Geister-
Krimi � Nr. 21 � 21
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Geister-
Krimi � Nr. 21 � 21
Faustus �
Zwei Leichen � laden zur Party � ein � 2 �
Der Fahrer des Lastwagens war knapp fünfunddreißig Jahre alt. Aber er sah älter aus. Sein Gesicht war braungebrannt und von Wind und Wetter gezeichnet. Man sah sofort, daß er von Wasser und Seife nicht viel hielt, denn das Braun in seinem Gesicht war ein dreckiges Braun, und die Haut wirkte wie Pergamentpapier. Seine Hände waren fast schwarz vor Dreck. Im Dunkel des Führerhauses war kein Übergang von seinem zerschlissenen grauen Pullover zu den Händen zu erkennen. Aber Männer wie ihn fand man in den Slums von London haufenweise. Sie waren dort keine Seltenheit. Anders dagegen sein Beifahrer. Er war eine äußerst seltsame, ja geradezu unheimliche Erscheinung. Seine Kleidung war die eines Lords. Ein langer schwarzer, bis zu den Knien reichender Mantel verdeckte den veralteten Smoking, das weiße Hemd mit Rüschen und die schwarze Fliege. Um den Hals hatte er einen dunklen Schal geschlungen, mit dem er die untere Hälfte seines Gesichtes verdeckte. Aber Joe Fadden, dem Fahrer, wäre es lieber gewesen, sein Beifahrer und zu gleich Auftraggeber hätte die obere Hälfte seines Gesichts verdeckt. Obwohl es nicht gerade hässlich war, ging doch eine Ausstrahlung von diesem Gesicht aus, die Fadden Angst machte. Er war bestimmt kein Weichling. Dafür hatte schon der Umgang mit den Menschen in den Slums gesorgt. Doch dieser Mann war ihm auf eine merkwürdige Weise unheimlich, und er wünschte sich, er hätte diesen Auftrag nie angenommen. Ein entgegenkommendes Auto, dessen Scheinwerfer Licht in das Führerhaus warfen, gaben ihm Gelegenheit, nochmals in dieses Gesicht zu sehen. Die lange, spitze Nase saß wie eine umgekehrte Pfeilspitze darin. Darüber dann diese schmalen schwarzen Augen mit den dicken, buschigen Augenbrauen. Und 3 �
plötzlich wurde Fadden bewußt, daß gerade von diesen Augen die unheimliche Ausstrahlung ausging. Joe Fadden sah wieder auf die Straße. Der Nebel wurde immer dichter, er mußte höllisch aufpassen. Joe hatte nie etwas gelernt. Autofahren war das einzige, was er konnte. Und das allerdings perfekt. Doch Fadden war auch ein Mann, der gern redete. Und das ging ihm jetzt ab. Gerade beim Fahren wollte er sich unterhalten. Doch nun waren sie schon gut eine halbe Stunde unterwegs, und der unheimliche Mann neben ihm schwieg beharrlich, starrte mit seinen rabenschwarzen Augen immer nur geradeaus. Dabei wußte Fadden nicht einmal, wohin die Fahrt ging. Und er wußte auch nicht, wie der Mann neben ihm hieß. »Könnten Sie mir nun endlich sagen, wohin die Fahrt eigentlich geht?« fragte Fadden vorsichtig. Er bekam keine Antwort. Verdammter Dreckskerl! Wenigstens antworten könntest du. »Schließlich bin ich der Driver. Ich kann doch nicht immer nur geradeaus fahren«, versuchte es Fadden erneut. »Sie müssen doch ein Ziel haben.« »Ich sage Ihnen schon rechtzeitig, wo's langgeht!« fuhr ihn der Fremde barsch an. Joe zuckte zusammen. Die Stimme war scharf, schneidend und abweisend. Gewohnt, Befehle zu erteilen. Eigentlich hasste er solche Menschen. Aber der Fremde zahlte gut. Sehr gut sogar. Bei seinen letzten Einbrüchen hatte er zusammen nicht so viel erbeutet, wie er als Lohn für diese Fahrt erhalten sollte. Er hatte nicht die geringsten Unkosten. Den Lastwagen hatte der Schwarzgekleidete besorgt. Joe Fadden hatte sich nur hinter das Lenkrad zu klemmen, ihn zu einem Haus zu fahren und sechs Kisten aufzuladen. Aber die Kisten waren für ihn allein viel zu 4 �
schwer. Da hatte er sich Smoky geholt. Der war ein riesiger, gutmütiger Kerl, der Kräfte wie ein Bär besaß. Aber mit seinem Verstand war es nicht weit her. Er konnte weder lesen noch schreiben, und wenn man mit ihm redete, mußte man langsam reden, damit er es begriff. Aber Fadden hatte keinen besseren Freund als Smoky. Er tat alles für ihn und war ihm so treu ergeben wie ein Hund. Joe Fadden sagte ihm immer, was er zu tun hatte, und Smoky spurte. Joe wußte ihn richtig zu nehmen, und er sorgte für ihn wie ein Bruder. Und es war nicht zuletzt Smoky zuzuschreiben, daß Fadden in der Unterwelt ziemlich gefürchtet war. Denn Smoky war wie Joes Schatten. Er konnte einem ausgewachsenen Bullen mit bloßer Hand das Genick brechen. Das wußten alle. Deshalb genoß Fadden überall Respekt. Der Fremde zog eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete damit auf seine Uhr. »Fahren Sie etwas schneller!« forderte er. »Ich kann nicht schneller fahren«, sagte Fadden. »Der verdammte Nebel. Ich möchte schließlich nicht irgendwo im Straßengraben landen. Und die Straße hier…« »Sie sollen schneller fahren!« schrie ihn der Mann an. Joe sah im Dunkeln nur die Umrisse des unheimlichen Fremden. Aber in der Höhe seiner Augen funkelten zwei glühende Punkte, und Joe bekam einen großen Schrecken. Er drückte verdattert aufs Gaspedal. Was ist das für ein Mensch? Fast könnte man meinen, das ist ein Monster. Aber er ist wie ein Gentleman gekleidet und scheint auch eine Menge Geld zu haben. Joe war verwirrt. Er war zwar nicht so dumm wie Smoky, aber über eine bestimmte Grenze reichte seine Intelligenz nicht hinaus. Und diese Grenze lag relativ tief. Hätte ein intelligenterer Mensch das begriffen? Sicher nicht. 5 �
Ein Mensch mit glühenden Augen. Wie bei einer Katze. Nur waren die Augen nicht grün, sondern rot. Fadden konnte gerade noch das Lenkrad herumreißen, sonst wären sie an einen Baum geprallt. Diese rotglühenden Augen hatten ihn so beschäftigt, daß er nicht mehr auf die Straße geachtet hatte. »Passen Sie auf, Mann!« brüllte der Unheimliche. »Ich will heil ankommen.« Joe konzentrierte sich wieder auf die Straße. Er war schließlich nicht lebensmüde. »Ich habe mir sagen lassen, daß Sie der beste Fahrer sind, den man sich vorstellen kann«, bemerkte der Mann spöttisch. »Aber anscheinend bin ich da schlecht unterrichtet worden.« Das war zuviel für Joe. Alles konnte er ertragen. Wenn man aber seine Fahrkünste anzweifelte, dann wurde er sehr böse. Noch niemand hatte gewagt, ihn einen schlechten Fahrer zu nennen. Wild trat er auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Laster zum Stehen. Auf der Ladefläche rutschten die Kisten nach vorn und schlugen gegen das Führerhaus. Sein Beifahrer prallte mit dem Kopf an die Windschutzscheibe. »Hören Sie, Mister«, sagte Fadden stinkwütend. »Ich bin der beste Fahrer, den Sie sich denken können. Und wenn Sie Ihre Worte nicht sofort zurücknehmen, dann können Sie mir gestohlen bleiben.« Der Fremde stöhnte. Sein Kopf mußte ziemlich hart gegen die Windschutzscheibe gedonnert sein. Er rieb sich die Stirn. Dann sah er auf. »Schon gut«, sagte er, sich mühsam beherrschend. »Entschuldigen Sie bitte. Es war nicht so gemeint.« »Das möchte ich Ihnen auch geraten haben«, brummte Fadden. So etwas wie Triumph lag in seiner Stimme. »Also fahren Sie jetzt wieder weiter! Ich habe es eilig.« 6 �
»Erst muß ich mal nach Smoky sehen.« Fadden genoß es, diesem eingebildeten, unheimlichen Fatzken eines auszuwischen. Er öffnete eine Luke im hinteren Teil des Führerhauses und rief: »Alles okay, Smoky?« »Ja, Joe!« antwortete Smoky mit seiner piepsigen Stimme. »Alles okay!« Fadden schloß die Luke und legte den Gang ein. Und dann sah er wieder dieses rotglühende Augenpaar. Wie von selbst zuckte sein Fuß von der Kupplung zurück, der Wagen schoß nach vorn, wie von der Sehne geschnellt, drückte den Mann ins harte Polster zurück. Die glühenden Punkte waren wieder weg. Aber Fadden war der Schreck so in die Glieder gefahren, daß er wie ein Wilder über die Landstraße raste und sich einen Dreck um den dicken Nebel scherte. Dem Mann mit den furchterregenden Augen schien das nur recht zu sein. Schweigend fuhren sie weiter. Nach einer Weile kamen sie an eine Kreuzung. »Rechts ab«, befahl der Mann knapp. Fadden bog nach rechts. Wo will er denn hin? überlegte Joe. Da geht es doch ins Moor. Will er wirklich… Mein Gott, was hat der mit uns vor? Er will uns umbringen. Er ist ein bezahlter Killer. Solche Augen kann nur ein Killer haben. Er bringt uns um und versenkt uns im Moor. Wer würde uns beide schon vermissen? Niemand. Im Gegenteil. Die Kerle, die sonst immer so viel Respekt vor mir haben, würden aufatmen. Aber dann schalt er sich einen ängstlichen Waschlappen, der schon die Hosen voll hat, wenn ein Mann mit rotglühenden Augen ihn zum Moor fahren läßt. Warum soll es nicht Menschen geben, die glühende Augen haben? Was wußte er schon von anderen Leuten? Er war ja nur selten aus den Slums herausge7 �
kommen. Genauso, wie es Menschen gibt mit brandroten Haaren, kann es doch auch welche geben, die rotglühende Augen haben. Sie glühen ja nicht immer, nur wenn er sich aufregt. Eine Missgeburt. Joe Fadden grinste vor sich hin. Das hat man ja schon oft gehört, daß gerade die reichen Leute irgendwelche körperlichen Fehler haben. Doch so leicht, wie er sich es machen wollte, ging es doch nicht. Ein ungutes Gefühl blieb. Er dachte an die Ladung. Was will dieser Knilch mit sechs Kisten im Moor? Die Dinger waren gut zwei Meter lang, etwa einen Meter breit und ebenso hoch. Die Größe eines Sarges. Sind da etwa Leichen drin? Und dieses Schwein will sie jetzt verschwinden lassen. Und das mit seiner und Smokys Hilfe. Die wildesten Gedanken gingen durch Faddens Gehirn. Er erschauerte und bekam eine Gänsehaut. Auf was hatte er sich da eingelassen? Am liebsten wäre er umgekehrt. Doch das ging nicht mehr. Außerdem lockte das viele Geld. Also weiterfahren, auch wenn ihm die nackte Angst im Nacken saß. Dann fiel ihm etwas ein, was ihn ein wenig beruhigte. Beim Verladen der Kisten hatte der Fremde sie in angemessenem Abstand beobachtet. Als sie fertig waren und er Smoky mit ins Führerhaus nehmen wollte, lehnte der unheimliche Mann strikt ab, obwohl genügend Platz vorhanden gewesen wäre. Ja, er schreckte sogar regelrecht von Smoky zurück. Wenn Smoky ihm zu nahe kam, begann er zu schreien und zu toben, und er rief nach ihm Joe –, damit er ihn ihm vom Leibe halten sollte. Es war schon recht merkwürdig, wie sich dieser Mann Smoky gegenüber verhielt. Es war, als hätte er eine Allergie gegen stärkere Männer. Denn nur darauf führte Joe es zurück. Es müssen Smokys Muskeln gewesen sein, vor denen er sich fürchtete. Er hatte gesehen, wie Smoky eine der schweren Kisten ganz allein auf die Ladefläche gehievt hatte. Ja, er hatte schon unheimliche 8 �
Kräfte. Und es beruhigte Joe, daß er hinten auf der Ladefläche hockte und daß dieser Mann mit den rotglühenden Augen Angst vor ihm hatte. Smoky war verwirrt und verdattert gewesen, als er ihn angeschrien hatte und vor ihm zurückgewichen war, als hätte er die Pest. Er begriff das alles nicht. Hilflos hatte er sich an Joe gewandt. Joe hatte ihn dann angelächelt und ihn mit ein paar Worten beruhigt, obwohl er das Ganze selber nicht begriff. Er war noch mehr darüber verwundert gewesen als Smoky mit seinem beschränkten Verstand. Aber nun war er froh darüber, daß Smoky dem Unheimlichen Angst einflößte. Beruhigt trat er das Gaspedal weiter durch. Wenige Minuten später mußte er in einen schmalen Seitenweg abbiegen. Trotz des dichten Nebels hatte Fadden das Schild gesehen, das am Straßenrand stand und mit dem Pfeil in die Richtung zeigte, in die er fuhr. Auf dem Wegweiser stand: Dandridge Castle. Vom Hörensagen kannte er das Schloß. Es gehörte einem jungen, reichen Lord, von dem man sagte, daß er eine der schönsten Frauen Englands geheiratet hätte und regelmäßig alle vier Wochen eine Party gab, auf der alles anwesend war, was Rang und Namen hatte. Einmal hatte Fadden schon mal mit dem Gedanken gespielt, diesem Schloß einen Besuch abzustatten. Aber er war davon abgekommen, weil er sich hatte sagen lassen, daß man an den Hunden nicht vorbeikäme. Und nun standen sie vor dem Schloß. * Er hielt genau vor dem Haupteingang. Das Portal öffnete sich. Im herausfallenden Licht sah er einen jungen, gutaussehenden Mann mit Smoking herauskommen. 9 �
Der unheimliche Fremde stieg aus und ging dem Lord die breite Steintreppe hinauf entgegen. Die Hoflampen flammten auf. Doch sie konnten den dichten Nebel kaum durchdringen. Sie spendeten aber so viel Licht, daß Joe die Szene genau beobachten konnte. »Baron Ballyntine!« rief der Lord erfreut aus und streckte ihm beide Hände entgegen. »Ich freue mich aufrichtig, daß Sie wieder einmal meiner Einladung gefolgt sind. Seien Sie aufs herzlichste willkommen.« Baron Ballyntine heißt er also, dachte Joe. Na ja, so ähnlich habe ich mir das vorgestellt. Ein Adliger natürlich. Adlig und reich. Er rümpfte verächtlich die Nase. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Lord Dandridge. Ich bedanke mich für Ihre Einladung. Und wie versprochen, habe ich Ihnen auch die Überraschung mitgebracht. Ich hoffe, ich kann damit etwas zur Unterhaltung Ihrer Gäste beitragen.« Joe Fadden blieb der Mund offenstehen. Das war doch nicht zu fassen. Die Schau, die dieser Mann hier abzog, war reif für die Bühne. Er war die Freundlichkeit in Person. Er strahlte über das ganze Gesicht und wirkte sogar sympathisch. Aber Joe kannte dessen wahres Gesicht. Das sind die echten Gangster, dachte er, die großen. So muß man es machen. Man muß den Leuten Sand in die Augen streuen, um sie dann nur noch brutaler übers Ohr zu hauen. Der nimmt den Lord doch aus wie eine Weihnachtsgans. »Die Überraschung? Ja, natürlich. Sie machen mich neugierig, Baron Ballyntine. Was ist das für eine Überraschung?« »Aber Lord Dandridge«, sagte der Baron lächelnd. »Wenn ich es Ihnen sage, dann ist es doch keine Überraschung mehr. Sie werden sich schon noch ein wenig gedulden müssen.« »Es wird mir nicht leicht fallen, mein lieber Baron. Aber natürlich haben Sie recht. Wenn ich es jetzt schon erfahre, dann ist der 10 �
Effekt ja weg. Kommen Sie doch herein!« »Gestatten Sie, daß ich erst einmal abladen lasse?« »Ja, natürlich.« »Würden Sie mir das Tor zum Keller öffnen lassen? Ich möchte es gern im Keller unterbringen.« Der Lord zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Weshalb denn im Keller?« Baron Ballyntine lächelte verbindlich. »Na ja, soviel kann ich Ihnen ja sagen.« Er senkte seine Stimme zum Flüsterton. »Meine Überraschung muß kühl aufbewahrt werden, verstehen Sie?« »Oh, Sie Schlimmer!« Der Lord drohte scherzhaft mit dem Finger. »Was haben Sie nur mit uns vor?« »Abwarten, Lord, abwarten.« Ballyntine lachte. »Kann ich also…« »Das Tor ist offen. Laden Sie ab, Baron. Jetzt haben Sie mich noch neugieriger gemacht.« »Sie werden sehen, Ihre Gäste werden begeistert sein.« Der Baron kam zu Joe. »Fahren Sie den Laster rückwärts zu dem Tor dort hinten!« Er zeigte auf ein Tor, das, knapp fünfzehn Meter vom Hauptportal entfernt, fast am Ende des riesigen Schlosses war. Joe nickte und setzte zurück. Gekonnt manövrierte er den schweren Wagen zu dem angegebenen Tor. »Sie entschuldigen mich einen Augenblick«, sagte Ballyntine zum Gastgeber. »Ich muß dabeisein, wenn die Leute abladen. Die Sachen sind sehr wertvoll und das Personal heutzutage…« »Ich verstehe, Baron. Aber bleiben Sie nicht zu lange.« »Ich beeile mich.« Joe und Smoky hatten inzwischen das Tor geöffnet und die hintere Klappe des Lasters heruntergelassen. Baron Ballyntine ging in den Keller und sah sich um. 11 �
»Wo sollen die Kisten hin?« fragte Joe. Der Baron antwortete nicht gleich. Er suchte noch nach einem geeigneten Platz. Doch dann schien er ihn gefunden zu haben. Er deutete auf eine freie Ecke in einem kleinen Raum, nachdem er sich auch noch vergewissert hatte, daß die Tür abschließbar war. »Stellen Sie die Kisten hier ab«, sagte er, und seine Stimme war wieder so abweisend wie vorher im Auto. Korinthenkacker, dachte Joe. Der behandelt mich wie den letzten Dreck. Na warte, ich werde dich… Dann ging er hinaus, kletterte auf die Ladefläche und schob Smoky eine Kiste auf die Schulter, Smoky trug die Last, als wäre sie ein Bündel Stroh. Joe sprang vom Wagen und zeigte ihm, wo er die Kisten absetzen sollte. Als er mit Smoky den Keller betrat, wich der Baron ängstlich zurück. Joe grinste höhnisch. Und dann forderte er ihn noch richtig heraus. Er wollte ihn schreien hören und die Angst in seinen Augen sehen. Er half Smoky die Kiste abzusetzen. Dann hielt er ihn noch ein wenig zurück und rief: »Hallo, Mister!« Er tat, als hätte er dessen Namen gar nicht gehört, und vorgestellt hatte er sich ja nicht bei ihm. »Ist es hier richtig?« Als er die näher kommenden Schritte hörte, schob er Smoky zur Tür hinaus. Ein entsetzter Schrei drang durch die Kellergewölbe und hallte in der Vielzahl der Gänge und Räume mehrfach wider. Der Baron prallte zurück. Furcht stand in seinen Augen. Über Joes Gesicht huschte ein schadenfrohes Grinsen. Er schob Smoky, der sich verständnislos nach Joe umdrehte, ganz zur Tür hinaus. »Hol die nächste Kiste, Smoky«, sagte Joe. »Du weißt ja jetzt, wohin du sie bringen mußt, ja?« »Sicher, Joe.« Aber er ging nicht hinaus. Er blieb stehen und 12 �
blickte verwirrt vom Baron zu Joe und wieder zurück. Man sah ihm an, daß es in seinem unterentwickelten Gehirn arbeitete. Aber sosehr er sich auch bemühte, es kam nichts dabei heraus. Er konnte nicht begreifen, was der Mann gegen ihn hatte. »Nun geh schon, Smoky«, sagte Fadden und tätschelte seine Schulter. »Geh, Smoky, hol die nächste Kiste!« Smoky zögerte noch. »Schaffen Sie mir diesen Mann vom Hals, Fadden!« schrie der Baron. »Verdammt, Fadden, bringen Sie den Mann weg!« Joe sah seinem Freund fest in die Augen. »Muß ich erst böse werden, Smoky?« »Nein, Joe, ich gehe. Natürlich gehe ich, Joe. Du mußt nicht böse werden.« Er machte sich auf den Weg. Fadden ging langsam auf den Baron zu, aus dessen Augen langsam wieder die Angst wich. »Was haben Sie gegen Smoky?« fragte er lauernd.»Er hat Ihnen doch nichts getan. Er tut keinem Menschen etwas, solange ich es ihm nicht ausdrücklich sage.« »Der Kerl ist ein Tier!« stieß der Baron hasserfüllt aus. »Ein richtiges Tier. Ich will ihn nicht in meiner Nähe haben.« »Sie haben recht, Mister. Smoky kann wie ein Tier werden. Aber nur, wenn man mich angreift oder wenn jemand versucht, mich übers Ohr zu hauen.« Fadden grinste spöttisch. Dann streckte er plötzlich die Hand aus. »Was ist mit dem Geld?« Der Baron griff in die Innentasche seines Mantels und zog seine Brieftasche heraus. Er reichte Joe fünfundzwanzig Pfund. »Die andere Hälfte erhalten Sie, wenn Sie den Lastwagen abliefern, wo Sie ihn geholt haben. Ein Mann wird Sie dort erwarten und Ihnen die restlichen fünfundzwanzig Pfund aushändigen.« »Und wer garantiert mir, daß dieser Mann, von dem Sie spre13 �
chen, auch da ist?« fragte Joe skeptisch. »Ich!« »Verstehen Sie mich nicht falsch, Mister«. Joe war immer noch mißtrauisch. »Ich meine, Sie sind hier, und wir fahren zurück nach London. Es könnte sein, der Mann…« »Er wird da sein«, unterbrach der Baron. Er ärgerte sich. Joe sah es an seinen glühenden Augen. Er spürte den Blick förmlich auf seiner Haut brennen. Ein Schauer rann über seinen Rücken. »Sollte der Mann wider Erwarten nicht da sein, können Sie den Lastwagen behalten. Genügt das?« Joe konnte nur noch nicken. Sein Hals war auf einmal ganz trocken. Er ging zu Smoky, trieb ihn zur Eile an und packte auch selbst mit zu. Wenige Minuten später hatten sie die sechs Kisten abgeladen. Als Smoky die letzte Kiste hineintrug, ging der Baron hinaus, um nicht wieder mit ihm zusammenzustoßen. Joe nutzte diesen Augenblick. Er trat an das Kellerfenster neben dem Tor und schob den Riegel zur Seite. Dann ging er hinter dem Baron ebenfalls ins Freie. Er machte am Lastwagen die Ladeklappe hoch und verschnürte die Plane. Smoky kam heraus und sah scheu zu dem Baron hinüber. »Geh ins Auto, Smoky«, sagte Joe. »Ich komme sofort nach.« Der Muskelberg setzte sich auf den Beifahrersitz. Joe verschloss noch das Kellertor. »Okay«, murmelte er, »fahren wir.« Dann laut: »Good bye, Mister! Und noch viel Vergnügen.« Er bekam keine Antwort. Doch damit hatte Joe auch nicht gerechnet. Er setzte sich hinter das Lenkrad, ließ den Motor an und fuhr los. Baron Ballyntine sah dem Wagen nach, bis er verschwunden war. Auf seinem Gesicht breitete sich ein satanisches Lächeln aus. Und seine Augen glühten. Rot wie glühende Kohlen. Und 14 �
rot wie Blut. � *
»Wir werden jetzt die andere Hälfte unseres Lohnes abholen und dann zum Schloß zurückfahren. Klar, Smoky?« »Ich bin dabei, Joe.« »Wir werden absahnen. Da ist einiges zu holen. Und ich habe das Gefühl, es wird unsere größte Beute, die wir je in die Finger bekommen haben.« »Sicher, Joe. Sicher.« »Hast du Hunde gesehen, Smoky?« »Hunde?« Die Frage kam etwas zu schnell für Smoky. Er überlegte lange. Aber die Antwort blieb trotzdem aus. Er hatte nicht begriffen, was Joe mit den Hunden meinte. Stumm und mit dem Blick eines Jungen, der bei einem Streich erwischt wurde, sah er Fadden an. »Ja, Hunde. Hast du um das Schloß herum Hunde gesehen oder gehört?« fragte Joe nochmals. Diesmal sprach er langsam und betonte jedes Wort. »Ach so, das meinst du.« Smoky lächelte. »Nein, Joe, ich habe keine Hunde gesehen.« »Dann ist es gut. Ich habe auch keine gesehen. Der Lord wird sie sicher hinter das Haus geschafft haben, damit seine Gäste nicht von den Kötern angebellt werden. Das nutzen wir aus. Eine bessere Chance wird sich uns nicht mehr bieten.« Er schwieg einige Zeit. Der Nebel war noch dichter geworden. Er hatte Mühe, den Laster auf der Straße zu halten. Er kam nur sehr langsam voran und fluchte auf das Mistwetter. Aber es half alles nichts. Mehr als fünfundzwanzig Meilen konnte er nicht fahren. Joe Fadden warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner 15 �
goldenen Uhr. Ein wertvolles Stück, aus einem Einbruch in eine Villa. Es war kurz vor zwanzig Uhr. Er begann zu rechnen. Bei diesem Tempo würde er sicher noch über eine Stunde nach London brauchen. Das bedeutete also, daß er vielleicht um einundzwanzig Uhr dreißig dort war. Er würde das Geld kassieren, sich einen Wagen besorgen und zurückfahren. Für die Rückfahrt ebenfalls zwei Stunden. Mitternacht! Um Mitternacht wäre er also dann auf Dandridge Castle. Genau die richtige Zeit für einen Einbruch. »Möchte bloß wissen, was dieser Baron vorhat«, überlegte Joe laut. Er sprach mehr zu sich selbst. »Etwas Gutes ganz sicher nicht. Vielleicht kann ich ihm sogar die Tour vermasseln. Aber clever ist er, das muß man ihm lassen.« Smoky kicherte belustigt, obwohl er ganz sicher nichts davon verstanden hatte. Doch Fadden war das gewohnt. Smoky kicherte und lachte öfter ohne irgendeinen Anlass. Er war eben ein Schwachkopf, ein Irrer. Aber ein gutmütiger Irrer. Er tat keinem Menschen etwas, wenn man ihn nicht reizte. Und Joe paßte auf ihn auf, damit er nichts Dummes anstellen konnte. Er wollte ihn nicht verlieren, denn er wußte, wie wertvoll Smoky für ihn war. Sie kamen genau zu der Zeit in dem dunklen Hinterhof an, die Joe sich ausgerechnet hatte. Er stieg aus und vertrat sich ein wenig die Beine. Smoky schob sich neben ihn und schlug mit den Fäusten spielerisch auf die Motorhaube. »Lass das, Smoky!« sagte Joe mürrisch. Smoky hörte sofort auf. Er stopfte die Hände in die Hosentaschen und sah Joe an. »Verdammt, wo bleibt dieser Dreckskerl!« schimpfte Joe. »Der Baron sagte, daß uns hier jemand erwarten würde. Einen Dreck! Niemand ist da.« 16 �
Er spuckte wütend auf den Boden und zündete sich eine seiner stinkenden Zigarillos an. Den Mann, der auf ihn zukam, sah er erst, als er neben ihm stand. »Sie sind Joe Fadden?« Joe erschrak. Er hatte ihn gar nicht kommen sehen. Und er hat ihn auch nicht gehört. Er stand einfach da, wie aus dem Boden geschossen. »Ja«, sagte er verwirrt. »Ich bin Joe Fadden.« »Kommen Sie mit! Ich habe Geld für Sie.« Der Mann drehte sich um und ging durch den dunklen Hof auf eine Tür zu. Joe winkte Smoky. Zusammen gingen sie hinter dem Mann her. Sie mußten einen finsteren Flur durchqueren, und Joe Fadden beschlich ein ungutes Gefühl. Der Mann öffnete eine Tür. Licht fiel in den Flur. Joe sah, daß das Zimmer offenbar leer war. Mit einer stummen Handbewegung forderte sie der Mann auf, in den Raum zu treten. Fadden zögerte. Er roch förmlich, daß hier etwas nicht stimmte. Aber was? Der Mann will ihm Geld auszahlen und bittet ihn deshalb in sein Haus. Was war daran schon verdächtig? Aber das Gefühl, daß ihm hier Gefahr drohte, blieb. Entschlossen schob er Smoky nach vorn. »Geh' hinein, Smoky«, sagte er. Smoky ging voran. Er wunderte sich nicht darüber. Joe war öfter so freundlich und ließ ihm den Vortritt. Joe war überhaupt ganz prima. Fadden folgte Smoky nicht. Er sagte zu dem Mann: »Bitte, nach Ihnen.« Der Mann lächelte verzerrt. »Ich kenne doch die Regeln des Anstandes«, sagte er. »Bitte, Mr. Fadden, treten Sie ein!« Joe wurde wütend. Bevor er sich auf das Spiel »Nach Ihnen! Nach Ihnen!« einließ, wollte er den Mann an der Schulter packen und in den Raum hineinschieben. Aber der andere war schnel17 �
ler. Er hatte den Gedanken noch nicht richtig zu Ende gedacht, da bekam er einen Stoß in den Rücken und taumelte ins Zimmer. Im gleichen Augenblick fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Es waren vier. Und sie waren alle bewaffnet. Der eine hatte einen Schlagring, der zweite ein Messer. Der dritte eine siebenschwänzige Peitsche mit Bleikugeln bespickt. Der vierte hatte ein richtiges Mordinstrument. Es war eine Kugel, die an einer ein Meter langen Kette hing, wie die eines Hammerwerfers. Aber die Kugel war nicht glatt. Blankgeputzte, etwa fünf Zentimeter lange Stahlspitzen ragten heraus. Der Messerheld war der erste, der sich bewegte. Langsam und mit einem zynischen Lächeln auf dem Gesicht kam er näher. * Die Party war in vollem Gange. Alle geladenen Gäste waren gekommen, etwa zwanzig. Sie standen herum, schwatzten, tranken und lachten, und es ging so fröhlich und ausgelassen zu wie immer auf Dandridge-Partys. Einige Gruppen hatten sich in der Wohnhalle gebildet. Man sprach über dieses und jenes und lachte über einen Witz, den gerade jemand erzählt hatte. Die Bestürzung darüber, daß die Hausherrin plötzlich erkrankt wäre, war völlig gewichen. Der Hausherr, Lord Dandridge, versicherte, daß seine Frau nicht ernstlich krank sei, sie fühle sich jedoch schwach, daß sie nicht herunterkommen könne. Und es sei ihr ausdrücklicher Wunsch, daß sich die Gäste genauso amüsierten wie sonst auch, was man auch ausgiebig tat. Lord Dandridge war eifrig bemüht, seine Gäste zufrieden zu stellen. Er war bald da, bald dort. Aber meistens war er von einer Schar junger, schöner Damen umringt. Lord Dandridge war ein gutaussehender Mann und vor allem ein blendender Unterhalter. Doch an diesem Abend war dem nicht so. Der Lord 18 �
war zerstreut und gegen allzu aufdringliche Damen regelrecht unhöflich. Er entschuldigte sich aber sofort, und die Damen verziehen ihm, weil sie ja wußten, daß seine Frau erkrankt und er deshalb etwas durcheinander war. Dandridge konnte sich endlich von den Damen lösen und ging auf einen jungen Mann zu. »Na, Inspektor Weaver, was macht denn so die Verbrecherjagd?« fragte er leutselig, mit einem unverbindlichen Lächeln auf den Lippen, was ihn so sympathisch machte. »Danke der Nachfrage, Lord Dandridge. Aber es ist und bleibt immer dasselbe«, gab der Inspektor zurück und nippte an seinem Champagnerglas. Der Lord senkte ein wenig die Stimme. »Ich habe gehört, daß Sie zu einem Sonderdezernat abgestellt wurden. Sie sind nicht mehr bei Scotland Yard.« Weaver hob überrascht die Augenbrauen. »Sie sind verdammt gut orientiert. Eigentlich war ich der Meinung, daß das noch niemand wüsste, außer einigen hochgestellten Persönlichkeiten.« »Oh, glauben Sie ja nicht, daß mir etwas verborgen bleibt. Lord Dandridge weiß über alles Bescheid.« »Es ist mir zwar bekannt, daß Sie über gute Verbindungen verfügen. Aber daß diese Verbindungen bis zu Scotland Yard reichen, hätte ich ehrlich gesagt nicht geglaubt.« Lord Dandridge schmunzelte. Es bereitete ihm ungeheures Vergnügen, einen verdatterten Kriminalbeamten vor sich zu haben. »Wissen Sie«, sagte er und zündete sich gemächlich eine Zigarette an, »meine Verbindungen reichen bis hinauf ins Ministerium. Es gibt nichts, was ich nicht in Erfahrung bringe. Ich weiß übrigens auch, welchem Sonderdezernat Sie zugeteilt wurden. Das heißt, Sie sind sogar der führende Kopf dieser Gruppe.« 19 �
Das ging dem Inspektor nun doch zu weit. Es gab lediglich fünf Personen, die davon wußten. Jedenfalls bis jetzt. Lord Dandridge war der sechste. Weaver war es ein Rätsel, wie er es wissen konnte. War es wirklich möglich, daß einer von den fünf Männern geplaudert hatte? Oder sind es vielleicht nur Vermutungen von Lord Dandridge? Will er ihn damit nur veranlassen, mehr darüber zu erzählen? Aber hatte er dann nicht schon zuviel gesagt? Nein, sicher nicht. Bald würden es noch mehr Leute wissen, daß er nicht mehr bei Scotland Yard tätig ist. Das wird sich kaum verheimlichen lassen. Was aber dieses Sonderdezernat für Aufgaben hatte, das sollte ein Geheimnis bleiben. Man wollte dadurch eine gewisse Unruhe in der Bevölkerung vermeiden. »Ich glaube, Sie spielen die Sache ein wenig zu hoch«, sagte er dann. »Es ist nichts weiter als eine andere Gruppe von Beamten, die genau die gleiche Arbeit verrichtet wie der Yard auch.« Der Lord grinste ihn breit an. »Mir brauchen Sie nichts vorzumachen. Ich sagte Ihnen ja schon, ich weiß, was gespielt wird. Doch ich wollte Ihnen nicht nur beweisen, über welche guten Verbindungen ich verfüge, ich möchte mich mit Ihnen über Ihre neue Arbeit unterhalten. Es interessiert mich brennend, was Sie da zu tun haben.« Aha, dachte Weaver. Er will mich also doch nur aushorchen. Habe ich also richtig vermutet. »Ich möchte Sie nicht langweilen, Lord Dandridge«, meinte er deshalb lächelnd. »Meine neuen Aufgaben sind zugleich auch die alten. Es hat sich lediglich das Dezernat geändert.« »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, was?« Der Lord drohte scherzhaft mit dem Finger, und in seinen schwarzen Augen blitzte es auf. »Also bitte, erzählen Sie mir was davon. Ich interessiere mich wirklich für Ihre neue Arbeit.« 20 �
»Ich sagte Ihnen eben schon, es gibt keine neuen Arbeiten«, entgegnete Weaver ziemlich ungehalten. Lord Dandridge fixierte ihn scharf. Für einen kurzen Moment verschwand das Lächeln auf seinen Lippen. Doch nur für Sekunden. Dann lachte er laut auf. »Ich sehe schon«, sagte er. »Sie wollen mir nichts verraten, weil Sie glauben, Dienstgeheimnisse zu verletzen. Aber Geheimnisse, hinter die ich gekommen bin, sind keine mehr. Und daß es so ist, will ich Ihnen gleich beweisen. Sie und vier andere, ausgesuchte und auf Herz und Nieren geprüfte Männer, sind einem Sonderdezernat zugeteilt worden. Und dieses Sonderdezernat befasst sich, wie der Name schon sagt, mit Sonderaufgaben. Sie haben sich um Fälle zu kümmern, die außergewöhnlich sind und für einen normal denkenden Menschen unbegreiflich. Um es deutlicher zu sagen: Sie bearbeiten Fälle, in denen übersinnliche Kräfte im Spiel sind Hexenkult, Geisterbeschwörung, Dämonen und Teufelsanbeter. Habe ich das nun richtig gesagt?« Inspektor Weaver war wie vor den Kopf geschlagen. Es war ihm unbegreiflich, woher der Lord seine Informationen hatte. Was der Lord sagte, stimmte ganz genau. Wo war die undichte Stelle? Nicht auszudenken, wenn… »Hören Sie, Lord.« Es wäre sinnlos gewesen, jetzt weiter den Unwissenden zu spielen. »Ich weiß nicht, von wem Sie Ihre Informationen haben, aber ich bin sicher, daß Sie mir es sagen werden.« »So?« Es klang spöttisch. Gordon Weaver merkte, daß er es anders anfangen mußte. »Sie wollten sich mit mir über meine Arbeit unterhalten, Lord, Okay, ich bin einverstanden. Ich erzähle Ihnen, was Sie wissen wollen, und Sie sagen mir den Namen.« Lord Dandridge schien zu überlegen. Man sah, wie er hin und her gerissen wurde. Doch dann sagte er: »Tut mir leid, Inspek21 �
tor. Da ist nichts zu machen. Was könnten Sie mir schon sagen, was ich nicht weiß. Ich wollte mich eigentlich nur mit Ihnen unterhalten, weil mich Ihre Arbeit interessiert und weil ich Ihnen vielleicht hätte helfen können. Aber wenn Sie mir so kommen… Ich werde doch nicht eine meiner besten Informationsquellen preisgeben. Das verstehen Sie doch?« Natürlich verstehe ich das, dachte Weaver grimmig. Er schalt sich einen Esel. Warum bin ich hier nur so plump vorgegangen. Das ist doch sonst nicht meine Art. War es die Tatsache, daß der Lord zuviel wußte? »Ich glaube, Lord Dandridge, Sie sind sich über die Tragweite Ihres Wissens gar nicht im klaren«, sagte Weaver und hätte sich im selben Moment die Zunge abbeißen können. Warum sagte er so was? Natürlich war sich der Lord darüber im klaren, daß er etwas wußte, was nur ein paar Leuten in England bekannt war und das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit dringen durfte, um eine Panik zu vermeiden. Er sah das überhebliche Grinsen in Lord Dandridges Gesicht und wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen. »Für was halten Sie mich denn, Inspektor?« fragte der Lord mit unverkennbarer ironischer Stimme. »Für eine Klatschtante?« »Nein, natürlich nicht. Ich…« Er stotterte plötzlich, eine nie gekannte Unsicherheit beschlich ihn. Heiße Wellen stiegen ihm ins Gesicht, auf seinen Wangen zeigten sich hektische Flecken. Mein Gott, was ist nur los mit mir? Ist es der Sekt? Verwirrt wandte er sich ab, ohne ein Wort der Entschuldigung. In meinem ganzen Leben hat mich noch kein Mensch so bloßgestellt. Ich habe mich benommen wie ein Schuljunge. Verdammt noch mal, warum nur? Und auf einmal war seine alte Sicherheit wieder da, als wäre es nie anders gewesen. Er wandte sich um und wollte zu Lord Dandridge etwas sagen. Aber der war verschwunden. Weaver ging 22 �
umher und suchte ihn. Doch es war sinnlos. Der Lord war und blieb verschwunden. * Die tödliche Stille im Raum wurde nur von den Atemgeräuschen der sechs Männer durchbrochen. Joes Augen waren groß und rund. Er hatte Geld erwartet und sah jetzt dem Tod ins Auge. Er hat einen Coup vor, schoß es ihm blitzartig durch den Kopf. Deshalb will er uns aus dem Weg räumen. Lästige Mitwisser kann er nicht gebrauchen. Aber noch ist es nicht soweit. Ich habe Smoky, und ich bin auch nicht aus Pappe. Wir werden es ihnen nicht leichtmachen. Er trat einen Schritt nach vorn. Der Messerheld bewegte sich auf ihn zu. Der blanke Stahl glitzerte im Licht der schwachen Deckenbeleuchtung und zuckte wie ein Blitz auf ihn zu. Aber Joe war schneller. Gekonnt fing er den heruntersausenden Arm ab und rammte dem Mann das Knie in den Magen. Ein ersticktes Stöhnen kam über die Lippen seines Gegners. Der Oberkörper des Mannes fiel nach vorn. Joe holte aus und donnerte ihm die Faust ins Genick. Ohne einen weiteren Laut sackte er in sich zusammen. »Los Smoky!« schrie Joe. »Schlag sie zusammen! Hörst du? Gib ihnen Saures!« »Ja, Joe, ich gebe ihnen Saures!« Smoky freute sich, daß er wieder einmal zeigen konnte, wie stark er war. Aber die anderen waren immer noch zu dritt. Und sie waren bewaffnet. Es waren gefährliche Waffen, und jeder Treffer konnte tödlich sein. Joe hatte sich auf den Kerl mit der Stahlkugel konzentriert. Aber die Gefahr kam von dem Nebenmann. Er hörte das Pfeifen 23 �
der bleibespickten Peitschenriemen fast zu spät. Er versuchte noch auszuweichen. Doch er schaffte es nicht mehr ganz. Die Riemen zogen sich brennend über seine linke Schulter. Er brüllte vor Schmerz auf. Im Nu war sein zerfetzter Pullover blutdurchtränkt. Halb wahnsinnig vor Schmerzen rannte er einfach los, zog den Kopf ein und rammte dem Mann den Kopf in den Magen. Er wurde an die Wand geschleudert, die Peitsche entfiel seiner Hand. Joe versuchte sie aufzuheben. Er bückte sich, hatte den Stiel schon in der Hand, als sich ein Schuhabsatz schmerzhaft auf seinen Handrücken stellte. Plötzlich war der Absatz weg. Smoky hatte den Mann mit dem Schlagring, der Joe gerade die Faust auf den Kopf schlagen wollte, an Genick und Hosenboden gepackt und ihn hochgehoben. Er benutzte ihn als Wurfgeschoß und warf ihn wuchtig auf den angreifenden Mann mit der Stahlkugel. Die beiden Typen landeten polternd auf den Brettern. Und dann kam Smoky erst richtig in Fahrt. Er packte beide Männer an den Haaren und schlug ihre Köpfe abwechselnd einmal gegeneinander und einmal gegen die Wand. Joe hatte sich in der Zwischenzeit der Peitsche bemächtigt. Wütend holte er aus und schlug blindlings auf den vor ihm liegenden Mann ein, der sich schützend die Arme vor das Gesicht hielt. Aber das half ihm nicht viel. Unbarmherzig sauste die Peitsche auf seinen Körper nieder und hinterließ breite, blutige Striemen. Wie ein getretenes Tier jaulte der Mann nach jedem Schlag auf. Nach dem fünften Peitschenschlag verstummten die Schreie. Joe hielt inne. Keuchend starrte er auf den blutüberströmten Mann, der bewegungslos am Boden lag. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich der andere bewegte, den er vorher niedergeschlagen hatte. Er wollte sich erheben. Joe 24 �
Fadden trat einen Schritt näher und zog die Peitsche über seinen Kopf. Ohne einen Ton von sich gegeben zu haben, sackte der Mann wieder zu Boden. Smoky hatte sein ihm befohlenes Werk immer noch nicht unterbrochen. Immer wieder schlug er die beiden Köpfe zusammen. »Hör auf, Smoky!« rief Joe. Er riß, die Tür auf. Aber der Korridor war leer. Der Mann, der sie in diese Falle gelockt hatte, war verschwunden. Smoky hatte gar nicht verstanden, was Joe ihm gesagt hatte. Er schlug immer noch weiter. Seine Kleidung war voller Blutspritzer. Ebenso seine Hände und sein Gesicht. Er war in Rage gekommen. Leise und abgehackt murmelte er vor sich hin: »Niemand darf Joe etwas tun! Niemand! Joe ist mein Freund, er ist mein bester Freund. Er tut alles für mich. Deshalb muß ich ihm helfen… Niemand darf meinem Joe etwas tun.« Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Lass es gut sein, Smoky. Sie können mir nichts mehr tun«, beruhigte ihn Joe. »Sie sind tot, Smoky. Hörst du? Sie sind tot! Du brauchst nicht mehr weiter zuschlagen.« Smoky hob den Blick und sah Joe mit seinen Hundeaugen an. Dann warf er einen Blick auf die beiden Reglosen in seinen Händen. »Ja, Joe, ich höre auf.« Er ließ die Toten einfach fallen und wischte den Schweiß von seiner Stirn ab. Joe drehte sich schaudernd um. In solchen Augenblicken hasste er Smoky. Er gehört in eine Anstalt, dachte Joe. Er ist wie ein Tier. Wie kann er einen Mann nur so zusammenschlagen. Wenn er mich in Gefahr sieht, wird er zu einem reißenden Wolf. Er ist grausam und bestialisch, andererseits auch wieder so lammfromm wie ein 25 �
kleines Kind. Ich müßte ihn wirklich in eine Anstalt schicken. Aber Joe Fadden tat es nicht. Er konnte und wollte auch nicht, weil er wußte, daß er ihn brauchte. Joe sagte: »Komm, Smoky, wir müssen den anderen noch erwischen.« »Okay, Joe, ich fange ihn dir. Und ich zerquetsche ihn wie eine Wanze. Du wirst sehen, Joe, ich mache Hackfleisch aus ihm.« In diesem Moment brummte draußen ein Motor auf. Reifen quietschten. Danach wurde es still. Joe rannte hinaus. Aber es war natürlich zu spät. Der Mann war weg und mit ihm das Geld, das er Joe noch zu bekommen hatte. Er fluchte und ging zurück. Smoky kam ihm entgegen, und als Joe ihn auf sich zukommen sah, wurde ihm schlecht. Er würgte, übergab sich und lehnte sich japsend an die Wand, den Kopf in die Armbeuge gelehnt. Smoky stand hilflos neben ihm und wußte nicht, was er tun sollte. Er wußte nie, was er tun sollte, wenn Joe es ihm nicht sagte. Also stand er abwartend da und ließ die Arme hängen. In seinem Gesicht war weder Mitleid noch Anteilnahme zu erkennen. Er war einfach nur ratlos. Er verstand nicht, warum sein Freund sich übergeben mußte. Joe Fadden stieß sich von der Wand ab und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Plötzlich schrie er Smoky an: »Nun geh schon endlich und wasch dich! Hast du gehört? Du sollst dich waschen!« Dieser plötzliche Wutausbruch von Joe brachte Smoky noch mehr durcheinander. Verwirrt drehte er sich um und ging in den Raum zurück, in dem sie mit den Männern gekämpft hatten. Joe schüttelte sich und spuckte ein paar Mal aus. Dann hörte er ein Poltern, gleich darauf ein Stöhnen. Er rannte den Korridor entlang und blieb unter dem Türrahmen entsetzt stehen. Smoky hatte den kleinen Messerhelden zwischen den Händen 26 �
und machte ihn gerade fertig, als Joe hinzukam. Dann ließ Smoky den Mann einfach fallen und lächelte Joe an. »Das habe ich doch gut gemacht, nicht wahr, Joe? Er wollte gerade wieder aufstehen. Aber das wollte ich nicht. Er darf dir nichts tun.« Er sah Joe Fadden mit einem bettelnden Blick an. »Nicht wahr, Joe, jetzt bist du nicht mehr böse auf mich?« Fadden starrte fassungslos auf die Toten im Zimmer. Und wieder rann ein Schauer über seinen Rücken. »Nein, Smoky«, flüsterte er. »Jetzt bin ich nicht mehr böse auf dich.« * Sie hing an seinem Hals und küsste ihn wild und leidenschaftlich. Er schob sie ein Stück von sich weg. »Bist du auch sicher, daß uns niemand gefolgt ist?« fragte Ben Porter zweifelnd. »Natürlich bin ich sicher«, sagte Mabel Stevens. »Mich hat jedenfalls niemand gesehen. Komm, küss mich! Es ist eine Ewigkeit her, seit du mich zum letztenmal in die Arme nahmst.« »Wir müssen vorsichtig sein.« »Ich weiß ja, daß wir vorsichtig sein müssen. Aber glaube mir, niemand hat mich gesehen.« Ben sah sich um. Sie waren in der Bibliothek von Dandridge Castle. Zu seiner Linken stand ein Bücherregal, das bis zur Decke reichte und die ganze Länge der Wand einnahm. Das gleiche war auf der rechten Seite. In der Mitte stand ein niedriger Tisch mit einer Marmorplatte, um den sich einige tiefe Sessel reihten. Die Vorhänge des riesigen Fensters waren zugezogen, und die Stehlampe, die daneben stand, spendete nur wenig Licht. »Ich mag nicht hier bleiben«, sagte Ben. »Ich komme mir hier 27 �
wie in einer Mausefalle vor. Es gibt nur einen Zugang zur Bibliothek, und wenn jemand hereinkommt…« »Wohin sollten wir sonst?« »Vielleicht nach oben.« Er überlegte kurz. »Geh du zuerst hinauf und warte oben auf mich. Ich komme dann in einer Minute nach. Okay?« »Warum hast du nur solche Angst?« »Ich weiß nicht.« Ben zuckte die Schultern. »Ich glaube, dein Mann hat etwas gemerkt. Er sieht mich immer so seltsam an. Er belauert mich.« »Das bildest du dir nur ein.« »Vielleicht. Aber sicher ist sicher. Du weißt, was passiert, wenn herauskommt, daß wir ein Verhältnis haben. Dein Mann bringt mich um.« Mabel ging langsam auf ihn zu und legte ihm die Arme um den Nacken. »Und wenn wir ihm zuvorkommen?« fragte sie leise. »Du meinst…« Ben brach entsetzt ab. »Du bist verrückt!« stieß er dann hervor. »Du bist komplett verrückt. Ich will nicht zum Mörder werden. Hast du das verstanden?« »Nun reg dich doch nicht so auf. Es war ja nur so ein Gedanke von mir. Aber ich bin der Meinung, es ist ein guter Gedanke. Jedenfalls besser, als abzuwarten, bis jemand unser Verhältnis entdeckt und Ernie dann dich umbringt. Und er wird es tun, das weiß ich.« »Wir müssen eben noch vorsichtiger sein als bisher.« »Und wie stellst du dir unser zukünftiges Leben vor? Du mußt Verstecken spielen vor deiner Frau und ich noch viel mehr vor meinem Mann. Ich halte das nicht mehr lange aus, Liebling. Eines Tages schreie ich es in die Welt hinaus…« Sie war bei den letzten Worten immer lauter geworden. Ben Porter hielt ihr erschrocken den Mund zu. »Schrei nicht so! Willst du, daß man uns jetzt schon entdeckt. 28 �
Geh nach oben, wie wir es ausgemacht haben. Ich komme dann in einer Minute nach. Wir können oben weiterreden.« Mabel Stevens nickte stumm. In ihren großen hellblauen Augen standen Tränen. Sie drehte sich schnell um, damit Ben es nicht sehen sollte. Sie war eine reife, sehr schöne Frau, anfang Dreißig, mit einer hervorragenden Figur. Es war überhaupt bezeichnend für Dandridge-Partys, daß fast lauter schöne und relativ junge Frauen, die mit älteren, vermögenden Männern verheiratet waren, Einladungen erhielten. Ben bildete unter diesen Männern fast eine Ausnahme. Er war Mitte Dreißig, sehr gut aussehend. Aber er galt als der ärmste unter den Reichen, und man mochte ihn nicht sehr gern. Doch er war auf jeder Dandridge-Party dabei, weil er der Sohn eines führenden Unterhausmitgliedes war. Mabel Stevens, die Frau eines sehr reichen, aber brutalen und oft über Leichen gehenden Industriellen, öffnete die Tür, spähte hinaus und zog dann die Tür hinter sich ins Schloß. Ben Porter griff ein Buch nach dem anderen heraus, blätterte kurz darin und steckte es zurück. Nervös sah er auf die Uhr. Die Sekunden wollten einfach nicht vergehen. Hoffentlich ist sie vorsichtig, dachte er. Die junge Frau ging von der Bibliothek ins Morgenzimmer. Von dort führte eine schmale Treppe nach oben. Durch die Halle wollte und konnte sie auch nicht. Jeder würde dann sehen, daß sie in die oberen Stockwerke ging. Und dann blieb sie plötzlich stehen und erstarrte fast zur Salzsäule. In der Vitrine neben der Tür, in der sonst die Schmetterlingssammlung des Lords zu bewundern gewesen war, lag eine Leiche. Aber es war keine normale Leiche. Fein säuberlich war der Kopf abgetrennt worden und lag auf der Brust des Toten. Zwei weit aufgerissene Augen, in denen noch immer das Entsetzen zu 29 �
lesen war, starrten sie an. Es waren die Augen des Lords. Und es waren der Kopf und die Leiche von Lord Dandridge. Mabel stand einen Augenblick wie gelähmt. Doch dann brach ein markerschütternder Schrei von ihren Lippen. Sie drehte sich um und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war. Und sie hörte nicht auf zu schreien, bis sie vor Ben stand. »Mein Gott, Mädchen, was ist nur los?« Ben nahm sie in die Arme und strich ihr beruhigend über das Haar. »Warum schreist du so? Ist dir ein Gespenst über den Weg gelaufen oder ist vielleicht…« Er brach ab. Mabel schluckte krampfhaft. Ihre Gesichtszüge waren vor Angst verzerrt. Ihr Mund stand offen. Sie wollte etwas sagen, aber im ersten Moment brachte sie kein Wort heraus. Dann kam es stockend: »Lord Dandridge er… Der Lord er ist tot! Man hat ihm den Kopf abgeschlagen… Er ist tot.« Ben sah sie verständnislos an. »Bist du verrückt?« Ben Porter schüttelte sie. »Was redest du da für einen Unsinn? Ist dir der Champagner zu Kopf gestiegen?« »Es ist wahr, Ben! Er ist tot!« »Zeige mir, wo du ihn gesehen hast!« Er zog sie mit. Aber sie kamen nicht weit. Die anderen Gäste hatten die Schreie ebenfalls gehört und kamen herausgerannt. Und mit ihnen Mr. Stevens. Er sah Mabel in den Armen von Ben Porter, und sein Blick verfinsterte sich schlagartig. »Was ist hier los?« fragte jemand. »Wer hat da so geschrien?« »Mrs. Stevens«, erklärte Ben. »Sie sagt, sie habe Lord Dandridge gesehen ermordet. Sie wollte mir gerade die Stelle zeigen.« Gordon Weaver schob sich nach vorn. »Wo haben Sie ihn gese30 �
hen?« fragte er Mabel. Sie zeigte ins Morgenzimmer. »Dort drüben in der Glasvitrine, wo sonst die Schmetterlingssammlung ist.« Inspektor Weaver ging sofort los. Einige folgten ihm. Dann kamen alle hinterher. Nur Ernie Stevens blieb zurück. Langsam ging er auf seine Frau und Ben zu. Sein Blick versprach nichts Gutes, seine Haltung war drohend. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Mabel hastig. »Es ist nur ein dummer Zufall, daß Mr. Porter hier ist. Und dann war es die Aufregung, wegen der Leiche des… Ich wußte nicht mehr, was ich tat. Ich habe einfach geschrien, und da stand dann Mr. Porter in der Tür und…« »So, Zufall nennst du das«, unterbrach Stevens gefährlich leise. »Ein Zufall also. Stell dir vor, ich glaube nicht an Zufälle. Schon gar nicht an solche, in denen ich meine Frau in den Armen eines anderen Mannes sehe.« »Ich kann das erklären«, versuchte Ben einzulenken. »Ich war…« »Von Ihnen brauche ich keine Erklärung!« brüllte Stevens plötzlich los. »Und wenn Sie noch einmal den Mund aufmachen, dann bringe ich Sie auf der Stelle um.« Die letzten Worte hatten die anderen, die gerade wieder zurückkamen, auch mitbekommen. Sie machten lange Gesichter und warfen Mabel teils mitleidige, teils schadenfrohe Blicke zu. Sie erwarteten eine Szene. Aber Inspektor Weaver machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. »In der Vitrine ist keine Leiche.« Weaver ging einen Schritt auf Mabel zu. »Sie ist leer. Ich weiß nicht, was ich von Ihrer Beobachtung halten soll.« »Aber ich habe Lord Dandridges Leiche gesehen. Er war nackt, und man hat ihm den Kopf abgeschlagen. Und der Kopf lag auf seiner Brust.« 31 �
Mabel Stevens war völlig verstört, dem Weinen nahe. Sie sah den Inspektor ungläubig an. »Kommen Sie!« Weaver nahm sie am Arm. »Zeigen Sie es mir.« Irgend jemand schrie: »Igitt.« Andere sprachen von einem makabren Scherz und von Irrenhaus. Und dann standen sie vor der Vitrine. Sie war leer! Keine Leiche, kein abgeschlagener Kopf. Nichts. »Aber die Leiche des Lords war hier«, flüsterte Mabel. »Bitte, Inspektor, Sie müssen mir glauben. Ich habe es wirklich gesehen. Wie käme ich sonst dazu, zu schreien.« »Es gibt viele Gründe, weshalb eine Frau schreit«, entgegnete Inspektor Weaver. »Dieser Porter wird sie belästigt haben«, polterte Ernie Stevens los, saß jeder es hören konnte. »Nicht wahr, Mabel, so ist es doch? Er wollte dir etwas antun?« »Aber nein, das stimmt nicht. Er hat mir nichts getan. Wirklich nicht.« »Du kannst es ruhig zugeben, Liebling«, redete ihr Mann auf sie ein. »Er hat dich belästigt, und da hast du geschrien. Und weil du dich jetzt vor ihm fürchtest, hast du die Geschichte mit der Leiche erfunden. Aber jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben. Ich bin bei dir. Er wird es nicht wagen, dich noch einmal anzurühren.« Mabel sah hilfesuchend von Ben zu dem Inspektor. Verzweiflung lag in ihrem Blick. »Ich bin überzeugt, daß sie die Leiche gesehen hat«, versuchte Ben ihr zu helfen. »Denn Lord Dandridge ist nicht hier. Sieht ihn jemand von Ihnen? Nein, niemand sieht ihn. Noch nie hat Lord Dandridge seine Gäste einfach sich selbst überlassen. Ich sage euch, hier stimmt etwas nicht. Hier ist etwas faul.« »Sie täuschen sich, junger Freund«, vernahm er eine bekannte 32 �
Stimme in seinem Rücken. »Ich bin hier und könnte mir nicht vorstellen, was in meinem Hause faul sein sollte.« Ben Porter fuhr erstaunt herum. Unter dem Türrahmen stand Lord Dandridge. Und er war so lebendig wie er und die anderen. * Die Scheinwerfer des Wagens durchdrangen den dichten Nebel kaum. Joe Fadden kam mit dem gestohlenen Auto nur sehr langsam voran. Aber der Nebel hatte auch sein Gutes. Er konnte bei den ihm entgegenkommenden Autos die Nummernschilder nicht lesen. Also konnte auch seines nicht gesehen werden. Auf dem Beifahrersitz saß Smoky. Er war bedrückt, niedergeschlagen. Fast ununterbrochen sah er in Joes Gesicht. Er wartete auf ein versöhnendes Wort von ihm. Joe hatte ihn angeschrien und geschimpft, was er doch sonst nicht tat. Er – Smoky hatte ihm doch nur geholfen. Die Männer wollten Joe töten. Das konnte er doch nicht zulassen. Außerdem hat er ihm befohlen, die Männer zu töten. Er hat also nur getan, was Joe ihm gesagt hat. Und trotzdem war er jetzt böse auf ihn. Warum sagt er nichts? Warum ist er nur so schweigsam? Was habe ich nur getan, daß Joe so brummig ist? Sicher nur eine Laune von ihm. Er war einfach nur schlecht gelaunt, weil er nicht das ganze Geld bekommen hat. Aber das wird sich bestimmt bald ändern. Wir werden jetzt große Beute machen. Das wird Joes Stimmung wieder bessern. Ich werde mich besonders anstrengen. Ein zufriedener Ausdruck machte sich auf Smokys Gesicht breit. Er glaubte, die Lösung für Joes befremdetes Verhalten ihm gegenüber gefunden zu haben. Joe Fadden hatte weder Zeit noch Lust, sich um Smoky zu 33 �
kümmern. Er kämpfte sich durch den Nebel, verfuhr sich einmal und hatte Mühe, zurück zur Straße zu finden. Aber er schaffte es. Kurz vor Mitternacht kam er auf Dandridge Castle an. Das Schloß war voll beleuchtet. Musik und Lachen drang heraus. Doch um das Haus herum war nichts zu sehen. Auch keine Hunde. Fadden stellte den Wagen hinter einem Gebüsch des riesigen Parks ab. Er verriegelte die Wagentüren nicht und ließ auch den Zündschlüssel stecken, um bei einer eventuellen schnellen Flucht nicht lange aufgehalten zu werden. Dann schlichen sie langsam auf das große, hellerleuchtete Haus zu. Ohne zu zögern visierte Joe das Kellerfenster neben der Tür an, das er vorher von innen entriegelt hatte. Smoky blieb immer dicht hinter ihm. Im Nebel sah es so aus, als würde Joe ein plumper, tapsiger Bär folgen. Joe hatte die Hauswand erreicht und preßte sich eng an die unverputzte Wand. Smoky blieb einfach stehen. »Drück dich an das Haus, Smoky!« flüsterte Joe. Smoky tat, wie ihm befohlen. Ein leichter Druck von Joe an das Fenster, und es schwang mit einem quietschenden Geräusch nach innen. Es kümmerte ihn nicht. Bei dem Lärm, den die da oben veranstalteten, konnten sie es unmöglich gehört haben. Dann kletterte er geschickt durch das kleine Fenster. Smoky wollte ihm folgen. »Bleib draußen.« Joe drückte ihn sanft zurück. »Ich öffne die Tür.« Er kannte Smoky lange genug und wußte, daß dieser eine Ewigkeit brauchen würde, um durch dieses kleine Fenster einzusteigen. Vorsichtig öffnete er von innen das Tor und ließ Smoky hereinschlüpfen. Dann schloß er es ab. »Komm jetzt!« zischelte Joe. 34 �
Er knipste seine Taschenlampe an, die er mitgebracht hatte, und suchte den Aufgang. Aber in den labyrinthartigen Gängen des Kellers war dies nicht leicht. Sie liefen ungewollt einmal im Kreis herum und standen plötzlich wieder dort, wo sie eingestiegen waren. Joe fluchte. Aber es half nichts. Er versuchte es von neuem. Diesmal ging er einen anderen Weg. Er kam an dem Raum vorbei, in dem die Kisten standen. Er stockte. »Die Kisten«, sagte er leise und deutete auf die Tür, die zu seiner Verwunderung offen stand. Smoky sah ihn verständnislos an. Er hatte die Orientierung völlig verloren. Joe Fadden winkte ab und ging langsam auf die Tür zu. Wenn ich schon hier bin, kann ich mir auch gleich mal ansehen, was in den Kisten ist, dachte er. Dieser Baron führt doch irgendwas im Schilde. Er drückte die Tür ganz auf und trat in den Raum. Der Strahl der Taschenlampe erfasste die erste Kiste. Sie war offen. Auch die zweite. Überall lagen vereinzelt Bretter herum, was darauf hinwies, daß sie eilig aufgebrochen worden waren. Als er den Inhalt erblickte, prallte er entsetzt zurück. Es waren Särge. Schwarze Särge mit silbernen Zierleisten. Die ersten beiden waren offen. Der Deckel war zurückgeklappt. Aber bis auf den schwarzen Samtbezug war der Sarg leer. Die anderen vier waren noch zu. Trotz des kalten Schauers, der über seinen Rücken zog, trat Joe näher. Er leuchtete in den leeren Sarg. Deutlich sah man auf dem schwarzen Samt einen Abdruck. Hier muß noch vor kurzem jemand gelegen haben. Ein Toter! Nein, zwei. Im anderen Sarg war der Abdruck ebenfalls noch auszumachen. Was hat das zu bedeuten? Was will der Baron mit Leichen im 35 �
Schloß? Oder waren es gar keine Leichen? Vielleicht hat er seine Kumpane auf diese Art ins Schloß geschleust. Aber warum in Särgen? Eine normale Kiste hätte es doch auch getan. Überhaupt, warum soll er sie auf diese Art in das Haus schmuggeln? Er kennt doch den Lord gut. Es wäre doch wohl kaum aufgefallen, wenn er sie als seine Freunde vorgestellt hätte. Irgend etwas stimmte da nicht. Das zeigten schon die vier anderen Särge, die noch geschlossen waren. Joe Fadden schwankte zwischen Neu gier und Grauen. Das Ganze kam ihm verdammt unheimlich vor. Doch die Neugier behielt die Oberhand. Er wollte wissen, was es mit den vier Särgen auf sich hatte. Smoky war an der Tür stehen geblieben. Dazu brauchte Joe ihm nichts mehr sagen. Er hatte ihm oft genug eingeschärft, daß er an der Tür stehen bleiben muß, um ihn eventuell warnen zu können. Joe klemmte die Taschenlampe zwischen seine Zähne und versuchte den Deckel des nächsten, noch verschlossenen Sarges zu heben. Aber dazu kam es nicht mehr. Wie von Geisterhand angehoben, öffnete sich der Sarg plötzlich von selbst. Und dann weiteten sich Joes Augen. Sein Mund öffnete sich zu einem Schrei. Doch kein Ton kam über seine Lippen. Was er sah, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Über den Rand des Totenbettes schob sich eine weiße, knochige Hand mit überlangen Fingernägeln… * Endlich gab es wieder mal einen echten Gesprächsstoff. Etwas � derartig Aufregendes hatte es schon lange nicht mehr gegeben. � 36 �
Die meisten rissen ihre Witze darüber. Es war aber auch lächerlich, daß sich Mabel Stevens nichts Besseres hat einfallen lassen. »Also das werde ich mein Leben lang nicht vergessen, wie die Stevens dumm aus der Wäsche geguckt hat, als der totgeglaubte Lord plötzlich lebendig vor ihr stand.« Norman Hunter lachte. »Das war ein Bild für Götter. Und natürlich ist sie dann ohnmächtig geworden. Wie sollte es auch anders sein. Wenn ich einem Geist begegnen würde, erginge es mir nicht anders – hahaha!« Sie schüttelten sich vor Lachen. »Ich finde es gar nicht so komisch«, sagte Inspektor Weaver ernst. Er hatte ihre Worte eben mitbekommen. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Mrs. Stevens wegen nichts und wieder nichts geschrien hat, um sich dann in eine solch peinliche Situation zu bringen. Irgend etwas muß dran sein an ihrer Geschichte.« »Natürlich die Polizei«, spöttelte Doug Winwood, ein älterer Herr mit grauen Haaren und einer dunklen Hornbrille. »Die muß gleich etwas vermuten. Aber hier täuschen Sie sich. Sie haben es doch gesehen. Der Lord lebt.« Er zeigte zu einer Sesselgruppe. »Sehen Sie dorthin! Lord Dandridge sitzt dort und trinkt seinen Champagner und raucht eine Zigarette. Er ist vergnügt wie eh und je.« »Das sehe ich selbst«, fuhr ihn der Inspektor an. Er war verärgert, weil man versuchte, ihn auf den Arm zu nehmen. Aber sein Ärger galt eigentlich nicht den anderen, sondern sich selbst. Warum mußte er auch immer… Er wanderte nachdenklich weiter, verfolgt von einem gutmütigen, spöttischen Lachen. Er konnte es ihnen nicht übel nehmen. Es ist einfach zum Verrücktwerden, dachte er, während er Lord Dandridge aus den Augenwinkeln beobachtete. Es will mir nicht in den Kopf, weshalb Mrs. Stevens geschrien hat. An die 37 �
Version von Ernie Stevens glaube ich nicht. Dazu kenne ich Ben Porter viel zu gut. Der hatte es nicht nötig, sich auf solche Art an eine Frau heranzumachen. Aber was ist dann der Grund? Den toten Lord kann sie nicht gesehen haben. Der sitzt dort drüben, umringt von einigen Damen, und läßt seinen Charme spielen. Inspektor Weaver gab sich einen Ruck. Ich muß Gewissheit haben, noch mal mit Mrs. Stevens und Ben sprechen. Mit Ben Porter verband ihn ein freundschaftliches Verhältnis. Er würde ihn bestimmt nicht anlügen. Mit festem Schritt ging Weaver auf das Büro zu. Man hatte Mabel Stevens auf die Couch gelegt. Es war klar, daß sie sich nicht mehr blicken lassen würde. Dafür würde schon ihr Mann sorgen. Mabel lag reglos auf der Couch, mit geschlossenen Augen. Ihr Atem ging flach, ihr Gesicht war kalkweiß. Sie bemerkte Weaver erst, als er sich auf die Kante des Ledersofas setzte. Sie hob etwas den Kopf und blickte ihn aus schmalen Augen an. »Was wollen Sie noch von mir?« fragte sie schwach. »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich schon gesagt habe.« »Ich möchte es gern noch mal hören. Es will mir nun mal nicht in den Kopf, daß Sie nur aus einer Laune heraus geschrien haben.« Er senkte etwas die Stimme. »Sie haben doch ein Verhältnis mit Ben, stimmt's?« Sie öffnete die Augen und richtete sich halb auf. »Woher… Nein! Ich habe nichts mit Ben Porter. Bitte, lassen Sie mich jetzt in Ruhe!« Gordon Weaver erhob sich und ging langsam zur Tür. Dann drehte er sich um. »Wo ist eigentlich Ihr Mann?« »Er war vorhin noch hier«, antwortete Mabel. »Wo er jetzt ist, 38 �
weiß ich nicht. Vielleicht draußen bei den anderen.« »Draußen ist er nicht«, sagte Gordon. Dann ging er hinaus, betrat das Morgenzimmer und untersuchte nun schon zum zehnten Mal die gläserne Vitrine. Aber er fand nichts. Als seltsam registrierte er lediglich, daß die Schmetterlingssammlung, auf die Lord Dandridge immer so stolz war, fehlte. Und der Lord hatte eine recht fadenscheinige Ausrede dafür. Er habe sie einem Freund mitgegeben. Welcher Sammler gibt etwas, das er mit viel Mühe zusammengetragen, bearbeitet und aufgespießt und fein säuberlich notiert hat, einfach aus der Hand? Niemand. Erst recht nicht Lord Dandridge. Irgend etwas stimmte nicht, das war klar. Aber was war es? Er ging weiter, blieb an der breiten Treppe, die mit einem dunkelroten, weichen Teppich ausgelegt war, stehen und zündete sich eine Zigarette an. Norma Hunter kam auf ihn zu. Sie grinste ihn an und sagte im Vorbeigehen: »Ich sehe mal auf einen Sprung nach unserer kranken Gastgeberin. Bis jetzt ist, glaube ich, noch niemand auf den Gedanken gekommen, ihr einen Besuch abzustatten. Außerdem muß ich ihr unbedingt von der Neuigkeit erzählen. Ich nehme an, es wird sie köstlich amüsieren, daß die Stevens ihren Mann tot gesehen hat. Und dazu noch mit abgeschnittenem Kopf. Igitt, wie scheußlich.« Sie schüttelte sich. Aber das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht. »Ich würde die arme Frau nicht mit solch makabren Geschichten belasten«, warnte Gordon Weaver. »Sie ist krank, man sollte sie in Ruhe lassen.« »Oh«, erwiderte Norma lächelnd, »ich kenne meine Freundin Gloria. Eine solche Geschichte wird sie schnell auf die Beine bringen. Vielleicht kommt sie sogar noch herunter.« Weaver zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie meinen…« 39 �
Er ging in den großen Saal zurück. Sein Blick glitt umher. Er suchte Ben Porter, aber er konnte ihn nirgends sehen. Der Inspektor durchstreifte sämtliche Zimmer im Parterre. Von Porter fehlte jede Spur. Auch Ernie Stevens war von der Bildfläche verschwunden. Ein ungutes Gefühl beschlich Weaver. Er fragte einige Leute, ob sie die beiden gesehen hätten. Alle verneinten. Sie schmunzelten und machten komische Bemerkungen. Einer meinte sogar, daß sie sich sicher gegenseitig umgebracht haben. Er sagte es im Spaß. Doch Weaver war nicht gerade wohl zumute. Ernie Stevens war unberechenbar. Und dann sah sich der Inspektor nach Dandridge um ohne Erfolg. Eine unheilvolle Ahnung beschlich ihn. Irgend etwas würde passieren. Er fühlte es. Und plötzlich wußte er, daß dieser Abend mit einer Katastrophe enden würde. * Norma Hunter ging mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen die Treppe hinauf. Das wird ein Spaß, wenn sie Gloria von dem interessanten Ereignis erzählen würde. Sie könnte sich ausschütten vor Lachen. Diese dumme Pute. Ist ihr tatsächlich nichts anderes eingefallen, als zu erzählen, sie hätte den ermordeten Lord Dandridge gesehen. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Sie hätte doch wissen müssen, daß das sofort herauskommen würde. Sie machte oben im Korridor Licht und ging nach links. Sie kannte den Weg. Gloria war ihre engste Freundin, und sie waren schon oft zusammen in ihrem Zimmer gewesen. Etwas seltsam ist es schon, daß sie sich überhaupt nicht hat bli40 �
cken lassen. Das ist doch sonst nicht ihre Art. Aber vielleicht ist sie wirklich so krank. Na ja, wir werden ja sehen. Eigentlich hätte ich schon viel früher auf den Gedanken kommen müssen, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Ihr Schritt stockte. Jetzt kam es ihr eigentlich erst so richtig zum Bewußtsein. Den ganzen Abend hatte sie nicht daran gedacht, Gloria am Krankenbett zu besuchen. Warum nicht? Norma Hunter ging langsam weiter. Sie hatte die Tür erreicht und drückte langsam die Klinke nieder. Vorsichtig schob sie die Tür auf. Es war dunkel im Zimmer. Norma griff zum Lichtschalter und knipste das Licht an. Ihr erster Blick fiel auf das Bett. Es war alles peinlich sauber aufgeräumt. Die golden verzierte Tagesdecke lag straff über das Bett gespannt. Nichts deutete darauf hin, daß hier jemand gelegen hatte. Und dann hörte sie es. Im Badezimmer rauschte die Dusche. Die Tür war nur angelehnt, ein Lichtschimmer fiel heraus. Norma atmete befreit auf. Sie duscht sich. Es geht ihr wieder besser. Sie macht sich fertig, um dann herunterzukommen. Norma Hunter ging auf die Badezimmertür zu und schob sie ein Stück auf. »Gloria!« Es rührte sich nichts. Außer dem Rauschen der Dusche war nichts zu hören. »Hallo, Gloria! Ich bin es, Norma!« Wieder nichts. Norma Hunter trat über die Schwelle. Das Badezimmer war gut acht bis zehn Quadratmeter groß. Zwei Waschbecken, zwei große Spiegel und eine riesige Badewanne waren zu sehen. Weiter hinten ein rosaroter Plastikvorhang. Dahinter befanden sich 41 �
die Duschen. »Hörst du mich, Gloria? Ich bin es, Norma!« Sie wird doch nicht schon weg sein und vergessen haben, das Wasser abzudrehen? Norma ging näher und schob den Vorhang zur Seite. Und dann prallte sie entsetzt zurück. Ein grauenvoller Anblick bot sich ihr. Zuerst sah sie nur den Kopf von Gloria. Er war vom Rumpf getrennt worden. Ein Plastikseil war um ihre Haare geschlungen und an einem Nagel in der Decke befestigt. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund baumelte der Kopf daran. Blut tropfte aus dem Hals und wurde unten vom Wasser weggespült. Im Becken lag der nackte Torso von Gloria Dandridge. Wie gelähmt, bleich und mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht stand Norma Hunter vor der grausamen Szene. Sie war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch dann, ganz langsam, öffnete sich ihr Mund. Ein lang gezogener, schriller Schrei kam über ihre Lippen. Sie drehte sich um, wollte hinausrennen. Aber sie verhedderte sich am Vorhang. Sie stolperte und fiel unter die Dusche, genau auf den nackten Torso ihrer Freundin. Der Schrei erstarb auf Normas Lippen. Das Grauen schnürte ihr die Kehle zu. Sie zitterte und bebte am ganzen Körper. Ihr schwarzes, schulterfreies Samtkleid war im Nu durchnäßt und hing wie ein nasser Leinensack an ihr, Ihr Haar wurde strähnig und hing ihr wirr ins Gesicht. Mühsam kam Norma Hunter auf die Beine. Sie lehnte sich an die schwarzgeflieste Wand und versuchte, sich daran festzuhalten, weil ihre Knie zitterten und sie sich kaum noch halten konnte. Ihr Blick fiel wieder auf den baumelnden, an den Haaren aufgehängten Kopf. Norma schloß die Augen. Die Beine knickten ihr ein, sie sank zu Boden, und für einen 42 �
kurzen Moment wurde ihr schwarz vor den Augen. Aber das war schnell wieder vorbei. Norma versuchte nun erst gar nicht mehr, sich aufzurichten. Auf allen vieren krabbelte sie aus dem Bad. Im Schlafzimmer stieß sie mit dem Kopf gegen einen schweren Sessel. Aber sie spürte keinen Schmerz. Der ausgestandene Schrecken ließ sie völlig unempfindlich werden. Sie registrierte nur, daß da etwas war, an dem sie sich hochziehen konnte. Sie richtete sich zitternd auf und rannte hinaus. Der Korridor war dunkel. Es fiel ihr aber nicht auf, obwohl sie doch selbst das Licht angemacht hatte, als sie heraufkam. Norma Hunter sah nur den schwachen Lichtschein ganz vorn am Treppenaufgang. Und darauf lief sie blindlings zu. Nur ein Gedanke beherrschte sie noch: Weg! Schnell weg von hier! Sie dachte in diesem Augenblick auch nicht an Mabel Stevens, über die sie gelacht hatte. Sie dachte überhaupt nichts. Sie wollte nur weg. Aber sie kam nicht weit. Auf halbem Weg stolperte sie über irgend etwas. Die Frau schlug der Länge nach hart auf den Boden auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Brust, breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Sie stöhnte laut, Tränen traten in ihre Augen. Durch einen Tränenschleier sah sie vor sich alles nur ganz verschwommen. Sie begann zu schluchzen und hörte es zuerst nicht. Doch dann wurde es deutlicher. Irgend etwas rollte auf sie zu. Es hörte sich an, als wäre es ein Würfel, denn es klang kantig und abgehackt. Und dann sah sie es auch. Es kam genau auf sie zugerollt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie dem Ding entgegen. Panik erfasste sie. Norma konnte es noch nicht genau erkennen, aber sie ahnte, daß es wohl etwas 43 �
Furchtbares war. Das kugelförmige Etwas rollte direkt vor ihrem Gesicht aus. Es war der Kopf von Ben Porter! Norma Hunter sah nur noch die toten Augen, die sie traurig anstarrten. Dann wurde es Nacht um sie. Sie kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Eine erlösende Ohnmacht überfiel sie. * Der Hand folgte eine zweite. Sie war ebenfalls dürr und knochig und alabasterweiß. Dann zeigte sich ein Kopf, und Joe Fadden glaubte, einen bösen Alptraum zu erleben. Er blickte in das Gesicht eines Vampirs. Das kann nicht wahr sein. Ich träume doch. Das gibt es nur in Filmen oder in Romanen. Joe schloß die Augen, öffnete sie wieder. Das Monster blieb. Der Kopf mit dem schlohweißen Haar, das verwildert in alle Richtungen stand, war Wirklichkeit. Er sah ein leuchtendrotes Augenpaar und die beiden überlangen Schneidezähne, die sich über die blasse Unterlippe legten. Die rotglühenden Augen starrten ihn an. Das Ungeheuer öffnete das Maul, die unzähligen Runzeln und Falten in dem alten Gesicht schienen sich zu vermehren. Dann grinste das Monster abscheulich. Joes Atem ging rasend schnell und hektisch. Immer noch glaubte er zu träumen. Sein Verstand sträubte sich, das zu glauben, was seine Augen wahrnahmen. Es war einfach zu ungeheuerlich, zu unwahrscheinlich und zu fantastisch, um Wirklichkeit zu sein. Aber das Monster belehrte ihn eines Besseren. Es erhob sich aus dem Sarg, die knochigen Hände stachen auf 44 �
Joe zu. Der Vampir versuchte ihn zu fassen, um ihm die langen Zähne in sein Fleisch zu bohren. Ein schrecklicher Schauer schüttelte ihn durch. Langsam wich er zurück. Aber der Dämon hatte jetzt Blut gerochen. Er stieg aus dem Sarg und kam mit schnellen, überhasteten Schritten auf Fadden zu. Es war nicht die Angst, die Joe daran hinderte, das Monster anzuschreien oder eine drohende Haltung einzunehmen. Es war einfach das Unbegreifliche, das Unfassbare. Es war ihm immer noch nicht möglich, daran zu glauben, daß er sich im Wachzustand befand. Er war immer noch der Meinung, zu träumen. Ja, er mußte das alles träumen. Sicher ist es wie in allen diesen furchtbaren Alpträumen. Die Bestie würde auf ihn zukommen, und kurz bevor sie ihn erreicht hat, würde er zu schreien anfangen und schweißgebadet aus dem bösen Traum erwachen. Er blieb wie gebannt stehen und erwartete mit weit aufgerissenen Augen das Ungeheuer. Doch im nächsten Augenblick wurde er sich der tödlichen Gefahr bewußt. Er spürte die knochigen Hände auf seinen Schultern und merkte, wie sie sich in seinem Pullover festkrallten. Mit ungeheurer Kraft zog ihn das Monster an sich. Von panischer Angst gepeitscht, versuchte Joe, sich aus den Krallen der Bestie zu befreien. Aber das Monster war stärker. Es ließ ihn nicht aus dem Griff. Der Kopf mit den schrecklichen langen Zähnen nähert sich seinem Hals. Speichel lief über seine Mundwinkel und sammelte sich am Kinn. Heißer, stinkender Atem traf sein Gesicht. Ihm wurde schlecht. Und dann war plötzlich Smoky da. Er packte den Dämon am Kragen der schwarzen Kutte und schleuderte ihn wuchtig an die Wand. Ein normaler Mensch wäre zumindest für einige Zeit außer Gefecht gewesen. Nicht so der Vampir. Er schrie zwar auf, aber nicht aus Schmerz, sondern vor Wut. 45 �
Sein Schrei hörte sich an wie das wütende Geheul eines angeschossenen Wolfes. Das Monster erhob sich vom Boden. Im Dunkel des Kellers sah man seine roten Augen leuchten wie zwei glühende Kohlen. Aber seltsamerweise machte es keinen neuen Versuch, Joe oder Smoky anzugreifen. Im Gegenteil. Es wich zurück und schrie und hielt sich die knochigen Hände vor das Gesicht. Das laute Geschrei hatte zur Folge, daß sich ein weiterer Sargdeckel hob. Die nächste Bestie wurde sichtbar. Sie war ebenfalls mit einer schwarzen Kutte bekleidet. Aber die beiden Zähne waren noch länger und das Gesicht noch hässlicher. Joe war zurückgewichen. Vampire! schoß es ihm durch den Kopf. Das sind ja richtige Vampire. Mein Gott, wo bin ich da nur hineingeraten. Er halte zwar schon mal von Vampiren gehört. Aber er hätte nie gedacht, daß es sich wirklich gibt. Es gab sie. Sie standen vor ihm, er hatte den stinkenden Atem im Gesicht, und diese furchtbaren Zähne waren seinem Fleisch sehr nahe. Wenn Smoky nicht gewesen wäre… Der gerade dem zweiten Sarg entstiegene Dämon kam auf Smoky zu. Doch knapp einen Meter vor ihm zuckte er plötzlich zurück, ohne daß Smoky ihn angerührt hatte. Die Bestie schrie auf und brachte sich aus seiner Reichweite. Was war los mit ihnen? Warum schreckten sie vor Smoky zurück? Warum griffen sie ihn nicht an? Joe Fadden war sprachlos. Nun begriff er gar nichts mehr. Es war schon zuviel für ihn gewesen, als er diese Monstren wahrhaftig sah, sie spürte. Aber daß sie auf Smoky nicht losgingen wie auf ihn, sondern sogar noch zurückwichen, das wollte nicht in seinen Kopf. »Raus, Smoky!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Los, komm schon!« 46 �
Smoky ging rückwärts und ließ die Bestien nicht aus den Augen. Aber bei jedem Schritt, den er machte, folgten die Vampire ihm. Der Abstand blieb jedoch derselbe. Sie trauten sich nicht näher an ihn heran. Joe ließ Smoky zuerst zur Tür hinaus. Das war ein Fehler. Sofort stießen die Blutsauger nach vorn, und bevor Joe ebenfalls durch die Tür entwischen konnte, hatten sie ihn am Pullover gepackt und zogen ihn in den Raum hinein. Fadden schlug wie ein Rasender um sich, mit Armen und Füßen. Er achtete gar nicht darauf, wo er hinschlug. Er traf einen Vampir auf sein aufgerissenes Maul. Ein stechender Schmerz zuckte durch seine Fingerknöchel. Er spürte, wie warmes Blut über seinen Handrücken lief. Etwas von Joes Blut war an den dünnen, blaßblauen Lippen des Dämons hängen geblieben. Das Monster schmeckte das Blut und wurde noch wilder. Smoky hatte den Kampflärm gehört und wirbelte sofort herum, ließ seine riesigen Fäuste fliegen. Die Vampire wurden zu Boden geschleudert. Joe, der dadurch Luft bekommen hatte, sah, daß sich aus den beiden letzten Särgen ebenfalls die Vampire schälten. Nun waren es vier. Joe Fadden stürmte hinaus, zog Smoky hinter sich her. »Los, komm jetzt! Lass uns verschwinden. Hier ist es mir zu unheimlich. Wir pfeifen auf die Beute. Lass uns wieder nach London fahren, dort fühle ich mich wohler.« »Wie du meinst, Joe. Aber ich werde mit ihnen fertig. Bestimmt Joe, ich mache sie kalt.« Joe schwieg. Er eilte mit langen Schritten auf das Kellertor zu. Wie hätte er Smoky erklären sollen, daß man Vampire so nicht töten konnte. Er sah das Tor vor sich. Durch das Fenster fiel ein schwacher Lichtschein herein. Joe beschleunigte seinen Schritt. Er wollte 47 �
einfach nur raus. Er dachte nicht mehr daran, was er sich doch für eine riesige Beute versprochen hatte. Aber knapp zwei Meter vor dem Tor blieb er plötzlich stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Ungläubiges Staunen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Joe Fadden trat einen Schritt zurück und versuchte es ein zweites Mal. Doch er kam nicht weiter als vorher. Irgend etwas Unsichtbares hinderte ihn daran, weiterzugehen. Er hob die Hand und versuchte, die Sperre zu durchstoßen ohne Erfolg. »Was ist los?« fragte Smoky. »Warum gehst du nicht weiter?« Joe antwortete nicht. Verbissen versuchte er immer von neuem, dieses unsichtbare Hindernis zu bewältigen. Doch es gelang ihm nicht. Er begann an seinem Verstand zu zweifeln. Smoky stand hinter ihm und grinste. Er fand es urkomisch, was Joe da machte. Joe Fadden trat einen Schritt zur Seite und sah Smoky sekundenlang an. »Mach das Tor auf!« befahl er ihm. Smoky ging grinsend zum Tor. Joe blieb der Mund offenstehen. Für Smoky gab es kein Hindernis. Er ging durch die Sperre, als gäbe es sie gar nicht. Verdammt noch mal, da ist doch keine Mauer. Ich spinne schon. Diese schrecklichen Bestien haben mich völlig durcheinander gebracht. Er machte dort einen erneuten Versuch, wo Smoky gegangen war. Und da war es wieder. Er stand genau auf derselben Stelle wie vorher und kam keinen Schritt weiter. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er griff sich an die Stirn, schloß die Augen und versuchte vorwärtszugehen. Aber er konnte lediglich seinen Fuß anheben, mehr nicht. Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben! Nur nicht durchdrehen! Ich 48 �
bin schließlich nicht verrückt, sondern ein ganz normaler Mensch und kann logisch denken. Kann ich das wirklich? Warum bleibe ich dann hier stehen? Warum gehe ich nicht einfach weiter? Vor mir ist nichts keine Mauer, kein Draht, keine sonstige Sperre. Er trat zwei Schritte zurück. Ich werde jetzt zum Tor gehen. Niemand wird mich aufhalten. Ich marschiere ganz einfach durch. Ich habe zwei Beine zum Gehen und werde sie jetzt auch dazu benutzen. Joe Fadden atmete tief durch und ging forschen Schrittes Richtung Kellertor. Und dann tat er etwas, was er bis dahin nicht gekannt hatte: er weinte. Ein harter, in vielen Kämpfen mit allen möglichen Gangstern erprobter Mann weinte wie ein kleines Kind. Er sank in die Knie und trommelte wütend mit den Fäusten auf den kalten Steinboden. Joe Fadden hatte es wieder nicht geschafft. Zwei Meter vor dem Tor endete sein Weg. Die Barriere war für ihn unüberwindbar. Hinter sich hörte er das rasselnde Atmen der Bestien. Gelächter drang an sein Ohr. Ein furchtbares, höhnisches Gelächter. Schlurfende Schritte und hektisches Hecheln. Schmatzende Geräusche. Er war schweißgebadet. Und er fror. Ein Schüttelfrost erfasste ihn, rüttelte ihn durch. Funkelnde Sterne tanzten vor seinen Augen, verwandelten sich in hässlich grinsende Dämonen. Alles um ihn drehte sich. Verzweifelt warf Joe sich herum und starrte genau in das gierig aufgerissene Maul eines Vampirs. Darüber ein glühendes Augenpaar, in dem nur abgrundtief Böses lag. Blindlings schlug Joe in die Fratze. Das hässliche, unmenschliche Gesicht verschwand aus seinem Gesichtskreis. Aber da war 49 �
schon das nächste und dann noch ein weiteres. Die furchtbaren langen Zähne schienen immer länger zu werden und die Augen blutrot. Ein dritter Kopf erschien, und dann waren es plötzlich sechs, zwölf, zwanzig, immer mehr. Sie umkreisten ihn. Es waren nur Schädel, keine Körper. Und sie schienen sich gegenseitig an Hässlichkeit übertrumpfen zu wollen. Schrilles, höhnisches Gelächter ließ seine Trommelfelle vibrieren. Es ebbte ab und wurde wieder laut und hoch und schrill. Dann traf ihn etwas Feuchtes im Gesicht. Mit einem markerschütternden Schrei sackte er nach hinten. Die Bestien um ihn herum verschwanden und wichen einer wohltuenden, befreienden Dunkelheit. * Als sie zu sich kam und langsam die Lider hob, sah sie in ein graues Augenpaar und begann sofort wie wild zu schreien. »Na, na, wer wird denn gleich so schreien«, hörte sie eine Stimme dicht über ihrem Gesicht. »Ich beiße schließlich nicht.« Sie verstummte und sah genauer hin. Es war Dr. Crowley, einer der Partygäste. Neben ihm stand Mrs. Sutton. Dann sah sie noch Mr. Turner und Sally Clark. »Wo bin ich?« fragte sie zaghaft und erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder. »Wir sind auf einer Party, Miß Hunter. Erinnern Sie sich nicht? Sie sind auf Dandridge Castle, und Lord Dandridge hat Sie und uns alle zur Party eingeladen.« Dandridge… Gloria… Gloria Dandridge. Das Bad in ihrem Zimmer und sie… »Mein Gott.« Sie schlug sich schluchzend die Hände vor das Gesicht. »Mein Gott, es ist so schrecklich, so grauenhaft… Sie ist 50 �
tot!« Sie hob den Kopf, sah die Umstehenden mit tränennassen Augen an. »Sie ist tot! Hört ihr, sie ist… Oh!« Norma Hunter konnte nicht mehr weitersprechen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Sie schluchzte nur noch und brachte kein Wort mehr über die Lippen. »Nur ruhig, meine Liebe!« sprach Dr. Crowley leise auf sie ein. »Es wird schon wieder gut. Lassen Sie sich Zeit. Weinen Sie sich aus, dann wird Ihnen schnell besser.« »Was hat sie nur?« fragte Sally Clark, eine Wasserstoffblonde mit Superbusen. »Sicher ist sie durch irgend etwas erschreckt worden, sonst wäre sie doch nicht in Ohnmacht gefallen.« »Sie ist gestürzt«, meinte Mr. Turner abfällig. »Warum stolziert sie auch immer so unmöglich herum.« »Hören Sie doch auf, Sie Zyniker«, fuhr ihn Mrs. Sutton an. »In Ihren Augen sind wir Frauen lauter dumme, unbeholfene Wesen, die über alles stolpern und die von Männern wie Sie am laufenden Band gestützt werden müssen. Sie sollten aufhören, sich solchen Unsinn einzubilden, sonst könnte es sein, daß eines dieser hilflosen Wesen Ihnen eine verpasst, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht.« Turner schnappte nach Luft. Bisher hatte noch keine Frau gewagt, so mit ihm zu sprechen. Aber dann beruhigte er sich schnell wieder und besann sich auf seinen Zynismus und den bei ihm so bekannten beißenden Spott. »Könnten Sie mir dann erklären, weshalb sie bewusstlos oben im Korridor lag?« fragte er spöttisch. »Sicher hat sie auch den toten Lord gesehen, der dann lebendig wieder auftaucht. Oder sie hat gar böse Geister gesehen.« »Halten Sie Ihren Mund!« herrschte Dr. Crowley ihn an. »Na, das kenne ich ja. Der Doc ist natürlich wieder auf der Seite der holden Weiblichkeit.« Turner winkte ab. »Sich mit 51 �
Ihnen zu unterhalten, ist doch völlig sinnlos. Sie begreifen es nie.« Er drehte sich um und ging weg. Inspektor Weaver kam die breite Treppe herunter. Langsam ging er auf die kleine Gruppe zu. Er schüttelte stumm den Kopf, als Dr. Crowley ihn fragend ansah. Norma Hunter hatte sich soweit wieder gefangen, daß sie weitersprechen konnte. »Gloria ist tot«, stieß sie hervor. »Sie ist tot. Abgeschlachtet wie ein Stück Vieh! Oh, es war furchtbar.« »Wo haben Sie sie gesehen?« fragte Weaver. »In ihrem Badezimmer. Ihr Kopf hing an einem Seil von der Decke herunter, ihr Körper lag im Duschbecken. Es war grauenhaft. Wer tut so etwas?« »Miß Hunter.« Der Inspektor beugte sich über sie. »Ich war eben in Glorias Zimmer, auch in ihrem Bad und in den anderen Zimmern. Ich konnte sie aber nicht sehen. Das Bad, von dem Sie sprechen, ist leer.« Sie sah ihn entsetzt an. »Das ist doch nicht wahr«, flüsterte sie. Sie dachte an die arme Mrs. Stevens, über die sie gespottet hatte. Und jetzt sollte es ihr auch so gehen. »Sie haben sich einfach nicht genau genug umgesehen. Oder Sie waren im falschen Zimmer. Ich habe es gesehen. Wirklich, Inspektor. Aus ihrem Hals tropfte noch Blut. Aber es wurde von der aufgedrehten Dusche weggespült. Ich bin sogar hingefallen, direkt unter den Wasserstrahl. Sie sehen es doch, meine Kleidung ist klatschnass.« »Ich glaube Ihnen ja«, sagte Weaver leise. Aber seine Worte klangen nicht sehr überzeugend. Vielmehr vermutete er, daß hier jemand sein mußte, der es meisterhaft verstand, Halluzinationen vorzugaukeln. Hatte nicht Lord Dandridge von einer saftigen Überraschung 52 �
gesprochen, die er heute zu bieten habe? War das die Überraschung? Es wäre allerdings ein recht makabrer Scherz. Aber Lord Dandridge war alles zuzutrauen. Ihm war jedes Mittel recht, um seine Partys für die Gäste unvergesslich zu machen. Wo war er überhaupt? Es war schon recht seltsam. Sonst hielt er sich ständig unter seinen Gästen auf. Diesmal war es anders. Und irgendwie unterschied sich diese Party von den anderen. Aber das sollte nichts bedeuten. Zumindest nicht bei Lord Dandridge. Es war ja bekannt… »Und Porter ist auch tot«, riß ihn die schrille Stimme von Norma Hunter aus seinen Gedanken. »Auf dem Korridor oben bin ich gegen irgend etwas gestoßen und hingefallen. Und dann kam etwas auf mich zugerollt. Es war Porters Kopf.« »Das wird ja immer toller«, sagte Gordon Weaver bewußt laut, als er den spitzen Schrei hörte, den Mrs. Sutton ausstieß. »Was Sie uns hier erzählen, ist ja die reinste Gruselstory. Sie sollten sich wirklich schämen. Mit Ihren verrückten Geschichten haben Sie Mrs. Sutton einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Sie sind gefallen und haben sich den Kopf irgendwo angeschlagen. Und in Ihrer Ohnmacht haben Sie vielleicht all diese Dinge gesehen, das will ich gar nicht abstreiten. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, es hier als Tatsache aufzutischen. Sie sollten offen zugeben, daß Sie das alles geträumt haben.« »Aber wenn es doch wahr ist«, flüsterte Norma Hunter verzweifelt. »Ich habe mir nicht den Kopf angeschlagen. Ich wurde ohnmächtig, weil ich den abgeschlagenen Kopf von Ben Porter sah. Er rollte ganz dicht vor mein Gesicht, ich konnte deutlich seine toten Augen sehen.« Weaver wandte sich verärgert zum Gehen. Doch dann besann er sich nochmals. Er trat dicht vor Norma Hunter hin. »Hören Sie, Miß Hunter. Ich suche jetzt Ben Porter und bringe ihn her. Dann ist aber Schluß mit den Geschichten. Versprechen 53 �
Sie mir das?« »Und was ist mit Gloria Dandridge? Bringen Sie die auch her?« »Ich werde Lord Dandridge bitten, uns darüber Auskunft zu geben. Er ist uns noch eine Erklärung schuldig, denn seine Frau ist tatsächlich nicht in ihrem Zimmer. Sie kann also nicht krank sein, wie der Gastgeber sagte.« »Sie ist tot«, behauptete Norma stur. »Und Ben Porter ist auch tot geköpft. Beide wurden geköpft.« »Seien Sie still!« entgegnete der Inspektor. Der Blondschopf Sally Clark war weiß im Gesicht. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, und ihr süßer Schmollmund stand offen. Sie sah von Norma Hunter auf Inspektor Weaver. »Ich glaube, was sie sagt«, murmelte sie. »Alles ist heute so anders. Die Party ist nicht wie sonst. Sie ist mir heute irgendwie unheimlich. Ich weiß auch nicht warum, aber es ist so. Und komischerweise merke ich es jetzt erst.« Also sie merkt es auch, dachte Weaver. »Sie hat recht«, schloß sich Crowley ihren Worten an. »Ich finde auch alles ein wenig seltsam. Und wie sie merke ich das auch erst jetzt.« »Und warum erst jetzt?« fragte der Inspektor, obwohl es ihm auch so ergangen war. »Was hat es wohl für eine Ursache? Sie sind doch Arzt. Haben Sie dafür eine Erklärung?« Crowley zuckte hilflos mit den Schultern. »Nein.« »Es sind sicher nur die schaurigen Erzählungen von Miß Hunter, die diese Gefühle bei Ihnen auslösen«, versuchte Weaver sie zu beruhigen. »Mag sein«, meinte Crowley. Gordon Weaver wandte sich nun endgültig zum Gehen. »Ich bin sofort wieder…« Weiter kam er nicht. Ein gellender Schrei hallte durch die Räume und ließ sie alle herumfahren. 54 �
Am Treppenaufgang stand Mrs. Crane und krallte sich in den Arm ihres Mannes. Ihr Blick war starr nach oben gerichtet, und ihre Gesichtszüge waren vor Schreck und Angst und Panik verzerrt. Irgend etwas kollerte die Treppe herunter. Zögernd ging Gordon nach vorn. In der tödlichen Stille klangen seine Schritte auf dem Parkettboden wie Pistolenschüsse. Aber niemand registrierte es. Alles starrte gebannt die Stufen hinauf. Da sah auch Inspektor Weaver das Entsetzliche. Zwei Köpfe kamen hüpfend über die Stufen heruntergerollt! * Gleißende Helligkeit blendete ihn, als er die Augen öffnete. Sofort schloß er sie wieder. »Joe!« Es war die piepsige Stimme von Smoky. Joe Fadden blinzelte, erhob sich und erkannte Smoky. Fragend sah er ihn an. Doch Smoky grinste nur. Er freute sich darüber, daß sein Freund Joe wieder okay war. Joe Fadden blickte sich um. Er saß in einem kleinen Raum, mit unverputzten Wänden, auf dem kalten Steinboden. Die dunklen Steine der Wände waren nass und glitschig. Es konnte sich also nur um einen Keller handeln. Wie komme ich überhaupt hierher? Verdammt noch mal, ich muß doch… Aber er fand auf die Fragen keine Antwort. In seinem Kopf war eine unvorstellbare Leere. »Was machen wir hier?« fragte er Smoky. Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Zunge fühlte sich an wie Blei. In Smokys treuen Hundeaugen las Joe Ratlosigkeit und Unver55 �
ständnis. In seinem Gesicht waren Blutspritzer, und seine Hände waren fast schwarz vor Dreck und Blut. Dieses Blut an Smoky brachte langsam sein Erinnerungsvermögen wieder zurück. Ihm fiel ein, daß sie mit vier Männern gekämpft hatten. Und Smoky war dabei nicht gerade zimperlich mit den Ganoven umgegangen. Aber das war doch sicher nicht hier in diesem Raum, sondern irgendwo anders, sonst müßte er sie noch sehen. Langsam, immer mit der Ruhe! Was war dann? Wir gingen aus dem Haus und… Und dann stürzten die schrecklichen Ereignisse auf ihn ein wie ein Unwetter. Sein Kopf begann zu brummen und zu surren, es drehte sich alles um ihn herum. Dandridge Castle und die Vampire fielen ihm ein, Angst trat in seine Augen. Mit einem Ruck stand er auf den Beinen. »Wo sind die Bestien?« fragte er Smoky gehetzt. Er hatte viel zu schnell gesprochen, Smoky verstand ihn nicht. »Die Männer mit den langen Zähnen, Smoky«, wiederholte Joe laut und deutlich. »Wo sind sie?« Smoky grinste und zeigte Joe seine riesigen Fäuste. »Sie sind weggelaufen vor mir«, piepste er freudestrahlend. »Und zwei habe ich umgebracht.« »Wo sind die?« »Draußen.« Smoky stand auf und ging zu der alten Holztür. Er öffnete sie und winkte Joe. Der ging hinter ihm her. Etwa zwei Meter vor dem Kellertor blieb Smoky stehen. Verdutzt sah er sich um. Es gab keine Toten. Das Licht war eingeschaltet. Joe sah, daß es ein relativ großer Vorraum war. Und als sein Blick auf das Kellertor und das offene Fenster fiel, zündete bei ihm endlich der Funke. Die unsichtbare Sperre! 56 �
Er spürte, wie er zu zittern begann. Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Hände hoben sich in Brusthöhe. Er starrte angestrengt in Richtung Tor. Aber zwischen ihm und der Tür war nichts zu sehen. Smoky sagte irgend etwas zu Fadden, doch er hörte es nicht. Er konzentrierte sich ganz auf den Sperrgürtel, den er nicht sah. Dann stieß er ganz plötzlich nach vorn. Joe fand sich auf dem Boden wieder. Die Barriere war immer noch vorhanden. Also hatte er nicht geträumt. Alles war Wirklichkeit. Smoky lachte. »Du bist komisch, Joe. Du bringst mich immer zum Lachen. Machst du das noch mal?« Joe wollte ihm eine wütende Antwort geben. Aber er beherrschte sich. Smoky war beschränkt, einfältig. Er würde nie begreifen, was los war. Aber warum nur Smoky? Joe Fadden begriff es ja selbst nicht. Noch ein Versuch. Wenn ich dann immer noch nicht… Vielleicht bin ich verrückt und Smoky ist normal. Er kann durch die Sperre gehen. Für ihn gibt es sie nicht. Aber für mich. Warum nur? Joe Fadden nahm einen langen Anlauf und rannte auf das Kellertor zu. An derselben Stelle wie vorher prallte er auf einen unsichtbaren Wall. Hart wurde er zurückgeschleudert und zu Boden geworfen. Smoky lachte schallend. Ihm gefiel, was Joe da machte. Es war urkomisch, wie er immer wieder hinfiel. Er hatte einmal einen Film von Charlie Chaplin gesehen, dieser Charlie fiel auch immer so komisch, und Smoky hatte Tränen gelacht. »Du bist eine Wucht, Joe«, gluckste er. »Du bist Klasse. Du mußt das öfter machen, Joe, ja? Ich könnte mich totlachen. Du bist viel besser als Charlie Chaplin.« Joe rieb sich seinen schmerzenden Rücken. Sein Gesicht war verzerrt. Smoky lachte noch schallender, weil er glaubte, Joe 57 �
würde nur eine Grimasse schneiden. Aber Joe hatte Angst. Er wußte nicht, was hier vorging. Er war nahe daran, seinen Verstand zu verlieren. Panik erfasste ihn. Er rannte in den weiten Keller hinein. Der Schweiß rann über sein Gesicht, lief in seine Augen, brannte wie Feuer. Joe Fadden schloß für einen Moment die Augen und prallte prompt gegen eine Wand. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Stirn. Warmes Blut rann über seine Schläfe. Smoky kam schnaufend heran. Seine schweren Schritte hallten in dem Kellerlabyrinth wie die Schläge von Holzfällern. »Warum rennst du weg, Joe? Was habe ich denn getan? Willst du mich nicht mehr haben, Joe? Wenn du willst, werde ich nie wieder über dich lachen. Ganz bestimmt nicht. Ich schwör's dir. Aber du darfst nicht böse auf mich sein.« Er trat dicht vor Joe hin. »Bitte, Joe, nicht mehr böse sein!« »Ich bin dir nicht böse, Smoky«, brummte Fadden. »Wirklich nicht?« »Nein, Smoky.« »Das ist gut, Joe. Du bist einfach prima. Du bist der beste Freund, den ich habe.« Und dann sah er das Blut auf Joes Stirn. »Du blutest, Joe.« »Ich weiß«, antwortete Fadden müde. Er zog ein schmutziges Taschentuch aus der Tasche und wischte es ab. Sofort sickerte neues Blut nach, lief über seine Schläfen zu den Mundwinkeln herunter. »Was werden wir jetzt tun?« fragte Smoky. »Wir werden versuchen, den Kelleraufgang zu finden. Wir müssen hinauf und die Leute warnen. Diese Bestien könnten großes Unheil anrichten, wenn sie vor uns oben sind.« »Ja, und dann werden sie alle verschwinden, und wir haben freie Bahn. Dann können wir absa… absa… Wie heißt das? Nicht wahr, Joe?« 58 �
»Sicher, Smoky.« Wir werden gar nichts, dachte Joe. Ich will nur so schnell wie möglich hier raus. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Komm jetzt, Smoky! Wir müssen weiter. Aber bleibe dicht bei mir. Hörst du? Weiche keinen Schritt von mir, wenn ich es dir nicht ausdrücklich befehle. Hast du verstanden?« »Warum, Joe?« »Frag nicht«, fuhr ihn Joe an. »Tu, was ich dir gesagt habe. Klar?« »Klar, Joe.« , Joe Fadden ging voraus. Er leuchtete mit der Taschenlampe und suchte überall nach einem Lichtschalter. Und wo immer er einen fand, knipste er das Licht an. Bald waren sämtliche Gänge erleuchtet, und Fadden wurde es ein wenig wohler. Seine Angst wich, seine Knie hörten auf zu zittern. Aber den Aufgang zu den Wohnräumen hatte er immer noch nicht gefunden. Er merkte, daß sie schon wieder im Kreis gelaufen waren. Fadden öffnete die nächstbeste Tür, schaltete das Licht ein. Es sah aus wie ein Verlies. Eine einfache Pritsche stand in der Ecke. Auf dem Boden lag altes, verbeultes Geschirr. In die Wände waren sechs starke Haken eingelassen, an denen dicke Ketten hingen. Die Wände waren unverputzt. Es roch nach Moder und Fäulnis. Dieses mittelalterliche Gefängnis war nicht gerade angetan, seine Stimmung zu heben. Schnell machte er die Tür zu und ging zur nächsten. Auch hier dasselbe. Ein Verlies. Fast ein Abbild des anderen. Nur daß dieser Raum etwas größer war und statt Pritschen Holzlager darin waren und an den Wänden zwölf statt nur sechs Ketten hingen. 59 �
So geht es nicht, dachte Joe, so können wir noch lange herumlaufen, bis wir das gefunden haben, was wir suchen. Und ich will hier raus, so schnell wie möglich. Vor ihnen teilten sich die Gänge. Einer führte nach links, einer nach rechts. Überall Türen. »Geh du nach links!« befahl er Smoky. »Sieh in alle Kellerräume. Wenn du eine Treppe siehst, die nach oben geht, dann rufst du mich. Klar, Smoky?« »Klar, Joe.« Smoky wandte sich sofort nach links. Joe blickte ihm nach. In dem Moment, als Smoky ihn verließ, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Die Angst kam zurück, er fühlte sich beobachtet. Joe Fadden drehte sich ein paar Mal um die Achse und sah sich gehetzt um. Aber er konnte nichts entdecken. Joe Fadden war versucht, seinem schwachsinnigen Freund zu folgen. Aber dann schalt er sich einen Narren. Niemand war um ihn herum, niemand beobachtete ihn. Es ist alles nur Einbildung. Er gab sich einen Ruck und ging nach rechts. Die erste Tür war verschlossen. Er drückte die Schulter dagegen. Aber sie gab nicht nach. Da ging er weiter. Die nächste Tür war offen. Doch Joe fand keinen Lichtschalter. Er knipste seine Taschenlampe an und leuchtete hinein. Rechts an der Wand war eine Halterung, in der eine Fackel steckte. Er ging auf sie zu und zündete sie an. Dann hob er die brennende Fackel über seinen Kopf und blickte sich um. Eine Folterkammer! Im flackernden Lichtschein sah er Streckapparate, Knochenbrecher und ein übermannshohes Rad, an dem Lederriemen befestigt waren. Auch an den Wänden hingen unzählige Folterwerkzeuge. Einige kamen ihm sehr bekannt vor. Noch vor wenigen Stunden hatte er Männern gegenübergestanden, die solche Mordwerkzeuge in den Händen hatten und ihn und Smoky 60 �
damit aus dem Weg räumen wollten. Nur gab es hier noch eine ganze Menge mehr. Gleich zu seiner Linken war eine Eiserne Jungfrau, deren Inneres mit zehn Zentimeter langen Stahlspitzen versehen war. Und das unten im Bett und ebenfalls in der dazugehörenden offenen Klappe. Das Foltergerät war in einen Holzrahmen gebettet. Die Scharniere der Klappe glänzten, als wären sie frisch geölt. Joe Fadden wollte sich umdrehen und hinausgehen, als die Tür hinter ihm zuschlug. Erschrocken fuhr er herum und starrte in das verzerrte Gesicht eines Vampirs. * Die beiden Köpfe hatten die letzten Stufe erreicht. Mit lautem Gepolter kollerten sie auf den Parkettboden, überschlugen sich noch einmal und blieben dann liegen. Fast alle Partygäste hatten sich vor der Treppe versammelt. Lähmendes Schweigen herrschte. Kaum einer wagte zu atmen. Alles starrte gebannt auf die beiden Köpfe, die mit dem Gesicht nach oben liegen geblieben waren. Die Köpfe der Gastgeber! Zuerst schrie Mrs. Crane. Und dann redeten alle durcheinander. Inspektor Weaver hatte Mühe, die entsetzten und in Panik geratenen Menschen zu beruhigen. Es gelang ihm nur zum Teil. Einige wollten sofort diese gruselige Stätte verlassen. »Niemand verläßt das Haus!« rief Weaver in die Menge. »Erst muß geklärt werden, wer das hier getan hat!« »Ich gehe«, sagte Mr. Crane. »Ich kann es mir nicht leisten, in eine solche Affäre verwickelt zu werden.« »Sie werden es sich leisten müssen«, gab der Inspektor zurück. »Sie haben mein Ehrenwort, daß ich mit der Sache nichts zu 61 �
tun habe. Genügt das?« »Nein! Sein Ehrenwort würde mir hier jeder geben, und der Mörder wäre weg. Tut mir leid, ich kann Sie nicht gehen lassen. Ich werde niemand gehen lassen!« »Heißt das, Sie zweifeln an meinem Ehrenwort?« fauchte Nigel Crane. »Ich zweifle nicht an Ihrem Ehrenwort, Mr. Crane«, antwortete ihm Weaver ruhig. »Das steht mir gar nicht zu. Aber Sie müssen mich verstehen. Wenn ich Sie gehen lasse, kommt der nächste und gibt mir ebenfalls sein Ehrenwort, und ich werde an seinem ebenso wenig zweifeln wie an Ihrem. Am Schluß ist keiner mehr da, und doch dürfte einer von uns der Mörder sein.« »Sie sind also auch nicht ganz sicher, daß es einer von uns gewesen ist?« Cranes Stimme klang ironisch und triumphierend zugleich. »Hört ihr«, wandte er sich an die anderen, »er ist sich nicht sicher. Und doch will er uns hier festhalten, als wären wir Verbrecher. Er kennt uns alle und weiß, daß keiner von uns zu solch einer grausamen Tat fähig wäre. Aber er will uns festhalten. Und morgen stehen wir alle namentlich in Verbindung mit diesem Doppelmord in der Zeitung.« »In der Zeitung wird es so oder so stehen«, unterbrach ihn der Inspektor gereizt. »Ich glaube kaum, daß Sie oder ich es verhindern können.« »Der Inspektor hat recht«, mischte sich Dr. Crowley ein. »In die Zeitung kommen wir alle, so oder so. Jeder Reporter weiß, wer auf Dandridge-Partys immer anwesend ist. Es ist also sinnlos, wenn Sie wegrennen. Es macht Sie höchstens verdächtig. Wir sollten es Inspektor Weaver nicht so schwer machen. Was hier geschehen ist, ist schon schlimm genug. Ich bin der Ansicht, daß nur ein Wahnsinniger dahinterstecken kann. Und von uns ist keiner wahnsinnig, das glaube ich beurteilen zu können. Also kein Grund, davonzulaufen.« 62 �
Weaver warf ihm einen dankbaren Blick zu. Die Partygäste, die vorher wild durcheinander gelaufen waren, fanden sich wieder zu einer Gruppe zusammen. Aber mit der Fröhlichkeit war es vorbei. Alles starrte auf die beiden Köpfe, die vor der untersten Treppenstufe lagen. Aus den glatt abgeschnittenen Hälsen tropfte Blut. Es sah so aus, als wären sie kurz zuvor erst abgeschlagen worden. Aber die Leichenblässe in den Gesichtern der Geköpften sprach dagegen. Demnach mußten beide schon längere Zeit tot sein. Aber der Gastgeber selbst war doch erst vor kurzem noch unter den Gästen. Wie kann er dann schon länger… Zwei Leichen laden zur Party ein… Weaver hielt in seinen Gedanken inne. »Könnten Sie feststellen, wie lange wie lange das schon her ist?« wandte er sich an Dr. Crowley. Der Arzt beugte sich über den Kopf des Gastgebers. Er legte den Handrücken auf die Stirn des Kopfes. Die Haut fühlte sich kalt an. Eiskalt. Er schreckte zurück. Mindestens drei Stunden tot. Nein, noch mehr. Vier oder fünf. Das ist doch nicht möglich. Dr. Crowley wurde blaß. Seine Gesichtshaut unterschied sich in der Farbe kaum noch von der des Toten. Seine Augen weiteten sich in grenzenlosem Staunen. »Was ist, Doc?« fragte Weaver erregt. Er wußte, was der Arzt festgestellt hatte. Er wußte es und fragte trotzdem, weil es einfach unfassbar war. Der Arzt legte seine Hand auch noch auf das Gesicht der toten Hausherrin. Und alle sahen deutlich, wie seine Hand zitterte. Eine Sekunde genügte, um festzustellen, daß auch sie schon vor mehreren Stunden geköpft worden war. Norma Hunter hatte sich also nichts eingebildet. Sie hat den bluttriefenden Kopf der Gastgeberin gesehen, an einem Strick im 63 �
Badezimmer. Wer konnte das getan haben? Wer konnte so grausam und bestialisch sein? »Wie lange sind sie schon tot?« Die Stimme des Inspektors war fast nur ein Flüstern. »Mindestens vier Stunden«, antwortete Crowley leise. Aber jeder hörte es. Ein erstickter Aufschrei folgte. Gleich darauf ein dumpfer Fall. Patricia Tilling, ein bekanntes Fotomodell, war ohnmächtig geworden. Unter normalen Umständen hätte sich jeder der Männer darum gerissen, sie aufzuheben und auf eine Couch zu legen. Doch in diesem unheimlichen Moment achtete niemand darauf. Nur ihr unmittelbarer Nachbar, Sir Howard, sah kurz nach ihr. Aber er machte sich nicht die Mühe, sie zu einem Sessel zu tragen. Er schob sie lediglich ein wenig zurecht, damit sie bequem lag. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, krächzte Sally Clark in die Stille. »Ich habe Lord Dandridge vor einer halben Stunde noch lebend gesehen. Sind Sie ganz sicher, daß das schon vor vier Stunden… Ich meine, haben Sie sich wirklich nicht getäuscht?« »Sie müssen sich getäuscht haben«, ließ sich Nigel Crane vernehmen. »Es ist unmöglich, daß er schon vier Stunden tot sein soll. Wir beide haben doch noch vor kurzem mit ihm gesprochen. Charles Reed war ebenfalls dabei. Nicht wahr, Charles, du warst auch…« »Ich irre mich nicht.« Dr. Crowley betonte jedes Wort. »Ein Irrtum ist hier völlig ausgeschlossen. Der Kopf ist schon kalt. Sie können es ja prüfen.« »Ich werde jetzt die Mordkommission anrufen«, verkündete Gordon Weaver. »Darf ich Sie bitten, dort drüben Platz zu nehmen?« Er deutete auf die Sesselgruppe rechts neben der breiten Treppe, wo Norma Hunter noch auf der Couch lag. »Ich glaube, Sie haben nicht begriffen, Inspektor«, belehrte ihn 64 �
Crane. »Der Doktor sagte eben, daß unsere Gastgeber schon seit vier Stunden tot sind. Und es ist keine halbe Stunde her, da habe ich mit Lord Dandridge noch gesprochen. Ebenfalls der Doc, Reed und Sie.« »Ich habe schon verstanden, Crane«, entgegnete Weaver ruhig. »Trotzdem brauchen wir die Mordkommission. Zwei Menschen sind ermordet worden. Das ist eine Tatsache. Wann sie ermordet wurden, wird man dann sicher feststellen können.« »Aber so begreifen Sie doch!« schrie Crane hysterisch. »Hier geht etwas nicht mit rechten Dingen zu. Hier ist etwas faul, oder wir alle träumen oder spinnen. Haben Sie nicht gehört, was der Doc gesagt hat? Ein Irrtum sei völlig ausgeschlossen.« In Weavers Gesicht arbeitete es. Er hatte das alles viel schneller begriffen als die anderen. Aber was sollte er tun? Sollte er das Haus nach einem Geist durchsuchen lassen? Nach einem Phantom? In diesem Augenblick hakte es bei ihm ein. Ein Phantom. Das Phantom, hinter dem er schon seit einiger Zeit herjagte. Und dieses Mannes wegen war auch die Sonderabteilung aufgestellt worden. Aber war das überhaupt ein Mensch? Wenn er es wirklich war, wenn er hinter all dem heute abend steckte, dann hatte er auf jeden Fall wieder eine neue, geradezu unheimliche Variante zum Besten gegeben. Wenn das zutraf, was er vermutete, dann… Weaver dachte nicht mehr weiter. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken. »Ich rufe jetzt an«, erklärte er heiser. Er ging zum Telefon und hob den Hörer ab. Als er ihn ans Ohr legte, stutzte er. Es war kein Freizeichen zu hören. Er drückte ein paar Mal auf die Gabel. Nichts. Der Inspektor bückte sich und sah unter den kleinen Tisch. 65 �
Und dann entdeckte er, was er vermutet hatte. Das Kabel war aus der Wand gerissen worden. Langsam legte er den Hörer zurück und drehte sich um. Sie standen da und starrten ihn stumm an. In ihren Gesichtern war die nackte Angst zu lesen. Was soll ich ihnen sagen? Soll ich ihnen von dem Unheimlichen, den sie das Phantom genannt hatten, erzählen, damit sie noch ängstlicher werden und in Panik geraten? Alles kann ich jetzt gebrauchen, nur keine Panik. Es wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte. Dieser unheimliche Verrückte wartet nur darauf. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte Phillis Benton, eine vollbusige Enddreissigerin. Ohne auf ihren Mann zu warten, stöckelte sie, noch während sie sprach, auf den Ausgang zu. Wie eine Schlafwandlerin schritt sie durch die Halle. Niemand machte den Versuch, sie aufzuhalten. Auch der Inspektor nicht, denn er war der festen Meinung, den Mörder zu kennen. Und Phillis war es bestimmt nicht. Mrs. Benton hielt sich nicht einmal damit auf, ihren Mantel an der Garderobe zu holen. Sie strebte dem großen Portal zu. Nur weg von hier! Doch kurz vor der großen Tür war ihr Weg zu Ende. Ganz plötzlich. Sie sah kein Hindernis. Trotzdem kam sie keinen Schritt mehr weiter. Phillis Benton stand vor einer unsichtbaren Mauer. Im ersten Moment nahm sie es gar nicht richtig wahr. Ihr Blick war leer. Die abgetrennten Köpfe der Gastgeber hatten ihr einen Schock versetzt. Sie versuchte instinktiv, dem Gegenstand auszuweichen. Daß es diesen Gegenstand gar nicht gab, merkte sie nicht. Es war ihr so, als wäre sie im Dunkeln gegen irgend etwas gestoßen. Sie trat einen Schritt zur Seite und versuchte es erneut. Doch 66 �
die Mauer blieb. Sowohl unten als auch oben. Und trotzdem war nichts zu sehen. Nun erst wurde sie sich des Unheimlichen bewußt. Mit einem entsetzten Aufschrei fuhr sie herum. Die anderen Gäste sahen sie erstaunt an. Sie konnten sich nicht vorstellen, weshalb sie so panikartig aufgeschrien hatte. Und dann erklang irgendwo von oben herunter dieses schaurige Gelächter, das allen einen kalten Schauer über den Rücken jagte. * Der Blutsauger grinste ihn höhnisch an und rückte langsam näher. Aus seinem Mund leuchteten zwei hässliche, lange Zähne. Seine Augen glühten. Er stieß hechelnde Laute aus. Speichel lief über seine Mundwinkel. Joe versuchte sein Zittern zu unterdrücken. Wirre Gedanken schossen blitzartig durch seinen Kopf. Was weiß ich von Vampiren? Ich habe doch schon was von diesen schrecklichen Monstern gehört. Was kann man gegen sie tun? Verdammt noch mal, es muß mir doch etwas einfallen! Es muß doch… Ein Kreuz! Natürlich, ein Kreuz. Vampire fürchten das Symbol der Christen. Aber wo kriege ich jetzt ein Kreuz her? Der Vampir war nun schon ziemlich nahe. Joe schlug mit der Fackel nach ihm. Fauchend wich die Bestie zurück, versuchte Fadden zu umrunden, um aus der Reichweite der Fackel zu kommen. Aber Joe drehte sich mit ihm. Mit der hell lodernden Flamme konnte er sich das Monster vom Leibe halten. Jedenfalls für den Augenblick. Aber wie lange sollte das so gehen? Mir muß etwas einfallen, dachte Joe verzweifelt. Und dann sah er hinter dem Vampir die Eiserne Jungfrau. Die Fackel war schon halb heruntergebrannt. Doch die Flamme 67 �
reichte noch aus, um die Bestie auf Abstand zu halten. Joe Fadden schnellte mit einem Satz nach vorn. Der Vampir wich zurück und hielt sich schützend die Arme vor das Gesicht. Doch jetzt hatte Joe Oberwasser bekommen. Sein Plan stand fest. Gnadenlos drang er mit der brennenden Fackel auf die Bestie ein. Der Blutsauger raste und schrie vor Wut. Er merkte nicht, was hinter ihm war. Er sah nur die Flamme und wich immer mehr zurück. Sein wütendes Geheul wurde lauter. Er stampfte, bebend vor Zorn, mit den Füßen auf dem Boden auf. Joe hatte ihn genau dort, wo er ihn haben wollte: vor der Eisernen Jungfrau. Er sprang vor und gab dem Vampir einen Tritt in den Unterleib. Die Bestie stolperte und fiel genau in das geöffnete Foltergerät. Ein weiterer wutentbrannter Schrei entrang sich dem Maul des Monsters. Es wand sich wie ein Aal und versuchte, von dem schrecklichen Foltergerät herunterzukommen. Aber Joe ließ ihm keine Chance. Er packte die Klappe an den dafür vorgesehenen Griffen und drückte sie wuchtig nach unten. Ein schauriges Schmerzensgeheul erfüllte die Folterkammer, als sich der dornenbesetzte Deckel von allen Seiten in den Körper des Vampirs bohrte. Sofort hob Joe den schweren Deckel wieder hoch, um ihn erneut heruntersausen zu lassen. Wieder bohrten sich die langen Stacheln in den Leib des Monsters. Doch das Geschrei hörte nicht auf. Joe wußte, daß er das Herz treffen mußte. Er hatte nicht die geringsten Gewissensbisse. Vampire mußte man töten. Diese Monster sind keine Menschen. Es sind blutsaugende Ungeheuer, die nur Schrecken, Wahnsinn und Tod über die Menschheit bringen. Er hatte es am eigenen Leibe verspürt. Mit einem höhnischen Lachen schlug er den Deckel mit den langen, spitzen Stahldornen herunter, wieder und immer wieder, bis seine Arme schmerzten und er kaum noch den Deckel 68 �
zu heben vermochte. Und dann hörte das markerschütternde Schreien endlich auf. Es klang noch in seinen Ohren nach, als es längst verstummt war. Aber es ließ ihm keinen Schauer über den Rücken rieseln wie vorher. Es bereitete ihm nur unendliche Freude und Genugtuung. Mit letzter Kraft hob Joe die Klappe noch einmal an und besah sich sein Werk. Der schräg im Dornenbett liegende Vampir wies unzählige Wunden auf. Sein Körper war wie ein Sieb. Aber nur aus einer Wunde quoll Blut aus der Herzwunde. Joe Fadden bekam nun doch eine Gänsehaut. Mit Entsetzen sah er, wie der Körper des Vampirs langsam verfiel. Die Haut schrumpfte zusehends, wurde grau und glich zusammengeknülltem Pergamentpapier. Das Grauen stand in seinem Gesicht, als er verfolgte, wie das Fleisch von den Knochen abfiel und zu Asche wurde. Minuten später war nur noch das Gerippe im stachelbesetzten Holzkasten und das dunkle, schon angetrocknete Blut. Und Asche. Von dem gefährlichen, blutsaugenden Monster war nichts mehr zu sehen. Wie gebannt hatte Fadden den unheimlichen Zerfall einer Bestie beobachtet. Als alles vorbei war, drehte sich Joe angewidert um. Auf schwankenden Beinen ging er zur Tür und riß sie auf. Er taumelte in den Gang hinaus und lehnte sich erschöpft und nach Atem ringend an die Wand. Was ist das für ein Tag, dachte er gehetzt. In was bin ich da hineingeschlittert? Noch nie in meinem Leben habe ich so etwas Grausames und Schreckliches erlebt. Bin ich überhaupt noch normal? Kann das, was ich heute alles schon erlebt habe, Wirklichkeit sein? Vielleicht existiert diese Bestie nur in meinem kranken Hirn? Und was ist mit Smoky? Bisher war ich der Meinung, daß er 69 �
der Schwachsinnige ist und ich der Normale. Vielleicht ist es wirklich umgekehrt. Nach den Ereignissen dieser Nacht könnte man tatsächlich… Fadden stieß sich von der Wand ab und wankte weiter. In welche Richtung habe ich Smoky geschickt? Nach links? Nein, hier nicht. Diesen Weg sind wir gekommen. Also geradeaus. Aber wo ist er? Warum höre ich ihn nicht? Er ist doch sonst nicht der Mann, der leise vorgeht. Er ist ein Bär, plump und… Und dann hörte er ihn. »Joe! He, Joe, komm her! Ich habe was gefunden!« Seine Stimme hallte durch die Kellergewölbe. Es hörte sich an, als käme sie aus allen Ecken. Er tappte vorwärts, und mit jedem Schritt wurde er sicherer. Smoky! Hätte ich ihn dabei gehabt, wäre dieses Ungeheuer nicht an mich herangetreten. Warum ist das so? Warum fürchten sie ihn? Sie weichen vor ihm zurück, ohne daß er die Hand hebt. »Smoky, wo bist du?« rief Joe, weil er ihn nicht gleich finden konnte. »Ich bin hier, Joe!« tönte es von weiter vorn. »Hier bin ich!« Joe begann zu laufen. Er sah den schmalen Gang, der vom Hauptgang abzweigte. Hier müßte es sein. Er lief hinein. Es war dunkel. Das schwache Licht vom Hauptgang reichte nicht aus, um auch diesen Seitengang zu erhellen. Und je weiter er hineinkam, desto dunkler wurde es. Angst stieg in ihm hoch. Irgendwo könnte eine dieser Bestien lauern und ihn hinterrücks anfallen. »Smoky! Wo bist du? Ich sehe dich nicht. So melde dich doch, Smoky!« Seine Stimme überschlug sich fast. »Komm hierher, Joe«, erklang es hinter ihm. »Ich bin hier!« Joe drehte sich gehetzt um. Er war also im falschen Gang. Sofort rannte er zurück, nach links. Jetzt müßte ich ihn doch endlich sehen. Wo ist er nur, verdammt noch mal? Das ist ja wie in 70 �
einem Irrgarten. Ein neuer Weg zweigte ab. Ebenfalls dunkel und unheimlich. Vielleicht ist er dort. Er ging einige Schritte hinein. Warum zeigt er sich nicht? »Joe, wo bleibst du denn?« meldete sich Smoky, wieder aus einer anderen Richtung. »Warum kommst du nicht?« Blöder Hund! Hat wieder seinen verspielten Tag. Er will Versteck spielen, wie schon so oft. »Hör zu, Smoky«, sagte Joe und betonte jedes Wort. Er sprach ganz langsam. »Ich mag heute nicht Versteck spielen. Hörst du das? Hast du mich verstanden? Wir haben keine Zeit für solche Spiele. Wir müssen weg.« Für kurze Zeit herrschte Schweigen. Dann: »Okay, Joe. Ich werde nicht mehr Versteck spielen. Ich warte hier auf dich.« Es kam aus derselben Richtung wie vorher. Diesmal ging Joe langsam. Die Stimme war von links gekommen. Als er im erleuchteten Hauptgang stand, wandte er sich nach links. Schritt für Schritt marschierte er weiter. Überall zweigten Gänge nach rechts und links ab. Wo ist er bloß? Dieser verdammte Idiot! Ich kann doch nicht ewig durch diese verwirrenden Gänge schleichen. Na warte, dir werde ich helfen. Ich werde dich wieder mal für einige Stunden wie einen Fremden behandeln und nicht mehr wie einen Freund. Das trifft dich am meisten. Dann kommst du gekrochen wie ein Hund. Du frisst mir aus der Hand. Aber diesmal lasse ich dich zappeln. So schnell gebe ich nicht nach. Du sollst merken, wie böse ich auf dich bin. Er blieb stehen. »Sag was, Smoky, damit ich dich schneller finde!« rief Joe. »Hörst du, Smoky? Rede irgend etwas!« Er horchte angestrengt in das Kellergewölbe hinein. »Was soll ich denn sagen, Joe?« hörte er nach einer kleinen 71 �
Pause. Rechts! »Sag einfach was!« Joe ging in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte. »Irgendwas, oder singe. Du kannst doch singen.« »Aber Joe, du weißt doch, daß ich nicht singen kann.« Er ist jetzt ganz nahe. Es kann nicht mehr weit sein. Elender Dummkopf. Er hätte auch… »Dann fang an zu zählen! Zähle, bis ich bei dir bin!« »Ja, Joe, ich versuche es. Eins… zwei… drei… Ich kann nicht weiterzählen. Du weißt doch, ich kann nicht.« »Versuch's, Smoky!« Jetzt habe ich ihn gleich. Nur noch ein paar Meter. »Du mußt es versuchen.« »Ich will ja, Joe. Aber es geht nicht.« Jetzt müßte ich bei ihm sein. Ich habe ihn doch ganz deutlich hier gehört. Aber er ist nicht zu sehen. Verflucht, Smoky, was treibst du mit deinem Spatzenhirn für ein Spiel mit mir? Er stand im Dunkeln, drehte sich im Kreis. Nichts. Seine Hand tastete die Wände ab. »Komm doch, Joe!« lockte Smokys Stimme dicht an seinem Ohr. »Komm, komm!« In diesem Augenblick hörte er weit hinter sich ein lautes, berstendes Krachen und Splittern. Und dann Smokys Stimme: »Wo bist du? Joe? Joe!« Aber das kann doch nicht sein. Eben habe ich ihn doch noch ganz nah an meinem Ohr gehört. Und jetzt ist er wieder so weit weg. Joe Fadden war völlig durcheinander und zweifelte nun wirklich an seinem Verstand. Da will mich jemand… Und dann sah er das rotglühende Augenpaar auf sich zukommen.
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Das schaurige Gelächter schwoll an. Sie standen alle wie erstarrt und blickten nach oben. Doch da war niemand. Inspektor Weaver faßte sich als erster. Er spurtete zur Treppe, kämpfte sich durch die wie gelähmt dastehenden Gäste. Als er die unterste Treppenstufe erreicht hatte, verstummte das Lachen. Er stieg noch drei Stufen hinauf, dann blieb er stehen. Sein Gefühl sagte ihm, daß jeden Moment etwas geschehen würde, irgend etwas Schreckliches. Und da war es auch schon. Ein dritter abgeschnittener Kopf rollte die Treppe herunter. Weaver konnte noch nicht sehen, wessen Kopf es diesmal war. Aber er ahnte es. Norma Hunter hatte ihn schon gesehen. Es konnte sich nur um das Haupt von Ben Porter handeln. Eine Welle des Zorns, gemischt mit einem kalten Schauer, stieg in ihm hoch. Dieses grausame Individuum, bei dem es sich nur um ein Tier, um eine mordbesessene Bestie handeln konnte, benutzte die Menschen als Spielbälle des Grauens. Ein Menschenleben bedeutete ihm nichts. Für ihn war es nur Mittel zum Zweck, zur Ausrottung verurteilt. Den Inspektor hielt nichts mehr zurück. Immer drei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinauf. Er nahm sich nicht die Zeit, das Licht einzuschalten. Er lief den Korridor entlang, dahin, wo er das schreckliche Gelächter vernommen hatte. Aber es war niemand zu sehen. Hatte er das wirklich angenommen? In seinem grenzenlosen Hass auf diese mordende Bestie war er einfach heraufgerannt, ohne zu überlegen. Aber so fängt man kein Phantom. Zumindest keines, das über solche unheimlichen Fähigkeiten verfügt. Ich muß ruhig werden. Blinder Hass vermindert das logische 73 �
Denkvermögen. Das war eines der wichtigsten Dinge, die ich in der harten Polizeischule gelernt habe. Es kostete Weaver unendliche Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken. Ben war ein prima Kumpel gewesen. Und die Hausherren ebenfalls. An ihnen hat England sehr viel verloren. Und wer weiß, wer noch alles daran glauben muß. Weaver schaffte es, sich zu beherrschen. Ruhig dachte er über alles nach, während er systematisch die oberen Räume absuchte. Es waren eine Menge Räume, und er war froh, als Dr. Crowley ihm zu Hilfe kam. Dann bot auch Mr. Crane seine Hilfe an. Doug Winwood, ein unerschrockener älterer Herr und ein besonderer Freund der Dandridges, beteiligte sich ebenfalls an der Suche. Die beiden Leichen der Gastgeber fanden sie in deren Schlafzimmer. Bens Torso entdeckten sie in einem Gästezimmer. Aber das war auch alles, was sie fanden. Von dem Mann, der dieses schaurige Gelächter ausgestoßen hatte, keine Spur. Sie bedeckten die kopflosen Körper mit Decken, brachen die Suche ab und begaben sich nach unten. Inspektor Weaver rief alle zusammen. Außer den drei Toten fehlte noch das Ehepaar Stevens und Phillis Benton. Crane sah im Büro nach. Mrs. Stevens lag noch immer völlig apathisch auf der Couch. Ihren Mann konnte er nicht entdecken. Sie riefen nach ihm und Phillis Benton. Nach etwa einer Minute kam Ernie Stevens aus der Bibliothek. »Was ist los?« fragte er. Er schien das Ganze noch gar nicht mitbekommen zu haben. Niemand hatte ihn seit dem Zwischenfall mit seiner Frau und Ben Porter gesehen. Inspektor Weaver klärte ihn in kurzen Worten über das Geschehen auf. Während seines Berichtes wurden Stevens' Augen immer größer. Ein ungläubiges Staunen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er sah Weaver an, als hätte der nicht alle 74 �
Tassen im Schrank. »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen«, entgegnete er, als Weaver mit seiner Schilderung zu Ende war. »Keinesfalls!« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Kommen Sie, ich werde es Ihnen beweisen!« Und dann sah Ernie Stevens die drei Köpfe auf dem Boden. Er zuckte entsetzt zurück. Sein Gesicht war ein Spiegel des Grauens. Er wurde abwechselnd blaß und rot. »Mein Gott«, flüsterte er kaum hörbar, »das ist ja…« Er hob den Kopf, sah Inspektor Weaver an. »Dann hat dann hat meine Frau ihn doch…« Er verstummte. Weaver nickte. »Er ist schon mindestens vier Stunden tot«, teilte er ihm mit. »Dr. Crowley ist sich da ganz sicher. Das gleiche gilt für Gloria Dandridge.« »Aber das kann gar nicht sein«, erwiderte Stevens. »Wir haben doch alle gesehen, daß er lebte. Er war nicht tot. Sie kann ihn also nicht gesehen haben.« Seine Stimme schwoll an. Er wandte sich um und sprach zu den anderen: »Ihr habt es doch auch gesehen. Er war nicht tot, nicht wahr? Er stand plötzlich lebendig unter uns. Wir haben ihn alle gesehen. Wir haben ihn alle gehört. Oder ist jemand von Ihnen anderer Meinung?« Crane trat neben den Inspektor. »Stevens hat recht. Wir alle haben den lebenden Lord Dandridge gesehen. Und das war vor ungefähr einer Stunde. Dr. Crowley behauptet, daß unsere Gastgeber schon über vier Stunden tot sind. Ich habe Ihnen das vorher schon einmal begreiflich machen wollen. Und jetzt sage ich es Ihnen erneut: die ganze Sache hier stinkt zum Himmel. Irgend etwas Unheimliches geht hier vor. Etwas, das mit einem normalen Menschenverstand nicht zu begreifen ist. Ich habe aber den Verdacht, daß Sie etwas wissen oder zumindest ahnen. Wenn dem so ist, dann haben wir 75 �
das Recht, es zu erfahren.« »Ja«, mischte sich Sally Clark ein, »ich glaube auch, daß wir das Recht dazu haben.« Weaver sah alle der Reihe nach an. Warum sollte er ihnen seine Vermutung nicht mitteilen? Sie müssen es sogar erfahren, damit sie sich vorsehen können. »Okay, meine Herrschaften«, sagte Weaver ernst. »Ich glaube, es ist sogar meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, was ich vermute. Erwarten Sie aber keine logische Erklärung von mir für das, was ich Ihnen jetzt erzähle. Ich habe nämlich keine dafür.« Er räusperte sich und fuhr fort: »Seit Wochen bin ich mit einigen Kollegen hinter einem Phantom her. Es ist ein Phantom im wahrsten Sinne des Wortes, denn immer wenn wir glauben, es endlich in den Fängen zu haben, löst es sich in Luft auf. Es verschwindet im Nichts und hinterlässt immer eine Menge Tote. Wir standen bis jetzt vor einem Rätsel. Doch was ich und wir alle heute Abend hier erlebt haben, bringt mich der Sache ein wenig näher. Aber das Ganze ist so unfassbar, so unbegreiflich, daß ich es kaum auszusprechen wage. Es kommt mir selbst, der ich an Mystisches und Geisterhaftes gewöhnt bin, so vor, als würde ich das alles nur in einem furchtbaren Alptraum erleben. Doch es ist kein Alptraum. Es ist harte Realität, auch wenn es Ihnen im ersten Moment unwahrscheinlich und völlig absurd erscheinen mag.« Weaver zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch hastig durch die Nase aus. Lähmendes Schweigen lag über den Partygästen, die längst keine Partygäste mehr waren, sondern Statisten und Darsteller eines Horrorfilms, in dem es allerdings keine Filmleichen, sondern richtige Leichen gab. Keiner der Anwesenden ahnte in diesem Moment, was ihnen im Laufe der nächsten Stunden noch alles zustoßen sollte. Gespannt sahen alle auf Weaver. Erwartungsvoll hingen ihre 76 �
Blicke an seinen Lippen. »Wir alle haben gesehen, daß Lord Dandridge noch vor einer Stunde gelebt hat. Dr. Crowley aber behauptet, unser Gastgeber wäre schon mindestens vier Stunden tot.« In Weavers Stimme schlich sich leichte Heiserkeit. Ein untrügliches Zeichen bei ihm, daß er äußerst erregt war. »Ich habe keinen Grund, an den Worten eines so bekannten Arztes zu zweifeln. Nun aber ergibt sich für uns die Frage: Wie ist das möglich? Eine Antwort darauf glaube ich gefunden zu haben. Das Phantom, wie wir den Mann nennen, hat die unglaubliche Fähigkeit, sich in den Körper eines anderen Menschen zu schleichen. Es nimmt Aussehen, Gestalt und Stimme des anderen an. Sein Verstand, sein Geist, seine Seele, die sicher so schwarz ist wie das Innere eines Ofenrohres, bleiben seine eigenen. Anders ist das, was wir heute schon erlebten, einfach nicht zu erklären. Doch es erklärt sein spurloses Verschwinden, immer wenn wir ihm nahe genug waren. Das Phantom tötet einen Menschen und benutzt dann dessen Körper und Aussehen, um sich spurlos abzusetzen. So unglaublich das alles klingen mag, es kann nur so sein. Wie es das allerdings bewerkstelligt, ist mir ein Rätsel. Deshalb sagte ich Ihnen auch schon zu Anfang, daß ich Ihnen dafür keine logische Erklärung geben kann.« Nachdem der Inspektor verstummte, herrschte für einige Zeit tödliches Schweigen. Ein eiskalter Hauch schien sich plötzlich in das warme Zimmer zu schleichen, der den Anwesenden eine Gänsehaut verpasste. »Ich glaube, wir sollten dieses Haus jetzt alle verlassen, bevor noch mehr von uns sterben müssen«, sagte Crane in die Stille. Er ging langsam auf den Ausgang zu. Einige Gäste folgten ihm. Sie hatten vorher gar nicht richtig mitbekommen, warum Phillis Benton aufgeschrien hatte, als sie das Haus verlassen wollte. Das furchtbare Gelächter, das von 77 �
oben gekommen war, hatte ihrer aller Aufmerksamkeit erregt. Crane war auch als erster kurz vor dem großen Portal. Er riß in ungläubigem Staunen die Augen auf, als er merkte, daß es nicht mehr weiterging. Nigel Crane trat einen Schritt zur Seite und versuchte es erneut ohne Erfolg. Dieses unheimliche und völlig unsichtbare Hindernis trieb ihm den kalten Angstschweiß auf die Stirn. Er trat mit dem Fuß heftig nach vorn. Sein Schuh traf auf einen Widerstand und wurde zurückgeschleudert. Die anderen, die mit ihm gehen wollten, prallten ebenfalls gegen die unsichtbare Mauer. Niemand von ihnen konnte begreifen, was hier eigentlich vor sich ging. Sie waren gegen etwas gerannt, das man weder sehen noch greifen konnte. Und dann wurde ihnen klar, daß sie es hier mit einer unheimlichen Macht zu tun hatten. Nicht wenige von ihnen begannen, an ihrem klaren Verstand zu zweifeln. Es sah grotesk aus, wie sie sich bemühten, die Barriere zu durchbrechen. Aber keinem gelang es. Die Partygäste standen in Reih und Glied nebeneinander, keiner konnte auch nur einen Schritt vorwärts tun. Crane gab das unsinnige Anrennen auf und lief zu einem der hohen Fenster. Doch auch hier war es dasselbe. Er kam bis knapp zwei Meter vor das Fenster. Da endete sein Weg. Am nächsten Fenster war es das gleiche. Auch am übernächsten. Wie aufgescheuchte Hühner rannten die Männer und Frauen durch die Halle. Sie konnten überall hingehen: ins Büro, in die Bibliothek, ins Morgenzimmer, in den Speisesaal. Nur wenn sie auf die Außenmauer des Hauses zugingen, war der Weg zwei Meter davor zu Ende. Und dann griff Inspektor Weaver ein. Er hatte ebenfalls zu spüren bekommen, daß er das Haus nicht verlassen konnte, und er befürchtete das Schlimmste, wenn sie 78 �
jetzt nicht zusammenblieben. Es dauerte sehr lange, bis er sich Gehör verschaffen konnte. Wilde Panik hatte die Leute erfasst, und es ging zu wie auf einem sinkenden Schiff. Nur daß man bei einem untergehenden Schiff auf die Beiboote konnte. Hier aber gab es nichts. Sie wurden von einer unsichtbaren Macht gefangen gehalten und wußten sich einer blutrünstigen und unheimlichen Bestie ausgeliefert. Endlich hatte Weaver alle um sich versammelt. »Wir müssen unbedingt zusammen bleiben«, beschwor er sie. »Keiner darf etwas auf eigene Faust unternehmen. Wenn wir zusammen bleiben, kann uns nichts passieren. Das Monster wird sich nicht trauen, uns in der Gemeinschaft anzugreifen. Er wird versuchen, uns einzeln zu erwischen.« »Mein Gott«, stieß Norma Hunter hervor, »es wird uns alle umbringen. Wir können aus unerklärlichen Gründen das Haus nicht verlassen. Wir sind ihm ausgeliefert. Und dabei wissen wir nicht einmal, mit wem wir es zu tun haben, wie er aussieht… Oder wissen Sie es?« Der Inspektor, an den die Frage gerichtet war, zögerte einen Augenblick. Wußte er es? Weaver hatte das Phantom zweimal gesehen. Einmal, als sie glaubten, ihn in die Enge getrieben zu haben, entschwand es ihnen in der Gestalt eines alten Mannes. Die Leiche fanden sie wenig später. Der Arzt hatte damals festgestellt, daß er schon längere Zeit tot war, obwohl mehrere Menschen ihn noch kurz vorher gesehen hatten. Aber niemand wäre auf die Idee gekommen, daß dieser unheimliche Mann über Kräfte verfügte, die mit irdischem Verstand nicht zu begreifen waren. Man glaubte fest daran, daß der Arzt sich getäuscht hatte. Doch an diesem Abend war es anders gewesen. An den Häuptern der geköpften Gastgeber konnte ein Blinder feststellen, daß 79 �
sie sicher schon vor Stunden vom Rumpf getrennt worden waren. Und als er ihn zum ersten Mal sah? Damals steckte er in der Gestalt eines Barons. Ob das sein wahres Gesicht ist? »Ich weiß es nicht genau«, antwortete Weaver ernst. »Es könnte sein, daß es sich um Baron Ballyntine handelt. Jedenfalls glaubte ich ihn mal in dieser Gestalt gesehen zu haben.« »Baron Ballyntine?« fragte Dr. Crowley überrascht. »Ich kenne den Baron. Aber es ist völlig absurd zu glauben… Sie müssen sich irren, Inspektor. Der Baron ist einer der nettesten und sympathischsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Es ist unmöglich…« »Unmöglich ist nichts«, unterbrach ihn Weaver. »Sie haben doch selbst erlebt, was er für überirdische Kräfte besitzt. Er muß mit dem Satan im Bunde sein. Es dürfte für ihn also ein leichtes sein, sich als ehrbaren Bürger dieses Staates zu geben.« »Natürlich, Inspektor. Aber gerade Baron Ballyntine…« Crowley schüttelte den Kopf. »Ich kann es einfach nicht glauben.« »Wie auch immer«, versetzte Weaver, »ob es nun der Baron ist oder nicht. Uns hilft nur eines: zusammen bleiben. Nur so können wir sicher sein, daß er sich nicht unter uns schleichen kann. Wenn sich einer von uns absetzt und in seine Fänge gerät, wird er ihn töten und sich in der Gestalt des Getöteten unter uns mischen. Was das für Folgen nach sich ziehen würde, könnt ihr euch sicher ausmalen.« »Aber zwei von uns fehlen schon«, erinnerte Mrs. Crane, die sich verängstigt an den Arm ihres Mannes gehängt hatte. »Mabel Stevens und Phillis Benton sind weg. Was tun wir, wenn einer von ihnen auftaucht? Es könnte doch dann dieser furchtbare diese Bestie sein.« Weaver schüttelte entschieden den Kopf. 80 �
»Nein. In den Körper einer Frau kann er nicht schlüpfen. Da bin ich mir ganz sicher. Es handelt sich um ein männliches Monster, und es kann bestimmt nur die Gestalt eines Mannes annehmen. Die Frauen sind nicht gefährdet.« »Und was war mit Gloria?« rief Norma Hunter aus. »Warum hat er dann Gloria Dandridge umgebracht? Sie war schließlich auch eine Frau.« »Sie mußte er töten«, gab der Inspektor zurück. »Er wollte bei seinen Vorbereitungen völlig ungestört sein.« »Das leuchtet ein«, sagte Crane nachdenklich. »Das bedeutet also, daß vor allen Dingen wir Männer immer zusammen bleiben müssen.« »Genau.« Und dann erlosch plötzlich das Licht. * Sie rannte gehetzt durch die vielen großen Räume, nur von dem Gedanken getrieben, dieses entsetzliche Haus zu verlassen. Nichts konnte sie mehr zurückhalten. Was sie hier erlebt hatte, ging über ihre Kräfte. Wenn sie nicht bald ins Freie kam, würde sie den Verstand verlieren. Phillis Bentons Atem ging abgehackt. Sie konnte sämtliche Räume betreten, durch jede Tür gehen und war inzwischen schon im weit entfernten Westflügel des Schlosses gelandet. Doch sobald sie sich einem Fenster näherte, war dieser verfluchte unsichtbare Wall da, der sie am Weitergehen hinderte. Sie brach in Tränen aus. Aber sie gab nicht auf. Immer wieder betrat sie einen neuen Raum und versuchte, dort aus dem Fenster zu klettern. Doch der Sperrgürtel war überall. Nirgends kam sie näher an die Außenmauer heran als bis auf zwei Meter. Es war zum Verzweifeln. 81 �
Der Keller! Vielleicht konnte sie durch den Keller entfliehen. Es war doch unmöglich, daß sie überall auf diesen Widerstand stoßen würde. Einmal müßte sie doch ein Loch in diesem Sperrgürtel finden. Es dauerte einige Zeit, bis sie die Kellertür fand. Zu ihrer Verwunderung stand sie weit offen. Gähnende Finsternis schlug ihr entgegen. Sie erschauerte. Angst beschlich sie. Sie war noch nie bei Nacht in den Keller gegangen. Dazu hatte sie zu Hause ihre Bediensteten. Oder ihr Mann war hinuntergegangen, wenn er unbedingt eine Flasche Wein trinken wollte. Die vollbusige Benton dachte an die enthauptete Gastgeberin und an die beiden geköpften Männer. Ein Zittern lief über ihren Körper. Sie fror, obwohl sie vom gehetzten Lauf schweißgebadet war. Doch die schrecklichen Geschehnisse dieses Abends ließen sie ihre Angst überwinden. Sie tastete nach dem Lichtschalter und knipste das Licht an. Der schwache Schein erhellte eine steile Wendeltreppe. Langsam stieg sie Stufe für Stufe hinunter. Die Treppe war gegenüber den Gemäuern relativ neu. Sie war mit einer Zementmischung ausgegossen und paßte gar nicht zu dem feuchten, dunklen Mauerwerk. Wahrscheinlich war sie brüchig geworden, und um einer Absturzgefahr vorzubeugen, hatte Lord Dandridge sie erneuern lassen. Die Treppe endete vor einer schweren, aber rissigen Bohlentür. Die Klinke war feucht und glitschig. Phillis glaubte einen Fisch in der Hand zu haben. Sie bezwang das Ekelgefühl und das kurze Grauen, das in ihr hochstieg und drückte die Klinke entschlossen nieder. Ein kühler Luftzug streifte sie. Dunkelheit. Sie suchte nach dem Schalter, aber sie fand ihn nicht. Phillis ging einige Schritte weiter und machte die Tür ganz auf. Sie quietschte und ächzte in den Angeln. Phillis zuckte unwillkürlich zusammen. Die Lampe 82 �
über der Treppe, über die eine Milchglaskugel gestülpt war, spendete nur schwaches Licht. Phillis erkannte ein Weinfass. Einige Meter weiter sah sie die Umrisse eines zweiten. Und dann entdeckte sie auch endlich den Lichtschalter. Eine helle Neonröhre warf ihren grellen Schein auf die vielen Flaschen und Regale und Fässer, als sie es anknipste. Sie schloß für einen kurzen Moment die Augen. Phillis Benton befand sich im Weinkeller von Dandridge Castle. Es war frisch und kühl hier unten. Zwischen den Regalen und Weinfässern spannten sich Spinnweben. Die Flaschen waren grau und schmutzig vom abgelagerten Staub. Phillis schlängelte sich zwischen den Fässern und Holzständern durch. Der Raum war riesengroß, überall türmten sich die Flaschenregale bis zur Decke und versperrten ihr die Sicht. Sie sah nirgends eine Tür. Es half nichts. Sie mußte alles absuchen. Plötzlich fiel nicht weit von ihr entfernt eine Flasche zu Boden und zerschellte klirrend auf dem harten Beton. Die Frau zuckte in panischem Entsetzen zusammen. Eine eiskalte Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen und es zu zerquetschen. Grauenhafte Angst schnürte ihre Kehle zu, sie glaubte ersticken zu müssen. Wie gelähmt verharrte sie auf ihrem Platz. Mit angstverzerrtem Gesicht horchte sie in den Keller hinein. Zuerst hörte sie nichts. Totenstille herrschte zwischen den riesigen Flaschenablagen. Doch dann vernahm sie den schlurfenden Schritt und den rasselnden Atem, der immer näher kam. Ihre Augen weiteten sich. Sie wollte wegrennen. Aber ihre Beine schienen am Boden festgenagelt zu sein. Und dann erblickte sie die hässliche Fratze eines Vampirs. Sein Maul war weit aufgerissen, die beiden überlangen Zähne waren deutlich zu sehen. Unter seinen schwarzen, dichten Augen83 �
brauen leuchtete ein rotglühendes Augenpaar. Ein wildes Freudengeheul drang über die blassen Lippen des Monsters, als es die Vollbusige entdeckte. Seine Augen begannen noch mehr zu glühen. Speichel lief über seine Mundwinkel, der wie weißer Schaum aussah. Seine knochigen Hände hoben sich Phillis Benton wie die Krallen eines riesigen Raubvogels entgegen. Das Monster wurde immer schneller. Wie ein hungriger Wolf schoß es auf Phillis zu. Doch kurz bevor die Bestie Phillis Benton erreicht hatte, entfuhr ihr ein gellender Schrei. Und mit dem Schrei löste sich die Lähmung in ihren Beinen. Sie waren auf einmal leicht wie eine Feder. Phillis rannte davon, gefolgt von der Bestie. Eine Hetzjagd auf Leben und Tod begann. Sie hastete zwischen den hohen Regalen durch, hielt sich daran fest, wenn sie eine andere Richtung einschlug, um nicht zu fallen. Hinter ihr krachten Flaschen zu Boden und zerbarsten klirrend. Einmal hörte sie einen Schmerzensschrei hinter sich, als das schreckliche Monster in die Scherben trat. Aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie empfand auch keine Freude darüber. Sie spürte nur die furchtbare Angst in ihr, die ihr die Kraft gab, immer schneller zu werden. Die panische Angst peitschte sie nach vorn, trieb sie weiter und ließ sie keinen Moment verharren. Doch der gehetzte Lauf forderte seinen Tribut. Ihre Lungen fingen an zu schmerzen. Ihr Atem wurde abgehackter. Vor ihren Augen tanzten funkelnde Sterne, die sich langsam im Kreise drehten. Der Ausgang! Mein Gott, wo ist hier ein Ausgang? Ich muß ihn finden! Lieber Gott, lass mich den Ausgang finden. Eine Tür oder auch ein Versteck, in dem ich vor der Bestie sicher bin. Ich 84 �
verspreche dir, ich werde wieder in die Kirche gehen. Jeden Tag stelle ich eine neue Kerze auf den Altar. Bis an mein Lebensende. Ich verspreche es hoch und heilig. Aber lass mich jetzt einen Ausweg finden. Ihr Atem ging rasselnd. Sie wurde langsamer. Ihre Beine waren schwer wie Blei, sie vermochte sie kaum noch zu heben. Ich muß einen Augenblick verschnaufen. Nur eine Sekunde. Dann geht es sicher wieder. Phillis Benton lehnte sich an ein Regal und blickte zurück. Hinter ihr war niemand mehr. Sie hatte ihn abgeschüttelt. Aber für wie lange würde das so sein? Sicher wird er gleich zwischen den Regalen auftauchen. Sie horchte, versuchte herauszufinden, wo sich das Monster im Augenblick befand. Aber außer ihrem lauten Atem hörte sie nichts. Phillis glaubte, daß man ihren rasselnden Atem meilenweit hören müßte. Er wird es hören und mich hier finden. Ich muß weiter. Verdammt, wenn ich nur wüsste, wo ich hier bin. Wo ist der Treppenaufgang? Das Flimmern vor ihren Augen ließ nach. Sie sah alles wieder deutlich vor sich. Aber das Stechen in den Lungen wollte einfach nicht nachlassen. Weiter! trieb sie sich an. Irgendwann werde ich schon auf so eine verdammte Tür stoßen. Und wenn ich vorher in die Krallen dieser Bestie falle? Ich bin ihr ausgeliefert. Ich komme hier nie wieder heraus. Sie sah sich gehetzt nach beiden Seiten um. Von rechts kam die grausame Bestie auf sie zu. Schreiend lief Phillis in die entgegengesetzte Richtung. Und dann tauchte plötzlich ein zweiter Vampir vor ihr auf. * 85 �
Er wußte genau, wen er vor sich hatte. Das war auf keinen Fall ein Vampir. Das konnte nur der Baron sein. Joes Faust schoß blitzschnell nach vorn. Er zielte genau zwischen die beiden rotglühenden Augen. Aber er traf nicht. Seine Faust stieß ins Leere, die roten Augen verschwanden. Joe Fadden machte sofort auf dem Absatz kehrt und rannte wie von Furien gehetzt den Weg zurück. »Smoky! Ich bin hier… Hörst du? Ich bin hier.« »Ich komme, Joe!« drang es zu ihm hin. »Ich komme!« Fadden saß die Angst im Nacken. Er wagte sich nicht umzudrehen. Jeden Augenblick befürchtete er, von diesem Ungeheuer angefallen zu werden. Aber es geschah nichts. Er konnte ungehindert weiterlaufen. Wie ist es ihm nur gelungen, Smoky auszuschalten? schoß es Joe durch den Kopf. Vorher hatte er doch Angst vor ihm. Er konnte sich in Smokys Nähe nicht aufhalten. Und jetzt hat er ihn sogar niedergeschlagen. Und dann stand er Smoky gegenüber, Grauen überfiel ihn. Smoky sah aus, als wäre er unter das Messer gekommen. Sein Gesicht war blutüberströmt, an seiner rechten Wange klaffte eine tiefe Wunde. »Mein Gott, Smoky, wie siehst du nur aus? Was hat er mit dir gemacht?« »Ich weiß nicht, Joe. Irgendwas hat mich fest am Kopf getroffen und dann und dann… Ich bin ein Trottel, Joe. Ich habe nicht aufgepaßt. Bist du böse, Joe? Ich werde auch nie mehr so dumm sein. Bestimmt. Das nächste Mal bringe ich ihn um. Er wird mich nicht mehr…« »Schon gut«, unterbrach ihn Joe. »Ich bin dir doch nicht böse. Das kann jedem passieren. Aber jetzt brauchst du einen Arzt. Smoky. Sofort, sonst verblutest du noch.« 86 �
»Ich bin stark«, erwiderte Smoky. Er versuchte ein Grinsen und zeigte stolz seine Muskeln. »Ich verblute nicht. Du brauchst keine Angst um mich zu haben, Joe. Ich bin schon okay.« Es sah auch gar nicht danach aus, als hätte Smoky Schmerzen. Zwar wurde aus seinem versuchten Grinsen nur eine hässlich verzerrte Visage, aber sicherlich kam dies nur von der tiefen Wunde in seiner Wange. Joe Fadden war aber sehr besorgt um seinen Freund. Das Blut schoß in Strömen aus der Platzwunde, lief über seinen Hals und durchtränkte seine Kleidung. »Hast du eine Treppe gefunden?« fragte er Smoky. »Nein, Joe«, war die Antwort. »Ich habe nichts gefunden. Als ich anfing zu suchen, da flog etwas an meinen Kopf, etwas Hartes. Ich bin dann…« Er sprach nicht weiter. Stumm und ängstlich sah er seinen Freund an, als erwartete er eine Strafpredigt von ihm. Doch Joe hatte nicht die Absicht, ihm Vorwürfe zu machen. »Komm jetzt, Smoky!« Fadden zog ihn mit. »Wir müssen sie finden, so schnell wie möglich. Die Menschen dort oben schweben in höchster Gefahr. Wir müssen sie warnen.« Eigentlich war es ihm völlig egal, ob die da oben umgebracht wurden oder nicht. Er wollte einfach nur raus. Hier unten konnte er es aus ihm völlig unerklärlichen Gründen nicht. Weiß der Teufel, was das war. Jedenfalls war es verdammt unheimlich. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so viel Angst gehabt wie hier in den letzten Stunden. Joe hielt sich dicht bei Smoky. Er wollte sich auf keinen Fall mehr von ihm trennen. Smoky war so etwas wie eine Lebensversicherung für ihn. Solange er neben ihm war, würde es keines der Ungeheuer wagen, ihn anzugreifen. Warum das so war, wußte er nicht. Er machte sich auch keine Gedanken darüber. 87 �
Nachdem sie zusammen einige Türen aufgerissen und in die Räume gesehen hatten, hörten sie einen entsetzlichen, lang gezogenen Schrei einer Frau. Joe ortete sofort die Richtung und zerrte Smoky mit. Es war nicht schwer zu finden, denn das entnervende Schreien der Frau riß nicht ab. Es hörte sich an, als würde die Frau auf einem Folterstuhl sitzen. Die furchtbaren Schreie ließen Joe das Blut in den Adern gefrieren, und er hastete immer schneller weiter. Dabei achtete er aber trotzdem darauf, daß Smoky nachkam und er nicht ohne ihn dastand. Dann sahen sie endlich die offene Tür. Heller Lichtschein fiel heraus. Sie sahen die hohen Regale, in denen sich die Weinflaschen häuften. Aber von der schreienden Frau war noch nichts zu sehen. Sie rannten in den Weinkeller, zwischen den Regalen durch. Aus den panischen Schreien war ein leises, herzzerreißendes Wimmern geworden. Joe hatte Angst, zu spät zu kommen. Er wurde schneller. Das Wimmern war jetzt ganz nah. Noch durch einen Zwischengang, um eine weitere Ecke. Und dann sahen sie das Entsetzliche. Eine gut dreißigjährige, sehr schöne Frau befand sich in den Klauen von zwei Vampiren. Das Kleid war ihr heruntergerissen worden. Ihre vollen Brüste lagen frei. An ihrem makellosen Hals waren zwei kleine Löcher, aus denen Blut tropfte. Ihr Gesicht war kreidebleich. Aber es wirkte ruhig, keine Zeichen von Angst oder Panik waren darin zu lesen. Nur ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere. Es schien sie nicht zu stören, daß gerade wieder eines der Monster sich über sie beugte, um ihr frisches Blut aus den Adern zu saugen. Joe Fadden verlor keine Zeit. Er packte die Bestie, die sich gerade am Blut der Frau laben wollte, und zerrte sie weg, schlug 88 �
wütend auf das Monstrum ein. Es schrie laut auf. Es hatte Blut gelechzt und wurde nun brutal von der Mahlzeit weggerissen. Einen grauenhaften, tierischen Schrei ausstoßend, stürzte sich die Bestie auf Joe. Doch dann war Smoky dazwischen. Das Ungeheuer stoppte seinen Angriff und wollte entsetzt zurückweichen. Aber Smokys Faust war schon nach vorn gestoßen und traf das Monster am Kinn. Der Schlag war so hart, daß die Bestie vom Boden gehoben wurde und zwei Meter weit zurückflog. Krachend landete sie auf dem Rücken und blieb bewegungslos liegen. Der andere Vampir, der sich schon mit Blut voll gesaugt hatte und dem der rote Lebenssaft noch aus dem Maul lief, floh sofort. Joe wollte ihn nicht verfolgen. Er kümmerte sich um die schöne, halbnackte Frau. Und zu seinem Entsetzen stellte er fest, daß sie den Verstand verloren hatte. Sie war langsam am Regal zu Boden gerutscht und murmelte wirres Zeug vor sich hin, von dem Joe kein Wort verstand. Smoky hatte sich inzwischen über die Bestie geworfen, nahm den Kopf in beide Hände und schlug ihn ununterbrochen auf den harten Betonboden. Es war ein grauenhaftes Bild. Aber seltsamerweise kam kein Blut. Der Kopf war nur noch eine helle, breiige Masse. Smoky merkte es und stellte seine Tätigkeit verwundert ein. Er wußte nicht, daß Vampire kein Blut haben. Nur im Herzen. Er begriff das alles nicht. Sonst war es doch immer anders gewesen. Die anderen haben doch… Langsam erhob er sich. Aber er nahm keinen Blick von dem Monster. »He, Joe! Guck doch mal! Der ist ja… Der blutet ja überhaupt nicht.« Joe wandte sich und blickte auf das am Boden liegende Mons89 �
ter. »Vampire haben kein Blut«, erklärte er Smoky keuchend. »Du kannst ihn auch so nicht töten. Man braucht dazu einen spitzen Pfahl.« Smoky sah ihn verständnislos an. »Aber er ist doch tot«, sagte er. »Alle, mit denen ich es so gemacht habe, waren tot. Alle, Joe, alle. Du hast es doch selbst gesagt. Und der da…« »Das ist kein Mensch«, versuchte es Joe nochmals. »Das ist ein Vampir, ein Monster, ein Ungeheuer. Das kann man nur töten, wenn man ihm einen spitzen Pfahl ins Herz stößt.« Smokys verständnisloser Blick blieb. Doch dann zuckte er mit den Schultern. »Ich mache so einen Pfahl«, sagte er gleichgültig. »Wenn du es so willst, dann mache ich es.« Er ging suchend durch den Weinkeller. Joe kümmerte sich wieder um Phillis Benton. Doch sie merkte gar nicht, daß jemand neben ihr stand. Ihr Blick war seltsam starr und leer und traurig. Ihre Pupillen hatten sich vergrößert. Sie sprach immer noch leise, unverständliche Worte vor sich hin. Joe packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. »He, Miss, kommen Sie zu sich! Die Ungeheuer sind weg. Hören Sie, sie sind weg.« Doch Phillis war weit entfernt. Sie war in eine andere Welt entrückt. Ihr Geist war völlig zerrüttet. Ihr Nervensystem sandte keine Impulse mehr ins Gehirn. Selbst das schrecklichste Ungeheuer hätte keine Gänsehaut mehr bei ihr erzeugen können. Sie verspürte weder Ekel noch Abscheu, als sie auf das bewusstlose Monster blickte. Phillis Benton lebte in einer Welt, in der es keine Bestien und Ungeheuer gab. Es war eine Welt des Friedens.
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In das allgemeine Durcheinander, das entstand, als plötzlich das Licht erlosch, erklang ein schrecklicher, markerschütternder Schrei. Er kam aus der Versammlung. Einer von ihnen hatte geschrien. Aber in dieser vollkommenen Finsternis, in der man seinen Nebenmann lediglich fühlen, aber nicht sehen konnte, konnte man auch nicht feststellen, wer es war. Der gellende Schrei brach abrupt ab. Dann trat Stille ein. Die Menschen in der Halle hielten den Atem an. Doch es war nichts weiter zu hören kein Fall, kein Schleifen. Nichts. Was ist geschehen? Wer hat plötzlich so geschrien? Und warum? War das Phantom am Werk? Hat es wieder einen von ihnen umgebracht? Wie ein Ungewitter brach plötzlich eine Panik über die eingeschlossenen Menschen herein. Hatten sie vor wenigen Minuten noch geglaubt, daß dieses Phantom ihnen nichts anhaben konnte, wenn sie immer beisammen blieben, so waren sie inzwischen anderer Ansicht. Daß dieser Verrückte das Licht abstellt und sich dann einen von ihnen greift, daran hätte niemand gedacht. Langsam wurde jedem klar, daß keiner von ihnen lebend herauskommen würde, wenn nicht bald Hilfe von außen kam. Aber vor dem Morgengrauen war damit auf keinen Fall zu rechnen. Wer sollte sich schon nach Dandridge Castle verirren? Inspektor Weaver versuchte, sein Feuerzeug zu entzünden, um wenigstens etwas zu sehen. Doch das Feuerzeug brannte nicht. Scheinbar war kein Gas mehr drin. Vielleicht geht ein Streichholz. Zu einem guten Feuerzeug gehört immer eine Schachtel Streichhölzer. Er kramte sie aus der Tasche, riß eins an. 91 �
Der Schwefelkopf ließ sich entzünden. Aber es brannte nur eine knappe Sekunde. Dann erlosch es wieder. Ebenfalls das nächste und das dritte. Es flammte jeweils nur kurz auf. Danach war wieder Dunkelheit um ihn. Ohnmächtige Wut überkam den Inspektor. Welche unheimlichen Kräfte steckten noch in diesem Mann? Zu was war dieses Monster noch alles fähig? Irgend jemand rempelte ihn an. Seine Hände fuhren nach vorn und hielten ihn fest. Es war eine Frau. Sie begann sofort wie wild zu kreischen, als sich seine Hände um ihre nackten Oberarme legten. Gordon Weaver ließ sie los. Er tastete sich weiter, ging vorwärts, wurde gerempelt und gestoßen und taumelte mehr, als er ging. Aber er wollte einfach etwas unternehmen. Egal was. Er mußte was tun. Und dann stieß er gegen irgend etwas. Weaver versuchte zu ertasten, was ihm den Weg versperrte. Doch er fühlte nichts. Weder unten noch oben. Und doch konnte er nicht mehr weiter. Die unsichtbare Mauer! Er fluchte laut. Noch immer war er nicht dahinter gekommen, wie dieses verdammte Ungeheuer das gemacht hatte. Weaver war auf dem Gebiet des Überirdischen kein Neuling mehr. Er wußte, daß es viele Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die ein normaler Mensch als völligen Unsinn abtun würde. Aber was hier geschah, schockierte ihn doch. Er stand vor einem Rätsel. Wie mochte sich dieser Sperrgürtel aufbauen? Ich muß durch, hämmerte es in seinem Hirn. Ich muß unbedingt durch, sonst werden wir alle abgeschlachtet wie eine Herde Vieh. Er versuchte sich zu konzentrieren. Aber bei dem wilden Geschrei der aufgepeitschten Masse war das fast nicht möglich. 92 �
Es lenkte ihn ab, er mußte immer wieder von neuem beginnen. Dann war er endlich soweit, daß er das Gezeter nicht mehr hörte. Er hatte ganz abgeschaltet. Unter diesen schwierigen Bedingungen richteten sich seine Gedanken ganz auf die unsichtbare Barriere. Er mobilisierte seine ganze Willenskraft, und durch seine Gehirnwindungen schlängelte sich nur ein einziger Gedanke: ich muß hier durch. Ich will durch. Es gibt für mich kein Hindernis. Mein Wille ist stärker als der dieses Monsters. Der Inspektor lehnte sich nach vorn, zog ein Bein nach. Es klappte. Der Widerstand ließ nach und wurde weich wie ein Gummiband. Doch er konnte noch immer nicht ungehindert weitergehen. Etwas lehnte sich noch gegen ihn. Er hatte das Gefühl, als säße er auf der gespannten Sehne eines Bogens. Doch die Sperre wurde immer nachgiebiger. Sein Gesicht war schon schweißüberströmt. Die Anspannung kostete ihn seine ganze Willenskraft. Die übermäßige Anstrengung zehrte an der Substanz seiner Nerven. Sein Körper begann zu zittern, als würde er sich gegen eine Tonnenlast stemmen. Aber Weaver ließ nicht nach. Er spürte, daß er es schaffen konnte. Er merkte, wie der Gürtel immer brüchiger wurde. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis er ihn völlig überwunden haben würde. Und genau in diesem Augenblick, als er glaubte, nun könnte ihm die Barriere nicht mehr standhalten, ging das Licht an. Gleißende Helligkeit überflutete ihn, drang in sein Nervensystem und ließ ihn für einen Augenblick unaufmerksam werden. Doch dieser Sekundenbruchteil genügte. Wie von einer Sehne schnellte Weaver in den Raum zurück, riß noch zwei Frauen mit, die in seiner Flugbahn standen, und fiel gut zehn Meter von der Wand entfernt hart auf den Boden. Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Hinterkopf, vor seinen 93 �
Augen tanzten funkelnde Sterne. Die beiden Frauen, die Weaver mitgerissen hatte, stürzten ebenfalls. Während Mrs. Finnley sich sofort erhob, blieb die wasserstoffblonde Sally Clark bewegungslos liegen. Sie war mit dem Hinterkopf auf den harten Parkettboden geschlagen und bewusstlos. Inspektor Weaver blieb einige Zeit wie benommen liegen. Dann setzte er sich langsam auf. In seinem Kopf rumorte und stach es, daß es kaum zu ertragen war. Er stützte den Kopf auf beide Hände, schüttelte ihn und sah sich dann um. Atemlos hatten die anderen Gäste das Schauspiel mit angesehen. Weaver war aus dem Nichts heraus fast zehn Meter weit geschleudert worden. Aus dem Nichts. Sie hatten in dieser schrecklichen Nacht zwar schon allerhand mitgemacht und gesehen, aber was sich da vor ihren Augen abgespielt hatte, ging über ihren Verstand. Das war einfach unfassbar. Dr. Crowley fing sich zuerst. Er eilte auf Inspektor Weaver zu und kniete sich neben ihm nieder. »Haben Sie sich sehr weh getan?« fragte er und sah ihn verwundert an. »Ja«, antwortete Weaver krächzend, »mein Schädel brummt, als hätte sich ein Bienenschwarm darin niedergelassen.« Er hob den Blick und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht. »Haben Sie etwas bei sich, Doktor, das die Schmerzen rasch verschwinden läßt? Ich muß es unbedingt noch einmal versuchen. Wenn dieses verdammte Licht nicht gewesen wäre, dann…« »Was dann?« unterbrach ihn der Arzt erregt. »Was haben Sie gemacht? Warum sind Sie wie von einem Katapult geschleudert durch den Raum geflogen? Aus eigener Kraft ist so was nicht möglich.« »Sie haben recht«, gab Weaver zu. »Aus eigener Kraft kann kein Mensch so weit springen. Ich wollte es auch gar nicht. 94 �
Irgendeine fremde, ungeheuerliche Gewalt hat mich durch die Luft geschleudert. Es war die Mauer, Doc! Die unsichtbare Mauer, die keiner von uns durchbrechen konnte. Ich hätte es fast geschafft. Fast wäre ich durchgewesen. Aber dann ging dieses verdammte Licht an.« Der Arzt half dem Inspektor auf die Beine. »Aber, wie haben Sie es fertig gebracht?« fragte er verwundert. »Wir alle haben es doch versucht. Doch keiner von uns kam auch nur einen Millimeter vorwärts.« »Sie sind Mediziner, Dr. Crowley«, erklärte Weaver. »Und als solcher werden Sie nicht glauben, was ich Ihnen erzählen müßte. Aber lassen wir es. Haben Sie nun ein Schmerzmittel, das schnell wirkt, oder nicht?« »Natürlich. Auf Partys habe ich immer meine Tasche dabei. Aber es wird ein wenig dauern, bis das Mittel wirkt.« »Wie lange?« »Vielleicht zehn Minuten.« »Okay, holen Sie mir die Tablette.« Dr. Crowley eilte davon. Inspektor Weaver beugte sich über Sally Clark, die noch immer bewusstlos am Boden lag. »Und bringen Sie Riechsalz mit!« rief er dem Arzt nach. Er war nicht sicher, ob der es noch gehört hatte. Aber es war auch egal, denn Sally kam im selben Augenblick wieder zu sich. Die Wasserstoffblonde stöhnte, sah verwirrt um sich und versuchte, sich aufzurichten. Weaver half ihr. Dabei gerieten seine Hände an die prallen Rundungen der Frau, trotz seines lädierten Zustandes kam sein Blut leicht in Wallung. Krampfhaft unterdrückte er jegliche Gefühle. »Tut mir leid, daß Sie meinetwegen so hart zu Boden fielen«, entschuldigte er sich. »Aber es war wirklich nicht meine Schuld.« 95 �
Sally Clark war immer noch ziemlich benommen und rieb sich den schmerzenden Kopf. »Schon gut, Mr. Weaver«, stöhnte sie, obwohl ihr Kopf noch nicht klar und ihr Erinnerungsvermögen recht lückenhaft war. Dr. Crowley kam mit den Tabletten. Er reichte eine dem Inspektor und eine Sally Clark. Und dann erinnerte sich Weaver an den furchtbaren Schrei, als das Licht ausgegangen war. Sein Körper straffte sich. Sein Blick streifte über die Partygäste. Er zählte sie. Vor allem die Männer. Es fehlte niemand. »Wer hat geschrien?« fragte er in die Stille. Alle sahen sich an. Niemand meldete sich. Anscheinend war es keiner, denn je der schüttelte den Kopf und sah sein Gegenüber fragend an. »Also niemand«, stellte Inspektor Weaver fest. Er bemerkte, wie einige um ihn herum bis unter die Haarwurzeln blaß wurden, und er ahnte, was sie dachten: dasselbe wie er. Achtzehn Menschen können sich nicht alle auf einmal eingebildet haben, einen Schrei gehört zu haben. Der Schrei war jedoch Wirklichkeit. Und was das bedeutete, wurde ihnen schlagartig bewußt, trieb ihnen einen kalten Schauer über den Rücken. Einer aber war unter den Partyteilnehmern, der sich nichts daraus machte. Aber wer? Bevor allerdings alle zu dieser Erkenntnis gelangten, sagte Weaver: »Ich werde jetzt nochmals einen Versuch starten, die Sperre zu bewältigen, um für uns alle den Weg nach draußen frei zu machen. Ich möchte Sie bitten, äußerste Ruhe zu bewahren, damit ich mich konzentrieren kann.« »Jetzt bin ich aber gespannt, wie Sie das anstellen wollen«, 96 �
sagte Crowley lächelnd. »Meiner Ansicht nach handelt es sich hier um ein magnetisches Spannungsfeld, das man nur beiseite räumen kann, wenn man die Quelle findet. Und die ist ganz bestimmt hier im Haus. Wir sollten unsere Zeit nicht mit dummem Zauber vergeuden, sondern anfangen zu suchen. Je früher wir sie finden, desto schneller…« »Sie irren sich«, gab Inspektor Weaver ernst zurück. »Ich dachte mir schon, daß Sie etwas Ähnliches vermuten. Aber mit logischem Denken kommen Sie hier nicht weiter. Hier sind übersinnliche Kräfte im Spiel.« »Sie sind ja verrückt«, erregte sich der Arzt. »So etwas können Sie Ihrer Großmutter erzählen, die glaubt vielleicht noch an solcherlei Spuk. Aber wer in unserer technisierten, modernen und aufgeschlossenen Welt nimmt das noch ernst. Zauberer gibt es nicht.« »Und wie«, konterte Weaver ruhig, »stellen Sie sich diese Barriere vor?« Er ließ sich gern auf diesen Disput mit dem Arzt ein, um die anderen auf andere Gedanken zu bringen. Es sollte die Gesellschaft ein wenig ablenken, damit sie nicht erneut in Panik geriet. Es genügte schon, daß er wußte, oder zumindest ahnte, was sich während der Dunkelheit abgespielt hatte. Und er glaubte auch zu ahnen, daß es dem Arzt um dasselbe Problem ging. »Ich gebe zu«, ließ sich Dr. Crowley zögernd vernehmen, »dieses technische Spielzeug ist mir noch unbekannt. Aber wer von uns kennt schon alle neuesten technischen Errungenschaften? Dies hier ist jedenfalls die raffinierteste, die ich je erlebt habe. Aber daß ich dabei an Spuk und Geister glaube, können Sie von mir nicht verlangen.« »Ich werde es Ihnen beweisen«, erwiderte Weaver. Langsam ging er auf die Außenmauer zu. Die Frauen und Männer hielten den Atem an. Sie starrten alle in die Richtung, in 97 �
die Weaver ging. Sie sahen keine unsichtbare Mauer, keinen Wall, von dem die beiden gesprochen hatten. Und doch wußten sie, daß Weavers Weg jeden Moment zu Ende sein mußte. Nur noch Sekunden, und er würde vor einer Wand stehen. Doch insgeheim hoffte jeder, daß es nicht so kommen mochte. Manche beteten, zitterten vor Erregung. Die gespannte Erwartung zerrte und riß an ihren Nerven. Und dann… Inspektor Weaver blieb plötzlich stehen. Er hob die flachen Hände und preßte sie gegen die unsichtbare Wand. Es sah aus, als würde er sich gegen irgend etwas stemmen, als würde er etwas abstützen. Ein furchtbares, deutlich sichtbares Zittern lief durch seinen Körper. Dann stand er ganz still. Seine Augen waren geschlossen, sein Antlitz war zur Decke gerichtet. Ich will es diesmal schaffen. Ich muß es schaffen! Vor mir ist nichts. Nur Leere, unendliche Leere. Ich hebe meinen Fuß und setze ihn vor den anderen. Es wird mir gelingen. Ich kann ganz normal weitergehen. Nichts kann mich zurückhalten. Nichts wird mich am Weitergehen hindern. Er hob den rechten Fuß. Aber er konnte ihn nicht nach vorn setzen. Ein schwacher Widerstand hielt ihn zurück. Weaver setzte seine ganze Muskelkraft ein und verstärkte seine Konzentration. Es ist nichts vor mir. Mein Bein ist nur schwer wie Blei. Aber es wird verschwinden. Es wird leichter. Die Müdigkeit wird vertrieben. Es ist nichts vor mir. Ich kann weitergehen. Ich will weitergehen! Sein Fuß schob sich langsam nach vorn. Der Schritt war nicht sehr groß. Aber es war ein Schritt. Ein kleiner Schritt in die Freiheit. 98 �
Weiter! Der nächste Fuß! Mein Wille ist stärker als der des Ungeheuers. Ich weiß es. Ich schaffe es. Meine Beine werden sich jetzt ganz von selbst heben und einen Schritt nach dem anderen tun. Sie werden dieses unheimliche Band zerreißen, als wäre es ein dünner Faden… Ich gehe weiter, immer weiter. Meine Beine sind jetzt so leicht wie eine Feder und haben doch die Kraft eines Bullen. Zwei Schritte hatte Inspektor Weaver schon geschafft. Dann verhärtete sich der Widerstand. Die Barriere wurde zu einem dicken, zähflüssigen Brei. Er vermochte kein Bein mehr zu heben. Schweißperlen traten auf seine Stirn, rannen in kleinen Bächen über sein Gesicht, das sich vor Anstrengung rötete. Weavers Körper begann zu zittern. Man sah deutlich, daß er gegen eine unheimliche, übernatürliche Kraft ankämpfte. Plötzlich spürte Weaver Stiche in seinem Rücken. Sie verstärkten sich immer mehr. Und dann waren sie überall. Und es brannte, daß er glaubte, ein Flammenmeer zöge über ihn und würde seine Haut verbrennen. Die Schmerzen wurden unerträglich und störten ihn in seiner Konzentration. Er vermochte es nicht mehr, seine ganze Willenskraft, sein ganzes Denken auf die unsichtbare Mauer zu lenken. Er spürte, wie er nach und nach zurückgeschoben wurde. Und dann stand er wieder da, wo er angefangen hatte. Und das Brennen in seinem Rücken, die furchtbaren Schmerzen verschwanden, wie sie gekommen waren. Mit einem Ruck drehte sich Inspektor Weaver um und starrte in die angespannten Gesichter der Partygäste. Die Anspannung machte einer maßlosen Enttäuschung Platz. Er ist hier unter uns, schoß es Weaver gehetzt durch den Kopf. Sein Atem ging knapp und stoßweise. Schweiß lief in seine geöffneten Augen. Einer dieser Männer ist es. 99 �
Und das bedeutet, daß wieder einer daran glauben mußte und unter sein grausames Messer geraten war. Aber wer war es? In wessen Körper steht er nun hier vor mir? * Irgendwo im Weinkeller krachte es. Holz splitterte. Joe Fadden hörte, wie Smoky ein vergnügtes Quieken ausstieß. Für ihn war diese Art des Tötens neu und recht seltsam, und er mußte darüber kichern. Dann erschien er wieder, in der Hand die abgebrochene spitze Latte. Er kicherte immer noch, und sein blutverschmiertes Gesicht sah dabei nicht schöner aus, als das dieser blutgierigen Bestie. Im Gegenteil. Es war noch schlimmer. Joe konnte einfach nicht mehr hinsehen. Fadden bemühte sich wieder um Phillis Benton. Auf ihren Lippen stand ein starres, abwesendes Lächeln. Ihr Blick war auf einen imaginären Punkt des gegenüberliegenden Regals gerichtet, und ihre Augen hatten einen seltsamen Glanz. »Kommen Sie wieder zu sich, Miß!« sprach Joe eindringlich auf sie ein. »Die Bestien sind weg. Niemand wird Ihnen mehr etwas tun. Hören Sie?« Aber die Vollbusige hörte ihn kaum. Joe schlug ihr die flache Hand ins Gesicht. Es klatschte laut, ihre Wange rötete sich sofort. Doch sie schien den Schlag nicht gespürt zu haben. Ihr Lächeln war wie festgefroren. Sie hob lediglich den Kopf und sah ihn mit ihren glänzenden, vom Wahn gezeichneten Augen an. Smoky, der gerade die spitze Latte auf der Brust des Vampirs angesetzt hatte, hielt inne. »Warum schlägst du sie?« fragte er. »Sie ist doch so schön, Joe. Nicht wahr, sie ist sehr schön. Und ich ich möchte sie…« 100 �
»Hör auf, Smoky!« sagte Joe streng. »Du siehst doch, daß sie eine Lady ist. Mit einer Lady geht man nicht so um wie – wie mit den Frauen von den Slums.« »Aber du hast sie doch auch geschlagen«, verteidigte sich Smoky schwach. »Wenn sie eine Lady ist…« »Halt den Mund, Smoky!« fuhr ihn Joe Fadden an. »Das verstehst du nicht. Ich mußte sie schlagen, weil…« Er brach ab und fuhr mit der Hand durch die Luft. Es wäre sinnlos, Smoky das zu erklären, denn er würde es ja doch nicht begreifen. Statt dessen sagte er: »Mach jetzt, was ich dir befohlen habe!« Der Muskelberg wandte sich langsam dem Ungeheuer zu, das immer noch bewusstlos am Boden lag. Die schöne Frau ließ ihm jedoch keine Ruhe. Noch einmal sah er zurück. Als er Joes bösen Blick sah, drehte er sich um und zuckte mit den Schultern. Das Monster begann sich zu bewegen. Er schlug die Augen auf und sah den Pfahl in Smokys Hand. Erschrocken zuckte er zusammen. Seine Augen weiteten sich. Ein hektisches, grausiges Röcheln und Fauchen drang über seine blassen, schmalen Lippen. Die Bestie versuchte aufzuspringen. Doch Smoky war schneller. Mit einem häßlichen Grinsen auf dem Gesicht trat er mit einem seiner riesigen Füße auf den Bauch des Ungeheuers und preßte ihn somit auf den Boden. Dann setzte er die Latte an. Der Vampir begann zu brüllen, schlug wie wild um sich. Seine knochigen Hände griffen nach dem Pfahl. Er wollte ihn von seiner Brust herunterreißen. Aber er konnte die spitze Latte keinen Millimeter bewegen. Gegen Smokys unheimliche Kräfte konnte er nichts ausrichten. Wie eine Schlange wand sich das Monster unter dem Muskelprotz. Aber es half ihm nichts. Er konnte nicht verhindern, daß sich die gesplitterte Holzspitze langsam in seine Brust bohrte. Es 101 �
bedurfte von Smoky keines Schlages auf das Ende der Latte. Nur mit der Kraft seines Armes drückte er den Pfahl immer tiefer in den Körper. Ein tierischer, markerschütternder Schrei drang aus dem Maul des Vampirs. Dort, wo sich die Holzspitze in das Herz bohrte, spritzte Blut heraus. Der Schrei erstarb. Ein kurzes Röcheln, ein Zucken des Körpers, dann trat Stille ein. Smoky ließ die Latte stecken und nahm seinen Fuß von dem toten Ungeheuer. Er betrachtete sein Werk einen Augenblick und wollte sich wieder Joe zuwenden, als er den Zerfall sah. Ungläubig öffnete sich sein Mund. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. So was hatte er noch nie gesehen. Und Joe hatte ihm auch noch nie gesagt, daß es so etwas gibt. Er wich ein Stück zurück. »Joe!« schrie er. »Joe, sieh mal! Was ist das? Er schrumpft ha… Das ist – das ist ja…« »Komm, Smoky«, sagte Joe leise und packte ihn am Arm. »Lass uns gehen. Wir müssen weiter.« Er kannte das schon. Und er war nicht daran interessiert, diesem schrecklichen Schauspiel noch einmal beizuwohnen. Er faßte die Frau um die Hüften und zog sie an dem zerfallenden Ungeheuer vorbei. Und dann sah Phillis die am Boden liegende Bestie, sah, wie das Fleisch schrumpfte und von den Knochen abfiel, fing gellend an zu schreien. »Ihr habt ihn getötet! Ihr habt meinen Freund getötet! Ich hasse euch. Es sind meine Freunde. Sie sind alle meine Freunde. Ihr habt sie umgebracht!« Sie schlug wie wild auf Joe ein, kratzte und biss und trat mit den Füßen nach ihm. Einerseits wollte Joe ihr nicht wehtun. Andererseits war er 102 �
furchtbar wütend auf sie. Die Kratzwunden auf seinem Gesicht, seinem Hals und den Armen brannten wie Feuer. Er versuchte sie zu umfassen und sie festzuhalten. Doch es gelang ihm nicht. Phillis Benton entwickelte unheimliche Kräfte und schlug wie eine Berserkerin um sich. Joe blieb nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen. Er setzte ihr die flache Hand ins Gesicht. Blut lief aus ihrer Nase und aus dem Mund. Aber sie schien die Schläge überhaupt nicht zu spüren und benahm sich weiterhin wie eine Rasende. Ihr Kleid ging nun vollends in Fetzen, rutschte ganz herunter. Joe Fadden konnte sie einfach nicht bändigen. »Nun hilf mir doch, Smoky«, bat er verzweifelt. Er wollte nicht zu grob werden. Sie konnte ja nichts dafür. Sie war wahnsinnig geworden und hielt nun diese verfluchten Bestien für ihre Freunde. Arme Frau. Smoky verstand die Aufforderung wieder einmal falsch. Er hob die Faust und donnerte sie auf den Kopf. Ihr irres Geschrei riß schlagartig ab. Sie sackte mit einem Wimmern zu Boden. * Er befand sich in einer furchtbaren Situation. Einer von den vor ihm stehenden Menschen mußte das grausame Phantom sein. Er wußte es genau und war sich seiner Sache wirklich sicher. Das Feuer in seinem Rücken, das ihn in seiner Konzentration gestört hatte, war von ihm gekommen. Es waren seine Blicke, die sich wie Dolche in seinen Rücken gebohrt hatten und so dieses entsetzliche Brennen verursachten. Aber wer war es? Inspektor Gordon Weaver ließ seine Blicke über die Anwesenden schweifen. Er sah jedem einzelnen in die Augen. Bei Mr. 103 �
Winwood glaubte er ein Aufblitzen zu sehen. Sein prüfender Blick blieb etwas länger an ihm haften. Aber er sah kein Blitzen mehr und auch sonst nichts Verdächtiges. Seine Blicke wanderten weiter. Nichts. Alle benahmen sich so, wie man sich verschreckte und verstörte Menschen vorstellt. Blaß, mit weit aufgerissenen Augen, in denen deutlich die Angst zu erkennen war. Ihre Münder waren leicht geöffnet, die Hände strichen unruhig und nervös über ihre Körper. »Was ist, Inspektor?« fragte Dr. Crowley in die Stille. »Warum geben Sie auf?« »Er ist unter uns«, keuchte Weaver. »Ich spüre es. Einer von uns Männern muß es sein. Im Körper eines dieser Männer steckt dieser Teufel.« »Sie sind ja verrückt!« stieß Crane hervor. »Wie sollte er in einen… Niemand von uns hat den Raum verlassen. Es ist also völliger Unsinn, was Sie da reden. Es ist einfach unmöglich.« »Doch«, erwiderte Weaver hart. »Es ist möglich. Denken Sie an den Schrei, nachdem das Licht ausgegangen war. Jeder von uns hat ihn gehört, aber keiner will es gewesen sein. Und es fehlt auch keiner. Was also ist passiert? Wie sollte man das anders erklären, als…« »Ich bin der gleichen Meinung wie Sie«, unterbrach ihn Dr. Crowley. »Es war mir sofort klar, als ich alle Männer vollzählig versammelt sah, nachdem das Licht angegangen war. Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Inspektor Weaver. Warum haben Sie aufgegeben? Wir haben doch alle gesehen, daß Sie schon zwei Schritte über die Linie hinaus waren. Und plötzlich gingen Sie zurück. Warum?« »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll«, begann der Yard104 �
Mann stockend. »Irgend etwas stach in meinen Rücken. Es brannte wie Feuer und störte mich bei meiner Konzentration. Diese Störung bewirkte, daß ich von dieser unsichtbaren Mauer, die fast wie ein Gummiband wirkte, einfach zurückgeschoben wurde.« Eine Frau schrie leise auf und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Inspektor Weaver sah wieder von einem zum anderen. Mein Gott, es muß doch einen Weg geben, herauszubringen, in welchen Körper er gekrochen ist. Ich kann nicht zusehen, wie er einen nach dem anderen von uns abschlachtet. Ich muß eine Möglichkeit finden. Und dann fiel ihm etwas ein. Wie ein Blitz schoß dieser Gedanke durch sein Hirn. »Ich möchte jetzt, daß sich alle Männer hier vor mir versammeln.« Weaver hob die Stimme etwas an. »Bitte, meine Herren, stellen Sie sich alle in einer Reihe hier auf! Die Frauen bilden einen Ring um die Männer.« »Was soll das?« fragte Stevens. »Was haben Sie mit uns vor? Sollen wir vielleicht einen Tanz aufführen? Ich glaube, für solche Kindereien sind wir doch schon zu alt.« Er warf Weaver einen spöttischen Blick zu. »Stevens hat recht«, schloß sich Sir Howard, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, an. »Was Sie hier von uns verlangen, hat Ähnlichkeit mit einem Reigen-Spiel, das Kinder im Schulhof spielen.« »Was ich vorhabe«, versetzte Weaver ernst, »ist alles andere als ein lustiges Kinderspiel. Ich beabsichtige, den Mörder zu entlarven. In einem von Ihnen steckt der Mörder. Er hat während der Dunkelheit einen von Ihnen umgebracht und steht nun in seinem Körper unter uns.« »Und wer sagt uns, daß es nicht Sie sind?« warf Dr. Crowley 105 �
ein. »Würde ich mir dann die Mühe machen, das Phantom zu finden?« gab Weaver die Frage zurück. Das leuchtete selbst Dr. Crowley ein. Er schwieg und stellte sich als erster vor dem Inspektor auf. Zögernd folgte Mr. Winwood. Mr. Benton und Mr. Crane waren die nächsten, die sich in die Reihe stellten. Dann trat für einige Zeit Stille ein. Vier Männer standen noch unter den Frauen. Sie zögerten, sahen sich an, und Charles Reed machte widerwillig einen Schritt nach vorn. Er blieb stehen, drehte sich zur Seite und blickte in das Gesicht von Sir Arthur Howard. »Ich finde das ganze Spiel einfach lächerlich.« Howard stampfte mit dem Fuß auf. »Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie Sie den das… Ich meine, den Verrückten unter uns finden wollen.« »Jeder von uns wird gegen die unsichtbare Barriere laufen«, erwiderte der Inspektor hart. Sein stechender Blick schien Sir Howard regelrecht zu durchdringen. Gerade von ihm hatte er einen solchen Widerstand nicht erwartet, da er sich bisher immer ruhig verhalten und sich keiner Verordnung widersetzt hatte. Doch nun auf einmal… Ob er es ist? Ob er in Wirklichkeit tot ist und in seinem Körper dieser verfluchte Dämon steckte? Es wird sich herausstellen, und wenn ich ihn mit Gewalt gegen die Mauer drücken muß. Er wird es tun, wie jeder andere auch. Charles Reed gab sich einen Ruck und stellte sich zu den anderen. Übrig blieben noch drei: Sir Arthur Howard, Ernie Stevens und Gart Turner. »Wenn Sie meinen, daß Sie damit Erfolg haben«, lenkte Sir Howard ein, »dann will ich dem nicht im Wege stehen. Aber ich zweifle daran, daß Sie es so herausbringen werden.« 106 �
»Ich werde es«, versicherte Weaver. Sir Howard trat nun ebenfalls nach vorn und stellte sich neben Dr. Crowley. »Und was ist mit Ihnen?« forderte der Inspektor die beiden übrig gebliebenen auf. »Wollen Sie nicht nach vorn treten?« »Ich hatte nie die Absicht, an Ihrem Spiel nicht teilzunehmen«, erklärte Ernie Stevens. »Ich bin ebenfalls dabei«, meldete sich nun auch Gart Turner und trat nach vorn. Wie eine Gruppe Soldaten bei der Formalausbildung standen die acht Männer in einer Linie. Vor ihnen Inspektor Gordon Weaver, der wie der Gruppenführer wirkte. »Darf ich Sie nun bitten, meine Damen!« Weaver hob die Arme und machte eine umfassende Bewegung. »Bilden Sie bitte einen Halbkreis hinter den Männern! Nein, etwas größer. Ich möchte verhindern, daß sich unser Phantom so schnell davonschleichen kann. Lassen Sie keinen durch, ja?« Die Frauen zitterten. Aber sie stellten sich folgsam so hin, wie Gordon Weaver es ihnen befohlen hatte. Der Halbkreis war gebildet. Der Inspektor wandte sich wieder an die Männer. »Fangen Sie an, Dr. Crowley«, sagte er heiser. Er war etwas erregt. Seine hochsitzenden Backenknochen traten leicht hervor, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Crowley trat langsam und zögernd auf die Außenmauer zu. Knapp zwei Meter davor blieb er stehen. Er hatte die unsichtbare Barriere erreicht. »Legen Sie die Hände an und treten Sie mit den Füßen zurück! Lehnen Sie sich richtig an!« Die Menschen hielten den Atem an. Die Spannung steigerte sich ins Unerträgliche. Was wird passieren? 107 �
Crowley folgte der Aufforderung. Seine Hände lagen flach in der Luft. Jedenfalls sah es so aus. Doch als er langsam nach hinten trat, konnte jeder an seinem gestreckten Körper sehen, daß seine Hände irgendwo anlagen. Man sah nicht, wo er sich anlehnte. Aber es mußte so sein, denn sonst hätte Dr. Crowley fallen müssen. »Okay, Doc«, klang Weavers heisere Stimme durch die Stille. Der Arzt hatte den Test bestanden. Der nächste. Wer ist der nächste? Sir Howard. Er hatte sich vorher gesträubt. Und er zögerte auch jetzt wieder. Die Spannung im Saal war kaum noch zu überbieten. Weaver sagte: »Sie sind dran, Sir.« Auf Sir Howards Stirn standen kleine Schweißperlen. Warum schwitzt er? Ist er es wirklich? Er trat nach vorn. An derselben Stelle, an der auch der Doc nicht mehr weiterkam, blieb Howard stehen. Seine Hände zitterten. Er hob sie an. »Hallo! Hallo, ist hier niemand?« Die Stimme kam von drüben. Irgendwo in der Gegend des Morgenzimmers. Die Anwesenden fuhren entsetzt herum. Sally Clark schrie leise auf. Aber sie sahen niemanden. Die Halle war leer. Howards Hände fielen nach unten. Er drehte sich um. Ein erlösender Seufzer drang über seine Lippen. Doch das merkte niemand. Alles starrte hinüber in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Hallo!« Da war sie wieder. Sie klang aufgeregt und keuchend. »Hierher!« rief Weaver. »Kommen Sie hierher!« Der Mann, dem die Stimme gehörte, schien ihn gehört zu haben. Schwere, tapsende Schritte klangen auf. Sie kamen näher. Als erster tauchte Smoky auf. Er hatte eine nackte Frau auf dem Arm. Benton schrie entsetzt, als er in der Nackten seine 108 �
Frau erkannte. Hinter Smoky kam Joe Fadden. Und er stellte sich sofort vor Smoky, als Benton, rasend vor Wut, auf sie zugestürmt kam. »Was habt ihr mit meiner Frau gemacht?« schrie er außer sich. »Ihr verdammten Schweine, was habt ihr mit ihr gemacht? Ihr Mörder! Ihr…« »Jetzt ist Schluß«, versetzte Joe hart. Er packte Benton an den Armen und hielt ihn fest. »Hören Sie mir erst mal zu, bevor Sie uns weiter beschimpfen!« Inspektor Weaver war ebenfalls heran. »Hallo, Fadden, was machst du denn hier?« fragte er völlig überrascht. »Dich hätte ich hier wirklich nicht vermutet.« Da erst erkannte Fadden, wer vor ihm stand. Er wurde blaß. Inspektor Weaver, schoß es ihm durch den Kopf. Dieser verdammte Weaver. Wo, zum Teufel, taucht dieser Kerl eigentlich nicht auf. Jetzt ist alles aus. Der weiß doch, daß ich… »Meine Frau!« brüllte Benton hysterisch. »Meine Frau! Sehen Sie doch! Sie ist tot! Die haben meine Frau umgebracht. Sie sie… Ich bringe euch beide um! Ihr Schweine! Ihr Mörder!« Er warf sich schluchzend über seine Frau, die Smoky in einen Sessel gesetzt hatte. Die Biss-Stelle an ihrem Hals war fast nicht mehr zu sehen. Es waren nur noch zwei dunkelrote Punkte. Aber sie war nicht tot, wie ihr Mann annahm, obwohl sie wie der Tod aussah. Sie war nur bewusstlos von dem Schlag, den ihr Smoky verabreicht hatte. Keinen hielt es jetzt mehr dort, wo der Inspektor sein Experiment durchführen wollte. Alle standen um die beiden Neu angekommenen herum. Frauen schrien erregt durcheinander und verzogen vor Grausen und Ekel das Antlitz, als sie in Smokys blutverschmiertes Gesicht sahen. In diesem Augenblick achtete niemand auf den Mann, der sich mit einem diabolischen Lächeln langsam absetzte. 109 �
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Ernie Stevens! Mabel Stevens war in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen. Sie hatte die ganze Zeit über auf Ben gewartet. Aber Ben Porter war nicht gekommen. Sie nahm an, daß Ben Angst hatte, sich bei ihr sehen zu lassen. Angst vor ihrem Mann. Dabei muß er doch gesehen haben, daß ihr Mann draußen war. Er hätte wenigstens für ein paar Minuten hereinschauen können. Daß Ben tot. war, wußte sie nicht. Sie war seit dem Vorfall nicht mehr bei den anderen gewesen. Sie wollte niemanden sehen. Am allerwenigsten ihren Mann. Wählend sie in Lord Dandridges Büro lag, hatte sie über alles nachgedacht. Sie war zu dem Entschluß gekommen, ihren Mann zu verlassen. Mabel hatte einfach genug vom Versteckenspielen. Sie würde ihren Mann verlassen, die Scheidung einreichen und Ben heiraten. Über diesen Gedanken war sie eingenickt. Sie erwachte, als sich eine Hand auf ihre Brust legte und an ihrem Kleid zerrte. Es ratschte laut. Das Kleid ging in Fetzen. Eiskalte Hände legten sich auf ihre Oberarme. »Ben, bist du es?« Sie schlug die Augen auf und zuckte zusammen. Mabel sah genau in das Gesicht eines Vampirs. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Aber der Schreck lähmte ihre Stimmbänder. Kein Ton kam über ihre Lippen. Mabel Stevens glaubte sich in einem schrecklichen Alptraum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen müßte. Doch schon im nächsten Moment wurde ihr klar, daß es kein Traum war. Es war entsetzliche Wirklichkeit. Das hässliche Gesicht mit den beiden spitzen, langen Zähnen näherte sich ihr. Heißer, ekelerregender Atem schlug ihr entge110 �
gen. Speichel tropfte auf ihre nackte Brust, und sie hörte das gierige Röcheln, das aus dem Maul der Bestie drang. Sie wollte schreien, wollte ihre Fäuste heben und sie dem Ungeheuer in die Fratze schlagen, und sie wollte wegrennen. Aber nichts von all dem tat sie. Sie lag wie erstarrt auf der Couch und wartete mit weit aufgerissenen Augen wie ein Lamm darauf, daß es geschlachtet wurde. Dann war die Bestie über ihr und schlug seine Zähne in ihren Hals. Mabel verlor das Bewußtsein. Eine Minute später ließ die Bestie von Mabel Stevens ab. Blut lief über seine Mundwinkel. Schmatzende Geräusche erfüllten den Raum. Ein lautes Röhren folgte. Die Augen des Monsters begannen zu glühen. Blut! Es hatte jetzt erst richtig Blut gerochen und verlangte nach mehr. Neues Blut, von einem anderen Menschen. Das Ungeheuer tappte zur Tür und riß sie auf. Es hörte das panische, angstvolle Geschrei von Frauen. Ein hässliches Grinsen zog über das runzlige Gesicht, das überhaupt nichts Menschliches an sich hatte. Es war die Fratze eines hungrigen, blutgierigen Dämons. Mit schweren, eckigen Schritten ging das Monster in die Richtung, aus der es die Stimmen vernommen hatte. * »Du wirst mir jetzt ganz schnell erzählen, wie du hier hereingekommen bist und was du hier suchst.« Weaver warf einen kurzen Blick auf Phillis Benton. »Und was du mit dieser Frau zu schaffen hattest, wirst du mir auch erklären.« »Sicher, Inspektor«, begann Joe Fadden. »Ich will es Ihnen ja erzählen.« Er senkte den Blick. »Aber ich fürchte«, fuhr er fort, 111 �
»was ich Ihnen zu berichten habe, wird so fantastisch klingen, daß Sie mir nicht glauben werden.« »Ich werde dir glauben«, versicherte Weaver. Er dachte an die eigenen Erlebnisse und ahnte, daß es Fadden und seinem Begleiter nicht anders ergangen war. Stockend begann Joe mit seiner Schilderung. Fast alle hörten zu. Nur Beton und Miß Tilling bemühten sich um Phillis. Was die anderen von Joe Fadden jedoch zu hören bekamen, trieb ihnen einen eisigen Schauer über den Rücken und ließ sie fast in Panik ausbrechen. Als Fadden geendet hatte, lag für einen Augenblick lähmende Stille über den Menschen. Das ekelhafte Rülpsen klang wie ein Schuß durch die große Halle. Die Augen der Menschen gingen in die Richtung, aus der das laute Aufstoßen gekommen war. Und ein infernalischer Schrei, von fast zwanzig Menschen gleichzeitig ausgestoßen, erfüllte den Saal. Unter der Tür, die zum Büro führte, stand mit rotglühenden Augen und feinen Blutfäden, die aus seinen Mundwinkeln kamen, ein Vampir. Und es kam noch schlimmer. Wie verabredet stand unter einer anderen Tür ein weiterer Vampir. Ein dritter machte durch sein gieriges Geschrei von hinten auf sich aufmerksam. Und im selben Moment tauchte auch noch ein vierter Vampir auf. Weaver hatte die Situation sofort erfasst. Solche Monster waren ihm zwar neu, aber er wußte, wie man sie zu bekämpfen hatte. »Ruhig bleiben!« ermahnte er die Partygäste. »Ganz ruhig bleiben! Laßt sie erst herankommen. Dann spritzen wir alle auseinander. Wir müssen sie in unsere Mitte bekommen. Wir müssen sie zusammentreiben.« Doch die Frauen waren viel zu verängstigt, um seinen Worten 112 �
Folge zu leisten. Sie rannten wild durcheinander und merkten zu spät, daß sie von den Ungeheuern fast eingekreist waren. Nur eine Seite war noch frei: der Weg zum Hauptportal. Doch dort war der unsichtbare Ring. Die grauenerregenden Bestien rückten immer näher. Patricia Tilling, das Fotomodell mit der Traumfigur, geriet in ihrer Panik zu nahe an eines der Monster heran. Sie war vor einem anderen davongelaufen und lief diesem nun direkt in die Arme. Der Vampir packte sofort zu. »Smoky!« schrie Fadden, außer sich vor Angst um das schöne Mädchen. »Mach ihn fertig, Smoky! Hörst du? Mach ihn fertig!« Doch Smoky war schon unterwegs. Die Bestie, die sich gerade daran machte, Miß Tilling das Kleid herunterzureißen, hatte ihm den Rücken zugekehrt und konnte ihn nicht sehen. Aber als Smoky dicht neben ihm stand, ließ er plötzlich von dem Mädchen ab und wollte davonrennen. Zu spät. Smokys riesige Pranken hatten zugepackt. Er hob das Monster in die Luft und warf es dann wuchtig auf den Boden. Seine Stiefelspitzen trafen den Kopf des Vampirs, bis dieser sich nicht mehr rührte. Weaver, der einsah, daß er seine Methode mit den verschreckten Menschen nicht anwenden konnte, rannte auf den ihm am nächsten stehenden Vampir zu und jagte seine Fäuste in den Körper des Ungeheuers. Mit wenigen gezielten Schlägen legte er die Bestie lahm. Unter seinen Fäusten, die wie Dampfhämmer wirkten, brach sie zusammen. Während Smoky dem nächsten Monster nachjagte, sah sich Weaver nach dem vierten um. Er entdeckte es hinter einem Sessel. Die Bestie war dabei, sich von rückwärts auf eine der Frauen zu stürzen. Der Inspektor sah nicht, um welche Frau es sich handelte. Er sah nur das schreckliche Ungeheuer. 113 �
Mit wenigen Sätzen war er bei ihm und machte kurzen Prozess. Drei Karate-Schläge, und der Vampir lag bewegungslos zu seinen Füßen. Smoky schleppte grinsend den anderen Vampir an. Weaver atmete schwer. »Wir müssen sie töten. Vampire sind keine Menschen. Sie sind blutsaugende Bestien, eine Geißel der Menschheit. Man muß sie töten.« In der Halle war es wieder totenstill. Einige Frauen waren zu Boden gesunken und schluchzten. Zuviel Schreckliches war in den letzten Stunden auf sie eingedrungen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. »Smoky wird das übernehmen.« Fadden trat dicht an den Inspektor heran. »Er wird sie mit hinausnehmen und töten. Er weiß, wie man das macht. Unten im Keller liegen schon zwei. Zumindest das, was von ihnen übrig blieb.« »Er wird nicht hinauskommen«, warf Weaver ein. »Um die Außenmauer zieht sich ein unsichtbarer Sperrgürtel. Keiner von uns kann das Haus verlassen.« »Smoky kann es«, stieß Fadden hastig hervor. »Das ist doch nicht möglich«, entfuhr es Weaver. »Doch! Es ist möglich. Für ihn gibt es diese unsichtbare Mauer nicht. Er kann durchgehen, als wäre dort überhaupt kein Hindernis. Und noch mehr Seltsames ist mir aufgefallen. Die Vampire hatten Angst vor ihm. Mich griffen sie an, sie verfolgten mich und brachten mich fast an den Rand des Wahnsinns, wie sie.« Er deutete auf Phillis. Staunend und ungläubig hatten ihm die Menschen zugehört. Was Fadden da von sich gab, wollte nicht in ihre Köpfe. Besonders das mit der unheimlichen Mauer. Es war ihnen unverständlich, weshalb dieser Riese von einem Mann die Sperre durchqueren konnte und sie selbst nicht. Schließlich hatten sie es doch alle 114 �
versucht. Aber keinem war es gelungen. Sie glaubten die Story von Joe nicht. Doch dann schlug sich Weaver die Hand vor die Stirn. »Natürlich!« rief er aus. »Vor ihm müssen die Biester ja zurückweichen.« Ein befreites Lächeln zog über sein Gesicht. »Und warum ist das so?« wollte Joe wissen. »Smoky ist geistesgestört. Er ist ein Irrer. Vor solchen Menschen haben die Bestien Angst. Sie können sich in ihrer Nähe nicht aufhalten, sonst würden sie zugrunde gehen. Es ist etwa so, als hielte man ihnen ein Kreuz vor das Gesicht. Dieses Symbol des katholischen Glaubens ertragen sie nicht, weil sie Geschöpfe des Satans sind.« Seine Augen leuchteten auf. »Und das Phantom müßte vor ihm ebenfalls zurückschrecken.« Er sah sich um, zählte die Männer. Ohne Fadden und Smoky waren sie neun gewesen. Aber er kam nur auf acht. Einer fehlte. Wer? Dr. Crowley merkte sofort, was der Inspektor wollte. Er sah sich ebenfalls um. »Ernie Stevens fehlt«, stellte er leise fest. Erschrocken sahen sie sich an. Jeder dachte dasselbe. Ernie Stevens war es also, der tot war. »Da da ist noch was, das ich Ihnen erzählen sollte«, hob Fadden zögernd an. »Ja?« Weaver war ganz Ohr. Erst stockend, dann immer flüssiger erzählte Joe von seinem Auftraggeber. Als der Name Baron Ballyntine fiel, horchten alle auf. »Also doch«, konstatierte Weaver. »Ist er es also doch. Ich ahnte es, konnte es aber nicht mit Bestimmtheit sagen.« »Aber das kann doch nicht wahr sein!« fuhr Dr. Crowley erregt dazwischen. »Der Baron ist einer der nettesten Menschen, die ich 115 �
je kennen gelernt habe.« »Das dachte ich auch, als er mit Lord Dandridge sprach«, erwiderte Joe. »Aber ich habe ihn anders kennen gelernt. Und ich habe sein wahres Gesicht gesehen. Es ist die Fratze eines Dämons. Seine Augen leuchteten im Dunkeln wie hellrotes, phosphorozierendes Blut. Aber nur, wenn er verärgert ist.« »Und ich habe mit ihm Bridge gespielt«, stöhnte Dr. Crowley auf. »Ich habe mit einem Ungeheuer Bridge gespielt und habe es nicht einmal bemerkt.« »Beruhigen Sie sich, Doc«, tröstete ihn der Inspektor. »Wir haben uns alle von ihm hinters Licht führen lassen.« Er wandte sich an den Muskelprotz. »Pack die vier Bestien zusammen und trage sie hinaus, Smoky! Du mußt sie töten! Joe sagt, du wüsstest, wie man das macht. Und dann gehst du hinaus auf die Straße und hältst irgendein Auto an. Der Fahrer soll so schnell wie möglich die Polizei benachrichtigen.« Smoky sah unschlüssig zu Joe. Er hatte nicht begriffen, was der Inspektor von ihm wollte. Weaver wollte es wiederholen, da unterbrach ihn Joe. »Lassen Sie nur, Inspektor. Auch wenn er begreift, was Sie ihm sagen, wird er es nicht tun. Er befolgt nur meine Anweisungen.« Joe sprach langsam und deutlich, und über Smokys blutverschmiertes Gesicht flog ein Grinsen. »Okay, Joe.« »Hast du auch alles verstanden, Smoky?« »Klar, Joe.« Smoky packte zwei Bestien und schleppte sie zum Hauptportal. Dort, wo die Gäste den unheimlichen Ring wußten, mußte der Mann gegen die unsichtbare Wand prallen. Aber Smoky marschierte durch, als gäbe es sie nicht. Mancher von den Anwesenden fragte sich, wer nun eigentlich schwachsinnig ist. Smoky oder sie selbst?
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*
Sie befanden sich in einem schwach erleuchteten Raum. Es war eine Rumpelkammer. Alte Möbel, ausgediente, zerschlissene Sessel und alte, verstaubte Bilder standen und lehnten herum. Dichte Spinnennetze zogen sich von einer Ecke zur anderen und gaben dem Geschehen den entsprechenden Rahmen. Die beiden Männer glichen sich wie ein Ei dem anderen. Eines jedoch unterschied sie: der eine war tot, der andere lebte noch. Zweimal Ernie Stevens. Doch der richtige Stevens war schon seit einer Stunde tot. Der Falsche saß vor der Leiche seines Ebenbildes und legte die Hände auf das wächserne Gesicht des Getöteten. Er schloß die Augen, rückte noch ein Stück näher und blieb dann ganz still sitzen. Man konnte deutlich sehen, wie er sich auf etwas konzentrierte. Schweißperlen traten auf seine Stirn, vergrößerten sich und rannen dann in kleinen Bächen über seine Wangen. Plötzlich veränderten sich seine Gesichtszüge. Die Nase wurde größer, aus der runden Kopfform wurde eine ovale. Die Augenbrauen und Haare wuchsen nach. Auch der Körper veränderte sich. Der Bauch verschwand, sein Oberkörper schoß in die Höhe, seine Beine verlängerten sich. Und dann saß da plötzlich ein anderer Mann. Baron Ballyntine! Apathisch sackte er in sich zusammen. Dieser Abend war sehr anstrengend gewesen. Ich hätte nie gedacht, daß diese Verwandlungen mich so viel Substanz kosten, dachte er seufzend. Immer noch hielt er die Augen geschlossen. Mehr als zwei Verwandlungen darf ich mir heute nicht mehr erlauben, sonst bekommt mich dieser verfluchte Inspektor doch noch zu fassen. Ich habe ihn unterschätzt. 117 �
Er ist intelligenter und gerissener, als ich dachte. Er hat meinen Absperriegel, den ich mir aufgebaut habe, durchschaut. Fast hätte er es geschafft, ihn zu überwinden. Ich werde mich mehr vor ihm in acht nehmen müssen. Wenn dieser Fadden nicht aufgetaucht wäre… Aber dann schüttelte er mit einem dämonenhaften Grinsen den Kopf. Mich fasst er nicht. Da hilft ihm seine ganze Schlauheit nichts. Aber wieso lebt dieser Fadden noch? Er müßte doch eigentlich tot sein. Und dieser Wahnsinnige ebenfalls. Und dann wurde ihm mit einemmal klar, daß sich hier ein Fehler in seinen Plan eingeschlichen hatte. Wenn Fadden lebte, dann wußten jetzt alle, wie er in Wirklichkeit aussah. Und vor allem dieser Inspektor wußte es. Es war ihm auch klar, daß nur Weaver ihm gefährlich werden konnte. Doch dann schüttelte ihn ein hässliches Lachen. Niemand kann mir gefährlich werden, dachte er überheblich. Ich habe ihnen heute meine Macht demonstriert, daß ihnen Hören und Sehen vergangen ist, und einige dieser prominenten Fatzken schmoren jetzt in der Hölle. Lord Satan wird seine wahre Freude an ihnen haben. Ganz England wird morgen aufhorchen und bald auch die ganze Welt. Ich werde sie das Fürchten lehren. Sie werden zittern vor mir. Und eines Tages beherrsche ich die ganze Welt. Mit meiner Macht werde ich sie alle in die Knie zwingen. Und keiner wird den Mut haben aufzumucken. Sein satanisches, gespenstisches Lachen erfüllte den kleinen Raum. Er stand auf und trat an das kleine Fenster und öffnete es. Dichter Nebel schlug ihm entgegen, ein kalter Luftzug wehte um seine lange Nase, Plötzlich erstarrte er. Aus weiter Ferne hörte er Sirenengeheul. Polizeisirenen! 118 �
Es waren drei oder vier. Nein, noch mehr! Und sie kamen rasend schnell näher. Der teuflische Baron begann zu zittern. Fieberhaft überlegte er. Was war geschehen? Wer konnte die Polizei alarmiert haben? Es konnte doch keiner das Haus verlassen. Oder doch? Der verfluchte Irre. Natürlich! Nur er konnte es gewesen sein. Für ihn gab es diese Mauer nicht. Bei Geistesgestörten hört meine Macht auf. Und auch bei Hunden. Die Polizisten werden Hunde dabei haben. Und ich fürchte Hunde wie die Pest. Dieses verdammte Pack! dachte er wutentbrannt. Haben sie es doch geschafft. Aber das ist noch nicht das Ende. Für heute werde ich meine Zelte hier abbrechen müssen. Aber ich werde mir was Neues einfallen lassen. Etwas, das noch viel schlimmer sein wird. Er verließ hastig die kleine Kammer und begab sich in den Westflügel. Doch noch bevor er ihn erreicht hatte, hörte er die Sirenen ganz nahe. Und dann waren sie unten im Hof. Baron Ballyntine riß ein Fenster auf und blickte hinunter. Um das ganze Rondell standen Polizeiwagen. Die Scheinwerfer und blinkenden Blaulichter drangen durch den Nebel. Befehle hallten durch die Nacht. Hastige, schnelle Schritte. Gestalten huschten durch das Scheinwerferlicht und spritzten auseinander. Zwei Minuten später war das Schloß umstellt. Und dann hörte er das laute Gebell von Hunden. Aber das Bellen kam nicht von der Vorderseite, sondern von hinten. Die Hunde von Lord Dandridge! Der unheimliche Baron drückte das Fenster zu. Er hatte gesehen, was er sehen wollte. Die Rückseite kam für eine Flucht nicht in Frage. Die Westseite vielleicht. 119 �
Er hetzte durch die Räume. Er mußte so schnell wie möglich weg. Das riesige Schloß, das er zum Gefängnis für die Partygäste gemacht hatte, hielt ihn nun selbst gefangen. Aber nicht mit mir, dachte er wütend. Ihr könnt noch so viele Polizisten gegen mich aufbieten. Mir könnt ihr nicht das Wasser reichen. Nicht dem zukünftigen Herrscher der ganzen Welt. Er lachte auf. Dann ging er zum Fenster auf der Westseite, öffnete es und stieg hinaus. * Ein wahres Freudengeheul hob an, als die Polizeifahrzeuge in den Hof einfuhren. Die Partygäste, die in dieser Nacht die schlimmsten Stunden ihres Lebens mitgemacht hatten, ahnten in diesem Augenblick, daß die Stunde der Befreiung gekommen war und daß das Ungeheuer sie nicht mehr angreifen würde. Das große Hauptportal wurde aufgestoßen, ein Mann in Zivil trat ein. Hinter ihm schoben sich zwei mit Gewehren bewaffnete Polizisten herein. »Hallo, Inspektor Ross!« rief Weaver erfreut aus. »Das nenne ich Glanzarbeit. So schnell hatten wir Sie eigentlich nicht erwartet.« »Sie haben uns erwartet?« war die erstaunte Antwort. »Dann kam also von Ihnen der Anruf?« »Ein Anruf? Tut mir leid, Inspektor. Angerufen haben wir nicht. Wir konnten es nicht. Unser Telefon ist defekt. Wann kam der Anruf?« »Vor etwa zwei Stunden.« Weaver sah zu Joe Fadden hinüber. Aber der schüttelte heftig den Kopf. »Was sagte denn der Anrufer?« wandte sich Weaver wieder an 120 �
seinen Kollegen vom Yard. »Er sagte, wir sollten so viele Polizisten auf die Beine stellen wie nur möglich und nach Dandridge Castle fahren. Es würde sich sicher lohnen.« »Mehr nicht? Nannte er nicht auch einen Namen?« »Nein. Er legte danach sofort auf. Erst hielt ich es für einen dummen Scherz. Dann trommelte ich aber doch den Chef aus dem Bett und teilte es ihm mit. Ich war mit meiner Schilderung noch nicht ganz fertig, als er mich anfuhr, ich solle so schnell wie möglich tun, was der Anrufer gesagt hat. Er meinte, hier finde eine Party statt, bei der die halbe Prominenz von London teilnehmen würde. Was ist eigentlich los? Was wird hier denn gespielt?« »Das erkläre ich Ihnen später. Haben Sie das Schloß umstellen lassen?« »Selbstverständlich.« »Gut, Ross, das ist sehr gut. Jetzt kann er uns nicht mehr entkommen. Schärfen Sie Ihren Leuten ein, sie sollen niemanden aus dem Haus lassen. Hören Sie, niemanden! Auch keinen von uns hier. Jeder wird festgehalten. Klar?« Inspektor Ross wandte sich an einen der uniformierten Polizisten. »Geben Sie das sofort weiter!« »Klar, Inspektor.« Der Beamte drehte sich um und ging zum Ausgang zurück. Gespannt blickten ihm die Menschen nach. Hereingekommen waren sie. Aber würde er auch wieder hinaus können? Er kam nicht hinaus. Er stand genauso vor der unsichtbaren Mauer wie die anderen auch. Die Augen des Beamten weiteten sich. Er versuchte es mit Gewalt. Doch er schaffte es nicht. Er prallte immer wieder ab und fiel sogar zu Boden. »Geben Sie es auf«, sagte Weaver und trat neben ihn. »Das 121 �
schaffen Sie nie. Uns ist es auch nicht gelungen. Aber das beweist nur, daß er noch im Haus ist. Ich bin sicher, sobald er das Haus verläßt, verschwindet die Mauer.« Die beiden uniformierten Polizisten und Inspektor Ross sahen ihn an, als hätten sie einen Verrückten vor sich. Aber Inspektor Weaver lächelte nur, die anderen auch. Der Inspektor versuchte es selbst. Dicht an die Barriere gedrückt blieb er stehen. Plötzlich gab sie nach. Er stürzte. »Er ist aus dem Haus!« schrie Weaver und rappelte sich hoch. »Raus jetzt! Kommt alle raus! Wir müssen ihn fassen!« Sie stürmten hinaus. Allen voran Inspektor Weaver. Hinter ihm kamen Ross, die beiden Bobbys und alle Gäste, die noch am Leben waren. »Laßt keinen durch!« brüllte Ross über den Hof. Niemand zweifelte daran, daß es auch die Beamten auf der Rückseite gehört hatten, denn seine Stimme war so laut, als hätte er ein Megaphon vor dem Mund. Lautes, heftiges Hundegebell klang durch die Nacht. Es kam von der Rückseite des Schlosses. »Ihr bleibt alle hier auf der Treppe«, befahl Weaver seinen Leidensgenossen. »Keiner rührt sich von der Stelle! Klar?« Sie nickten. Fröstelnd zogen die Frauen die Schultern zusammen. Es war kalt und feucht, und sie hatten alle tief ausgeschnittene oder schulterfreie Kleider an. »Meine Frau«, sagte Benton schwach. »Sie liegt noch im Haus.« »Ich werde sie herausholen«, versprach Weaver und machte sich sofort auf den Weg. Zwei Minuten später erschien er wieder, mit Phillis Benton auf dem Arm. Sie war noch immer bewusstlos. Er gab sie in die Obhut von Dr. Crowley. Im selben Augenblick kam ein junger, uniformierter Polizist 122 �
angesaust. »Ein Mann ein Mann ist aus dem Fenster geklettert«, berichtete er japsend. »Sie wollten ihn festnehmen. Aber er kämpfte wie ein Berserker. Er scheint unheimliche Kräfte zu haben. Wir brauchen sofort Hilfe.« »Wo ist das?« fragte Weaver schnell. »Drüben am Westflügel.« »Rufen Sie alle Ihre Leute zusammen, Ross!« rief Inspektor Weaver gehetzt. »Dieser Mann ist ein Ungeheuer. Er darf uns nicht entkommen.« Und schon rannte Weaver los. Die Polizisten hatten eine Kette um das Schloß gebildet. Der Inspektor nahm alle mit, die er auf seinem Weg antraf. Sie hetzten zum Westflügel. Immer mehr Männer schlossen sich an. Als sie jedoch dort ankamen, wo dieser Kampf stattfinden sollte, sahen sie nichts. Einige Beamte standen auf ihren Posten und hielten ihre Gewehre schussbereit. »Wo ist er?« fragte Weaver. »Wer?« »Der Mann, der aus dem Fenster gestiegen ist.« Der junge Beamte sah ihn verständnislos an. »Hier ist keiner aus dem Fenster gestiegen. Jedenfalls nicht, solange wir hier stehen.« »Aber…« Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der junge Polizeibeamte war das Phantom gewesen. »O Gott«, stöhnte Weaver verzweifelt. »Er ist entwischt. Er ist mir schon zum dritten Mal entwischt.« Doch dann hielt er sich nicht mehr länger mit Selbstvorwürfen auf. »Sucht die ganze Gegend hier ab!« befahl er den Männern. »Ihr werdet hier irgendwo einen Toten finden. Sucht, bis ihr ihn gefunden habt!« Dann drehte er sich um und hetzte den Weg zurück, den er gekommen war. Er schalt sich einen Idioten, daß er darauf reingefallen war. Aber wer konnte auch ahnen, daß… Es klang alles 123 �
so echt. Natürlich klang es echt. Wir haben uns ja lange genug von ihm schon an der Nase herumführen lassen. Lord Dandridge war schon tot, als wir ankamen. Er hat einige Stunden den Hausherrn so echt vertreten, daß keiner auf den Gedanken gekommen ist, es könnte nicht der Richtige sein. Was ist das für ein Monster? Er wehrte sich immer noch, daran zu glauben, daß es jemanden gab, der über solche unheimlichen Fähigkeiten verfügte. Doch was er selbst gesehen und am eigenen Leibe verspürt hatte, war Tatsache. Und nicht er allein hat das alles miterlebt. Noch gut zwanzig andere Menschen waren Zeuge dieser unerklärlichen Vorgänge. Und dann packte ihn wieder die Wut. Ich erwische ihn, und wenn es mein eigenes Leben kostet. Ich werde nicht eher ruhen, bis ich ihn habe. Weaver begab sich zu den Fahrzeugen. »Ist eben ein junger Kollege von Ihnen weggefahren?« fragte er einen Beamten, der die Fahrzeuge bewachte. »Ja, Inspektor. Er sagte, er müsse in Ihrem Auftrag nach London fahren. Er nahm den schnellsten Wagen, den wir hier haben und raste davon. Stimmt das etwa nicht? Ich meine, hatte er gar nicht den… »Lassen Sie nur«, unterbrach Weaver niedergeschlagen. »Es ist nicht Ihre Schuld.« Er wandte sich um und ging geknickt und mit gesenktem Kopf zur großen Treppe zurück. Er hatte kurz nachgerechnet, wie lange er etwa für den Hin- und Rückweg zum Westflügel des Schlosses gebraucht hatte, und war auf mindestens fünf Minuten gekommen. Bei dem dichten Nebel war es aussichtslos, ihn zu verfolgen. »Ist er etwa…« Dr. Crowley machte ein bestürztes Gesicht. 124 �
»Nein! Sagen Sie, daß es nicht wahr ist. Er ist doch nicht entwischt?« »Doch.« Inspektor Weaver nickte schwerfällig. »Er ist mir tatsächlich regelrecht durch die Finger geschlüpft. Ich war ihm noch nie so nahe wie in dieser Nacht und trotzdem…« »Aber wie konnte das passieren?« fragte Crane erregt. »Der junge Polizist sagte doch, daß sie ihn gefangen…« »Der junge Polizist war das Phantom«, antwortete Inspektor Weaver leise. Ein betretenes Schweigen folgte. Niemand machte Weaver mehr einen Vorwurf, denn sie alle waren ebenfalls auf ihn hereingefallen. Eine Gruppe von Polizisten kam von der Westseite her. Sie trugen einen Toten. Einen enthaupteten Toten. Den Kopf dazu trug ein anderer Mann. »Hört das immer noch nicht auf«, flüsterte Sally Clark entsetzt. »Haben wir nicht schon genug mitgemacht? Mußte das auch noch sein?« Miß Tilling fiel in Ohnmacht. »Damit mußte man ja wohl rechnen«, versetzte Weaver tonlos. »Nachdem der junge Polizist…« Er warf einen Blick auf das Gesicht des Toten, bevor er zugedeckt wurde. Es war der junge Polizist, Weaver suchte nach Ross. Er fand ihn, als dieser vom Westflügel kam. Einige uniformierte Beamte begleiteten ihn. »Würden Sie mir endlich erklären, was hier eigentlich vor sich geht«, verlangte Ross. »Einer meiner Männer wurde auf bestialische Weise umgebracht. Und trotzdem haben wir keinen Verbrecher gesehen. Was ist los?« »Tun Sie mir einen Gefallen, Kollege«, bat Weaver. »Fragen Sie mich jetzt nicht nach all dem Vorgefallenen. Ich werde morgen 125 �
meinen Bericht schreiben, und darin können Sie dann alles lesen. Jetzt aber lassen Sie von Ihren Leuten das Haus durchsuchen. Sie werden einige Tote finden. Mindestens vier. Und einige Gerippe im Keller. Lassen Sie sie abtransportieren und ins Gerichtsmedizinische Institut bringen.« »Ich bin ja einiges gewohnt, mein lieber Kollege. Aber was Sie hier vorbringen, ist verdammt starker Tabak. Finden Sie nicht auch?« Ross war richtig schockiert. »Sie haben ja recht«, gab Weaver zu. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich auch so reagieren. Aber ich würde dann doch tun, was man von mir verlangt.« »Okay, Weaver, ich gehe ja schon. Doch so leicht kommen Sie mir nicht davon. Ich will alles aus Ihrem Mund hören. Mit Ihrem schriftlichen Bericht gebe ich mich nicht zufrieden. Sie erzählen mir alles, abgemacht?« »Abgemacht. Aber lassen Sie mir etwas Zeit, ja?« »Nicht länger als eine Woche.« Dann ging Ross weiter und rief seine Leute zusammen. Er erteilte Befehle. Die Beamten waren gerade im Begriff, das Schloß zu betreten, als Mabel Stevens herauskam. Doch das war nicht mehr die Mabel, die sie vorher noch war. Aus ihr war ein Vampir geworden. Zwei lange, spitze Zähne schoben sich über ihre Lippen, ihre Augen funkelten. Wie eine Wildkatze schoß sie auf den erstbesten Beamten zu. Ihr Mund öffnete sich, unartikulierte Laute kamen über ihre Lippen. Der angegriffene Beamte war so erschrocken, daß er sein Gewehr hochriss und abdrückte. Doch die Frau, die durch den Biss eines Vampirs selbst zum Vampir geworden war, ging weiter. Zwei weitere Kugeln drangen in ihren Körper. Aber auch sie 126 �
konnten ihren Lauf nicht stoppen. In seiner Verzweiflung hob der Beamte sein Gewehr über den Kopf und ließ den schweren Holzschaft über ihren Schädel sausen. Da erst brach Mabel zusammen. Das grausame Wirken des Phantoms hatte ein weiteres Opfer gefordert. Und er hatte sein gesetztes Ziel erreicht. Er wollte seine Macht demonstrieren. Dies war ihm hervorragend gelungen. Daß er dazu die Spitzen der Gesellschaft benutzte, war ganz sicher Absicht gewesen. * Bis auf einige Uniformierte waren alle abgefahren. Die zurückgebliebenen Polizisten bewachten das Schloß. Im Park jedoch standen ebenfalls noch drei Männer. Es waren Inspektor Weaver, Joe Fadden und Smoky. Natürlich hätte Fadden gern längst das Weite gesucht, wenn Weaver ihn nicht zurückgehalten hätte. Joe ahnte, was der Inspektor noch von ihm wollte, und darum hätte er sich gern gedrückt. Aber er wußte, daß es sinnlos war, einem Mann wie Weaver davonzulaufen. Er hätte ihn gefunden, und wenn er sich noch so gut versteckt hätte, und dann wäre es ihm sicher noch schlechter ergangen. So aber erhoffte er sich, daß er sich einigermaßen herausreden oder sich wenigstens mit dem Inspektor auf irgendeine Art einigen konnte. »Hast du eine Ahnung, wer angerufen hat?« wandte sich Weaver an Joe, als der letzte Wagen verschwunden war. »Ich weiß nicht«, erwiderte Joe zögernd. Insgeheim atmete er auf, weil er eigentlich eine andere Frage erwartet hatte. »Ich 127 �
habe auch schon darüber nachgedacht. Es könnte nur der Mann gewesen sein…« »Ja?« Und dann erzählte Joe Fadden die Geschichte von den vier Männern, die sie töten wollten, und von dem einen, der ihnen entkommen war. Und genau den Mann hatte Fadden in Verdacht. »Ich nehme an, er hat kalte Füße bekommen, als er bemerkte, daß wir mit den Burschen fertig geworden sind. Natürlich nur dank meines Freundes.« Der Inspektor überlegte kurz. Dann sagte er: »Du könntest recht haben. Eigentlich kann es ja nur er gewesen sein. Doch wenn es so ist, dann glaube ich, daß wir bald wieder irgendwo eine Leiche finden werden.« »Er wird sicher schon längst das Weite gesucht haben«, meinte Joe wissend. »Natürlich«, sagte der Inspektor abwesend. »Das wird er.« Aber er dachte etwas anderes. Er kannte das Phantom nun gut genug und wußte, daß er den Mann, der ihn verraten hat, ganz sicher finden und töten wird. Und dann prasselten doch noch die Fragen auf Joe herab, die er zuerst erwartet hatte. »Was hat dich eigentlich veranlasst, noch einmal hierher zurückzukommen, Joe? Aber erzähle mir jetzt bitte keine Märchen. Ich will die Wahrheit wissen.« »Tja, das ist so«, antwortete Joe. »Ich wollte ich meine, wir… Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nur…« »Hör auf zu stottern, Joe. Sag doch einfach, du wolltest dich ein wenig bereichern. Schließlich wäre es ja nicht das erste Mal, oder?« »Verstehen Sie mich bitte, Inspektor«, flehte Joe und legte dabei eine schauspielerische Glanzleistung an den Tag. »Smoky 128 �
ist so hungrig wie ein Wolf. Ich muß ihn durchfüttern. Und Sie wissen doch selbst, wie teuer das Leben ist, und daß alles immer noch teurer wird. Da muß man einfach sehen, wo man bleibt.« »Mit Arbeiten habt ihr es wohl noch nie versucht?« »Arbeiten?« echote Joe und sprach das Wort aus, als hätte er es in seinem Leben zum ersten Mal gehört. »Sagten Sie wirklich, wir würden nicht arbeiten?« »Schon gut, Joe«, winkte Weaver grinsend ab. »Ich werde alles vergessen, was euch beide betrifft. Ich werde euch auch nicht in meinem Bericht erwähnen. Und ich werde noch ein übriges tun. Ich werde nämlich dafür sorgen, daß ihr beide immer Geld habt zum Essen und Trinken und ein Taschengeld obendrein. Aber dafür verlange ich auch was.« »Alles Inspektor. Alles, was Sie wollen.« Aus Joes Stimme war eine überschwengliche Freude herauszuhören. »Das Phantom, dieser Baron Ballyntine, der uns diesmal leider entwischt ist, wird wieder etwas Neues aushecken. Ich weiß nicht, was er beabsichtigt. Er raubt nichts, er stiehlt nichts, aber er tötet. Er bringt wahllos Menschen um und verbreitet Angst und Schrecken. Vielleicht sind seine Morde doch nicht wahllos, sondern es steckt eine bestimmte Absicht dahinter. Ich weiß es nicht. Aber ich werde es herausbekommen. Du kennst mich und weißt, daß ich nicht lockerlasse. Wie gesagt, er wird was Neues ersinnen, und dazu brauche ich dich. Das heißt, nicht dich, sondern Smoky. Aber ohne dich wird Smoky nicht mit mir gehen.« »Nein, Inspektor. Nein und nochmals nein. Sie können alles von mir verlangen, aber das nicht. Ich habe genug von diesem Monster. Ich will es nie wieder sehen.« »Hör zu, Joe! Ich kann dich dazu zwingen. In zwei Tagen weiß ich sämtliche Einbrüche von dir. Und ich kann dafür sorgen, daß es dich mindestens zehn Jahre kostet. Wenn du aber mitmachst, wird es dir gut gehen. Du wirst immer Geld haben und hast das 129 �
Einbrechen nicht mehr nötig. Du wirst dir viele Wünsche erfüllen können.« Joe zögerte. Er kämpfte mit sich. Er streifte Smoky mit einem Blick, der stumm neben ihm stand und das Gesicht etwas verzog. Anscheinend hatte er Schmerzen in seiner Wange. »Smoky braucht einen Arzt«, sagte Joe Fadden. »Wir fahren sofort zum besten Arzt, den wir auftreiben können«, versprach der Inspektor. Noch ein kurzes Zögern, dann sagte Joe: »Einverstanden.« Langsam gingen sie zu Weavers Auto. Nachdenklich setzte sich der Inspektor ans Steuer, während Joe und Smoky im Fond Platz nahmen. Inspektor Weaver warf noch einen letzten Blick auf das Schloß, das in der Morgendämmerung und in den aufsteigenden Nebelschwaden recht gespenstisch wirkte. Ich werde ihn fassen, schwor er sich. Eines Tages werde ich ihn fassen. Smoky wird mir dabei gute Dienste leisten können. Ich werde das Ungeheuer jagen, bis ich ihn habe oder tot bin. Daß dies aber erst der Auftakt einer Reihe von phantastischen und grauenhaften Abenteuern war, konnte er in diesem Moment noch nicht ahnen. ENDE
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