum betreten hatte. Nun wußte Peter, wo die Mumie war. Er gab Maud ein Zeichen. Sie kam an seine Seite. »Was meinst du?« flüsterte er. »Einschließen? Kämpfen?« »Die läßt sich nicht einschließen«, antwortete Maud. »Wir müssen kämpfen.« Peter Winslow nickte. Seine muskulöse Gestalt straffte sich. »Sichere den Korridor«, ordnete er an. »Paß auf Leblanc gut auf!« Maud wich ein Stück zurück. Sie führte Leblanc mit sich. Der Kommissar schien unsicher und nervös. Sein Gesicht war bleich. Das kam nicht nur von den Neonlampen. Maud nickte. Sie war bereit. Die Mumie zeigte sich noch immer nicht. Peter holte tief Luft und schnellte sich durch die Tür in den Kühlraum. Die Mumie lauerte neben der Tür. Damit hatte Peter gerechnet. Dennoch saß er in der Falle, denn die Mumie verhielt sich ganz anders als andere Zombies. Peter bemerkte aus den Augenwinkeln die blitzschnelle Drehung seines Gegners. Bevor er richtig reagierte, knallte die Tür zu.
Die Mumie hatte den Kühlraum verlassen und von außen verschlossen. Ein gewaltiger Schlag donnerte gegen die Tür. Das dicke Eisenblech verbog sich. Es verkantete. Peter hörte Mauds Entsetzensschrei. Er warf sich von innen gegen die Tür, aber da war nichts zu machen. Die Mumie hatte ganze Arbeit geleistet. Ohne Brechstangen bekam man diese Tür nicht mehr auf. »Maud!« schrie Peter und trommelte gegen das Eisenblech. »Maud, was ist los!« Entsetzliche Angst packte ihn. Die Absicht der Mumie war gewesen, ihn in diesen Raum zu locken. Gegen ihn und Maud zusammen hätte die Untote keine Chancen gehabt. So aber waren sie getrennt. »Maud!« brüllte er. Seine Phantasie gaukelte ihm Schauerszenen auf dem Korridor vor. »Peter!« Maud hämmerte von draußen dagegen. »Alles okay?« »Ja!« rief er erleichtert. »Hol mich hier schnell heraus! Wo ist der Zombie?« »Moment!« antwortete Maud. Dann blieb es eine ganze Weile still. Peter nutzte die Zeit und sah nach seinem Ordensbruder. Der Mann war von der aufplatzenden Lade am Kopf getroffen worden. Peter stand verbittert auf. Der Feind war ihm immer zwei oder drei Schritte voraus. Dazu kam die Sorge um die gesamte Familie Kent. Seine Feinde hatten ihn auf Jacky Kents Spur gelockt und ihm gleichzeitig klargemacht, daß auch mit dem Ehepaar Kent etwas nicht stimmte. Es kam Peter so vor, als solle er langsam auf ein bevorstehendes Ereignis vorbereitet werden. Nur den Grund verstand er noch nicht. Es knirschte an der Tür. Peter trat zurück. Noch wußte er nicht, ob die Mumie nicht zurückgekommen war. Er war erst beruhigt, als sich am Rand der Tür das flache Ende einer Brechstange durchschob. Krachend und berstend platzte das verbeulte Eisenblech aus dem Rahmen und fiel schmetternd zu Bo-
den. Peter war frei! Er verabschiedete sich hastig von Kommissar Leblanc, der kein Wort mehr sagte. Gemeinsam mit Maud verließ er die Leichenhalle. »Leblanc muß sich ein neues Weltbild basteln«, sagte Maud, als sie vor das Gebäude traten. »Sein altes ist zusammengebrochen.« Peter nickte nur und betrachtete den vorbeiflutenden Verkehr und die zahlreichen Passanten. »Irgendwo hier in der Nähe steckt die Mumie«, sagte er. Maud hatte berichtet, daß die Untote aus dem Gebäude geflohen war. »Am hellen Tag in Paris! Das kann doch gar nicht gut gehen. Irgend jemand muß den Zombie sehen. Ich könnte darauf wetten.« »Vorsicht, du könntest die Wette verlieren«, mahnte Maud. »Unser Feind spielt ein undurchsichtiges Spiel. In diesem Fall würde ich gar nichts voraussetzen.« Peter nickte. »Du hast recht, Maud«, gab er zu. »Ich brauche jetzt unbedingt ein Telefon. Ich muß zu Hause anrufen.« Maud wollte fragen, was es so Dringendes zu besprechen gab. Sie verzichtete jedoch darauf, als Peter mit langen Schritten auf die Suche ging. Der Großmeister war in keiner gesprächigen Stimmung, und sie würde schon hören, worum es sich drehte.
* Joe und Alice Kent schlossen ihre Tochter Nancy nicht mehr von den Besprechungen aus. Nancy hatte gezeigt, daß sie alt genug war, um alles zu verstehen. Sie entwickelte sogar schon eigene Ideen. »Eines mußt du aber wissen, Nancy«, sagte Mrs. Kent, ehe sie zum eigentlichen Thema kam. »Du bist bei uns aufgewachsen, und wir sind deine Eltern. Du hast es dir nicht ausgesucht. Dein Vater und ich, wir waren schon vor deiner Geburt Mitglieder im Orden der Weißmagier. Darum bist du mit all diesen Dingen ganz selbstver-
ständlich aufgewachsen. Du bist dadurch aber selbst kein Ordensmitglied, und du kannst jederzeit erklären, daß du mit allem nichts zu tun haben willst.« »Ich weiß«, antwortete Nancy ernst. »Ihr habt mich ja auch vor dieser Reise gefragt, ob ich mitkommen möchte.« Joe Kent nickte seiner Tochter zu. »Für uns wart ihr Kinder ohnedies immer das Problem Nummer eins«, gab er zu. »Wir wollten Kinder haben. Wir wußten aber gleichzeitig, daß ihr stets in Gefahr sein würdet. Das trifft auf dich ebenso zu wie auf deinen Bruder. Du bist in unserer Nähe, und Jacky ist in Paris im Internat. Ihm kann genauso etwas zustoßen wie dir, und das nur, weil wir eure Eltern sind.« »Sprechen wir nicht länger darüber«, schlug Nancy vor. »Sprechen wir lieber über die unheimliche Prophezeiung unserer Matrosen. Das ist wichtiger.« Joe und Alice Kent atmeten erleichtert auf. So einfach hatten sie sich dieses Gespräch nicht vorgestellt. Nancy überraschte sie. Joe Kent zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, was ich von der Voraussage halten soll«, gab er zu. »Marco hat mich schon ein paarmal verblüfft. Ich glaube, er hat hellseherische Anlagen.« »Aber wir haben das Schiff abgesichert!« rief Alice Kent erschrocken. »Ich hoffe, daß der Schutz halten wird«, meinte Mr. Kent düster. »Wissen werden wir es erst, wenn wir in Brighton einlaufen und den Großmeister an Bord haben.« Er wollte noch etwas sagen, als ein dumpfer Schlag durch den Rumpf der FREEDOM dröhnte. Oben an Deck schrien die Matrosen wild durcheinander. Es war vollständig dunkel, als die Kents an Deck stürzten. Die Yacht hatte Positionslichter gesetzt, deren Schein jedoch nicht ausreichte. Es war nichts zu erkennen.
»Alfredo!« schrie Joe Kent. »Aldo! Marco! Was ist passiert?« Die Matrosen schwiegen. Mr. Kent entdeckte einen Mann am Bug. Als er sich schnell umdrehte, entdeckte er Aldo oben im Führerhaus. Der dritte Mann fehlte. Mit drei langen Schritten war Joe Kent am Führerhaus und schwang sich hinauf. Aldo klammerte sich am Steuerrad fest. Seine Augen standen weit offen. »Aldo! Los, komm zu dir!« fuhr Joe Kent den Matrosen an. Aldo riß sich zusammen. »Wir sind aufgelaufen«, stammelte er. »Hier! Das Ruder ist gebrochen!« Zum Beweis drehte er das Steuerrad leer durch. Joe Kent murmelte eine Verwünschung und versuchte es selbst. Es stimmte, die Yacht war führerlos. Marco stand im Bug. Er kam jetzt ebenfalls auf die Brücke. »Nichts zu sehen«, meldete er. »Ich weiß nicht, wo wir aufgelaufen sind.« Die Motoren liefen auf geringster Leistung. Ihre Kraft wurde im Moment nicht gebraucht. Alice Kent hatte gehört, was geschehen war. Sie kam mit einer überraschenden Frage. »Wo ist der Sturm geblieben?« Ihr Mahn sah sie verstört an. »Wir sollten nur von Ausläufern gestreift werden«, gab er zu bedenken. »Das Sturmtief ist vermutlich weitergewandert.« »Seid einmal still!« rief Nancy herauf. »Horcht!« Auch der dritte Matrose kam jetzt zur Brücke. Er hatte sich bisher am Heck aufgehalten. Alle lauschten mit angehaltenem Atem. Die leise blubbernden Motoren störten nicht. Wellen verursachten keine Geräusche. Sie hörten ein dumpfes Brausen. Es klang wie ein näherkommender Zug, der mit hoher Geschwindigkeit dahinraste. »Ich habe es gewußt«, murmelte Marco und schlug die Hände vor
das Gesicht. »Was hast du gewußt?« fuhr Nancy ihn an. Dem Mädchen gingen die Nerven durch. »Du machst mich mit deinen Andeutungen noch verrückt.« »Sturmflut!« stieß Marco hervor und ließ die Hände sinken. Sein Gesicht war von Mutlosigkeit gezeichnet. »Das ist eine gigantische Springflut«, verbesserte er sich. »Die FREEDOM hat keine Chance! Wir gehen unter!« Nancy taumelte zurück. Joe Kent wollte den Matrosen zurechtweisen. Er selbst war keineswegs so sicher, daß es wirklich eine Springflut war. Sein Blick fiel durch die Scheiben der Brücke. Es war zwar dunkel, aber weit vor ihnen zeichnete sich eine schneeweiße Linie zwischen Meer und Himmel ab. Diese Linie verbreiterte sich zusehends. Nun erkannte auch Joe Kent, daß es stimmte. Das war die Schaumkrone einer gewaltigen Springflut. Er wagte nicht, sich die Höhe der Welle vorzustellen! »Schwimmwesten!« brüllte Joe Kent gegen das anschwellende Brausen an. Es war zu spät. Die Welle war schneller heran, als sie dachten. Niemand konnte etwas tun. Die Katastrophe brach über die FREEDOM herein. Und gegen eine Springflut nutzten auch weißmagische Symbole und Bannsprüche nichts. Joe wollte seine Tochter festhalten, damit sie nicht über Bord gespült wurde. Die Welle war schneller. Plötzlich war die Yacht in helles Licht getaucht. Es strahlte aus dem Wasser heraus und übergoß die FREEDOM mit unerträglich grellem Schein. Trotzdem riß Joe Kent die Augen weit auf. In den Sekunden seines Todes wollte er sich nichts entgehen lassen. Die Wassermassen brachen über dem Schiff zusammen. Der er-
wartete fürchterliche Schlag blieb aus. Die Yacht stellte sich nicht auf den Kopf. Sie wurde nicht umgeworfen oder in die Tiefe gerissen. Sie wurde auch nicht unter der Woge begraben! Gischt fegte über das Deck. Alle Medaillons, magischen Zeichen und Talismane wurden wie Spielzeug weggefegt. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war die Yacht von sämtlichen Zeichen der Weißen Magie befreit. Die drei italienischen Matrosen klammerten sich genau so krampfhaft wie die Schiffseigner fest. Doch während die Familie Kent nichts von den Wassermassen spürte, wurden Alfredo, Aldo und Marco von der Springflut mitgerissen. Sekundenlang sah Joe Kent sie um sich schlagen. Sie versuchten, an die Oberfläche der Welle zu kommen. Es gelang ihnen nicht. Brüllend und tosend stürzte die Welle über ihnen zusammen. Joe Kent wirbelte herum. Ungläubig starrte er über das Heck der Yacht hinweg auf das Meer. Es lag so ruhig wie vorher da. Nur leichte Wellen trieben langsam an der FREEDOM entlang und ließen sie sanft schaukeln. »Joe!« rief Alice stöhnend und klammerte sich an ihm fest. »Die Springflut! Wo ist die Springflut geblieben?« Joe schob seine Frau energisch von sich. Er drückte den Anlasser. Die Motoren waren abgestorben. Jetzt sprangen sie sofort an. »Das war ein Trick!« schrie er und kurbelte hektisch am Steuerrad. »Diese Woge haben unsere Feinde geschickt. Sie sollte nur unser Schiff von den weißmagischen Waffen reinigen!« Er jagte die Motoren auf höhere Touren. »Dad!« rief Nancy zitternd. »Wo sind die Matrosen?« »Die sind tot«, antwortete Joe Kent bitter. »Marcos Vorhersage hat sich bewahrheitet. Und wir werden auch sterben, wenn wir hier noch lange bleiben!« Er gab Vollgas, doch die Yacht rührte sich nicht von der Stelle. Die
Kraft der Motoren erreichte nicht die Schraube, und das Steuer funktionierte noch immer nicht. »Joe!« schrie Alice so schrill, daß er erschrocken zusammenzuckte. Er sah die Angreifer zu spät, aber wahrscheinlich hätte es ihm auch nichts geholfen, hätte er sie früher gesehen. Von allen Seiten schwangen sich die lebenden Wasserleichen gleichzeitig über die Reling. Sie besetzten die FREEDOM innerhalb weniger Sekunden. Die drei Überrumpelten standen oben auf der Brücke und starrten schreckensbleich den Zombies entgegen, die langsam näher rückten …
* Mit gemessenen Schritten ging Butler Harvey auf Sagon Manor ans Telefon und hob ab. »Hier bei Winslow, der Butler …«, setzte er an und verstummte, als ihm eine laute Stimme aus dem Hörer entgegenschlug. »Oh, selbstverständlich, Sir!« sagte er knapp. »Barney Jefferson? Natürlich kenne ich den Namen. Dafür brauche ich Ihren Vater nicht zu fragen. Jefferson ist heute fünfzig Jahre alt und sitzt seit zehn Jahren im Gefängnis. Er hat für seine Morde lebenslänglich bekommen. Er war Schwarzmagier und hat im Auftrag des Bösen gemordet. Ihr Vater, der damalige Großmeister, hat ihn entmachtet, ihm seine schwarzmagischen Fähigkeiten genommen und ihn der Polizei übergeben. Ein Gericht hat ihn dann verurteilt. Er befindet sich noch in Haft!« Lord Hubbard Winslow, an die sechzig, ein weißhaariger Mann mit den gleichen leuchtend blauen Augen wie sein Sohn, trat neben seinen Butler und jahrzehntelangen Mitstreiter. »Selbstverständlich, ich werde es überprüfen, Sir«, versprach Harvey. »Wünschen Sie, mit Ihrem Vater zu sprechen? Er steht neben
mir und … Okay!« Butler Harvey blickte indigniert auf den Hörer, ehe er ihn auf den Apparat zurücklegte. »Ein ziemlich knapp geführtes Gespräch, Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte er zu Lord Hubbard. »Es geht um folgendes, ich …« »Ich habe mitgehört«, winkte Lord Hubbard ab. »Was sollen Sie für Peter tun?« »Überprüfen, ob sich Jefferson noch in Haft befindet«, erklärte der Butler. »Der Entführer des kleinen Jacky Kent hat sich im Besucherbuch als Barney Jefferson eingetragen.« Sekundenlang wanderten Lord Hubbard Winslows Gedanken in die Vergangenheit. »Ich war dreißig Jahre lang Großmeister«, sagte er leise und bitter. »Trotzdem kann ich mich noch an jeden einzelnen Einsatz erinnern. Ich weiß sämtliche Namen meiner damaligen Gegner. Ist das nicht schrecklich, Harvey?« »Sir, ich würde sagen, es ist ein Zeichen für ein gutes Gedächtnis.« »Harvey, Sie sind noch trockener, als Sie sich geben«, sagte der Lord seufzend. »Ich meine die Belastung, die durch all diese Erinnerungen entsteht. Glauben Sie mir, ich wäre froh, wenn ich vergessen könnte. Ich wäre gern ein alternder Mann auf seinem Landsitz, Rosen züchtend, Bücher schreibend.« »Sie sind genau so unzufrieden wie Ihr Sohn«, bemerkte Butler Harvey. Er durfte sich so etwas erlauben, da ihn und den Lord mehr verband als ein Arbeitsverhältnis. »Sie blicken bitter auf die Vergangenheit zurück. Ihr Sohn blickt bitter in die Zukunft. Sie beide sollten sich mehr an die Erfolge halten. Die schlimmen Auswirkungen der Kämpfe gegen unsere Feinde können Sie beide nicht verhindern! Sie können nur dafür sorgen, daß es nicht noch schlimmer kommt. Das ist das Wesentliche.« Lord Hubbard seufzte. »Stellen Sie fest, ob Barney Jefferson noch
im Gefängnis sitzt«, sagte er nur und ging in das Wohnzimmer hinüber. Seine Tochter Alicia saß am flackernden Kaminfeuer. Sie sah mit einem Blick, daß ihr Vater wieder einmal in einer krisenhaften Stimmung steckte. Deshalb stellte sie keine Fragen. »Wieso immer wir?« fragte Lord Hubbard, nachdem er sich zu seiner Tochter gesetzt hatte. »Warum müssen immer wir den Kopf hinhalten? Warum müssen wir die Schicksalsschläge einstecken?« »Dad«, sagte Alicia leise. »Du weißt doch, daß es keinen Sinn hat, wenn du dich hängen läßt.« »Eure Mutter wurde von Schwarzmagiern in den Tod getrieben«, fuhr Lord Hubbard düster fort. »Deine Schwester Marthe ist ins Lager der Schwarzmagier übergewechselt. Wieso trifft es immer uns? Nur, weil ich vor über dreißig Jahren zum Großmeister gewählt wurde?« »Nein, sondern weil es immer Menschen gibt, die sich dem Bösen widersetzen und versuchen, dem Guten zu helfen.« Alicia legte tröstend ihre Hand auf den Arm ihres Vaters. »Du hast diese Menschen dreißig Jahre lang angeführt. Jetzt ist Peter an deine Stelle getreten. Er wird es schon schaffen. Und wir anderen müssen tun, was in unseren Kräften steht.« Lord Hubbard hätte vielleicht seine trüben Betrachtungen fortgesetzt, wäre nicht der Butler in den Raum gekommen. »Barney Jefferson befindet sich in Haft«, meldete er. »Ich habe erfahren, daß an eine Begnadigung nicht zu denken ist. Immerhin wurden ihm sieben Morde nachgewiesen.« Das rüttelte den Lord etwas auf. »Weshalb schreibt sich der Entführer unter diesem Namen ein?« fragte er nachdenklich. »Dahinter steckt doch eine Absicht.« Das Telefon klingelte. Wieder hob der Butler ab. Peter Winslow rief an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. »Der Großmeister kommt zurück nach Sagon Manor«, meldete
Butler Harvey nach dem Gespräch. »Er will von Sagon Manor aus weiter forschen.« »Den Jungen hat er nicht gefunden?« fragte Lord Hubbard. »Nein, Sir«, erklärte der Butler. »Aber eine mumifizierte Untote ist aus der Pariser Leichenhalle entkommen. Wir sollen uns in acht nehmen, falls sie hierher kommt.« »Nicht hierher«, murmelte der Lord. »Aber wir werden trotzdem aufpassen.« Sagon Manor, der Sitz des Großmeisters und seiner Familie, war durch einen weißmagischen Bann geschützt. Kein Anhänger des Bösen konnte ihn durchbrechen. Nur außerhalb waren alle Familienmitglieder ständig in Lebensgefahr. Der junge Großmeister hatte seine Rückkehr für den späten Abend angekündigt. Um zehn Uhr abends klingelte das Telefon. Wieder nahm Butler Harvey das Gespräch entgegen. Er legte eben den Hörer auf und wollte Lord Hubbard Bericht erstatten, als ein Wagen vor dem Herrenhaus hielt. Butler Harveys Schilderung mußte warten. Peter Winslow und Maud waren nach Hause gekommen, nachdem ihre Reise nach Paris beinahe tödlich geendet hätte.
* Peter Winslow hatte sich seine Rückkehr nach Sagon Manor anders vorgestellt. Er erwartete keine Triumphgesänge und keine jubelnden Volksmassen. Er hätte nur gern Jacky Kent mitgebracht. So aber mußte er den Taxifahrer wieder wegschicken und mit Maud allein die Halle betreten. Sein Vater und seine Schwester Alicia kamen ihm entgegen. Sie lächelten zur Begrüßung. Butler Harvey lächelte nicht. Das war nicht ungewöhnlich. Der
Butler gestattete sich nur selten ein Lächeln. Doch Peter stutzte. Es bestand ein Unterschied zwischen Harveys ernsten Mienen. Jetzt sah der junge Großmeister sofort, daß etwas nicht stimmte. »Was ist passiert?« fragte er knapp. Sein Vater zuckte die Schultern. »Nichts, Peter«, meinte er. »Was sollte passiert sein?« »Harvey?« fragte Peter. »In der Tat, Sir, es gibt unangenehme Neuigkeiten.« Harvey deutete auf das Telefon. »Soeben hat Mr. Chapper aus dem Hotel Seafarer angerufen.« »Weiter!« drängte Peter. Er kannte Mr. Chapper sehr gut. Der Hotelbesitzer war Ordensmitglied in Brighton. »Mr. Chapper hat von der Küstenwache erfahren, Sir«, fuhr Harvey fort, »daß man vor den Orkney Inseln drei Tote aus der See gefischt hat. Drei Matrosen.« »Weiter!« Peter schoß dem Butler aus seinen strahlend blauen Augen einen so scharfen Blick zu, daß Harvey sich beeilte. »Es sind die drei italienischen Matrosen der FREEDOM«, sagte Harvey. »Und die FREEDOM gehört der Familie Kent!« »Du liebe Zeit«, murmelte Alicia Winslow. »Auch das noch!« rief Lord Hubbard aus. Maud murmelte auch etwas, das Peter nicht verstand. Nur der Großmeister selbst ging wortlos in das Wohnzimmer und setzte sich an den Kamin. »Sir!« Der Butler trat neben ihn. »Wollen Sie sich nach der Reise nicht …« Peter Winslow hob die Hand und winkte ab. Er dachte angestrengt nach. »Sie wollen«, sagte er leise, »daß ich genau weiß, daß etwas passiert. Ich soll nur nicht erfahren, was genau vor sich geht. Und ich darf es nicht rechtzeitig wissen, so daß ich nicht eingreifen kann! Der Feind kommt näher, und er hat es auf uns abgesehen.«
Die anderen hatten ebenfalls das Wohnzimmer betreten. In einer solchen Situation richtete es sich nicht danach, ob jemand zu den Angestellten oder zur Familie des Hausherrn gehörte. »Meinst du nicht, daß du unsere Bedeutung überschätzt?« erkundigte sich Lord Hubbard bei seinem Sohn. »Alle Anschläge richten sich gegen die Familie Kent, nicht gegen uns.« Peter Winslow hob den Kopf. Er sah seinen Vater an, doch sein Blick schien durch den Lord hindurch zu gehen. »Dad«, murmelte Peter. »Ich bin der Großmeister, und ich bin wirklich nicht stolz darauf. Du weißt es. Ich würde den Titel lieber heute als morgen wieder zurückgeben. Aber ich bin gewählt worden, und ich führe meine Aufgabe aus. Ich bin die Zielscheibe, und ihr anderen natürlich auch, weil ihr mir helft.« Lord Hubbard widersprach nicht mehr. Er hatte am eigenen Leib erfahren, daß die Familie des Großmeisters immer unter Beschuß stand. »Außerdem«, warf Harvey ein, »ist da noch diese mysteriöse Geschichte mit dem Einsiedler, dem angeblichen Weißmagier in Amerika. Vielleicht transportiert die FREEDOM wertvolle Waffen und Gegenstände der Weißen Magie.« »Jetzt sicherlich nicht mehr«, behauptete Peter. Maud gähnte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. Peter sah es trotzdem und lächelte ihr müde zu. »Ich möchte auch schlafen gehen«, sagte er. »Das war so ziemlich der kürzeste und unerfreulichste Aufenthalt in Paris. Das nächste Mal machen wir beide uns eine schönere Zeit in Paris, einverstanden?« »Ja, gern«, sagte Maud, erwiderte sein Lächeln und stand auf. Butler Harvey schoß ihr einen strafenden Blick zu, der sie nicht störte. Der Butler war der festen Überzeugung, daß Maud als Hausmädchen keine privaten Beziehungen zu dem Großmeister haben durfte.
Peter und Maud kümmerten sich nicht darum. Sie taten, was sie wollten. Maud verließ das Wohnzimmer nicht. Der Apparat neben dem Kamin klingelte. Harvey warf Peter Winslow einen fragenden Blick zu. Peter deutete auf den Apparat, und Harvey meldete sich. »Sir«, sagte er gleich darauf und reichte den Hörer an Peter weiter. »Es ist Mr. Chapper.« »Ja, Mr. Chapper«, sagte Peter knapp. »Sir!« Der Hotelbesitzer war schrecklich aufgeregt. »Soeben ist vor Brighton eine Yacht aufgetaucht.« »Ja, ich höre«, antwortete Peter, den plötzlich eine unerklärliche Unruhe packte. »Ich weiß nicht, ob ich die Küstenwache verständigen soll«, fuhr Mr. Chapper kurzatmig fort. »Wenn ich mich nicht sehr täusche, ist es die FREEDOM!« Peter zuckte zusammen, als sich seine Ahnung bestätigte. »Ich komme sofort!« rief er. »Unternehmen Sie nichts!« Er knallte den Hörer auf den Apparat und wirbelte zu den anderen herum. »Die FREEDOM vor Brighton!« rief er. »Maud! Harvey!« Er stürmte aus dem Wohnzimmer, ohne sich nach den Genannten umzudrehen. Er war sicher, daß sie ihm folgten. Wenn der Großmeister rief, gab es für sie kein Zögern.
* Der weiße Jeep des Großmeisters stand immer bereit. Peter Winslow fuhr am liebsten diesen Geländewagen. Er hatte sich schon mehrfach bewährt und war zum Beispiel bei Jagden über die Sanddünen eine wertvolle Hilfe. Maud warf sich neben Peter auf den Sitz.
Harvey kam erst zwei Minuten später aus dem Haus. Peter stellte keine Fragen. Er kannte den Grund für die Verzögerung. Harvey war ihr Waffenspezialist. Alle Ordensmitglieder lebten mit der Gefahr. Sie wußten, daß jederzeit ein Feind angreifen konnte. Das war für sie kein Grund zu ständiger Angst. Waren sie jedoch in einem Einsatz wie jetzt, hielten sie doch lieber Waffen bereit. Harvey schob Maud und Peter je eine Pistole zu. Sie genügte vorläufig. Der Jeep näherte sich der Grundstücksgrenze. Von jetzt ab wurde es gefährlich. Außerhalb des Besitzes von Sagon Manor konnte überall der Tod lauern. Peter hielt nicht an, als sie den Grenzpfosten passierten. Er warf nur einen kurzen Blick zu der Abzweigung. Sie führte zu dem benachbarten verfallenen Herrenhaus Mortland. Von dort war einst seine Mutter gekommen. Jetzt war Mortland der Sitz böser Mächte. Ein Besuch auf Mortland war jedesmal ein Spiel mit dem Tod. Heute waren Peter Winslow und seine Begleiter nicht an Mortland interessiert. Und die Bewohner von Mortland ließen sie in Ruhe. Die Bewohner von Mortland – das waren lebende Leichen, Dämonen, Wesen aus einer anderen Dimension oder Schwarzmagier, die sich hier verkrochen. Versuche, Mortland dem Erdboden gleich zu machen, waren gescheitert. Daran mußte Peter Winslow kurz denken, während er den Geländewagen konzentriert über die schmale Straße steuerte. Sie führte zwischen den Dünen direkt nach Brighton ans Meer. Im Oktober gab es in Brighton keinen Badebetrieb. Es ging auf Mitternacht zu. Dementsprechend lag Brighton dunkel vor ihnen. Um so deutlicher war die Yacht zu sehen, die vor Brighton auf den Wellen des Meeres schaukelte. »Die FREEDOM«, murmelte Peter Winslow erschüttert.
Er hatte die schneeweiße Yacht noch nie gesehen. Dennoch gab es keinen Zweifel. Die Buchstaben des Namens schimmerten golden am Bug. Die ganze Yacht war in helles Licht getaucht. Es gab keine Scheinwerfer, die sie anstrahlten. Auch unter Wasser war es dunkel. Peter Winslow und Maud sowie Harvey betrachteten das magische Schauspiel nicht lange untätig. Aus der Dunkelheit der Strandpromenade tauchte Mr. Chapper auf. »Mein Boot liegt am Steg«, meldete er. Peter nickte dem Besitzer des Hotels Seafarer nur knapp zu. »Ist jemand an Bord?« Chapper hob die Schultern. »Bisher hat sich niemand an Deck gezeigt. Ich bin noch nicht hinausgefahren, weil Sie selber kommen wollten.« »Okay, sehen wir es uns aus der Nähe an«, schlug Peter Winslow vor. Sie schritten über den Sandstrand, auf dem sich um diese Zeit niemand aufhielt. Dennoch suchten Peter und seine Begleiter die Umgebung ständig mit Blicken ab. Dies hier konnte eine gigantische Falle sein. Aber es regte sich nichts. Auch das Motorboot des Hotelbesitzers war leer. Sie stiegen ein. Chapper übernahm das Steuer. »Die Yacht ist nicht verankert«, stellte Harvey nach einer Weile fest. Maud, Peter und der Butler griffen zu den Waffen, als Chapper die Yacht einmal umkreiste. Nichts rührte sich an Bord. Die schweren Schäden an den Aufbauten waren deutlich zu sehen. Dennoch war die Yacht voll hochseetüchtig. »Ist in einen Sturm geraten«, murmelte Peter. »Gehen wir an Bord, oder …«
Er stockte, als an Deck eine Bewegung entstand. Peter schätzte, daß sich dort der Zugang zu den Kabinen befand. Ausgerechnet an dieser Stelle erlosch die magische Beleuchtung der Yacht. Er sah daher nur schemenhaft, daß sich dort eine Person bewegte. Sie hoben die Waffen. »Nicht schießen, bevor wir nicht sicher sind«, warnte Peter seine Begleiter. Die Person war nur in Umrissen zu erkennen. Die Helligkeit des übrigen Decks erreichte diesen Punkt nicht. Auch die Aufbauten strahlten das magische Licht nicht zurück. Die Person trat an die Reling … Peter riß sich in einer gleitenden Bewegung die Jacke von den Schultern, streifte die Schuhe ab, zog sich den Pullover über den Kopf und fuhr aus der Jeans, als drüben an der FREEDOM die unbekannte Person über die Reling stieg. Mit einem Hechtsprung tauchte Peter Winslow in das Meer ein. Der Kälteschock traf ihn hart und gnadenlos, daß er zu erstarren meinte. Nur der Gedanke an die Gestalt auf der FREEDOM ließ ihn durchhalten. Das Wasser übertrug den Schall des Motorbootes und das Klatschen, als der Unbekannte in das Wasser sprang. Der Schwung des Hechtsprunges trug Peter bis dicht an die Yacht heran. Er kam wieder an die Oberfläche, kraulte kraftvoll und erreichte die Bordwand. Wer immer ins Meer gesprungen war, er war untergegangen und tauchte nicht auf. Peter Winslow war auf allen Gebieten ein sehr guter Sportler, vor allem aber ein ausgezeichneter Schwimmer. Er holte tief Luft und tauchte, so weit er nur konnte. Indem er gegen die helle Oberfläche blickte, entdeckte er den Körper.
Und jetzt bestätigte sich, was ihn zu seiner blitzartigen Aktion veranlaßt hatte. Die Person war sehr klein … Peter schoß darauf zu. Sein Arm schloß sich um einen schmächtigen Körper, der sich nicht bewegte. Zusammen mit dem über Bord Gesprungenen kam er an die Oberfläche. Nur wenige Meter neben ihm schaukelte das Motorboot. Helfende Hände streckten sich ihm entgegen. Peter schleppte den Geretteten das kurze Stück und hievte ihn aus dem Wasser, Butler Harvey griff zu und zog den schlaffen Körper an Bord. Maud wollte Peter helfen. Der Großmeister kam aus eigener Kraft an Bord. Er klapperte erbärmlich mit den Zähnen und fror entsetzlich, aber das war ihm im Moment nicht weiter wichtig. Aus den Augenwinkeln sah Peter Winslow, daß sie sich nicht weiter um die Yacht kümmern konnten. Lautlos nahm sie Fahrt auf. Die magische Beleuchtung erlosch. Das Schiff verschwand unglaublich schnell in der Nacht. Niemand sprach. Mr. Chapper wußte auch so, was zu tun war. Er hielt mit Vollgas auf den Strand zu und steuerte den Bootssteg seines eigenen Hotels an. »Ein Junge«, sagte Harvey überflüssigerweise. Peter wußte es schon. »Ein ungefähr zwölfjähriger Junge.« »Vierzehn«, sagte Peter Winslow zitternd, »vierzehn.« Maud legte ihm seine Jacke um die nackten Schultern. Er versuchte, sich mit dem Pullover trocken zu reiben. Der Fahrtwind verschärfte die Kälte. »Woher weißt du, wie alt er ist?« fragte Maud erstaunt. Sie reichte Peter die Jeans, die er über die nassen Beine zog. »Ich gehe jede Wette ein, daß das Jacky Kent ist«, behauptete Peter. Die anderen stießen einen überraschten Ruf aus. Keiner stellte eine
Frage. Sie wußten, daß der Großmeister von unerklärlichen und unbekannten Kräften unterstützt wurde. Wahrscheinlich waren Geister aus dem Jenseits im Spiel. Niemand hatte dafür einen Beweis, Peter Winslow am allerwenigsten. »Er lebt«, sagte Harvey, der den Jungen inzwischen weiter untersucht hatte. »Sir!« rief er überrascht. Peter beugte sich vor. Er schlug mit den Armen um seinen Oberkörper, doch auch das nutzte nicht viel. So hatte er noch nie gefroren. »Sir«, sagte der Butler aufgeregt. »Die Kleider des Jungen sind nicht einmal naß.« »Wie gut für ihn«, murmelte Peter zähneklappernd. »Ich wollte, das wäre bei mir genau so.« Das Boot knirschte auf Sand. Harvey stieg aus, Peter reichte ihm den bewußtlosen Jungen. Dann kletterten auch die anderen auf den Steg. Im Laufschritt ging es zum Seafarer Hotel. Dort wurde für Peter und den Jungen alles Nötige getan. Peter bekam trockene Kleider, nachdem er heiß geduscht hatte. Es klopfte an der Tür des Hotelzimmers, das ihm Mr. Chapper zur Verfügung gestellt hatte. Maud kam herein. »Es ist wirklich Jacky Kent«, sagte sie. Peter kam unter der Dusche hervor. »Ich weiß«, sagte er nur und trocknete sich fertig ab. Maud lehnte sich gegen den Schrank. Sie lächelte betrübt. »Eine schöne Situation, Peter, aber leider … die Pflicht ruft.« Er nickte und grinste. »Die Pflicht ruft, du sagst es«, bestätigte er. »Was soll ich machen? Wie geht es Jacky?« »Der Arzt meint, daß er körperlich in Ordnung ist, Peter!« Maud kam zu ihm, legte ihm flüchtig die Hände auf die Schultern und hauchte ihm einen Kuß auf die Lippen. Dann wandte sie sich rasch ab und ging zur Tür. »Ich bin nebenan, wenn du mich suchst.«
Peter blickte ihr bedauernd nach, als sie fast fluchtartig sein Zimmer verließ. Sie hatte schon recht. Ihre Aufgaben als Ordensmitglieder gingen vor. Er zog sich an und ging nach nebenan. Dort waren alle versammelt. Peter begrüßte auch den Arzt und setzte sich neben das Bett. Sie hatten Jacky Kent in frische Kleider gesteckt, obwohl seine alten Sachen nichts abbekommen hatten. Peter sah sich kurz den Ausweis an, den sie bei dem Jungen gefunden hatten. Danach gab es keinen Zweifel, um wen es sich handelte. »Was habe ich gesagt?« fragte Peter halblaut. »Ich soll alles ein wenig zu spät erfahren. Sehr raffiniert.« Er wandte sich an den wie tot daliegenden Jacky. »Hörst du mich?« fragte Peter Winslow. »Ich bin der Großmeister des Ordens der Weißmagier!« Die Anwesenden wechselten überraschte Blicke. Ihrer Meinung nach war das nicht die richtige Form, einen ohnmächtigen Jungen anzusprechen. Gleich darauf stellte sich heraus, daß Peter Winslow gefühlsmäßig wieder einmal richtig getippt hatte. Jacky Kent schlug die Augen auf. Sie blieben ausdruckslos. »Ja, Großmeister«, sagte er mit einer ganz und gar unkindlichen Stimme. »Ich höre dich! Und ich habe eine Botschaft für dich!« Atemlose Stille senkte sich über den Raum. »Die Hölle schickt dir ein Ultimatum«, sagte Jacky Kent. »Achte auf meine Worte. Ich werde sie nur einmal sagen!«
* Zwanzig Minuten nach Abfahrt seines Sohnes schrak Lord Hubbard Winslow zusammen. Das Telefon spielte an diesem Tag eine wichtige Rolle. Er hob ab, als es erst zweimal geklingelt hatte.
»Lord Hubbard?« fragte eine Frauenstimme gepreßt. »Spreche ich mit dem Vater des Großmeisters?« »Allerdings«, bestätigte der Lord. »Wer sind Sie? Was kann ich für Sie tun?« Wie viele telefonische Hilferufe waren in den letzten dreißig Jahren auf Sagon Manor eingegangen, schoß es ihm für einen Moment durch den Kopf. Dann verdrängte die Gegenwart die Erinnerungen an die Vergangenheit. »Mein Name ist Alice Kent«, erklärte die Frau keuchend. »Mrs. Kent!« rief Lord Hubbard überrascht. »Wo sind Sie? Wir suchen Sie überall!« »Hören Sie zu, Lord Hubbard!« unterbrach ihn die Anruferin. »Ich habe wahrscheinlich nicht viel Zeit. Sie sind hinter uns her!« »Wer?« fragte Lord Hubbard knapp. »Hören Sie zu!« schrie die Frau schrill. »Sie glauben, daß die FREEDOM vor Brighton aufgetaucht ist, nicht wahr?« »Allerdings«, bestätigte der Lord. »Nein, das ist sie nicht!« rief die Frau verzweifelt. »Es handelt sich um einen schmutzigen Trick der Schwarzmagier. In Wirklichkeit ist dieses Schiff eine Falle für Ihren Sohn. Er soll an Bord gelockt und dort umgebracht werden. Das ist die Wahrheit! Wo ist Ihr Sohn?« »Schon unterwegs nach Brighton«, erwiderte der Lord alarmiert. »Und wo sind Sie?« »Auch in Brighton!« Die Frau atmete heftig. »Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Ich werde versuchen, Ihren Sohn aufzuhalten. Ich werde auch versuchen, alle anderen von der Geisteryacht fernzuhalten. Kommen Sie so schnell wie möglich. Wenn ich keinen Erfolg habe, werde ich Sie am Strand erwarten.« »Einverstanden!« rief der Lord und legte auf. »Du willst wegfahren, Dad?« fragte Alicia besorgt. »Mitten in der Nacht?« »Mach dir keine Gedanken«, beruhigte der Lord seine Tochter.
»Dir kann hier auf Sagon Manor nichts geschehen, und ich werde schon auf mich aufpassen.« »Darum geht es nicht!« Alicia schüttelte den Kopf. »Mir gefällt dieser Anruf nicht. Wieso taucht diese Mrs. Kent auf einmal in Brighton auf? Das riecht nach einer Falle.« »Schon möglich«, gab der Lord zu. »Ich muß trotzdem nach Brighton und herausfinden, was dort los ist. Halte mich nicht auf! Es gelingt dir ohnedies nicht.« Alicia machte dennoch einige Versuche, ihren Vater von seinem Plan abzubringen. Sie unterschätzte seine Energien. Er war verbraucht und ausgebrannt und von dreißig Jahren in seinem Amt als Großmeister gezeichnet. Dennoch blühte er auf, wenn er, gebraucht wurde, und entwickelte die alte Stärke. Zuletzt blieb Alicia nichts anderes übrig, als den Rücklichtern des Wagens nachzusehen, den ihr Vater nahm. Lord Hubbard fuhr schnell. Dennoch achtete er darauf, daß er jederzeit bremsen konnte. Er rechnete mit Hindernissen auf der Straße. Diese schmale Fahrbahn von Brighton nach Sagon Manor beziehungsweise Mortland war ideal für Überfälle. Die Feinde von Mortland versuchten es nur deshalb nicht bei jeder Fahrt, weil sie schon zu große Verluste eingesteckt hatten. Auch in dieser Nacht verzichteten die unheimlichen Bewohner von Mortland auf einen Überfall. Lord Hubbard kam ohne Schwierigkeiten nach Brighton und stellte seinen Wagen an der menschenleeren Strandpromenade ab. Ein erster Blick genügte, um ihm die Lage zu zeigen. Von der Yacht FREEDOM war nichts zu sehen. Strand und Meer lagen verlassen vor dem ehemaligen Großmeister. »Mrs. Kent?« rief er und legte die Hände als Schalltrichter an den Mund. »Hallo, Mrs. Kent!« Niemand antwortete, doch Lord Hubbard fand seinen Weg auch so. Er entdeckte auf halber Strecke zum Meer einen dunklen Körper
auf dem hellen Sand. Bevor er sich auf den Strand wagte, sah Lord Hubbard sich noch einmal um. Weit vor dem Strand ragte die Spiel- und Restaurantinsel auf Stelzen aus dem Meer. Auch dort drüben brannte kein Licht. Die Hotels am Strand waren dunkel. Nur die Leuchtreklame des Seafarers blitzte durch die Nacht. Keine Spur von seinem Sohn und dessen Begleitern. Lord Hubbard ging zur nächsten Steintreppe und betrat den Sandstrand. Nun befand er sich mit dem dunklen Körper auf gleicher Höhe und konnte mehr erkennen. Ein Stück vor ihm lag eine Frau. Sie rührte sich nicht. Lord Hubbard hatte scheinbar nur Augen für die Reglose. Er ging rasch und unvorsichtig näher. »Mrs. Kent?« rief er unterdrückt. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn in diesem Moment für verrückt gehalten. Er mußte die Gefahren kennen, die ihm hier drohten! Dennoch benahm er sich, als wäre er zu Hause auf Sagon Manor! In Wirklichkeit waren seine Blicke überall gleichzeitig. Niemand wäre unbemerkt an ihn herangekommen. Gegen einen Schuß aus großer Entfernung konnte er sich nicht schützen, aber jeden Nahangriff würde er abwehren. Die einzige wirkliche Gefahr ging von der Reglosen aus. Sie mochte Mrs. Kent sein und Hilfe brauchen. Deshalb ging der ehemalige Großmeister auch weiter. Er tippte jedoch auf eine Falle. Endlich stand er vor der Fremden. Sie lag mit dem Gesicht nach unten im Sand. »Mrs. Kent!« sagte Lord Hubbard noch einmal. Sie rührte sich nicht. Er bückte sich zu ihr hinunter und berührte sie mit der linken Hand an der Schulter. Die Frau bewegte sich, rollte auf den Rücken und grinste zu Lord
Hubbard hinauf. Der Lord blickte in das Gesicht einer Mumie.
* »Die Yacht FREEDOM befindet sich in unserer Gewalt«, erklärte eine fremde Stimme aus dem Mund des Jungen. »Mr. und Mrs. Kent und ihre Tochter Nancy sind an Bord. Sie werden sterben, wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden.« Peter Winslow nickte, als Maud nach einem Blatt Papier und einem Stift griff, um alles mitzuschreiben. »Barney Jefferson muß seine Freiheit wiederbekommen«, verlangte die fremde Stimme. »Bis heute haben wir nach einer Möglichkeit gesucht, ihn zu befreien. Dies ist unsere Chance. Peter Winslow! Sie selbst werden Barney Jefferson aus dem Gefängnis holen und uns übergeben! Erst danach wird die FREEDOM freigegeben.« »Und was geschieht mit der Familie Kent?« fragte Peter hastig, bevor der Kontakt abriß. »Dies ist meine Botschaft«, fuhr die unbekannte Stimme fort. »Befolgt meine Forderung, oder die Familie Kent stirbt.« Der Junge entspannte sich, schloß die Augen und sank auf das Bett zurück. Gleich darauf flatterten seine Lider. Er schlug die Augen erneut auf. Peter merkte sofort, daß Jacky Kent jetzt ganz bei sich war. Das Fremde war von ihm abgefallen. »Hallo, Jacky«, sagte Peter freundlich. »Alles in Ordnung?« Der Junge stützte sich auf die Ellbogen und sah sich verwirrt um. »Wo bin ich?« fragte er stockend. »Und wer seid ihr? Es hat gebrannt, nicht wahr?« »Ja, allerdings«, bestätigte Peter. »Woran erinnerst du dich noch?« Jacky Kent überlegte. Er faßte Zutrauen zu dem blonden jungen
Mann. »Da waren zwei Männer«, schilderte er. »Der eine hatte glühende Augen … und dann habe ich Feuer gesehen … mehr weiß ich nicht. Wie heißt du?« »Peter!« Der Großmeister nagte an seiner Unterlippe. »Nach dem Feuer weißt du nichts? Okay, du mußt dich jetzt ausruhen.« »Wo bin ich?« fragte Jacky Kent noch einmal. »Maud, erkläre es ihm«, bat Peter. Er stand auf und räumte den Platz am Bett. »Harvey, kommen Sie!« Die beiden verließen den Raum. »Was halten Sie davon?« fragte Peter Winslow. »Die Warnung ist sehr ernst«, antwortete der Butler. »Wir müssen wohl auf die Erpressung eingehen, falls wir nicht den Tod der Familie Kent riskieren wollen.« Peter zuckte die Schultern. Wenn es hart auf hart ging, verzichtete er auf seine übliche verschnörkelte Ausdrucksweise. »Kennen Sie Ihren Feind? Nein, Sir! Sie haben die Wahl, die Kents zu opfern oder auf die Erpressung einzugehen.« Peter Winslow schüttelte den Kopf. »Sie wissen genau, Harvey, daß wir Barney Jefferson nicht aus dem Gefängnis holen können. Wie denn? Er wird nicht begnadigt. Dazu hat er zu viele Menschenleben auf dem Gewissen. Und einen Ausbruch inszenieren? Für diesen Mörder? Niemals!« »Dann sterben die Kents«, gab Harvey zu bedenken. »Wenn wir Barney Jefferson freilassen, sterben noch viel mehr Menschen«, hielt Peter Winslow entgegen. »Dann müssen Sie Ihre Feinde aufspüren.« Harvey schüttelte den Kopf. »Und das können Sie nicht!« »Warum denn nicht?« fragte Peter gereizt. »Ich bin der Großmeister. Mir stehen Möglichkeiten zur Verfügung, von denen andere nur träumen.« »Das schon«, räumte Harvey ein. »Aber …« »Hören Sie auf!« fuhr Peter ihn an. »Ich will Ihr Wenn und Aber
nicht mehr! Ich brauche jetzt einen klaren Kopf!« Harvey schwieg. Er war nicht beleidigt, obwohl er dreimal so alt wie sein junger Großmeister war. Dazu hatte er vor dem Anführer des Ordens viel zu viel Respekt. »Harvey.« Peter überlegte kühl und sachlich. »Rufen Sie Miss Wood an. Die Kinderspäherin soll sich Jacky ansehen. Ich möchte wissen, ob die Gegenseite ihn umgedreht hat.« »Okay, Sir!« Harvey ging an das nächste Telefon, um Miss Wood in London anzurufen. Es war eine unmögliche Zeit, doch daran waren die engsten Mitarbeiter des Ordens längst gewöhnt. Peter kehrte in das Zimmer zurück, in dem Maud noch immer bei Jacky Kent saß. »Er hat wirklich keine Erinnerung an die Vorfälle nach seiner Entführung« , sagte Maud leise und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Er schläft jetzt.« Peter nickte. »Besser für ihn. Ich glaube, er wurde nur entführt, damit ich die Macht unserer Gegner zu spüren bekomme. Sie wollten mir zeigen, daß sie alles können, was sie nur wollen.« »Bisher stimmt es auch«, sagte Maud enttäuscht. »Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals schon so ratlos waren wie diesmal.« »Du hast recht«, gab Peter zu. »Die Gegenseite hält sämtliche Trümpfe in der Hand. Wie es im Moment aussieht, haben wir die Wahl zwischen zwei katastrophalen Möglichkeiten. Entweder lassen wir einen Massenmörder frei oder wir nehmen den Tod von drei Unschuldigen in Kauf.« »Vergiß nicht«, warf Maud ein, »daß unsere Feinde schon die drei Matrosen ermordet haben.« Peter hob die Schultern, als friere er. Dabei hatte er sich von seinem unfreiwilligen Bad im Meer schon erholt. »Die eigentlichen Drahtzieher bekommen wir nie«, sagte er leise. »Das Böse hat eine gigantische Organisation aufgezogen. Es ist wie beim Rauschgiftschmuggel. Die kleinen Straßenhändler fängt man.
Die großen Bosse in ihren feinen Villen gehen frei aus.« »Trotzdem muß man versuchen, die kleinen Straßenhändler zu fangen«, erwiderte Maud. Sie versuchte, Peter auf andere Gedanken zu bringen. »Ruf doch deinen Vater an. Er wartet bestimmt schon sehnsüchtig auf eine Nachricht.« »Gute Idee«, meinte Peter, ging an ein Telefon in der Halle und kam betroffen zurück. Er hatte von seiner Schwester Alicia erfahren, daß sein Vater vor über einer Stunde aus dem Haus gegangen war. »Wir suchen ihn«, entschied Peter. »Und zwar schnell, sonst ist es zu spät!« Er dachte daran, wie müde und mutlos sich sein Vater in den letzten Wochen verhalten hatte, und er gab seinem Vorgänger im Amt des Großmeisters kaum Chancen, wenn er in eine Falle geraten war.
* Die Mumie mußte Mademoiselle Croix sein. Peter hatte sie seinem Vater so genau beschrieben, daß kein Zweifel bestand. Das Werkzeug des Bösen war siegessicher. Die Untote hatte den ehemaligen Großmeister scheinbar schon besiegt. Doch die Mumie unterschätzte Lord Hubbard. Er schoß durch die Tasche seiner Jacke hindurch. Die rechte Hand hatte die ganze Zeit an seiner Pistole gelegen, und diese Pistole war mit spezieller Munition geladen. Auf Zombies und niedere Dämonen wirkten diese Geschosse verheerend. Lord Hubbards Trick hätte funktioniert, doch die Mumie trat einen Sekundenbruchteil vor dem Schuß gegen seine Beine. Er hatte das Gefühl, als würde er plötzlich in der Luft schweben. Jemand hatte scheinbar den Strand unter seinen Füßen weggezogen. Der Schuß krachte, doch die Kugel fuhr haarscharf an der Mumie vorbei in den Sand.
Der Lord prallte schwer auf den Strand und blieb benommen liegen. Ein zweiter Fußtritt fegte seine Pistole beiseite. Nun war er wehrlos. Die Mumie beugte sich über ihn. Das eingefallene Gesicht kam näher. Lord Hubbard kannte sich mit lebenden Toten aus. Sie besaßen kein eigenes Denkvermögen mehr. Sie waren auch nicht in der Lage, Gefühle zu entwickeln. Um so mehr überraschte es ihn, als ihm leises Gelächter entgegen schlug. »Kommen Sie schnell an den Strand, Lord Hubbard Winslow!« sagte die Mumie. »Man hat Ihrem Sohn eine Falle gestellt!« Der Lord erkannte die Stimme wieder. Er hatte sie am Telefon auf Sagon Manor gehört. Lord Hubbard wußte, daß ihn die Mumie jederzeit mit einem einzigen Schlag töten konnte. Die Kräfte dieser Zombies waren unglaublich. Dennoch zischte er verächtlich. »Ich kenne euch Gelichter! Ihr könnt nur heimtückisch kämpfen! Ihr kommt aus dem Hinterhalt und verschwindet wieder im Hinterhalt!« Die Mumie legte den Kopf auf die Seite, als lausche sie auf seine Worte. »Der ehemalige Großmeister des Ordens der Weißmagier«, fuhr die Untote fort. »Das ist für uns ein so großer Triumph, daß wir ihn gebührend feiern werden. Ich habe soeben den Befehl erhalten, den ehemaligen Großmeister von hier wegzubringen.« »Wohin?« fragte Lord Hubbard. Er verschwendete keine Zeit mit unnutzen Überlegungen. So interessierte es ihn im Moment herzlich wenig, wieso diese Untote sprechen und ihn sogar verstehen konnte. Viel wichtiger war für ihn, an seine Pistole heranzukommen. Die Waffe lag nur ungefähr zehn Schritte entfernt im Sand. Wenn
er sie erreichte, hatte er noch eine Chance. »Wohin willst du mich bringen?« wiederholte er seine Frage, als die Mumie nicht sofort antwortete. »Nach Mortland? Soll die Siegesfeier auf Mortland stattfinden? Das würde euch ähnlich sehen! Mortland! Inbegriff des Bösen!« Lord Hubbard Winslow sprach den Namen des Landgutes absichtlich verächtlich aus. Er wollte ausprobieren, ob er den Zombie in Wut versetzen konnte. Ein wütender Gegner war immer besser als ein kalt berechnender, weil er eher einen Fehler beging. Die Mumie fiel auf seinen Trick nicht herein. »Dort werden wir feiern, ehemaliger Großmeister«, sagte sie leidenschaftslos und deutete auf das Meer. »In der Tiefe warten schon die Ertrunkenen, die Erschlagenen und Erschossenen, die ihr ewiges Grab in der Tiefe gefunden haben. Sie werden dich feiern, ehemaliger Großmeister! Sie werden dich würdig empfangen und dich so lange festhalten, bis du ihnen ähnlich geworden bist.« Lord Hubbard dachte mit Schaudern an Zombies, die aus dem Meer kamen. Die lebenden Wasserleichen fürchtete er noch mehr als jene Untoten, die aus einem Grab an Land gestiegen waren. Er gab dennoch nicht auf. Sein alter Kampfwille brach sich Bahn. »Du wirst nicht viel Freude an mir haben«, sagte er spöttisch. »Schon nach ungefähr einer Minute unter Wasser gibt es nichts mehr zu feiern.« »Ich werde dafür sorgen, daß du lebend den Meeresgrund erreichst«, entgegnete die Mumie. Ihre eiskalten Finger schlossen sich um den Arm des ehemaligen Großmeisters. »Auf die Beine!« kommandierte die Untote. »Wir gehen! Blicke dich noch einmal genau um! Du siehst die oberirdische Welt zum letzten Mal in deinem Leben!« Lord Hubbard befolgte den Rat und sah sich sehr genau um. Ihn interessierte allerdings nicht die oberirdische Welt, wie die Mumie
sich ausdrückte. Er wollte wissen, ob Helfer in der Nähe waren. Sein Blick fiel zum Seafarer Hotel. Dort rührte sich nichts. Irgendwo mußte sein Sohn mit dessen Begleitern sein. Lord Hubbard war auf sich allein gestellt, und das forderte ihm das letzte ab. Er schritt, scheinbar in sein Schicksal ergeben, neben der Mumie her. Die Untote handelte nicht aus eigenem Antrieb. Sie wurde ferngesteuert wie ein Roboter. Kräfte des Bösen lenkten sie. Niemals wußte man, wer hinter allem steckte. Es konnte ein guter Bekannter sein. Der Haupttäter lag vielleicht in seinem Grab und lenkte mittels der Kräfte seines Gehirns eine Aktion des Bösen. Vielleicht war ein Dämon der Schuldige, der sich unsichtbar in der Nähe aufhielt. Oder der Geist eines Verstorbenen gab die Befehle. Es kam Lord Hubbard nicht darauf an, wer ihm nun eigentlich nach dem Leben trachtete. Viel wichtiger war, wie er seinen unmittelbaren Feind, die Mumie, überwinden konnte. Sie war nicht unfehlbar. Ihre Finger lockerten für einen Moment den Griff. Es war eine knappe Sekunde, die der Lord zu einem letzten verzweifelten Versuch ausnutzte. Er riß sich los, schnellte sich zur Seite und lief um sein Leben. Er floh nicht zur Strandpromenade. Dort hielten sich zwar Menschen auf; dort war vielleicht auch sein Sohn mit Maud und Harvey. Doch Lord Hubbard schätzte seine Kräfte richtig ein. Er war nicht mehr der Jüngste. Bis zur Strandpromenade schaffte er es auf keinen Fall. Aber seine Pistole lag in geringer Distanz. Wenn er vor der Mumie dort war, hatte er gewonnen. Der Lord starrte nur auf den schwarzen Punkt. Das war die Pistole. Sie ragte halb aus dem weichen Sand! Er holte alles aus sich heraus. Und er beging nicht den Fehler, sich nach seinem Verfolger umzudrehen. Es war unwichtig, wie weit die
Mumie hinter ihm war. Hauptsache, er bekam die Pistole zu fassen! Schon war er bis auf drei Schritte heran. Noch hatte ihn die Mumie nicht gepackt. Lord Hubbard nahm Maß. Als er nahe genug heran war, hechtete er vorwärts. Das gab ihm einen alles entscheidenden Vorsprung von Zehntelsekunden. Seine Hände schossen vor. Seine Finger gruben sich in den Sand und schlossen sich um seine Pistole. Im Abrollen des Sturzes riß er den schwarzen Gegenstand hoch, zielte auf die Mumie – und erkannte voll Grauen seinen Irrtum. Das war nicht seine Pistole! Er war auf ein Stück Treibholz hereingefallen, das aus dem Sand ragte. Wäre es seine Pistole gewesen, hätte er die heranpreschende Untote mit einem einzigen Schuß erledigt. So aber richtete er mit einem enttäuschten Aufschrei das Holzstück auf den Zombie, sah die erloschenen Augen der Untoten, die vorgestreckten Pranken des Monsters – und schloß mit seinem Leben ab. Und dann ging alles rasend schnell.
* Der Schuß peitschte hell und scharf über den nächtlichen Strand. Die Mumie richtete sich hoch auf. Der zweite und der dritte Schuß waren schon gar nicht mehr nötig. Die Mumie zerfiel stehend. Dann sanken die Überreste der Untoten in sich zusammen, zerbröckelten und vermischten sich mit dem Sand. Nichts blieb zurück. Nicht einmal die kleinste Spur. Lord Hubbard Winslow lag noch immer im Sand, das krumme Holzstück auf jene Stelle gerichtet, an der soeben noch sein Todfeind gestanden hatte.
In dieser völlig verkrampften Haltung hatte er die tödlichen Schläge erwartet und erwartete sie auch jetzt noch. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich mit einem tiefen Seufzer im Sand ausstreckte. Seine Arme fielen seitlich schlaff herunter. Sein Blick war in den nächtlichen Himmel gerichtet. Als Peter Winslow neben seinen Vater trat, glaubte er, der Lord würde von einem Weinkrampf geschüttelt. »Dad, alles okay?« fragte Peter besorgt und ließ sich auf die Knie nieder. »Ja, ja, ja!« Lord Hubbard sprach abgehackt. Ein Lachkrampf schüttelte ihn. Seine Nerven spielten nicht mehr mit. Er hatte den Tod schon gefühlt. Diesmal war es noch knapper als sonst ausgefallen. Und dann diese unerwartete Rettung in allerletzter Sekunde! Peter und Harvey stützten den Lord, bis er aufrecht saß. Maud brachte die Pistole, die Lord Hubbard verloren hatte. »Du bist wirklich in diese primitive Falle gegangen, Dad?« fragte der junge Großmeister vorwurfsvoll. Das ernüchterte Lord Hubbard augenblicklich. Er lächelte und drückte Peter dankbar die Hand. »Du grüner Junge«, sagte er leise lachend und stand mit Harveys Hilfe auf. »Traust du deinem Vater wirklich zu, daß er sich so dumm benimmt? Ich werde dir erzählen, wie es wirklich war.« Während Harvey und Maud seine Kleider vom Sand reinigten, berichtete der Lord, wie es sich abgespielt hatte. »Hätte ich das Holzstück nicht für meine Pistole gehalten, wäre alles gut gegangen«, schloß Lord Hubbard. »Dann solltest du das nächste Mal eine Brille tragen«, riet Peter lachend. »Reiner Zufall, daß wir noch im richtigen Moment gekommen sind.« »Wer hat eigentlich geschossen?«
»Jeder von uns«, gab Peter zu. »Maud hat Jacky Kent allein im Hotel zurückgelassen und sich uns angeschlossen, um dich zu suchen, Dad.« »Jacky Kent?« rief Lord Hubbard überrascht. Peter nickte. »Komm, gehen wir ins Hotel. Ich könnte jetzt einen Drink auf den Schreck vertragen.« »Ich rufe Miss Alicia an«, bot Harvey an. »Sie macht sich bestimmt große Sorgen.« »Und ich sehe noch einmal nach Jacky«, sagte Maud. »Wir treffen uns in der Bar.« Peter Winslow war einverstanden. Sie trennten sich. Er ging mit seinem Vater in die Bar voraus, die Mr. Chapper für sie noch einmal öffnete. Der Hotelbesitzer spielte auch Barmixer. Peter berichtete, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. »Nun wissen wir, woran wir sind«, schloß er. »Wir haben eine sehr schwere Wahl zu treffen. Tod für die Familie Kent, oder Freiheit für Barney Jefferson, den Schwarzmagier und Massenmörder.« Lord Hubbard lächelte seinem Sohn über sein Glas hinweg zu. »Du wärst nicht du selbst, hättest du nicht schon über eine dritte Möglichkeit nachgedacht«, stellte der ehemalige Großmeister fest. »Nicht umsonst hat man dich zu meinem Nachfolger gewählt.« Peter nickte, wurde jedoch unterbrochen. Eine Frau betrat die Bar, ungefähr dreißig Jahre alt. Sie war blaß und farblos und so durchschnittlich, daß kein Zeuge vor Gericht sie hätte beschreiben können. Sie war jedoch eine der außergewöhnlichsten Frauen, die Peter Winslow bisher kennengelernt hatte. »Miss Wood!« Er ging seiner Mitstreiterin im Kampf gegen das Böse mit ausgestreckten Armen entgegen. »Sir!« sagte sie respektvoll, obwohl sie wesentlich älter als Peter war. »Ich stehe zu Ihren Diensten.« Peter lächelte über die Förmlichkeiten. Er mochte sie nicht, aber
die Mitglieder des Ordens der Weißmagier hielten sich stets daran. Er konnte es nicht ausrotten. »Kommen Sie an die Bar, Miss Wood«, forderte er die blasse Frau auf. »Wieso sind Sie so schnell hier? In dieser kurzen Zeit können Sie unmöglich von London hierher gefahren sein.« »Ich war in der Nähe bei Verwandten«, erklärte sie. »Meine Schwester hält die Stellung in meiner Wohnung. Sie hat mich sofort angerufen, nachdem Mr. Harvey sie verständigt hatte.« »Kompliziert, aber praktisch«, meinte Peter. »Ach, da kommt Maud!« Er winkte seine Gefährtin zu sich und schickte sie sofort wieder mit Miss Wood nach oben zu Jacky Kent. »Sie haben Miss Wood nicht erklärt, worum es geht«, stellte Mr. Chapper fest. »Nein«, sagte Peter zu dem Hotelbesitzer. »Sie soll ganz unvoreingenommen beurteilen, ob Jacky in irgendeiner Form unter Schwarzer Magie steht. Es könnte immerhin sein, daß uns die Gegenseite eine Zeitbombe ins Nest gelegt hat.« Chapper und Lord Hubbard wurden blaß. »Sie meinen«, rief der Hotelbesitzer entsetzt, »daß man Jacky gegen seinen Willen zu einem Schwarzmagier gemacht hat?« »So weit sollten die anderen gehen?« murmelte Lord Hubbard, der sehr nachdenklich geworden war. »Ich bin davon überzeugt«, versicherte Peter Winslow, »daß wir unseren Feinden jede erdenkliche Schlechtigkeit zutrauen müssen. Sie schrecken vor nichts zurück. Auch Kriege unter Menschen werden immer grausamer und gemeiner und niederträchtiger. Warum sollten Schwarzmagier, Geister und Dämonen eine Ausnahme bilden?« Sein Vater seufzte nur. Mr. Chapper nickte und schüttelte sich unter einem kalten Schauer, der ihm über den Rücken lief.
»Leider haben Sie recht, Sir«, gab Chapper zu. »Hoffen wir für den Jungen das Beste.« Lord Hubbard wandte sich erneut an seinen Sohn. »Du hast schon einen Plan?« fragte er noch einmal. »Keinen Plan, nur eine feste Absicht«, erwiderte Peter. »Für einen Plan ist es zu früh.« »Und wie sieht die feste Absicht aus?« forschte der Lord. Peter wußte, daß er offen sprechen konnte. Er war unter Freunden. Trotzdem zögerte er. »Barney Jefferson wird die Freiheit nicht erhalten«, sagte er schließlich. »Und ich werde alles tun, um die Familie Kent aus den Klauen der Feinde zu retten.« Chapper machte kein erleichtertes Gesicht. Es war ihm anzusehen, daß er mit dieser Antwort des jungen Großmeisters nicht zufrieden war. Er schwieg jedoch. Auch Lord Hubbard hatte sich sichtlich mehr erhofft. Er kannte aber aus eigener Erfahrung die Schwierigkeiten im Kampf gegen das Böse. Meistens hatten sie keinen greifbaren Gegner, sondern, kämpften gegen Schemen. So war es auch in diesem Fall. Miss Wood kam mit Maud Orwell in die Bar zurück. Um den Mund der blassen jungen Frau lag ein zufriedenes Lächeln, als sie sich auf einen Hocker schob. »Der Junge ist einwandfrei«, sagte sie. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.« Peter Winslow atmete zum ersten Mal wirklich erleichtert auf. »Das ist eine gute Nachricht«, sagte er erfreut. Der Kinderspäherin konnte er absolut vertrauen. Wenn sie bei einem Kind magische Anlagen erkannte oder versicherte, daß es keine solche Anlagen gab, so stimmte das auch. »Wir bringen Jacky nach Sagon Manor«, sagte Lord Hubbard. »Dort ist er in Sicherheit.« Peter nickte. »Genau das wollte ich auch vorschlagen«, antwortete
er. »Ich habe mir erlaubt«, mischte sich Butler Harvey ein, »schon einen Wagen vorfahren zu lassen.« Er war lautlos in die Bar gekommen. »Und ich habe Miss Alicia gebeten, ein Zimmer für den Jungen herzurichten. Ich habe mir gestattet, Ihrer Entscheidung vorzugreifen und Ihre Einwilligung vorauszusetzen, Sir!« Peter verdrehte die Augen. »Geht es nicht noch ein wenig geschraubter, Harvey?« rief er lachend. Butler Harvey blinzelte verständnislos, und diesmal war seine Verwirrung ganz echt und nicht gespielt.
* Der Tag war mehr als anstrengend gewesen. Er überstieg auch bei weitem die Kräfte des jungen Großmeisters. Peter Winslow schlief am nächsten Tag bis zum Mittag. Niemand weckte ihn. Alle auf Sagon Manor wußten, daß er in der nächsten Zeit härter als sonst gefordert würde. Peter erwachte schließlich von einem gleichmäßigen Klopfen. Im ersten Moment dachte er, daß jemand in sein Zimmer wollte. Erst als er die Augen aufschlug, erkannte er die Ursache des Geräusches. Dichte Regenschleier rauschten draußen nieder. Von einem Ast tropfte es gleichmäßig gegen seine Fensterscheibe. Stöhnend rollte Peter sich herum und blinzelte auf die Uhr. Ein Uhr mittags. Er brauchte einige Sekunden, um seine Gedanken zu sortieren. Hatte er nur geträumt? Seit er Großmeister war, wurde er oft von Alpträumen geplagt. Alle seine Erlebnisse mit Vertretern des Bösen kamen dann wieder hoch und mischten sich mit den Ängsten vor der ungewissen Zukunft. Nein, es war kein Alptraum. Er hatte alles erlebt, die rasende Fahrt
nach Paris, den Mord an Kommissar Croix und alles andere. Er hatte wirklich die Yacht FREEDOM gesehen und das Ultimatum der Entführer erhalten. Mit einem Satz war Peter aus dem Bett und lief in das angrenzende Badezimmer. In rasender Eile machte er sich fertig. Er wußte, weshalb ihn seine Angehörigen hatten schlafen lassen. Er wußte auch, daß er Kräfte brauchte, um diesen harten Kampf durchzuhalten. Dennoch hatte er das Gefühl, wertvolle Zeit verloren zu haben. Zeit, die gegen ihn arbeitete. Als er nur eine Viertelstunde nach Erwachen nach unten kam, war die Familie versammelt. In diesem Fall zählte er Harvey und Maud sowie die dicke Köchin, Mrs. Applegast, zur Familie. »Guten Morgen«, grüßte er. »Ihr hättet mich wecken sollen.« »Unsinn, Junge, du mußt ausgeschlafen sein!« rief Mrs. Applegast mit einem Temperament, das man der behäbigen Köchin gar nicht zugetraut hätte. Sie wurde rot. »Verzeihung, Sir«, verbesserte sie sich. Peter lächelte ihr zu. Er kannte sie von Kindesbeinen an und mochte sie. Zum Teil hatte sie die Mutter ersetzt, die er nie kennengelernt hatte. »Neuigkeiten?« fragte der junge Großmeister, während Harvey für ihn ein sehr verspätetes Frühstück servierte. Lord Hubbard schüttelte den Kopf. »Gar nichts, sonst hätten wir dich vorzeitig geweckt.« »Was macht Jacky?« erkundigte sich Peter. »Warum ist er nicht hier unten?« »Er schläft«, erklärte Maud. »Keine Sorge, mit dem Jungen ist alles in Ordnung. Er ist nur so erschöpft, daß er gar nicht mehr aufwacht.« »Besser für ihn«, warf Mrs. Applegast ein. »Meine Güte, wenn ich mir vorstelle! Der arme Junge! Seine Eltern und seine Schwester in
Gefangenschaft! Das ist ein schlimmer Schock!« Peter aß mit Heißhunger solche Mengen, daß sein Vater nur staunen konnte. »Harvey!« Der Großmeister wandte sich an den Butler, der in solchen Fragen immer einen Rat wußte. »Haben wir Ordensmitglieder mit Hubschraubern in der Nähe?« Harvey brauchte nicht lange zu überlegen. »Der Besitzer einer Flugschule in Dover ist …« »Okay«, unterbrach Peter den Butler. »Suchflugzeuge vor die Küste schicken! Ich gehe jede Wette ein, daß die FREEDOM nicht weit ist.« »Warum verständigen wir nicht einfach die Küstenwache?« warf Maud ein. Peter winkte ab. »Die Küstenwache sucht garantiert schon nach der FREEDOM«, meinte er mit vollem Mund. »Aber die Küstenwache hat den Befehl, die Yacht aufzubringen. Vergeßt nicht, man hat drei ertrunkene Matrosen der FREEDOM gefunden. Wenn ein Küstenschutzboot die FREEDOM sichtet, wird die Yacht festgehalten.« »Das wollen wir doch!« sagte Lord Hubbard erstaunt. »Aber unsere Feinde wollen es nicht«, fuhr Peter fort. »Deshalb wette ich, daß kein Mitglied der Küstenwache die FREEDOM zu Gesicht bekommen wird.« »Aber unsere Suchflugzeuge sollen die Yacht finden?« fragte Maud zweifelnd. »Das verstehe ich nicht. Sind wir Übermenschen?« Peter überging ihren gereizten Ton. Er verstand die Nervosität seiner Helferin. Er selbst war schließlich auch schrecklich gereizt und nervös. »Bisher hat man uns alle Aktionen unserer Gegner vorgeführt«, setzte er seine Theorie auseinander. »Ich wette, man wird mir gern die FREEDOM zeigen. Unsere Gegner legen größten Wert darauf, daß ich über alles informiert bin. Sie weiden sich an unserer Hilflo-
sigkeit. Immerhin verfügen unsere Feinde über Möglichkeiten, Barney Jefferson selbst aus dem Gefängnis zu holen. Sie brauchen mich dazu gar nicht. Sie wollen uns aber demütigen, indem sie mich dazu zwingen. Sie werden mir die Yacht zeigen.« Butler Harvey führte ein kurzes Telefongespräch. Der Besitzer der Flugschule war Ordensmitglied. Wenn der Großmeister um etwas bat, war es wie ein Befehl. Ohne Frage setzte der Mann sofort alle seine Flugzeuge für die Suche nach der Yacht ein. Der Erfolg kam schon eine Stunde später. Butler Harvey erfuhr telefonisch den genauen Standort der Yacht. »Ein Hubschrauber wird Sie in einer halben Stunde abholen, Sir«, meldete der Butler. »Ausgezeichnet«, sagte Peter grimmig. »Sorgen Sie für ein schnelles Motorboot, mit dem ich zur Yacht fahren kann. Vom Hubschrauber aus komme ich bestimmt nicht an Bord. Ich werde mir das Schiff nur einmal aus der Luft ansehen.« Er traf noch Vorbereitungen, ehe der Hubschrauber landete. Harvey brachte ihm einige Ausrüstungsgegenstände. Peter nahm sie an, obwohl er nicht viel davon hielt. Seine Feinde hatten bisher eine solche Überlegenheit gezeigt, daß Peter nicht glaubte, sie mit bloßer Waffengewalt in die Knie zwingen zu können. Dazu mußte er sich schon etwas Besonderes einfallen lassen. Der Hubschrauber kam. Peter kletterte an Bord. Es war eine kleine Maschine. Sie hatte nur eine geringe Reichweite, brauchte aber auch nicht weit zu fliegen. Die FREEDOM schaukelte ungefähr zwanzig Meilen von Brighton entfernt auf den Wellen. Der Regen störte, doch Peter konnte klar und deutlich den Namen am Bug der Yacht lesen. Er bat den Piloten, so tief wie möglich zu gehen. »Falls wir angegriffen werden, starten Sie sofort durch«, warnte er.
»Keine Experimente! Gegen diese Feinde kommen wir nicht an.« Er merkte, daß es dem Piloten nicht gefiel, die Flucht dem Kampf vorzuziehen. Auch der Pilot gehörte zum Orden. Da der Befehl vom Großmeister selbst kam, würde der Mann im entscheidenden Moment aber gehorchen, und nur das war Peter wichtig. Der Hubschrauber ging tiefer. Für einen Moment sah es so aus, als wolle der Pilot auf den Aufbauten der Yacht landen. Peter lehnte sich seitlich aus dem Hubschrauber. Seine Feinde waren zum Greifen nahe. Sie standen auf allen Posten der Yacht. Anstelle der Matrosen sah Peter Winslow Untote. Auch aus der Distanz waren sie einwandfrei zu identifizieren. Es waren Wasserleichen, die zum Teil schon sehr lange im Meer gelegen hatten. Peter schätzte die Untoten auf ein Dutzend. Das war für ihn nicht zuviel. Er besaß entsprechende Waffen gegen die Helfer des Bösen und konnte auf der Yacht aufräumen. Und dann sah er die Familie Kent. Mr. und Mrs. Kent wurden jeweils von zwei Untoten festgehalten. Nancy Kent konnte sich an Deck frei bewegen. Sie rührte sich dennoch nicht, und Peter konnte das nachfühlen. Bei jedem Schritt wäre sie an einen Untoten gestoßen. »Zurück zum Strand!« befahl der Großmeister. Der Pilot nickte und drehte ab. Auf dem Rückweg legte sich Peter einen Plan zurecht. Vielleicht konnte er diesen Kampf auf schnelle Art beenden. Dazu gehörte aber nicht nur Erfahrung, sondern vor allem eine ganze Menge Glück. Ohne Glück mußte dieses Unternehmen für alle Beteiligten tödlich ausgehen, auch für den jungen Großmeister.
*
Vor dem Haus hielt ein Wagen. Alicia Winslow lief hinaus, weil sie einen Besucher vermutete. Überrascht blieb sie stehen, als sie ihren Vater entdeckte. Er hatte den Wagen aus der Garage geholt. »Dad?« rief sie. »Fährst du weg?« Lord Hubbard Winslow wandte sich zu seiner Tochter um. Es gefiel ihm sichtlich nicht, daß sie ihn überrascht hatte. »Ja, ich fahre weg«, antwortete er gereizt. »Hast du etwas dagegen?« »Nein, warum?« Alicia trat neben den Wagen. Sie musterte den Handkoffer ihres Vaters. »Verrätst du mir auch, wohin die Fahrt geht, Dad?« Seufzend setzte sich ihr Vater auf den Fahrersitz und beugte sich aus dem offenen Fenster. »Du gibst ja doch keine Ruhe, bevor du es nicht weißt«, sagte er. »Ich fahre nach London und spreche mit einigen wichtigen Leuten.« »Du willst Peter in den Rücken fallen?« fragte Alicia betroffen. Lord Hubbard schüttelte den Kopf. »Ich will Peter den Weg ebnen. Warum glaubt ihr immer wieder, daß ich meinem eigenen Sohn nicht helfen möchte? Ich weiß, was für ein schweres Amt er übernommen hat. Deshalb will ich ihm helfen. Er hat das nicht besonders gern, ich weiß. Vielleicht fürchtet er, ich könnte seine Stellung untergraben. Deshalb arbeite ich im Hintergrund. Hast du etwas dagegen, Alicia?« Seine Tochter trat einen Schritt zurück. »Das mußt du selbst wissen.« Sie warf einen Blick zu dem grau verhangenen Himmel. »Peter wird schon bei der Yacht sein.« Lord Hubbard startete. »Ich kann Peter dort draußen nicht helfen«, sagte er entschlossen. »Aber in London kann ich einige Fäden ziehen. Wir sehen uns wahrscheinlich heute abend.« Alicia Winslow blickte ihrem Vater mit verkniffenem Mund nach. Er spielte sein eigenes Spiel, und das erschien ihr gefährlich.
»Vertrauen Sie ihm, Miss Alicia«, sagte Mrs. Applegast. Die Köchin hatte das Gespräch gehört. »Er hat dreißig Jahre lang für das Gute gekämpft, warum sollte er auf einmal versagen?« Alicia hob die Schultern, als friere sie. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Ich habe so ein Gefühl, daß er sich diesmal zu weit vorwagt. Diesmal stimmt doch von Anfang an nichts. Wissen Sie, wie mir das alles vorkommt? Wie eine riesige Falle. Das Zentrum der Falle ist die Yacht, und die Familie Kent ist der Speck.« Die dicke Köchin betrachtete Alicia Winslow lange Zeit. Sie merkte, daß Alicia jedes Wort bitter ernst meinte. Endlich klopfte sie der jungen Frau aufmunternd auf den Arm. »Kommen Sie ins Haus«, schlug sie vor. »Ich mache Ihnen eine schöne Tasse Tee.« Doch Alicia schüttelte den Kopf. »Ich will wissen, was Peter macht«, antwortete sie und lief zu den Garagen hinüber. Gleich darauf fuhr auch sie ab. Sie kam gerade zurecht, als Peter Winslow am Strand von Brighton in ein Motorboot stieg. Der Hubschrauber, mit dem er geflogen war, wollte abheben. Alicia Winslow sprach kurz mit dem Piloten. Der Mann war sofort bereit, sie zu einem Beobachtungsflug mitzunehmen. Der erste Angriff auf die FREEDOM lief an.
* Harvey traf Vorbereitungen stets mit solcher Gründlichkeit, daß alles hinterher perfekt klappte. Peter Winslow fand in dem Motorboot, was er für seinen Angriff brauchte. Während Harvey das Boot steuerte, half Maud dem jungen Großmeister in den Froschmannsanzug. »Eine kalte Angelegenheit«, sagte sie lächelnd und spielte auf die
niedrigen Wassertemperaturen an. »Es wird schon heiß genug hergehen«, erwiderte Peter. Sein Blick fiel unter die hintere Sitzbank. »Was ist das dort?« fragte er überrascht. »Was denn?« Maud stellte sich ahnungslos. Peter tappte schwerfällig mit den Schwimmflossen zur Bank und bückte sich. »Ein Taucheranzug?« fragte er verblüfft. »Wieso sind zwei an Bord?« »Nur für den Fall, daß dir der eine nicht paßt«, erwiderte Maud zu hastig. »Ihr kennt meine Größe«, sagte Peter mißtrauisch. »Da steckt etwas dahinter.« »Du siehst Gespenster.« Maud deutete auf die Wellen vor dem Boot. »Dort vorne warten die Gespenster auf dich, nicht hier im Schiff.« »Der zweite Anzug ist für dich, richtig?« sagte Peter ihr auf den Kopf zu. »Du weißt, daß ich dich nicht dabei haben will. Ich werde allein gehen.« »So!« Maud stemmte die Hände in die Hüften. »Hat der Großmeister noch weitere Befehle für mich?« »Warum siehst du nicht ein, daß du nichts auf der FREEDOM zu suchen hast?« fuhr Peter sie an. »Du willst mich nur aus der Schußlinie heraushalten, das ist alles!« erwiderte Maud heftig. »Ich lasse mich aber nicht abschieben, Peter!« »Ich will dich nicht abschieben!« rief er heftig. »Ich will nur nicht, daß du Selbstmord begehst! Ein Dutzend lebende Wasserleichen an Bord der Yacht.« »Sind auch für dich eine tödliche Gefahr!« fiel Maud ihm ins Wort. »Ich werde …« »Du wirst in diesem Boot bleiben!« fuhr Peter dazwischen. »Das
ist mein letztes Wort! Harvey! Sie sind mir dafür verantwortlich, daß Maud sich nicht einmischt!« »Ich habe verstanden, Sir«, erwiderte der Butler. Peter konnte sich auf Harvey verlassen. Maud durfte sich nicht in diese Gefahr begeben! Maud preßte die Lippen aufeinander und half Peter, die Ausrüstung zu ergänzen. Sie war wütend. Man brauchte kein Menschenkenner zu sein, um das zu fühlen. Ihre grünen Augen funkelten, und ihr Gesicht war verkniffen. »Peter«, sagte sie, als sie endlich fertig waren. »Hat sich eigentlich schon jemand bei dir gemeldet, um dir zu helfen?« Der junge Großmeister wandte sich hastig ab. Maud sollte nicht sehen, wie betroffen er über diese Frage war. Vor schweren Kämpfen meldete sich nämlich meistens der Geist seiner Mutter bei ihm. Sie selbst war vor fast zwanzig Jahren von Schwarzmagiern ermordet worden. Ihr Geist aber war bei ihrer Familie geblieben und half, wo es nur möglich war. Meldete sie sich vor einem Einsatz nicht, konnte das zwei Gründe haben. Entweder war die Aktion ziemlich unwichtig. Das paßte in diesem Fall nicht. Oder es waren so starke Kräfte der Hölle am Werk, daß der Kontakt nicht klappte. Und genau das traf diesmal zu! »Ach, hör doch auf«, murmelte Peter. »Ich bleibe bei meiner Entscheidung. Du und Harvey, ihr haltet die Stellung hier im Boot. Meinetwegen haltet mir auch die Daumen.« Die Yacht kam in Sicht. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß wir das Schiff finden«, sagte Harvey. »Meine Gegner wollen mich anlocken, deshalb sind sie noch hier«, antwortete Peter. »Hier, Sir!« Der Butler reichte ihm eine Harpune. »Sie wird Ihnen
gute Dienste leisten.« Peter drehte die Waffe in den Händen. »Was haben Sie damit wieder angestellt?« fragte er grinsend. »Der Stahlpfeil kehrt immer wieder zurück«, entgegnete Harvey. »Die Harpune ist schon Sekunden nach dem Abschuß wieder einsatzbereit.« »Sehr gut!« Peter wog die Waffe in der Hand. Nach den Eigenschaften des Pfeils erkundigte er sich gar nicht. Sie waren klar. Butler Harvey hatte den Pfeil weißmagisch präpariert. Maud hatte sich völlig in der Gewalt, als sie Peters Ausrüstung kontrollierte. Am wichtigsten waren die Luftbehälter. Sie funktionierten einwandfrei. Inzwischen steuerte Harvey die gekaperte Yacht offen an. Einige Untote standen oben an der Reling und blickten herunter. In ihren zerstörten Gesichtern waren keine Gefühle zu erkennen. Die Familie Kent blieb unsichtbar. Die Untoten sorgten dafür, daß sie mit dem Großmeister keinen Kontakt aufnahmen. »Jetzt!« rief Peter. Harvey nahm Gas weg. Der Außenborder drehte sich auf der Stelle. »Alles Gute!« wünschte Maud. Peter nickte, setzte seine Brille auf und ließ sich ins Wasser gleiten. Es war ein ungleicher Kampf, aber er mußte ihn riskieren. Vielleicht wollten seine Feinde nur ihn haben. Dann kamen wenigstens die Kents frei. Das war Peters letzte Überlegung. Dann tauchte er und ging zum Angriff über.
* Lord Hubbard Winslow fuhr nicht nach London. Er hatte seiner Tochter nicht gesagt, was er in Wahrheit vorhatte.
Die nötigen Telefongespräche hatte er schon geführt. Der Lord besaß weitreichende Verbindungen, die seinem Sohn fehlten. Er setzte sie jetzt ein, um den Fall vielleicht kampflos zu Ende zu bringen. Der Lord wurde im Gefängnis erwartet und sofort zum Direktor geführt. »Barney Jefferson«, sagte der Direktor, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit kurzsichtig blinzelnden Augen. »Ich habe ihn nie besonders beachtet. Erst nach dem Anruf aus dem Ministerium habe ich mir seine Akte angesehen.« »Sie haben ihn also nicht beachtet«, stellte Lord Hubbard fest. »Er hat sich unauffällig benommen?« »Wie ein Musterhäftling«, bestätigte der Direktor. »Ich hätte nie gedacht, daß es mit ihm einmal Schwierigkeiten geben könnte.« Es war nicht nur eine Feststellung, sondern gleichzeitig eine Frage. Lord Hubbard ging jedoch nicht darauf ein. »Kann ich mit Barney Jefferson unter vier Augen sprechen?« fragte er. »Es ist sehr wichtig.« »Jefferson ist draußen auf den Feldern«, erklärte der Direktor. »Ich gebe Ihnen einen Beamten mit, der Sie zu ihm bringt.« »Einverstanden!« Lord Hubbard hatte eine verrückte Idee. Vielleicht gelang es ihm, Barney Jefferson zu entführen und mit ihm unterzutauchen. Dann konnte die Gegenseite nicht mehr seine Freilassung verlangen. Der Lord schwieg über seinen Plan. Er wäre bei dem Gefängnisdirektor bestimmt auf keine Gegenliebe gestoßen. Er wagte aber auch nicht, sich die Reaktion seines Sohnes vorzustellen. Bestimmt war Peter wütend, wenn er von der Einmischung seines Vaters erfuhr! Sie fuhren in einem offenen Jeep zu der Gefängnisgärtnerei. Wächter beaufsichtigten die Häftlinge, die schweigend arbeiteten. Erst als der Jeep hielt, unterbrachen sie ihre Tätigkeit.
»Weitermachen!« befahl der Aufseher. »Los, wollt ihr wohl weitermachen?« Lord Hubbard stieg aus. Sein Begleiter erklärte dem Aufseher, worum es ging. »Barney Jefferson?« Der Uniformierte musterte den Lord überrascht. »Was ist denn mit dem? Das ist der ruhigste Häftling, den ich je hier hatte.« »Wo ist er?« fragte Lord Hubbard mit belegter Stimme. »Dort hinten, in der Ecke, das ist der Mann!« Der Aufseher deutete in die hinterste Ecke eines Feldes. »Ich gehe allein«, sagte Lord Hubbard. »Meinetwegen«, brummte der Aufseher und kümmerte sich wieder um die anderen Häftlinge. Lord Hubbard schritt mit heftig klopfendem Herzen auf den Gefangenen zu. Er sah alles wieder vor sich, die Jagd auf diesen Mann, die lebensgefährlichen Kämpfe. Er konnte kaum glauben, daß er den einst so gefürchteten Schwarzmagier vor sich hatte. Dieser Mann in der grauen Anstaltskluft sollte ein vielfacher Mörder sein? Lord Hubbards Schritte knirschten auf dem Erdreich. Der Gefangene hob den Kopf. Die Blicke der beiden Männer trafen sich und krallten sich ineinander. Lord Hubbard Winslow hielt den Atem an. Ja, das war der Schwarzmagier! Genau so hatte er ihn in Erinnerung, mit diesem durchbohrenden Blick und diesem abstoßenden Zug um den Mund! Doch auch Barney Jefferson erkannte sein Gegenüber nach zehn Jahren sofort wieder. Er richtete sich hoch auf. Seine Finger krallten sich fester um die Hacke, mit der er den harten Boden aufgelockert, hatte. Mit einem heiseren Schrei warf er sich auf Lord Hubbard. Die Hacke zielte auf den Kopf des Lords.
Barney Jefferson schlug mit voller Kraft zu …
* Der Taucheranzug milderte ein wenig den Kälteschock. Trotzdem fühlte Peter Winslow, daß er nicht lange unter Wasser bleiben konnte. Die Kälte fraß durch den Anzug. In wenigen Minuten würde sie ihn lähmen. Er verlor keine Zeit. Die Harpune hing an seinem Gürtel. Mit langen, kraftvollen Schwimmstößen näherte er sich der Yacht. Wie es dort weitergehen würde, mußte sich zeigen. Er konnte sich keinen Plan zurechtlegen. Dafür war alles viel zu ungewiß. Peter sah den Rumpf der Yacht vor sich, aber er erreichte ihn nicht. Sie griffen vorher an. Damit hatte Peter Winslow nicht gerechnet. Er hatte gedacht, sie würden ihn wenigstens an Bord lassen, um ihn dort umzubringen. In einem Kampf Mann gegen Mann hatte er sie überraschen und besiegen wollen. Sie gaben ihm diese Gelegenheit erst gar nicht, sondern kreisten ihn ein. Die Untoten tauchten aus der Tiefe des Meeres auf. Ein ganzer Schwarm von lebenden Wasserleichen begleitete die Yacht. Nun schossen die Zombies der Oberfläche entgegen. Sie schoben sich zwischen Peter und die FREEDOM, und auch zwischen Peter und dem Motorboot tauchten sie auf. Er konnte nicht mehr zurück. Sie zogen den Kreis enger und rückten vor. Mit einem entschlossenen Ruck hakte der junge Großmeister die Harpune vom Gürtel los. Er mußte sich schon hier zum Kampf stellen. Die Harpune lag gut in der Hand. Sein Finger glitt an den Abzug.
Er legte an, zielte und drückte ab. Peter atmete ruhig und gleichmäßig. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, aber Peter kannte solche Kämpfe. Sie beschleunigten nicht einmal seinen Puls. Er war sich seiner Sache sicher. Mit den ungefähr zwanzig Zombies unter Wasser konnte er es aufnehmen. Der erste Schuß mit der Harpune gab ihm recht. Der Pfeil jagte durch das Wasser und fand sein Ziel. Während die lebende Leiche zerfiel, kehrte der Pfeil schon wieder in die Harpune zurück, wie Harvey es vorausgesagt hatte. Der nächste Schuß saß wieder, und Peter hatte bereits fünf Wasserleichen ausgeschaltet, als ihn der erste Angreifer erreichte. Der Großmeister sah einen Schatten über sich und drehte sich herum. An Land wäre er schneller gewesen. Hier fiel seine Bewegung wie in Zeitlupe aus. Dennoch wich er rechtzeitig aus, ehe der Zombie ihm die Luftschläuche aus den Anschlüssen reißen konnte. Peters Linke kam mit einem Dolch hoch, einer ebenfalls präparierten Waffe. Er stieß zu. Der Zombie versuchte auszuweichen, war um einen Sekundenbruchteil zu langsam und kam mit der Dolchspitze in Berührung. Die Wirkung war genauso durchschlagend wie der Harpunenpfeil. Die Wasserleiche zerfiel. Die Meeresströmung trug sie davon. Die anderen bewegten sich mit ruckartigen Schwimmzügen, und Peter erkannte seinen Fehler. Sie waren schneller als gewöhnliche Schwimmer. Gegen die gleiche Zahl menschlicher Gegner in Taucheranzügen hätte er eine wesentlich höhere Chance gehabt. Hier aber ging es ihm an den Kragen. Sie schlossen die entstandene Lücke und kreisten ihn ein. Er löste noch zweimal die Harpune aus und ließ einen Zombie genau in den Dolch schwimmen.
Dann aber packten sie ihn. Eiserne Klauen schlossen sich um seine Füße. Seine Feinde rissen ihm die Flossen ab und zerrten ihn in die Tiefe. Das Licht schwand. Peter versuchte, die an seinen Beinen hängenden Gegner abzuschütteln. Doch so sehr er seine Muskeln anspannte, er konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Die eisernen Griffe der Zombies lähmten ihn. Von schräg oben kam eine Wasserleiche. Die knöchernen Finger zielten nach seinen Luftschläuchen. Sie wußten, wie sie ihn am wirkungsvollsten angreifen konnten. Peter krümmte sich nach vorne. Der Dolch stach nach unten. Er erwischte einen Untoten. Sein linkes Bein kam frei. Die Harpune konnte er nicht einsetzen. Die Gefahr war zu groß, daß er sich selbst ins Bein schoß. Durch die rasche Bewegung war er den zupackenden Pranken des Zombies entgangen. Er jagte den Pfeil hinter der Wasserleiche her und traf. Der zweite Zombie hing hoch an seinen Beinen und zog ihn unaufhörlich in die Tiefe. Entsetzt erkannte Peter, daß sie gar nicht viel zu kämpfen brauchten. Es genügte, wenn sie ihn in eine Tiefe schleppten, in der er der Taucherkrankheit zum Opfer fiel. Ein zweites Mal krümmte sich Peter Winslow zusammen. Und wieder stach der Dolch senkrecht nach unten, aber diesmal verfehlte er sein Ziel. Der Zombie an seinem Bein wich aus und schlug zurück. Vor Schmerz hätte Peter beinahe einen tödlichen Fehler begangen. Er verlor den Überblick, als ihm Tränen in die Augen schossen. Zwei Untote tauchten vor dem Sichtglas seiner Taucherbrille auf. Sie streckten ihm ihre Klauen entgegen. Er geriet in Panik und versuchte, sie mit dem Dolch abzuwehren. In seinem linken Handgelenk tobte der Schmerz von dem Schlag.
Dennoch stach er zu. Das Blut stockte in seinen Adern. Die Hand war leer. Der Zombie hatte ihm den Dolch aus der Hand gefegt! Und immer tiefer ging die mörderische Fahrt hinab. Sie ließen nicht locker! Peter konnte kaum noch etwas erkennen, so dunkel war es bereits. Er wartete entsetzt auf die ersten Anzeichen der Taucherkrankheit. Bildeten sich schon die tödlichen Gasblasen in seinem Blut, oder war er gar nicht so tief? Vielleicht täuschte ihm nur der mörderische Kampf etwas vor! Er konnte nicht auf seinen Tiefenmesser blicken. Es war im Moment auch viel wichtiger, sich von seinen Feinden zu befreien. Und dann war die Luft weg … Sie hatten es geschafft und die Luftschläuche aus den Halterungen gerissen. Peter hielt die Luft an. Er wußte jetzt schon, daß es ihm nichts half. Er war verloren. Selbst wenn sie ihn sofort losließen, konnte er mit der gespeicherten Luft in seinen Lungen niemals die Oberfläche erreichen. Es war aus! Dennoch kämpfte er verbissen weiter. Jetzt mußte er doch die Harpune einsetzen. Er richtete sie nach unten, zielte so gut wie möglich und schoß. Er wartete auf den Schmerz, falls er schlecht gezielt hatte. Sein Bein blieb von dem Pfeil verschont. Es kam sogar aus der Umklammerung frei. Sofort schwamm Peter mit kräftigen Bewegungen der Oberfläche entgegen. Er konnte sie nur erahnen, so dunkel war es geworden. Und er konnte nur hoffen, daß er nicht zu schnell auftauchte. Er hatte keine Zeit für langsames Steigen. Genau genommen hatte er überhaupt keine Zeit mehr. Die Luft ging ihm aus. Er versuchte noch, die Atemschläuche wieder zu befestigen.
Es gelang ihm nicht. Er machte noch einige taumelnde Bewegungen, dann war er am Ende. Die anderen hatten gesiegt …!
* Trotz seines Alters reagierte der ehemalige Großmeister blitzschnell. Er sah das Aufblitzen in den Augen seines Todfeindes und wich zurück, bevor Barney Jefferson die Hacke über den Kopf hob. Dennoch streifte ihn der Schlag an der Schulter. Der Lord taumelte zur Seite. »Ich bringe dich um!« brüllte Barney Jefferson keuchend und riß die Hacke erneut hoch. Lord Hubbard hatte sich schon gefangen und wich weiter zurück. Barney Jefferson folgte ihm. In seinen Augen stand der bedingungslose Wille, sich für alles zu rächen. Er dachte an nichts anderes mehr! Er sah vor sich den Mann, dem er die Gefängnisstrafe zu verdanken hatte. Ohne Lord Hubbards Eingreifen wäre er niemals verurteilt worden. »Na, komm schon!« rief Lord Hubbard leise. »Bring dich um deine letzte Chance, Barney! Komm! Glaubst du, mein Sohn holt dich wirklich hier heraus, wenn du mich umbringst?« Die Wächter rannten zwar auf den Lord und den Gefangenen zu. Sie waren viel zu weit entfernt, um eingreifen zu können. Die Worte ernüchterten Barney Jefferson sofort. Er ließ die Hacke sinken, stützte sich auf den Stiel und grinste, als wäre nichts geschehen. »Weise Worte aus dem Mund eines weisen Mannes«, sagte er gehässig. »Sehr gut gemacht, Großmeister!« Lord Hubbard winkte den Wächtern zu, die daraufhin zögernd stehenblieben und umkehrten.
»Ich bin nicht mehr Großmeister, Barney, das weißt du«, sagte der Lord. »Ich weiß, Großmeister«, entgegnete Barney Jefferson. »Für mich bist du aber zehn Jahre lang mein Feind geblieben. Zehn Jahre in einer Gefängniszelle! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie das ist, Großmeister?« »Du hast sieben Menschen nachweislich ermordet«, sagte Lord Hubbard kalt. »Wir beide wissen, daß es noch viel mehr waren.« »Na und?« Der ehemalige Schwarzmagier zuckte kurz die Schultern. »Sie waren der Sache im Weg. Sie hielten das Böse auf Erden auf. Das ist doch ein ausreichender Grund, findest du nicht, Großmeister?« Lord Hubbard hielt sich auf Distanz. Er war gewarnt und ließ sich kein zweites Mal überrumpeln. »Ich bin nicht gekommen, Barney um mit dir über Moral zu sprechen«, antwortete er kühl. »Wir wissen, was wir voneinander zu halten haben, nicht wahr?« Barney nickte. »O ja, das wissen wir!« Er lachte plötzlich tief und kehlig. »Ist es nicht eine verrückte Situation? Du bist der ehemalige Großmeister, ich bin der ehemalige Schwarzmagier! Du kannst nicht mehr Großmeister werden. Dazu bist du zu alt. Deine Leute werden dich nicht mehr wählen. Aber ich kann noch einmal Schwarzmagier werden. Weißt du, wie?« Lord Hubbard nickte. »Ich habe dir deine Fähigkeiten durch einen Bann genommen«, sagte er mit leicht bebender Stimme. »Ich müßte dir deine Fähigkeiten wiedergeben.« »Genau das möchte ich, Großmeister«, sagte der Häftling. »Wie ist es? Gibst du mir meine Fähigkeiten zurück?« »Niemals«, versicherte Lord Hubbard. »Ich habe geahnt, daß es dir darum geht. Ich bin nur hierher gekommen, um mich zu vergewissern. Deine Freunde hätten dich schon längst befreien können. Sie haben die Mittel dazu. Aber ich soll gezwungen werden, den Bann
gegen dich aufzuheben. So ist es doch, nicht wahr?« »Wenn du es nicht tust, du ehemaliger Großmeister, stirbt die Familie Kent.« Der Aufseher kam in dem Jeep zu den beiden und stieg aus. »Ich muß eingreifen«, sagte er gereizt. »Hier hat ein Kampf stattgefunden.« »Hier hat kein Kampf stattgefunden«, erwiderte Barney Jefferson. »Haben Sie etwas davon bemerkt, Lord Hubbard?« »Nein«, erwiderte der Lord mit verhaltener Wut. »Nein, hier hat es keinen Kampf gegeben.« »Eben!« bekräftigte Barney Jefferson. »Wir beide hätten etwas davon bemerken müssen. Und wir sind alte Freunde, der Lord und ich! Stimmt es?« »Ja«, bestätigte der Lord auch diesmal. Es hatte keinen Sinn, sich mit dem ehemaligen Schwarzmagier dieser Dinge wegen zu streiten. Er mußte noch mit Jefferson sprechen. Der Aufseher durfte ihn nicht stören. »Ich verstehe Sie nicht, Sir«, sagte der Aufseher zu Lord Hubbard. »Hätten Sie nicht so wichtige Bekannte, würde ich Sie wegschicken. Aber meinetwegen, sprechen Sie mit Jefferson. Ich gebe Ihnen fünf Minuten. Dann fahren Sie zurück!« »In Ordnung«, erwiderte Lord Hubbard scheinbar ungerührt. Sie warteten, bis der Aufseher sich entfernte. Barney Jefferson spuckte aus. »Ich hasse diesen Menschen«, zischte er. »Der büßt noch einmal für alles!« »Siehst du, Barney«, sagte Lord Hubbard mit erzwungener Ruhe. »Genau deshalb wirst du von mir niemals im Leben deine schwarzmagischen Fähigkeiten zurückbekommen. Du würdest unter den Menschen wüten! Das darf ich nicht zulassen.« »Dann sterben Joe, Alice und Nancy Kent«, sagte Jefferson, vor Wut blaß. Lord Hubbard blieb nur noch ein Bluff.
»Dann sterben sie eben«, sagte er gespielt gleichgültig. »Barney! Das sind drei Menschen. Wenn ich nicht auf deine Forderung eingehe, sterben diese drei. Gehe ich auf deine Forderung ein, sterben vermutlich Hunderte von Menschen. Also, wie werde ich mich wohl entscheiden? Sag es selbst!« Sie maßen einander wieder mit harten Blicken. Lord Hubbard ließ nicht erkennen, daß er niemals so dachte. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um die Kents zu retten. Barney Jefferson aber brauchte das nicht zu wissen. »Bist du nur gekommen, um mir das zu sagen?« fragte Jefferson nach einer Weile. Der Lord wußte, daß er gewonnen hatte. »Nein, ich habe noch einen anderen Grund«, sagte er und verbarg seine grenzenlose Erleichterung. »Nein, ich mache dir einen Vorschlag. Du wirst bis an dein Lebensende hinter Gittern sitzen, wenn wir dich nicht befreien. Mein Vorschlag: Du kommst aus dem Gefängnis, und dafür laßt ihr die Kents lebend und unverletzt frei. Klar?« Barney Jefferson überlegte nicht lange. Der Aufseher näherte sich wieder. »Ihr bringt mich auf die Yacht FREEDOM«, verlangte Jefferson. »Dein Sohn selbst wird das tun, damit du gedemütigt wirst. Dein Sohn holt mich hier raus und gibt mir die Freiheit. Klar?« »Einverstanden!« Lord Hubbard wandte sich ab, tat einen Schritt und sprang zur Seite. Die Spitzhacke bohrte sich in den Boden, wo der Lord eben noch gestanden hatte. Barney Jefferson stieß einen gräßlichen Fluch aus. Lord Hubbard Winslow drehte sich nach seinem Todfeind um. »Ich bin zwar nicht mehr Großmeister«, sagte der Lord, »aber ich habe nicht alles verlernt. Daran solltest du denken, Barney! Wir sehen uns noch!«
Damit verließ er die Gefängnisgärtnerei und kümmerte sich nicht um den Aufruhr unter Aufsehern und Häftlingen. Sollten sie mit Barney Jefferson machen, was sie wollten. Der weitere Weg war vorgezeichnet.
* Mit einem letzten Rest an Verstand erkannte Peter Winslow, daß er jeden Moment einen tiefen Atemzug tun mußte. Er hielt es einfach nicht mehr aus. Aber die Luftzufuhr zu seiner Maske existierte nicht mehr! Mit dem Atemzug würde er Wasser ansaugen … Und dann riß er den Mund weit auf und … holte tief Luft. Er hatte das Gefühl zu taumeln. Haltlos schwebte er im Wasser. Sekundenlang begriff er gar nichts. Er atmete flach und keuchend. Allmählich klärten sich seine Gedanken. Er erkannte dicht neben sich eine Gestalt, die ihn umklammerte. Es war kein Zombie, sondern ein Taucher. Peter blickte durch die Maske in die grünen Augen seiner Helferin Maud. Sie hatte seine Atemflaschen wieder mit der Maske verbunden. Er war von ihr unabhängig. Durch Zeichen gab sie ihm zu verstehen, daß er ihr die Harpune abtreten sollte. Widerstrebend überließ er ihr seine einzige Waffe. Er sah ein, daß es so besser war. Maud war voll da, er aber schwer angeschlagen. Gemeinsam stiegen sie auf. Peter brauchte seine ganze Kraft, um an die Oberfläche zu schwimmen. Der Kampf hatte seine Energien verbraucht. Von der Knappheit der Atemluft hatte er sich auch jetzt noch nicht erholt. Maud drehte sich im Schwimmen ständig im Kreis. Sie feuerte ein paarmal. Schemenhaft sah Peter Gestalten näherkommen und wie-
der verschwinden. Maud hielt ihnen die restlichen Zombies vom Leib. Noch nie war Peter der graue, wolkenverhangene Himmel über dem Meer so schön erschienen wie diesmal. Als er aus den Wellen auftauchte und das Grau über sich sah, hätte er laut schreien können vor Freude. Das Motorboot glitt an ihre Seite. Butler Harvey streckte seinem Großmeister die Hände entgegen. Peter wollte ablehnen, packte die Reling und versuchte, sich daran hochzuziehen. Nur mit Harveys kräftiger Unterstützung kam er an Bord und blieb keuchend auf den Planken liegen. Maud kletterte hinterher. Peter nahm die Maske ab und versuchte sich aufzurichten. »Die FREEDOM ist weg«, meldete Harvey. »Bleiben Sie ruhig liegen, Sir!« »Wo ist die Yacht?« fragte Peter. Seine Stimme krächzte rauh. »Weitergefahren?« »So kann man es nennen«, entgegnete Maud. Auch sie war außer Atem, hatte jedoch nichts abbekommen. »Du warst erst ein paar Sekunden unter Wasser, als dieses Geisterschiff weiterfuhr. Nach ein paar Minuten war es im Nebel verschwunden.« Jetzt richtete Peter sich doch auf. »Ich sehe keinen Nebel«, stellte er fest. »Magischer Nebel, Sir«, erklärte der Butler. »Er hatte nur einen Zweck. Die Yacht sollte verschwinden.« »Daraufhin habe ich schnell die Ausrüstung angezogen«, erzählte Maud, »und bin dir gefolgt.« »Danke«, sagte Peter und meinte damit Maud und Harvey. Ohne das Eingreifen der beiden wäre er jetzt schon tot. »Wir fahren zurück, okay?« erkundigte sich Harvey. Peter nickte und warf einen Blick zu dem Hubschrauber hinauf, der über ihnen wie eine riesige Libelle hing.
»Das ist Alicia«, erklärte Maud, während sie Peter aus dem Taucheranzug heraus half. »Sie hat alles mitangesehen.« »Hat sie nicht versucht, die Yacht zu verfolgen?« fragte Peter. »Sie hat es versucht, aber der Hubschrauber ist schnell wiedergekommen, der Nebel hat es ihnen unmöglich gemacht, irgend etwas zu erkennen. Es war die dickste Erbsensuppe, die ich je gesehen habe.« Das Motorboot jagte mit schäumender Bugwelle auf den Strand zu. Peter war fertig umgezogen, als sie anlegten. Alicia kam ihm entgegen. Sie war blaß, aber gefaßt. »Nichts erreicht?« fragte sie enttäuscht. »Ich habe die Yacht aus den Augen verloren. Aber ich glaube, sie ist noch irgendwo da draußen. Der Nebel liegt ohne Bewegung an einer Stelle fest.« Peter überlegte nicht lange. »Ich muß mich mit meinem Vater besprechen«, sagte er. »Erst danach kann ich über einen zweiten Angriff auf die Yacht entscheiden. Vielleicht kennt mein Vater ein Mittel. Er hat schließlich diesen Barney Jefferson hinter Gitter gebracht.« Alicia machte ein betroffenes Gesicht. »Dad ist nicht da«, murmelte sie. »Er wollte nach London, um dir Steine aus dem Weg zu räumen. Frage mich nicht, was er wirklich tut. Ich weiß es nicht.« Peters Gesicht verdüsterte sich. Er erkannte an, daß sein Vater über eine reiche Erfahrung als Großmeister verfügte. Schließlich war er dreißig Jahre lang Leiter dieses Zusammenschlusses von Weißmagiern gewesen. Doch sie arbeiteten auf Sagon Manor so eng zusammen, daß keiner einen Alleingang machen sollte! »Was ist mit Jacky Kent?« fragte er, um die Sprache auf ein anderes Thema zu bringen. »Mrs. Applegast ist bei ihm und kümmert sich um ihn«, erklärte Alicia. »Der Junge ist bei ihr in den besten Händen.« »Weiß er schon über seine Lage voll Bescheid?« erkundigte sich Maud Orwell.
Alicia nickte. »Auch das hat Mrs. Applegast übernommen. Sie hat es so fabelhaft gemacht, daß der Junge keinen Schock bekommen hat. Er weiß, daß seine Eltern und seine Schwester in der Hand von Schwarzmagiern sind.« »Fahren wir«, entschied Peter. »Hier haben wir nichts mehr zu tun.« Harvey redete noch mit dem Piloten und dem Besitzer der Flugschule. Beide versicherten, sich jederzeit zur Verfügung zu halten. Vielleicht mußten die Kämpfer von Sagon Manor noch einen Angriff per Flugzeug starten. Die Rückfahrt nach Sagon Manor verlief in tiefem Schweigen. Niemand sprach ein Wort. Sie waren alle so niedergeschlagen, als hätten sie bereits jetzt verloren. Und viel besser stand die Sache wirklich nicht.
* Nur Mrs. Applegast hielt sich zusammen mit Jacky Kent auf Sagon Manor auf. Miss Wood, die Kinderspäherin, war zu ihren Verwandten zurückgefahren. Ihre Dienste wurden vorläufig nicht benötigt. Peter Winslow sah zuerst nach dem Jungen. Er ahnte, daß es mit Jacky schlechter stand, als sie alle vermuteten. Er fand Jacky bei Mrs. Applegast in der Küche. Der Junge schälte Kartoffeln. »Ich habe es ihm beigebracht«, erklärte Mrs. Applegast stolz und gab Peter mit den Augen ein Zeichen. »Jacky stellt sich sehr geschickt an.« »Na wunderbar«, sagte Peter und folgte der Köchin in den angrenzenden Vorratsraum. »Ich wundere mich immer wieder, Mrs. Applegast, daß Sie durch diese schmale Tür passen«, sagte er grinsend. »Ich werde dich gleich übers Knie legen, ob nun Großmeister oder nicht!« drohte die füllige Köchin und schloß die Tür.
Im selben Moment erlosch ihr breites Lächeln. Sie legte den Finger an die Lippen. »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Peter ahnungsvoll. Mrs. Emily Applegast hob die rundlichen Schultern. Ihre kleinen Augen verschwanden fast völlig hinter Fettpölsterchen. Dennoch war ihr deutlich anzusehen, wie erschüttert und bestürzt sie war. »Ich habe den Jungen beobachtet«, sagte sie so leise, daß Jacky sie in der angrenzenden Küche nicht hörte. »Er scheint normal zu sein und keinen Schock erlitten zu haben.« »Die Kinderspäherin hat ihn sich angesehen«, erwiderte Peter Winslow. »Die Kinderspäherin ist auch nur ein Mensch, der sich irren kann«, sagte die Köchin heftig. »Beziehungsweise, man kann sie hinters Licht führen.« »Nun komm schon, du Ungeheuer!« Peter verfiel in den Ton, in dem er die Köchin als kleiner Junge liebevoll geärgert hatte. »Spiel hier nicht die geheimnisvolle Elfe! Dafür passen deine Abmessungen nicht! Sag mir endlich, was du denkst … falls du denkst.« Mrs. Applegast griff blitzschnell zu und erwischte den wesentlich größeren Peter am Ohr. Er konnte nicht mehr zurückweichen. »So, ich bin also ein Ungeheuer!« zeterte sie. »Ich werde es dir zeigen!« Sie zog ihn am Ohr, daß er sich jammernd vor ihr verbeugen mußte. Als sie ihn freigab, war sein Ohr rot angelaufen. »Du bist tatsächlich ein dickes Ungeheuer!« schimpfte Peter lachend. »Sag mir trotzdem, was du vermutest!« »Mein Junge, ich bin nur eine einfache Köchin«, sagte Mrs. Applegast leise. »Trotzdem habe ich meinen Verstand beisammen. Und ich sage dir, daß mit Jacky etwas nicht stimmt. Ich weiß nicht, was es ist. Aber wäre ich du, würde ich den Jungen keine zwei Minuten aus den Augen lassen.« Peter nickte nachdenklich und rieb sich dabei das schmerzende
Ohr. »Du hast wahrscheinlich recht«, gab er zu. »Aber auf Sagon Manor kann Jacky keine schwarzmagischen Fähigkeiten entwickeln. Das meinst du doch, oder?« »Ich meine gar nichts!« Mrs. Applegast deutete auf die Tür. »Los, verschwinde jetzt aus meinem Vorratsraum und meiner Küche! Ich habe euch alle gewarnt. Hört auf mich, oder ihr erlebt eine böse Überraschung!« Sie schob den Großmeister vor sich her, und dem Druck ihrer Massen war niemand gewachsen. Lachend verließ Peter die Küche. Auch Jacky lachte über den Auftritt der beiden. Sobald Peter Winslow jedoch die Küche verlassen hatte, fiel das Lächeln des Jungen in sich zusammen. Mit leeren Augen starrte er in die Schale mit den Kartoffeln …
* Lord Hubbard Winslow traf eine Stunde nach seinem Sohn auf Sagon Manor ein. »Dicke Luft, nicht wahr?« stellte er fest, als er aus seinem Wagen stieg. »Ja, Sir, das kann man so ausdrücken«, bestätigte Butler Harvey, der ihm mit einer steifen Verbeugung den Schlag aufhielt. »Sehr dicke Luft sogar, wobei auch das noch untertrieben wäre.« »Was habe ich denn ausgefressen, Harvey?« erkundigte sich der Lord mit Galgenhumor. »Sir!« rief der Butler erschrocken. »So würde ich das niemals bezeichnen.« »Schon gut, fallen Sie nicht in Ohnmacht!« Lord Hubbard Winslow betrat das Hauptgebäude und wandte sich dem Wohnzimmer zu. Durch die offene Tür sah er seinen Sohn am Kamin sitzen. »Endlich, Dad«, sagte Peter Winslow. »Setz dich bitte! Wir müssen etwas besprechen.«
»Du meinst, du willst mir Vorwürfe machen«, erwiderte sein Vater und setzte sich zu ihm. »Du willst mir sagen, daß ich keine Alleingänge unternehmen soll und dich nicht übergehen darf. Ich untergrabe deine Position als Großmeister und stifte Verwirrung.« »Ich hätte es nicht so scharf formuliert«, gab Peter zu, »aber das trifft den Nagel auf den Kopf! Ja!« »Okay, dann hör bitte zu, bevor du es aussprichst.« Lord Hubbard wirkte auf einmal sehr alt und sehr müde. Er rieb sich die Schläfen. »Ich war bei Barney Jefferson.« Der Lord berichtete ausführlich, wie sein Gespräch mit dem ehemaligen Schwarzmagier verlaufen war. »Verstehst du jetzt, warum ich es getan habe?« fragte Lord Hubbard seinen Sohn. »Mit dir hätte Barney Jefferson anders geredet. Ich bin sein erklärter Feind – und irgendwie sind wir miteinander verbunden. Er ist abhängig von mir, weil nur ich ihm seine magischen Fähigkeiten zurückgeben könnte. Und ich hänge von ihm ab, weil er über das Leben der Familie Kent entscheidet.« »Warum hast du mir das alles nicht vorher gesagt, Dad?« fragte Peter. »Hättest du mich fahren lassen?« Lord Hubbard schüttelte den Kopf. »Du hättest gesagt, daß es dein Job ist, und wärst ins Gefängnis gegangen. Nein, Peter, so war es schon besser.« »Trotzdem müssen wir uns irgendwie einigen«, sagte Peter Winslow. Er sprang auf, schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und trat ans Fenster. Es regnete unaufhörlich. Nebel kam auf. Bald würde man nicht einmal mehr die Türme von Mortland sehen, dem Geburtshaus seiner Mutter, heute Sitz des Bösen. »Peter«, sagte sein Vater geduldig. »Wir brauchen keine Regelung zu suchen. Nur in diesem einen Fall muß ich mich persönlich einsetzen. Das liegt an Barney Jefferson. In allen zukünftigen Fällen bleibe ich im Hintergrund. Ich werde nur etwas tun, wenn du es ver-
langst.« Peter drehte sich hastig um und lächelte seinem Vater zu. »Versteh mich nicht falsch«, sagte er versöhnlich. »Ich brauche deinen Rat. Du besitzt eine reiche Erfahrung, die mir noch fehlt. Ich kann auf deine Hilfe nicht verzichten. Ich möchte nur gern vorher wissen, was du tust.« »Einverstanden, Peter!« Der ehemalige Großmeister streckte Peter die Hand entgegen. »Abgemacht!« Peter schlug ein. Anschließend berichtete er, wie es ihm bei seinem Angriff auf die FREEDOM ergangen war. Er erwähnte auch Mrs. Applegasts Sorge um Jacky Kent. »Ich fürchte«, schloß Peter Winslow, »daß wir tatsächlich Barney Jefferson aus dem Gefängnis holen müssen.« »Ja, das müssen wir«, bestätigte Lord Hubbard. »Ich habe mir auch schon überlegt, wie wir es machen – mit deiner Erlaubnis«, fügte er lächelnd hinzu. »Du bist ein alter, schlauer Fuchs«, sagte Peter in neidloser Anerkennung. »Also los, laß hören!« Und dann entwickelten der alte und der neue Großmeister einen Plan, der ihnen wenigstens eine hauchdünne Chance gegen die Kräfte des Bösen einräumte.
* Noch in dieser Nacht flammte das Licht in Barney Jeffersons Zelle auf. »Verdammte Kerle!« schimpfte der ehemalige Schwarzmagier. »Könnt ihr einen nie in Ruhe lassen? Nur weil ich diesem alten Angeber fast den Schädel eingeschlagen habe, laßt ihr …« Er verstummte und blinzelte gegen das Licht an. In seiner Zelle lehnte neben der geschlossenen Tür ein Fremder.
Der Mann war noch sehr jung, Anfang zwanzig, schätzte Barney Jefferson. Er war sehr groß und muskulös und dabei doch schlank. Blonde Haare, blaue Augen, gut geschnittenes Gesicht, lässig in Jeansanzug, T-Shirt und Turnschuhe gekleidet. Doch in seinem Blick lag etwas, das Jefferson stutzen ließ. »Kennen wir uns?« fragte der ehemalige Schwarzmagier vorsichtig und setzte sich auf. »Nein«, antwortete sein nächtlicher Besucher. »Aber vielleicht kommen Sie von selbst dahinter, wer ich bin, Mr. Jefferson. Sie haben mich gerufen.« Die Augen des Gefangenen weiteten sich. »Ist nicht die Möglichkeit!« rief er gedämpft. »Sie sind der Großmeister? Nein, das ist ausgeschlossen! Sie sind viel zu jung für dieses Amt! Jeder halbwegs gute Zombie zerquetscht sie doch mit einem Schlag!« »Sie können es ausprobieren, Jefferson«, erwiderte Peter Winslow kalt. »Sie brauchen diese Zelle nicht zu verlassen, wenn Sie die Kents trotzdem freigeben.« »Das würde euch so passen!« Mit einem heiseren Lachen stand Barney Jefferson auf. »Ich gehe mit Ihnen!« Er schüttelte den Kopf. »Den neuen Großmeister hatte ich mir ganz anders vorgestellt! Na, meinetwegen! Hauptsache, Sie bringen mich auf die FREEDOM!« »Worauf Sie sich verlassen können«, versicherte Peter Winslow. »Gehen wir!« »Moment!« Der Gefangene deutete auf die Tür. »Können Sie sich denn völlig frei in diesem Gebäude bewegen? Wir sind nicht in einem Hotel, Großmeister!« Peter antwortete nicht. Er öffnete die Tür und warf einen Blick auf den Korridor hinaus. Er wußte, was wirklich gespielt wurde. Sein Vater hatte mit höchsten Regierungsstellen gesprochen und erklärt, daß es um das Leben einer ganzen Familie ging. Daraufhin war dieser Kompromiß zu-
stande gekommen. »Wir haben zehn Minuten Zeit«, erklärte Peter seinem Begleiter. »Dann wird Alarm ausgelöst.« Barney Jefferson verzichtete auf eine Antwort. Er hastete hinter dem Großmeister her, der mehrere nur angelehnte Gittertüren passierte. Sie erreichten den Gefängnishof und huschten an der Mauer entlang. Die Wächter oben im Turm blickten in die entgegengesetzte Richtung. Auch die kleine Pforte im Haupttor war nur angelehnt. Der Wächter in der angrenzenden Kabine saß mit dem Gesicht zur Wand und kümmerte sich um nichts. »Endlich«, murmelte Barney Jefferson, als sie im Freien standen. »Darauf habe ich zehn Jahre lang gewartet.« Peter Winslow deutete auf die Büsche. Dort stand sein weißer Geländewagen. Barney Jefferson war schneller als Peter. Er klemmte sich hinter das Steuer. Im nächsten Moment tauchte seine Hand unter der Jacke seiner Gefangenenkluft auf. Peter blickte in die Mündung einer kleinkalibrigen Pistole. »Man kann auch an kleinen Kugeln sterben, Großmeister«, sagte Barney Jefferson grinsend. »Wirf mir die Schlüssel rüber! Ich haue ab! Und grüße deinen Vater schön von mir!« Peter rührte sich nicht von der Stelle. »Hast du nicht gehört?« rief Jefferson höhnisch. »Du bist eben doch noch ein grüner Junge und blutiger Anfänger!« Im nächsten Moment erstarrte der ehemalige Schwarzmagier. In seinen Nacken drückten sich die Läufe eines Gewehres. »Keine voreiligen Schlüsse«, sagte Maud Orwell, die in den Büschen gewartet hatte. »Auch noch eine Frau!« Mit einem wütenden Lachen legte Barney Jefferson die Pistole aus der Hand. »Und jetzt?«
Peter schob ihn auf den Beifahrersitz und klemmte sich selbst hinter das Steuer. Maud kletterte auf die Rücksitze und hielt das Gewehr schußbereit. »Jetzt fahren wir zur FREEDOM«, sagte der junge Großmeister. »Wie vereinbart!« Jefferson schwieg, während Peter über die nächtlichen Straßen jagte. Sie waren noch nicht weit gekommen, als hinter ihnen die Sirenen losheulten. Peter fuhr noch schneller. Er benutzte ein Netz von Nebenstraßen, über das Maud ihn nach einem genauen Plan lotste. »Wie habt ihr mich herausgeholt?« fragte Jefferson nach einer Weile. »Bestechung«, antwortete Peter knapp. Es stimmte nicht, aber das brauchte der ehemalige Schwarzmagier nicht zu wissen. »Ich verlange meine Fähigkeiten zurück«, sagte Jefferson wieder einige Minuten später. »Ihr Vater muß sie mir geben!« »Sie haben mit ihm einen Handel geschlossen«, entgegnete Peter. »Wir beide gehen an Bord der FREEDOM, und dann lassen Sie die Kents frei! Dabei bleibt es! Und ich gebe Ihnen noch einen Rat, Jefferson! Spielen Sie heute nacht nur noch ehrlich! Tun Sie das nämlich nicht, werde ich Sie nicht schonen!« Peter Winslow warf dem befreiten Gefangenen einen kurzen Blick zu. Wenn er sich nicht täuschte, spiegelte sich in Barney Jeffersons Augen Angst. Nackte Angst! Peter kombinierte rasch. Vor ihm hatte der ehemalige Schwarzmagier bestimmt keine Angst. Wovor also? »Wir fahren zur FREEDOM hinaus«, sagte Peter, als Jefferson nicht antwortete. »Dort lasse ich Sie endgültig frei, und Sie übergeben mir die Kents! Klar?« »Ja, klar«, sagte Barney Jefferson mit belegter Stimme.
Peter fand, daß sich ein Sieger anders benommen hätte. Und Jefferson war ein Sieger. Nach zehn Jahren war er aus dem Gefängnis heraus, in dem er vorher ohne Aussicht auf Begnadigung gesessen hatte. Hier stimmte etwas nicht! Wozu hatte Barney Jefferson vorhin diesen sinnlosen Fluchtversuch unternommen? Er sollte ohnedies in Freiheit gesetzt werden! Den Rest der Strecke legten sie schweigend zurück. Peter Winslow grübelte über die schwache Stelle in ihrem Plan nach. Maud dachte über das gleiche Problem nach und mußte Barney Jefferson beaufsichtigen. Und der ehemalige Schwarzmagier schien nach seiner Befreiung größere Sorgen zu haben als zuvor. Nach zwei Stunden erreichten sie den Strand bei Brighton. »Wir sind da«, sagte Peter und deutete auf ein Motorboot, das an einem Steg vertäut schaukelte. »Es liegt an Ihnen, ob es Ihre letzte Fahrt wird!« Barney Jefferson lachte kurz auf. Dieses Lachen gab dem jungen Großmeister mehr als alles andere zu denken. Es klang nämlich völlig verzweifelt!
* Sagon Manor war durch einen Bann gegen Eindringlinge geschützt. Theoretisch konnte der Großmeister alle seine Helfer von dort abziehen. Er tat es jedoch in dieser Nacht nicht. Nur Maud Orwell durfte zusammen mit Mr. Chapper am Strand bleiben, als Peter in das Boot stieg. Der ehemalige Schwarzmagier Jefferson wehrte sich jetzt nicht mehr. Am liebsten wäre es Peter gewesen, wenn nur Maud die Stellung gehalten hätte! Die Gefahr eines Angriffes auf seine Helferin war je-
doch zu groß. Maud reichte dem jungen Großmeister ein Sprechfunkgerät. Sie behielt das zweite Gerät. Peter ließ den Motor aufheulen. Das Boot nahm Kurs auf die FREEDOM, die irgendwo weit draußen auf den Wellen schaukelte. »Sie scheinen ein ehrliches Spiel zu treiben«, sagte Barney Jefferson. »Folgt uns niemand?« »Nein«, antwortete Peter knapp. Jefferson wandte sich trotz dieser abweisenden Antwort noch einmal an den Großmeister. »Geben Sie mir meine magischen Kräfte wieder!« bat er in kläglichem Ton. »Nein!« sagte Peter hart. »Das kann nur mein Vater.« »Aber Sie können es wenigstens versuchen«, flehte Jefferson so eindringlich, als hinge sein Leben davon ab. »Ich würde es nicht einmal tun, falls ich es könnte«, entgegnete Peter. »Mein Vater ist in Ihren Augen Ihr persönlicher Feind. Ich halte aber auch nicht viel von Ihnen, Mr. Jefferson! Sie sind ein Mörder und ein Anhänger der Hölle! Ich werde nie mit Ihnen zusammenarbeiten!« »Vielleicht doch«, antwortete Jefferson rätselhaft. »Vielleicht werden Sie mir bald sehr dankbar für meine schwarzmagischen Kenntnisse sein!« Peter antwortete nicht mehr. Er hob sein Funksprechgerät an die Lippen und rief Maud. Sie antwortete sofort und gab ihm die Richtung an, die er einschlagen mußte. »Sie haben einen Hubschrauber in der Luft?« fragte Jefferson. »Er beobachtet die FREEDOM?« Peter sagte nichts. Alle seine Sinne waren angespannt. Er fühlte, daß seine erste Entscheidung nahte. Und er wartetet darauf, daß sich der Geist seiner Mutter bei ihm meldete.
Er wartete vergeblich. In diesem Fall gab es keinen Kontakt zu ihr. Auch die besonderen Kräfte, die er in anderen Fällen verspürt und die ihm geholfen hatten, stellten sich nicht ein. Er kam sich wie unter einer abschirmenden Käseglocke vor, die alle positiven Kräfte von ihm fernhielt. Vermutlich war es das Werk seiner Gegner. Das Funkgerät meldete eine Positionsänderung. Peter richtete sich sofort danach. Weit vor ihnen tauchte eine schimmernde Wolke auf. Sie ruhte auf dem Wasser und glühte von innen heraus. »Die FREEDOM«, murmelte Barney Jefferson. »Geben Sie mir wenigstens einen Teil meiner alten Fähigkeiten …« »Halten Sie den Mund!« fuhr Peter ihn an. Seine Hand tauchte unter die Lederjacke, die er für die Fahrt auf dem Meer angezogen hatte. Er holte eine unscheinbare Pistole hervor. Sie war mit Kugeln geladen, die Harvey präpariert hatte. Jefferson schwieg sich aus. Er betrachtete den jungen Großmeister jetzt mit anderen Augen. Sie kamen näher an die Ausläufer der Wolke heran. Peter suchte ständig das Meer vor und neben ihnen ab. Seine Vorsicht lohnte sich. Wie eine Peitschenschnur zischte ein dicker schwarzer Arm durch die Luft. Er war so schnell aufgetaucht, daß Peter es nicht bemerkt hatte. Für einen Sekundenbruchteil sah Peter dicke Saugnäpfe. Dann krachte der Arm des überdimensionalen Tintenfisches auf den Bug des Motorbootes. Es fühlte sich an, als wären sie gegen eine Betonmauer gerast. Die Schraube kam aus dem Wasser, der Motor heulte schrill auf. Sofort riß Peter den Gashebel zurück und schoß. Die Kugel traf den Arm, der sich soeben ins Wasser zurückzog. Aus der Tiefe erscholl ein scheußlicher Schrei. Dicke schwarze Bla-
sen stiegen an die Oberfläche. Sieben Arme schnellten gleichzeitig hoch in die Luft. Wenn sie das Boot trafen, war es vorbei. Sie würden den Außenborder in Scheiben hacken! Dann entdeckte Peter die riesige schwarze Kugel, die ebenfalls aus dem Meer auftauchte. Schädel und Körper des Tintenfisches! Peter leerte das ganze Magazin auf den gigantischen Tintenfisch. Mit knappen, präzisen Bewegungen hebelte Peter ein neues Magazin in seine Waffe. Die einzelnen Arme des Tintenfisches trieben auf dem Meer davon. Das Wasser färbte sich schwarz. Vorsichtig schob der junge Großmeister den Gashebel nach vorne. Der Motor war nicht beschädigt. Der Außenborder nahm Fahrt auf und tauchte in die Ausläufer der Wolke ein. Sofort sank die Sicht. »Ihre Freunde scheinen keinen Wert darauf zu legen, daß Sie an Bord kommen«, sagte Peter zu Barney Jefferson. Als er keine Antwort erhielt, wandte er kurz den Kopf. Über das Gesicht des ehemaligen Schwarzmagiers liefen dicke Schweißtropfen. »Es geht gar nicht um Ihre Befreiung«, sagte Peter seinem unfreiwilligen Begleiter auf den Kopf zu. »Ich sollte an Bord gelockt werden, nicht wahr?« »Erstens mußte die FREEDOM angegriffen werden«, erklärte Barney Jefferson leise und mit heiserer Stimme. »Die FREEDOM war vollgestopft mit Waffen und Werken der Weißen Magie! Das Zeug existiert nicht mehr, es liegt auf dem Meeresgrund! Zweitens sollte die Familie Kent verschwinden! Es sind Ordensmitglieder, also unsere natürlichen Feinde! Drittens sollte Ihr Vater mir meine alten Kräfte wiedergeben, damit ich wieder für meine Freunde arbeiten kann.« Jefferson sah Peter gehetzt an. »Das ist alles schiefgelaufen!
Wir haben es nicht erreicht!« Peter nickte. »Bleibt nur noch«, sagte er dumpf, »mich an Bord zu locken und dort umzubringen!« »Ja, das ist der einzige Zweck des Unternehmens«, gestand Barney Jefferson keuchend. »Verdammt, kehren Sie um! Den Leuten ist es gleichgültig, ob ich dabei mit draufgehe oder nicht!« »Welchen Leuten?« hakte Peter nach, während er tiefer in die Wolke hinein steuerte. »Ich weiß es nicht«, gestand Barney Jefferson. Er sprach in aufrichtigem Ton. Die Angst trieb ihn dazu. »Großmeister! Sie ahnen nicht, welche Kräfte auf unserer Seite kämpfen. Nicht einmal ich kenne sie! Ich war nur ein kleines Rädchen im Getriebe! An die wirklich Großen bin ich nie herangekommen, und Sie schaffen das auch nicht!« »Ich arbeite mich von unten nach oben«, entgegnete Peter Winslow kalt. »Eines Tages schalte ich auch die Spitzen des Bösen aus.« »Illusion!« Barney Jefferson krallte sich an Peters Arm fest. »Kehren Sie um, Großmeister, bitte!« schrie er. »Wir sterben sonst beide auf diesem verdammten Kahn!« Peter schüttelte ihn ab und nahm das Gas zurück. Dann hob er sein Funkgerät an die Lippen. »Ich habe die FREEDOM gefunden«, sagte er nur. »Wir gehen jetzt an Bord!« »Nein!« schrie Barney Jefferson entsetzt. Peter steuerte sein Motorboot längsseits an die Yacht. »Doch«, sagte er und schaltete den Motor aus.
* An Bord der Yacht rührte sich nichts. Das weiße Schiff schaukelte leicht auf den Wellen. Es war durch
den Nebel vor zufälliger Entdeckung geschützt. Peter hörte nicht einmal den Motor des Hubschraubers, der die Wolke vom Himmel aus beobachtete. »Ahoi, FREEDOM!« rief der junge Großmeister. »Hier ist Peter Winslow mit Barney Jefferson!« »Sie Narr!« flüsterte Jefferson. »Sie verdammter, selbstmörderischer Narr!« An der Reling erschien eine lebende Wasserleiche und blickte ausdruckslos zu Peter herunter. »Kommt – an – Bord!« formte der Mund des Untoten abgehackt. »So haben wir nicht gewettet, mein Freund«, antwortete Peter mit einem scheinbar unbekümmerten Lachen. »Wir haben eine Abmachung getroffen.« »Ich – verstehe – nicht!« erwiderte der Zombie. »Doch, ihr da oben versteht sehr gut!« Peter blieb unnachgiebig. »Ich will die Kents sehen. Alle! Wohlbehalten! Vorher bekommt ihr Jefferson nicht!« »Wir können ihn uns holen!« Die lebende Leiche sprach jetzt flüssiger, als habe sich ihr Mund wieder an die ungewohnten Bewegungen gewöhnt. »Nichts zu machen«, sagte Peter kalt. »Von mir bekommt ihr gar nichts freiwillig! Ich erfülle meinen Teil der Abmachung. Dafür müßt ihr euren Teil erfüllen!« Der Kopf der Wasserleiche verschwand. Peter Winslow hatte das Funkgerät auf Senden gestellt. Maud und die Besatzung des Hubschraubers konnten mithören. Im Notfall würden sie eingreifen. Die Frage war nur, ob sie dann noch zurecht kamen. Wahrscheinlich nicht … »Kehren Sie um, Großmeister«, flüsterte der ehemalige Schwarzmagier während der Wartezeit. »Noch haben Sie …« »Hier sind sie!« rief von oben die lebende Leiche.
Peters Blicke saugten sich an den drei Gefangenen fest. Er kannte Joe, Alice und Nancy Kent nur von Fotos, die sein Vater besorgt hatte. Danach waren sie es. »Eure Namen!« rief er hinauf. »Ich bin Joe Kent«, erwiderte der Mann. »Das ist meine Frau Alice. Und das ist meine Tochter Nancy!« Die beiden Frauen nickten heftig. »Identifiziert euch!« verlangte der Großmeister. Barney Jefferson stöhnte entsetzt. »Wie lange wollen Sie das Spiel noch treiben?« flüsterte er. »Halten Sie den Mund!« sagte Peter unfreundlich. »Los! Ihr könnt euch identifizieren! Wenigstens die Eltern, wenn schon nicht die Tochter!« Er meinte jenes kurze blaue Aufleuchten der Augen aller Ordensmitglieder. Es konnte von Schwarzmagiern nicht kopiert werden, war daher ein untrügliches Erkennungszeichen und mußte von Joe und Alice Kent beherrscht werden. »Das können wir nicht, Großmeister!« antwortete Alice Kent. »Ach nein?« Peters Stimme nahm ätzende Schärfe an. Er richtete die Waffe schräg nach oben. »Und warum nicht? Was für ein gemeiner Trick ist das wieder?« »Das ist kein Trick, Mr. Winslow!« versicherte Joe Kent besorgt. »Glauben Sie uns! Wir befinden uns auf einem Geisterschiff. Diese Yacht ist im Besitz der Schwarzen Magie. Unter diesen Umständen haben wir die Fähigkeiten zur Identifizierung verloren!« »Bringen Sie uns von diesem Schiff weg«, verlangte Alice Kent. »Dann können wir uns wieder zu erkennen geben.« Der Kopf der Wasserleiche tauchte neben Nancy Kent auf, die erschrocken abrückte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit!« mahnte der Untote. »Wie haben Sie sich entschieden?« Peter wandte sich an Barney Jefferson. »Ist das möglich?« fragte er
leise. »Kann Schwarze Magie wirklich verhindern, daß sich meine Ordensmitglieder identifizieren?« Es war eine verrückte Situation. Peter fragte einen seiner ärgsten Feinde um Rat. Er hatte im Moment jedoch keine andere Wahl. Barney Jefferson wollte nicht an Bord der Yacht gehen. Er lockte Peter bestimmt in keine Falle. Deshalb konnte Peter ihm vertrauen, wenn auch nur in diesem einen Punkt. »Es ist möglich«, antwortete Jefferson zögernd. »Das könnten tatsächlich die Kents sein. Trotzdem, Großmeister, sollten wir umkehren! Hier ist etwas faul!« »Sie mißtrauen Ihren eigenen Leuten, Jefferson«, sagte Peter sarkastisch und wandte sich erneut an die lebende Leiche. »Wir kommen an Bord!« Rasselnd fiel eine Strickleiter über die Reling und baumelte vor dem Motorboot bis zur Wasserlinie herunter. Peter zurrte das Boot daran fest. »Erst Sie«, befahl er Jefferson.
* Der ehemalige Schwarzmagier ergab sich in sein Schicksal. Er schwang sich auf die schwankende Strickleiter und hatte einige Mühe, daran hoch zu klettern. Peter folgte ihm so dicht, daß er an der Reling gleichzeitig mit Jefferson eintraf. Als sich der Befreite an Bord schwang, war Peter unmittelbar hinter ihm und beschrieb sofort mit seiner Pistole einen Halbkreis. Jefferson deckte ihn gegen Angriffe. Alles blieb ruhig. Die Besatzung aus Untoten rührte sich nicht von ihren Plätzen. Die Kents standen bewegungslos an der Reling. »Hier habe ich euch Barney Jefferson gebracht«, sagte Peter Winslow nervös in die Stille. »Gebt jetzt die Kents frei!«
Betrug hing irgendwie greifbar in der Luft. Trotzdem kam der Großmeister nicht dahinter, was wirklich faul war. Auch Barney Jefferson rührte sich nicht von der Stelle. Er fürchtete noch immer um sein Leben. »Gebt die Kents frei!« befahl Peter noch einmal. Er wußte nicht, an wen er sich wenden sollte. Diese Zombies waren unfähig, selbständig zu handeln. Sie wurden von jemandem gelenkt. Aber wie hatte Jefferson gesagt? Nicht einmal er selbst kannte die Hintermänner. Er wußte nicht, wer seine Befreiung veranlaßt hatte, und Peter würde diese Leute auch nicht entlarven. Zumindest würde es ihm nicht jetzt und hier gelingen! Peter richtete seine Pistole auf den nächststehenden Zombie. »Ich zähle bis drei!« sagte er laut. »Bei drei steigen die Kents als freie Leute in mein Boot, oder ich drücke ab!« Nichts rührte sich. »Eins! Zwei …!« , Endlich tat sich etwas, aber damit hatte Peter nun auch nicht gerechnet. Die lebenden Leichen rückten langsam näher. Sie kletterten von den Aufbauten herunter. Zwei ließen sich an einem Tau vom Mast herab gleiten. Und gleichzeitig veränderten Joe, Alice und Nancy Kent ihr Aussehen. Ihre Haut schrumpfte. Ihre Augen erloschen. Die Kleider zerfielen zu Lumpen. Innerhalb weniger Sekunden wurden aus drei scheinbar lebenden Menschen Zombies. Peter war hereingelegt worden. Lebende Leichen hatten das Aussehen der Kents angenommen! Er schoß, und jede seiner Kugeln traf ihr Ziel. Jede Kugel fegte eine lebende Wasserleiche von Bord. Es war zu einfach! Die Angreifer ließen sich so viel Zeit, als wollten sie dem jungen Großmeister Gelegenheit zum genauen Zielen geben.
Dieser Meinung war auch Barney Jefferson. »Da stimmt was nicht«, flüsterte er keuchend. »Merken Sie noch immer nicht, daß wir in der Klemme stecken?« »Sie glauben wirklich, daß Ihre eigenen Leute Sie opfern würden?« fragte Peter bissig. »Haben Sie noch nie etwas von Freundschaft und Solidarität gehört, oder gibt es das bei euch Schwarzmagiern nicht?« »Hören Sie auf!« Barney Jefferson machte eine Handbewegung, die das ganze Schiff einschloß. »Alle Zombies haben sich abknallen lassen. Wir beide sind jetzt allein an Bord. Warum wohl?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Peter ruhig. »Aber ich werde es herausfinden!« Er hob das Funkgerät an die Lippen. »Entert das Geisterschiff!« befahl er seinen Helfern.
* Maud und der Pilot bestätigten den Funkspruch. Peter packte Barney Jefferson am Arm und schob ihn zur Luke. »Los!« befahl er. »Wir sehen uns um!« Jefferson half ihm sogar, wo er nur konnte. Gemeinsam durchsuchten sie die ganze Yacht. Außer ihnen befand sich niemand an Bord. Schon hörte Peter die Motorengeräusche des Hubschraubers und des Bootes, in dem Maud ihm zu Hilfe kam, als Jefferson schrill aufschrie. Peter wirbelte zu dem ehemaligen Schwarzmagier herum. Jefferson starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Sitz des Bootsführers. Peter konnte nichts Ungewöhnliches daran entdecken. »Was ist?« fragte er und deutete auf das gelbe Kissen, das auf einem schwarzen Sockel lag. Barney Jefferson hob das gelbe Kissen behutsam hoch und schleuderte es über Bord. Mit zitternden Fingern deutete er auf den
schwarzen Block. »Wissen Sie, was das ist, Großmeister?« fragte er erstickt. »Das ist nicht der normale Unterbau des Sitzes, sondern eine Zeitbombe!« Peter schüttelte den Kopf. »Unsinn! Ich weiß, wie Bomben aussehen! Das hier ist ein massiver Block ohne Öffnung, aber keine Bombe.« Jefferson schwang herum. Seine Finger verkrallten sich in Peters Lederjacke. »Das ist eine schwarzmagische Zeitbombe, du Narr!« brüllte er Peter ins Gesicht. »Ich selbst habe früher solche Dinger hergestellt! Dagegen sind andere Bomben harmlose Knallfrösche! Wenn sie hochgehen, reißen sie alles in ihrer Umgebung in eine andere Dimension! Wir müssen von Bord!« Peter begriff, daß Jefferson nicht schwindelte. Der Mann schlotterte vor Todesangst! »Entschärfen Sie die Bombe«, verlangte er. »Das kann ich nicht, Großmeister!« jammerte Jefferson. »Das kann jeweils nur der Erbauer der Bombe! Wir müssen von Bord!« »Okay!« stimmte Peter zu. »Verschwinden wir!« An der Reling trafen sie auf ein neues Hindernis. Rings um das Schiff war eine unsichtbare und undurchdringliche Wand entstanden. Peter sah sein eigenes Motorboot sowie Mauds Außenborder und den heranschwebenden Hubschrauber, aber er konnte die Sperre nicht durchbrechen. »Abdrehen!« befahl er seinen Helfern über Funk. »Jefferson! Wie kommen wir von dieser Yacht herunter?« Jefferson schwitzte. Die Kleider klebten ihm am Körper. Er schielte ununterbrochen zu der schwarzmagischen Bombe. »Diesen Bannschild können Sie nicht durchbrechen, Großmeister«, stammelte er. »Es gibt nur eine einzige Chance! Verleihen Sie mir meine Fähigkeiten! Dann hebe ich den Schild auf!« »Und bringen mich um«, sagte Peter kopfschüttelnd.
»Wenn Sie mir meine Fähigkeiten nicht geben, sind wir beide sehr schnell in der Hölle, verstanden?« brüllte Jefferson verzweifelt. »Nehmen Sie Vernunft an! Nur ich kann die Sperre aufheben!« Peter mußte sich entscheiden. Vielleicht war alles ein Trick, damit Jefferson doch seine alten Fähigkeiten wiederbekam. Vielleicht sprach der ehemalige Schwarzmagier aber die Wahrheit. »Ich kann es nur versuchen«, murmelte Peter. »Mein Vater müßte es eigentlich tun!« »Beeilen Sie sich, Großmeister!« flehte Jefferson. Peter hatte von seinem Vater eine Reihe Bannsprüche gelernt. Nun erinnerte er sich an die passende Formel, die er jederzeit widerrufen konnte, und sprach sie im Geist. Jefferson stöhnte leise auf. Im nächsten Moment sprang er an die Reling und hieb mit beiden Fäusten gegen die unsichtbare Barriere. Helles, scharfes Knacken ertönte. Es hörte sich an, als stürze eine Glaskuppel in sich zusammen. Peter spürte nichts davon, doch als er sich jetzt über die Reling beugte, wurde er nicht aufgehalten. »Ins Boot!« befahl er. Jefferson kletterte voran. Peter kam hinter ihm her. Der Schwarzmagier wirbelte im Boot herum und wollte sich auf Peter stürzen, doch der Großmeister ließ sich fallen. Die beiden Männer prallten zusammen und stürzten. Während Peter einen kurzen, trockenen Haken schlug, murmelte er den Gegenbann. Im selben Moment streckte sich Barney Jefferson auf den Planken. »Schade«, murmelte er benommen. »Ich hatte gehofft, ich könnte meine Fähigkeiten behalten! Fahren Sie! Schnell!« Peter hatte ihn wieder entmachtet. Er ließ den Motor an, wendete und jagte mit Vollgas in Richtung Küste. Nach einer halben Minute hörte er hinter sich ein trockenes Zischen. Er wirbelte herum.
Die Yacht FREEDOM erstrahlte in tiefroter Glut. Dumpfes Grollen lief über das Meer. Das Schiff schien zu schmelzen und kleiner zu werden. Es schrumpfte. Das rote Leuchten verstärkte sich, bis es sich in einem Blitz auflöste. Peter Winslow blinzelte. Wo eben noch die Yacht auf den Wellen geschaukelt hatte, war nichts mehr. Jefferson hatte nicht gelogen. Die schwarzmagische Zeitbombe hatte die Yacht in eine andere Dimension geschleudert – allerdings ohne Peter und den befreiten Gefangenen. »Zurück zum Strand«, sagte Peter Winslow über Funk. Er mußte einsehen, daß sein Unternehmen gescheitert war. Er hatte die Familie Kent nicht befreit. Die Yacht sowie die wertvolle weißmagische Ladung waren verloren. Er konnte nur Barney Jefferson wieder ins Gefängnis zurückschicken. Aber das hatte er ohnedies vorgehabt.
* Peter Winslows tiefe Niedergeschlagenheit verwandelte sich in Spannung, als vor ihm noch ein Motorboot auftauchte. Der Hubschrauber war inzwischen vorausgeflogen. Das andere Boot wurde von Mr. Chapper gesteuert. Maud und Chapper kamen längsseits und drosselten die Motoren, so daß sie sich untereinander verständigen konnten. »Mortland hat mobil gemacht!« meldete Mr. Chapper knapp. »Ich war am Strand zurückgeblieben, nachdem Miss Orwell Ihnen gefolgt war. Schätzungsweise dreihundert Zombies haben den Strand besetzt.« »Ich habe schon auf Sagon Manor Alarm geschlagen«, fuhr der Hotelbesitzer aufgeregt fort. »Die Zombies haben vier Galgen errich-
tet. Für die Familie Kent!« Peter lief ein eisiger Schauer über den Rücken. »Vier Galgen?« fragte er bebend. »Ja!« bestätigte Mr. Chapper. »Jacky Kent ist von Sagon Manor weggelaufen und auch an den Strand gekommen.« Peter dachte an Mrs. Applegasts Warnung. Also hatte die Köchin recht behalten. Sie hatte geahnt, daß mit Jacky etwas nicht stimmte. Der Junge hatte noch immer unter dem Einfluß seiner Entführer gestanden und war deren Ruf gefolgt. »Was hat mein Vater am Telefon gesagt?« fragte Peter. »Nicht viel«, erwiderte Chapper. »Wir haben einen Treffpunkt vereinbart, der außerhalb des besetzten Strandes liegt. Ich führe Sie hin!« Chapper wendete sein Boot und jagte davon. Peter und Maud nickten einander zu und folgten ihm. Peter wandte sich an seinen Begleiter. »Können Sie den Kents helfen?« fragte er knapp. »Sicher kann ich das«, erwiderte Barney Jefferson und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Aber ich werde es nicht tun! Wozu auch? Sie geben mir meine magischen Fähigkeiten nicht wieder. Ich muß ins Gefängnis zurück und werde nicht begnadigt. Sollen diese Leute doch sterben! Was geht es mich an?« Peter unterdrückte die aufsteigende Wut. Er konnte den ehemaligen Schwarzmagier nicht zwingen. Vorhin hatte Jefferson ihm nur geholfen, weil er sonst zusammen mit dem Großmagier mit der Yacht in die Luft geflogen wäre – oder besser, in einer anderen Dimension gelandet wäre. Peter raste mit Vollgas auf den Strand zu. Jemand gab Blinksignale. Beim Näherkommen erkannte er Autos von Sagon Manor. Ein Polizeiwagen stand daneben. Die Entführer der Familie Kent hatten nur erreicht, daß die weißmagische Ladung der Yacht zerstört worden war. Sonst war ihnen
alles schief gegangen. Jetzt wollten sie sich an der Familie Kent rächen. Peter mußte es mit allen Mitteln verhindern. Die Boote liefen auf Grund. Peter Winslow schleppte den ehemaligen Schwarzmagier an Land und übergab ihn wortlos den wartenden Polizisten. Als sie Barney Jefferson Handschellen anlegten, fing Peter noch einen letzten Blick abgrundtiefen Hasses auf. Dann brachten sie den Gefangenen zu dem Polizeiwagen und fuhren mit ihm ab. Peter strich Jefferson aus seinem Gedächtnis. Alle waren sie hier, sein Vater, Harvey, Alicia und Mrs. Applegast. Mrs. Chapper zeigte auf das Strandstück, auf dem die Hinrichtung stattfinden sollte. »Wir könnten gemeinsam losstürmen«, sagte Lord Hubbard leise. »Wir kämen aber nicht einmal an die Kents heran. Sie wären tot, bevor wir eine Gasse gebrochen hätten.« »Und anschließend würden die Zombies uns umbringen«, erklärte auch Mrs. Applegast. »So geht es nicht!« Butler Harvey zeigte einen Gegenstand, der einer Handgranate ähnelte. »Eine weißmagische Bombe?« fragte Peter Winslow ablehnend. »Das klappt hier nicht.« »Keine Bombe«, erwiderte Harvey hastig. »Wenn diese Dinger explodieren, setzen sie keine sichtbaren Kräfte frei. Zumindest wir sehen nichts davon. Untote aber werden davon so geblendet, daß sie sich nicht mehr orientieren können. Ich habe hier vier Stück für Sie, Sir! Die Frage ist nur, wie Sie diese Blendbomben an die Galgen heranbringen. Ihre Wirkung dauert nur ungefähr zehn Sekunden an. So lange brauchen sie aber mit den Kents von den Galgen hierher zu uns. Wir werden dann die Zombies entsprechend empfangen.« Peter griff sich an den Kopf. Er zermarterte sein Gehirn nach einem brauchbaren Plan. Von dem besetzten Strandstück hörten sie wilde Schreie. Die Zom-
bies drängten ihre Opfer an die Galgen heran. Das sah man deutlich, weil die Galgen auf einem Sandhügel errichtet worden waren. Die Zeit drängte. Peter schätzte, daß es in einer Minute zu spät sein würde. »Los!« schrie er seine Helfer an. »Zerreißt meine Kleider! Macht schon!« Sie verstanden nicht, was er vorhatte, aber sie zerfetzten ihm die Kleider am Leib. Peter stürzte sich in die eisigen Fluten und wälzte sich anschließend im Sand. Danach war er von lebenden Leichen kaum zu unterscheiden. Nur seine Augen konnten ihn verraten. Er stopfte sich die Blendbomben in die Taschen und rannte los. Nur mit den Bomben und seiner Pistole ausgerüstet, hetzte er über den Strand. Sie hatten Wachen aufgestellt, doch diese Untoten beachteten Peter Winslow nicht. Er sah aus wie einer von ihnen, als wäre er eben dem Meer entstiegen. Dann erreichte er die Masse der Zombies. Sie schüttelten die Fäuste gegen die Kents, die schon unter den Galgen standen. Die vordersten Zombies griffen nach den Schlingen, um den Mord zu vollenden. Peter erhaschte einen Blick auf die Mitglieder der Familie Kent. Sie waren nicht voll bei Bewußtsein. Ihre Gesichter waren starr und teilnahmslos. Ein Glück für sie, dachte Peter und rammte den umstehenden Untoten die Ellbogen in die Seiten. Er bahnte sich rücksichtslos einen Weg nach vorne. Nur nicht daran denken, daß er jetzt unter Hunderten von Zombies eingekeilt war! Er erreichte dank seiner überlegenen Kräfte die vorderste Reihe. Vier besonders große Untote schwangen die Henkersschlingen. Die Opfer waren wehrlos!
Peter holte in fiebernder Eile die Bomben hervor, machte sie scharf und warf sie unter die Galgen. Alle Zombies blickten in diese Richtung. Hier konnten die Bomben die größte Wirkung erzielen, falls sie überhaupt etwas taugten. Sie platzten. Peter stöhnte leise vor Entsetzen. Es geschah gar nichts! Die vier Bomben lösten sich auf, ohne daß er etwas sah. Harvey hatte versagt! Gleich darauf leistete er Harvey im Stillen Abbitte. Er selbst merkte zwar noch immer keine Veränderung, doch die Zombies gerieten in Panik. Zum ersten Mal zeigten lebende Leichen Gefühle. Sie krümmten sich zusammen, taumelten, stürzten zu Boden. Einige zerfielen zu Staub, andere schlugen auf ihre Artgenossen ein. Wieder andere wankten ziellos herum. Peter nutzte die günstige Gelegenheit. Er stürmte vor. Und er dachte an die eng begrenzte Wirkung dieser weißmagischen Bomben! Die vier Familienmitglieder erwachten aus ihrem Trancezustand. Es geschah aber vor allem bei den beiden Kindern so langsam, daß sie nichts von dem Schrecken am Strand mitbekamen. Peter versetzte den Eltern einen harten Stoß. »Lauft!« schrie er sie an und zeigte ihnen die Richtung. Er packte die beiden Kinder an den Armen und zerrte sie mit sich. Sie liefen um ihr Leben. Die Zombies sammelten sich wieder. Sie überwanden die Auswirkungen und waren den Flüchtigen auf den Fersen. Peter sah die Helfer von Sagon Manor vor sich und bog mit den Geretteten ein Stück zur Seite, um aus der Schußlinie zu geraten. Für einen Moment wandte er den Kopf. Dutzende Zombies waren ihnen dicht auf den Fersen, als Lord Hubbard und die anderen das Feuer eröffneten.
Es dauerte zwei oder drei Minuten, dann war der Strand leergefegt. Nur die vier Galgen auf dem Sandhügel erinnerten an den Schrecken, der sich hier abgespielt hatte. Das Entsetzen stand den Geretteten ins Gesicht geschrieben. Peter Winslow wollte etwas sagen, doch er verzichtete darauf. Er deutete nur auf die Wagen. Sie stiegen ein und fuhren nach Sagon Manor. Das war jetzt der beste Platz der Welt, um sich zu erholen. Der einzige Ort, an dem sie vor den Kräften des Bösen für eine Weile sicher waren. ENDE
Tödliche Spinnen von Frank deLorca Ein Mann wird besinnungslos und an der Schwelle zum Tode aus dem Ozean gefischt. Obwohl er nur eine leichte Verletzung am Hals, einen gezackten, blutigen Striemen, aufweist, sind seine Sinne verwirrt, sein Körper gelähmt. Immer wieder wird er von Anfällen heimgesucht, wehrt sich gegen irgend etwas Grauenhaftes. Was es mit diesem Mann und seiner rätselhaften Krankheit auf sich hat, wissen nur wenige Menschen – und die hüten sich davor, das Geheimnis zu lüften. Sie haben Angst. Denn der Zorn des Dämons Rawana ist schrecklich …