MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 151
Zu fernen Ufern von Susan Schwartz
Du stehst vor den Trümmern deines Leb...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 151
Zu fernen Ufern von Susan Schwartz
Du stehst vor den Trümmern deines Lebens, und das schon
zum zweiten Mal. Wieder musst du von vorne anfangen. Aber
diesmal kennst du wenigstens die Regeln, die da lauten:
Du bist ein Fremder unter Fremden, als ihr Gefangener.
Die Welt ist nicht mehr die deine. Du bist ein Heimatloser:
keine Familie, keine Freunde, keine Gefährten.
Du bist allein. Vielleicht der Letzte deiner Zeit.
Du hast nichts außer deinem Leben. Bewahre es gut.
Commander Matthew Drax kauerte sich auf den Boden des
marsianischen Raumschiffs und ließ den Kopf auf die Knie
sinken. Er atmete schwer.
Und wartete auf den Start.
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch eine Art Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa'muren, mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Der Krieg ist beendet – und keine Seite hat den Sieg davongetragen. Die Menschen konnten die Zündung der Bombenkette, mit der die Daa'muren den Antrieb ihrer Raumarche reaktivieren wollten, nicht verhindern – aber durch die Sabotage von Professor Dr. Jacob Smythe ging nur ein Teil der Bomben hoch. Die Strahlung reicht nicht aus, um den Wandler neu zu starten... und trotzdem wurde etwas in Gang gesetzt, das nun einen ständigen Elektromagnetischen Impuls über die ganze Erde ausstrahlt und sogar bis in die abgeschirmten Bunker dringt. Ein Impuls, der alle Technik auf Dauer zerstört und die Menschen zum zweiten Mal in ein düsteres Zeitalter stürzt! Für Matthew Drax, der zusammen mit der Cyborg Naoki Tsuyoshi von der Internationalen Raumstation aus die Truppen am Boden unterstützte, bedeutet dies, nie mehr zur Erde zurück
zu können. Er fliegt zum Mond, in der Hoffnung, dort so lange zu überleben, bis der EMP versiegt – und trifft auf einen Vorposten von Marsianern! Keine Außerirdischen, sondern die Nachfahren einer Expedition vor über 500 Jahren, die inzwischen den Mars bewohnbar gemacht und eine eigene Zivilisation erschaffen haben. Bislang war man davon überzeugt, auf der Erde nur Barbarei und mutierte Kreaturen anzutreffen; nun erfährt man dank Matthew von den Geschehnissen dort. Eine weitere Überraschung: Naoki ist die Blutsverwandte einer der ersten Siedlerinnen: Akina Tsuyoshi! Doch Naoki liegt im Sterben; der EMP hat ihre bionischen Implantate beschädigt. Während die Marsianer den Heimflug antreten und Matt gegen seinen Willen mitnehmen, regen sich auf der Erde die Besiegten. Dank daa'murischer Vorsorge halten sich radioaktiver Niederschlag und Verdunklung in Grenzen, aber die Menschheit – vor allem die Technos – muss bei Null beginnen. Aruula, die im Augenblick der Explosion die Vision eines brennenden Felsens empfangen hat, macht sich auf den Weg nach Südosten – zum »Ort des Neubeginns«...
Auf dem Mars, sechzig Tage zuvor »Wann kann ich mit ihm sprechen?«, drängte Beta Khalem Braxton. »Bald, Dame Rätin Braxton«, antwortete Maya Joy Tsuyoshi freundlich, obwohl es innerlich anders in ihr aussah. Sie war in den letzten Jahren zwar deutlich ruhiger geworden und hatte ihr Augenmerk vorwiegend auf die Wissenschaften gerichtet; ihre Abneigung gegen die Politik hatte sich jedoch nie gemildert. Dabei hätte sie voraussehen können, wie es diesmal kommen würde. Vor sieben Marsjahren hatte die Expedition unter Mayas Leitung die Mondbasis zum ersten Mal betreten und wieder in Betrieb genommen. In den folgenden Jahren war die Station erweitert worden und diente hauptsächlich wissenschaftlichen Forschungen. Es war also kein Wunder, dass der Rat sich nach dieser Zeitspanne selbst ein Bild machen wollte, und der Jungfernflug der PHOBOS schien dafür genau der richtige Zeitpunkt zu sein. Die PHOBOS besaß eine deutlich verbesserte Technik gegenüber der DEIMOS und der inzwischen ausgemusterten CARTER; nicht zuletzt dank der gelungenen Züchtung von Trilithium-Kristallen, die hervorragende Energiereserven garantierten. Die Flugzeit zwischen Mars und Mondstation hatte sich verringert, ebenso der Treibstoff-Verbrauch. Die Länge der PHOBOS betrug nur rund siebzig Meter, bot jedoch Platz für fünfundzwanzig Personen und allerhand Annehmlichkeiten. Natürlich hatte Maya versucht, dem Rat das Vorhaben auszureden – für Passagiere sei man noch nicht bereit, die körperlichen Anforderungen nach wie vor sehr hoch. Der Gedanke, auf Schritt und Tritt überwacht zu werden, behagte ihr überhaupt nicht. Nicht alle im Rat waren ihr gegenüber wohlwollend eingestellt, trotz ihres hohen Rangs als Tochter der ehemaligen Präsidentin.
Mayas Argumente brachten aber keinen Erfolg. Vor allem Präsidentin Cansu Alison Tsuyoshi verlangte jetzt eine genaue Überprüfung, um festzustellen, ob das Raumfahrtprogramm rentabel genug war, weiterbetrieben zu werden. Oder ob es nicht eher ein idealistisches Hirngespinst war, das mehr Ressourcen kostete, als dass es Nutzen brachte. Hinzu kam, dass sich Maya und ihre Cousine Cansu noch nie besonders gut verstanden hatten. Das belastete zusätzlich das Projekt. Der Rat war sich uneins. Die eine Hälfte neigte der Präsidentin zu, die Aufwendungen für die Raumfahrt besser auf dem Mars einzusetzen. Die anderen sahen eine Chance auf Fortschritt, der in der Zukunft weitere Errungenschaften erwarten ließ. Außerdem sollte nach diesem Flug entschieden werden, wie mit der Beobachtung der postapokalyptischen Erde weiter verfahren werden sollte. Das hauptsächliche Rätsel, welches das Programm überhaupt ins Leben gerufen hatte, war nämlich immer noch ungelöst: der auf dem Mars entdeckte und auf die Erde gerichtete, wasserartig fluktuierende Energiestrahl der »Alten«, wie die Urmarsianer genannt wurden. Man hatte inzwischen festgestellt, dass dieses geheimnisvolle Phänomen nicht in einer geraden Linie verlief wie etwa ein Lichtstrahl, sondern sich auf seinem Weg durch den Weltraum krümmte, um die Erde länger zu berühren, als es andernfalls möglich gewesen wäre. Über seine Schöpfer, die vor über drei Milliarden Jahren auf einem damals grünen und wasserreichen Mars gelebt hatten, war bis heute kaum etwas bekannt, und über den Strahl noch weniger. Zu bestimmten Zeiten verschwanden Gegenstände oder Lebewesen darin. Unterschritt man eine gewisse Distanz, setzte nach etwa zehn Sekunden ein rapider Alterungsprozess ein, der selbst die Struktur massiven Stahls rasch ermüden ließ. Und die wichtigsten Fragen: Zu welchem Zweck zielte der
Strahl auf die Erde? Welche Funktion hatte er? Und warum funktionierte er nach dieser unglaublich langen Zeit immer noch? »Bisher können wir uns nur aus den Funkberichten von der Mondstation ein Bild über die Erde machen«, erklärte die Präsidentin bei einer Konferenz, an der Maya, der Raumschiffkommandant Leto Jolar Angelis und der Konstrukteur Lorres Rauld Gonzales teilnahmen. Der Start der PHOBOS stand kurz bevor. »Es wird an der Zeit, sich persönlich vor Ort umzusehen.« »Sprich, uns auf die Finger zu schauen«, konstatierte Lorres Gonzales in seiner typisch sarkastischen und direkten Art, »um vermutlich anschließend die gesamte Organisation umzukrempeln.« »Sie fassen gut zusammen, Herr Lorres«, erwiderte die Präsidentin mit honigsüßem Lächeln. Sie war eine sehr junge Frau von bezauberndem Aussehen. Welches darüber hinwegtäuschte, dass hinter der sanften Fassade eine ehrgeizige Politikerin steckte, die Emotionen und Sentimentalität zurückstellte, um ihr Ziel zu erreichen. Sie war kühl und berechnend, und bereit, mit allen Mitteln ihre Machtposition zu halten. Sie hatte keine Freunde und hielt nur wenig Kontakt zu ihrer näheren Familie. Cansu Alison Tsuyoshi gegenüber nahm sich sogar der von den meisten zwar fachlich geschätzte, aber vor allem wegen seines Charakters gefürchtete Lorres Gonzales deutlich zurück. Obwohl er auf jede Art von Autorität geradezu allergisch reagierte, respektierte er augenscheinlich den Status der Präsidentin. Der weiteren Diskussion folgte Maya nur noch mit halbem Ohr. Ihr war es wichtig, endlich wieder hinaus ins All zu kommen. Darauf freute sie sich schon so lange. Dafür würde sie sogar einen Aufpasser in Kauf nehmen.
Später, als die Sitzung vertagt war, sagte Maya: »Was regen wir uns auf?« Sie waren zu dritt in Mayas Wohnbereich des Tsuyoshi-Hauses gefahren. Dort wartete schon Nomi, die gemeinsame Tochter von Maya und Lorres, sehnsüchtig auf die Eltern. Maya und Lorres hatten nie einen Ehevertrag geschlossen und wohnten auch nicht offiziell zusammen. Die beiden führten seit dem ersten Mondflug ein kompliziertes Verhältnis, das von einer eigenartigen Hassliebe geprägt war. Das Kind litt allerdings nicht darunter, denn Lorres vergötterte seine Tochter und war ihr gegenüber ein völlig anderer Mensch. »Wir haben doch gewusst, dass wir eines Tages überprüft werden. Und jeder Zeitpunkt ist so schlecht wie der andere.« »Es hätte ja nicht gerade dann sein müssen, wenn wir wieder zum Mond fliegen«, knurrte Lorres, dessen zugleich aufbrausendes und zynisches Temperament sich in den vergangenen Jahren kaum gemäßigt hatte. »Gerade deswegen«, erwiderte Leto. Er hatte seinerzeit die CARTER, das erste Marsschiff, zum Mond geflogen und sein Können als Pilot mit der geglückten Landung auf der Erde und dem anschließenden Start bewiesen. Seine Fähigkeiten als Kommandant waren auch heute noch beispielhaft, wenngleich ihn die traumatischen Ereignisse auf der Erde verändert hatten. Er war nicht mehr so ausgeglichen und stets optimistisch wie früher, sondern eher misstrauisch und auf Sicherheit bedacht. »Wir sind die Helden der ersten Stunde, vergesst das nicht, und kehren sozusagen zu unseren Ursprüngen zurück. Politisch gesehen ist der jetzige Zeitpunkt der beste, denn mit irgendwelchen Unbekannten macht ein Ratsmitglied doch keine Schlagzeilen.« »Ich bin gespannt, wen sie mitschicken«, sinnierte Maya. Sie sollte es bald erfahren.
Beta Khalem Braxton wurde für den Flug auserwählt. Sie hatte ihre politische Karriere als Beraterin begonnen, kurz nach ihrer Adoption in das Haus Braxton. Heute war sie ein gefürchtetes Ratsmitglied, denn sie war sehr kritisch und stand in ihrem Ehrgeiz der Präsidentin kaum nach. Es war also keine Überraschung, dass ausgerechnet sie den Auftrag erhielt. »Ihr werdet euch doch nicht von ihr einschüchtern lassen«, amüsierte sich Lorres, als die Besatzungsliste ausgegeben wurde, gegenüber Maya und Leto. »Was will sie denn gegen uns ausrichten? Wir haben schon so viel gemeinsam durchgestanden, also überstehen wir auch eine ehrgeizige Sesselfurzerin. Jawies Frohnatur wird schon für eine ausgeglichene Stimmung sorgen, und ich achte darauf, dass sie nicht zu viel herumschnüffelt. Als stellvertretender Expeditionsleiter darf ich das.« Er grinste Maya an. »Nicht wahr, Chefin?« *** Es wurde trotzdem eine harte Bewährungsprobe. Mit der PHOBOS gab es kaum Probleme, von Kleinigkeiten abgesehen, und die übrige Besatzung kam gut miteinander aus. Aber Ratsdame Beta Braxton nahm ihre Aufgabe sehr ernst. Sie mischte sich in alles ein, sah jedem peinlich genau über die Schulter, zitierte pausenlos Vorschriften, die angeblich ständig verletzt wurden, und machte sich bei allen unbeliebt. Das schien sie nicht einmal zu merken, oder es war ihr gleichgültig, weil sie als Politikerin daran gewöhnt war. Sie verfolgte ihr Ziel mit einer Hartnäckigkeit, die selbst Lorres zunächst beeindruckte und ihn schließlich ermüdete, sodass er tatsächlich aufsteckte und fortan versuchte, Beta Braxton aus dem Weg zu gehen. In der Messe, bei den gemeinsamen Mahlzeiten, ignorierte er sie sogar gänzlich. Maya vermutete allerdings, dass er lediglich seine Taktik
geändert hatte: Jemand, der von ihm nicht bemerkt wurde, war niemand. »Es macht keinen Spaß, jemanden anzugreifen, der so glatt und wirbellos ist«, vertraute er Maya an, als sie sich mehr oder minder heimlich in der Aussichtskanzel trafen. Dies war immer noch Mayas bevorzugter Ort der Ruhe, wenn sie sich zurückziehen wollte. Nur ein Einziger hatte jemals gewagt, die Expeditionsleiterin hier zu stören – Lorres, auf dem ersten Flug der CARTER. Seit den frühen Kindertagen hatten sich die beiden gehasst und sich zuerst mit Fäusten, dann mit Worten bekämpft. So auch damals bei jener Nachtwache in der Kanzel der CARTER. Allerdings gingen sie rasch von Wortgefechten zu Handgreiflichkeiten über – und dann zu anderen Dingen, an denen sie heute noch viel Vergnügen hatten und deren erfolgreichstes Ergebnis ein wirbelndes kleines Sandteufelchen namens Nomi war. »Andererseits ist es vielleicht die einzige Möglichkeit, Beta wirklich zu treffen – indem du sie missachtest«, erwiderte Maya. »Es macht trotzdem keinen Spaß«, wiederholte er grinsend. Auf der Mondstation machte Beta Braxton sich nicht gerade beliebter. Als Ratsmitglied hielt sie es für angebracht, über jede einzelne Tagesarbeit genau informiert zu werden und sie »zu genehmigen«. Sie stellte ihre Autorität über die des Kommandanten Leto Jolar Angelis und der Leiterin Maya Tsuyoshi, obwohl sie überhaupt keine Befähigung dazu hatte. Die beiden waren es allerdings längst müde, mit der ehrgeizigen Theoretikerin diskutieren zu wollen. Sie folgten Lorres' Beispiel und begannen sie zu ignorieren. Sie legten ihr Rapporte vor und nahmen Änderungswünsche oder Vorschläge öffentlich zur Kenntnis, änderten aber nichts am Ablauf. Worüber die restliche Besatzung sehr froh war, denn ansonsten wäre die Motivation auf den Nullpunkt gesunken.
Die Ratsdame schickte fleißig Berichte an die Marsregierung, verschlüsselt und auf einer sicheren Frequenz. Was sie allerdings dabei vergaß: Lorres war einer der Entwickler dieses Systems gewesen. Er hatte keinerlei Mühe, alle Berichte herunter zu laden und seinen beiden Freunden zu übergeben. So waren sie alle stets gut informiert und konnten sich entsprechend verhalten. Es sah nicht allzu gut aus für das Raumfahrtprojekt, wie den Berichten zu entnehmen war. Die Forschungen dauerten zu lange, die bisherigen Ergebnisse waren zu dürftig. Auch über die beobachteten Vorgänge auf der Erde – wegen der großen Entfernung nicht allzu detailliert – war Beta Braxton alles andere als erfreut. Keine erkennbare Hochzivilisation, dafür hin und wieder eine Bombenexplosion, wohl von Barbaren versehentlich ausgelöst, die an alten Waffenbeständen herum fingerten. Zur Erde geschickte Sonden übermittelten Bild- und Tonaufnahmen von ins Riesenhafte mutierten Ratten und Heuschrecken und hin und wieder auch einen ungewaschenen Vandalen, in Felle und Leder gekleidet. »Ich kann keine zweite Landung auf der Erde befürworten«, äußerte Beta sich während eines Abendessens. »Sie sehen doch selbst, wie kriegerisch die Erdmenschen sind. Sie stehen weit unter unserem Niveau.« »Vielleicht wäre es dann angebracht, ihnen endlich ein bisschen Fortschritt zu bringen?«, tat Lorres überraschend seine Meinung kund. Alle, selbst Maya, sahen ihn verwirrt und erstaunt an. »Wie stellst du dir das vor?«, fragte Maya schließlich. »Sollen wir als Götter auftreten – und darauf warten, dass uns ein paar Ungläubige schlachten und verspeisen? Oder alle umbringen, die uns ans Leder wollen? Da unten können wir ja nicht mal unsere Anzüge ausziehen, wie sollen wir dann unter den Wilden leben?«
»Gar nicht«, stimmte Leto stirnrunzelnd zu. »Hast du vergessen, was das letzte Mal passiert ist?« »Ich habe es nicht vergessen«, sagte Lorres. »Aber mir gefällt die Rolle des passiven Beobachters nicht mehr. Irgendwas müssen wir tun!« »Richtig«, warf die Ratsdame ein. »Und deshalb werde ich in meinem nächsten Bericht an den Mars empfehlen, diese Station aufzugeben und endgültig auf den Mars zurückzukehren. Wir können hier nichts ausrichten. Dieser primitiven Gewaltbereitschaft sind wir nicht gewachsen. Und wir werden keinesfalls den Frieden mit Waffen erzwingen, falls Sie das im Sinn haben sollten, Herr Lorres. Die Kluft ist bereits zu groß. Wir sollten das bewahren und weiterentwickeln, was wir geschaffen haben, und die Erde ihrem Schicksal überlassen.« Lorres schwieg, aber Maya sah ihm deutlich an, dass er nicht einverstanden war. Auch dies war einer seiner wesentlichen Charakterzüge: Er trampelte zwar gern in seiner bissigen Art auf den Schwächen anderer herum, machte sich über sie lustig und provozierte sie bis zur Weißglut, aber er würde niemanden treten, der schon am Boden lag. Er hatte eine Schwäche für Verlierer. Was er natürlich niemals offen zugeben würde. Leto würde man eine solche philanthropische Ader eher zutrauen. Aber ausgerechnet in diesem Punkt war er einer Meinung mit Beta Braxton, die Erde wie einen faulen Apfel den Maden zu überlassen. Maya hatte ihn nie gefragt, warum er heute noch so verbittert war. Die Entscheidung schien also gefallen, dennoch riet Maya der Ratsdame, mit der Absendung der Empfehlung noch etwas zu warten und sich zuerst ein umfassendes Bild von der Erde und den Forschungen auf der Mondstation zu machen. »Ich bitte Sie nur, alle Faktoren zu berücksichtigen, Dame Rätin. Eine vorschnelle Entscheidung könnte später bereut werden.«
Genau einen Tag später landete der Erdenmensch Matthew Drax, von seinen irdischen Barbarenfreunden Maddrax genannt, auf dem Mond. Und mit ihm eine sich im Koma befindliche Frau namens Naoki Tsuyoshi. *** Die Ratsdame hatte darauf bestanden, umgehend mit dem Mann aus der Vergangenheit zu sprechen. Nur mit vielerlei Tricks – »Kontaminationsgefahr, Klärung der Identität, Verhör-Richtlinien« und so weiter – gelang es Maya, Beta Braxton zwei Erdtage lang außen vor zu halten. Doch jetzt, kurz vor dem Start zum Mars, war die Ratsdame kaum mehr zu halten. Sie ließ ihr Gepäck an Bord der PHOBOS bringen und verkündete, ebenfalls mit zu fliegen, um den Gefangenen persönlich dem Rat zu übergeben. »Und ebenfalls Dame Naoki Tsuyoshi«, fügte sie hinzu. Dagegen konnten weder Leto noch Maya etwas einwenden. Aber Leto warnte Maya, bevor er sich für eine kurze Zeit verabschiedete: »Halte sie von Commander Drax fern, Maya! Diese Frau ist zu allem fähig. Sie wird versuchen, ihn für ihre politischen Pläne zu gewinnen!« »Keine Sorge. Wir werden ihn gleich nach dem Start einfrieren, dann gibt es weder Unruhe noch Diskussionen«, erwiderte Maya. Sie deutete auf das irdische Shuttle, mit dem Matthew Drax gelandet war; im Vergleich zur PHOBOS war es klein und schlank, mit großen Flügeln. Zierlich wie ein Silbervogel. »Und du willst das Ding wirklich fliegen?« Leto zuckte die Achseln. »Klar. Die Bedienung ist nicht schwer. Schließlich stammt es aus der Zeit der BRADBURY.« »Du bist mutiger, als ich dachte«, meinte Maya. Sie klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Dann beweise mal dein Können, Pilot!«
»Achte du lieber darauf, dass Lorres den Absprung vom Mond schafft«, versetzte er grinsend. »Und sag ihm, wenn ich auch nur einen Kratzer an der PHOBOS entdecke...« »Ja, ich weiß!«, unterbrach sie lachend. »Ihr wird schon nichts geschehen, das hat er mir versichert.« »Will's hoffen! Sag ihm, das ist ein Männerwort !« Leto wirkte nicht gerade glücklich, sein Schiff den Händen eines anderen überlassen zu müssen; doch er machte sich auf den Weg zur Queen Victoria. Es war vereinbart, das Shuttle an einem vereinbarten Rendezvouspunkt noch vor der Beschleunigungsphase an die PHOBOS anzudocken und mit zum Mars zu nehmen. Ein, wie nicht nur dieser irdische Commander gewarnt hatte, ziemlich riskantes Unternehmen. Aber das Shuttle – vor allem sein Antrieb und die Datenbanken – war wertvoll, es sollte nicht auf dem Mond verstauben. Die im Koma liegende Naoki Tsuyoshi war als Erste auf die vorbereitete Quarantäne-Station gebracht und an die Lebenserhaltungssysteme angeschlossen worden. Jawie hatte Drax bereits an Bord in Empfang genommen. Neben der Ratsdame, Leto, Jawie, Maya und Lorres flogen als Begleitung noch Palun Saintdemar und Merla Gonzales mit. Palun war Mediziner, der sich vorwiegend mit der Erforschung irdischer Krankheiten und der Blutzusammensetzung beschäftigte. Merla diente Lorres als technische Assistentin; sie war maßgeblich am Bau der PHOBOS beteiligt gewesen. Der restliche wissenschaftliche Stamm sollte die Arbeit auf dem Mond wie gehabt fortsetzen, bis die DEIMOS zum Austausch eintraf. Lorres hatte sich in die Steuerzentrale zurückgezogen und war mit den Startvorbereitungen beschäftigt. Jawie hatte Maya in der Messe gerade wegen Drax angesprochen, als Ratsdame Beta Braxton hereinstürmte. »Ist es jetzt endlich möglich, mit ihm zu sprechen, bevor er eingefroren wird?«
Maya zögerte. Einerseits wäre es einfach gewesen, Matthew Drax sofort auf Eis zu legen. Andererseits musste er zumindest bis zum gelungenen Andockmanöver wach bleiben, denn er war der Einzige, der in einer Gefahrensituation Leto im Shuttle mit seinem Wissen unterstützen konnte. Außerdem verstand Maya seine Bitte, der Erde beim Vorbeiflug noch einmal Lebewohl sagen zu dürfen. Bei allem Misstrauen durften die Marsianer nicht so grausam sein, einen Menschen seiner Welt zu entreißen, ohne ihm die Möglichkeit des Abschieds zu geben. Immerhin waren sie zweifellos zivilisierter als die heutigen Bewohner der Erde. »Bitte warten Sie ab, bis wir in die Beschleunigungsphase getreten sind«, entschied Maya. »Als Passagierin müssen Sie in dieser Zeit ohnehin angeschnallt auf Ihrem Sitz bleiben, aus Sicherheitsgründen. Anschließend werden noch einige Untersuchungen an dem Erdmenschen notwendig sein, um sicher zu gehen, dass er die Reise gut übersteht. Wir wollen ihn schließlich lebend und bei bester geistiger und körperlicher Gesundheit dem Rat präsentieren. Dann aber steht er zu Ihrer Verfügung.« Beta überlegte. »Gut«, sagte sie. »Ich lasse mich noch einmal hinhalten, weil Sie so schön die Dienstvorschrift zitieren, und weil wir genug Zeit auf der Reise haben. Denn wann Drax eingefroren wird, bestimmt immer noch der Rat.« Dann trat sie nahe an Maya heran. Sie war deutlich kleiner als die hoch gewachsene Tsuyoshi-Geborene, ihre Gesichtszüge nicht so fein modelliert. Beta Braxtons ursprüngliche Familie lebte auf einer Farm in der Nähe von Elysium und war seit Jahrzehnten dem harten, kargen Leben dort draußen angepasst. Doch den fehlenden Adel machte die Braxton-Adoptierte durch Intelligenz und Ehrgeiz wett. Drohend hob Beta Braxton einen Finger. »Aber ich sage Ihnen eines: Sollten Sie ihn einfrieren, bevor ich mit ihm
sprechen konnte, werden Sie erhebliche Schwierigkeiten bekommen, Dame Maya! Meine Geduld ist erschöpft.« »Selbstverständlich, Dame Rätin«, stimmte Maya in zuvorkommendem Tonfall zu. »Dies ist für uns alle eine extreme Situation, die uns verständlicherweise in Aufregung versetzt. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie Drax vernehmen können, sobald sich eine Möglichkeit ergibt.« *** Nachdem die Ratsdame unterwegs zu ihrem Sitz im Passagierraum hinter der Steuerkanzel war, wandte Maya sich Jawie zu. »Wie geht es Drax?« »Ich glaube, er ist ziemlich verzweifelt«, antwortete die entfernte Verwandte. »Wir sollten zumindest seinem Wunsch entsprechen, die Erde noch einmal zu sehen.« »Ich bin einverstanden«, sagte Maya. »Aber hier in der Steuerkanzel muss er Handschellen tragen. Wir dürfen keinerlei Risiko eingehen.« »Ich werde sie ihm anlegen«, versprach Jawie. Maya musterte kurz das Outfit der jungen Frau. Jawie färbte sich gern die kurzen Haare in knalligen Farben – momentan war Rot dran – und trug mit Vorliebe Kleidung, die viel nackte Haut sehen ließ; so auch heute. »Du solltest vielleicht etwas Formelleres anziehen«, schlug sie vor. »Vergiss nicht, der Mann ist ein Primitiver. Nicht, dass du ihn noch erregst.« »Dich hat er bei den Verhören ja wohl am allerlängsten angeschaut, Maya«, versetzte Jawie gut gelaunt. »Männer sind eben überall gleich, ob auf dem Mars oder auf der Erde.« »Ich möchte es nur nicht zu unnötigen Komplikationen kommen lassen, also sei so lieb, ja?« Jawie winkte ab. »Ich habe verstanden, große Schwester!«, spottete sie. »Übrigens, da wir gerade bei Komplikationen sind:
Hast du die Nachricht an den Mars abgeschickt, dass wir unterwegs sind, und mit welcher Fracht?« »Äh... teilweise«, antwortete Maya ausweichend. »Ich habe entschieden, dass wir noch kein Wort über die Dame Naoki Tsuyoshi verlieren. Zum einen ist fraglich, ob wir sie lebend zum Mars bringen können; also wäre es falsch, zu große Erwartungen zu wecken. Zum anderen kann die Ankunft einer fünfhundert Jahre alten Tsuyoshi von der Erde Unruhe in den fünf Häusern auslösen.« »Verstehe. Ich stimme dir zu. Glaubst du, dass sie wirklich eine von unserem Blut ist? Dass ihre Linie bis zur Gründerin Akina Tsuyoshi zurückgeht?« (Anm.: Akina gehörte zu den ersten Siedlern auf dem Mars) »Ich... weiß es nicht.« »Aber du wünschst es dir?« Maya nickte. Jawie rieb sich die Nase. »Tja, dann werde ich auf alle Fälle versuchen, mehr über sie herauszufinden. Vielleicht kann uns ihr kristalliner Datenträger Auskunft geben. Wir sollten versuchen, ihn mit Hilfe des Bordcomputers zu entschlüsseln.« »Darüber entscheiden wir noch. Am besten wäre es natürlich, Naoki würde erwachen. Als angeblich Unsterbliche könnte sie uns alles über die dunklen Jahrhunderte der Erde berichten. Fünfhundert Jahre Erdzeit, zweihundertfünfzig Marsjahre... faszinierend.« »Tja, dann verkünde ich Drax jetzt erst mal die Botschaft, dass wir nett zu ihm sind«, sagte Jawie und verschwand. Maya machte sich auf den Weg in die Steuerzentrale. Sie dachte ständig über den Mann von der Erde nach. Er hatte ihnen einige überaus fantastische Geschichten aufgetischt, bei denen sie nicht sicher war, ob es sich um die Wahrheit oder um Lügen handelte. Immerhin wusste er viel aus der Zeit vor dem Start der BRADBURY, und sein Englisch war dasselbe, wie sie es aus den uralten Aufzeichnungen des Gründers John
Carter kannten. Im Gegensatz zu dem Idiom, das heute auf dem Mars gesprochen wurde, lag seine Satzbetonung anders und er benutzte viele unbekannte Redewendungen. Vor allem seine ironischen Zitate ärgerten Maya, weil sie nie wissen konnte, ob er sich nicht vielleicht über sie lustig machte. Aber auch Drax hatte keine Ahnung, was es mit dem Strahl der Alten auf sich hatte, und seine Erklärung, dass außerirdische Invasoren den Untergang der Erde eingeläutet hatten, klang einfach zu absurd. Suchte er nicht vielleicht nach einer Entschuldigung dafür, dass er sich zusammen mit der Cyborg auf diese uralte Raumstation im Orbit abgesetzt hatte, während die Erde in einem neuerlichen Krieg unterging? Welche Motive hatte dieser Mann? Wer war er wirklich? *** »Du kommst gerade recht«, sagte Lorres und deutete durch die linke Panoramascheibe. Mit klopfendem Herzen sah Maya, wie das irdische Space Shuttle startete. »Leto ist ein echter Sandteufel«, sagte sie bewundernd. »Ich hätte nie im Leben gedacht, dass er das schafft!« »Ja, erstaunlich«, brummte Lorres zustimmend. »Dann wollen wir es ihm mal gleichtun.« Er zündete das Starttriebwerk und machte eine Durchsage, dass alle ihre Plätze einnehmen und sich anschnallen sollten. Hoffentlich hat jemand an Drax in der Druckkammer gedacht, fuhr es Maya durch den Kopf. Dann fiel ihr ein, dass Jawie noch einmal zu ihm gegangen war. Sie hatte ihn bestimmt auf einen der dort befindlichen ausfahrbaren Notsitze geschnallt. »Enttäusche Leto bloß nicht!«, stieß sie etwas atemlos hervor. Bisher hatte Lorres als Co-Pilot fungiert. Aber er war der Erbauer der Raumschiffe, er sollte sie also bis ins Innerste
kennen, was mangelnde Pilotenfähigkeiten ausgleichen mochte. »Alle Systeme bereit«, meldete der Schiffscomputer. Seine Stimme klang absolut neutral, weder männlich noch weiblich. »Das ist doch eine meiner leichtesten Übungen«, versetzte Lorres gelassen. »Die PHOBOS kann es fast allein, ich achte nur darauf, dass alles klappt.« Mit der CARTER waren Start und Landung noch jedes Mal eine Tortur gewesen; mit den neuen Systemen konnte man dem entspannt entgegensehen. Auch das Schwerefeld blieb die ganze Zeit über aktiv. Durch die hochleistungsfähigen Dämpfer spürte man kaum mehr die Beschleunigungskräfte. Mit einem gewaltigen Feuerstoß machte sich die PHOBOS auf den Weg Richtung Erde, um sich erst mit der Queen Victoria zu vereinigen und anschließend das Schwerefeld der Erde für eine energiesparende Beschleunigungsphase zu nutzen. »Wie wollt ihr das Andockmanöver vornehmen?«, fragte Maya, als der Mond unter ihnen rasch kleiner wurde. »Wir werden die Computer synchronisieren«, antwortete Lorres. »Ich habe mich bereits eingeklinkt, das sollte problemlos funktionieren. Es ist ein altes, sehr einfaches, aber effizientes System. In der BRADBURY gab es ein ganz ähnliches.« »Und es gibt keine Probleme mit den Wabencontainern, in denen die Segel unter-«, fuhr Maya fort, doch Lorres unterbrach sie: »Wir haben genug Platz, wenn wir beide Schiffe an den Unterseiten andocken. Der einzige Nachteil ist, dass Leto nicht von Schiff zu Schiff wechseln kann, weil es dort keine Schleusen gibt. Er muss also raus und im Anzug durchs All spazieren. Aber die nächste Schleuse der PHOBOS ist nur wenige Meter entfernt, das klappt schon.«
Maya rieb sich nervös den linken Unterarm. Immer klang alles so einfach, wenn Lorres etwas erklärte. Doch würde es auch dabei bleiben? *** Bei den vereinbarten Koordinaten wartete die QUEEN VICTORIA bereits, und Leto meldete sich über Funk. »Verdammt eng hier drin!«, beschwerte er sich. »Wie in unseren Anfangszeiten. Es kommt mir so vor, als wäre ich schon Tage hier drin und nicht erst Stunden. Das Vögelchen ist ziemlich angeschlagen, aber bis jetzt hat es sich brav gehalten. Ich würde allerdings von einem längeren Ausflug abraten.« »Gut, Leto, dann schalte den Computer frei und lass mich zu dir.« Lorres gab Befehle über das Tastenfeld ein und betrachtete angestrengt die Bildschirmanzeigen. Schließlich rief er zufrieden: »Na also! Da bist du ja. Zwei Computerherzen schlagen im selben Takt.« »Ich melde Zugriff auf alle Kontrollen des Shuttles«, meldete das System der PHOBOS. »Initialisiere AndockSequenz. Bitte auf Automatik umschalten.« »Kann ich deinem Programm vertrauen?«, kam es von Leto ein wenig krächzend per Funk. »Du weißt, ich würde lieber –« »Auf Handbetrieb gehen, ich weiß«, unterbrach Lorres ungeduldig. »Aber so genau kannst nicht einmal du zielen, kurzsichtiger alter Freund. Vertrau mir einfach und beobachte gut, das ist jetzt mein Lehrstück.« Mayas Hände umkrampften die Armlehnen. Sie kaute unentwegt auf der Unterlippe, und obwohl sie sich einerseits vor dem Blick nach draußen scheute, starrte sie doch gebannt auf die Hologramm-Projektion, die das Andockmanöver aus verschiedenen Blickwinkeln zeigte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Mit zeitlupenhafter Geschwindigkeit näherten sich PHOBOS und QUEEN
VICTORIA an. Immer wieder musste Lorres korrigieren; die Schubdüsen arbeiteten abwechselnd auf Volllast. Leto schwieg die meiste Zeit über. Nur zweimal gab er Korrekturaufforderungen durch. Maya konnte sich vorstellen, wie es dem Kommandanten in der engen Flugkanzel des alten Shuttles ergehen mochte. Hilflos auf andere angewiesen... wahrscheinlich wünschte er sich, vorher ausgestiegen zu sein und aus der Entfernung beobachten zu können. »Bin fast da«, sagte Leto schließlich. So klang es auch; als ob er aus dem Passagierraum funkte. »Andockklammern sind ausgefahren, siehst du sie?« »Ja, ziemlich nahe. Vermutlich werden sie gleich das Shuttle aufbohren und in tausend Stücke reißen. Was hast du dir dabei gedacht, solche monströsen Dinger einzubauen?« »Vorausschau, mein Lieber. Eigentlich sind sie für unsere eigenen Raumfähren gedacht, aber mit ein paar Spezifizierungen am Shuttle passt das schon.« Maya wusste, dass Lorres bei aller Schnoddrigkeit stets auf höchste Sicherheit bedacht war. Als Konstrukteur der Raumschiffe wusste er, welche Verantwortung auf ihm lastete. Deshalb hatte er stets mit der Möglichkeit gerechnet, dass man eine zweite Landung auf der Erde beschloss. Einen Atmosphärenflug wie damals mit der CARTER wollte aber niemand mehr riskieren, dafür waren die marsianischen Raumschiffe viel zu plump und schwer. Deshalb hatte bereits die DEIMOS Andockklammern besessen, um eine Fähre mitzunehmen, die für den Atmosphärenflug besser ausgelegt war. Schließlich gingen ein heftiger Schlag und ein dumpfes Dröhnen und Vibrieren durch die PHOBOS. Die Anzeigen blinkten kurzzeitig Alarm und ein Warnton erklang. Doch schon wenige Sekunden spätermeldete das PHOBOS-System Check-in. Das verabredete Zeichen für Leto, überzuwechseln. »Pass auf dich auf«, flüsterte Maya.
»Das ist wirklich nur noch ein Spaziergang«, erwiderte Lorres und schaltete auf eine Innenkamera um. »Schau, das Empfangskomitee ist schon da.« Maya konnte beobachten, wie Leto, gesichert durch eine Leine, Richtung Schleuse schwebte. Dort wartete Merla im geschlossenen Anzug. Sie fing die ausgestreckte Hand des Kommandanten ein, zog ihn zu sich ins Innere und kappte die Sicherungsleine, während sich das Außenschott schloss. Bald darauf fand sich Leto in der Zentrale ein, sichtlich erschöpft, aber guter Laune – erheblich besser als in den letzten Tagen. »Mich wundert, dass Beta nicht gleich mit hereingestürmt ist«, sagte Maya verwundert, nachdem sie Leto glücklich umarmt hatte. »Oh, daran bin ich schuld«, sagte Lorres breit grinsend. Er erhob sich aus dem Kommandantensessel und bot ihn mit übertriebener Geste Leto an. »Sie kam zu mir, weil sie Sorge hatte, raumkrank zu werden. Beim letzten Start ist ihr wohl ziemlich übel geworden. Und wie es der Zufall so wollte, konnte ich ihr helfen.« Maya kam ein Verdacht. »Was hast du ihr gegeben?« »Paraxytamol«, gestand er freimütig. »Aber das ist doch ein –« »Ein ziemlich starkes Schlafmittel, ganz recht! Aber nur eine ganz kleine Dosis. In ein paar Stunden wird sie wieder unausstehlich munter sein.« »Es geht ihr gut«, bestätigte Leto. »Sie hing in ihrem Sessel und schnarchte, als ich an ihr vorbeikam. So entspannt wirkt sie fast sympathisch.« Der Bordfunk knackte. »Wann erreichen wir die Erde?«, erklang Jawies helle Stimme. »Unser Gast wird ungeduldig.« Leto musterte Maya. »Ich denke, der ist eingefroren?« Maya erklärte es ihm. Die Stirn des Kommandanten legte sich kurzzeitig in Falten. Dann nickte er. »Sobald wir volle
Sicht haben, kann sie ihn herbringen. Palun soll bei Dame Naoki bleiben, ich denke, wir werden als Bewachung ausreichen.« *** Plötzlich war Jawie wieder da. Matthew Drax hatte den Start halb im Dämmerzustand verbracht. Die Anstrengungen der letzten Tage machten sich bemerkbar. Obwohl er auf der Mondstation zum Schlafen gekommen war, hatte er sich nicht wirklich erholt. Die junge Marsianerin löste seine Gurte. »Kommen Sie, es ist so weit. Leider muss ich Ihnen Handschellen anlegen; ich hoffe, Sie verstehen das. Aber Maya gestattet Ihnen dafür, von der Zentrale aus Lebewohl zu sagen. Von dort hat man den besten Blick auf die Erde.« »Danke«, konnte Matt nur sagen. Er ließ sich die Hände auf den Rücken fesseln. Das machte die Bewegungen in dem klobigen Anzug, den man extra auf seine Maße gestutzt hatte, nur noch schwieriger. Dass er ihn immer noch tragen musste, lag an den Bakterien, die sich in und auf seinem Körper tummelten. Da das Immunsystem der Marsianer nicht auf irdische Viren eingestellt war, würde bereits ein Schnupfen sie vermutlich umbringen. Auch der Kommandant trug, wie er kurz darauf feststellte, nach wie vor den Anzug mit Exoskelett. Besaß der Mann vielleicht nicht genug Rückgrat? Doch es lag wohl eher daran, dass er die QUEEN VICTORIA geflogen war und sich noch nicht umgezogen hatte. Seine Anwesenheit an Bord der PHOBOS zeigte Matt, dass das Koppelmanöver wohl geklappt hatte. Auch Maya Tsuyoshi und Lorres Gonzales waren in der Zentrale anwesend, und Matt stellte erneut fest, dass diese Leute bei aller Unterschiedlichkeit ähnliche Pigmentmuster auf
der hellen Haut aufwiesen – offenbar ein Merkmal aller Marsianer. Darüber hinaus waren sie feingliedrig – bis auf Lorres vielleicht, der etwas grobschlächtiger wirkte –, und um einiges größer als er. Eine weitere Auffälligkeit war der vorgewölbte Brustkorb, typisch für die Anpassung an eine dünne Atmosphäre. Und die bei allen gleich geformte Nase: sehr schmal und gerade, aber mit großen Flügeln, die sich häufig bewegten. Eine interessante Evolution, die irritierend fremdartig war. »Bitte sehr, Commander.« Lorres grinste Matt von oben herab an und winkte ihm, näher zu kommen. »Sehen Sie es sich genau an, was Sie und Ihre Leute dort unten angerichtet haben.« Er setzte sich in Bewegung, als Matt ganz vorn bei ihm angekommen war. »Allerdings müssen Sie mich entschuldigen, solche Anblicke schlagen mir aufs Gemüt.« Er verließ die Zentrale, und Maya ging mit ihm. Matt war fast allein. Er wusste den Kommandanten hinter sich, der vermutlich nur auf eine falsche Bewegung von ihm wartete. Und Jawie, die ihn intensiv beobachtete, das konnte er spüren. Für sie war er ein interessantes Schauobjekt, lebendig gewordene Historie. Die beiden waren in diesen Momenten aber uninteressant für ihn, ebenso die leuchtenden Anzeigen und Tastenfelder der Raumschiff-Konsolen. Matt schaute durch das Fenster, und eine eisige Hand schien sich um seine Herz zu krallen. Der Ozean schimmerte blau. Ein paar weiße Wolken zogen darüber. Ein Bild, das Matt vertraut war. Bis hierher. Das übrige farbenprächtige Schauspiel jedoch hatte er so noch nicht gesehen. Und es trieb ihm die Tränen in die Augen, da er es so bewusst, ohne Ablenkung, erblickte. Zusammengefasst konnte man sagen, dass ganz Eurasien in die Luft geflogen war. Unter einem grauen Dunstschleier entdeckte Matt gewaltige Flammenherde, mit glühenden
Zentren und orangeroten Verwerfungen an den Rändern. Kaum eine Stelle, wo dichte Wolken aus Rauch und Dreck ihm nicht die Sicht auf den Boden verwehrten. Ob die Erde jemals wieder geheilt werden konnte? Matt glaubte in diesem Moment nicht daran, so schrecklich sah es aus. Das Bild brannte sich in seine Netzhaut, sein Gedächtnis, und vermutlich würde es ihn sogar bis in seine Träume verfolgen. Die Auswirkungen des Einschlags von »Christopher-Floyd« vor fünfhundertneun Jahren hatte er durch seinen Zeitsprung verpasst, doch diesmal musste er die Folgen der neuerlichen Katastrophe sehen – live, unmittelbar. »Es tut mir Leid...«, flüsterte Matthew Drax, und die Entschuldigung galt allen dort unten, die gestorben waren, während er selbst überlebt hatte. Und jenen, die die Auswirkungen der Bombenexplosion nun unmittelbar erleben würden: die verdunkelte Sonne, die frostigen Temperaturen, der radioaktive Fallout... und nicht zuletzt die Herrschaft der Daa'muren, falls diese ihr Ziel erreicht hatten. Er konnte es nicht überprüfen. Die Funkgeräte waren allesamt durch den bleibenden, pulsierenden EMP ausgefallen, und die Wolken ließen eine Observierung der Erdoberfläche nicht zu. Ein hartnäckiges Überbleibsel Hoffnung in ihm klammerte sich hartnäckig daran, dass wenigstens ein Teil seiner Freunde dort unten überlebt hatte. Dass die Auswirkungen der Katastrophe nicht so global waren, wie es von hier oben den Anschein hatte. Er verfluchte es, dass ihn das Glück begünstigt hatte, dem Inferno zu entkommen. Er wünschte sich, jetzt dort unten zu sein, bei ihnen, und nicht dem Schuldgefühl ausgesetzt, so billig davongekommen zu sein. Zumal er einen Teil Schuld an der Katastrophe trug. Hätte er nicht Arthur Crows U-Men
Armee von der ISS aus unschädlich gemacht, wäre vielleicht alles anders gekommen... Matt drehte sich langsam um. »Bitte lassen Sie mich gehen«, sagte er. Er erkannte seine eigene Stimme nicht mehr, so kraftlos war sie. Und zum ersten Mal sah er so etwas wie Gefühl auf den glatten, wie aus Marmor gemeißelten Gesichtszügen des Kommandanten. Mitgefühl. »Sie wissen, dass wir das nicht können«, antwortete Leto Angelis fast behutsam. »Dort unten pulsiert eine EMP-Quelle wie ein schlagendes Herz, ohne schwächer zu werden. Unsere gesamte Bordelektronik würde ausfallen, kämen wir der Erde zu nahe.« Matt nickte. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass Leto die Wahrheit sprach. Der EMP hatte die ISS abstürzen lassen, hatte beinahe das Shuttle lahm gelegt – und war auch schuld an Naokis Zustand. Ein Großteil ihrer bionischen Implantate war unter dem Elektromagnetischen Impuls ausgefallen. Er schüttelte den Gedanken ab. Vorerst war Naoki in Sicherheit. Auf dem Mars würde man ihr sicher helfen können. »Was ist mit dem Shuttle?«, erkundigte er sich. »Hat das Manöver funktioniert?« Auch so eine überflüssige Frage; schließlich war Leto, der die QUEEN VICTORIA pilotiert hatte, hier. »Ruht sicher am Bauch der PHOBOS«, bestätigte der Kommandant. »Darüber brauchen Sie sich nun wirklich keine Sorgen zu machen, Drax. Nehmen Sie lieber Abschied. Wir treten bald in die Beschleunigungsphase, starten den Ionenantrieb und entfalten die Segel. Dann geht es für Sie in den Kälteschlaf.« Matt drehte sich nicht mehr zum Fenster um. »Warum noch länger warten«, sagte er. Traumlos zu schlafen, erschien ihm plötzlich als Verlockung. »Ich bin fertig. Bringen wir es hinter uns...«
***
Anstatt zur umgebauten Druckausgleichkammer, in der die Kryo-Röhre stand, führte Jawie ihn zur Quarantänestation. »Was haben Sie jetzt vor?«, fragte Matt verwundert. »Ich dachte, Sie wollten gleich...« »Wir müssen noch einige Untersuchungen an Ihnen vornehmen, bis es so weit ist«, erwiderte die Historikerin. »Schließlich wollen wir keinen Fehler machen.« »Das hebt mein Vertrauen merklich«, brummte er. »Das meine ich übrigens ironisch.« »Ich habe es verstanden, Drax.« »Habe ich Ihnen schon von Claude de Broglie erzählt? Ein Millionär, der die Zeit nach dem Einschlag des Kometen in einer Kryokammer verbringen wollte. Als man ihn allerdings auftaute, war sein Gehirn nur noch Brei.« Jawie verzog die Mundwinkel. »Seien Sie kein solcher Schwarzseher! Unsere Technik funktioniert ausgezeichnet! Wir wollen nur ganz sicher gehen, weil sich Ihr Metabolismus von unserem unterscheidet. Außerdem sollten Sie froh sein, dass Sie den Entgiftungsprozess, den Sie während des Fluges durchlaufen, verschlafen werden. Ist ziemlich unangenehm, habe ich mir sagen lassen.« Sie schob ihn in die kurze Schleuse zur gläsernen, indirekt erleuchteten Kammer. Auch hier herrschte eine spartanische Einrichtung vor: eine Art Feldbett, eine kleine Sanitäreinrichtung, ein Tisch und ein Stuhl. Wie schon auf der Mondstation, gab es auch hier eine gläserne Trennwand. In der zweiten Quarantänekammer sah Matt Naoki liegen, umgeben von einem halben Dutzend Maschinen und Schläuchen. »Wenn Sie durchgegangen sind, können Sie den Anzug ausziehen«, gab Jawie Anweisung. »Die Reinigungsprozedur findet auf dem Rückweg statt, wenn Sie den Anzug wieder
anhaben. Aber keine Sorge, so aufwändig wie auf dem Mond wird es nicht mehr sein, da Sie schon einige solcher Vorgänge hinter sich haben. Übrigens, die Bedingungen in Ihrer Kammer sind auf Ihre Bedürfnisse angepasst. Wir wollen schließlich nicht, dass Sie krank werden.« »Wie reizend.« »Wir tun, was wir können.« Matt schälte sich aus dem Anzug, legte ihn vor dem inzwischen geschlossenen Innenschott ab und streckte sich befreit. Tatsächlich fiel ihm hier das Atmen leichter. »Palun wird sich ab sofort um Sie kümmern«, sagte Jawie und wollte sich abwenden, doch er trat an die durchsichtige Wand neben der Schleuse. »Erzählen Sie mir vom Mars!«, bat er. »Bitte, Jawie. Lassen Sie mich das mitnehmen in den Kälteschlaf.« »Machen Sie sich keine Gedanken, Maddrax.« Sie wählte bewusst seinen Barbaren-Namen, um deutlich zu machen, dass sie bei allem Interesse an ihm einen deutlichen kulturellen Unterschied zwischen ihm und ihr sah. »Wir wecken Sie etwa fünf Tage vor der Landung, um Ihnen die Anpassung zu erleichtern. Wir werden Sie in diesem Raum langsam von Ihrer gewohnten Atmosphäre und Schwerkraft auf unsere Umweltbedingungen umstellen und prüfen, inwieweit Ihre Anwesenheit die Zusammensetzung der Luft verändert. So können wir gleich reagieren, falls Sie dann immer noch aggressive Bakterien- oder Virenstämme in sich tragen sollten. Während dieser Phase werden Sie alles über den Mars erfahren.« »Dann wenigstens eine kurze Zusammenfassung vorab«, blieb er hartnäckig. »Hoffen Sie auf besondere Träume?« Sie lächelte. »Da werden Sie Pech haben; im Kryoschlaf träumt man nicht. Aber gut. Was Sie dort erwartet, Matthew Drax, ist eine ganz neue, fremde Welt. Angefangen bei unserem Sozialsystem. Bei uns
gibt es keine Armen, jeder hat Anspruch auf eine Grundversorgung, und wir leben in sehr engen Gemeinschaften. Die hauptsächliche Bedeutung haben die fünf Häuser, wie Sie bereits erfahren haben: Tsuyoshi, Gonzales, Angelis, Braxton und Saintdemar. Jedes Haus hat so seine Eigenheiten und Fähigkeiten. Die Tsuyoshis beispielsweise stellen seit je her die Präsidentinnen. Unsere Regierungsform ist eine demokratische Oligarchie.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe«, unterbrach Matt. »Das ist momentan unbedeutend. Sie wollten eine Zusammenfassung.« »Entschuldigung.« »Ich werde versuchen, das Wichtigste in wenigen Worten zu sagen. Wir besitzen keine Geldmittel. Dadurch, dass wir nur fünf Städte haben, mit insgesamt nicht mehr als zwei Millionen Einwohnern, von denen alle denselben Kultur- und Technikstatus haben, ist eine Geldwährung überflüssig. Wir haben dafür Zeitkonten angelegt, die uns unser ganzes Leben begleiten. Dies ist sozusagen eine hypothetische Währung, die Handel und Erwerb ermöglicht. Neben den fünf Häusern gibt es inzwischen etwa zehntausend weitere Familiennamen. Im Großen Wald, einer ausgedehnten Grünregion im Westen der Städte, lebt etwa eine halbe Million Menschen. Sie haben sich vor mehr als zweihundert Jahren Ihrer Zeit von uns abgespalten, leben im Einklang mit der Natur und benutzen so gut wie keine Technik. Der Mars ist im Gegensatz zur Erde eine friedliche Welt, Matthew Drax.« »Klingt ziemlich paradiesisch«, murmelte er. »Das ist es auch. Unsere Städte sind auf hohem technischen Standard, mit riesigen Grünflächen, zwischen denen sich die Spindelhäuser wie Kunstwerke erheben. Wir bewegen uns mit Rovern, Magnetbahntaxis, Solarflitzern, Segel- und
Luftschiffen von einem Ort zum anderen. Außerdem gibt es eine unterirdische Bahnstrecke, die von den Alten angelegt wurde. Unsere Technik ist ein Gemisch aus irdischer und marsianischer Entwicklung. Wir hatten das Glück, Ressourcen uralter Technologie zu finden.« Matt horchte auf. »Die... Alten? Uralte Technologie? Wollen Sie damit sagen... der Mars war schon einmal besiedelt?« Jawie grinste kurz. »Oh, stimmt, das wussten Sie ja noch gar nicht.« Sie nickte. »Unsere Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Urmarsianer vor etwa dreieinhalb Milliarden Jahren irdischer Zeitrechnung, als die Atmosphäre ins All entwich und der Mars austrocknete, ausgestorben oder ausgewandert sind. Auch das ist ein Grund, weswegen wir zum Mond geflogen sind – aber dazu erhalten Sie später weitere Erläuterungen.« Sie faltete die Hände zusammen. »Apropos Zeitrechnung: Wir zählen die Tage seit der Landung im irdischen Jahr 2010 fortlaufend, und in Anlehnung an die Erdzeit zählen wir über das marsianische Umlaufjahr hinaus noch die Tage dazu, bis zwei Erdjahre voll sind. Wir werden etwa siebzig Marsjahre alt, das ist fast das doppelte Pensum der irdischen Zeit... Ich denke, das genügt fürs Erste.« »Was ist mit diesen ›Alten‹?«, kam Matt auf das Thema zurück, das seine Neugier geweckt hatte. »Was wissen Sie...« Jawie legte einen Finger an die Lippen. »Geduld, Maddrax. Sie werden auf dem Mars genug Zeit haben, alles kennen zu lernen.« Er stieß ein trockenes Lachen aus. »Glauben Sie wirklich? Haben Sie nicht Angst davor, dass ich Ihrer Kultur den Untergang bringe? Wahrscheinlich werden Sie mich für den Rest meines Lebens in einem abgedunkelten Bunker unterbringen, abgeschottet von der Welt draußen.« Jawies Gesichtsausdruck war sehr ernst, ihre katzenharten Augen verdunkelten sich. »Angst vor dem, was Sie uns bringen
könnten, haben wir in der Tat«, antwortete sie. »Ich war bei der Landung auf der Erde dabei. Ein Mannschaftsmitglied haben wir verloren, Leto wurde verletzt, und Maya hat es beinahe das Leben gekostet. Keiner von uns wird das je vergessen. Aber das bedeutet nicht, dass wir Sie deswegen nach Ihren eigenen barbarischen Sitten behandeln werden.« »Es sind nicht alle Menschen von der Erde aggressiv oder barbarisch«, versuchte er sich zu rechtfertigen. »Sie haben – oder hatten – Krieg da unten«, erwiderte sie, »und schieben die Schuld auf außerirdische Invasoren. Sie sind ein Soldat, ein Krieger, Maddrax. Ihr Leben ist der Kampf. Und wenn Ihre fantastische Geschichte mit den Außerirdischen tatsächlich stimmt, dann stellen Sie erst recht eine große Gefahr für unser geschlossenes Gefüge dar. Sie können sich natürlich bemühen, friedlich zu sein, aber Sie sind ganz anders als wir. Zwischen uns besteht eine fünfhundert Jahre alte Kluft, die nie mehr überwunden werden kann.« »Warum haben Sie mir dann nicht erlaubt, nach Hause zurückzukehren?«, versetzte Matt verzweifelt. »Wir müssen die Wahrheit herausfinden«, antwortete Jawie. »Sie und hoffentlich Dame Naoki Tsuyoshi können uns Antworten auf Fragen geben, die uns seit Jahrhunderten beschäftigen. Glauben Sie mir, wir sind Ihretwegen nach wie vor im Zwiespalt. Vor allem Leto war nicht abgeneigt, Sie tatsächlich im Shuttle mitzunehmen und dann hinauszuwerfen, damit Sie ihren aberwitzigen Fallschirmsprung ausprobieren können. Aber natürlich war das nur eine emotionale Regung; in seiner Eigenschaft als Kommandant würde er niemals so etwas Verantwortungsloses tun.« »Das beruhigt mich aber.« »Wir tun Ihnen einen Gefallen damit, Matthew Drax. Sie würden auf der Erde unweigerlich umkommen. Ihre Welt liegt im Sterben.«
Matt trat dicht an die Glasscheibe. »Jawie, wie stehen Sie zu mir?« »Ist das von Bedeutung?«, gab sie verwundert zurück. »Es wäre beruhigend zu wissen, dass man in der Fremde wenigstens einen Freund hat...« Jetzt lachte sie. »Als Historikerin bin ich natürlich von Ihrer Anwesenheit begeistert, wie Sie sich denken können. Deshalb setze ich mich auch mit Ihnen auseinander, obwohl es den anderen, speziell Leto, nicht Recht ist. Und ich gebe zu, ich finde Sie... interessant. Ihr primitives, grobschlächtiges Äußeres, Ihre schlechten Manieren... ja, das hat etwas. Zugegeben, ich bin fasziniert.« Sie hob die Hand wie zum Gruß und verschwand. Matt blieb frustriert zurück, zugleich wütend über die herablassende Art der Marsianer. Gewiss, sie waren alle große, filigrane Erscheinungen; kein Wunder, dass sie ihn für hässlich hielten. Aber so recht wollte er nicht glauben, dass sie tatsächlich die »besseren Menschen« waren. Andererseits... erinnerte ihn diese Denkweise irgendwie an jemanden anderen, den er kannte wie kein zweiter. Jemanden, der unfreiwillig eine Zeitreise unternommen hatte und unter Barbaren erwacht war, die sich notdürftig mit Fellen bedeckten, stanken und schlechte Tischmanieren hatten. So ändert sich die Perspektive, dachte Matthew Drax voller Selbstironie. Er setzte sich auf die Bettkante und betrachtete den reglosen Körper Naokis im Nebenraum, der nur durch die Maschinen am Leben erhalten wurde. Er glaubte, dass Maya Joy Tsuyoshi alles daran setzen würde, um die vermeintliche Verwandte zu retten. Möglicherweise hatten sie auf dem Mars auch die technischen Mittel, um den Körper zu heilen. Aber das Gehirn... Matt zweifelte daran, dass Naoki jemals wieder einen vernünftigen Gedanken würde fassen können. Die Welle der EMP-Strahlung hatte den Chip in ihrem Kopf unwiederbringlich zerstört. Die
verbliebenen Organe im Körper der Androidin würden noch eine Weile ihr Werk tun. Aber wofür? Matt seufzte schwer. Obwohl sie gläsern waren, bedrückten ihn die Wände. Fast wie in einem Bunker der Technos, genauso steril und eng. Nur mit dem Unterschied, dass er nicht einmal für eine Sekunde »einfach so« nach draußen gehen konnte. Um ihn herum gab es nur das luftleere All. Allmählich freundete er sich sogar mit dem Gedanken an, eingefroren zu werden. Denn neunzig Tage tatenlos hier in dieser Sardinenbüchse verbringen zu müssen, erheiterte ihn nicht gerade. *** Drüben ging das Schott auf, und ein Mann betrat Naokis Kammer. Matt hatte ihn schon einmal gesehen, er hatte ihn zur PHOBOS begleitet. Er war ein sehr schmaler, etwa zwei Meter zehn großer Marsianer mit dünnen, etwas verkniffen wirkenden Lippen. Seine feinen glatten, schwarzen Haare waren fast hüftlang. Er trug sie im Nacken gebunden. Von der rechten Schläfe herab zog sich eine metallblaue Strähne, und in seinem rechten Ohrläppchen steckte ein daumennagelgroßer, grünlich irisierender Kristall. An den langen dünnen Fingern trug er aufwändig ziselierte Metallringe. Er hantierte an den Maschinen und beugte sich über Naoki. »Wie geht es ihr?«, rief Matt. Er war nicht sicher, ob eine Sprechverbindung nach nebenan möglich war. Der Mann drehte den Kopf zu ihm. »Sie ist stabil«, antwortete er. »Ich bin Palun Saintdemar und der medizinische Wissenschaftler hier an Bord. Wie fühlen Sie sich?« Seine Stimme klang neutral, fast ein wenig abwesend. Typisch ärztlich, fand Matt. Daran hatte sich wohl über die Jahrhunderte und Millionen Kilometer Entfernung nichts geändert.
»Ausgezeichnet«, antwortete er. »Wann werden Sie mich einfrieren?« »Morgen, denke ich. Ich möchte Sie zuerst noch ein wenig beobachten und Ihr Blut analysieren. Ich weiß, dass manche Leute an Bord es eilig haben, Sie außer Gefecht zu setzen, aber ich halte die Forschung für wichtiger.« Palun trat an die Trennwand. »Nur der Neugierde halber: Glauben Sie wirklich das alles, was Sie erzählt haben?« »Es ist die Wahrheit, so fantastisch sie sich auch anhören mag«, antwortete Matt. »Zumindest aber hört sie sich nicht ungewöhnlicher an als meine Begegnung mit Marsianern auf dem irdischen Mond.« Der Mediziner grinste breit. Seine Zähne waren groß und kräftig. »So betrachtet, ja. Sie können mit Worten umgehen. Das wird Ratsdame Braxton gefallen.« Matt blinzelte. »Sie meinen, jemand von der Regierung ist hier mit an Bord?« »Tja, welch glücklicher Zufall, Drax«, meinte Palun. »Sie wird sich mit Ihnen brüsten wollen. Machen Sie sich also auf einiges gefasst.« »Damit kann ich umgehen.« Matt deutete auf Naoki. »Haben Sie Hoffnung, sie jemals aufwecken zu können?« »Wegen ihrer Gehirnströme, meinen Sie?« Palun machte eine unbestimmte Geste. »Allerdings haben wir momentan nur zerebrale Flatline, von einigen schwachen Auswüchsen abgesehen. Ihre Begleiterin weilt in weiten Fernen, aus denen sie vermutlich nie mehr zurückkehrt. Ich weiß, dass die Schiffsführung Hoffnung hegt, die Geschichte der vergangenen fünfhundert Jahre aus dem Mund einer Überlebenden zu hören. Aber ich sehe da nur trockenen Sand. Man wird sich wohl an Sie halten müssen.« Matt interessierte noch etwas. »Haben Sie schon einen Gentest vorgenommen?«
»Sie meinen, wegen der Verwandtschaft?« Palun machte eine verneinende Geste. »Dame Maya will damit bis zum Mars warten. Verständlich, sage ich. So oder so wird es genügend Aufruhr geben, und er muss gesteuert werden.« Das war nicht so falsch. Matt stellte keine weiteren Fragen mehr, als Palun sich abwandte und mit den Untersuchungen fortfuhr. Er legte sich auf das Bett und versuchte ein wenig zu schlafen. *** »Sollen wir es tun?«, fragte Maya verunsichert. Lorres drehte den Kristall in den Händen. Naoki Tsuyoshi hatte ihn als Anhänger um den Hals getragen, und sie hatten bei einer Überprüfung festgestellt, dass er nicht nur ein Schmuckstück, sondern ein Datenspeicher war. Matthew Drax war dies nicht bekannt gewesen. Möglicherweise eine Finte? »Was sollte er mit einer Lüge beabsichtigen?«, fragte Lorres. »Er konnte ja nicht wissen, dass er auf dem Mond auf uns trifft. Ich glaube nicht, dass er uns in dieser Hinsicht belogen hat, so überrascht, wie er wirkte.« »Gerade deswegen mache ich mir Gedanken, ob es nicht zu gefährlich ist«, beharrte Maya. »Wir wissen nicht, was wir uns da herunterladen.« »Nun, es ist deine Entscheidung, Chefin«, sagte Lorres leichthin. »Du willst wissen, ob darauf ein Hinweis über Naokis Leben zu finden ist. Ich kann warten.« »Mich interessiert es brennend«, gestand Jawie. »Denkt an die Aufzeichnungen der Mondstation! Ohne sie wüssten wir gar nichts über den Kometen und die Veränderungen auf der Erde. Ich könnte die Flugzeit nutzen, das Material zu sichten, zu ordnen und zusammenzustellen! Das ist doch allemal besser, als nur herumzusitzen, oder?«
Maya sah Leto an. Der Kommandant nickte zögerlich. »Es sind nur Daten, Maya, so sehe ich das. Alles andere wäre unlogisch. Ich weiß, dass du auf Sicherheit bedacht bist, aber auch Jawie hat Recht. Wir sollten die Zeit nutzen, um auf den Rat vorbereitet zu sein. Und auf das, was folgen wird.« Ratsdame Braxton stolperte in die Messe, reichlich verschlafen und ein wenig verärgert. »Herr Lorres...« »Ah, Dame Rätin, Sie sehen blendend aus!«, fiel er ihr strahlend ins Wort. »Sehen Sie, ich habe Recht behalten. Auf diese Weise haben Sie den Start bestens überstanden, wenngleich Sie Letos einmaliges Andockmanöver verpasst haben – nun, aber vielleicht nächstes Mal.« Beta Braxton verharrte. Sie schien über ihr weiteres Vorgehen nachzudenken. Sie deutete auf den Kristall, der auf dem Tisch lag. »Was ist das?« Maya gab Auskunft. Die Ratsdame schwieg wiederum einige Augenblicke. »Was gedenken Sie zu tun?«, fragte sie dann. »Wir werden versuchen, die Daten herunter zu laden und zu konvertieren«, antwortete Maya. »Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen, die wir hier nutzbringend einsetzen können. Ich fände es wichtig; vielleicht lässt sich bereits so feststellen, ob Dame Naoki Tsuyoshi eine Verwandte der Gründerin Akina ist.« »Haben Sie denn noch keinen Gentest unternommen?« »Der wäre nicht aufschlussreich genug, Dame Rätin, denn auch wenn ich auf eine fast reine Blutlinie blicken kann, so sind auch meine Gene mit fremden Spenderzellen vermischt worden. Deshalb möchte ich damit bis zum Mars warten.« Beta Braxton betrachtete sie prüfend. »Was versprechen Sie sich eigentlich davon?« Maya wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. »Ich glaube, Sie können sich nicht im Entferntesten vorstellen, was die Nachricht einer überlebenden Verwandten
der Gründerin des Tsuyoshi-Hauses auf dem Mars auslösen könnte«, fuhr die Ratsdame schließlich fort. »Wir sehen ohnehin schwierigen Zeiten entgegen, doch das könnte unter Umständen Chaos verursachen. Ich will Sie nicht davon abbringen, weil mir das ohnehin nicht gelingt. Aber ich möchte, dass Sie wenigstens darüber nachdenken.« »Wollen Sie jetzt zu Drax?«, fragte Maya statt einer Antwort. »Heute nicht mehr«, sagte Beta. »Ich werde mich in meine Kabine zurückziehen. Morgen Vormittag möchte ich dann mit ihm sprechen.« Sie nickte den Anwesenden zu und verschwand. Jawie rieb sich das Kinn. »Jetzt hat sie mich völlig verunsichert«, gab sie zu. »Mir gefällt die ganze Sache sowieso nicht«, bemerkte Palun. »Wir haben uns da auf etwas eingelassen, das uns in gewaltige Schwierigkeiten bringt.« »Aber wenn das mit den Außerirdischen wahr ist?«, beharrte Maya. »Wir müssen alles berücksichtigen!« »Wie es aussieht, stehst du auf einmal allein da mit deiner Entscheidung, ohne Unterstützung«, bemerkte Lorres. »Erwarte von mir keine Stellungnahme, die kriegst du nicht. Ich werde dich von technischer Seite aus natürlich unterstützen. Aber was die Politik angeht, so halte ich mich strikt heraus.« »Manchmal kann man das nicht«, murmelte Maya. Sie war verstimmt, weil nicht einmal Leto zu ihr zu halten schien. Nach wie vor war keiner davon begeistert, die beiden Erdenmenschen an Bord zu haben. Lediglich bei dem Kristall schienen sie sich einig zu sein. »Alles wäre einfacher, wenn die beiden die Reise nicht überstehen würden«, sagte Merla plötzlich und schrumpfte ein wenig zusammen, als sie vorwurfsvolle Blicke trafen. »So ist es doch, oder nicht?«, verteidigte sie ihre Äußerung. »Ihr denkt
in Wirklichkeit alle so. Natürlich will sich keiner die Hände schmutzig machen, aber ihr wärt froh, stimmt's?« »Ich nicht«, sagte Maya frostig. »Wenn Naoki eine Verwandte ist, so wird sie willkommen geheißen und in Ehren gehalten. Und was Drax betrifft, so hat er uns zu Recht vorgeworfen, dass wir es uns sehr bequem machen, indem wir uns auf die Beobachterrolle beschränken. Du selbst warst bis vor kurzem seiner Meinung, Lorres, erinnerst du dich?« »Das bin ich noch«, gab er zu. »Aber es ist ein Unterschied, ob wir aktiv auf der Erde eingreifen, oder ob wir zwei Überlebende zum Mars bringen.« »Schön!« Maya hob eine Hand. »Lorres, lies den Kristall ein. Sehen wir, was wir finden. Vielleicht ändert das eure oder meine Einstellung.« *** Maya, Jawie, Leto und Lorres kehrten in die Zentrale zurück. Palun kümmerte sich um Matthew Drax, und Merla nahm sich Werkzeug und verschwand in einem Wartungsschacht, um eine Reparatur an einem defekten Schott zu einem Frachtraum vorzunehmen. Lorres musste aus mehreren Adaptern ein passendes Stück zusammenbasteln, in das er den Kristall legte und anschließend an die Eingabeplatine anschloss. Der Schiffscomputer brauchte eine Weile, um festzustellen, dass es sich tatsächlich um einen Datenträger handelte. Die Systemeinheit der Mondstation, VAN, hatte sich damit leichter getan – kein Wunder, beides entstammte irdischer Technologie. »Suche nach Identifikationsdateien...«, meldete der PHOBOS-Computer. »Versuche System zu initialisieren. Lade Konvertierungsdatei...«
Die angeschlossene Holo-Projektion blieb längere Zeit blass, während das System rechnete und den Inhalt des Tropfenkristalls zu verstehen versuchte. (Du erwachst.) »Kann es so kompliziert sein?«, fragte Leto ungeduldig. »Vermutlich nicht«, erwiderte Lorres. »Soll ich dir den Kristall in den Mund stecken, und deine Zunge ertastet den Inhalt?« »Ich dachte, dieses System ist darauf spezialisiert, sich an fremde Systeme anzupassen?«, fuhr Leto fort. »Mit dem Shuttle hat es auch geklappt.« »Das war ein älteres System aus der Zeit der Gründer. Unsere heutige Technologie basiert auf diesen Programmen. Das hier ist etwas völlig anderes, vermutlich fünfhundert Jahre später entstanden, eine neue Entwicklung.« »Vielleicht sollten wir Drax fragen«, schlug Jawie vor. »Danke für euer Vertrauen«, knurrte Lorres. »Wurde dieses Universum in einer Minute erschaffen?« »Schon gut«, sagte Maya versöhnlich. »Ich bin sicher, dein elektronisches Schätzchen hat es bald.« Sie unterdrückte ein Gähnen. Es war ein langer Tag, wie alle seit Drax' Ankunft. Bald würde die Nachtphase beginnen, und heute wollte sie ausgiebig schlafen. Der Kristall konnte auch bis morgen warten. Da flackerte das Holo plötzlich. (Du kommst zu dir. Du wirst deiner selbst bewusst. Du fragst dich, wo du bist. Du willst dich umsehen. Deine Augen funktionieren nicht. Was ist geschehen? Du bekommst Angst. Du willst rufen, aber du hast keine Stimme. Du kannst nicht hören.) Auf dem Holo zeigten sich farbige Schlieren, wallende Muster und Diagramme. »Totales Chaos«, sagte Jawie enttäuscht. »Die Daten sind schadhaft!«
»Könntest du bitte etwas mehr Geduld aufbringen?«, schnarrte Lorres gereizt. »Was denkst du, mache ich hier? Sind wir einen Schritt weiter oder nicht?« Das Schiffssystem rasselte eine Reihe Messdaten herunter, in einem rasanten Kauderwelsch, das augenscheinlich nur Lorres verstand. Jedenfalls antwortete er und bediente gleichzeitig die Tastenfelder mit fliegenden Fingern. (Du merkst, wie du stimuliert wirst. Das bedeutet, du bist nicht allein. Sie werden dir helfen. Sie wissen, dass du gefangen bist in der Dunkelheit deines Verstandes, dass dein Leib nicht auf deine Gedankenbefehle reagiert. Alles wird gut. Du beruhigst dich. Und wartest.) »Das sieht aus wie ein Atom-Symbol, umgeben von einer DNS-Spirale«, bemerkte Jawie. »Creative Painting«, meinte Maya und sah fasziniert zu. Die Spirale drehte sich um das Symbol, das sich seinerseits drehte. Schnell und immer schneller, bis alles zu einer einzigen wirbelnden Masse verschmolz, die plötzlich in sich zusammenstürzte und in einer feuerwerksartigen Explosion ins Nichts zerstob. Das Holo wurde blass. Dann erschien plötzlich eine dünne Zeile am linken oberen Bildrand: System bereit. Passwort: _, und ein blinkender Unterstrich. Maya, Jawie und Leto jubelten und klopften Lorres auf die Schulter. Er hatte es geschafft! Lorres aber machte ein grimmiges Gesicht und brummte: »Verdammt.« (Du wirst ungeduldig. Du merkst, wie du immer mehr erwachst, wie deine Erinnerungen zusehends zurückkehren. Und dann ist da noch etwas anderes, sehr Fremdes, das versucht, zu dir vorzudringen. In dich einzudringen. Das willst du nicht zulassen. Du hast Angst.)
Die erste Euphorie klang zusehends ab, als die anderen verstanden, warum Lorres so böse war. Wie sollten sie an das Passwort herankommen? War es eine BuchstabenZahlenkombination? Nur ein Wort? Nur ein Zahlencode? Mit wie vielen Stellen? »Kannst du das nicht irgendwie umgehen?«, fragte Maya. »Natürlich!«, schnaubte Lorres. »Ich arbeite daran. Es gibt immer ein Hintertürchen, und mein kleines Schätzchen hat noch einige Überraschungen auf Lager. Trotzdem hält es unnötig auf. Es kann unter Umständen Tage dauern!« »Wir haben Zeit«, meinte Maya. »Aber keine Geduld«, sagte Leto freundlich. *** Die Nachtphase war inzwischen angebrochen. Das Schiffssystem rechnete und rechnete, saugte sich förmlich in den Kristallspeicher hinein. Lorres hatte parallel mehrere Programme aktiviert, um die Zeit zu verkürzen. Die notwendige Energie dafür zog er aus den Speicherredundanzen, die im Moment nicht benötigt wurden. Leto kümmerte sich um die Beibehaltung des Kurses. Die riesigen Ionensegel hatten sich planmäßig entfaltet, der Ionenantrieb war zugeschaltet, und die PHOBOS begann zu beschleunigen. Merla Gonzales schwebte in ihrem Anzug immer noch vor dem Schott des Frachtdecks. Irgendwie spielten die Systeme hier unten verrückt, immer wieder gab es Energieausfall. Jedes Mal, wenn sie glaubte, es jetzt geschafft zu haben, fiel etwas anderes aus. Sie verzweifelte bald. Das Schott hatte bereits mehrmals Anstalten gemacht, sich zu öffnen. Doch immer nur ein Stück, dann verhakte es sich und sie musste es über die Notentriegelung wieder zuschieben. Zweimal versuchte die Technikerin, Lorres zu erreichen, doch er schien zu beschäftigt, weil er nicht antwortete. Das
kannte sie von ihm gar nicht, und es beunruhigte Merla etwas. Noch mehr aber beunruhigte sie, dass sie immer neue Fehlermeldungen auf ihre Anzeigen bekam. Schließlich gab sie fluchend auf. Zuerst brauchte sie eine Übersicht über die vorhandenen Fehler, bevor sie sich vor Ort an die Überprüfung machte. Also zurück in die Zentrale, das Wartungsprogramm aktiviert und die Liste angefordert. Das würde wohl eine lange Nacht werden. Während alle anderen selig schliefen und vom Mars träumten, musste Merla hier unten in der bedrückenden Enge, nahezu ohne Schwerkraft und Sauerstoff dafür sorgen, dass das Schiff nicht auseinander fiel. Keine Reparatur durfte auf die lange Bank geschoben werden, das hatte Lorres ihr eingeschärft. Jeder noch so unbedeutend scheinende Fehler konnte der Beginn einer Katastrophe sein. Merla bewunderte den hochrangigen GonzalesAbkömmling. Er war ein absoluter Profi, hatte mehr erlebt und gesehen als die meisten Marsianer zusammen in ihrem Leben, und er konnte nahezu zaubern, was Technik betraf. Sie war sehr stolz darauf, ins Team aufgenommen worden zu sein, persönlich mit Lorres arbeiten zu dürfen, und wollte ihn unter keinen Umständen enttäuschen, auch wenn sie das um den dringend benötigten Schlaf brachte. Die PHOBOS war ihr vertrauter als ihr eigenes Zuhause, so viele Schrauben hatte sie selbst eingedreht und letzte Hand angelegt. »Also dann...«, seufzte Merla. Sie hatte sich schon so auf einen geruhsamen Abend gefreut und geglaubt, dies wäre nur eine kleine Sache. Doch nun... »Reiß dich zusammen, Merla, du versäumst ohnehin nichts. Schließlich gibt es nicht mal interessante männliche Unterhaltung an Bord.« Sie drehte sich um, stieß sich ab und schwebte Richtung Haltekabel, um sich zum Hauptschott weiterzuhangeln. Von dort aus gelangte sie in
den Wartungsschacht und konnte in Kürze das Personendeck erreichen. Doch das Schott blieb zu. Die Notentriegelung klemmte. »Verdammt!«, fluchte Merla lauthals. Sie aktivierte den Funk. »Lorres! Bei den Monden, melde dich endlich, ich stecke in Schwierigkeiten!« Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Enge Räume ohne Ausweg waren ein Problem für sie. Für eine Raumschifftechnikerin eine Belastung, die sie bisher erfolgreich geheim gehalten hatte. Das würde sich jetzt ändern. »Lorres!« *** Lorres schlug mit der Faust auf das Terminal, allerdings neben die Eingabefelder. »Er hat es! Brav, Kleiner, sehr brav. Nun gib mir alles, was du hast. Hol dir, was du brauchst. Behutsam.« Ein zweites Holo aktivierte sich. Zugang aktiviert. Initialisiere Programmabgleich. Starte Verbindung... beendet. Starte Scan... beendet. Alle Systeme bereit. Dateien gefunden. Durchsuche gesamten Speicherinhalt... fertig. Erstelle Inhaltsverzeichnis... Warnung: Digitalisierter Speicher voll. Automatischer Programmstart. Bewusstsein aktiv. »Was?«, sagte Maya. *** Matt war in einen unruhigen Schlummer gefallen. Palun Saintdemar hatte ihm eine Mahlzeit gebracht, die nicht unbedingt seinem Geschmack entsprach, aber Matt war schon seit seiner Berufung zur Fliegerstaffel – in einem anderen,
früheren Leben – nicht mehr anspruchsvoll. Das Zeug war sicher nahrhaft, und er brauchte alle Kräfte. Anschließend fühlte er sich müde und ein wenig schwindlig. Vielleicht hatten sie ihm die erhöhte Sauerstoffzufuhr wieder abgedreht. Er aktivierte den Funktaster, den Palun ihm gezeigt hatte. Damit konnte er die medizinische Station erreichen. Palun hatte versichert, sich die ganze Nachtphase hindurch dort aufzuhalten und erreichbar zu sein. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Matt, »aber mir ist nicht gut... Kann es sein, dass die Zusammensetzung der Luft sich verändert hat?« »Augenblick, ich sehe nach«, ertönte Paluns verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher. Einige Sekunden herrschte Stille, dann fuhr der Mediziner fort: »Sie haben Recht. Das System hatte wohl einen Fehler, der aber inzwischen automatisch behoben wurde. Sie werden bald wieder frei atmen können und sich besser fühlen.« Matt war nicht sicher, ob die Antwort vielleicht nur eine Ausrede war, weil er gerade getestet wurde. Er traute Wissenschaftlern alles zu. Die Müdigkeit nahm weiter zu. Matthew streckte sich auf der Liege aus, die ihm plötzlich gar nicht mehr so ungemütlich vorkam, und döste ein, glitt aber nicht in den Tiefschlaf. Es war ein fast ohnmachtsähnlicher Zustand, in dem er sich befand. Matt glaubte Geräusche um sich herum zu hören, doch er konnte die Augen nicht mehr öffnen. Und dann hörte er eine Stimme, leicht verzerrt, aber irritierend vertraut. Eine Stimme aus der Vergangenheit. Von jemandem, der nicht hier sein konnte, der vor dem großen Knall als verschollen gegolten hatte. Die Stimme eines Freundes. »Hallo? Kann mich jemand hören? Wo bin ich? Was ist das hier?«
»Aiko...«, murmelte Matt dahindämmernd. »Was tust du denn hier, mein Alter...?« *** »Nimm sofort den Kristall raus!«, rief Maya panisch. »Das geht nicht!«, gab Lorres hektisch zurück. »Der Schiffscomputer ist mit ihm verbunden. Wir könnten empfindliche Schäden davontragen, wenn ich jetzt einfach abbreche! Ich muss das System erst abmelden, dann –« »Aber... aber kapierst du denn nicht, was das ist?«, stammelte Jawie. »Das ist eine Art... Computervirus!« Sie hatte in einem Erdlexikon darüber gelesen; auf dem Mars gab es solche schwachsinnigen Killerprogramme, die für nichts anderes geschaffen waren als Schaden anzurichten, nicht. Lorres hob eine Hand. »Ich weiß«, schnappte er wütend. »Und wenn Drax uns belogen hat und davon wusste, bin ich der Erste, der ihm die Luft aus dem Gehirn bläst! Aber das ist jetzt nicht wichtig! Haltet den Mund, ich muss mich konzentrieren...« Leto hatte sich in seinem Kommandosessel niedergelassen und stieß ebenfalls eine Reihe von Flüchen aus. »Die Systeme haben bereits Schaden genommen, Lorres! Ich schalte besser auf Handbetrieb um.« »Finger weg!«, brüllte Lorres. »Lass das System in Ruhe, wir haben genug Probleme! Dieses... digitalisierte Bewusstsein ist bereits in den Schiffscomputer eingedrungen! Einige aktive Programme sind befallen, aber bisher hält sich der Schaden noch in Grenzen. Momentan kann uns nichts passieren, selbst wenn das Schiff außer Kurs gerät. Ich werde also versuchen, die virtuelle Intelligenz zu isolieren, und dann die Abkopplung vornehmen.« »Verstehe«, sagte Leto ruhig. »Wie lange wird das dauern?«
»Die ganze Nacht, wenn wir Glück haben«, antwortete Lorres grimmig. »Wenn wir Pech haben, den ganzen Flug.« Maya rieb sich die Stirn. »Unsere verfluchte Neugier! Hätten wir nur gewartet...« »Sieh es positiv«, bemerkte Lorres voll beißender Ironie. »Hier auf dem Schiff bleibt der Schaden begrenzt. Auf der Mondstation hätte das ganz anders ausgesehen. Und nicht auszudenken, was auf dem Mars geschehen wäre, wenn wir versucht hätten, die Dateien zu laden...« Jawie fragte bang: »Sind wir in Gefahr?« »Ehrliche Antwort?« »Klar.« »Ich weiß es nicht. Es kommt darauf an, wie aggressiv dieser Virus ist. Und ob wir ihn schnell genug abkapseln können.« »Würde es helfen, den ganzen Computer auszuschalten und mit dem Backup neu zu starten?« Lorres zog eine skeptische Miene. »Das Risiko wäre hoch, dass befallene Systeme nicht wieder hochfahren. Wir müssten danach alle aktuellen Flug- und Navigationsdaten neu eingeben. Außerdem würde Naoki Tsuyoshi in dieser Zeit nicht versorgt werden. Ich sehe diese Option als letzte Möglichkeit.« »Toll.« Jawie verknotete die Finger. »Kann Drax uns vielleicht helfen?« »Der hat schon genug Schaden angerichtet. Haltet ihn mir vom Hals«, lehnte Lorres ab. »Leto, ich leite die Steuerung auf das Nebenterminal des Co-Piloten um. Versuch mal die Aktivierung!« Leto wechselte den Sitz und hantierte an der Konsole. »Fehlanzeige«, meldete er frustriert. »Sehr passend«, knurrte Lorres. »In unserer Besorgnis, uns von Drax etwas einzufangen, haben wir ihn jeder erdenklichen Reinigungs-Prozedur unterworfen und auf höchste Sicherheitsstufe geschaltet. Aber dass das auch für unser
Schiffssystem gelten sollte, daran haben wir nicht gedacht. Die PHOBOS ist infiziert, Freunde, mit einem möglicherweise tödlichen Virus, der sich in rasanter Geschwindigkeit ausbreitet. Macht euch auf alles gefasst. Wir sollten auf alle Fälle die Anzüge anlegen und die Helme bereithalten!« *** Merla schluchzte. Sie hatte es mit allen möglichen Entspannungsübungen versucht, aber sie konnte ihre klaustrophobischen Zustände nicht unter Kontrolle bringen. Genau der Fall, vor dem sie immer Angst gehabt hatte, war nun eingetreten. Sie war abgeschnitten von allem und gefangen in der düsteren Enge. Sie hatte jeden erdenklichen Weg hier heraus gesucht, aber es gab keine andere Möglichkeit. Sie musste irgendwie durch das Schott. Wie war es möglich, dass die Notentriegelung klemmte? Sie war rein mechanisch, am Schiffssystem konnte es nicht liegen. Oder war dies ein unglücklicher Zufall? »Hört mich denn niemand?«, wimmerte sie. »Kommt schon, merkt denn keiner, dass ich schon seit Stunden weg bin? Bedeute ich euch so wenig?« Immer wieder mühte sie sich ab, die Entriegelung zu betätigen oder die Elektronik der Automatik in den Griff zu bekommen. Nichts. Es war doch unmöglich, dass niemand sie hören konnte! Waren die etwa alle schlafen gegangen und hatten die Nachtwache dem Computer überlassen? Oder hatte der Erdmensch die Kontrolle an sich gerissen und steuerte das Schiff jetzt zurück, um auf der Erde zu landen? »Hallo!«, wiederholte Merla mit zusehends verzagter Stimme. »Ist irgendwer dort draußen?«
Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, als sie plötzlich Antwort erhielt. Von einer völlig unbekannten Stimme, die zugleich ziemlich verwirrt schien – vielleicht sogar ängstlich, wie ein Echo ihrer eigenen. »Ich bin hier! Auch wenn ich nicht weiß, wo dieses ›hier‹ überhaupt ist.« »Wer... wer bist du?«, fragte Merla völlig verblüfft und vergaß für einen Moment ihre Panik. »Das weißt du nicht? Ich nahm an, du wärst eine von Naokis Technikerinnen, die mich überwacht. Liege ich denn nicht verletzt in einem Regenerationstank in Amarillo? Wenn ich mich recht entsinne, ist doch für morgen die Operation angesetzt, oder?« Merla begann an ihrem Verstand zu zweifeln. Hatte sie ein falsches Sauerstoffgemisch in ihrem Anzug und unterlag nun Halluzinationen? Vorsichtig sagte sie: »Wir sind hier nicht in... Amarillo, was immer das sein soll. Du befindest dich auf einem Raumschiff, der PHOBOS.« »Auf einem... was? Himmel, wie lange habe ich denn geschlafen? Was ist in der Zwischenzeit passiert? Oh, warte einen Moment, ich kann jetzt etwas sehen! Aber...« Grenzenlose Verblüffung schwang in der Stimme mit. »Sind meine bionischen Augen an irgendwelche Außenkameras angeschlossen? Ich empfange Bilder, die –« Abrupt brach der Kontakt ab. Merla schlug mit den Fäusten gegen das Schott. »Komm zurück!«, schrie sie. »Wer auch immer du bist, sag den anderen Bescheid, dass ich hier festsitze! Sie sollen mich endlich rausholen!« *** Matt schrak hoch, als der Alarm gegeben wurde. Benommen hielt er sich den Kopf. Seine Sicht war immer noch
verschwommen. Auch sein Gehör war nicht ganz in Ordnung, er konnte nur dumpf hören, dass eine Durchsage gegeben wurde: »... wiederhole: Sofort die Raumanzüge anlegen und die Helme in Griffweite halten. Wir haben eine technische Panne größeren Ausmaßes und können für ausreichende Versorgung nicht mehr garantieren. Bitte ruhig bleiben! Wir arbeiten an dem Problem.« Das genügte, um Matt aus dem Bett zu treiben. Er lief zur Schleuse und stieg in den Anzug. Während er den Helm schloss, bemerkte er in der nur von einem schwachen Nachtlicht beleuchteten Quarantäne-Station nebenan eine Bewegung, einen Schatten. Eine Gestalt in einem Anzug ohne Helm, lang und schmal. Matt konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Die Haare wirkten dunkel, aber das konnte auch an den Schatten liegen. Matt wurde misstrauisch. Irgendetwas an den Bewegungen des Marsianers gefiel ihm nicht. So verhielt sich doch niemand, der nur nachschauen kam, ob alles in Ordnung war! Die geheimnisvolle Gestalt beugte sich über Naoki auf der Liege. Kurz sah Matt eine auffällige Pigmentzeichnung in deren Nacken, wie ein Dreiviertelkreis mit einem Punkt darin. »He!«, rief er, trat an die Trennscheibe und klopfte dagegen. »Was tun Sie da?« Die fremde Gestalt beachtete ihn nicht. Mit raschen Bewegungen schaltete sie die Lebenserhaltungssysteme ab! Matt durchfuhr ein heißer Schrecken. Er wurde Zeuge eines Mordversuchs! »He!«, brüllte er. »Hören Sie auf damit!« Er schlug und trat gegen die Scheibe, griff sogar nach dem Metallstuhl und schleuderte ihn mit aller Kraft dagegen, aber die Scheibe war absolut bruchsicher. Es blieb nicht mal ein Kratzer zurück. Die Warnleuchten der Geräte sprangen an. Er sah, wie die Anzeigen von Puls und Herzrhythmus nach unten gingen. »Verdammt!« Matt rannte zum Funktaster und drückte
hektisch darauf herum. »Notfall in der Quarantänestation!«, brüllte er. »Jemand versucht Naoki Tsuyoshi zu ermorden! Bitte, ich brauche Hilfe, schnell!« Der Schatten nebenan verschwand, wie er gekommen war, von ihm abgewandt, schnell und lautlos. Matt schrie sich fast heiser und verstummte abrupt, als er endlich eine fremde Stimme über den Bordfunk hörte. »Mutter?« *** »Drax hat Alarm geschlagen!«, meldete Palun über Funk. »Er behauptet, jemand hätte sich an Naoki zu schaffen gemacht. Ich bin unterwegs zur Krankenstation, um das zu überprüfen.« »Ich komme auch!«, rief Jawie. »Leto, versuch über das Terminal von der Messe aus, irgendwie Kontrolle über wenigstens eines der Steuersysteme zu bekommen!«, erklang hektisch Lorres' Stimme. »Ich kann Naoki sehen!«, übertönte ihn die unbekannte Stimme. »Was habt ihr mit ihr gemacht?« »Bin unterwegs, Lorres!«, sagte Leto. »Wo bist du?« »Zurück in der Zentrale. Ich will versuchen, von hier aus einen Reset zu starten! Merla sitzt irgendwo im Wartungsschacht fest! Leto, versuche sie zu orten und zu befreien!« »Verstanden!« »Maya, hole Ratsdame Braxton aus ihrem Quartier, verschaff ihr einen Anzug, falls sie die Durchsage nicht mitbekommen hat, und geh mit ihr zur Messe! Dort gibt es ein eigenes Notversorgungssystem, mit dem ihr notfalls einige Zeit durchhalten könnt, falls ich hier nicht weiterkomme!« »Ihr habt Naoki ermordet, ihr verdammten Bastarde!« »Bin unterwegs, Lorres!«, funkte Maya.
»He, langsam!«, klang Paluns Stimme dazwischen. »Wer auch immer du bist, Stimme im System, bewahre die Ruhe! Naoki Tsuyoshi ist noch am Leben!« »Aber ich sehe keine Anzeigen auf den Geräten!« »Natürlich nicht, ich habe sie an das Notset angeschlossen, das über einen Generator läuft! Wenn du Zugriff auf die Bordkameras hast, siehst du, dass ich neben ihr stehe.« »Ja, ich sehe dich.« »Und jetzt schau genau hin. Zoome auf ihren Brustkorb. Siehst du, sie atmet!« »Aber jemand hat versucht, sie zu ermorden! Was ist hier überhaupt los? Warum bin ich auf einem Raumschiff und nicht in Amarillo? Wer seid ihr Typen? Was ist meiner Mutter geschehen?« »Wir werden alles klären, versprochen!«, sagte Leto eindringlich. »Bitte, gib uns ein wenig Zeit, Stimme im System! Wir wollen dir helfen, aber das geht nur, wenn du dich aus unserem Computer zurückziehst.« »Ich bin keine ›Stimme im System‹, verdammt! Mein Name ist Aiko Tsuyoshi! Ich bin ein Mensch, kein Programm, auch wenn man mich offenbar mit einem Computer vernetzt hat!« Da erklang eine weitere Stimme im Bordfunk. »Aiko! Ich bin's: Matt Drax! Bleib ganz ruhig, alter Freund! Ich komme zu dir, dann reden wir über alles, okay?« *** Matt nahm den Daumen vom Sprechknopf der Funkanlage. Hoffentlich genügte die Durchsage, um Aiko fürs erste zu beruhigen. Dabei konnte es gar nicht Aiko sein! Wie hätte er zuerst zum Mond und dann in dieses Raumschiff gelangen können? Andererseits – es war Aikos Stimme; Matt hätte sie unter Hunderten erkannt.
Aber jetzt war etwas anderes wichtiger. Matt trat wieder an die gläserne Wand, die ihn daran hinderte, zu Naoki zu gehen und sich selbst um sie zu kümmern. So konnte er nur auf den Marsianer starren, der sich ihm als Palun Saintdemar vorgestellt hatte. »Sie lebt. Ein Anschluss der Lebenserhaltung hatte sich gelöst.« »Nicht nur gelöst – er wurde abgezogen!«, sagte Matt. »Jemand hat versucht, Naoki umzubringen!« Der Mediziner wandte sich ihm zu. »Dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Ich kann nicht glauben, dass einer von der Besatzung sie ermorden wollte.« Matt schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was ich gesehen habe! Oder denken Sie, ich hätte von hier aus erkennen können, wenn der Anschluss sich von alleine...« In diesem Moment betrat Jawie den Quarantäneraum 1, sichtlich blass, den Helm ihres Raumanzugs unter dem Arm. »Hier ist das totale Chaos ausgebrochen!«, keuchte sie. »Hab ich mitbekommen«, sagte Matt. »Sie haben einen Meuchelmörder unter Ihrer Crew.« »Wofür es noch keinen Beweis gibt!«, wandte Palun ein. »Dann finden Sie einen!«, gab Matt zurück. »Und wer ist der Typ, der mit Aikos Stimme über Bordfunk spricht?« »Wie es aussieht, handelt es sich tatsächlich um Ihren Bekannten – oder vielmehr um sein Bewusstsein, das in unseren Computer gelangt ist.« Matt blieb der Mund offen stehen. »Was ist passiert?!« »Naoki Tsuyoshis Datenkristall. Haben Sie gewusst, dass sich darauf ein digitales Bewusstsein befand?« »Nein«, sagte Matthew mit Nachdruck. »Natürlich nicht. Erinnern Sie sich an das Verhör auf dem Mond? Ich wusste ja nicht mal, dass es sich um einen Datenträger handelte. Aber ich kann Sie beruhigen. Aiko ist mein Freund; ich kenne ihn gut. Er würde uns niemals etwas antun.«
Im gleichen Moment, da er es aussprach, kamen ihm bereits Zweifel. Aiko war kein Mensch mehr... gewesen. Er hatte sich seit der Hirn-OP immer mehr von einem fühlenden, empfindsamen Wesen zu einem logisch-kalten Cyborg gewandelt. Das war vor wenigen Monaten erst deutlich geworden, als Aiko den infizierten David McKenzie erschoss. Vom logischen Gesichtspunkt aus betrachtet hatte er richtig gehandelt, denn Dave drohte viele Menschen mit sich ins Verderben zu reißen. Aber Matt und Honeybutt, die die »Exekution« mitbekommen hatten, waren über Aikos Kaltblütigkeit erschüttert gewesen. Aiko hatte sein Geheimnis gelüftet: Emotionen waren für ihn nur noch künstlich simulierte Programmroutinen. Sein organisches Gehirn war bei einem Kampf mit den Nordmännern durch überlastete Implantate so schwer geschädigt worden, dass seine Mutter Naoki es bei der Operation gänzlich entfernt und durch einen Massenspeicher ersetzt hatte. Ohne ihrem Sohn etwas davon zu sagen. Gleichzeitig musste sie von dem Hirnspeicher eine Sicherheitskopie gemacht und in den Kristall überspielt haben, den sie seither um den Hals getragen hatte. Was bedeutete, dass der »virtuelle Aiko« vom Fortgang des Krieges gegen die Daa'muren gar nichts wusste. Seinem Wissensstand nach befand er sich noch in Amarillo... vor anderthalb Jahren! (also im Februar 2020) Der echte Aiko hatte nur allmählich herausgefunden, dass alles, was er für Emotionen hielt, nur Echos seines früheren Selbst waren. Dass er nie mehr so sein würde wie früher. Der gute Freund, der mit Matt und Aruula einst über die postapokalyptische Erde gezogen war, der Honeybutt geliebt hatte – er existierte nicht mehr. Aber das bedeutete nicht automatisch, dass der virtuelle Aiko ein psychopathischer Killer war. Sondern vielmehr eine erschreckte, desorientierte Simulation eines Menschen, der nicht wusste, was geschehen
war und wo er sich befand. Und der in den ersten Minuten seines »Erwachens« miterleben musste, wie man seine Mutter zu töten versuchte! »Ich werde Ihnen alles erklären, so weit ich es mir zusammenreimen kann«, sagte Matt zu Jawie. »Bitte, hören Sie mir zu!« »Aber schnell!«, forderte sie ihn auf. »Aikos Bewusstsein hat sich mit unserem Schiffscomputer verbunden und lernt jede Sekunde dazu, wie das Schiff zu handhaben ist. Er kann uns vermutlich sehen und hören und ist, wie Sie selbst gehört haben, ziemlich verwirrt.« Matt berichtete so kurz und treffend wie möglich von seinem Freund Aiko Tsuyoshi, Sohn der Unsterblichen Naoki Tsuyoshi und Miki Takeo, der sich nach der Implantierung eines kybernetisches Gehirns immer mehr verändert hatte, kühl und distanziert geworden war, von der Logik beherrscht. »Naoki muss eine Kopie seines Gedächtnisses in den Kristallspeicher geladen haben«, schloss Matt. »Sie hat es immer mit sich herumgetragen, vielleicht in der Hoffnung, ihm eines Tages wieder ein normales Leben zu ermöglichen.« »Und nun ist das Gegenteil eingetroffen«, sagte Jawie. »Offensichtlich weiß Aiko nicht einmal, dass er nur noch ein Bewusstseinsfragment ist und kein lebender Organismus mehr.« »Lassen Sie mich mit ihm reden!«, bat Matt. »Ich kann es ihm verständlich machen. Auf mich wird er hören, weil er mich kennt! Das wird ihm seine Ängste nehmen.« Ein donnernder Schlag ließ das ganze Schiff erzittern. Für einige Sekunden setzte die Schwerkraft aus, und die Anzugsysteme meldeten einen rapiden Abfall des Atmosphärendrucks. Das Licht flackerte, und der Boden schwankte. Jawie und Matt taumelten wie Betrunkene, als die Schwerkraft wiedereinsetzte.
»Es geht los«, flüsterte Jawie und setzte ihren Helm auf. »Wir haben keine Zeit zu verlieren!«, drängte Matt. »Machen Sie schon! Bringen Sie mich in die Zentrale, meinetwegen in Handschellen, aber zögern Sie nicht länger!« Jawie nickte. Sie betätigte den Öffnungscode. »Palun, können wir dich allein lassen?« »Geht, ich komme zurecht.« Der Mediziner arbeitete hektisch, um Naoki zu stabilisieren. Wer konnte sagen, was Aiko tun würde, wenn sie starb? *** »Was tut der hier?« Leto deutete auf Matt, der zusammen mit Jawie in die Messe kam. »Er weiß, wer die Stimme im System ist«, antwortete Jawie. »Er kann mit ihm sprechen. Sie sind... waren Freunde, als die Stimme noch einen Körper besaß.« »Solche Freunde haben Sie?« Leto hob eine Braue, sein Gesicht war finster. »Dann möchte ich Ihre Feinde nicht kennen lernen.« »Aiko kann nichts dafür«, verteidigte Matt sich und den Cyborg. »Er ist verwirrt, weil er nicht nachvollziehen kann, was passiert ist. Er hat keine Erinnerung an die vergangenen eineinhalb Jahre, weil dieses Bewusstsein sie nie erlebt hat! Er weiß lediglich, dass er irgendwo gefangen ist und jemand versucht hat, seine Mutter umzubringen. Das würde Sie auch durchdrehen lassen, wetten?« Leto winkte zornig ab. »Palun hat mich schon über Ihren obskuren Verdacht informiert. Darüber reden wir später, das hat momentan nicht Priorität.« Er deutete auf das Tischterminal, auf dem alle Anzeigen wild blinkten. »Er hat das Schiff unter seine volle Kontrolle gebracht. Ich habe versucht, ein Besatzungsmitglied aus dem Wartungsschacht zu befreien, aber vergeblich. Wir sind Gefangene. Lorres sitzt in
der Zentrale fest, aber immerhin können wir noch kommunizieren.« Maya kam auf Matt zu und musterte ihn eindringlich. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um ihren Blick erwidern zu können. »Sehen Sie eine Chance, dass er das Schiff wieder freigibt, wenn Sie mit ihm reden?« »Ich denke schon. Er wird sich an mich erinnern. Ich bin sicher, dass ich ihn zur Vernunft bringen kann.« Matt sprach ruhig. Die Ablehnung der Marsianer schlug ihm wie eine vom Sturm aufgepeitschte Woge entgegen. Er konnte es ihnen nicht einmal verdenken. »Ich möchte Ihnen helfen«, setzte er hinzu. »Bitte vertrauen Sie mir.« Leto stieß ein abfälliges Geräusch aus. »Wir sehen, wohin wir mit unserem Vertrauen bisher gekommen sind!« »Leto«, mahnte Maya. »Bitte, das hilft uns nicht weiter. Die Lage ist ernst.« »Na schön, ich informiere Lorres«, stimmte der Kommandant schließlich zu. »Wo wollen Sie mit ihm sprechen?« »Am besten dort, wo alle Kontrollen liegen, also in der Zentrale«, sagte Matt. »Und allein.« »Auf keinen Fall!«, protestierte der bereits zugeschaltete Lorres. »Ich rühre mich hier nicht weg, Drax! Das ist immer noch mein Computersystem, und ich werde nicht zulassen –« »In Ordnung«, beschwichtigte Matt. »Es wäre nur hilfreich gewesen... aber egal. Ich bin auf dem Weg.« Matt atmete tief durch, als er die Zentrale betrat. Hinter ihm schloss sich das Schott sofort wieder. Auf drei Bildschirmen waren die Messe, die Quarantäne-Station und Merla gefangen im Wartungsschacht zu sehen. In der Messe war eine weitere Person angekommen, die Matt bisher noch nicht gesehen hatte. Wahrscheinlich das Ratsmitglied.
Er nickte kurz Lorres Rauld Gonzales zu, der den öffentlichen Bordkanal aktivierte. »Aiko? Ich bin's wieder«, begann Matthew. »Kannst du mich hören?« »Laut und deutlich. Und sehen. Meine bionischen Augen wurden wohl an die Bordkameras angeschlossen... wenn ich auch nicht weiß, warum. Verdammt, Matt, was ist hier los? Wo bin ich? Was geschieht mit mir?« »Nur die Ruhe, Aiko. Ich werde dir alles erklären. Dir helfen... wenn du mich lässt. Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?« »Ich weiß nicht... an einen Kampf... einen blendenden Blitz... und dann ist alles wie Watte... und Staub. Alles ist im Aufruhr; ich bekomme meinen Kopf einfach nicht klar.« Es war irritierend, mit einer Stimme aus dem Off zu reden. Matt stellte sich Aikos Gesicht dazu vor. »Kannst du dich an unsere gemeinsamen Reisen erinnern, Aiko? Aruula war auch mit dabei.« Er musste seine Fragen gut abwägen, durfte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Niemand konnte Aikos Reaktion voraussagen, wenn er erfuhr, dass sein Körper längst tot war, er die letzten achtzehn Monate in einem Datenkristall verschlafen hatte und jetzt nur noch ein künstliches Bewusstsein im System eines Raumschiffs war. »Aruula, ja, ich erinnere mich. Wie geht es ihr? Wo ist sie?« Matt schluckte den Kloß herunter, der sich in seinem Hals zu bilden drohte. »Es geht ihr gut.« Schnell wechselte er das Thema. »Wir wollten von Meeraka aus über die Beringstraße nach Russland, weißt du noch? Wir kamen nach Sub'Sisco, eine halb versunkene Stadt. Dort fanden wir Mischlinge aus Menschen und Hydriten, die Mendriten. Sie sollten eine Brücke zwischen unseren Völkern schlagen.« »Ja... Haben sie es geschafft?« »Nein, das ging leider schief, wie so vieles andere. Und weißt du noch, die Eisfrau? Sie war so alt wie deine Mutter,
aber nicht unsterblich. Wir weckten sie aus ihrem Kälteschlaf...« »Dr. Amber Floyd, richtig? Wir weckten sie... und dann alterte sie rapide...« Matt begann Hoffnung zu schöpfen. Anscheinend bekam Aiko allmählich Ordnung in seine Erinnerungen. Er war jedenfalls auf dem richtigen Weg. »Ja, genau, Aiko! Und kannst du dich an den Kratersee erinnern?« »Der... Komet, der dort vor über fünfhundert Jahren einschlug?« »Richtig. Wir haben dort eine außerirdische Rasse entdeckt, die Daa'muren, und mussten vor ihnen fliehen, nach England – « »– wo wir vom Regen in die Traufe gerieten«, führte Aiko den Satz weiter. »Es gab einen Kampf bei Leeds... gegen die Nordmänner! Ich wurde verwundet, und du warst verschollen, Matt! Aber warum weiß ich nichts von deiner Rückkehr?« Matt spürte, wie seine Finger in den Handschuhen feucht wurden vor Aufregung. Jetzt galt es, behutsam vorzugehen. »Die Explosion hatte deine Hirnimplantate schwer beschädigt, Aiko«, sagte er, »und Honeybutt brach mit dir nach Meeraka auf, nach Amarillo...« Er hielt inne, ließ Aiko Zeit, sich selbst zu erinnern. Und fühlte einen Schauder über seinen Rücken laufen, als der Cyborg mit veränderter, aber ruhiger Stimme sagte: »Irgendetwas ging schief bei der Operation, nicht wahr? Ich glaube meinen Körper zu fühlen, aber das ist nur eine Illusion, nicht wahr? Matt, mein Freund, was ist mit mir geschehen?« *** Matt atmete auf. Jetzt war es heraus, und Aiko war von selbst darauf gekommen, ohne auszurasten. Die Gefahr, dass die
menschliche, gefühlsbetonte Seite seines Bewusstseins in den Wahnsinn flüchtete und dabei die logische denkende, bionische Seite mitnahm, schien fürs Erste gebannt. Solange ein neuerlicher emotionaler Schock das filigrane Gleichgewicht nicht kippen ließ. »Ich werde dir alles erzählen, Aiko«, begann er. »Vieles ist seither geschehen, aber dein Bewusstsein hat alle Gefahren überstanden. Wir werden dich retten können, davon bin ich überzeugt.« »Mein Körper... ist also vernichtet?«, fragte Aiko tonlos. »Aber nicht dein Geist«, entgegnete Matt. »Wir werden einen Weg finden, ihn in einen neuen Körper zu transferieren, davon bin ich überzeugt.« Und dann berichtete er, so weit er es verantworten konnte. Irgendwie musste er ja erklären, wie Aikos Bewusstsein auf das Schiff und in das System der Marsianer gekommen war. Aiko hörte fast ohne Unterbrechung zu. Nur zweimal stellte er Zwischenfragen, als er Mühe hatte, der Geschichte zu folgen. Das war einmal bei der Eröffnung, dass der Komet in Wahrheit ein gesteuertes Raumschiff der Außerirdischen war, und zum zweiten, dass die Daa'muren die halbe Erde durch die Explosion einer Kette von Atombomben in Mitleidenschaft gezogen hatten. Matt berichtete, wie nur Naoki und er davongekommen waren, weil sie sich auf der ISS befunden hatten, und schilderte die Begegnung mit den Marsianern auf der Mondstation. »Naoki wurde stabilisiert«, endete er seinen Bericht. »Auf dem Mars wird man ihr helfen können. Die Besatzung erhoffte sich Informationen über sie und die Erde in dem Datenkristall, den sie um ihren Hals trug. Die Leute waren ganz schön überrascht, als sie dabei auf dein Bewusstsein trafen. Und wie soll ich sagen...? Du hast ein ziemlich einnehmendes Wesen, mein Freund. Du bist in ihren Bordcomputer eingedrungen und
hast ihn übernommen, inklusive der Kameras und Mikrofone. Deswegen können wir jetzt miteinander plaudern.« »Das alles ist sehr schwer zu begreifen«, sagte Aiko, als Matt schwieg. »Ich finde den Gedanken nicht besonders ermutigend, nur noch ein Geist in der Maschine zu sein.« »Ich schlage vor, dass du die Kontrolle wieder an die Marsianer übergibst«, meinte Matt. »Sie kennen sich mit dem System besser aus.« »Und wenn ich das tue, was wird dann aus mir?«, fragte Aiko. »Werden sie mich umgehend löschen? Den Kristallspeicher für immer wegschließen?« »Wir denken da eher an einen Transfer deines Bewusstseins in ein kybernetisches Gehirn«, beeilte sich Matt zu erklären – obwohl er nicht einmal wusste, ob die Marsianer das bewerkstelligen konnten. Sie hatten ihm ja bislang kaum etwas über ihre Zivilisation verraten; das rächte sich nun. »Auf dem Mars haben sie eine sehr viel weiter entwickelte Technologie als wir, Aiko. Dort wird man dir einen neuen Körper zur Verfügung stellen.« »Das klingt gut«, sagte Aiko zögernd. »Aber ich frage mich, wieso deine Stimme dabei zittert und sich deine Schweißproduktion um drei Prozent erhöht hat.« Matt spürte einen eiskalten Schauer über seinen Rücken laufen. Er hatte gelogen, wenn auch in bester Absicht, und Aiko hatte es mit den Schiffssensoren bemerkt. »Weil das Risiko besteht, dass dabei etwas schief läuft«, versuchte er zu retten, was noch zu retten war. »Schließlich sind Menschen und Marsianer verschieden; Komplikationen sind immer möglich. Aber ich werde für dich tun, was in meiner Macht steht. Bitte glaub mir das.« »Ja...« »Wie lautet deine Entscheidung, Aiko?« »Ich überlege.« »In Ordnung. Lass dir Zeit.«
Dies war ein sehr heikler Moment. Matt durfte Aikos Bewusstsein keinesfalls drängen, auch wenn es jetzt so schien, als ob sein Freund zur Vernunft gekommen wäre. Seine emotionale Stabilität war aber noch keineswegs gesichert. Da sah er Lorres wild gestikulieren und auf einen der Bildschirme deuten. Palun war in Hektik ausgebrochen. Er rannte an der Liege hin und her, hantierte an den Maschinen... und hielt dann plötzlich inne. Er sah direkt in die Kamera und schüttelte leicht den Kopf. Es wirkte wie ein Signal, ein verabredetes Zeichen. Matt spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Nicht jetzt, nicht ausgerechnet in diesem Moment! »Mutter!«, schrie Aiko auf. Seine Stimme überschlug sich. *** Letos Stimme erklang über die Lautsprecher: »Haltet euch irgendwo fest! Ich schalte ab!« Noch während sich Matt über den Sinn der Worte klar zu werden versuchte, erlosch das Licht. Vollkommene Dunkelheit umgab ihn, in der nicht einmal mehr die Kontrolllämpchen der Konsolen leuchteten. Der Kommandant hatte offensichtlich das gesamte elektrische System herunter gefahren! Zweifellos um Aikos Bewusstsein aus dem Computerspeicher zu löschen. Matt hatte sich natürlich nicht festgehalten. Nun trieb er in der Schwerelosigkeit durch den Raum und stieß mit dem Helm irgendwo an. »Hallo?«, rief er in die Dunkelheit. Zu seiner Überraschung erhielt er Antwort. Natürlich; die Raumanzüge verfügten über einen eigenen Stromkreislauf! »Bleiben Sie ruhig«, sagte Lorres' Stimme in seinem Helm. »Leto wird den Computer gleich neu starten. Dann wird der Spuk hoffentlich ein Ende haben.«
»Warum haben Sie das nicht schon längst versucht?«, fragte Matt. »Weil damit auch das Lebenserhaltungssystem der Dame Tsuyoshi deaktiviert wird«, antwortete Lorres. »Solange sie lebte, konnten wir es nicht wagen. Und auch jetzt ist es noch riskant.« »Ich starte das Computer-Backup«, erklang Leto Angelis' Stimme über Helmfunk. »Hoffen wir, dass alles funktioniert.« Flackernde Lichter, flimmernde Monitore. Eine Deckenlampe glühte auf – direkt vor Matts Gesicht. Eine Zehntelsekunde später setzte die künstliche Schwerkraft ein, und er stürzte einen guten Meter tief zu Boden. Ein Scherzlaut kam über seine Lippen, als er sich das Steißbein prellte. In den ersten Sekunden wagte niemand zu sprechen, ja nicht einmal zu atmen. Alle horchten angespannt und bange auf die Stimme im System. Aber sie blieb stumm. Endlich atmete Leto auf. Er reichte Matt die Hand und zog ihn hoch. »Das scheint geklappt zu haben. Nun müssen wir nur noch –« »Ihr habt sie umgebracht!«, donnerte Aikos Stimme durch die PHOBOS. »Und mich wolltet ihr auch ermorden! Dafür werdet ihr büßen!« Die Aktion war gescheitert. Der »Virus« Aiko Tsuyoshi hatte sich als speicherresident erwiesen. Und nun war er – verständlicherweise – sauer. Um es gemäßigt auszudrücken. Matt hatte es kommen sehen. Der Schock über den Tod seiner Mutter hatte Aikos emotionales Gleichgewicht kippen lassen, der Schmerz und die Wut über den Verlust überdeckte die logische Seite seines Bewusstseins. »Er dreht durch!«, kam Maya Joys atemlose Stimme über den Bordfunk. »Weitere Systeme werden im Sekundentakt infiziert!«
Auf einem der Bildschirme konnte Matt sehen, dass sie Naokis Datenkristall in der Hand hielt. Sie hatte ihn während der Stromunterbrechung vom Computer getrennt. Genutzt hatte es nichts. Vermutlich hatte sich Aikos Bewusstsein längst in den Schiffsspeicher geschrieben und war mit dem Neustart wieder reaktiviert worden. »Aiko, bitte hör mir zu!«, versuchte er mit dem Geist in der Maschine erneut ins Gespräch zu kommen. »Handle jetzt nicht impulsiv! Versuch die Besatzung zu verstehen. Gemeinsam finden wir eine Lösung...« Er verstummte, weil ihm schlicht die Argumente ausgingen. Für Aikos mit dem Bordcomputer verschmolzenes Bewusstsein war die Sachlage klar: Man hatte versucht, ihn zu löschen – im weitesten Sinne zu ermorden. Ein Schicksal, das seine Mutter bereits ereilt hatte. Kein Wunder also, dass Matts Versuch nicht fruchtete. Aiko raste durch die Systeme der PHOBOS, manipulierte und zerstörte etliche Programme. Das erste System, das zusammenbrach, war die Lebenserhaltung. Was irrelevant war, solange sie ihre Anzüge trugen. Danach folgte die Abschaltung der Schwerkraft. Kabel und Leitungen wurden überlastet und schmorten durch; es entstanden lokale Brände und die Gefahr von Überschlagblitzen. »Auge um Auge, Zahn um Zahn!«, zitierte Aiko ausgerechnet die Bibel. »Ich werde euch vernichten, so wie ihr mich vernichten wolltet. So wie ihr meine Mutter getötet habt!« »Aiko!«, versuchte Matthew es noch einmal. »Um unserer Freundschaft willen –« Aiko fiel ihm ins Wort: »Freundschaft? Du hast mich mit falschen Versprechungen abgelenkt, während die Mörder Naokis und meinen Tod planten! Du hast mich verraten! Wir sind keine Freunde mehr, Matthew Drax!« Matt gab darauf keine Antwort mehr; er wusste, es hatte keinen Sinn. Das war nicht mehr der Aiko Tsuyoshi, mit dem
er über die Erde gewandert war. Das hier war ein pervertiertes Bewusstsein, eine unheilvolle Symbiose aus mathematischen Routinen und virtuellem Wahnsinn. »Was können wir tun?«, fragte er Lorres, der ununterbrochen an einer Konsole arbeitete. »Nichts«, antwortete der Marsianer. »Aiko hat die volle Kontrolle. Er kann mit uns machen, was er will. Und er tut es auch.« Er deutete auf den Bildschirm, der Merla zeigte. Matt fuhr hoch. »Nein«, flüsterte er. *** Merla hatte begriffen, dass vorerst keine Möglichkeit bestand, sie aus der Schleuse zu holen. Nach wie vor bestand keine Funkverbindung, warum auch immer. Laut den Anzeigen des Anzugs war das Gerät in Ordnung. Vielleicht wurde sie sogar gehört, aber sie konnte nicht empfangen. Was war mit den anderen? Was ging dort draußen vor? Ein Angriff? Aber von wem? Merla wollte nicht länger untätig herumsitzen. Schon wegen ihrer Klaustrophobie musste sie sich irgendwie beschäftigen, um nicht durchzudrehen. Sie hatte sich zusammengereimt, dass irgendjemand – die geheimnisvolle Stimme – das System übernommen hatte. Seither spielte alles verrückt. Aber niemand vergriff sich ungefragt und unbefugt an ihrem Schiff! Merla griff zum Werkzeug. Sie wollte versuchen, sich Zugang zu einer Hauptstromleitung zu verschaffen. Möglicherweise war Lorres an einem Terminal und bekam mit, dass die Stromzufuhr an einer Stelle unterbrochen war. Dann würde er umgehend reagieren und auf ihre Lage aufmerksam werden.
Merla wusste, dass es in der Nähe des Schotts eine Wartungsluke für die Energieleitungen gab. Sie musste sie nur abschrauben und alle Kabel kappen. Bisher war sie sehr vorsichtig gewesen, um nichts zu beschädigen. Wie sie die Lage aber jetzt einschätzte, musste sie selbst Sabotage betreiben, um den Saboteur festzunageln. Sie konnte nur hoffen, dass mit der restlichen Besatzung alles in Ordnung war. Und dass entsprechend den Sicherheitsvorschriften jeder einen geschlossenen Anzug trug. Also machte sich die Technikerin an die Arbeit. Sie war es gewohnt, unter Stress zu arbeiten, daher waren ihre Hände ruhig. Sie schraubte die Verkleidung ab. Der Schacht dahinter lag frei. Finger- bis armdicke Kabel zogen sich hier durch, jedes in einer anderen Farbe. Dummerweise lagen die wichtigen Kabel in dem dichten Gewirr verborgen, und sie musste sich erst dazu vorarbeiten. Merla nestelte an den Taschen ihres Anzugs herum und fand schließlich ein Messer mit isoliertem Griff. Damit musste es gehen, schneller jedenfalls als mit einer Zange. Die junge Frau machte sich an die Arbeit und verfluchte bald darauf die hervorragende Qualität des Materials, das sich als äußerst widerstandsfähig erwies. »Ich sehe dich«, erklang plötzlich die fremde Stimme in ihrem Helm, mit einem Tonfall, bei dem es Merla eiskalt den Rücken hinunterlief. »Ich dachte schon, ihr hättet mich alle vergessen«, gab sie zurück. »Was tust du da?« »Ich suche nach einem Weg ins Schiff, was denkst du denn? Bist du es, der mich hier festhält?« »Es gefällt mir nicht, was du da tust.« »Und mir gefällt es nicht, gefangen zu sein! Wie hast du das gedreht mit der Notentriegelung?« »Hör auf damit. Entferne dich von den Leitungen. Sofort!«
»Ist ja schon gut!« Merla gehorchte. Das Drohen in der Stimme erschreckte sie. Der Fremde meinte es ernst. »Siehst du? Ich bin weit weg.« »So ist es gut.« »Was hast du jetzt mit mir vor?« »Was sollte ich vorhaben?« Allmählich reichte es Merla. Seit Stunden war sie eine Gefangene, der Willkür eines offensichtlich Irren ausgesetzt. Keiner von der Besatzung. Aber wer dann? Der fremde Erdling etwa? Ausgeschlossen, der war viel zu primitiv. Gewiss, er hatte ein Shuttle zum Mond geflogen, aber er konnte sich unmöglich mit dem System der PHOBOS zurechtfinden. Der Computer selbst würde seine Befehlseingabe nicht akzeptieren. Also niemand, der aus Fleisch und Blut war...? Merla wurde blass. Ein Computerprogramm! Irgendetwas, das von fremder Hand eingeschleust und darauf programmiert worden war, das System zu übernehmen. Also doch der Erdenmensch! Hatten sie nicht die Systeme wegen des Andockmanövers der PHOBOS und des irdischen Shuttles zusammenschlössen? War dabei etwas schief gegangen, das sich erst jetzt bemerkbar machte? Oder... der Datenkristall? »Natürlich, das ist es!«, rief Merla. Maya hatte Lorres aufgefordert, ihn zu analysieren. Und dabei musste etwas ins System geraten sein, hatte es befallen und breitete sich nun mit rasender Geschwindigkeit aus. »Verrätst du mir, was du vorhast?«, fragte Merla. »Sie haben meine Mutter ermordet...«, krächzte die fremde Stimme. »Deine... Mutter? Sprichst du von Dame Naoki Tsuyoshi?« »Sie ist tot!« Verdammt. Das auch noch. Das Programm verfügte über eine virtuelle Persönlichkeit, die durch den Tod der Cyborg
offenbar außer Kontrolle geraten war. Sie musste versuchen, Zugang zu erlangen. »Hast du einen Namen?«, fragte sie. »Ich bin Merla. Merla... Tsuyoshi.« Sie hoffte, sich durch diese Lüge einen Vorteil verschaffen zu können. »Ich bin Aiko. Auch Tsuyoshi. Wie ist das möglich?« »Wir sind gewissermaßen verwandt, Aiko«, sagte sie. »Hat dir deine Mutter jemals von einer Expedition zum Mars erzählt? Da war eine Tsuyoshi an Bord, Akina. Sie ist meine Vorfahrin.« »Du... erfindest das alles! Was bezweckst du damit?« »Es ist die Wahrheit. Das Haus Tsuyoshi ist eines der größten auf dem Mars. Du hast Tausende Brüder und Schwestern, Aiko. Wir sind nicht deine Feinde, im Gegenteil!« »Du lügst! Ihr habt versucht, mich aus dem System zu löschen!« Der Stromausfall von vorhin! Er war also nicht auf ihren Bereich begrenzt gewesen, wie Merla gedacht hatte, sondern war schiffsweit aufgetreten. Man hatte versucht, die fremde Intelligenz aus dem Computer zu tilgen. Augenscheinlich war es schief gegangen. Sie versuchte das Thema zu wechseln. »Hör mal, ich bin etwas nervös, weil ich keine engen Räume um mich vertrage. Das... macht mir Angst. Was hast du davon, mich hier festzuhalten? Ich kann dir helfen, denn ich kenne das Schiff besser als die meisten anderen! Bitte, lass mich endlich hier raus...« Schweigen antwortete ihr. Die abstruse Situation zerrte an Merlas Nerven; für so etwas war sie nicht ausgebildet. Sie war keine Heldin, und sie wollte auch nie eine werden. Plötzlich war Aikos Stimme wieder da. »Also gut. Du kannst nichts dafür, denn du warst nicht dabei. Ich öffne das Schott, du kannst gehen.«
Merla stieß den angehaltenen Atem aus. »Danke. Vielen Dank!« *** »Wer hat hier das Sagen?«, erscholl Aiko Tsuyoshis Stimme eine Zehntelsekunde später in der Messe. »Das bin ich«, antwortete Leto Angelis. Ein Bildschirm zeigte Merla im Wartungsschacht, die gerade auf das Hauptschott zu schwebte. »Sie arbeitet für dich?« »Sie ist ein Besatzungsmitglied, wenn du das meinst«, antwortete der Kommandant. »Jeder von uns hat hier seine Aufgabe –« »Sie ist böse!« Leto blinzelte verwirrt. »Wie bitte?« »Sie versucht mit Lügen mein Vertrauen zu gewinnen, dabei will sie mich abschalten! Sieh her!« Im rechten unteren Ausschnitt wurde in einer Vergrößerung ein offener Kabelschacht gezeigt. »Haltet ihr mich für so dumm? Sie behauptet eine Tsuyoshi zu sein, dabei ist ihr Name laut Datenbank Gonzales. Ihr biedert euch an, sprecht von Freundschaft und Hilfe, dabei wollt ihr mich umbringen, genau wie meine Mutter!« »Nein!« Leto hob beschwörend die Hände. »Hör zu, Aiko, das interpretierst du falsch! Merla wollte offensichtlich die Verbindung zum Schott unterbrechen, um es mit der Hand aufzuschieben! Das ist die letzte Möglichkeit, wenn etwas mit der Notentriegelung nicht klappt!« »Alles nur Lügen! Ihr seid böse!« »Aiko, hör mir zu«, bat Leto. »Du hast uns alle in der Hand, wir können nichts unternehmen. Sag uns, was du willst! Wir werden für dich tun, was wir können. Und was deine Mutter angeht: Sie war sehr krank, ihr Tod war unausweichlich!«
»Das sagst du nur, um den erbärmliches Leben zu retten! Ich weiß, dass du an nichts anderes denkst, als mich zu vernichten! Aber ich werde dir zeigen, was es heißt, mich anzulügen! Sieh genau hin!« *** »Was können wir tun?«, fragte Matthew, während er Merla beobachtete, die langsam auf das Schott zuschwebte. Sie konnten keine Funkverbindung zu ihr herstellen. »Ich versuche es gerade über das Notlicht in der zweiten Sektion«, antwortete Lorres. Er stieß ein mitleidiges Geräusch aus. »Die arme Merla«, sagte er mehr zu sich selbst. »Ihre Vitalwerte sehen nicht gut aus. Sie atmet viel zu kurz und hektisch. Bald wird sie hyperventilieren, und das macht es nur noch schlimmer. Hoffentlich bekommen wir sie rechtzeitig da raus.« »Wenn ich nur wüsste, was Aiko vorhat!«, stieß Matt hervor. Seit dem abrupten Ende der Diskussion bestand kein Kontakt mehr zu ihm, auch zu den anderen in der Messe nicht. Lorres hatte es irgendwie geschafft, Sichtverbindung zu halten, aber das war auch schon alles. Lorres deutete auf den offenen Kabelkanal im Wartungsschacht. »Merla wollte die Energiezufuhr kappen. Kluges Mädchen.« »Aber vergebens, Aiko ist dahintergekommen. Warum schwebt sie jetzt zum Schott?« »Vielleicht versucht sie es nochmals über die Notentriegelung. Keine Ahnung, was da passiert ist, vielleicht ein von Aiko künstlich erzeugter Unterdruck.« Matts Augen weiteten sich. »Es öffnet sich, sehen Sie? Aiko lässt sie frei! Vielleicht konnte sie ihn wenigstens in dieser Hinsicht überzeugen!«
»Merla hat eine Menge Fähigkeiten, vor allem wenn sie unter Druck gerät«, meinte Lorres. »Aber seltsam... Sehen Sie, wie die anderen in der Messe reagieren? Sie scheinen verzweifelt über diese Entwicklung.« Matt wurde kreidebleich. »Das ist eine Falle!«, erkannte er. »Und Merla tappt ahnungslos hinein!« Merla bekam kaum noch Luft. Sie hyperventilierte. Die Panikattacke hatte sie voll im Griff, sie konnte nichts dagegen tun. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Aiko. »Nein«, stieß die Technikerin würgend hervor. »Muss... hier... raus...« Sie rang nach Luft, ihr ausgestoßener Atem pfiff. Ein letzter Rest Vernunft warnte sie, sich zu beruhigen, aber der Rest ihres Verstandes war mit Stresshormonen überflutet. Raus, nur noch raus, das war ihr einziger Gedanke. »Alles wird gut«, sagte Aiko. »Schau, ich öffne das Schott zur Schleuse. Gleich hast du es hinter dir.« »Da-danke«, stotterte Merla. Glühende Sterne tanzten vor ihren Augen, und sie spürte eine Ohnmacht nahen. Nicht jetzt! Nur noch ein wenig durchhalten! Sie hatte das Schott erreicht, klammerte sich an das schwere Rad, das sich aus der Verankerung gelöst hatte und zurückgerollt war. Dahinter lag die hell erleuchtete Schleuse. Gleich war sie in Sicherheit... In der Messe schrien sich alle die Kehlen heiser, das war auf dem Bildschirm deutlich zu sehen, obwohl sie wissen mussten, wie sinnlos das war. Merla konnte sie weder sehen noch hören. Aber auch Matt und Lorres brüllten in der Zentrale, versuchten, Kontrolle über das Schott zu bekommen.
Die junge Frau hatte den Ausgang erreicht. Gerade als sie den Oberkörper hindurch schob, glitt die schwere Schleusentür wieder zu! Unter normalen Umständen hätte sie versuchen können, nach den Rändern des Schotts zu greifen und sich schnell hindurch zu ziehen. Doch sie schien nicht mehr ganz bei sich zu sein. Ihre Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert. Sie schien die Gefahr nicht zu bemerken. Das Schott schloss sich in ihrer Körpermitte. *** »Dies soll euch eine Warnung sein, mich noch einmal hintergehen zu wollen«, klang Aikos Geisterstimme durch das Schiff. »Ihr Tod war absolut sinnlos!«, brüllte Maya Joy. »Wir können nichts gegen dich unternehmen. Warum hast du sie trotzdem umgebracht?!« »Aus Gnade«, sagte Aiko mit einer Stimme, die den Menschen an Bord einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. »Ihr alle werdet sterben – und euch wünschen, dass es so schnell ginge wie bei ihr.« Für Sekunden herrschte absolute Stille an Bord. Der Schock dieser Ankündigung hielt sie alle gefangen. Schließlich brach Leto Angelis das Schweigen: »Was hast du vor, Aiko?« »Ich will ein würdiges Begräbnis für meine Mutter«, antwortete der Geist in der Maschine. »Verhaltet euch ruhig und unternehmt nichts mehr gegen mich, dann werde ich auch euch ein schnelles Sterben schenken.« Mehr schien er nicht preisgeben zu wollen. »Ein würdiges Begräbnis... was meint er damit?«, murmelte Maya. Leto starrte auf eine Anzeige des Navigationsrechners. »Wir haben unseren Kurs verlassen«, sagte er. »Aiko will seine
Mutter ganz offensichtlich feuerbestatten. Die PHOBOS hat Kurs auf die Sonne genommen.« »Das... das kann er nicht tun!«, rief Beta Braxton und zeigte damit ihre ganze Hilflosigkeit. »Wie Sie sehen, hat er keine Schwierigkeiten damit«, erwiderte der Kommandant. »Aiko ist fest mit den Schiffssystemen verschmolzen. Er hat die volle Kontrolle – und wir keine Möglichkeit, ihn zu isolieren. Drax hat versagt, und das hat Merla das Leben gekostet.« Jawie schniefte. »Leto, wir müssen etwas tun!«, flüsterte sie. Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich werde versuchen, mit ihm zu reden.« »Jawie, das bringt nichts«, sagte Maya sanft. »Aiko besitzt keine menschliche Vernunft mehr. Die Verschmelzung mit unserem System hat ihn endgültig wahnsinnig gemacht. Wenn Drax keinen Erfolg hatte, wie soll es dir gelingen?« »Ich versuche es trotzdem!«, beharrte Mayas Verwandte. »Aiko, ich weiß, du kannst mich hören! Ich bin Jawie Tsuyoshi –« »Noch eine Tsuyoshi? Ah – diesmal aber eine echte. Rede!« Jawie blickte zu Maya. »Wir sind eine große Familie«, antwortete sie dann diplomatisch. »Ein sehr wichtiges Haus auf dem Mars. Dorthin wollen wir deine Mutter bringen, um sie in allen Ehren beizusetzen! Wir sind sicher, dass ihr beide, Naoki und du, blutsverwandt mit uns seid!« »Das hat Merla Gonzales auch behauptet.« »Es ist so!«, sagte Jawie schnell. »Auch Maya Joy Tsuyoshi gehört unserer Familie an. Du kannst dir unsere Aufregung vorstellen, als wir erfuhren, dass Naoki eine von uns ist! Deshalb haben wir auch alles versucht, sie am Leben zu erhalten, Aiko. Ein Elektromagnetischer Impuls hat die Implantate in ihrem Gehirn zerstört, und weitere Cyborg-Teile ihres Körpers. Ihre Chancen standen von Anfang an sehr schlecht. Leider hat sie nicht überlebt.«
»Weil ihr sie ermordet habt!« »Hast du das gesehen, Aiko?«, fragte sie. Es dauerte eine Sekunde, bis die Stimme antwortete. »Ich hörte eine Durchsage über den Bordfunk, in dem der Name meiner Mutter fiel: Notfall in der Quarantänestation! Jemand versucht Naoki Tsuyoshi zu ermorden! Bitte, ich brauche Hilfe, schnell! Als ich Zugriff auf die entsprechende Kamera erlangte, war der Mörder bereits geflohen.« »Ah«, machte Jawie. »Dann ist es nur eine Vermutung, keine Gewissheit!« »Fakt ist, dass Naoki tot ist!« »Ja, sie ist tot«, lenkte Jawie ein. »Der EMP hat sie getötet. Aber wir, die Familie Tsuyoshi, möchte ihr Vermächtnis bewahren. Wenn wir in der Sonne verglühen, bleibt nichts übrig, an das sich spätere Generationen erinnern könnten. Und du selbst möchtest doch auch nicht sterben, das hast du selbst gesagt!« »Ich habe erkannt, dass meine Existenz nur noch aus ein paar Programmroutinen besteht. Auf so ein Leben kann ich verzichten.« »Aber damit bringst du auch uns alle um«, wandte Jawie verzweifelt ein. »Ihr habt es nicht anders verdient. Ihr seid Mörder.« »Aiko...« »Schluss jetzt! Die Diskussion ist beendet!« Plötzlich setzte die künstliche Schwerkraft wieder ein und ließ sie alle zu Boden stürzen. Aber dabei blieb es nicht! Die Schwerkraft erhöhte sich weiter: von einem drittel G auf ein G, auf zwei, dann drei. Das Schiff begann zu schwanken und zu vibrieren. Die Crew wurde haltlos durch die Messe geschleudert. Jawie landete in einer Ecke. Über ihr ragte ein Ausgabeautomat auf, der sich bedrohlich zu neigen begann. Die junge Frau versuchte sich noch zur Seite zu rollen, aber sie konnte sich kaum noch bewegen, wurde mit brutaler Gewalt
auf den Boden gepresst. Ein Knirschen und Reißen erklang, als sich die Maschine von der Wandung löste. Ein Schatten fiel über Jawie Tsuyoshi. *** Sämtliche Bildschirme erloschen, ebenso die Anzeigen. »Er hat uns von allen Informationen abgeschnitten«, sagte Lorres Gonzales düster. Er und Matthew Drax saßen noch immer in der Zentrale fest, abgeschnitten von den anderen. »Was tun wir jetzt?«, fragte der Commander. »Beziehungsweise: Können wir überhaupt etwas tun?« Seine Stimme klang dumpf unter dem Helm. Lorres nickte grimmig. »Die Energieabschaltung war schon der richtige Weg. Wir müssen dem größenwahnsinnigen Irren den Stecker ziehen.« »Aber Aikos Bewusstsein hat die Abschaltung überstanden«, warf Matt ein. »Vermutlich hat er es auf irgendeine Festplatte geschrieben und lädt es bei jedem Programmstart einfach neu. Wir müssten ein Suchprogramm schreiben, das ihn aufspürt und löscht – aber erstens bin ich kein Programmierer, und zweitens würde er den Versuch schon im Ansatz erkennen.« »Es hätte eh keinen Sinn, weil er Ihren Plan schon kennt«, antwortete Lorres grimmig. »Oder meinen Sie nicht, dass er mittlerweile jedes Wort hören kann, das an Bord gesprochen wird?« Matt kniff die Lippen zusammen. Verdammt, daran hatte er nicht gedacht. Er sparte sich jedes weitere Wort. Ebenso wortlos ging Lorres zu einer der Konsolen hinüber und öffnete deren Abdeckung. »Was soll das werden?«, fragte eine ärgerliche Stimme aus dem Bordfunk. Aikos Stimme. »Hör sofort damit –«
Die Stimme verstummte, als Lorres in die Konsole hineingriff und seine Hand mit einem abgelösten Kabelstrang wieder auftauchte. Matt wollte etwas sagen, aber der Marsianer bedeutete ihm, noch zu schweigen. Er nahm ein langes Kabel mit Steckern an jedem Ende und stöpselte es zuerst in seinen, dann in Matts Helm. Anschließend legte er einen Schalter direkt unter den Buchsen um. »So«, erklang Lorres' Stimme in Matts Helm, »jetzt ist er blind, taub und stumm, zumindest was die Zentrale angeht. Ich habe auch den Helmfunk ausgeschaltet und eine direkte Verbindung etabliert, die er nicht anzapfen kann.« »Gut gemacht!«, lobte Matt. Wenngleich er auch befürchtete, dass Aiko über kurz oder lang Gegenmaßnahmen ergreifen würde. Lorres öffnete einen Schrank und zog einige Folien mit Risszeichnungen hervor, die er über eine Konsole ausbreitete. »Das ist die PHOBOS«, er zeigte auf den Bugteil. »Hier befinden wir uns. Hier ist das Personendeck, der Hauptzugang, Ihre Gefrierkammer, ab hier beginnt die Frachtsektion, und dahinter liegen Antrieb, Energiespeicher, Redundanzsysteme, und so weiter.« Er wies auf einen eingezeichneten Schacht, der sich durch das ganze Schiff zog, und danach auf die Wandverkleidung neben dem Backbordfenster. »Von dort aus können wir in einen Schacht gelangen, der neben dem Kabelund Wartungsschacht liegt, in dem Merla gestorben ist.« »Sieht ziemlich eng aus«, sagte Matt. »Und wohin führt er?« »Zum zweiten Bordcomputer, den wir als Ersatzsystem für den Notfall an Bord haben«, erklärte Lorres. »Wir müssten ihn manuell anschließen. Er besitzt einen eigenen Systemspeicher, auf den Aiko bislang keinen Zugriff hatte.« Matt nickte verstehend. »Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Wer weiß, was Aiko in diesem Moment ausbrütet.«
Lorres ging neben dem Backbordfenster in die Knie und begann am Verschluss zu hantieren. »Ach ja, das eine wollte ich Ihnen noch sagen«, meinte er wie beiläufig. »Wenn Sie falsch spielen, werde ich Sie umbringen.« Noch bevor Matt antworten konnte, nahm Lorres die Wandverkleidung ab und reichte sie an ihn weiter. Dahinter kam ein schmales, niedriges Schott zum Vorschein. Er gab eine Zahlenfolge in eine Zehnertastatur ein, und gleich darauf glitt das Schott auf. »Kann Aiko uns dort drinnen etwas anhaben?«, fragte Matt, während sie nacheinander in den engen, halbdunklen Schacht schlüpften. »Alles«, gab Lorres zurück. *** So gut wie keine Atmosphäre, keine Gravitation. Aber hier fand sich überall Halt. Lorres war schon ein gutes Stück voraus, und Matt hangelte sich hastig hinterher, stieß sich immer wieder ab, um ein Stück mit angelegten Armen zu schweben. Er konnte verstehen, dass man hier drin klaustrophobische Zustände bekam. Aber das war jetzt nicht wichtig. Sie mussten gut fünfzig Meter auf diese Weise zurücklegen, bis sie den anderen Ausgang erreichten. Hier gab es keine Ausweichmöglichkeit, kein Zurück mehr. Sie mussten durch, egal, was passierte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Aiko sie bemerkte, auch wenn es in diesem Schacht keine »versteckten Augen« gab. Man konnte diesen Durchschlupf im Grunde genommen nicht einmal Schacht nennen. Ein Maulwurfgang bot mehr Platz. Überall waren Leitungen, Rohre, Kabelstränge im Weg, und Matt musste sich teilweise regelrecht durchschlängeln. Er
wollte keinesfalls stecken bleiben und riskieren, dass er seinen Anzug beschädigte. Trotzdem konnte er einen heftigen Aufprall nicht verhindern, als ein gewaltiger Schlag durch das Schiff ging und es in Vibrationen geriet. Gleichzeitig erhöhte sich die Schwerkraft um ein Mehrfaches. Matt hörte Lorres keuchen. Der Marsianer hing an einer Verstrebung und versuchte verzweifelt, sich weiterzuhangeln. Doch der plötzliche Wechsel ging über seine Kräfte. Sonst an ein Drittel der irdischen Schwerkraft gewöhnt, musste er jetzt das gut Dreifache aushalten. Aiko musste den Schwerkraftregler manipuliert und das Maximum eingestellt haben. »Halten Sie durch!«, stieß Matt gequetscht hervor. »Ich... komme...« Es war für ihn selbst auch nicht gerade angenehm. Matt schätzte, dass er zusammen mit dem Anzug neunzig Kilo auf die Waage brachte. Jetzt zweihundertsiebzig durch die Gegend zu schleppen, war keine einfache Sache. Und das noch äußerst vorsichtig, hier gab es überall scharfe Ecken und Kanten. Aus dem Schweben wurde ein mühsames Klettern und Steigen in der Waagerechten. Lorres hatte sich keinen Millimeter mehr bewegt. Matt sah, dass er feststeckte. Es hatte ihn so unglücklich in eine Verstrebung gequetscht, dass er aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Er hatte einige Rohre verbogen, zwei waren sogar abgebrochen. Matt robbte an Lorres heran, schob einen Arm unter dem Mann durch und versuchte ihn zu befreien. Der Marsianer stöhnte vor Schmerz. »Kann... kaum... atmen...« Der Druck auf seine Rippen, seine Lungen, musste enorm sein, denn er hatte nicht, wie Matt, das Dreifache der für ihn normalen Gravitation zu ertragen, sondern das Neunfache!
Endlich hatte Matt es geschafft; ein Ruck ging durch Lorres' Körper. »Danke«, stieß der Marsianer hervor. »Denken Sie, dass Sie den Weg fortsetzen können?«, fragte Matt. »Ich komme nicht an Ihnen vorbei.« Lorres atmete schwer, nickte aber. »Ich denke, ich schaffe es schon. Geben Sie mir noch eine Minute.« »Die haben wir nicht, Lorres. Jede Sekunde zählt.« Matt schob ihn energisch weiter. Der Marsianer keuchte wie ein Walross, aber er zog sich Zentimeter um Zentimeter voran. »Wie weit haben wir es noch?«, fragte Matt. »Wir... haben Glück...«, ächzte Lorres Gonzales. »Nur noch... zehn Meter.« Dafür brauchten sie über eine halbe Stunde. *** Lorres entriegelte das Schott und brach auf dem Boden zusammen. Er blieb schwer atmend auf dem Bauch liegen. Matt zog sich hinter ihm aus dem Schacht, packte den Marsianer bei den Armen und zog ihn ein Stück weiter. Das Schott blieb offen. Dann sank der Commander neben Lorres und schnappte nach Luft. Trotz des regulierenden Anzugsystems war sein Gesicht schweißüberströmt. Er vermutete, dass er kaum besser aussah als der Raumschiffkonstrukteur. Das Deck war von flackerndem Licht notdürftig beleuchtet. Riesige, klobige Maschinen standen im vorderen Teil. Von hinten drang durch die sehr dünne Atmosphäre, die nicht einmal für Marsianer atembar gewesen wäre, ein Summen und Brummen herüber. »Ich glaube... ich habe mir... eine Rippe gebrochen...«, brachte Lorres mühsam hervor.
»Jetzt nicht schwächein, Mann!«, sagte Matt. »Wir haben noch einiges vor uns! Sagen Sie mir, was ich tun soll.« Lorres stieß ein Krächzen aus, das wohl ein Lachen sein sollte. Er deutete schwach in den hinteren Teil des Raumes. »Dort ist die... Energieversorgung. Um auf den... Ersatzcomputer... zu wechseln... müssen wir dem Hauptrechner... den Strom abstellen. Ziehen Sie... mich hin.« Matt begriff, dass der Marsianer am Ende seiner Kräfte war. Er musste ihn tatsächlich wie ein frisch erlegtes Beutetier über den Boden zerren. Das kostete ihn zusätzliche Kraft, denn auch Lorres wog nun weit über zweihundert Kilogramm. Jeder Schritt wurde zur Qual. Lorres erklärte auf dem Weg, dass die aktiven Blöcke ausschließlich zur Versorgung des Schiffssystems dienten. Die Energiespeicher für den Antrieb befanden sich nebenan in der strahlengeschützten Antriebssektion und waren von der Abschaltung nicht betroffen. »Das Ersatzmodul mit dem Systemspeicher... steht hier, sehen Sie?« Lorres deutete auf ein einzeln stehendes, würfelförmiges Gebilde von etwa zwei Metern im Quadrat. »Wo ist der jetzt aktive Computer?«, erkundigte sich Matt. »Von hier aus... nicht zu sehen«, erklärte Lorres. »Wir drehen ihm... einfach den Saft ab... und schließen... das Ersatzsystem an. Dann startet es... automatisch.« »Gut. Was muss ich tun?« Lorres hustete. Dann brachte er einigermaßen verständlich hervor: »Die Hauptenergiezufuhr wird über das Kabel... dort hinter dem großen Aggregat geleitet. Koppeln Sie es ab.« »Werden wir danach nicht im Dunkeln stehen?« »Die Notbeleuchtung... wird von der Antriebsenergie... gespeist.« »Okay, dann mal los.« Matt stapfte zur Wand, umfasste das armdicke Kabel mit beiden Händen und zog daran. Mit einem Schnappen löste es sich aus der Wand.
Die Auswirkungen wurden sofort deutlich. Schlagartig fiel die Schwerkraft aus. Matt verlor den Halt und schwebte im Schein der gelblichen Notbeleuchtung nach oben. »Ach ja, ich vergaß«, hörte er Lorres' Stimme über das Kommunikationskabel, das sie beide noch immer verband. »Die künstliche Schwerkraft wird natürlich auch vom Computer gesteuert.« Seine Stimme klang um einiges erleichtert, und das im wörtlichen Sinn. Erst an der Decke hatte Matt genug Widerstand, um sich Richtung Ersatzcomputer abzustoßen. Er hielt sich an einer Kante fest und schob sich dann langsam nach unten. Lorres Rauld Gonzales stand wieder aufrecht, wenn auch etwas gekrümmt. Er reichte Matt das Verbindungskabel des Computers, das er von einer Kabeltrommel abrollte. »Jetzt ziehen Sie die Verbindung des Hauptrechners aus der roten Konsole dort an der Wandung und stecken dafür das hier ein. Danach können wir die Energie gefahrlos wieder hochfahren.« »Und Sie sind sicher, dass Aikos Bewusstsein völlig isoliert ist?« »Mehr als das. Ohne Strom liegt es quasi in Stase. Solange wir den Hauptrechner deaktiviert lassen, wird es sich nicht neu booten können. Glücklicherweise hat Maya den Datenkristall vom Anschluss getrennt, sonst würde das ganze Spiel von vorn beginnen.« Matt schwebte zur Wand hinüber, löste das alte Datenkabel aus der Konsole und steckte das des zweiten Systems ein. »Jetzt wird's spannend«, sagte der Marsianer. »Stellen Sie die Stromzufuhr her!« Matt zögerte einen Moment, das armdicke Kabel wieder einzustecken. Wenn Aikos virtuelles Ich irgendeinen Weg gefunden hatte, sich zu erhalten, würde es nach dem Erwachen nicht freundlich reagieren. Um es harmlos auszudrücken. Aber dann ließ er den Stecker einrasten.
Das Licht wechselte wieder zu voller Leuchtkraft, und auch die Schwerkraft setzte ein, allerdings auf normalem MarsNiveau. Ein Beweis dafür, dass die Bordsysteme nicht mehr vom Hauptrechner beeinflusst wurden. Ein Blick zurück zeigte Matt, dass Lorres bereits mit dem Computer beschäftigt war. Er hielt sich an einem Griff des Quaders fest und hatte eine Tastatur ausgefahren. Die Blende über einem Bildschirm fuhr zurück, und das Bild wurde hell. System der PHOBOS bereit _ »Es klappt tatsächlich«, flüsterte Matt. Gleichzeitig wartete er unwillkürlich auf Aikos wütende Stimme... die nicht kam. Vorsichtig atmete er auf. »Ich stelle jetzt nur eine einseitige Verbindung her«, erklärte Lorres. »Dies hier ist das Masterprogramm. Sobald ich von der Zentrale aus die Verbindung aktiviere, bestätige und das System hochfahre, wird dieses Programm aktiv. Alle bisherigen Daten werden neu initialisiert. Wir verlieren dadurch zwar sämtliche Logbücher und die aktuellen Navigationsberechnungen, aber Letztere können wir in ein, zwei Stunden neu programmieren. Hauptsache, der Geist in der Maschine ist endlich besiegt. Dann noch ein paar Tage Reparaturen und alles ist wieder in Ordnung.« »Dann also zurück zur Zentrale?« »Moment noch.« Lorres zog das Kommunikationskabel aus seinem Helm und schaltete den Bordfunk wieder ein. Matt tat es ihm gleich. »Lorres an Besatzung«, klang es aus seinem Helmlautsprecher. »Ich melde mich zurück.« »Lorres!«, kam umgehend Maya Joy Tsuyoshis Antwort. »Bei den Monden, du lebst! Was ist passiert? Die erhöhte Schwerkraft ist abgeschaltet und die Stimme im System verstummt.«
»Ich weiß«, entgegnete der marsianische Konstrukteur. »Der Erdmensch Drax und ich haben Aiko besiegt. Die Gefahr ist vorüber. Näheres später – wir treffen uns in der Zentrale.« Lorres nickte Matthew zu. »Nach Ihnen«, forderte er ihn auf. »Diesmal aber durch die Tür. Den engen Wartungsschacht können wir uns ersparen.« *** Zehn Minuten später hatten sie die Zentrale erreicht. Während Matt die Bildschirme der Reihe nach wieder einschaltete, setzte sich Lorres Rauld Gonzales an eine der Konsolen. Er schien zunehmend erschöpft und war auf dem Weg hierher nur gekrümmt gegangen, behauptete aber auf Matts Nachfrage, dass alles in Ordnung wäre. »Dann wollen wir mal...« Er fuhr das Ersatzsystem hoch. Die Verbindung funktionierte einwandfrei, alle Anzeigen erwachten zu leuchtendem Leben, wenngleich viele Datenlisten noch leer waren. Aber das sollte sich schnell ändern; Lorres bearbeitete die Tastatur- und Sensorfelder wie ein Masseur seinen zahlungskräftigen Kunden. Nach kurzer Zeit hörte Matt ein leises Zischen, als Luft durch die Düsen geblasen wurde. Er bedauerte, als Einziger den Helm nicht abnehmen zu können, um die frische Luft zu atmen. Nach wie vor galt für ihn die Quarantäne. Wenn er Glück hatte, gönnten sie ihm noch ein wenig Erholung, bevor er eingefroren wurde. »Alle Systeme hochgefahren«, meldete der Schiffscomputer sich mit wohl vertrauter, neutraler Stimme. »Selbst-Check läuft, leite danach automatische Reparatur ein. Notversorgung aktiv, alle Lebensbereiche außer Gefahr.« Der Computer rasselte noch eine Menge mehr herunter, und Lorres gab ebenso schnell seine Befehle, deren eigentümliche
Dehnungs- und Betonungsweise es Matt unmöglich machte, ihnen bei dieser Geschwindigkeit zu folgen. Dann öffnete sich das Schott zur Zentrale, und die anderen Crewmitglieder traten ein, allen voran Maya Joy. Sie hatten ihre Raumanzüge bereits abgelegt. »Sämtliche Systeme arbeiten einwandfrei«, meldete Lorres. »Ich habe das fremde Bewusstsein auf dem Primärcomputer isoliert und das sekundäre System gestartet. Da wird zwar noch einige Programmierarbeit nötig sein, aber wir sind erst mal aus dem Gröbsten heraus.« »Dann kann ich jetzt wohl endlich den Erdmenschen verhören, ja?«, fragte eine Marsianerin, der Matt bislang noch nicht begegnet war. Maya Joy sah ihn an und verdrehte leicht die Augen, so dass die andere es nicht sah. »Dies ist die Ratsdame Beta Braxton«, stelle sie die Frau vor. »Sie hat noch einige Fragen an Sie, Commander.« Matt beschloss seinen Charme spielen zu lassen. Mit einem guten Einstieg würde das Verhör sicher angenehmer werden. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er mit einem Lächeln an Beta Braxtons Adresse. »Ich werde Ihre Fragen gern beantworten. Mir ist an einer Kooperation sehr gelegen.« »Oh.« Ganz offensichtlich war die Ratsdame auf solche Freundlichkeit nicht vorbereitet gewesen. Verlegen fuhr sie sich durch die Haare und legte dabei ihren Nacken frei. »Dann... also, dann sollten wir keine Zeit verlieren.« Matt stockte, als er die Pigmentierung hinter dem linken Ohr erkannte. Wie ein Dreiviertelkreis mit einem Punkt darin. Er streckte den Arm aus. »Sie...«, sagte er langsam. »Sie waren es!« »Was?« Beta verharrte in der Bewegung. »Wovon sprechen Sie?«
»In der Quarantäne-Station«, stieß Matt hervor. »Sie haben versucht, Naoki Tsuyoshi zu ermorden! Ich sah Sie nur von hinten, aber ich erkenne die Pigmentzeichnung hinter Ihrem Ohr wieder.« Beta Braxton wich einen Schritt zurück. »Was soll das?«, sagte sie verärgert. »Warum beschuldigt mich dieser... dieser Barbar? Das ist doch lächerlich!« »Vorsichtig, Dame Rätin«, sagte Maya leise. »Ab jetzt sollten Sie sich jedes Wort sorgfältig überlegen.« »Sie – Sie glauben diesem primitiven Wilden doch nicht etwa?«, erwiderte Beta entgeistert. »Im Moment glaube ich gar nichts«, versetzte Maya. »Aber ich werde dieser Sache nachgehen. Einstweilen sind Sie unter Arrest gestellt, bis alles geklärt ist.« Sie winkte Palun. »Bring sie auf ihr Quartier und verschließe es mit einem neuen Code. Mangels einer Arrestzelle werden wir Sie einstweilen dort unterbringen, Dame Rätin.« Matt konnte nur staunen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Aussage überhaupt Ernst genommen wurde – und jetzt sperrte man die Beschuldigte gleich ein? Zweifellos musste es zwischen ihr und Maya Joy Tsuyoshi Differenzen geben. »Sie sind ja verrückt!«, schrie Beta Braxton jetzt außer sich und wollte Paluns Hand abschütteln, doch er hielt sie fest. »Warum sollte ich das tun?« »Ein Motiv gibt es durchaus«, sagte Maya. »Ich weiß, dass Sie mehr im Rat erreichen wollen und gern statt Cansu eine Präsidentin aus einem anderen Haus an der Macht sähen. Wenn wir tatsächlich eine lebende Verwandte aus der Vergangenheit mitgebracht hätten, so hätte das die Position des TsuyoshiHauses gestärkt und Ihre ehrgeizigen Pläne gefährdet.« »Das ist ungeheuerlich!«, tobte Beta Braxton. »Ich bin Mitglied des Rats und stehe im Rang über Ihnen, daher befehle ich Ihnen –«
»Sie haben hier nichts zu befehlen«, unterbrach Maya scharf. »Als Expeditionsleiterin trage ich die Verantwortung! Commander Matthew Drax ist zwar kein Mitglied unserer Gesellschaft, aber als Zeuge eines möglichen Anschlags muss ich auch seine Aussage berücksichtigen und überprüfen. In der Zwischenzeit bleiben Sie unter Arrest! Falls Sie Probleme mit dieser Vorgehensweise haben, darf ich Sie darauf hinweisen, dass dies den Sicherheitsbestimmungen entspricht, auf die Sie sich bisher immer gern berufen haben!« Sie bedeutete Palun mit einer Geste, die Ratsdame abzuführen, die schweigend und ohne weitere Gegenwehr mitging. Dann wandte Maya sich wieder Matt zu. »Gute Arbeit, Commander. Sie können in die Quarantäne-Station zurückkehren und sich erholen. Sobald wir auf dem richtigen Kurs sind, werden wir uns wieder um Sie kümmern.« »Ich hoffe darauf, dass Sie nicht mehr die Absicht haben, mich einzufrieren...«, sagte Matt mit schwachem Lächeln. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bedaure. Wir verdanken Ihnen viel, aber das ändert nichts. Glauben Sie mir, es ist die bessere Lösung, auch für Sie. Neunzig Tage in Quarantäne können sehr lang werden. Sie müssen auch verstehen, dass wir uns bis zur endgültigen Klärung dieser unglückseligen Vorfälle nicht mehr so zwanglos mit Ihnen unterhalten können, wie ich es mir gewünscht hätte. Schließlich haben sie Menschenleben gekostet. Merla und Jawie.« Matt zuckte zusammen. »Jawie?«, stieß er hervor. Maya nickte. »Sie ist vor einer halben Stunde unter einer herabstürzenden Apparatur gestorben, als Aiko die Schwerkraft erhöhte. Leto ist noch bei ihr.« »Leto...?« »Ja. Sie war seine Frau. Haben Sie das nicht gewusst?« »Nein...«
»Ich kann nur hoffen, dass er Ihnen keine Teilschuld an Jawies Tod gibt. Schließlich haben Sie es nicht geschafft, Ihren Freund Aiko Tsuyoshi zur Aufgabe zu bewegen.« Matts Schultern sanken nach unten, als trügen sie eine schwere Last. Jawie war seine einzige Vertraute an Bord gewesen, wenn man das so sagen konnte. Sie hatte sich für ihn eingesetzt, und Matt hatte ihre fröhliche, unkomplizierte, lebensfrohe Art gemocht. »Es – es tut mir Leid«, sagte er, aber die Worte klangen so abgenutzt und leer. »Ich wünschte, ich –« »Schon gut«, unterbrach Maya ihn. »Ich weiß, dass Sie nicht daran schuld sind. Jedenfalls nicht willentlich. Aber Sie sehen, was Ihre Anwesenheit bereits hier an Bord ausgelöst hat. Wie wird es da erst auf dem Mars sein?« »Es war Ihre Entscheidung, mich mitzunehmen«, erwiderte Matt. »Und auch ohne mich hätten Sie den Anhänger untersucht.« »Sie haben in beiden Punkten Recht«, gab Maya zu. »Gehen Sie jetzt bitte, und lassen Sie sich von Palun versorgen. Wir sprechen uns später.« *** Als Matt gegangen war, wandte Maya sich Lorres zu, der sich still im Hintergrund gehalten hatte, in seinen Sessel gekauert. Sein Gesicht war wachsbleich und von Schweiß überzogen. Das Abenteuer hatte ihn körperlich anscheinend sehr mitgenommen. »So still und erschöpft kenne ich dich gar nicht!«, rief Maya munter. »Dabei müssen wir dich doch als Helden feiern! Komm, runter mit dem Anzug, ich werde dich –« »Maya«, unterbrach er sie, und sie erschrak über den metallischen Klang seiner tiefen Stimme. Aus seinem Mundwinkel löste sich ein dünner Blutfaden und rann sein Kinn herunter.
»Bei den Monden, was ist mit dir...?« Erschrocken trat Maya näher an ihn heran. Nun konnte sie sehen, dass sein Blick flackerte. Er schwankte in seinem Sessel. »Ich fürchte, eine Rippe ist gebrochen«, ächzte er. »Sie muss innere Organe verletzt haben...« Erst nach einigen Sekunden gelang es Maya, sich aus dem Schock zu lösen und mit zitternden Fingern die Bordfunktaste zu drücken. Mit einer ihr völlig fremden Stimme krächzte sie: »Medizinischer Notfall in der Kommandozentrale. Palun, bitte sofort kommen...« In Windeseile wurde Lorres zur Krankenstation gebracht und auf die Liege neben Jawie gelegt, deren toter Körper in ein dunkelblaues Leichentuch gewickelt war. Leto saß neben dem Leichnam, stumm und in sich gekehrt. Lorres wurde der Anzug vom Körper geschnitten, gleichzeitig wurde er an die Lebenserhaltungssysteme angeschlossen und bekam Infusionen. Palun versuchte verzweifelt, die innere Blutung zu stoppen. Maya hielt Lorres' verkrampfte Hand und streichelte sie. »Es wird alles gut, es wird alles gut«, flüsterte sie. »Halte nur durch, Lorres, gleich wird es besser...« Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Mehrmals versuchte er etwas zu sagen, doch jedes Mal kam nur Blut aus seinem Mund. Maya war, als hätte sie einen Felsbrocken verschluckt, der ihr die Luft abschnürte, und sie merkte, wie ihre Finger kalt und weiß wurden. »Lorres, halte durch!«, flehte sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Verlass mich nicht, bitte, bleib bei mir!« »M-Maya...«, brachte Lorres endlich hervor, und seine Finger schlossen sich um ihre Hand. Es gelang ihm, den Kopf zu drehen, um sie anzusehen. Das leidenschaftliche rote Feuer in seinen Augen war erloschen. »Ich... ich schaff's nicht...«
»Nein!«, schluchzte sie. »Palun...« »Ich mache ja alles, was möglich ist, Maya«, sagte Palun Saintdemar und jagte dem Patienten eine weitere Injektion in den Körper. Plötzlich wurde Lorres ruhiger, die Krämpfe ließen nach, und er drückte Mayas Hand. Aber er hatte kaum mehr die Kraft zu sprechen. »I-ich hab's dir nie gesagt«, wisperte er. Er kämpfte um jedes Wort. »Aber... ich hab dich immer geliebt... mehr als alles... und Nomi... meine süße Nomi... sie ist genau wie du... als Kind...« »Geh nicht fort«, flüsterte sie, während die Tränen über ihre Wangen rannen. »Du bist mein Leben, Lorres...« Er lächelte. »Du bist so stark... viel stärker als ich...« Er rang rasselnd nach Atem. Dann seufzte er ein letztes Mal. *** Mayas Miene war wie versteinert. Sie war so bleich, dass selbst die Pigmentflecken kaum mehr zu sehen waren. Eine halbe Stunde lang hatte Palun versucht, Lorres ins Leben zurückzuholen, aber die inneren Verletzungen durch die abgebrochene Rippe, sie sich in der neunfachen Schwerkraft durch die Lunge gebohrt hatte, waren zu schwer gewesen. Da nützte auch die beste Technik nichts mehr. »Wenn er nur früher etwas gesagt hätte...«, sagte die Marsianerin zu Matt, als sie vor der Glasscheibe seiner Station stand. »Vielleicht könnte er noch leben...« »Er hat sich nichts anmerken lassen«, beteuerte Matt, der tief betroffen da stand. »Er klang ganz normal, nur erschöpft von der Schwerkraftphase, und erwähnte lediglich einmal, dass er glaubte, sich eine Rippe gebrochen zu haben.« Sie nickte. »So war er immer. Verdammt stolz, niemals bereit, eine Schwäche zuzugeben. Vielleicht hat er zuerst selbst nicht bemerkt, wie schlimm es ihn tatsächlich erwischt hat.«
»Wenn ich etwas tun kann...«, sagte Matt hilflos. »Ich wünschte, ich –« »Sie haben schon genug getan, Matt.« Mayas große Nasenflügel vibrierten. Die einzige Bewegung in ihrem Gesicht. »Ich meine das positiv, nicht als Vorwurf«, fügte sie hinzu. Sie deutete auf das Quartier neben Matt, wo Naoki gestorben war; die Jalousie der gläsernen Wand dazwischen war heruntergelassen. »Beta hat gestanden, als sie das mit Lorres erfuhr. Sie fühlt sich verantwortlich, weil das Attentat auf Naoki drei weitere Opfer gefordert hat. Vor allem der Tod von Lorres macht ihr zu schaffen.« Die Marsianerin schloss kurz die Augen und presste die Lippen zusammen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Es ist unglaublich, welchen Eindruck dieser Mann hinterlassen hat. Ich glaube, er war niemandem gleichgültig. Die meisten hassten und bewunderten ihn zugleich für sein Genie, und das gefiel ihm immer ganz besonders.« Matt legte eine Hand an die Glasscheibe. »Was in letzter Zeit geschehen ist«, sagte er langsam, »war auch für mich zu viel. Ich habe meine Gefährtin, meine Tochter*, meine Freunde verloren... und die Erde zum zweiten Mal. Nichts ist mehr, wie es war. Und nun kommen auch noch die Todesfälle auf diesem Schiff dazu...« »Dann seien Sie dankbar für den Kälteschlaf«, meinte Maya. »Man denkt nicht nach in dieser Phase, ja man träumt nicht einmal...« Sie hielt kurz inne und deutete ein Lächeln an. »Am liebsten würde ich Ihnen den Platz in der Kammer streitig machen.« »Abgelehnt.« Auch er wagte ein kurzes Grinsen, als versöhnliche Geste. »Ich bin so weit, wenn Sie es sind.« »Im Augenblick sind wir dabei, Naoki einzufrieren. Den Datenkristall haben wir unter Verschluss genommen. Lorres, Jawie und Merla werden wir, so sind wir übereingekommen, *
Ann Drax, Tochter von Jenny Jensen und Matt
dem All übergeben. Sie haben alle drei die Sterne und die Wunder des Weltraums geliebt. Wir konnten uns keine bessere letzte Ruhestätte für sie vorstellen. Möchten Sie an der Bestattung teilnehmen?« »Es wäre mir eine Ehre. Merla kannte ich kaum, aber Jawie und Lorres... ich mochte sie beide, wirklich.« Maya nickte. »In Ordnung. Bleiben Sie aber im Hintergrund und halten Sie sich vor allem von Leto fern. Er kann momentan niemanden in seiner Nähe ertragen. Schon unser erster Ausflug zur Erde hat ihn verändert, und jetzt... es könnte ihn zerbrechen.« »Aber Sie nicht«, sagte Matt ernst. »Sie sind einer der stärksten Menschen, denen ich je begegnet bin.« »Das hat Lorres auch gesagt, kurz bevor er –« Sie führte den Satz nicht zu Ende. Dann straffte sie ihre Haltung. Selbst jetzt, dachte Matt, ist sie eine faszinierend schöne Frau mit einer ganz besonderen Ausstrahlung. »Das liegt in meinen Genen«, fuhr Maya fort. »Ich bin eine fast reinblütige Tsuyoshi. Nach allem, was Sie mir von Naoki berichtet haben, bin ich mir auch ohne Gentest sicher, dass wir verwandt sind.« »Werden Sie den Test durchführen?«, fragte Matt. »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Maya. »Im Augenblick... will ich nicht darüber nachdenken. Ich möchte nur heim zu meiner Tochter. Sie ist das Einzige, was mir von Lorres geblieben ist.« Matt schwieg. Er wusste, was in der Frau vorging. Auch er hatte Opfer zu beklagen. Doch im Gegensatz zu ihr wusste er nicht einmal, ob seine Gefährtin und seine Tochter noch lebten. *** Die Zeremonie verlief kurz und schlicht, aber deswegen nicht weniger ergreifend. Matt stand in seinem Raumanzug ein
wenig abseits, in der Vorkammer zur Außenschleuse, in der sich die lebenden Besatzungsmitglieder mit den toten versammelt hatten. Über den Bordfunk ertönte eine leise, für ihn befremdende, aber sehr anrührende Musik. Die drei Leichname wurden in der Schleuse abgelegt und das Schott geschlossen. Maya und Leto standen nebeneinander, die anderen auf respektvoller Distanz hinter ihnen. Auch Ratsdame Beta Khalem Braxton war anwesend, bleich und dünn, mit eingefallenen Wangen. Leto sprach als Erster, mit nahezu monotoner Stimme: »Du kommst mit nichts auf die Welt. Dein Leben wird dir anvertraut. Bewahre es gut. Wenn es an der Zeit ist, gib es reich an Erfahrung und Güte zurück. Du verlässt die Welt, wie du gekommen bist. Dein Leben wird Erinnerung.« Ein Moment der stillen Versunkenheit folgte. Dann nickte der Kommandant Maya zu. »Wir übergeben unsere Freunde und Geliebten den Sternen«, sprach Maya Joy Tsuyoshi mit gefasster Stimme. »Wir teilten das Leben, nun teilen wir das All miteinander, für immer. Mögen sie selbst zu Sternen werden und unseren weiteren Weg erleuchten.« Gemeinsam mit Leto drückte sie den Knopf, der die Außenschleuse öffnete. Die Leichen wurden hinaus gesogen, winzige Punkte vor dem unendlich großen Panorama, aber nur für Sekunden, dann waren sie mit dem Schwarz verschmolzen. Matt wartete, bis alle an ihm vorübergegangen waren. Leto Angelis, der als Vorletzter den Raum verließ, verharrte kurz und blickte auf den Commander herab. »Sie müssen wissen«, sagte er langsam, »dass ich Ihnen keine Schuld gebe. Ich habe mich von Anfang an unfair Ihnen gegenüber verhalten. Das ist eigentlich nicht meine Art, und ich entschuldige mich dafür. Ich glaube inzwischen, dass Sie ein integrer Mann sind. Aber ich bin ebenso sicher, dass Sie
viel Leid und Unglück über unser Volk bringen werden. Das ist jedoch nicht meine Angelegenheit, sondern die des Rates. Ich stehe allerdings in Ihrer Schuld, die Sie eines Tages einfordern können, wenn es erforderlich ist.« Matt schluckte. »Ich schulde eher Ihnen Dank, dass Sie auf dem Mond waren, denn ohne Sie hätten meine Chancen nicht besonders gut gestanden. Und Sie sind ein verdammt guter Pilot.« Leto nickte. »Entschuldigen Sie mich.« Er verließ die Kammer, und Matt bemerkte, dass er tatsächlich leicht hinkte. Er wusste von Jawie, dass der Kommandant vor dem ersten Raumflug bei einem Bombenattentat die untere Hälfte seines rechten Beines verloren hatte und seither eine Prothese trug. Maya trat zu Matt. »Sind Sie bereit?« Er nickte. »Gehen wir.« Auf dem Weg zur Druckkammer fuhr die Marsianerin fort: »Leto hat Sie überrascht, nicht wahr?« »Ja«, gab Matt zu. »Er ist ein außergewöhnlicher Mann.« »Sie sind alle außergewöhnlich, Maya.« Allmählich fing er an, sich mit dem Gedanken an den Mars vertraut zu machen. Sich mit seinem Schicksal auszusöhnen. In weniger als einer halben Stunde würde ihn das alles nicht mehr interessieren. Und wenn er dann erwachte, sollte die Erde mit seinen Freunden und Gefährten, auch mit Aruula und Annie, hinter ihm liegen. Er wusste nicht, ob er jemals wieder zur Erde zurückkehren würde. Er musste sich mit einer Zukunft auf dem Mars anfreunden, ob er wollte oder nicht. »Er meint das übrigens ernst«, drang Mayas Stimme in seine Gedanken. »Wer... was?« »Leto. Und der Gefallen. Er wird etwas für Sie tun, wenn Sie es verlangen. Das kann Ihnen auf dem Mars noch sehr nützlich sein, denn Leto entstammt einem hoch angesehenen
Haus und genießt einen hervorragenden Ruf. Manche sehen in ihm sogar einen künftigen Präsidenten. Aber verschwenden Sie den Gefallen nicht, denn mehr als diesen einen werden Sie nicht bekommen.« Ich werd's mir merken, dachte Matt, und fragte: »Wird es dabei bleiben, mich fünf Tage vor der Landung zu wecken und zu akklimatisieren?« »Ja«, bestätigte Maya. »Nach Ihrer Entgiftung müssen Sie sich erst an die normale Atemluft an Bord gewöhnen, bevor sie den Mars betreten können. Ich werde Ihnen persönlich einiges über unsere Heimat und unsere Gesellschaft erzählen, was Ihnen die kulturelle Anpassung erleichtern wird.« »Werde ich Sie auch nach der Landung wieder sehen?« »Bis der Rat entschieden hat, was mit Ihnen passiert. Später... ich denke, nein. Ich werde zur Mondbasis zurückkehren. Sie werden sich andere Freunde suchen müssen.« Maya blieb stehen und forderte ihn mit einer Geste auf, die Kammer zu betreten. »Palun wird sich um Sie kümmern. Alles Gute. Wir sehen uns in etwa achtzig Tagen wieder.« Matthew Drax betrat die Druckkammer, voller Furcht und Erwartung zugleich. Das Schott schnitt die Vergangenheit hinter ihm ab. *** Später, Kommandozentrale der PHOBOS Maya stand am Bugfenster und sah hinaus. Sie drehte sich nicht um, als sie Leto kommen hörte; sie kannte seinen geschmeidigen, leicht ungleichmäßigen Schritt seit vielen Jahren. »Jetzt sind nur noch wir beide übrig«, flüsterte sie. Sie rieb sich die Arme, als ob sie frieren würde.
Als Leto den Arm um sie legte, lehnte sie den Kopf an seine Schulter. »Wie soll ich Nomi erklären, dass ihr Vater nie mehr zurückkehrt?« »Ich weiß nicht, ob es das alles wert ist«, sagte Leto mit rauer Stimme. »Jedes Mal, wenn wir mit der Erde unmittelbar in Berührung treten, sei es durch eine Landung oder einen Abkömmling von dort, erleiden wir schreckliche Verluste. Ich werde dem Rat empfehlen, die Mondstation aufzugeben und Matthew Drax an einen isolierten Ort zu schaffen.« »Er hat uns gerettet«, wandte sie ein. Er konnte seine Stimme kaum unter Kontrolle halten. »Durch ihn entstanden die Probleme doch erst. Wenn wir ihn und Naoki Tsuyoshi nicht mit an Bord genommen hätten, wäre all dies nie geschehen. Lorres würde noch leben... und Jawie...« Maya schlang die Arme um ihn. Einige Zeit standen sie zitternd in enger Umarmung, jeder klammerte sich an den anderen wie ein Verirrter im Marssturm an eine Rettungsstange. »Was – was sollen wir tun?«, fragte Maya schließlich stockend. Seine Kiefermuskeln bewegten sich im verzweifelten Bemühen, die Fassung zu bewahren. Dann quetschte er hervor: »Unsere Pflicht, Maya. Eine andere Wahl haben wir nicht. Auch Matthew Drax hat große Verluste erlitten, er kam nicht freiwillig zu uns, und er hat uns geholfen. Deshalb werden wir ihn wohlbehalten dem Rat übergeben. Was dann geschieht, liegt nicht mehr in unserer Verantwortung.« »Ich weiß nicht, ob ich so schnell wieder nach Hause kann«, flüsterte Maya. »Vielleicht gehe ich mit Nomi für eine Weile in den Wald, zu meiner Mutter. Seit sie beim Volk lebt, ist sie ruhig und ausgeglichen geworden. Sie hat mich oft eingeladen.« »Du wirst deine Trauer mit dir nehmen, wohin du auch gehst«, erwiderte Leto.
Maya nickte. »Aber dort kann ich vielleicht lernen, damit zu leben.« »Wir haben noch über achtzig Tage Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Leto langsam. »Und wegen Nomi... ich werde immer für sie da sein. Sie braucht nicht ohne Vater aufzuwachsen.« Maya löste sich von ihm, drehte sich um und blickte wieder ins kalte, finstere All hinaus. Irgendwo trieb Lorres' Leichnam zwischen den Sternen. »So enden Träume...«, wisperte sie. »Solange ich zurückdenken kann, wollte ich hier draußen sein. Die Erde entdecken. Mit euch zusammen – mit Lorres, Jawie und dir. Wir hatten eine Vision, und wir haben erreicht, wonach wir strebten. Jetzt müssen wir anerkennen, dass dies zugleich große Veränderungen mit sich bringt. Ich habe Furcht vor dem, was mit dem Mars geschehen wird. Dort draußen gehen große Dinge vor sich, und ich weiß nicht, ob wir schon so weit sind.« »Hätten wir es verhindern können?«, fragte Leto hinter ihr. »Vermutlich nicht.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Irgendwann müssen wir unser irdisches Erbe antreten. Das ist unvermeidlich.« Sie griff sich in den Nacken und löste das Band, das ihr Haar zusammenhielt. Befreit flossen die seidig glänzenden, blauschwarzen Haare über ihre schmalen Schultern. »Es ist so leer da draußen«, murmelte Maya Joy Tsuyoshi. »Erst jetzt erkenne ich es, denn ich fühle die Leere auch in mir. Ich habe gefunden, wonach ich seit meiner Kindheit gesucht habe. Nun kehre ich nach Hause zurück. Auf den Mars.« *** In der Gefrierkammer herrschte absolute Stille. Der klobige »Kältesarg«, wie Matt ihn bezeichnet hatte, war geschlossen.
Die Anzeige leuchtete grün, die Vitalwerte waren auf ein Minimum gesunken, aber stabil. Traumlos schlafend, flog Commander Matthew Drax seiner neuen Bestimmung entgegen. ENDE
Das Abenteuer geht weiter!
Im nächsten Band lesen Sie:
Washington, Sitz des Weltrats, wurde von der Bombenexplosion im Kratersee nicht unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen. Doch der weltweite, pulsierende EMP, der sämtliche Technik lahm legt, hat auch hier katastrophale Auswirkungen. Nun rächt sich, dass der Weltrat die Bevölkerung von Waashton stets unterdrückt und mit harter Hand regiert hat. Plötzlich sehen sich die gerade noch überlegenen Technos in einer tödlichen Defensive. Das Chaos einer aus den Fugen geratenen Stadt schlägt auch über Captain Ayris Grover und Sergeant Paddy O'Hara zusammen. Eigentlich verfeindet und von WCAAgenten gehetzt, müssen sie sich zusammentun, um zu überleben...
Nach dem Fall von Ronald M. Hahn